Band 7
Söldner für Rom Hanns Kneifel
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Band 7
Söldner für Rom Hanns Kneifel
Vorwort Wie wir seit langem zuverlässig und unwidersprochen wissen, ist Lordadmiral Atlan potentiell unsterblich, und dies ist – bei aller Faszination, die dieser Umstand auf den Arkoniden (und auf uns, die Leser und nicht zuletzt den Chronisten seiner vielen Abenteuer auf unserem Planeten) ausübt –, einmaliger Vorteil und überaus schwierige Belastung gleichermaßen. Seit rund zehn Jahrtausenden verbirgt sich Kristallprinz Atlan auf Terra, hat Dutzende Zivilisationen und Kulturen entstehen und wachsen sehen sowie deren Vergehen mit angesehen und miterlebt. Wir wissen, dass Atlan einige Dutzend Mal die ersten Fundamente neu entstehender Kulturen gelegt hat, in der verzweifelten Hoffnung, am Ende einer langen Entwicklung stünde die Möglichkeit, ein Raumschiff zur Heimkehr nach Arkon bauen zu können. Wir erinnern uns: Nach dem Einsatz auf Karthago II. der Mucywelt, brachte das Team der KHAMSIN Atlan in einem Wahnsinnsflug zurück nach Gäa; mehr tot als lebendig wurde der Statthalter des Neuen Einsteinschen Imperiums notoperiert, und nun liegt er, medizinisch perfekt versorgt, in der Nährflüssigkeit des Überlebenstanks und ringt, indem er chronologisch exakt seine Erlebnisse auf der Erde erzählt, um sein Leben. Mittlerweile scheint er gerettet zu sein, aber noch dauert die Katharsis an, und Atlan berichtet weiter… Cyr Aescunnar, der beste Geschichtswissenschaftler des NEI, und die gesamte Historische Fakultät arbeiten am großen Werk der ANNALEN DER MENSCHHEIT, und diese wären alles andere als vollständig – und weitaus weniger farbig – ohne Atlans höchst persönlich gefärbte Erlebnisschilderung! Der Zeitraum der Abenteuer dieses siebenten HardcoverBandes umfasst, nach dem Tod Alexanders des Großen, die Jahre zwischen etwa 315 vor der Zeitwende und 68 nach
Christi Geburt. Atlans Abenteuer aus folgenden PERRY RHODAN-Taschenbüchern reihen sich aneinander: Festung der Dämonen, Atlan-Zeitabenteuer im Taschenbuch 83 von 1976; Berichte eines Unsterblichen, Tabu 254, geschrieben 1983; Der Stein der Weisen, geschrieben 1983, Nummer 259; dazu ein zeitlich wichtiger Auszug aus: Hüter des Planeten, AtlanZeitabenteuer im Taschenbuch 266 von 1984/85, und Söldner für Rom, Atlan-Zeitabenteuer im Band 116, von 1972/73. Spätestens diese Erlebnisse zeigen uns, warum Atlans Beziehung zum Großen Römischen Imperium reichlich gestört war – dachte er dabei an das Argon-Imperium? Wie in fast jedem Hardcover-Band sollen Karten einen Teil der Wege des »Einsamen der Zeit« über unseren Globus, den dritten Planeten von Larsafs Sonne, erleichtern. Rainer Castor, mittlerweile Taschenbuchautor, hat Ricos kalendarische Versuche wie immer zuverlässig betreut und nachgerechnet, wofür sich der Chronist herzlich bedankt, ebenso wie für Lektor Klaus N. Fricks Betreuung und Geduld. Frühsommer 1995
Prolog Lordadmiral Atlan, Statthalter des Neuen Einsteinschen Imperiums auf Gäa, war während der letzten Stunden der großen Computerstörungen aus dem gläsernen Überlebenssarg und der Nährflüssigkeit herausgehoben und medikamentös in einen achtundvierzigstündigen Tiefschlaf versenkt worden. Sein Körper lag, in sterile Schutzfolie gehüllt, auf dem Antigravgitter; Atlan schlief ohne SERT-Haube über seinem Kopf, ohne Schläuche für intravenöse und flüssige Nahrung, ohne Elektroden und Binden, in einem abgedunkelten Raum, in dem durch die Anzeigenfelder und die Bildschirme der Monitoren geisterhaftes Halbdunkel herrschte. Nur Atlans Atemzüge, gleichmäßig tief, waren zu hören, und das sanfte Fächeln der Klima- und Beleuchtungsanlagen. Mindestens zweiundsiebzig Stunden würde es dauern, bis der Raum der IntensivÜberlebensstation gereinigt und neu ausgestattet war; niemand rechnete damit, dass Atlan vor Ablauf dieser Zeitspanne zu sprechen und zu berichten begann. Rogier Chavasse beugte sich vor und drehte die weiße Asche seiner Zigarre im Aschenbecher ab, der aus einer pokalähnlichen vergossenen und versinterten Masse unbrauchbarer Mikrochips bestand. »Abgesehen davon, Professor, dass jenes famose ESComputerchaos nicht nur besiegt ist, dass sich ES abwartend zurückgezogen hat – wohin auch immer? –, dass Atlan offensichtlich keinen Schaden genommen hat: Wie geht es Ihrem Augenlicht?« Cyr Aescunnar blinzelte überrascht. Er lehnte sich im monströsen Ledersessel zurück, ließ seine Blicke über die Einrichtung des großen Wohnraums gleiten und stellte fest, dass nicht der geringste Hinweis auf Chavasses Profession hindeutete:
Hier schien es nicht einmal einen Bildschirm zu geben. Er hob das Glas und sagte zögernd: »Noch hat mich Androklastes, wie die posthomerischen Griechen den ›Männerbrecher‹ nannten, nicht mit seiner Keule getroffen. Es ist keine Krankheit der Augen, sondern meiner unentzifferbaren Phobie.« »Phobie? Angst – wovor?« »Angst zu erblinden, Rogier.« War es ein Zufall? Seit drittem März im Jahr 3460 war Atlan Prätendent und Statthalter des NEI, seit dem gleichen Tag des Jahres 3561 hatte Aescunnar Schwierigkeiten mit seinen Augen. Er hob die Schultern und sagte leise: »Selbst für einen Geschichtswissenschaftler, der über Vorgänge auf dem verschwundenen Heimatplaneten zu arbeiten versucht, der für seine Universität die vorläufig gültigste Variante der ANNALEN DER MENSCHHEIT zu schreiben beziehungsweise zusammenzufügen versucht, ist die Selbstanalyse schwierig – irgendwie hat es etwas mit Kristallprinz Atlan zu tun.« Aescunnar trug weder Brille noch Kontaktlinsen oder Feldlinienfokusse; er blickte den uralten Computerspezialisten ruhig an; erst vor Tagen hatte er erfahren, dass Chavasse nicht nur sämtliche Datennetze von Gäa, dem Fluchtplaneten in der Provcon-Faust, konzipiert, sondern auch gewaltige Sektionen des irdischen Mondgehirns NATHAN umstrukturiert und die Grundlagen einer technischen Selbst-Weiterentwicklung, eines biopositronischen Mega-Kloning, programmiert hatte. Aescunnars Bewunderung wuchs, als er sah, welche KulturKostbarkeiten Chavasse in seiner Wohnung beherbergte. »Ich verstehe manches; das verstehe ich nicht.« Chavasse goss Champagner nach und sah auf den Uhrchip, der in seinem Handrücken implantiert war. »Haben Sie Grund, zu erblinden, wenn der alte Arkonide zu intensiv erzählt? Er-
zeugt Ungläubigkeit oder Verwunderung eine Ophthalmoslide? Hypermetropie ist gleich Weitsichtigkeit angesichts von Jahrtausenden durch Atlan korrigierter Kulturgeschichte?« »Wir können uns stundenlang gegenseitig mit Fachbegriffen bombardieren, Rogier, und dennoch kann ich es weder mir geschweige denn Ihnen erklären. Schlicht und einfach: Punktum. Ohne erkennbare Gründe fürchte ich bisweilen zu erblinden. Das kommt in Schüben, tritt unerwartet auf, meist dann, wenn ich dem Fortgang von Atlans Erzählungen entgegenfiebere. Und dann gibt’s Schwierigkeiten.« Chavasses Gesicht verschwand für Augenblicke hinter Kringeln, Schleiern und Spiralen aus graublauem Zigarrenrauch. Cyr Aescunnar hatte zuvor die einzelnen leidvollen Stationen seiner optischen Probleme geschildert; jetzt deutete Chavasse mit dem glimmenden Ende der halb gerauchten Zigarre auf einen dünnen Stapel pseudostereoskopischer Blätter zwischen den Gläsern, Flaschen und Kleingeräten auf dem Tisch. »Für Sie, Prof.« »Für mich? Was ist das?« Aescunnar genoss das Prickeln, mit dem, die Champagnerbläschen über seinen Lippen platzten. »Sieht aus wie die Kopie eines alten Buches.« »Ist die Kopie einer alten Schwarte. Einer meiner Nachfolger hat’s irgendwo im Nachlaß seiner Ureltern gefunden, kopiert und danach versteigern lassen: sensationeller Erlös. Hat mit Ihren ANNALEN zu tun. Inzwischen frage ich mich selbst: Wo, bei Kronos, dem Herrscher der Zeit nach dem Chaos, wo war Atlan nicht mitten im irdischen Geschehen?« »Soll ich das jetzt lesen?« »Klar. Oder leiden Sie schon wieder unter Presbyopie, der vorgezogenen klassischen Altersweitsichtigkeit?« »Heute zufällig nicht.« Aescunnar grinste. »Sie kennen die Zeit, in der Atlan zu berichten aufgehört hat – passt es in den historischen Rahmen?«
»Es passt.« Chavasse stand auf und betrachtete traurig die fast leere Flasche. »Lesen Sie schnell – bald wird uns wieder Atlans Frust faszinieren: Doktor med. Ghoum-Ardebil, unser hochgeschätzter Kollege, wird Atlan in den Überlebenssarg senken, und dann müssen Sie wieder höllisch genau aufpassen.« Aescunnar hob den Stapel auf. Die Kunststoffflächen waren am linken oberen Ende zusammengeheftet. Er las: Aus: Cunnard Rezykladides: Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse – aus der Arbeit des USO-Historischen Korps. (Sonderdruck; Powder-City, Mars/Sol, XXI. Kapitel). Als die Historische Abteilung der USO, der United Stars Organisation, den Planeten Nicoja-Cuaualan entdeckte, wusste niemand, dass die Enthüllung eines der aufregendsten Geheimnisse der Welt Terra bevorstand. Seit mehr als einem Jahrtausend bestand unter Historikern und Wissenschaftlern große Unsicherheit darüber, wie die Legenden der frühen und späteren Kulturen Mexikos und Mittelamerikas mit den Fundstücken und der Evolution der Menschheit zu vereinbaren waren. Als die Luftaufnahmen und die Bilder der Spinnsonden ausgewertet waren und sich aus dem schwarzgrünen Dunkel des Urwaldes die große Stufenpyramide hervorschob, wurde der Chef der USO verständigt. Auch er war zunächst nicht in der Lage, die gesamte Tragweite dieses Fundes zu erfassen. Nicoja-Cuaualan ist ein etwa erdgroßer Sauerstoff-Stickstoffplanet, 1,102 AE von seiner Sonne Miraflores entfernt: V in km/sec beträgt 32, 78. U/sid = 402,09 Tage. Miraflores ist fast identisch mit Sol des irdischen Systems, das M.-System ist auf der Horizontalachse (von der aus die Winkelgrade in der Galaxis gemessen werden) – also 180 Grad -genau 5000 Lichtjahre von Sol entfernt, fast am Rand der Milchstraße. Diese Feststellung sollte in der darauf folgenden Zeit eine bestimmte Bedeutung erlangen.
Ein nicht offizieller (private monakustische Aufzeichnung, genauer: deren Niederschrift) Bericht von Marrvlo d’RoumVinqle: der Sprecher ist Atlan: Wir konnten es im Licht, das der jähen Abenddämmerung vorausging, scharf genug beobachten: Ein Tier schwamm geräuschlos durch die Bucht, eine Kreatur aus Fisch und Reptil, dessen Kopf dicht unter der Oberfläche des reglosen Wassers dahintrieb; nur die großen Augen befanden sich über den schäumenden Wirbeln. Hornige Lider senkten sich bisweilen über die Augen, deren Pupillen sich stechend scharf auf die weiße Antilope am Rand des Baches richteten, der in die Bucht mündete; das kleine Tier trat zögernd aus dem dunkelgrünen Waldrand ins Abendlicht, dicht neben den hellen Steinstufen. Die Antilope stand einen Augenblick still und schaute zum weißen Boot, dann beugte sie sich in einer zarten Bewegung nieder, um zu trinken. Als sie den Kopf neigte, Schoß ein dunkelbraunes Dreieck senkrecht aus dem Wasser. Krachend klappten die Kinnbacken und packten das trinkende Tier – alles geschah in weniger als einer Sekunde. Knochen brachen, und wild um sich schlagend verschwand die Gazelle im Wasser. Die Ringe auf der Oberfläche der Bucht vergingen langsam. Plötzlich zeigten sich pfeilspitzenförmige Spuren, die von allen Seiten auf die Stelle zurasten, an der sich im kristallklaren Wasser das Blut ausbreitete. Das Wasser schäumte; die gewundenen Flächen der giftgelben Wasserhyazinthen schaukelten lange. Wichita sagte leise: »Das scheint ein Zeichen dafür zu sein, was uns erwartet. Du denkst noch immer im Ernst an eine Verbindung zwischen den beiden Planeten?«
Ich schnippte mit dem Zeigefinger eine gelbe Spinne von der Heckreling des Bootes; sah mein Bild im Wasser: Der Mann mit dem weißen, schulterlangen Haar lächelte grimmig. »Ja. Natürlich denke ich dies. Aber die Verbindung ist abgerissen. Schon lange.« Vor einer Stunde waren wir angekommen. Undurchdringlich verfilzter und nasser Urwald erstreckte sich zwischen der Küste und dem Hochland. Das Raumschiff war fünfzig Kilometer weiter nördlich gelandet und hatte uns ausgeschleust. Während die Besatzung versuchte, eine Gleiterpiste durch den Dschungel zu roden, waren Wichita und ich mit einem Boot vorausgefahren. Wir hatten eine andere Welt betreten; eine menschenleere, archaische Welt voller Wald und Dunkelheit, voll von Tierlauten und Schreien, eine Zone, in der jegliches menschliche Leben ausgestorben schien. »Atlan«, sagte Wichita zögernd, als fürchte sie, mich zu verletzen, »ich sehe es an deinem Gesichtsausdruck und an deinen Augen. Du erkennst diese Landschaft wieder, du identifizierst sie mit einer Landschaft, in der du vor vielen Jahren gelebt hast?« Ich winkte ab. »So wird es sein. Es gibt kaum etwas aus der Geschichte des Planeten Erde, an das ich mich nicht erinnere, wenn man mich zwingt. Ich hasse diese gewaltsamen Erinnerungen.« Wichita war siebenundzwanzig Jahre alt, sah bemerkenswert gut aus, selbst in der schmucklosen Expeditionskleidung. Ein schmales Gesicht mit dunklen Augen unter ausgeprägten Wangenknochen. Das Haar, kurz geschnitten und fast blauschwarz, bildete einen aparten Gegensatz zu der bronzefarbenen Haut. Die junge Frau mit dem ungewöhnlichen Vornamen saß im Heck des Bootes neben der Galley und sah zu, wie das Essen fertig wurde. Zwischen uns war die Tischplatte ausgeklappt; Gläser, Geschirr und Besteck lagen darauf. Zwischen
Windschutzscheibe und Heck war die Persenning ausgespannt, auf die ein unaufhörlicher Regen von Blättern, kleinen Ästen und Insekten niederging. »Warum?« fragte Wichita. Das Wasser der Bucht hatte sich beruhigt. Sonnenstrahlen fielen im flachen Winkel durch die Zweige und erzeugten trügerische Helligkeit. Der Wald, in dem sich das Geheimnis noch verbarg, hallte wider von Schreien und dem Knacken der Äste. Es war, als ob sich Jahrtausende in nichts aufgelöst hätten. Sprich nicht darüber! warnte mein Extrasinn. Sonst werden die Erinnerungen stärker! »Der Grund ist einfach.« Ich beugte mich zur Seite, um die Ausrüstungsgegenstände zu betrachten. Sie lagen zwischen dem Steuersitz und der breiten Querbank. »Wenn mich die Situation zwingt, mich zu erinnern, falle ich in eine Art Trance. Mein Bewußtsein wird ausgeschaltet. Ich kann mich nicht wehren und erlebe minuziös mit, was mein Gedächtnis gespeichert hat und wiedergibt. Es ist erschöpfend; aus zwei Gründen: Erstens bin ich restlos erledigt, wenn diese Erinnerungen vorbei sind, und zweitens sehe ich wieder, wie viel ich getan habe und wie wenig es genützt hat.« »Das verstehe ich.« Wichita Lancaster nickte. »Was ich nicht verstehe, ist, dass du diese Erinnerungen nicht dazu benutzt, Dinge aus der Vergangenheit für die Zukunft anzuwenden. Zum Beispiel hier: Drüben, hinter einer Wand aus Dschungel, wartet eine Stufenpyramide darauf, von uns entdeckt zu werden. Vielleicht ergeben sich gewisse Parallelen.« Ich starrte sie über den Rand des Windlichtes an; in meinen Augen war etwas bitter Herausforderndes. »Zwischen hier und der Erde? Zwischen Terra und NicojaCuaualan?« »Es kann nicht ausgeschlossen werden. Auch hier haben wir in einem Tal des Hochlandes Linien und Zeichen gefunden
wie im Ingenio-Tal, dreihundert Kilometer südöstlich von Lima.« Ich knurrte: »Ich kenne diese Linien. Zu gut. Ich…« Ich brach ab und fühlte, wie meine Gedanken zum Ursprung der Erinnerung zurückgingen, zu den Schlüsselerlebnissen. Wieder warnte mich mein Extrasinn; er sah vor sich jene dreifache Linie, die ohne Rücksicht auf Geländestrukturen quer durch das Tal gebrannt war und einen Berghang hinaufkroch, ohne jede Abweichung von der Geraden, sah Vögel und Spinnen, Dreiecke und Linien, und sie bekamen für mich wieder die Bedeutung, die sie einst hatten. Ich sagte heiser: »Wir sollten aufhören, darüber zu reden. Ich werde sonst von meiner eigenen Erinnerung gezwungen, wie ein Tonband zu sprechen.« Das letzte Sonnenlicht verschwand. Schlagartig wurde es still. Die Stille schien Erinnerungen herbeizuwinken. Ich begann zu ahnen, dass ich mich schon zu weit vorgewagt hatte. Die Uhr läuft, flüsterte die Stimme des Extrasinnes. Du hast zugelassen, dass die Schlüsselerlebnisse deiner vielfältigen Erinnerungen angetastet, erwähnt wurden. Du kannst deinen Erinnerungen nicht mehr entgehen! Ich stand auf. Das Boot begann zu schaukeln. Ich ging zum Fahrersitz, klappte die Türen auf, entnahm den Schaumstoffhalterungen zwei Gläser und eine Flasche Alkohol. Dann warf ich drei oder vier Eiswürfel in die Gläser und goss reinen, goldfarbenen Saginaw darüber. Wichita sagte: »Das Essen dauert noch. Wir wollten heute nicht mehr versuchen, die Pyramide zu betreten, nicht wahr?« Ich reichte ihr eines der Gläser. »Nein«, antwortete ich. »Morgen, beim ersten Licht. Wir haben das Problem, die Treppe freizulegen. Und es dauert min-
destens drei Tage, bis die Teams durch den Wald vorgedrungen sind.« »Gut«, sagte sie. »Zündest du das Windlicht an?« Ich setzte mich und schloss die Augen, roch Düfte und Gestank aus dem Wald, hörte das Plätschern der Wellen und das Zischen des Kochers. Ausrüstungsgegenstände klirrten gegeneinander; mit schwachem Geräusch fiel ein Ästchen auf die Persenning. Unirdische Ruhe überzog die Landschaft mit trügerischem Frieden, aber jederzeit konnte etwas aus dem Wald oder aus dem Wasser kommen, wie damals… Ich richtete mich auf. Meine Hand schob das dünne Moskitonetz zurück. Ich sah zum Waldrand, wo die weiß ausgewaschene Steinstufe lag, hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren, jedes Verständnis für greifbare Geschehnisse entglitt mir langsam, aber mit unbarmherziger Gewissheit. So musste sich ein Mensch fühlen, wenn er mit dem letzten Rest Verstand miterleben musste, wie er wahnsinnig wurde. Zu spät! schrie der Extrasinn. Zu spät! Du wirst mit den Ereignissen jener Vergangenheit konfrontiert! Mehr als dreitausendneunhundertfünfunddreißig Jahre nach der Rechnung des dritten Planeten um Larsafs Stern! Meine Gedanken waren gelähmt. Ich fühlte mich nicht mehr als Bestandteil der schweigenden Umwelt, selbst Wichita, die unruhig neben mir lag, war völlig von der Wirklichkeit losgelöst. Dort… auf der Steinplatte? Ein Schatten mit seltsamer Musterung stand dort, zitternd, unwirklich. Das schwache Licht der reglosen Sterne fiel auf glitzernde Ringe an den Oberarmen. Etwas glänzte in der Hand des Schattens. Wie damals, als Ahuitzotla…, sagte die Erinnerung. Ein Stück Stahl oder geschliffenes Obsidian fing Sternenlicht auf. Wasser begann zu plätschern, als sich der Schatten bückte. Nichts geschah; der Schatten kauerte und spähte über das Wasser der Bucht; einen Augenblick lang
glaubte ich das scharfe Profil zu sehen. Dann seufzte jemand, und der Schatten entfernte sich und verschmolz mit dem dunklen Hintergrund. Ich war einen Augenblick lang hellwach, lehnte mich an den Kunststoff des Bootes und atmete schwer. Die Erinnerung hatte mich eingeholt. Fast vier Jahrtausende waren vergangen, seit das schweigende Duell in der Nacht begonnen hatte zwischen mir und Ahuitzotla, dem Medizinmann, dessen Totemtier der Kondor war. Ich erinnerte mich; begann zu sprechen, während ich versuchte, mich festzuhalten. Wichita Lancaster erwachte und schaltete den Videorecorder ein, hörte und erlebte mit, was damals geschehen war. Worte wurden zu Ereignissen: das fotografisch genaue Gebiet in meinem Verstand reproduzierte ein identisches Bild. Jedes Wort beschwor Erinnerungen herauf. Dinge, die in der Dämmerung der Kultur des Menschengeschlechtes geschehen waren, kamen wieder zurück. Es waren keine steinzeitlichen Sammler und Jäger des Mittelmeerraumes, nicht das frühe Sumer, nicht das Reich am Hapi, weder Babylon noch Troja oder Odysseus, sondern ein fruchtbares Tal in Mexiko. Ich berichtete:
1. Sie verließen das Ufer des kleinen Sees, drangen rücksichtslos durch mannshohe Binsen und durch Gräser vor. Der Rauch des Großen Feuers wies den Weg. Bald würden sie von der Morgendämmerung überholt werden. Siebenundneunzig Krieger; sie kamen aus vier verschiedenen Stämmen des sanft ansteigenden Landes zwischen dem Sandstreifen, vor dem Unendlichen Wasser. Ihr Ziel war das erste, kleinste Hochplateau, das sich aus dem Tal erhob. Hinter jenem Plateau kamen die Berge. Siebenundneunzig Krieger,
gut genährt und ausgezeichnet bewaffnet, redeten in vier verschiedenen Dialekten einer gemeinsamen Sprache, aber sie hatten ein Ziel: es hieß Kampf. Danach kam der Sieg. Er bedeutete große Beute an Gefangenen und Frauen. Die Krieger zogen wie eine riesige Schlange durch das Gras. Alle hundert Schritte wechselte die Vegetation, und leise betraten sie das Gebüsch des Berghanges. Nach hundert Schritten sahen sie den Fluss rechts neben sich; er führte als schmales Rinnsal durch einen Streifen ausgetrockneten Schlammes. Die Männer mit den gebündelten Speeren und wuchtigen Speerschleudern, den chimalli, den runden Schilden gingen vorbei an grasbewachsenen Sandhügeln und freiliegenden Steinen. Zwei Stunden lang mussten sie noch aufwärts steigen, dann waren sie am Feuer. Dort wartete Ahuitzotla. Michoacan blieb stehen und hob den Arm. Er hielt das Speerbündel waagrecht. »Halt!« rief er. »Kommt zu mir herauf!« Nacheinander drängten sich die Krieger den Hang hinauf. Von hier aus sahen sie die Flanke des Berges, auf dessen Plattform das Große Feuer brannte, sahen auch die Linie, die den Schatten der Nacht vom Licht des Tages trennte. Erste Sonnenstrahlen beleuchteten eine schräge Fläche, die aus dem weiter entfernten Berghang hervorstach. Darüber konnten die scharfen Augen der Krieger einen Damm erkennen. Michoacan, Anführer der größten Gruppe, deutete hinüber. »Seht ihr«, fragte er. »Sie legen schwere Steine aufeinander. Sie haben alles: Wasser, Pflanzen, Nahrung. Mehr als wir.« Coto schwang seine Holzkeule, mit dreieckigen Splittern aus Obsidian durchsetzt. »Wir werden sie heute Abend alle töten und die Frauen wegschleppen!« sagte er laut. »Weiter… Ahuitzotla wartet nicht gern!« Mit Michoacan an der Spitze setzte der Zug seine schnelle Wanderung fort. Einige Krieger trugen Felle des hellgrauen
Hochlandjaguars. Andere hatten den Kopf des Pumas erweitert und präpariert und als Helm aufgesetzt, gepolstert mit Binsen und verziert mit Lederbändern. Zwischen den Eckzähnen von Oberkiefer und Unterkiefer sahen die braunen, fast bartlosen Gesichter hervor. Die Männer rochen nach Rauch und stinkenden Fellen. Gegen Mittag waren sie auf der Hochfläche. Der Mann, der sie an der Asche des erkalteten Feuers erwartete, war ungewöhnlich groß und hager. Er trug auf dem Kopf, sorgfältig aus Knochen, Leder und Binsen zusammengesetzt, den oberen Teil des Kondorschädels. Ahuitzotla, der Medizinmann, alt und am ganzen Körper mit Narben bedeckt; sein Gesicht ähnelte einer runzligen Frucht; er sah den Kriegern entgegen, während seine Hände mit dem Binsenköcher spielten, in dem die Steinflöte steckte. »Ihr kommt rechtzeitig«, sagte er und sah sich um, als fürchte er, belauscht zu werden. »Und ihr seid vollzählig.« Sie verbeugten sich der Reihe nach und setzten sich in einem Kreis um das erloschene Feuer. Michoacan saß gegenüber und legte Schild und Lanzen vor sich ins dürre, vom Laub der Hochebene bedeckte Gras. Das Plateau der Krieger war ein kleiner runder Fleck im wuchernden Grün des Urwaldes an den Berghängen und in den Tälern. Von hier aus konnten sie die Rauchfahnen der Tlatilco sehen, jenes kleinen Stammes vom Berg. Ahuitzotla sprang auf. Alle, die ihn nicht kannten, waren erstaunt über seine Größe. Er überragte sie um einen Kopf, trug eine Art Hemd aus Fellen und einen breiten Gürtel aus geflochtenen Binsen. Darin steckten zwei lange Messer mit Holzgriff und Obsidianschneide. »Krieger!« rief der Mann mit dunkler, heiserer Stimme. »Ihr seid hier, weil ihr meinen Ruf gehört habt. Ihr habt meinen Rat befolgt. Die dort drüben haben das Tal zwischen hier und dem
Großen Wasser verlassen. Sie jagen nicht mehr, sie graben Löcher in den Boden und pflanzen Getreide und Süßkartoffeln, haben Zelte aus Steinen, sind anders als wir. Alle, die dort oben leben, haben ein Dach über sich!« Jetzt schrie der Medizinmann: »Sie sind von bösen Geistern besessen, von Dämonen! In ihren Köpfen herrschen böse Mächte! Sie bringen keine Opfer. Wir müssen sie töten!« Quepo, einer der Anführer, grunzte: »Aber nicht alle! Nicht die Kinder und nicht die Weiber!« Der Medizinmann hob die Hand, deutete auf seinen Schild. »Der Kondor, der mein Totem ist, hat mir alles berichtet. Nur wenn wir die Männer töten, die Weiber fortführen und die Kinder opfern, können wir die Dämonen vertreiben. Sie kommen sonst zu uns! Michoacan!« Drohend schwang Michoacan seine Obsidiankeule. »Wir greifen sie morgen früh an! Bis dahin müssen wir in der Nähe ihrer Häuser sein und der Treppe, die sie aus dem Berg gehauen haben!« »Das wird geschehen!« rief einer der Krieger. Sie griffen in die Ledertaschen und holten ihr Essen heraus, tranken Wasser aus Flaschenkürbissen und berauschten sich an der Vorstellung des schnellen Sieges, denn jene von den Bergen waren eine leichte Beute. Ahuitzotla lehnte sich befriedigt zurück. Er hatte erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Seit dem Tag, an dem er hoch im Blau des Himmels den weißen Kondor gesehen hatte, wusste er, dass die fremden Götzen ihr Unwesen trieben und die Menschen in die Berge hinauftrieben, aus den Tälern, weg von den Flüssen und weit über sie alle hinaus. Seine Augen zogen sich wuterfüllt zu Schlitzen zusammen, als er gegen Mittag die dünnen Rauchsäulen hinter dem Wall aus Steinen aufsteigen sah.
Am Rand der Ebene, die den Abschluss des kleinen Berges bildete, schoben sich langsam, lautlos drei Köpfe aus dem Gebüsch. Seit Anbruch der Nacht lagen die Männer hier; bewegungslos, halb erfroren und halb von der Sonne geröstet und von Insekten zerfressen. »Wir wissen alles«, flüsterte Nacha ins Ohr seines Nachbarn. »Zurück!« Ixtlan nickte kaum merklich. Sie richteten ihre Augen auf die Gruppe vor ihnen, während sie auf Knien und Ellenbogen rückwärts robbten, bis sie den schmalen Streifen Sand erreichten. Hier waren sie nicht mehr zu sehen. In der Glut des frühen Nachmittags rannten und rutschten sie den Hang hinunter. Keuchend blieb Nebay am Stamm des ersten Baumes stehen und lehnte sich dagegen. »Wir hätten, ehe wir ihn ausstießen, Ahuitzotla töten sollen«, sagte er erbittert. »Jetzt will er uns vernichten.« Nacha schaute auf, er warf Ixtlan einen schnellen Blick zu. Sie waren dreckig, verschwitzt und erschöpft. »Wir haben morgen Gelegenheit dazu«, sagte er. »Was war das mit dem weißen Kondor?« »Es stimmt. Ich habe ihn selbst gesehen.« Sie setzten ihren schnellen Abstieg fort. Niemand sah oder verfolgte sie. Am frühen Abend erreichten sie den Fluss, der zwischen dem Hügel und ihrem Wohnberg floss. Hier badeten sie und rieben sich gegenseitig mit nassem Sand ab, ehe sie Fische fingen und auf einem rauchlosen Feuer brieten. Als die Sterne erschienen waren, kletterten sie, am Ende ihrer Kräfte, die Treppe hinauf und erreichten ihre Siedlung. Coyala, der Sohn des Häuptlings, erwartete sie. »Sie wollen morgen bei Sonnenaufgang angreifen«, sagte Nebay laut. »Es sind zehnmal so viele Krieger. Nicht ganz, einige weniger.«
Er hob beide Hände mit abgespreizten Fingern hoch. Durch die Reihe der Siedler ging ein Murmeln; einige Krieger schlugen mit den Obsidiankeulen gegen die Schilde. »Ahuitzotla hat sie aufgehetzt. Er sagt, wir sind von bösen Dämonen beherrscht. Er sagt, der weiße Kondor hat die Dämonen gebracht.« Ixtlan setzte sich und massierte seine Waden. »Wir sind sehr müde«, sagte Nacha. »Besetzt heute Nacht den Stollen, den wir gegraben haben.« Coyala und sein Vater wechselten einen schnellen Blick. »Wir werden uns um alles kümmern!« versprach Coyala. »Geht jetzt und ruht euch aus!« Müde und mit schmerzenden Füßen und juckender Haut schlichen die drei Kundschafter ins Dunkel zurück. Die Siedlung der Tlatilco war sehr geschickt angelegt worden: Wenn man die Länge von zweihundert Männern aufeinander legte, erhielt man die Höhe, in der sich waagrecht die Mauer hinzog. Sie war auf einem Felsenband am Rand des Tafelberges errichtet und bestand aus großen Steinen. Die Zwischenräume waren mit Lehm und Schlamm ausgefugt. Hinter der Mauer und der Siedlung erstreckte sich eine in mehreren Stufen abfallende Landschaft, die man nur von den Bergen aus sehen konnte – von den dunkelbraunen, grüngeflankten Bergen gegen Sonnenuntergang. Hier befanden sich die Felder. Zwischen den Terrassen mit Maispflanzen und Kürbissen hatten die dreihundert Menschen, die hier lebten, eine Mauer gezogen. Da sie zuletzt erbaut worden war, machte sie einen stabilen Eindruck. Eine lange Treppe, die im Zickzack entlang des Berghanges verlief, führte zum Wasser des Flusses. An besonders klaren Tagen, wenn kein Nebel über dem Taldschungel lag, konnten sie von der Mauer aus den Streifen hellen Strandes sehen, viele Tagesmärsche entfernt.
Ein zweiter Gang torkelte durch Felsspalten und über Geröllhalden, durch Höhlen und entlang gemauerter Wände. Ein unsichtbarer Weg, der sich zwischen den Pflanzen des Abhanges verlor und unter einem spitzen Felsen endete. Dieser Felsen ragte in die Bucht hinein, die der Fluss geschaffen hatte. Von der Bucht aus konnte man in drei oder vier Sonnenwechseln den weißen Sand erreichen und das Große Wasser, das so anders schmeckte als das des Flusses. Coyala wusste genau: Wenn die hundert Krieger siegten, würde der Versuch der dreihundert mißglücken. Dieser Versuch stellte die erste Stufe zu einem zufriedenen Leben dar, in dem sie ohne Krankheiten und Verletzungen leben konnten, satt und warm im Winter. Es würde Kampf geben – Coyala und seine Krieger mussten siegen! Er hob den Kopf und sah nach oben. Dort kreiste in großer Höhe der weiße Kondor und schien alles zu sehen. Auch den Zug, der sich wie eine dunkle Linie wütender Ameisen unter Führung von Ahuitzotla und Michoacan dem Fuß der Treppe näherte. Coyala legte seine Streitaxt neben den Haufen scharfkantiger Steine und hielt die Hand über die Augen. Er spähte nach unten. Dunkle Gestalten zeichneten sich auf dem Stein der Treppe ab, tief unter der Siedlung. »Es ist nur die Hälfte«, sagte Coyala. »Wo sind die anderen?« Tuxpan, sein Vater, hob die Schultern. Die Männer trugen Lendenschurze aus dünnem Leder. In den breiten Ledergurten steckten Dolche mit Griffen aus Hirschgeweihen und Obsidianschneiden. Die Helme bestanden aus Binsen und Lederflecken; die dunkelbraunen Körper der Männer waren mit den weißen Streifen des Krieges bemalt. Sie fröstelten in der morgendlichen Kühle. Hinter ihnen rasselten ein paar Speere. »Ich weiß es nicht«, sagte Tuxpan. »Haben sie den geheimen Tunnel gefunden?«
Coyala fuhr herum und sah über die Köpfe der wartenden Krieger hinweg. »Vielleicht! Nimm soviel Männern«, sagte er zu Tayin und hob beide Hände. »Sie sollen lautlos den Tunnel hinuntereilen und die anderen aufhalten, wenn sie angreifen.« Tayin nahm die Speere, schulterte sie und hob seine Streitaxt. Sie reichte ihm bis zum Nabel und bestand aus zwei Holzteilen, zwischen die dreieckige Obsidiansplitter eingeklemmt waren. Das Holz wurde durch Lianen zusammengehalten. Mit Tayin gingen zehn Männer durch die Siedlung, öffneten das Tor und verschwanden in dem gewundenen Tunnel. Die anderen warteten weiter und beobachteten die Angreifer. Der gelbe Vollmond stand groß über den Zacken der Berge. In breiten Streifen fiel das Licht auf den Hang und auf Teile der Treppe. Die polierten Flächen von Steinwaffen blitzten auf, als sich die fünfzig Krieger näherten. Noch einhundert Mannslängen waren zu ersteigen. Im selben Augenblick wurde alles dunstig. Der Mond verschwand, das Licht verlor sich hinter den Bergen, wo die Dämonen des Feuers wohnten. Das Tal schwitzte eine Flutwelle von Nebel aus, der in die Höhe stieg und den Hang berührte. Die Männer um Coyala erblassten. In diesem Augenblick regte sich etwas leise unter ihnen. Sie alle hörten es gleichzeitig; die Männer erstarrten vor Angst. Ein sichelförmiger Schatten raste quer vor dem steilen Berghang dahin; die Luft strich rauschend durch lange Federn. »Der Kondor!« flüsterte Tuxpan. »Er sieht alles!« Noch einhundert Stufen trennten die ersten Angreifer von dem Durchgang der wuchtigen Mauer. Dicht an den kalten, feuchten Stein gepreßt, vor sich die Wurfsteine, lagen rechts und links dieses Einschnittes je zwei Verteidiger. Auch die warteten fröstelnd, atemlos und schweigend. Eine heisere Stimme erklang von der fünfundsiebzigsten Stufe.
»Tötet sie! Tötet die Dämonen in ihnen!« Es war die Stimme Ahuitzotlas. Coyala erkannte sie, obwohl der Medizinmann undeutlich sprach. Das war darauf zurückzuführen, dass seine Krieger den Samen der Pflanze CoatlXoxouhqui gegessen hatten, den Samen der »Grünen Schlange«, der Ololiuqui hieß. Sie waren berauscht und würden kämpfen, bis sie den Speer nicht mehr heben konnten. Coyala legte beide Hände an den Mund, drehte sich herum und schrie gellend: »Kämpft, Krieger der Tlatilco! Wenn die Sonne erscheint, müssen wir gesiegt haben. Los!« Er griff nach einem Stein und zielte sorgfältig. Dann schleuderte er den scharfkantigen Stein schräg abwärts und traf den Medizinmann zwischen die Schulterblätter. Im gleichen Moment pfiff ein Wurfspeer an ihm vorbei und bohrte sich in den Magen des Mannes, der hinter dem Medizinmann die Stufen heraufhetzte. Der Kampf begann. Ein Hagel von Steinen prasselte von der Mauer hinunter. Zwei Krieger am Ende des Zuges, der sich zusammendrängte, wurden von der Felstreppe geschleudert. Andere duckten sich und preßten sich eng an den Felsen. Als der erste Krieger den Einschnitt in der Mauer erreichte, warf sich einer der Verteidiger nach vorn und spaltete ihm mit einer Obsidiankeule den Schädel. Als der Angreifer nach hinten stürzte, riß er zwei Männer um, und von oben schossen Speere herunter und bohrten sich in die Brustkörbe der Männer. Auf den letzten zwanzig Stufen der Felstreppe drängten sich dreißig Angreifer zusammen, schützten sich mit über den Kopf erhobenen Schilden gegen den Steinhagel und trieben mit ausgestreckten Speeren die Verteidiger von dem Mauerdurchbruch weg. Steinkeulen sausten auf die Speere und zerbrachen sie; mit aller Wucht geschleuderte Steine rissen einen Angreifer nach dem anderen zu Boden. Die Angreifer rutschten aus und stolperten gegeneinander.
Das Rauschgift in ihren Köpfen verwandelte ihre Angst vor Dämonen und vor dem Tod in besinnungslose Wut. Sie schienen keinen Schmerz zu spüren; Männer mit Wunden, die andere längst bewußtlos gemacht hätten, kämpften mit geradezu tierischer Wildheit. Nebelfäden aus dem Tal schlängelten sich an der Bergwand hoch und erreichten die Kampfstätte. Der Nebel dämpfte Schreie und Gurgeln, das Krachen des Holzes und Brechen der Knochen, das Poltern der Steine, die über die Felsstufen hinunterkollerten. Der süßliche Geruch des Blutes mischte sich mit dem feuchten Moder des Nebels und dem Schweiß der Kämpfenden. Coyala riß einen Stein, der so groß wie sein Brustkorb war, aus der Mauer und warf ihn zehn Meter nach unten. Vier Männer, verwundet und zu einem Knäuel verschlungen, torkelten von der Treppe. Zwanzig Angreifer waren noch übrig. Als Coyala neben der schützenden Mauer auf das Tor zurannte, Schild und Schädelbrecher in den Händen, kamen die ersten Strahlen der Sonne über den Horizont. Wie eine weiße Wolke fegte der Kondor über die Siedlung, faltete die Schwingen zusammen und schlug seine Krallen mit einem weithin gellenden Schrei in den Nacken eines Angreifers. Dann stieg er auf, schwang sich von der Bergwand weg und ließ den schreienden Mann fallen. »Der Kondor!« kreischte jemand. Coyala stieß die Männer vor ihm zur Seite und schoss durch den Mauerspalt. Er sprang vorwärts und schlug nach rechts und links, kämpfte mit schweigender Verbissenheit und drängte die ersten Angreifer Stufe um Stufe weiter nach unten. Hinter ihm drängten andere Männer aus der Siedlung hinaus. Der Kondor kam schreiend aus dem Nebel, schleppte einen zweiten Mann mit sich. Das schwere Kampfbeil des Häuptlingssohnes traf die ungeschützte Stelle zwischen Hals’ und Schulter eines Angreifers, der zwischen zwei Männern
hinter runden chimalli hervorgedrungen war. »Die Götter kämpfen mit uns!« schrie Coyala. Von oben kam die fragende Antwort: »Wir hören Lärm aus dem Tunnel!« Coyala sprang zurück und rammte die Schulter, gedeckt durch den Schild, gegen einen Angreifer, der um sich schlagend von der Treppe stürzte. Die harten Lichtstrahlen der Sonne, die über der fernen Linie des Horizontes auftauchte, trafen auf die Spitzen der Berge und auf die Siedlung. Der Kondor geriet ins Licht, als er mit krachenden Schlägen seiner riesigen Schwingen den Angreifer von der Treppe riß und in den Abgrund schleuderte. »Coyala… Die Männer im Tunnel!« Der Sohn des Häuptlings sah, dass sich zwanzig seiner Männer hinter ihm befanden und fünfzehn Angreifer vor ihm. Er schrie: »Ich gehe in den Tunnel!« Er rannte, hinter sich eine Schar Männer, aus der Siedlung heraus, lief im Zickzack über den taufeuchten Weg zwischen Hütten, sprang über einen Steinhaufen und rutschte über ein Stück Grashang. Dann liefen seine Männer über loses Geröll, entlang einem Felsgrat und in den Spalt hinein. Sie rannten und stolperten keuchend durch eine Buschzone, wurden schneller auf dem Sandstreifen und hielten an, als sie vor sich den Lärm des Kampfes hörten. Sie sahen einen Felsenkessel, der in seiner Mitte geteilt war. Ein schmaler Zickzackpfad führte hinunter. Es ging um diesen Pfad – die Verteidiger standen in einem Halbkreis um den oberen Rand des Kessels, warfen Steine und Speere gegen die Angreifer, die um jeden Fußbreit des Bodens kämpften. Tayins Augen funkelten vor Wut, als er nach rechts deutete. »Sie umgehen uns!« sagte er zum Sohn des Häuptlings. »Sie kommen von dort und bald auch von dort drüben!« Coyala schrie seinen Männern Befehle zu. Die Gruppen teil-
ten sich und hoben schwere Steine auf. Hier herrschte noch das halbe Dunkel der Morgendämmerung. Die Kämpfer waren nicht viel mehr als Schemen. Coyala wollte seinen Speer werfen, da sah er einen seiner Männer. Wie ein Tier kroch er auf allen vieren heran, strauchelte und fiel vor dem Häuptlingssohn zu Boden, drehte sein Gesicht nach oben und versuchte zu sprechen; ein Blutstrom schoß aus seinem Mund. Er murmelte. Coyala beugte sich über ihn und entging dadurch einem Steinwurf. »Was ist geschehen?« fragte er leise. Er konnte den Tod riechen. »Sie sind alle wahnsinnig! Dieser… Medizinmann…« Als der Körper zuckend auf den Rücken rollte, sah Coyala den abgebrochenen Speer, der im Gürtel des Mannes steckte. »Coyala!« In dem Schrei lag die Furcht des Mannes. Der Krieger richtete sich auf. Unter ihm, zehn Handbreit tiefer, brach ein Angreifer zusammen. Ein Speer steckte in seiner Brust. Dann war wieder ein schwirrendes, heulendes Geräusch zu hören; in der Schulter eines Angreifers schlug ein blitzender Speer ein. Coyala sah sich verstört um. »Dort drüben – auf dem Felsen!« Es war unheimlich. Plötzlich, beim ersten Eindruck dieses Bildes, schien sich für Coyala die Umwelt zu verändern. Er ahnte, ohne zu denken, dass für sie eine neue Zeit kommen würde oder schon gekommen war. Er blieb unfähig, sich zu rühren; er registrierte unbewusst, dass alle anderen Männer in diesem Felsenkessel aufgehört hatten zu kämpfen. Eine neue Welt, eine andere Zeit, verkörpert durch das Wesen, das oben auf dem Felsen stand. Ein riesiger Mann. Er trug einen anliegenden Helm mit Federschmuck, einen schweren Brustschmuck aus Gold und einen breiten Gürtel, in dem drei Dolche steckten. Vor seinen
Füßen stand ein Schild, kreisrund, mit einer leuchtenden, federverzierten Schlange geschmückt. Die Arme waren durch breite Lederbänder geschützt. Unter dem Helm sahen lange weiße Haare hervor; die Augen schienen zu leuchten. Der Mann hielt in der linken Hand ein gebogenes Stück Holz, auf dem wieder einer der kleinen Speere ruhte. Das Holz streckte sich mit einem harten Schlag, dann heulte der Speer durch die Luft und schlug in den Schenkel eines Angreifers. Der Schmerzensschrei schreckte alle Krieger auf, im gleichen Augenblick fielen die Sonnenstrahlen auf den fremden Gott und ließen ihn aufleuchten wie die Oberfläche eines Wassers. Ein häßlicher, unvergeßlicher Schrei! Der weiße Kondor flog dreimal um den Felsenkessel und blieb dann flügelschlagend über dem Gott. Dann senkte er sich und kauerte sich neben den chimalli nieder. Schreiend flohen die Angreifer, ließen ihre Toten und Verwundeten zurück, warfen die Waffen weg und stoben davon. Binnen kurzer Zeit verhallte ihr Geschrei zwischen den Uferfelsen. Der Gott rückte den Behälter voller kleiner Speere zurecht und hob den Arm. Dann deutete er auf Coyala und fragte mit hallender Stimme: »Du bist der Sohn des Häuptlings der Tlatilco?« Coyala erschrak, seine Knie zitterten und gaben unter ihm nach. Er fiel auf das Gesicht und streckte die Arme aus. »Steh auf!« Er richtete sich auf, so dass seine Handflächen auf dem Boden ruhten. »Bist du Coyala?« Er konnte nur stammeln. »Ja.« Der Gott sagte: »Höre gut zu. Ich und mein Kondor sind zu euch gekommen, um zu helfen. Wir kommen aus einem Land, das dort liegt, wo die Sonne aufgeht. Unser Zeichen ist die Schlange. Nach uns werden andere kommen, in einem Floß, das größer ist als eure Flöße. Wir haben euch geholfen, die
Angreifer der unteren Stämme zu besiegen. Wir werden euch helfen, satt und klug zu werden.« Dann schwebte der Gott langsam auf Coyala zu. Das nie gehörte Geräusch hörte auf, als der Gott vor dem Häuptlingssohn auf den Felsen stand. Der Kondor schwang sich in die Luft und entfernte sich in kleinen und immer größer werdenden Kreisen. Mit hilfloser Stimme fragte der junge Krieger: »Du wirst uns nicht töten, Gott der federgeschmückten Schlange?« »Nein!« Der Gott sprach ihre Sprache, aber er sprach sie in einer feineren Art, das merkte Coyala unbewußt. »Was sollen wir tun?« fragte er heiser. »Sammelt eure Toten und Verletzten. Ich werde mit dir Vorausfliegen.« Er streckte einen Arm aus und ergriff den Krieger beim Gürtel. Dann hörte Coyala wieder dieses merkwürdige Geräusch, wie von einem Schwirrholz, und war unfähig, sich zu rühren. Er zitterte an allen Gliedern vor Angst, ließ aber die Obsidiankeule nicht fallen. Als er, vom fremden Gott getragen, über dem kleinen Platz inmitten der Siedlung schwebte, rannten alle Menschen schreiend davon. Der Gott sagte leise: »Ich werde euch lehren, mich nicht zu fürchten.« Coyala konnte nur stottern: »Damit musst du bei mir anfangen.« Sie standen sich gegenüber; Coyala musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um den Gott anzusehen. Was er sah, erfüllte ihn mit Staunen. Alles an diesem Fremden, der wie ein Vogel fliegen konnte, war unglaublich schön, glänzend, wertvoll und neuartig. Als er das gekrümmte Holz von den Schultern nahm, schwang ein dünnes Seil wie eine Liane und gab einen brummenden Ton von sich. Coyala flüsterte: »Wir werden dir eine prächtige Hütte bauen, oben auf den
Felsen!« »Ich werde euch zeigen, wie man gute Hütten baut, die viele Jahre stehen, im Winter warm und im Sommer kühl sind«, sagte der Gott. Coyala nickte langsam. »Wirst du lange bei uns bleiben?« »Lange genug; so lange, bis ich euch gelehrt habe, was ihr wissen müsst.« »O Gott der gefiederten Schlange!« Coyala fürchtete sich davor, weiterzufragen, aber er schaffte es trotz seiner Scheu. »Warum willst du uns helfen?« »Die Götter sind dazu geschaffen worden, den Menschen zu helfen.« Der Gott hob die Hand. »Niemand darf sie fragen, warum sie etwas tun oder nicht; sie sind da und handeln nach ihrem Gesetz.« Wieder nickte Coyala. Er spürte plötzlich das Gewicht seiner Keule. Sie schien schwerer und schwerer zu werden. »Es ist gut«, sagte er. »Was können wir dir geben?« »Ich fürchte, ihr könnt mir nicht viel geben.« Der Gott lachte! Er lachte wirklich, als wäre er einer von ihnen. Immer noch leise lachend schloss er: »Darüber sprechen wir später – wenn es an der Zeit ist.« Cyr Aescunnar ließ die Folie sinken und sagte: »Stichwort ›federgeschmückte Schlange‹, also Quetzalcoatl. Dieses Erlebnis Atlans hat also im frühen Südamerika stattgefunden, oder auf der Landbrücke der Halbkontinente. Nach dem Tod Alexanders des Großen?« »Keine Ahnung«, sagte Chavasse. »Aber Sie werden’s selbst am schnellsten herausfinden, in Ihrer hochtechnisierten Klause. Ich habe diese Niederschrift für Ihre Chmorl-Universität besorgt. Nehmen Sie sie mit, Kollege Historiker.«
»Verbindlichen Dank im Namen der Historischen Fakultät.« Cyr stand auf und trank den Pokal leer. »Wie beurteilen Sie die Zukunft unseres Projekts? Wird ES noch einmal eingreifen – womöglich auf so dramatische Weise?« Der Computerspezialist hob die Schultern. »Das ist durchaus denkbar. Aber ES wird auf jeden Fall vermeiden, Atlan zu schaden. ES weiß, dass Atlan stirbt, wenn er nicht weitersprechen kann.« »Und um die Worte seiner unbewußten Katharsis nicht zu versäumen, fahre ich zurück in mein Forschungsbüro.« Aescunnar schüttelte Rogiers Hand. »Ich werde recherchieren, über die Olmeken und Mayas, bis Atlan wieder zu berichten beginnt. Nochmals Dank für das antike Schriftstück.« »Schon gut.« Chavasse brachte den Historiker zum Taxigleiter. »Ich bleibe in Kontakt mit Ihnen; inzwischen interessiert mich die Fertigstellung der ANNALEN selbst.« Cyr Aescunnar ließ sich zu seinem Apartment bringen, der Außenstelle der Historischen Fakultät. Oehmchen Orb, zusammen mit einem Säuberungsservice, hatte den großen Arbeitsraum und die Zimmer der Wohnung aufräumen und putzen lassen; auf der riesigen weißen Arbeitsplatte herrschte unkreative Ordnung. Aescunnar ließ sich in seinen Lehnsessel fallen und schaltete bedächtig die Kommunikationsgeräte ein. Zuerst tippte er eine Reihe Suchworte, vervollständigte die Anfrage an die Chmorl-Datenbank und rief die Informationen ab. Ein mehrfach gesicherter Kommunikationskanal verband das Studio mit jenem Raum der Überlebensstation, in der am 25. August dieses Jahres 3561 Atlan eingeliefert und einer Reihe Notoperationen unterzogen worden war: Jetzt war der desinfizierte Raum menschenleer, der sterile Glastank abgedeckt und ohne Nährflüssigkeit, die meisten Monitoren deaktiviert. »Alle, die um sein Leben zittern«, murmelte Aescunnar, »ha-
ben guten Grund, ruhig zu schlafen. Wenn Atlan – von sämtlichen Überlebensmaschinen abgekoppelt – überlebt, ist er wohl wirklich außer Gefahr.« Im Jahr 323 vor der Zeitwende, wenige Tage nach dem Tod des zweiten Zellaktivatorträgers auf Larsaf III, dem makedonischen Weltherrscher Alexander, war Atlan freiwillig in den Kältetiefschlaf zurückgekehrt. Wie lange hatte die nächste Schlafperiode gedauert? Welcher Anlaß hatte den Roboter Rico dazu gebracht, Atlan wieder zu wecken und – wann? Cyr Aescunnar kopierte den Bericht, den er von Chavasse erhalten hatte, schaltete einige Lampen an und begann über die Vorgängerkultur der Mayas zu lesen; seltsamerweise begann der ungenannte Wissenschaftler seinen Bericht mit der Feststellung, dass, ausgehend von etwa hundert Erstbesiedlern in Nordamerika, die Mammute jagten, nach Jahrtausenden zwölf Millionen Individuen genügt hatten, um die Mammute binnen weniger Jahrzehnte vollständig auszurotten. In den Jahren 600 bis 400 vor Christus, so lauteten die letzten verfügbaren Informationen, hatten sich die Mayas zu einer Hochkultur entwickelt; an der mexikanisch-guatemalischen Grenze, etwa in Nakbe nahe der Stadt Mirador. Bis zu 40.000 Bewohner hatte Nakbe; die rund 700 Wort- beziehungsweise Silbenzeichen ihrer Schrift waren zur Hälfte entzifferbar. Aescunnar speicherte die Daten, die von beobachteten Supernovae handelten. Kurz nach dem Jahr 900 – nach der Zeitwende – löste sich das machtvolle Maya-Reich auf; die Maya, deren Kriege dem Erbeuten von Opfersklaven dienten, verschwanden aus diesem Gebiet. Cyrs nächster Datenabruf galt der Übersetzung aus der Sowjetskaja Etnografia von 1952, dem 20seitigen Aufsatz Jurij Knorosows, der die mit Logogrammen durchsetzte Bilderschrift gedeutet und erstmals den Zugang zur Schriftsprache des un-
tergegangenen Volkes ermöglicht hatte. Ein kurzer Abriß über die Lebensumstände der Mayas folgte: Zwei Millionen Menschen, auf einige Dutzend Königreiche verteilt, bevölkerten zum Höhepunkt den Dschungel von Yucatán; man aß Schnitzel aus Hundefleisch, schrieb von rechts nach links wie im klassischen Ägypten, glaubte sich von bösartigen Göttern aus der Unterwelt Xibalba bedroht, baute bis zu 70 Meter hohe Pyramiden, kämpfte mit Waffen aus Granit und Obsidian und schmückte sich mit Jade, führte ein Leben, das aus einer endlosen Folge seltsamer Rituale bestand – bis im Jahr 1519 der Eroberer Hernando Cortdés landete. Vor dem russischen Dechiffrierer entzifferte der französische Orientalist de Rosny 1876 die Glyphen der Himmelsrichtungen Nord, Süd, Ost und West: xaman, nohol, lakin und chikin. Ernst Förstemann gelang es etwas später, das Zählsystem, das (›Vigesimale‹) auf der 20 beruhte und die Große Runde, die Zeitrechnung, zu enträtseln; sie beginnt mit dem 11. August 3114 vor der Zeitwende. Heinrich Berlin fand die Zeichen von sieben Mayastädten, schließlich grub man den »Herrscher Zwei« aus, einen kriegslüsternen Mayaherrscher, der sein Königreich Petexbatun durch Eroberungskriege so drastisch vergrößerte, dass alle Bauern in die Städte flüchteten, den Landbau vernachlässigten und eine ökologische Katastrophe auslösten – rund 80.000 Quadratkilometer Land wurden verwüstet; die Mayas verließen die Städte, wanderten fort und verschwanden. »Das also war das Ende«, murmelte Aescunnar. »Wie war der Anfang? Die so genannten Epi-Olmeken gelten als Vorläufer der Mayas. Hat sie etwa unser Held der Vergangenheit besucht und gefördert?« Auf der Stele von La Mojarra, deren Text etwa 150 Jahre nach der Zeitwende eingehämmert wurde, berichtete der Olmekenfürst ›Bergernte‹ aus seinem Leben. 500 vor Christus – acht-
hundert oder weniger Jahre vor der Blüte der Maya – ging die Olmekenkultur zugrunde; weit verstreute Epi-Olmeken überlebten. Die Maya entwickelten ihre Schrift aus den olmekischen Symbolen heraus wie Terrence Kaufmann und John Justeson feststellten. Auch die Mayas verherrlichten den Jaguar, der halb menschlich, halb als Tier dargestellt wurde – die Olmeken glaubten wie sie, dass sich Menschen in Wer-Jaguare verwandelten. »Nichts ist unmöglich«, murmelte Cyr und bereitete Landkarten Terras und Ausschnittvergrößerungen vor. »Wenn wir heute annehmen müssen, dass Rico den Pyramidenbau mit ausrechnete und womöglich die Irrfahrten Odysseus’ dokumentierte, ist es wahrscheinlich, dass Atlan sich auf dem Planeten Nicoja Cuaualan an Olmeken oder frühe Mayas erinnert.« Cyr sammelte seine Informationen und fing an, eine Auflistung sämtlicher Zeiten und Namen zu gliedern, die mit Atlans Besuchen auf der Planetenoberfläche zu tun hatte; Oehmchen Orb kam herein und zog ihn zum Abendessen an die Küchenbar. Seit langer Zeit schlief Cyr Aescunnar ohne jede Furcht vor Blindheitsanfällen und ohne medizinische Unterstützung. Die Illusion des Bildes meines Sohnes, das sich immer wieder mit dem Bild des jungen, fast weißhaarigen Alexander von Makedonien mischte und überlagerte, verblich; vom großen Holografieprojektor wich das Bild des alten Sehers Kolchis. Seine brüchige Stimme schwieg. Wie lange war ich medizinisch so gut wie tot gewesen? Warum war ich geweckt worden? Neben meinem Ohr sagte eine wohlmodulierte Stimme: »Ich habe dich zweier Gründe wegen geweckt, Atlan.« Mühsam bewegte ich meine Lippen; mein Kehlkopf schmerzte, ich lallte: »Wer… spricht?« »Der einzige, der außer dir im Tiefseeversteck lebt: hier
spricht Rico, der Robot. Ich musste dich wecken, weil alle Geräte und Sensoren übereinstimmend aussagen, dass Fremde auf deiner Welt gelandet sind. Der zweite Grund: Vor einiger Zeit trieb der Sturm ein großes Schiff von irgendwoher direkt über unsere Schutzkuppel. Es liegt am Strand der Insel.« Die Stimme Kolchis’ murmelte im Hintergrund. »…die Menschen werden dir von allen Seiten hilfesuchend die Hände entgegenstrecken, denn in dir werden sie die Hoffnung sehen und eine besondere Art von Liebe. Sie werden dich anflehen, du mögest ihnen aus dieser Wirrnis heraushelfen, du mögest den umherirrenden Geistern das klare Licht der Weisheit zeigen… und das wirst du tun, viele Geschlechter lang.« Kolchis’ Stimme schwieg. Auch er war Bestandteil meiner letzten Gedanken vor dem Einschlafen gewesen, neben Charts und unserem ungeborenen Kind, mit Freund Odysseus und Daganya zusammen und mit Ptah-Sokar, ehe ich vor… wie langer Zeit?… eingeschlafen war. Ich konnte nicht richtig aufwachen, ohne dass mein Verstand mit Klängen, Worten, Farben, Stimmungen und Bildern überflutet wurde und auf diese Weise entscheidende Impulse bekam; meine gesamte Physis musste behutsam auf den gefahrvollen Pfad des Erwachens gesetzt werden. Der Schlaf heilt die Wunden des Geistes, hatte Kolchis gesagt. Rico hatte mich geweckt, er war ein wesentlicher Bestandteil meines einsamen Lebens auf Larsafs drittem Planeten; er kontrollierte sämtliche Reanimationsgeräte und steuerte in den folgenden Stunden und Tagen die Aktivierungsduschen, den Schwingungsgenerator, die vielfältigen Massageeinheiten und die Versorgung mit flüssiger Nahrung, die ›Farborgel‹ – also sämtliche Bildschirme, Aufzeichnungen, Weltkarten, geschichtlichen Analysen der Geräte auf dem Kommunikationsdeck und den Vibratorensessel. Systematisch lief jede Einzelheit ab, die der einsame Arkonide brauchte, um aus der To-
desstarre eines Biotiefschlafs ohne Schädigungen aufzuwachen, der Einsame der Zeit, der seit rund 77 Jahrhunderten nach Untergang von Atlantis auf diesem Planeten wartete, Angriffe aus den Tiefen des Universums abwehrte und noch immer verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, den Heimatplaneten Arkon wieder zu erreichen. Als ich mühsam gehen und meine schmerzenden Muskeln bewegen konnte, fragte ich: »Wie lange habe ich geschlafen?« »Es sind – ein Zufall? – genau sieben Jahre, Gebie… Atlan.« »Wie sieht die planetare Welt aus, Rico?« Noch immer sah er absolut verwechselbar menschlich aus: wie ein hochgewachsener Rômet in griechischer Kleidung und dezentem Schmuck, mit kurzem schwarzem Haar. Er deutete vage auf die Holoprojektionen, Bildschirme und Monitoren und sagte: »Kaum anders als zu der Zeit, in der du eingeschlafen bist, Kapitän vieler zeitlicher Stürme. Die Kulturen, auch jene, denen du geholfen hast, schreiten ihrer Höhe entgegen, haben sie überschritten oder befinden sich auf dem kulturellen und zivilisatorischen Niedergang – du wirst bald meine Analysen und die der Zentralpositronik verstehen können. Und immer wieder gründen sich neue Zellen viel versprechender junger Kulturen. Ein ständiges Werden und Vergehen, wie im Jahr der Pflanzen.« »Noch kein Versuch eines Vorstoßes zu den Planeten des Systems?« »Nein. Bis dahin wird es noch tausend Kriege geben, und viele Jahrhunderte werden vergehen.« Stunden summierten sich zu Tagen, ich verstand und begriff mehr und mehr, und schließlich, nach vielen Stunden der Bestrahlung durch Solarlampen und Ultraviolett-FilterBräunung, unter der mein bleicher Körper annähernd ›men-
schenähnlich‹ wurde, verfügte ich, wie ich meinte, wieder über alle fragwürdigen Segnungen meines Verstandes. Ich fragte: »Diese Fremden – Raumfahrer? – was ist geschehen?« Rico brachte es fertig, dank seiner perfekten Verkleidung, verlegen zu wirken; seine Gestik war alles andere als maschinengebunden. »Es ist nicht zu bezweifeln, dass vor vier Mondwechseln ein Raumschiff gelandet ist. Die Fremden landeten sehr geschickt; ich hielt das Objekt mit all den tarnenden Nebeneffekten für einen größeren Mikrometeoriten. Sie kamen in unterlichtlangsamem Flug zum Planeten, und noch weiß ich nicht, an welcher Stelle westlich unserer Insel sie wirklich gelandet sind. Es gibt eine Serie Anmessungen kleinerer Energieausbrüche, aber keine optisch klar auszuwertenden Beobachtungen. Ich kann noch keine Analyse des Ziel- oder Landegebietes vorlegen.« »Seit wann beobachtest du die Energieemissionen?« »Seit hundertein Tagen. Ich wollte, bevor ich dich weckte, erst unbedingt sicher sein. Und dieses Raumfahrzeug…« Ich raffte den weißen Bademantel am Hals zusammen, hob den Arm und sagte: »Später, Freund Rico…« Nacheinander warf ich acht winzige Spinnsonden aus und schaltete die betreffenden Sichtschirme ein. Langsam erwachten weitere Bereiche meiner Unterwasserkuppel zu trügerischem technischem Leben. Ich beschloss, den Stand der Kulturen in allen Teilen der Welt zu betrachten und meine Schlüsse daraus zu ziehen. Einige Tage später wusste ich ziemlich genau, was die Oberfläche dieser Welt beherrschte: Krieg, Aufstieg und Abstieg. Alte Kulturen waren vergessen, neue entstanden, im Augenblick erwachte das Reich Qart Hadasht. Und: Auf dem zweigeteilten Kontinent im Westen erwachte die erste, zaghafte Kultur – und war auch wieder bedroht. Ich
würde dort ansetzen müssen.
2. Tage später: Ich saß im schweren Sessel vor den Schirmen und konzentrierte mich auf das, was ich sah. Irgendwo war ein Schiff gelandet; die seit Tagen suchenden Sonden hatten Serien interessanter Bilder zurückgefunkt, aber das Schiff war nicht gefunden worden. Irgendwo verbarg es sich, und mit dem Schiff verbargen sich gleichermaßen die Absichten der Ankömmlinge und deren Aussehen. Je mehr ich nachdachte, je mehr ich sah, desto größer wurde die Unzufriedenheit. Ich, Atlan, Kristallprinz aus dem Geschlecht der Gonozal, war das einzig wirklich intelligente Wesen auf diesem Planeten. Ich wartete auf eine Möglichkeit zur Rückkehr, und vieles, was ich unternahm, diente diesem Zweck. »Atlan?« fragte Rico. Ich drehte den Kopf. »Was wirst du unternehmen?« Ich sagte entschlossen: »Wie viel zu oft – zwei Dinge zur gleichen Zeit. Ich werde weitersuchen, bis ich einen Ansatzpunkt entdecke. Dann versuche ich, eine erfolgversprechende Kultur zu fördern und das Schiff zu finden. Ich bin noch etwas unsicher«, ich deutete auf die farbigen Schirme, auf denen die Bilder erschienen, von den Sonden im langsamen Tiefflug aufgenommen, und fuhr fort, »was zu tun ist. In einigen Tagen, wenn ich völlig einsatzbereit bin, weiß ich mehr.« Nach dem Ende des Trojanischen Krieges vermischten und trennten sich die Kulturen rund um das große Binnenmeer. Die Steinzeit, auch die Zeit der Bronze, schien überall beendet zu sein – oder fast überall. Bis auf ein Gebiet weit entfernt vom Mu-Wer, dem ›Großen Grünen Meer‹. Meine Saat, die ich bei meinem ersten Eingreifen auf diesem Planeten ausgestreut
hatte, schien nach mehr als siebentausend Jahren aufgegangen zu sein. Die Wanderung der Steinzeitmenschen aus der Richtung des nördlichen Pols nach Süden hatte um die zahlreichen Buchten im Einschnitt zwischen den beiden riesigen Halbkontinenten westlich der Tiefseekuppel endsteinzeitliche Kulturen entstehen lassen. Es waren viele Stämme, die eine gemeinsame Sprache in vielen Dialekten benutzten; meist Jäger und Sammler, aber dann sah ich etwas Erstaunliches. Ein Stamm baute eine Bergfestung, hinter der ausgedehnte Felder lagen. Dort hatte ich einen Angelpunkt. »Das Schiff, das im Sturm nach Westen getrieben wird!« erinnerte mich der Robot. »Ja. Ich hatte es nicht vergessen.« Ich steuerte eine Sonde weit in die Atmosphäre des Planeten. Als ich den Sturm in seiner ganzen Ausdehnung auf dem Schirm hatte, ließ ich die Sonde nach unten fallen und suchte drei Stunden lang in heulendem Wind, zwischen riesigen Wellen und schäumender Gischt, bis ich das Schiff fand. Langsam und kreisend begleitete die kopfgroße Sonde das Schiff. Ich lachte. »Du lachst über ein Schiff, das in Sturmnot geraten ist?« fragte Rico verwundert. »Nein«, sagte ich entschlossen. »Ich lache, weil ich eben einige gute Einfälle hatte. Was siehst du auf diesem Schirm?« Wir sahen ein Schiff aus Qart Hadasht, der blühenden Stadt an der Nordküste des Landes, in dem einst das Reich der Rômet am Hapistrom unter den Herrschern im Per-Ao entstanden war. Es schien ein Sklavensegler zu sein, denn die Besatzung, etwa fünfundvierzig Köpfe stark, bestand aus hellund dunkelhäutigen Menschen in verschiedenen Kleidern. Ein Kapitän aus dem phoinikischen Qart Hadasht, einige Matrosen, die unverkennbar Rômet-Züge trugen, etwa zehn Frauen oder Mädchen, ein Mann mit blauen Augen, vielleicht ein
Nordländer. Langsam trieb das Schiff mit zerfetzen Segeln im Sturm. In ledernen Eimern wurde Wasser gelenzt, einige Männer versuchten, unter dem Hinterdeck ein Segel zu flicken. Tauwerk flog im Wind, und drei Männer arbeiteten verzweifelt am Doppelruder. Das Schiff war gefährdet, aber der Kapitän war ein Meister seines Faches. In wenigen Tagen würden Sturm und Strömung das Schiff genau dort hintreiben, wo ich es brauchte – ich hatte, ohne es zu wollen, Helfer gefunden: nahe meiner Insel. »Ich verstehe«, sagte Rico. »Du wirst diesen braunen, kleinen Steinzeitmenschen die Kultur bringen?« »Sicher werde ich dazu beitragen, dass sich um mich einige Sagen bilden, aber ich habe auch den Weg zwischen dem alten Kontinent und dieser neuen Welt geöffnet, wenn ich zurückkehre. Und, vergiß nicht, was die Maschinen eben herausgefunden haben!« Rico blieb neben mir stehen und betrachtete den Schirm. Der Bauch des Schiffes schien voll von Handelsgütern und Waffen zu sein, von Nahrungsmitteln und Wasserschläuchen. Sie würden es schaffen; nötigenfalls musste ich nachhelfen. »Dort, inmitten der Steinzeitjäger, soll das Raumschiff versteckt sein?« Ich zuckte mit den Achseln. »Schön wäre es. Ich habe es bisher nicht entdeckt. Nur ein undeutlicher, energetisch sehr schwacher Impuls wurde von dort aufgefangen, dann herrschte wieder Stille.« Rico wandte sich um und fragte: »Was brauchst du als Ausrüstung?« Langsam zählte ich auf, was ich mit Sicherheit benötigen würde. Rico versprach: »In einigen Stunden ist alles bereit. Nimmst du Hunde, Falken oder Wölfe mit, oder den silbergrauen Löwen, den es dort gibt?« Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Diesmal sollen die Maschinen einen Vogel konstruieren. Er muss über folgende Fähigkeiten verfügen…« Ich zählte sie detailliert auf, holte aus den Speichern der Bildaufzeichnungsgeräte das Abbild eines Vogels hervor, den eine der Sonden über dem Bergland hinter der größten, fast geschlossenen Bucht in der Mitte beider Erdteile gesehen hatte. Rico sagte: »Die Eingeborenen nennen ihn ›Kondor‹.« »Ich weiß.« Ich programmierte mit Ricos Hilfe und unter Anwendung der Technologie, die bei der Konstruktion meiner Robothunde und -wölfe mitgeholfen hatte, die Konstruktion des riesigen Geiers. Kunststoff und Stahl, Elektronik und ein winziger Energiemeiler würden sich zu einem strahlend weißen Vogel verbinden, dessen äußerste Schwungfederspitzen blauschwarz waren. Mehr als elf Handbreit lang, fast dreißig Handbreiten spannten beide Schwingen. Der Vogel wurde mit einer Achtundvierzig-Stunden-Speicherautomatik ausgerüstet, die vorprogrammiert war und nur wichtige Szenen, Bilder und Geräusche aufnehmen und abspielen konnte. Theoretisch konnte der Vogel, wenn seine Antigrav-Einrichtungen liefen, dreimal mein Gewicht tragen. Er würde so echt wie einer der dunkelbraunen Aasfresser aussehen. Krallen und Klauen, Schnabel und Augen waren blutrot. Die Herstellung der Kunststofffedern würde schwierig werden, aber mein Vogel konnte selbst im Regensturm unvermindert gut und schnell fliegen. Dies war, dachte ich an die abergläubischen Steinzeitler, ein Zeichen, dass ich eine Art Gott war – ich hatte weniger Schwierigkeiten, Denkanstöße zu geben und neue Techniken einzuführen. Und, was noch wichtiger schien: Der Vogel konnte ein wertvoller Helfer gegen die Fremden sein. Fünfmal hatte ich die Erfahrung gemacht: Fremde schienen leider immer Feinde zu sein. »Die Programmierung ist abgeschlossen!«
»Ja. Stellt diesen Kondor her!« Ich beobachtete sorgfältig und stellte die Ziermuster meiner Kleidung auf das Vorstellungsvermögen der späten Steinzeitler ab. Sandalen mit weicher Sohle und einer Schäftung bis unter das Knie, Lederhemden mit Zierstickerei und langen Ärmeln, einen riesigen Mantel mit auffallendem Muster, den ich als Schlafdecke oder als Zeltdach verwenden konnte… ein breiter Gürtel, in dem meine unsichtbare, hochtechnisierte Ausrüstung versteckt war. Ein runder Schild (ich suchte lange in der Vorstellungswelt der Jäger und Ackerbauern, bis ich die richtige Verzierung fand!), Bogen und zweihundert Pfeile, Messer, Dolche und eine Streitaxt. Natürlich auch die versteckten Strahler und alles übrige. Dazu die medizinische Ausrüstung, Folie und Stifte für Skizzen und vieles andere. Als die Maschinen alles hergestellt hatten, lagen umfangreiche Bündel in Form von Ledersäcken neben meiner neuen Kleidung. Ich konnte aufbrechen. Rico blieb neben mir stehen und fragte mit Besorgnis in seiner Robotstimme: »Du rechnest dir Chancen aus, dieses Mal das Schiff der Fremden zu finden und zu benutzen?« »Nicht mehr und nicht weniger als bei den vergangenen Vorstößen«, sagte ich. »Es ist schwer, optimistisch zu sein.« Ich konnte mich wieder in ein höchst zweifelhaftes Abenteuer stürzen. Zweifelhaft deswegen, weil niemand vorhersagen konnte, wie viel meine kulturellen Anstöße wert waren und wie viel Jahre sie überlebten. Auch nicht, was die Menschen daraus machten, ob sie die »Erfindungen« pervertierten oder nutzvoll anwendeten und von Stufe zu Stufe weiterentwickelten. »Wohin fliegst du zuerst?« Ich antwortete nachdenklich: »Zum Schiff. Ich brauche diese Schiffsbesatzung unbedingt. Sie muss und wird mir helfen.«
Wieder einmal versuchte ich es. Ich wusste ungefähr, was ich zu tun hatte, und trotz meiner wohlbegründeten Skepsis glaubte ich, eine echte Chance zu haben, das Raumschiff zu betreten. Vielleicht – aber das wagte ich mir nicht deutlich vorzustellen – war ein Schiff von Arkon gelandet. Ich würde es sehen und merken; es bestand die Gefahr, dass ich wieder tief enttäuscht wurde. Ich verließ die Station nachdenklich auf dem gewohnten Weg. Eine Stunde später raste mein schwerer Gleiter über den Ozean, auf den unsichtbaren Spuren des vom Sturm verschlagenen Schiffes aus Qart Hadasht nach Westen, einem neuen Erdteil entgegen, den ich kaum kannte. Bisweilen schien es mir, als ob dies der Untergang der Welt sei. Noch immer nahm der Wind an Stärke zu. Ich hatte so etwas noch nie in meinem Leben miterlebt, schon gar nicht einige Meter über den aufgewühlten Wellen des Ozeans. Der Sturm hatte den Gleiter im Rücken erfaßt und trieb ihn vorwärts, auf die dunkle Masse vor mir zu, die schräg im Wasser lag und –, zu tief im Wasser. Die schweren Maschinen des Gleiters fingen die Kräfte des Sturzes mühelos ab. Ich blieb, vorsichtig steuernd, hinter dem Schiff. Es hielt geradewegs auf eine schreckliche, schwarze Wand zu. Der Sturm war nicht mehr bewegte Luft, sondern schien eine kompakte Masse zu sein. Langsam holte ich auf und blieb im Sichtschatten des hochgezogenen Achterdecks, dessen Steven wie Hals und Kopf eines mich anblickenden Dromedars aussahen. Die Männer schufteten, mit dicken Tauen an das Deck gebunden, an dem langen, abgesplitterten Doppelruder. Ich hatte mehrere Tage lang die Sprachen, die ich brauchen würde, aufgenommen und im hypnotischen Schnellkurs gelernt, schaltete den Außenlautsprecher meines Gleiters ein, nahm ein Mikrofon in die Hand und schrie in der Sprache Qart Hadashts:
»Kapitän Hannas – an Deck!« Die Männer am Ruder rissen die Köpfe hoch und schlugen die Hände vor die Augen. Sekundenlang war das Schiff ohne Steuerung und schlingerte bedrohlich. Dann holte einer der nassen, bärtigen Männer aus und versetzte dem anderen einen schwungvollen Fußtritt: Wieder bewegte sich das Ruder unter dem Ansturm einer Woge. Ich brüllte: »Kapitän Hannas – ich rufe dich!« Die Verstärker waren auf volle Kraft geschaltet, die Lautsprecher klirrten, aber meine Worte waren verständlich. Ein triefender, bärtiger Mann kam den schmalen Niedergang herauf. Auch Hannas hatte sich durch ein Seil um seinen Gürtel gesichert. Er blickte ratlos um sich. Ich holte tief Luft und ergänzte: »Hannas – dein Schiff wird nicht untergehen. Wenn der Sturm nachgelassen hat, musst du genau nach Sonnenuntergang segeln. Dort ist eine Insel, am Ufer ist ein Wrack, es ist leicht zu landen. Helfer erwarten euch! In zwei Stunden ist der Sturm vorbei – großer Reichtum und feine Abenteuer warten auf euch!« Ich schaltete ab, bremste die Geschwindigkeit ab und wartete, bis das Schiff in der Wolkenwand verschwunden war. Mein Hinweis war begründet: Der Sturm war ein großer Wirbel, in dessen Ast, der nach Westen drehte, sich das Schiff befand. Er raste über diesen Teil des Ozeans hinweg und würde sich bald am Horizont totgeweht haben. Als ich sicher war, dass Kapitän Hannas auf unsere halbvulkanische Insel zusteuerte, stieg ich höher, über die Wolken und den Sturm, beschleunigte den verkleideten Gleiter und programmierte den Kurs auf die Landbrücke: In wenigen Stunden würde ich dort sein, wo seltsame Dinge geschahen – große Städte aus Stein im Urwald existierten neben steinzeitlichen Gruppen in der Nähe des Strandes. Pyramidenähnliche Bauwerke gab es ebenso wie
Binsenhütten. Rico und ich hatten beobachtet, dass ein erstes lichtvolles Aufzucken einer neuen Kultur gefährdet war durch abergläubische Jäger. Ich schlief ein paar Stunden im Gleiter, erfuhr von Rico, dass Kapitän Hannas die Insel erreicht hatte. Nachdem ich den Gleiter sorgfältig versteckt hatte, kontrollierte ich einen Teil der Ausrüstung und programmierte, etwa drei Stunden vor der Morgendämmerung, den großen Robotvogel. Das Summen der Antigraveinheiten war fast nicht zu hören, als er senkrecht aufstieg und zu kreisen begann. Rico und seine Subrobots erwarteten den Kapitän und seine Mannschaft. Psychostrahler und Geräte der Hypnoschulung umhüllten lautlos und unsichtbar die Menschen und führten sie in die Räume der einstigen Inselschule. Traktorstrahlen hoben das Schiff aus dem Wasser und setzten es nahe des zerfallenden Wracks ab. Augenblicklich begannen die Maschinen, den Kielraum zu leeren und jede Handbreit des Schiffes zu überprüfen, auszubessern und zu verbessern. Zuerst wurden sämtliche alten Taue durch ähnlich aussehende Kunststoffleinen und -trossen ersetzt, die Beschläge erneuert, das Segel, der Unterwasseranstrich, eine Vergrößerung des Kiels und hunderte anderer Einzelheiten; Ausrüstungsgegenstände, die ich – wahrscheinlich – brauchen würde, wurden an Bord festgezurrt. Schläfrig, halb willenlos, ohne mehr zu begreifen, als dass es ihnen gut ging, ließen die Mannschaftsmitglieder und die Sklaven eine gründliche Behandlung durch die Medorobots über sich ergehen, lernten in der Hypnoschulung die Grundregeln und einen beachtlichen Wortschatz einer neuen Sprache, wurden gegen eine Handvoll Krankheiten geimpft und, soweit nötig, entlaust und geschoren: Kleidung, Schmuck, Bewaffnung und Geräte des täglichen Lebens wurden aus den
Magazinen der riesigen Überlebensstation ausgesucht, leicht verändert und gegen die alten ausgetauscht. Sämtliche Programme und deren Lösung und Ausführung waren im Zentralrechner gespeichert; während ihr breitbauchiges Händlerschiff in ein seetüchtiges, sicheres Ozeanschiff verwandelt wurde, verlebten alle siebenundvierzig Insassen des namenlosen Binnenmeer-Seglers einen seltsamen Traum, der in tiefen Schlaf überglitt. Als sie zögernd, einer nach dem anderen, erwachten, war es auf ihrem Schiff, das sich am Ankerstein und einer Landleine hob und senkte, in der Brandung und den Dünungswellen des Meeres jenseits der ›Säulen des Melqart‹. Kapitän Hannas gab seine Befehle; er und seine Steuermänner wussten bis auf die Sternbilder genau, was sie tun mussten, um ihr Traumziel anzusteuern. Das namenlose Schiff legte ab, umfuhr die Nordhälfte der Insel und ging auf Westkurs. Nachdem die Krieger vertrieben worden waren, durch die Erscheinung eines fliegenden weißhaarigen Gottes, stand ich neben dem Häuptlingssohn in der Mitte des Dorfplatzes. Ich sah mich schweigend um: Selbst die einfachste Siedlung der frühen Achaier war massiver ausgeführt und übersichtlicher errichtet gewesen. Dennoch erkannte ich den Willen der kleinen, dunkelhäutigen Menschen, sich inmitten der Natur zu behaupten. Wie hatten sie mich genannt? Quetzalcoatl. Gott der gefiederten Schlange. Das bezog sich auf das Bild meines Schildes. Ich wandte mich an Coyala, der schweigend und regungslos neben mir stand, und sagte leise, ohne jede Autorität: »Ich glaube, ich werde lange bei euch bleiben – später kommen andere Männer und Frauen aus meinem Land. Wir werden euch helfen.« Coyala war einen Kopf kleiner als ich und nicht so schlank;
mehr gedrungen, mit mächtigen Muskeln, einem kurzen Hals und einem runden Kopf. Das Haar war blauschwarz, die Augen glühten dunkel. Aber es lag eine tief verborgene Kraft in diesem etwa neunzehnjährigen Mann, eine unberührte Ruhe und Gelassenheit, trotz des Unbehagens, das ihn erfaßt hatte. Er sagte zögernd, als fürchte er, »seinen« Gott wieder zu vertreiben: »Du kamst mit einem Kondor?« Ich nickte und betrachtete die Landschaft, die sich hier erstreckte. Nach kurzem Überlegen stellte ich fest, dass der Standort der Siedlung schlecht gewählt war. Geheimnisvoll leuchteten die Berghänge im Westen auf, als die Morgensonne darauf schien. »Aber… wir haben nicht oft einen Kondor hier gesehen!« stellte Coyala fest. Vor uns, im Eingang eines Hauses, erschien ein Kopf. Es war ein älterer Mann mit einer blutverkrusteten Wunde auf der Stirn. Ich wusste, dass dies Coyolas Vater war. »Der Kondor ist eigentlich weit im Mittag zu Hause«, sagte ich, »aber er wurde mein Totem, weil er ein mächtiger Vogel ist. Wieviel Menschen leben hier?« Coyala zeigte seine Finger. »Dies… so viele Male, wie ein Mondwechsel Nächte hat.« Also ungefähr dreißig mal zehn, dreihundert Menschen. Ich hob die Hand. »Ihr seid die Sieger dieses Kampfes. Ihr habt Rechte. Was werdet ihr jetzt tun?« Coyala stampfte mit dem Fuß auf und sagte laut: »Wir tun das, was sie mit uns getan hätten. Wir überfallen die Dörfer aus Binsenhütten«, sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Abscheus, »töten die Männer und nehmen die Kinder und die Frauen mit.« »Das sollt ihr tun«, sagte ich. »Aber: Nehmt nur die jüngsten Frauen und die gesündesten Kinder mit. Laßt die Männer am Leben – wir brauchen sie noch.«
»Warum?« »Ich erkläre es dir später. Nimm viele deiner Krieger und hole sie… nein! Du bist jung und bleibst bei mir. Dein Vater, ein erfahrener Krieger, soll den Zug führen. Macht schnell!« Ich hatte schnell einen Plan gefasst, der innerhalb kurzer Zeit Erfolg versprach. Etwa eine halbe Stunde später saß ich mit einigen älteren Männern des Stammes auf provisorischen Sesseln aus Felsstücken und erklärte ihnen, warum sie nur die jüngsten Frauen und die gesündesten Kinder, aber keine Männer mit sich schleppen sollten. Tuxpan, der Häuptling der Tlatilco, streckte seinen Arm aus und wollte eben etwas sagen, als ein Krieger herbeistürzte. Er warf sich vor uns auf den Boden und rief leise: »Ahuitzotla war nicht tot, Coyala! Er ist verschwunden. Eine blutige Spur führt über die Felsentreppe hinunter.« Ich ließ mir erklären, was es mit diesem Mann auf sich hatte, und erkannte, dass er eine potentielle Gefahr darstellte. Als der Krieger aufstand, bemerkte ich quer über seiner Brust eine tiefe Wunde. Das erinnerte mich daran, dass ich noch mehr Gepäck bei mir hatte. Ich stand auf und deutete auf den Spalt in der Mauer. »Geht jetzt«, sagte ich leise, aber deutlich. »Holt die Beute. Nehmt ihnen nicht zuviel Waffen weg; sie können sonst nicht jagen, und das brächte sie um. Ich bleibe hier.« Da sich in den nächsten Stunden nichts Wunderbares mehr ereignete, trauten sich die Kinder und der Rest der kleinen Bevölkerung wieder aus den Hütten heraus. Sie brachte uns Essen und Wasser, Früchte und Fladen aus zerstoßenen Körnern, und die Hitze des Tages nahm zu. Die Menge der neu auftretenden Probleme ließ mich vorübergehend meine Besorgnisse vergessen, und im Geiste schmiedete ich eine Reihe Pläne. Coyala sagte plötzlich ehrfürchtig:
»Du kommst aus dem Land, wo die Sonne aufgeht. Du bist von heller Haut und hast gelbes, fast weißes Haar. Du bist gekommen wie ein Gott und sprichst mit uns wie ein Mann aus unserem Volk. Warum willst du uns deine Künste lehren?« Immer, das hatte mich meine Erfahrung gelehrt, nahmen primitive Menschen dieses Planeten in Krisen oder Krankheit, wegen Schmerzen oder drängender Fragen Zuflucht zu dem Fremden, Neuen in ihrer Mitte. Sobald sie mich als Menschen – oder als Wesen – mit höherer Bildung und mehr technischen und handwerklichen Möglichkeiten erkannt hatten, würde ich gewonnen haben. Aber was gewann ich für mich? Nichts. Höchstens Kampf und Auseinandersetzung. Ich musste gewinnen, um ihnen zu helfen, und um sie zu lehren, sich selbst helfen zu können und jede Art handwerklicher Kenntnisse weitergeben zu können. Ich antwortete bedächtig und so laut, dass mich auch die Umstehenden hören konnten: »Dort, wo ich herkomme, haben alle Menschen die Fähigkeiten und Künste, die ich beherrsche. Oder fast alle. Ich werde so lange bei euch bleiben, bis ihr alles das könnt, was meine Freunde können. Dann gehe ich wieder – aber das dauert noch viele Mondwechsel.« Coyala fragte: »Was brauchst du von uns?« Ich zählte an den Fingern ab. »Ein leeres Haus und Essen, die besten Handwerker deines Stammes, Bretter aus Holz und Lehm, Steine und einige Lampen, die mir bei meiner Arbeit leuchten.« »Lampen…?« fragte er gedehnt. Ich hob die Hand. »Zuerst das Haus. Ich muss irgendwo meine Schätze ausbreiten können.« Coyala sah schweigend hinüber, wo die gefallenen Krieger seines Stammes lagen. Er hob den Kopf und deutete auf ein größeres Steinhaus, das fast am Rande des Abgrundes stand.
»Tenenga ist gestorben«, sagte er. »Er war ein junger Krieger und sollte dort wohnen. Willst du sein Haus?« »Ja«, antwortete ich. Wir gingen langsam zwischen den Häusern darauf zu. Ich brauchte nur geringfügige Änderungen vorzunehmen, dann hatte ich, was ich brauchte. Ich betrat das dunkle Haus, sah mich um und sagte dann: »Die Frauen sollen Lehm bringen und klein geschnittenes Stroh von den Maishalmen. Sie sollen es vermischen und auf dem Boden feststampfen. Dann müssen hier an dieser Stelle die Steine entfernt werden. Legt ein dickes Brett darüber – dann kann die Sonne hereinscheinen. Einen Tisch… das werde ich selbst tun. Willst du mir helfen?« Er nickte begeistert. »Komm!« Ich legte, bis auf Bogen und Köcher, meine hinderliche Ausrüstung ab und lehnte sie an die Wand. Wir verließen die Siedlung, betraten die Felder und schritten aus dem Sichtbereich der Siedlung. Ich schaltete mein Flugaggregat ein, griff nach dem Gürtel Coyolas und fuhr das Aggregat auf volle Leistung. Coyala schloss die Augen und war unglaublich mutig. Einige Atemzüge später landeten wir dicht neben meinem Gleiter. Ich riskierte es – wir flogen mit dem Gleiter zurück zur Siedlung. Als die Sonne unterging, lag ich ausgestreckt auf einem harten, aber nicht unbequemen Lager. Felle und Binsenmatten machten den Raum einigermaßen wohnlich. Eine Energiezelle war an eine Lampe angeschlossen. Wenn ich den Kopf drehte und mich aufrichtete, sah ich über das gesamte Tal hinweg. Auf einem Felsvorsprung, drei Meter unterhalb der Mauer, kauerte der Robot-Kondor und bewachte meinen Schlaf. Alles versank in der Dunkelheit. Kein Licht, außer dem der Sterne, bis der Mond sich als volle Scheibe hinter der unsicht-
baren Horizontlinie des Meeres hochschob. Die Landschaft verschwand in der Schwärze. Bäume und Hügel, der F1ußlauf und die Siedlung. Ich bewegte die Hand und schaltete die Lampe aus. Der Schlaf kam über uns, selbst über die Frauen, die um die Toten trauerten. Ich glitt in einen wüsten Traum hinüber. Ahuitzotla, der Medizinmann, der die anderen Stämme gegen die Tlatilco aufgehetzt hatte, taumelte die letzten Stufen der langen Felsentreppe hinunter. Er blutete aus mehreren Wunden und schleppte sich dahin wie ein Tier. Er war halb tot, aber eine seltsame Energie trieb ihn vorwärts. Der alte Mann murmelte vor sich hin. Es waren abgerissene Gedankenfetzen, teilweise delirierte er. Er kannte nur eins – das Ziel: hinter dem Urwald… dort ist ein Stamm von mächtigen großen Kriegern… sie hausen auf der Spitze eines Berges und warten… nicht auf mich… und sie brauchen Hilfe, wenn sie die Steine bewegen wollen… sie warten… wenn ich ihnen berichte, dass ich ihnen die Mädchen geopfert habe… dorthin… sie werden mich retten… sie werden die Tlatilco vernichten… Schwankende Blätter berührten seine Stirn. Wurzeln stellten sich ihm in den Weg, und er spürte die Bisse der Ameisen nicht. Irgendwann trank er, irgendwann fand er einige Früchte und aß sie. Und als sie kam, die furchtbare Sonne des Tages, legte er sich hin und schlief. Seine schmerzenden Wunden weckten ihn viele Stunden später. Als er wieder bei Kräften war, taumelte, rannte, stolperte und ging er weiter. Nach Westen. Viele Tage lang. Bis die braunen Berghänge auftauchten und er den schmalen Pfad wieder fand, den so viele vor ihm gegangen waren: Er suchte Hilfe bei den fremden Göttern. Glücklicherweise vergaß ich, sobald ich mich gewaschen und rasiert hatte, den nächtlichen Traum wieder, der mich mit Pa-
nik erfüllt hatte. Die Arbeit rief. Ich breitete meine medizinische Ausrüstung auf der unregelmäßigen Steinplatte aus, die auf drei großen Felsen ruhte, und rief Coyala herein. Ich brauchte eine Viertelstunde, bis ich seine unzähligen kleinen Wunden versorgt hatte. Mein Vorrat aus den Magazinen der arkonidischen Flotte war groß und vielfältig. Als die Sonne fast senkrecht über uns stand, hatte ich alle Krieger verbunden, Geschwüre behandelt und Dornen aus der Haut gezogen. Insektenvertilgungsmittel gesprüht und den Gebrauch von Seife erklärt, die ich paketweise im Laderaum des Gleiters gefunden hatte. Schließlich mochte ich nicht mehr; das Vertrauen der Männer wuchs von Stunde zu Stunde, und da sie es waren, die hier redeten, würden auch die Frauen ihre Scheu verlieren. Die Kinder waren ohnehin unbefangen. Coyala und ich saßen im Sonnenschein auf der Schwelle des Hauses und tranken Alkohol, den ich mitgebracht hatte. »Ihr seid jetzt dreihundert Menschen«, sagte ich. »Wenn die Krieger zurückkommen, wächst die Zahl. In einigen Jahren seid ihr viel mehr. Was dann?« Coyala begriff ziemlich schnell. »Du meinst, die Felder sind zu klein?« sagte er. Ich nickte und erwiderte: »Nicht nur die Felder. Alles. Ich sage dir, dass ihr bald diesen Berg verlassen müßt. Ihr braucht viel mehr. Wasser und Felder, Wald und jagdbares Wild. Und eine Gegend, in der ihr die Herren seid.« Sein Vertrauen war grenzenlos. Er bewies es durch seine nächste Frage. »Was sollen wir tun?« »Ihr sollt versuchen, ein größeres Gebiet unter euren Besitz und Einfluß zu bringen. Die Kinder deiner Kindeskinder müssen dort genügend Platz haben. Dann könnt ihr daran denken, Städte zu gründen.«
»Ich verstehe«, sagte er. »Wir haben zwei Jahre gebraucht, um das hier zu bauen. Und das Wasser zum Trinken müssen die Frauen jeden Tag vom Fluss heraufholen.« »Auch das soll sich ändern«, meinte ich. »Soll ich euch helfen, einen neuen Berg zu finden?« »Ja. Aber warte, bis mein Vater wieder hier ist. Er ist der Häuptling.« »Du bist dafür?« fragte ich neugierig. Er stimmte zu. Die Gründung einer Siedlung für fünfhundert Personen, also auf Zuwachs berechnet, war die beste Möglichkeit, neue Praktiken und zivilisatorische Anstöße einzuführen und auszuprobieren. Sämtliche Begriffe wie Hygiene, Steinbearbeitung, Architektur, Handwerk konnten hier nicht nur am Modell demonstriert, sondern real angewendet werden. Natürlich war dies eine gewaltige Arbeit, die ich nicht bis zum Endstadium würde verfolgen können. Ich hatte geholfen, Troja zu zerstören – hier würde ich wieder helfen, eine Stadt aufzubauen. Skeptische Begeisterung erfaßte mich bei diesen Gedanken. Außerdem würden die Impulse, die von den Menschen des karthagischen Schiffes kamen, den Steinzeitlern einen kulturellen Stoß geben, der sie mehr als ein Jahrtausend nach vorn warf. »Wir werden morgen einen Platz für die neue Siedlung suchen«, sagte ich. »Tuxpan, du und ich.« Leichter Wind fuhr über den tiefgrünen Dschungel hinweg. Es war wie eine ferne Stimme, wie ein undeutlicher Ruf aus einer anderen Welt. Ich wurde unruhig und hob den Kopf. Irgendwo im Westen, zehn oder mehr Meilen entfernt, blitzte etwas auf. War dies ein Zeichen der fremden Raumfahrer? Vielleicht. In den nächsten Tagen würde ich versuchen, ihren Standort festzustellen. Im Augenblick war etwas anderes weitaus wichtiger. »Wir haben die Spur von Ahuitzotla gefunden«, sagte Tuxpan
grimmig. »Aber er ist wie verschwunden. Wir fanden ihn selbst nicht. Die Spur führt…«, er zögerte und atmete tief ein und aus, »nach Sonnenuntergang.« Ich fragte hart: »Du scheinst vor etwas Angst zu haben, das dort drüben haust. Was ist es?« Tuxpan und Coyala sahen sich an, zuckten mit den Achseln und blickten dann verlegen zu Boden. »Wir wissen es selbst nicht«, murmelte Coyala. »Wir kennen nur Erzählungen von wandernden Jägern.« Ich packte Coyala am Arm und zog ihn zu mir heran. »Berichte! Welche Erzählungen?« Er begann stockend: »Furchtbare, böse Götter haben ein großes Haus, einen Tempel, auf die Spitze eines unbesteigbaren Berges gebaut. Ein Tempel, der unten breit und oben spitz ist, spitz und wie abgesägt.« Er nahm ein Stück Holz und zeichnete die Form einer abgestuften Pyramide in den Sand zu unseren Füßen. »Wieviel Götter?« fragte ich aufgeregt. Vermutlich würden sich fremde Raumfahrer auch als Götter ausgeben; diese Einstellung ist nicht neu, flüsterte mein Extrasinn. Aber Sie werden mit einiger Sicherheit keine riesigen Bauten auftürmen, wenn sie nur kurz hier gelandet sind. Tuxpan flüsterte unsicher: »Niemand weiß es. Sie sind unsichtbar. Sie sollen Mädchen und Krieger fangen und im Tempel umbringen. Das sagten die wandernden Jäger. Sie haben aber niemals einen Gott gesehen.« »Wißt ihr, wo der Tempel liegt?« Ein Tempel und ein Raumschiff? Wie paßt das zusammen? Schick den Kondor als Spion! sagte mein Extrasinn. »Dort, bei Sonnenuntergang!« antwortete Tuxpan. Eine Stufenpyramide auf der Spitze eines unbesteigbaren Berges; trotz dieses Umstandes sollten die Fremden Mädchen und Krieger entführt haben? Was war an dieser Erzählung wahr?
»Kennt ihr einen Menschen, der diesen Tempel gesehen hat? Wirklich gesehen?« fragte ich drängend. Sie warteten eine Weile, dann sagte Coyala: »Nein. Ich kenne keinen.« »Vielleicht Ahuitzotla?« überlegte Tuxpan. »Der nun glücklich im Dschungel verschwunden ist«, sagte ich bitter. »Tuxpan, was denkst du über meinen Vorschlag?« Der ältere Mann mit den tausend Runzeln im Gesicht verblüffte mich mit seiner Antwort. »Ich habe mit Coyala, meinem Sohn, gesprochen. Er hat Vertrauen zu dir. Wir werden tun, was du vorschlägst.« »Gut«, sagte ich nach einer Weile. »Wir werden einen Platz suchen, der für viele Jahre gut ist.« Jetzt waren es drei Problemkreise, die mich einkesselten. Der Bau einer Stadt, wobei ein Sprung aus der Endsteinzeit in eine Hochkultur bevorstand. Meine zweite Sorge galt einem noch nicht identifizierten Platz im Ozean, auf dem ich das Schiff zu finden hoffte. Die dritte Sorge waren diese mysteriösen Fremden. Ich hatte keinen eindeutigen Beweis, dass fremde Raumfahrer gelandet waren – nur die Erzählungen wandernder Jäger sagten etwas darüber aus. Das bedeutete, dass ich drei Dinge gleichzeitig unternehmen mußte. In meiner Hütte nahm ich den Schild von dem Holzpflock, der zwischen die Steine getrieben war, und klappte den Innenteil nach vorn, nachdem ich den Riegel durch einen Druck auf das Auge der Schlange gelöst hatte. Der Sichtschirm wurde aktiviert. Ich sah das gestochen scharfe Farbbild, das die Augen des Kondors auffingen. Er befand sich rund zweieinvierteltausend Kilometer weit im Ostsüdost, wo die riesige, fast völlig gerundete Bucht von kleineren und größeren Inseln abgeriegelt wurde. Der Kondor schwebte in großer Höhe über der scheinbar endlosen Fläche der See und suchte nach dem Schiff.
Wenn meine Berechnungen und Hypno-Anordnungen stimmten, anhand der längst unnütz gewordenen Berechnungen der Flottenspezialisten angefertigt, maßten Wind und Strömung das karthagische Schiff an diese Inseln herantreiben. Das Programm des Roboters sah vor, wie er zu suchen hatte – ein Kriterium der Bewegungen und der Form des Schiffes. Seit zwei Tagen suchte der Kondor ununterbrochen. Nachts arbeitete er mit Infrarotgeräten. Und ich sah, wie der künstliche Vogel seine Kreise zog. Zuerst nur eine blaue Fläche unter den Sonnenstrahlen, erfüllt von winzigen, sichelförmigen Reflexen. Dann ein Strand, weißer Sand und palmenartige Bäume. Und dann – ich erschrak fast vor Freude: das Schiff. Es ankerte weit vor dem Sandstreifen; die Besatzung arbeitete daran. Feuer brannten, ein Segel wurde aufgezogen, und ich hatte zum ersten Mal Gelegenheit, die Schiffsbesatzung genauer zu sehen. Ich zählte schnell, während ich dem Kondor Befehl erteilte, tiefer zu gehen und das Schiff nicht aus dem Fokus zu lassen. Siebenundvierzig Personen. Ich stellte fest, dass fünfzehn von ihnen Frauen waren; erstaunlich jung und verblüffend gut aussehend. Zweiunddreißig Männer besserten das Schiff aus. Die jungen Frauen schienen Früchte gesammelt zu haben und kochten etwas über dem Feuer; jetzt sah eine von ihnen nach oben und deutete auf den Kondor, dessen Schatten über den Sand huschte. Das Schiff hatte eine wahrhaft gemischte Mannschaft. Schwarzafrikaner, Menschen aus Qart Hadasht und dem Hapiland, einige von unverkennbar nordischem Typ und solche von archaischem Aussehen. Warum war dieses Schiff mit einer solchen Besatzung gestartet? Von welchem Hafen? Kapitän Hannas arbeitete an Deck; halbnackt, mit salzverkrustetem Bart und langem Haar. Ballen von Stoff lagen an Deck und trockneten, Seile wurden gespannt und gespleißt. Hannas schien ein Mann schneller Entschlüsse und von gro-
ßem Können zu sein. Er gab knappe, halblaute Befehle, die begründet waren und umgehend befolgt wurden. Wenn er sofort wieder in See stach, konnte er in knapp zwanzig Tagen bei uns sein. Ich mußte ihn besuchen und ihm das Ziel nennen. Hannas und sechsundvierzig Menschen, die alle vermutlich Hochkulturen entstammten. Wenn sie mir halfen, war meine Arbeit nur halb so schwer. Langsam zog ich die flexible Karte hervor, die ich anhand von Höhenfotos angefertigt hatte. Ich stellte fest, wo ich mich befand, und maß aus, über welcher Insel der Kondor kreiste. Eintausenddreihundert Meilen; für meinen Gleiter nur einige Stunden.
3. Wir gingen noch immer durch unendlich grünes, triefendes Baumwerk; hier wechselten binnen weniger Schritte verschiedene Geländeformen ab. Für einen Jäger gab es alles, was er sich wünschen konnte. Wir sahen große, faule Schildkröten auf flachen Sandbänken des Flusses. Frösche verschwanden in großen Sprüngen im Wasser. Einmal folgte uns, unsichtbar und nur durch das Knurren zu erkennen, der silberfarbene Jaguar. Aber er schien lohnendere Beute gefunden zu haben und verließ unsere Spur, als wir den Fluss auf einem umgestürzten Baum überquerten. Tuxpan hatte Schwierigkeiten, mit Bogen und Pfeilen zu hantieren; vor drei Tagen hatten die Krieger angefangen, Bögen und Pfeile herzustellen und die erste ballistische Waffe auf diesem Doppelkontinent zu benutzen. »Hier werdet ihr hundert Jahreswechsel lang ununterbrochen jagen können«, sagte ich leise. Tuxpan sprang neben mir ins seichte Wasser und spuckte aus.
»Du hast recht. Das Jagdgebiet ist viel besser als das, über dem die Siedlung steht.« Wir befanden uns auf dem Pfad, der fünfzig Tagesmärsche tiefer ins Hochland hineinführte. Dort, jeweils etwa siebzig Meilen in einem riesigen Kreisring um einen niedrigen, bis zur Spitze mit Wald bedeckten Berg, gab es nur Wald und Savannenflächen, Kiesbänke und Morast – kurz: ein ideales Gebiet, um den Stamm eine außerordentlich lange Zeit mit Wild zu versorgen. »Hier. Spuren von Schweinen!« sagte Coyala. »Wir wollten für die Siedlung jagen.« Vor sechs Stunden hatten wir den Berg der Tlatilco verlassen und waren nach Westen gewandert; nur wir drei. Jetzt standen wir am Rand eines Morastes, vor den breiten Spuren einer Gruppe Wildschweine, die sich einer Pfad durch das Unterholz gewühlt hatten. »Sind die Spuren frisch, Coyala?« fragte ich. »Nicht älter als ein Vierzehntel des Tages«, antwortete der junge Krieger. »Wie jagen wir?« »Erfolgreich«, sagte ich lachend. »Hoffentlich. Wir beide schießen am besten. Dein Vater soll uns die Herde zutreiben, wir schießen zwei oder drei Tiere. Oder mehr, wenn die anderen Jäger sie abholen.« »Einverstanden«, sagte Tuxpan. »Ich gehe.« Geräuschlos verschwand er. Wir sahen uns um und kletterten auf zwei Bäume, setzten uns auf die untersten Äste, die gefährlich zu schaukeln begannen. Vögel flatterten umher, als wir uns schweigend mit Handzeichen verständigten und Zweige abbrachen oder zur Seite schoben, um freies Schußfeld zu haben. Dann hörten wir die Schreie von Tuxpan, die sich näherten. Wir standen auf, hängten die Köcher an einen Ast und legten Pfeile auf die Sehnen. Mein Bogen, mit dem ich schon vor Ilion Wettschießen veranstaltet hatte, lag in meiner Hand. Keu-
chend, grunzend und schnaubend stob die Herde Wildschweine aus dem Busch, genau auf ihrer eigenen Spur. »Beim Busch!« sagte Coyala. Ich nickte, spannte mit drei Fingern den Bogen aus und fixierte einen jungen Eber, der den Kopf hochgerissen haue und versuchte, die fremde Witterung auszumachen. Der Pfeil schwirrte von der Sehne und bohrte sich durch den Hals des Tieres. Es zuckte zusammen und schrie gellend. Die Herde geriet in Panik, als der junge Eber zur Seite fiel, mit allen Läufen ausschlug und röchelte. Ein zweiter Pfeil bohrte sich in den Bauch eines Ebers, und wieder erschollen wütende laute Schreie. Der Leiteber raste im Kreis rund um die Herde, grunzte und wühlte mit den gebogenen Hauern die Erde auf. Coyolas Pfeil riß eine lange, blutende Wunde entlang der Wirbelsäule des Tieres; der Eber geriet in einen wahren Taumel. Ich spannte den Bogen für einen dritten Schuss, als ich im Augenwinkel eine Bewegung sah, die nicht hätte sein sollen. Gleichzeitig meldete sich mein Extrasinn. Coyala fällt! Mitten in die Herde! Mir stockte der Herzschlag, als ich sah, wie Coyala vom schmalen Ast rutschte, verzweifelt versuchte, Bogen und Pfeil nicht fallen zu lassen und zwei Meter vor einer ragenden Muttersau ins Gras fiel. Ich zögerte zu schießen; schon erfolgte der Angriff. Der Eber und die schwere Sau kamen von beiden Seiten und polterten auf Coyala zu. Der Junge richtete sich auf, schwang sich herum und hatte den Obsidiandolch in der Hand. Ich schoß. Der Pfeil heulte durch die Luft und drang krachend in den Schädel des Ebers ein. Ich sah, wie er auf einem Auge geblendet wurde, dann sprang ich mit einem riesigen Satz hinunter zu Coyala. In der rechten Hand hielt ich die Streitaxt, einer steinzeitlichen Waffe ähnlich, aber ungleich besser ausgewogen. »Zurück!« schrie ich. »Aus dem Weg!«
Ich holte weit aus, mit fast gestreckten Armen. Ich rannte in den Weg hinein, der zwischen Coyala und der wütenden Muttersau zu erkennen war. Das Tier ließ sich ablenken, warf sich in vollem Lauf herum und griff mich an. Mit großen Sprüngen brachte sich Coyala in Sicherheit; ich riß beide Arme nach vorn und schlug nach unten. Die Schneiden, zwischen Elastikverkleidetes Leichtmetall eingespannt, pfiffen durch die Luft. Mit einem einzigen Schlag trennte ich den Kopf des Tieres vom Körper und rannte, die Frischlinge überspringend, zu meinem Baum zurück. Hinter uns jagten sämtliche Tiere der Herde her. Coyala sprang in vollem Lauf hoch, stemmte sich mit beiden Armen auf den Ast und kletterte hinauf. Ich umrundete den Baum zweimal, dann hieb ich die Axt in den Stamm und schwang mich, dicht vor den blitzenden Hauern eines jungen Tieres, in die Höhe. Wir kauerten schweratmend am Stamm und sahen uns an. »Coyala!« Ich keuchte. »Größter Jäger des Stammes!« Coyolas weißes Gesicht war zur Grimasse verzerrt; er schämte sich und wußte, daß der Zusammenstoß mit einer Herde tobsüchtiger Wildschweine von den wenigsten Jägern überlebt worden war. Schreiend und grunzend versuchten zwanzig Tiere, die Wurzeln des Baumes aus dem Boden zu wühlen. Ich nahm den Bogen und zielte dreimal sorgfältig. Als das letzte Tier fiel, flüchtete der Rest der Herde auf dem Pfad zurück, und ich hoffte, daß Tuxpan nicht niedergetrampelt wurde. Einige Atemzüge später kam er zwischen wippenden Büschen hervor, die Machete aus Obsidian in beiden Händen. »Wir haben dir alle Arbeit abgenommen!« rief ich und sprang vorsichtig auf den Boden.
»Besonders ich… Quetzalcoatl hat mir das Leben gerettet«, sagte Coyala leise und beschämt. Er landete im Gras und wagte nicht, mich anzusehen. Wir zählten acht getötete Tiere. Tuxpan und Coyala fällten zwei kleine Bäume; ich band die Füße von drei Tieren zusammen. Hätte ich jetzt den Robotvogel bei mir gehabt, hätte er sich nützlich machen können. Gegen Abend waren wir erschöpft wieder in der Siedlung; Tuxpan jagte eine Gruppe von zwanzig Männern los, die fünf Schweine zu holen, die wir in die untersten Äste gehängt hatten. Zwei Tage später, während meiner Abwesenheit, begann der lange Marsch der jungen Frauen und rund der Hälfte der Krieger. Tuxpan blieb in Tlatilco zurück, Coyala führte die Gruppe an. Ihr Ziel: der Berg, den wir ausgesucht hatten. Sie würden sechs Tage brauchen. Ich blieb an den schlanken Stamm der Palme gelehnt und betrachtete das Panorama, das sich vor mir ausbreitete. Es war von einzigartiger Schönheit. Der geschwungene Sandstreifen der halben Bucht, die Bäume, das Schiff und die Menschen, die Wärme und der goldene Glanz, der über allem lag. Selbst in meinem Leben gab es solche Momente, in denen ich alles vergaß – aber nur für kurze Zeit. Meine Hand faßte nach dem Zellaktivator auf meiner Brust, dabei berührte ich die Narben über meinem Magen. Hinter mir zeichneten sich die Spuren meiner Füße ab, schwarz geschattete Ellipsen im goldenen Sand. Diese tropische Insel wäre für einen Stamm das Paradies gewesen, aber binnen kurzer Zeit hätte Inzucht die Menschen verdorben. Ich mußte in Jahrhunderten denken, nicht in Augenblicken. Der Gleiter war im Schutz eines Deflektorfeldes versteckt; mein Logiksektor wisperte: Du solltest nicht zögern, Arkonide, denn für den zu erwartenden Kampf gegen die unsichtbaren Raum-
fahrer brauchst du Verbündete. Mitunter war es selbst für mich schwer, den Gesetzen der Logik zu gehorchen. Ich ging auf den Strand zu. Als ich vielleicht dreihundert Schritte vom kleinen Lager hoch über der Flutmarke entfernt war, sahen mich die Ankömmlinge. Einige riefen und winkten, andere zeigten auf mich, und Kapitän Hannas griff nach einem Speer. Hinten in meinem Gürtel steckte der zusammengesetzte, getarnte Strahler, der mich nahezu jedem Barbaren auf Larsaf Drei überlegen machte. Ich ging weiter und hob den Arm. »Willkommen in der Nähe deines Traumziels, Kapitän«, grüßte ich. Die Männer hörten auf, am Schiff zu arbeiten, und wateten auf den Strand. Einige Frauen hatten Netze geknüpft und darin große, runde Früchte gesammelt. Sie blickten mißtrauisch. Als Hannas auf mich zukam und den Speer senkte, blieb ich vor ihm stehen. »Wer bist du, Fremder?« In seinem bärtigen, fast schwarzgebrannten Gesicht stand fast greifbar der Ausdruck des Mißtrauens. Ich grinste ihn an. »Ich bin derjenige, der dir mitten im Sturm das Inselziel genannt hat, Kapitän Hannas aus Qart Hadasht. Ich sehe – ihr seid wohlbehalten hier.« »Ich kann dir nicht glauben.« Er hielt mich zumindest nicht für einen Gott; ein Umstand, der mich beruhigte. Nachdem ich durch den Kondor das Schiff geortet hatte, beteiligte sich der Robotvogel an der Spionsonden-Suche nach dem Versteck der Raumfahrer, jene märchenhafte Tempelpyramide auf der Spitze des Berges. In dem scheinbar undurchdringlichen Urwald hatten sich Ricos Sonden nichts angemessen, das einen Vorstoß gerechtfertigt hätte. »Was hast du im Sturm zu mir gesagt?« »Ich hab’ lauter gebrüllt als der Sturm.« Ich wiederholte lachend, was ich ihm und den Steuermännern zugerufen hatte.
Er überlegte. Ich hob beide Hände und fragte: »Weißt du, wo dein Schiff jetzt angelegt hat? Wohin dich Wind und Strömung gebracht haben?« Er schüttelte den Kopf und knurrte: »Wir sind lange gesegelt. Siebzig Tage, glaube ich. Wir sind weit im Westen, auf einer nicht allzu großen Insel.« »Richtig. Du kommst aus Qart Hadasht, das die Griechen Karchedon nennen. Ihr Punier habt Pergamente, auf denen ihr die Küstenlinien aufzeichnet und das geheime Wissen an die Kapitäne weitergebt, nicht wahr? Ich weiß, daß es so ist.« Ich zog eine Rolle aus dem Stiefelschacht. Hannas, um den sich seine Mannschaft scharte, nickte, noch immer voll Mißtrauen. »Hier. Sieh selbst.« Ich rollte die Karte auf und breitete sie auf dem Sand aus. Hannas musterte mich schweigend, sah lange auf die Karte aus künstlichem Pergament, dann winkte er nach hinten und brüllte: »Aupas! Kinoch! Hierher.« Vermutlich rief er die Steuermänner, die im Sturm am Doppelruder geschuftet und gelitten hatten. Die Männer sahen mit nackenlangem Haar und langen schwarzen Bärten wie Heerführer Hammurabis aus. Sie knieten vor der Karte im Sand. »Was seht ihr?« fragte Hannas. Ihre schmutzigen Zeigefinger fuhren die Küstenlinien entlang, glitten in Flußmündungen und über Inseln. Das Gebiet zwischen dem westlichen Ende des Binnenmeers, der Meerenge der »Säulen des Herakles – oder Melqarts« und weit ins Land des Doppelkontinents mit der schmalen Einschnürung voller Buchten, umgeben von Inseln, war abgebildet. Aupas hob den Kopf und starrte mich an, als sei ich ein riesiger weißer Fisch, der über den Strand schwebte. Er deutete auf Qart Hadasht. »Hierher sind wir. Qart Hadasht.«
Ich zeigte mit der Dolchspitze auf die Insel, in deren Bucht wir uns befanden. Inzwischen waren bis auf zwei Männer an Bord alle Fremden herangekommen und bildeten um Hannas, mich und die Karte einen dichten Kreis. Der Kapitän wirkte wie ein Mann, der zu Tode erschrocken war. Ich sagte: »Ich zeig’ dir, wo wir sind. Hier. Dazwischen liegen zwei Monde Segeln über blauem Wasser.« »Warum solltest du mich anlügen?« »Warum auch? Sturm und Strömungen brachten euch bis hierher. Ich traf dich etwa an dieser Stelle.« Ein Punkt zwischen der Verbindung zum Ozean und der Inselgruppe, unter der mein unterseeisches Versteck in die Felsen geschweißt war. Ich bezeichnete die Stelle. Hannas stemmte sich in die Höhe, starrte in die verwunderten Gesichter seiner Leute und schüttelte fassungslos den Kopf. Langsam schwand das Mißtrauen des Mannes. Mein Dolch war ein verkleideter, winziger Paralysator, gut für fünfundzwanzig Schuss. Ich konnte ihn durch einen Fingerdruck auslösen. »Das ist wunderbar«, stellte Hannas fest. »Kannst du fliegen? Diese Stimme im Sturm!« »Ich kann nicht fliegen, aber ich habe ein Boot, das fliegen kann. Aber dein Schiff ist besser. Hannas. Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, der das Leben aller siebenundvierzig Menschen verändern wird.« »Beim Baal! Woher weißt du, wie viele wir sind?« »Ich habe euch gezählt«, sagte ich. »Zuerst ein paar Fragen?« »Meinetwegen. Aber ich verstehe nichts!« Ich hob die Hand. »Du wirst bald alles verstehen, vielleicht besser als ich. Ich sehe die Mannschaft dieses Schiffes und wundere mich. Was war der Zweck deiner Reise?« Hannas grollte: »Wir liefen aus Qart Hadasht aus, mit dem Segen der Suffit-
ten ausgerüstet. Wir sollten Geschenke bringen und uns mit einem punischen Schiff treffen. Dieses Schiff, bei den Säulen des Melkar wartete es auf uns, brachte eine dunkelhäutige Prinzessin, ihre Dienerinnen und einige Männer mit hohen handwerklichen Fähigkeiten. Die Prinzessin sollte einen Mann heiraten, der eine Siedlung südlich von Qart Hadasht verwaltet.« Ich sah nun einige Dinge deutlicher, erkannte die logischen Zusammenhänge. »Hannas«, sagte ich. »Ihr seid einige Mondwechsel lang auf See gewesen. Vor euch liegen etwa zwanzig Tage Fahrt. Dein Schiff wird niemals mehr nach Qart Hadasht zurückkehren können; du würdest es nicht schaffen, obwohl ich weiß, welch guter Seemann du bist.« Hannas schaute mich bekümmert an, fast verzweifelt, mit einem Blick, der alles zu sehen und nichts zu erfassen schien; er sah durch mich hindurch. Ein Blick der Bestürzung und der Verwunderung. Dann folgten Verzweiflung, listiges Überlegen und schließlich neue Hoffnung. Hannas griff in seinen Bart, schüttelte das Salz heraus und sagte mit hohler Stimme: »Du sagst es. Wie nennt man dich?« »Du hast die Wahl zwischen ›Atlan aus Arkon‹ und ›Quetzalcoatl‹. Du siehst, warum ihr alle nicht mehr heimkehren werdet?« Er nickte traurig. »Ein zu weiter Weg. Wind, der nur von vorn weht. Strömungen, die uns ans Ufer treiben. Was ist dein Vorschlag?« Ich trat von der Karte zurück, sah nacheinander in die fassungslosen Gesichter der anderen. Dann sprach ich etwa eine halbe Stunde lang und berichtete ihnen von meinem Plan. Ich versprach ihnen nicht zu wenig: Sie würden alle zu Königen oder Fürsten werden in diesem neuen Land. Und alles, was sie konnten, würde zugleich mit ihren Kindern vererbt werden.
Es dauerte lange, bis sie mich verstanden. Dann schwiegen sie. »Wirst du nach dieser Karte dorthin segeln, wo wir jene Stadt erbauen werden?« fragte ich. Hannas murmelte: »Ich werde deinen Vorschlag annehmen, Atlan. Ich bin ein Mann, der einzusehen versteht, wenn etwas unmöglich ist. Und es wäre unmöglich, beim Baal, zurückzusegeln. Die Mädchen würden zu Greisinnen werden, nicht wahr, Hyksa?« Die junge Frau, die zwischen den anderen stand, nickte schweigend und starrte mich an. Sie war zweifellos aus dem Erdteil, in dem die dunkelhäutigen Menschen lebten. Aber sie mußte zum Teil hellhäutige Vorfahren gehabt haben; einige Merkmale deuteten darauf hin. Es stand für mich fest, daß Hyksa die erwähnte Prinzessin war, denn ihre Gestik unterschied sich von derjenigen ihrer Dienerinnen. »So ist es«, sagte ich. »Ich muss wieder zurück. Ich werde dir erklären, wie du ans Ziel kommst, Hannas. Wenn du dich diesem Ziel bis auf einige Tage genähert hast, wird dich der weiße Kondor führen.« Hyksa trat zwei Schritte vor und fragte mit einer dunklen leisen Stimme: »Der riesige, weiße Vogel mit den schwarzen Flügelspitzen… er gehört dir, Quetzalcoatl?« Ich nickte. »Dann hat dich dieser Vogel hierher gebracht?« fragte sie weiter. Sie war wirklich schön; eine Mischung zwischen Wildkatze und Reh. Ich hakte die Daumen in meinen Gurt und sah ihr ins Gesicht. »Nein, nicht ganz«, antwortete ich nach einer Weile. »Aber wenn du willst, werde ich dir zeigen, wie ich hierhergekommen bin. Vorausgesetzt, du hast keine Angst, wenn ein Boot fliegt wie ein Vogel.« Sie lachte auf; unverkennbar war sie stolz darauf, keine Angst zu kennen, wie sie meinte. Sie legte ihre Hand auf den
breiten Unterarm des Kapitäns und fragte leise: »Habe ich während des Sturmes Angst gehabt, Hannas?« Hannas lachte dröhnend. Er besaß eine prachtvolle Baßstimme. Männer seiner Art konnte ich brauchen. Ich verbesserte mich: Die Steinzeitjäger konnten solche Führer brauchen. »Du warst prächtig!« sagte er und hielt sich die Seiten. »Jedenfalls hast du keine Angst gezeigt, im Gegensatz zu den Männern mit dem blonden Haar, die ständig Beschwörungen sangen!« Ich winkte Hannas, und nebeneinander gingen wir den Strand entlang. Ich legte meinen Arm um seine Schultern und erklärte ihm, welche Vorteile und welche Nachteile unser Vorhaben hatte. Dann beschrieb ich ihm in allen Einzelheiten den Weg, und wir kauerten uns nieder und zeichneten Küstenlinien, Sonnenstände und Ufersilhouetten in den Sand. Er war ein Mann, der entlang den Küsten gesegelt war… Und er würde das Ziel finden. Ich blieb stehen und sagte: »Ich werde Hyksa mit mir nehmen. Einverstanden?« Er hob beide Arme. »Baal sei gepriesen!« rief er. »Endlich ein Mann, der diese Katze zähmen will! Ich bin froh, wenn ich nicht mehr die Verantwortung habe. Hyksa ist unberechenbar. So wild wie zehn meiner Männer… aber ihre Dienerinnen…« Er schmatzte anerkennend und rollte die Augen. Es gab nicht mehr viele Probleme. »Gut«, sagte ich. »Wann ziehst du den Ankerstein hoch?« Er sah nach der Sonne. »Morgen, bei Dämmerung. Und verlass dich drauf, Quetzal… Ich komme genau dorthin, wo du mich brauchst! Mit allem, was ich habe.« Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Aber, was wird mit meinem Sternenvogel?« »Du meinst eine der Dienerinnen? Bring sie mit, heirate sie…
was du willst«, sagte ich grinsend. Hannas begann zu lachen. Dann tat er, als wolle er sich hinsetzen und schlug mit beiden Händen klatschend auf seine dicken Schenkel. »Ich meine das Schiff dort!« schrie er lachend. Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn ich richtig vermute«, sagte ich, »wird das Schiff mitten im Fluss aufsitzen. Wir bauen dann ein kleineres Boot daraus und segeln hier an den Küsten entlang. Aber zuerst: die Stadt!« Er griff nach meinem Handgelenk und schüttelte meinen Arm, als wolle er ihn als Amulett behalten. »Richtig. Die Stadt! Und wir alle werden Fürsten und verkommen im Reichtum!« Dein Geschick, Arkonide, so genannte rauhe, aber herzliche Gesellen um dich zu versammeln, kommentierte mein bedingt prognostischer Extrasinn, ist immer wieder staunenswert! »Davor werde ich euch zu bewahren wissen«, sagte ich. »Gute Fahrt, beste Winde und keinen Segelriss!« Wir gingen zur Mannschaft zurück, die aufgeregt miteinander redete und lachte. In den kommenden zwanzig Tagen würden sie alle Zeit haben, die Dinge genau zu überlegen. Ich blieb vor Hyksa stehen. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich. »Du kannst jetzt deinen Mut zeigen«, sagte ich. »Nimm dein Bündel, alles andere habe ich. Mein Boot wird mit dir und mir zum Berg fliegen, auf dem die Stadt entstehen soll!« »Ich habe keine Angst«, sagte sie. »Malda! Meinen Schmuck, meine Kleider, meine Decken!« Die anderen sahen zu, wie wir langsam neben meinen Fußspuren den Strand entlang gingen. Keiner von uns sprach, aber jeder dachte viel. Ich tippte auf die Fernsteuerung am Armband. Hinter der zweiten Biegung, am Fuß einer Palmengruppe, neben zusammengerolltem Treibgut stand mein Glei-
ter im Schatten. Wir legten das Gepäck auf die Ladefläche, und ich half Hyksa in den Sitz. Dann startete ich mit offenem Verdeck und flog langsam zurück zum Schiff, umkreiste es mehrmals und nahm dann Kurs nach Westnordwest. Hyksa hatte wirklich keine Angst. Meine Probleme, eben etwas kleiner geworden, nahmen plötzlich wieder zu. Die grenzenlose Einsamkeit, die mich bei jedem Schritt begleitete, war mit einer Frau neben mir leichter zu ertragen. Etwas leichter. Und auch deine Fehler gleichen sich, Atlan! sagte mein Extrahirn. Ich weiß, dachte ich wörtlich. Aber auch die Enttäuschungen und alles andere haben sich nicht geändert. Noch immer habe ich keine Nachricht vom Kondor und weiß nicht, ob die Maschinen der Tiefseekuppel eine falsche Information zu falschen Schlüssen verarbeitet haben. Als der Fahrtwind unangenehm zu werden begann, schloss ich das Verdeck. Jetzt konnten wir uns unterhalten. »Du hast wirklich keine Angst«, sagte ich nach einem langen Seitenblick auf Hyksa. Sie gefiel mir von Minute zu Minute mehr. Während ich die Kontrollen einstellte, sah sie mir aufmerksam zu und studierte mein Gesicht. »Neben einem Mann, dessen Boot fliegt, der die Landschaft aus großer Höhe sieht und der eine Stadt auf dem Berg bauen wird, brauche ich keine Angst zu haben. Schließlich herrscht mein Vater über Tausende von Menschen.« »Vergiss es! Wir sind nicht hier, um zu herrschen, sondern um zu helfen. Ich helfe dir, du hilfst mir, und wir helfen den Menschen dieses Landes. Vielleicht glückt es uns!« Ich unterbrach den Flug für einen ganzen Tag, nachdem ich die lang gestreckte Insel nahe der Flussmündung erreicht hatte. Dort verliebten wir uns ineinander. Wir standen auf dem höchsten Punkt des runden Hügels, der zum Teil aus massivem Stein, zum Großteil aber aus Kies,
Sand und Erdreich zu bestehen schien. Von hier aus hatten wir einen ausgezeichneten Blick über die gewaltige, runde Fläche, die uns umgab; Dschungel, ein eintrocknender See und ein breiter Nebenarm des Flusses. Das gewaltige Tal wurde von Bergen umgeben, die im Osten niedriger und im Westen sehr hoch waren. Es hätte keine bessere Gegend für den Bau der Siedlungen geben können. Coyala sagte leise: »Du hast recht, Quetzalcoatl. Wir sahen es, als wir hierher wanderten – die Gegend ist viel besser. Als wir die erste Siedlung bauten, begannen wir mit den Häusern!« Ich schüttelte den Kopf. »Wir beginnen mit dem Feuer und den Feldern«, sagte ich. Während am Fuß des Hügels das provisorische Lager aufgeschlagen wurde, markierten wir die Lage der zukünftigen Stadt. Dann legten wir an verschiedenen Stellen Feuer und warteten, bis Gras und Büsche abgebrannt und viele Schmeißfliegen ausgerottet waren. Jetzt konnte der Boden aufgebrochen und bearbeitet werden. Einige Männer begannen an einer Erfolg versprechenden Stelle des Hügels einen Brunnen zu graben. Ich konstruierte für sie einen stabilen Dreifuß aus Holz und einen primitiven Flaschenzug. Der Brunnenschacht brauchte nicht tiefer als etwa fünf Mannslängen zu sein, wenn ich mich nicht täuschte. Inzwischen entstanden die viereckigen Hütten aus Binsengewebe am Fuß des Hügels. Eine zweite Gruppe fand ein ausgedehntes Lehmfeld, und ich verbrachte den Rest des Tages damit, den steinzeitlichen Jägern zu erklären, wie man Ziegel formte und sie im Feuer brannte; später würden wir einen Brennofen bauen. Ich ließ einen Baum fällen und schnitt mit dem Desintegrator stabile Bohlen; ein Tisch wurde aufgerichtet, auf dem ich meine Pläne zeichnen konnte. Sie sahen vor, daß der runde Hügel in vier Terrassen abgetragen und das abgetragene Material ohne
Ausnahme zum Bau der Häuser verwendet werden sollte. Die unterste Stufe würde eine Mauer ergeben, die mit Erdreich aufgefüllt und abgestützt und deren Krone bepflanzt werden sollte. Das war der zweite, wichtige Punkt beim Bau der Siedlung. Wasser würden wir in einigen Tagen haben, denn die Männer am Brunnen arbeiteten um die Wette. Und ich zeichnete einige Gräben mit natürlichem Gefälle ein; sie sollten die gemauerten Röhren für die Kanalisation abgeben. In rund zwanzig Tagen erwartete ich Hannas und seine Leute, die uns weiterhelfen würden. Langsam gingen die Arbeiten voran, während noch die letzten Rauchwolken des abbrennenden Gestrüpps in der Luft hingen. Zweihundert Ziegel aus Lehm befanden sich im Feuer, und auf meiner Folie nahm die Siedlung langsam Gestalt an. Ich zeichnete Häuser und Plätze, Mauern und Tore bewußt naturalistisch und perspektivisch korrekt, um die Männer zu überzeugen. Lautlos war Hyksa neben mich getreten und sagte: »Dreihundert oder mehr Menschen… und eine so große Siedlung. Das dauert mehr als zehn Jahre, Atlan!« Ich sah sie an. »Nicht so lange. Aber ich habe niemals gedacht, in einem Mond damit fertig zu sein!« Im letzten Licht des Tages gingen wir zum Hügel. Wir hatten Pfähle mitgebracht und Leinen aus meiner Ausrüstung. Jetzt rammten wir Pfähle in den Boden, knüpften die Leinen daran und zogen eine Reihe konzentrischer Kreise. Wir markierten die Linien mit einer einfachen Steinhacke, zogen andere Linien quer, und als wir in der kurzen Dämmerung nichts mehr sehen konnten, war der Grundriß der Siedlung fertig. Dies war die Arbeit eines Tages. Die Binsenhütte, in der Hyksa und ich lebten, stand ein we-
nig abseits von den anderen. Steine und Bretter, Binsenmatten und einige Felle machten sie wohnlich, und einige Tonlampen mit flüssigem Fett und Dochten aus Pflanzenmark erhellten das Innere. Ich saß am Tisch und hielt meinen Schild in den Händen. »Wo ist dein Vogel, Atlan?« fragte Hyksa. »Er kreist über uns«, sage ich. »Und, erschrick nicht, gleich wird er zum Eingang geflogen kommen.« Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Der Kontakt mit Kapitän Hannas hatte meine ersten, noch undeutlichen Gedanken und Vermutungen bestätigt. Die Menschen hier waren anders als alle früheren Kulturen, die ich kennen gelernt hatte. Ich suchte nach einem treffenden Ausdruck und fand ihn nicht. Währenddessen rief ich mit der winzigen Fernsteuerung in meinem Gürtel den Kondor herunter. Sie sind zu ernst. Sie lachen zu wenig, sagte mein Extrasinn. Das war es. Alles, was sie taten, schienen sie unter einem unerklärlichen Zwang zu tun. Sie jagten, um essen zu können, aber die wahre Begeisterung eines Jägers hatte ich nicht einmal bei Coyala spüren können. Die Kunstwerke, die sie schufen – kleine, primitive Lehmfiguren, die an der Sonne trockneten –, waren ernst. Der Ausdruck dieser Artefakte schien die Furcht und die latenten Ängste einer pantheistischen Lebensauffassung widerzuspiegeln. Verkniffene oder schmerzverzerrte Münder, aufgerissene Augen und anscheinend sinnlose Schnörkel und Ritzverzierungen. Ich heb die Schultern… Eines Tages würde ich wissen, was dafür verantwortlich gemacht werden konnte. Geräusche vor der Hütte: Ich stand auf, gleichzeitig schwebte der Kondor herein. Er glich erstaunlich einem dieser großen Geiervögel, aber er bewegte sich, wenigstens am Boden, wesentlich geschickter. Schweigend sah Hyksa zu, wie ich einige Federn am langen Hals des Vogels zur Seite strich, dort einen
winzigen Schalter umlegte und den Rückenteil des Vogelkörper aufklappte. Ich nahm eine handtellergroße Kassette heraus, schloss die Öffnung und spannte die Kassette in eine verdickte Stelle des Schildes ein. Der Bildschirm erhellte sich; die Energiezelle war noch ziemlich frisch. Langsam liefen die interessantesten Abschnitte einer tagelangen Suche ab. Schweigend und konzentriert betrachtete ich die Bilder; zuerst farbige, sehr scharfe Höhenaufnahmen des Dschungels. Einige Totale zeigten mir die Topographie des Geländes hinter der Küste, vor den hohen Bergen, in dem wir uns befanden. Ich zog, ohne die Augen vom runden Bildschirm zu lassen, meine Ausschnittkarte heraus und legte sie über die Zeichnungen auf den Tisch. Baumgruppen und Teile des Flusses, bewaldete und leere Hügel, Tierpfade und kleine Herden. Niemals ein Mensch oder eine Jägergruppe. Einige Aufnahmen aus geringerer Höhe folgten. »Verdammt!« sagte ich leise. »Verdammt!« Ich wußte nicht genau, was ich suchte, aber hier war es bestimmt nicht zu sehen. Alles andere als eine gestufte Pyramide, nur sämtliche Bestandteile des Dschungels und des Himmels. Ich sah nur die interessantesten Ausschnitte – wie sah es dort aus, wo die Programmierung des Robots noch weniger festgestellt hatte? Weiter. Entlang des Flussufers. Der Fluss, nachdem er sich mehrmals gabelte, verlief in ständig wechselnder Richtung, hauptsächlich aber nach Westen, nach Sonnenuntergang. Und plötzlich gab es eine Richtungsänderung, der Film lief weiter, der Vogel ließ sich bis dicht über den Boden fallen. Ich sah einen ausgetretenen Pfad, der sich in Schlangenlinien immer höher in die Berge entfernte. »Was ist das?« fragte ich leise. Ich vergaß vorübergehend meine Umgebung und spürte kaum, daß sich Hyksa an meine Schulter lehnte. Der Pfad lief im Zickzack auf einem kleinen Felsplateau aus.
Der Boden war von vielen Füßen glattgestampft. Das Bild schwankte, dann schaltete der Kondor die Vergrößerung ein. Ich sah in der Mitte eine sorgfältig bearbeitete Steinplatte, die auf zwei aufrechten, ebenfalls bearbeiteten Lavabrocken lag. Reste eines menschlichen Skeletts lagen dicht neben dem steil abfallenden Rand der Plattform. Ein Zug Ameisen überquerte die Steinplatte. An die aufsteigende Felswand gelehnt, erhob sich ein merkwürdiges Bauwerk. Hier ist jene legendäre Stufenpyramide, sagte mein Extrasinn. Sie war aus hellen Steinen erbaut und etwa drei Meter hoch. Sie wirkte wie ein sinnloses Spielzeug, wie ein Modell für einen größeren Bau. Wer hatte diese Kultstätte erbaut, und zu welchen Zwecken diente sie? Das Bild verschwand, wechselte und zeigte wieder Dschungel, jetzt aber aus weitaus größerer Höhe. Die ersten wirklich hohen Berge tauchten auf, darunter ein tätiger Vulkan, dessen Rauchwolke steil in den blauen Himmel stieg. Die Farben des Dschungels und der Berghänge wurden weder durch ein Bauwerk, noch von den metallenen Formen eines Raumschiffes unterbrochen. Das Band lief aus. Der Schirm wurde dunkel. Ich klappte den stählernen Schutzdeckel mit dem Bild der gefiederten Schlange wieder darüber und steckte die leere Kassette zurück in den Mechanismus des Vogels. Dann sagte ich: »Anordnung: Du fliegst wieder an die Stelle zurück, von der die letzten Aufnahmen stammen. Suche dort, bis du entweder einen Tempel dieser Art oder das Raumschiff findest. Wenn ich dich brauche, kommst du mit Schallgeschwindigkeit zurück oder funkst sofort die Daten.« Der Kondor stolzierte zum Eingang, breitete seine Schwingen aus und schaltete den Antigravantrieb ein. Sekunden später hatte ihn die Nacht verschluckt. Dumpfes’ Murmeln kam von den Hütten der Jäger. Die Ziegel lagen noch immer in der
weißen Glut des Feuers. Langsam drehte ich mich um und hatte das Gesicht Hyksas vor meinen Augen. »Atlan, Gott der gefiederten Schlange – wer bist du wirklich? Ich weiß zumindest, daß du ein Geschöpf dieser Welt bist«, sagte sie leise, mit dunkler Stimme. »Du irrst«, murmelte ich. »Es sieht so aus, aber ich bin kein Geschöpf dieser Welt. Dort, wo ich herkomme, gehören Geier, die aufs Wort gehorchen, und Schilde, in denen sich Bilder spiegeln, zu den alltäglichen Dingen. Eines Tages werde ich dir alles genau berichten.« Ich sah sie an; nach dem Tag auf der kleinen Insel schien ich sie jetzt zum ersten Mal wirklich zu sehen. Große, dunkle Augen in einem länglichen Gesicht mit betonten Wangenknochen und schulterlanges, schwarzes Haar. Ein schlanker Hals, dann der Kragen des langen Hemdes aus feinem Wildleder, das sich im Gepäck der nordafrikanischen Prinzessin befunden hatte. Sie war keine zwanzig Jahre alt. »Was suchst du hier, Atlan?« fragte sie unbeirrt weiter. »So wie ihr und der Sternenvogel hierher verschlagen worden seid, so haben mich andere Stürme, andere Strömungen hierher gebracht. Nicht in dieses Land, nicht zu den kleinen braunen Menschen. Ich suche eine Möglichkeit, in meine Heimat zurückzukehren. So wie ihr.« Hyksa nickte, dann sagte sie mit trauriger Summe: »Wir kommen nicht mehr dorthin zurück, woher wir gekommen sind.« Ich lächelte kurz, dann bemerkte ich bitter: »Es kann sein, daß ich das Schicksal der Sternenvogelbesatzung teile. Aber auch das weiß ich nicht.« »Was suchst du wirklich?« »Ich suche ein Schiff mit Männern. Ich weiß nicht, ob es irgendwo versteckt ist, oder ob es ein Hirngespinst ist.«
Sie kam langsam um den Tisch herum und blieb vor meinen Zeichnungen und der Karte stehen. »Während du dieses Schiff suchst, hilfst du den kleinen braunen Menschen, eine Stadt zu bauen. Aus Langeweile.« »Nein«, sagte ich. »Nicht aus Langeweile. Auch dies wirst du erst verstehen, wenn wir die Stadt gebaut haben.« »Hannas und die anderen sollen dir helfen?« »Sie sollen nicht mir, sondern zuerst diesen Menschen und dann sich selbst helfen, Hyksa«, erwiderte ich. »Warte. Du wirst alles sehen und vieles begreifen.« »Nicht alles?« »Nein«, sagte ich. »Das würde bedeuten, daß ich es selbst begreife; gerade das kann ich nicht von mir behaupten.« Ich stand auf und lehnte mich an den Stamm des Baumes neben der Hütte. Das Feuer lag jetzt rot unter einer dichten Schicht Asche. Schattenrisse bewegten sich zwischen den Hütten. Im kalten Mondlicht lagen die Hügel und der Dschungel bewegungslos und rätselhaft. Ich hörte einen fernen Klang, wie das Tongewinsel einer dünnen Flöte. Dann riß der Klang ab, eine Wolkenbank schob sich vor den Mond. Und wieder einmal drehte sich dieser Planet, verlassen und in der Dämmerung der menschlichen Evolution, um seine Achse. Es war gut, daß Hyksa zu mir kam und ihre Arme um meine Schultern legte. Das ließ alles ein wenig leichter werden. Am nächsten Morgen gingen die Arbeiten weiter. Ich ließ zuerst einen primitiven Brennofen bauen und erklärte einigen Männern, worauf es beim Gebrauch ankam. Dann bildete ich eine größere Gruppe, die ununterbrochen Lehmziegel herstellen sollte. Als ich sah, daß die Arbeiten auch ohne meine Hilfe und Überwachung vorangingen, kletterte ich mit Coyala hinauf zu den Brunnenarbeitern. Sie waren auf Grundwasser gestoßen; riesige Erdhaufen lagen rund um den senkrechten
Schacht. Coyala meinte abschätzend: »Die Seiten des Schachtes werden einstürzen, Quetzalcoatl!« »Nicht, wenn wir die Ziegel nehmen, die wir jetzt brennen, Coyala«, sagte ich. »Du hast dich um den Nachschub an Fleisch und Essen gekümmert?« »Ja«, antwortete er. »Meine Männer und die Frauen haben genug, um uns alle versorgen zu können. Außerdem haben wir an einer Flussbiegung einen riesigen Felsen entdeckt und viele Steinbrocken.« Wir einigten uns darauf, zwei breite Versorgungspfade anlegen zu lassen. Auf einem sollten auf Schlitten, die aus zwei federnden Baumstämmen gebaut waren, die Felsen zum Bau heraufgebracht werden, auf dem anderen Pfad erfolgte der Nachschub an Lehmgemisch, mit dem wir mauern wollten. Diese organisatorischen Probleme waren also gelöst. Ich sagte, während ich die Linien auf der Hügelkuppe mit meinen Zeichnungen verglich: »Wenn hier die ersten festen Bauten stehen, kann Tuxpan mit dem Rest des Stammes zu uns kommen. Dann gehen die Arbeiten schneller.« Wir blieben an zwei der konzentrischen Linien stehen, die wir gestern Abend gezogen hatten. »Hier ist das Bild«, sagte ich. »Wir bauen zwei Mauern.« Ich erklärte es ihm. Der Fuß des Hügels, wo es jetzt nur weiße Asche und Holzstücke gab, die unter unseren Tritten zerfielen, sollte in einem breiten Band durch übereinandergelegte Felsen, die mit Lehm verkittet wurden, verkleidet werden. Dies war eine Arbeit, die zweihundert Männer in einem Monat erledigen konnten. Ich nahm eine Hacke, schlug den Boden auf und begann dann mit gesammelten Steinen einen etwa fünfzig Grad steilen Wall auszulegen. Coyala verstand sofort. »Wenn wir genügend Felsstücke hier haben, fangen wir an«, sagte er.
»Bis zu dieser Linie dort?« »Ja. Und dort soll der Boden ganz eben werden, bis sich die wirkliche Mauer anschließt.« Wir verglichen die Bilder, und der Eingeborene sah, daß in der Mitte dieser schrägen Mauer und auch in dem fast senkrechten, vier Meter hohen Wall eine etwa vier Meter breite Treppe hinaufführen sollte zur Kuppel des Hügels. »Wie bauen wir diese Steinleiter?« fragte er. »Die Treppe? Dabei werden euch meine Freunde helfen, die in zehn Tagen ankommen werden. Wir bauen sie aus Steinbrocken, die wir in den Boden einbetten und dann an der Oberfläche bearbeiten.« »Ich verstehe. Wie wir es auch gemacht haben, damals…« Er meinte zweifellos die Treppe und die Mauer der alten Siedlung der Tlatilco. Wir arbeiteten bis spät in den Nachmittag hinein, um mit tiefen Linien im Staub anzudeuten, wo sich die Häuser und Plätze, die Gräben für die Kanalisation und die breiten, aber kurzen Straßen befinden sollten. Der Berg würde schätzungsweise dreitausend Menschen Platz bieten; also war diese Siedlung gut für die nächsten Jahrhunderte. Während wir Linien, Kreuze und Rechtecke zogen, kamen die ersten Felsbrocken und wurden abgelegt. Ich holte einige Männer und zeigte ihnen, wie der erste Ring und der Fuß der Treppe angelegt werden sollten. Auch sie verstanden – als ob sie eine weitaus längere und intensivere Belehrung als Baumeister erhalten hätten. Eigentlich hätte mich dies stutzig machen sollen. Jedenfalls arbeiteten alle gern, fleißig und in guter Laune. Braten drehten sich über den Feuern, die Lehmziegelmengen wuchsen, und aus dem Wald zogen die Männer gefällte Bäume. Ich spielte flüchtig mit dem Gedanken, Räder und Wagen zu konstruieren, aber dieses Land brauchte keine Räder. Die in Frage kommenden Strecken waren viel zu kurz und lohnten
die komplizierten Arbeiten nicht. Außerdem gab es hier keine Tiere, die man als Zugtiere abrichten konnte… Die Stellen, an denen wir daran gingen, den Urwald zu roden, würden die zukünftigen Felder ergeben. Alles sah im Augenblick gut und Erfolg versprechend aus. »Du bist nicht müde?« fragte Hyksa, als sich die Sonne in den Abend neigte. »Noch nicht«, sagte ich. »Ich werde etwas schwimmen und dann erst schlafen; außerdem sehne ich mich geradezu danach, oben auf dem Hügel ein festes, kühles Haus ohne Ungeziefer bewohnen zu können.« Coyala, der neben uns in meiner Hütte stand, nickte grinsend. »Dein Haus, Quetzalcoatl, wird das erste und schönste Haus des Hügels sein. Schon immer war es so, daß die Götter in den schönsten Häusern wohnten.« Entwickelte Coyala etwa eine nachsteinzeitliche Ironie? Ich sah ihn mißtrauisch an und merkte, wie er verlegen lächelte. Dann nahm ich meinen Mantel, steckte einige Waffen ein und nahm den Bogen mit. Ich lief die etwa fünfhundert Meter bis zu der kleinen Bucht, badete ausgiebig und rasierte mich vor der polierten Silberplatte, schwamm einige Züge und breitete meine Decke aus, um mich von der tiefstehenden Sonne trocknen zu lassen. Ich lag da, herrlich entspannt und fühlte die nachlassende Sonnenwärme auf meiner Haut. Die Laute des Dschungels umgaben mich, aber ich hörte keine gefährlichen Geräusche. Als ich mich im Halbschlaf umdrehte, legte ich mich auf den Zellaktivator. Der Druck auf meine Rippen weckte mich wieder, gleichzeitig hörte ich Gemurmel und Geräusche, die nackte Sohlen auf einem Pfad machten. »Wir haben dich ausgesucht. Wenn der Mond voll ist…«, sagte eine Männerstimme. Ich knotete meinen Lendenschutz
fest und schob mich auf meinem Mantel in die Höhe. »Wenn der Mond voll ist, werde ich dort sein…«, sagte eine helle Frauenstimme. Sie planen etwas Verbotenes. Diese Stimmen…, sagte alarmiert mein Extrasinn. »Du weißt, warum das Opfer gebracht werden…« »Ja. Die Götter wünschen es…« »Opfer bei Vollmond…« »Ich gehe jetzt…« Das war die Stimme des Mädchens gewesen, das Coyala mir gezeigt hatte – das Mädchen aus dem Lager eines Barbarenstammes. Ich wartete eine Zeitlang, dann hatte ich mich angezogen. Ich rollte die Decke zusammen, versteckte sie in einer Astgabelung und lauschte. Vier Personen bewegten sich von rechts nach links. Dann machte ich mich an die Verfolgung. Ich versuchte, in dem nur mäßig abwechslungsreichen Gelände einen Platz zu finden, von dem aus ich diesen Pfad beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Schließlich fand ich ihn – weit unter mir schlängelte sich der schmale Pfad zwischen den Bäumen entlang. Ich holte meine Fernsteuerung aus der wasserdichten Gürteltasche heraus, rief den Kondor und sagte ihm, was er zu tun hatte. Er verließ seinen Platz und raste heran; er würde die Personen verfolgen und mir ihren Standort melden. Als die vier Personen eine Zone passierten, in die Sonnenstrahlen einsickerten, glaubte ich, an der Spitze die leicht gekrümmte Gestalt des Medizinmannes zu erkennen, der sich, halbtot, von der Felsentreppe gerettet hatte. Langsam ging ich zurück und überlegte. Es gibt sie also, jene fremden Götter, wisperte eindringlich mein Extrasinn. Die fremden Götter erwarteten zur Nacht des Vollmondes ein Opfer. Das Opfer selbst, ein junges Mädchen aus dem Nomadenstamm, machte sich gerade auf den Weg, um die Opfer-
stätte zum Zeitpunkt des Vollmondes zu erreichen. Jetzt hatten wir einige Nächte nach Neumond; rund zwölf, dreizehn Tage also noch. Das heißt: Eine lange Wegstrecke war zurückzulegen. Das hatte nicht viel zu bedeuten – doch: Plötzlich erinnerte ich mich des Opfersteines vor der kleinen, primitiven Stufenpyramide. Dieser Ort aber war nur drei Tagesmärsche von mir entfernt. Dort war es also nicht. Nun, ich würde mich durch den Kondor unterrichten lassen. Langsam kehrte ich in unser Lager zurück. Vier riesige Feuer und der Brennofen, die eine gewaltige Hitze ausstrahlten, begrüßten mich. Auch auf dem Hügel brannte ein Feuer. Darin lagen Steine, die wir mit Wasser abschrecken und zerstampfen würden – so gewannen wir Bindematerial für Mörtel. Ich trat an die Hütte und setzte mich an den Tisch. Inzwischen gab es hier einfache Sessel aus Ästen, mit Lianen zusammengebunden, mit Binsen und Fellen gepolstert. Hyksa lief auf mich zu und setzte sich auf meine Knie. »Dein Gesicht verrät mir alles. Du hast mit einem Alligator kämpfen müssen?« Ich schüttelte langsam den Kopf und strich über ihr Haar. »Nein. Ich glaube, ich habe gehört, daß es außer mir andere Götter hier im Land gibt. Grausame Götter, die Menschenopfer verlangen… ja, wie Baal oder andere Götzen. Und sie sind mit Sicherheit die Steuermänner des Schiffes, mit dem ich vielleicht in meine Heimat zurückkehren kann.« Sie sagte leise, dicht an meinem Ohr: »Hast du bemerkt, wie gerade die jungen Männer dieses Stammes die Steinbearbeitung schnell begreifen? Zu schnell?« »Vergiss nicht, sie haben bereits eine Bergfestung erbaut«, sagte ich. »Ich werde jedenfalls die Stelle, an der das Mädchen geopfert werden soll, suchen und finden. Und auch die fremden Götter!« »Wann?«
»In der Nacht des Vollmondes«, versprach ich. »Das ist auch die Zeit, in der Hannas landen will«, gab sie zu bedenken. »Nicht ganz. Sie kommen einige Tage später.« Meine Überlegungen begannen undeutlich zu werden. Die meisten Dinge, aus denen ein primitives Gemüt meine »Gottähnlichkeit« ableiten konnte, unternahm ich so gut wie öffentlich. Ich hatte meinen Gleiter benutzt, flog mit Hilfe meines Aggregates, zeigte Hyksa die Geheimnisse des Kondors und ähnliches mehr. Das alles waren, streng betrachtet, unfaßbare Wunder, über die jeder Eingeborene zumindest tödlich erschrecken mußte. Niemand erschrak aber. Konnte dies bedeuten, daß sie ähnliche Dinge schon gesehen oder mindestens von ihnen gehört hatten? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich wußte gar nichts. Und noch immer hatte der Kondor die Fremden nicht gefunden. »Hyksa«, sagte ich. »Ich fühle mich wie ein Mann, der mit wenigen Waffen und einigem Können unter wilden Tieren gestrandet ist, aber unter Tieren, die viel geheimnisvoller sind, als er es träumen kann.« Sie preßte sich an mich und flüsterte: »Aber hier gibt es jemanden, der dich nicht für einen Gott hält.« »Wie schön. Wer ist es?« »Ich«, sagte sie und küßte mich verlangend. Bei den ewigen Sonnen des Universums, bei den drei Welten von Arkon, dachte ich inbrünstig. Ist es denn so ungeheuerlich schwer, von diesem Planeten loszukommen? Von dieser Welt, auf der Totschlag und Machtgier, unglaubliche Primitivität und naive, unreflektierte Schönheit einziger Ausdruck der denkenden Wesen waren? Von dem Planeten, der offensichtlich nur von schurkischen, widerlichen und bösartigen Raumfahrern angeflogen wurde und dies in Abständen von mehreren Jahrtausenden? Ich weigerte mich nicht
mehr länger, auch diesen meinen Versuch schon jetzt als gescheitert anzusehen. Es war heller Nachmittag, so daß ich sehr genau sehen konnte, wo ich mich befand. In dieser Nacht erreichte die Scheibe des Mondes ihre größte Leuchtkraft. Vollmond. Was ich vor mir sah, durfte es nicht geben. Der Großteil meiner Berechnungen und Pläne wurde mit einer Handbewegung umgeworfen. Ich sah ein ebenes Stück Rasen, rund dreihundert Meilen von der neuen Siedlung der Tlatilco entfernt. Diese kleine Ebene schloss sich an einen vorspringenden Felsen an, der über die Gabelung des Flusses hing. Mitten auf der Ebene stand eine rund fünfundzwanzig Mannslängen hohe Stufenpyramide, die gewisse Ähnlichkeiten mit dem Tempel in Babylon hatte. Vier Stufen mit schrägen Außenflächen waren aufeinander gesetzt. In der Mitte, dreifach unterbrochen, führte eine breite Treppe nach oben. In den Wandungen aus hellem Stein waren winzige Luken zu erkennen; ein kantiger Bau, etwa wie ein massives Tor ohne Türflügel gebaut, thronte auf der obersten Plattform. Niemand befand sich auf diesem Turm, ich sah weder Schatten noch Bewegungen, noch hörte ich etwas. Mein Sitz im Gipfel eines hohen Baumes, der gefährlich schief auf dem Felsen stand, bewegte sich leicht, als ich meine Lage veränderte. Eintausend Meter hoch über mir zog der Kondor seine Kreise. Die Ebene, auf der sich die Pyramide befand, war abermals fünfundzwanzig Mannslängen höher als der Spiegel des sich gabelnden Flusses. Anschließend an den grünen Rasen begannen die wirklich hohen Berge. Weit rechts im Hintergrund, nördlich also, stand eine zweite Vulkanwolke. Eine Stufenpyramide auf einer Hochebene! »Lordadmiral Atlan«, sagte ich leise zu mir, »hier hast du den Beweis! Vor dir waren andere hier, die so perfekte Baumeister waren, daß du dagegen ein Stümper bist.« Aber… wo waren die Raumfahrer? Wo war das Raumschiff?
Achtzig oder weniger Ellen vor der Pyramide, in meiner Richtung, stand auf einer acht mal acht Ellen großen Plattform ein blockförmiger Stein. Kantenlänge etwa zwei zu vier Ellen, eine Elle hoch. Vier eckige Füße, und auf der Vorderseite erkannte ich ein Band, das aus einem Relief rechteckig angelegter, ornamental unkenntlicher Figurinen bestand: offensichtlich der Altar, auf dem das Opfer stattfinden sollte. Unglaublich. Die Primitiven rotten sich hier zusammen, um das Opfer zu sehen. Wer verlangt ein Menschenopfer? Hier… auf einem anderen Kontinent? Auch mein Extrasinn hatte keine Erklärung. Mein Gleiter lag, sorgfältig versteckt, zwischen den Luftwurzeln einer Schmarotzerpflanze. Auf meinem Rücken befand sich das Flugaggregat; ich war mit Paralysator, einem Strahler, dem Bogen mit vollem Köcher und dem armlangen Obsidianschwert, das in Wirklichkeit eine Nachahmung in modernsten Materialien war, bewaffnet. Auf drei Seiten war die Hochebene vom Dschungel umschlossen. Und in diesem Waldgebiet warteten mindestens fünftausend Krieger. Ich hatte ihre wandernden Gruppen gesehen. Merkwürdigerweise waren sie nicht bewaffnet, und ich hatte kein Kind und keine Frau entdecken können. Was konnte ich tun? Die Nacht abwarten. Nicht mehr. Ich wartete also, aß etwas Hirschbraten, trank Wasser aus einem Flaschenkürbis, der neben mir an einem Ast hing, und kaute an einem Maisfladen. Quetzalcoatl kauerte auf einem breiten, schwankenden Ast und wartete den Abend ab. »Verdammt!« murmelte ich. Kalte Wut packte mich, ohne Zweifel gesteigert durch das unbequeme Warten. Flog ich jetzt hinüber zur Pyramide, dann wurde ich sichtbar, und ich war hier, um zu sehen, nicht um gesehen zu werden. Die Stunden vergingen in trostloser Ereignislosigkeit. Kurz bevor es dunkel wurde, kamen etwa sechzig Eingeborene aus
dem Dschungel, in kurze Mäntel mit verzierenden Federn aus dem Schwanz des Quetzalvogels gekleidet und trugen Holz mit sich. Sie errichteten sechs kleine Feuerstellen um den Opferstein und schichteten den Rest des Holzes sorgsam daneben auf. Dann gingen sie schweigend, wie sie gekommen waren, zurück in das Halbdunkel des Waldes. Die Sonne versank in einer farbensprühenden, langen Wolkenbank hinter den Zacken der Berggipfel; schlagartig wurde es kühler. Eine Weile lang beobachtete ich den Kondor, der noch voll im Sonnenlicht kreiste, dann verschwand auch seine Silhouette im Schwarz des Firmaments. Ich wartete weiter. Eine Stunde später schaltete ich das Aggregat ein, justierte es und warf mich nach vorn. Zuerst ein Steigflug, dann steuerte ich hinüber zur Pyramide. Ich landete auf dem steinernen Dach des Tores, das die oberste Plattform krönte. Ich schaltete den Antrieb aus und lauschte – nichts. Das Bauwerk schien unbewohnt, auch nicht die typischen Gerüche, an denen man Menschen erkennen konnte, waren zu spüren. Ich kletterte an den Verzierungen hinunter auf die Plattform. Sie bestand aus wuchtigen Steinquadern, zwischen denen sich fast fingerbreite Spalten befanden. Ich umrundete einmal die Plattform, aber ich konnte nirgends eine Spur eines Einganges entdecken. Vor der Treppe blieb ich stehen – von dem Steinblock kamen Stimmen, dann flackerten Flammen auf, schließlich wurden die sechs Feuerstellen entzündet. Lange helle Flammen zitterten in die Höhe. Die Treppe, sagte mein Extrasinn. Ich trat auf die glatten, kühlen Stufen. Sie waren gleichmäßig gearbeitet, und in gewissen Abständen befanden sich rechts und links steinerne Fratzen und Gestalten. Sie zeigten eine Kunstfertigkeit der Steinbearbeitung, die mich verblüffte. Aber meine Wut verdeckte alle anderen Gedanken. Als ich die tiefergelegene Ebene erreicht hatte, schrak ich zusammen. Ge-
sang war zu hören, Trommeln und Flöten. Ein wilder, harter Rhythmus, durchsetzt von kehligen Schreien und Rufen. Zwischen mir und den Feuern bewegten sich Gestalten. Sie sangen und tanzten um den Opferstein. Langsam tastete ich mich an der schrägen Mauer entlang. Ich griff hin und wieder in schlitzförmige Vertiefungen und wußte, daß dies Luken waren, aber mein Arm, der sich nach innen schob, entdeckte keinen Widerstand. Also waren zumindest Teile dieses Bauwerkes hohl. Nichts. Kein Eingang, keine Tür, kein Mechanismus, der sich bewegen ließ. Endlich erreichte ich die unterste Ebene, suchte auch hier vergeblich und befand mich wieder am ersten Absatz der Treppe. Ich sah hinüber. Die Feuer waren heller geworden. Ich schob das Fernrohr auseinander, setzte es ans Auge und starrte hindurch: das Mädchen. Zwei prächtig geschmückte Krieger hatten es an den Armen gefaßt und schoben es auf den Opferstein zu. Ahuitzotla, der Medizinmann, vollführte einen wilden Tanz vor dem Opferstein. Auch das Mädchen war geschmückt. Es trug ein farbenprächtiges Gewand, wie ein kurzes Hemd aus Leder, Schnüren und Federn, einen Federhut, der wie eine riesengroße Blüte wirkte, und breite Armbänder aus geflochtenen Lederschnüren. Die Haut glänzte ölig. Vor dem Opferstein blieben sie stehen. Der Trommler bearbeitete sein Instrument wie rasend. Dann begannen die beiden Krieger, während Ahuitzotla vor ihnen tanzte und sang, das Mädchen auszuziehen. Sie nahmen die Armbänder ab, den Hut, die Bänder um ihre Knöchel, schließlich das Kleid. Dann führten sie das Opfer auf den Stein zu. Schließlich lag das nackte Mädchen quer vor Ahuitzotla, der jetzt ruhig vor ihr stand. Ich fing das Aufblitzen eines Gegenstandes auf – in der Hand des Medizinmannes glänzte ein brei-
tes Obsidianmesser. Er hob die Hand, ließ sie wieder sinken… und führte das Messer zweimal über den Stein. Das Geräusch ließ mich erschauern und riß mich aus meinen Gedanken. Ein Menschenopfer! Ich schob das Fernrohr zusammen, verstaute es in meinem Gürtel und riß den Paralysator aus der Tasche. Dann summte mein Flugaggregat auf und riß mich nach vorn. Ich landete zwischen zwei Feuern. Ich stürmte auf den Opferstein los, warf die Männer, die sich auf mich stürzten, zur Seite und blieb zwischen dem Mädchen und dem Medizinmann stehen. Der Ring der Angreifer schloss sich, und ich drehte mich einmal. Die Waffe in meiner Hand knackte, und der breit gefächerte, unsichtbare Strahl mähte die Krieger um. Dann richtete ich die Waffe auf den erhobenen Arm mit dem Obsidianmesser und drückte ab. Das Messer fiel zu Boden, und hinter mir hörte ich ein erschrockenes Atmen. »Warum willst du das Mädchen opfern?« fragte ich. Ich blickte an Ahuitzotla vorbei und drückte auf den Knopf, der den Kondor herbeirief. »Die Götter verlangen es!« »Ich verlange es nicht! Ich verbiete es!« schrie ich unbeherrscht. »Deine Brüder verlangen, daß jeden Vollmond hier alle Nomaden sich versammeln. Dann soll ein Opfer gebracht werden.« Ich sagte laut: »Meine Brüder irren. Sie meinen nicht, daß das Mädchen geopfert werden soll. Wo sind meine Brüder?« Ahuitzotlas Gesicht, hinter dicken Farbstreifen fast unkenntlich, schien mich anzugrinsen. »Weiß ich es?« fragte er. »Wenn du es nicht weißt, Quetzalcoatl?« Ich schwieg, und schonungslos feuerte ich auf jede Gestalt, die sich dem Feuer näherte. Hinter mir richtete sich das junge
Mädchen auf. Es roch betäubend nach Öl und irgendwelchen Kräutern. »Deine Brüder kommen einmal zur Vollmondzeit. Und dann müssen wir ihnen dienen. Sonst werden sie fürchterliche Rache nehmen!« sagte Ahuitzotla vorwurfsvoll. Über uns rauschten die Schwingen des Kondors; ich befahl: »Nimm dieses Mädchen, und bring es zurück zur Siedlung! Schnell!« Ich sah zu, wie der Kondor über dem Opferstein schwebte, seine mächtigen Krallen spreizte und das Mädchen am Oberarm und am Oberschenkel ergriff. Dann schlugen die Flügel, und das Tier erhob sich. Binnen Sekunden war es in der Nacht verschwunden. »Wie solltest du diese Opferung vornehmen?« fragte ich drohend. »Ich schneide die Brust auf, reiße das Herz heraus und bringe es hinauf zum Tempel der roten Götter!« sagte Ahuitzotla. Ich drehte mich vorsichtig um. Die Dunkelheit ringsum schien von lauernden Gestalten voll zu sein. Ich sicherte den Paralysator, zog den Strahler und feuerte dreimal in die Luft. Zugleich mit den übernatürlich laut wirkenden Detonationen flammten stechende Blitze hinauf in die Sterne. »Ich sage dir, Ahuitzotla: Du wirst alle deine Krieger zu ihren Frauen zurückschicken und niemals wieder hierher kommen!« Vorwurfsvoll schüttelte der Medizinmann den Kopf. Er beobachtete mich mit katzenartiger Verschlagenheit. »Das geht nicht«, sagte er leise, »denn du weißt selbst, daß deine Brüder jeden Vollmond das Opfer befohlen haben.« Die unzähligen fast unsichtbaren Krieger beobachteten wortlos unseren Disput. »Rede – oder stirb!« Ich schoß einmal in ein Feuer. Die Explosion schleuderte brennendes Holz und Asche nach allen Sei-
ten; der Donner der Detonation rollte über das Plateau. »Was willst du wissen, Quetzalcoatl?« fragte Ahuitzotla furchtsam. Seine Augen bohrten sich in die meinen; wollte er mich hypnotisieren? »Wo sind meine Brüder, die Götter?« »Sie kamen vor fünf Monden und gingen wieder. Sie kommen wieder, weil sie es gesagt haben.« »Wer hat diesen Tempel gebaut?« »Wir alle. Wir schleppten Stein, bearbeiteten ihn und führten die Befehle aus. Wenn wir nicht gehorchten, ließen sie Ameisen in unsere Glieder kriechen.« Sie haben eine elektrische Geißel angewendet, erklärte mein Extrasinn. »Wann kommen sie wieder?« »Wenn du es nicht weißt – wir wissen es nicht. Irgendwann, wenn Vollmond ist.« »Ich muss in diesen Tempel hinein. Kennst du den Eingang?« »Ja«, antwortete er. »Aber jeder, der den Tempel betreten will, muss vorher einen Trank zu sich nehmen. Er stirbt sonst. Das gilt auch für deine Brüder, die roten Götter.« Ich nickte, blieb aber mißtrauisch. »Wer gibt mir diesen Trank?« fragte ich ausdruckslos. Vermutlich war dies eine Droge, in Schnaps aufgelöst, die alle Erinnerungen an das Innere des Tempels auslöschte. »Hier!« sagte der Medizinmann und blickte mich lauernd an. Ich sah, daß er mir die ausgehöhlte Schale aus einem Flaschenkürbis entgegenhielt. »Trink und gehe hinein«, sagte Ahuitzotla. Auch er schien einer der Männer zu sein, die längst die Kulturstufe steinzeitlicher Jäger hinter sich gelassen hatten. »Ich werde dich führen.«
Ich dachte an meinen Zellaktivator und brummte: »Götter kann man nicht vergiften.« Ich nahm die Schale, roch daran: Stechend fuhr mir der Geruch in die Nase. Es roch nach Fäulnis und pflanzlicher Süße, nach Alkohol und irgendwelchen Gewürzkräutern. Ich konnte mir ausrechnen, daß der Trunk stimulierende und sinnverwirrende Wirkung haben würde. Trotzdem, geschützt durch meinen Zellaktivator, nahm ich einen Schluck. Es traf mich wie ein Hammerschlag. Ich taumelte, stützte mich auf den Stein und zielte auf den Medizinmann, aber vor meinen Augen brannte ein lautloses Feuerwerk ab. Ich sah nichts mehr, mir schwindelte, die Knie gaben unter mir nach, und ich rutschte langsam am Opferstein herunter. Ahuitzotla drehte sich um, reckte beide Arme in die Höhe und schrie Befehle in die Richtung des schweigenden Waldes. Aus der Dunkelheit lösten sich Gestalten und kamen näher, schnell und fast geräuschlos. Der Medizinmann hob die Schale auf und befestigte sie an seinem Gürtel, dann deutete er auf den Stein. »Hebt ihn hinauf – er ist zwar ein Bruder der roten Götter, aber sie werden das Opfer annehmen!« sagte er scharf. Die Männer zögerten. »Schnell! Ehe der Mond verschwindet!« Die Krieger fürchteten sich, den Gott mit den weißen Haaren anzurühren. Sie hatten von Quetzalcoatl gehört, wie er mit seinen wunderbaren Pfeilen die Nomaden zurückgetrieben hatte, wie er die Siedlung der Tlatilco baute aus Stein. Er hatte regenfeste Steine gebacken und in wunderbarer Schnelligkeit die Wunden geheilt. Er war der tlamatepatlicitl, der natürliche Heiler. Ahuitzotla sagte nichts mehr. Er drehte sich langsam, stimmte einen dunklen Gesang an und holte die steinerne Flöte aus dem Binsenköcher. Er begann darauf zu blasen und der schneidende, hohe Ton schnitt in die Hirne der Krieger. Sie
sahen in seine Augen und setzten sich langsam in Bewegung. Sie standen unter dem Bann dieses Mannes, hoben den Gott der gefiederten Schlange auf den Opferstein und versuchten, das glänzende Ding, das Blitze warf, aus seinen Fingern zu winden, aber es gelang nicht. Dann traten sie zurück. Ahuitzotla bückte sich und hob das Obsidianmesser auf, dessen Griff aus Teilen eines Hirschgeweihes bestand. Langsam näherte er sich der ausgestreckten Gestalt, deren Kopf nach hinten, über die Kante des Steines hing. Mondlicht blitzte auf der polierten Doppelschneide, als der Medizinmann begann, das Hemd des Gottes aufzuschnüren. »Ahhh!« Ein dumpfes Stöhnen kam aus der Versammlung der wartenden Krieger. Sie sahen nach oben, wo eine sichelförmige Silhouette vor der Mondscheibe vorbeiglitt. Dann hörten sie alle den furchtbaren Schrei und das Flügelrauschen des weißen Kondors, der schräg herabschoß, die Flügel anzog und die Klauen nach vorn spreizte, als wolle er landen. Er kam wie ein Meteor aus dem Sternenhimmel, sein Sturzflug ging in eine flache Gleitbahn über, und eine Kralle faßte Ahuitzotla im Nacken. Die andere riß blutige, tiefe Bahnen quer über das Gesicht des Medizinmannes. Durch den Schwung wurde der Mann vom Opferstein weggerissen, dann lockerte sich der Griff des Kondors. Der Medizinmann stolperte und fiel schreiend auf das Gesicht. Der Vogel schwang sich mit drei, vier mächtigen Flügelschlägen wieder höher, ging in eine enge Kurve und landete breit auf dem Gott, der auf dem Opferstein lag. Dann schüttelte der weiße Kondor seine Schwingen, schrie und hakte seine Krallen in den Gürtel der leblosen Gestalt. Der Vogel stieg mit seiner Last empor, aber das sahen nur die wenigsten Krieger. Sie flohen in panischer Angst nach allen Seiten. Dschungel und Nacht verschluckten sie. Langsam
entfernte sich der Kondor nach Osten. In die Richtung, aus der jener weißhaarige Gott gekommen war – damals. Das Fieber tobte in mir. Ich fühlte kalten Stoff auf der Stirn, auf dem Hals und der Brust, und als ich vorsichtig, mit geschlossenen Augen, umhertastete, fand ich den Zellaktivator nicht. Eisiger Schrecken durchzuckte mich. Ich richtete mich halb auf und krächzte: »Hyksa… mein Amulett! Wo ist es?« Sie beugte sich über mich und drückte mir den eigroßen Beutel aus feinem Leder in die Hand. Ich legte den Aktivator wieder auf die Brust zurück und versuchte die Augen zu öffnen. »Wo bin ich?« fragte ich. »Unter Freunden«, sagte eine Stimme. »Im Lager.« Es war Coyala. Als ich im schwachen Licht zweier in den Boden gerammter Fackeln und einer Öllampe bestimmte Umrisse erkannte, atmete ich tief durch. Ich war gerettet. »Was ist geschehen?« Hyksas Stimme war weich und voller Besorgnis. »Vor einigen Stunden hat der Kondor dich vor den Eingang der Hütte gelegt und fürchterlich geschrien. Das ganze Lager wurde wach.« Ich erkannte inzwischen schon die Personen. Mir fiel auf, daß Coyolas Gesicht seltsam verstört und schuldbewusst war. »Wo ist das Mädchen?« fragte ich. »Welches Mädchen?« erkundigte sich Hyksa besorgt. »Ahuitzotla wollte dem Mädchen, du weißt schon, wen ich meine…«, ich brach ab und trank einen Schluck Wasser aus dem Becher, den mir Hyksa an die Lippen hielt. »Erinnerst du dich an das junge Mädchen aus dem Nomadenstamm?« »Ich erinnere mich«, gab Coyala zu. »Sie ist verschwunden.« Ich richtete mich auf, lehnte mich gegen die federnde Binsenwand und sagte: »Coyala – ich war dort beim Tempel. Er
ist so schön und so mächtig, wie unsere Siedlung werden wird. Tausende von Kriegern haben diesen Tempel auf Befehl der roten Götter gebaut. Warst du bei denen, die ihn erbaut haben?« Sein Blick war tief und unsicher. Coyala zitterte ein wenig. »Nein«, flüsterte er. »Niemand von eurem Stamm?« fragte ich drohend weiter. »Nein. Ja. Drei Männer. Wir weigerten uns, und deswegen griff uns Ahuitzotla mit den anderen Klomaden an. Die drei Männer starben bei dem Überfall.« Ich starrte ihn finster an. »Was weißt du über diesen Tempel?« »Die Götter kamen, ließen den Tempel bauen und gingen wieder. Sie sagten, sie kommen wieder. Eines Tages. Dann haben sie auch große Macht und sind böse. Wir ängstigen uns sehr vor ihnen, weil sie diese Opfer verlangen. Bei jedem Opfer kommen viele Krieger dort zusammen.« Bewegungen waren draußen vor der Tür, ich erhaschte den Schimmer von etwas Weißem, dann taumelte das nackte junge Mädchen in den Raum herein. Der Kondor hatte sie abgesetzt, und sie starrte uns drei an wie Wesen aus einer anderen Welt. »Gib ihr einen Fetzen«, sagte ich zu Hyksa. »Der Kondor muss sie abgesetzt haben, als ich in Gefahr war, dann rettete er mich, schließlich holte er sie wieder.« Noch immer waren die Augen des Mädchens aufgerissen, die Pupillen riesengroß. Sie stand unter der Wirkung des Rauschgiftes und der hypnotischen Beeinflussung des Medizinmannes. Zitternd ließ sie sich von Hyksa ein Tuch um den Körper wickeln. Coyala hatte sich nicht gerührt. »Dein Vogel hat mich… Ich lag auf dem Opferstein«, sagte sie leise, als glaube sie es selbst nicht. »So war es«, bestätigte ich. »Warum hat man dich als Opfer ausgesucht?«
»Ich… ich bin jung und hatte noch keinen Mann.« Jungfrauen werden als Opfer offensichtlich bevorzugt, kommentierte mein Extrasinn sarkastisch. »Hat man dich gezwungen?« wollte ich wissen. »Nein… Quetzalcoatl. Warum hast du mich gerettet?« »Weil ich keine Opfer haben will. Du bist also freiwillig bis zum Tempel gegangen?« »Ja. Ich werde sterben, Gott der gefiederten Schlange.« »Du wirst nicht sterben. Du hast Angst vor den Göttern?« »Ja«, sagte sie und begann zu weinen. »Ich darf nichts sagen. Die Götter haben es verboten.« Ich fragte scharf und gereizt: »Haben sie mit dir gesprochen?« »Nein… Ahuitzotla…« »Ich verstehe. Du glaubst also dem Medizinmann mehr als mir?« »Ja… ja. Die roten Götter, sagt er, sind böse. Sie bringen den Tod über alle Krieger des Tales.« »Gut«, sagte ich. »Geh jetzt und schlaf dich aus. Du wirst in den nächsten Tagen in meiner Hütte helfen. Und eines Tages wird es auch einen jungen Mann geben… Wie wäre es mit dir, Coyala?« Er sprang erschrocken auf. »Ein Mädchen, das als Opfer ausgesucht wurde? Niemals! Das bedeutet Siechtum.« Da prallte ich wieder gegen eine der Grenzen, die durch Aberglauben und falschen Mythos errichtet worden waren. Die grässliche Angst, die dieses Mädchen erfüllte, trieb sie sehenden Auges in den unwürdigen Opfertod. Die gleiche Angst hielt Coyala in ihrem Griff. Hier konnte ich nichts tun, es sei denn, ich wendete Gewalt an; das war nicht gerade meine Art. Ich sagte müde:
»Wir werden darüber sprechen. Geht jetzt bitte – Coyala! Du bist dafür verantwortlich, daß dieses Mädchen nicht flieht.« Hinter ihnen fiel die dicke Binsenmatte, die als Tür diente, gegen die dünnen Wände. Hyksa und ich waren allein. Ich hatte eine Handvoll Mosaiksteinchen gesammelt und wußte mit ihnen nichts Rechtes anzufangen. Die Farben auf diesen Steinchen leuchteten grell, aber ich kannte die Umrisse des Bildes nicht. Es mußte noch einige Zeit vergehen. Jedenfalls hatte ich jetzt einen Mondwechsel lang, bis zum nächsten Vollmond, genügend Zeit, um nachzudenken und meine Pläne zu machen. Ich schlief plötzlich ein. Als ich aufwachte, schien längst die Sonne. Der Aktivator hatte die letzten Nebel aus meinem Hirn vertrieben. Hyksa und ich aßen in der Sonne, dann ging ich zu den Stellen, die von arbeitenden Gruppen umstellt waren. Nur wenige ältere Frauen befanden sich im Lager, teilweise arbeiteten die Kinder mit. Sie waren von der allgemeinen Furcht und dem grenzenlosen Unbehagen noch nicht angesteckt; sie kreischten, lachten und jagten sich gegenseitig. Ununterbrochen wurden große und kleine Ziegel hergestellt und um die Feuer geschichtet. Eine Trägerkarawane schleppte die ausgekühlten Ziegel hinauf auf den Hügel; etwa fünfzig Meter der Mauer waren bereits fertig. Man dichtete sie mit einer Masse aus Lehm, zerstoßenen Felsen, die wir vorher ausgeglüht hatten, Kies, Sand und Wasser ab. Schon gab es einige unbehauene Stufen der Treppe, und auf dem Grund des Brunnens stand mannstief das Wasser. Andere Arbeiter hoben die Gräben für die Kanalisation aus. Einer davon wurde mit nassem Lehm ausgekleidet und mit Holzstücken glatt gestrichen. Der Lehm wurde im Feuer gehärtet, dann wollten wir die Gruben abdecken und Erdreich darüber häufen.
Etwa hundert Personen arbeiteten auf dem Hügel. Ich blieb neben Coyala stehen, der mit einer Steinhacke einen rechteckigen tiefen Graben aushob. »Wir brauchen kräftige Männer«, sagte er keuchend. Er schwitzte und schwang die Hacke wie ein Besessener. »Soll ich meinen Stamm holen?« »Wenn wir die Krieger hier hätten, die jene Tempelpyramide gebaut haben, ginge es schneller«, erwiderte ich. »Aber – in wenigen Tagen kommen meine Freunde!« Coyala stützte sich auf seine Hacke. »Dies wird dein Haus, Quetzalcoatl«, sagte er. »Wir werden es so bauen, wie du es wünschst!« Mein Plan, mit Coyala entwickelt und gezeichnet, sah einen Hauptplatz in drei Ebenen vor, um den sich ein Ring aus fünfzig Steinhäusern zog. Zwischen ihnen waren schmale Gassen und kleine Höfe, in denen Bäume gepflanzt werden konnten. An diesen ersten Ring schlossen sich zwei weitere Ringe an, die an der Kante des obersten, steilsten Walles standen. Mein Haus sollte im Süden stehen; ich hatte von der kleinen Terrasse einen herrlichen Ausblick auf den Dschungel und eine Bucht des Flusses, dort, wo ich gebadet und die Krieger belauscht hatte. Ich deutete auf die Haufen von Ziegeln und Steinen und sagte: »Wenn wir dieses Haus bauen, werde ich euch zeigen, wie man auch alle anderen Häuser bauen kann. Sie sind hell, kühl und gesund.« Coyala gab verwundert zurück, nachdem er wieder einige Meter Graben ausgehoben hatte: »Ich verstehe es nicht, Quetzalcoatl!« »Was verstehst du nicht?« fragte ich halblaut. »Du kommst zu uns, heilst unsere Wunden, sagst uns, wie wir bauen und jagen müssen, bringst die Bogenwaffe und bist
so ganz anders als die roten Götter, von denen die Krieger erzählen.« Ich zuckte zusammen; vor Begeisterung über die Bauarbeiten hatte ich meine Probleme für Stunden vergessen. »Ich werde es dir eines Tages genau erklären«, versprach ich. »Aber die Zeit ist noch nicht reif.« »Wann kommen deine Freunde?« Er schien mit diesem Aufschub zufrieden zu sein. »Ich werde sie abholen, wenn mir der Kondor sagt, daß sie am Fluss angekommen sind.« In den nächsten Tagen entstand mein Haus. Wir setzten ein Rechteck aus großen Steinen in den Graben. Kies, Lehm und Sand wurden mit dem zerstoßenen, erhitzten Gestein vermischt, mit Wasser zu einem Brei angerührt, mit dem wir die Fugen ausstrichen. Dann füllten wir den Raum zwischen dem Steinrechteck mit Kieseln auf, darüber kam eine Sandschicht. Mit Schlegeln aus härterem Urgestein schlugen wir die Steine glatt und bauten darauf vier Mauern mit einer Türöffnung nach Norden, mit kleinen, hoch angebrachten Seitenfenstern und mit einem großen Fenster und einer breiten Tür nach Süden. Die Mauern wurden abgeschrägt, so daß die Neigung des Daches nach Westen wies. Fenster und Türen wurden oben durch einen dicken Balken abgesichert. Wir fällten Bäume und bearbeiteten mit Steinbeilen die Stämme, arbeiteten Aussparungen hinein und setzten den Dachstuhl. Dünnere Querverstrebungen wurden mit Lianenseilen angebunden, und das Dach wurde von unten nach oben mit dicken Bündeln aus Binsen, langen Gräsern und großes Blättern gedeckt. Die dreieckigen Zwischenräume an den Mauerkanten wurden ausgefugt, und ich konstruierte einen Kamin und einen Herd in einem der kleineren Räume. Das Wasser holten wir aus dem fertig gestellten Brunnen. Als letzter Arbeitsgang werden die Terrasse, die beiden Be-
grenzungsmauern und die Böden hergestellt. Dann war der Rohbau fertig. Die Männer hatten begriffen, wie man ein einfaches Haus baute. Wir warteten einige Tage, bis die Nässe aus den Mauern verdunstet war, dann brachten wir Tische und Sessel, die Vorhänge aus Binsen und den übrigen Besitz und meine Ausrüstung auf den Hügel. Ich fertigte eine Tür an, hängte sie in breite Lederbänder ein und richtete dann den großen Innenraum ein. Er maß ziemlich genau sechs auf sechs Meter. Als ich mich umsah, merkte ich besonders deutlich, was noch alles fehlte, um von einer gewissen Bequemlichkeit sprechen zu können. Sie kannten keinen Webstuhl, die Baumwolle, die ich hier und da gesehen hatte, eignete sich schwer zur Anfertigung von Teppichen und Stoffen. Die Töpferei lag in den primitiven Anfängen. Es gab keine Metalle und keine Metallverarbeitung. Die Felle waren schlecht gegerbt und noch schlechter bearbeitet… Ich wußte, daß ich noch sehr viel Arbeit hatte, aber ich wußte auch, daß mit Kapitän Hannas und seiner Besatzung starke und unermüdliche Helfer kamen. Ich musterte die Ausrüstung. Sie würde noch für den Rest der Zeit reichen, die ich mir – vorausgesetzt, es gelang mir nicht, in das Raumschiff zu kommen, das ich nicht einmal gesehen hatte – als Frist gesetzt hatte. Noch mehr als elf Mondwechsel also. Schritte hinter mir, ein Schatten fiel über die hellen Steine und den trockenen Lehm der Terrasse. Ich drehte mich um. »Du bist zufrieden, Atlan?« fragte Hyksa leise. »Nein, noch lange nicht«, erwiderte ich. »Aber es sieht schon viel besser aus. Hast du die Felder gesehen?«
»Die Bewässerungsgräben sind voller Wasser, und die Pflanzen wachsen gut. Bald haben wir Grund genug, die andere Hälfte des Stammes zu holen.« In einer der metallenen Verzierungen meines breiten Lederarmbandes, das ich als Armschutz für die Bogensehne trug, summte kurz ein Signal auf. Ich lächelte Hyksa an, ging an ihr vorbei und schaltete den Bildschirm des Schildes ein. Wir sahen ein Bild, das wir erwartet hatten und das uns große Erleichterung versprach. Das Schiff ankerte an der Stelle des Flusses, weit entfernt von der Mündung in den Ozean, an der es nicht mehr weiterging. Das Schiff war an einem mächtigen Urwaldriesen vertäut, der quer über dem Fluss lag. Zwischen dem Schiff und einer Sandbank am Ufer bewegte sich eine Kette vor Menschen, die versuchten, das Schiff zu entladen. »Endlich sind sie da!« sagte Hyksa. »Hannas und mein Gepäck!« Ich hatte das Bild auf dem Schirm, das die Augen des Kondors sahen. Ich gab dem Vogel ein Signal, das ihn tiefer steuerte. Hannas sollte wissen, daß ich ihn gesehen hatte. »Meine Dienerinnen kommen!« freute sich Hyksa. »Es wird eine schöne Zeit werden, Atlan!« Ich schaltete den Sichtschirm aus und steckte die Waffen ein, dann griff ich nach Bogen und Köcher. »Ich fliege zu ihnen und bringe sie hierher«, sagte ich. »Aber es wird lange dauern.« Ich sagte Coyala, was ihn erwartete, dann lief ich den Hügel hinunter und schwang mich in meinen Gleiter. Das Lager hatte sich geleert, die meisten Krieger mit ihren Familien hausten auf dem Siedlungsberg. Ich startete den Gleiter. Meine Freude war berechtigt. Ich hatte nicht nur Helfer bei der Arbeit, sondern auch Verbündete gegen die »roten Götter« und Menschen, mit denen ich über
etwas anderes sprechen konnte als über Jagd und Aberglauben. Gegen Mittag erreichte ich das Schiff.
4. »Wenn Atlan einschlief, als Alexander starb – das war am 28. Daisios des makedonischen, umgerechnet der 10. Juni 323 des Julianischen Kalenders vor Christus –, wenn er sieben Jahre schlief, wie Rico sagte, dann lebte er im Jahr 316 oder 315 bei den Epi-Olmeken«, sagte Cyr Aescunnar zu Oemchen Orb. »Nach meinen Unterlagen ein halbes Jahrtausend vor der Hochblüte der Maya-Kultur; und vor zweieinhalb Jahrhunderten wäre demnach die Olmekenkultur ausgestorben, nicht aber die Nachfolger der Olmies. Also kam er tatsächlich – nach diesen vagen Zahlen – in ein kultur- und zivilisationsgeschichtliches Vakuum. Schon hatte der Dschungel die alten Olmekenstädte überwuchert.« »Daher besaß das kleine Volk eine Art kollektiver Erinnerung an Steinbearbeitung, Töpferei und Städtebau?« »So mag es gewesen sein. Und daß weit vor Kolumbus Schiffe aus dem Mittelmeer und von anderen Küsten die amerikanischen Kontinente angelaufen haben – darüber gibt es heute keinen Zweifel. Soviel zu Kapitän Hannas’ Sternenvogel.« Die Informationen aus der ENZYCLOPAEDIA TERRANIA, noch mehr Bilder und Diagramme, Leit-Fundstücke und einwandfrei übersetzte Texte jener Glyphen, eine holografische Landkarte des Siedlungsgebietes: Cyr rätselte noch darüber, an welcher Stelle Atlans Grüppchen siedelte und baute, und in welchen Fluss die Sternenvogel eingefahren war. Quintana Roo? Campeche? Tabasco oder Chiapas? Oaxaca oder Puebla? Atlan lag wieder ausgestreckt in der Nährflüssigkeit, deren Wärme dem arkonidischen Metabolismus entsprach. Die mo-
difizierte SERT-Haube hatte sich über seinen Kopf gesenkt, auf der Brust funkelte der Zellschwingungsaktivator. Die Gesichter der Ärzte um den alten Ara Ghoum-Ardebil waren entspannt; alle hatten ausschlafen und sich erholen können. Aescunnars Computer hatte eine erste, noch nicht genau überprüfte Zeittafel entwickelt; Cyr versuchte, in den Pausen von Atlans Bericht eine klare Ordnung in Zeiten, Jahre und Geschehnisse zu bringen. Auf der Sprachprintplatte erschienen die ersten Lettern; Atlan berichtete weiter. Die beiden nächsten Zehntage vergingen ungewohnt rasch. Die Ladung des Gleiters wechselte bei jedem Flug: Zusammen mit den Truhen und Kästen aus silbrigem Metall, die Hannas zwischen seiner Ladung gefunden und nicht hatte öffnen können, nahm ich Seeleute und Dienerinnen mit zur wachsenden Stadt. Hyksa, jene junge Prinzessin aus dem Land der Kandake – an den Oberläufen der Neilos-Zuflüsse, dem früheren Land Kush und Wawat –, die am Ende einer unglaublich weiten Reise Qart Hadasht erreicht hatte, konnte sich wieder von ihren Dienerinnen und in ihrer gewohnten Umgebung verwöhnen lassen. Dann belud ich den großen Flugkörper bis zur Belastungsgrenze mit Seilen und Werkzeugen, mit Amphoren und mit Stoffen, sogar Zinnbarren. Rund um mein Steinhaus häuften sich die fremdartigen Gegenstände und Ausrüstungsteile. Augenblicklich begannen die Männer unter Kapitän Hannas Leitung weitere Hütten zu planen und zu bauen; hektische Betriebsamkeit brach an. Aupas, einer der Steuermänner, der sich mit einer der Dunkelhäutigen zusammengetan hatte, war ein hervorragender Zimmermann. Ihm übertrugen wir die Leitung der Holzarbeiten. Zusammen mit zwei schwarzen Dienerinnen von Hyksa,
konstruierten wir den ersten Webstuhl. Die Mädchen zeigten den jungen Frauen der Tlatilco, wie man Baumwolle hechelte und schließlich verwebte. Gegen Ende der zwei Zehntage, in denen sich der Hügel in eine große Lehrwerkstatt für verschiedene Berufe verwandelt hatte, geschah die Überraschung. »Quetzalcoatl, oder wie immer du dich zu nennen wünschst, Bleichhaariger… wir bekommen Gäste!« Ich drehte mich um und starrte in Hannas’ schwarzbärtiges Gesicht. »Gäste?« fragte ich. Er warf einen Stein zur Seite und deutete zum Fuß der Treppe, an der etwa zwanzig Männer arbeiteten. »Dort!« Ich sah, was er meinte. Etwa dreihundert Männer mit Waffen und Vorräten kamen aus dem Dschungel und bildeten eine vier Mann breite Schlange bis an den Fuß des Hügels. Ich griff nach dem Strahler, der im Gürtel versteckt war, und stob den Hang hinunter. Atemlos kam ich an, gleichzeitig rannte Coyala von der anderen Seite auf die Kolonne zu. »Was wollt ihr?« schrie er und kam mit gezogenem Obsidianschwert auf die ersten Männer zu. Ich entsicherte, die Hand zwischen den Lederschichten der Tasche, den Strahler. »Wir haben vor vielen Monden den Tempel gebaut«, sagte einer der Männer. »Wir sind hier, um dem weißhaarigen Gott zu helfen.« Ich blieb skeptisch; dreihundert Krieger, freiwillig hier, um uns beim Bau der Siedlung zu helfen? Das sah nach einem groß angelegten Plan dieses Medizinmannes aus, der uns ein zweites Mal überfallen wollte…, dann aber mit den Kriegern, die bereits bei den Verteidigern lebten. Als Coyala und ich uns ansahen, merkte ich, daß auch er zutiefst mißtrauisch war. »Ihr seid hier, um mir zu helfen«, sagte ich laut. »Wer hat euch geschickt?«
Einer der braunen Männer legte seine Waffen vor meine Füße und sagte, noch immer in gebückter Stellung: »Der Medizinmann hat es uns befohlen. Er sagte, du würdest sonst großes Unheil über uns bringen.« Ein anderer fuhr dazwischen: »Er sagt, weil wir deinen Brüdern geholfen haben, müssen wir auch dir helfen.« Auch diese Krieger machten, als ich sie schweigend und lange betrachtete, den Eindruck von Menschen, die sich vor Dämonen mit unaussprechbaren Namen fürchteten. »Ihr werdet beim nächsten Vollmond wieder ein Opfer finden und auf den Stein legen?« fragte ich und bekam keine Antwort. Coyala kam näher und flüsterte: »Sie können uns helfen. Aber ich mag ihre Waffen nicht.« »Ich mag sie noch viel weniger«, entgegnete ich leise. »Nur dann, wenn wir sie pausenlos belauschen und ihnen auf die Finger sehen, sind sie keine Gefahr. Die Waffen müssen sie uns geben.« Er sagte: »Du befiehlst, Quetzalcoatl. Wir gehorchen. Sie werden auch dir gehorchen, wenn du Beweise deiner Macht gibst.« Wir sollten es riskieren, aber das würde uns lange Zeit sehr unruhig schlafen lassen. Ich sprang auf einen Stein der Treppe, hob die Arme. »Ich, Quetzalcoatl, befehle euch, mitzuhelfen, diese Stadt zu bauen!« rief ich. »Ihr werdet Essen bekommen und Hütten zum Schlafen. Alle Waffen müssen abgegeben werden, und jeden, der die Hand gegen einen von uns oder gegen einen Tlatilco erhebt, werde ich auf furchtbare Weise strafen. Wie lange sollt ihr bleiben?« »Solange du uns brauchst, Quetzalcoatl«, brummte einer. »Ich werde euch ziemlich lange brauchen, und die Arbeit wird nicht leicht sein«, versprach ich. Wie auf ein Kommando
warfen sich alle Männer auf die Knie und legten ihre Waffen vor sich ins Gras und auf die Steine. Ich versuchte, meine Vorrangstellung weiter zu festigen, drückte auf einen Kontakt meines Armbandes und wartete. Der Kondor fiel aus dem Himmel herunter, fing sich ab und drehte ein paar Kreise um mich herum, wobei mich fast die Schwingen streiften. Dann setzte er seine Krallen auf meine Schultern und blieb sekundenlang flügelschlagend über mir stehen. Als ich den Kontaktknopf wieder berührte, schwang er sich in die Luft und strich dicht über den Köpfen der Krieger ab. Sie duckten sich und stießen Schreckensschreie aus. »Coyala!« Der Krieger hatte noch immer das Obsidianschwert in der Hand und lauerte auf die kleinste verräterische Bewegung. » Las die Waffen einsammeln und nach oben bringen. Und ich werde die Leute einteilen. Noch etwas… komm näher!« Ich flüsterte in sein Ohr: »Schick einen schnellen Läufer zu deinem Vater. Er soll mit dem Rest des Stammes herkommen.« »Ja. Und zwar, ohne das die Krieger es merken«, gab er zurück. Dann schrie er: »Werft die Waffen auf einen Haufen!« Es gab zu unseren Füßen ein Gedränge. Ich sprang die Treppe hinauf und winkte meinen Freunden vom Schiff ab, die mit ihren Waffen am oberen Ende aufgetaucht waren. »Ihr hier… ihr geht dort hinüber, wo wir Ziegel herstellen!« rief Coyala. Er sonderte etwa dreißig Mann ab, dann schickte er zwanzig Männer an die Brennöfen, hundert wurden zum Baumfällen und Bearbeiten des Holzes ausgesucht, und der Rest würde mithelfen, Steinblöcke herauszusprengen und zur Stadt zu schleppen. Frauen kamen mit Binsenkörben und sammelten die Waffen ein. Die Krieger gehorchten ohne Widerrede. Eine halbe Stunde später waren sie voll an der Arbeit. Ich sagte zum jungen Häuptlingssohn:
»Deine Männer, und zwar die klügsten, die du hast, sollen auf die Gespräche der Fremden hören und uns berichten, was sie denken und sagen, ja?« »Du hast recht, Quetzalcoatl! So werden wir es tun!« Langsam stieg ich die unfertige Treppe hinauf und traf auf Kapitän Hannas, der mit Aupas und Kinach vor einem halbfertigen Haus stand. »Quetzalcoatl«, sagte Hannas leise, »wir müssen in deinem fliegenden Boot noch einmal zu meinem Schiff. Oder mehrmals. Dort sind noch viele Dinge, die wir hier notwendig brauchen. Ich will alles mitnehmen… Das Schiff sieht unter der Wasserlinie schlecht aus und wird bald auseinander fallen.« »Das können wir gleich holen«, erwiderte ich und sah nach der Sonne. »Wir haben Zeit genug.« »Einverstanden!« Er verschwand in der windschiefen Binsenhütte, die sich an die Mauer meines Hauses lehnte, und kam mit seiner salzverkrusteten Jacke zurück. Wir kletterten in den Gleiter und flogen über den Dschungel davon. Schwerbeladen schwebte der Gleiter neben dem Schiff; ich hatte das Fahrzeug mit einer Leine gesichert. Wir saßen nebeneinander auf dem Deck und ließen die Beine über die Bordwand baumeln. Zwischen uns stand eine kleine Amphore voll roten, schweren Weines. Wir tranken abwechselnd, und das Schiff um uns herum ächzte und knarrte, als wolle es sterben. Wir mußten mindestens dreimal zwischen der Siedlung und dem Schiff hin und her fliegen, um den Rest zu bergen. Hannas hielt ein Leinenbeutelchen in der Hand und sagte mit schwerer Zunge: »Baumwollsamen, Quetzalcoatl. Die Baumwolle hier taugt nichts. Wir werden sie kreuzen.«
»Einverstanden.« Ich fühlte, wie der Wein rechts und links an meinem Kinn entlangtropfte. »Sehr gut. Bald ist die Stadt fertig – aber das ist nur ein Teil aller ungelösten Rätsel.« Er rülpste und starrte mich unter seinen buschigen Brauen hervor an. »Eines davon sitzt neben mir und betrinkt sich. Woher kommst du wirklich, Atlan-Quetzalcoatl?« »Ich komme aus einer Welt, die ich vor unendlich vielen Jahren verlassen habe. Auf dieser Welt ist alles, was du als ›wunderbar‹ bezeichnest, alltäglich. Und ich will zurück in diese Welt, wo ich ein großer Herrscher bin.« »Du bist hier auch ein großer Herrscher. Ein Gott!« sagte er verblüfft. »Ja. Ein Gott, der versucht, armen und unwissenden Barbaren zu zeigen, wie sie ein wenig bequemer leben können. Das wird die Arbeit der nächsten Monde sein, Hannas, eine schwere Arbeit! Wirst du mir helfen?« Ich packte ihn an der Schulter. »Natürlich«, sagte er beruhigend. »Aber da gibt es noch andere Dinge. Ich habe sie von Hyksa gehört… Hast du sie gezähmt?« »Es war nichts zu zähmen«, versicherte ich leise. »Welche andere Dinge, Hannas?« »Viele Dinge. Das Opfer des jungfräulichen Mädchens, die Versammlung von vielen Kriegern jeden Vollmond, die Stufenpyramide und der Überfall auf dich. Die Sorgen, die aus deinen Augen sprechen… ich kenne das!« Ich lehnte mich an die rissige Reling und schloss die Augen. Dann sagte ich leise: »Was ich dir jetzt berichte, mußt du verstehen und bedenken und – für dich behalten. Vor vielen Monden kamen eine Menge von Wesen hierher, die mein Land kennen, die aber vermutlich Feinde meines Volkes sind. Sie kamen hierher mit einem großen Schiff, das sie versteckten. Sie scheinen herrschen
zu wollen und scheinen grausame Wesen zu sein. Sie verlangen von den Nomaden, wobei Ahuitzotla, der Medizinmann, ihr Sprachrohr ist, daß sie sich jeweils zu Vollmond zu einem Opfer vor dem Tempel versammeln. Ich weiß nicht, warum sie es tun.« Hannas nahm gedankenvoll einen tiefen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Die Nomaden haben den Tempel gebaut?« fragte er düster. »Ja. Und sie haben Angst vor dem Zorn der anderen Götter.« »Das habe ich gemerkt«, sagte er. »Auch die Tlatilco lachen sehr selten. Sie scheinen sich vor dir ebenso zu fürchten wie vor den anderen Göttern.« »Ja, leider. Wenn ich nur wüßte, warum sie jeden Monat eine solche Menschenmasse an einem Patz brauchen.« »Du wirst es erfahren, Quetzalcoatl! Ja, wir werden dir helfen. Wir werden den kleinen braunen Menschen all das zeigen, was wir aus unserer Heimat mitgebracht haben. Auch diesen Wein haben wir mitgebracht – ein Glück, daß der Krug im Sturm nicht zerschmettert wurde.« »Ende!« sagte ich. Langsam kletterte Hannas über die Bordwand herunter. Er setzte sich schwer neben mich in den Beifahrersitz; der Gleiter federte in der Luft. Ich löste die dünne Leine. »Was sagte die Stimme?« fragte Hannas. »Sie berichtete mir, wo die fremden Götter sind. Wir werden eine lange Reise unternehmen, Hannas.« Ich startete den Gleiter. Noch am selben Abend, nachdem ich meinen Vertrauten gesagt hatte, was zu tun sei, nachdem ich Hyksa den Gebrauch des kleinen Paralysators erklärt hatte, nahm ich meine Waffen und flog, zusammen mit Hannas, schnell nach Süden. Am zweiten Tag, im Licht der ersten Sonnenstrahlen, sahen
wir, was wir gesucht hatten. Ein blauer, wolkenloser Himmel spannte sich über einem Hochplateau, das ohne jede Pflanze war. Braungraues, kleines Gestein bedeckte den Boden, die weiten, schüsselförmigen Täler und die sanften Berghänge. Und in dieses Gestein waren niedrige Gräben eingefräst worden. Linien und Kurven, und als ich genauer hinsah, bemerkte ich, daß einige von ihnen Tieren glichen, wie ich sie auch an den Steinen der Stufenpyramiden gesehen hatte. Mythische Vögel und Phantasiefiguren, sich überschneidende Linien, und eine davon lief durch ein Tal, einen Berghang hinauf und darüber hinweg; es waren drei in verschiedenen Abständen parallel zueinander verlaufende Linien. »Beim Baal!« keuchte Hannas auf. »Was ist das, Quetzalcoatl?« Ich hielt den Gleiter an; wir schwebten dicht über einem Stück niedrigen Gebüsches. Einige hundert Ellen tiefer und bis zum Horizont, der abermals durch eine niedrige Bergkette gebildet wurde, lagen die flachen, waagrechten Flächen unter uns. »Das sind Linien und Zeichen, die von fremden Göttern stammen«, sagte ich hart. Hannas lachte kurz. »Was soll dieses Gewirr? Es sieht aus wie… wie… ich weiß es nicht!« »Ich habe auch keine Ahnung, was diese Linien bedeuten. Sie scheinen Zeichen zu sein, Hanna.« »Zeichen für wen?« fragte der Kapitän. Ich zuckte mit den Schultern. Wo waren jene, die diese Zeichnungen mit Energiewaffen in den Boden gebrannt hatten? Sie benutzten zweifellos Geräte oder Waffen, durch deren Wirkung die Materie aufgelöst und vergast wurde. Nachdenklich betrachtete ich die Bilder. Dann lachte ich auf. »Was siehst du, was dich lachen läßt?« erkundigte sich Hannas.
»Nichts. Sieh diese Linien an – sie werden in Jahrtausenden noch zu sehen sein. Stürme können sie nicht wegwehen, die Sonne kann sie nicht verbrennen, der Regen wird sie nicht auswaschen, und die Pflanzen… Hier wird niemals etwas wachsen.« Hannas fragte mit rauer Stimme: »Du suchst die Fremden?« »Ja. Ich muß sie finden!« Und zwar möglichst schnell! dröhnte die Stimme meines Extrasinns. Ich zog an einem Hebel, schaltete das kleine Ortungsgerät ein und sah zu, wie der Gleiter senkrecht hochstieg. Langsam wurden die Bilder kleiner und schlossen sich zu kompakteren, übersichtlicheren Formen zusammen. Erst, als der Gleiter vierhundert Mannshöhen hoch gestiegen war, konnte ich die wahre Ausdehnung der sich kreuzenden Linien und der dazwischenliegenden Tiergestalten erkennen. Eine gigantisch angelegte Geländemarkierung. »Die Fremden sind fort?« fragte Hannas. Ich konnte keinerlei Radarechos mehr erkennen; der Schirm blieb stumpf und ohne jene kleinen, strahlenden Stellen. »Ja. Sie sind fort!« »Haben sie diese Linien für sich in den Boden geschrieben?« fragte Hannas und beugte sich leicht aus dem Gleiter. »Wahrscheinlich nicht!« antwortete ich. »Also, dies ist eine Karte, eine Beschreibung, wie wir sie unseren Kapitänen geben«, sagte Hannas. »Halt!« rief ich und starrte nach unten. »Eine Karte, Quetzalcoatl!« sagte Hannas drängend. »Du könntest recht haben. Eine Karte, eine Information, vielmehr sehr viele Informationen für jemanden, der nach den Fremden sucht? Der mit ihnen hier verabredet ist, sie treffen will?« »Daran habe ich gedacht«, sagte Hannas.
»Wenn es eine Karte sein soll, dann muß sie etwas bedeuten.« »Ich sage dir – es ist eine Karte!« Nur war dies, wenn überhaupt, eine Karte für Raumfahrer. Assoziationen drängten sich auf, bildeten eine lückenhafte Kette. Linien und Formen, aus großer Höhe gut zu erkennen. Aus großer Höhe… also auch aus dem Weltraum beziehungsweise von Bord eines Flugkörpers, der zur Landung ansetzte oder hervorragende Instrumente zur Bodenbeobachtung hatte. Hier gab es wenige Wolken; also konnte ein suchendes Schiff diese Figuren und Linien genau ausmachen. Das konnte bedeuten, daß sich die Fremden mit einem anderen Schiff oder mit mehreren Schiffen verabredet hatten. Hatten sie Maschinenschaden, führten sie Untersuchungen durch, wollten sie diesen Planeten plündern oder Sklaven sammeln? Die Zusammenrottungen an jedem Vollmond schienen letztere Überlegungen zu rechtfertigen. »Du hast recht, Hannas«, sagte ich und löste die HolografieKamera aus. »Es ist eine Karte.« »Die Fremden wollen anderen Fremden Nachrichten geben.« »Ja. So ist es. Aber welche Art von Nachrichten?« Ich hob die Schultern und überlegte laut, während ich die Kamera weglegte und scharfe Standfotos machte. »Eine Nachricht vielleicht, die den anderen sagt, wo sie ihre Freunde finden können«, fragte sich der Kapitän laut. »Ja«, sagte ich. »Und vor allem, wann sie zu treffen sind.« Du bist mitten auf der Spur! sagte mein Extrasinn. Vor uns, unter uns lag eine Karte voll deutlicher Informationen. Sie schilderten einem ankommenden Schiff, vielleicht sogar einer Landeautomatik, wo und wann die Fremden zu treffen und zu finden waren. Das konnte bedeuten, daß die Funkanlage der »roten Götter« ausgefallen war und sie sich einen anderen Weg hatten einfallen lassen müssen, um den Neuankömmlin-
gen ihre Lage zu schildern und ihren Standort genau festzulegen. Es konnte auch etwas anderes sein, aber das war unwahrscheinlich. Mein Problem war jetzt, aus diesen scheinbar wirren Linien die Informationen herauszufinden, zu berechnen, welche Bedeutung die Linien für einen Raumfahrer hatten. Jedenfalls entsprachen sie nicht der Arkon-Mathematik. »Du mußt die Karte lesen können!« sagte Hannas verdrossen. »So ist es. Und je schneller mir dies gelingt, desto besser wird es sein. Wir unternehmen noch einen Rundflug; vielleicht haben wir etwas übersehen.« Eine Stunde lang umkreißten wir dieses erbärmlich leere, heiße Hochland. Es gab nur wenige Spuren menschlicher Behausungen; als wir genauer hinsahen, erkannten wir, daß es auch nur Jäger und Sammler waren, die kaum nennenswerte Kultur erzeugt hatten. Eines Tages würden, vom Bevölkerungsdruck und von der Abenteuerlust getrieben, Wanderer aus der Tlatilco-Siedlung oder aus anderen Städten hier Rast machen und die kulturellen Denkanstöße weitergeben. Das aber lag in weiter Ferne. Und für uns gab es dringendere Probleme. »Nichts! Nur eine Karte!« sagte Hannas. »Los, Quetzalcoatl, laß uns heimkehren.« Ich wendete den Gleiter, schloss das Verdeck und beschleunigte. Die Stunden vergingen, während die Luft an dem Gleiter vorbeipfiff. Gegen Abend landeten wir mit schmerzenden Augen und taub vom Lärm des Fahrtwindes auf dem Hügel, der in den drei Tagen, in denen wir fortgewesen waren, sein Aussehen verändert hatte. Der unterste Mauerring war fertig. Die neuangelegten Felder und ein Teil des Bewässerungssystems waren deutlich im letzten Licht des Tages zu erkennen. Ich betrat müde und mit zit-
ternden Knien mein Haus und kam in eine andere, fast märchenhafte Welt. Hyksa hatte mit Hilfe ihrer drei Dienerinnen den großen Raum und die angrenzenden Räume eingerichtet. Ihr umfangreiches Gepäck schmückte die Wände, stand in der Küche und in der Toilette. Hyksa kam auf mich zu; sie trug eines ihrer dünnen Gewänder. »Was hat du gefunden, Atlan?« fragte sie. Ich hob sie auf und setzte sie auf meinen Arbeitstisch vor dem Fenster. Der hölzerne Rahmen war neu, auch der weiße Stoff, der in den Rahmen gespannt war. Kleine Öllämpchen beleuchteten das Zimmer. »Eine verrückte Landkarte«, sagte ich. Ich erklärte es ihr, während ich mich umzog und in einen weichen Mantel hüllte, ebenfalls aus ihrem Gepäck. Er war weiß, wollig und mit schweren Stickereien verziert. Wie ein babylonischer Fürst sah ich darin aus. Wir aßen etwas, und Hannas kam mit seiner Freundin Ogela und mit der RotweinAmphore zu uns. »Da sind die Karten!« rief er, als er die Aufnahmen auf dem Tisch sah. »Das sind sie«, bestätigte ich. »Nachher werde ich sie zu enträtseln versuchen.« Wir saßen in den dick gepolsterten Sesseln um den niedrigen Steintisch. »Die Männer arbeiten, als sei Baal in ihren Seelen«, sagte Hannas. »Sie sind friedlich!« stellte Ogela fest. Ich nickte. »Es ist zu sehen«, sagte ich. »Die Mauer, die Treppe und die Felder… Habt ihr den Baumwollsamen ausgesät?« Hyksa sagte aufgeregt: »Ja, und sie weben schon die ersten Teppiche. Natürlich taugen sie nichts, aber wir werden es ih-
nen zeigen, wenn wir erst Farbe gefunden haben und bessere Baumwolle.« Hannas’ Gesicht wurde ernst, als er die farbigen Blätter auf dem Tisch umherschob und die Linien und Bilder darauf ratlos betrachtete. »Wirst du es schaffen?« fragte er. »Ich hoffe es sehr, Hannas.« Ich verdünnte den Rotwein mit kaltem Wasser. »Obwohl ich nicht sicher bin. Was hat sich sonst ereignet?« Hyksa senkte den Kopf, Sann murmelte sie leise, als sei sie dafür verantwortlich: »Das Mädchen, das du gerettet hast, Atlan… es ist seit heute morgen verschwunden.« Ich war nicht sonderlich überrascht; ich hatte erwartet, daß es Schwierigkeiten geben würde. Hannas und ich starrten uns düster an; der Kapitän hob die Hand: »Ich haben eben mit Coyala gesprochen – er wird gleich hier sein.« Während wir uns über den Fortschritt der Arbeiten unterhielten, betrachtete ich die Bilder. Ich wurde nicht klug daraus, auch nicht, als ich einen Stift nahm und die Himmelsrichtung am Bildrand markierte. Ich beschäftigte mich eine Weile mit den Figuren und notierte, welche ich identifizieren konnte. Als ich eine kleine Liste fertig gestellt hatte, trat Coyala ein. »Naya ist verschwunden!« sagte er und begrüßte mich unterwürfig. Das war ein völlig neuer Zug an ihm. »Ich weiß es. Warum bist du plötzlich so verändert?« »Ich… ich fürchte deine Wut, Quetzalcoatl«, antwortete er leise. Er grinste und winkte Malda, der Dienerin, ihm einen Becher Rotwein einzugießen. Er roch mißtrauisch an dem Becher und trank zögernd, als fürchte er, vergiftet zu werden. »Naya wird, da wir bald wieder Vollmond haben, zum Opferstein gewandert sein«, sagte ich. »Wir werden sie einholen und ein zweites Mal retten. Bis sie dort ist, brauchen wir uns
nicht zu beunruhigen – sie ist bis zur Nacht des Vollmondes sicherer als wir. Geben die Arbeiter ihr Bestes?« Coyala taute langsam auf; er blickte uns an und ließ sich von unserer Stimmung anstecken. »Ja, sie sind sehr fleißig. Aber ihr Fleiß ist die Frucht der Angst vor den fremden Göttern.« Ich musterte ihn genauer, er wich meinem prüfenden Blick aus. »Auch du wirst von Furcht beherrscht, Coyala, wie alle deine Freunde. Eines Tages werde ich erfahren, wovor du dich fürchtest. Ich weiß, daß du es mir heute nicht sagen willst. Wir haben Zeit – du und ich.« Ich warf ihm einen schnellen Blick zu, er fing ihn auf. »Überall«, flüsterte er fast wie in Trance, »überall sind Dämonen und Götter. Sie warten darauf, uns zu schaden. Wir sind hilflos, schutzlos. Niemand hilft uns, und so tun wir, was die Götter befehlen.« Ich stand auf und deutete zum Fenster. »Nichts, was ich befohlen habe, Coyala, ist schlecht. Ich verlange keine Menschenopfer; was ich verlange, wird euch helfen, wenn ich eines Tages über das Meer nach Sonnenaufgang fliegen werde. Du mußt versuchen, die Götter zu unterscheiden. Es gibt gute und schlechte Menschen, gute und schlechte Götter. Ich hoffe, kein schlechter Berater zu sein. Ich bin müde, und ich habe zu arbeiten.« Unsere Gesprächsrunde löste sich auf. Hyksa und ich blieben allein zurück. Hyksa schickte die Dienerin weg und setzte sich neben mich. »Was wirst du tun?« fragte sie. Ich zog sie an mich und streichelte ihre Schulter. Für einige Minuten vergaß ich, welche Schwierigkeiten auf uns zukamen. Und, als sei dies bereits ein erster Punkt, den ich vergessen hatte, fiel mir ein, daß ich Hyksa in dem Augenblick verlassen mußte, in dem ich das
Raumschiff betreten würde. Würde ich Arkon jemals erreichen? Wo war dieses Schiff eigentlich? Und wo befanden sich die Fremden? Hatte ich Chancen, mit ihnen zu reden und sie zu bitten, mich mitzunehmen? »Wer weiß?« murmelte ich. Hyksas Finger spielten mit dem Zellaktivator auf meiner nackten Brust. »Du denkst an die Fremden, nicht wahr?« fragte sie. »Ja«, sagte ich und griff nach den Fotos. Ich rechnete und verglich die halbe Nacht, während Hyksa neben mir saß und eines der Öllämpchen nach dem anderen ausging. Erst als ich anstelle der Figuren Phantasienamen für Konstellationen ferner Sterne setzte, hatte ich den Schlüssel. Ich hörte sofort auf und grinste breit, dann drehte ich mich um. Hyksa lag, den Kopf in den Unterarmen vergraben, halb auf dem Arbeitstisch. Ich hob sie hoch, sie öffnete die Augen und sah mich einige Sekunden lang an, dann seufzte sie glücklich. Ich hatte einen Weg gefunden, eines der Rätsel zu lösen. Die einsame Gestalt warf einen langen Schatten. Der Schatten wanderte langsam über das Gras, das vom Wind bewegt wurde. Lange Wellen rasten über die Fläche, wenn sich die silbrigen Unterseiten der Gräser nach oben kehrten. Ich saß ruhig im Halbdunkel überhängender Äste am Rand des Dschungels, hundert Meter vor dem kantigen Block des Opfersteines. Ich saß auf einem halb bearbeiteten Steinquader, der eine scheußliche Fratze zeigte. »Paß auf andere Wesen auf, auf Bewegungen«, sagte ich, nachdem ich den Unterarm abgewinkelt vor den Mund hielt und einen Kontakt betätigte. Der Kondor hoch über mir zog schweigend seine Kreise. Einige Augenblicke vergingen. Ich stand auf, spannte den Bogen und zupfte an der Sehne. Ein zirpender Laut war zu
hören. Dort vorn ging Naya, barfuss, im wildledernen Hemd. Etwas glitzerte in ihrer Hand. Es war fast Abend, die Sonne brannte in meinen Augen. Die kleine, verlorene Gestalt wirkte vor der Kulisse der Stufenpyramide fremd und unwirklich. Heute war die Nacht des Vollmondes… in einigen Stunden. Vermutlich ist der Dschungel voller Krieger, warnte mein Extrasinn. Ich hatte keine bemerkt, als ich mit Hilfe meines Kondors das Mädchen auf den letzten Meilen hierher verfolgt hatte. Ich sah auch keine Krieger, als ich mit aktiviertem Flugaggregat über den Dschungel hierher gerast war, über mir den Vogel, der mir das Leben gerettet hatte. Wieder zwei neue Fragen! Auch keiner der dreihundert Krieger hatte Zeichen von Unruhe gezeigt. Eigentlich hatte ich erwartet, daß sie vor einigen Tagen alles hinwerfen würden, um hierher laufen zu können. Nichts. Sie arbeiteten mit der gleichen schweigenden Verbissenheit an der Vollendung der Tlatilco-Siedlung. »Und wo steckt Ahuitzotla?« fragte ich mich leise. Noch fünfzig Schritte trennten das Mädchen vom Opferstein. Sie war wie eine Schlafwandlerin gegangen. Ihre hängenden Schultern und der nach vorn gesunkene Kopf schienen tiefe Hoffnungslosigkeit auszudrücken. Ich wurde nicht klug aus diesem Mädchen und aus dem, was sie hierher getrieben hatte. Sie benahmen sich alle wie Roboter, aber nach einem Schema, das ich mir nicht erklären konnte, denn verglichen mit den Menschen dieses Lands wirkte die Schiffsbesatzung trotz aller Entbehrungen und der pausenlosen Arbeit wie ein Haufen ausgelassener Kinder. »Los, Atlan!« murmelte ich. »Rette, was zu retten ist.« Ich zog einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Sehne und verließ mein Versteck, bewegte mich schnell auf den Spuren des Mädchens durch das hohe Gras. Ich näherte mich ihr schneller als sie sich dem Opferstein. Als ich genügend weit an
sie herangekommen war, sah ich, daß der blitzende Gegenstand in ihrer rechten Hand ein langes, zugeschliffenes Obsidianmesser war. Noch zwanzig Schritte… fünfzehn… Naya erreichte den Opferstein und legte die linke Hand darauf. So verharrte sie einige Zeit, bis ich drei Schritte hinter ihr stand. Ich wagte nicht zu atmen. Sie murmelte Unverständliches, legte das Messer auf den Stein; ein helles, scharfes Geräusch in der Stille des sinkenden Abends. Naya riß ihr Kleid auf. Sie griff nach dem Messer, holte aus und… »Naya!« Ich schrie auf, kurz und befehlend. Dann machte ich einen Satz nach vorn, ließ Bogen und Pfeil los und ergriff das Handgelenk des Mädchens. Das Messer klirrte auf den Stein; Naya wurde in meinen Armen schlaff. Ich spürte, daß ihr Körper in Angstschweiß gebadet war. Aus riesigen Augen, in denen Todesangst stand, starrte sie mich an. Aber die Furcht in ihr war stärker als die Angst vor dem Tod. »Du bist es… Quetzalcoatl!« flüsterte sie. »Ich bin es«, sagte ich. »Ich habe mit den roten Göttern, meinen Brüdern, gesprochen. Sie wollen dein Opfer nicht.« »Sie haben mir kein Zeichen gegeben… Ich wollte mir das Herz durchstoßen.« »Ich weiß«, versicherte ich in gelangweiltem Ton. »Dein Herz ist zu unwichtig für meine Brüder. Sie sagten mir, ich soll dir sagen, daß du nicht mehr als Opfer gebraucht wirst.« Ich konnte mir zweifelsohne andere und geistvollere Argumente vorstellen, aber hier schien nur noch die ganz simple Methode zu helfen. Ich ließ ihre Arme los.
»Meine Brüder haben dir ein Zeichen gegeben, denn ich spreche zu dir. Ein zweites Zeichen wird dir helfen, alles zu glauben!« Ich entsicherte meinen Strahler, stellte ihn auf größte Leistung ein, hob Bogen und Pfeil auf. Dann ging ich mit Naya vom Opferstein zurück, zielte flüchtig und feuerte, als wir etwa dreißig Schritte von dem hellen Block entfernt waren. Die Sonne verschwand hinter dem Tempel. Die Detonation dröhnte über den freien Platz, das Echo rollte aus dem Dschungel zurück. In einer knallenden Explosion, die Steinsplitter und lange Funken nach allen Seiten schleuderte, zerbarst der Opferstein. Der Obsidiandolch zersplitterte in tausend Fragmente. »Der Opferstein ist zerstört!« sagte ich. »Es gibt keine Opfer mehr?« flüsterte sie. »Nein. Auch das Opfermesser ist vernichtet«, antwortete ich. »Die Götter wollen keine Menschenopfer.« »Und wozu bin ich jetzt gut?« fragte sie. »Um einen Mann zu lieben. Wie viele gibt es davon in der neuen Siedlung!« Sie schluckte und sagte mit jäh hervorbrechendem Stolz: »Aber… ein Gott hat mich vom Opferstein geholt. Ich habe die Götter gesehen!« Ich nickte. »Das alles kannst du in der Siedlung erzählen, während du Maisfladen bäckst. Wir müssen zurück.« Sie sah mich lange an, mit leuchtenden Augen, dann flüsterte sie: »Ich werde erzählen, daß mich ein Gott in den Armen gehalten hat.« »Meinetwegen!« knurrte ich unwillig, schaltete mein Aggregat an und hob das Mädchen auf. Langsam schwebten wir bis in die Höhe der Baumwipfel. Ich drehte mich eben herum, um wieder nach Westen zu fliegen, da schoß der Kondor an uns vorbei. Es gab einen Herzschlag später einen scharfen, metalli-
schen Laut, und dann sah ich, wie ein Pfeil mit Obsidianspitze schräg von der Schwinge des Vogels abprallte. Die infrarotempfindlichen Augen des künstlichen Tieres suchten und fanden. Der weiße Kondor flog in geringer Höhe schnell über das Gras. So kam es, daß Ahuitzotla den Vogel erst hörte, als es bereits zu spät war. Die Fänge und der gekrümmte Schnabel des Tieres streckten sich nach vorn, als der Kondor den Medizinmann anfiel. Die Krallen zogen tiefe Spuren in die Schultern und die Brust des Mannes, und ein Schnabelhieb zerfetzte die Haut über der Stirn und blendete den Mann auf dem linken Auge. Während sich der Geier lautlos nach oben schwang, eine scharfe Wendung flog und sich mir näherte, torkelte Ahuitzotla schreiend und blutend an dem Steinblock vorbei, der zerborsten auf den Widerlagern ruhte. Im Zickzack, brüllend wie ein Tier, näherte sich Ahuitzotla dem Tempel. Er brach auf der untersten Stufe zusammen und blieb, laut jammernd, liegen. »Es ist in Wirklichkeit nur Ahuitzotla«, erklärte ich dem Mädchen, während wir durch die Nacht flogen, »der diese Opfer will.« Ich mußte laut sprechen, weil mir der Luftstrom die Worte von den Lippen riß. Sie rief: »Ahuitzotla verkehrt mit den Göttern. Sie haben ihm gesagt, wie der Tempel zu bauen ist.« »Wo leben die Götter?« fragte ich. »Mit mir sprechen sie nur durch ihren Kondor!« »Das weiß niemand. Ahuitzotla hört ihre Stimmen, wenn er auf der Spitze des Tempels steht.« Vermutlich eine Bildfunkverbindung, sagte mein Extrasinn. »Niemand hat sie je gesehen«, sagte ich, halb fragend. »Ihr habt Angst, weil sie so furchtbar sind?« Sie nickte scheu. Nach einer Weile berichtete sie: »Dort oben, auf den Steinen, ist ein Schild, der die Sonne des
Morgens spiegelt. In diesem glänzenden Schild sieht Ahuitzotla ihre Gesichter. Sie sehen so furchtbar aus wie die Figuren an der Tempeltreppe.« Ich erschrak. Was waren dies für Ungeheuer? Dann aber dachte ich an den Begriff, unter dessen Wirkung ich versuchte, die Barbaren zu belehren. Gott. Götze. Vermutlich erschien ein besonders blutrünstiges Bild auf diesem Sichtschirm, der als Spiegel getarnt war, in den Stein eingelassen, um die Eingeborenen zu erschrecken. »Ihr braucht vor ihnen keine Angst zu haben. Viele Kräuter, die heilen, schmecken schlecht. Aber sie wirken gut. Nicht jedes Gesicht, das Häßlichkeit ausstrahlt, ist das Gesicht eines Bösen.« »Dein Gesicht ist ein gutes Gesicht, Quetzalcoatl. Alle lieben dein Gesicht mit den weißen Haaren. Auch ich.« Meine gemurmelte Antwort verschluckte der Wind. Müde, im Schutz des Kondors, der uns umkreiste, erreichten wir das Lager auf der Kuppe des Hügels. Jetzt war es tiefe Nacht; nur die Feuer, an denen die Ziegel gebrannt wurden, leuchteten wie die Augen nächtlicher Dämonen. Ich setzte Naya vor der Hütte Coyolas ab und ging einmal um den Hügel herum. Jedermann schien zu schlafen. Plötzlich Stimmen. Jemand flüsterte. Ich preßte mich in den Schatten, den eine vorspringende Mauer warf. Rechts von mir standen einige Binsenhütten, und von dort kamen die flüsternden Stimmen. »Einen und noch einen Mondwechsel…« »Ahuitzotla hat es gesagt…« »Der Kalender?« »Wir sollen uns alle versammeln, aber keine Opfer…« »Der Tempel wird…« »Wo ist der Kalender?« Eine Pause. Ich hielt den Atem an und versuchte mit meinen
Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Ich sah niemanden, hörte nur das Zischen verschiedener männlicher Stimmen. »Er ist mit Naya zurückgekommen.« »Sonst töten sie uns oder werfen Krankheiten und Siechtum auf uns…« »Still, da ist jemand!« Ich drückte meinen Rücken gegen die Wand; undeutlich hörte ich Schritte und das Knistern trockener Binsen. Wieder Schritte, wieder das Flüstern. »Niemand…« »Der Kalender… Du weißt nicht, wo ihn die Götter angebracht haben?« »Nein. Wo?« »An dem Felsen vor dem Hochtal mit dem Tempel…« »Über dem Wasser?« »Ja. Man kann ihn nicht lesen, ohne daß man das andere Ufer…« »Zwei Mondwechsel?« »Ja. Wir sollen uns alle versammeln. Sie zwingen uns…« »Aber sie werden einst auch verschwinden…« »Ja.« Ich wartete einige Zeit, dann bewegte ich mich millimeterweise rückwärts. »Jetzt weiß ich mehr!« sagte ich leise, als ich mich meinem Haus näherte. »Ich habe nicht länger als zwei Monate Zeit.« Ich öffnete die Tür und trat ein. »Ich bin es, Malda«, sagte ich leise. Sie öffnete die Augen, lächelte und legte behutsam den Strahler zur Seite. »Wo warst du, Herr?« fragte sie. »Ich habe mit Naya einen Ausflug gemacht. Wir sind ein bisschen mit Kondor spazierengeflogen. Aber erzähle es nicht Hyksa, weil sie mich sonst schlägt.«
»Das brauchst du auch nicht mehr zu tun, Malda!« sagte Hyksa und richtete sich auf. »Ich habe es selbst gehört.« Zutiefst verwirrt huschte Malda aus dem Raum und ging hinüber in das nächste Haus. Ich setzte mich neben Hyksa, küßte sie. Hyksa spürte meine Unruhe, meine von Sorge und Furcht erfüllten Gedanken. Unter ihren weichen Händen wurde ich allmählich ruhiger und schlief ein. Ich schlief bis gegen Mittag. Als wir auf der Terrasse saßen, unter einem viereckigen Stück von Hannas’ Segel, das an vier Stellen an der Mauer befestigt war, hörte ich eine dunkle, kräftige Stimme. »Darf der weißhaarige Gott gestört werden?« Ich setzte den Becher ab. »Komm herein, Hannas, und bring mit, wer immer auch neben dir steht!« Er kam durch das große Zimmer nach draußen, blieb neben dem Tisch stehen und sah anerkennend auf die Schüsseln, Teller und Becher. »Ein Essen, eines Gottes würdig!« meinte er sarkastisch. »Ein Brocken wird für dich abfallen, wenn du einen Sessel heranschleppst«, sagte ich lachend und schüttelte seine Hand. »Was gibt es?« Er setzte sich; Malda reichte ihm einen Becher. »Nichts besonderes, Quetzalcoatl. Die Arbeiten gehen schnell voran, die ersten Männer und Kinder des Stammes, von Häuptling Tuxpan angeführt, sind vor zwei Stunden angekommen, und wir haben zu wenig Ziegel.« »Ich habe gestern Nacht sehr interessante Gespräche belauscht. In zwei Monaten sollen sich alle Jäger beim Tempel versammeln. Dann wollen die fremden Götter ihnen vermutlich etwas zeigen. Bis dahin haben wir sicher Ruhe.« »Es wird uns nicht schaden. Hast du die Karten enträtselt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Aber ich glaube, ich habe einen Weg gefunden. Ich werde dir alles berichten. Wir fühlen sich deine Leute, Hannas?« Er grinste breit. »Es ist merkwürdig; sie sind gute Seefahrer gewesen, aber selbst hier an Land fühlen sie sich gut. Das sonnige Wetter, vor allem die Stellung, die sie hier haben. Die Barbaren halten sie für die besten Freunde der Götter, also für deine besten Freunde, Quetzalcoatl.« »Du weißt, daß dies richtig ist, Hannas.« »Natürlich, ich weiß es. Sie haben plötzlich gewisse Macht, sind von einfachen Menschen zu kleinen Fürsten geworden. Die zwei Schwarzen denken ebenso wie die Mädchen aus dem Kandaken-Land, die beiden Nordländer sind ohnehin ihren Göttern dankbar, daß sie hierher geführt worden sind; und auch die Punier werden hier Fuß fassen. Die Schwarzen werden von den Wilden angestarrt wie Wunder… Sie wirken auf merkwürdige Weise auf die Eingeborenen: lebende Rätsel.« »Nur dadurch, Hannas, daß wir mit dieser Macht ausgerüstet sind, können wir die Jäger und Sammler auf einen Weg bringen, der zu einer Kultur wie der von Qart Hadasht oder anderen großen Städten führt.« Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Schenkel. »Richtig!« rief er. »Und sie sind willig, begreifen schnell. Nur bei einigen Dingen versagen sie hoffnungslos.« »So? Wobei?« fragte Hyksa. »Bei der Metallbearbeitung. Wir haben Kupfer gefunden und es mit dem Zinn zusammen verarbeitet; schmelzen konnten wir noch nicht, weil der kleine Schmelzofen nicht richtig konstruiert ist.« »Anoress wird es schon schaffen!« sagte ich. Die Metallarbeiten, die mir der späte Nachkömmling der Assyrer gezeigt hatte, ließen mich das Beste hoffen. Sie waren ausgezeichnet, und er mußte sich erst wieder die Möglichkeiten erarbeiten; außer-
dem gab es hier keine nennenswerten Metallvorkommen. Dazu waren langwierige Märsche und zeitraubende Suchaktionen notwendig. »Früher oder später. Vermutlich erst später«, sagte Hannas. »Aber es wird in einigen Jahren wichtig sein, daß wir bessere Werkzeuge haben, um beispielsweise Holz oder Stein zu bearbeiten.« »Wie geht es dem Kopf aus dem dunklen Stein, den AssarBel bearbeitet?« fragte Hyksa. Malda kicherte aufgeregt. »Ich sehe schon, daß es mein Kopf werden soll«, sagte sie. »Ich muß jeden Tag in der Hitze stillsitzen, während Bel um den Stein herumspringt. Warum macht er das?« Hannas lachte dröhnend. »Um deine Schönheit für alle Zeiten festzuhalten, Mädchen. Soll ich dir helfen, Quetzalcoatl, wenn du die Karten liest?« »Ich fürchte, diesen Ozean, für den die Karten gelten, kennst du noch zu wenig«, schränkte ich ein. »Ich hole dich, wenn ich dich brauche.« »Einverstanden.« Als wir allein waren, machte ich mich an die Arbeit. Ich hatte zwei, vielleicht drei feste Punkte. Der erste war die Liste der Phantasie-Sternbilder. Der zweite Festpunkt schien das Datum zu sein – rund sechzig Tage. Der dritte vielleicht der Tempel? Und… ich mußte noch jenen Kalender finden, von dem die Stimmen in der letzten Nacht geflüstert hatten. Ich brauchte den ganzen Tag und die halbe Nacht, in der ich versuchte, Sternbilder und Zeichnungen zu identifizieren. Welches Sternbild paßte zu welcher Figur? Einige besonders prominente Linien deuteten auf größere, hellere Sterne. Ich hätte jetzt eine der Rechenmaschinen eines Argon-Schiffes gebraucht. Ich bezog auch die Sonne mit in meine Überlegungen ein: Nach langem Rechnen und nach dem Vergleichen der Fo-
tos, nach dem Ausziehen von Kurven stellte ich fest, daß eine der Linien auf den Punkt wies, an dem die Sonne ihren am weitesten nördlich befindlichen Stand hatte. Schon Tage später würde sie – natürlich scheinbar – wieder südlich dieses Punktes untergehen. So hatte ich eine feste Achse. Meine Folien füllten sich mit Berechnungen und Linien. Ich rechnete, verglich, rechnete neu und maß unaufhörlich nach. Dann hatte ich es: Aus der Richtung eines Sternbildes, das durch eine Spinne gekennzeichnet wurde, würde ein Flugkörper kommen. Falls sich dieser Flugkörper an die Linien und Figuren hielt, würde er die Richtung der Kursänderung erfahren. Der Kurs führte etwa in das Gebiet, in dem der Vulkan und der Tempel lagen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sagten die Linien, die auf die aufgehende und untergehende Sonne und auf verschiedene Sonnenstände während der Tage deuteten, auch aus, daß alle knapp dreißig Tage ein Termin stattfinden würde. Oder ein Treffen. Oder die Fremden würden sich dort befinden. Natürlich deckte sich dieses Datum ziemlich mit dem vollen Mond, also mit einer Konstellation von Larsaf III und seinem Trabanten zur Sonne, wenn die Sonnenstrahlen voll und ohne Erdschatten zu erzeugen auf den Trabanten fielen. Dadurch wurde der Rhythmus der Versammlungen, die durch Angst herbeigeführt und durch ein Opfer motiviert wurden, erklärt. Stets zu der Zeit, zu der man eine Landung oder einen Kontakt vermutete oder sogar errechnen konnte, versammelten sich tausend oder mehr Krieger um den Tempel. Menschenmassen… Ich hatte die Lösung. Sie war nicht neu. Diese fremden Raumfahrer erwarteten ein Riesenschiff oder eine Armada, die jene Menschen entführen wollte. Es waren Sklavenschiffe. Die Fremden waren Sklavenhändler oder Fänger. In dieser Minute erwachte der Haß auf sie. Ich kannte die-
se Fremden: Sie hatten es schon versucht und waren gescheitert. Sie sollten auch hier scheitern. Durch mich. Ich klatschte in die Hände. »Malda!« Malda kam nicht. Einmal hörte ich Hyksa rufen, aber das brachte die schwarze Dienerin auch nicht schneller herbei. »Was brauchst du, Liebster?« fragte Hyksa leise. »Hol mir bitte Hannas her. Ich habe die Karten lesen können«, sagte ich. »Und ich brauche Hilfe.« Sie nickte und verließ leise den kühlen Raum. Ich vergrub meinen Kopf in den Händen und dachte über die kommenden sechzig Tage nach. Sollte ich versuchen, die Fremden um jeden Preis zu finden und mit ihnen zu sprechen? Noch hatte ich den Vorteil der Anonymität. Ich war unsichtbar, aber sie waren es auch. Sollte ich den Vorteil aufgeben? Die Wahrscheinlichkeit spricht für die unangenehmere Lösung, sagte mein Extrasinn. Richtig! Bisher hatte ich mich nicht mit den Fremden einigen können, und es waren schon verschiedene Rassen hier gelandet. Ihren Vertretern, mit denen ich Kontakt gehabt hatte, waren einige unangenehme Eigenschaften gemeinsam gewesen. Hannas polterte in den Raum, schwitzend und staubbedeckt. »Was ist los, Quetzalcoatl?« rief er. »Ich weiß, was die Karte bedeutet«, sagte ich. »Was bedeutet sie?« fragt er drängend und stützte sich schwer auf den Tisch. »Kampf in sechzig Tagen«, sagte ich. »Aber morgen werde ich dir etwas anderes zeigen. Ein Mittel, um die Zeit einzuteilen.« Er winkte ab. »Das kenne ich schon«, versicherte er. »Schlafen und arbeiten. Oder Tag und Nacht.« Ich schüttelte den Kopf. »Es gibt mehr, als du weißt«, sagte ich. »Warte bis morgen!«
Als ich die Figuren auf den Fotos sah, mußte ich an die primitiven Ritzlinien der lederbraunen Tonware denken und an die Gestalten und Fratzen am Tempel der fremden Götter. Falls ich die Barbaren dazu bringen konnte, eine Art Schrift zu entwickeln, dann nur mit Hilfe dieser Formen. Ich stand auf; ich wußte, was ich zu tun hatte. »Ich glaube, du begreifst, was ich wirklich will?« fragte ich. Wir standen im Schatten des zweiten, nach hier verpflanzten Baumes, neben fertigen Steinhäusern. Es war ein gewisses architektonisches System auf dem Hügel zu erkennen. Tuxpan scharrte nervös mit den bloßen Füßen im Sand. »Vielleicht«, sagte er. »Du bist der Bringer des Wissens.« »So ist es. Was sagt dein Krieger?« »Ich weiß nicht, wie das alles miteinander zusammenhängt. Ahuitzotla, der Medizinmann, hat die dreihundert Krieger geschickt.« Ich schaute Tuxpan an und seinen Sohn, den jungen Häuptling. Sie hatten allen Grund, mit dem herrschenden Zustand zufrieden zu sein. Nicht ein einziger Angriff wir bisher erfolgt, die Felder waren bestellt, alles wuchs, und es gab genügend Wild und Zuchtgeflügel. Aber sie blickten unstet und ängstlich. »Das wissen wir schon«, sagte ich ein wenig ungeduldig. »Die Krieger sollen sich umsehen und spionieren«, sagte Tuxpan. »Wir haben gelauscht und gehört, daß sie über Ahuitzotla sprachen und darüber, daß er ihnen befohlen hat, alles zu sehen und ihm zu berichten.« Ich breitete die Arme aus und winkte Hannas zu, der mit einer kleinen Gruppe seiner Besatzung und jungen Männern des Stammes laut redete und gestikulierte. »Auch das ist uns nicht neu«, sagte ich. »Sie können berichten, wie der erste und der zweite Mauerwall gebaut worden
sind – erstürmen können sie den Hügel deswegen nicht schneller. Sie können ihm sagen, daß wir Wasser aus einem Brunnen schöpfen – aber sie können uns das Wasser nicht wegnehmen oder absperren wie bei dem Fluss. Sie können ihm sagen, daß wir in steinernen Hütten leben, daß Abfallwasser in unterirdischen Röhren abläuft – was nützt ihnen das? Wenn sie angreifen, werden wir sie über die lange Treppe mit blutigen Köpfen nach unten schicken. Was also sollen sie Ahuitzotla berichten?« Tuxpan hob die Schultern und murmelte: »Dass wir Ton brennen und glasieren, daß wir neue und gute Waffen haben, Bohnen und Baumwolle anbauen, Decken und Teppiche weben auf diesem Holzgestell.« »Das können sie ihm getrost berichten. Denn all das, was ich euch lehre und was ihr von den Freunden des Gottes lernt, das werdet ihr eines Tages in alle Richtungen tragen. Ihr werdet dieses Wissen, das ich euch gebracht habe, anderen Menschen bringen.« »Und Ahuitzotla wird uns nicht daran hindern?« erkundigte sich Coyala mißtrauisch. »Der Medizinmann stirbt bald«, sagte ich. »Der Kondor wird ihn umbringen, weil meine Geduld zu Ende und meine Wut groß ist!« Tuxpan sagte laut: »Das ist gut. Töte ihn, Quetzalcoatl!« »Vermutlich schaffe ich es auch allein«, meinte ich. »Aber du kannst morgen mit Hannas und mir zum Kalender aufbrechen.« Er erstarrte. Irre Angst kam in seine Augen, und schließlich stotterte er leise: »Du weißt… vom Kalender…?« Ich winkte nachlässig ab. »Ich bin ein Gott. Und göttlich ist es, daß ihnen, den Göttern nämlich, nichts verborgen bleibt. Auch kein Kalender, der von Ahuitzotla und den Fremden stammt, meinen bösen Brüdern.«
Am frühen Nachmittag liegt der Dschungel still. Jeder Windhauch ist gestorben. Stunden kriechen dahin. Die Menschen liegen schwitzend in Hängematten oder in dem Schatten von Dächern und Bäumen. Niemand hat Lust, etwas anzufassen, der Stein ist glühend heiß. Jede Bewegung ruft einen Sturzbach von Schweiß hervor und läßt rote Ringe vor den Augen tanzen. Nicht einmal der Jaguar jagt. Auf dem trockenen Schlamm und Lehm klingen die Schritte der Menschen langsam und faul; nur das Klirren von Waffen und Schildern scheint nicht von der lähmenden Hitze gedämpft zu sein. Zweige bogen sich, Ranken schnellten zurück. Einer der Männer nahm einen Anlauf…
5. … und landete neben mir. Ich fing den Packen auf, den Hannas mir über den Graben zuwarf, und legte ihn ab. »Leise!« sagte ich. Wir waren seit einer Stunde unterwegs, mitten durch den Uferwald, wo er am dichtesten zu sein schien. In irrem Zickzack schlängelte sich ein Tierpfad durch Büsche und Unterholz, vorbei an abgestorbenen Bäumen, die wie Teile von Skeletten aussahen. Hannas und Coyala standen jetzt neben mir. Wir waren ungewöhnlich stark bewaffnet. Vor einer Stunde hatten wir den Gleiter gelandet und sorgfältig versteckt; in einer Tasche meines Gürtels befand sich der Kontaktknopf. Wir suchten nach dem Kalender. »Glaubst du, daß wir beobachtet werden?« Hannas trug ein furchterregendes eisernes Beil, das aus der Schiffsausrüstung stammte und zum Kappen der dicken Taue benutzt wurde. Die doppelten Schneiden glänzten; er hatte sie mit Stein und feuchtem Sand geputzt und geschärft.
»Vielleicht!« sagte ich. Aber ich glaubte es eigentlich nicht. Es konnte sich die Nachricht von unserem Abflug nicht so schnell verbreitet haben wie die Stundengeschwindigkeit des Gleiters. Jetzt befanden wir uns im Tal des oberen Flusses; hoch über uns gab es die kleine Ebene mit dem geborstenen Opferstein und der Pyramide. Wir litten unter der Hitze und unter Millionen von Insekten. »Weiter, Quetzalcoatl!« meinte der junge Krieger drängend; er schien seine Furcht verloren zu haben. Er befand sich auf einem Pfad der Gefahr und beschützte den weißhaarigen Gott und dessen Freund mit dem schwarzen Haar und dem lockigen Bart. Vor uns lag der Dschungel. Wir sahen uns an, nickten zum Einverständnis und drangen in den Wirrwarr aus Holz und Blättern ein. Noch etwa tausend Schritte. Der Gleiter nützte uns nichts – in dieser dichten Wildnis war an Flug nicht zu denken. Wir hatten ihn zurücklassen müssen. Zu Fuß kämpften wir uns der Flussgabelung entgegen. Zu meiner Sicherheit kreiste hoch über uns der Kondor. Er würde im Sturzflug niedergehen, sobald er etwas sah. »Ob wir Ahuitzotla treffen? Ob er uns erwartet?« flüsterte Coyala und hieb eine Liane entzwei. »Wenn er uns erwartet, was ich nicht glaube«, murmelte ich, während wir einen Graben durchwateten und dann eine steile Böschung hinaufkletterten, »dann versteckt er sich und schießt aus dem Hinterhalt!« Hannas fauchte: »Mit Pfeilen, die er vor deinem Erscheinen nicht kannte. Und mit einem Bogen, an den er nicht einmal denken konnte, ehe du ihn mitgebracht hast.« »Leider benutzen Unschuldige und Böse sowohl den Bogen als auch andere Dinge, es ist das eine nicht vom anderen zu trennen«, sagte ich. Wir folgten einem kaum erkennbaren Pfad gegen Westen. Die Sonnenstrahlen fielen senkrecht ein. Nur hin und wieder konnten sie das dichte Blätterdach über uns
durchdringen. Deutlich spürbar und doch nicht genau zu definieren, begann sich tief im Dschungel etwas zu regen. Es waren die winzigen Vorbereitungen größerer Tiere, die kleineren zu jagen und zu fressen. Wieder einige Schritte. Und wieder Luftwurzeln und herunterhängende Vorhänge aus Schmarotzerpflanzen. Wir stolperten so dahin, noch eine weitere Stunde lang. »Hier!« »Endlich«; sagte ich und ließ mich erschöpft und schwitzend neben Hannas auf einen modernden Baumstrunk fallen. Wir hatten den Prallhang des Flussarmes erreicht. Nur einige Meter unter uns gabelte sich der Oberlauf des Flusses, der später wieder mit dem anderen Ast zusammentraf. Dazwischen lag eine große, rautenförmige Insel, auf der auch der Gleiter verborgen war. »Dort drüben, sagten die fremden Krieger, ist der Kalender!« Coyala machte eine Reihe Lockerungsübungen. Du ahnst nicht einmal, wie er aussieht, flüsterte mein Extrahirn. Wir blieben einige Atemzüge lang sitzen, tranken Wasser und aßen den talgigen Hirschbraten vom Feuer der letzten Nacht. Der Fluss bildete zwischen dem steilen Prallhang und dem flachen, kies- und sandbedeckten Gleithang eine halbmondförmige Fläche, durch die nur die Wellen zogen und auf dem Grund die Schatten der großen Fische. Und uns genau gegenüber, auf der Felsnase, befanden sich die Teile des Kalenders. Ich sagte leise: »Es sind kleine Vierecke, übereinander und nebeneinander. Ich weiß nicht, wie… aber das werde ich gleich sehen.« »Du willst hinüber, Quetzalcoatl?« fragte Coyala. Ich antwortete grimmig: »Deswegen hin ich hier, Coyala.« Durch den langen Marsch, durch den pausenlosen Kontakt mit dem Dschungel waren mein Gehör und mein Gefühl schärfer geworden. Jetzt, als wir warteten und das Aufblitzen
der Sonnenstrahlen im Wasser beobachteten, »witterte« ich keine Gefahr. Ich hatte mein Flugaggregat im Haus gelassen; für einen Dschungelmarsch war es wertlos. »Aber… die fremden Götter haben einen Zauber über diese Stelle hier geworfen«, sagte der junge Krieger. Wieder griff die allgegenwärtige Furcht nach ihm. »Diesen Zauber werden wir brechen. Hiermit!« grollte Hannas. Demonstrativ schlug er die Axt in den Baumstamm; ein hohles, polterndes Geräusch schallte über das Wasser. Ich setzte den Schild ab, lehnte Köcher und Bogen an den Baumstumpf und nahm meinen Gürtel ab. Ich behielt nur noch meine langen Dolche, von denen einer ein kleiner Paralysator war. »Was hast du vor?« fragte Hannas. »Schwimmen?« »Nein«, antwortete ich. »Auf den Händen laufen, Kapitän.« »Auch zeichnet unseren weißhaarigen Gott ein trefflicher Witz aus«, sagte er. »Wir bleiben hier und helfen dir, wenn nötig.« Natürlich kannte er Bogen und Pfeile; wir hatten zudem miteinander geübt. Während ich vorsichtig über den bröckeligen Boden zum steil abfallenden Hang glitt, nahm Hannas meinen Bogen in die Hand und schob das breite Lederarmband weiter seinen Unterarm hinauf. »Gib acht! Alles ist verzaubert!« rief Coyala warnend aus. Ich hob die Hand, ging in die Knie und schnellte mich vorwärts. Ich tauchte ziemlich flach ins Wasser ein und schwamm gegen die starke Strömung quer über das breite Stück des Flusses. Als ich unter meinen ausgestreckten Händen die blanken Kiesel spürte, richtete ich mich auf, riß den Dolch aus der Scheide am Unterarm und sah mich lauernd um. Zwanzig, fünfundzwanzig Schritte von mir entfernt, standen meine Begleiter. Das Ufer… ich suchte in jedem Schatten, hinter jedem Stamm, über jedem der überhängenden Äste. Nichts. Ich sah Ahuitzotla nicht, falls er wirklich hier war. Dann dreh-
te ich mich um, machte eine beruhigende Bewegung und ging auf die Felsnase zu. Da war er. Der Kalender. Wieder ein Problem, Arkonide? fragte mein Extrasinn. Ja, wieder ein Problem. Staunend ging ich näher. Gedanken schossen durch meinen Kopf, als ich die kleinen, eckigen Bilder sah, kaum größer als eine Handfläche. Eine Steinplatte hatte sich hier einst gelöst und eine gerade Fläche hinterlassen. Ich zählte quer zwanzig Bilder; alle waren fratzenhaft, böse und irgendwie verschlagen. Darunter standen siebzehn weitere Reihen von Bildern. Das waren achtzehn Reihen zu je zwanzig Bildern. Als ich unter der letzten Reihe, schräg abgesetzt, fünf weitere Bilder entdeckte, wußte ich Bescheid. Achtzehn mal zwanzig plus fünf – das ergab die Tageszahl eines Umlaufes von Larsaf III um die eigene Sonne. Dreihundertfünfundsechzig Tage. Die Rechnung, wußte ich, war nicht ganz genau, weil der Umlauf länger dauerte, aber für die Barbaren war sie erstaunlich exakt. Dann entzifferte ich die Bilder neben diesem Kalender. Sie konnten nur eines bedeuten. Ein bestimmtes Datum? So war es. Ich brauchte ein Bild, um die Berechnungen vornehmen zu können. Also mußte ich zum anderen Ufer zurück, um die Kamera zu holen. Sie war flach genug, um in einer Gürteltasche Platz zu finden. Ich nahm einen Anlauf, warf die Arme nach vorn und schwamm mit kräftigen, langen Stößen los. Ich wurde abgetrieben und zog mich an den Schlingpflanzen des Ufers entlang. Als ich, etwa fünf Meter von Hannas und Coyala entfernt, einen langen Ast aus dem Ufergestrüpp herausragen sah, griff ich danach und wollte die steile Böschung hochklettern.
Ein harter, wilder Stoß gegen die Schläfe warf mich zurück in den Fluss; und noch als ich fiel, noch ehe die Schmerzen einsetzten, war etwas über mir. Die goldfarbene, gemusterte Schlange wickelte sich in rasender Schnelligkeit um meinen Köper. Ich schnappte nach Luft und registrierte irgendwie, daß das kalte Wasser den Schmerz in der Schläfe beseitigte. Dann schlug ich mit dem freien Arm um mich und versuchte mein Messer zu erreichen. Die Umschlingung der riesigen Schlange – sie war länger als vier Meter – hatte meinen linken Arm an den Körper gepreßt. Ich griff nach dem Kopf der Schlange und hörte Coyala schreien. »Der Zauber Ahuitzotlas!« Ein dunkler Schatten, gefolgt von einem hellen Blitz, stürzte sich vor mir ins Wasser. Mit den Fingern der freien Hand hielt ich den Kopf der Schlange unterhalb der Kiefer und sah, wie die gespaltene Zunge herausfuhr und wieder verschwand. Diese Bewegung hypnotisierte mich geradezu. Der Kopf der Schlange stieß zu wie ein Hammer. Ich fing die Wucht dieser Stöße, die, hätten sie voll getroffen, mich bewußtlos gemacht hätten, mit den Muskeln des Unterarms ab. Wir trieben langsam flussabwärts, der Schwanz der Schlange peitschte das Wasser, und plötzlich gab es einen harten Ruck. Dann begann die Umschnürung. Es war der Schlange gelungen, mit ihrem Schwanz einen Halt zu finden. Sie wickelte den Schwanz um einen Baumstamm, riß Blätter und Ästchen herunter und begann mit ihrer erdrückenden Umarmung. Es war eine Umarmung des Todes. Während der Kopf immer wieder vorwärts hämmerte, während ich mit letzter Kraft versuchte, den Schlägen zu entgehen und im letzten Moment meinen Kopf wegriß, nach Luft schnappte und Wasser schluckte, begann die Schlange mich zu erdrosseln. Wir er-
zeugten einen Schaumwirbel im Wasser, und plötzlich sah ich durch den Schleier der Tropfen einen zweiten Reflex, einen Blitz, als ob die Sonne explodierte. Dann einen Schlag – die Schlange wickelte sich in gegenläufiger Richtung. Wir trieben weiter. Hannas tauchte in meinem Blickfeld auf, als ich den Kopf wieder über Wasser hatte. Sein Beil steckte, von der Wucht des Schlages getrieben, tief im Baumstumpf. Das Wasser färbte sich blutigrot. Dann löste sich die Schlange von mir, und ihr stumpfer Schädel stieß auf den blutigen Schwanzstummel ein, als habe sie einen neuen Gegner vor sich. Hannas schwamm neben mir. Ich keuchte, spuckte Wasser aus und hustete, dann bekam ich den Griff des langen Dolches zu fassen. Ich warf mich herum, riß den Arm hoch und stieß zu. Einmal, zehnmal. Die Schlange verendete langsam, schwamm, halb untergetaucht und in Todeszuckungen wild umherschlagend, mit dem Fluss aus meinem Gesichtsfeld. Hannas Arm packte mich, seine Finger verkrampften sich in meinem Haar. Dann waren wir am Ufer. »Ich zieh’ dich – halt still« brüllte er. Schritt um Schritt arbeitete er sich an der Böschung entlang, bis wir auf einem schräg heruntergebrochenen Kiesstreifen landeten. Dort taumelten wir aus dem Wasser, ich fiel auf den Rücken, und die Pranken des Kapitäns drehten mich sofort auf den Bauch. Ich spuckte Wasser, rang nach Luft und spürte, wie mein Herz hämmerte. Dann durchzuckte mich eiskalter Schrecken, und ich setzte mich auf. Hannas starrte mich an, wie ich vor ihm saß und nach Luft rang. Mein Atem ging pfeifend, meine Kehle schmerzte, die Schläfe blutete. »Was ist los?« Mit zitternden Fingern schob ich den Dolch zurück in die Scheide.
»Mein… Amulett!« stammelte ich undeutlich. Es war abgerissen und untergegangen. Ich hatte noch einige Chancen es wieder zu finden, wenn sich das Wasser geklärt hatte. »Warte!« sagte Hannas. »Jedenfalls ist mir eine tote Schlange lieber als ein lebendiger Ahuitzotla. Du beruhigst dich, während ich mein Beil hole.« Er stand auf, schüttelte das Wasser aus den Ohren und strich sein Haar nach hinten. »Ja«, sagte ich nur leise. Hannas stapfte davon, beugte sich weit über das Ufer und lockerte sein schweres Beil. Ich lag in der Sonne und erholte mich, und später konnte ich mich bereits ohne Schwindelanfälle bewegen. Eine Stelle meines Nackens schmerzte mich besonders. Als ich danach griff, zog ich die Finger blutig zurück. Die Kette des Zellaktivators, sagte mein Extrasinn. Abgerissen oder über den Kopf gezogen. Ich stand auf. Die Ringe vor meinen Augen verschwanden. Die Kette war unzerreißbar. Ich zog die Wildlederweste aus und massierte meine Muskeln. Dann ging ich bis ans Wasser und suchte es ab. Nirgends sah ich einen Schimmer der Stahlkette, die schwer vergoldet war. »Verloren, Atlan… das bedeutet das Ende deines Lebens!« murmelte ich. Ich mußte diese Kette mit dem eiförmigen, lederumkleideten, goldenen Ding wieder finden. Ich hatte gar keine andere Wahl, und wenn ich zwei Zehntage lang hier suchte und den Fluss umleitete. Hannas kam mit meinem Gepäck und mit Coyala, der vor Angst nicht einmal sprechen konnte. Ich unterdrückte meine Wut… Würden sie denn niemals den Unterschied lernen? »Es war keine Zauberei, sondern eine lange Schlange, Coyala. Du bist heute dümmer als vor zwei Mondwechseln!« sagte ich ärgerlich. »Danke, Hannas – du hast mir vermutlich das Leben gerettet!«
»Nicht wert, darüber zu reden«, sagte er. »Darauf müssen wir die andere Amphore leertrinken. Nur du und ich. Diesem schlotternden Barbaren geben wir nichts!« Ich grinste mühsam. »Nicht einen Tropfen!« versicherte ich glaubwürdig. Wir sahen uns um. Sechzig Schritte weiter westlich, also flussaufwärts, stach die schwarze Felsnase gegen das Sonnenlicht und das Grün des Waldes ab. Dorthin mußte ich noch einmal mit der Kamera. Vorher aber mußte ich den Zellaktivator finden. »Was jetzt?« fragte Hannas. »Tauchen. Suchen«, sagte ich. Coyala sah furchtsam von mir zu Hannas und wieder zu mir. Seine Zähne klapperten wie im Fieber. »Jetzt gleich? Du bist zu schwach!« Ich hustete kurz und dehnte dann probeweise meinen Brustkorb. »Es geht schon wieder«, versprach ich. »Erst einmal zurück!« Wir gingen langsam in die Richtung des Punktes zurück, an dem wir gewartet hatten. Die Männer trugen meine Ausrüstung, während ich nach rechts blickte und versuchte, irgendwo ein dünnes Glitzern zu sehen. Als wir den Ast passierten, an dem ich mich vor dem Angriff der Schlange festgehalten hatte, hielt ich an. Dann deutete ich nach unten. »Dort ist das Amulett!« sagte ich. »Dort unten!« Ich hatte ein geradezu unglaubliches Glück. Am Grund des Flusses in etwa acht Metern Tiefe lag die Kette um einen hervorstehenden, spitzen Stein. Ich lachte laut und suchte mir einen Platz. Ich sprang fünf Schritte vor dieser Stelle senkrecht ins Wasser, tauchte, bis mir die Luft auszugehen drohte und mir die Augen aus den Höhlen traten. Dann schloss sich meine Hand um die Kette.
Einige Zeit später saß ich auf dem Baumstamm und verpackte die flache Kamera in ein Stück durchsichtiges Kunstgewebe. An meiner Brust baumelte der Aktivator, und die geheimnisvollen Kräfte, die von ihm ausgingen, schienen mich binnen kurzer Zeit zu kräftigen. Ich sah zum Kalender und sagte leise: »In drei Stunden sind wir wieder auf dem Hügel, Freunde. Siehst du ein, daß es eine Gefahr des Dschungels war, Coyala?« Er nickte wenig überzeugt. Ich schwamm abermals hinüber, fertigte im schrägen Licht der Sonne acht Aufnahmen an. Dann schwamm ich zurück, zog mich an, und wir tauchten schweigend in den Dschungel ein. Wir kamen jetzt besser und schneller voran, bestiegen den Gleiter und flogen knapp zwei Stunden, dann landete ich wieder neben meinem Haus. Coyala würde verbreiten, was geschehen war. Diese Nachrichten waren auf keinen Fall schädlich, nicht einmal dann, wenn sie über zahlreiche Umwege der Medizinmann erfuhr. Ich wunderte mich, daß er noch aktiv war – der Geier schien ihn nicht gerade freundlich behandelt zu haben. Und wieder: Abend. Mein Haus war nicht nur für mich ein Punkt der Ruhe, eine Zone der Schönheit und Erholung von den aufgezwungenen Abenteuern und der Arbeit des Tages. Wir hatten in einen der kleineren Räume eine Wanne aus gebrannten Ziegeln, Lehm und geschmolzenen Baumharzen gebaut; ich genoss, bevor ich mich an die Arbeit des Entzifferns machte, die Freuden eines warmen Bades, in dem zahlreiche duftende Pflanzenauszüge aufgelöst waren. Ich wusch mich mit Seife aus Flottenbeständen und trocknete mich in wollenen Tüchern aus Kandake-Meroe ab. Als ich mit Hyksa am Tisch saß und die Bilder betrachtete, kamen Hannas und Ogela, wie versprochen, mit der unwider-
ruflich letzten Amphore voll Rotwein. »Schon etwas herausgefunden?« fragte Hannas und setzte sich. »Noch nicht.« Ich trank, arbeitete und unterrichtete die drei anderen über die Fortschritte, die ich machte. »Dies sind, das Bild zeigt es deutlich, die Nächte des vollen Mondes. Davon kann ich nach beiden Seiten abrechnen, weil ich die Länge der Zeit zwischen Vollmond und Vollmond kenne«, sagte ich. Ich schrieb Zahlen nebeneinander und untereinander. In der letzten Reihe standen fünf überzählige Zahlen, also die fünf Tage, die bei diesen achtzehn Zwanzig-Tage-Gruppen übrig geblieben waren. Dann dekodierte ich die Bilder der Kartusche, die seitlich aus dem Felsen herausgemeißelt worden war. Ich lehnte mich überrascht zurück, griff nach dem Becher und trank einen Schluck. »Du hast es?« fragte Hannas. Er starrte auf die Bilder. »Ich habe es.« »Was sagt der Kalender, Atlan?« flüsterte Hyksa. Plötzlich ertönte vor dem Haus gellendes Geschrei. Es waren die Rufe, die ich gehört hatte, als die Nomaden die Bergfestung angegriffen hatten. Überfall! Ich riß den Schild und den Strahler an mich und stürzte zur Tür. »Halt!« brüllte Hannas. Auch er sprang auf und ergriff meinen Arm. »Das sind Schreie der Krieger!« sagte ich aufgeregt. »Ein Überfall! Die Nomaden, die uns beim Bau helfen…« Hannas winkte müde ab und murmelte: »Hin und wieder wirkst du verdammt wenig göttlich, mein schlangenbesiegender Freund.« Ich verstand nichts. »Die ciua temixiuitique ist am Werk.«
Ich starrte ihn an. »Wer?« »Die Hebamme, du göttlicher Liebhaber«, sagte Hannas, und seine Freundin lächelte verlegen. »Mit Kriegsgeschrei?« erkundigte ich mich sarkastisch. Hyksa sagte mit sanftem Tadel: »Wenn eine Frau ein techiuinami bekommt, einen Säugling, dann stößt sie während der Geburt Kriegsgeschrei aus. Vermutlich will sie dadurch sicherstellen, daß ihr Sohn ein guter Jäger und Krieger wird.« Ich schüttelte den Kopf, hängte den Schild wieder zurück und legte den Strahler zur Seite. »Und, gesetzt den Fall, es ist eine Tochter?« Wir vier sahen uns ratlos an und brachen dann in schallendes Gelächter aus. Dann, nach einer Weile, erklärte ich weiter: »Er sagt, wenigstens mir, dasselbe wie die Karten, die wir auf dem Hochplateau sahen, Hannas.« Der Kapitän senkte den Kopf, überlegte kurz und meinte: »In der zweiten Vollmondnacht sollen sich alle Nomaden, die beim Bau der Pyramide dabei waren, am Tempel versammeln?« »Richtig.« »Und dann wird etwas geschehen, von dem wir nichts wissen, das aber den fremden Göttern sehr wichtig ist?« Ich nickte stumm. »Und… ein anderes Schiff wird kommen und die fremden Götter suchen und finden?« »Ja.« »Das bedeutet, daß wir vom Schiff dir helfen müssen«, sagte Hannas. »Auf die Barbaren ist kein Verlaß.« Ich fing einen langen, ängstlichen Blick von Hyksa auf. Wieder schrie die Gebärende laut auf wie ein rasender Krieger. Es war wie ein Zeichen, das Kampf bedeutete. Hannas schüttete
einen halben Becher Rotwein in sich hinein; Hyksa stand auf und goß die vier Becher vorsichtig wieder voll. »Kampf«, sagte ich. »Wenn es mir vorher nicht gelingt, die Fremden zu treffen und mit ihnen zu reden.« Wieviel Zeit hatten wir noch? Ich rechnete nach: Es waren genau fünfzig Tage. In dieser Zeit würden wir versuchen, die Nomaden anzutreiben, denn kurz vor der fraglichen Nacht würden sie alle verschwinden und sich, wie auf einen unhörbaren Befehl hin, durch den Dschungel rennend um den Tempel versammeln. Hyksa flüsterte: »Wo ist der Vogel, der weiße Kondor?« Ich brauchte nicht zu überlegen, um eine richtige Antwort geben zu können. » Er schwebt in der Nähe des Tempels. Wenn er etwas sieht, dann wird er mich rufen. Bis jetzt hat er nichts gesehen, keinen fremden Gott, kein Opfer, nicht einmal den Medizinmann.« Hannas warf ein: »Der Kondor schwebt also über Tzintzuntzan, dem Platz der Kolibris. So nennen die Nomaden den Platz, auf dem der Tempel und der Opferstein stehen.« Ich knurrte grimmig: »Standen, Hannas, standen!« »Wie?« »Ich habe den Opferstein zerstört, als sich Naya das Messer in die Brust stoßen wollte. Was tut sie eigentlich?« Hannas blies seine Backen auf, prustete dann ironisch und sagte: »Ich muß sagen, du verstehst es, dich beliebt zu machen. Naya? Ich weiß es nicht.« »Ich weiß es!« Hyksa war aufgestanden und kam langsam auf mich zu, und plötzlich glaubte ich in ihren Augen auch etwas von dieser kreatürlichen Angst zu sehen, die hier unsichtbar über allem schwebte wie eine Gewitterwolke. Hyksa fuhr mit der Handfläche langsam über Hals und Nacken, schließlich setzte sie sich vor meinen Knien auf den Boden und lehnte sich schwer
an meine Schienbeine. Ihr Kopf ruhte in meinem Schoß. »Was weißt du?« fragte ich, leicht beunruhigt und überzeugt, diese Furcht würde sich mit wenigen Worten vertreiben lassen. »Naya schleicht, so oft sie kann, um mich herum. Und um dich. Sie beobachtet uns schweigend und mit listigen Blicken. Ich beginne mich vor ihrem Blick zu fürchten. Sie hat noch immer keinen Mann, obwohl sie sich meist im Lager der Nomaden herumtreibt.« »Merkwürdig!« sagte Hannas. »Ich werde ein Auge auf sie haben!« »Aber nicht mehr!« sagte seine Freundin. »Tu das!« bat ich ihn. »Obwohl ich an alles andere glaube als an eine Gefahr von ausgerechnet diesem Mädchen!« Du hast dich schon häufig mit solchen prognostischen Experimenten getäuscht, sagte deutlich mein Extrasinn. »Was tun wir in den nächsten Tagen?« fragte Hannas leicht betrunken und unternehmungslustig. »Wir bauen weiter an der Stadt, und die Handwerker unterrichten die Krieger der Tlatilco. Wir sind noch weit davon entfernt, fertig zu sein!« »Recht so!« sagte Hannas. Ich hatte »nur« noch zwei Probleme: Wie kam ich ins Schiff hinein, und wie löste sich die Frage der zweiten Vollmondnacht auf? Und ich konnte nichts anderes tun als warten. Warten… Das schien mein Schicksal zu sein. Und genau in diesem Moment begann sich die erste Hoffnung zu regen. Ich begann zu überlegen und zu rechnen, ob ich Chancen hätte, die Fremden zu überreden, mich mitzunehmen oder mir auf eine noch zu bestimmende Weise den Weg dorthin zu ermöglichen. Es konnten nicht viele Raumfahrer sein. Ich würde sie bitten, ich würde ihnen viel dafür anbieten können, wenn wir wieder in Arkons Nähe waren.
Ich hatte Chancen, konnte zurückkommen, mit einer Armada von Schiffen, und dort anfangen, wo wir Arkoniden aufgehört hatten. Ich konnte diesen herrlichen Planeten und die Millionen und aber Millionen seiner primitiven Bewohner in den Stand einer galaktischen Hochkultur heben. Solange es Männer wie Hannas und seine Leute gab, solange es Frauen wie Hyksa gab, deren natürliche Intelligenz so hoch war, daß sie diese Entwicklung bewältigen konnten, solange konnte ich diese Hoffnung haben. Die Reihe der Gestalten, die ich während meiner vielen Wanderungen durch die Zeit kennen gelernt hatte, zog an meinem inneren Auge vorüber – obwohl ich wußte, daß ES viele Erinnerungen blockierte. Es war wie ein geistiger Taumel; ich zwang mich in die Gegenwart zurück. »Ja«, sagte ich leise und spielte mit Hyksas langem, sanft gewellten Haar. »Wir haben durchaus gute Möglichkeiten, Kapitän Hannas.« Er hob den Becher und stand auf. »Auf uns, Quetzal!« rief er unterdrückt und stellte den leeren Becher hart auf den Steintisch. Wir blieben allein zurück. Eine halbe Stunde Flug mit dem Gleiter brachte Hyksa und mich zu einer Höhle über einem einsamen Meeresstrand; mitunter hatte ich Schwierigkeiten, die richtige Bezeichnung für Längen und Entfernungen zu bedenken: medische Parasangen, rômetische Chen-Nub oder Meilen, Ellen, attische Stadien oder Schritte? Auf dreißig rômetische Meilen schätzte ich die Entfernung. Rico hatte einen kleinen Container herangeschafft; in der Höhle stand ein Zelt, bequem eingerichtet, energetisch geschützt, ein winziges Fürstentum abseits aller Widrigkeiten. Hier verfügte ich auch über eine qualifizierte Verbindung zu Rico. Der Gleiter schwebte ein Stück der leeren Küste entlang: nur Vögel, Gezeitenkrabben und Treibholz, Sonnengrelle und Schatten. Ich bugsierte die Maschine rückwärts in die kühle
Höhle, setzte den Kiel in den knirschenden Sand, und Hyksa kletterte hinaus. »Seit ich das Schiff der Punier betreten hab’ und das Meer sah, Atlan, wollte ich für ein paar Stunden am Tag ein Fisch sein.« Ich löste die Energiesperre und trug Essen ins Zelt. Der unermüdlich kreative Robot hatte Vorräte mitgeschickt; große Glasflaschen eines hellroten Weines waren dabei, den die Anlagen gefiltert, verdünnt und problemlos trinkbar gemacht hatten, und bestes Körperöl von der Insel Keftiu oder, wie die Griechen sie nannten: Kreta. Wir zogen uns aus, ölten uns ein, befestigten die dunklen Streifen über den Augen und gingen Hand in Hand zum Strand hinunter. Hinter uns verhallte Ricos gesendete Musik, an vielen Teilen der Barbarenwelt aufgenommen. »Ich wollte ein paar Tage und Nächte allein mit dir sein«, sagte ich leise. »Die guten Gedanken kommen nur in der Stille.« Unsere Schatten wanderten vor uns her nach Westen, links brach sich die Ebbebrandung auf dem schneeweißen Sand; nirgendwo war Schatten. Wir wateten bis zu den Schienbeinen im Wasser. Nach einer Weile sagte Hyksa: »Und die guten Träume, Atlan. Dieses seltsame Land voller seltsamer kleiner Menschen – werden wir hier bleiben?« »Nein!« antwortete ich wahrheitsgemäß. »Entweder nehme ich dich zu meiner Insel mit, oder dieses metallene Schiff bringt mich in meine halbvergessene Heimat. Von dort werde ich zurückkommen, abermals zu meiner Insel – in welchem Maß sich dann unser Leben ändern wird, vermag ich nicht zu sagen.« Wir kämpften uns zur Brandung, ließen uns mitziehen, schwammen und tauchten, bis wir müde waren; die Wanderung zur Höhle trocknete unsere Haut und bedeckte sie mit
winzigen Salzkristallen. Hyksa, mehr noch als der alte punische Kapitän, mit selbstverständlicher Leichtigkeit, benutzte die vielen arkonidischen Einrichtungen und Geräte, als sei sie damit aufgewachsen. Als sie sich unter die Dusche stellte, betrachtete ich sie: der gazellenhafte Körper, die glatte, hellbraune Haut, die Doppelreihen der winzigen Schmucknarben auf den Schultergelenken, das lange blauschwarze Haar, vom Tropfenregen geglättet. Sie zwinkerte mit ihren großen, goldfarbenen Augen und winkte; ich warf einen Stapel weißer Tücher in den Sand und stellte mich zu ihr unter den Tropfenschauer. Charis, Odysseus, ich und Ptah-Sokar liefen Hand in Hand durch eine Phantasielandschaft, wie durch einen Schweif ionisierten Gases, der das große Dunkel aufhellte mit Myriaden winziger, stechend vielfarbiger und klarer Sterne, auf Aieta Demeter zu, neben der Hyksa und mein weiß-blonder Sohn warteten. Die Vision am ausfasernden Rand des Traumes wurde dichter; mein Sohn Toxatlan wuchs heran, wanderte und lernte die Helden und deren Söhne kennen, mit denen sein legendenhafter Vater, der Halbgott, vor Ilion gekämpft hatte und nun traf er Odysseus, dessen Sohn Telemachos und Penelopeia, und er lernte Leier und Kithara zu spielen, zu reimen und zu singen und zu schreiben. Und er suchte die Spuren, die sein Vater hinterlassen hatte, fuhr zu Schiff, ohne es zu wissen, am Höhlengrab seiner Mutter vorbei. Lernte er, die Sprache kunstvoll zu beherrschen? Lernte er bei den Meistern der Heldenlieder? Beim blinden Homer? Oder nahm er dessen Namen an? Toxatlan. Charis’ todtrauiger Blick traf mich bis tief ins Innerste; unser Kind hatte der Makedone getötet wie andere Unzählige seiner rastlosen Heereswanderungen. Bevor ich fühlte, wie ich in den tiefen Schlaf geistiger Erschöpfung fiel, wurde ich wach. Hyksa beugte sich über mich. Ihre Hände auf meinen Schultern. Ich starrte in ihre Gazellen-
augen. »Du hast geträumt, Kapitän der Zeit. Hast fremde Namen gemurmelt. Dein Schweiß… ganz kalt. Soll ich dir Wein bringen?« Ich nickte und richtete mich auf. Sie huschte zu der Truhe hinüber. Durch den offenen Zelteingang und die Höhlenöffnung sah ich den hellen Stern, den die Eingeborenen »Stern des Quetzalcoatl« nannten – es war der zweite Planet des Larsaf-Systems; ein Ziel, viel näher als Arkon und ebenso unerreichbar, Standort der großen arkonidischen Station, von der aus ich Hilfe… ich griff nach dem Becher: es war sinnlos daran zu denken. »Danke.« Ich trank, als sei ich am Verdursten. »In der Ruhe kommen nicht nur gute Träume, Hyksa.« Mit vielen Frauen des Barbarenplaneten hatte ich kaum zählbare und nie gezählte Nächte der Liebe verbracht; ich wußte, daß zwei Frauen von mir schwanger geworden waren – trotz der metabolischen Unterschiede zwischen Arkoniden und Barbaren. Zufälle, an Wunder angenähert? Hyksa war nicht schwanger, und wir genossen jedes Zusammensein. Sie flocht ihr Haar zu einem unordentlichen Zopf, und als sie damit fertig war, zog ich sie an mich und küßte sie. Der Bau der Stadt ging weiter, näherte sich sichtbar dem Ende. Wir beendeten die Treppe mit beiden Absätzen, von denen aus unsere Stadt hervorragend verteidigt werden konnte, setzten die Quader des zweiten Mauerringes; ich zeigte den Arbeitern, wie man jene »zyklopischen« Mauern bauen konnte, die ich von den Burgen und Palästen der frühen Griechen kannte. Meißel aus bestem Arkonstahl klirrten, Holzschlegel hämmerten, die Mauern wuchsen, und kaum jemand würde die Brocken, die ineinander griffen wie Finger, auseinanderstemmen können.
Wir legten die teilweise überdeckten Bewässerungsgräben an. Über die gepflasterten Straßen, auf denen gebrannte Ziegel und die durch Holzkeile und Wasser abgesprengten Quader herangeschleppt wurden, schleiften ununterbrochen die Schlitten. Wir bauten Brücken, leiteten einen Teil des Flusswassers so um, daß es einen gewaltigen, träge laufenden Kreis bildete. Es wurde aufgestaut, durch einen Sicherheitsdamm geschützt und durch einfache Schieberschleusen. Dazwischen lagen, rechteckig oder gerundet, die Felder. Sie standen in voller Blüte – bei diesem Klima konnte mehrmals im Jahr geerntet werden. Zwischen den Häusern wurden Platten verlegt. Kleine Gärten mit Gewürzkräutern entstanden, bewässert durch den Brunnen. Inzwischen spendeten zwanzig mittelgroße Bäume Schatten. Mehr Häuser wurden fertig; die Hälfte des Stammes wohnte in ihnen und lernte, einfache Gegenstände der Inneneinrichtung herzustellen. Ich betätigte mich als Arzt. Zusammen mit Tuxpan legte ich fest, welche Heilkräuter gegen welche Leiden halfen… Wir probierten alles aus, was uns der Dschungel bot. Die Frauen, die wir mitgebracht hatten, verheirateten sich mit Männern der Schiffsbesatzung. Diejenigen, die es länger aushielten, nahmen die hübschesten Barbarinnen in ihre Steinhäuser. Langsam begann die kulturelle und zivilisatorische Vermischung. Vieles würde rein oder angepaßt weitergegeben werden… Einiges würde pervertiert und verfälscht die Zeiten überdauern. Vieles würde verschwinden… leider. Auf dem Hügel brannten Feuer, wuchsen Pflanzen, schwand die Angst. Fünfzig Tage lang, bis plötzlich sämtliche Nomaden verschwunden waren. Ihre Waffen ließen sie zurück. Am Himmel sah man, auch tagsüber, mehr als die Hälfte einer beleuchteten Mondscheibe. Sie wuchs langsam, aber mit unerbittlicher Regelmäßigkeit.
Und sie kamen, ohne daß ich sie gerufen hätte. Hannas, der seinen Bart mit meinen scharfen Stahldolchen geschnitten hatte und das Haar in einem Nackenknoten trug. Die Nordländer, die schweigsam und zuverlässig gearbeitet hatten, seit ich die letzte Ausrüstung vom Schiff gebracht hatte. Sie waren mit zwei schwarzen Frauen zusammen; diese Gegensätze schienen sich schon während der stürmischen Überfahrt angezogen zu haben. Assar-Bel mit einer riesigen steinernen Doppelaxt, Aupas und Kinach, und Anoress, auch Tuxpan kam und wollte mir helfen. Als sich neunzehn Männer versammelt hatten, hielt ich den Rest zurück. Es reichte.
6. Während der Tage, in denen wir uns auf diese Nacht vorbereitet hatten, war in Tuxpan eine erstaunliche Wandlung vor sich gegangen. »Nichts, Quetzalcoatl?« fragte er. »Nein«, erwiderte ich leise. »Absolut nichts! Fünfzig Tage und ebenso viele Nächte hat der weiße Kondor gesucht. Er hat keinen der Fremden gesehen.« »Rätselhaft. Aber dies ist ein Bild, vor dem man sich fürchten kann.« Ich betrachtete ihn genauer. Sein altes Gesicht war von der Sonne fast schwarz gebrannt, und die Bräune war selbst auf dem Grund der winzigen Falten und tiefen Kerben. Die Narben, Spuren eines Lebens voller Kämpfe, waren ebenfalls braun. Die großen Augen starrten an mir vorbei auf die Stufenpyramide, die ruhig im Licht des Nachmittags vor uns stand.
»Gewiß. Wenn man nicht weiß, was es wirklich ist. Steine, die man aufeinander gebaut hat. Niemand weiß, zu welchem Zweck!« Achtzehn Männer befanden sich unterhalb des Felsens mit dem Kalender an der Front. Sie hatten sich verborgen und in Höhlen versteckt, und eine breite Strickleiter hing vom Felsen, getarnt durch Schlingpflanzen, bis nach unten. Hannas trug eines der winzigen Funkgeräte um den Hals. Wenn ich in mein Armbandmikrophon sprach, dann verstand er, daß ich ihn brauchte. Tuxpan roch nach Schweiß, und ich roch nicht besser. Über uns, in zweitausend Metern Höhe, unsichtbar für die meisten Augen, kreiste der Kondor. »Wir werden es heute noch erfahren, wenn der Kalender das Richtige sagt«, meinte der alte Häuptling. Er schien frei von Angst und Dämonenfurcht zu sein. »Wir können nichts anderes tun als warten«, wiederholte ich. Unter uns, in der geborgenen Zone des Dschungelrandes, warteten mehr als tausend Männer. Wir hatten sie seit Tagen beobachten können, durch das Auge des Kondors, wie sie aus allen Teilen des Dschungels herbeigerannt kamen, wie Ameisen, die Aas rochen – oder wie Geier. Jetzt waren sie unsichtbar. Aber sie befanden sich am Boden, tief unter uns. Tuxpan und ich hockten auf dem Ast, von dem aus ich den ersten Versuch eines Menschenopfers mit angesehen hatte. »Du wartest auf das Schiff?« fragte Tuxpan. »Ich warte auf ein Schiff, ja, und zwar auf ein Schiff, das wie mein Boot aus den Wolken kommt, vielleicht heute Nacht.« Ich hatte meinen Bogen und meine Energiewaffen. Außerdem steckten in den Taschen meiner Jacke die kleinen Bomben, die so wirkungsvoll waren. Leuchtraketen in verschiedenen Farben und eine Abschusswaffe mit langem Lauf waren ebenso Teile meiner Ausrüstung wie eine Infrarotbrille und
der schwere Hochenergiestrahler. Wir warteten schweigend. Vier Stunden lang – bis zur Dunkelheit. Wir aßen und tranken, darin lehnten wir uns wieder an den schlanken Stamm des Baumes. Wir sahen die gesamte Szene ein. »Wenn ich diesen Ahuitzotla sehe, spalte ich ihm den Schädel!« sagte Tuxpan erbittert. Er hob seine Waffe auf die Knie. Tuxpan war von einer langen, bis zur Mitte der Oberschenkel reichenden Jacke geschützt. Sie bestand aus Wollgewebe. Darüber waren dicke, geflochtene Binsen befestigt, darüber wieder Lederstücke, die man hart geschlagen und an der Sonne hatte trocknen lassen. Der Panzer besaß kreisförmige, unter den Achseln zusammengebundene Schulterstücke, und nicht einmal mein Pfeil, aus fünfzig Meter Entfernung abgefeuert, schlug durch diese Schutzjacke. Die Waffe bestand aus zwei langen Schichten besten Holzes, war in der Verlängerung des Griffes dicker als an den Rändern. Je zehn dreieckige Obsidiansplitter, sauber an zwei Kanten abgehämmert, steckten an beiden Seiten zwischen dem polierten Holz. In den Vertiefungen der Bretter liefen gedrehte Lederschnüre, und sie hielten, zusammen mit Baumharz, die Steinsplitter fest. Tuxpan hatte die Waffe demonstriert: Mit einem einzigen Schlag, in den er alle seine Kraft gelegt hatte, schnitt er einen Baum, der so dick war wie mein Unterarm, an der dicksten Stelle glatt durch. Dies und ein Schild aus Binsen und Leder waren, abgesehen vom rituellen Dolch, die einzigen Waffen des Kriegers. »Ob du recht hast, Quetzalcoatl?« murmelte Tuxpan. »Womit, Tuxpan?« fragte ich leise zurück. »Mit deinem Plan – und damit, wie sich die Teile deines Planes verhalten werden. Ahuitzotla, der Kondor, der verbrennende Stern… alles.«
»Ich hoffe es«, sagte ich. Der Vollmond strahlte sein eiskaltes Licht auf die Fläche und auf die Seiten der Pyramide. Aus den Augenwinkeln nahmen wir gleichzeitig eine Bewegung wahr. Ein einzelner Mann verließ den Rand des Dschungels und ging geradeaus, auf den Opferstein zu, auf die geborstenen Trümmer des Steines. Ich schob die Infrarotbrille über die Stirn. Ich kannte den Mann, der kurz bei dem Opferstein stehen geblieben war und die Trümmer betrachtete. Es war der Medizinmann. »Heute ist der vierzehnte Tag einer Periode, also der Tag Jaguar«, murmelte der Krieger neben mir. »Der Jaguar ist ein Raubtier. Wir werden sein wie die Jaguare, Quetzalcoatl!« »Ruhig, Tuxpan«, sagte ich und winkte ab. »Ein Mann… es ist Ahuitzotla.« Ich erkannte ihn genau. Er war halb nackt und in den Farben Rot und Weiß bemalt, den Farben des Todes. Sein Gesicht trug die weiße, erschreckende Farbe einer merkwürdigen Maske, die kreisförmig angelegt war und von den Ohren bis zur Stirn und zum Kinn ging. Jetzt bewegte er sich weiter, am Stein vorbei und auf die Pyramide zu. Zwischen den beiden senkrechten Mauern des Oberbaues leuchtete ein Schild auf – vermutlich das Bildübertragungsgerät der Fremden. Ich suchte langsam den Rand des Waldes ab. Dort lauerten Hunderte kleiner Gruppen. Die Nomaden hatten sich versammelt, wie es der Kalender befahl; bei Vollmond. Außerdem würde sich heute etwas ereignen, das mit den Linien des Hochplateaus in Verbindung gebracht werden konnte. Ich rechnete stark mit einem Raumschiff oder einigen Schiffen. »Was tut er?« fragte Tuxpan. Ich sagte es ihm. Der Sonnenschild blinkte: Farben zogen über die Oberfläche und wechselten in einem bestimmten Rhythmus ab. Eine hypnotische Folge optischer Signale strahlte über die freie Fläche,
und als ob er unter einem Bann stünde, ging Ahuitzotla darauf zu. Er erreichte die untersten Stufen und stieg sie hinauf. Nach einiger Zeit hatte er den ersten Absatz erreicht und blieb stehen. »Was ist das?« flüsterte der Krieger neben mir und packte scheu mein Handgelenk an. »Was?« Ich schob die Brille wieder in die Stirn und sah, daß in meinem breiten Armband aus imitiertem Leder ein Lämpchen glühte, erlosch und wieder aufglühte. Ich drückte ein paar Kontakte und rief den Kondor herunter – näher zu uns heran. »Was war das?« Ich grinste freudlos in der Dunkelheit. »Mein weißer Vogel hat gesehen, daß ein Schiff aus den Wolken gekommen ist«, murmelte ich. Dumpfes Brausen drang aus dem Dschungel. Tausend oder mehr Menschen sprachen oder sangen leise; es war nicht genau zu hören. Farben und zuckende Blitze funkelten noch immer zwischen den Mauern. Der Medizinmann war wiederum eine Plattform höher geklettert und drehte sich herum, so daß er den Rand des Waldes vor Augen hatte. Er breitete die Arme aus und schrie gellend: »Dies ist die Nacht des vollen Mondes! Die Nacht des Jaguars!« Dumpfes, ekstatisches Heulen und Kreischen von mehr als tausend Kehlen antwortete ihm. Die Szene war wild und unwirklich. »Die roten Götter haben uns zu sich gerufen!« schrie Ahuitzotla. Wieder folgte Geschrei. Vermutlich standen sie unter der Einwirkung getrockneter Drogenpilze. »Sie sagen, daß Feuer vom Himmel kommen wird!« schrie der Medizinmann. Wieder schien der Urwald zu erzittern. »Seht – dort!« schrie Ahuitzotla. Seine Stimme überschlug sich. Wir saßen regungslos und aufgeregt auf dem schwan-
kenden Ast, hörten und sahen alles, auch die weiße Silhouette des Kondors, sie verdeckte kreisend die Sterne. Aus dem Wald kamen leichter Nebel und die Gerüche schwitzender Menschen; Geruch nach fauligem Wasser wehte in meine Nase. Wir sahen hoch, ich schob die Brille von den Augen zurück. »Der Meteor!« Natürlich ist es ein kleines Raumschiff, den Antriebsspuren nach, sagte mein Extrasinn. Das Raumschiff kam, immer heller werdend und näher rasend, zwischen den Sternen hervor. Es kam von Südosten, also hatte es sich anhand der Linien und der Figuren über das Ziel und den Zeitpunkt orientiert. Es flog unerwartet schnell, als wolle es nicht landen… aber das konnte täuschen. Und – es kam nicht auf den Tempel zu, sondern direkt auf uns. Wir duckten uns, und ich bewunderte die Ruhe meiner Kameraden in diesem merkwürdigen Streit. Mit flammenden Heckdüsen kam das Schiff herunter, beschrieb eine leichte Kurve, als säße darin ein Pilot, der nach einem guten Landeplatz suchte. Dieser Landeplatz befand sich zwischen Tempel und Opferstein. Aber das Schiff verlangsamte durch drei lange Stöße aus den Bugdüsen. Wir hörten den Donner der Düsen und das Rauschen der Luft, als die Metallmasse über unseren Köpfen hinwegschoß und wieder gegenfeuerte. Dann, ich hatte mich umgedreht, stand das Raumschiff auf einer langen Feuerzunge senkrecht über der Flussbiegung. »Der große Feuervogel!« Tuxpan umklammerte mit einer Hand sein Obsidianschwert und hielt sich am Baum fest. Ich sah, wie sich seine Finger in die Rinde krallten. »Er ist es!« sagte ich. Heller Lichtschein wurde sichtbar, als sich eine mannshohe Klappe öffnete. Eine Schleuse oder Teile eines Laderaumes. Dann bewegte sich ein vielfach geknickter Ladearm, an dessen Greifer ein Ball von etwa zwei Metern
Durchmesser hing. Der Ball schwebte aus der Luke, baumelte einige Sekunden lang neben der Schiffshülle und wurde losgelassen. Langsam begann er zu fallen… Meinen Berechnungen nach landete er entweder auf dem Felsen oder direkt vor dem Kalender. Dort aber versteckten sich Hannas und eine Mannschaft aus Besatzungsmitgliedern des Seeschiffes. Die Luke schloss sich, sobald der Arm zurückgefahren war. Die Kugel verschwand hinter den Bäumen an der Flusskrümmung. Der Donner der Heckdüsen nahm zu, die zentrale Flamme vergrößerte sich. Aus kleineren Düsen schossen Feuerstrahlen; das Schiff stieg langsam in die Höhe. Es wurde schneller und schien förmlich in einem einzigen Satz zu den Sternen hinaufzuspringen. Das Licht wurde kleiner, der Donner nahm ab; ich erkannte wieder den Kondor. »Warum fliegt das Schiff weg?« Ich grinste Tuxpan an. »Vermutlich hat der Steuermann nur etwas abgeworfen, das den anderen Fremden gehörte, das sie notwendig brauchten.« »Ich verstehe«, sagte Tuxpan. Mit einiger Sicherheit war dies ein Robotschiff gewesen, eine Art Versorgungsboot. Es hatte vielleicht durch eine Fehlschaltung oder dadurch, daß die Impulse des Kondors es abgelenkt hatten, seine Last siebenhundert Meter weiter nach Westen abgeworfen anstatt direkt vor der Pyramide. Der letzte Lärm verhallte, das Feuer war zu einem Punkt zwischen den Sternen geworden. »Kommt jetzt!« schrie Ahuitzotla. Während sich dicht am Boden der Pyramide eine Öffnung zeigte, aus der ein langer Streifen Helligkeit auf das Gras fiel, strömte eine riesige Menge Männer aus dem Dschungel. Bald waren viele kleine Feuer entzündet; die Männer mußten alles bereitgehalten haben. Die Flammen beleuchteten die Körper, die breite Balken trugen
und Seile aus Pflanzenfasern. Sie liefen von allen Seiten des Dreiviertelkreises auf die Pyramide zu und wirkten wie Ameisen. Auch in der Nähe der Pyramide entzündeten sie Feuer und begannen in Gruppen die Stufen zu erklettern. Die Werkzeuge nahmen sie mit. »Was tun sie, Quetzalcoatl?« flüsterte Tuxpan verblüfft. »Ich… ich weiß es auch nicht, Krieger!« sagte ich leise. Ich spürte geradezu, wie sich die Mosaiksteinchen dieses Bildes langsam verschoben. Bald würde das Bild klar sein. Immer mehr Nomaden erkletterten die Pyramide. Jetzt zündeten sie auf der ersten und zweiten Stufe Feuer an. Das Bauwerk wurde gespenstisch flackernd erleuchtet. Es glich wirklich einer Festung der Dämonen. Wie gebannt schraubte ich die Infrarot-Vergrößerung auf den höchsten Wert. Aus dem Licht, als schwarze Schatten sichtbar, kamen acht breitschultrige Gestalten. Ich wartete – nein, keine neunte mehr. Waren da nur acht Fremde auf diesem Planeten, außer mir? Sie kamen in den Leuchtbereich eines Feuer, und ich sah, daß sie riesige rotgefärbte Jaguarköpfe trugen, breite Streifen vor den Augen und leichte Raumanzüge. Sie wirkten wie Dämonen – bis ich es erkannte. Sie hatten sich verkleidet, um besser erschrecken zu können. Es waren Raumfahrer. Die Jaguarköpfe waren Täuschungen; wirklich die präparierten und ergänzten, schrecklich verzierten Köpfe von Raubtieren. Die Männer kamen langsam auf uns zu. »Sie wollen holen, was das andere Schiff gebracht hat«, stellte Tuxpan fest. Ich mußte noch warten. Meine Zeit war noch nicht gekommen. Gegen acht Raumfahrer, falls sie gegen einen Arkoniden ebenso brutal waren wie gegen die Eingeborenen, war es sinnlos zu kämpfen. Außerdem wollte ich mit ihnen sprechen. Warten… Nervenzermürbendes Warten.
Die Fremden bildeten drei Gruppen. Ich versuchte, den Anführer herauszufinden und entschloss mich für den an zweiter Stelle laufenden Mann. Die Unterwürfigkeit, mit der ihn die anderen behandelten, kennzeichnete ihn als den Chef dieser Gruppe. Jetzt waren sie nur noch zwanzig Schritte von uns entfernt. Ich sagte in das Kommandomikrophon: »Kondor – sobald die Männer den Dschungelrand erreicht haben, ergreifst du den zweiten Mann von vorn und bringst ihn an die Stelle, die ich gekennzeichnet habe.« Ein Lämpchen bestätigte, daß die Robotapparatur den Befehl verstanden hatte. Noch zehn Schritte, fünf… Der Kondor stürzte sich nach unten. Ich hörte, wie Äste brachen und Blätter abrissen, dann schoß der Vogel mit seinem Opfer schräg nach oben und raste entlang der Bäume. Zwei Schüsse fauchten, aber sie trafen nicht. »Du hast einen Gott in deine Gewalt gebracht?« »Ja«, sagte ich. »Ich werde versuchen – später – mit ihm zu sprechen.« Ich blickte nach vorn. Hunderte Menschen begannen die Pyramide abzutragen. Sie stemmten, auf Leitern und Gerüsten stehend, die Blöcke auseinander, befestigten sie an Stricken und schleppten sie, an Stangen hängend, nach unten. Dort schichteten sie die Blöcke aufeinander, eine Art Mauer entstand im Gras zwischen den zahlreichen Feuern. »Sie haben die Pyramide erbaut«, sagte Tuxpan. »Und jetzt zerstören sie den Tempel wieder. Warum?« »Auch das weiß ich nichts«, sagte ich leise. Dann nahm ich den schweren Strahler aus der Astgabelung, sicherte das Band und zielte nach unten. Die Gruppe der Fremden befand sich auf halbem Weg zwischen dem Dschungelrand und der Felsnase. Meine Freunde dort versteckten sich noch. Ich zielte sorgfältig und stellte die tödliche Waffe auf stärkste
Feuerkraft ein, dann drückte ich den Auslöser. Grelle Blitze heulten und schmetterten hinunter in den Dschungel. Rauch, Flammen und Staub erhoben sich. Bäume krachten um – vermutlich rannten jetzt die Fremden dem Fluss zu. Bäume wurden zerfetzt, das Unterholz zerstäubt, der Boden bis in eine Tiefe von zwanzig Ellen aufgerissen. Ein breiter Spalt entstand, schnitt langsam, von Süden nach Norden wandernd, das Plateau vom Felsen ab. Ich feuerte ununterbrochen, bis die Teile der Waffe zu stinken begannen. Der Graben verlängerte sich. Die Arbeiter hielten erschreckt inne und schufteten mit größerem Tempo weiter, da die Stimme des Medizinmannes sie antrieb. Die Ladekontrolle? Ich sah nach: fast leer. Nur noch für eine Minute Energie. Ein hundert Meter langer Spalt hatte die Fremden von ihrem Tempel abgeschnitten. Sie würden, da das Gelände steil abfiel, da auch der Fluss sie behinderte, fünf Stunden brauchen, um auf das Plateau zurückzukommen, wobei sie noch die schwere Last tragen mußten, die das Robotschiff abgeworfen hatte. Ich riß am Hebel, keine Energie mehr. Vorsichtig hängte ich die heißgeschossene Waffe wieder in den Baum und packte Tuxpan am Oberarm. »Jetzt kommt unsere Stunde, Vater der Tlatilco. Halt dich an mir fest!« Ich schaltete mein Flugaggregat ein, griff nach dem Gürtel des Mannes neben mir und betätigte mit der anderen Hand die Kontrollen. Tuxpan hielt sich an meinen Schultern fest, und ich warf mich vorwärts, nach Süden, in einer langen Kurve abwärts. Der Kondor schwebte über dem leeren Platz, weit entfernt von der Pyramide, auf einer kleinen Sandfläche. Noch immer hing der Fremde, der sich erbittert wehrte, an den Krallen des
künstlichen Vogels. Tuxpan und ich landeten. Unter dem Gefangenen lagen seine Waffen; der Kondor hatte sie mit dem Schnabel aus den Taschen gehackt. Ich sammelte sie ein und steckte sie hinter den Gürtel, kleine, handliche Energiewaffen. »Loslassen!« Der Kondor öffnete seine Fänge; der Mann fiel schwer in den Sand. Ich durfte kein Risiko eingehen. Schwach drang der Schein vieler Feuer bis hierher – ich sah nicht alles, und ich sah nicht genau. Als der Mann auf die Knie kam, riß er den Kopf hoch, nahm einen Anlauf und stürzte sich auf mich. Tuxpans Schwert sauste durch die Luft, und noch ehe es den Fremden erreichte, feuerte ich mit dem Paralysator auf die Beine des Mannes. Er sackte zusammen. »Wer seid ihr?« fragte ich in Interkosmo. Eine undeutliche Antwort. Ich hielt den Krieger zurück, machte drei Schritte nach vorn und riß die feuerrote Jaguarmaske vom Kopf des Fremden. Ein breites, grobflächiges Gesicht, umrahmt von dunkelrotem Haar, starrte mir entgegen. »Wer seid ihr?« fragte ich abermals. »Sprich oder stirb!« »Wir sind galaktische Händler… Wir untersuchen diese Welt«, sagte er mit einer ausgeprägten Baßstimme. »Wo ist euer Schiff?« Er zuckte mit den Schultern. »Freund«, sagte ich leise und scharf, »ich habe euer Wirken fünf Monde lang studieren dürfen. Ihr seid dafür verantwortlich, daß Menschenopfer gebracht werden. Rechne nicht mit meiner Güte oder einem Übermaß an Verständnis. Wo ist das Schiff?« Er deutete nach dem Tempel. Ich begriff blitzartig. »Sie räumen die Steine weg«, sagte ich nachdenklich, »um euch den Start zu ermöglichen. Ihr hattet einen Schaden; ein Robotschiff hat die Ersatzteile abgeworfen, leider nicht an der richtigen Stelle.«
»Ja. Ich sehe es an deinen Augen und an deinem Haar – du bist von Arkon?« » So ist es. Ich brauche einen Platz in eurem Schiff. Nehmt ihr mich mit?« Er lachte dunkel, seine zu Zöpfen geflochtenen Haare bewegten sich, der dichte Bart schaukelte. »Was gibt es zu lachen?« fragte ich. »Wir, Springer, einen Arkoniden mitnehmen? Du redest irre! Wir wissen, daß du den Barbaren Medizin gibst, ihre Wunden heilst und sie verschiedene Dinge lehrst. Unsere zukünftigen Sklaven brauchen dies alles nicht zu wissen. Es genügt, wenn man sie in Furcht läßt; sie arbeiten dann besser. Siehst du?« Er deutete zum Tempel. Die erste Reihe der Quader wurde abgetragen und unten aufgestapelt. Ich sagte: »Ich komme mit euch mit. Es gibt zwei Möglichkeiten.« Er schüttelte den Kopf und lachte dröhnend, als sei dies ein wunderbarer Scherz. »Es gibt immer eine dritte Möglichkeit«, versicherte er. »Eine, an die auch ein Arkonide nicht denkt. Wie kommst du hierher?« Ich winkte ab. »Unwichtig. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder nehmt ihr mich freiwillig mit, und ich zahle meine Passage erstklassig, oder ich steuere das Schiff; ihr liegt gefesselt im Laderaum. Noch kannst du wählen.« »Ich helfe keinem Arkoniden«, sagte er. »In dem Moment, wo meine Partner zurückkommen und die Einbausätze bringen, starten wir. Ohne dich.« »Warum haßt du mich?« fragte ich ruhig. Der Krieger neben mir zitterte, vor Wut oder vor Schrecken, ich wußte es nicht. »Du verdirbst unser Konzept. Der Planet ist reich – zu reich. Wir hätten uns jahrhundertelang zu Tode verdient… wir werden es tun, mit oder ohne deine Zustimmung.«
»Auch hier irrst du«, sagte ich. »Ich werde mich jetzt mit den gleichen Fragen an deine Freunde wenden.« »Und die gleichen Antworten bekommen!« versprach er. »Geh zum Raumteufel, Arkonide!« Ich hob den Dolch und drückte auf den Feuerknopf. Die lähmende Entladung traf ihn und schläferte ihn für die nächsten vierundzwanzig Stunden ein. Als der Mann umsank, hörte ich neben mir ein Ächzen, dann erfolgte eine Bewegung. Das knirschende Geräusch, mit dem Tuxpan dem Springer den Schädel spaltete, verfolgte mich noch Nächte später im Schlaf. Ich riß ihn an der Schulter zurück, als er das Obsidianschwert aus der Leiche zog. »Du hast ihn erschlagen, Tuxpan!« schrie ich unbeherrscht. Er wischte das Schwert im feuchten Gras ab. »Er hat Leiden und Angst über uns gebracht. Er ist ein Jaguar – ich mußte ihn töten. Mein Volk soll die Angst verlieren, Quetzalcoatl. Alle Götter sollen so sein wie du!« Ich wandte mich erschüttert ab. »Verdammt!« sagte ich. »Zu spät. Komm, wir gehen zu den anderen. Ich muß in dieses Schiff hinein!« Ich drehte mich um. Als ich zum Tempel schaute, sah ich, was ich fast ein halbes Jahr gesucht hatte. Das Raumschiff. Vielmehr dessen Spitze, die etwa vier Ellen aus der Ummauerung der Quader hervorsah. Die Flammen spiegelten sich an dem stählern polierten Metall. Da war es, das Schiff. Die Möglichkeit, nach Arkon zu kommen. »Zu den anderen?« »Ja. Ich muß mit ihnen sprechen.« Wir flogen über die Schneise des rauchenden Urwaldes, bis zum Kalender. Ich sah, als ich über dem Fluss schwebte, zwischen den dunklen Bäumen auf dem helleren Kiesstrand reglose Gestalten. Sie lagen unterhalb der Felsnase. »Hannas!« schrie ich, von plötzlicher Sorge erfüllt.
»Wir sind hier!« Einige Männer liefen von links nach rechts. Ich schwebte, während sich Tuxpan an meinen Rücken klammerte, schneller an der Mauer aus Rauch und Dampf entlang. Hoffentlich hatte ich den Gleiter nicht getroffen. Ich landete, nahm vom Gürtel die Energiezelle mit der aufgesetzten Lampe und schaltete sie ein. Plötzlich war Licht, und wir sahen, was geschehen war. Von allen Seiten kamen die Männer des Schiffes auf uns zu. Sieben regungslose Gestalten lagen auf dem hellen Kies. Sie trugen noch die Jaguarmasken. Ich bückte mich und drehte einen der galaktischen Händler um. Tot. »Hannas – warum habt ihr sie getötet?« fragte ich. »Sie haben sich gewehrt!« sagte Hannas ohne Rührung. »Sie sahen die Kugel liegen und kamen langsam heruntergeklettert. Wir überfielen sie, um sie niederzuschlagen und zu fesseln. Sie wehrten sich. Sie schossen, wie du, mit Feuer um sich, und wir mußten sie töten, um nicht selbst zu sterben.« »Acht tote Raumfahrer!« sagte ich leise. »Wir taten unser Bestes!« wiederholte Hannas. Die Männer und ich umstanden in einem Kreis die sieben Gestalten. Wir zogen die Masken von den Gesichtern. Kein Zweifel – alle waren tot. Ich nahm aus den Taschen Waffen und Ausrüstungsgegenstände und warf sie auf einen Haufen. Ich hatte später Zeit, alles zu untersuchen. »Schafft das hier auf die Ladefläche meines Wolkenbootes«, sagte ich. »Und bleibt hier. Ich hole euch ab.« Hannas trat vor und fragte: »Was tust du?« Ich war von dem achtfachen Tod wie betäubt. Es hätte nicht sein müssen. Ich konnte aber nichts mehr ändern. »Ich versuche, ins Schiff hineinzukommen«, sagte ich leise. Hannas wirbelte herum und rief: »Das Schiff? Hast du es gesehen?«
»Ja«, murmelte ich. » Es ist in der Pyramide verborgen gewesen. Wo ist der Ball, der hier gelandet ist?« Sie deuteten auf die Felsnase mit dem eingeprägten Kalender. Als der Strahl meiner Lampe darauf fiel, sah ich die Kugel. Wie in Hypnose ging ich darauf zu und legte meine Hand auf das glatte Gespinst der Verkleidung. Hier hatte ich die Ersatzteile, welche es auch immer waren. Dort drüben steht das Schiff. Du bist am Ziel, sagte mein Extrasinn. »Noch nicht!« flüsterte ich. Später konnte ich, in den frühen Morgenstunden, die Ersatzteile zu der Tempelruine hinaufschaffen. Wieder hatte dieser barbarisch schöne Planet acht Opfer gefordert und erhalten. Die Männer waren kämpfend gestorben, hatten verloren gegen eine Übermacht von Männern, die aus dem Osten kamen. Nicht einmal die Energiewaffen hatten in der Dunkelheit etwas genutzt. Hätten sie mich freiwillig mitgenommen? fragte ich mich. Vermutlich nicht. Also würde ich mit einem Schiff, dessen Eigentümer im Laderaum gefesselt waren, gestartet sein. So gut wie sicher. Aber ich hätte Arkon erreicht, die Raumfahrer freigelassen und sie belohnt, ihnen angeboten, was sie sich wünschten. Jetzt waren sie tot, alle Gedanken über den Flug waren sinnlos. Ich schaltete mein Flugaggregat wieder ein und sagte: »Wartet hier, und begrabt die Männer.« »Laß uns nicht zu lange warten, Quetzalcoatl!« rief Hannas, als ich senkrecht an der Felswand hinaufglitt und Kurs auf die Pyramide nahm. Über mir hörte ich die Schwingen des Kondors. Er folgte mir wie ein zahmer Kolibri. Die Szenerie hatte sich drastisch verändert: Etwa ein Drittel der Pyramide war abgetragen worden. Aus dem Viereck der Mauern stach die Spitze des Schiffes in den Nachthimmel. Eine Kette Nomaden schleppte Quader die Treppe hinunter und schichtete sie in der Ebene auf. Ein Teil der Feuer war ausge-
gangen, andere neu entzündet. Ich blieb in der Nähe des Opfersteines stehen und schaute mich wachsam um. Ahuitzotla, der Medizinmann, stand auf der untersten Stufe, nahe der Treppe; er schien Befehle zu geben. Niemand war hinter mir. Alle Nomaden hatten den Dschungel verlassen und waren dem Ruf des Kalenders und dem Druck ihrer Ängste gefolgt. Jetzt wußte ich, was die Opfer und der Kalender zu bedeuten hatten. Das Ersatzschiff kam irgendwann in einer Vollmondnacht – vermutlich war dies weniger ein Problem des Mondes oder der mythologischen Verwendbarkeit dieses Trabanten, sondern aus Zeit und Entfernung. Auch aus Gründen der Lichtverhältnisse am Erdboden war die Landung zufällig an diesem Datum erfolgt. Zuerst hatte man, mit Ahuitzotla als Sprachrohr, die Nomaden gezwungen, die Pyramide zu bauen, davon hatte unsere Siedlung zweifellos profitiert. Dann versammelte man sie, mit dem Menschenopfer als Vorwand, hier an diesem Platz. Man hatte die Gewähr, daß genügend Menschen in jeder Vollmondnacht zusammentrafen, um das Raumschiff zu befreien. Warum hatten sie es versteckt? Ahnten sie, daß sich jemand auf diesem Planeten befand, ein Raumfahrer wie ich? Diese Frage konnte vielleicht beantwortet werden, wenn ich das Schiff betreten hatte. Die Öffnung dicht über dem Boden war noch von innen erleuchtet. Ich ging darauf zu und öffnete die Tasche, lud sorgfältig die fingerstarken Notraketen, steckte sie hintereinander in den Rahmen des Magazins. Würde mein Plan funktionieren? Er ist lange genug ausgerechnet worden! sagte mein Extrasinn. Ich hob die Signalpistole und drückte ab. Fauchend und von den arbeitenden Nomaden unbemerkt, stieg die erste Rakete in die Höhe, explodierte in zweihundert Mannslängen Entfernung vom Erdboden, dicht über dem Schiff. Ein roter Ball er-
schien am Himmel, überstrahlte die Flammen der Feuer und sank langsam. Über ihm erschien eine Schraubenlinie aus angestrahltem Rauch. Zitternd und flackernd, überirdisch hell, näherte sich die rote Kugel der Pyramidenruine. Ein tausendstimmiger Schrei war zu hören und übertönte die Stimme Ahuitzotlas. Dann sahen sie alle den Kondor. Er kreiste um die Lichtkugel und schrie mißtönend. Die Schreie waren es, die mich entnervten… Irgendwann ist der Verstand überlastet und beugt sich den Eindrücken von außen. Ich biß die Zähne aufeinander und feuerte ein zweites Mal. Eine grüne Kugel erschien über der roten. Zwei verschiedenfarbige Lichter waren am Himmel, hinter sich die fadenähnliche Schleppe der verbrannten Gase. Grün und Rot – die Sinne der Nomaden verwirrten sich. Das Geschrei des Medizinmannes wirkte nicht mehr. Ich wartete auf die ersten Reaktionen; sie würden entscheidend sein. Die Nomaden würden dem ersten folgen wie dem Leiteber. Eine doppelte Feuerkugel. Stechend rot und kalkig weiß – die Farben des Todes. Das gab den Ausschlag. Unten, neben den aufgehäuften Blöcken, warfen die ersten Gruppen ihre Bohlen und Werkzeuge ins Gras und rannten davon, liefen, als wären sämtliche Dämonen des Dschungels hinter ihnen her. Die Menschen auf den untersten Stufen folgten ihnen. Eine Massenflucht setzte ein. Ich grinste kalt, Zorn und Unentschlossenheit kämpften in mir. Dann zielte ich und drückte den primitiven Abzug. Eine Feder schnappte, ein Bolzen schlug nach vorn, die Rakete verließ das Führungsrohr. Sie fauchte fast unsichtbar in schrägem Winkel nach vorn und explodierte genau an der Wandung des Schiffes. Ein irrsinniges Kreischen erscholl. Die Nomaden wurden von Furcht und Panik geschüttelt. Sie trampelten einander
nieder. Sie rasten blind nach allen Seiten davon; ich zog mich in den Schutz des Opfersteines zurück. Sie verschwanden im Dschungel, als die letzten Männer noch immer die Stufen herunterhasteten. Ich verschoss systematisch die letzten zehn Raketen unter die Flüchtenden und warf die Waffe in eines der Feuer in meiner Nähe. Ins Schiff! Nach Arkon! schrie mein Extrasinn. »Es scheint gelaufen zu sein, wie ich es ausrechnete«, sagte ich und ging vorwärts. In der rechten Hand hielt ich den entsicherten Strahler, und als die Brille zu drücken begann, nahm ich sie ab und schob sie in eine Tasche. Ahuitzotla war nicht fortgerannt; er saß auf einem der fratzengesichtigen Vorsprünge, der die Züge eines galaktischen Händlers in Jaguarmaske trug. Wenn ich mich nicht täuschte, sah mich der Medizinmann an. Rings um uns verglühten die letzten Leuchtkugeln im Gras, kleine Brände erhoben sich und erfüllten die Nachtluft mit ihrem harzigen Geruch. »Er hat immerhin Mut«, murmelte ich. Genau vor mir war der Eingang im Fuß der Pyramide, zugleich vermutlich auch der Eingang ins Schiff. Wenn das Schiff nicht größer war, als es im Augenblick wirkte, konnte es senkrecht starten und das steinerne Versteck verlassen. »Quetzalcoatl!« Ich schaute auf, es war die heisere Stimme des Medizinmannes. Als ich das Gesicht Ahuitzotlas betrachtete, sah ich, daß er nur auf einem Auge etwas sehen konnte. Das andere war leer, nein, es steckte ein Stein darin, schwarz wie polierte Kohle. »Was willst du, Ahuitzotla?« fragte ich in seiner Sprache. »Geh nicht weiter!« Jetzt war er keine Gefahr mehr für mich. Ich starrte in sein gesundes Auge und erkannte, daß der Mann unter der Wirkung eines Rauschgiftes stand. Fiebriger Glanz des Auges und
die halb kontrollierten Bewegungen deuteten darauf hin. Ahuitzotla war waffenlos; über mir kreiste der Kondor. »Dein Weg ist zu Ende, Medizinmann«, sagte ich. »Die fremden Götter sind tot. Die Tlatilco und meine Freunde aus Sonnenaufgang haben sie erschlagen. Das Ende der Furcht ist gekommen!« Er schüttelte wild den Kopf, wirkte wie ein Wahnsinniger. »Ich bin der Wächter des Metallschiffes«, verkündete er drohend. »Ich werde dich vernichten, ehe du das Schiff betreten kannst.« Ich winkte ab. »Ich habe keine Angst vor dir. Wenn du versuchst, mich zu töten, wird der Kondor dich nicht mehr schonen.« »Ich warne dich – geh nicht weiter! Die Ruine wird dich unter sich begraben, wenn ich es will!« »Zur Seite, Mann – oder du stirbst!« Ich zielte aus dem Handgelenk und feuerte. Neben dem Medizinmann splitterten die Steinblöcke. Er hatte sich nicht bewegt. Ich ging auf die rechteckige Helligkeit zu, erkannte eine steinerne Plattform und den Anfang von Stufen, also war es so, wie ich gedacht hatte. »Du wirst sterben… du wirst zerschmettert werden… die Steine werden dich begraben…«, flüsterte die Stimme über mir. Ich ging ungerührt weiter, obwohl seine drängenden Worte in mir ein Echo der Gefahr hervorriefen. Ich sah jetzt die mächtigen, geputzten Gestänge der Landestützen und die Landeteller, die sich tief in den Untergrund gedrückt hatten. Die Heckdüsen und die verkleideten Zuleitungen, das Metall… das Raumschiff. Nach zehn Schritten wandte ich mich nach rechts und sah, daß einige Tiefstrahler einen Teil des Schiffes und den Raum zwischen den Metallflächen und der Ruineninnenwand beleuchteten. Das Schiff konnte senkrecht starten – über mir sah ich Sterne und einen Fetzen des treiben-
den Rauches der Signalraketen. Ich blieb stehen. Endlich am Ziel. Fast acht Jahrtausende hatte ich darauf gewartet. Der Weg nach Arkon war offen, die Hindernisse minimal. »Endlich!« flüsterte ich. Ich konnte mich nicht gegen meine Ergriffenheit wehren. Was ist das? warnte mein Extrasinn. Für kurze Zeit hatte ich meine Umgebung vergessen. Jetzt hörte ich es. Ein Ton wie von einer Flöte. Dieses Instrument, das Ahuitzotla in dem Binsenköcher seines Gürtels getragen hatte; er blies auf der Flöte, in lang gezogenen Kadenzen. Der Ton schraubte sich in die Höhe, und je höher er wurde, desto lauter wurde er. Nach etwa zehn Atemzügen, in denen ich an der kühlen Mauer lehnte und das Schiff betrachtete, war der Ton schmerzhaft hoch näherte sich vier Ultraschallgrenze, und genau in dem Moment, da dieser Gedanke durch meine Überlegungen zuckte, begann um mich herum der Stein zu knistern. »Ahuitzotla!« schrie ich und stürzte hinaus. Als ich den Gang verlassen hatte, sah ich zum Götzenbild, aber der Medizinmann war verschwunden. Nur der Ton der Flöte hing zitternd in der Luft. Ringsum war alles still, die Feuchtigkeit der Nacht hatte Feuer und kleine Brände gelöscht. Nur dieser verdammte Ton. Wieder ein Knirschen hinter mir. Es schien, als ob sich Quader gegeneinander rieben. Dann hörte ich von weit oben ein Geräusch. Langsam schob sich ein Quader aus der Reihe der anderen, glitt unsichtbar vibrierend zur Seite und neigte sich, polterte die Stufen hinunter, und bei jedem Aufprall splitterten die Steine, gab es kleine Staubwolken und Steinsplitter. Ein zweiter Block folgte. »Ahuitzotla!« brüllte ich. Ich riß die Waffe hoch und schaute mich um. Der Medizinmann war verschwunden – der Ton schien von der anderen Seite der Ruine zu kommen. Ich rannte nach links und spurtete geradeaus, aber ich sah den Medizin-
mann nicht. Polternde Steine, knirschende Blöcke und splitterndes Gestein übertönten die Flöte. Krachend schlug innen etwas gegen das Schiff. Es war wie der Schlag auf eine riesige Glocke. Panik ließ mich weiterlaufen. »Du Hund – ich bring’ dich um!« schrie ich und feuerte rechts und links der Pyramide in die Luft. Keine Reaktion. Wieder: ein doppelter Schlag. Das Raumschiff war in Gefahr. »Er vernichtet das Schiff!« murmelte ich. Eine eiskalte Hand krallte sich um mein Herz, und ich fühlte kalten Schweiß auf der Stirn. Wieder brach ein kleines Stück der Ruine und fiel nach innen. Dann ertönten zwei scharfe Explosionen im Innern der Pyramide. Langsam und majestätisch kippte die Wand, an der die Treppe entlanglief, nach innen und fiel auf das Schiff. Einen langen Augenblick verharrten die anderen Wände, Verstrebungen und Masken, Quader und die kleinen Luken… dann kippten auch sie. Ich sah die Spitze des Schiffes schwanken. Nach und nach wurden diese Schwingungen intensiver; ich zog mich, ohne es zu wissen, schrittweise zurück. Mit reißendem, gewaltigem Geräusch kippte das Raumschiff. Zwei Wände fielen schwer darauf. Ich ging schneller und konnte den Blick nicht von dem grausigen Geschehen wenden. Noch immer kreischte und jaulte diese verfluchte Flöte. Unaufhörlich polterten Blöcke über das Schiffsmetall. Ich stolperte rückwärts, ich konnte nicht richtig denken. Hier wurden alle meine Hoffnungen vernichtet. Der schmerzende Klang des Instruments schien sich über die gewaltige Lichtung ausgebreitet zu haben. Für den Bruchteil einer Sekunde, sah ich, wie sich eine Wand des Schiffes aufblähte. Danach sah ich nichts mehr. Eine gewaltige Druckwelle, verbunden mit einem Lichtpilz, packte mich und warf mich in die Dunkelheit.
Irgendwann kam ich wieder zu mir. Ich rollte mich langsam auf den Rücken. Schmerzhaft krachte mein Ellenbogen gegen eine harte Fläche. Ich richtete mich auf, mein Kopf dröhnte; sämtliche Knochen schmerzten teuflisch. Rings um mich war die Ebene mit Trümmern übersät. Ein Ring würfelförmiger Steine lag dort, wo vor Stunden die Pyramide gestanden hatte. Im Osten dämmerte es. Der Ton der steinernen Flöte war verklungen, und der Medizinmann verschwunden. In der Mitte des Ringes gab es rotglühende Trümmer und eine schwarze Rauchfahne, die kerzengerade in die Luft stieg und vom Wind erfaßt und nach Nordosten abgetrieben wurde. Es roch intensiv nach Isolationsmaterial, verbranntem Öl, verpufftem Treibstoff und nassem Gras. Nicht ein einziges Tier war zu hören. Absolute Stille umgab mich. Taumelnd kam ich auf die Füße. Im nassen Gras schimmerte etwas; ich hob meinen Strahler auf und steckte ihn ein. Ich schüttelte den Kopf. Langsam ging ich durch das Gras und setzte mich auf einen zerbrochenen Quader. Meine Gedanken tasteten sich mühsam vorwärts; der Siedlung und Hyksa entgegen. Die Rauchsäule zeigte steil gen Himmel; ein Symbol unerfüllbarer Wünsche und Hoffnungen. Die Sterne hingen höhnisch in der fahlen Dunkelheit und erloschen einer nach dem anderen. Aus weiter Ferne leuchteten Wolken am Horizont auf – bald würde das Licht der Sonne Feuchtigkeit auftrocknen. Weit weg hörte ich einen Tierlaut: zu leise für einen Jaguar, zu laut für ein anderes Tier. Dann wieder das Schweigen, das mich verrückt machte. In meinem Hals würgte ein dicker Klumpen. Ich starrte auf das Bild der Vernichtung und sah es nicht wirklich. Alles war umsonst gewesen, und ich erinnerte mich an die Worte des Sehers Kolchis. »Wieder allein auf diesem Planeten!« murmelte ich erstickt. Ich stand am Rand eines messerscharfen Grates; würde ich auf
der falschen Seite herabfallen, war Wahnsinn die einzige Folge. Die nächste Enttäuschung dieser Größenordnung konnte mich umbringen. Und dann fühlte ich, wie sich der Krampf in mir lockerte. Ich fiel und trieb wie ein leichtes Blatt dem Boden entgegen, vergrub mein Gesicht in den Händen und überließ mich der Verzweiflung. Gegen Mittag schreckte mich ein Laut auf. »Es ist alles vorbei«, sagte jemand ernst. »Hyksa wartet auf dich, Quetzal!« Ich schaute auf: Hannas stand mit hängenden Armen vor mir und blickte auf mich nieder. »Ja«, sagte ich stockend. »Es ist vorbei. Alles.« »Nicht alles. Nur deine Sehnsucht ist gestorben, so wie meine – damals, am sandigen Strand der Insel. Wir sind gestrandete Seeleute, an fremden Ufern… komm mit, Atlan!« Das letzte Wort sagte er mit einer merkwürdigen Betonung. »Habt ihr die Männer begraben?« fragte ich. Er nickte. »Wo ist die Kugel?« »Wir haben sie zu deinem Boot gerollt. Die Furcht ist nunmehr von uns allen genommen worden!« sagte Tuxpan. Er glaubte, was er sagte. »Habt ihr den Medizinmann gesehen?« fragte ich. »Nein.« Zwanzig Männer hatten getan, was sie konnten, weit mehr, als sie eigentlich begriffen. Für sie würde sich nun leider nichts ändern: Die Flotte würde nicht kommen und ihnen helfen. Ich blieb an diesen Planeten gefesselt wie jener andere Halbgott, von dem mir Odysseus erzählt hatte; er hieß Prometheus, war an einen Felsen gefesselt, und der Adler fraß an seiner Leber. Der Adler, der an mir fraß, war das Bewußtsein, alles verloren zu haben und in meinem kalten Gefängnis warten zu müssen. Adler… Kondor. »Wo ist der Kondor?« wollte ich wissen.
Kinach deutete nach oben. »Dort.« Der Vogel befand sich im Licht der aufgehenden Sonne, wie ein Wesen einer Mythologie, die nicht einmal wir kannten. »Wir gehen zurück«, sagte ich leise. »Nach Tlatilco!« Wir sammelten die Waffen ein, ich zerschnitt die Umhüllung und hob die Ersatzteile aus der Verpackung. Alles, was ich brauchen konnte, war ein Gerät, das Antischwerkraft produzierte und zum Schleppen größerer Lasten geeignet war; dieses Gerät hatte die Kugel sicher gelandet. Ich konnte sogar meine Energiezellen darin anschließen. Alles andere warf ich in den Fluss. Dann kauerten wir uns gemeinsam in den Gleiter und flogen zur Siedlung. Jetzt konnte ich mich dem Aufbau widmen. In den ersten Tagen vermochte es selbst Hyksa nicht, mich zu trösten. Ich flüchtete mich in die Arbeit, und so oft wie möglich zogen wir uns in die Strandhöhle zurück.
7. Mit dem feinen Strahl des Gerätes hatte ich die deutlichen Vierecke in die Felsplatte gebrannt. Tiere und Gegenstände. Die klügsten Männer des Stammes sahen zu, auch die Freunde aus der Sternenvogel. Ich sagte: »Es gibt zwanzig Tage. Der erste Tag ist der Tag Krokodil. Der zweite ist Tag Wind, dann kommen Tag Haus, Eidechse, Schlange, Tod, Hirsch, Kaninchen, Wasser, Hund, Affe, Gras und Rohr. Der vierzehnte Tag ist Tag Jaguar, dann Adler, Geier, Bewegung, Steinmesser, Regen und endlich Blume. Das folgt achtzehnmal. Also: der Tag Geier im Monat Regen. Das ist ein genaues Datum.« Ich erläuterte ihnen den Kalender – die letzten fünf überzähligen Tage sollten Tage der Ruhe und des Wartens auf das
neue Jahr sein. Ich errechnete, welcher Tag heute war, und sagte es ihnen. Auch diese Terminologie würde übrig bleiben. Dann ging ich daran, eine Schrift zu entwerfen. Ich arbeitete mit Vierecken und entwickelte ein schriftähnliches Mitteilungssystem, wie das der Rômet stark naturbezogen und bildhaft, ohne die Möglichkeiten zu zahlreichen Doppelbedeutungen, wie ich glaubte. Die dritte Aufgabe war das Rechnen mit Zahlenbegriffen. Auch hier mußte ich mich an die Vorstellungswelt und die ersten Ansätze zur selbständigen Arbeit halten, um den Siedlern entgegenzukommen. Schließlich hatten wir auf dem Hügel drei Steinplatten aufgestellt. Eine zeigte den Kalender. Die zweite die Grundbegriffe der Rechnungsarten und die Zahlen: Punkte über teilenden Linien. Die dritte: die Schrift. Achthundert Symbole, Zeichnungen in kleinen Kästchen. Jedes Wort hatte eine Bedeutung, jede Zeichnung ein Symbol. Die Genauigkeit würde sich in den Jahren und Jahrhunderten zweifellos steigern lassen – aber das war nicht mehr meine Arbeit. Die Felder mit ihren Bewässerungsgräben waren fertig, beide Mauern und die Verteidigungstreppe gingen den letzten Stufen entgegen – auf dem Hügel wuchsen Bäume, Büsche und Küchenkräuter. Webstühle verarbeiteten die gekreuzte Baumwolle, Süßkartoffeln wurden angebaut, Mais wurde in der Pfanne geröstet; die ersten Metallarbeiten entstanden. Eines Tages brachten mir die Siedler einen Mantel, der aus den Federn des Quetzalvogels hergestellt war. Jeder Vogel hatte im Schwanz zwei bis vier grüne Federn. Allein die Federkrone war aus vierhundertsechzig Federn zusammengestellt und ein ausgezeichnetes Beispiel der erwachten und bereits trainierten handwerklichen Fähigkeiten der Siedler.
Wir fingen Nabelschweine und Schildkröten, Wildgeflügel wurde in Gehegen gehalten, und Kaninchen sorgten für frisches Fleisch. Bohnen und Kürbisse wuchsen dank der Bewässerung und des Düngens mit Asche und den Exkrementen aus der Kanalisation. Tonfiguren und Gebrauchswaren entstanden, wurden glasiert und gebrannt. Wir entwickelten die Kunst des Mosaiks, stellten negroide Riesenköpfe auf, als Wächter über unsere Felder. Sie standen drohend auf steinernen Sockeln und sahen über die geglätteten Flächen hinweg. Ein Kreisring blühender Felder breitete sich um den Hügel aus. Der Bau der steinernen Häuser schritt rasch voran. Fast alle Menschen dieses Stammes und alle Paare, die sich aus Schiffsmannschaft und Eingeborenen gebildet hatten, bewohnten Steinhäuser. Die Kunst des Flechtens von Binsen wurde verbessert. Ebenso die Arbeit, die mit dem Gerben und Verbessern der Felle verbunden war. Jeder Handwerker entwickelte neue Werkzeuge und schulte die Eingeborenen. Es war, ein arbeitsreiches halbes Jahr, das mich die Enttäuschung scheinbar vergessen ließ. Meine Verantwortung für die Menschen war deutlich; ich tat, was ich konnte, verbrauchte im Lauf dieses halben Jahres meinen Vorrat an medizinischer Ausrüstung, Salben und antiseptischen Flüssigkeiten. Wir bestimmten und züchteten Heilpflanzen und stellten Regeln für deren Benutzung auf, als Absud, als Mittel zur äußerlichen oder innerlichen Anwendung. Wir stellten sogar Schmuck her. Und eines Tages war alles fertig. Inmitten des Dschungels, der vor der Bergkette unser großes Tal wie eine grüne Mauer umgab, breiteten sich ringförmig die bewässerten Felder aus. Drei gepflasterte Straßen führten, unterbrochen von Brücken und gesäumt von Doppelreihen junger Bäume, durch die Felder zum Waldrand und zurück zur Siedlung.
Sie erhob sich in weißer Pracht inmitten der Felder, gesichert durch eine schräge und, weiter oben, steile Mauer aus Felsquadern. Zugänglich durch eine Treppe, befanden sich rund dreihundert steinerne Häuser und etwa einhundert Bäume dort oben. Es gab Wasser und Sauberkeit, Schatten und Sonne. Ein kleines Paradies für ein halbes Tausend Menschen war entstanden. Wenn es nach meinen Berechnungen und Hoffnungen weiterging, würde sich von hier aus sternförmig die Kultur über die südliche Hälfte des nördlichen und die nördliche Hälfte des südlichen Doppelkontinents ausbreiten. Das aber geschah zu einer Zeit, in der ich wieder einen totenähnlichen Schlaf schlief. Keuchend rannte ich den schmalen Pfad entlang. In meiner Hand lag der Bogen. Ich wußte, daß ich nur noch wenige Atemzüge Zeit hatte. Der Pfad stieg steil an; ich befand mich in unmittelbarer Nähe des Opfersteines, in dessen Nähe ich durch die Augen des Kondors das ausgebleichte Skelett gesehen hatte. Jetzt lag Hyksa auf dem Opferstein, an Händen und Füßen gebunden. Sie war vor einigen Tagen verschwunden. Wir hatten nach ihr gesucht. Der Kondor hatte sie gefunden und sofort im Sturzflug eingegriffen. Offenbar hatte der Medizinmann während des erbitterten Kampfes eine der Antischwerkrafteinrichtungen beschädigen können. Der Kondor lag neben dein Opferblock; alles, was ich noch hatte sehen können, waren die beiden Fußpaare. Der Medizinmann und Naya schienen sich an mir rächen zu wollen. Es würde ihr letzter Versuch sein, ein Menschenopfer zu bringen. Ich schaltete das Aggregat an, sobald ich zwischen den dichten Bäumen hervorkam. Mit einem riesigen Satz schwebte ich in die Höhe, sah das Bild und schrie:
»Halt!« Ich zog den Bogen aus und feuerte den Pfeil ab. Die Wucht des Einschlages riß das Mädchen rückwärts vom Felsen. Sie fiel ohne einen einzigen Schrei die Felswand hinunter. Ahuitzotla beugte sich über Hyksa. Das Messer in seiner Hand war rot, als er sich umdrehte. Ich kam auf die Füße, ließ meinen Bogen fallen und raste vorwärts. Zu spät! schrie mein Extrasinn. In meiner Hand befand sich das Obsidianschwert, das mir Tuxpan geschenkt hatte. Ich holte aus, die Waffe heulte quer durch die Luft und traf den Hals des Einäugigen. Drei Sekunden lang schwankte der Medizinmann, während der Kopf, durch Muskeln und einen Hautlappen gehalten, hin und her pendelte. Dann stürzte Ahuitzotla den Abhang hinunter. Ich beugte mich über Hyksa. Ich war zu spät gekommen. Die furchtbare Wunde, von dem Obsidianmesser verursacht, hatte die Prinzessin aus Meroe umgebracht. Ihr Gesicht zeigte den Ausdruck unermeßlichen Schmerzes. Ich blieb stehen; unfähig klare Gedanken zu fassen. In den letzten Tagen hatte ich vorgehabt, mit Hyksa zusammen im Gleiter die schönsten Plätze aufzusuchen, die ich auf meinen Karten festgestellt hatte. Ich konnte den Anblick der Toten nicht mehr ertragen – ich hob den Bogen, warf ihn über die Schulter und schwebte an die Stelle, an der der Dschungel unterbrochen war durch die aufsteigende Felswand. Hier grub ich mit einem flachen Stein und mit den Händen ein Loch, tief und groß genug, um Hyksas Körper aufzunehmen. Ich holte sie, legte sie hinein und warf Erdreich und Steine in das Grab, bis das Loch aufgefüllt war. Um Ahuitzotla und Naya würden sich die Ameisen und der Jaguar kümmern. Dies war der letzte Anstoß. Hier hatte ich nichts mehr zu suchen. Meine Arbeit war getan. Der einzige Mensch, der mir etwas bedeutete und etwas
hatte geben können, war tot. Ich sollte die Oberfläche dieser Welt verlassen. Je schneller, desto besser. Tage später war es soweit. Ich hatte die Schwingen des Kondors reparieren können; während der Szene schwebte er über mir, obwohl nichts mehr zu schützen war. Ich hatte alle Spuren verwischt; nur die Siedlung mit Schrift, Kalender und Rechnungen blieb als Zeichen meiner Anwesenheit hier. Tonfiguren und Waffen lagen auf der Ladefläche des Gleiters. Ich stand neben ihm und hatte den Federschmuck angelegt und die Rüstung, in der Coyala mich zum erstenmal gesehen hatte. »Wirst du wiederkommen, Quetzalcoatl?« fragte Hannas. Ich hob die Schultern. »Vielleicht. Aber ich werde euch sehen und in euren Gedanken sein. Vielleicht komme ich zurück und erzähle euren Söhnen, was geschehen ist.« Dann verabschiedete ich mich von allen, die ich besser gekannt hatte, weniger als hundert Menschen. Jeder hatte ein kleines Geschenk – es waren einige Kostbarkeiten darunter. Ich legte alles behutsam in den Gleiter und hob beide Arme hoch. Die Strahlen der Morgensonne leuchteten auf, als sie die Verzierung meines Schildes trafen. »Quetzalcoatl, der Bringer des Wissens, der Gott, der euch alles gelehrt hat, geht zurück in sein Land, das über dem Wasser liegt, in der Richtung der aufgehenden Sonne. Wehrt die Angriffe der Nomaden ab, lehrt sie, was zu tun ist, und laßt es euch gut gehen. Und bringt nie wieder Opfer für Götter, die ihr nicht kennt!« Ich schloss die Augen und stieg ein, dann drehte sich der Gleiter, und ich schwebte den Hügel hinunter, dicht über der Treppe, von den Schwingen des Kondors beschützt. Dann ging es weiter: über die Felder, an einer Doppelreihe von Bäumen entlang und über die Wipfel des Dschungels hinweg. Die Sonne blendete mich.
Als ich mich genügend weit von der Siedlung der Tlatilco entfernt hatte, zog ich die hinderlichen Teile der Rüstung aus, legte die Federkleidung weg und schloss das Verdeck, nachdem sich der Kondor auf die Ladefläche gesetzt hatte. Ich kehrte zurück in meine kühle Gruft unter dem Meeresspiegel. Atlans Stimme war leiser geworden, so, als schliefe er wieder ein. Cyr Aescunnar hob, mitten aus dem Erleben der grausigen Schlußszene herausgerissen, den Kopf. Auf seinen Monitoren sah er, wie sich die SERT-Haube hob. Fast gedankenlos griff Cyr nach der Kopie jener Folien, die er von Rogier Chavasse bekommen hatte und las: … Wichita Lancaster hörte meine letzten Worte und sah schweigend zu, wie mein Kopf zurücksank: Minuten später schlief ich tief. Wenn sie nachdachte und forschte, würde sie ohne Schwierigkeiten zweierlei herausfinden: Was ich zwischen dem Ende der Olmeken- und der Morgendämmerung der Mayakultur geschaffen hatte, und warum sich die USO und ihr Historisches Korps so brennend für die Welt Nicoja Cuaualan interessierte. Als ich aufwachte, schmeckte ich den durchdringenden Geruch starken Kaffees. Ich leerte schweigend, stechenden Schmerz in den Schläfen, einen großen Expeditionsbecher und murmelte, als ich wieder klar denken konnte: »Ja. So war es, ich war die Verkörperung des legendären Quetzalcoatl. Kondor. Herkunft aus dem Osten. Rückkehr dorthin. Versprechen der Wiederkunft: all das. Dreihundertfünfzehn vor der Zeitwende. Ein Wagemutiger namens Thor Heyerdahl mit einem Balsafloß überquerte zwei Jahrtausende später den anderen Ozean, so wie Kapitän Hannas.« Ich deutete auf die Pyramide am Ufer. »Sie gleicht mehr als verblüffend dem Bauwerk, in dem das
Springerbeiboot versteckt war. Seltsam: Damals fand kein Arkonschiff die Erde. Nur kosmische Freibeuter landeten. Ich wäre nicht überrascht, wenn dieses Bauwerk auch nur ein kunstvoll verzierter Hangar für jemanden war, der diesen Planeten ausbeuten wollte. Sehen wir nach?« »Deswegen sind wir hier. Lordadmiral«, sagte Wichita. Als die Frauen und Männer des Historischen Korps der USO die Pyramide untersuchten, stellten sie fest, daß die Seiten des Bauwerks mit einem Belag versehen worden waren, der wuchernde Samen und Sporen abtötete: nicht eine Pflanze wuchs dort. Es war das einzige Bauwerk des Planeten, der niemals bewohnt gewesen war – oder vor vier oder mehr Jahrtausenden. Die Analysen ergaben, daß viele Stilelemente der alten mexikanischen Kulturen (der Tlatilco-, Ticoman-, La Venta- und der Teotihuacan-Kulturen) sich im Zierrat dieser Pyramide nachweisen ließen. Die Thesen hierzu: Nach dem Wirken des Arkoniden sind abermals Schiffe gelandet. Die Raumfahrer (welche?) dokumentierten jene Stilelemente, und ihnen wäre es möglicherweise zuzuschreiben, daß düstere Dämonenfurcht die Art der sadistischen und masochistischen Riten beeinflusst hat: Begriffe wie Xipe Totec, unser Herr, der Geschundenes erhielten entsprechende Bedeutungen. Das Innere der Nicoja-Cuaualan-Pyramide enthielt einen hangarähnlichen Hohlraum, der mit Erdreich und Geröll aufgefüllt worden war. Die Pause schien länger zu dauern. Cyr ahnte, daß er viele Tage und Nächte lang gezwungen sein würde, Atlans sprudelnden Erzählungen zuzuhören. Er lehnte sich zurück und tippte leichthin auf etliche Tasten des Keyboards. Die erste Sequenz der – noch nicht verifizierten – Zeittafel erschien auf einem Monitor: Irdische Zeit Ereignis
Präzisierung
1. 8045 (35. Dryhan) 10.479 Arkon-Zeit Geburt Atlans W.M.Starco/R.Riv -Lenk: Aufstieg u. Niedergang d. Arkon. Imperiums 2. 8002(= Ark: 10.515) Atlan 36,4 Arkon- bzw. 43 TerraJahre: Atlan erhält von ES den Zellschwingungsaktivator 3. 7888 bis 7887 NUvA = Nach Untergang von Atlantis 112 – 113 (Tiefschlafdauer 112 Jahre) Steinzeit (Erzählung: Bruder der stählernen Wölfe) 4. es folgen 5 Tiefschlafphasen zu je 500 Jahren + 367 Jahre 5. 5020 NUvA: 2980 Flucht der Androiden 6. 4520 NUvA: 3976/79 (nach 500 Jahren Tiefschlaf) fast 1000 Tage (Die große Flut) 7. 3485/84 NUvA: 4515/16 (nach 500 Jahren Tiefschlaf) + 1 Jahr (Tempel des Todes)
Aescunnar starrte das Gemenge von Zahlen und Bemerkungen an, hob die Schultern und schüttelte energisch den Kopf. »Überzeugt mich noch nicht«, murmelte er. »Zu wenig wissenschaftlich. Unhistorisch! Mangelnde Klarheit! Professor: Man wird es zu ändern wissen.« Der »Händler wunderbarer Dinge« sah in der Tat bemerkenswert aus: Groß, schlank, mit prächtigen Muskeln unter sonnengebräunter Haut, mit schulterlangem dunkelblondem Haar und grauen Augen, die förmlich zu glühen schienen, bot er in der barbarischen Kleidung ein Bild, das niemanden ungerührt lassen konnte. Ein prächtiger Schnurrbart, der in zwei gedrehte Spitzen auslief, zierte das Gesicht. Es strahlte Gutmü-
tigkeit aus, liebenswürdige Listigkeit und unnachgiebige Härte. Ein breites Armband, besetzt mit dicken Bronzenieten, klirrte, als Arconrik versuchte, eine gewisse Ordnung in die zwölf Dutzend Dolche zu bringen. Sie lagen, in prächtigen Scheiden aus echtem Goldschmuck und falschen Steinen, vor ihm auf einem Tisch. »Ich bin’s zufrieden, bei Tanit, Jupiter und Donar!« sagte der Händler mit genau der Stimme, die zu seiner Erscheinung paßte. »Erstklassige Handelsware.« Dies traf zu. Die kupfernen Dosen, die jeweils einen speziellen Feuerstein, ein Schlaginstrument und leichteste entflammbare Zunder enthielten, gehörten ebenso zur Handelsware wie Schwerter, Lanzenspitzen und andere Dinge des täglichen Gebrauchs. »Du scheinst dich wirklich zu freuen«, bemerkte ich ein wenig säuerlich. Alle meine Muskeln schmerzten. Das Aufbauprogramm nach dem langen Schlaf war noch nicht beendet. Ich war damit beschäftigt, Informationen zu sammeln. Neue Namen und Begriffe gingen einher mit dem Versuch, herauszufinden, welche Machtverhältnisse auf dem Planeten herrschten. Rom kämpfte an vielen Fronten und schien entschlossen zu sein, ein Weltreich aufzubauen. Die Poeni, offensichtlich späte Nachkommen der Phöniker, wollten ihr Einflussgebiet nicht aufgeben. Qart Hadasht oder Neu-Stadt in der punischphönizischen Sprache, Karthago im römischen Sprachgebrauch, eine riesige Hafenstadt, widersetzte sich dem imperialistischen Streben Roms. Etwa dreihundertfünfzigtausend Einwohner lebten in dem Gebiet an der Nordküste des Großkontinents. »Natürlich freue ich mich«, sagte der Roboter. »Zwar erlebe ich die Vorgänge hier unten fast ebenso exakt wie an der Oberfläche des Planeten. Aber ich meine, daß die Wirklichkeit ei-
nen größeren Erlebniswert besitzt.« »Zumindest für mich«, brummte ich und schwenkte den Sessel herum. Wieder einmal lernten wir Sprachen, Sitten und Verhaltensweisen. Wozu wir dies alles brauchten, wußte weder der Robot noch ich. Ohne jeden Zweifel ein Befehl von ES. Immerhin stand Arconriks Maske bereits fest. Er wandte sich an mich, als er die Dosen mit dem Feuerzeug in einer Packtasche verstaut hatte. »Dir ist nicht entgangen, Gebie… Atlan, daß sich am östlichen Rand der Hauptlandmasse ebenfalls ein Großreich erhebt? Unmengen schuftender Barbaren! Das Land ist von allen anderen Kulturen so gut wie abgeschlossen, aber erstaunlich fortgeschritten.« »Es ist mir nicht entgangen«, sagte ich halblaut. »Aber zuerst versuche ich zu verinnerlichen, was rund um das Binnenmeer vorgeht.« Dein Lieblingsprojekt, Arkonide, meinte der Logiksektor ironisch. Eine Blüte der Kultur, alle geistigen Kräfte der Anwohnerstaaten zusammengefasst! Und endlich der Bau eines Raumschiffs. Mehr oder weniger war dies die einzige Möglichkeit, die ich sah. Seit mehr als sieben Jahrtausenden wartete ich auf eine Gelegenheit, nach Arkon zurückzukehren. Und als selbsternannter Hüter des Planeten, von ES unterstützt und ausgenutzt, ging ich Verpflichtungen ein, die ich auch zu erfüllen versuchte. »Das ist zweifellos vordringlicher, Gebieter!« sagte Arconrik. »Du solltest dir diese Anrede ganz schnell abgewöhnen. Ich habe wahrscheinlich nicht die Absicht, als Herrscher dort aufzutreten.« Ich zeigte mit schwachen Muskeln zur Decke. Die Informationsflut wuchs an. Die Karten, von Rico und den Spionsonden zusammengestellt, zeigten römische Straßen, Viadukte und befestigte Städte ebenso wie die Kolonien der Karthager. Schif-
fe durchpflügten das Binnenmeer, Häfen waren entstanden und größer geworden, und viele Namen gab es nicht mehr: die Etrusker, die Aequer, Herniker und Volsker, die Samniten und Umbrer waren zu römischen Bürgern gemacht worden. Griechenland war keine bestimmende Weltmacht mehr; unendlich viele Einflüsse der Bildung und Kultur gab es rund um die Ufer des Meeres, und die Römer hatten sogar die griechische Götterwelt – mit veränderten Namen – hemmungslos übernommen und kopiert. »Einhundert Jahre«, sagte ich schließlich, müde geworden. »Wirklich neue Dinge finde ich nicht unter der Sonne.« »Was hast du erwartet?« »Mehr als ich sehe«, gab ich zurück. »Wenigstens eine Idee, die sich weit über alles erhebt, das wir kennen und miterleben durften. Einen Funken vom Feuer des Prometheus!« »Wahrscheinlich wirst du es sein, der diesen Funken aus dem starren Geist der Barbaren schlagen muß.« Ich stand auf. Sofort war der Robot bei mir. Er bewegte sich tatsächlich wie ein Mensch. Vorsichtig führte er mich zu meinem Lager zurück. Ich blieb einen Augenblick stehen und betrachtete den Inhalt der Nischen einer riesigen Wand und die Erinnerungsstücke, die dort aufgestellt oder aufgehängt waren. Das Knochenmesser und die lange Kette aus Halbedelsteinen und polierten Holzkugeln. Ein Name tauchte in meiner gemarterten Erinnerung auf. Katya. Das erste Barbarenmädchen der steinzeitlichen Jäger, das ich geliebt hatte. Daneben stand eine kleine Plastik aus vergoldetem Holz. Sie zeigte eine schlanke Jägerin mit Speer und Bogen. Wieder ein Name! Adrar! Wer war dies gewesen? Ein Mann, eine Frau? Ich suchte in meinen Erinnerungslücken, fand nichts und gab es auf. Ein Glas Wein, auf mysteriöse Weise von Rico / Arconrik über ein Jahrhundert hinweggerettet, und ein langer, tiefer Schlaf erfrischten und stärkten mich.
Am nächsten Tag war ich in der Lage, feste Nahrung zu mir zu nehmen. Ich saß vor den riesigen Bildschirmen und betrachtete die holografische Wiedergabe der Landkarten. Im Moment schwebte ich scheinbar über einem Gebiet, das nördlich der alpes lag, jener Bergkette, die vom Osten bis weit in den Westen hinein, leicht gekrümmt, die Welt des römisch-griechischkarthagischen Meeres von den Wäldern und Flüssen des nördlichen Kontinentteils abriegelte. Hier hausten die Gallier; diesen Namen hatten ihnen die Römer gegeben. Alle Erklärungen, die unsere Computer besaßen, wurden in die Bilder eingeblendet. Plötzlich wurde die gesamte Wiedergabe schwächer, das Bild blieb stehen. Handbreite Lettern erschienen und blinkten. Mein Extrasinn rief: ES meldet sich! Fast gleichzeitig ertönte in meinem Schädel jenes dröhnende Gelächter, mit dem das Superwesen seine geistige Anwesenheit signalisierte. Ich zuckte unter dem lautlosen, aber schmerzhaften Anprall der Lachsalven zusammen und las: Hier bin ich, Arkonide! Es ist wieder an der Zeit, die Tiefseekuppel zu verlassen. Wie du hast sehen können, haben deine Bemühungen nichts genutzt: weder vor hundert Jahren, an der Seite des Alexander, an den ich einen Zellschwingungsaktivator verschwendet hatte, noch vor zweiundneunzig Jahren, als du nach dem Debakel der Obsidianschwerter eingeschlafen bist, nachdem man deiner Prinzessin aus Meroe das Herz herausgeschnitten hatte. Du, Kapitän der rinnenden Zeit, kannst vergessen; ich nicht. Wir beide, Hüter des Planelen, Vasallen der barbarischen Menschheit, treten wieder an: Der Weltherrscher starb, sein Reich zerfiel – erwartungsgemäß. Im gegenwärtigen Zeitpunkt zeichnen sich vage drei Entwicklungen ab, die zu einem jähen Aufflammen von Technik und Wissenschaft führen können. »Gart Hadasht oder Karchedon, Rom oder jenes Reich im fernen Osten?« fragte ich und las die Antwort:
Hasdrubal oder Hamilkars Sohn Hannibal in Karthago. Oder Scipio für Rom. Und Shih-Huang-ti oder sein Minister Li Ssu. Lauter ungewöhnliche Männer. Du wirst zweifellos andere und bessere finden. Entscheide dich, welcher Staat dir besonders geeignet erscheint. Du kennst inzwischen viele aktuelle Probleme. Ich nickte. Endlich hatte das dröhnende Lachen aufgehört. »Ich kenne sie. Es sind die gleichen wie vor hundert Jahren. Mord. Besitzgier und Machtstreben. Und für den Krieg werden alle die Dinge erfunden, zu denen wir ›Kultur‹ oder ›Zivilisation‹ sagen.« Nicht alle. Es liegt an dir, Einfluß zu nehmen, Atlan. Du und ich sind die Hüter dieser Welt. Ich lege die Entscheidung in deine Hände. Wähle deine Masken klug. An vielen Stellen habe ich Frauen, Männer und Helfer postiert, ebenso wirst du viele Hilfsmittel finden – wie immer. »Was geschah vor etwa hundert Jahren?« fragte ich. »Welcher Weltherrscher? Ich fühle, daß ich viel erlebt und viel vergessen habe.« Zutreffend. Auch um dir Schmerzen zu ersparen, blockierte ich deine Erinnerungen. Du würdest mit zu vielen Belastungen in die neue Mission gehen. Vertraue mir. Es ist zu deinem Besten, und schließlich auch besser für die Welt, die du betrittst. Übrigens brauchst du an die Gallier, gegen die Rom kämpft, nicht zu denken. Sie sind nicht gerade das Volk, aus dem große intellektuelle Flammen schlagen. Ich sage dies, weil du die entsprechende Karte betrachtest. Der Planet ist voller kleiner und großer Völker. Die meisten davon wandern, stoßen in Nachbargebiete vor, erobern oder werden zurückgeschlagen. Laß dich nicht von der Vielfalt verwirren! Suche die interessantesten Punkte: viel von dem, fast alles, wird verschwunden sein, wenn du das nächstemal aufgeweckt wirst. Übernimm dich nicht; wir sind in einem Jahrhundert, in dem viel gekämpft und gestorben wird. Kämpfen ist nicht deine Aufgabe, Arkonide. »Wieviel Zeit habe ich? Oder sollte ich ›wir‹ sagen?« fragte
ich. Das ist dir überlassen, schrieb ES. »Ich habe verstanden«, antwortete ich unsicher. »Es wird wohl darauf hinauslaufen, daß ich als Kaufmann, als Gelehrter, Weiser oder Städtebauer auftrete und meine Erfindungen unters Volk streue, jene Erfindungen, die irgendwann auf Arkon gemacht worden sind.« Das Errichten von Städten solltest du dir ersparen. Es wimmelt von baulicher Hinterlassenschaft in deiner unverkennbaren Handschrift. Wieder lachte ES, und diesmal lachte ich mit. Denke daran, schrieb dieser unsichtbare Herrscher, ich helfe euch. Geht eure verschlungenen Wege über diese Welt. Versucht, noch mehr Samen der Erkenntnis einzusäen. Wenn es nötig wird, spreche ich wieder mit euch. Ich wünsche euch den Erfolg, den ihr brauchen werdet. Mit einem weitaus leiseren Gelächter verabschiedete sich ES. Mir schien, als ob ES wußte, was uns erwartete. Aber je kräftiger ich mich fühlte, desto mehr wuchs die Vorfreude. Wieder frische Luft atmen, im eiskalten Quellwasser baden und den schweren, roten Wein der Küsten trinken. Und andere Dinge, die noch mehr Freude machen. Unsere Ausrüstung wuchs, während Arconrik und ich weitere Informationen sammelten und ununterbrochen lernten. Ein vergleichsweise riesengroßer, wie ein Boot geformter Boden-Luft-Gleiter. Sättel mit versteckten Einbauten. Münzen wurden geprägt und gleichzeitig künstlich gealtert. Kleidung, Waffen, Nachrichtengeräte, die vielen kleinen Dinge, ohne die wir nicht leben konnten, Energiemagazine ebenso wie Schreibstifte, künstliches Pergament und Papyrusblätter, Arzneien und Salben – wir beschlossen, als reisende Händler und Kundige ferner Länder aufzutreten. Arconrik wandte sich an mich, mit einem Vorschlag, der viel
versprechend schien. Er deutete auf die Karten der gallischen Gebiete. »Warum besuchen wir nicht zuerst die Heimat jener Krieger, vor denen vor kurzem Rom gezittert hat? Dann könnten wir uns wieder südwärts wenden und jenen Hasdrubal aufsuchen, den Karthager in Cartagena, was nichts anderes als Neu-Stadt oder Neu-Karthago heißt.« »Was versprichst du dir von einem Besuch der Gallier? Wie wir gesehen haben, sind es abenteuerlich wilde Gesellen.« Das waren sie wirklich. Wir würden, falls wir dorthin flogen, aufregende Erlebnisse herausfordern. »Es sind immerhin Angehörige eines Gemisches von Völkern«, dozierte Arconrik, »die auf der Schwelle eines Prozesses stehen, der sie zu einer Nation zusammenfinden lassen wird. Und überdies sind sie die Opfer einer der nächsten römischen Expeditionen. Ein reiches Land, voll, zukünftiger Beute.« Ich dachte ernsthaft darüber nach. Vielleicht war es wirklich besser, nicht sofort in die Zentren der Macht aufzubrechen. Voller Nachdenklichkeit betrachtete ich ein armlanges Beil mit einer doppelten Schneide und einer Tülle aus Bronze; unendlich fein mit Golddraht und Elfenbeinintarsien eingelegt. Woher hatte ich diese vernichtende Waffe? Auch das wußte ich nicht. Meine Erinnerung weigerte sich, etwas wesentliches preiszugeben. Inzwischen besaßen wir auch eine Menge Informationen über das aufsteigende Reich im Osten. Die Länder Ch’in und Ch’u und andere Gaue waren zusammengefaßt worden und schienen auf eine harte, fortschrittsgläubige Regierung zu warten. Unendlich viele Millionen kleiner, gelbhäutiger Barbaren versuchten, das Land zu kultivieren und sich hinter den Wällen und Dämmen eines nördlichen Mauergürtels fortzuentwickeln. Später! warnte der Logiksektor. Zwei Robottiere entstanden
in den automatischen Werkstätten. Ein ungewöhnlich großer Jagdfalke und ein Hund, größer als ein Wolf, aber von exotischem Aussehen. Wölfe waren Raubtiere und den Angriffen von Siedlern und Kriegern ausgesetzt, und wir wollten nicht riskieren, daß diese wichtigen Schöpfungen mehr als nötig gejagt und verfolgt wurden. Beide brauchten wir zu unserem persönlichen Schutz. Ich blickte Arconrik in seinen kniehohen Stiefeln und dem dicken Lederwams, an und fragte: »Du bist sicher, daß wir Überleben?« »Dank aller nur denkbaren Sicherheitseinrichtungen, dank meines Programms und aufgrund deiner Erfahrung, Erhabener, bin ich ganz sicher. Wenn wir es nicht wollen, trifft keinen von uns auch nur ein Pfeil.« »Ich bin beruhigt«, gab ich zurück und war es wirklich. Denn wenn diese höchstqualifizierte Maschine dies sagte, war es sachlich richtig. In den folgenden Tagen wurde unsere Ausrüstung vollständig, wir kontrollierten jedes einzelne Paket noch einmal und bereiteten uns auf die ersten Tage in einer bekannten, dennoch fremden Welt vor. Dann beendete ich meine Verkleidung. Mein Haar wurde geschnitten und lag, drei Fingerbreit lang, dicht an meinem Schädel an. Es war dunkelbraun geworden. Meine Augen nahmen nach einer Injektion dieselbe Farbe an. Man mochte mich für einen Römer halten oder einen Griechen; ich trug fast die gleiche, praktisch unzerstörbare Kleidung wie Arconrik. Mein Zellaktivator wurde als eisernes Amulett getarnt und sah aus wie der Mond im ersten Drittel. Wir suchten auf den Karten das Ziel aus und programmierten es. Die Ladefläche des getarnten Gleiters war fast überfüllt von Gepäck. Wir schleusten aus, schwebten in der schützenden Blase des Druckfelds bis an die Meeresoberfläche und stiegen auf. Mitten in der Nacht beschleunigte der Gleiter und nahm in dreißigtausend Fuß Höhe Nordostkurs.
Bei Sonnenaufgang befanden wir uns im selbstgewählten Zielgebiet. Früher Sommer; ringsum stand die Natur in Blüte. Weit vor uns floss ein kleinerer Fluss nach Osten in einen größeren. Aus dichten Wäldern schlängelten sich schmale Straßen, kreuzten sich und führten zum Wasser hin. Dort schien eine Furt zu sein, jetzt hingegen führten die Flüsse viel Wasser und waren kaum zu passieren. Der Gleiter wurde in eine Position gesteuert, die bewies, daß wir den kleineren Fluss heruntergekommen waren. Zamolxes, der wuchtige Robothund, sprang ans Ufer und stob davon. Er sicherte nach allen Seiten und rannte auf das ferne Kläffen eines Hundes zu. Ich aktivierte Bendis, der langsam über unseren Köpfen kreiste und lautlos in die Richtung auf das befestigte Dorf schwebte. »Hier sind wir«, stellte Arconrik fest. »Wandern wir also zu den Herdfeuern der Barbaren.« »Der Gallier«, verbesserte ich. »Sie haben hart gearbeitet auf den Feldern.« »Gallier oder Barbaren, das ist dasselbe«, brummte er. »Ich brauche nur noch meine Handelsware.« Wenigstens die Sprache dieser Siedlung kannten wir. Jenes ungeheure Land war voller vereinzelter Stammesgemeinschaften, von denen jede andere Bräuche und Sprachen hatte. Allen war gemeinsam – das wiederum wußten wir aus anderen Quellen –, daß sie mehr und mehr nach Süden wanderten, entlang der Flüsse oder Küsten oder der wenigen Straßen, und daß einige von ihnen bereits im Norden jener Landzunge siedelten, in der sich Rom als Stadt und Staat ausbreitete. Rico hob das schwere Bündel auf. Wir kontrollierten unsere Waffen, schalteten die Abwehranlagen des kostbaren Gleiters an und traten schließlich, immer noch ungesehen, auf einen Feldweg hinaus.
»Das ist ein oppidum, Atlan-Demetrion«, erklärte Arconrik. »Dort hausen sie, die ihr Haar mit Kalkmilch waschen und es wie eine Pferdemähne in den Nacken kämmen.« Wohl auch deshalb, weil ich mich an Demeter erinnern konnte, hatte ich diesen Namen gewählt. Er war für Römer, Karthager und Gallier gleichermaßen unverdächtig und nichts sagend. Ich grinste Arconrik an und fragte, mit ihm Schritt haltend: »Besonderer Wertschätzung erfreuen sich diese Leute nicht, wie?« »Nein. Lediglich als Söldner und Kämpfer. Sie sind die wahren Helden. Blond, schmerzunempfindlich und halb schwachsinnig.« Kinder und Frauen arbeiteten auf den einzelnen Feldern. Ein Ochsengespann brachte frisch gefällte Bäume aus dem Wald. Ein Hügel von etwa zweihundert Schritt Länge war von mehreren wasserleeren Gräben umgeben und von einer Mauer, hinter der das Erdreich aufgeschüttet worden war. Ein breiter Weg, von Bäumen gesäumt, führte in wilden Kehren zwischen Palisaden, Mauerwerk und grobbewachsenen Hängen auf ein einfaches Tor zu. Aus den Dächern vieler Häuser stieg heller Rauch auf. Ziegen weideten auf den Hängen. »Es ist mir schon früher aufgefallen«, sagte ich. »Diese Leute hier kopieren bestimmte Teile von Siedlungen der Griechen, die wir in der Kuppel sahen.« »Es bedeutet, daß zwischen den Ufern unseres Meeres und vielen anderen Teilen der Welt Botschaften, Nachrichten und Erfindungen ausgetauscht werden.« »Unter anderem auch Reisende, wie wir es zu sein vorgeben.« Zamolxes kam schweifwedelnd heran; ein lautloses Zeichen, daß uns keine unmittelbare Gefahr drohte. Die Leute, die uns sahen, hörten zu arbeiten auf und kamen zögernd heran. Hier,
unterhalb der Steinwälle, waren wir eindeutig seltsame Fremdlinge. Hoch über uns kreiste der Falke. Natürlich hatten wir unser Vorgehen abgesprochen. Zunächst wollten wir nur Lebensmittel eintauschen. Je mehr wir uns dem Torweg näherten, der wegen der besseren Verteidigungsmöglichkeiten derart gewunden angelegt war, desto mehr Gallier fanden sich auf dem Wall ein. Sie wirkten keineswegs feindlich, aber sie starrten uns schweigend an. Nur die flachshaarigen Kinder rannten schreiend zwischen den Erwachsenen herum. Jetzt erst sahen wir, daß die Mauern und Palisaden an einigen Stellen angesengt, eingerissen und verkohlt waren. Einige Männer waren damit beschäftigt, sie auszubessern. Auf der Plattform eines halb steinernen, halb hölzernen Torturms erschien ein großer, breitschultriger Mann. Er trug einen Helm und, an breiten Lederriemen mit handgroßen Beschlägen, vor der Brust eine rechteckige Platte aus Metall. In der Hand hielt er ein fast armlanges Schwert. Ich schrie zum Tor hinauf: »Wir kommen aus dem Süden. Wir wollen handeln, mit guter Ware. Wir kommen in Frieden!« »Das sagen viele«, rief der Stammesführer zurück. »Wo sind eure Knechte, und die Packtiere he?« »Am Ufer liegt unser Boot. Wir sind allein.« Ein überraschtes Murmeln ging durch die Reihen der Männer. Die meisten waren halbnackt, trugen enge Stoffhosen, breite Gürtel und ledergeflochtene Sandalen. Ihre bärtigen Gesichter verzogen sich. »Ihr seid nicht überfallen worden? Nicht angegriffen?« »Nicht in der Mitte des Flusses. Wir bieten euch Waren an, die aus den besten Schmieden stammen, und viele wunderbare Neuigkeiten, die es am fernen Meer seit Jahren gibt.«
Sie sahen, daß wir, bis auf Dolche und Bogen, waffenlos waren. Der Anführer winkte. Knarrend öffnete sich das Bohlentor, dessen Achse auf einem Stein und in Eisenriegeln kreischte. Der Herrscher über schätzungsweise dreihundertfünfzig Menschen stand, die Fäuste in die Seiten gestemmt, vor uns. Hinter ihm bildeten seine Männer einen Halbkreis. Misstrauisch fragte er mit rauer, rasselnder Stimme: »Ihr kommt nicht von Orades, dem Wahnsinnigen?« Wahrheitsgemäß antwortete Arconrik, dessen getarnte Sehzellen in rasender Schnelligkeit sämtliche wichtigen Einzelheiten registrierten: »Wir haben nie von ihm gehört. Hat er eure Ringwälle berannt?« »Ja. Und Frauen entführt. Bald werde ich seinen Kopf abschneiden.« »Wir sind keine Spione«, sagte ich. »Wir sind friedliche Händler, und wir haben Hunger.« »Kommt und zeigt, was ihr habt.« Wir folgten ihm durch die unratübersäten Gassen der regellosen Anhäufung von Häusern aus Holz, mit Zweigen gedeckt, zwischen deren Wänden Kinder mit Tieren spielten, wo eine Schmiedeesse funkensprühend arbeitete. Felle, die zum späteren Gerben ausgespannt waren, verbreiteten einen scheußlichen Gestank. Aber fast in jeder Haustür sahen wir Waffen: riesige Schilde aus Holz, Metall und Leder, Speere und Schwerter. Nur der Anführer schien einen Helm zu besitzen. Rinder standen in Gehegen, es gab ein paar struppige Pferde, und die Mitglieder des Stammes wirkten ebenso ungepflegt wie ihr Gemeinwesen. Eine Ausnahme machten, wie meist, die jungen Mädchen. Der Anführer schlug ein paar Felle zurück und deutete in einen halbdunklen, lang gestreckten Raum hinein. »Geht in das Haus des Marband. Zeigt, was ihr handelt.«
»Marband, Fürst dieser großen Siedlung.« Rico wich aus. »Im Dunkel wirst du nicht erkennen können, was wir dir zeigen. Außerdem sollen es alle deine Leute sehen. Hier, die Bank, es ist der beste Platz.« »Meinetwegen!« knurrte er und winkte seine Männer heran. In dem Augenblick, als die haarscharfen Schneiden unserer Dolche und Messer aus bestem, aber nicht rostfreiem Arkonstahl lange Kerben in die Eisenschwerter schlugen, war der Bann gebrochen. Wir tauschten einen Braten gegen einen kleinen Dolch, Brot gegen Lanzenspitzen, einige Tonkrüge gegen Pfeilspitzen, einen großen Krug Honig gegen eine der Feuerzeug-Zunder-Büchsen. Als wir den Frauen des Marband Schmuckketten und Armreifen schenkten, schien das Mißtrauen endgültig gebrochen zu sein. »Bringt Met!« rief Marband. »Sie sind wirklich Händler der wunderbaren Dinge.« In Tonschalen wurde uns ein süßes, dunkles Getränk gereicht. Es schmeckte, nachdem wir die toten Ameisen herausgefischt hatten, nicht übel. Es war vergorener Honig mit allerlei Kräutern, wie wir erfuhren, und legte sich auf die Sinne wie ein feuchtwarmes Tuch. Odysseus und ich hatten ihn, weitaus besser, mehr und ohne Schädelschmerzen, bei den Druiden jenes küstennahen Inselvölkchens getrunken, bei den weißhäutigen, rothaarigen Heilerinnen. Arconrik roch sehr lange am Met, bevor er ihn in winzigen Schlucken trank. Wir machten Marband ein wahrhaft fürstliches Geschenk: eines unserer Schwerter, die besonders schöne Griffe hatten und als Waffe jedem anderen Schwert weit überlegen waren. Die Frauen und Männer gingen wieder an die Arbeit. Wir wurden mit salziger Butter, Früchten und ausgezeichnetem frischem Käse bewirtet. Marband erzählte uns von den Kämpfen, von den wenigen Händlern, die hier durchzogen. Es
schienen Männer aus dem Einflussgebiet der Römer zu sein, die jeden Straßenverlauf einzeichneten in gerollte Pergamente, den Nachfolgern der Shafadu-Rollen. Marband selbst vermochte sich nur ungelenk in kantigen Zeichen auszudrücken. Er berichtete von Grades, einem Stammeshäuptling, der drei Tagesreisen flussabwärts lebte. Er und seine wilden Krieger schienen vom Beutemachen, nicht von der Jagd und Ackerbau zu leben. Immer wieder griff Orades grundlos umliegende Siedlungen an. Wir hingegen berichteten von Rom, von den Küsten, von großen Städten und den unzähligen Schlachten, die dort geschlagen wurden, von den Stämmen der Gallier, die langsam nach Süden sickerten und dort Siedlungen gründeten. Wir zeigten ihm einfache Bilder, die wir aus den unzähligen Fotografien entwickelt hatten. Er sah andere gallische Reiter, Krieger, Waffen und Siedlungen. Wir erfuhren, woher das Salz kam und die Metalle, die hier verarbeitet wurden. Er bot uns an, Männer zum Boot zu schicken, um die wertvolle Fracht bewachen zu lassen. »Das ist nicht nötig«, versicherte Arconrik. »Das Boot ist beschützt. Ein göttlicher Zauber tötet jeden, der es angreift.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte er mit ungläubigem Lachen. Ich hob die Hand und warnte ihn. »Versuchs nicht. Sag deinen Männern, daß sie das Boot nicht berühren dürfen. Wir haben unseren Besitz geschützt.« »Darüber reden wir später«, wich er aus und machte mit uns, während die ersten Feuer wieder aufflammten, einen Rundgang durch die Siedlung auf dem abgeplatteten Hügel. Zamolxes folgte uns schweigend auf Schritt und Tritt. Tierschreie kamen aus den Wäldern, Vogelschwärme flogen über uns hinweg. Weit und breit gab es außer den ersten Sternen kein Licht, keinen menschlichen Laut. Marband ließ Felle und Decken in einen Vorratsschuppen aus dicken Balken bringen,
und den Abend verbrachten wir mit dem Schmied, den Jägern, den Webern, dem wichtigsten Hirten, der Frau und den Söhnen und Töchtern, mit einer Menge Haustiere, zwar immerhin bei geöffnetem Türfell, aber neben dem unerträglich rauchenden Feuer, das in einem offenen, gemauerten Herd brannte. Binnen weniger Tage gelang es uns, die Höhe der Zivilisation genau kennen zu lernen. Höhe war nicht der richtige Ausdruck; es gab in vielen Teilen des Planeten mehr und Besseres. Überrascht wurden wir in der Nacht des vierten Tages – oder war es der fünfte Tag? Zuerst rannte Zamolxes in die Scheune. Dann bewegte sich Arconrik. Schließlich empfing ich die Warnsignale des Falken. Irgend etwas geht in der Nacht vor sich. Gefahr! Angriff? mutmaßte der Logiksektor. Arconrik und ich standen auf, verließen die Scheune und gingen durch die schlafende Siedlung bis an den Rand der Befestigungen. Um uns war die Vollmondnacht inmitten einer Landschaft, die von einem tiefen Schweigen beherrscht wurde. »Einzigartig. Ein Eindruck von kaum zu steigernder Erlebnisdichte«, sagte Arconrik halblaut. »Ruhe. Stille und Sterne, Mond, Schwärze und Bewegungslosigkeit. Larsaf Drei, noch immer in der mörderischen Unschuld der Vorzeit.« »Ein wahres Wort«, sagte ich und schaltete das Sichtfeld in dem breiten Armband ein. Ein scharfes Infrarotbild erschien. Es war winzig, aber ich sah genug. Arconrik blickte über meine Schulter. »Männer«, sagte ich. »Dort. In dieser Richtung. Eine Reihe von mehr als hundert Punkten. Ich bin sicher, daß wir uns in dieser Nacht die unverbrüchliche Freundschaft des Marband sichern.« »Orades greift an, zweifellos.« »So ist es, mein verschlagner Weggefährte. Holen wir unsere zauberischen Waffen. Aber wenden wir sie vorsichtig an.«
»Einverstanden.« Wir liefen zurück. Bei jeder Hütte, die auf unserem Weg lag, hielten wir an und weckten die Schläfer. Den Männern sagten wir, was sich in der Schwärze der Nacht anbahnte, sagten, daß es wichtig sei, still zu bleiben und den Gegner in Sicherheit zu wiegen. Aber sie schienen sich auf den Kampf in einer uns unbegreiflichen Weise zu freuen, packten ihre Waffen und stürzten mächtige Rinderhörner voller Met in ihre Kehlen. Sie waren offensichtlich vom bösen Geist besessen. Fackeln wurden zusammengerafft, und wir rannten auf das Haus des Stammesfürsten zu. Zwischen uns hechelte Zamolxes, der Wunderhund. Ich schlug die Felle zur Seite und rief halblaut: »Marband! Dein Gegner greift an. Sag deinen Männern, daß sie sich ruhig verhalten sollen. Nimm deine Waffen und komm mit uns. Schnell.« Es würde mindestens noch eine Stunde dauern, bis Orades – falls er es wirklich war – den ersten Graben vor dem untersten Ringwall erreicht hatte. Aber in der Siedlung regte es sich. Am meisten verräterisch war das widerwärtige Kläffen der Hunde. Sie weckten jeden und alles auf. Ich zog das Kettenhemd aus unzähligen winzigen Ringen aus Arkonstahl über Kopf und Schultern und packte Bogen und Köcher. Arconrik hatte sich einen runden Schild beschafft und zog aus der Handelsware, ebenso wie ich, ein getarntes Schwert. Über uns schrie schrill der Falke. Marband stand plötzlich bei uns. »Was wißt ihr?« dröhnte er. »Ist es dieser Hund Orades?« Ich zeigte in die Richtung, aus der sich die etwa hundert Gestalten auf die Ringwälle zubewegten. Sie würden auch nahe dem Bootslandeplatz vorbeikommen. Sie tasteten sich durch die Finsternis des Waldes jenseits der Felder und Äcker. Ar-
conrik erwiderte schnell: »Wir achten deine Gastfreundschaft und helfen dir und deinem Stamm. Es sind vielleicht zehnmal zehn Männer. Wenn der Mond dort steht, sind sie an den Wällen.« »Noch nie haben sie uns nachts überfallen«, knurrte der Häuptling. »Aber wir werden sie töten.« »Sie haben gelernt«, schränkte ich ein. »Und töten ist nicht leicht.« »Es geht schnell!« versicherte er. »Wir sind große Töter und kennen keinen Schmerz.« Was wir auf den Bildschirmen gesehen hatten, war am Herdfeuer bestätigt worden. Die Männer, die ihr Haar in Kalk wuschen und es mähnenartig in den Nacken kämmten, hielten den Kampf und den Zweikampf für die wichtigste Bestimmung des Mannes. Die Köpfe der Gegner wurden abgeschnitten und mit den Haaren an die Balken des, kleinen Heiligtums dort drüben, oberhalb der Quelle, gehängt. Der Befehl des Häuptlings schaffte Ruhe in der Siedlung ohne Namen. Die Männer verteilten sich entlang der Ringwallkante, beim Tor und den ausgebesserten Stellen. Tiere, Kinder und Frauen verkrochen sich in den Hütten. Ich spannte den Bogen und konnte, als der Mond wanderte, die Fläche der Hänge erkennen. Sie hoben sich schattenlos und im fahlen Licht des Mondes gegen die dunklere Umgebung ab. Rund um die Siedlung erhob sich ein Chor von Tierstimmen, die Laute gingen einmal im Kreis herum und hörten wieder auf. Wir warteten neben dem Häuptling, an die Wand einer strohgedeckten Scheune gelehnt. Marband fluchte: »Es wird sein letzter Überfall sein!« Wurfspieße und Speere, deren Spitzen im Sternenlicht funkelten, ragten wie Feldzeichen auf. Die Gallier wurden unruhig, als am Ende des Feldwegs die erste Fackel auftauchte. Auch unsere Krieger hielten Fackeln in den Händen, und im Schutz eines Hauses brannte
ein Feuer. Noch gelang es ihnen, ihren Kampfdrang zu bezähmen. Aber als aus dem Wald die Krieger hervorstürmten, sich gegenseitig die Fackeln ansteckend, da gab es kein Halten mehr. Blitzschnell wanderten die Flammen der beiden ersten Fackeln, von Mann zu Mann weitergegeben, um zwei Drittel des Ringwalls. Ich zog einen Pfeil heraus, legte ihn auf die Sehne und feuerte ihn fast senkrecht nach oben ab. Am höchsten Punkt der Flugbahn entzündete sich die Ladung, sandte ein grell leuchtendes, zuckendes Licht aus und blieb im Dachfirst eines Hauses stecken. Fast taghell war mehr als eine Hälfte des Hügels erleuchtet. Schreie des Schreckens und der Wut gellten auf, und das Chaos des Kampfes begann. Die Angreifer rannten durch die grabenartigen Vertiefungen, erklommen den Hang und versuchten, über die Mauersteine hochzuklettern. Die Hunde kläfften und heulten. Federvieh gackerte wie besessen, die Kämpfer fluchten und schrien sich Herausforderungen entgegen. Fackelflammen zuckten, Funken stoben nach allen Seiten, der Rauch stieg in Schlangenlinien auf, Schwerter klirrten gegeneinander und mit dumpfen Schlägen auf die splitternden und krachenden Schilde. Marband rannte hin und her und schwenkte sein neues Schwert über dem Kopf. Zahlreiche Zweikämpfe fanden statt, weil die Verteidiger vom Wall gesprungen waren. Die Art, in der die Gallier kämpften, war seltsam. Sie schwenkten und wirbelten die Schwerter über den Köpfen und schlugen dann senkrecht zu. Jetzt lebte dieser heulende und springende Haufen nur noch für den Kampf. Alles andere war vergessen. Ein Mann kollerte blutüberströmt den Hang hinunter. Dreimal fauchte mein Lähmdolch auf und schmetterte Eindringlinge von der Mauerkante. »Orades! Stell dich!« Dann sah er im kalten Licht meines abbrennenden Pfeils den
gegnerischen Anführer. Nur mit Schwert und Schild, sonst so gut wie nackt, begannen sich die beiden Männer dicht unterhalb des Walles, neben dem Tor, einen wütenden Kampf zu liefern. Die ersten Sterne flackerten und erloschen. Der Mond fiel hinter die gezackte Kulisse des Waldes. Der Kampflärm war weniger laut und hatte dem Schreien der Verwundeten und dem Keuchen der Kämpfer Platz gemacht. Arconrik unterlief den Schwertangriff eines Galliers, packte den Mann an den Hüften und schleuderte ihn über den Wall hinunter und in eine Gruppe von drei Anstürmenden. In einem Gewirr von Schilden, Armen und Beinen, wirbelnden Schwertern und blutigen Körpern gingen die Gallier zu Boden und kollerten in den grasbewachsenen Graben. Ich fuhr herum und hörte den laut hallenden Schrei des Stammeshäuptlings. »Hier! Der Kopf des Orades, ihr Feiglinge!« Er hatte seine grausige Trophäe an den Haaren gepackt, warf sie in die Höhe und fing sie wieder auf. Die ersten Krieger wandten sich zur Flucht und rannten die Hänge hinunter. Das Dach, in dem mein erloschener Leuchtpfeil steckte, begann zu schwelen. Ich ergriff einen Holzkübel und löschte den Brand mit einem Wasserguss. »Sein Kopf! Ich habe ihn getötet! Zu mir, Männer!« schrie Marband wie von Sinnen. Von allen Seiten kamen seine Männer herangerannt. Viele waren von gräßlichen Wunden bedeckt und blutüberströmt. Ein Wurfspeer zischte an mir vorbei und bohrte sich in den Rücken eines Davonstolpernden. Langsam kam Arconrik auf mich zu und bemerkte: »Welch eine Logik! Zuerst geben wir ihnen bessere Waffen, dann verbinden wir ihre Wunden. Ein Planet voller Irrer, Demetrion.«
»Das wußten wir, ehe wir das Versteck verließen«, antwortete ich. »Und das ist die beste Gelegenheit, diesen wahnsinnigen Teufeln etwas Kultur beizubringen.« »Die einzige Gelegenheit«, faßte Arconrik zusammen. Genauso war es. Der Schmied versuchte mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten, die Ringe des Kettenhemdes zu kopieren. Wir kurierten die Hälfte des Stammes und versorgten die Wunden, sahen beeindruckt den Feierlichkeiten zu, mit denen die Getöteten mit einem Teil ihrer Waffen und der Habe begruben wurden, tauschten und handelten und erzählten vom warmen Süden jenseits der Länder und Berge. Dann begleitete uns Marband mit seinen Männern zum Boot. Wir ließen uns helfen, glitten in den reißenden Fluss hinein und schwebten davon, als uns niemand mehr sehen konnte. In großen Windungen führte unsere Reise weiter – durch Landstriche, die niemand kannte, und aus denen Zehntausende aufbrachen, um zu erfahren, wie es hinter dem nächsten Hügel aussah. Die Gallier zogen nach Süden, zu jenen Stämmen, die aus dem Norden kamen und inzwischen kämpfen gelernt hatten wie die Italiker oder Römer. Aufmerksam registrierten wir alle Einzelheiten, die uns bedeutungsvoll erschienen. Vor weniger als drei Jahren hatte Rom einen harten Krieg gegen die Gallier geführt; siebzigtausend von ihnen kämpften unter dem Klang von pferdekopfähnlichen Trompeten mit der gefürchteten Leidenschaftlichkeit und dem Einsatz tollkühner Kraft. Bei Telamon, hundertfünfzigtausend Schritt nördlich von Rom, wurden vierzigtausend Gallier getötet, obwohl sie sich erbittert wehrten. Aber noch breiteten sie sich westlich und östlich des italischen Kontinents aus und gründeten Unmengen von Siedlungen, übernahmen Kampftaktiken, Ackerbau, Bewaffnung und vieles andere von ihren Gegnern und den bisherigen Bewohnern der eroberten Länder.
Arconrik und ich schwebten von Siedlung zu Siedlung. Wir erreichten, vor der Kälte des Herbstes fliehend, das Uferland des Meeres vor dem Einbruch der schweren Regen. Als Händler hatten wir die Gallier des Nordens kennen gelernt. Sie hörten unsere Nachrichten und erfuhren so, daß sich Nachkommen ferner, gemeinsamer Ahnen den Ländern angeglichen hatten und den Sitten ihrer Bevölkerung – jenen Ländern, in die sie eingesickert waren als kleine und größere Gruppen. Die Entschlossensten waren es stets gewesen, die auswanderten. Kriegerklassen gründeten sich. Wir fuhren in gallischen Streitwagen mit und waren verblüfft über die Reitkunst der Kavallerie, die mit Sattel und Trense, aber ohne Steigbügel ritt. Die Reiter, ausgerüstet mit der langen griechischen Sarisse, führten nach den Rufen der Karnyx, eben jener tierköpfigen Trompeten mit senkrechtem Rohr, hinter den blitzenden Feldzeichen schnelle und sichere Manöver aus. Große, runde Schilde schützten die Reiter mit den waghalsig verzierten Helmen. Auch die Karthager, die von Cartagena aus die Silberminen kontrollierten und ausbeuteten, befanden sich in einem Land, das voller gallischer Stämme war. »Überall Kampf«, sagte der Händler des Wunderbaren, dessen Vorräte langsam zur Neige gingen. »Und obwohl Hamilkar Barkas tot ist, seit sieben Jahren, rüsten auch die Poeni.« Neu-Karthago, zwei Jahre nach Barkas’ Tod gegründet, stand unter dem Befehl des Hasdrubal, der die Herrschaft für Hannibal und Mago Barkas ausübte. Wir hatten alles über den Kampf der Giganten erfahren: Karthago gegen Rom. Der erste Punische Krieg war vorbei, aber Hamilkar hatte, enttäuscht von seiner Heimatstadt, den Südosten Spaniens bis westlich Massilias, der griechischen Kolonie, erobert. An den Grenzen des sich ausdehnenden Machtbereichs aber lebten gallische Stämme.
»Hasdrubal gilt als gemäßigt«, sagte ich, während wir durch die Luft schwebten und versuchten, ein Konzept für unser Handeln zu entwickeln. »Und überdies meine ich, daß Cartagena ein guter Platz zum Überwintern ist.« »Als Buchhalter der Bark Iden-Familie?« fragte Arconrik spöttisch. Ich hob die Schultern. »Warum nicht?« Wir kannten Gallien und seine Bewohner. Wir kannten griechische Kolonien und römische Handelskarawanen. Über Hasdrubal und Hamilkars Söhne Mago und Hannibal würden wir Karthago-Karchedon kennen lernen. »Ich bin die vielen Monde des Händlerlebens, ununterbrochen an anderen Stellen, stets neugierig, gespannt und gefährdet, auch satt. Lassen wir uns also dort nieder.« »Einverstanden.« Wir überflogen abermals ein fremdes Land. Es war fruchtbar und sonnendurchglüht und es besaß an unendlich vielen Stellen südlichen Liebreiz und urtümliche Schönheit. Auch die Menschen, die wir sahen und trafen, waren fröhlicher und liebenswerter als die langgewachsenen, unkultivierten Gallier. Und so kam es, daß zwischen zwei wütenden Regengüssen unser Gleiterboot im Hafen von Cartagena anlegte. Längst war aus einem befestigten punischen Warenumschlag- und Stapelplatz eine wachsende Stadt geworden. Nur an wenigen Stellen gab es noch Palisaden, zwei Molen schoben sich weit ins Meer hinaus. Schwere Ladebäume bewegten sich knirschend und holten Ballen aus den Bäuchen der schweren Lastschiffe. Sklaven schufteten unter scharfen Kommandos und ebensolchen Peitschenhieben. Als ich Arconrik das Tauende zuwarf, damit er das Boot belegen konnte, deutete er auf einen einzelnen Mann, der langsam auf uns zukam. »Er paßt nicht in das Bild des Hafens. Achte auf ihn«, sagte
der Wunderhändler. Inzwischen hatte sich nicht nur unser Aussehen, sondern auch das des Bootes gewandelt. Mit reichverzierten gallischen Helmen, einigen Waffen und den riesigen, purpurverzierten Mänteln aus weißem Stoff sahen wir exotisch aus. Knarrend bewegte sich die schräge Rah des Bootes. »Du hast, wie immer, recht«, sagte ich und sprang auf die nassen Steine des Kais hinauf. »Vermutlich einer der Helfer, von denen ES sprach.« »Hier haben wir einen Freund, der alles kennt, bitter nötig«, stimmte er zu. Als einziger im Bereich des halbmondförmig geschwungenen Hafens trug dieser Mann lederne, mit Metalldrähten verzierte Stiefel – außer uns, versteht sich. Darüber eine punische Tunika bis knapp über das Knie; auch hier sahen wir Goldstickerei und den noch kostbareren Purpur als Zierat. Ein breiter Gürtel, daran ein goldfunkelndes Schloss, drei verschieden lange Dolche in prächtigen Scheiden, und am Hals eine dreifache, schwere Kette aus mehrfarbigen Steinen. Haar und Kinnbart des Mannes waren gekräuselt und schwarz, ebenso die großen Augen, die dennoch zu funkeln schienen. Er schlug seinen Mantel – zurück und blieb vier Schritte vor uns stehen. Hinter ihm, auf einem kleinen Hügel, umrahmt von spitzkegeligen Bäumen, sahen wir den Tempel der Tanit, den tophet. »Ihr müßt jene wandernden Händler sein, von denen die Iberer berichten. Demetrion und Arconrik?« Wir nickten langsam und versuchten ihn abzuschätzen. Er war nur einen halben Kopf kleiner als Arconrik. Er strahlte Entschlossenheit und List aus, und die Falten in seinen Augen schienen zu beweisen, daß er gern lachte.
»Wir sind hier, weil uns die Olkader an den Ufern des Anas von Karthago Nova berichteten, von Hasdrubal und seinem Sohn. Du hast unsere Namen richtig verstanden.« »Ich bin der Oberste Verwalter der Barkas-Familie in NeuQuart Hadasht. Die Römer nennen es Karthago Nova. Ich wartete auf euch.« Ich versuchte zu scherzen. »Rief dich eine innere Stimme? Nannte sie unsere Namen, sprach sie von Wundern? Ich kann es nicht glauben.« »Nein. Unsere numidischen Reiter, welche weit ins Land hineinkommen, hörten von euch. Sie erfuhren, daß ihr Dinge wißt, die anderen Sterblichen unbekannt sind. Deswegen will Hasdrubal, der Schwiegersohn des Hamilkar, einer der Familie, die sich ›Blitz‹ nennt, euch um sich haben. Er will lernen.« »Das heißt, daß wir willkommen sind«, stellte ich zufrieden fest und streckte den linken Arm aus. Bendis landete auf meinem breiten Armband, das schon die Spuren der stählernen Krallen trug. Arconrik befahl Zamolxes, das Boot zu bewachen. »Vielleicht wissen wir viel zu wenig von dem, was Hasdrubal erfahren will?« gab ich zu bedenken. Wir ließen die schweren Waffen auf dem Boot. Ein Wink, des Verwalters brachte ein Dutzend dunkelhäutiger Soldaten herbei. Ein Befehls und sie stellten sich beim Boot auf. »Ich, Beilarx, sage euch, daß ihr willkommen seid. Und der Feldherr kann für sich sprechen, und für den Sohn des Hamilkar.« Wir wußten seit langem, daß die große Familie der Barkiden gleichermaßen Grundbesitzer, Handelsherren und besonders begabte Soldaten in ihren Reihen hatte. Ihr Einfluß im afrikanischen Karchedon war groß, aber nicht bestimmend. Als wir Beilarx durch saubere Straßen folgten, vorbei an entlaubten und sturmgeschüttelten Bäumen, sahen wir die nassen Rie-
senkörper der Elefanten, die schwere Lasten hin und her schleppten. Riesige gemauerte und mit Tonziegeln verblendete Magazine enthielten, wie Beilarx erzählte, die Reichtümer des Landes. Mit den Bewohnern lebte Hasdrubal, der eine iberische Fürstentochter geheiratet hatte, in Frieden – sie schienen sich unter dem Schutz der punischen Söldnertruppen wohl zu fühlen. »Hasdrubal braucht keine Waffen, jedenfalls nicht mehr davon. Er braucht Männer von großem Wissen und, wenn ich dies sagen kann, Freunde, die treu zu ihm stehen. Er erzieht den Sohn des großen Hannibal.« »Wissen wir. Ist dies sein Palast?« »Sein Haus, sein Besitz«, antwortete Beilarx. Das lang gestreckte, niedrige Haus stand nicht weit vom Hafen auf einem felsigen Hügel. Breite Treppen führten in einen sturmgeschüttelten Park hinauf und zu einem runden, gemauerten Turm. Die meisten Bewohner hatten sich in die Häuser zurückgezogen. Aus zahllosen Kaminen und Dachöffnungen quoll Rauch. »Wieviel Menschen leben hier?« fragte Arconrik auf den Stufen der Haupttreppe. »Mit den Soldaten, den Frauen, Kindern, den Bauern, Tierpflegern und allen anderen, mit den Sklaven, es mögen hundertmal tausend sein«, gab Beilarx zurück. Er hatte eine tiefe, deutliche Stimme, die ein weiches Punisch sprach, ganz im Gegensatz zu seiner Erscheinung. Rings um die Stadt erstreckten sich riesige Felder, Weiden, Wälder und Äcker. Sie waren von Wegen durchzogen, einzelne Bauernhöfe mit großen Scheunen und Magazinen unterbrachen die vielfarbigen Rechtecke. Tausende und aber Tausende von Sklaven arbeiteten selbst jetzt, im sinkenden Abend, dort draußen. Die Stadt barst förmlich vor Reichtum, Kraft und Bewegung – wie mochte es erst in der heißen Jahreszeit sein. Wir stapften die letzten Stufen hinauf und sahen uns einer
großen Terrasse gegenüber. Hier standen und saßen im Schutz von ziegelgedeckten Dächern die Wachen: Schleuderer von den Balearen, Punier aus Libya, numidische Reiterführer in Waffen. Sie richteten scharfe, prüfende Blicke auf uns, aber eine Handbewegung des Verwalters hielt sie zurück. Eine zweite, nicht weniger bestimmte Geste bewirkte, daß eine schwere Doppeltür sich nach außen öffnete. Wir kamen in einen riesigen Saal, vierzig mal vierzig Schritt groß. Holzkohle in kupfernen Becken verbreitete wohlige Wärme. Schwere Vorhänge hingen vor den anderen Türen. Links am Rand des Saales, zwischen schilderbehangenen Säulen, standen Tische und Sessel. Jeder, der dort saß, konnte den gesamten Raum überblicken. Mit einem dumpfen Laut schlossen sich die Türen; dennoch fühlten wir uns nicht gefangen oder bedroht. Aus einem Sessel, der mit exotischen Fellen belegt war, stand ein breitschultriger Mann auf. Schweife, Klauen und breite, herunterhängende Bänder der Felle waren mit wuchtigen Goldornamenten geschmückt und klirrten leise. Beilarx sagte höflich, aber ohne Unterwürfigkeit: »Soeben legte ihr winziges, namenloses Boot an. Es sind Demetrion und Arconrik, jene Männer, von denen wir so viel gehört haben. Verneigt euch vor Hasdrubal, dem Herrn der Silberminen.« Wir taten es. Ich schnippte mit dem Finger, und Bendis schwebte bis zur nächsten Sessellehne. Mit ausgestrecktem linken Arm kam Hasdrubal auf uns zu. Wir packten einander an den linken Handgelenken. Hasdrubal sah aus wie ein älterer Bruder des Beilarx, mit weißem Schläfenhaar und weißen Strähnen in seinem Kinnbart. »Willkommen«, sagte er. »Willkommen im Reich des großen Hamilkar, der aus Ärger über die Dreihundert Räte dieses Land besetzte und damit die Verluste des Krieges gegen Rom
mehr als wettmachte.« Ich ergriff das Wort, nachdem wir einen langen Blick ausgetauscht hatten. »Du erwartest, Fürst Hasdrubal, kluge und weitgereiste Männer. Stolz und kühn sind wir, da wir ein Jahr unter den Galliern unzähliger Stämme überlebt und dabei, wie ihr Punier, reichen Handel getrieben haben. Kluge Männer brauchen nicht viele Worte. Es mag sein, daß du etwas erwartest, was wir wissen und können. Oder auch nicht – was dann?« Er grinste breit und klatschte in die Hände. Dann deutete er auf ebenso bequeme, wenn auch nicht derart kostbar verzierte Sessel. »Du, Demetrion, sprichst unsere Sprache. Willst du in NeuKarthago bleiben? Lange? Oder wollt ihr weiterreisen?« Diesmal grinste Arconrik noch breiter und entgegnete verschmitzt: »Er schreibt auch eure Schrift; das hängt einzig und allein davon ab, wie gut es uns hier gefällt. An den nördlichen Stränden dieses Meeres ist der Winter naß und kühl. Nach einem Jahr in den barbarischen Nebeln brauchen wir Fröhlichkeit, Wein, Wärme und Menschen, mit denen wir plaudern können.« »Das sollt ihr haben – im Übermaß, wenn’s sein soll«, versprach Hasdrubal. »Ihr bekommt ein Haus, Diener, Sklaven, Pferde, und zum Reden kommt ihr hierher. Habt ihr Münzen? Was braucht ihr? Der Junge wird euch tausend Fragen stellen.« »Der Junge«, unterbrach Beilarx, zu uns gewandt, »ist immerhin fünfeinhalb Jahrzehnte alt. Hannibal Barkas.« »Das heißt, daß wir, unter anderem, seine Lehrer sein sollen?« fragte ich. »Und meine nicht weniger«, antwortete der Herr über ein riesiges Land und die reichen Schätze, die der Handel erbracht
hatte. Jetzt mußten wir überzeugt sein, daß auf unbekannte Weise Beilarx ebenso ein Werkzeug von ES war wie wir beide. Ich nickte. »Und du beantwortest ebenso unsere Fragen, Hasdrubal?« »Ich habe kaum Geheimnisse. Ihr kennt Land und Leute, ihr kennt unseren Krieg gegen Rom, und ihr habt erkannt, daß es jene von Barkas’ Handelsherren sind, die ihre Besitztümer vergrößern wollen und werden wie jeder gute Handelsmann. Wenn ihr euch eingerichtet habt, lasse ich euch von meinen Numidiern holen – Beilarx, der auch euer Vertrauen bald besitzen wird, kümmert sich um alles. In dieser Stadt soll euch kein Haar gekrümmt werden.« »Das waren gute Worte am frühen Abend«, lobte ich. »Großzügigkeit ist leicht zu erweisen und entgegenzunehmen. Freundschaft indessen dauert länger; du und wir wissen es. Ich hoffe, euer Wein ist besser als der klebrige Met der Gallier.« Wieder klatschte Hasdrubal. Offensichtlich hatten die Dienerinnen oder Sklavinnen bereits hinter den schweren Stoffen gewartet. Sie brachten herrliche, schwere Pokale und reichverzierte Tonkrüge aus Saguntum. Roter Wein floß in vier Pokale. Gibt es deutliche Unterschiede zu den stämmigen Gallierinnen? flüsterte der Extrasinn hämisch. Die Unterschiede hätten schwerlich drastischer ausfallen können. Sklavinnen oder nicht; die jungen Frauen waren schön, lautlos und schnell. Sie machten nicht den Eindruck, als ginge es ihnen schlecht. Als die Krüge leer waren, verschwanden sie wieder hinter dem Vorhang. Hasdrubal hob seinen Pokal und nahm einen kräftigen Schluck. »Vielleicht ist heute der erste Tag einer guten Zeit. Ich gäbe viel darum!« sagte er schwer ausatmend. Arconrik roch lange
an dem schweren, wohlschmeckenden Wein, wir tranken dem Handelsfürsten zu. »An uns wird es nicht liegen«, versetzte ich. »Das versichern wir hier und heute.« Beilarx brachte uns in ein Haus, das zwei Bogenschüsse weiter, jenseits der Gärten und in der Richtung auf den Hafen zu erbaut war. Unsere Ausrüstung und wir hätten darin zehnmal Platz gehabt. Sklaven schleppten den Inhalt des Bootes herbei; Zamolxes untersuchte jeden Winkel der Stallungen, Quartiere, Keller und Terrassen. Schon brannten die Feuer, die Lagerstätten wurden mit Linnen gedeckt, wir suchten uns die Räume aus, in denen wir wohnen wollten, und ich sagte den Dienern, daß ich ein Bad nehmen wollte, möglichst mit einem Schluck Wein, einem kleinen Imbiss und anschließend frischer Kleidung. Beilarx gab unaufhörlich Befehle, die augenblicklich befolgt wurden. Der Regen hatte aufgehört, aber ein kalter Wind fuhr über die Ebene im Norden. Bendis bezog einen geschützten Platz im Türmchen der oberen Terrasse, nahe dem triefenden Leinensegel. Das Haus war offensichtlich für Gäste der Punier eingerichtet. Welch ein Luxus, verglichen mit den verräucherten Hütten der Gallier! Ich zog meine Stiefel aus; sofort erschien ein Sklave und schleppte sie zum Reinigen weg. Über dicke Teppiche aus mehrfach geflochtenem Stroh, auf dem Felle, zu großen Flächen zusammengenäht, lagen, ging ich hinunter in den gemeinsamen Wohnraum. Arconrik stand vor einem offenen Fenster und hielt die dreifachen Vorhänge weit auseinander. Sein Blick ging hinunter zum Hafen, nach Süden. »Was sagt dein einzigartiges Gehirn?« fragte ich. Er drehte sich nicht um und erwiderte ebenso leise: »Ein guter Platz. Die Punier sind vor Energie schier aufgebläht. Allerdings richtet sich ihr Streben weniger nach den Sternen. Vielmehr wollen sie Macht, Einfluß und Reichtum.
Dasselbe will Rom. Deswegen gab es einen schauerlichen Krieg, und deswegen wird es weitere geben. Das ist eine klare, logische Entwicklung.« »Aber sicherlich nicht im nächsten Sommer«, wandte ich ein. Ich begann mich wohl zu fühlen. Mit einem halbvollen Weinpokal in der Hand war es auch nicht sonderlich schwer. »Sicher nicht. Es liegt an uns, dies zu verhindern.« »Es zu versuchen«, schränkte ich ein. »Bis zum heutigen Tag sind sie ohne unsere Hilfe groß geworden.« »Nimm du dein genußvolles Bad«, riet er mir, »und, bei Baal und Tanit, wir werden bald alles erfahren haben.« Wenige Zeit später sah und merkte ich, was die reichen Punier unter feiner Lebensart verstanden. Das Bad war mit großen Marmorplatten ausgeschlagen, die kastenförmige Wanne, in der vier Männer Platz gehabt hätten, war im Boden versenkt. Das Wasser dampfte und roch nach würzigen Kräutern. Die Spiegel polierter Silberplatten waren vom Dampf beschlagen. Überall flackerten große Öllämpchen. Dutzende von Ölkrügen, stark riechende Pasten und Salben, weiche Tücher und Bürsten aus Elfenbein standen und lagen auf gemauerten Vorsprüngen, die mit kostbaren Kacheln beklebt waren. Ein breitschultriger Numidier erwartete mich, verbeugte sich und sagte mit abgrundtiefem Bass: »Ich werde nachher deine Muskeln mit Öl kneten, Herr.« Ich öffnete das Schloss der großen Gürtelschnalle und legte die Dolchscheide ab. Sofort kamen zwei Mädchen und halfen mir. Ich nickte ihnen zu, ließ mich ausziehen und rutschte langsam ins Wasser. »Badet ihr Punier immer so?« fragte ich und streckte die Hand nach dem Weinpokal aus. Die Mädchen kicherten, der riesige Schwarze antwortete: »Meist, Herr Demetrion. Aber nicht die Sklaven.« Ich verstand. Das Gesamtbild stand für uns längst fest. Un-
zählige weitere Einzelheiten würden sich in dieses Bild einfügen im Lauf der Jahre. Karthago und Rom führten eine Sklavengesellschaft, in der billige Arbeitskraft schonungslos ausgenutzt wurde. Verbrecher, Kriegsgefangene und deren Familien, die Kinder von Sklaven – alle schufteten sie ihr erbärmliches Leben lang für die Barkiden oder deren Gegenpartei, die der Suffet Hanno vertrat. Wehe allen Besiegten! Ich konnte den Zustand nur in meinem unmittelbaren Umkreis ändern. 8. Die Mädchen kletterten ins Wasser, seiften mich ein, wuschen mein Haar, reinigten die Haut mit Bürsten und Striegeln. Ich entspannte mich, nahm einen Schluck Wein und schloss die Augen. Noch genoß ich diesen Luxus. Die Probleme würden sich später einstellen. Mindestens eine Stunde verging, und der Geruch der Kräuter und Essenzen erzeugte ein trügerisches Wohlbefinden. Mit feuchtem Sand wurde sogar der getarnte Zellschwingungsaktivator geputzt. Ich streckte mich auf den Decken über der Steinbank aus, und der Numidier massierte mich mit stark riechendem Öl, das die erhitzte Haut wieder abkühlte. Gurgelnd lief das Wasser durch den Abfluss. Ich wurde angezogen, man brachte die Stiefel, und schließlich – es war längst dunkel – trat ich zu Arconrik in die Halle. Er ließ von den Dienern Möbel und Tische herumrücken. Ich war müde geworden und spürte die Schwingungen des Aktivators. »Nun denn«, sagte ich. »Wir haben die Gastfreundschaft der Gallier überlebt. Wir werden auch mit der Freundschaft der Punier zurechtkommen.« Arconrik deutete nach draußen, nickte und stellte fest: »Zumal uns die Reiter abholen.« Auch ich hörte das Klirren der Trensen, das Knarren von Le-
der und aufgeregte Stimmen. Ein Sklave öffnete das Tor, ein Windstoß fauchte herein und ließ die Holzkohle weiß aufleuchten. Die Numidier – die Römer nannten die nomalisierenden Reitervölker so – ritten ihre Pferde ohne Zaum und Sattel. Fünfzehn Mann trugen brennende Fackeln, und Beilarx kletterte als einziger aus dem Sattel ohne Steigbügel. Ich rief: »Wir kommen zu Fuß! Wir werden euch morgen zeigen, daß wir nicht auf dem Rücken der Pferde leben können wie ihr.« Oft hatten wir durch dis Spinnsonden die hohe Reitkunst dieser dunkelhäutigen Männer gesehen. Sie trugen runde Schilde und ein Bündel Wurflanzen. Stechende schwarze Augen unter dichtem, gekräuseltem Haar musterten uns. Beilarx winkte und meinte: »Es ist nicht weit. Ich kann’s auch nicht.« Die Krieger, deren Lanzen widerhakenbewehrte Spitzen an beiden Enden hatten, eskortierten uns im Schritt bis zu Hasdrubals Haus. Die Pferde waren muskulös und gepflegt; sie gehorchten auf Hilfen, die für uns unsichtbar waren. Durch einen Teil der dunklen Gassen bahnten wir uns gegen den Nachtwind einen Weg und traten hinter Beilarx in die große Halle. Sklaven nahmen uns die Mäntel ab und geleiteten uns zu den Sitzen. Wir wurden aufgefordert, links neben Hasdrubal zu sitzen. Ein junger Mann fiel mir sofort auf. Es mußte Hannibal sein. Auch er blickte uns aufmerksam an; ein hochgewachsener Mann mit scharf ausgeprägten Muskeln, in weiches Leder gekleidet. Hasdrubal sagte ihm, wer wir waren. »Hamilkar, mein Vater, der vor vielen Sommern ertrank«, sagte Hannibal und wechselte mit mir einen männlich harten Händedruck, »warnte mich vor weitgereisten Männern. Entweder, sagte er, sind es handelnde Schurken wie wir, die Karthager, oder es sind solche, deren Klugheit und Wissen größer sind als unsere.« Die Tischgesellschaft, etwa fünfzehn Männer, brach in dröh-
nendes Gelächter aus. Von einem jungen Mann hatte ich eine andere Anrede erwartet. Der Logiksektor wisperte: Einen erstaunlichen Sohn hatte dieser mächtige Vater. Einer von mehreren, nebenbei. »Jeweils die Hälfte trifft auf uns zu«, sagte ich deutlich, und Arconrik ergänzte: »Die bessere Hälfte, Hannibal. Bevor wir aber…« Wieder ging der Rest der Antwort im Gelächter unter. Diese Männer, spürte ich, die sich hier versammelten, waren so mächtig und selbstsicher, daß sie sogar über einen Scherz zu lachen vermochten, der auf ihre Kosten ging. Ungerührt fuhr Arconrik fort: »… weiterreden, sprechen wir, offen und ehrlich, Dank aus für dieses herrliche Haus. Da die Karthager besonnene Handelsherren sind, werden sie auch an diesem Geschenk vortrefflich verdienen.« »Wir allerdings können euch Dinge lehren, die vielleicht wichtiger sind als die Silberminen von Gades.« »Ich fürchte, ihr fangt an, mich zu erstaunen. Wenn ihr so viele seltsame Künste kennt wie treffsichere Worte, werden wir auf fröhliche Weise klug.« Hasdrubal verstand es, fremde Völker für sich und Karthago zu gewinnen. Hannibal verstand es ebenso gut, Menschen für sich einzunehmen. In diesem Fall uns: einen Nicht-Menschen und einen Roboter. Es würden interessante Jahre werden, sagte ich mir und bemerkte voll Zufriedenheit, wie er unter Arconriks Händedruck fast in die Knie ging. Er beherrschte sich mannhaft. Sklaven schleppten Tischplatten herein, die auf Böcke aus Edelholz gestellt wurden. Auf strahlend weißen Tüchern standen Schüsseln und Schalen voll von warmen und kalten Dingen, die verlockend aussahen und ebenso rochen. Siebenerlei Braten, geröstete Pilze, seltsame Früchte, Eier, farbenfrohe
Gemenge, dampfender Brei und ausgenommene Fische, Meeresgetier, Soßen, zierliche Löffel, feingeschliffene Messer mit Elfenbeingriffen, zweizinkige Gabeln aus edlen Metallen, und ich wartete, um zuzusehen, wie die Gäste sich bedienen ließen. Zehn Schritt war diese Ansammlung von Speisen lang. Wir erhielten große Tonschüsseln mit heller Glasur und bestimmten, wie viel von welcher Schale wir haben wollten. Vorsichtig suchte ich aus und hielt mich an das Bekannte; für Experimente war an anderen Tagen Zeit. Es wurde ein langes Essen, mit viel Wein, mit Aufdringlichkeiten der Männer, deren Hände unter die Kleider der Sklavinnen fuhren, mit Rede und Gegenrede, mit unglaubhaften und wahrheitsgetreuen Erzählungen, viel Lachen und kräftigen Ausdrücken; wir konnten schnell erkennen, daß sowohl der Oberste Verwalter als auch der Meister des Kriegshafens, jener des Handelshafens, der Herr der Magazine, Hasdrubal und Hannibal alles andere als einfältige, aber raffinierte Barbaren waren. Sie bewegten sich absolut sicher und schnell innerhalb der Grenzen ihrer Erfahrungen und ihres Bildes der Welt. Mich störte, daß ihr Glaube – oder Aberglaube – an die merkwürdigen, grausamen Götter des nördlichen Afrika stark zu sein schien. »Morgen, wenn der Weindunst gewichen ist«, versicherte uns Hannibal, völlig nüchtern, »zeig ich euch unsere Stadt.« »Wenn wir zwei gute, ausdauernde Pferde bekommen«, sagte ich, und schon gab Beilarx einem Diener schnelle Befehle, »dann zeige ich denn Verwalter, wie man verhindern kann, vom Pferd und mitten aufs Gesicht zu fallen.« Ich war außerstande zu begreifen, warum sich die Barbaren gegen die Erfindung von Sattel und Steigbügel sträubten: Schon im Reich der Römer steckten die Reiter Ihre Füße in Seilschlingen. Aber zu dieser späten Stunde war an vernünftige Erklärungen nicht zu denken. Ich stand auf und probierte
andere Speisen und Köstlichkeiten; alles was ich an diesem Abend gekostet hatte, war von erlesenem Geschmack, fein gewürzt und abgrundweit verschieden vom fetttriefenden, salzarmen Braten der Gallier. Wir sprachen über den Verlust Sardiniens und Siziliens. Über den würgenden Friedensvertrag mit Rom – ich mochte dieses Reich auch nicht –, der für Hispania die Grenze am Hiberus im Gebiet der Saguntiner festgelegt hatte: Mein Verdacht wuchs, daß Rom sich eines nicht zu fernen Tages wieder mit Karchedon-Karthago-Qart Hadasht streiten würde. Aber wir waren nicht hier, um Krieg zu schüren. Spät nachts, als wir nicht mehr über die Reisen durch die kleinen Länder der Gallier erzählen wollten, brachten uns numidische Fackelträger zurück in unser ruhiges, warmes Haus; es war etwa Mitternacht. Zamolxes lag in einem Winkel neben der Glutschale und sicherte meine Nachtruhe. Ich hatte die Arme im Nacken verschränkt, dachte mit weinschwerem Kopf nach und versuchte, unsere Lage innerhalb der Machtstrukturen richtig zu deuten. Eine einzige Öllampe war noch nicht erloschen. Kalter Nachtwind gurgelte und heulte ums Haus, und sein Sog riß die verbrauchte Luft durch winzige Öffnungen unter dem Dachstuhl. Der Robothund stieß ein kurzes, warnendes Grollen aus. Ich griff zum Dolch und richtete mich auf, die Muskeln gespannt. Die Vorhänge der Tür, die ins Haus führt, bewegten sich im Wind. »Ich bin wach«, sagte ich leise. Eine Gestalt im bodenlangen weißen Mantel glitt in den Lichtschein. Erst auf den zweiten Blick sah ich, daß es eine junge Frau mit hochgestecktem Haar war. Lautlos kam sie über die dicken Felle näher zu meinem Lager. Wir beide schwiegen, sie starrte mich an, sprach endlich mit einer Stimme, aus der ich eine Spur Hoffnung heraushörte: »Beilarx schickt mich. Ich bin Narnia. Er sagt, daß ich es bei
dir, wahrscheinlich gut haben werde.« »Ich mache längere Pausen beim Auspeitschen«, sagte ich und grinste kurz; sie schien kein sonderlich schönes Leben hinter sich zu haben. Ich deutete auf den Rand des Lagers. »Ich schlage keine Frau, Narnia. Ich zwinge niemanden. Was erwartest du?« »Nichts.« Sie setzte sich. »Was hat eine Sklavin zu erwarten? Bisher war ich im Tophet der Tanit, wo mich die Priester schlugen.« Ich seufzte, wickelte die Decke um mich und ging in den Nebenraum. Mit einem vollen Weinpokal kam ich zurück und setzte ihn an ihre Lippen; ich sagte beschwichtigend: »Du brauchst keine Angst zu haben. Trink! Wenn du willst, schläfst du hier; wenn nicht, werd ich dich nicht in den Sturm hinausjagen. Ich weiß, wie hart es ist für jeden, der keine Macht hat; mitunter leben sie nicht sonderlich lange.« Narnia leerte den Pokal zur Hälfte. Ich hatte Zeit, sie genau anzusehen. Ihre Haut war leicht gebräunt, ihr Haar glatt und fast blauschwarz. Ein schmales Gesicht mit großen, mandelförmigen Augen. Bei jeder schnellen Bewegung, die ich machte, zuckte sie zusammen. Schließlich, als sie noch immer unschlüssig war, meinte ich: »Bleib hier. Es ist warm unter den Decken. Niemand wird dich wecken, und vielleicht hast du einen guten Traum in meiner Nähe.« Narnia stand auf, stellte den Pokal auf den niedrigen Tisch und löste den Knoten des Gewands. Sie war völlig nackt, ihr Körper war jung, vollkommen und eiskalt, als sie neben mich glitt und die Decke bis ans Kinn zog. Ich nahm den Dolch, drückte den Docht der Öllampe unter das Öl und streckte mich aus. Dann schob ich den linken Arm unter ihre Schultern, zog sie leicht an mich und streichelte ihr Gesicht. »Schlaf!« flüsterte ich. »Solange ich hier bin, lebst du sicher.«
Sie zitterte vor Kälte und Angst. Ihre Haut verströmte einen unbekannten, feinen Geruch. Bald schliefen wir ein, aneinandergeschmiegt wie zwei Ausgesetzte in einer unvorstellbar fremden, feindlichen Welt: Als die Morgendämmerung die Vierecke der Türen und Fenster hinter den Vorhängen erkennen ließ, öffnete Narnia die Knoten ihres schulterlangen Haares, ihre Finger glitten zögernd und leicht über meine Haut. Die Nacht und der Schlaf hatten ihre Furcht besiegt, und jetzt, während ich aus dem Schlaf in die Wirklichkeit hinüberglitt, begannen wir uns zu lieben. Mittags, nach einem langen Bad und einem leichten Imbiss, als der Himmel vom Wind leergefegt war, winkte ich Arconrik und Kulcha, den ältesten Diener, zu mir her. »Euren Augen und Ohren wird nicht entgangen sein«, sagte ich, »daß Narnia seit heute Nacht hier ist. Du bist verantwortlich für das Haus, Kulcha?« »So ist es, Herr. Ich muß Beilarx Rechenschaft ablegen.« Er spielte aufgeregt mit seinen Fingern. »Beilarx schickte Narnia. Sie soll es gut haben bei uns. Rühr sie nicht an und gib ihr, was sie braucht – wir haben genug eigenes Gold. Jeder Sklave, der nicht geschlagen wird, ist ein neuer Freund Karchedons.« Kulcha, ein Metöke, weißhaarig und mit gebeugten Schultern, das Sklavenbrandmal auf dem Oberarm, senkte den Kopf. »Du befiehlst, Herr Demetrion. Wo soll Narnia wohnen?« »Nicht zu weit entfernt von meinen Räumen«, antwortete ich. »Sind unsere Sättel und Waffen schon drüben?« »Es ist alles bereit. Was soll heute geschehen, Herr?« Ich hob die Schultern. »Ich denke, wenn wir vom Ritt zurück sind, werden wir ein Bad brauchen, etwas zu essen und einen ruhigen Abend. Es sei
denn, Hannibal will mit uns reden. Anderes habe ich nicht vor. Doch. Bringt drei Tischplatten in mein Arbeitszimmer und befestigt sie in dieser Höhe an den Wänden, zwischen den Fenstern.« Ich zeigte Kulcha, wie ich es haben wollte. Arconrik redete leise mit zwei Sklavinnen und deutete dabei auf Narnia. Vermutlich sagte er ihnen, daß sein Freund nur gut angezogene, saubere und dezent geschmückte Dienerinnen um sich sehen wollte. Als wir drei allein waren, zog ich Narnia an mich, küßte sie und sagte: »Du siehst, daß selbst mein Freund von deiner Schönheit und deinem sanften Wesen beeindruckt ist. Wir sind zurück, wenn es dunkel ist. Die Sklavinnen werden für dich tun, was du willst.« Fassungslos sah sie uns nach, als wir die Helme aufsetzten, Schilde und Schwerter packten und zu den Stallungen hinübergingen. Acht ausgesucht starke, schöne Pferde standen in dem hellen, luftigen Stall. Arconrik hatte dafür gesorgt, daß unsere Sättel aufgelegt wurden. Ich bemerkte, daß die Stallsklaven uns verwundert anblickten, dann sah ich, daß offensichtlich mein Freund die Nacht dazu benutzt hatte, soziale Problematik wenigstens zu verringern; die Männer waren satt, gewaschen, das Haar und die Bärte waren geschnitten, und die Haut glänzte von Öl. Wunden und Entzündungen hatte Arconrik mit unseren Mitteln behandelt. Ich musterte die Pferde, deren Zaumzeug klirrte. Sie waren Zaum und Sattel nicht gewohnt. »Ich habe zuerst uns, dann Karthago eine Handvoll neuer Freunde verschafft«, erklärte der Robot in unserer Sprache. »Es kann eines Tages wichtig sein. Ich bin sicher, in deinem Sinn gehandelt zu haben.« »Natürlich, Vorsicht! Es und Karthagos Sklaven.«
»Ich habe begriffen, Kulcha, der Grieche, hat mir erklärt, wie weit wir gehen dürfen. Ein Bote war da; wir treffen uns bei den Ställen der Soldaten.« Die karthagischen Soldaten, und hier bildete die Kolonie in Hispanien keine Ausnahme, waren immer bezahlte Söldner gewesen. Gallier sahen wir auf unserem Ritt durch die Straßen, hispanische Krieger, die balearischen Schleuderer mit den langen Lederriemen im Gürtel, griechische Mischlinge, die entlaufene Sklaven sein mochten, die numidischen Reiter und die Libyer. Die Anführer der Gruppen und ihre Vertreter entstammten den karthagischen Familien und gingen mit unnachgiebiger Härte vor. Sie sorgten für Disziplin. Langsam ritten wir auf die breite Straße, die den Hafenbezirk abtrennte, und dort unter immergrünen Bäumen auf die Gruppe zu, aus deren Mitte uns Hannibal zuwinkte. Die numidischen Reiteranführer trugen auf Brust und Rücken, über den dicken Stofftuniken, viereckige Metallplatten, die an Riemen über Schulter und Gurten befestigt waren. Wir ritten los, auf das Hafentor zu, dessen Türme unter aufragenden Gerüsten gemauert wurden. Dann hatten wir die Palisaden und die Mauern hinter uns und galoppierten mit wehenden Mänteln hinter Hannibal her, auf breiten, leicht geschweiften Straßen, die durch große Felder führten. Zwei Gehöfte ließen wir zur Rechten und Linken zurück, die langen Reihen der Arbeiter, die Ochsengespanne und die knarrenden Wagen, von jeweils zwanzig Ochsen gezogen, beladen mit mächtigen Baumstämmen. Hannibal, der ebenso sicher wie seine Numidier auf dem bloßen Pferderücken saß und das Tier durch Schenkeldruck und Griffe in die Mähne lenkte, ritt einen riesigen schwarzen Hengst mit weißen Fesseln und weißer Stirn. »Du brauchst diese Bügel unter den Sohlen?« schrie er zu mir herüber.
»Dort, woher ich komme, reiten wir auf diese Weise. Kein Stoß kann uns herunterwerfen.« »Woher kommt ihr?« »Aus einem Land, das jenseits der Säulen des Melkart liegt. Im Westen. Eine Geschichte für einen langen Abend an deiner Tafel.« »Seht! Dort, die Schleuderer!« Etwa zweihundert Balearen übten ihre Kunst. Die meisten von ihnen schwangen die Riemen der Schleuder pfeifend über ihren Köpfen, andere luden faustgroße Kiesel in die breite Vertiefung der Riemenmute, andere lösten die Schleuder. Die Kiesel heulten hundert, zweihundert Schritt durch die Luft und trafen die zerbeulten Schilde oder die scheppernden Helme von aufgestellten Strohpuppen oder säulenartigen, lederumhüllten Zielen. Die Anführer schrien gellend, hin und wieder klatschte eine Peitsche, und die Körper der Krieger waren schweißnass. Eine andere Gruppe versuchte, im Laufen ihre Ziele zu treffen. Sie übten in einem fast leeren Bachbett, das voller Kieselsteine war. Mit donnernden Hufen galoppierten wir vorbei. Begeistert begannen die Schleuderer zu schreien, als sie den jungen Feldherrn sahen. Er wandte sich an Arconrik. »Kannst du das auch?« »Willst du, daß ich es dir zeige?« fragte mein Freund. Hannibal lachte laut und glaubte es ihm nicht. Arconrik riß sein Pferd herum, raste entlang des Bachufers und ließ sich nach links aus dem Sattel kippen, bis seine Kniekehle am Sattelknauf hing und seine Hand fast am Boden schleifte. Ein Griff, und er hielt einen Kiesel in der Hand, größer als meine Faust. Sein Körper richtete sich gerade in dem Moment wieder auf, als sich der Mantel im Schwemmholz zu verwickeln drohte. Dann beschrieb Arconriks Arm einen Halbkreis, der Stein jagte in einer flachen Kurve etwa dreihundert Schritt weit und
hämmerte die Reste eines Helms mitsamt dem Holzpfahl von der Zielpuppe. Etwas langsamer ritt er wieder zu uns zurück, und er rief Hannibal zu: »Wir haben ein Jahr lang die Überfälle der Gallier überlebt. Auch auf diese Weise wehrten wir uns.« Die Reiter schrien begeistert. Die Schleuderer ließen ihre Riemen sinken und gafften hinter uns her; fast jeder von ihnen hatte Arconriks Wurf mit angesehen. In Hannibals Gesicht war ein sehr nachdenklicher Zug getreten. Wir ritten in einem riesigen Kreis um Neu-Karthago herum. An vielen Stellen waren die Palisaden der ehemaligen Handelsstation niedergerissen. Hier entstanden wuchtige Mauern, wie wir sie von den Bildern Karthagos her kannten. Zwischen einem Steinbruch und der Stadt bewegte sich ein schier unendlicher Zug von Gespannen. »Hasdrubal läßt die Stadt befestigen, als ob er einen Krieg erwartet«, fragte ich, als wir wieder an Hannibals Seite ritten. »Werden römische Legionen angreifen?« »Wir haben dieses Land erobert, weil uns Sizilien und Sardinien von den Römern genommen wurde. Das wird kein zweites Mal geschehen.« »Ich habe verstanden. Deine Soldaten, sie sind zur Verteidigung da.« »Wenn es nötig wird. Bis dahin üben sie und bleiben in ihrem Lager.« Wieder ritten wir entlang riesiger Felder. Der Tausch von Lebensmitteln, besonders Korn in gewaltigen Mengen, hatte nicht nur Karthago reich gemacht, sondern hielt auch den Reichtum der Kolonie hoch genug. Die Karawanen kamen von allen Teilen der Halbinsel, und die Handelsschiffe liefen unzählige Handelsstationen an den Küsten an. Die Handelsherren, allen voran die Familie der Barkas, drängten auf die Gründung der Kolonien.
»Wo arbeiten die Männer«, fragte Arconrik, »die eure Waffen schmieden, von denen die Handwerker lernen?« »Im Nordosten der Stadt. Wir reiten dorthin.« Das Lager der Soldaten bestand aus Hunderten großer Zelte. Gegen Nässe und kalten Wind waren die Seiten mit Erdreich bedeckt. Feldzeichen ragten vor den einzelnen Blöcken auf. Unzählige Feuer rauchten innerhalb der Reihen zugespitzter Bohlen. Die Soldaten begrüßten den jungen Mann mit frenetischem Jubel. Wir waren am meisten beeindruckt von den Gestellen, in denen die Lanzen der Hopliten steckten: Es waren lange Schäfte, an beiden Enden mit Spitzen versehen. Die längsten erreichten mehr als dreieinhalb Mannslängen. Ich versuchte, die Anzahl der Soldaten in diesem Lager abzuschätzen. Siebentausend? Zehntausend? Nicht sehr viel mehr. Aber auch sie hatten ihre Handwerker, die im Schutz von Holzwänden und Leinwandsegeln arbeiteten. Sie stellten Speerkatapulte her, Teile von Ballisten, mit denen Steinbrocken geschleudert wurden, sie besserten Schilde und die Wagen des Trosses aus. Ich sah ihnen zu, und sehr bald erkannte ich, daß mit einfachen Mitteln sehr viele Techniken zu verbessern sein würden – aber ich war nicht hier, um den Krieg furchtbarer und tödlicher werden zu lassen. Hast du wirklich erwartet, schaltete sich der Logiksektor ein, daß du in Karthago oder Rom erste Ansätze der Raumfahrttechnologie findest? Ich beobachtete mit Arconrik den jungen Mann, der durch das Lager lief und zu seinen Soldaten sprach. Hannibal redete ihre Dialekte, er machte rauhe Scherze, er schien hart und unbeugsam zu sein und flößte jedem im Lager Respekt ein. Ich erkannte, daß er ein hervorragender Kämpfer sein mußte und das Zeug zu einem großen Feldherrn hatte. Vielleicht gelang es mir, ihn davon zu überzeugen, daß der Handel mit Nahrungsmitteln, Erfindungen und Wissen, ausgedehnt über den bekannten Pfeil der Welt, sinnvoller war als jeder Krieg. Leise
sprach ich mit Arconrik, und wir entwickelten erste Schritte eines derartigen Versuchs. »Und wenn alles fehlschlägt«, schloss er, »dann bleibt uns noch ein Besuch im fernen Land des Ostens.« »Ungern«, murrte ich. Mit Hannibal und den Numidiern ritten wir durch die Felder zurück und betraten die Stadt wieder durch das östliche Tor, das, weil in die Richtung auf Rum zeigend und auf Massilia, besonders wuchtig erbaut und von Schutzwällen und Gräben gesichert war. Dumpf dröhnten die Hufe der Pferde auf einer breiten Brücke. An einem anderem Tag: Beilarx saß vor der großen Arbeitsplatte meines Zimmers. Sie war mit hellem Leder überzogen. Die Nähte waren so fein, daß sie bei keiner Arbeit störten, nicht einmal beim Schreiben und Zeichnen. Auf dicken Stofftüchern standen die runden Füße der Weinpokale. Immer wieder ging der Blick des Verwalters zu den Platten an der Wand. Dort hatte ich eine große Anzahl der modifizierten Höhenbilder mit Bronzenägeln angeheftet. Vor mir lagen weitere Unterlagen dieser Art und die Stifte und Griffel. Endlich hob Beilarx den Pokal und murmelte, mühsam beherrscht: »So also sieht das Land ans, wenn es ein Vogel betrachtet.« Mein Vogel Bendis schwebte mittlerweile weit im Osten, im Zickzack zwischen dem Land und dem vielfach eingebuchteten Meer. Er übermittelte uns weitere Informationen, die Arconrik bearbeitete. »Diese Linie«, ich zeigte auf eine zerknitterte und fleckige Karte, in die ich Entfernungsangaben und ein Gitternetz eingezeichnet hatte, »zeigt, welche Orte wir in Gallien, jenseits der Berge, besucht haben.« »Hätte Hamilkar Barkas, Hannibals Vater, als er das Strategen-Amt für Libyen bekam, solche Karten gehabt…«
»Vielleicht hätte er gesiegt. Aber ich meine, daß Handel besser ist als Kampf. Warum besiegt ihr Punier nicht die Völker mit Silber, Gold und anderer Macht als der des Schwertes?« »Du meinst, so lautlos, wie es unsere Ahnen einst taten?« »Ähnlich«, stimmte ich zu. »Und in Ländern, in die Rom niemals kommen wird. Ich kann sie euch zeigen. Ich kann eure Schiffe führen und die Karawanen. Dort solltet ihr die Soldaten einsetzen, zum Schutz des ungestörten Handels.« »Das ist es, was Hasdrubal will«, bestätigte er. »Mit dem Jungen wirst du es schon schwerer haben, obwohl er sehr klug ist. Aber er scheint ein Mann des Kampfes zu sein; seine Freunde sind die Soldatenführer.« »Wir haben es gesehen.« Der Vorhang glitt zur Seite. Narnia kam herein und trug einen gefüllten Weinkrug. Beilarx blickte einmal gleichgültig hin, dann zuckte er zusammen und starrte sie an. So sah er sie zum erstenmal. Sie lächelte mich lange an, wandte sich dann zu ihm und füllte den Pokal. Beilarx hüstelte, und ich fragte ladend: »Du hast sie mir geschickt. War es ein Geschenk, das mir gehört, oder muß ich sie dir abkaufen? Du siehst, wie ein wenig Pflege die Menschen verändert. Dies, in tausendfachem Maßstab, könnten die Handelsherren Karthagos überall tun.« Beilarx machte eine fahrige Handbewegung, als ob es ihm unwichtig sei, über den Wert einer Sklavin zu sprechen. Dann knurrte er: »Bei Tanit! Ihr seid Hexer, dein Freund und du.« Narnia war neben mir stehen geblieben. Ich stand auf und faßte sie um die Schultern. Ihr Haar war gepflegt und gebürstet worden, glänzte wie Metall und thronte in eines komplizierten Hochfrisur auf ihrem Kopf. Die Haut schimmerte, die Umrandung der Augen war heller, ein wenig Farbe hob die Einzelheiten des Gesichts hervor. Arconrik und die Dienerinnen hatten lange gebraucht, bis sie die schwere, lastende Klei-
dung verändert und angepaßt hatten. Das Mädchen war nicht wieder zu erkennen, wenigstens für Beilarx. »Keine Hexer. Wir stehen auch nicht mit den Göttern in Verbindung«, antwortete ich nachdrücklich. »Wir sind von euch als Freunde aufgenommen worden und danken, indem wir zeigen, was wir besser können. Sag es Hasdrubal. Ich bitte ihn, hierher zu kommen, mit Hannibal. Es ist unsinnig, die Bilder durch den Regen zu tragen.« Halblaut sagte Narnia: »Arconrik läßt dir sagen, daß die Nordnadel fertig ist.« »Danke«, antwortete ich. »Und bringe den Herrn aller Handelsschiffe mit, wenn ihr kommt. Schickt einen Boten, ja?« Auf zierlichen, halbhohen Stiefeln mit erhöhtem Absatz huschte die junge Frau hinaus. Sie war dreiundzwanzig Sommer alt, hatte sie mit Hilfe der Finger erklärt, analphabetisch und abergläubisch, aber ein paar Tage in unserem Haus hatten genügt, ihr Selbstbewusstsein etwas aufzurichten. Sie begriff rasch, mit der typischen Anpassungsfähigkeit eines Versklavten. Schweigend schaute ihr Beilarx nach. Dann trat er an die Karten und Höhenfotos heran und schüttelte den Kopf. Zum erstenmal sah ein Karthager eine solche Karte, und er war klug genug, sofort zu erkennen, welche Kostbarkeit die Erfindung darstellte. Um seinen Gedanken die gewünschte Richtung zu geben, erinnerte ich ihn: »Nur Arconrik und ich beherrschen diese Kunst. Wir lehren euch, sie zu verwenden.« »Ich gehe«, sagte er mit rauer Stimme. »Hasdrubal wird euch reich belohnen. Was wollt ihr haben?« »Nichts oder nur wenig«, ich grinste. »Wir haben eigenes Gold, brauchen kein Heer, leben in einem schönen, warmen Haus, und dank deiner Großzügigkeit liebt mich das schönste Mädchen von Neu-Karthago. Was wir nicht wollen, ist Kampf
gegen andere Reiche.« Beilarx stieß einen punischen Fluch aus, den ich nicht verstand, hob grüßend die Hand und stapfte aus dem Raum. Meine gute Laune nahm ein wenig zu. Vielleicht waren wir endlich einmal auf dem richtigen Weg und beschritten ihn mit den richtigen Partnern. Eine Handvoll Tage danach: Die Karte, die Arconrik und ich entwickelt hatten, war bewußt kein Meisterwerk geworden. Alle Geländemerkmale waren vorhanden. Die übereinander greifenden Blätter zeigten die Länder im westlichen Teil des Binnenmeers und einen Teil des Weltmeers, bei Gades beispielsweise und unterhalb der Säulen des Melkart, das jenseits der hispanischen und afrikanischen Landmasse lag. Nur wenige Städte waren eingetragen worden: Massilia, Gades, NeuKarthago, Utika, Saguntum und die balearischen Inseln. Jeder Fluss und jede uns bekannte Straße aber war vermerkt. Jeder erfahrene Karawanenführer konnte auf dieser Karte die Schwierigkeiten recht genau abschätzen. Ich deutete auf das riesige Land im Süden. »Ihr kennt nur Libyen und die Wüstengebiete südlich der Hauptstadt. Ich sage euch, dieses Land ist reich an allem, was ihr handeln könnt. Und dorthin wird Rom seinem Fuß niemals setzen.« »Und ihr seht ebenso«, nahm Arconrik meinen Vorschlag auf, »daß es noch unendlich viele Straßen zu bauen gibt. Überall, wo ihr grüne Flächen seht, leben Menschen, die eure Waren brauchen. Aber sie wissen nicht, daß es punische Händler gibt.« Die Männer waren überrascht. Es war zuviel für sie. Sie fragten nicht einmal, wie solche Karten entstehen konnten. Natürlich besaßen auch sie Geländebeschreibungen und Aufzeich-
nungen über Entfernungen und Schiffskurse, aber die meisten Kenntnisse waren mündlich weitergegeben worden. Sie rechteten perfekt, diese Punier, aber von literarischen Hinterlassenschaften wußte ich nichts. Nach einer erregten Unterhaltung wandte sich Hasdrubal an mich. »Dort, woher ihr kommt, beherrscht man seltsame Künste. Was willst du, Demetrion, wirklich von uns? Warum dieses Geschenk?« Ich versuchte es ihm zu erklären. Durch ein Netz von Handelsbeziehungen würde Karthago das Beste aller Wissenschaften und unermeßlichen Reichtum »erhandeln« können, aus vielen Teilen der bekannten Welt. Hasdrubal verstand, aber Hannibal erhob die Stimme. »Was haben die schwarzen Menschen im Süden, was uns noch fehlt?« Ich schüttelte den Kopf und deutete auf das lang gezogene Land am Neilos. »Dort, beispielsweise, werdet ihr Dinge erfahren, von denen ihr nicht einmal träumt. Und entlang des Flusses, einem leichten Handelsweg, könnt ihr ohne Gefahr in die Mitte Afrikas vorstoßen.« »Mit unseren Schiffen«, sagte Megar Giscon, »rudern und segeln wir überall hin. Du wolltest uns etwas zeigen, Arconrik?« »Später. Auf deinem besten Schiff.« »Auf der LÄCHELN TANITS«, sagte er. »Du kennst all diese Gebiete, die Städte, die Menschen?« Ich wiegte den Kopf und Arconrik nahm mir die Mühe der Erklärung ab. Er schilderte einige unserer angeblichen Reisen und berichtete von anderen Händlern, die wir getroffen und die uns Schilderungen gegeben hatten. Dort, wo es edle Metalle gab, wurde seine Rede besonders blumig, denn die Backiden bezahlten ihre Soldatenmacht mit dem Silber der hispani-
schen Bergwerke. Hasdrubal kam um den Tisch herum, packte mich an den Oberarmen und näherte sein Gesicht meinen Augen. »Freund Demetrion!« Seine Worte waren halblaut, aber von seltsamer Eindringlichkeit. »Du und Arconrik, ihr könntet große Söhne von Qart Hadasht sein! Ich selbst werde den Rat der Dreihundert und die dreißig Ältesten aufsuchen. Als Stratege kann ich mit den Soldaten machen, was mir richtig erscheint. Aber diese gewaltige Änderung kann niemand allein vorschlagen.« Ich begegnete seinem fiebrigen, aufgeregten Blick einigermaßen ruhig. Auszeichnungen dieser Einmaligkeit erregten unnötigen Neid. »Das ist nicht alles«, entgegnete ich. »Ich zeige euch noch mehr. Sorg du dafür, daß jene Sklaven, die sichere Handelsstraßen anlegen werden, nicht schlimmer gehalten werden als das Vieh. Mach sie satt und gib ihnen gutes Werkzeug. Dann wird diese Karte bald so aussehen wie jene!« Dabei zeigte ich auf unseren Reisebericht aus Gallien. Dieses Gebiet, in das sich nur römische Händler wagten, könnte NeuKarthagos nächstes Ziel sein. »Es ist zuviel, um es gleich zu verstehen«, meinte Hannibal. »Aber an der Spitze eines guten Heeres werde ich diese Wege öffnen.« »Auf diese Weise«, wagte ich zu sagen, »ist eine Armee sinnvoll in Frieden zu verwenden.« Der demütigende Vertrag mit Rom, der den Fluss Hiberus als Grenze festgelegt hatte, wurde in dieser Nacht nicht mehr erwähnt. Wir gingen alle ins Haus des Hasdrubal, bedienten uns dort an der »Tafel der freien Auswählung« – so nannten die Punier jene Art des Gastmahls, und unzählige Fragen und Antworten vermochten die mächtigen Männer auf dieses Vorhaben einzustimmen, das einzigartig in der Geschichte Kar-
thagos werden konnte. Nur einen halben Mond später, in der Morgendämmerung, betraten wir das Deck der LÄCHELN TANITS. Die Sonne bildete einen hellen Fleck im Nebel. Wir hatten lange auf diesen Tag gewartet. Arconrik trug einen Holzkasten, einen Würfel, dessen Seiten etwa handlang waren. Narnia hatte sich uns angeschlossen, aber sie fürchtete, an Bord würde ihr elend werden. Nicht heute, beruhigte ich sie, denn die See war spiegelglatt. Die riesige Quinquereme schien uns aus den riesigen Augen auf beiden Seiten des Bugs, über dem Rammsporn, neugierig anzustarren. Drei lange Riemen übereinander wurden von fünf Ruderern bewegt; das beste und schnellste Schiff wurde nicht von Rudersklaven, sondern von Soldaten vorwärtsgetrieben. Im leuchtenden Nebel sahen wir gerade noch die Hafenausfahrt. Megar Giscon, der vom Bug bis zum Heck siebenunddreißig Schritte zurückgelegt hatte, wobei er die Ruderer aufmunterte, hüllte sich in seinen Mantel und knurrte: »Und wir werden uns doch verirren! Kein Kapitän läuft bei diesem Nebel aus.« »Wir kommen zurück. Er sagt es«, beharrte Arconrik im gleichen Tonfall, zeigte auf mich und wartete ab, bis die Leinen gelöst, das Schiff herumgedreht und die Riemen eingesetzt waren. Glucksend schlugen die kleinen Wellen an die dünnen Bleiplatten der Bodenverkleidung. Ein Trommelschlag gab den Takt an, und wie eine Spinne mit hundertsechzig Beinen – die Griffe der Riemen waren innerhalb der Ruderdecks mit Seilen verbunden – bewegte sich die LÄCHELN TANITS aus dem Hafen. Es war Winter und empfindlich kühl, aber es ging kein Wind. Wir stellten uns unter das Zelt, das im bogenartig gekrümmten Kielende über dem Achterdeck gespannt war. Noch immer besaßen die Schiffe nur seitlich angebrachte Steu-
erruder. »Wie weit? Wohin?« wollte Megar wissen. Ich antwortete dem Admiral: »Möglichst weit geradeaus, südliche Richtung.« Während man uns heißen Würzwein brachte, ruderten mehr als dreihundert Männer das Schiff etwa eine Stunde lang bemerkenswert geradeaus. Der Nebel wich nicht. Die Geräusche des Schiffes und das Rauschen und Gurgeln der Wellen waren die einzigen Laute; jeder von uns fühlte sich eingeschlossen in diese seltsame Welt. Arconrik nahm dem Steuermann das Ruder aus der Hand und begann, einen wirren Kurs zu steuern: Es war die Stunde, in der die Sonne hinter fernen Wolken ganz verschwunden war. Die LÄCHELN TANITS hob und senkte sich in einer langen Dünung, jetzt hörten die Ruderer auf, die Riemen zu bewegen. Niemand wußte, wo wir uns befanden. Arconrik winkte uns zu sich und klappte den Deckel des Würfels auf. Wir sahen einen Bronzekreisring, der die römischen Großbuchstaben N, S und die Kürzel für Ost und West trug, dazwischen eine Stricheinteilung. Zwischen einem dünnen, federnden Bogen aus Draht und dem Zentrum des Ringes spannte sich ein Faden, zwischen dessen Knoten eine dünne eiserne Nadel sich herumschwang. Langsam drehte Arconrik den Kasten, bis die Spitze der Nadel nach Norden deutete. »Dort, wohin die Nordnadel zeigt, liegt Neu-Karthago!« sagte er mit Bestimmtheit. »Bringt das Schiff in diese Richtung und rudert eine Stunde lang. Wir sollten den Hafen nicht weit verfehlt haben.« Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Megar Giscon, sein Steuermann und die anderen Punier begriffen hatten, daß sie auf diese Weise sicher navigieren konnten. Die LÄCHELN TANITS kam fünf Bogenschuss weit östlich des Hafens aus dem Nebel heraus, und die Punier wurden von der Erklärung
Arconriks zufrieden gestellt: Die Spitze der Nordnadel stammt von einem Gebirge aus Eisen, das fern im Norden liegt, und da sie dorthin zurück will, zeigt sie stets in diese Richtung. Megar erkannte die Vorteile ebenso schnell, wie er die Wichtigkeit von Landkarten verstanden hatte. In den kommenden Tagen fertigten wir noch vier Nordnadeln an und schenkten sie den Puniern – die Magnetisierung des Eisens würde einige Jahre lang anhalten, ebenso wie die Farbe der Karten. Dann, vielleicht, waren sie selbst fähig, Karten zu zeichnen und magnetisches Eisen zu verwenden. Während Hannibal in Karthago war – er begleitete mit wenigen kriegsfesten Fünfruderern eine große Flotte Lastschiffe, die Korn und Silber aus Hispanien in die Mutterstadt schleppten –, einigten wir uns mit Hasdrubal und den Mächtigen der Kolonie. Für uns wurde ein kleines, seetüchtiges Schiff gebaut, dessen Laderaum den getarnten Gleiter aufnehmen konnte. Unsere Aufgabe sollte sein, die besten Seewege zu Völkern zu finden und Boten nach Karthago zu schicken, die darüber berichteten. Eine ausgesuchte Mannschaft sollte uns begleiten, die wir die benötigten Fähigkeiten lehrten. Die Schiffsbaumeister arbeiteten schnell und gut; immerhin waren sie in der Lage, aus immer gleichen Teilen schnell viele Schiffe zusammenfügen zu können. Aber wir stellten ihnen Aufgaben, an denen sie einerseits verzweifelten, andererseits lernten: ein Ruder, das in schweren Drehlagern steckte, eine Besegelung, mit der man höher an den Wind gehen konnte, ein beschwerter Kiel und anderes, das sie schließlich begriffen und guthießen. Im Frühling, ein Jahr vor der neununddreißigsten Olympiade in Griechenland, befand ich mich wieder in der Werft und sah zu, wie Bronze zu dünnen Blechplatten geschlagen wurde. Mit diesen Platten verkleideten wir das Unterschiff der FERNE LÄNDER. Über das unregelmäßige Hämmern der Schmiede
und Metallgießer hinweg hörte ich einen Lärm, der nicht hierher paßte. Es war Mittag. Die Sonne brannte herunter, und ein numidischer Reiter sprengte rücksichtslos durch die Werft. Er winkte mir mit den Wurfspeeren. »Demetrion! Schnell! Man hat Hasdrubal angefallen!« Ich zuckte zusammen. Schrecken und Enttäuschung packten mich. Unser bester Bundesgenosse. Der mächtigste Mann, von dem Wohl und Wehe aller Pläne abhingen. Ich rannte hinter dem Numidier her und sah Arconrik, der meinen weißen Hengst hinter sich am Zügel herzerrte. Ich schwang mich in den Sattel und schrie, während sich die Tiere aufbäumten und wiehernd auf der Torstraße dahingaloppierten. »Die Arzttasche, Arconrik?« »Ich habe sie. Niemand weiß, was wirklich passiert ist. Es geschah im Lager der Soldaten.« Wir ritten schneller und schneller, entlang der östlichen Befestigungen. Mehr und mehr Reiter stießen zu uns. Es herrschte allgemeine Ratlosigkeit, und je näher wir dem Lager kamen, desto größer wurde der Lärm. Tausende von Soldaten aller Waffenarten schrien und fluchten. Die Numidier und deren Anführer schlugen uns einen Weg durch die Lagerstraßen bis zum großen Feldherrnzelt frei, das auf einer erhöhten Plattform aufgebaut war. »Platz für den Heiler! Aus dem Weg. Laßt Demetrion ins Zelt.« Ein Viereck dichtgedrängter Leiber umgab das Zelt. Wir kämpften uns hinein. Sie hatten den Körper Hasdrubals auf die Tischplatte gehoben. Ich schob die Anführer zur Seite. Arconrik mit seinen unglaublichen Kräften hielt sie vom Feldherrn zurück. Hasdrubal war blutbesudelt. Sein Gesicht war blutleer, von wächserner Blässe. Ich faßte nach dem Puls, hob das Augenlid, versuchte festzustellen, ob noch Leben in ihm war. Die Haut war eiskalt. Breite Blutspuren bedeckten die
Strohteppiche am Boden. Es stank nach Exkrementen. Mit offenen Mündern und Tränen in den Augen starrten uns die Anführer an, als ich mich schließlich umdrehte. »Er ist tot!« sagte ich laut. »Wie ist das geschehen? Mord?« Draußen stimmten die Soldaten ein Heulen und Wimmern an, das die Nerven marterte. Die Anführer senkten die Köpfe. Die Männer schlugen mit den Waffen an die Schilde, und dieses Gemisch aus Geschrei, Klappern und Klirren fuhr über das Lager hinweg wie ein Gewitter. Furcht und Trauer erfaßte jeden. Ich schnitt mit dem Dolch die Kleidung auf und sah die schauerlichen Wunden – Hasdrubal war schon tot gewesen, ehe wir das Lager erreicht hatten. Mit langsamen Schritten, schweißüberströmt, ein einziges Bündel hilfloser Wut und rasenden Zorns, kam Beilarx ins Zelt. Er hob den Blick, wechselte mit Arconrik und mir einen Augenkontakt und sagte wie ein Mann, dessen Lebensmut gebrochen ist: »Ein Gallier aus dem Norden. Hasdrubal hat dessen Herrn hinrichten lassen. Der Mörder steht draußen, und bei Baals Feuer, er lacht. Er lacht!« Ich machte eine Gebärde der Hilflosigkeit. »Es war nichts mehr zu helfen«, sagte ich. »Wir haben einen Freund verloren, Beilarx.« Er holte tief Luft, als würde er seine Worte hervorheben. »In vielen Jahren werden wir wissen, was dieser Mord bedeutet. Nun ruht alle unsere Hoffnung auf Hannibal. Ich komme heute Nacht zu dir, Demetrion – laßt uns tun, was getan werden muß.« Wir entfernten uns und redeten leise mit den Anführern. Der Verwalter verschaffte sich endlich Ruhe und rief dann, daß ein Bote nach Karthago geschickt werden würde. Bis Hannibal eintraf oder ein Mann, der vom Rat bestimmt war, unterstanden Stadt und Lager dem Beilarx. Den Gallier gab er zur Folte-
rung frei. Ich begann zu ahnen, daß sich die Zeiten rasch ändern würden. Schweigend ritt ich neben Arconrik zurück zu unserem Haus. »Hannibal«, sagte der Robot, als wir unter dem Sonnensegel auf der Terrasse saßen, »wird entscheiden. Ich hingegen rate, ihm dann nicht zu helfen, wenn er wieder gegen Rom zieht. Schon immer war es Selbstmord, den Krieg in die Ferne zu tragen. Aber, wer weiß, vielleicht…« Ich winkte ab. »Sprich nicht von Krieg. Denk an unser Vorhaben. Auf diesem Planeten gibt es viele Mächtige.« Wir versuchten, so sinnvoll wie irgend möglich zu arbeiten. Die FERNE LÄNDER wurde fertig gestellt, ausgerüstet und eingesegelt. Narnia lernte Schreiben und Lesen. Wir ritten durch das blühende Land, badeten in verschwiegenen Buchten und werteten die Bilder und Eindrücke aus, die uns Bendis übermittelte. Wir setzten vorsichtig kulturelle und zivilisatorische Samenkörner und wußten, daß sie vielleicht Wurzeln schlagen würden – mit größerer Wahrscheinlichkeit jedoch würden sie absterben wie so vieles. Hannibal kam zurück; die Soldaten hatten ihn zum Strategen gewählt. Zuerst zog sein Heer gegen die nördlich lebenden Olkader; er eroberte Kartala und trieb die Kolonisation weiter. Hermandike und Arkobola fielen. Die Macht Neu-Karthagos wuchs. Vierzig Elefanten, deren Anblick Hannibals berittene Gegner tödlich erschreckte, waren Teil seines Heeres. Als fast die gesamte Landmasse an Karthago tributpflichtig geworden war, trafen wir, zufällig, im Hafen zusammen. Er war freundlich, aber alle Pläne Hasdrubals schienen vergessen zu sein. Obwohl er sich benahm wie ein einfacher Soldat, schien er alle seine Vorstellungen auf einen fernen Punkt gerichtet zu haben.
»Hasdrubal wollte die Welt mit dem Handel erobern«, sagte ich und bedauerte, ihm die Karten überlassen zu haben. »Du eroberst sie mit dem Heer.« Er nickte. Wir wußten, daß seine Tapferkeit in den bisherigen Kämpfen sprichwörtlich gewesen war. »Es mag ein Fehler sein, Demetrion«, sagte er, »aber ich bin der Sohn Hamilkars. Ich messe mich in ihm.« Es war wie das Gespräch zweier Männer, die Abschied voneinander nehmen. Alle meine Versuche, ihn zu beeinflussen, waren letztlich abgeprallt wie ein Speer von einer Mauer. »Auch du wirst die Erfahrung machen, daß die Weltherrschaft ein schauerlicher Traum ist. Reiche kommen und zerfallen. Nur die Menschen bleiben und deren Probleme. Und deine Kraft, dein Mut, die sterben, wenn dich ein Speer trifft.« Er hob die Schultern und blickte in die Richtung, in der Rom lag. »Wahrscheinlich habt ihr recht, Demetrion, du und Arconrik. Ich muß tun, was richtig ist. Du bist ein Freund Karthagos, und daran wird sich nichts ändern. Ich habe von euch viel gesprochen; die Nennung meines Namens öffnet euch jedes Tor. Du magst an meiner Seite kämpfen, du magst mit dem Schiff segeln, und vielleicht kommt ein Tag, an dem ich bedaure, nicht deinem Rat gefolgt zu sein.« »Du willst gegen Rom kämpfen?« fragte ich nach einer Weile. »Rom ist eifersüchtig auf Qart Hadasht. Die Legionen werden uns angreifen. Ich weiß mich zu verteidigen – die Mutterstadt und Neu-Karchedon.« Folge seinem Rat, sagte der Logiksektor. Verfolge an anderer Stelle deine Pläne und die Vorhaben von ES. Ich antwortete: »Unsere Wege werden sich kreuzen, Stratege Hannibal. So wirst du sehen können, wie dein Krieg zerstört und mein Handel und meine Wissenschaft wieder aufbaut.«
Er legte die Hand auf meine Schulter. »Das ist der Lauf der Welt. Du sollst das Glück haben, das du mir wünschst.« Ich wußte nicht, daß mehr als tausendachthundert Tage vergehen würden, ehe ich den Feldherrn wieder traf. Der Abschied von Neu-Karthago war kurz, aber herzzerreißend. Kulcha und die Sklaven, der narbenbedeckte Schiffsbaumeister, die Männer, die dank unserer Hilfe reicher und wichtiger geworden waren, einige Anführer, mit denen wir geritten waren und wilde Scheingefechte geführt hatten – alle jene Leute bedauerten, daß wir gingen. Ein Dutzend junger Männer ging mit uns, dazu eine Handvoll Freier, die sich freiwillig anschlossen. Eine Nacht lang sprachen Arconrik, Narnia, Beilarx und ich, ehe wir uns trennten. Auch der Oberste Verwalter sah die Zukunft verdüstert von Feuer und Krieg. Dann legte die FERNE LÄNDER ab, wurde aus dem Hafen gerudert, setzte die roten Segel und machte sich auf den Weg. Das Meer war ruhig; ein gleichmäßiger Wind schob uns. Nach Osten. Und einem langen Jahr entgegen, dessen Sommer noch vor uns lag.
9. Die verwirrende Landkarte der keimenden Zivilisationen des Planeten zeigte in diesen Jahren nur wenige Kristallisationspunkte. Krieg und Barbarei herrschten unverändert. In diesem Jahr, als der junge Karthager sich anschickte; die Grenze nach Osten zu überschreiten und Rom herauszufordern, hatte der König von Ch’in den ersten und höchsten Herrschertitel angenommen. Alle Teilkönigreiche der Chou, die kleineren Herrscherhäuser der Yen, Ch’u, Wei oder Chao waren aufgelöst. Der Staat, eine übergeordnete Einheit, löste die Fürstentümer
ab. T’ien-hsia, die »bewohnte Fläche«, brauchte eine neue Zeit und einen neuen Mann. Shih Huang-ti, der vergottete Ahn, Herrscher des Goldenen Glanzes und der Mehrung, hatte die Herrschaft angetreten. Die Stadt, von der aus Millionen und aber Millionen gelbhäutiger, mandeläugiger Barbaren die neuen Gesetze auszuführen hatten, war Hsien-yang am Ufer eines der Flüsse, die stets gelb färbendes Schwemmgut mit sich führen. Shih Huang-ti und Li Ssu, ein Mann mit dem kalten Verstand einer Maschine, setzten ihre Vorstellungen schnell und rücksichtslos durch. Aber vieles (Vereinheitlichung aller Münzen, Maße und Gewichte, die Einführung der » Kleinen Siegelschrift«, die Merkmale vieler unterschiedlicher und verwirrender Schriften zusammenfasste, selbst die vorgeschriebenen Maße der Wagenachsen) war nur indirekt in den Köpfen des Herrschers und seiner Minister zuerst geträumt oder gedacht worden. In der kleinen Siegelschrift entstand auch eine Chronik, die den seltsamen Namen trug: Beschreibung der fremden Männer, die durch Jahre und Zeiten wandern. Seltsame Vorgänge waren darin enthalten, aber nur wenige vermochten zu lesen, was Meng T’ien, der General, hatte aufschreiben lassen. Li Ssu verbeugte sich. Mit seiden Händen hob er die Schale hoch und trank geräuschvoll. Dann stellte er die hauchdünne Tonschale ab und sagte in einem Tonfall, der schwer zu deuten war: »Seit einem Mond, Herrscher des Jadeschiffs, sprechen wir miteinander. Und immer erhält der General, der Herr über tausend Bronzeschwerter, die gleiche Antwort.« Arconrik, in einer phantastischen Halbrüstung, stand an die Säule gelehnt und sagte in unwiderruflicher Härte: »Wir sind Händler wunderbarer Dinge. Wir handeln mit Wissen und Erfindungen. Wir sind nicht hier, um Meng T’iens
Arbeit zu tun. Er ist General, er soll kämpfen. Sage dies mit aller Verehrung deinem Herrn, Mann aus Ch’u.« Ssu war einen Kopf größer als der Durchschnitt der Bewohner dieser Flussebene. Sein schwarzes Haar war im Nacken zu einem kurzen, dicken Zopf zusammengefaßt und von einem Goldreifen gehalten. Seine Hände und sein Gesicht waren die eines hart arbeitenden, aber unablässig nachdenkenden Bauern oder Jägers. Mit seiner Stimme beherrschte er sämtliche Tonarten, von schmeichelnden Bitten bis zu nadelscharfen Befehlen. Er war einer der drei mächtigsten Männer in Hsienyang. »Die Hsiung-nu, die im Norden stärker und stärker werden, dringen über die Grenzen ein, verschleppen Menschen, rauben Vieh, brennen die Felder nieder.« »Dann baut einen Wall an der Grenze. Oder sollen wir, die Gäste eures Landes, Befahrer eurer Flüsse und begehrte Ratgeber, mit Hacke und Schaufel arbeiten? Und warum kommt der General nicht selbst?« fragte ich. Die beiden Augen der FERNE LÄNDER blickten hinüber zum Palastnebenflügel. Der Stichkanal, auf dem das Schiff vertäut war, wurde von einer Brücke überspannt. In den würfelförmigen Häusern, die auf der Brückenkonstruktion entstanden, würden wir eines Tages wohnen. »Meng T’ien ist mit seinen Truppen in den Norden aufgebrochen.« »Ja, Väter der Überraschung! Und jede Hand, die hilft, ist willkommen. Nein! Sie ist bitter nötig. Wir sind erst in den ersten Monden des neuen Reiches. Wie können wir überstehen, wenn uns schon jetzt der Untergang droht?« Ich dachte mit Bedauern daran, daß jeder Schluck, den Li Ssu trank, unseren Weinvorrat aus Neu-Karthago dezimierte. Also versuchte ich, die lästige Unterhaltung abzukürzen. Ich antwortete in entschiedenem Ton:
»Wenn die Barbaren aus dem Norden und Nordwesten vor den Toren der Hauptstadt erscheinen, werden wir kämpfen. Tröstet dich dieses Versprechen?« »Es wird Shih Huang-ti gut schlafen lassen.« Wir befanden uns in dem Raum unter dem Achterdeck des vertäuten Schiffes. Seit mehr als zwei Monden befanden wir uns in diesem seltsamen Land. Wir waren keineswegs behutsam aufgetreten, sondern hatten versucht, den Eingeborenen zu zeigen, daß wir genug persönliche Macht besaßen, um völlig unabhängig zu sein. Der Vertraute des Göttergleich Erhabenen stand widerwillig auf und verbeugte sich mehrmals. »Dennoch sollt ihr lesen, was der General von euch erbittet.« »Das tun wir gern.« Er reichte uns eine Schriftrolle. Dann zog er sich zurück, auf leisen, strohgeflochtenen Sohlen. Jenseits des breiten Steges, der Damm und Schiff miteinander verband und von Zamolxes bewacht wurde, erwartete ihn seine bronzeklirrende Wache und half ihm auf den großrädrigen Wagen. Arconrik und ich gingen hinauf aufs Deck. »Ohne es genau zu wissen, kamen wir an einem entscheidenden Zeitpunkt hier an, Atlan!« tagte er. Immerhin hatte uns ES die wichtigen Hinweise gegeben. Ich stimmte zu. »Und die Art des Auftretens war für alle Männer der ersten Stunde ein deutliches Signal. Auch die entmachteten Adelsfamilien konnten es nicht übersehen.« »Schwerlich.« In einer sternenklaren, mondlosen Nacht hatten wir die FERNE LÄNDER nach einem langen Flug hinter der nächsten Krümmung des Flusses ins Wasser gesetzt. Mit angeleuchteten Segeln, fast senkrecht nach oben gestellten Riemen, mit dem Widerschein farbiger Lichter auf den funkelnd geputzten Schilden, mit abgefeuerten Lichtpfeilen, dröhnenden Messinggongs und in unsere fremden Rüstungen gekleidet – so fuhren
wir durch den Kanal bis dicht an den Palast heran. Die Wachen, die aufgescheucht zusammenliefen und uns mit Pfeilen und Lanzen beschossen, brachen lautlos unter den Lähmschüssen zusammen. In der Dunkelheit kreiste Bendis und stieß purpurne Blitze und gellende, unheilvolle Schreie aus. Unser drastisches Vorgehen indessen hatte gute Gründe. Aberglauben, hieß das Stichwort. Shih Huang-ti war ein perfekter, besessener Reformator des Landes, aber er war in einem Maß wundergläubig, daß sogar die Fischer an den östlichen Stränden und in den Deltas der gelben Flüsse drüber spotteten. Zudem befanden sich die Anhänger des Kung-futse, eines Glaubenslehrers, unter seiner Gegnerschaft, ebenso alle, die an alten Traditionen hingen. Für sie war ein Oberhaupt, das Expeditionen nach dem Trunk des immerwährenden Lebens ausschickte, eine dubiose Urperson. Aber sie fügten sich; Li Ssu und der General zögerten nicht, drastische Strafen zu verhängen. Um alle Aufmerksamkeit auf die fremden Besucher zu lenken, hatten wir diese Art des Auftritts gewählt. »Unsere Anregungen wurden schnell in die Tat umgesetzt«, meinte Arconrik und betrachtete die Zimmerleute und die Maurer. »Das gesamte bekannte Land ist in chün eingeteilt, deren Verwalter, weil vom Hof eingesetzt, auch jederzeit in Schimpf und Schande aus ihrem Amt gejagt werden können.« »Um so mehr werden sie sich bemühen – leider meist auf dem Nacken der schuftenden Bauern.« »Auch das kann sich ändern.« Dieses riesige, fruchtbare Land war nicht nur durch eine eigenartige, selbständig entwickelte Kultur, sondern auch durch unüberwindliche Hindernisse der Natur von der Umgebung abgekapselt. Da war das Meer, im Norden die Gebirge, ebenso im Westen, die Wüsten und Steppen. Eine unserer Aufgaben würde sein, eine oder mehrere Straßen in westliche Richtung
zu erschließen. Shih Huang-ti und Li Ssu hatten den Prozess, der die Teile eines vielgesichtigen Landes zusammenschmieden sollte, bereits begonnen. Unser Rat hatte bewirkt, daß vieles schneller vor sich ging und ohne die unendlichen Fehler verhängnisvoller Fehlversuche. Die Münzen die geprägt wurden, entstammten unseren Zeichnungen, und wir schufen aus Messing, Bronze und geschmiedetem Eisen die ersten Münzpressen. Ebenso entwickelten wir nach punischem Muster ein System einheitlicher Maße und wirkten an der Einheitsschrift mit. Die Beamten und Handwerker der Ch’in übertrafen uns noch, indem sie für alle Wagen eine identische Breite zwischen den Felgen vorschrieben. Die Neuerungen aber steckten noch in den Anfängen, zudem stellten die nomadisierenden Hsiungnu tatsächlich die erste, wirkliche Gefahr des Reiches dar. Ich öffnete die Rolle, und ehe ich zu lesen anfing, dachte ich an den General. Er ähnelte in seinem Wesen unserem ermordeten Freund Hasdrubal; ein pragmatischer Mann, der lange schweigend überlegte, wenig sagte und schließlich mit allen Konsequenzen handelte. Ihn zeichneten ein trockener Humor, eine große Zechfreudigkeit und eine kriegerische Rücksichtslosigkeit aus, die ihresgleichen suchten. Mein fremder Freund. Männer, die ihr durch die Jahre wandert. Mit der Armee bin ich in den Norden unterwegs und werde auf dem Weg viele andere Truppen ausheben. Lange habe ich darüber nachgedacht, was Arconrik sagte: Ein Stück Mauer ersetzt zehn Soldaten, und Mauern schlafen nicht. Also werde ich beginnen, gegen die Reitervölker einen Wall zu errichten. Auch werde ich viele neue Straßen bauen und Brücken schlagen. Ich bitte dich, bei unseren vielen Gesprächen, folge mir und berate uns. Du wirst uns finden, denn du kennst das Land. Das läßt Meng T’ien schreiben. Ich gab Arconrik das Schreiben und meinte: »Warum eigent-
lich nicht? Wir kennen nicht viel vom Land Ch’in.« Unsere Ruderer, Seeleute und Handelsherren-Söhne hatten auf der langen Fahrt viel gesehen und noch mehr gelernt. ES hatte zweifellos mitgeholfen, uns mehrere Sprachen sprechen und schreiben zu lehren. Einige Handelswege – die natürlich erst von Grund auf ausgebaut werden mußten – zeichneten sich zwischen dem neuentstehenden Großreich und dem Westen ab. Inzwischen gingen viele unserer Truppe im Palast ein und aus und versuchten, herauszufinden, was den risikoreichen Handel lohnte. Sie waren längst keine Punier mehr, sondern eine Art Weltbürger. »Warum nicht?« stimmte Arconrik zu. Je länger wir Seite an Seite lebten, desto mehr verwischte sich das Verhältnis Gebieter-Roboter. Nicht nur dieser Zustand erinnerte mich undeutlich an Vergangenes, auch das Land hier kam mir bekannt vor. Ich war schon einmal hier gewesen. Bendis schwebte heran, schlug seine Krallen in das Segel und krächzte von der Rah herunter: »Huang-ti kommt.« Ein Tag der Rede und Gegenrede offensichtlich. Vom Palast her näherten sich die Krieger. Sie trugen eiserne, geschmiedete Schwerter, Bronzerüstungen, ebensolche Helme und Hellebarden. Zwischen ihnen zogen vier Pferde einen prunkvollen Wagen. Vor dem Steg zur FERNE LÄNDER halfen die Krieger dem mächtigen Mann vom Wagen herunter. Er kam im gleichen Augenblick auf das Schiff, als Narnia in ihrem wunderschönen Gewand die Stufen heraufkletterte. Seide hieß der Stoff, und er wurde aus den Kokons von Raupen gesponnen. In der westlichen Welt würde man jeden Preis dafür zahlen. Wir begrüßten ihn, so gut wir es konnten. Seine Krieger brachten Schemel und Sitze. Wir nahmen auf dem Achterdeck Platz; es war leidlich groß genug. »Ihr seid von weither gekommen«, begann Shih Huang-ti. »Ihr kennt andere Länder. Ihr habt Wissen und Werkzeuge
mitgebracht, die niemand vorher kannte. Kennt ihr auch das Mittel der Unsterblichkeit?« Da war sie wieder, seine Wundergläubigkeit. Langsam schüttelte ich den Kopf und dachte, innerlich belustigt, an den Zellaktivator. »Nein, großer Shih Huang-ti«, sagte ich. »Sei überzeugt, es gibt dieses Mittel nicht. Die einzige Waffe für einen Herrscher ist, in den Herzen, den Worten und Büchern seiner Untertanen unsterblich zu bleiben. Glaube uns, wir würden berühmt und mächtig sein, wüßten wir dieses Mittel.« »Und wenn es jemanden gibt, der es wüßte, wären wir es«, fügte Arconrik hinzu. Narnia schwieg, denn es war in diesem Land Sitte, daß die Frauen sich nicht in die Geschäfte der Männer mischten. Es war bereits ungewöhnlich, daß sie zuhörte. Huang-ti war ähnlich wie seine Krieger gekleidet, nur bestanden Kleidung und zeremonielle Waffen aus edlerem Material. »Ich werde selbst danach suchen«, brummte er mürrisch. »Ich werde durch alle Teile des Landes reisen.« »Dann nimm unsere Leute mit und zeig ihnen, welche Kostbarkeiten sie in ferne Länder bringen sollen«, riet ich. »Auch sie werden nach dem Elixier suchen müssen!« »Sie bringen’s dir, wenn sie es finden«, meinte Arconrik. »Wann erwartest du den General zurück?« »Vor den Winterregen. Werdet ihr ihn beraten?« »Wir entsprechen seiner Bitte.« Arconrik hob das Schreiben in die Höhe. »Habe ich richtig verstanden, daß sich viele der herrschaftslosen Adeligen, die fahrenden Kämpfer und die Fürstendiener dem Heer angeschlossen haben?« »Ja. Ich ließ ihnen keine andere Wahl. Und es ist gut so. Sie spüren, daß sie noch Macht besitzen.« Der Herrscher war klug genug gewesen, uns als Gäste und Vertreter einer fremden Kultur zu betrachten. So entgingen
wir der Teilnahme an allen denkbaren Zeremonie, die den Resten vergangener philosophischer Schulen entstammten. Zwar wurden wir unaufhörlich damit konfrontiert, und Arconrik trug sogar ein Yin-Yang-Amulett, aber wir konnten uns ohne Scheu mit den Handwerkern unterhalten und mit dem Herrscher selbst. »Li Ssu ließ mich wissen, daß ihr einige Pläne gezeichnet habt, für die Bewässerung, für Schleusen und den Weiterbau der Stadt.« »So ist es. Und für Brücken«, sagte ich. »Deine Männer sagen, daß sie es so bauen können.« »Sie können alles, wenn ich es ihnen befehle.« »Die Schmiede indessen jubeln«, sagte Arconrik, »weil wir ihnen zeigten, wie Eisen noch besser und leichter geformt werden kann.« In den vergangenen Jahrhunderten war die Kunst des Bronzegusses fast zur Perfektion entwickelt worden. Nirgendwo hatten wir solch schöne, subtile Kunstwerke gefunden außer in diesem Land. Daher war es nicht verwunderlich, daß die Ch’in auch bald lernten, den Eisenguss zu beherrschen. Auch die Keramik, die mit Hilfe von Blasebälgen hergestellt wurde, war feuerfest. Und die Erze des Eisens, die einen hohen Gehalt an Phosphor aufwiesen, schmolzen bei niedrigen Graden. Innerhalb eines halben Mondes kannten alle Schmiede der Hauptstadt die besten Methoden, Eisen zu schmieden. Äxte, Hämmer und Sägen, breite Beile, Spaten und Hacken, Sicheln und Pflugscharen gab es inzwischen – aus geschmiedetem, geschliffenem Eisen. »Ja. Sie jubeln«, bemerkte der Herrscher. »Und meine Soldaten kämpfen besser und tödlicher.« Wir hatten, weitaus mehr als bei Galliern und Puniern oder Römern, bereits eine Zivilisation in schnellem Aufstieg gefunden. Nur in wenigen Fällen brauchten wir die Ch’in zu über-
zeugen, daß Grundlegendes geändert werden mußte. Selbst Jas Brustgurtgeschirr, das die Pferde und Wasserbüffel beim Ziehen nicht würgte, kannte man hier. »Die Reichseinigung ist ein hartes Geschäft, Herrscher«, sagte ich. »Aber du und Li Ssu, ihr seid auf dem richtigen Weg.« »Jede Neuerung und Veränderung erregt Widerstand«, klagte er. »Es ginge schneller, wenn wir nicht an vielen Fronten kämpfen müssten.« »Eine dieser Fronten wird es bald nicht mehr geben. Wir drei und Xerzos helfen dem General.« »Ja? Wirklich? Ich werde Befehle geben, daß Sklaven geschickt und Arbeiter ausgehoben werden.« »Und vergiß nicht, für Werkzeuge, Zelte und kräftiges Essen zu sorgen«, sagte Arconrik halblaut. »Je mehr, desto schneller werden die nördlichen Wälle fertig.« Shih Huang-ti sprang auf und klatschte in die Hände. Seine Krieger und Träger stürzten auf ihn zu. »Eine Mauer im Norden? Ein riesiges Bauwerk, und niemand wird jemals wagen, den Fuß in unser Land zu setzen.« Seine schwarzen Augen funkelten. Die Falten seines Gesichts zuckten, und er sah listig aus wie ein kleiner Junge, als er mir zuflüsterte: »Und sucht dort auch nach dem Elixier! Hörst du, Demetrion? Man sagt, daß es in der Kälte des Nordens an den Stängeln bestimmter Blüten als Tau fällt.« Ich versuchte ernst zu bleiben und versprach es leichten Herzens. »Wir bringen es dir, wenn wir es finden.« Die Krieger setzten ihn auf den prächtigen Wagen, griffen in die Zügel der Pferde, und der gesamte Zug rasselte und klirrte über die schrägen, bewachsenen Hänge der Kanäle und über die zierlichen Brücken in das Palastviertel zurück. »Vergiss nicht, ehe wir losfliegen«, bat Arconrik mit unbewegtem Gesicht, »ihm deinen Aktivator zu schenken.«
»Auf diesen Vorschlag habe ich seit Tagen gewartet«, gab ich zurück und konnte endlich befreiend lachen. »Wann brechen wir auf?« fragte meine Geliebte. Ich wußte, daß Meng T’ien sehr schnell war. Er wechselte unaufhörlich die Pferde, und auch seine Gespanne wurden ausgetauscht. Die Straßen waren einige Tagesreisen weit neu und gut, dann erst begannen unbekannte Pfade. »In fünfzehn Nächten«, sagte ich. »Auf eine mehr oder weniger kommt es nicht an. Ich werde mir zuerst anhören, was die herrscherliche Bibliothek an Erkenntnissen hergibt.« »Eine vernünftige Zeitspanne«, schloss Arconrik. Wir gingen langsam hinüber in die Schenke, in der wir oft aßen. Eigentlich war alles, was wir unternahmen, fragwürdig und geschah im Bewußtsein, daß wir uns aufbäumten, um einen Teil des Schicksals zu ändern. Wir vermochten definitiv kein Raumschiff zu bauen. Weder Rico noch ich, noch mit der Unterstützung der Computer und der Maschinen der Tiefseekuppel. Wir versuchten also, gegen unsere Skepsis, ja gegen unsere echte Überzeugung zu handeln. Indem wir die Barbaren mit unseren Fähigkeiten und einem Wissen unterstützten, die eigentlich einer raumfahrenden Zivilisation entstammten, übertrugen wir ihnen, den denkbar Ungeeignetsten, die Verantwortung. Würden sie es jemals schaffen, ein Schiff zu bauen? Würden sie jemals, in Jahrhunderten, verstehen können, was Sterne, Sonnen, Weltall wirklich waren? Dass die Bestimmung eines Planetenvolks nicht darin liegt, sich gegenseitig zu dezimieren, sondern aufzubrechen in die Weiten des sternflimmernden Universums? Normalerweise würde jeder Gedanke an die Summe dieser Vorhaben bei jedem von uns (Rico und mir!) tiefste Resignation auslösen müssen. Dass wir es unablässig und immer wieder an verschiedenen Stellen des Planeten und zu verschiedenen Zeiten versuchten, sprach für unsere geistige Gesundheit
Tand unseren Zweckoptimismus. Mit einer gewaltigen Handbewegung verscheuchte ich meine trüben Gedanken und bestellte für uns einige Dutzende der exotischen Gerichte, die hier gekocht, gesotten und gebraten wurde – nicht einmal Arconrik wußte, welche Zutaten die Ch’in dazu benutzten. Der Extrasinn meldete sich: Das Leben ist hart, meist ist es so, Arkonide, also genieße die Stunde und den Tag. Hüter des Planeten, Schützer der Barbaren, Geschöpf und Kreatur von ES: gib nicht auf. Ich winkte; man brachte uns hauchdünne Tonschalen voll von Reiswein und dem nahezu geschmacklosen Reisschnaps. Zweiundvierzig Hundertstel der Flüssigkeit waren reiner Alkohol. Man konnte ihn trinken oder damit die Bronzeschilde polieren. Mich packte eine Stimmung, die ich kannte und nicht sonderlich schätzte: eine Art von Tollkühnheit. »Noch zehn, fünfzehn Tage«, sagte ich und stürzte einen halben ching in einem Zug hinunter, »und dann sind wir wieder in einem anderen Land. Wir geben nicht auf. Eines fernen Tages…« »… eines sehr fernen Tages«, meinte Arconrik und lächelte meine Freundin an. »… werden wir erreichen, was wir ersehnt und erträumt haben. Dann werden die Träume wahr werden. Hör nicht auf uns, Narnia. Wir sind zwei alte Narren ohne Illusionen.« Die junge Frau, deren Leben sich in einem drastischen Maß geändert, gebessert und in andere Baren geschoben hatte, lächelte zuerst mich an, dann meinen Freund mit dem hochgedrehten Bart. Ihre Worte waren wie warmer Balsam. »Ich liebe euch alle. Selbst die punischen Längst-Nicht-mehrRuderer.« Hinter hochragenden Nachtwolken wetterleuchtete es. Am Tag gab es sanfte Frühlingsregen. Zwischen Mittag und Abend spannten sich Regenbogen über denn Land. Der Mond
wurde von einem nadelscharfen Halbkreis zu einer Zweidrittelkugel. Mit unseren jungen Puniern besprachen wir, was sie in den folgenden Tagen tun würden, und was für uns blieb. Jeder von den zwei Dutzend Personen, die vor einer scheinbaren Ewigkeit von Neu-Karthago aufgebrochen waren, war an seiner Aufgabe gewachsen. Sie kannten einen großen Teil der Welt, und sie waren innerlich weit entfernt von so kleinlichen Dingen wie dem Kampf zwischen Rom und Karthago. Tausend Abenteuer hatten wir auf dem Weg hierher überlebt, ohne Wunden, ohne Krankheiten. Es war ein ungeteiltes Vergnügen, mitzuerleben, wie die Erfahrungen dieser jungen, entschlossenen Männer ihren Charakter veränderten. »Xerzos. Du bist der Meister der Mauern, Palisaden und Befestigungen. In drei Monden sind wir wieder hier. Morgen?« fragte ich. Wir hatten einen Teil der Decksplanken entfernt, unser »Boot« mit all unserer Ausrüstung beladet, und wir waren startfertig. »Meinetwegen sofort!« sagte er. Seine Familie besaß zwischen Karthago und Utika unermeßlichen Besitz, Tausende von Sklaven und einen Reichtum, der die Vorstellungen überstieg, weil er fast abstrakt war. »Nein. Es geschieht, wie wir es besprochen haben«, unterbrach Arconrik. »Und ihr habt die Verpflichtung, das Schiff zu sichern. Tut, was ihr wollt, aber wir müssen die FERNE LÄNDER unversehrt vorfinden. Wir wissen nicht, in welcher Notlage wir zurückkommen.« Suesson hob die Hand. Er war einer unserer Steuermänner. »Ihr könnt euch auf uns verlassen. Fliegt heute Nacht, Freunde.« Ich nickte. Wir waren fertig. »Zwei Stunden vor Morgengrauen. Du weißt, Suesson, wann und auf welche Weise wir sprechen können, über große Entfernungen hinweg.«
Seine Handbewegung gab uns das sichere Gefühl, daß wir keine unliebsame Überraschung erleben würden. Ich und Arconrik, Xerzos und Narnia – wir trugen die praktischen, unverwüstlichen Gewänder der Ch’in-Krieger, deren Rüstungen und unsere getarnten Waffen, die jeder von uns, selbst Narnia, perfekt beherrschte. Als die Sterne zu flackern begannen, hob sich der Gleiter aus dem Schiff hoch, drehte sich um dreißig Grad und schoß lautlos nach Norden davon. Tausende Bauern arbeiteten auf den überfluteten Reisfeldern. Ebenso viele Wasserbüffel zogen Pflüge und Eggen. Kanäle wurden gebaut, einer nach dem anderen, um die verderbende Wirkung der Überflutungen abzufangen. Rauch aus tausenden Kaminen und Hüttendächern. Dunkle Wälder zogen unter uns vorbei, die Windungen und Mäander der Flüsse. Wir sahen Bergwerke, erkannten die Salzsieden die Sole über Feuer in riesigen eisernen Pfannen erhitzten, flogen über eine Brücke hinweg, an der Tausende arbeiteten. Dieses Land war ungeheuer reich an menschlicher Arbeitskraft und sie wurde an allen Stellen sichtbar ausgebeutet. Reisfelder und Bauernhöfe, kleine Siedlungen und immer wieder Bewässerungskanäle. Das Land war grün und fruchtbar, und wir rasteten nur einmal am Rand eines Waldes. Je weiter wir nach Norden vorstießen, desto deutlicher wurden die Zeichen der Kämpfe. Überall wurden Straßen angelegt. Kleine Trupps Soldaten, die gefesselte Männer mit sich führten, wanderten zu der unsichtbaren Grenze. Wieder wurde das Gelände bergig, und schließlich sahen wir auch das Lager Meng T’iens. Ich steuerte den Gleiter in einer riesigen Spirale an eine Stelle, an der die Soldaten nicht sehen konnten, daß wir geflogen waren wie ein großer Vogel. Die Hügel und Bergflanken waren gesprenkelt mit Zelten. Eine riesige Anzahl von Rauchsäulen stieg von den Feuern auf
und trieb schräg nach Ost. Ich lenkte den Flugapparat in den ruhigen Teil eines Gebirgsbaches hinein, und wir schwammen durch ein Spalier von Soldaten, Pferden und Wagen bis zum Mittelpunkt des Lagers. »Sagt General Meng T’ien, daß seine Freunde gekommen sind!« rief ich den Armbrustträgern zu. Sie rannten mit wehenden Mantelschößen und klappernden Rüstungen davon. Wir stiegen aus, nahmen unsere Waffen und folgten ihnen. Zwei Mannslängen über uns schwebte mit zitternden Flügelenden der Vogel, der uns beschützte. Ich wandte mich an Xerzos, deutete auf die bewaldeten Berge und sagte: »Eine große Aufgabe! Hier sollen die Wälle entstehen.« »Das Vorhaben ist nicht zu groß«, meinte er. »Ich habe schon vor Tagen daran gedacht. Jeder Berg hat eine Spitze, die man abtragen kann.« Wir überragten auch an dieser Stelle die Menschen um mindestens einen Kopf. Für die Ch’in waren wir fremde Riesen und taten unbegreifbare Dinge. Der General kam uns entgegengeritten, sprang vom Pferd und zog uns an seine eisenbedeckte Brust. Seine Freude war ehrlich und überzeugend. »Ihr seid gekommen! Ihr helft mir«, schrie er dröhnend. »Ein Grund, ein Fest zu feiern.« Vor Narnia verneigte er sich nur. Das Lager gab es noch nicht lange; überall sahen wir die Zeichen, daß noch mehr Zelte aufgeschlagen und noch mehr Wälle errichtet wurden. Eine unaufhörliche Geschäftigkeit herrschte. Xerzos hob die Hand und erkundigte sich. »Wie viele Männer kannst Du mir geben? Wann soll der Wall fertig sein? Und wie lang soll er werden? Das ist eine Arbeit für Jahrhunderte.« »Hier fangen wir an«, sagte T’ien. »Hier sollen sie es lernen. Aber…«
»… es existieren schon die Grenzbefestigungen von Yen und Chao. Sollen sie miteinander verbunden werden?« »Nichts anderes. Aber… kommt in mein Zelt. Ich sorge für alles.« Nur er wußte, über wie viel zehntausende Mann er befehligte. Jede Stunde wurden es mehr. Das Lager befand sich direkt an der ungeschützten Grenze. Die Wälder waren voller Truppen der Ch’in. Wir bekamen drei Zelte ganz nahe dem befestigten Zelt von Meng T’ien, inmitten der ameisenhaft arbeitenden Zwangsverpflichteten, die Lagergassen, Magazine, Bretterstege über die feuchten Wege, Öfen aus Tonziegeln und Wasserspeicher anlegten. Der General, der in seinem Zelt ein riesiges Tonmodell aufgebaut hatte, ließ den lang gezogenen Hügel links des Lagers, also in ostwestlicher Richtung verlaufend, als Teil der Grenze bestimmen. Zuerst wurde eine Brücke über den Bachlauf geschlagen. Im Frühjahr schwoll dieses Bächlein an und wurde zu einem reißenden Gewässer. Dann fällten die Bauern, Soldaten und Helfer – zwar waren sie wirtschaftlich abhängig, aber keineswegs versklavt – die Bäume und legten eine gewundene Straße bis zum höchsten Punkt an. In der Zeit, die das erforderte, errichtete Xerzos ein Modell aus Lehm und Holzstücken. Es zeigte in fünf Teilabschnitten den Bau einer stabilen Mauer aus Steinen, Holz, Erdreich und Geröll. Der General rief seine Unterführer und zwei Dutzend berittener Boten, und jener Mann, der an Neu-Karthagos Stadtmauern und Toren mitgearbeitet hatte, erklärte sein Modell. »Seit der mächtige und gerechte Shih Huang-ti, mich mit der Verteidigung des Landes beehrte, fielen die Horden vom Norden siebenmal in unser Land ein«, rief er. Die Zeltvorhänge waren weit geöffnet; viele Krieger hörten zu. Der Schreiber tauchte Pinsel in Tusche und schrieb mit. »Dass es nicht wie-
der geschehen soll, errichten wir diesen Bau. Eine Mauer, die sich über Berge und durch die Täler windet und die Grenze unseres Landes darstellt, so wie das Ufer des Meeres.« Jedes Wort würde bis hinaus zu den Quartieren der Arbeiter gehen. Die Boten nickten ernst. »Unser mächtiges und unbesiegbares Heer«, fuhr er fort, »wird zuerst sich selbst schützen, damit es den Kampf gegen die Hsiung-nu aufnehmen kann. Wir haben einen langen Sommer vor uns, und niemand wird uns hindern. Aber sie werden angreifen. Ihre Späher sagen ihnen, daß wir da sind. Darum werden Bewaffnete die Arbeiter schützen. Viele Straßen wird es geben, damit wir mit unseren Wagen schnell an jeder Stelle sein können. Dieses Modell«, er zeigte auf das lang gezogene Relief aus bemaltem Lehm, »zeigt jedem, der es sehen will, wo die Schutzwälle entstehen, und an welchen Orten sie mit den Wällen der Chao und Yen verbunden werden. Noch ein Wort, Soldaten! Unsere vier Freunde mit den fremdartigen Namen, jene klugen, wandernden Riesen, helfen uns. Ihre Befehle sind meine Befehle. Achtet sie, tut was sie sagen. Und denkt daran, daß sie aus einem Land kommen, in dem man an andere Götter glaubt und andere Sitten hat. Morgen beginnen wir mit dem Bau der Langen Mauer. Dort oben!« Er zeigte auf den höchsten Punkt des Berges. Dort hatten die Soldaten ein Feuer angezündet und ließen eine riesige weiße Rauchwolke aufsteigen. Ich stieß Arconrik an und meinte leise: »Immerhin bauen wir nun Verteidigungsanlagen und keine Angriffswaffen.« »Und das bronzene Lager, der Mechanismus der Armbrust, an dem du vier Tage lang herumgefeilt hast?« »Bleibt zu hoffen, daß T’iens Soldaten keine Eroberungskriege damit anfangen.« Das Relief der Bergketten vor uns war fast durchgehend mit dünnen Holzstäbchen versehen. Sie bildeten, über Erhöhun-
gen und durch die Vertiefungen laufend, einen Wall. Sicherlich war die Darstellung nicht hundertprozentig korrekt, aber als ich sie später mit unseren Fotografien verglich, zeigten sich erstaunliche Übereinstimmungen. Ich schickte Bendis auf einen Überwachungsflug nach Norden. Zuerst ließ Xerzos längs des Hügelrückens einen Streifen von sechzig Fuß im Norden und dreißig Fuß auf unserer Seite abholzen. Die Bäume wurden entrindet, zugeschnitten und zugespitzt. Bronzebohrer fraßen tiefe Löcher an genau bezeichneten Stellen. Das untere Ende wurde im Feuer angekohlt, aber nicht verbrannt. Rinde, Äste und Holzabfälle wurden auf mächtigen Gespannen, von vier Paar Pferden und drei Paar Ochsen gezogen, ins Lager gebracht, Brennmaterial für die Wintermonde. Ein Graben wurde ausgehoben, wobei man darauf achtete, bis zum Fels einzudringen. Kleinere Felsbrocken wurden nach oben gewuchtet. Wir entwickelten Hebebäume und kraftsparende Seilzüge, die durch Bronzeklampen rutschten und die Kraft mehrfach verringerten. In den tiefen Graben wurde loses Gestein geworfen und festgestampft. Dann setzten wir die Stämme senkrecht ein, verbanden sie durch armdicke Holzdübel miteinander und stützten sie gegen den höhergelegenen Hang ab. Buchstäblich Tausende arbeiteten alle hundert Schritt, und binnen weniger Viertelmonde entwickelte sich ein durchdachtes System ineinandergreifender Arbeiten. In die entstandene Vertiefung zwischen Hang und Palisaden wurde Gestein geschüttet. Wir rissen die Wurzeln der geschlagenen Bäume heraus und glätteten die »feindlichen Hänge«, wie sie schnell geheißen wurden. Indem wir die Unregelmäßigkeiten des Hügels glätteten, entstand hinter den senkrechten Holzwänden eine Art Straße, die mit Erdreich,
eingesetzten Gräsern, meist mit Fahrspuren aus flachen Steinen aufgefüllt wurde. Die Brustwehr der zugespitzten Stämme ragte so weit über die Fläche der Straße hinaus, daß Bogenschützen und Männer mit Armbrüsten feuern konnten, ohne aus der Deckung auftauchen zu müssen. Der Lehm, mit dem wir die meisten Hohlräume ausgefüllt hatten, würde nach ein paar Jahren steinhart geworden sein. In der Mitte des Berges hatten wir angefangen. Jetzt bewegten sich zwei Baustellen, die von Menschen, Zugtieren und Geräten wimmelten, nach Westen und nach Osten. Sie nahmen ihre eigenen Köche, Werkzeuge, jene Karren, auf denen die Werkzeuge instand gesetzt wurden, die Kurtisanen und die Wachsoldaten, Hebebäume und alles, was sie brauchten, mit sich. Auf der höchsten Stelle wurde ein Wachturm errichtet. Ein einfaches Haus mit Herd und Schlafstellen, das im Winter den Wächtern Schutz bot, wurde von einem hölzernen Turm mit Plattform und Brustwehr gekrönt. Besonders wichtige Stellen mauerten wir aus gebrannten Ziegeln, der Rest entstand aus Lehm. In der Kunst, Lehmbauwerke zu errichten, waren die Bauern und Handwerker der Ch’in wahre Meister. Wir unterwiesen Handwerker und Soldaten in den Signalmethoden. Strahlte die Sonne, konnte mit bronzenen Spiegeln oder solchen aus poliertem Messing geblinkt werden, von Wachturm zu Wachturm. Nachts verwendeten wir Öllampen mit Hohlspiegel, vor deren Flammen sich ein Schieber öffnete und schloss. Fackelzeichen waren ebenso wirksam; dann, wenn es regnete, allerdings nicht. Und schließlich – wir waren gründliches Arbeiten gewöhnt – legten wir dem General Tontäfelchen vor, in die Zeichenfolgen gebrannt waren. Jedes Zeichen bedeutete eine andere Nachricht, und Kombinationen vergrößerten die Möglichkeiten, längere Meldungen zu übermitteln.
Wir saßen in seinem Zelt. Aus den herrlichen bronzenen Feuerschalen stieg würziger Rauch auf. Aber er vermochte die Mückenschwärme nicht völlig zu vertreiben. Es war Sommer. Meng T’ien ging unruhig vor uns auf und ab. Diener füllten die Reisweinschalen. »Natürlich habe ich erkannt, was ihr wollt, Freunde«, sagte der breitschultrige Mann. Er trug einen seidenen Rock, auf dem mythologische Tiere abgebildet und mit Gold- und Silberdrahtstickerei verziert waren. Sein kahler Schädel glänzte vor Schweiß. »Wir wollen es nicht. Vielmehr nützt es dir, T’ien«, wandte ich ein. Er lachte zerstreut und murmelte: »Vom äußersten Punkt im Westen zum letzten Wachturm im Osten wandert eine Botschaft. Wenn’s günstig ist, braucht sie dazu nur Stunden. Die zuverlässigsten Männer müssen in den Türmen bleiben.« »Schick alle zwei Tage Botschaften hin und her zur Probe, und bald wirst du die Aufmerksamen von den Nichtsnutzigen unterschieden haben.« »Auch wahr. Ihr seht, daß ich hin und her renne wie ein Tiger.« »Du wartest schon zu lange auf einen Angriff der Nordvölker.« »Genau so ist es, Bruder der Klugheit«, sagte er, zu Arconrik gewandt. »Meine Späher melden – nichts.« Ich konnte mich auf diesen Hockern nicht entspannen. Also stand ich auf und setzte mich auf den Tisch, an dem der General seine Befehle diktierte. Langsam sagte ich: »Noch in diesem Mond wirst du deinen Angriff haben. Die feindlichen Späher sind sehr geschickt. Und der Feind sammelt sich an Stellen, die deine Leute nicht kennen.«
Er fuhr herum. Sein kantiger, schwarzgefärbter Kinnbart reckte sich kampflustig vor. Plötzlich schien seine Unsicherheit verflogen zu sein. »Wie kannst du das wissen?« »Mein Falke. Unablässig streift er umher, und seine Raubvogelaugen sehen fast alles. Und mit einfachen Zeichen kann er sich mir mitteilen. Eine Bitte, nein, eine Warnung: Greif ihn niemals an. Er ist tödlich. Vielleicht wirst du erleben, was er vermag.« Der General nickte abwesend. Er ließ seine Schale wieder füllen und schwieg. Wir hörten das Geräusch des raschelnden Pergaments und das Klicken, wenn der Pinsel in die Tusche tauchte, dann schlug der Ring des Schreibers gegen das Holz. »Wann kommen sie?« fragte T’ien hart. »Das ist unsicher. Es ist eine gewaltige Masse Krieger. Sie wissen, daß du hunderttausend an den Grenzen versammelt hast. Natürlich kennen sie den Wall. Sie greifen dort an, wo es keine Wälle gibt.« »Wo?« Ich schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht. Aber Bendis, so nenne ich den wissenden Vogel, wird es mir sagen.« Zwar wußten wir vieles, aber die Pläne der drohenden Macht kannten wir nicht. Wir schätzten sie auf etwa fünfundsiebzigtausend Krieger, eher weniger. Sie waren fast so gut bewaffnet wie die Ch’in, ritten aber auf schnellen, ausdauernden Pferden. In diesem Winkel des Planeten waren auch die Pferde kleiner als im Westen; keiner von uns ritt. Das Tier wurde überfordert, und die Füße schleiften auf der Straße. Arconrik und ich hatten allerdings einen Kampfwagen und hervorragende Zugtiere. An diesem Wagen und der Lenkung arbeiteten wir immer noch; vieles war zu verbessern. Und ebenso reparierten wir die ramponierten Flächen des »Bootes«, das
mittlerweile voller Verzierungen aus diesem Kulturkreis war. Das Schönste waren die großen, vergoldeten Drachenaugen rund um die Scheinwerferfassungen. Ich konzentrierte meine Gedanken wieder auf die Probleme des Heerführers. »Werdet ihr neben mir kämpfen?« Er war schon mitten in den Problemen. Seine Unruhe hatte ihn dazu gebracht, einen Teil des Heeres unablässig mit Scheinkämpfen zu beschäftigen. Immer wieder kamen Boten und befahlen einen Angriff an entfernten Punkten. Aus den Fehlern und Verzögerungen lernten die Unterführer und Meng T’ien sehr schnell und gründlich. »Nein. Wir helfen, wo wir können, aber wir kämpfen nur, wenn wir selbst angegriffen werden. Du weißt, wie wir darüber denken.« »Ich werde euch nicht mehr fragen. Aber schützt, wenn es nötig wird, den Sohn des Herrschers.« Der älteste Sohn Huang-tis befehligte eine schnelle Truppe von Kampfwagen. Er hatte auf unserer Seite des Walles und an strategisch wichtigen Punkten Straßen und hölzerne Brücken errichten lassen. Mit der Art, wie sein Vater regierte, schien er nicht einverstanden zu sein, aber darüber schwieg er. Wir kannten ihn nicht besonders gut; er suchte unsere Freundschaft nicht. »Was kannst du mir noch sagen, Demetrion?« »Es ist nicht viel«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Halt deine Soldaten kampfbereit. Postiere Späher mit guten Augen auf den Bergen. Der Feind wird in zehn, zwölf, fünfzehn Tagen hier sein. Und diesmal wissen sie, worum es geht.« »Ich kann’s mir denken.« »Dann, General, handle so, wie du es kannst. Wir helfen dir und Shih Huang-ti. Aber glaube ja nicht, daß dieser Kampf der letzte ist. Die Reichs-Einigung ist ein schmerzhafter Prozess, der viele Menschen das Leben kosten wird.«
Meng T’ien hob seine halbgefüllte Schale und sagte in eisiger Kälte: »Was glaubt ihr? Warum trinke ich dieses Zeug? Was meint ihr, woran ich an den Tagen und in meinen wirren Träumen denke? Bin ich kein Mensch? Ich will nichts anderes, als Huang-ti: ein Volk, das sich in Ruhe entwickeln kann und besser lebt, jeder einzelne. Was dafür spricht, das unterstütze ich. Alles, was mich dabei stört, werde ich vernichten.« Er hatte die Worte wie eine Kette von Schwüren hervorgestoßen. Ich verstand ihn; es war ein Teil meiner eigenen Probleme. Li Ssu und Huang-ti dachten nicht anders. Aus diesen Überlegungen heraus resultierte das harte Strafrecht, das der Minister eingeführt hatte. Besonders die entmachteten großen Familien, die früher regiert hatten, litten darunter. Aber auch die Anhänger des Kung-fu-tse. Shih-ching, das Buch der Lieder, und Su-ching, Buch der Schriften, waren verboten worden. Die Kopien waren verbrannt, ebenso viele andere historische Schriften. »Du solltest dich auf das Zurückschlagen der Nomadenvölker beschränken, General«, sagte ich. »Das werde ich.« In den nächsten Stunden jagte er berittene Boten in alle Richtungen. Das Heer erhielt klare Befehle. Stafetten von Meldereitern wurden bereitgestellt. Innerhalb von sieben Tagen sollte jeder verfügbare Mann bewaffnet und einem Anführer unterstellt sein. Sowohl unser Wall als auch dessen beide Enden wurden zu Zonen besonderer Wichtigkeit erklärt. Wieder einmal überprüften wir unsere getarnten Waffen und hielten uns bereit, irgendwie einzugreifen. Dann warteten wir. Neue Fragen und Probleme waren entstanden, ganz ohne unser Zutun. Rico wußte, daß Hannibal sich anschickte, gegen Rom zu ziehen, offensichtlich mit einem abenteuerlichen Plan. Wie lange sollten
wir uns auf dem Planeten aufhalten? Was hatten wir vergessen, an welcher Stelle waren wir zu voreilig gewesen? Für Narnia hatte ich eine Verantwortlichkeit übernommen, die zu weiteren Problemen führen konnte – denn ich beabsichtigte, bei ihr zu bleiben und sie in die Tiefseekuppel mitzunehmen. Römische Händler im nördlichen Gallien, Handelsbeziehungen bis an die Grenzen des Ch’in-Landes; Karthago und sein Handel – hier indessen hatten wir in kurzer Zeit sehr viel erreicht, und alles mit der Nachdrücklichkeit herrscherlicher Befehle. Mit unseren Machtmitteln und einer bestimmten Menge Menschenverachtung könnten wir zu Herrschern über die Welt werden, aber das lag mir mehr als fern. Ebenso fern wie Arkon. Weder Arconrik noch unsere Computer besaßen die Fähigkeit, aus eingeleiteten Entwicklungen auf die Zukunft schließen oder gar richtig extrapolieren zu können. Was setzten wir eigentlich in Gang? Diese Frage mußten wir uns immer wieder stellen. Bisher – und nur ES weiß, wievielmal wir es versucht haben – schienen nur viele kleine Erfindungen die Barbarenkultur erhellt zu haben. Es waren zu viele Kriege gewesen, denn das meiste war vergessen worden und untergegangen. Am elften Tag des Wartens übermittelte uns Bendis die Bilder: Die Heere der Hsiung-nu waren hauptsächlich nachts geritten und verbargen sich am Tag, so gut es ging, in den schütteren Wäldern. Jetzt sahen die Tausende und aber Tausende aus wie ein kurzer Arm, dessen Handgelenk mit fünf Fingern auseinanderfächerte. Die Fingerspitzen waren bis auf drei Tagesmärsche an die Grenzlinie herangekommen, und es lag eine bestimmte Absicht in diesem Vorgang. Ich ging hinüber zum General und markierte auf seinem Tonrelief die Stellung der wandernden Heersäule mit farbigem Sand: »Es sind Reiterkrieger. Für dich bedeutet dies, daß du ihnen eine Kampfart aufzwingen mußt, die nicht ihre ist. Reiter auf unwegsamen Gelände…«
Meng T’ien winkte schroff ab. »Ist bedacht worden. Wir haben die Armee geteilt. Die Hälfte ist unsichtbar. Was kannst du uns noch sagen?« »Sie führen wenig Troß mit sich.« »Gut und schlecht. Weniger Beute, aber sie sind schneller.« »So ist es. Und sie scheinen listenreiche Anführer zu haben.« »Sind wir auch, der Sohn des Göttlichen und ich Unwürdiger.« »Was planst du mit diesem Lager?« »Es wird bis zum äußersten verteidigt.« »Mit geschmiedeten Schwertern aus Eisen gegen Rüstungen und Schilde aus Bronze und Leder.« »Und mit dem Wissen, daß wir alle zu einem einzigen Volk gehören!« sagte der General schroff. Wir besprachen weitere Einzelheiten. Die beiden äußersten Heerteile würden nicht gleichzeitig mit den drei mittleren angreifen. Sie waren mit größter Sicherheit dafür gedacht, weit ins Land hinein vorzustoßen und uns von den Seiten oder im Rücken anzugreifen. Dafür sprach auch – aber das wußte der General nicht –, daß sie mehr Troß mit sich führten. Abermals ritten Boten in gestrecktem Galopp nach Osten und Westen. Es war das erste Mal, daß die nördlichen Völkerscharen in dieser Massierung angriffen. Bisher waren sie mordend, sengend und vergewaltigend in kleinen, schnellen Gruppen nach Süden vorgestoßen und hatten sich mit der Beute ebenso schnell wieder zurückgezogen. Es sollte nach dem Willen Shih Huang-tis, seines Sohnes und des Generals keine Wiederholung mehr geben. Drei Tage später erfolgte, kurz nach Sonnenaufgang, der Angriff. An drei Stellen galoppierten die Reiter durch die Täler und wurden, da sie keinen Widerstand fanden, immer schneller und wagemutiger. Einige von ihnen sprengten entlang des
neuen Walles und wurden von den Armbrustschützen niedergemacht. Die Spitzen der unterarmlangen Bolzen, aus zugefeilter Bronze, aus Schmiedeeisen und gegossenem Eisen, krachten gegen die eisenbeschlagenen Schilde, schlugen durch die Lederpanzer mit den großen Bronzeplatten darauf, zertrümmerten hölzerne, Lederüberzogene Schilde, fuhren den zottigen Pferden durch die Köpfe und durch die Fellwämser der Reiter. Während der ersten Stunde blieben die Soldaten der Ch’in weitestgehend unsichtbar. In langen Reihen kamen die Krieger des Nordens zwischen den Baumstämmen hervor und sahen verblüfft breite Straßen vor sich, vereinzelte Zelte, Lehmhäuser und Gruppen von Fußsoldaten und Wagen, die gerade in großer Hast bemannt wurden. Schlagartig vergaßen die fremden Reiter ihre Vorsicht, stießen gellende Schreie aus und galoppierten, die Schwerter über den Köpfen wirbelnd, auf die Ch’in los. Verwirrt und unter den Klängen der Gongs sammelten sich die Ch’in und bestiegen die Pferde. Die Wagen versuchten, die nächste Straße zu erreichen. Die eigenen Soldaten standen ausnahmslos in hügeligem Gelände, voller Büsche und Felsbrocken. Die drei Angriffskeile der Nordvölker spalteten sich in unzählige einzelne Kampfgruppen auf. Das gellende, trillernde Geschrei der Nomaden mischte sich mit den grellen Kommandos und den Gongs der eigenen Anführer. Pferde keuchten, die Hufschläge von Tausenden Tieren ließen die Erde zittern. Einige der Ch’in flohen schräg die Abhänge hinauf. Die Spitzengruppen der Eindringlinge ließen jede Vorsicht außer acht. Sie schlugen ihre Pferde, traten sie in die Weichen und galoppierten den Flüchtenden nach. Und dann schlossen sich an Hunderten Stellen die Fallen. Seitlich der Nomadenreiter und hinter ihnen erhoben die
Soldaten aus der Deckung ihre Armbrüste. Die langen Bogen mit den tödlichen Pfeilspitzen, nadelscharf aus Eisen geschmiedet, wurden gespannt. An vielen Stellen zogen Soldaten an den langen Seilen, die sich unsichtbar wie Schlangen durch hochgewachsenes Gras und Büsche schlängelten. Dröhnende Schreie aus bronzenen Fanfaren gaben das Signal. Die Armbrüste schickten ihre tödlichen Bolzen in die Körper der Reiter. Pferde stolperten über die straff gespannten Seile und warfen ihre Reiter ab. Die Pfeile heulten, gruben sich in Pferdekörper, in Schilde und in die Körper der Reiter. Dann schienen aus halb gedeckten Gruben, hinter Büschen, die keine Wurzeln mehr hatten, hinter Felsen hervor und auf den Straßen, mit ratternden Rädern und mahlenden Felgen, ganze Armeen der Ch’in hervorzuspringen. Die zweischneidigen Eisenschwerter unserer Soldaten pfiffen durch die Luft. Ein erbarmungsloser Kampf begann über den Pferden, die angstvoll wieherten und mit den gebrochenen Läufen zuckten, er zog sich die Hänge entlang, die mehr und mehr eigene Soldaten auszuspeien schienen. Die Eindringlinge wurden von den Pferden heruntergerissen und erschlagen. Am Rand der wütenden Kämpfe kamen Bauern und Arbeiter, mit Dolchen, Sicheln und Keulen bewaffnet. Sie packten die Zügel der Pferde und zerrten die Tiere mit sich. Trafen sie auf verwundete Nomaden, so erschlugen sie die Krieger mit den Keulen. Wieder hörten wir alle eine Reihe von Signalen. Die Wände von Häusern und Scheunen, die aus Flechtwerk bestanden, klappten nach allen Saiten auseinander. Gespanne von vier Pferden, die einen Wagen mit fünf oder mehr Kriegern zogen, polterten heraus, zugleich schwerbewaffnete Reiter mit Eisenschwertern, die mit beiden Händen zu führen waren. Binnen weniger Augenblicke befanden sich die Pferde in vol-
lem, gleichmäßigem Galopp. In der Mitte der Krieger stand auf jedem Wagen ein Bogenschütze, der seine Pfeile mit der Schnelligkeit eines Mannes abfeuerte, der Jahre damit verbracht hatte, das Ziel zu treffen. Von allen Seiten ratterten die Wagen auf die Einschnitte zwischen den Hügeln zu, aus denen die fremden Krieger unser Gebiet betraten. Und hinter ihnen liefen in kräfteschonendem Trott die Fußsoldaten hinter dem Anführer und dem Feldzeichen her, auf dasselbe Ziel zu. Von den Spitzen der Hügel, auf denen sie sich bisher verborgen hatten, stiegen weitere Reihen Soldaten herunter und griffen die Eindringlinge von beiden Seiten an. Fast an keiner Stelle gab es einen Kampf in offener Formation. Speere flogen durch die Luft. Es gab einen höllischen Lärm, der sich über ein Gebiet lagerte, das zwei Tagesmärsche lang und vier Stunden breit war. In den Hügeln weiter südlich sah man bereits die ersten Züge der Gefangenen. Wahre Unmassen bronzener Waffen wurden eingesammelt. Reiterlose Pferde galoppierten mit aufgerissenen Augen und Nüstern kreuz und quer durch das Kampfgebiet. Das Klirren und Krachen, das erzeugt wurde, indem die Angreifer auf ihre Schilde schlugen, die Signale, die Gongs und die wütenden Schreie der Verteidiger, die Bronzefanfaren und die wiehernden, verletzten Tiere erzeugten Geräusche, die eine Art kollektiven Wahnsinns erzeugten. Jeder schlug um sich wie ein Rasender. Und mitten durch die Zone von Blut, Schweiß, Staub und Hitze, Tod und Flucht donnerte der General Meng T’ien. Er saß auf einem ungewöhnlich breit gebauten Hengst, pechschwarz, mit Eisenplatten an der Stirn, am Bug und an den Flanken. Meng T’ien, in eine eiserne Rüstung gekleidet, deren goldene Verzierungen in der Sonne unerträglich funkelten, trug den charakteristischen flachen, schüsselförmig ausgebil-
deten Helm, klappernde Schulterstücke, ein Zweihändeschwert, das er mit einer Hand führte, und einen Schild, der seinen Körper von den gepanzerten Knien bis zum Hals schützte. Das herrscherliche Zeichen des Huang-ti war darauf. Mit donnernder Stimme schrie T’ien seinen Soldaten und Unterführern Anerkennung, Tadel, Lob und Aufmunterung zu. Hinter ihm, ähnlich ausgerüstet, galoppierten andere Männer und hielten die Feldzeichen in die Höhe. Wie die Stacheln eines Igels umgaben diese Gruppe Krieger mit nach außen gefällten Hellebarden und Männer mit gespannten, geradezu riesigen Bögen. Diese Gruppe von weniger als fünfzig der besten Krieger durcheilte das Kampfgebiet von West nach Ost, wechselte in der Mitte der Strecke die Pferde, donnerte schreiend und tötend weiter und bestieg am Endpunkt dieses Gewaltritts frische Pferde. Aber noch immer wurde gekämpft. Drei riesige Flächen, jeweils hinter den Taleinschnitten, hatten sich in Kampfgebiete verwandelt. Während die Ch’inSoldaten von außen nach innen vordrangen und sich wieder zurückzogen, während ihre Verwundeten und die Gefangenen an den Rändern der höchst unregelmäßigen Kreise zurückblieben, versuchten die Eindringlinge, vom Talausgang nach allen Seiten vorzudringen. Ein Teil der Ch’in-Truppen überfiel in zangenförmigen Bewegungen die Nachhut und den Troß der Eindringlinge, der sich an drei Stellen gesammelt hatte. Die Lenker der Wagen wurden niedergemacht, einige Wagen gingen in Flammen auf, andere wurden mitsamt den Zugtieren geraubt und in Sicherheit gebracht. Dann zogen sich die Soldaten wieder zurück, übergaben die Berate den Arbeitern und leichtverwundeten Soldaten und mischten sich, im Rücken der Angreifer auftauchend und mit frischen, ausgeruhten Kräften, in den Kampf. Sieben Stunden waren vergangen, und über dem Gebiet aus
Wald, Flusstälern, bewachsenen Hügeln und steil aufragenden Felsen erhob sich Dunst. Zehntausende von Hufen und Füßen hatten eine gewaltige Staubmasse aufgewirbelt. Die Sonne leuchtete rötlichgelb durch die Dunstschleier und übergoss das Land mit einem düsteren Licht, das die Herzen der Kämpfenden in Wut und Verzweiflung stürzte. Ein süßlicher Geruch hing in der Luft: Schweiß, Blut und die schrecklichen Ausscheidungen menschlichen Sterbens. Die ungeheure Schlacht war in unzählige schauerliche Bilder aufgesplittert. Hier trottete ein Pferd, schweiß- und blutüberströmt, über das Schlachtfeld. Der Reiter, aus dessen Rücken drei Pfeilschäfte ragten, hing schräg im Sattel. Sein Hals hatte sich in einem Lederband verfangen, seine Hand krallte sich in die Mähne des Tieres. Als das Pferd stolperte, über einen Felsbrocken stürzte und sich überschlug, wurde der tote Reiter auf einen Haufen von anderen Leichen geschleudert. Ein halbnackter Nomade, von drei Armbrustbolzen getroffen, hatte einem Ch’in die übermannslange Hellebarde entrissen und beschrieb mit dieser Waffe Halbkreise waagrecht durch die Luft. Ch’in-Soldaten bildeten einen achtungsvollen Kreis um den Mann, der Schaum vor dem Mund hatte und röchelnde Schreie ausstieß. Schließlich drang ein Bolzen quer durch seine Kehle. In seinem Blutsturz starb der Fremde, aber die Waffe, die der Schwung aus seinen kraftlosen Fingern trug, drang in die Brust eines Ch’in-Soldaten. Vier langbezopfte Bauern, mit Dolchen bewaffnet, krochen zwischen den Gefallenen umher. Sie plünderten die Nomaden regelrecht aus. Die bronzenen Waffen und Kriegsgeräte, die sie fanden, warfen sie in große Körbe, aus Weiden und Stroh geflochten. Mit schweißgetränktem Haar und feuchten Bärten schleppten sich Gefangene hinter den Soldaten her, die an den Seilen zerrten. Die Seile lagen in Schlingen um die Hälse der Gefes-
selten. Man hatte die Männer restlos ausgeplündert; sie trugen nur noch ihre zerrissene Kleidung, manche waren halbnackt. Immer wieder pfiff die Peitsche durch die Luft, oder die Hiebe der zersplitterten Lanzenschäfte landeten auf den Schultern der Gefangenen. Hier und dort waren Brände aufgeflackert. Büsche und Gras brannten mit unsichtbaren Flammen und hellem Rauch. Ein Hund, dem ein Huftritt die Hinterbeine zerschmettert hatte, versuchte vor den Flammen davon zu kriechen. Ein Schild, an dem noch ein Handgelenk und Teile eines Armes hingen, wirbelte durch die Luft, traf einen Ch’inSoldaten an der Schläfe und rollte dann den Hang hinunter, zwischen Toten, Verletzten, Kämpfenden und Trümmern hindurch bis zur Straße. Die Krieger des Nordens, an schnelle, erfolgreiche Überfälle gewöhnt, fühlten sich verraten. Sie konnten sich mit allem abfinden: mit Gegenwehr, schweren Wunden und toten Kämpfern. Aber der Kampf, gegen den sie sich gewappnet hatten, war ganz anders geworden. Die Wirklichkeit war hundertmal grausiger als die Reden, die sie an den Lagerfeuern geführt hatten. Sie sahen ein, daß sie vergeblich gekämpft hatten. Ihre Zuversicht und der Kampfeswillen schwanden dahin, je mehr sich die Sonne senkte. Tausende waren tot! Die Anführer fanden ihre Männer nicht mehr in dem Getümmel. Sie wurden überrannt und abgeschnitten, und keiner von ihnen war selbstmörderisch oder abgestumpft genug, um nicht begreifen zu können, daß der Angriff zusammengebrochen war. Die ersten wandten sich zur Flucht. Sie stießen auf die Ch’inSoldaten, die in dichten Reihen die Täler abgesperrt hatten. Das Gemetzel begann von neuem. Aber… noch waren die beiden Angriffskeile, die unsere Verteidigungslinien umgehen sollten, auf ihrem Weg. Sie waren kaum angegriffen worden;
ihre Verluste waren gering. Viele Reiter schienen die Landschaft, Schauplatz früherer Raubzüge, gut zu kennen, denn sie ritten, als wären sie auf eigenem Land. Die wenigen Bauernhöfe, an denen sie vorbeigaloppierten, ließen sie ungeschoren. Weit zu ihrer Rechten sahen die aus dem Osten, links jene, die aus West kamen, das riesige Lager der Ch’in. Es schien verlassen zu sein, denn nur einige Rauchfahnen erhoben sich aus dem endlosen Gewirr der Lehmbauten und der Zelte. Kein verräterisches Blitzen von Schilden oder Waffen. Die Krieger waren schneller und länger geritten als die anderen drei Kampfkeile. Als sie, weit voraus, ihre eigenen Leute erkannten, die inmitten einer großen Staubwolke heranritten, schwenkten sie auf das Lager zu. Es war über einem großen, runden Hügel ausgedehnt, und die Palisaden sahen unbedeutend aus. Mehr als zweimal zehntausend Reiter verteilten sich, bildeten zwei Halbkreise und griffen das Lager an. Vom Zelt des Generals aus sahen wir fast an allen Stellen ungehindert bis ins Tal hinunter. Die Reiter drangen auf den Wall ein, schleuderten Speere durch die Öffnungen der Lehmbauten und rissen an mehreren Stellen die Palisaden um, indem sie Schlingen um die Spitzen warfen und die Pferde wendeten. Neben mir schrie ein Unterführer: »Gib das Signal!« Acht Ch’in stießen in die gekrümmten Bronzehörner. Der jaulende, dröhnende Ruf ließ die Trommelfelle schmerzen. An unzähligen Stellen sprangen die Ch’in aus den Deckungen, aus den Zelten und aus den Verstecken. Armbrüste wurden hochgerissen und entluden sich mit dem charakteristisch harten Geräusch. Langsam hob ich meine getarnte Hellebarde, zielte sorgfältig und gab, rundum der höllische Lärm des erbitterten Angriffs und der entschlossenen Verteidigung, lange Energieschüsse ab. Die Lähmstrahlen fauchten die Hänge hinunter und trafen meist die Angreifer, deren Pferde und auch
einige unserer Leute. Ich hoffte, daß niemand mich mit dem Geschehen dort unten in Verbindung brachte. Vor den Palisaden wälzten sich Pferde, brachen Reiter im Sattel zusammen, rennende Männer wurden zu Boden geworfen, und die Panik griff um sich. Ich sprang aus dem Zelt des Generals hinaus, rannte auf eine andere Position zu und zielte auf die Angreifer im Westen. Binnen kurzer Zeit hatte ich Hundert von ihnen mit dem breitgefächerten Strahl besinnungslos gemacht. Die Ch’in begriffen nichts und dachten sich wohl, daß die Angreifer vor Erschöpfung ohnmächtig von den Pferden fielen. Wieder wechselte ich meinen Standort und gab gezielte Schüsse ab. Im Zickzack hastete ich durch die verlassenen Lagerstraßen. Immer wieder blieb ich stehen, stützte die schwere Bronzewaffe auf und feuerte Lähmschüsse in Gruppen der Angreifer. An den Lagertoren und den vielen Brücken wurde besonders erbittert gekämpft. Ich versuchte, möglichst viele der Angreifer und wenige unserer Leute zu treffen, aber in dem Gewimmel war es unmöglich, solch genaue Unterscheidungen machen zu können. Wieder schoß ich, wieder brachen dort, wo der Strahlenkegel auftraf, die Krieger und die Pferde zusammen. Ich lief in einer Entfernung, die so groß war, daß mich keines der feindlichen Geschosse treffen konnte, zwischen den Zelten hindurch und feuerte die Hälfte des Energiemagazins leer. Mindestens hundertfünfzig Schüsse gab ich ab, ehe ich wieder in unserem Zelt verschwand und den heißen Projektor in die Ecke lehnte. Ich wischte den Schweiß aus meiner Stirn. »Es ist in diesem Kampf weniger als sonst getötet worden«, sagte ich zu Narnia. »Der General wird unzählige Gefangene machen.« Wir sahen, von Osten kommend, seine Gruppe auf das Tor
zusprengen. Die Ch’in-Soldaten, die erlebt hatten, wie ihre Angreifer zusammenbrachen und wie tot liegen geblieben waren, zögerten nicht lange. Sie fingen Pferde ein, entwaffneten und fesselten die Männer, die sich noch bewegten. Sie wußten nicht recht, ob jene Leichen ohne sichtbare Wunden wieder aufwachen und zu einer Geisterarmee werden würden. Dennoch nahmen sie ihnen die Waffen, die Rüstungen und die Satteltaschen weg, die Verpflegung ebenso wie die Armbänder oder die Wasserbeutel. Die ersten Pferde schüttelten sich, kamen taumelnd auf die Beine – und die Ch’in fingen zu begreifen an, daß ihnen die Götter geholfen hatten. Die Opfer waren also nicht vergeblich gewesen, und dies hatte sich schon bei den Aussagen der Orakel gezeigt. Als Meng T’ien das Feld vor dem Tor und die Brücken erreichte, riß er sein Pferd auf die Hinterhacken, sah sich voller Verwunderung um und bemerkte die Mengen der Feinde. Er schüttelte immer wieder den Kopf, dann besann er sich und schrie aufgeregt Befehle. Überall dort, wo gekämpft wurde – an nur noch wenigen Stellen –, und dort, wo sich große Massen Soldaten hin und her bewegt hatten, wo unzählige Pferde mit ihren Hufen das Erdreich zerwühlt hatten, erhob sich gegen den Sonnenuntergang hin eine riesige dünne Staubwolke. Als sich der Staub langsam senkte, legte er sich wie Reismehl über Zelte, Tiere, Männer und Wälder. Hinter den Dunstschichten sahen wir drei gewaltige Wolkenformationen, die wie Türme aufwuchsen. Ein Gewitter näherte sich mit einer schwarzen Front. »Unzählige Gefangene, sicher«, sagte Xerzos und wischte sich das Gesicht mit feuchten, warmen Tüchern ab, die ein grauhaariger Diener in einem Kessel gebracht hatte. Ich griff nach einem solchen Tuch, das mit dem Aroma feiner Wildkräuter getränkt war. Schweiß, Staub und Dreck bildeten eine schmierige Schicht. »Willkommene Hilfskräfte, die an dem
Wall weiterschuften werden. Die Schlacht ist vorbei, Demetrion.« »Und bald auch unser Aufenthalt hier«, sagte Narnia. »Wann?« »Wir sollten noch ein paar Sommerwochen hier verbringen«, schlug Arconrik vor. »Viele Straßen sind fertig, und wir können mit dem Wagen einen Teil der Wälle abfahren und unseren Ruhm genießen.« »Gern«, stimmte ich zu. »Wenn nicht vom Schiff ein Notruf kommt.« Das Gewitter rückte näher. Dumpf rollten Donnerschläge von fern über das Land. Die wenigen Angreifer, die noch in der Lage waren, zu flüchten, versuchten sich in den Norden zurückzuziehen. Ein Blitz zuckte auf. Erste Regentropfen fielen und schlugen in die Staubschicht. Sie hinterließen kleine Kratzer. Die Blitze spalteten die Luft in immer kürzeren Abständen, das Krachen des Donners wurde lauter, und dann rauschte ein gewaltiger Regen herunter. Das Wasser riß den Staub von den Zelten, machte die Außenseiten der Lehmhäuser glitschig, durchnässte das Gefieder von Bendis, der in rasendem Sturzflug mein Zelt als einzigen trockenen Platz erreichte; überall flossen kleine Bäche, vereinigten sich auf den Lagerstraßen und schossen als lehmig-gelbe Brühe die Hänge des Lagers hinunter. Durch die Schlammflut sprengte der General, trotz der triefenden Nässe breit lachend, den Hang herauf und ließ sich vor meinem Zelt aus dem Sattel rutschen. »Ein großer Tag«, sagte er heiser. »Wein! Reisschnaps! Leckerbissen!« »Komm ins Trockene?« Ich winkte ihn herein. »Deine Truppen haben gesiegt.« »Morgen werden wir erst erkennen, wie groß der Sieg war. Wir haben sie vernichtet. Niemals mehr wird eine solche große Truppe aus dem Norden in unser Land eindringen.«
Ich dachte an das, was wir von anderen Orten wußten, und sprach aus, was er befürchtete. »Immer wieder werden sie kommen, Meng T’ien. In kleinen oder großen Gruppen. Der Wall wird sie aufhalten, aber weil er gebaut wurde, ahnen sie, daß dahinter reiches Land liegt.« Er ließ sich seine Rüstung abnehmen. Blitze, Donner und Wasserfluten zogen jetzt über das Lager hinweg. Man mußte fast schreien, um sich verständigen zu können. Draußen kämpften sich Soldaten durch das Unwetter. Sie sahen fast nichts. Der Tag endete im Chaos aus Schlamm und Nässe, während die Soldaten versuchten, sich zu sammeln, die Gefangenen zusammentrieben, die Pferde einfingen und fluchten, weil ihnen die Mägen krachten. Bis zum Morgen dauerte der Lärm ringsum, sahen wir die zuckenden Fackeln. Es waren nur wenige Angreifer übrig geblieben. Sie ritten nach Norden, um ihren Feldherren zu sagen, daß das Heer verloren war. Es wurde schwierig, die vielen Tausend Gefangenen zu ernähren. Sie wurden, wenn sie einfache Männer waren, zum Bau des Walls benutzt; alle Anführer wurden auf Wagen gesetzt, die sie in den Süden brachten, weit weg von der Grenze. Die Bauern aus der Umgebung brachten ihre letzten Lebensmittel, und viele hungerten, bis die ersten Transporte aus den benachbarten Gauen eintrafen. Als sich die Blätter zu färben begannen, kehrten wir zur FERNE LÄNDER zurück. Unzählige Denkanstöße hatten wir den Bauern und den Verwaltern der Gaue geben können. Die meisten Ideen und Vorstellungen waren auf fruchtbaren Boden gefallen. Fruchtfolgen auf den Äckern, Bewässerungsanlagen, Verbesserungen unterschiedlicher Verfahren – Arconrik und ich produzierten unerschöpflich neue Möglichkeiten. Wir entdeckten, daß dieses Land ausnahmsweise keine Eroberungskriege führen woll-
te, daß es aber mit unnachgiebiger Straffheit regiert wurde. Li Ssu und Shih Huang-ti waren seltsame Männer. Li, zunächst der oberste Schreiber am Hof von Hsien-yang, wurde zum Justizminister gemacht. Sein Ziel war zweifellos, Kanzler zu werden, seine Methoden galten als rigoros. Die Vernichtung der Bücher – abgesehen von Lehrwerken der Orakelkunde oder des Ackerbaues – war nur ein Schritt von vielen. Man berichtete uns, daß in den Kerkern Hunderte von Gelehrten saßen und verhungerten, widerstrebende Anhänger des Kung-fu-tse. Der Traditionalismus sollte gleichzeitig mit der Entmachtung des Adels ausgeschaltet werden, die Strafen waren hart und gnadenlos. Das Justizwesen kannte keine Gnade, denn der Druck ging gleichmäßig von ganz oben bis hinunter zum willenlosen Kriegsgefangenen. Shih Huang-ti indessen nahm sein Land symbolisch in Besitz. Er reiste ununterbrochen in die einzelnen Gebiete, opferte dort, stellte Namenstafeln auf und suchte nach dem Elixier der Unsterblichkeit. Fünf unserer Freunde gingen mit Expeditionen mit, die den Charakter einer Forschungsreise, verbunden mit einer Handelskarawane aufwiesen. Auch sie suchten nach jenem Hirngespinst. Aber sie wurden, halb unbeabsichtigt, die Handelsbeziehungen zu den Nachbarländern verbessern und so verhindern, daß dieses Land in der selbst geschaffenen Isolation versank. »Shih Huang-ti will mit aller Macht sicherstellen«, wertete Arconrik die vielen widersprüchlichen Meldungen aus, »daß er der erste in einer Reihe von zehntausend herrscherlichen Generationen ist.« »Das denkt er wirklich?« fragte Narnia verblüfft. »Wenn er ein Jahrzehnt regiert, dann war es eine lange Zeit.«
»Wir wissen, wie kurz das Leben selbst von Herrschern sein kann«, schränkte ich ein. »Irgendwann werden wir erfahren, ob die Dynastie des Huang-ti überlebt hat.« Wir erkannten, daß unsere Zeit hier zu Ende ging. Von uns allen war getan worden, was möglich war. Mehr nahm der Verstand der Menschen noch nicht auf. Sie würden sicherlich versuchen, ihre Kultur zu verfeinern und ihre Zivilisation zu verbessern. Ob sie es zusammen mit ihren westlichen und südlichen Nachbarn versuchten, stand in den unerforschlichen Sternen. Wir ließen den Gleiter in die FERNE LÄNDER einschweben, verankerten ihn und verließen in einer mondlosen Nacht den stillen Nebenkanal am Herrscherpalast; unser Ziel war wieder Qart Hadasht Nova.
10. Lordadmiral Atlan hörte zu sprechen auf, die SERT-Haube hob sich und schwenkte zur Seite, auf Aescunnars Monitoren wechselten die Ziffern der Zeiteinblendung: 04.11.356100.15:46 Uhr. Cyr gähnte und las das Dossier Doktor GhoumArdebil über Atlans Zustand, das zu den besten Hoffnungen berechtigte. Vor dem Umbetten in den Spezialtank hatte Atlan die Augen geöffnet und Scarron Eymundsson, seine Freundin, Tifflor und den alten Ara-Mediziner wiedererkannt und außerhalb der kathargischen Welt seiner gesprochenen Erinnerungen einen deutlichen Satz gesagt: »Auf dem Mucyplaneten bin ich fast getötet worden, und nun zwingt mich meine Erinnerung, von Qart Hadasht-Karchedon-Karthago zu sprechen.« Für Cyr Aescunnar war es leicht gewesen, zu ermitteln, daß Atlan-Demetrion und Arconrik, als Händler wunderbarer Dinge, im Jahr 222 vor der Zeitwende das Land der Gallier betreten hatten. Sie waren mit größter Wahrscheinlichkeit die
Rhône und den Rhein mit dem getarnten Gleiter nordwärts geschwebt. Hamilkar Barkas, der Vater Hannibals, war 229 während eines Kampfes ertrunken; sein Schwiegersohn Hasdrubal, Atlans Freund, war 221 ermordet worden. Ins gleiche Jahr fiel auch die Machtübernahme durch Shih Huang-ti, der ein wahrhaft großes Werk begonnen hatte: Nun warteten Oehmchen Orb und Cyr auf die Fortsetzung und das Ende einer Geschichte, die nur der arkonidische NEIStatthalter erzählen konnte. Cyr war überzeugt, daß die Spuren der drei Wanderer durch die Zeit – Atlan, Rico und Narnia – auf das Schicksal vieler Menschen eingewirkt hatten, wie stets, wenn der Einsame der Zeit sein Tiefschlafgefängnis verlassen hatte. Professor Cyr Aescunnar betrachtete die Bilddokumente auf den Monitoren und in den holografischen Projektoren: Er war umgeben von Landkarten, Computermodellen, Zeittafeln und zahlreichen Dokumenten aus den Museen der verschwundenen Erde. Einen langen Augenblick sann er darüber nach, warum er erst heute darauf aufmerksam geworden war, daß seine Lebensgefährtin ihren Vornamen einmal mit, einmal ohne »H« schrieb. Er beschloss, sie heute Nacht mit dieser Frage nicht mehr zu wecken und arbeitete, bis Atlan wieder zu berichten begann, an seiner Version der Zeittafel weiter – das siebente Großkapitel seiner ANNALEN DER MENSCHHEIT würde umfangreicher als die vorhergegangenen werden. Narnia! Der Name steht für viele glückliche Tage und Nächte auf dem herrlichen Barbarenplaneten, sommerlich und dünn besiedelt. Wir verbrachten lange Zeit am Meer, am Nordrand des riesigen Kontinents, der von den Vertretern des Römischen Reiches endlich einen Namen bekommen hatte, der auch für mein Empfinden die Geheimnisse des kolossalen Landes aus Wüsten, äquatorialen Riesenurwäldern und un-
endlich langen Strömen ausdrückte: Dort wohnten die Afrer, und das Land wurde Africa genannt. In jenen Monden, in denen Hannibal die Stadt Saguntum belagerte, lebten wir in einem der Gutshöfe des Puniers Beilarx, der uns begeistert aufgenommen hatte. Wo er sich aufhielt, als wir aus dem Land der Ch’in zurückgekommen waren, hatten uns Ricos Sonden und der wachsame Robotvogel Bendis mitgeteilt. Beilarx brachte Handelsschiffe und Lastschiffe von Gart Hadasht nach Karthago Nova und ließ uns allein. Arconrik, Narnia und mich. Es war ein großer Sommer. Die junge Frau hatte zwei Sprachen schreiben und drei sprechen gelernt. Sie trug die Mode vieler ferner Regionen mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie in den Wellen und am Strand ihre eigene Haut trug. Ich glaube, sie war glücklich. Sie flüsterte es immer wieder, wenn sie in meinen Armen lag. Narnia hatte keine Angst mehr vor fliegenden Booten, vor sprechenden Vögeln, die Lähmstrahlen verschossen, vor anderen Seltsamkeiten. Sie nahm Arconriks ständiges Bemühen, uns zu beschützen, mittlerweile als normal hin, bezauberte jeden durch ihre Natürlichkeit und hatte die Angst verloren, fremdem Willen gehorchen zu müssen. Nur die Zukunft, die dunkel vor uns lag, erfüllte sie mit Unsicherheit; ich konnte sie ihr nicht nehmen. Noch nicht. Also fuhren wir fort, in den Tag hinein zu leben und aus der Ferne vieles zu beobachten. Die Sklaven auf dem Gutshof des Beilarx wurden besser behandelt, wir kümmerten uns um Verbesserungen der Geräte und der Häuser, und auf den prächtigen Pferden der Numidier ritten wir durch Landstriche, die vor Fruchtbarkeit überquollen. Reiches Qart Hadasht! Reiches Land am Isthmus, nach Utika hin. Ich lag im Schatten eines Fischerboots und schlief halb, müde geworden vom Baden und Schwimmen. Salz kristallisierte auf
meiner braungebrannten Haut. Mein Extrasinn flüsterte plötzlich: Hörst du das Gelächter von ES, Arkonide! Dir stehen unangenehme Einsichten bevor. Ich tauchte aus der mäßigen Tiefe eines lustvollen Traumes auf und hörte tatsächlich das lautlose Gelächter. Verglichen mit anderen Malen war es ausgesprochen zurückhaltend. Nun, Arkonide, ich bemerke, daß du dich vom anstrengenden Geschäft der Zivilisationserfindung erholst. Recht so. Du siehst abermals, wie schwer es ist, auf dieser Barbarenwelt herauszufinden, was gut ist und was nützt. Ich gab zurück: »Sie brauchen keine gedruckten Schaltungen, keine Computer und nicht einmal Elektrizität. Sie brauchen nur bessere Waffen.« Was soll Hannibal mit elektrischer Beleuchtung? Seinen Elefanten den Weg anstrahlen? Aber wir schweifen ab. Willst du zurück in dein Schlafgefängnis? »Nein.« Die Gründe? Ist es die Frau? Nur eine Barbarin! Ich sagte hart und entschieden: »Ja, die junge Frau. Natürlich ist sie eine Barbarin. Aber für mich ist sie weitaus mehr. Was weißt du, ES, davon? Nichts, denke ich. Die Probleme sind ganz anders gelagert. Immer wieder versuche ich, diese irren, machtbesessenen, kämpfenden Barbaren miteinander zu versöhnen. Der Erfolg ist gleich Null. Zivilisation bedeutet ihnen nichts, und der Weg zu den Sternen ist ihnen ferner und unverständlicher als alles andere. Was soll ich tun? Soll ich einen Volksstamm, eine Rasse, nur für meine Zwecke züchten und beeinflussen? Das gesamte Gefüge der Zivilisation geriete aus den Fugen.« ES schwieg eine Weile. Vielleicht überlegte ES, dachte nach, wog meine Argumente ab und verglich sie mit seiner eigenen Planung, die diesen Planeten und dessen Bewohner betraf. Gab es eine solche Planung überhaupt? Wo lag das Ziel? ES
konnte es definieren; ich nur mit Schwierigkeiten. Die nächste Bemerkung beseitigt einige, aber nicht alle Zweifel. Ihr habt beim Aufbau einer Kultur mitgeholfen und habt sie mit vielen guten Impulsen befruchtet. Vielleicht ist es reizvoll, den Barbaren die Grundzüge jener Techniken zu zeigen, die du erwähnt hast. Es gibt Orte auf dem Planeten, an denen sie sich schon lange mit der exakten Beobachtung der Sterne und Planeten befassen, ohne daß sie wissen, wie viel Planeten Larsafs System hat. Gemeinsam werden wir warten, was sich aus dem langen Besuch des Händlers wunderbarer Dinge ergibt, was sie wirklich nutzbringend gelernt haben. Wie seit Jahrtausenden! sagte der Logiksektor. Spotte nicht. Der Wächter des Planeten, der Hüter der Barbaren, hat einer großen Menge einzelner Persönlichkeiten geholfen. Viele kleine und große Gruppen verdanken Atlan ihre mehr geordnete Existenz. Das bringt mich zur nächsten Frage, Arkonide! »Hannibal und Rom«, sagte ich halblaut, setzte mich auf und lehnte mich an die rissigen Planken des Bootes. Ich weiß, daß dein Plan, Karthago durch neue Handelsverbindungen zu stärken, gute Chancen der Verwirklichung hat. Aber nicht, wenn es Rom stört, und Rom ist neidisch auf den Erfolg der Nachkommen jener Phöniker, mit deren Schiffen du gefahren bist. Langsam erwiderte ich, nachdenklich und halb gelähmt von den angedeuteten Konsequenzen: »Bedeutet das etwa, daß Hannibal erst Rom besiegen oder entscheidend schwächen muß, um dann erst meinen Plan in die Tat umsetzen zu können?« Ich fürchte es. Meine Berechnungen weisen darauf hin. »Ich will nicht mit Hannibal zusammen gegen die Römer kämpfen müssen.« Wieder lachte ES, gutgelaunt, wies schien. »Verstehst du nicht?« drängte ich. »Auf dieser Welt wird zuviel gekämpft, versklavt und getötet. Ich glaube, daß Millionen
Barbaren ständig vor der Peitsche zittern und das Eigentum anderer sind. Millionen Männer in den besten Jahren kämpfen sinnlos gegeneinander. Binnen einer Generation könnten sie ihre Welt in ein Paradies verwandeln. Dabei möchte ich mithelfen – nicht dabei, sich gegenseitig abzuschlachten.« Kannst du die eigentliche Natur der Barbaren ändern? Aus Löwen Lämmer machen? »Nein«, sagte ich laut. Nicht einmal ich. Natürlich reichen unsere Machtmittel aus, um unter Drohungen und durch Zerstörung herrschend, die Welt zu verändern. Aber das ist ein solch schwerwiegender Eingriff, daß ich davor zurückschrecke. »Was soll ich tun?« Ich sah mich nach Narnia um. Geh zu Hannibal. Er braucht einen Freund. Gib ihm die Karte und zeige ihm, wie er die Römer das Fürchten lehren kann. Dadurch, daß er Saguntum einnehmen wird, ist er schon auf dem Weg. Ich habe den Ausweg für deine spezielle Lage. Geh nach Hispania und berate ihn. Dann kannst du das Schiff verstecken und für wenige Jahre schlafen. Rico wird dich wecken, wenn die Barbaren dabei sind, ein weiteres blutiges Kapitel ihrer Geschichte zu schreiben. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich sagte kurz: »Gut. Vielmehr nicht gut. Ich werde also wieder Waffen schmieden.« Mit lautem Gelächter, das lange in mir nachhallte, verschwand ES aus meinen Gedanken. Wahrscheinlich hatte dieses unbegreifliche Wesen recht. Ansätze meines friedlichen Vorhabens waren, was die karthagischen Handelsfürsten betraf, bereits zu erkennen. Nicht genug für mein Ziel. Ich schlang das Tuch um meine Hüften, ging langsam zurück zum Haus und durch die kühlen Schatten der Obstbäume. Arconrik erwartete mich in der Halle. Er nickte mir zu. »Ich habe verstanden, was ES meinte«, sagte er. In den vergangenen Tagen hatten wir seine Kunsthaut ausgebessert.
»Dann weißt du auch, wes es für uns bedeutet?« »Schwierigkeiten und Beschwernisse, und sicher mehr Gefahren als vorauszusehen.« »Da. Aber nichts drängt uns zur Eile.« Die FERNE LÄNDER war in der Mitte des hakenförmigen Kais vertäut, an dem Beilarx seine Lastschiffe abfertigte. Die ehemalige Mannschaft war in alle Winde zerstreut. Wo immer die jungen Karthager sich befinden mochten, sie würden versuchen, auf ihre Weise reich und berühmt zu werden. Vielleicht traf ich, irgendwann in der Zukunft, mit ihren Söhnen zusammen, ohne sie zu erkennen. »Wie lange warten wir?« »Bis zu dem Tag, an dem wir wissen, was der junge Punier wirklich vorhat.« Inzwischen hatte sich Arconrik aus den Speichern der Untersee-Kuppel die Daten und Informationen überspielen lassen. Der historische Hintergrund des Machtkampfs zwischen Rom und Karthago schien nach allen Beobachtungen, die uns zugänglich waren, die entschlossen begonnene Ausdehnung des Römischen Reiches zu sein. Vor etwa hundertsiebenunddreißig Jahren, nachdem die römischen Schiffsbaumeister – ein Wrack eines punischen Schnellruderers als Vorbild – hundertzwanzig solcher Schiffe in rasender Eile nachgebaut und sie mit Enterbrücken versehen hatten, drangen fünfzehntausend Soldaten und fünfhundert Reiter in Africa ein. Vier Tagesmärsche von Karthago entfernt landete Konsul Regulus die Truppen an. In den nächsten Monden besiegte das Heer die nur mäßig ausgebildeten und geschulten Truppen von Karthago. Eine Stadt nahe Karthago wurde eingenommen. Die Karthager, von diesem Erfolg erschreckt, baten um Frieden. Regulus aber stellte für den Friedensschluss Bedingungen, auf die Karthago nicht eingehen konnte, ohne sich selbst zu vernichten. Also kämpften die Punier weiter.
Es war ihnen keine Wahl geblieben. Sie verpflichteten den griechischen Anführer Xanthippos. Er versuchte sein Äußerstes und schulte die Truppen der Punier. Er ging mit kalter Erbarmungslosigkeit vor und schaffte es, das Heer bis zum Frühjahr in eine rücksichtslose, schlagkräftige Truppe zu verwandeln. Viertausend Reiter und mehr als hundert Elefanten berannten die Römer, und an den Flanken des Schlachtfelds mähten die numidischen Reiter die römischen Berittenen nieder. Der Konsul und fünfhundert Centurionen wurden gefangengenommen. Die römische Flotte, so lauteten übereinstimmend alle Berichte, sollte die Überlebenden aufnehmen und retten. Sie landete, die Flüchtigen bestiegen die Schiffe, und dann, als sie sich alle sicher auf der Rückfahrt wähnten, brach ein Sturm los und ließ mehr als zweihundert Schiffe sinken. Rom dachte nicht daran, aus diesem Verhängnis eine Lehre zu ziehen. Neue Schiffe wurden gebaut. Der punische Hafen Lilybaeum an der Westküste von Sizilien wurde belagert. Die Fußsoldaten riegelten den Hafen von der Landseite ab, und die Flotte versuchte, ihn von der See aus zu blockieren. Viele schnelle Schiffe der Punier schafften es, auf überraschende Weise und zum Entsetzen der Römer, die Blockade zu durchbrechen. Die Kämpfe zogen sich hin, acht Jahre lang. Karthago beauftragte Hamilkar Barkas, den Kampf weiterzuführen. Fehler und Katastrophen neigten das Glück im Kriegsgeschehen einmal dorthin, dann wieder zur Seite der Gegner. Die römische Flotte kaperte punische Lastschiffe und ließ sie in Flammen aufgehen und versinken. Endlich wurde ein Scheinfriede geschlossen, und die Punier räumten Sizilien und zahlten eine Kriegsstrafe, die so hoch und groß war, daß die Fortsetzung des Krieges unausweichlich in der Luft lag.
Punier und Römer nannten diese Niederlage den Ersten Punischen Krieg. Massilia, eine griechische Handelsstadt, war mit Rom verbündet. Die Stadt lag östlich von Neu-Karthago am Rand des Nordkontinents, ein wenig abseits von der Verbindung, die man »Straße des Herakles« nannte. Um diese Stadt zu begünstigen, war Hasdrubal gezwungen worden, einen Vertrag zu unterschreiben, der den Puniern verbot, den Fluss Hiberus zu überschreiten und Saguntum anzugreifen. Saguntum wurde von Hannibal berannt. Noch war der Fluss Hiberus nicht überschritten worden. Aber unverkennbar drohte der Zweite Punische Krieg. »So wie ich Hannibal zu kennen glaube«, sagte ich zu Narnia und Arconrik, »und wie Beilarx dessen letzte Reden und Vorbereitungen schilderte, denke ich, er wird Rom ein zweites Mal herausfordern.« »Diesmal aber nicht in seinem eigenen Land«, beharrte Arconrik. Der Robothund lief langsam durch Gärten und Park, und wachsam zog Bendis seine Kreise hoch über dem Anwesen. »Er wird Rom dort treffen wollen, wo es am meisten schmerzt.« »In Rom also«, sagte Narnia. »Welch ein langer, beschwerlicher Weg.« Wir betrachteten die Karte. Die Schiffe der römischen Flotte beherrschten das Meer, also würde er nicht wagen, seine Truppen überzusetzen. Überdies bedeutete der Landweg eine Herausforderung für ihn; eine von vielen. »Und dabei soll ich ihm helfen?« zweifelte ich. Der Angriff auf Saguntum, eine ungewöhnlich stark befestigte Stadt, hatte die Römer herausgefordert. Für sie bedeutete dieser Vertragsbruch eine Aufforderung zum Krieg. In aller Stille fingen die Römer an, zwei Armeen aufzustellen. Eine sollte
nach Hispania marschieren, die andere in Africa einfallen. »Es bedeutet nichts anderes als einen Kampf um die Macht entlang aller Küsten«, analysierte Arconrik. »Ob es Narnia gefällt, ständig neben einem bewaffneten Demetrion zu marschieren, bezweifle ich stark.« »Ich werde auf keinen Fall Hannibal begleiten«, versicherte ich. »Es genügt, wenn ich ihm den besten Weg erkläre und die Karten interpretiere. Überdies kennt niemand seine wirklichen Pläne.« »Er ist, sagt selbst Beilarx, ein hervorragender Soldat«, fügte Narnia hinzu und strich ihr Haar in den Nacken. Die Sonne hatte einige Strähnen ausgebleicht. Sie sah hinreißend aus mit ihrem gebräunten Körper unter dem weißen, tunikaartigen Kleid. »Seine Söldner werden ihn durch die Bergnester der Gallier ebenso folgen wie über die schneebedeckten Pässe.« »Und sicherlich wird er seine Kampfelefanten mitnehmen wollen. Sie sind eine erschreckende Waffe, wenn sie richtig eingesetzt werden.« »Unsinn!« widersprach ich Arconrik. »Für diese Tiere sind die Höhe, das Gelände und die Kälte auf den Pässen ein klares Todesurteil.« »Hannibal wird das Unmögliche möglich machen!« behauptete er. Aus dem Container, den wir damals ausgeschleust hatten, waren Waffen und Ausrüstung ersetzt und ergänzt worden. Derjenige Teil des flachen, aber weiträumigen Gutshofs, den wir bewohnten, war mit den vielen Gegenständen geschmückt, die wir von der weiten Reise mitgebracht hatten: Jadefiguren aus den Gauen des Ch’in-Landes, viele Artikel aus gegossener Bronze, Dinge aus Schmiedeeisen und Gußeisen, Gewürze und Seidengewänder, einige Pflanzen, die den Transport überlebt hatten, wuchsen im Garten, von den unzähligen Sklaven geschützt. In einem Raum war Arconriks
Werkstatt, in der er meist erfolgreich versuchte, meine Entwürfe zu realisieren. Er stellte beispielsweise Werkzeuge her, verfeinerte sie und brachte den Dienern bei, sie richtig zu benutzen. Wir wagten uns sogar an den Versuch, eine Nassbatterie und eine Glühlampe zu entwickeln, aber dabei gab es mehr als Schwierigkeiten. »Mit Elefanten über oder durch zwei Gebirgsketten«, sagte ich kopfschüttelnd. »Das würde die römischen Feldherren und Senatoren wirklich erschrecken.« Aber wir wußten nicht, was der Punier wirklich plante. Ich dachte lange darüber nach, was ich tun konnte. Wenn es mir gelang, den drohenden Krieg zu verhindern, könnte ich stolz sein. Zunächst sollte ich wohl mit Hannibal sprechen und versuchen, zu erfahren, was er dachte. »Ich werde allein zu Hannibal gehen«, sagte ich schließlich ein paar Tage später. »Für kurze Zeit. Dann entscheiden wir, was zu tun ist.« »Einverstanden. Eine logische Überlegung!« sagte Arconrik. Irgendwie würden wir doch wieder in das Geschehen unmittelbar hineingezogen werden. In der Zeit, die verging, ehe Beilarx von Neu-Karthago mit den Schiffen voller Silber, Getreide, Tonwaren und anderen Gütern kam und in den großen, rautenförmigen Handelshafen von Qart Hadasht einfuhr, versuchten wir, Hannibals Weg vorzubereiten. Sein Ziel war mit größter Sicherheit die Hauptstadt der Tauriner, nahe dem Fluss Padus. Von dort aus lag die gesamte, lang gestreckte Landmasse des römischen Staatsgebietes vor ihm. Der Übergang des Apennin war kein ernsthaftes Hindernis, wenn er nicht gerade im Winter versucht wurde. Rico-Arconrik schickte seine Spinnsonden aus, und wir sahen zu, wie Saguntum fiel, nach heldenhaftem Widerstand und einigen Versuchen, mit Hannibal Frieden zu schließen.
Sieben Monde lang hatte die Belagerung gedauert; viele Sklaven und eine wertvolle Beute wurden nach Karthago gebracht. Mit der kleinen Flotte kam auch Beilarx und war wenige Tage später in seinem Haus, bei uns. »Jetzt ist Hannibal wieder in Karthago Nova«, berichtete Beilarx, noch immer voller Staunen aber die vielen Veränderungen, die seinen Besitz schmückten. »Wir erwarten in Qart Hadasht römische Abgesandte. Sie werden uns den Krieg erklären. Ihr wißt, daß ich nicht für Krieg bin.« Hannibal, vom Heer zum reuen Feldherrn gewählt, war Stratege aller militärischen Macht der Poeni. Der Einspruch der mächtigen Herren in der Heimatstadt drang nicht durch, die Barkiden-Familie hatte mehr Einfluß. Überdies wurde jeder einzelne Soldat des riesigen Heeres von den Barkiden bezahlt. »Krieg also. Die Römer werden nach Hispania kommen und hierher«, sagte ich. Der Mann mit den weißen Schläfen nickte. »Es ist wahrscheinlich, daß sie auch meinen Besitz niederbrennen und plündern.« »Vielleicht ist es zu verhindern«, versprach ich vage. Wenige Tage später verließ ich das Haus des Beilarx, schwebte mit dem Gleiter in die Richtung auf Hannibals Winterlager und verbarg die Maschine in einer Höhle. Ich kaufte in einem Weiler ein gutes Pferd, schnallte ihm meinen Sattel auf und ritt zu Hannibal. Ich war so gut ausgerüstet, als hätte ich vor, einen privaten Krieg anzufangen. Vor mir stand, als ich das Feldherrenzelt erreicht hatte, ein dunkelhaariger Mann. Er erkannte mich sofort wieder. »Bist du gekommen, um mir ebenso zu helfen wie Hasdrubal? Mir, und Mago und Hasdrubal, meinen Brüdern, so wie der Grieche Antigonos?« Ich gab den Soldaten Speer und Schild und setzte mich. »Das wird sich zeigen, Stratege Hannibal«, sagte ich. »Zunächst will ich mit dir reden, wenn du es gestattest.«
Hannibal war gekleidet wie einer seiner Soldaten. Das war mir damals bereits aufgefallen. Seine Waffen, die auf einem Tisch an der Zeltwand lagen, stellten Meisterwerke der Handwerkskunst dar. Hannibal war hagerer geworden, gleichzeitig muskulöser, in sein Gesicht hatten sich scharfe Falten eingegraben. Die Unrast früherer Jahre schien einer kalten, ruhigen Entschlossenheit gewichen zu sein. Seine dunkelbraunen Augen musterten mich prüfend. Wir sprachen über Krieg und Frieden, über Rom und Karthago, und wir wechselten lange die alten, bekannten Argumente. Ich versuchte, ihn zu überzeugen, und er widersprach. Er wollte nichts anderes, als Rom ein für allemal als Faktor der Macht ausschließen. Niemand sollte rund um das Meer bestimmen außer Karthago. Hunderte von kleinen Stämmen und abhängigen Fürstentümern, die Gallier, die Menschen im südlichen Africa, die Griechen und jene, die an deren Grenzen wohnten – sie alle sollten eines Tages an Karthago Tribut zahlen. Jedermann wußte, daß auch die Römer nichts anderes vorhatten. Um für die Punier dieses Schicksal abzuwenden, würde Hannibal Rom angreifen. »Und dann können wir anfangen, was Hadrubal und du beschlossen habt: Handelskarawanen in alle Teile der Welt.« Von der er nicht einmal weiß, daß sie ein kugelförmiger Planet ist, kommentierte der Logiksektor. »Du weißt, welche Schwierigkeiten dich erwarten?« »Ich habe Boten und Späher überall hin geschickt«, sagte er. »Überdies besitze ich deine Karten des Landes. Sie machen nicht alles deutlich, auch sind sie ausgeblichen.« »Ich werde dir zeigen, wie du auf dem kürzesten Weg an dein Ziel kommst«, versprach ich resignierend. Seine Augen leuchteten auf. Offensichtlich erinnerte er sich an meine Möglichkeiten. »Du hilfst mir also?« fragte er begierig.
»Ja. Aber ich werde weder an deiner Seite reiten, noch werde ich kämpfen.« Ich öffnete meine Packtasche und zog einen Stapel der vorbereiteten Abbildungen heraus. Offensichtlich war Hannibal aus demselben harten Holz geschnitzt wie alle jene Eroberer, die über diese Welt gezogen waren und deren Gebeine ebenso vergessen waren wie die Reiche, die sie gegründet hatten. Warum lernten die Barbaren nichts aus ihrer eigenen Geschichte? Hannibal ließ Pergament bringen und schrieb in punischer Schrift, was ich ihm über die einzelnen Abschnitte der Landschaft berichten konnte. Der Weg von Karthago Nova war durch eine sagenhafte Straße des Herakles vorgezeichnet; Reste alter Straßenstücke, oder leicht passierbare Furten bildeten tatsächlich eine Spur, die zu den Taurinern führte, einem Volksstamm im nordwestlichen Teil des römischen Landes. »Wenn aber die Römer von Massilia aus vorstoßen«, sagte er, nachdem wir diese Marschroute genau durchgesprochen hatten, »werde ich einen anderen Weg nehmen müssen.« »Dann ziehe den Strom mit dem großen Mündungsdelta, den Rhodanus, entlang, bis zum Skaras. Von dort kommst du wieder zurück zur Straße des Herakles.« Über viele Gebiete, die er auf den Karten sah, hatte er sehr genaue Vorstellungen und Kenntnisse. Entweder waren dort Kämpfe geführt worden, oder die Händler hatten ihm berichtet, oder Eingeborene dienten als Söldner in seinem Heer. »Ich werde etwa fünfzigtausend Soldaten mit mir führen«, sagte er. »Das Land um Karthago muß gesichert bleiben, und ebenso kann ich Hispania nicht ungeschützt lassen.« »Du weißt, daß deine schärfsten Gegner der Consul Scipio und sein Bruder sein werden? Erfahrene Feldherrn!« »Diese oder andere Römer. Jeder ist ein Feind der Punier.«
»Du weißt, daß ich anders denke«, meinte ich. »Du denkst, daß du dein Heer auf dem langen Weg bis Rom immer wieder mit neuen, kampferprobten Söldnern auffüllen kannst?« »Ohne Zweifel. Die Silbermünzen aus unseren Bergwerken bei Gades und die reiche Beute, die wir während zahlreicher Schlachten machen werden, werden sie reichlich entlohnen.« »Du hast wirklich Großes vor«, sagte ich. Widerwillig mußte ich mir sagen, daß ich seinen unbeugsamen Willen bewunderte. Da er von jedem seiner Soldaten ebenso bewundert wurde – er galt als einer der ihren, der stets an der Spitze kämpfte –, würden sie für ihn jede Strapaze auf sich nehmen. Er stellte mir gute, zweckmäßige Fragen. Wo gab es Wasser für Soldaten, Tiere und Troß? War genug Futter für die Pferde zu bekommen? Welche Bewohner würden das durchziehende Heer bekämpfen? Welche nicht? An welchen Stellen, wenn überhaupt, war der Rhodanus für das Heer und die Elefanten passierbar? Ich sagte ihm, was ich wußte – es war nicht wenig. »Hasdrubal, der Bedächtige, wird Hispania schützen. Ich lasse ihm ein Heer der besten Männer«, meinte Hannibal. »Die Römer werden versuchen, ihre Schiffe hier landen zu lassen.« »Sie werden anderes versuchen. Du solltest sie nicht unterschätzen.« »Tue ich das?« fragte er. »Nein. Aber jeder Mann ist zu töten. Selbst ein Römer ist sterblich.« »Auch du bist es!« versicherte ich ihm unwidersprochen. »Wann brichst du mit dem Heer auf?« »Zuerst regle ich die Dinge in Gades. Dann bleiben wir hier im Winterlager. Im Frühling, denke ich, sind wir bereit.« »Dann werde ich mit meinem schönen Schiff irgendwo sein, an einer Stelle, an der Römer und Panier nicht aufeinander losschlagen und sich töten, die Städte verwüsten und die Bewohner zu Sklaven machen.«
Ich spielte mit dem Gedanken, Hannibal zu erzählen, daß ich nun zu den römischen Konsuln ging und ihnen berichtete, was er plante. Und daß ich ihnen Landkarten von Qart Hadasht gäbe. Ich sagte kein Wort und stand auf. »Wie kann ich dir danken«, fragte Hannibal. ES hatte sich geirrt. Er brauchte keinen Freund. Vielleicht brauchte er einen Vater, aber nicht mich. Ich antwortete: »Ich habe dir nur scheinbar geholfen. Ich versuchte, etwas für dein Land zu tun, dessen Gastfreundschaft ich genieße. Beilarx und Hasdrubal, dein ermordeter Erzieher, ihnen habe ich zu danken. Du, Hannibal, wenn du die Kämpfe überlebst, wirst mir nicht danken können. Dann nämlich werden unzählige Menschen versklavt, verhungert, verwundet und getötet worden sein. Berge von Leichen werden dir im Traum erscheinen. Frag jeden einfachen Menschen, ob er Krieg will oder nicht. Seine Antwort wird ein ›Nein‹ sein. Die Feldherren sind es, die den Krieg brauchen. Und sie werden am meisten unter seinen Wirkungen leiden. Das ist die Wahrheit, und sie stammt nicht von mir.« Er senkte den Kopf und schwieg. Dann kam wieder die punische Starrköpfigkeit in seine Überlegungen, und Stolz drängte sich hinein. »Dinge, die zu tun sind, müssen getan werden. Ich werde sie tun. Macht und Freiheit für alle Punier.« »Du wirst Glück brauchen. Ich wünsche es dir.« Er schüttelte mir nicht die Hand, als ich meine Waffen hob und das Zelt verließ. Langsam, ritt ich aus Karthago Nova hinaus, enttarnte meinen Gleiter und flog zurück zu Narnia und Arconrik. In Gades würde Hannibal den Tempel des Melkart aufsuchen, den die Tyrer erbaut hatten. Dort wollte er die Hilfe des Gottes für sein Unterfangen erbitten. Wir beratschlagten, und
ich bereitete Narnia auf ungewöhnliche Stunden und Tage vor. »Bendis wird, mit einigen Sonden, Hannibal begleiten«, sagte Arconrik. »Ich werde die Bilder speichern.« »Unsere Ausrüstung? Können wir es riskieren, sie hier in einem Versteck zu belassen?« »Besser nicht«, antwortete der Robot. »Obwohl es ein Gedanke ist, der den Reiz des Neuartigen hat.« Wir ließen uns in diesem schönen, warmen Herbst genügend Zeit. Für Beilarx schrieb ich einen Brief, in dem wir unsere Rückkehr in ein paar Jahren versprachen und ihm mit aller Herzlichkeit dankten. Der Gleiter füllte sich mit den Ausrüstungsgegenständen, der Container, den wir nachts zurückschickten, war halbvoll. Ein großes Geschenk erhielt der Majordomus, und eines Abends nahmen wir Abschied von der Nordküste Africas. Wir flogen wieder über das Meer, das sich dunkler färbte, der untergehenden Sonne entgegen und den ersten Sternen. Narnia war verwirrt, denn sie vermochte sich nicht vorzustellen, wie es ist, einige Jahre lang zu schlafen und dann aufzuwachen wie an einem jeden Morgen. Diesmal wirst du jedenfalls mit vollen, gültigen Erinnerungen aufwachen, sagte der Logiksektor. Auch in der Kuppel gab es keine Eile; hier erst recht nicht. Zamolxes wurde deaktiviert. Wir dekorierten unsere Mitbringsel zwischen den übrigen Relikten einer langen Atlan-Lebensgeschichte, von der ich die wenigsten Stationen wirklich kannte. Schließlich hatte Narnia ihre Sicherheit wieder gefunden, und Arconrik ging daran, den reichlich mitgebrachten Wein in saubere Flaschen umzufüllen. Wir riefen Bilder von der Planetenoberfläche ab und sahen, wie erwartet, daß Rom und Karthago sich für die bevorstehenden Kämpfe rüsteten.
Wir schliefen ein, und bevor sich die große Müdigkeit über uns senkte, berührten sich unsere Hände. An meine Träume konnte ich mich nachher nicht mehr erinnern. Aber sie mußten gut gewesen sein; ganz andere als das Geschehen, das sich zwischen Gades im Westen und Rom im Osten abspielte. Noch interessierte es mich nicht, wie lange wir geschlafen und geträumt hatten: dies war kein Traum. Damit der Verstand in meinem kraftlosen Körper durch Bilder, Farben und Klänge beschäftigt und auf diese Weise vor Schäden bewahrt wurde, spielte mir Arconrik kurze und längere Ausschnitte aus der verstrichenen Zeit vor – ich sah und erlebte Hannibal, las Depeschen, sah und hörte die Nachrichten der Boten, dazu dröhnten arkonidische und barbarische Melodien durch die Bezirke der Kuppel, unter deren sonnenähnlichen Lampen ich kraftlos ausgestreckt lag. Hannibal Barkas, der geahnt hatte, daß meine halbstereoskopischen Karten bald verblassen und unbrauchbar werden würden, hatte die meisten abzeichnen lassen und plante minutiös; ich wußte, wie umfassend und perfekt das Netz seiner Späher und Lauscher war. Er ließ zwölftausend Afrer im Land, dreihundert Ligurer und ein halbes Tausend kampferprobter Schleuderer von den Balearen. Ein halbes Tausend Libyphöniker, berittene Krieger also, zweitausend Numidier und Schwarzhäutige, die sich durch Raserei im Kampf auszeichneten, etliche hundert eingeborene Söldner, dreihundert numidische Reiter und einundzwanzig Kampfelefanten, dazu allerlei Fußvolk, das er unter den Befehl seines Bruders Hasdrubal stellte. Fast sechzig Schiffe sollten dafür sorgen, daß die Römer nicht ungesehen an der Küste landeten. Nach Qart Hadasht aber schickte er vierzehn Tausendschaften Hopliten, neunhundert balearische Schleudere, zwölfhun-
dert Reiter. Die Römer würden, wenn sie angriffen, aus Sizilien kommen. An den Küsten wurden Posten eingesetzt, die Stadt erhielt eine starke Besatzung. Viertausend Jünglinge wurden in den umliegenden Ländern angeworben. Viele Soldaten erhielten Urlaub bis zum Frühlingsanfang. Die Handwerker und Waffenschmiede im ganzen Land brauchten sich über zu wenig Arbeit nicht zu beklagen. Ich beobachtete ihn und glaubte manchmal, seine Gedanken erraten zu können: Oft und lange dachte der Sohn Hamilkars über den seltsamen Fremden nach und über dessen Versuch, ihn von der Sinnlosigkeit dieses Feldzugs abzuhalten. Es gab gute Gründe für einen Machtzuwachs durch Handel, und es waren bessere Gründe, ein für allemal den Römern zu zeigen, wer die Küsten des Meeres beherrschte, und wer die Bedingungen des Siegers stellte. Jetzt hatte er recht, Hannibal Barkas, und nach dem Sieg würde er das Erbe jener Männer Hasdrubal, Beilarx und Demetrion antreten und die fernen Länder aufsuchen. Mit der Einnahme von Saguntum hatte er sich selbst ein Signal gesetzt. Er folgte seinem eignen Feldzeichen. Ich war sicher – so gut kannte ich ihn oder glaubte ihn zu kennen: Ihm wäre es lieber gewesen, daß ich an seiner Seite geritten wäre, als Weggefährte, Kämpfer und Freund, der stets ein wenig mehr wußte als alle anderen; ähnlich dem klugen, gerissenen Griechen Antigonos, den er »Tiggo« nannte. So aber versuchte ich meinen Körper zu kräftigen und aus Hannibals Vorgehen zu erkennen, wie das Ende aussehen mochte. Die Bilder zeigten einen Beginn, wie ich ihn an anderen Orten, zu anderen Zeiten oft miterlebt hatte: Hannibal stand auf dem Rücken eines Elefanten, der langsam durch die Reste des Lagers tappte. Die Klingen an den Stoßzähnen steckten in hölzernen Scheiden, auf den Ecken der
Plattform saßen Unterführer. Hannibal breitete die Arme aus und rief seinen Soldaten zu. »Wir brechen auf! Es geht nach Norden. Und am Ende des Marsches wird Rom vor uns im Staub liegen.« Diejenigen, die ihn deutlich verstanden hatten, gaben die Worte an die hinter ihnen Stehenden weiter. Schließlich erhob sich unter den Tausenden und aber Tausenden ein gewaltiges Geschrei. Der Elefant, den sie »Rache der Tanit« nannten, hob den Rüssel und trompetete seinen Schrei hinaus, der die Pferde des Gegners erschrecken und sie zu panischer Flucht treiben sollte. Langsam setzte sich das Heer in Bewegung. Der Troß folgte; Wagen, Packtiere, das Schlachtvieh und die Vorräte an Lebensmitteln, Werkzeug und Waffen. Viele Monde würden vergehen, bis der Heereszug zum Stehen kommen mochte. Hannibal überschritt den Hiberus. Das zweite Zeichen, das er setzte: Das war die deutlichste Herausforderung, trotz der Kriegserklärung, die Karthago gegenüber den römischen Gesandten abgegeben hatte. Ilergeten, Bargusier, Ausetaner und Laketanier wurden mühelos unterworfen. Der Weg war frei, nachdem Hanno mit zurückgelassenen Soldaten den Paß nach Gallien sicherte. Ein gallischer Stamm, durch Geschenke besänftigt, ließ das Heer unangegriffen weiterziehen. Zu dieser Zeit – Gerüchte sind schnell und verkehren auf unbekannten Wegen – erhoben sich Insubrer und Boier im Norden des römischen Landes. Scipio traf mit seinem Heer, mit vielen Schiffen, in Massilia ein. Er war erschrocken, erfahren zu müssen, daß Hannibal längst Hispania hinter sich gelassen hatte und sich dem Fluss Rhodanus näherte. Also würde er Massilia angreifen. Hannibal überquerte den Fluss; mit Hilfe der Vosker und einer Unmenge von Kähnen und Flößen setzte das Heer über.
Der Rhodanus war hier dreihundert Mannslängen breit und reißend. Für die Elefanten bauten die Punier eine Art Schwimmbrücke, deren letztes Stück, ein Floß, von Ruderbooten ans andere Ufer gezogen wurde. Die Brücke wurde mit Erde bedeckt, so daß die riesigen Tiere nicht scheu wurden. Dennoch stürzten einige von ihnen ins Wasser und schafften es, schwimmend das andere Ufer zu erreichen. Numidische Reiter, die er in die Richtung auf Massilia schickte, meldeten ihm, daß sie römische Reiterei gesehen hätten. Also rückten die Legionen auf seinen derzeitigen Standort vor, folgerte Hannibal. Er wollte keinen Kampf, bevor er nicht römisches Land betreten hatte. Dennoch gab es zwischen den Reitern einen schweren, erbitterten Kampf, der viele Tote kostete. Von fern sahen die Punier bereits die alpes, die höchsten Gipfel des Gebirges. Hannibal hielt, nachdem sich die Truppe erholt hatte, eine feurige Ansprache und ließ dann auf dem östlichen Ufer des Rhodanus weitermarschieren. Tag um Tag verging; es gab Wasser und Nahrung im Überfluß, und die Punier legten große Strecken schnell zurück. In vier Tagen hatten sie den östlichen Zufluss erreicht, den Skaras. Jetzt marschierte die Armee in eine andere Richtung: nach Osten, den Bergen entgegen. Römische Reiterei stieß ungehindert nach Norden vor. Sie sah das verlassene Lager und stattete Scipio Bericht darüber ab. Der Feldherr begriff, daß Hannibal nicht Massilia angreifen wollte, sondern nach seinem Land zielte. Als die Legionen nach rasenden Eilmärschen das nächste Lager erreichten, war es ebenso verlassen. Mehr als drei Tage weit war Hannibal von dem Lager entfernt. Scipio marschierte zur Küste zurück, übergab seinem Bruder das Kommando und schickte ihn mit dem größten Teil des Heeres nach Nordhispania. Mit einer kleinen Truppe schiffte er sich ein und versuchte, das Land im
Norden Roms schnell zu erreichen, um vor Hannibal dort sein zu können. Vierunddreißig Elefanten besaß das Heer: Sie standen bis zum Bauch im Wasser des Skaras, der rechts in den Rhodanus einmündete. Die Treiber und Lenker säuberten die Tiere, die kleiner als der Elefant aus Mittelafrica war, mit Bürsten und nassem Sand. Die Waldelefanten aus den nördlichen Ländern Africas waren bisher willig allen Befehlen gefolgt. Nur der Transport über den Fluss hatte sie erschreckt. Sie wälzten sich im Schlamm, spritzten Wasser aus den Rüsseln, und die Barbaren, die das Heer beobachteten, erschraken vor den seltsamen, eineinhalb Mann hohen Tieren. Zwischen schroffen Bergen bildete hier das Mündungsgebiet des Nebenflusses eine dreieckige Landinsel. Das Heer lagerte hier, ehe es dem rechten Ufer des Skaras folgte. Die ersten Berge ragten rechts und links des Weges auf. Die Spitze des Heeres hielt an, als die vorausgerittenen Späher den Anführern berichteten, daß unter den Allobrogern, einem mächtigen gallischen Stamm, ein Streit um den Thron ausgebrochen war. Hannibal hörte davon, warf einen langen Blick hinauf in den fahlblauen Himmel und suchte den Falken, der ihn seit dem Aufbruch begleitete. An der Farbe der Schwingenenden erkannte er, daß es sich um dasselbe Tier handelte. Jetzt jagte es wohl zwischen den Felsen. Dann versuchte er, mit Hilfe von Sprachkundigen, den Streit der zwei Brüder zu schlichten. Das Heer fand schnell Freunde unter den Galliern, und man beschenkte sie reich; Kleidung gegen die Kälte in den Bergen und Proviant. Auch bekam Hannibal mehrere Männer, die angeblich den Weg nach Osten kannten. Der Marsch ging weiter; langsam und schwerfällig, jedoch unaufhaltsam, bewegten sich rund fünfzigtausend Männer mit dem schwer beladenen Troß bis zur Druentia, einem reißen-
den Gebirgsfluss, der jetzt, nach der Schneeschmelze, Unmengen Wasser und rollenden Kies mit sich führte. Die Armee wandte sich zurück nach Süden. Längst wußte Hannibal, daß der Konsul Publius Cornelius Scipio ihn nicht mehr verfolgte. Ein niedriger Paß wurde erklommen, stetig stieg das Land an, die kaum erkennbare Straße führte in immer größere Höhen. War es in den Tälern noch erträglich warm gewesen, so begannen jetzt Kälte und ein schneidender Wind die Männer zu beißen. Der Paß lag hinter dem Troß, als Hannibals Heer angegriffen wurde. Einheimische Stämme überfielen, vom Hang herunter kämpfend, die Truppen. Obwohl sich die geübten Krieger des Puniers wehrten, erlitten sie schwere Verluste. Die Gallier, deren wildes Angriffsgeschrei in den Tälern hallte, wälzten Steinbrocken die Hänge hinunter, ließen Bäume umstürzen und schleuderten die Speere in die Reihen der überraschten Krieger, die nicht vorwärts und nicht rückwärts ausweichen konnten. Nicht einmal das gellende Trompeten der Elefanten vermochte die Gallier zurückzuschlagen. Mühsam kämpften sich die Punier weiter, bis die Spitze des Heeres endlich ein breites, offenes Tal erreichte. Hier konnten die Gallier mühelos zurückgeschlagen werden, und die Punier erschlugen diesmal mehr Gegner. Wieder mußte Hannibal seine Toten begraben und das Heer neu ordnen. Der schwerfällige Troß war am meisten gefährdet. Also ließ der Feldherr Teile davon zurück. Anderes Gepäck wurde auf die einzelnen Männer verteilt. In der kalten Luft konnte es in diesen Nächten nur wenig Wärme an den Lagerfeuern geben. Einige Tage lang durfte sich das Heer ausruhen. Zwar war der Marsch eine Kletterei, immer höher hinauf zum Paß, aber
niemand griff an. An diesen Stellen konnten die Soldaten die Nachhut in die Mitte ihrer Reihen nehmen und auf diese Weise besser schützen. Abermals ein paar Tage später erfolgte der nächste Überfall: Obwohl Hannibal eine Reihe kluger, taktisch sinnvoller Kämpfe befahl, gelang es den Galliern, den Heereszug in zwei Teile zu spalten. Der Weg war schmal geworden, und in dem gewaltigen Gedränge kippten Packtiere mit schweren Lasten in den Abgrund. Pferde scheuten und gefährdeten sich und die Reiter. Wieder rollten polternd und zerspringend große Felsbrocken zu Tal. Hannibal griff, obwohl die Spitze des Heeres die höchste Stelle dieser natürlichen Falle erreicht hatte, mit seinen Soldaten an und schlug die Gallig zurück. Er drang in ihre Häuser ein, machte viele Gefangene und bemächtigte sich der Vorräte und der Schlachttiere. Auf dem Paß wartete das Heer zwei Tage lang in grimmiger Kälte auf die Nachzügler. Der Schnee vom vorherigen Jahr war noch nicht geschmolzen, und das Eis war von frisch gefallenem Schnee bedeckt. Aber in den wenigen Stunden, in denen klare Sicht herrschte, vermochten die Panier von besonderen Stellen aus das Ziel des Gewaltmarsches zu erkennen – die Ebene, in der die Tauriner wohnten. Die Kälte tötete einige der Elefanten; die Afrer zerschnitten, die Tiere mit ihren Schwertern und Dolchen und brieten das Fleisch an den Feuern, die man in alten Schilden anzündete. Bei jeder Bewegung rutschten die Männer. Viele von ihnen verloren den Halt und rutschten über Eiskanten in die Tiefe. Lasttiere saßen in dem Schnee fest, der so hart und heimtückisch war wie Sumpf. Es gab weder Felsbrocken noch Wurzeln oder Bäume zum Festklammern. Mit den Schilden und Schwertern schafften es die Soldaten, den Schnee und das Eis so weit wegzuschaffen, daß sie das ganze Ausmaß des Unglücks erkennen konnten.
Ein Erdrutsch hatte einen Teil der Straße weggerissen. Mit noch mühsamerer Arbeit wurden Bäume gefällt. Ein riesiger Stoß wurde über die zungenförmige Masse aus Schnee, Eis und Geröll, durchsetzt mit riesigen Steinen, aufgeschichtet. Es gelang, ein Feuer darunter zu entzünden, in das der jaulende Wind fuhr und die Flammen prasselnd hochsteigen ließ. Schnee schmolz, das gefrorene Geröll wurde weich und konnte weggeschaufelt werden; einige Teile sackten von selbst in den Abgrund. Hungernd und frierend schufteten die Soldaten, und man sah Hannibal überall dort, wo schwerste Arbeit geleistet werden mußte. Als das gewaltige Feuer niedergebrannt war, brachte man vom Troß Krüge voller Essig. Die glühendheißen Felsbrocken wurden damit überschüttet. Ätzender Gestank erhob sich und ließ die Soldaten zurücktaumeln. Dann zerschlugen sie die Steine, die voller Sprünge geworden waren, zu mürben Brocken und rollten sie über den Hang. Vier Tage dauerte die erbarmungslose Arbeit. Die Elefanten froren noch mehr als jedes andere Wesen hier auf der Höhe des Passes. Dann aber führte eine schmale Straße in Serpentinen durch das Geröllfeld und weiter abwärts, bis sie sich wieder mit den Resten der Straße des Herakles vereinigte. Mehrere Tage später erreichten sie mit knurrenden Mägen und erfrorenen Gliedern die sonnigen Täler und Weiden unterhalb des Passes. Die Tiere wurden abgesattelt und ausgeschirrt und auf die spätsommerlichen Weiden getrieben. Die Männer warfen sich zu Boden und schliefen sofort ein. Drei Tage lang jagten die numidischen Reiter, man fand Beeren, Pilze und bekam von einigen verängstigten Bauern, was sie gerade hatten. Die Elefanten, die jene Strapazen überlebt hatten, waren schrecklich abgemagert. Auch von ihnen verendeten einige. Aber noch immer lebte der größte Elefantenbulle »Rache der
Tanit«. Hannibal brauchte nicht das Ergebnis der Zählung abzuwarten. Er wußte, daß der gesamte Troß, bis auf wenige Ausnahmen verloren war. Als sie, ausgeruht, satt und zu neuen Einheiten zusammengestellt, weitermarschierten, erfuhr der Feldherr, daß er nicht ganz zwanzigtausend Männer verloren hatte. Fünf Monde, nachdem sie von Karthago Nova aufgebrochen waren, erreichten sie die ebene Landschaft, durch die der Padus und der Ticinus flossen. Hier würde sich ihnen Scipio entgegenstellen, drei Monde, bevor sich das Jahr wendete. Über dem Heer, das nur in mühevoller Arbeit und dauernder Anstrengung den Glanz der Tage wieder erreichte, an denen es sich in Marsch gesetzt hatte, kreiste wie immer jener seltsame Falke. Hannibal aber war mehr gealtert als nur ein halbes Jahr. Das Haar an seinen Schläfen war grau geworden. Auch im buschigen Haupthaar zeigten sich weiße Strähnen. Seine Haut war fahl. Jedes Gramm Fett war verloren, hager und scharf zeigte sich sein Gesicht. Wie jeder seiner Männer war er bemüht, kräftig zu essen, seine Waffen und Rüstungen ausbessern zu lassen, den Körper zu reinigen und die unzähligen kleinen Wunden zu pflegen. Der Herbst war gekommen, und überall zeigte sich die Pracht von Feldern, die in Frucht standen, von prallen Reben, gesunden Tieren auf den Weiden, gereiften Früchten. In diesen Viertelmonden erkannten seine Soldaten, wie unendlich reich die Beute sein würde. Die Heere standen sich am Fluss Ticinus gegenüber. Hannibal wußte, daß ihm Scipio gegenüberstand; ein Mann, dessen Tapferkeit er achtete. Er wußte aber auch, daß Feldherr Sempronius mit der Sicilia-Armee hierher unterwegs war. Zwischen beiden Heerlagern ereigneten sich ununterbrochen kleinere und größere Gefechte der Berittenen. Ein Teil des pu-
nischen Heeres wurde Hannibals Bruder Mago unterstellt. Sempronius drang darauf, den Kampf zu beginnen. Die Römer schlugen eine Brücke über den Ticinus und sicherten sie durch Palisaden: Mehr zufällig wurde aus einem Reitergefecht eine kurze, aber ernsthafte Schlacht, in der Scipio verwundet wurde. Das Lager am Ticinus wurde abgebrochen, die Römer zogen sich zurück, aber sie gerieten in die Falle Magos. Viele Legionäre starben, Gallier liefen zu Hannibal über. Für eine Weile kam der Krieg am Fluss Trebia zum Erliegen. Zuerst sah Sempronius, ohne überrascht zu sein, daß die Numidier anrückten. Er schickte seine Reiterei vor, dann kamen die Wurfspeerschützen, schließlich marschierten die Legionäre. Die Numidier zogen sich zurück, die Römer verfolgten sie. Es begann zu schneien, der Fluss führte Hochwasser, viele Römer wurden von den Fluten mitgerissen. Als sie das Ufer der Punier erreichten, waren die Männer naß und zitterten vor Kälte. Hannibals Streitmacht wartete auf sie. Die Elefanten mit blitzenden Messern an den Zähnen, schwer mit Schilden und Riemen gepanzert, den Rücken voller Männer, die lange Pfeile verschossen und mit Speeren nach den Laufenden stachen, hoben ihre Rüssel und trabten los. Die ersten Wurfspieße flogen durch die Luft. Gallische Karnyxe bliesen lauter als die Schreie der Elefanten. Die Reiter der Römer schwenkten herum und versuchten, ihren Leuten zu helfen. Numidier griffen die Seiten der Legionen, die ihre Schilde zusammenrückten und heldenhaft kämpften. Mago brach aus seinem Versteck heraus, fiel den Römern in den Rücken, und nur wenigen Legionären gelang es, heil das eigene Ufer wieder zu erreichen. Verwundete wurden von den Wassermassen mitgerissen, Hunger und Wunden machten die Männer in der Kälte besinnungslos. Die Trompeten bliesen klagend zum Rückzug. Scipio flüchtete, und alle gallischen
Söldner der Römer liefen endgültig zu den Puniern über. Nur der Ausbruch eines Schneesturms verhinderte, daß weitergekämpft werden konnte. Rom war geschlagen worden. Zwanzigtausend Soldaten waren gefallen. Aber auch eineinhalb Dutzend Elefanten hatten diese eisige Nacht nicht überlebt. Einige waren von den Lenkern mit Meißelschneiden getötet worden, die man ihnen mit einem Hammer in den Nacken trieb – sie brachen auf der Stelle zusammen. Die wuchtigen Tiere hatten, rasend vor Wut und Schmerzen, die eigenen Soldaten gefährdet und umgerannt. Scipio zog sich nach Cremona zurück. Während der Wintermonde verwüsteten viele Tausende kleiner Kämpfe das Land und kosteten Gallier, Römer und Punier das Leben. Am meisten litten die Landbewohner, die jedem Angriff hilflos ausgeliefert waren. Im Frühjahr, bei den ersten Anzeichen wärmeren Wetters, versuchte Hannibal, den Apennin zu überqueren. Er hatte erfahren, daß der Gebirgszug viel leichter zu durchwandern sei als das Gebirge, von dem er heruntergestiegen war. Mittlerweile waren seine Soldaten durch riesige Beute reich geworden. Schneestürme, so gewaltig, daß die Männer umgeworfen wurden, hielten die Panier auf. Ein Flusstal stand unter Wasser. Hannibal bahnte sich einen Weg mitten hindurch, weil er die Römer überraschen wollte. Ein Geschwür im Auge, das er wegen der Strapazen nicht kurieren konnte, peinigte ihn mit wütenden Schmerzen. Soldaten, Pferde und Packtiere verendeten in dem abgrundtiefen Morast. Als der Sumpf überwunden war, mußte der Arzt das Auge entfernen. Nur noch ein einziger Elefant lebte: der Bulle »Rache der Tanit«. Die erschöpfte, restlos verdreckte Armee ruhte sich aus. Dann zog sie nach Arezzo, umging die Stadt und zwang den Feldherrn
Flaminius dadurch, daß die Bauernhöfe verwüstet und die Saaten angezündet wurden, ihm nachzufolgen. Am Berghang des Trasimenischen Sees schlug Hannibal sein Lager auf. Flaminius erreichte das Ufer noch bei Tag, errichtete ein Notlager und machte sich am Morgen an die Verfolgung der Karthager. Nebel kam auf. Er machte das Wasser des Sees unsichtbar, kroch von den Berghängen und versteckte die fünfzigtausend Mann des punischen Heeres. Als die Römer die Rundung einer Straße erreicht hatten, ertönten dumpf aus den Schleiers die Trompeten der Panier. Der Hinterhalt war vollständig. Die Römer konnten sich nicht mehr zur Kampfordnung aufstellen und fochten, wo sie gerade standen. Man drängte sie Schritt um Schritt zurück in den Schlamm und ins Schilf des Ufers. Reiterei machte sie nieder, und jene, die zu schwimmen versuchten, zerrte das schwere Gewicht ihrer Rüstung unter Wasser. Flaminius wurde umzingelt und von einem Manipel insubrischer Überläufer erschlagen. Das Heer wurde vernichtet. Zwanzigtausend Männer waren getötet oder gingen in die Gefangenschaft. Wie auch nach der Schlacht an der Trebia ließ Hannibal alle Männer frei, die keine Römer waren. Damit wollte er Römer und deren Bundesgenossen entzweien. Viertausend Reiter schickte Geminus dem untergegangenen Heer zur Hilfe, aber auch sie wurden gefangengenommen, verwundet oder getötet. Hannibal näherte sich der Küste, marschierte an ihr entlang und erreichte Apulien, südöstlich von Rom. Arconrik berichtete mir, sobald ich fähig war, zuzuhören, daß eine hohe Wahrscheinlichkeit für die entscheidende Schlacht errechnet worden war – sie würde in Kürze stattfinden. Deshalb hatte er für Narnia und mich den Erweckungsprozeß in Gang gesetzt. Auf dem römischen Staatsgebiet und dem der
Verbündeten, und nicht nur dort, herrschte das Chaos. Ein Heer kämpfte in Africa, Getreideschiffe der Römer wurden gekapert. Hannibal zog verwüstend und plündernd durch das Land. Er wollte den Bundesgenossen Roms beweisen, daß sie von Rom nicht geschützt werden konnten. Die Konsuln Gnaeus Cornelius Scipio und Publius Cornelius Scipio kämpften in Hispania und fügten Hannibal schwere Niederlagen zu. Rom benannte einen Diktator, um einem einzigen Mann die Möglichkeit zu geben, unwiderrufliche Befehle sofort befolgt zu sehen. Quintus Fabius Maximus rüstete aus den Resten der alten Legionen und durch Aushebung neuer Männer abermals ein Heer. Mehr als ein halbes Jahr lang wanderten Hannibal und das verfolgende Heer im Land hin und her und versuchten einander durch viele kleine Gefechte zu schaden. Die große Schlacht hatte noch nicht stattgefunden. Aber Hannibals Vorgehen hatte – für die Römer – den gewünschten Erfolg. Die Verbündeten drängten, daß Rom zuschlüge, und schickten Waffen und Männer. Das, was wir sahen und hörten, hatte nichts damit zu tun, daß sich Völker zusammenschlossen, um durch gegenseitigen Austausch ihre Kultur zu verbessern und die Zivilisation auf eine höhere Ebene zu heben. Also hatte es auch nichts mit unserer Mission zu tun. Sie würden nicht einmal ein primitives Raumschiff zusammenbringen, nicht einmal unter meiner Anleitung, mit dem ich zum zweiten Planeten fliegen und dort das Arkon-Robotgehirn mit dem starken Hypersender in Betrieb nehmen konnte. Sollte mir das jemals gelingen… ich wußte, was ich zu tun hatte. Vergiß es, Arkonide. Kümmere dich um Narnia, die aufgewacht ist und deine Nähe braucht. Die technischen Möglichkeiten der Tiefseekuppel waren sehr groß, unvorstellbar groß für jeden Barbaren. Ein Raum mit gelbem Bodenteppich spiegelte auf Riesenbildschirmen die
Umgebung eines sommerlichen Strandes am Abend wider. Sessel standen an einem runden Tisch, Kerzen brannten, ohne zu flackern, und Arconrik servierte uns das erste, leichte Essen nach der Tagen der flüssigen Spezialnahrung. Narnias Augen leuchteten mich an; sie sah bleich, aber hinreißend aus. Mehr oder weniger passiv hatten wir die gerafften Berichte angesehen. Wir kannten die Situation an den Stellen der Welt, an der wir vor rund zwei Jahren gewesen waren. »Wir gehen wieder zu den Menschen, nicht wahr?« fragte sie. Ich küßte ihre Fingerspitzen und entgegnete: »Ja. Rico… Arconrik hat ausrechnen lassen, daß wir den Kampf der Giganten miterleben sollen. Es ist der letzte Akt eines schauerlichen Dramas, denken wir.« Wir tranken einen Schluck des gereiften dunklen Weines. »Aber es wird der Welt keine Vorteile bringen?« fragte Narnia. In den letzten Tagen hatten wir die römische Sprache im Hypnoverfahren gelernt. »Vielleicht«, sagte ich. »Entweder siegt Rom oder Karthago. Mit dem dadurch ermittelten Weltherrscher können wir abermals von vorn beginnen.« »Abermals von vorn. Das Ziel ist, wie ich es verstehe, noch immer gleich weit entfernt, Atlan-Demetrion?« fragte sie. Ich nickte stumm. »Unendlich weit entfernt«, antwortete Arconrik an meiner Stelle. »Aber wir versuchen es immer wieder.« Er hatte sein Aussehen leicht verändert. Aber Hannibal und Beilarx würden ihn und mich erkennen. »Ich tue, was ich kann, um euch zu helfen«, sagte Narnia schließlich. »Ich habe unendlich viel gelernt. Und ich liebe dich, Demetrion. Und dich auch, wie meinen Bruder, Arconrik.«
Höflich sagte der Roboter: »Diese Aussage bestätigt die Qualität unserer Tarnung. Ich werde weiterhin zu dir wie ein Bruder sein.« Tage später befanden wir uns wieder am Anlegesteg des weißen Hauses. Es war gegen Mitte des siebten Mondes.
11. »Ich kenne vieles, aber nicht alles. Sagt mir, was ihr wißt.« Beilarx lehnte sich zurück. In den vergangenen Jahren war er magerer geworden. Sorgen hatten Falten in sein Gesicht gegraben. Aber sein Besitztum war größer, schöner und wertvoller geworden – dank vieler unserer »Erfindungen«. »Hispania werdet ihr verlieren«, sagte ich grob. Er nickte schwer. »Ja. Scipio ist dort, und Hannibal ist nicht da, um uns zu verteidigen. Deswegen bin ich hier.« Wir konnten ihm sagen, was vor zwei Tagen in Apulien und Rom geschehen war. Der Empfang war so gewesen, als träten wir in unser eigenes Haus ein. Mit einigem Unterschieden. Ich trug eine unvergleichlich kostbare römische Rüstung, in die mehrere Schutzeinrichtungen eingebaut waren. Niemand würde uns für Punier halten, nicht einmal Narnia in ihrer schweren, wertvollen Kleidung. Unser Ziel war der zukünftige Kampfplatz, und keiner von uns ging ein Risiko ein. »Vielleicht gewinnt Hannibal?« warf Arconrik ein. »Und verliert dafür Hispania!« »Er ist von vielen, und zuletzt von mir, ernsthaft gewarnt worden. Selbst eure Räte waren dagegen«, sagte ich. »Sein Heer wäre vernichtet worden ohne meine Karten.« »Die Schiffe, die mit deiner Nordnadel fuhren«, wandte sich Beilarx traurig an Arconrik, »sind untergegangen, verbrannt
oder gekapert.« »Für dich habe ich eine neue Nordnadel mitgebracht«, sagte der Händler des Wunderbaren. »Das ist es nicht. Ich sehe, wie alles zerfällt und der Auslöschung anheimfällt.« »Nicht wir und unsere Absichten«, korrigierte ihn Arconrik. »Und auch du solltest hier weitermachen, als wäre nichts geschehen.« Er nickte und wirkte, als würde er über jedes Wort nächtelang nachdenken. Dann, plötzlich, fiel ihm etwas ein, und er stieß hervor: »Xerzos und Suesson – ihr erinnert euch? Ich habe Nachrichten von ihnen.« »Ich erinnere mich«, antwortete Narnia. »Was weißt du von ihnen?« »Sie haben die Lehre aus dem gezogen, was sie bei dir gelernt haben, Demetrion. Zwar besitzen sie Häuser in Qart Hadasht, aber sie unternehmen weite Handelsreisen und werden, wenn eines Tages die Stadt von den Römern überrannt wird, in Sicherheit sein – und reich.« »Wenn es möglich ist, berichte ihnen von uns«, bat Narnia. Wieder verlebten wir sorglose Tage, badeten im warmen Meerwasser, sonnten und liebten uns, sahen die Bilder aus Hannibals Lager und sahen, wie vier Legionen nach Apulien marschierten und sich dort mit den vier wartenden Legionen vereinigten. Hannibal bedrohte den Troß und die Nachschubstraßen, also drängten sie ihn bis zum Fluss Ofanto und setzten sich dort trotz seiner Gegenwehr fest. Einen Tag später setzte ein Teil der Legionen über den Fluss und schlug ein Lager auf. Es ist soweit, sagte der Logiksektor. Es wird sich entscheiden, wer die Kultur an den Küsten für das nächste halbe Jahrhundert prägt. Wir verabschiedeten uns von Beilarx und sagten, daß wir in
wenigen Tagen wieder bei ihm sein würden. In der Nacht brachte uns der Gleiter vom Kap der Schönen bis zu dem winzigen Ort namens Cannae. Dort warteten wir, verborgen in den Ruinen eines Gutshofs. Am zweiten oder dritten Tag des achten Mondes geschah folgendes: Vielleicht fünfzigtausend karthagische Söldner und ein Elefant standen einem doppelt so großen Verband römischer Legionäre gegenüber. Römische Patrouillen ritten zudem in weiten Kreisen durch die Ebene, fernab des Dorfes Cannae. Hannibal war nördlich, die Römer, unter ihnen eine große Anzahl hoher Würdenträger, blieben auf der südlichen Seite des Ofanto. Als sich endlich die Heere aufgestellt hatten – das römische bot dem Punier die Schlacht an –, schickte Hannibal die balearischen Schleuderer und die Lanzenträger als Deckungsreihe vor. Jeder einzelne Soldat wußte, daß es um die Eroberung Roms ging. Dahinter stellte Hannibal das übrige Heer auf. Sechstausend hispanische und gallische Reiter standen eineinhalbtausend römischen Reitern gegenüber. Dahinter standen sechzehntausend gallische und hispanische Schwertkämpfer, stets eine Abteilung abwechselnd mit der anderen. An den Flügeln formierten sich die Lanzenträger hinter den Reitern. Im Zentrum des Heeres, auf der Kampfplattform des Elefanten, stand der Feldherr. Er war umgeben von den Signalträgern und von Wachen. Die Römer stellten sich in ähnlicher Weise auf. Paullus und Varrus befehligten die Armee. Velites, Hastati, Principes und Triarii bildeten ihre Blöcke; dies waren taktische Bezeichnungen für Angriff und geordneten Rückzug der Truppenteile und deren typische Kampfweise. Die Leichtbewaffneten beider Armeen eröffneten den Kampf. Die faustgroßen Kiesel der balearischen Schleuderer heulten
durch die Luft, hämmerten gegen Helme und Schilde und zersprangen an Schwertern. Diese Geschosse brachen Knochen noch in zweihundert Schritt Entfernung wie dürres Holz. Wurflanzen wurden geschleudert, bildeten ihre auf und absteigenden Kurven in der Luft, trafen oder blieben tief im Boden stecken. Für eine ganze Weile waren die Balearen mit der Fernwaffe im Vorteil, dann zogen sich die Leichtbewaffneten zurück, während die Legionen Schritt um Schritt vorstießen; eine Mauer aus Schilden, Lanzen und Schwertern. Hispanische und gallische Reiter griffen römische Reiter an. Die Römer wurden am Flussufer entlang zurückgeworfen; es waren zu viele und bessere Gegner. Die Reiter der römischen Verbündeten wurden von den Numidiern bedrängt, die ihre dünnen eisernen Speere schleuderten, die Saunier. Die Reihen der Punier bogen sich zuerst halbmondförmig den Römern entgegen, jetzt wurden sie zurückgedrängt und bildeten eine annähernd gerade Linie. Die römischen Reiter wurden sowohl am Flussufer als auch zwischen Hauptstreitmacht und den niedrigen Hügeln zurückgedrängt, ihre Kampfordnung löste sich auf. Zuerst sah es so aus, als ob viele römische Reiter davonkommen würden, aber je länger die Schlacht tobte, desto mehr starben trotz heldenhafter Gegenwehr. Die Gallier und Hispanien, die sich zunächst hinter die eigenen Linien zurückgezogen hatten, griffen nun die Reiter der römischen Verbündeten an und zwar aus dem Rücken. Dem zweifachen Ansturm hielt die Reiterei nicht stand. Sie wurde auseinandergesplittert und zerschlagen. Ohne zu sehen, daß sie die Reihen der Lanzenträger rechts und links vor sich passiert hatten, dringen die Legionäre vor. Als es zu spät war und verzweifelte Signale ertönten, griffen die Lanzenträger die Legionen von den Seiten an. Die Stunde der hispanischen und numidischen Reiter war gekommen. Sie ließen sich von leichtfüßigen Trägern mit neu-
en Waffen versorgen, bildeten blitzschnell Gruppen und sprengten in den Rücken der Quader hinein, in deren Schutz die Legionäre fochten. Die Lanzenträger bildeten zwei Halbkreise und umschlossen die Legionen von den Seiten, von vorn und hinten. Die Legionen hielten an, stellten sich, näherten die Schilde einander und kämpften verzweifelt. Die Numidier vernichteten die Reiterei der römischen Bundesgenossen. Alle anderen Reiter Hannibals, dessen meisterhafter Plan in dieser Stunde seinen Höhepunkt erlebte, metzelten die Legionäre nieder. Eine ungeordnete Massenflucht der Römer setzte ein. Mehr als sechstausend Römer erreichten das kleinere Lager links vom Schlachtfeld, jenseits des Flüsschens, mehr als neuntausend das größere auf der anderen Seite. Die Tausende, die sich nach dem Dorf Cannae retten konnten, wurden vom Reiteranführer Carthalo umzingelt und niedergemacht. Zu diesem Zeitpunkt waren etwa fünfzigtausend Männer tot – die Hälfte des römischen Heeres. Langsam, in großen Kreisen und durch den Deflektor geschützt, schwebte der Gleiter über dem Schlachtfeld. Eine dünne Staubwolke verbarg uns zusätzlich vor den Blicken der Kämpfenden. Überdies hatte niemand Grund, die Augen zum Himmel zu richten. Ich lehnte über die Bordwand und betrachtete die Kämpfe. Sie waren wild und zügellos und offenbarten die Hitzigkeit der Charaktere. Jene Männer, auf beiden Seiten, verstanden nicht viel, jedoch die furchtbare Kunst des Tötens beherrschten sie. Würden jemals ihre Söhne oder Enkel begreifen, was ein Getriebe war, wie man eine Maschine herstellte, was Mond, Sonne und Gestirne wirklich bedeuteten? Ich brauchte jetzt nicht mehr zu resignieren; ich hatte es bereits begriffen nach der langen, schwerwiegenden Unterhaltung mit Hannibal. Arconriks Augen registrierten ebenfalls viele Einzelheiten, nur Narnia wandte sich immer wieder schaudernd ab. Als zu Erkennen
war, daß Hannibal endgültig den Sieg davontragen würde, zog ich eine weitere Schleife und landete flussabwärts im Patio eines halbzerstörten Gutshofs, der einst einem apulischen Edelmann gehört hatte. Ich saß auf dem Bug des Gleiters, hatte Schild und Schwert abgelegt und nahm den Helm ab. Dann sagte ich, heiser vor Trauer und Erschütterung: »Morgen werde ich den letzten Versuch machen. Weder ES noch ich lassen auch die geringste Möglichkeit außer acht.« Du wirst abermals scheitern, Arkonide, sagte der Extrasinn. Narnia hob die Schultern und entgegnete zögernd: »Du willst morgen, wenn sie ihre Toten begraben und das Schlachtfeld durchsuchen, zu Hannibal gehen?« »Ja. Im Taumel des Sieges wird er zugänglicher sein.« »Möglich, jedoch unwahrscheinlich. Ich begleite dich«, sagte Arconrik. »Ich gehe allein. Du bleibst bei Narnia«, ordnete ich an. »Es ist sicherer so.« »Angenommen.« Wir stellten das Fluggerät so ab, daß wir jederzeit starten konnten. In der halbzerstörten Küche breiteten wir Klappsessel und Tücher aus und stellten, als die Nacht kam, einige Lampen auf. Fast lautlos kreiste Bendis über den Säulen aus Granit und Holz. Hannibals Soldaten hatten das Haus geplündert; es roch nach erloschenem Brand. Schweigend tranken und aßen wir. Ob sich Rom jemals von diesem Schlag erholen würde, war fraglich. In vier Tagen konnten die numidischen Reiter vor den Toren Roms stehen. Aber die Römer hatten siegreich in Hispania gekämpft und einen Seesieg in der Mündung des Hiberus errungen. Bendis schwebte über dem Loch, das anstelle des Daches zwischen den Mauern klaffte und krächzte. »Reiter kommen. Römer.«
Ich sprang auf. Arconrik ebenfalls. Ich sagte: »Es sind Flüchtende. Möglicherweise verwundet. Vielleicht können wir helfen.« »Sieben Reiter. Ich unterscheide den Hufschlag.« Arconrik brauchte, um sich zu verteidigen, keine sichtbaren Waffen. Ich nahm eine Lampe, lief durch die Trümmer des Patio und sah, als ich vor die Reste des Weinbergs trat, die Lichter in den drei Lagern. In Hannibals Lager ganz links brannten unzählige Feuer und Fackeln, in den römischen Lagern war es ziemlich dunkel. Aus der Dunkelheit des leichten Hanges kam ein Ruf. »Römer?« »Freunde«, rief ich zurück und schwenkte die Lampe. »Keine Punier. Kommt, aber macht keinen Lärm.« Kurze Zeit später kamen sieben Reiter in den Lichtschein. Sie sahen unbeschreiblich aus, ebenso wie ihre Pferde. Der Anführer fiel bei dem Versuch, vom Pferd zu steigen, kraftlos vor meine Füße. »Werdet ihr verfolgt?« fragte ich. »Wir haben niemanden gesehen. Alles ist verloren.« »Nicht euer Leben«, sagte ich. »Dort drüben ist der Brunnen für die Pferde und eine Weide. Im Haus ist Wein und Zeit für eure Wunden.« Sie stützten einander, aber ihre Waffen schleppten sie mit sich. Ich fing einen langen Blick eines hochgewachsenen, breitschultrigen Zenturionen auf, dessen Schild so zerbeult war, daß die Zeichen darauf nicht mehr zu sehen waren. Meine Rüstung indessen trug keinerlei Kampfspuren. Die Männer folgten mit in den Patio, und als Arconrik mit einer zweiten Lampe kam, die Pferde wegführte und sie von Zaumzeug und Sätteln befreite, wagten sie es, die verdreckten und zerbeulten Helme abzunehmen. »Narnia! Gib ihnen einen Krug Wein. Ich kümmere mich um
ihre Wunden«, sagte ich, verstärkte die Leuchtkraft der Lampe und stellte sie auf ein steinernes Sims. Meine Freundin nahm das Siegel von einem hohen Krug, goß meinen Pokal voll und reichte ihn zuerst dem Zenturionen. Die Männer waren auf die schartigen Steinbänke gesunken, schlossen die Augen und schwankten. Nacheinander tranken sie den Wein. Ihnen schien alles gleichgültig zu sein. Der Zenturione hob den Blick, starrte meine Beinschienen an, meinen Waffenrock und die funkelnde Rüstung, den breiten Gürtel, dann wanderten seine Augen und hefteten sich auf Helm, Schwert und Schild dort drüben. »Wer bist du?« knurrte er und schob Narnias Hand zurück, die ihm eine Scheibe Brot und Braten reichen wollte. »Demetrion, der Wanderer«, sagte ich. »Wir haben mit eurer Niederlage nichts zu schaffen!« Er sprang auf. Erstaunlich, dachte ich, wie viel Kraft er noch hat. Dann knurrte er tief aus der Kehle: »Du bist Römer; Konsul oder Quaestor, oder einer von denen, die uns im Stich gelassen haben.« Seine Hand zuckte zum Legionärsschwert, jener spitzen, zweischneidigen Waffe. Ich blieb ruhig, aber näherte mich meinem Schild und dem Schwert. »Du irrst dich«, sagte ich. »Und ich würde es nicht auf einen Zweikampf ankommen lassen.« Seine Kameraden sahen mit trüben Augen zu. Sie rührten sich nicht. Er riß das Schwert heraus und deutete mit der Spitze zu Boden. »Alle sind tot. Ich habe sie sterben sehen. Und ihr seid geflüchtet. Dafür werdet ihr büßen.« »Du bist wahnsinnig«, sagte ich, sprang um den Herd herum, so daß sein erster Hieb ins Leere ging. Narnia rief: »Arconrik! Hilf!« aber schon fuhr meine linke Hand in den Schildgriff, und mit der rechten zog ich das Schwert aus der Scheide.
Dann schwang ich mich herum, hob den Schild und wehrte den zweiten Schlag ab. Mein Plan war, den Legionär mit zwei, drei wuchtigen Schlägen zurückzutreiben und dann mit der getarnten Waffe zu betäuben. Der Hieb seines Schwertes ging in den Schild und zog kreischend eine haarfeine Spur über das vergütete Material. Er merkte den Unterschied nicht einmal, grunzte und schlug wieder zu. Diesmal parierte ich blitzschnell mit der eigenen Klinge. Sein Schwert erhielt einen ebenso starken Schlag, unsere Körper wurden erschüttert, aber in der anderen Waffe zeigte sich eine dreieckige Kerbe. Wieder schlug er zu, und diesmal traf er den Rand des Schildes. Die Spitze seiner Waffe glitt ab, zischte durch die Luft und berührte mich. Durch meine Wange zuckte ein glühender Schmerz. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, spannte alle meine Kräfte und schlug mit dem Schwert zu. Der Hieb traf die Waffe des Legionärs, prellte sie ihm fast aus der Hand und brach sie dann dicht unter dem Heft ab. Der Mann wurde zurückgeschleudert, Strauchelte und fiel auf den Rücken. Ich berührte den Auslöser im verzierten Griff des Schwertes. Der Lähmschuss fauchte auf und traf ihn voll in die Brust; er brach zusammen. Ich wandte mich blutend und fluchend seinen Männern zu und fragte: »Will noch einer von euch versuchen, Demetrion zu töten?« Sie waren so erschöpft und gleichgültig, daß sie nicht einmal abwinkten. Ich ließ Schwert und Schild fallen, packte den Lähmdolch und drehte mich um. Arconrik stand wachsam da, und seine Zeigefinger deuteten in die Richtung der römischen Soldaten. Diesmal winkte ich ab. Zu Narnia sagte ich: »Keine tiefe Wunde. Versorge sie; du weißt, wie es am besten geht.« Ich setzte mich, sie reinigte die Wunde, sprühte etwas darauf; eine wunderbare Kühle breitete sich aus, dann verdeckte
ein Bioplastverband die Wange vorm Auge bis zum Kieferrand. Als ich die Wundränder in einem kleinen Spiegel sah, wußte ich, daß ich diese Narbe niemals verlieren würde, obwohl ich schon jetzt die Arbeit des Zellaktivators spürte. Dann deutete ich auf die sieben römischen Soldaten und nickte Arconrik zu. Es dauerte etwa zwei Stunden, bis wir die Wunden der Männer versorgt und verbunden hatten. Sie würgten das Essen hinunter, gossen sich unseren Wein in die Kehlen und taumelten davon, warfen sich in eine Ecke des Patio und schliefen ein. Wir schleppten den besinnungslosen Zenturionen zu ihnen, schichteten alle Waffen auf einen Haufen und spannten unsere Hängematten auf, nicht ohne Abwehrfelder eingeschaltet und Arconrik und Bendis genaue Anweisungen erteilt zu haben. Wir erwachten im Morgengrauen. Ich suchte das kräftigste Pferd der Römer aus. Es hatte sich in der Nacht einigermaßen erholt. Ich tränkte und wusch es ab, striegelte das Fell und legte meinen Sattel auf, zwängte die Trense ins Maul und führte es zurück in den Patio. Ich aß und trank eine Kleinigkeit, ließ mir von Arconrik in die Rüstung helfen und untersuchte alle meine Waffen sehr genau. Diesmal würde ich kein Risiko eingehen. »Keine Sorge«, sagte ich und tastete nach der Wunde, die sich geschlossen hatte und nicht mehr schmerzte. »Ich nehme Bendis mit, und spätestens am Abend verlassen wir dieses Land.« »Für immer?« fragte Narnia. Ich hob die Schultern und schwang mich in den Sattel. »Ich weiß es noch nicht.« Dann ritt ich den schmalen Weg durch die verwüsteten Weingärten hinunter, ließ das Pferd ausgreifen und näherte mich dem Schlachtfeld. Es war übersät mit Tausenden Toten. Dazwischen bewegten sich die Punier, töteten die Verletzten
und sammelten die unermeßliche Beute ein. Es war ein kühler Morgen, ein leichter Wind kam von Norden und wirbelte den Gestank durcheinander. Ich schlug den Weg zu Hannibals Lager ein und wurde erst bemerkt, als ich mich den Palisaden bis auf drei Bogenschußweiten genähert hatte. Jetzt aktivierte ich mein Körperschutzfeld und hob den Arm. Vor dem Tor rissen ein Dutzend numidische Reiter ihre Pferde herum und galoppierten auf mich zu. Ich hielt mein Pferd an. Schweigend forschte ich in den Gesichtern der dunkelhäutigen Männer. Aber weder ich erkannte einen, noch erinnerten sie sich an mich, zumal die Rüstung und der Schild ablenkten. »Ich bin Demetrion, der Hannibal sagte, wie er die alpes überwinden kann. Sagt ihm, ich will ihn sprechen.« »Warum trägst du römische Rüstung und Waffen?« fragte einer. »Weil ich glaubte, daß die Römer siegen könnten. Macht schnell!« Zwei von ihnen stoben davon, ihre Körper mit den Rücken der Pferde scheinbar verwachsen. Die anderen trieben ihre Reittiere im Kreis um mich herum und schwenkten unsicher ihre Lanzen. Ich überlegte, ob ich sie lähmen und weiterreiten sollte, unterließ es aber. Ich riskierte es trotzdem, im Schritt weiter auf das Tor zuzureiten. Von überall kamen Gallier, Numidier und Hispanier mit hochrädrigen Troßwagen voller Waffen, Beutegut, Schilden und allem anderen Kriegsgerät. Ab und zu sah ich römische Fahnen und punische Feldzeichen. Sie fuhren ins Lager, aus dem gewaltiges Geschrei ertönte. Ungehindert, aber mißtrauisch betrachtet, erreichte ich die eingesetzten Steine vor dem Tor, dann kamen die beiden Numidier. »Demetrion soll kommen. Hannibal erwartet ihn.« Wenigstens erinnert er sich an dich, wisperte der Logiksektor. Mehr Skepsis, Atlan. Sonst ist die Enttäuschung zu groß.
Ich ritt, begleitet von den Numidiern, durch die breite Hauptgasse des punischen Lagers. Überall wurde die Beute ausgebreitet, aufgeschrieben und verteilt. In den Zelten lagen die Verwundeten, an denen die Ärzte ihre Kunst versuchten. Unbeschreiblicher Geruch herrschte, es wurde in mehr als einem halben Dutzend Sprachen geflucht, gestöhnt und gelacht. Das Zelt Hannibals stand auf einer kleinen Anhöhe, und ununterbrochen kamen und gingen Boten mit seinen Befehlen. Ich stieg aus dem Sattel, nahm den Helm ab und ging langsam, noch immer durch das unsichtbare Feld geschützt, die Stufen hinauf. Hannibal hob den Kopf und starrte mich aus seinem einzigen Auge an. »Ich habe es nicht geglaubt, Demetrion!« rief er, sprang auf und lief mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ich deaktivierte das Feld und schüttelte seinen linken Unterarm. »Dein Weg hierher war entbehrungsreich. Jetzt hast du die Römer zerschmettert«, sagte ich. »Du bist wirklich ein großer Feldherr.« Er lachte offen und winkte nach Wein. »Bei uns Puniern gibt es nur gute Feldherren. Diejenigen, die verlieren, werden ans Kreuz geschlagen, wie du weißt.« »Ich kenne diesen Brauch.« Ich wich aus. »Du kannst ahnen, warum ich hier bin?« Er legte die Hände an den Mund und rief: »Hier steht der Mann, der uns zeigte, wie wir das Gebirge überwinden können. Er ist mein Freund und der meiner Brüder.« Sklaven nahmen mir die Waffen ab. Ich setzte mich in einen prachtvollen Reisesessel. Auf einer Ecke des Tisches erkannte ich einen Teil der Karten und die Versuche, sie mit widerstandsfähigen Materialien zu zeichnen. Ich lächelte und fragte: »Wann wirst du Rom berennen? In vier Tagen kannst du dort sein.«
Er schüttelte den Kopf, antwortete langsam und nachdenklich. »Du willst erreichen, daß ich die Pläne des Hasdrubal und der Handelsherren verwirkliche. Rom selbst berennen? Vielleicht erwarten es die Römer, aber ich werde, bei Baal, nicht versuchen, lange Monde mein Heer für die Belagerung zu binden.« »Warum nicht?« »Es wäre mein Untergang. Aus allen Teilen der Welt, aus den Küstenstädten, von überall her würden die Legionen kommen und uns zusammen mit Rom einschließen. Rom wird gut versorgt.« »Also Frieden mit Rom?« wollte ich wissen und nippte von dem schweren Wein. Der Falke kam hereingeschwebt und ließ sich auf meiner rechten Schulter nieder. Hannibal musterte das Tier: »Dein Falke?« »Bendis, der mir sagt, was an einem anderen Ort geschieht«, sagte ich leise und ausweichend. »Also ist doch ein Frieden möglich?« »Kaum«, antwortete er. Offensichtlich glaubte er, mehr von mir und meinen Möglichkeiten zu verstehen. »Ich bescheide mich mit begrenzten Kriegszielen. Warum soll ich die römische Herrschaft ganz zerschlagen? Ich bin großzügig zu den Gefangenen der Bundesgenossen. Es reicht mir, wenn ich sicherstelle, daß Qart Hadasht und Hispania in unserer Hand bleiben.« Ich glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. »Du bist aufgebrochen, um Rom das Fürchten zu lehren. Das hast du nach der gewaltigen Niederlage der Römer gestern erreicht. Rom wird nicht Frieden mit dir schließen wollen. Sie werden nach und nach die Städte erobern, die du erobert hast,
und damit vergrößern sie abermals ihre Macht. Ich bin nicht hier, um dir Ratschläge zu geben.« »Das weiß ich, obwohl ich meinen Ziehvater beneide, der es liebte, deinen Rat zu befolgen.« Er meinte Hasdrubal, und diese Erwähnung bedeutete bereits einen gewissen Fortschritt. »Du solltest es auch tun«, wagte ich einzuwenden. »Warum willst du nicht?« Er blickte mich mit ehrlichem Gesichtsausdruck an. Seine Züge waren noch schärfer geworden; ein Spiegelbild des Zustands, der in seinem Innern herrschte. Das eine Auge wirkte auf mich wie eine Linse, in dessen Brennpunkt sich alle Eindrücke fingen und in einen Verstand gelangten, der sie auf einzigartige, aber nicht breitgefächerte Weise verarbeitete. Er war Krieger, Soldat, an Strapazen gewöhnt und bereit, noch schlimmere auf sich zu nehmen. Sein Denken wurde nicht von den phantastischen Möglichkeiten eines weltumspannenden Handels beherrscht, sondern vom Impuls des Herrschens, Kämpfens, Verlierens oder, was er gewohnt war, Gewinnens. Er war unfähig, an etwas anderes zu denken – so unfähig, als habe ich von ihm verlangt, er solle fliegen wie der Falke Bendis. Jetzt endlich sah ich es ein. Meine eigene Schuld, daß ich so lange an die Möglichkeit gedacht und sogar geglaubt hatte, ihn und seinesgleichen umstimmen zu können. Hasdrubal – ja. Aber das war ein Mann aus anderen Zutaten. »Ich kann nicht«, sagte er, als fasse er meine eigenen Gedanken zusammen. »Ohne Kampf ist das Leben nichts wert.« »Du irrst. Wenn du einmal soviel Jahre zählst wie ich, wirst du dir wünschen, ein ruhiges Leben verbringen zu dürfen, mit guten Freunden und Gesprächen, die im Morgengrauen enden. So wie meine Freunde, ich und Beilarx es tun. Denke daran. Auch du wirst jedes Jahr älter, mein siegreicher Freund.« Plötzlich, völlig unvermittelt, als hätten es meine letzten
Worte ausgelöst, wurde sein kantiges Gesicht weich. Für wenige Sekunden zeigte er den Ausdruck nackter Hilflosigkeit. Er wirkte wie ein Kind, das Angst hat, geschlagen zu werden. Sein Blick irrte an mir vorbei und betrachtete die Szenen im punischem Lager, in dem es vor Aktivität geradezu wimmelte. Dann riß er sich zusammen, der weiche Ausdruck verschwand, die unbeugsame Härte eines punischen Feldherrn erschien wieder. »Ich bin jünger als du, Freund Demetrion. Ich werde noch vieles erreichen, bevor ich sterbe. Ich tue es nicht für mich, sondern für meinen Vater und Qart Hadasht. Ich kann leben ohne Luxus und Hunderte von Sklaven, wie es die Römer lieben.« Er machte eine gedankenschwere Pause, fuhr leiser, viel weicher fort: »Ich bin ein einfacher Mann – Geboren und erzogen für den Krieg. Der Frieden würde mich lähmen. Kannst du mich deswegen verurteilen?« Es war zweifellos eine Bitte um Verständnis. Ich sagte nach einer Weile: »Nein. Du bist ehrlich. Aber du und ich, wir hätten nicht gerade die Sterne erreichen können, aber wir würden ein Imperium voller Frieden, Wohlstand und Langlebigkeit aufbauen können, wo die Wissenschaft triumphiert und die Kenntnis ferner Länder und derjenigen Dinge, die wissenswert sind und das Leben aller Menschen verbessern. Du bringst dich gewaltig um die Früchte dieses Sieges, der freilich kein Blut kostet, sondern vieles Denken und ebensoviel Schweiß.« Meine Rede wirkte auf ihn, als wäre er im Regen naß geworden und habe sich abgetrocknet. Er konnte es nicht. Ich sah ein, daß es sinnlos war, weiter mit ihm darüber zu sprechen. Ich begnügte mich zu sagen: »Abermals schade. Wir hätten die besten Freunde werden können.«
»Ja. Du hast recht. Wenn du mein Vater Hamilkar gewesen wärest.« »Was ich nicht bin und nicht sein kann. Fahre also fort, das Land der Römer und ihrer Verbündeten zu verwüsten. Eines Tages ereilt dich dein Schicksal, und niemand wird um dich trauern.« »Ich bin das Werkzeug eines Gottes oder eines Mächtigen, den ich nicht kenne. Vielleicht hast du recht, womöglich habe ich recht oder ein anderer. Niemand weiß es. Wann treffe ich dich wieder, Demetrion?« »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Vielleicht niemals mehr.« »Warum bist du nicht mein Freund geworden?« fragte er scheu. Ich beugte mich vor, nahm einen Schluck aus dem Pokal. »Du hast niemals zu erkennen gegeben, daß du einen Freund brauchst. Ich wäre dir ein sehr unbequemer Ratgeber gewesen. Und ich hätte verhindert, daß Römer und Punier sich gegenseitig abschlachten. Deshalb.« Hannibal stand auf und ging unruhig hin und her. Etwas raubtierhaftes lag in seinem Gang. Ich leerte den Pokal und stellte ihn zurück. »Wenn du Briefe hast an Beilarx, so gibt sie mir.« »Er ist ein guter Verwalter«, sagte der Feldherr und rief mit scharfer Stimme seinem Schreiber. »Ich habe einen Brief. Du lebst in seinem Haus?« »Er ist auch ein Gastgeier voller Großzügigkeit«, antwortete ich. »Auch wenn etwas geschrieben wurde für den Rat deiner Heimatstadt. Mein Boot ist schneller als jedes Schiff. Beilarx kann das Schreiben nach Qart Hadasht bringen.« »Du tust mir einen großen Dienst«, versicherte er in einem Ton, als empfände er für die Verantwortlichen seiner Stadt nur Geringschätzung. Der Schreiber gab ihm drei Bogen, er über-
flog sie, rollte sie zusammen und ließ sie siegeln. Ich schob sie in meinen Gürtel. »Möge dir das Glück treu bleiben!« meinte ich und schüttelte wieder seinen Unterarm. Sein Griff war hart und fest. »Danke. Und dir wünsche ich, daß du viele Männer findest, die deine Träume wahrmachen können.« Wir nickten uns zu. Er sah mir lange nach; ich drehte mich im Sattel um, schaltete das Feld ein und ritt, von den Numidiern eine Weile lang begleitet, den Weg zurück, den ich gekommen war. Den Griechen Antigonos sah ich nicht. Ich war nachdenklich. Die römischen Soldaten waren erwacht, wuschen sich an dem Steintrog des Brunnens und versorgten ihre Pferde. Der Anführer, mit dem ich gekämpft hatte, kam auf mich zu, griff in den Zügel und wartete mit gesenktem Kopf, bis ich abgestiegen war. Ich musterte ihn schweigend. »Demetrion«, brachte er mit gepresster Stimme heraus, »ich hoffe, du nimmst meine Entschuldigung an.« »Was war in dich gefahren, gestern?« Er zuckte die Schultern und breitete die Arme aus. Auf dem muskulösen Oberkörper sah ich unzählige Narben und die frischen Verbände. »Hast du gesehen, wie sie uns gestern niedergemacht haben?« »Ich habe alles gesehen.« »Es überkam mich. Keine Hoffnung mehr. Müde und hungrig. Ich hielt dich wirklich für einen Römer, der geflüchtet war, ohne zu kämpfen.« Ich hob die Hand, schlug ihm auf die Schulter und sagte: »Trinken wir Wein. Ich nehme deine Entschuldigung an. Aber ihr solltet in großem Bogen den Puniern ausweichen. Gerade durchsuchen sie das Schlachtfeld. Viele Römer aus beiden Lagern sind entkommen. Geht zurück nach Rom.«
Ich lockerte den Bauchgurt des Sattels und schleppte ihn zum Gleiter. Hilflos trottete er hinter mir her. Dann murmelte er: »Ich bin Aelius. Ich habe in Hispania und Africa gekämpft. So wie gestern war es nie.« Ich lächelte Narnia zu, die Arconrik beim Packen half, warf meinen Sattel in den Gleiter und goß Wein in zwei Pokale. Die Sonne loderte drei Handbreit über dem Horizont unbekannter Berge durch die Dunstschicht. Mit dem warmen Wind kam wieder der entsetzliche Leichengeruch hierher. Ich reichte Aelius einen Pokal und meinte: »Keiner weiß, wie es ausgehen wird. Wahrscheinlich schließt Rom keinen Frieden, und ihr Legionäre müßt kämpfen und sterben.« »Das, Demetrion, ist unser Beruf«, sagte er bitter, aber mit einem gewissen Stolz. »Für deine Hilfe danke ich dir. Die Wunden schmerzen nicht mehr. Wir sind satt, und in einer Stunde befolgen wir deinen Rat, denn die schwarzhäutigen Reiter werden uns suchen.« Ich nickte. Bendis wachte über dem Haus. Ein Pferd wieherte, dann zog Aelius langsam die Trümmer seines Schwertes hervor. Er hielt es mit unruhigen Fingern mir entgegen und fragte halblaut: »Du hast meine Klinge zerschlagen und zerbrochen. War sie so schlecht, oder ist dein Eisen so gut?« »Dort, woher wir kommen, sind sogar die Schwerter besser«, rief ihm Arconrik zu. »Hier? Wir brauchen es nicht mehr. Obwohl ich lieber andere Geschenke mache.« Er zog aus seiner Handelsware ein »römisches« Schwert aus Arkonstahl, samt Scheide, und gab es dem Soldaten. Schweigend wog es der Mann in der Hand, zog es heraus, dann glitt ein breites Lächeln über sein wettergegerbtes, von Bartstoppeln starrendes Gesicht.
»Eine herrliche Waffe. Und sie spaltet die Klingen der Punier?« »Du kannst dich damit rasieren«, sagte ich abschätzig, »und damit sogar Furchen durch steinigen Boden ziehen. Es ist ein gutes Werkzeug zum Töten.« »Ich danke euch!« sagte er fassungslos und schnallte das Gehänge an seinen Gürtel. Dann rannte er hinaus zu seinen Kameraden und berichtete ihnen stolz und aufgeregt von dem Geschenk. Verlegen und wortkarg verabschiedete er sich. Wir warteten, bis die römischen Reiter außer Sicht waren, dann stieg der Gleiter senkrecht aus der Ruine, kletterte höher und flog über leerem Gelände eine weite Schleife. Schließlich wandte ich den Bug nach Westen; gegen Abend landeten wir unbemerkt und steuerten auf dem kleinen Kanal in den Park von Beilarx’ Besitztum hinein. »Das schwierigste Problem«, sagte ich zu Arconrik, als die Sklaven herbeigerannt kamen und uns das Gepäck aus den Händen rissen, »liegt noch vor uns. Nicht die zwei, drei Monde, die wir hier verbringen können.« Arconrik hob Narnia aus dem Boot. »Ich habe diese Frage erwartet und bin vorbereitet. Was sollen wir tun? Das wird sich nach der Analyse unserer Kenntnisse ergeben.« »Heute Abend«, winkte Narnia ab. »Bei Wein und Braten.« »Ich werde am Pokal riechen«, murmelte Arconrik. Beilarx wurde in wenigen Tagen erwartet. Wir befanden uns an einem schwierigen Punkt der Mission. Im Land Ch’in hatten wir eine Entwicklung eingeleitet, die Jahrzehnte oder länger brauchte, um sich zu entfalten. Abgesehen davon, daß ein paar punische Händler weiter in die umgebenden Länder vorstießen und von dort neues Wissen mitbrachten, waren wir bei Hannibals Zeitgenossen gescheitert – aus jenen Gründen, die wir mit Hasdrubal und Beilarx diskutiert hatten. Rom, von
dem das Land nicht allein regiert wurde, war bestrebt, aus seinen Bundesgenossen Staatsbürger zu machen. Die Sklaverei abzuschaffen, würde uns nicht gelingen, denn dies bedeutete, daß wir uns selbst zu Herrschern machen müssten, die mit drakonischer Gewalt regierten. Arconrik beendete seinen kurzen Vortrag, roch am Weinpokal und nickte uns auffordernd zu. »Zurück in die Tiefseekuppel?« fragte ich herausfordernd. Wir hatten sie eben erst verlassen. »Oder eine Handelskarawane ausrüsten und tief in den Süden Africas vorstoßen?« Ich sah Narnia fragend an. Das Abenteuerleben schreckte sie nicht, zumal wir ein bestimmtes Maß an Bequemlichkeit bisher nicht unterschritten hatten. »Oder mit der FERNE LÄNDER den Kontinent umschiffen?« schlug Arconrik vor. Einen Volksstamm suchen, der in der Abgeschiedenheit lebt, und ihn dazu bringen, ein Raumschiff zu bauen? flüsterte sarkastisch der Logiksektor. »Zu den Galliern des Nordens?« fragte Arconrik. »Nein«, antwortete ich. »Dorthin nicht. Ich überlasse es gern den Römern, in vielen Jahren dort Kultur und Zivilisation einzuführen, falls sie es für notwendig halten sollten.« »Oder doch zurück in unser Versteck?« Auch ES meldete sich nicht, um uns aus der Sackgasse zu helfen. Arconrik und ich kamen zum gleichen Schluß: Mit viel Aufwand war nichts erreicht worden. Aber nicht deshalb, weil wir versagt oder uns nicht genug Mühe gegeben hatten, sondern weil wir überall Barbaren getroffen hatten, die es vorzogen, sich zu bekriegen. Andererseits würde es uns bald langweilen, wenn wir hier nichts anderes taten als trinken, essen, schwimmen und faulenzen. Ich vertagte die Entscheidung, um wenigstens einen Aufschub zu haben. In der Ruhe kamen nicht nur mir die besten Gedanken. Wir verbrachten auf
höchst angenehme Weise sechs oder sieben Tage, und es gelang uns fast, die vielen Bilder des Schreckens zu vergessen, der zwischen Karthago und Rom tobte. Dann kam Beilarx mit der FERNE LÄNDER und einer kleinen Flotte schwer im Wasser liegender Lastschiffe. Er nahm die Botschaften entgegen, ließ die Schiffe weitersegeln nach Qart Hadasht und blieb bei uns, mit der Stimmung eines Mannes, der den Untergang täglich vor Augen hat. Wir besprachen mit ihm, was wir untereinander diskutiert hatten. Rätselhaft war, daß uns plötzlich eine unerklärliche Unruhe befallen hatte. Nicht einmal der Logiksektor konnte sie deuten. »Hannibal wird ins Winterquartier gehen«, sagte ich. »Überdies interessieren mich seine Vorhaben nur noch aus Wissensdurst, nicht mehr persönlich.« »In Hispania kämpfen die Römer«, sagte Beilarx. »Zwar ist Karthago Nova noch nicht in Gefahr. Aber das Ende läßt sich absehen. Der Krieg wogt hin und her, und die reichen Felder sind zum Teil zerstört.« »Also brauchen wir nicht daran zu denken, nach Hispania zu gehen«, sagte ich abschließend. »Ihr erlebt dort, was ihr kennt – bis zum Überdruß«, winkte er ab. »Ich wäre froh, wenn ich irgendwo, wo weder Römer, Griechen noch andere Störenfriede hingelangen, einen Winkel für mich hätte. Ich bin Händler und kein Mann des Schwertes.« Ich sprang auf. Hoffentlich war dies ein guter Einfall gewesen. »Ich hab’s. Wir suchen eine Weile, kaufen – auch mit deinem Geld – ein gutes Stück Land und bauen darauf Häuser und Scheunen. Du schickst uns Sklaven. Wir unterrichten dich vom Fortschritt der Arbeiten, und du hast stets einen Platz, an dem du ohne Furcht leben kannst.«
Narnia berührte seinen Arm und meinte versonnen: »Such dir eine gute Frau, die deine Söhne zur Welt bringt. Denk an dein reiches Erbe.« Er nickte schwer; bisher hatte er mit Sklavinnen geschlafen, und seine unbekannten Kinder lebten unerkannt hier und dort. »Ich denke weiter, da ich in Jahrzehnten denken muß«, meinte Arconrik. »Wenn wir etwas beginnen, dann führen wir es auch, so gut wie möglich, zu Ende. Ich kenne viele solche Plätze. Wir bauen dieses Haus auch für uns.« Ich verstand ihn sogleich: Unsere Unruhe war wie weggeblasen. Wir hatten wieder eine Aufgabe; eine selbstgestellte, die sich mit Aufbau, nicht mit Zerstörung beschäftigte. Arconrik dachte, von ES noch nicht in seinem konstruktiven Eifer gebremst, an einen Unterschlupf »nur« für uns. Eine zweite Schutzkuppel ohne all die Maschinen. Eine Heimat für den Unsterblichen, den Einsamen der Zeit und seinen Helfer. Auch Narnia, die das Problem nicht durchdacht hatte, war Feuer und Flamme. Der Wein, den wir getrunken hatten, gaukelte uns bereits Wirklichkeiten vor, die es nicht gab. »Ich unterstütze euren Plan!« stimmte Beilarx zu. »Ihr wißt, ich bin wirklich reich. Findet einen Ort, der außerhalb einer Welt liegt, in der jeder, der die Macht hat, das Eigentum des anderen wegnimmt.« »Ich finde ihn, Beilarx!« versicherte Arconrik laut. Drei Tage später brachen wir auf, wie für eine Städtegründung ausgerüstet. Die Speicher des Zentralrechners waren voller Bilder, Daten und Informationen – wir brauchten nur die Spezifikationen auszusprechen, und binnen weniger Atemzüge füllten sich die Holografieflächen mit Landkarten. Je schärfer unsere gewünschten Charakteristika waren, desto geringer die Auswahl:
Unsere Suche war bald auf neun ganz unterschiedliche Orte eingeschränkt. Schließlich flogen wir nach Südost, über den Hapifluß, der später Neilos genannt worden war und nun Nil hieß, nach Osten, zum Rand des Roten Meeres und wieder ins innere Africa, auf die Seen der Nil-Quellflüsse zu. Dort fanden wir schließlich genau, was wir gesucht hatten. Ein riesiges Gut, uralt, total verwildert. Die Häuser im Zentrum: Ruinen. Ein Fluss machte hier eine Biegung, Basalt und Granit bildeten eine Barriere. Der Fluss war hier nicht schiffbar; reißende Stromschnellen und Felsen über und unter Wasser verhinderten das. Weit und breit keine Straße, die Griechen, Römern, Karthagern oder Ägyptern bekannt war. Wir fanden Anzeichen, daß eine Seuche die Bewohner dieser seltsamen Insel zwischen Wüsten, Sumpf und Felsen getötet hatte. Die Brunnen waren trocken. Verwilderte Weiden, Äcker, Gärten und Bäume, so weit das Auge sah. Arbeit für tausend Menschen. Wann und aus welchen Gründen hier jemand gesiedelt hatte, wußten auch Ricos Speicher nicht. Wir waren völlig allein, unter einer Sonne, die sehr hoch stand. Aber nicht am unsichtbaren Äquator dieses Planeten. Rico übernahm selbstverständlich die Logistik unserer Arbeit. Zuerst schufen wir Bedingungen für den Bau eines Hauses; Ricos Subrobots begannen wie lärmende Ameisen zu arbeiten. Während das Bauwerk für uns und wenige andere wuchs, arbeiteten die Maschinen des Überlebenszylinders nach dem uralten arkonidischen Flottenprogramm für kleine Zellen eines Kolonisierungsvorhabens – ich überflog das Gebiet in ständig weiteren Kreisen, machte Höhenaufnahmen und flog zurück zu Beilarx. Ich zeigte ihm die Bilder; wo unser Land lag, verriet ich ihm noch nicht. Er war in einem Maß begeistert, das ich dem nüchternen Punier nicht zugetraut hatte. Mit Hilfe unserer Maschinchen verwandelten wir die FERNE
LÄNDER in ein Lastschiff. Um unsere erste Mannschaft nicht allzu sehr zu erschrecken, schläferte ich sie mit einem Schlaftrunk ein, und als sie aufwachten, uns und das Land sahen, war das Schiff bereits wieder unterwegs. Mit präzise gerichteten Schüssen aus dem schweren Desintegrator trieb Arconrik neue Brunnenschächte mit glasharten Wänden in die alten Röhren. Stunden später stieg gurgelnd Grundwasser mit hohem Druck aus zwei Dutzend Brunnen. Alle »überzähligen« Sklavin und Sklavinnen holten wir von Beilarx. Er kaufte in Qart Hadasht nach unseren Angaben einige Dutzend teils hellhäutige Frauen und Männer aller Rassen. Nachdem ein einfaches Haus für uns und einfache Unterkünfte für die Sklaven standen, warf ich die Stöcke und Peitschen ins Feuer und sagte, was zu sagen war. Einige Schiffsladungen Nahrungsmittel kamen. Wir planierten eine Straße zu den Felsen. Unter gewaltigem Lärm schnitt Arconrik mit Maschinenpräzision Hunderte gleich großer Blöcke aus hellbraunem und schwarzem Fels. Schritt um Schritt eroberten wir das Land, fanden verwilderte Fruchtbäume, Nüsse und Beeren und Wild, das wir behutsam bejagten. In die nächsten Felsen schnitten wir Vorratsräume, die wunderbar kühl waren. Der Boden neben den Ruinen wurde planiert. Die Blöcke bildeten ein Fundament, wir fanden Lehm, strichen Ziegel und brannten sie in den Feuern, die wir mit den Ästen der ausgelichteten Bäume anmachten. Wir ließen uns Zeit, denn wir hatten vergleichsweise unbeschränkte Mittel. Nach mehr Werkzeuge – bald waren unsere Container leer. Wir hatten große Pläne, und wir hofften, daß die Welt außerhalb dieser Oase uns ungeschoren ließ. Unter den Sklaven war ein Grieche, ein Schüler des Archimedes aus Syracus. Er wurde rasch so etwas wie der Ingenieur unserer Gruppe. Natürlich lebten wir von geliehener Zeit. Zunächst war es unser Ziel, unabhängig zu werden.
Kühe, Schafe, Pferde und Hühner trafen mit der FERNE LÄNDER ein; aus den Ställen unseres Freundes. Nach einem exakten Bauplan begannen Scheunen, Kornspeicher, Ställe zu entstehen, und in der Farm eines kleinen Dorfes, das sich auf den Platz um einen Brunnen öffnete und nach außen die glatten, fast fensterlosen Fronten aus Basaltquadern richtete, waren die Grundrisse der Häuser zu erkennen. An diese Gruppierung schloss »unser« Haus an, das ebenfalls zu wachsen begann. Wir hatten viel Zeit. Eines Tages, sicher vor Beendigung der Arbeit, würde ES uns rufen und zurückbringen in die Tiefseekuppel. Ich ahnte, daß ES auch Narnia dorthin mitnehmen würde. Und jedes Mal, wenn wir wieder die Planetenoberfläche betraten, würde die Oase unser erstes Ziel sein. Darauf stellten wir alle unsere Planungen ab. Als wir erfuhren, daß der große Archimedes in Syracus erschlagen worden war, halte uns ES zurück. Wir nahmen Abschied und wußten, daß wir zurückkommen würden. Beilarx sah auf dem Foto, wie weit die Arbeiten gediehen waren. Wir versprachen, bald zurückzukommen; so zeitig jedenfalls, daß auch er noch in den Genuß unsere Oase kommen konnte. Dann: der tiefe Schlaf an der Seite Narnias. »Und was geschah weiter?« fragte Oehmchen, als Aescunnar sich am späten Morgen an den Tisch setzte. »Was tat der chinesische Kaiser, der das Elixier des ewigen Lebens suchen ließ?« Der Historiker zwinkerte: Vor einigen Stunden hatte er die Daten von den Informationsschirmen abgelesen. Cyr füllte die Tasse mit dem starken Kaffee, sprang auf. Von der Terrasse holte er einen Blumenstrauß, stellte ihn vor Oehmchen ab, strich über ihr Haar und sagte:
»Für deine Mühe während meiner vorübergehenden Blindheit, nicht von der Fakultät, sondern von mir.« Er setzte sich wieder. »Shih Huang-ti starb, im Jahr 209 vor Christi Geburt auf einer seiner Reisen durch das Reich. Li Ssu wurde 208 enthauptet. Etwa 206 kam Liu Pang auf den Thron – er gründete die erste Han-Dynastie.« Oehmchen entdeckte das Kärtchen: Mit oder ohne H --- und warum? stand darauf. Sie lächelte über den Strauß hinweg in Cyrs Augen und sagte leichthin: »Je nachdem. Traf Atlan Hannibal noch einmal?« »Das wissen wir nicht, aber ich glaube, er traf nicht mehr mit ihm zusammen. Minus 212 überfiel Hannibal Tarent. Rom verbündete sich mit den Aetolern gegen den griechischen König Philip den Fünften, einen Bundesgenossen des großen listigen Puniers. Beide Brüder Scipio starben 211 in Spanien, ihr Heer erlitt eine Niederlage. Der Sohn eines der Scipionen – mit dem gleichen Namen – eroberte 209 Karthago Nova: An dieser Stelle dürfte wohl Beilarx wieder in Atlans Bericht gekommen sein, aber ob er die Oase jemals betreten hat…« »Das ist eine andere Geschichte«, sagte Oehmchen. »Und Hannibal?« »Fünfzehn volle Jahre zog Hannibal durch das Land der Italiker. Bei Zama wurde er vom jungen Scipio geschlagen. Im Jahr 146, im Dritten Punischen Krieg, wurde Qart Hadasht dem Erdboden gleichgemacht; auf die Ruinen streuten sie kostbares Salz.« »Tifflor und Ghoum-Ardebil haben sich mit mir unterhalten«, sagte Oehmchen und hob ihre Tasse. »Selbst in seiner Ara-Abgeklärtheit, so hat Ardebil gesagt, hätte es ihn in die nackte Verzweiflung getrieben, wenn er hätte mit ansehen müssen, wie sich die Barbaren gegen die Zivilisation sträubten; als Tifflor ihm die Anzahl aller Kriege seit der Zeitwende nannte, schwieg er erschreckt. Und… wie verhält sich ES?«
»ES ist nicht allmächtig«, erinnerte Aescunnar leise. Aescunnar deutete über die Schulter und sprach weiter: »Ich habe die Zeittafel für die ersten Kapitel der ANNALEN fertig. Heut und morgen werden sie meine Studenten kontrollieren.« »Wie geht es deinen Augen? Seit es Atlan gut zu gehen scheint…« Sie beendete die Frage nicht. Cyr senkte den Kopf. »Ich riskier’ keine Prognose. Komm, sieh dir an, was ich zusammengestellt hab’.« Auf dem großen Monitor liefen die Daten langsam ab. Als die letzte Zeile stehen blieb und blinkte, wußten sie, daß Atlan wieder zu sprechen begonnen hatte.
12. Kalkmachos zog den Mantel enger um die Schultern. Sein Blick richtete sich in die neblige Ferne des Mare mediterraneum. Drei Schiffe steuerten auf den Hafen Alexandrias zu; dreieckige Segel zeichneten sich scharf im Sonnenlicht ab. Voll tiefer Nachdenklichkeit wandte sich der Türmer an den Gelehrten und fragte: »Immer, wenn dich große Gedanken plagen, kommst du ein paar hundert Stufen hier herauf zum Leuchtfeuer. Hast du den Suchenden gesehen? Gibt es jemanden, der ihn sah?« »Viele Frauen und Männer«, antwortete der Mann aus Kyrene zögernd, »haben an vielen Stellen der Welt Spuren gefunden, Türmer Derkylidas. Noch ist der Dame dieses Enkel des Prometheus niemandem bekannt – oder doch?« »Wirst du, Kallimachos, den Namen erfahren, wenn du aufs Meer hinausschaust?« fragte Derkylidas. »Oder etwas anderes über den Suchenden?« »Nein. Aber ich kläre meine Gedanken. Ich säubere sie von Nebensächlichkeiten.«
»Dann nimm einen Schluck Wein, Kallimachos.« Der Raum, in dem sie bei einem einfachen Mahl saßen und durch das Fenster blickten, befand sich vierhundert griechische Ellen hoch über dem Erdboden. Aus dem gewachsenen Fels der Halbinsel Pharos, zwischen dem Meer und der Stadt Alexandria mit ihrer riesigen Bibliothek hingestreckt, erhob sich eine Plattform aus riesigen Quadern. Tekton Sosastros aus Knidos hatte sie errichten lassen. Zwanzig Jahre hatte es gedauert, bis sich von dem wuchtigen Klotz der achteckige Turm erhob. Innen führten unzählige Stufen nach oben, um einen Mittelschacht angeordnet. Seile, um Blöcke umgelenkt, hingen vom obersten Gestell bis zu einer tiefer angebrachten Plattform, und von dort zu einer anderen, bis hinunter in die Gewölbe. Holz und Pech, mit denen das Feuer auf der Spitze des Turmes gespeist wurde, zog man in Körben und Gebinden dort hinauf, wo Derkylidas hauste. Der Türmer des Lesens und Schreibens unkundig, wußte genau, daß der Gelehrte deshalb kam, um sich von ihm einfache Fragen stellen zu lassen. Er, der Phylax, besaß diese Gabe. Sie half, den Verstand anderer vom brackigen Ballast zu befreien. Kallimachos setzte den Becher ab und erklärte: »Tausende Schriften las ich in der Bibliothek. Sie kommen von tausend Plätzen der Welt. In den ›Denkwürdigkeiten‹ beschrieb ich der Nachwelt viele Wunder und Seltsames aus der Geschichte des Menschen. Und nun beginne ich ein Buch, das die Taten des Fremden, Schweifenden schildern wird.« »Groß ist deine Kunst«, entgegnete der Türmer. »Du hast vieles vorgelesen. Fandest du Spuren des Unbekannten?« »Viele. Wie das Feuer des Prometheus, den die Götter an den Berg geschmiedet haben, brachte mich der unbekannte Wanderer Klugheit und Kenntnisse zu den Menschen. Oh, könnte ich ihn treffen!« Kallimachos seufzte; er meinte es wirklich so. Derkylidas lachte kurz.
»Ihn treffen? Selbst wenn, würde er längst zu Staub zerfallen sein.« »Es gab Menschen, die ihn trafen. Zu verschiedenen Zeiten. Wenn es ihn noch gibt, mischt er sich wieder unter die Klugen, die Gelehrten.« Der Türmer zuckte die Schultern und hob den Becher. Schweigend blickten sie nach Norden, hinaus auf das Meer. Wellen und Wind bildeten Muster, wie von zarten Kämmen gezogen. Der Glanz des Sonnenlichts lag, vielfach gebrochen, auf dem Wasser. Zweitausendachthundertzweiundfünfzig große Schritte unter der Meeresoberfläche, im Schutz der blauschimmernden Arkonstahlkuppel, hundertzwanzig Schritt im Durchmesser, summten Maschinen, tickten Schaltungen und erwachten nach und nach zahlreiche Bewegungen, Farben und ungewohnte Geräusche. Ein großer schlanker Mann mit goldbrauner Haut und harten Muskeln, mit schmalem Kopf und dunkelbraunem Haar hantierte an den Schaltpulten und schien ein besorgtes Gesicht zu machen. Sorgfältig kontrollierte er die Informationen der Computer, von denen der langwierige Vorgang gesteuert wurde – der Ablauf unterschiedlicher Wiederbelebungsgeräte, unter denen jene beiden Menschen schliefen, die seiner Fürsorge anvertraut waren. »Narnia erwacht also auch«, hörte ich Arconrik sagen. Ebenso sorgfältig kontrollierte er seine Aussprache. Er war es, der zuerst mit uns sprach. Also mußte seine Stimme, die er lange nicht gebraucht hatte, geschmeidig sein. »Wie lange?« lallte ich krächzend. »Nicht ganz dreißig Jahre. Du, Atlan, wirst dich freuen, denn endlich besitze ich so etwas wie eine absolute Zeitrechnung. Eine hilfreiche Einzelheit, die das Erwachen heiterer werden läßt.«
Programmierte, aber durch sehr große, in fast acht Jahrtausenden gewachsene persönliche Erfahrung verstärkte und positronisch modifizierte Sorge sprach aus jedem Wort und jeder Bewegung Arconriks. Langsam ging er über den weichen, warmen Bodenbelag hinüber in die Schlafkammer. Beide, Narnia und ich, sein Gebieter Atlan, lagen mit offenen Augen unter den Massagegeräten. Halt! Das Wort Gebieter war tabu. Ich hatte ihm verboten, mich so zu nennen. Arconriks Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. Zweifellos war er ein eitler Robot, der sein Aussehen an den schönsten Barbaren maß. Schneeweiße, fast zu regelmäßige Zähne strahlten unter dem buschigen Oberlippenbart, dessen Spitzen sich nach unten bogen. »Atlan? Kannst du mich verstehen?« fragte der Robot. Fast unhörbar murmelte ich. »Ich höre dich. Wo ist Narnia? Warum weckst du mich?« Arconrik registrierte die Bedeutung der einzelnen Fragen. Informationen, Sorge, Frage. Scharf betont erwiderte er: »Die Erweckungsphase verläuft planmäßig und normgerecht. Narnia ist einige Zeit nach dir erwacht. Diesmal wurdest du nach rund dreißig Jahren Schlaf nicht von ES geweckt.« »Nicht von ES? Du mußt gute Gründe haben«, flüsterte ich und schloss müde die Augen. »Ich habe sehr gute Gründe, Atlan«, hörte ich noch, dann versank ich wieder in den Schlaf der Erschöpfung. Ununterbrochen arbeiteten die Maschinen weiter. Flüssige Nahrung sickerte in meinen Kreislauf. Noch war die Zeit nicht gekommen, in der wir Schlafenden längere Gespräche führen und reichhaltige Informationen verarbeiten konnten. Ricos Logik arbeitete so, wie meine Überlegungen verlaufen würden, wenn ich begriff: ES schien bis zum gegenwärtigen Zeit-
punkt diese Aktion nicht zu kontrollieren. Rico hatte meine Geliebte und mich geweckt, weil meine Wünsche und Ziele identisch waren mit den Vorschlägen von ES – und mit der Wirklichkeit. Dreimal vierundzwanzig Stunden vergingen. Die Haut der Schläfer bräunte sich unmerklich langsam. Ich vertrug bereits die Nahrung aus Breikonzentraten. Die Ruhepausen wurden immer kürzer. Wir standen auf, erkannten einander und stellten fest, daß unsere Erinnerungen über weite Teilbereiche hinweg nicht blockiert waren. Nach und nach wurden die Hilfsgeräte der Reanimation ausgeschaltet und in die Wände zurückgefahren. Ich saß, gehüllt in einen bodenlangen, dicken weißen Mantel, in dem Massagesessel vor den riesigen Bildschirmen. Arconrik stand neben mir und fragte: »Verstehst du meine Diagramme? Kann ich dir etwas erklären?« Über den Schirm bewegten sich farbige Linien mit stechend weißen Unterbrechungen. Die Einheilung stand jetzt bei der Ziffer 570. »Vor fünfhundertsiebzig Jahren – mit einem geringen Unsicherheitsfaktor – begannen die römischen Gelehrten mit der Zeitrechnung. Sie gilt offiziell im gesamten Römischen Reich. Sie messen ›von der Gründung der Stadt‹ an.« »Ab urbe condita«, sagte ich stockend und bewies dem Robot, daß die Spracherinnerung durch den Schlaf nicht gelitten hatte. »Und das soll so lange her sein?« »Ja. Vor neunundzwanzig Jahren wurde Archimedes in Syracus erschlagen. Vor neunundzwanzig Jahren verließen wir die Oase.« Nach einer Reihe weiterer Dialoge erkannte Arconrik, daß ES die Erinnerung an den Kaiser der Ch’in, Erh-shih Huang-ti ebenso wenig gelöscht hatte wie die an Hannibal, Beilarx und
die Oase. »Die Oase?« sagte ich und stand mit zitternden Knien auf, um Narnia zu begrüßen und ihr in den Sessel zu helfen. »Wurde sie, wie wir es uns vorstellten?« »Später!« schränkte Arconrik ein. Schweigend betrachteten wir die Zeitlinie. Etwa 150 Jahre nach dem Beginn dieser römischen Zeitrechnung (mit urbs, der Stadt, war natürlich Roms sagenhafte Gründung gemeint) hatte ich den südlichen Teil des riesigen Doppelkontinents im Westen besucht und hatte Hyksa getroffen, war von dem riesigen Kondor begleitet worden und sah die Festung der Dämonen aufbrechen, aus deren Bauwerk ein Raumschiff hervorstartete. 524 starb Hannibal Barcas Vater. 535 überquerte Hannibal die alpes. 541 hatten wir die Oase verlassen. Heute war Beilarx siebzig Jahre alt. Stets galt bei dieser Zahlenangabe die römische Zeiteinteilung. Arconrik sagte nach einer kurzen Pause: »Fünfhundertvierundvierzig, also vor sechsundzwanzig Jahren, starb der Ch’in-Kaiser. Also im gleichen Jahr, in dem Scipio Karthago Nova eroberte. Meine Spionsonden haben ungewöhnlich interessante Bilder aufgefangen, teilweise sogar aus der Zeit, als wir anfingen, den Großen Wall zu bauen und die Maße und Münzen zu vereinheitlichen.« »Später!« meinte diesmal Narnia. »Wir haben doch viel Wein mitgenommen! Bring uns zwei Becher, ja?« »Selbstverständlich!« antwortete der Roboter. Auf den Monitoren wechselten die Bilder, die in der unmittelbaren Gegenwart oder vor wenigen Tagen entstanden waren. Ich streckte die Hand aus und nahm Narnias Finger. Die junge Frau wirkte merkwürdig angespannt und konzentriert. Wieder war sie mit einer Umgebung konfrontiert worden, die schwerlich ihrer Lebenserfahrung entsprach und nur zu ertragen war, weil Arconrik in den weniger sachlichen Räumen Gegenstände ihres persönlichen Besitzes geschmackvoll ar-
rangiert hatte. Hölzerne Tischplatten gab es dort, Marmorsäulen, brennende Öllampen – allerdings mit hochraffiniertem Öl und Spezialdochten, die nicht stanken und rußten – und tausenderlei Gegenstände aus der wirklichen Welt. Arconrik schenkte den Wein aus Flaschen aus poliertem Arkonstahlblech in schwere Pokale, die aus dem Haus des Hasdrubal stammten. Wir hoben die goldenen, von kostbaren Steinen funkelnden und blitzenden Becher und tranken einander zu. Der rote Wein ließ den schmerzhaften Prozess der Neuorientierung leichter erscheinen. »Die Welt, die du uns zeigst, Freund Arconrik, sieht friedlich aus.« Der Robot, menschenähnlich – perfekter als je zuvor –, grinste kurz und versicherte sachlich-ironisch: »Jetzt, in den Calendae des Mondes Maius, im Frühling, werden die Schlachten an anderen Stellen geschlagen. Ihr habt noch nicht ein einziges Mal gefragt, warum ich euch geweckt habe.« »Tatsächlich. Dann nenn uns den Grund. Noch mehr Wein!« Arconrik stand vor den Bildschirmen, hielt die externen Schaltelemente in beiden Händen und begann mit einem Vortrag. Narnia und ich lächelten kurz; für uns bedeutete dies, daß der Roboter sehr genau geplant hatte, sämtliche Informationen einem Generalnenner unterordnete und schließlich ein in sich schlüssiges System vorlegen würde. Arconriks Stimme wurde schärfer, akzentuierter. »Das unbegreifliche Superwesen ES und du, ihr habt zumindest einen gemeinsamen Traum. Es handelt sich um eine Konzentration von Wissen, Kenntnissen, Schulungsmöglichkeiten und kulturellen wie zivilisatorischen Denkanstößen. Du selbst hast festgestellt, daß sich an vielen Stellen von Larsaf Drei, oft nach deinem ersten Kontakt mit der barbarischen Bevölkerung, selbstfindig Kulturen ausbreiten und eine bemerkens-
werte Höhe erreichen können. Das galt auch für das Binnenmeer. Es hat inzwischen einen Namen bekommen: Meer im Mittelpunkt der Welt, mare mediterraneum oder internum. Die Römer nennen es so. Seit wenigen Jahrhunderten gab es einzelne deutliche Hinweise darauf, daß zugleich mit dem griechischen und römischen Drang, sich auszubreiten, auch einzelne Zellen von Zivilisation und wissenschaftlicher Betrachtung der Natur rund um die Küsten dieses Meeres entstanden. Weder du noch ES konnten darin irgendwelche Regelmäßigkeiten erkennen. Das begann sich zu ändern. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse summierten sich. Es entstanden in naher Vergangenheit, und es entstehen heute häufiger denn je, stabilere Zellen. Griechische Wissenschaft findet Eingang in das expandierende Römische Reich. Griechen und andere kluge Männer sammeln überall in der Welt Informationen. Im Jahr vierhundertsiebenundsechzig wurde in Alexandria das Museion mit einer Bibliothek gegründet. Dort haben sich die klügsten Köpfe der bekannten Welt getroffen. Der Staat bezahlt die Notwendigkeiten der vielen Gelehrten. Ich habe eine lange Liste von Namen gesammelt – sie kann natürlich nicht vollständig sein. Hier.« Über einen Schirm glitten Namen von Wissenschaftlern. Darunter, andersfarbig und in geänderter Schrift, einige Werke dieser Männer. Theophrastos von Lesbos: Religionsgeschichte. Buch: Über die Gesteine. Geschichte der Pflanzen. Herophilos: Anatomie und Geburtshilfe. Erasistratos: Intelligenz und die Windungen des Hirns. Aristarch von Samos: Größe und Entfernung von Sonne und Mond heliozentrisches Weltsystem. Archimedes: Wasserschnecke, Hebelgesetze, Auftrieb von Körpern in Wasser. »Halt ein«, sagte ich. Ich war beeindruckt. »Ich glaube dir na-
türlich. Wie lang ist deine Liste.« »Sie umfaßt, obwohl alles andere als vollständig, über hundert Namen und mehr als tausend Titel«, antwortete Arconrik. »Aber nicht alle dieser Gelehrten sind mit der Bibliothek in unmittelbare Verbindung zu bringen. Es wachsen, und das ist der entscheidende Punkt, zum erstenmal seit Jahrtausenden an den Ufern des Binnenmeers echte Zivilisationen. Dein ständiges Wort von der Wiege der Kultur – niemals gab es eine größere Chance.« »So gedeiht die Universität von Alexandria?« fragte Narnia. Arconrik schien über diese Frage erfreut zu sein. »So ist es. Deswegen habe ich euch geweckt. Ich tat es nach langer Prüfung, dann aber, nachdem ich mich entschlossen hatte und mein Vorhaben einer genauen Kontrolle unterzog, war ich sicher, im Sinn von ES zu handeln. Ich spüre freudige Schwingungen.« »Und was soll ich, deiner sicher begründeten Meinung nach, auf der Oberfläche tun?« fragte ich fast wie im Selbstgespräch. »Abermals einen Mißstand beseitigen. Oder genauer: zu helfen, ihn zu beseitigen.« »Mißstand?« fragte ich verwirrt. »In dieser herrlichen Zeit überquellenden Wissens, in einer Stadt, die ich gebaut habe?« »Das, was wir auf unsere Weise in der Oase versucht haben«, entgegnete Arconrik ungerührt, »existiert nur dort. Trotz des gewaltigen, angesammelten Wissens hat das Volk davon nicht das mindeste. Nach wie vor gibt es Sklaven; mehr als jemals in der Vergangenheit, wie mir scheint. Du, Atlan, mit unserer Hilfe, mußt es ändern.« »Nicht einmal Archimedes hat es zu ändern vermocht, obwohl man ihn zur Verteidigung brauchte und er all sein Wissen weithin sichtbar anwendete«, widersprach ich. »Brennspiegel, Flaschenzug, Berechnungen von Kugeln und Zylindern… was ist geblieben?«
»Unter anderem der Flaschenzug«, konterte der Robot. »Dieser Versuch wird nur ein erstes Ziel sein. Nutzbarmachung der Ideen, Weiterführung als richtig erkannter technischer Abläufe, der Versuch, die Grundlagen für ein Raumschiff zu entwickeln, das zum zweiten Planeten fliegen könnte, Sorge um die Menschen der Oase, ferner ein Treffen mit Hannibal, der dich suchen läßt, und schließlich die Erwartung, daß ES unser Treiben bemerkt und womöglich eine noch deutlichere Mission befehlen könnte. Das alles rechnete ich zusammen und kam zu einer aufregenden Summe.« Ich drehte den Kopf. Dann zuckte ich zusammen. »Raumschiff?« sagte ich. »Deine robotisch-logischen Einfälle sind noch phantastischer als meine wildesten Alpträume. Ich habe davon zwei dutzendmal geträumt, aber niemals laut gedacht.« »Es wäre«, meinte der Robot mit unerschütterlicher Ruhe, »einer der Träume, die wahr werden könnten.« »Warum versuchen wir es nicht? Wir? Ihr werdet es versuchen müssen«, sagte Narnia. Ideen, Überlegungen und vage Hoffnungen kamen wie Gespenster lautlos aus der Dunkelheit, die sich um Erfahrungen aus der Vergangenheit gelegt hatte. Rico deutete auf die Schriftzeilen der Bildschirme und fuhr fort: »Ohne es ganz genau zu wissen, ohne es gezielt aussprechen zu können, suchen unzählige kluge Männer und wenige Frauen nach einem bestimmten Schlüssel. Wie eine Linse soll er alle Erkenntnisse auf einen Punkt leiten. Das Wort vom Stein der Weisen ist ausgesprochen; die Griechen nennen ihn lydia lithos. Du könntest ihn für sie finden. Du kannst es, Kristallprinz. Das wäre der Schlüssel, der diese barbarische Welt in ihren Grundfesten wirklich und nachhaltig ändern kann.« »Und wenn sie’s haben«, sagte ich bitter, »dann werden sie
es anwenden, um sich gegenseitig totzuschlagen.« »Das hast du mehr als achttausend Jahre lang in Kauf nehmen müssen.« Achttausend Jahre, das war richtig und falsch zugleich. Während dieser gewaltig erscheinenden Zeitspanne war ich, alles zusammengenommen, nur Dutzende Jahre wirklich und bewußt auf der Oberfläche des Planeten gewesen. In diesen Jahren hatte ich zwar Erfahrungen von unendlicher Tiefe machen müssen, hatte Dinge erlebt, für die mehrere Menschenleben nicht ausreichten. Aber ob ich wirklich in der Lage sein würde, den »Stein der Weisen« zu finden – im übertragenen Sinn –, war fraglich. Ein Suchender konnte diesem göttlichen Funken der Erkenntnis auf tausendfältige Weise begegnen; für ihn war es vermutlich der Besitz des unersetzlichen Zellschwingungsaktivators. Ich nahm ruhig einen Schluck Wein und stand auf. »Zu viele Zweifel kennzeichnen den Kleinmütigen«, sagte ich rauh. » Denken wir also über passende Masken nach. Anscheinend haben wir Zeit und freie Entscheidung. Bringen wir also den Barbaren abermals die Erkenntnis.« »Es wird dich nicht erstaunen«, sagte Arconrik und löschte die Archivwiedergabe der Bildschirme, »daß ich soviel wie möglich schon vorbereitet habe.« »Mich erstaunt es nicht!« Narnia schob sich eine Strähne ihres langen Haares aus der Stirn. An diesem Abend hatte Arconrik mit oft geübten Schaltungen wieder eine derjenigen Illusionen herbeigezaubert, die uns Schläfern die unverhüllte Schönheit des Barbarenplaneten zeigte. Es war, als ob wir auf einer steinernen Plattform über der Flußkrümmung nahe der Oase saßen, im Schatten mächtiger Äste, unweit der Oase und ganz allein. Auf dem Tisch zwischen uns standen leichte Speisen, hergestellt von den Versorgungsmaschinen der Tiefseekuppel, teilweise unter Ver-
wendung mitgenommener Vorräte. Die Umgebung war perfekt dreidimensional; es wehte ein warmer Wind, und auch das Plätschern und Rauschen des Flusses gehörte zu der Kulisse. »Weißt du, wie es heute, nach fast dreißig Jahren, in der Oase aussieht?« »Morgen wird uns Rico alles zeigen. Natürlich ist die Oase unser erstes Ziel.« »Er sprach auch von Shih Huang-ti.« »Auch das werden wir bald sehen.« Narnia hatte die letzten Spuren des langen Schlafes und des mühsamen Erwachens abgestreift wie eine zweite Haut. Ich blickte sie bewundernd an. Ihr Haar glänzte, ihre Augen funkelten unternehmungslustig. Es schien, als habe sie das Segel der Phantasie gespannt, und ein kräftiger Wind würde hineinfahren. Ich erkannte die Zeichen und fühlte dieselbe Stimmung tief in mir. Es war Zeit zu gehen. Dass sich ES noch immer nicht bemerkbar gemacht hatte, empfand ich als ein ungewohntes Geschenk von Freiheit.
13. Die Frühlingsstürme ballten gewaltige Wolken am nördlichen Himmel. Der Wind, durchsetzt mit kaltem Regen, heulte und ließ die Flammen des Holz-Pech-Feuers hochlodern. Der große Hohlspiegel aus poliertem Metall schwankte und drehte sich. Die Lichtstrahlen des Leuchtturms fuhren in alle Richtungen, und sie waren durch die feuchte Luft weit zu sehen. Wind fuhr auch durch die Ritzen der schweren Holzläden und bewegte die Flammen der Öllampen. »Mein Vater berichtete mir viel davon. Er erzählte eine Unmenge Geschichten«, sagte der Türmer und legte seine Hände
um den Krug, der mit heißem Würzwein gefüllt war. »Kallimachos wußte viele Kapitel zu schildern.« »Ich habe das Buch niemals gefunden. Nur die Notizen. Nicht alle«, erwiderte der Gelehrte. »Wie muß ein Mann fühlen, der immer wieder unter uns Menschen weilt, in tausendfachen Masken?« Apollonius von Perga blinzelte in die Glut des Kaminfeuers. Heute würde er beim Türmer schlafen. Der Weg bis zur Bibliothek war zu weit bei diesem Sturm, der sich gegen das hohe Gemäuer warf und es erschütterte. »Ich weiß nur, wie ich mich fühlen würde«, antwortete Sosso Khe, der Sohn von Derkylidas. »Einsam und klug, jedem überlegen. Unsicher, weil ich die Sitten nicht kenne. Unzufrieden, weil ich so unendlich sehr viel mehr weiß und kenne als jeder andere Lebende. Denn ich komme aus einem Land, in dem Unsterblichkeit vererbt wird.« Kalkmachos schon hatte die lebendige Klugheit der Türmer zu schätzen gewusst. Apollonius erging es nicht anders. Nun, Khe konnte lesen und sogar schreiben, und er legte seine Gedanken nieder. »Unsterblichkeit? Das bedeutet, daß er jeden Punkt der Welt, an dem es Leben gibt, genau kennt.« »Er kennt auch die Länder jenseits des Okeanos und weiß, ob die Sonne um die Erde wandert oder der Mond in den Weltozean versinkt.« »Er müsste das unendlich Ferne kennen und das, was in der Nähe ist. Und für mich ist, nach allem was ich über ihn ahne, eines sicher.« »Ja?« Apollonius seufzte. »Er ist ein Bruder des Prometheus. Er ging auf die Fahrt mit Jason und den Argonauten. Apollonius schrieb darüber. Er segelte mit Odysseus, kämpfte gegen Xerxes und ritt mit Alexander dem Makedonier, kennt Rom ebenso wie Theben und
die Pyramiden. Überall dort, wo er war, ließ er Wissen, Erfindungen und kühne Gedanken zurück.« Mit freundschaftlichem Spott antwortete der Türmer indem er beide Becher voll mit dem heißen, kräftig duftenden Wein goß: »Wenn du es sagst, dann wird es wohl auch so sein. Ein kleiner Trost für dich – auch Kallimachos sah ihn nicht. Und auch mein Vater sah nie das leuchtende Segel seines Schiffes.« Sie hoben die Becher. Als sie tranken, waren ihre Gedanken nicht mehr ganz klar, trotz der prunkvoll glitzernden Sterne über ihnen. Es würde diesem Suchenden in der Zeit wohl ein wenig so ergehen wie ihnen: Von der hohen Plattform des Pharos stellten sich alle Menschen und Dinge, Schiffe und Häuser, ameisenklein dar. Jetzt freilich, nachts, sah man überhaupt nichts – nur ferne Lichter am Boden und die Sterne. Ich lächelte und schaltete die Aufzeichnung Ricos aus: Bald würden wir den Turm sehen und an den Erinnerungen teilhaben dürfen… wohin sich die Schiffe der Bronzehändler im Sturm gerettet hatten, wo Goldschiffe sanken, wo die Gaufürsten und Obersten Schreiber, meine Freunde, einst im Land Tameri Flusspferde gejagt und im Schilf Gänse mit dem Amaa-Schleuderholz erlegt hatten, dort, wo ich die ersten Straßenzüge von Alexanders des Makedonen Stadt – die wie viele längst vergessene Städte seinen Namen trug – gebaut und zuvor den Grundriß gezeichnet hatte… dorthin würden Narnia und ich auch reisen. Wieder projizierte Arconrik die Bilder, Geräusche und Informationen auf die Riesenmonitoren, die wichtigsten Geschehnisse seit dem Tag oder jener Nacht, in der wir unseren letzten Schlaf begonnen hatten. Mein neuer Name stand schon fest: Demetrion Atlantur von Oasis. Ich war von den Geschehnissen gefesselt und daher ein wenig abgelenkt, als Narnia hereinkam und sich in den zwei-
ten Sessel setzte. Sie trug eines ihrer prachtvollen Kleider. Ihre Haut duftete verführerisch nach den edlen Ölen, die wir einst mitgebracht hatten. Handelsware aus den Kontoren von Karthago/Qart Hadasht. Aber sie blickte mich nicht an. Sie tauchte, wie ich, in das verwirrende Geschehen aus Bewegungen, Farben, Schreien und Geräuschen hinein, das auf drei HoloRiesenmonitoren dreidimensional um uns herum brodelte. Konzentrier dich, Arkonide. Du hast einen wahnsinnigen Schinder unterstützt, flüsterte eindringlich der Extrasinn. Karrenräder drehten sich kreischend. Schwitzende Pferde zogen vollgetürmte Wagen hinter sich her. Knallende Peitschen fuhren auf die Tiere ebenso herunter wie auf die nackten Rücken der Sklaven. Ein Heer von Sklaven, es mochten Hunderttausende sein. Sie arbeiteten an einer riesigen Baustelle. Sie erstreckte sich Hunderte Schritte in alle Richtungen. Dort, ganz hinten, wurde die gelbe, lehmige Erde von den Karren gekippt, mit Schaufeln und Rechen verteilt, eingesät und dann bewässert. Eine unendliche Kolonne schleppte Wasser vom nahen Kanal heran und goß es vorsichtig auf die Stellen, auf die peitschenschwingende, Befehle brüllende Aufseher deuteten. Schößlinge verschiedener Bäume wurden dort eingepflanzt. Erinnere dich! Bronzeräder, bronzene Werkzeuge und die Erfindung des Schmiedeeisens. Die unzähligen Kanäle, die wir ins Land gezogen hatten. Die Maße und die einheitliche Schrift des Ch’in-Reiches. Näher zu uns heran legten abermals Heere von Arbeitern Steinplatten und hölzerne Bohlen auf lang gezogene Mauern aus Lehmziegeln und gebrannten Ziegeln. Auf diese Decken kam an anderer Stelle das Erdreich, unter dem sich alles verbarg. Aus dieser Perspektive sah es aus, als befänden sich in den Räumen zwischen den Mauern regungslose Pferde, wuchtige Streitwagen und Krieger aller Waffengattungen.
Dutzende, Hunderte, Tausend! Buchstäblich jeder Punkt dieses riesigen Bildes war von Arbeitern, Sklaven, Schuftenden und Aufsehern gefüllt. Wieder ein anderer Blickwinkel: Das wirkliche Geschehen war nur ein Ausschnitt. Die große Ebene, in der sich frisches Gras ausbreitete und die Bäume in unterschiedlicher Größe, ließ erkennen, daß sich darunter eine noch weitaus größere Baustelle verbarg. Alles war vor einiger Zeit in Abschnitten frisch angelegt worden. Wieder hetzten Männer vorbei, die eine bahrenähnliche Sänfte schleppten. Auf dem Reisstroh der Bahre lag die Gestalt eines Soldaten. Sie war aus einem Material, das wir nicht erkannten. Sein Kopf mit überlangem, konischem Hals war kunstvoll geformt. Der Krieger mitsamt dem Kopf war mindestens so groß wie Arconrik und ich und überragte die Körper der Ch’in um etliches. Schild, Speer, bronzen glänzende Waffenteile – dann war die Gruppe vorbei. Jetzt erkannte ich, aus welchem Material diese Statue und alle anderen, die wir sahen – Pferde, Wagen Faustkämpfer, Lanzenträger, Anführer – angefertigt waren: gebrannter, teilweise glasierter, bemalter Ton! »Ein Heer aus Ton!« murmelte ich. »Und das alles befahl der Ch’in?« »Ich habe sie niemals alle zählen können«, sagte Arconrik. »Eine sehr genaue Extrapolierung ergibt mehr als siebentausendfünfhundert.« Erinnere dich genau! Die Gestalten waren so groß, weil Shih Huang-ti meinte, Größe bedeute Stärke! Wir waren die indirekten Vorlagen für diese Figuren gewesen! Wir, zumindest in der Größe. Die Bilder wechselten in ruhigen Sequenzen. Die Tonarmee des Ersten Göttlichen Erhabenen wurde drei große Schritt tief
unter Erdreich verborgen. Wir sahen nur noch wenige schräge Rampen und schätzungsweise dreihundert Figuren und Platz für ebenso viele. Unaufgefordert erklärte Arconrik: »Zwar gab es Gruben und Mauern, aber ein Teil der Anlagen war schon fertig, als wir halfen, die Wälle im Norden zu errichten. Dieser Bericht ist aus vielen einzelnen Beobachtungen der Sonden in einem Zeitraum von vielen Jahren zusammengefügt. Der Kaiser starb vor knapp fünfundzwanzig Jahren.« »Ohne das Elixier der Unsterblichkeit gefunden zu haben«, setzte Narnia nachdenklich hinzu. Zu Tode geschundene Pferde und Büffel wurden weggezerrt. Erbarmungslos schlugen die Aufseher die Sklaven. Eine Gruppe von Männern, die vermutlich Anhänger der K’ung Ch’in-Lehre waren, ausgemergelt und vom Tod gezeichnet, stöhnte unter der erdrückenden Last eines tönernen Pferdes, das in das Grab versenkt wurde. Balken folgte auf Balken, und wieder war ein Teil dieses seltsamen Mausoleums bereit, unter der Erde zu verschwinden. Später sahen wir die Gelehrten tot in einem Graben liegen, fast alle. Die Einigung des Reiches aus sieben Königtümern wurde mit Blut erkauft, sagte der Logiksektor. »Hundertzwanzig mächtige Familien mußten nach Hsienyang umsiedeln«, erklärte Rico. »Nahe dieser neuen Hauptstadt, an der wir mitbauten, liegt auch dieses gigantische Grabmal.« »Ein Wahnsinniger!« Einige lange Darstellungen zeigten die Beendigung dieser Arbeiten. Rico hatte ausgerechnet, das bis zu siebenhunderttausend Sklaven gearbeitet hatten, weitaus mehr, als damals beim Bau der Wälle geholfen hatten. Dann kamen andere Berichte. Berge kamen ins Bild; Orte entlang unzähliger Reisen, die Shih Huang-ti unternahm, in rasender Eile, von seinem dämonischen Innern getrieben. An Stellen, die jedermann se-
hen sollte, wurden auf Steintafeln oder in geglättete Felsen Schriftzeichen eingemeißelt. Sie sprachen von der unendlichen Wohltat seiner Regierung und der Macht des Herrschers. Irgendwo verbrannte man Bücher und Schriftrollen. Klöster gingen in Flammen auf. Es gab immense Reisfelder und dampfende Salzpfannen. Hast du keine Mitverantwortung daran? Wie helle Riesenwürmer fraßen sich Straßen durch das Land. Viele Kanäle, von ebenso zahlreichen Arbeiterheeren gegraben und befestigt, überzogen das Land mit einem unregelmäßigen Gitternetz. Hundert Schiffe mit je dreißig Männern an Bord wurden ausgerüstet. Sie hatten den Auftrag, die Insel der Unsterblichen – etwa meine sagenhafte Heimat? – zu suchen und von dort nicht ohne das Elixier des unendlichen Lebens zurückzukommen. Wir sahen zu, wie die Schiffe mit prallen Segeln auf See hinausfuhren, in einer schier endlosen Linie. Sie verschwanden in dem Dunst, der über dem Horizont weit im Osten hing. Arconrik erklärte: »Man hat niemals wieder etwas von den Seeleuten und den Schiffen gehört oder gesehen.« »Und er, Shih Huang-ti selbst?« Arconriks Antwort kam zögernd. Das bedeutete, daß er über ungenügende Informationen verfügte und die Spinnsonden nicht direkt am Ort des Geschehens gewesen waren. »Der Herrscher starb auf einer seiner Reisen. Offensichtlich ist er tatsächlich wahnsinnig geworden. Jedenfalls umgab er sich mit Zauberern und Scharlatanen. Man unternahm Mordanschläge auf ihn. Den dritten, das sind meine Erkenntnisse, überlebte er nicht. Immerhin hinterließ er seinen Erben ein geeintes Reich, in dem jedermann dieselbe Sprache redete. Jetzt regiert Kaiserin Lü, nachdem sie ein Massaker unter den Nebenfrauen angerichtet hat. Das Chaos hat seinen Sitz im
Regierungspalast, aber den Menschen scheint es, in ihren armseligen Begriffen, eine Spur besser zu ergehen.« Die Bilder verschwanden und machten einer Landkarte Platz, die das Reich der Ch’in in seiner gesamten Ausdehnung zeigte. Ich wandte mich an Narnia und meinte abschließend: »Unser Wirken war also nicht ganz hoffnungslos. Dennoch glaube ich, daß die Abgeschlossenheit des Landes fremde Ideen nicht hereinlässt und dafür sorgt, daß eine ganz seltsame Ch’in-Kultur entsteht. Denn es sind seltsame Leute.« »Ein Fehler, den wir vermeiden sollten!« Arconrik deutete in die Tiefe der Räume. »Ich denke, unsere Ausrüstung ist bereit.« Narnia richtete einen leeren Blick auf die stumpfgrau gewordenen Bildschirme und schüttelte sich. »Vielleicht stört es dich, Atlan, aber ich bin froh, daß wir nicht mehr in diesem seltsamen Land weit im Osten sind.« »Es stört mich nicht«, gab ich zurück und zog sie an mich. »Unsere Aufgabe rund um das ›Meer im Mittelpunkt der Welt‹ ist nicht eine Spur einfacher.« Arconrik hatte uns nur wenige Bilder der Oase gezeigt. Wir hatten erkannt, daß dort alles wuchs und gedieh. Die Bauten waren inzwischen längst von stattlichen Bäumen umgeben. Viele Menschen und Herden von Tieren sahen wir, eine Anzahl unbekannter Gesichter, Frauen und Männer mehrerer Hautfarben und fast jeden Alters. Die Siedlung atmete Frieden und Geschäftigkeit aus. Wir wollten uns von der Wirklichkeit überraschen lassen. Wir gingen daran, die Ausrüstung Stück um Stück zu kontrollieren. Für die beabsichtigte Suche nach dem Stein der Weisen waren Teile des Überlebensgepäcks wichtig, die wir offensichtlich bei früheren Missionen nicht mitgeschleppt hatten. Die Maschinen mußten teilweise völlig neue Anweisungen verarbeiten.
Fünfmal vierundzwanzig Stunden brauchten wir, um alles zu ordnen, unsere Körper weiterhin zu kräftigen, Pläne zu machen und uns zu freuen: auf die Sonne, auf Wind und Regen, und auf die Begegnung mit Freunden, die um dreißig Jahre älter geworden waren. Gegen Mittag erschien in der Karawanserei von Mogrea ein hochgewachsener Mann in staubbedeckter Kleidung. Er trug drei Dolche, einen davon am Stiefelschacht, ein seltsam geformtes Schwert und einen ebensolchen Bogen. Der Pfeilköcher war gefüllt. Am Tor der bröckeligen Lehmmauer blieb er stehen, lehnte sich gegen den Pfeiler und betrachtete in unerschütterlicher Ruhe, mit der Linken den Bart zwirbelnd, die Tiere, die Männer und Sklavinnen, die Tragelasten, den Brunnen und die Zelte. Er schien alle Zeit dieser Welt zu haben, aber, was wollte er wirklich? Der Besitzer des Platzes, an dem sich Karawanen und Händler aus allen Richtungen des Windes trafen, ein hagerer Mann mit goldenen Ohrringen, krankem Gesichtsausdruck und mittelbrauner Haut, näherte sich. Als sein Schatten auf die Stiefelspitzen des Fremden fiel, blickte dieser hoch. »Herr«, sagte der Magere leise, einen vertraulichen Ton anschlagend, »es ist seltsam, daß ein Mann ohne Reittier oder Sänftenträger hierher kommt.« »Für einen Reiter, dessen Pferd verendete, und der Pferde kaufen wird«, meinte der Fremde kurz, »ist es kaum verwunderlich.« »Willkommen«, sagte sein Gegenüber. »Ich bin Kote, mir gehört das Lager. Was willst du, daß ich für dich tue?« »Du sollst mir helfen«, antwortete der Fremde, dessen Augen blitzschnell umhergingen und alles zu sehen schienen, »nicht übervorteilt zu werden. Ich brauche gute, starke Tiere. Hengste und Stuten.«
»Wie viele, Mann ohne Namen?« »Ich bin Arconrik. Wieviel? Es wird sich zeigen, was du hast.« Es war heiß. Die Sonne brannte fast senkrecht herunter. Von den fernen Bergen wehte ein feuchter Ostwind. Neugierig beäugten die Knechte die zwei Männer. Unter einem Sonnensegel hockten die Karawanenhändler und tranken. Die Hitze hatte Menschen und Tiere müde gemacht. Alle Bewegungen waren träge geworden. Kote legte drei Finger an den Ellenbogen des Fremden und winkte. »Ich habe sehr schöne Tiere für dich. Wie willst du zahlen?« »Wie du willst. Perlen, Silber, Goldstreifen?« »Man wird sehen. Komm!« Sie gingen quer durch das Gewimmel von Menschen und Lasten. Ein hölzernes Gatter öffnete sich. Im Schatten eines mächtigen Baumes mit klauenförmigen Blättern und weißen Wurzeln, die weit aus dem Erdboden ragten, hatten sich etwa dreißig Pferde zusammengedrängt. Sie stellten die Ohren auf, als die Männer kamen. Arconrik faßte zuerst einen breitbrüstigen schwarzen Hengst mit weißer Stirnblesse ins Auge. »Alles deine Tiere, Kote?« »Mehr oder weniger. Ich halte sie zum Wechseln. Eines kommt, das andere geht. Meist bleiben die weniger guten Tiere – diese aber sind aus edler Zucht, gesund, stark und gehorsam. Du wirst Zügel brauchen.« »So ist es. Der Hengst ist schlecht eingeritten«, sagte Arconrik und deutete auf die Striemen im Fell. Er ging auf das Tier zu, faßte den groben Strick, der als Halfter um den Kopf geschlungen war und redete ruhig mit dem Tier, während er den staubigen Hals klopfte. Die Mähne war ebenso verfilzt wie der Schweif. Er reichte schließlich den Strick dem Herrn der Karawanserei und suchte ein Dutzend anderer Tiere aus. Mit zu-
sammengekniffenen Lippen sah Kote zu; der Fremde hatte die besten Tiere ausgewählt. Eine Stunde später hatte Arconrik mit einem schlechten Zaumzeug und auf den bloßen Pferderücken acht Tiere ausgesondert. Er hatte alle anderen ebenso geprüft. Abermals waren es aus der ersten Wahl wieder die besten. »Acht Pferde. Drei Hengste und die Stuten. Und Zaumzeug, damit ich sie alle wegführen kann.« »Wohin? Wozu braucht ein einzelner Mann acht Reittiere? Wohin führt dich dein Weg?« Arconrik drehte die Spitzen des Bartes und ließ sie los. Sie faserten sich langsam wieder auseinander. Dann antwortete er mit listigem Grinsen: »Die Zeiten sind ebenso unsicher wie die Wege. Ich bin der Knecht eines Mächtigen. Frag ihn, wenn du ihn je triffst.« »Wo treffe ich ihn?« »Nirgends und überall.« Arconrik warf einen Blick nach dem Sonnenstand. »Er sagt mir nicht, wohin ihn sein Weg führt. Wieviel?« Kote nannte eine Summe. Mit einem ungläubigen Lachen zog Arconrik aus einer Innentasche seines eineinhalb Hand breiten Gürtels drei fingerlange Goldstreifen. Sonnenlicht ließ sie verlockend funkeln. Er blickte tief in die dunkelbraunen Augen des Handelspartners und sagte in einem überaus seltsamen Ton: »Die Pferde, ohne Ausnahme, haben das falsche Futter gefressen. Ihre Mähnen zeugen, ebenso wie das Fell, von schlechter Pflege. Sie sind geschunden worden, obwohl sie noch nicht zu alt sind. Deine Forderung ist unter diesem Himmel eine Beleidigung. Ein Drittel davon, Meister der Sklaven.« Sie feilschten, mittlerweile in einem kühlen Raum des Lehmziegelhauses, länger als eine Stunde. Dann hatten sie sich auf einen Preis geeinigt, der noch immer zu hoch war. Arconrik
legte eine große Silbermünze mit römischer Prägung dazu, und die Helfer Kotes tränkten die Pferde, legten ihnen Zäume um und knoteten die Leinen. Lachend schwang sich Arconrik auf den Rapphengst und ritt davon. Er war ziemlich sicher über den Verlauf dieser Nacht. Er kannte den Weg besser als ein lebendes Wesen in diesem Teil des Planeten. Er ritt so scharf, wie er es den Pferden zumuten konnte, nach Westen. Nach vier Stunden bog er nach rechts ab. Dort erstreckte sich am Ufer eines flachen Tümpels, der von einem kristallklaren Bach gespeist wurde, eine saftig grüne Weidefläche. Arconrik pfiff gellend, ohne die Finger in den Mund zu stecken. Aus der Krone eines Baumes kam die Antwort. Er stieg auf den Rücken des Hengstes und half Narnia aus den Zweigen. Ein Zug am Knoten des versteckten Seiles, und aus den Ästen senkten sich die Sättel und das Gepäck. »Teuerste Freundin«, sagte Arconrik und lachte fröhlich. »Heute Nacht werden uns Schurken überfallen. Kein Zweifel.« Er wußte, daß Narnia nicht völlig begriff, was er war. Sie verstand, daß er ein bedingungsloser Freund Atlans war. Aber für sie war er keine Maschine, sondern ein Mann mit unerklärlich großen Kräften, der alles sah, alles kannte, alles verstand. Sie vertraute ihm absolut; sie war mit allen seinen Handlungen und Entscheidungen immer einverstanden. »Überfallen? Wegen des Goldes, deiner Waffen oder der Pferde?« »Sie wollen nicht nur billig einkaufen, sondern auch noch fünffachen Gewinn machen. Wenn sie wüßten, daß du hier bist…« Sie fühlte sich absolut sicher. Zuerst trieben sie die Pferde ohne Zaumzeug ins Wasser. Dann gingen sie daran, die Mähnen der Tiere zu kämmen und zu schneiden, das Fell zu reinigen und zu striegeln, die Schnitte, Peitschen- und Steckspuren mit kühler Salbe zu bestreichen, die Hufe und Fesseln zu be-
handeln, mit kleinen, summenden Maschinen. Sie fütterten die Tiere mit einer Nahrung, die wie bröseliges Holz aussah, und die ihnen die Tiere aus der Hand fraßen. Langsam sank die Sonne. Jedes Tier erhielt neues Zaumzeug und Kopfgeschirr. Arconrik sammelte Holz und schichtete es für das nächtliche Feuer, spannte die Hängematte, wickelte zwischen zwei Bäumen ein Seil aus und befestigte daran mit langen Zwischenstücken die Halfter der Pferde. Plötzlich hielt er inne. Narnia schnitt gerade mit Arconriks gekrümmtem Schwert – das auch noch anderen Zwecken diente – um den Holzstapel eine freie Fläche ins hochwuchernde Gras. »Atlan sprach gerade mit mir. Er hat mit dem Gleiterboot den Fluss erreicht. Wir sollten in weniger als drei Tagen in der Oase sein. Mit den gekräftigten Tieren schaffen wir es.« »Wenn du es sagst, Arconrik!« »Ohne Mühe. Und deinem schlafverwöhnten Körper wird es gut tun.« Er kannte nach Jahrtausenden sowohl das Schönheitsideal eines Arkoniden als auch die Bandbreite meiner Empfindungen. Narnia lachte ihn an und rief: »Sag Atlan, daß ich mich auf alles freue, was mit der Oase zusammenhängt.« »Er weiß es.« Alles, was Rico innerhalb des freien Raumes dieser Lichtung tat, war absolut richtig. Er bewegte sich blitzschnell und ohne Übergroßen Kraftaufwand. Die acht Reittiere waren bestens versorgt und fühlten sich sichtlich wohl. Die Sonne verschwand als riesiger roter Ball hinter den Bäumen, die Schatten wuchsen. Mit einem Schuss aus dem als Dolch getarnten Strahler setzte Arconrik das Holz in Flammen und verließ das Feuer nicht eher, bis er die Windrichtung bestimmt und genügend dickes Holz nachgelegt hatte. Wasser begann im Teekessel zu summen, der an einem stählernen, um neunzig Grad
geknickten Rohr hing. Ein winziger Apparat vertrieb die Mücken innerhalb eines kugelförmigen Gebiets. Auf einem mehrfach ausklappbaren Tisch, der auf drei Steinen stand, breitete der Roboter für Narnia das Essen aus. Er stellte einen der Sättel davor auf. Sie hatte sich im Vertrauen auf seinen Schutz im Bach gewaschen und kam, fast nackt, zum Feuer zurück. Er reichte ihr das große weiße Tuch, das sie um ihre Schultern wickelte. »Ich bin sorglos«, sagte sie und setzte sich auf das weiche Leder aus Neu-Karthago, »weil du da bist. Natürlich weiß ich, daß wir uns in gefährlichem Land befinden.« Sie bewegte ihre Arme fast so schnell, wie es Atlan konnte. Plötzlich hielt sie die beiden zierlichen, juwelengeschmückten Dolche in der Hand, die in Scheiden auf einer Satteltasche steckten. »Ich sehe«, bemerkte Arconrik lächelnd und drehte an seinem Bart, »daß Atlan und ich dich für jeden Bereich des Lebens genügend gelehrt haben.« »Das habt ihr wirklich!« Narnia trocknete sich ab, schlüpfte in ihre Lederkleidung und beschloss, die Stiefel noch nicht anzuziehen. Spielerisch bewegte sie ihre Zehen vor dem Feuer. »Wir müssen jetzt vorsichtig sein«, erklärte Arconrik. Narnia wußte natürlich nicht, daß er ununterbrochen nach allen Richtungen sicherte. Überdies schwebte eine Sonde über ihrem improvisierten Lager. Sie hatte bereits Einzelheiten registriert. »Ein, zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit werden sie kommen.« »Ich verstehe. Ich bleibe hier?« Narnia, einst Tempelsklavin in Karthago Nova, im Tophet der karthagischen Göttin Tanit, kannte sämtliche Eigenschaften der Menschen, die negativen ganz besonders gut. Habgier und Gesetzlosigkeit waren für sie Dinge des täglichen Lebens,
die sie für völlig natürlich hielt – nicht jedoch in den wenigen kleinen Gemeinschaften, die sie kennen gelernt hatte. »Ja. Ich verschwinde irgendwo im Dunklen und sorge für deinen ungestörten Nachtschlaf.« »Wie so oft.« Die junge Frau bereitete schnell und geschickt Tee, schnitt Braten und strich Butter auf Fladenbrot, schälte Früchte und aß in guter Ruhe. Für lange Augenblicke hatte sich die gesamte Natur unter der sinkenden Sonne feuerrot gefärbt; jetzt, mit der gewohnten Plötzlichkeit, war es binnen weniger Augenblicke stockdunkel. Arconrik kam mit langen, federnden Schritten zwischen den Pferden hervor, die er beruhigt und an seine Nähe gewöhnt hatte, mit Hilfe dieser speziell entwickelten Leckerbissen, die halb Nahrung, halb Medizin waren. Er blieb hinter Narnia stehen, legte ihr leicht seine Hände auf die Schultern und sagte fast flüsternd: »Ein Schrei genügt. Ich bleibe in der Nähe. Du weißt, daß ich in der Nacht gut sehen kann. Erinnerst du dich?« »An alles. Ich vertraue dir. Ich esse zu Ende, dann lege ich mich, die Hand am Dolch, in die Hängematte.« »Gut so.« Er huschte davon. Nach wenigen Schritten war von Arconrik nichts mehr zu sehen und zu hören. Heute, am zweiten Tag des Aufenthalts in der Welt, die sie gewohnt war, nach der Trennung von mir, erkannte sie noch nicht alles mit gleicher Intensität wieder: die Geräusche, die der anspringende Nachtwind verursachte, das Knistern und Prasseln des Feuers, die Mücken und Zikaden und jene tausend Geräusche ringsherum im Savannenwald. Die Sterne erschienen und wurden deutlicher, stechender. Tiere huschten durchs Gras, Nachtvögel flogen vor den Sternen vorbei, und durch die Zweige schimmerte die Sichel des Bogens der Mondgöttin Selene. Dennoch unruhiger geworden, trank Narnia den Tee aus und schlug die Reste des Essens in ein weißes, feuchtes Tuch.
Sie schob einen dicken Ast ins Feuer, stocherte in der Glut und ließ sich in die Hängematte fallen, das Gesicht in die Richtung, in der Arconrik verschwunden war. Die kühle Nachtluft schmeckte nach Rauch. Ganz langsam schlief sie ein; in ihren Gliedern fühlte sie eine wohltuende Müdigkeit. Ihre letzten Gedanken galten mir, der drei Tagesritte weiter östlich irgendwo am Ufer des Flusses schlief. Zum erstenmal, hatte ich ihr vor Tagen gesagt, brauchte ich keine Angst vor einem persönlichen Gegner zu haben, sondern nur Furcht vor den unzähligen Zufälligkeiten des Barbarenplaneten. Arconrik stand abseits des schmalen Weges zwischen den Bäumen. Er wartete mit unendlicher Geduld, bereit für jede nur denkbare Aktion. Alles, was hier geschehen konnte, hatte er bereits erlebt, und daher war es fester Besitz seiner Speicher. Natürlich war er nicht hundertprozentig sicher, daß eine Rotte Männer aus der Karawanserei ihn überfallen würde, aber alle Anzeichen hatten darauf hingedeutet. Blanke Habgier hatte aus den Gesichtern der mehr als dreißig Bewaffneten gesprochen. Seine empfindlichen Ohren registrierten Geräusche außerhalb des Pegels, der an dieser Stelle normal war. Die Sonde schwebte höher hinauf und in die Richtung dieser Lärmquelle. Sekunden später erkannte der Roboter die Körper von Pferden, die Reiter und das stechende Licht mehrerer Fackeln. Der Zug, etwa ein halbes Dutzend Männer und zehn Tiere, war nicht sonderlich schnell, und daß eine beladene Karawane nachts diesen Pfad durch menschenleeres Land zu gehen wagte, war hochgradig unwahrscheinlich. Sieben Reiter! Sie kamen näher, bewegten sich behutsam entlang des gekrümmten Pfades. Es würde einige Zeit dauern, bis sie hier waren. Ob sie ahnten, wo Arconrik rastete? Er ortete zwei Hunde, die vor dem Trupp liefen und schnüffelten. Auch
diese Zeit verging, und im normal-optischen Bereich erkannte Arconrik bereits das Fackellicht. Er hob seine Arme und entfernte von den Mittelfingern die Kuppen. Mit einem halbsekundenschnellen Summen schoben sich nadelartige Röhrchen aus den Fingerendgliedern. Die Hunde kamen an ihm vorbei, stutzten und kläfften kurz. Von der Lichtung kam ein unterdrücktes, erschrecktes Wiehern. Die Hunde senkten die Köpfe und sprangen auf den Spuren der Pferde davon. Es summte zweimal laut. Durch die Dunkelheit zuckten fahlgrüne Lichtblitze. Sie trafen die beiden Tiere, die sich mit einem kurzen Jaulen überschlugen und liegen blieben. Dann tauchte der erste Reiter auf, zügelte das Pferd und hob die Fackel. »Hier! Spuren. Sie sind abgebogen!« »Ihr Nachtlager – leise! Waffen in die Fäuste, Männer!« »Ha. Ein einzelner Mann!« »Vielleicht warten Freunde auf ihn!« »Denkt an das Gold, das er im Gürtel hat. Und das Silber.« Halblaute Worte aus rauben Kehlen schwirrten durch die Finsternis. Die Reiter drängten sich zu einem wirren Haufen zusammen. Die Pferde keuchten auf, als mit aller Schärfe an den Zügeln gerissen wurde. An den brennenden Fackeln wurden trockene Büschel aus Pech und Holz entzündet. Metall blitzte auf. Der Herr der Karawanserei war der Anführer. Als er den Arm senkte und mit der Fackel, deren Funken das Fell des Pferdes verbrannten, nach vorn deutete, handelte Arconrik. Unsichtbare Strahlen pfiffen und heulten aus seinen Fingerkuppen. Die Schockstrahlen trafen zuerst die Männer, dann einige Tiere. Grelles Wiehern, Ächzen, einige abgehackte Flüche erschollen, Klirren und ein lang gezogener Schrei, als die Fackel das Haar eines Mannes in Flammen setzte. Die Reiter stürzten aus den Sätteln. Pferde rissen sich los und gingen
durch, nachdem sie ihre Reiter aus den primitiven Sättel geschleudert hatten. Ein Tier prallte beinahe gegen Arconrik, der es durch einen Lähmstrahl anhalten mußte. Dann herrschte eine aufgeregte Ruhe – rundherum schrien und flüchteten zahllose kleine Tiere. Niemand rührte sich mehr. Arconrik verließ seinen Platz, zog die Männer unter den Pferden hervor, legte sie in einer Reihe an den Rand des Weges und tötete ein Pferd, dessen beide Läufe gebrochen waren. Noch einmal prüfte er die Umgebung, suchte nach Zeichen, Spuren oder Geräuschen, dann sammelte er die schwelenden Fackeln ein und trat die kleinen Brände aus; vorsichtig, um seine Stiefel nicht zu verderben. Die Fackeln warf er ins Feuer, beruhigte die Pferde und setzte sich dann unter die Hängematte, in der Narnia tief und ohne Alpträume schlief. In dieser Nacht geschah nichts Außergewöhnliches mehr. Bei Sonnenaufgang sattelte Arconrik den schwarzen, massigen Hengst und die kräftige weiße Stute. Die Tiere waren gewaschen und gestriegelt, und der Robot hatte die Hufe beschnitten und gefeilt. Mit der Sorgfalt, die jede seiner Landlungen auszeichnete, befestigte er die Satteltaschen und stellte die Länge der Steigbügel ein, lud das Gepäck auf die Rücken der Tiere und koppelte sie dergestalt zusammen, daß sechs Pferde eine lange Reihe bilden würden. Als er zurückkam, die Pferde kurz am Zügel, war Narnia schon wach und gewaschen. Ihr Haar hatte sie in zwei lange Zöpfe geflochten, über den Ohren spiralig zusammengedreht und hochgesteckt; goldene Sonnenscheiben hielten sie fest. »Kein Überfall in dieser Nacht, Arconrik!« rief sie fröhlich, den Becher mit heißem Kräutersud in den Fingern. Er reichte ihr die dünnen Handschuhe.
»Ich habe sie abgefangen. Es waren sieben Männer mit scharfen Schwertern«, sagte er. Sie sah ihn erschreckt an, schüttelte den Kopf; sie erkannte, daß er nicht scherzte. »Also doch!« Sie atmete tief ein und aus. »Ich hab’ einen aufregenden Traum gehabt – aber jetzt ist er vergessen wie alle Träume.« »Nicht wie alle«, sagte er, verschloss sorgfältig die Ledersäcke voller Wasser und honiggesüßtem Kräuteraufguss, hängte sie an die Sättel und schulterte den Bogen. Ruhig sagte Arconrik: »Wir reiten. Je eher wir in der Oase sind, desto größer wird die Freude sein.« Sie schwangen sich in die Sättel und setzten sich zurecht. Narnia griff nach der Zugleine der Saumtiere. Sie trabten an, ritten an den toten Hunden vorbei, galoppierten zwischen der Gruppe regungsloser Pferde und Männer auf den Karawanenpfad hinaus. Die Pferde rissen die Köpfe hoch, ihre Mähnen flatterten, die Hufe schlugen weiche, dröhnende Wirbel, die langen Schweife peitschten die Luft. Es ging nach Nordost, dem Rand der Savanne, der Wüste und der fernen Oase entgegen. Kurz nach dem höchsten Stand der Sonne blitzte völlig unerwartet das Signal vom Rand der Wüste auf. Selten genug, dachte Beilarx, geschah es. Er winkte zur kopfgroßen Sonde hinauf; das Signal des gerundeten Spiegels sagte, daß die Fremden offensichtlich keinen Überfall planten. Wenige Reiter, hieß es. Sofort wurden Pferde gesattelt, mit Wassersäcken beladen; man brachte die Waffen. Beilarx rief: »Ich reite mit! Mir sagt mein misstrauisches Gefühl, daß ihr mich braucht – fragt nicht, gehorcht einem alten Mann?« »Ist gut, Väterchen!« riefen die Jungen. »Wir werden lang-
sam reiten.« Beilarx murmelte einen punischen Fluch, fügte eine feine Verwünschung hinzu, suchte den schwarzweiß gescheckten Hengst heraus und stieg in den Sattel. Beilarx’ Bart und Haar waren weiß, aber in wenigen Augenblicken brachte er das starke Tier unter die Kraft des Zügels. Sie stoben los, über die breiten Sandstraßen der Oase, die mit kantigen Steinen eingefasst waren; dahinter erstreckten sich Blumen und früchtebeladene Hecken. Über die Brücken, deren sandbedeckte Bohlen dröhnten, am Teich vorbei und am Wassertempelchen des Baal, unter Obstbäumen hindurch, entlang der Felder und Kulturen aus Reben und Hängefrüchten. Schafe sprangen erschrocken blökend aus dem Weg, die Rinder brüllten träge hinter den Reitern her. Beilarx stand in den Steigbügeln: Er spürte den heißen Wind im Gesicht, sein Körper straffte sich, und es schien ihm, als kämen die alten Kräfte zurück. Er überholte, bei jeder Bewegung des Hengstes zwischen den Schenkeln federnd und mitschwingend, die jungen Reiter. Sie warfen sich erstaunte Blicke zu und schwiegen, und nur die Achtung, die der Alte genoß, hinderte sie daran, lose Bemerkungen zu machen – sie waren die freigelassenen Söhne von Vätern, die Beilarx als Sklaven gedient hatten. Die Äcker und Felder gingen in trockene Steppe über. Die Sonne wurde von den geschwungenen Kämmen der ersten, niedrigen Dünen zurückgeworfen. Der Weg, bis eben noch zu erkennen, ging in den weißen, feinen Sand über und verschwand. Der letzte Felsen aus sandigem Gestein tauchte auf, ein Vorposten der Oase, auf dem der Signalspiegel stand. Zwischen den lang gestreckten Dünen galoppierten die Pferde in langen, weiten Sätzen dahin, hinter sich ließen sie feine Schleier hochgewirbelten Sandes. Sie arbeiteten sich den langen Hang einer riesigen Düne hinauf; als Beilarx die Reiter sah, hob er den Arm. Sie zügelten die Tiere und hielten an.
»Acht Pferde. Nur zwei Reiter. Keine Gefahr für uns«, stellte Beilarx ruhig fest. Die Fremden kamen rasch näher. Er erkannte, daß es ebenso gute Reiter waren wie er selbst. Die Tiere wurden gut geführt. Die jungen Männer nahmen die Bögen vom Rücken, lockerten die Schwerter und wurden ungeduldig. »Hört!« Beilarx rief sie zur Ordnung. »In all den vielen Jahren wurden wir einmal überfallen. Was geschah? Und ihr werdet unruhig wegen zweier Reiter?« Etwa zwei Dutzend Angreifer hatte es gegeben und eine verirrte, fast verdurstete Karawane. Die Knochen der Getöteten bedeckte der Sand, und sieben Frauen und Männer waren freiwillig in der Oase geblieben. Das Versteck für mehr als fünfmal hundert Leute war sicherer als jeder andere Platz der Welt. Regungslos warteten die Verteidiger der Oase. Zahllose Gedanken zogen durch Beilarx Kopf; er sah beide Reiter unverändert an und glaubte, sich an Einzelheiten aus einer Zeit zu erinnern, die so fern war, wie sie für ihn glücklich gewesen war – es konnte nicht sein. Und doch! Der schlanke Reiter glich einem Freund, und die Frau neben ihm war ihm ebenfalls bekannt. Hartnäckig schüttelte er den Kopf. Er durfte sich nicht von falschen Erinnerungen übermannen lassen. Der Reiter, über dessen Schulter das Ende des Bogens und die Befiederung der ungewöhnlich langen Pfeile herausragten, löste sich von der Gruppe und dirigierte seinen schwarzen Hengst die Düne hinauf. »Ich erlebe es doch noch!« stieß Beilarx krächzend hervor. Sein Gesicht schien aufzublühen. Überrascht starrten ihn die jungen Männer an, blickten zurück zum Reiter, der grüßend den linken Arm hob und hörten wieder einmal einen Namen, den niemand aus der Oase je vergessen würde. Beilarx schrie ihn mit rauer, krächzender Stimme hervor.
»Arconrik!« Er war es. Über und über von feinem Sand bedeckt, Schweißspuren im Gesicht und auf dem Fell des Rappen, hielt er dicht neben Beilarx an, beugte sich aus dem Sattel und zog den Alten fast vom Pferd. »Beilarx Große Ehre und noch größere Freude, von dir begrüßt zu werden. Mein Freund! Weiß bist du geworden.« Beilarx konnte seine Rührung nicht verbergen. »Und… wo… ist Demetrion?« »Begrüße Narnia. Im Gegensatz zu uns ist sie nur einen Mond älter geworden!« Narnia kam zur Gruppe heraufgeritten, die Saumtiere hinter sich. Beilarx breitete beide Arme aus und fand seine Stimme wieder. Er machte eine Handbewegung und sagte kurz: »Haltet die Saumtiere!« Er umarmte Narnia und rutschte fast aus dem Sattel. Es war mehr als offene Freude und ausschließliche Begeisterung, die aus den Gesichtern der drei Reiter sprach. Der alte Karthager sagte kopfschüttelnd, mit feuchten Augen: »Nach fast dreißig Jahren sehe ich euch wieder! Meine Freude ist nicht auszudrücken. Ich habe keine Worte! Kommt! Aber wo ist Demetrion? Lebt er nicht mehr?« Arconrik schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und fragte: »Ihr habt hier draußen einen Wächter. Am Fluss ist etwa niemand?« Beilarx beugte sich vor, klickte Arconrik in die Augen, ohne den Arm von Narnias Schultern zu nehmen, dann stimmte er in das Lachen ein und bekannte: »Nein. Noch nie war ein größerer Angreifer im Wasser als ein Reptil mit langen Zähnen. Wann kommt Demetrion?« »Er sollte schon wartend am Ufer stehen.« Beilarx riß sein Pferd herum, stieß einen lauten Schrei aus und sprengte davon. Sie sahen zwar die funkelnden Signale
des Wächters, winkten aber nur fröhlich hinüber. Die jungen Bewaffneten, die Saumpferde hinter sich, folgten voller Verwirrung, aber ohne das geringste Mißtrauen. In gestrecktem Galopp ritten Narnia, Arconrik und Beilarx nebeneinander auf den Mittelpunkt der Siedlung zu. Obwohl Narnia einige, Arconrik weitaus mehr Bilder dieses großen, fruchtbaren Gebietes kannte, staunte sie. Mehr und höhere Gebäude waren entstanden, Kornspeicher, unzählige Werkstätten und eine ungewohnte Sauberkeit. Beilarx richtete sich in den Steigbügeln auf, schrie aufgeregt die Bewohner der Oase an, berichtete die aufsehenerregende Neuigkeit und winkte nach allen Seiten. Er rief: »Wir reiten zum Ufer. Kommt! Demetrion ist zurückgekommen! Und Narnia. Und Arconrik! Eine neue Zeit hat angefangen.« »Du überschätzt uns«, wehrte Arconrik laut ab, aber auch er lachte und folgte Beilarx. Mit einem Schlag war der fast siebzigjährige Mann zu einem aufgeregten Jüngling geworden. Blitzschnell registrierte Arconrik die Häuser auf den Plattformen aus schwarzem Gestein, sah seltsame Nischen mit noch seltsameren Röhren darinnen, und er sah, wie die Menschen aus den Häusern und von den Feldern zusammenkamen. Es gab nur fröhliche Gesichter. Sie passierten den Mittelpunkt der Siedlung, ritten auf die schwarzen Felsen zu, aus deren Flanken die riesigen Blöcke herausgesprengt wurden, kamen an Fischernetzen und Reusen vorbei und an dem flach hingestreckten Bauwerk, das sie selbst errichtet und in dem sie so lange gewohnt hatten. Es war unverändert, aber gewachsen. Nicht einmal Arconrik wußte, daß doch eine Überraschung auf sie wartete. Sie erreichten das Ufer, und dort war Demetrion-Atlan. Er saß auf dem kleinen Vordeck des schwer beladenen Gleiterboots, das halb auf dem Sandufer lag, schaukelte mit den Beinen und
grinste breit. Beilarx ritt durch das hochspritzende Wasser auf ihn zu, sprang in einer Fontäne ab und breitete die Arme aus. Hinter Narnia kamen die Bewohner der Oase. Die älteren Frauen und Männer erkannten die Gäste wieder. Die jüngeren kannten ohne Zweifel die Namen, aber wußten nicht recht, was sie von dieser Begeisterung zu halten hatten.
14. Apollonius hatte das Gefühl, bis zum Südende der Insel Sardinia blicken zu können; die Spionsonde sah er nicht, denn sie verbarg ein Deflektorfeld. Die Luft war klar, das Meer fast glatt, und die Umgebung von Alexandria erstrahlte in frischem, hellem Grün. Von überall her kamen Karawanen und Handelsschiffe: Wolle aus Sicilia, Öl aus Cyrene, Kupfer aus Numidia, Gold aus Lydien, aus Asia kamen Lapislazuli, Türkis und Carneol, und, das Rohmaterial für Papyrus, der in der Stadt hergestellt wurde, kam aus dem Delta des Nils. Sosso wandte sich an den Gelehrten und sagte: »Chaire, Apollon, hast du gehört, was die Schiffer von den Baleares mitbrachten? Dort hat ein Seeungeheuer viele Fischer getötet.« Die Nachricht war, alles in allem, älter als einige Monde. Apollonius hob die Schultern und sagte geringschätzig: »Seeungeheuer! Herodot schrieb, daß die Libyer Augen in der Brust haben und es Pferde gibt, die frischen Fisch fressen. Ich glaube derlei nicht.« »Aber sie sagten so viele Einzelheiten, daß es stimmen muß. Das Ungeheuer hat keine Stimme. Es ist so groß wie ein Elefant, mit dem Körper einer Schildkröte. Es hat zehn Beine, einmal rennt es wie rasend, dann kriecht es herum. Nie sieht
man es an den Tagen…« Der Gelehrte starrte seinen Freund kopfschüttelnd an und versuchte ihm zu erklären, daß alle diese Teile, aus denen sich ein sagenhaftes Ungeheuer angeblich zusammensetzte, jeweils zu einem anderen Tier gehörten. Es gab weder Schildkröten, deren fünf Augen nachts Lichtstrahlen aussandten, und noch weniger existierten Wesen, die – in dieser Größe – zehn Beine hatten. »Unabhängig voneinander sahen Fischer auf den Balearen, auf Sardinia und am Strand von Sicilia dieses Ungeheuer«, beharrte der Türmer. Apollonius lächelte überlegen und deutete nach unten auf den schmalen Streifen der Brandung. »Ich werde es glauben, wenn dein Seeungeheuer ohne Stimme dort unten umherkriecht und die Fischer erschreckt.« Mit einer versöhnlichen Geste füllte der Türmer die Becher. Er sagte sich, daß er ebenso gottgläubig und abergläubisch war wie jeder einfache Mann, selbst wenn er hoch über der Bibliothek saß und wachte. Ich versuchte, meine Gefühle sorgfältig unter Kontrolle zu halten. Für uns war es, als wären wir nur ganz kurze Zeit fortgewesen. Jeder Raum, den wir einst bewohnt hatten, war nahezu unverändert geblieben. Beilarx hatte hier gewohnt. Jemand hatte es fertig gebracht, aus weichem Sandstein unsere Köpfe zu meißeln; sarkastisch meinte der Logiksektor: Die Oase ist nicht nur ein Hort der Wirtschaft und der Technik, sondern auch der Bildenden Kunst. Der Gleiter lag leer neben dem Ufer. Unser gesamtes Gepäck befand sich in dem großen Haus aus gebrannten Ziegeln. Als wir den ersten Rundgang durch das Dorf – denn aus der Oase war inzwischen eine kleine Siedlung geworden – beendet hatten, sahen wir überraschende Dinge. Vieles von dem, was wir
damals entwickelt hatten, war verbessert und verfeinert worden. Die »Erfindungen« des Archimedes funktionierten allesamt noch. Kräne, Werkzeuge, Pumpen, Windräder und alles andere. Es gab Nahrungsmittel im Überfluß und einen herrlichen Wein. »Ich zähle siebzig Jahre«, sagte Beilarx, als wir in dem Tempelchen standen und den bronzenen Körper der Tanit bewunderten. »Dass ich euch noch einmal treffen würde, davon habe ich geträumt. Aber ich konnte es nicht hoffen. Es ist schön, euch wieder zu sehen, mit euch zu reden. Aber sagt mir eines: Was werdet ihr tun? Was wollt ihr? Stets habt ihr damals von Änderungen und Verbesserungen gesprochen.« Rings um uns breitete sich das überreiche Panorama eines Ortes aus, der in dreierlei Hinsicht bemerkenswert schien: Alles wuchs hervorragend, sämtliche Lebewesen, von der Taube bis zu den Rindern und Pferden, gediehen prächtig, es gab Nahrung im Überfloß. Dazu arbeiteten die Handwerker mit neuartigen Methoden und versuchten, ständig etwas Neues zu entwickeln. Und schließlich hatten unsere zahlreichen Vorschläge, die alle auf eine Weiterentwicklung der Zivilisation hinzielten, Nachahmer gefunden – Arconriks Werkstatt war zu einem technischen Museum gemacht worden, in dem unsere Arbeitsgeräte ebenso vorhanden waren wie Werkstücke und Modelle. An diesem Punkt würden wir ansetzen und weitermachen. »Wir haben viel vor, Beilarx«, sagte ich bedächtig. »Höre! Fern von hier, in einer Stadt namens Alexandria, versammeln sich viele Gelehrte. Sie suchen eine Möglichkeit, alles Wissen dieser Welt zu vereinigen. Würde dies geschehen, wäre das Zeitalter der Barbarei, der Kriege und der Sklaverei – vielleicht – vorbei. Dabei wollen wir helfen. Die Gelehrten nennen ihr Bemühen, nach dem ›Stein der Weisen‹ zu suchen.« »Und… die Oase?« wollte er wissen. Er fürchtete große Din-
ge, zu große, die über die Fähigkeit von etwa fünfhundert Menschen hinausgingen. »Keine Sorge. Die Oase bleibt, was sie ist. Wir wohnen und arbeiten hier. Und wir werden wieder dasselbe Feuer anfachen, das uns damals so weit gebracht hat.« »Wir sind überaus zufrieden hier!« wandte er ein. Arconrik beschwichtigte: »Ihr werdet es bleiben! Ich habe dieses Versteck damals ausgesucht. Und eine Zone des Friedens soll es auch bleiben. Aber niemand von euch wird etwas dagegen haben, mehr zu lernen und wahrhaft große Dinge zu erkennen? Irre ich?« »Wenn es euch gelingt, das Vertrauen der jungen Generation zu gewinnen, tun sie alles.« Beilarx schüttelte den Kopf. »Wir, die Alten, kennen euch.« »Du und die Alten – ihr habt oft von uns gesprochen?« wollte Narnia wissen. Wieder traf sie ein bewundernder Blick des Mannes, der sie einst aus dem Tempel in mein Schlafgemach gebracht hatte. Er nickte und strich sein volles, schlohweißes Haar in den Nacken. »So ist es. Aber du kennst die Jugend. Sie braucht lebende Vorbilder, nicht solche, über die nur die Alten reden.« »Verstanden«, meinte Arconrik. »In ein paar Monden werden sie begeistert sein. Erst einmal trinken wir die stämmigen Handwerker unter den Tisch. Ich habe gehört, daß du ein Fest angeordnet hast.« »Nicht angeordnet. Ich gebe keine Befehle mehr. Ich riet dazu.« »Rat ist besser als Befehl«, nickte Narnia. »Gehen wir weiter. Zeig uns die feinen Werkstätten.« Wir sahen und erlebten: Windräder drehten sich und pumpten Wasser in gemauerte Zisternen, von denen es durch kupferne Röhren an unzählige Zapfstellen floss. Alle Abwässer und der Kot der Tiere wurden, wie das Regenwasser, gesam-
melt und als Dünger verwendet. Abfälle anderer Art verwandelten sich in schwarzes Erdreich, mit dem der karge Boden weit außerhalb der Felder Stück für Stück erschlossen wurde. Alle Pflanzen, die wir von Karthago mitgebracht hatten, und Dutzende anderer Früchte wurden kultiviert. Weizen, Gerste, Dinkel und Hafer wuchs auf den Feldern, es roch nach Fisch, nach allen Sorten Fleisch, nach der Räucherei und nach den Weinen in den kühlen Kellern. Die Ziegelbrennerei war in diesen Tagen nicht in Betrieb, aber es gab herrliche Öfen, in denen Braten und anderes gebacken wurde. »Einiges von dem, was wir gefunden haben«, sagte ich einige Stunden später, »ist vergessen worden.« »Es lag daran, daß ihr gegangen wart«, erklärte der Sohn des Archimedes-Schülers, der vor drei Jahren durch einen Schlangenbiss gestorben war. »Wir hatten niemanden, den wir fragen konnten.« Narnia legte ihm die Hand auf die Schulter und lächelte ihn an. »Nun sind wir da und bleiben lange. Fragt uns.« Wir kehrten in das Haus zurück. Inzwischen waren die Lager bereitet worden. Langsam packten wir aus und richteten uns wieder ein. Arconrik bezog seine Werkstatt. Bald waren alle die gemauerten Wandbretter gefüllt, die Tische quollen über; Bücher und Zeichnungen, Papierrollen und Zeichengerät, Werkzeuge und Pläne wurden vorsichtig aufgestellt. Ein leichtes Fieber packte uns. Es war wie am Vorabend eines Ereignisses von gewaltiger geschichtlicher Bedeutung. Natürlich entsprach es nicht der Realität, aber uns kam es so vor. Unsere Pferde tummelten sich auf der Weide. Ab und zu kam einer aus der Siedlung und brachte Geschenke: Krüge voll Wein, einen Braten, köstliches Brot oder Käse, in Leinentücher eingeschlagen. Zwei junge Mädchen, zauberhaft unerfahren und verlegen, braunhäutig, mit blauschwarzem Haar, wurden von ihren Müttern gebracht. Sie sollten unsere Dienerinnen wer-
den. Narnia nahm ihnen die Verlegenheit und schenkte ihnen Stoff für Kleider und etwas Schmuck. Der Lärm und die vielfältigen Gerüche des Festes, das unter den weit ausladenden Ästen am Versammlungsplatz gefeiert werden sollte, schlugen durch die weit geöffneten Türen und Fenster und die dünnen Leinenvorhänge zu uns herein. Staunend sagte ich zu Narnia: »Weißt du noch? Wir haben diese Bäume selbst gepflanzt! Jetzt sind sie so mächtig geworden.« »Ein Menschenalter ist vergangen«, entgegnete sie. Bestürzt sahen wir uns an. Zwei Dutzend, vielleicht drei, von denen, die wir aus der Sklaverei befreit und hierher gebracht hatten, lebten und erkannten uns noch. Ein Menschenalter, fürwahr! Für die meisten waren wir Schatten der Vergangenheit an der Wand, beleuchtet durch die Flammen der Gegenwart. »Und nur wir sind nicht älter geworden. Deine Welt ist voller Wunder, mein Geliebter mit den entfärbten Haaren«, fuhr sie fort und küßte mich. »Erfahrener wurden wir«, widersprach ich. »Für heute keine solchen Gespräche mehr! Wein! Pokale! Gelächter!« Halbwegs erschreckt stürzten sie aus allen Richtungen in mein riesiges Arbeitszimmer herein, und als sie sahen, daß ich lachte, fingen sie zunächst zögernd, dann lauter, ebenfalls zu lachen an. Schon jetzt waren wir leicht betrunken. Außer Arconrik, der prüfend an dem schweren, roten Wein roch. Das Fest nahm seinen Anfang in den frühen Stunden des Abends. Die Bewohner der Oase zeigten uns, den Neuankömmlingen, wie gut sie lebten. Sie boten auf, was Küchen, Bäckerei und Keller hergaben, und das war reichhaltig und reichlich. Ich konnte feststellen, daß alle Gruppen von Sklaven, die wir einst hierher gebracht hatten, diejenigen Speisen zubereiteten, die sie aus ihrer einstigen Heimat kannten, verfeinert durch den Reichtum der Oase. Kinder rannten herum, Hunde
kläfften, die Tische bogen sich unter dem Essen, das Bier war kalt und schäumte, und dunkelrot leuchtete der Wein, der aus den Krügen floss. Irgendwann, nach Anbruch der Dunkelheit, als die Öllampen entzündet wurden und das tiefe Rot der Feuer unter den Rosten unsere Gesichter färbte, meldete sich der Extrasinn und wisperte: Sie brauchen einen Arzt, Salben und Heilkräuter. Den Kindern könnte eine Schule kaum schaden. Dieser Hinweis war nicht unwichtig. In den kommenden Tagen würden wir weitersehen. Jetzt aber versuchten wir, uns Gesichter, Namen und Aussehen zu merken und festzustellen, welche Begabungen in der Oase unter den jüngeren Menschen aufwuchsen. Was wir nicht wußten, was uns keine Spinnsonde und keine Ortung zeigen konnte, was nicht einmal ich ahnen konnte, das war ein Ding, das ich sehr viel später – weil mir kein herkömmlicher Begriff dafür genügte – TAGRIA nannte. Es schien aus einer Vergangenheit zu kommen, die ferner war als alles, was ich in den Großen Schulen Arkons gelernt hatte; ein Ergebnis kollektiver Verdrängung? Jedenfalls, wie es schon die trunkenen Wächter auf dem Pharos geahnt hatten: ein Ding aus einer abstrusen Welt, unendlich fern und, wie ich tief im Unbewussten zu ahnen meinte, auch aus meiner Vergangenheit; derjenigen aller Arkoniden. Die Verwirrung wich nicht, die Umwelt ließ sich nicht in die gewohnten Ordnungen eingliedern. Irgendwo mußte es die Beruhigung geben. Es war ausgeschlossen, daß jene, die befahlen, nicht mehr existierten. Das Gefühl, eine nutzlose Wanderung durch unwichtige Medien zu unternehmen, war stark und änderte sich nicht. Auch das Gefühl für exakte Zeiteinteilung schwand dahin. Die Helligkeit nahm ab. Der gewohnte Zustand tiefen Dunkels würde sich in Kürze einstellen. Das
Tagria fuhr seine Gliedmaßen aus und stemmte sich vom Reden hoch. Ringsherum befand sich das »richtige« Element. Kleine und große Lebewesen, in Schwärmen, Rudeln oder einzeln, bewegten sich in gewohnten Bahnen. Nirgendwo gab es jene Türme und Blöcke, die das Tagria gewohnt war und suchte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ununterbrochen sämtliche Werkzeuge gebraucht wurden, in der die Existenz noch einen Sinn hatte. Diesen Sinn suchte das Tagria, und deswegen würde es in kurzer Zeit die Wanderung wieder aufnehmen. Langsam bewegte es sich, tastete sich über den schlammigen Meeresgrund und tappte langsam auf jene Stelle zu, an der es sich vor der schmerzenden Helligkeit verborgen hatte. Sie war schädlich, ließ die Gelenke rosten und tötete die Anhängsel auf dem geschwungenen Rückenschild. Die Fische wichen aus; sie identifizierten das Tagria als ihresgleichen. Eine riesige Schlammwolke wirbelte träge auf, als sich der massige Körper auf den sandigen Hang zuschob. Fast gleichzeitig mit der Dunkelheit erschien am Ufer ein schwarzes Ellipsoid mit zehn Gliedmaßen. Vom Rücken und den Flanken rann das Wasser, lange Algenfäden hingen herunter, und völlig lautlos tappte das Tagria geradeaus. Niemand sah das Tagria, als es sich auf einen weiteren Abschnitt seiner Suche machte, tiefe Eindrücke im Boden hinterließ und versuchte, den Sinn der bisherigen Existenz wieder zu finden. Zwischen heute und der Zeit, in der das Tagria unentwegt seiner Aufgabe nachgegangen war, klaffte eine Lücke. Wie groß sie war – viel Zeit schien vergangen zu sein –, konnte das Tagria nicht bestimmen. Es war nicht lange nach Mitternacht. In der Oase breitete sich die Stille aus; eine neue Zone der Ruhe erstreckte sich über das Versteck zwischen Felsbarriere und Küste. Wir saßen in großen Sesseln auf der Terrasse des Hauses, über uns die duftenden Rankengewächse und darüber die Sterne. Arconrik hob
seinen leeren Becher und winkte mir mit der linken Hand. Es hatte etwas zu bedeuten. Ich stand schweigend auf und folgte ihm in die weitläufigen Räume, in denen er sein Instrumentarium ausgebreitet hatte. »Was soll das? Du scheinst eine Überraschung für mich zu haben«, sagte ich. Arconrik klappte den Deckel einer Truhe auf. »Es ist keine Überraschung. Es ist die logische Fortsetzung einer Entwicklung, die in Karthago Nova eingeleitet wurde.« Hannibal! flüsterte der Extrasinn. Ich beugte mich über Arconriks Schulter und blickte auf den Bildschirm, der im Truhendeckel eingelassen war. In zweidimensionaler Wiedergabe sah ich einen Mann, der auf einer Steinbank saß. Die Körperhaltung drückte Hoffnungslosigkeit aus. »Die Aufnahmen sind einige Stunden alt«, sagte Arconrik. »Es war keineswegs leicht, die Spuren deines seltsamen Freundes zu finden und weiter zu verfolgen. Er ist Gast eines Königs in Bithymen.« »Wo immer das ist«, murmelte ich. In diesem Augenblick hob Hannibal den Kopf. Er schien mich direkt anzustarren. Er sah wie ein alter Mann aus; über der leeren Augenhöhle befand sich ein schwarzer Leberfleck. Sein Haar, an den Schläfen weiß, war schweißnass. Das Gesicht war im Licht einer erbarmungslosen Sonne voller tiefer Falten, Narben und grauer Bartstoppeln. Er wirkte wie jemand, der sein eigenes Ende überlebt hatte. Seine Lippen bewegten sich in einer Art lautloser Sprache. Ich versuchte herauszufinden, ob er wirklich irgendwelche Worte aussprach. Dann wandte ich mich an meinen robotischen Freund. »Berichte mir mehr über ihn. Es ist erschreckend, was ich sehe.« Ich erfuhr Einzelheiten. Hannibal hatte sich nach seinen zahlreichen Schlachten nach der Eroberung Hispanias in den äußersten Süden der Halbinsel zurückgezogen, war nach Kar-
thago zurückgerufen und zum Suffetten gewählt worden. Nach einer vernichtenden Schlacht war er geflohen, zunächst zu einem der zahlreichen »Könige«, zu Antiochos dem Dritten. Dann kämpfte Rom gegen diesen König, und Hannibal floh zu Prusias von Bithynien. Dort saß er, zehntausend Meilen von Karthago entfernt, litt und sehnte sich nach den Zeiten des Krieges. Oder nach etwas anderem. Ich wurde aus meinen komplizierten Gedanken gerissen, als Arconrik sagte: »Ich habe keine exaktere Aufzeichnungen. Aber ständig murmelt er, daß er vor seinem Ende noch einmal mit dem einzigen Mann sprechen will, der sein Freund hätte sein können. Das ist die Wahrheit.« »Ich weiß. Nicht meine Schuld. Du willst anregen, daß ich zu Hannibal fliege und ihm aufmunternd auf die Schulter schlage? Wozu soll das gut sein? Das würde ich gern von dir erfahren.« »Fast dreißig Jahre lang«, sagte Arconrik ruhig, »beobachte ich mit den Spinnsonden große Teile der Welt. Ich sehe weitaus weniger, als es sein müsste, aber ich sehe viel. Was die Sonden lieferten, ist gespeichert. Mehr als zehntausend Tage lang hatten die Computer und ich Zeit, alles zu analysieren. Vieles, was mir unwichtig erschien, wurde ausgesondert. Wenn ich dir rate, Hannibal zu besuchen und mit ihm zu reden, dann denke ich, daß die Auseinandersetzung zwischen Rom und Karthago noch lange nicht zu Ende ist. Vielleicht brauchst du Hannibal, Atlan, für deine Suche nach dem Stein der Weisen?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte ich. »Aber natürlich hast du recht. Ich habe genug Zeit, um zu Hannibal zu fliegen und mit ihm zu sprechen.« »Ich empfehle dir, genau dies zu tun. Und zwar allein.« »Gut. Schalte das Ding aus. Sie werden uns vermissen, da draußen an den Tischen.«
Arconrik klappte die Truhe zu und wirkte erleichtert. Meine Gedanken gingen zurück zu dem seltsamen jungen Mann, der Hannibal gewesen war, bevor er daranging, das erstarkende Rom anzugreifen, fern seiner Heimat. Ich hob den Becher und sah den körnigen Bodensatz des schweren Rotweins. Wir nickten einander zu und gingen langsam hinaus zu den anderen. Ein schlanker Mann, etwa zwischen dreißig und vierzig Sommern alt, kam uns entgegen. Er hielt einen Bronzeleuchter mit vier brennenden Kerzen in der Hand. »Nabor Thet«, sagte ich ein wenig trunken. »Du suchst uns?« Er nickte, hob den Leuchter und antwortete, auch nicht mehr ganz nüchtern: »Ich bin, was ihr gemerkt habt, so etwas wie der Schüler eures Freundes Beilarx. Was soll aus unserer Oase werden, wenn ihr hier bleibt.« Narnia und ich verständigten uns mit einem blitzschnellen Blick. Meine Freundin lächelte Nabor Thet liebenswürdig an. Er schien besorgt zu sein, und daher hatte er seine Frage vorwurfsvoll an uns gerichtet. Narnia erklärte: »Ich sage dir, was aus der Oase wird: Alles wird besser, das Leben wird leichter sein, und auf jeden von uns kommt ein wenig Arbeit zu. Niemand hat vor, das Versteck für andere zu öffnen. Vielleicht kommt der eine oder andere, den wir vor den Sklavenjägern oder seinen Herren retten, noch zu uns. Mehr nicht. Beruhigt?« »Für heute bin ich beruhigt«, sagte er, grinste verlegen und wankte durch das Halbdunkel hinweg. Arconrik meinte einschränkend: »Ich habe registriert, daß in der Oase einige Unruhe herrscht. Sie waren dreißig Jahre lang auf sich gestellt und fürchten, daß sich ihr bisheriges Leben radikal ändert. In den nächsten Monden sollten wir diesen vermeintlichen Vorwurf restlos ausräumen.«
»Es wird leicht sein, die Unruhe auszuräumen«, sagte ich. »In ein paar Tagen redet niemand mehr davon.« Die nächsten Tage verbrachten wir damit, den Bereich unseres Lebens abzustecken und zu sichern. Ich flog mit dem Gleiter, hoffentlich unbemerkt, Spiralen um die Oase. Weit und breit waren keine Spuren zu erkennen; keine Handelsstraße führte auch nur in unsere Nähe. Der namenlose Fluß war das schwächste Glied der Kette. Wir mußten damit rechnen, daß sich an diesem Wasserlauf einzelne Gruppen langsam durch das unbekannte Land auch zu uns vorarbeiten würden. Aber ich fand keine Anzeichen dafür – in weiter Entfernung war das Land menschenleer. Zusammen mit Arconrik sah ich den Weg zu Hannibal auf der Karte nach; das Meer hieß jetzt Pontus Euxinus, und ich fertigte Detailkarten der südlichen Küste an, vom Land Bithynien. Ich paßte Kleidung und die wenige Ausrüstung an und ging die einzelnen Etappen des langen Fluges mit Arconrik durch, testete die Funkgeräte und die Waffen – wir schnitten aus dem schwarzen Basalt einige neue Quadern heraus. »Du willst auf jeden Fall allein fliegen?« fragte Narnia. »Nicht, daß ich gern mitkäme… du weißt, was ich über Hannibal Barcas denke.« »Entwickle du mit Arconrik und den beiden Frauen die Rezepte und die Kräutertränke! Ihr habt genug zu tun. Ich bin in ein paar Tagen wieder zurück.« »Gut. Wir werden emsig Kräuter sammeln.« Eigentlich war es logisch. Vor rund drei Jahrzehnten hatten wir die Oase verlassen, und mit uns ging ein Teil der Kenntnisse langsam verloren. In den kommenden Tagen und Monden würden wir genug zu tun haben, kleine und größere Leiden zu kurieren – oder es zu versuchen. Ich flog, gut ausgerüstet, gegen Mittag des fünften Tages los. Nur Arconrik begleitete mich hinunter zum Ufer. Gemeinsam
programmierten wir den Kurs, der nach Nordost führte. Zunächst flog ich mit offenem Verdeck und betrachtete mit äußerster Sorgfalt die Landschaft unterhalb des Urleiters. Große Teile kannte ich bereits, andere hatten ihr Aussehen verändert, wieder andere entdeckte ich für mich neu. Ich hatte es nicht eilig und schwebte vergleichsweise langsam, in etwa eineinhalbtausend Ellen Höhe. Gegen das grelle Sonnenlicht war der Gleiter so gut wie unsichtbar. Die Wüste breitete sich aus, Berge schoben sich rechts und links vorbei. Vor mir lag ein Gebiet aus Sand, Geröll und durchglühtem Gestein. Ich flog über den schmalen grünen Streifen des Nillands hinweg und näherte mich langsam der südlichen Küste des Mare internum. Für die Nacht suchte ich mir einen einsamen Platz. Ich landete den Gleiter zwischen Felsen, klappte das Verdeck zurück und packte das Essen aus. Arconrik rief mich und erklärte, daß mich eine Sonde verfolgte, und daß er mich kontrollierte. Ich könne beruhigt schlafen; weit und breit gäbe es keine Gefahren. Die Nacht kam, über mir zog die schmale Mondsichel zwischen den klaren Sternen über das Firmament. Ich stand auf und ging bis an die Kante des Felsens. Es gibt auf diesem Planeten nirgendwo wirkliche Helligkeit in den Nächten, sagte der Logiksektor überraschenderweise. Ich wußte es längst, in dieser riesigen, weitestgehend leeren Landschaft verloren sich Fackeln, Öllampen und Lagerfeuer bis zur völligen Bedeutungslosigkeit. Ich schlief tief und ungestört und erwachte vor Sonnenaufgang, weil es in der vegetationslosen Gegend bitter kalt wurde. Weiter. Der Flug führte an größerer Höhe entlang der Küste nach Osten und in weitem Bogen wieder nach Norden, dann abermals nach Osten. Entlang der riesigen Küstenlinie, die ich weitaus langsamer überflog, dehnten sich Felder und Äcker aus, hier gab es Zeichen des Lebens. Die Straßen, die einzelne Orte verbanden, verloren sich im Innern des Landes.
Ich kontrollierte meinen Weg auf Arconriks Karte und fand gegen Abend die Siedlung und den Palast des Königs Prusias. Im Morgengrauen, wußte ich, verrichtete Hannibal außerhalb der Siedlung seine Gebete in dem winzigen Tempelchen des Baal und der Tanit, den zu bauen ihm sein Gastgeber erlaubt hatte. Ich suchte mir wieder ein Versteck jenseits der Baumgrenze eines nahen Berges und nistete mich aus, noch bevor die ersten Sterne verschwanden. Langsam steuerte ich den Gleiter zwischen die Büsche unweit der weißgekalkten Balken. Es begann zu dämmern; ich aktivierte das Schutzfeld um den Gleiter und ging auf den Tempel zu. Dort wartete ich – hoffentlich kam Hannibal wie an jedem der vorhergegangenen Morgen. Schräg über mir bemerkte ich das Aufschimmern der Robotsonde. Arconrik! Er kümmerte sich wirklich um meine Sicherheit. Ich hatte zwei Tage lang Zeit gehabt, mich auf die Begegnung vorzubereiten; ich würde den Mann treffen, vor dem Rom gezittert hatte. Hannibal ante portas, der Schrecken aus Karthago vor den Stadttoren! Weit entfernt krähten Hähne, die Geräusche des erwachenden Lebens schlugen an meine Ohren. Ich hätte Wein mitnehmen sollen! Im Augenblick bedauerte ich, daß ich hier war. Was sollte ich mit dem alternden Helden sprechen? Worüber? Ich zwang mich zur Ruhe und wartete. Eine Viertelstunde verging; die Sonde versteckte sich. Dann, als ich aufstand und in die Richtung der Türme und Mauern des Palasts blickte, sah ich eine einzelne Gestalt, die, in einen langen Mantel gehüllt, über den Pfad heraufkam. Es mußte Hannibal sein. Etwa zweiundsechzig Jahre zählte er, aber auf dem Bildschirm hatte er wie ein Achtzigjähriger gewirkt. Ich setzte mich auf die Rampe des kantigen Bauwerks und senkte den Kopf. Schließlich hörte ich langsame, schlurfende Schritte. Es dauerte lange, bis der Mann den Tempel erreicht hatte. Die Sonne erhob sich über den Horizont, und ihre Strahlen
erreichten die kleinen Wellen des Puntus. Hannibal schlug seinen Mantel zurück, lehnte sich schwer gegen eine hölzerne Säule – und sah mich. Er starrte mich an. Auch seine Brauen waren weiß geworden. »Es wird dir schwerfallen«, sagte ich langsam in seiner Sprache, »mich wieder zu erkennen. Es ist fast vier Jahrzehnte her.« Er stand da, die Hand am Dolchgriff, wie erstarrt. Er merkte, daß er sich an mich erinnerte. Aber er hatte wohl Jahr und Anlaß vergessen. Für mich war er schon jetzt nicht mehr als eine bedauernswerte Gestalt. Ich sagte, ohne mich zu rühren: »Entsinne dich. Ich bin der Freund von Beilarx und Hasdrubal. Mit meinen Landkarten hat dein Heer den Weg…« Er lächelte plötzlich. Die wenigen Zähne in seinem Mund waren schwärzlich geworden. Er stieß hervor: »Demetrion! Der Händler des Wunderbaren. Wie kommst du hierher? Warum? Woher weißt du?« Ich stand auf, ging zu ihm und ergriff seinen Unterarm. Er erwiderte den Gruß. Zwar freute er sich, aber dennoch wirkte er abwesend, hoffnungslos, tief in sich gekehrt. »Arconrik war der Händler. Ich hörte von dir und deinem langen Weg bis zu Prusias. Ich suchte und fand dich. Und, ich fürchte«, sagte ich vorsichtig, »du hättest damals meinen Rat nicht in den Wind schlagen sollen, Feldherr. Du hättest heute ein sorgenfreies, gesundes Leben, wie Beilarx.« Sein Haar war dünn und weiß, der Hinterkopf völlig kahl. Die Höhle seines Auges starrte mich schauerlich an. Der Bart war schütter, tiefe, bittere Falten zerfurchten sein Gesicht, das trotz der Bräune ungesund wirkte. Einst war er kerzengerade gegangen, jetzt krümmte sich sein Rücken. Er hinkte leicht; dieser Mann vor mir würde kaum noch eine Schlacht schlagen können.
»Heute wissen wir beide mehr«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Ich hätte wirklich auf dich hören sollen, Demetrion. Wie kommt es, daß du aussiehst, als wärest du nicht älter geworden?« »Mein Haar ist von Natur aus weiß«, sagte ich. »Ich habe auch nicht ununterbrochen kämpfen müssen. Was, denkst du, werden sie bringen, die nächsten Jahre?« Er zögerte nicht mit der Antwort. Sein Auge suchte den Anblick der karthagischen Göttin. »Den Tod.« »Jedes Leben endet damit«, gab ich zurück. »Welche Art ziehst du vor?« »Ich werde nicht in Frieden sterben können«, sagte er schleppend. »Ich habe damals nicht auf dich gehört, Demetrion. Auch deswegen wird mich einer hinterrücks töten.« »Wer? Prusias?« Er hob die Schultern und ließ sie in einer hoffnungslosen Bewegung wieder fallen. Ich stellte einige Fragen, und erfuhr, was ihm seit dem Fortgang aus dem Süden der ItalikerHalbinsel widerfahren war. Ein schrecklicher Weg voller Niederlagen und Wunden, Irrtümer und verlorener persönlicher Kämpfe führte bis hierher. Überdies war er von Tausenden und aber Tausenden Toten und Verletzten gesäumt. An diesem Punkt der Erzählung angelangt, ließ er sich schwer neben mich auf die Steine fallen. »Und wenn Rom hierher kommt – und das wird bald sein –, dann bringe ich mich selbst um«, schloss er. Sprich ihm Mut zu. Oder versuch’s wenigstens, drängte der Extrasinn. Ich hätte doch Wein mitnehmen sollen. Ich lehnte mich an den Balken, an dessen Schnitzwerk der Tau verdunstete. Die Sonne überschüttete uns mit greller Helligkeit. Was sollte ich tun? Konnte ich ihm überhaupt helfen, und wenn ja, auf welche Weise? Zu uns in die Oase? Niemals. Ich griff in die Gürteltasche.
»Was erwartest du?« Er war Asylant des Königs, den Launen oder den Notwendigkeiten seines Asylgebers ausgeliefert. Dies sah er mit großer Klarheit. Ich holte ein Fläschchen aus unzerbrechlichem Arkonglas hervor und hob es hoch. »Ich erwarte nicht einmal, meine letzten Jahre in Ruhe verleben zu können«, sagte er nach einer Weile. Er war am Ende und wußte es; er nahm das Fläschchen und betrachtete es genau: Es war wie eine nackte Frau geformt. »Nun«, sagte ich und suchte nach einem Weg, »es war der Fehler aller Fürsten und Handelsherren von Karthago, mit dir an der Spitze, nicht im friedlichen Handel die Entwicklung gesucht zu haben. Noch steht deine Stadt. Warum suchst du dir auf dieser Welt nicht einen ruhigen Winkel, wo dich niemand findet und als Pfand ausliefern oder töten kann?« »Es ist zu spät«, antwortete er und dann, in plötzlicher Klarheit, gab er die Erklärung. »Ich habe keine Kraft mehr. Ich halte nur noch Zwiesprache mit meinen Göttern. Ist das ein Gift, das ich trinken kann?« »Ja. Schmerzlos und schnell. Sie, die Götter von Tanit, haben dir nicht gerade viel geholfen«, schränkte ich ein. »Ich bin hier. Ich vermag die Dinge ein wenig zu drehen und zu wenden. Sag mir, was ich tun soll. Ich würde dir helfen, Feldherr.« Ich brauchte wohl zu lange, um endgültig zu begreifen. Ich sah vor mir nur noch die ausgebrannte Hülle Hannibals. Er war jenseits aller Entschlusskraft; unfähig, sinnvoll zu handeln. Er lehnte neben mir und zog die Schultern hoch, als fröstle er. »Du kannst mir nicht anders helfen; diese Tropfen genügen. Es ist zu spät. Vielleicht hast du gedacht, daß ich es bedaure, nicht dein Freund geworden zu sein. Du hast recht. Alles ist zu spät. Die Zeit ist schneller gewesen als Hannibal, und mit mir stirbt, früher oder später, auch Qart Hadasht. Alle sind tot,
immer hat Rom gesiegt. Es wird auch meine Stadt vernichten. Ich danke dir, daß du gekommen bist. Auch mein Freund Antigonos war hier. Du bist um zwanzig Jahre zu spät gekommen.« Ich hörte fassungslos zu. Seine Stimme sank zu einem heiseren Flüstern herab. Er hatte sein Leben bereits beendet. Der Tod war nur noch ein Schlußpunkt, den er geistig schon vorweggenommen hatte. »Den Hannibal, den du kanntest, Demetrion, den gibt es nicht mehr. Es ist vorbei. Ich war unbelehrbar. Inzwischen habe ich schon mehrmals dafür bezahlt. Sieh mich an: nichts bleibt. Kein Sohn, keine Tochter, nicht einmal eine trauernde Sklavin. Und nun, ehe ich das Bild der Hoffnungslosigkeit biete, solltest du gehen. Bleib so klug, wie ich dich in Erinnerung habe.« Es war keine Bitte, sondern ein Befehl – er wollte nicht, daß ich ihn heute so sah. Ich stand auf und sagte mir, daß er heute das Richtige sagte; er sprach so, weil es die böse, unausweichliche Wahrheit darstellte. Wieder packte ich, diesmal mit beiden Händen, sein Handgelenk und drückte es. »Ich wünsche dir noch viele, ruhige Tage. Und wenn du stirbst, sollst du nicht leiden«, sagte ich, nickte ihm zu und ging. Im Weggehen erreichten mich seine zuversichtlichen Worte. »Ich werde nicht leiden. Das ist sicher.« Trockene Nadeln und Laub knirschten unter meinen Sohlen. Ich kletterte in meinen Gleiter und flog zurück. Dieser Versuch war überflüssig gewesen, was Hannibals Person betraf. Mir hatten diese Stunden gezeigt, daß sich letzten Endes meine, unsere Auffassung des Lebens durchsetzen würde. In der Maske und ohne Gewalt konnten wir überleben und etwas für die Barbaren tun. Krieg war keine Lösung. Nur Abwehr von Gefahren und Notwehr waren erlaubt und sinnvoll.
Es dauerte mehr als fünfzig Stunden, bis ich wieder in der Oase war und diesmal den Gleiter vor dem offenen Tor des hallenartigen Vorratsraums abstellte. Ich war mir während der langen Stunden auch noch über etwas anderes klar geworden. Die Oase oder besser, deren Bewohner brauchten neues Blut, neue Ideen, eine neue Herausforderung. Die Spinnweben der Selbstgenügsamkeit mußten weggerissen werden! Warnend flüsterte der Logiksektor: Sie werden es nicht begreifen. Geh behutsam vor, Arkonide. Und wir gingen behutsam vor! Für etwa fünfundsiebzig Kinder, die nicht bei ihren Eltern oder den Herden arbeiteten, bauten wir eine Schule. Wir ließen uns von den Kindern helfen und gewöhnten sie an den Umgang mit Werkzeugen und Maßen. Arconrik und ich hatten lange nachgerechnet, nachgedacht und überlegt – es galt überall auf diesem Planeten, das Wissen der wenigen an möglichst viele weiterzugeben. Hier machten wir einen ersten und kleinen Anfang. Natürlich beschränkten wir uns auf einzelne Fähigkeiten, die wir zu vermitteln versuchten: Schreiben, Lesen und Rechnen, Umgang mit Maßen und einige allgemeine Erkenntnisse der Wissenschaften von den Dingen und der Natur. Nicht jede Maßnahme fand die Zustimmung der Älteren, aber schließlich, noch ehe das Balkendach auf dem Gebäude saß, konnten wir sie überzeugen. Die Kinder lernten mit Feuereifer, und wir erkannten, daß uns vieles fehlte, beispielsweise Papyrus oder Täfelchen, auf denen die Schüler üben konnten. Wir entschlossen uns, das Maßsystem der Römer einzuführen, auch für unsere eigenen Arbeiten. Die uncia, das Zwölftel, ergab, mit zwölf vervielfacht, das Pfund, libra, beziehungsweise das As, dessen Einhundertvierundvierzigstel wieder einen Münzwert darstellte. Dazu kamen der pes, Fuß, eingeteilt in 16 digiti, Fingerbreiten, das scripulum, der kleinste Teil als vierundzwanzigster Teil der Längen uncia, der Doppelschritt pas-
sus, das Stadium mit 1.23 Doppellschritten und die milia mit 1000 Doppellschritten. Flächenmaße und Hohlmaße kamen hinzu, und sehr langsam breiteten sich diese durchaus praktischen Maße und deren Bezeichnungen aus. Narnia und Arconrik versuchten mit beachtlichem Geschick, jeden Tag einige Stunden lang diese Erkenntnisse weiterzugeben, und ich brachte diese Maße dann unseren Handwerkern nahe. Viele Tage vergingen. Sehr langsam veränderten wir einen Teil des Lebens. Staunend bemerkte es Beilarx und einige der Älteren. Für mich war es eine Probe. Die Gelehrten in der Bibliothek und der Schule von Alexandria schafften es nicht, ihr überragendes Wissen ans Volk weiterzugeben; wir hingegen bewiesen, daß es möglich war. Jeder der vielen Tage brachte eine winzige Änderung. Wir hoben das Geschehen im Vorgriff auf Alexandria lediglich auf eine höhere Stufe. Niemand arbeitete mehr, aber fast jeder zwang sich, wirklich zu begreifen, was er da unternahm. Natürlich mußten wir zuerst verschiedene Rezepte »erfinden« und schließlich in unser Maßsystem integrieren, aber nach abermals einer Reihe von Tagen hatten wir nicht nur viele Kranke versorgt, die meistens geheilt, sondern auch unseren jungen »Ärzten« technische und geistige Möglichkeiten in die Hand gegeben. Wie stets, wenn ich den Eindruck hatte, daß die Dinge reibungslos zu laufen begannen, näherte sich der Eindruck von Langeweile. »Die Törichten«, sagte Sosso Khe, »machen stets wieder dieselben Dummheiten, die Klugen hingegen machen immer wieder andere Fehler, Apollonius. Verzeih, aber in meinen Augen zählst du zu der ersten Gruppe.« Überrascht zog der Gelehrte nun die Brauen hoch. Er ahnte,
worauf der Türmer mit dem Vorwurf abzielte. Sie blickten hinunter auf einen Teil des Nildeltas. Alexandria war vom Grün des Sommers umgeben, überstrahlt vom Licht des Mare Internum, lag es da in gewaltiger Fruchtbarkeit, erzeugt von der unermüdlichen Arbeit Tausender und aber Tausender geduldiger Fellachen, buchstäblich mit Händen und Hacken, ohne jede größere Hilfe. Dazu kamen noch die Nachrichten, die der Türmer meinte. »Nur, weil ich die Legenden höre und nicht glaube?« »Weil es keine Legenden sind, Apollonius! Ihr dort unten seid von der Wirklichkeit so weit entfernt wie wir beide vom Boden!« »Das hat andere Gründe, Phylax.« »Schwerlich. In all den Monden hörten wir von den Seeleuten schauerliche Geschichten. Das Seeungeheuer bewegt sich durch die Nächte wie eine riesige Welle. Baleares, Sicilia, Creta, Cyprus, Antiochia, Arabia – das Ungeheuer walzt nieder, was in seinem Weg liegt. Es kommt aus der Tiefe des Okeanos, denn es trägt Muscheln und seltenes Getier auf dem Rücken und den Flanken. Und ihr Wissenschaftler wollt nichts hören, nichts sehen und nichts begreifen.« Das Meer war voller Schiffe, die zahllose Punkte an den langen Küsten miteinander verbanden. Die Männer an den Segeln, den Rudern und Riemen waren die Träger der Nachrichten. Und diese sprachen tatsächlich von einem gewaltigen Seeungeheuer. Arconrik veränderte die Vergrößerung der Sondenlinsen, filterte den Ton schärfer und sagte leise: »Das ist für mich der letzte Beweis. Es ist also doch richtig. Es gab seit mehr als einem Jahr solche Nachrichten.« Ich winkte ab. Für mich war nur von Interesse gewesen, was die Gelehrten sprachen und taten. Durch einen Zufall hatte ich
den Griechen Apollonius zur obersten, bewohnbaren Plattform hinaufklettern sehen. Die Reaktion des Roboters machte mich nachdenklich. »Seit wann zählen Fabeltiere zu deinen favorisierten Beobachtungszielen?« »Ich brauche jede Information. Wie du weißt«, führte Arconrik weiter aus, »sind in den Felsen, unter denen wir hausen, alle Beobachtungssysteme eingebaut. Spionsonden sind ständig unterwegs. Ich vermag zwar jedes Raumschiff anzumessen, das aus dem Hyperraum kommt, aber es ist selbst mir unmöglich, alles zu erkennen, denn der Planet ist, verglichen mit unserer Kapazität, viel zu groß. Für mich kann ein archaisches Seeungeheuer durchaus eine Bedrohung sein.« »Du willst mir auf schonende Art sagen«, entgegnete ich, »daß sich hinter den Berichten abergläubischer Schiffer etwas versteckt, das weitaus mehr bedeuten kann.« Arconrik nickte. Mein Instinkt war sicher besser ausgeprägt, aber er hatte in den zurückliegenden Jahren vierundzwanzig Stunden am Tag diesen Planeten beobachtet; ununterbrochen. Unser Überlebensfaktor war notgedrungen etwa gleich hoch. »Wenn du das Ungeheuer findest«, meinte ich, »dann sag’s mir. Ich prüfe die Aussagen der Seeleute nach. Aber vor uns liegt eine weitaus reizvollere Aufgabe.« »Bekannt. Du willst mit den Gelehrten sprechen. Nimmst du Narnia mit?« »Selbstverständlich. Ich werde einen ersten Vorstoß unternehmen. Zuerst fliege ich allein Alexandria. Wie weit sind die Modelle und Zeichnungen?« »Es ist noch viel zu tun«, antwortete er. »Wir haben weniger für uns als für unsere Freunde hier gearbeitet.« Der Hüter des Barbarenplaneten, wisperte der Logiksektor sarkastisch. Nun auch als reisender Pädagoge unterwegs. Ich brummte etwas Unverständliches und sah mich in Arconriks Werk-
statt um. Wir waren wirklich fleißig gewesen, und zumindest mir hatte es großen Spaß gemacht, alle jene Prinzipien in funktionierende oder plastische Modelle umzusetzen, jene Erkenntnisse also, die von Wissenschaftlern dieses Planeten gemacht worden waren. Es schien, als würde tatsächlich ein Traum, der mehr eine Erwartung war, von ES und mir erfüllt werden. Blühten wirklich Kultur und Zivilisation an den Küsten des Binnenmeeres auf? »Ein kluger Bursche, dieser Türmer«, murmelte ich. Wir hörten weiter der Unterhaltung dieser ungleichen Männer zu. »Wenn einer, wie du, davon lebt«, entgegnete Arconrik, »die Dinge ins Lot zu bringen, dann kann er nichts dagegen haben, daß sie schief hängen.« »Du scheinst mit Sosso Khe verwandt zu sein!« knurrte ich, dann mußte ich wider Willen grinsen. »Schon möglich.« Die Regale an den Wänden waren voller Kugeln, Zylinder und Maßstäbe, es befanden sich Konoide, Spiralen und Sphäroide dabei, die plastischen Ergebnisse archimedischer Berechnungen. Die Anwendungen seiner Hebelgesetze hatten wir ebenso zusammengebastelt wie seinen Flaschenzug, die Brennspiegel, die Schiefe Ebene und die Schnecke, mit der Wasser von einem tieferen zu einem höheren Punkt bewegt werden konnte. Dazu Pumpen, Windräder, ein einfaches Modell des Planetensystems mit Monden, eine Berechnung eines zuverlässigen Kalenders, für den Roboter nur einige Sekunden Rechenarbeit, gläserne Linsen und die Methoden, daraus Fernrohre zu bauen. Von den meisten Arbeiten hatten wir Duplikate hergestellt, die wir für die Erwachsenen und Kinder der Oase brauchten. Apollonius von Perga, der mit dem Türmer sprach, hatte Berechnungen über Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln gemacht. Es würde vermutlich förderlich sein, mit ihm zu sprechen.
»Flieg du nach Alexandria«, sagte ich. »Dort brauche ich ein Haus in der Nähe des Museions. Du weißt, was ich brauche.« »Bekannt. Wann?« »Sobald du die technischen Probleme gelöst hast.« Arconrik ging mit der ihm eigenen Schnelligkeit an die Arbeit. Ich verbrachte Stunden um Stunden damit, Alexandria zu beobachten. Je mehr ich wußte, desto schneller konnte ich mit meinem kühnen Plan beginnen. Schon jetzt aber mußte ich Misserfolge einkalkulieren. Aber mir schien trotz aller Skepsis, daß die Zeit niemals günstiger war als gerade jetzt. Vergiß dein Raumschiff nicht! mahnte der Logiksektor. Er konnte es nur ironisch meinen. Der Weg zum zweiten Planeten von Larsafs Sonne war so gut wie unmöglich, aber wir dachten unentwegt darüber nach. Schließlich befand sich dort ein Robotgehirn, mit dessen Hilfe ich Hilfe von Arkon herbeirufen konnte – für mich und die Barbaren dieser Welt. Nach meinem optisch-akustischen Spaziergang durch das blühende, pulsierende Alexandria lehnte ich mich zurück und durchdachte die einzelnen Schritte. Ob mein Teil der Suche nach dem Stein der Weisen erfolgreich sein würde, wußte ich nicht. Dass ich mich, wenn ich nach Alexandria ging, in Gefahr begab, glaubte ich nicht. Vielleicht irrte ich mich, wie so oft. Alexandria war eine gute Stadt – für Reiche, Beamte und Herrscher. Alle jene Herrscher wurden nach Ptolemaios dem Ersten benannt, dem Feldherrn des Großen Alexander. Alexandreia oder Alexandria, in der die koine, die griechische Gemeinsprache gesprochen wurde, war der Mittelpunkt eines zentral aufgebauten Staates, der von der Arbeit der Einheimischen lebte. Ägyptische und griechische Elemente prägten Aussehen und Lebensweise, aber ich fand Teile von Dutzenden fremder, reizvoller Kulturen. Da alles königliches Eigen-
tum war, hatte der Herrscher sich für Arconriks Geschenke eine Geste wahrer Großzügigkeit gestattet. Wir erhielten für die Dauer des Aufenthalts ein reich ausgestattetes Haus zugewiesen, das auf halbem Weg zwischen der Halbinsel Pharos und dem Museion stand, am Ende eines schmalen Stichkanals vom Mareotis-See her. Und schon umgab uns die bizarre, farbige Geschäftigkeit einer Hafenstadt. Es war nicht ungefährlich, in dieser seltsamen Stadt zu leben. Es genügte, bei einem der Beamten in Ungnade zu fallen, womöglich bei einem, der sich in der Nähe des Thrones befand. Narnia, Arconrik und ich gingen durch Rhacutis in die Richtung des großen Hafens und des Palasts. Ich schob meine Hand unter das Wams und umklammerte den Zellaktivator. »Die Wirtschaft«, erklärte Arconrik, »ist im Monopol des Staates. Sie werden immer reicher. Sie verdienen Unsummen.« »Mit Getreide, Bergbau und Öl!« ergänzte Narnia. Eine lange Doppelgasse öffnete sich vor uns. Hier boten Händler alle nur denkbaren Waren an. Stimmengewirr wetteiferte mit Geräuschen und Gerüchen. »Nicht nur damit«, setzte ich hinzu. »Sie handeln ebenso mit Glaswaren, mit der Kenntnis der Baukunst und mit Papyrus in gewaltigen Mengen.« Alexandria war das Zentrum des eroberten Ägyptens. Jeder weitere Schritt zeigte es uns deutlich. Überall sahen wir einen besonderen Typ von Griechen. Jung oder alt, sie ließen Ausbildung erkennen, sprachen leise miteinander, strahlten Wissen und den Hochmut der Gebildeten aus. Seeleute aus Antiocha und Sidon tappten rücksichtslos durch die Gassen und an den gemauerten Verkaufsständen vorbei. Es roch, als wir den Damm zum Isistempel betraten, nach Fisch und Seewasser. Der Hafen war voller Schiffe. »Wie lange soll ich noch bei euch bleiben?« erkundigte sich
Arconrik. Er hatte einen großen Teil unseres Besitzes hierher geschafft und das Haus in einer Weise eingerichtet, die uns gegenüber jedem Besucher eindeutig charakterisierte. Wir traten als Gelehrte aus dem Süden jenseits von Arabia auf. »Nur noch zwei, drei Tage«, sagte ich und legte den Kopf in den Nacken. Der Leuchtturm, pharos, war wirklich ein erstaunliches Bauwerk. Wir blieben zwischen den Gruppen der Seeleute stehen. Ich wandte mich an einen bärtigen Steuermann. »Ich bin Demetrion Atlantur. Ist jemand unter euch, der die letzten Berichte und Erzählungen über das Seeungeheuer kennt?« Sofort waren wir umringt. Die Männer, die zwischen Regnum Bospori und Oceanus Atlanticus segelten, hatten verständlicherweise mehr Interesse an Narnia, die so aussah, wie sie sich die Gattin eines Gelehrten aus Arabia vorstellten. Wir erfuhren, daß am Abend einige Kapitäne zurückkamen, die wirklich wußten, was es mit dem Ungeheuer auf sich hatte. Gehört hatte jeder davon; inzwischen bildeten diese Erzählungen die nächtliche Unterhaltung an Bord der Schiffe. »Wir kommen am Abend wieder«, versprach ich. »Ich muß wissen, an welcher Küste das Ungeheuer gesehen worden ist. Vor kurzem, nicht vor etlichen Monden.« »Du wirst etwas erfahren.« Grinsend und mit eindeutigen Bemerkungen starrten uns die Männer nach. Wir trafen Apollonius, umgeben von einer Schar junger Griechen, auf der Plattform des Turmes. Ich konnte meine Einladung an ihn persönlich aussprechen. Aber ich mußte erst, halb scherzhaft, meine Erfahrungen mit Seeungeheuern erwähnen, bis er zusagte. Der Logiksektor hatte eine wichtige Erklärung. Sie anerkennen nur sich und ihresgleichen als wirkliche Gelehrte. Du wirst es schwer haben.
Ich hatte schon eine Idee, wie ich sie verblüffen konnte. Zwei der dazu benötigten »Erfindungen« hatte ich bereits. Ich verabschiedete mich flüchtig von den Griechen. Wie es uns schien, glaubten sie keineswegs an den Umstand, daß NichtGriechen als Wissenschaftler etwas taugten. Wir kauften auf dem Rückweg einige Rollen dünnes, fast schneeweißes Papyrus, das einst shafadu genannt worden war, und zogen uns in das Haus zurück, an dem Arconrik einige Veränderungen vorgenommen hatte. Unter der großen Terrasse schaukelten die lang gestreckten Körper der Schiffe im Seehafen. Am Abend, als überall in den Straßen und Gassen die Flammen der Öllampen flackerten, als hoch über uns das Feuer des Leuchtturms weithin leuchtete, saß ich mit drei breitschultrigen, graubärtigen Männern auf der Bank einer Hafenschenke. Aus der Küche dampfte und roch es nach der gesamten Vielfalt einer Küche, deren griechische Robustheit durch ägyptisches, karthagisches und libysches Raffinement verändert und verbessert wurde. Unsere Becher waren voll, und ich erkannte diese Männer wieder, ihre Art und ihr Lehen, das ich lange genug geführt hatte. »Nicht einer der Gelehrten«, begann ich und bemerkte die Blicke, die sie auf meinen Zellaktivator richteten, »glaubt an euer Ungeheuer. Ich glaube es. Aber wo ist es zu finden?« Ich zog, während ich den Becher hob, eine Rolle aus dem Wams. Der Aktivator war, meiner Rolle gemäß, als kostbares Ornament verkleidet. Ich würde ihn verändern müssen. Sein Aussehen forderte Diebe heraus. »Es war in Tarsus… in Arados… Kyrene… Pelusion!« kamen die Antworten wild durcheinander. »Wer hörte zuletzt vom Ungeheuer?« fragte ich beunruhigt. Es stellte sich heraus, daß Kapitän Ramass vor rund einem Viertelmond im Hafen Thapsus eine überzeugende Geschichte gehört hatte. Über das aktivierte Funkarmband hörte Arconrik
jedes Wort mit, und er würde sofort reagieren. Ramass knallte den Becher hart auf die Tischplatte und wischte sich den Bart. »Aber dort sind Römer. Ein Lager, ein gezimmerter Steg, und viele Palisadenwälle.« »Ihr legt auch in römischen Häfen an?« »Manchmal.« Die Handelsschiffer, Römer oder Griechen, schienen einander gleichgültig zu sein. Mittlerweile gab es fast so viele römische Lastschiffe wie jene der anderen Seefahrer. Auch das konnte mir helfen, und so fragte ich, Wein nachschenkend: »Ihr wißt, daß dort drüben«, ich deutete auf die mächtigen Mauern und Kolonnaden des Museions, »riesige Mengen von Büchern, Schriftrollen, Zeichnungen, kurzum, eine riesige Anzahl von Erfindungen sind?« »Die Bibliothek. Sie sammeln alles, was andere wissen und kennen. Auch Paradoxia. Und sie sprechen darüber, vergleichen und hüten sich, etwas zu uns zu sagen. Wer weiß, was sie mit all der Klugheit anfangen wollen.« Paradoxographia, das war die Niederschrift von seltsamen Vorkommnissen. Wie verhütete ich, daß meine Denkanstöße auch in diesen Pergamentrollen auf Nimmerwiedersehen verschwanden? Ich erkundigte mich wieder nach dem Ungeheuer, dem Vernichter der Fische. Niemand hatte es wirklich gesehen; es gab Spuren, zehn Doppelschritte breit, tief und über jeder Art von Untergrund, vom Sand bis zum Schlamm. Nachts hatten einige Wanderer oder Hirten fünf riesige Augen gesehen. Abgebrochene Muschelschalen und Tangfetzen lagen in der Doppelspur. Alles, was bekannt war, deutete auf einen riesigen Körper hin, der wie eine riesige Schildkröte aussah und sich tagsüber niemals zeigte. An diesem Punkt der wirren Erzählungen bemerkte das Extrahirn: Vielleicht ein Wesen, das lichtscheu sein muß, weil es aus der Tiefsee kommt.
Durchaus möglich. Arconriks Einschränkungen waren logisch. Es war uns nicht möglich, jeden Fleck dieses Planeten ununterbrochen zu beobachten. War dieses Ungeheuer – ich glaubte inzwischen an seine Existenz – ein Wesen dieser Welt oder ein Eindringling, Maschine, Lebewesen oder eine Mischung zwischen beidem? »Ich danke euch für die Berichte«, sagte ich und legte eine silberne Münze auf den Tisch. »Trinkt für mein Geld. Und nun etwas anderes. Ich kenne viele Häfen, viele Menschen.« Ich entrollte die Karte. Sie zeigte mit fotografischer Genauigkeit das Binnenmeer, sämtlich Küsten und jede erwähnenswerte Struktur der Landoberfläche. Als die Kapitäne erkannten, worum es sich handelte, vergaßen sie meinen Zellaktivator und die blitzenden Juwelen. »Was zu beweisen ist«, brummte ich und legte meinen Finger auf den Punkt, der Alexandria bedeutete. »Wie bringe ich die Gelehrten dazu, ihr Wissen mit allen zu teilen?« Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht hinein, aber ich konnte aus all den Vorschlägen und Antworten nichts entnehmen, das mein Problem vereinfacht hätte. Aber als ich mich von Ramass und seinen Freunden verabschiedete, war ich mehr denn je entschlossen, das funktionierende Modell, das in der Oase angewendet wurde, auch an den Küsten des Mare mediterraneum anzuwenden. Der nächste Abend war selbst für Alexandria in all seiner Größe ein Ereignis: Zahllose Flammen spiegelten sich im Wasser des Kanals, wetteiferten mit dem Widerschein der Sterne und dem Spiegelbild des vollen Mondes. Der Weg von der Straße bis zum Portal des Hauses war ebenfalls voller riesiger Flammen. Hinter jeder Öllampe stand ein Diener, der die Gäste mit Blüten bewarf und mit duftendem Wasser besprengte. Hinter den Büschen verborgen, spielten Musiker unaufdringliche Melodien. Das Haus selbst war innen und außen strahlend
erhellt. Unter anderem durch das kalte, stechende Licht in einem Glaskolben, der oberhalb von neun zylindrischen Tonkrügen befestigt war. Leckerbissen standen auf langen, schmalen Tischen; ich hatte mich selbst darum gekümmert, daß die Speisen so angerichtet waren wie in einem karthagischen Palast. Die ersten Gäste kamen. Es waren junge Schüler der älteren Gelehrten. Es gab nur wenige Mädchen oder junge Frauen unter ihnen. Narnia begrüßte sie, und ihre skeptischen Mienen hellten sich auf. Dienerinnen, die ich aus den besten Schenken gemietet hatte, glitten umher und schenkten Wein und Bier aus. Als einer der Schüler zufällig über meine Schulter blicke und die langen Reihen der Modelle sah, zuckte er zusammen und ließ den Becher sinken. Ich tat, als sei das, was er staunend anstarrte, nicht mehr wert als Papyrusstengel vor dem Fenster und unterhielt mich weiter mit Arconrik. »Meine Sonden befinden sich nahe dem römischen Lager«, sagte er leise. »Wenn das Untier auftaucht, werde ich es mit Infrarot und im wärmeempfindlichen Bereich zu finden versuchen.« »Ich verstehe. Sind es viele Römer?« »Eine Legion, denke ich. Die Achte, wenn ich nicht falsche Informationen habe.« »Verstanden. In der Oase?« »Nichts Neues. Verblüffenderweise sprechen sie gut über uns. Wir fehlen ihnen.« Ich machte »Ts, ts« und widmete mich wieder meinen Gästen. Einige hohe Beamte des Hofes erschienen und sahen sich um. Sie betraten eine Umgebung, die ihnen fremd erscheinen mußte, obwohl wir uns in einem ihrer Häuser befanden. Inzwischen befanden sich alle Studenten in den Räumen, in denen sich die Modelle präsentierten. Sie berührten sie scheu mit
den Fingern, bliesen gegen die Windräder und sprachen schnell und aufgeregt miteinander. Narnia zwinkerte mir listig zu. Ich kannte die wenigsten Gelehrten mit ihrem Namen; Apollonius von Perga war mir ein Begriff, weil wir seine Unterhaltungen mit dem Wächter des Leuchtfeuers belauscht hatten. Die ersten Schüler entdeckten den anschließenden Raum: Dort hing, sich langsam drehend, ein Modell des Globus, den Kratos aus Mallos gezeichnet hatte. Daneben drehte sich, ohne jede Beschriftung, die Kugel des dritten Planeten, hergestellt von Arconrik und mir nach unseren Fotos und den Zeichnungen der Computer. Binnen einer halben Stunde versammelten sich die Schüler um diese Darstellungen und stellten Vergleiche an. Ich würde heute zahlreiche Lügen erfinden müssen. Endlich kam Apollonius. Er war nicht unbeeindruckt und sah sich suchend um, denn nur wir drei standen im Eingang. »Nicht nur deine Schüler, Apollonius aus Perga, staunen über die Kenntnisse der unwissenden Gelehrten aus dem Süden«, sagte ich und hob im griechischen Gruß die Hand. »Chaire. Es gibt auf dieser Welt so vieles, das wunderbar ist, und wenn ich es nicht mit grober Distanz betrachte, werden die klaren Grenzen fließend.« Ich nickte. »Je mehr von dem, was die Klugen denken und zeichnen, angewendet wird, desto besser ist es für alle. Ich habe nur einige Modelle mitgebracht, die von deinen Studenten einer leidenschaftslosen Beurteilung unterzogen werden.« Er nahm einen Becher, blickte uns deutlich weniger selbstsicher an und schlenderte in den angrenzenden Raum. Andere Männer kamen, andere Beamte, einige Boten, das Haus begann sich zu füllen. Irgendwann in der nächsten Stunde murmelte Arconrik:
»Ich habe das Ungeheuer gesehen. Es kam aus dem Wasser und zieht eine ziellose Spur durch das Land, als ob es etwas suchen würde. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Wesen wie ich.« »Aber sicher nicht so gut aussehend.« Ich lachte und beantwortete weiter die Fragen. Ich wußte, daß ich zumindest die Beamten und Verwalter mit einem einfachen Trick fangen konnte: Jede Erkenntnis der Physik oder Naturwissenschaft, die schnellere Arbeit, höheren Wirkungsgrad und somit mehr Einkünfte für Ptolemaios versprach, begeisterte sie sichtlich. Also erläuterte ich anhand der Modelle, wie einfach dieses oder jenes sei. »Bemerkenswert! Wirkungsvoll! Warum kam dieser Südländer darauf und nicht ich?« Solche und ähnliche Ausrufe schwirrten durch das Haus. Natürlich hatten wir uns entsprechend gekleidet und unser Äußeres verändert. Mein Haar war kurz, schwarz und gelockt; sie würden mich in der Oase kaum wieder erkennen. Ähnlich ungewohnt sahen Arconrik und Narnia aus. All die Wasseruhren, Dampfkessel, Berechnungen von Kalendern, Windrädern mit neuartigen Pumpen, Webstühle, Pflüge und Mühlen, begeisterten die Männer vor Alexandria. Ebenso die hübschen Mägde und das ausgesuchte Essen, nicht weniger als der Wein, das Bier und die Musik. Schließlich war ich für einige Momente mit Apollonius allein. »Komm! Ich werde dir etwas zeigen, was vor dir noch kein Lebender gesehen hat!« sagte ich, packte seinen Oberarm und zog ihn eilig die Treppe hinauf auf das Dach. »Die Aussicht über die Stadt kenne ich«, sagte er. Ich stimmte zu. »Du hättest deinen Freund Sosso Khe mitbringen sollen. Er hat einen Blick für das wirklich Wichtige. Hier: Leg dein Auge daran!«
Auf einem Dreifuß stand, in einem Kupfergelenk bewegt über zwei Achsen, ein etwa halb mannslanges Rohr. Misstrauisch stellte Apollonius den Becher ab, spähte durch die lederne Muffe und fuhr mit einem ächzenden Laut zurück. »Was… ich sehe Täler, Berge…« Ich deutete auf den riesigen, gelblich weiß strahlenden Mond, der über der Stadt hing, fett und drohend. »Betrachte das Gestirn der Selene genau«, sagte ich. »Es ist ebenso wirklich wie das Seeungeheuer. Dieses Instrument zeigt durch eine sinnvolle Anordnung von Linsen aus Glas« – was nicht stimmte, denn sie waren zum Teil aus Arconriks Kunststoff! – »das Ferne, als sei es nahe. Morgen werde ich dich überzeugen können, denn dann siehst du vertrautere Dinge.« Es war einigermaßen riskant, den Barbaren solche Dinge zu zeigen – sie besaßen keinerlei technische Möglichkeiten, den Prototyp nachzubauen. Das galt allerdings für vieles, nicht nur für ein Fernrohr. In diesem Instrument standen die Dinge nicht auf dem Kopf, sondern um hundertachtzig Grad gedreht. Unter einer Reihe von begeisterten, erstaunten und halb ängstlichen Ausrufen betrachtete Apollonius die Oberfläche des Begleiters von Larsaf Drei. Ich zog ihn langsam von dem Okular weg. »Ich bleibe lange hier«, sagte ich. »Und jetzt wollen wir nicht mehr von den Wissenschaften sprechen – nur noch eines: Vermagst du dir vorzustellen, daß alles Wissen rund um die Küsten des Meeres, das meiner Vorfahren und anderes, hier gespeichert wird? Und daß die Schulen von Alexandria nicht nur sprechen und diskutieren, sondern den Handwerkern zeigen, wie sie bauen müssen? Ich glaube nicht, daß du absehen kannst, daß auf diese Art die mächtigste Nation dieser Welt entstehen kann – der Staat des Wissens, der angewandten Kenntnisse und des guten Lebens für alle? Denk darüber nach,
ehe wir uns wieder zu ernsten Gesprächen treffen.« Sein schmales, von einem dunklen Bart umrahmtes Gesicht wurde abwechselnd bleich und rot, als wir wieder zu den anderen hinuntergingen. Er hatte das Erlebnis noch nicht verarbeitet, und als wir neben den beiden Planetenkugeln standen, gab ich ihm den letzten gedanklichen Stoß. »Du hast Selenes Gestirn so gesehen, wie du hier unsere Welt siehst, Apollonius.« Er leerte einen Becher Wein und schüttelte fassungslos den Kopf. Arconrik winkte. Sicher gab es aufregende Beobachtungen des Seeungeheuers zu melden. Narnia bewegte sich inmitten der Gäste wie ein farbensprühender Schmetterling. Die besonnten Tage, die sie erlebt hatte, strahlte sie an jeden anderen zurück. Aber was nützten die tiefen, menschlichen Erfahrungen, die ich mit dieser Tochter der Barbaren machte und glücklich darüber war? Was nützten sie, wenn sie nicht einer weitaus größeren Gruppe zugute kamen? »Die Lage wird kritischer«, flüsterte mir Arconrik zu, nachdem er ein halbes Dutzend junger Griechen mit seinen Rechenkünsten beeindruckt hatte. »Später mehr. Unsere Planung gerät durcheinander.« Ich nickte und lauschte interessiert. Eben verkündete ein königlicher Beamter mit schwerer Zunge eine in langen Jahren der Verwaltung erworbene Weisheit. »Diejenigen, o Freunde, die etwas können, tun es. Die es nicht können, lehren es. Die es weder tun noch lehren können, verwalten es.« Er rief geteilte Wirkung hervor. Die einen lachten, die anderen schüttelten die Köpfe. »Wie wir wissen«, murmelte Apollonius neben mir, »spricht er die Wahrheit aus.« Wir drei huschten durch die Menge, die immer zahlreicher
wurde, wie Fische durchs Wasser. Die angehenden Gelehrten hatten Boten zu anderen geschickt, daß es sich lohne, hier zu sein. So füllten eine Stunde vor Mitternacht nicht weniger als dreihundert jüngere und ältere Männer, allesamt in der Bibliothek und dem Museion tätig, die Räume des Hauses. Nur zwei von ihnen hatten in all den Stunden die seltsame Beleuchtung entdeckt. Jeder von uns versuchte, jene Männer dazu zu bewegen, über unser Angebot nachzudenken. Hier und heute konnten wir das Feuer nur anzünden. Möglicherweise schlugen wir auch nur den Funken. Hoffentlich war es der erste Funke für ein mächtiges Feuer, das niemals erlöschen würde! Zwei Stunden nach Mitternacht etwa war das Öl in den Lampen zu Ende. Flamme nach Flamme erlosch. Wir zahlten die geliehenen Diener aus und belohnten sie wahrhaft fürstlich – es war kein Problem, neue Münzen zu prägen. Tür um Tür wurde verschlossen. Schließlich saßen wir, drei Fremde und die fünf Sklaven, die uns Ptolemaios überlassen hatte, auf dem dicken Teppich, der über die Stufen zwischen Wohnraum und Terrasse gebreitet war. Nur noch die rote Glut des Feuers, an dem wir den Braten geröstet hatten, und vier, fünf Ölfunzeln brannten noch. Eine seltsame Ruhe erfaßte uns alle. Narnia goß Wein, mit eiskaltem Quellwasser gemischt, in unsere Becher und setzte sich, lehnte sich leicht gegen meine Schulter. »Ein Abend, der alles bedeuten kann«, sagte sie. »Eßt, Freunde, trinkt! Wir werden morgen bis Mittag schlafen.« »Ein Abend«, fuhr ich fort und sah die Spiegelungen der Gestirne in dem schwarzen, völlig unbewegten Wasser, »der vielleicht viel bedeutet. Wäre ich Herrscher, wüßte ich, was zu tun sei. Ich bin es nicht. Ich will es auch nicht werden.«
»Du bist wirklich weise geworden in all den Jahren«, bemerkte Arconrik respektlos. »Genügt es dir nicht, daß in der Oase alles so geht, wie wir es wollen?« »Das, was wir wollen, mag neu sein. Aber ist es auch für alle Menschen richtig?« warf Narnia ein. Die Stadt um uns schwieg. Es gab nur noch eine Handvoll Menschen, die nicht schliefen. Der Stein der Weisen? Ich hob die Schultern. »Ich will, daß die Bewohner dieser Welt über sich selbst entscheiden. Ich gebe ihnen die Werkzeuge in die Hand.« »Gib ihnen einen Pflug, Demetrion«, sagte zurückhaltend ein älterer, braunhäutiger Diener, »und sie schmieden Schwerter und Lanzenspitzen daraus.« »Das weiß ich«, erwiderte ich bitter. »Aber ich habe keine Macht, es ihnen zu verbieten.« Meine Erinnerungen waren lückenhaft, das wußte ich. Vieles fehlte. Aber ich hatte stets versucht, den Barbaren zu zeigen, was sie tun konnten. Kriege und Schlachten waren für mich immer ein Mittel zur Verteidigung gewesen. In den Jahren, in denen ich schlief, waren Millionen eines unnatürlichen Todes gestorben. Es gab keine Gewissheit, daß mehr Wissen das nackte Machtstreben verhinderte – das Gegenteil war richtig. Ich schüttelte die trüben Gedanken ab und packte einen gebratenen Vogel, riß ihn auseinander und biß hungrig in eine Keule. Der Wein schmeckte auf meiner Zunge plötzlich säuerlich und bitter. »Ich glaube«, murmelte ich, »dieses Seeungeheuer wird uns einige Sorgen bereiten.« »Nicht mehr heute Nacht«, sagte Narnia. »Sicher nicht. Heute feiern wir, sehr behutsam und zurückhaltend, den Anfang einer neuen Idee«, erklärte Arconrik. »Wir haben sie alle nachdenklich gemacht. Viel mehr geschah nicht. Aber es ist der erste vor dem zweiten Schritt durchgeführt worden. Jetzt kommt die Ausführung einiger Prinzi-
pien.« »Nicht ohne die Zustimmung des Herrschers oder seiner höchsten Verwalter.« Meine Gedanken waren, bereits an der Küste, beim römischen Lager. Wir aßen und tranken, bis wir müde genug geworden waren. Als wir uns in die Ruheräume zurückzogen, schliefen die Diener auf dem Teppich. Am folgenden Tag sah ich die Aufnahmen an, die Arconriks Sonden aufgefangen hatten. Sie waren nicht sehr scharf, aber sie ließen ein großes, drohendes Etwas erkennen und die riesigen Spuren. Ich kontrollierte meine Ausrüstung, verteilte die Arbeiten der nächsten Tage und ritt aus Alexandria hinaus. In der Wüste wartete Arconrik mit dem Gleiter. Wir luden die beiden Pferde ein und schwebten nach Westen. Narnia saß neben mir und suchte mit uns nach Spuren des Ungeheuers. »Es ist mit größter Sicherheit eine Maschine, ein Titane aus Stahl«, überlegte Arconrik. »Das Ding bewegt sich in der Nacht über beträchtliche Entfernungen hinweg und verbirgt sich an den Tagen.« Vor uns lagen endlose Quadratmeilen leeres Land. Weit voraus sahen wir inzwischen Kyrene um seine Getreidefelder. Sand, Felsen, die kleinen Wellen der Brandung und einzelne Zonen von Gestrüpp und kleinen Wäldern säumten die Küstenstreifen. Hin und wieder rechts von uns ein Schiff und unter uns eine Handelskarawane. »Dass es aus dem Meer stammt, wäre dafür eine Erklärung«, meinte ich zögernd. »Es ist Dunkelheit und Kälte gewöhnt.« Narnia seufzte und fragte: »Aber was sucht das Ungeheuer? Soviel wir wissen, zerstört es Dinge, die sich zufällig in seinem Weg befinden.« »Keine Ahnung«, bekannte Arconrik. »Es läßt sich nicht errechnen. Es scheint aber, daß es nicht weiß, was es eigentlich sucht.«
Seit Stunden zermarterte ich mir den Kopf, um eine phantasievolle Lösung zu finden. Wenn eine Maschine aus dem Meer kam, bedeutete es, daß dort etwas war, versteckt, in welcher Tiefe auch immer, vor dem wir uns zu fürchten hatten. Gerade diese unbekannte Gefährlichkeit beunruhigte uns. Wir kannten den Gegner nicht. Der Gleiter raste nach Westen, über die Große Syrte hinweg, auf Karthago zu. Der siebte Mond begann. Hitze und Sonnenglut herrschten über das Land. Die Nacht, in der wir rasteten, war warm und sternenklar. Ruhig weideten die Pferde auf einem winzigen Grasfleck zwischen den geduckten Büschen. Wir saßen, hoch über dem Strand, an unserem kleinen Lagerfeuer. Im Gleiter hantierte Arconrik, bereitete das Essen und kontrollierte die Sonden. Verborgen in der Dunkelheit lag Numidien, südlich von Karthago, bei Hadrumetum und gegenüber des Inselchens Cossura hatten wir zuletzt die wuchtigen Spuren des Ungeheuers gesehen. Von dort kamen die numidischen Reiter, die mit Hannibal gekämpft hatten. Wie es Arconrik ausgedrückt hatte: Diese Welt war so gigantisch, und trotz aller arkonidischen Hilfsmittel konnten wir nur winzige Ausschnitte davon kontrollieren. Unsere Informationen würden stets unvollständig sein; die Kenntnis mußte an Ort und Stelle erworben werden, durch meisterhafte Leistungen der Anpassung. Wir lehnten am offenen Gleiter und blickten auf den Bildschirm, gefüllte Becher und Braten, in Fladen eingewickelt, in den Händen. »Das ist eine der besten Aufnahmen, die ich je hatte«, sagte der Roboter und steuerte die Sonde näher heran. Schweigend starrten wir die Umrisse des Ungeheuers an. Das Licht des abnehmenden Mondes und fünf breitgefächerte Scheinwerferstrahlen von gewaltiger Leuchtkraft, deren Licht reflektiert wurde, ließen die Einzelheiten deutlicher hervortre-
ten. Es muß eine Maschine für schwere Aufgaben, Reparaturen oder Transporte in beträchtlicher Tiefe sein, sagte der Logiksektor. Die wuchtigen Laufbeine glichen denen einer hochbeinigen Spinne. Unaufhörlich verkürzten und verlängerten sich die Glieder und paßten sich dem Gelände an. Sie arbeiteten in einem verwirrenden, jedoch exakten Takt und trieben den Koloss durch ein Stück Wüste, von Felsen und Spalten durchsetzt. Der Körper stellte sich als Ellipsoid dar, an dessen horizontaler Schnittknie vorn, in tiefen Höhlen geschützt, die Scheinwerfer brannten. Ihre Lichtflut sagte uns, daß die Befeuchtung in großer Wassertiefe gebraucht wurde. Als ein weißer Felsen, vor dem das Untier suchend stehen blieb, das Licht zurückwarf, sahen wir auch die Muscheln, die Tiere, die zwischen ihnen krabbelten, die Tangfetzen und die Fäden unbekannter Wasserbewohner. Schlick, Reste von Fischen und anderes aus der Tiefe des Wassers bedeckten den Rücken, die Flanken und die dicken, obersten Teile der Laufbeine. Plötzlich öffnete sich unterhalb der Scheinwerfer ein breiter Spalt. Ein Arm schob sich nach vorn, stählerne Greifer klappten auseinander und zwängten sich in die Felsspalten. Durch den Koloss ging eine zitternde Bewegung. Dann brachen die Felsen vor ihm auseinander. Mit dem Arm räumte er die einzelnen Brocken weg, die so groß wie Menschenkörper waren. Er warf sie einfach nach rechts und links in die Dunkelheit. »Seit den ersten Tagen in der Oase«, sagte ich leise und vergaß Hunger und Wein, »spürte ich eine unbestimmte Unruhe. Jetzt weiß ich, aus welchem Grund.« »Eine gewaltige Gefahr.« Arconrik pflichtete mir bei. »Sie richtet sich gegen nichts und alles. Ungezielt. Der Gigant torkelt förmlich durch die Nacht davon.« Schweigend sahen wir zu, wie sich das Ungeheuer rückwärts
aus dem Felslabyrinth herausarbeitete, einen Haken schlug und durch einen Streifen Geröll raste, durch einen versandeten Kanal, quer durch eine Gebüschzone und in gerader Linie über Äcker und Felder eines einzelnen Gehöfts im Landesinnern. Wir mußten sicher sein, daß das Ungeheuer lief, solange es Nacht war, und beim ersten Morgengrauen würde es eine unbestimmte Stelle des Strandes erreichen und ins Wasser zurückgehen. Was auf diesem Weg lag, konnte möglicherweise getötet und vernichtet werden – dies geschah, wenn der Koloss aus der Tiefe eine Siedlung erreichte. Bisher schien hundertfacher Tod dieser Art noch nicht eingetreten zu sein. »Wir müssen versuchen, das Ding anzuhalten«, sagte ich. »Jeder Gegner ist zu besiegen, wenn man ihn erst kennt.« Kopfschüttelnd versetzte Narnia: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Arconrik oder du das Seeungeheuer unschädlich machen könnt.« Ich versuchte, ihre Sorgen zu zerstreuen. Ich lachte kurz und sagte: »Ich stürze ihn einfach in einen Vulkankrater, in kochende Lava. Das übersteht er nicht.« Aber, so erkannte ich, während ich scherzte, in einem solchen Denkansatz lag die mögliche Lösung. Ich zeigte auf den Strand. »Arconrik! Du beobachtest diesen Koloss. Morgen Nacht sind wir dort, wo er ins Meer ging. Ein wachsames Auge mußt du auch auf uns haben. Narnia und ich haben beschlossen, ein nächtliches Bad zu nehmen.« »Selbstverständlich. Schwimmt nicht zu weit vom Ufer weg.« In den folgenden Stunden spürte ich tief im Innern einen Stich, das Gefühl, daß ich Narnia vernachlässigte. Seit den ruhigen Tagen des langsamen Erwachens in der Kuppel hatten wir alle unentwegt gearbeitet, für uns und für andere. Jetzt, mitten in der schönsten Jahreszeit, rasten wir einer neuen Bedrohung hinterher. Zwar fehlte es uns an nichts, wir lebten
vergleichsweise wie die Fürsten, aber für uns selbst, für meine verständnisvolle Geliebte, war kaum Zeit. Wir reagierten und schufteten, anstatt uns der Schönheiten der Welt zu erfreuen und darüber, daß wir Menschen hatten, die uns liebten. Säuerlich bemerkte mitten im Fluss dieser Selbsterkenntnis der Extrasinn: Der Hüter des Planeten, der Sucher nach dem Stein der Weisen, hält sich nicht mit derlei Trivialitäten auf. Wir schwammen, tauchten, rannten über den Sand, und Narnia erschrak, halb wirklich, hab gespielt, vor den grotesken Formen aus Mondlicht und Schatten. Wir duschten aus unserem Süßwasservorrat, verrieben duftendes Öl aus Syracusae auf unserer Haut und liebten uns im Licht der Sterne und des Mondes. Beim ersten Morgengrauen, nach einer hastigen Mahlzeit, zogen wir die Pferde in den Gleiter zurück und starteten. Arconrik saß an den Kontrollen und brachte uns näher an das bewohnte Gebiet heran.
15. Es schien, sagte sich Sosso Khe, ein friedlicher Sommer und ein gutes Jahr zu werden. Im weiten Umkreis Alexandrias drohten keine Kriege, keine Seuchen, keine Hungersnöte. Die Felder trugen reiche Ernte. Täglich sah er mehr Karawanen und Schiffe, die sich nach dem Leuchtfeuer richteten und sicher in den Hafen gerudert wurden. Apollonius, der in den letzten Tagen selten den Turm besucht hatte, war beschäftigt: Ständig sah man ihn und seine Schüler auf großen Baustellen, in den rauchigen Hütten der Handwerker und in den Bergwerken. Dort arbeitete man an neuartigen Dingen, die allgemeines Staunen hervorriefen. Seltsame Maschinen aus Holz, Eisen und Bronze, Räder, die
mit scharfen Zähnen ineinander griffen und Kräfte sparen halfen, Hebelwerke und riesige Schöpfwerke, die Schlamm, Sand und Wasser hierhin und dorthin brachten. Sosso lag in der heißen Sonne, verrieb Öl auf seinem Körper und sah hinaus auf die See. Es wurde Zeit, daß er wieder einmal hinunterstieg in die Stadt, in die Tavernen und zu der Magd mit dem schwarzen Haar und den breiten Hüften. Er lächelte bei diesem Gedanken in sich hinein. Dann blickte er in das schlammgefärbte Wasser des Nilarms und wartete halb ungläubig darauf, das Seeungeheuer an den Strand tappen zu sehen. Es kam nicht. Noch nicht, sagte er sich und döste ein, schläfrig von einem Becher Wein und dem Sonnenlicht und der Wärme. Ich blickte dem Gleiter nach, legte meine Hand auf das breite Armband, wie um mich zu vergewissern, daß Arconrik kommen würde, wenn ich ihn brauchte. Überdies wußte ich mich im Schutz einer Robotsonde. Wieder einmal befand ich mich in einem leeren Landstrich. Alle meine eigenen Möglichkeiten waren ausgeschöpft: ausgeruhte Pferde, gefüllte Satteltaschen, eine Anzahl getarnter Waffen; ich selbst konnte sowohl als römischer Reisender wie auch als Südländer gelten. Thapsus lag hinter mir. Langsam folgte ich der Spur des Maschinengiganten. Sie führte fast mathematisch gerade nach Südsüdost, dem Meer zu. Vor wenigen Augenblicken hatten wir eine Straße gekreuzt. Sie war nichts anderes als ein schmaler Pfad, aber ich erkannte ein uraltes steinernes Wegzeichen. Arconrik brachte Narnia zurück in die Stadt. Er selbst wollte gewisse Arbeiten beaufsichtigen, die von den Gelehrten begonnen worden waren. Ich glaubte, durch geduldiges Beobachten bestimmte Schwächen des Monstrums herausfinden
zu können. Nicht im mindesten hatte ich vor, das Ding aus dem Meer zu bekämpfen. Dennoch kreisten meine Überlegungen ständig um eine unendlich tiefe Erdspalte oder um einen Vulkan, aber laut Arconrik gab es in weitem Umkreis weder das eine noch das andere. Die Doppelspur des Giganten war ein ungefährlicher, aber mühsamer Reitweg. Mein Hengst arbeitete sich prustend durch Sand, Geröll und aufgewühlte Erde, das Packtier dahinter folgte willig. Ich streckte mich in den Steigbügeln und schaute mich um. Weiter im Landesinnern gab es Nomaden und Viehherden. Hier hatte ich nichts zu befürchten. Der Koloss und ich waren allein. Ich ritt schneller. Der Pfad der Verwüstung führte auf einen Waldstreifen zu. Bisher hatte der Titan auf seiner ziellosen Suche an jedem neuen Abend unweit derjenigen Stelle wieder das Land betreten, an der er im ersten Licht des Tages im Wasser verschwunden war. Hinter dem Wald, im Osten, zeichnete sich eine helle Wolkenbank ab. Sie driftete unmerklich langsam höher und näher heran. Das Geräusch von Millionen Zikaden wurde lauter und nahm einen drohenden Ton an. Die Pferde bewegten unruhig die Ohren. Wir trabten auf den Waldrand zu, unter den Hufen knirschten Sand und feines Geröll, das in zwei tiefen Furchen wie ein Gleis auf die Stämme deutete. Dahinter erstreckte sich die Bläue des Wassers. Feine Wellen zeichneten sich ab, wenige von ihnen trugen weiße Schaumspitzen, die sich aber rasch wieder auflösten. Ich sah mich um – nichts, niemand. Ich erreichte den Wald. Die Wolken bekamen dunkle Ränder. Die Sonne stach lastend herab, die Brise, die vom Strand kam, trug heiße Luft mit sich. Als ich durch die Schneise ritt, schüttelte ich staunend den Kopf: Äste, zerborstene Stämme, Wurzeln und Büsche, Ranken und Laub waren wie zwei Mau-
ern rechts und links des Weges zusammengeschoben und aufgetürmt. Der weiche Waldboden, mit Sand durchsetzt, bildete hier eine fast ebene, geharkte Fläche. Es roch nach harztriefendem Holz. Mit Schaudern erkannte ich, welche ungeheuren Kräfte hier gewütet hatten, ohne den bewussten Vorsatz, zerstören zu wollen. Blind. Ohne Ziel. Eine Maschine, die außer Kontrolle ist. Sie rennt vielleicht schon sei Äonen durch Wasser, über den Grund und über Land, Arkonide. Vielleicht befinden sich außer deiner Station noch andere Bauwerke am Boden der Tiefsee – aber woher? Aus grauen Vorzeiten dieses Planeten, von denen niemand eine Vorstellung hat? Vielleicht hatte der Logiksektor recht. Wir vermochten es nicht zu kontrollieren. Mitten im Wald wurde es plötzlich völlig still. Das Tier unter mir versteifte sich und blieb stehen. Und dann kam von irgendwoher ein seufzender, lang gezogener Laut, wurde dunkler und drohender, schließlich steigerte er sich zu einem tosenden Brüllen. Ich duckte mich. Ein harter, schneidender Windstoß schlug uns entgegen. Hart riß ich am Zügel, rammte dem Tier die Hacken in die Seiten und stieß einen Schrei aus. In einem kantigen Galopp sprengten die Tiere entlang der Schneise auf den jenseitigen Waldrand zu. Gespannte Erwartung erfüllte die Natur. Es wurde jeden Augenblick dunkler. Die Insekten stimmten ein wütendes Summen an, die Sonnenstrahlen stachen wie Pfeilspitzen. Die Pferde drängten sich schutzsuchend aneinander. Ein Geruch der Unruhe breitete sich aus, stechend wie Ammoniak. Das Licht verwandelte sich in ein scharfes Gelb. Die Wurzeln, Stämme und Äste des Waldes rieben sich knarrend aneinander. Die Galoppsprünge wurden weiter. Vor uns schien das Meer zu kochen. Nebel bildete sich, der Wind heulte und jaulte. Hinter den niedrigen Wolken zuckte ein giganti-
scher Blitz auf, dem unmittelbar der ohrenbetäubende Donner folgte. Dann waren wir aus dem Wald heraus, die Pferde stoben mit flatternden Mähnen schräg einen steilen Abhang hinunter. Binnen ganz kurzer Zeit hatte sich alles verändert. Das Meer kochte. Breite Weilen rauschten heran und brachen sich mit zischendem Donnern am weiten, flachen Strand. Jetzt erreichte die Gewitterwolke die Sonne und fing an, sie zu bedecken. Der Eindruck eisiger Kälte wischte über das Land. Wieder ein Blitz. Es roch stechend nach Ozon. Der Donner schüttelte uns und machte mich fast taub. Die Pferde rasten über den Strand davon, nach Süden. Einige Regentropfen trafen uns wie Geschosse. Ich blickte nach links, auf die schaumbedeckten Wellen, die in ununterbrochener Folge heranrollten und den Strand hinaufzischten. Jetzt war die Sonne ganz verschwunden; ich ließ die aufgeregten Tiere rennen und duckte mich unter dem Wind und den Regentropfen. Blitze und krachende Donnerschläge kamen in rasender Folge. Nur mühsam gelang es mir, die Pferde zu beruhigen. Sand wirbelte hoch und blies unsere tief eingedrückten Spuren auseinander. Schließlich standen die Pferde, zitternd, schweißüberströmt, gelben Schaum vor den Lippen. Ich ließ mich in den Sattel zurücksinken und versuchte, einen Punkt zu sehen, an dem wir uns vor dem Gewitter in Sicherheit bringen konnten. Der unregelmäßige Wall aus Treibgut und verwesenden Meerestieren erstreckte sich zur rechten Hand bis zum Ende des Strandes, bis zu den ersten Dünen, die hinter den Regenschleiern verschwanden. Die Wellen rissen auf, keine zwei Bogenschüsse entfernt. Ich sah die Bewegung aus dem Augenwinkel und drehte den Kopf. Und da war das Seeungeheuer, der schwarze, rostige Koloss, deutlich sichtbar. Er tauchte aus dem Wasser auf; ich zog den Zügel straff und
blickte, tödlich erschrocken, auf den Giganten. Er war größer als einer von Hannibals Elefanten und tastete sich auf die Trennlinie zwischen Wasser und Land zu. Die Gliedmaßen, hydraulische Elemente aus Kugeln und Zylindern, schoben sich auseinander und hoben den urweltlichen Körper. Sechs Augen starrten uns an; fünf waren intakt, einer der runden Glaskörper war zerborsten. Der schildkrötenartige Rücken war von einer wimmelnden Masse aus Schalen, Tang und Meeresgetier bedeckt. Wasser und Schlick liefen in breiten Streifen herunter. Der wuchtige Körper schaukelte unschlüssig hin und her, gleichzeitig drohend und unsicher. Der Logiksektor fand eine Erklärung. Er denkt, es ist Nacht. Die schwarzen Gewitterwolken. Der Gigant wandte sich ab. Er senkte den Körper wieder und stürmte mit plötzlicher Schnelligkeit durch das Wasser. Die Wellen schlugen über ihm zusammen, er war in weißen Gischt gehüllt und teilte das Wasser wie der Bug eines breiten Schiffes. Als ich losritt, merkte ich, daß er ohne Mühe schneller als die trabenden Pferde war; mühelos hielt er mit uns Schritt. Mir war, als starrten mich unsichtbare Augen unverändert an. Der Sturm stürzte sich wahllos auf alles, wirbelte Sandschleier davon und riß Gisch- und Wasser los, peitschte sie gegen unsere Körper, ließ sie auf den runden Schild prasseln wie Kieselsteine. Sturm, Sand und Wasser erzeugten einen neuen, nicht gekannten Laut. Es war wie eine Säge, deren schauerliches Geräusch lauter wurde und sich immer höher hinaufschraubte. Wieder wurden die Pferde unruhig, und ich spürte bohrenden Kopfschmerz. Die Blitze blendeten uns, sie fuhren ins Wasser, um uns in den Strand, in die Bäume des Waldes und in die weiter entfernten Dünen. Inmitten dieses Aufruhrs arbeitete sich der Titan durch das Wasser, blieb kurz stehen und ver-
sank dann. Das Gurgeln dieses Vorgangs ging im Tosen der Elemente unter. Der Koloss hinterließ eine breite, auf See hinausführende Schaum- und Blasenspur, die schnell verging. Ich beugte mich tief über den Hals des Pferdes, und schließlich fanden wir einen ungeheuer großen, einzeln stehenden Baum – eine Zeder, wenn ich nicht irrte –, dessen unterste Äste sich schwer zu Boden beugten und uns Schutz gaben. Ich stieg aus dem Sattel und hoffte, der Blitz würde nicht gerade in diesen Baum fahren. Langsam rieb ich die Pferde trocken. Etwa eine Stunde lang kreiste das Unwetter über diesen Strand. Der Regen fuhr mit dichten Schleiern gleichmäßig im Landesinnern über die Gräser und die Felder. Die Blitze und der Donner verzogen sich sehr langsam. Nur zögernd wurde es heller, und als schließlich die Wolken nach Westen weitergetrieben wurden und die Sonne hervortrat, begann das feuchte Land zu dampfen. Ich lehnte mich an den feuchten Stamm und schaltete das Funkgerät ein. »Arconrik! Folgendes ist passiert…« Ich berichtete, wo ich mich befand, in welche Richtung ich weiter ritt, und was ich gesehen hatte. Der Roboter bestätigte die Eindrücke weitestgehend, aber die Sonde hatte den Fremdling aus dem Meer nicht beobachten können. Ich schaltete ab, nachdem ich erfahren hatte, daß das Gebiet südöstlich von meinem Standort bewohnt war. Ich studierte die Karte, das farbige Höhenfoto. Ich entschloss mich, mein Nachtlager nahe einem schmalen Wasserlauf aufzuschlagen, auf einem niedrigen Hügel. Von dort hatte ich möglicherweise einen guten Blick auf die Palisaden und Wachtürme des römischen Lagers. Der Bach floss durch das breite Tal eines Flusses, der nur nach starkem Regen anschwoll. Vielleicht, sagte ich mir, wählte der Koloss in der kommenden Nacht seinen unerklärlichen Weg durch sein ei-
genes Element oder wenigstens in der Nähe von Wasser. Ebenso gut konnte er aber auch an einer ganz anderen Stelle an Land kommen, falls der Koloss wirklich das Meer verließ. Ich führte die Pferde unter dem Baum hervor, sicherte nach allen Seiten und schwang mich in den Sattel. Zweimal vergewisserte ich mich, daß der Packen rechts hinter meinem Oberschenkel richtig befestigt war. Dort, an drei breiten Lederriemen, hing mein Fluganzug, besser ein breiter Gürtel mit Steuerung und Schwebeaggregat. Das Gewitter tobte sich in der Ferne aus, im Westen. Dort endeten die bewohnten und fruchtbaren Bereiche der Küste, und dort begann die riesige Wüste im Norden des Kontinents, den die Römer Africa nannten. Ich ritt durch die Landschaft Numidien, durch das Land der nomadenhaften Reitervölker. War ich allein? Ich sah niemanden, aber vielleicht beobachteten mich viele Augenpaare. Doch die Vogelschwärme wurden nicht aufgescheucht, die Tiere blieben ruhig. Die Sonne stand im Nachmittag, die Schatten wurden länger. Ich ritt in gemächlichem Tempo auf den Hügel zu, der sich deutlich vor dem Horizont abzeichnete. Halbrechts davon, noch weiter entfernt, stiegen mehrere dünne Rauchsäulen in die Luft. Es waren die Feuer der Römer. Es gab keinen Weg. Die Pferde trabten durch hüfthohes Gras, über Sand und Geröll, hinunter in das weite, seichte Flussbett und über Vegetationsinseln, am Rand von Weideflächen vorbei, auf denen kleine Herden ohne Bewachung zu sehen waren. Ich erreichte den Fuß des Hügels, als die Sonnenscheibe sich rot zu färben begann, trieb die Pferde den Hang hinauf und sattelte ab. Mit langen Leinen band ich die Tiere an einen Baumstamm; sie konnten sich frei bewegen und in Ruhe weiden. Ich hatte einen hervorragenden Platz ausgesucht. Vom südlichen Rand des Hügels sah ich hinunter in das abgestufte Bachbett. Mehr
als fünfzehn Bogenschuss weit hatte ich in diese Richtung freien Blick. Ich sprach kurz mit Arconrik. Dann steckte ich die vier Pfähle der Warnanlage um einen Lagerplatz in den Boden. Zwischen den Baumstämmen gab es wenige Spuren; rußgeschwärzte Steinbrocken um Feuerstellen und säuberlich abgenagte Knochen. Ein paar Tiere, hasenähnlich, mit übergroßen Ohren, flohen mit riesigen Sätzen. Nachdem ich Wasser, Essen und Wein ausgepackt hatte, versteckte ich sorgfältig den Sattel. Die Pferde bekamen Wasser und Körnerfutter; ich kontrollierte Hufe und Fesseln, beseitigte Schmarotzer und trug Salbe und Puder auf abgeschürfte Stellen auf. Dann verbarg ich mein Flugaggregat in den dichten Zweigen über mir. In einem der Steinkreise entzündete ich ein Feuer, nachdem ich trockenes Holz zusammengetragen hatte. Solange es hell war, sah niemand die Flammen, und mein Feuer erzeugte fast keinen Rauch. Zwischen zwei Ästen spannte ich eine Hängematte aus, lehnte Lanze und Schild gegen den Stamm und suchte mit dem Fernglas die Umgebung ab. Am äußersten Ende des Flusstales konnte ich das Meer erkennen. In guter Ruhe bereitete ich meine Mahlzeit über der Glut, trank einen Becher heißen Würzwein und lauschte auf die Geräusche des hereinbrechenden Abends. Abgesehen von dem rätselhaften Koloss aus der Meerestiefe erschienen mir meine selbst geschaffenen Probleme durchaus lösbar. Wenn erst einmal die Mächtigen begriffen hatten, daß ein Mehr an Kenntnissen ihnen half, würden Teile dieses Wissens auch an die einfachen Menschen weitergegeben werden. Aber es mußten Anwendungen gelehrt werden – für einen simplen Gegenstand wie eine Schere oder Zange ebenso wie für die Armillarsphäre mit Visier. Selbst ein intensives Nachdenken über den Versuch, den zweiten Planeten zu erreichen, erschien nicht mehr sinnlos und undurchführbar.
Unmerklich vergingen die Stunden. Ich nahm einen brennenden Ast und aktivierte die Sensoren der Warnanlage. Die Feuer des römischen Heerlagers konnte ich schwach erkennen, trotzdem hörte ich keinen Laut aus dieser Richtung. Ich wartete weiter, wurde müde und rief Arconrik. Wir konnten keine Neuigkeiten austauschen. Immer wieder blickte ich nach Osten zum Mündungsgebiet des fast wasserlosen Flusses. Auch dort konnte ich keine Lichtstrahlen erkennen. Also wartete ich weiter, die Waffen in Griffweite, voller unruhiger Gedanken und Zweifel. Die Dunkelheit war voller Nebelschleier, die aus den nassen Pflanzen aufstiegen, voller Geräusche unzähliger Tiere, von Knacken, Knistern und Schreien erfüllt. Ich lag in der Hängematte, blickte nach Osten und hielt meine Augen nur mit Mühe offen. Die Pferde schliefen im Stehen und schüttelten sich ab und zu. Das Singen der Grillen wurde leiser, schwoll an, ging wie in einzelnen Wellen hierhin und dorthin. Noch einmal riß mich der Klang eines hellen Blasinstruments in die Wirklichkeit zurück. Schließlich schlief ich ein und vertraute darauf, daß mich der Extrasinn aufwecken würde. Ich wurde, irgendwann, mit brutaler Plötzlichkeit wach: Ein rasender Schmerz im linken Schultergelenk ließ mich aufstöhnen. Ich kam zu mir und fand mich halb aus der Hängematte herausgerutscht. Hinter mir wieherten Pferde. Über meinem Kopf fuhr mit einem scharrenden Krachen ein Speer in den Baumstamm. Ich schrie vor Wut auf, tastete mit der Rechten an den Dolchgriff und ließ mich zu Boden fallen. Ich blickte zwischen Pferdeläufen hindurch. Überall waren Pferde und Reiter. Die Warnanlage gab stechende Blitze aus hellgrünen Lampen und ein durchdringendes Summen von sich, bis ein Hieb ein Teil zerschmetterte. Ein Pferdehuf trat ins Feuer, die Glut spritzte auseinander, und Holz und Blätter loderten hell auf. Hinter den Bäumen kam eine Schar Reiter heran, die lo-
dernde Fackeln schwangen. Du bist verletzt, zischte der Logiksektor. Ich duckte mich an einen Stamm. Mein Handrücken war voller Blut, meine Schulter schmerzte höllisch. Ein Reiter kam auf mich zugeprescht; er hatte mich im Licht der Flammen gesehen. Ich hingegen sah, daß das unterarmlange Stück eines abgebrochenen Pfeiles in meiner Schulter steckte. Ich warf mich zur Seite, als der Reiter im Licht auftauchte und mit einem kurzen, schlanken Speer nach mir stach. Fast in einem Reflex betätigte ich den Auslöser des Strahlers. Der Schuss röhrte auf und warf den Reiter aus dem Sattel. Er überschlug sich in der Luft und fiel vor meine Füße. Ich gewann für einen Moment die Herrschaft über meine Muskeln und versuchte zu flüchten. Überall um mich herum sah ich die schlanken Gestalten numidischer Reiter. Einer von ihnen zerrte gerade die schweren Satteltaschen der Ausrüstung hinter sich her, ein anderer zog das Lasttier am Zügel. Wieder dröhnten zwei Schüsse auf. Aus der Dunkelheit schwirrte ein Steinbrocken heran und traf mich an der Brust. Klirrend brach ein Teil der Verzierung des Amuletts ab, darunter funkelte der Aktivator. Einige Reiter preschten durch die Büsche den Hügel herauf. Es war ein großer Trupp Numidier, der mich überfallen hatte. Ich rang nach Luft und sprang zwischen den Stämmen, am Feuer vorbei, ins Dunkel. Ich stolperte über einen reglosen Körper, ein Pferd kam von rechts und schleuderte mich nach links zu Boden. Im gleichen Moment traf mich ein harter Schlag zwischen die Schulterblätter. Vor meinen Augen tobten Blitze, ich fühlte, wie meine Knie weich wurden. Ich stürzte zu Boden. Ich hörte, wie der Logiksektor etwas schrie, aber ich verstand es nicht mehr. Ich weiß nicht, wie lange ich zwischen Wurzeln, Büschen und Pferdehufen lag. Ich kam zu mir. An mehr als einem halben Dutzend Stellen schmerzte mein Körper wie von riesigen
Brandwunden. Vor und hinter mir gellten aufgeregte Schreie. Aus den Kehlen der dunkelhäutigen Reiter drangen Gelächter und bewundernde Rufe. Sie rissen an den Verpackungen meiner Ausrüstung. Ich holte Luft, meine Lungen und die Knochenplatte schmerzten und schienen rasselnde Geräusche von sich zu geben. Ich tastete an den Gürtel – und erstarrte vor Schreck. Ich war ausgeplündert worden. Meine Kleidung war blutgetränkt. Ich stemmte mich in einer gewaltigen Anstrengung, die mir den Schweiß aus allen Poren trieb, auf die Knie und tastete nach dem langen Dolch im Innern des linken Stiefels. Mit großer Erleichterung spürte ich den Griff und zog die Waffe. Niemand beachtete mich in diesen Augenblicken. Von meiner Stirn tropfte Blut auf meine Knie. Ich zog den Dolch, bewegte den Schalter und zielte schwankend und mit zitternden Fingern. Ich blieb in der Finsternis und feuerte viermal, sechsmal; nur zufällig trafen die aufdonnernden Schüsse. Die lachenden und schreienden Männer brachen zusammen. Eine Gruppe der Plünderer war schon den Hügel hinuntergeritten und entfernte sich; ich erkannte mit tränenden Augen zwei oder vier zuckende Fackeln und die Mähnen der Pferde. Dann sah ich, wie andere Plünderer aufsprangen. Speere wirbelten durch die Luft. Wieder wieherten Pferde. Ich schwankte hin und her und hörte fremdartige Stimmen. Das Feuer begann zu brennen, aber die Flammen schienen in der Luft anzuhalten, wurden heller, gelber und leuchteten mir ins Gesicht. Ich schloss die Augen und zielte auf die schwankenden Schatten der Nomaden. Ich sah, wie sich das Licht auf schweißnassen, braunen Oberkörpern und Schenkeln brach, schoß halb besinnungslos und von Schmerzen gefoltert auf die Bewegungen. Ganz plötzlich gab es vor mir einen wilden Chor aus Stimmen. Sie wurden immer lauter und schriller. Dann entfernten sich die seltsamen Laute, die mit mehrfachen Echos in meinen Ohren hallten. Ich brach zum zweiten Mal zusam-
men und schlitzte mir, ohne es zu spüren, den rechten Unterarm auf. Der letzte Eindruck, ein seltsames und phantastisches Bild, das mit der Realität nichts mehr zu tun hatte, war eine Lichtfülle. Sie kam direkt auf mich zu und ging von fünf riesigen, weißen Augen aus, die hoch über mir auf einem elliptischen Körper thronten. Das Bewußtsein schwand. Ich spürte keinerlei Schmerzen mehr. Der Tod schien jetzt sehr nahe. Ich phantasierte im Fieber. Mit aller Kraft versuchte ich, Klarheit über meine Lage zu bekommen. Ich hatte die Augen geöffnet und lag auf dem Rücken. Zwischen den gezackten Blättern der Bäume erkannte ich die Sterne. Nacht also! Meinen Körper hatte eine Lähmung befallen, die ich nicht bezwingen konnte. Tief in meinen Gedanken wurden die einzelnen Worte und Erinnerungsbilder einer deutlichen, drängend mahnenden Stimme lauter und forschender. Ich konnte mich ihnen nicht entziehen. Ich bin dein Extrasinn! Du stirbst, Arkonide Atlan, wenn du nicht alles zur eigenen Rettung versuchst. Numidische Räuber hatten meine Spuren gesehen und mich überfallen, verwundet und ausgeplündert. Ich spürte das Pochen und Brennen in zahlreichen Wunden überall am Körper. Jede Bewegung rief Wellen jäher Schmerzen hervor. Ich stöhnte und ächzte und murmelte sinnlose Worte. Immerhin konnte ich sprechen. Ich vermisste etwas; die pulsierenden Ausstrahlungen des lebensrettenden Amuletts. Sieh nach! Mühsam tastete ich nach meiner Brust, nach meinem Hals. Plötzlich verschwanden die Sterne. Ich vereiste in tödlichem Schrecken. Der Zellaktivator war verschwunden. Verkrustetes Blut markierte die tiefe Schürfwunde am Hals. Die Räuber hatten das Amulett mitsamt der Kette herunterge-
rissen. Ich schrie vor Entsetzen leise auf, überwand meine Schwäche und drehte mich herum. Ich kam zitternd auf Knie und Hände, zog mich hoch und packte einen Aststumpf. Mit halbblinden Augen sah ich mich um. Alles drehte sich. Triebhafter Lebenswille stützte mich; ein hirnloser Zwang, der stärker war als mein körperliches Vermögen. Es ist nicht das erste Mal, daß du diesen Schwingungsaktivator suchen mußt, erinnerte mich der Logiksektor. Bis zum heutigen Tag fandest du ihn immer wieder. Das Feuer rauchte, Holz verbrannte darin und mein prächtiger Mantel. Zwei oder drei Fackeln waren zu Boden gefallen, hatten Gräser entzündet, und nun leuchteten die Flammen kleiner Feuer. Rings um mich lagen Männer wie tot, zwei Pferde, deren Kehlen durchgeschnitten waren – nicht meine Tiere! Der Hengst kam herbeigetrottet und blieb mit gesenktem Kopf neben mir stehen. Das Weideseil war durchgeschnitten. »Das Lager der Römer«, sagte ich. »Arconrik. Ich muß…« Beim Klang der Stimme hob das Tier den Kopf und wieherte. Dann wandte es sich herum, tänzelte zu einem Busch und kam, während ich die Schaltungen des Armbands richtig zu betätigen versuchte, wieder zurück. Es zerrte den Sattel heran, mit den Zähnen in den Riemen! Arconrik meldete sich nach welligen Herzschlägen. Ich schilderte meine Lage, stockend, nach Worten ringend, keuchend und von kaltem Schweiß überströmt. Er hatte binnen kürzester Zeit das richtige Programm entwickelt und riet mir, die Zeit richtig zu nutzen. Ich versprach es ihm; an die anmeßbare Eigenstrahlung des Aktivators brauchte ich ihn nicht zu erinnern. »Nicht aufgeben, Gebieter!« rief er. »Reite zu den Römern! Sie werden dir helfen! Denke an den Siegelring Scipios!« »Genau das… werde ich versuchen. Ich lasse das Gerät eingeschaltet.«
»Handle rasch, Atlan! Gebrauche einen römischen Namen! Atlan Arconis, beispielsweise.« »Ja. Ich versuche, lebend dort anzukommen.« Ich ließ den Arm fallen, als gehöre er nicht zu mir. Dann hob ich unter entsetzlichen Mühen, ständig aufmunternde Worte murmelnd, den Sattel auf den Rücken des Hengstes. Ich brauchte lange und machte zahlreiche Fehler, bis der Sattel schließlich richtig festgeschnallt war. Das nächste Problem. Ich fand den offenen Weinsack, der jedoch so auf einem abgebrochenen Speerschaft lagt, daß ein Drittel des Inhalts nicht ausgelaufen war. Ich nahm einen langen Schluck, noch einen, dann geriet mir der stechende Rauch in Augen und Nase, und ich mußte würgend husten. Der Anfall raubte mir einen Teil der Kräfte und rief neue Schmerzen hervor, aber die Anstrengung schien gleichzeitig meine geistige und körperliche Beweglichkeit zu steigern. Wenn auch nur für kurze Zeit. Auch den Wasserschlauch fand ich. Sie hatten ihn achtlos weggeworfen. Ich suchte und fand Ausrüstungsgegenstände und stopfte sie wahllos in die geleerten Satteltaschen. In einem Innenfach meines Wamses entdeckte ich den perfekt gefälschten Ring mit den Zeichen der Scipionen-Familie, befeuchtete ihn mit Speichel und schob ihn über einen Finger der rechten Hand. Ununterbrochen sonderten meine Augen salziges Sekret ab; ich sah alles durch einen wohltuenden dünnen Schleier. »Das Packpferd…?« brummte ich. Jeder Vokal, jeder Konsonant rief in meinem Schädel einen Laut hervor, der zugleich an das Echo einer Höhle und an einen Hieb auf den Kopf erinnerte. Ich tappte durch das Halbdunkel, suchte nach dem Pferd, hob meinen Schild hoch und hängte ihn an den Sattelknauf, fand meine schwere Lanze, mein Schwert im Durcheinander des Überfalls hatten die Numidier die Waffen übersehen. Ich schnallte das Schwert um und bedauerte, daß sie meinen Gürtel und die Dolche gestohlen hatten. Unmerklich ging die
Nacht in den Morgen über; das Licht wechselte, die Sterne verschwanden, und der Mond versank im Meer. Meer! Das Ungeheuer! Ich hatte einen verschwommenen Eindruck von Licht und knackenden Geräuschen in meine Besinnungslosigkeit hinübergerettet. Hatte dies etwas zu bedeuten? »Hüte dich vor der Hitze der Sonne, Arkonide«, murmelte ich im Selbstgespräch. Ich sammelte zusammen, was ich fand, hängte Weinschlauch und Wassersack zum Schild an den Sattelknauf und blieb immer wieder, von Müdigkeit und Erschöpfung übermannt, taumelnd stehen, um einen Halt bemüht. Drei Tage hatte ich Zeit. Innerhalb dieser Frist mußte der Zellschwingungsaktivator gefunden werden. Ich verdrängte meine Gedanken an Narnia und konzentrierte mich auf die nächsten Schritte meines Vorhabens: Ich mußte den Feldscher dieses Lagers lebend erreichen. Der abgebrochene Pfeil, den ich nicht herauszureißen wagte, wippte auf und nieder und erzeugte bei jeder Bewegung reißenden Schmerz. »Sinnlos. Alles ist zu ersetzen«, sagte ich mir und tappte mit den Bewegungen eines Volltrunkenen zurück zu meinem Schwarzen. Ich klammerte mich an seine Mähne und versuchte mindestens ein halbes dutzendmal, in den Sattel zu steigen. Schließlich saß ich taumelnd auf dem Rücken des Pferdes und zog am Zügel. Die Trense war nicht eingehängt, aber ich riskierte es nicht, noch einmal abzusteigen. Nicht einmal ich ahnte, wo ich die Kraft hernahm. Ich ritt in die Richtung, aus der ich gekommen war. Das sensible Tier spürte, daß ich mehr tot als lebendig war. Nach vierzig Schritten sah ich, daß sich vom Flussbett herauf bis fast zur Kuppe des bewaldeten Hügels die breite Doppelspur heraufzog, kurz vor den ersten Bäumen wieder abschwenkte und nach Südwest weiterführte.
»Der Koloss!« flüsterte ich erstaunt. »Also doch! Der Gigant aus der Tiefsee war heute Nacht hier.« Ich sah die Strahlen vor mir. Das Erscheinen des Kolosses hatte die Numidier in die Flucht geschlagen und mich gerettet. Welch eine makabre Ironie! »Mein Weiterleben ist wichtiger«, sagte ich. Die ersten Strahlen der Sonne zuckten über die Landschaft. Ich orientierte mich und ritt auf das Lager zu. Als ich den Abhang hinunter ritt und mich dem Vermögen des Rapphengstes überließ, sah ich am Horizont die ersten Rauchfahnen der Lagerfeuer. Dann begann ein fast aussichtsloser Ritt. Ich hatte Unmengen von Blut verloren. Ständig trank ich Wasser und den restlichen Wein. Immer dann, wenn der Hengst schneller wurde – er spürte, daß sein Reiter mit dem Leben kämpfte –, sackte ich im Sattel zusammen. Wille, Verstand und Hoffnung arbeiteten zusammen und versuchten, mich überleben zu lassen. Wie lange brauchte Arconrik, um von Alexandria hierher zu kommen? Ein Effekt, den ich in den langen Jahren meines Lebens immer wieder kennen gelernt hatte, trat ein und wurde deutlicher, je mehr ich mich von dem Hügel entfernte und den zugespitzten Palisaden und Holztürmen näherte. In den Augenblicken der tiefsten Erschöpfung sah ich so scharf und klar wie nie zuvor. Im Schlagschatten der Todesfurcht wurden alle Unsicherheiten und all jene kleinen Fragen völlig unwichtig. Ich ritt dahin, fand im grellen Licht der aufgehenden Sonne einen schmalen Pfad und kippte im Sattel nach vorn, raffte mich wieder auf und brachte das Tier auf den richtigen Weg. Jetzt war ich überzeugt: Ich würde überleben. Der Feldscher dieser unbekannten römischen Legion, die sich wegen Karthago in diesem Gebiet befand, würde Wunden dieser Art richtig behandeln können. Arconrik würde die Numidier verfolgen und meinen Zellaktivator finden.
Die Landschaft begann sich zu verändern. Abwechselnd war mir glühend heiß und eisig kalt. Die Felsen und die Dünen änderten ihr Aussehen. Sträucher und Büsche wurden durchsichtig. Die Schatten verwandelten sich in Zungen gewaltiger Schwärze, die andere Teile des Landes zu verändern begannen. Die Luft flirrte vor meinen Augen; der beginnende Tag schien einer der letzten dieses Planeten zu sein. Immer wieder glaubte ich, hinter mir das spinnenbeinige Ungeheuer auftauchen zu sehen, mit eingeschalteten Scheinwerfern und gierig ausgestreckten Werkzeugen an hydraulischen Armen. Ich verlor jeden Begriff für Entfernung und Zeit; schwankend zwischen Hellsichtigkeit, Erschöpfung und Bewusstlosigkeit schleppte ich mich weiter. Es war ein schieres Wunder, daß ich nicht aus dem Sattel kippte und zu Boden schlug. Die Wunden brachen immer wieder auf und bluteten. In meinem Magen bildete sich ein steinharter Klumpen. Wieviel Stunden waren von der endgültigen Frist schon abgelaufen? Irgendwann dachte ich: mein Flugaggregat! Die Sonne beherrschte alles, ließ mich schwitzen, verbrannte meinen blutverkrusteten Nacken, warf einen blendenden Schein auf diese Barbarenwelt. Der Weg wurde zu einem Pfad voller Qual, der sich durch das Land wand wie eine wahnsinnige Schlange. Alle Werte lösten sich auf: Sorgen, Erbarmen und der Impuls, den Bewohnern dieser gewalttätigen Welt zu helfen, wurden völlig bedeutungslos. Wieder verlor ich das Bewußtsein. Ich phantasierte im Fieber. Abermals fand ich mich wieder, staubbedeckt, von Qualen erfüllt, neben den Vorderhufen des Rappen. Ich kam auf die Füße. Mit irren Augen blickte ich nach rechts und links. Irgendwo berührte eine gigantische Kugel aus Rot und Orange den Horizont. Irgendwo erkannte ich einen Graben, einen Wall, die altersbraunen Stämme der Palisaden. Ich packte den herunterhängenden Zügel und zog mich am schweißigen Leder hoch, am
Hals und an der Mähne dieses erstaunlichen Tieres, klammerte mich schließlich am Sattel fest. Der Hengst schritt weiter und wandte immer wieder den Kopf. Wir schlichen auf das Tor des Lagers zu. Eine Ewigkeit später – das Licht war blutrot und hässlich geworden -kamen Männer in Rüstungen und Waffen auf mich zu. »Ich bin… Atlan Arconis… Freund von Scipio Africanus. Hier… der Ring. Ich verblute. Bringt mich zu eurem Arzt. Mein Freund wird mich suchen und finden. Ein Bärtiger. Arconrik… schnell!« Ich spürte und fühlte nicht, wie ich zusammenbrach, wie mich römische Legionäre aufhoben. Nach einer ungewissen Zeit, in der sich eine Reihe von völlig im Nebel verschwindenden Eindrücken abwechselte, merkte ich, daß meine Zunge dunklen Wein schmeckte. Ein Gesicht beugte sich über mich. »Ich bin Donatus Scorra. Feldarzt der Achten Legion.« Herzschläge oder Tage später: Ich lallte: » Hippokrates. Sein Eid. Ich schwöre bei Apollon, dem Arzt, und Asklepios… zum Heil der Kranken anwenden, dagegen nie zu ihrem Verderben und Schaden… hilf mir, Donatus.« »Sei still! Deine Wunden sind versorgt. Trink diese heiße Suppe!« »… dann möge ich von meinem Leben und meiner Kunst Segen haben«, murmelte ich weiter, den Eid des Hippokrates zitierend, des Griechen, an dessen Regeln sich alle Ärzte halten sollten. Wieder versank ich in Bewusstlosigkeit. Aber meine Schmerzen waren vergangen. Mein Körper war kühl und entspannt. Vielleicht hatte man mir ein Gift eingeflößt, das wie ein Rausch alles unempfindlich machte. Ich fühlte tastende Finger, Schnitte von schlecht geschärften Messern, hörte leise Worte, fühlte Salben, warme, heiße und kalte Tücher, Bewegungen, sah Personen… alles drehte sich unaufhörlich, und plötzlich
war ich nicht mehr in dieser Welt. Alles hörte auf. Ich war wehrlos und jedem ausgeliefert. Und es gab keinerlei Orientierung mehr – nichts, an das ich mich halten konnte. Hinter meinen geschlossenen Lidern zeichneten sich die drei Flämmchen von Öllampen ab. Ehe ich die Augen öffnete, horchte ich in mich hinein. Unzählige Stellen meines Körpers schmerzten, aber es waren die Wirkungen heilender Wunden. Tief in der Schulter, rechts in Magenhöhe und zwischen den Schulterblättern aber gab es Schmerzen, die von zerbrochenen Knochen, tödlichen Entzündungen und zerrissenen Muskeln sprachen. Ich holte tief Luft und atmete auf; meine Lungen schmerzten nicht. Aber der Herzschlag ging rasend schnell. Ich hatte kein Fieber, der Anfall war vorüber, und ich fühlte mich schwach, aber meine Gedanken waren klar. Ich öffnete die Augen und schaute mich um. Ich befand mich im Innern eines großen Zeltes. Ein bärtiger Mann saß hinter einer Tischplatte und hob, als ich ihn anblickte, den Kopf. »Das Schlimmste ist vorbei, Arconis«, sagte er mit rauer Stimme. »Deine Wunden waren schlimm. Aber noch habe ich deinen linken Unterarm nicht entfernt.« Ich hob den linken Arm. Mit nicht geringer Verwunderung sah ich, daß meine Binden und Klammern benutzt worden waren. Der Arzt erklärte, während er aufstand und näher kam: »Eine Pfeilspitze steckt unter dem Schulterblatt. Fleisch und Muskeln im Arm sind bloßgelegt. Der Knochen, der zur Schulter führt, ist gebrochen; eine eiserne Halbmondpfeilspitze, wie sie Numidier verwenden, steckt abgebrochen tief darin. Der Splitter einer hölzernen Lanze steckt unter deiner Leber und hat sich unter die Haut zurückgezogen. Ich wagte nicht, zu schneiden.«
Meine Erinnerungen kehrten zurück. Die Aufzählung der Wunden war eine Liste, die an Gefährlichkeit nicht mehr zu überbieten war. Leise fragte ich: »Du bist Donatus Scorra?« Als ich die Hand hob, blickten wir beide auf den funkelnden Ring mit dem kunstvoll geschnittenen Stein. »Das ist mein Name. Ich kämpfte unter, Publius Cornelius Scipio, den wir Africanus nennen. Rom hat ihn in die Verbannung getrieben. Woher kennst du ihn? Ich frage, denn du bist kein Römer aus Rom.« Ich brachte ein vages Lächeln zustande. Abermals waren meine Idee und Arconriks rechnerische Kontrolle richtig gewesen. Jeder Legionär in Africa liebte Scipio den Älteren und dessen Freunde. Ich log nicht viel. »Ich traf ihn mehrere Male. Zuletzt bei Zama oder Naraggara und, nach seinem Sieg, in Lilybaeum. Ich rettete ihm das Leben, denke ich. Ich bin ein Gelehrter, der durch die Welt zieht und das Wissen der Völker sammelt.« Das Sprechen erschöpfte mich weniger als ich befürchtet hatte. Jetzt sah ich die Instrumente des Feldarztes. Sie waren auf einem mäßig sauberen Tuch ausgebreitet. Eiserne, kupferne und bronzene Messer mit schartigen, aber haarfein geschliffenen Schneiden, Zangen und Sägen. Mich schauderte. Sie waren vermutlich von Keimen verseucht wie eine Kloake. Dennoch zweifelte ich nicht an der Kunst des Scorra. »Immer wieder geschehen Überfälle«, erklärte Donatus. »Masinissas Krieger haben keine Arbeit.« Ich nickte. Wo war der Zellaktivator? Wo war Arconrik? Ich mußte hinunter in die Tiefseekuppel zu – den Spezialmaschinen, natürlich zusammen mit Arconrik und dem Gleiter. Langsam fügten sich einzelne Teile eines Planes zusammen, aus reiner Verzweiflung entstanden. Ich winkte; Donatus hob meinen Oberkörper und stützte ihn mit primitiven Kissen.
»Aus Gründen, die schwer zu begreifen sind, muß ich weg«, sagte ich. »Mein Freund Arconrik kam nicht zu dir?« »Nein. Ich wüßte es. Du bringst dich aber mit Sicherheit um, wenn du das Lager verlässt.« »Ich weiß, was ich tun muß. Gib mir das Armband aus Leder und Metall, das ich hier trug, Donatus. Lasse meinen Rappen satteln, nimm ein Pferd und komm mit mir. Ich werde dir Dinge zeigen, die besser und wunderbarer sind als meine Binden und Salben dort.« Ich zeigte mit dem Finger auf die Tasche, die meine ärztliche Notausrüstung enthielt. Er schüttelte den Kopf. Dann fragte er, was ich vorhatte. Ich erklärte es ihm in groben Zügen. Er kämpfte mit sich, dann aber, als ich weiter sprach, sprang er über seinen Schatten. Er verließ das Zelt, sprach mit den Wachen und kam zurück. Schließlich mischte er aus Wein und allen möglichen Pülverchen einen Trank, den ich schlucken mußte. Ich sagte ihm, was er weiterhin zu tun hatte, und es gelang uns, die Hochdruckspritze mit einem schmerzbetäubenden, aufputschenden Medikament zu laden und einzusetzen. Mühsam zog ich mich an, nahm das Wichtigste an mich und gelangte, auf Donatus gestützt, ins Freie. Ich sah die Sterne, die Stellung des Mondes und wußte, daß bis zur Dämmerung noch genügend Zeit war. Langsam schloss ich die Schnallen, mit denen das Funkarmband am Handgelenk befestigt wurde. Ich reichte Donatus Scorra eine meiner Fackeln. Die Lagergassen waren durch wenige Öllampen mäßig erhellt. »Wir reiten drei Stunden lang«, sagte ich. »Du mußt dafür sorgen, daß ich einen bestimmten Hügel erreiche. Habe ich dein Vertrauen?« »Ohne Vertrauen hätte ich schwerlich sechs Stunden lang mit deinen Wunden gekämpft.« »Ich werde dir in angemessener Form danken«, versprach ich und ließ mich von zwei verwunderten Wachen in den Sat-
tel heben. Der Rappe riß den Kopf hoch; das Tier war gepflegt und richtig geschirrt und gesattelt worden. Wir ritten langsam bis zum Lagertor. Ich registrierte zahlreiche Eindrücke, die mich normalerweise interessiert hätten. Nicht jetzt – ich konzentrierte mich auf mein Überleben. Wenige Schritte vor dem Tor setzte die Wirkung meines Medikaments und des Rauschtranks Scorras ein. Ich begann mich stark und kräftig genug zu fühlen, einen Gewaltritt durchzuführen. Wir ritten in die Finsternis hinaus, und ich griff nach Scorras Fackel. »Erschrick nicht. Sie ist hell, sehr hell.« Ich riß den Zünder und gab sie ihm zurück. Kalkweiß flammte die Brennladung auf. Ich entzündete auch meine Fackel, hielt sie hoch. Ihr Licht reichte 20 Schritte weit und war hell wie der Tag. »Los! Schnell! Die Tiere halten es aus!« rief ich voll falschem Überschwang und gab die Zügel frei. Scorra folgte mir, vor Erstaunen fluchend. Als ich einen kleinen Vorsprung hatte, schaltete ich das Gerät ein und befahl unterdrückt: »Gut. Ich versuche, meinen Fluganzug anzulegen, und fliege los. Du hast einige Aufgaben, bevor du mir folgst.« »Ich höre.« »Bring mit Donatus Scorra die Pferde zum Lager zurück. Sprich mit den Soldaten wie einer von ihnen. Gib ihnen Geschenke, damit sie meinen Rappen gut behandeln, bis ich zurückkomme. Dann nimm Donatus mit dem Gleiter zur Unterwasserkuppel mit. Andere Vorfälle in der Zwischenzeit sind zweitrangig. Im Augenblick fühle ich mich wohl. Ich bin aber schwer verwundet.« »Verstanden. Ich werde gegenüber den numidischen Reitern wenig rücksichtsvoll vorzugehen haben.« »Tu’s, wie du es für richtig hältst«, sagte ich. Das Prusten und die Geräusche der Pferdehufe machten das Gespräch für
Scorra unverständlich. Ich erkannte auf seltsame Weise die Einzelheiten des Weges wieder, den ich in halber Bewusstlosigkeit zurückgelegt hatte. »Wieviel Stunden vergingen seit dem Überfall?« fragte ich weiter. »Achtundzwanzig und etwas darüber.« Somit hatte ich eine Gnadenfrist von weniger als zwei Tagen. Aber es konnte sein, daß trotz der Medikamente und der Pflege des Feldschers mich die Entzündungen und die Wunden selbst töteten, noch ehe der wieder gefundene Aktivator seine Wirkung entfalten konnte. Wieder flackerte Panik in mir hoch, trotz des rauschhaften Zustands, in dem ich meine letzten Widerstandskräfte verbrauchte. Von hinten schrie der Arzt, der wie ich die Galoppsprünge in den Steigbügeln nicht abfedern konnte, weil er ohne richtigen Sattel ritt: »Du bringst dich um! Deine Wunden brechen wieder auf.« »Du hast recht«, gab ich über die Schulter zurück und zog am Zügel. »Aber ich spüre nichts.« »Bald spürst du alles doppelt schmerzhaft.« Wieder rief ich Arconrik. Der Entschluss, ihn in dieser für einen Robot faszinierenden Verkleidung auf die Oberfläche des Planeten mitzunehmen, war bisher niemals ein Risiko gewesen und jetzt für mich lebensrettend. »Ich nutze die letzten Stunden der Dunkelheit aus. Du wirst mich finden, der Gleiter ist schneller. Stehst du mit Narnia in Verbindung?« »Selbstverständlich. Ich habe soeben die Medorobots aktiviert. Sie warten sozusagen bereits, zusammen mit den anderen Einrichtungen.« »Gut. Mach weiter – ich melde mich wieder.« Wir ritten in einem Kantergalopp weiter, der die Kräfte der Tiere und meinen Körper schonte. Der schwarze Hengst hatte, bei einem Tier, das eine Unmenge Fluchtreflexe besaß und
sonst nicht gerade mit tierischer Intelligenz gesegnet war, mehr als ungewöhnlich, ein überaus feines Gespür für die Verfassung seines Reiters. Er bemühte sich tatsächlich, im weichen Gras neben dem hartgestampften Pfad zu laufen. Langsam ließen meine Muskeln in Knien und Oberschenkeln nach und begannen zu vibrieren. Aber der Hügel kam näher; die Bäume zeichneten sich schwarz gegen das allererste vage Licht, die verblassenden Sterne und den sinkenden Mond ab. Schweigend ritten wir in gnadenloser Helligkeit weiter. Ich hatte den Dolch zu einer tödlichen Waffe geschaltet und in den Stiefelschaft gesteckt. Seit Verlassen des Lagers scheuchten wir vor und neben uns unentwegt Tiere aller Art auf. Ich sah nur flüchtige Bewegungen und riesige, strahlende Augen, die sich auf uns richteten. Mit einer letzten Anstrengung zwangen sich die Tiere den Hang aufwärts, und ich glitt neben den Resten des Feuers und zwischen den regungslosen Körpern aus dem Sattel. Mein erster Blick galt dem Versteck. Der Logiksektor meldete sich mit einem aufgeregten Kommentar. Das Aggregat ist da. Vergiß nicht – du könntest besinnungslos mit vollem Antriebsschub aufs Meer hinaustreiben! Ich fand eine Lanze und holte das Paket zwischen den Zweigen hervor. Donatus Scorra tappte mit hocherhobener Fackel mitten durch das Chaos. Die Brände waren im nassen Unterholz ausgegangen. Es roch nach kaltem Rauch, Verwesung, Blut und Schweiß. Ich packte die Gürtel, Riemen und kastenförmigen Elemente aus. Donatus kam auf mich zu und fragte heiser: »Diese Männer… du hast gegen so viele gekämpft?« »Ja. Hilf mir bitte. Hier, diese Schnallen.« Er rammte die Fackel neben meine in den Boden und fingerte an den ungewohnten Verschlüssen. Ich erklärte halblaut:
»Wenn ich fertig bin, nimmst du bitte die Pferde und die Fackeln und reitest auf das Lager zu. Mein Freund wird dich einholen. Er heißt Arconrik und sieht aus wie…« Ich sagte ihm, was in den nächsten Stunden geschehen würde. Von meinen Erklärungen schien er nicht sonderlich beeindruckt zu sein, aber der Umstand, daß ich mein Pferd in guten Händen wissen wollte, sagte ihm offensichtlich, daß er mir vertrauen konnte. Ich schloss: »Du und Arconrik werdet ein Boot besteigen und mich bald treffen. Hab keine Furcht – du wirst seltsame Dinge sehen. Lerne daraus! Schenke dein Vertrauen auch Arconrik. Er ist der beste Freund, den ein Mann haben kann.« Ich schaltete das Flugaggregat ein. Winzige Leuchtfelder begannen zu glühen. Es funktionierte also! Aber noch hob ich nicht ab. Donatus nickte mehrmals, dann fragte er: »Wann kommt dein Freund?« »Nach Sonnenaufgang. Vielleicht triffst du ihn in deinem Zelt. An deiner Stelle würde ich jetzt reiten.« Er schwang sich auf den Rücken seines Pferdes. Ich gab ihm die Zügel des Rappen und sprach beruhigend auf das Tier ein. Scorra hob die Fackel, die ich ihm in die Hand drückte, und zog am Zügel. »Am Abend haben wir uns wieder getroffen!« sagte ich mit Bestimmtheit. Noch immer wirkten die Medikamente. »Merkwürdige Dinge geschehen in diesem Land«, brummte er, schwenkte die knisternde Fackel und ritt langsam aus der winzigen Lichtung hinaus. Ich blickte ihm nach und hob dann meine Lanze auf, die ich abseits der auseinander gerissenen Vorräte gefunden hatte. Sie war eine außerordentlich wirkungsvolle Waffe. Eine Schaltung, eine Bewegung des Steuerhebels, und ich schwebte senkrecht nach oben. Die leuchtende Kennung des eingebauten Kompasses wies mir die Richtung, in der ich
langsam davonglitt. Ich stabilisierte den Kurs, steckte meine rechte Hand durch die Schlaufe der Lanze und rief wieder Arconrik. »Ich schwebe nach Westnordwest. Hast du den Aktivator?« »Es dauert nur noch Augenblicke. Ich habe Hunderte Krieger betäuben müssen.« »Donatus Scorra wartet auf dich. Er reitet mit brennenden Hochleistungsfackeln auf das Lager zu.« Ich konnte mir vorstellen, wie Arconrik im Schutz der Dunkelheit über das Lager der Numidier hereinbrach, aus seinen Waffen die lähmenden Strahlen kegelförmig abfeuerte und alles, was auf die Beine sprang, niederwarf. Dann suchte er zwischen Hunderten von Bewusstlosen nach demjenigen, der diese Beute an sich gerissen hatte. Noch schaltete ich das kugelförmige Feld nicht ein, das auch den Fahrtwind fernhielt. Ich wartete eine Weile. Hinter mir zeichnete sich der erste graue Schimmer des Morgens als weiche Linie über dem Meer ab. Zwei Schiffe mit schlaffen Segeln erkannte ich undeutlich. Als das erste Sonnenlicht erschien, meldete sich Arconrik. Er gab seiner Stimme einen beruhigenden Tonfall. »Sie haben die Verzierungen des Amuletts abgebrochen«, sagte er. »Aber ich halte Kette und Zellschwingungsaktivator in der Hand.« »Ausgezeichnet!« sagte ich. Die Erleichterung ließ mich fast zusammensinken. »Ich nehme direkten Kurs auf den großen Felsen, an Steuerbord der Säulen des Melkart.« »Solltest du dort vor mir sein, warte! Riskiere keinen Flug über das Meer!« »So schnell fliege ich auch wieder nicht«, sagte ich und wußte, daß ich den wirklich großen, befreienden Schritt zu meiner Rettung miterlebt hatte. Ich aktivierte das Schutzfeld und steigerte die Geschwindigkeit, gleichzeitig steuerte ich höher hinauf.
Und auf diese Weise glitt ich als funkelnder Punkt hoch über dem Land dahin, links von Karthago vorbei, auf die Küste zu und auf die Meeresenge. Die Trennlinie zwischen nebligem Halbdunkel und Sonnenlicht überholte mich mit der Geschwindigkeit der steigenden Sonnenscheibe. Die ungeheure Anspannung machte sich jetzt bemerkbar. Die euphorische Wirkung ließ jäh nach; ich schnappte nach Luft, meine Augen schlossen sich für immer längere Zeiträume. Die Vision, wie ein seltsamer Satellit mit eingeschaltetem Antrieb eine römische Meile hoch den Globus zu umrunden, ängstigte mich. Ein überraschender Gedanke tauchte auf. Ich verhielt mich in manchen Dingen wie ein Bewohner dieses Planeten, nicht wie ein arkonidischer Kristallprinz. Offensichtlich färbte die Umgebung ab, offensichtlich begann ich, in den Kategorien der Barbaren zu fühlen und zu denken. Der Flug ging weiter, eine ziemlich lange Zeit hindurch, in der es heller und wärmer wurde. Ich hing in den Gurten des Flugaggregats und versuchte, nicht einzuschlafen. Die Schmerzen kehrten zurück. Dies hatte zumindest ein Gutes: es hielt mich wach. Irgendwann quäkte der Lautsprecher des Armbandgerätes. »Arconrik hier. Ich habe alle Arbeiten erledigt. Scorra ist bei mir. Ich habe dich auf dem Ortungsschirm und komme näher.« »Setz die Geschwindigkeit herauf«, krächzte ich voller Qualen. »Ich halte es nicht mehr lange aus.« »Ich komme, Demetrion-Atlan-Arconis.« Unter mir bewegte sich eine riesige Wolke von Flamingos. Die Bewegungen der Schwingen riefen seltsame Farbspiele hervor. Die Tiere flogen nach Norden. Ich jagte über sie hinweg, drosselte die Geschwindigkeit und sah tatsächlich den gigantischen Felsen schräg vor mir auftauchen. Mit letzter Kraft steuerte ich darauf zu. Abermals verging eine nicht kon-
trollierbare Menge an kostbarer Zeit. Ich hatte Schwierigkeiten, zu landen und blieb endlich stehen, mit zitternden Beinen, schweißüberströmt, die Augen verschleiert. Alles drehte sich um mich. Ich brach hundert Herzschläge, bevor Arconrik landete, auf dem grasbewachsenen Plateau des Gipfels zusammen und erwachte erst wieder in der Tiefseekuppel. Bevor die Narkose der Maschinen zu wirken begann, hörte ich mich den Namen Narnias rufen. Nach meinem langen, tiefen Schlaf erzählte Rico: Es sprach für die geistige Gesundheit dieses Barbaren-Mediziners, daß er die folgenden Ereignisse in gelähmter, schweigender Ruhe mit ansah. Zuerst zitterte er, als der Gleiter abhob, dann beruhigte er sich, als wir hoch über dem Wasser dahinrasten, er nickte, als er meine Unterhaltung mit dir hörte, und er half, dich in den Gleitersitz zu betten. Er erschrak, als das Wasser über dem versinkenden Gleiter zusammenschlug. Jetzt war er hier, in steriler Kleidung, und wir sahen zu, wie die Roboter dich operierten. Du, mein Gebieter, warst tief bewußtlos. Der Zellschwingungsaktivator lag auf deiner Brust. Ich betrachtete die Monitoren und rechnete die Wahrscheinlichkeit und den Erfolg einer zusätzlichen Operation aus, und ich kam zu einem klaren Entschluss. Ich rief in den Operationsraum: »Donatus Scorra. Ich sehe, du lernst mit großen Augen, was ärztliche Kunst wirklich bedeuten kann?« »So ist es«, brummte er, während die Robots Knochensplitter zusammenfügten, haarfeine Nähte legten und jede einzelne Wunde mit Biomolplast verschlossen. »Es ist wunderbar. Alles ist wunderbar, Arconrik. Ich habe tausend Fragen.« »Ich werde fast alle beantworten«, entgegnete ich. »Nimm das goldene Ei, das auf der Brust unseres Freundes liegt, und bring es mir hierher. Ich bitte dich.«
»Sofort!« Mein Blick ging hinüber zu einer der geschwungenen Wände unserer Anlage. Dort, in vier übereinander angeordneten Reihen ungleich großer Fächer oder Nischen, lagen zahlreiche Gegenstände. Erinnerungsstücke von der Barbarenwelt. Wenn ich wieder allein hier warten würde, konnte ich die Daten und die näheren Umstände dort anbringen – soweit ich selbst mich daran erinnerte beziehungsweise die Informationen in den Speichern fand. Der römische Arzt kam durch die Mikrobenschleuse und reichte mir den Aktivator. »Diese eisernen Diener«, sagte er mit vor Staunen rauher, flacher Stimme, »sie sind geschickter als jeder Arzt, den ich je sah.« »Sie hatten genügend Zeit, alles zu lernen«, sagte ich. »Und sie sind schneller als jeder lebende Mensch.« Natürlich hielt er mich für seinesgleichen. Ich entfernte mit einem Spezialwerkzeug Aufhänger und Kette vom Aktivator. Dann ließ ich das Gerät in ein Gefäß voller keimtötender Flüssigkeit fallen und gab es Scorra. Er verstand. »Ich bringe es den Maschinen. Du willst, daß sie es unter den alten Narben in seinen Körper versenken?« »Ich erkenne, daß du ein guter Arzt bist!« bestätigte ich. »Es eilt. Sie sind fast fertig.« Natürlich stand ich mit den hochkomplizierten Hilfsmaschinen in ständiger lautloser Funkverbindung. Jetzt drehten sie dich, Atlan, behutsam auf den Bauch und behandelten die Wunde unterhalb des Schulterblatts. Du warst an eine Versorgungseinheit angeschlossen. Ich übermittelte meinen Befehl und erhielt fast in Nullzeit die Bestätigung. Dann drehte ich mich herum und kontrollierte die Bildschirme. Narnia. Es war Abend in Alexandria. Wachen sicherten das Haus. Narnia saß im riesigen Wohnraum und sprach mit Apol-
lonius von Perga, mit Diodor, Eudoxos und anderen. Sie diskutierten gerade das Problem, daß man Maschinen brauchte, um Maschinen erzeugen zu können. Apollonius hatte die Idee einer »Urmaschine«. Problemlose Situation also… Die Oase: Beilarx und Nabor Thet befanden sich in unserem Haus, die Arbeiten gingen wie gewohnt weiter, und im Moment trafen sich – wie wir es vor langer Zeit mehr gedacht als geplant hatten – kleine Gruppen auf dem schattigen, lieblichen Platz zwischen den Häusern. Es wurde deutlich, daß sie auf uns warteten. Besonders auf dich, Atlan, der ihnen fabelhafte neue Dinge versprochen hatte. Auch hier keine Probleme. Die Sonde, die ich über dem fraglichen Gebiet kreisen ließ, hatte die Spuren des Seeungeheuers verfolgt. Sie kamen aus dem Meer, führten entlang des Rinnsals weit ins Land hinein und bogen plötzlich im rechten Winkel ab. Die Doppelspur, die den Boden tief aufgewühlt hatte, erreichte den Abhang des Hügels und ließ dort erkennen, daß der Koloss auf der Stelle gedreht hatte und denselben Weg parallel zu den ersten Spuren, zurück ins Meer genommen hatte. Ich versuchte, aus den bekannten Orten, an denen das Ungeheuer aufgetaucht war, aus den ermittelten Zeitabständen (sie waren sehr ungenau) und aus den daraus errechenbaren Wegen herauszufinden, welche Richtung der Koloss jetzt auf seiner unsinnigen Wanderung einschlagen könnte. Es waren nur Schätzungen. Ich benötigte mehr Rechenzeit für mehr Alternativen. »Sie fangen an, Arconrik.« Die Stimme des Arztes, der zwischen den summenden und klickenden Robots stand und, die Hände auf dem Rücken, mit steigender Faszination ihrem Arbeiten zusah, erforderte meine gesamte Kapazität an Aufmerksamkeit. Ich kontrollierte das Geschehen. Die Robots hatten deine Wunden und Abschürfungen im gesamten Rückenbereich versorgt, einschließlich eingezogener
Splitter und eines gebrochenen Nagels. Jetzt öffneten sie das Hautgewebe unterhalb der Brustknochenplatte und versenkten den Aktivator in die weichen Schichten aus subkutanem Fett und die Muskeln über deinem Nabel. Die Analysen sagten, daß ein Arkonide diese Operation und die dauernde Implantation des Aktivators problemfrei überstehen würde. Möglicherweise würdest du mir Vorwürfe machen, wenn du erwachen würdest – nach fünfzig Stunden. »Sie beenden es auch, Donatus.« Eine Stunde später lag dein Körper wieder auf dem kühlen, harten Lager. Es gab nur wenige Pflaster; die Solarlampen badeten den rosafarbenen Überzug aus pseudolebendigem Bioplast, von dem die Wunden überzogen waren, im heilenden Licht. Du wurdest mit genau bemessenen Dosierungen mit Plasma und allen nötigen Nahrungs- und Aufbaustoffen versorgt. Donatus Scorra setzte sich neben mich und wischte mit dem Mundschutz den Schweiß von seinem Gesicht. Ich beschloss, auch jetzt schulend und lehrend zu bleiben. »Sieh her. Dies sind Keime, kleiner als feinste Sandkörner. Sie sind ums Tausendfache und mehr vergrößert.« Ich erklärte ihm das Wesen von Bazillen und Viren, zeigte sie ihm in den Vergrößerungen, erläuterte ihr Vorhandensein und die Wirkung in Wunden, schilderte, wie man sie vernichtete und so Wundbrand, Entzündungen und Geschwüre erst gar nicht entstehen ließ. Schweigend sah er alles, begriff vieles und sagte schließlich, daß er künftig seine Messer in kochendem Wasser oder in hellen Flammen frei von Keimen halten wollte. »Du bist nicht müde?« Scorra lachte plötzlich, nickte und brummte: »Keine Frage. Jetzt merke ich es selbst, daß ich Durst und Hunger habe und müde bin… deine wunderbaren Dinge haben mich nicht daran denken lassen.«
Ich projizierte in einem der kleineren Aufenthaltsräume das Innere eines Zeltes, ließ Einrichtung aus dem Fundus bringen, die etwa den Bedürfnissen eines Zeitgenossen entsprach, und auch das Essen, reichlich und abwechslungsreich, entnahm ich wie den Wein aus unseren Vorräten. Zwei Stunden später herrschte wohltuende Ruhe, und ich konnte mich auf die notwendigen Arbeiten konzentrieren. Ich konstruierte zunächst die kombinierbaren Teile der »Urmaschine«, suchte aus den Vorräten und Magazinen die verloren gegangenen Ausrüstungsgegenstände und allerlei Material heraus und machte einen Plan, wie dem Koloss wirkungsvoll beizukommen war. Die Medorobots berechneten, daß du, Atlan, insgesamt dreizehn volle Tage warten müsstest, bis du wieder völlig geheilt wärst. Ich rechnete aus, daß ein Schiff rund dreizehn Tage brauchte, um von Karthago nach Alexandria zu gelangen. Der Gigant aus der Tiefsee war mit Sicherheit schneller, schwimmend oder über den Meeresgrund laufend. Wir suchten den Stein der Weisen. Die Suche war langwierig und schwierig, das Ziel lag im Dunkel. Während Donatus Scorra und du tief schlieft, arbeiteten die Einrichtungen der Überlebenskuppel ununterbrochen und produzierten, was ich programmiert hatte. Und von ES noch immer keine Nachricht. Kurz vor Mitternacht sprach ich mit Narnia und beruhigte sie.
16. Inzwischen handelte das Tagria: Der Koloss verarbeitete alle neuen Eindrücke. Sie waren zahlreich. Aber es war nicht sicher, daß es die Informationen richtig verwendete, ihrer Bedeutung gemäß. Es gab nach wie vor Wasser, das Element, in
dem sich das Tagria souverän bewegte. Ein kurzer Aufenthalt im anderen Medium, der Luft, schadete nicht viel. Während die wichtigen Einrichtungen unter Wasser sich nicht bewegten (wie die zahllosen Lebewesen im Wasser), eilten auf dem harten Land andere Lebewesen hin und her und taten sinnlose Dinge. Folgerung: Je näher sich das Tagria an diese Wesen heran begab, desto mehr Informationen würde es erhalten. Der Koloss war tief im Innern seiner Denk- und Rechenapparaturen sicher, daß er an einer bestimmten Stelle oder durch die Massierung neuer Informationen einen Sinn für seine weitere Existenz erfahren würde. Die Suche danach dauerte schon zu lange. Das Tagria brauchte einen Befehl. Es würde diesen Befehl irgendwo und irgendwann hören, verstehen und ausführen. Bis zu diesem Zeitpunkt mußte es sich den Weg bis zu diesem Punkt bahnen – was immer die Folge war. Das Tagria bewegte sich weiter, auf eine Position zu, an der es viele Lebewesen erahnte. Als ich aufwachte, die wunderbar kühle Luft roch und die bekannte Umgebung mit dem ersten Blick wieder erkannte, wußte ich, daß man mich gerettet hatte. Auf den Monitoren, die über dem Fußende meines Lagers hingen, sah ich Narnia, Donatus und Arconrik. Meine Armbeuge war mit einem dünnen Schlauch an den Düsen der Versorgungsanlage angeschlossen. Ich lag nackt auf dem Lager, meine Haut war scheinbar unversehrt. In diesem Augenblick schwebte ein würfelförmiger Robot heran, während sich die Solarlampen herunterschalteten. Arconriks Stimme sagte von irgendwoher: »Willkommen, Mann der vielen Namen, unter den Wiederbelebten. Versuch nicht, aufzustehen.« Mein zweiter Blick, während mich der Robot mit einer weichen, weißen Decke wärmte, galt meiner Brust. Ich vermisste den Zellaktivator. Arconrik bemerkte voll maschinenhaft un-
gewollten Humors: »Die Medorobots und ich haben den Aktivator diebstahlsicher untergebracht. Taste unterhalb der Brustknochenplatte über den Magen.« Ich drückte mit den Fingerspitzen und fühlte, etwa eine Fingerbreit unter der Haut dem glatten, warmen Schutzgewebe, den eiförmigen Gegenstand. »Ein vorzüglicher Einfall. Deiner?« fragte ich. »Ja. Selbst Donatus Scorra war einverstanden.« Arconrik informierte mich schnell. Über einen Bildschirm glitten die verschiedenen Gegenstände, die wir mit zur Oberfläche schleppen würden. Ich wußte, daß der Robot niemals Fehler machte, aber bei bestimmten Werkzeugen und Teilen wie Zahnrädern, Umlenkrollen, Schrauben und ähnlichem Zubehör stutzte ich dennoch. Auch das war vorausgesehen worden. Die Erklärung: »Du wirst den Aktivator in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr zur Unterstützung deiner medizinischen Großtaten verwenden können. Die von dir bemerkten Einzelteile ergeben die ›Urmaschine‹, arche-organon, die unser skeptischer Freund Apollonius zu erfinden gedenkt.« »Ich bin überwältigt, tecton Arconrik!« sagte ich verblüfft. »Nun, wir werden es bald erleben. Die Robots haben wohl einige Arbeit gehabt?« Offensichtlich hörte Donatus Scorra zu, denn Rico erwiderte: » Weniger als du meinst. Scorra hat fast alle Wunden hervorragend versorgt. Nur mit der Asepsis war er leichtfertig. Ich habe ihn belehrt.« »Und ich habe verstanden.« Scorra lachte rauh. Also doch. Mein Logiksektor faßte zusammen und erklärte: Diesmal war es sehr knapp. Du hast dich zu weit in die Gefahren hinausgewagt. In deinem Alter sollte man vorsichtiger und gemessener reagieren.
»Wie wahr. In ›unserem‹ Alter«, brummte ich. Ich fühlte mich prächtig, aber voller Nachdenklichkeit erinnerte ich mich an die Geschehnisse der letzten Tage. Ich verlangte laut nach Wein und kräftigem Essen und nach meinen beiden Freunden. Kurz darauf verschwand die Pipette der Schlauchverbindung aus meinem Arm, und die zwei Männer kamen herein, gefolgt von einer Schwebeplattform mit den Schüsseln, Pokalen und Krügen. Ich hatte Donatus Scorra anders in Erinnerung, aber auch hier schaltete sich Arconrik ein. »Ich habe ihn überreden können, sich den Maschinen anzuvertrauen. Er riskierte es, nachdem er sah, wie sie dich zusammennähten. Im Augenblick ist er wohl der sauberste und frischeste Römer von ganz Numidia.« Haar und Bart waren modisch gestutzt. Die Gesichtshaut war rein und von alten Pickeln und kleinen Narben befreit, glattrasiert und mit duftendem Öl eingerieben, ebenso die Arme und Beine. Scorra trug kostbare Kleidung mit Purpur und Goldfaden-Mustern, edle Sandalenstiefel, einen breiten, weichen Gurt mit einer herrlichen, vergoldeten Schließe, einer gefüllten Börse. Seine Oberarme zierten breite Goldreifen; kostbare Ringe steckten an seinen Fingern. Er sah fast verlegen aus, als er mir einen halbgefüllten Pokal gab. Ich blickte ihn offen an und sagte ehrlich: »Ich versprach, dir zu danken. Ohne dich würde ich nicht mehr leben. Du hast sicher noch Wünsche, Donatus?« Robots brachten Sessel herbei. Donatus und Arconrik nahmen an meinem Lager Platz. »Nur eines, wenn ich nicht unbescheiden sein will: Ich sah blitzende Instrumente in den seltsamen Fingern der summenden Eisenmenschen. Mit solchem Werkzeug könnte ich noch mehr helfen, Arconis.« »Verstanden. Mit Gebrauchsanweisung – und einem Gerät, um sie steril zu halten«, versprach Arconrik. »Später.«
»Nichts sonst?« erkundigte ich mich und trank. Ich schwor mir, wenigstens denen in der Oase beizubringen, wie guter Wein hergestellt und durchgegoren gepflegt werden mußte. Scorra schüttelte den Kopf, dann wagte er zu sagen: »Die größte Belohnung wäre, wenn ich euren Erzählungen lauschen und dabei lernen könnte. Ihr kennt so unendlich viele Geheimnisse. Ein Menschenleben wird zu kurz sein, um sie alle auch nur zu erkennen.« »Besonders in Zeiten des Krieges«, meinte ich. Neun Tage lang – unterbrochen von den wenigen Minuten, in denen Narnia allein war und ich mit ihr sprechen konnte – nahm uns die Routine in Anspruch. Ich kräftigte meinen Körper, Scorra erhielt eine zusammenrollbare Tasche voller fein gearbeiteter Instrumente; Skalpelle, Zangen, Messer und Nadeln, dazu Salben und diejenigen Rezepturen, die er mit den Mitteln der heutigen Zeit nachvollziehen konnte; wir riskierten es sogar, ihn mit Hypnoschulung in größere und tiefere Kenntnisse einzuweihen und bedauerten schon hier und jetzt, daß die erbarmungslose Zeit sein Wissen auslöschen würde. Dann beluden wir den Gleiter mit einer gewaltigen Menge Ausrüstung und verließen die Kuppel in der Tiefe des Okeanos. Unser Weg führte uns nach Numidia; wir schafften es mit allerlei Finten, Donatus Scorra in das Lager zurück und meinen Rapphengst aus den Ställen herauszuschaffen, ohne ungebührliches Aufsehen zu erregen. Der Schwarze rammte mich vor Freude in den Sand der Lagerstraße. Der Abschied von Donatus war kurz; tiefbewegt umarmten wir uns. Römische Reiterei begleitete uns bis an den Strand. Wir hoben den Gleiter, als es dunkelte, aus den Wellen und jagten nach Alexandria. Auch dort landeten wir in tiefer Nacht und senkten das »Boot« sacht in das stille schwarze Wasser des schmalen Kanals. Ich rannte ins Haus und schloss Narnia in meine Arme. Ich war wohl doch noch nicht ganz erholt,
denn meine Knie zitterten. Was immer folgen würde, was auf uns zukommen mochte in den Jahren nach dieser Nacht – es konnte nur angenehm sein. Und hilfreich für alle Menschen, uns eingeschlossen. Uns, die wir Fremdlinge waren zwischen all den Barbaren. »Es ist später Sommer, Herr, und jedermann spricht von euch. Könnte es auch sein, daß die Kapitäne der zahllosen Schiffe dieses neue Wissen in alle Städte der Küsten bringen?« Ich zog die Schultern hoch und musterte den Türmer. Auf seine Weise war er klüger als jemand wie Apollonius. Er erkannte das Problem ohne Umschweife und sehr pragmatisch. Er kannte nicht die feinen Unterschiede zwischen den Kasten derjenigen, die wußten, und der anderen, die in dumpfer Knechtschaft gehalten wurden. Obwohl er nur der Hüter des Leuchtturm-Feuers war, stand Sosso auch sonst über den meisten Dingen. »Es kann seine«, sagte ich. »Aber die Kapitäne sind Seeleute. Keine Männer, deren Geschäft die Belehrung ist.« »Schade.« Der heiße Wind Chamsin, der aus der Wüste kam und riesige Sandwolken nach Norden schleppte, wehte über der Stadt. Narnia und ich waren zum erstenmal hier auf der Plattform des Turmes. Falken und Mauersegler jagten um uns herum und stießen gellende kurze Schreie aus. Es war, als befänden wir uns inmitten eines dichten Nebels. Die Stadt unter uns schien nicht mehr zu existieren. Unsere Haut hatte inzwischen einen tiefen Bronzeton angenommen. Ich fragte in aller Offenheit: »Was denkt man über uns in der Stadt, o Türmer des Feuers?« »Nicht leicht zu sagen. Die einen denken dies, die anderen jenes.«
»So wie immer und überall«, meinte Narnia melancholisch. »Aber wer denkt und sagt was?« Die Antwort überraschte uns, obwohl wir sie hätten ahnen können. Der Türmer, der beide Bevölkerungsgruppen kannte, sagte bedächtig, jedes Wort abwägend: »Die Mächtigen fördern das Neue. Sklaven und Handwerker schaffen es. Die Mächtigen nehmen sich, was sie brauchen. Sie werden reicher und mächtiger, die Unfreien haben nichts davon. Sieh die Bibliothek. Hast du je erlebt, daß Apollonius einem Arbeiter erleichternde Hinweise gegeben hat? Je mehr sie schwitzen, die Kleinen, desto besser leben die Großen. Deswegen bleibt’s immer so. Jahrhundert um Jahrhundert. Ich weiß es. Und du weißt es auch, Demetrion.« Wir blickten schweigend hinaus in den gelben, dunstigen Himmel. In das kleine Gerät, das Stimmen und Worte fraß, sprach Narnia: Sie waren beide auf ihre Art von unnachahmlicher Sturheit. Arconrik ließ die Hütten der Handwerker am Kanal teilweise niederreißen und wiederaufbauen. Ein Brennofen entstand, Wohnräume für andere Handwerker, die wir in der Stadt ausgesucht hatten. Wie auch in der Oase gewöhnten Arconrik und Demetrion die Arbeiter an neue Maße, neue Techniken, überraschende Lösungen. Selbst ich staunte. Sie mauerten aus gebrannten Ziegeln geschwungene Bögen, entwickelten Meßlatten mit eingekerbten Linien, brannten Röhren für Wasser mit identischen Steckverbindungen, kauften Eisen und lehrten die Schmiede, es richtig zu bearbeiten. Eine große Halle entstand, daneben ein dreifach mannshohes Rad, das wie ein Käfig geformt war. Der Eifer der Fremden steckte jedermann an; Demetrion schuftete halbnackt und schien an allen Stellen gleichzeitig zu sein. Eine lange Kette hatte sich zwischen dem schwebenden Boot
und dem neu gebauten Handwerkerhaus gebildet. Seltsame Gegenstände wurden ausgeladen und von allen ehrfürchtig kommentiert. An der Achse aus Holz und Eisen, die sich in ölgefüllten Lagern fast ohne Geräusche drehte, wurde ein großes Rad befestigt. Die Schmiede brauchten lange, um gewisse Befestigungsteile herzustellen, die Holz mit Eisen verbanden. Andere Räder und Achsen folgten, und schließlich drehte sich, wenn ein Pferd innerhalb des Rades lief und dieses bewegte, innerhalb des Saales eine lange Achse. Noch erkannte niemand, was die Fremden mit dieser Anordnung bezweckten. Weiter ging es, die Arbeiten machten gute Fortschritte. Sand und Wasser wurden in Hohlmaßen gemessen, die neue Namen erhielten. Man mauerte Sockel für noch unsichtbare Geräte. Holz und Metall und der Lehm für Tonarbeiten wurden herangebracht. Die Schmiede hämmerten jeden Tag und schufen nach unseren Vorlagen seltsame Werkzeuge und Teile. Auf einer schwarzgefärbten Holzplatte zeichnete Demetrion einzelne Muster, rechnete mit Zahlen, erklärte den Handwerkern und ihren Helfern, aus welchen einzelnen Schritten die Arbeit bestand. An einem der folgenden Tage erschien Apollonius mit sieben seiner Schüler, wie immer mit hochgezogenen Brauen und zweifelndem Lächeln. In einem hellen Raum mit einem Boden aus hartgebrannten, glänzenden Ziegeln befand sich die UrMaschine, jenes Ding, mit dem man arbeitserleichternde Dinge herstellen konnte – natürlich, wie Arconrik ausgeführt hatte, eine unendlich einfache Form davon. Sie sollte die konstruktive Phantasie der Gelehrten und Handwerker beflügeln, sagte Demetrion… was immer das bedeutete. »Ihr wollt mir zeigen, wie das Wissen aus den Pergamenten und Papyryi der Bibliothek in Fortschritte des Handwerks umgeformt werden kann?«
Demetrion nickte voller Gelassenheit und gab ein Zeichen. Das Laufrad setzte sich in Bewegung, die Hufe des Pferdes tappten auf dicken Binsenbündeln. Zähne an hölzernen und eisernen Rädern, dick mit Fett bestrichen, griffen ineinander. Von der langen Achse, die sich zu drehen begann, liefen breite Lederriemen. Arconrik und ein paar der besten Handwerker begannen nun, auf feststehenden Achsen Räder, Griffe, eiserne Klauen einzusetzen, befestigten ein schenkellanges Stück Holz quer dazwischen, das sofort wie wild zu drehen anfing. Ein eisernes Werkzeug wurde angelegt, ratternd flogen Späne davon, kleine Holzsplitter und immer weißer werdende Teile, die sich lustig aufdrehten und rollten. Das Holz bekam Schritt um Schritt eine andere Gestalt; es bildeten sich feine Rundungen, Einbuchtungen und geschweifte Formen. Schließlich hielt Arconrik ein Stück groben Steines an das Holz, und als der Lederriemen von der Schwungscheibe genommen wurde, hielt die Bewegung an. »Das hast du, Apollonius von Perga, zum erstenmal in deinem Leben gesehen.« Demetrion reichte, ihm die zierliche Holzsäule. Die Umstehenden brachen in begeisterte Schreie aus, die Schüler drängten sich bewundernd zusammen. »Du hast recht, Fremdling«, sagte schließlich der Gelehrte. »Du beginnst, mich zu überzeugen.« »Sieh weiter, was hier vorbereitet wurde!« Aus der Sammlung der einzelnen Teile entstand eine andere Maschine. Ein Teller, der sich langsam drehte. Dort formte ein Mann mit geschickten Fingern einen Tonkrug, eine tönerne Schüssel, eine Reihe von unterschiedlichen Bechern. Die einzelnen Arbeitsgänge, die darauf folgten, wurden gezeigt: das Trocknen; der erste Brand, der zweite Brand, das Glasieren mit geheimnisvollem Schlamm, dessen Zusammensetzung die Handwerker aufgeschrieben hatten. Eine Pumpe, deren Kolben sich auf und nieder bewegte, lie-
ferte Wasser aus dem Kanal und hob es in eine Zisterne. Über einen Flaschenzug hob eine Reihe von gezähnten Rädern über eine trommelförmige Seilwinde einen riesigen Steinblock mühelos in die Höhe. Eine gezähnte Stange schob sich hin und her und zersägte einen Basaltblock, eine kleinere Pumpe spülte ölhaltiges, mit Gesteinsstaub vermischtes Wasser in die heiße Schnittvertiefung. Und andere Geräte entstanden aus den Teilen, die vorher erzeugt worden waren: Ich verstand die Ausdrücke nicht. Druckpumpe, Wasserorgel, Windbüchse, Lager und Achsen, Dampf aus seltsamen Kesseln aus Kupfer und Eisen, und immer wieder kleine Geräte, die scheinbar nutzlose Dinge vollbrachten. Wein wurde gebracht, und kleine Leckerbissen. Sie wurden dargeboten in Pokalen, Bechern, Schalen, Schüsseln und Platten aus gebranntem, hell glänzendem Ton, der mit Mustern aus fröhlichen Farben und Bildern verziert war. Zwei Frauen bemalten mit Pinseln, weichgekauten Binsen und Holzspänen die Tonkörper nach der ersten Glasierung. Wir zwangen die Gelehrten, auch in der Nacht wiederzukommen. In diesen Stunden brannten Flammen vor schillernd polierten Halbkugeln, die einen Lichtstrahl anscheinend meilenweit warfen, gläserne Scheiben wurden gegossen und eingesetzt, es wurde mit Hitze, Windrädern und fauchender Luft gearbeitet, und schließlich, am frühen Morgen, waren alle Handwerker und wir selbst, einschließlich der Männer aus dem Museion, fast betrunken. Sie alle taumelten förmlich unter den Eindrücken dessen, was sie gesehen hatten. Demetrion und Arconrik zogen Apollonius mit sich, und schließlich saßen wir auf der weiträumigen Terrasse und tranken Wein. »Wir sind nicht hierhergekommen«, eröffnete Demetrion das letzte Gespräch dieses ereignisvollen Tages, »um euch zu be-
lehren. Wir wollten euch nur zeigen, aus welchen Wurzeln sich alles entwickelt hat, was in unserem Land zur täglichen Umgebung gehört.« »Natürlich ist es nicht die Ur-Maschine«, sagte Apollonius mit schwerer Zunge. »Sie ist es! Aus den einzelnen Elementen – es sind ihrer fünf Dutzend –, aus den einzelnen Schritten der Abläufe setzt sich alles zusammen. Nehmt es, gebraucht es, hört auf, die Menschen zu schinden. Sie haben Besseres verdient.« »Was habt ihr vor?« fragte er mit listigem Gesichtsausdruck. »Ptolemaios will euch sprechen.« »Wir sind Reisende«, sagte Arconrik mit Bestimmtheit. »Es gibt tausend Städte wie diese. Denk an Pergamon; dort hat Attalos ein zweites Museion und eine Bibliothek gegründet. Wir verkaufen unser Können nicht. Wir brauchen es nicht. Denn wir sind, letzten Endes und alles in allem, reicher und mächtiger als jeder König deiner Welt, Gelehrter!« »Ihr habt recht. Ich wäre gern in euren Ländern«, brummte er. Diesmal entgegnete ich mit einiger Schärfe: »Du würdest dich dort schwerlich wohl fühlen. Denn dort ist der einzelne tagein, tagaus gefordert. Er denkt, handelt, arbeitet und erfreut sich der Früchte. Jeder. Ohne Ausnahme. Es gibt bei uns keine bezahlten Denker, keine untätig lustwandelnden Gelehrten.« Er ächzte auf und stemmte sich aus dem Sessel. Dann wandte er sich an Demetrion und bat: »Ich will noch einmal einen Blick durch dein teleskopos werfen! Zeigst du mir die Gestirne?« »Zum letzten Mal.« Sie kletterten die Treppe zum Dach hinauf. Dort unterwies Demetrion den Gelehrten im Gebrauch des Instruments. Er sagte ihm, daß es riskant sei, wenn auch verlockend, das Teleskop zu Sosso, dem Türmer mitzunehmen, denn ein Windstoß
könne es über die Plattform schleudern und auf den Felsen zerschellen lassen. Ich war sicher, daß binnen kurzer Zeit genau dies geschehen würde. Weitsicht, auch im übertragenen Sinn, war nicht die Stärke aller dieser Männer. Drei Tage später verließen wir die Stadt und setzten den Gleiter wieder ins Wasser des aufgetauten Flusses. Diesmal freuten sich ausnahmslos alle, uns wieder zu Sehen. Der lange silberne Herbst brach an. Es war fast, als wären wir nur zwei Tage fort gewesen. In Wirklichkeit dauerte es fast drei Monde lang, bis wir wieder daran gehen konnten, unsere Oase weiter auszubauen und uns an jedem kleinen Fortschritt zu erfreuen. Unser Haus war so gut wie unberührt geblieben. Beilarx breitete beide Arme aus und zeigte auf unsere Hinterlassenschaft. »Es ist für uns ein Museum der Erwartung, mein Freund!« rief er. Inzwischen packte Arconrik unsere Mitbringsel aus und räumte sie in die Fächer, Laden, Truhen und Regale. »Es ist für uns dasselbe, was es damals für dich war, Beilarx – eine Heimstatt.« »Wahr gesprochen!« stimmte er zu. »Es gibt einige Neuigkeiten, die voll seltsamer Bedeutung sind.« »Später«, sagte ich nachdenklich. »Zuerst werden wir daran gehen, die Mühle des Korns zu bauen. Unten, am Fluss.« »Korn? Mühle? Hat es etwas mit Wasser zu tun?« Nabor Thet, aufgeregt wie immer, kam herein. Er schüttelte den Kopf und sah sich um. Überall standen und lagen die unglaublichsten Gegenstände verstreut. »Anstarrenswert seid ihr und euer Tun!« brummte er. »Welche kühnen Erkenntnisse habt ihr diesmal aus euren fernen Ländern mitgebracht?«
»Einige andere sind besser, aber unsere sind nicht die schlechtesten«, sagte ich und befeuchtete die Lippen. Thet reichte mir einen Krug dunkles Bier. »Wir werden eines Tages weggehen und lange nicht mehr zurückkommen. Und dann, vielleicht in hundert Jahren, soll die Oase wiederum unsere Heimstatt sein.« Du verrätst dich, rief warnend der Logiksektor. Ich setzte ohne Hast hinzu: »Oder, um genauer zu sein, unsere Söhne und Töchter werden hierher kommen.« »Ist das wahr? Wirklich? Wir zweifeln daran.« Ich zog Narnia an mich und lächelte. Nur Beilarx war in der Lage, dieses Lächeln und das innewohnende Versprechen richtig zu deuten. Voll tiefen Ernstes antwortete ich. »Beilarx mag auch gezweifelt haben, damals, vor langer Zeit. Er weiß, daß wir nicht zu lügen brauchen. Entweder kommen wir wieder oder unsere Kinder. Auf diesen Tag sollt ihr alle warten; auch deine Kinder, Nabor. Und aus allem, was wir euch von der Kunst unserer fernen Völker lehren, sollt ihr das Beste machen. Aber vergessen wir die trüben Sprüche von Abschied und Rückkehr – wir sind gekommen, um lange zu bleiben.« Er schwenkte fröhlich seinen Bierkrug. »Dann müßt ihr auch Khach’t, den wahnwitzigen Falkner, besuchen.« »Wen?« Keiner von uns wußte mit dieser Bezeichnung etwas anzufangen. Beilarx erklärte es uns: »Flussaufwärts, seit einen Mond etwa, lebt jemand, der seine Falken weit in die Umgebung schickt. Wir sahen nur, daß die Raubvögel unsere Gänse und Hühner erschreckten. Dann ritten die tüchtigen jungen Männer unseres Stammes den Falken nach und kamen in ein winziges Paradies des Friedens. Dort lebt Khach’t mit den Falken, schlägt mit eisernen Klöppeln auf lange Steine und macht eine höllische Musik, und er sagt, er
sei blind, und die Falken wären die Jagdhunde des Himmels. Aber wir glauben es nicht. Er sagte, wir sollten unsere fremden Freunde von ihm grüßen.« Ich blickte Arconrik an. Er hob die Schultern. Also hatten auch seine Sonden dieses Gebiet nicht überflogen und wenn, dann fielen weder kreisende Falken noch ein einzelnes Haus am Flussufer auf. Kannte er uns? »Wenn wir einen Tag frei haben, wenn wir uns ausnahmsweise nicht im Dienst dieser kleinen Gemeinschaft verzehren«, antwortete Narnia, »reiten wir dorthin. Einverstanden?« »Nur, wenn ihr mich mitnehmt.« Wir brachen in gelöstes Lachen aus. Wieder einmal schien sich ein Kreis geschlossen zu haben. Wir suchten und fanden Lehm, strichen Ziegel und nahmen einen Ofen für Bronzeguss und das Brennen von Ziegeln und Tonwaren in Betrieb. Auf einer Plattform aus jenen riesigen Basaltbrocken – sie wurden mit Hilfe neuer Hebel, Flaschenzüge, Rollen und schiefen Ebenen mühelos transportiert – errichteten wir die Mühle. Aus Holz, Bronze und Flechtwerk entstand ein Schaufelrad, das im Wasser und durch Wasser angetrieben wurde, ähnlich wie jenes in Alexandria. Jeder Hebel, die Wassersperre, die Kupplung, waren einfach, aber liebevoll gestaltet: jeder mußte sehen, wie die Teile ineinander arbeiteten. Der Läufer-Stein und sein Unterstein wurden aus Granit herausgeschlagen. Es dauerte lange, bis sie rund liefen. Schließlich wurde in hölzerne Kästen das Korn hineingeschüttet, und weiter unten entnahm man das Mehl. Wir ließen Siebe weben und erreichten verschiedene Feinheiten des Mehles – die Frauen der Oase spendeten ins großes Lob. Außerdem ergab feinstes Mehl mit Wasser vermischt ein vorzügliches Klebemittel. Unterhalb der Mühle bauten wir eine Pumpe, ein Schöpfwerk, mit dessen Hilfe wir die Äcker bewässern konnten. Rohre mit großem Durchmesser wurden aus Tonziegelmasse ge-
brannt und auf einem gemauerten Trägergerüst zusammengesteckt; auf diese Weise lernten unsere Leute die Kunst freitragender Bögen. Wir arbeiteten ohne jede Hast, feierten bei jedem nichtigen Anlaß ein kleines Fest, erkundeten im Sattel die nähere Umgebung und sahen so oft jene Falken, daß wir beschlossen, an einem der nächsten Tage aufzubrechen. Zwei Dinge vergaßen wir. Nein! Wir konnten nichts vergessen, aber wir schoben die Gedanken daran zur Seite: Die Planung des Raumschiffs. Und das Seeungeheuer. Natürlich suchten Arconriks Robotsonden das Land ab, besonders an den Küsten. Aber es gab keine Spuren dieser rostigen, seepocken- und muschelverkrusteten Kreatur. Niemals wieder würde ich mich aus Unachtsamkeit in eine tödliche Gefahr begeben. Aus diesem Grund rüsteten wir uns entsprechend aus. Auf fünf unserer Pferde und mit zwei Packtieren ritten wir nach Sonnenaufgang los. Beilarx und Clypeus, Narnia, Arconrik und ich. Die Sonne erschien über dem Steilufer. Wir sahen den Uferrand, mit Millionen von spätblühenden Pflanzen besetzt. Die Fische schnellten sich aus den Wellen. Der Fluss war hier mehr als schmal geworden; das Frühjahr war weit entfernt. Die Untiefen waren gepunktet von fischenden und gründelnden Wasservögeln. In einem ruhigen Trab ritten wir dahin, mein Rapphengst keilte übermütig aus. Undeutlich machte ich über unseren Köpfen einen blitzenden Punkt aus. Ich rief hinüber zu Arconrik, der aus gutem Grund den wuchtigsten Hengst ritt: »Auch dein Auge fliegt durch den Morgen?« »Du bist derjenige, der überflüssige Risiken eingeht. Ich steuere dagegen.« »Wenigstens einer von uns.« Die Ausläufer der Oase und ihrer Weiden lagen bereits hin-
ter uns. Wenn wir uns in den Sätteln umdrehten, erkannten wir wieder einmal, wie perfekt die Tarnung der Oase war. Vor den letzten, dürren Grasbüscheln und den abgestorbenen Büschen erstreckten sich schräge Hänge von Sand, in dem jeder Wind nach Tagen eine jede Spur verwischte. Dann kam Geröll; ein unermeßlich weites Feld einer Wüste aus winzigen runden Steinen, die im Osten in die groben Kiesel des Überschwemmungstals übergingen, im Westen und Süden in die Wüste aus Dünen, Hitze, erbarmungslosem Licht und tödlicher Trockenheit. Im Norden sah es fast genauso aus. Nur der Fluss, seit Jahrtausenden Wanderweg von zufälligen Gruppen unbekannter Größe und Anzahl, bildete eine Gefahrenstelle, zugleich die Möglichkeit der Blutauffrischung, ohne daß unsere Oasenbewohner auf Frauenraub ausziehen mußten. Ich war hinter den anderen zurückgeblieben, hob mich im Sattel und beugte den Oberkörper neben den Hals des Hengstes. Ein wilder Galopp begann. Ich hatte die anderen bald eingeholt und preschte an ihnen vorbei. Plötzlich kreisten über uns drei, vier Falken. Sie hingen ruhig im Aufwind und zogen ihre Kreise mit zitternden Schwingenspitzen. Ein unausgesprochener, nicht faßbarer Verdacht stieg in mir hoch. Es ging nach Süden, stets die Ufer des Flusses zur Linken. Zonen absoluter Öde wechselten sich mit lang gestreckten Stillwassern ab, mit Kiesinseln, mit einzeln stehenden Felsklumpen in mehreren Farben. Am stahlblauen Himmel bildeten sich riesige, vertrauensvoll schneeweiße Wolken und zogen nach Osten. Ein herrlicher Tag. Welch ein unbeschwertes Leben konnte man auf dieser Barbarenwelt genießen, wenn nicht die Furie der Schlachten über die Oberfläche kroch. Sofort meldete sich der Extrasinn mit moralischen Hinweisen. Vorausgesetzt, man gehört zu einer Klasse mit Privilegien entsprechender Größenordnung. So wie ihr.
Clypeus kannte offensichtlich jeden Schritt des Weges. Ohne Verzögerung führte er unsere kleine Karawane ins Ziel. Ständig hatte ich den Eindruck, als ob nicht nur die Falken uns beobachteten, sondern das, was sie sahen, auch dem vorgeblich blinden Khach’t übermittelten. Ich zuckte die Schultern und ritt weiter. Die Sonne funkelte und blitzte an dem kostbaren Mondschmuck in Narnias spiralförmig zusammengedrehten Zöpfen, die wie Teile eines phantastischen Helmes aussahen und ihre Schönheit steigerten. Weit vor uns tauchten in der Ödnis dunkelgrüne Punkte auf, wurden größer und deutlicher und entwickelten sich zu mächtigen Bäumen. Wir ritten geradeaus, das hitzegedörrte Flusstal machte mehrere Schleifen. Vor uns flüchteten gazellenartige Tiere in heiteren Sprüngen. Es waren nur noch zwei Falken über uns, aber sie glitten tiefer herab und stießen kurze, gellend-krächzende Schreie aus. Kurz darauf, als wir in eine leichte Senke hinunterritten, auf eine Wasserfläche zu, die wie ein Edelstein zwischen Fruchtbäumen und Büschen hervorleuchtete, hörten wir die »Musik«. Klingende Steine. Lithophone! sagte der Logiksektor erklärend. Wenn dieses Klingen, Pochen, Rattern und tiefhallende Basstrommeln von einem einzigen Mann stammte, war er ein Künstler und überdies höllisch schnell. Ein Blinder? Undenkbar. In die Takte mischte sich das dumpfe Trommeln der vielen Pferdehufe und ergab einen Klang ganz besonderer, archaischer Art. Der Fremde schlug einen bemerkenswert komplizierten Takt. Arconrik sagte mir später, daß es ein Zwölfachtel-Takt war. Und die klingenden Steine erfüllten diese kleine Vegetationsinsel mit ihren sinnenverwirrenden Lauten. Es klirrte und pochte, tönte und verströmte eine gespannte Ruhe. Dort war, sagte ich mir, vom Logiksektor unwidersprochen, ein ungewöhnlicher Mann am Werk. Wir zügelten die Pferde und ritten auf eine weiße Mauer aus langen Ziegeln zu,
die über und über von Ranken verdeckt war. Ein kleines Fenster mit Glasscheiben (!) starrte uns entgegen, eine ebensolche Tür, eine Bank, an dicken Balken aufgehängte Früchte und Schinken und Würste… das Gefühl der Seltsamkeit wurde stärker. Über den Wipfeln der riesigen Bäume schrien gellend die Falken. Ihr Horst war ein anderer Balken, durch ein Dach aus Rohrgeflecht geschützt. Vom Vorgarten führte ein schmaler Steg einen Bogenschuss weit in den Fluss hinein; dort murmelte der schmale Wasserlauf. Idas Haus und die Umgebung sahen so aus; wie ich sie für mich geplant hätte. Wir glitten aus den Sätteln und banden die Zügel der Pferde an einer Luftwurzel fest. Langsam näherten wir uns der Quelle der durchdringenden Klänge. »Khach’t? Du hast Besuch! Freunde!« schrie Clypeus. Ich packte den Griff des Dolches. Mit der anderen Hand nahm ich Narnias Finger. »Seltsam«, flüsterte sie, »aber nicht drohend. Sehr merkwürdig.« »Ein unveränderliches Kennzeichen der Barbarenwelt«, gab ich zurück. Wir folgten einem schmalen Pfad. Inzwischen umgab uns die Musik, spann uns ein in ein Muster aus zwingenden Klängen. Die Hecken, eine Spur zu perfekt gepflegt, wichen auseinander. Wir sahen einen kleinen, muskulösen Mann mit fast weißen Haar, der mit vier langen Schlegeln, zwei in jeder Hand, die Steine bearbeitete. Es war mehr als ein Dutzend langer, kantiger und verschieden dicker Steinbalken. Sie ruhten auf armdicken Seilen, die ihrerseits zwischen Pfählen gespannt waren. Vor dieser Klaviatur sprang der Kleine hin und her und drosch, hämmerte und streichelte die rauen Oberflächen. Als er uns hörte, beendete er mit einem kunstvollen rhythmischen Schnörkel seine Darbietung, wandte sich um und rief, die Schlegel achtlos in den Sand fallen lassend: »Endlich! Fünf Besucher! Willkommen in der Einöde des
zweitwichtigsten Stromes dieser Welt.« Arconrik und ich starrten Khach’t fassungslos an. Er kam auf uns zu, packte nacheinander unsere Handgelenke und schüttelte sie, sank vor Narnia auf die Knie und sprang wie ein Gazellenbock wieder auf die Füße. Er war von der Sonne dunkel gebrannt und trug nur Sandalen, einen Lendenschutz aus weißem Leder und breite Reifen an den Oberarmen. Und einen Reifen um die Stirn, der über der Nasenwurzel einen funkelnden, fast glasklaren Stein trug, größer als mein Daumennagel. »Seid meine Gäste. Bleib, solange ihr wollt, meine Gäste. Ihr nennt mich den ›wahnwitzigen Falkner‹. Mag sein, daß es stimmt. Aber durch meine Blindheit und die unbestechlichen Augen jener Jagdhunde des Himmels, des Tagesfirmaments, sehe ich alles. Auch euch, ihr Fremden, ihr Nachbarn, ihr Überfremden. Du, du und du, Schönste.« Er deutete auf mich, Arconrik und Narnia. Wir waren überwältigt. Die Worte entströmten seinen Lippen so schnell wie die Klänge der Steine. Ich war vollkommen ratlos. Jetzt wurde der Verdacht stärker, aber immer noch nicht fassbar. »Wir danken dir«, sagte ich. Schwarze Augen blickten mich an und durch mich hindurch. Es gab auf diesem Planeten niemanden mit schwarzen Augen. Es wurde immer rätselhafter. Beilarx senkte seine Stimme zu einem vertraulichen Grollen und fragte: »Seltsamkeiten sind mitunter nichts, das andere gefährdet. Du bist, bei Tanits löchrigem Schleier, seltsam. Warum spielst du diese… Musik auf den Steinen? Kannst du wirklich durch die Augen der Falken sehen? Und bist du wirklich blind? Viele Dinge hier sagen mir, daß du lügst – wenn auch aus Berechnung. Indessen: wir sind Freunde. Man kann uns als wohlgesonnene Nachbarn bezeichnen. Alles macht auf mich den Eindruck, als wäre es ein Schauspiel nur für uns.«
Khach’t breitete die Arme aus, grinste ebenso breit und erklärte in fröhlichem Tonfall: »Da ihr bald von anderen, wichtigeren Aufgaben abgerufen werdet, sollt ihr ohne viele Fragen meine Gastfreundschaft genießen. Ich spiele, um mich und die Tiere dieses Fleckchens zu erfreuen. Ein Spaß, der Unschuld und Zweckfreiheit ausströmt.« »Und sicherlich hast du, blind wie ein Wurm, auch die Steine aus fernen Bergen herausgemeißelt«, knurrte Clypeus. Er hatte den Kern getroffen; Khach’t wich aus und entgegnete: »Sie waren da, als ich hierher kam. Und wer sagt dir, daß ich seit dreißig Jahren blind bin?« »Genügend Fragen sind offen«, schwächte Narnia ab. »Wir folgen deiner Einladung. Wir kümmern uns um die Pferde, dann treffen wir uns zum gemeinsamen Mahl. Du mußt hungrig und müde sein, mein schwarzäugiger Freund, von der schönen Steinmusik, die du für uns gespielt hast. Keine Sorge Wir haben Wein und Bier mitgebracht. Beides ist warm geworden, und wir hängen die Behältnisse ins kühle Wasser des Flusses.« »Deine Gefährtin, Demetrion, ist nicht nur bezaubernd, sondern auch von vollendeter Klugheit«, sagte er zu mir. Ich schüttelte meine Beklemmung ab und antwortete: »Ich weiß es längst. Genau das, was sie vorschlug, tun wir. In der Zwischenzeit kannst du den Tisch vor dem Haus mit Kostbarkeiten aus Küche und Keller überhäufen.« »So sei es.« Wir schnallten Sättel und Packtaschen ab, führten die Pferde zur Tränke und auf die Weide und machten es uns schließlich an dem großen, steinernen Tisch bequem. Der Blinde rannte hin und her und brachte mit unglaublich sicheren Bewegungen Becher, Messer und Nahrungsmittel. Das Haus, in das wir einige Blicke warfen, war einfach und zweckmäßig eingerich-
tet. Die ganze Szene hatte weitaus mehr an Befremdlichkeit und Geheimnissen, als wir es uns eingestanden. Aber es schien keinerlei versteckte Gefahren zu geben. Zahllose Fragen von beiden Seiten wurden beantwortet. Wir aßen und tranken bis in die Abenddämmerung, dann entzündeten wir Öllampen und ein kleines Feuer, und die Dinge, über die wir redeten, waren für einen jeden Bewohner der Welt wichtig: Jahreszeiten, Wachstum und Dürre. Gefahren und der Schutz dagegen. Die Gespräche bewegten sich in einer Spirale und näherten sich intimer mehr dem wahren, fragwürdigen Kern – aber sie berührten ihn nicht. Dein Verdacht wird immer stärker, nicht wahr? erkundigte sich sarkastisch der Extrasinn. Ich nickte schweigend, was niemand bemerkte. Um Mitternacht breitete ich im Sand unter den tiefhängenden Ästen und Zweigen die Mäntel aus und zog Narnia an mich. »Früher oder später«, gähnte ich schläfrig, »wird sich auch diese Seltsamkeit aufklären. Alles glaube ich ihm, aber er ist nicht blind. Er spricht über Dinge, die er nicht hätte sehen können, da sie sich kürzlich erst taten.« Sie glitt in meine Arme. Eine Weile lang lagen wir entspannt und voll des schweren Weines da. Dann erwachte die Leidenschaft, die nach so langer Zeit noch immer ungebrochen war. Niemand sah und hörte uns, es gab nur die Zikaden und die unruhigen Laute der schlafenden Falken. Für diese Zeitspanne vergaß ich, woran ich seit geraumer Zeit dachte… denken mußte, zwangsläufig. Ich erwachte von dem dröhnenden, hallenden, schädelsprengenden Gelächter. Neben mir richtete sich Narnia auf und blinzelte mich voller Schrecken an. ES! Das Gelächter schwoll an, wurde leiser und nahm wieder ab. Ich war sicher, daß auch Arconrik die Gedankenstimme auf irgendeine schwer begreifliche Art hören würde. Dann vernahmen wir
die »normale« Stimme des seltsamen und mächtigen Wesens. Es freut mich, sehen zu können, daß ihr euch in jeder Beziehung wohl fühlt, ihr Hüter der Barbarenwelt! Es war nicht ganz leicht, euch zu entdecken. Aber, wie immer, habt ihr tiefe Spuren hinterlassen. Und ausnahmsweise habe ich eure Erinnerungen nicht blockiert. Wie es vorauszusehen war, habt ihr auf abenteuerliche Weise meine Spiegelstation erreicht. »Khach’t, der Blinde?« murmelte ich. Narnia zog den Mantel bis ans Kinn und lehnte sich schutzsuchend an meine Schulter. Natürlich, niemand sonst. Ein durchaus löbliches Vorhaben, Arkonide, das du angefangen hast. Aber natürlich weißt du, daß sie endlos lange sein wird, die Suche nach dem Stein der Weisen. Was ich bisher gesehen habe, Atlan, spricht für dich und deine Klugheit. Du hast zusammen mit deinem Arconrik eine große Menge wertvoller Denkanstöße unter das Volk gebracht, du hast ihnen eine Unzahl von neuartigen Verfahren gezeigt. Es ist müßig, darüber nachzudenken, wie schnell sie sich weiterentwickeln können: Du weißt es ebenso gut. Vieles wird bleiben, vieles wird vergessen werden. Die Zeit ist unbarmherzig. Sie löscht so vieles aus. Auch deine Spuren und die deiner Maschinen werden teilweise ausgelöscht werden. Und das bringt mich dazu, von anderen gefährlichen Spuren zu reden. Sie beunruhigen mich. Ich merkte es spät, aber wahrscheinlich nicht zu spät. ES war wohltuend zurückhaltend. Der beißende Sarkasmus, der sonst seine Ausführungen begleitete, fehlte bisher. Arconrik, der die Nacht dazu benutzte, sich in dem Gebiet des Blinden umzusehen, verhielt sich still und hörte zu. »Reden wir von deinen Spuren, ES«, murmelte ich. »Der Blinde ist mit durchdringenden Augen ausgerüstet. Die Falken sind, vielleicht nur zum Teil, ebenso deine Geschöpfe. Du ziehst es vor, beträchtliche Phantasie ins Spiel zu bringen.« Wieder ein Gelächter. Ein freundliches Lachen, nicht weniger dröhnend, wie uns schien: Richtig, Arkonide! Du wechselst stän-
dig deine Haarfarbe, deine Verkleidung und deine Namen. Ich bemühe mich, mit dir wetteifern zu können. Deine Vermutung ist nahezu richtig. Aber abseits von unseren Spielen, Atlan – das Tagria ist im Begriff, Paradiese zu zerstören. »Das Tagria? Du meinst… das Seeungeheuer?« ES drückte Zustimmung aus, und berechtigte Sorge sprach aus der nächsten Gedankenflut und den übermittelten Bildern und Schlüsselreizen. Auch ich kenne den Anfang dieser Spuren nicht. Das Tagria – so begreift sich diese hoch entwickelte Maschine selbst – kommt zweifellos aus der Tiefsee dieser Welt. Dort befinden sich, abgesehen von deinem Überlebenszylinder, offensichtlich Hinterlassenschaften, von denen mir nur ein winziger Teil, aber noch nicht die Bedeutung davon, bekannt ist. Wie auch immer: Der Robot wurde wohl beschädigt, büßte Teile seines Arbeitsprogramms ein und sucht nun seit unbekannter Zeit nach seiner alten-neuen Bestimmung. Er beschreibt einen Irrlauf durch das Wasser dieses Planeten. Das Tagria, an die Dunkelheit der Tiefsee gewöhnt, sucht und sucht. Du hast es getroffen. Es verhält sich völlig unberechenbar. Nicht einmal Rico und seine Computer haben es geschafft, die zukünftigen Wege über den Planeten auszurechnen. Rico hat elf wahrscheinliche Alternativen errechnet, und keine davon traf für die drohende Aktion zu. Deine unausgesprochenen Ahnungen, Arkonide, sind zutreffend. Narnia flüsterte erschreckt: »Etwa das Paradies der ehemaligen Sklaven? Unsere Heimstatt? Die Oase?« Wieder pflichtete uns ES bei. Der Schrecken und die Verzweiflung sickerten nur langsam in mein Bewußtsein ein. Grund dafür war, daß Arconrik in der Stille der Unterseekuppel eine Reihe von zerstörerischen Werkzeugen hatte herstellen lassen, mit denen wir versuchen konnten, das Tagria zu vernichten, zumindest so zu verstümmeln, daß es keine Gefahr mehr für uns und andere darstellte. Ich stellte eine Frage.
»Der Koloss nähert sich also der Oase? Wo befindet sich das Tagria in dieser Stunde?« Noch weit genug entfernt. Aber es kommt mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes jede Nacht näher heran. Offensichtlich sucht es größere Menschenansammlungen oder bestimmte Ausstrahlungen. Bisher halten sich die Verluste an Menschen in geringer Größenordnung, aber das ist ein Zufall. Das Tagria vernichtet, ohne vernichten oder töten zu wollen. In dieser Beziehung ist es eine gedankenlose Maschine. Ihr müßt es bekämpfen. In der Geschichte dieses Planeten bedeutet die Existenz einer solch kleinen Enklave wie eurer Oase herzlich wenig. Ihr kämpft, um diese Welt vor größeren Zerstörungen zu bewahren, denn die Barbaren haben keine Waffen, um das Tagria zu vernichten. Und Erdspalten oder glühende Vulkanlöcher gibt es keine für ein Wesen, das seinen Weg durch die Nacht und Dunkelheit sucht und erfahrungsgemäß vor jeder größeren Helligkeit zurückschreckt. »Aber… das Tagria braucht die Nähe des Wassers. Ist es gleich, ob das salzige Wasser der Meere oder das Flusswasser?« wendete ich ein. Vermutlich war es dem halb defekten Riesenrobot gleichgültig, falls er es überhaupt registrierte. Du kennst die Antwort. Es ist nötig, flussabwärts zu gehen und den Koloss zu vernichten. Falls es euch gelingt, sein wohlgepanzertes Inneres aufzubrechen, werden Rost, Sand und Wasser die völlige Zerstörung besorgen. In Anbetracht des Umstandes, daß ihr hier ein Wohlleben fern aller Aufregungen führt, ist euch wohl jedenfalls diese Strapaze zuzumuten. Ich lacht kurz auf. »Du vergißt, daß mich der Verlust des Aktivators und der Überfall hart an die Grenze meines Überlebenspotentials gebracht haben. Natürlich brechen wir in Kürze auf, um das Tagria anzugreifen oder uns vom Koloss angreifen zu lassen.« Zustimmung!
»Wir wirst du mit Khach’t verfahren? Lässt du diesen bizarren Ausflug deines fragwürdigen Humors am Leben? Er könnte den Mädchen der Oase Musikunterricht geben.« Ich fühlte eine gewisse Befreiung und wurde kühner in meiner Argumentation. Auch Narnia kicherte leise. ES genoß offensichtlich diesen Spaß, denn ES stimmte wiederum ein Gelächter an, daß unsere Schädel zu bersten drohten. Überredet, Arkonide! Er freut mich, daß du deinen Humor nicht verloren hast. Es wäre sonst zum Verzweifeln auf diesem Planeten. Ich meine, daß dies dein Mittel ist, bestimmte dunkle Stimmungen zu überstehen. Ich denke, ich überlasse den Androiden seinem Schicksal, das es sicher gut mit ihm meinen wird. »Und wir?« fragte Narnia leise in die unheilvolle Stille der Nacht hinein. Auch das weiß ich nicht genau. Ihr könnt zurückkehren, wenn es euch hier langweilt. Diesmal habe ich euch noch verschont, aber beim nächstenmal werde ich mit einiger Sicherheit eure Erinnerungen löschen. Denn in dieser Phase des Geschehens ist nichts zu finden, das darauf hindeutet, daß auch ES fehlbar sein könnte. Wieder stimmte ES sein Gelächter an. Es verklang, als ob der Schall in einer gigantischen Höhle immer schwächer werden würde. Dann löste sich der Bann. ES war verschwunden, hatte sich in jene Bereiche zwischen den Sternen zurückgezogen. Oder in den Hyperraum. Wir atmeten befreit auf und klammerten uns aneinander. Der Spuk war vorbei, einige unwesentliche Fragen waren geklärt, ein Auftrag erteilt und die Zukunft erschien weniger ungewiss und düster. Arconrik war in völliger Lautlosigkeit näher gekommen und blieb vor uns stehen. Seine Gestalt zeichnete sich schwach gegen den Sternenhimmel ab. »Ich habe alles verstanden.« »Morgen Nacht, Arconrik«, sagte ich. »Mit der gesamten technischen Ausrüstung, die wir haben. Nicht als verkleidete
Römer oder Griechen.« »Selbstverständlich, und ich dirigiere die Sonden um. Wie du begriffen haben wirst, können wir auch die Augen der Falken benutzen. Erstaunlich, was und wer alles sich auf der Barbarenwelt tummelt.« »Uns eingeschlossen.« »Wobei wir die liebenswertesten und rücksichtsvollsten Besucher sind und bleiben.« Narnia widersprach dem Roboter. »Vor allem letzteres«, schloss ich brummend. »Du hast Spuren des Wirkens von ES entdeckt, Arconrik?« »Nein. Nur daß alles auf beängstigende Weise perfekt ist.« »Nach der Meinung unseres mächtigen Sklavenhalters ist dies sein Markenzeichen«, meinte Narnia. »Schlafen wir weiter. Ich habe mich langsam wieder an deine Nähe gewöhnt, Atlan-Demetrion von Oasis.« Ich begann zu lächeln, aus Freude und reiner Erleichterung, aus dem beschwingenden Gefühl der inneren Befreiung und Wiederentdeckung. Hoffnung und Erinnerungen brachten es fertig, meine Seele in diesem chaotischen, gewalttätigen Zeitalter am Leben zu erhalten. Der Mond schwand dahin, die Sterne blieben. Narnia und ich lagen schweigend da, genossen die Stille und die vertrauten winzigen Laute der unsichtbaren Tiere. Im Traum glaubte ich, die seltsame Musik des Lithophons zu hören, das der wahnwitzige Falkner spielte. Entschuldigungen oder Erklärungen brauchten wir nicht; wir versprachen dem Blinden, bald zurückzukommen. Ich verriet weder Beilarx noch Clypeus den Grund der Rückkehr. Wir ritten in gemessener Eile zurück, über uns die Falken, und erreichten die Oase nach der Mittagsstunde. Während Arconrik sofort daranging, unsere Ausrüstung zusammenzusuchen und Teile davon im Gleiter zu verstauen, klappte ich die Truhe auf und aktivierte den Bildschirm, der im Inneren des Deckels versteckt war. Die Sonden übermittelten klare Bilder; ich
steuerte eine von ihnen die Flussufer entlang und begann mit der methodischen Suche nach Spuren nördlich der Oase. Stundenlang konnte ich nichts ausmachen und sah lediglich die wilde Schönheit des wasserarmen Tales, die flacheren und tieferen Stellen, die zahlreichen Stromschnellen und die Wüste an beiden Seiten des Flusses. Jede Meile änderte der Fluss sein Aussehen. Er führte durch weitestgehend menschenleeres Land. Schließlich lenkte ich die Sonde in eine Kreisbahn und steuerte sie tiefer. Das Bild sprang mir mit erschreckender Deutlichkeit auf dem Schirm entgegen. »Die Spuren«, murmelte ich im Selbstgespräch, »sind mehr als deutlich. Das Tagria. Hier irgendwo versteckt es sich.« Und woher hat ES diesen Namen, den du geprägt hattest? wollte der Logiksektor wissen. Keine Ahnung: der Begriff war völlig unwichtig. Der Kampf stand uns bevor, und ich glaubte nicht, daß er leicht sein würde. Ich kreiste das Gebiet ein, sah die aufgewühlten Teile des Bodens, die Doppelspur, die zwischen Felsen und unendlich verwitterten Resten von großen Gebäuden aus einem tiefen, schlammigen Teil des Flusses hervorkroch und nach einer riesigen, tastenden Schleife weiter stromaufwärts wieder ins Wasser hineinführte. Arconrik kam herein und legte zwei lanzenähnliche Detonatoren auf den hölzernen Tisch. »Gefunden?« »Ja. Es wird nur ein kurzer Flug werden. Hochinteressant! Dort, bei den Stromschnellen, hat es einst eine Reihe ansehnlicher Gebäude gegeben. Tempel oder Befestigungsanlagen. Alles ist verfallen. Kennst du diese Gegend etwas genauer?« »Nein. Fehlanzeige.« »Was lernen wir daraus?« fragte ich und betrachtete Felsen und bemooste Ruinen. »Ständig kommen und gehen Zivilisationen, Kulturen, Städte und Reiche. Auch dort baute jemand etwas Riesiges auf, und nun weiß niemand mehr, wem es ge-
hörte, wer darin lebte und starb. Es ist wahrlich unendlich tragisch.« Er warf mir einen verwunderten Blick zu, schaute sich lange die Bilder an und speicherte jede Winzigkeit, die auf dem Bildschirm zu erkennen war. Nach einer letzten Schleife, die von der Sonde in geringer Geschwindigkeit und dicht über dem Boden gezogen wurde, schaltete ich ab und schloss die Truhe. »Wir starten bei Abenddämmerung!« entschied ich. »Mit dem Gleiter. Wir lassen Narnia hier.« »Logisch. Beilarx merkte etwas und will mit uns kommen.« »Wenn wir es schaffen, ihn von der unmittelbaren Auseinandersetzung fernzuhalten, als Beobachter also, ist er willkommen«, sagte ich ein wenig unwillig. Einem alten Freund konnten wir diesen Wunsch nicht abschlagen. »Welche Vernichtungsmittel haben wir?« Er erläuterte mir die Eigenschaften des Arsenals. Ich schüttelte mich. Die Auseinandersetzung würde in einem leeren Gebiet stattfinden und eine Orgie der Zerstörung werden. Höchstwahrscheinlich. Ich hob die Hand. »Eingedenk der mißlichen Umstände des letzten Abenteuers«, brummte ich wenig selbstbewusst, »sollten wir uns selbst auch schützen. Ich liege lieber in der Sonne als unter den Messern der Medorobots.« »Verständlich. Ich habe das Nötige arrangiert.« »Gut. Warten wir also auf den Sonnenuntergang oder die Stunde davor.« Arconrik hatte es mit positronisch-maschineller Logik ausgerechnet. Während Narnia vor Angst um uns zitterte und Beilarx vor Aufregung feuchte Hände hatte, bereiteten wir uns Schritt um Schritt vor. Beilarx kam zu uns, kletterte in das Boot und sagte bedrückt, jedoch mit leuchtenden Augen:
»Ihr habt mir große Stunden in meinem Leben geschenkt. Ich weiß nicht, worum es jetzt geht. Aber ich bin sicher, daß es ebenso ein großes Erlebnis wird.« Ich nickte ihm zu. Er war für sein Alter einer der rüstigsten Menschen, an die ich mich erinnerte. Stärke, Selbstbewusstsein und genau jenes Maß an Selbstzweifel, die ihn in diesem Alter noch lernfähig machten, zeichneten ihn aus. Und Narnia war darüber entzückt, daß er mit einer verhältnismäßig jungen, dunkelhäutigen Frau zwei Kinder von etwa zehn Jahren hatte. »Versuche nur nicht, durch besonders große Kühnheit zu glänzen«, sagte ich. Schweigend schüttelte Beilarx den Kopf. »Gehen wir.« Wir verließen die Oase, gingen hinunter zur Mühle und zum noch untätigen Schmiedehammer, kletterten in den Gleiter und steuerten flussabwärts. Außer Sichtweite hob sich der Apparat in die Höhe, wurde schneller und stob in einem Schleier aus Wassertropfen nach Norden. Wir erreichten das Zielgebiet und kreisten langsam über Dünen und Wasser. Nichts regte sich. Die Spuren waren deutlich zu sehen, und als wir in größerer Höhe ein paar Schleifen zogen, erkannten wir, daß die Gegend wirklich menschenleer war. Wir setzten mit dem Gefährt hinter dem Kamm einer Düne auf und sahen etwa vier Bogenschußweiten schräg unter uns den Wasserspiegel. Einige Vögel schwammen hin und her und schienen keineswegs aufgeregt. »Dort also verbirgt sich das Seeungeheuer«, murmelte Beilarx. »Und ihr sagt, es will die Oase zerstören?« »Es ist blind, das Tagria«, erklärte ich, während wir in der Dämmerung unsere Ausrüstung bereit machten. »Blind, verzweifelt, mächtig, listig und wie ein riesiges, verwundetes Tier.« »Ich werde alles verstehen, wenn ihr es mir erklärt«, versicherte Beilarx vertrauensvoll. »Und ich rühre mich nicht aus
dem Gleiterboot.« Die Abwehrfelder wurden gecheckt, die einzelnen Waffen durchgesehen, wir setzten uns die Spezialbrillen auf. Auch Beilarx erhielt ein solches Gerät. Einen langen Augenblick färbte sich der Himmel tiefrot, dann kam schnell die Dunkelheit. Die Restlichtaufheller funktionierten hervorragend – vor uns breitete sich eine geisterhafte Landschaft aus. »Wieder ein Wunder. Ich sehe wie eine Nachtkatze.« »Das Tagria sieht noch besser«, beschied ihn Arconrik. Wir warteten voller Ungeduld. Die Wasserfläche lag völlig regungslos da. Die letzten Spuren der gründelnden oder fischenden Vögel hatten sich aufgelöst. Ein paar Sterne erschienen; sie bildeten in den runden Superlinsen der Gläser stechend helle Scheiben. Ich kletterte über den Rand des Gleiters und hob den schweren Hochenergiestrahler heraus. Arconrik stand regungslos auf der anderen Seite des tropfenförmigen Fluggeräts. Die Aufnahmen ließen erkennen, daß der Koloss nicht zögerte und sofort nach dem letzten Verglimmen des Tageslichts seinen Marsch antrat. »Da ist er!« sagte Arconrik und fügte warnend hinzu: »Er ortet uns mindestens ebenso gut wie wir ihn. Klar?« »Klar.« Ich sah noch nichts. Dann erzitterte der Wasserspiegel. Fast genau in der Mitte des ovalen Stillwassers hob sich im wilden Muster der Wellen und Kreise der Buckel des metallenen Untiers. Kleine Tiere wieselten zwischen den Muschelschalen und Seepocken hindurch und ließen sich ins Wasser zurückfallen. Ich sagte mir, daß inzwischen alle Salzwasserlebewesen abgestorben sein mußten. Der riesige Panzer hob sich, die Spinnenbeine wurden länger und begannen ihren ineinander greifenden Arbeitstakt. Nacheinander schalteten sich fünf Scheinwerfer ein; einer davon leuchtete nur noch schwach. Das Tagria kam auf uns zu, verließ das Wasser auf der rech-
ten Seite des Ufers. Zunächst waren die einzelnen Glieder noch nicht voll ausgefahren. Das Wasser rann in breiten Sturzbächen von den mächtigen Flanken und tropfte in den Sand. Wir hörten nur ein feines Summen, das scharfe, rhythmische Knacken und Knirschen in den zahlreichen Gelenken, dazwischen kurze, grell kreischende Geräusche; Zeichen einer Funktionsstörung. Arconrik hob den Arm. Wir schalteten die Schutzfelder ein, mit der Fernsteuerung hüllte ich auch den Gleiter in eine kaum sichtbare, irisierende Energieblase. Wir gingen langsam den Hang der flachen Düne hinunter, richteten unsere Waffen auf die Scheinwerfer und den breiten Spalt zwischen den beiden Hälften des Panzers. Der Koloss machte sich auf den Weg nach Süden – zur Oase. »Feuer!« sagte ich und schoß. Gleichzeitig stachen zwei grüne, unterarmdicke Strahlen nach vorn, trafen zwei Scheinwerfer und dann in den Raster unterhalb der Leuchten und zwischen den Halbschalen. Knallend und krachend, mit armlangen Flammen und schwarzem Qualm barsten einzeln die Scheinwerfer. Der Stahl wurde glühend und schmolz auseinander; hinter den Abdeckungen zuckten Blitze hervor. Wir schalteten die Waffen aus und kauerten uns in Deckung. Der Koloss war kurz stehen geblieben, jetzt fuhren sämtliche Gelenke auseinander, und das Tagria hob sich und stemmte den Körper mehr als drei Mannslängen hoch. Die Klappen hinter den drei Scheinwerfern glitten zurück und ein halbes Dutzend verschiedener Werkzeuge fuhren summend hervor. Wieder feuerten wir, dieses Mal auf die vordersten Gliedmaßen und die Gelenke. Wieder ertönten laute Explosionen, Funken und Blitze schlugen aus den Hohlräumen, und irgendwelche Flüssigkeiten spritzten wie brennende Fontänen weit in die Höhe und in den Sand. »Achtung. Er hat uns geortet!« schrie Arconrik durch den
Lärm der Schüsse und der Detonationen. Zwei der Spinnenbeine arbeiteten nicht mehr und wurden durch den Sand geschleift. Ich hielt die schweren Pfeile im Köcher fest und rannte vom Gleiter weg, Arconrik entfernte sich in der entgegengesetzten Richtung, blieb immer wieder stehen und feuerte lange Strahlen ab. Wenige Momente später waren die restlichen Scheinwerfervertiefungen zerstört. Aus den leeren Höhlen blitzten Flammen hervor, und fünf unverändert dicke Qualmwolken markierten den Weg des Kolosses. Er ragte über uns auf, tiefschwarz, voller kalkiger Narben und Ablagerungen, verunziert von schweren Rostspuren, schweigend und daher doppelt drohend. Schnell kam er mit den ruckenden Bewegungen einer Riesenspinne auf mich zu. Ich rannte zur Seite, lehnte nach einem halben Dutzend gezielter Schüsse die Waffe gegen einen Felsen und riß einen Pfeil aus dem Köcher. Der schwere Bogen hing bereits gespannt, durch zwei Streifen Klebeband gesichert, über meiner Schulter. Ich zog die Sehne aus und zielte mit der schweren Spitze auf eines der Löcher mit den glühenden Rändern. Langsam wie ein trabendes Pferd, im lockeren Sand rutschend, die beiden vordersten Gliedmaßen nachschleifend und dennoch mit großen Schritten kam das Tagria auf mich zu. Ich zielte so sorgfältig, wie es unter diesen Umständen möglich war. Dann jagte der Pfeil waagrecht durch die Luft und traf in eine der Öffnungen. Meine Stiefel suchten auf dem nachgebenden Sand Halt. Das weiße, gelbe und grüne Licht der Schüsse und der Explosion erhellte die Nacht. Furchterregend leuchteten die Umrisse des Kolosses auf, und jetzt drehte sich das Tagria und senkte sich tiefer. Das Summen wurde schärfer, gespenstische Schatten huschten über den Sand, das fremde Wesen, einer langbeinigen, brennenden Schildkröte ähnlich, tappte schneller und schneller hinter Arconrik her, der sich seinerseits mit großer
Geschwindigkeit in Sicherheit brachte. Ich hob die Waffe an, legte die Sicherung wieder um und stützte den langen Lauf gegen den Felsen. Ich gab Schuss um Schuss ab, traf die Gelenke und des Rückenpanzer und verglühte die kalkigen Reste und den feuchten Schlamm. Die Endteile der Glieder drückten den Sand tief nieder und riefen leichte Erschütterungen hervor. Wieder ertönte im Innern des Roboters eine Explosion und jagte Lichterscheinungen und Rauch aus allen Öffnungen. Ich traf eines der Gelenke, die sich zwischen den Halbschalen drehten, und das Spinnenbein fiel nach einigen knirschenden Bewegungen in den Sand. »Arconrik. Alles in Ordnung?« schrie ich. Die langen, dröhnenden Finger der Energiebahnen kamen jetzt vom Rand des Wassers. Arconrik schoß, ohne ein einziges Mal sein Ziel zu verfehlen. Der Koloss glühte an mehreren Stellen, aber ich zögerte noch, die letzten Waffen einzusetzen. Arconrik rief zurück: »In Ordnung! Ich locke ihn ins Wasser.« »Gib acht! Das ist sein Element.« Ich lief hinter dem Tagria her. Der Robot war schwer gezeichnet, aber auf den verbliebenen Gliedmaßen rannte er erstaunlich schnell und sicher. Er kam Arconrik immer näher, und es war nicht zu bezweifeln, daß das Seeungeheuer noch auf eine sichere Art »sah«. Wieder fing ich zu schießen und zu rennen an, und meine Waffe brannte tiefe Löcher in die abgesetzte Rille zwischen den Schalen. Die Bewegungen des Tagria wurden nun langsamer, das Ding torkelte hin und her. Es rannte auf eine Ansammlung von Felsen und riesigen erratischen Blöcken zu, die sich zwischen dem Wasser und der sumpfigen Uferzone erstreckten. Die Werkzeuge – Scheren, bürstenartige Geräte, Finger und Zangen – tasteten wie wild hin und her. Die hydraulischen Arme zogen sich zurück, schossen wieder vor, knirschten und erzeugten schauerliche
Laute. Als das Tagria die Steinformation erreichte, zogen sich die Teile der Laufglieder ineinander zurück. Das Unterteil berührte fast den Sand. Dann schlossen sich die Werkzeuge um die Steine, spalteten sie, rissen Splitter heraus und schoben sie aus dem Untergrund. Das Gestein zerfiel und zersplitterte unter den Griffen und Hieben der wuchtigen Geräte. Aber immer wieder fuhren unsere Hochenergiestrahlen in den metallenen Körper der Maschine. Es war mehr als erstaunlich, daß die Mechanismen dieses Giganten noch immer funktionierten. Die Bruchstücke der Steine wirbelten durch die Luft, zur Seite, in die Höhe und ins Wasser. Das Tagria arbeitete sich summend und mit durchrutschenden Spinnenbeinen, die Steine zur Seite rammend und Sand über sich häufend, auf das Wasser zu. Das Tagria will sich in sein Element retten, sagte der Logiksektor unbetont. Ich war nahe genug herangekommen, um fast alle Einzelheiten genau sehen zu können. Arconrik warf die Waffe zur Seite. Das Energiemagazin war leer. Ich schickte einige lange Glutstrahlen durch die weißglühenden Flecken der Schale. Sie schlugen dröhnend und heulend ins Innere und riefen Verwüstungen hervor. Knirschend brachen zwei Findlinge aus weißem Gestein aus dem Boden. Ich nahm, nachdem ich die heißgeschossene Waffe fallen gelassen hatte, den zweiten Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. Von dem Koloss trennten mich keine dreißig Schritte mehr. Ich sah jetzt, daß sich nur noch drei Gliedmaßen bewegten, daß die Werkzeuge verbogen und ausgeglüht waren, und daß die Maschine so gut wie funktionsuntüchtig sein mußte. Ich feuerte den Pfeil ab, der am Rand einer ausgebrannten Öffnung aufschlug, abknickte und in den riesigen Körper hineinkippte und -rollte. »Zurück, Atlan!« schrie Arconrik über den Sand.
Der Sand knirschte, und jedes einzelne Glied oder Teil der Bewegungsapparatur kreischte unter höchster Belastung und im Fehlen von jedem Schmiermittel. Schritt um Schritt näherte sich das Tagria dem Rand des dunklen Wassers. Die Bombe arbeitete mit Verzögerungszünder. Ich rannte in die Richtung, in der ich den Gleiter erkennen konnte und Beilarx, der aufgestanden war und das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachtete. Auch Arconrik rannte von der Stelle weg, an der sich eben die verstümmelten Werkzeuge des Tagria ins Wasser schoben. »Demetrion!« rief keuchend, mit rauher Stimme, der alte Karthager. »Es ist unglaublich…« »Hinunter mit dem Kopf!« schrie ich. »Schnell!« Ich warf mich in den Sand und rollte mich neben den Gleiter. Arconrik lief ein Dutzend riesiger Schritte und sprang in Deckung. Das Tagria erreichte das Wasser und schob sich hinein, eine seltsame Doppelspur und die lange Reihe der abgerissenen und auseinander gesprengten Teile hinter sich. Noch wenige Herzschläge. Das Wasser strömte durch Dutzende von Öffnungen ins Innere. Die glühenden Stellen berührten das Wasser, erzeugten Dampf und ließen riesige weiße Wolken aufsteigen. Die fremde Maschine versank im Wasser, tauchte noch einmal ganz kurz auf und sank abermals in der Mitte des ovalen Flussteils. Ich wartete auf den nächsten Augenblick. Zuerst zuckte blendende Helligkeit in die Höhe. Ein Blitz, geformt wie eine Flammenzunge, zeigte drei Herzschläge lang in den Himmel. Ein schmetterndes Krachen hob unsere Körper in die Höhe, erschütterte die Erde, die Flamme färbte sich, Rauch entstand, und die Erde bebte grollend. Der Explosionsdruck warf ungeheure Mengen Sand in die Luft, ein winziger Wirbelsturm entstand, und wir drückten unsere Gesichter in die schützend hochgerissenen Unterarme.
Der Sand peitschte über uns hinweg. Als wir uns zögernd wieder aufrichteten, sahen wir die pilzförmige Wolke aus Sand, Dampf, Wasser, Steintrümmern und losgerissenen Wasserpflanzen vor uns in die Höhe steigen. Einzelne Brocken beschrieben in der Finsternis riesige parabelförmige Bahnen und schlugen wie Geschosse rings um uns ein. Als der letzte Brocken quer vor mir hangabwärts gerollt war, riß ich die Brille von der Stirn und schaltete das Schutzfeld aus. In meinen Ohren summte und pfiff es. »Das Tagria wird wohl keine Gefahr mehr darstellen«, brummte ich. Meine Stimme klang völlig ungewohnt. Beilarx rüttelte mich an der Schulter, sagte etwas, das ich nicht verstand und zeigte auf Arconrik, der mit einem weit aufgeblendeten Handscheinwerfer in unsere Richtung leuchtete. Mir war, als hätten wir eben etwas vernichtet, das wir eigentlich hätten brauchen können. Ein unausgesprochenes Gefühl des Verlusts befiel mich, als ich mich an der Seitenwand des Gleiters hochzog, die Finger in den Ohren bewegte und das Sirren loszuwerden versuchte. Arconrik stand bei uns und tat schon wieder einmal das Richtige. Er öffnete einen Weinschlauch und teilte Becher aus. »Die Oase ist gerettet«, sagte er knapp. »Wir sollten die Trümmer einsammeln und versuchen, sie als Schmiedeeisen zu verwenden.« »Morgen früh«, entschied ich. Die Natur hatte sich nach diesem chaotischen Ausbruch von Lärm und Explosionen wieder beruhigt. Es roch nach den Teilen der großen Maschine, die verbrannt und ausgeglüht waren und nach trocknendem Schlamm vom Grund des Stillwassers. Ich leerte den Becher und setzte mich auf den Bug des Gleiters. »Wir werden heute hier schlafen«, sagte ich. »Nun hast du erlebt, Beilarx, welche merkwürdigen Gäste unsere Welt beherbergt.«
»So ist es, bei Baals häßlicher Nase«, brummte er. »Ihr seid mächtig wie ein ganzes Heer, wenn man euch verärgert.« »Ich finde, du übertreibst gehörig«, meinte Arconrik. »Hilf mir wenigstens, das Essen auszupacken.«
17. Kurze Zeit später brannte auf dem Kamm der Düne ein kleines Feuer, dessen Flammen drei Gestalten beleuchteten, die gekleidet waren, als ob sie in den Krieg zu ziehen beabsichtigten. Wir tranken und aßen, sprachen alle Einzelheiten der letzten Stunden mehrmals durch und warfen immer wieder Blicke hinunter in das Flusstal, auf den schwarzen Wasserspiegel, der wie polierter Granit das Licht der Sterne und der Mondsichel zurückwarf. Wir schliefen im Sand, während Arconrik ungesehen den Kunststoffsack in seinem Innern von den Resten der Speisen leerte und säuberte. Die Kälte des Morgens weckte uns. Wir sammelten ein, was uns brauchbar erschien, und flogen zurück zur Oase. Als wir von fern die Baumwipfel sahen, meldete sich mein Logiksektor und erklärte unwidersprochen: Der Auftrag, den euch ES gegeben hat, ist erledigt. Nun könnt ihr wieder tun, was ihr wollt! Mitunter befleißigte sich der Extrasinn einer sarkastischen Betrachtungsweise der Dinge und Vorgänge. Es war so, daß wir taten, was möglich war in diesen Zeiten. Es unterschied sich von meiner Zielsetzung beträchtlich. In den folgenden Tagen gestatteten Arconrik und ich uns ein Gedankenexperiment, die Planung eines allzu kühnen Traumes. Wir waren aber sicher, daß er unter bestimmten Voraussetzungen – die es hier und heute nicht gab – zu realisieren war. Wir planten den Bau eines Raumschiffs und entwickelten zunächst erst einmal die Vorstellungen von den einzelnen
Komponenten, die wir brauchten. Atemluft, in Flaschen oder Tanks komprimiert, dazu Algen, die Sauerstoff produzierten und verbrauchte Luft regenerierten – falls ich irgendwann einmal den Flug riskierte. Funkverbindung mit den Antennen an der höchsten Erhebung der Insel und somit mit den Computern der Überlebensstation; dies war ein leicht zu lösendes Problem. Wie konnte der Antrieb aussehen? Wir rechneten zunächst einmal mit Rückstoß-Motoren aus festem Pulver, das wir herstellen konnten, wenn wir vorher entsprechende Maschinen bauten, um aus den vorhandenen Materialien einen weitaus höheren Reinheitsgrad destillieren zu können. Für den Flug zwischen den Planeten, auf einer Schwerkraftbahn, würde möglicherweise ein Korrekturantrieb mit hochgespanntem Dampf genügen. Wieviel Vorräte? Was wogen sie? Wie mußten sie beschaffen sein? Mit wie viel Platz kam der tollkühne Pilot samt seiner Ausrüstung aus? Welches Rettungssystem? Es sah, im ersten Schwung unserer Überlegungen, gar nicht so hoffnungslos aus. Einen großen Teil von Geräten konnten die Maschinen herstellen, und wir konnten sie Zug um Zug an die Oberfläche bringen und zusammenbauen. Auch die dazu benötigten Werkzeuge waren vergleichsweise leicht herstellbar. Natürlich würde es Jahre dauern, bis das Raumschiff erbaut beziehungsweise zusammengesetzt sein würde. Berechnungen aller Art machten natürlich keine Schwierigkeiten, denn Arconriks positronisches Gehirn arbeitete mit perfekter Zuverlässigkeit. Dann, beim theoretisch erfolgten Erreichen des zweiten Planeten, gab es zwei Möglichkeiten. Ein Roboter landete am Fallschirm und kämpfte sich zum Robotsender durch, oder das Raumschiff kreiste und landete. War die Landung erfolgt, gab es abermals zwei Möglichkeiten – der potentielle Selbst-
mörder wartete, nachdem er den Sender eingeschaltet und um Hilfe gerufen hatte, oder er startete das Raumschiff erneut. Oder versuchte es zumindest. Dies ergab wiederum ein weiteres Problem: das Schiff mußte annähernd doppelt so schwer werden, denn der Treibstoff für den zweiten Start und Flug und Landung mußte mitgeschleppt werden. An diesem Punkt der Überlegungen brachen wir die Planung ab und verschoben sie auf später. »Immerhin sind wir um einen bedeutsamen Schritt weitergekommen«, sagte ich mit einem melancholischen Lächeln. »Wir wissen, daß wir ein nettes, funktionierendes Schiff bauen könnten – die vordere Hälfte zumindest.« »Auch die Farbe können wir schon festlegen«, schloss Arconrik. »Im Zweifelsfall gelb mit schwarzen Streifen.« Es gab Zeit genug, in Ruhe und ohne Beschränkung an Zeit und Material in der Oase zu arbeiten. Wir versuchten, in genau bedachten Schritten die Zukunft zu programmieren. Vergleichsweise einfach war es, Werkzeuge und jene ersten, nach simplen mechanischen oder physikalischen Gesetzmäßigkeiten arbeitenden Maschinen herzustellen. Wir taten es zusammen mit den Handwerkern und mit deren Schülern, die jeden Vorgang beschreiben und zeichnen mußten, und schließlich schrieben sie es auf Pergament. Zusammen mit Beilarx und Nabor Thet schufen wir eine Karte. Zur Sicherheit wurde sie in eine Basaltplatte graviert. Sie schilderte den Weg und die wichtigsten Stationen, eingeteilt in Tagesritte, bis zu einem Punkt, an dem es einerseits Menschen gab und darüber hinaus eine Handelsstraße den Fluss mit einer Furt durchquerte. »Ich weiß, warum du diesen Vorschlag machst«, sagte Beilarx, nachdem die riesige Landkarte fertig war. Ich nickte.
»Wenn wir oder unsere Enkel wiederkommen, möchten wir eine lebendige Gemeinschaft haben. Dazu gehören fremde Ideen, andere Männer, Frauen aus anderen Teilen der Welt. Waren ebenso wie Kostbarkeiten. Nur durch eine Handelskarawane kommen sie hierher.« »Und es gibt vieles, das wir handeln können!« pflichtete Thet bei. »Das Silber, Gold und alle die Erfindungen…« »Seid nicht zu großzügig. Die Oase braucht keinen ständigen Strom von Nachschub. Nur einzelne Tropfen.« »Keine Sorge. Wir lernen schnell, worauf es ankommt«, antwortete Nabor. Die Schule fesselte mehr und mehr Kinder und Heranwachsende, und das Mißtrauen gegen diese neuartige Form des Lernens war verschwunden. Aus der Stadt hatten wir Samen und Setzlinge mitgebracht, und die ersten Früchte konnten wieder eingepflanzt werden. Auch einige Zuchttiere grasten in den Gehegen und gewöhnten sich an die neue Umgebung. Unendlich viele Einzelheiten wurden von uns überprüft und von Nabor und den Handwerkern verbessert. Da dieser Herbst eine überreiche Ernte ergab und eine Art zufriedener Müdigkeit uns alle packte, war es wohl Zeit, wieder einmal den Schauplatz zu wechseln. Der Türmer und Apollonius hatten erwartet, daß wir zurückkamen. Diejenigen aber, die sich wirklich darüber freuten, waren die vielen Handwerker in den Hallen und Scheunen des Stichkanals. Wir kamen in der Nacht, ruderten durch den Kanal und fanden das Haus so vor, wie wir es verlassen hatten. Den Dienern war von Arconrik und Narnia gesagt worden, daß wir sicher wieder zurückkommen würden. Wir erfuhren bald, daß Apollonius auf Befehl des Herrschers einige unserer Modelle abgeholt hatte.
»Sehr gut«, sagte Narnia und sah sich prüfend um. »Die Gelehrten haben verstanden, daß sie ebenso lernen müssen wie Nabor Thet und die Seinen.« »Ich bezweifle es«, erwiderte ich. »Die Gelehrten sagten vieles. Aber nichts davon klang wirklich so, als hätten sie’s begriffen.« Diesmal kamen wir mit wenig Gepäck. Wir ließen uns von den schläfrigen Dienern begrüßen und gingen zu Bett. Am anderen Morgen, als ein kühler, von feinen Regentropfen durchsetzter Wind durch die Gassen der großen Stadt fuhr, suchte ich den Weg zur Bibliothek. In meinem Haus fehlte auch die Ansammlung von Linsen in dem langen Rohr, das teleskopos. Ich grüßte die Händler und einige Passanten, die mich wieder erkannten. Ich stellte mir vor, wie die Stadt aussehen würde, wenn das Tagria seinen Weg durch ihre Lehmhäuser und Säulengänge genommen hätte. Langsam stieg ich die vielen flachen Stufen zum Hauptgebäude der Bibliothek hinauf und hielt einen Schüler an. »Ich will zu Apollonius, mein Freund. Wo finde ich ihn?« Der junge Mann deutete auf ein Nebengebäude, zu dem eine steile hölzerne Stiege hinaufführe. Ich bedankte mich und dachte, daß es mehr als riskant war – bis auf die Fundamente und einzelne Mauern war das Bibliotheksgebäude aus Balken und Brettern, Geflecht und lehmbestrichenen Matten errichtet. In einem trockenen Sommer genügten ein paar Funken oder eine umgestoßene Öllampe, um die niedergeschriebenen Schätze in Flammen aufgehen zu lassen. Eine Vision? In diesen Zeiten war alles denkbar, und Krieg war an der Tagesordnung. Ich fand den Griechen auf einer Terrasse aus Bohlen, vor sich den Dreifuß mit dem Fernrohr. Er winkte mir zu, deutete auf einen Sessel und sagte lachend:
»Ich habe dich kommen sehen. Ich sehe nunmehr viele Dinge, weil eines der Gläser heraus gefallen und zersprungen ist.« »Eine neue Spielerei, nicht wahr?« meinte ich und setzte mich. »Haben die Gelehrten all das, was wir zeigten und zeichneten, verwendet und an andere weitergegeben?« »Das ist durchaus möglich«, antwortete er wohlwollend und richtete das dunkle Rohr auf den Palast. »Gedenkt ihr lange hier zu bleiben?« »Solange, bis wir zusammen mit Ptoemaios alle Gelehrten zusammengerufen haben. Ich will ihnen zeigen, wie sie den Stein der Weisen finden können.« »Du bist sicher, daß sie seiner Einladung folgen?« »Nein«, sagte ich. »Keineswegs. Deswegen bin ich hier. Ich hoffe, du hilfst mir, denn du bist, was alle sagen, der am meisten geachtete Gelehrte. Rufe sie zusammen. Bitte sie. Versprich ihnen, was du weißt. Was du darüber denkst.« »Worüber?« Er wirkte uninteressiert. Ich konnte sein Verhalten nicht verstehen. Er mußte doch selbst am besten wissen, was eine Ausbreitung von Wissen und Kenntnissen bedeutete. Der Extrasinn meldete sich bedächtig: Er will nicht, daß die Gelehrten ihren einzigen Besitz aus der Hand legen. Es ist ihre Waffe, auch wenn sie von dir geschärft wurde. »Du denkst tatsächlich«, sagte ich halb fassungslos, »daß es schädlich ist, wenn viele Menschen über Können, Wissen und Fähigkeiten verfügen können, so wie ich und du? Du willst es ihnen verbieten?« »Ich will nicht, daß Ochlokratie beginnt.« »Ochlokratie… das ist, wenn ich recht verstehe, die Herrschaft des Pöbels? Du hast Furcht davor? Ist das für dich die Folge davon, daß ein Schmied schreiben lernt?« »Niemand im Museion will, daß jedermann alles kann«, sagte Apollonius. »Das ist nicht böse Absicht oder gar Übermut.
Es soll so bleiben, wie es ist, denn es ist gut so Sklaven bleiben Sklaven, Handwerker tun ihre Arbeit, Herrscher regieren, und wir Gelehrten deuten die Welt und alles, was in ihr vorgeht.« Ich glaubte zu verstehen. Ich stand auf, nahm das Fernrohr vom Gestell und schleuderte es mit einem wilden Ruck über die Brüstung. Es überschlug sich mehrmals in der Luft, schlug auf die Steine des Innenhofs und zerbarst in tausend Teile. »Ihr seid es nicht wert, wenn man euch Geschenke macht. Ich werde in den nächsten Jahren nur die Handwerker lehren, die einfachen Menschen. Es gibt Narren, die sich weigerte, das Feuer des Prometheus anzuschauen. Lebe wohl, Mann von Perga.« Ich schüttelte den Kopf und verließ kochend vor Wut die Bibliothek. Sie war es wert, daß sie niederbrannte, aber ich würde dieses Feuer nicht legen. Der Stein der Weisen! Ich stimmte ein lautes, humorloses Gelächter an, das zwischen den Säulen widerhallte. Meine Vision, zu den Gelehrten und mit ihnen zu sprechen, all ihr Wissen zu einem gewaltigen Knoten zu schlingen, zerstob im Herstwind wie die Spreu draußen bei den Kornspeichern. Ich ging zum Haus zurück und betrank mich. Aus Trotz blieben wir noch zwei Monde lang, scharten mehr und mehr Handwerker um uns und zeigten ihnen Dinge, mit denen jeder von ihnen reich werden und sich aus der Sklaverei loskaufen konnte. Wir verließen Alexandria bei Anbruch des Winters. Wieder wurde die Oase zur Heimstatt, zu dem Ort, an dem wir uns wohlfühlten und unsere Enttäuschung zu vergessen versuchten. Wir blieben, fern im Süden Alexandrias und der Städte am Nil, lange dort. Es war eine Zeit voller Glück und Muße. Jede einzelne Erinnerung daran würde uns bleiben. Wir erfuhren, daß Scipio Africanus gestorben war, daß sich Han-
nibal vor Angst, an Rom ausgeliefert zu werden, das Leben genommen hatte. Jeder Winkel der Oase blühte und wucherte betäubend; der Winter ging vorbei, der Frühling und der Sommer kamen. Über uns kreisten die Falken von Khach’t, und kurze Zeit, nachdem wir Beilarx in der Wüste, am Rand der Oase, begraben hatten, zogen wir uns wieder in die Unterseekuppel zurück. Dies war für uns ein deutliches Zeichen gewesen. Unsere Zeit war um – aber wir wollten wiederkommen. »Ridentem dicere verum«, begann Atlan halblaut, »also die Wahrheit lachend berichten – das kann ich nicht, wenn ich mich an die Vorfälle auf dem Planeten Tinami erinnere, der dritten Welt der Sonne Kappa Diomed. Eine Million Siedler war höchstgradig gefährdet; die USO-Spezialisten Areosa Neogúa und LeRud Conmar bezeichneten den Planeten bereits als ›Welt des Todes‹. Die Erlebnisse, die wir während der schauerlichen Panik hatten, der Name des Schiffes, mit dem ich den Planeten anflog – ROMULUS –, die Siedler, die im vorletzten Stadium der Virusinfektion zu Amokläufern wurden in ihren wenigen Städten, die so aussahen, wie ich den Anblick römischer Siedlungen erinnerte: All das brachte mich damals dazu, wehrlos meine Erinnerungen preisgeben zu müssen. Sie wurden aufgezeichnet. Es mag sein, daß mich damals der Anblick der vielen Leiden, des Blutes, der verzweifelten Kämpfe zu einer anderen, abweichenden Darstellung der Vorgänge im Großen Rom brachte.« Nach der unvorstellbar geringen Wirkung, die ich unter den Wissenschaftlern der Bibliothek von Alexandria hatte, schlief ich rund zwanzig Jahrzehnte, dann trieben mich Neugierde und jene Langeweile, die ich empfunden hätte, wäre ich wach geblieben, an die Oberfläche der Welt: Mein Ziel war die Schule der Gladiatoren zu Padua im Römischen Reich; sie gehörte
dem Präfekten Marcus Petronius, und ihr bester Ausbilder war Ekrala. Im arkonidischen Imperium wäre er ein gefürchteter und geehrter Dagor-Meister gewesen. Je länger ich Ricos Aufzeichnungen ansah, desto mehr reizte mich der kurze Ausflug mitten in die Dekadenz der Hauptstadt, in der Caligula herrschte, der Urenkel des großen Augustus. Ich wollte und würde nicht länger bleiben als sechs Monde, damals. Rico errechnete später, daß es das Jahr 37 war, vier Jahre vor Caligulas Ende. Als ich auf diesem Kolonialplaneten mit tobenden Schmerzen unter einem Haufen Leichen aufwachte, geborgen und in Sicherheit gebracht wurde, setzte die Erinnerung ein: Ich erlebte mich, zweimal, im blutgetränkten Sand der Arena – und ich berichtete: Fünf Monde lang hatte ich in Marcus Petronius’ Gladiatorenschule in Padua geübt – durchsetzt mit allen Kampfarten und Entbehrungen, die man in Rom kannte, hatte ich sozusagen meine gesamte arkonidische Dagor-Ausbildung in Kurzzeit durchlaufen. Jetzt war mein Körper wieder bis in die letzte Faser durchgearbeitet; gerade zum richtigen Augenblick: Stechend heiß brannte die Sonne in das riesige Oval hinunter. Der Nachmittag, an dem ich sterben sollte, war angebrochen. Die Mauern, an denen sich in der Farbe frischen Rostes Blutspuren abzeichneten, schienen im Glast zu schwanken und sich zu verformen. Vom Boden der Arena stieg jener Geruch auf, den wir zu verabscheuen gelernt hatten. Trocknendes Blut und Urin der Tiere stanken, der Staub roch dumpf nach Moder und Tod. Die Sägespäne verströmten Gestank nach Schweiß und Kot. Durch die eisenversperrten Eingänge in die Arena wehte ein kühlerer Hauch, der die Spuren von Grüften, faulendem Zisternenwasser und der Todesfurcht von Gladiatoren, Sklaven
und jener Männer mit sich führte, die in der Mühle des Todes festgeschmiedet waren und sie nur um den Preis des Todes, grauenvoller Verwundungen oder qualvollen Siechtums verlassen konnten. Fünfzig Millionen so genannter Bürger zählte man im Römischen Reich; ein Zehntelprozent davon schien heute hier versammelt zu sein. Es hatte sich eine Kulisse gebildet, die noch übler war als das Geruchsinferno in dieser kurzen Pause des erbarmungslosen Kampfes. Sonnensegel spannten sich an langen Tauen über viele Teile der ansteigenden Sitzreihen. Sklaven sprengten Rosenwasser auf den heißen Stein. Hin und wieder blähten kurze Windstöße die Leinenflächen. Händler verkauften schreiend ihre Waren, Wein wurde ausgeschenkt. Die Männer, die hohe Wetten auf die letzten überlebenden Gladiatoren entgegennahmen oder anboten, überschrien einander mit schrillen Stimmen. Die Besucher tauschten den letzten Klatsch und die ordinärsten Gerüchte aus. Und aus Tausenden leiser, halblauter oder schreiend über einige Sitzreihen hinweg geführter Unterhaltungen wurde ein Raunen, Summen und Dröhnen, das die Steine erschüttern und die Säulen zum Schwanken bringen konnte. Hier und heute regierte die Ochlokratie, die Herrschaft des Pöbels. Der erste Trommelwirbel ging im Geschrei und Geraune fast völlig unter. Einige Atemzüge später ertönte ein einzelner Lituus mit schrillem Ton, ein kräftiger Chor dieser Instrumente erscholl grell und fordernd, eine laute Kadenz der Tubabläser verschaffte sich Aufmerksamkeit. Gekrümmte Corni und geschwungene Bucini verstärkten die Signale. Die schauerlichen Töne fuhren über die geschmückten Mauern dahin und kündeten an, daß die letzten Kämpfe anfingen. Zuerst hatten die Gladiatoren gegen wilde Tiere gekämpft, die durch Hunger, Brandwunden und Peitschenhiebe rasend
gemacht worden waren. Wer dieses erste Blutbad überlebte, durfte mit stumpfen Waffen an den Schaukämpfen teilnehmen. Sie dienten dazu, den Pöbel in denselben Zustand zu versetzen wie kurz zuvor die Bestien, die aus fernen Ländern und Provinzen kamen. Die besten Schwertkämpfer aus den Gladiatorschulen von Ravenna, Capua, Rom und Padua hatten miteinander und gegeneinander kämpfen müssen. Männer, die lange, entbehrungsreiche Jahre gebraucht hatten, um Freunde zu werden, mußten einander töten. Ich hatte gegen viele von ihnen gekämpft, hatte von ihnen jede nur denkbare Finte gelernt und, was noch wichtiger war, die Fähigkeit, in solchen Kämpfen zu überleben. Obwohl es sich unbestreitbar um die Elite der Kämpfer handelte, retteten sie ihre Kenntnisse nicht davor, zu sterben. Es gab stets einen, der mehr Glück hatte, eine entscheidende Spur kräftiger war oder zu einem bestimmten Zeitpunkt seinen Körper besser schützte. Der letzte Trommelwirbel dröhnte auf. Noch einmal schrien die Signalinstrumente. Das Tor aus doppelt fingerdicken Eisenstäben rasselte vor uns klirrend hoch. Wir hatten in tiefem Schweigen auf diesen Moment gewartet. Es gab kein Zurück. Wir formierten uns zu fünfzehn Zweierreihen und gingen hinaus in die gnadenlose, blendende Hitze der Arena. »Denk daran. Jeder Schlag ist abgesprochen«, sagte der schwarzhäutige Hüne neben mir. Er steckte in der schweren Rüstung eines Murmillionen. Ich trug Netz und Dreizack eines Retiarius. »Im Kampf geht nicht alles nach Plan«, murmelte ich zwischen zusammengepreßten Lippen aus dem Visierhelm hervor. »Wir haben oft und gut geprobt.« »Bei Osiris! Ich hoffe es so sehr.«
»Ebenso wie ich.« Von den dreißig Männern in vier unterschiedlichen Rüstungen und Kampfstilen hatte ich achtundzwanzig mehrmals besiegen können, in harten, aber wenig gefährlichen Kämpfen und nach einer Schulung, die ihresgleichen in Härte und Schnelligkeit suchte. Nur Ekrala war besser als ich. Deswegen würde er mich töten müssen. Wir tauchten im Gleichschritt in die Gerüche des Todes und das hysterische Kreischen der Zuschauer ein. Einer von uns hob den Arm und rief aus der Mitte der Arena zu Caligula hinauf: »Ave, Caesar. Morituri te salutant!« Die Todgeweihten grüßten jenen Herrscher, der gekommen war, um über ihr Leben zu entscheiden. Gelangweilt gab Caligula mit seinem wölfischen Gesichtsausdruck das Zeichen. Auch Ekrala, der Ausbilder in der Gladiatorenschule des Präfekten Marcus Petronius aus Padua, war zu seinem letzten Kampf angetreten. Wenn ich im Sand lag und er Sieger blieb, würde er niemals wieder in der Arena kämpfen. Schweigend gingen wir sternförmig auseinander und stellten uns auf. Hinter den Visieren der Helme gingen unentwegt schnelle Blicke der Verständigung hin und her. Jeder einzelne Gladiator – auch ich – hatte ein Ziel vor Augen, das ihn zur Höchstleistung anspornen würde. Der Plebs auf den Rängen schien es zu spüren, denn die Erregung wuchs. Der Kampf begann fast gleichzeitig an fünfzehn Stellen. Die Samiten mit dem riesigen Schild und der metallenen Schutzschiene am linken Unterschenkel kämpften gegen die Thraker mit zwei ledernen Beinschienen und dem langen, gekrümmten Schwert. Ich warf mein Netz seitwärts aus und senkte den langen Dreizack. Einen Steinwurf rechts von mir wirbelte Publius Thrax, Retiarius wie ich, sein metallkugelbewehrtes Netz wie ein leichtes
Leinentuch über dem Kopf. Signus, der Kämpfer mit dem Fischzeichen auf dem Helm, drang halb geduckt mit blitzendem Schwert auf Thrax ein. Der Abschaum auf den steinernen Sitzreihen begann sich zu benehmen wie eine Meute rasender Hunde, als Thrax mit einem blitzschnellen Drehhebel das Schwert des Signus aus dessen Hand wirbelte und mit aller Kraft zustach. Ich sah, mein Netz auf Ekrala schleudernd, wie Signus von allen drei Widerhaken links neben dem Rand des Schildes in Brust, Lunge und Herz getroffen wurde. Die Enden des Tridents waren drei Finger breit, messerscharf und fast so lang wie eine Handfläche. Die Zuschauermenge schrie geifernd auf. Wieder packte mich der Haß auf dieses Imperium, das heute, siebenhundertneunzig Jahre ab urbe condita, nach seiner offiziellen Gründung, so viel Bürgerpöbel und so wenige Männer voller Würde und Klugheit hervorgebracht hatte und einen solchen Caesar duldete, wie es Caligula war. Ich griff Ekrala mit aller Kraft und Schnelligkeit an, deren ich fähig war. Er verteidigte sich meisterhaft. Binnen weniger Atemzüge waren wir in Schweiß gebadet. Das Sonnenlicht auf dem Sand und den hellen Mauern des Circus Maximus blendete uns. Wir kämpften wie die Rasenden und schafften es, uns nur haarfeine Schnitte, Prellungen und Abschürfungen beizubringen, die nichts bedeuteten und dennoch bluteten. Den sechsten Teil einer Stunde lang – während um uns tapfere Männer, alles unsere Freunde, elend starben – umkreisten wir uns. Ekrala wich immer wieder meinem Netz aus, ich schlug sein Schwert zur Seite, er rammte mich mit seinem Schild und lenkte den Dreizack ab, der sich mehrmals in dem Schutz über dem rechten Arm verfing und den Schild mit tiefen, parallelen Kerben zeichnete. Wir strauchelten, überschlugen uns im heißen Sand, kamen wieder auf die Füße und schlugen abermals klirrend zu. Dann gab Ekrala, dem der Schweiß vom Kinn und
von den Ellbogen tropfte, das Zeichen. Mein Netz senkte sich über seinen Körper. Ich riß an dem Seil und zog die Maschen im selben Augenblick zusammen, als sein Schwert sägend hochzuckte und die Knoten durchtrennte. Ekrala zerriß das Netz, sprang hindurch, als es zu Boden glitt und rammte mich mit dem kleinen Schild zur Seite. Ich wich zurück, stieß ihm den Dreizack in den ungeschützten rechten Oberschenkel und verfing mich in seinem Fußhebel. Sein Schwerthieb traf den Dreizack, prellte ihn halb aus meiner Hand und spaltete ihn in zwei Teile. Ich wurde hart auf den Rücken geschleudert. Sofort saß sein Schwert an meiner Kehle. Wieder betäubte uns das Geschrei der Zuschauer. Ich spürte die schartige Spitze der Waffe in meiner Haut. Das Metall schien glühend zu sein. Außerhalb meines Blickfelds senkte Caligula, den die Macht in den Wahnsinn eingebildeter Verfolgung getrieben hatte, seinen Daumen oder bewegte seine Hand auf eine bestimmte Art. Ekrala stieß erbarmungslos zu. »Wir sehen uns wieder!« hörte ich seine abgehackten, keuchenden Worte. Dann erreichte mich die erste lähmende Stufe des alten Dagor-Kampfkunstgriffs. Spitze und Schneide zerfetzten die Haut, das Gewebe und die Hohlräume. Aus meinem Hals sprudelte hellrotes Blut. ARK SUMMIA und die daraus gewonnenen Erfahrungen der Körperbeherrschung versetzten mich in todesartige Starre. In der Haut zeigten sich ein breiter, klaffender Schnitt und eine furchtbare Wunde. Mein Körper bäumte sich einige Male auf. Der Nubier wurde zum Sieger erklärt. Ich spürte nicht mehr, wie ich aus dem klebrigen Sand zurück in die fensterlosen Zellen im Unterbau des riesigen Rundes aus Quadern gebracht wurde. Irgendwann gelang es Ekrala, mit mir auf den Schultern zu flüchten. Die anderen Überlebenden dieses Kampfes trafen alle nacheinander in unserem geheimen Treffpunkt ein.
Ein halber Mond verging. Für vierzehn Männer war dies eine Zeit voller unerklärlicher Vorgänge. Am fünfzehnten Tag fanden wir uns in einer noch seltsameren Umgebung wieder. Durch Sand und halb abgeweidetes Gras stapfte Ekrala auf mich zu, grinste breit mit seinen schneeweißen Zähnen und machte eine großartige Bewegung mit dem Arm. »Das alles ist für uns, Gladiator?« »Seit dem Moment meines Todes heiße ich Demetrion Atlan. Das solltest du am besten wissen.« »Ich kann’s noch immer nicht fassen, Atlan. Ein neues Leben für uns alle…« Dreißig oder mehr ausgesucht starke, gut zugerittene Pferde weideten am Flussufer. Im Schatten riesiger Bäume lagerten Stapel voller Ausrüstung. Hoch über uns zogen Falken ihre lautlosen Kreise. Ich wußte, wem sie gehorchten. »Ein neues Leben. In Freiheit, aber voll neuer Pflichten, Ekrala.« »Wenn es stimmt, was du uns erzählt hast, wird’s ein Leben voll Fröhlichkeit werden.« Natürlich hatten sich die Männer, deren Arbeit das Töten gewesen war, nicht innerhalb von fünfzehn Tagen geändert. Einige waren sehr nachdenklich geworden. Boote, die rasend schnell durch die Luft schwebten, ein schweigsamer Mann, der niemals zu schlafen und alles zu können schien, am Ende vieler Überraschungen dieser Treffpunkt in unbekanntem Land unter heißer Sonne, vorher noch der überraschende Schock, als mich Arconrik von der Schicht künstlichen Gewebes und tarnender Adern, Bindegewebe und Blutkrusten und dem dünnen Metallschutz um die Halsschlagader befreite. Nur Ekrala hatte gewusst, an welcher Stelle er mich scheinbar tötete. Du darfst sie nicht überfordern, meldete sich der Logiksektor.
Bereite sie in kleinen Schritten vor! »Ihr werdet erleben«, sage ich laut, »daß dort, wohin ich euch bringe, ein ganz anderes Leben herrscht. Es hat keine Ähnlichkeit mit Rom.« »Und der erste von euch«, sagte Arconrik mit harter Stimme, »der sich benimmt wie ein Gladiator, wird von mir so schwer gestraft, daß er niemals wieder daran denken kann.« Überraschtes Schweigen breitete sich aus. Jeder von uns hatte sich seine Pferde ausgesucht, pflegte und sattelte sie. An die Steigbügel hatten sich die Männer, die ihren Körper beherrschten wie kaum ein anderer, sofort gewöhnen können. Ausrüstung war verteilt worden. Auch ich war froh, denn die Falle war nicht zugeschnappt – freiwillig hatte ich nicht in der Arena gekämpft. »Wann brechen wir endlich auf?« »Morgen bei Sonnenaufgang«, sagte ich. Über den Feuern drehten sich Braten, Würste und Fleisch lagen auf Rosten. Salz, Speck und Würzkräuter waren ebenso reichlich vorhanden wie auch Wein in Schläuchen und Amphoren. Seit fünfzehn Tagen hatte sich keiner einen Rausch geholt. Wir waren fünf Tagesritte von der Oase entfernt. »Werden wir kämpfen müssen?« wollte einer meiner narbenbedeckten Freunde wissen. Ich hob die Schultern. Wir waren nicht mehr länger wie Römer gekleidet. Die Maschinen der Unterseekuppel hatten auch neue Kleidung hergestellt. »Nur dann, wenn uns Wegelagerer angreifen. Diese aber werden wir töten müssen«, antwortete ich ernst. Immer wieder näherte sich einer der Falken und strich neugierig zwischen den dünnen Rauchsäulen der Feuer hindurch. Der Raubvogel stieß kurze, auffordernde Schreie aus. Nur Arconrik, der Robot, und ich verstanden sie. »Bald, Khach’t«, flüsterte ich und lachte zu dem Vogel hinauf, »werden wir uns sprechen.«
Zwölf Stunden später ritten wir in einer lockeren Reihe nach Süden und folgten weitestgehend dem Lauf »unseres« Flusses. Ich wußte Narnia in bester Sicherheit; der Roboter korrespondierte ständig mit den Überwachungsgeräten und konnte innerhalb von rund zehn Stunden in die Kuppel einschleusen. Es war auch für mich wieder fremdes Land geworden, durch das wir uns bewegten – und noch immer war es so gut wie unbelebt. Ekrala und ich ritten weit vor der Spitze unserer Karawane, die von Arconrik angeführt wurde. »Und warum hast du uns hierher gebracht?« stellte Ekrala, der Nubier, endlich die entscheidende Frage. Bisher hatte ich ihnen allen nur Versprechungen machen können, die ich bis jetzt hatte halten können, in vollem Umfang. »Eine Siedlung, die rund zweieinhalb Jahrhunderte alt ist, von Arconrik und mir gegründet, braucht Hilfe. Sie braucht Wächter, Arbeiter und Väter gesunder Familien! Sie wurde errichtet von Sklaven, Ausgestoßenen und Wegelagerern, die zu Siedlern und Handwerkern wurden. Sie ist schön und reich. Ihr sollt ein Teil der neuen Bevölkerung werden.« »Bauern? Handwerker? Fischer?« »Was ihr wollt, was ihr lernen könnt. Wir werden euch helfen. Denn wir werden dort ein Schiff bauen, das zu den Sternen fliegt. Du wirst es erleben, mein Freund.« Er sagte lange nichts, und schließlich trafen wir, kurz vor Mittag des nächsten Tages, den »wahnwitzigen Falkner«, den Wächter von ES. Vor einer hochstiebenden Sandwolke, angekündigt durch drei krächzende Raubvögel, galoppierte Khach’t auf einem weißen Hengst heran, der auffallend von schwarzen Streifen gezeichnet war. Auf dem linken Unterarm hockte ein Falke, die Lederhaube über dem Kopf. Ich hielt Ekralas Arm fest. Der Reiter neben mir hatte zum Kampfbeil gegriffen.
»Ein Freund, älter als die Bäume dort am Ufer«, sagte ich und hob beide Arme, winkte. Khach’t kam direkt auf mich zu und parierte dicht vor mir das Pferd. Sand prasselte auf uns herunter. »Willkommen, König der Ausgestoßenen, und Schande über dich, daß du deine zauberhafte Geliebte nicht mitgebracht hast. Sie ist sehr viel hübscher als dein Gesicht.« »Du bist auch nicht schöner geworden«, stellte ich fest. »Und dein Mundwerk klappert wie unsere alte Wassermühle.« »Ex Africa semper aliquid mali!« rief er. »Wollt ihr die Sagen wieder auffrischen? Mit diesen narbigen Gesellen voll von ungehobeltem Benehmen?« »So ist es!« stimmte ich zu. Aus Africa, hatte er gescherzt, kommt stets etwas schlechtes Neues. Wir sprangen aus dem Sattel und umarmten uns. So wie er uns durch die Augen der künstlichen Vögel – oder gab es auch wirkliche, lebendige Tiere darunter? – längst gesehen hatte, kannten wir die veränderte Umwelt, die Grasebenen und die hochgewucherten Bäume, die Ausdehnung der Oase und Khach’ts seltsame Behausung aus den Beobachtungen der Rico-Spionsonden. »In der Oase herrscht Frauenmangel«, sagte er. »Wer ist dieser riesige Brocken aus Schwärze?« »Der schlechte Neue aus Africa. Stell dich gut mit Ekrala. Er hat sich auf ein gewagtes Spiel eingelassen und wurde mein Freund.« Sie begrüßten sich ein wenig zurückhaltender. Wir ritten weiter, und Khach’t unterrichtete uns über den letzten Stand der Dinge. Alle jungen Frauen waren Verbindungen eingegangen, auch mit zufällig getroffenen Männern, die sich von dem Reichtum der Siedlung hatten einfangen lassen. Nicht ein einziges Mal war wirklich ein Überfall verübt worden. Auf uns wartete, sagte Khach’t gräßlich lachend, eine Überraschung.
Langsam näherten wir uns, in achtsamer Entfernung gefolgt vom schwer beladenen Gleiter, der Oase. Ich wartete und hoffte nicht vergeblich. Die bewaffneten Wachen hatten uns bald umzingelt, aber als sie mein Gesicht sahen, wurden sie völlig unsicher. »Bist du es? Demetrion Atlantur?« In der Gladiatorenschule hatte ich mein Haar völlig abrasiert. Jetzt wuchs um meinen Schädel kurzes, nur einen Fingerbreit langes Haar, sehr dicht und fast weiß. Meine Haut zeigte ein gesundes Hellbraun. Wie kam es, daß sie mich trotzdem ohne Zögern erkannten? »Ich bin es. Mit Freunden.« »Und wo ist Arconrik?« Ich deutete mit dem Daumen über die Schulter. Eine Gruppe löste sich und galoppierte, gellende Schreie ausstoßend, zurück zur Oase. Bis wir ihren Rand erreicht hatten, würde sich erstens die Nachricht verbreitet haben, und ein Fest war die unausweichliche Folge. Ich sagte in einem Ton, den Ekrala zu verstehen gelernt hatte: »Sie rüsten ein Fest. Es wird Bier geben, so gut, wie ihr es noch nie getrunken habt. Und ebensolchen Wein. Hör zu: Rührt keine Frauen an! Sie sind alle die Gefährtinnen, Geliebten oder Kindesmütter der Männer. Ihr seid nicht in Rom, wo sich euch die Hetären ohne Bezahlung an den Hals geworfen haben. Achte auf unsere Freunde!« »Es wird nicht einfach sein.« Ich dachte an die getarnten Lähmstrahler und beruhigte ihn mit dem Hinweis, daß es sichere Mittel gäbe. Als wir endlich die Oase erreicht hatten, erwartete uns tatsächlich eine Überraschung. »Es ist die Arkadiane, die Prachtstraße der Legenden«, sagte Khach’t, ohne zu scherzen.
Eine Straße, etwa drei Bogenschüsse lang und so breit, daß drei Gespanne nebeneinander fahren konnten, führte am Teich und dem Tempel vorbei bis zum Hauptplatz. Dahinter erkannten wir »unser« Haus. Die doppelte Baumreihe war mittlerweile unglaublich gewachsen. Einige waren möglicherweise zweihundertfünfzehn Jahre alt, alle waren vorbildlich gepflegt und trugen Blüten oder Früchte. Zwischen ihnen, auf Sockeln aus schwarzem Basalt, kauerten und standen halbe Fabelgestalten, die menschliche Gesichter hatten. Ich und mein fotografisch getreues Gedächtnis erkannten Narnia, Arconrik, Beilarx und, mindestens dreimal, mich selbst, dazu Nabor Thet, einige andere Frauen und Männer. Es waren seltsame, eigenständig künstlerische Darstellungen aus hellem Gestein, die jedenfalls den Ausdruck unirdischer Weisheit trugen und Zeichen der Herrschaft und der Erfindungsgabe. Mein Extrasinn sagte mit säuerlicher Schadenfreude: Der Hüter des Planeten, der Einsame der Zeit, sieht sich selbst ins göttliche Antlitz. Du hinterlässt Spuren wie ein Pharao. Noch schlimmer: Du freust dich auch noch darüber! ES, sagte ich mir im stillen, würde laut darüber lachen. Auf dem Platz zwischen den Häusern stiegen wir aus den Sätteln. Ich erklärte der Menschenmenge – es mochten eineinvierteltausend Menschen in allen Hautfarben von sonnengebräunt bis schwarz sein –, daß wir für einige Zeit wieder zurückgekommen waren, daß wir neue Bürger mitbrachten und wieder einige neue Geräte bauen würden. Nachts landete Arconrik den Gleiter und lud Werkzeuge, Metalle und Bearbeitungsgeräte aus. Mit dem Lähmdolch konnte Ekrala verhindern, daß sich die ehemaligen Gladiatoren unpassend benahmen und Prügeleien mit eifersüchtigen Ehemännern oder noch schlimmere Vorfälle heraufbeschworen.
Es wurde, wie zu erwarten war, ein überschäumendes Fest. Die Probleme indessen stellten sich erst in den folgenden Tagen ein; es kam eines nach dem anderen. Unsere Besuche hier waren zu selten und für zu wenige Jahre, also zu kurz gewesen… Ich blieb nur einen Mond lang in der Oase, als ich in den Schutzzylinder zurückkehrte, war ich sicher, daß die Neuen von der Gemeinschaft aufgenommen worden waren. Ich kannte viele Kulturen. Einige waren grausam und düster gewesen. Aber das Römische Reich versteckte seine kaum gezügelte Dekadenz unter strahlendem Himmel, guten Gesetzen und herrlichen Bauwerken; und halb irre Caesaren regierten den Pöbel und die Legionen. Mich ekelte.
18. Ein leeres, weites Land, das die Römer Carrha nannten, Regnum Parthorum, das Land der Parther. Ich ritt hier eigentlich nur, weil ich versuchte, die Macht des Römischen Reiches wenigstens an einer Stelle einzudämmen, und Rico schützte mich von den Pulten und Monitoren der Schutzkuppel aus – ich ritt allein. Es waren für mich die letzten Tage auf dem langen Weg zur Karawanserei, und es würden auch die letzten Tage meines Aufenthaltes auf dem Schauplatz hier sein – ich hatte versucht, die vielen parthischen Kleinkönige zu einigen, um Rom ein kämpferisches Übergewichts in diesem Raum gegenüberstellen zu können. Ein hoffnungsloses Unterfangen! Ich resignierte und versuchte, mich in meiner Maske als Anführer zu der Stelle durchzuschlagen, an der ich meine wenigen technischen Gerätschaften vergraben hatte. Nicht mehr als sechs Tage trennten mich nur noch vom Ende meines Ausfluges.
»Askhan! Hierher!« schrie einer der Reiter. Ich beugte mich im Sattel vor, setzte die Fersen ein und preschte entlang der Karawane, deren Endziel Palmyra war. Neben dem kleinen Kaufmann, der auf einem riesigen Schimmel thronte, ritt Avroman und deutete nach vorn. Dort, im schwindenden Licht des Tages, zeichnete sich das Gelände als scharfe Linie gegen den Horizont ab. Ich starrte die schwankenden Palmen an und fragte mit ausgedörrten Lippen: »Was gibt es, Avroman?« Er hob die Schultern und sagte scharf: »Dort vorn tut sich etwas. Ich habe niemanden erkennen können, aber ich bemerke Bewegungen. Schließlich sind wir da…« »… um Aramys Karawane mit ihren unschätzbar wertvollen Lasten zu bewachen, ich weiß!« vollendete ich. »Gut, sehen wir nach!« Wir waren fünfundzwanzig Krieger. Unsere kleine Truppe stellte den Rest eines Heeres dar, das sich für nur ganz kurze Zeit zusammengefunden hatte. Rom streckte seine Arme wie ein gieriger Polyp nach allen umliegenden Ländern aus. Gallien, Britannien und viele andere Länder. Nur die Parther widerstanden. Rom fürchtete sie sogar, aber nur dann, wenn sich alle Gebietsfürsten verbündeten, würde die Grenze vor den gierigen Römern sicher sein. Ich zog mein Schwert, rückte den Bogen zurecht und winkte den anderen Reitern. Sie verließen ihre Plätze rechts und links von den Lasttieren und den Treibern und ritten auf Avroman und mich zu. »Habt ihr Römer gesehen?« krächzte einer der Männer. Wir alle litten Durst. Bis zur Quelle, die Avroman kannte, waren es noch mehrere Wegstunden. Wir gehörten nicht zu der Truppe der cataphracti, wie die schwere gepanzerte Reiterei genannt wurde. Wir waren auch nicht Männer der leichten Reiterei, die fast ausschließlich mit Pfeil und Bogen kämpften. Ich hatte diesen kleinen Trupp ausgerüstet und trainiert. Wir vereinigten in unserer Ausrüstung die Vorteile beider Grup-
pen. »Sicher keine Römer; die Bauern und Hirten hätten es gemeldet«, sagte ich. Wir ritten mit mäßiger Eile auf den Punkt der kargen Landschaft zu, den Avroman gemeint hatte. Ich ritt neben dem schlanken Parther. Wir sahen uns kurz an, dann zog Avroman unter dem Rand des spitzen, mit Fell gefütterten Helms fragend die Brauen hoch. Auch er wittert die Gefahr! sagte mein Extrasinn. »Verdammt, Askhan«, murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, »ich habe ein dummes Gefühl. Gewiß, ich habe etwas gesehen. Ich halte es für versprengtes Räubergesindel. Und wenn es wirklich Römer sind…?« Langsam erwiderte ich, die Augen gegen die letzten Sonnenstrahlen abschirmend: »Sie werden der Karawane des kleinen Kaufmanns nichts anhaben. Und wir ziehen uns sehr schnell zurück. Schließlich haben wir frische Tiere.« Ich hob wieder den Arm und deutete dann nach beiden Richtungen. Die anderen Reiter verteilten sich und zogen sich in einer langen Linie auseinander. Die Bogen wurden von den Schultern genommen, Pfeile lagen in den Fingern der Schützen. Langsam ritten wir einen sandigen, mit Felsbrocken und spärlichem Gras übersäten Hang hinauf. Jenseits dieser natürlichen Barriere würden wir ein schüsselförmiges, weites Tal finden, mit Bäumen und Gras für die Pferde. »Gut. Römer kämpfen nicht in der Nacht!« sagte Avroman. Er stellte sich in den Steigbügeln auf und rief nach beiden Seiten: »Seid vorsichtig! Wir haben den ersten Schuss!« Die Reiter schüttelten als Antwort die linken Arme, die Fäuste, in denen die Griffe der langen Bögen ruhten. »Schneller!«
Die Pferde griff stärker aus. Wir stoben den Hang hinauf, direkt in die Sonne hinein. Zwanzig, dreißig Galoppsprünge weiter, und wir erreichten die obere Kante des sandigen Walles. Mein Unbehagen verstärkte sich, als ich am Zügel riß und das Pferd anhielt. »Was hast du?« fragte mein Freund mit dem kurzen Kinnbart. »Es gefällt mir nicht!« antwortete ich und spähte unruhig umher. Unter uns lag ein großes, mit niedrigen Büschen, wenigen Bäumen und viel Gras bewachsenes Tal mit elliptischer Ausdehnung. Nichts und niemand war zu sehen. »Keine Hirten? Das macht mich stutzig?« knurrte Avroman und setzte sich im Sattel zurecht. In seine Haltung kam etwas Wachsames, Gespanntes. Die anderen Reiter blieben dicht unterhalb des Hügelkammes stehen. Als ich mich umdrehte, sah ich die Schlange der einzelnen Packtiere, die sich zu einer bemerkenswert großen Karawane sammelten. Spezereien und Parfüme, Seidenstoffe und seltene Kostbarkeiten waren in den Lasten; bestimmt für die luxussüchtigen Menschen in Rom. Auch ich ahnte, daß hier vor uns eine Gefahr lauerte. Römer? Vermutlich nicht. Seit Wochen hat niemand auch nur eine Spur von römischer Reiterei oder Fußvolk festgestellt, behauptete der Logiksektor. Ich zuckte mit den Schultern und sagte halblaut zu Avroman: »Wir sollten vorsichtig vorausreiten. Dort hinten gibt es eine Quelle, und wenn wir sie erreicht haben, ohne daß wir jemanden sehen, dann gibt es bis Palmyra keine Gefahren mehr.« »Einverstanden, Askhan!« stimmte er zu. »Los! Weiter!« Ich ritt einen ausdauernden Schecken, ein Tier mit schlanken Läufen, einem langen Hals und von einer Schnelligkeit, die die anderen Reiter erstaunte. Alles, was ich brauchte, trug ich in den Satteltaschen oder im breiten Gürtel unter dem Panzer aus
blattförmigen Eisenschuppen. Unsere Truppe ritt an und trabte den flachen Hang hinunter. Unter den Hufen der Tiere stob Sand hoch, feiner ätzender Staub erhob sich von den trocken raschelnden Blättern der wenigen Pflanzen. Zweihundert passuus lang war die Reihe der Reiter, als sie die Zone erreichte, an der feuchter Boden begann. Dort wuchsen mehr Gräser, und die Büsche waren höher. Wir wurden schneller und achteten auf alles, was vor uns lag. Das Licht der Abenddämmerung war noch gut genug, um viel zu sehen. Aber die Schatten störten und täuschten unsere Wahrnehmungen. Wir wußten so viel von Rom – zum größten Teil durch meine Berichte und Schilderungen –, daß wir unser Schicksal voraussehen konnten. Ergriffen uns römische Soldaten, endeten wir in den Fiebersümpfen der Insel Sardinia, in der Arena oder als Sklaven in den Göpelwerken. »Also doch keine Römer!« rief Avroman und nickte. »Mann des schnellen Schusses«, gab ich unterdrückt zurück, »paß auf! Überall dort, wo man Römer nicht vermutet, sind sie bestimmt.« »Bei Astarte!« sagte er verbittert. »Du hast recht.« Einige Zeit ritten, wir weiter. Wir befanden uns vier oder fünf Bogenschüsse rechts vom Karawanenweg entfernt. Wir kürzten ab, während der kleine Händler eine Biegung ausreiten mußte mit seinen schwerfälligen Tieren. Im Schatten und im Gras, zwischen den Büschen und hinter den gelbweißen Felsen sahen wir keine einzige Spur. Vor uns war in den letzten Stunden oder sogar Tagen niemand hier gewesen. Auch keine Tiere, und das machte uns stutzig. Unmerklich waren Avroman und ich schneller geworden und ritten an der Spitze einer Formation, die einem lateinischen V ähnelte. Meine Unruhe steigerte sich nicht mehr. Niemals hatten wir den Fehler begangen, die Römer zu unterschätzen. Weiter! Wir ritten in gerader Linie auf die Quelle zu. Das
heißt, Avroman ritt voraus, und wir folgten ihm. Er schien hier jeden Felsen und jeden Baum zu kennen. In diesem Gebiet war es von lebenswichtiger Bedeutung, so oft Wasser zu finden, wie es die Tiere und wir Menschen brauchten. Noch während wir darüber nachdachten, hörten Avroman und ich gleichzeitig über dem dumpfen Trommeln der mehr als hundert Pferdehufe und über dem Knirschen des Leders einen Laut. Eisen klirrte gegen Eisen. »Römer! Gefahr! Zurück!« schrie Avroman gellend. Die Reiter duckten sich auf die Hälse der Pferde nieder, rissen an den Zügeln und bogen scharf nach rechts oder links ab. Vor uns, die wir weit vorn ritten, tauchte eine eng aufgeschlossene Reihe römischer Kavallerie auf. Das Licht flimmerte auf den Spitzen der Helme. Wir reagierten schnell; unsere Pfeile flogen surrend von den Sehnen und bohrten sich in die Brust der Römer. Dann rissen wir die Pferde herum. Die Römer schrien etwas, das wir nicht verstanden, dann griffen sie an. Sie schlugen mit den flachen Seiten der Schwerter die Pferde und ritten hinter uns her. »Zurück! In die Wüste! Wir locken sie in den Tod!« schrie Avroman laut. Er ritt in unserer Spur zurück. Ich folgte ihm und griff über die Schulter. Die dreikantige Pfeilspitze scharrte entlang des Schildes, der meinen Rücken deckte. Dann ließ ich die Zügel los, drehte mich herum und schoß gezielt dreimal. Hinter uns fielen drei Römer aus den Sätteln. Rechts vor uns schlugen mehrere römische Soldaten einen Parther aus dem Sattel; sein Pferd schleifte ihn durch Büsche und über Felsen. »Nach Carrha, Askhan!« rief mein Freund, der ebenfalls aus der typischen Position der Parther schoß, noch während der Flucht ein tödlicher Gegner. Ich setzte die Sporen ein, und der Schecke wurde abermals schneller. Mit rasendem Galopp hetzte ich im Halbdunkel der Abenddämmerung zwischen den Felsen hindurch. Die Römer mußten uns gesehen und uns
aufgelauert haben. Etwa zwanzig Reiter machten sich an die Verfolgung von uns zwei Reitern. Vermutlich hatte der Zenturio erkannt, daß wir die Anführer waren. »Auf getrennten Wegen!« rief ich zurück und ließ die Sehne los. Der Römer, der mich fast erreicht hatte und mit dem Speer ausholte, griff sich an die Brust, knapp oberhalb des Gürtels, dann sackte er seitwärts aus dem Sattel. Ein Pferd rammte den fallenden Körper. Als ich die Linie erreichte, an der sich Büsche und Gras trennten, sah ich auf dem Kamm die Köpfe von Pferden. Sekunden später preschten zehn oder zwölf Römer über die Barriere und galoppierten auf uns zu. Pfeil um Pfeil verließ die Sehnen unserer Bögen. Ich riß das Pferd nach rechts herum. Ich mußte die beiden Reihen der Reiter ausschalten. Sie griffen von vorn und von hinten an. Mit drei Schüssen holte ich die Männer aus dem Sattel, die mir am nächsten waren. Dann floh ich in die Richtung des Karawanenweges zurück. Ich ritt scharf die flache Anhöhe hinauf. Ich mußte aus diesem Todeskessel herauskommen. Ich preßte mich eng auf den Hals des Schecken, setzte die scharfen Stiefelfersen ein und schlug das Tier mit den langen Enden des Zügels. Dann wandte ich mich halb um und sah, daß meine Verfolger abbogen und auf meiner Spur weiter ritten. Sie hatten mich nicht aus den Augen gelassen, aber mein Vorsprung wuchs von Sekunde zu Sekunde. Wenn ich zusammenrechnete, so schienen mehr als hundert römische Reiter uns aufgelauert zu haben, hier, weit von der Grenze des Regnum Parthorum entfernt. »Schneller!« Ich erreichte den Hang, das Pferd sprang in einem mächtigen Satz darüber hinweg und wirbelt mit den Hinterbeinen eine Sandwolke hoch. Ich taumelte im Sattel, fand mein Gleichgewicht wieder und riß einen der Pfeile mit den panzerbrechenden Spitzen aus dem langen Köcher. Sofort lag das Projektil auf der Sehne, und ich drehte mich im vollen Ga-
lopp um. Eben sah ich, wie zwei weitere Parther aus den Sätteln fielen, getötet von den Speeren und den Hieben der kurzen römischen Schwerter. Sie wollen eure Truppe aufreiben. Vielleicht nur, um Gefangene, Sklaven, zu machen und nach Rom zu schaffen! sagte der Extrasinn. Jetzt ritt ich über die breite Spur der Packtiere. Die Karawane war ruhig weitergezogen; niemand schien unser verzweifeltes Gefecht bemerkt zu haben. In der Dunkelheit sah ich, wie sich aus der helleren Umgebung der Wüste oder Halbwüste um mich herum dunkle Punkte erhoben und näherten. Mit meinen Verfolgern zusammen bildeten sie einen Kreis. »Verdammt! Eine vollkommene Falle!« rief ich wütend und überlegte, was zu tun war. Ich wurde etwas langsamer. Die Atemzüge des Pferdes begannen schon, keuchend zu klingen. Dann wußte ich plötzlich, wie ich aus dieser tödlichen Falle entkommen konnte. Ich drehte mich um, schätzte die Geschwindigkeiten und die einzelnen Positionen der etwa vierzig Reiter ab und erkannte klar, daß sie um mich einen Ring schließen wollten. Avroman konnte mir nicht mehr helfen, und ich ihm auch nicht – einige Tage vor dem Ende dieser meiner mißglückten Mission ereilte mich dieser Zwischenfall. Ich wartete, scheinbar ein in die Enge getriebenes Wild… Dann, als der Radius des unregelmäßigen Kreises nicht mehr als hundertfünfzig Galoppsprünge betrug, begann ich zu handeln. Ich ritt mit schärfster Gangart auf eine bestimmte Stelle des Kreises zu, zwischen die beiden Reiter mit den weißen, wippenden Helmbüschen. Mein Schecke schien zu wissen, welche List ich anwenden wollte. In einem gleitenden Galopp schienen die Hufe den Boden nur noch ganz leicht zu berühren. Dann schwirrte der erste Pfeil von der Sehne. Das halbe Dunkel war mein Freund – ich drehte mich um neunzig Grad
und jagte das Geschoß einem Reiter links von mir in die Brust. Dann fiel der zweite Römer. Ein dritter Pfeil schnellte los, und dreißig Sprünge vor den näher kommenden Reitern ging mein Pferd in eine scharfe Kurve, warf eine Sandwolke auf, als es wie rasend mit den Läufen schlug, der Sand raubte den Angreifern für lange Momente die Sicht. Ich donnerte auf die Lücke zu, die meine Pfeile gerissen hatten. Zwei der Reiter, die meine List im letzten Moment erkannt hatten und auf mich zuritten, schoß ich aus den Sätteln. Dann passierte ich den Ring der Verteidiger und galoppierte hinaus in die Wüste, die dunkler und dunkler wurde. Ich richtete mich im Sattel auf, lächelte kurz und ließ den kühlen Wind um mein Gesicht fächeln. Im gleichen Augenblick stolperte das Pferd und wieherte grell auf. Noch ehe ich meine Füße aus den Steigbügeln reißen und mich zusammenrollen konnte, flog ich in hohem Bogen aus dem Sattel. Ich schlug auf, rollte zur Seite und schlug mit dem Kopf mit voller Wucht an einen Felsen. Das letzte, was ich sah, waren drei römische Kavalleristen, die auf mich zuritten. Dann wurde ich bewußtlos. Als ich wieder zu mir kam, war ich gefesselt. Ich lag neben einem Lagerfeuer, meine Handgelenke waren an einen abgebrochenen Lanzenschaft gebunden. Man hatte mir alles abgenommen, was ich besaß; nur noch die Stiefel und die Kleidung konnte ich spüren. Und als ich mich bewegte, auch mein eisernes Amulett – den getarnten Zellschwingungsaktivator. Du bist gefangen! Du hast im Augenblick keine Chance, zu dem Versteck der Gleitersteuerung oder des Gleiters zu kommen. Versuche, auf dem Weg nach Rom zu entkommen! sagte mein Extrahirn. Das alles wußte ich selbst. Eine Stimme, die einem angetrunkenen Römer gehörte, sagte zwischen den Zelten hervor: »Dieser weißhaarige Partner hat fünfzehn unserer Männer getötet! Sie werden ihn auf der Galeere in Streifen peitschen!«
Ich wußte, daß ich kurz vor dem Ziel gestolpert und in eine Falle geraten war, aus der mich nur ein wunderbarer Glückszufall befreien konnte. Mein Körper schmerzte an allen Stellen, an denen mich die Stiefel und Lanzenschäfte der Römer getroffen hatten. »Marcus Vinicius wird einen solchen Kämpfer als Gladiator brauchen können!« sagte ein anderer Zenturio. »Bei Zeus! Und die anderen Parther?« »Sechs sind tot. Die anderen geflohen. Wir haben die Anführer – jedenfalls!« Am anderen Tag, nach einem dürftigen Essen und einigen Peitschenhieben, brachten sie mich, an ein Pferd gebunden, in die nächste Garnisonsstadt. Wiederum vier Tage später sah ich, eingekeilt in einen Haufen Gefangener und begleitet und scharf bewacht von verwundeten und abgelösten Soldaten, die Masten der Galeere im Hafen schaukeln. Die Falle war zugeschlagen!
19. Der große Hafen Ostia lag westlich Roms; ich haßte diese Stadt. Ich haßte die Menschen, die sie bewohnten. Ich haßte die Art, wie Rom als neue Hydra ihre Köpfe nach allem ausstreckte. Es gab einen Mann, den ich noch mehr haßte – das war der dunkelhäutige, fette Kerl, der auf der Planke des Zwischenganges hin und her ging und uns mit seiner Peitsche prügelte, wenn wir seiner Meinung nach die gewaltigen Ruder nicht kräftig genug durchzogen. Wir alle waren an das Schiff gekettet, das jetzt die Leuchtfeuer und die Rauchsäulen der äußersten Hafenpunkte passierte. Von Antiochia bis hierher hatten wir, mit nur einem Tag Ruhe, ununterbrochen gerudert. Vier Männer waren an Entkräf-
tung gestorben und den Haien vorgeworfen worden. Aber in wenigen Stunden würde das Rudern aufhören – vielleicht nur deshalb, weil wir den Hafen der Stadt Rom erreicht hatten und eine neue Teufelei auf uns wartete. Oder auf einen Teil von uns. »Ich hoffe, daß ich in meinem Leben niemals wieder ein Schiff sehe!« flüsterte ein ausgemergelter Syrer neben mir. Wir wußten inzwischen fast alles voneinander; ich hatte ihm gesagt, daß ich ein wandernder Söldner sei. »Ich hoffe, daß ich in einer dunklen Gasse den Mann mit der Peitsche sehe«, sagte ich ebenso leise. »Mein Dolch ist ihm sicher.« »Unnötig. Die anderen hier unter Deck reißen ihn mit bloßen Händen in Fetzen!« Das Schiff näherte sich der Mole. Kommandos ertönten. Die Ruder wurden eingezogen, das Schiff wurde vertäut. Wir waren am Ziel. Für jeden von uns auf diesem Schiff, an oder unter Deck, sah dieses Ziel anders aus. Für die meisten hieß es: Tod. »Du willst flüchten?« fragte der Syrer. »Ich versuche es!« stimmte ich zu. Einen Tag später wußte ich, daß an eine Flucht nicht zu denken war. Ein schwarzhaariger Römer betrat den Raum der Ruderer und rümpfte die Nase, als er den Schweißgestank einiger hundert Menschen roch. Er ging auf der Planke entlang und musterte uns schweigend. »Das ist Vinicius. Marcus Vinicius, genannt der Schlächter!« sagte mein Nebenmann, als Marcus außer Hörweite war. Er kam zurück und deutete auf etwa fünfundzwanzig von uns. Der letzte, auf den sein ringgeschmückter Zeigefinger deutete, war ich. »Bringt sie nach oben. Ich werde mir einen kleinen Triumph
gönnen!« sagte er. Ich starrte den »Schlächter« schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht an. Ein scharfer Peitschenhieb traf mich, als sich der Schlüsselträger bückte und vorsichtig, geschützt durch die Lanzen einiger Zenturionen, die Kette löste. Nacheinander standen mit zitternden Knien fünfundzwanzig Männer auf und wurden hinausgebracht. Wir taumelten und blinzelten, als wir das Leck erreichten und uns im hellen Licht des Vormittages befanden. Ein stechender Geruch nach gebratenem Fisch, der von einem der vielen Lagerhäuser Ostias herüberwehte, ließ unsere Mägen knurren. Ich hielt mich, wie ich hoffte, unauffällig im Hintergrund und musterte die Erscheinung des Vinicius sehr genau. Ein großer, kräftiger Mann. Er sah in der funkelnden Rüstung nicht schlecht aus, aber unverkennbar waren Grausamkeit und Härte in seinem Gesicht. Er war glattrasiert, und daher war seine Gesichtshaut gerötet. Etwa vierzig Jahre alt, etwas zuviel Fett, aber ein Stier von einem Mann. Wenn er wütend war, würde er einen Mann mit einem einzigen Faustschlag töten können. Vielleicht hatte ich irgendwann einmal Gelegenheit, ihm zu beweisen, was ich von ihm dachte. »Ihr Gesindel«, sagte er mit verachtungsvoller Stimme zu uns, »werdet jetzt wieder angekettet. Ihr werdet meinem Wagen folgen. Wenn einer stolpert – und ich rate keinem, zu stolpern oder gar umzufallen –, wird er so lange gepeitscht, bis er weiterlaufen kann. Los jetzt, mein Wagen wartet!« Ehe wir über eine wippende Planke getrieben wurden, hörte ich noch, wie ein betrunkener Legionär lallte: »Und mein Vater, er hat leibhaftig gegen Vercingetorix gekämpft!« Mein Einzug in Rom war mehr als bitter. Ich selbst, ein ausgemergeltes Etwas mit wucherndem Bart, ungewaschen und mit vielen entzündeten Wunden von Insektenbissen, mit den Striemen der Peitsche auf dem Rücken, halb verhungert, halb
verdurstet, mit zerfetzten Stiefeln und vor Dreck starrenden Kleiderfetzen, mit blutenden Handflächen, war mit den Handgelenken an eine Kette gefesselt, die durch einen Ring an meinem Hals führte. So trottete ich als siebzehnter in einer langen Reihe von Gefangenen hinter dem prächtigen Gespann des Vinicius her. Die engen, lärmerfüllten Straßen der Millionenstadt hallten wider von dem Geräusch der Felgen. Kinder und Sklaven starrten uns neugierig an. Zwei Stunden lang taumelten und stolperten wir durch die stickigen Straßen, dann schien Marcus Vinicius sich genügend lang gefreut zu haben. Wir wurden von seinen Männern in ein Gefängnis getrieben, wo man uns in übelriechende Zellen sperrte, in denen Ratten, stinkendes Stroh, Feuchtigkeit und der Abschaum aller römischen Provinzen auf uns warteten. Als ich meinen Kopf drehte und mich gegen die triefende Mauer lehnte, sah ich in das Gesicht des Syrers. »Askhan, verzweifle nicht. Noch haben wir unser Leben!« sagte Ktesios. »Das ist immerhin etwas«, murmelte ich. »Andere haben noch weniger.« Ich wurde müder und müder. Und hungriger. Tiefe Verzweiflung überfiel mich. Mit Ausnahme des Aktivators war ich aller meiner Möglichkeiten beraubt. Ich besaß nur noch meinen Lebenswillen, einen Rest von Kraft rätselhafter Herkunft; ein Gefühl der Todesahnung ergriff von mir Besitz. Ich befand mich am äußersten Ende der sozialen Skala dieses arroganten, bösen Volkes, dieser verschwenderischen und häßlichen Stadt. Meine Gedanken vollführten einen wilden Totentanz, wenn ich an die Stationen seit dem Tag des Entschlusses dachte, an dem ich meine Mission abbrechen wollte. Hätte ich es doch getan! Versuch zu schlafen. Du bist schon aus übleren Situationen herausgekommen, drängte der Logiksektor.
Tatsächlich schaffte ich es, einzuschlafen. Meine letzten Gedanken beschäftigten sich mit meinem Abenteuer im Rom des Caligula. Hätte ich nicht versucht, mich gegen Rom zu stellen, wäre ich glücklicher gewesen. Langsam, mit jedem Atemzug, schien mein ausgemergelter, geschundener Körper neue Kraft zu schöpfen. Ich ahnte nicht, daß sich eine Waagschale des Schicksals jetzt, in diesem Augenblick, zu heben begann. Das Fest war in vollem Gang. Die Hora duodecima war vorüber, die sechste Stunde nach Mittag. Claudius Drusus Germanicus Nero sah den tanzenden Mädchen aus Gades bei ihren lüsternen Bewegungen zu, einen Becher voller mulsum, Honigwein, in den kurzen Fingern. Er winkte nach links, und ein Page neigte sich zu ihm. »Dieser aufgeblasene Kerl, der Vinicius – ich habe seinen Namen, glaube ich, bereits gehört. Ist er hier?« Nero war betrunken, wie so häufig. Aber sein Verstand funktionierte noch immer mit überraschender Klarheit. Er sah alles durch einen Nebel, und bald würde er das Fest für kurze Zeit verlassen und die Speisen und den dicken Wein wieder herauswürgen müssen. Der Page sagte leise: »Caesar, der Mann, dessen Name du nanntest, liegt dort auf dem lectus.« Er deutete diskret an den halbnackten Mädchen vorbei auf einen Römer in sorgfältig geordneter Toga, der mit einem braunhaarigen Mädchen schäkerte und seine Finger an ihrem Hals entlangwandern ließ. »Hol ihn her. Er kam aus Antiochia? Von den Parthern, nicht?« »So ist es. Er trieb Gefangene mit sich.« »Aha. Hole ihn. Gleich!« Nero zwickte den Pagen ins Ohr und lachte. Dann stellte er
einen Fuß auf den Marmor des Bodens, rülpste und trank wieder einen Schluck Wein. Er zerkrümelte achtlos ein Stück Gebäck, dessen Reste auf das zinnoberrote Sägemehl auf dem Boden rieselten. Es war fast das hundertzehnte Jahr nach dem Tod des Gajus Caesar, und Nero fühlte sich wohl: Er hatte seinen Stiefbruder Britannicus vergiftet, hatte seine Mutter Agrippina ermorden sowie die Gattin Octavia töten lassen und Popaea Sabina geheiratet; von einer Verschwörung wußte er nichts. Es war ein schönes, wenn auch anstrengendes Leben. Wenn nur diese verdammten Regierungsgeschäfte nicht wären. Man müßte etwas tun. Vielleicht ein Gespann bei den olympischen Spielen lenken, dachte er, als er sah, wie sich der Tribun erhob und zwischen den niedrigen Tischen und den Sitzbetten auf ihn zukam. Er bezeugte ihm die Ehren und wartete. »Erfolgreich gewesen, Marcus Vinicius?« fragte Nero lauernd. Sicher hatte der Mann aus dem Partherreich etwas Originelles mitgebracht. »Ziemlich. Die Grenze, o Caesar, ist ruhig. Wir haben noch in den letzten Tagen vor meiner Abreise einen parthischen Trupp aufgerieben.« Nero lächelte ihn an. Schweiß lief über sein Gesicht. Wenn Caesar lächelt, dachte der Krieger, dann plant er eine Teufelei. Er atmete langsam und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Einen parthischen Trupp, nicht? Du hast, wie ich hörte, einige der Kreaturen an einer Kette hinter deinem Wagen laufen lassen?« Marcus verbeugte sich. »Es war der schnellste Weg zum Gefängnis. Fünfundzwanzig Männer. Parther und Syrer. Und andre. Sklaven und Material für die Arena. Ad bestias.« Nero wedelte mit der Hand und verschüttete Honigwein auf sein kostbares Gewand. Die vielen Ringe an seinen dicken
Fingern funkelten im Licht der zahlreichen Öllampen. »Das überlasse mir, Tribun. Etwas darunter, das ich brauchen könnte?« Marcus zog die Schultern hoch, ordnete verlegen eine Falte der Toga und sagte leichthin: »Vielleicht ein riesiger Mann, mehr als dreißig Jahre alt, der in einer halben Stunde fünfzehn der besten berittenen Krieger tötete.« Nero ließ beinahe seinen Becher fallen und fragte mit gefährlicher Schärfe: »Und…?« Marcus wußte nicht, ob und wann er die richtigen Antworten gab. Er überließ sein Glück den Göttern. »Ich habe ihn an die Galeere gekettet«, erwiderte er leise. »Er hat, unterstützt von einigen Peitschenhieben, tüchtig gerudert. Ich dachte, ihn dir zu schenken, wenn ich ihn aus dem Gefängnis geholt habe. Er wird ein guter Gladiator werden. Ich denke…« Nero starrte den Mann, der einmal für die Stelle des Proconsuls vorgeschlagen worden war, schweigend an. Marcus fühlte, wie er gleichzeitig fror und schwitzte. Er blickte in das weiche, runde Gesicht des Caesars, und Furcht überkam ihn. »Im Gefängnis?« »So ist es, Caesar.« Nero zog eine Frau an sich die gerade an ihm vorbeitanzte. Sie setzte sich auf seine Oberschenkel und wartete schweigend. Alle zitterten vor ihm. »Fünfzehn Männer in einer halben Stunde? Du hast einen Gott gefangen, Marcus!« »Nein. Nur einen weißhaarigen Parther, der alle Strafen schweigend erduldete und noch immer lebt.« Nero sagte mit brutaler Deutlichkeit: »Du bist ein Kretin, mein Lieber. Du willst Proconsul werden und weißt nicht einmal, was du zu tun hast. Ein Mann, der in solch kurzer Zeit – was ist er, sagtest du?«
»Söldner, der für Regnum Parthorum kämpfte, Caesar!« antwortete Vinicius und bemühte sich, Nero das Zittern seiner Hände nicht zu zeigen. »Ein solcher Mann muß für Rom gewonnen werden! Für mich, für Caesar. Für unsere Sache! Du hättest ihn auf deinem dreckigen, schleichenden Schiff mit africanischen Feigen, Hammelnieren und braunkrustigen Frischlingen bewirten sollen! Du hättest ihm die schönsten Sklavinnen auf das sternenbeschienene Deck legen und ihn mit Wein aus Marsala oder Falerner bewirten sollen. Du bist und bleibst ein unfähiger Narr, Marcus. Es tut mir leid, dir dies sagen zu müssen. Hast du gut gegessen?« Vinicius nickte schweigend. Er wurde abwechselnd bleich und feuerrot. Er wußte, daß, wenn Caesar scherzte und sarkastisch wurde, unter Umständen Köpfe rollten oder Männer in die entlegensten Provinzen geschickt wurden. Er schluckte. »Ich habe gefehlt, Caesar. Was befiehlst du?« »Bring ihn her! Eile dich, wenn du morgen noch deinen Rang besitzen willst.« Marcus senkte den Kopf und verließ langsam den Saal, in dem das Fest ungehindert seinen Fortgang nahm. Niemand sah ihm nach, nicht einmal die junge Frau, die die gierige Hand Neros auf der Haut spürte und plötzlich fror. »Er ist ein gutaussehender Narr, nicht?« fragte Nero. »Er hat einen scheußlichen Akzent. Und einen Weinfleck auf der Toga«, sagte sie. Sie stellte nur einen winzigen Teil derjenigen Truppe von Mädchen und Knaben dar, Tänzern, Musikanten, Rezitatoren und Sklaven, die das Fest verschönern sollten. Wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, wurden sie vergessen. Neros Feste zogen magisch alles und jeden an, der in Rom Zerstreuungen einer höheren Stufe suchte, was gleichbedeutend mit größerem Raffinement war und mit Perversion. Nero war auf diesen Mann gespannt, der Rom innerhalb
kurzer Zeit fünfzehn Männer gekostet hatte. Er, der Caesar, würde versuchen, sich dafür zu rächen, indem er den Barbarensöldner mit Aufträgen beschäftigte, die ihn im Auftrag Roms umbrachten. Sehr langsam, fein abgestuft und mit Delikatesse. Der Caesar war im Ersinnen neuer Scheußlichkeiten ebenso geschickt wie im Ausdenken solcher Aufträge. Sein Einfallsreichtum übertraf sogar den der beiden Gallier, die zu Julius Caesars Zeiten Rom heimgesucht hatten. Ihre Kraft und der Barde, den sie mitbrachten, erschreckten die Gladiatoren im Circus Maximus ebenso wie der schauerliche Gesang des Barden die wilden bestias. »Bringt mir noch etwas von den Trüffeln und den gewürzten Pilzen!« schrie Nero und schleuderte seinen Becher nach einem Küchensklaven. Nicht ganz eine Stunde später kam ein Page und sagte, Marcus Vinicius warte mit dem Barbaren. Nero brauchte nicht mehr zu überlegen. Er forderte leise, hinter vorgehaltener Hand: »Er soll ihn auf das Podium der Musiker bringen. Und dann bitte ich mir Stille aus – ich will reden!« Das hätte dieser vertrocknete alte Narr sehen sollen, sein einstiger Lehrer, Lucius Annaeus Seneca, dessen Bruder Junius Gallio ein Proconsul in Korinth war. Nero grinste in sich hinein. »Vorwärts, du Kretin!« Ich erhielt einen Stoß mit dem Knie in den Rücken und taumelte die Stufen hinauf. Wir gingen schnell an prächtigen Säulen vorbei, an Reihen von weißen Statuen, an vergoldeten und bemalten Wänden von barbarischer Pracht. Der Lärm, der Geruch und die Musik eines Festes mit vielen Personen schlugen mir entgegen. Plötzlich überfielen mich Hunger und Durst. Ich taumelte und konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.
Atlan! Kristallprinz aus dem Geschlecht der Gonozal! Raumadmiral – beherrsche dich noch kurze Zeit! beschwor mich mein Extrasinn. Ich atmete mehrmals durch und beherrschte mich. Zwei Vorhänge glitten zurück, und ich sah in einen runden Saal hinein, der mit Hunderten von Menschen gefüllt war. Bisher hatte ich nur Nero keifen hören können – nun würde ich ihn sehen. Cui bono? dachte ich; wem würde es nützen? Etwa mir? Köstliche Speisen waren aufgehäuft und übereinander geschichtet, auf goldenem und silbernem Geschirr auf kleinen Tischen. Die Menschen lagen auf Ruhebetten. Marcus packte mich und stieß mich nach rechts. Wir folgten einem Pagen, der uns auf dem Podium stehenließ, auf dem die Musiker ihre weiche, zirpende Musik verbreiteten. Es dauerte einige Zeit, bis Musik und Gespräch nach und nach aufgehört hatten. Eine beklommene Stille trat ein. Alle Augen richteten sich auf einen mittelgroßen, leicht verfetteten Mann mit kleinen, grausamen Augen, der auf einem lectus mit einem mäßig hübschen Mädchen herumspielte. Ich war immerhin noch in der Lage, exakt und analytisch zu registrieren. Das mußte Nero sein! Der grausame Herrscher dieses pervertierten Roms und der Legionen. »Soso. Das also ist dein Wunder-Barbar!« sagte Nero. Er hatte eine faszinierende Stimme. Leise und scharf, zugleich diszipliniert, und dahinter schwang eine gewisse Grausamkeit mit. »So ist es, o Caesar!« sagte Vinicius, legte die Faust an die Brust und verbeugte sich. Ich starrte bewegungslos und durch meine Fesselung nach vorn gekrümmt, den Caesar an. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich rund um mich unruhige Bewegungen und unschlüssige Mienen. Etwas bahnte sich an. Noch verstand ich es nicht. Nero machte eine umfassende Geste, dann sagte er: »Eine heitere Geschichte, meine Freunde – und Freundinnen.« Er
kicherte wie ein Weib. »Dieser Mann, einst zum Proconsul vorgeschlagen, ich meine unseren schwarzhaarigen Marcus Vinicius, hat einen fürwahr erstaunlichen parthischen Barbaren gefangen. In einer halben Stunde tötete dieser Mann fünfzehn unserer besten Soldaten.« Nero machte, während ein überraschtes Murmeln anschwoll, eine übertriebene Geste der Trauer. Jetzt konzentrierte sich das Interesse der Gäste auf mich. Ich blickte in die Gesichter und versuchte, meine Lage richtig zu beurteilen. Würde ich dieses Fest überleben? Jedenfalls konnte ich nichts tun – ich war noch niemals auf Larsaf III so ausgesprochen hilflos gewesen. »Nun ist Marcus ein Mann von Konsequenz und großem Weitblick. Er kettete diesen Parther an die Galeerenbank, prügelte ihn tüchtig und ließ ihn bis nach Ostia rudern. Anstatt, wie ich es mehrmals vorschlug, ihn für Rom zu gewinnen. Männer von solch hohem Mut, erfahren in den Kriegskünsten, bringen es weit in der Armee und mehren Ruhm und Reichtum von Rom. Marcus machte also einen Fehler. Damit er ihn korrigieren kann, befahl ich den Barbaren hierher.« Ich atmete langsam und fühlte, wie mir der Anblick der Speisen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Nero deutete mit einer Hand auf meine jämmerliche Gestalt. »Warum, mein Freund«, fragte er mit falscher Milde, »hast du so viele unserer Soldaten getötet?« Ich sah ihn an und schwieg. Marcus neben mir bewegte sich. »Antworte, du Wurm, wenn Caesar mit dir spricht!« brüllte er. Er versetzte mir einen Faustschlag, der mich drei Meter weit die Stufen hinunterwarf. In dieser Sekunde schwemmte meine Wut alle Beherrschung weg. Und wenn ich starb – ich würde es ihm heimzahlen. Ich hörte, wie Caesar sagte: »Wieder einmal ist das bemerkenswerte Temperament Vinicius’ mit ihm durchgegangen. Hilf ihm auf die Beine, Marcus. Schnell!« Das letzte Wort brüllte Nero.
Ich stand wieder neben meinem speziellen Freund. Ich hatte ihn, ohne es zu wollen, mehrmals gedemütigt. Ich holte tief Atem. Dann spannte ich meine Muskeln an, drehte mich blitzschnell, ballte die gefesselten Hände zur Faust und schlug sie Marcus in den Magen. Er knickte zusammen, und mein Knie schnellte hoch und traf genau sein Kinn. Dann ließ ich mit der letzten Kraftanstrengung, deren ich fähig war, die Handkanten voll in seinen Nacken krachen. Der Mann gab ein lang gezogenes Stöhnen von sich, fiel nach vorn und rollte die Stufen hinunter und in eine Gruppe von Gästen hinein. Weinkrüge, Becher und Schüsseln polterten von den umstürzenden Tischen und verursachten einen Höllenlärm. Ratlos begannen die Musiker wie besessen zu spielen und zu schlagen. Jemand setzte Kastagnetten ein, gleichzeitig erhoben sich Schreie, verwunderte Ausrufe und ein lautes Gemurmel. Nero sprang auf, schmetterte eine riesige silberne Schüssel zu Boden, von der die Reste eines Wildschweinbratens flogen. Ein klirrender Krach. Dann seine laute Stimme: »Ruhe! Ihr habt gesehen, welch wunderbares Maß an Kraft, Stärke und Klugheit dieser Mann besitzt!« Ich atmete schwer und starrte ihn an, über zwanzig Meter Entfernung hinweg. Nero kam langsam näher. Darin fragte er, und ich glaubte, zum erstenmal eine gewisse Ehrlichkeit zu bemerken: »Warum hast du so erbarmungslos gekämpft?« »Ich wußte, was mich in Rom als gefangener Kriegssklave erwartet. Die Tiere, die Galeere, die Peitsche. Jedes Tier wehrt sich, wenn es die Freiheit verlieren soll. So auch ich, Caesar Nero.« »Wer bist du?« »Ein freier Mann, wenn meine Fesseln gelöst sind!« sagte ich hart. »Kein Bürger Roms. Ich bin ein Söldner im Dienst der Parther gewesen.«
Nero nickte nachdenklich und betrachtete mein verfilztes Haar, das mir ins Gesicht hing. »Wie heißt du?« »Askhan Arcon!« sagte ich. »Hör zu!« Nero schnalzte ungeduldig mit den Finger. »Ich will großzügig vergessen, daß du Vinicius ein paar Zähne ausgeschlagen hast; er ist noch immer ohne Besinnung. Ich gebe dir die Freiheit und die Möglichkeit, dich zu bewähren. Du wirst im Dienst Roms und für Rom kämpfen, wenn ich es will?« »Ein Söldner kämpft für den Herrn«, sagte ich und ließ mir die Überraschung nicht anmerken, obwohl mich die Hoffnung durchfuhr wie ein Blitzschlag, »der ihn bezahlt. Er kämpft besser, wenn er gut bezahlt wird.« Blitzschnell frage Nero weiter: »Du kannst eine Legion führen, Arcon?« »Ich zweifle nicht daran. Ich konnte jedenfalls ein parthisches Heer führen«, sagte ich. Nero winkte und sagte leise – »Du wirst also dem Caesar dienen, Arcon. Du wirst dich zuerst erholen. Einer meiner kleinen Möchtegern Feldherren ist unter unerklärlichen Umständen umgekommen. Er hat ein kleines Gut draußen vor der Stadt. Dort kannst du dich ausruhen. Du findest alles, was du brauchst, in dem kleinen Haus. Und zu gegebener Zeit erhältst du von mir eine Aufgabe. Vergessen wir das Ungemach der Reise; Wunden heilen, die Zeit läßt alles vergessen.« Das denkst du, dachte ich grimmig. Ich vergesse nichts! Für mich war es erst einmal wichtig, zu überleben. Ich hatte keine andere Wahl, als sein Angebot anzunehmen. Er kalkulierte psychologisch sehr geschickt. Ein Söldner, dem man die Freiheit wiedergab und ihn auch noch belohnte, würde seinen Ehrgeiz einsetzen, um auf seine Art diese Vorteile zu bezahlen.
»So ist es, o Caesar«, sagte ich. »Außerdem habe ich seit Antiochia nichts mehr gegessen.« Nero winkte nach hinten. Ein paar Diener stürzten auf ihn zu, und er gab seine Anordnungen. Zuerst wurden die ledernen Riemen durchgeschnitten, die meine aufgescheuerten Handgelenke fesselten. Dann brachte man mich in einen anderen Teil des Palastes. Ehe man mich badete, ehe der Barbier sich an meinen Bart und mein Haar machte, aß und trank ich mich erst einmal satt. Das Haus des toten Vipasca lag weit vor den Toren Roms; man hatte mich über die Via Appia nach Osten gebracht. Felder und Haine mit Olivenbäumen und Weinreben umgaben das Bauwerk mit allen seinen Ställen und Sklavenwohnungen. Es glich mehr einem großen, verwahrlosten Gutshof als einem Landsitz. Jedenfalls erwachte ich am nächsten Mittag und fühlte mich zerschlagen, müde und hungrig. Selbst mein Zellaktivator wirkte keine Wunder. Ich würde Wochen brauchen, um mich richtig zu erholen. Jedenfalls mußte ich handeln, solange ich eine gewisse Macht und einen zeitlich begrenzten Einfluß besaß. Ich mußte aus Rom fliehen. Das bedeutete, daß ich eine Reihe wohlüberlegter Schritte unternehmen mußte. Zuerst brauchte ich jemanden, der mich über die wahren Verhältnisse Roms genau und zuverlässig aufklärte. Wer könnte dies tun? Was war wichtig? Zuerst deine engste Umgebung. Versuche, dich zu erholen und die Lage zu klären. Zeige den Dienern, wer du bist, was du kannst. Du brauchst nichts dringender als Freunde und Vertraute, sagte der Extrasinn warnend. Ich ging im Verlauf der nächsten fünfzehn Tage in kleinen Schritten vor. Zunächst ließ ich das verwilderte Haus reinigen, baute mir ein bequemes Bett, einige Tische und einige bequeme Sessel, die für jeden, der sie sah, eine ungewohnte Neuig-
keit darstellten. Die Römer standen entweder, oder sie lagen auf jenen merkwürdigen, für mich unerträglichen Liegen des Modells lectus. Ich kochte Seife und parfümierte sie mit Kräutern, ich ließ Rasiermesser schleifen, ließ neue Läden vor den Fenstern schreinern, mit lichtdurchlässigem Pergament bespannt oder mit schräggestellten Lamellen. Ich entwickelte mit beträchtlicher Eile einen Räderpflug, der schnell Anklang fand – das Gerücht von dieser »Erfindung« eilte bis zu Nero, der mir daraufhin 50.000 Sesterzen schickte und einen kurzen Brief, daß er gewusst habe, wie wertvoll ich sei. Ein kleiner Trost. Ich unterhielt mich mit den Sklaven und Dienerinnen und fand mehr und mehr über die wahren Machtstrukturen heraus, über Sitten und Bräuche und alles, was ich wissen mußte, um mich in Rom so sicher zu bewegen wie ein Fisch im Wasser. Gleichzeitig erholte ich mich. Ich mied den Genuß von allzu viel Wein und trainierte meinen Körper. Für unsere Küche konstruierte ich einen neuen Ofen mit einem hervorragenden Rauchabzug. Ich kaufte Stoffe und arbeitete mit dem Geld. Schließlich gelang es mir, den Syrer Ktesios freizukaufen. Nach einer kurzen Zeit begann er aufzuleben – er fühlte sich wie ich, nachdem mich Nero befreit hatte. Es war der zwanzigste Abend, den ich hier verbrachte. Bisher hatte niemand meine Ruhe gestört. Ich begann, mich wieder kräftig und handlungsfähig zu fühlen. »Askhan Arcon – du bist mein Vater und meine Mutter, mein Götze und mein Leben«, sagte Ktesios. Wir saßen in den fellbezogenen Sesseln, neben uns ein Glutbecken. Auf dem Tisch lagen die Reste des Essens. »Red keinen Unsinn. Du bist, nach römischem Recht, mein persönlicher Besitz. Mein Sklave. Und schon habe ich für dich einen Auftrag. Du kennst Carrha im Partherland?«
»Flüchtig. Ich weiß, wo dieser Ort liegt«, sagte er leise. »Was hast du dort noch verloren?« Ich griff nach dem Pergament, auf dem ich die Zeichnung angefertigt hatte. Ktesios beugte sich vor, las die Bezeichnungen und sagte dann: »Das ist ein Teil der Küste. Ich glaube, ich kenne ihn.« »Gut. Du wirst mit größter Eile dorthin reisen und holen, was ich hier«, ich deutete auf die Stelle, »vergraben habe. Besonders folgende Gegenstände sind wichtig.« Ich ging ein Risiko ein, indem ich den Mann, der neben mir das Ruder der Galeere bewegt hatte, mit einer derart heiklen Mission betraute. Aber ich konnte Roms Bannkreis nicht verlassen. Er würde es schaffen, gerissen und listenreich wie er war. Wenn er es schaffte, nur zwei der bewußten Gegenstände hierher zu bringen, konnte ich mit dem Roboter Rico in meinem Tiefseeversteck in Verbindung treten, und alle Probleme waren fast völlig ausgeschaltet. Wir redeten bis tief in die Nacht darüber, dann wußte er ganz genau, was er zu tun hatte. Er war mir in einem Maß dankbar, daß ich Vertrauen zu ihm haben konnte. Zudem waren die Gegenstände für ihn absolut wertlos. »Wie lange wirst du brauchen?« fragte ich. »Vierzig Tage ungefähr«, sagte er. »Wenn ich schnelle Pferde kaufen kann, wenn ich mit Bestechung arbeite und im Schutz von Masken und Dunkelheit, bin ich nach dieser Zeit wieder hier. Du gibst mir einen Schutzbrief mit?« »Eine gekonnte Fälschung, mein Freund!« versicherte ich. »Jeder Zenturio, der lesen kann, wird dir helfen.« »Gut. Und jetzt zu dir, Arcon.« Ich war neugierig, was er vorschlagen würde. Ktesios war der Sohn einer syrischen Dirne und eines römischen Feldherrn. Seine Erziehung war eine fugenlos ineinander greifende Mischung aus diesen beiden kulturellen Kreisen. Nichts
Menschliches schien ihm fremd zu sein. Er blinzelte mich listig an und sagte: »Du bist mein Freund. Und wenn ich dich so ansehe, hier als Gutsherr, als unruhiger Mann und als Gefangener von Caesars Gnaden, dann dauerst du mich. Du bist großzügig, aber unruhig. Du wirkst wie ein Mann, der ein Geheimnis mit sich herumschleppt und nachdenkt, wann der beste Zeitpunkt ist, zu sterben.« »Es ist etwas Wahres daran, Ktesios!« gab ich zu. »Ich fühle mich gefangen von den Umständen.« »Nichts auf dieser Welt ist von Dauer. Nicht die Freude, nicht der Schmerz, die Lust nicht und auch nicht Ruhm und Ehr. Du brauchst eine Ablenkung. Die älteste Ablenkung dieser Welt, mein Freund. Jemand, der auf dich aufpasst, bis ich wieder zurückkomme. Verglichen mit einem aussätzigen, greisenhaften Sklaven aus Ägypten, der auf den Stufen des Capitols bettelt, bist du ein noch ärmerer Mann!« »So ist es. Du hast recht. Ich soll also eine Bürgerin dieser Stadt heiraten?« Ktesios brach in ein beinahe hysterisches Gelächter aus. »Vater der Erkenntnis«, sagte er in seiner Muttersprache, »du bist zwar mein Freund, aber ein Narr! Dieses Volk, die Bürger von Rom, alle, die hier ringsum wohnen, sind vom natürlichen Leben weit entfernt. Ich werde dir sagen, was du tun mußt. Natürlich mit meiner Hilfe. Und ich sage dir auch, aus welchen Gründen!« Er erklärte es mir genau. Wenn ich alles recht bedachte, mußte ich ihm zustimmen. Ich war ein Fremdling hier und würde es bleiben, Außerdem war mein Aufenthalt von kurzer Dauer – ich glaubte es wenigstens. Also rüsteten wir am nächsten Morgen den zweispännigen Wagen und fuhren nach Rom, zum Sklavenmarkt. Wir ließen den Wagen in der Nähe des Tores stehen und von
einem meiner Sklaven bewachen. Dann wanderten wir durch die engen und lauten Straßen hinunter zum Tiber, wo die Versteigerungen waren. Wir kletterten über schmale, bröckelnde Stufen zwischen den abblätternden Hauswänden hoch, traten in Unrat und Fäkalien, Hunde rannten kläffend zwischen den Beinen umher und brachten uns ins Stolpern. Tagsüber herrschte hier das Inferno der Passanten, und in der Nacht brachte der Lärm schwerer Fuhrwerke die Häuser zum Zittern. Schließlich erreichten wir die freien Plätze vor den Hallen am Tiberufer. Ktesios hielt mich am Arm fest, als wir auf die Rampe zugingen, die an die Vorderseite der Halle gezimmert war. Die Sonne des Vormittags brannte stechend heiß. Ktesios bohrte seinen Zeigefinger in meine Brust. »Ja?« fragte ich leicht beunruhigt. »Wir müssen jemanden finden, der wie du ein Außenseiter ist. Jemand, der hilflos ist ohne dich, und stark mit dir zusammen. Du bist klug genug, um zu verstehen, was ich meine. Laß mich mit dem Sklavenhändler reden, ja?« Er ging langsam weiter, wich einer Gruppe diskutierender junger Römer aus und verschwand plötzlich, nachdem er mir bedeutet hatte, hier zu warten, in einer schmalen Gasse zwischen den Gebäuden. Minuten später kam er zurück und grinste breit. »Er hat, was wir suchen. Aber… teuer. Sehr teuer. Dafür wird er bei der Versteigerung etwas schwindeln. Ich versprach ihm hundert Sesterzen extra. Richtig?« Ich sagte scharf und leise: »Ich bringe dich um, wenn du mir eine häßliche Alte verschaffst. Allerdings werde ich euch beiden genau auf die Finger sehen.« »Vergiß dabei nicht, auch die Sklavinnen genau anzusehen. Du willst ersteigern, nicht ich!« Er lachte leise. »Richtig!« sagte ich. »Und du wirst mir helfen.«
So sehr es stimmte, daß die Stadt Rom ein einziges Chaos war, so sehr war es auch erwiesen, daß dieses Chaos funktionierte. Die Menschen lebten, obwohl ständig Brände die Stadt verwüsteten. Die wenigsten Sklaven wurden misshandelt, die meisten von ihnen, Zustrom aus sämtlichen Provinzen des Riesenreiches, wurden nach einiger Zeit zu Familienmitgliedern, erhielten bald die Freiheit und machten sogar Karriere in den öffentlichen Diensten. Eine ausgefeilte Ordnung, die mit schlafwandlerischer Sicherheit praktiziert wurde, erhielt diese Stadt am Leben. Die Versteigerung begann: Sklaven aus allen Teilen der Welt wurden angeboten. Der Ägypter pries die menschliche Ware an, die Römer diskutierten lange, und die Sklaven wechselten den Besitzer. Numidier und Syrer, Parther und Ägypter, alle Hautfarben, fast alle Altersgruppen, der Markt war reich bestückt. »Dort, die junge Frau mit der braunen Haut, in der letzten Reihe!« sagte der Syrer an meinem Ohr. Ich drehte den Kopf, schob mich weiter nach vorn und wußte, daß Ktesios für mich diese Frau ersteigern würde. Eine schlanke Frau zwischen neunzehn und zweiundzwanzig Jahren alt, mit einem gut geschnittenen Gesicht und großen dunklen Augen. Sie schien aus Nordafrica zu stammen. Ich blickte in ihre Augen. Ihr Blick war nicht abgestumpft; sie musterte die Menge der Römer mit deutlicher Verachtung. Sie war in irgendwelche weißen Fetzen gehüllt, die ihren Körper nur undeutlich verdeckten. Ihre langen, fast zu schlanken Finger spielten nervös am Knoten eines Seiles um ihre Hüften. In gewisser Weise erinnerte sie mich an Hyksa, die Meroeprinzessin; zweifellos ein rein optischer Eindruck. Ich drehte mich um und nickte Ktesios zu. Eigentlich müßte ich mich für diese Regung bitter schämen müssen; ich tat es nicht. Trotz meines, verglichen mit den Wo-
chen auf der Galeere, zufrieden stellenden Befindens war ich noch immer von niederdrückender Resignation voll beherrscht. Ich hatte an zu vielen Orten zu viel Elend gesehen, eingeschlossen mein eigenes. Einige Männer wurden versteigert. Geld klingelte, Gespräche brandeten auf, einige Diener brachten die neuerworbenen Sklaven weg. Dann machte der Ägypter, ein ausgezehrter Mensch mit einem schwarzen Ziegenbart, schmutzigen Fingernägeln und rollenden Augen, eine Schau besonderer Art. Er setzte zuerst zu einer Pause an, wirkte plötzlich niedergeschlagen und murmelte undeutlich etwas von einem bedauernswerten Zwischenfall auf der langen Reise, aber einige Sklaven wären krank geworden – leider sei die Perle des Strandes ebenfalls krank geworden, und er müsse sie zu Bedingungen verkaufen, die ihn, seine Familie und deren Nachkommen ruinieren würden. »Weine nicht, du Scheusal!« rief ein junger Römer. »Woran ist sie erkrankt, deine blinde Perle?« Der Sklavenhändler beschattete die Augen mit einer Hand, spähte in die Runde und rief klagend aus: »Es sind Bürgerinnen hier. Und junge Mädchen. Die Höflichkeit verbietet es, die gewisse… nun, ihr wißt schon, Krankheit zu nennen. Eine überaus delikate Sache.« Ktesios rief: »Ich liebe delikate Dinge, Bruder der Freiheit. Was verlangst du?« Der Händler nannte eine Summe, für die man auch einen Gesunden bekommen konnte. Ktesios winkte ab und schrie: »Zu teuer! Zeig sie her! Ist das die Lahme dort mit dem schielenden Auge?« »Sie ist es, Herr! Sie erschrak, als sie dich sah, so daß ihr Schielen blieb. Du kannst sie haben und dich an ihr erfreuen!« »Gib sie mir!« Es erfolgten noch einige Gegengebote, aber Ktesios über-
stimmte sie mit der Miene eines verdrossenen Käufers, der wichtigere Geschäfte zu versäumen hatte. Ich schob mich durch die Menge, die sich langsam verlief, und drückte ihm einen Beutel mit Goldstücken in die Hand. Einige Zeit später war der Handel abgeschlossen, und der Syrer zog die Frau mit sich. Langsam gingen wir entlang des Tiberufers in Richtung der Porta Appia. »Schwester«, sagte der Syrer halblaut und in einem herzlichen Ton, den ich an ihm nicht kannte, »du wirst erschrocken sein. Aber nicht ich bin dein Herr, sondern dieser Wahlrömer dort mit der fabelhaften Rüstung.« Er deutete auf mich; die Frau schien jedes Wort verstanden zu haben. Sie sah mich lange und schweigend an, dann nickte sie. Plötzlich schien ihr Interesse erwacht zu sein. Schließlich hatte ihre Irrfahrt ein vorläufiges Ende gefunden. »Woher kommst du?« fragte ich. »Aus einer Stadt bei Alexandria«, sagte sie. »Aber was der Ägypter gesagt hat, stimmt nicht. Ich bin nicht…« Wieder begann der Syrer schallend zu lachen. Er zog das Mädchen an sich und schrie begeistert: »Schwester! Wir werden uns gut verstehen. Du hast den besten Herrn gefunden, den ich für dich auftreiben kann. Sei nett zu ihm, er ist ein wenig unbeholfen und wird es dir danken.« Jetzt mußte auch ich lachen. Die Verkrampfung löste sich ein wenig. Aber die Situation blieb makaber. Wir erreichten nach langsamer Fahrt den Gutshof, und dort erlebte ich meine nächste Überraschung. Ein Bote von Nero lieferte ein Schreibtäfelchen ab. Ich sollte morgen in den Palast kommen. Ich hatte meinen ersten Dienst für Rom zu leisten. Ktesios und ich sahen uns an. »Wir werden reisen müssen, mein weißhaariger Freund«, sagte der Syrer leise. »Nach verschiedenen Richtungen. Und
was machen mir mit Lalaga?« Lalaga war die zwanzigjährige Sklavin. »Wir haben noch Zeit. Versuchen wir, ihr das Gefühl zu geben, daß sie hier auf deinem Gut Ruhe findet. Wenn wir beide unsere Aufgaben hinter uns haben, sehen wir weiter.« »Es wird das Beste sein«, sagte ich. »Vivere militare est. Leben heißt auch für sie: kämpfen.« Ich hatte nur einige Stunden zu tun, um die Reise des Syrers gründlich vorzubereiten. Dann sprach ich lange mit dem Verwalter und zählte ihm genau auf, was in den nächsten Tagen und Wochen alles zu geschehen hatte. Dann, nachdem der Syrer auf einem gekauften Pferd losgeritten war, legte ich mich hin und überlegte. Noch immer war ich wie gelähmt; ich wunderte mich über mich selbst. Mein Schwung war dahin, ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich nachdachte, wie ich versuchte, mich zu konzentrieren. Aber offensichtlich hatte das Mißlingen des parthischen Planes mich schockiert und maßlos enttäuscht, dazu kamen die Gefangennahme, der Aufenthalt auf der Galeere und der Abend vor Nero. Du weißt ganz genau, daß es nicht richtig ist! sagte scharf mein Logiksektor. Ich stutzte und griff nach dem Weinbecher. Noch waren die römischen Nächte kühl, und ich streckte meine Füße in die Richtung des Glutbeckens aus. Du bist ganz allein. Du hast keinerlei Unterstützung, die du sonst gewohnt bist. Keine Robottiere, keine Funkverbindung, keine Möglichkeit, von zweiter Stelle Rückendeckung zu erhalten! Ich trank mit trockenen Lippen einen tiefen Schluck des schweren Weines. Ja, so war es. Nicht zum erstenmal in meinem Leben, das mir heute als zu lang erschien, zu sehr voller Enttäuschungen und Rückschläge, erlebte ich den hoffnungslosen Zustand gänzlicher Einsamkeit. Ein grausames Gefühl, das mich zurückschleuderte in den Bereich der Teilnahmslo-
sigkeit. Gut. Ich war allein und konnte nur in beschränktem Maß handeln. Was sollte ich tun? Ich hatte aber bereits Helfer. Ktesios, den Syrer. Und das Mädchen Lalaga, die ihr bitteres Schicksal mit mehr Würde und Gelassenheit als ich trug. Eigentlich sollte sie mein Vorbild sein. Was hatte jener Philosoph der Stoa-Schule, Neros ehemaliger Lehrer, geschrieben? »… und erst im Unglück finden wir den Weg zur Weisheit; das Glück versperrt uns den Weg. Unsere Umgebung ist Vergänglichkeit – aber jeder kann sich seine Last erleichtern: durch Gleichmut!« Ich lächelte nachdenklich. »Gut«, sagte ich. Und in diesem Augenblick entschloss ich mich, weder sinnvoll zu handeln. Wenn es jemand schaffte, dann konnte ich es sein. »Erledigen wir Neros Aufträge. Und warten wir in wahrer Gemessenheit auf den Erfolg des Syrers.« Unsere Umgebung und auf besondere Weise auch meine Umgebung, hieß Vergänglichkeit. Auch Nero, die Galeere und Marcus Vinicius waren nur vorübergehende Erscheinungen, denen ich, der biologisch so gut wie Unsterbliche, Gleichmut zu zeigen hatte. Ich schlief ausgezeichnet, mit dieser neuen Entschlusskraft erfüllt. Am nächsten Vormittag meldete ich mich bei Nero und erhielt meinen Auftrag. »Reise mit einer kleinen, ausgesuchten Truppe nach Judäa. Dort wirst du erfahren, was zu tun ist. Immer wieder kleine Aufstände um Hierosolyma. Erledige dies, und ich erhebe dich in den Ritterstand!« »Rüstung, Caesar? Waffen und dies alles?« fragte ich. »Die Männer, die ich dir mitgebe, wissen alles. Belästige mich nicht mit solchen kleinlichen Fragen.« Er hoffte vermutlich, daß ich gegen Ende der kriegerischen
Handlungen umkommen würde. Sonst hätte er nicht solche Versprechungen machen können. Ich beschloss grimmig, ihm und Marcus Vinicius einen Streich zu spielen. Noch am selben Tag gingen wir von Ostia aus in See. Der Sommer kam näher.
20. Im Zeltlager nahe Hierosolyma lagerte eine Kohorte der römischen Truppen. Dieser Truppenverband, das Zehntel einer Legion, bestand aus sechshundert Männern und dem Troß. Ich würde einen Manipel befehligen, also zweihundert Berittene, ein Drittel einer Kohorte. Ich befand mich hier im Rang eines Zenturios; eigentlich zerfiel ein Manipel in zwei Zenturien, also zweimal hundert Mann. Das Problem unserer Truppe war, räuberische Stämme zu bekämpfen, die nach jedem Überfall in der Wüste verschwandet. Buchstäblich verschwanden, denn niemand hatte bisher Spuren feststellen können. Am zweiten Abend, als ich die Lagebesprechung beendet und sämtliche Karten studiert hatte, sagte ich zu Zenturio Afer: »Mann! Wir werden ihnen eine Falle bereiten. Ich sehe auf dieser Karte, daß die Nomaden immer wieder auf dieser Strecke ihre Überfälle starten. Wie viele Karawanen, sagst du, sind überfallen worden?« »Elf. Die wenigen Überlebenden berichten, daß es ein kleiner, wilder Trupp ist.« »Aha«, meinte ich. »Welche Waffen setzen sie ein?« »Hauptsächlich Bogen und Messer, Zenturio Arcon!« »Dann werden wir sie mit den eigenen Waffen schlagen. Sind jemals Späher hier im Lager gesichtet worden?« »Nein. Und den Händlern dürfen wir trauen. Jedenfalls den
meisten.« Wir saßen auf leichten Stühlen, die sich zusammenfalten ließen, um den großen Kartentisch. Rings um uns war die Wüste, von der Siedlung trennten uns vier mille passuum. Ich ließ neuen Wein bringen und entwickelte meinen Plan. Zum Teil erhielt ich begeisterte Zustimmung, zum anderen Teil vorsichtig, Skepsis. Es würde der erste Versuch sein, eine römische Legion oder Teile davon auf diese Art einzusetzen. Ich besprach die einzelnen Punkte. Zuerst mußten die fünfzig besten Bogenschützen ermittelt werden. Dann waren Tiere und Lasten zu präparieren. Und schließlich würde ich die Truppe von zweihundert Männern so trainieren, daß sie blitzschnell und hundertprozentig reagieren würden. Die meisten Männer würden für eine solche Abwechslung dankbar sein. Als ich mich an diesem Abend auf dem harten Lager ausstreckte, hörte ich aus einem Nachbarzelt die Stimme des betrunkenen Legionärs, dessen Vater gegen Vercingetorix gekämpft hatte. Am zehnten Tag verließen nacheinander zweihundert Reiter in kleinen Gruppen und in verschiedenen Richtungen das Lager. Hundert von ihnen trafen sich an einem geheimen Platz weit in der steinigen Wüste, das andere Hundert versammelte sich auf einem Platz, an dem die wandernden Hirten längst ihre Zelte abgebrochen hatten. Und dann veränderten wir unser Aussehen. Die Männer legten sich reichlich unbequem auf Packsättel, wurden lose in Mäntel gehüllt und hielten ihre Waffen versteckt. Alles, was auf Soldaten hindeutete, verschwand und wurde sorgfältig getarnt. Und dann, nach Sonnenaufgang, bewegte sich eine Karawane von einhundert schwer beladenen Tieren auf einem einsamen Pfad der Stadt zu. Es sah so aus, als käme sie vom Meer. Die Tiere ließen die Köpfe hängen, und die abgerissenen Sklaven, die die Tiere
führten und trieben, boten ein Bild des Schreckens. Ich ritt an der Spitze, schwang eine Peitsche und hatte mich bis zur Unkenntlichkeit verkleidet. Prinz Atlan, der Karawanenführer! bemerkte der Extrasinn sarkastisch. »So ist es«, murmelte ich. Dann schrie ich: »Vorwärts! Wir müssen die verlorenen Tage aufholen!« So krochen wir durch die Wüste, Stunde um Stunde. Ich hatte einige Männer mit Lanzen bewaffnet. Wir wirbelten eine gigantische Staubwolke auf. Schon nach einer Stunde sahen wir nicht nur hundertprozentig echt aus, sondern fühlten uns auch so. Wir näherten uns auf Umwegen – eben wie jemand, der des rechten Weges unkundig war – der Wegstrecke, auf der die anderen Karawanen immer wieder geplündert worden waren. Schon jetzt zeigten uns die bleichenden, halb von Sand verschütteten Gebeine von Tieren und Menschen die Stellen der Überfälle an. Eine einsame, struppige Palme stand wie ein Trugbild zwischen uns und dem Horizont mit seinen sandigen Zickzacklinien. »Und wenn es nicht klappt, wenn dein Plan, Zenturio, keinen Erfolg hat?« fragte ein kinnbärtiger Legionär, den furchtbare Narben entstellten. »Dann ziehen wir so lange zwischen der Stadt und einem fernen Punkt hin und her, bis sie uns überfallen!« »Schon gut. Jupiter sei mit uns!« Wir ritten langsam weiter. Die Männer schwitzten unter ihrer Tarnung. Stunden vergingen. Die Sonne kletterte höher. In der Ferne sahen wir schon die Stadtmauern. Dann rief jemand hinter mir: »Arcon! Rechts!« Die Räuber kamen über die Sandhügel. Sie waren, wie sie so heranritten, von einer unvergleichlichen Eleganz. Sie trugen weiße Gewänder, und ihre großen Mäntel flatterten. Sie ritten hervorragende Pferde, und sie waren bis an die Zähne be-
waffnet. Eine schnelle Truppe, die ich auf etwa fünfunddreißig Männer schätzte. »Gebt das Signal!« sagte ich. Die Treiber schlugen mit ihren Stöcken auf die Decken. Dort suchten die Männer ihre Pfeile und spähten zwischen der Verkleidung ins Licht, um nicht geblendet zu werden, wenn der Zusammenprall erfolgte. Die Angreifer schwärmten aus und bildeten eine lange Linie, die in voller Breite auf die Karawane zuritt. Ich stellte mich in den Steigbügeln auf; unter den dunklen Gewändern trug ich den Panzer. »Halt! Was wollt ihr von mir? Ich bin ein armer Kaufmann!« schrie ich und ritt bis in die Mitte des Zuges zurück. Keine Antwort. Sie waren schnell und wild. Obwohl sie offenkundig Gesindel waren, handelten sie mit der Disziplin einer todesmutigen Elitetruppe. Sie sprengten heran, und als sie nahe genug an der Karawane waren, merkte ich, daß sie in völligem Schweigen kämpften. »Angriff!« schrie ich. Alles andere erfolgte mit der Schnelligkeit, die ich in einigen Tagen voll unbarmherzigen Trainings gelehrt hatte. Die Männer ließen sich von den Pferdrücken fallen; legten die Pfeile auf und schossen. Ich riß den Stoff von meinem Bogen herunter, zog einen Pfeil aus dem getarnten Sattelköcher und legte an, halb hinter meinem Pferd verborgen. Die Treiber hielten die Pferde fest; sie boten eine hervorragende Deckung. Ich befand mich an einem günstigen Platz und schoß einen Pfeil nach dem anderen ab. Die geschleuderten Messer pfiffen durch die Luft. Ein Treiber holte einen Banditen mit dem Speer aus dem Sattel, als dieser Mann wie rasend den Zug von hinten nach vorn entlangritt. Einhundert Männer schossen, was sie konnten. In vollem Galopp griffen sich die Banditen an die Brust, kippten aus dem Sattel, landeten mit dumpfen Geräuschen im Sand. Die Pferde wieherten
grell und keilten aus. Nur unsere Tiere wurden festgehalten und bewegten sich kaum von der Stelle. Als die ersten Räuber aufgetaucht waren, hatte sich der letzte Mann in den leeren Sattel eines besonders ausdauernden Pferdes geschwungen und war, noch ehe ihn ein Pfeil treffen konnte, davongerast, als sei Nero persönlich hinter ihm her. Er ritt zum vereinbarten Treffpunkt der zweiten Zenturie. Ich tötete den sechsten Banditen. Dann merkte ich, daß es ein untypischer Kampf war. Niemand sprach, nicht einmal die Verwundeten stöhnten. Die einzigen Geräusche waren das Wiehern der Pferde, der rasende Hufschlag von vielen Reittieren und die Geräusche von Pfeilen und Sehnen. Ich schüttelte den Kopf und sah, wie sich die letzten Banditen zur Flucht wandten. Dann schrie ich: »Das Kommando! Aufsitzen!« Mein letzter Pfeil fuhr einem der Straßenräuber durch den Hals und schleuderte ihn aus dem Sattel. Dreißig Männer warfen Mäntel und Packen weg, setzten sich die Helme auf und rissen Schilde, Lanzen und Waffengehänge aus den Verstecken. Die Pferde stiegen, als wir uns wieder in die Sättel schwangen und formierten. Ich ritt um die halbe Karawane herum – die zurückbleibenden Männer wußten ganz genau, was sie zu tun hatten. Systematisch plünderten sie die Toten aus, fingen deren Pferde und sammelten alles, was liegen geblieben war. Ich hob den Arm. »Ihnen nach!« befahl ich. Es waren nicht mehr als fünf oder sechs Banditen übrig. Dreißig Reiter stoben hinaus in die Wüste und preschten in vollem Galopp den Flüchtenden nach. In gewissen Zeitabständen blieb einer der Reiter zurück und hielt an einer Stelle an, von der aus er die Gegend einigermaßen überblicken konnte. »Schneller!«
Die Pferde der Banditen waren ausgeruht und schnell. Immer mehr Abstand legte sich zwischen sie und uns. Wir wurden schneller und peitschten die Tiere. Trotzdem dauerte es eine halbe Stunde, bis ich, rückwärtsblickend, die Staubfahne der anderen Zenturie sah. Hundert Männer auf ausgeruhten Pferden griffen in die Verfolgung ein. Wir ritten drei Stunden lang dahin. Dann sahen wir den Bergrücken hinter den Schleiern auftauchen, die von den Kämmen der niedrigen Dünen weggeblasen wurden. Ich sah in einer steil abfallenden Bruchlinie des Sandsteins ein System dunkler Öffnungen. Es waren künstliche Höhlen. Dorthin waren die Banditen verschwunden. Am frühen Nachmittag standen wir mit hundertdreißig Reitern vor diesem steil abfallenden Felsen. Die ersten Pfeile kamen von oben geflogen – aber wir hielten einen achtungsvollere Abstand. Ich grinste, dann wurde ich schlagartig ernst. Das, was ich noch vor Wochen verabscheut hatte – heute war ich der Verantwortliche. Neros Befehl hatte gelautet, die Räuber ein für allemal auszurotten und die Umgebung der Stadt wieder sicher zu machen. Ich atmete tief durch und spuckte Sand aus. Dann gab ich Befehl, aus Mänteln und Fellstreifen, Schnüren und den Haaren der Pferde Brandpfeile herzustellen. Eine halbe Stunde später brannte ein kleines Feuer, und die besten Schützen warfen sich die runden Schilde auf den Rücken und saßen wieder auf. »Los! Der erste!« Ein Reiter beugte sich aus dem Sattel, hielt die umwickelte Spitze eines schweren Pfeiles in die Flammen und galoppierte los, sobald der Brandpfeil zu rauchen begann. Er ritt auf halber Bogenschussweite entlang der Felslöcher, bot dem Gegner nur die schmale Seite des Körpers und schoß seiner Pfeil ab. Die Flammen des Brandpfeiles wurden durch den Luftzug entfacht, das Projektil beschrieb eine ballistische Kurve und
schlug mitten in eines der Felslöcher hinein. Sofort bog der Schütze nach links ab und brachte sich in Sicherheit. Das geschah rund fünfzigmal, dann bewiesen uns Flammen und dicke Rauchsäulen, daß es im Innern dieses Felsverstecks brannte. Die Banditen ergaben sich, nachdem wir sie aus den Höhlen getrieben hatten. Jetzt griff ich ein. Wir hätten sie töten sollen, aber ich ließ sie fesseln und wegtreiben. Wir suchten so lange, bis wir keinen einzigen Mann mehr fanden. Die jungen Frauen wurden weggebracht und alle Kinder, die älter waren als zwölf Jahre. Ihnen war die Gefangenschaft und die Sklaverei sicher – aber sie starben nicht, wie befohlen. Die gesamte Aktion hatte mehr als zwanzig Tage gedauert. Es war Nacht. Ich saß allein im Zelt und massierte meine Zehen. Auf Stirn und Nase hatte ich einen schweren Sonnenbrand. Eine Stimme ertönte draußen vor dem Zeltvorhang: »Ich muß mit dir sprechen, Zenturio Arcon!« »Komm ruhig herein, Zenturio Flavius.« Er war der dienstälteste Mann dieses Lagers. Ein hagerer, alter Kämpfer, dessen Kopf fast kahl war. Eine schräge Narbe lief über sein Gesicht; er sah wahrhaftig dämonisch aus. Seine Haut war dunkel von der africanischen Sonne gegerbt. Er trug ein Pergament in den Händen, das ich ihm übergeben hatte, nachdem ich und meine Begleitung hier angekommen waren. »Du bist der Held des Lagers«, sagte er und setzte sich, als ich auf den Weinkrug und den Stuhl deutete. »Sie feiern deine Schläue und List. Ich habe eine Botschaft von Nero an dich.« »Von Nero?« »Ja. Du hast sie selbst überbracht. Ich sollte sie dir geben, wenn dieser Einsatz glücklich beendet worden ist.« Wir hatten achtzig Gefangene gemacht. Nach meinen An-
weisungen waren acht Patrouillen unterwegs, um die Wüste nach anderen Verstecken abzusuchen. Die scharfen Verhöre hatten ergeben, daß es noch vier solcher Höhlenanlagen gab, bewohnt von Banditen mit ihren Frauen und Kindern. Wir erwarteten die Reiter in einigen Tagen zurück. »Laß sehen!« sagte ich und streckte die Hand aus. Nero schrieb, daß es zwei Möglichkeiten gäbe. Würde ich die Gegend von den Banditen befreien, sollte ich im Triumph nach Rom zurückkehren und dort das Amt eines Zenturios erhalten. War ich erfolglos, sollte ich als gemeiner Söldner in der Garnison dienen, die ich jetzt zum Teil befehligte. Als ich las, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Flavius zu grinsen begann. »Zufrieden?« fragte er und reichte mir seine knorrige Hand. »Ja, natürlich. Das bedeutet, daß ich euch verlassen werde, wenn die Gegend befriedet ist.« Er nickte. Im gleichen Augenblick erschrak ich. Mein Blick irrte ab und heftete sich auf einen Gegenstand, der undeutlich vor dem Stoff der Zeltbahn zu sehen war. Das Licht des auskühlenden Glutkorbes spielte darauf. Eine Kugel mit einen Fortsatz schien dort zu schweben, dann verschwand sie plötzlich. Ein Robotspion! rief triumphierend der Logiksektor. Ich beherrschte mich und stand auf. Nervös rollte ich das Pergament zusammen und gab es Flavius zurück. Er grüßte mich und ging rückwärts zum Zeltausgang. Über dem Zeltlager lastete ein gewaltiger Vollmond, der die Umgebung in geheimnisvolles Halblicht tauchte. »Morgen und in den nächsten Tagen werden wir unsere Aufgabe beenden!« versprach ich und ließ einen Atemzug lang meine Hand auf seiner Schulter liegen. Er nickte zustimmend und versicherte: »So sei es. Caesar Nero soll zufrieden mit seinen Legionen sein!«
Mit langen Schritten verließ er den Zeltvorplatz. Ich drehte mich herum und ging auf den Robotspion zu. Rico schien mich überall gesucht zu haben – nur ein Zufall konnte ihn hierher gebracht haben. Einen Nachteil besaß dieser schwebende Spion; er war ein passives Nachrichtengerät. Ich konnte sprechen, erhielt aber keine Antwort. Ich baute mich vor dem Linsenauge auf, lachte kurz und sagte: »Rico! Du mußt mir helfen. Folgendes ist zu tun: Zuerst gibt es einen Mann, der in Richtung auf mein Versteck unterwegs ist. Überwache und leite ihn. Und dann brauche ich…« Es wurde eine lange Liste die ich, erweitert mit einer Serie spezieller Anweisungen, dem Robot durchgab. Irgendwann in den nächsten Tagen würde sich in der Nacht der Gleiter auf die Terrasse meines Hauses heruntersenken und eine umfangreiche Ladung mitbringen. »Und, Rico – es ist wichtig, daß ständig eine Kugel mich überwacht, wenn ich zurückkehre nach Rom!« Das Auge glitt langsam in den Lichtkreis eines Öllämpchens hinein, musterte meine Ausrüstung und schwirrte lautlos wieder davon. Ich schien gerettet zu sein. Flavius und etwa dreißig Männer, die abgelöst wurden, standen am Kai des kleinen Hafens. Es war fünfzehn Tage nach dem letzten Einsatz. An uns wurden die Gefangenen vorbeigetrieben. Leise wiegte sich die Galeere in den Wellen. Irgendwo zwischen den Tauen des Mastes hing der Robotspion. »Rom!« sagte Flavius. »Rom. Ich bin gespannt, was sich verändert hat. Ich war schon jahrelang nicht mehr dort.« »Es hat sich nichts verändert.« Hinter uns trat die Ablösung an, die mit diesem Schiff gekommen war. »Nichts. Nero regiert noch immer, und Marcus Vinicius wird sich ärgern, weil wir so erfolgreich waren.«
Flavius zog die Stirn in Falten und knurrte: »Er haßt dich, nicht wahr? Tröste dich – er haßt jeden, der mehr leistet und besser ist als er.« Als wir an Bord waren, gab es Reihen von Kommandos. Taue flogen durch die Luft, die langen Ruder senkten sich, und aus dem Bauch des Schiffes klangen die Schläge, mit denen ein Mann auf einem Becken den Takt angab. Majestätisch glitt die Galeere aus dem Naturhafen. Wir waren auf dem Weg zurück nach Rom – und für mich würde ein neuer, hoffnungsvoller Abschnitt beginnen. Jeder neue Tag begann für mich mit einem besonderen Erlebnis. Nachdem wir in Ostia an Land gegangen waren, ritt ich zu Caesar Nero und wurde vor Zeugen zum Bürger der Stadt, zum Zenturio und zum Befehlshaber einer kleinen persönlichen Truppe gemacht. Marcus Vinicius stand dabei; ich ignorierte ihn völlig, von einer eiskalten Wut erfüllt. Dreißig Männer wurden mir zugeteilt; Nero schien eingesehen zu haben, daß ich als Mann für besonders gefährliche Einsätze einen gewissen Wert hatte. Ich erfuhr mehr und mehr über die politischen und personellen Strukturen Roms. Mein Gut, das bis zum Zeitpunkt der Übernahme langsam verwahrlost war, wurde von Sklaven bearbeitet. Ich las die zwölf Bücher des Lucius Junius Moderator Columella »Über den Landbau«, in denen er alles beschrieb, was ich wissen mußte. Ich kleidete meine Sklaven neu ein, bezahlte sie gut und setzte Prämien aus. Binnen weniger Wochen wurde aus der kleinen Domäne eine reizvolle Perle. Ich ließ ein Haus bauen, in denn ich Flavius und die anderen Männer unterbrachte. Und ich wartete auf Ktesios, den ich irgendwie vermißte – obgleich mich Rico benachrichtigt hätte, wenn er mit den gesuchten Gegenständen floh. Schließlich landete der Gleiter und lud Ausrüstung und Waffen für mehr als dreißig
Mann ab. Ich rüstete die kleine Truppe um – noch immer sahen sie aus wie römische Legionäre, aber alles bestand aus Arkonstahl und aus Kunststoffen. Rüstungen und Waffen wurden leichter, besser, unzerstörbar und bequemer. Dann begann ich mit der Ausbildung. Über Rom und die Umgebung ging ein tobendes Sommergewitter nieder; die Luft war schwül und feucht, und die Pflanzen schienen vor den Augen der Arbeiter zu wuchern. Blitze zuckten über dem Meer, und die ersten Windstöße fuhren um die kleinen felsigen Hügel. Ein merkwürdiges Licht breitete sich über der Landschaft aus. Unten im Hof versorgten die neunundzwanzig Legionäre unter Flavius’ Leitung ihre Pferde. Es war merkwürdig still. Ein schweres Sonnensegel war über die Terrasse gespannt. Schwalben flogen wie rasend zwischen ihren Nestern und den Gräsern hin und her und schrien grell. Lalaga wickelte das feuchte Tuch von dem braunen Tonkrug und goß etwas von dem Wein, den sie mit Wasser vermischt hatte, in zwei Becher. »Hier, Askhan«, sagte sie. Ich lächelte sie an und dankte. In den Wochen seit ihrer Ankunft war sie der erklärte Liebling aller Anwesenden geworden. »Du denkst wieder einmal nach?« fragte sie leise. »Ja, so ist es!« sagte ich. »Ich fühle mich nur wohl, wenn ich handeln kann. Und in den letzten Tagen siegte die Faulheit über die guten Gedanken.« Sie setzte sich neben mich auf das weiche, schwarzweiße Kuhfell und lehnte sich an meine Schulter. »Seneca sagt, daß dies der Anfang von vielen Übeln ist. Nicht die Gedanken sind es, die jemanden auszeichnen, sondern die Handlungen, die aus diesen Gedanken stammen.« »Ich bin verblüfft.« Ich strich über ihr langes, glattes Haar. »Woher kennst du Seneca?«
Auf dem staubigen Feldweg, über den die Schwalben in niedrigstem Flug huschten, sah ich in zwei Kilometern Entfernung einen Reiter auf einem Schimmel. Hinter ihm flog träge Staub in die feuchtigkeitsgesättigte Luft. »Durch Arria. Sie ist eine Christin. Sie kennt die junge Frau des Seneca, Pompeia Paulina.« »Ich bin gespannt auf Seneca. Weißt du, wo ich ihn treffen kann?« »Nein, aber ich kann es herausfinden. Wer ist dieser Reiter dort?« »Bitte, finde es heraus. Und versuche, ein Treffen zwischen Seneca und mir zu vereinbaren. Ich sehe den Reiter, aber ich erkenne ihn nicht. Er hat’s, scheint mir, sehr eilig.« Die getränkten und gestriegelten Pferde wurden in die Ställe geführt. Die Männer der Garde wuschen sich, sogar mit Seife – dieses kulturelle Geheimnis hatten die Römer von den Galliern übernommen! –, und trotteten hinüber in ihr neues Haus. Sie fühlten sich wohl und arbeiteten hervorragend mit, wenn es galt, neue Waffentechniken auszuprobieren und Angriff und Verteidigung zu üben. Ihre neuen Schwerter aus Arkonstahl waren länger, leichter und schärfer; sie durchschlugen jede römische Rüstung spielend. »Ich werde es versuchen. Übrigens… Immer, wenn ihr dort auf diesem Feld übt, sieht euch jemand zu. Ich sah einige finstere Gestalten um die Gärten schleichen.« Vermutlich läßt dich Marcus Vinicius beobachten! sagte der Extrasinn. »Ich werde mich darum kümmern!« sagte ich leise und scharf. Der Reiter war näher gekommen. Ich stutzte und sah genauer hin. Ein fernes Donnergrollen rollte über die Ebene. Ich erkannte ein dunkelbraun gebranntes Gesicht unter einem spitzen Helm, der mit Stoff gesäumt war. Ktesios, der Syrer. Ich
lachte laut, schenkte meinen Becher voll und sagte laut: »Unser Freund kommt! Ktesios ist da!« Er winkte zu uns herauf. Dann ritt er mitten in den Hof hinein und scheuchte gackernde Hühner und schnatternde Gänse nach allen Seiten. Ktesios riß den Schimmelhengst hoch und glitt, noch ehe die Hufe des Tieres wieder den Boden berührt hatten, aus dem Sattel. Dann rannte er auf das Haus zu und stand wenige Augenblicke später verschmutzt, verschwitzt und glücklich lachend vor uns. »Ich habe alles. Ich sah auch das Geisterauge«, sagte er, griff unter den Stoff seines ledernen Wamses und legte nacheinander fünf Gegenstände auf den Tisch. Sie alle sahen aus wie Gebrauchsartikel des täglichen Lebens und enthielten alles, was ich brauchte, um mit Rico Verbindung aufnehmen zu können. »Ich danke dir!« Ich winkte einem Sklaven, das Pferd wegzuführen. »Die Reise war lang und anstrengend, Askhan«, meinte der Syrer. »Ich brauche ein gutes Essen, einen Krug Wein, ein heißes Bad und einen langen Schlaf. In dieser Reihenfolge, mein Freund. Alles andere morgen, wenn wir ausgeschlafen sind.« Dreißig Männer zügelten ihre Pferde. Ich hatte diesen kleinen Trupp hervorragend ausgerüstet; Rico hatte mir einen gewichtigen Beutel mit frisch geprägten Goldmünzen geschickt, und ich war finanziell vollkommen unabhängig. Die Helme waren leichter und größer, sie bedeckten, gut gefüttert und mit prächtigen schwarzen Mähnen, einen Großteil des Kopfes und den gefährdeten Nacken. Die Hemden unter den Panzern bestanden aus einem Gewebe mit Metallfäden – ein Pfeilschuss konnte sie kaum durchbohren. Die Panzer selbst schützten Brust und Rücken, Schultern und Magen. Darüber kam ein breiter Ledergürtel, mit Stahleinlagen verbessert.
Zwei Dolche aus feinstgeschliffenem Arkonstahl steckten in ledernen Scheiden. Das Schwert wog nur die Hälfte eines römischen Legionärskurzschwertes und war wesentlich besser. Auch die Schilde – Stahl, federndes Gewebe und leichte Isolierung – waren um ein Mehrfaches leichter und besser. Sie ließen selbst mit aller Wucht geschleuderte Lanzen und Speere mit Arkonspitzen nicht durch. Wir alle trugen schwarze, bis unters Knie reichende Stiefel, die mit Metall verstärkt waren, dazu Glasfiberbögen und Köcher voller Kunststoffpfeile. Inzwischen schossen alle dreißig Männer ziemlich gut. Flavius war ihr Anführer und mein Vertreter. Alles andere, Lanzen und Speere, Satteltaschen und Sättel, war neu und leicht und stellte gegenüber den bisher verwendeten Gegenständen einen echten Fortschritt dar. Flavius hob die Hand und sagte: »Freund Askhan, ich wundere mich zutiefst. Wir alle sind verdiente Legionäre, die nichts anderes als den Krieg kennen. Seit vielen Tagen erproben wir die guten neun Waffen und lernen Dinge, die wir nicht gekannt haben. Was soll das?« Ktesios grinste breit und rieb sich die Hände. »Das alles hat seinen Sinn.« Ich klopfte den Hals meines Rappen. »Der Caesar zeigte sich sehr zufrieden. Er sagte mir, ich solle mit euch zusammen warten. Dort, wo es am meisten brennt, wirst du dem Senat und dem Volk Roms helfen. Ebenso schnell wie in Judäa.« »Das sagte er«, murmelte Ktesios. »Ihr müßt wissen, daß unser Freund hier ein unbesiegbarer Krieger ist. Das weiß auch Marcus Vinicius, der jedes Mal bleich wird, wenn der Name Askhan fällt.« »Wir können schon morgen von Nero einen Auftrag bekommen.« Ich lachte kurz. »Für uns alle ist es der schnellste Weg zu Einfluß, Ruhm und Geld.« »Und unter Umständen zu einem schnellen Ende!« ergänzte
Ktesios. »Ohne meine Hilfe seid ihr alle samt euren fabelhaften Bögen hilflos.« »Allerdings. Deine Weisheit ist heller als die Sonne Roms!« sagte ich. »Dazu ist noch folgendes zu sagen, Freunde. Nero wird nicht mehr lange an der Macht sein. Ich habe den Eindruck, daß er von Jahr zu Jahr schlechter regiert und seine Verschwendungssucht und seine sprichwörtliche Grausamkeit von den Römern nicht mehr länger hingenommen werden. Wir werden sicher noch einige schwere Missionen haben. Und wenn es uns gelingt, zu überleben, dann sind wir die Männer des neuen Caesars.« »Ein guter Vorschlag. Ein Plan auf lange Zeit!« sagte Flavius. »Ich mache nur solche Pläne. Was wißt ihr von den finsteren Gestalten, die sich von Zeit zu Zeit hier herumtreiben?« Ktesios schnippte mit den Fingern und sagte leise, aber mit großem Ernst: »Ich bin einem von ihnen nachgeschlichen. Und was, Askhan, glaubst du, habe ich dabei erlebt?« »Bin ich Caesar? Weiß ich es?« fragte ich ironisch zurück. »Natürlich weißt du es nicht. Wer könnte auch vom großen Askhan verlangen, sich in stinkende Tavernen in Trastevere hineinzuhocken? Erstens traf ich einen alten Bekannten.« Seine Stimme wurde plötzlich erbarmungslos scharf, und ich sah ihn genauer an. Sein Gesicht zeigte für einen Moment den Ausdruck einer kalten, gefährlichen Grausamkeit. Auch die anderen Männer spürten sie und schwiegen erwartungsvoll. »Den Mann, dem du – und ich – die Striemen der Peitsche zu verdanken haben«, sagte er. »Der Dunkelhäutige von der Galeere?« »Ich schnitt ihm die Gurgel durch«, sagte Ktesios leise und in größter Freundlichkeit. Ich fröstelte plötzlich. In die gedrungene Gestalt mit der scharfen Hakennase kam plötzlich Bewegung. Er riß den Dolch heraus und erklärte: »Die Späher und
Spione trafen sich in den dunkelsten Ecken mit Marcus Vinicius, wie du sicher nicht anders erwartet hast!« Ich sah ihn an, nickte und sagte schließlich: »Ich weiß noch nicht genau, was das zu bedeuten hat, aber wir sollten uns danach richten. Marcus scheint nicht unser bester Freund zu sein. Männer! Seid vorsichtig und wartet. Und übt weiter. Ich sehe größere Aufgaben auf uns zukommen!« Sie schlugen mit den Fäusten, die in stahldrahtverstärkten Lederhandschuhen steckten, auf die Rüstung. Die Pferde erschraken, als die Schwerter auf die Schilde geschlagen wurden. »Wir werden kämpfen!« Ich stieg aus dem Sattel. Für heute war die Übung beendet, und tatsächlich sagte mir eine ferne Ahnung, daß Neros nächste Order nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. In einer der nächsten Nächte wachte ich auf, weil die Hunde wie besessen zu heulen begannen. Ich richtete mich auf und hob vorsichtig den Arm der Frau von meiner Brust. Sie wachte auf und flüsterte: »Was ist das, Askhan? So hell und so rot. Und die Hunde…?« Ich ging über den harten Teppich aus geflochtenen Pflanzenfasern und trat hinaus in die nächtliche Kühle der Terrasse. Ich schaute nach Nordwesten. Dort, wo an klaren Tagen die Mauern und weißen Tempel der Stadt zwischen dem Grein hervorleuchteten, sah ich Flammen und eine gigantische Säule schwarzen Rauches, die fast senkrecht in den Himmel aufwuchs. »Rom brennt!« sagte ich. »Es ist unglaublich, aber die gesamte Stadt brennt. Es muß ein wahnsinniges Feuer sein!« Sie trat, nur in einen weißen Mantel gehüllt, neben mich und hielt sich an meinem Arm fest.
»Tatsächlich. Es gibt immer wieder kleinere Brände, aber dies dort…« Das war dieser wahnsinnige Nero! sagte mein Extrasinn. Sicher verfolgt er damit eine weitere, wohlkalkulierte Teufelei! Ich konnte es nicht glauben! Neun Tage lang brannte die Millionenstadt, der vergoldete, menschenstarrende Nabel der römischen Welt. Neun volle Tage lang. Und Caesar Nero stand im Gewand eines Schauspielers auf dem Turm des Maecenas und war berauscht von der Schönheit der Flammen. Zwei Drittel der Stadt waren eingeäschert worden. Tagelang regnete es in der römischen Ebene Ruß und Asche. Selbst der Regen der wenigen Gewitter roch nach Rauch und Flammen. Es war kennzeichnend für den Lebenswillen der Römer, daß sie noch am gleichen Tag, an dem man die letzte Ruine gelöscht hatte, mit den Aufräumungsarbeiten und dem Wiederaufbau begannen. Und Nero plante einen neuen Palast. Es sollte ein »Goldenes Haus« werden. Eines Morgens kam Ktesios zurück. »Man ist sicher, daß Nero selbst die Stadt angezündet hat«, berichtete er. »Aber er fühlt sich genötigt, andere Schuldige zu suchen, um sie den aufgeschreckten Bürgern zu präsentieren. Er wird die Christen dafür verantwortlich machen.« Ich starrte ihn an. »Arria ist in Gefahr!« »Sie ist doppelt gefährdet. Senecas Frau hat sie eingeladen!« Ich versprach, mich schnell darum zu kümmern. Am nächsten Morgen geschahen drei wichtige Dinge fast gleichzeitig: Zuerst kam Lalaga und sagte, daß Seneca mich zu sprechen wünschte. Sie nannte auch den Treffpunkt. Die junge Christin würde Seneca dorthin bringen. Ein Bote von Nero erschien und zitierte mich für den nächs-
ten Tag zu Caesar. Und ein Knabe, der nach Ktesios verlangte. Die beiden flüsterten lange miteinander und verschwanden dann. Nach einer Weile kam Ktesios zurück und berichtete: »Überall schwärmen Trupps aus. Sie fangen jeden Christen, den sie kennen. Wir müssen versuchen, das Mädchen zu retten.« »Ich bringe sie hierher«, versprach ich. »Sobald ich mit dem Philosophen gesprochen habe.« »Gut. Brauchst du Hilfe?« »Ich werde es dir sagen, wenn ich fortreite!« erwiderte ich. Seneca schien die Stadt, die er verlassen hatte, nicht mehr gern betreten zu wollen. Damals, als er nicht mehr länger Berater Neros sein wollte, der zu dieser Zeit erfolglos versuchte, einen Kanal durch die Landenge von Korinth zu bauen, hatte er von der Stadt Abschied genommen. Wir wollten uns in einer kleinen, halb von Büschen und Olivenbäumen verwachsenen Tempelanlage in der Nähe des sepulchrum Scipionum treffen. Ich ritt los, nur mit Bogen und Köcher bewaffnet und dem getarnten Lähmstrahler. In einigem Abstand folgte Ktesios auf seinem Schimmel. Es war wieder einer der strahlenden, heißen Sommertage. Ständig überholte ich schwere Fuhrwerke, die Steine und Holz, Ziegel und Lehm zur Stadt brachten. Ein nicht endenwollender Strom von Bauern, Sklaven und Handwerkern bewegte sich den sieben Hügeln zu. Ich bemerkte die schmale Abzweigung der Straße und ritt zwischen Bäumen, Säulenstümpfen und herumliegenden Steinquadern auf das Tempelchen zu. Zwanzig Meter vor den weiten Stufen sprang ich aus dem Sattel, nahm mein Pferd am Zügel und ging langsam auf den Tempel zu. Ein Mädchen trat zwischen den Bäumen hervor und hob die Hand.
»Du bist Askhan, nicht wahr?« fragte sie und lächelte. Sie hatte ein schmales Gesicht und weiße Haut. Nicht älter als vierzehn, fünfzehn Jahre, aber mit klugen Augen. »Ja. Du mußt Arria sein. Du hast den Philosophen hierher gebracht?« »Seneca kommt gern und oft hierher. Er hat viel von Lalaga über dich gehört. Sei freundlich zu ihm; er schätzt die rauen Sitten der Kriegsmänner nicht!« Ich lächelte zurück und ging langsam an ihr vorbei, während sie mir den Zügel abnahm. »Keine Sorge. Ich bin nicht immer ein Mann des Krieges.« Wir nickten uns zu, und ich versuchte, Ktesios irgendwo zu entdecken. Merkwürdig, aber ich fühlte mich sicher, wenn dieser durchtriebene Mann in meiner Nähe war. Sicherlich war seine moralische Überzeugung wie Wachs, das sich schmelzend allen harten Oberflächen anglich, aber seinen Freunde – gegenüber bewahrte er eine unerschütterliche Loyalität. Als ich den Tempel erreichte, den Bogen in der Linken, sah ich einen alten Mann mit einem Löwenkopf, mit faltigem Hals und klugen Augen. Er trug eine Tunika, dazu einfache Sandalen und sah mir aufmerksam entgegen. »Askhan, der weißhaarige Mann aus dem Partherland?« fragte er. Ich hob die Hand und trat auf ihn zu. »Lucius Annaeus Seneca, der Weise und Philosoph«, sagte ich. »Ich kam, um mit dir zu sprechen.« »Nun«, sagte er und strich das weiße Haar seines Backenbartes glatt, »das tun wir bereits. Du bist der Mann, der einen Pflug mit Rädern in dieses Land gebracht hat. Und du bewirtschaftest jenes Gut dort, von Neros Gnade dir geliehen?« Ich stimmte zu. »Nero«, sagte ich leise und senkte den Kopf. »Du warst sein Lehrer. Und wir alle wissen, wie wahnsinnig er ist. Wie lange,
Seneca, werdet ihr Römer diesen Tyrann noch dulden?« »Tyrannenmord spült nur den Bodensatz des Volkes hoch«, sagte er. »Lauter düstere Elemente kommen dann zum Vorschein, und Chaos bricht aus. Das geringste Übel ist noch immer das beste.« »Das mag weise gesprochen sein«, versetzte ich, während wir eine langsame Wanderung rund um die schlanken Säulen des Tempels begannen, »aber Nero kann mehr zerstören als aufbauen. Ein Mörder, ein sittenloser Mann, ein Wüstling und ein Sadist auf dem Thron des großen Julius Caesar? Ich finde, daß Roms Toleranz eine besondere Art von Selbstmord ist.« Seneca ging etwas vornübergebeugt. Sein Gesicht und jede seiner Gesten strahlten eine Ruhe aus, die mir nur zu einen geringen Teil verständlich war. Nun, schließlich war er der Philosoph. Er zupfte an den Falten der Tunika und sagte: »Über gut oder böse können nicht die Sinne entscheiden, denn sie wissen nicht, was nützt und schadet.« »So ist es. Du bist Stoiker. Aber ich entscheide nicht über meine Sinne, sondern über die Vernunft. Und zweifellos kann sich das mächtige Rom eine solche Unvernunft nicht mehr lange leisten. Nicht einmal Rom übersteht auf die Dauer einen solch blutgierigen Tyrannen.« Er sah mich an und zwinkerte verwirrt. Wieder nahmen wir unsere Wanderung auf. »Du bist von Vinicius hierher gebracht worden? Du weißt, daß er dich haßt?« »So ist es. Er haßt mich, und ich glaube, ich finde ihn auch nicht besonders liebenswert.« »Du sagst es. Ich bin ein Philosoph, und wir von der Stoa sehen alle Dinge anders. Sicher ist es so, daß die wahre Art des Lebens nur wenigen gegeben ist. Das rechte Maß der Dinge, die kluge Lebensführung – dies ist selten und schwierig.«
»Du sagst es?« murmelte ich. »Niemand weiß es besser als ich.« Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu. »Alle diese Männer, denen Macht gegeben worden ist, werden von der Macht und von ihrem Reichtum, von ihrer Position und ihrer angeblichen Gottähnlichkeit verdorben. Nero oder Gaius Julius, Marcus Vinicius und wie sie alle heißen. Sie werden verdorben und verlieren das rechte Maß, falls sie es jemals besessen haben. Jede Tugend beruht auf dem rechten Maß. Charakterfestigkeit ist keines Fortschrittes mehr fähig, so wenig wie Vertrauen, Wahrhaftigkeit und Treue.« »Sicher hast du recht. Und wenn du erführest, daß jemand versucht, Nero umzubringen?« Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Er machte eine Geste der Ratlosigkeit. »Ich weiß es nicht. Eine Frage – warum Willst du mit mir sprechen?« »Aus zwei Gründen«, antwortete ich ernst. »Ich will von dir wissen, was getan werden kann, um die Christen zu retten. Caesar Nero will sie für den Brand Roms verantwortlich machen.« Er sagte hart: »Nichts!« »Ich verstehe«, murrte ich leise. »Und wie steht es mit Arria? Willst du, daß auch sie von den Bestien zerfleischt wird?« Das schien ihn auf den Boden der Wirklichkeit zurückzubringen. Er blieb stehen und lehnte sich an eine der Säulen. »Arria…«, murmelte er. »Sie wissen, daß sie bei mir ist. Sie wissen auch, daß sie Freundin deiner Freundin ist. Was können wir tun?« »Das eben wollte ich von dir erfahren«, meinte ich. »Du hast eine kleine Garde. Du kannst Arria verstecken, und wenn sie versuchen sollten, sie mit Gewalt zu holen, kannst du dich bis zu einem bestimmten Punkt wehren.«
»Ich sehe, daß die Philosophie eine Wissenschaft ist, die nur in der Stille gelebt werden kann. In dem Augenblick, wo Philosophie ein Schild sein soll, der einen Pfeil abwehren soll, versagt dieser Schild. Ist es nicht so, Lucius Annaeus?« »So ist es. Und die zweite Frage?« erkundigte er sich. »Ich wollte einen Rat von dir. Einen Rat von einem Menschen, der Philosoph ist. Was soll ich tun? Du weißt, wer ich bin und was ich kann.« Die Antwort Senecas erstaunte mich völlig. Er sagte leise und scharf: »Versuch den Tyrannen umzubringen. Und auf eine Art, die keinen Verdacht auf dich fallen läßt. Wenn du es nicht tust, wird es ein anderer tun. Irgendwann fällt jeder Tyrann. Es mag drei oder vier Jahre dauern, aber eines Tages wird jemand den Caesar zwingen, sich umzubringen.« Ich starrte die Steinplatten des Bodens an und zählte die Abschnitte des dunklen Mooses, das in den Ritzen wuchs. »Das ist dein Rat, Seneca: Ernsthaft?« fragte ich dann. »Ja. Ich gab ihn in völliger Offenheit!« antwortete er glaubwürdig. »Und warum gibst du mir diesen Rat? Warum gerade mir?« Er schien zu zögern. »Ich glaubte bisher, ich erkenne einen Mann, wenn ich ihn lange genug ansehe. Das scheint sich heute bestätigt zu haben. Dein Auftreten ist das eines klugen, starken Menschen, der die Unschlüssigkeiten der Seele besiegt hat. Deine Gesten und deine Worte sagen mir, daß du Unwesentliches von Wichtigem scheiden kannst. Du bist stark und klug. Nur ein Mann wie du kann einen Tyrannen in die Knie zwingen. Auf welche Weise auch immer.« Wir sahen uns in die Augen, dann nickte er aufmunternd. »Das war die Rede eines törichten alten Mannes, der das Ende des Weges vor sich sieht. Meine Hoffnung, mit meinen
Schriften die Menschen ein wenig besser zu machen und ihnen die Welt und ihre verschlungenen Wege aufzuzeigen, hat sich nicht erfüllt.« »Das kann auch ich von mir behaupten!« murmelte ich düster und dachte an die lange Reihe meiner Enttäuschungen und Resignationen. »Und deshalb, weil du Höhen und Tiefen des Lebens kennst und weißt, wann was zu tun ist, gab ich dir diesen Rat, befolge ihn oder nicht – es wird nichts an der Geschichte der Welt ändern.« Ich verneigte mich und griff nach seinem Handgelenk. »Arria soll dich nach Haue geleiten. Schicke sie gleich nachher mit einem zuverlässigen Diener zu mir hinüber. Ich werde, so gut es geht, auf sie aufpassen.« »Ich danke dir, Zenturio Askhan Arcon!« sagte er. Wir gingen nachdenklich und schweigend vom Innern des Tempels bis zu der Stelle, an der Arria mit dem Pferd wartete. Verborgen auf einer kleinen Anhöhe sah ich Ktesios auf einem Säulenrest sitzen. »Du wirst heute Abend bei mir sein und bei Lalaga«, sagte ich. »Bringe mit, was du besitzt, und versuche, ungesehen zu kommen, ja?« Seneca lächelte ihr in der resignierend wohlwollenden Art alter Männer zu und fuhr über sein schütteres Haar. »Wenn du von deiner Mission zurück bist, werde ich mich freuen, dich und alle, die du magst, bei mir im Haus begrüßen zu dürfen.« »Ich werde es nicht vergessen!« versprach ich. Langsam stieg ich in den Sattel, warf den gespannten Bogen über die Schulter und ritt dann los. Nach kurzer Zeit stieß der Syrer zu mir und ritt eine Weile schweigend neben mir her. Schließlich, wie nach langem inneren Kampf, sagte er: »Wenn sie bei Seneca das Mädchen holen wollen, wird er ih-
nen sagen müssen, wo sie ist. Auf die Dauer können wir uns den Befehlen des Caesar nicht widersetzen. Wo du doch ein so einflussreicher Mann im Palast bist oder werden wirst.« »In diesem Fall werden wir sagen, sie sei vor Furcht weggelaufen. Es ist alles nur eine Frage der Geschicklichkeit.« Er nickte, spuckte aus und knurrte: »Das Gespräch mit dem Weisen hat dich kaum weiser werden lassen, mein Freund. Ich sehe, daß du von dieser Welt noch immer keine Ahnung hast. Du hättest Stoiker werden sollen.« »Oder Gladiator!« sagte ich und schlug ihm zwischen die Schulterblätter. Am nächsten Tag führte man mich zu Nero. Er stand zusammen mit Marcus Vinicius, der mich haßerfüllt musterte, vor einem Bauplan. Es war, der Größe und den Linien nach zu urteilen, ein riesiges viereckiges Haus. »Aha! Der tapfere listenreiche Söldner Roms!« sagte Nero und musterte meinen ein wenig auffallenden Aufzug. »Ich hörte, daß deine kleine Truppe schnell und gut durchgearbeitet ist.« »Schnell und tapfer, Caesar!« bestätigte ich. »An welcher Stelle des Reiches gibt es Unruhen?« »Diesmal in Sardinia«, sagte Marcus. »Dort, wo die Sklaven schnell sterben.« Ich wußte, was er sagen wollte. Der Abbau von Silbererzen und anderen Erzen wurde dort unter Bedingungen betrieben, die einem glatten Todesurteil gleichkamen. Die Verbrecher, ad effodienda metalla verurteilt, wurden in großen Mengen und in einer barbarischen Zucht gehalten. Niemand, der hier einen Aufstand wagte, hatte mehr als einen schnellen Tod zu riskieren. Dieser war dem langsamen Siechtum vorzuziehen. Caesar sagte leise: »Unser Freund hier hat gemeint, du wärest der richtige Mann für Argentaria. Dort tobt ein Aufstand. Wir werden
schnell sein müssen. Außerdem habe ich noch andere Aufgaben auf dieser Insel für dich.« Ein Teil der Insel ist von Insekten verseucht, die schwerste Krankheiten übertragen, flüsterte eindringlich mein Extrasinn. »Wir werden hinfahren und schnell Ordnung schaffen. Nur die kleine Truppe, Caesar Nero?« Er nickte. »Ich werde für die Verbrecher, die früher oder später ohnehin sterben, nicht eine Legion verschwenden.« »Recht so!« erwiderte ich. »Wir finden ein Schiff in Ostia, das uns nach Ulbia bringt?« »Ich habe alles vorbereitet. Ein schnelles Schiff. Schnelle Arbeit. Und dann eine Zeit, in der du die Verhältnisse bessern sollst.« »Ich werde gehorchen!« sagte ich. »Wann fahren wir ab?« Nero befahl: »Reite zu deinen Männern, sammle sie und begib dich zum Hafen. Frag den Verwalter. Er weiß alles. Und noch etwas, Askhan!« »Ja?« »Eure Köpfe fallen, oder ihr sterbt in der Arena, wenn es euch nicht gelingt, schnell zu handeln. Gelingt es, steigt ihr alle in hohe Ehren.« »Ich weiß, daß uns weder die Fiebermücken, noch die Sklaven oder Verurteilten, noch andere Dinge aufhalten werden«, sagte ich ruhig. »Noch nie war Rom ein Sieg so sicher.« Marcus kochte. Vielleicht gelang es mir, ihn herauszufordern. Ich spürte fast körperlich, daß er nur auf eine Gelegenheit lauerte, mich umzubringen oder dafür zu sorgen, daß es jemand für ihn tat. Ich verzog meine Lippen zu einem verächtlichen Grinsen und blickte Marcus an. »Du reist nicht mit uns, Tribun?« fragte ich. Nero kicherte und warf mir einen listigen Blick zu. »Er ist hier viel wichtiger. Er wird die Schuldigen am großen Brand zusammentreiben. Die Christen waren’s.«
»Ich habe niemanden gesehen!« sagte ich. »Noch heute gehen wir an Bord, Caesar, und wir werden einen Schnellsegler schicken, wenn wir gesiegt haben.« »Recht so.« Nero ließ mich stehen und widmete sich wieder seinen Plänen. »Einen ausgezeichneten Mann hast du da gebracht, Vinicius, nicht?« Marcus Vinicius schwieg. Ich verließ den Palast und ritt langsam durch ein unendliches Ruinenfeld, in dem offensichtlich eine Million Menschen arbeitete. Ein einziger summender Lärm war über der Stadt. Nero ließ mehrere der unerträglich engen Straßen verbreitern und mehrstöckige Häuser bauen, deren Pläne zum Teil von mir stammten. Als ich am Gutshof anlangte, erwarteten mich Flavius und Ktesios. Sie waren in den letzten Monden unzertrennliche Freunde geworden. Mit der Miene eines Verschwörers neigte sich Ktesios vor und flüsterte heiser: »Sardinia, Meister der Waffen?« »Ja. Und vorher muß ich euch ein Mittel eingeben, sonst sterben wir alle.« »Also doch. Ich ahnte es. Natürlich mußt du mich mitnehmen, denn sonst seid ihr hilflos!« Ich schüttelte den Kopf und legte die Hand auf seinen Arm. »Zum erstenmal bitte ich dich, Ktesios, mein Freund«, sagte ich halblaut und drängend, »bleib hier und passe auf Lalaga und Arria auf. Versprichst du es?« Er warf theatralisch die Arme in die Höhe und rief jammernd aus: »Du beraubst mich der wenigen Vergnügungen, die ein Mann in meinem hohen Alter noch haben kann.« Und dabei war er höchstens drei Jahre älter als ich. Das heißt, älter als ich in dem Augenblick, als ich den Zellschwingungsaktivator erhalten hatte. Ich behandelte alle meine Männer mit dem Impfstoff gegen die fiebrige Krankheit und sagt ihnen, was zu tun war, nachdem ich die Anordnungen des
Schreibers gelesen hatte. An diesem Abend wollten wir noch arbeiten, und ich beschloss, mich kurz hinzulegen und nachzudenken. Ich schlief nur eine halbe Stunde, dann ging ich hinunter zum Brunnen, wusch mich und begann, meine Satteltaschen zu packen. Dieses Mal wollte ich jedes Risiko ausschalten oder es wenigstens versuchen. Senecas letzte Worte hatten mich zutiefst beunruhigt. Atlan als Tyrannenmörder? Es war undenkbar. Ich vergewisserte mich, ob ich nichts vergessen hatte, als Lalaga eintrat. »Ich weiß nicht, wie lang wir fortbleiben!« sagte ich. »Wir werden von Ulbia aus zu den Bergwerken reiten. Ktesios wird hier bleiben und auf euch Mädchen aufpassen.« Wir nahmen Abschied voneinander. Lalaga klammerte sich an mich, als sei sie von bösen Ahnungen geplagt und wisse, daß etwas geschehen würde. Ich ließ mich von ihrer Unruhe anstecken und beruhigte sie. »Der Syrer ist mein Freund und Stellvertreter. Ihr müßt nur Arria verstecken, wenn die Häscher des Marcus Vinicius kommen. Versprichst du es?« Sie nickte. »Kommt bald zurück!« bat sie. Ich versprach es, wir schleppten die Sättel und die Satteltaschen heraus, machten die Pferde fertig und hielten einen letzten Appell ab. Alles war bereit. Ktesios kam aus dem Haus und blieb neben meinem Rapphengst stehen, als ich im Sattel saß und den Schild auf den Rücken warf. »Nehmt euch in acht!« warnte er leise. »Ich weiß es nicht genau. Aber etwas braut sich zusammen unter dem Gesindel der Tavernen.« »Vinicius?«
»Ich vermute es. Aber er würde es nicht einmal in der Folter zugeben. Reitet gut und siegt. Ihr habt es nur mit Sklaven zu tun.« Er lachte bitter; wie wir alle fühlte er, daß hier Elefanten gegen Hasen kämpfen würden. »Gib gut auf die Frauen acht, Freund Ktesios!« sagte ich. »Los, Männer!« Einunddreißig Männer mit zwei Lasttieren ritten los. Wir bogen aus dem Hof hinaus, ritten zwischen den Bäumen dahin und bewegten uns in einem kräfteschonendem Galopp auf eine der größeren Straßen hinaus, die in Wirklichkeit nicht mehr als breite Feldwege waren. Ich drehte mich halb im Sattel herum. »Bis wir auf dem Schiff sind, Freunde, müssen wir jeden Augenblick mit einem Überfall rechnen«, sagte ich. »Haltet die Lanzen und die Schwerter bereit und die Schilde. Es kann sein, daß ich nicht recht habe – aber ihr habt gehört, was Ktesios sagte. Gebt also acht!« »Wir haben verstanden.« Wir ritten in Zweierreihen, die Packpferde am Schluß des Zuges. Unsere Augen unter den festgeschnallten Helmen blickten umher. Noch befanden wir uns in der ebenen Landschaft vor Rom. Es waren nur einige Stunden bis Ostia, doch in diesen Stunden waren wir gefährdet. Wir umgingen die Stadt and kamen auf die Straße nach Ostia. Ab jetzt stieg die Gefahr: Diese Straße mußten wir benutzen. Ich rief zu erhöhter Wachsamkeit auf. Die Männer nahmen die Schilde und sahen um sich. Unser Galopp wurde ein wenig schneller. Ich gab dem Rappen die Zügelenden zu spüren und sonderte mich ein wenig von der Truppe ab, wich aus und ritt neben der Straße dahin. Der Verkehr war in dieser späten Mittagsstunde spärlich geworden. Meine Unruhe und Spannung wuchsen. Und dann, hinter einer Biegung, sah ich
Bewegung im Gebüsch neben beiden Seiten der Straße. Ich riß mein Schwert heraus und zog die Zügel an. Dann waren die anderen Männer heran. Flavius warf mir einen finsteren Blick zu und ich nickte. »Dort vorn!« Wir wurden schneller. Ein rasender Wirbel aus Pferdehufen ertönte. Schnauben und Waffenklirren, kurze Ausrufe. Ein zerlumpter, bärtiger Mann stand auf, wirbelte zwischen den Büschen eine Schleuder über seinem Kopf und löste sie aus. Ein Stein zischte durch die Luft auf mich zu. Ich riß den linken Arm hoch, winkelte ihn an, und der Stein prallte krachend vom Stahl ab. Dann waren wir heran. Etwa fünfzig Gestalten sprangen aus dem Gebüsch. Sie trugen Knüppel, Dolche und rostige Schwerter. Ich sprengte mitten in das dichteste Gewimmel hinein, ließ den Rappen hochsteigen und sich drehen. Ich schlug mit dem Schwert um mich, traf Köpfe und Schultern, Arme und Waffen. Mit einem berstenden Knall zerbrach ein rostiges Kurzschwert. Ein Mann schnellte sich hoch und versuchte, mich aus dem Sattel zu zerren. Seine Hand mit dem Dolch zuckte hoch. Ich zog den Fuß aus dem Steigbügel und trat den Angreifer vom Hals des Pferdes. Der Rappe wirbelte mit den Hufen um sich und zerschmetterte einem Mann mit einem schmutzigen Verband um den Kopf den Schädel. Dann hatte ich mich freigekämpft. Rings um mich lagen Verletzte. Ich sah einen Mann, der quer durch die Büsche in panischer Angst floh. Ich riß das Pferd herum und sprengte mit vier, fünf mächtigen Galoppsprüngen in den Haufen der Kämpfenden hinein. Jemand hatte einen meiner Männer aus dem Sattel gerissen – ich setzte über den aufschreienden Mann hinweg und schlug ihm die flache Seite des Schwertes zwischen die Schulterblätter. Er fiel wie ein Pfahl um. »Flavius! Hierher!« schrie ich.
Vier oder fünf meiner Leute waren abgesprungen und kämpften in einem Pulk von Pferdeleibern und Angreifern. Schwerter und Knüppel bewegten sich zuckend. Die Hiebe prasselten auf Schilde, Rüstungen und Helme. Ich sah mich in rasender Eile um. Staubschleier verdunkelten das Bild. Dort ein auskeilendes Pferd. Daneben ein Legionär, der einem Angreifer das Schwert in den Hals stieß. Dahinter ein Feldstein, der auf einem Schild zerbarst und den Legionär vier Schritte rückwärts schleuderte. Flavius, der sein Pferd mitten durch einen Haufen Angreifer zwang, die einen Legionär töten wollten. Der alte Zenturio schlug rechts und links vom Pferdehals auf die Köpfe der Männer. Überall Schreie und Jammern, Flüche und heiser gekeuchte Ausrufe. Ich sprengte nach rechts hinüber und ritt einen Angreifer zusammen, der eben mit einem Speer gegen einen Legionär vorging, der einen anderen Mann aus dem Hinterhalt abwehrte. Mein Schwert zerschnitt den Speer, und mit dem Schild schmetterte ich den Mann zu Boden. Flavius kam heran. Er riß einem Mann den Speer aus der Hand und warf ihn hoch. Dann schlug er den Angreifer mit dem Schild nieder. Er fing den Speer, der sich gedreht hatte, wieder auf und schleuderte ihn mit aller Macht von sich. Das Geschoß nagelte einen weiteren Mann fast an den Boden. Dann brachen zwei Legionäre aus dem Haufen aus, ritten nach vorn und fingen einen der Angreifer. Nur noch an zwei Stellen wurde gekämpft. Dann nur noch in einer – und als ich meinen ersten Pfeil verschossen hatte, war der Kampf beendet. Zwei Fuhrwerke voller Marmorplatten kamen hinter der Biegung hervor, und der Lenker hielt schreiend seine Ochsen an. »Du hattest recht!« sagte Zenturio Flavius, löste das Kinnband des Helms und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Dieser Hund. Dieser Abschaum der Dämonen! Ich werde…«
»Du wirst mit mir zusammen nachsehen, was für Verletzungen unsere Männer davongetragen haben!« sagte ich scharf. Einige Reiter setzten den flüchtenden Tieren nach und fingen sie ein. Ich stieg ab und ging durch den Haufen der Toten und Verwundeten. Der ganze Kampf hatte so lange gedauert, wie man braucht, um zwei Becher guten Wein auszutrinken. Die Pferde beruhigten sich. Auf uns allen lag eine feine Staubschicht, die bitter auf der Zunge schmeckte und den Gaumen verklebte. Spuckend und hustend gingen die Männer zu den Pferden. Ich begann zu zählen. Niemand von unseren Männern war tot, aber ich sah eine Menge Blut und aufgeschürfte Stellen. Wir würden auf dem Schiff genug Zeit haben, die Wunden zu versorgen. »Niemand ist getötet worden!« meldete Flavius neben mir. »Deswegen haben wir Tage und Wochen immer wieder geübt, mein Freund«, entgegnet ich. Ich blieb neben dem Pferd stehen, als die Legionäre einen Flüchtenden heranschleppten. Sie schleiften den Mann an den Haaren und am Stoff des Kittels durch Dreck und Steine des Weges heran und ließen ihn los. Er fiel direkt vor meine Füße. Ich kauerte mich nieder, zog den Dolch und drehte den Angreifer mit einer einzigen Kraftanstrengung herum. »Sprich! Wenn dein Augenlicht etwas wert ist – sprich!« sagte ich leise. Er merkte die tödliche Drohung in meiner Stimme. »Ja – ja!« gurgelte er und schluckte mehrmals. »Ihr seid bezahlt worden, uns zu überfallen und zu töten?« »Ja.« »Von wem?« »Ich weiß es nicht, Herr. Verschont mich. Ich habe Kinder und…« »Wer gab euch das Gold, wer nannte euch den Platz?« »Ein Buckliger im gelben Gewand! Er sprach mit jedem von uns. Einzeln, Zenturio! Glaube es!«
»Du kennst Marcus Vinicius, den Mann an Neros Seite?« »Ja!« Ich überlegte kurz, dann holte ich aus meinem Gürtel ein großes Goldstück heraus. Ich hielt es dem halbverhungerten, verwundeten Mann vor die Augen, nahm aber den Dolch nicht von seiner Nasenwurzel. »Du gehst zu ihm. Du sagst ihm, Askhan Arcon, der Zenturio des Nero, habe mit dir gesprochen. Gib ihm dieses Goldstück. Zeige es ihm, denn es trägt meinen Kopf und meinen Namen! Sage Vinicius, daß ich ihn für diesen Überfall eigenhändig erdrosseln werde!« »Ja. Ich werde rennen, bis zum Palast!« »Das hat dein Leben gerettet!« Ich nahm den Dolch vor seinem angstverzerrten Gesicht, warf das Goldstück neben ihn hin und stand auf. »Weiter, Männer! Auf dem Schiff haben wir Zeit für alles!« Der Zug hatte sich wieder geordnet. Flavius hatte dafür gesorgt, und als erfahrene Kämpfer im Dienst Roms waren die Männer Disziplin gewohnt. Ich schwang mich in den Sattel und hielt nur kurz bei dem Volksauflauf an, der sich neben dem ersten Fuhrwerk versammelt hatte. »Ihr geht nach Rom?« »Ja, natürlich! Was gab es? Wer seid ihr? Wer hat euch überfallen? Warum?« Die Fragen prasselten auf mich ein. Ich hob die Hand und sagte laut: »Sagt in Rom, eine Truppe des Caesars, die Ordnung auf, Sardinia stiften sollte, ist von gedungenen Mördern des Marcus Vinicius überfallen worden!« »So ist es? Das war es…« Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich ritt meinen Männern nach, überholte sie und setzte mich an die Spitze des Zuges. Wir erreichten Ostia, verluden die Pferde auf das mittelgroße Schiff und erfuhren vom Verwalter des Hafens nähere Einzelheiten.
Er verwies uns an den Kapitän des Schiffes, der ein ausgezeichneter Kenner der Sarden und Sardinias sei. Dann legte das Schiff ab und nahm Kurs auf die beiden Inseln im Westen Roms. Als wir mit gutem Wind, der das purpurne Segel blähte, an den Insulae Cuniculariae vorbeikamen, sah ich zum erstenmal in meinem Leben die seltsam smaragdgrüne Farbe des seichten Meeres. Wir segelten entlang einer zerklüfteten Küste, an der außer der Macchia nichts wuchs. Steinbrocken, zwischen denen Ziegen und Schafe weideten. Ein halbzerfallener Wachturm grüßte uns stumm. In einer weit geschwungenen Linie, uns sorgfältig vom Ufer fernhaltend, segelten wir um den großen Vorsprung nördlich der Bucht von Ulbia, einer kleinen verwahrlosten Hafenstadt. Auf der mehrtägigen Fahrt hatten wir unsere Wunden verbunden, wobei ich mit Salben, Verbänden und Medizin half – und wir wußten vom Schiffsführer alles über das Land, die Leute und die römischen Bergwerke. »Ich könnte euch, Zenturio, auch nach Caralis bringen, am südlichen Ende der Insel. Aber die meuternden und entflohenen Sklaven und Verbrecher halten sich bei Forum Traiani auf und nördlich davon, am Thyrsus. Ihr müßt sie zurücktreiben.« Das waren etwa hundert Wegstunden zu Pferd, wie ich aus dem Studium der Karten ersah. Ich hatte bereits einen Plan, aber ob er sich so verwirklichen ließ, war zur Stunde fraglich. »Du kennst den Verwalter der Bergwerke?« fragte ich. Nur die Arbeiter in den Silberbergwerken hatten sich erhoben und versuchten, sich mit den Hirtenstämmen zu verbünden. Der Kampf gegen sie war sicher nicht schwierig, aber die Suche würde eine Menge Zeit und Mühe kosten. »Ja. Ein dummer, habgieriger Mann. Er tut alles, wenn man ihm Besitz verspricht oder Gold gibt«, sagte der Schiffsführer und spuckte ins Hafenwasser.
»Ich liebe solche Menschen«, erwiderte ich. »Sie sind gute Werkzeuge. Cave canem!« Das Schiff legte schwerfällig an. Wir gingen an Land und führten die Pferde in die Ställe der caesarischen Garnison. Sie war nicht besonders groß, spärlich ausgestattet und außerdem bis auf ein paar verhungerte Köter ziemlich leer. Meine Männer und ich gingen in eine der Hafenschenken, aßen Unmengen gebratenen Fisches, tranken Wein und schäkerten mit den kurzbeinigen, dunkelhäutigen Mägden, die offensichtlich späte Folgen der karthagischen Besatzung waren. Am nächsten Morgen brachen wir auf.
21. Es mochte auch andere Eingeborene geben, aber alle Sarden, die wir unterwegs trafen, wirkten auf mich, als wären sie nie aus ihren Nura-ghen herausgekommen. Cum grano salis, mit einer Spur Klugheit in der Bemerkung also, waren auch ihr Vieh und ihre Orte verwahrlost und schrundig; viele der Frauen hatten starke, meist schwarze Oberlippenbärte. Auch Luguido, einer der mückenverseuchten Orte der Isola Sardiniae, war nicht anders – aber dort, wo die schütteren Wälder dichter und die Berge höher waren, entschädigte jeder Anblick der Landschaft für viele Mißlichkeiten. Wir ritten dahin, die Hände an den Zügeln und an den Waffen. Unsere dunkle Kleidung tarnte uns ein wenig, aber jeder Sonnenstrahl ließ die vergoldeten Teile der Rüstungen aufschimmern. Wir waren also für jeden Halbblinden gut sichtbar. Die Hälfte der Männer hielt den gespannten Bogen in der Hand, die andere Hälfte das gezogene Schwert. Wir tasteten uns einen unglaublich gewundenen Ziegenpfad empor zu einem Gebirgszug, der von Nordost nach Südwest verlief und
steile Bruchkanten aufwies. Die Straße nach Luguido hatten wir seit Tagen verlassen – wir kampierten im Freien und in Höhlen des verwitternden kristallinen Schiefers der Berge. »Ich begreife dich nicht, Zenturio!« sagte Flavius, der sein schweißtriefendes Pferd neben mir anhielt. »Wir sind hier, um einen Aufstand niederzuschlagen, und du denkst nicht daran, die Verbrecher einzufangen!« »Wenn wir versuchen, Zenturio Flavius, jedem einzelnen der Entwichenen nachzureiten, verlieren wir binnen kurzer Zeit unsere Pferde. Es sind dreihundert Männer freigekommen. Einhundert wurden in nächster Nähe der Bergwerke eingefangen und ausgepeitscht – bleiben rund zweihundert. Sie vernichten uns, wenn sie uns treffen. Bisher haben wir nur kleine und kleinste Gruppen gesehen, und die nur von fern. Ich habe etwas anderes vor.« Wir ritten weiter. Was ich gesagt hatte, stimmte. Es gab mehr Möglichkeiten auf dieser Insel, sich zu verstecken, als sie Menschen beherbergte. Wir hatten keine Chance, gingen wir in der Art römischer Legionen vor. Wir nahmen unseren Weg durch weitestgehend unkultiviertes Gelände, und als ich, einige Stunden vor Hafa, zwei Schafhirten sah, winkte ich meinen Männern, sie sollten zurückbleiben. Ich ritt langsam auf den jüngeren Mann zu. Hunde kläfften mich an, die Schafe wichen langsam auseinander und grasten ruhig weiter. Ich sprang aus dem Sattel und begrüßte den Mann. Seinem Aufzug nach zu urteilen war er einer der Ärmsten. Der andere Hirte hielt sich verstohlen im Hintergrund. »Hüter der Wolltiere«, sagte ich und setzte mich auf einen kantigen Steinblock, »ich komme aus Rom und habe eine schwere Aufgabe.« Er nickte bedächtig und kaute an seinem geräucherten Fleisch. »Ich weiß«, entgegnete er langsam und undeutlich. »Alle in
dieser Gegend wissen davon und lachen.« »Das ist richtig. Ich bin nicht der Mann des Schwertes, sondern versuche es mit Freundschaft. Du hast viele der entflohenen Sträflinge gesehen?« Er ließ sich lange Zeit mit der Antwort, dann sagte er leise: »Ja. Es sind arme Burschen. Gepeitscht, verhungert, ausgemergelt. Ich bin gegen sie ein fetter Senator.« »Recht so«, sagte ich. »Ich weiß, daß Gold die Zungen löst, Tore öffnet und aus Habgier Liebenswürdigkeit macht. Wir beide werden es nicht anders halten. Ich habe Gold.« »Und was willst du von mir?« Ich deutete auf eine leidlich ebene Stelle und antwortete im Tonfall eines Händlers: »Dort werden wir heute Nacht lagern. Du sollst versuchen, mir einige Anführer zu bringen. Ich will nichts anderes als mit ihnen sprechen – ich trete ihnen an einem von ihnen gewünschten Ort waffenlos gegenüber. Das ist das Wort eines römischen Zenturio.« Er sah mich listig an. »Du wirst dein Gold verdienen wollen?« Ich zog fünf Goldmünze heraus, diesmal solche mit kaiserlichem Kopf darauf. Die Sonnenstrahlen brachen sich auf dem glänzenden Metall. Die Augen des Hirten schlossen sich, als sei er überwältigt. »Gebt auf die Schafe acht!« warnte er. »Und haltet die Pferde von der Quelle weg. Verunreinigt sie nicht!« »Gut. Wir warten auf dich!« »Ich komme nachts zurück.« Ich nahm den Zügel und ging zurück. Ich sagte meinen Männern, was ich veranlasst hatte und erklärte ihnen genau mein Vorhaben. Wir suchten Holz zusammen, versorgten die Pferde und suchten uns dann Lagerplätze. Wir fanden sie in einem Nura-ghen, einem spitzkegeligen Bauwerk aus uralten Zeiten. Hier konnten wir sogar die Pferde hineintreiben. Einst hatten diese Bauten aus wuchtigen Steinen als Fluchtburgen
gedient; oft waren sie in sehr gutem Zustand. Wir fanden Spuren längst erloschener Feuer und abgenagter Knochen. Wir brieten Fleisch, rösteten Brot, kochten eine Art Tee und warteten. Ich kletterte auf die Spitze des Nura-ghen und beobachtete die umliegende Gegend. Aber nichts geschah, bis spät in die Nacht hinein. Die Männer bildeten zwei Gruppen; eine schlief, die andere wachte, vollständig bewaffnet. Ich schob den Dolch, der ein Lähmstrahler war, in den Stiefelschaft. Den anderen, den tödlichen Strahler, trug ich offen am Gürtel. Schwert und Lanze legte ich ab. Auch Bogen und Köcher. Um Mitternacht kam der Hirte zurück, von Hunden und Schafen freudig, von uns recht zurückhaltend begrüßt. »Komm mit!« sagte er. »Zuerst das Gold. Wenn sie dich umbringen…« »Die Hälfte«, wehrte ich trocken ab. » Du kannst dich am Ausplündern meiner Leiche beteiligen, Mann der kargen Weide.« »Sie werden nicht scherzen!« sagte er leise. »Sie sind sehr mißtrauisch. Sie haben nichts mehr zu verlieren.« »Nein«, sagte ich leise und folgte ihm. Ich steckte die Spitze einer Fackel in unser Feuer und hielt den Stab hoch. »Nur das Leben. Und das ist schließlich auch etwas Schönes.« Wir gingen schweigend etwa eine Stunde lang über kaum sichtbare Pfade. Längst war die Fackel erloschen, und nur der riesige weiße Mond beleuchtete die Felsen und das trockene Gras. Schließlich, zwischen hochragenden Felstrümmern, die aussahen, als habe sie ein Zyklop hierher geschleudert, erblickten wir einen schwachen Feuerschein. Als man unsere Schritte hörte, zog jemand einen alten, durchlöcherten Legionärsmantel vor dem Feuer weg. Ich sah zwölf oder mehr Gestalten, die ein Bild des Jammers boten. Jeder von ihnen hatte einen Eichenknüppel neben sich liegen oder eine Astgabel, in der ein schwerer Stein festgeklemmt war. Der Hirte trat zur
Seite und brummte: »Hier ist der Zenturio. Er trägt nur einen Dolch.« Ich griff an meinen Gürtel, schlug den langen Mantel zurück und schnallte die Flasche ab. Ich entkorkte sie und reichte sie einem dürren Mann, der neben mir an einem Felsblock lehnte und mich aus schmalen Augen musterte. »Ich will mit euch sprechen!« sagte ich. »Ihr seid Strafgefangene aus Argentaria?« Der Mann roch am Wein, schüttelte mißtrauisch den Kopf und sagte knurrend: »Es kann Gift drin sein.« Ich lächelte kurz und trank einen mächtigen Schluck. Ich trank so deutlich, daß es alle sahen. »Kein Gift!« sagte ich und wartete, bis die Flasche einmal die Runde gemacht hatte. Dann war sie leer. Nicht einmal der Hirte hatte einen Schluck abbekommen. »Gut. Du sprichst mit uns!« Ich setzte mich neben das Feuer und sagte nachdenklich: »Man hat mich aus Rom hierher geschickt, um euch zusammen zu treiben und nach Argentaria zurückzubringen oder zu töten. Man gab mir dreißig Männer mit. Ihr könnt daraus erkennen, daß man meint, ich würde bei diesem Versuch sterben. Das ist mein Auftrag. Ich habe nun die Wahl, euch jahrelang zu verfolgen und nach und nach umzubringen. Das bedeutet euren Tod und den meiner Männer und meinen eigenen Tod. Ich will nichts von beidem.« Schweigen; irgendwo schrie ein Käuzchen. »Ich mache euch einen Vorschlag«, sagte ich. » Ein Vorschlag, der euch das Leben sichert.« »Mann aus Rom«, hörte ich vor mir aus dem flammendurchzuckten Dunkel, »unser Leben ist nichts mehr wert. Wir ziehen den schnellen Tod einem Leben in den Bergwerken vor.« »Das dachte ich mir.« Ich hoffte, daß ich diplomatisch genug vorging. »Und ich will und kann euch zu nichts zwingen. Ich
kann, vorausgesetzt, ihr erschlagt mich nicht, einige verschiedene Dinge tun: Ich kann versuchen, jeden von euch zu töten, den ich sehe. Das wird Jahre dauern. Dann seid ihr alle tot, meine Männer sind verblutet und ich bin in Rom vergessen. Ich kann von euch angegriffen werden. Dann sterbe ich. Jemand wird nachforschen und herausfinden, daß sich zweihundert Sträflinge gegen Rom aufgelehnt haben. Und nicht nur gegen ihre sadistischen Wärter, sondern gegen einen Abgesandten Roms. Und der Caesar wird nicht zögern. Er schickt zwei Legionen her, die von Longonis im Norden bis Bitia im tiefsten Süden die Insel durchsuchen. Sie werden euch alle niedermetzeln und zu Tode peitschen oder in Caralis ans Kreuz schlagen. Was bedeutet das?« »Tod!« »So ist es. Ihr seid Verbrecher – ich weiß nicht, was ihr getan habt, daß man euch zu den Bergwerken verdammte. Ihr seid bestraft worden und müßt büßen, so will es das Gesetz.« »Das ist nicht falsch«, sagte der Anführer. »Worauf willst du hinaus?« Ich sagte nach einer Weile: »Sammelt euch in kleinen Trupps. Kehrt langsam zurück nach Argentaria. Ich werde dort den Verwalter ablösen oder bestechen. Die Bedingungen für euch, die schlimmer als für Schlachtvieh sind, werden besser. Ich versetze alle Aufseher an andere Orte. Ihr sollt besseres Essen bekommen und jede Vergünstigung, die ich für euch erwirken kann. Das ist mein Vorschlag. Wenn ihr ihn nicht annehmt, muß getan werden, was ich eben sagte.« Ein Geschrei begann, nachdem ich gesprochen hatte. Sie redeten alle auf mich und aufeinander ein. Ängstlich zog sich der Hirte zurück. Ich blickte nacheinander in die drecküberkrusteten Gesichter und schwieg, an den warmen Felsen gelehnt. Nach einiger Zeit hatten sie sich müde geschrien. »Überlegt es euch«, sagte ich. »Wir bleiben noch einen Tag
drüben bei dem Nura-ghen. Schickt jemanden. Er wird nicht gefangen, sondern bekommt ein Stück Braten von uns und Brot. Ich muß euren Entschluss wissen.« Wie würden sie sich entscheiden? Warte es ab. Alles ist offen! sagte mein Extrasinn. Ich stand auf. »Ihr laßt mich gehen?« fragte ich und schnallte die Flasche wieder an den dünnen Schultergurt. »Meinetwegen!« knurrte der Anführer. Ich hob die Hand. »Denkt gut darüber nach. Ich stehe zu meinen Worten. Und überlegt euch alles gut. Wenn ihr noch Fragen habt, so kommt morgen früh. Hast du ein paar junge Hammel, Hirte?« »Ich habe immer junge Hammel!« versicherte er missmutig. »Dann schlachte fünf von ihnen. Wir braten sie morgen am Spieß, und ich lade euch alle zum Essen ein.« »Gold!« forderte er beharrlich und zeigte seine schwärzlichen Zähne. »Im Lager, Freund der Reichen!« versicherte ich. »Nach dem Rückweg!« Ich grüßte die Verdammten, folgte dem Hirten den langen steinigen Weg zurück und rollte mich in der Nähe des Feuers in meinen Mantel ein. Ich schlief wie betäubt und erwachte erst, als mich die Sonnenstrahlen in der Nase kitzelten. Sieh um dich, Arkonide! flüsterte eindringlich der Logiksektor. Ich war verblüfft! Die Szene auf dieser kargen Hochfläche hatte sich entschieden verändert. Etwa sieben Feuer brannten. Über den Flammen drehten sich ausgenommene junge Hammel, mit den wenigen Gewürzen gefüllt, die hier wuchsen. Ich sah meine Legionäre zusammen mit rund einhundert Entflohenen um die Feuer sitzen. Flavius lief mit einer Miene, die Ratlosigkeit und Mißtrauen ausdrückte, zwischen den Gruppen umher und hielt das Schwert in der Hand. Ich mußte grin-
sen, als mir der Wind den Bratengeruch in die Nase wehte. »Noch nie ist ein Plan so schnell aufgegangen. Der Hunger hat sie zusammen getrieben.« Ich stand auf, faltete meinen Mantel zusammen und wusch mich kurz an der spärlich sprudelnden Quelle. Dann sah ich den Hirten, der auf mich zurannte und die offene Hand ausstreckte. »Zenturio! Du schuldest mir Gold!« sagte er heiser. »Zum Orkus mit dir und deiner Habgier«, murmelte ich, fischte einige Goldstücke aus dem Gürtel und legte sie in seine Hand. »Non olet.« »Damit bin ich ein freier Mann!« sagte er. »Ich kann mir eine Frau nehmen und eine Sklavin kaufen.« »Damit bist du die längste Zeit ein freier Mann gewesen!« lästerte ich und ging auf Flavius zu. Er sah mich und breitete hilflos beide Arme aus. »Du bist… ich kann… ich verstehe nichts mehr, Zenturio Askhan!« sagte Flavius und sah mich durchbohrend an. »Dabei ist alles so einfach«, erwiderte ich. »Die Gruppe, mit der ich heute Nacht sprach, hatte Verbindung mit vielen anderen Versprengten. Mein Wort, ich würde ein paar Hammel schlachten, hat sie in den Morgenstunden mit knurrenden Mägen hierher gebracht.« »Und was willst du mit ihnen anfangen? Sie alle töten, wenn sie fressen?« »Ich habe vor, ihnen noch ein paar Hammel zu kaufen. Sie fürchten sogar die Steinschleudern der sardischen Hirten, sonst hätten sie sich selbst etwas zum Essen gestohlen. Und dann schlage ich ihnen vor, freiwillig, aber langsam nach Argentaria zurückzugehen. Dort werde ich mit dem Verwalter sprechen.« Er starrte mich an und schüttelte fassungslos den Kopf. »Sei unbesorgt. Sicher geht nicht alles so glatt, wie ich es mir
vorstelle. Aber auf diese Art werden wir Kämpfe vermeiden und diesen armen Hunden das Leben etwas leichter machen.« »Oder das Sterben. Die meisten von ihnen sind todkrank.« Ich deutete auf die Männer, die gierig die noch halbrohen Hammel anstarrten. »Frag sie, was sie in den Minen erdulden mußten. Dann wirst du besser verstehen, warum ich nicht gegen sie kämpfen will.« »Gut. Ich werde wachsam bleiben und warten!« versprach er. »So wie ich!« schloss ich. Wir gingen zu den Feuern. Dort mußte ich Hunderte von Fragen beantworten. Ich tat es, und die anderen Legionäre hörten zu, als die Strafgefangenen erzählten, was sie in Argentaria erlebt hatten. Einige Stunden vergingen. Von den Hammeln blieben nur noch säuberlich abgenagte Knochen übrig. Dann sagte ich den Männern – es waren genau vierundneunzig –, was ich vorhatte, und gab den einzelnen Anführern Kupfermünzen. Für dieses Geld konnten sie sich auf dem Weg nach Argentaria Essen kaufen. In der Zwischenzeit würden wir dorthin reiten und alles Nötige veranlassen. Ich machte ihnen keine Hoffnungen auf ein leichtes Leben, aber ich versprach ihnen Gerechtigkeit. Dann atmete ich erleichtert auf. »Zufrieden, Zenturio?« fragte ich Flavius. »Ich bin nicht eher zufrieden, als bis wir auf dem Schiff zurücksegeln und die Insel befreit ist.« »Auch das werden wir schaffen!« sagte ich. »Und jetzt sollten wir losreiten!« »Einverstanden!« Africanus Tiberius war ein mittelgroßer Mann mit faltigen Tränensäcken. Er las schweigend das Beglaubigungsschreiben und die Anweisungen von Nero durch, rollte das Pergament
zusammen und stellte die Rolle wie eine Säule zwischen uns auf die Steinplatte des großen Tisches. »Soso!« sagte er. »Rorra locuta, causa finita. Rom hat also entschieden.« »Deine Rede, Verwalter, sagt mir, wie begeistert du bist! Ich habe von Caesar Nero alle Vollmachten. Und an mir liegt es, wie der Aufstand der Minenarbeiter endet. Nur an mir.« Schräg hinter mir saß Zenturio Flavius auf einem Steinquader und zog mit einer nervenzermahlenden Regelmäßigkeit sein Schwert aus der Scheide, stieß es zurück, zog es wieder heraus. »Aha!« sagte Tiberius. »Du also bist der legendäre Zenturio Askhan Arcon.« »Mein Ruf scheint dank Marcus Vinicius bereits bis hierher gedrungen zu sein«, erwiderte ich. »Es gibt zwei Möglichkeiten, mit mir zu verkehren. Entweder mit den Mitteln der Vernunft oder mit denen der Gewalt. Du hast die Wahl.« »Ich habe die Wahl!« stellte er fest. »Noch«, sagte ich. »Wie viele Entflohene haben die wenigen römischen Soldaten bisher zurückgebracht? Abgesehen von denen, die ihr hier in der nächsten Umgebung eingesammelt habt, weil sie vor Schwäche nicht mehr weiterlaufen konnten?« Nach einer Weile sagte er leise: »Drei.« Flavius hinter mir brach in ein schallendes Lachen aus und zog sein Schwert. Ich schüttelte den Kopf und sagte hart: »Wenn du eine Kuh hast, die viel Milch gibt – ein Vergleich, deinem Können angemessen, Tiberius –, dann wirst du sie gut füttern, sie auf fette Weiden treiben und ihr Fell säubern. Sicher bist du der Meinung, daß nur ein Narr das arme Tier totschindet und noch viel Milch dazu verlangt. Außerdem ist dann selbst das Fell wertlos. Ist es so, oder sind die sardischen Kühe Wundertiere?«
»Du hast recht. Aber…« gab er zu. »Und so wie diese Kuh, du blutiger Narr, wirst du in Zukunft die Gefangenen behandeln. Du wirst ihnen genug Essen geben. Du wirst dafür sorgen, daß sie ausschlafen können und daß ihre Rücken nicht von der Peitsche zerfleischt werden. Und einige Dinge dazu, die ich dir aufschreiben werde, damit du sie nicht vergißt.« »Du redest laut, Zenturio« Wir starrten uns erbittert an, und ich steckte die Rolle wieder ein. Ich lächelte eisig. »Wie ich gehört habe, braucht Suetonius Paullinus in Britannien noch einige Söldner. Im kalten, regnerischen Britannien, wo die Barbaren zu Hause sind. Ich sagte es bereits: Du hast die Wahl. Gehorche Caesar und somit mir – oder du reitest morgen nach Caralis, wo dich ein Schiff nach Britannien erwartet.« Ich stand auf. »Ruf deinen schärfsten Wächter. Er soll mir alles zeigen, was sich rund um die Mine befindet. Die Quartiere, die Küche, die Magazine und die Peitschen.« Er blickte mich fassungslos an. Flavius stieß das Schwert in die Scheide zurück. »Ich erteilte dir einen Befehl!« erinnerte ich. Er sprang auf, lief zur Tür und schrie: »Rufus!« Einige Zeit später waren wir, also Flavius, einige meiner Männer, Rufus und ich, unterwegs. Wir verließen das Haus des Verwalters und gingen hinüber zu der Mine. Drei Stunden lang besichtigten wir die heruntergekommenen Quartiere. Ich blieb, nachdem wir die Sklavenhütten gesehen hatten, stehen und wandte mich an Flavius. »Hast du Stein und Schwamm bei dir?«
Er nickte schweigend. Sein Gesicht war weiß vor Wut. Jetzt verstand er mich plötzlich. »Lege Feuer an diese Hütten. Brennt sie nieder bis auf den Boden.« Rufus schrie auf und schlug die Hand vor den Mund. »Aber der Verwalter! Er wird…« »Er wird gehorchen oder nach Britannien versetzt. Solltest du weite Reisen in Barbarenländer lieben, kannst du mit ihm reisen. Gleich morgen früh!« Wir verließen nach kurzer Zeit die hellauf brennenden Hütten und kamen zum Magazin, zu den Küchen, zu den anderen Wirtschaftsräumen. Ich wurde immer schweigsamer und erbitterter. Ich zitierte einen Schreiber herbei und diktierte ihm, was zu tun sei. Dann ordnete ich an, daß für einige hundert Menschen neue Kleidung gekauft werden müsse, daß man einen Arzt brauchte, der die Wunden verband. Sofort wurde die Arbeit niedergelegt, und als einige Wächter die Sklaven über den Hof prügelten, schoß ich die Römer mit der Lähmwaffe nieder. Ich hielt vor den versammelten Verbrechern eine kurze Ansprache, in der ich schilderte, was hier geändert werden würde. Vor uns lag eine Menge Arbeit, aber wir schafften es. Und zwar schneller, als Africanus Tiberius es je geahnt hatte. Die Drohung mit der Deportierung hatte wahre Wunder gewirkt. Es war früher Herbst, als wir Sardinia wieder verließen. Argentaria lag hinter uns. Wir ritten nach Caralis und sahen dort, daß eben ein Schiff aus Rom einlief. »Das gibt uns Gelegenheit, uns wieder die Köpfe mit dem Wein schwer zu machen!« sagte Flavius laut und gutgelaunt. Er hatte eingesehen, daß mein Weg die bessere Lösung war. »Und mit den Mädchen in der Hafenschenke zu schäkern«, ergänzte ein anderer Legionär. »Ich komme zu euch, wenn ich mit dem Kapitän des Schiffes
gesprochen habe. Wir sind lange ohne jede Nachricht aus Rom geblieben.« Außer Gerüchten habt ihr nichts gehört! Denk an die beiden Frauen und an Ktesios! mahnte der Extrasinn. Das tat ich seit geraumer Zeit. Ich ließ das Pferd wegbringen, ging hinunter zur Mole und wartete, bis Menschen, Tiere und eine Menge Gepäck, Kisten, Säcke und Ballen ausgeladen worden waren. Dann betrat ich über die breite Planke das Schiff. Ich sprach lange mit dem Kapitän und erfuhr eine Menge Neuigkeiten aus Rom. Sie schienen jedoch eine gewisse Schwelle nicht überschritten zu haben, denn sonst hätte mich Rico gewarnt. In der Gaststube empfing mich Geschrei; meine dreißig Männer waren bereits halb betrunken. Wein war auf der Insel wohlfeil und stark. Ich nickte dem Wirt zu und setzte mich neben Flavius, auf dessen Schoß ein Mädchen mit üppigen Formen saß und mich ankicherte. »Wein!« sagte ich. »Für meine trockenen Lippen.« »Was gibt es Neues?« erkundigte sich der Zenturio. »Schlimme Dinge. Nero baut Rom auf und läßt die Christen verfolgen. Und andere Dinge mehr. Wir werden uns mit ihnen auseinandersetzen müssen!« Der Wirt kam und stellte einen prächtigen Pokal vor mich hin. »Ein besonderer Becher. Ein besonderer Wein, Herr!« sagte er. »Vom besten!« Ich nickte ihm zu und trank einen tiefen Schluck. Der Wein schmeckte etwas metallisch, mit bitterem Nachgeschmack. Ich setzte den Pokal ab und verlangte Braten, Fisch, Brot und Käse. Bis die Magd mit einem runden Holzteller kam, hatte ich den Pokal ausgetrunken. Ich spießte ein Stück weißen Käse auf die Dolchspitze und schob ihn in den Mund, als mich eine
würgende Übelkeit erfaßte. Schweiß brach aus allen Poren, und die Finger begannen zu zittern. Flavius merkte, wie ich zusammenzuckte und vor Schmerz aufstöhnte, er schob das Mädchen von seinen Oberschenkeln und sah mich von der Seite an. »Was hast du, Askhan?« fragte er beunruhigt. Gift! sagte der Logiksektor. Sie haben dir Gift in den Wein getan! Ich erhob mich taumelnd und lallte, halb bewußtlos: »Hilf mir… nach draußen… vergiftet… Milch, warme!« Er sprang auf, legte seinen Arm um mich und schleppte mich quer durch die Gaststube. Wir erreichten die Tür, sie sprang auf, und ich fiel haltlos über eine Mauer. Ich Übergab mich lange; mir zitterten die Knie, und eine seltsame Schwere machte meine Glieder unbeweglich. Das Gift raste durch meinen Kreislauf. Der Zellaktivator arbeitete mit aller Kraft. Meine Brust wurde heiß, die Haut färbte sich abwechselnd rot und weiß, und die Hitze breitete sich in meinem Körper aus. Flavius stand hilflos neben mir, zog sein Schwert und steckte es wieder zurück. Dann fluchte er haltlos und lange. Einige Legionäre kamen aus der Schenke, sahen uns und hörten zu, als Flavius auf sie einredete. »Fühlst du dich besser?« fragte jemand besorgt und leerte einen Krug eiskaltes Wasser über meinem Kopf aus. »Ein bisschen. Der Wirt…« keuchte ich leise. »Ich habe alles veranlasst!« sagte Flavius fest. »Wir werden seine Hütte anzünden und ihn ertränken.« »Nein!« Sie brachten Mäntel und legten mich darauf, ich trank warme Schafsmilch, dann trugen sie mich in meinen Raum. Dort fiel ich in schweren Schlaf. Mein Körper wurde von Hitzewellen durchflutet, dann wieder fror ich erbärmlich, und meine Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander. Ich würgte, spie, keuchte und verlor das Bewußtsein. Sie sagten später, daß ich
eine Menge bekannter und unbekannter Namen gemurmelt, geschrien und um mich geschlagen habe. Irgendwann in dieser Nacht wachte ich wieder auf und wußte, daß ich gerettet war. Der Zellschwingungsaktivator hatte das Gift besiegt. Aber ich war so schwach, daß ich fast kein Glied mehr rühren konnte. Am Morgen brachten sie den Wirt. Flavius ergriff ihn beim Kittel und warf ihn gegen die Mauer. »Warum hast du ihn vergiftet?« schrie er. Der Wirt sank zu Boden und blieb zitternd liegen. Das Gesicht des Mannes war geschwollen und blutüberkrustet. »Sprich. Oder du stirbst!« donnerte Flavius ihn an. »Ein Mann vom Schiff. Er gab mir Gold und das Gift. Er zeigte auf diesen da und sagte, daß ein mächtiger Mann in Rom noch mehr Gold…« Er schrie auf, als ihn die Stiefelspitze traf. Ich hob schwach die Hand und krächzte: »Laß ihn! Verhör ihn weiter!« Sie brachten nicht viel mehr aus ihm heraus. Vor einem halben Tag war ein Matrose gekommen, hatte dem Wirt den Auftrag, das Gift und die Goldstücke gegeben. Ich sollte vergiftet und der Wirt danach schuldlos gesprochen werden, falls ihn jemand des Mordes bezichtigte. Marcus Vinicius! sagte der Extrasinn überdeutlich. Ich richtete mich auf und brummte halblaut Sand mit langen Pausen, in denen mich immer wieder die Schwäche überfiel: »Laßt ihn in Ruhe. Er ist nur ein Werkzeug. Bringt mich auf das Schiff. Versucht, den Mann festzustellen, der ihm das Gift gab. Wir fahren zurück nach Rom!« »Ich gehorche!« Flavius riß den zitternden Wirt hoch. Ich sackte wieder zusammen und schlief ein. Ich schlief fast vierundzwanzig Stunden lang. Als ich durstig und hungrig und mit tobendem Schädel wieder erwachte, befanden wir uns bereits mitten zwischen Sardinia und Rom.
Wieder war ein Abschnitt vorbei. Ein anderer begann. Zwar waren wir ausgeruht, aber eine gewisse Unsicherheit hatte uns alle ergriffen. Caesars Auftrag war ausgeführt, wir hatten nicht einen Mann verloren, aber unser weiteres Schicksal war unsicher. Das heißt: Das Schicksal der dreißig Männer. Ich konnte jederzeit in den Gleiter steigen und davonfliegen, um zurückzukehren in mein unterseeisches Gefängnis. Was hielt mich noch davon ab? Ich wußte, daß ich erst die Dinge klären mußte. Niemand wußte genau, was in der Zwischenzeit geschehen war. In unglaublich kurzer Zeit war die niedergebrannte Stadt wieder aufgebaut worden. Überall waren Scharen von Handwerkern an der Arbeit. Und wenn es stimmte, daß in der Stadt eine Inflation drohte, dann würde das Leben in der nächsten Zeit für niemanden besonders angenehm werden. Warte ab und sieh zu, was alles geschehen ist! sagte der Extrasinn beschwichtigend. Wir umgingen die Stadt, trafen unzählige Transporte von Menschen und Baumaterial und kamen schließlich auf die bekannten Wege und Sträßchen, die zum Gutshof hinführten. »Ich habe ein böses Gefühl, Askhan«, sagte Zenturio Flavius und zügelte neben mir sein Pferd. »Caesar soll von Tag zu Tag mehr dem Wahnsinn verfallen sein. Und dieser Vinicius ist einer seiner Berater. Sie passen gut zusammen. Mir fiel auf, daß uns niemand erwartete, daß niemand zu wissen schien, wer wir eigentlich sind.« »Nämlich des Caesars beste Männer!« knurrte ich bitter. Wir ritten ungehindert und schnell weiter. Wohlbekannte Baumgruppen tauchten auf, ein paar Zäune und Grenzsteine, die ich gesetzt hatte, dann sorgfältig bearbeitete Äcker und Felder. Wortlos sahen wir uns an. In die Legionäre hinter uns kam deutliche Unruhe; sie schienen die gleichen Gedanken
wie wir zu haben. Weiter. Auf dem staubigen Weg näherten wir uns dem kleinen Gehölz, in dem der See aufschimmerte und der Bach. Wildenten flogen auf. Ein großer Taubenschwarm kreiste über dem Haus. Ich atmete auf – das Haus, das erste Gebäude, das wir von hier aus sehen konnten, war unversehrt. »Immerhin!« brummte Flavius. Im Laufe des letzten Jahres hatte er sich verändert. Aus einem rauen, in allen Kriegslisten erfahrenen Söldner war ein nachdenklicher Mann geworden, dessen graue Augen die Welt etwas anders zu sehen begannen. Wir bogen in den Hof ein, kamen an den letzten Bäumen vorbei und erkannten, daß die alte Ordnung und Sauberkeit hier herrschten. Dein Besitz ist nicht angerührt worden! bestätigte der Extrasinn, der die Informationen schneller und gründlicher verarbeitet hatte als mein normaler Verstand. »Äußerlich ist alles in Ordnung!« sagte ich und lenkte den Rappen in die Nähe des Stalles. Ein paar Arbeiter und Sklaven kamen herbeigerannt und begrüßten uns freudig. Als sie mich erkannten, wurden sie plötzlich ernst und wesentlich leiser. »Absitzen! Die Pferde versorgen!« schrie Flavius nach hinten. Der Hof füllte sich mit aufgeregtem Leben. Eine Schar Gänse floh zischend, und die jaulenden Hunde wurden abgewehrt. Ich sah mich ungeduldig um, nahm den Helm ab und ging auf mein Wohnhaus zu. Ich hatte noch keine zehn Schritte durch das Gewimmel von Menschen und Tieren zurückgelegt, als die Tür aufflog und Lalaga herausstürzte. Auch Lalaga lebt! Sie fiel um meinen Hals und klammerte sich an mich. Wir küßten uns, und als ich sie an den Oberarmen leicht von mir weg schob, sagte sie stockend: »Arria ist tot.« Ich nickte langsam. Meine Augen gingen umher, und als ob sie meine Gedanken erraten habe, sagte die Schwarzhaarige. » Ktesios ist in der Stadt. Er sieht sich um.«
»Komm ins Haus«, bat ich leise und zog sie mit mir. »Dort wirst du mir berichten, was alles vorgefallen ist.« »Es war sehr viel. Und wir alle hatten Furcht. Und Angst um dich, um euch.« »Uns ist nichts geschehen. Auf Sardinia ist alles bestens«, sagte ich und warf meinen Mantel auf einen Sitz. Auch im Haus schien sich nichts verändert zu haben. Wir gingen hinauf in unsere Räume, und ich bemerkte, daß auch nichts von meinen wertvollen Einrichtungsgegenständen gestohlen oder fortgeschafft worden war. Was war wirklich geschehen? Lalaga brachte Wein und Becher, und dann berichtete sie. Zunächst hatten sie von dem Überfall auf der Straße nach Ostia erfahren. Man hatte festgestellt, daß vierundfünfzig Männer uns angegriffen hatten. Sieben von ihnen waren am Leben geblieben. Einer von ihnen aber hatte sich nach Rom durchgeschlagen, war bei Marcus Vinicius vorgelassen worden und hatte ihm meine Botschaft ausgerichtet. Sogar das Goldstück mit meinem Kopf darauf gab er dem Berater Neros. Daraufhin habe Vinicius einen Tobsuchtsanfall bekommen, den Boten erwürgt und dann tagelang nachgedacht. Dann waren überall die Häscher Neros aufgetaucht. Sie suchten nach Christen, die in vielen Fällen auch gleichzeitig Judäer waren. Man hatte sie wie Vieh zusammengetrieben und in einer Anzahl von Veranstaltungen zerfleischen und bestialisch zu Tode quälen lassen. »Wie oft waren die Lictoren hier?« fragte ich. »Viermal« »Haben sie Arria…?« Sie hatten das Mädchen beim erstenmal nicht entdeckt. Seneca hatte ihnen sagen müssen, daß er das Mädchen zu uns geschickt habe. Arria war von Ktesios in einem Haufen Heu, draußen auf den Feldern, versteckt worden. Alle Sklaven und
Arbeiter sagten den Häschern, daß sie nicht wüßten, wo sich das Christenmädchen aufhielte. Die Abgesandten Vinicius’ waren unverrichteter Dinge abgezogen. Zwei Tage später waren sie zum zweiten Mal da. Diesmal hatte Ktesios Arria nach Rom auf den Markt geschickt, und ein Sklave fing sie ab und versteckte sie, als sie zurückkam. Das dritte Mal konnte sie sich nur noch im Kamin des Hauses verbergen, weil sie überrascht worden waren. Und beim vierten Mal erschien Vinicius persönlich, durchsuchte alles und fand Arria in den Stallungen. Gegenwehr war sinnlos und selbstmörderisch; man nahm sie mit. Einige Wochen später mußte Ktesios mit ansehen, wie sie von ausgehungerten Löwen zerfleischt wurde. »Nero!« sagte ich fast unhörbar. »Weiter. Was ist außerdem vorgefallen?« fragte ich. Ktesios hatte sich als wahrer Freund und umsichtiger Helfer erwiesen. Er konnte Arbeiter und Sklaven hervorragend behandeln; lang genug war er einer der Ihren gewesen und war es de jure noch immer. Das Gut und alle seine Ländereien waren in diesem halben Jahr zur Zufriedenheit aller bewirtschaftet worden. Man hatte sogar ein Stück Moor trockengelegt und darauf Gras gesät. Die Vorratskammern waren gefüllt; jeder von uns konnte dem regnerischen und kalten Winter getrost entgegensehen. »Was tat Ktesios sonst?« Sie sah mich an und lächelte, als sei sie froh, sich endlich alles von der Seele geredet zu haben. »Er wird dir viel zu berichten haben. Der Senat empört sich immer mehr gegen Caesar Nero, und es gibt viele Verschwörer. Sogar das Volk in den Schenken und Bordellen regt sich auf.« »Ausgezeichnet«, meinte ich. »Das beschleunigt das Ende des Tyrannen. Ich habe mich entschlossen, Nero zu vernichten.«
»Vernichten! Du willst den Caesar ermorden?« fragte sie voller Entsetzen. Ich schüttelte den Kopf. »Ich sprach nicht von Mord. Aber ich werde versuchen, ihn in eine Lage zu bringen, in dem ihm nichts anderes übrig bleibt, als sich selbst umzubringen.« Ktesios kam erst spät in der Nacht, und als Lalaga den Frühstückstisch abgeräumt hatte, konnten wir uns unterhalten. »Zunächst danke ich dir«, sagte ich und musterte meinen Freund über die Tischplatte hinweg. Er hatte eine rätselhafte Fähigkeit, sich von seinen nächtlichen Abenteuern innerhalb von Stunden vollkommen zu erholen. »Wofür, Söldner?« fragte er zurück. »Dafür, daß du mich vertreten hast. Ich sah, daß dieses Gut in einem Zustand ist, der des großen Römischen Reiches würdig wäre.« Er lachte und schüttete einen halben Liter warme Milch in sich hinein. »Das erledigte ich nebenbei. Wir war es in den Silberminen?« »Grässlich!« Ich winkte ab. »Ich hörte, man habe dich vergiften wollen, aber dank deiner wunderbaren Gesundheit und dem Willen der Götter genasest du in Windeseile!« sagte er und grinste. »So war es. Und da ich es für besser halte, ein wenig aus der Deckung hervorzutreten, kannst du in den nächsten Nächten das Gerücht ausstreuen, ich sei unverwundbar und durch Gift nicht zu töten.« Ganz plötzlich wurde er ernst. Er begriff, was ich meinte. »Du hast den beiden Männern den Kampf angesagt?« fragte er leise, und seine Augen glitzerten. »Ja. Ich kann ihn nur führen, wenn ich einen klugen und verschlagenen Freund als Helfer habe« »Was muß ich tun?« fragte er. »Zuerst einmal mußt du die Geduld haben, dir eine fast un-
glaubliche Geschichte anzuhören!« schlug ich vor. Ich hatte keine andere Wahl. Ich mußte Ktesios dem Syrer erzählen, wer ich war. Nicht alles natürlich; schließlich lag kein Grund hierfür vor. Ich begann an einem fiktiven Punkt und berichtete, ich sei Fürst in einem Land, das der römischen Zivilisation maßlos überlegen sei. Ich demonstrierte meine Waffen und sagte ihm, daß in geheimen Schmieden, sehr weit von hier entfernt, Männer mit größerem Können für mich arbeiteten. Ich zeigte ihm von meinem getarnten Arsenal, was er begriff – und das war eine ganze Menge. Schließlich beendete ich meine Ausführungen. »Ich werde mich in die vorderste Linie des Kampfes stellen, Freund Ktesios. Das kann ich aber nur tun, wenn ich weiß, daß in meinem Rücken ständig jemand um meinen Schutz besorgt ist. Und auch um Lalaga.« Er lehnte sich an die Mauer, die sich in den letzten Strahlen der herbstlichen Sonne erwärmte und versetzte nach einer Weile des Nachdenkens: »Ich habe begriffen. Ich glaube, du wirst Jahre dazu brauchen. Denn wenn du aus dem Hinterhalt Nero umbringst, bist du ein, Mörder. Aber du willst nicht morden – also bleibt dir nur der andere Weg. Dieser Weg aber ist lang und beschwerlich, auch für einen klugen und starken Fürsten des Westens.« Ich nickte. »Du wirst mir helfen?« »Und wenn es drei Jahre dauert. Ich werde nicht an deiner Seite kämpfen, sondern meine Fähigkeiten benutzen. Ich kämpfe lautlos und in der Nacht. Ich sage heute etwas, und in drei Tagen weiß es ganz Rom und flüstert darüber.« Ich hob die Hand und hatte einen Einwand: »Übrigens bist du noch immer mein Eigentum, mein Sklave. Ist es besser, wenn ich die Freilassungsurkunde unterzeichne?« Er schüttelte den Kopf.
»Nein! Lassen wir es so, wie es ist. Ich bin beweglicher als Sklave. Und da du eines Tages aus Rom abreisen wirst, kannst du mich irgendwohin mitnehmen und dort absetzen, wo die Gesetze dieses verdammten Landes nicht mehr gelten.« »Auch gut!« sagte ich. »Zuerst müssen wir Marcus Vinicius herausfordern. Er soll eine weitere Unbesonnenheit wagen – dann schlag’ ich zu. Er wird einem Kampf nicht ausweichen.« »Nicht, wenn er genügend oft gereizt wurde, Askhan!« »Wir haben folgende Mittel dazu…« Wir diskutierten bis zum frühen Nachmittag. Ich rüstete den Syrer mit einigen Waffen aus, die er sinnvoll anwenden konnte. Er erhielt Geld und jede Form der Unterstützung. Unser Plan war, die beiden Männer so lange herauszufordern, bis es mir mit Ktesios’ Unterstützung gelang, sie zu schlagen. Wir waren fest entschlossen, diesen Kampf aufzunehmen. Ktesios stand auf und holte den Weinbecher. »Also halten wir es so! Zwei Männer und eine Sklavin kämpfen gegen Rom, gegen den Wahnsinnigen. Du bist der Mann des Schwertes, ich derjenige, der alle seine Listen anwendet.« »Du wirst gestatten, daß ich hin und wieder einen Gedanken zu unserem Vorhaben beisteuere, ja?« »Wir sind sicher ein gutes Gespann. Tödlich für Nero.« Der Gegner hatte den ersten Schachzug: Eines Tages sprengte Ktesios in rasender Eile durch den Hof, schwang sich neben der Haustür aus dem Sattel und kam in mein Zimmer. Ich saß vor dem geöffneten Fenster; die milde Luft der ersten Frühlingstage wehte herein. Ich hörte das aufgeregte Klopfen, dann kam der Syrer herein. »Wir haben lange gebraucht, aber jetzt hat es gewirkt. Heute Nacht wird Marcus das Haus überfallen. Ich habe, wie du weißt, verbreiten lassen, du wolltest dich für den Giftmordversuch an ihm rächen!«
Er grinste und setzte sich auf den Tisch, mitten zwischen die Pergamente, auf denen ich meine Ideen über Landwirtschaft niederschrieb. »Das bedeutet, daß wir unsre Freunde zusammenrufen müssen!« sagte ich. Ktesios winkte müde ab. »Ich denke an alles!« tat er bescheiden und schlug die Augen nieder. »Sie kommen einzeln, sobald es dunkel wird. Um diese Zeit wird es früh dunkel.« Ich nickte grimmig und wußte, daß Marcus entweder entnervt vor Angst oder so wütend war, daß er unvorsichtig wurde. Privatkriege dieser Art waren nicht gerade ungewöhnlich, aber auf alle Fälle verboten. Die Gerichte griffen hart durch, wenn es um die Ordnung ging. »Rüsten wir also!« sagte ich. »Und zwar so gründlich, daß wir sie mit blutigen Köpfen heimschicken. Dieses Mal wird Marcus Vinicius kein Risiko eingehen. Er kommt mit Berufsmördern.« Wir ritten durch unser Gebiet und riefen die Arbeiter zusammen. Alle Frauen sollten sich, zusammen mit dem größten Teil des Viehs, irgendwo draußen verstecken. Die Männer würden uns helfe. Nach und nach stießen die alten, bekannten Legionäre zu uns und brachten jene Waffen und die Ausrüstung mit, die ich ihnen geschenkt hatte. Wir verwandelten den Bauernhof, Stallungen und Scheunen in ein kleines Kastell – aber niemand merkte etwas, niemand durchschaute die Tarnung. Ich unternahm kurz nach Anbruch der Dunkelheit einen ausgedehnten Rundgang und versuchte, den Gutshof mit den Augen eines Angreifers zu sehen. »Tadellos!« seufzte Ktesios und rieb sich die Hände. »Wäre ich ein Bandit, würde mich dieser stille, friedliche Hof geradezu herausfordern.« Überall hatte ich mit den Resten eines Teiles der ArkonAusrüstung Fallen eingebaut. Wasser zum Löschen war eben-
so wenig vergessen worden wie Fallgruben und gespannte Seile. Abendliche Ruhe kam über das Anwesen. Wir warteten. Als es Zeit war, nickte ich Ktesios und Flavius zu, setzte den Helm auf und band ihn fest. Dann griff ich zu Bogen und Köcher und kletterte über die Strickleiter auf den höchsten Baum, der die gesamte Anlage überragte. Dort hatten wir freies Schußfeld geschaffen, indem wir einige Äste absägten. Ich zog die Leiter hoch, befestigte die übrige Ausrüstung an einem Aststumpf und wartete wieder. Vier Stunden nach Mitternacht hörte ich das Geräusch von Rädern auf Steinen. Es wurde unterbrochen, dann schlug ganz fern Metall gegen Holz. Sie kamen. Ich nahm einen Kieselstein und warf ihn ins Wasser des Brunnens. Daraufhin ging ein Sklave in die Küche, entzündete drei Fackeln und steckte sie an drei Teilen des Hofes in dafür vorgesehene Ringe. Wieder verging eine gewisse Zeit. Wir hörten geflüsterte Kommandos und unzählige Schritte. Hin und wieder bewegten sich Schatten. Sternenlicht funkelte auf Helmen und Schildverzierungen. Ich bemühte mich, lautlos sitzen zu bleiben und gleichzeitig die Angreifer zu zählen. Ich kam auf eine Zahl, die zwischen vierzig und fünfzig liegen mußte. Die Angreifer waren sehr leise. Ich hörte nur ihre Schritte und ein paar hastige Atemzüge, als sie sich zu einem weiten Kreis auseinander zogen und das Gehöft zu umstellen begannen. Dann brach ein Ast, ein paar Steine kollerten, jemand fluchte leise. Wir alle warteten in atemloser Stille, verborgen hinter Holzstapeln, Reisigbündeln und Türen, in den Höhlungen offener Fenster und auf der Terrasse; Es dauerte lange, bis die Angreifer die Häuser umstellt hatten und sich auf ein flüsternd weitergegebenes Kommando auf einen dunklen Mittelpunkt zubewegten. Ich zog leise einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und spannte probeweise den langen Bogen. Der Ring
um uns zog sich enger zusammen. Dort, wo die Angreifer glatte Mauern vor sich erkannten, gingen sie zur Seite und schlossen sich den anderen an. Einer von ihnen kam vorsichtig in den zuckenden Lichtkreis der am weitesten entfernten, blakenden Fackel und blieb stehen. Eine unbarmherzige Wut erfüllte mich. Da die Häuser und Mauern, Magazine und Scheunen der Anlage ein offenes Viereck bildeten, das an zwei Seiten zu betreten war, versammelten sich die meisten Angreifer jenseits des schmalen Durchganges zwischen Stall und Scheune und in dem breiten Zwischenraum zwischen Wohnhaus, Brunnen und Stall auf der gegenüberliegenden Seite. Ich sah immer mehr schwarze Schatten dort drüben und wartete angespannt. Dann: die Geräusche, mit denen einige Schwerter gezogen wurden. Die Mäntel fielen zu Boden. Ein leiser Pfiff. »Los!« Sie gingen vor, in fast völliger Lautlosigkeit. Einer von ihnen näherte sich der Fackel, hob sie aus der Halterung und schwenkte sie kreisend über dem Kopf. Ein gewaltiger Funkenschwarm stiebte hoch, dann brannte die Fackel heller und ruhiger. Ich spürte die Befiederung des langen Pfeiles an meinem rechten Ohr, zielte sorgfältig und ließ die Sehne los. Der Pfeil heulte in die Dunkelheit und nagelte einen Angreifer an die Bohlen einer Stalltür. Ein lauter, wütender Schrei hallte durch den Hof, und eine rauhe Kehle schrie: »Greift an! Macht alle nieder!« Ein Sklave, der hinter der Stalltür hockte, riß an einem Seil. Ein Netz, zwischen zwei mittelhohen Bäumen gespannt, fiel waagrecht herunter und fesselte mindestens acht Angreifer, die sich durch den schmalen Durchgang drängten. Augenblicklich reckten sich schwielige Fäuste aus den Fenstern, die Griffe der Bögen umklammernd. Ein Pfeilhagel spickte die Gefesselten, die wütend mit den Schwertern um sich schlugen
und versuchten, die Seile des Netzes zu durchschneiden. In der Küche nahm ein anderer Sklave kochendes Öl aus dem Kessel, füllte es in Tonkrüge und reichte sie einem anderen Legionär, der sie durch das offene Fenster schleuderte. Die Krüge zerplatzten, das kochende Öl ergoß sich auf die Angreifer. Zwei Sklaven banden den unruhigen Stier los, öffneten die Stalltür und stachen das Tier mit einem glühend gemachten Messer. Der Stier, eine schwarze, gewaltige Masse Tier, schoß wie ein Felsbrocken aus der Stalltür und raste auf die Angreifer los. Eine Walze aus Sehnen, Knochen und Fell, mit zugefeilten Hörnern, brach sich eine breite Gasse durch zwanzig oder mehr Männer, von denen einige mit gebrochenen Knochen liegen blieben. »In die Häuser! Ihr Feiglinge! Geht vor!« schrie ein Mann. Aber es war nicht die Stimme des Vinicius… Ich zielte sorgsam und feuerte ruhig einen Pfeil nach dem anderen ab. Ich erschoss einen Angreifer, der mit geschwungenem Schwert eben die Tür der Küche erreichte. Er brach auf der Schwelle tot zusammen. Ein paar glühende Scheite wurden aus der Tür und dem großen Fenster der Küche geschleudert, beschrieben flache Bahnen in der Dunkelheit und landeten aufbrechend in den Pfützen des Öles, das augenblicklich zu brennen begann. Wieder schrien die Angreifer auf und brachten sich in Sicherheit. Die kleine Tür der Scheune wurde aufgetreten, und wie die Rasenden stürzten sich zehn meiner Männer auf die Angreifer. Lanzen zischten quer durch das Gewimmel und durchbohrten die generischen Rüstungen. Aus vielen Fenstern und Türen, aus Luken und Öffnungen zischten mit einer bösartigen Regelmäßigkeit die tödlichen Pfeile der besten Schützen. »Dort! Er flieht!« Ich fuhr herum, verfolgte mit den Augen einen flüchtenden Mann, der wie ein Besessener über den Hof rannte, mitten
durch ein Bächlein brennenden Olivenöls. Dann löste sich der Schuss und traf den Mann unterhalb des Helmrandes in den Nacken. Der Angreifer stürzte krachend hin und fiel mit dem Gesicht in brennendes Öl. Die Szene war jetzt hell erleuchtet. Die Gruppe der anderen Angreifer hatte nun das Netz zerschnitten, ließ die Toten und Verletzten liegen und rannte auf den Kampfplatz zu. Hier war eine Serie von Einzelkämpfen entbrannt. Immer mehr Fackeln brannten. Ein Sklave rammte einem Angreifer die Fackel ins Gesicht und tötete den Schreienden mit dem Dolch. Ich erschoss erbarmungslos jeden, der sich einer der vielen Türen näherte. Aus der sicheren Deckung zischte Pfeil um Pfeil. Ktesios, mit einer numidischen Doppelaxt bewaffnet, schnitt sich einen Weg durch eine Gruppe. Er schleuderte das Beil einem flüchtigen Angreifer nach und spaltete ihm von hinten Helm und Schädel. »Askhan!« schrie er und sah sich um. Jemand rannte an ihm vorbei und drückte ihm zwei Speere in die Hand. »Sie wollen fliehen, die Feiglinge! Komm her!« Jetzt sprangen die Bogenschützen aus den Fenstern und Türen. »Hierher!« Eine andere Gruppe meiner Leute, acht oder zehn, die sich bisher im Stall verborgen hatten, verließ den Schutz. Sie umkreiste rennend die Angreifer auf der anderen Seite des Hofes und verwickelte sie in Einzelkämpfe. Sklaven warfen brennendes Heu auf das Holz und gossen Öl darüber aus. Binnen kurzer Zeit umgab ein Kreis von mächtig lodernden Feuern das Kampffeld. Schwerter schlugen gegen Schilde. Während ich schonungslos feuerte, wohin ich sah, rannten die Sklaven davon und zogen die Netze hoch, die unseren Hof umgaben. Die Falle war verschlossen und verriegelt. Ich schoß meinen vorletzten Pfeil ab und rettete Flavius das Leben, auf den drei Männer eindrangen. Überall sah ich die goldenen Helme mei-
ner Männer und die bluttriefenden Schwerter aus Arkonstahl. Ich unterschied die Waffen am Klang; das römische Eisen klang dumpf, wie Bronze, und der Arkonstahl erzeugte einen schmetternden, knirschenden Laut. Der letzte Pfeil! Ich sah mich um. Unter mir lag hell ausgeleuchtet eine Arena des Todes. Etwa vierzig Männer standen noch auf den Beinen. Sie kämpften erbittert miteinander. Ich sah zu, wie Ktesios einem Angreifer einen Speer mit beiden Händen in den Leib rammte und den Sterbenden zehn Schritte weit mitriß, ehe er ihn ins Feuer stieß. Neben ihm riß das gerötete Horn des Stieres einem Angreifer die Därme aus dem Leib. Ktesios sprang in die Luft, landete auf dem Rücken des rasenden Tieres und hob den Arm. Ich sah den flammenförmigen Dolch in seiner Hand. Dann senkte sich der Arm. Das Tier wurde dicht hinter dem Kopf, im Nacken, getroffen und fiel auf der Stelle tot um. Seine Läufe schlugen noch ein paar Mal, aber da war der Syrer in seinem langen, gelben Gewand schon heruntergesprungen und rannte hinaus in die Dunkelheit. Flavius! Ein Römer hatte ihn voll mit dem Schwert auf den Helm getroffen. Von hinten rannte ein Angreifer auf ihn zu, das Schwert wie ein pilum ausgestreckt. Ich löste den Pfeil. Er heulte eine Handbreit neben dem Ohr des Freundes vorbei und durchbohrte den Panzer des Römers, dich unter dem Herzen. Ein gellender Schrei, unnatürlich hoch, durchschnitt die vielfältigen Laute. Ich hängte den Bogen weg, riß Schwert und Schild an mich und schaltete das körpereigene Abwehrfeld ein. Dann rollte die Leiter nach unten, ich kletterte schnell hinunter und betrat hastig den Kampfplatz. »Hierher, Askhan! Hier lebt noch einer!« schrie ein Legionär. Ich wandte den Kopf. Nur noch an vier Stellen wurde ge-
kämpft. Die vier fremden Männer, wie Legionäre ausgerüstet, hatten sich bis zur Wand der Scheune zurückgezogen und kämpften dort tapfer nebeneinander mit den Schwertern. Das Schwert des ersten brach, und einer meiner Männer schleuderte, plötzlich zwischen den Verteidigern auftauchend, seinen Speer mit einer solchen Wucht, daß er den Angreifer buchstäblich in die Mauer dübelte. Der zweite Mann starb, weil sich Ktesios zwischen die Kämpfenden warf und ihm mit einer einzigen Bewegung die Kehle durchschnitt. Die beiden anderen Männer ergaben sich. Flavius trat, noch ehe ich sie erreicht hatte, vor sie hin und schrie: »Die Helme ab!« Mit zitternden Fingern löten sie die Helmriemen. Mit zwei furchtbaren Schlägen schlug ihnen der Zenturio die Köpfe ab. Dann stieß er das Schwert dreimal bis ans Heft in die Erde und schob es zurück in die Lederscheide. »Der Kampf ist aus, Freund Askhan!« sagte er. Ich schaltete das Abwehrfeld ab. Während die Männer auf mich einredeten, hörte ich immer wieder Geräusche, die mich an schluchzendes Stöhnen erinnerten. Ich wurde unruhig. Der Extrasinn meldete sich: Ktesios! Ich wandte mich um und sah im schwachen Licht der niederbrennenden Strohfeuer den Syrer. Er huschte von einem der gefallenen Männer zum anderen. In seiner Hand funkelte der Dolch. Er leistete gründliche Arbeit: Den verwundeten Angreifern schnitt er die Kehlen durch. Als ich ihn erreichte und an der Schulter zurückriss, faßte ich in blutgetränktes Gewand. Ich schrie ihn an: »Bist du wahnsinnig? Sie waren verwundet.« Er richtete sich keuchend auf, sein Gesicht war eine Grimasse, als er ausspuckte. »Jetzt nicht mehr!« sagte er in unfaßbarer Ruhe, wie ein Stoiker.
Er breitete die Arme aus, wischte den Dolch in den Falten des blutbespritzten gelben Gewandes ab und sagte: »Sie hätten es mit jedem von uns ebenso gemacht, Askhan. In deinem Land scheint man zu viel Milde zu kennen. Oder sich Ritterlichkeit leisten zu können. Nicht aber im Rom des Nero. Und jetzt lasse mich in Ruhe – ich brauche ein reinigendes Bad und viel Wein. Ich habe zu vergessen.« Ich blickte fassungslos zu Boden. Erinnere dich an die Erzählungen Ktesios’! Erinnere dich, wie Arria von den Löwen zerfleischt wurde! kommentierte mein Extrasinn. Meine Männer versammelten sich um mich. Sie bildeten einen großen Kreis. Flavius schrie einigen scheu herankommenden Sklaven zu, sie sollten die Feuer wieder entfachen und den Stier abhäuten und zerlegen und alles für ein Schlachtfest bereiten. Sie gehorchten. »Wie viele Männer sind tot?« Flavius räusperte sich, nickte und sagte dann, nachdem er wieder zu Atem gekommen war: »Alle.« »Wieviel?« ich schrie. Ktesios schien seinen grausigen Rundgang beendet zu haben und gab Auskunft. Er sah an seinem Gewand herab, packte es mit beiden Händen und biß in den Saum des Halsausschnittes. Dann riß er die Übertunika in zwei Teile und knurrte: »Ich habe vierundfünfzig Tote gezählt, Freund Askhan.« Jetzt kamen immer mehr Sklaven aus ihren Verstecken hervor. Zwei Pferde schleppten den schweren Körper des Stieres über den Hof und auf eine Plattform aus weißen Brettern. »Vierundfünfzig Tote. Und Marcus Vinicius ist nicht unter ihnen!« sagte ich. Ktesios warf die blutgetränkten Lumpen auf ein Feuer und wandte sich, nur mit der leichten Untertunika bekleidet, an mich.
»Morgen beim ersten Sonnenlicht wird Marcus Vinicius hier sein. Bis dahin müssen alle Spuren des Kampfes beseitigt sein. Und zwar so, daß des Marcus’ scharfes Auge nichts entdeckt. Nichts, Askhan!« Ich nickte. »Unsere Männer haben einige Verletzungen davongetragen. Nichts Ernstes, Askhan. Sie verbinden sich gerade gegenseitig.« Ich überlegte schnell. Was Ktesios gesagt hatte, war zweifellos richtig. Was wußte dieser unbegreifliche Mensch eigentlich nicht? Welchen infamen Trick konnte er nicht durch einen raffinierten Gegenzug außer Kraft setzen? Ich sagte zu einem der Vorarbeiter: »Nehmt Netze und Seile von den Bäumen. Zerlegt den Stier und macht viele Kessel mit Wasser heiß. Räumt die Waffen zusammen und vergrabt sie in der Nähe des Moores, aber so, daß euch niemand sieht. Und dann harkt den Hof. Scherben, Feuerspuren, Blutspritzer… Alles muß verschwinden. Eilt euch, und meine Großmut ist euch allen sicher.« Flavius deutete auf die umherliegenden Leichen. »Und die Toten?« »Jeder der Männer nimmt eine oder zwei Leichen mit. Wir reiten schnell weg und werfen sie in den Tiber.« »Einverstanden. Aber niemand darf euch sehen.« »Das überlaß mir, Zenturio!« sagte Flavius scharf. Er wandte sich um, lehnte seinen Schild gegen eine Mauer und unterhielt sich mit seinen Männern. Diejenigen, die nur wenig oder gar nicht verwundet waren, luden sich zwei Tote auf die Pferde und ritten grußlos durch die Dunkelheit davon. Nach und nach verschwanden die Leichen. Die schwerer Verletzten, denen ich mit der Hochdruckspritze heilende Medikamente und Antibiotika einspritzte, kletterten in die Sättel und ritten davon. Wir beluden den leichtesten Wagen, den wir hatten, mit den restlichen Toten. Einige Legi-
onäre begleiteten ihn. Die besten und schnellsten Pferde hatten wir davor gespannt. Der Wagen raste ratternd und klappernd durch die Nacht davon. Dann waren wir wieder allein. In fieberhafter Arbeit wurden sämtliche Spuren beseitigt. Die Sklaven sammelten die Waffen ein und holten Schaufeln und Grabwerkzeuge. Dann rannten auch sie davon. Als sie später, kurz vor dem Morgengrauen, wiederkamen, brachten sie Lalaga mit und versicherten, die Waffen würden im Moor langsam auf den tiefen Grund sinken. Die Aufregung erfaßte uns jetzt erst richtig. Bis unser Bad fertig war, setzten wir uns um den Kanin meines Zimmers und gingen die Ereignisse der letzten Nacht noch einmal durch. In der Küche begannen sie, Blutwürste herzustellen. Flavius orakelte: »Wenn Marcus Vinicius einen solchen Überfall noch einmal versucht, kommt er mit einer Legion oder der Reiterei der Prätorianer. Dann sind wir verloren.« Ktesios schüttelte mißbilligend den Kopf. Er schien vom Ausgang dieses nächtlichen Kampfes befriedigt zu sein. »Zwei Möglichkeiten, Freunde. Entweder wagt er es nicht mehr, denn inzwischen weiß mehr als die Hälfte von Rom, daß unser Freund Askhan unverwundbar und unsterblich ist. Oder aber er wagt es – und dann wagt er es offen, mit Neros Unterstützung oder während Neros Abwesenheit. Wie man hört, will der Cäsar nach Korinth. Auch Olympiasieger, sagte er, sei er noch nicht gewesen und wolle es nachholen.« »Wenn er es offen wagt, werde ich jeden Kampf vermeiden«, warf ich ein. »Dann nämlich geht ein weiterer Teil unseres Planes, Ktesios, in Erfüllung.« »Richtig. Eine weitere Strafe auf dem Weg, Nero in den Selbstmord zu treiben!« versicherte der Syrer mit einem Lächeln satanischer Bosheit. Am nächsten Morgen erzählte mir Lalaga, ein Reiter in einer
prächtigen Toga stünde mitten im Hof und wünsche mich zu sprechen. Marcus Vinicius! meldete der Extrasinn. Ich zog meine langen Hosen an, fuhr in die Stiefel und schnallte den Gurt mit Schwert und getarnten Dolch-Strahlern um. Dann warf ich eine lederne Jacke über die Schultern und ging hinunter. Ich erkannte ihn, meine Finger begannen unruhig zu zittern. Dies war der Mann, den ich im Angesicht der Versammlung bei Nero niedergeschlagen hatte. »Ein erstaunlicher Besuch!« höhnte ich. »Warum kommst du hierher, Vinicius?« »Nur ein Besuch«, sagte er. »Und eine Warnung.« Seine Stimme zitterte. Er hatte Reihen von gefesselten Gefangenen erwartet und Leichen, die vor ihm ausgebreitet waren wie die Jagdbeute des Scipio. »Warnung? Wovor? Ich kann mich nicht erinnern, gegen ein einziges Gebot des Caesars verstoßen zu haben!« versetzte ich fest und bekam mich wieder in die Gewalt. »Es sind Zeichen dafür vorhanden, daß es eine Verschwörung gegen Nero gibt!« sagte er. Ich verbeugte mich und machte eine Geste, die er eindeutig als sarkastisch auffassen mußte. »Ich habe diesen Gutshof von Nero bekommen«, sagte ich leise, aber mit Bestimmtheit. »Und dafür habe ich Rom und dem Caesar zweimal einen wichtigen Dienst erweisen können. Die einen Männer arbeiten mit Redlichkeit und Tüchtigkeit, und die anderen brauchen dazu Gift und gedungene Mörder. Ich habe indessen den Eindruck, edler Marcus, daß deine unruhigen Augen etwas suchen. Darf ich die Türen des Hauses weit vor dir öffnen – das gilt aber nur für den Fall, daß du aus dem Sattel steigst.« Nervös zupfte er an den Falten seiner prächtigen Toga und beruhigte sein Pferd. »Ich suche nichts. Ich kam nur vorbei.
Und ich weiß, was du wert bist.« »Auch ich weiß, was du wert bist«, sagte ich. »Darf ich dich zum Essen hereinbitten?« Er hob die Hand. Die Finger waren plump, aber kräftig. Diesmal funkelten drei Ringe daran, einer prunkvoller als der andere. »Ich danke, ich bin nicht hungrig. Weißt du etwas von einer Verschwörung?« Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Ich muß dich warnen. Viele Gegner haben viele Augen«, bemerkte er sybillinisch. »Weißt du etwas von der Verschwörung, so sage es. Bist du darin verwickelt, dann bist du jetzt schon ein Opfer. Dammnatus ad bestias… du verstehst?« Ich sagte ruhig: »Ich bin keine fünfzehnjährige Christin. Die Löwen würden sich den Magen verderben!« Er riß brutal am Zügel des Pferdes. Das Tier stieg hoch, wieherte schmerzlich und wirbelte mit den Vorderhufen. Er zwang das Tier, vor mir zu tänzeln und auf den Hinterbeinen zu gehen. Aus dieser Stellung heraus sagte er in unverhüllter Drohung: »Der Cäsar macht mit seinen Feinden, die zugleich Feinde Roms sind, auf seine Weise Schluß. Sieh zu, daß du nicht in die Bahn seiner Wut kommst.« Ich stemmte die Fäuste in die Seiten. »Du bist nichts anderes als ein Feigling, Marcus Vinicius. Du kämpft nur, wenn du nicht gefährdet bist. Du bezahlst die Mörder, du verschickst Gift. Und du hast den Mut eines Hasen. Gib acht, daß ich dich nicht aus dem Sattel zerre und dir jeden Zahn einzeln in den Hals schlage, du Schmarotzer am Thron. Wenn wir uns das nächstemal sehen, wird sich vieles verändert haben. Wenn du stirbst, dann stirbst du wahrscheinlich von meiner Hand. Und dann stirbst du sehr langsam. Du
wirst alle die Ängste miterleben, die deine Opfer hatten. Du bist es nicht wert, daß die Sonne auf deinen Rücken scheint.« Ich ahmte das Geräusch einer zischenden Schlange nach, und das Pferd scheute. Das Tier verfiel in panischen Schrecken und sprang in einer Reihe von grotesken Sprüngen aus dem Hof hinaus. Wütend kämpfte Marcus mit seinem Reittier. Einige Sklaven wagten zu lachen, und das wiederum registrierte Marcus. Sein nächster Zug würde nicht lange auf sich warten lassen. Ich ging ins Haus zurück, verzehrte mit Lalaga und meinen Freunden zusammen ein ausgezeichnetes Frühstück und legte mich anschließend wieder zu Bett. Ich schlief, nachdem die schwarzen Gedanken des Gemetzels von liebenswürdigeren Empfindungen an der Seite Lalagas verdrängt worden waren, länger als sonst.
22. Etwa zwei Dutzend Jahre nach der Ermordung des Caligula begann eine böse Zeit für Rom. Sie begann tatsächlich mit der Aufdeckung einer Verschwörung gegen den vom Cäsarenwahn in seiner grausigsten Form geschlagenen Nero. Wir hörten die Nachricht von einem Sklaven, der angsterfüllt geflohen war. Er kam vom Besitz des Seneca und wußte in seiner Not offensichtlich keinen anderen Zufluchtsort. Seneca war zum Selbstmord gezwungen worden. Nachdem Nero eine angebliche oder wirkliche Verschwörung aufgedeckt hatte, zwang er die beiden Hauptbeteiligten Marcus Annaeus Lukanus, den römischen Dichter, und Lucius Annaeus Seneca, den Philosophen, zum Selbstmord. Seneca hatte sich in einem heißen Bad die Adern geöffnet; die Frau des Seneca, die ihrem Mann in den Freitod folgen wollte,
wurde von den Abgesandten des wahnsinnigen Kaisers daran gehindert. Ich erinnerte mich an die Zeilen, die ich von Seneca gelesen hatte. Über den freiwilligen Tod hatte er geschrieben: Es ist Unrecht, durch Gewalt und Raub zu leben, aber es ist das Schönste, was es gibt, nämlich durch »Raub« zu sterben. Für uns alle auf dem kleinen Gutshof war es ein halbes Jahr der Ruhe. Aber diese Ruhe war nur scheinbar. Dauernd waren Ktesios und ich unterwegs. Wir sprachen mit unzähligen Menschen und agierten gegen Nero. Der Gedanke, daß ein gegen – Caesar aufgestellt und ausgerufen werden sollte, nahm greifbare Formen an. Alles verlief im geheimen. Wir rechneten damit, daß Marcus Vinicius mit uns abrechnen würde. Wir sollten uns nicht täuschen. »Das ist sicher, nach allem, was wir erlebt haben und was wir wissen«, sagte der Syrer. Er schien geradezu intuitiv zu wissen, wie unser Schicksal in den nächsten Monaten ablaufen würde. »Wenn Marcus sich rächt, schickt er eine Legion. Und du wanderst in den Circus, zu den Gladiatoren. Dort, im Angesicht des Volkes, sollst du sterben. Wenn es nach ihm geht.« »Da es aber nach uns geht, werde ich nicht sterben!« behauptete ich. »Trotzdem: Du wirst alles Glück der Welt brauchen«, sagte er. Ich wußte genau, welches Risiko ich einging. Und so arbeiteten wir Tage und Wochen daran, dieses Risiko stückweise zu verkleinern. Schließlich kam die bewußte Nacht; wir waren bereit. »Sie kommen!« Ktesios nickte mir zu und verließ das Zimmer. Er nahm mit sich, was er für seinen Teil des Planes brauchte. Er faßte Lalaga an der Hand und verließ den Gutshof. Kurze Zeit später hörte ich die Hufschläge. Ich trug nur die wichtigsten Ausrüs-
tungsgegenstände bei mir. Das Ende meines Aufenthalts in dieser verfluchten Stadt kam näher. Zuerst stoben einige Reiter der Prätorianergarde in den Hof. Zwischen ihnen, in prunkvoller Rüstung, Marcus Vinicius. »Askhan Arcon!« schrie er. »Komm heraus! Im Namen Roms!« Ich rief von der Terrasse: »In deinem Namen, Mörder! Ich komme.« Ich trug nur die Stiefel und meinen Gürtel. Aber in den Stiefelschäften waren die tödlichen Waffen verborgen. Sie durften Ktesios nicht finden, denn über ihn war jetzt allein die Verbindung mit Rico und dadurch mit der Tiefseekuppel möglich. Hinter Vinicius schoben sich Schilde, Helme und Speere in das Licht der Fackeln und Öllampen. Verängstigt drückten sich die Sklaven und Arbeiter an die Wände. Genauer: Es gab hier keine Sklaven mehr – ich hatte sie alle freigelassen und die Urkunden unterschrieben. Ich zog den Mantel enger um meine Schultern und ging die Stufen in den Hof hinunter. »Was willst du, Marcus?« fragte ich laut. »Auf Befehl Neros. Du bist mein Gefangener. Wir wissen, daß du an einer Verschwörung gegen Nero beteiligt bist. Du bist verhaftet und vom Caesar ›ad bestias‹ verurteilt worden.« »Dann hast du dein Ziel erreicht, Feigling«, sagte ich und hob den Arm. Man brachte mein Pferd, und ich sagte, etwas leiser: »Du brauchst keine Angst zu haben – ich werde nicht zu fliehen versuchen.« »Das wäre nichts als eine Verkürzung deines Lebens. Sieh dich um!« entgegnete er haßerfüllt. Der Hof hatte sich mit Soldaten gefüllt. Ich entdeckte einige bekannte Gesichter darunter; meine ehemaligen Legionäre. In ihren Augen war ein verdächtiges Funkeln. Ich wußte, daß Ktesios sie eingeweiht hatte, und fühlte mich nun wesentlich sicherer. Ich schwang mich in den Sattel. Vermutlich war dies der letzte Ritt auf meinem
Rapphengst. »Wohin bringst du mich?« »In die Verließe des Circus Maximus!« sagte er hart. Im ersten Morgengrauen befanden wir uns in der Nähe des riesigen Steinbauwerks. Dort fanden bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein neues Amphitheater erbaut war, die Spiele statt. Ich wußte, wie sie verliefen – auch hier kannte Neros Blutdurst keine Grenzen. Eine Abteilung der Soldaten brachte mich hinunter in den Teil, in dem sich die zum Tod in der Arena Verurteilten befanden. Ein stechender Raubtiergeruch lag in der Luft, und ich hörte das Knurren von Tigern und Löwen. »Wann sind die nächsten Spiele?« fragte ich lächelnd einen Legionär. Der Mann starrte mich fassungslos an. »In einem Mond!« sagte er. »Vielleicht kannst du dein Leben retten!« Ich hob die Schultern und fragte leichthin zurück: »Indem ich mich zu den Gladiatoren melde?« »Ja. Wenn Nero gnädig ist, gewährt er dir diesen Vorzug.« »Ich habe keinen Grund, an Nero zu zweifeln!« sagte ich. Er blieb kopfschüttelnd stehen, als man eine Zellentür aufsperrte und mich hineinstieß. Die Tür schlug zu. Sternenlicht fiel durch ein hoch liegendes vergittertes Fenster hinein. Vor mir waren unterdrückte Geräusche. Jemand hustete qualvoll. Dann krächzte ein anderer: »Willkommen, wer immer du bist.« »Ich bin Neros bester Mann«, sagte ich bitter und tastete um mich, während ich in die Knie ging. Ich fand einen freien Platz auf feuchtem Stroh, das nach menschlichen Ausscheidungen, aller Art stank, und wickelte mich aus meinem Mantel. »Das sagte auch Seneca!« murmelte jemand. »Und jetzt Ruhe. Wir müssen ausgeschlafen sein, wenn wir ausgepeitscht werden.«
Ich wickelte mich in meinen Mantel und legte mich ausgestreckt hin. Ich schlief tatsächlich ein. Am Morgen weckte uns ein Wärter, der mit seinem Schwertgriff gegen die Stäbe der Zellentür schlug und schrie: »Holt euren Fraß, Verdammte!« Eine Klappe öffnete sich. Uns wurden Brote hereingereicht, Töpfe mit heißer Suppe und Wein, Würste und Schinken und ein großer Käse. Ich richtete mich langsam auf und riß die anderen Männer zurück, die sich wie wilde Tiere auf das Essen stürzten. Ich sah auf dem Käse das Zeichen des Ktesios, und da wußte ich, daß er sich verkleidet hier befand und seine vielfältigen und verschlungen Beziehungen spielen ließ. »Zurück, ihr Narren!« donnerte ich und warf zwei von ihnen hinter mich. Dann stellte ich mich vor das Essen, das am Boden stand. Ich zählte ab und sah nacheinander in vierzehn Gesichter. Sie glichen den erbarmungswürdigen Gestalten, die ich in Sardinia eingefangen hatte. »Schweigt!« sagte ich leiser. »Ihr seid alle ausgehungert. Wenn ihr das Zeug in euch hineinschlingt, werden sich eure Mägen wieder ausleeren. Wir teilen alles in fünfzehn Teile, und in den nächsten Tagen wird das Essen immer so gut und reichlich sein. Los jetzt!« Wir teilten alles miteinander. Nach einem guten halben Tag, der mir wie eine kleine Ewigkeit vorkam, öffnete sich die Tür. Eine Wache mit gezogenen Schwertern stand draußen. Ein Prokurator hatte sich vorn aufgebaut, musterte uns verächtlich und heftete dann seinen Blick auf mich. »Caesar ist gnädig«, sagte er in gemütlichem Plauderton. »Seine Güte ist unaussprechlich groß. Er bietet euch Verdammten das Leben an, oder wenigstens eine Möglichkeit, in Ehre zu sterben.« Wir standen da und starrten ihn an. War auch er bestochen? »Was bietet uns Nero?« fragte ich. »Nicht dir. Nur den anderen. Du bist Arcon?«
Ich antwortete, indem ich den Kopf senkte. Du sollst offensichtlich auf andere Art sterben! flüsterte der Extrasinn. »Ihr werdet elend in den Rachen wilder Tiere verenden«, sagte der Prokurator und zog verächtlich den Saum seiner Tunika höher, als er den Schmutz am Zellenboten bemerkte. »Wenn einer von euch kräftig genug ist, kann er sich zu den Gladiatoren melden. Wer tritt vor?« Nach kurzem Zögern entschieden sich vier Männer. »Ihr vier?« fragte der Prokurator. »Ja. Ich!« sagte einer. Die anderen stimmten ebenfalls zu. In der Provinz gab es den lanista, den Herrn der Gladiatoren, der seine Truppe, die familia gladiatoria, an den Veranstalter der Spiele vermietete. Gutes Essen und Trinken in der Gladiatorenschule lockte junge Adelige und Enterbte in die Kasernen, aber gekaufte Sklaven und arme Teufel, die sich freiwillig anschlossen, bildeten das Hauptkontingent. Ein hoher Geldpreis würde sie belohnen, wenn sie nach Ablauf des Kontraktes noch lebten, was selten der Fall war. In Rom selbst gab es keine lanistae; Caesar übte dieses Gewerbe durch die Prokuratoren selbst aus. Ihnen gehörten ebenso die wilden Tiere und die Gebäude an der via labicana. Der kleine Prokurator schüttelte den Kopf und deutete auf die Männer. »Kommt mit.« Er drehte sich um und stolzierte hinaus. Die vier Männer stürzten ihm nach und wurden von der Wache aufgehalten. Die Tür schloss sich wieder. »Morituri te salutant!« murmelte einer der Zurückgebliebenen. Wir waren noch elf Gefangene. Bisher war mehr als ein halber Tag verstrichen, ohne daß sich an meinem Status etwas geändert hatte. Ich hoffte, daß Ktesios inzwischen erreicht hatte, was wir ausgemacht hatten. Gegen Abend brachte uns ein unbekannter Posten eine weitere Ration Lebensmittel. Wieder ausgezeichnetes Essen, das wir uns teilten.
Gegen Mittag, am vierten Tag, wurden draußen Stimmen laut. Ich reagierte schnell, als mein Extrahirn mir zuflüsterte: Große Dinge nähern sich. Gib genau acht! Die Tür wurde aufgeschlossen und ruckartig aufgerissen. Vier Reihen tief standen Soldaten da. Sie blickten starr und unbeteiligt und wichen auseinander, als sich hinter ihnen zwei Gestalten näherten. Sie trugen Togen, die bis zum Boden reichten. Nero und Marcus Vinicius. »Meine besten Freunde!« grüßte ich. »Sicher kommt ihr, um mich mit allen Ehren freizulassen!« Nero stieß ein meckerndes Gelächter aus. Von dem einstigen Vorzugsschüler des Seneca war nichts mehr zu erkennen. »So ist es!« sagte der Caesar. »Wir sind sicher, daß du es schaffen würdest, dich als Gladiator freizukämpfen, nicht?« »Wahrscheinlich!« Ich lächelte arrogant. Nero und Vinicius sahen sich an. Vinicius lächelte böse und sagte schroff: »Bringen wir es hinter uns!« Er streckte die Hand aus. Außerhalb meines Blickfeldes reichte ihm jemand etwas Schweres. Er zog die Hand zurück und hielt einen Pokal in den Fingern. Ich begriff. Gift! »Deine einzige Methode!« spottete ich. »Vinicius, der Feigling, der sich auf Gift verlassen muß, weil er seinem Schwert nicht vertrauen kann.« Einen Augenblick lang schien Nero zu zögern, dann sagte er leise: »Nein. Nicht deswegen. Ich bin es, der dir einen leichten Tod sichert. Du stehst in meinem Weg, Parther, nicht?« Ich streckte meine Hand aus, ergriff den Pokal und sagte schulterzuckend: »Es wird nicht viel nützen, aber versuchen wir es einmal.« Ich roch den schweren Wein. Mit großem Sinn für Delikatesse hatte Nero das Gift in den Wein mischen lassen. Das so genannte letzte Vergnügen. Ich setzte den Becher an und trank ihn aus. Dann fühlte ich, wie in meinem Magen eine eisige
und kochende Hölle ausbrach und krümmte mich unwillkürlich ein wenig. Ich gab Nero den Becher zurück und starrte den Caesar an. Unsere Augen fochten ein stummes Duell aus, und alle dreißig Legionäre waren Zeugen. Und auch die übrigen Gefangenen, die weiß vor Furcht an den Wänden lehnten und nicht aufzusehen wagten. Es mußte das gleiche Gift gewesen sein wie damals in der sardischen Hafenschenke. Mein Zellaktivator begann schon jetzt mit erhöhter Kraft dieses Gift zu neutralisieren. Ich richtete mich wieder auf und sagte voller Verachtung. »In deiner Stadt, Caesar, gibt es ein Gerücht. Fürchte es, denn dieses Gerücht ist die Wahrheit. Ich bin nicht zu vernichten, nicht zu töten.« Ich legte wie unbeabsichtigt den Mittelfinger auf den Schalter der Gürtelschnalle. Falls einer der Legionäre mit seinem Schwert zustoßen wollte, würde ich das Abwehrfeld aufbauen. Ich begann zu fühlen, wie sich mein Körper langsam an das Gift gewöhnte. Ich glaubte es wenigstens. Jedenfalls erfolgte außer einem Ausbruch kalten Schweißes keine Reaktion. »Das Gift wirkt nicht!« sagte Nero dumpf. Marcus schüttelte fassungslos den Kopf und murmelte. »Ich schwöre bei Jupiter, daß ich es selbst gemischt und an zwei Hunden ausprobiert habe. Sie verendeten binnen kürzester Zeit.« »Bin ich ein Hund?« erkundigte ich mich. Ich versuchte, das hemmungslose Zittern meiner Knie zu unterdrücken und lehnte mich an die Mauer. Nero wandte sich an die Garde und schnarrte: »Weg mit euch! Und du wirst dir noch etwas einfallen lassen müssen, Marcus!« Er winkte, und die Tür wurde wieder verschlossen. Das letzte, was ich sah, waren sein völlig verstörter Blick und die fassungslosen Gesichter der Soldaten.
Ich sank langsam an der Mauer herunter und krümmte mich auf meinem Mantel zusammen. Nachdem ich mich mehrmals übergeben hatte, fühlte ich mich ein wenig besser. Eineinhalb Stunden später brachte die Wache einen Topf heißer Suppe, den ich zur Hälfte allein leertrank. Ich schlief in dieser Nacht wie betäubt… Das Sonnenlicht blendete mich, als sie mich drei Tage später in den Sand der Arena hinausführen. Eine Menge Pöbel begleitete uns. Der Ausgang zur Arena war mit Bewaffneten umstellt. Ich sah einen schwarzen Stier angepflockt, dessen Zunge unablässig ums Maul fuhr. Dann erkannte ich wieder Nero und Marcus. Ein Tisch, darauf ein Krug, Becher und eine große Schale. »Nero«, sagte ich respektlos und fuhr über meinen wuchernden Bart, »du traust sogar den Berufsmördern deines Rates nicht.« Mit einer fast verzweifelt dramatischen Bewegung goß Marcus ein Drittel des Inhalts aus dem Krug in die Schale und stellte sie direkt unter das Maul des Stieres. Das Tier blies durch die Nase, tauchte die Zunge in das Gebräu und begann dann, schmatzend zu saufen. Ich sah den Vorbereitungen in einer Mischung aus Unruhe und Belustigung zu. Als jemand in der herumstehenden Volksmenge mit den Fingern schnippte, drehte ich vorsichtig den Kopf. Da sich das Interesse auf das arme Tier konzentrierte, konnte Ktesios, der als zerlumpter Bettler eine geradezu malerische Figur abgab, mir ein Zeichen machen. Alles in bester Ordnung, hieß es. Ich schaute gerade in dem Augenblick auf den Stier, als er zusammenzuckte, den Kopf hochriss und schaurig brüllte. Der Schrei erstarb in einem matten Gurgeln. Das Tier brach wie vom Blitz gefällt zusammen und streckte die Beine starr aus. »Das Gift wirkt. Dieses Gift ist tödlich!« sagte Marcus.
Ich wand mich aus dem Griff der Söldner. Marcus blieb vor mir stehen. Ich sah durch ihn hindurch, nahm den Becher und trank ihn leer. Ein zuckender Schmerz raste meine Speiseröhre hinunter. Ich begann zu wanken, Nebel wallten vor meinen Augen auf, und ein Brechreiz würgte mich erbärmlich. Ich verwendete alle meine Kräfte darauf, mich zu beherrschen. Ich lehnte mich fiebernd und schwitzend, zwischen Höllenglut und Eiseskälte, an die Mauer und blinzelte in die Sonne. Ein lähmendes Schweigen breitete sich aus. Ich fühlte, wie meine Besinnung schwand und klammerte mich fest. Dann, unendlich langsam, klärte sich mein Blick wieder. Ich hatte gesiegt. »Das war ein besonders guter Tropfen!« sagte ich leise, so deutlich, wie ich es vermochte. Zuerst war es ein einzelner Legionär, der vor Schreck aufstöhnte und sich zur Flucht wandte. Seine Sandalen verursachten klatschende Geräusche, die sich entfernten und leiser wurden, als er durch den Korridor floh. Zwei andere folgten ihm. Marcus entfiel der Becher. Er wurde grün im Gesicht, starrte mich an und ging dann, immer schneller werdend, weg. Nero folgte ihm. Binnen kurzer Zeit stand ich allein da. Ich fühlte einen kräftigen Arm unter meiner Schulter. Die vertraute Stimme Ktesios’ sagte halblaut: »In vier Tagen kommt der Anführer der Gladiatoren. Du hast nichts mehr zu befürchten.« »Ist gut… wie geht es… Lalaga?« murmelte ich, am Ende meiner Kraft. »Ausgezeichnet. Sie fiebert dem Moment entgegen, dich auf einer kleinen Mittelmeerinsel gesundpflegen zu können.« »Gut, gut!« sagte ich. Ktesios – welch eine Groteske! – führte mich bis in die Nähe der Zelle, dann verschwand er ebenso unbemerkt, wie er aufgetaucht war. Ich setzte mich neben die Tür, lehnte mich an
die Wand und übergab mich abermals. Schließlich kamen die Wächter wieder und warfen mich auf das Stroh. Die folgenden vier Tage verbrachte ich damit, mich zu erholen. Ich aß viel, schlief ausdauernd und versuchte, meinen Körper geschmeidig zu erhalten. Ich begann, mir meine Chancen als Gladiator auszurechnen. Als tatsächlich der Verantwortliche für die Spiele kam und mich fast ehrfurchtsvoll fragte, ob ich in der Arena kämpfen wolle, sagte ich zu. Als man mich, auf einem Wagen und an Händen und Füßen gefesselt, zur Schule der Gladiatoren brachte, schlug das Gerücht bereits sichtbare Wellen. Ich wurde angegafft wie ein seltenes Tier. Der weißhaarige Parther! Die Sensation der kommenden Spiele. Der Unverwundbare kämpft gegen Bestien, Menschen und das Schicksal. Auf mich wurden bereits hohe Wetten abgeschlossen. Ich wurde den anderen Männern vorgestellt. Es waren über hundert Kämpfer der verschiedenen Gattungen. In den mir noch verbleibenden Tagen erfuhr ich, daß Nero zwar kurze, aber inhaltsreiche Spiele geplant hatte. Ich erhielt meine Waffe. Ich hatte mich entschieden, als Samnit zu kämpfen, also als Schildträger und Schwertkämpfer. Durch einen von Ktesios gesteuerten Zufall erhielt ich meinen eigenen Schild und mein Schwert aus Arkonstahl. Es fiel nicht einmal auf. Vermutlich hatte der Syrer seine Gold- und Drohungen-Diplomatie angewandt. Wir trainierten miteinander und gegeneinander. Ich wußte, daß zwischen dem Ende des Kampfes und Neros, zumindest aber Marcus’ Ende, nur noch kurze Zeit lag. Und dann, wenn das alles vorbei war, würde ich aus der Stadt verschwinden. Vermutlich wird es ganz anders enden! sagte der Extrasinn pessimistisch. Am Vorabend des Kampfes gab es für uns ein üppiges Ban-
kett. An langen Tischen saßen die Gladiatoren. Diejenigen, die sich miteinander angefreundet hatten, saßen zusammen, obwohl sich die Männer schon fünfzehn Stunden später gegenseitig umbringen würden. Wir aßen und tranken, und ich versuchte, nur leichte und wertvolle Dinge zu essen und trank meinen Wein stark mit Wasser vermischt. Die Henkersmahlzeit der Gladiatoren, die cena libera, war öffentlich. Zwar konnte keiner der Gladiatoren flüchten, aber dennoch liefen die Besucher an den Tischen vorbei und starrten uns an, tauschten Bemerkungen über unsere körperlichen Kräfte, über unser Aussehen und unsere Überlebenschancen aus. Ich unterhielt mich mit Ktesios, der diesmal in der Verkleidung eines Freigelassenen erschienen war. »Ich werde einen der besten Plätze nehmen, Askhan!« sagte er. »Und mein Auge wird versuchen, schneller als ein Sonnenstrahl zu sein.« »Das ist gut. Und ich muß mich besonders gegen Ende des Kampfes auf dich verlassen können!« sagte ich. »Hoffentlich breche ich mir beim Heimgehen nicht das Bein!« sagte er und drückte meine Schulter. Als ich mich auf mein Lager warf, entdeckte ich, daß jemand meinen wertvollen Gürtel gestohlen hatte. Damit bist du verwundbar geworden! Das kann dein Tod sein! schrie der Extrasinn. Ich sprang auf und raste in die Säle hinunter. Einige der Kameraden und ich suchten lange, aber wir fanden den Gürtel nicht mehr. Es war zu spät, um den Plan umzuwerfen.
23. Wir marschierten in die Arena ein, nachdem wir den Bau um-
rundet hatten. Diener trugen unsere Waffen hinter uns her. Wir bildeten ein kleines Heer von etwa einhundertzehn Männern. Alle Größen, alle Sprachen und viele Hautfarben waren vertreten. Jeder der Todgeweihten schien seine gestrige Furcht überwunden zu haben. Als die Flöten, die Hörner und die schrillen Trompeten, die Becken und Zimbeln aufdröhnten, stellten wir uns vor der Loge des Caesars auf. Dort oben hockte Nero auf seinem Sitz, und hinter ihm stand Marcus Vinicius. Wir schrien im Chor: »Ave, Imperator! Morituri te salutant!« Die Todgeweihten grüßten den Imperator. Anschließend kam die Prüfung der Waffen; stumpfe Schwerter und verbogene Dreizacke wurden ersetzt. Wir marschierten zurück in die sicheren Kavernen hinter den dicken Gittern. Die ersten zwanzig von uns gingen hinaus in die Arena. Mehrere zehntausende Römer aller Stände füllten die Ränge. Wieder begann die schaurige Musik zu toben und zu kreischen. Türflügel und Gitter flogen auf, und etwa fünfundzwanzig Tiger und Löwen rannten und sprangen, sich gegenseitig behindernd, hinaus in die Helligkeit. Man hatte sie tagelang hungern lassen und mit spitzen und glühend gemachten Eisen bis zum Wahnsinn gereizt. Der ganze Circus begann zu fiebern. Durch die Volksmenge ging ein langes, tiefes Stöhnen, als die Bestien knurrend auf die Gladiatoren zurannten. Dann sprangen sie ihre Opfer an. Die Samniten mit Schild und Schwert wehrten sich gegen die Löwen, indem sie den Tieren den Schild gegen den Kopf schmetterten und von unten her ihre Schwerter in die Körper bohrten: Schreie der Wut und des Schmerzes hallten durch die Arena. Die Menschenmassen jubelten auf, schrien, gerieten in Ekstase. Die Thraker mit Rundschild und langem Dolch versteckten sich unter den Schilden und stachen nach den Augen und in die Nasen der Tiere. Gladiatoren und Raubtiere wälz-
ten sich im Sand. Überall war Blut. In der Mittagshitze erhoben sich Staubschleier unter den Pranken der Tiere und den Tritten der Gladiatoren. Die Murmillones, auf deren Helm ein Fisch dargestellt war, wehrten die Angriffe der halbverhungerten, vor Hunger und Schmerz rasenden Tiere mit den langen Dreizacken ab. Die Netzkämpfer warfen ihre Seile über die Tiere und stachen und hieben um sich. Zwei Löwen fielen sich gegenseitig an. Ein Tiger schleifte einen Gladiator, dessen Glieder nach allen Seiten schlenkerten, quer durch die Arena und begann sein Opfer aufzufressen. Von der Galerie zischten Pfeile herunter und brachten das Tier dazu, aufzuspringen und sich wieder in den Kampf zu stürzen. Binnen einer halben Stunde verwandelte sich die Arena in ein aufgewühltes Areal voller Leichen und Blut, voller Kadaver und verlorener Waffen. Grotesk stak ein Dreizack im Sand und warf auf einem blutigen Schild einen Schatten wie eine Sonnenuhr. Noch vier Gladiatoren waren auf den Beinen. Ein Befehl ertönte, und zehn weitere Raubtiere wurden in die Arena entlassen. Leoparden, schwarze Panther, Löwen und Tiger. Sie stürzten sich auf die Gladiatoren. Wieder entbrannten die Kämpfe, in denen die Menschen kaum Möglichkeiten hatten. Kurze Zeit später strichen nur noch hungrige Raubtiere durch den Sand und zerrten an den zuckenden Körpern. Knochen brachen mit einem schauerlichen Krachen. Das Volk johlte und schrie. Ein Fanfarensignal hallte durch die ovale Anlage. Jetzt traten zwanzig Gladiatoren gegen die zwölf Tiere an. An fünfzehn Stellen sammelten sich die Menschen und die Tiere. Schwarze Schatten sprangen durch die Luft und verbissen sich in den Kämpfern. Wieder begann das furchtbare Gemetzel. Die Tiere kreischten und knurrten und röhrten. Ein Gladiator floh voll panischen Entsetzens. Zwei Leopar-
den lösten sich aus einer Gruppe, verfolgten ihn über ein Drittel der Distanz und machten ihn unter der Loge Neros nieder. Die anderen Männer kämpften Rücken an Rücken gegen die mächtigen Löwen, die auf sie lossprangen, sie umrissen, ihnen die Knochen mit Prankenhieben brachen und das Fleisch in Fetzen vom Leib rissen. Das Blut floss in Strömen. Ich stand da, mein Gesicht nahe an den Gittern und suchte die besseren Plätze nach dem Gesicht Ktesios ab. Nichts! Du wirst ihn nicht entdecken. Verkleidung und die Menschenmenge… sagte der Extrasinn. Dann senkte sich das Schweigen des Todes über die Arena. Noch fünf Raubtiere waren darin, verwundet, aber hungrig. Sie begannen an den Toten zu fressen. Etwa zwanzig Sklaven wurden mit Peitschenhieben aus einer Abteilung getrieben. Die Männer trugen rauchende und brennende Fackeln und kreisten die Tiere ein, die fauchend und widerstrebend zurückwichen. Langsam wurden sie in die Richtung der Käfige gedrängt. Eisentüren glitten hoch, und die Tiere verschwanden in den dunkle Gängen. Von innen ertönten das Knallen der Peitschen und die heiseren Laute der Tiere. Dann kamen Männer und vergewisserten sich, daß die Gladiatoren auch wirklich tot waren; sie schlugen ihnen mit eisernen Hämmern die Schädel ein. Gespanne aus Eseln und Maultieren kamen in die Arena. Den Leichen wurden Riemen um die Fußknöchel gehängt, ebenso legte man Schlingen um die Köpfe oder Hinterbeine der Raubtierkadaver. Unter dem Johlen und Pfeifen der Menge wurden die Opfer dieses ersten Kampfganges aus der Arena gezogen und in einem kleinen Innenhof auf einen Haufen geworfen. Man sammelte Waffen und Leichenteile auf und trug sie in Körben hinaus, dann glätteten die Sklaven den Sand der Arena. Die helle Fläche war von dunklen Flecken unterbrochen, als die Männer nach einem weiteren Signal hinaus-
rannten. Die sportula begann… der Kampf Mann gegen Mann. Die restlichen Gladiatoren marschierten unter dem Dröhnen der Musik in die heiße, sonnenglühende Arena hinein. Es waren weniger als achtzig, aber eine gerade Zahl. Wir stellten uns in zwei Kreisen auf. Einer war kleiner, der Innenkreis, der andere größer. Sämtliche Gattungen von Kämpfern waren vertreten. Dann, auf ein weiteres Signal, blieben wir stehen. Jeder von uns hatte nun einen Gegner. Abermals die Trompeten: Dann umkreisten sich die Gegner. Ich bekam einen Netzkämpfer zum Gegner, einen riesigen Numidier namens Flammo. Er trug ein großes Netz und einen Dreizack, dessen Spitzen in der Sonne flimmerten und blitzende Reflexe warfen. Ich drehte mich, fing mit meinem Schild die Sonnenstrahlen ein und blendete den Mann. Er warf das Netz. Schwirrend griffen die Maschen nach mir. Mit einem riesigen Sprung nach links brachte ich mich in Sicherheit. Das Netz fiel zu Boden, ich sprang vor und schlug von unten herauf mit dem Schwert zu. Ich traf das Metall des Dreizacks dicht an der Stelle, wo die Tülle ins Holz überging. Ich durchtrennte die Waffe fast, mußte mich wieder in Sicherheit bringen, und während er Netz und Dreizack an sich zog und sich wieder in Angriffsposition stellte, blendete ich ihn abermals. Zehntausende Römer schrien. Sie wetteten und diskutierten. In der Loge sprach Nero mit Marcus und anderen Männern. Wasserverkäufer und Sklaven, die Süßigkeiten und Leckerbissen verkauften, wanderten durch die Ränge. Die Arena hallte von den Schreien wider, mit denen sich die Kämpfenden Luft machten. Das Geräusch der Waffen dröhnte in meinen Ohren. Der Numidier stieß mit dem Dreizack nach mir und schrie: »Wenn du mich tötest, Kamerad, dann tu es schnell!«
Ich hechtete unter dem kreisenden Netz hinweg, rollte mich nach rechts ab und verlor beinahe das Schwert. »Ich verspreche es, Kamerad!« versicherte ich. Als sich der geschleuderte Dreizack in den Boden bohrte, brach die Spitze ab. Ich stellte mich auf, hob das Schwert und beobachtete genau das Netz, das über dem Kopf des Schwarzen kreiste. Als er es schleuderte, sprang ich nach vorn, schlug mit dem Schild den Netzrand zur Seite und bohrte Flammo das Schwert in die Brust. Er war sofort tot. Ich zog das Schwert heraus, hob es hoch und ging an die Stelle zurück, von der aus die Hälfte dieser ersten Gruppe ihren letzten Gang angetreten hatte. Ich erfrischte mich mit kaltem Wasser und entdeckte, als ich stehen blieb und den anderen Kämpfern zusah, Ktesios. Er blendete mich mit einem kleinen Gegenstand, den er zwischen den Fingern drehte. Jetzt weißt du, an welcher Stelle du kämpfen mußt! sagte der Extrasinn. Jeder der vierundsechzig Gladiatoren, die mit mir zusammen die Arena betreten hatte, sah den eigenen Tod vor sich. Um nicht zu sterben, um nicht von seinem Kameraden getötet zu werden, mußte er seinerseits töten. Diese Pervertierung des Kampfes, der sich aus Geschicklichkeitsspielen und Dressurakten, vermischt mit Scheingefechten unter Verwendung stumpfer Waffen entwickelt hatte, war kennzeichnend. Und seit dem ersten Spiel in einer solchen Arena hatte sich von Jahr zu Jahr das Schauspiel mehr zu einer blutigen Tragödie entwickelt. Es war nur noch ein sinnloses Gemetzel. Ich ging zurück in den Schatten und sah schweigend und starr vor Wut zu, wie meine Kameraden starben. Als diese Runde beendet wurde, waren noch zweiunddreißig Männer übrig. Nur wenige von ihnen waren nicht verwundet. Man erfrischte sie, man verband die Wunden und stillte das Blut.
In der Zwischenzeit wurden die Gefallenen von Männern, die wie Charon, der die Toten in den Hades fährt, oder wie Hermes Psychopompos verkleidet waren, erschlagen, sofern sie noch Lebenszeichen von sich gaben. Wir warteten eine Zeitlang… Wieder erschollen die Fanfaren. Neros und Marcus’ Aufmerksamkeit würde sich auf mich konzentrieren, denn ich war der größte Mann der zweiunddreißig, die jetzt gegeneinander antraten. Kaum hatten wir in einer langen Doppelreihe Aufstellung genommen, begann das Publikum zu toben. »verbera! – Schlag ihn! igula! – Töte ihn!« Der Instruktor mit seinen lorarii erschien. Diese Männer trugen lange Peitschen und verhinderten, daß nur Scheinkämpfe geführt wurden. Ich stand einem Thraker gegenüber, der augenblicklich einen stürmischen Angriff vortrug. Ich mußte ihn mit seiner eigenen Waffe schlagen und faßte das leichte Schwert wie einen Dolch. Unsere Schilde krachten gegeneinander. Die blitzenden Schneiden zischten durch die Luft, und ich erhielt einen langen, dünnen Kratzer auf dem Oberarm. Wieder trafen wir aufeinander, wieder starrten sich unsere Gesichter an, wieder trennten wir uns. Dolch und Schwert trafen auf die Schilde, rutschten ab, wurden wieder zurückgezogen und züngelten wie Schlangen. Eine ganze Zeitlang ging der Kampf unentschieden hin und her. Wir waren ausgeruht, und unsere Reaktionen waren blitzschnell. Der Schweiß rann in Strömen an uns herab. Ganz langsam dirigierte ich den Kampf in die Nähe des Arenarandes, dorthin, wo ich Ktesios gesehen hatte. Schließlich, als der Thraker direkt in die Nachmittagssonne sah, schmetterte ich ihm den Schild gegen den Oberarm. Seine gelähmten Finger ließen den Dolch fallen. Ich sah den Ausdruck des Erschreckens in seinem Gesicht und haßte mich selbst, aber ich
stieß zu. Das Gesicht verwandelte sich binnen einer halben Sekunde von einer Maske der grauen Furcht in die der Todesahnung, in eine schmerzverzerrte Fläche und in das friedliche Gesicht dessen, der jenseits ist. Langsam ging ich an meinen Platz zurück. Ein Auspeitscher hob die Peitsche und drohte mir mit der Faust. Ich wirbelte herum, holte aus und warf ihm den Dolch des Gefallenen in den Oberarm. Dann steckte ich den Kopf ins Wasser und erholte mich. Sechzehn blieben übrig. Acht Paare, die gegeneinander antraten. Dieses Mal stand mir ein Kämpfer gegenüber, der auch Rundschild und Schwert trug. Ich kannte ihn nicht; es war ein kleiner bulliger Mann mit wirren schwarzen Locken, die überall unter dem Helmrand hervortraten. Wir begannen zu kämpfen. Eine halbe Stunde lang ging der mörderisch schnelle und harte Kampf. Ich begann langsamer zu reagieren – ich spürte die Müdigkeit. Zwar regenerierten sich meine Kräfte schneller durch die Wirkung des Aktivators, aber ich mußte trotzdem höllisch aufpassen. Jetzt wandte ich alles auf, was ich in den langen Jahren der Dagor-Schulung gelernt hatte. Die Kampftechnik mit dem römischen Kurzschwert war nicht sonderlich schwierig; diese Waffe ließ nur eine begrenzte Menge von Schlagvariationen zu. Ich wich also auf früher gelernte Tricks aus. Die Schwerter klirrten gegeneinander. Die Schilde dröhnten, und die Treffer setzten sich durch die Arme bis in das Rückgrat fort. Schließlich, nach einem rasenden Wirbel, stolperte mein Gegner und als er fast waagrecht an mir vorbeirannte, schlug ich ihm das Schwert in den Nacken. Noch im Sterben versuchte er, mit letzter Kraft, mehr mit einem Reflex, den er noch im letzten Moment seines Lebens ausführte, mir sein Schwert in den Unterleib zu stechen. Ich entging diesem tödlichen Stich
nur, indem ich eineinhalb Meter in die Luft sprang und mich seitlich abrollen ließ. Wieder war ein Waffengang vorüber. Vier Paare. Die Arena wurde abermals gesäubert. In den Rängen schnellten die Wetten hoch. Sie wetteten auf mich – und ich war sicher, daß Ktesios ein kleines Vermögen allein riskiert hatte, nur um ein weitaus größeres Vermögen zu gewinnen. Wenigstens ein Mensch, der mir voll vertraute. Ein nach Neros Meinung lustiges Zwischenspiel begann. Mit Männern besetzte Elefanten kämpften gegen Tiger und Löwinnen. In den Türmen der Giganten saßen fremde Söldner mit Pfeil und Bogen. Sie schossen Brandpfeile, deren glühendes Holz und spritzendes Pech die Raubtiere wahnsinnig machte. Eine Stunde lang, in der wir acht Überlebenden Zeit hatten, uns zu erholen, trompeteten die verwundeten Elefanten, flogen die Raubtiere, von Rüsselschlägen und von Stoßzähnen, denen man messerähnliche Fortsätze angebunden hatte, getroffen, durch die Luft und wälzten sich sterbend im Sand, wurden von den Tritten der schreienden Elefanten zermalmt. Der Sand verwandelte sich in ein Gemenge aus trocknendem Blut, Fleischfetzen und Pelz, brennenden Flächen und zertrampelten Waffen, Tieren und Menschen. Es war das Inferno. Und in dieser Sekunde, als ich mir voll bewußt wurde, wo ich mich befand und was ich eigentlich tat, riß etwas in mir. Ich fühlte, wie mein bewußtes Denken und meine letzte Beherrschung, der Rest Zurückhaltung und Überlegenheit vergingen. Eine Art Blutrausch erfaßte mich. Eine Übersprungsreaktion, die mich davor bewahrte, wahnsinnig zu werden. Ich kannte nichts mehr: keine Furcht, keinen Haß, keine Todesangst. Ich dachte weder an Ktesios noch an Nero, noch an Marcus oder Lalaga. Ich war halb wahnsinnig, und dieser Zustand begann, als ich meinem neuen Gegner in die Augen sah.
Ich griff an, kaum daß wir Aufstellung genommen hatten. Die Auspeitscher hielten von mir einen respektvollen Abstand. Töte ihn! Verbrenne ihn! Vernichte ihn! schrien die Römer. Ein einziger, gewaltiger Chor aus Zehntausenden von Stimmen. Der Lärm schien die Grundmauern des Circus erschüttern zu wollen. Ich schlug wie ein Rasender um mich. Wäre mein Gegner nicht am Ende seiner Kräfte gewesen, hätte er meine Reaktionen besessen, er hätte mich nach zehn Schlagwechseln töten können. So schlug ich eine Anzahl dreieckiger Kerben aus seinem Schild heraus, trennte den Helmbusch von dem genieteten Metall, kerbte eine Beinschiene tief ein und führte einen Hieb gegen sein Schwert, das auseinanderbrach. Eines der Bruchstücke bohrte sich dreißig Meter entfernt wie ein Meteorit in den Sand. Mit dem nächsten Schlag trennte ich ihm den Kopf von den Schultern. Zwei Paare. Diesen Mann kannte ich genau. Wir hatten eine Stunde lang gesprochen, nachdem wir auf der Massagebank nebeneinander lagen. Er ahnte, in welchem Zustand ich mich befand. Einmal, als ich mit einem wahnsinnigen Hieb sein Netz in drei Stücke schnitt, schrie er: »Du bist irrsinnig, Parther! Öffne die Augen!« Ich antwortete nicht. Sein Dreizack bohrte sich neben meinem Kopf in den Sand, als ich stolperte. Der Rest des Netzes hatte sich um meinen Knöchel geschlungen, und ein kurzer Zug daran ließ mich fallen. Noch im Liegen holte ich aus und kappte den Schaft der Waffe. Als er mir das Holz mit aller Kraft auf den Helm schlug, ließ ich den Schild fallen, zog den Gegner an den letzten Maschen des Netzes zu mir heran und rammte ihm das Schwert zwischen den Platten der Rüstung durch den Körper. Er brach tot über mir zusammen.
Knirschend rissen die Riemen der Rüstung. Ich wälzte mich zur Seite, warf das nutzlose Metall von mir und blieb stehen, nur das Schwert in der Hand. Ich dachte an nichts mehr. Nur an eines. NERO WIRD NOCH HEUTE STERBEN! Der Circus war eine einige Hölle. Zur Hälfte in der Sonne, zur anderen im Schatten, verwandelte er sich in einen brodelnden, siedenden Kessel der Leidenschaften. Die Römer tobten. Sie schrien sich die Kehlen wund. Überall hoben sich die Hände mit den Daumen nach oben. Sie baten den Caesar, mich wegen meiner Tapferkeit zu begnadigen. Aber außer mir stand noch ein einziger Gladiator, der letzte Überlebende des langen Nachmittags des Todes, auf dem Sand. Fanfaren: Der letzte Waffengang. Rings um uns lagen die Leichen. Selbst der Instruktor und die Auspeitscher begriffen, daß sie nichts mehr zu tun hatten. Ein Hexenkessel entfesselte sich, während wir miteinander kämpften. Meine Schwäche war wie weggeblasen. Ich schlug um mich und tötete den Mann nach einem Schlagwechsel, während dem ich ihn zweimal über die Länge der Arena trieb. Er wehrte sich mit dem Mut, der blanke Todesverachtung bedeutete, aber ich wollte dem grausigen Kampf ein Ende machen und hatte die Furcht weit hinter mir gelassen. Ich sah mir förmlich zu, wie ich kämpfte. Meine Schläge wurden noch schneller, noch ausgefeilter geführt. Schließlich stach ich ihm in den Hals; er starb schnell. Ich stand allein in der Mitte der Arena und ließ das Schwert sinken. Erst jetzt merkte ich, daß ich meinen Schild verloren oder weggeworfen hatte. Vor meinen Augen wallten farbige Schleier und Schlieren. Zehntausende Hände hoben sich, den Daumen nach oben. Alle Augen blickten auf Nero. Er streckte die Hand aus – den Daumen nach unten. Mein Tod war beschlossen. Ein Bote
schien von der Loge ausgeschickt worden zu sein, denn wieder öffnete man die Käfige. Ich zählte fünf schwarze Panther. Das Volk schrie protestierend auf. Meine Ohren begannen zu gellen und zu singen. Das erste Tier raste heran, setzte zum Sprung an und federte durch die Luft auf mich zu. Ich warf mich zurück, hob das Schwert und hieb die Wirbelsäule des Tieres mit einem einzigen Schlag durch. Vier waren übrig. Als sich zwei von ihnen auf mich stürzten, hörte ich durch das Dröhnen und Kreischen der Zehntausende ein Geräusch. Dicht vor mir zuckte einer der Panther in der Luft zusammen, schlug zu Boden und überschlug sich. Der zweite sprang direkt in mein Schwert, das ich ihm tief in den Rachen bohrte. Ich stemmte meinen Fuß gegen den Kopf des Tieres, tauchte die Knöchel in das sprudelnde Blut und riß das Schwert heraus. Ein zweites Tier brach einen halben Meter vor mir zusammen; ich warf mich herum und schlug ihm den Kopf auseinander, als es sich noch bewegte. Ktesios hatte mit einem getarnten Dolch geschossen. Er beobachtete mich genau, als der letzte Panther angriff. Das Tier umkreiste mich dauernd. Wenn nicht die Raubkatze angriff, dann griff ich an. Ich rannte auf den Panther zu, gebrauchte mein Schwert wie einen langen Dolch und versenkte ihn oberhalb des Schulterblattes. Auf drei Beinen versuchte die Katze, grell miauend, davonzuschleichen. Ich sprang ihr in den Rücken, und als sich der Kopf drehte, schlug ich genau zwischen die Ohren. Wieder ein Geräuschorkan. Ich sah und hörte fast nichts mehr. Die Römer hielten die Hände nach oben und deuteten mit den Daumen in den Himmel, der klar und wolkenlos war. Immer mehr versank die Arena im abendlichen Schatten. Nero senkte abermals den Daumen. Jetzt pfiffen die Römer
ihren Imperator aus. Als ich langsam meinen Kopf drehte, um einer neuen Teufelei wirkungsvoll begegnen zu können, sah ich, wie ein schmales, bronzebeschlagenes Tor aufgerissen wurde. Eine Gestalt in goldener Rüstung stürzte hervor; Schild, Speere und Schwert in den Händen. »Marcus Vinicius!« flüsterte ich heiser. Er rannte auf mich zu, blieb zwanzig Meter von mir entfernt stehen und rammte einen Speer vor sich in den blutigen Sand. Ich schrie ihn an: »Das ist dein Tod!« Er holte aus und schleuderte unter dem ohrenbetäubenden Lärm der Römer den ersten Speer nach mir. Ich schlug ihn mit dem Schwert zur Seite und die Waffe wirbelte brummend durch die Luft. Langsam ließ das Lärmen nach. Ich registrierte, während er wütend und halb irre vor Angst und Wut den zweiten Speer aus dem Boden riß und ausholte, daß sich eine fürchterliche Stille auszubreiten begann. Der Speer zischte durch die Luft, wurde wieder abgefangen und fiel in zwei Stücken in den Sand. Dann hob Marcus das Schild und rannte auf mich zu. Ich ließ ihn bis auf zwei Meter herankommen, dann wich ich rasend schnell zur Seite aus und führte einen waagrechten Schlag durch die Luft. Die messerscharfe Klinge des Arkonstahles traf den Helm unterhalb der Fassung für den Helmbusch. Es gab ein weithin klingendes Geräusch, als der Riemen riß, Marcus zusammenzuckte und der Helm von seinem Kopf flog und wie ein Ball durch die Arena rollte. Der Mann warf sich herum, hob das Schwert und griff an. Ich atmete tief ein und aus und legte alle Kraft in den nächsten Schlag. Ich fühlte den Hieb bis in die Lendenwirbel hinein, als die Schneide den römischen Schild mit einem einzigen Hieb zu zwei Dritteln spaltete. Marcus heulte auf, als die Spitze seinen Unterarm abschnitt. Der zerstörte Schild fiel zu Boden, und aus der klaffenden Wunde schoß das Blut.
»Du stirbst. Hier, vor der Augen der Römer!« keuchte ich stockend. Inzwischen hatte auch der letzte halbblinde Bettler auf der Galerie gemerkt, daß es hier um weit mehr ging als um einen Kampf zwischen zwei Männern. Marcus hob den Schwertarm, und wieder führte ich einen waagrechten Hieb. Die Schwertspitze trennte seine Hand halb auseinander. Sein Schwert summte bösartig an meinem Kopf vorbei und fiel klirrend auf eine liegen gebliebene Waffe. Marcus schrie auf, drehte sich um und floh. Er rannte um sein Leben, auf jene schmale Tür zu, die jetzt aufgerissen wurde. Ich ließ ihm vier Meter Vorsprung, dann holte ich aus und schleuderte das Schwert. Es überschlug sich mehrmals, traf genau mit der Spitze den Panzer, durchbohrte ihn und riß den Brustpanzer auf, als es vorn wieder aus dem Körper des Mannes austrat. Marcus Vinicius fiel auf das Gesicht und blieb zuckend liegen. Ich rannte auf ihn zu, stellte meinen Stiefel auf seinen Rieken und riß mit einem einzigen Ruck die Waffe aus dem vergoldeten Eisen heraus. Dann drehte ich Marcus herum und setzte ihm das Schwert an die Kehle. Er verdrehte die Augen. Vermischt mit Blut kam Luft aus seinem Mund. Dann röchelte er: »Du… mußt ein… Gott…« Er starb. Ich dachte an Arria, an Seneca und Lukanus und rannte halb durch die Arena. Ich blieb unterhalb der Loge Neros stehen und hob meinen Arm. In der Arena war es totenstill geworden. Man hörte nur vereinzelte Löwenschreie. Nero stand auf, als er meine Absicht erkannte. Er zitterte am ganzen Körper. Ich holte aus. Mein Schwert beschrieb einen langen Bogen. Während die Gäste der Imperatorloge schreiend nach allen Seiten flohen, verkroch sich Nero unter seinem Stuhl. Mit dumpfem Krachen bohrte sich der Stahl in die dicke hölzerne
Lehne unter den weichen Tüchern. Nero erschien erst wieder mit rotem Kopf und verrutschter Toga, als ich mich umdrehte und langsam auf die Stelle zuging, an der ich die Arena vor einer Ewigkeit betreten hatte. Meine Kleidung war zerfetzt, mein ganzer Körper troff von Blut, meine Wunden schmerzten höllisch. Mich hatte eine Art von Wahnsinn erfaßt. Totenstille. Dann hörte ich eine Bogensehne hämmern. Dicht neben meinem Kopf jaulte ein Pfeil vorbei. »Sie töten den Parther mit Pfeilen!« kreischte jemand. Wieder ein Geräusch. Ich drehte mich suchend um. Aber meine brennenden Augen erkannten nichts. Ein Pfeil fuhr durch meinen Oberarm. Ein anderer traf den Oberschenkelknochen. Ich stolperte. Ein dritter Schlag gegen die linke Schulter. Ein vierter. Dann fühlte ich einen Schlag oder Hieb gegen die Brust und sank ohnmächtig zu Boden. Das letzte Geräusch, das ich wahrnahm, war der krachende Einschlag eines weiteren Pfeiles, der die Innenseite des Schildes traf, auf den ich beim Fallen mit dem Kopf aufschlug. Ktesios sprang auf, als er den ersten Pfeilschuss sah. Er suchte, die Spitze des tödlichen Dolches in einer Gewandfalte verborgen, nach dem Schützen. Zehn Mann der Garde hoben die langen Partherbögen und feuerten von verschiedenen Stellen aus auf Askhan, der dort unten stolperte und strauchelte. Ktesios handelte rasend schnell. Er vertauschte die beiden Dolche und feuerte einen vollen Strahl auf seinen Freund ab. Gerade, als der letzte Pfeil den geschundenen Körper traf, sackte Askhan bewußtlos zusammen. Ktesios, dessen Blicke wie rasend umhergingen, konnte im Augenblick nichts tun. Er sah zu, wie man den toten Marcus Vinicius hinausschleppte. Er hörte, wie das Volk von Rom den Caesar auspfiff, die Fäuste schüttelte. Er sah, wie Nero in Eile die Loge räumte und verschwand.
Neben ihm sagte ein hyrkanischer Mädchenhändler, der wie ein Vieh nach Knoblauch stank: »Nero ist als Caesar erledigt. Kein Imperator kann es sich leisten, sich unter einem Stuhl zu verkriechen. Du hattest recht, Freund – dieser Parther ist mehr wert als eine Legion. Hier hast du deine sechstausend Sesterzen!« Geschickt verbarg Ktesios die Dolche und sammelte seine Wettgewinne ein. Er war ein steinreicher Mann, auch an den veränderten Maßstäben der Inflation gemessen. Er sah, wie ein Gespann kam und Askhan an den Knöcheln hinausschleifte. Wären die Männer mit den Hämmern gekommen, hätte Ktesios sie töten oder lähmen müssen. Er wußte: Der Plan hatte vollen Erfolg gehabt. Nero war in den Augen aller Römer ein feiger Tyrann, und die Ächtung durch den Senat war lediglich eine Frage von Tagen oder jedenfalls kurzer Zeit. Er stand auf. Was konnte er tun? Heute Nacht würde er eindringen und Askhan herausholen. Er verließ das Bauwerk mit Tausenden von Römern, deren einzige Gesprächsthemen die Feigheit des Wahnsinnigen waren und dieser unvergeßliche Gladiator aus dem Land der Parther. Die Nacht kam über ein Rom, das innerlich fieberte und zum Tyrannenmord bereit war. Das erste, was ich wahrnahm, war rätselhafterweise nicht der rasende Schmerz, die Ahnung des nahen Todes, sondern die Fliegen. Sie krochen auf mir herum, in der Nase, auf den Lippen, in den Ohren. Es stank, und das Summen machte mich wach. Dann kamen die Schmerzen. Ich tastete hilflos um mich und stellte fest, daß ich fast auf der Spitze eines Leichenberges lag. Hunde fraßen am Fleisch, und es stank ekelerregend. Leichenberg. Ich war tot? Nein. Ich lebte noch. Ich fühlte die abgebrochenen Schäfte der Pfeile. Sie saßen tief und fest in
meinem Fleisch. Mein Körper war eine einzige Zone des Schmerzes. Aber der Aktivator würde mir helfen. Mein Extrasinn schwieg. Ich bewegte den Arm und schrie auf. Ich konnte meine Stimme kaum hören, weil geronnenes Blut meine Ohren verstopfte. Blut floss auch aus meinem Mund, als ich den Kopf hob und nach dem Aktivator suchte. Als ich wußte, daß er nicht mehr um meinen Hals lag, wurde ich ohnmächtig vor Schrecken. Wieder erwachte ich. Wo war der Aktivator? Wieviel Zeit war vergangen, seit ich ihn nicht mehr trug? War ich schon allein deshalb zum Tod verurteilt? Ich stützte mich auf, bewegte meine Beine und brach dabei einen Pfeil ab. Der Schmerz ließ mich aufheulen. Salziges Sekret lief aus den Augen. Ich rollte langsam den Leichenberg hinunter und prallte auf den Boden des kleinen Hofes. Ein geisterhaftes Vollmondlicht lag über der Mauer und auf den Gliedern, Köpfen und Leibern, spiegelte sich in den blicklosen Augen der Leichname. Hatte man ihn mir gestohlen? Ich zwang meine Gedanken zur Ordnung. Ich erhob mich auf Ellbogen und Knie und fühlte wieder die langen Wellen der stechenden Schmerzen. Mein Herz schlug schwach. Wo war der Aktivator? Vergiß es! meldete sich der Extrasinn. »Wer hat das gesagt?« lallte ich und spuckte geronnenes Blut aus. Mein Schädel schien eine einige Wunde zu sein, innen und außen. Ich schleppte mich fünf Meter weit und erkannte im Mondlicht die Spuren der Maultierhufe und eine einzige Schleifspur, die jünger war als alle anderen und die anderen kreuzte meine Spur.
Sie hatten mich an den Füßen hinausgezerrt. Meine Finger krallten sich in den Sand und zogen acht Furchen hinein. Ich ließ den blutverkrusteten Sand hinter mir, als ich mich auf Ellbogen und Knien weiter tastete. Weiter. Weiter. Stillhalten; der Versuch einer Dagor-Entlastungsübung! Noch einen Meter. Ich brach keuchend zusammen und fiel mit dem Gesicht in den Sand. Er knirschte in den Zähnen und machte die trockene Zunge noch rauer. »Weiter, Atlan…«, sagte ich zu mir. Ich schaffte es bis zur Hell-Dunkel-Grenze. Dort draußen verwandelte das Mondlicht die leere Arena in einen See mit bleierner Oberfläche. Meine Gedanken begannen abzuirren und sich in der kosmischen Weite zu verlieren. Ich kroch weiter wie ein Wurm. Nichts anderes war ich. Ein einzelner, der sich gegen ein Imperium stemmte, nur mit den Waffen dieser Barbaren. Ich haßte sie. Ich verfluchte, während ich wie ein halbtoter Hund durch den Sand kroch, meiner eigenen Spur nach, den Planeten und die Barbaren. Ich würde sie in ihrer eigenen Niedertracht ersticken lassen. Ich konnte nicht einmal schwitzen. Ich weinte, als ich weiterkroch. Wieder fünf Schritte weit. Hinein in das Mondlicht. Weiter entlang der Spur. Laß den Sand durch deine Finger gleiten und siebe ihn… Ich fiel zusammen und brauchte lange, um mich wieder zu erholen. Unablässig hämmerte mein Extrasinn sie Befehle in meinen Verstand. Ein weiterer Kraftakt. Die Wunden brachen auf, das Blut lief wieder und vermischte sich mit Sand. Weiter. Ich kroch auf der Seite und schob mich mit dem unverletzten Bein weiter wie ein Frosch, dem man ein Bein ausgerissen hatte. Weiter in der Schleifspur. Der Sand war noch warm. Ich fand Steine in ihm, Strohhalme und einen Splitter von einem Elefantenstoß-
zahn. Dann, als ich abermals zusammenbrach, riß eine scharfe Kante meine Wange auf. Der Schmerz brachte mich wieder zu mir. Meine Finger tasteten hilflos umher und verfingen sich in einer Schnur, einem Band… Ich zog die rechte Hand durch den Sand und sah ein Amulett. Ich schaffte es irgendwie, mich aufzurichten. Ich nestelte die Lederschnur über meinen Kopf. Der getarnte Zellschwingungsaktivator rutschte zwischen die blutgetränkten, sandverkrusteten Fetzen an seinen alten Platz. Kaum hatte das kalte Eisen die Brust berührt, begann auch schon der Prozess der Regeneration. Der Aktivator leitete diesen Prozess ein, indem er mich in einen tiefen Schlaf versenkte. Niemand sah, wie der kleine Syrer den schweren Gleiter im Sand der Arena landete. Die Schale schwebte dicht über dem Boden, verborgen im Schatten. Als Ktesios seinen Freund nicht auf dem Haufen der Leichen fand, betrachtete er die Spuren im Mondlicht und eilte dann hinaus in die Arena. Nach vierzig Schritten ließ er sich auf die Hacken seiner Stiefel nieder, hob den schlaffen Körper des Freundes auf die Arme und legte ihn vorsichtig auf einen Stapel römischer Mäntel, die er aus einem Magazin des Palastes gestohlen hatte. Dann warf er den Beutel mit Goldmünzen auf dem Nebensitz und startete das Gefährt wieder. Je länger er mit diesem zauberischen Ding umging, desto mehr gehorchte es ihm. Trotzdem flog er beinahe gegen einen Bronzebogen des Circus, als er den Gleiter drehte und davon schwebte. Er grinste, als er an das Schwert dachte, das noch immer im Holz des Thronsessels steckte. Aber seine Miene wurde
schlagartig ernst, als er an seinen halbtoten Freund auf den Mänteln dachte. Zuerst holte er Lalaga ab. Dann verluden sie den Rest der Ausrüstung. Schließlich flogen sie zu einem Ziel, das ihnen Askhan angegeben hatte. Dort waren sie allein. Und dort würden sie auch daran denken können, den Freund gesund zu pflegen. Als ich im Schatten des Zeltvordachs aufwachte, galt mein erster Griff dem Zellaktivator; gleichzeitig war mir, als hätte ich einen verhängnisvollen Fehler gemacht. Das Medaillon aus Eisen und Bronze an einer vergoldeten Kette gehörte mir nicht; ehe mich der Schock erfaßte, rief der Logiksektor unüberhörbar intensiv: Dein Zellaktivator steckt unter deiner Knochenplatte, Arkonide! Wirf diesen nutzlosen Schund weg! Ich stöhnte auf: So war es. Der Wahn, der mich in der Arena überwältigt hatte, war stärker gewesen und hatte viel zu lange gedauert – ich nahm das Kettchen ab und ließ die nutzlose Ziermünze in den Sand fallen. Ich war verbunden, fühlte mich kräftiger und hatte nicht einmal Hunger; offensichtlich hatten Rico-Arconrik und ein Medorobot die Überlebensstation durch einen Transmitter verlassen und mir geholfen. Ich richtete mich auf und fragte, ohne daß ich jemanden sehen konnte. »Bin ich auf der unbewohnten Insel vor der Nordküste Africas?« Aus der Luft vor dem Zelt kam Arconriks Stimme; eine unsichtbare Mehrfunktionssonde also. »Ihr drei seid allein. Das Zelt ist sturmsicher. Noch drei Monde lang wird das Wetter angenehm und das Meer warm genug sein. Ich habe für alles gesorgt, Gebie… Atlan. Mens sana in corpore sano, sagen wir Römer: Dein Verstand soll e-
benso gesund werden wie dein Körper. Fragen? Probleme? Anweisungen?« »Wo ist Lalaga?« »Sie badet im Meer und wartet darauf, dich mit leidenschaftlicher Hingabe zu erschrecken.« »Du hast etwa auch Nachhilfestunden bei Seneca genommen?« »Nein«, sagte Rico und lachte. »Aber einen Teil seiner Schriften gelesen.« »Carpe diem.« Ich stand schwerfällig auf. »Ich werde versuchen, den Tag zu nützen. Wo ist Wein?« »Ungiftiger sardischer Wein? Im Zelt, im Kühlfach, in mehreren Krügen und in genügender Menge.« »Und wo ist Ktesios?« »Er sitzt im Boot, sieht Lalaga beim Baden zu und zählt Goldstücke.« »Ein guter Tag für alle«, brummte ich und trank gemischten Wein in kleinen Schlucken. Es war, als würde ich zum erstenmal eine Köstlichkeit probieren. Schweiß brach aus, ich schwankte, die Welt drehte sich ein paar Atemzüge lang vor meinen Augen. »Wenn’s auch an Kräften gebricht, ist doch der Wille zu loben.« »Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas«, übersetzte Arconrik. »Laß es langsam angehen.« »Nichts anderes. Du wachst über uns?« »Tag und Nacht.« Ungefähr zweieinhalb Jahre lang hatte ich Macht, Größe und Sitten des Römischen Weltreiches genossen; mir ekelte. Ich ging in den grellen Sonnenschein hinaus und zum Strand. Dort setzte ich mich neben Ktesios, winkte Lalaga und betrachtete Binden, Pflaster und Biomolhaut auf meinen Wunden, während mich die Sonne bräunte.
Die goldschimmernde SERT-Haube hob sich. Cyr Aescunnar sah auf das Chronometer; Mitternacht. In seinem transparenten Sarg bewegte sich Atlan, als ob er sich entschlossen habe, zu schweigen und zu schlafen. Cyr war sicher, daß er für einige Zeit nichts mehr hören und aufzeichnen würde. Er lehnte sich zurück und lauschte in sich hinein – er fand keine Spur der Angst, wieder zu erblinden oder Sehstörungen zu erleiden. »Nun kann ich mich mit den römischen Cäsaren herumschlagen«, murmelte er. »Wie starben Caligula und Nero, der Ururenkel des Augustus und Neffe Caligulas? Durch Atlans Hand nicht, soviel wissen wir.« Die ersten, noch wenig ausführlichen Informationen: Seneca starb im Jahr 65; angeblich war er in die Verschwörung eingeweiht. Kurze Zeit danach kämpfte Atlan in der Arena. Im Frühjahr 68 meuterten die römischen Truppen in Gallien; das Heer fiel vom Herrscher ab: Nero wurde geächtet, und der Cäsar ließ sich auf der Flucht töten: Einer seiner Vertrauten schnitt ihm die Kehle durch. »Nun«, murmelte Aescunnar, »gewissen Formen des Wissens und der Vernunft war auch Nero nicht ausgesetzt. Ein besonders trauriges Kapitel der Geschichte endete mit ihm.« Die Unterbrechung in Atlans Bericht aus der Vergangenheit dauerte zweifellos längere Zeit. Cyr schaltete einen Teil seiner Geräte ab und schwang den schweren Lehnsessel herum. Einige Zeit lang betrachtete Cyr die erste Version seiner Zeittafel. Das Jahr null war erreicht und überschritten. Er ahnte – zum Teil lagen entsprechende Dokumentationen vor –, daß zwischen diesem Datum und Atlans Zusammentreffen mit Rhodan und dem Flug nach Arkon viel geschehen war, daß Atlan Grund gehabt hatte, oft die Oberfläche der Welt zu betreten, betreten zu müssen; tief in seinem verschütteten Gedächtnis schlummerten Erlebnisse, Abenteuer und Überra-
schungen in den Nischen der menschlichen Geschichte. Wie viele würde Atlan noch berichten? Wieviel blieb noch für Cyrs Opus magnum? Er zuckte mit den Schultern und brummte: »Gleichgültig wie viele, Arkonide. Ich bin hier und warte.« ENDE