Herbert Schweizer Soziologie der Kindheit
Für Thomas Luckmann
Herbert Schweizer
Soziologie der Kindheit Verletzlich...
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Herbert Schweizer Soziologie der Kindheit
Für Thomas Luckmann
Herbert Schweizer
Soziologie der Kindheit Verletzlicher Eigen-Sinn
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage Januar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14222-7
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ......................................................................................................................11 2 Kindheit als naturgegebenes Phänomen.....................................................................17 2.1 Über- und Unterdeterminiertheit biologischer Gegebenheiten............................17 2.2 Die Naturalisierung des biopsychischen Phänomens ..........................................20 2.3 Die neuere Psychologisierungstendenz ...............................................................23 2.4 Das Kind als „Mängelwesen“ und als „Möglichkeitswesen“..............................26 2.5 Die anthropologisch-soziologische Spannung zwischen „Sein“ und „Werden“.............................................................................................................32 2.6 Die historische Dialektik zwischen „Entwicklungstatsache“ und „Erziehungstatsache“ ..........................................................................................36 2.7 Historische und ethnologische Zweifel ...............................................................41 2.8 „Entdeckung“ und „Erfindung“ – „Verschwinden“ der Kindheit?......................44 3 Der soziologische Blick auf Kindheit ..........................................................................49 3.1 Kindheit als unterbelichteter Forschungsgegenstand ..........................................49 3.2 Der methodische Blickwechsel ...........................................................................52 3.2.1 Das Kind als Sozialisationsobjekt ..........................................................52 3.2.2 Das Kind als Subjekt ..............................................................................54 3.2.3 Das Kind als kompetenter Akteur ..........................................................57 3.2.4 Die Differenzierung einer gesellschaftlichen Binnen- und Außensicht..............................................................................................60 3.2.5 Das Kind als Ko-Konstrukteur ...............................................................65 3.2.6 Die Überwindung der Familienfixierung................................................69 3.2.7 „Verhandlungskindheit“ .........................................................................72 3.2.8 „Kinder der Freiheit“..............................................................................75 3.3 Typisch moderne Kindheit ..................................................................................79 3.3.1 Die Profilierung der Lebensphase „Kindheit" ........................................79 3.3.2 Kindheit als Schutz- und Schonraum und als „soziales Moratorium“...........................................................................................83 3.3.3 Die Kinderrolle.......................................................................................87 3.3.4 Der kindliche Sonderstatus.....................................................................91 3.3.5 Familienkindheit.....................................................................................95 3.3.6 Schulkindheit..........................................................................................97 3.4 Deinstitutionalisierungsprozesse .........................................................................99 3.4.1 Tendenzen der Auflösung der „Normalbiographie“...............................99 3.4.2 Entkopplung von Sexualität, Fortpflanzung und Liebe ........................103 3.4.3 Die Entkopplung von Partner- und Elternschaft...................................106 3.3.4 Entkopplung biologischer und sozialer Elternschaft ............................108
6
Inhaltsverzeichnis
3.5
3.4.5 Die Entkopplung von biologischer und sozialer Kindschaft ................110 3.4.6 Komplikationen durch die Reproduktionsmedizin ...............................113 3.4.7 Umrisse einer flüchtigen Patchworkidentität........................................116 Die Verführung durch legitimierende Trendformeln ........................................121 3.5.1 Stichworte als Schlagworte ..................................................................121 3.5.2 Zwischen Individualisierung und Institutionalisierung ........................124 3.5.3 Vom Gehorsam zum Verhandeln .........................................................128 3.5.4 Von der Unterordnung zum Gegenüber ...............................................131 3.5.5 Die Unvermeidbarkeit von Identitätsimbalancen .................................136 3.5.6 Die Bagatellisierung kindlichen Leids..................................................140 3.5.7 Stabilisierung durch Familie und Schule..............................................143 3.5.8 Entgrenzung, Kontrollverlust in Freizeit und Konsum.........................146 3.5.9 Dramatisierung oder Suspendierung der Sinnfrage und der Glaubwürdigkeitsverlust institutioneller Autorität ...............................149
4 Bisherige Theorieansätze ...........................................................................................153 4.1 Vom Kind als Sozialisationsobjekt zum Kind als Realität aneignendes Subjekt...............................................................................................................153 4.2 Kulturanthropologie ..........................................................................................154 4.3 Der Strukturfunktionalismus .............................................................................156 4.4 Der Symbolische Interaktionismus und strukturgenetischinteraktionistische Ansätze................................................................................159 4.5 Psychologische Entwicklungstheorien ..............................................................161 4.6 Zugänge aus dem Umkreis der Konstitutionstheorien.......................................163 4.7 Paradigmenabhängigkeit der Kindheitssoziologie ............................................166 4.8 Das leitende Theorieverständnis........................................................................169 4.9 Die Mehrdimensionalität des Kindheitsphänomens ..........................................173 4.10 Die soziologische Mehrebenenanalyse..............................................................178 4.11 Die Verschränkung makro-, meso- und mikrosoziologischer Fragestellungen .................................................................................................182 4.12 Kindheit, Kinderleben, Kindsein.......................................................................183 5 Sozialisation oder Konstruktion................................................................................187 5.1 Die Kontroverse über die Reichweite des Sozialisationskonzepts ....................187 5.2 Die mehrfache Revision des Sozialisationskonzeptes.......................................187 5.2.1 Sozialisation als komplette Internalisierung der Kultur........................188 5.2.2 Sozialisation als wechselseitige sozialisatorische Interaktion ..............189 5.2.3 Die theoretische Unklarheit des Begriffes „Wechselseitigkeit“ ...........191 5.2.4 Sozialisation als Selbstsozialisation .....................................................192 5.2.5 Die Problematik einer „biographischen“ Sozialisation“.......................193 5.3 Das strukturelle Wechselspiel zwischen Unter- und Übersozialisation, Sozialisation und Desozialisation......................................................................195 5.4 Die potentielle Konkurrenz der Sozialisationsinstanzen ...................................198 5.5 Resozialisation als nachträgliche oder nachholende Sozialisation ....................200 5.6 Der Umschlag von antizipatorischer in retroaktive Sozialisation .....................202 5.7 Die Unterschätzung kritischer Lebensereignisse...............................................204
Inhaltsverzeichnis 5.8 5.9 5.10 5.11 5.12 5.13 5.14
7
Die Leugnung von Kommunikationsunterbrechungen......................................207 Vergessen und schleichende Dequalifikation....................................................209 Implizites Wissen und Latenz ...........................................................................212 Die Ausklammerung soziokultureller Vermittlungsstrukturen..........................214 Divergenz und Konvergenz von Sozialisation und Sozialkontrolle ..................218 Veränderlichkeit und temporale Schwankungen der Grenzen der Sozialisation ......................................................................................................220 Anthropologische und modernisierungstheoretische Konstruktionsnotwenigkeiten............................................................................222
6 Das Projekt einer Kindheitssoziologie ......................................................................227 6.1 Implikationen eines Paradigmawechsels ...........................................................227 6.2 Das Kind als aktives und zugleich verletzliches Gesellschaftsmitglied ............229 6.3 Ein epochenzentriertes Kindheitsverständnis: Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder ............................................................................232 6.4 Von der Straßensozialisation zur verhäuslichten Kindheit................................234 6.5 Der Trend zur verinselten Kindheit...................................................................237 6.6 Ungleiche Interaktions- und Beziehungschancen..............................................239 6.7 Kinder als Außenseiter ......................................................................................242 6.8 Dekonstruktion der sozialen Kategorie „Kindheit“ und ihre sozialstrukturelle Relationierung.......................................................................245 6.9 Aufwachsen in Zeiten postmoderner Unsicherheiten........................................248 6.10 Das Kind als aktiver Konsument.......................................................................250 6.11 Die soziale Konstruktion der Kinderwelt ..........................................................252 6.12 Die gesellschaftliche Konstruktion des sozialen Phänomens „Kindheit“ in statu nascendi ....................................................................................................255 6.13 Voraussetzungen einer konstruktivistischen Theorienperspektive....................260 6.14 Arten des Konstruktivismus ..............................................................................262 6.15 Das Kind als kompetenter Akteur, Co-Konstrukteur und Konstrukteur............265 6.16 Grenzen konstruktivistischer Theorienperspektiven .........................................270 7 Der wissenssoziologische Sozialkonstruktivismus ...................................................275 7.1 Die Funktion des Wissens .................................................................................275 7.2 Das Erbe der Sozialphänomenologie.................................................................276 7.3 Die Affinität der Konstitutionstheorien.............................................................278 7.4 Weiterentwicklung und Neuakzentuierung des Sozialkonstruktivismus...........281 7.5 Wissenssoziologische Aspekte..........................................................................283 7.6 In den Netzen der Lebenswelt ...........................................................................287 7.7 „Zwischenwelten“: das Wechselspiel von Eigenem und Fremdem ..................288 7.8 Zwischen Alltags- und Lebensgeschichte .........................................................291 7.9 Die Verschiebbarkeit der Grenzen des Sozialen und des Verhältnisses von Sozialisation und Individuation.........................................................................293 7.10 Kleine, mittlere, große Transzendenzen ............................................................296 7.11 Die Struktur der Soziogenese: die Dialektik der Externalisierung, Objektivierung, Internalisierung .......................................................................298
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Inhaltsverzeichnis
8 Externalisierung: Was Kinder sind, was sie wollen sollen: Kindheit.....................301 8.1 Außen und Innen als symbolische Differenzierung...........................................301 8.2 Die kulturelle „Idee“ Kindheit und die „Illusion des autonomen Diskurses“....303 8.3 Diskursgeschichte..............................................................................................305 8.4 Das beiläufig interessante „wilde“ und „ungezogene“ Kind .............................308 8.5 Historische Konnotationen zwischen „Kinderkram“ und „Humankapital“.......309 8.6 Das Wechselspiel der Diskurse .........................................................................312 8.6.1 Der theologisch-religiöse Diskurs ........................................................315 8.6.2 Der medizinische Diskurs.....................................................................319 8.6.3 Der pädagogische Diskurs ....................................................................322 8.6.4 Der rechtlich-politische Diskurs...........................................................325 8.6.5 Der psychologische Diskurs .................................................................329 8.6.6 Der sozialwissenschaftliche Diskurs ....................................................332 8.6.7 Der Mediendiskurs ...............................................................................335 8.6.8 Der literarische Diskurs........................................................................337 8.6.9 Der ökonomische Diskurs ....................................................................340 8.7 Kindheit im Spannungsfeld von Hoffnungen und Befürchtungen ....................343 8.8 Der moralische Aspekt moderner Familienkindheit..........................................345 8.9 Protagonisten der Diskursgeschichte: Ariès und de Mause...............................348 8.10 Reichweite und Grenzen einer historischen Anthropologie ..............................351 8.11 Sozialgeschichtlicher Hintergrund und Kontrast...............................................353 8.12 „Normale“ und „exzentrische“ Kindheiten .......................................................357 8.13 Die Problematik evolutionistisch-modernisierungstheoretischen Denkens.......359 8.14 Historische Kinderstuben von Adel, Bauern und Bürgern ................................362 8.15 Arbeiterkinder in der frühkapitalistischen Gesellschaft ....................................365 8.16 Regionale Unterschiede.....................................................................................367 8.17 Altersunterschiede.............................................................................................370 8.18 Geschlechtsspezifische Unterschiede................................................................373 8.19 Intra- und intergenerationale Mobilität .............................................................376 8.20 Herrschaftsverdünnte Zonen und Kontroll-Löcher ...........................................379 8.21 Die Entstehung der Kinderfrage........................................................................382 9 Objektivierung: Wem gehören Kinder, was können, lernen, brauchen, müssen Kinder? – Kinderleben und Kinderalltag...................................................387 9.1 Gesellschaftliche Prozesse der Verwandlung von wahrgenommenen zu handelnden Kindern (Kinderleben) ...................................................................387 9.1.1 Dimensionen der Objektivierung: Habitualisierung, Institutionalisierung, Legitimierung .....................................................392 9.1.2 Inkorporierung von Hintergrundwissen; Einbettungsprozesse, „Zwischenwelten“ ................................................................................396 9.1.3 Institutionenwandel, gesamtgesellschaftliche Veränderungen und das Machtspiel von Mehrheit und Minderheit......................................400 9.1.4 Die gebrochene, begrenzte, gebremste und immer wieder forcierte Modernisierung ....................................................................................404
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9.1.5 9.1.6
9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8 9.9 9.10 9.11 9.12 9.13
Die zeitgeschichtliche Achse................................................................407 Die Dynamik der Lebenswelt in ihrer Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimension ...................................................................................409 Der demographische Wandel ............................................................................413 Lebenslage und Lebenslauf von Kindern ..........................................................416 Die Zugänglichkeit der gesellschaftlichen Infrastruktur ...................................419 Der kindliche Leib.............................................................................................421 Zwischen Milieubildung und Neukonstitution sozialer Milieus........................424 Die generationale Ordnung als „Zwischensynthese“ ........................................428 Partizipative Identitäten in sozialen Institutionen .............................................431 Kinder zwischen organisatorischer Formalisierung und lebensweltlicher Informalisierung ................................................................................................435 Kooperation und Konkurrenz: Gruppen- und Intergruppenbeziehungen in Familie und Peer-Group ....................................................................................439 Der ganz normale Kinderalltag .........................................................................443 Die ständige Präsenz des Außeralltäglichen......................................................447 Kinderprobleme – Kindheit als soziales Problem?............................................450
10 Internalisierung: Aktuelles Kindsein oder: Was Kinder tatsächlich praktisch zustande bringen und können ...................................................................................457 10.1 Internalisierung als Aktualisierung....................................................................457 10.1.1 Internalisierung bei Freud, Parons, Berger/Luckmann .........................459 10.1.2 Rollendistanz und Selbstpräsentation ...................................................461 10.1.3 Das Spannungsverhältnis zwischen alltagszentriertem Lebenslauf und der aktuellen Biographie................................................................464 10.1.4 Der Widerspruch zwischen Entscheidungszwang und Begründungspflicht ..............................................................................468 10.1.5 Reichweite und Grenzen kindlichen Verhandelns................................471 10.1.6 Internalisierung: ständiges In-Ordnung-Bringen und Weltbildkonturierung ...........................................................................475 10.2 Die Relativität sozialisatorischer Grundqualifikationen....................................477 10.3 Handlungsspielräume ........................................................................................480 10.4 Die ganz normalen Wiederholungen .................................................................483 10.5 Die Bewältigung von Konflikten.......................................................................485 10.6 Interaktionsdynamik und Interaktionsstress ......................................................489 10.7 Totale Überraschungen: Kommunikations- und Systemunterbrechungen ........492 10.8 Zwischen technischer Innovation und kreativem Handeln................................495 10.9 Die umstrittene Allgegenwart der Gewalt: kurzen Prozess machen..................498 10.10 Regeln, Normen, Rituale, Normalisierung ........................................................501 10.11 Improvisation und Aleatorik .............................................................................504 10.12 Normative und pragmatische Situationsdefinitionen.........................................508 10.13 Die „natürliche Dissidenz des Kindes“ .............................................................511 10.14 Die Dialektik von Habitualisierung und Kontingenz ........................................514 10.15 Ringen um Solidarität oder Ambivalenztoleranz ..............................................517 10.16 Kindsein im flüchtigen Augenblick...................................................................520
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Inhaltsverzeichnis
11 Die vielen Gesichter der heutigen Kindheit..............................................................525 11.1 Kindheit als heterogenes soziales Phänomen ....................................................525 11.2 Kindheit als Konstruktion zwischen „Entdeckung“, „Erfindung“ und „Gabe“...............................................................................................................528 11.3 Tendenzen der Umorientierung von Institutionen auf Interaktionen.................532 11.4 Verschiebungen in der Handlungsorientierung .................................................535 11.5 Mit Widersprüchen leben ..................................................................................538 11.6 Figurationen multipler Erwachsenen-Kinder-Beziehungen ..............................542 11.7 Differentielle Zukunftsfähigkeit und Zeitgenossenschaft .................................545 11.8 Versuch einer Realtypologie .............................................................................548 11.8.1 Triangulation verschiedener idealtypischer Kontinua ..........................555 11.8.2 Die Problematik der Triangulation .......................................................557 11.8.3 Bedeutung strukturierender Kriterien kindlicher Lebenszusammenhänge........................................................................559 11.9 Gesellschaftliche Reproduktion und gesellschaftliche Responsivität................561 11.10 Die vielen Gesichter der Kindheit: Kindheit, Kinderleben, Kindsein ...............564 Literaturverzeichnis.........................................................................................................571
1 Einleitung
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1 Einleitung 1 Einleitung
Die „globalisierte“, „pluralisierte“ oder vielfältig „fragmentierte“ Lebenswelt von Kindern einer „veränderten Kindheit“ wirft oft spontan die Frage auf, ob „Optimismus“ oder „Pessimismus“ von Kindern und Erwachsenen im Blick auf die Zukunft nur Ausfluss einer schicksalhaft verstandenen Persönlichkeitsstruktur oder eines persönlichen Temperaments sind. Da Motivationen jedoch nicht einfach gegeben sind und sich auch wieder abschwächen können, gelernt werden müssen, immer auch sozial kontrolliert und in Interaktionen verglichen und abgestimmt werden, spricht wenig für eine so simple aber weit verbreitete Sicht. Wenn sich die Alten ihre Köpfe über die Zukunft der Jungen zerbrechen, so wird das von manchen Jungen und außenstehenden Beobachtern als Indiz dafür interpretiert, dass sie dies nur aus Angst davor täten, ihren Einfluss und ihre Macht das eigene alte Weltbild und die herkömmlichen Werte zu verlieren. Wenn andererseits Kinder sich ausschließlich am Hier und Jetzt zu orientieren scheinen, so tun sie dies wohl selten ohne „schrägen“ und halbverdeckten Blick auf die Worte und Taten der Erwachsenen und im sozialen Vergleich. Sie ahnen oder wissen meist bald, dass ihnen auch wohlwollende und verantwortlich denkende Erwachsene heute weniger als irgendwann in der Geschichte wirklich helfen können, ihre so ganz andere und zunehmend intransparentere zukünftige Lebensgeschichte eines Erwachsenen auf die Reihe zu bekommen. Das unsichere Selbstbild der jungen Generation, um deren Chancen und Risiken es letztlich geht, korrespondiert daher ganz offensichtlich in irgendeiner Weise mit dem Selbstbild der alten Generation und dem Fremdbild beider. Es geht um wechselseitiges Wissen, „Sich-Wissen“ und Nichtwissen, das sich in mehreren Sinn- und Verweisungszusammenhängen mit unterschiedlicher historischer und biographischer Tiefe aufschichtet. Dieses Wissen erschöpft sich nicht in pädagogisch veranstaltetem Lernen. „Fakten“ erweisen sich überdies als immer schon interpretiert und spielen oft genau genommen eine untergeordnete Rolle. Es kommt entscheidend auf Vorstellungen und Interpretationen an, die Erwachsene und Kinder sich wechselseitig und in Auseinandersetzung mit als legitim geltenden institutionellen Programmen zur „Wirklichkeitserschließung“ zuspielen. Jahrhundertelang erschienen Kinder als das Natürlichste des Natürlichen, um das man sich weder viele Gedanken noch großes Aufhebens machen musste. Es gab zwar in der Frühmoderne einige Theologen, die eine „Theologie der Kindheit“ verfochten. Aber dieses diskursive Wissen wurde kaum von der gesamten Gesellschaft rezipiert. Kinder werden nicht immer als eigene Bevölkerungsgruppe wahrgenommen. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen findet eben nicht immer Aufmerksamkeit und er kann dann noch als „klein“ oder als „groß“ wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmungen erzwingen auch nicht einfach in kausalem Sinn direkt eine einzige Form sozialer Reaktionen, sondern können stärker oder schwächer, episodisch oder nachhaltig und auch inhaltlich recht unterschiedlich ausfallen. Aus dieser Fülle und Gemengelage kann sich eine ganz unterschiedliche Sinngestalt und Wahrnehmung herausschälen. „Progressive“ oder „restriktive“ Aspekte
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1 Einleitung
können dabei überwiegen, wenn sich Kindheit als etwas Bestimmtes einer Gesellschaft zeigt und zum „sozialen Phänomen“ avanciert, das unter bestimmten Bedingungen sogar dann zur „sozialen Tatsache“ werden kann und – sich prinzipiell auch wieder abschwächen, ja gesellschaftlich irrelevant werden und in diesem Sinne auch wieder „verschwinden“ kann, auch wenn weiterhin Kinder in dieser Gesellschaft leben werden. Man kann heute durchaus auch den Eindruck gewinnen, dass Kindheit wieder stärker thematisiert, ja nicht selten skandalisiert wird. Demographische, rechtliche, ökonomische und sozialpolitische Überlegungen haben offensichtlich pädagogische und entwicklungspsychologische etwas in den Hintergrund gedrängt. Auf der einen Seite des Erdballs gibt es zu wenige, auf der anderen Seite angeblich zu viele Kinder. Und ein Ausgleich scheint unvorstellbar. Auch eine „Weltinnenpolitik“ zur Herstellung proportionaler Chancengleichheit unter Kindern scheint abenteuerlichem Wunschdenken zu entspringen. Selbst die Vorstellung, alle Generationen in einen neuen „Generationenvertrag“ einer einzigen Nationalgesellschaft aufzunehmen, erntet nur Achselzucken. Warum erzeugt das aber im einen Fall Ängste, im anderen Hoffnung? Und das alles könnte ja auch als Herausforderung zu produktivem Handeln verstanden und responsiv aufgegriffen werden. Kindliche Lebensbedingungen werden von ökonomischem Kalkül, nicht dieses von jenen abhängig gesehen. Ein Sachzwangdenken beherrscht mehr und mehr die Diskussion. Eine konstruktive Debatte käme erst dann in Gang, wenn eine Politik angestrebt würde, die „Sachzwänge“ durch Alternativen aufzulösen versuchte. Daher greifen eine Ratlosigkeit und ein Ambivalenzfatalismus hinsichtlich der „Kinderfrage“ immer mehr um sich, der durch die objektive Ressourcenassymetrie zwischen (nicht besonders wohlhabenden) Familien und (materiell gut situierten) Kinderlosen nicht im Kern erklärt werden kann. Es mangelt nicht an Bemühungen, fundierte Informationen und Rat zu geben oder einzuholen. Dabei zeigt sich eine Tendenz, immer mehr Sozialisationswissen für immer weniger Kinder aufzubieten, familien-, sozial und bildungspolitische Förderprogramme zu multiplizieren. Es bleibt aber völlig unsicher, ob dies junge Menschen erreicht, die Kinder haben könnten. Und auch die Zielgenauigkeit und Nutzbarkeit der Maßnahmen durch die Kinder selbst bleibt im Ungefähren. Zugleich schütteln aber Medienberichte über die angeblich häufige Erziehungsunfähigkeit von Eltern („Rabeneltern“) und die Erziehungsunwilligkeit von Kindern („Erziehungsmonster“), über Gewalt an Kindern und von Kindern, über den „Egoismus“ aller Kinderlosen und den „Altruismus“ von Eltern, die öffentlich und privat geäußerten Ansichten der Bevölkerung immer wieder durcheinander. Chancen werden maßlos übertrieben, Risiken zu Horrormeldungen umstilisiert. Es gibt wenig Anhaltspunkte für einen Interpretationskonsens. Einer Mythenbildung bei der Rezeption entgeht nicht einmal die neue sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung, die durch eine oft zu einseitige Betonung der Aktivität und Kompetenz die Defizite und Verletzlichkeit und Gefährdungen von Kindern im allgemeinen Bewusstsein zu verdunkeln vermag (Herzberg 2001). Andererseits gelten Aussagen über Kinder als „aktive Konsumenten“ fast als Propaganda der Wirtschaft und als wenig glaubwürdig. Mag man ja noch heutigen wenig untersuchten „Lücke-Kindern“ der mittleren Kindheit ein jugendlich anmutendes Konsum- und Sozialverhalten zubilligen, aber doch nicht kleinen Kindern, obwohl sich Phänomene der (formalen) Medien- und Konsumkompetenz von kleinen Kindern, die von Anfang an mit diesen Sozialisationsinstanzen umgehen, kaum noch übersehen lassen. Auch die sich immer wieder einpendelnde Beziehung zwischen „Kinderwunsch“ und „Wunschkind“ erzeugt stets erneut große Unsi-
1 Einleitung
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cherheit und Desorientierung. Schafft „verantwortete Elternschaft“ sozusagen ein „Naturrecht“ auf ein makelloses „Wunschkind“? Reicht die Konsequenz des Konzepts des „Kinderbürgers“ soweit, dass vom „Fötus als Bürger“ gesprochen werden muss (Csarnowski 1996: 236ff.)? Wenn man die Diskussion der letzten Jahre über Kindheit, Kinderleben und Kindsein auch nur flüchtig bilanziert, so wird deutlich, dass ihr Sinn, ihre Grenzen, ihre Reichweite, ihr gesellschaftlicher Stellenwert oder ihre „Rechenregeln“ fast beliebig geworden zu sein scheinen oder von den verschiedensten Diskursen, gesellschaftlichen Positionen und aktuellen Bezügen her eingekreist werden. Diese anomischen Tendenzen, die meist doch nicht zur kompletten Anomie führen, bleiben selbst Kindern nicht verborgen, die paradoxerweise manchmal weniger Freiheit als „klare Regeln und Grenzen“ wünschen. Die meisten Pädagogen antworten darauf mit der Forderung nach mehr Erziehung, die meisten Sozialwissenschaftler mit der nach mehr Sozialisationswissen, obwohl beide um Neutralisationseffekte wissen könnten (Hengst 1985: 9). „Frühförderung“ heißt heute das Patentrezept, das wenig auf seine gesellschaftlichen Voraussetzungen, Folgen und Nebeneffekte hin abgeklopft wird. Paradoxerweise hat auch die immer stärkere „Ausdifferenzierung“ von Kindern und der Auf- und Ausbau institutionalisierter „Kinderghettos“ die Lage der Kinder nicht wirklich entspannt, ohne dass eine traditionalistische Refamilialisierung angesichts der tatsächlichen Arbeits- und Lebensbedingungen auch nur technisch möglich wäre. Kaum hat man das erkannt, sprießt ein neues Patentrezept: das Konzept der pluralen Lernorte, das natürlich in der Praxis wieder überwiegend pädagogisch von Erwachsenen vorfabriziert oder vorarrangiert werden muss. Es verdichtet sich langsam der Eindruck, dass Kinder stärker vom gesellschaftlichen Wandel als Erwachsene betroffen sind und man – schon allein wegen des anhaltend niedrigen Geburtenstands in vielen Ländern – irgendetwas tun muss. Nur wissen offenbar auch Erwachsene nicht recht, was sinnvollerweise zu tun wäre. Umso mehr wird über ein kinderfreundliches Gesellschaftsklima gesprochen und geschrieben oder medial berichtet. Die Kindheitssoziologie der letzten 20 Jahre hat vielfältige Wissensbeiträge über die „veränderte Kindheit“ gesammelt und deutlich werden lassen, dass sich die verschiedenen Aspekte des Referenzrahmens kontextualisierter Kindheit, der Abstand zwischen Erwachsenen und Kindern, Anfang und Ende, gesellschaftliche Relevanz, Interaktionsstrukturen und die typischen Umgangsformen zwischen Kindern und Erwachsenen grundlegend gewandelt haben (Hengst 1985; Engelbert 1986; Zinnecker 1998; du Bois 1994; Fuhs 1999; LBS 2002; Alt 2005). Die expansive Pädagogisierung und Entpädagogisierung der letzten Jahre hat die Brüchigkeit des Gefüges der Sozialisationsschübe gezeigt und die Ratlosigkeit vieler Erwachsener aber auch von Kindern ebenso wenig nennenswert verkleinert wie die Versozialwissenschaftlichung und Politisierung der Kindheit. Immerfort wird nach Innovationen gerufen, ohne dass Ziel, Qualität, Folgen und Nebenfolgen für Kinder ruhig analysiert werden könnten. Zugleich ist die Gesellschaft von der Einsicht fast gelähmt, dass immer mehr junge Menschen kinderlos bleiben und sich weder durch „Geburtsprämien“, Kindergeld oder Kinderfreibeträge noch durch die steuerlich stärkere Belastung von Kinderlosen stark beeindrucken lassen. Es deutet Vieles darauf hin, dass die direkten und indirekten Faktoren des Geburtenrückgangs nicht nur vielfältig sind (Hradil 2004: 30ff.), sondern viel tiefer, nämlich in die allgemeinen Lebensbedingungen, Lebensformen, Lebensstile, also ganz wesentlich in den Bereich der „gelebten“ Kultivierung des Lebens hinab reichen und von politischen Maßnahmen allenfalls „subsidiär“ abhängen
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(Kaufmann 1995). Die meisten Eltern sind, wenn sie klagen, nicht schon „Kulturpessimisten“, wie manche schönfärberischen Soziologen mutmaßen. Ebenso haben Lehrer ihre Erfahrungen, wenn sie in immer größerer Zahl an einem burn-out-Syndrom leiden, ihr Leiden keineswegs aus Hysterie erfunden, selbst wenn sie zu unterkomplexen Erklärungen neigen mögen. Und auch das Leiden nicht weniger Kinder an ihrer Gesellschaft (Vetter 1999; LBS 2002: 45ff.) ist nicht einfach immer eine hypochondrische Projektion. Die Kindheitssoziologie muss vielmehr alle diese Erfahrungen ernst nehmen, ohne sich ihnen einfach unkritisch auszuliefern. Ein wesentliches Problem besteht auch darin, dass keine Gesellschaft „kinderfeindlich“ sein möchte und wohl jede behaupten wird, im Grunde „kinderfreundlich“ zu sein. Die Ablehnung oder Vertagung des stets komplexen „Kinderwunsches“, in dem sich viele bewusste und wohl noch mehr unbewusste Motive mischen dürften, kann auch nicht nur auf äußere, besonders die materiellen Lebensbedingungen einer Gesellschaft zurückgeführt werden. Sie bildet sich meist allmählich in subjektiv-objektiven Bedingungszirkeln, die am Anfang ganz offen sind und sich mit der Zeit immer mehr verengen und zur „self-fulfillingprophecy“ werden. Ähnlich, vielleicht spiegelverkehrt, bildet sich auch wohl meist das konkrete Elternverhalten. In verschwindend wenigen Fällen dürfte auch dies ein rein rationales und kalkulatorisches Verhalten sein. Und die wenigsten kindlichen Verhaltensweisen sind heute wohl rein kognitive Konstruktionen am Leitfaden einer entwicklungspsychologischen irreversiblen Stufenfolge, sondern komplizierte, vielschichtige Stabilisierungen. „Veränderte Kindheit“ wurde in den letzten Jahren hauptsächlich nach den quasinormativen Trendkapazitäten und Möglichkeitsräumen durchbuchstabiert: Verhäuslichte, verinselte, verplante, mediatisierte, sportive, kommerzialisierte Kindheit waren die kaum problematisierten Stichworte. Das beruhte durchaus auf der Beobachtung nahe liegender Möglichkeiten, implizierte aber zumeist die Unterstellung, dass diese technisch-organisatorischen Möglichkeiten ungebrochen und ungefiltert im typischen Kinderalltag Praxis werden. Und das war eben ein grundlegender „naturalistischer Fehlschuss“, der selbst von Soziologen kaum einmal offen angesprochen wurde. Selbst ungünstigste städtebauliche und verkehrsmäßige Bedingungen determinieren kindliches Verhalten nicht stringent und lassen immer zunächst noch mehrere tatsächliche Entwicklungen, Resistenz, Selektivität, Umformung und Verfremdung zu, wenn auch immer Anpassung der leichtere Weg ist. Aus bloßen idealtypischen Möglichkeitstrends wurden in der Rezeption immer stärker verdinglichende Schlagworte, die kaum noch irgendeinen analytischen Wert besitzen, wohl aber der Stereotypisierung und Mythologisierung kindheitssoziologischer Befunde dienen. Ob und wie Möglichkeitsraum und soziale Praxis, normativer, die typisch alltägliche Inanspruchnahme und praktische Gestaltung sich verschränken, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen das möglich, wahrscheinlich und „zwingend“ erscheint, ist bis heute ein Forschungsdesiderat sowohl der handlungstheoretischen wie der strukturtheoretisch ausgerichteten Kindheitssoziologie. Modernisierung, Differenzierung, Pluralisierung und Individualisierung sind keine quasiepidemischen Kataklysmen, sondern liegen immer nur in historischer „Formbestimmtheit“ vor und werden gebrochen durch Stagnation, Gegentrends, Transformationsüberraschungen erfahren. Unterschiedliche Modernisierungstraditionen gelangen sozusagen an Weggabelungen und geraten in Weichenstellungen, die immer verschiedene Entwicklungspfade zulassen, die aber aufgrund mangelnder Wachheit und Entschlossenheit kindlicher Akteure nicht immer realisiert werden. Eine reflektierte Kindheitssoziologie verlangt vom Leser ein hohes Maß an Bereitschaft, eingeschliffene, zur
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Verdinglichung neigende Vorstellungen und Vorannahmen und Erklärungsmuster einzuklammern oder quasi ihre „Rückseite“ zu hinterfragen (Bourdieu 1992: 50ff.; 1997: 11ff.). Es könnte sein, dass solche „aufgeschlossenen Leser“ den größten Gewinn aus der Lektüre dieses Buches ziehen. Der Autor weiß natürlich nicht, ob die Fachleute der Kindheitssoziologie seine Überzeugung gelten lassen wollen, dass sich ein Neueinstieg in die Kindheitssoziologie über eine sozialphänomenologisch-sozialkonstruktivistische Theorieperspektive im Sinne Berger/Luckmanns lohnen könnte.
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2.1 Über- und Unterdeterminiertheit biologischer Gegebenheiten Kein Zweifel kann daran aufkommen, dass biologische Abläufe das Aufwachsen von Kindern zutiefst prägen. Das zeigt sich schon bei unreflektierten und subtil passenden Verhaltensweisen des Blickens, Lächelns, des taktvollen Übersehens und Schlagfertigkeiten, die manchmal ohne Worte eine Situation bereinigen können. Wir unterscheiden auch ganz genau langsames Schlendern oder hastige Unruhe beim Gehen. Kein Soziologe hat vermutlich genauer die leibliche Zugänglichkeit oder abwehrende Unzugänglichkeit von Menschen als Voraussetzung und zugleich als performatives Medium im Anschluss an ethologische Studien beobachtet und dabei auf unglaublich viele symbolische Rahmungen des Geschehens, also auf die unausweichliche soziale Symbolisierung allen Verhaltens aufmerksam gemacht wie E. Goffman (Goffman 1971; 1994). Doch auf den ersten Blick erscheinen die natürlichen Bedingungen eine reine Angelegenheit der Biologie zu sein. Natürlich springt die Tatsache sofort in die Augen, dass Kinder in der Regel kleiner als Erwachsene sind. Allerdings wird seit Jahrzehnten auch von der Akzeleration kindlichen Längenwachstums gesprochen. Bis vor wenigen Jahren wurden solche und andere Faktoren in funktional-evolutionistischer Betrachtungsweise in handlichen anthropologischen Bilanzformeln zusammengezogen: der Mensch sei eine extrauterine Frühgeburt, und verglichen mit anderen Primaten benötige er sozusagen eine „zweite soziokulturelle Geburt“, sei „Nesthocker“ und zugleich ein „hilfloser Nestflüchter“ (Portmann 1963; König 1977: 12ff.; Eibl-Eibesfeld 1972: 3ff.). Damit wurde die evolutionäre Sonderstellung herausgestrichen. Diese scheinbar so eindeutige Unterscheidung menschlicher Instinktreduzierung von tierischer Instinktsicherheit ist nach Auffassung der heutigen Biologie unhaltbar. Vielerlei genetische, sozial vererbte und individuell gelernte Einflüsse wirkten in der Realität zusammen und ermöglichten vielfältige Übergänge zwischen Mensch und Tier. Der menschliche Organismus erweist sich so gewissermaßen zugleich unter- und überdeterminiert (Barkhaus 1996). Er ist unterdeterminiert, weil sich Phylogenese und Ontogenese nicht völlig entsprechen. Überdeterminiert ist er, weil sich seiner Entwicklung immer mehrere Möglichkeiten bio-psycho-sozialer Identität aufdrängen, die der Heranwachsende nur mühsam biographisch auszuwählen vermag. Objektiv gleiche Entwicklungsstimuli sprechen offensichtlich in unterschiedlicher kultureller Umgebung andere Entwicklungen und Erfahrungshintergründe an. Deshalb sucht heute die biologische Forschung nicht mehr nach „dem“ alles entscheidenden qualitativen Unterschied zwischen Tieren auf der einen und der menschlichen Spezies auf der anderen Seite der Entwicklungsgeschichte der Natur. Vielmehr ist aus der ganz eindeutigen Sonderstellung des Menschenkindes ein fließender, gradueller und dimensionaler Übergang von der menschlichen zu anderen Spezies getreten. Die biologische Sicht der Primaten, die heute auf der Basis eines differenzierten Vergleichs vorangetrieben wird, zeigt genau, welche Fähigkeiten und Dispositionen bei Affen, Men-
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schenaffen anzutreffen und welche menschlich sind. Am wenigsten umstritten scheint immer noch der entscheidende Unterschied zu sein, den schon Aristoteles sah: die Sprache (Kuhlmann 1996: 37, 43). Das Verhalten aller Primaten scheint zwar typische und regelhafte Ausprägungen aufzuweisen, ohne indes völlig reguliert oder gar im strikten Sinn eindeutig determiniert zu sein. Biologisch gesehen gibt es viele, ja unzählige Abstufungen auf einer Skala von jung/alt. In fast allen Kindheits- und Jugenddefinitionen werden immer wieder biologische Kriterien für Anfang und Ende genannt. Am häufigsten finden sich die Geburt und die Veränderung der Genitalorgane (Pubertät). Auch Soziologen betrachten dies seltsamerweise immer noch als reine Urdaten und harte Fakten der Biologie, obwohl sie ein genaueres Studium der Medizin- und Körpergeschichte und der Ethnologie der ganz verschiedenen Initiationspraxis eigentlich eines Besseren belehren müsste. Nicht überall ist die Pubertät der „Grenzstein“ zur Jugend oder zum Erwachsenendasein. Und sie findet auch nicht unabhängig von Zeit und Raum immer zum gleichen Zeitpunkt statt. Bei Jungen und Mädchen streut sie auch heute enorm: „Als äußerste physiologische Grenzen werden beim Jungen das 9. bis 17. und beim Mädchen das 8. bis 15. Lebensjahr angegeben.“ (Betke u.a. 1991: 94f.; Imhof 1983; Kohl 1993: 73ff.). Daraus folgt zwingend, dass die Pubertät eine soziokulturelle Setzung ist, an die wir uns allerdings so stark gewöhnt haben, dass wir sie unwillkürlich als ein Naturdatum ansehen. Ebenso fragwürdig ist das weit verbreitete Stockwerkdenken, das behauptet, das biologische Fundament sei nur kulturell überformt. In Wirklichkeit durchdringen sich hier Natur und Kultur aufs Innigste und verhalten sich nicht wie Basis und Überbau (Waldenfels 1998: 198ff). An der Kindheit ist im Grunde alles zugleich natürlich und kulturell. „Natur“ und „Kultur“ sind keine hermetisch gegeneinander abgeschotteten Substanzen. Vielmehr sind sie geschichtlich anwendbare modale Aussageweisen und auch in Grenzen nützliche Grenzbegriffe, die eine bio-psycho-soziale Hyperkomplexität und Kovarianz gedanklich reduzieren. Empirische Durchschnittswerte werden immer dann herangezogen, wenn reine Modellbegriffe konkretisiert werden sollen. Dies bedeutet jedoch, dass kein einziges Kind alle statistischen Daten in sich vereinigt, weil sie enorm streuen. Obwohl aber das Maß der Abweichung und Streuung so groß ist, kommen weder Alltagsmenschen noch Wissenschaftler um vereinfachende Typisierungen, definitorische Dekonstruktionen solcher Typisierungen und entsprechender Limesbegriffe herum. Was allerdings jeweils als „Natur“ und „Kultur“ beim konkreten Kind bezeichnet wird, das verdankt sich in jedem Falle dem fungierenden Alltagswissen der Umgangssprache. Es ist historisch klar erkennbar, wo sich die scharfe Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern in gesellschaftlichem Wissen anbahnt. Zuvor und danach gab und gibt es selbstverständlich auch Kinder, aber kein ähnlich spezifisches Alltagswissen und/oder wissenschaftliches Sonderwissen in der typisch modernen Qualität. Zwischen 1500 und 1800, ganz stark nach 1800, vollzieht sich eine deutliche Neubestimmung „primordialer“ menschlicher Unterschiede, wie Mann/Frau oder Erwachsener/Kind (Nemitz 1996; Honegger 1991). Diese kulturelle Neubestimmung ist so tiefgehend, dass es angezeigt ist, von einer geschichtlich einmaligen und voraussetzungsvollen „Erfindung“ zu sprechen, die aber zugleich als erinnernde „Entdeckung“ angesehen werden kann. Immerhin werden fast überall auch soziokulturelle Teilreifen, funktionale oder äquifunktionale Initiations- und Adoleszenzriten, soziale Karrieren der Schule oder religiöser oder weltanschaulicher Gemeinschaften und des modernen Rechts erwähnt – allerdings
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stets additiv zu biologischen Determinanten. Im Grunde unterstellen diese recht äußerlichen Klassifikationen oder Definitionen, dass man den Unterschied „pubertierend“ „nichtpubertierend“, „noch wachsend“ „nicht mehr wachsend“ unmittelbar sehen könnte oder dass sie sich zumindest aus der Optik eines Arztes auf Anhieb zweifelsfrei identifizieren ließen. Hier wird aber ein eingespieltes, vielfach zitiertes Alltagswissen dogmatisiert. Jeder Mensch in unserer Gesellschaft wähnt sich völlig sicher, Kinder von Erwachsenen nicht nur aufgrund psychologischer „Alltagstheorien“, sondern schon durch den physischen Augenschein unterscheiden zu können (Nemitz 1996: 126ff.), obwohl alle diese heterogenen und stark streuenden Symptome und Merkmale sowohl bei Kindern, Jugendlichen wie (z.B. zwergwüchsigen) Erwachsenen auftreten können. Als gesamtkulturellen und zeitlich konsistenten Zeitkorridor findet man die Jugendphase in Europa noch später als Kindheit, nämlich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Und insgesamt trifft man weltweit und historisch auf zwei, drei, vier und fünf Lebensphasen (Nemitz 1996: 23ff.). Entscheidend war für Soziologen immer, dass sich trotz nicht ganz eindeutiger Alterszuweisungen zumindest in modernen Gesellschaften immer deutliche Status- und Positionsunterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern feststellen ließen. Weder in der Vormoderne noch in der Moderne hat, wie oft behauptet wird, genau besehen die biologische Reife den Status von Kindern determiniert (Giddens 1995: 189). Und noch deutlicher tritt die historische Bedingtheit an der Tatsache hervor, dass der moderne Gesamtstatus von Kindern in den jeweiligen Gesellschaften mehr oder weniger deutlich fragmentiert war. So wurde etwa vor einigen Jahrhunderten noch jungen Erwachsenen im fortgeschrittenen Alter von 40 Jahren gelegentlich noch der Titel „Kind“ zugeschrieben, was wohl in erster Linie die soziale Abhängigkeit zum Ausdruck bringen sollte. Demgemäß sollten normativ Gesinde und Kinder noch zu Zeiten, wo das „ganze Haus“ ein weit verbreitetes Leitbild war, gleich behandelt werden. Dies hinderte andererseits z.B. Bauern überhaupt nicht daran, Kinder mit sieben, gelegentlich sogar schon mit vier Jahren als Arbeitskräfte zu betrachten, denen die volle Arbeitsleistung abverlangt werden konnte. Schließlich besaßen aber Kinder in vielen Fällen, wie nicht nur Ariès berichtet, in ihrem Spiel und in ihrer „Freizeit“ beträchtliche Unabhängigkeit (Ariès 1976: 458; Imhof 1983; van Dülmen 1995: 79ff.). Kindheit, Geburt und Pubertät, die Relevanz des Lebensalters, „gewonnene“ oder „verlorene“ Lebensjahre sind keine transkulturellen Universalien. Sie sind durch und durch und nicht nur akzidentiell geschichtlich (Imhof 1984; 1981). Ganz eigentümlich eng mit dem anthropologischen Spezifikum sprachlicher Symbolisierung verbunden hängt zusammen, dass eigentlich Alles, was der Mensch wahrnimmt, denkt, fühlt, tut, in symbolische Sinngewebe verwoben ist. Selbst Sitzen, Gehen, Fahren, Trinken, Foltern, etc. sind so gesehen keinesfalls „reine Tatsachen“ (Waldenfels 1998: 108). Die „geistige“ Qualität liegt nicht so sehr, wie viele moderne Identitäts- oder Subjekttheorien suggerieren, in der genauen Kenntnis körperloser kognitiver Prinzipien und Strukturen und der exakten Anwendung und präzisen Wirksamkeit formaler Kompetenzen, Normen oder Geltungsregeln, sondern im lebenspraktischen Wissen und Können, die sich in einer stets kulturell vermittelten „biographischen Situation“ (Schütz) manifestieren; symbolisch eingebettet in eine stets originelle Form der „Welterschließung“ und „Welterzeugung“ (Goodman 1993; Polanyi 1985; Fleck 1994).
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2.2 Die Naturalisierung des biopsychischen Phänomens Auch noch in einer Gesellschaft, die immer weniger Geburten zu verzeichnen hat, sind Kinder in gewisser Weise und traditionellen Verständnis das Natürlichste des Natürlichen. Nicht nur in der modernen Privatsphäre von Familien, sondern auch in der Öffentlichkeit – z.B. durch Schlagzeilen in den Medien – tauchen sie unentwegt auf; sogar sporadisch im Umkreis kinderloser Erwachsener. Im Alltag ist es fast unmöglich, mit der oft raumgreifenden Präsenz kleiner Lebewesen, die wir nicht als Zwergwüchsige, sondern als Kinder wahrnehmen, nicht zusammenzustoßen. Und auch eine „postmoderne Gesellschaft“, der man nicht selten mangelnde Kinderfreundlichkeit oder doch strukturelle Rücksichtslosigkeit oder Indifferenz gegenüber Kindern anlastet, bringt erstaunlicherweise doch eine ganze Reihe von Handlungszusammenhängen, keineswegs nur pädagogische, hervor, in denen Kinder direkt oder indirekt eine erhebliche Rolle spielen. Dabei verfilzen sich oft auch demographische Befürchtungen und biologisches Popularwissen. All dies aber stützt dann wieder die naive Vorstellung, Kinder seien das Natürlichste der Welt und verdienten es natürlich „ein Herz für Kinder“ zu haben. Soziologen sprechen hier von Naturalisierungskampagnen. Biologische Prozesse, in der Moderne ein Synonym für „Natur“, prägen unzweifelhaft das Aufwachsen von Kindern. Kinder sind durch und durch Natur. Dabei spielen anatomische, physiologische, hormonelle und genetische Faktoren gewiss eine wichtige Rolle. Die biologische Verhaltenstheorie (Ethologie) weist zusätzlich auf Grundreflexe und Grundbedürfnisse hin, die von Anfang an den Menschen auszeichnen. Natur im biologischen Sinn legt also ganz bestimmte Abläufe nahe, fördert sie und hemmt andere. Doch sie erzwingt nie eine einzige Entwicklungslinie. Ihre Variationsbreite ist sehr groß. Menschen können sich sogar über Grundbedürfnisse als religiöse Mystiker in atemberaubender Weise hinwegsetzen, ohne dass sie zugrunde gehen (Giddens 1995: 44). Und es fällt auch auf, dass in der Literatur die Chancen, was Kinder oder Säuglinge können, seit 100 Jahren radikal unterschiedlich beurteilt werden. Die Altersangaben für bestimmte Kompetenzen sinken ständig. Und: war bei Freud der Säugling noch ein „polymorph perverses Triebbündel“ so avanciert er in der neuen (psychoanalytischen) Säuglingsforschung zum „kompetenten Säugling“ und zum „Experten von Anfang an“ (Dornes 1993; Stern 1992; Schön 2001). Die gängige anthropologische These der ungewöhnlich langen „Brutpflege“ muss also relativiert werden. Es scheint eher so, dass in unserer westlichen Kultur die „Hilflosigkeit“ des Kindes übermäßig verallgemeinert, hervorgehoben, angesonnen und dramatisiert wurde (Benedict 1978). Bei genauerer Beobachtung sind kleine Kinder in manchen Bereichen deutlich vom Erwachsenen abhängig, in anderen wiederum nicht und in Manchem sind sie sogar Erwachsenen deutlich überlegen. Zudem ändert sich das Verhältnis von Abhängigkeit und Selbstständigkeit in den verschiedenen Kulturen und Handlungsphasen dauernd und hängt nicht überall von der Kindern zugeschriebenen Norm der „Entwicklungstatsache“ bzw. der normativen Asymmetrie, sondern der Faktizität der Interaktionsdynamik ab. Im konkreten Verhandeln können Kinder auch bei uns sehr wohl zum „kleinen Tyrannen“ werden (Prekop 1988). Und es muss von einer stark kontextabhängigen Interdependenz verschiedenster bio-psycho-sozialer Faktoren ausgegangen werden, die das Kind nicht etwa quasiepidemiologisch heimsuchen, sondern dazu reizen, sich als Konstrukteur der eigenen Biographie zu betätigen oder doch zumindest nicht alles passiv hinzunehmen.
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Körperliche Aspekte sind gewiss vage Fixpunkte spontaner Wahrnehmung. Sie hemmen eine frei flottierende Imagination. Sie verhindern im Grunde aber auch unbegrenzte Präzisierung, weil sie selbst wissenschaftliche Belehrungen, die überdies ja nur vom jetzigen, vorläufigen Forschungsstand ausgehen können und immer vieles offen lassen müssen, nur selektiv verwerten. Es gibt eben zwergwüchsige Erwachsene und riesige Kinder, „Frühreife“ und „Spätentwickler“, Zwittergruppen und Restkategorien, die weder körperlich noch geistig und psychosozial eindeutig normiert und umstandslos den Kategorien „Kind“ oder „Erwachsener“ zuzuweisen sind. Auch die neue Säuglingsforschung legt nahe, dass die Neugeborenen zwischen zwei Zuständen changieren: Symbiose mit der Mutter und Trennung von ihr. Damit gewinnt die Frühsozialisation eine doppelte Richtung: sie leistet einmal eine flexible Anpassung an den Organismus, aber gleichzeitig auch der Umwelt am menschlichen Organismus. Die gleichzeitige Symbiose und Separation fordert von Anfang an aktive Sinnrahmung (Stern 1996: 74f.; Winnicott 1973). Aufwachsen ist also kein eindeutiges Faktum; weder sein Beginn noch sein Ende. Aktuell beleuchten dies grell die kontroversen Diskussionen um den Beginn und das Ende des menschlichen Lebens insgesamt: Befruchtung der Eizelle, Einnistung, prae-, peri-, postnatale Einschnitte, Herz- oder Hirntod. Selbst die uns absolut unfraglich erscheinende Tatsache der Geburt und des Todes beruhen bei ihrer Einschätzung und Bewertung auf einer Reihe von kulturellen, insbesondere ethischen Voraussetzungen, denen nicht überall und von jeder Gruppe das gleiche Gewicht beigemessen wird (Imhof 1984; 1988; 1981; Schuster 1991: 254ff.). Kein einziger der vielen menschlichen Persönlichkeitsunterschiede kann allein und ausschließlich aus der (genetischen) „Natur“ abgeleitet werden. Immer geht es um ein Zusammenspiel natürlicher und kultureller Faktoren. Wohl für immer ist uns die Möglichkeit versperrt, den spezifischen Anteil des genetischen Erbes säuberlich und mit Sicherheit von dem der Umwelt zu isolieren, auch wenn das immer wieder von einigen Biologen, insbesondere Soziobiologen, und einigen biologisch orientierten Psychologen versucht wird (Niemitz 1987). Außerdem bleiben alle biologischen Entwicklungsabläufe eingespannt in einen komplexen, nicht nur physischen sondern immer auch psychosozialen Reduktionsprozess mit vielen Facetten. Sie werden vom Organismus nicht isoliert, neben- oder nacheinander, sondern stets interaktiv-systemisch oder synergetisch erfahren. Vor allem aber werden sie spezifisch wahrgenommen und verarbeitet. Sofort sind Grundklassifikationen am Werk, die so natürlich erscheinen, dass ihre genuine kulturelle Abkunft überhaupt nicht mehr auffällt. Selbst aus der heute so stark beachteten Hirnforschung und der Genetik eineiiger Zwillinge lässt sich nichts Definitives folgern. Bezogen auf seine individuelle Reifung wird das Menschenjunge zwar zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als die Nachkommen jeder anderen Spezies der Säugetiere geboren. Dies bedeutet aber keineswegs, dass es umfassend hilflos und auf einen total abhängigen Sonderstatus mindestens bis zur Einschulung wie in westlichen Gesellschaften „von Natur aus“ festgelegt ist, der dem des Rentnerdaseins in manchen Aspekten gleicht. Bis vor wenigen Jahren konzentrierte sich die biologische Forschung in erheblichem Umfang auf das Verhältnis der Phylogenese zur Ontogenese. Ihr Verhältnis ist aber bis heute umstritten. Es gibt nicht wenige Autoren, die eine Deduktion der Ontogenese aus der Gattungsgeschichte ablehnen. Das menschliche Gehirn zeigt sich offensichtlich unter Hormoneinfluss und Stress außerordentlich aufnahmefähig. Die sensorische Organisation und unsere heutige Lebensweise sind evolutionär in gewissem Grad aufeinander abgestimmt.
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Die Forschung muss es aber bis heute weitgehend offen lassen, ob dies auch wirklich zu frühkindlichem Lernen führt. Aus der abstrakten Kompetenz kann nie, wie das allerdings oft geschieht, auf die Performanz geschlossen werden (Vester 1975: 90ff.). Durch diese immer wieder, auch in der Soziologie, wenig beachteten Diskrepanz und durch die Kluft zwischen Reiz und Lernen bzw. Lernverweigerung wird es sinnvoll, ja logisch zwingend von einem Zwei-Ebenen-Modell kindlicher Wahrnehmung, kindlichen Lernens und kindlicher Handlungsfähigkeit auszugehen: das Gehirn beobachtet nicht selbst das Gehirn. Es gibt, und das erkennt mittlerweile auch der Neurobiologe Varela an, der zusammen mit Maturana als Eideshelfer des Radikalen Konstruktivismus angesehen wird, im Bewusstsein zwei Ebenen: etwas wird als etwas konstruiert. Und dieses Etwas stammt letztlich aus dem Alltagswissen in „natürlicher Einstellung“ (Husserl) und der es tragenden Umgangssprache. Daraus folgt auch, dass man nicht von transkulturellen Entwicklungsaufgaben sprechen sollte. Besser ist davon auszugehen, dass das Entwicklungspotential von Kindern einen enorm plastischen Zuschnitt bekommen kann, der nicht einmal voll mit kulturell geprägten „Entwicklungsaufgaben“ in Einklang zu bringen ist. Dies setzt vor allem auch die Fähigkeit voraus, Aufgaben zu sehen, wenn diese nicht mehr kulturell kanonisierbar erscheinen, sie zu vernetzen, intersubjektiv zu externalisieren und zu artikulieren, sich für sie einzusetzen, zu engagieren, für sie zu werben und sie (evtl. politisch) durchzusetzen. Neuere biologische Erkenntnisse über das Gehirn und das Zentralnervensystem verweisen auf den nicht abgeschlossenen Reifeprozess, der natürlich trotz dieser Unabgeschlossenheit dennoch auf das Sozialverhalten einwirkt. Besonders langsam scheint sich der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil des Gehirns, das Frontalhirn, zu entfalten. Es scheint erst das Leben der erwachsenen Persönlichkeit zu charakterisieren. Damit können dann auch Gefühle gesteuert werden, die die Selbstwahrnehmung voraussetzen, Selbsteinschätzung hervortreten lassen. Kurz es entsteht ein „Weltwissen“ und eine reife Urteilsfähigkeit (Elschenbroich 2001: 138ff.). Aus dem heutigen Stand der biologischen Forschung kann somit geschlossen werden, dass es willkürlich ist, auf kulturtranszendierenden und invarianten, definitiven Grenzen zu beharren. Es erscheint auch als unmöglich, aus Forschungsergebnissen eindeutig auf ethisch-moralische Prioritäten und Notwendigkeiten zu schließen. Weil der Mensch seine immer auch bedrohte Nähe zur Natur spürt, sie wohl auch immer noch insgeheim fürchtet und ihre Janusköpfigkeit ahnt, versucht er immer wieder, gleichsam mit artifiziellen Prothesen, nachzuhelfen, sie eindeutiger zu machen als sie in Wirklichkeit ist (Popitz 1995: 78ff.; Heintz 1997: 13; Donzelot 1979: 129). So entstehen, manchmal ganz offen, manchmal eher heimlich und allmählich Prozesse der Naturalisierung: Sachverhalte werden zur Natur erklärt und so wirkungsvoll rhetorisch in unendlichen Zitierschleifen zur Natur stilisiert, dass nur Wenige und vielleicht sogar mit einem schlechtem Gewissen zu widersprechen wagen. Damit werden dann die Grenzen zwischen „uns“ und dem „Anderen“ oder „Fremden“ scharf gezogen. So rückte man etwa im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter des westlichen Imperialismus und der Industrialisierung, von der Idealisierung naturnaher Lebensführung der Spätaufklärung (Rousseau) und der europäischen Frühromantik wieder ab und vertrat einen derben materialistischen Naturalismus. Das alles aber, selbst wenn mit zeitbedingtem wissenschaftlichen Wissen oder Versatzstücken gearbeitet wird, ist natürlich nicht pure Wissenschaft, sondern ihre Mythologisierung oder Ideologisierung, die in der Moderne stets mit dem vieldeutigen Begriff „Natur“ umkleidet war (Kohl 1993: 19ff.). Es ist historisch gut
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erkennbar, dass auch die Kindheitsrhetorik des 20. Jahrhunderts solches Wissen weit ausstreute und damit die – interkulturell und historisch betrachtet – überscharfe Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern in Europa und den USA legitimierte, die interkulturell keines Gleichen hat. Grenzen treten also überall, aber nicht an der gleichen Stelle und mit einer identischen Qualität auf.
2.3 Die neuere Psychologisierungstendenz Selbstverständlich lassen sich der kindlichen Lebensgeschichte daher stets auch biologische und soziologische etc. Gesichtspunkte entnehmen. Es ist jedoch auffällig, dass die Psychologie zumindest in den letzten 100 Jahren nicht nur die Pädagogik in ihr Schlepptau nehmen konnte, sondern bei Eltern, Erziehern, Lehrern, der Bildungsadministration und weiten Teilen der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist, „kindgemäße Erziehung“ und sachgemäßer Umgang mit Kindern könne nur auf der Basis psychologischen Wissens begründet werden. Damit hat sich die Psychologie zweifelsohne zur pädagogischen Leitwissenschaft entwickelt, was ihr erst zaghaft in den letzten Jahren auch Kritik eintrug. Junge Eltern wagen sich manchmal keinen Schritt in ihrer Elternpraxis vorwärts, ohne psychologische Auguren oder psychologisierende Erziehungsratgeber als deren Substitut ausführlich um Rat gefragt zu haben. Weit darüber hinaus aber hat die Psychologie, zuerst in den USA und später auch in Europa, bestimmenden Einfluss auf die alltägliche Lebensführung gewonnen. Bis heute stehen in der Psychologie, einmal mehr einmal weniger, biologische Annahmen im Hintergrund. Das fängt schon damit an, dass sie das Kind – trotz ihrer individualisierenden Semantik – weder als konkret einzelnen noch als kulturell und gruppenspezifisch konkreten Akteur, sondern in den weitaus meisten Forschungsarbeiten als Einzelfall der logischen, universalen Gattung, genauer der entwicklungsgeschichtlichen Spezies untersucht. Damit kommt, selbst wenn manchmal ein wenig nachgebessert wird, eine kaum ausrottbare Ahistorizität in diese Wissenschaft (Ulich 1991: 205). Es mangelt ihr oft noch heute ein Blick auf historische Vermittlungsprozesse und die Komplexität realer biopsychosozialer Verflechtungen, den man nicht einfach durch „interdisziplinäre Zusammenarbeit“ kompensieren kann. Sie verfällt so kaum, wie heute manche Soziologen, in einen ebenfalls unterkomplexen Kulturalismus, der die „Schwerkraft“ der menschlichen Körperlichkeit, materieller und sozialstruktureller Faktoren semiotisch verflüchtigt, aber wohl oft in eine Version des Naturalismus. Meist wird dies – übrigens auffällig ähnlich wie in der Soziologie – damit begründet, dass die Ausklammerung bestimmter Dimensionen zu rein analytischen Zwecken geschähe, was ja dann später bei der interpretativen Auswertung der Befunde wieder rückgängig gemacht werden könne. Genau so regelmäßig aber bleibt es bei den Ankündigungen. Stärker als in der Biologie sind in der Psychologie nichtreduktionistische Ansätze, besonders prominent seit der „kognitiven Wende“, vertreten. Sie zeigen das Kind immer in einer Fülle, ja Überfülle von Ausdrucks-, Einstellungs- und Verhaltensweisen. Aber auch die kognitivistischen Strukturmodelle führen nicht an der Misslichkeit vorbei, von Zeit zu Zeit eingestehen zu müssen, dass sich die Grenzen von Möglichkeiten und Wirklichkeiten verschieben und neu zu definieren sind. Manche konstruktivistischen Psychologen streichen daher den für die psychoanalytische Psychologie zentralen Begriff der Projektion und
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halten Wirklichkeit und Möglichkeit nur für komplementäre kognitive Perspektivenfelder (Neuser 1992: 31). N. Elias ging in seiner faszinierenden Zivilisationstheorie (Elias 1977) davon aus, dass sich äußere Triebregungen und spontane Verhaltensäußerungen zunehmend – allem gegenteiligen Anschein zum Trotz – in den letzten 400 Jahren einer „Selbstzwangapparatur“ unterworfen hätten, die in den parallel dazu entstandenen modernen Territorialstaaten erst eine normativ fundierte Selbstdisziplinierung ebenso wie eine langfristige Lebensplanung der Individuen ermöglichte. Es scheint fast so, als habe diese Selbstdisziplinierung einen neuen Schub durch die Psychologie seit den 60er Jahren des verflossenen Jahrhunderts erhalten. Dieser mächtige Einfluss war zunächst weniger im Privat- als im Schulbereich festzustellen (Sehringer 1988: 103ff.). Merkwürdigerweise war der Erfolg im Bildungssektor die Folge einer methodischen Verwirrung der „Psychophysiker“ des 19. Jahrhunderts, die auf praktischem Wege durch die Beschäftigung mit Schulkindern weiterzukommen suchten. Sie fanden für ihre Forschungsbemühungen vor allem im Bereich der früheren Volksschule Anklang. Ihre unbestreitbaren Erfolge im Bildungsbereich haben ihren Ruf als operative Leitwissenschaft für das Individuum begründet, der aber selbst der Sozialpsychologie einen ahistorischen Drall zu einer abstrakten Zentrierung auf das Individuum und unvermittelte „Beziehungen“ bewahrt, aus der sie erst in den letzten Jahren herauszufinden sucht (Flick 1995; Toman 1989: 92; Holzkamp 1993; Dreier 1981). Da der überwiegende Teil der Psychologie die gesellschaftlichen Kontexte ausklammerte und den Eindruck faktisch förderte, gesellschaftliche Prozesse ließen sich still stellen, war die Psychologie stets in der Gefahr, als „Kontrollorgan“ instrumentalisiert zu werden (Rolff 1985: 157, 162). Insofern kann man davon sprechen, dass die Psychologie des 20. Jahrhunderts in imponierender Weise das gesamte Spektrum „richtiger“ und „auffälliger“ kindlicher Entwicklung zu normieren verstand, obwohl sie sich selbst ja als rein deskriptiv-analytische und empirische Disziplin verstand. Und dieser mehr oder minder transparente Normierungsanspruch bezog sich im Grunde nicht nur auf das „Wohlbefinden“ des geborenen Kindes, sondern mindestens implizit auch auf das prae- und perinatale Wohlergehen des Fötus (van den Daele 1988: 189ff.). In manchen ihrer Arbeiten kann man den Eindruck gewinnen, sie wollten die „verantwortliche Elternschaft“ (Kaufmann) nicht nur einer psychologisch durchgestylten „gesunden Lebensführung“, sondern einer „genetischen Verantwortlichkeit“ zuordnen. Ohne die Ausbreitung der Psychologie in fast alle Lebensbereiche wäre gewiss nicht die Pädagogisierung und „Expertisierung der Erziehung“ und wahrscheinlich auch nicht die Erfahrung allgemeiner gesellschaftlicher Individualisierung möglich gewesen, die freilich nicht mit Individualismus oder gar individueller „Lebenskunst“ verwechselt werden darf. Seit 1750 zeigt sich in Europa offenbar ein Hang, körpergebundenes Ausdrucksverhalten als primär innerseelische Abläufe und Erlebnisse zu verstehen. Das „Seelische“ expandierte nun fortan zusehends. Bislang religiöse und moralisch-politische Themen wurden nun einer (nicht unbedingt wissenschaftlichen) psychologischen Betrachtung zugeführt. Mittlerweile werden heute auch psychosomatische Syndrome als Indikatoren des Psychischen verstanden (Muchembled 1990). Auffallend mehr Beratungs- und Therapieangebote finden sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts flächendeckend. Glück scheint in den Augen vieler Zeitgenossen in nichts Anderem als seelischer Balance zu bestehen. Dabei schiebt sich auch immer mehr der Gedanke der Prävention in den Vordergrund: vorbeugen sei besser als heilen. Viele praktizierenden Psychologen verstehen ihre Praxis nicht mehr nur als Hilfsangebot in ausweglos scheinenden Lebenssituationen, sondern als indizierte Option
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normaler psychischer Gesundheit unter dem Dauerstress moderner Gesellschaften. Damit besteht die Gefahr, dass mit dem Topos „Eigenverantwortung“ unterschwellig ein paternalistisches Regime der Lebensführung neuen Typs begünstigt wird (Giernalczynski 1992). Wenn sich nun in der „individualisierten Gesellschaft“ Familie häufig als ein „bewegliches Gehäuse mit kündigungsbereiten Mitgliedern“ (von Throtha 1990: 470; Pieper 1994: 19; Beck 1986: 208) erweist, dann erweitern sich natürlich Situationen, in denen verstärkt nach Psychologen verlangt wird. Die zunächst fast nur positive Fassade gesteigerter Verhandelbarkeit verliert jede Harmlosigkeit und erscheint dann freilich auch in ihrer Riskantheit. Nicht selten wird dann das Familienleben zur „Individualisierungsfalle“ (Ecarius 1996). Die Eltern sehen sich heute oft schon vor der Geburt mit zahlreichen Abstimmungsproblemen konfrontiert, die zwei völlig eigenständige Biographien nun einmal aufwerfen. Die Geburt von Kindern scheint zuweilen ihre Schwierigkeiten noch zu verschärfen. Überdies haben viele einmal getroffene Entscheidungen bei vielen Paaren ihre Endgültigkeit verloren, müssen immer und immer wieder neu aufgerollt und besprochen werden, erweisen sich aber trotzdem nicht selten als fast unlösbar. Und neue soziale Lösungen hinterlassen zuweilen nicht weniger Unsicherheiten. Das führt in vielen Fällen zu mehrfach schwierigen Lebensexperimenten, ja vielleicht zu einem „Suchhabitus“ (Beck). Immer mehr Kinder und Eltern scheinen so den Weg durch ihre durchweg labilen und prekären Biographien nur mit Hilfe von psychologischer Familienberatung oder Psychotherapie zu finden (Pieper 1994: 28). Das Übrige besorgt der kulturell diffuse normative Imperativ „optimaler Förderung“, der sicher nur mit breiter Unterstützung der Psychologie und „im besten Interesse der Kinder“ seine enorme Wirkung entfalten konnte. Alles „Zwischenmenschliche“ lässt sich so in die Begrifflichkeit und die Denkmodelle der Psychologie transformieren. Die andere Möglichkeit, abstrakte Modelle zur Lebenswelt hin rückzuübersetzen und gegebenenfalls sich von der Lebenswirklichkeit der Menschen korrigieren zu lassen, wurde meist als indiskutabel abgetan, weil man so einer „Gegenübertragung“ auf den Leim ginge. Die übliche Form der Therapie ist dann nichts grundlegend Anderes als technisch implementierte Forschungspraxis (Holzkamp 1993; Hettlage 1992: 109). Die so genannte kognitivistische Wende in der theoretischen Psychologie mag Vieles verändert haben. Heute gibt es auch in der Psychologie lebenslaufbezogene bipolare und plurale Erklärungsmodelle der Altersdifferenz. Gewiss aber hat sie weder den Psychoboom der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts verhindert, noch die weitere Psychologisierung auch nicht durch anspruchsvolle Arbeiten gestoppt. Heute scheint allerdings der psychologische Diskurs allmählich auf einen Diskurs unter Diskursen herabgestuft zu werden. Nicht die Psychologie als Wissenschaft, aber die von ihr lange Zeit geförderte Psychologisierung des Alltagsdiskurses hat vielleicht auch zur Verwischung religiöser, moralischer, alltagsästhetischer und politischer Fragen und Grundentscheidungen in einer Gesellschaft beigetragen, was G. Schulze in einer eindrucksvollen empirischen Untersuchung als „Erlebnisgesellschaft“ zu erfassen versuchte (Schulze 1992; 1994). Bis heute gibt es die Vorstellung, immer mehr Therapie und psychologische Beratung löse alle Welträtsel. Die Entwicklung des Kindes und die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich aber gleichzeitig und wechselseitig, wenngleich nicht immer im gleichen Tempo, der gleichen Richtung, der gleichen Intensität und mit identischen Folgen und vorhersehbaren Nebenfolgen (Flick 1995: 28) und allein unter psychologischen Gesichtspunkten.
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2.4 Das Kind als „Mängelwesen“ und als „Möglichkeitswesen“ Die heutige Kindheitsforschung beansprucht, weiter auszugreifen als dies die herkömmliche Entwicklungspsychologie (auch nach ihrer „kognitiven Wende“) und die (interdisziplinäre) Sozialisationsforschung jemals versuchten. Theoretisch soll nicht nur das „Werden“ (Entwicklung) sondern auch das „Sein“ (Gegenwart) in ihrem wechselseitigen Verhältnis erforscht werden. Allein, auch die Kindheitsforschung kann nicht vom „Gottesstandpunkt“ aus beschreiben, sondern bleibt selektiv an ihre (noch nicht sehr lange) Forschungsgeschichte und den jeweiligen Forschungsstand gebunden. In der zeitgenössischen Gesellschaft erscheint Wirklichkeit als Optionsraum, der den Einzelnen zwar vor die Qual der Wahl stellt, aber durchaus menschen- und kindgemäße Möglichkeiten eröffnet. Kulturkritische Stimmen werden oft mit einem schielenden Auge und pauschal als Kulturpessimisten verdächtigt. Der Sinn für reale Grenzen wird heute nicht selten mit dem schillernden Begriff „Selbstsozialisation“ überspielt. Eine anthropologische Unbestimmtheit oder sogar Unbestimmbarkeit scheint jedoch überaus kennzeichnend (Putnam 1988: 58; Gamm 1994: 164f.). Dabei besteht oft durchaus ein Bewusstsein davon, dass im Einzelfall unvorhersehbar bleibt, was von wem in welcher Weise zu wessen Gunsten gewählt werden kann. Freilich wird manchmal auch übersehen, dass der Pluralismus der Lebensformen immer in bestimmter historischer Weise begrenzt ist. Ob heute nun aber von Kindheits- oder Kinderforschung die Rede ist, so gehen beide Varianten im Grunde von einer gewissen Konstanz des sozialen Phänomens aus, die durchaus einer kurzen anthropologischen Reflexion bedarf: „letzte unkündbare soziale Tatsache“ (Beck-Gernsheim), „Entwicklungstatsache“ (Bernfeld), „Erziehungstatsache“ (Rousseau), anthropologisch gegebene Urgegebenheit „generationaler Ambivalenz“ (Lüscher), Mitglied der „Menschenrechtsgemeinschaft“ (Habermas) usw. Selbst konstruktivistische Ansätze, die gemeinhin eine anthropologische Anbindung ablehnen, lassen zuweilen anthropologischen Prämissen aufblitzen (Lüscher 2002: 337f.). Die traditionelle und noch heute populäre Rede vom „Menschenbild“ unterliegt der Schwierigkeit, dass niemand mehr ein wirklich abgerundetes, komplettes vorweisen kann, das den gegenwärtigen Problemen (z.B. Globalisierung, Biotechnologie etc.) wirklich gerecht wird. Im besten Fall gelangen wir zu diskursiven Menschenbildsplittern, im schlechtesten zu einem Gemisch von sozialen Vorurteilen. Menschenbilder dürfen auch nicht überschätzt werden. Keiner, der nicht an Zwangsvorstellungen leidet, könnte sie je eins zu eins in das praktische Leben umsetzen, weil soziale Situationen kognitive Projektionen bei weitem an Komplexität übersteigen und nicht unabhängig von Normalitätsvorstellungen zu bewältigen sind. Unter welchen Bedingungen kann, soll oder muss ein kleiner Mensch als Kind und wann als erwachsener Zwergwüchsiger im Alltag behandelt werden? Und müssen Kinder nicht immer in „Koevolution“ zu Erwachsenen beurteilt werden? Doch zugegebenermaßen handelt es sich bei diesen gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen nicht um beliebige oder untergeordnete sondern um primäre. Sie sind nicht nur grundlegende Klassifikationen, sondern verweisen auf Verantwortlichkeiten und die Entstehungsbedingungen von Vertrauen, Solidarität und die Möglichkeit wechselseitiger Responsivität. Sie setzen ein wirkliches Interesse der verschiedenen Generationen aneinander voraus. Weshalb sollte man geistig behinderten Kindern, deren Rationalität als defizitär eingestuft werden kann, von Anfang an volle gesellschaftliche Mitgliedschaft gewähren, wo sie doch nicht die gleichen Pflichten und Rechte wie Erwachsene wahrnehmen? Warum
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sollte man den Fötus als künftigen Bürger gelten lassen (Waldenfels 2002: 438, 435; Habermas 2001; van den Daele 1988)? Schon das pränatale und perinatale Leben entfaltet sich in einem geschichtlichen Wirklichkeits- und Möglichkeitsraum sozialer Erwartungen und (diffuser) Erinnerungen. Soziokulturelle Rahmungen sind keine Zusatzerfahrungen oder bloßer Überbau. Was die „Gegebenheit“ und „Potentialität“ des Personenstatus (Identität) angeht, so gerät man im Grunde in eine unendliche Reihe von Antezedenzbedingungen, wenn man nicht von Anfang an ein erinnerungs- und erwartungsfähiges Selbst zugrundelegt, das trotz seiner Unvollkommenheit voller Mensch und nicht defizitärer, wenn auch andersartiger „Kinderbürger“ ist. Was aber macht dann den Unterschied zwischen Erwachsenem und Kind aus? Anthropologische Konstanten und selbst strukturgenetische Entwicklungsmodelle geben auf diese Frage keine Antwort. Auf diesem Hintergrund kann man heute davon ausgehen, dass intrafamilial-genealogisch und transfamiliale „generationale Ordnung“ (Alanen) sich nur noch im unwahrscheinlichen Grenzfall einigermaßen decken. Das Forschungsproblem der „sozialen Tatsache“ des Verhältnisses von Sein und Werden des Kindes verkompliziert sich. Kindheit ist weder einfach ein Projekt der Eltern oder der Kirche, noch nur das Produkt einer Kinderpolitik, die sich aufgrund allgemeiner Ambivalenz des Generationenverhältnisses provoziert sieht. Soziologen sollten sich auch nicht allzu sicher sein, umstandslos und friktionsfrei advokatorische Verantwortung und die „Stimme des Kindes“ versöhnen zu können (Honig 1994; Lüscher 1991). Auch der Fall ist einzukalkulieren, wo Ambivalenz lähmt statt zum gestaltenden und verantwortlichen Umgang anzuregen, also sozusagen in die Kultivierung der Ratlosigkeit führt. Und es gibt nicht nur „komplexitätsreduzierenden“ Umgang, sondern auch die Provokation neuer, zusätzlicher Ambivalenz (Luthe 1997). Und wie könnte denn die advokatorische Verantwortung der Erwachsenen oder eine ihr korrespondierende „antizipierende Sozialisation“ der Kinder noch aufrecht erhalten werden, wenn tatsächlich „Selbstsozialisation“ oder gar „retroaktive Sozialisation“ umfassend um sich greift, in der Kinder ihre Eltern sozialisieren? Geradezu kontraproduktiv scheint hier das Rezept des Radikalen Konstruktivismus, einfach die Zahl der Angebote zu erhöhen oder nach dem Rat Luhmanns den Umgang mit Kindern auf Erziehung zu beschränken und diese konsequent in schulischem Unterricht zu funktionalisieren. Hier wird die Notwendigkeit positiver nicht nur negativdefensiver Auswahlkriterien und sozialer Ressourcen schlicht unterschätzt. Ein bloßer Möglichkeitssinn setzt die Kinder niemals in die Lage, im „richtigen Augenblick“ das „Richtige“ zu tun und rechtzeitig Option und Scheinoption unterscheiden zu lernen (Gamm 2000: 46ff., 53, 55; Kaufmann 1992: 40ff.). Gerade diese Verantwortungsdiskussion lässt sich heute nicht mehr unabhängig von den langen Handlungsketten und „Kurzschlüssen“ in der Gesellschaft führen. Mehr und mehr wissen wir, dass fast alles anders sein könnte, und dass doch meist alles nicht viel anders abläuft oder sich gar nur zu wiederholen scheint. Doch viele Kinder resignieren trotzdem nicht. Man kann bei ihnen ein hartnäckiges lebensweltliches Bemühen feststellen, das Beste aus jeder Lage machen zu wollen: „Vieles von dem, was um uns herum geschieht und was wir selbst tun, scheint auf den ersten Blick vernünftig, auf den zweiten absurd und auf den dritten doch wieder sinnvoll, wenn auch in zweifelhafter Weise“ (Schulze 2003: 41). Sinnlosigkeit wird fast von keinem Menschen „heroisch“ ertragen. Wie auch Erwachsene suchen Kinder selbst nach schweren Schicksalsschlägen und ausgeprägter „Sprachlo-
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sigkeit“ nach „Neuanfängen“. Wenn Kinder nicht völlig entmutigt sind, versuchen sie sich „Netze von Sinnzusammenhängen“ zu sichern, auch weil sie lähmende Ambivalenz nicht für unvermeidlich halten (Schulze 2003: 44). Auch Kinder sind unausweichlich sich „selbstinterpretierende Subjekte“ (Taylor 1992: 49). Dass man dabei auch leicht scheitern kann, ist eine Befürchtung, die schon vielen Kindern durchaus vertraut sein dürfte. Der Lebenswille des Menschen verweist auf Identifikation, Unterscheidung, Interpretation und Kreativität mindestens ebenso wie auf seine bleibende Bedürftigkeit und Kontingenzunterworfenheit. Die daraus erwachsenden Sinnstiftungen wurzeln weniger in einer transkulturellen Kompetenz und Handlungsfähigkeit. Diese Handlungsfähigkeit (agency) kann vielmehr verfallen und muss immer wieder stabilisiert werden (Joas 1992: 279). Je mehr das gesellschaftlich verfügbare Wissen fortschreitet, umso mehr Fragen brechen auf und offenbaren Nichtwissen; verleiten wohl auch zum Vergessen längst erworbener Lebenserfahrung und menschlichen Wissens. Und die Fülle der Rohinformationen und des Wissens ist längst nicht mehr allein alltagsweltlich zu verstehen, sondern nur mühsam auch durch Einsatz wissenschaftlicher Modelle nachträglich zu beschreiben. Notwendig sind laufende Übersetzungen. Wo erst Übersetzbarkeit geschaffen werden muss, sind soziale oder kommunikative Konstruktionen unerlässlich, die ein bestimmtes Spektrum und Serien (analogisierender) Übersetzungen ermöglichen. Aber auch da brechen heute immer wieder grundlegende Zweifel auf, ob wir so die Differenzen in und zwischen sozialen Phänomenen nicht unterschätzen und unter nichtsachgemäße Kategorisierungen subsumieren, ja „kolonialisieren“. Und vielleicht ist der andere Zweifel noch bedrückender, ob wir alles machen dürfen, was wir – technisch und organisatorisch – können. Und sind die heutigen Innovationskaskaden nicht meilenweit von wirklicher Kreativität entfernt? Solche (ethischen) Fragen, auch wenn wir sie nicht auf Anhieb, nur vorläufig oder vielleicht gar nicht beantworten können, führen uns nicht weg von anthropologischer Besinnung. Darüber hinaus wird eine kritische anthropologische Diskussion natürlich anknüpfen können an der reichen anthropologischen Tradition neuzeitlichen Denkens (Barkhaus 1996; Todorov 1996). Hier ist stets zu fragen, welche biologischen und soziologischen Aspekte zwischen den interpretierten Daten der Physiologie und einem sozialkonstruktivistischem Verständnis von Leib, psychosozialen Kontexten und Lebenswelt jeweils konstitutiv erscheinen. Genetiker und Hirnforscher haben in diesem Sinne zeigen können, dass nicht nur „Natur“ (Gene) das Dasein des Homo sapiens bestimmen. Vielmehr wirkt auch stets die „soziale Kultivierung“ (Grundmann) selektiv zurück auf die Natur. Die neuere Anthropologie, die um 1900 von der Philosophie her angetreten war, die Subjekt-Objekt Spaltung und den Dualismus zwischen „Leib“ (Körper) und „Seele“ (Bewusstsein) des neuzeitlichen Denkens zu überbrücken, hat wohl in den vergangenen Jahrzehnten – von Gehlen her – zu einseitig betont, dass der Mensch ein „Mängelwesen“ sei, obwohl sich auch bei Gehlen die Aussage findet, der Mensch sei nicht sozialökologisch umweltfixiert, sondern „weltoffen“. Viel stärker hat Plessner das „Doppelgängertum“ des Menschen und seine „exzentrische Positionalität“ betont. Musil hat das noch mehr zugespitzt und vom Menschen als „Möglichkeitswesen“ gesprochen. Das Kind ist von Anfang an – wie der Erwachsene, wenn auch in anderer Weise – Mängel- und zugleich Möglichkeitswesen. Doch kann sich innerhalb eines Kontinuums das eine oder andere Moment
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stärker durchsetzen. Und gerade dies wird in spezifischen sozialen Konstruktionen transparent und verstehbar zu machen versucht. Heute käme es wohl darauf an, die spezifische Konstruktivität dieser Konstruktionen zu klären. Es handelt sich hier ja um spezifische, selektiv-exklusive, im Kern kommunikativ-praktische Konstruktionen, die sich im Grunde nicht als „Kommunikationsmaschinen“ mit technischen Konstrukten oder hermetischen Architekturen vergleichen lassen; schon weil sie keine rein subjektivistischen Projektionen sein können, sondern der sozialen Akzeptanz und, als welterschließende Pausibilitätsstruktur, der Verankerung in der stets sowohl subjektiven wie intersubjektiven Lebenswelt der gesellschaftlichen Akteure bedürfen, wenn sie motivieren und mobilisieren wollen. Deshalb sind hier Konzepte nichtresponsiver Strukturgenetik im Sinne des (späten) Piaget oder Kohlbergs, der uneingeschränkten „Autopoiesis“ und „Selbstreferenz“ im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie und selbst des Dualismus von „Lebenswelt“ und „System“ in der Habermasschen Theorie Kommunikativen Handelns unangemessen (Alheit 1994: 44ff.; Srubar 1994; Berger, B. 1997: 212ff.; Offe 2003: 12ff.). Strukturen, die nicht in responsive Strukturierungsprozesse eingebettet bleiben, tendieren zu „Betriebsblindheit“ und „Selbstblockade“ und bergen größte Schwierigkeiten in sich, das „Neue“ zu erfassen. In kindlicher Lebensgegenwart wie in zukunftsbezogener Entwicklung spielen nicht nur eine Rolle, aus welchen biologischen, psychosozialen und soziokulturellen Bausteinen die kindliche Lebenspraxis besteht, sondern ob und wie das Wissen darum sich äußert, für welche Wissenszusammenhänge und Erfahrungen es zugänglich, erreichbar, gestaltbar und für direkte oder indirekte Interventionen von dritter Seite offen ist. Dieses Wissen ist zwar oft implizit, routinisiert und nur halbbewusst, kann aber unter Umständen später doch auch reflektiert werden. Vor allem aber ist es im Alltag unter normalen Bedingungen enorm wirksam. Man kann in diesem Zusammenhang vielleicht mit Foucault von der „List der Ohnmacht“ sprechen, insofern dieses Wissen – schon in den ersten Tagen des Neugeborenen aufgrund des „Kindchenschemas“ – nicht nur, wahrscheinlich nicht einmal zuerst, mit explizitem und repräsentativem kognitivem Sozialisationswissen korreliert; sondern immer auch mit kommunikativ-praktischem Wissen der Lebenswelt und der „natürlichen Dissidenz des Kindes“ (Saner 1987; Oerter 1993; Stern 1996; Elschenbroich 2001; Doehlemann 1985). Der Eindruck trügt wohl nicht, dass Kinder heute immer früher und enorm „hellsichtig“ registrieren und vielleicht auch wissen, wie über sie gesprochen, gedacht und wie deshalb auf sie sozial reagiert wird. Auch die Soziologie hat sich in der Vergangenheit mit der simplifizierenden Formel zufrieden gegeben, der Mensch werde erst in einer sozialisationsbestimmten „zweiten Geburt“ zur „soziokulturellen Persönlichkeit“ (Henecka 1985: 57, 59). Damit hat sie nicht nur Forschungsbefunde der Praenatalmedizin nicht zur Kenntnis genommen, sondern sich bis heute die Mühe erspart, nach den jeweils bestimmten, variablen Figurationen von Schnittstellen zwischen Individualität und Sozialität zu fahnden. Erste Versuche werden erst in der „konstruktistischen Sozialisationstheorie“ der letzten Jahre unternommen. Genau so wichtig ist freilich die Forschungsfrage, wie Erwachsene und Kinder mit solchen geschichtlichen Strukturierungen umgehen (Grundmann 1999; Elias 1992: 132ff.; Berger 1997: 51f., 54; Luckmann 2002: 83; 1980). Angesichts dessen ist es auch inkonsequent, einfach von einer zeitlosen Strukturkategorie „Kindheit“ oder „Generation“ auszugehen, die – ohne Rücksicht auf ihre spezifische
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historische Konstellation – sich im Grunde mit ganz beliebigen Inhalten füllen ließe. Man kann eine solche Strukturkategorie als formalistischen Container kritisieren. Zwar müssen wir in der Sprache universale Klassifikationen benutzen. Unter dem analytischen „Mikroskop“ erweisen sich diese aber allesamt zutiefst historisch und von spezifischen gesellschaftlichen Semantiken und ihrer Konnotationsdynamik „infiziert“. (Das meint vielleicht auch Garfinkel mit seinem Begriff der „Indexalität“.) Es ist nicht nur methodisch sehr fragwürdig, umstandslos und unreflektiert „Kindheiten“ ganz verschiedener Kulturen vergleichen zu wollen, sondern auch die verschiedener historischer Epochen innerhalb ein und derselben Kultur mit ihren höchst verschiedenen Wirkungsgeschichten. Hier wird eine Konstanzannahme nicht etwa geprüft, sondern rundweg erschlichen und die komplizierten Probleme eines interkulturellen Vergleichs überspielt. Aller kulturellen Veränderungen und auch des Fortgang humanwissenschaftlicher (auch naturwissenschaftlicher) Forschung zum Trotz haben jedoch Menschen bislang darauf bestanden, dass ein grundlegender Unterschied zwischen Tier und Mensch beachtet wird. Ein solcher Unterschied kann auch heute herausgearbeitet werden, obwohl wir von Genetikern erfahren, dass das genetische Material oder Potential der Primaten und des Menschen sich allenfalls um 2-3 % unterscheidet, denn genetische Bausteine wirken ja immer nur, wenn sie komplex „verkörpert“ sind und sich interpretativen Wahrnehmungsperspektiven öffnen. Es handelt sich nicht etwa um eindeutige, aller Interpretationen durch Alltagswissen, Expertenwissen und rechtlich-politischen Definitionen vorausliegende isolierte Befunde. Daraus folgen gar nicht notwendigerweise immer schroffe Differenzierungen. Eher handelt es sich um interpretationsimprägnierte Tier-Mensch-Übergangsfelder (Barkhaus 1996: 29; Eßbach 1996: 77ff.). Da der Mensch nach fast einhelliger Meinung den „Bannkreis der Unmittelbarkeit“ (Gehlen) durchbrechen kann, erscheinen hier der interkulturelle Austausch und verschiedenartige Kulturkontakte ebenso wichtig wie die Hinweise laufender biologischer Forschungsbefunde, die mittlerweile dazu zwingen, unterschiedliche Differenzierungsdimensionen aufzuspüren, weil sich der schroffe und absolut erscheinende Unterschied gradualisiert. Die Sozial- und Kulturwissenschaften sind heute auch prinzipiell in der Lage, den eurozentrischen Blick und „Zirkel der Nostrifizierung“ (Matthes) kontrastiv und kritisch zu lockern (Eßbach 1996: 74f.; Matthes 1992). Der Einzelne der „Menschenrechtsgemeinschaft“ (Habermas) agiert überdies in der jeweiligen konkreten Handlungssituation nicht einfach nach „bedingten Reflexen“, strukturdeterminiert oder kompetenzgemäß, sondern in konstruktivem retro- und prospektiven Blick und/oder praktischem Zugriff zwischen biographischen Fortschritten und Rückschlägen „Mängeln“ und „Möglichkeiten“ und in intensiver Auseinandersetzung mit Fremd- und insinuierten Selbstzuschreibungen (Todorov 1996:150, 138, 161). Er steht damit in einem historischen Geflecht oder Gewebe von Erinnerungen und synchronen Erwartungen und bleibt auch unvermeidbar in die Lebensgeschichte Anderer verstrickt. Doch gerade angesichts solcher bedeutungsgenerierender Aufschichtungen darf nicht vergessen werden, dass immer ein singuläres Kind von seinen Eltern etc. erwartet und singuläre „signifikante Andere“ (Bezugspersonen) mit idiosynkratischen Bezugsgruppen erinnert und erfahren werden, die keineswegs austauschbar sind. Schon Alltagswissen und in anderer Form wissenschaftliches Wissen setzen zwar Typisierungen oder Modelle voraus. Doch dürfen diese eben nicht mit der „Sache selbst“ oder hier der Person verwechselt werden. Ein Rest an Geheimnis und redundante Interpretationen bleiben unaufhebbar. Ähnli-
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ches gilt von historischen Generationen, die aus einer latenten Zu- oder Absage der Generationen, aus so etwas wie „Versprechen“, „Gabe“, „Geschenk“ und formell nicht einklagbaren Vorleistungen der einen oder anderen Seite und eben nicht als ein formeller „Generationenvertrag“ bestehen, der genau genommen ja immer nur funktioniert, wenn er auf Vorkontraktuellem aufbauen kann. Synchrone Erwartungen und Erinnerungen, die sich auf den Anderen beziehen, reichen daher immer in den informellen und dunklen Bereich des Rätselhaften, Befremdlichen und des Unerwarteten. Die grundlegende Schwierigkeit sozialwissenschaftlicher Anthropologie besteht nun darin zu klären, ob es sich hier nur um konkurrierende Deutungen desselben Phänomens oder doch um unterschiedliche „soziale Tatsachen“ handelt, die es einander zuzuordnen gilt. Das „Sein“ wie der Prozess des „Werdens“ führt das Kind nicht einfach schlicht von völliger Abhängigkeit zu vollkommener Unabhängigkeit wie das nicht nur die frühere Entwicklungspsychologie suggerierte (Todorov 1996: 98). Und meist, ohne dass dies in die Augen fällt, verändert sich mit dem wandelnden Kind und dem sich verändernden Erwachsenen ja auch die Gesellschaft, wenngleich vielleicht nur geringfügig. Es geht hier also um einen fortlaufenden Prozess des Passend-machens und In-Ordnung-Bringens, nicht um marginale Strukturveränderungen, die man mindestens methodisch, faktisch aber meist nur in refizierender Form stabil halten könnte. Dabei treten aktive und passiv-rezeptive Momente in unterschiedlichen Bereichen und Situationen auf. Insofern ist es nicht ganz befriedigend, wenn die heutige Kindheitsforschung pauschal vom „kompetenten Akteur“ spricht. Diese Konzeptionalisierung hatte zunächst in Gegenstellung zur ebenso pauschalen Konzeptualisierung des Kindes als Sozialisationsobjekt ein gewisses sachliches Recht als Korrektur. Mittlerweile käme es aber darauf an, auch sie einzuschränken und stärker zu differenzieren. Das Kind ist immer auch, wenngleich unterschiedlich ein rezeptives Wesen. „Sein“ und „Werden“ des Kindes sind also Momente eines komplexen, relationalen Prozesses der Strukturierung und Differenzierung, die alltagspraktisch und wissenschaftlich unterschiedlich fokussiert und betont werden können, sich aber immer gleichzeitig erfahren lassen. Heute leugnen im Grunde auch Entwicklungspsychologen, die von einer lebenslangen Biographieentwicklung ausgehen, nicht mehr, dass beim Kind in gewisser Weise alles schon von Anfang an da ist, sich aber vervollkomnet und differenziert (Todorov 1996: 79). Formal kann man vielleicht bilanzieren, dass sich immer zugleich „Mängel“ wie kreative „Möglichkeiten“ der Kompetenz und Inkompetenz in jeder „Phase“ des Lebenslaufes aufweisen lassen. Identifikationsfähigkeit und Kreativität, die sich immer nur in einem Geflecht zwischenmenschlicher, generationaler und institutioneller Beziehungen entfalten und von Kindern und Erwachsenen ähnlich oder verschieden interpretiert werden können, verweisen darauf, dass schon das Kind ein „animal interpretans“ ist (Taylor 2002; Todorov 1996: 104, 106; Joas 1992: 24). Wenn jedenfalls Kinder wissen wollen, was Kinder heute sind, können sie nicht einfach auf die klassisch moderne Vorstellung von Kindheit als Schonraum einer Familien- und Schulkindheit und wohl auch kaum noch auf die vorgeblich transkulturellen Stufenkonzepte der herkömmlichen Entwicklungspsychologie zurückgreifen. Sie müssen zeitgenössische Mängel und Möglichkeiten entdecken und zugleich neu erfinden. Insofern steht ihnen vorrangig das Konzept des Konstrukteurs zu, der allerdings immer in Grenzen konstruiert und unausweichlich die Grenzen der sozialen Konstruktionen zu beachten hat. Einerseits verweist jeder Mangel auf eine (künftige) sinnvolle Ordnung als Alternative. Andererseits blitzt in jeder Alternative vielleicht immer schon ein neues Defizit, auf
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jeden Fall jedoch die Qual auswählender Entscheidungen auf: im Prinzip könnte fast alles auch anders sein. Wie bei jedem sozialen Phänomen liegt somit auch beim sozialen Phänomen Kindheit ein Überschuss an Deutungsmöglichkeiten vor. In seiner Subjektivität verweist es weniger auf die in der Moderne übersteigerte Autonomie als auf eine Beunruhigung gängiger Interpretationen und auch auf abgründige, nicht nur ambivalente Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Die zeigen sich nicht nur und zuerst in kindlicher Gewaltfähigkeit oder Erscheinungen abweichenden Verhaltens, sondern auch in tiefgreifendem Erfahrungswandel und dem Wandel von Wahrnehmung, Handeln, Leben, Gesellschaft und Zeit (Waldenfels 1999: 14; Rinderspacher 1994). Die „Weltoffenheit“ des Kindes verbietet, die Vorstellung einer restlosen und eindeutigen Einpassung in sozialräumliche und /oder funktionalistisch verstandene sozialökologische Nischen. Das Kind erreicht erst angestoßen durch mittlere und große Transzendenzen ihre jeweilige normative und lebenspraktische Form und „Relevanzsättigung“ (Schütz 1979: 84; Luckmann 2002: 117ff.), die zu Selbstüberschreitung, Grenzüberschreitungen und Grenzverschiebungen eingespielter Horizonte führen.
2.5 Die anthropologisch-soziologische Spannung zwischen „Sein“ und „Werden“ Nur in Auseinandersetzung mit Entwicklungs- und Sozialisationstheorien war die neue Sicht des Kindes als „kompetenter Akteur“ im Hier und Jetzt, die die heutige Kindheitsforschung favorisiert, zu gewinnen. Das aktuelle „Sein“ und weniger das zukünftige „Werden“ ist das originäre Tummelfeld der Kinder und die authentische Form der Inszenierung der Kindheit. Dem im Grunde funktionalistischen Verständnis wird ein handlungsorientiertes oder strukturtheoretisches entgegengestellt. Eine lange Vorgeschichte hat das traditionelle Konzept der Kindheit als „Erziehungstatsache“ und die auch heute noch weit verbreitete Vorstellung einer tiefen kulturellen Differenz und Unvergleichlichkeit von Erwachsenen und Kindern, einer eigenen Lebensphase Kindheit im Zusammenhang mit dem weitgehend habitualisierten und institutionalisierten Lebenslauf der letzten 200 Jahre und einer entsprechenden „Normalbiographie“, einem eigenen Kindheitsstatus bzw. Kinderrolle und eigener Kindheitskultur und entsprechender Gruppenbildung unter Kindern. Die Aufklärungspädagogik und der aufklärungskritische Rousseau haben – abgesehen von den sozialgeschichtlichen Bedingungen – dafür die entscheidenden ideellen und diskursiven Voraussetzungen geschaffen. Seit dieser Zeit wird ein quasiontologischer Wesensunterschied zugrunde gelegt und mit der „Natur“ des Kindes begründet. Quasinaturrechtlich wird auch der pädagogische Topos der „Kindgemäßheit“ verstanden. Und diese Sicht ließ sich dann im 19. Jahrhundert zwanglos in den kulturtheoretischen Diskurs einer geschichtsphilosophischen Zivilisationsentwicklung einbetten. Als deren Korrelat konnte die natürliche Entfaltung des einzelnen Menschen innerhalb der menschlichen Gattung oder das Einzelexemplar in der biologischen Spezies als Rekapitulation der Phylogenese in der Ontogenese angesehen werden. Das menschliche Kind erscheint darum ganz selbstverständlich als werdendes, erziehungs- und pflegebedürftiges, aber eben auch als entwicklungs- und erziehungsfähiges Wesen, dem seine Kindheit schnell und nachhaltig ausgetrieben werden sollte. Kindheit wurde nun angesichts der Entstehung bürgerlicher Öffent-
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lichkeit zum strategischen Schonraum marktorientierten „Humankapitals“, Vorstellungen, die in gewandelter Form von dem heute vorherrschenden, ökonomiezentrierten Diskurs ja auch in der Form einer „Zeit sparenden“, effizienten „Frühförderung“, immer noch und vielleicht radikaler denn je, unterfüttert mit hirnphysiologischen Befunden, aufgegriffen werden. Die Natur des Kindes begründet hier die „Entwicklungstatsache“ – weit entfernt davon, eine historisch voraussetzungsvolle Erfindung der Pädagogen, Philanthropen und Aufklärer zu sein. Allerdings lässt sich nachweisen, dass erst bürgerliche Meinungsführer diese typisch moderne Konzeption durchsetzen konnten und flächendeckend verbreitet haben. Erst sie haben ein allgemeines Bewusstsein geschaffen oder durchgesetzt, dass Kindheit keine marginale Randzone des arbeitenden, sich um das Überleben, wirtschaftliche Prosperität und persönliche Seelenheil mühenden erwachsenen Menschen, sondern eine eigene lebensgeschichtliche Lebensform und Lebensphase des Menschen darstellt, die in vieler Hinsicht eine entwicklungsbedingte Weichenstellung für die spätere Qualifikation und funktionale Belastbarkeit des modernen Staatsbürgers und der modernen Arbeitskraft bewirkte. Deshalb kann man hier wissenssoziologisch auch von einem „Entwicklungsparadigma“ sprechen (Honig 1999: 59). Dieses Grundverständnis kann man insofern als funktionalistisch bezeichnen, weil es – offen oder manchmal versteckt hinter bildungstheoretischen Überlegungen und romantisierenden Vorstellungen der Unschuld und der revitalisierenden Lebensquelle Kindheit – vor allem auf reproduktive Aspekte einer Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft und ihre „Grundbedürfnisse“ abhob. Dies wäre indes missverstanden, wenn man es pauschal und generell umstandslos auf ein „falsches Bewusstsein“ oder ideologische Verblendung zurückführen würde, denn viele Pädagogen, später nicht zuletzt die „Reformpädagogen“ des 20. Jahrhunderts waren ganz sicher daran interessiert, dass Schule in erster Linie den lebensweltlichen Orientierungen der Schüler entgegenkam. Allerdings haben sie nicht selten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausgeklammert und die „gebrochene Intersubjektivität“ (Habermas) der modernen Industriegesellschaft und die Notwendigkeit einer speziellen politischen Option für die moderne Demokratie unterschätzt. Eine pädagogisch verantwortete Erziehung schien ausschließlich dann möglich, wenn sie in engster Anlehnung an die natürliche Entwicklung erfolgte, die nur eine einzige und einheitliche sein konnte. Nur in diesem Horizont war die notwendige erzieherische Individuation zu betreiben. Und nur dann schien es möglich, Kinder vor Schädigung und moralischer Verführung zu schützen. Dabei konnte das Deutungsmuster „Bedürfnisse des Kindes“ unter Umständen ganz verschiedene Facetten annehmen (Honig 1999: 60). Gleichwohl ging es selten nur um schiere Anpassung an den gesellschaftlichen Status Quo und oft um die – allerdings pädagogisch codierte – schöpferische Potenz des Kindes und Charakterbildung. Wohl sind stets viele Schulmänner – nicht nur im Dritten Reich – ideologisch instrumentalisiert worden; viel seltener aber pädagogische „Meisterdenker“ selbst wie etwa Rousseau, Pestalozzi, Schleiermacher etc. Dennoch kann nicht übersehen werden, dass die Profession der Pädagogen trotz ihrer mentalen Distanz und trotz ihrer z.T. ausgeprägten politischen Indifferenz von der frühen Neuzeit an funktionalisiert wurden. Es galt lange Zeit als bare Trivialität, dass die Schule und das Bildungssystem neben einer Qualifikations-, auch eine Placierungs-, Selektionsund Kontrollfunktion auszufüllen hatte. Die Frage individueller Förderung schien im besten Falle innerhalb dieser Funktionalisierung anzugehen zu sein, obwohl viel und gern von Persönlichkeitsentfaltung durch Bildung gesprochen wurde. So wurde die volle Schärfe des
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Normenkonflikts z.B. zwischen Qualifikation und Selektion lange Zeit heruntergespielt und der Rollenkonflikt des Lehrers zu einem rein didaktischen Problem herunterstilisiert. Auch deshalb war das Entwicklungsmodell so erfolgreich, weil es den Standardisierungs- und Regulierungsbestrebungen des Staates, der staatlichen Sozialadministration, des Rechtssystems und der Ausbildung von Pädagogen in vieler Hinsicht entgegenkam. „’Die Natur des Kindes’ transformiert sich zum Deutungshorizont einer familial dominierten, aber sozialstaatlich geschützten und regulierten Lebensphase des ’Aufwachsens’“ (Honig 1999: 59; Olk 2003: 108). Die Gegenwart der Kinder und ihre quirlige Lebendigkeit fielen zwar immer wieder auf, schienen aber nur von untergeordnetem ästhetischen Reiz zu sein. Von den aufklärerischen und romantischen Vorstellungen war nicht nur die Pädagogik inspiriert. Sie drangen auch in die Entwicklungspsychologie ein. Diese verschaffte dann „massenwirksam“ dem Entwicklungsmodell gestufter Kompetenzentwicklung den Durchbruch. Erst sie hat ein allgemeines Entwicklungsdenken in eine operationalisierbare Entwicklungslogik mit irreversiblen Entwicklungsniveaus oder konkreteren idealtypischen Entwicklungsstufen verwandelt: Erziehung im modernen Verständnis ist im Grunde erst möglich, wenn dieser Entwicklungsprozess in seiner Grundstruktur bekannt ist und auf seiner Grundlage Erziehungsziele, -stile und -praktiken beschrieben werden können. Erzieher benötigen daher vor allem entwicklungspsychologische Kenntnisse. Und dies wurde im 20. Jahrhundert pausenlos wiederholt. Wer wollte da noch widersprechen (Olk 2003: 105)? Der entwicklungspsychologische Entwicklungsbegriff lehnte sich ursprünglich eng an die biologische Vorstellung organischer Reifung an und hat diese Nähe nie ganz verloren. Wie die frühe Embryologie deutete sie den Prozess psychischer Entwicklung als endogenen Prozess, der unbeeinflusst von der Umgebung und nach vollkommen eigenen Gesetzen ablief. Die Ontogenese war dann die Wiederholung der Phylogenese beim einzelnen Kind der Spezies. Höhepunkt und Entwicklungsziel war der voll entwickelte Erwachsene. Es gibt heute Kritiker, die behaupten, in Wirklichkeit hätte hier der europäische, weiße Mann den Prototypen dieses Entwicklungsmodell dargestellt. Die neuere Entwicklungspsychologie nach der so genannten „kognitiven Wende“ hat sich von dieser allerdings immer noch nachwirkenden Sicht deutlich entfernt und betont nicht nur die Interdependenz von Erbe und Umwelt, sondern die Formierung des Entwicklungsprozesses durch kognitive und strukturgenetische oder epigenetische Konstruktionsleistungen. Es geht also nicht mehr um eine strikte Analogie zur organischen Selbstentfaltung oder Reifungsprozessen, sondern um vom kindlichen Subjekt aktiv betriebene Gleichgewichtsprozesse zwischen der sich entwickelnden Person und ihrer Umwelt oder um die Bewältigung kognitiver oder moralischer Sprünge (Piaget, Kohlberg, Wygotski) oder Lebenskrisen (Erikson). In der sozialökologischen Fassung bei Bronfenbrenner geht es um „erweiterte, differenzierte und verlässliche Vorstellungen über ihre Umwelt“ (Honig 1999: 63; Silbereisen 1982; Oerter 1987: 283). Alle diese und andere Ansätze haben inzwischen ein beachtliches kontextuelles Verständnis von Entwicklung. Insbesondere strukturgenetische Varianten besitzen eine hohe Affinität zu konstruktivistischen Theorien. Handelt es sich bei sozialkonstruktivistischen oder ethnographisch-ethnomethologischen Absetzbewegungen vom Entwicklungsparadigma und vom Sozialisationskonzept um irreführende Schaukämpfe (Oswald 2000: 11)? Das Unbefriedigende an herkömmlichen Konstruktionskonzepten liegt darin, dass sie viel zu sehr an Gleichgewichtsmodellen kognitiver Informationsverarbeitung und einer transkulturellen „Entwicklungslogik“ orientiert bleiben. Diese wird nicht ernsthaft „materiell“ und inhaltlich durch die reale, performative
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„Entwicklungsdynamik“ affiziert und gar zu einer Verlaufsänderung an Wegegabelungen in verschiedene „Entwicklungspfade“ veranlasst. Damit aber erscheint die aktuelle kindliche Gegenwart nach wie vor faktisch als Akzidenz gegenüber der Entwicklung und das variable Verhältnis von „Sein“ und „Werden“ nach wie vor nur unterkomplex erfasst. Zwar wird der Entwicklungsprozess heute lebenslang konzipiert, aber es wird meist nach wie vor im Wesentlichen davon ausgegangen, dass die Altersdifferenz wie die „Entwicklungsaufgaben“ konstant oder institutionell einheitlich fixierbar sind, was gerade empirisch zu ermitteln wäre. Selbstverständlich sind auch hier Stabilisierungen und Mikroteleologien grundsätzlich nicht auszuschließen. Aber es liegt schlicht eine problematische Übergeneralisierung vor, wenn irreversible Strukturstabilitäten als Regelfall postuliert werden. Es ist nämlich nicht nur eine Pluralisierung der Lebensformen, sondern auch eine der Typik prekärer Lebensgeschichten erkennbar. „Identitätsbalancen“ werden inkonsistenter erfahren und bewertet. Wie ist es denn vorstellbar, dass – auch nach Meinung vieler Psychologen – sämtliche Statuspassagen fragwürdig werden und trotzdem von einer strukturstabilen Entwicklungslogik für alle ausgegangen werden kann? Einmal geht es dann um lebenbegleitendes Lernen zum anderen um Bewältigung der Lernunfähigkeit und des Vergessens, auch des Attentismus und der situativen Performanz; Phänomene, die sich schwerlich entwicklungslogisch deuten lassen. Wenn aber nun – wie dies Kohlberg ja für die moralische Entwicklung aufzeigt – die Mehrheit zeitlebens nicht zu den Lernmaxima aufzuschließen vermag, so lässt sich mit Fug und Recht fragen, ob dann keine sozialen Wirklichkeitskonstruktionen mehr stattfinden oder nur pathologischer Realitätsverlust zu konstatieren ist (Abels 1993: 479, 482; Jenks 1992: 12f.). Die Welt ist eben kompliziert und voller Paradoxien: Eine durchaus unübliche Sozialisation kann in einer „Übergangsgesellschaft“ gelingen und eine traditionelle kann erstaunlicherweise misslingen (Herzberg 2001). Das liegt oft nicht einfach an der Einzelpersönlichkeit. Man muss zwischen Lebensrisiken unterscheiden, die durch rein privates Versagen, individuelle Fehlentscheidungen oder Leistung und Tüchtigkeit hervorgerufen werden und solchen, für die der Einzelne keine Verantwortung trägt und die ihn doch in einen ganz bestimmten Sozialstatus hineinmanövrieren. Gesellschaftliche Risiken, die eine zeitlang solidarisch getragen wurden, können auch wieder auf den Einzelnen verschoben werden. Dies beeinflusst das lebensgeschichtliche Verhältnis von „Sein“ und „Werden“ nicht nur oberflächlich (du Bois-Reymond 1994: 65ff.; Bühl :49, 349ff). Die normalisierenden Orientierungen des „Seins“ und des „Werdens“ sind keine festen Entitäten, sondern Momente eines Strukturierungsprozesses und perspektivische Wissensstrukturen, die immer eng mit sozialem Handeln kovariieren. Wie stellen Kinder Gegenwart her? Sie probieren aus, wieweit Wissen reicht und wo seine praktischen Grenzen liegen. Sie lernen aber nicht nur durch Grenzen, die sie eventuell nachträglich auf Regeln zurückführen, sondern durch Vorbilder, gute Beispiele und Prototypen (Eßbach 1996: 123; Gamm 1994).Sie bemerken hin und wieder auch die ihnen angesonnen Lebenspläne und sehen sich immer wieder – manchmal fasziniert, zuweilen auch widerwillig – auf heute nicht unbedingt konsistente und allgemein akzeptierte „Entwicklungsaufgaben“ verwiesen. Was gegenwartszentriert und was entwicklungsbezogen erfahren wird, ist weder rein subjektiv noch rein objektiv, weder beliebig noch zwingend. Die kindliche Entwicklung unterscheidet sich von einer kausal-linearen Entwicklungsreihe dadurch, dass ihre eigene, mehr oder minder lange Vorgeschichte weiterwirkt und reflexiv erfahren wird. Sie bleibt anfällig für „Entwicklungsstörungen“ und für „Ausbruchsversu-
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che“ und „Neuanfänge“. Die kindliche Gegenwart ist heute jedenfalls nicht mehr nur Entwicklungskontext.
2.6 Die historische Dialektik zwischen „Entwicklungstatsache“ und „Erziehungstatsache“ Kritik am im Grunde funktionalistischen „Entwicklungsparadigma“, das wenigstens methodisch von durchgängiger Funktionsstabilität oder unproblematischer Äquifunktionalität der Generationsstruktur und des Institutionensystems und eben nicht von deren Kovariation ausgeht, scheint nur dann plausibel, wenn sie die „Anomalien“ dieses Paradigmas, also dessen Überfrachtung mit allenfalls artifiziell reparierenden Hilfsargumenten, die Übergeneralisierung der Schlüsselkonzepte und die Verdunkelung deren Geschichtlichkeit zu kritisieren vermag. Hurtig weisen seine Apologeten ja stets in ihrer Meta-Kritik sogleich darauf hin, dass die neuere Forschungsdiskussion mittlerweile differentielle Entwicklungsmodelle und stark revidierte Sozialisationskonzepte benutze, die Kritik der Kindheitsforschung am Entwicklungsparadigma mithin ziemlich unsinnig und überflüssig sei (Honig 1999: 78ff.; Honig 1996: 11ff.). Jedoch vermeidet eine sozialisationsfreundliche relational-strukturtheoretische Theorieposition in der Kindheitsforschung (Alanen 1994; Honig 1999) ihrerseits nicht den Eindruck, Kindheit sei eine im Grunde geschichtslose binäre Strukturkategorie jenseits „gebrochener Intersubjektivität“ (Habermas), die jeweils nur historisch mit Inhalten gefüllt werden müsse, aber als Kategorie davon unbeeinflusst und konnotationsfrei universell gelte. Immerhin geht jedoch auch Honig als Protagonist dieser strukturtheoretischen Position vom „Problem der Divergenz von lebensgeschichtlichem Sinnhorizont und systemischer Funktionalität“ (Honig 1999: 80) aus. Er unterläuft freilich im Ergebnis seiner Argumentation diesen methodischen Ausgangspunkt. Zum einen lassen sich ohne strukturierungstheoretische Modifikationen zeitlose Strukturkategorien nicht einfach mit historischen Sedimenten handlungstheoretisch ermittelter Ergebnisse verrechnen. Zum anderen erfordert dies eine genaue begrifflich-theoretische Eingrenzung des Entwicklungs- und Sozialisationsbegriffes, weil die soziale Konstruktion von Wirklichkeit nicht mit einem überdehnten Entwicklungs- oder Sozialisationskonzept umfangslogisch gleichgesetzt werden kann. Auch inhaltlich kann nicht länger dogmatisch von einer durch Sozialisation ein für allemal erworbenen Stabilität von Sozialkompetenz und Handlungsfähigkeit ausgegangen werden. Daher konzeptualisieren soziokonstruktivistische Ansätze „Sein“ und „Werden“ nicht als unverbundene, historisch neutrale methodische Anknüpfungspunkte, sondern als jeweils spezifisches konstruktives „Definitionsverhältnis“ (Beck). Der Wandel sozialer Konstruktionen der Kindheit der letzten Jahrzehnte hängt eng mit der deutlich beobachtbaren Relativierung und Abkehr von der modernen Pädagogisierung zusammen. Und diese darf nicht einfach voluntaristisch missverstanden werden. Zu diesem Missverständnis führt eine popularisierte Version des Individualisierungsdiskurses, die Individualisierung schlicht mit Vereinzelung der Lebensgestaltung gleichsetzt und von einem unaufhaltsamen Trend zur Selbstsozialisation ausgeht: Die soziokulturellen Voraussetzungen der klassischen Moderne und ihres Sozialisationsspektrums, die im Zeitalter der Industrialisierung klare Grundlage des Lebens gewesen waren, seien vollständig entfallen
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oder unklar geworden. Unklar sei demnach auch, ob wir auf eine „weitergehende“, „nachholende“, „reflexive“ oder „postmoderne“ Gesellschafts- und Individualentwicklung zusteuerten. Nach wie vor aber wird der Wandel von Gesellschaft und Individuum vom einen zum anderen Zustand Entwicklung genannt. Auch wenn heute deutlich das Fortschrittpathos zurückgenommen wird, geht es letztendlich doch eindeutig um einen relativ homogenen Vorgang einer ungebrochen modernen Gesellschaft und eines modernen Individuums, wenngleich mittlerweile Gegenbewegungen für möglich gehalten werden. Sie haben aber im Grunde keine wirkliche, langfristige Chance. Nur auf der Stufe der modernen Gesellschaft und der modernen Persönlichkeit – so das Dogma – könne eine Kultur eine neue Kohärenz und ein neues „Fließgleichgewicht“ erreichen. Damit behält die „Natur“ solcher „Entwicklung“ durchaus eine normative Funktion, ist alles andere als eine rein deskriptive Strukturkategorie. Entwicklungen, die nicht zur kognitiven-moralischen Vervollkommnung und nur zu einer historischen Abfolge relativer Fortschritt-Rückschritt-Konstellationen mittlerer Reichweite führen, tilgen schon bei Rousseau den entscheidenden Unterschied zu den Tieren (Rousseau 1978: 108f., 111; Böhme 1997: 103). Und dieses Entwicklungsverständnis wirkt noch heute in Pädagogik und Entwicklungspsychologie nach. Sie gipfeln in einer „postkonventionellen Identität“ und einer „postkonventionellen Moral“, die vielleicht, wenn es sehr gut geht, von einer starken Minderheit erreicht werden. Darf aber ein Begriff, der sich wesentlich als normativer Programmbegriff entlarvt und die „konventionelle Mehrheit“ der kommerziell geführten Individuen als „unterentwickelte“ Fälle nebensächlicher Konsumentenfreiheiten im Grunde abschreibt, wirklich eine Grundkategorie soziologischer Beschreibungen genannt werden (Fischer 2000: 242ff.; Luckmann 1980: 123ff.)? Entwicklung und Erziehung sind die polaren, sich wechselseitig voraussetzende Konstitutionskategorien moderner Kindheit. Entwicklung war von Anfang an Erziehung gebunden (Honig 1999). Diese hatte Anstoß zu geben zu späterer Selbsterziehung, also dazu, dass die Entwicklung richtig und rechtzeitig zum Tragen kam. Von daher lässt sich in der Moderne weithin unbestritten ein „Naturrecht“ auf Erziehung postulieren. Vor allem zwischen kleinen Kindern und ihren Eltern gibt es nicht nur eine normative Asymmetrie, vielmehr ist nirgends ein differentielles Geben und Nehmen vorgesehen. Kleinkinder sind ausschließlich und durchgängig „Beschenkte“, Erwachsene großzügig Schenkende. Diese entwicklungslogische Perspektive dürfte noch heute im Alltag wie in den Humanwissenschaften untergründig dominant sein. Gleichzeitig hat der „Entwicklungscode“ der Erziehung schon immer auch Grenzen gesetzt, was vor allem ein Verdienst der Entwicklungspsychologie bleibt. Erst sie hat es möglich gemacht, zwischen beliebiger pädagogischer Intervention und sachgemäßer und entwicklungslogisch angemessenem erzieherischen Vorgehen in den „sensiblen Phasen“ zu unterscheiden. An dem normativen Übergewicht selbst noch strukturtheoretischer Modelle kann indes kaum gezweifelt werden. Dass die Performanz nicht nur ein akzidentieller Aspekt an der Kompetenz darstellt, sondern diese erst realisiert, wird bis heute selten konsequent bedacht. Ganz schüchtern wird aber seit einigen Jahren eine Ergänzung strukturtheoretischer Kompetenztheorien durch „performatorisch gerichtete Theorien“ gefordert (Siegert 1979: 19). Den Hintergrund der modernen Erfolgsgeschichte der praktischen Handlungsmaxime erzieherischer „Kindgemäßheit“ oder „Kindgerechtigkeit“ bildet demgemäß nicht einfach eine plötzlich auftretende Sensibilität und Kinderfreundlichkeit, sondern eher das natur-
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rechtliche Denken und daneben der defensive Motiv des „Kinderschutzes“, der Wille in der modernen Industriegesellschaft kein neues „soziales Problem“ zu schaffen. Die Bestrebungen um das „Kindeswohl“ waren daher von Anfang an ambivalent: neue Aufmerksamkeit und zugleich Furcht vor „Straßenkindern“. In diesem Spannungsverhältnis ist auch das moderne Verhältnis von „Entwicklungstatsache“ und „Erziehungstatsache“ zu sehen. Die Fixierung einer transkulturellen Entwicklungslogik hat auch kontrolltheoretische Aspekte. Genauer ist hier eigentlich nicht nur von einer „ambivalenten advokatorischen Tradition“ (Oelkers 1992: 76; Honig 1996: 10), sondern von einem immer wieder auseinanderdriftenden Verhältnis von Diskursen, öffentlicher Resonanzflächen und eingespieltem gesellschaftlichen Alltag zu sprechen. Was Kindheit und „Kindgemäßheit“ bedeutet, war durchaus weiterhin umkämpft. Einen bemerkenswerten Beitrag zur gesellschaftlichen Verständigung darüber lieferte sicher die deutsche Reformpädagogik in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wenn sie Topoi wie „Eigenrecht des Kindes“ oder in der Tradition Rousseaus vom „Menschen in Entwicklung“ sprach, dem immer ein „Recht auf Erziehung“ und „verantwortete Elternschaft“ korrespondierte. Doch damit vertrug sich durchaus lange Zeit eingeschränkte Rechtsfähigkeit, völlige politische Unmündigkeit, Züchtigungsrecht, „Ehegattensplitting“ usw. Kindheit ist eben nicht nur ein „mentales Konstrukt“ wie Lenzen u.a. annimmt (Lenzen 1997). Kindheit war nur für ganz bestimmte Kinder zu jeweils bestimmter Zeit moderne Kindheit im Sinne eines Schonraums mit Sonderstatus. Das wollte die Reformpädagogik wie große Teile der Entwicklungspsychologie oft einfach nicht sehen. Die moderne Pädagogik hat immer wieder die kindliche Authentizität gegenüber den Zumutungen der Gesellschaft betont. Richtige Erziehung erscheint als Hervorlocken entwicklungsangemessener Kompetenzen und Dispositionen, denen gegenüber die sozialen Kontexte zwar nicht unwesentliche, aber durchaus sekundäre Anwendungsbedingungen bleiben. In erster Linie zählen die eigentlich hermetisch gedachten Beziehungen zu den Eltern und den Lehrern, später auch zu den Gleichaltrigen und Geschwistern. Kaum einmal werden die langen Handlungsketten öffentlicher (Nicht-) Anerkennung und Unterstützung oder wenigstens Akzeptanz sowie die komplexe „biographische Situation“ (Schütz) verfolgt. Wo nicht von einer schlichten Rekapitulation der Phylogenese in der Ontogenese oder einer Parallelität der Entwicklung einzelner Kinder mit der Gesellschaft im Ganzen ausgegangen wird, wird jedenfalls die spezifische soziokulturelle, sozialstrukturelle und situative Vermittlung der Entwicklungsprozesse ausgeblendet. In der Praxis führte dies zu einem Verständnis von „Kindgemäßheit“ oder „Bildsamkeit“, das sich immer der „Natur“ näher als der Gesellschaft wähnte. Eine soziologische Kindheitsforschung kann aber weder von soziokulturellen Diskurshorizonten und der Änderung der Erziehungsstandards noch gesellschaftlichen Ressourcen abstrahieren. Und kindheitssoziologisch ist das nicht nur eine Kompetenz- und Ressourcenbedingung, sondern nicht zuletzt eine Frage der Art und Weise ihrer Inanspruchnahme und des praktischen Umgangs, der Nutzung sowie der sozialen Reaktionen hierauf. Und deswegen ist darauf hinzuweisen, dass bis tief ins 20. Jahrhundert hinein Kindheit eben nicht für alle Kinder eine Abfolge von Lernsequenzen und sozialen Karrieren war. Entwicklung und Lernen oder Spiel und Erholung hatten in unterschiedlichen Klassen oder Schichten unterschiedlichen Umfang, Gewicht, Bedeutung, waren temporalisiert, unterschieden sich sogar nach regionalen Zeitumständen und nach der Jahreszeit. Und andererseits bildeten autoritäre, advokatorische, emanzipatorische, konsensuelle Einstellungen bei
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den Erwachsenen meist eine schwer zu trennende Gemengelage, die auch den Entwicklungsdiskurs grundierte (Kaufmann 1986: 5; v.Throtha 1983: 243ff.). Vor diesem Hintergrund kann man nicht von einem „Entwicklungsgehorsam“ sprechen. Kinder nisten sich vielmehr immer wieder in Nischen ein, weiten sie zu einer „kleinen Lebenswelt“ (B. Luckmann), die zunächst im Blick aufs „Überleben“, doch gleich darauf aufs „gute Leben“ hin entworfen wird (Bourdieu 1997: 12; Taylor 1992: 9ff., 118ff.). Es geht hier also nicht einfach um eine entwicklungsgemäße Kompetenzentwicklung, Wertinternalisierung oder den Erwerb einer Präferenzstruktur wie in herkömmlichen Entwicklungs- oder Sozialisationstheorien, sondern um die oft vergessene Tatsache, dass Kompetenzen, Werthierarchien, Präferenzen immer auch intransparent und unsicher werden können, obwohl sie noch habituell nachwirken. Formale Qualifikationen können in Dequalifikationsprozesse hineingezogen werden, sind nicht ein für alle Mal stabil. Die realen Chancen zeigen sich jedenfalls erst dann, wenn die historisch-biographischen Lebensrisiken einigermaßen gemeistert wurden, und eine gewisse „intrinsische“ Motivation und Zukunftsfähigkeit sichtbar wird (Beck 1997: 9ff.; Beck 1996: 289ff.). Kompetenz und Performanz, „Oberflächen- und Tiefenstruktur“ sind nur analytisch unterscheidbar, durchdringen sich, fordern sich wechselseitig heraus, werden einmal stärker einmal schwächer artikuliert, gehen jedenfalls nie in einer idealisierten Entwicklungslogik auf. Seit Comte und Spencer haben fast alle psychologischen und soziologischen Evolutionstheoretiker auf die zunehmende Komplexität und daraus ableitbare Stadien der Differenzierung verwiesen, in welchen individueller und sozialer Wandel mit der Verdrängung und Inkompatibilität bestimmter Typen oder Aspekte verbunden sind, eine einfache durch eine „fortgeschrittenere“ moralische oder funktionale Ordnung ersetzt oder „ausdifferenziert“ werden. Als gemeinsames Resultat aller Ausdifferenzierung wird allgemein ein bestimmter Grad von Autonomie angesehen. Doch deren Unterscheidungskriterien sind heute nicht einfach mehr „selbstevident“, sondern entspringen einer neuen Verbindung von Wissen und Politik, die durch ihren Willen zur Meinungs- und Verhaltenssteuerung längst die Unschuld advokatorischer Verantwortung verloren hat (Wagner 1995: 175f.). Solche Entwicklung bewegt sich auch nicht mehr vollständig zwischen traditionaler und moderner Lebensweise. An solchen Interpretationskämpfen nehmen längst auch schon die Kinder teil. Sie wissen offenbar mindestens implizit weit mehr als ihnen Erwachsene mit ihrem relativ traditionellen Kindheitsbild zutrauen (Oswald 1991: 35; Krappmann 1999: 254). Sie ahnen zumindest, wie die Gesellschaft über typische kindliche Entwicklungen denkt, sich dazu verhält und praktisch mit diesem Wissen – instrumentell und/oder expressiv – umgeht, weil sie ja an den Prozessen der gesellschaftlichen Wissenserzeugung und -zerstörung teilnehmen, manchmal sogar eine Pilotfunktion einnehmen. Damit lässt sich erklären, wie sich „Zwänge“ „objektive Fakten“ durch das Handeln der Akteure hindurch geltend machen, ganz im Gegensatz zu einer herkömmlichen evolutionistisch-funktionalistischen oder strukturalistischen Erklärung (Giddens 1988: 349). Und wenn nicht alles trügt, so entkoppeln sich heute auch Entwicklung und Erziehung in einem bestimmten Umfang, weil die Kultur in ihrer Entwicklung extrem wenig über die wahrscheinliche Zukunft der heutigen Kinder als Erwachsene und zukünftige Präsenz von Kindern weiß, wohingegen – trotz aller Unbestimmtheit im einzelnen – frühere Generationen gewiss von einer höheren Erwartungssicherheit und Kontinuität sowie kollektiver Erinnerung ausgehen konnten. Noch nicht einmal sicher ist es, dass die Entwicklungstradition
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der Moderne weitergeführt werden kann. Die dauernde Beschwörung der Modernisierung in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ist wohl eher Ausdruck der Unsicherheit denn der Sicherheit. Die Probleme der unübersichtlichen Folgen und Nebenfolgen der Informationstechnologie, der Gentechnik oder der Reproduktionstechnologie etc. stehen heute im Begriff, anthropologische Grundfragen zu revolutionieren. Allzu viel hat sich aber an Entwicklungskonzeptionen nicht geändert. Die Entwicklungspsychologie der letzten 30 Jahre hat gewiss versucht, sich von früheren auf Reifung abstellenden Phasenlehren und auch von zu einfachen Homogenitätsunterstellungen zu lösen. Entwicklung wird nun stärker als lebenslange Entwicklung aller Menschen und jeden Alters in Auseinandersetzung mit den jeweiligen sozialen Kontexten in lebensphasenhafter Spezifik gesehen. Es besteht dabei eine enge Beziehung zwischen Anlage, Reifung und Umwelt. Die Erziehungsbedingungen gewinnen so eine neue Bedeutung: Erziehungsziele, -stile, und -praktiken sind mehr als Auslöser einer determinierten Entwicklung zwischen Ausgangs- und Endniveau. Sie sind unvermeidlich von normativen „Entwicklungsaufgaben“ geleitet, die im Lebensumkreis des Kindes Gültigkeit besitzen (Aebli 1969: 173). Doch auch diese Versionen brechen keineswegs mit der zwar geläufigen nicht aber ungenauen Vorstellung des „Hineinwachsens in Gesellschaft“ (Spranger); selbst dort noch, wo dieser Prozess als epigenetische Krisenbewältigung vorgestellt wird (Lorenzer 1972: 149ff.; Erikson 1966; Geulen 1991: 29). Und es gibt nur eine Form korrekter Entwicklung. Zwar wird oft deutlich gesehen, dass gesellschaftlich gut integrierte Kinder günstigere Voraussetzungen mitbringen, die fast zwangsläufig weitere Vorteile nach sich ziehen (Krappmann 1991: 370). Doch daraus ziehen immer noch wenige Autoren in der Weise Konsequenzen, dass sie von einer umkämpften Pluralität akzeptierter Entwicklungen verschiedener Kinder ausgehen. Und noch viel weniger wird das Ziel der Identitätsfindung problematisiert und auf ihre nichtkognitiven und auch repressiven Einlagerungen hin untersucht (Joas 1997: 246). Im Grunde machen erst sozialökologische Entwicklungsmodelle mit der Einsicht Oerters (Oerter 1993: 78ff.) ernst, dass die Wechselwirkung zwischen individueller Entwicklung und sozialer Umgebung nicht nur als strukturstabiles Verhältnis von Assimilation und Akkomodation im Sinne Piagets zu verstehen ist, sondern zu der Einsicht zwingt, dass – historisch bedingt – eine Realitätskonstruktion von Welt, die dem Individuum als selbstverständliche und als einzig möglich richtige Realität erscheint, heute von Nöten ist; vor allem, wenn sie verstehbar bleibt und als sozial akzeptabel gelten kann. Mit der Zunahme von Optionen und Wissen nehmen auch Nichtwissen, Dequalifikation, Vergessen, Unsicherheit und Zweifel zu. Damit können aber auch nicht länger verschiedenartige Entwicklungspfade ausgeschlossen werden (Asendorpf 1993). Außerdem lässt sich heute auch nicht mehr die Auffassung halten, dass in jedem Falle die frühkindliche Sozialisation lebensgeschichtlich determinierend sei (Honig 1999: 64; Ernst 1985; Oerter 1993). Damit kann vielleicht immer noch nach einer Handlungslogik bestimmter typischer Entwicklungswege, nicht jedoch nach einer universalen Entwicklungslogik gefahndet werden. Gegeben sind lediglich partielle Entwicklungsschübe, die je nach kulturellen Horizonten, Interessen von Erziehern oder Nachfragern von Qualifikationen in die unterschiedlichsten Entwicklungslinien und Entwicklungspfade eingebettet werden können. Natürlich stellen dann Kinder wie Erwachsene auch noch hypothetische Zwischenbilanzen auf, aber diese „schneiden“ sich eben nur in grober Typik und spezifischen Schnittstellen. Wenn Kinder sich heute stärker in ihrer „Gegenwart“ erfahren, dann hat das nicht die Qualität eines atomisierten „Augenblicks“ und isolierten punktuellen „Jetzt“. Vielmehr lassen sie
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sich aktuell in bestimmte Entwicklungstendenzen mittlerer Reichweite hineinziehen. Und sie können sich durchaus mit Recht als soziale Konstrukteure zeitlicher Zusammenhänge verstehen, die zuweilen auch Ko-Konstrukteure zusammen mit Gleichaltrigen sind.
2.7 Historische und ethnologische Zweifel Vielleicht sträubt sich alles in uns, Menschen als Kinder anzusehen, die als Chefs gefährlicher Bettlerbanden, als mafiöse „Baby-Killer“, als Kindersoldaten, als kindliche Sittenpolizei im spätmittelalterlichen Florenz, als Teilnehmer eines „Kinderkreuzzuges“, als Kindersklaven, kindliche Prostituierten, aber auch als kindliche Herrscher ins Rampenlicht der jeweiligen Gesellschaft getreten sind oder manchmal von den Medien in die Öffentlichkeit gezogen werden. Doch zugleich regen diese und andere „Kinderbilder“ dazu an, über die historische und ethnologische Spannweite des für uns trivialen Begriffs „Kindheit“ nachzudenken. Kindheit war nie ganz und gar so, wie sich dies Erwachsene in ihrer „glückseligen Unwissenheit“ (Oswald 1991: 355; Oswald 2000: 9) zurechtlegten und in der von ihnen beherrschten öffentlichen Rhetorik beschworen. Vielleicht fallen darauf auch immer manche Kinder herein. Nicht wenige aber wissen, dass die Kinderkultur verschiedene Gesichter und – um mit Goffman zu sprechen – ein durchaus schwankendes Verhältnis von „Vorderund Hinterbühne“ aufweist (Valtin 1991: 12; Doehlemann 1985: 25; Waksler 1994). Und die Spannweite zwischen Kindern ist manchmal größer als die zwischen Kindern und Erwachsenen. Für uns reicht die Kindheit von der Geburt bis zur Pubertät, für das europäische Mittelalter bis zum 25. und zuweilen bis zum 40. Lebensjahr (Lenzen 1997: 364; Mitterauer 1986: 41). Kinder können allmählich und kontinuierlich oder abrupt und diskontinuierlich durch „Inititationsriten“ – mit und ohne Übergänge durch ein Jugendalter – zum Erwachsenen heranwachsen (Benedict 1978: 195ff.). Jedenfalls erscheint historisch und transkulturell der scharfe Unterschied, den wir normalerweise heute zwischen Erwachsenen und Kindern sehen, westlichen Gesellschaften vorbehalten. Obwohl all dies heute wohl kaum noch zu bezweifeln ist, müssen wir gestehen, dass aufgrund der Quellenlage und einseitiger Erkenntnisinteressen in der Geschichtswissenschaft das historische Wissen über und von Kindern noch äußerst begrenzt ist, und wir ihre genauen Lebensbedingungen kaum kennen. Immerhin hat aber die Forschungsdiskussion der letzten Jahre die Verengung auf die beiden Großmeister der Disziplin, Ariès und de Mause, etwas gelockert. Viele historische Arbeiten betonen heute eine eher gradualistische Sicht und greifen auch weit über die Frühneuzeit zurück. Es gab keinerlei öffentlichen Skandal, wenn in vielen Fällen die Umgangsformen zwischen Kindern und Erwachsenen sehr rau waren, weil sich in der kulturellen Öffentlichkeit erst allmählich und deutlicher zu Ende des 15. Jahrhunderts spezifische Erziehungsnormen herausbildeten. (Nemitz 1996: 90, 88). Hier steht nicht der Substanz oder Entität „Erwachsenheit“ eine (neue) Substanz entgegen. Die Frage ist auch nicht, wie zwei universale Strukturkategorien historisch gefüllt oder modifiziert werden können. Sondern: Wird Kindheit in modernen europäisch-westlichen Gesellschaften historisch konstituiert? Im Blick darauf wird in modernen Gesellschaften die Gesamtbevölkerung zunächst in zwei, dann in drei und vier Teilmengen und Lebensphasen zerlegt. Und dies ist dann eben weit mehr als eine „soziokulturelle Überformung“ einer universalen Strukturkategorie.
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So ist heute im Einzelnen durchaus das Bild, das Ariès einem breiteren Publikum vermittelte, in einigen Zügen zurechtzurücken und zu ergänzen. Trotzdem ist die Hauptlinie seiner Untersuchungen sicher auch heute eher haltbar als die zivilisationstheoretische Gesamtperspektive von de Mause: ein schärfer werdender Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern, Entstehung einer eigenen Bevölkerungsgruppe und Lebensphase, Bildung von Jahrgangsklassen in der öffentlichen Schule, wachsende Bedeutung des Sozialstatus von Kindern (Ariès 1976: 49ff.; Reif 1981: 115; Richter 1987: 19; Shorter 1983: 236; Badinter 1981: 35ff.; Neumann 1993). Kindheit wurde zuvor nicht nur stärker beiläufig wahrgenommen, tendenziell weniger emotionalisiert, Kinder weniger auf Distanz gehalten. Kinder standen auch in vielfältigeren Loyalitäts- und Widerstandsbeziehungen zur Grundherrschaft, zum patriarchalischen Hausherrn, zum Haushalt, zum Kirchensprengel, zum Dorf oder Stadtquartier, zur regionalen Verwandtschaft, zu den lokalen Spielgemeinschaften in der arbeitsfreien Zeit. All dies deutet darauf hin, dass nicht nur die moderne Kindheit Züge einer sozialen Konstruktion an sich hat. Wichtiger als Zahlenangaben scheint fast überall die soziokulturelle und auch die rechtlich-politische Zuweisung zu biologischen Markierungen, die in sich ja mehrdeutig sind. Auch das soziale Verhalten – zwischen Arbeit, Lernen und Spielen und heute Medienpraxis und Konsum – ändert sich offensichtlich seit dem 16. Jahrhundert fortwährend in Europa (Bohn 1999: 105ff.). Dabei zeichnet sich das sozialkonstruktivistische Axiom ab, dass weder sozialstrukturelle Entwicklungen Diskurse direkt hervorbringen, noch „Ideen“ den gesellschaftsstrukturellen und situativen Wandel dirigieren. Nicht selten machen sich auch Soziologen jenes Widerspruchs schuldig, den Nemitz zu Recht Pädagogen ankreidet. Sie sprächen einerseits von anthropologischen Konstanten andererseits von „kulturell bestimmten Erscheinungen“ oder „soziokultureller Überformung“, als könne unvermittelt und zeitenthoben einer biologischen Substanz ein soziokultureller Überbau aufgesetzt werden, als verändere der geschichtliche Inhalt nicht auch die Form (Nemitz 1996: 88). Überdies scheint es den meisten deutschen Historikern ganz im Gegensatz zu Franzosen und Engländern schwer zu fallen, die Vorläufer oder Prototypen der Moderne zu identifizieren und die frühe Neuzeit als eigenständige Epochenzentrierung zu begreifen. Auch für die meisten deutschen Sozialwissenschaftler beginnt die Moderne erst im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung und kulminiert in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, während viele westeuropäische Historiker und manche (westeuropäische) Sozialwissenschaftler bei der Darstellung von Leitbildern, Mentalitäten und Lebensformen viel weiter – auch hinter die Reformation – zurückgreifen; z.B. auf die Übergangskulturen des nachrömischen Mittelmeerraumes (Vester 1995; Münch 1992; Münch 1993). Manches spricht jedenfalls dafür, dass die frühe Geschichte der Kindheit nicht erst 1850 oder einige Jahrzehnte zuvor beginnt. Es ist auch mit guten Gründen zu bestreiten, dass Kinder zu jeder Zeit Lernmaxima im Sinne der heutigen Entwicklungspsychologie ansteuerten oder Entwicklungsphasen anhand von Entwicklungsaufgaben durchliefen (Ariès 1975: 49; Flandrin 1978; Shadar 2002; Malson 1972). Ethnologen untersuchen seit etwa 200 Jahren die Familienstrukturen in Stammeskulturen. Dabei hat sich nicht nur immer wieder gezeigt, dass sich Vieles, was noch einige Jahre zuvor als zeitlose anthropologische Konstante galt, besser als historische Sozialstruktur verstehen lässt. Schon die frühere Konzentration auf Erziehungspraktiken brachte eine Fülle von Möglichkeiten zutage, wie Eltern-Kind-Verhältnisse unterschiedlich geregelt werden können (Mead 1970; Benedict 1978; Whiting 1981; Schmerl 1978: 20ff.). Dies
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führt auch zu der methodischen Einsicht, dass der Fokus der Beschreibung von der „subjektiven Erfahrung und Strategie auf der einen Seite, den objektiven Strukturen und Widersprüchen auf der anderen, zwischen Praxis und der sozialen Konstitution von Werten, zwischen Wahrnehmung und Bedeutung, zwischen Individuum und Institution“ (Medick 1984: 15) hin und her wandern muss, und sich dabei immer eine mehr oder minder große Diskrepanz auftut. So verändert sich die innerfamiliale Arbeitsteilung häufig nicht wie in unseren heutigen Kleinfamilien durch Kommunikation und Verhandeln, sondern auch durch die genau kontrollierte, sich verschiebende Solidarität der Seitenverwandten und der Geschwister (Segalen 1984: 194f.), die ein explizites Gespräch geradezu ersetzen oder tabuisieren. So lassen sich dann erstaunliche Parallelen zwischen früheren europäischen und heutigen afrikanischen Eltern-Kind-Verhältnissen unter bestimmten Gesichtspunkten aufdecken (Goody 1984: 362, 374f.; Ntakarutimana 1996: 118ff.). Es zeigt sich dann der überraschende Forschungsbefund, dass Kinder in Europa bis ins 18. Jahrhundert großenteils getrennt von ihren Eltern aufwuchsen, oft bald nach der Geburt zu Ammen oder Verwandten weggegeben wurden, ohne dass sich in vielen Fällen „Vernachlässigungen“ nachweisen lassen. Die Ausgliederung der Kinder aus der Erwachsenenwelt findet dennoch nirgends in der schroffen Weise wie in westlichen Gesellschaften statt (Benedict 1978: 195ff.). Gleichwohl finden sich auf engstem Raum rigide Disziplinierungen bei der einen und sehr sanfte, entwickelte oder rudimentäre Vorformen der Erziehung im engeren Sinn und entsprechende Sozialisationsklimata bei den anderen Stammesgesellschaften (Renggli 1982; Mead 1970; Parin 1991; 1989; Nance 1977; Schuster 1991; van de Loo 1993; Dracklé 1996). Sogar Anfang und Ende der Kindheit sind nicht überall gleich. Bei manchen Indianerstämmen wird die biologische Geburt abgewertet, und die eigentliche Geburt vollzieht sich als soziokulturelle Geburt einige Zeit danach; eingebettet in unterschiedliche Einteilungen des Lebenslaufs in zwei, drei, vier oder mehr Lebensstadien (Nemitz 1996: 12ff.). Und das Ende, die Pubertät, erweist sich mehr und mehr auch als zeit-, kultur- und milieuspezifischer Prozess von oft hoher Streubreite (Mitterauer 1986: 10ff.; Kohl 1993: 73ff.). Auch interkulturell zeigt sich zunehmend die Schwierigkeit, die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen oder die gesellschaftliche Rationalität der Erwachsenen gegen die Irrationalität, Unreife und Inkompetenz der Kinder so eindeutig abzugrenzen, wie das der modernen entwicklungslogischen Denkneigung zweifellos entspricht. Deutlich wird auch, dass fast überall Beschreibungen in normative Konstruktionen übergehen. Eine gewisse normative Asymmetrie ist wohl überall in Geschichte und Gegenwart zwischen Erwachsenen (Eltern) und Kindern zu finden. Sie ist aber nie mit der aktuellen lebenspraktischen Situation beider Bevölkerungsgruppen gleichzusetzen. Und selbst normativ ist die erwähnte Asymmetrie nirgends auf der Welt außer in Europa zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert ähnlich stark ausgeprägt und auf Teilreifen und partielle Statuspassagen zugeschnitten, formalisiert, standardisiert, universalisiert. Weder in der Vergangenheit der europäischen Kultur noch in anderen Kulturen lässt sich eine natürliche oder logische Trennungslinie auffinden, die im strengen Sinne als Determination aufgefasst werden könnte: „Was wir Kindheit nennen in unserer Kultur, mitsamt allen emotionalen und psychologischen Implikationen, also auch „Kindlichkeit“ des Charakters, ist menschlich gesehen prolongierte Kindheit (…)“ Mühlmann 1975: 80).
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In mehr vormodernen und nichtwestlichen Gesellschaften sind Kinder dermaßen „selbstständig“ und von früh an auf sich selbst gestellt, dass sie mit den heutigen Kindern unserer Gesellschaft kaum zu vergleichen sind. Wir würden sie als „greisenhaft“, „altklug“, „ernst“, „frühreif“ abqualifizieren und sogar in vielen Fällen vor ihnen Angst haben. Es hat daher wenig Sinn 2-jährige Straßenkinder in Bogota, Manila, Sofia oder vielleicht auch in Berlin, Hamburg und Frankfurt als anthropologisch „hilflos“ und „erziehungsbedürftig“ anzusehen, schon weil sie „auch wenig geneigt (sind), Älteren zu gehorchen“ (Mühlmann 1975: 81).
2.8 „Entdeckung“ und „Erfindung“ – „Verschwinden“ der Kindheit? Noch gibt es Streit darüber, ob die Kindheit eine universale anthropologische Konstante, eine universale formale Strukturkategorie und Klassifikation, ein global in der Moderne universalisiertes Strukturmuster oder ein nur epochal ratifiziertes historisches kulturelles Modell, das wahrscheinlich gegenwärtig in Frage gestellt wird, darstellt. Viele Menschen, die vielleicht in anderen Fragen durchaus den „Mythen des Alltags“ (Barthes) trauen, erwarten angesichts der genannten Fragen, dass die Humanwissenschaften sich als Schiedsrichter erweisen. Seit ca. 200 Jahren hat die Überzeugung zunächst immer mehr an Boden gewonnen, dass die Wissenschaft der letzte Garant gesellschaftlicher Wirklichkeit sei, obwohl sich gerade in den letzten Jahren diese Hoffnung als trügerisch erwiesen hat und die Wissenschaften mehr und mehr als ein vor allem ökonomisch reglementierter Diskurs unter Diskursen entmythologisiert wurde. Gleichwohl gilt sie immer noch als zentrale „Produktivkraft“, die im „Medium der Wahrheit“ in fundamentaler Weise die organisatorischen und technologischen Lebensumstände von immer mehr Menschen der Welt zutiefst mitbestimmt. Geld, Wahrheit, Macht, Gesundheit (medizinische Behandlung), Erziehung oder (sozialpolitisch operationalisierbare) Gerechtigkeit gelten bei Luhmann als „symbolisch generalisierbare Kommunikationsmedien“, die die symbolisch vermittelte Kommunikation erst über den Kreis der jeweils Anwesenden hinaus ausweitet und generalisiert (Luhmann 1988: 62ff.). Manche haben sich auch von den Vorstellungen Poppers überzeugen lassen, dass wissenschaftliche sich von alltäglicher Wahrheit durch ihre Systematik, kritische Energie unterscheide und vor allem durch kühne, falsifizierbare Theorien und Hypothesen kontinuierlich der Wahrheit annähere. Solche Vorstellungen werden indes heute von vielen Forschern nicht mehr geteilt. Sie gehen eher von historischen Grundparadigmen oder breiten Forschungsprogrammen und der reflexiven Qualität von Wissenschaft, von der potentiellen Disparität kurz-, mittel- und langfristiger Forschungsperspektiven im allgemeinen Horizont der „regulativen Idee“ der Wahrheit aus. Die Ansicht eines kumulativen Forschungsprozesses übersieht vor allem auch, dass nicht nur die Entdeckung falsifizierbarer Hypothesen, sondern auch ihre Prüfung sich forschungspraktisch als viel schwieriger und voraussetzungsvoller erweist als häufig angenommen wird (Kelle 1994: 351ff.; Meinefeld 1995: 67ff.; Luhmann 1988: 51ff.; Habermas 1982: 541ff.; Lakatos 1974: 89ff.; Kuhn 1974: 1ff.; Popper 1974: 51ff.). Jeder wissenschaftlichen Beobachterposition bietet sich immer eine Fülle von Erkenntnisobjekten, Gesichtspunkten methodischer Erschließung, eine Pluralität von Beobachtungsmodi, Haupt- und Nebenaspekten, Darstellungs- und Verwertungsmöglichkeiten jenseits einer stark idealisierten „Logik der Forschung“ an; ganz abgesehen von sozialen Wissenschaftlerkonkurrenzen. Im Grunde bedeutet jedes wissenschaftliche Projekt einen gravierenden
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Abbruch des fortlaufenden Beobachtungs- und Argumentationsprozesses (Ritsert 2002: 205f., 209). Wissenschaftliche Antworten sind ebenfalls perspektivische und vorläufige Antworten. Sie bleiben mental und sprachlich von der Umgangssprache, einem Vorverständnis und vom Alltagswissen abhängig, auch wenn sie dazu einen minimalen oder maximalen Kontrast zu bilden versuchen, und sie bleiben auch dann in der Gefahr, bei Publikation ihrer Ergebnisse als absolute, quasi religiöse Antwort missverstanden zu werden. Deshalb ist es sinnvoll, nicht von einer schroffen Trennung von Entstehung und Geltung wissenschaftlicher Befunde, sondern realistischerweise von einem graduellen Unterschied und einer stets riskanten Wechselwirkung beider Forschungsprinzipien auszugehen. Subjektiver und sozialer Sinn divergieren wohl nie vollständig, können aber doch in einem erheblichen Umfang auseinander treten (Müller-Dohm 1993: 39) In diesem Sinn ist dann auch nach anfänglicher Begeisterung die Kindheitsforschung an der neuen methodischen Orientierung einer „Sicht der Kinder“ oder ihrer „Stimme“ auf ihre Grenzen gestoßen. Sie lässt sich viel schwieriger realisieren als viele glauben. Auch eine rekonstruktive und empathische Beschreibung aus der distanzierten Beobachterposition führt nicht zur unmittelbaren Evidenz, sondern ist letztlich eine Erwachsenenprojektion, wenn sie nicht durch eine systematische Verfremdung die Kette von Abweichungen zur Kenntnis nimmt, mit der Kinder laufend die angesonnenen Normalitätsunterstellungen falsifizieren und die selbstgewisse Annäherung erwachsener Forscher blamieren. Gerade deswegen versprechen wohl auch ethnographische Verfahren der oft übersehenen Fremdheit und Andersheit von Kindern, die sich keineswegs mit dem traditionellen kulturellen Grundunterschied zwischen Erwachsenen und Kindern deckt, am ehesten nahe zu kommen, wenn sie zu einem fortlaufenden Perspektivenwechsel und zu dialektischen Maximal- und Minimalkontrastierungen führen (Flick 2000; Augé 1988; Hirschauer 1997). Damit aber erweist sich auch wissenschaftliches Wissen als „Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion“ (Vogel 2003: 218ff.; Waldenfels: 1998). Bislang übersehene Aspekte werden ins Licht gerückt, abduktiv neue Brennpunkte erschlossen. Eine soziologische Analyse, die heute nicht unterkomplex ansetzen will, versagt sich den Reifizierungstendenzen und tautologieverdächtigen Subsumtionen objektivistischer, naturalistischer und ökologischer Fehlschlüsse, die unverdrossen von gegebenen auf wirkliche Lebensverhältnisse schließen, ohne das stets interpretierte Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit unter die Lupe zu nehmen. Soziale Wirklichkeit war und ist nie fix und fertig und komplett „objektiv“ gegeben. Sie wird immer von mehreren möglichen „Verlaufskurven“ (Schütz) umspielt und drängt sich dabei selten direkt auf. Auch der bedrückendste „stumme Zwang der Verhältnisse“ gleicht meist eher der Verführung durch begünstigende oder erschwerende Umstände, nicht selten sogar wenn man von „beschädigter Identität“ der Akteure ausgehen kann (Goffman 1967: 153ff.). Auch die Sozialstruktur kann daher wissenssoziologisch als er- oder entmutigende „Appellstruktur“ (Iser) verstanden werden, die nicht strikt determiniert. Sie kann wahrgenommen, innerlich akzeptiert oder in Mentalrestriktion und innerem Vorbehalt hingenommen, sie kann verdrängt, verbogen, unterdrückt, zugespitzt, verschärft, verweigert und marginalisiert werden. Und sie kann von den Akteuren durch Fragen, Zweifel, Problemscheu und Konfliktunfähigkeit oder die Erfahrung andauernder Unübersichtlichkeit in der Weise vorangetrieben werden, dass subjektiver und intersubjektiv-sozialer oder institutioneller Sinn und Bedeutung deutlich auseinanderklaffen. Selbst ein stark routinierter Alltag verläuft nicht einfach nach Plan und Programm, ist nie frei von kleineren und größeren Überraschungen. In
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allen Lebensbereichen einschließlich der Wissenschaften kann man daher auf erfinderische Improvisationen und Erfindungen stoßen (Müller-Dohm 1993: 39), die fragmentarisches Wissen zu ergänzen suchen. Dies zeigt sich nach de Saussure auch in der Sprache, wo festgestellt werden kann, dass Signifikat und Signifikant nicht identisch sein müssen, und Denotation und Konnotation sprachlicher Ausdrücke oft auseinanderdriften. Dies braucht nun nicht die oberflächliche Folgerung stützen, dass alles relativ und subjektiv sei, und wir allgemein in eine „Patchworkidentität“ postmodernen Zuschnitts hineinschlittern. Dies verhindern in der Regel schon politische Verfassungen, Gesetze, technischorganisatorische Infrastrukturen und Verfahren oder „ultrastabile“ soziale Karrieren und Normalitätsunterstellungen oder das „Gatekeeping“ sozialer Institutionen (Behrens 1996: 16ff.; 2000: 101ff.); und auch immer noch Sinnhorizonte und Wertstrukturen. Soziale Phänomene besitzen daher im Sinne der Konstitutionstheorien des „interpretativen Paradigmas“ alle eine „duale Struktur“ (Giddens 1988): sie sind gegeben wie aufgegeben. Einerseits gilt es sorgfältig die historischen Ablagerungen zu beachten. Zum anderen sind ihre in die Zukunft weisenden „rohen“ und unfertigen Entwicklungslinien quasi idealtypisch zu ergänzen, d.h. kreativ zu „erfinden“, wobei freilich der rekonstruktive Bezug zur Alltagswirklichkeit, der „Konstruktion ersten Grades“ voll gewahrt bleiben muss (Luckmann 2002: 9ff., 157ff.; Meinefeld 1995). Ist nicht längst alles Wesentliche über Kindheit gesagt und gedacht? Vielleicht nur dann, wenn wir Kindheit nur als biologisches oder psychogenetisch-entwicklungslogisches Phänomen betrachten. Wir können aber auch neugierig, durch die Geschichte der Kindheit oder einen Ausblick in andere Kulturen werden. Dann zeigt sich, dass sie auch und mit guten Gründen als historisches Strukturmuster dominierender, konkurrierender, konsensueller oder situativ-verhandlungsabhängiger Sinnzuschreibungen und Wissenskonstruktionen verstanden werden kann, die nie ganz ohne die Kinder selbst zustande kamen und wirksam geworden sind. Sie wurden mehr oder minder im Alltag implizit verstanden, theoretisch expliziert, reflektiert, mitgeteilt, rhetorisch präpariert und sozial inszeniert. Und auf solche Wissenskonstruktionen reagiert dann jede Gesellschaft noch einmal unausweichlich spezifisch. In diesem Sinne sind solche Wissensstrukturen zwar keineswegs immer reflektiert aber reflexiv. So lässt sich etwa zeigen, dass nicht überall eine natürliche oder kulturell invariante binäre Codierung des Grundunterschiedes „jung/alt“ aufgefunden werden, sondern die Gliederung des Lebenslaufs ganz unterschiedlich erfolgen kann (Nemitz 2001: 179ff.). Kindheit ist sicher immer noch eines der naturnahesten sozialen Phänomene. Doch auch wenn die Entwicklungspsychologen die „Entwicklungstatsache“ Kind bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet zu haben scheinen, müsste doch auch beachtet werden, dass viele geläufige Urteile über den Gang kindlichen Aufwachsens mittlerweile anfechtbar geworden sind. Die letzte „unkündbare Sozialbeziehung“ (Beck), die zwischen Eltern und Kindern, erscheint merkwürdig disponibel. Die Existenz von Kindern in der „spätmodernen“ Gesellschaft mit ihren uferlos erscheinenden Flexibilisierungsansprüchen und mit ihren Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin und Biotechnologie ist quantitativ und qualitativ fraglich geworden. Diese Gesellschaft ist sich offensichtlich selbst nicht mehr klar, ob sie kinderfreundlich oder indifferent gegenüber Kindern ist oder sein will. Und manche Eltern und viele Lehrer klagen darüber, dass „Kinder nicht mehr Kinder“ seien. Kurz: die Konturen der Kindheit sind seit einigen Jahrzehnten zunehmend unscharf geworden, auch wenn viele Erwachsene sich immer noch
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nicht entschließen können, obsolet gewordene Stereotype aufzugeben. Eine inflationäre Rhetorik der „Kinderliebe“ steht manchmal einer kinderfernen Lebensführung der Erwachsenen und einer fast zynischen „Kinderpolitik“ krass gegenüber. Selbst die neuere Sprachregelung, Kinder seien nicht länger als nur defizitäre Wesen oder als Heranwachende einzustufen, sondern als Realität aneignende und gestaltende Subjekte (Bründel 1996: 41f.) ist alles Andere als eindeutig: Verkleinert oder vergrößert sich damit der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen? Nur in einigen Dimensionen? Dauerhaft oder vorübergehend? Kinder werden weiterhin als „kindliche“ Kinder oder überraschenderweise (wieder) als „kleine Erwachsene“ angesehen. Doch dieses aus dem Mittelalter vertraute Etikett will ja nicht mittelalterliche Verhältnisse zurückholen, sondern plädiert für den emanzipierten „Kinderbürger“. Damit verschieben sich aber fortwährend nicht nur die Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern, das Verhältnis von Einzeldifferenzen und Gemeinsamkeiten, sondern auch das Bedeutungskriterium von Kindheit. Für immer weniger Kinder muss ein immer größerer Sozialisationsaufwand getrieben werden. Sind Kinder demnach heute bedeutungsvoller oder irrelevanter geworden? Oder lässt sich dies wissenschaftlich nicht oder immer nur im Hinblick auf verbindliche Referenzrahmen oder soziale Konstruktionen entscheiden? Die manchmal problematisierte spätmoderne „Kindzentriertheit“ braucht nicht auszuschließen, dass sie sich noch international ausbreitet (Olk 2003: 106ff., 116). Wenn wir unser Vorverständnis von Kindheit in der Weise gründlich reflektieren, zeigt sich, dass wir Kinder ganz unprätentiös in vieler Hinsicht als uns in aller Vertrautheit fremd gewordene Wesen ganz neu respektieren und erforschen können (Breidenstein 1998). In diesem Sinne ist der Normalfall historischer Kindheit Mehrdeutigkeit und scheinbare Redundanz relevanzfähiger und gesättigter Aspekte, die sich eben nicht anthropologischstrukturtheoretisch zementieren lassen, schon weil eine sorgfältige anthropologische Bestimmung nur auf eine Minimalmatrix formaler Grundbedingungen stößt: Zeit, Raum, Sozialität, Leiblichkeit, Bewusstseinsstrukturen, Intersubjektivität, Kommunikationsfähigkeit (Luckmann 1996: 115f.; Barkhaus 1996). Und selbst diese sind – genauer betrachtet – in aller Regel nicht von historischen Konnotationen und Kontextualisierungen frei. Die Uneindeutigkeit des Begriffes „Kindheit“ liegt nicht zuerst an mangelnder Präzision sozialwissenschaftlicher Definitionen. Sie beginnt schon damit, dass weder Beginn noch Ende der Kindheit völlig unumstritten sind. Sind das intrauterine Leben, die biologische oder die „zweite“ soziokulturelle Geburt, z.B. die Taufe oder gesellschaftliche Aufnahmezeremonien die maßgeblichen ersten Schritte in die Welt (Schuster 1991: 254, 259; Malson 1972: 11ff.)? Sind die sich geschichtlich durchaus verändernde und altersgemäß enorm streuende Pubertät oder die damit oft nur locker verbundenen Initiationsriten das Ende? Besitzt Kindheit in Stammesgesellschaften, Hochkulturen, differenzierten Nationalgesellschaften oder multiethnischen Gesellschaften eine strikt homologe „seelische Zentralität“ (Simmel)? Es spricht vieles dafür, dass sich die historische Opposition von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Deutlichkeit/Undeutlichkeit, Zentralität/Marginalität, Ordnung/Unordnung nicht nur akzidentiell wandelt, sondern in jeweils stärkerer oder geringerer Konsistenz und Kohärenz in soziale Konstruktionen mündet, in denen man Kinder in größerer oder geringerer Distanz beschreibt und dabei auch davon ausgeht, dass Erwachsene in größerer oder geringerer Beteiligung der Kinder Kindheit im Alltag definieren; dies jedoch nie ganz ohne die
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Kinder selbst und ohne Akzeptanz ihres Eigen-Sinns als handlungsfähige Subjekte zu tun vermochte (Rauschenbach 1991: 208ff.). Die Erfindung der modernen Kindheit hatte zur Folge, dass das kindliche Leben nicht mehr beiläufig im traditionellen binären Schema jung/alt untergebracht werden konnte, sondern ca. 400 Jahre bis um 1970 hinreichend eindeutig im Zusammenhang mit der vierstufigen „Normalbiographie“ als scharfer kultureller Unterschied, eigenständige Lebensphase verstanden werden konnte. Mit ihr konnte auch praktisch verbindlich im Alltag umgegangen werden (James 1998: 5; Corsaro 1997: 66). Die Kindheitsforschung hat daher allen Grund, heute von einem bestimmten Spektrum pluraler kindlicher Lebensformen auszugehen, deren Profil sich schärfen aber auch wieder undeutlicher werden kann. „Ausdifferenzierung“ ist dafür ein viel zu grob funktionalistischer Begriff, der die „Mischungen“, Fragmentierungen, Überlagerungen und Schwankungen kaum trifft. Kinder müssen lernen, wie viel und welche Ambivalenz aufgelöst, wie viel und welche transformiert und wie viel und welche gegenwärtig schlicht hingenommen und ertragen werden muss (Kalupner 2003: 212f., 13f.).
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3.1 Kindheit als unterbelichteter Forschungsgegenstand Man könnte es sich leicht machen und die Tatsache, dass bislang Kinder in der Soziologie keinen prominenten Rang besaßen auf eine übliche männlich-erwachsenenzentrierte Einseitigkeit westlicher Gesellschaften zurückführen, die stets etwas herablassend vom „Kinderkram“ dachten (Pieper 1994). Doch es gibt wohl systematischere Hintergründe. Zum einen verhinderte eine modernisierungstheoretisch-entwicklungslogische Methodik die genaue theoretische Erfassung der historischen Spezifik der sozialen Konstruktionen von Kindheit. Kinder konnten so auch in ihrem Hier und Jetzt und in ihrer „biographischen Situation“ nicht angemessen begriffen werden. Viele Kindheitsforscher bemühten sich freilich die traditionelle methodische Sicht anzureichern und biegsam zu machen. Wenn sie etwa versuchen, traditionellen Stereotypen von „der“ Kindheit zu entgehen und verschiedenartige „Kindheiten“ zu beschreiben (du Bois-Reymond 1994: 14f.), ist dieses Ansinnen sicher zu begrüßen. Sie überschätzen dabei aber oft die Möglichkeit eines „Methodenmix“ und unterschätzen die Zahl theoretischer Anomalien. Eine evolutionistische und eine historische Gegenstandskonstitution lassen sich kaum tatsächlich zur Deckung bringen, selbst wenn man Evolution „multilinear“ und Entwicklung als idealtypischen Trend deuten will. Mindestens müssten Gegenbewegungen, Brüche, Fragmentierungen „gegengerechnet“ werden. Eine biegsame Synopse von Modernisierungstheorie und Biographieforschung bleibt reines Desiderat und weist weder Kriterien der Differenz noch der Gemeinsamkeit und Vergleichbarkeit auf. Daher bleibt ein solches Vorgehen, gerade wenn es sich auf die „lebensweltlichen Sozialmilieus der pluralisierten Klassengesellschaft“ beruft, gleichsam auf halbem Wege stecken. Der Modernisierungsbegriff – jenseits einer durchaus fruchtbaren heuristischen, historischen Modernisierungsforschung (von Kondratowitz 1999: 241 f.; Polanyi 1977; Vester 1995) – berücksichtigt viel zu wenig die „gebrochene Intersubjektivität“ kommunikativer Strukturierungen. Eine bloß äußerliche Montage linear-evolutionistischer und historisch-biographischer, in sich stets widerspruchsvoller Gesichtspunkte paralysiert sich selbst. Eng damit zusammen hängt, dass das soziale Phänomen der Kindheit – offen oder halbverdeckt – praktisch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein immer nur im Zusammenhang mit der funktionalen Differenzierung und der Produktionsweise der modernen industriellen Gesellschaften behandelt wurde. Wenn so die Reproduktionssphäre durchgängig von der Produktionssphäre instrumentalisiert wurde, war es auch wenig erstaunlich, dass Kinder und Kindheit immer nur in ihrer Gegenüberstellung zur „Ernstsituation“ betrachtet wurden. Als „Humankapital“ war Kindheit eben immer nur zweckrationales Potential, nicht Aktualität – oder romantisch verklärte und lizenzierte Irrationalität. Selbst wenn immer wieder auch die „edukative Funktion“ neben der Qualifikations-, Selektions- und Kontrollfunktion von Familie und Schule hervorgehoben wurde, blieb diese
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faktisch sekundär. Kindheit war ausschließlich institutionell vorprogrammierter Schutzund Schonraum – mit dem funktional zwingenden Blick auf das spätere „Normalarbeitsverhältnis“ des Erwachsenen. Und ganz im Schatten dieses gesellschaftlichen Verhältnisses war Kindheit eben auch in der soziologischen Forschung ein Randthema. Unterbelichtet waren bis vor wenigen Jahren Aspekte des alltäglichen und außeralltäglichen Lebens ebenso wie die der soziokulturellen Produktion kindlicher Wirklichkeit (du Bois 1994: 11, 13). Selbst Studien zur „antiautoritären Erziehung“ führten nicht zu einer forschungsintensiven Thematisierung des gesellschaftlichen Eigen-Sinns der Kindheit und die heute formulierte Forderung nach wissenschaftlicher und lebenspraktischer „Emanzipation des Kindes“ ist noch 1968 weithin als absurd verstanden worden. Immerhin wurde aber damals der Begriff „Rollendistanz“ rezipiert und auch Kindern gegenüber ihrer traditionellen Kinderrolle zugestanden. Dennoch blieb das Thema Kindheit überwiegend in die Problematik der Erziehungspraktiken eingebettet. Noch lange wurde die Vielzahl und Fülle der Lebensvollzüge und Aspekte vormoderner-moderner-postmoderner Kindheitsfigurationen auf eine relativ homogene Vorstellung von Kindheit als „pädagogischer Provinz“ von Lernen und Spielen reduziert (Jenks 1992: 12f.; Goode 1971: 46). Daneben stand erstaunlich lange die Frage der legitimen und illegitimen Geburt und so eigentlich auch eher die Folgen für Eltern der Kinder im Mittelpunkt. Ganz vereinzelt treten Kinder dann auch als ernst genommene Interaktionspartner der Erwachsenen in den Vordergrund (Braun 1976: 32ff.; Hess 1975). Fast alle neueren Beiträge zur soziologischen Gegenstandsbestimmung des sozialen Phänomens Kindheit sehen dieses bis heute eingepfercht in langfristige Modernisierungsprozesse; seltsamerweise auch noch in einer Zeit, wo zunehmend fraglich wird, ob einfach noch weiterhin von einer stetigen Sequenz relativ homogener Modernisierungsschübe die Rede sein kann, und in einer Zeit, in der Kinder offensichtlich ohne gesellschaftliches Drehbuch auskommen müssen, und Kindheit zur „Kinderfrage“ in mehrfacher Hinsicht geworden ist (Hettlage 1992: 133f.; Honig 1999: 212; Oswald 2000: 13; Zinnecker 1996: 50). Es scheint so, dass eine zu strikte theoretische Orientierung an der Modernisierungstheorie und den „evolutionären Universalien“ (Parsons) verschiedenartiger Kindheiten eher verdeckt, denn ihre sorgfältige Beschreibung zu fördern. Selbst jedoch wenn man von vieldimensionalen und multilinearen Strukturierungen, also von einer komplexen theoretischen Konzeption ausgeht, so ergeben sich aus ihr und eigentlich schon aus der alltagsweltlichen Konstruktion doch immer aufs neue erhebliche Beschreibungs- und Erklärungsprobleme in der Frage der Entstehung, der Stabilisierung und Erosion und sozialen Bedeutung dieses sozialen Phänomens. Nicht länger kann auch die Frage übersprungen werden, welches in einer konkreten historischen Situation die extrafunktionalen Voraussetzungen möglicher gesellschaftlicher Funktionalisierung darstellen. Darum ist es auch völlig abwegig, Kinder auf Erziehung zu reduzieren. Eine solche funktionalistische Erziehung wird zum Selbstzweck, Persönlichkeitsbildung zum funktionalen Residuum. Sie wird dann wie Geld, Macht, (wissenschaftliche) Wahrheit etc. zu einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium; symbolisch, weil es die Einheit der Differenz von Wissen/Nichtwissen (Sozialisationswissen) über Kinder anzeigt; generalisiert, weil es die Kommunikation über den Kreis der Anwesenden hinaus ausweitet und so die andern gesellschaftlichen Medien ersetzt. Bei ungleicher Verteilung von Erzogenheit/Unerzogenheit kann einerseits gesellschaftliche Inklusion durchaus aufrechterhalten bleiben, wird aber die postfunktionale Sicht auf außeralltägliche Kreativität wie Gewalt an und von Kindern völlig unterbunden. So glatt werden hier Kinder in die funktionalen Systemroutinen eingepasst.
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Der Familiensoziologie, die durch die historische Familienforschung ab 1980 richtiggehend „aufgemischt“ wurde, galt jedenfalls das kleine Kind bis vor kurzem ausschließlich als Teil der Kleinfamilie, das rundum durch deren normative Asymetrie bestimmt war. Die neuere Familiengeschichte (Mitterauer 1977; Flandrin 1978; Laslett 1991) legt jedoch viele Hinweise darauf vor, dass das Gedeihen des vormodernen und teilweise noch des modernen Kindes keineswegs von den Eltern allein abhing, und „Elternsubstitute“ manchmal mehr geliebt wurden als die leiblichen Eltern. Historisch zeigt sich, dass Kinder mitnichten seelische Krüppel werden müssen, wenn sie ein tragfähiges Netz außerfamilialer Bezugspersonen finden. Bis heute werden relativ selten die differentiellen Bedingungskonstellationen „multirelationaler Synchronisation“ (Berger 1973: 65)von Kindern in der Familiensoziologie genau ermittelt. Anthropologische, funktionalistische und ökologische Fehlschlüsse unterschlugen hier nicht nur die vorrangigen gesellschaftlichen Zuschreibungen sondern vor allem deren spezifische selektiv-exclusiven Effekte. Psychologie wie Familiensoziologie gingen oder gehen oft noch heute davon aus, dass die Familie vorrangig eine geteilte Wirklichkeit darstellt. Dies mag einmal eine nicht nur normative sondern weithin praktisch gelebte „Familienwelt“ gewesen sein. Heute ist sie recht häufig, selbst wenn sie „funktioniert“, eine viel kompliziertere geteilt-ungeteilte Familienwirklichkeit. Und Kinder spielen darin zugleich eine größere wie eine geringere Rolle (Lüscher 1989: 103). Sicher wurden in der Familie viele neue Entwicklungsmöglichkeiten entdeckt. Doch der in vielen Fällen inkonsistente und instabile Kinderalltag sowie die neuartigen Zumutungen der kindlichen Selbstinszenierungen und Biographien überschreiten bei weitem familiäre und schulische „Sinnregionen“, lassen zuweilen sogar verantwortungsbereite Eltern als ohnmächtig erscheinen. Nicht nur die neue Kindheitssoziologie, sondern schon die von ihr zu erforschende gesellschaftliche familiale Wirklichkeit erfordert somit einen genuin kindheitssoziologischen Ansatz, der auch das komplizierte Spannungsfeld von faktischer Über- und Untersozialisation durchschreitet (James 1998: 23f.; Corsaro 1993: 5ff.). Seit etwa der zweiten Hälfte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts beginnt sich Schritt für Schritt relativ zügig ein Paradigmenwechsel in der Erforschung von Kindern anzubahnen. Weniger interessant erscheint nun, in wiefern Gesellschaft sich ihrer Kinder versichert, sondern wie Kinder mittels der Gesellschaft sich die Welt erschließen. Und heute geht dies theoretisch im Grunde schon weit über das entwicklungslogisch rückgebundene Konzept hinaus, für das Younis auf den Spuren von Piaget den Begriff des temporal und sozial auf die Gleichaltrigen eingegrenzten Ko-Konstrukteurs vorgeschlagen hat (Younis 1984). Institutioneller Ausdruck dieser Wissenschaftsentwicklung war die Gründung der Sektion Kindheitssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in den 90er Jahren. Allerdings kann dies nicht verbergen, dass man nach wie vor in der Soziologie selbst genuin kindheitssoziologische Studien mit der Lupe suchen muss (Leu 2002: 9, 14). Doch insgesamt hat das gesellschaftliche Interesse auch in dem Maße zugenommen, wie die Zahl der Kinder rückläufig und die sozialen Probleme zunehmen, die Kinder tangieren. Der Weg von der Nichtbeachtung zur gesellschaftlichen und wissenschaftlichen (Neu-) Entdeckung der Kindheit entspringt nicht einfach einer autonomen Entscheidung engagierter Sozialwissenschaftler. Vielmehr breitet sich die Bereitschaft international allmählich aus, Kindern eine „Stimme“ zu geben (Alanen 1994: 95; Corsaro 1997: 7f.; Joos 2001: 25f.). Individualisierte „Risikogesellschaften“, die in die internationalen Finanzmärkte geraten sind, scheinen keine Zeit und Geduld mehr für eine „nutzlose“ Vorbereitungsphase zur Verfügung stellen (Elkind 1991: 167f.) zu wollen.
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3.2 Der methodische Blickwechsel 3.2.1 Das Kind als Sozialisationsobjekt Bis in unsere Tage werden Kinder als Adressaten eines Sozialisationsprozesses gesehen, der ursprünglich als vollkommen passive oder rezeptive Übernahme von kollektiven Werten und Normen und deren vollständige Internalisierung verstanden wurde (Parsons 1968: 109ff.). Später wurde deren Unvollständigkeit, die Wechselseitigkeit sozialisatorischer Interaktion, die Möglichkeit kritischer Reflexion und ihre Ambivalenz betont (Habermas 1973; Tilman 1989). Ganz jung ist das theoretisch zwielichtige und selten zu Ende gedachte Konzept der „Selbstsozialisation“. Demgemäß besorgen Kinder ihre gesellschaftliche Konditionierung heute selbst, ja autonom. Auch die späteren begrifflichen Revisionen tilgen nicht den linearen, normativistischen, teleologischen und individualistischen Unterton pluraler Sozialisationsphasen, selbst wenn die Adultozentrik seiner früheren Semantik in der neueren Begriffsverwendung teilweise zurückgenommen wurde. Im Grunde läuft die frühere Konzentration auf ein funktional-evolutionistisches Sozialisationsverständnis in vielen Fällen auf eine problematische Halbierung des soziologischen Blicks bei aller interdisziplinärer Ausrichtung hinaus. Es wird zwar gefragt, wie eignet sich Gesellschaft Kindheit an, nicht aber, wie eigenen sich Kinder diese gesellschaftliche Zumutung an und wie gehen sie typischerweise mit beiden Vorgängen tatsächlich um (Jenks 1992). Dieses Konzept fragt nur nach den funktionalen Folgen, nicht nach den extrafunktionalen Voraussetzungen und Nebenfolgen, und es beachtet schon gar nicht konsequent, dass Sozialisation eine historische und kulturell vermittelte Erscheinung ist. Jedenfalls muss jede Sozialisationsinstanz und jeder Sozialisand, um die eigene Haltung zu vertreten, auf irgendwelche Deutungsmuster und Interpretationsprozesse zurückgreifen, die durch die soziale Kultivierung und Meinungsbildung in der Gesellschaft erst ins öffentliche Bewusstsein eindringen können. Dabei kann die Tatsache durchaus bei genauerem Hinsehen beobachtet werden, dass wie eh und je und heute in besonderer Weise, nicht alles wahrgenommen, gedacht, gesagt, getan und in historisch geprägte Sozialisationsprozesse eingespeist werden kann, weil dafür die Sensibilität und Aufmerksamkeit, aber auch die adäquate Sichtweise und die Beschreibungskategorien fehlen oder weil man dabei auf Tabus und ressentimenthaltige Toleranzgrenzen stößt. Dies verschleiern natürlich die vielfältigen Bemühungen, das Sozialisationskonzept geschmeidiger zu machen und auszuweiten, immer mehr im Sozialisationsbegriff unterzubringen. Im Unterschied zu vielen Protagonisten eines expansiven Konzepts leugnet etwa Zinnecker nicht prinzipiell die begrenzte Reichweite des Sozialisationsparadigmas. Er empfiehlt sogar eine Selbstbegrenzung der Sozialisationstheoretiker. Jedoch signalisiert der Duktus seiner Argumentation, dass er dadurch eine bildungspolitische Schwächung befürchtet und dies auch im Blick auf eine angeblich per se Wissen maximierende interdisziplinäre Zusammenarbeit für einen Rückschlag hält (Zinnecker 1999: 69ff.). Bei anderen Autoren wird das Sozialisationskonzept noch mehr überbewertet. Sozialisation umfasst demgemäß so gut wie alles, was über Kinder zu sagen ist. Damit aber wird das Konzept theoretisch überdehnt und birgt vielerlei paradigmatische Anomalien in sich. Und es idealisiert auch übermäßig, indem extrasozialisatorische Voraussetzungen und faktische Desozialisationsvorgängen einfach unsichtbar gemacht werden.
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Sozialisation wirkt nicht automatisch, unter allen gesellschaftlichen Bedingungen, sie kann misslingen, zur devianten Sozialisation entgleisen, ja massiv zurückgewiesen werden und weitgehend unwirksam werden. Nicht ganz selten hilft auch nachgeholte Sozialisation und Resozialisation nicht im gewünschten Maße. Es zeigt sich dann, dass sie bestimmte körperliche und psychosoziale Erfahrung und sinnhafte Bedeutungen, repräsentativen Symbolisierungen sowie reiches Wissen schon voraussetzt und nicht problemlos zu funktionieren vermag. Und manchmal ist einfach das „Zeitfenster“ geschlossen. Alter, also auch Kindheit, verändert seine Bedeutung und Struktur, also seine serielle Reproduzierbarkeit im Rahmen gesamtgesellschaftlicher, immer reflexiver Rahmenbedingungen von Institutionen, konkreten Organisationen, Gruppen, Interaktionsordnungen, Interaktionsdynamiken und letztlich auch im Leben des einzelnen Menschen (Backes 2000: 7.). So zeigt sich etwa, dass sich Kindheit seit einigen Jahren zugleich verkürzt wie verlängert hat und durch chronologische Daten oder rechtliche Setzungen keineswegs gesellschaftlich hinreichend bestimmt wird. Grenzverschiebungen und neue Grenzziehungen zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sind zu erkennen. Die Indizien häufen sich, dass Kinder im Bereich der Medien, des Konsums wie des Lernens und Spielens, des Umgangs mit Sozialisationsimperativen und Sozialkontrollen, aus historisch sedimentierten Strukturierungen (Strukturen) ausbrechen können. Inwieweit dies reine Übergangserscheinungen sind, oder die Übergänge sich vervielfältigen und zugleich verstetigen, bleibt abzuwarten. Allerdings: weder kann Sozialität und Individualität, noch individuelle Sozialisation und kollektive Vergesellschaftung gleichgesetzt, enthistorisiert und mit dem zeitlos Menschlichen identifiziert werden, weil sich ihr Verhältnis verschieben und verändern kann (Luckmann 1980: 56ff.). Seit langem geht die Sozialisationsforschung davon aus, dass externe Bedingungen nur vermittelt und langfristig wirksam werden können, ohne dass diese historischen Voraussetzungen der Bedeutungsvariation bislang hinreichend untersucht worden wären. Die neuerliche Betonung der Kindheitsforschung, Kinder seien nicht nur defizitbestimmte Sozialisationsadressaten; sondern besäßen vom Babyalter an erstaunliche Kompetenzen, hängt solange in der Luft, solange die stets temporalisierte Bedeutungsrahmung von Sozialisation einfach implizit unterstellt aber nicht explizit wird. Dabei bleibt ein rein entwicklungssoziologisches Sozialisationsverständnis theoretisch unterkomplex, weil es die divergierenden Zuschreibungsprozesse einer rein auf „Überleben“ einerseits und auf ein „gutes Leben“ andererseits orientierten „Entwicklung“ überhaupt nicht in den Blick bekommt (Lauterbach 2000: 5ff.; Lange 2000: 209ff.). Die scheinbar strukturinvariante Herstellung einer Ordnung zwischen Erwachsenen und Kindern bleibt zutiefst, nicht nur in ihren akzidentiellen empirischen Bedingungen, zeitverhaftet und unvollständig; jeweils an reale kulturelle Kultivierungsenergien und an die Umverteilung ökonomischer, sozialer und politischer Ressourcen gebunden (Eisenstadt 1998: 125ff.). Kindliche Handlungsfähigkeit wird nicht kumulativ und endgültig, sondern stets nur prekär gesichert aber auch kreativ herausgefordert. Es besteht auch Grund zu der Annahme, dass nicht alle jeweils vorliegenden Möglichkeiten, Optionen, Intentionen aber auch Risiken voll ausgeschöpft und erlebt werden, weil immer bald Konventionen, Bequemlichkeit, Ideenlosigkeit, Machtverhältnisse und Interessen ins soziale Handeln eindringen. Kinder werden auch immer wieder zum Vergessen bereits erworbenen Wissens veranlasst. Ein Übriges bewirkt die Zerbrechlichkeit und Pluralisierung (familialer) Lebensformen.
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In spätmodernen Gesellschaften laufen daher immer gleichzeitig Sozialisations- und Desozialisationsschübe, Prozesse der Wissensproduktion, -verteilung und Wissenszerstörung ab; manchmal recht eindeutig, manchmal dimensional fragmentiert, zuweilen höchst ambivalent. Schulze weist zu Recht darauf hin, dass heute immer öfter Anforderungen, Fähigkeiten und konkrete Motivverarbeitung und Verständigung mit andern auseinander laufen (2003: 29f.). Wenn sich Kinder trotz allem immer wieder sozialisieren lassen, dann lässt sich die Frage nicht umgehen, was in ihnen oder Erwachsenen vor sich geht, die diese Sozialisation herstellen und akzeptieren. Sozialisation erscheint nicht als „unabhängige Variable“, sondern als ein sekundärer, analytisch abtrennbarer Aspekt komplexer Wissensstrukturen, die kein rein mentales Projekt darstellen, sondern massive praktische Folgen, Nebenfolgen und reflexive Reaktionen auslösen: „Je komplexer und ausdifferenzierter sich die Sozialwelten darstellen, umso mehr gewinnt auch der gesamtgesellschaftliche Wissensvorrat an Volumen, während sich zugleich das Ausmaß und die Qualität intersubjektiv geteilten Wissens verringert“ (Luckmann 2002: 21).
3.2.2 Das Kind als Subjekt Die Pointe der theoretisch-methodischen Wende der neuen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung liegt bekanntlich darin, das Kind nicht mehr als bloß defizitäres Sozialisationsobjekt zu begreifen, sondern von Geburt an seine bemerkenswerten Kompetenzen hervorzuheben, die es als Subjekt und Experte für die eigene Lebensführung von Anfang hat (Stern 1992; Dornes 1993). Kinder werden in diesem Sinne nicht schon voll anerkannt, wenn sie – wie in der neueren Sozialisationsforschung – nur als realitätsverarbeitende Subjekte, nicht aber auch und vor allem als welterschließende Konstrukteure gewürdigt werden. Sie konstruieren und verhandeln – zusammen, neben, gegen Erwachsene – ihre kindliche Wirklichkeit; manchmal sehr eigensinnig. Doch ist der „kompetente Akteur“ dabei nur „aktiv“? Gerade dieses Wechselspiel von Aktivität, Passivität und Rezeptivität schon im Leben des kleinen Kindes und vielleicht noch deutlicher in dem älterer Kinder rückt in den Mittelpunkt eines sozialkonstruktivistischen Verständnisses von Kindheit. Trotz aller strukturellen und funktionalen Zwänge oder institutionellen Konditionierungen kommt Kindheit nie ohne das „Einverständnishandeln“ der Kinder selbst zwischen der „Entdeckung des Seins“, der tatkräftigen „Erfindung praktischer Formen der Lebensbewältigung“ und „zwischen Autonomie und Verbundenheit“ zustande (Goodman 1984: 117f.; Leu 1999: 13f.). Luhmann weist mit Recht gelegentlich darauf hin, dass die Vorstellung abwegig erscheint, erst müsse ein Subjekt sich präsentieren und erst dann könne es kommunikativ handeln. Und eigentlich hatte schon der späte Schütz die Lebenswelt nicht hermetisch subjektiv, sondern subjektiv-intersubjektiv konzipiert, weil er erkannte, dass die Stärke des Subjekts sich erst darin erweist, dass sie sich an positiven und negativen Erfahrungen mit anderen abarbeitet (Luhmann 1986: 65; Schütz/Luckmann 1979: 63ff., 93; Taylor 1992: 118f.; Srubar 1988: 229). Subjektivität (Individualität) ist sozusagen ein prekäres Spätprodukt und keine Morgengabe. Sie setzt immer schon Kommunikation mit anderen voraus. Gleichwohl zeigt sich, dass sie nicht einfach die Summe der Sozialkontakte darstellt, sich vielmehr aus diesen durcharbeitet und diese durchbricht oder transzendiert. Sie ist damit keinesfalls aus „objektiven“ Daten oder Beobachterperspektiven deduzierbar und im strengen Sinn als „Selbst-
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wirksamkeit“ deduzier- und messbar, weil diese einerseits immer schon durch Institutionen und Märkte konditioniert und andererseits als völlig unkonditionierte von einer schieren Beobachterfiktion kaum noch zu unterscheiden wäre (Reckwitz 2000: 182f.). Natürlich lassen sich dafür auch objektive Indikatoren finden. Doch diese sind beobachterabhängig und interpretationsimprägniert. Als idealtypische Artefakte, isolierte Variablen gewinnen sie ihre Verbindlichkeit erst in einem spezifischen Umgang und Kontext und lösen eben dadurch stets reflexive Reaktionen aus. Insofern sich ambivalente Modernisierungseffekte im „Zeitalter der Globalisierung“ nicht mehr verheimlichen lassen, sind die offenen Flanken des modernen Glaubens an die uneingeschränkte Autonomie des Subjekts längst sichtbar geworden. Es lassen sich die Chancen und Risiken nicht mehr klar prognostizieren, und die Minderung sozialen Leids ist weder geographisch noch medial rechzeitig zu beobachten oder gar zu planen. Und das bewirkt natürlich auch eine Enthomogenisierung kindlicher Subjektivität (Beck 1997: 144). Der Subjektcharakter – im Sinne einer „ermäßigten“ Subjektivität – zeigt sich nicht im Optionsreichtum, sondern im nicht zu beseitigenden „Eigen-Sinn“ der Kinder, ohne die wenigstens heute Kindheit, durchaus in global-lokaler Doppelperspektive, gar nicht mehr öffentlich diskutierbar ist (Rauschenbach 1991: 208ff.). Es kann gleichzeitig eine verstärkte Subjektorientierung wie eine undurchschaubare Zunahme funktionaler Abhängigkeiten weltweit entdeckt werden (Bröckling 2000: 10, 13). Die Ungleichheit unter Gleichen wird dadurch nicht etwa kleiner sondern größer. Widersprüchliche Teiltrends werden gleichermaßen verstärkt. Dies kann schließlich dazu führen, dass sich die Unterschiede zwischen bestimmten Kindern und Erwachsenen geringer als die zwischen verschiedenen Kindern erweisen können. Es ist ganz zweifelhaft, ob in dieser Lage geeignete Normen, Regeln, soziokulturelle Entwicklungsaufgaben oder didaktische Verfahren gefunden werden können, die einerseits die Universalisierung politischer Rechte und Lebenschancen ermöglichen und andererseits erlauben, Praktiken zu entwickeln, die zielgenau auf konkrete lokale Lebensbedingungen eingehen können. Soziologisch wären hier gesellschaftliche Bedingungen, Folgen und Nebenfolgen von erfolgreichen Subjektivierungsversuchen zu untersuchen und nicht schlicht normativistisch das Subjekt als vergleichsweise abstraktes Prinzip zu präsentieren. Unverkennbar zeigen sich dabei auch erhebliche Veränderungen der Semantik individueller und sozialer Entwicklung. Es gibt demnach keinen ungebrochenen und umfassenden Trend: „Von der Unterordnung zum Verhandeln“ (Münchmeier). Soziologisch hat die direkte Frage nach dem Subjekt keinen Sinn, weil jeder in die Lage notwendiger Subjektivierung und Biographiekonstruktion kommen, sie aber nicht schlicht als Besitz ausspielen kann. Die Bewertung der Verhandlungsqualität heutiger Kindheit muss auch berücksichtigen, dass neue Pädagogisierungsschübe um sich greifen, professionelle „Coaching-Dienste“ und therapeutische Kampagnen die Identitätssuche von Kindern früher anstoßen, sowohl subkutan zu steuern versuchen als auch eingrenzen. Das „Recht des Kindes“ ist alles andere als eine leicht zu praktizierende Umsetzung einer politisch-rechtlichen Vorgabe, weil deren jeweiliger Gebrauchswert weder von Kindern direkt erfasst werden noch von advokatorisch gesinnten Erwachsenen heute mit Sicherheit getroffen werden kann. Dabei werden Funktionsausfälle oder Funktionsunklarheiten gemeinhin einseitig auf die Defizite von Familie und/oder Schule geschoben oder als persönlichkeitsspezifische Nutzung simplifiziert (Henecka 2002: 34).
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Einerseits wird die erstaunliche Selbstständigkeit von Kindern immer wieder herausgestrichen. Andererseits wird jedoch betont, unbeaufsichtigte Kinder würden zu wenig gefördert und/oder gefordert, dass unprofessionelle Sozialisation bedenklich sei und nicht das Optimum frühzeitig genug und im Sinne einer hirnphysiologischen Strategie aus dem kindlichen Organismus hervorlocke. Selbstständigkeit wird gefeiert. Sie dient manchmal auch pädagogischer Bequemlichkeit und wird immer von neuem unter Kuratel gestellt. Da aber weder zwischen kognitivem Wissen und subjektiven Relevanzen noch zwischen „Assimilation“ und „Akkomodation“ im Sinne Piagets eine strikt notwendige Beziehung unterstellt werden kann, bleibt die Subjektkonstitution sowohl an ihre historische wie ihre biographische Situiertheit und Kontextkonstellation rückgebunden. Nicht selten wird hier in abenteuerlicher Weise unterstellt, dass die „formale Operationalität“ des Denkens auch die Demokratiefähigkeit, die moralische Urteilskraft und die praktische Lebenstauglichkeit begründeten, als hätte z.B. nicht das Dritte Reich bewiesen, dass formale Rationalität politische Weitsicht keineswegs garantiert und sich sogar mit geballter Zerstörungsenergie paaren kann. Die durchaus moderne Subjekttradition (Taylor 1992; Toulmin 1994: 78) dachte Subjektivität als transzendentale Bedingung der Möglichkeit von individueller Verantwortlichkeit und politischer Mündigkeit. Dabei wurde einer humanistischen Bildung und intensiven Erziehung eine zentrale Funktion zugewiesen (Honig 1999: 91ff.): der Mensch kann erst durch Erziehung Mensch werden. Wer seine Vernunft nicht oder nur eingeschränkt artikulieren konnte und dennoch Menschenantlitz trug, stand jedoch – besonders klar in der Zeit des Nationalsozialismus – in der Gefahr, als Mensch nicht voll respektiert zu werden. Kinder allerdings wurden manchmal für „altklug“ gehalten und gerade deswegen als nicht besonders wohl geraten betrachtet. Auch strukturtheoretische Kompetenztheorien in der Psychologie nehmen die manchmal „befremdliche“ kindliche Vernunft nicht im vollen Umfang ernst. Systematisch gehen sie von einer gewissen Äquilibration von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik aus. Sie beruhigen sich mit der Vorstellung, ein Nichterreichen entsprechender Lernmaxima beruhe auf Hindernissen, die der Verwirklichung strikt objektiv vorgezeichneter Möglichkeiten im Wege stünden. Sie verweigern einen unverstellten Blick auf die „Schwerkraft“ biographischer Beharrung, Zögerlichkeit, emotionaler Schübe und lebenspraktischer Kontingenzen, die sich in paradoxen Problemlagen manifestieren: Alte Probleme werden bekämpft, neue entstehen daraus… Es ist auch wohl zu einfach, im Sinne einer evolutionistischen Modernisierungstheorie Kinder nach den Frauen zum letzten Emanzipationsdesiderat hochzustilisieren oder durchgängig zu Außenseitern oder zu einer sozialen Minderheit zu erklären. Und werden nicht u. U. Kinder gerade erst durch ungeplante Nebenfolgen einer auf unbeschränkte ökonomische Flexibilisierung kanalisierten Moderne tatsächlich zu einer sozialen Randgruppe (James 1998: 55ff., 30f.)? Modernisierungstheorien neigen nach wie vor dazu, strukturelle Disparitäten einfach als Entwicklungsrückstände der Subjektgenese einzustufen, die irgendwann aufgeholt werden können. Dass sich auf dem Weg weiterer Entwicklung verschiedene Entwicklungspfade trennen und sich eine ganz andere Transformation anbahnt, wird überhaupt erst nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums kritischer diskutiert (Müller 1998). Dabei kann als „intervenierende Variable“ die Rolle der (politischen) Kultur nicht länger übersehen werden (Offe 1994: 135f., 230; Böckenförde 1976; von Beyme 1991). Die moderne Subjektivität zehrt dabei aus Sinn- und Wissensbeständen, die sie nicht selbst zu schaffen vermag. Während Struktur- und Systemtheorien und manche Poststruktu-
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ralisten die reale Funktion von Subjektivität unterschätzen oder sogar negieren, nehmen manche Handlungstheorien an, subjektives Handeln rein rational erklären zu können und legen die abwegige Vermutung nahe, alles stehe immer einer völlig freiwilligen Selbstfindung gleich offen. Durchaus geläufig ist die Vorstellung, es sei gleichgültig, was Kinder vertreten. Die Hauptsache sei, dass sie sich durchzusetzen in der Lage wären, solange sie sich im relativ breiten Spektrum des Akzeptablen bewegten. Diese Vorstellung von „Selbstwirksamkeit“ vergisst, dass sie stets auf eine bestimmte historische und biographische Anforderungsstruktur zu reagieren haben, die sie sich nicht selbst aussuchen können (Leu 1999: 16f; Kalupner 2003: 196f., 200). Damit aber wird offenbar, dass Subjektivität kein selbstzufrieden zu verdauender Besitz darstellt, sondern auch in ihrer begrenzten Autonomie eine responsive Qualität annehmen kann, die weit über eine strukturelle Identitätssicherung hinaus geht, ja sogar die potentielle Repressivität und Verengung jeder Identität kreativ zu sprengen vermag (Waldenfels 1994: 16f.; Joas 1996: 365f., 368). 3.2.3 Das Kind als kompetenter Akteur Soziologische Handlungstheorien suchen den Subjektbegriff für das Verständnis gesellschaftlicher Handlungsgeflechte und Ordnung fruchtbar zu machen. Subjekte sind demnach dadurch ausgezeichnet, dass sie als kompetente Akteure soziales Handeln in Gang bringen und als Träger sozialen Wandel gestalten können. Dabei zerfasert das moderne Subjektmodell jedoch in einzelne temporalisierte Handlungsdimensionen und institutionelle „Wertsphären“ (M.Weber). Als generelle Tendenz zeichnet sich ab: nicht der Wandel und die Statusinkonsistenz, sondern die fragwürdig gewordene Stabilität und die (manchmal fragwürdig verhärtete) Statuskonsistenz des spätmodernen Akteurs werden immer mehr zum vorrangigen theoretischen Bezugsproblem (Berger 1973: 72). Die individuellen und die dem Akteur soziokulturell von der Öffentlichkeit zugespielten Deutungsmuster des Subjektverständnisses und die scheinbar völlig individuellen, tatsächlich aber aus kulturellen Motivkatalogen nur auswählenden Motivationen sind jedoch nicht an sich, wie die dominante, psychologisierende Interpretation suggeriert, geeignet, soziales Handeln zu mobilisieren und führen in der Tat nicht automatisch zu gesellschaftlicher Inklusion und gesellschaftlich-politischer Partizipation. Sie müssen vielmehr zum konventionellen Meinungsklima passen, eine scheinbare oder tatsächliche Affinität zum geläufigen Habitus des „Durchschnittsmenschen“ aufweisen, die bestehenden sozialen Institutionen nicht allzu sehr herausfordern, eher den Eindruck begünstigen, sie seien als Anregung oder Ergänzung oder als verwertbare Innovation zu verstehen. Vor allem aber müssen sie auch eine gewisse Plausibilität in der intergenerationalen Lebenswelt ausstrahlen, die gar nicht reflektiert zu sein braucht. Gesellschaftliche Resonanz kann daher sehr verschiedene Formen und Grade der Verbindlichkeit annehmen. Handelnde Kinder fallen in diesem theoretischen Horizont keineswegs durchgängig als schutz- und hilflose Wesen auf, sondern als Akteure mit beachtlichen Kompetenzen und Experten ihres Alltags von Anfang an. Eher erregen sie heute Aufmerksamkeit als aufreizend kecke Subjekte, ja vielleicht in manchen Fällen sogar als „Tyrannen“ (Prekop 1988). Vergleichbare Etikettierungen, wie etwa die von Parsons festgehaltene, Kinder seien „barbarische Invasoren“ trauten sich bis vor kurzem niemals an die Öffentlichkeit (Parsons
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1951: 208). Dies verweist auf einen kompletten Strukturwandel von Kindheit. Neue Eindrücke dringen viel tiefer in die Vorstellungen und Handlungsdimensionen der Gesellschaft ein als frühere Kinder- und Jugendmoden (Zeiher 1996: 7; LSB 2002). Offensichtlich gerät das Kind gleichzeitig, da es von Seiten der Kindheitsforschung als Subjekt und kompetenter Akteur konzipiert wird, als realer Akteur in einen Sog widersprüchlicher Wahrnehmungen, Bewertungen und Fremd- und Selbstzuschreibungen, die das immer noch nicht verschwundene, aber problematisierte typisch moderne Bild des sich entwickelnden Kindes überlagern. Allerdings hindern tief sitzende kulturelle Stereotype viele Erwachsene daran, das Ausmaß sozialen Wandels voll zu erfassen. Wenn also der Subjektbegriff heute oft durch den des Akteurbegriffs ersetzt wird, heißt das nicht, dass man mit dem Nachlass des modernen Subjektkonzeptes so ohne Weiteres fertig geworden ist. Angesichts der Plastizität menschlichen Handelns müssen wir auch Lebensbedingungen und gesellschaftliche Situationen beachten, die einerseits durch zählebige kulturelle Stereotype, andererseits gerade nicht durch genetische, ontogenetische oder langfristig wirksame Entwicklungsprogramme und Definitionen von Entwicklungsaufgaben determiniert werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Akteur nicht einfach durch Aktivität und beliebige Umtriebigkeit, sondern durch einen ganz bestimmten Handlungsstil, ganz bestimmte Entscheidungsmöglichkeiten, unterscheidbare Gelegenheitsund Opportunitätsstrukturen sowie ein ganz spezifisches institutionelles und habitualisiertes intergenerationales Arrangement kindlichen Verhaltens hervortritt. Und dabei wird zugleich deutlich, dass je nach den verschiedenen Bedingungen der sozialen Umwelt die einzelnen Gesellschaften einen besonderen Akzent auf Abgrenzung, den inneren Zusammenschluss und die Handlungsbereitschaft einerseits oder auf die transnationale Verflechtung und offene Übergänge nach außen legen können, um Menschen, Güter und Ideen austauschen zu können oder um internationalen Einfluss zu gewinnen. Die spezifische Qualität des Akteurs erschließt sich erst einer Analyse der historischen, raumzeitlichen und medialen Einbettung der Akteure. Sie zeigt sich weniger darin, dass Kinder über sich selbst uneingeschränkt Bescheid wissen, sondern wie sie ihr Wissen, auch ihr Wissen über die Sozialisation, praktisch u. U. mit großer Umsicht auszuspielen vermögen (Stern 1992: 334) und sie die „Fenster zur Welt“ nutzen. Wichtig bleibt dabei, dass verstanden wird, dass die Intentionen des Handelns nie einfach Abläufe eines hermetischen Bewusstsein darstellen, sondern schon unmittelbar nach der Geburt beim Kind eine mindestens zweistellige, dynamisierbare Relation zwischen sich und seinen Objekten bilden, die von einem Bestimmungs- und Normalisierungsprozess strukturiert wird. So entstehen Berührungspunkte, Knoten, Naht- und Schnittstellen, allmählich auch durchgängigere Schnittmengen zwischen dem kindlichen Akteur und den in sein Leben eingreifenden sozialen Prozessen (Keupp 1991). Dies ist aber keine lineare oder kumulative Entwicklung. Und sie bleibt zeitlebens prekär, wenn wir dies auch im Alltag eher peinlich berührt verdrängen. Handlungsfähigkeit ist daher keine ein für allemal erworbene Kompetenz, was man an ihren empirischen Schwundstufen erkennen kann. Es darf auch nicht länger übersehen werden, dass die notwendigen Konstruktionsprozesse realer Kindheit in zentripetale und zentrifugale Entwicklungstendenzen hineingezogen sind, kindliche Konstrukteure weder erwachsen, autonom im strikten Sinn, noch uneingeschränkt selbstreferentiell auftreten können (Leu 1999: 17). Seit ca. 400 Jahren sind es vor allem Pädagogen, die sich Gedanken über die kindliche Handlungsqualität machen und über eine entsprechende, gesellschaftlich weitgehende anerkannte Semantik die Handlungskapazität des kindlichen Akteurs wesentlich mitdefinieren.
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Ihr Wissen ist wohl unverzichtbar. Doch haben sie sich nicht nur als Profession unentbehrlich gemacht, sondern sehr oft durch den normativen Appell der „Kindgemäßheit“ oder „Kindergerechtigkeit“ die „Selbstständigkeit“ der Kinder ein wenig abstrakt gefördert. Doch war die Janusköpfigkeit aller Pädagogisierung vielleicht bis zur Kontroverse zwischen Ariès und de Mause einigermaßen verdeckt. Pädagogisierung leitet eine Universalisierung der Wissenskriterien ein, weitet aber zugleich verdeckt die Kontrollmöglichkeiten aus und perfektioniert sie „intrinsisch“. Dieses Janusgesicht der professionellen Erziehung zeigt sich besonders deutlich in Zeiten der politischen Krise und der politischen Restauration oder Revolution: wer die Kinder hat, hat die Zukunft. Was nicht durch gegenwärtige Politik zu erreichen ist, das wird zur Erziehungsaufgabe deklariert. Die „Emanzipation des Kindes aus der fürsorglichen Belagerung“ durch Erwachsene, wie das Qvortrup und Beck fordern (Qvortrup: 1993; Beck 1997), zielt weniger auf eine kulturelle Nivellierung des Unterschiedes zwischen Erwachsenen und Kindern, sondern auf eine stärkere Beachtung der Unterschiede der politischen Chancen. Er bietet zudem implizit einen Hinweis darauf, dass Kinder sich immer wieder dem pädagogischen Zugriff zu entziehen suchen und nicht (mehr) ausschließlich pädagogisch definiert werden können, auch wenn sie begrenzt weiterhin Erziehung und Fürsorge brauchen. Dies erfordert eine differentielle soziologische Beschreibung: Kindheit hat viele, auch sehr zeitbedingte transsituative, typische Gesichter. Doch auch hier zeigt sich das theoretische Dilemma, Kinder zugleich als selbstständig und kompetent und in einer konstitutiven Spannung zu ihren kausalen oder korrespondierenden sozialen Kontexten aus der Beobachter- und Teilnehmerperspektive zu konzipieren. Schon die alltägliche Kommunikation besitzt daher konstruierende Züge, die „Realitätsakzente“ erst setzt. Sie spielt sich als ein ständiges Vor- und Zurückgehen zwischen der ersten, zweiten und dritten Person etc. in gedanklichen und praktischen Vor- und Rückgriffen ab, wodurch wir die Rolle des Sprechers, des Zuhörers und des unbeteiligten Zuschauers, des Täters und des Opfers oder (scheinbar unbeteiligten) Dritten einnehmen können (Elias 1992). Kinder folgen der Sprache oder unausgesprochenen sozialen Erwartungen nie blind und undistanziert. Sie erkennen oder erfahren vielmehr meist intuitiv, dass sie den Anderen brauchen, um einander zu verstehen, sich miteinander über das Nichtselbstverständliche zu verständigen, zu kooperieren und selbst um zu streiten (Krappmann 1993). Man darf jedoch Reziprozitätsunterstellungen nicht mit sprachlichem Konsens verwechseln. Sie hängen zusammen, doch decken sich die „Sprache der Worte“ und die „Sprache der Taten und Praktiken“ nie vollständig: Sie bleiben überdies beide prekär und hypothetisch, wenn sie nicht mit magischen Beschwörungen verwechselt werden. Auch sprachlich-praktische Wirklichkeitskonstruktionen oder Symbolisierungen bleiben zerbrechlich. Und selbst wenn Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern zu „funktionieren“ scheint, kann dies „Leerlauf“ sein, Dialog vortäuschen, wo es sich faktisch um einen parallelisierten Monolog handelt. Soziale Wirklichkeit lässt sich also nicht in verbale Kommunikation auflösen (Luckmann 2002: 12, 124f.). Kommunikationsprozesse, die sich in einem kulturellen Kontext abspielen, schlagen sich in Kommunikationsmustern nieder, die alle einen pragmatischen und praktischen Aspekt besitzen. Die komplexeren Praktiken münden zwar nicht in eine universale Entwicklungs-, wohl aber in eine transsituative Handlungslogik ein. Sie kann unter Umständen langfristig und transkulturell ausgeweitet werden, bleibt aber immer im Bereich einer soziologischen „Theorie mittlerer Reichweite“ (Grathoff 1989: 127f., 171ff.).
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Der Begriff der Handlungslogik ist zwar nicht universalistisch, aber vor allem deswegen nicht kulturrelativistisch verkürzt, weil er implizit auf die Selbstrelativierung der Kultur durch Konfrontation mit anderen Kulturen und die Situiertheit jeglicher Konstruktion, also relational angelegt ist (Merleau-Ponty 1967: XIII, 17). Sie bezeichnet dann nicht eine „autopoietische“ Intentionalität, sondern geschichtliche Formen und bestimmte Serien gesellschaftlicher Welterschließung, Weltaneignung und Weltauslegung, die sich jeweiligen historischen Herausforderungen stellt. Plurale und disparate Handlungsbedingungen und Handlungsfolgen provozieren schon bei Kindern einen Prozess semiautonomem In-Ordnung-Bringens, da sie sich auf etablierte Ordnungen nicht mehr selbstverständlich verlassen können. Kinder spüren auch offenbar die Kluft zwischen gesellschaftlichen Verheißungen und der wirklichen Bereitschaft zur Einlösung von Versprechen. Dennoch sind sie immer wieder zu „Neuanfängen“ bereit. Neben Kompetenzen und Defiziten sind Kinder anscheinend auch mit einer bemerkenswerten Unverletzlichkeit und Robustheit ausgerüstet, die zuweilen Defizite kompensiert und ein Verhandlungspotential in der Gestaltung der Beziehung der Generationen darstellt (Oerter 1993;Zeiher 1996: 9). Dem steht unsere Gesellschaft manchmal fassungslos gegenüber und versucht ihre Ratlosigkeit mit zusätzlichen Professionalisierungsanstrengungen, neuer Expertise, neuen sozialpolitischen Programmen und neuen Diskursen und öffentlicher Rhetorik über Kindheit zu kompensieren. Es gibt zwar auch heute angepasste „liebe Kinder“. Doch es ist auffällig, dass viele sich als „störender“ bemerkbar machen, als es selbst noch die Rede von der „Ausdifferenzierung der Kindheit“ vermuten lässt. Der „kompetente Akteur“ muss daher vorrangig in seiner sozialkonstitutiven Funktion, in der er Beziehungen hervorbringt, stabilisiert, auflöst, also immer neu herstellt, untersucht werden. Es geht nicht darum, ob und wie er zu sozialstrukturellen Rahmenbedingungen „passt“, sondern darum, ob und wie noch Unpassendes passend gemacht, in Ordnung gebracht werden kann. 3.2.4 Die Differenzierung einer gesellschaftlichen Binnen- und Außensicht Schon Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zeichnet sich bei der Formierung einer sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung ein Rückgriff auf zwei oppositionelle Theorietraditionen ab. Während die eine Richtung den kindlichen Alltag als bevorzugten Forschungsgegenstand handlungstheoretisch untersuchen wollte, favorisierten andere Forscher strukturtheoretische Untersuchungen, suchten gleichsam die theoretische Transformationsgrammatik des Alltags in der relationalen Struktur des sozialen Status und entsprechender Statuspassagen eines vorgeordneten Generationenverhältnis. Es zeichnete sich aber auch schon damals das Desiderat einer theoretischen Synthese ab, die durch die Rezeption verschiedener neuerer Theorieentwürfe heute eher möglich erscheint (du Bois-Reymond 1994: 15, 17, 25). Symptomatisch dafür war der Vorschlag Zeihers (Zeiher 1996: 7ff.), eine integrative Sicht dadurch zu gewinnen, dass die Binnenansicht einer entwicklungsnahen, aber auch individualisierten Alltagspraxis mit der Außenansicht ihrer intergenerational-institutionellen Anschlussfähigkeit kontrastiert werde. Es gehe dabei nicht um eine harmonische Gesamtsicht, sondern darum, die volle sowohl vom handlungsnahen Alltag wie widersprüchlichen Strukturimperativen bestimmte kindliche Lebenswirklichkeit zu erfassen.
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Auf den ersten Blick klingt das sehr plausibel. Jedes Kind stößt schon in seinem Alltag auf Widerstände, objektive Grenzen einer Außenwelt. Konventionell korrespondiert oder korreliert dieses Außen fast durchgängig und relativ stabil und problemlos mit einem Innen, das mehr oder minder konsequent strukturgenetisch als Entwicklung der Individualität durchbuchstabiert wurde. Jeder Beobachter wird zwanglos veranlasst, durch bloße Blickwendung diese Innen-Außen-Dichotomie nachzuvollziehen. Doch eine solche natürlich erscheinende Beobachtung erfolgt stets von einer bestimmten Beobachterposition aus und nicht von nirgendwo oder überall her. Sie setzt einen relativ stabilen Beobachterstandpunkt, stabile Beobachtungs-, Unterscheidungs- und Vergleichbarkeitskriterien und eine Konstanz des Substrats sozialer Phänomene voraus, die wahrscheinlich nie vollkommen gegeben war und heute noch viel weniger vorausgesetzt werden kann. Bei aller Nähe zu Mead hatte dies bereits Schütz gesehen, bei dem die bei Mead quasi transzendentale, unausweichliche ansozialisierte Rollen- und Perspektivenübernahme zu einer rein heuristischen oder explorativen, durchaus prekären „Reziprozitätsunterstellung“ abgeschwächt wurde (Schütz 1979: 26; Behrens 1996: 17ff.). Damit treten die Übergänge und die „Zwischenwelten“ in ihren prozesshaften Positionierungen in den Mittelpunkt des theoretischen Interesses und werden zu einer voraussetzungsvollen kritischen Gestaltungsaufgabe (Handlungslogik) – fern jeder – handlungs- oder strukturtheoretischen Automatik. Hypothetisch werden hinter Einzelschicksalen unterschiedliche Subjektmodelle, aber auch unübersichtliche oder unerwartete sozialstrukturelle Muster sichtbar, die auf relevante Bedeutungsverschiebungen konkurrierender intergenerationaler und aneinander gekoppelter sozialer Kontexte verweisen. Daher ist die weitgehende Gleichsetzung der Binnen- und Außensicht mit dem geläufigen Deutungsmuster „Entwicklung“, das einerseits für die „objektiven“ Verlaufsformen von der Modernisierungstheorie, andererseits von der entwicklungspsychologischen Strukturgenetik für die Strukturgenese des Subjekts fast wie selbstverständlich in Anspruch genommen wird, fragwürdig. Bis vor kurzem gingen beide Theoriestränge davon aus, es gäbe eine und nur eine irreversible Entwicklung (Müller 1998; Grundmann 1999). Diese Prämisse wäre nur dann gerechtfertigt, wenn sie einer zeitlosen, anthropologischen Information eines Gottesstandpunktes und nicht nur einem zeitbedingten Forschungsstand entnommen werden könnte. Doch gerade gegenwärtig muss sich sowohl die soziologische Modernisierungstheorie wie die strukturgenetische Entwicklungspsychologie mit einer enormen Relativierung abfinden: Es gibt nicht nur Störungen, Hindernisse und Gegenbewegungen, sondern auch immer mehrere kulturabhängige Entwicklungsvarianten und -pfade und es gibt ein nur konstruktiv zu bewältigendes „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Offe). Der Gesamtkomplex von Wahrnehmungs- bzw. Handlungsorientierung und Wahrnehmungs- und Handlungszusammenhang wurde in der Neuzeit, spätestens durch Descartes mit seiner Dichotomie von „cogito“, „res cogitans“ und „res extensa“, grundlegend anders als zuvor im onto-theologischen oder kosmologischen Denken konzipiert und nun durchgängig unter den Gesichtspunkten „subjektiv/objektiv“ oder „Innen/Außen“ differenziert (Toulmin 1991: 122; Taylor 1996: 235ff.). Die Wirkung dieser Subjekt-Objektspaltung wirkt bis heute im Alltagswissen und in den Wissenschaften nach. Seit über hundert Jahren findet sie aber auch, zunächst vereinzelt, Kritik. Dabei wird deutlich, dass künftig unbedingt auch Grenzen und Reichweite dieser Denkweise zu bestimmen sind, d.h. kritisch nach den in ihr eingebauten Selektionsmaßstäben und ihrem historisch gesättigten Vorverständnis zu fahnden ist. Innen und Außen sind also keine unproblematisch substantiellen,
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sondern relationale und kontextabhängige Leitgesichtspunkte, die zur Privilegierung bestimmter Begründungs-, Beschreibungs- und Wahrnehmungstypen gegenüber anderen führen und diese später problematisch erscheinen lassen. Überdies stößt auf dem Hintergrund des Cartesianischen Denkstils der Versuch, aus der Geschichte Kriterien der Abgrenzung von Alter oder eine Bestimmung von Lebensphasen auf die Gegenwart und aus der Gegenwartsgesellschaft gewonnener Kriterien auf die Vergangenheit zu übertragen und dabei schlicht das Schema Innen/Außen und homogene synchrone Bezugspunkte zugrunde zu legen, schon bei wenig komplexen Sachverhalten über relativ kurze zeitliche Distanz auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Wenn die Binnenwahrnehmung einen Teil einer Perspektive oder Theorie darstellt, dann wird in dieser immer auch ein Teil äußerer Normalitäts- oder Problemzuschreibung mit aufgenommen. Grenzlinien können weder strikt noch unveränderlich gezogen werden. Innen/Außen bleiben relationale Gesichtspunkte (Ritsert 2002: 232). Neben der Einbindung in weit zurückliegende kulturelle Horizonte wirken auch synchrone Routinen, Konventionen und Machtverhältnisse in der kognitiv-lebenspraktischen Wahrnehmungsdifferenzierung nach. Da jedes Innen eines Außen bedarf und jedes Außen das Außen eines Innen ist, erweist sich jede solche Dichotomie tatsächlich als zutiefst historisch imprägniert, als ein Übersetzungs- oder Konstruktionsprodukt innerhalb einer Übersetzungs- und Konstruktionsgeschichte. Im Rahmen solcher Strukturierungsprozesse oder Sinnrahmungen kann allerdings die eine oder andere Seite, das Innen oder das Außen, momentan oder dauerhaft stärker akzentuiert werden. Die Produktion von Wissen kann sich jedoch nicht einfach als Informationsvermehrung verstehen. Sie fordert Ordnungs- und Vergleichsmaßstäbe, die Wahrnehmungswiederholungen, Relevanzbestimmungen und zugleich Transfer und Transformation gestatten (Luckmann 2002; 1996). Die Binnenwahrnehmung, die meist als völlig selbstverständlich geltende Entwicklungsperspektiven und neuerdings die vielfach faktisch von Erwachsenen advokatorisch betriebene „Sicht des Kindes“, nicht einfach die Selbstzuschreibung von Kindern, und die Außenwahrnehmung mögen sich zu früheren Zeiten weitgehend gedeckt haben, fallen heute aber nicht mehr einfach problemlos zusammen (Zeiher 1996: 10ff.). Ebenso wenig konvergiert der Blick von der Sozialstruktur (top down) auf das einzelne Kind und der Blick des einzelnen Kindes auf die Sozialstruktur (bottom up). Deren mögliche Kompatibilität, nicht deren Divergenz, ist heute das eigentliche methodische Problem der Kindheitsforschung. In der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung sind Kinder vor allem ökonomisch sehr bedeutungsvoll, während sie privat ökonomisch eher nutzlos erscheinen, und vor allem Gefühle und kulturelle Sinnstiftungsprozesse auslösen. Genauer betrachtet werden sie einerseits weiterhin durch das traditionelle Bildungsmoratorium qualifiziert und so zum künftigen Humankapital, andererseits zur „Quelle des Selbst“ (Taylor) der Eltern und zur sozialen Ressource, die sich gegen eine nur ökonomische Vereinnahmung wehrt. Kindheit differenziert sich nicht einfach aus, wie viele Kindheitssoziologen im Fahrwasser funktionalistischer Anschauungen mutmaßen. Sie wird paradox: je genauer kindliche Defizite, Notwendigkeiten des Schutzes und der Förderung, kindliche Bedürfnisse spezifiziert werden, umso stärker wird auch die Möglichkeit der Pädagogisierung, Therapeutisierung, der sozialpolitisch motivierten Verrechtlichung und der Pathologisierung gesteigert. Im Banne solcher „Introspektion“ wuchs in der frühen Neuzeit auch die Sensibilität für kindliche Individualität, die allerdings sogleich als „Entwicklungstatsache“ binär codiert wurde. Individualität als Entwicklung sollte im Bildungsmoratorium der Kindheit
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(und später auch der Jugend) in einer Sonderrolle und dem von der Zeit des „Aufwachsens“ bestimmten Sonderstatus des Kindes ihren gesellschaftlichen Ausdruck finden. Kinder wurden dabei faktisch als zeitweilige gesellschaftliche Außenseiter behandelt, die erst allmählich zu Vollmitgliedern der Gesellschaft werden konnten (Zeiher 1996: 10). Wenn man von der Abhängigkeit sozialwissenschaftlicher Theoriekonstruktionen von den Alltagskonstruktionen der Wirklichkeit in sozialräumlicher, sozialzeitlicher und sozialkontextueller Hinsicht ausgeht, lassen sich nicht ohne weiteres Binnen- und Außenperspektive trennen, kontrastieren oder gar substanzialisieren. Die Herstellung sozialer Beziehungen und historischer Kulturmuster unter sozialstrukturellen Rahmenbedingungen ist ja nur dann gesichert, wenn ein Kind auf ein Netz sozialer Beziehungen und „kulturelles Kapital“ (Bourdieu) zurückgreifen kann, das selbst nicht einfach gegeben ist, sondern fortlaufend in der Praxis des einzelnen Akteurs und in seinem praktischen Wissen erprobt werden muss (Hoerning 2000: 15f.). Und dieses Wissen stößt soziale Reaktionen und biographische „Zwischenbilanzen“ an. Nicht die Einweisung in gegebene soziale Positionen und Sozialbeziehungen, sondern die erfolgreiche Relationierung und Positionierung sind die Grundlagen solcher konstruktiver Zwischenbilanzen und Zwischensynthesen heterogener sozialer Prozesse. Die „Erfolgsgeschichte der modernen Kindheit“, das Modell des Erziehungs- und Bildungsmoratoriums, strahlte sehr einseitig die Verantwortung der Eltern an, blendete aber die (z.B. in der europäischen Vormoderne durchaus greifbaren) anderen sozialen Verantwortlichkeiten und Solidaritäten ab. „Innen“ und „Außen“ stellen sich also historisch zuvor völlig anders dar. Transfamiliale Solidarität zwischen der jüngeren und der älteren Generation wurde in den letzten zwei Jahrhunderten immer schwächer, obwohl sie bis heute immer wieder leidenschaftlich beschworen wird. Sie schrumpfte im Wesentlichen zu einem „Generationenvertrag“, der genau genommen nur eine charmante Legitimation marktzentrierter sozialer Sicherungssysteme darstellt. Ökonomisch entscheidend sind ja die Zahl der Beitragszahler, die Zahl der versicherungspflichtigen Beschäftigten, der registrierten Arbeitslosen, der freiwillig Versicherten und der Krankengeldbezieher sowie deren jeweiliges durchschnittliches beitragspflichtiges Einkommen, also insgesamt Marktgrößen, nicht Jahrgangskohorten oder Generationen (Butterwegge 2004: 264; Hengsbach 2002: 17). Die Kinder selbst wollen heute offensichtlich einerseits den vollen Respekt eines Mitglieds der Gesellschaft und fühlen sich gerade deswegen nicht nur als Träger der Kinderrolle im Hinblick auf die vielen Ereignisse und Situationen ihres Kinderlebens. Sie sind unentwegt damit beschäftigt, Handlungsspielräume auszuschöpfen, subversive Wege ausfindig zu machen, Alternativen zu erspähen, also die Grenzen zwischen Innen und Außen zu verschieben. Damit geraten sowohl entwicklungspsychologische Entwicklungsprogramme wie das Generationenverhältnis und die institutionelle Ordnung unter einen dauernden, allerdings selten durchschauten Legitimationsdruck, auch wenn sich weit und breit kein Generationenkonflikt zeigt. Die „Erfolgsgeschichte der Kindgerechtigkeit“ bringt Kindern nicht nur mehr Zuwendung, sondern auch mehr gesellschaftliche Indifferenz, gerade weil sich die Gesellschaft auf eine anspruchsvolle advokatorische Ethik bei Eltern und Sozialpolitik für Kinder verlassen zu können meint (Honig 1996: 9; SZ 9.11.2004; Zeiher 1996: 13f.). Es erscheint daher heute weder notwendig noch möglich, die Binnenperspektive mit der entwicklungslogischen Beobachterperspektive gleich zu setzen und weiterhin soziale Individualität mit Entwicklung zu identifizieren.
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Gerade weil die Wendung des Blicks von Innen nach Außen so nahe liegend scheint, drängt sich die Frage auf, warum ihn nicht alle und alle in der gleichen Weise und zum selben Zeitpunkt und jederzeit vollziehen und er nicht alle erreicht. Sozialer Wandel hängt nie nur von einer immanenten Entwicklung ab, sondern ist häufig von außen induziert oder zumindest begünstigt. Er spielt sich oft in einem komplizierten Spannungsfeld „zentripetaler“ und „zentrifugaler“ Kräfte sozialer Prozesse zugleich ab. Eine strukturstabile rein und nominalistisch verstandene relationale Analyse (Strukturkategorie) der heutigen Kindheit stößt hier auf ihre Grenzen und bleibt weit hinter den tatsächlichen Konstitutionsprozessen kindlicher Lebenspraxis zurück. Die Vexierspiele des Beobachtens machen beim Beobachter nicht halt. Wer nur bei seinem (distanzierten)Beobachten bleibt, dem bleibt Vieles verschlossen oder er beschreibt, was die wenigsten Kinder wirklich berührt. Es könnte hier mindestens dreifach weitergefragt werden: auf welcher Ebene des kindlichen Lebens ist jeweils das Innen und das Außen angesiedelt, ist die Unterscheidung im konkreten Fall eine originäre oder eine abkünftige, wodurch ist das Zusammenspiel und die Möglichkeit der Kontrastierung zwischen Beobachtern und Kindern bzw. kindlicher Erfahrung gewährleistet. In diesem Sinn muss auch die Frage nach dem jeweiligen (historisch gebrochenen) „Apriori“ für die Beschreibung der sozialen Konstruktionen des sozialen Phänomens „Kindheit“ aufgeworfen werden (Endreß 2004: 200; Luckmann 2002: 55f.). Die Differenzierung „Innen“/„Außen“ entstammt einem voraussetzungsvollen Beobachtungsabbruch. Auch aus der Ethnologie ist eine ähnliche methodische Unterscheidung wie die von Innen und Außen bekannt. Man unterscheidet dort eine „emische“ von einer „ethischen“ Beschreibung (Kohl 1993: 132f., 150; AG Bielefelder Soziologen 1973: 283). Die emische zielt auf eine kulturspezifische Binnenstruktur und ist nicht ohne weiteres übersetzbar, während die ethische Sicht universale Merkmalskataloge zu ermitteln sucht. Nach phänomenologischer Ansicht stößt jeder gesellschaftliche Akteur auf zeitlich-biographische, soziale und legitimatorisch-religiöse Grenzen seiner lebensweltlichen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhänge (Luckmann 2002: 139ff.). So gesehen hat die soziologische Unterscheidung zwischen Innen und Außen einen realen Kern und ein Fundament in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst. In der Beobachtung zeigt er sich insofern, als das ein Beobachter mehr oder weniger Distanz gegenüber dem Beobachteten, dem Beobachtungsobjekt, einnehmen kann und auch beim Perspektivenwechsel in der Teilnehmerperspektive auf Näheres und Ferneres oder Fremdes stößt. Doch es ist zudem ernsthaft zu fragen, ob im Zeitalter einer sich globalisierenden „Weltgesellschaft“ wirklich noch ein homogenes, Innen-Außenverhältnis einer kindheitssoziologischen Beschreibung zugrunde gelegt werden kann, das sich im Grunde an einer Nationalgesellschaft orientiert. Die schwierige Lage des Beobachters besteht darin, dass sowohl die Beobachtungsperspektive umstritten ist, wie auch die soziale Lage des Beobachteten instabil geworden ist. Dabei besteht die Gefahr, in „selbstreferentielle Endlosschleifen“ abzurutschen. Eine soziologische Beschreibung heutiger Kindheit kann letztlich nicht einmal auf eine verschiebbare Innen-Außen-Differenz beschränkt werden, weil sie immer von einer Vielzahl von Perspektiven her erfolgen kann, wie dies seit Kindestagen mit den verschiedenen Personalpronomina versucht wird (Elias 1986: 132ff.). Für jedes Kind ändert sich der Sinn seines Wahrnehmungsurteils oder sozialen Handelns, wenn es die Perspektive der ersten Person gegenüber andern Personen findet, aufgibt und zu fragen anfängt, wer es selbst unter allen andern Relationen ist und nicht ist und in wieweit sein „Ich“ oder „Selbst“ von Relevanz für Andere ist. Die Relativität der Differenzierung von Innen- und Außen-
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perspektiven wird vollends deutlich, wenn sich der Beobachter nicht vor der Frage drückt, was seine Beobachtung für die Wahrnehmung und das Handeln des beobachteten Kindes bedeuten könnte, was es damit typischerweise machen, wie es damit umgehen könnte. Der Normalfall heutiger Kindheit ist Uneindeutigkeit, die nur zeitweilig und begrenzt in sozialen Konstruktionen zu absorbieren ist. Man muss sich verabschieden von der Vorstellung, es gäbe nur eine zeitstabile Innen- und Außenperspektive schlechthin. Die theoretische Perspektivendifferenzierung – zwischen mehreren verschiebbaren Innen- und Außenperspektiven – kann bis heute in einen Prinzipienstreit darüber münden, ob sozialstrukturelle oder subjektiv-motivationale Rahmenbedingungen vorrangig seien. In Wahrheit wissen freilich die Kombattanten selbst schon seit langem, dass hier kein abstraktes Entweder-Oder maßgeblich ist; freilich auch keine stabile Kovarianz. Zwischen soziokulturellen Rahmungen und sozialstrukturellen und situativen Resonanzen, Affinitäten, Motiv- und Akzeptanzstrukturen, Durchsetzbarkeit oder resubjektivierender Verfügbarkeit und typischer Inanspruchnahme von gesellschaftlichen Ressourcen können konvergierende oder divergierende „Druck- und Sog-Bedingungen“ vorherrschen. Etwas undramatischer: Welche Fakten tragen zur Beschreibung und Erklärung der Entstehung der konventionellen oder einer neuen (individuellen und/oder kollektiven) Entwicklung von Kindern in der modernen Gesellschaft bei? Die Geschichte der sozialwissenschaftlichen Behandlung des sozialen Phänomens der Kindheit ist ein ebenso interessantes Forschungsobjekt wie der Wandel ihres Gegenstandes, der Kindheit in ihrem Alltag, selbst. 3.2.5 Das Kind als Ko-Konstrukteur Bei einigen Autoren wird der Begriff des Kindes als Subjekt schlicht synonym mit dem des Akteurs oder des Konstrukteurs gebraucht. Manchmal hebt sich der des Ko-Konstrukteurs auch nicht stark von dem des Konstrukteurs ab. Ursprünglich wollte jener aber nur darauf verweisen, dass Kinder nie alleine, also immer in der Gegenwart anderer Kinder und/oder Erwachsener konstruieren Er sollte also zum Ausdruck bringen, dass ältere Kinder vornehmlich zusammen mit Gleichaltrigen ihre Lebenswirklichkeit und Persönlichkeitsentwicklung vorantreiben (Piaget 1975; Youniss 1982; Krappmann 1993: 356f.; Oswald 1993: 353ff.). Davon wäre ein Verständnis des kindlichen Konstrukteurs zu unterscheiden, das auch diese durchaus partikularistischen Konstruktionsprozesse noch umfasst und übergreift, sie als Teil einer Bedeutung und Welt erschließenden „kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit“ (Luckmann 2002) begreift. Soziokulturelle Muster und Formen gesellschaftlicher Verständigung prägen auch die Alltagsdiskurse und diese werden ihrerseits durch praktische Routinen und außeralltägliche Praktiken der Lebensbewältigung beeinflusst, die nie ohne den „Eigen-Sinn“ und die (keineswegs „chemisch reine“) „Eigenwelt“ der Kinder selbst jemals zustande kommen könnten (Zeiher 1994; Rauschenbach 1991: 208ff.). Dies umfasst immer sowohl aktive wie passive Verhaltensweisen in wechselnder Dosierung und eine Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit, die keineswegs wie eine Kompetenz im Sinne etwa der Piagetschen Strukturgenetik einmal erworben und dann eigentlich unverlierbar wäre. Zunächst kann man erkennen, dass der Begriff Konstrukteur konstitutiv mit Kontexten korreliert. Der Kontext ist dann keine Rand-, sondern eine Kernbedingung der aktivpassiven Realitätsaneignung und der gesellschaftlichen Transformation. Die sozial-kogni-
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tive Lerngeschichte und Sozialisation vollzieht sich als Strukturierung von Ich und Umwelt zugleich und wird von ihren Resultaten ihrerseits reflexiv-reaktiv formiert. Lernen in diesem Sinne ist also schon eine kontextualisierende Konstruktion, die Teilprozesse wie Wahrnehmungsformierung, Bedeutungszuschreibung, kognitive Strukturierung, Regelbildung umfasst, die innerhalb einer bestimmten Interaktionsbeziehung ablaufen und zugleich Aneignung und Erweiterung, Anpassung und Veränderung bewirken (Ulich 1991: 50ff.). Entscheidend werden hier die kognitiven Aktivitäten. Vorteile dieser kontextualistischen Sicht sind, dass hier Individuum und Gesellschaft nicht mehr als getrennte, in nachträglicher und äußerlicher Montage verschweißte Sachbereiche erscheinen. Der Handelnde muss mit jedem Schritt sowohl eine subjektive wie objektive Differenzierungsleistung zustande bringen. Kindheit ist dann nicht mehr einfach die Einholung eines fix und fertigen Entwicklungsprogramms, sondern eine kognitiv zu leistende soziale Konstruktion (Krappmann 1993; 1991: 361). Das Kind entwickelt, manchmal durch äußere Einflüsse angeregt oder irritiert, aber im Wesentlichen unabhängig, die Fähigkeit, kognitive Repräsentationen seiner selbst und seiner Umwelt zu erzeugen. Doch diese Konzeption unterstellt gleichwohl eine entwicklungslogische Kompetenzentwicklung und ein strukturell stabiles Verhältnis zwischen Kompetenz und Performanz oder Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik, obwohl diese Konsequenzen nicht logisch aus seinen Prämissen ableitbar sind. Auch der Schritt von den formalen Kompetenzen zur konkreten Handlungsbereitschaft und von dieser zur wirklichen Handlung erscheint merkwürdig dunkel. Besonders ungeklärt bleibt, wie eine Konstruktion in Gang kommt und nicht in Sackgassen gerät, wenn Störungen auftreten und sich keine handlichen Anschlussmöglichkeiten anbieten (Ulich 1991: 67). Und wodurch weiß das lernende Kind, was es aus der Informationsfülle als relevant wahrnehmen und wie es praktisch auf den Berg von Optionen reagieren kann, soll, muss? Mit der Zeit gleiten die sozialisatorischen Interaktionen in Ko-Konstruktion des Weltbildes und sozialen Kosmos mit Gleichaltrigen hinüber. Allmählich verlangen nicht nur die Interaktionspartner der unmittelbaren sozialen Umgebung, vor allem die Eltern, Kindern immer komplexere Verhaltensweisen und Interaktionsschritte ab, die kognitive Selbstdifferenzierung und „Ausdifferenzierung“ sozialer Beziehungen notwendig machen. Schon bald wird ein außerordentlich dynamisches Wechselspiel sichtbar, dessen Dynamik nicht immer von den betroffenen Akteuren gesteuert werden kann, sondern oft von intervenierenden Dritten von außen wesentlich forciert wird. Sie ist keinem der Betroffenen mehr allein zuzurechnen, sondern muss als Gesamtresultat aller direkt und indirekt Beteiligten angesehen werden (Krappmann 1993: 356f.). Die „Sozialwelt der Kinder“ im ganzen mit ihrer charakteristischen „Kinderkultur“ ist der eigentliche Katalysator einer solchen Ko-Konstruktion fortgeschrittener Handlungskoordination. Selbst wenn heute durch „hinterhältige“ Kommerzialisierungsprozesse verschiedenster Art diese Kinderkultur unter Druck und verstärktem Zugriff gerät, gelingt es Kindern – zusammen mit anderen gleichaltrigen Kindern – immer wieder, diese durch Ko-Konstruktion zu „verfremden“ und selektiv anzueignen, Risse, Lücken, Spalten, Ritzen, Pausen und Nebenschauplätze einer eigenen Welt zu behaupten. Solche resistenten Kinderwelten können natürlich entwicklungsfördernde wie -hemmende Effekte auslösen. Sie können auch immer Erwachsene schockieren oder herausfordern. In ihrer Ambivalenz lassen sie sich nicht einfach – was vielleicht einige Erwachsene durchaus wünschen mögen – in ausdifferenzierte Subsysteme der Erziehung abschieben oder bequem zur „Frühförderung“ restlos nutzen (Krappmann 1991: 355ff.).
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Es ist sicher folgerichtig, wenn Oswald und Krappmann in diesem Zusammenhang kindlichen Aushandlungsprozessen, Gruppenformationen und sozialen Geflechten, Regeln und – Krappmann stärker als Oswald – auch idiosynkratische Interaktionsstrategien und „interaktionspragmatischen Herausforderungen“, subversiven und (entwicklungslogisch) missratenen Interaktionen ihr gesteigertes Forschungsinteresse zuwenden. Dabei wird freilich, besonders bei Oswald, die Regelbindung sozialen Handelns oft überschätzt und die Dialektik von Ordnung (Regeln) und Unordnung (Irregulärem) und ihre dramatisierbare Interaktionsdynamik, ihre vielfältigen Wendepunkte fast verdeckt. Dies ist umso erstaunlicher, als beide Autoren immer wieder auf Goffmann verweisen. Dieser hat ja aber gezeigt, dass „Interaktionsordnungen“ niemals in einem funktionalisierbaren Regelsystem aufgehen, sondern der Tatsache Rechnung zu tragen haben, dass soziale Phänomene niemals fix und fertig vorliegen, vielmehr immer auch noch situativ inszeniert werden müssen. Das allgemeine Problem, dass Kinder (und auch immer wieder Erwachsene) die Selbstverständlichkeit überwinden müssen, die Verschiedenheit individueller und kollektiver Perspektiven einerseits zu ertragen andererseits aber kreativ zu verflechten, lässt sich eben nicht in eine universelle, ein für allemal erworbene Kompetenz und Handlungsfähigkeit abschieben (Krappmann 1996: 199ff.). Einmal klafft zwischen Regel, Wahrnehmung einer regulierbaren Situation und einer „Antwort“ auf immer auftretende situative Disparitäten und tatsächlicher Situationsbewältigung immer ein mehr oder minder großer Spalt. Wer die Regeln kennt, kann z.B. nicht schon gut und angemessen sprechen. Das „universale Problem“ ist immer schon historisch-partikular infiziert, die Vorstellung einer zielsicheren, automatisch wirksamen Kompetenz und Handlungsfähigkeit eine schiere Illusion. Das scheint auch Krappmann in seinen späten Arbeiten zu spüren. Weder Erwachsene noch Kinder können per se annehmen, dass sie schon dann, wenn ihnen normativ Dominanz oder Egalität zugestanden wird, eo ipso in der Interaktionssituation tatsächlich dominieren oder auf gleicher Augenhöhe verhandeln. Dazu kommt noch das Gewicht der „biographischen Situation“ (Schütz 1974; Leu 1996: 174ff.). Das alles macht explorative Anstrengungen und zumindest auch – neben dem Verständnis für Regeln – eine spezifische Sensibilität für die Vermeidung von Regel- und Normrigidität und einen Sinn für Ausnahmen von den Regeln, Formen der Kreativität in einem hohen Maße notwendig. Kompetenzgesichtspunkte können nicht einfach, wie auch Krappmann annimmt, durch Performanzgesichtspunkte ergänzt werden, weil dies nur unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen, also im Idealfall, vollständig möglich ist. Schon das Leben von Kindern ist oft komplizierter und „tragischer“ als dies Kompetenztheoretiker seit langem glauben machen wollen. Sicherlich schließt das Interaktionskompetenz nicht aus, erfordert aber darüber hinaus noch kreative soziale Konstruktionen der Wirklichkeit – mit durchaus nicht zu verschweigenden Risiken: verletzlicher Eigen-Sinn in historisch-biographischen Konstellationen. Wenn die Interaktionskompetenz auch einschließen mag, Perspektiven zu unterlaufen, zu missachten, Verhandlungsmöglichkeiten zu erweitern, eigene Dominanz über elterliche Vorstellungen aus der „List der Ohnmacht“ heraus listig auszubauen, dann arbeitet sie sozusagen immer auch an der Schwächung ihres eigenen Fundaments und endet in explorativem Suchverhalten, das zunächst nie durch eine eindeutige Kompetenz garantiert wird (Derrida 2004). Ko-Konstruktion ist daher nur ein spezieller und idealisierter Grenzfall, der sich allenfalls auf einer normativen Analyseebene trennscharf aus umfassenderen, durchweg auch interaktiv bestimmten sozialen Konstitutionsprozessen des „ganz gewöhnlichen Chaos“ des
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kindlichen Alltags herauslösen lässt; auch deswegen, weil auch er kontingenzbesetzt bleibt (Beck 1990). Es mag hier öfters vorkommen, dass Kinder unverzüglich Entscheidungen treffen müssen, für die sie – entwicklungspsychologisch – noch nicht reif erscheinen oder ihnen solche zugemutet werden, die sie unter ihrem Niveau (unter-)fordern. Und: die alltägliche Lebensführung, das natürliche Sumpfbett einer kontinuierlichen Identitätsentwicklung, nimmt schon beim Säugling bald eine Eigendynamik an, die der „Erzählung“ einer souveränen Lebensgeschichte mit der konstruktiven Verklammerung riskanter Vor- und Rückgriffe, Erfolge und Misserfolge, Sinn und Unsinn, Routine und Außeralltäglichem, Problemlosigkeit und kritische Lebensereignissen. Betonen, Verschweigen, Rechtfertigen, Umschreiben sind Charakteristika vieler Zwischen- und vorläufiger Schlussbilanzen (Fischer 1995: 43ff.). Und daher ist auch bei einer lebensweltlichen Betrachtung der subjektivistisch misszuverstehende Begriff der „Strategie“, den Krappmann wählt, der Sache nicht ganz angemessen, weil es stets um zugleich subjektive wie intersubjektive und reflexiv-rekursive Konstruktionsprozesse in unterschiedlicher Dosierung und Akzentuierung geht. Es handelt sich um „Zwischenwelten“, weil jede „Eigenwelt“ von Kindern immer schon durchsetzt ist von „Fremdwelten“ anderer Kinder und Erwachsener unterschiedlichen Alters, Geschlechts, Milieus, ethnischer und regionaler Herkunft (Krappmann 1999: 243f., 246). Angesichts gewisser, von ihm treffsicher beschriebenen Aporien der herkömmlichen Sozialisationsforschung (Leu 1999: 90, 94ff.; 1996: 174ff.), vor allem eines biographietheoretischen Defizits, versucht Leu einen Rettungsversuch eigener Art: Sozialisation zwischen „biographischer Situation“ und „wechselseitiger Anerkennung“. Er verweist zunächst mit Nachdruck darauf, dass Entwicklung und die Genese von Kompetenzen und Grundqualifikationen nur in und durch die Alltagsprozesse und die darin erfahrbare soziale Anerkennung wirksam wird. Daraus folgt, dass Situationsbewältigung weit mehr voraussetzt als normative Geltung, verlässliche Grunderwartungen und formale Qualifikationen. Sie setzen noch dringlicher „praktische Interessen“ und ein hohes Alltagswissen voraus, das mit Umsicht Kompetenzen konkretisiert und tatsächlich in Anspruch nimmt, weiß, was man mit Kompetenzen in durchaus nicht vollständig transparenten sozialen Situationen anfangen kann. So kann dann sozusagen auf ein Register ähnlicher Beispiele zurückgegriffen werden, das praktische Orientierung zu bieten vermag. Dadurch werden sie nach Leu zugleich in den Horizont einer „biographischen Situation“ (Schütz) eingerückt. Dies bedeutet bei Leu, dass hier nicht ohne Weiteres kompatible Ziele, wahrgenommene Mittel, Ressourcen, Wissens- und Handlungskonstellationen kombiniert oder aus formalen Kompetenzen und Normen deduziert werden können. Krappmanns und noch mehr Leus Konzepte ähneln in vielerlei Hinsicht einem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Kindheit, das Kindern nicht nur als kompetente Akteure, sondern vorrangig als historisch-biographisch situierte Konstrukteure konzipiert. Darüber hinaus nimmt der Sozialkonstruktivismus jedoch keine fix und fertigen, sondern variable Relationen zwischen Alltags- und Lebensgeschichten an; Relationierungen und Strukturierungen unter jeweils spezifischen historischen „Randbedingungen“. Kinder als Konstrukteure in und zwischen sozialen Konstruktionen eignen sich in diesem Sinne nicht einfach Realität an, sie konstruieren, machen Serien von Situationen in jeweils komplexen Sinnrahmungen verstehbar, vergleichbar, übersetzbar, vertrauenswürdig. Sie sind mit historischen Ordnungen konfrontiert, setzten aber stets eigen-sinnige „Realitätsakzente“, verwandeln alles in ein fortwährendes In-Ordung-Bringen. Angesichts einer vielfach bestätig-
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ten strukturellen „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) ist das wohl zukünftig noch dringlicher als bislang. 3.2.6 Die Überwindung der Familienfixierung Die Bedeutung der Familien – in ihren verschiedenen Formen und Phasen ihrer Geschichte – für die Lebensgeschichte, die alltägliche Lebensführung und Entwicklung darf auch heute nicht unterschätzt werden. Doch sie besitzt längst nicht mehr das Sinnmonopol und ist nicht das einzige Handlungszentrum von Kindern; offenbar nicht einmal von Säuglingen. Ein beträchtlicher Teil der Untersuchungen kindlichen Lebens ist daher wegen ihrer problematischen Familienzentrierung kritisierbar. Familienbindung, Pluralisierung privater Lebensformen und Polarisierungen zwischen Familien mit Kindern und kinderlosen Erwachsenen schließen sich ja nicht aus (Wilk 2000: 24ff., 38; Griese 2000: 246ff.). Kindheit ist künftig vielmehr aus polyzentrischen Konstitutionsprozessen und in ihrem „eigenen Recht“ auch unabhängig von der Familienbindung zu untersuchen. Familie stellt so gesehen in erster Linie Ressourcen und soziale Medien bereit, die Kinder in den Stand versetzen, in ganz heterogene Teilstrukturen der Kultur und der Gesellschaft hineinzuwachen (Nickel 1993: 80f.). Aber Kinder „wachsen“ streng genommen weder einfach in heutige Familien noch in außerfamiliale soziale Kontexte hinein. Sie werden von Anfang an als Experten eigener Lebensbewältigung und Konstrukteure gefordert, auch um die geteilt-ungeteilte Wirklichkeit der „Familienwelt“ immer wieder in Kraft zu setzen (Berger 1965; Hess 1975). Der Strukturwandel der modernen Familie (Peuckert 1999) ist lange überhaupt nicht und wird z.T. noch heute nicht konsequent – mindestens hinsichtlich der traditionellen Geschlechtsund Altersrollen – von Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung einkalkuliert. Die Familienorientierung von Kindern wird fast wie eine Ceteris-paribus-Klausel behandelt, die angesichts des wachenden Konkurrenzdrucks mit der Formel von der „strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber der Familie“ eher zurückhaltend kritisiert wird; denn auch bei größerer Familienfreundlichkeit der Wirtschaft und tatkräftiger Familienpolitik kann künftig nicht mehr schlicht davon ausgegangen werden, dass sich das Leben von Kindern in konzentrischen Kreisen entwickelt. Das kann unter seltenen günstigen gesellschaftlichen Umständen wohl noch gelingen. Es ist aber in vielen Fällen kaum noch zu bewerkstelligen, dass Familie das „primordiale“ Handlungszentrum kleiner Kinder schlechthin wird. Die stärkere Pluralisierung und Temporalisierung von Lebensformen und das Brüchigwerden vieler Familienbeziehungen führt zwar nicht zum Bedeutungsverlust aber zur Bedeutungsverschiebung. Familie wird schon früh bei Kindern zu einer Ressource u. a. so, dass sie sie als nahe liegende Option, nicht aber als konfundierendes und konstitutives Sinnzentrum schlechthin erleben. Zwar herrschen manchmal groteske Vorstellungen über die empirische Häufigkeit der traditionellen Kleinfamilie, die ja immer noch die häufigste Eltern-Kind-Beziehung konstituiert. Indes ist auch ihre relativ rasche soziokulturelle Demonopolisierung (Deinstitutionalisierung) nicht zu unterschätzen (Herlth 1994; Tyrell 1988: 145ff.). Dies ist keineswegs ein Auswuchs antifamilialer Propaganda. So sehr man auch nicht die „Verhandlungsfamilie auf Zeit“ (Beck) linear als „Familie der Zukunft“ projizieren und pauschalieren darf, so hat doch diese griffige Formel durchaus ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass monozentrische Orientierungen immer weniger – schon gar nicht lebenslang – durchzuhalten sind, und
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selbst in der scheinbar traditionellen Familie der Anteil des Verhandelns in den letzten Jahrzehnten gewaltig zugenommen hat (Beck 1994: 115ff.). Und beiläufige Folge von solchen fachinternen Fokussierungen ist wohl auch, unterstützt durch die „Kinderrechtsbewegung“, dass mittlerweile auch in der Sozialpolitik der Ruf nicht verstummen will, Kinder als eigene Bevölkerungsgruppe zu würdigen (Qvortrup 1993: 109ff.; Honig 1999). Die verschiedenen Geburtskohorten unterschiedlicher europäischer Länder zeigen zwar keine durchgängig abnehmende Familienorientierung, aber eine Pluralisierung und eine Tendenz zur Beachtung eines „Erlebnisrisikos“, das offen ist für konkurrierende Sinnstiftungsprozesse und auch auf temporale ökonomische Schwankungen reagiert, weil „Familie“ und „Kinderwunsch“ eben tendenziell optionale Sinngeneratoren geworden sind (Nauck 1993: 155; Hoffmann-Nowotny 1995: 325ff.). Gelegentlich wird auch zu Recht die immer stärker erkennbare Fähigkeit und Neigung von Kindern zu „retroaktiver Sozialisation“ erwähnt, in der Kinder die normativ programmierte Rolle des Sozialisators häufig in bestimmten Bereichen geradezu auf den Kopf stellen: sie sozialisieren in Wahrheit die Eltern mehr als diese sie. Natürlich ist das nach wie vor populäre Stereotyp von der Bedeutung der „guten Kinderstube“ auch heute nicht ohne sachlichen Kern. Es verkürzt aber enorm die sachliche Problematik des realen gesellschaftlichen Gewichts der Familie. Und unter seinem Einfluss erregt auch heute noch ungeprüft jede andere Familienorganisation von vorneherein den Verdacht, dass sie der Vernachlässigung der Kinder Vorschub leistet (Neumann 1993: 197). Selbstverständlich können sich Kleinfamilien unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen empirisch als weit leistungsfähiger erweisen (Bien 2004) als „experimentelle“ Formen. Doch dies kann man eben nicht mehr kontrafaktisch unterstellen. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten. Es ist immer noch wahrscheinlicher aber eben nicht mehr sicher, dass die leiblich zentrierte Kopräsenz in der traditionellen Kleinfamilie das lebensweltliche Gravitationszentrum kindlicher Interaktionserfahrungen bildet. Aber auch dann steht es heute immer unter Druck und Konkurrenz durch andere Bezugsgruppen. Und immer wieder bricht unter konventionellen Stereotypen die Frage auf, was Kinder heute von ihren Eltern und Eltern von ihren Kindern haben (Nauck 1993: 143ff.). Welche Sozialbeziehungen sind unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen wie lang und wie intensiv und nachhaltig für (kleine) Kinder relevant, ergänzungsbedürftig oder partiell irrelevant? Und kulturelle Leitbilder sind weder mit Normen noch mit der Praxis und ihrer praktischen Inanspruchnahme (Praktiken) identisch. Es könnte sogar sein, dass sich unter ständigem Modernisierungsdruck eine beschleunigte Erosion und Verschleiß sozialer Konstruktionen nicht ausschließen lassen. Kinder stehen solchen Neustrukturierungen des Generationenverhältnisses oder der Familie oft ambivalent gegenüber. Sie versuchen dennoch, daraus das Beste zu machen (Walper 1993: 432). Man kann weder daraus ableiten, dass stets ein Abbruch der ElternKind-Beziehung erfolgen müsse, noch kann man dies ausschließen. Dies ist mehr als eine „Anpassungsphase“ im Sinne einer weiterlaufenden Sozialisation. Widersprüchliche Tendenzen der Trennung, der Konfrontation und der Kooperation zwischen Erwachsenen in und außerhalb der Familie und Kindern, Tendenzen geteilter und ungeteilter Wirklichkeit müssen immer wieder auf einen „Hauptnenner“ gebracht werden. Sozialisation muss durch Sinnrahmungen erst ermöglicht werden (Zeiher 1993: 392; Rauh 1993: 231; Keller 1993: 319f.). Der Familienalltag scheint schon seit einigen Jahrzehnten dadurch charakterisiert zu sein, dass sich Partner- und Eltern-Kind-Subsysteme normativ entkoppeln (Tyrell 1994: 1ff.). Eine zunehmende und frühere Lösung der Kinder verstärkt diesen Trend heute deut-
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lich. Schon früh zeichnen sich außerfamiliale Orientierungen ab. Auch die zeitlichen Anteile des Alltags, die außerhalb der Familie verbracht werden, weiten sich beträchtlich aus (Herlth 2000: 15). Damit entstehen für Erwachsene (Eltern) wie Kinder neue Anforderungen. Beide müssen – und dies ist vor allem für Kinder neu – eine Balance zwischen der Verfolgung eigener Interessen und Bedürfnissen ihrer (erwachsenen oder kindlichen) Interaktionspartner finden. Eine implizite Familienfixierung hält sich bislang in Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung, obwohl eine wachsende Zahl empirischer Untersuchungen längst diese konventionelle Prämisse widerlegt (Nauck 1993: 154; BMFSJ 1998: 13). Es ist inzwischen aber kaum noch zu bezweifeln, dass der forcierte Modernisierungsdruck nicht mehr familienzentriert aufzufangen ist. Einmal sind eher familiale, einmal eher schulische, einmal eher mediale und konsumtive, aber auch ökonomische oder rechtlich-politische Imperative wirksam (Büchner 2002; Mansel 1996: 7ff.). Es kann also keine Rede mehr davon sein, dass die Familie heute zu irgendeinem Zeitpunkt das psychosoziale Deutungsmonopol besitzt, selbst wenn man das für wünschenswert betrachtete. Und die als legitim oder akzeptabel erscheinende Bedürfnisdispositionen von Eltern und Kindern in der Familie divergieren heute strukturell viel öfter als noch vor einigen Jahrzehnten (Böhnisch 1997: 39, 113ff.). Trotzdem wird immer noch oft unterstellt, dass nur in der vom historischen Bürgertum geprägten intimisierten Kleinfamilie ein optimales und anspruchsvolles Zuwendungs-, Versorgungs-, Erziehungs- und Förderungsniveau zu erreichen wäre (Berger 1984), was schon historisch in dieser Pauschalität fragwürdig ist. Hier bleibt vor allem das Problem, warum sich dann gerade heute viele „bürgerliche“ junge Menschen – sozusagen zu ihrem objektiven Nachteil – von dieser traditionellen Lebensform abwenden und den Prozess der Pluralisierung der Lebensformen, offenbar nicht allein aus ökonomischen Gründen, vorantreiben. Damit kann aber „Familienkindheit“ nicht weiterhin monopolartig das soziokulturelle Bild der Kindheit bestimmen. Selbst unter der Generalformel „Partnerschaft“ kann heute Vieles und Verschiedenartiges verstanden werden (Schweizer 1982: 111ff.). Paradoxerweise legt sich die Vermutung nahe, dass die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern zugleich bedeutungsvoller, ungeordneter, konfliktanfälliger, schwieriger und durchaus „kündbarer“ geworden sind; nicht einmal nur im Fall der Trennung der Eltern. Ebenso intransparent ist das Verhältnis von familialer und transfamilialer Generationenbindung geworden. Diesen komplizierten Sachverhalten trägt die modernisierungstheoretische Dichotomie von traditionalem Befehls- und modernem Verhandlungshaushaltes (Elias 1976; du Bois 1994: 143) zu wenig Rechnung. Diese Problematik lässt sich auch nicht allein auf der normativen Ebene beschreiben. Gerade wenn die Relevanz binnenstruktureller und kontextueller Faktoren unsicher geworden ist, wird der „konstruktive“ Gehalt bedeutungsvoller. Die gesellschaftliche Rahmung umfasst dann nicht nur immer mehr Einzelfaktoren und „systemische“ Elemente, sondern immer auch die Möglichkeit einer beträchtlichen Dissoziation normativer, moralischer, alltagsästhetischer, praktischer und mikropolitischer Aspekte, wie sie sich alltagsweltlich in der möglichen Divergenz von Einstellung und Verhalten oder der Sprache der Worte und der Sprache der Taten manifestiert.
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3.2.7 „Verhandlungskindheit“ Kinder waren in der Soziologie wie in anderen Wissenschaften lange Zeit kein seriöser Forschungsgegenstand: Marginalie oder Kinderkram. Sie waren auch eine „vergessene Kategorie der Bevölkerung“ (Wilk 1994: 10). So ging noch Konrad Adenauer davon aus, dass „die Leute“ Kinder ohnedies „bekommen“. Wenn Kinder heute normalerweise nicht gerade als „auffällig“ ins Visier öffentlicher Neugierde geraten, so jedenfalls dadurch, dass man mit einiger Betroffenheit seit einigen Jahren von „veränderter Kindheit“ oder „Verhandlungskindheit“ spricht. Auch diese idealtypische Trendbeschreibung muss man indes präzisieren, prüfen unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sie zutrifft. Verhandeln können Kinder deshalb heute in größerem Umfang, weil ihre Handlungsspielräume deutlich ausgeweitet wurden, aber auch deswegen, weil die Zahl der materiellökonomischen wie die immateriell-kulturellen Optionen in den letzten Jahren erkennbar zugenommen hat. Dies ist natürlich eine ambivalente Handlungssituation, weil sie auch Entscheidungszwang trotz ungeklärter Selektionskriterien impliziert und Unsicherheit multipliziert (Herlth 2000: 11; Gabriel 1996). So zeichnet sich bei genauer Analyse sehr bald ab, dass der reale Verhandlungsspielraum heute einer begrenzten und durchaus prekären und weithin explorativ-heuristischen Validitätskonstruktion entspringt (Luthe 1997: 223ff.) und keineswegs ein strukturstabiles Resultat des Modernisierungsprozesses darstellt. Geschichtliche Analogien werden so eher erschlichen denn ausgewiesen und fundiert. Dies heißt nun nicht, dass transkulturelle und transhistorische Vergleiche prinzipiell unmöglich sind. Sie verlangen aber mit Sicherheit eine größere methodische Sorgfalt hinsichtlich der Vergleichskriterien der zunächst semantisch-pragmatischen Disparitäten als dies oft üblich ist (Knoblauch 1995: 106f.; Trommsdorf 1993: 48ff.; Knoblauch 1995; Trommsdorf 1993: 48ff.; Renner 2002; Waldensfels 1998: 48). In einer langen historischen Entwicklung, die mit dem Übergang von der vormodernen, zur protoindustriellen und schließlich zur industriellen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in West- und Mitteleuropa führte, verschärfte sich in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts der Prozess der Herauslösung der Menschen aus vielen, sich zuvor wechselseitig stützenden Sozialbindungen und regionalen Verankerungen. Wo früher der Alltag durch vielfältige kulturelle und gesellschaftliche Vorgaben wie lokale Traditionen, Standeszugehörigkeiten, ständische Einbindungen und Abhängigkeiten von regionalen Grundherrschaften und eine Unzahl religiös-kirchlichen Regelungen (auch im protestantischen Bereich) ein unverwechselbares Profil gewonnen hatte, sahen sich immer mehr Menschen und wohl auch schon Kinder, nicht zuletzt auch im Bereich des Industrieproletariats und Bauerntums veranlasst, selbst Ordnung zu schaffen und sich für die immer stärker als Optionen stilisierenden, oft warenförmigen Ordnungselemente zu entscheiden und zu verhandeln. Vor allem auf der Alltagsebene muss daher heute wesentlich mehr, wesentlich intensiver, aber auch chancen- und zugleich riskanter verhandelt werden (Beck 1994). Verhandeln wird dann besonders wichtig, wenn viele Situationen noch nicht, nicht mehr, nicht mehr eindeutig oder verbindlich normativ strukturiert sind. Es zielt vorrangig auf die pragmatische Normalisierung und Anschlussfähigkeit sozialer Interaktionen unter gesteigerter Unsicherheit und forciertem Informations-, Meinungs-, Options- und Gruppenpluralismus und ist daher von Anfang zu unterscheiden von unbegrenzter Freiheit. Es ist allerdings trotzdem nicht ausgeschlossen, dass sich rasch „Daumenregeln“ und asymmetrisch-symmetrische Verhandlungskonstellationen einschleifen. Neben Habitualisierung und
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Machtpositionen ist aber mit Kontingenz, Gewalt wegen ungenügender Ambivalenztoleranzsteigerung oder überraschender Solidarität jeder Zeit zu rechnen (Junge 2000; Heitmeyer 2004). Dabei ist sowohl eine Veränderung der Wahrnehmung wie des Substrats der Wahrnehmung nicht unwahrscheinlich. Verhandeln steht daher im Spannungsfeld von Habitualisierung und Kontingenz, Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung und schließlich von Sozialisation und Desozialisation. Geklärt muss immer aufs Neue werden: wer verhandelt eigentlich über welchen Verhandlungsgegenstand in welchem verstehbaren oder Verständigung ermöglichenden Rahmen mit welchem Ziel und mit welchen (akzeptierten, legitim geltenden) Mitteln? Dabei kann es immer geschehen, dass normativ angesonnene Verhandlungspositionen im Verhandeln auch zwischen Erwachsenen und Kindern umgedreht oder Scheinerfolge erzielt werden, die sich als „Pyrrhussieg“ entpuppen. Ziel allen Verhandelns auch unter Kindern und zwischen Kindern und Erwachsenen ist Statussicherung bzw. Wiederherstellung von relativer Statuskonsistenz in den verschiedenen relevanten Handlungssphären, in denen sich Kinder heute bewegen. Als das entscheidende Kennzeichen des spätmodernen Lebens erweist sich zunächst, dass das kindliche Individuum weit mehr, intensiver mit normierten und wenig normierten Situationen umgehen, diese gewissermaßen für den Alltag präparieren und in die Biographie herein nehmen muss (Beck 1994: 141). Vereinfacht gesagt: in die vormodern-traditionelle Gesellschaft wurde man hineingeboren, heute muss man sehr viel tun, um einen respektablen sozialen Status (achieved status) zu erringen. Es kommt mehr denn je darauf an, aus familialen Herkunftsbedingungen, institutionellen Programmangeboten, Informationen, Optionen geschickt das aufzugreifen, einzusehen, zu nutzen, gegebenenfalls listig abzuwandeln, auch andere auszumanövrieren, kurz: kompetent zu verhandeln. Zeiher unterscheidet zwei Arten, wie Kindheit heute veranstaltet werden kann: „von oben“ als zielbestimmte Aktivität vor allem von Pädagogen und pädagogisch orientierten Eltern bzw. Politikern oder „von unten“ im selbstständigen und eigensinnigen Alltagshandeln von Kindern selbst (Zeiher 2000: 121), indem ständig und täglich neu verhandelt werden muss. Es geht dabei zunächst um die Arbeitseinteilung im Familienhaushalt und um Freizeitgestaltung mit, neben und gegen Erwachsene. Hier finden sich alte und neue Deutungsmuster (129). Bilanziert werden kindliche Verhandlungserfahrungen üblicherweise so, dass sich Kinder – weniger als auf dem Höhepunkt moderner Kindheit in der Mitte des 20. Jahrhunderts – als zu Versorgende und zu Erziehende wahrnehmen, sondern auch von den Erwachsenen in vielen Fällen als „Partner“ betrachtet werden (132). Empirisch zeigt die bekannte Kindheitsforscherin auf, dass diese Partnerschaft sich milieuspezifisch in drei ganz unterschiedlichen Eltern-Kind-Modellen – aktiver oder rezeptiver – ausrichten kann (133f.). Sichtbar wird auch, dass sich Verhandeln vermehrt auf Zwischenlösungen konzentriert. So gewöhnen sich Kinder heute früh daran, dass es einmal „Punktsiege“ der Eltern, dann wieder der Kinder gibt, und man sich auf keinem Verhandlungsergebnis ausruhen kann. Eine grundlegend „niederlagelose Methode“ (Gordon) erscheint eher als psychologisierende Romantik. Bevor die reale Verhandlungschance unterschiedlicher Kinder beurteilt werden kann, muss ihr tragender Verhandlungszusammenhang beachtet werden. T. v. Trotha (1990) hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass schon traditionell in der „bürgerlichen“ Kleinfamilie Verhandlungschancen gegeben waren, die sich einerseits durch ein offeneres Familienklima und eine „Wiederkehr der Vielfalt“ familialer Formen andererseits enorm
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erweitert haben. Dabei bildet sich allerdings ein strukturelles Spannungsfeld zwischen einer ständig anspruchsvoller interpretierten „verantworteten Elternschaft“ und der Selbstständigkeit und „subversiven“ Verhandlungspraxis der Kinder. Die Ansprüche von Eltern, Erziehern, Lehrern und Kindern erweisen sich immer öfter als nicht deckungsgleich (Böhnisch 1997: 39). Manchmal zeichnet sich auch eine Anspruchsinflation ab. Verhandeln wird zwar durch Regeln, Aufträge, Delegationsvorgänge mitgesteuert. Seine Resultate sind aber keinesfalls im Voraus bestimmbar, weil die Akteure regelmäßig in den Sog einer sich tendenziell verselbstständigenden Interaktionsdynamik geraten (Strauss 1968: 8ff.). Interaktionen durchdringen und verändern dabei auch strukturelle Sedimentierungen sozialen Handelns und schaffen damit laufend neue Unbestimmtheit (9f., 11), rufen so auch „eine breite Reaktionsskala“ hervor und „markieren auch den Übergang zu neuen Selbstbildern“ (15). Beim Verhandeln stehen auch nicht nur jeweils die partikulären Verhandlungschancen an. Es geht unausweichlich auch um einen Blick zurück in die Vergangenheit und einen Blick voraus in die Zukunft sowie um Verhandlungsspielräume und alternative Verhandlungsmöglichkeiten (23f.). Und im Verhandeln selbst kann es geschehen, dass sich Bewertungen, Wahrnehmungen und Entscheidungen und Interpretationen erstaunlich ändern. Der Zwang zum ostentativen Verhandeln kann aber durch eine längerfristige Informalisierungstendenz entschärft werden. Man geht dann alles locker an, löst Teilaspekte, lässt andere unentschieden, spielt auf Zeit (du Bois 1994: 145). In all dem zeigt sich auch eine gewisse Ausdehnung des Verhandlungsbegriffs. Ist auch eine Vernachlässigung, ein Ausweichen, ein Unterlassen „Verhandeln“? Auch ist die Vorstellung unhaltbar, alles sei zu jeder Zeit gleich offen zur Verhandlung. Es geht immer nur um mehr oder weniger Verhandlungsmöglichkeiten in einzelnen Verhandlungsdimensionen und dabei durchaus auch um konkrete Gewinn- und Verlustzwischenbilanzen, ohne dass damit suggeriert werden könnte, es gäbe eine eindeutige Gesamtbilanz oder eine konstante Verhandlungsenergie. Wenn etwa einerseits autoritäres Verhalten von Erwachsenen diskriminiert wird, wird gleichzeitig das Anspruchsniveau so gesteigert, dass für überraschend viele Erwachsene, die nicht von Kindesbeinen auf Gewaltfreiheit trainiert sind, konstruktive Interaktionen mit Kindern weder attraktiv noch realisierbar erscheinen. Sie sehen Erziehung daher vorrangig oder ausschließlich als „Grenzen setzen“. Und wie eine völlige Privatisierung der familialen Verhandlungen oder eine damit unvermittelte soziale Kontrolle sowohl zur Begrenzung wie zur (oft unsichtbaren) Ausweitung der Kontrolle führen kann, so kann Verhandeln weder auf normativ-moralische noch auf pragmatisch-praktische Maßstäbe verzichten (Heitmeyer 2004: 87). Entscheidend ist aber das „Definitionsverhältnis“ (Beck) zwischen privater und öffentlicher Gestaltung eines Verhandlungsrahmens als „vertrauenbildende Maßnahme“. Strauss hat mit Recht auf die suggestive Implikation des Begriffs „Entwicklung“ hingewiesen (Strauss 1968: 9) und seine diachron-synchrone Einbettung in eine „Reihe aufeinanderbezogener Transformationen“ betont. Verhandlungspartner sind implizit stets mit zusammen- oder auseinanderlaufenden Verhandlungsgeschichten konfrontiert und mit der Tatsache, dass sich Verhandlungspartner in ihrem Verhalten durchaus ändern können (97, 99). Solche Änderungen vollziehen sich meist nicht spektakulär und oft so alltäglich und allmählich, dass ein solcher Wandel praktisch unbemerkt bleibt. Soziale Institutionen stabilisieren zwar mit ihren gate-keeping-Effekten und programmierten sozialen Karrieren Verhandlungen, können sich aber der Interaktionsdynamik konkreter Verhandlungen selten ganz entziehen (Beck 1997). Verhandlungen finden stets unter
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historisch-biographischen Bedingungen statt und sind auch kontingenzhaltig. Sie sind daher auch offen gegenüber Drohungen, Verführungen und (gewaltförmiger) Intervention Dritter (Bröckling 2000: 31ff.; Soeffner 2004: 69, 73). Die Veralltäglichung von Verhandlungen in der Familie und der Schule schließt weder außeralltägliche, kreative Überraschungen noch Gewalt aus. Sowohl Erwachsene wie Kinder scheinen dazu zu neigen, beides zu „ästhetisieren und zu genießen, ohne sich im geringsten zu schämen“ (Soeffner 2004: 75, 83). 3.2.8
„Kinder der Freiheit“
In den tatsächlich vermehrt stattfindenden Verhandlungen zwischen Erwachsenen und Kindern präsentieren sich Kinder heute oft selbstbewusst mit individualisierten Handlungsstrategien, deren Pointe darin liegt, dass sie sich durchaus sozialer Orientierung verdanken und umsichtig mögliche soziale Akzeptanz antizipieren. Nicht allein wegen ihrer formalen Sozialkompetenz, sondern vor allem wegen ihrer hohen Sensitivität für die Eigenart der Situation und Interaktionsdynamik erscheinen sie dann „umsichtig“, „klug“, „taktvoll“, „raffiniert“, strategisch-taktisch geschickt. Sie sind offensichtlich in der Lage viele „brenzlige“ Situationen pragmatisch zu bewältigen und sich auch situativer Kontingenz entschlossen zu stellen. Ohne Zweifel verstehen sie dabei oft, ihre Handlungsspielräume voll zu nutzen und sogar noch auszuweiten; von einer ihnen oft auch heute noch angesonnen anthropologischen „Hilflosigkeit“ keine Spur. Besonders deutlich lässt sich die forcierte Konstruktivität sozialen Handelns von Kindern etwa dann dokumentieren, wenn sich zeigt, dass sie sogar „Perspektiven missachten, Aushandlungen verweigern oder Absprachen brechen“ (Krappmann 1999: 241ff.); und dies nicht etwa aus mangelnder Sozialkompetenz sondern aus „Berechnung“ und einem Blick zurück und nach vorn, der offenbart, dass sie keineswegs sozialisatorisch determiniert werden. Wenn nun Interaktionen von Kindern heute nicht so sehr durch reproduktiv-sozialisatorische Aspekte auffallen denn durch ihre kreativen und produktiven Momente, dann gewinnt die situationsspezifische Interaktionsdynamik und die „Inszenierung der Kindheit“ ein eigenes, nicht ableitbares theoretisches Gewicht (Beck 1987: 30ff.; Willems 1998; Abels 1998). Dabei ist allerdings zu beachten, dass nicht nur besorgte Eltern und pädagogisch engagierte Lehrer Kindheit inszenieren, sondern zuerst und am allermeisten Kinder selbst: ohne sie läuft heute nichts... (Rauschenbach 1991: 208). Und sie sind durchaus auch fähig, sich immer wieder aus der „fürsorglichen Belagerung“ der Erwachsenen zu befreien und deren Leben zu „stören“ (70ff.). Selten geben freilich Erwachsene zu, dass Kinder ihr mittlerweile extrem verplantes und hektisch-flexibilisiertes Leben unter dem Diktat einer nur teilweise rationalen Marktorientierung empfindlich stören. Paradoxerweise scheint dann der Schutz kindlicher „Unbekümmertheit“ nur noch durch immer stärkere Institutionalisierung und klug konzipierte, erweiterte pädagogische Professionalisierung etwa in Form von Ganztagesschulen gewährleistet werden zu können. In der Routine des Alltags scheinen aber alle hier Betroffenen, die bei der „Inszenierung der Kindheit miteinander zu tun haben, von dem, was zwischen ihnen abläuft, kein explizites Bewusstsein zu haben. Mit dem Rückgang der Geburtenzahlen wird mehr Sozialisation an immer weniger Kindern geleistet oder gefordert. Immer mehr Kinder und Eltern etc. sehen sich zugleich
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gedrängt, Kindheit zu inszenieren. Eine „Sozialgeschichte der Elternschaft“ könnte sicher erweisen, dass die Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg sich immer mehr unter einen öffentlichen Druck setzen ließen, die Erziehung ihrer Kinder auch unter größten Schwierigkeiten und bislang unbekannten Belastungen ständig zu optimieren, um damit den informellen Nachweis zu erbringen, dass sie ihre Kindern nicht nur nach den gesetzlichen Standards nicht vernachlässigen, sondern „optimal fördern“ (Beck 1987: 31f.). Kinder werden damit nicht nur kontinuierlich kostspieliger sondern auch zeitaufwändiger, und die kulturellen Ansprüche wachsen progressiv. Der „Wert von Kindern“ divergiert damit immer stärker: ökonomisch und soziokulturell steigt er in der Öffentlichkeit, in der Privatsphäre sinkt er, auch wenn viele Eltern ihren Kindern emotionale Bedeutung, ja zuweilen umfassende Sinnstiftung zuschreiben. Die Kultivierung wechselseitigen Gebens und Nehmens scheint problematisch geworden. In Folge dessen ändern sich sowohl die Wahrnehmung der Betroffenen wie die ihrer sozialen Umgebung. Eher unterschwellig werden Kinder so zur „Belastung“. Dies dringt offenbar selbst in die Rhetorik des „Kinderwunsches“ ein, den angeblich noch die meisten Jugendlichen heute haben, der aber nicht nur aus materiellen Gründen bei vielen immer virtueller werden dürfte. Nur vordergründig kann durch moralisierende Kampagnen nach dem Muster einer auflagenstarken Tageszeitung („Ein Herz für Kinder“) oder durch immer höheres Kindergeld dieser gesellschaftssemantischen Entwertung von Kindern begegnet werden, wenn der Alltag der Erwachsenen insgesamt immer stärker marktabhängig wird. „Kindnähe“ und „Indifferenz gegenüber Kindern“ stehen sich dabei an vielen Fronten sowohl der Öffentlichkeit wie der Privatsphäre unvermittelt gegenüber. Und dies ist faktisch nicht nur ein Problem der jungen Eltern, die sich überfordert und allein gelassen fühlen mögen, weil sie in ihrer „verantworteten Elternschaft“ (Kaufmann) von vornherein in viele formell-institutionelle Strukturen und informelle soziale Netze eingebunden sind. Und diese geben keineswegs einen stabilen sozialstrukturellen Horizont ab, da auch alle Teilkulturen und Teilstrukturen nicht mehr stabil sind, sondern sich z. T. beträchtlich wandeln. Und angesichts dieser vielfältigen Wandlungsprozesse ändern sich natürlich auch das Leben und die Selbstinszenierung von Kindern unentwegt. Nicht immer, aber offenbar auch nicht selten fordern Kinder dann als „Prinzessinnen“ oder „Prinzen“ einen Respekt vor ihren zu verhandelnden Bedürfnissen und Wünschen, die noch vor wenigen Jahrzehnten der pädagogischen Verantwortung der Eltern eindeutig untergeordnet waren (Sühnker 1993: 15ff.; Beck 1987: 32). Völlig offen ist somit auch die Frage, ob die traditionell vorausgesetzte normative Asymmetrie der Eltern-Kind-Beziehung tatsächlich noch den Ausschlag gibt. Die Selbstverpflichtung der Eltern zu „optimaler Förderung“, die den neuesten Standards der Kindererziehung zu entsprechen hat, erweist sich als ein Deutungsmuster, das ganz neuartige Machtkämpfe zulässt und keineswegs von vornherein zugunsten der Eltern ausgehen muss. Doch „Arbeitsverweigerung der Eltern“ ist bislang ebenso wenig denkbar wie grundsätzliche „Lernverweigerung“ der Kinder. (Beck 1987: 33). Doch die vielen Grauzonen dieses machtgestützten Interpretationskonfliktes, der Liebe und Zuneigung zwischen Eltern und Kindern keinesfalls ausschließt, erweckt kurioserweise implizit sowohl den Verdacht, Kinder dürften nicht mehr Kinder sein, wie Eltern nähmen ihre Verantwortung nicht mehr wahr. Die Lage ist jedoch komplizierter, weil vielerlei Diskurse und institutionelle Zuordnungen ein verwirrendes Bild abgeben, z.B. auch das der „Eroberung der Eltern durch die
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Wissenschaften“ (Beck 1987: 32f.; 1984: 87ff.) und ihre Relativierung durch Peer Groups, Medien und den oft unterschätzen Konsumgütermarkt. Der „Blick von allen Seiten“ macht es aber auch schwer zu entscheiden, ob die optisch so frei und unabhängig erscheinenden „Kinder der Freiheit“ (Beck 1997) nicht tatsächlich nur in eine täuschende „Individualisierungsfalle“ (Ecarius 1996: 192ff.) geraten sind. In den besonders krassen Formen „veränderten“ kindlichen Verhaltens scheint ein Inszenierungsdruck auf, der viel mehr als „Aneignung“ sozialisatorischer Impulse oder „Ausbalancieren“ zur Folge hat, nämlich eine komplett neue Lebensform gesteigerter Konflikt- und Organisationsfähigkeit, die bislang allenfalls für Jugendliche, eigentlich aber erst für Erwachsene vorgesehen war. Das gegenwärtig diskutierte Wahlrecht für Kinder ist dabei nur eine weitere politische Symbolisierung der Kinder als „Kinderbürger“ und „Kinder der Freiheit“ (Beck). Auf jeden Fall aber wird damit das uns immer noch geläufige „Modell einer geregelten und ziemlich konstanten Serie nach Alter gestufter Statusübergänge viel zu einfach“ (Strauss 1968: 146). Es bleibt bislang soziologisch unentscheidbar, ob dies eine prinzipielle strukturelle Überforderung von Kindern ist, und ob solches Kindsein in der „reflexiven Moderne“ für die meisten Kinder überhaupt „lebbar“ wird (Beck 1986). Kindheitssoziologen, die vielleicht die Fehlprognosen der Jugendsoziologen Mitte der 60er Jahre des verflossenen Jahrhunderts vor Augen haben, können sich ihrer Sache auch hier nicht allzu sicher sein. Verschiedene Entwicklungspfade sind möglich. Jedenfalls tragen aber die Kinder, die heute aufwachsen, die Merkmale der gegenwärtig schwierigen und eben nicht „kinderleichten“ Lebenssituation an sich. Einerseits ist dieser bei manchen Kindern mit relativ hohem Wohlstand bei gleichzeitiger soziokultureller Desorientierung, bei manchen mit geringem Wohlstand oder sogar Armut verbunden. Oft ist auch mit geschwächten traditionalen Erziehungsperspektiven, geringem kulturellem Aspirationsniveau der Eltern oder sogar Anomie zu rechnen. Bei Kindern, Eltern, Lehrern, Richtern werden Altersunterschiede, Altersklassen und Bevölkerungsgruppen durchaus nicht konvergierend eingeschätzt und behandelt. Und diese praxisrelevanten Definitionen bestimmen dann durchaus folgenreich, wer „ungefähr gleichaltrig“, „viel oder wenig älter“, „fast so alt oder etwas jünger ist“ und mit wem entsprechend allgemein oder in bestimmten, für Kinder vorbehaltenen Organisationen spezifisch umgegangen werden kann, sollte, muss. Es geht hier also nicht um einen in der Öffentlichkeit viel beschworenen „Werteverfall“ und nicht einmal eindeutig um einen durchgängigen „Wertewandel“, sondern um die Neubestimmung des Generationenverhältnisses und der dafür relevanten moralisch-normativen, alltagsästhetischen, alltagspraktischen und alltagspolitischen Wissensvorräte. Kinder können sich um Sozialisationswissen kümmern, sich verweigern, es instrumentalisieren, gelegentlich darauf zurückgreifen, sich damit partiell oder wenig selektiv identifizieren. Mit dem Begriff Wertewandel wird die oft viel zu pauschal diagnostizierte „Individualisierung“ nur marginal erfasst: Wächst oder schrumpft die Bereitschaft, zu Anderen zu gehören, für Andere da zu sein, in eine Gesellschaft hinein zu wachsen und sich mit ihren heterogenen und multidimensionalen Sozialisationsimperativen zu identifizieren (Beck 1997: 11f.) und sich den Instanzen der informellen und formellen Sozialkontrolle zu beugen? Beck spricht von der „Was-bringt-mir-das-Generation“ (13): „Die Spaßsucht der Kinder der Freiheit zeigt manchmal auch ein augenzwinkerndes Wissen um diesen untergründig höchst wirksamen Zusammenhang (zwischen Spaßhabenwollen und Basisopposition – H. S.), seine subversive Energie und Ironie…“ (14).
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Und die wichtigste Frage dabei lautet nicht: Haben sich Kinder oder ihre Wahrnehmung verändert, wie grundlegend und einschneidend ist der Wandel, sondern wer erfährt diese Veränderungen, unter welchen Bedingungen, welcher Art sind sie, wer weiß darum und wie geht er damit praktisch um (202f.)? Für Beck ist dabei ein zukunftsfähiger Glaube und die subpolitische Handlungsbereitschaft (11, 204) im Sinne eines feststellbaren Ringens um biographische und politische Freiheit entscheidend. Dies bringt auch die traditionelle „Ontologie kultureller Unterschiede“ wie die von Alter und Geschlecht auf den Prüfstand. Die klaren Innen- und Außengrenzen der jeweiligen Bezugsgruppe verschwimmen, können damit aber auch neu als „Zwischenwelten“ (Hettlage) konstituiert werden. Damit werden indes auch die traditionellen Spannungen und Widersprüche zwischen Rechts- oder Gesellschaftsform hinfällig, mittels derer Kinder qua Geburt auch noch in der „halbierten Moderne“ sozusagen zu „Leibeigenen“ ihrer Eltern soziokulturell stilisiert und in eine „private Fürsorglichkeitssklaverei“ – oder wie Ariès gelegentlich formuliert hat – in einen „goldenen Käfig“ eingesperrt werden konnten (209). Demgegenüber tritt heute die Chance zutage, dass das Kind mit allen Rechten und Pflichten eines „Kinderbürgers“ anerkannt wird (210f.). Dabei verschweigt Beck keineswegs, dass – auch wenn kein starker Generationenkonflikt heute sichtbar wird – die Gleichberechtigung des Kindes zu einem strukturellen Interessenskonflikt zwischen dem Schutz der Familie, oder zwischen der „Familien-, Frauen-, Männer- und Kinderfrage“ führen kann (211; Hettlage 1984: 357ff.). Die zukünftige soziale Konstruktion von Kindheit sozusagen als Antwort auf die Kinderfrage wird zunehmend Handlungsspielräume, Handlungsaufforderungen, aber auch Handlungszwänge enthalten, die viel stärker als bislang eine Kinder- und oder Jugendbiographie und subpolitische Anstrengungen im Alltag notwendig erscheinen lassen. Damit bezieht Beck den Inszenierungszwang heutiger Kinder auf den makrostrukturellen Wandel der Identitätssuche und der Ermittlung des kindlichen Sozialstatus; nicht nur vom Sozialisationsobjekt zum Subjekt sondern vom angeblich „im besten Interesse des Kindes“ abhängigen zum emanzipierten Subjekt. Es fragt sich allerdings, ob diese „Konstruktionslagerung“ mit einer dichotomischen Polarisierung von emanzipiertem und abhängigem Subjekt, vormodernem und modernem (oder postmodernem) Subjekt, von rationalen und irrationalen Handlungen, alten und neuen Werten, Wertlosem und Wertvollem (Kalupner 2003: 153) zu erfassen ist. Damit werden doch nicht nur abgestufte Bedeutungsrelevanzen, sondern auch die nie still zu stellenden, wesentlich auch auf reflexiven Reaktionen beruhenden Konstitutionsprozesse verdeckt. Kindliche Selbstständigkeit kann auch täuschend ähnlich wie Vernachlässigung erscheinen. Heranwachsende sind auf die Hilfe und Unterstützung von Erwachsenen in bestimmtem Umfang angewiesen. Wichtig ist hier ihre Begrenzung und Dosierung. Kinder waren wohl nie nur hilfsbedürftige, sondern stets auch mehr oder minder kompetente Menschen mit geringem Lebensalter. Ihre Sozialkompetenz wird heute sicher stärker beachtet. Doch bleibt bislang unentschieden, ob auch Erwachsene von Kindern „profitieren“ und Kinder sich nicht nur als niedliche, emotional bewegende kleine Kobolde, Störenfriede oder Konsumenten, sondern als respektable und Erwachsene soziokulturell bereichernde Personen erfahren lassen. Wer in wessen Welt signifikant ist, das lässt sich aus keiner Variante der Modernisierungstheorie deduzieren und das weiß niemand im voraus (Strauss 1968: 148). Es gilt die gesellschaftlichen Bedingungen genauer zu ermitteln, unter denen Kinder heute nicht in eine Modernisierungs- oder Individualisierungsfalle geraten, in der großen Verheißungen nur Frustration folgen (Ecarius 1996: 251f.).
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3.3 Typisch moderne Kindheit 3.3.1 Die Profilierung der Lebensphase „Kindheit" Die Moderne wird von Berger gelegentlich als „großer Relativierungshexenkessel“ herausgestellt (1979: 23), eine Metapher, die griffig auf ihre großen „schöpferischen Zerstörungen“ (Schumpeter) verweist. Auch der Lebensrhythmus der Kinder wurde in den letzten 400 Jahren allem Anschein nach enorm verändert. Sie können seit dieser Zeit immer weniger damit rechnen, ihren Alltag so bunt gemischt wie zuvor mit dem der Erwachsenen zu verbringen. Selbst in der Familie sind sie oft auf „Spezialzeiten“ verwiesen, in denen sich ihnen ihre Eltern widmen können. Die typisch moderne Kindheit westlicher Gesellschaften, speziell Europas, unterscheidet sich gravierend von den vormodernen europäischen wie noch vieler, allerdings unausweichlich in den Kulturkontakt hineingerissenen außerwestlichen Gesellschaften. Zunächst fällt auf, dass hier der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern unvergleichlich schärfer kulturell gezogen wird (Benedict 1978: 195). Er scheint bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts eher noch größer geworden zu sein. Dieser soziokulturell extrem herausgearbeitete Unterschied schlug sich auch in der zeitlichen Dimension des Lebens als spezifische Lebensphase „Kindheit“ nieder. Sie verdichtet sich normativ zu einer speziellen Kinderrolle und einem entsprechenden kindlichen, nichtverantwortlichen Sonderstatus. Er wurde in eigens für Kinder vorgesehenen sozialen Institutionen zur Familien- und Schulkindheit sozusagen operationalisiert und in den letzten Jahren als Ziel einer eigenen Klientel und Bevölkerungsgruppe erfasst, der durch die öffentliche Sozialstatistik, das Rechtssystem und die Familien- und Sozialpolitik kollektive Interessen zugeschrieben wurden. Soziologen entdeckten auch ihren Alltag, ihre spezifischen Interaktionen, ihre Gruppenbildungen, ihre besondere Stellung in der Sozialstruktur und im Generationenverhältnis. Die uns allen bekannte Kindheit, so wird heute im Rückblick deutlich, war immer eine komplexe soziale Konstruktion, die offen oder versteckt bis heute eine zentrale Bedeutung für die ökonomisch-politisch dominierte „funktional differenzierte Gesellschaft“ und ihre Reproduktion besitzt. Obwohl es auch eine kaum zu bestreitende biologisch relevante Tatsache ist, dass Kinder zu Erwachsenen heranwachsen, bestehen so große soziokulturelle Unterschiede, dass eine unvermittelte Analogievorstellung wenig tragfähig erscheint. In manchen Gesellschaften gibt es zwei, in anderen drei, in anderen vier und mehr Lebensalter mit lockeren oder festeren Korrelationen zu biologischen Sachverhalten und/oder Altersjahren, mit deutlichen und/oder kaum noch erkennbaren Statuspassagen mit und ohne Initiationsriten (Nemitz 1996: 21f., 57ff.). Die „Schwächung des ontologischen Standortes des Menschen“ (Plessner) in der Moderne führte einerseits zu einer ständig umgehenden Unsicherheit, andererseits zu einem gesteigerten Autonomiestreben der Menschen und in westlichen Gesellschaften zu einer adultozentrischen Anthropozentrik, einer Zentrierung um den männlichen Erwachsenen, die erst allmählich die Gleichwertigkeit von Frauen und Kindern einzuräumen gewillt war. Trotz allen Modernisierungsdrucks auf Normensysteme und gesellschaftliche Abläufe gelingt es – im Fahrwasser der Trennung von Haushalt und intimisierter Kleinfamilie – zunächst nur Kindern des Besitz- und Bildungsbürgertums im modernen Sinn „Kind“ und nicht mehr nur „kleiner Erwachsener“ zu sein. Universalisierungstendenzen moderner Ge-
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sellschaften stießen dabei auf massive Resistenzen bei Bauern und Arbeitern im 19. Jahrhundert. Und erst in einer sehr langsamen Entwicklung setzte sich die klassisch moderne Konzeption von Kindheit in Europa allgemein durch, überschritt allmählich die kulturellen Grenzen westlicher Industriegesellschaften und wurde durch gehäuften Kulturkontakt, nicht zuletzt auch durch Bestrebungen der UNO eine international verbreitete Kindheitsvorstellung. Kinder wurden so Schritt für Schritt zwischen dem 16. und 21. Jahrhundert in eine Kinderwelt entlassen, die bei den einen noch viele vormodernen, bei anderen seit langem oder erst neu moderne, bei wieder anderen moderne und/oder postmoderne Elemente in die Gesellschaftssemantik der Kindheit einfließen lässt. Offenbar schmuggeln sich, oft unerkannt, in den Universalisierungsprozess des typisch modernen Kindheitsmodells eigenartig hybride Momente ein. Die kindliche Lebensphase wird durch ihr eigentümliches Sinnzentrum oder ihre „seelische Zentralität“ (Simmel) sowie durch Grenzen und Durchschnittwerte profiliert. Sie bilden sich in den europäischen Kulturen zunächst habituell-konventionell und institutionalisieren sich schließlich zu formellen gesetzlichen „Kinderrechten“, weniger stark durch ein „Jahrhundert des Kindes“ (Key), ein „Jahr des Kindes“ oder ein „Tag des Kindes“, die politisch proklamiert werden. Seltsamerweise hindert das zu Ende des 20. Jahrhunderts keineswegs eine Klage über die wachsende „Kinderfeindlichkeit“ der modernen Gesellschaft. Erst in den letzten Jahren wird allerdings der fast allgemeine Konsens, die Kindheitsphase sei durch die Bestimmung des Kindes als eines „erziehungsbedürftigen Wesens“, die auf die Aufklärung zurück geht, anthropologisch fixiert, danach auch als pädagogisierende Ideologiebildung und Übergeneralisierung interessierter Erwachsener attackiert (Honig 1999: 85ff.). Zunächst bildet die körperliche, später stärker eine zuweilen spiritualisierte Entwicklungskonzeption den sinnstiftenden Leitfaden des Umgangs mit Kindern und Kindheit. Darin schreiben sich, wie viele immer noch glauben, unauslöschlich und lebenslang prägende Grunderfahrungen, vor allem unter dem Einfluss der Familie, aber auch des Kindergartens und der Schule und schließlich der weiteren Gesellschaft in einer „zweiten Geburt“ (König) als Teil der Sozialisation und Enkulturation ein. Trotz aller Vielfalt kultureller Alterseinteilungen und Grenzsetzungen hat sich bis heute die Auffassung gehalten, Kindheit beginne mit der Geburt und ende mit der Pubertät; Grenzbestimmungen, die allerdings weder historisch noch ethnologisch über jeden Zweifel erhaben sind. Zu beachten sind dabei vor allem die vielen prae-, peri- und postnatalen Entwicklungsprozesse und Mikroübergänge und die historisch variable und enorm streuende Pubertät, die nie automatisch und eindeutig Grenzbefestigungen abgeben. Und welche Lebensjahre zur Definition der Grenzen herangezogen werden können, ist durchaus fraglich. Während etwa bis in die frühe Moderne die Bezeichnung „Kind“ bis zum 25. Lebensjahr und in manchen Fällen bis zum 40. Lebensjahr vergeben wurde, das Wort „Kind“ als ein Synonym für „Abhängiger“ auftritt, würde diese Einteilung heute nur noch als anmaßend empfunden werden. Es gibt sogar Gesellschaften, die nicht einmal die Geburt als Beginn der Hominisation anerkennen. Heute wird oft folgendermaßen definiert: Neugeborenes (Geburt bis zum 10. Lebenstag), Säugling (11. Lebenstag bis 12. Lebensmonat), Kleinkind (2. bis 5. Lebensjahr), Grundschulkind (6. bis 10. Lebensjahr), Kind der späten Kindheit (11. bis 14. Lebensjahr). Neuerdings wird auch von den „Lückekindern“ der mittleren Kindheit (8. bis 12. Lebensjahr) gesprochen (Lenzen 1997: 369; Mitterauer 1986; Sieder 1987). Darüber hinaus bilden durchaus historisch bedingte Durchschnittswerte der Medizin (Pädiatrie) und der Entwicklungspsychologie Bemessungsgrundlagen, die nicht
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übergeneralisiert werden dürfen. Jedenfalls scheinen aber Kindheit und Alter fast überall in einer irgendwie gearteten Wechselbeziehung zu stehen (Rosenmayr 1998: 17ff.). Die Entdeckung und Markierung des großen kulturellen Unterschieds zwischen Erwachsenen und Kindern hat immer deutlicher zur Ausgestaltung einer zeitlich gedehnten und gesamtgesellschaftlich anerkannten, eigenen Lebensphase Kindheit geführt. Ihr folgte die Erfindung und die soziale Konstruktion einer „Lernkindheit“ durch die „Revolution der Erziehung“ (Snyders) auf den Fuß, die sich aus einer beiläufigen Sozialisation im Familienhaushalt zu einer gezielten, intentionalen, professionalisierten, öffentlich legitimierten und staatlich kontrollierten Veranstaltung mit unterschiedlichen sozialen Karrieren (dreigliedriges Schulsystem) herausschälte und ab Mitte des 19. Jahrhunderts jedem Kind der unterschiedlichsten Sozialmilieus und Klassen zugemutet wurde. Die „Volksschule“ war in Deutschland das zwingende Korrelat zum „Normalarbeitsverhältnis“ des Erwachsenen und der um dieses zentrierten „Normalbiographie“ des durchschnittlichen erwerbsfähigen Mannes und später potentiell auch der Frau (Beck 1997). Implizit wurde damit ein grundlegend anderes Alltagsverständnis gefördert, wie es vor dem 16. Jahrhundert kaum vorzufinden ist. Der Alltag zerfiel in einen von den öffentlichen sozialen Institutionen (Kindergarten, Schule) gesteuerten Vormittag und einen Nachmittag, der von der Familie dominiert werden sollte und auch später von deren wachsender Freizeit- und Konsumorientierung geprägt wurde. Außerfamiliale Aktivitäten wurden nicht allzu gern gesehen, manchmal unterdrückt, jedenfalls wurde versucht, sie selektiv zu steuern. Mit verhältnismäßig wenig formellen Zwang wurden aber immer mehr auch nichtbürgerliche Familien auf eine wie immer geartete „Pädagogik der Vernunft“ und Schulfreundlichkeit sowie eine Norm verpflichtet, die kindlichen Lebensäußerungen, nicht zuletzt die Lernfortschritte oder Lernschwierigkeiten, sorgfältig zu beobachten (Flitner 1987: 624ff.). Nach und nach entstand dadurch eine diskursive Hegemonie des pädagogisierenden Deutungsmuster der „Kindgemäßheit“ und der „Kindgerechtigkeit“ gegenüber der „Erziehungstatsache“ Kindheit, die sich fast beiläufig auch zur „Entwicklungstatsache“ mauserte. Hinter all dem stand ein rationalistischer Fortschrittsoptimismus des Bürgertums des 18. Jahrhunderts, den später auch die Arbeiterbewegung übernahm, allerdings auch eigentümlich zuspitzte. Durch systematische Erziehung verbunden mit emanzipatorischer Gesellschaftspolitik sollte ein neuer vernünftig handelnder Mensch, ein „citoyen“ geschaffen werden. Damit wurde allerdings auch eine gesellschaftliche Desintegration der Generationen und ein erster Individualisierungsschub angestoßen (Richter 1987: 25; Seyfarth 1985). Angesichts einer solchen geplanten Sozialisation durch und in speziellen sozialen Institutionen kann man in der Tat von einer gewissen institutionellen „Verhäuslichung“ (Elias) sprechen. Dies hatte auch deutliche Konsequenzen für die informellen Qualifikationszumutungen und eine gesteigerte Verantwortlichkeit der Eltern in ihrem Umgang mit ihren Kindern. Von Eltern wurde jetzt weit mehr als Versorgung und „Wachsenlassen“ erwartet. Sie hatten tendenziell immer anspruchsvollere Elternrollen zu übernehmen. Unverkennbar war damit auch eine Herauslösung der Kinder aus der bis ins Spätmittelalter geteilten Lebenswelt von Familienhaushalt, Dorfgemeinschaft oder Stadtquartier und regionaler Verwandtschaft und ihre strikte Zuordnung zur modernen „isolierten Kernfamilie“ (Parsons 1968: 109ff.) verbunden. Regionale, geschlechtsspezifische und klassenbedingte Sonderbedingungen wirkten aber immer noch nach, so dass dieser Entwicklungstrend nicht übergeneralisiert werden darf. Vielmehr muss von einer spannungsreichen Wechselbeziehung von Elternhaus, Kindergarten, Schule, Betrieb des Vaters (und teilweise
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auch der Mutter), Kirchen und Freizeitorganisationen der Konfessionen und der sich im späten 19. Jahrhundert stark ausbreitenden Arbeiterbewegung und zugehöriger Sozialmilieus ausgegangen werden. Es wäre auch voreilig zu schließen, dass die jeweilige kindliche Eigenwelt keine Eigendynamik besessen hätte, die sich auch in der Verfremdung von Optionen der Erwachsenen geäußert hat. Es gibt zahlreiche Indizien einer langlebigen „Kinderkultur“. Seit dem 18. Jahrhundert und von allem in der Zeit der Industrialisierung, also in Deutschland um 1850, verstärken sich die symbolische und institutionelle Markierung der Lebensphase Kindheit so stark, dass sie immer mehr als Naturtatsache empfunden wurde. Mit dem Aufbau der industriellen Produktion und der Umstellung von einer Subsistenzoder Bedarfswirtschaft auf eine kapitalistische Marktwirtschaft wurde auch die Alltags- und Lebenszeit der Kinder – wenn auch immer differenziert und widerspruchsreich – stärker reguliert und in gewisser Weise auch diszipliniert; allerdings so, dass Kinder dies nicht allzu leicht erkennen konnten. Kindheit wurde einerseits universaler und länger andererseits exklusiver: Kein Erwachsener konnte es weiterhin wagen, sich offen regressiv und „kindlich“ zu verhalten, wenn er sich nicht der Lächerlichkeit oder harscher moralischer Kritik aussetzen wollte. Vom „Ernst des Lebens“ der Erwachsenen wurde nun die „kinderleichte“ und unernste Kindheit scharf abgehoben. Sozusagen im Gegenzug war die moderne Gesellschaft bereit, aus der Kindheit einen strukturell verankerten Schutz- und Schonraum und ein soziales Moratorium zu machen, zumal nach verbreiteter Ansicht schon im frühmodernen Bürgertum die bisherige unsystematische Anleitung der Eltern für die Rationalität der Marktwirtschaft und das öffentliche Leben in keiner Weise mehr ausreichte. Auch mit dem Argument einer nun möglich werdenden, bedeutenden allgemeinen Wohlstandssteigerung wurde die Notwendigkeit einer Qualifikations-, Selektions-, Kontrollsteigerung und ein daraus folgender spezifischer Sonderstatus von Kindern gerechtfertigt, was allerdings unter modernen Pädagogen Richtungskämpfe um die beste Interpretation der „Kindgemäßheit“ in der Folgezeit nicht ausschloss. Die staatlichen Institutionen und Maßnahmen zur Durchsetzung der Aufsicht über die Gesundheit und den Wissensstand der Kinder ließen sich zwanglos als im öffentlichen Interesse liegende Gefahrenabwehr gegenüber allseits drohender Kindsvernachlässigung und kindlicher Verwahrlosung legitimieren. War die industrielle Produktion im 19. Jahrhundert der Motor sozialkultureller Segregation der Kinder, so richtete sich im späten 20. Jahrhundert das gesellschaftliche Interesse ganz stark auf die Konsum- und Produktionssphäre. Mit der Familialisierung und Scholarisierung der Lebensphase Kindheit erlangt also die lebensweltliche Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialerfahrung eine neue Qualität. Sie wird institutionell programmiert und indirekt auch stärker kontrolliert, obwohl sich mit der Zahl der Optionen auch zugleich die Handlungsspielräume zu erweitern scheinen, und die oft harten Arbeitsverpflichtungen eingeschränkt oder sogar in den meisten Fällen beseitigt wurden. Doch die kindliche Spontaneität in ihrer relativen Beliebigkeit, die man in vormodernen Gesellschaften entweder gar nicht beachtete oder wohlwollend belächelte, soweit sie sich außerhalb der Arbeitsverpflichtungen abspielte, wurde deutlich eingeschränkt und verfiel einem durchweg pädagogisierenden Blick. Diese Besonderheit macht sich heute kurioserweise sogar in bestimmten Freizeitaktivitäten und einem repräsentativen Konsum bemerkbar, die geradezu einen ausschließenden Pflichtcharakter annehmen können (Prahl 2002: 254). Die Lebensphase Kindheit wird jedoch nur als Teilstruktur der gesamten mo-
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dernen „Normalbiographie“ voll verständlich und war in sie bis vor wenigen Jahren voll integriert. Und damit erhält sie auch erst in ihren sozialen Beziehungen eine unterscheidbare Gestalt. Kulturell wurde Kindern in diesem Sinn speziell Tätigkeiten des Lernens und Spielens zugestanden. Sie sollten nicht nur von schwerer Kinderarbeit befreit werden, sondern sich ganz aus dem Arbeitsleben heraushalten. Es entsteht nach und nach ein weitgehender Konsens über die gesellschaftliche Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit eines sozialen Moratoriums für Kinder. Damit wird klar, dass die ausschließliche Festlegung der Kinder auf die zwischen Geburt und Pubertät dauernde moderne Kindheit eine voraussetzungsvolle Setzung darstellt, deren gesellschaftliche Semantik immer stärker oszilliert, als dies ihre Protagonisten wahr haben wollen (Hornstein 1966: 324). Nicht nur die heute oft beschworene Pluralisierung der Familie und intergenerationelle oder demographische Veränderungen, sondern der generelle Institutionswandel z. T. der Legitimitätsverlust in der spätmodernen Gesellschaft übt einen enormen Modernisierungsdruck auf diese durchaus geschichtliche Form der Kindheit als einheitliche Lebensphase aus. Obwohl dies nicht immer bemerkt wird, wirkt indirekt auch der starke Individualisierungsschub der 1960er Jahre mit den zunehmenden Risiken auf dem Arbeitsmarkt nach, der die konventionellen Geschlechts- und Altersrollen der klassischen Moderne zu einer widersprüchlichen Periode ständiger Übergänge, Zwischensynthesen, Zwischenlösungen und Zwischenwelten gemacht (Beck 1986; Hettlage 1984) und damit die klassische Lern- und Spielwelt durcheinander gebracht hat. Diese ist heute allenfalls eine Induktionsphase zu „lebenslangem Lernen“ einer immer stärker wissensbasierten Produktion und Lebensweise. Ein Blick in die Geschichte macht klar, dass das, was als ein spezifisches Alter für die Kindheit gilt, nicht wesentlich und stringent an eine bestimmte Anzahl von Lebensjahren gebunden ist. Die soziokulturelle Interpretation und Gewichtung dieser Lebensphase ist durchaus nicht nur akzidentiell variabel. Sie kann deutlicher oder weniger deutlich definiert werden oder fast ganz marginal erscheinen (Rosenmayr 1998; Lenz 1999: 287, 18; Imhof 1981; 1984; 1988). Ganz klar wird das am Auftauchen und Verschwinden spezifischer Altersklassifikationen und Altersnormen, die oft auch über Jahrhunderte die gesellschaftliche Über- und Unterordnung und Instrumentalisierung der Kinder geregelt, wenn auch nicht umfassend den Alltag determiniert haben. Die für eine marktabhängige Wachstumswirtschaft und einen modernen Wohlfahrtsstaat notwendig erscheinende Standardisierung des Lebenslaufs bewirkt paradoxerweise langfristig eine – stets begrenzte – Individualisierung der Kindheit. Sie erfährt heute ihre besondere Prägung nicht allein durch die Familie und die Schule, sondern wohl noch stärker wenn auch indirekt durch die Ausrichtung des Bildungs- auf ein Beschäftigungssystem und die Lohnabhängigkeit der meisten Familien sowie die Abhängigkeit von sozialstaatlichen Transfers. 3.3.2 Kindheit als Schutz- und Schonraum und als „soziales Moratorium“ In den modernen Gesellschaften Europas hatte sich erst seit dem 16. Jahrhundert nicht nur durch bestimmte Denker wie Rousseau, Pestalozzi oder Schleiermacher, die gesellschaftliche Anerkennung von Kindheit als konsistente und durchgängige Lebensphase unterschiedlicher Kinder abgezeichnet. Kinder wurden in dieser eigenen Lebensphase auch stärker den je beobachtet und ihnen wurden sozusagen maßgeschneiderte Lern- und Handlungsprogramme in breitesten Bevölkerungskreisen zugemutet (Ariès 1976; 349ff.; van den Berg
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1960: 21ff., 74ff.; Flitner 1987: 624f.). Die bislang kurze, fast episodische und partikulare Kindheit wurde allmählich verlängert und universalisiert. Sie war nicht länger nur Synonym für einen Sozialstatus tief ausgeprägter Abhängigkeit vom Vater u. U. bis tief ins Erwachsenenalter hinein. Heute mehren sich indes die Anzeichen, dass sie erneut zeitlich eingeschränkt und stark repartikularisiert wird: Kindheit hat – wieder und doch anders als in der Vormoderne – viele Gesichter. Gegenüber allen anderen Eigentümlichkeiten, die unterschiedliche Kinder wohl immer hatten, wurde in der frühen Neuzeit immer mehr ihre Pflegebedürftigkeit, Hilflosigkeit, aber auch ihre Lernfähigkeit herausgehoben, hochstilisiert und pauschaliert wie dies wahrscheinlich in keiner anderen Kultur in diesem Ausmaß geschehen ist. Dennoch bleibt zunächst zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen Kind, Jugendlichem und Erwachsenem erstaunlich unscharf. Ariès weist auch darauf hin, dass ein beträchtliches Sozialisationswissen der Antike über Jahrhunderte hinweg im Mittelalter fast völlig verloren ging. Kindheit wird dann im 18. Jahrhundert insofern zu einem Schonraum oder „sozialen Moratorium“ (Erikson) jenseits des „Ernst des Lebens“, als alle Kinder damit allmählich die Chance versprochen bekamen, mit den aufgeschobenen Arbeits-, Konsum- und Partizipationschancen die volle und durch nichts eingeschränkte volle Mitgliedschaft der Gesellschaft zu erwerben. Konsumaufschub und Lernen sollte sich generell lohnen. Kinder wurden zwar als aktuell defizitär aber als künftig und potentiell kompetent eingeschätzt. Mit der Institutionalisierung der Kindheit wurde ein soziales Moratorium von der Geburt bis zur Pubertät zu einem einzigartigen symbolischen Wert stilisiert und uminterpretiert. Geburt, frühkindliche Existenz in der modernen Kleinfamilie, Einschulung und Ausschulung bildeten formell einen eigenen, normativ geschützten Erfahrungsraum, der informell allerdings als „pädagogische Provinz“ oder „Kinderkram“ denunziert wurde. Mit der korrekten Einwilligung in ihre vordefinierte Erziehungs- und Lernbedürftigkeit wurde Kindern wohl, zum ersten Mal in der frühen Neuzeit Europas, in der Weltgeschichte eine prinzipiell schützenswerte, anthropologisch geforderte „Kinderrolle“ und ein spezifischer Sonderstatus zugespielt, der durch spezielle institutionelle Zuständigkeiten, Teilreifen, Statuspassagen und soziale Karrieren immer stärker durchstrukturiert wurde. Wies ein konkretes Kind dies zurück oder verweigerte ein Erwachsener dies einem Kind, etwa ein Bauer in der Zeit der Ernte, so wurde dies immer mehr als ein „pathologischer“ oder devianter Fall stigmatisiert, selbst wenn Kinder Anstalten machten, mit derlei Umständen souverän zurecht zu kommen. Kinder sollten eben „brav“ die entsprechenden, für sie eigens vorgesehenen sozialen Karrieren Stufe um Stufe durchlaufen. Schul- und Studienabbrecher haben es bis heute besonders schwer. Damit wurden die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Evidenz späterer entwicklungspsychologischer Stufenmodelle geschaffen. Kratzt man etwas an historischen Selbstverständlichkeiten, so zeigt sich, etwas versteckt in der modernen Sozialgeschichte, auch eine gewisse Angst vor verwahrlosten, bettelnden, wilden und ungezogenen Kindern (Richter 1987; Meyer 1988). Andererseits hat nicht erst der heutige Mythos „optimaler Förderung“, sondern schon die frühmoderne „Pflegeideologie“ (Flitner) Eltern unter Druck gesetzt, wenn sie die korrekte Definition von modernen Elternrollen nicht vollständig übernahmen, also etwa beide Eltern zur Arbeit gingen. Besonders Mütter galten dann allgemein als Rabenmütter (Flitner 1987: 629). Lange Zeit ließ man auch offen, was sich rechtlich und politisch aus dieser neuen pädagogischen Kindheitsvorstellung ergibt.
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Kontrollmaßnahmen standen durchaus im 18. und 19. Jahrhundert im Vordergrund. Generell ist kaum zu übersehen, dass sich in die Norm des „wohlerzogenen Kindes“ massive gesellschaftliche und politische Interessen einschmuggelten und Kinder so immer schon andeutungsweise als Humankapital imaginiert wurden. Stark wurde die Bedeutung der frühen Jahre für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert betont. Dies wirkt auch heute noch nach, obwohl die neueste Entwicklungspsychologie sich hier längst korrigiert hat und das kritische Gewicht anderer, späterer Lebensphasen betont. Kinder waren wahrscheinlich immer schon neugierig und lernbereit. Nun sollten sie jedoch allein auf funktional verwertbares Wissen und kompensierendes Spiel verpflichtet werden. Zuvor hatte man viele von Ihnen auch in anderen Handlungsbereichen toleriert. Dies gilt vornehmlich für ihre Arbeitsfähigkeit, die in gewissem Umfang nicht selten schon von drei bis vier Jahren, auf jeden Fall aber von 7jährigen Kindern erwartet wurde. Gerade bei Bauern des vormodernen Europa wurde jede Arbeitskraft dringend gebraucht, um in einer personalintensiven Produktionsweise das Überleben oder den Bedarf sicherzustellen. In der besitz- und bildungsbürgerlichen Familie des 18. Jahrhunderts bestanden dann diese Zwänge weitgehend nicht. Und es gab hier auch ein intimes Familienleben und kompensierende Freizeit. Weitsichtige Unternehmer und die staatliche Obrigkeit erkannten nun, dass die bisherige Qualifikation der Arbeitskräfte nicht mehr ausreichte und eine eigene Lernphase als soziales Moratorium mit einem „sozialisatorischem Schneckentempo“ (Heitmeyer) der beruflichen Tätigkeit vorgeschaltet werden musste (Peukert 1997: 189f., 280, 285; Heitmeyer 1994: 380). Streng genommen drangen schon damals Anforderungen des Berufes in den familialen und schulischen Alltag der Kinder ein. Und diese gesamtgesellschaftlichen Zumutungen bestimmten auch damals schon Eltern und Kinder zugleich, wenngleich in unterschiedlicher Form. Zugleich zeichnete sich auch ab, dass hier auch die Grundlegung politischer Loyalität gesichert werden sollte. Mit der Konzeption von Kindheit als Schutz- und Schonraum hat sich die Erwachsenengesellschaft mit großer Selbstverständlichkeit daran gemacht, „Kindgemäßheit“ aus ihrem „bürgerlichen“ Verständnis der subjektiven Teilnehmerperspektiven von Kindern zurecht zu legen und die „Stimme der Kinder“ in erheblichen Maße als Echo ihrer Vorstellungen pädagogisch zu definieren (Hardach 1981; Behnken 1990). Das „wohlerzogene Kind“ war nicht nur an seinen konformen Umgangsformen im Privatbereich zu erkennen, sondern zunächst an seinem völligen Verzicht, in der Öffentlichkeit und der Sphäre der Arbeit den Erwachsenen „Schwierigkeiten“ zu machen oder „Störungen“ zu verursachen. Geschichtlich betrachtet, beginnt hier erst der Prozess sozialisatorischer Segregation und der nicht nur räumlichen Abgrenzung von Kindern und Erwachsenen, der im Sinne der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft verstanden werden konnte. Die Regulierung marktzentrierter Berufschancen erforderte bestimmte gesellschaftliche Instanzen, die Qualifikationsstandards und Verhaltensdispositionen autoritativ durchsetzen und durchschnittlich garantieren konnten. Dazu wurden im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte immer mehr spezifische Kinderinstitutionen gegründet, die ein System des Forderns und Förderns sowie der Verhaltens- und Konfliktregulierung installierten. Selbst die heutige Freizeit ist nur zu einem geringen Teil selbst organisiert und wird durch öffentliche und noch weit mehr kommerzielle Freizeitgestaltung überlagert. Sozialkontrolle wird vom Nahbereich sozialer Beziehungen und der Verwandtschaft tendenziell weg verlagert. Damit wird ein gewisser Normalbetrieb des sozialen Moratoriums, wenngleich unter wachsenden Schwierigkeiten, bis heute aufrechterhalten, der sich sogar in einer „Transformation
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des Wir-Gefühls“ – und der Kindern angesonnenen Rede „Wir Kinder“ – niederschlägt (Treibel 1993: 321; Elias 1989). Je nachdem, ob diese Lebensphase relativ harmonisch oder widersprüchlich verläuft, kann man sagen, dass aus dem sozialen Moratorium inzwischen ein soziales Laboratorium geworden ist (Baacke 1985: 21). Inzwischen weisen jedoch die Tages- und Lebensverläufe vieler Kinder nicht nur mit denen von Jugendlichen, sondern in verblüffender Weise auch Ähnlichkeiten mit denen von Erwachsenen auf. Diese sind als gezwungenermaßen Weiter-Lernende prinzipiell Kinder und Jugendlichen gleichgestellt. Sie geraten immer öfter in „retrograder Sozialisation“ in Abhängigkeit von Jüngeren, ohne dass diese deswegen den Status des Vollbürgers gewännen oder ernsthaft die volle Lebenserfahrung reflektierter Erwachsenen ins Spiel bringen könnten. Doch es ist unverkennbar, dass die meisten Kinder heute von ihren Eltern oder Erwachsenen insgesamt unabhängiger, die Erwachsenen aber in manchen Bereichen, nicht zuletzt im Bereich technischen Wissens und Konsumkompetenz, von Kindern abhängiger geworden und das psychosoziale Moratorium zu einem ausgesprochen explorativ-experimentell geprägten sozialen Laboratorium aller Lebensphasen geworden ist. Gemessen an dem historischen Maßstab der Entdeckung und Erfindung moderner Kindheit scheint Kindheit – zeitversetzt zur Jugend – seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in eine deutliche Krise geraten zu sein, was die gehäufte Rede von der „veränderten Kindheit“ vermutlich symbolisch andeuten will (Zinnecker 1996). Es erscheint damit auch unvermeidbar, dass damit die pragmatischen Regelungen der Sukzession der Jahrgangskohorten und die Gestaltung inter- und intragenerationaler Beziehungen und das Wissen darum auch die traditionelle Selbstverständlichkeit sozialisatorischer Transmission und Delegation verliert. Der Kindheit wird damit einerseits steigende Bedeutung und Wert – deutlich gespalten im öffentlichen und privaten Bereich – verliehen. Sie wird nicht nur „rehabilitiert“. Andererseits wird sie so psychosozial aufwendig stilisiert, dass vielen jungen Erwachsenen im zeugungs- und gebärfähigen Alter der Charme kleiner Kinder und der „natürliche“ Kinderwunsch aus dem Gesichtsfeld verschwinden oder zumindest immer weiter hinausgeschoben werden. Diese Verschiebung des „Realitätsakzentes“ (Schütz) von Kindheit ergibt sich nicht aus dem Wandel der normativ-ästhetisch-lebenspraktischen Diskurse über Kinder allein, sondern ganz wesentlich aus der Art und Weise, wie Kinder selber diese selektiv-exklusiv aufgreifen und damit im Alltag und in außeralltäglichen Sonderwelten ihren Sinn in Auseinandersetzungen und Kooperation mit Erwachsenen herstellen und sich damit der soziologischen Theorie präsentieren. Dabei lassen sich deutliche Unterschiede zwischen stärker hermetisierenden, regulierenden, selektiven, transitorischen, individualisierenden oder entindividualisierenden Versionen von Kindheit ausmachen. Je nachdem wird eher Selbstoder Fremdkontrolle, stärker Leistung oder Erlebnis gefordert. Die Bildungsexpansion als internationales Phänomen seit den vergangenen 60er Jahren und die emanzipatorischen Diskurswellen, die durch die 68er Studentenbewegung und durch Medien und kommerzielle Konsumimperative vorangetrieben wurden, haben zunächst ein Bildungsmoratorium und um 2000 ein ganz eigentümliches kulturelles Moratorium entstehen lassen, das kaum als homogen und in sich geschlossen betrachtet werden kann. Es zerfällt in viele heterogene und stark fluktuierende, stark medial getragene Mikro-Milieus, „kleine Lebenswelten“ (Luckmann) und Szenen, die synchron oder kurzfristig hintereinander auch gleichzeitige Referenzen und/oder Mitgliedschaften dulden. Die „Kinderkultur“ wird damit zu einem hybriden sozialen Phänomen. Weder Familie noch Kindergarten noch Schule besitzen heute
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noch die prägende Kraft, Kindheit als „institutionelles Moratorium“ erfahrbar zu machen. Die soziale Dynamik ihrer Gestaltung und ihres Rhythmus wird von viel mächtigeren gesellschaftlichen Kräften bestimmt. Das Alter ist zwar noch in einer gewissen Weise ein „Identitätsaufhänger“ (Goffman), wird jedoch längst durch die anonymen Steuerungs- und Sozialisationsinstanzen des Marktes, der Medien und der Politik und Wissenschaft stark relativiert. Nur in Ausnahmefällen wird der Weg der Kinder durch ihre Kindheit durch konsistente Altersnormen und allein durch soziale Karrieren der Schule und ihre gate-keeping-Effekte sowie ihre Tagesordnung (Agenda-Setting) festgelegt. Und eine außerschulische Scholarisierung hat alle Lebensphasen erfasst. Schonräume sind in der „Wissensgesellschaft“ unüblich geworden, selbst dann, wenn sich lebensgeschichtliche oder begabungsspezifische Grenzen nicht länger verheimlichen lassen. In ganz neuer Weise verschlingen sich damit Institutionalisierung und Kontingenz der Kindheit. Und das macht auch eine neue Harmonisierung aller Lebensphasen so schwierig (Abels 1993: 515; Hengst 2005: 245ff.). Zwischen der von Ariès aufgezeigten und von Honig aufgegriffenen Unterscheidung und sozialen Kategorie „junger Menschen“ und der unverwechselbaren historischen Vorstellung moderner westlicher Kinder Europas und Nordamerikas, wie sie erst zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entstanden ist, besteht mehr als eine akzidentielle, durch Analogien leicht zu überbrückende Differenz. Das Wissen darum kann in bestimmten Gesellschaften dürftig oder extrem differenziert sein. Das Leben von Kindern kann in den Augen von Erwachsenen und Kindern als „Hauptsache“ oder als „Nebensache“ oder gar faktisch als „Kinderkram“ erscheinen. Es kann auch eine polarisierende „Wissenskluft“ entstehen (Griese 2000: 246ff.). 3.3.3 Die Kinderrolle Aus der modernen Lebensphase Kindheit zwischen Geburt und Pubertät erwächst auch eine völlig neue Kinderrolle. In der konkreten Lebenspraxis verwirren sich noch weit komplizierter Sinn, Wert, Nutzen von Kindern und asymmetrische und symmetrische Machtverhältnisse. Hier können sie heute geradezu auf dem Kopf stehen. Während Kinder in wenig komplexen Gesellschaften oft ein wenig auffälliges, wohlerzogenes, hilfsbereites und erstaunlich verantwortungsvolles Sozialverhalten praktizieren (Whiting/Whiting 1975), erscheinen sie in westlichen Gesellschaften manchmal als lautstark, ungezogen, aufdringlich und sehr selbstbewusst, obwohl sie dann doch nicht allein mit ihren Problemen fertig werden, sich überraschend Erwachsenen anpassen, Erfahrungen antizipieren und dadurch paradoxerweise in manchen Gebieten Erwachsene stärker denn je von sich abhängig machen. Die normative Kinderrolle und der Sonderstatus bleiben allerdings zunächst weitgehend kulturell ebenso strukturell invariant wie wandlungsoffen. Sie geben damit der oft buntscheckigen Lebenspraxis zumindest einige wichtige Kriterien vor, die vielen Menschen noch heute als anthropologische Tatsachen erscheinen. Nach der Geburt setzt nicht etwa voraussetzungslos Sozialisation gegenüber scheinbar zuvor rein biologische Abläufe ein. Sie hat vielmehr schon längst – und zwar in engster Durchdringung natürlicher und kultureller Faktoren – intrauterin eingesetzt. Dennoch wird nun vom Neugeborenen eine gewisse Umorientierung in seinem Verhalten verlangt, die seit ca. 400 Jahren mit einer spezifischen Kinderrolle verbunden ist und als Komplement Elternrollen in der Kleinfamilie statt kollektiver Sozialisationsstrukturen, etwa des Stammes,
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der Verwandtschaft oder des Dorfes oder Stadtquartiers, unausweichlich vorsieht. Auch die lange Zeit schichtneutral akzeptierten Ammen erscheinen spätestens im 18. Jahrhundert als obsolet, ja als illegitim (Badinter 1980: 113ff.; Shorter 1975: 196ff.). Elternschaft soll nicht nur Pflege und Versorgung gewährleisten, sondern Erziehung als gelebte „Elternliebe“, kindliches Lernen und Spielen nicht nur als Pflicht, sondern aus Zuneigung zu Eltern, Geschwistern und der ganzen Familie erfolgen, obwohl dies nie allen Beteiligten gelingt. Und diese kulturellen Rollenbeziehungen sollen als letzte „Unkündbarkeit“ im forcierten sozialen Wandel moderner Gesellschaften gelten (Beck 1986: 193). Eltern sind exklusiv für Kinder, diese nur schrittweise auch für sich selbst verantwortlich. Besonders charakteristisch wurden zwei beherrschende Rollensegmente: Sozialisationskompetenz in der Familie und Lernkompetenz in der Schule: Eltern-Kindbeziehungen und die daraus erwachsenden spezifischen multifunktionalen Erwartungen, Rechte und Pflichten und die so ganz anderen spezifischen, scheinbar monofunktionale Lehrer-Schülerbeziehungen. Durch beide können Kinder lange Zeit als bloßes „Medium der Erziehung“ (Luhmann 1995: 204ff.; 1987: 182ff.; Kaufmann 1994: 42ff.) erscheinen, einen Eindruck den sie freilich empirisch längst widerlegt haben und der dennoch die funktionalistisch-systemtheoretische Familiensoziologie z.T. weiterhin bestimmt: „Die familiale Lebensform stellt kein auf pädagogische Kommunikation spezialisiertes System dar. Aber die elterliche Liebe zum Kind bildet eine Voraussetzung dafür, dass im Primärcode der pädagogischen Kommunikation die Positivseite, als das Gewähren statt Nichtgewährens, zum Zuge kommt. Ohne das Medium der Liebe wäre wohl v.a. das pädagogische Gewähren nicht durchhaltbar“ (Gilgenmann 1994: 74).
Kapitalistische Ökonomie, moderner Staat und auch die beiden christlichen Kirchen, die evangelische früher als die katholische, erkennen im 18. und 19. Jahrhundert die hohe Bedeutung der modernen, intimisierten Kleinfamilie für die gesellschaftliche Reproduktion. Relativ spät flossen in den Kern der Kinderrolle informelle Vorstellungen ein, die dann dazu führten, dass sich einerseits institutionelle Definitionen immer mehr lockerten, andererseits sich in immer zahlreicheren Kinderrechten ausdifferenzierten. Doch noch immer gilt, dass mit formellen, auch rechtlich fixierten Normen allein konkrete Kindheit nicht hinreichend gesellschaftlich zu praktizieren und zu gestalten ist. Zum einen sind Rechte und Rolle zunächst nur Ansprüche, deren Durchsetzung und situative Geltung immer eigens zu bewerkstelligen sind. So zerren noch heute verschiedene Rechtsschulen am „Kindeswohl“ (BMfFSFJ 1998: 67f.; Stein-Hilbers 1994: 181ff.; Hoffmann-Riem 1989: 389ff.). Ursprünglich galt der Begriff „Kinderrecht“ als ein Widerspruch in sich selbst, da Kinder ja nur potenzielle Rechtssubjekte sein konnten. Die Kinderrolle enthält also sowohl Schutz- wie Erziehungsprinzipien und emotional gesättigte Verhaltensstandards für Kinder, die als Kinder anerkannt und weder als „Liliputaner“ noch als „kleine Monster“ eingestuft werden wollen. Man konnte sich auf diese normativen Strukturen lange Zeit verlassen, weil ihnen typische psychosoziale Differenzen bis ins Körperliche hinein zugeordnet wurden. Sie markierten auch sichtbar eine klare Altersschichtung und generationsspezifische Differenzierung. Das Kind hat eigentlich nur zwei „Rollensender“, Familie und Schule, wobei das bis heute gültige „Elternrecht“ alles überragt. Die klassische Kinderrolle legte auch fest, was Eltern und Lehrer als „kindgerecht“ und „kindgemäß“ verstehen sollten.
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Entwicklungsprogramme ergeben sich demnach aus der natürlichen Abfolge von Entwicklungssequenzen, aus ontogenetisch-phylogenetisch codierten Entwicklungsaufgaben, nicht aus Interpretationskämpfen und gesellschaftlicher Verständigung über gesellschaftliche Partizipation und politischem Einfluss in einer Gesellschaft, die zwar (begrenzt) funktional differenziert ist, sich aber auch Demokratisierung leisten will (Joas 1992: 306ff.). Kinder werden ca. 200 Jahre so zwar als künftige, nicht aber als aktuell kompetente Gesellschaftsmitglieder und Bürger anerkannt. Kindern wurde ein ausschließlich partikularer und kleingruppenhafter Handlungs- und Lebenshorizont zugebilligt. Damit wird eine spezifisch moderne lebenszyklische Ordnungsvorstellung (jung/alt) erkennbar, die in die uns immer noch ganz geläufige vierstufige „Normalbiographie“ mündete. Die Erziehungswirklichkeit sah indessen immer vielschichtiger aus. Nicht alle Kinder, schon gar nicht alle Mädchen wurden konsequent altersgemäß behandelt. Traditionalistische Fixierungen wie aktuelle Familienprobleme überlagerten oft vollständig das normative Konzept. Die körperliche und psychosoziale Akkzeleration der letzten Jahre ebenso wie der Wandel ihrer sozialen Kontexte problematisierten massiv die traditionelle Kinderrolle und den kindlichen Sonderstatus. Bis in unsere Tage kann man allerdings den Eindruck gewinnen, dass sich auch heute noch die Mehrzahl der Eltern an einem Rollenklischee vergangener Tage ganz selbstverständlich orientiert, doch erheblich anders erzieht und viel verhandelt. Kinder lassen vielfach ihren Eltern ihre Stereotype und richten sich einfach nicht danach. Zwar wachsen immer noch ca. 80 % der westdeutschen und 60 % der ostdeutschen Kinder in „Normalfamilien“ mit ihren leiblichen Eltern auf, aber diese Normalfamilie ist nur in ihrer äußeren Fassade die traditionelle Kleinfamilie, und konkurrierende Lebensformen nehmen rasch zu (Nauck 1993: 152f.). Erst mit dem Zerfall der Kinderrolle wurden Kinder eigentlich vom kleinen „Familienmenschen“ und vom Schüler zum originären Kind. Doch genau zu diesem Zeitpunkt prasselte eine Fülle divergierender neuer Diskurse auf das soziale Phänomen Kindheit ein, die redundante Ambivalenz erzeugten (Büchner 1985). Mit dem Zerfall der klassischen modernen Kinderrolle im 20. Jahrhundert hat Spontaneität und dauerndes Verhandeln zwischen Kindern und Eltern, Erziehern und Lehrern eine ganz neue Bedeutung gewonnen. Galt Spontaneität noch vor einigen Jahrzehnten meist eher als Symptom von Unreife, als Indiz bedenklicher Impulsivität oder Frühreife, so erweckt sie heute eher den Eindruck, Ausdruck spezifisch kindlicher Kreativität zu sein (Doehlemann 1985). Die institutionell normierte Kindheit zerfällt in Folge dessen in eine Serie von Normalkindheiten und eine verhältnismäßig große Streuung von Typen, die nicht mehr auf einem eindimensionalen und homogenen Kontinuum zwischen idealtypischen Extremwerten abgebildet werden können. Die Entkopplung bestimmter normativer und lebenspraktischer Attribute kommt in Vielem zum Ausdruck: Körperkultur, Kleidungsstil, Sprachjargon, Lerndisposition, früheste Peer-group-Bildung, früher Zugriff auf kommerzielle, öffentliche und selbstorganisierte Freizeit etc. An die Stelle rollenmäßiger Familien- und Schulbindung treten immer stärker flexible Strategien und Taktiken, die nicht selten von Erwachsenen missverstanden werden, Erwachsene irritieren, schockieren und trotz des ausbleibenden spektakulären Generationskonflikts, auf den zweiten Blick, den Eindruck einer gewissen Sprachlosigkeit zwischen den Generationen hinterlassen. Aus einer gewissen Ratlosigkeit tendieren Eltern daher oft dazu, ihre Kinder jünger einzuschätzen als diese sich selbst einschätzen. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass sich Kinder dabei überschätzen und die realen Verhandlungsverhältnisse grotesk ignorieren (LBS 2002: 36ff.).
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Statt langfristiger institutioneller Bindungen tritt immer öfter die aktuelle Beziehungsund Interaktionsdynamik in den Vordergrund kindlicher Erfahrung. Kindheit ist nicht eine leere Wissenskategorie (Strukturkategorie), in die wie in einen inhaltsneutralen Container immer neue Inhalte hineingepackt werden könnten. Kinder sind keine ungeschichtlichen „Modalpersönlichkeiten“. Kindheit ist vielmehr eine strukturierte historische „Zwischensynthese“ (Waldenfels) von Alltags- und Lebenszeit und eine Wissenskonfiguration, die spezifisch historisch situiert ist, in der jede Wissensformation sich mehr oder minder „responsiv“ zur vorangegangenen verhält und in der Kinder und Erwachsene miteinander, nebeneinander und gegeneinander Wissen austauschen und gestalten – in ihren Gemeinsamkeiten, Differenzen, soziokulturellen Distinktionen und sozialstrukturellen Ungleichheiten. Die Dynamisierung der Divergenz von „Rollensendern“ und „Rollenadressaten“ ist nicht mehr rückgängig zu machen, wohl aber noch zu gestalten – jenseits einer strukturfesten Kinderrolle. Kinder- und Elternrolle waren lange asymmetrisch und komplementär und sind heute in hohem Maße in Verhandlungen hineingezogen. Statt der noch bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts weithin praktizierten „Elternzentriertheit“ hat sich so etwas wie eine „Kindzentriertheit“, zumindest aber ein stärker kindorientiertes Elternverhalten mit einer neuen Ambivalenz durchgesetzt. Angesichts der informell angesonnenen, zuweilen auch offiziell geforderten „Protoprofessionalisierung der Elternrolle“ (Büchner 2002: 488) fällt die faktische Entstrukturierung der Kinderrolle umso stärker auf. Auch eine gewisse Entfamilialisierung und Entscholarisierung ist in begrenztem Umfang festzustellen, weil wichtige Betreuungs-, Unterstützungs- und Erziehungsangebote von den Eltern nicht mehr oder nur unter großem Interaktionsstress erbracht werden können und darum schon im Vorschulalter nicht mehr von den Eltern übernommen werden. Beide Tendenzen, Protoprofessionalisierung und Beschneidung der Elternverantwortung, sind wahrscheinlich unvermeidbar, unterhöhlen aber das normative Konzept der (anthropologisch fundierten) Elternrolle. Dadurch wird vollends klar, dass sie keineswegs historisch und transkulturell universal ist. In dieser Lage scheint Kinderpolitik die ultima ratio zu sein, um festzulegen, was Kinder sind, was sie brauchen und welche Stellung ihnen in der Gesellschaft gebühre (Lüscher 2002: 323; Honig 1999). Doch Kinderpolitik und sozialwissenschaftliche Politikberatung wird nun damit betraut, als Surrogat dessen aufzutreten, was sie selbst eben nicht schaffen und allenfalls mitbestimmen kann (Böckenförde 1976: 336ff.; Kaufmann 1995; Grundmann 1999: 15). Auch hier zeigt sich, dass Sozialisationswissen abhängig bleibt von vorrangigen Sinnzusammenhängen und „sozialer Kultivierung“ (Grundmann) und nur dadurch nicht in ein Übermaß an Ambivalenz, frei flottierenden Konnotationen, ideologischen Imprägnierungen oder gewalthaltigen Kurzschlüssen ausufert. Überdies bleibt auch eine anspruchsvolle „advokatorische Ethik“ (Brumlik), „verantwortete Elternschaft“ oder advokatorische Kinderpolitik nicht per se davor gefeit, in „fürsorgliche Belagerung“ umzuschlagen. Kindheit wird nicht mehr durchgängig und zeitstabil normativ bestimmbar, was nicht heißt, dass sie völlig unstrukturiert und regellos erlebt wird. Sie ist aber vor allem als sinnkonstituierende und bedeutungsregenerierende Konstruktionsleistung zu begreifen, die dem Erwachsenen immer wieder als verletzliche kleine Eigenwelt entgegentritt (Lippitz 1986), welche sich auch zeitweise selbst fremd werden kann (Meyer 1988: 271ff.; Breidenstein 1998).
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3.3.4 Der kindliche Sonderstatus In der Soziologie der letzten Jahrzehnte herrschte – im Windschatten der Modernisierungstheorie – lange die Anschauung vor, durch die Industrialisierung sei der Altersstatus irrelevant geworden, der insbesondere die vormodern-segmentären Gesellschaften dominiert habe. Schuld daran sei in erster Linie der moderne Arbeitsmarkt. Kinder und Alte seien an den Rand gedrängt worden und würden immer mehr zu gesellschaftlichen Außenseitern. Die Ergebnisse der sozialhistorischen Modernisierungsforschung haben freilich diese pauschalisierende Betrachtung nicht bestätigt (von Kondratowitz 1999: 242). Einerseits hat sich das Bild einer homogenen und linearen Modernisierung längst als unhaltbar erwiesen. Es lassen sich durchweg vormoderne Relikte und Resistenzen, Gegenbewegungen und Stagnation sowie Kontinuitäten auffinden. Andererseits tauchen auch überraschende Neubewertungen der Altersdifferenzen auf, die zu einem Statuszuwachs führen. Diese divergierenden historischen Tendenzen lassen also kein generelles Urteil über einen Statusverlust zu. Allerdings macht sich der zunehmende Mobilitäts- und Flexibilisierungsdruck, wie er auf dem Waren-, Konsum-, Arbeits- und Finanzmarkt überall feststellbar ist, direkt und indirekt wohl auch bei Kindern bemerkbar. Die Kalkulation von Kosten und Nutzen bestimmt auch immer mehr die Investitionen in die Kindheit. Demgemäß erscheinen nichtstandardisierbare kindliche Lebenspläne zunehmend als sperriger. Die Kontrolle „aufmüpfiger“ Kinder fällt naturgemäß dann leichter, wenn der Eindruck erweckt werden kann, es handle sich nur um eine kleine Minderheit, die die Mehrheitsverhältnisse nicht wesentlich störe. Schon bei Primaten gibt es bekanntlich Rangordnungen und die Unterscheidung gefährlicherer und geschützterer Handlungszonen. Seit Jahrtausenden herrschte das Senioritätsprinzip, das Jüngeren die Herrschaft Älterer aufzwang (Rosenmayr 1998). Doch es ist erkennbar, dass historische Rangordnungen keine garantierte Kontinuität haben und seit der Moderne zunehmend in Frage gestellt werden, weil diese nicht das „Bewährte“ (Tradition) sondern das jeweils „Neue“ (Innovation) als Legitimationsprinzip ansieht. Damit dynamisiert und beschleunigt sich soziale Differenzierung, das Wechselspiel gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion. Der Maßstab für „oben“ und „unten“ und für „besser“ und „schlechter“ ist weder natürlich noch Ergebnis „von Gottes Gnaden“, wie man auch in Europa bis zur Französischen Revolution annahm. Er ist auch nicht einfach „objektiv“ als „Funktion“ aus gegebenen Abläufen ablesbar, vielmehr Ergebnis von umstrittenen oder hingenommenen Funktionszuschreibungen, bei denen Individuen und Gruppen der Welt der Dinge und den sie umgebenden Personen einen Sinn geben und ihr Handeln danach ausrichten. Wissensordnungen und die „Theodizee des Leidens“ (M. Weber) und nicht einfach gegebene „Präferenzen“, „Bedürfnisse“, der „Kampf um das Dasein“ oder meist synonym „Überleben“ bestimmen schon die Wahrnehmung von Differenzen (Haferkamp 1990: 12, 14, 142; Tenbruck 1990: 31). Sie umfassen implizit ja immer zwei kognitive Operationen: Wissen um Normalität und Wissen um Abweichungen. Sonst hängt ja auch der Schluss von Handlungsproblemen auf notwendige Lösungen in der Luft. Der erhebliche Spielraum des Verhaltens wird schon bei Kindern nicht nur durch Normen, sondern vorrangig durch soziokulturelles Wissen um ihren sozialen Status eingeschränkt oder kanalisiert. In ihrer Statusgruppe treffen Kinder zusammen, weil sie in ihren Handlungsmöglichkeiten „etwas seriell Identisches“ haben: Versorgungs-, Pflege- Erziehungs- Ausbildungsansprüche, aber auch Ansprüche auf gesellschaftliche und politische
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Partizipation. Der Begriff „Sozialstatus“ verweist demnach auf die Tatsache, dass – unbeschadet sonstiger Unterschiede und realer Interaktionsabläufe – „serielle Identitäten“ immer wieder von Neuem auftauchen und Kindheit keineswegs nur auf individueller Projektion (der eigenen Kindheit) beruht. In manchem Stadtviertel allerdings werden Kinder heute schon als exotische Wesen bestaunt, in manchen Dörfern – oft gar nicht weit von solchen Städten entfernt – gehören sie nach wie vor zum gewöhnlichen Leben. Herkunft und Sozialstatus beeinflussen schon das frühkindliche Leben und seine Lebensperspektive. Damit identifiziert sich zumindest halbbewusst schon jedes Kind zwanglos: Was kann ich wohl in meinem Leben erreichen? Wie kann meine Lebensgeschichte gelingen in einer Gesellschaft, in der die alten Menschen immer zahlreicher werden, und die sich dennoch darauf versteift, sich als ewig jung und vielleicht kindlich zu imaginieren und Zeichen des Älterwerdens zu überdecken, die auch auf monotone Entwicklungsbeschleunigung drängt (Mansel 1996: 7f., 10, 12)? Der Sozialstatus impliziert auch die veränderlichen Bedingungen des „Aufwachens“ und des „Seins“ im Augenblick und die entsprechenden Anforderungsstrukturen, gesellschaftliche Rechte und Pflichten, Belastungen und Entlastungen, Chancen und Risiken, des sozialen Rückhalts oder der gesellschaftlichen Indifferenz gegenüber Kindern. So ermöglicht, erschwert oder erleichtert er auch, dass Sozialisationslücken der einen sozialen Institution, z.B. der Familie, von einer anderen, z.B. der Schule prinzipiell kompensiert werden können oder Defizite kumulieren (Fölling-Albers 1995: 111ff.). Seit gut 200 Jahren wurde Kindern ein bestimmter Sonderstatus zugestanden, der einerseits bestimmte Vergünstigungen und mildernde Umstände, andererseits Abhängigkeiten und Einschränkungen mit sich brachte. So wird ihnen heute das Recht auf fürsorgliche Eltern, Erziehung und schulische Bildung, das Recht, nicht erwerbstätig sein zu müssen (Verbot der Kinderarbeit), sowie ein umfassender Schutz und Förderung durch die Familie, die Familien-, Bildungs- und Rechtspolitik zugebilligt. Ihre Geschäfts-, Rechts- und Politikfähigkeit wurde ihnen ursprünglich jedoch weitgehend vorenthalten. Daraus erwuchs ein Gesamtstatus (MasterStatus), dessen öffentliche von der privaten Wirksamkeit sich erheblich unterschied. Öffentlich – wenigstens in der Festtagsrhetorik – waren Kinder ein kollektives Gut, privat schienen sie nutzlose Esser und emotionale Schmuseobjekte, die als Sinnstifter des elterlichen Lebens erlebt wurden (Kaufmann 1995; Beck-Gernsheim 1989); latent aber auch als „Last“ eingestuft blieben. Individuelle Zuwendungen, Erziehungs- und Förderungsanstrengungen der Eltern und nicht kollektive Sicherungen begründen das „soziale“ und „kulturelle Kapital“ des sozialen Status des Kindes in westlichen Gesellschaften nach wie vor. Solche „Kindzentriertheit“ ist keine „Naturtatsache“. Der Status des Kindes wird aber davon abhängig, ob und wie Eltern, Erzieher, Lehrer, Kinder in die Arbeit der „Kinderinstitutionen“ einbezogen sind. Diese innere Spaltung des Sinns, Wertes, Nutzens von Kindern verschärfte und verkomplizierte sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr und wurde auch von der so genannten Kinderrechtsbewegung thematisiert. Es zeigten sich zusätzliche, auch zeitlich schwankende Diskrepanzen zwischen öffentlich Diskursen, effektiver praktischer und politischer Indifferenz und „struktureller Rücksichtslosigkeit“ (Kaufman) gegenüber Kindern. Auch im privaten Bereich werden widersprüchliche Einschätzungen der Verwöhnung und der Vernachlässigung und sogar gehäufte, aber weitgehend tabuisierte Misshandlung und sexueller Missbrauchs sichtbar. Auch sie machen vielfältige Statusinkonsistenzen und Statusinkompatibilitäten einer Bevölkerungsgruppe offenbar, die einerseits noch heute als
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verletzlich und schutzwürdig andererseits als robust und enorm lernfähig eingestuft wurde und wird, sich aber zunehmend dem traditionellen Sonderstatus und der traditionellen Kinderrolle zu entziehen scheint. Eine wachsende Ratlosigkeit über den tatsächlichen gesellschaftlichen Stellenwert von Kindern mag ein Motiv für die von Kaufman mit großer Resonanz festgestellte gesellschaftliche Indifferenz bilden (Leu 2002: 35ff.). Jedenfalls bietet der erodierende Sozialstatus einen Hintergrund der „veränderten Kindheit“. Nachdem in den 70er Jahren vorübergehend intergenerationale Aufstiegsmobilität zugenommen hatte, kam sie schon in den 80er Jahren zum Stillstand. Nach 1990 brachen neue gesellschaftliche Spaltungslinien auf (Hauser 1997: 11; Hradil 2004; Hengsbach 2002: 11ff.; Griese 2000: 246ff.). Vor allem Kinder leben heute unter einem hohen Armutsrisiko und in soziokulturell ungünstigen Sozialmilieus. Und aus Gesprächen im Elternhaus u.a. und durch Informationen der Medien lernen Kinder schon früh, dass von ihnen zwar von Eltern und Lehrern Leistung gefordert, die politische Verheißung der Chancengleichheit und entsprechender Berufschancen aber auf wackeligen Beinen steht (Berger 2001: 235). Zu den wenigen langfristigen Trends, die Soziologen mit relativ großer Sicherheit vorhersagen können, dass sie sich in der Lebenszeit der jetzt gerade ihre Kindheit durchlebenden Kinder wahrscheinlich fortsetzen werden, gehört nach wie vor die Reproduktion gesellschaftlicher Statusgruppen und Statushierarchien. Seit der Industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts geht die Zahl derer, die unter gesellschaftlichen Lebensbedingungen und in Arbeitsbereichen leben, für die man nur geringe Schulbildung benötigt, deutlich zurück, während die Zahl derer, die eine gehobene Ausbildung durchlaufen und die sich umfänglichen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu stellen haben, auffällig steigt. Mit der Zahl der gut Ausgebildeten hat sich aber auch Art, Qualität, Umfang des Konsums und der kulturellen Orientierung stark verändert, obwohl sich die früher feststellbare Kovariation sozioökonomischer, soziokultureller und soziopolitisch-rechtlicher Differenzierungen und konkret die Chance, aufgrund einer guten Ausbildung einen attraktiven Arbeitsplatz zu bekommen, signifikant abgeschwächt haben. Der gespaltene, in Öffentlichkeit und Privatheit widersprüchlich akzentuierte moderne Sonderstatus des Familien- und Schulkindes fristet nicht etwa nur in den Klassifikationen der Soziologen eine artifizielle Existenz. Verschiedene Kinder trafen tatsächlich trotz ihrer Verschiedenheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf kategorial ähnliche gesellschaftliche Erwartungen und gelangten damit zu einer gemeinsamen Definition und Erfahrung gesellschaftlicher Wirklichkeit, die sich lange Zeit auch in einer typenfesten Kinderrolle verdichtete. Schon seit einigen Jahren aber stoßen sie nur noch auf stereotypisierte Vorstellungen und einen normativ diffusen Konstruktionsimperativ. Entsprechend häufig erleben Kinder Erwachsene auch auf einer Art „Rollenflucht“ (Weymann 2001: 114), die sie zwingt, ihre Sozialbeziehungen immer einmal wieder neu zu ordnen. Dabei können sie sich aber nicht einmal auf eine stabile und faire „funktionale Relevanz“ verlassen, die funktionalistische Soziologen immer wieder beschwören (Berger 2001: 225, 228); denn Kinder aus gehobenen Sozialmilieus haben nach wie vor eine größere Chance, im Bildungs- und/oder Beschäftigungssystem auf oder wenigstens nicht abzusteigen, obwohl sie sich nicht stärker anstrengen als Kinder aus niederen (Hradil 2004). Trotz aller abnehmenden stabilen Kovarianz von ökonomischen und kulturellen Milieudifferenzen und subjektiver Interessen- und Situationsdefinitionen (Beck 1993: 77; 1986) führt das nicht zum Verschwinden gravierender sozialer Ungleichheit. Sogar schroffe Polarisie-
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rungen von Handlungsbedingungen treten rasch wieder zu Tage, spätestens dann, wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen eintrüben. Dennoch führt dies meist nicht zur Restitution traditioneller kultureller Rollen sondern eher zu unvorhersagbaren Mischungen normativer Sinnsplitter (Beck 1993: 82). Heute stellen sich oft als die eigentlichen, okkasionelle Kriterien sozialer Differenzierungen heraus: die Erreichbarkeit institutioneller und infrastruktureller, räumlicher und zeitlicher Opportunitäts- und Gelegenheitsstrukturen (Zeiher 1993: 392; Berger 2001:240). Angesichts dessen ist in den letzten Jahren auch immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob es so etwas wie soziale „Schutzfaktoren“ und spezifische Bewältigungspotentiale (Coping) gibt, die die kindliche Entwicklung vor Auswirkungen eines Lebens in ungünstigen sozialen Verhältnissen schützen (Oerter 1993). Der soziale Status von Kindern ist seit längerem nicht mehr – weder im Querschnitt noch im Längsschnitt betrachtet – homogen, konsistent und einigermaßen stabil (Olk 2003). Einzelne Statusdimensionen besitzen eine hohe Eigendynamik; nicht zuletzt die familiäre. Und die Teildimensionen kovariieren auch nicht mehr stabil. Kinder werden so immer aufs Neue veranlasst, sich teils mit Jugendlichen teils mit Erwachsenen zu vergleichen. Sie passen sich oft an, üben aber auch ihrerseits auf Erwachsene einen beachtlichen Sozialisationsdruck aus. Ihr Leben gleicht daher einem bunten Mosaik von strukturellen Übergängen. Der Begriff einer konsistenten Übergangs- oder Eigenphase trifft die vielfältigen, vorläufigen, flüchtigen Übergangsserien nicht mehr. Es handelt sich um eine „Zwischenwelt“ fortlaufender kleiner Übergänge und „kleiner Lebenswelten“ (Honer 2000: 144ff; Hettlage 1984). Man kann daher – ähnlich wie bei der heutigen Jugend – schon bei Kindern von einer stark situationsbezogenen „Pragmatisierung und Informalisierung der Generationsbeziehungen“ sprechen (Abels 1993: 515). Ähnlich auch wie bei der Jugend – allerdings ca. 20 Jahre später – zerfasern sich Statuspassagen und können eigentlich nur noch durch institutionelle „Normalitätsunterstellungen“ gestützt werden (Behrens 1996; Haferkamp 1990: 143). Auf diesem Hintergrund bleibt schon Kindern nichts Anderes übrig, als in eine stark experimentelle alltägliche Lebensführung und in eine spannungsreiche „Biographiearbeit“ (Beck-Gernsheim) einzuwilligen, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten bei Kindern durchaus unüblich war. Die Frage bleibt indes offen, ob sie hier nicht chronisch überfordert werden. Ist es gar zynisch, von Ihnen eine postkonventionelle „Identitätsbalance“ (Habermas) und das Aushalten von Ambivalenz (Lüscher) für eine lebbare und realistische Lebensperspektive zu erwarten? Neben einer Verzeitlichung von Problemgruppen zeigt sich auch heute immer wieder, dass besonders Kinder auf Umstände stoßen, die einen besonders günstigen Nährboden für „soziale Probleme“ bilden; besonders krass, wenn die sozialen Sicherungssysteme zurückgebaut werden (Groenemeyer 1999: 20ff.; Butterwegge 2002). Die verbreitete Monopolstellung einer pädagogisch-psychologischen Betrachtungsweise kindlicher Lebensprobleme übersieht häufig, dass sozialstrukturell-situative „Teufelskreise“ keine Erfindung von Soziologen sind, selbst wenn soziale Vererbung seltener geworden ist. Gerade wenn Sozialpolitik nicht „armutsfest“, sondern nur auf den momentanen Bedarf an Fürsorge hin konzipiert ist, manifestiert sich immer wieder die Tatsache, dass die Verteilung von Lebenschancen und Risiken letztlich an die Verteilung „launischer“ Marktchancen gebunden bleiben (Joos 2001; Neumann 2001: 91ff.; Leu 2002). Gerade aber weil sich die Arbeitsplatzkonkurrenz verschärft und der Flexibilisierungsdruck auf die
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Erwachsenen enorm zunimmt, wird einmal unter Qualifikations-, zum anderen unter dem Regenerationsaspekt, kulturelles Kapital von Kindern tendenziell wichtiger. Dies schlägt sowohl als differentielle Zusatzbildung zu Buche, als auch als Abnahme langfristiger, quasinaturwüchsiger Sicherheit und lebenspraktischen Orientierungswissens. „Welterschließung“ wird eher noch bedeutungsvoller, wenn die Ausbildungsqualität keine Sicherheit mehr im Beschäftigungssystem bietet. Was bleibt denn dann noch übrig, wenn „unterwertige“ und „überqualifizierte“ Voraussetzungen gleich schlechte Berufsvoraussetzungen sind, als sich auf zusätzliche Interpretations- und Wissensanstrengungen nichtfunktionaler Art einzulassen? Daraus ergibt sich eine gegenüber der industriellen „Arbeitsgesellschaft“ prinzipiell neue geschichtliche Situation der Statusgenerierung. 3.3.5 Familienkindheit „Familienkindheit“ ist keine überzeitliche Naturtatsache, sondern eine historische Schöpfung, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in Europa entstanden ist. Ein Stück weit kann man sie als Ergebnis der „inneren Logik“ des Modernisierungsprozesses begreifen. Kinder sollten nun viel stärker und fast exklusiv an ihre legitimen Bezugspersonen, die leiblichen Eltern, gebunden und auf relativ standardisierte Sozialkompetenzen und Qualifikationen verpflichtet werden, wie dies in dieser stringenten Form zuvor niemals der Fall war. Vor allem ging es um eine stabile, belastbare, arbeitsfähige und durch politische Loyalität gekennzeichnete Identität (Meyer 1977; Donzelot 1980). Historischer Hintergrund war u. a., dass gerade im Spätmittelalter Scharen von unversorgten Kinderhorden auf den Straßen herumlungerten und sich z. T. zu Kinderbanden organisierten. Es zeichneten sich aber auch im diskursiven Feld „Ideen“ ab, in der sich soziale Probleme der Kinder auffangen ließen, und die der neu entstehenden bürgerlichen Gesellschaft das Gefühl eines kulturellen Fortschritts durch spezifische Erziehung und u. U. Herstellung eines „neuen Menschen“ gaben. Gerade mit der Vorstellung einer legitimen und allseits gesicherten Familienerziehung schienen sich neue interaktive Alltagsnotwendigkeiten auffangen und besser in Ordnung bringen zu lassen. Damit schien ein Mindestmaß an Zuwendung, Versorgung, Forderung und Förderung, Qualifikation und Kontrolle für Gesellschaft, Wirtschaft und Staat garantiert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließen sich zum ersten Mal Wohn- und Privatbereich, Privatheit und Öffentlichkeit, Produktion und Reproduktion trennen. In dieser Zeit entstand sowohl die Vorstellung einer politischen Revolution, wofür dann später die Französische Revolution prototypisch war, wie die einer systematischen intentionalen Erziehung. Erziehung, die nicht nur beiläufige Sozialisation sein wollte, bekam einen ganz neuen Stellenwert. Und sie sollte zuerst und fundamental in der Familie ansetzen und ein spezifisches „Elternrecht“ begründen. Während früher das Stadtpatriziat den Lebensstil des Adels nachahmte, grenzte sich das moderne Bürgertum, also Bankiers, Kaufleute, Unternehmer, höhere Beamte, Ärzte, Pastoren etc. strikt davon u. a. auch durch ihre „Idee“ der Familienerziehung ab. Das Kind galt nun als zwar rohes, aber erziehbares Wesen, das gerade auch schon in der Familie zum vernünftigen, selbstständigen und arbeitsamen Wesen herangebildet werden sollte. Die Schule sollte darauf aufbauen und endgültig den Charakter ausformen und für Bildung sorgen. Damit gewann die moderne Kleinfamilie nicht nur eine Regenerationsfunktion für den außerhäusig arbeitenden Mann, sondern eine spezifische
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Erziehungsfunktion für die Frau, die nun ausschließlich Hausfrau und Mutter zu sein hatte. Und von dieser Sinnbestimmung her erfüllte sich die auf Gattenliebe beruhende Liebesheirat erst im Kind als „Liebespfand“ der Gatten, was auch zur Eltern- und besonders zur Mutterliebe (angeblich durch den „Mutterinstinkt“) verpflichtete (Berger 1984; Badinter 1981; Schütze 1986). Die bürgerliche Familienkonzeption mit ihrer klaren Rollendifferenzierung und privaten Intimität problematisierte einerseits die frühere Vermischung pädagogischer und nichtpädagogischer Familienaktivitäten und der Mitglieder der Kernfamilie sowie der übrigen Hausgenossen. Familienerziehung schloss zwar weiterhin nicht körperliche Strafen aus, legte aber entschieden den Hauptakzent auf „Elternliebe“ und elterliche Empathie der Motive kindlichen Handelns. Anstatt nur äußerliche Konformität zu erzwingen, galt es nun durch Verständnis „Bildsamkeit“ zu fördern. Ganz im Sinne einer Wertinternalisierung sollte nun der Junge auf die künftige „Eroberung der Welt“ und die Selbstbehauptung in der modernen Arbeitswelt und das Mädchen auf den „Ernst des Lebens“ als Hausfrau und Mutter in der künftigen Wahlfamilie systematisch vorbereitet werden (Sieder 1987: 135ff.). Je länger diese Vorstellungen kursierten, umso selbstverständlicher und „natürlicher“ erschienen sie. Unterstützt wurden sie durch naturrechtliche und naturalistische Gedanken des 18. und 19. Jahrhunderts. Zu beachten ist hier vor allem, dass nicht nur ein Rückzug aus der Produktionsphäre, sondern auch aus der sich neu bildenden modernen Öffentlichkeit stattfand. Dieser führte sicher zu einer Intimisierung und Emotionalisierung, die auch die Enttäuschungsanfälligkeit und Konflikthaftigkeit der Gatten – wie der Eltern-Kind-Beziehungen – steigerte. Der fast völlige Wegfall intermediärer Strukturen, sozusagen als „Puffer“, verwandelte Familienkindheit in ein Spannungsfeld zwischen den „Pathologien“ einer Festungsmentalität oder mangelnden Abgrenzung der Familie (Donzelot 1980: 237f.; Herlth 2000: 8f.). Langfristig bewirkte die Familienzentrierung anscheinend eine „Kindzentrierung“, die ursprünglich nicht vorgesehen war. In den Varianten des vormodernen „ganzen Hauses“ konnte von einer rein funktionalen und exklusiven Elternverantwortung und Elternliebe nicht die Rede sein. So wird auch in historischen Quellen nicht selten davon berichtet, dass Kinder zu Ammen, Kindermädchen etc. ein innigeres Verhältnis als zu ihren leiblichen Eltern haben konnten. Eine Exklusivität der Sozialbindungen und Gefühle und eine Spezialisierung der Funktionen waren der gemischten „Logik“ des „ganzen Hauses“, in dem bekanntlich viele nichtverwandte Personen lebten, ganz fremd. Es ging hier einerseits um das „Seelenheil“ und andererseits ums „Überleben“. Das Bürgertum aber wollte dieses „Chaos“ auflösen und gezielt „schädliche Einflüsse“ der nichtverwandten Personen und anderer sozialer Klassen ausschalten und die Sozialkontakte seiner Kinder, so gut das nur irgend ging, steuern. Es war deswegen auch bereit, Kinder völlig aus dem Bereich der Produktion herauszuziehen und erhoffte sich dadurch eine Qualifikationssteigerung. Seine moralischen und pädagogischen Vorstellungen blieben aber den Bauern, Heimarbeitern, Handwerkern, Kleinhändlern, vor allem aber den industriellen Lohnarbeitern des 19. Jahrhunderts lange fremd. Auch die heutige, stark pluralisierte und individualisierte Kindheit ist noch ein Stück weit und in mancher Hinsicht Familienkindheit. Dies verrät etwa die schroffe Kritik an „Straßenkindern“ etc. Jedes Kind gehört, so glaubt man wohl auch noch heute, ganz „natürlich“ in eine Familie. Außerfamiliale Kindheit kann nur schief gehen. Doch aus der Geschichte und dm interkulturellen Vergleich könnte man auch lernen, dass eine „misslunge-
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ne“ Familienkindheit nicht zwingend ein Scheitern der gesamten Biographie nach sich ziehen muss. Bemerkenswert war stets auch, dass die philanthropisch deklarierte „kindgemäße Kindheit“ offen oder verdeckt stets darauf achtete, dass nur ja keine „KontrollLöcher“ entstanden. Das Bürgertum vermochte langfristig die gesamte Gesellschaft davon zu überzeugen, dass nur sein Ideal der „Familienkindheit“ einer modernen Gesellschaft angemessen (Berger 1984; Sieder 1987: 13) und dem Gedeihen von Kindern förderlich sei. 3.3.6 Schulkindheit In den letzten 300 Jahren zeichnete sich – zuerst in der pädagogischen Reflexion, später auch im Alltagsdiskurs – immer nachdrücklicher ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber ab, dass Familie und Schule gemeinsam die moderne Kindheit zu definieren und zu betreuen hätten. Die Familie sollte sozusagen den Sockel, Grundvertrauen, Basiskompetenzen, Belastbarkeit, die Schule den Überbau, weiterführende kognitive und soziale Kompetenzen entfalten. Die moderne öffentliche Schule hat jedenfalls die Lebenssituation des Kindes in der modernen Gesellschaft tief greifend verändert. Im Blick auf die Schule entzünden sich auch seit geraumer Zeit mehr oder minder realistische Elternhoffnungen, ihr Kind könne es besser haben als sie selbst in ihrer Kindheit oder zumindest den Herkunftsstatus wahren. Und Kindern versucht die Schule ihre Schulzeit dadurch schmackhaft zu machen, dass man die Hoffnung erweckt, durch gute Schulleistungen später einen attraktiven Beruf und eine sichere Lebensperspektive zu gewinnen. Vor allem durch das Verbot von außerhäuslicher Erwerbstätigkeit in den Fabriken der frühindustriellen Gesellschaft und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in allen westlichen Gesellschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden Kinder aus dem damals fast allein statusgenerierenden Produktionsprozess ausgegliedert und erhielten die Chance nicht nur zu einer formellen Qualifikation, sondern auch zu einem „Stück eigenen Lebens“ (Beck-Gernsheim). Kinder sind seit dieser Zeit „junge Menschen“, die ihren gesellschaftlichen Sinn und Status nur als Familien- und Schulkinder gewinnen können, mögen sie auch sonst noch so viele andere Talente haben. In der „sekundären Sozialisation“ durch die Schule sollte zunächst kindliches Vagabundieren und der Analphabetismus in der Bevölkerung beseitigt werden. Durch einschlägige Kulturtechniken, Vermittlung von Grundqualifikationen und umfassender Sozialkompetenz wurde zugleich ein kohortenspezifisches Gerüst für neue Generationenbildung, institutionelle Rekrutierung, Inklusion und eine solide Basis für weiter notwendig erscheinende Sozialisationsprozesse gefestigt. Im Rahmen einer ganz bewussten Modernisierungspolitik neuzeitlicher Territorial- und Nationalstaaten und eines Mentalitätswandels im europäischen Bürgertum des 18. Jahrhunderts ist überall in westlichen Gesellschaften ein verhältnismäßig ähnliches System der Erziehung und Bildung entstanden. Parasitäre Statusvererbung sollte damit zurückgedrängt und gesellschaftliche Effizienz erhöht werden (von Friedeburg 1992: 11ff.). Qualitätssicherung und -erweiterung schien nur durch universale Bildungsstandards und Qualifikations-, Inklusions- und Partizipationsvoraussetzungen zu erreichen zu sein (Büchner 1985: 27f.). Das moderne Schulwesen Deutschlands ist allerdings nicht einfach ein Antianalphabetismusprogramm und eine beliebig austauschbare Veranstaltung des Lernens, die zu jeder
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Zeit und an jedem anderen Ort so ablaufen könnte. Schule ist hier vor allem allgemein und öffentlich institutionalisierte, in Jahrgangsklassen und mit spezifischen zeitlichen, räumlichen, sachlichen, personellen Verfahren arbeitende bürokratische Organisation im Sinne Max Webers innerhalb einer bildungspolitischen Grundkonzeption und Bildungstradition eines dreigliedrigen Schulsystems. Kindheit wurde nun genau in diesem historischen Rahmen zu einem uns zwar mittlerweile selbstverständlichen, aber im Grunde höchst voraussetzungsvollen sozialen Bildungsmoratorium und zu einer propädeutischen Lebensphase, die auf spätere ausbildungsnähere Lernkarrieren und indirekt auch für die verschiedenen, lange implizit ständisch interpretierten Berufslaufbahnen vorbereiten. Staat, Markt, Schule und Familie wurde zwar keineswegs konsequent zur Kooperation ermuntert, gelten aber als zentraler Funktionszusammenhang. Der Prozess der dadurch entfesselten Pädagogisierung und Scholarisierung durchdringt im späten 20. Jahrhundert nicht nur das gesamte Bildungssystem sondern alle Lebensbereiche der Kinder, wird allerdings auch von einer verstärkten Erlebnisorientierung in einer „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1992) in Frage gestellt. Längst hat dieser auch das Familienleben und die Freizeitgestaltung erfasst (Fuhs 2002: 637ff.). Dieser Prozess bewirkt in aller Regel eine Weichenstellung in der individuellen Lebensplanung. Dies hat auch zur Folge, dass hinter diesen komplexen Aufschichtungen, die durchaus nicht verschwundene Generationenkonstitution mit einem Schleier überzogen wird (Büchner 2002: 483). Die Kultur der Industriegesellschaft verlangte, obwohl nicht einfach von der Wirtschaft diktiert (von Friedeburg 1992: 171), dass jeder junge Mensch auf den Arbeitsmarkt eine tragfähige Arbeitsfähigkeit, Leistungsbereitschaft und auch eine dem Arbeitsfrieden dienliche politische Loyalität einbringt. Solche vergleichsweise gesteigerten Ansprüche und Werte verlangten ein spezifischeres Wissen nach funktionalen Kriterien der beruflichen Qualifikation, gesellschaftlicher Selektion, Allokation und Kontrolle: auch eine dauerhafte Belastbarkeit und Selbstmotivation arbeitswilliger und mit sich identischer Persönlichkeiten. Dies sollte ein regelmäßiger und jahrelanger Schulunterricht sicher stellen, der in eigenen Funktionsräumen zu festgesetzten sozialen Zeiten mit zunächst wenig vorgebildetem, langfristig aber immer professioneller arbeitendem Lehrpersonal nach festen Lehrplänen unter einer spezifischen Dienst- und Fachaufsicht und in einer eigens normativ fixierten, funktionsspezifischen Rollenstruktur (Lehrer-Schüler) stattfand. Die soziale Beziehung des Lehrers zum Schüler sollte nicht in erster Linie diffusemotional und partikular-personenorientiert, und schon gar nicht durch vormoderne Patronageverhältnisse charakterisiert sein, sondern sachlich und funktionsspezifisch konzipiert werden. Sie ist auch nicht bedingungslos und umfassend. Lehrer dürfen nicht mit primären Bezugspersonen außerhalb funktionsspezifischer Beziehungen verwechselt werden, selbst wenn sie psychologisch geschult sind. Kinder in modernen Schulen unterliegen keinem charismatischen Meister-Schüler-Verhältnis. Sie müssen sehr bald Person und funktionale Rolle unterscheiden. Und spätestens hier müssen sie lernen, eine standardisierte Leistung, die benotet wird, selbstständig zu erbringen; und zwar in einer formal organisierten Klassengemeinschaft jahrgangsgleicher Schüler in einer öffentlichen Schule. Das Kind, das seine Schülerrolle korrekt, pflichtbewusst, leistungsbezogen, aufgabenorientiert übernimmt und nicht durch spontane Eskapaden, impulsiv-spontanes und ungezogenes Verhalten stört, gewinnt damit ausnahmslos den Anspruch auf schulische Anerkennung, positive Sanktionen und volle Inklusion in die Schulgemeinschaft und spätere gesellschaftliche Anspruchsberechtigungen, auch wenn die persönlichen Beziehungen zum
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Lehrer neutral und negativ gefärbt sind (Dreeben 1980: 23ff., 71f.; Parsons 1968: 136ff.). Ersichtlich sind also neben Anwesenheitspflicht und Lernengagement, gute Manieren, eine differenzierte Sprache und andere Forderungen eines „heimlichen Lehrplans“ vorgeschrieben (Helsper 2002: 583, 587). Aus der Perspektive von Kindern werden diese offiziellen normativen Ansprüche stets selektiv aufgenommen und angeeignet. Ihre Schulzeit wird von ihnen eher als Teil ihrer Lebenswelt denn streng funktional erlebt. Sie ist daher gekennzeichnet von einer dauernden extrafunktionalen Wissensstrukturierung und einem fortwährenden In-Ordnung-Bringen des ganz gewöhnlichen Chaos ihres Alltags zwischen Elternhaus, Schule, Peer-Group; in diesem Sinne heute eine ausgesprochene „Zwischenwelt“ fortwährender Übergänge der Interaktionen.
3.4 Deinstitutionalisierungsprozesse Wenn man das Bemühen, seine „Lebensbahn“ zwischen eigenen Lebensplänen und typischen Figurationen des Lebensverlaufs zu gestalten, nicht als „Tatsache“, sondern als soziokulturell-sozialstrukturell verorteten Konstitutionsprozess begreift, der nie abschließbar ist, erscheint selbst eine Biographie in vergleichsweise ruhigen Zeiten als voraussetzungsvolle Setzung gegen den Strom sozialen Wandels, als Teil einer symbolischen und sozialen Strukturierung, die sich im Gewirr gesellschaftlicher Interpretationskämpfe stets neu zu behaupten hat und nie schlicht „objektiv“ gegeben ist. All dies wird natürlich dramatischer in Zeiten krassen sozialen Wandels und intensiviert sich in Neuinterpretationen, die allerdings aus der Beobachterinstanz nur geschickte Umschreibungen, wenn nicht gar Etikettenschwindel sein mögen. Der konstituierenden Dialektik zwischen Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung ist jedoch in modernen Gesellschaften wohl kaum je zu entgehen. Sie bildet auch eine wesentliche Grundlage eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes, der empirieorientiert ist und es ablehnt, immer schon vorab zu wissen, was Kindheit „ist“ und historisch jeweils konkret bedeutet. Wenn die „duale Struktur“ sozialer Phänomene aber übersehen wird, werden nur nominalistische, angeblich „wertfreie“, letztlich auf der Umgangssprache beruhende Hypothesen sozusagen hinterrücks substantialistisch-essentialistisch aufgeladen und verdinglicht. 3.4.1 Tendenzen der Auflösung der „Normalbiographie“ Obwohl der relativ geringe Strukturwandel und die gehäufte Sterblichkeit in vormodernen Gesellschaften es erleichtern, von einer rein biologisch betrachteten „Lebensbahn“ auszugehen, ist die recht unterschiedliche Sinndeutung, Wertbestimmung und Nutzenvorstellung von Kindheit eben nicht direkt von der physischen Lebenserwartung ableitbar und auch nicht im strikten Sinn quasi schicksalhaft determiniert. Länge und Kürze sind zwar chronometrisch messbar. Doch besagen solche Messdaten im Grunde nichts über ihren individuellen und sozialen Sinn, ihre soziokulturelle Bedeutung und ihren gesellschaftlichen Stellenwert, über das Wissen über und von Kindern. Es gibt keine „Tatsache Kindheit“ und keine kontextfreie „Lebensbahn“. Vielmehr handelt es sich hier immer um eine halbverdeckte, implizite „soziale Konstruktion par excellence“ (Beck 1993: 86). Konstruiert wird
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mittels soziokultureller Horizonte, institutioneller Referenzsysteme und situativ-pragmatischer oder praktischer Normalitätsunterstellungen. Soziale Konstruktionen legen damit vorgängig fest, was, wann, wo, wie, warum etwas als etwas Bestimmtes zu identifizieren, zu vergleichen, zu messen, erfreulich, förderlich, akzeptabel, legitimiert, skandalös oder schlicht irrelevant ist. Eine wachsende Rolle spielt hier natürlich auch die Form, wie Kinder selbst mit solchen Sinnangeboten bzw. Wissen – nicht nur in den normativen Programmen – typischerweise und tatsächlich in ihrer Biographie, ihrer alltäglichen Lebensführung und ihren konkreten Situationskonstellationen umgehen (Zeiher 1993: 395). Dies wirkt sich wiederum auf ihre sozialen Kontexte in ihren institutionellen Verhältnissen aus, löst unausweichlich Selbstkonfrontation und Reaktionen aus, die den Konstitutionsprozess weiter vorantreiben. Das subjektiv-intersubjektive Leben einzelner kindlicher Akteure ist somit tief eingebunden in komplexe Kontextualisierungen und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und Normalität. Und es ist damit nur verständlich als konstitutiver Teil eines Lebenslaufs, in den alle einzelnen Lebensphasen eingebettet sind (Qvortrup 1993: 117; Beck 1993: 47, 62, 84, 95). Erst ein theoretisch-methodisch reflektiertes Modell des Lebenslaufs oder der „Normalbiographie“ (Levy) lässt Indexalisierungen, Identifizieren, Relationieren, Unterscheiden und Vergleichen analoger historischer Sachverhalte in einem relativ kontextstabilen, konnotationsarmen Rahmen zu. Die verbreitete Einengung auf linear-stetige Entwicklungen oder dramatische Konflikt- und Krisenszenarios verschleiert den Blick auf die vorausgesetzten Rahmungen von „Entwicklung“ und „Krise“ angesichts des Auftretens „gewonnener“ und „verlorener“ Jahre jeder einzelnen Lebensphase (Imhof 1981; Laslett 1991; Zinnecker 1997: 9). Aus einer marginalen und recht unscharfen Residualkategorie „junge Leute“ ist im Laufe von ca. 400 Jahren eine ausdifferenzierte Sozialkategorie „Kinder“ und eine eigenständige Lebensphase „Kindheit“ geworden (Kohli 1991: 307f., 312ff.; Bilden 1991: 280; Ariès 1975; Honig 1999). Die Entstehung der modernen „Normalbiographie“ hängt eng mit der Entstehung der modernen Kindheit zusammen. Sie bildet gleichsam die Rückseite der Arbeitsplatzindividualisierung des modernen Lohnarbeitsverhältnisses im System der marktabhängigen Produktionsweise. Recht häufig wird dies auch zivilisations- oder modernisierungstheoretisch als Ergebnis eines ungebrochenen Trends zur „Verhäuslichung“ des privaten Lebens oder als Ergebnis eines kontinuierlichen Wechselspiels zwischen Individualisierung und Standardisierung skizziert. Dieser Prozess verläuft jedoch unstetig und wenig homogen und lässt sich daher nicht evolutionistisch auf einen einheitlichen Nenner bringen. Kindheit scheint ja heute als verkürzt und verlängert zugleich. Der spezifisch moderne Lebenslauf wurde in der Form, wie wir ihn kennen, zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert schrittweise in Europa institutionalisiert und universalisiert, später in alle westlichen Gesellschaften exportiert und hat sich schließlich zu einer Zeit weltweit durchgesetzt, wo er in Europa bereits wieder z. T. in Frage gestellt worden ist. Er ist also weder eine Naturtatsache noch eine „evolutionäre Universalie“ (Parsons). Im Bereich des Alltagsdiskurses gibt es praktisch inzwischen keinerlei anderen Ansatzpunkt der Generationenklassifikation außerhalb dieses Lebenslaufschemas, wobei schon Kinder die groben Indikatoren der Körpergröße, Kleidung, Haartracht, Stimmlage, der sekundären Geschlechtsmerkmale, aber bald auch schon Lebens- und Spielgewohnheiten etc. zur Erfassung von Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Altersphase heranziehen (Neubauer 1993: 308). Deshalb scheint es auch heute noch Altersnormen und -rollen zu
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geben, obwohl sie – genau betrachtet – kaum noch ein Profil, Prägnanz und Verbindlichkeit besitzen, vielmehr in vielerlei „Exposés“, „Versionen“, „Skripts“ zerfließen: Neugeborenes, Kleinkind, Kind der mittleren Kindheit, Schüler, Teenager etc.. Noch viel entscheidender ist, dass heute real jederzeit „Rollenflucht“ zu bewerkstelligen ist. Erst durch z. T. recht mühsame Selbst- und Fremdzuschreibungen innerhalb des Koordinatensystems des typischen Lebenslaufs, auf den sich die Gesellschaft gerade zu einigen vermag, werden praktikable Unterscheidungen und Identifizierungen oder Vergleiche tragfähig und können dann auch der jeweiligen sozialen Umgebung verständlich gemacht und so auch Teil des notwendigen alltagspraktischen Wissens um die Bedeutung des eigenen und fremden Handelns werden (Zeiher 1993: 397). Die kindliche Lebenswelt beruht also auf Relevanzstrukturen, die erst durch Konstruktion und Übersetzung von als analog geltenden Phänomenen ihre Plausibilität gewinnen. Konstruktive Leistungen von Erwachsenen und Kindern können aber divergieren und erweisen sich nur noch teilweise und zeitlich befristet als kompatibel (LBS 2002: 45ff.). Doch selbst die existentialistisch angehauchten „Werkstätten für Lebensstile“ oder „Bastelbiographien“ (Hitzler), wenn sie sich nicht in eine illusionäre „Fluchtutopie“ (Bloch) oder einen nichtlebbaren „reißerischen Situationismus“ (Goffman) hineinträumen, unterliegen mit der Länge der Zeit Habitualisierungsprozessen und landen über kurz oder lang in einer Art „Normalbiographie“ oder einem begrenzten Spektrum von als normal akzeptierten „Normalbiographien“, mögen sich diese auch auf den ersten Blick noch so exotisch und buntscheckig ausnehmen. Die traditionelle Zentrierung besonders des männlichen Lebens um einen institutionalisierten Lebenslauf oder eine Normalbiographie wurzelt in dem in der Industriegesellschaft etablierten „Normalarbeitsverhältnis“ im Zusammenhang der Auslagerung ökonomischer Aktivitäten aus dem Haushalt, der zuvor eben kein Privathaushalt im strengen Sinn war, sondern in dörfliche oder zunftmäßig-städtische Lebens- und Arbeitszusammenhänge eingebunden war. Dieser Strukturwandel veränderte das Erwachsenenleben auch in der Familie fundamental. Er ersetzte den naturwüchsigen und religiös gestützten Lebenszyklus durch einen zunächst drei- und später vierphasigen Lebenslauf: Kindheit, Erwachsenenalter, Alter – Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Alter (Nemitz 1996: 11, 14). An die Stelle der zyklischen Zeiterfahrung, die durch mythologische Deutungen und vormoderne, sich wechselseitig stützende Herrschaftsinstitutionen sakralisiert und stabilisiert wurde, treten nun sequenzierende Instanzen: Kleinfamilie, Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, Erwerbstätigkeit und später auch Sicherungssysteme des Alters. Sie erzeugen ganz neue Statuspassagen und institutionalisierte Teilreifen. Damit ändert sich unter der Hand auch das traditionelle Generationenverhältnis: das Noch-nicht-Erwachsensein und das Altsein nehmen einen defizitären Sonderstatus ein, da ihnen entweder keine oder nur eine marginale produktive Funktion oder Funktionsspezifik zugetraut werden. Zunächst nur beim männlichen Erwachsenen, der die volle Länge seiner Erwachsenenzeit voll berufstätig und niemals arbeitslos ist, war der uneingeschränkte Akteursstatus und der Status des Vollbürgers gegeben. Diesem Status entsprach immer auch ein bestimmter akzeptierter oder eigens legitimierter Anteil am gesellschaftlichen Wissensvorrat und eine uneingeschränkte Kompetenzzubilligung. Sie werden im Alltag von Mund zu Mund weitergereicht und selbst in der heutigen „Spätmoderne“ lassen sich damit gelegentlich noch verunsicherte Menschen imponieren. Psychologen und Sozialwissenschaftler stützen häufig einen brüchigen Common sense, der ja nun nicht mehr von einem vererbbaren, ständischen, „zugeschriebenen
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Status“ ein festes Fundament gewinnen kann (Ariès 1989: 79ff.). Erst jetzt wird also das bestimmte Lebensalter und nicht mehr der seit alters zugeschriebene Sozialstatus zum Strukturprinzip der zeitverhafteten Lebensführung für den Mann, komplementär dazu für die Frau (Hausfrauenrolle) und für das Kind (Kinderrolle) daraus. Der übermächtige Zeitrhythmus des Arbeitsverhältnisses des Mannes zentriert alle anderen Zeiten der Familienmitglieder. Selbst der Zeitrhythmus der Schule, ihre Unterrichtszeit und ihre Schulferien, die für eingeschulte Kinder im Vordergrund ihres Erlebens stehen, muss, für Eltern heute noch mit vielfältigen Schwierigkeiten verbunden, mit der Arbeitszeit des Vaters oder häufig heute auch beider Eltern in Einklang gebracht werden. In vielen gesellschaftlichen und politischen Kämpfen wurde die hier sichtbar werdende „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ sozialstaatlich gemildert, was allerdings auch wieder politisch zur Disposition gestellt werden kann. Wirkliche Zeitsouveränität ist wenigen Familien und Kindern erreichbar. Doch lange konnte jedem Kind versprochen werden, dass sich ihm bei gutem Willen später mit einiger Sicherheit ein Normalarbeitsverhältnis und eine Normalbiographie öffnen würden. Der private Bereich scheint heute scheinbar dem persönlichen Belieben überlassen, weil in den vergangenen Jahrzehnten die traditionelle Altersrolle sich zugleich mit der Erosion der Normalbiographie und dem Normalarbeitsverhältnis zu entstrukturieren begann und heute weitgehend zu einem bloßen Rollenstereotyp herabgesunken ist, daher kaum noch Verbindlichkeit einfordern kann. Heute scheint die Alterseinstufung im Zeitalter forcierter Individualisierung in erster Linie eine Leistung des marktabhängigen Subjekts zu sein, weil keine fest verankerten Altersnormen mit allseits anerkannter Generationensolidarität verkoppelt oder allenfalls als erfahrungsabhängige Interaktionsleitfäden im Nahbereich der einzelnen Familie erwartbar sind. Weil Kinder heute mit vielerlei, sich rasch verändernden und Gültigkeit verlierenden Wissensangeboten rechnen müssen, sehen sie sich gezwungen, sich für jeweilige, stark marktbestimmte „Kindheiten“ in Vor- und Rückgriffen zu entscheiden. „Dimensionalen Verfrühungen“ stehen „Verspätungen“ gegenüber. „Gewonnene“ müssen mit „verlorenen“ Jahren verrechnet werden. So wird aus unzähligen „Sinnsplittern“ (Luhmann) ihrer alltäglichen Lebensführung ihre Lebensgeschichte zusammengeflickt. Damit wird die natürlich doch gesellschaftlich verankerte individualisierte Sinnsuche von Kindern schon sehr früh auf eine eigene Alltagsgeschichte und Biographie verwiesen, die sich nur in einer Auseinandersetzung mit „Systemfragmenten“ und normativen Versatzstücken, Diskursen und mittels unterschiedlichsten „moralischen Unternehmern“ profilieren können. Durch die soziale Konstruktion der „kindlichen Kaufkraft“ werden Kinder jedoch zugleich zu einer umworbenen Konsumentenschicht, zu einem Publikum der Medien und zu Klienten einer „sportiven Kindheit“, religiöser Märkte und ihrer therapeutischen Surrogate (Feil 2003; Joos 2001; Lenz 1999: 31ff.). In dieser Orientierungssuche brechen also die unterschiedlichsten Quellen und Optionen auf. Unverkennbar wird aber diese Wissensproduktion zunehmend vom „Grenznutzen“, von rationalen und pseudorationalen Kosten-NutzenKalkülen und alterskohortenspezifischen Aufwandprojektionen, aber auch oft ideologiebefrachteten Argumenten der „Generationengerechtigkeit“ überwölbt (Butterwegge 2004; Hengsbach 2004). Dabei wird zunehmend undurchsichtiger, ob es noch möglich ist, in homogenen und konsistenten Lebensphasen zu denken. Indizien der Deinstitutionalisierung sind unübersehbar. Aufgrund der sich häufenden Probleme der Folgen und Nebenfolgen eines teilentstrukturierten Lebenslaufs auch bei Kindern – und nicht wegen seines „Etatismus“, wie ihm
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die so genannten Neoliberalen vorwerfen – sieht sich der moderne Wohlfahrtsstaat in die Pflicht genommen, immer mehr privat ungelöste Lebensfragen zu regulieren und nachträglich zu normieren bzw. zu verrechtlichen. Eine wirklich einheitliche neue Normalbiographie entsteht hier aber nicht. Sie wird vielmehr durch ein Normalitätsspektrum typisierter, als akzeptabel erscheinender „Normalbiographien“ ersetzt, die zu einer – immer jedoch typisierbarer historisch begrenzten – Vielfalt kindlicher Biographieerfahrungen mit immer stärker globalen Referenzen führen, die über Bildungs-, Familien-, Sozial- und Rechtspolitik temporalisierten Restriktionen, Sparmaßnahmen und Problematisierungen ausgesetzt sein dürfte. Diese Heterogenität steigert unweigerlich den Bedarf an gesellschaftlicher Konstruktion von Wirklichkeit und sozial akzeptabler individueller Normalität. Kindheitssoziologisch stellt sich hier auch die Frage, ob die immer wieder empfohlenen Längsschnittuntersuchungen mit mehreren Erhebungszeitpunkten über viele Jahre und immer wieder erneuerter Thematisierung der Problemhaftigkeit des Generationenverhältnisses, im Sinne einer „sich selbst erfüllenden oder zerstörenden Prophezeiung“ (Merton), „soziale Probleme“ nicht geradezu herbeiredet. (Albrecht 1999: 851). 3.4.2 Entkopplung von Sexualität, Fortpflanzung und Liebe Die familienhistorische Forschung hat uns seit über zwanzig Jahren darüber belehrt, dass es immer vielerlei Lebensformen gab und auch die volkskulturell-paganen Weltbildreste und Resistenzen in den vormodernen Gesellschaften des europäischen, kirchlich christianisierten Mittelalters nicht unterschätzt werden dürfen. Es lassen sich viele Anzeichen dafür finden, dass – vor allem im Bereich vor- und außerehelicher Beziehungen – Geburtenkontrolle getrieben wurde, obwohl die Kirche das untersagte (Imhof 1981: 35; Ariès 1982: 165ff.; Flandrin 1982: 147ff.). Aber der moralische Druck der regionalen Sozialkontrolle, der Kirche, die „öffentliche“ Tabuisierung des Sexualbereiches waren doch sehr stark und das sexuelle Wissen ungleich verteilt und noch Jahrhunderte lang mit Unsicherheit behaftet. Erst im 19. und noch stärker in der Mitte des 20. Jahrhunderts angesichts einer massiven Kritik an der „repressiven“ Sexualmoral, der Bildungserfolge der Frauen und der Erfindung der so genannten Anti-Babypille breitete sich ein neues Bewusstsein „verantworteter Elternschaft“ und der Möglichkeit sexueller Intimität ohne Angst vor einer möglichen Empfängnis über weite Kreise der Bevölkerung aus. Dies führte zu einer Delegitimierung der herkömmlichen Moral, die Sexualität strikt an Fortpflanzung band, und zu einer Liberalisierung sexuellen Verhaltens und rechtlicher Sexualnormen. In Wechselwirkung damit war von entscheidender Bedeutung vielleicht die Tatsache, dass sich die formelle soziale Kontrolle sozialer Abweichung schon Jahre zuvor beträchtlich abgeschwächt und auch die demographische Entwicklung mit abnehmenden Geburtenraten schon viel früher eingesetzt hatte (Tyrell 1985: 154). Die kulturelle Lockerung, die Abnahme sozialer Distanzen und technische Neuerungen zusammen bewirkten eine wachsende Dissoziation von Sexualität, Fortpflanzung und Liebe oder Erotik und führten zur scheinbaren Folgenlosigkeit von Sexualkontakten. Die Einsicht, dass auch dieses Verhalten – lange vor dem Auftreten von Aids – zu impliziten Verantwortungsproblemen und sogar ethischen Dilemmata führen konnte, ist immer noch nicht sehr weit verbreitet. Da Sexualität bei Menschen – weder biologisch noch soziokulturell – sich nicht einheitlich sondern sehr verschieden ausprägt und variabel entwickelt, kann nicht von einzel-
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nen, „objektiv“ isolierten Merkmalen auf eine umfassende und zeitlose „Natur“ sexuellen Verhaltens geschlossen werden. Das soziokulturell legitimierte, typischerweise sozial angewandte und das interaktive Verhalten zum konkreten Partner in entsprechenden Situationen entscheidet, wie sich Sexualität vollzieht. Aus dem Körperbau, der Form der Organe, der Physiologie kann man keine Verhaltensmuster oder Normen des Sexualverhaltens ableiten, zumal alles am menschlichen Körper zugleich Natur und Kultur ist: Die biologische Evolution zeigt nur, dass sie nicht halt gemacht hat (Fox 1984: 10, 18). Es gibt daher eine beträchtliche Vielfalt möglicher sexueller Beziehungen. Die menschliche Sexualität macht es in jeder Gesellschaft erforderlich, sich über Selektionskriterien zu verständigen und bestimmte Partnerbeziehungen bestimmten sozialen Institutionen zuzuordnen und damit eine gewisse Verlässlichkeit besonders im Blick auf Kinder zu schaffen (König 1979: 9). Kulturelle, religiöse, rechtliche, soziale, organisatorische und technische Grundbedingungen haben in Europa über Jahrtausende die Notwendigkeit stark plausibilisiert, Ehe, Fortpflanzung und häusliche Gemeinschaft in einen engen Sinnzusammenhang zu rücken und auch entsprechende Verhaltensmuster zu praktizieren, wie dies andernorts nicht geschah. Dieser Verweisungszusammenhang ist im 20. Jahrhundert verblasst, ohne dass nun alles dem individuellen Experiment überlassen bliebe, weil sich auch heute binnen Kurzem Habitualisierungen einstellen, aber mit viel Kontingenz behaftet bleiben. Allerdings ist auch dies nicht ganz neu, weil sich auch in vormodernen Gesellschaften vor allem auf dem Land (offen oder verdeckt) konträre Beurteilungen sexueller Praktiken finden (Mitterauer 1979: 18ff.; Duby 1985: 29ff.). Die von der Kirche des Spätmittelalters – nicht immer konsequent – geförderte Zusammenbindung von Sexualität und Partnerschaft mit dem Institut der Konsensehe hatte noch lange mit der patriarchalischen Einstellung zu kämpfen, dass der Mann die Einheit von Sexualität und Ehe sehr einseitig und nach einer Doppelmoral interpretieren konnte. Schon nach dem Ersten Weltkrieg, nicht erst um 1968, bahnte sich indes so etwas wie eine sexuelle Revolution an, „die fast blitzartig größte Bevölkerungsschichten erreichte und die Sexualität zu einem eigentlichen Gegenstand der Mode machte, …“ (König 1979: 15). Die schon damals beklagte „Krise der Ehe“ führte in den 20er Jahren zu einer von institutionellen Gesichtspunkten abgetrennten Beurteilung wechselseitiger sexueller Ansprüche und Zufriedenheit. Damals schon tauchten immer mehr Versuche auf, ein „Identitätsmanagement“ mittels einer rein technisch verstandenen Sexualität zu betreiben. Und eine genaue Betrachtung der demographischen Entwicklung seit ca. 1890 zeigt deutlich, dass die Bereitschaft zur Geburtenkontrolle längst vor der Erfindung der dann in den 60er Jahren kommerziell weit verbreiteten Kontrazeptionstechnologie zugenommen hatte. Die wachsende soziale Mobilität und der zunehmende selektive Charakter sozialer Verkehrskreise von Jugendlichen, keineswegs eine Zufallsvariable, ließen den Zusammenhang von Liebe, Sexualität und Fruchtbarkeit immer mehr als kombinierbare Option erscheinen (König ). Strukturelle Bedingungen pendeln sich zwar immer wieder ein, werden aber einfach als störend oder verhandelbar empfunden. Sexualität wird daher in unserer Gesellschaft verhältnismäßig wenig kontrolliert und vielfältig normalisiert. Sie erscheint weniger den je eindeutig und stabil als soziale Ressource (Mitterauer 1974: 21, 23). Wo sie allerdings funktioniert, hat sowohl die Eheschließung wie die Gattenbeziehung und die Eltern-Kindbeziehung eher noch an Bedeutung zugenommen. Immer häufiger scheint jedoch der hohe Liebesanspruch Männer und Frauen ins Scheitern zu treiben.
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Sexualität wird heute nicht nur auf die Ehe beschränkt. Voreheliche Sexualität ist weit verbreitet und auch eheliche und quasieheliche mündet nicht selten in episodische und zum Teil nichtexklusive Partnerschaften. Wechselseitige Treue scheint für die meisten Partnerschaften wichtig, solange ihre Beziehung andauert (Peukert 1999: 241). Allerdings werden oft die oszillierenden semantischen Konnotationen des heutigen Treuebegriffs auch in der Familiensoziologie verkannt (Hildenbrand 1997: 104ff.; Tänzler 1997: 124ff.). Es ist kaum zu übersehen, dass er oft recht pragmatisch und nicht streng normativ verstanden wird. Für eine relativ freie Sexualität ist dann weniger eine dauerhafte, irgendwie institutionalisierte und symbolisch codierte Partnerschaft und Liebesbeziehung, sondern allenfalls eine „Lebensabschnittspartnerschaft“ erforderlich. In der Regel ist „emotionales Beteiligtsein“ ausschlaggebend. Sexualität ohne Emotionalität wird nur von einer kleinen, aber offensichtlich zunehmenden Minderheit bejaht (Peukert 1999: 242f.). Das für die Lebenspraxis unentbehrliche Wissen um die richtige, schöne und zufrieden stellende Sexualität ist nicht mit physischen Reaktionen im Sinne des Freudschen Dampfkesselmodells zu verwechseln. Es handelt sich immer um eine soziokulturell durchdrungene Sexualität in einem engeren oder lockeren Zusammenhang mit Fortpflanzung und Erotik. Es gibt aber sicher heute einen dominierenden Strang in der Öffentlichen Meinung, der die grundlegenden sozialen Konstruktionen übersieht und der Meinung ist, dieser Zusammenhang sei ganz und gar individuelle Privatsache. Damit wird häufig auf Sonderwissen spezifischer sozialer Milieus und Bezugsgruppen verwiesen, das unterschiedliche Wahrnehmung der „sozialen Tatsachen“, unterschiedliche Bearbeitung, unterschiedliche Einordnung, unterschiedliche Empfindung, unterschiedliche Bewertung nahe legt. Kommunikation zwischen Interaktionpartnern über Sexualität wird damit eher unwahrscheinlicher. Selbst in vergleichsweise reichen und liberalen Gesellschaften scheinen sich immer mehr junge Menschen aus den unterschiedlichsten Motiven davor zu fürchten, Eltern zu werden, weil dies angesichts zunehmender Kontingenz und Ambivalenz einen beachtlichen Mut zu eindeutigen Entscheidungen und Bindungen verlangt. Auch die Auseinandersetzungen um die Geschlechterbeziehungen und die häusliche Arbeitsteilung hat die anstehenden Entscheidungen verkompliziert (Kaufmann 1995: 169; Wahl 1989). Verschärfend wirkt auch die materiell wie kulturell bedingte „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Das alles wird freilich alles erst relevant, wenn es tatsächlich wahrgenommen, empfunden, reflektiert, gewusst wird. Wissen über Sexualität, Fortpflanzung, Liebe und Sozialisationswissen machen einen nicht zu unterschätzenden Teil menschlichen Alltagsund Sonderwissens aus und stoßen damit – meist indirekt – auch soziale Konstruktionen zwischen Erwachsenen und Kindern an oder sorgen dafür, dass man „heiklen Themen“ einfach praktisch aus dem Wege geht. Dieses Wissen kann heute nicht einfach mehr aus einem homogenen allgemeinen Hintergrundwissen und Alltagswissen abgerufen werden, sondern ist zutiefst mit psychologischen und therapeutischen Populärdiskursen verfilzt. Es beruht nicht auf einem ungebrochenen kulturellen Wissenskanon, sondern bietet sich in Form von Programmen, Projekten, Polemiken, Werbefeldzügen, moralischen Kampagnen und Strategiedebatten an (Cornell 1999: 59). Der Modernisierungsprozess, der teilweise auch als Säkularisierungsprozess wie als Entstehung einer frei flottierenden (neuen) Religiosität mit entsprechenden religiösen Märkten betrachtet werden kann, hat die in Jahrhunderten entstandene, durchaus wandelbare Symbiose zwischen moderner „romantischer Liebe“, Sexualität und Fortpflanzung selbst unterhöhlt. Von heute aus gesehen ist es erstaunlich, dass die westlichen Gesellschaften von
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ca. dem 18. bis ins 20. Jahrhundert diese Trias wenigstens normativ zur Deckung bringen konnten. Von großer Bedeutung war dabei offenbar auch die Tatsache, dass eine nicht fundamentalistische christliche Tradition von Teilen der europäischen Aufklärung kultiviert werden konnte. Dies ist alles andere als trivial, denn Fruchtbarkeit impliziert keineswegs zwingend ein Verständnis von Kindern als „Liebespfand“, freie Partnerwahl keineswegs Liebe, Sexualität keineswegs Fruchtbarkeit (Mitterauer 1989: 187; Gabriel 1996). Und es ist ersichtlich, dass sich dieses Verhältnis gelockert hat und im Prinzip neu kombiniert werden kann. Steigerung der Ansprüche lassen Partnerbeziehungen fragiler werden. Kinder haben die Konsequenzen stets mitzutragen. Es erscheint daher eher als eine gewisse Inkonsequenz, wenn Frauen und Männer einerseits das Dasein für Kinder nur noch als Lebensabschnittsaufgabe, als „gewollte“ Hindernisse beruflicher Tätigkeit und zugleich als „letzte Unkündbarkeit“ ansehen wollen (Beck 1986: 182ff, 193; Beck 1990; Beck 1994). Manche Beobachter glauben auch, eine weitere Entkopplung von Emotionalität und „den Masken des Begehrens“ liege im Trend der Zeit (Mitterauer 1989: 188; Ariès 1984: 165ff., 176ff.; Lenz 1998: 279ff.; Giddens 1993: 77ff.). 3.4.3 Die Entkopplung von Partner- und Elternschaft Das Leitbild „verantworteter Elternschaft“ ist nicht so völlig neu, wie heute manchmal angenommen wird. Verantwortete Elternschaft bildet vielmehr die eigentliche Pointe und den Kern des spezifisch modernen, christlich vorgeprägten Familienverständnisses. Lange galt ja bewusste Kinderlosigkeit als unnatürlich. Wechselseitige Verantwortung und Erziehungspflicht gehörte zum Wesen der modernen Kernfamilie (Berger 1984). Reflexion über die Familie und die fast unbewusste Mentalität der Volkskultur stimmten hier auffallend überein. Moderne „romantische Liebe“ hat insofern immer auch einen Anspruch auf „Elternliebe“ enthalten. In der alltäglichen Familienpraxis wurde dieser an vielen Aspekten festgemacht. Doch erwies sich diese Praxis wohl immer komplizierter und widerspruchsreicher, als man es sich weithin einredete. So ist heute schon der „Kinderwunsch“ und noch mehr die nach der Geburt dauerhaft geforderte „Elternliebe“ in einen sehr komplexen, emotionsbeladenen Such-, Entscheidungs- und/oder einen Reflexionsprozess verwickelt und mit neuen Ängsten, Problemen, Meinungs-, Interessens- und Motivspannungen und entsprechend kleinteiliger „Beziehungsarbeit“ (Beck-Gernsheim) überzogen. Sie geradezu als „Planungsfalle“ verstanden werden (Beck 1988; Wahl 1989: 16; Ecarius 1996). In diesem Zusammenhang hat die Ehe noch weit mehr als die Kleinfamilie – auch angesichts steigender Ehescheidungszahlen – in den letzten Jahrzehnten stark an gesellschaftlicher Attraktivität und Relevanz verloren. Das kulturelle Deutungsmuster der „Elternliebe“ lässt sich nach Parsons (1964: 110; 1965: 48) umstandslos auf die emotionale Motivation und die advokatorisch begründete instrumentell-männliche des Vaters und die expressiv-weibliche Führerschaft der Mutter und die Gefolgschaft der Kinder funktional – nach der Generations- und der Altersachse – ausdifferenzieren. Doch dieses struktur-funktionale Familienmodell der modernen, strukturell isolierten Kernfamilie macht soziokulturell-historische Voraussetzungen, die heute zum großen Teil nicht mehr gegeben sind. Diese „Normalfamilie“ ist zwar kein „Auslaufmodell“ (Luhmann), aber längst nicht mehr einschränkungslos ein Normalfall. Man spricht
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nicht umsonst von einer Pluralisierung (familialer) Lebensformen. Die Brüchigkeit der „Normalarbeitsverhältnisse“ ergänzt das Bild abnehmender „Normalbiographien“. Ursprünglich schien eine Balance zwischen Partner- und Elternschaft kein Hexenwerk zu sein. Vielmehr galt gerade eine in „romantischer Liebe“ zustande gekommene, bürgerlich geprägte, ehezentrierte Kleinfamilie als ideale Grundlage, Gatten- und Elternliebe zu vereinen (Berger 1984: 107ff.). Doch ökonomische, politische, kulturelle Verwerfungen des 20. Jahrhunderts im Gefolge zweier Weltkriege und mächtige Individualisierungsschübe sowie die sozusagen eingebaute „Familiendynamik“ dramatisierbarer Ansprüche, verbunden mit einer nicht selten unsteuerbaren Konflikteskalation, führten spätestens in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer deutlich empfundenen normativen Konkurrenz von Partnerschaft und Elternschaft und zu einem manchmal heftig beklagten, allerdings empirisch nur teilweise nachweisbaren „Wertewandel“. Er beschleunigte und verschärfte auch die Entkopplung von Partnerschaft und Elternschaft (Herlth 1994). Viele Ehen blieben kinderlos, und man musste nicht länger verheiratet sein oder gar in einer traditionellen Kleinfamilie leben, wenn man sich Kinder wünschte. Als pragmatische „Daumenregel“ und residuale, freilich meist stereotypisierte Idealvorstellung blieb das traditionelle Ehe- und Familienkonzept freilich bis heute erhalten. So heiraten in Deutschland noch immer die meisten Paare, wenn Nachwuchs eintritt. Die Entwicklung in anderen westlichen Gesellschaften sowie die rasche Deinstitutionalisierung (Verlust des Deutungsmonopols) in Deutschland seit den 60er Jahren lassen es aber realistisch erscheinen, weitere Deinstitutionalisierungsprozesse einzukalkulieren. Familienbildung gilt schon jetzt wohl nicht mehr in ihrem generativen Aspekt als Ausdruck menschlicher Reife (Erikson). Dafür spricht auch die Tatsache, dass die in den vergangenen Jahren geschrumpfte Mehrheit der Verheirateten auch deutlich weniger Kinder in die Welt gesetzt hat. Doch endgültige Urteile hierüber sind empirisch nicht möglich. Und allzu kühne Prognosen über viele Jahre erweisen sich gerade im Bereich der Privatintimität immer wieder als Kaffeesatzleserei. Jedenfalls ist aber ein bisheriger, prinzipiell revidierbarer Entwicklungstrend nicht zu übersehen, dass die Ehe erst angesichts einer (bevorstehenden) Geburt angesetzt wird. Der immer wieder zitierte Befund von Meinungsumfragen, dass Kinder und Jugendliche „Ehe“ oder Familie und ein Leben mit Kindern für eine „ideale Lebensform“ ansehen, ist hingegen aus vielerlei Gründen mit größter Vorsicht zu interpretieren (Peukert 1999: 37). Immer häufiger traut sich jedenfalls die Meinung an die Öffentlichkeit, Liebe komme auch ohne institutionelle Regulierung aus. Nur die Familiensoziologie streitet sich noch darüber, ob daraus eine abnehmende Attraktivität von Ehe und/oder Familie, eine semantische Verschiebung des Familienbegriffs oder sogar eine noch zunehmende Bedeutung von Familie abzuleiten ist. Direkte profamiliale und pronatalistische Unterstützungsmaßnahmen des Staates haben fast überall graduell zwar unterschiedliche, aber im Ganzen nur bescheidene Milderungseffekte erbracht (Höhn 1989: 203). Eine wirklich familien- und kinderfreundliche Gesellschaft ist unter dem wachsenden Flexibilisierungsdruck des Arbeitsmarkts, den letztlich die globalen Finanzmärkte ausüben, kaum zu erwarten. Eltern müssen sich auch dann typischen Familienaufgaben stellen, wenn sie sich im Stich gelassen fühlen. Doch aus dem traditionellen Familienzyklus homogener Phasen ist längst ein Spektrum jeweils als normal geltender Typen von Familiengeschichten geworden, die sich nicht mehr auf universal geltende, funktionale Rollenvorschriften stützen können. Und Elternschaft wird heute mindestens ebenso freimütig als Bereicherung wie als Belastung und Störung thematisiert (Schütze 1989: 313). In den Vordergrund der Erfahrung
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sind die jeweils unterschiedlichen kulturellen, sozialen und ökonomischen Ressourcen gerückt, die die verschiedenen Interaktionskonstellationen von Eltern-Kind-Beziehungen charakterisieren. Und der „Kinderwunsch“ ist nicht mehr Objekt naiven Begehrens; ebenso wenig wie die „Elternkompetenz“ (als Reifeindiz) mit ihrer unterschiedlichen Verteilung des Sozialisationswissens. Sie ist ein mögliches Ziel prekären Verhandelns geworden, dessen Legitimation fast nur noch die soziale Elternschaft bildet. Die neue Reproduktionstechnologie verschärft die ohnehin oft fragmentierte Elternschaft in bislang unvorstellbarem Umfang. Aus der mittlerweile ziemlich verwaschenen Elternrolle werden Figurationen unterschiedlicher, unterschiedlich dauerhafter, unterschiedlich umfassender, unterschiedlich verbindlicher Vater-Kind, Mutter-Kind und Kind-Kind (Geschwister und/oder „beste Freunde“) Interaktionsdyaden (Krappmann 2002: 67ff.). Krappmann unterscheidet neue Familienformen danach, wie sich das Verhältnis zum getrennten Elternteil und andererseits zum neuen (Ehe-) Partner gestaltet. Es zeigt sich dabei, dass sich die Arrangements durchaus pragmatisch nach den Betreuungsmöglichkeiten richten. 3.3.4 Entkopplung biologischer und sozialer Elternschaft Die wohlbekannte Tatsache, dass manche Kinder seit Jahrhunderten in Adoptions- und Pflegeverhältnissen untergebracht sind, verweist auf den biologisch-kulturellen Doppelcharakter der Elternschaft. Beide Elemente bedingten und relativierten sich wechselseitig seit Jahrtausenden. Selbst die offizielle Haushaltsstatistik Deutschlands ließ bis vor wenigen Jahren die biologische Elternschaft eines oder beider Partner, die keine gemeinsamen aber jeweils eigene Kinder haben, selbst dann unberücksichtigt, wenn diese im gemeinsamen neuen Haushalt aufwuchsen (Nave-Herz 1989: 377f.). Die Beziehung zwischen biologischer und sozialer Elternschaft wurde aber durch die Häufung der Ehescheidungen und Wiederverheiratung, durch akute Probleme der Adoption und Kindspflegschaft sowie seit einigen Jahren vor allem durch die Erfolge und Misserfolge der Reproduktionsmedizin zu einem Thema hohen gesellschaftlichen Interesses. Im Verlauf dieser öffentlichen Diskussionen hat sich das Bewusstsein vom Eigenwert sozialer Elternschaft deutlich verstärkt. Wenn Kinder mit leiblichen und solchen mit nur sozialen Eltern von ihnen etwas verlangen oder um etwas bitten, unterscheiden sich beide vermutlich nicht. In ihrer Lebensgeschichte, spätestens angesichts genealogischer Klärungsbemühungen nach der Pubertät, ergaben sich im Falle ausschließlicher sozialer Elternschaft in der Vergangenheit oft gravierende Affiliations- und Legitimationsprobleme und stark emotional beladene Versuche der biographischen Selbstverständigung (Berger 1971: 63f.); etwa auch im Fall einer unehelichen Geburt. Der Prozess der Wissenstradierung ist kein emotionsfreier kognitiver Prozess jenseits der jeweiligen Lebenspraxis und er impliziert jedenfalls auch das Wissen um die eigene Herkunft und den Unterschied zwischen biologischer und sozialer Elternschaft. Wenn Kinder immer häufiger und immer früher mit mehreren (biologischen und/oder sozialen) Müttern und Vätern, verschiedenen Geschwistern und verschiedenen Großeltern, Onkeln und Tanten und deren heterogenen sozialen Verkehrskreisen zusammenkommen, ändert sich auch der sozialisatorische und sozialkontrollierte Wissenstransfer und die Kommunikationsdichte entscheidend (Peukert 1999: 33f.).
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Auf die biologische Elternschaft, speziell die Vaterschaft, wird in vielen Kulturen aus unterschiedlichen Gründen besonderes Gewicht gelegt. Dennoch können überall die Vaterund Mutterpositionen auch von letztlich nichtverwandten Frauen und Männern übernommen werden. Im westlichen Kulturkreis, der von der griechischen und römischen Antike, dem Christentum und der modernen Aufklärung tief geprägt ist, gab es schon seit langem Ansätze, aber eben nur Ansätze zu elaborierten und komplementären Eltern- und Kinderrollen, die aber erst in der Moderne voll durchstrukturiert wurden. Hier hat auch immer schon die Frage besonderes Gewicht besessen, ob und wie Kinder soziale Eltern akzeptieren (Böhnisch 1997: 32). Weil aber auch biologische Eltern sozial und gesellschaftlich anerkannt und von ihren Kindern „innerlich“ angenommen werden müssen, können sie umfassend oder partiell, dauerhaft oder okkasionell-episodisch geliebt oder hingenommen werden. Kinder können sich darüber hinaus ebenso wie ihre Eltern verweigern, wie Kinder spüren können, dass sie am Anfang oder auf Dauer von ihren Eltern oder einem Elternteil nicht gewollt wurden. Dies ist noch einmal eine besondere Sache in einer Kultur wie der westlichen, die informell vorschreibt, dass Kinder gewollt und geliebt sein sollen. Auch biologische Verhältnisse werden stets interpretiert und können daher prinzipiell auch zu einem späteren Zeitpunkt „aufgekündigt“ werden. In einer Zeit, wo die Elternposition merklich weniger biologisch zementiert scheint, steigert sich natürlich die Labilität, und ihre soziale Funktion wird – abgesehen vom familienrechtlichen Kontext – merkwürdig unscharf und problemintensiv. Wenn sich aber in einer relativ funktional differenzierten Gesellschaft privat nicht gelöste oder vielleicht sogar unlösbare Folgenprobleme häufen, setzt sich unausweichlich eine wachsende Verrechtlichung und sozialadministrative Beobachtung durch, die sicher heute einen namenhaften Teil der formellen Sozialkontrolle ausmacht. Dadurch und noch mehr durch die informelle Flüsterpropaganda protoprofessioneller und popularisierter Ratgebermedien ist das generelle Anspruchsniveau für junge Eltern in den letzten Jahren enorm gestiegen. Biologische Elternschaft wird also nicht einfach hingenommen. Der Verdacht auf Misshandlung, Vernachlässigung und nicht optimaler Förderung ist verhältnismäßig leicht zu entfesseln. Kinder sind nicht mehr „Geschenk Gottes“. Sie werden zur strategischen Lebensaufgabe mit höchster persönlicher Verantwortung, mit ungewohnten Prestigeobjekten, mit unzähligen Wissensangeboten aber auch kritischer Beobachtung von vielen Seiten. Und im Hintergrund steht immer das rechtlich zu verfolgende „Kindeswohl“ (Beck-Gernsheim 1993: 11, 115; Honig 1992). Bis vor einigen Jahrzehnten wurde die Familie ganz unproblematisch als soziale Institution aufgefasst. Nach dem Zweiten Weltkrieg schob sich die Erfahrung der Intimgruppe in den Vordergrund. Und seit Mitte der 60er Jahren erscheint immer mehr Menschen Familie vor allem als das, was man aus ihr in Interaktionen macht. Diese Erfahrungsänderung beruht nicht zuletzt auf einer erheblichen Dissoziation von biologischer und sozialer Elternschaft und einer gewissen Enthierarchisierung der Eltern-Kind-Beziehung. Die noch in den 50er Jahren weithin befürwortete Elternzentrierung lässt sich auch deswegen nicht mehr durchsetzen, weil die interaktive und kommunikative Qualität der Elternschaft in der Familie ausschlaggebend geworden ist, was der Kindzentrierung Vorschub leistet. Biologische Elternschaft ist sozusagen vor den eigenen Kindern und der Gesellschaft rechenschaftspflichtig geworden (Büchner 2002: 289; Schmidt 1993: 337, 335). Soziale Elternschaft kann im Fall der Adoptions- oder Pflegeverhältnissen fragmentiert werden. Es gibt heute aber in wachsendem Umfang auch multiple Elternschaften; etwa
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in den Stieffamilien, die durch öftere Umarrangements und Scheidung, Wiederverheiratung etc. zustande kommen. Das bringt für Kinder neue Chancen, zu mehreren Bezugspersonen Bindungen aufzubauen, aber auch Verlusterfahrungen und double-bind-Phänomene. Doch ist auch hier nicht alles praktisch möglich, was denkbar ist. Es gibt stets spezifische Bedingungskonstellationen, Schwellen und Grenzen. Und leibliche Eltern sind offenbar auch nicht ohne weiteres und folgenlos austauschbar, was ja Adoptionskinder in ihren Identitätskrisen seit langem vor Augen geführt haben. Die Reproduktionsmedizin verschärft die Spannungen und Widersprüche zwischen biologischer und sozialer Elternschaft. Im Falle der heterologen Insemination wird aufgrund künstlicher Befruchtung einer weiblichen Eizelle durch eine männliche Spermazelle eines fremden Spenders die Einheit von biologischer und sozialer Elternschaft besonders auffällig durchbrochen. Doch auch wenn geschiedene Eltern und Pflegeeltern ihre soziale Elternschaft beenden oder beenden müssen, fragmentiert sich die Eltern-Kind-Beziehung. Multiple Elternschaften führen nicht selten zur hochemotionalisierten Konkurrenz, die oft nur mühsam vom Vormundschaftsgericht im Zaun gehalten werden kann. Im Zuge der Reproduktionsmedizin zeichnet sich bereits eine weitere dramatische Möglichkeit ab, auch biologische Elternschaft noch einmal aufzuspalten: die In-vitro-Fertilisation oder das Retortenbaby. Das befruchtete Ei wird hier nicht im Uterus der „Eispenderin“ ausgetragen, sondern einer anderen Frau eingepflanzt. So entsteht ein in der gesamten Menschheitsgeschichte völlig neues Phänomen: die geteilte Mutter. In der Zukunft sind vielerlei Vater- und Mutterschaftskombinationen denkbar (Hoffmann 1983; Beck 1991). Zum realitätshaltigen Horrorgemälde eignet sich auch die heute noch umstrittene embryonale Stammzellenforschung. Das Neue ist die Multiplizierung und zugleich fragmentierende Singularisierung. Dafür ist in den letzten Jahren sogar ein neues Kunstwort entstanden: der Elter, weil es ja letztlich um mehr geht als um einen Elternteil. Dazu gibt heute die Biologie bzw. die Reproduktionsmedizin in der Zukunft sicher entscheidende Anstöße. Neben der Geburtenkontrolle rücken damit weitere technische Interventionen in die Semantik des Deutungsmusters „verantwortete Elternschaft“ ein. Optimisten gehen davon aus, dass diese Maxime die Elternschaft insofern stärkt, als sie sie mit der typischen Grundmaxime der Moderne, der ständigen Innovation und Optionserweiterung versöhne (Kaufmann 1995: 99, 96f.). 3.4.5 Die Entkopplung von biologischer und sozialer Kindschaft Wenn sich eine Rolle in einem Rollensystem ändert, lockert oder auflöst, hat das stets Auswirkungen auf die anderen Rollen. Daher hat die Entstrukturierung der biologischsozialen Einheit in der Elternrolle zwangsläufig zur Entstrukturierung der Kinderrolle geführt. Die Entkopplung der biologischen und sozialen Kindschaft ist die Konsequenz der Entkopplung der biologischen und sozialen Elternschaft. Kinder die ursprünglich als „Liebespfand“ und sozialer Kitt der Familie galten und eine „Liebesehe“ erst voll ratifizierten, verstärkten nun die Mediatisierung der Partner in einem Maße, wie dies in der bürgerlichen Familie des 18. Jahrhunderts undenkbar gewesen ist. Dies führt zur Auflösung eines normativen Verweisungszusammenhangs zwischen Ehe und Familie und der klassischen Eltern- und Kinderrollen (Tyrell 1988). Übrig bleiben dann nur noch Interaktionskonstellationen, die residual noch von Rollenstereotypen infi-
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ziert sind. Das „Familiensystem“ wird in vielen Fällen zum „Systemfragment“ und zur dauernden Suchaufgabe. Seltsamerweise sind die Folgen für Kinder selten thematisiert worden, die ja auch im Zusammenhang mit dem Übergang zur Vier-Generationenfamilie ihre Schärfe annehmen. Das traditionell binäre pädagogische Verhältnis zwischen Älteren und Jüngeren, das in der Regel die leiblichen Eltern repräsentiert haben, wird wohl künftig nur eine unter anderen Optionen darstellen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass ein multirelationales und keineswegs mehr ausschließlich pädagogisches Mehrgenerationenverhältnis von unterschiedlicher Verwandtschaftsbreite und -tiefe und mit komplizierten Mehrgenerationennetzwerken mehr und mehr um sich greift (Büchner 2002: 485). Eine Thematisierung dieser neuen intergenerationalen Ordnung ist schon deswegen notwendig, weil die daraus folgenden Optionserweiterungen nach ihrem Chancen- und Risikozuwachs differenziert untersucht werden müssen. Das Neue an dieser teils unproblematischen teils äußerst prekären Konstellation liegt ja gerade darin, dass Optionen, die das überkommene Eltern-Kind-Leitbild gerade nicht nahe legten, ja geradezu ausschlossen, nun positiv verfügbar, zugänglich und gestaltbar erscheinen – bis hin zur „retroaktiven Sozialisation“, die wohl in der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte unvorstellbar war, weil hier Kinder Eltern sozialisieren. Kinder wissen heute längst, dass sie „gewollt“ sind oder sein sollen und melden selbstbewusst ihre Ansprüche an. Sie stellen Eltern heute mindestens implizit unter Rechtfertigungsdruck und machen ihnen manchmal ein schlechtes Gewissen. Kinder haben heute auch einen schärferen Blick auf die Machtaspekte und den Koalitionscharakter der Eltern-Kind-Triade oder elterlicher Interaktionsdyaden. In der Triade versuchen sie nicht selten Vater und Mutter gegeneinander auszuspielen, oft schon, wenn sie nur eine geringe Interessensdivergenz erspähen. Sie müssen aber auch vermehrt in Stieffamilien etc. mit sehr heterogenen Geschwisterkoalitionen fertig werden. Und als Einzelkinder müssen sie sich Sozialkontakte, wenn sie diese wünschen, in besonderer Weise verschaffen (Herzberg 2001). Hier brechen ganz neue Ambivalenzen auf, die keineswegs katastrophal enden müssen, aber immer nur zu entschärfen sind, wenn ganz bestimmte materielle, soziale und kulturelle Ressourcen schnell, rechtzeitig und unkompliziert zu mobilisieren sind. Das berührt durchaus die innerfamiliale und indirekt auch die extrafamiliale Kommunikation und Statusgenerierung: Kinder der Mutter oder des Vaters oder gemeinsame Kinder einer traditionellen Ehe oder einer neuen Partnerverbindung. In Einelternfamilien können sie leicht zum Objekt der „Übersozialisation“ (Wrong) oder der „Untersozialisation“ werden, oder sie werden in problematischer Weise zum Partnerersatz. Oder sie müssen sich als Einzelkind zwischen Verwöhnen (overprotection) und Vernachlässigung bewähren. Man sieht allerdings sofort, dass diese Schicksale auch ganz „normale“ Kinder treffen können und erkennt gerade hieraus, dass es sich um strukturelle und nicht exzeptionelle Entwicklungen handelt. In jeder Hinsicht gibt es heute und zukünftig mehr Anlässe, sich Gleichaltrigen anzuschließen, weil außerhäusliche „Kompensationen“ Entlastung versprechen. Dadurch finden Kinder heute zu mehr und neuen intragenerationalen Kontaktchancen, geraten aber auch leichter in double-bind-Situationen. Wenn heute oft die Verträglichkeit von Eltern- und Gleichaltrigenbeziehungen betont werden, muss gefragt werden, ob dies auf Meinungs-, Verhaltens-, Einstellungs- und Praxisebene in gleicher Weise gesagt werden kann, ganz abgesehen davon, dass im familialen Intimbereich damit gerechnet werden muss, dass vieles unbewusst bleibt, verschwiegen und tabuisiert werden dürfte. Es spricht Vieles dafür,
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dass die normativ vorgeschriebene Balance zwischen Partner- und Eltern-Kind-System nicht nur ausnahmsweise außer Balance gerät und dringend auf Nachverhandlungen und in vielen Fällen auf Hilfe von außen angewiesen ist (Herlth 1984). Und die „Liebe zum Kind“ erweist sich nicht nur als hochinterpretationsfähig, sondern spannungs- und konfliktanfällig. „Kindzentrierung“ kann aber nicht nur zur Überforderung von Kindern, sondern auch zur Selbstausbeutung von Eltern führen. Partnerschaft und Eltern-Kind-Beziehung können in ein ganz unterschiedliches Verhältnis gebracht werden: als Balance, als Dominanz, als Indifferenz. Vieles hängt darum vom konkreten Verhandeln ab und eben nicht von makrosozialen Normen oder mehr oder minder verbindlichen Modellen. Wenn so der jeweilige Konstitutionsprozess ausschlaggebende Bedeutung erlangt, so bezieht sich das nicht nur auf die Durchsetzung eines gemeinsamen Lebensstils, von Normen, Werten, Ritualen und Grenzen, sondern auch auf die Durchdringung von „Systemfragmenten“, Randzonen, Übergängen im konkreten Familienzusammenhang. Es geht hier um Lebensbewältigung und ihre „hybriden“ Interaktionsordnungen und wohl immer auch um neue Vertrauensbildung, die allererst regelgeleitetes und regelveränderndes Handeln in Gang bringt (Hartmann 2001). Dem Normalitätsabbau der archaischen Biparentalität biologisch-sozialer Einheit folgen ganz neue oder rehabilitierte Sozialarrangementes der leiblich verwandten und nichtverwandten Kinder auf den Fuß, die wiederum auch die pluralisierten Partnerbeziehungen beeinflussen; in einem idealtypischen Kontinuum zwischen kindzentriertem und partnerzentrierten familialen Orientierungen. Aus einer eindeutigen Norm ist ein Spektrum normfähiger oder vornormativer, pragmatischer Normalitätsunterstellungen geworden. Die strategische Frage dabei ist nicht, wie viel Latenz die Partnerschafts- oder Eltern-KindBeziehung jeweils verträgt und zulässt, sondern auf wie viel geteilte Wirklichkeit können sich Eltern und Kinder noch verständigen, auch wenn Partnerschaft und Elternschaft normativ und zeitlich-praktisch unterschiedlich und anders verfasst sind. Weder Kinder noch Eltern mit ihren je unterschiedlichen Perspektiven, Interessen und Gefühlslagen und sozialen Beziehungen sind heute noch per se „sozialer Kitt“ und Stabilitätsgeneratoren, wie dies bis heute noch der nicht tot zu kriegende „Mythos Familie“ suggeriert (Böhnisch 1997: 58ff.; Beck 1990). Auf dem Hintergrund der relativen Entstrukturierung von Eltern- und Kinderrollen gewinnen kommunikative Strukturierungen mit jeweils unterschiedlicher Außendarstellung und binnenstruktureller Inszenierung „guten Familienlebens“ wachsende Bedeutung und erzeugen Leitfäden für vielerlei Interaktionen, die sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit nur im Nebel wechselseitiger Irritation oder in fortwährenden Missverständnissen landeten. Mehr als fraglich ist es jedoch, ob bloßes „Zusammenrücken“ oder die emotionale Fusion von Familienmitgliedern eine tragfähige Wirklichkeitskonstruktion zustande bringen. Viele Familientherapeuten betrachten dies eher als pathologische Konstellation (Willy 1991 : 320; Hess 1975: 18). Trotzdem ist es wohl nicht gerechtfertigt, von „Familie als Auslaufmodell“ zu sprechen (Luhmann 1990: 199f., 210f.). „Hochmoderne“ Kinder lassen sich auch nicht kommunikativ in einen „goldenen Käfig“ (Ariès) hineinpferchen, der sie nur als „Medium der Erziehung“ gelten lassen möchte. Und ganz seltsam wirken heute seine Aussagen, die auch von Konrad Adenauer stammen könnten: „Es wachsen immer neue Kinder nach“ (Luhmann 1991: 34f., 191ff., 211). Die familialen und außerfamilialen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhänge können nicht einfach aus makrosozialen, normativen Strukturen deduziert wer-
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den, weil sie vielfach vermittelt sind. Die durchaus immer interpretationsimprägnierte „verantwortete Elternschaft“ kann also nicht direkt ein gekonntes Familienleben herbeizaubern. Und selbst wenn es gelänge, in diesem normativen Horizont griffige Regeln zu entwerfen, so kann mit Regeln allein kein anregendes und lebendiges Familienleben und Familienklima zustande gebracht werden. Entscheidend ist der praktische Umgang mit sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen und die Art und Weise des Regelgebrauchs, des Oszillierens zwischen regelgeleitetem und regelveränderndem und zwischen reguliertem und improvisierendem, kreativem Handeln. Das „System Erziehung“ wäre nicht nur dann am Ende, wenn Familien ihrer Reproduktionsfunktion nicht mehr nachkämen, sondern Kindern phantasielos immer weiter so und immer mehr von derselben Sozialisation zumuten würden. Sie müssen ja heute ihre Kinder immer auch für Erziehung gewinnen – gegen wachsende Konkurrenz anderer Sozialisations- oder Kontrollinstanzen, besonders dem Konsummarkt und den Medien, die ihnen z.T. einreden wollen, dass sie als „Kinder der Freiheit“ gar keine Sozialisation und Erziehung mehr nötig hätten (Neumann 2001: 91ff.). Kinder können heute auf ganz heterogene Beziehungspotentiale, die zunächst gar nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, zurückgreifen. Affiliationslinien werden oft unübersichtlich. Besonders populär ist der Hinweis auf „Patchworkfamilien“. Durch (mehrfache) Scheidung und Trennung nimmt einerseits die Zahl der Onkel und Tanten ab, durch Wiederverheiratung oder neue Partnerinstitutionalisierung andererseits wieder zu, wobei diese eher den Charakter lockerer Interaktionsoptionen haben und selektiv in Anspruch genommen werden (Kaufmann 1995: 83f.). Weder das Recht noch die offizielle Familienrhetorik determinieren die tatsächlichen Verflechtungsprozesse, die sich oft ganz anders einspielen, als es die normativen Opportunitätsstrukturen nahe legen. Nur interpersonelle Kommunikation ist in der Lage, sozusagen die Spreu der Scheinoptionen vom Weizen der real praktischen Möglichkeiten zu trennen, und auch dies nur bis zu einem gewissen Grad, nicht immer rechtzeitig, nie folgenlos und manchmal nur mit äußerer (therapeutischer) Hilfe. Hier wird letztlich auch über „Überforderung“ und „Unterforderung“ entschieden. Weder kulturelle Leitbilder noch moralische Appelle oder psychologische bzw. pädagogische Beratung können der jeweiligen Familie das Geschäft abnehmen, ihre kommunikativen Konstruktionen zwischen geteilter und nicht geteilter Wirklichkeit selbst zu produzieren. Und Kinder muten ihren Eltern dabei von frühester Kindheit an Sozialisationskonkurrenz zu, holen sie selbst ins Familienleben herein. Die „Familienwelt“ ist daher längst keine heile Welt mehr, noch nicht einmal eine normative Homöostase und nur eine prekäre Balance zwischen Partner- und Eltern-Kind-Subsystem, das sich um den pädagogischen Aspekt problemlos arrangieren ließe. Es geht – auch im gelingenden Fall – immer um „Zwischenwelten“ zwischen „Systemfragmenten“. 3.4.6 Komplikationen durch die Reproduktionsmedizin Für viele bleiben die Diskussionen um die Reproduktionsmedizin ferne und verstiegene Gedankenspiele übereifriger Forscher und ungreifbare Ängste von Kulturpessimisten. Für manche hingegen hat ein abgründiges Hoffen und Bangen und eine belastende Auslieferung an die umfassende, oft jahrelang dauernde und mit „iatrogenem Leid“ angereicherte Kontrolle und Planung durch reproduktionstechnologisch orientierte Gynäkologen längst begonnen. Es handelt sich hier in der Tat um nicht weniger als eine Art Revolution, in der
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einerseits die biologische und soziale Elternschaft in einem bislang unbekannten Ausmaß getrennt und nach sozialtechnologischen Gesichtspunkten allein als Kombination biologischer und biochemischer Komponenten verstanden wird, die auch ein hohes Maß an Varianz der Selektion der Verwandtschaft erlaubt. Ein Kind kann so mehrere Väter und/oder Mütter und natürlich daraus folgend ganz verschiedene potentielle Großeltern und sonstige Verwandten haben. Weitgehend ist das zwar noch sachlich begründete Spekulation. Doch ist nicht zu übersehen, dass sich die Zahl von „Pilotprojekten“ sprunghaft multipliziert und keineswegs nur Schlagzeilen der Sensationspresse füllt. Die kontroverse Diskussion zwischen befürwortenden und ablehnenden Experten hat einen äußerst seriösen Hintergrund. Wenn es noch eines letzten Arguments bedurft hätte, so wird hiermit völlig unbestreitbar, dass in den letzten Jahren ein fundamentaler Strukturwandel der gesellschaftlichen Semantik und der sozialen Wahrnehmungs-Handlungs- und Lebenszusammenhänge von Familie und nicht nur beachtliche quantitative Verschiebungen vor sich gegangen sind. Etwas ganz Anderes ist es, ob dies die Gesellschaft gebührend zur Kenntnis nimmt oder eher zu verdrängen sucht. Kinder können demnach immer noch höchst konventionell oder eben als „Retortenbaby“ zur Welt kommen. Ist dies nur eine Optionserweiterung, wie Kaufmann nahe legt (Kaufmann 1995: 30)? Es scheint so, dass diese Optionserweiterung in Verbindung mit der weithin unbestrittenen informellen Norm „verantworteter Elternschaft“ und „optimaler Förderung“ und gleichzeitig aus einem Wertewandel heraus möglich wurde. Bestimmte institutionelle Arrangements naturwissenschaftlicher Forschung und Medizin verbunden mit einer fast unsichtbaren kommerziellen Interessenskultur haben sie zur „sozialen Tatsache“ gemacht. Das Verlangen bestimmter Frauen und Männer und unterstützender sozialer Kontexte nach einem makellosen „Wunschkind“ macht technische Verfahren interessanter und das Angebot der Reproduktionsmedizin ermutigt manche Menschen, Kinder fast um jeden Preis zu wollen. Was im Einzelfall stärker in den unzählig notwendigen Einzelentscheidungen und Abstimmungsprozessen zählt, ist eine empirische Frage. Die verschiedenen Verfahren der Fortpflanzungsmedizin, pränatalen Diagnostik, homologen und heterologen Insemination, extrakorporalen Befruchtung sind keineswegs neutrale Instrumente, sondern strahlen eine ganz bestimmte Faszination oder Angst aus und haben auch in den jeweiligen sozialen Kontexten eine symbolische Funktion, indem sie bestimmte Sinnstiftungsversuche induzieren. Angesichts der mehr oder minder offenen symbolischen Aufladung der Ehe und Partnerschaft als „Liebesehe“ und des Kindes als „Liebespfand“ in den letzten zwei Jahrhunderten löst jedes dieser Verfahren öffentliche Diskussionen und sozial abgestützte Bemühungen spezifischer Selbstverständigung über den konstitutiven Sinn, die Funktion, den Nutzen, den Wert und den Preis von Kindern aus, die sich bis in den Bereich der Rechtssprechung hinein verfolgen lassen (Kaufmann 1995: 43; Beck 1988: 201ff.). Damit ändern sich zugleich der Charakter der Reproduktionsarbeit und der materielle und ideelle Aufwand für die betroffenen Familien und für ein immer kostenbewussteres Gesundheitswesen. Alles deutet darauf hin, dass hier wesentlich mehr Geld und Zeit in Kinder investiert werden muss. Mit Reproduktionsarbeit war ursprünglich mehr als die Haushalts- und Regenerationsfunktion gemeint, nämlich der Beitrag, den Familien durch die Geburt von Kindern für den Bestand der Gesellschaft sowie, in den letzten Jahrzehnten, für das Rentensystem der Gesellschaft erbringt. Angesichts der reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten lässt sich in einem umfassenden Sinn von einer „Rationalisierung der Reproduktionsarbeit“ sprechen, der emotionale Liebesgeschichten und eine prae- und postra-
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tionale Lebensgeschichte merkwürdig irrelevant und virtuell erscheinen lässt. Viel entscheidender erscheint eine Erfolg versprechende rationale Planung mit neuartigen Kontrolleffekten und eine ausgeklügelte rationale Arbeitsteilung verbunden mit einem stark sozialtechnologisch-therapeutisch gesteigerten hochartifiziellen „Identitätsmanagement“ (Goffman 1967: 116ff., 136ff.). Es ist allerdings noch fraglich, ob sich aus dieser technischen Chance massenhaft ein wesentlich anderer praktischer Zusammenhang pluraler Familienformen und der Bevölkerungsentwicklung einspielen wird. Langfristig sind jedenfalls Verbindungen von reproduktionstechnischen und gesellschaftspolitischen Absichten nicht unvereinbar. Das „Sozialisationsmonopol“ (Neidhardt) der Familie ist aber jetzt schon in Frage gestellt. Bei ca. 20 % junger Paare, die trotz ihres Kinderwunsches kinderlos bleiben, bietet sich heute neben der Adoption der beschwerliche Weg der Reproduktionsmedizin an. Einerseits nimmt der Kinderwunsch bei jungen gut ausgebildeten Frauen ab, andererseits wird er bei anderen in gesteigertem Maße zum Herzenswunsch. Bei der Adoption übersteigt die „Nachfrage“ das „Angebot“ bei weitem. Für diese jungen Frauen und Männer dürfte die neue Strategie unter bestimmten Bedingungen eine Optionserweiterung bedeuten; allerdings mit großen Risiken, die in vielen Fällen die Option zur Scheinoption werden lassen. Der Umgang mit der genealogischen Affiliation wird zur quasiprofessionellen „Informationskontrolle“ und zur fortwährenden Normalisierungsprozedur; unter einem gesteigerten Rechtfertigungszwang gegenüber anderen, sich selbst und natürlich auch dem Kind gegenüber. Wenn die menschliche Natur kontingent erscheint, muss ein höheres Maß an Ambivalenz absorbiert werden. Besteht dabei nicht auch die Gefahr, dass der Aufwand, den technisch geprägte Reproduktionsarbeit erfordert, mit einer selbstzwecklichen „Liebe zum Kind“ zumindest unbewusst gleichgesetzt wird? Und muss sich nicht die besondere Investition besonders lohnen? So entsteht hier ein moralisch besonders wertvoll erscheinender „Kinderwunsch“; so als sei dieser biographieentscheidend. Die schlichte Annahme des Kindes „als natürlichste Sache der Welt“ oder als „Gottesgeschenk“ verblasst demgegenüber vollkommen; genauso wie die Verantwortung dafür, wie viele Kinder in unserer Gesellschaft mit welcher ethischen Intention zugelassen werden und auf welche Weise sie das Licht der Welt erblicken sollen. Da Kinder aber immer von ihren Eltern gewollt und zugleich von ihrer sozialen Umgebung bedingungslos akzeptiert werden wollen, konfrontiert ein „virtuelles“ Kind unausweichlich die Gesellschaft mit ihren oft widersprüchlichen Deutungspraktiken, Wertmaßstäben und ihrer tatsächlichen Solidaritätsbereitschaft. Es bleibt abzuwarten, wie diese Optionserweiterung sozial beantwortet wird (Kaufmann 1995: 101; Dörner 1998: 6ff.; Habermas 2001). Oft schleichen sich unversehens informelle Normen ein, die einen problematischen Handlungsdruck oder „Sachzwänge“ suggerieren. Selbst wenn dies aber nicht eintritt, gibt es Ensembles von Bedingungen, die so etwas wie eine habituell leichtere Verfügbarkeit und pragmatische Normalitätsunterstellung dem aktuellen sozialen Vergleich anbieten. Diese verscheucht zwar nicht alle Zweifel und moralischen Skrupel, hat aber angesichts fehlender Alternativen im Augenblick doch häufig sedierende Wirkung. Diese Situation kann dann auch noch das kommerzielle Marketing nutzen. Kinder, die auf technische Weise zur Welt kommen, sind natürlich kein technisches, sondern u.U. ein praktisches, soziales und soziokulturelles Problem. Es ist hochwahrscheinlich, dass sie mit besonderer Fürsorge umgeben werden und dies auch bemerken können. Phänomene der Überbehütung sind nicht ausgeschlossen. Jedenfalls gibt es Studien, die auf
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einen besonderen Interaktionsstress bei Eltern und Kindern hinweisen (Beck-Gernsheim 1988: 212f.). Häufig scheint auch der Kontakt der Eltern zu Freunden, Bekannten und sozialen Netzen eingeschränkt. Es ist natürlich außerordentlich schwer und forschungsethisch problematisch, die Sozialbeziehungen „natürlicher“ und „virtueller“ Kinder heute genauer zu beurteilen oder zu erforschen. Für die von den Eltern eingeweihten Bekannten gibt aber das „Kindheitsprojekt“ in der Weise Aufschluss, dass es zwiespältige Gefühle hervorruft. Und wer soll über die bei Erwachsenen aufkommenden (Selbst-)Zweifel befinden, die ja zunächst kein medizinisches Problem darstellen? Und wer soll, nachdem medizinische Experten ihre Schuldigkeit getan haben, entscheiden, ob das von Eltern praktizierte Verhalten noch als „angemessen“ oder bereits als „übertrieben“ und „pathologisch“ eingestuft werden kann? Solche Kinder wachsen mit hochgradig verschwimmenden Grenzen zwischen „normal“ und „anormal“ auf und schon dies unterscheidet sie erheblich von anderen Kindern. Gerade aber, wenn sich eine hohe Intransparenz über das Verhältnis der Chancen und Risiken oder gespürte Defizite sich bemerkbar macht, ist eine intensivierte Sinnsuche fast unausweichlich. Das ambivalente „Doppelgesicht“ ist zwar nicht auszulöschen, muss aber doch soweit eingegrenzt werden können, dass die Ambivalenz nicht übermächtig wird und jeden Lebenselan zerstört. „Wegsehen“ und „Nichtstun“ stärken auf Dauer nicht die Handlungsfähigkeit. Die Nebenfolgen der neuen reproduktionstechnologischen Optionen lassen eben gerade nicht alles beim Alten und fügen nur eine weitere Option den bisherigen hinzu, zu deren Anwendung niemand gezwungen wäre (Beck-Gernsheim 1988: 203). Sie lassen zum einen eine weitere Fragmentierung des normativen Verweisungszusammenhanges Elternschaft zu, determinieren dabei keineswegs direkt individuelle Erwartungen und Verhaltensmuster. Sie stoßen jedoch eine fast unübersichtliche Zahl von kulturellen Verständigungsversuchen, Abstimmungen und Interaktionen über die Frage an, warum und zu welchem Preis Kinder für die heutige und zukünftige Gesellschaft und den einzelnen (jungen) Erwachsenen sinnvoll und wichtig werden könnten (Vetter 1999). Technologien korrelieren mit entsprechenden Zwecken, Wünschen, Wissen, Motivationen und gesellschaftlichen Mobilisierungspotentialen. Sie können zusammentreffen und zusammenpassen oder divergieren. Daher ist jede individuelle Entscheidung nicht nur tief in die eigene, sondern auch in die Lebensgeschichte anderer verstrickt und vom institutionellen und politischen Rahmen und den jeweiligen Marktverhältnissen abhängig. Schulze weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich der „Wille zum Kind“ einer Interpretation der Qualität der Partnerschaft wie des Optionsraums des Kindes im Kontext der bestimmten Gesellschaft als „Insulation“ verstehen lässt, in der sich allmählich eine Insel bildet, indem man gemeinsam Kultur aufbaut, „in der man gemeinsam – auch mit seinem Kind gemeinsam – wohnt“ (Schulze 1999: 178). Die Frage, ob Kinder eine Option sind, ist keine zweckrational-utilitarische Frage, sondern sozusagen ein Imperativ abzuklären, ob zweckrationales Verhalten hier angebracht und daher sinnvoll ist. 3.4.7 Umrisse einer flüchtigen Patchworkidentität Bis vor wenigen Jahren gab es unter Soziologen, Psychologen und Pädagogen einen stillschweigenden Konsens: Kinder haben noch keine Identität. Die Identitätssuche beginnt erst nach der Pubertät und muss im Wesentlichen mit Ende der Jugendzeit beendet sein. Mit der
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Abschwächung des eindeutigen Unterschiedes der Lebensphasen und Entdeckung lebenslanger Sozialisation und Biographieentwicklung wurde diese Überzeugung zunehmend fraglich. Noch vor fünfzig Jahren konnte man freilich noch davon ausgehen, dass die Identitätssuche deswegen für Kinder kein Thema ist, weil sie eine relativ scharf geschnittene Kinderrolle mit klaren Autoritätsverhältnissen und den Privilegien des pädagogischen Moratoriums der Kindheitsphase überall vorfanden. Spezifische Lernkarrieren und Spielmöglichkeiten regulierten zuverlässig den Übergang vom Status des Kindes zum Jugendlichen und kaum weniger zuverlässig den von dem des Jugendlichen zum Erwachsenen. Eine genauere historische Betrachtung zeigt allerdings, dass dieses stark normativ bestimmte Konzept nie, schon gar nicht in Krisen- oder Kriegszeiten, ganz konsequent praktiziert wurde. So hatten etwa Kinder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Aufgaben und einen entsprechenden Lebensstil übernommen, der das traditionelle Bild ziemlich durcheinander brachte. Sie waren einerseits viel selbstständiger und andererseits oft stark auf die Mutter zentriert, woraus sich eine Fülle psychosozialer Familienkonflikte herleiten ließ. Dies zeigt schlaglichtartig, dass stets eine gewisse Spannung zwischen den Idealen und Normen und der Normpraxis und Norminterpretation bestand. Dennoch kam damals niemand auf die Idee, deswegen die Norm in Frage zu stellen, was heute offen und verdeckt und lebenspraktisch durchaus geschieht. Kinder hatten eben ihren Eltern zu gehorchen. Auch das Verhandeln, das damals schon praktiziert wurde, sahen viele Erwachsene wohl als versteckte Aufsässigkeit an (Münchmeier 1997: 113ff.; Reuband 1997: 124ff.). In „Kindheit und Gesellschaft“ postulierte Erikson (1966: 188, 138), der Hauptgewährsmann der Jugendpsychologen, bis vor wenigen Jahren – die Ausbildung einer IchIdentität geschehe in der nachpuberären Ablösung vom Elternhaus in einem einzigartigen psychosozialen Moratorium und sei die Hauptaufgabe der Jugendzeit. Der Sinn für innere und äußere, soziale Kontinuität seien nun deutlich mehr als die Summe der bisherigen Identifikationen im Kindesalter, nämlich ein selbstreflexiver Prozess, dessen Funktion es sei, dass ein Jugendlicher sich als Person erkenne, die in ihrer Persönlichkeitsentwicklung Sinn in den Augen derer erfahre, die für ihn Sinn zu haben beginnen. In einem ausgeprägten psychosozialen Moratorium mit ganz eigenen Erfahrungen und Regeln führe der Prozess jugendlicher Identitätsbildung in krisenhaften, epigenetischen Schüben zur „Selbstgewissheit“. Für Erikson ähnlich wie für Mead als „Klassiker“ des Identitätskonzepts war Identität weniger ein Gefühl der Selbstsozialisation oder Selbsterziehung als der strukturellen Relation des jungen Menschen zu sich selbst und zu Anderen. Hatte der Jugendliche Identität gewonnen, so war er fähig sich selbst zugleich als Subjekt wie als Objekt zu betrachten. Noch deutlicher ist das „Selbst“ für Mead ein „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ und in Sozialisationsprozessen in der Form der „Rollenübernahme“ zwischen dem relativ kontextnahen „signifikanten Anderen“ und dem „verallgemeinerten Anderen“ Profil gewinnt. Das zunächst nur impulsive, später auch reflektierte „I“ setze sich mit den immer schon vorhandenen Zumutungen seiner kollektiven Zusammenhänge, dem „Me“ (Rollenidentität, Gruppenidentitäten), auseinander. Dabei müssten beide immer mehr miteinander abgestimmt werden. Sozialisation wird nun als soziales Lernen verstanden, das bei Mead nicht ganz eindeutig entweder als soziale Erweiterung oder als bloße Abstraktion aufscheint (Joas 1989; Waldenfels 1980: 223ff.). Das Ergebnis dieses Prozesses des Identitätserwerbs
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nennen später Habermas und Krappmann im Anschluss an Mead „Identitätsbalance“ (Habermas 1973; Krappmann 1979). Was einer in diesem Sinn ist, wird aus dem klar, was er in seinen Interaktionen und der dahinter durchscheinenden moralischen Ordnung der Gesellschaft gegenüber zur Darstellung zu bringen vermag. Es ist also keine vorgesellschaftliche, angeborene und metaphysische „Personenwürde“. Dabei wird schon bei Mead und stärker noch bei Autoren, die Mead mit Piaget zu synthetisieren versuchen, eine Entwicklungslogik sichtbar, die von einer starken Kovarianz von Ontogenese und Phylogenese ausgeht. Bei Mead wurzelt diese Vorstellung (ähnlich wie beim frühen Habermas) sogar in einem radikaldemokratischen Enthusiasmus unaufhaltsamer Demokratieentwicklung, was bei ihm umso verständlicher ist, als er die Koexistenz von Moderne und Barbarei im 20. Jahrhundert schon aus biographischen Gründen nicht vorausahnen konnte (Miller 1996: 12ff.; Joas 1996: 344ff.). Habermas charakterisiert diesen Prozess in Anlehnung an Mead, Kant, Piaget und Kohlberg als Entwicklungsprozess von der naturalen zu konventionellen und postkonventionellen Identität (Habermas 1977). Dies müsse das kontrafaktische Ziel jeglicher Erziehung zur Mündigkeit sein. Habermas war damit natürlich klar, dass eine „reife“ Identität ein voraussetzungsvolles und durchaus auch noch für Erwachsene prekäres Sozialergebnis war, das angesichts „gebrochener Intersubjektivität“ keineswegs mit Sicherheit zu erzielen war. Er wie andere „strukturgenetische Interaktionisten“ unterschätzen aber vielleicht bis heute die auch ihnen bekannte empirische Tatsache, dass „postkonventionelle Identität“ nur von den wenigsten Menschen in Industriegesellschaften erreicht wurde und wird und selbst von denen heute nur noch in riskanten, mehrfach nachgebesserten Biographien durchgehalten werden kann (Fischer 2000: 234ff.). Die variable Dialektik und wechselseitige Infektion zwischen normativem Identitätsmodell (Ideal) und der massenhaften „Normativität des Faktischen“ in realen gesellschaftlichen Abläufen wird von Habermas theoretisch nicht bewältigt. Der wohl beste Meadkenner in Europa, Joas, hat auch eingeräumt, dass im Meadschen Identitätskonzept von „poststrukturalistischer“ Seite mit Recht kritisiert werde, Mead wie andere Identitätstheoretiker habe das Ausmaß an (Selbst-) Repressivität und Kreativitätsverzicht unterschätzt, das gerade stabile Identitäten auszeichneten. Auch inhaltlich offene, aber strukturell geschlossene Identitäten können zum „Panzer“ werden. Gelegentliche „Identitätsdiffusion“ bleibt wohl heute wenigen Erwachsenen und wohl noch weniger heutigen Kindern erspart. Doch auch das hat mindestens zwei Seiten und bleibt in gewisser Weise ambivalent: Chancen und zugleich Risiken, dicht nebeneinander liegend und sich immer auch überlagernd. „Identitätsanker“ und „Disidentifizierungsstücke“ verändern sich laufend und verschieben sich in ihrem Verhältnis (Goffman 1967: 67ff.). Schon Kinder erleben das Dilemma, dass einerseits Interaktion nur interessant erscheint, wenn sich Ego von Alter unterscheidet, aber auch Schnittmengen möglicher Gemeinsamkeit aufleuchten, dass andererseits gerade diese reflexive Beziehung nicht wenigstens strukturell stabil erscheint und immer erneut adjustiert werden muss. Solange die stabile familiale Gruppenidentität das gesamte Leben der Kinder überwölbte und dies auch noch institutionell gestützt war, konnte man in der Tat davon ausgehen, dass Kindern eine mühsame Identitätssuche meist erspart bleibe. Von solcher Harmonie kann bei den meisten Kindern heute auch dann nicht mehr die Rede sein, wenn sie in voll funktionsfähigen Familienwelten leben. Einerseits kann strukturell nicht mehr die „Normalfamilie“ der 50er Jahre des verflossenen Jahrhunderts andererseits die Stabilität und Konsistenz gesellschaftlicher
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Funktionsdefinitionen vorausgesetzt werden. Auch die „Normalschule“ ist einem breiteren Spektrum von Organisationsmöglichkeiten und Schulexperimenten der einzelnen Bundesländer Deutschlands gewichen. Und im europäischen Ausland wird das Verhältnis von zentraler Steuerung und lokaler Schulautonomie noch viel breiter gestaltet. Die normative Referenz und Relevanz beider Institutionen wurde dadurch geschwächt. Eine Relativierung hat unzweifelhaft auch das expansive Angebot des Medien- und Konsummarktes verursacht. Das manchmal noch residual mitgeschleppte normative Programm und Ablaufmuster der traditionellen Kinderrolle unterstellt fundierende Vorentscheidungen und Sicherheiten eines kindlichen Normalfalls eingespielter sozialisatorischer Interaktion in der Familie und Schule und im Rückzug aus der Gesellschaft auf eine „pädagogische Provinz“ die heute nur in den seltensten, vielleicht sogar nur noch in „pathologischen“ Fällen gegeben ist (Beck 1997: 195ff.). Umso größere Bedeutung kommt damit biographischen und alltagsgeschichtlichen „Zwischenbilanzen“ zu, die Kinder immer wieder zustande bringen. Diese werden oft als „Patchworkidentitäten“ und „Bastelbiographie“ bezeichnet. Beide Begriffe suggerieren rein individuelle, fragmentarische, additive und im Grunde arbitäre und okkasionelle Konstruktionsleistungen medien- und konsumsouveräner kindlicher Akteure; eine Art „Selbstsozialisation“. Das ist mit Sicherheit ein zu simples und unterkomplexes Verständnis, das sogar manche der Urheber dieser Begriffe so nicht teilen. In den vielfältig notwendigen Abstimmungsprozessen haben in der Regel die zentralen Steuerungsapparate des Marktes und der Institutionen, die durchweg von Erwachsenen dominiert werden, einen deutlichen Machtvorsprung. Freilich muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass Kinder heute nur bis zu einem gewissen Punkt auf Vorschriften und Angebote eingehen (Zeiher 1994: 353ff.). Selbst „Kindheitspolitik“ verfolgt ein „Kindheitsprojekt“, das bereits Kindheit voraussetzt. Nichts geht mehr ohne die Kinder selbst. Nur noch „Zwischensynthesen“ auf Zeit sind möglich, wenn sich die Eltern trennen und nur noch auf Zeit wieder binden oder sich vorbehalten, allein zu leben und zu erziehen. Auch schulischer Status wird brüchig, wenn sich die Notwendigkeit oder Möglichkeit außerschulischer Bildung (Scholarisierung) zeigt und der Wert schulischer Bildung kaum noch eine Garantie eines attraktiven Berufsstatus und eines sicheren Lebens bietet. Biographie wird dann, wenn es gut geht, zu einer Sequenz von „Übergangsidentitäten“ und „Zwischenwelten“ (Waldenfels 1997: 66ff.; Merleau 1994: 310ff.; Hettlage 1984, 1991, 1995). Das Wissen darum und um die wachsende Optionalität von sozialer Herkunft, und zugleich die wachsende Unsicherheit über zukünftige Optionalität und Identifikationsmöglichkeiten im Zeitalter erzwungener und zunächst unbegrenzter Flexibilisierung, die vor allem auch vom sich globalisierenden Arbeitsmarkt und den internationalen Finanzmärkten angetrieben wird, bildet die wirkliche Grundlage heutiger Identitätssuche und Handlungsfähigkeit und nicht etwa ein auf die Jugend eingeschränktes, relativ kontextenthobenes psychosoziales oder kulturelles Moratorium. Damit verschärft sich auch das herkömmliche Dilemma von Eltern, was wiederum auf die Identitätssuche der Kinder zurückwirken dürfte. Eltern wollen ihren Kindern „Urvertrauen“ (Erikson) und „Weltoptimismus“ (Claessens) vermitteln, die sie selbst oft nicht besitzen. Sie müssen ihren Kindern aber auch einen festen Blick auf den realen „Ernst der Lage“ verschaffen, was Hoffnungen und Vertrauen zerstören kann. Eine rückhaltlose Ehrlichkeit kann sogar jeden Lebensmut zerstören. Auch das wissen und ahnen Eltern in der Regel. Wie sich also verhalten? Von klugen Hellsehern und Ratgebern erhalten sie die
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divergierendsten Ratschläge. Und doch wird immer deutlicher: Vieles kann immer auch anders kommen (Beck 1986, 1993). Je strenger – aus Überzeugung oder Verzweiflung – die Grenzen kindlicher Handlungsspielräume gezogen werden, umso stärker müssen sich Kinder heute eingeschränkt fühlen. Je weiter indes die Freiräume gestaffelt sind, umso schwerer wird es für Kinder, aus der Options- und Wissensfülle ein klares Welt-, Gesellschaftsund Menschenbild zu gewinnen. Wie soll hier – außer im besten Fall durch „Zwischensynthesen“ – eine „Identitätsbalance“ gefunden werden? Gilt es hier nicht auch immer öfters auch Durststrecken der „Imbalance“ durchzustehen und auf bessere Zeiten zu warten? Und vielen deutschen Eltern scheint es nicht unwahrscheinlich, dass ihre Kinder geringere Lebenschancen als sie selbst haben werden und ihre Lebensgeschichte in Zukunft mehrfach neu beginnen müssen. Vielleicht wird versucht, kleinen Kindern diesen Ausblick so lange wie möglich zu ersparen. Im sozialen Vergleich und durch die Informationen der Medien bekommen sie aber doch schon in vielen Fällen eine Vorahnung der prekären Gesellschaftsentwicklung und der Schwierigkeiten heutiger Identitätssuche, die für immer mehr Menschen eine dauernde Suche bleibt. Selbst wenn Kinder, wie viele Erwachsene auch, dies nicht voll durchschauen, empfinden offenbar schon sie, dass sie einerseits die „Persönlichkeit Kind“ sein sollen, man ihnen aber latent oder halbverdeckt zu verstehen gibt, dass dies nur als explorativer Imperativ gemeint sein kann: Handle so „als ob“ du eine Persönlichkeit sein könntest. Oevermann und andere strukturgenetische Autoren machen aus dieser Not sozusagen eine Tugend. Sozialisatorische Interaktion müsse immer so tun, als ob das Kind ein viel kompetenterer Interaktionspartner ist als dies objektiv jeweils der Fall sei (1976: 371ff.). Eine sozialisatorische Orientierung an der „proximalen Entwicklung“ (Wygotski) des Kindes meint ja aber gerade nicht ein Anknüpfen am „als ob“, sondern ein Herauslocken des jeweils schon gegebenen „Keims“ wirklicher kindlicher Lebenserfahrung (Stern 1992: 146ff.; MerleauPonty 1994: 398ff.). Kinder, die z.T. intransparente Erfahrungen, vielleicht schon im Säuglingsalter, machen und keine verbindliche Kinderrolle und Altersnorm vorfinden, handeln auffällig situationsabhängig und spontan. Sie setzen sich damit – ungewollt und fast unvermeidlich – permanent der Gefahr aus, in irgendeinem Sinn „abweichend“ zu handeln; ob sie nun „behütet“, „autoritativ“ oder „permissiv“ erzogen werden. Sie geraten auch vermehrt in Situationen „paradoxer Kommunikation“ und „double-bind“-Konstellationen. Weil sie erkennen, dass andere Kinder ebenfalls in einer ähnlichen Situation sind, drängen vielleicht Kinder früher aus dem „sicheren Schoß der Familie“ in soziale Szenen und Interaktionsgeflechte Gleichaltriger (Oswald 1993). Man kann daher sagen, dass Kinder heute durchaus ein „neues Stück eigenen Lebens“ dazu gewonnen haben. Dies spiegelt sich auch in ihrer „Kinderkultur“ wieder und in der gesellschaftlichen Bereitschaft, ihnen mehr „Kinderrechte“ zu geben oder mit ihnen oder für sie eine „Kinderpolitik“ auf den Weg zu bringen. Irgendwie stimmt es, dass diese Kinder „narzisstisch“ wirken. Doch ist diese Sicht auch vereinfachend und verkürzt. Kinder demonstrieren manchmal auf den ersten Blick aufreizende Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Entwicklung oder erstaunliche Konformität. Doch bei genauer Beobachtung zeigt sich nicht selten, dass dies ein tentatives Verhalten ist, das jeweilige Handlungsspielräume zu erkunden oder auszuprobieren versucht. Es stehen ja fast immer mehrere Optionen bereit. Es zeigt sich auch eine Neigung, den jeweils bequemsten Weg zu wählen, wenn man den „richtigen“ ohnehin scheinbar nicht finden kann. Auch gehäufte Frustra-
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tionen, neue Rigiditäten und „fundamentalistische“ Identitätszwänge treten gehäuft auf (Keupp 1994: 336). Als Ausweg bleibt oft scheinbar nur eine „Normalisierung als ob“ (Hoffmann-Riem) und, im besseren Fall, die sorgfältige Verzahnung von „Übergangsidentitäten“ und ihre Stabilisierung. Bei eher „selbstständigen Kindern“ fällt ihre Unbekümmertheit auf, mit der sie sich als „frühreif“ geben. Die „Nachzügler“ versuchen mitzuhalten, obwohl das oft vergeblich erscheint und in jedem Fall Interaktionsstress auslöst. Es zeigen sich heute wesentlich mehr „gemischte Fälle“ und Entwicklungsstufen als noch vor einigen Jahrzehnten. Der Beobachter sieht auch in ein und derselben Kindheitsbiographie häufiger Vor- und Rückgriffe (Hettlage 1992: 242; Merleau-Ponty 1994). Eine radikalisierte „Patchworkidentität“, die sich als technische Montage völlig disparater Elemente verstehen lässt, mag auch heute noch selten, besonders selten bei Kindern vorkommen. Aber der idealtypische Begriff kann, wenn er nicht undifferenziert überstrapaziert wird, durchaus auf reale Probleme auch von Kindern aufmerksam machen (Keupp 1994: 16, 243). Auch theoretisch-methologisch zeigt sich hier, dass soziale Konstruktionen von individueller „Identität“, die als sozial und gesellschaftlich akzeptabel zu überzeugen vermögen, unbedingt zur Kenntnis nehmen müssen, die stärkere Orientierung von Kindern an einzelnen, nicht nur kritischen Situationen, unübersehbar ist. Kinder erkennen, dass das Ausscheren aus der Entwicklung „langer Wellen“, u.U. überraschend möglich ist, aber auch dann, wie etwa 1989 in Ostdeutschland, komplexe und kaum koordinierbare kurz-, mittel- und langfristige Folgen und Nebenfolgen auftreten. Das jeweils gelebte Leben hat oft eine erhebliche Beharrungskraft und regt zu Habitualisierungen an, kann aber immer auch durch kleine oder größere Bedeutungsverschiebungen auch ganz anders als erwartbar verlaufen. Das hat zur Folge, dass in kürzester Zeit faktisch größte Veränderungen um sich greifen können oder aber, paradoxerweise ausbleiben können (Alheit 1994; 10, 12, 14). In der Praxis zeigen sich Kindern Chancen oft erst, wenn sie passé sind oder die unmittelbar drohenden Risiken zurückgedrängt werden konnten. Sie müssen mit der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ und der Koexistenz von Habitualisierungen und Kontingenz, Sozialisation und Desozialisation rechnen. Schlechte Zeiten für die viel zitierte stramme „Selbstsozialisation“!
3.5 Die Verführung durch legitimierende Trendformeln 3.5.1 Stichworte als Schlagworte Es bleibt natürlich auch in der Wissenschaft nicht aus, dass komplexe und eigentlich heterogene Phänomene für einen Moment fixiert, vereinfacht und notwendigerweise idealisierend modelliert werden. Die große Gefahr aber besteht darin, dass Überverallgemeinerungen und Reifikationen sozialer Prozesse um sich greifen, die damit aus Prozessen in Zustände verwandelt werden, deren Geltungsbedingungen schleierhaft bleiben. Dazu kommen heute Popularisierungen in der Rezeption von Begriffen und Befunden, die mit einer medial bedienten Ökonomie der öffentlichen Aufmerksamkeit (Diskursmultiplikation, Interdiskursivität) ebenso wie mit der Hektik wissenschaftlicher Wissensproduktionen zusammengehen. Heuristische Stichworte und sensitive Konzepte werden dann zu definitiven Schlagworten vergröbert.
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An solchen Schlagworten mangelt es nicht in der Kindheitsforschung. Es wird von einer „veränderten Kindheit“ gesprochen, ohne dass diese Veränderung analytisch zerlegt würde und als ob sich soziale Prozesse nicht ständig veränderten. Kaum besser steht es mit Topoi wie „verhäuslichte“, „verinselte“, „verplante“, „mediatisierte“ Kindheit, um nur die populärsten zu nennen. Wenn die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen genannt und festgehalten werden, unter denen sie jeweils gelten, können sie als idealtypische „Kürzel“ in begrenzter Weise Nutzen bringen. Sie dürfen aber weder übermäßig verallgemeinert, noch isoliert betrachtet oder als Quasikonstanz reifiziert, substantialisiert oder essentialisiert werden. Doch gerade dies ist auf Schritt und Tritt festzustellen. Soziologisch ist nur eine Beschreibung akzeptabel, die den Grad der jeweiligen Wandlungstrends nach der Verbreitung und zeitbedingten typischen Streuung differenziert und nicht mehr nur allgemeine Trends der Modernisierung substanzialisiert (Fuhs 2002: 639). Trendaussagen gleichen in mancher Hinsicht den Konzepten der irreversiblen, unilinearen, homogenen und im Grund teleologischen „Entwicklungslogiken“ mit ihren Kontinuitätsimplikationen in Psychologie und Soziologie, die nachträglich immer wieder flexibilisiert und begrifflich repariert werden, aber gerade deswegen halbverdeckten Implikationen und vagabundierenden Konnotationen Tür und Tor öffnen. Es handelt sich um Begriffe, die sich auf vordergründige Assoziationen aber auch statistische Zeitreihen beziehen. Doch aus logischen Folgerungen aus Assoziationen und Zeitreihen der Statistik lässt sich weder die Konstanz des untersuchten Phänomens, des rein denotativen Gehalts der Begriffe und der „positivistisch“ zugrunde gelegten Gesellschaftssemantik deduzieren noch eine verlässliche Aussage auf den konkreten Einzelfall treffen. Ceteris-paribus-Klauseln blenden die realen gesellschaftlichen Transformationen und den sozialen Wandel aus. Eine Parallelität und Kontingenz verschiedener Trends ist nie auszuschließen und lässt keine kausale oder unvermittelte, korrespondenzartige Verknüpfung zu. Es führt kein Weg an einer methodologischen Einsicht heute mehr vorbei: für ein und dasselbe soziale Phänomen gibt es mehrere Deutungen aus verschiedenen Perspektiven, die man daher nur durch Perspektivenvergleich, maximale und minimale Kontrastierung und systematische „Gegenproben“ eingrenzen kann. Eine Trendaussage, die heute nicht auf latente oder manifeste Brüche hin abgefragt wird, wandelt sich unter der Hand zur überverallgemeinernden Pauschalierung, ja zum antiaufklärerischen Schlagwort (Giddens 1983: 25f., 20; Thole 2002: 678). So ist „Straßenkindheit“ auch vor 100 Jahren nicht generell, in jedem Handlungsbereich und zeitlich invariant, bei allen Klassen und in allen Regionen generell vorgekommen, kann daher auch nicht pauschal abgenommen haben und zur ebenso pauschalierten „verhäuslichten Kindheit“ dauerhaft geworden sein. Es gibt seit langem widersprüchliche Konstellationen der „Verhäuslichung“ in der elterlichen Wohnung und den verschiedenen Kindheitsinstitutionen. Und schon bei Kindern ist mangelndes Institutionsvertrauen verbreitet. Auch das von H. Zeiher relativ vorsichtig vorgetragene und mehrfach differenzierte Deutungsmuster einer „verinselten Kindheit“ wird meist übergeneralisiert, entkonditionalisiert und reifiziert. Es erscheint auf Anhieb verführerisch plausibel mit dem Blick auf den funktionalistischen Städtebau und das gesteigerte Verkehrsaufkommen. Dabei werden aber einerseits anthropologische Insulationspraktiken wie historische Verinselung der Erwachsenen übersehen, andererseits wichtige Verfremdungen und Verformungen von Insulationsdruck durch die lebensweltliche Energie der Kinder selbst überhaupt nicht beachtet. Der problematische Städtebau wie der verheerende innerstädtische Straßenverkehr hindert erstaunlicherweise Kinder oft nicht daran, aus diesen technischen,
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gelegenheitsstrukturellen Impulsen für sie hochspannende Aktivitäten zu entwickeln, die freilich die meisten Eltern, wenn sie darum rechtzeitig wüssten, das Gruseln lehren könnten. Was für viele fürsorgliche Eltern und Lehrer „Gefahr“ bedeutet, ist für Kinder manchmal „Abenteuer“, während sie ein gönnerhaft von Erwachsenen eingerichteter „Abenteuerspielplatz“ zu Tode langweilt. Überdies hat die rasende Verbreitung des Mobiltelefons (Handy) die angebliche „Verinselung“ und das angeblich allgemeine Diktat des Terminkalenders schon wieder gestoppt. Empirisch ist festzuhalten, dass sich die meisten Kinder – sozialstrukturell, regional und temporal differenziert – auch heute noch zu einem erheblichen Maße auf Straßen, Plätzen, Grünflächen etc. aufhalten (Nissen 1993; Blinkert 1996). Aus der bloßen technischen, geographischen oder sozialen Bedingungslage darf eben nicht auf die praktisch-tatsächliche Inanspruchnahme und den faktischen Gebrauch geschlossen werden, will man nicht einem „naturalistisch-ökologischen Fehlschluss“ erliegen. Ähnliches wäre über die sonstigen Trendbotschaften zu sagen (Peuckert 1999: 131ff.). Übergeneralisierte Trendbeschreibungen führen oft zu problematischen pädagogischen und praktischen Folgerungen, weil sie nahe legen, normative und zeitstabile Konsequenzen daraus abzuleiten. Problematisch ist auch die weitgehende Gleichsetzung normativen und norminterpretierenden und praktischen Verhaltens. In großstädtischen Wohngebieten lassen sich in der Tat selten die traditionellen nachbarschaftlichen Gruppen stabil herstellen. Die Kinder vermissen sie offenbar nicht allzu sehr und haben sich im „Vorhof“ sozialer Kindheitsinstitutionen, auf dem Weg zum Kindergarten und zur Schule und medial „äquifunktionale“ Brückenstrukturen geschaffen. Daher ist das Verinselungskonzept auch theoretisch hochproblematisch und verhältnismäßig oberflächlich. Bei der Datenerhebung empirischer Untersuchungen ist nicht nur die theoretische Rückbindung zu beachten, sondern auch die Tatsache, dass stets auf unterschiedliche, aber stets schon vorinterpretierte kurz-, mittel- und langfristige Daten zurückgegriffen werden kann. Doch nicht einmal Längsschnittuntersuchungen bieten per se eine unanfechtbare Grundlage für Trendextrapolationen aufgrund einer Addition punktueller, isolierter Befunde, deren Semantik (Pragmatik) einfach als konstant unterstellt wird. Berechtigt sind Zweifel an Datenquellen und/oder Forschungsinstrumenten immer dann, wenn sie zur Legitimation von Übergeneralisierungen dienen, die Bedingungskonstellation verschleiern, unter denen sie zustande gekommen sind, die reflexiven Reaktionen auf jede heute publizierte Studie vollständig ausblenden und sich überdies sofort wissenschaftlichen Zitierkartellen ausliefern. Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Subjektivierung und Subjektorientierung oder Individualisierung, die nicht mit einem Subjektivismus gleichgesetzt werden dürfen, ist es in der Kindheitsforschung üblich geworden, Selbstauskünfte der Kinder heranzuziehen. Da aber Kinder – wie viele Erwachsene – Wissen aus zweiter Hand beziehen und ein feines Gespür für soziale Erwünschtheit im ständigen sozialen Vergleich entwickelt haben, ist es zumindest notwendig, verschiedene Daten und Datenquellen zu kontrastieren, um tautologische Befunde oder Echoeffekte zu vermeiden (Meinefeld 1995: 287ff.). Die gegenwärtigen Strukturablagerungen sind nicht zuletzt immer auch das Resultat der gegenwärtigen informellen und formellen Sozialkontrolle und der von ihr veranlassten Zerstörung von Alternativen und Schließungsprozessen gegenüber äquifunktionaläquivalenten Entwicklungspfaden, die nun verbaut scheinen, aber nicht einfach verschwinden (Schütz 1979). Die Rede vom „Sachzwang“ hat oft einen machtpolitischen und keineswegs nur einen sachlichen Hintergrund.
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Auch Kindheitssoziologen und andere Sozialwissenschaftler haben in den letzten Jahren zu einer ganz bestimmten öffentlichen Rhetorik und Thematisierung (Diskurs) und Dethematisierung, Problematisierung oder Normalisierung, Aktualisierung und Deaktualisierung des sozialen Phänomens Kindheit beigetragen und nicht nur als neutrale Diagnostiker gewirkt (Bourdieu 1993: 36ff.; Ritsert 2002: 127f.). Trendaussagen können als Idealtypen verstanden werden, die immer eine Differentialdiagnose erfordern. Sie können nie erklären, warum Akteure mit ungefähr ähnlichen Bedingungskonstellationen sich so, aber auch anders verhalten können. Dem gegenüber ist davon auszugehen, dass Bedingungen immer nur interpretiert wahrgenommen werden können und meist schon praktischpragmatisch in unterschiedlicher Form bereits für das Handeln zurecht gelegt, d.h. gedeutet und im Alltag gewusst worden sind. Differenzierte Bedingungen besitzen sozusagen eine implizite „Appellstruktur“ und einen Aufforderungscharakter, sie besitzen oft einen Sog oder wirken unattraktiv, gar abstoßend. Sie sind dies aber nicht durch mechanische Attraktion oder von Natur. Um überhaupt handlungsfähig sein zu können, um handlungsbereit und sozial mobilisiert werden zu können, müssen Akteure mindestens ihre jeweilige Umwelt grob kennen, und ihre eigene soziale Position innerhalb dieser oft recht komplexen Wahrnehmungs- Handlungs- und Lebenszusammenhänge über alltagsweltlich routinierte Verstehensakte, über die notwendig subjektiv-intersubjektiven und situativen Zuschreibungen erschließen. Damit langfristige oder jedenfalls transsituative Entwicklungen sich überhaupt durchzusetzen vermögen, müssen sich die Akteure immer nach vielerlei Richtungen hin abstimmen. Dabei sind heute Diskontinuitäten, Brüche und Widersprüche, Verlangsamung und Beschleunigung, Fragmentierung und Fusion kaum zu vermeiden. Häufig mischen sich auch strategische Gruppen ein, die gar keine Entwicklung sondern Besitzstandswahrung und optimale Ausbeutung verfolgen. Dann wird Stagnation oder „rasender Stillstand“ (Virilio) einfach als „Entwicklung“ umetikettiert, ein hektischer Aktivismus und Leerlauf als „Qualitätssicherung“ verkauft. Nicht jede Trendmeldung induziert so gesellschaftliche Entwicklung in einem objektiven Sinn. Aber jede dieser Deutungen hat Folgen. Sehr verbreitet ist ja das Phänomen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. 3.5.2 Zwischen Individualisierung und Institutionalisierung Es wird kaum noch bestritten: In den letzten Jahren haben sich die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern und vielleicht auch zwischen Kindern und Kindern spürbar geändert. Wahrscheinlich sind beide anders geworden: Kinder und Erwachsene. Kinder haben frühreife Züge. Manche attestieren Erwachsenen regressive, infantile Züge (Lenzen 1985: 340ff.). Sie glauben bei Kindern und Erwachsenen eine „Dauerpubertät“ erkennen zu können. Die kindliche Lebensweise erscheint den meisten Kindheitsforschern durchweg weniger „kindlich“, egalitärer und stark individualisiert. Ist dies nun wieder eine allzu pauschale Trendbilanz? Ja, wenn nicht differenziert und die Dialektik von Freisetzungs- und Reintegrationsbewegung des Modernisierungsprozesses als „Relativierungshexenkessel“ (Berger) beachtet wird. Die Moderne habe die Menschen aus tradititionellen Herrschaftsformen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten freigesetzt, sie aber auch aus stützenden kulturellen Orientierungen, Sozialbindungen und Versorgungszusammenhängen herausgelöst, zwinge zur Optionenselektion und zur Reorgani-
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sation sozialer Beziehungen, schreibt U. Beck (1986: 116f., 206, 211). Individualisierung ist nicht nur ein Begriffsartefakt der Soziologie, das auf M. Weber zurückgeht, sondern ein semantischer Code der Gesellschaft selbst, mit dem sie individuelle Zurechnung aller sozialen Prozesse vornimmt, Biographisierung fordert, die paradoxerweise noch die eigene Reintegration, Einbindung der eigenen Biographie in soziale Netze erzwingt „und dies im Wechsel der Präferenzen und Lebensphasen und unter dauernder Abstimmung mit anderen und den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat“ (Beck 1994: 14). Sie ist also nichts Anderes als eine soziokulturell forcierte Dynamisierung sozialer Beziehungen. Die Sozialisation gestaltet sich also nicht mehr als Abfolge eines institutionalisierten Schemas der festen Abfolge eines Familienzyklus und kanonisierter Bildungskarrieren und Statuspassagen, sondern mehr oder minder als „bricolage“ und „Bastelbiographie“, die allerdings um soziale Anerkennung nachzusuchen hat. Die schon lange, seit der frühen Neuzeit wirksame Individualisierung moderner europäischer Gesellschaften scheint sich Mitte des vorigen Jahrhunderts spürbar intensiviert zu haben. Sie wird von den Menschen seit den 60er Jahren stärker in relativ rasch hintereinander folgenden „Modernisierungsschüben“ eher verwirrt und erstaunt erlebt und erlitten. Zuerst setzt sie stärker auf dem Arbeitsmarkt ein, ist also nach Beck zuerst Arbeitsindividualisierung. Später bringt sie jedoch auch die privaten oder scheinbar privaten Lebensformen, Familie, Schule, Geschlechterverhältnis und auch Kindheit unter zunehmenden Modernisierungsdruck. Dann ist mit der Erosion kultureller Muster und beschleunigter sozialer Differenzierung zu rechnen. Soziale Ungleichheit verschwindet damit nicht, wird eher größer, aber weniger in stabilen Klassenblöcken sichtbar und wirksam, sondern macht sich in komplizierten, hybriden und stark temporalisierten sozialen Lagen breit. Sozialstrukturelle Entdifferenzierung und immer neue Polarisierungsschübe scheinen sich paradoxerweise nicht länger auszuschließen. Diese Deinstitutionalisierung weiter Teile des gesellschaftlichen Lebens wird allerdings unterlaufen durch eine neue Institutionalisierung auf globaler, lokaler und regionaler Ebene, nicht zuletzt vorangetrieben durch Standardisierungsbedürfnisse des sich globalisierenden und zunehmend weniger national arbeitenden Wirtschaftsund des Mediensystems. Davon werden immer neue Handlungsbereiche aber auch die Handlungsfähigkeit der Akteure in der Alltagsorganisation, der Erziehung und Bildung, der Freizeit und Urlaubsgestaltung, des Konsums, aber auch der religiösen Orientierung in Mitleidenschaft gezogen: es gibt immer mehr Optionen, aber sie sind durch und durch standardisiert und in wachsendem Umfang kommerzialisiert. Individualisierung ist also alles andere als subjektivistische Beliebigkeit, „Konsumentensouveränität“ und die folgenlose Möglichkeit, jederzeit „aussteigen“ zu können, wenn man die gewiss vielfältigen, aber immer marktförmigen Statuschancen nicht verspielen und sich nicht selbst – „völlig freiwillig“ – aus der Zeitgenossenschaft ausschließen will. Kinder leben heute in vielen Beziehungswelten, die ihnen alle signalisieren, alle Möglichkeiten zu haben, wenn man sich auf die immer vielfältigeren institutionellen Angebote als Mitglied oder Publikum einlässt, völlig selbst an Einsamkeit schuld ist, wenn man nicht zur Zeit und zu den standardisierten Bedingungen mitmacht oder das jeweils angebotene „Kreativitätstraining“ als Schwindel oder Hochstapelei ablehnt. Institutionalisierung kann man also als Gegenbewegung verstehen, die die Individualisierung immer überlagert und zu einem paradoxen sozialen Phänomen macht. Es bleibt indes künftigen empirischen Forschungen überlassen, festzustellen, ob und welche dieser langfristigen Strömungen überwiegt und wie und unter welchen Bedingungen einzelne Gruppen und Akteure jeweils in unterschiedlicher Weise und unter-
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schiedlich lange davon betroffen sind. Immer wieder aber zeichnen sich auch für Kinder „Individualisierungfallen“ ab, die tückisch mehr versprechen als sie halten und Kinder massenhaft scheitern lassen (Ecarius 1998; Wahl 1989; Hettlage 1992: 84f.). Individualisierung bedeutet nicht per se (gelungene) Individuation, Einsamkeit, Individualismus oder Egozentrik. Der Begriff verweist im Blick auf Kinder vor allem darauf hin, dass sie ihre Sozialkontakte allein oder eine zeitlang mit ihren individuellen Eltern knüpfen müssen, dabei aber immer zugleich auf institutionelle Angebote zurückgreifen sollen und müssen. Sie können sich nicht einfach darauf verlassen, dass sie ohne weiteres ihr Kinderleben leben können und irgendwie zwanglos erwachsen werden. Von ihnen wird Aktivität gefordert. „Staßenkindheit“ wie „passives Rumhängen“ oder ein Einverständnis in den Status des kindlichen „Singles“ gilt als hochriskant oder pathologieverdächtig (Herzberg 2001: 11ff.). Es lassen sich auch verstärkte Marketingstrategien beobachten, die die individualisierte Ratlosigkeit zum geschickten Appell an die kindliche „Selbstständigkeit“ der Kinder als „aktive Konsumenten“ nutzen. Dabei besteht durchaus die Gefahr, dass eine undifferenzierte Propaganda für „Frühförderung“, die stets „das Beste“ für Kinder im Auge hat, Kinder durch die Kindheit „hetzt“, ihnen immer weniger Zeit zu ihrem eigenen Rhythmus, ihren eignen „Zeitbögen“ und ihrem individuellem Entwicklungstempo und Wunsch zu selbstvergessener Gegenwart eingeräumt wird, obwohl die Optionen formal zunehmen (Elkind 1981). Es zeigen sich hier trotz der Auflösung mancher traditionellen moralischen Standards und fehlender Alternativen aber auch hinreichend Hinweise auf „richtige Erziehung“. Je individualisierter Kinder auftreten, umso „anstrengender“ erscheinen sie allerdings jungen Menschen, die überlegen, ob sie Kinder wollen und desto attraktiver erscheinen sie zugleich anderen jungen Menschen, die einen festen „Kinderwunsch“ haben. Bei allen teils sinnvollen teils ideologisch verzerrten familien- und bevölkerungspolitischen Debatten hat es keinen Sinn, diese Verkomplizierung des kindlichen Lebens wie das potentieller und realer Eltern und die Spaltung des Interesses an Kindern zu leugnen. Dies ist eben nicht nur eine Frage des „Egoismus“ oder „Altruismus“ und moralischer Dispositionen, sondern eine der gesellschaftlichen Verständigungen über disparate soziale Bedingungen (Hettlage 1992: 179). Schon im Blick auf das notwendige Solidaritätsreservoir der Generationen ist die Kontingenzsteigerung durch Individualisierung und soziale Mobilität und den damit zusammenhängenden, immer wieder notwendigen Umbau der sozialen Netze, ihre Einschränkung, Fragmentierung oder aber Multiplizierung ein neuartiges Problem. Die Hoffnung, alles in (mono-) funktionale Systeme ausdifferenzieren zu können, verspricht zwar auf Anhieb, mit weniger intergenerationaler Solidarität auskommen zu können, vergisst aber die extrafunktionalen Voraussetzungen, die wachsenden materiellen Kosten und die soziokulturellen Nebeneffekte wachsender Systemdifferenzierung. Für Kinder ist nur unter bestimmten Bedingungen die mangelnde lokale Gebundenheit der Eltern, der Verlust der Freunde und Bekannten durch Umzug, die Schmälerung bzw. der Ausfall von Seitenverwandtschaften durch Ehe- und Nachwuchsbeschränkungen zu kompensieren. Zwar tritt in den letzten Jahren überraschend die multilokale Mehrgenerationenfamilie (Bertram)auf, sie ist aber schon jetzt nur unter bestimmten Bedingungen auf Dauer praktizierbar. Die vom künftigen Arbeitsmarkt erzwungene höhere soziale Mobilität und Flexibilität unterminiert aber ganz offensichtlich die zeitlichen, lokalen und sozialen Voraussetzungen eines irgendwie gearteten stabilen Familienlebens, aber auch die Bildung stabilerer Gleichaltrigengruppen (Herzberg 2001). Selbstverständlich schließt dies nicht aus, dass bei glücklicheren
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Umständen und mit größtem Kraftaufwand auch diese schwierigen Lebensbedingungen u. U. mit Bravour gemeistert werden. Doch hat das dann ganz gewiss „die Leichtigkeit des Seins“ verloren. Und solche Kindheit ist mit Gewissheit nicht „kinderleicht“ (Mansel 1996). Nicht zu übersehen ist aber auch dann die gesteigerte Konfliktanfälligkeit intergenerationaler Beziehungen in Familie, Schule und Betrieb. Institutionen vergessen oder wollen oft vergessen machen, dass auch sie von intergenerationalen Kooperations-, Konflikt-, Interessens- und Deutungszusammenhängen getragen werden (Douglas 1991: 113ff.). Die von Beck konstatierte verstärkte Individualisierung der Reproduktionskosten einer Gesellschaft kann nicht einfach beliebig durch immer weitere funktionale Differenzierung, „Ambivalenztoleranzsteigerung“ (Junge 2000) Institutionalisierung und Professionalisierung aufgefangen werden. Die Theorie der funktionalen Differenzierung zeigt sich jüngst selbst überrascht über die von ihr niemals für möglich gehaltenen Exklusionseffekte, selbstliquidatorischen Tendenzen und Anzeichen neuer Barbarei (Luhmann 1996: 227ff.). Und die Tücke dieser Entwicklung zeigt sich auch darin, dass sie – auch methodisch – oszilliert. Etwas kann dann je nach Handlungsbereich doppelt erfahren werden: als Individualisierung wie als Institutionalisierung (Beck 1986: 251, 206); und das zudem noch im zeitlichen Wechsel. Die Optionssteigerung ist mit einem wachsenden Bedürfnis nach Überwachung und Sicherheit aller realen und medialen Räume verbunden: „Die liberale Freiheit kann daher nicht unbeschränkt gelten, sondern wird einem Sicherheitskalkül unterstellt“ (Bröckling 2000: 14). Dessen Begrenzung wird durch die immer weiteren Optionsspektren und die sich multiplizierenden „terroristischen“ Interventionsmöglichkeiten immer stärker gefährdet. Auch generalisierbare pädagogische „Entwicklungsaufgaben“ verblassen, Stützen des Lebenslaufs zerfallen, lebensphasisch gewohnte Verhaltensweisen werden fakultativ und erschweren eine synchrone Bearbeitung. Die länger schon zu beobachtende Vagheit der Jugendphase hat sich jetzt offenbar auch auf die Kindheit ausgedehnt. Die sozialen Trennungslinien von Altersdifferenzen verlaufen nicht zwischen den chronologischen Lebensaltern, sondern zwischen verschiedenen Altersdiskursen, Optionsspektren und situativen Zufälligkeiten. Gesellschaft kann man dann mit gleichem Recht als „Risikogesellschaft“ wie als „Erlebnisgesellschaft“ sehen, die kognitiv keine vernünftigen Rationalitätskriterien mehr zustande bringt, sondern von Stimmung zu Stimmung taumelt. Kinder können hier früher erwachsen werden; auf ganz unterschiedlichem Wege. Oder sie können sehr lange darauf insistieren, Kind zu sein, weil sie das Erwachsenendasein wenig reizt oder sogar ängstigt. Auch das Ende der Kindheit ist nicht mehr wie traditionell eine Art „Götterdämmerung“ (Berger 1963: 70f.). Gleichzeitig ist aber nicht zu verkennen, dass es neue (z. T. religiöse) kollektive Suchbewegungen der verschiedensten Art gibt. Diese Entwicklung ist aber nicht abschließend zu beurteilen. Es gibt selbstverständlich partielle Ausdifferenzierungen; aber auch Spaltungen und Hybridbildungen und antimoderne Effekte in der Sozialstruktur, die genau genommen sehr modern sind. Ihre Protagonisten besitzen keine Hemmungen, sich der modernsten Instrumente zu bedienen. Sie ziehen Kindheit natürlich in Mitleidenschaft. Nach den Frauen scheint Individualisierung nun die Kinder eingeholt zu haben (Beck 1997). Kindheit lässt sich heute durchaus im Sinne traditioneller Normen leben. Das bedeutet jedoch dauernden Rechtfertigungsdruck. Kindheit tritt aber auch in vielen traditionell-modernen Mischformen oder in einem ganz avantgardistisch-hochindividualisierten „Lebensstildesign“ auf; und in all diesen verschiedenen Formen kann sie verkürzt oder verlängert im Ganzen und in ein-
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zelnen Handlungsbereichen gelebt werden. Und manchmal schwanken und oszillieren die Referenzen und Bedingungen. Die These eines „Individualisierungsanspruchs des Kindes“ (Fölling-Albers 1993; Heinzel 2002: 558) indes verkennt, dass Individualisierung kein pädagogisch domestizierbares oder voluntaristisches Phänomen und auch keine Frage des Willens und der individuellen Entscheidung darstellt. Beck, der neuere Protagonist des Individualisierungstheorems, hat nicht nur dies immer wieder betont, sondern auch, dass hier gleichzeitig Enttraditionalisierung, Freisetzung und Reintegration auf manchmal verschlungenen Wegen zu beobachten ist. Dies hat die hemmungslose Rezeption dieses Theorems aber offensichtlich überlesen. Selbstverständlich sind immer noch Unterschiede zu Erwachsenen feststellbar. Doch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschieben sich fortwährend und zerfasern in jeweils historische Spektren „pluralisierter Lebenswelten“ und jeweils bestimmte Kindheiten „nach Maß von der Stange“ (Berger 1963: 64ff.; Abels 1993: 534ff.). Deshalb muss man auch der evolutionistischen Unterstellung Becks widerstehen, dass dies einfach einem Trend von der „Normalbiographie“ zur „Wahlbiographie“ und immer mehr nichtstandardisierten Kindheitsbiographien entspreche. Vielmehr zeigt sich eine Gleichzeitigkeit sozialer Differenzierungen (vor allem in den mittleren Sozialmilieus) und gesellschaftlicher Spaltung und Polarisierung im Sinne des alten Klassenverständnisses und stark temporalisierte Formationen sozialer Lagen (Vester 1993, 2001; Berger 2001: 223ff.; Berger 1970: 1f.). Kollektive Suchbewegungen verfallen immer wieder in so etwas wie eine „Normalbiographie“– allerdings auf Widerruf (Abels 1993: 541). 3.5.3 Vom Gehorsam zum Verhandeln Modernisierung, Rationalisierung und Individualisierung haben, so wird oft angenommen, das normative Verhältnis von Eltern und Kindern grundlegend geändert. Aus der Unterordnung wurde ein Gegenüber. Das ziehe, jedenfalls mit der Zeit, die Konsequenz im Familienalltag nach sich, dass grundsätzlich verhandelt werden müsse und nicht mehr einfach Gehorsam eingefordert werden könne (Münchmeier 1997: 113ff.; Reuband 1997: 129ff.). Neben den Beziehungsnormen habe sich also auch das soziale Klima und der Kommunikations- und Erziehungsstil seit einigen Jahrzehnten radikal gewandelt. Wenn selbst viele formellen Normen angesichts eines expansiven Normpluralismus unscharf werden und darüber hinaus weder gekannt noch verstanden werden, müssen auch soziale Institutionen immer häufiger taktisch und pragmatisch zu „Normalitätsunterstellungen“ greifen und sich viele Menschen sogar in direkter Interaktion zu „Konsensfiktionen“ oder gar im „Zeitalter der Leichtgläubigkeit“ zu Illusionen ihre Zuflucht nehmen (Eckert 2000; Berger 1994). Verhandeln transzendiert dann seinen nur utilitarischen Charakter, wird zum explorativen Projekt der Sinnsuche, der Sondierung von Handlungsspielräumen, Grenzen, Relevanzkriterien. Immer häufiger muss aber nachverhandelt werden, weil auch noch im ersten Verhandeln unklar bleibt, was verhandelt werden und wieweit verhandelt werden kann. Wenn auch diese Verhandlungen in der Alltagsroutine zwar leicht von der Hand gehen mögen, stellen sie sich in Fragen der Umgestaltung des Alltags und der Regelveränderung doch oft als eminent schwierig heraus. So droht auch in einer sich als aufgeklärt fühlenden Gesellschaft überraschende Leichtgläubigkeit oder „sekundäre Magisierung“ (Clausen). „Mythen des Alltags“ (Barthes) werden als bare Münze genommen.
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Schon Kinder machen die Erfahrung, dass Ordnung in demokratischen Gesellschaften immer auch mit Unordnung verbunden ist. Alltagsordnungen beruhen oft auf „Daumenregeln“, pragmatischem Rezeptwissen und flexibel gehandhabten Strategien. Kinder haben sich daher meist bald auf ein ganz normales Chaos des Alltags eingestellt, indem auch Verhandeln kein Patentrezept ist, sondern riskant bleibt. Sie zeigen sich nicht selten ganz zufrieden, wenn es nicht größer wird (Herzberg 2001: 345ff.). Der Zusammenhang von Risiko und Chancen übersteigt einerseits die jeweilige Einzelverhandlung. Andererseits ist aber auch das Ziel nicht einfach der Verhandlung vorgelagert, sondern konturiert sich oft erst im Verhandeln selbst. Und entgegen landläufigen Vorstellungen sind Verhandlungsregeln meist kein Selbstzweck, sondern werden stets angepasst weiterentwickelt oder zur nachträglichen Rationalisierung instrumentalisiert. Kinder trumpfen in Verhandlungen auf und nehmen sich wieder zurück. Sie beobachten ihre Verhandlungspartner und versuchen Unsicherheiten und Schwächen ihres Verhandlungspartners auszunutzen, sei nun dieser ein Erwachsener oder ein anderes Kind (LBS 2002: 185; Krappmann 1999; Abels 1993: 448, 548). In aller Regel setzen sich Kinder gegenüber Erwachsenen leicht durch; vielleicht sogar leichter als gegenüber Gleichaltrigen. Und die heutige Kindergeneration ist vielleicht die erste, die erlebt, dass die Eltern freiwillig und prinzipiell zum Verhandeln und zur diskursiven Verständigung bereit sind. Beck spricht sogar von einer „Verhandlungsfamilie auf Zeit“, die sich immer deutlicher abzeichne und verweist damit nochmals auf den partiellen Ersatz von Normen durch Verhandeln mit kurzfristiger Orientierung (Beck 1986: 164ff., 182, 189, 193). Es ist klar, dass dies auch Einfluss auf die inter- und intragenerationalen Beziehungen im Ganzen haben kann. Was Generationen in und über die Familie hinweg bedeuten, hat sich in der Geschichte immer wieder gewandelt. Aus verschiedenen Varianten einer patriarchalisch-hierarchischen Altersordnung, die den Herrschafts-, Ordnungs-, Überlebens- und Lehrcharakter geordneter Generationenbeziehungen betont hatte, scheint sich im Laufe von weniger als zweihundert Jahren ein mehr oder minder partnerschaftliches Verhältnis herausgebildet zu haben, dem heute Psychologen nachsagen, dass Eltern keine autoritäre, aber eine „autoritative Erziehung“ mehrheitlich praktizieren. Als Folge der Abschaffung der Leibeigenschaft, die überall in Europa um 1800 beseitigt wurde, verschwand, zwar nicht sofort, die rigide Autoritätsstruktur im Haushalt, wo der Hausherr nicht nur als Abbild des Landesvaters sondern Gott-Vaters gegolten hatte. Doch was heißt nun heute „Partnerschaft“ zwischen Eltern und Kindern? Es dürfte meist nicht dieselbe Partnerschaft wie zwischen zwei gegengeschlechtlichen Partnern sein. Partnerschaft kann normativ symmetrisch oder asymmetrisch sein (Schweizer 1982: 111ff.). Doch nie darf man Leitbild, Norm und tatsächliche Lebenspraxis einfach gleichsetzen. Hier gab es immer größere und kleinere Diskrepanzen und Spannungen. Doch mittlerweile hat sich dieser kovariierende Bezug enorm gelockert oder sogar entkoppelt und lässt oft nur eine schwach kovariierende Kohärenz erkennen. Das vormoderne „ganze Haus“ war, was in vielen historischen und soziologischen Darstellungen bis heute nicht klar herausgestellt wird, zunächst nur ein Leitbild. Die daraus ableitbaren Normen konnten in recht verschiedenen, tatsächlich praktizierten Sozial- und Lebensformen in Mitteleuropa Anwendung finden; mit regionalen und zeitlichen Varianten (Mitterauer 1977; Rosenbaum 1982). Dem Leitbild oder Ideal standen oft Herrschaftsstrukturen, materielle Interessen, das jeweilige Erbrecht, nicht selten auch kirchliche Ansichten eingeschliffene Gewohnheiten entgegen. Popitz (1986: 24f.) weist nun darauf hin, dass das moderne Machtverständnis grobe Mittel
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und Gewalt eigentlich überflüssig macht, man daraus aber nicht schließen kann, dass Macht aus sozialer Kommunikation verschwunden sei. Es ist auch damit zu rechnen, dass unentwegt, auch zwischen Kindern und Eltern, asymmetrische in symmetrische Beziehungen und umgekehrt umgewandelt werden. Es ist natürlich nicht falsch, wenn man zunächst davon ausgeht, dass normativ zwischen Bürger und demokratischem Staat und zwischen Familienvater und seinen Kindern hierarchische Unterordnung zugunsten der Norm des „Gegenüber“ abgebaut wurde. Aber bedeutet dies nur eine Zunahme der Verhandlungschancen oder „herrschaftsfreier Kommunikation“ (Habermas)? Habermas hatte immerhin gesehen, dass dies eine voraussetzungsvolle kontrafaktische Norm oder regulative Idee bleibt. Die Trennung von Wohnung/Haushalt vom Beruf und die daraus folgende häusliche Rollendifferenzierung ließ, zunächst nur im Bürgertum, eine derart ausgeprägte Intimsphäre und Privatheit gedeihen, dass die Machtprozesse und Interessen, die sich auch in modernen Kleinfamilien behaupteten oder sogar ausweiteten und stärker divergierten, weder auf den ersten Blick von Beobachtern noch gar von den Familienmitgliedern voll durchschaut werden konnten. Der „Mythos Familie“ setzte das Ideal, dass die Kleinfamilie ein Hort der Geborgenheit, der Liebe, des gegenseitigen Vertrauens und nur das sein sollte, weithin und noch oft bis heute mit der tatsächlichen Familienwirklichkeit gleich (Böhnisch 1997). Die Möglichkeit, dass sich auch tragfähige Intimbeziehungen mit Konflikten, ja einer besonderen Konfliktanfälligkeit bis zu einer gewissen Grenze vereinbaren lassen, haben aber inzwischen sogar mehr und mehr Kinder am eigenen Leibe erfahren. Im Allgemeinen erfahren Kinder meist viel Zuwendung und beträchtlichen Respekt. Dennoch ist dieses normative Element nicht gleichzusetzen mit realer Verhandlungsmacht, Verhandlungsfähigkeit, Handlungsbereitschaft, Verhandlungsperformanz oder den typischen Formen des Verhandelns. Kindzentrierung etwa lässt sich durchaus mit elterlicher Dominanz, mit Werbung um Kinder, mit Konkurrenz, Dauerkonflikten, mit der Behandlung von Kindern als Partnerersatz, mit Überbehütung oder mit inkonsistentem Elternverhalten in Einklang bringen. Es ist deshalb nicht viel gewonnen, wenn immer erneut behauptet wird, kindzentriertes Elternverhalten habe sich als Umgangsnorm durchgesetzt (Büchner 2002: 489). Ebenso wenig darf z.B. aufgrund einer vielleicht „sanften“ Asymmetrie der normativen Ausgangsposition von Kindern immer und unvermittelt auf durchgängige, uneingeschränkte kindliche Unterlegenheit oder gar Hilflosigkeit geschlossen werden. Und es gibt ja auch angesonnene und gelernte Hilflosigkeit. Kleine Kinder mögen stärker von Erwachsenen abhängen, sind aber keineswegs in jeder Hinsicht und überall apriori die Schwächeren. Dies ist letztendlich eine nur differenziert zu beantwortende empirische Frage, die sich auch mit zeitgebundenen Einstellungsschwankungen auseinandersetzen muss. Im Verhandeln von Erwachsenen und Kindern entstehen oft gegenläufige Tendenzen. Kinder wollen etwa bis zum vollständigen Konsens verhandeln, Eltern haben dafür „keine Zeit“ oder wollen rasch zu klaren Entscheidungen kommen. Die Zeitvorstellung von Eltern und Kindern decken sich heute selten. Vielleicht gehen Eltern auch nur zum Schein auf Verhandlungen ein und wollen in Wahrheit gar nicht verhandeln. Auch Kinder können pokern, bluffen, Maximalforderungen anmelden um, ähnlich wie in Tarifverhandlungen, schließlich Kompromisslösungen zu erreichen. Eltern wollen die Verhandlungen oft im engsten Familienkreis halten, während Kinder gerade umgekehrt Interesse an zusätzlichen Interessenbündnissen z. B. mit Großeltern und Freunden verfolgen. Weitere Verhandlungskonstellationen sind denkbar. Überall aber zeigt sich, das Normen oder Normalisierungsstrategien wohl
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Aspekte der Verhandlungssituation bilden, aber die Fülle der Bedingungen zur Bewältigung von Verhandlungssituationen keinesfalls ausschöpfen. Beobachtbar ist auch die Tendenz, den Verhandlungsaufwand zu verringern und den des Anderen zu maximieren. Es empfiehlt sich auch für Kinder oft, strittige Themen zurückzustellen und Gemeinsamkeiten aus taktischen Gründen zu betonen (Clausen 1978: 101). Pattsituationen können besonders unangenehm sein, weil die weiteren „Verhandlungszüge“ der Verhandlungspartner kaum vorauszusehen sind. Außeralltägliche Ereignisse können schnell zum Abbruch der alltäglichen Verhandlungen führen. Weiterverhandeln angesichts eines kritischen Lebensereignisses gilt als taktund respektlos. Selbstverständlich spielt auch eine Rolle, ob und wie Entscheidungsfolgen und Maßnahmen wahrgenommen werden, und wie die Umgebung darauf reagiert, ob sie Beifall finden oder offen und verdeckt sabotiert werden, ob ihnen von den Verhandlungsverlierern Folge geleistet wurde, wie die Sieger mit ihrem Sieg umgehen. Verhandlungen gewinnen oft eine Eigendynamik, denn einerseits gehen die Verhandlungspartner immer von unsicheren Annahmen über die gesellschaftliche Entwicklung aus. Zum anderen handelt es sich um riskante Hypothesen und Prognosen angesichts „doppelter Kontingenz“, denen Erfahrungswerte und Extrapolationen des Status-Quo zugrunde liegen. Dies bedeutet aber, dass diese Orientierungen nur zutreffen, wenn auf sie nicht reflexiv reagiert wird oder die Prozesse von Organisationen strengstens kontrolliert werden. Doch auch hier mangelt es meist an Kontrolleuren. Damit wird klar, dass von beiden Seiten, also von Eltern wie Kindern nicht jederzeit alles zu eigenen Konditionen verhandelt werden kann und sich daraus komplexe und hybride Verhandlungsergebnisse herleiten. Die „List der Ohnmacht“ (Foucault) der Kinder ist heute nicht zu unterschätzen. Nicht von ungefähr spricht man etwas missverständlich von „Selbstsozialisation“ und sogar von „retroaktiver Sozialisation“. Und gerade deswegen ist es abwegig, heute noch immer pauschal auf die anthropologische Hilflosigkeit zu verweisen. In gewisser Weise und speziellen Hinsichten sind Kinder „Experten von Anfang an“ (Schön). Die Verhandlungskapazität der Eltern-Kind-Beziehung ergibt sich aus der konkreten Qualität, der Struktur, der Reichhaltigkeit und dem Wandlungstempo des gesamten Verhandlungshaushaltes von Kindern im Alltag, also nicht allein aus dem Verhandlungssektor der Familie, des Kindergartens oder der Schule (Strauss 1968: 85, 95). 3.5.4 Von der Unterordnung zum Gegenüber In der hochmodernen Kleinfamilie ist immer mehr Verhandlungssache. Entscheidend ist aber, dass von einer erheblich geänderten normativen Grundlage und nicht einfach aus pragmatischer Unordnung mehr verhandelt wird. Normative und lebenspraktische Veränderungen bedingen sich dabei wechselseitig. Was „Generation“ bedeutet und wie sie im Horizont dieser Bedeutung in der Familie gelebt wird, ist nicht zu allen Zeiten gleich, sondern von historischen Bedeutungen in hohem Maße abhängig (Münchmeier 1997: 11). Es ist auch wichtig zu erkennen, dass sich der Wandel der normativen Grundlage auf mehreren Ebenen vollzogen hat. Revisionen gesetzlicher Bestimmungen sind meist relativ spät und erst nach einem langen Diskussionsprozess erfolgt, der von gesellschaftlichen Veränderungen angestoßen worden war. Dabei ergibt sich fast immer ein Bild, dass zwar zum Teil Probleme reguliert, aber andere dafür
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eingehandelt wurden. In der Zeit nach den Religionskriegen, auch verstärkt durch die Aufklärung, lockerte sich die kirchliche Bindung. Die sich allmählich durchsetzende neue kapitalistische Produktionsweise zerstörte die Produktion des „ganzen Hauses“ in vielen Fällen und ließ eine Marktorientierung eines männlichen Unternehmers oder Arbeitskraftanbieters und eine Abkopplung von Privatsphäre, Arbeitsmarkt oder Berufssystem sowie politischer Öffentlichkeit geboten erscheinen. Die zunächst auf das Bürgertum beschränkte Kleinfamilie mit ihrer neuen intrafamilialen Rollendifferenzierung und Intimität war zwar noch lange patriarchalisch geprägt, zeichnete aber von allem Anfang spezifische Eltern- und Kinderrollen vor. Langfristig war hier betonte Unterordnung funktional überflüssig. Doch eine Enthierarchisierung der Eltern-Kind Verhältnisse erfolgte nie widerspruchsfrei, weder im Privaten noch in der Öffentlichkeit. Für die Frauen und Kinder waren die Auflösung der ständischen Schranken im Recht um 1810 und vor allem der gesellschaftlichen Wirklichkeit von erheblicher Bedeutung. Es wurde als Folge davon etwa der Gesindezwangdienst abgeschafft (Gerhard 1981:18f.). Die Geschichte der Kindheit ist nicht nur eine Verschiebung vom Gehorchen zum Verhandeln zwischen Kindern und Eltern und von der Normorientierung zu pragmatischen Lösungen auftauchender Probleme, sondern eine normative Veränderung, die eine grundlegende andere sozialstrukturelle Positionsbestimmung zwischen Kindern und Erwachsenen voraussetzt. Liebe und nicht sachhafte Beziehung sollte möglich werden zwischen Kindern und Eltern, deren Elternschaft systematisch gesellschaftliche Reproduktion sicherzustellen hatte. Ein reines Herrschafts- und Versorgungsdenken, wie es in der vormodernen Zeit die Regel war, stand dem sichtlich entgegen. Unterordnung war daher zunächst abzuschwächen. Schließlich wurde sie als funktionslos, ja funktionswidrig angesehen. Komplexere Verwandtschaftsverhältnisse und verzweigte lokale Bindungen wurden abgebaut und in einem Familienkern einer Eltern-Kind-Triade konzentriert, der aufgrund seiner Intimität sich mit der ursprünglichen patriarchalischen Prägung nicht gut vertrug. Dieser institutionelle Wandel war das Ergebnis des Strukturwandels der vormodernen zur modernen Sozialstruktur und näherhin des Übergangs vom „ganzen Haus“ zur modernen Klein- oder Kernfamilie mit männlich instrumenteller und weiblich expressiver Führerschaft, die sich schon gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht selten zu einer vergleichsweise symmetrischen „Verhandlungsfamilie auf Zeit“ (Beck 1986) zu entwickeln scheint und manche gar als hybrid-multifunktionales „Auslaufmodell“ (Luhmann) kennzeichnen. „Verhandlungskindheit“ ist somit eine normative Teilstruktur geworden, die nicht nur von den Kindern, sondern auch von Eltern und allmählich auch von Lehrern weiterdefiniert wird. Sie ist aber nicht eine direkte Folge der Demokratisierung moderner Gesellschaften und geht auch nicht restlos im Prozess funktionaler Differenzierung auf. Der Abbau formeller Autorität wurde einerseits informell erleichtert. Er führt aber auch zu symbiotischen Gefühlsbindungen, deren Herrschaftscharakter kaum geleugnet werden kann, und der neue, stark emotionalisierte, oft generationsübergreifende, latente „Delegationsverhältnisse“ (Stierlin) begünstigt. Auch die Pädagogisierung des Eltern-Kind-Verhältnisses bringt Vorteile, aber auch neue Widersprüche und Risiken. Das verbirgt sich auch hinter der heute durchweg positiv konnotierten Formel von der „partnerschaftlichen Beziehung“. Sie werden auch nicht durch die Norm einer gemäßigten „autoritativen Erziehung“ beseitigt. In partnerschaftlichen Beziehungen geht es nicht ausschließlich um die Anerkennung der Personen sondern um die Qualität der Beziehungen und der sich darin abspielenden Interaktionen. Und Interaktionen lassen sich weniger von festen Normen, sondern von Ge-
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legenheiten und aktuellen Befindlichkeiten der Interaktionspartner leiten. Dabei kann es zu einer linearen oder zu einer immer wieder verschiebbaren Struktur und Relation der Partnerschaft kommen. Es lässt sich ein Kontinuum zwischen einer asymmetrischen Partnerschaft im Sinne eines Senior-Junior-Verhältnisses und einem strikt symmetrischen vorstellen, auf dem sich die Interaktionen zwischen Eltern und Kindern empirisch bewegen. Die jeweils typischen Ausprägungen gewinnen zunächst habituell-normalisierte und manchmal normative Kraft des Faktischen. Normative Verfestigungen können sich aber wieder lockern und weiter verschieben (Schweizer 1982: 111ff.). „Partnerschaft“ (wie „Autorität“) ist somit heute keine eindeutige und konstante Größe. Sie leitet einerseits grob Verhandlungen. Doch diese beeinflussen auch durch ihren Habitus wesentlich den semantischen Gehalt des Begriffs. Sie fördert einerseits Fairness andererseits kontingente Interventionen. Sie fordert ein Geben und Nehmen, das schwer zu kalkulieren ist und durch „Kleinlichkeit“ zerstört und in totale Kontrolle überführt werden kann. Einerseits tritt der Altersunterschied zurück, andererseits beseitigt eine plumpe „Kumpanei“ nicht nur die notwendige elterliche Autorität sondern die „Leitdifferenz“ zwischen Eltern und Kindern, die symmetrische Interaktion gerade interessant macht. Hier wird eigentlich im Hintergrund eine viel radikalere Norm vorausgesetzt, die als Norm meist nicht sichtbar ist und im Realismus vormoderner Gesellschaft als völlig sinnlos erscheinen mag: persönliche Grenzen zu definieren. Nicht nur die Partnerschaft der Erwachsenen wird in der Moderne immer mehr zur reinen Beziehungstatsache unabhängig von irgendwelchen gemeinsamen Aufgaben oder Pflichten (Simmel), solange sie beiden – vielleicht nur bis auf weiteres – Sinn, Funktionswert, Nutzen oder kostengünstige Lösungen zu bringen scheint. Ihre Hauptsache besteht darin, die Eigenschaften des anderen zu kennen (Giddens 1992: 74f., 107ff.). Doch es muss wohl auch geklärt werden, ob Sinn, Funktionieren, einseitiger oder wechselseitiger Nutzen und Transaktionskalküle überhaupt zielbestimmend sein können. Unter Umständen ist auch auszuloten, ob eine „Mischmotivation“ tragfähig sein könnte. Klare Grenzen werden für die spätmodernen Eltern-Kindbeziehungen zum großen Problem, was kein sekundäres, psychologisches, sondern ein soziologisches Problem darstellt. So konstruierte Grenzen legen fest, zu wem man gehört, welche sozialen Relationen relevant, welchen sozialen Kontexten man fast blind vertraut und wo man riskante Machtkämpfe erwarten muss. Und solche „reinen Beziehungen“ erfordern ständige „Beziehungsarbeit“ (Beck) und können sich auch in gefährlicher Weise verselbstständigen. Eine Konstanzunterstellung ist unangebracht, auch wenn „Beziehungen“ in der gängigen Diskussion oft substantialisiert und reifiziert werden. So müssen Kinder zwar Vertrautheit voraussetzen, erleben aber gleichwohl – nicht nur im Falle der Trennung der Eltern – dass Vertrauen höchst riskant sein und neue (emotionale) Abhängigkeiten, ja Sucht schaffen kann (Giddens 1992: 74ff., 107ff.). Die normative Verschiebung von der Unterordnung zum Gegenüber führt auch heute selten zwischen Eltern und Kindern dauerhaft zu Interaktionen auf gleicher Augenhöhe. Entscheidend aber ist, dass Eltern fast nie mehr, wenigstens normativ, von einer quasinaturrechtlichen Asymmetrie ausgehen können. Selbst Kleinkinder scheinen zu wissen, dass man – schon allein wegen der Wirksamkeit des „Kindchenschemas“ – in aller Regel Koalitionspartner für sich einspannen kann. Daher ist „Partnerschaft“ dafür ein unscharfes Wort. Der Begriff lässt sich dehnen und einschränken, als Senior-Junior-Partnerschaft oder Gleich-zu-Gleich ausgestalten. Er ist nicht einmal davor gefeit, zu einem listig verschleierten Ausbeutungsmechanismus umgedreht zu werden. Es hängt alles vom Verhandlungsge-
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schick beider Seiten und den unterschiedlichen Ressourcen und Gelegenheiten ab. Vor allem die zeitliche Ressourcen berufstätiger Eltern bleiben aber meist prekär, nicht weil die „Hausfrauenehe“ die ideale oder einzig kindgemäße Form praktizierter Elternverantwortung wäre, sondern weil sich generell die Marktabhängigkeit aller Lebensformen unserer Gesellschaft verstärkt. Daher bleiben offene oder versteckte moralische Appelle an junge Erwachsene, sich wieder verstärkt für Kinder zu entscheiden, abstrakt. Es ist heute nicht von vorneherein auszumachen, ob Kinder in der Zukunft Sinn machen, Wert besitzen, zum Funktionieren von Familien beitragen, nicht zu hohe Kosten verursachen, obwohl sich das natürlich familiensoziologisch und makro-mikroökonomisch grob bilanzieren oder schätzen lässt. Da jedoch alle diese Prognosen reflexive Reaktionen auslösen, bleiben sie fragwürdig und bieten kaum eine konkrete Entscheidungshilfe. Es ist auch relativ leicht, auf der luftigen Höhe der Kantschen Universalethik die Selbstzwecklichkeit von Kindern zu postulieren, aber viel schwieriger, sie unter den gesellschaftlichen Verteilungsgesichtspunkten und deren Folgen und Nebenfolgen wirklich befriedigend einzulösen, ohne dass sich ein falscher, utilitaristischer Zungenschlag einschleicht oder komplexe Zusammenhänge rein ökonomisch oder demographisch, also unterkomplex behandelt würden (Zelizer 2005: 123ff.). Und Kinder als Sinnprojekt anzusehen, darf nicht zu einer Romantisierung führen. Mit der Aufwertung der „Liebesarbeit“ (Beck-Gernsheim) in der Familie kann weder eine traditionelle Rollenfixierung legitimiert werden noch kann von der Verhandlungsdynamik und ihren Macht-, Herrschafts- und Gewaltaspekten abgesehen werden. Und auch die Kindheitsforschung muss zur Kenntnis nehmen, was ihr phänomenologischer Ast immer schon betont hatte (Lippitz 1990), dass Kinder sowohl aktive wie rezeptive Akteure sind, dass aber das Ausmaß beider Komponenten nicht konstant gehalten werden kann. Letztlich entscheidend ist, dass alle diese Aspekte nicht isoliert betrachtet, sondern als konstitutive Momente eines komplexen Handlungsrahmens oder, besser: als sich überschichtende Rahmungen verstanden werden. Eltern und Kinder wurden in der Moderne von verschiedener Seite ermuntert, vollständige Autonomie zu reklamieren, die sie nie erreicht haben. Ohne dass dies als Alibi reaktionärer Bestrebungen missverstanden werden dürfte, müssen heute immer auch die ökologischen und extrafunktionalen Voraussetzungen jeder gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion mitbedacht werden (Giddens 1992: 68). Trotz aller Normen, trotz aller Regeln, trotz aller gefühlsmäßigen Bindungen ist es für beide Seiten, Eltern wie Kinder, implizit beschlossene Sache, Eltern-Kindbeziehungen nur dann zu pflegen und sich zu engagieren, wenn sich beide wohl fühlen und ein Geben und Nehmen erfahren werden kann. Insofern hat gerade auch jede partnerschaftliche Beziehung, auch die zwischen Eltern und Kindern, ein durchaus subversives Element, längst vor der Zeit, wo sich Kinder traditionellerweise von ihrem Elternhaus zu lösen beginnen (Giddens 1992: 112, 116, 121). Hier helfen Normen, Regeln, Verfahren oder Strategien nur sehr begrenzt, weil die „authentische Beziehung“ es auch erlaubt, sie zu unterlaufen, wirkungslos werden zu lassen und sich sogar aus einer langen Familiengeschichte mental oder mit der ganzen Person zu verabschieden. Notwendiger als all dies wird dann ein riskantes Vertrauen, das nicht wieder reguliert werden kann. So entbehrt die Eltern-Kindbeziehung heute selbst dann noch einer Stabilität, wenn immer noch – allerdings mit absteigender Tendenz – die meisten Kinder bis zum 14. Lebensjahr bei ihren leiblichen Eltern leben. Alltagsstereotype neigen natürlich immer zu einer romantisierenden Verklärung. Die gestiegene soziale Mobilität bewirkt indes, dass die Beziehungsstruktur in der Familie enger oder weiter werden kann. Und Trennung oder
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Wiederverheiratung der Eltern bringen für Kinder eine enorme Vielfalt neuer Kontextkonstellationen hervor. Um dies aber partnerschaftlich verhandeln und ordnen zu können, bedarf es eines riesigen Vertrauens. Es stellen sich dabei Zweifel und Ängste ein. Ist ausgehandeltes Vertrauen überhaupt Vertrauen? Und darüber muss man sprechen und sich verständigen (Giddens 1992: 110f.). Und es zeigt sich erneut, dass die Verbindlichkeit lebensgeschichtlicher Entscheidungen von der aktuellen Qualität der Beziehungen abhängt. Sowohl das Engagement der Eltern wie die Loyalität der Kinder gegenüber elterlicher Autorität kann heute weniger denn je vorausgesetzt werden. Das wachsende Interesse an und der größere Respekt gegenüber Kindern hängen in den letzten 200 Jahren paradoxerweise immer mehr von der „besitzergreifenden Liebe“ der Eltern und diese von der Interpretationsmöglichkeit der Kinder als „Liebespfand“ ab: Kinder werden zum Selbstzweck und Eltern erwarten doch Sinn, emotionale Befriedigung, Stützfunktion für das familiale Klima, Wert, Nutzen, nicht zu große Kosten. Sie hängen zugleich mehr denn je von der elterlichen Zuwendung ab. Zwar kann diese Liebe vergleichsweise nüchtern praktiziert werden und ein Geben und Nehmen implizieren, ja regelrechten Arbeitscharakter annehmen. Die Frage bleibt dann aber, bis zu welchem Punkt ein solches Verständnis kulturelle Legitimität und soziale Akzeptanz erwarten kann, und wo die Vertrauensgrenze gezogen werden soll. Diese Mehrdeutigkeit des Ohne-, Mitund Gegeneinander (Beck 1990) ist nur konstruktiv einzugrenzen und zu bewältigen. Dies aber setzt voraus, dass nicht auf der einen Seite das völlig unmündige Kind und auf der anderen der völlig mündig Erwachsene steht, der seine Kindheit oder „Hilflosigkeit“ ein für allemal abstreifen konnte. Genau genommen kann heute ungeprüft weder eine „autoritäre“ noch eine „autoritative“ noch eine „permissive“ Erziehung unterstellt werden, da die tatsächliche Erziehungspraxis weitgehend zur Normalisierungsprozedur geworden ist. Ganz eindeutig rückt die Interaktionserfahrung gegenüber der institutionell-normativen Seite der Familie in ihrem Selbstverständnis in den Vordergrund. Selbst wenn ein autoritärer Erziehungsstil bevorzugt wird, kann der nur über ausgesprochen schwierige und konfliktreiche Verhandlungen durchgesetzt werden (Giddens 1992: 119f., 113). Nicht die normativen Sollforderungen, sondern die tatsächlich erreichte Selbstverpflichtung, die tatsächliche und nicht die nur beschworene Fürsorge, Unterstützung, Solidarität, Institutionalisierung oder aber Indifferenz und Ambivalenz wird maßgeblich. Und sie werden abhängig von der Geschichte der Beziehungen interpretiert und einer „Zwischenbilanz“ zugeführt. Haben sich Eltern gegenüber Kindern schlecht verhalten? Haben Kinder ihren Eltern Respekt gezollt? Alle unterstellen, dass keine wechselseitige Instrumentalisierung erfolge, sind aber faktisch in hohem Maße von den lebensgeschichtlichen Interaktionserfahrungen abhängig, selbst wenn sie in ihrer Familienrhetorik dauernd Werte und Normen beschwören. Das elterliche Engagement kann „übertrieben“ oder minimal sein, kindliche Loyalität kann tief oder nur oberflächlich ausgeprägt sein – ohne dass dies der Umgebung lange Zeit auffällt. Eltern kommen – selbst bei kleinen Kindern – längst nicht mehr allein mit einer advokatorischen Ethik und nur pädagogischen Leitgesichtspunkten durch. Sind sie erfolgreich, so gleicht ihr Verhalten in mancher Hinsicht eher einer Mikropolitik (Subpolitik) denn einer traditionellen Erziehung (Giddens 1992: 121; Beck 1993; Neuberger 1995). Das bringt neue Chancen und neue Risiken, keinen eindeutigen Fortschritt. Erziehung verschwindet aber keineswegs und wird auch nicht umfassend zur postpädagogischen Beziehung. Doch eine Relativierung ist unverkennbar. In jedem Fall hat aber
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eine bemerkenswerte Abflachung innerfamilialer Autoritätsverhältnisse stattgefunden, die freilich nur ungenau mit dem Begriff „autoritative Erziehung“ getroffen wird, weil sich Erziehung und Beziehungspflege oder Regenerierung der Beziehung die Aufmerksamkeit der Betroffenen teilen müssen. Geben und Nehmen werden zu einem schwierigen Verhandlungsprozess mit habituellen und normativen Einsprengseln, aber auch einem hohen Maß an Normalisierungskompetenz und performativer Sensibilität. Die Eltern bleiben trotz äußerlicher Distanz für Kinder emotional oft, aber eben nicht mehr immer und überall, wichtig. Doch ihr moralisches Vorbild wird nicht zuletzt durch das dauernde Verhandeln, von exogenen Einflüssen jetzt einmal abgesehen, strapaziert. Sie können in vielen Fällen nicht mehr durch Wissen imponieren, weil sich die Kinder vielfach unter Umgehung der Eltern Wissen besorgen können, weil die Kinder oft technisches Wissen unkomplizierter und früher als ihre Eltern erwerben und weil Kinder wissen oder ahnen, dass selbst wertvolle Lebenserfahrung und Lebensweisheit der Eltern in der aufkommenden Wissensgesellschaft kaum noch zentrale Bedeutung haben oder vergessen werden. Welches Kind möchte schon gegen den Zeitgeist verstoßen? Die Altersdifferenzierung wird demnach nicht mehr ungebrochen in der Sozialisation weitergegeben. Sie ist aber bislang dennoch nicht ganz verschwunden und geht quasi als Hypothese in konkrete Verhandlungen ein. Allzu viel Respekt können Eltern freilich nicht erwarten. Die traditionellen Ablöseprozesse finden heute früher, fragmentierter und stets unter qualifizierten Bedingungen statt. Ergebnis ist eine Gemengelage asymmetrischer und symmetrischer Beziehungsaspekte, die sich natürlich nach dem Lebensalter umgruppieren. Die in der Kleinfamilie ursprünglich wohl weit reichende Wertinternalisierung hat sich ganz offensichtlich unter dem Druck konkurrierender Sozialisationsinstanzen erheblich abgeschwächt. Es scheint mehr als fraglich, ob dies durch konzentrierte „Werteerziehung“ zu kompensieren ist. Mit der intensivierten Verhandlungspraxis erwachsen jedoch auch neue Kontrollmöglichkeiten und prinzipiell wenigstens Chancen der Selbstbindung (Nunner 2005). Meldungen, dass Kinder kurz vor der Machtergreifung stehen oder sich wenigstens das normative Machtgefälle völlig umgedreht hätte (Münchmeier 1997: 121ff.) sind abwegig. Kinder-Lobbyisten haben es nicht ohne Grund nach wie vor schwer. Damit sich Sozialisation und Erziehung überhaupt entfalten können, müssen manche Hindernisse weggeräumt oder zurückgedrängt werden. Allein laufen diese Prozesse nicht mehr störungsfrei ab. Das erfordert immer mehr Kommunikation und lässt sich doch allein nicht damit bewältigen. Dass rechtlich und sozial nicht alle Schutzvorrichtungen mit der gesellschaftlichen Transformation weggespült wurden, liegt daran, dass Reste des alten Modells durchaus erhalten blieben oder nur umgebaut wurden; teilweise auch durch die neuen Kinderrechte sogar noch restabilisiert werden konnten. Allerdings erscheint Selbstbestimmung und Kinderschutz in den Augen vieler Menschen ein Widerspruch, der das Partnerschaftskonzept im Ganzen als erzieherisch ungeeignet erscheinen lässt. 3.5.5 Die Unvermeidbarkeit von Identitätsimbalancen Jeder mündige „postkonventionell“ urteilsfähige Erwachsene sollte wenn nicht eine inhaltliche so doch wenigstens eine strukturstabile persönliche und/oder soziale Identität und am besten eine „Identitätsbalance“ oder ein strapazierfähiges „Selbst“ in die gesellschaftlichen Interaktionen einbringen, so die fast einhellige Meinung der Autoren unterschiedlichster
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theoretischer Herkunft im Umkreis der Sozialisationsforschung. Es muss daher fast einer Provokation gleichkommen, wenn dies neuerdings entschieden in Frage gestellt wird, und manche postmodernen Autoren – vorschnell – vom „Tod des Subjekts“ sprechen. Aber war es nicht immer schon eine Illusion anzunehmen, jeder könne das Niveau der Kantischen oder universalpragmatischen Moral unter jeder gesellschaftlichen Bedingung annähernd ein ganzes Leben über konstant erreichen und wahren? Selbst Kohlberg musste ja eingestehen, dass die Mehrheit seiner Landsleute empirisch dazu offensichtlich nicht in der Lage war. Und sind Akteure mit einer solch prekären Identität keine Akteure mit einer Biographie (Fischer-Rosenthal 2000)? Wenn sich Optionen häufen, wächst einerseits das Bedürfnis nach „autopoietischen“ Auswahlkriterien. Doch dieser Wunsch wird damit nicht schon Wirklichkeit. Er entpuppt sich vielmehr als heuristische Identitätsunterstellung, die nur unter speziellen Umständen erfolgreich ist, aber immer wieder problematisch werden kann. Und: eine „feste Identität“ kann Zeichen der Persönlichkeitssklerotisierung und uferlose Flexibilität kann Ausdruck einer Mündigkeitsverweigerung und u. U. einer pathologisch klassifizierbaren „Identitätsdiffusion“ oder gar einer gesellschaftlichen Infantilisierung sein. Und „Identitätsbalance“ kann gewünscht aber nicht erreichbar sein, weil einerseits das Subjekt keine geeigneten Bedingungen vorfindet, und andererseits können optimale objektive Bedingungen „von außen“ und „von innen“ und „von oben“ und „von unten“ ganz verschieden bewertet und gedeutet werden. Mehr und mehr macht sich daher die Erfahrung breit, dass nicht nur Organisationen und Gruppen, sondern auch soziale Akteure eine Art Doppelbödigkeit („Unterleben“) aufweisen, auch „Identitätsbalance“ zu einem hochriskanten, oft unvermeidlich scheiternden Unternehmen zwischen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“, zwischen voller Identifikation und Mentalrestriktion und manchmal auch Vortäuschung falscher Tatsachen und einer „Identitätspolitik“ werden kann (Goffman 1975: 153ff.). Wie soll „ein wacher Zeitgenosse“ bei der Informationsflut und Optionsschwemme noch wirklich den Durchblick bewahren? Gleichwohl wird von ihm verlangt, „coole“ Souveränität auszuströmen. Diese Problematik hat seit einiger Zeit wohl auch schon Kinder eingeholt. Ihre mannigfaltigen Verhandlungen mit Erwachsenen und Gleichaltrigen finden ja keineswegs unter immer geklärten Handlungsspielräumen statt und haben oft den Charakter von Sondierungen. Kinder müssen sich dabei schon früh als attraktive Verhandlungspartner präsentieren. Dabei wandelt sich ja auch das Optionsspektrum fortwährend, aber meist so unmerklich, dass die Betroffenen es kaum merken. Sie werden dann aber umso mehr überrascht, wenn sich der Wandel unscheinbar andeutet und übersehen werden kann. Erst aus der Beobachterposition und im Generationenvergleich wird vollends klar, wie sehr und wie schnell sich Anforderungen, Ressourcen und Kompetenzen und Gelegenheitsstrukturen geändert haben (Beck 1990: 15). Da fortgeschrittene moderne Gesellschaften kaum klare und für alle verbindliche kulturelle Kriterien kennen, wird Verhandeln oft überkomplex. Man riskiert die Selbstachtung und die Achtung und Anerkennung der Anderen, vor allem, wenn man sich zu weit vorwagt. So zeigt sich neben „Frühreife“ oft auch ein ängstliches Beharren auf dem Kindheitsstatus (LBS Kinderbarometer 2002; Abels 1993: 453: 14) ebenso wie ein Hang zur „Egotaktik“. Der auffällige Wunsch immer „miteinander zu reden“ ist kein Garant, rechtzeitig und sachlich angemessene Lebensentscheidungen zu finden (Zoll 1993; Knoblauch 1996). Künftig wäre daher genauer zu erforschen (Bohnsack 1998), unter welchen spezifischen Bedingungen Verhandlungen von Kindern nicht nur ad-hoc, sondern dauerhaft ziel-
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führend und biographiefördernd sein können. Der Zweifel des 20. Jahrhunderts an der jahrhundertlang überschätzten Autonomie des Subjekts und die dennoch gebliebene Angst vor der „Irrationalität“, aber auch das rastlose Unbehagen an dem oft pauschal denunzierten „Betroffenheitskult“ (Rauschenbach 1991: 155ff.) statt einer differenzierten Topographie der Kommunikation offenbaren, dass die „kommunikative Kompetenz“ allein keineswegs eine Garantie dafür bietet, dass in Verhandlungen historische, sachliche, soziale, persönliche Aspekte regelmäßig zur Deckung gebracht und übersetzt werden können. Kontingenz, Gewalt, aber auch (vielleicht im Moment unverstandene) Kreativität umlagern alle Handlungssituationen heute auch bei Kindern (Soeffner 2004: 67ff.; Miller 1996). Schon gar nicht lassen sich situative Entscheidungen aus Normen deduzieren. Zweifellos hat sich das Spannungsfeld von Norm- und Normorientierung, Alltag und Außeralltäglichem, Alltagsund Lebenszeit gewaltig verbreitert, fragmentiert und verkompliziert. Der Übergang von einer Lebensphase zur anderen und innerhalb einer Lebensphase von Handlungsbereich zu Handlungsbereich wird nicht in einem großen Entwicklungsschub, sondern in einer Serie kleinerer oder größerer Übergänge und sozialer Karrieren unter Aufsicht von sozialen Institutionen vollzogen, die eine Art Gate-keeper-Funktion innehaben (Soeffner 2004: 79; Behrens 2000: 101ff.). So werden weniger endgültige Strukturen geschaffen als „Zwischenwelten“ und „Zwischensynthesen“, die eine fortlaufende Strukturierung, aber keine wirklich endgültige Sicherheit verschaffen. In solchen Geweben von Übergängen durchdringen sich Erinnerungen, alltägliches Handlungswissen und kreative Imagination. Erwachsene bilden sich häufig ein, Kinder ganz und gar durchschauen zu können. Sie setzen sich dabei aber ohne scharfen Blick auf die Vielschichtigkeit kindlichen Handelns mit seinen eigenwilligen Deutungen, zeitlichen Handlungsbögen, Praktiken, über kinderkulturelles Wissen und seinen Geheimnissen „in seeliger Ignoranz“ (Fine) hinweg. Die in der Tat nur unvollständig kontrollierbaren Kinder versuchen aus dem „ganz normalen Chaos der Liebe“ (Beck) in der Familie, das sich auch außerhalb der Familie, wenngleich etwas formeller, fortzusetzen scheint, signifikante Aspekte zu erspähen, relevante Themen, Objekte und Motive zu unterscheiden, zu ordnen, in Beziehung zu setzen und mitzugestalten (Schütz 1979: 48ff.). Und nur in dem Maße wie das gelingt, erscheint die Welt und das eigene Selbst vertraut. Man kann dann weitermachen und die immer wieder befremdliche Gesellschaft verstehen lernen, auch das Fremdwerden der eigenen Biographie stoppen (Riemann 1987; Rosenthal 1995; Fischer 1995: 43ff.). Schon Kinder sehen sich heute genötigt, ihre Biographie immer wieder zu rekonstruieren und „Identität“ zu transformieren, z.B. durch Verschweigen oder Ablenkungsmannöver. Da „Familie“, strukturell, funktional und nicht zuletzt biographisch und temporal ein vieldeutiges Phänomen geworden ist und andere soziale Institutionen sich in einem starken Wandel befinden, führt der Hinweis auf die in diesem Zusammenhang vielfach als Stützkorsett beschworenen „Entwicklungsaufgaben“ nicht recht weiter. Diese scheinen eher ein Desiderat der Entwicklungspsychologen zu sein als einem verbindlichen gesellschaftlichen Wertkonsens zu entspringen (Schmerl 1978: 93f.). Natürlich gibt es noch im düstersten Kinderleben auch Lichtblicke. Die meisten geistig regen Kinder erleben wohl auch Identitätsbalancen. Entscheidend ist aber, dass sie Momentaufnahmen „erfüllter Augenblicke“ sind und sich nur unter besonderen Bedingungen verlängern und verstetigen lassen. Sie sind ein Hoffnungsschimmer der Biographie, nicht Index stabiler „Reife“. In einem von dauernden Innovationen herausgeforderten gesell-
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schaftlichen Klima spielt das Wechselspiel und die Spirale von Anspruch und Akzeptanz eine eminente Rolle. In diesen Strudel der Anspruchsspiralen sind heutige Kinder manchmal längst zum Leidwesen ihrer Eltern geraten. Sie werden z.B. als (künftige) „Kaufkraft“ hofiert. Ohne sich als „Antipädagogen“ entlarven zu lassen, versucht die Wirtschaft, Kinder als „aktive Konsumenten“ unspektakulär aus der Kontrolle und Aufsicht der Eltern herauszulösen und sich gleichzeitig auch den Markt elterlicher Erziehungsinteressen offen zu halten (Neumann 2001: 91ff.; Feil 2003). Kinder können nun einem „Identitätsdilemma“ ausweichen, indem sie ihre Ansprüche, vor allem auf Druck der Eltern, senken oder vorläufig zurückstellen. Eltern können ihrerseits auf die laufenden Anspruchssteigerungen ganz verschieden reagieren. Sie können diese mit Toleranzminderung und finanzielle Restriktion, durch einen Laissez-faire-Kommunikationsstil oder inkonsistentes Erziehungsverhalten quittieren. Und all dies ruft natürlich nicht nur soziale Reaktionen bei den eigenen Kindern hervor… . Diese gegensätzlichen Balancepraktiken und -operationen können impulsiv oder langfristiger und weitsichtig-zukunftsorientiert eingesetzt werden. Hier ist jedoch stets mehr als eine funktional-entwicklungslogische „Rollenübernahme“ (role-taking) gefordert, auch wenn es selten zu eindeutigen „Rollenschöpfungen“ (role-making) reichen dürfte. „Identität“ verwandelt sich so zum „Suchhabitus“ und zur responsiven Biographiearbeit, die die Zuckungen der öffentlichen Meinung und des Zeitgeistes auch zu transzendieren vermag. Das vermögen freilich Kinder im Alleingang selten. Doch wenn sie Bündnispartner finden, kann dies auch zur neuen Chance für ihren Eigen-Sinn werden, der sich nicht nur in ihrer „natürlichen Dissidenz“ (Saner 1987: 95ff.) sondern wesentlich auch in ihrer Kreativität äußert. Dies ist im Übrigen heute auch die Gelegenheit zu zivilgesellschaftlicher „Kinderpolitik“ (Bukow 2000; Kuhn 2000; Beutel 2001; Knauer 1998; Hartwig 1997), in der Kinder, vor allem auf der kommunalen Ebene, politische Partizipation ausweiten können. Auch Identitätsimbalancen können so paradoxerweise unter bestimmten Bedingungen heute zur Chance werden. Ob sie dies jedoch dauerhaft werden können, steht noch dahin. Während Identitätssuche noch vor wenigen Jahren Jugendlichen vorbehalten schien, gibt es heute viele Hinweise, dass sich dieser Prozess vorverlagert hat. Konzentrierte Identitätssuche mündet immer öfter bei Kindern zu einer erstaunlichen Biographiearbeit; freilich mit eigenen Mitteln. Identitätsbalancen erscheinen dann sicher auch noch oft als Ideal. Strategisch richtet man sich hingegen offenbar auf ein Gewebe von Übergängen, auf eine „Zwischenwelt“ ein, die zwar eine „double-bind“-Konstellation und einen perspektivlosen Opportunismus zu meiden sucht, aber gesellschaftliche Ordnung nur in „mittlerer Reichweite“ gestalten will (Turner 1998: 256ff.). Dies geschieht auch deswegen, weil mangels klarer und allgemein verbindlicher Maßstäbe in einer pluralistischen Gesellschaft Eltern und Kinder sich – fast unvermeidlich – immer wieder wechselseitig über- und unterfordern und dies erst im Nachhinein entdecken. Auch die Unterschiede zwischen „abweichend“ und „kreativ“ scheinen immer öfter zu verschwimmen. Deshalb findet ein laufender partieller Übergang zum Erwachsenendasein statt, was viele herkömmliche Teilreifen und Statuspassagen entwertet oder doch schwächt. Stattdessen greift schon in der Familie ein interaktionsbestimmtes Wechselspiel von „Ansprüchen und Gegenansprüchen, Anspruch und Verweigerung, Anspruch und Bewilligung“ (Strauss 1968: 93) um sich. Angesichts der strukturellen Unabgeschlossenheit und Fragilität heutiger Identitätskonzepte gelingt Kindern nicht ohne weiteres ihre Identitätssuche. Sie intensivieren in dieser Lage aber in Familie, Kindergarten, Schule, Freizeit den sozialen Vergleich. Sie ver-
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gleichen, was ihnen nahe stehenden Kindern und Kindern ähnlicher oder gleicher Geburtsjahrgänge zugestanden wird, was diese tun, unterlassen, was sie sprechen und wie sie sich verhalten. Dadurch gewinnen sie auch noch im Kontingenzerleben einen Anker für ihre Biographie. Identitätsbalancen sind dann immer noch als Augenblickserfahrungen möglich, ein Lichtblick, aber nicht unbedingt ein Normalfall und Voraussetzung gelingender Sozialisation. 3.5.6 Die Bagatellisierung kindlichen Leids Extrem selten, am ehesten noch in der Stressforschung, wird in der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung Leid von Kindern thematisiert. Gelegentlich wird andeutungsweise und unterschwellig im Horizont der Modernisierungstheorie immer noch die unkritische Hoffnung einer leidfreien Gesellschaft genährt. Fast jedes Kind trifft irgendwie aber Leid; manche Kinder knüppeldick. Umso erstaunlicher ist es, dass es so selten Studien gibt, die ohne kulturpessimistischen Unterton die klippenreichen Verlaufskurven und kritischen Lebensereignisse systematisch analysieren. Sie überlassen dies fast vollständig der Psychologie. Leid ist aber nicht nur ein intrapsychisches Phänomen, sondern stets auch eine Form erlittener Sozialbeziehung; folglich auch ein soziologisches Thema. Und Empathie als sozialisatorische Grundqualifikation wird erst zum praktischen Wissen, wenn sie sich der interpretatorischen Schichten des Gefühls und der Betroffenheit annimmt (Rauschenbach 1991: 70ff., 143). Es gibt sicher auch Kinder, die Leid nur von ferne kennen. Bei andern wird die Stimmungslage wechseln. Und manche mögen die Redensart, Kindheit sei kinderleicht und rundweg eine glückliche Zeit, fast als Zynismus ansehen (Psychologie heute 1982: 5; Mansel 1996). Die Unsicherheit von Kindern ist nicht selten trotz sondern wegen des relativen Wohlstands und Optionsreichtums beträchtlich. Räumliche, zeitliche, soziale Ressourcen sind voraussetzungsvoller geworden. Und sie sind auch keine entsubjektivierte Fakten, sondern werden verschieden wahrgenommen; sogar von ein und demselben Kind in unterschiedlichen Situationen anders. Kinder bekommen so nicht einfach Leid von außen aufgedrückt oder erfinden es subjektiv beliebig. Selbst ihre Deutungen von Stimmungen und Gefühlen sind soziokulturell bedingt und werden sozial kontrolliert, auch wenn wahrscheinlich nicht zu bestreiten ist, dass deren Spektrum heute breiter und variationsreicher wie vor einigen Jahrhunderten ist (Wouters 1999: 143f.). Allerdings deckt der Begriff Leid unterschiedlichste Phänomene wie Unglück, Folgen von Krankheit, Scheitern von Beziehungen, mangelnde Zuwendung der Bezugspersonen und -gruppen, mangelhafte Fürsorge, Indifferenz, Vernachlässigung, Doppelbindungen und „paradoxe Kommunikation“ (Watzlawick), Mobbing, Verlust lieb gewordener Personen, Missbrauch, Gewalt, Interaktionsstress. Kann das wirklich alles mit einem Begriff umfasst werden? Solche Zweifel sind nicht leicht auszuräumen. Sie übersehen indes, dass dies offenbar von Kindern in mancher Hinsicht vergleichbar empfunden wird und kein Erwachsener das Recht hat, dies einfach für irrationalen Unsinn abzutun oder in analytischen Haarspaltereien aufzulösen (Dreitzel 1972: 222ff.). Eher ist das eine implizite Anfrage, ob die sozialwissenschaftlichen Theorien differenziert genug sind. Wissenschaft ist allerdings als methodischer Zweifel auch dazu verpflichtet, eigene blinde Flecken selbstreflexiv zu hinterfragen und aufzuarbeiten.
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Dennoch tun sich immer wieder Gräben zwischen denen auf, die als Betroffene Leid empfinden und den Beobachtern, die aus sicherer Warte zusehen. Soziologisch geht es hier auch um die Dialektik von Inklusion und Exklusion in einer Gesellschaft, die schon Kindern Inklusion an allen zentralen Institutionsbereichen – früher oder später – anbietet. Das einzelne leidende Kind weiß aber eben nicht, inwiefern es an der Schwelle von Interaktionen wirklich verlässlich mit Empathie, Großzügigkeit, Wohlwollen, Rücksicht, Respekt, Unterstützung und Hilfe rechnen kann und ob es sich damit für später, zumindest nicht in einer Gesellschaft, die wenig Sympathie für Modernisierungsverlierer verlangt, eine gefährliche Blöße gibt. Kommen gar Zweifel an der Berechtigung seiner kindlichen „Hysterie“ auf? Fehlt ihm die imponierende Härte hochgelobter „Ich-Stärke“? Der nagende Zweifel als Interpretationsfolie der Berechtigung seines Leids ist integraler Bestandteil der Leiderfahrung (Dreitzel 1997: 836f.; Keupp 1991: 473ff.). Stört das Leid von Kindern Erwachsene oder schaffen sie sich gar mit einer romantischen Vergoldung der Kinderzeit dieses Leid nachhaltig vom Hals? Da in unserer Gesellschaft keine kulturell verbindliche Leidkultur gegeben ist, müssen Kinder zunehmend explorative Leidarbeit leisten. Kinder müssen, das ist das Paradox, gerade als „kompetente Akteure“, auch den Umgang mit eigener Ohnmacht und eigenem Leid lernen. „Leid“ wird wie alle Kategorisierungen durch Unterscheidungen und Oppositionen geschaffen: Ordnung – Unordnung, Wohlbefinden – Unbehaglichkeit, Glück und Unglück, Freude und Leid etc. Bis heute hat die sozialwissenschaftliche Forschung insbesondere den Zusammenhang zwischen materieller Not und Leid immer wieder bestätigt, aber eine differentielle Analyse psychosozialer Leiderfahrung nicht zustande gebracht (Keupp 1991: 473f.; Peters 2002; Groenemeyer 1999: 14ff.). 10 Millionen Kinder sterben jährlich an Unterernährung, fehlender Hygiene, Krankheiten. Ca. 1,5 Millionen leben auch in einem reichen westlichen Land wie Deutschland in Not oder prekären Lebensverhältnissen. Immerhin 10-20 % der Kinder im Grundschulalter zeigen psychosoziale Auffälligkeiten, die auf gesteigerten Schmerz und Leid hindeuten (Bründel 1996: 268, 280). 5-10 % aller Kinder gelten als vernachlässigt oder misshandelt oder können als stigmatisiert eingestuft werden (Honig 1988: 9ff.). All diese Phänomene stellten keine ganz und gar objektivierbare Realität dar. Leid kann sogar vorgetäuscht werden. Es bedarf jedenfalls der Aufmerksamkeit, der Artikulation, auch der Moralisierung und alarmierten Skandalisierung. Gefühllosigkeit der Umgebung macht es weitgehend unsichtbar. Auch wenn es sensibel wahrgenommen wird, unterliegt es wechselnden Deutungen der Gesellschaft. Es kann Empörung auslösen oder als Hysterie verworfen werden – zu verschiedenen Zeiten vor dem Auge verschiedener Publika. Es kann in aller Munde sein und zerredet werden. Es kann bei folgenlosem Gerede bleiben oder zur „Sprache der Taten“ herausfordern. Bündelt man sozialwissenschaftlich das Spektrum, so bleiben vor allem die Sachverhalte der „Vernachlässigung“, des Liebesentzugs, der Misshandlung, des Verlusts von geliebten Bezugspersonen, der Gewalt. Diese Phänomene sind somit keine Randphänomene irgendwelcher „Problemgruppen“, sondern tangieren mehr oder minder alle Kinder mitten in der Gesellschaft. Freilich treffen sie manche gehäuft. Trotz des gesetzlichen Verbots körperlicher Züchtigung ist davon auszugehen, dass etwa zwei Drittel der deutschen Eltern dennoch, und manchmal hart, körperlich strafen. Nichtkörperliche Strafe, der Liebesentzug, ist auf dem Vormarsch und wird nicht selten verharmlost. Grauzonen physischer und psychischer Sanktionen sind breit. Und bei der öffentlichen Beurteilung ist oft unklar, ob sich der Sachverhalt, die Wahrnehmung, die
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Beurteilung oder mediale Skandalisierung geändert hat (Engfer 1991). Dazu kommt noch, dass das Therapie-System immer neue Varianten des „Delikts“ sichtbar werden lässt (Vetter 1999: 53). Es offenbart sich hier ein Dilemma: je stärker Kinder als (vielleicht einzige) „Sinnstifter“ elterlicher Existenz aufgefasst werden, umso größer ist die Enttäuschung, wenn sie diesen Ansprüchen nicht oder nicht in vollem Umfang genügen. Auf der einen Seite sind Kinder keine Spezialisten für häusliche Klimapflege, auf der anderen werden sie manchmal zum Partnerersatz hochstilisiert. Kurzschlüsse in solchen Situationen bei allen Beteiligten scheinen sich in den letzten Jahren zu häufen. Nicht zuletzt deswegen ist die Effizienz von Kinderschutz offensichtlich in der Praxis begrenzt (Honig 1988: 171). Belastung, Entfremdung, Enttäuschung sind im Grunde wechselseitig, schaffen auch einen wechselseitigen Gefühlswirrwar, der oft kaum von Therapeuten entwirrt werden kann. Gewalt in der Familie ist allerdings nicht unabhängig von dem durchschnittlichen Gewaltniveau in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zu sehen. Auf der Basis umfassender Untersuchungen wird geschätzt, dass davon in Deutschland mindestens 400 000 Kinder betroffen sind. Wie stark sich das bei Kindern auswirkt, hängt von einem Bündel von Risiken, Belastungen, Ressourcen und Schutzfaktoren ab, die zusammenwirken. Und kindliche und erwachsene Gewaltwahrnehmung beeinflussen sich, nähern sich an und laufen auseinander. Für Kinder ist manches Spiel, was für Erwachsene Ernst darstellt, manches eine Katastrophe, was für Erwachsene eine Lappalie sein mag. Eltern versuchen Grenzen zu ziehen, Kinder sie zu unterlaufen, und beide bauen so ein Spannungsfeld auf, das Leid – u. U. für beide – heraufbeschwört (Honig 1988: 190; Neubauer 1991: 634). Sofern Leid nicht abgewehrt werden kann, erfahren sich auch aktive Kinder passiver als zuvor und schutzbedürftiger, zurückhaltendere als ohnmächtig. Zudem muss endlich beachtet werden, dass sich Leid einer vollen Versprachlichung entzieht, nicht von sprachzentrierter Therapie erfasst wird, ja allzu laute Klage in unserer Kultur eher Zweifel und Unwille erzeugt. Kommunikationsabbrüche, die es nach Watzlawick gar nicht gibt, erhalten gerade dadurch ihr Gewicht. Kinder werden in einer leidgewohnten oder leidflüchtigen Gesellschaft auf Schmerztoleranz oder Empfindlichkeit, auf Ambivalenztoleranzsteigerung oder Ungeduld, Impulsivität, auf die verwegene Hoffnung einer leidfreien oder auf eine leidvolle Zukunft hin sozialisiert. Dies führt zu jeweils spezifischen Problemen. Sie verweisen jedenfalls auf die Brüchigkeit gesellschaftlicher Normalität und funktionaler und extrafunktionaler Teilordnungen, auf die Relativität und das Risiko von Erziehung, Institutionalisierung, Technikentwicklung, Politik und Wissensproduktion auch in einer Gesellschaft, die sich anschickt, eine Wissensgesellschaft zu werden. Im Leid wird das Kind auf seinen psychosozial verfassten Körper zurückgeworfen. Auch die reflexive Reaktion ist kein rein kognitives ZurKenntnis-Nehmen. Es ist vielmehr ein „innerliches“ Betroffensein und ein Stück erlittene Lebensgeschichte (Popitz 1986: 21, 25; Rauschenbach 1991: 155ff.; Dreitzel 1983; Rosenthal 1995: 167ff.). Die Bereitschaft Leid zu verursachen oder hinzunehmen ist damit Teil der lebensweltlich verankerten sozialen Konstruktion der Wirklichkeit gesellschaftlicher Akteure. Die Zunahme der Aufmerksamkeit oder das wachsende Desinteresse für kindliches Leid und seine Regulierung verweist auf andere symbolische Zusammenhänge, andere akzeptanzfähige Praktiken und Sozialisationsmodi und ist selbst Teil eines anderen Verständnisses – für Kinder wie für Erwachsene. Vielleicht ist die gravierendste negative Sanktion längst nicht mehr das, was wir sofort als Leid durchschauen können, sondern eine raffinierte Mi-
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schung aus psychosozialem Druck und körperlicher Ausbeutung, die wir heute eher als „Zeitmangel“, „Sachzwang“, „die stumme Macht der Verhältnisse“, aber auch „Selbstständigkeit“ zu benennen pflegen. Seit das Leid in der Moderne seine kulturelle Anerkennung als Teil der menschlichen Existenz – aus damals guten Gründen – verlor, wird auch das Glück als „irrational“ verdächtigt. Erst zaghaft wagt sich gegenüber der funktionalistischen Engführung und dem Normalismuskult die in der Antike längst bekannte Vorstellung auch wieder in die soziologische Fachdiskussion, dass der Mensch zwar erst „überleben“ müsse aber seine wirklichen Möglichkeiten erst im Blick auf ein „gutes Leben“ für alle politisch ausschöpfe (Aristoteles EN 1094a 24f.; Pol.1252b 10ff.). Ob Leid zu oder abnimmt, ist wissenschaftlich nicht entscheidbar. Dennoch kann es sich aber eine künftige Gesellschaft nicht leisten, kindliches Leid als irrational abzutun. Keine Gesellschaft war oder wird leidfrei sein. Die Leidvergessenheit hat manchmal in der Moderne einen Omnipotenzwahn und totalitäre Illusionen freigesetzt (Dörner 1989). Leid ist aber auch kein Phänomen, das man verklären dürfte. Viel zu viel kindliches Leid wird übersehen, verschwiegen, gerechtfertigt, umgeschrieben, bagatellisiert. Das Kind als „kompetenter Akteur“ wird nur konsequent ernst genommen, wenn es auch in seinem Leid und seiner Ohnmacht respektiert wird. 3.5.7 Stabilisierung durch Familie und Schule Die Familie wie die Schulklasse werden von Kindern heute vorrangig nicht als Institution sondern als Interaktionsgeflecht erlebt. Dennoch spüren auch Kinder diffus, dass diese Teilstrukturen ihrer pluralen Lebenswelten durch zufallsresistente, institutionelle Hintergrundsstrukturen definiert werden und eben nicht der situativen Interaktionsdynamik allein ausgesetzt sind. Aller Instabilität ihrer Lebensverhältnisse zum Trotz erfahren Kinder dadurch Stabilisatoren ihres oft flüchtigen und stressreichen Alltags. Schon der Kindergarten bahnt diese polyzentrische Alltagsordnung vor, fördert aber auch schon typische Kooperationsprobleme zutage. Kinder erleben trotzdem Familie, Kindergarten und Schule als eine der wenigen Stabilitätsanker ihres Kinderlebens. Doch genau genommen geht es hier nicht um funktionale Stabilität sondern um Stabilisierung. Familie und Schule sind ja längst keine Bollwerke gesellschaftlicher Stabilität mehr. Sie sind zutiefst in den allgemeinen Institutionswandel hineingezogen. Familie ist manchmal eine strukturell buntscheckige und funktional frei flottierende Lebensform geworden, die sich eher als „Verhandlungsfamilie auf Zeit“ denn ein stabiles monofunktionales Familiensystem darstellt. Sie wird nicht mehr durch ihre Reproduktionsfunktion überwölbt. Selbst die ihr verbliebene zentrale, oft anspruchsvoll aufgeladene Funktion der Primärsozialisation und Regeneration wird ihr in der Praxis durch andere Definitionsinstanzen streitig gemacht. Schule ist oft zu einer Mischung aus trotzigem Beharrungswillen und schutzlosem Experimentierfeld geworden, deren Entwicklungsrichtung alles andere als eindeutig ist. Ihr sind faktisch ihre Platzierungs- und Allokationsfunktion und z. T. ihre Qualifikationsfunktion genommen worden oder werden in Frage gestellt. Immer stärker muss sie familiäre Defizite zu kompensieren suchen, um überhaupt noch ihren Unterricht aufrechterhalten zu können. Andererseits muss die Familie, auch die, die dazu keinerlei Bildungsvoraussetzung in Deutschland hat, schulische Anforderungen, nicht nur Hausaufgaben, mittragen. So zeigen institutionelle Entlastungseffekte heute unverhohlen schon
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Kindern ihre Kehrseite der Externalisierung von Handlungsfolgen: Entlastung kann auch zur Belastung werden, und Gefährdungs- und Blockierungseffekte scheinen unvermeidbar (Offe 1986: 97ff.). Und dennoch zeigen sich am Horizont weit und breit keine Alternativen und andere institutionellen Stabilisierungsressourcen. Unter günstigen Bedingungen kann auch heute noch die Familie schulische Misserfolge auffangen oder Schule familiales Versagen bis zu einem gewissen Grade neutralisieren. Damit bleibt eine gewisse Verlässlichkeit und Erwartungstypik gewahrt, die den Humus alltäglicher Normalität bildet. Darum haben heute manchmal nicht nur Kinder den Eindruck, eigentlich habe sich in den letzten Jahren wenig geändert. Familie und Schule könnten vielleicht nur besser kooperieren. Grundsätzlicher sehen Bildungssoziologen hier das Problem einer Balance zwischen Sozial- und Systemintegration (im Anschluss an Lockwood und Habermas) auftauchen. Das Bildungssystem habe beides zu garantieren und größtmögliche Inklusion aller Kinder durch das gesellschaftlich zentrale Schulsystem zu sichern (Böhnisch 1996; Büchner 1985). Doch so leicht wie sich das anhört, sind diese plausiblen Forderungen nicht umzusetzen. Hier brechen strukturelle Dilemmata und massive Rollenkonflikte auf, die strukturelle Asymmetrie und Imbalancen oft wahrscheinlicher als Balancen und reibungslose Kooperation erscheinen lassen. Heterogene Systemlogiken und funktionale Zuschreibungen prallen aufeinander. Kompensatorische Korrekturen überlasten oft beide, Familie wie Schule. Wachsende Friktionen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem sind seit Jahren unverkennbar. Führt dies nicht auch zu einer Delegitimation der Ziele des Bildungssystems? Eltern sehen sich oft nicht in der Lage und willens, sich ständig als schulischer „Zulieferbetrieb“ zu verstehen. Ihr Misstrauen gegenüber der öffentlichen Schule wächst. Dient die Schule wenigstens indirekt der Berufsausbildung? Und wenn schon dies nicht möglich ist, nützt sie wenigstens der Welterschließung und allgemeinen Bildung und Lebensbewältigung? Verschärft das Bildungssystem im Horizont einer heraufkommenden Wissensgesellschaft und eines ökonomischen „Qualitätsmanagements“ nicht ein traditionelles Grundproblem, wenn Kindern heute etwas beigebracht wird, was sie recht bald wieder verlernen und vergessen müssen (Mitterauer 1986: 21; Benedict 1978: 205)? Beide Institutionen senden widersprüchliche Signale aus und erschweren so eine selbstverständlich nahe liegende Kooperation und Balance von lebensweltlich verankernder Sozial- und funktionaler Systemintegration. Vor allem im Blick auf eine mögliche Sozialintegration in eine demokratische Gesellschaft ist den Kindern in den letzten Jahrzehnten nicht nur mehr Schutz und materielle Familienförderung, sondern auch ein „Stück eigenes Leben“ (Beck-Gernsheim) versprochen worden, das sich nicht im „pädagogischen Bezug“ erschöpfen kann. Gleichzeitig überzog aber ein expansiver Prozess der Pädagogisierung und außerschulischer Scholarisierung Kinder mit einem immer dichteren Netz von „Lernorten“ (Böhnisch 1996: 247f.; Zeiher 1994: 7; Brater 1997: 142ff.). Diese gespaltene Erfahrung von Kindern in Gesellschaft hat bislang auch nicht ein „erziehender Unterricht“ aufzufangen vermocht. Individueller Lebenslauf und postindustrielle Gesellschaftsentwicklung sowie die Entwicklung des modernen Wohlfahrtstaates bilden seit dem 18. Jahrhundert – trotz aller funktionalen Differenzierungen – einen immer engeren Zusammenhang, der erst neuerdings durch den neoklassisch-neoliberalen Ökonomiediskurs in Frage gestellt wurde (Loch 2001). Dadurch wird die notwendige Interdependenz und Kooperation keineswegs leichter. Problemdefinitionen, Normen und Problemlösungsvorschläge schließen sich nicht mehr ohne
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weiteres zwanglos zusammen. Auch ein tragendes Weltbild und ihr soziokulturelles „Unterfutter“, die prä- und extrafunktionalen Voraussetzungen funktionaler Systemkonstitution haben sich in erheblichem Umfang aufgelöst oder extrem pluralisiert. Elternrollen sind unscharf geworden, Lehrer schwanken, ob sie sich ausschließlich als Unterrichtstechnologen oder als universelle, professionelle Lernanimateure und -arrangeure verstehen sollen. Indirekt wächst der Modernisierungsdruck auf die Schule enorm. Dadurch scheint sich nicht so sehr eine arbeitsteilige Kooperation, sondern eine „Problemverfilzung“ zwischen Elternhaus, Kindergarten, Schule und politischer Öffentlichkeit zu ergeben, die sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einer wie immer gearteten „Frühförderung“ einspielt, ohne dass die Zukunftsfähigkeit von Frühförderung, Familienwelt und Schule im Mindesten geklärt wäre (Beck 1991: 117ff.). Der jeweils mögliche Kooperations- und Kommunikationsbeitrag bleibt dunkel. Die hier bemühten Deutungsmuster „Elternautonomie“, „Selbstständigkeit des Kindes“ (oder ähnliche Begriffe) oder „Selbstorganisation der Schule“ erweisen sich bei Licht betrachtet eher als rhetorische Kampfinstrumente und Indizien divergierender Funktionszuschreibungen denn als konsensuelle Problemlösungsstrategien. Weil sie das spüren, versuchen Eltern und/oder Lehrer manchmal in bester Absicht, Kindern die Probleme und die Härte der Auseinandersetzungen zu verheimlichen. Doch das dürfte meist vergeblich sein. Die Probleme bleiben nicht bei den Erwachsenen. Sie holen auch die Kinder in einer medial bestimmten Gesellschaft oft überraschend schnell ein. Je stärker sie behütet wurden, umso stärker ist dann ihre Enttäuschung. Sie ahnen oder wissen längst, dass viele Versprechen zukünftig nicht einzulösen sind. Sie erkennen etwa früh die wachsende Divergenz von Bildungs- und Beschäftigungssystem. Sie wissen auch oft um die geheimen Ängste ihrer Eltern, dass ihre Kinder nicht das Wohlstandsniveau und die beruflichen Chancen antreffen werden, die sie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erreichen konnten. Sie misstrauen nicht selten auch dem neuen moralischen Imperativ lebenslangen Lernens. Und sie erleben, wie stressreich es ist, sich nicht einfach als Kind sondern als „Persönlichkeit Kind“ dauernd inszenieren oder inszenieren lassen zu müssen (Mansel 1996; Brater 1997: 151f.; Beck 1990; Grundmann 2002: 42ff.). Gerade hochindividualisierte Kinder scheitern auch immer wieder daran, sich entscheiden zu müssen. Man kann nicht endlos abwarten und unbegrenzt verhandeln, obwohl Unsicherheit bleibt. Hier versagen traditionelle Sozialisationsvorstellungen und Entwicklungsmodelle. Kinder müssen vielmehr mit selbstverständlich präsenten Sozialisationsimpulsen selektiv und gleichsam strategisch-taktisch umgehen und sie in „Erfahrungs-Lern-Situationen“ transformieren (Brater 1997: 159; Krappmann 1999: 241ff.; Leu 1999: 77ff.). Eltern, Lehrer, Kinder greifen hier oft, aus Bequemlichkeit oder Ratlosigkeit, zu medialen Ratschlägen, die sich gut verkaufen können und verschenken dann gerade Chancen „maßgeschneiderten“, individuellen Verhandelns. Vieles erweckt den Eindruck, dass Familie und Schule bei ihrer Stabilisierungsaufgabe ständig zwischen „Übersozialisation“ und „Untersozialisation“ hin- und herschwanken. Es ist fast unvermeidlich, dass hier gerade bei engagierten Akteuren Interaktionsstress auftritt, der sich verselbstständigen kann, wo selbst Experten und ihnen stets auf den Fuß folgende Gegenexperten die strukturelle Unübersichtlichkeit nur mühsam verheimlichen können (Beck 1989: 165). Familie wird dann manchmal zum „Gefühlsdschungel“ und Schule zum „Markt der Möglichkeiten“, der Lehrer in burn-out-Syndrome drängen kann. Es gibt allerdings doch verschiedene Chancen, wie Familie, Kindergarten und Schule miteinander umgehen können. Zusammenarbeit und Indifferenz können „von oben“ oder
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„von unten“ ins Werk gesetzt werden. Die Familie kann als „Schulproblem“ und die Schule als „Familienproblem“ mehr oder minder ernst genommen werden (Ulich 1993: 29ff.). Aber das entsprechend notwenige Wissen wird rasch veralten. Die Balance zwischen beiden bleibt daher in jedem Falle eine prekäre Suchaufgabe zwischen wechselseitiger „Überforderung“ und „Unterforderung“. Und paradoxerweise können kommunikative Störungen durchaus als funktional erscheinen und die Beteiligten in dem Glauben verharren lassen, alles sei doch in bester Ordnung (Böhnisch 1996: 25). 3.5.8 Entgrenzung, Kontrollverlust in Freizeit und Konsum Viele kindheitssoziologische Darstellungen betonen, dass sich Kindheit vor allem auch durch den Einfluss von Freizeit, Konsum und Medien stark verändert habe. Aus der typisch modernen Familien- und Schulkindheit sei eine Medien- und Konsumkindheit geworden. Familie und Schule seien zwar nicht unwichtig, aber deutlich relativiert und überlagert worden. Die Dynamik der weiteren Entwicklung der soziokulturellen Gestalt gehe eher vom Mediensystem und vom Konsummarkt aus. Das zeige sich auch daran, dass auch Familie und Schule in deren Sog geraten seien. Kinder erleben auch hier, dass nicht mehr die Vorbereitung und Qualifikationen für den Arbeitsmarkt die zentrale Lebensorientierung bilden, sondern die Lebensqualität im Privatbereich und der Freizeit mindestens ebenso viel zählt, und eine seltsame Gemengelage von Produktion und Reproduktion entsteht. Kinder versuchen wohl auch heute noch ihre Eigenwelt in konzentrischen Kreisen (Baacke) zu erschließen. Doch oft gelingt dies nicht oder nur mühsam. Neben lokalen, spielen funktionale, optionale und mediale Relevanzgesichtspunkte oft eine verwirrende Rolle. Dementsprechend „bunt“ erfolgt dann auch die Alltagsorganisation. Was als „nah“ empfunden wird, braucht nicht lokal-räumlich nah zu sein, was als „an der Zeit“ verstanden wird, braucht nicht chronologisch nah zu sein, was als sozial relevant betrachtet wird, braucht nicht der unmittelbar vorfindliche Interaktionspartner zu sein. Dies darf nicht umstandslos und undifferenziert mit der viel beredeten „verinselten Kindheit“ gleichgesetzt werden! Viel eher geht es um Hybridbildungen besonderer Art. Wenn z. B. die räumliche Qualität es nicht anders zulässt, wird manchmal zur Not auch an verkehrsreichen Straßen, in Parkhäusern, Kaufhäusern, U-Bahn-Stationen, S-Bahn-Brücken etc. eine riskant erscheinende Homogenisierung des Lebensraumes künstlich geschaffen und optische „Verinselung“ gerade überbrückt und vermieden. Auch zeitlich und sachlich lassen sich ähnliche symbolische Überbrückungen beobachten, was kurzzeitige Verinselungen bestimmter Kinder unter bestimmten räumlichen, zeitlichen, sozialen Bedingungen freilich nicht ausschließt. Von Freizeit der Kinder zu sprechen, mag heute immer noch Erstaunen hervorrufen. Der Begriff Freizeit ist ja der Komplementärbegriff zur Arbeit der Erwachsenen und richtet sich auf die Zeit, die nach Abzug der Hausarbeit und Rekreation als relativ selbstbestimmte Zeit gelten kann. Und nach Meinung der Mehrheit der Bevölkerung arbeiten Kinder ja überhaupt nicht. Oder etwa doch? Schularbeit könnte man vielleicht gerade in weiterführenden Schulen als Arbeit gelten lassen. Sonstige Kinderarbeit ist doch verboten. Doch offen oder versteckt arbeiten Kinder oft in Haus, Garten etc. Und empirisch finden sich häufiger als angenommen begrenzte Formen von Erwerbstätigkeiten, meist um konsummä-
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ßig mithalten zu können. Manche Soziologen sprechen von „Konsumarbeit“. Hier zeigen sich sicher Grauzonen zwischen Arbeit und Freizeit. Was als Freizeit verstanden wird, unterliegt einem dauernden Wandel und ändert sich mit der Institutionalisierung des Lebenslaufs. Inhalt, Umfang, Struktur wandeln sich aber auch im Verlauf jeden Lebens, auch von Lebensphase zu Lebensphase. Pragmatisch kann man zur Überzeugung gelangen, dass es schon deswegen Freizeit bei Kindern geben muss, weil sich reale Freizeitangebote, Kinderfreizeiten, ein Markt für kindliche Konsumbedürfnisse kaum übersehen lassen und Kinder in die Freizeit ihrer Eltern, Geschwister, Großeltern und Freunde integriert sind (Prahl 2002: 252). Die Kindheitssoziologie geht vor allem deshalb von kindlicher Freizeit aus, weil sie heute stärker würdigt, dass einige Tätigkeiten von Kindern einen durchaus arbeitsähnlichen Charakter angenommen haben. Darum ist auch Kindern Arbeitszeit und komplementär, ähnlich wie bei Erwachsenen, Freizeit zu zubilligen. Diese Aktivitäten besitzen auch einen ähnlichen Verpflichtungsgrad wie Erwachsenenarbeit und Erwachsenenfreizeit (Qvortrup 1998: 57ff.; Hengst 1996: 117ff.). Und sie reproduzieren damit – vielfach immer noch nicht anerkannt – Humankapital einer kapitalistischen Marktwirtschaft, die nicht nur laufend neue Waren- und Dienstleistungsmärkte zu erschließen sucht, dafür hinreichend Arbeitskräfte benötigt, sondern immer stärker von „nachwachsendem“ Wissen profitiert. Daraus erhofft sie sich heute eine Qualifizierungssteigerung, nicht zuletzt, weil sie von dauernden Innovationswellen und einer permanenten Produktdifferenzierung ihre Dynamik gewinnt. Aber auch insofern Kinder nur das Geld ausgeben, das Andere verdienen, wirken sie heute angesichts einer unübersichtlichen Marktlage aktiv dabei mit, dass kollektives Wissen über Kindheit und über Kinder, eine gewisse Markttransparenz im Hinblick auf eine strategische Kundengruppe entsteht, Wissen marktverwertbar wird, und durch Werbung Multiplikationseffekte, nicht nur auf die Gegenwart hin, entstehen. Damit wird die „Rolle“ des Kindes als „aktiver Konsument“ mit Pilotfunktion neu bestimmt und erneut vereinheitlicht (Neumann 2001: 94; Hengst 1996: 118). In den letzten Jahren nehmen Kinder – zur Taschengeldaufbesserung – mit und ohne Kenntnis ihrer Eltern verstärkt Gelegenheitsjobs an und begeben sich damit auch wieder in den Bereich der Lohnarbeit; in den allermeisten Fällen nicht wie in der Zeit der Frühindustrialisierung aus Not ihrer Eltern. Sie unterstreichen damit, dass ihnen „wesensgemäß“ nicht nur Lernen, sondern Konsumieren in der außerschulischen Freizeit zusteht, und sie das Recht auf einen eigenen Lebensstil einfordern können (Vester 1999: 87; Fuhs 2002: 637ff.). Hier suchen Kinder fern von Lernzumutungen der Schule ein neues Handlungsfeld, das durch relativ selbstbestimmtes Handeln und Konsumieren Selbstbestätigung, Spaß und Erlebnisse („events“) verspricht. Für eine kindheitssoziologische Analyse kommt aber alles darauf an, wie Kinder mit diesem Anspruch und den neuen Konsummöglichkeiten umgehen, und wie ihre sozialen Kontexte, die Eltern, die Interaktionsgeflechte der Gleichaltrigen, die Schule etc. darauf reagieren. Erst das zusammen konstituiert das soziale Phänomen des „aktiven Konsumenten“ zur „sozialen Tatsache“, die kulturell-diskursiv, lebenspraktisch und politisch festlegt, was „Freizeit“ von Kindern tatsächlich ausmacht. Es fällt dabei in die Augen, dass bei vielen Kindern nicht die ökonomisch projizierte „Kaufkraft“, sondern die Steuerung vor allem von den Eltern und Großeltern bestimmend ist (Feil 2004). Die traditionelle „Freizeit“ der klassisch modernen Kindheit seit dem 18. Jahrhundert war die Spielzeit, in der das Kind neue Kräfte sammeln und sich auch jenseits der erzieherischen Instruktion weiterentwickeln sollte. Damit sollten also einerseits Anstrengungen
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kompensiert, andererseits indirekt Persönlichkeitsbildung durch hingebungsvolles Spiel und freiwillige Regelbindung im Spiel erreicht werden. Insofern war auch hier im Hintergrund der spielerische Umgang mit Dingen, Personen und Spielkonflikten ein probates pädagogisches Mittel und nicht ein existentieller Selbstzweck im Sinne des Spielverständnisses von F. Schiller. Spiele bildeten aber auch einen reichen Fundus der Kinderkultur, die von Generation zu Generation oft wohl über Jahrhunderte weitergegeben wurden und durchaus immer eine subversive und wenig „stubenreine“ Note besaßen. Spiele und Kinderkultur bilden auch heute ein wesentliches Element kindlicher Freizeitgestaltung. Doch die Art der Spiele und auch ihre Funktion ist eine ganz andere. Die informationstechnischen Medien, besonders Spielkonsolen und Spiele im Internet üben gegenwärtig noch eine mächtige Faszination aus. Nicht für alle aber für manche Kinder verschwimmen alltägliche und virtuelle Realität. Gewiss lockert sich aber der lokale Bezug der Spiele und der Bezug auf den jeweils „richtigen Zeitpunkt“ und zur Irreversibilität von Lebensentscheidungen. Regeln werden stärker unter dem Aspekt möglicher Regelveränderung und Revision denn der Regeleinhaltung gesehen. Versteckt und offen blitzen überall kommerzielle Aspekte der Freizeitnutzung auf und präsentieren immer massiver eine Welt, in der Erwachsene als Vorbilder ausgedient haben, und diese Erwachsene dies weithin gar nicht bemerken (Neumann 2001: 107, 104f.). Da diese Spiele den Kindern quasi die Illusion insinuieren, sie seien „gobal player“, bieten sie ihnen eine ausgezeichnete Chance, etwas sozusagen vor den Augen der ganzen Welt auszuprobieren und dabei gleichwohl kein großes Risiko einzugehen. Gerade dadurch gewinnen Kinder in den Augen von Marketingstrategen eine äußerst interessante explorative Funktion für ihr offensives Abtasten des Marktes. Gleichzeitig wird um die „pädagogische Verantwortung“ der Eltern geworben. Während die erste Strategie durchaus antipädagogisch erscheint, bleiben also auch konventionelle pädagogische Aspekte interessant (Hengst 1996: 118f.; Schulze 2003: 310, 349f.; Prahl 2002: 228). Wenn Eltern hier nicht energisch intervenieren, ist nicht nur eine laufende Entgrenzung der Bedürfnisse hochwahrscheinlich sondern in vielen Fällen ein Kontrollverlust. Freizeit und Konsum erweitern heute in erster Linie die Chancen der „Modernisierungsgewinner“, die ohnedies mehr kulturelles Kapital und soziale Ressourcen haben (Krappmann 2002: 67ff.). In der Version des „aktiven Konsumenten“ zeigt das kindheitssoziologische Konzept des „kompetenten Akteurs“ seine ganze Zwiespältigkeit. Kinder lassen sich zwar keineswegs umfassend konditionieren. Dennoch verfügen sie kaum über wirkliche „Konsumentensouveränität“. Sie versuchen sich immer an Meinungsführern und Bezugspersonen rückzuversichern und sind vielleicht noch stärker als Erwachsene damit beschäftigt, die vielfältigen synchronen sozialen Prozesse abzustimmen. Dass Kindheit in vieler Hinsicht heute Medien- und Konsumkindheit geworden ist, zeigt sich etwa daran, dass schon Zweijährige Medien und Werbung gezielt wahrnehmen und nutzen (Prahl 2002: 257). Gleichwohl sind die unterschiedlichen Voraussetzungen und Ressourcen hier zu differenzieren. Doch sicher gilt: Je mehr und leichter etwas zu haben ist, umso wahrscheinlicher tritt der Wunsch in den Vordergrund, „sich im gegebenen Spielraum das Leben schön zu machen“ (Schulze 2003: 58). Und ganz sicher gibt es im Freizeitbereich einen kritischen Punkt, wo der Chancencharakter und der ursprüngliche Sinn verloren gehen und zur Gefahr und zur Sucht führen können. Während sich die Konsumentenpalette ständig erweitert, nimmt die dafür notwendige Übersicht, die Beratungsgelegenheiten und die Beratungszeit bzw. die Unabhängigkeit
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ständig ab und die Möglichkeit der Problemzuschreibung und potentieller Verantwortlichkeiten im Sinne des Verursacherprinzips zu (Kaufmann 1992) und wird intransparent. 3.5.9 Dramatisierung oder Suspendierung der Sinnfrage und der Glaubwürdigkeitsverlust institutioneller Autorität Schon die Bewältigung alltäglicher Situationen erfordert heute soviel Koordinationsaufwand, dass sich unversehens immer wieder die Sinnfrage aufdrängt. Sie kann allerdings oft nur provisorisch und nie abschießend und endgültig beantwortet werden. Kinder erkennen dadurch jedoch, dass sie in einer die eigene Person, die eigene Familie, die eigene Verwandtschaft, die eigenen und elterlichen Verkehrskreise, die eigene Schule etc. und ihre unmittelbare Gegenwart transzendierenden geschichtlich-gesellschaftlichen Welt verortet sind. Sie werden sozusagen von einer Minute in die andere hineingestoßen, stoßen dabei auf immer andere Menschen, werden mit Aufgaben betraut, die sie sich nicht selbst gestellt haben, und sehen früher oder später, dass alle Menschen zwischen Geburt und Tod zu einer den Alltag übersteigenden und transsituativen Biographiekonstruktion im Generationszusammenhang und im Horizont einer Welt mit verschiedenen Wissensordnungen veranlasst werden. Streng genommen trifft nicht erst das Kind nach der Geburt, sondern heute schon „der Fötus als Subjekt“ auf eine dramatisierbare Biographiezumutung, die sich kleinen, mittleren und großen Transzendenzen sozialen Handelns verdankt (Luckmann 1996: 120, 117; van den Daele 1988; 16ff.; Czarnowski 1996: 246; Hoerning 2000: 124f.). Gesellschaftliche Zustände drängen sich dabei nicht einfach mechanisch als push- und pull-Faktoren auf. Sie können diametral unterschiedlich eingeschätzt werden. Manchmal werden sie als „normal“ hingenommen, obwohl sie eine nicht besonders tief gehende Reflexion sofort als hochproblematisch entlarven könnte. Und als „Krisen“ empfundene Entwicklungen verlieren nicht selten bei genauerer Betrachtung jeden katastrophischen Unterton. Auch eine „veränderte Kindheit“ kann daher von Erwachsenen und/oder Kindern selbst sehr unterschiedlich eingeschätzt werden. Und diese disparate Einschätzung kann u. U. öfters wechseln. Eine endgültige Einschätzung kann keine Wissenschaft, auch die Soziologie nicht, quasi von einem „Gottesstandpunkt“ aus vorlegen (Abels 1998: 23). Die konstitutive Schwierigkeit für Kinder liegt hier darin, dass sie ohne „Urvertrauen“ (Erikson) und „Weltoptimismus“ (Claessens) nicht leben können, aber in der Spätmoderne immer wieder in Unsicherheit und Ambivalenz hineingeworfen werden. Sie müssen so die eigenen Zweifel an ihrer Zukunft zerstreuen (Luckmann 1992: 31, 67ff.; Berger 1980). Ob und in welchen Umfang und wie es dabei zur Entfremdung zwischen Erwachsenen und Kindern kommt, hängt von Verschiedenem ab. Je weniger Kinder sich bejaht fühlen, Zuwendung, Erfolg und Anerkennung finden, eine gewisse Konvergenz zwischen gesellschaftlichen „Versprechen“ und gesellschaftlichen Anstrengungen erkennen können, je mehr ihnen Alternativen und Kompensationen fragwürdig und/oder (finanziell) unerreichbar erscheinen, umso eher stellen sich Phänomene ein, die auch Soziologen, die nicht zum Kulturpessimismus neigen, als Anomietendenzen einstufen können (Luckmann 1991: 155; Berger 1994). Besonders kritisch wird das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen, wenn Kinder das Gefühl haben, Erwachsene identifizierten ihre eigene Kindheit mit der ihrer Kinder. Sie fühlen sich folglich an Vorstellungen gemessen, die weniger denn je den realen
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Bedingungen ihres eigenen Aufwachsens und ihrer stärker denn je kontingenten Zukunft entsprechen. Offenbar fühlen sie dann große Ohnmacht. Sie fordern einen eigenen Maßstab. Da sie keine „kulturellen Trottel“ (Garfinkel) sind, ahnen oder wissen sie, dass an jedem Phänomen etwas haftet, das über es hinausweist, dass jedes Phänomen mit einem anderen in Verbindung steht. Weil das so ist, können unterschiedliche Perspektiven extrem divergieren. Jede Geste, jedes Wort, jede Handlung kann anders verstanden werden als sie intendiert waren. Auf dieser Erfahrung, dass jedes Phänomen in einem Verweisungszusammenhang steht und in andere Zusammenhänge rücken, anders interpretiert werden kann, bauen die Plausibilisierungsbemühungen von Kindern als Konstrukteuren von Wirklichkeit auf. Dazu kommt noch, dass der moderne Glaube an das unerschütterliche Fundament der Rationalität (Descartes) kräftig erschüttert wurde. Wir wissen längst, dass Modernität auch Irrationalität, ja selbst die Möglichkeit zu einer eigentümlichen Barbarei in sich birgt (Miller 1996). Sinnerfahrung ist oft zur Sinnsuche geworden. Dies kann zur Suspension oder zur Dramatisierung der Sinnfrage führen. Beides kann sich auch abwechseln (Barz 1997: 444). In dieser Ambivalenzsteigerung spiegelt sich aber zunächst die Erfahrung der älteren Generation und ihres nicht immer souveränen Pragmatismus. Er neigt dazu, Sinn-, Wert-, Funktions-, Nutzen- und Kostenfragen im Alltag weitgehend gleichzusetzen. Kindern fällt dann ein differenzierter „kosmisierender“ Durchblick schwer. Sie erkennen oft nur eine gewisse Beliebigkeit in der Diskurskonkurrenz, keine unzweideutigen Entwicklungsaufgaben, nur Bruchstücke von strukturierenden Passageriten von einem Lebensabschnitt zum anderen und „wachsweiche“ Normalisierungsbemühungen, die sich pausenlos im Wind des Zeitgeistes drehen. Und eine „Erlebnispädagogik“ scheint sich rasch angesichts der Hektik der „events“ tot zu laufen und zum „Gehen ohne Grund“ zu werden (Schulze 1994: 79ff.). Die Bereitschaft zur intergenerationalen Zusammenarbeit hängt einmal davon ab, ob zwischen Erwachsenen und Kindern eine hinreichend große geteilte Wirklichkeit erfahrbar wird und sich die Mitglieder einer Gesellschaft – unbeschadet aller Unterschiede – hinreichend zusammengehörig und zu einer gewissen Solidarität verpflichtet fühlen. Entwicklungskorrekturen im Sinne der jungen Generation können nur dann erfolgen, wenn sie bei möglichst vielen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft Plausibilität erreichen. Je größer die Zahl der (rechtlichen) Regulierungen und je geringer die Schnittstellen des Wissens, umso weniger werden sie durchschaut und innerlich akzeptiert. In unserer Gesellschaft zeigt sich oft gleichzeitig ein Mangel und ein Überfluss an Wissen, kolossale Wissensspeicher und mangelnde Selektions- und Sinnkriterien. Irgendwann ist dann ein Punkt erreicht, wo „Weitermachen“ und „Innovation“ gleichgültig oder gleich problematisch erscheinen. Ist Kindheit Humankapital, Selbstzweck, emotionaler Nutzen? Und bedeuten Kinder einen Reichtum für Eltern, auch wenn die erhoffte Unterstützung und emotionale Befriedigung nicht immer erreicht werden? Die kulturelle Definition des Kindes ist nicht unabhängig von der des Erwachsenen und der „generationalen Ordnung“ zu gewinnen. Und sie führt zur inter- und intragenerativ eingebetteten Kategorie der Biographie mit quasikosmologischen Sozialbeziehungen und einer Fülle an Erfahrungen und Ereignissen. Mit zunehmender, in sich nicht widerspruchsfreien Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert haben sich nicht nur die Wahlmöglichkeiten für die gesellschaftlichen Akteure vermehrt. Es haben sich auch die Bedingungen und Folgen ihrer Wahrnehmung und der Entscheidungen grundlegend verkompliziert. Es
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ist eine Illusion zu glauben, Optionen seien zu jeder Zeit von jedermann mit gleichem Aufwand wahrzunehmen und zu ergreifen. Es treten oft Kommunikationsparadoxien auf, die eine erhebliche Dramatik in sich bergen. Während in einem Handlungsbereich sich Veränderungsschübe durchsetzen, machen sich verstärkt anderswo Beharrungstendenzen bemerkbar. Generationsketten brechen jäh ab. Schultraditionen werden kurzerhand geopfert, obwohl sich optisch nicht viel zu ändern scheint. Ein Aktionismus versucht den Eindruck „rasenden Stillstands“ (Virilio) zu überspielen. Angesichts solcher und ähnlicher Indizien ist es wohl nicht zu hoch gegriffen, von Glaubwürdigkeitsproblemen heutiger sozialer Institutionen zu sprechen. Legitimation ist ganz offensichtlich ein knappes Gut geworden. Organisationen finden oft nur noch Nachwuchs, wenn sie einen „Mehrwert“ versprechen. Funktion setzt in vielen Fällen „Animation“ voraus. Die Abgrenzung zwischen Funktion, Public Relations, Show, „Vergötterung“, „Verführung“, „Mission“ scheint manchmal zu verschwimmen (Clausen 1978: 27). Familie und Schule können sich von diesen Tendenzen nicht völlig frei halten. In dieser Situation wird von Psychologen (Schneewind 1983) fast unisono „autoritative Erziehung“ empfohlen, die sich gleich weit von „autoritärer“ wie „permissiver“ Erziehung entfernt halte und Zuwendung und Grenzziehung kombiniere. Doch sowohl „Zuwendung“ wie „Grenzensetzung“ oder „Autorität“ sind heute vieldeutige Begriffe mit einer zwielichtigen Wirkungsgeschichte, die erst durch Perspektivenabgleich definitionsfähig werden (Dreitzel 1977: 16; Abels 1993: 498). Und ohne Verhandlungen und Kraftproben sind sie überhaupt nicht zu praktizieren. Interaktionsstress ist dabei kaum zu vermeiden, der regelmäßig Sinn absorbiert statt zur „Kontingenzunterbrechung“ (Luhmann) zu führen. Dramatisierung und Entdramatisierung wechseln sich dabei oft jäh ab. Kinder erwarten „Modelle“ und „Vorbilder“ angesichts einer Entwicklung, die scheinbar für Vorbilder gar keinen systematischen Platz lässt, weil die Zukunft keinerlei Verbindung mit der Gegenwart zu besitzen scheint – jedenfalls in den Diskursen der Protagonisten einer vollständig medial bestimmten „virtuellen Realität“. Der mittlerweile erkennbare Übergang von Kontinuitäts- zu Diskontinuitätskonzepten hinsichtlich der Eltern-Kind-Beziehungen spiegelt auch die wachsende Skepsis gegenüber der traditionellen Hoffnung auf durchgängige familiale Interaktions- und Identitätsbalancen. Gelegentlich geht sogar aus Enttäuschung die minimale Erwartung verloren, dass Familie mindestens prinzipiell auch heute gelingen könnte. Damit können „die diffusen und widersprüchlichen Sozialverhältnisse“ heute „nicht mehr genügend sozialisatorische Kraft entfalten“ (Krappmann 2000: 87). Eine allgemeine Hochschätzung der Familie scheint sich mit einer praktischen Skepsis durchaus zu vertragen. Seit Jahren deutet auch vieles daraufhin, dass sich das Partner- und das Eltern-Kindsubsystem gelockert haben. Selbst die viel diskutierte „Kindzentriertheit“ ist alles andere als eine eindeutige Größe. Familien erleben sich jedenfalls oft eher als „Systemfragment“ denn als heile „Familienwelt“. Und es ist eine offene Frage, ob und in wieweit Schule Teil der kindlichen Lebenswelt werden kann (Böhnisch 1996). Auch gesteigerte, psychologisch angeleitete „Beziehungsarbeit“ löst nicht das Problem, dass meine, deine, unsere Familie mit sozialen Kontexten verträglich und „synergetisch“ sein muss. Und in diesem Sinn kommt es nicht nur darauf an, dass innerhalb der Familie eine möglichst große kommunikative Schnittmenge erfahrbar wird, sondern dass Familie und Schule und andere soziale Kontexte zusammen eine kommunikative Konstruktion geteilter und ungeteilter Wirklichkeit zustande bringen (Joraschki 1990; Hildenbrand 1997: 104ff.).
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4 Bisherige Theorieansätze 4 Bisherige Theorieansätze
4.1 Vom Kind als Sozialisationsobjekt zum Kind als Realität aneignendes Subjekt Nicht nur die objektive Lebenssituation, sondern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung und nicht zuletzt die wissenschaftliche Konzeption von Kindheit haben sich in den letzten Jahrzehnten auffällig verändert. Kinder wurden in der Vergangenheit in Psychologie, Pädagogik und, falls sie hier überhaupt Beachtung fanden, auch in der Soziologie als defizitbestimmte Sozialisationsobjekte, als „Werdende“ und zu „Entwickelnde“ oder als „zukünftige Erwachsene“ den wirklichen Erwachsenen auch dann ganz pauschal und abstrakt entgegengesetzt, wenn diese entmündigt worden waren oder durch Sucht ihre Sozialkompetenz nur eingeschränkt wahrzunehmen vermochten. Beim Erwachsenen wurde notwendige Weiterbildung oder nachholende Sozialisation und Resozialisation kaum berücksichtigt. Folgerichtig wurde dann das Alter nur als Kräfteabbau und schrumpfende Entwicklung gewertet. Erst im Blick auf den als normal institutionalisierten Lebenslauf der Moderne, die „Normalbiographie“ des Mannes wird die ganze Voraussetzungshaftigkeit des typisch modernen Modells von Kindheit sichtbar. Doch ganz allmählich keimten Zweifel, wurden Akzente im Sozialisationskonzept immer mehr verschoben, sodass es heute nahe liegt, Sozialisation als sekundäres Konzept aufzufassen, das von der sozialen Konstruktion von Kindheit abhängig bleibt. Die Teleologie auf die Erwachsenenzeit wurde in Entwicklungspsychologie und Sozialisation immer mehr durch eine mehr oder minder konsequente lebenslange Entwicklungsperspektive („Lebensspanne“) zumindest zurückgedrängt und relativiert. Sozialisation kann demnach nicht länger als unilineare und ungebrochene Transmission von Werten und Normen durch die ältere an die jüngere verstanden werden, sondern entpuppt sich als wesentlich multilinearer. Jedenfalls gelingt sie seit langem nicht mehr ohne die interaktive Auseinandersetzung und selektiv-exklusive Aneignung der Kinder selbst. Kindheit erscheint daher auch nicht mehr als biographisch präjudizierendes Lebensschicksal, das in späteren Lebensphasen im Grunde keine Korrektur mehr zuließe. Heute wird sie jedenfalls überwiegend als spezifische Eigenphase konzipiert. Kinder erscheinen daher als Subjekte von Anfang an, und Kindheit wird „als eine in sich ruhende Lebensphase von eigenem Gewicht und eigenen Ansprüchen“ (Bründel 1996: 41) definiert. Die kindliche Persönlichkeit könne in (fast) keiner Hinsicht an den Kriterien der Erwachsenenpersönlichkeit gemessen werden. Die allerneusten Theorieansätze in der Kindheitssoziologie (James 1998; Honig 1999; Zeiher 1994; Hengst 2005) versuchen darüber hinaus, das „Sein“ im „Hier und Jetzt“ und das „Werden“ und „Aufwachsen“ nicht mehr nur zu konfrontieren, sondern ihre dialektische Verschränkung zu erhellen. Lange vor dem Aufschwung der sozialwissenschaftlich geprägten Kindheitsforschung um 1980 gab es schon einige Studien über Kinder, die freilich fast immer ihren Fokus in der Sozialisationsproblematik hatten. Das Sozialisationskonzept behielt jedoch auch da, wo
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es sich von seinen funktionalistischen Schlacken zu befreien suchte und sich als „sozialisatorische Interaktion“ (z.B. bei Habermas und Oevermann) verstand, seinen latenten teleologischen Drall (Jenks 1992; 1996; James 1998; Corsaro1997; Breidenstein 1998; Kelle 1996). Noch viel weniger waren jedoch die zahlreichen empirischen Arbeiten, etwa die zur schichtspezifischen Sozialisation, die nur eine geringe theoretische Fundierung aufwiesen, geeignet, einen Durchbruch zu einer eigenständigen Kindheitssoziologie zu schaffen. Dies lag neben ihrer Zentrierung auf Familie und Schule auch daran, dass stets unterstellt wurde, der Begriff „Kindheit“ sei auf vollständige Konstanz zu verpflichten, und es gäbe inter- und intrakulturell kein „code switching“. Unklar blieb auch fast immer, was an Kindheit allgemein und was spezifisch historisch war (Berger 1965: 97ff.; Peuckert 1999: 132ff.). Nachträglich ist kaum noch die Zeitbedingtheit dieser Studien der Sozialisationsforschung zu leugnen. Darüber hinaus zeigt sich hier die komplexe Reflexivität sozialer Konstruktionen, weil weder die objektiven noch die subjektiven Momente still gestellt werden können, da sie einer wechselseitigen Übersetzung entspringen (Matthes 1992: 96). Kindheit und die Zeit der Erwachsenen verändern sich beide wie auch der gesamte Lebenslauf gleichzeitig und wirken aufeinander zurück. Auch der Beobachter steht dem nicht unaffiziert von einem „Gottesstandpunkt“ aus gegenüber. Auch er bleibt der Zeit verhaftet und sieht sich genötigt, sich mindestens soweit einzulassen, dass er „Wesentliches“ mitbekommt. Dadurch sind seine Beobachtungen stets historisch und kulturell infiziert (Giegel 1998: 168; MüllerDoohm 1991: 68).
4.2 Kulturanthropologie Das Leitkonzept bisheriger Forschungen über Kindheit verdankt seine universale Rezeption und sein theoretisches Gewicht, das es bis heute besitzt, ohne Zweifel, oft vermittelt über den Strukturfunktionalismus, letztlich der amerikanischen Kulturanthropologie, in Deutschland Ethnologie genannt. Diese entfaltete schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts große Wirkung. Begrifflich setzt sie Sozialisation mit Soziabilisierung, Enkulturation und Akkulturation in Beziehung. Mit diesen Begriffen sollte zum Ausdruck kommen, dass das Neugeborene gleichsam eine „tabula rasa“ sei und erst durch eine Art „zweite Geburt“ aus einem kleinen Geschöpf zum menschlichen Kind durch Ein- und Anpassung an seine soziokulturelle Umwelt würde. Erst danach könne das „creative adjustment“ oder gar kritische Auswahl erfolgen (Claessens 1972: 116ff., 144ff., 179ff.). Sozialisation grabe sich in Form von Lernprogrammen und psychoanalytisch deutbarer, vollständiger Wertinternalisierung so stark in eine „Basispersönlichkeit“ ein, dass diese praktisch irreversibel sei und eine lückenlose soziale Kontrolle hinreichend funktioniere. Sozialisation und soziale Kontrolle sind hier zwei sich wechselseitig konfundierende, kaum divergierende soziale Prozesse. Sie führen zur völligen Integration, Ergebnis des sozialisatorischen Prägeprozesses der Persönlichkeit. „Rollendistanz“ muss hier als reines Wunschdenken erscheinen. Die Kulturanthropologie vertrat einen strikten Kulturdeterminismus und wandte sich vehement gegen biologistische oder substantialistisch-ontologische Konzepte zeitloser und kulturtranszendenter „menschlicher Natur“. „Natur“ war immer schon „kulturelle Natürlichkeit“. In vielen ihrer Arbeiten strich sie deren extrem hohe Plastizität heraus. Sie suchte die Eigenart des kindlichen „Wesens“ in seiner Spezifik gegenüber der jeweiligen adultozentrischen „Basispersönlichkeit“, die zugleich als durchschnittliche „Modalpersönlichkeit“
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vorgestellt wurde. Die „einfache Reproduktion“ der Gesellschaft gelang deshalb und insoweit, als die sozialisatorische Verdichtung zur „Basispersönlichkeit“ funktionierte. Erst größere Diskrepanzen erzeugen sozialen Wandel und „erweiterte Reproduktion“. Forschungsstrategisch galt es hier, die Variation individueller Persönlichkeitsstrukturen eines Kulturkreises zu ermitteln. Diese Theorie ist stark sozialpsychologisch und psychoanalytisch geprägt. Dies manifestiert sich ganz deutlich an klassischen Arbeiten von M. Mead und R. Benedict. In unterschiedlich differenzierter Form kommt hier zum Ausdruck, dass in vormodernen, außereuropäischen oder außerwestlichen Kulturen der Unterschied zwischen Erwachsenen längst nicht so stark ausgeprägt ist und der Entwicklungsprozess meist weniger konflikt- und krisenträchtig als bei uns verläuft (Renner 2002: 169, 171). Kindheit erweise sich in Stammesgesellschaften durch spezifische Traditionen durchgängig geregelt, in klaren Statuspassagen markiert und durch Initiationsriten unmissverständlich begrenzt. Allerdings zeigte sich in Replikationsstudien nicht nur, dass „Nationaleigenschaften“ immer wieder variieren, sondern oft inkonsistent sind. Zeitweilig mögen zwar im Einzelnen „modale Bereiche“ überwiegen. Diese sind aber selbst in noch einigermaßen kulturell selbstständigen, nicht durch Kulturkontakte aus dem Gleichgewicht gebrachten Stammesgesellschaften jeweils nur für eine begrenzte Zahl von Personen charakteristisch, und weite Bereiche der Persönlichkeit variieren auch hier mehrfach und über längere Zeit (Schmerl 1978: 24). Trotz all dieser Kritik und der dadurch nötigen Einschränkung kulturanthropologischer Prämissen ist bis heute kaum umstritten, dass die Bedeutung der Kultur bei weitem die äußerst plastischen und mehrdeutigen biologischen Voraussetzungen übertrifft. Vorsichtigere Autoren sprechen allerdings von einem wechselseitigen Durchdringungsverhältnis, das nicht quantifizierbar ist (James 1998). Die verschiedenen Kulturen werden aber auch hier als „starke Filter“ (M. Mead) betrachtet. Sie lassen jeweils nur einen bestimmten Bereich des gesamten möglichen Verhaltensspektrums durch, der für die jeweilige Kultur als relevant und wünschenswert erscheint. Entscheidend sind offenbar übergeordnete Welt- und Leitbilder ebenso wie Erziehungs- und Lebenspraktiken in der frühen Kindheit und Jugend. Nach kulturanthropologischer Auffassung wächst jedenfalls das Kind in aller Regel ohne konstruktive Leistungen in seiner individuellen Ontogenese in die Kultur der jeweiligen Gesellschaft hinein. Gerade in der Behandlung von Kindern mit typischen Erziehungspraktiken zeigten sich freilich sogar bei nahe beieinander wohnenden Gesellschaften extreme und radikale Unterschiede. Während der eine Stamm Kinder extrem tolerant, sanft, liebevoll und empathisch zu sozialisieren sucht, betrachten andere Stammesgesellschaften Kinder als feindliche Eindringlinge, erziehen extrem hart und unnachsichtig oder wollen sie früh auf den rauen Alltag vorbereiten (Nance 1977: 293ff.; Parin 1989: 580ff., 1991; Benedict 1978: 195ff.; Mead 1970: 250f.; Whiting 1975). Whiting und Child haben die Prämissen der Kulturanthropologie in 75 Kulturen untersucht. Sie konnten sie aber nur teilweise bestätigen. Abgesehen von der Kritik am methodischen Vorgehen dieser Autoren konnten spätere Untersuchungen klar stellen, dass hier differenziertere Vorgänge ablaufen. Empirische Daten passten eigentlich nie genau in dieses kulturdeterministische Raster, ja standen oft, wie sich nach Jahren zeigt, in krassem Gegensatz zu den Grundannahmen der Kulturanthropologie. In allen Kulturen lassen sich daher Kontinuität und Diskontinuität der Sozialisation, Differenzierung in verantwortliche und unverantwortliche Statuspositionen, Unterworfene und herrschende Menschen, rudimentäre oder scharf profilierte Geschlechts- und Altersrol-
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len unterscheiden (Benedict 1978: 145). Lebensphasen können nie isoliert verglichen und beschrieben werden, weil sie in ein kontextbezogenes Generationenverhältnis und in einen kulturell unterschiedlich „codierten“ Lebenslauf eingebettet sind und lebensweltlich selektiv konstituiert werden. Der kulturell bedingte Lebenslauf ist nirgends eine bloße „Naturtatsache“, die automatisch abläuft. Und der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern beruht offensichtlich auch auf „herrschaftsgestützten Dogmen“ und kann sehr unterschiedlich betont werden. In vielen Stammesgesellschaften wird er eher lebenszyklisch, in modernen Gesellschaften linear-teleologisch akzentuiert. Beide Markierungen sind aber nicht naturgegeben. In vielen Stammesgesellschaften wird das Kindsein strikt geschlechtsbezogen interpretiert, in manchen westlichen Gesellschaften die Geschlechtsbindung fast verdrängt. Stammesgesellschaften vermitteln „Lebenswissen“, moderne Gesellschaften glauben manchmal Wissen total funktionalisieren zu können (Benedict 1978: 202). Manche Gesellschaften legen großen Wert auf konsistentes Erziehungsverhalten, manche verzichten darauf. Es ist noch ungeklärt, unter welchen Bedingungen solches Verhalten in jedem Falle als „pathologisch“ bezeichnet werden kann. Daraus kann aber nicht vorschnell abgeleitet werden, dass jederzeit alles möglich sei. Im Anschluss an kulturanthropologische Forschungen kann lediglich gesagt werden, dass die Gemeinsamkeit aller Menschen eine Struktur an Möglichkeiten darstellt, die ohne historisch-gesellschaftliche Kontexte nicht zum Zuge kommen können. Von psychischer oder sozialer Vererbung im strikten Sinn zu reden, verliert damit jede fassbare Bedeutung (Malson 1972: 11).
4.3 Der Strukturfunktionalismus Die zentrale Stellung des Sozialisationskonzepts im weiteren Kontext soziologischer Analyse resultierte über viele Jahrzehnte auf der vorherrschenden paradigmatischen Interpretationsannahme, dass sich aus den Prinzipien funktionaler Rationalität – auf der Grundlage systemisch differenzierten Wissens – jeweils optimale funktionale Lösungen und Leistungsgarantien ergeben. Sie wurzeln in einem Prozess gesellschaftlicher Differenzierung „evolutionärer Universalien“ in allen modernen Gesellschaften, deren Ausbreitung letztlich weltweit nicht aufzuhalten ist (Parsons 1972; 1975). Das Steuerungssystem einer Gesellschaft tritt aber nur dann in Erscheinung, wenn es erstmals funktioniert, oder wenn es, nach Veränderungen, wieder funktioniert. Wie aber ist der Zusammenhang der Stadien von Evolution und Gleichgewicht auf einem neuen Niveau zu verstehen? Jeder funktional differenzierte Bereich, Religion, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Gesundheit etc., wird zunehmend als Systemzusammenhang gesehen. Etwas schwierig wird dann die Einordnung von Familie und Kindheit, wie später Luhmann sofort erspähte, denn sie können nicht restlos funktional und schon gar nicht monofunktional verstanden werden (Luhmann 1990; 1991; Kaufmann 1994). Jedenfalls ist bei der Familie irgendein als funktional verträglich sozialisatorischer Wissenstransfer unterstellt, der auf einer zyklischen Transmission beruht: Wissen wird Kindern und Jugendlichen angeboten, in dieses Sozialsystem transferiert und von dort zurückgeleitet, wo es dazu dient, die normale Sozialisation der Familienmitglieder und gewiss vor allem der Kinder in kontrollierte Systemprozesse einzubinden. Dabei ist sowohl (beim frühen Parsons) „einfache“ wie (beim späten Parsons) „erweiterte“ Reproduktion möglich. Aus dieser Entwicklungslogik lassen sich sowohl Stabilität wie sozialer Wandel erklären.
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In der theoretischen Tradition des Strukturfunktionalismus, dessen Protagonist Parsons zweifellos war, erscheint gesellschaftliche Integration wesentlich als Wertintegration, nicht als – zumindest analytisch – wertneutrale Sozialstruktur. Die einzelnen Funktionssysteme sind daher nicht nur strukturell und funktional getrennt, sondern durchdringen sich nach ihrer Konsolidierung wieder. Sozialisation muss dann aber sowohl funktionsspezifisches Wissen wie eine viel komplexere Motivation begründen, die eine Balance gesellschaftlicher Erwartungen und zugleich individuelle Bedürfnisse stabilisiert. Soziales und personales System müssen immer wieder durch Sozialisation und soziale Kontrolle verknüpft werden. Soziale Systeme entstehen dadurch, dass sich (junge) Menschen in geregelten und stabilen Interaktionsprozessen auf institutionell vorgezeichnete Beziehungsabläufe und Austauschprozesse ein- und verlassen können. Entscheidend ist, dass solche Abläufe über längere Zeit sicher und normorientiert funktionieren, z.B. als stets abrufbare gesellschaftliche Leistung der Produktion, Reproduktion, Allokation und Sozialisation. Damit solche Systeme in der Zeit Ordnung schaffen können, müssen potentielle Akteure auch in verlässlicher Form sozialisiert und durch soziale Kontrolle zur Normtreue veranlasst werden. Diese strukturfunktionalistische Sozialisationstheorie hat ungeheuren Einfluss in der Nachkriegszeit besessen. Und man kann wohl sagen, dass sie auch noch heute – oft undurchschaut – mindestens unterschwellig nachwirkt. Der Strukturfunktionalismus beruhte theoretisch auf einer zweifachen methodischen Ausrichtung: auf den aus Strukturen ableitbaren Funktionen. Jedes Problem der Gesamt- oder Einzelstruktur wird in eine funktionale Beziehung gebracht, d.h. beim frühen Parsons auf Überlebensprobleme, beim späten auf Probleme der sozialen Evolution. Das Gesamtsystem wird analytisch in drei Einzelsysteme zerlegt, das kulturelle, das soziale, das personale (auf der Grundlage eines empirischen Organismus): „An der Basis der hierarchischen Struktur ist das Sozialsystem in konkreten Menschen als physische Organismen verwurzelt, die in einer physischen Umwelt agieren. Als Persönlichkeit nimmt das Individuum an Prozessen sozialer Interaktion mittels verschiedener Rollen teil. Rollen sind organisiert und zu Kollektiven aggregiert, die ihrerseits durch zunehmend generalisierte institutionelle Normen gesteuert werden. Die „Spitze“ des Systems bildet die Gesellschaft als Gesamtsystem, heute meist in Form eines einzigen politischen Kollektivs, in dem ein einziges mehr oder minder integriertes Wertsystem institutionalisiert ist“ (Parsons 1976: 87f.). Da es in den späteren Schriften von Parsons nicht mehr ausschließlich um das Überleben des Systems sondern um dessen „Wachstumsfähigkeit“ und um „erweiterte Reproduktion“ geht, gewinnen dann alle Hauptfunktionen einen etwas dynamischeren Charakter; auch die Sozialisationsfunktion. Dabei sind Prozesse der Allokation und der Sozialisation im Zusammenhang zu sehen. Personen und bestimmte Geschlechts- und Altersaggregate werden einem bestimmten Rollenrepertoire und Statuspool gegenübergestellt und müssen jeweils so aufgeteilt werden, dass das Gesamt- wie die Teilsysteme einigermaßen funktionieren. Dabei bestehen jedoch zwischen dem Kultur-, Sozial – und dem Persönlichkeitssystem keine kausalen Beziehungen sondern variable Interdependenzen und Interpretationsverhältnisse, die immer auch Selektionsleistungen durch Zuschreibung oder Leistung voraussetzen (Parsons 1951: 39). Sie haben in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen unterschiedliche Ausprägung von Beziehungs-, Regulierungs-, Kontroll- und Integrationseffekten oder Problemorientierung zur Folge (AGILSchema), nämlich eine adaptive, eine instrumentelle, eine expressive und eine integrative.
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Vor allem zwischen Persönlichkeitssystem und sozialem System bildet die Sozialisation ein Scharnier. Hier durchdringen und vermitteln sich Teilsysteme u. U. aufs Innigste; zur Sicherung der Übernahme zentraler Rollen. Durkheim hatte Sozialisation als lernintensive „methodische Sozialisation“ nachwachsender Kinder im Geiste des gesamtgesellschaftlichen „Kollektivbewusstseins“ und der von ihm ausgehenden Solidarisierungsimperative verstanden (Geulen 1991: 22). Parsons greift diese Sicht auf, verfeinert sie aber, indem er statt äußeren gesellschaftlichen Drucks starke moralische Identifikation mit dem Wertsystem und dessen Internalisierung setzt. Äußerliche Konformität sei keineswegs ausreichend, vor allem nicht, wenn sich, wie in modernen pluralistischen Staaten, Konflikte und Spannungen häufen. Kindheit ist somit soziologisch als primäre Sozialisationsphase im Blick auf ihren zukünftigen Status vollständig durch Soziabilisierung und Normfundierung und durch nichts Anderes hinreichend definiert. Sozialisation ist selbst exklusiv institutionell normiert. Parsons übersieht völlig die „tückische“ Dialektik zwischen vorinstitutionell-informeller Normalisierung, Normierung, Normpraxis und der normativen Kraft des Faktischen. Kindliche Bedürfnisbefriedigung ist zwar keineswegs, wie immer behauptet wird, bei Parsons „anpassungsmechanistisch“ ausgeschlossen. Sie kann aber nie direkt, unvermittelt und psychisch spontan erfolgen, sondern ist stets über Werte, Normen, Regeln, Symbole, Wissen vermittelt. Ziel der Sozialisation ist also eine evolutionsverträgliche Balance zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichen Bedürfnissen, die sich nach Parsons in aller Regel aufgrund einer wirksamen Wertinternalisierung nicht widersprechen. Außerdem geht Parsons – ähnlich wie Mead oder Freud – davon aus, dass sich jedes Kind pragmatisch mit der eigenen Impulsivität und mit dem eigenen Organismus auseinandersetzen muss (Parsons 1997: 99ff.; 1968: 109ff.). Parsons leugnet hier keineswegs Konflikte und Spannungen. Aber diese erscheinen vergleichsweise randständig. Unentfaltet deutet sich sogar eine potentiell systemsprengende Problematik an. Das Kind bringt in die erotische Zweisamkeit der Eltern Sprengstoff, eine Art „barbarische Invasion“ (Parsons 1951: 208). Jede Gesellschaft hat nach Parsons mit einem „kritischen Einbruch“ in ihre traditionelle Lebensweise durch die nachwachsende Generation zu recht zu kommen. Parsons rechnet aber nicht mit einer speziellen, zugespitzten Konstellation der Generationen, wie wir sie aufgrund des demographischen und forcierten sozialen Wandels in vielen westlichen Ländern antreffen. Er sieht nur universale Entwicklungen, die ohne nennenswerte Strukturprobleme immer wieder strukturell gleich, wenngleich historisch überformt auftreten: Innovationspotentiale in einem im Grunde als anthropologisch unveränderlich vorausgesetzten Generationenzusammenhang. In ihrer Ratlosigkeit tendieren allerdings viele junge Eltern dazu, besonders junge Väter, angesichts der gesellschaftlichen Innovationsbeschleunigung einem problematischen Jugendlichkeitskult und einer Idealisierung der Kindheit zu verfallen (Parsons 1968: 80). Für Parsons stellt sich die Frage einer spezifischen Konditionierung der heutigen Kindheit darüber hinaus überhaupt nicht. Wie sehen aber Kindheit und Gesellschaft aus, wenn systematische Irritationen die ruhige sozialisatiorische Transmission von Werten und Normen erschweren und „riskant“ erscheinen lassen? Es scheint ja heute eine gewisse Spaltung um sich zu greifen. Unter jungen Männern und Frauen wollen die einen Familie und Kinder, die anderen halten dies entweder für eine nachrangige, verschiebbare Lebensentscheidung oder entscheiden sich ganz konsequent gegen Kinder in einer auf unbegrenzte Flexibilisierung hinzielenden künftigen Gesellschaft. Auch aus diesem Grund ist es eine
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Verharmlosung, relativ naiv von einer strukturell ungefährdeten Sozialisation angesichts „gebrochener Intersubjektivität“ (Habermas) ausgehen zu wollen. Sozialisation ist bei Parsons durchaus interaktionsbezogen. Diese Interaktionen scheinen aber völlig „keimfrei“, ohne historischen Bodensatz und jegliche interaktive Dramatisierung und Entdramatisierung. Sozialisation plätschert gleichsam wie ein träger Fluss dahin. Nichts kann ihn aufhalten, nichts ihn wirklich gefährden. Dagegen ist jedoch einzuwenden: „Die klassische Industriegesellschaft hat sich in eine nachindustrielle transformiert, in der die Produktion und Konsumtion von symbolischen Gütern – von Stilen und Informationen – rasant an Bedeutung gewonnen hat“ (Reckwitz 2000: 43). Paradoxerweise hindert das nicht die Reaktivierung von Resten der alten Klassengesellschaft und neue Spaltungstendenzen und Polarisierungen. Gewiss werden auch jetzt immer wieder Normierungen und Normsozialisation vollzogen, doch der immer unübersichtlichere Normpluralismus erzeugt längst eine „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas) und das Verhältnis von Normsetzung, Normpraxis und Weiterentwicklung des Normenverständnisses wird nicht nur für Kinder komplizierter, ist nicht selten nur noch durch eine pragmatisch-situative Normalitätsunterstellung zu überbrücken. Wie sollte hier durchgängig Wertinternalisierung und eine souveräne Balance zwischen einem verwirrend vielfältigen Normpluralismus und individueller Bedürfnisinflation außer unter ganz glücklichen Sonderbedingungen auf Anhieb gelingen? Ohne Rekurs auf historisch voraussetzungsvolle soziale Konstruktionen und spezifische Wissensordnungen scheint nur noch die Flucht ins Appellative offen zu stehen.
4.4 Der Symbolische Interaktionismus und strukturgenetischinteraktionistische Ansätze Vor allem ein vom Symbolischen Interaktionismus inspiriertes neues Sozialisationskonzept führte zu einem weniger unilinearen, asymmetrischen und normativistisch überfrachteten Sozialisationsverständnis: Kinder werden zwar von ihrer sozialen Umwelt beeinflusst, beeinflussen aber ihrerseits ihre sozialen Kontexte, Kinder werden insbesondere in ihrer frühkindlichen Sozialisation von Eltern „geprägt“, „prägen“ aber ihrerseits auch ihre Eltern (und Geschwister oder Großeltern). Die breite Rezeption einer interaktionsorientierten Sozialisationsperspektive erfolgte in Deutschland vor allem im Anschluss an eine Kritik, die Habermas (1968/1973) am strukturfunktionalistischen Sozialisationskonzept vorgetragen hatte. An die Stelle einer eher objektivistisch-normativistischen Rollenübernahme trat nun eine subjektzentrierte Argumentation, die Aspekte einer aktiven Rollendistanz, Rollenschöpfung und komplexen Identitätsbildung in den Vordergrund rückte. Habermas (1968/1973: 131) übernimmt in seiner kritischen Argumentation das Argument, Parsons überschätze die Möglichkeiten einer selektionsfreien Werteintegration, Rollenkonformität oder normative Orientierung und der vollständigen Wertinternalisierung, vernachlässige die dabei auftretenden Diskrepanzen und die notwendige interaktive Flexibilität in konkreten Handlungssituationen und ihre Orientierung an individueller Bedürfnisorientierung. Der hier vollzogene Perspektivenwechsel ist grundlegend und nicht, wie er manchmal interpretiert wird, rein komplementär, zumal er von Habermas und anderen Autoren noch
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mit universalistischen Argumenten Piagets der Strukturgenese der Persönlichkeit konfundiert wird. Es geht hier nicht um Rezeption von Normen sondern um sozialisatorische Kovariation in sozialen Prozessen. Während der Strukturfunktionalismus seinen Schwerpunkt auf die Sozialisationszumutungen sozialer Institutionen setzt, konzentriert sich die Argumentation von Habermas auf die strukturgenetisch-interaktiven Voraussetzungen rollenkonformer und rollendistanzierter Sozialisation, gesellschaftlicher Partizipation und einer Teilnehmerperspektive in und außerhalb von sozialen Institutionen in einer spezifisch demokratischen Gesellschaft im Rahmen einer evolutionär bestimmten universalen individuellen Ontogenese. Schon im ursprünglichen Symbolischen Interaktionismus, wie er im Anschluss an G.H. Mead entstanden war, war Gesellschaft nicht ein systemisches Gefüge von spezifischen Normkomplexen, sondern ein sehr viel lockereres Geflecht von Interaktionsketten, in denen sich nicht quasi automatisch Korrespondenzen zwischen Rollenerwartungen und individuellen Bedürfnissen einstellen. Nicht selten gibt es zwar erstaunlich konventionelles Verhalten, aber eben auch divergente Interpretationen in Interaktionen, schleichende Übergänge zwischen Rollenkonformität, Diskrepanzen zwischen „primärer“ und „sekundärer“ Anpassung, „primärer“ und „sekundärer“ Devianz (Goffman 1973). Habermas zieht daraus die Konsequenz, dass nicht korrekte Rollenübernahme, sondern komplexe soziale Grundqualifikationen und kommunikative Kompetenz das Ziel gelingender Sozialisation in einer demokratischen Gesellschaft modernen Zuschnitts darstellen. Stärker als im Konzept von Habermas oder Mead selbst mit ihrer durchaus makrostrukturellen, radikaldemokratischen Orientierung beharren die meisten Symbolischen Interaktionisten auf einer strikten „Mikrofundierung“ der Sozialstruktur, was jedoch manche Autoren (Strauss 1968; 1994) nicht an einer makrostrukturellen Rückversicherung in einer gesamtgesellschaftlichen „negotiated order“ hindert. Noch bei Habermas (1982: 207ff.) findet sich eine sehr verbreitete, etwas ungenaue Gleichsetzung interaktionistischer, interaktionistischstrukturgenetischer, sprachverstehender und phänomenologischer Theorietraditionen. Nun bestehen in der Tat manche interessante Berührungspunkte, aber eben auch gravierende Unterschiede, was hier nicht weiter entfaltet werden kann. Allen interaktionistischen Erklärungsversuchen ist eigen, dass sie interaktionistische Konstruktionsleistungen in den Vordergrund rücken. Die Entstehung und Weiterentwicklung sowie der praktische und stets interpretierte Umgang mit Regeln und Normen in wechselseitiger Zu- und Abwendung erhält ein eigenes Gewicht. Das interagierende Subjekt muss sich in einem kontinuierlichen Erfahrungsanstieg bei der Selbstdefinition wie der Definition des Interaktionspartners immer wieder mit dem Zustand seiner bisherigen Entwicklung auseinandersetzen. Ohne solche interaktive Interpretationsarbeit bricht die Gesellschaft über kurz oder lang zusammen und verkümmert Sozialisation zur Dressur. Kinder finden sich sozusagen nie am völligen Nullpunkt, sondern können immer schon auf mindestens minimale Kommunikationserfahrungen, z.B. mit ihrer Mutter, zurückgreifen, die immer schon in kulturell-symbolischen Horizonten stattfinden. Ein beträchtlicher Teil der Interaktionserfahrungen ist sprachlicher Art. Aber die nonverbale Dimension der „negotiated order“ des vielschichtigen Verhandelns ist von ganz eigenem Gewicht (Strauss 1994). Aufgabe soziologischer Beschreibung wird nun die „Dokumentation lokaler Geschichten“ und ihrer Verflechtung. Ganz unverkennbar wird hier der Einfluss der pragmatistischen Philosophie. In symbolisch kodierten Interaktionen gewinnt daher das Verhandeln in konkreten Interaktionssi-
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tuationen in seiner Eigendynamik eine ganz eigene Bedeutung; und zwar als Medium wie als Resultat (Giddens 1981: 19). In der Formulierung von Habermas geht es hier immer um eine dynamische „Identitätsbalance“, die mehr verlangt als Vertrautheit mit Normen. Sie präsentiert sich in einer Spannung zwischen sozialer und personaler (und naturaler) Identität (Dreitzel 1962; Abels 1998). Und gerade an diesem Punkt zeigt sich auch ein wichtiger Unterschied zur sozialphänomenologischen Theorietradition, die soziale Phänomene als Konstitutionsprozesse in statu nascendi vor jeder reifizierenden Begrifflichkeit zu schützen sucht. Während nun der Symbolische Interaktionismus, jedenfalls in seiner klassischen Form, von einer relativ stabilen Verschränkung von Selbst- und Fremdverstehen oder Selbst- und Fremdbild durch Sozialisation und einer substanziellen Reziprozität der Perspektiven ausgeht, hält dies der sozialphänomenologische und sozialkonstruktivistische Ansatz im Grunde für ein empirisches Problem. Eine völlige Verschränkung ist eigentlich nur unter idealen Bedingungen möglich, die bekanntlich real nie gegeben sind. Reziprozität ist daher bei Schütz eine rein heuristische „Normalitätsunterstellung“ (Schütz 1979: 26). Solche pragmatischen Normalitätsunterstellungen werden unter Bedingungen wachsender Kontingenz, Ambivalenz und Normenpluralismus immer häufiger und werden gerade auch für verunsicherte Kinder bis zu einem gewissen Grad zu Ressourcen.
4.5 Psychologische Entwicklungstheorien Die Entwicklungspsychologie bestand lange Zeit – bis in die Jahre um 1960 – in verschiedenen deskriptiven Typologien von Entwicklungstypen der Persönlichkeit und zeitlich fixierten Entwicklungsstufen. Dabei wurde Entwicklung strikt endogen gedacht. Spätere Modelle wollten sich konsequent entwicklungslogisch und von einer strengen „Interaktion“ von Subjekt und Umwelt her verstehen. Ihre wahrscheinlich eleganteste Form fand eine solche „Entwicklungslogik“ in der Theorie der Genese kognitiver Strukturen von Piaget (1975). Hier wurde der universale Anspruch erhoben, dass jedes Kind überall auf der Welt und zu jeder Zeit notwendige Entwicklungsschritte – und zwar irreversibel, sequenzdeterminiert und vollständig – zu vollziehen hätte. Es gab nur einen Entwicklungsweg. Erst in den letzten Jahren wird diskutiert, ob es nicht doch mehrere, durchaus kulturell vermittelte „Entwicklungspfade“ kindlicher Entwicklung gäbe (Grundmann 1999; Ulich 1991; Oerter 1993; 1995). Entwicklungspsychologie geht heute weithin von einer komplexen Wechselwirkung von organischer Grundausstattung des Kindes und seinen vorangegangenen Erfahrungen in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt aus. Entwicklung kann dann streng genommen nicht mehr unilinear sondern muss multilinear verstanden werden. Gleichwohl ist hier latent eine Teleologie eingebaut, die sowohl in der Unterstellung einer Irreversibilität wie der Attraktivität „proximativer“ Entwicklungsniveaus zum Vorschein kommt. Allerdings ist diese Teleologie nicht mehr notwendig auf das Erreichen der „Erwachsenenreife“ sondern – in neueren Arbeiten auf die gesamte „Lebensspanne“ dimensioniert. Die Umorientierung der Entwicklungspsychologie von kulturgebundener Deskription auf eine universelle Entwicklungslogik weist jedoch nicht nur wissenschaftstheoretische Abhängigkeiten vom Strukturalismus sondern auch normative Prämissen auf, die immer nur partiell verifiziert werden konnten.
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Heute besitzen wohl psychoanalytische Theorien, Lerntheorien und strukturgenetischinteraktionistische Ansätze die größte Resonanz (Bründel 1996: 48f.). Sie behaupten sich erfolgreich gegenüber einer – vor allem in Deutschland – sich interdisziplinär verstehenden Sozialisationstheorie. Während sich psychoanalytische Ansätze vor allem („epigenetisch“) auf Entwicklungskrisen beziehen, wird in der Lerntheorie naheliegenderweise Entwicklung mit Lernerfahrungen unterschiedlicher Konditionierung gleichgesetzt. In der strukturgenetisch-interaktionistischen Theorie geht es hingegen auf den aktiven Erwerb kognitiver, moralischer und sozialer Kompetenz, „wobei jedes Stadium auf dem vorhergehenden aufbaut, dieses voraussetzt und selbst eine Voraussetzung für das nächst höhere“ darstellt (Bründel 1996: 62; Oerter 1995). Entwicklung erscheint hier als stark kognitiv zentrierte Selbstdifferenzierung und zunehmende psychosoziale Kompetenz, die dadurch vorangetrieben wird, dass immer ein angemessenes Spannungsniveau zwischen Unter- und Überforderung oder Assimilation und Akkomodation sowie ein Gefühl für „sensible Phasen“ und eine konkrete Abrufbereitschaft für Entwicklungsmobilisierung vorausgesetzt werden können. Damit kommen aber auch diese Ansätze immer wieder einer impliziten Reifungstheorie recht nahe. Davon haben sich offensichtlich bis heute nur wenige Entwicklungspsychologen unzweideutig abgesetzt. Mit dem vieldeutigen Konzept des „Stadienwunsches“ u. a. wird eigentlich die Konsistenz einer universalen Entwicklungslogik problematisiert. Die Möglichkeit verschiedener „Entwicklungpfade“ zeichnet sich unter dem Druck einer Dialektik von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik oder der Kompetenz in ihrem variablen Verhältnis zur Performanz zunehmend ab (Siegert 1977: 94ff.; 1979: 18f.). In der auf Piaget zurückgehenden Wissenschaftstradition wurde in ihrer „kognitiven Wende“ besonders wichtig, dass Kinder, veranlasst durch Schübe sozialisatorischer Interaktion, selbst zu Konstrukteuren der eigenen Entwicklung werden. Dabei spielt die Ablösung von familialen, nach Piaget stets asymmetrischen Interaktionskonstellationen eine zentrale Rolle. Statt asymmetrischer Interaktionen bieten sich unter Gleichaltrigen egalitäre Beziehungen an. Dadurch würden Kinder veranlasst, intensiver zu verhandeln, aber auch ihren Standpunkt zu behaupten und eine robuste Konfliktfähigkeit zu erwerben. In den Mittelpunkt treten nun selbst aufgestellte Regeln des Verhaltens. Dabei lernen Kinder beides: relativ herrschaftsfreie, streng reziproke Regeln und Toleranz gegenüber den sehr viel widersprüchlicheren realen Verhaltensweisen. Gerade dadurch verstehen sie ihre sozialen Kontakte zu differenzieren und Freundschaften besonders zu würdigen (Youniss 1994; Selman 1984). Hier geht es, wie leicht erkennbar ist, nicht einfach um Einsichten, die sich zwangsläufig aufdrängen, sondern um eine hochinterpretative Aneignung der Umwelt. Diese Wissenseffekte sind jedoch an vielerlei gesellschaftlichen Bedingungen geknüpft. Sie werden umso weniger erreicht, als das vorausgesetzte Gleichgewicht oder eine Form der Chancengleichheit innerhalb und zwischen den Gruppen nicht dauerhaft gesichert ist und je weniger hier Probleme eines Sach-, Sympathie- und Machtzusammenhangs reguliert sind oder Kinder glauben, sie könnten sich einfach entziehen, wenn es schwierig wird. Die vielfach von Krappmann und Oswald beschworene „Ko-Konstruktion“ zwischen Gleichaltrigen findet hier ihre Grenzen (Oswald 1993: 360). Auch die Verschiebung des Entwicklungsbegriffs auf die „Lebensspanne“ hat ihre Voraussetzungen. Sie setzt insbesondere die Vorannahme voraus, dass bestimmte Sachverhalte wie die psychische Selbstdifferenzierung oder Selbstorganisation adäquat durch eine methodische Konstanzunterstellung beim „Objekt“ und entsprechenden Kategoriensysteme
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der Zeit sowie eine quasiteleologische Längsschnittbetrachtung vollständig zu erfassen sind (Thomae 1991: 250). Diese theoretisch-methodische Option für eine Entwicklungslogik mit entsprechenden Entwicklungsaufgaben birgt in sich die Gefahr, dass sie historische Typologien und historische Ereignisse sowie zeitgenössische sozialstrukturelle Gesamtlagen und Vermittlungsprozesse zum Verschwinden bringt. Darüber hinaus verlieren diese Konzepte das hohe Ausmaß inter- und intraindividueller Variation kognitiver Repräsentation (Flick 1995) leicht aus den Augen. Sie suggerieren dann eine „Normalbiographie“, die der gesellschaftlichen Streuung und Differenzierung der Biographien überhaupt nicht mehr entspricht (Kondratowitz 1991: 362). Es ist so gesehen absurd, dass die Vorstellung einer universellen Entwicklungslogik z.B. im moralischen Bereich aufrechterhalten wird, obwohl über 90 % der US-Bevölkerung das höchste Niveau nach Kohlberg, die „postkonventionelle Moral“, nicht erreichen (Siegert 1979: 18; Fischer 2000: 236f.). Ob und wieweit und wie lange Gesellschaft und/oder Individuen sich entwickeln, wie erneuerungsfähig und kreativ sie sind, das hängt offenbar zum einen von einem besonderen „Entwicklungspfad“ oder einer historischen Konstellation ab. Es scheint zum anderen notwendig, stets unterschiedliche Entwicklungspfade in jeweils unterschiedlichen kulturellen Horizonten zu unterscheiden (Elder 1991: 32ff.; Silbereisen 1991: 61ff.; Ulich 1991: 204ff.). Anlässe zur Pluralisierung, Diversifizierung und Individualisierung der Sozialisation fallen immer wieder an. Wir haben es bei „Entwicklung“ mit keinem einheitlichen Projekt zu tun.
4.6 Zugänge aus dem Umkreis der Konstitutionstheorien Ähnlich wie Berger/Luckmann sehen Mead, Giddens und Bordieu gesellschaftliche Wirklichkeit als soziale Konstruktion, die jedoch stets schon im Alltag konstituiert ist und in den fortlaufenden Interaktionen ratifiziert, bestärkt, abgeschwächt oder transformiert wird. Bei Mead müssen die Interaktionspartner auch nach der „Rollenübernahme“ in der Sozialisation die Handlungslinien ihrer sich gleichsam fortspinnenden Entwicklungsverläufe in ihrer jeweiligen Reflexivität mit dem Ziel gemeinsamen Handelns und unverzerrter Kommunikation sich immer wieder aufeinander abstimmen und pragmatisch Intersubjektivität aufrechterhalten (Mead 1987: 210ff.). Giddens bekräftigt in seiner kritischen Rezeption des „interpretativen Paradigmas“ die Reflexivität sozialen Handelns in seiner „dualen Struktur“, die nicht gleichzusetzen ist mit dem Grad der Reflektiertheit zwischen „praktischem“ und „diskursivem“ Bewusstsein. Er zeigt so, was oft übersehen wird, dass es zum Gemeingut avancierter interaktionistisch-interpretativer Theorieansätze gehört, eine ähnliche Dualität von Strukturphänomenen interaktiver Geflechte im Sinne einer „negotiated order“ in Rechnung zu stellen, die in einer „doppelten Hermeneutik“ zwischen der Konstruktion „ersten“ und „zweiten“ Grades (Schütz) aufgeklärt werden muss (Giddens 1984: 49, 62ff., 160ff.; 1988: 77ff., 91ff.). Auch bei Bourdieu findet sich trotz seiner manchmal überzogenen Kritik an einem „subjektivistischen“ Popanz eine sachliche Übereinstimmung mit Mead, dem späten Schütz oder Berger/Luckmann und Giddens, dass es zwischen „subjektivistischen“ und „objektivistischen“ Einseitigkeiten hindurchzusteuern gelte, und zukunftshaltige Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit die eigentliche Relevanz soziologischer Theorie ausmache (Bourdieu 1997: 151ff., 199ff; 1991: 15ff.). Jede Erfahrung des kulturell differenzierten
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sozialen Raumes birgt kulturelle Variationsmöglichkeiten und potentiellen politischen Kampf in sich. Schütz hatte soziale Objekte nicht als objektivistisch interpretierte „reine Fakten“ sondern als Momente eines unabschließbaren Konstitutionsprozesses zwischen Subjektivität und Objektivität konzipiert (Schütz 1979: 87ff; Srubar 1988: 61, 128f). Deren komplexe Soziogenese hängt ab von der ordnenden Kraft von Deutungsschemata in Interaktionen, die zu Wiederholbarkeit und objektivierender Strukturverfestigung tendieren. Deutungsschemata bilden sich in Habitualisierungsvorgängen selbstverständlicher Routinen und Prozessen der „Veralltäglichung“ (M. Weber), die selbst Innovationen oder politische Revolutionen überraschend schnell einzuholen pflegen. Sie bleiben freilich stets an den Rändern des Alltags von einer „tückischen“ Kontingenz bedroht, die wir meist abblenden und nicht wahrnehmen wollen. Die Lebenswelt des Menschen, die bei Schütz immer auch den Alltag zum Außeralltäglichen und zu spezifischem Sonderwissen hin übersteigt, bleibt so im dialektischen Zangengriff von Habitualisierung und Kontingenz, Sozialisation und Desozialisation, Sozialkontrolle und subversivem Eigen-Sinn (Alheit 1997: 942ff). Das orientierende Weltwissen, auch das des Kindes, kann sich nur dann bewähren, wenn es sich auf vergangene eigene Erfahrung oder Deutungsangebote erwachsener Bezugspersonen oder Bezugsgruppen berufen kann und sich von hier aus – trotz aller „objektiven“ Identitätsimbalancen – seinen Weg, vorsichtig tastend oder entschlossen, seinen Weg in die Zukunft bahnt. Doch nicht nur die Datenbasis ist brüchig. Auch die Kriterien, nach denen Daten erfasst und eingeordnet werden können, sind nicht nur für die Akteure im Alltag, sondern genau genommen auch für sozialwissenschaftliche Beobachter hochkomplex, manchmal auch undeutlich und fast immer bezweifelbar. Es hat daher wenig Sinn, einer tradierten Ordnung blind zu folgen. Auch Kinder müssen schon im Kleinkindalter das Gemisch von Ordnung und Unordnung und die hybriden Ordnungsgesichtspunkte erst zu einer Ordnung bringen, in denen gelebt und gehandelt werden kann. Sie kommen um eine flexible Wirklichkeitsrahmung gar nicht herum. Und diese gilt immer nur auf Zeit und mutet ihnen schmerzlich zu, schon gewonnene Lebenserfahrungen zu vergessen oder einzuschränken. Nur durch soziale Konstruktionen, die die Wahrnehmung und das soziale und individuelle Handeln kanalisieren und gegenüber der Informations-, Wissens- und Optionsfülle schützen, die auch emotional-praktische Affinitäten und Chancen der sozialen Akzeptanz in der Sozialstruktur aufleuchten lassen und bei der „Selbstkonstitution“ und dem Verstehen der Anderen in sich dauernd verändernden Situationen hilfreich sind, scheint heute das kindliche Leben zu bewältigen zu sein (Luckmann 2002: 49f., 46; Srubar1988: 266f.; Denzin 2000: 146). Es ist eher erstaunlich, dass es in aller Regel unter diesen Bedingungen Kindern dennoch gelingt, ihren Alltag recht gut zu organisieren. Es gelingt ihnen auch oft, wechselseitig Verantwortung zuzuschreiben, Vertrauen zu gewinnen und Ambivalenzen einzugrenzen, Diskontinuität mit Kontinuität wieder zu verknüpfen oder „Neuanfänge“ zu wagen. Wie die hochmoderne Gesellschaft insgesamt bleiben Kinder so ständig auf der Suche nach belastbaren und neuen Vertrauens- und Gestaltungsmöglichkeiten und sind nicht mehr vorrangig von einer wie immer gearteten, aktiv mitbetriebenen Sozialisation allein her verstehbar. Das gesteigerte Orientierungsbemühen von Kindern führt weder zu einer irgendwann endgültigen Ordnung und „Wertintegration“ noch zu einer beliebigen oder rein situativen Ordnung. Es behält zwar situative Momente, wird aber durch habitualisierte ständig unterfüttert und erstrebt eine transsituative Ordnung „mittlerer Reichweite“, die Normierung und Normalisierung zulässt. Gesellschaftliche Ordnung erfahren Kinder nicht
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einfach als System von Regeln und Normen, sondern als „offen“ oder „zwanghaft“, „einleuchtend“ oder „unverständlich“, „ermutigend“ oder „entmutigend“. Sie kombinieren ihre Unbestechlichkeit gegenüber der Einsicht, „wie die Verhältnisse nun einmal sind“ immer mit der Vorstellung wie sie „besser“ sein könnten. Normalität und Problembehaftung, Wirklichkeit und Imagination werden zwar schon von Kindern der mittleren Kindheit unterschieden, aber nie völlig getrennt oder als prinzipieller Widerspruch empfunden. Sie erfahren daher den Unterschied zwischen „Gesellschaft“ und „Gesellschaftsform“ und die Tatsache, dass gesellschaftliche Wirklichkeit Resultat wie Medium gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse ist, durchaus (Luckmann 1999: 19f., 2000: 49). Gleichviel, ob man von „multiplen Realitäten“ (Schütz) oder von einer Vielschichtigkeit jeder gesellschaftlichen Wirklichkeitserfahrung ausgeht, es wird immer erkennbar, dass es vielfältige Zugänge und Annäherungen an eine komplexe, nie stillzustehende Prozessqualität von gesellschaftlicher Wirklichkeit gibt. Daher ist es eine Eigentümlichkeit jeglicher Wirklichkeitserfahrung, dass sie immer auch verfügbares Wissen und Interpreten ausschließt, also selektiv und exklusiv ist, selbst wenn sie sich positiv entscheidet und sicher darstellt. Soziale Konstruktion kindlicher Lebenswirklichkeit ist von Anfang an auf Perspektivenauswahl und Perspektivenverflechtung verpflichtet und nicht zu einer beliebigen, sich als „postmodern“ hochstilisierenden „Multiperspektivität“ (Lüscher) in der Lage. Konstanzunterstellung und Unterstellung perspektivischer Homogenität sind zwar Grundtendenzen der „natürlichen Einstellung im Alltag“, dürften aber gerade nicht die methodische Einstellung der soziologischen Theorie bestimmen, wozu aber ein unreflektierter Objektivismus immer wieder verleitet (Coenen 1985: 212ff.; Grathoff 1989: 76). Gerade weil immer wieder Mehrdeutigkeiten nicht zu verhindern sind, blinde Flecke des Wissens und Wissenslücken auftauchen, sich das „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Offe) des „Ungleichzeitigen“ und der brüchig werdenden Generationsbeziehungen heute mehr denn je einstellen (Mannheim 1969: 23ff.; Matthes 1985: 363ff.; Bude 1997: 197ff.; Offe 1994: 57ff.), sieht sich auch Kreativität „responsiv“ herausgefordert, treibt die gesellschaftliche Konstitution unentwegt weiter. In einer wissenssoziologischen Theorievariante wie dem Sozialkonstruktivismus lässt sich dies als methodisch eingesetzte „Skepsis“ gegenüber „positivem Wissen“ verstehen, dessen Konstitutionsbedingungen fragil geworden sind (Hitzler 1999: 11; Luckmann 1999: 19, 21). Schon der ganz gewöhnliche Alltag stellt heute ein Gemisch von Ordnung und Unordnung, von Routine und Improvisation, von geteilter und ungeteilter kommunikativer Realität der möglichen Interaktionspartner dar. Hier durchdringen sich subjektiver, intersubjektiver und verobjektivierter sozialer Sinn von Objekten und Handlungszusammenhängen. Dieser Zusammenhang kann sich festigen und auch wieder lockern; hinsichtlich thematischer, motivationaler oder sozialer Relevanz; denn es geht hier ja nicht darum, eine Information im Gehirn zu speichern, aufzufinden und zu verarbeiten, sondern um ein konstituierendes In-Ordnung-Bringen einer nicht selten löcherigen und sinnlosen Informationsverarbeitung, die angesichts eines Durcheinander von Ordnung und Unordnung und von Kontinuität und Diskontinuität nicht einmal Normalität hervorzubringen in der Lage ist. Dieses Ordnen ist zugleich ein Unterscheiden und Verweisen, ein Ausloten von Analogien und Äquifunktionalitäten oder Äquivalenten. Es geht um homologe und disparate Wissensordnungen und Passungsverhältnisse. „Soziale Tatsachen“ bleiben eingebettet in diesen Konstitutionsprozess, der immer nur „Zwischenergebnisse“, „Zwischenbilanzen“, „Zwischensynthesen“, „Zwischenwelten“ und Über-
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gangsstrukturen zulässt (Joas 1992: 336f.; Coenen 1985: 45, 117ff.; Waldenfels 1987: 46ff., 137ff.; Merleau-Ponty 1994: 255ff.). Konstitutionstheorien widersetzen sich einem binären Denken und einem oft latenten tabula rasa-Modell, das gerade auch in der Sozialisationsforschung eine lange, oft undurchschaute Tradition besitzt. Sozialisation geht nicht vom Nullpunkt einer Asozialität, sondern von einer heute auch von der Medizin kaum noch geleugneten (intrauterinen) „Primärsozialität“ aus (Joas 1992: 274ff.), deren Komplexität nach der Geburt zunimmt. „Jede Struktur ist ein Moment in einem unabgeschlossenen Spiel, in dem jede Antwort zugleich eine neue Frage aufwirft. Die Strukturierung ist ein fortwährendes Explizieren des differenten Sinns. Zugleich bildet die strukturierte Struktur immer auch den Ansatz einer neuen Struktur, die ihrerseits als aktuelle Antwort auf eine aktuelle Situation sich konstituiert“ (Merleau-Ponty 1965: 156). Obwohl vermutlich immer noch eine Mehrheit der heutigen Bevölkerung der Gesellschaft Kindheit als eine sorgsam behütete Entwicklungsphase betrachten dürfte, mehren sich die Hinweise, dass Kinder selbst ihren früheren Schonraum verloren geben. Auch nicht wenige Eltern scheinen an ihrer Erziehungsautonomie und ihrem erzieherischem Einfluss offen oder versteckt zu zweifeln. Nicht von ungefähr besitzen Märkte der Erziehungsberatung und Erziehungsratgeber eine so hohe Attraktivität (Weymann 2001: 156; Beck 1989: 149ff.). Und nicht ohne Grund gibt es heute erbitterte Kontroversen über „Frühförderung“ oder das „gehetzte Kind“. Auch die neue Kindheitsforschung, die lange Zeit recht unbekümmert auf das Kind als Subjekt gesetzt hatte, entdeckt jetzt „forcierte Ambivalenz“ (Honig 1999; Lüscher 2003: 321ff.). Noch wirkt sich das nicht auf ihr Leitkonzept der „Kinderkultur“ aus, die noch weitgehend als „kreative und selektive Verwendung von Informationen über die Erwachsenenwelt“ und eben nicht konsequent als eigene „Zwischenwelt“ verstanden wird (Weymann 2001: 157).
4.7 Paradigmenabhängigkeit der Kindheitssoziologie Die Thematik der Kindheitssoziologie oder sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung beginnt nicht mit dem Gründungsdatum der Sektion Kindheitssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in den 90er Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts. Sie fängt auch nicht erst mit der kritischen Diskussion der Sozialisationsforschung und Entwicklungspsychologie an. Eher gründet sie vielmehr in jüngeren gesellschaftlichen Modernisierungsschüben westlicher Gesellschaften wie der Folgen der Verwerfung auf dem Arbeitsmarkt (Arbeitsindividualisierung), der Pluralisierung familialer Lebensformen und den damit zusammenhängenden Irritationen der traditionellen Geschlechtersozialisation und nicht zuletzt den Diskussionen um den angemessenen Erziehungsstil. All dies bewirkte bei Nichtwissenschaftlern und Erziehungs- und Sozialwissenschaftlern den Eindruck, dass das bis dato feste Bild von Kindheit ins Rutschen gekommen und schwankend geworden sei. Es gab Indizien für die Beharrungskraft und viele entgegengesetzte Eindrücke dafür, dass aus der Kindheit als Schonraum eine Kindheit als soziales Laboratorium geworden war. Der Anfang der Kindheitssoziologie war also längst schon gemacht, bevor ihn die Kindheitssoziologie zu thematisieren begann. Die Unbestimmtheit und Offenheit dieser Diskussion wurzelt also in einer gesellschaftlichen und kulturellen Inkommensurabilität theorierelevanter, koexistierender Kindheitsvorstellungen und Praktiken. Mehr oder minder plötzlich
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wurde nun zur Diskussion gestellt, ob nach der tradierten Hintergrundsvorstellung eine neue theorienübergreifende soziologische Perspektive bei der „zeitgenössischen“ Konstitution des sozialen Phänomens Kindheit stärkere Plausibilität erzeugt (Kuhn 1967: 199ff.; 148f.). Kindheit würde dann auch den paradigmatischen Status eines Forschungsgegenstands einer „normalen Wissenschaft“ (Kuhn) mit einem spezifischen „Forschungsprogramm“ (Lakatos) erlangen. In den letzten Jahrzehnten wurde ein gewisser Konsens in der Soziologie darüber erreicht, dass ein reiner Empirismus unhaltbar und auch die „Erfahrung“ der „Erfahrungswissenschaft“ Soziologie durchweg theorieabhängig ist. Doch nicht immer wird heute anerkannt, dass die Theorie selbst von paradigmatischem Hintergrundwissen abhängig bleibt, das sozusagen als „tacit knowledge“ (Polanyi) oder „Denkstil“ (Fleck) sowohl die Theoriekapazität begrenzt, die Forschungspraxis implizit lenkt wie den direkten Theorievergleich erschwert. Mit der Erinnerung an die Theorieabhängigkeit empirischen Wissens blieb ein großer Teil der soziologischen Forschung auf halber Strecke bei der Suche nach den Voraussetzungen sozialwissenschaftlicher Arbeit stehen. Die Hintergründe von Erkenntnisinteressen, Themen-, Theorien- und Methodenkonjunkturen wurden quasi naturalisierend hingenommen, die man doch sehr gut mit wissenschaftlichen Paradigmenkämpfen jeweiliger „wissenschaftlicher Gemeinschaften“ und ihrer Zitierkartelle erklären kann. Im Rahmen der Wissenschaftstheorie haben Lakatos (1974), Kuhn (1974) und Feyerabend (1974) einerseits die Auffassung Poppers (1971) bestätigt, dass es keine theoriefreie Beobachtung gibt, andererseits Poppers Vorstellung zurückgewiesen, dass „Theoriesprache“ und „Beobachtersprache“ einfach ohne fundamentale „Forschungsprogramme“ oder „Paradigmata“ korrespondieren oder zusammengeführt werden könnten. Es gibt auch kein letztes experimentum crucis, in dem zwischen konkurrierenden Theorien mit sachlicher Autorität definitiv entschieden werden könnte. Jede Theorie ist von findigen Theoretikern auch angesichts massiver Kritik und argumentativer Primärschwächen und „Anomalien“ zu reparieren und sozusagen nachzurüsten. Es gibt eben nicht einen neutralen Raum von Aussagen oder eine Autorität, die Aussagen liefern könnte, die für Anhänger verschiedener Theorien gleich bindend oder neutral erschiene. Und: jede theoretische Referenz ist ein soziales Phänomen, geht auf eine letzte, paradigmenabhängige Theoriesprache zurück, innerhalb derer relativ leicht Verständigung in einer ganz bestimmten Gruppe von Forschern und von Theorien zu erreichen ist, während transparadigmatische Kritik oft in der Gefahr steht, an den Argumenten vorbeizureden. Dies zeigt sich daran, dass Übersetzungen und Vergleiche nur begrenzt möglich sind. Es gibt eben keinen „Gottesstandpunkt“ (Putnam 1988: 58), den ein hemdsärmeliger Theorienvergleich oder ein naiver interkultureller Vergleich mit seinen oft unkritischen transkulturellen Konstanzannahmen stillschweigend beansprucht. Unterschiedliche theoretische Beschreibungen bleiben stets möglich und vertretbar. Und es ist auch eine Fiktion der „reinen Wissenschaft“, dass zwischen zeitgebundener Alltagssprache und den analytischen Urteilen der Wissenschaften, sogar im Bereich der Naturwissenschaften, kein Austausch erfolgt. Jede Wissenschaft greift auf alltagssprachlich vermittelte, paradigmatische „Prototypen“ zurück (Gamm 1994; 2000). Bei aller zu wahrenden Differenz zwischen Alltags- und wissenschaftlichem Sonderwissen und zwischen Theorie und Empirie besteht eben doch eine gewisse Korrelation und Kovariation zwischen beiden Wissensformen. Es hat sich auch immer wieder gezeigt, dass Paradigmabewusstsein Dialog zwischen verschiedenen Theoriegruppen keineswegs unmöglich macht. Es verhin-
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dert eher groteske Fehlurteile, Simplifikationen und wechselseitige Ressentiments (Flick 2000: 40; Meinefeld 1998: 193ff.). Etwas vereinfacht, aber zur Not brauchbar, ist die von Wilson (1973: 54ff.) angebotene und weit verbreitete Unterscheidung von „normativem“ und „interpretativem Paradigma“. Mindestens bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ließ sich sagen, dass normativ bestimmte Struktur- und Handlungstheorien einerseits, theoretische Konzepte interaktivinterpretativer Weltsicht das Theorientableau der Soziologie ausmachten, wenn man einmal von der individualistischen Austauschtheorie absehen will. Das normative Paradigma ging davon aus, dass eine durch Normen definierte und stabilisierte Situation Interaktionen auslöst und gesellschaftliche Reproduktion garantiert. Hingegen sahen Theorieansätze des interpretativen Paradigmas Normen nur als grobe Leitfäden an, die erst durch interpretierende Interaktionen Bedeutung gewinnen und sozial bedeutungsvolles Handeln in Gang bringen können. Die Bedeutung einer bestimmten Regel ist keine feststehende Tatsache, sondern muss ihr erst in Interpretationskämpfen konkret zugeschrieben werden. Zum normativen Paradigma konnte man Anfang der 70er Jahre vor allem den Strukturfunktionalismus, manche Systemtheorien und den Neomarxismus, zum interpretativen den Symbolischen Interaktionismus, die Sozialphänomenologie, die Ehnomethodologie u.a. rechnen (Dreitzel 1970: VII; Arbeitsgruppe 1973: 9ff., 54ff.; Hartmann 1967: 62). Man kann wohl sagen, dass die heutigen Konstitutionstheorien das Anliegen des interpretativen Paradigmas abdecken. Die Geschichte der Familien- und Jugendsoziologie zeigt, dass Kinder immer schon, wenngleich peripher, thematisiert wurden. Ihnen wurde weder eine eigene Strukturkategorie zugebilligt noch waren sie im wirklichen Sinn ernst zu nehmende Forschungsobjekte unabhängig von ihren Eltern. Auch methodisch galt es als ganz unverständlich, sich auf eine „Sicht der Kinder“ in einer genuinen Teilnehmerperspektive einlassen zu wollen oder „die Stimme der Kinder“ gesondert zur Kenntnis zu nehmen. Daher besteht zwischen der alten Sozialisationsforschung und der heutigen Kindheitsforschung ein tiefer paradigmatischer Graben, den vorschnell zuzuschütten wenig fruchtbar für eine kreative Kindheitsforschung sein dürfte, die sich nicht in der Reparatur von theoretischen Anomalien erschöpfen will. Natürlich kann auch der Paradigmenwechsel nicht verbergen, dass auch das neue Paradigma, das Kind als Subjekt in einer autochtonen Kinderkultur, bislang neben einer produktiven Blick-Wendung selbst wieder viele Sichtblenden bereitstellt. Auch es blickt nicht von einem „Gottestandpunkt“ sondern von „irgendwoher“. Der paradigmatische Blickwechsel vom Kind in Entwicklung und Sozialisationsadressat zum kompetenten Akteur von Anfang oder sogar zum „Kinderbürger“, der auch noch in seine Entwicklung einzugreifen vermag, ist schon deswegen mehr als ein Theoriewechsel, weil er eine grundlegende Revision der gesellschaftlichen Erfahrung der Bedeutung der Altersunterschiede und Altersstufen nahe legt. Es ist eben nicht mehr so, dass die Gesellschaft Kindern nur den Einfluss zubilligt, der ihnen „altersgemäß“ zustände, obwohl hier noch vehemente Rückzugsgefechte geführt werden (Bründel 1996: 10f.). Ihr Entwicklungspotential wird zunehmend weniger negativbegrenzend, sondern positiv-ermöglichend gedeutet. Kinder besitzen gerade in ihrem Hierund Jetzt auch Begabungen, die sie später vergessen oder verlieren. Damit verschwindet ihre Verletzlichkeit nicht, bekommt aber einen ganz anderen Charakter. Als zentrale theore-
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tische Konstellation bietet sich hier an, „Sein“ und „Werden“, „Entwicklungsdynamik“ und soziale Kontexte als ein variables Definitionsverhältnis zu begreifen. (Elschenbroich 2001). Paradigmen präjudizieren nach Kuhn in vieler Hinsicht, welchen Phänomenen welche Bedeutung durch Theorien zugeschrieben werden können, und welche theoretischen Zugänge bei welchem kontingenten Reflexionsabbruch zwanglos, ohne metatheoretischen Gottesstandpunkt, nahe liegend sind und besonders einleuchtend erscheinen. Paradigmatisch nahe gelegte Beschreibungseigentümlichkeiten bestimmen zwar nicht, was im Einzelfall als theoretisches Argument Vorzug gewinnen kann und als wahr und falsch, plausibel oder unpassend gelten kann, aber was wahr und was falsch oder plausibilisierungsfähig sein könnte (Reckwitz 2000: 24).
4.8 Das leitende Theorieverständnis Sichtbar wird etwas als genau dieses bestimmte Etwas schon in der Alltagswahrnehmung durch Unterscheidung und zugleich Relationierung. Die wissenschaftliche Theorie knüpft an diese Einsicht Husserls an. Sie will jedoch, entlastet von den Handlungszwängen des Alltags, methodisch strenger, systematisch und kritisch beobachten und beschreiben, was zuvor auch schon im Alltag mehr oder minder deutlich wahrgenommen werden konnte. Theorie verfolgt aus einer gewissen Distanz die charakteristischen Verflechtungen alltäglicher Unterscheidungen mit ihren komplexen Verweisungszusammenhängen, so wie sie in eigentümlicher Weise ein konkretes soziales Phänomen charakterisieren. Wissenschaft ist noch weniger „realistische“ Widerspiegelung „reiner Tatsachen“ als die Alltagswahrnehmung. Sie ist durch und durch perspektivische Konstruktion. Schon die Alltagserfahrung beruht jedoch nicht einfach in der Registrierung von „Fakten“ sondern auf selektiver Wahrnehmung, die sich in zwei Referenzen zerlegen lässt: in Typisierung der „outgroup“- und der „ingroup“-Orientierung oder in Fremd- und Selbstzuschreibung. Selektive Wahrnehmung und Alltagstypisierung wählen Fakten und ihre zahlreichen, unterschiedlichen Aspekte speziell aus, gliedern, betonen oder blenden bestimmte Merkmale und Merkmalszusammenhänge ab. Auch schon die Wirklichkeitserfahrung des Alltags ist also so schon eine voraussetzungsvolle Wirklichkeitskonstruktion in „natürlicher Einstellung“ und kein reines Abbild von Sinnesdaten (Schütz 1979: 62ff.; Berger/Luckmann 1970: 21ff.). Ein soziales Phänomen ist auch etwas ganz Anderes als ein „output“ einer kognitiven Informationsverarbeitung nach dem binären Code zutreffend/nichtzutreffend. Es kann zur „sozialen Tatsache“ aufgewertet oder als sozial nicht plausibel oder irrelevant verworfen werden. Man muss es verstehen und ihm vertrauen, es jedenfalls „zähneknirschend“ akzeptieren. Soziale Phänomene beruhen auf kulturellen Unterscheidungen, die erinnert, vergegenwärtigt und als Aspekt der gesellschaftlichen Zukunftsprojektion aufgenommen werden wollen. Nur in ganz bestimmten Bedeutungszusammenhängen leuchten sie ein; auch beim Bezug auf empirische Referenzen, bei der methodischen „Datenerhebung“ (Entdeckungszusammenhang) und „Dateninterpretation“ (Geltungs- und Verwertungszusammenhang). Trotz aller begrifflichen und operationalen Reinigung verweisen sie unausweichlich auf die konnotationsreiche Umgangssprache zurück. Forschung versucht ja schließlich etwas als etwas Bestimmtes und nicht Beliebiges „valide“ theoretisch zu erschließen, was schon in der Umgangssprache irgendwie vorkommt, und auch im Prinzip „nachwissenschaftlich“
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oder „populärwissenschaftlich“ wieder verständlich gemacht werden kann (Husserl 1993: 40ff.; Schütz 1971: 108ff.; Strauss 1991: 64f.). Jede Theoriekonstruktion hat daher – offen oder versteckt – rekonstruktive Momente. Die traditionelle analytisch-empirische Methodologie der (quantitativen) Sozialisationsforschung (Henecka 1985: 141f.; Friedrichs 1990: 63, 80) geht relativ skrupellos davon aus, dass sich Theorie und Empirie reibungslos und unvermittelt konfrontieren, theoretische Hypothesen entweder falsifizieren oder verifizieren und dann zu allgemeinen Gesetzen formulieren ließen. Wo ein solches, im Grunde unkritisches Theorieverständnis, wie es in der Wissenschaftsphilosophie längst problematisiert wird (Ritsert 1999: 53; Meinefeld 1995: 280f.; Kelle 1994: 12; Habermas 1982), weiterhin leitend ist, besteht berechtigter Grund zu Misstrauen gegenüber versteckten Voraussetzungen und mangelnder Phänomenkontrolle. „Wertfreiheit“ besteht nicht schon dann, wenn formale Prozeduren („Validität“, „Reliabilität“) eingehalten werden. Sie verlangt die rigorose Explizierung und Reflexion aller eigenen Voraussetzungen – und auch der unausweichlichen „reaktiven Effekte“. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass „Kausalität“ nicht schon, durch eine von Scheinkorrelationen bereinigte Korrelation, suggeriert werden darf. Die Prämisse eines glatten Theorie-Empirieverhältnisses angeblich jenseits aller Paradigmenbindung vergisst, dass der Erkenntnisprozess lange vor der Hypothesenbildung beginnt, durch diese nicht wirklich stillgestellt werden und sich auch danach nicht einfach beenden lässt (Matthes 1992: 75; 1993: 101ff.; Meinefeld 1995: 280f.). Es bleibt immer eine Mehrdeutigkeit, ein Sinn- und Aspektüberschuss. Diese und die Unabschließbarkeit weiterer Beobachtungsmöglichkeiten entspringt der Tatsache, dass Theorie und Empirie sich einerseits nicht Eins zu Eins verfugen lassen andererseits sich eine Differenz zwischen Theorie- und Beobachtungssprache methodologisch nicht sauber begründen lässt (Reckwitz 2000: 54). Es gibt immer mehrere Übersetzungsmöglichkeiten zwischen Theorie und Empirie und eine simple Korrespondenz ist daher eine gewagte dogmatische Unterstellung. Jede wissenschaftliche Fragestellung und jede Hypothese gewinnt ihren bestimmten Sinn nur innerhalb spezifisch konstruierter Aussagen- und Zeichensysteme, Relevanzrahmen und Theoriesprachen. „Metatheoretische“ Evidenz und uninterpretierte Beobachtung „reiner Fakten“ sind definitiv nicht aufzufinden. Es gibt daher keinen letzten Prüfstein oder wissenschaftlichen „Gottesstandpunkt“. Als tatsächliches Validitätskriterium bleibt nur die heuristische Evidenz. Nach Goffman (Goffman 1974: 19; Willems 2000: 49f.) liefern Theorien begriffliche Bezugssysteme, in die eine wachsende Zahl erforschter Erfahrungsfelder eingeordnet und hierarchisiert werden kann. Damit können dann auch weitere Teilstrukturen differenziert werden. Es entsteht eine Art „soziologische Landkarte“. Die theoretisch geprüften Befunde modifizieren ihrerseits die Theorie. Für den Soziologen ist daher Theorie, die ein soziales Phänomen von verschiedenen Seiten beleuchtet und erschließt, einfach nicht wegzudenken. Erst sie vermag die übergeordnete empirische Merkmalsfülle zu begrenzen und systematischen Fragestellungen zuzuführen. Soziologische Theorie versteht sich entweder als Zeitdiagnose, Sozialtechnologie oder Theorie einer „Krisenwissenschaft“, die nach relativ umfassenden Beschreibungen und Erklärungen zu Vorschlägen der Entschärfung „sozialer Probleme“ vorzustoßen sucht. Hier geht es nicht um allgemeine Gesetze, sondern um „Theorien mittlerer Reichweiten“ (Merten). Selbst solche „Theorien mittlerer Reichweite“, auch als „gegenstandsbezogene Theorien“ „sensitiver Konzepte“ verstanden, müssen aber extrapolierende Überverallgemeine-
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rungen meiden. Sie spiegeln nicht einfach eine konsistente Verknüpfung theoretischer Hypothesen mit empirischen Befunden wider. Vielmehr bieten sie einen Vorblick auf mehrere mögliche Szenarien oder Entwicklungspfade, die sich unter jeweils bestimmten gesellschaftlichen und historischen Bedingungen abzeichnen. Unter mehreren kontextbezogenen Theorieversuchen lassen sich meist Vorzugskriterien auffinden. Theorien sind daher durchaus in der Lage, auch unter Bedingungen eines prekären und fragilen Argumentatitionszusammenhangs, ein heuristisch ergiebiges Wissensnetzwerk mittels sensibler Konzepte aufzuspannen, das hohen explorativen Gewinn besitzt. Sie sind eine Art „Rahmenanalyse“ (Goffman 1977; Kelle 1994: 235, 240), deren Rahmen jedoch kein statischer ist, sondern fortlaufend transformiert wird. Die Vorstellung einer fortlaufenden Kumulation des Wissens und eines linearen Erkenntnisfortschritts wird diesem komplexen Theorieverständnis nicht mehr gerecht. Die Begriffe der Wirklichkeit und Objektivität verweisen im Grunde auf transkategoriale, soziale Konstruktionsprozesse. Deswegen bleiben lediglich formal korrekte Definitionen und verfahrensmäßig lupenrein operationalisierte Hypothesen entweder nichtssagend oder latent von Kontextwissen imprägniert. Hypothesen lassen sich faktisch auch auf ganz andere Gegenstände beziehen als die vorliegenden und keine historische Kultur zuvor hat so wenig von der Diagnose auf die Prognose schließen können wie die heutige. Informationstechnologie, Gentechnik und Reproduktionsmedizin sind nur symbolische Stichworte für strukturell gestörte Validität (Gamm 2000: 257, 43) und theoretische Übertragbarkeit. „Der Rekurs auf kausale Beziehungen hilft nicht weiter, wenn unterschiedliche Faktoren von vielfach sich überlagernden Regelkreisen direkt oder indirekt auf das inkriminierte Ereignis einwirken.“ (Gamm 1997: 57, 66f.). Deutlicher denn je zeigt sich, dass jedes soziale Phänomen sowohl über- wie unterdeterminiert ist. Auch das soziale Phänomen Kindheit hat nicht nur unscharfe Umrisse bekommen, sondern ist sich sozusagen heute immer schon voraus. Alle sozialwissenschaftliche Beschreibung und Erklärung kommt in gewisser Weise im Grunde zu spät (Gamm 2000: 190). Damit wird auch soziologisch die scharfe Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit relativiert und aufgeweicht. Die Entwicklungspsychologie hatte noch – vielleicht ohne Absicht – die Illusion befördert, eine der ontologischen Wesenserkenntnis äquivalente universaler Entwicklungslogik und daraus deduzierbare Strukturkategorien liefern zu können. Alles spricht indes heute dafür, bescheidenere Ansprüche zu verfolgen, und sich mit sozialen Konstruktionen der Kindheit auf Zeit zu begnügen. Die sozialwissenschaftliche Objektivität hängt nicht nur von der subjektiven Unbestechlichkeit und der Intersubjektivität der Prüfpraktiken und formalen Verfahren ab. Es geht auch um die performative Transparenz der theoretischen Argumentation. Dabei zeigt sich immer eine gewisse Differenz zwischen dem, was sich zeigt, wie es sich zeigt und warum es sich so und nicht anders zeigt (Eßbach 1996: 106ff.), eine Unterscheidung, die schon auf Husserl zurückgeht. Sie bildet auch die Grundlage dafür, dass soziale Phänomene – auch durch noch so präzise Begriffe, Definitionen oder operationalisierte Hypothesen – nie endgültig fixierbar sind, sondern sich immer wieder neu konstituieren müssen. Dadurch bleibt ihr Gravitationszentrum die alltägliche Lebenspraxis und die Alltagssprache (Varela 1990: 97f.; Flick 1995: 54f.; Schütz 1979). Ausgehend vom vortheoretischen historischen Vorverständnis und Alltagswissen, aber auch theoretischem Vorwissen und Kenntnis empirischer Befunde muss der theoretisch-methodologische Reflexionsprozess aber irgendwo
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abgebrochen werden und darf gerade deshalb nicht reifiziert werden (Kelle 1994: 318). Nicht nur die Gegenstandskonstitution, auch ihre Beobachtung bleibt prozessgebunden. Dennoch gibt es hier keinen überzeugenden Grund, aus der Komplexität des Forschungsprozesses den Schluss zu ziehen, unendlich viele, ja beliebige theoretische Konzepte seien mit der erforschten Alltagskultur vereinbar (Meinefeld 1995: 234, 244ff.). Von daher ergibt sich die Notwendigkeit rekonstruktiven Konstruierens. Objektivität ist daher hier zunächst kein prozedurales Ziel, sondern ein reflektiertes Zwischenergebnis eines Strukturierungsvorganges, der auch die Konstitutionsleistung des Forschers zu berücksichtigen hat. So ist es auch klar, dass bei dem, was als „Kindheit“ beschrieben werden kann, die heutigen Akteure nicht beim Nullpunkt anfangen, sondern eine geschichtlich weit zurückliegende Verständigung über ein Kulturmuster und dessen „Gegenstand“ hinter sich haben. Wissenschaftlichen Beobachtern werden dabei immer wieder neue Gesichtspunkte geliefert, aber auch dazu quer liegende Erfahrungen der betroffenen Kinder, die sich in einer prinzipiell reflexiv-rekursiven Wissensproduktion vernetzen und verdichten (Meinefeld 1995: 281). Nur eine rigorose Reflexion der Geschichtlichkeit und der zeitgenössischen Interpretationskämpfe verhindert eine platte, subsumtionslogische „Nostrifizierung“ (Meinefeld 1995: 28; Matthes 1992; Bohnsack 1999: 179). Mit den drei Leitfragen, der Was-Frage, der Wie-Frage und der Warum-Frage, von denen keine einen absoluten Vorrang hat, lassen sich alle sozialen Phänomene, die zur „sozialen Tatsache“ geworden sind, untersuchen. Was ist wichtig an der „veränderten Kindheit“? In welchen Varianten gilt sie als „interessant“, „zulässig“, „legitim“, erwünscht, „praktikabel“ oder förderungswürdig? Ist die Zelebrierung eines Paradigmenwechsels in der Kindheitsforschung und eine verbale Statusaufwertung in der Gesellschaft mehr als eine Flucht in eine folgenlose Rhetorik oder ins moralisierend Appellative? Welche Gründe sprechen dafür, welche dagegen? (Beck 1994: 128f.) Die Was-, die Wie- und die WarumFragen lassen sich allerdings sinnvoll heute nur „von irgendwoher“ und relational und nicht überzeitlich und strikt universal formulieren. Sozialwissenschaftliche Forschung bleibt überdies nur dann ergiebig, wo sie den Rest an Fremdheit, die alle sozialen Phänomene umgibt, nicht pseudoaufklärerisch zum Verdunsten bringen will, sondern als produktiven Stachel im Fleisch und als ständige Herausforderung einer „responsiven“ soziologischen Kindheitstheorie begreift (Waldensfels 1990; 1994; Bohnsack 1999: 18ff.). Die Grundfragen der soziologischen Theorie lassen sich durchaus auch und gerade in den analytischen Kategorisierungen des Sozialkonstruktivismus wieder erkennen: Externalisierung, Objektivierung, Internalisierung. Externalisierung richtet sich vorzugsweise auf das Was und die kulturellen Unterscheidungen, das Wie auf das durch die gesellschaftliche Objektivierung gegebene Möglichkeitsspektrum, das Warum fragt nach den Gründen der aktuellen Vorzugswahl des „Realität aneignenden“ Subjekts. Freilich tauchen alle drei Fragen auch in jeder einzelnen Dimension sozialer Konstruktion von Kindheit auf. Sie sollen hier im Sinne einer sensitiven „gegenstandsbezogenen Theorie“ mittlerer Reichweite erprobt werden, die sich freihält von dogmatischen Konstanzunterstellungen und explorativ eine Einheit von Beobachtung, Beschreibung und vorsichtiger Erklärung anzielt. Da das notwendige Wissen nicht direkt vom Kind abfragbar ist, lassen sich die Aussagen einer solchen sozialkonstruktivistischen Kindheitstheorie über das Handeln von Kindern nur von der kindlichen „Randexistenz“ her durch kritische Annäherung gewinnen. In gewisser Weise sind Kinder „Außenseiter“, auch wenn sie teilweise im privaten Bereich geradezu hofiert werden (Zeiher 1996). Sie hatten bislang einen prekären und in vielerlei Hinsicht gespalte-
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nen Sonderstatus (Honig 1999). Darüber hinaus lässt sich auch aus der methodischen Einstellung Goffmans (1973: 7) Nutzen ziehen, indem systematisch nach kindlichen Abweichungen von der jeweils insinuierten „Sicht“ und „Stimme der Kinder“ gesucht wird. Dies verweist durchaus auch auf die Normalität, die nicht nur eine Normalität der Normen sondern auch der Normreparatur, Normalisierungsunterstellung, also vielfältiger nicht immer erfolgreicher Normalisierungen darstellt (Grathoff 1989: 338ff.; Behrens 1996: 21ff.; Link 1999; Bröckling 2000). Die Beziehungen zwischen Kindern, Erwachsenen und der Gesellschaft ließen sich demnach auf drei Ebenen analysieren, die zugleich makro-, meso- und mikrosoziologische Aspekte enthalten: 1. 2. 3.
auf der Ebene des für jedes Subjekt offenen kulturellen Horizonts; auf der Ebene sozialstruktureller Affinität der kulturellen Diskurse; auf der Ebene der situativen Transformation sozialer Reaktionen.
Dabei lassen sich sowohl Kontinuitäts- als auch Diskontinuitätsaspekte aufweisen. Bislang wurde aber fast nur der Kontinuitäts- und Evolutionsaspekt verfolgt. Es gibt selbstverständlich einige körperliche und psychosoziale Unterschiede, die in die Augen springen. Es lässt sich jedoch zeigen, dass sie in ein und derselben historischen Gesellschaft und transkulturell unterschiedlich vergegenwärtigt und gedeutet wurden. Tatsache ist, dass es ausgeprägte Dispositionen zur Unterscheidung wie zur Assimilation und Akkomodation zwischen allen menschlichen Altersgruppen und eine Vielzahl von Kriterien der Differenzierung gibt, die keineswegs alle miteinander kompatibel sind (Nemitz 1996). Diese Mehrdeutigkeiten wurden und werden immer noch nur durch Hinzuziehung von Alltagswissen und Normalisierungsstrategien angemessen verstanden (Schütz 1971: 11; Meinefeld 1995: 53f.; Varela 1990: 97f.).
4.9 Die Mehrdimensionalität des Kindheitsphänomens Je nachdem, wieweit ein soziales Phänomen bekannt ist und als komplex eingeschätzt wird, wird eine soziologische Untersuchung eher deskriptiv oder theoretisch-analytisch sein. Doch eine völlige Trennung dieser Arbeitsschwerpunkte ist unmöglich, „da jede Beschreibung theoretische Aktivitäten verlangt“ (Friedrichs 1990: 108). Erweist sich ein Phänomen als komplex, legt das oft nahe, es analytisch in verschiedene Dimensionen zu zerlegen. Kindheit ist nur scheinbar ein einfacher Sachverhalt (Nauck 1993: 143ff.). Bezogen auf jeweils bestimmte Fragestellungen des Forschungsprozesses wird man auch hier zwischen zentraleren und periphereren Untersuchungsdimensionen unterscheiden können. Es ist heute – quer durch verschiedene Methodologien – kaum noch strittig, dass jede beschreibende Untersuchung auch theoretisch-analytische Aspekte in sich birgt. So hatte es im Grunde schon die bis heute oft missverstandene Phänomenologie Husserls (1993: 14ff., 61ff., 89ff.) gesehen, die Beschreibung als rekonstruktive Analyse der „Aufschichtung“ der „Sache selbst“, als analytische Beschreibung der „Modalisierung der Erfahrung“ und eben nicht als intuitive Abschilderung vorliegender Gegenstände verstehen wollte. Ein solcher „transzendentaler Positivismus“ (Husserl) setzt allerdings mehr als eine sprachanalytische Zerlegung zu Operationalisierungszwecken aus einer im Grunde fixierten Beobachterposi-
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tion heraus voraus, wie sie in einer objektivistischen Methodologie vorgesehen ist. Selbst Anhänger einer empirisch-analytischen Methodologie konzedieren ja längst, dass von einer strengen Kausalität im Bereich gesellschaftlicher Prozesse nicht die Rede sein könne, sondern allenfalls Grund-Folge-Abläufe zu attestieren sind. (Manche Autoren sprechen von „kausaler Attributierung“). Dennoch werden nach wie vor oft wissenssoziologisch relevante Vorgänge der Wissensproduktion und -verteilung, etwa Lernen und Lernverweigerung oder die „Präventivwirkung des Nichtwissens“ (Popitz 1986: 27; Meinefeld 1995: 55f., 296), unterschlagen. Folgt man der theoretischen Argumentation der Modernisierungstheorie (Weber 1972: 43ff.; Parsons 1972: 68ff.; Zapf 1990: 73ff.; Elias 1976: 422ff.), der die meisten bisherigen Arbeiten der Kindheitssoziologie verpflichtet sind, so zeichnen sich zwei Haupttendenzen ab. Erstens bildet sich im Verlauf der gesellschaftlichen und individuellen Rationalisierung der Moderne ein Modell des kompetenten, arbeitsfähigen Erwachsenen aus, der sich streng erfolgsorientiert gibt, und dafür eine bestimmte Qualifikation und Entwicklung in Kindheit und Jugend braucht. Vor allem Elias hat eindrucksvoll beschrieben, wie immer stärker eine nationalgesellschaftlich standardisierte Sozialisation eine strenge Verhaltensregulierung und Selbstdisziplinierung durchsetzte, die allen vormodernen Menschen fremd war. Der Nationalstaat kann erst auf dieser Grundlage funktionieren. Hier liegt auch der Ausgangspunkt der neuen Kindheitssoziologie, die sich im Rückblick als theoretische Aufarbeitung der Erosion des modernen Kindheitsmodells begreifen lässt. Genau genommen gibt es allerdings in den modernen Industriegesellschaften mehr als einen, relativ homogenen Trend und eventuell noch einen Gegentrend, sondern vielerlei widersprüchliche Tendenzen. Bei Kindern lässt sich dies an der simplen Erfahrung nachweisen, dass sie zuweilen in mancher Hinsicht erwünscht, in manchen nur geduldet und in anderen sogar als lästig empfunden wurden. Als potentielle Rekruten oder Arbeitskräfte der Betriebe waren sie wichtig, als streunende Kinderbanden gefährlich. In modernen Gesellschaften wächst auch die Zahl derer, die sich prinzipiell gegen Kinder aussprechen oder sie als nachrangige Lebensziele betrachten (Qvortrup 2005: 25ff.). In manchen Vierteln großer Städte erscheinen sie fast als exotische Wesen. Die meisten Eltern erwarten heute nicht mehr, dass die Kinder die geleistete Zuneigung, Pflege, Versorgung, Beratung und Förderung zu einem späteren Zeitpunkt wie eine offene Rechnung begleichen. Aber sie hoffen doch insgeheim, dass sie nicht im Stich gelassen werden. Und Kinderlose lassen sich ungern auf größere Lasten aufgrund des Geburtenrückgangs verpflichten. Nicht die Tatsache allein, dass heute weniger Kinder geboren werden und gleichwohl höherer Sozialisationsaufwand getrieben werden muss, sondern die daraus folgenden Deutungen und Bewertungen verweisen darauf, dass Kindheit immer eine gesellschaftliche Konstruktion darstellt. Die „Sache selbst“, Kindheit, ist so eingebettet in eine fortlaufende Konstitutionsgeschichte. Diese hat eine Vorgeschichte und mündet in Zukunftsprojektionen. Sie kann prinzipiell aus verschiedenen Perspektiven in geringerer oder größerer Beobachterdistanz, sozusagen zwischen teilnehmender und distanzierter Beobachtung, beschrieben werden. Immer geht es hier um einen variablen Zusammenhang von Sachgehalt und Zugangsart, die durch eine historisch mögliche „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Mannheim) geprägt sind. Zwar gibt es seit etlichen Jahren eine anschwellende qualitative und quantitative Sozialisationsforschung über Kinder. Aber die Daten und die Datenerhebung und -interpretation, die verstärkt von Kindern eingeholt bzw. von ihnen ratifiziert werden sollen, können nicht einfach als abbildliche Repräsentation und als Indikatoren eines konstanten
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Verhältnisses von objektiven Befunden und ihrer subjektiven Wahrnehmung unvermittelt addiert werden. Solche Daten implizieren in jedem Fall eine Kovariation beschreibbarer Verhaltenssequenzen und Beschreibungspositionen eines sozialen Phänomens, dem man nicht schlichte Konstanz ungeprüft unterstellen darf. Es gibt hier auch keine einfache Einszu-Eins-Entsprechung oder Passung unterschiedlicher Momente der Strukturierung des Kindheitsphänomens (Peters 1999: 662). Die Konstitution induzierende Mehrdimensionalität von Kindheit blitzt schon auf, wenn man Sozialisation und Sozialkontrolle nicht einfach als kompatible oder konvergierende, sondern als potentiell auch divergierende Vorgänge beobachtet. Um Kindern freie Auswahl zu bieten, genügt es nicht, das Angebot einfach zu erhöhen. Das Angebot muss „passend“ gemacht werden. Sozialisation wie Sozialkontrolle können dadurch leiden und in Verwirrung geraten. In dieser Lage ist es unerlässlich auch moralische Fragen zu berücksichtigen. Normalität erschöpft sich aber nicht in moralischer Stabilisation, sondern muss viel umfassender ansetzen, da sie auch auf ästhetischen, alltagspraktischen und mikropolitischen Gesichtspunkten beruht. Wenn man es funktionalistisch formuliert: Konstitution eines sozialen Phänomens geschieht in der soziokulturellen Artikulation, der sozialen Akzeptanz und der situativen Durchsetzung. Und diese harmonieren nicht in jedem Fall. Eine beschreibende Analyse kann dies nicht nur aus verschiedenen Hinsichten unterscheiden. Sie stößt auch auf die Prozesshaftigkeit des Wissens um Sachverhalt und Wahrnehmung. Weil der Vorgang des Unterscheidens und Relationierens immer weitere Unterscheidungen und tief gestaffelte Verweisungszusammenhänge zulässt, muss er – stets historisch situiert – irgendwo auf eine begründete Art abgebrochen werden, gerade wenn auf positivistischnominalistische Willkür oder essentialistische „Wesensschau“ verzichtet werden soll. Es gibt so etwas wie eine unbeliebige „theoretische Sättigung“ (Glaser/Strauss). Gehen wir einfach davon aus, dass Kindheit vollkommen bestimmt ist, so übersehen wir die laufende faktische Veränderung. Betrachten wir sie als vollkommen veränderlich, so wird es methodisch unmöglich, diese Veränderungen als Veränderungen am hinreichend gleichartigen Phänomen zu beschreiben. Andererseits engt die Paradigmenabhängigkeit und ihre theoretische Korrespondenz die Möglichkeit ein, die tatsächliche Entwicklung von allen Seiten, gleichsam von einem „Gottesstandpunkt“ her, zu beobachten: Phänomene haben ihre Vorgeschichte und Beobachter ihr Vorverständnis (Gadamer 1965; Habermas 1982; Putnam 1991). Eine Analyse im Horizont des „interpretativen Paradigma“ achtet vor allem auf die Konstitution kovariierender und temporalisierter Zusammenhänge sachlicher und subjektiver Differenzen, die sich als Sinnaufschichtungen in Strukturierungsprozessen der „sozialen Tatsache“ Kindheit niederschlagen. Geschichtlich wurde sie freilich zur einzig pädagogisch relevanten „Entwicklungstatsache“ (Bernfeld) reduziert. Einer konsequent kindheitssoziologischen Beschreibung stellt sich daher eine „gegebene“, „funktionsnotwendige“ oder sozialökologische Zielbestimmung keineswegs als zwingend und fix und fertig dar. „Objektives“ und „Subjektives“, „Innen“ und „Außen“, „Oben“ und „Unten“, „push“ und „pull“Faktoren, beziehen sich immer auf zu konstituierende gesellschaftliche Sinn- und Referenzrahmungen und nie auf einen eindeutigen, endgültigen und zeitlosen Zielkorridor unabhängig von Wissensordnungen. Obwohl unbeliebig, sind diese beweglich, zugleich fragmentarisch und prinzipiell unabschließbar (Soeffner 2000: 165, 169). Die heutige Kindheit ist kein naturnaher Kausalitätszusammenhang, keine fassadenhafte Historisierung einer zeitlosen Strukturkategorie, kein determiniertes Resultat eines als homogen vorgestellten Soziali-
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sationsprozesses, aber auch keine willkürlich ergriffene Option unter Optionen. Soziale Phänomene besitzen zwei Hauptaspekte. Einmal werden sie im Agieren der Akteure konstituiert. Zum anderen erfolgt diese Konstitution in einer immer schon vorinterpretierten alltäglichen „Verfassung“ (Struktur), die eine jede Gesellschaft hat und in deren Rahmen sich das Handeln und die Konstruktion der Wirklichkeit bewegen muss. Beide stehen in einem Wechselspiel und wirken wechselseitig aufeinander ein (Giddens 1992; Esser 1994: 80). Soziale Phänomene sind gegeben wie aufgegeben. Auch das unterscheidet eine SozioLogik von einer (formalen) Logik: Soziale Phänomene sind reflexiv-kursiv. Wird, wie heute, das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern als immer weniger komplementär erfahren, scheinen Kinder sozusagen zu allem fähig, so stellt das nicht einfach eine beliebige Überformung einer zeitenthobenen Strukturkategorie dar (Qvortrup 2005: 27ff.), sondern das leitende Modell moderner Kindheit wird fortwährend unterhöhlt. Und ein neues Modell lässt sich auch nicht durch üppige Expertise und Kinderpolitik einfach kreieren. Es setzt vielmehr immer schon eine „kultivierende“ gesellschaftliche Verständigung voraus und kann nur erreicht werden, wenn auch das uneingeschränkte „Einverständnis“ der Kinder selbst gewonnen ist (Hoerning 2001: 59; Rauschenbach 1991). Es bleibt eine offene Frage, ob und wie das Abrutschen des „Kinderwunsches“ in der Prioritätenliste der Lebensplanung im Vorblick auf die gewünschte Lebensform auf zunehmender Irrelevanz, realistischer Einschätzung oder Überschätzung der materiellen Schwierigkeiten beruhen oder deswegen eingetreten ist, weil Kinder selbstbewusst oder aufdringlich sich in die Neuorganisierung von Privatheit, Familie und Kindsein offensichtlich hineindrängen (Giddens 1995: 68; LBS 2002). In ähnlicher Weise ist auch das „Wunschkind“ eine voraussetzungsvolle soziale Konstruktion. Die jahrzehntelange Lebenserfahrung der Eltern und Großeltern und evtl. ihre zeitlose Weisheit scheint keine große Bedeutung mehr zu besitzen, wenn Kinder mittels PC in Sekundenschnelle gespeichertes Wissen auf den Bildschirm zaubern, wozu jene Jahre gebraucht haben oder was sie schlechterdings nicht wissen konnten. Jedenfalls verändert sich die Wissensproduktion, -verteilung und -transformation strukturell in nie gekannter Geschwindigkeit und nie gekanntem Ausmaß: der Blick von Außen und von Innen, von der Peripherie ins Zentrum, von Oben nach Unten scheint gleichsam beweglicher und fluktuierender geworden zu sein. Diese Transformation von Wissen springt auch einem geschulten Soziologenblick nicht sofort in die Augen. Kinder sind heute auf eine nur mühsam durchschaubare Weise in zahlreiche, z. T. widersprüchliche Strukturierungsprozesse eines sich verändernden Generationsverhältnisses, eines Institutionswandels und einer Situationsdynamik involviert. Welches Wissen wollen, sollen, dürfen, müssen sie aufbieten und erproben, um als akzeptierte, erwünschte, liebenswerte Kinder gelten zu können (Rammert 1999: 265). Wie gehen sie – aktiv oder rezeptiv – damit um? Die Entwicklungspsychologie beharrt nach wie vor auf mittlerweile imaginären „Entwicklungsaufgaben“. Andererseits kann nicht übersehen werden, dass die notorischen Beschwichtigungsversuche von Sozialwissenschaftlern auf zunehmenden Unglauben stoßen, und viele Eltern, Erzieher, Lehrer etc. massiv daran zweifeln, ob sie heutige Kinder überhaupt noch erziehen können (Heinz 2001: 155; Beck 1997: 9ff.). Und es kann kaum ein Zweifel daran aufkommen, dass der Erwachsenenstress auch schon die Kinder heimsucht (Olk 2003: 106). Es geht daher längst nicht mehr allein um die methodische Alternative der Fokussierung auf das „Werden“ (Entwicklung) oder das „Sein“ (Hier und Jetzt); auch nicht
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einfach um eine strukturstabile „Synthese“. Kinder treffen heute nämlich auf verschiedene, konkurrierende und rasch wechselnde Präsenz- und Entwicklungsorientierungen und problematisch synthetisierende Sozialisationskonzepte wie organisatorische Optionen mit gatekeeper Effekten (Neumann-Braun 2001: 91ff., 97). „Veränderte Kindheit“ ist daher nicht, wie die meisten, modernisierungstheoretisch geprägten Studien nahe legen, in eine „traditionelle“ und „hochmoderne“ (incl. Zwischenformen) aufzuspalten, obwohl vormoderne/moderne Teilaspekte nicht zu leugnen sind. Gerade weil die Moderne als „Relativierungshexenkessel“ verstanden werden kann (Berger 1980: 23), sind homogene idealtypische Kontinua oder Polaritäten kaum noch angemessene Konzepte für die „polykontexturalen“ Hybridbildungen (Wagner 1999; Lau 1988: 219; Joas 1996: 345). Auch die Vorstellung einer penetranten, nachhaltigen Individualisierung ließe sich nur dann nachvollziehen, wenn es klar wäre, dass eine eindeutige Erweiterung der individuellen Handlungsmöglichkeiten und nicht nur eine (scheinbare) Optionsmultiplikation vorläge und nicht gleichzeitig die Vervielfältigung der Selektionskriterien und Zwänge um sich greifen würde. Die Vielzahl der Optionen und alternativen Sinndeutungen erzeugt strukturell Unübersichtlichkeit. Sie stößt faktisch eine Erosion gesellschaftlichen Wissens über die Sozialisation, die Sozialkontrolle, die Bedeutung von Kindern an, die auch periodischen Schwankungen unterliegt (Bude 2001: 1255ff.). Und dort, wo es tatsächlich zu einem einschneidenden Individualisierungsschub kommt, erhöht sich offensichtlich faktisch die Distanz sowohl zu traditionellen wie avantgardistischen Mustern des Kindseins. „Kinderwunsch“ und „Wunschkinder“ stehen ständig in der Gefahr zu rhetorischen Artefakten von Meinungsumfragen zu werden, sie werden verschoben, biographisch zurechtgebogen, gleichzeitig hochstilisiert und relativiert (Fischer 1995). Die soziale Konstruktion von Kindheit kann daher als „Brückenkonzept“ verstanden werden, das den Wandel der „objektiven“ wie „subjektiven“ Momente vermittelt, durch Wissen fundiert und so dem sozialen Phänomen Konturen und innere Kohärenz verleiht, zur „sozialen Tatsache“ werden lässt. Die unvermeidliche Kehrseite an sozialen Konstruktionen ist, dass sich am sozialen Phänomen Kindheit „Unvollständigkeiten“, Risse, Spalten, Prozesse der Heterogenität, der Fragmentierung und Disparatheit immer neu aufbrechen. Obwohl Kindheit seit Jahren immer weniger eine reine Übergangsphase zum Erwachsenenalter darstellt, erweist sich ihre Selbstgestaltung von der gesellschaftlichen Entwicklung mehr denn je abhängig. Das „Ausfransen“ der Nationalgesellschaft lässt es zu dem immer fraglicher erscheinen, dass Kinder in zentralen Lebensbereichen auf eine gemeinsame nationale Agenda treffen. Wenn man an heutiger Kindheit den strategischen Transformationspunkt auffinden will, darf man Kinder weder in eine zeitlose Strukturkategorie hineinzwängen, noch nur formal nach früher, mittlerer oder später Kindheit klassifizieren. Dies sind relativ äußerliche Klassifikationen, die die konstruktiven „Texturen“ der Vermittlung „äußerer“ und „innerer“ Indikatoren gerade verfehlen. Binäre Codierungen sind stets der Beobachterattitude verhaftet und übersehen das konstruktive, dialektische Wechselspiel von Fremd- und Selbstzuschreibung. Wissen bildet sich heute zwischen verschiedenen Perspektiven, Habitusformen, Machtstrukturen und Zufällen. Es kann sich dabei um eine offenere oder hermetischere Wissensproduktion, -verteilung, -transformation handeln. Viele Eltern hören sich rechtzeitig um und fabrizieren eine bunte Wissensmischung, gepaart mit beträchtlichem Nichtwissen, Wunschdenken und undurchschautem Vergessen
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und Verdrängen. Kinder sind kaum weniger pfiffig, sich das notwendige Wissen zu besorgen. Nicht selten kennen sie auch das Sozialisationswissen ihrer Eltern, Erzieher und Lehrer und sind daher in der der Lage, es zu unterlaufen. Schließlich kann von Wissenssuchenden, ob Erwachsenen oder Kindern, behauptet werden, weitere Wissenssuche sei zwecklos. Stereotype und Vorurteile täten es auch…. Alle Konzepte und Ratschläge und Deutungsangebote erscheinen manchmal gleich gut oder gleich schlecht. Sie gehen vielleicht angesichts des „Eigen-Sinns“ der Kinder alle nicht auf. Man könne allenfalls „Angebote“ machen und durch Impulse „Irritationen“ oder „Perturbation“ schaffen. Wissen wird nun nicht einfach ausgewechselt und Nichtwissen nicht einfach in Wissen überführt. Vielmehr gelingen mehr oder minder tragfähige soziale Konstruktionen, die Kinder lebenspraktisch in die Lage versetzen, Übergangsstrukturen zu etablieren. „Zwischenwelten“ und Übergangsstrukturen, nicht endgültige strukturstabile Identität, sind offensichtlich Ergebnis heutiger sozialer Konstruktionen von Kindheit, die einer Transformationsgesellschaft entsprechen. Noch nie gab es soviel (medial) gespeichertes Wissen, dessen Funktion so fraglich geworden ist. Ebenfalls noch nie gab es eine so große Chance, prinzipiell verfügbares Wissen oder Nichtwissen zu missachten, bei gleichzeitiger Bereitschaft zu stärkerer rechtlicher und sozialpolitischer Regulierung. Ob, wie, wann, wie dauerhaft sich jemand in die Position des Wissenden oder Nichtwissenden bringen lässt, hängt von vielen Dingen ab. Wissen muss auch repräsentiert werden. Und die aus Deutungspraktiken hervorgehende Wissensproduktion muss „seelische Zentralität“ (Simmel) erlangen, wenn sie die Wirklichkeitserfahrung prägen soll. Man kann hier zusammenfassend Strukturierungsprozesse am Werk sehen, in der das soziale Phänomen in einer wissenssoziologisch relevanten Dynamik vom „tacit knowledge“ zum „codified knowledge“ und zur „sozialen Tatsache“ voranschreitet (Polanyi 1985; Fleck 1980), aber im Prinzip sich auch zurückverwandeln kann. Dabei lassen sich drei unterschiedliche, aber lebenspraktisch und sozial zusammenwirkende Strukturierungsvorgänge bzw. Ebenen der Beschreibung auffinden: 1. 2. 3.
die Soziogenese des Wissens, was kulturell Kindheit ausmacht; die Soziogenese des Wissens vom sozialen Raum zur Entfaltung kindlichen Lebens; die Soziogenese von Wissen zur Situationsbewältigung des konkreten Kindseins.
Das theoretische Problem des sich konstituierenden sozialen Phänomens besteht nicht in dem fraglichen Verhältnis von zeitloser Strukturkategorie Kindheit und historischer Füllung der Kategorie, sondern in einem Strukturmuster, das so spezifisch historisch ist, dass selbst eine nominalistische Formaldefinition sich sofort untergründig mit historischen Konnotationen voll saugen würde.
4.10 Die soziologische Mehrebenenanalyse Seit der Entwicklung der neuen Kindheitssoziologie hat sich das Wissen über Kinder und Kindheit zweifellos enorm erweitert. Kulturelle, politische, ökonomische und soziale Wandlungsprozesse, die Einfluss auf die gesellschaftliche Gesamtgestalt von Kindheit gewinnen können, werden heute weit wacher registriert als noch vor einigen Jahrzehnten.
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Es fehlt auch nicht an Versuchen, die verschiedenen Einzelbefunde und Wissenssorten zu ordnen und zu integrieren. Meist bleibt es aber bei einem Theoriemix (Liegle 1991: 219), der wenig zur Entwicklung einer eigenständigen Kindheitssoziologie beiträgt. In einer solchen Forschungssituation hat sich vor ca. drei Jahrzehnten eine (sozialökologische) Mehrebenenanalyse zu Wort gemeldet, die auf den ersten Blick verspricht, besonders genau die Mehrdimensionalität des sozialen Phänomens Kindheit zu erfassen (Vaskovics 1982). Das Kind wird hier in aktiver Auseinandersetzung mit seiner aus verschiedenen, hierarchisch tief gestaffelten sozialen Kontexten bestehenden alltäglichen Umwelt und gegebenen oder nicht gegebenen sozialpolitischen Arrangements beobachtet. Diese Kontextbildung ist nicht nur wechselseitig, sondern jeweils spezifisch „systemisch“. Demgegenüber erscheinen selektive, exklusive, fragmentierende und kompensierende Prozesse zweitrangig, wie sie für alle Konstitutionstheorien zentral sind. Mit einer solchen Mehrebenenanalyse versuchte man, den Einfluss sozialer Strukturen auf das individuelle Verhalten genauer und umfassender oder „holistischer“ zu verfolgen und in systemische Reaktionszusammenhänge mit ihren sozialpolitischen Prämissen einzubetten: Wie müssen familiale Ordnung, schulische Unterrichtsorganisation, Infrastruktur, soziale Netze und kommunale Initiativen, Bereitstellung von Beratungspotentialen hinsichtlich des notwenigen Sozialisationswissens und sozial- bzw. familienpolitischen Unterstützungsleistungen arrangiert werden, damit sie optimale Gewähr dafür bieten, Chancengleichheit zu ermöglichen? Zentral dafür ist der Gedanke, dass individuelles Verhalten mit einer Konstellation unterschiedlicher sozialer Kontexte kovariiert. Damit sollte vor allem eine objektivistischpositivistische „Variablensoziologie“ zugunsten einer weniger unterkomplexen, auf systemische Passung statt auf lineare Kausalität achtenden Person-Umwelt-Interaktionsstruktur überwunden werden. Als integrierender Fokus galt nicht das pädagogische Verhältnis sondern die Prioritäten- und Präferenzhierarchie kindlicher Bedürfnisse und gesellschaftlicher Erwartungen einer anthropologisch interpretierten „Kinderrolle“ (Lüscher 1976: 129ff.; Bronfenbrenner 1981: 16; Vaskovics 1982: 16): Wie können Eltern-Kind-Beziehungen in ihrer advokatorischen Funktion optimiert werden? Wie bei allen guten Absichten wurde meist nicht reflektiert, wann advokatorische Verantwortung in „fürsorgliche Belagerung“ durch wohlmeinende Advokaten umschlägt, und wo das Wechselspiel von Fremd- und Selbstzuschreibung und gesellschaftlicher Verständigung über sozialpolitische Interessen hinausdrängt (Grundmann 1999: 23). Dieser Aporie leistet auch die naturalistische Methodik dieser sozialökologischen Mehrebenenanalyse in nicht geringem Maße Vorschub. Sie berücksichtigt zwar auch die subjektive Wahrnehmung, aber eben nur als ergänzende Dimension separat neben den „objektiven“ Bereichen. Sie besitzt ein integratives Postulat, aber zeigt nicht die durchgängige Möglichkeit der Entstehung und inneren Verklammerung dieser Zusammenhänge auf und läuft so wider Willen einem naturalistischen und ökologischen Fehlschuss auf, den sie durch ihre sozialpolitische Orientierung zu vermeiden sucht. Sozialpolitik konzentriert sie jenseits ihrer inneren Widersprüche und Ambivalenzen und vor allem ihrer Konstitution. Daher entsteht keine rechte Klarheit über folgende Fragen: Wie gehen Generationen, Organisationen, Gruppen und unterschiedliche gesellschaftliche Akteure mit unterschiedlichen kulturellen Definitionen, sozialstrukturellen Chancen- und Risikostrukturen und situativen Kontingenzen und Überraschungen bzw. Ambivalenz um? Auf welches Wissen greifen sie dabei – zwischen Anpassung und Eigen-Sinn – dabei zurück? Welche Wirklichkeit erzeu-
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gen und akzeptieren sie in ihren Orientierungen und Praktiken (Rosenthal 1997: 57ff.; Steinkamp 1991: 273ff.)? Die sozialökologische Mehrebenenanalyse hat gewiss eine komplexere methodischtheoretische Betrachtungsweise des Sozialisationsphänomens, nicht aber einen kindheitssoziologischen Durchbruch gebracht. Sie wird weder der Geschichtlichkeit noch der Fragmentarität und Zeitbedingtheit sozialökologischer Materialisierungen und ihres Alternativenüberschusses gerecht. Sie unterstellt Systemik, wo oft empirisch nur Systemfragmente vorhanden sind. Sie geht von einer konzentrischen Kovarianz aus, die empirisch nur als idealisierter Grenzfall („Limesbegriff“) gelten kann. Mit einem Wort: sie unterschätzt das „strukturelle Dilemma der Gleichzeitigkeit“ des Ungleichzeitigen (Offe 1994: 57ff.; Mannheim 1969: 28ff.; Heidegger 1963). Auf der einen Seite gibt es heute neuartige komplizierte Grenzziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und der kaum gemeinsamen Zukunft zwischen Eltern und Kindern, die eine „materielle“ Grundlage möglicher Reziprozität der Perspektiven zwischen den Generationen bilden könnte. Diese wird meist nur postuliert und unterstellt statt nachwiesen. Auf der anderen Seite gilt die gegenwärtige Existenz und Entwicklung der Kinder als zentraler Sinn des Familienlebens und intergenerationaler Kontakte. Deswegen darf Perspektivenverschränkung nicht mehr als eo ipso durch Sozialisation gegeben unterstellt werden. Sie ist in vielen Fällen und zu bestimmten Zeiten eher brüchig und prekär, auch wenn weit und breit keine spektakulären Generationenkonflikte sichtbar sind. Doch das kann sich – wie etwa 1965 – schnell ändern. Und ausbleibende Generationenkonflikte können ihre Wurzel auch in einer gewissen Sprachlosigkeit oder taktisch-instrumenteller Konfliktausklammerung haben. Die Mehrdimensionalität des sozialen Phänomens weist demnach nicht zuerst auf die verschiedenen Ebenen der Beobachtung, sondern zunächst auf die schon im gesellschaftlichen Alltag erreichte Vielschichtigkeit des sozialen Phänomens Kindheit, auf seine Mehrdeutigkeit, den unausschöpflichen Aspektreichtum und die Konstruktionsnotwenigkeit hin. Es gibt eben keinen kausalen Mechanismus, der die einzelnen Ebenen konfundieren und den Variantenreichtum potentieller Entwicklung a priori einschränken und determinieren könnte. Vielmehr bedarf es zu ihrer Erfassung konstruktiver „Brückenkonzepte“, die auch „objektive“ und „subjektive“ Indizien strukturieren und vermitteln (Steinkamp 1991: 274f.; Kelle 1994: 348, 353; Bohnsack 1999: 66ff.). Nur solche Referenzsysteme erlauben sachgerechte Differenzierung, systematische Vergleiche und einen Rückgriff auf Alltagskonstruktionen, da sich „Beobachtungs“- und „Theoriesprache“ ständig durchdringen und somit als „Konstruktion zweiten Grades“ in Erscheinung treten. Sie benötigen einen letzten Halt und „Sinnanker“ in der „Konstruktion ersten Grades“, der Alltagserfahrung. Und daher genügt es natürlich auch nicht, möglichst viele Daten mit möglichst vielen Methoden zu gewinnen. Überdies weist in der Forschungspraxis die sozialökologische Mehrebenenanalyse eine starke Neigung zur Addition „natürlicher“ Einflussfaktoren. Und was nicht in den Funktionsprogrammen und „Dienstplänen“ sozialer Institutionen oder offizieller Sozialpolitik steht, existiert einfach nicht. Schon gar nicht wird in dieser funktionalismusverdächtigen Analytik durchschaut, dass viele Funktionsdefinitionen empirisch den Charakter der umkämpften Projektion, des Desiderats, der Fiktion oder der Utopie in der Lebenswirklichkeit von Kindern besitzen können. Die unterschwellige Feinstruktur, die Diskrepanz von Vorder- und Hinterbühne und die Eigendynamik informeller Interaktionen auch in Institutionen
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lassen sich nicht auf die funktional-systemische Ordnung einer momentanen „Kontextverschachtelung“ fixieren. Wer diese jedoch als historische Repräsentation lebensweltlicher Orientierungen und In-Ordnung-Bringens versteht, wird sie nur als zwar transsituative, aber immer nur vorläufige sozialökologische Sedimentierung lebendiger und gesellschaftlich folgenreicher Symbolisierung in Gesellschaft begreifen können, sozusagen als „Fensterscheibe“ geschichtlicher Kindheit (Garfinkel 1967: VII; Flick 2000: 111). Wissenssoziologisch wird dies nur im idealen Grenzfall eine uneingeschränkte „Mehrperspektivität“ sein. Und eine bloße Beschwörung „forcierter Ambivalenzen“ und des irgendwie gearteten „verantwortlichen Umgangs“ (Lüscher 1993) damit führt auch analytisch nicht weiter. Eine Reihe von Studien wirft die Frage des Nachweises direkter oder indirekter systemisch-zirkulärer Effekte auf (Friedrichs 1990: 156f.). Fraglich scheint es sogar, ob Methodenpluralismus und Längsschnittuntersuchungen daran etwas Entscheidendes ändern. Bei genauerer Betrachtung fällt es schwer zu bestimmen, was die genuin „systemische“ Qualität sozialökologischer Formationen ausmacht. Und: Kann man einfach strukturstabile Relationen zwischen den verschiedenen Kontexten unterstellen (Steinkamp 1991: 274)? Fördert dies nicht einfach einen ungezügelten Hang zur extrapolierenden Projektion? Weder die „Nahwelt“ noch die „Fernwelt“ sind invariante Größen und ihre konkrete Beziehung wäre immer erst zu untersuchen. Sie begründen bewegliche Relationierungen, keine strukturstabilen Relationen (Soeffner 2000: 165f., 169; 2005: 395). Selten wird auch hinreichend geklärt, ob es sich bei der „naturalen“ Gegebenheit ökologischer Zonen um die „natürliche Einstellung“ des Alltagsakteurs oder eher um ein „objektives“ setting aus Beobachterperspektive handelt. Oft wird suggeriert, diese fielen ohne weiteres zusammen. Und subjektive Wahrnehmung, die formal berücksichtigt wird, ist keine isolierbare Einzeldimension sondern durchdringt alles. Sie ist auch immer in eine Wirkungsgeschichte der gesellschaftlichen Objektivierung und Resubjektivierung eingebunden. Das transformative Wechselspiel der Realitätsakzentuierung ist deshalb möglich, weil kurz-, mittel-, langfristige Entwicklungen zugleich eine der Zeitvorstellungen wie der sachlichen Einzelmerkmale darstellen und diese nur so in komplexer Weise als Wandlungsprozesse in Erscheinung treten. Was den Zeitaspekt angeht, so setzt das immer eine spezielle Zäsurbedürftigkeit sozialer Prozesse voraus. Was den qualitativen Aspekt betrifft, so resultiert er aus der Frage nach der Qualität der Differenz der historischen Generationslage (Generationslagerung) und synchronen Nähe-Distanzstrukturen („Nachbarschaftsverhältnisse“, „Wahlverwandtschaften“), die jeweils als scharf oder schwach, relevant oder irrelevant wahrgenommen werden können (Eßbach 1996: 94; Grathoff 1994; Lüscher 2003: 20, 23f.). Die „oszillierende Gleichzeitigkeit“ (Lüscher) ist aber kein postmodernes Glasperlenspiel, sondern ein bestimmtes Spektrum an Konstruktionsmöglichkeiten. Ob daraus für unterschiedliche Kinder vergleichbare Chancen oder Risiken werden, hängt heute bei weitem nicht nur vom familialen Handlungszentrum (oder sozialwissenschaftlicher Politikberatung oder Sozial- bzw. Familienpolitik) ab, sondern nicht zuletzt davon, dass Familie etc. noch „Zentrum“ zu sein vermag. Häufig lässt sich auch aus durchaus vorhandener familienbezogener Alltagssolidarität kein Transfer mehr auf gesamtgesellschaftliche Solidarität vollziehen, was die klassische Sozialisationstheorie ja unterstellt (Zoll 1993; 1992).
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4.11 Die Verschränkung makro-, meso- und mikrosoziologischer Fragestellungen Grundprobleme aller soziologischen Theorie, die sich durch die gesamte Geschichte des Faches hindurch verfolgen lassen, sind die Konkurrenz zwischen Struktur- und Handlungstheorien, subjekt- oder objektzentrierter Theoriegenerierung und die Alternative zwischen Mikro- oder Makroorientierung der soziologischen Theorie. Erst neuere Theorieansätze aus dem Repertoire der Konstitutionstheorien gehen davon aus, dass diese Polarisierungen zugunsten einer komplexen Verschränkung überwunden werden müssen (Giddens 1984: 199). Manchmal erkennen die betroffenen Akteure, auch schon manchmal Kinder, hellsichtig ihre Abhängigkeiten von Kontextbedingungen. Oft fühlen sie sich aber überfordert, die komplexen und wenig anschaulichen Bedingungslinien in ihrer Gemengelage zu durchschauen. Trotz ihrer Verwirrung und Ratlosigkeit angesichts der vielen Grauzonen und Intransparenzen sind sie jedoch gezwungen zu handeln und dabei ihre Handlungsspielräume grob einzuschätzen, mindestens auf die sich „handfest“ aufdrängenden direkten und indirekten Einflüsse der „push“ und „pull“-Faktoren zu achten, denn nur dann bleiben sie handlungsfähig und in der Lage, auch einmal „Rollendistanz“ zu praktizieren. Dabei greifen sie auf „natürliche Codes“ wie innen/außen, nah und fern, vertraut und unvertraut, gegenwärtig und zukünftig, chancenreich oder riskant als quasianthropologische Differenzierungsgesichtspunkte des gesellschaftlichen Wissensvorrates zurück. Diese verdichten sich in den Grunderfahrungen zu ordnender diachroner Generationsbeziehungen und synchroner Nachbarschaftszusammenhänge (Distanzgraduierung) (Grathoff 1989). Nicht statistische Repräsentativität von Aggregatartefakten aus Beobachterposition, sondern der Nachweis qualitativer Repräsentativität in Wissensstrukturen verbürgt die wirkliche Validität von Protokollaussagen. Ob, wie, anhand welcher Befunde generalisierende Feststellungen möglich sind, lässt sich allein durch die korrekt angewandten Forschungstechniken nicht entscheiden. Die Signifikanz muss vielmehr theoretisch ausgewiesen und begründet werden. Dies führt zu makro-, meso- und mikrosoziologisch plausibilisierenden Strukturbehauptungen, die die jeweiligen Befunde plausibilisieren und zugleich einen Blick auf Ähnliches und Anderes freigeben (Berger 1971: 139ff.; Schütz 1979: 136ff.). Die Explikation eines Vorwissens, dessen Erweiterung, Vertiefung, Korrektur, Kontrast und Kritik durch die Theorie, bedeutet nicht einfach die Abbildung „objektiver Bedingungen“ komplettiert durch „subjektive Motive“ sondern ein Wissen um ihre sinnhafte Differenzierbarkeit und ihren sinnvollen Umgang in ganz bestimmten Bedeutungszusammenhängen (Rosenthal 1997: 13). Ganz generell formuliert versuchen sich Soziologen über Bedingungen und Folgen sozialen Handelns empirisch Klarheit zu verschaffen, die sich in immer schon vorinterpretierten und weiterinterpretierbaren Daten niederschlagen. Deren Beobachtung und Beschreibung löst unvermeidbar reflexive Reaktionen aus. Da in unserer Gesellschaft oft nicht mehr gilt, was vor kurzem noch als völlig selbstverständlich angesehen wurde, wächst das Bedürfnis und die Notwendigkeit validierender Beschreibungen oder sozialer Konstruktionen enorm. Dabei hat es sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen, soziale Phänomene nicht als schlicht objektiv und fix und fertig zu betrachten und sie auch nicht einseitig makro-, mesooder mikrosoziologisch zu fixieren, sondern als explorationswürdig-fremdartig und mehr-
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dimensional zu beschreiben. Doch darf auch das nicht schematisch geschehen, weil man damit nicht unbedingt einer üblichen Reifizierung entgeht wird. Vielmehr muss das Vermittlungs- und Übersetzungsproblem bei prozesshaften Vorgängen immer mitreflektiert werden. Stattdessen findet man oft allzu pragmatische Ad-hoc-Lösungen, die die reaktiven und artifiziellen Effekte kaum kontrollieren (Alheit 1997: 941ff.; 1994: 43). Vor allem die postempirische Wissenschaftstheorie verweist nun darauf, dass eine strikte Konstanzunterstellung einer unhaltbaren Abbildtheorie der Wahrheit entspricht, wo allenfalls eine lockere Korrespondenz, Kohärenz oder ein Passungsverhältnis zu erwarten ist (Reckwitz 2000: 2; Ritsert 2002: 208; 1999: 51ff.; Flick 2000: 46). Die „gebrochene Intersubjektivität“ (Habermas) und „Flüssigkeit“ (Bude) der gesellschaftlichen Wirklichkeit infiziert auch die soziologische Beschreibung, die heute eher Brüchen als schlichter Wissenskumulation innerhalb der Theoriediskussion Ausdruck verleiht (Kerber 1994: 13ff.). Die wirklichen Probleme einer Mehrebenenanalyse beginnen, wenn nach den Anschluss- und Übergangsstellen und der sachlichen Affinität gefragt wird. Wissenssoziologisch bleibt jede Übersetzung von einer auf die andere Ebene an gegenwärtig verfügbare Wissensstrukturen gebunden, da ein regressus in infinitum vermieden werden muss. Solches Wissen ist einem vorläufigen Abbruch von Reflexion und Wissensproduktion und/ oder -rezeption entsprungen (Reichertz 1997: 62). Wissensabhängige Strukturen determinieren soziales Handeln nur in einem sehr eingeschränkten Sinn. Sie erleichtern und erschweren ganz bestimmte Wahrnehmungsweisen, lassen aber immer ein relativ breites Spektrum an Handlungs- und Entwicklungsweisen zu. Daher ist es unwahrscheinlich, dass Wirklichkeitsherstellung nur symmetrische, konsensuelle oder problemlos reziproke Beziehungen zulässt, sondern auch in einem Nacheinander, Nebeneinander oder Gegeneinander sehr „unsaubere“, „reparierte“, nachträglich normalisierte Reziprozität zum Vorschein bringt. Makro-, meso-, mikrosoziologische Aspekte können heuristisch nur fruchtbar bleiben, wenn sie nicht zu objektiv getrennten Dimensionen verdinglicht werden. Sie dürfen einer explorativen Theorie nicht im Wege stehen. Eine gehaltvolle theoretische (Re-) Konstruktion widersetzt sich dem weit verbreiteten „Schnell-Sortieren“.
4.12 Kindheit, Kinderleben, Kindsein Jeder Mensch war einmal Kind, Kind bestimmter Eltern, denen gegenüber er in bestimmter Hinsicht immer „ihr“ Kind bleibt (Duss von Werdt 1980: 17ff.). Doch diese Beziehung wird ganz unterschiedlich gelebt. Und damit schlägt sich jede Frau und jeder Mann in seiner Biographie und den intergenerativen Netzen der alltäglichen Lebensführung herum. Auch Kinder werden mit einem kulturell dominierenden oder mit konkurrierenden Leitbildern von Kindheit konfrontiert und müssen in ihrem Alltag unter immer schon vorinterpretierten Lebensbedingungen ein typisches Kinderleben gestalten, das dennoch kein vor Kontingenz, Überraschung und Interaktionsdynamik gefeites Kindsein ermöglicht. Kindheit, Kinderleben, Kindsein sind somit keine schlichten Fakten, sondern eine sehr voraussetzungsvolle, vielschichtige, sozusagen anthropologisch evozierte Deutungsleistung, die weder allein den Kindern noch den unmittelbar betroffenen Eltern etc. entstammt. Sie ist somit Teil der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Sie wird aber für immer mehr Kinder und/oder Erwachsene zur Suchaufgabe innerhalb einer komplexen Exploration. Wenn etwa die moderne Reproduktionsmedizin einem Kind
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zum Leben verhilft, welches mit Hilfe einer Eispenderin und /oder eines Samenspenders gezeugt und von einer Leihmutter geboren wurde – „und vielleicht gehört noch ein Kindermädchen dazu, das bei der Pflege des Kindes hilft (…)“ (Joas 2001: 13), werfen sich unvermeidlich neue Fragen auf. Was hat dieses Kind mit einer archaischen oder traditionell modernen Kindheit noch zu tun? Wer sind denn nun seine „wirklichen“ Eltern und zu welchen intergenerationalen Relationierungen sieht es sich herausgefordert? Wie ist zu kommentieren, zu verbergen und zu verdrängen, was seine Herkunft ist? Lässt sich das Kindsein dieses Kindes wirklich so leicht veralltäglichen wie das Leben eines „normalen“ Neugeborenen? Offenbar wissen heute Kinder in manchen Fällen weniger deutlich, was sie als Kinder wissen müssten, und besitzen doch auch, zuweilen streng vertraulich, Wissen, das traditionelle Kinder nicht wissen durften. Erwachsene haben im Alltag gelernt, dass sie Kindern Vieles zutrauen können, was lange Zeit mit einem Hilflosigkeitsmythos verkleistert wurde. Kleine Kinder sind selbstverständlich in manchen Situationen hilflos, in anderen aber keineswegs. Und man hat ihnen in westlichen Kulturen auch „erlernte Hilflosigkeit“ anerzogen. Kategorienfragen sind oft in Wahrheit auch Fragen der Kompetenzverteilung. Im konkreten Fall erlauben sie einen Blick in die Konstitutionsgeschichte der Kindheit, wie also in bestimmten kulturellen Horizonten sozial verortete und historisch situierte Kinder in ihrem Kinderleben um ein „spontanes“ Kindsein ringen und damit mitten hinein gestellt sind in die Herstellung sozialer Kindheit, die kein bloßer Überbau der physischen (biologischen) Kindheit ist. Dabei geht es auch um kommunikativ-kooperative Schnittstellen und Schnittflächen zwischen dem Leben von Erwachsenen und Kindern und nicht nur um eine „Eigenwelt“ völlig separiert von einer „Fremdwelt“. Markefka und Nauck (1993: IX ff.) vereinfachten diese komplizierten Konstitutionsprozesse im Blick auf eine rein analytische Vierfelder-Klassifikation einer herkömmlichen Mehrebenenanalyse: (a) Kinder als Altersgruppe, (b) Kindheit als Institution, (c) Kindschaft als rechtlich begründeter Generationenbezug und schließlich (d) Kindsein als dyadische Beziehung. Dies ist eher als additive Problem-Taxonomie denn als theoretische Entfaltung inklusive der Vermittlungsprozesse zu begreifen. Kindheit wird sozusagen als kulturfreie, der Entdeckung der Soziologie vorbehaltene demographische Strukturkategorie gesehen, die auch irgendwie zur Institution ausdifferenziert wurde und natürlich sozialstrukturellen Bedingungen unterliegt und auch unter dyadischen Interaktionsbedingungen gesehen werden kann. Eine solche „integrative Kindheitsforschung“ besitzt keinen theoretischen archimedischen Punkt und will sich in erster Linie durch das pragmatische Interesse an einer „fachübergreifenden Basis“ rechtfertigen. Die gesellschaftlich verortete Selbstverständigung der Kinder und/oder Erwachsener über die (eigene) Kinderwelt und Kinderkultur ist auch keine reine „Ausdifferenzierung“, wie im Grund auch Markefka und Nauck annehmen, sondern eine sehr voraussetzungsvolle soziale Konstruktion im Horizont „gebrochener Intersubjektivität“ und schon gar nicht eine reine Modifikation traditioneller moderner Kindheit. Kinder müssen sich mit traditionellen Leitbildern, Mythen und Stereotypien aber auch Utopien und populärwissenschaftlich getönten Fiktionen auseinandersetzen, die Kindheit nur partiell (noch) als Institution anerkennen. Die gleichzeitige Entdeckung einer sozialstatisch relevanten Bevölkerungsgruppe beruht nicht auf einer stabilen kulturellen Differenz und ist u. U. geeignet, diese Differenz zu beseitigen. Kindheit könnte auch nur fraglos als Institution gelten, wenn sie von den zentralen Institutionen anerkannt würde. Doch hier herrscht doch eher Indifferenz oder
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sogar „strukturelle Rücksichtslosigkeit“. Und gehäufte mikro- und mesostrukturelle Variationen werden nicht nur sozialstrukturell „kanalisiert“, sondern wirken ihrerseits auf eine Sozialstruktur „in statu nascendi“ zurück (Berger 2000: 26f.). Die Kindheit bestimmter Geburtskohorten verläuft eben nicht als leichte Modifikation genereller „Entwicklungsaufgaben“, sondern ist durch besondere Zustände, manchmal Ereignisse, zeittypische Probleme oder Erlebnisse oder Stigmataunterstellung geprägt, der sie leicht zu einem speziellen Generationenzusammenhang und manchmal zu einer Generationeneinheit, immer aber in ein als normal geltendes Spektrum akzeptierter Bildungs-, Arbeits-, Freizeit-Biographien involviert. So wurden etwa die Kinderkohorten von 1989 durch zwei verschiedene politische Systeme sozialisiert, lebten in Westdeutschland oft in einem beträchtlichen Wohlstand und dem „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ (B. Lutz) und – trotz 1968 – vollkommener politischer Stabilität. Sie konnten all die hier nur angedeuteten Erfahrungen recht problemlos in einem Weltbild unterbringen, das die moderne Konzeption von Kindheit stützt. Das alles scheint nun von einer „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) überlagert. Der Anschein drängt sich geradezu auf, dass danach das, was Kinder „sind“, was sie „brauchen“, dürfen, sollen, deutlich weniger selbstverständlich formuliert wird. Dies hat Auswirkungen sowohl auf die Biographien als auch die Erfahrung der „generationalen Ordnung“, die durchweg weniger trivial erscheinen (Schimank 2000: 47). Die Erfahrung von „Wendepunkten“ im Leben oder notwenigen oder möglichen „Neuanfängen“ und intergenerationalen Neuordnungen wird auffällig öfter diskutiert (Leitner 2000: 61f.) und erscheint kaum noch als pathologisches Phänomen einer „Identitätsdiffusion“. Charakteristisch ist auch, dass es nicht nur Erwachsene schwer haben, sich über richtige Kindheitsvorstellungen klar zu werden (Rerrich 1988: 59ff.; Fuhs 1999), sondern auch Kinder Mühe haben, angemessene Vorstellungen von Erwachsenen zu gewinnen. Kindheitsinstitutionen tauschen – oft fast lautlos – Leitbilder im Banne einer vor allem wirtschaftlich begründeten „Frühförderung“ aus. Politiker und Sozialwissenschaftler streiten sich, ob eine „Politik für Kinder“ einer „Politik der Kinder“ vorzuziehen sei. Da die kulturelle Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern so unscharf geworden ist, lässt sie zwar nicht die institutionelle Zuständigkeit unentschieden, aber es bleibt völlig offen, ob die Empfehlung, Kinder institutionell als eigene Bevölkerungsgruppe zu behandeln, sich auf Dauer durchsetzen wird, zumal Kinder nur über eine schwache Lobby verfügen. Es stellt sich die Frage, welche Kriterien der Fremd- und Selbstzuschreibung in Zukunft Anerkennung finden werden, jenseits rein subjektiver oder voluntaristischer Vorstellungen. Sind denn letztlich Kinder keine Kinder mehr, wenn sie argumentieren: Ich bin kein Kind mehr, weil ich schon rauchen kann? Oder lösen rechtliche und administrative Definitionen das Problem vollständig? Übergänge sind weder beliebig noch nur technisch herstellbar. Sie sind situierte kommunikative Konstruktionen und gesellschaftliche Verständigungen, die immer auch den „rechten Augenblick“ voraussetzen. So sind sie zwar an subjektive Selbsteinstufungen, zugleich aber immer an komplexere kommunikative Rahmungen gebunden. Zwar scheint die Lebenssituation vieler Kinder immer noch so gelagert, dass sie zur Not – nach 100 Jahren Diskursdominanz der Entwicklungspsychologie – immer noch auf der Hintergrundsfolie von „Entwicklungsaufgaben“ als nächstliegende Interpretation verstanden werden kann. Aber die Altersdifferenz bleibt daran immer weniger zwangsläufig gebunden. Selbst die neuere Entwicklungspsychologie als Psychologie einer lebenslangen „Lebensspanne“
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öffnet die Altersdefinition einem breiten Horizont lebenslanger Kontingenzen und Zufälligkeiten sowie mehreren möglichen Entwicklungsvarianten. Genau besehen konvergieren hier Rationalität (kognitive Entwicklung), affektive und praktische Kompetenzentwicklung, tatsächliche Routinen, „seelische Zentralität“, Möglichkeitsraum, Reichweite, Regeln, Grenzen immer weniger. Die Vorgriffe aufs „Großsein“ und die Rückgriffe aufs „Hier und Jetzt“ überlagern sich und fordern schon bei Kindern in ganz ungewöhnlicher Art Biographiearbeit und intergenerationale Verständigung heraus, die man als „Rethinking Childhood“ bezeichnen kann (Hengst 2005: 9ff.). Ob die Erosion des traditionell modernen Kindheitsprojekts zu einem neuen Projekt führt, das kann aus keiner „Dekonstruktion“ mit Sicherheit abgeleitet werden. Empirisch zeigt sich aber eine Vervielfältigung differentieller Normalität und „Eigenständigkeit“. Daher zielt (1) die soziokulturelle Differenzierung der Kindheit heute auf die politische Herstellung der Bevölkerungsgruppe „Kinder“. (2) Die Alltagstypik des Kinderlebens bildet sich in Auseinandersetzung mit intergenerativen und institutionellen Strukturen. (3) Kindsein ist keine Ableitung aus Strukturen, sondern ein Umgang mit Strukturen. Kindheit, Kinderleben, Kindsein als Dimensionen eines transformativen Strukturierungs- oder Konstruktionsprozesses erhellen und relativieren sich wechselseitig. Kinder werden so als aktiv und zugleich als verletzlich in die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit hineingezogen. Daraus lassen sich die drei Konstruktionsvorgänge im Sinne des Sozialkonstruktivismus unterscheiden: 1. 2. 3.
Die soziokulturelle Unterscheidung von Kindheit; Die Einbettung der Alltagstypik des Kinderlebens in die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen; Die konstruktive Situationsbewältigung: Kindsein.
Dabei ergeben sich Berührungspunkte und Differenzen zu vorliegenden kindheitssoziologischen Konzeptionen (Nauck 1993; Honig 1999; Alanen 2005: 65ff.; Hengst 2005: 13). In die gesellschaftliche Wirklichkeit gehen auch die ausgeschlossenen, aber oft noch „appräsentierten“ und die alternativen Möglichkeiten ein, die die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft begründen. Auch Machtprozesse erscheinen in erster Linie als Kampf um Sinn-, Bedeutungs- und Wissensressourcen zur Lebensbewältigung.
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5.1 Die Kontroverse über die Reichweite des Sozialisationskonzepts „Sozialisation“ als lebenslanger Prozess sozialen Lernens und der Kompetenzentwicklung war schon in der Gründerzeit der Soziologie ein prominentes Konzept. Die Mehrheit der Soziologen folgte damit Durkheims Spuren, der von einer „socialisation méthodique“ gesprochen hatte. Es sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass menschliches Verhalten im Kern nicht angeboren und umfassend biologisch determiniert, sondern in Gruppen erlernt ist: Ob ein Verhalten sich durchsetzt, liegt an den soziokulturellen Bedingungen, unter denen es entstanden ist. Manche Soziologen treiben diese Vorstellung bis zu einem problematischen Soziologismus weiter. Manche beließen es bei der schwachen Fassung einer „kulturellen Überformung“. Einige möchten es zwar sachlich begrenzen, weiten es aber methodisch derart aus, dass es jede Kritik aufzufangen scheint. Jede dieser Lesearten hat ihre Probleme und entspricht nicht der heutigen theoretischen Diskussion des Verhältnisses von Natur und Kultur (Barkhaus 1996; Joas 1980; 1997). Es gibt immer ein spezifisches Verhältnis sozialisatorischer Gesellschaftsintegration und von der Gesellschaft hingenommener bzw. praktizierter Sozialisationsdistanz und Resistenz, das unter bestimmten Randbedingungen als besser oder schlechter, zufriedenstellend oder nicht ausreichend eingeschätzt wird. Vollständige Sozialisation ist weder möglich noch wünschenswert. Gesellschaftliche Wirklichkeit bewegt sich zwischen sozialisatorischer Strukturiertheit und biographischer Resistenz (Fischer 1995; 1997; Hoerning 2000; Alheit 1994) oder Individuation in vielfältigen Übergängen.
5.2 Die mehrfache Revision des Sozialisationskonzeptes Die Verteidiger des Sozialisationskonzepts, die oft noch über dessen größte Begriffsanomalien gnädig hinwegsehen, machen immer wieder geltend, dass von einem Veralten des Konzepts keine Rede sein könne, weil es sich als immer wieder revidierbar erwiesen habe. Es habe sich als äußerst flexibel und „lernfähig“ herausgestellt. Die Kritiker übersähen dies und würden offene Türen einrennen. Doch Flexibilität ist noch kein Ausweis dafür, dass die „Sache selbst“ gut getroffen ist. Es könnte ja sein, dass diese Flexibilität eher als Indiz semantischer Überdehnung zu betrachten ist, die von nicht nur sachlich motivierten „Zitierkartellen“ zu verantworten wäre. Dahinter blieben Reparaturen begrifflicher Anomalien weiterhin sichtbar. Die Kritiker einer unbegrenzten Verwendung des Sozialisationskonzeptes verweisen auf seinen individualistischen, funktionalistischen, teleologischen „bias“, der nur scheinbar reparabel erschiene (Corsaro 1997: 8ff.). In der Tat ist unbestreitbar, dass das Sozialisationskonzept in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Umdeutungen erfahren hat. Dies ist nicht überall voll zur Geltung ge-
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kommen. In der klassischen Version ist Sozialisation ein gesellschaftlicher Grundvorgang, durch welchen in einer Gesellschaft die herrschenden Werte, Normen, Techniken des Lebens des Einzelnen vermittelt und verbindlich gemacht werden (Neidhardt 1975: 171f.). Am wirkungsvollsten war vielleicht die Umakzentuierung des Konzepts von Seiten des Symbolischen Interaktionismus durch die Betonung ihrer Wechselseitigkeit und Anbindung an fortlaufende Interaktionen, die sich prinzipiell von einer einmaligen Erlebnisprägung unterscheiden. Zugleich wird hiermit die Notwendigkeit der interpretativen Eigenleistung jedes Interaktionspartners hervorgehoben. 5.2.1 Sozialisation als komplette Internalisierung der Kultur Sozialisation wurde ursprünglich durch Durkheim, Parsons u. a. als Vergesellschaftung des Subjekts und konforme Einpassung in das kulturell gegebene „Kollektivbewusstsein“, als vollständige Internalisierung von Werten und Normen und uneingeschränkte Integration konzipiert, die auf einer Auseinandersetzung und Reibung zwischen körperlich-triebhaften Impulsenergien und sozialen Anforderungen beruhte. Diese zugleich körperlichen, kognitiven, emotionalen, sozialen und moralischen Komponenten sind aus dem Sozialisationskonzept bis heute nicht verschwunden und bieten auch Anknüpfungspunkte für eine interdisziplinäre Betrachtung. Wie Durkheim sieht Parsons in der Sozialisation von Werten und Normen die Grundlage sozialer Ordnung und gesellschaftlicher Reproduktion. Solche Wertintegration kann nur durch vollständige Internalisierung gelingen: Das Kind muss wollen, was es soll. Während Durkheim eine deutliche Distanz zur Psychologie wahrte, hat sich von Parsons her eine Tendenz zur Verschmelzung soziologischer und psychologischer (psychoanalytischer) Betrachtungsweisen durchgesetzt. Diese methodische Orientierung verstärkt eine Vorstellung eines strukturstabilen Verhältnisses von kulturellem, sozialem und psychischem System, die sozusagen fugenlos zur Deckung gelangen. Im Prozess der Institutionalisierung lassen sich die analytisch unterscheidbaren Systeme ohne Schwierigkeiten vermitteln. Dieser wertgebundene Vermittlungsprozess erfolgt in einer gestuften lebenslangen Sozialisation – beginnend mit der frühkindlichen. Damit werden dann institutionell „operationalisierte“ Werte in dauerhafter Selbstbindung verbindlich und in die persönliche Motivation verlässlich integriert. Sie werden in normativ verstandenen Rollen als „Mechanismen der Motivation“ und als „Schemata der Ordnung“ fixiert (Parsons 1997: 25ff.; 73ff., 99ff.). In der Sozialisation schreiten Kinder von partikularen zu universalistischen Werten voran. Während Parsons die Konzeption der Übernahme von Werten und Normen mit Durkheim teilt, verzichtet er auf eine Erklärung der Wertsensibilisierung im Sinne Durkheims (Joas 1997: 98). Diese Disposition ist einfach da, muss nicht eigens durch aufwühlende Kollektiverlebnisse wie bei Durkheim oder ein Aufzeigen moralischer Dilemmata (Kohlberg) konstituiert werden. Parsons hat damit einer Psychologisierung des Sozialisationsbegriffs Vorschub geleistet, da er Werteerfahrung als voraussetzungslose psychische Disposition jenseits aller Soziogenese angesehen hat. Es gibt zwar eine Rückbindung ans kulturelle und soziale System, doch die individuelle Motivation und die individuellen Erziehungspraktiken werden in einer Weise in den Vordergrund gerückt, die einer psychologistischen Reduktion außerordentlich nahe kommt (Schmerl 1978: 27).
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Seit ca. 1965 wurde die evolutionistisch-funktionalistische Sozialisationstheorie des Strukturfunktionalismus von T. Parsons immer heftiger als „anpassungsmechanistisch“ kritisiert und die aus ihr gewonnenen Variablen in Zweifel gezogen. Diese Kritik war manchmal überzogen, insofern der späte Parsons durchaus den sozialen Wandel zu berücksichtigen suchte. Doch er denkt ihn im Grunde nur als Strukturvariation nicht als widerspruchsvollen, fragmentierten Strukturwandel. Daneben kann sozialstruktureller Sozialisationsforschung mangelnde forschungstechnische Signifikanz vorgeworfen und auch bemängelt werden, dass die Komplexität intervenierender Variablen unterschätzt werde. Sozialisation sollte ursprünglich die Pädagogen belehren, dass Erziehung gesellschaftlich bedingt und in komplexere Vergesellschaftungsprozesse eingebettet ist, sich also nicht in einem Vakuum vollzieht. Es ist aber wohl Zeit, von der Sozialisation als beherrschendem Schlüsselkonzept Abschied zu nehmen und auch die Ambivalenz und Inkonsistenz von Wertinternalisierung und Gesellschaftsintegration zu beachten (Fischer 2000: 80f.). In der früheren Sozialisationsforschung wurde methodisch ein direkter, bruchloser Zusammenhang von Kultur, Sozialstruktur und „Basispersönlichkeit“ unterstellt. In relativ großer Nähe zum ursprünglichen Konzept der Sozialisation bewegte sich die so genannte schichtspezifische Sozialisationsforschung (Neidhardt 1975: 129ff.; Tillmann 1989: 213ff.), die nicht nur die soziale Ungleichheit der Sozialisationsbedingungen herausarbeitete, sondern sich emanzipatorischen Erkenntnisinteressen verpflichtet fühlte und Bildungsbarrieren durch kompensatorische Erziehung und progressive Bildungspolitik abzutragen empfahl. 5.2.2 Sozialisation als wechselseitige sozialisatorische Interaktion Im Symbolischen Interaktionismus, der seine wichtigsten Grundlagen der pragmatischen Philosophie G.H. Meads verdankt, steht nicht das normregulierte Handeln im Mittelpunkt, sondern die dynamischen Interaktionsverflechtungen durch interpretative Eigenleistung der Akteure. Auch Normen müssen hier interaktiv appliziert werden und sind in ihrer „geronnen“ Gestalt nur lockere Erfahrungswerte und Leitfäden, die dauernder Konkretion bedürfen. Es geht zu allererst darum, eine symbolische Ordnung entstehen zu lassen, die Interaktionen Bedeutung verleiht. Auf diesem Hintergrund ist vollständiges und endgültiges Wissen über Normen oder Regeln so gut wie ausgeschlossen, weil hier Regeln stets durch kommunikatives Handeln weiterentwickelt und interpretiert werden müssen. Nur so können Interaktionsketten ineinander greifen. Sozialisation führt hier also nicht zu einer vollständigen Wertintegration und zu einer Transmission von kompletten Wissenstraditionen von Eltern und Kindern, weil sie wechselseitig ist und wechselseitig „in doppelter Kontingenz“ interpretiert wird. Sicher muss der Sozialisationsprozess durch antizipierende Zumutungen der Eltern „provoziert“ werden, doch Kinder sind dabei nie rein passiv und stellen ihre Fragen und Forderungen. Schon das Kleinkind erkundet spontan seine Umwelt und sondiert, wieweit es gehen kann, gibt früh seinerseits wichtige Sozialisationsimpulse an die Eltern und sozialisiert auch sie. Dieser interaktive Bezug kann auch zur Verdeckung objektiv bestehender Meinungs-, Interessenund Einstellungsunterschiede führen, weil „Harmonie“ bequem ist. Schon bei Mead zeigt sich einerseits eine Betonung der interaktiv hergestellten kommunikativen Struktur der Selbstbeziehung oder Identität („Self“) und andererseits eine evolutionistische Betrachtungsweise, die die Ontogenese als Rekapitulation der Phylogene-
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se begreift. Identität baut sich auf in der Entwicklung von „Me“ und „I“ in der evolutiven Relation von „signifikantem“ zum „verallgemeinerten Anderen“. Ontogenese ist Gewinn des „Selbst“ in Auseinandersetzung des „I“ mit der sozialen Identität „Me“. Sie umfasst dann Sozialisation und Individuation als zwei Momente in einem komplexen Prozess. Auf diesen ontogenetischen Reflexionen Meads aufbauend konnten dann Habermas u. a. relativ zwanglos an der strukturgenetischen Entwicklungspsychologie von J. Piaget und dem Denken Freuds anknüpfen. Er versteht – in massiver Kritik an Parsons – den Identitätsbegriff als soziologisches Äquivalent des psychologischen Ich-Begriffs (Habermas 1973: 118ff.) und Sozialisation als komplexen Vorgang des Erwerbs der „Identitätsbalance“ zwischen sozialer und personaler Identität, der in einer Entwicklungslogik wurzele und über mehrere Entwicklungsstufen auch angesichts von „Symptomen eines zerrissenen, deformierten Lebenszusammenhangs“ zu einer moralisch-politischen „postkonventionellen Identität“ führe. Sozialisatorische Interaktion realisiere also eine ontogenetische Entwicklungslogik. Unklar bleibt hier allerdings das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität und die allgemeine Feinabstimmung zwischen Subjekten, Gruppen und Organisationen (Keupp 1993: 7, 17f.). Wie die bisherige Sozialisationsforschung baut auch das strukturgenetischinteraktionistische Modell auf einer homogenen Differenzierung im Sinne einer Dualität (entwickelt/unentwickelt) als der angeblich einzigen Form kindlicher Selbstdifferenzierung und insofern auf einer Engführung (Berger 1971: 94ff.; Berger 1993: 205f.) auf, die Mischungen, Fragmentierungen, Nuancen, Widersprüche, gegenläufige Tendenzen einfach unsichtbar zu machen sucht. Wie oft im klassischen Symbolischen Interaktionismus wird auch hier nicht genauer ermittelt, was „Wechselseitigkeit“ denn nun im Einzelfall bedeutet. Der sozialökologische Ansatz Bronfenbrenners sucht hier eine intermediäre Struktur in Form einer raum-zeitlichen Zonenkonzentrik auszuleuchten. Eine restlos synchrone Zonenstruktur „verschachtelter Kontexte“ gerät freilich in das gefährliche Fahrwasser des naturalistisch-ökologischen Fehlschlusses. Eine reine Umetikettierung von „Soziotopen“ in „Systeme“ bietet noch keine Systemtheorie, deren Varianten entweder „Umweltoffenheit“ oder selbstreferentielle „Autopoiesis“ favorisieren. Kinder müssen zweckbestimmtes und konsequenzhaltiges sowie situationsadäquates Tun in sozialisatorischer Interaktion – sanft angestoßen durch leicht überfordernde elterliche Ansprüche – erst nach und nach lernen. Dabei bleiben die Erwachsenen auch nicht einfach unverändert. Anstelle einer einseitigen, unilinearen Determination wird nun ein dialektisches Verhältnis von „Innen“ und „Außen“, von Ego und Alter, von Akteur und Umwelt installiert. Der Symbolische Interaktionismus und die (kognitivistische) strukturgenetisch-interaktionistische Sozialisationstheorie regen Auseinandersetzungen der Person mit sozialen Kontexten, kaum aber mit den gegenständlichen und körperlichen Alltagsroutinen, Praktiken und Alltagsproblemen und den historisch-biographischen Sonderbedingungen an. Mit wenigen Ausnahmen (Strauss 1968; 1994; Goffman 1981) marginalisieren interaktionistische Arbeiten auch sozialstrukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen der Interaktionssequenzen. Sozialökologische Reziprozitätskonzepte postulieren eine Konstanz und Konsistenz sozialer Kontexte, die strukturstabilen Vorstellungen gleichen (Steinkamp1991: 274). Das „Zwischen“ (inter) der Interaktion harrt aber einer genaueren Rekonstruktion.
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5.2.3 Die theoretische Unklarheit des Begriffes „Wechselseitigkeit“ Der Begriff „Wechselseitigkeit“ erscheint auf den ersten Blick sehr einleuchtend. Handelt es sich hier aber um eine symmetrische oder asymmetrische, ein durchgängige oder partielle, eine stabile oder labile, eine dauerhafte oder vorübergehende, eine hypothetische oder substanzielle Wechselseitigkeit? Theoretisch ist ein breites, graduell abgestuftes Spektrum der Wechselseitigkeit zwischen (wechselnder) Dominanz (des einen oder des anderen Interaktionspartners) und Egalität denkbar. Ist „Wechselseitigkeit“ eine leicht eingängige Pazifierungsformel, die die Konstruktionsimperative gegenüber zerfließenden Merkmalssyndromen verschleiert? Folgt daraus eine Alternative zwischen einem substanzialisierenden Reziprozitätskonzept und uferloser Ambivalenz? Zumindest im sozialphänomenologisch geprägten Sozialkonstruktivismus ist Reziprozität „nur“ eine alltagsheuristische, idealisierende Unterstellung „in natürlicher Einstellung“ des „ich kann immer wieder“ „und so weiter“ (Schütz 1979: 26). Sie ist damit nicht wie bei Mead eine sozialisatorische Errungenschaft, die eine stabile kommunikative Struktur der Selbstbeziehung ein für allemal fundiert, sondern stets biographischer und alltagsweltlicher Ausfluss einer voraussetzungsvollen sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Unausweichlich gründet sie auf zeitbedingtem Alltagswissen, „natürlicher Einstellung“ und/oder normalisierendem Sonderwissen (Behrens 1996: 18, 27; Hitzler 1997: 7ff.; Honer 2000: 194ff.). Diese lebensweltliche Orientierung kann brüchig werden, sich verschieben, fragmentiert, kollektiver oder individueller interpretiert werden (Luckmann 1980: 56ff., 142ff.). Sie kovariiert zwischen sozialer Mobilität und Identität. Sie „verkörpert“ sich in einer langen Kette kritischer oder normaler Übergänge, die Alltagspraxis und Biographisierung ermöglichen, die sich aber auch angesichts gesellschaftlicher Verwerfungen, der Folge von Verrechtlichung und relativer Ausdifferenzierung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, als immer dringlicher erweisen. Verschiedene unterscheidbare Analyseaspekte müssen dabei besonders wichtig genommen werden. Das Wissen über Wechselseitigkeit kann reflektiert oder bewusst oder eher implizit oder unbewusst sein. Es kann zyklisch oder linear schwanken oder sich als relativ zeitstabil erweisen. Es kann normativ oder faktisch-pragmatisch bestimmt sein und es kann normativ und/oder faktisch symmetrisch oder asymmetrisch sein. Je nachdem zeigen sich dann unterschiedliche Wechselseitigkeitsverhältnisse der „Ko-Konstruktion“, die doch immer auch eine sozial akzeptierte biographische Konstruktion bleibt (Fischer 2000: 227ff.). Grad und Qualität der Reziprozität hängt auch vom Grad der Involviertheit und vom Engagement der Interaktionspartner und davon ab, wie sich (interpretierbarer) „Druck“ und „Sog“ von außen bemerkbar machen (Ulich 1991: 556). Und selbst wenn bei „Wechselseitigkeit“ transaktiv-pragmatische Initiativen vorwalten mögen, sind sie stets in unterschiedlicher Weise gegeben und im Zusammenhang erst mit der gesamten Alltagstypik und transsituativen Handlungsschemata zu sehen, die erst zusammen die unterschiedlichen Freiheitsgrade oder den „Zugzwang“ und die empirische Reziprozitätskapazität zur Entfaltung kommen lassen. Dieses Spektrum der reziproken Normalität lässt sich weder schlicht dichotomisieren noch sozialökologisch „verschachteln“ oder addieren, weil die Wissensproduktion ein reflexiver und schwankungsreicher Prozess mit Spannungen und Widersprüchen bleibt (Hirschman 1988; 1987; Peters 2002: 40ff., 65ff.).
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192 5.2.4 Sozialisation als Selbstsozialisation
Immer häufiger wird seit einigen Jahren von Selbstsozialisation gesprochen. Ist sie aber Selbstsozialisation eines autonomen Subjekts oder heimtückische Konzession des Konsummarkts an das Kind, das heute als „aktiver Konsument“ umworben wird? Der Begriff „Selbstsozialisation“ soll wohl zunächst zum Ausdruck bringen, dass Kinder heute in wesentlich stärkerem Maß an ihrer eigenen Sozialisation beteiligt sind, als das noch vor wenigen Jahrzehnten überhaupt vorstellbar erschien. Manche Autoren erwecken auch den Eindruck, als sei es dem Kind gelungen, das Geschäft der Sozialisation völlig in die eigenen Hände zu nehmen. Kinder erscheinen dann nicht mehr als Abhängige und sich Entwickelnde, sondern schaffen „aus eigenem Recht“ ihren Lebensweg. Ist das Kind gar ein autokratischer Selbstsozialisierer geworden, der sich auch als „Terrorist“ bemerkbar macht, wie jüngst ein Titelbild der Zeitschrift „Stern“ nahe legte? Selbstsozialisation wird nicht selten modernisierungstheoretisch als letzte Konsequenz der Moderne verstanden, die alle Reste der Fremdsozialisation aufzehre. Sie mache auch eine methodische Korrektur der Kindheitsforschung notwendig, weil grundlegend neue Aspekte wie Kinderpolitik, Kinderrechte, Kinderkultur, kindliche Nutzung von Medien und Konsummarkt, teilweise auch schon des Arbeitsmarkts sich im sozialen Phänomen Kindheit bemerkbar gemacht hätten. Diese neue Sicht lässt sich etwa im Einzelnen so begründen: 1. 2. 3.
Kinder schreiben sich ein neues Verhältnis zu Dingen, Personen, Generationen, Institutionen und sich selbst zu. Kinder entwerfen für ihr Kinderleben eine eigene Handlungslogik. Kinder formulieren auch für ihr spontanes Handeln eigene Ziele.
Aus der Eigentätigkeit in dieser dreifachen Hinsicht entwickelt sich ein eigener sozialer Raum und eigene soziale Felder, eine genuin eigene Kinderwelt, die – trotz zerfließender Unterschiede im Einzelnen – einen deutlich höheren Kontrast zur Welt der Erwachsenen bilde (Baacke 1984; Büchner 1994: 9ff.; Krappmann 1993: 365ff.; Zinnecker 1998). Zinneckers Behauptung, hier zeige sich eine neue Nähe zur Sozialisationsforschung, wenn man nur auf den Begriff Selbstsozialisation zurückgreife, ist freilich eher ein Postulat. Auch die „Selbstentwicklung“ ist historisch situiert und birgt ganz bestimmten Gewinn und Verlust für ganz bestimmte Kinder in sich, erweist sich bei Licht besehen als spezifisches Resultat von Fremd- und Selbstzuschreibung der „Selbstwirksamkeit“. Es kann sogar unter bestimmten Umständen so erscheinen, dass die Formel Selbstsozialisation mit der impliziten Verheißung der Konsumentensouveränität Kinder zur Selbstdisziplinierung eines ganz bestimmten Konsumentenverhaltens zu verführen sucht (Hitzler 2000: 361ff.; Neumann 2001: 91ff.). Die „Handlungsfähigkeit“ (agency) degeneriert nur dann nicht, wenn zugleich Ressourcen aufgeboten werden können, die keineswegs selbstverständlich sind. Der Ausdruck „Selbstsozialisation“ besitzt eine hohe semantische Vieldeutigkeit, die bis in den strengen Begriff bei Luhmann hinein zu verfolgen ist. Er kann im Sinne eines Genetivus subjektivus systemtheoretisch als „Autopoiesis“ radikalisiert oder als Genetivus objektivus als delegierte Selbstmanipulation verstanden werden: Kinder besorgen dann, ohne dass noch von Erwachsenen mit erzieherischen Maßnahmen eingegriffen werden
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müsste, evtl. durch Erhöhung der Angebote ihre eigene Vergesellschaftung und Selbstdisziplinierung. Beide semantischen Richtungen besitzen ihre innere Fragwürdigkeit. Kinder, deren Verhalten nach Auffassung der philosophischen Anthropologie ja weitgehend instinktbefreit ist, bedürfen wohl immer noch der sozialisatorischen und kontrollierenden Anstöße und können ohne sie gar nicht leben. Andererseits muss die „spätmoderne Gesellschaft“ auf unterscheidbare, selbstständige, qualifizierte und belastbare Persönlichkeiten Wert legen. Dazu müssen Kinder ihnen zunächst fremde und sie teilweise überfordernde Impulse, jeweils speziell situiert, aufnehmen und aneignen. Der Ausdruck „Aneignung“ verschleiert jedoch, dass dies höchst selektiv und interaktiv geschieht. Er begünstigt auch das von der Sozialisationstheorie nahe gelegte Missverständnis, Kinder seien bei der Geburt völlig asozial (Joas 1992: 274ff.; Todorov 1996). Die meisten Kinder insistieren bei ihrer Konfrontation mit Sozialisationsimperativen auf Sinnkriterien oder Kriterien moralischer Bewertung. Deshalb entgeht der suggestive Begriff der Selbstsozialisation nicht einfach der Frage Durkheims, wie sich wachsende Autonomie und zunehmende gesellschaftliche Abhängigkeit vertrügen. Kinder hängen in einem von ihnen kaum durchschaubaren Maße von gesamtgesellschaftlicher, nicht nur familialer Solidarität, anders wie Erwachsene, ab. Die Begriffe der „Selbstsozialisation“ oder auch der „Selbstständigkeit“ haben offenbar in verschiedenen Kulturen, Teil- oder Subkulturen oder in der Kinderkultur ganz unterschiedliche Konnotationen, Bedeutungen und Relevanz und Reichweite (Trommsdorff 1999: 399f.; Hoerning 2001: 7f., 12f.); immer implizieren sie Begrenzungen, zuweilen auch maskierte Manipulation. 5.2.5 Die Problematik „biographischer Sozialisation“ Heinz (2000: 165ff.) hat mit seinem eigenwilligen interaktionistischen Verständnis von „Selbstsozialisation“ als „Übergangshandeln“ Brücken zu dem ganz neuen Begriff „biographische Sozialisation“ geschlagen. Damit kann die lebenspraktische Anstrengung gewürdigt werden, die darin besteht, dass Biographie nicht einfach den Ablauf eines Lebensprogramms, ein Resultat angewandter Lebensplanung oder die Abbildung von Interaktionssequenzen darstellt (Hörning 2000). Biographie ist vielmehr eine spezifisch selektivexklusive soziale Konstruktion, die sich – im dauerndem Rück- und Vorgriff, in Identifikation und Distanzierung – ihrer relevanten sozialen Relationen versichert und Lebenssinn generiert. In Biographien bezieht sich ein gesellschaftlicher Akteur narrativ nicht immer auf dieselbe Bezugsperson noch auf dieselbe Wahrnehmung und dieselbe Selbstverortung. Und verändern sich Rollen, „Skripts“, Strategien, Verhandlungsarrangements, typische Lebensverläufe, so kommt natürlich auch die Struktur der Lebensgeschichte in Bewegung. In individualisierten Gesellschaften wächst die Zahl derer, die keine Kinder haben und wünschen. Durch den Geburtenrückgang wird aber nicht nur die Vorstellung, dass Kinder das Natürlichste darstellen, unterhöhlt, sondern die intergenerationale „Generationenlagerung“ im Umkreis der Familie. Es wird eine Verlängerung der vertikalen und eine Beschränkung der horizontalen Verwandtschaftslinien (Seitenverwandten) begünstigt, die dazu noch stärker durch Sympathiewahlen („Wahlverwandtschaften“) selektiv strukturiert wird (Lüscher 2003; Flick 1995).
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Weithin bestimmt heute das Bild einer nicht besonders normalen aber mehr oder minder sozial akzeptierten kindlichen Biographie die durchschnittlichen Vorstellungen von Kindheit. Mit der kaum noch kontrollierten Wirtschafts- und Technikentwicklung sowie den Verwerfungen der Modernisierung werden faktisch viele jener Entwicklungsschritte und Sozialisationsvorgänge in Frage gestellt oder stark entwertet, die der traditionellen Entwicklungslogik und institutionalisierten Lebensläufen, tatsächlichen Lebensverläufen („Verlaufskurven“) zugrunde lagen (Abels 1993: 23; Honneth1980: 7ff.). Übergangsstrukturen bilden bei dieser Sachlage ganz entscheidende Brückenkonzepte, ohne die viele kindliche Biographien gar nicht denkbar wären. Noch stärker als für Erwachsene ist das nicht die Stunde großartiger Biographieentwürfe sondern der biographischen Verflechtungen von multiplizierten Übergängen und „kleinen Lebenswelten“ (B. Luckmann 1978: 275ff.; Honer 1993), wobei Kinder hier einmal aktive „Täter“, Protagonisten, Mitgestalter dann wieder „Opfer“ gesellschaftlicher Entwicklungen sind. Das hat zur Folge, dass Kinder oft nicht mehr so „naiv“ wie früher erscheinen. Dass Kinder, schon kleine Kinder, die ursprünglich völlig unbefangen und spontan lebten, aufgrund spezifisch einschneidender Erfahrungen vorsichtiger, ja misstrauisch und allergisch auf alle Sozialisationszumutungen reagieren, wurde und wird noch immer selten in der Sozialisationsforschung thematisiert. Zudem hat uns die Lebenslaufforschung belehrt, dass auch die umgekehrten Effekte unter bestimmten Bedingungen erwartbar sind. Belastende Lebensumstände und kritische Lebensereignisse können auch als ungeheure Herausforderungen wirken (Elder 1978: 78ff.; Kohli 1991: 308ff.) und erstaunliche Kräfte freisetzen. Sind Sozialisation und Biographie identisch und Sozialisations- und Biographieforschung weitgehend kompatibel (Heinz 2000: 165)? Für Biographie ist es gerade charakteristisch, dass sie einen selektiv-exklusiven Umgang mit Sozialisationszumutungen und -unterbrechungen pflegt. Es geht dabei um selektive Aneignung, Umbau, Rechtfertigung, um Verschweigen, Vergessen und Verdrängen, Herausheben, Betonen und Abrundung (Fischer 1995). Biographie und Sozialisation hängen zwar zusammen, sind aber nicht deckungsgleich und schon gar nicht unabhängig von oft konkurrierenden Fremd- und Selbstzuschreibungen. Biographische Erfahrung, „erlebte Lebensgeschichte“ und „erzählte Lebensgeschichte“ müssen unterschieden werden (Rosenthal 1993). Und auch die eigene Biographie kann selbstverständlicher, vertrauter oder befremdlicher werden. Verschieden sind immer auch die sozialen Reaktionen darauf (Riemann 1987). Selbst die institutionell vorstrukturierten Abschnitte der Bildungs-, und Arbeitsmarktbiographien, des „Lebenslaufs“, werden kritisch rekapituliert (Kohli 1991: 309; Geulen 2000: 203; Schütz 1979: 85f., 125). Allerdings bleibt festzuhalten, dass überhaupt nur dann ein biographisch relevantes, dynamisches Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zustande kommt, wenn irgendeine Sinnrahmung gelingt, die dann auch für Sozialisation, sozialisatorische Interaktion empfänglich macht und Übergänge ermöglicht, aber auch begrenzt (Fischer 2000: 234, 239f.). Es muss eine Einheit gefunden werden, innerhalb derer die soziale Differenzierung und Funktionsfestschreibungen überhaupt erst als plausibel erfahren werden können. Bloße „evidenzbasierte“ wissenschaftliche oder technologische Information reichen nicht aus. Sowohl die Rollenkompetenz wie die Identität ist mittlerweile in vielen Bereichen nichtssagend oder fragwürdig geworden; also weitgehend entstrukturiert. Es ist oft nicht auszuschließen, dass hier „Fassadensozialisation“ betrieben wird. Was ist eine „postkon-
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ventionelle Identität“ (Habermas), die eine Bevölkerungsmehrheit offensichtlich heute nicht zu erreichen vermag (Fischer 2000: 243f.)? Weiterleben und Sinn suchen müssen aber auch die Kinder, die aus gehäuften Identitätsimbalancen kaum noch herauszukommen scheinen. Solche alltagsweltlichen und biographischen Formen der Lebensbewältigung laufen wahrscheinlich auf eine gesellschaftliche Ordnung hinaus, „von der nicht normativ zu fordern ist, dass sie von allen anderen übernommen wird, aber dass andere sie als Ordnung erkennen und respektieren können, und sei es als Fremde“ (Fischer 2000: 247). Biographische Sozialisation findet daher dort ihre Grenze, wo es darum geht, sich über soziokulturelle Bedeutungsverschiebungen, die sozialstrukturelle Reichweite und die situativ-performativen Kompetenzen zu verständigen (Grundmann 1999: 13ff., 23; Alheit 2000: 263, 268). Und auch sie bleibt an Rahmungen gebunden, die sie nicht selbst schaffen kann.
5.3 Das strukturelle Wechselspiel zwischen Unter- und Übersozialisation, Sozialisation und Desozialisation Sozialisation findet immer statt, aber sie greift nicht immer, ist nicht immer efolgreich und kann auch leer laufen. Kinder können sich veranlasst sehen, sich gegen sie zu immunisieren. Deswegen muss sich manche Resozialisation als nachholende Grundsozialisation betätigen. Sozialisation verläuft also nicht einfach automatisch, stetig und schwankungsfrei. Sie oszilliert nicht selten zwischen Über- und Untersozialisation, auch zwischen Sozialisation und Desozialisation – und dies aus verschiedenen Perspektiven. Diese mehrdeutige Bedingungslagerung erfordert Sensibilität und Sinn für „sensible Phasen“ und Responsivität, die der Sozialisation erst Relevanz verschaffen können. Durkheim hatte dies im Gegensatz zu späteren Sozialisationstheoretikern noch gesehen und im Umkreis der Frage nach der Entstehung der Werte diskutiert (Joas 1997). Es bedarf immer der Bereitschaft des Sozialisanden wie der taktvollen Responsivität der Sozialisatoren, um sozialisatorische Interaktion in Gang zu bringen. Diese Responsivität erfolgt aber nicht immer realistisch, sondern überschätzt oft – auf dem Hintergrund eines wirksamen „Kindchenschemas“ – pauschalierend den Grad der Hilflosigkeit und Sozialisationsbedürftigkeit kleiner Kinder (Keller 1993: 330). Sie kann aber auch unterschätzt werden. Die spezifischen Formen der „Kultivierung“ und die daraus erwachsenden Sinnrahmungen erklären erst die hohe Varianz der Pflegeund Erziehungspraktiken. Die heutige Säuglingsforschung (Stern 1996; Dornes 1993) zeigt eindrucksvoll, dass Sozialisation von jeweils spezifischen Formen kultivierter Responsivität und kommunikativer Zugänglichkeit aller Beteiligter abhängt. Mögliche Bruchstellen, Inkonsistenzen und Irritationen der Sozialisation erwachsen aus empirisch nachweisbaren Phänomenen der (mütterlichen) „Überbehütung“. Die übersteigerte Sorge der Eltern provoziert nicht selten die Gegenreaktion gesteigerten kindlichen Unabhängigkeitsstrebens aber auch Schuldgefühle und zwanghafte Konformitätserwartung- und/oder -bereitschaft. Erziehungsverantwortung korrespondiert mit einer „advokatorischen Ethik“ (Brumlik) und den heute weit verbreiteten Maximen „verantworteter Elternschaft“ und „optimaler Förderung“. Ihre expansive Interpretation kann sicher Überbehütung in konkreten Fällen stimulieren. „Vernachlässigung“ ist das entgegengesetzte Phänomen, das ebenfalls expansiv oder restriktiv interpretierbar ist. Sie liegt dann vor, wenn Kinder nicht ausreichend ernährt, gepflegt, gefördert, versorgt, beaufsichtigt, vor Gefahren geschützt, vor allem aber, wenn ihnen zu wenig Zuneigung entgegengebracht wird (Melzer 2002: 839f.).
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Überbehütung und Vernachlässigung werden üblicherweise als Extremformen angesehen, doch das heutige, oft tief verunsicherte Erziehungsverhalten auch „normaler“ Eltern schwankt oft zwischen diesen Polen, wäre auf einem variablen Kontinuum zwischen diesen Extremwerten anzusiedeln und ist eben nicht durch einen Abgrund davon zu unterscheiden. Zwischen Normalität und Anormalität gibt es nur Abstufungen (Goffman 1975). Familien und Schulen konzentrieren sich heute auf Gefahren- und Risikoabwehr und darauf, Kinder in allgemeiner Form und formal zu qualifizieren und zu sozialisieren, werden aber gleichzeitig von der Öffentlichkeit mit immer mehr sozialpädagogischen Aufgaben konfrontiert, die sie zu überfordern drohen. Sie tun dies nicht fahrlässig, sondern durchaus begründet angesichts einer immer deutlicher hervortretenden lebenslangen Lernzumutung. Mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter werden Kinder vermutlich viel radikaler in eine ganz andere Gesellschaft entlassen, als sie ihre Eltern angetroffen haben. Es bestehen Hinweise darauf, dass sich diese Diskrepanzen in den nächsten Jahren auf dem Weg zur „Wissensgesellschaft“ eher noch verschärfen werden, weil weder die „Normalbiographie“ und das „Normalarbeitsverhältnis“ noch die reine „Wahlbiographie“ für viele Kinder eine realistische Chance in der Zukunft darstellen. Damit wird die Hoffnung auf eine kontinuierliche und homogene Sozialisation für viele fast zur Illusion. Phasen der Sozialisation und der zeitweiligen De- und Resozialisation werden sich vermutlich abwechseln und multiplizieren (Heinz 2001: 41f.). Hier ist im Grunde auch die theoretische Deutungskraft des Individualsierungstheorem überfordert, weil es sich um hybride Phänomene handelt, die sich nicht mehr lupenrein und homogen vollziehen dürften. Die uns geläufige Chronologisierung des Lebenslaufs ist Ergebnis einer sehr voraussetzungsvollen modernen Entwicklung und doch schon wieder in Frage gestellt. Noch gilt zwar vielfach die Eingangsstufe der Kindheit als quasinaturrechtliche Vorgabe, aber Beginn und Ende, Reichweite und Grenzen des „werdenden Lebens“ sind weder objektiv feststehend noch (ethisch, normativ und empirisch) unumstritten. Altersnormen und Statuspassagen divergieren im öffentlichen und privaten Bereich und zwischen der Einschätzung von Erwachsenen und Kindern, die sich häufig eher älter einschätzen als sie von ihren Eltern beurteilt werden. Selbst wenn der klassisch moderne Lebenslauf sich (äußerlich) noch häufig behauptet, verläuft er oft unstetig, interindividuell variiert, unterschiedlich schnell in unterschiedlichen Handlungsbereichen und vor allem in großer Unsicherheit. Und wo gesteigerte individuelle und soziale Mobilität und Flexibilisierung propagiert wird, werden auch Angst, Nervosität und desozialisatorische, im Grenzfall anomische Tendenzen gefördert (Heitmeyer 1997; 2004). Paradoxerweise scheint dies manchmal auch zu fast zwanghafter Beharrung zu führen. Schon die Einfädelung der Sozialisation in sozialisatorische Interaktion der Familie begünstigt heute nicht selten Über- und Untersozialisation. Selbstverständlich können Erwachsene die Prozesse fördern und bremsen. Dies ruft dann bei Kindern und ihren sozialen Kontexten unterschiedliche Gegenreaktionen hervor. Es gibt Stationen in der kindlichen Lebensphase, an denen ein Übergang spielend leicht und solche, wo er schwer erscheint. Und solche Unterschiede können von der Nachbarschaft, Verwandtschaft oder der Öffentlichkeit sensibel oder auch nur mit schwachem allgemeinem Interesse registriert werden. Kritische Perioden und biographische Entgleisungen sind heute fast unvermeidlich. Krisen und kritische Wendepunkte der Biographie können nie gänzlich institutionalisiert werden. Sie bilden Herde der Kontingenz und der Problembrennpunkte. Experimentierfreude braucht darunter unter günstigen Bedingungen nicht zu leiden, bewahrt aber auch nicht
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unbedingt vor Scheitern. Es spricht demnach Einiges dafür, dass sich Sozialisation in der Zukunft immer weniger stetig und als gleichförmige, langsame Bewegung vollziehen wird. Desozialisation findet heute keineswegs nur im Alter oder unter besonderen Zwängen statt, etwa in „totalen Institutionen“ (Goffman). Selbst Experten werden vom raschen Zerfall und Vergessen bereits vorhandenen Wissens bedroht (Nowotny 1989: 17ff., 77ff.). Und auf jeden Experten folgt sogleich ein Gegenexperte. Die Inflation von Expertise ist frappierend. Die Gesellschaft der „reflexiven Moderne“ ist mittlerweile so komplex geworden und wird so stark von „krassem sozialen Wandel“ (Clausen) in Atem gehalten, dass sie immer mehr Vertrauen voraussetzt, aber nicht besitzt (Beck 1996; Offe 2001: 275, 280). Immer häufiger müssen weitgehend profillos gewordene Rollen im Bereich der Familie durch Verhandlungen präzisiert werden und erreichen durch heuristische Normalitätsunterstellungen erst eine gewisse Stabilität und Verbindlichkeit. Desozialisationsphänomene sind hier unübersehbar. Sie bilden sich einerseits in Enttraditionalisierungsprozessen und andererseits im Gefolge von Dekonstruktionen und der immer rascheren Folge sozialer Konstruktionen. Desozialisation reduziert komplexes und nuancenreiches Wissen auf die simple Differenz Erinnern/Vergessen (Esposito 2002: 27f.). Damit verblasst aber nicht nur ein bisheriges Wissen. Die Folge davon ist eine Schwächung praktischer Kompetenz, die durch dieses Wissen begründet und vorgezeichnet war. Klagen über besorgniserregende Devianzentwicklung und oft auch ebenso pauschalierende Entwarnungen haben eine lange Tradition und auch heute Konjunktur. Die übersteigerte Sicherheit solcher Urteile verrät im Grunde eine große Unsicherheit angesichts extrem differentieller Entwicklungen der Sozialisationsabläufe. Sicher können auch bestimmte Veränderungen im Gesundheits- und Ernährungsverhalten auf Desozialisation zurückgeführt werden (Bründel/Hurrelmann 1996: 265f., 258). Isolierbare Indikatoren setzen allerdings eine integrative Verknüpfung von Belastungs-Bewältigungspotentialen und Ressourcen voraus (Keupp 1991: 480, 482), die Elemente einer Sinnrahmung zwischen Optimismus und Demoralisierung darstellen. Auch wenn und gerade wenn Kinder Experten ihrer alltäglichen Lebensführung sind, müssen sie für sich auch klären, wo gesellschaftliche Fremdbestimmung, Enteignung von Alltagskompetenz, die Zerstörung kindlichen Gestaltungsraums und wachsende ökologische Risiken letztlich nicht mit individuellen Bewältigungsstrategien zu überwinden sind. Der demoralisierte Bevölkerungsanteil in der deutschen Gesellschaft wird von Experten auf ca. 1/3 der Bevölkerung geschätzt. Auch das Phänomen der „inneren Kündigung“ scheint enorm verbreitet. Hier liegt natürlich auch eine Wurzel von Desozialisation (Keupp 1993: 9, 15; Beck-Gernsheim 1993: 131f., 139; Heitmeyer 2005). Eine exakte Grenze zwischen Unter- und Überforderung zu ziehen, ist kaum möglich. Gehäuftes Auftreten mag Aufmerksamkeit stimulieren. Sicher ist sie auch dann nicht. Erst wenn institutionelle Sozialisationsinstanzen und die Öffentliche Meinung annehmen, es handle sich um ein gefährliches soziales Problem, konzentriert sich öffentliches Interesse mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf. Letztlich muss aber auch dann die politische Zentralität des Anliegens nachgewiesen werden (Peters 2002:21f.). Häufig wird in diesem Zusammenhang auch auf stresstheoretische Überlegungen zurückgegriffen. Doch müssen solche Belastungsindizien das bloße Funktionieren der Sozialisation (zumindest äußerlich) nicht ernstlich gefährden. Ernstliche Probleme dürften erst entstehen, wenn keinerlei Korrespondenzen zwischen den Generationen mehr sichtbar sind, die sich der interpretatorischen Energie anbieten.
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Gelingen kann Sozialisation nur, wenn sich alle Sozialisationsprozesse kumulativ auswirken und wechselseitig mindestens minimal stützen. Da dies heute relativ unwahrscheinlich ist, stellen sich immer wieder mannigfaltige Imbalancen und Angriffsflächen für Desozialisation ein. Das Ausmaß habitueller Selbstbindung (Commitment) entscheidet dann über die soziale und individuelle Reaktion auf eine prekäre Sozialisationssituation. Je nachdem, ob man dabei den Standpunkt der Gesellschaft oder des Individuums einnimmt, kann man – in unterschiedlicher Weise – von Über- und Untersozialisation sprechen. Es ist auffällig, dass kindliche Entwicklung bislang fast nur als Beseitigung eines Defizits betrachtet wurde, während die Defizite der Erwachsenen in diesem Zusammenhang meist gänzlich verschwiegen wurden (Jenks 1992). Insgesamt ist natürlich die Dichotomisierung „erwachsen/nichterwachsen“ eine Simplifikation der viel breiteren Merkmalsaggregate, die in der Sozialisation tatsächlich zum Tragen kommen. Hier lassen sich erhebliche Idealisierungsbemühungen aufdecken (Habermas 1970: 303, 383).
5.4 Die potentielle Konkurrenz der Sozialisationsinstanzen Sozialisation erscheint oft in sauber getrennten Sozialisationsphasen – von der primären zur n-ten – sequenziert zu sein. Sie scheint jeweils unter der Hegemonie einer einzigen Sozialisationsagentur abzulaufen und zu kumulieren. Auch eine mögliche Kooperation oder Interdependenz der Sozialisationsinstanzen scheint in der Regel reibungslos zu verlaufen. Welch idyllisches Bild, das vielfach unterschwellig vermittelt wird! Nur einem oberflächlichen Beobachter kann entgehen, dass die verschiedenen sozialen Institutionen, denen die Sozialisation zugeteilt und zugetraut wird, also Familie, Kindergarten, Schule, außerschulisches Bildungsinstitut, Medien- und Konsummarkt und in vielen Fällen Religionssystem (Kirche), sich nicht „zum Wohl des Kindes“ wechselseitig stützen, ergänzen und kooperieren, sondern oft kaum von einander Notiz nehmen und konkurrieren. Das mag zu einem gewissen Teil an der funktionalen Differenzierung zum Teil an einer wachsenden Marktorientierung liegen. Wenn man heute die kindliche Biographie sozusagen selbst als Sozialisationsinstanz betrachten will, was mit dem Begriff der Selbstsozialisation ja nahe gelegt wird, stellt sich hier die Frage, wie sie mit den anderen Sozialisationsagenturen in Verbindung steht und ob sie das dominant, konkurrierend, konsensuell, koordinierend, unterwürfig oder situativ-pragmatisch und von Fall zu Fall zu leisten vermag. Welchen Stellenwert und Rang kann sie im nicht immer harmonischen Konzert der Instanzen der Sozialisation erringen? Eine genauere, langfristige Beobachtung der Sozialisation zeigt hingegen, dass die Phasen ineinander übergehen, dass sich Sozialisationsimperative in ein und derselben Phase abschwächen oder intensivieren und ihre Effekte sich fragmentarisch ausnehmen. Sozialisation vollzieht sich in einem heterogenen sozialen Raum als heterogenes Geschehen und eben nicht homogen, wie ein substanzialisierender Wortgebrauch nahe legen mag. Hier fließen unterschiedlichste Interessen und Mentalitäten ein. Und irgendjemand – immer öfter auch das Kind selbst – muss nachträglich für eine gewisse Abstimmung sorgen. Ob eine Form der Sozialisation mehr oder minder Erfolg hat, liegt nicht zuerst an ihr selbst, sondern an der Sensibilität und Ansprechbarkeit des Sozialisanden aber auch an der Offenheit der Situation für Interventionen durch Sozialisationsagenturen und ökonomische, politische und soziokulturelle Rahmenbedingungen, also am Zustand öffentlicher Kultivierungsprozesse, unter denen sie entstanden sind und sich vollziehen (Grundmann 1999).
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Sozialisation ist kein ins Makrostrukturelle projiziertes Erzieher-Zöglingverhältnis und kann sich nur in gerahmten Übergangsfeldern vollziehen. Im Prinzip hat das – besser als alle anderen Ansätze der Sozialisationstheorie – die sozialökologische Konzeption verstanden. Doch die komplexen Verknüpfungsprozesse der verschiedenen Sozialisationskontexte werden hier unterkomplex, ohne Rücksicht auf die Konstitutionsprozesse und allzu nahe am naturalistisch-ökologischen Fehlschuss extrapoliert. Das gegenwärtige raum-zeitliche Arrangement ist ohne seine Selektionsgeschichte und die appräsentierten Alternativen und Zukunftsentwürfe, als isolierter Status quo, nicht wirklich zu verstehen. Und Kinder orientieren sich nicht nur räumlich, sondern auch funktional, medial und nach ihren gruppenspezifischen Sympathie-, Sach- und Machtsystemen. Die soziale Konstitution der Übergangsstrukturen darf nicht schlicht szientistisch „evidenzbasiert“ oder positivistisch abgeschildert werden, denn hier wird der Konkurrenz-, Konflikt- und Deutungsdruck von Kindern als kompetente Akteure enorm unterschätzt oder harmonisiert: Familien, Wohngemeinde, Region, Kindergarten, Straße, Kirchengemeinde, Medien, der Konsummarkt, peer groups, Interaktionsgeflechte oder Interaktionsfelder etc. divergieren heute eher, als dass sie sich wechselseitig stützen. Es wäre geradezu grotesk, sie als „psychosoziales Immunsystem“ (Hurrelmann 1991: 204) hochzustilisieren. Vernetzte sozialisatorische Systemfragmente bilden nur im denkbaren, aber lebenspraktisch extrem unwahrscheinlichen Idealfall ein konsistentes System. Wenn auch einzelne kritische Lebensereignisse selten die gesamte Sozialisationsgeschichte überwölben und bestimmen, so dürften doch die Kumulation von „störenden“ Effekten beachtliche Wirkungen erzielen und Deutungsdruck ausüben. Vielleicht besitzt die familiale Sozialisation mit ihren Auswirkungen auf Generationenbildung aller Veränderung zum Trotz einen „Kern der Beständigkeit“ (Steinkamp 1991: 270). Das darf man aber auch nicht überschätzen, denn die Familie erfährt, besonders von Betrieb und Markt, „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ (Kaufmann 1995: 169ff.). Unüberzeugend ist es, dies einfach auf einen Modernisierungsrückstand der Familie oder der Generationsbeziehungen zurückzuführen, der in der Zukunft von partnerschaftlichen Eltern-Kindbeziehungen schlicht kompensiert werden könnte (Zinnecker 1998: 169ff.). Sowohl die elterlichen wie die kindlichen Wissensbestände, nicht zuletzt das Orientierungswissen, dürften schon in naher Zukunft beachtlichen Veränderungen unterworfen werden. Sozialisation wird sich dann noch weniger als heute einfach als „Satz ineinander geschachtelter Strukturen“ des raum-zeitlichen Status quo oder eines objektivistisch verstandenen „biopsychologischen“ Organismus (Engelbert 2002: 102; Steinkamp 1991: 273f.) interpretieren lassen. Vielmehr setzt sie einen niemals abschließbaren gesellschaftlichen Konstitutionsprozess voraus, der ihr erst einen Rahmen bietet, in dem sie weder als Zwang noch als bloßes Postulat als wirklich erscheint. Veränderungen im einen Bereich ziehen Veränderungen in allen intergenerationalen Relationen nach sich. Von der Familie aus weiten sich zwar auch heute zunächst oft die Sozialbeziehungen in konzentrischen Kreisen aus. Diese Konzentrik wird aber oft schon früh aufgebrochen und überlagert durch andere Bezugssysteme. Es zeugt von Blindheit zu übersehen, dass Kinder fast schon in den ersten Säuglingstagen in den Sog vielfältiger und in der Tat rivalisierender Sozialisationsinstanzen geraten – und zwar in keiner stabilen Weise. Das, gleichsam primordiale Sozialisationsmonopol der Familie ist schon in der Kleinkinderzeit längst gebrochen. Es macht gerade die Not verantwortungsbewusster Eltern aus, dass sie an „verantworteter Elternschaft“ durch die Umstände vielfach gehindert werden und fast ohnmächtig erscheinen. Die Abgrenzung der Privatsphäre von der Öffentlichkeit
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wird durch die Möglichkeit der universellen Datenspeicherung noch zusätzlich zur weitgehenden Illusion. Die Einmischung ins „Familienheim“ ist umfassend. Spiel-, Lern-, Konsummöglichkeiten, Mediennutzung, familiale Kommunikation, Erziehung, Haushaltsaktivitäten sind weniger denn je säuberlich zu trennen (Engelbert 1986). In den peer-groups und den von ihnen dominierten sozialen Netzen werden Kinder zwar explizit, deutlicher noch als in partnerschaftlich getönten Familienbeziehungen, auf egalitäre Normen verpflichtet. Allgegenwärtig entfalten sich aber latent oder halbverdeckt Wissensprozesse, die durch ganz andere Verhaltensweisen, Leistungsdruck und/oder Selbstbehauptungswillen bestimmt sind. Noch relativ schutzlos werden sie heute immer früher mit Kriterien, Klassifikationen, Wissen konfrontiert, das Kinder nicht oder in vollem Umfang verstehen. Und dieses widerspruchsreiche Gemisch von egalitären Normen und herrschaftsbezogenen Praktiken ist gerade Kennzeichen einer Alltagspraxis, die zwar durchaus noch Alltagssolidarität im Nahbereich, nicht aber systematische und konsistente gesamtgesellschaftliche Solidarität der Generationen vorsieht. Dies wird zuweilen noch durch eine falsch verstandene oder bedeutungsarme „Selbstständigkeitserziehung“ unterstützt (Zinnecker 1990: 34f.; Neumann 2001). Daher ist es voreilig und pauschalierend, in jeglicher Form und in jeder Dimension der Gleichaltrigenbeziehung nur eine ideale Ergänzung (Heinz 2001: 136; Szydlik 2000; Zinnecker 1998) und nicht auch eine partielle z. T. scharfe Konkurrenz und auch gelegentlich eine Gefährdung elterlicher Erziehung zu erkennen. Eine überwiegend normativ bestimmte Analyse verdeckt die Eigendynamik pragmatischen, z. T. vorprädikativen, jedenfalls aber vortheoretischen Alltagswissens und -handelns (Hörning 2001: 32ff.).
5.5 Resozialisation als nachträgliche oder nachholende Sozialisation Zwischen den normativen Funktionszuschreibungen und dem tatsächlichen Funktionieren der Sozialisation tun sich manchmal Diskrepanzen auf, die nur mit großen Schwierigkeiten mit dem üblichen Spannungsverhältnis von Norm und Faktizität erklärt werden können. Wo die Anpassungsprozesse oder sozialen Reaktionen zwischen Individuen und Gesellschaft entgleisen, da zeigt sich, dass zwischen funktionaler Ordnung und abweichendem Verhalten viel mehr „Zwischentöne“ und Grauzonen angesiedelt sind, als der platte „soziologische Präsentismus“ (Assmann 2002: 400ff.) üblicherweise zugestehen will und seine binär codierende Sicht einräumt. Paradoxerweise „funktionieren“ zudem selbst „verzerrte“ oder obsolete Sozialisationsprozesse scheinbar oder wirklich erstaunlich lange Zeit. Wenn das Lebenswissen von Familien und Schule sich aber – aus irgendeinem Grund – als nicht mehr tragfähig erweist, oder der Unterschied zwischen „normal“ und „deviant“ – vor allem im Blick auf das Rechtssystem – zu verschwimmen droht, neigen zumindest moderne Gesellschaften zu Maßnahmen der Resozialisation oder Rehabilitation. Resozialisation wurde in der Vergangenheit oft mit Zwangsintegration durch die offiziellen Instanzen der sozialen Kontrolle gleichgesetzt. Später wurde das Konzept uminterpretiert. Da nicht alle gesellschaftlichen Räume durch Polizei und Justiz kontrollierbar sind, sollte prophylaktisch erzieherische Wertinternalisierung sozialpädagogisch gefördert werden. Resozialisation galt daher nun als ausgesprochen fortschrittliches und demokratieförmiges Instrument gerichtlicher Rechtspflege, die den dumpfen Willen zur Rache, Sühne, Drohung und oft wirkungslosen Repression oder Deliktabwehr überwinde. Dahinter steht
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auch die Einsicht, dass mit einer bloßen Bestrafung keine Verhaltensänderung des Deliquenten zu bewerkstelligen ist. Auch der Gedanke des Gesellschaftsschutzes sollte dabei zurücktreten. Praktisch ging es, besonders bei kindlichen Deliquenten, darum, nachhaltige Kriminalisierung zu vermeiden, Rechtskonflikte von Kindern und Jugendlichen möglichst nahe an ihrer alltäglichen Lebenswelt zu regulieren und staatliches Strafrecht nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn informelle Konfliktregulierung scheitert. Je früher und schneller der staatliche Rechtsvollzug die offensichtlich unzureichende Sozialisation der Kinder durch Resozialisation unterfüttere, umso eher bestünde Aussicht, dass sie nicht frühzeitig in eine kriminelle Karriere gerieten. Praktische Erfahrungen mit diesem Konzept zeigen jedoch, dass Resozialisation in vielen Fällen unmöglich ist, und im Grunde eine nachträgliche oder nachholende Erstsozialisation gefordert wäre. Die Resozialisationsstrategie behält daher wie andere Konzepte und die Sozialisation im Ganzen ihre spezifische Ambivalenz (Keupp 1991: 467ff.). Auch der Begriff der Rehabilitation, der sich vor allem im Bereich des Gesundheitswesens findet und manchmal auch dem der Resozialisation entspricht, erlebte verschiedene Deutungskonjunkturen. Seit der Zeit der Planungseuphorie der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts blitzen hier immer wieder andere Konnotationen auf. In der modernen Gesellschaft arbeitet seit langem ein bürokratisches Netz von Institutionen wie Arztpraxen, Kliniken, Rehabilitationszentren, Krankenkassen etc. an der medizinischen und psychotherapeutischen Rehabilitation von Krankheiten, Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten von Kindern (Eßbach 1996: 162). Die damit verbundene Intervention auch in das Leben von Kindern wird meist sozialtherapeutisch legitimiert. Darüber hinaus soll sie eine Normalisierung im Alltag erreichen. Doch all das kann nicht verschleiern, dass hier stillschweigend diskutierbare Kriterien und Klassifikationen herangezogen werden, was „auffällig“, „gestört“ nun konkret bedeutet, was unter „optimaler Förderung“ zu verstehen ist und in wieweit die Selbstdefinition der betroffenen Kinder von Belang erscheint. Selbst professionelle Fremdeinschätzungen konvergieren hier nicht immer und erweisen sich überdies als wandelbar. Die Frage der Resozialisation und Rehabilitation wird auch immer in fließenden Übergängen in der Diskussion der notwendigen und konsequenten politischen Partizipation aufgeworfen. Sie beruht auch auf entsprechenden Weltbildern und Grundannahmen über die „Natur des Kindes“ der Diagnostiker. In deren Urteil schleichen sich Deutungen über das Ineinandergreifen körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren ein (Hurrelmann 1991: 200). Ein Grundproblem von Resozialisation und Rehabilitation ist, wie sich „echte Fälle“, „Simulanten“ und „falsch Behandelte“ auseinander halten lassen, und welche Konsequenzen Urteile für die Zukunft haben. „Auffällige“ Kinder werden nicht nach einer einmaligen Verhaltensauffälligkeit als auffällig eingestuft. Ab wann gelten sie wem als verhaltensauffällig? Ab wann wird dem „auffälligen Kind“ die Chance genommen, seinen Publika einen ganz normalen Eindruck zu vermitteln und sein Leben als normales Kind zu bewältigen? Schon durch die Erwartung eines „Rückfalls“ oder auch durch eine vergleichsweise naive Resozialisations- oder Rehabilitationsunterstellung? Die übliche „schnelle Sortierung“ im Alltag und der rasche, geschulte „ärztliche Blick“, der Blick von Psychologen, Pädagogen oder Sozialarbeitern und Soziologen lassen oft gar keine große Wahl. Und Sozialisation und Resozialisation sind nicht restlos trennscharf zu unterscheiden, weil auch als geglückt geltende und flexible Sozialisation mit Desozialisation durchsetzt ist und Resozialisationsimperative rasch zur Hand sind (Goffman 1975; Heinz 2001: 41). Wenn aber auf den ver-
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schiedenen Wissensmärkten der sich anbahnenden Wissensgesellschaft immer weniger antizipatorische und retroaktive, normale und deviante Sozialisation mit letzter Klarheit auseinander zu halten sind, ja stabile Lebensplanung zum bloßen Wunschbild herabsinkt, kann es nicht ausbleiben, dass Sozialisation gestört und durch die Forderung nach Resozialisation flankiert wird (Schmerl 1978: 193ff.; Brim 1979: 65). Dabei tritt nicht selten eine missverständliche Komplexitätssteigerung ein, insofern als sowohl der wahrgenommene Sachverhalt wie die Wahrnehmungskriterien sich erheblich verändern. Die größte Chance für Resozialisation wurde lange Zeit darin gesehen, die zu Resozialisierenden in eine ähnliche Lernhaltung zu manövrieren, wie sie in der frühen Kindheit vorzufinden ist. Der Leidensdruck musste entsprechend groß sein, damit die Therapie intervenieren konnte. Diese geforderte Bereitschaft zur Regression als Voraussetzung der Therapie enthält natürlich auch implizit eine Vorstellung von Kindheit und Kindern, in der sie als gänzlich hilflose und inkompetente Betreuungsobjekte stilisiert werden. Erst nach und nach erkennt man, dass dieses Resozialisationskonzept höchst einseitig, pauschalierend und übergeneralisierend gewesen war. Auch Resozialisation beginnt nicht wirklich am Nullpunkt. Die Lebensgeschichte, auch die vorgeburtliche, lässt sich nicht zurückdrehen. Außerdem impliziert die Forderung nach Persönlichkeitsänderung auch die Bereitschaft der Interaktionspartner, dieser Persönlichkeit eine neue Chance zu geben, sich mithin auch zu ändern und an einer Situationsänderung so mitzuarbeiten, dass ein „Rückfall“ unwahrscheinlich wird (Keupp 1991; Brusten 1999). Die heute enorme Flexibilitätszumutung lässt Sozialisation immer wieder in Desozialisation zerfließen. Schon die alltägliche Kommunikation und Lebensbewältigung setzt daher in einem Maße „bestandswesentlichen Opportunismus“ (Luhmann) voraus, dass Kinder chronisch in ein Spannungsfeld zwischen Konformität und begrenzter Regelverletzung hineingezogen werden. Das Einzige, was soziale Kontrolle zunächst zu interessieren scheint, ist die „Unauffälligkeit“, die exzentrische Moden gerade nicht ausschließt, weil sie nach „Innovation“ riechen (Peters 2002: 187f.).
5.6 Der Umschlag von antizipatorischer in retroaktive Sozialisation Es erscheint auf den ersten Blick mehr als unwahrscheinlich, dass ein Säugling bereits aktiv auf die Handlungsstruktur einer Familie Einfluss nimmt. Immerhin wurden wir aber in den letzten Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass man zwischen inhärenter und strukturell bedingter Hilflosigkeit zu unterscheiden hat (Joos 2002: 44ff.). Ganz so abwegig ist das Konzept des „kompetenten Säuglings“ (Dornes 1993; Petzold 1994; Stern 1996) auch empirisch nicht, wie es zunächst klingt. Vor allem scheint auch schon der Säugling im Bereich der nonverbalen Kommunikation „Experte von Anfang an“ zu sein, wo Wechselseitigkeit ganz unterschiedlich ausgespielt werden kann. Warum sollten nicht auch einmal Kinder unter bestimmten Bedingungen emotional oder sozialkognitiv ihre Eltern dominieren? Die Dynamisierung der Wissensproduktion und -entropie macht es keinesfalls unmöglich, dass auch schon kleine Kinder Wissensvorsprünge in Teilbereichen geltend machen und ausspielen. Damit käme es zur Umkehrung des traditionellen Sozialisationsverhältnisses oder, wie man das mit einem Fachausdruck nennt, zu retroaktiver Sozialisation: Kinder sozialisieren ihre Eltern und Großeltern, statt dass sie ausschließlich von ihnen sozialisiert werden. Besonders nahe liegend ist dies für den technischen, medialen Bereich und den
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Bereich des Konsums. Aber auch im religiösen Bereich wurden umgekehrte Sozialisationsprozesse festgestellt (Baacke 1985: 17, 29). Antizipatorische Sozialisation, die die Eltern anstoßen, wird deshalb immer häufiger von retroaktiver überlagert oder konterkariert. Die seit langem beobachtete Umstellung der Erziehungsziele, vom Gehorsam zum Verhandeln (Reuband 1997: 129ff.; Münchmeier 1997: 113ff.), gewinnt dadurch ein neues Gewicht und überraschende Konsequenzen. Sie bindet damit Eltern nicht nur durch den impliziten Appell des „Kindchenschema“ und die spontane Hilfsbereitschaft der sie bemitleidenden Erwachsenen. Kinder erweisen sich immer öfter als „Zeitpioniere“ und „Trendsetter“ für die gerade wegen ihrer Kindzentrierung unsicher gewordenen Eltern, die spüren, dass in einer heraufkommenden Wissensgesellschaft der soziale Status nicht mehr ausschließlich durch Arbeit, beruflichen Erfolg und aus der Lebenserfahrung abzuleiten ist. Angesichts der Notwendigkeit „lebenslangen Lernens“ sehen sich auch Erwachsene in einer Lage, die nicht grundsätzlich von der Lernsituation von Kindern verschieden ist. Zumindest episodisch und in Teilbereichen ist damit Wirklichkeit geworden, was M. Mead (1974) vorausgesehen hat: das Entstehen einer „präfigurativen Kultur“, in der der Wissensvorsprung der Erwachsenen zugunsten der jüngeren Generation gleichsam dahinschmilzt. In den Bereichen der Technik, der Medien, der Freizeit, des Konsums, der Mode, aber z. T. auch des Orientierungswissens besitzen Kinder nicht nur eine größere Unbekümmertheit und Neugier, sondern oft einen bestimmten Wissensvorsprung. Freilich darf dies auch nicht pauschaliert, allzu undifferenziert übergeneralisiert und überschätzt werden (Lüscher 2003: 176). Die retroaktive Sozialisation wird besonders deutlich bei Migrantenkindern der zweiten und dritten Migrantengeneration, die sich oft als Dolmetscher und quasi als Missionare betätigen und damit nicht selten zwiespältige Gefühle und Verdruss bei ihren Eltern oder ihrer sozialen Umgebeung hervorrufen. Tendenzen der „Selbstsozialisation“ und der retroaktiven Sozialisation unterhöhlen ein Stück weit auch den Anspruch der klassischen Bildungsinstitution, deren eingespielte Placierungsfunktion auch dadurch unterschwellig in Frage gestellt erscheint. Zwischen der sich abzeichnenden Opportunitätsstruktur und deren individuellen Wahrnehmung, interaktiven Verarbeitung liegen allerdings Welten. Auch am Phänomen der retroaktiven Sozialisation zeigt sich damit, dass „Wechselseitigkeit“ kein semantisch eindeutiger Ausdruck ist und unterschiedlich, ja gegensätzlich gestaltet werden kann. Sie lässt sich vom Sozialisanden oder vom Sozialisationsagenten, aus der Teilnehmer- wie der Beobachterposition beschreiben. Sie kann von den normativen Imperativen und der Soziogenese lebenspraktischen Wissens und Handelns betrachtet werden. Solche Wechselseitigkeit auf der normativen wie der praktischen Ebene kann symmetrisch oder asymmetrisch sein. Und es kann sich um eine stabile oder prekäre Wechselseitigkeit handeln. Wenn man die Argumente mancher Sozialisationsforscher hört, könnte man glauben, es sei ausgeschlossen, dass sich die kulturelle „Basispersönlichkeit“ oder Mentalität überhaupt ändert. Und doch spricht einiges dafür, dass dies in modernen Gesellschaften des Öfteren geschieht (Benedict 1978: 195ff.). Es kann gut sein, dass Kinder unter der Hand – auch in dem Maße, wie sie seltener werden – in einem Maße anspruchsvoller sozialisiert werden und ein fundamental anderes Verhältnis zu Wissen, Tradition, Routine und Macht gewinnen. Doch ebenso wahrscheinlich ist, dass ihnen neue historische Ereignisse, Entwicklungen, habituelle Routinen und institutionelle Objektivierungen neue Grenzen setzen. Benedict hat schon vor Jahrzehnten auf das Grundproblem westlicher Sozialisation hingewiesen, dass darin besteht, dass Kindern zunächst etwas beigebracht wird, was sie – durch kaum verborgene symbolische Hinweise animiert – später wieder fast restlos
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vergessen sollen. Westliche Gesellschaften neigen zur Überschätzung formalen Lernens – auch angesichts der Erosion ihrer kulturellen Tradition (Benedict 1978: 195f., 205; Mitterauer 1986: 21). Desozialisation ist also kein ganz neues Phänomen (Duby 1988: 210) und taucht nicht nur im Alter auf. Retroaktive Sozialisation ist eine Form, damit umzugehen.
5.7 Die Unterschätzung kritischer Lebensereignisse Arbeitslosigkeit des Vaters, plötzliche Querschnittslähmung des Kindes aufgrund eines Unfalls, Scheidung der Eltern etc. können das Leben von Kindern, aber auch Eltern völlig verändern. Gerade eine lebenszeitliche Perspektive bringt zu Tage, dass Sozialisation sich nicht nur wechselseitig zwischen Eltern und Kindern vollzieht, sondern auch Brüche unterschiedlich, aber in Kovariation verarbeiten lässt (Bude 2000; Rosenthal 1997). Lebensgeschichten als soziale Konstruktionen greifen bei ihrer konkreten Ausformung auf sozial akzeptierte Muster, institutionell als „normal“ unterstellte Sequenzenordnungen und soziale Karrieren, auch auf allgemeine kulturelle Vorstellungen ihres Weltbildes zurück. Es gilt aber immer auch Kontingenzen, Überraschungen und Schocks zu verwinden und einzuordnen, die Diskontinuität symbolisieren. Dabei ist die subjektive und soziale Interpretation einzelner, zentrierter Lebensereignisse oft von besonderer Bedeutung. Es gelingt oft nicht auf Anhieb, sie im Alltagswissen, das nicht ständig biographische Ausblicke braucht, durchsichtig und soweit verstehbar zu machen, dass sie die Alltagsroutine nicht stören. Gerade kritische Lebensereignisse perforieren und strukturieren freilich auch gleichzeitig die Biographie. Im Verlauf der Bearbeitung ihres Wissens werden Kinder als „Passanten“ einer auch anders zugänglichen Lebensgeschichte eingereiht in einen größeren Kreis derer, die ähnliche Übergänge in ihrer Lebensgeschichte schon mehr oder minder bewältigt haben. Insofern aber solche Übergänge des Lebens Krisen darstellen, in denen Altes zu Ende geführt und Neues im Entstehen ist, zeichnet sich hier oft auch eine Wissenskluft zwischen kulturell und institutionell üblichen Entwicklungsvorstellungen und der individuellen Lebenszeit ab. Lebensgeschichten werden, wie schon Durkheim sah, einerseits immer individueller aber andererseits dennoch auch immer abhängiger von gesellschaftlichen Entwicklungen. Brüche werden dadurch immer wahrscheinlicher und schlagen sich in „gebrochener Intersubjektivität“ (Habermas) und gestauchter Wissensproduktion, -assimilation, -verteilung im Alltag wie in der Biographie nieder (Bohnsack 1998: 11). Und dies erzeugt auch immer wieder Fremdheit selbst unter vertrauten Menschen und lässt auch immer wieder ein Fremdwerden der eigenen Biographie gegenüber wahrscheinlich werden. Kinder geraten heute dann oft in den Sog widersprüchlicher gesellschaftlicher Trends der Entwicklung und der Sozialisation. In dieser Lage müssen Kinder als soziale Konstrukteure die Erinnerung an kritische Lebensereignisse mit ihren eigenen Alltagsaktivitäten und Praktiken zur Bewältigung (Coping) verknüpfen. Im sozialen Vergleich stimmen sie sich mit Anderen ab und versuchen Akzeptanz und Verständnis zu erwirken. Selbst traumatisierte Kinder sind nicht einfach Opfer belastender Umweltbedingungen, wie die ältere Stressforschung annahm (Keupp 1991). Folgenreiche Prozesse der sozialen Degradierung und Demoralisierung sind allerdings nicht zu unterschätzen. Im Umgang mit biographisch relevanten Optionen manifestiert sich, dass ganz generell Entscheidungen, die die Lebenswelt gesellschaftlicher Akteure struktu-
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rieren, ausgesprochen selektiv und exklusiv erfolgen und entsprechende Folgen und Nebenfolgen nach sich ziehen, die den oberflächlichen Glauben widerlegen, Entscheidungen seien historisch unsituiert, beliebig, völlig rational und jeder Zeit reversibel (Nowotny 1990: 135ff.). Und eben darum kommt ihnen heute auch strukturell der Charakter akuter Krisen zu, die bekanntlich zwei entgegengesetzte Verlaufsformen annehmen können: Exitus und Epikrise, „exit“ und „voice“. Mehr denn je wird allerdings heute der spezifische Zusammenhang zwischen Alltags-, Lebens- und Gesellschaftsgeschichte zur mühseligen Suchaufgabe, und ist gerade deshalb im Grund nicht mehr durch die Modernisierungstheorie voll zu erklären. Kindern werden zwar immer mehr „Wissensmodule“ serviert. Eindeutige Lebensereignisse determinieren aber keineswegs in jedem Fall und unausweichlich die Lebensgeschichte. Ob etwas z. B. als kontinuierlich oder diskontinuierlich wahrgenommen und bewertet wird, ist weder gänzlich objektiv noch völlig subjektiv. Ereignisse werden nur „auffällig“, wenn sie Aufmerksamkeit auf sich zu lenken vermögen und nicht von konkurrierenden Wendepunkten und konkurrierenden Deutungen überdeckt, neutralisiert oder naturalisiert werden. So ist z. B. die Pubertät nicht nur ein breit streuendes Phänomen, sondern wird auch in unterschiedlichen Kulturen ganz unterschiedlich interpretiert und bewertet. Sogar in ein und derselben Kultur kann sie durch ein als vorrangig gedeutetes Ereignis wie ein Krieg völlig in den Hintergrund gedrängt werden. Biographisch und intergenerationell verortete „Daten“ können nicht isoliert verstanden werden und lassen sich eben nicht objektivistisch oder rein funktional verwerten. Sie unterliegen einer nicht selten höchst komplizierten biographischen, alltagsweltlichen und generationalen Umdeutung und gesellschaftlichen Verständigung. Unter Zeitdruck und Entscheidungszwang kommt es nicht nur in Organisationen zu gewichtigen Präferenzverschiebungen und zu einer relevanten Verschiebung der Deutungen zeitlicher Prioritätensetzung. Es tun sich immer wieder Risse, Spalten, Lücken oder eine Kluft des Wissens und ein Spannungsfeld von individuellen Bestrebungen auf, die sich sozial durchzusetzen versuchen. Es geht hier nicht um äußerliche Kosmetik des Lebens, sondern um plausibilisierbare gesellschaftliche Partizipation, Einfluss und Macht; auch schon im Ansatz bei Kindern (Nowotny 1990: 146). Kinder lassen das gerade Erlebte, vielfach konkrete Ereignisse, oft wenig zurückhaltend in das Zentrum ihrer Wahrnehmung und ihres Handelns herein. Es ist bis heute nicht völlig geklärt, aber durchaus wahrscheinlich, dass kritische Lebensereignisse sich langfristig tiefer ins Bewusstsein von Kindern einspuren. Man muss auch Abschied nehmen von einer romantisierenden Verklärung der Eltern-Kind-Beziehungen. Auch hier werden – selbst in Fällen eines intakten Familienlebens – immer wieder Situationen erzeugt, die von tatsächlicher Entfremdung und teilweise schmerzlichen Übergängen geprägt sind, und nur durch Sinn generierende Überbrückungsleistungen, Vertrauen schaffende „Übergangsobjekte“ (Winnicott) und kreativ ermittelte „Zwischenwelten“ die notwendigen intermediären Strukturen für tragfähige Interaktion gewinnen (Nowotny 1990: 146f.; Joas 1992: 240ff.; Waldenfels 1987: 228). Paradoxerweise wird die Erfahrung der eigenen Lebensgeschichte erst durch sperrige Widerfahrnisse, das Andere und Andere und die Zeit, die ich ihnen widme, und gerade nicht durch autistische Konzentration erschlossen. Erst in deutenden Auseinandersetzungen werden sie als „Herausforderung“ oder „Überforderung“ erkennbar. Selbst bei vertrauensvoller Verifikation der Wirklichkeitskonstrukte ist Wirklichkeit nicht ein für allemal gesichert und ereignis- und interpretationsimmun (Rosenthal 2000: 457f.). Ereignisse können
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offenbar von Kindern gut verarbeitet werden, wenn sie in einen verstehbaren und Perspektiven erschließenden „Erlebnisraum“ (Muchow), in eine „konjunktive Erfahrung“ (Mannheim) oder einen Sinnrahmen des Handelns rückübersetzt werden können. Ob Kinder Ereignisse als „kritisch“ empfinden, und ob sie damit fertig werden, hängt entscheidend davon ab, ob sie auf Handlungsressourcen und akzeptierte Deutungsmuster zurückgreifen können, die Ereignisse sichtbar, habitualisierbar und aktuell zu bewältigen erscheinen lassen. Generell scheint ausschlaggebend, wie sich die Zugänge zum kulturellen, sozialen, ökonomischen Kapital gestalten (Bourdieu 1992: 135ff; Flick 1995: 126). Und diese sind eben nicht stabil für alle Kinder gleich. Es gibt für Kinder, die misshandelt, sexuell missbraucht oder denen ihre Kindheit von kritischen Lebensereignissen ruiniert wurde, kurzfristig viel Mitleid, mittel- und langfristig aber nach wie vor wenige Erwachsene, die sich für sie und ihre Rehabilitation einsetzen. „Orientierung aufs Leben“ wird immer weniger geliefert oder geht im „Rauschen“ der Informationskaskaden unter, zeigt sich nicht als Wissen, das hinsichtlich der alltäglichen Lebensführung und der Lebensgeschichte relevant werden kann (du Bois 1995: 154). Trotzdem versuchen Kinder, denen nicht jeglicher „Weltoptimismus“ (Claessens) abhanden gekommen ist, Ordnung und Sinn in ihr Leben zu bringen und selbst aus misslichen Lebenssituationen das Beste zu machen. Oft operieren sie auch mit einem problematisch gewordenen Familienstatus, der Teil der eigenen Selbst- und Weltsicht wird. Doch selbst in gut funktionierenden oder als normal akzeptierten Eltern-Kind-Beziehungen gibt es nicht nur Statusbestätigung und Vertrauen. Nach zusätzlichen sozialen Ressourcen ist Ausschau zu halten. Der Rekurs auf subjektive und soziale Ambivalenzen, wie er etwa seit einigen Jahren auch von Lüscher und Honig u. a. in der Kindheitsforschung eingefordert wird, drängt sich hier fast auf. Es geht aber dennoch nicht schlicht um einen „Umgang mit Ambivalenzen“ schlechthin; auch nicht nur um „verantworteten Umgang“. Vielmehr handelt es sich um ein ganz spezifisch historisches Verhältnis bestimmten Wissens, Nichtwissen und Vergessens als Bedingung einer bestimmten Pluralität, die zu bewältigen ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Einigung 1989 werden im Horizont europäischer Einigungsbemühungen widersprüchliche Modernisierungstrends erheblich modifiziert, begrenzt, gebrochen und transformiert (du Bois 1995, 158). Im dynamischen Prozess der alltäglichen Lebensführung und der Biographisierung drängen sich dabei nicht selten sprunghafte Entwicklungen auf, die eine jähe Wendung nahe legen und als sich verselbstständigende „Verlaufskurve“ dem intentionalen Handeln der Akteure entgleiten (Riemann 1987; Bohnsack 1999: 113ff., 137ff.). Die interpretierende Konstruktionstätigkeit von Kindern kann – für kurze oder längere Zeit – u. U. auch fast still gestellt werden. Sowohl makrosoziologische Ereignisse wie etwa ein Krieg, wie mikrosoziologisch einschlägige Begegnungen oder ein Verlust von Schlüsselpersonen können eine zwangsdominierte Verlaufskurve einleiten. Zwar bedeutet jeder Statusübergang einen gewissen Einschnitt und eine Unterbrechung. Doch die von kritischen Lebensereignissen ausgelöste Interaktionsdynamik reicht weit darüber hinaus und kann akut die alltägliche und biographische „Anschlußfähigkeit“ gefährden (Rosenthal 1995; Fischer 1995). Ganz allgemein muss daher davon ausgegangen werden, dass in einigen Fällen die „Passung“ oder Korrespondenz kultureller Leitbilder, sozialstruktureller Chancen und Risiken und konkreter Biographiearbeit nicht, nur partiell und zeitweilig gelingt. Einigen Kindern scheint das indes spielend von der Hand zu gehen. Erst auf dem Hintergrund zeitbe-
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dingter interaktiver Deutungspraktiken entscheidet sich, welcher Entwicklungspfad von welcher typischen Biographie begünstigt oder erschwert wird. Manchmal bricht auch die soziale Kommunikation für kurze oder längere Zeit ab, wird unterbrochen oder gestört. Dann fällt die Verlaufskurve besonders bedrückend ins kindliche Leben ein.
5.8 Die Leugnung von Kommunikationsunterbrechungen Die gängigen Sozialisationskonzepte sind entweder explizit oder implizit kommunikationstheoretisch „geerdet“. Diese kommunikationstheoretische Hintergrundfundierung schließt sich eigentlich ohne Schwierigkeiten an das Watzlawicksche Dogma an, man könne nicht nichtkommunizieren (Watzlawick 1969: 53ff.). Auch der Abbruch der Kommunikation sei noch Kommunikation. Aber was für eine! Eine, die oft jahrelange Sprachlosigkeit, Angst, unsichtbare Mauern und eine Spirale des Misstrauens eskalieren lässt. Jedes Gewaltopfer weiß, wie Gewalt lähmen und dass die Mauer des Schweigens manchmal lebenslang nicht überwunden werden kann; eine Form von „paradoxer Kommunikation“, die Watzlawick selbst in den Bereich der Pathologie verweist. Im besten Fall ist sie später, also deutlich nachträglich aufzubrechen (Fischer 1995; Rosenthal 1995). Das zeigt, dass Kommunikation extrem asymmetrisch, perforiert und gestört, wohl auch unterbrochen werden kann (Waldenfels 1998: 114; Soeffner 2004: 67f.) und lässt die herkömmliche Vorstellung stabiler Reziprozität zumindest problematisch erscheinen. Es gibt sicher Ereignisse und prekäre Situationen, in denen jedenfalls die alltagsweltliche Basis-Idealisierungen des „und so weiter“ und „ich kann immer wieder“ (Schütz 1979: 51) nicht nur für einen kurzen Moment außer Kraft gesetzt werden, sondern überhaupt nicht mehr richtig greifen (Endreß 2001: 191). Dies äußert sich in schierer Unzugänglichkeit („Autismus“, „Narzissmus“, „Egozentrismus“) des Kommunikators bzw. Sozialisationsagenten oder des Kommunikationsadressaten oder Sozialisanden. Und die therapeutische „Entparadoxierung“ – z.B. bei traumatisierten Kindern – braucht viel Zeit, Geduld, Empathie und Geschick – und glückt selbst unter günstigen Umständen nicht immer. Auch aus einer gewöhnlichen, „harmlos“ erscheinenden Interaktionsdynamik können unsteuerbare Aufschaukelungsprozesse hervorgehen. Selbst aus kleinsten Anlässen können große Veränderungen entstehen. Kontingenz widerstreitet den Beharrungstendenzen und diese begrenzen wechselseitig den kommunikativen Möglichkeitsraum, führen manchmal gar zur „Null-Option“ (Offe 1986: 100ff.). Der „kommunikative Haushalt“ und die repräsentativen „kommunikativen Gattungen“ sind durchaus historisch begrenzt (Luckmann 2002: 157ff.). Einer gelegentlichen Kommunikationsausweitung kann die Verengung auf dem Fuß folgen. Es bringt daher wenig Klarheit, diese Dialektik von Sozialisation und Desozialisation mit ihrer kommunikativen Dimension einfach ebenfalls mit Sozialisation zu bezeichnen, weil damit das Definiendum verschwimmt. Der Sozialisationsbegriff als sensitiv-heuristischer Begriff kann seine erhellende Kraft künftig nur durch stärkere Begrenzung entfalten. In Analogie zu Luhmanns Begriff der „Kontingenzunterbrechung“ muss man hier auch eine „Kommunikationsunterbrechung“ oder „Systemunterbrechung“ ins Spiel bringen. Viele Ereignisse, Erfahrungen können nie umstands- und restlos in schon bestehende Wissenssysteme transferiert werden. Prozesse der Grenzverletzungen führen oft zu Grenzverschiebungen und einer schleichenden Neuzentrierung „seelischer Zentralität“ (Simmel). Daher taugen teleologisch-
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lineare Modelle der Sozialisation immer weniger und lassen sich auch nur begrenzt „nachrüsten“. Gestützt auf kulturanthropologische Untersuchungen hat Luckmann (1980: 68ff.) vor vielen Jahren in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass Innen und Außen, Zentrum und Peripherie, Sozialität und Individualität, Natur und Kultur keine zeitlosen Kriterien oder rein formale binäre Schematisierungen sind, die sich sozusagen neutral gegenüber ihrer historischen Materialisierung verhielten, sondern inhaltlich und formal beträchtlichen Änderungen unterliegen. Das schafft immer auch unterschiedliche Lagerungen kommunikativer Bedingungen. Auch kommunikationswillige Sozialisanden müssen ihren Kommunikationshorizont heute immer wieder aus Trümmern vergangener Modelle mühsam rekonstruieren. Das trifft heute schon kleine Kinder. Die Serien der Sozialisationsprozesse laufen heute nicht mehr nach einem „naturgeschichtlichen Modell“ ab. Vielmehr figurieren sie eher als ein konkurrenzbesetztes Zusammenspiel in Spannungsfeldern. Erst in passenden Sinnrahmungen können evt. vorhandene Ressourcen entdeckt, abgerufen und zur gesellschaftlichen Mobilisierung und Sozialisation genutzt werden. Es wird oft übersehen, dass Sozialisationsprozesse instabil sind und auch ins Stocken geraten können. Sie setzen einen durchaus voraussetzungsvollen Ressourcentransfer, Allokation und gesellschaftliche Mobilisierung immer schon voraus. Wo endet und beginnt Kommunikation und Sozialisierbarkeit? Übersteht sie auch resistente Monologe, pausenloses Aneinander-vorbei-reden, Einweg-Kommunikation, unbegrenzte Indifferenz, tief eingeschliffene Egozentrik „Egotaktik“, machtgestütztes Imponiergehabe? Kommunikation ist nicht nur, wie Luhmann meint, unwahrscheinlich. Es bleibt vielmehr – auch zwischen Kindern und Erwachsenen – prinzipiell tief umstritten, wo sie beginnt und endet, wo sie bloßer Wunsch oder allseits beklagtes Dialogdesiderat ist (Soeffner 2004: 73f.), wo sie gelungen, als kostbare, neue und außerordentliche Erfahrung in Erscheinung tritt. Kommunikation ist nicht einfach „transzendentale Intersubjektivität“, Informationstransport, sondern ausgetauschtes und wechselseitig gestaltetes Wissen und historisch situiertes Verstehen (Joas 1997: 96f.). Gerade bei Kindern wird erkennbar, dass Kommunikation nicht gleichzusetzen ist mit uneingeschränkter Geschwätzigkeit, dass sie sich auf vielen nonverbalen und verbalen Ebenen bewegen kann und auch den mehr oder weniger gekonnten Umgang mit Geheimnissen umfasst (Valtin 1991; Sichtermann 1994; Doehlemann 1985). Hier zeigt sich die Bedeutung der Kultivierung sozialer Beziehungen als Voraussetzung möglicher Sozialisierbarkeit und Zugänglichkeit für Sozialisation. Wenn diese Voraussetzungen sich oft auch leise und implizit abspielen, sind sie doch – positiv oder negativ – wichtig. Deshalb empfiehlt sich Soziologen auch größte Zurückhaltung, wenn sich explizit der Eindruck eines reibungslosen Sozialisationsablaufs aufdrängt. Aus dem Ausbleiben eines lautstarken Generationenkonflikts kann z. B. nicht, wie das oft geschieht, umstandslos auf uneingeschränkte Generationenharmonie geschlossen werden (Szydlik 2000). Es gibt z. B. offensichtlich lautstarke Unterhaltungen zwischen Kindern und Erwachsenen, die keineswegs wechselseitige Sprachlosigkeit oder Einwegkommunikation ausschließt. Und es gibt ein „beredtes Schweigen“, das mehr aussagt als ein Schwall von Worten. Der „Eigen-Sinn“ der Kinder spielt sich oft in Grauzonen der Kommunikation, und tiefer als jegliche „Rollendistanz“ reichen könnte, in mehr oder minder intensivem „Abtauchen“ und „Ausbruchsversuchen“ ab (Cohen 1977: 94ff., 152ff.; Turner 1989: 75f.). Kommunikationsunterbrechungen stehen also durchaus auf der Tagesordnung vieler Kinder. Erwachsene können sich ihrer Sache nie so ganz sicher sein.
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Sogar kompetente, professionelle pädagogische, therapeutische oder juristische und politische „Aufdringlichkeit“ hat nicht eo ipso nur positive Kommunikationseffekte. Auch hier gibt es sozusagen „iatrogene“, dysfunktionale Effekte. Es treten manchmal als unbeabsichtigte Nebenfolgen reflexive Immunisierungstendenzen auf, die Sozialisation bedrohen. Sie wären wahrscheinlich nicht eingetreten, wenn keine Interventionen erfolgt wären. Professionelle Erwachsene deuten dies oft als persönlichen Affront, was wissenssoziologisch eher als Wissensarrangement mit einer eigenen riskanten Interaktionsdynamik zu beschreiben wäre. Kommunikation ist kein stabiles Immunsystem, das – im Sinne Luhmanns – alle Unordnung, alles Chaos und alle Irritation abzuwehren und in selbstreferentielle Systeme zu absorbieren vermöchte. Ordnung und Unordnung durchdringen sich auch hier ständig. Die Überschichtung manifester und latenter, formeller und informeller Kommunikationsprozesse im Sinne einer erweiterten „doppelten Kontingenz“ (Parsons) schafft jeweils bestimmte Rahmenbedingungen für Sozialisation, von denen nicht länger abstrahiert werden kann (Assmann 1990: 11ff., 25f.). Der Kommunikationszusammenhang ergibt sich nicht einfach aus dem „guten Willen“ oder einer ein für allemal stabilen Perspektivenübernahme oder Reziprozität in den ersten Jahren der frühkindlichen Sozialisation. Die Serien kommunikativer und sozialisatorischer Akte sind in erheblichem Maße unbestimmt und immer häufiger ambivalent. Sie setzen immer wieder – länger oder kürzer – aus und neu an. Unverkennbar treten dabei auch „heillose Risse im Kommunikations- und Bedeutungskontinuum“ auf. Daher wird eine lineare, auch eine multilineare Entwicklung immer mehr zum idealisierten Grenzfall heutigen und wohl auch künftigen Kindseins. Sozialisation wird sozusagen zur „abhängigen Variablen“, die in ein „Kreuzgeflecht von Unabhängigkeit und Abhängigkeit“ verwickelt bleibt (Bude 1997: 202).
5.9 Vergessen und schleichende Dequalifikation Seit einiger Zeit macht die systemtheoretische Vorstellung übersetzungsfreien Operierens und streng binär codierter Grundentscheidungen (gewusst/nicht gewusst), also auch der zwischen sozialisatorischer Interaktion und subjektiv-intersubjektiver Bedeutungsselektion, die Runde (Luhmann 1988; Derrida 2004: 173ff.). Das berührt auch die „stellvertretende“ Deutung, mit der Eltern, Erzieher und Lehrer in „vorspringender Fürsorge“ (Heidegger) Kinder immer ein wenig überfordern und gerade dadurch Sozialisation anzustoßen hoffen. Da aber auch antizipatorisch aufgezeigter Sinn einen Überschuss an Verweisungszusammenhängen des Erlebens und Handelns in sich birgt, findet Wissensproduktion nur als soziale und kommunikative Konstruktion (Luckmann 2002: 69ff.; Esposito 2002; Kieserling 1999: 117f.) statt, die auch dem Vergessen und der Dequalifikation Tür und Tor öffnet und nicht einfach als Wissenskumulation separierter Individuen und ihrer gemeinsamen kognitiven „Synthese“ zu begreifen ist. Wissen wird ausgewählt, muss zur Geltung gebracht und akzeptiert werden, besitzt daher immer auch eine konstruktive Komponente. Wissensinhalte werden bevorzugt und Wissensproduzenten privilegiert, Anderes und Andere ausgeschlossen, Wissen aktiviert oder deaktiviert. Sozialisatorischer Wissenstransfer bleibt daher prekär, weil hier verschiedene soziale Kontexte selektiv-exklusiv zusammengeführt und immer wieder eine riskante Perspektivenverflechtung praktisch gesichert werden muss. Wer sozialisatorisch informieren will, braucht sich noch lange nicht dialoginteressiert zeigen und mitteilen wollen. Und zu weitergehender kognitiv-praktischer Einordnung und
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verstehender „Kosmisierung“ mag ihm sowohl Fähigkeit wie Bereitschaft abgehen (Kieserling 1999: 115, 118). An jeder der vielen perspektivischen und handlungsorientierten Schnittstellen ist gesteigerte Neugier wie Vergessen hochwahrscheinlich und bedingt sich auch teilweise wechselseitig. Aber auch synchron präsentiertes Wissen behält repräsentative Aspekte, bleibt von der Vergangenheit infiziert und drängt zum Ausblick auf die Zukunft, der dennoch zu einem überwiegenden Teil versperrt bleibt. Es handelt sich hier stets um speziell geordnete, temporalisierte „Sinnsplitter“ und fragmentarische Zusammenhangsbildungen der Wahrnehmung, des Handelns und des sozial verankerten Lebens, die sich nicht unbedingt punktgenau entsprechen müssen (Kieserling 1999: 380; 385) und deren Kohärenz lockerer und fester ausfallen kann. Es kränkt zwar die moderne Vorstellung vollkommener Subjektautonomie, wenn man ihr vorhält, dass ihre Wissensproduktion das Vergessen vergessen zu haben scheint und oft allzu vorschnell aus ihren ausgeweiteten Wissensspeichern auf ein besser geöltes „Funktionsgedächtnis“ schließt, obwohl doch leicht ersichtlich ist, dass viele Computerfreaks nicht mehr wissen, wo einschlägiges Wissen gespeichert ist, und sich nicht selten veranlasst sehen, in blinde Abhängigkeit von „Suchmaschinen“ zu begeben, deren Ergebnisse nicht über jeden Zweifel erhaben sind (Assmann 1991: 11ff.) Eine Gesellschaft, die ihre synchron-diachronen Wissensverknüpfungen nicht mehr voll im Blick hat, wird chronisch unsicher, was sie wissen und nicht wissen kann und hat Mühe, nicht nur die Differenz zwischen Normativem und Faktischem, sondern auch die viel elementarere von „normal“ und „anormal“ hinreichend zu plausibilisieren. Wissenssuche, Vergessen und Widererinnerung gewinnen eine neue Funktion in der Kultivierung sozialer Beziehungen (Grundmann 1999: 13, 23, 25). Insofern in herkömmlichen Sozialisationstheorien dieser Zusammenhang unterbelichtet blieb, ja sogar systematisch verschleiert wurde, war das Begriffsverständnis von Sozialisation schon immer fragwürdig. Diese Kultivierung sinnvoller Sozialisation entstammt keinem ideologischen oder musealen Blick, sondern einer lebenspraktischen Kompetenz sinnvoller und konstruktiver Lebensbewältigung, die von kleinen, mittleren und großen Transzendenzen angetrieben wird und nicht konditionierten Reizen entspringt (Luckmann 2002: 55ff.; 1996: 116ff.). Es ist eine immer noch anzutreffende Illusion, Sozialisation vollzöge sich – im Gegensatz zu Erziehung – immer und unter allen Bedingungen automatisch, konstant und gleichmäßig. Tatsächlich aber müssen die subjektive Zugänglichkeit und die objektiven Zugänge immer wieder erst erschlossen und gesichert werden. Das gilt zunächst für die so genannten Sozialisationsphasen, die der primären Sozialisation nachfolgen. Im Lebenslauf zeichnet sich in den letzten Jahren immer weniger eine „Normalbiographie“ klassischen Zuschnitts ab. De- und Resozialisation treten gehäuft auf. Die Erwartungen von mehreren Anläufen und notwendigen, auf Desozialisation reagierenden Resozialisationsschüben scheint nicht selten schon in das ganz normale antizipatorische Sozialisationskonzept aufgrund des „ganz normalen Chaos“ des kindlichen Alltags Eingang gefunden zu haben (Beck 1990: 167ff.). Schwankungen treten aber auch in jeder einzelnen Sozialisationsphase auf. Dass sich ein Kind heute immer gleichen Sozialisationszumutungen bei völlig gleich bleibender Sozialisationsdisposition ausgesetzt fühlt, ist extrem unwahrscheinlich. Manchmal sind Erwachsene zur Sozialisation eher entschlossen, manchmal entmutigt, manchmal sind Kinder aufgeschlossen, manchmal abweisend. Sozialisationsangebot und Sozialisation kovariieren in unterschiedlichem Ausmaß, werden auch durch nicht völlig zweckrationale Selektions- und Exklusionsfaktoren durch unvollständige Information, unvollständige Reziprozität, Ge-
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fühlsschwankungen, Gewohnheiten und zählebigen Mentalitäten und nicht zuletzt auch durch (verschleierte) Marktmacht einzelner Anbieter überlagert. Auch die politische Artikulation der Wissensbedürfnisse und der für notwenig erachteten Qualifikation und sozialisatorischen Delegationsverhältnisse variiert (Hirschman 1974; 1988; 1987). Und dort, wo sich die Produktion kollektiver Wissensvorräte nur noch am Status quo und Besitzstandswahrungsinteressen oder neoliberaler „Freiheit“ zu orientieren droht, ist faktisch – trotz einer üppigen Innovationsrhetorik – die Sackgasse der Stagnation oder eines gedankenlosen Mainstream mit seinen unzähligen Zitierkartellen nie weit entfernt. Endlich ist auch von Funktionalisten zur Kenntnis zu nehmen, dass „reine“ Funktionen nicht einmal das „Funktionieren“, das „Überleben“, das „Wachstum“, geschweige denn ein „gutes Leben für alle“ (Aristoteles) garantiert. Es bedarf immer präfunktionaler und extrafunktionaler Kultivierung sozialer Beziehungen. Empirisch ist die Beobachtung kaum zu widerlegen, dass etwas, was schlecht oder kaum funktioniert, dennoch hartnäckig und erstaunlich lang „funktionieren“ kann (Offe 1986: 97ff.). Die finale „Selbstblockade“ lässt auf sich warten. Sogar destruktive Prozesse wie die ungebremsten CO2-Emissionen in die Atmosphäre funktionieren bislang prächtig. Außerstaatliche Gewaltmärkte funktionieren weltweit immer besser. Funktionen „funktionieren“ nicht automatisch, entstammen umstrittenen Fremd- und Selbstzuschreibungen und der von ihnen in Gang gehaltenen Wissensproduktion. Erst neuerdings wird auf die Dialektik von Wissen und Nichtwissen, Wissen und Vergessen unter dem doppelten Wertgesichtspunkt von Gewinn und Verlust sorgfältiger geachtet (Gadamer 1996: 20ff., 44ff.; Assmann 2002: 400ff.; Halbwachs 1968). Dabei gerät ein einseitiger „soziologischer Präsentismus“ (Assmann) wie ein linearer Evolutionismus – beide sind auch an prominenter Stelle in der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung vertreten – immer stärker ins Feuer der Kritik. Gesellschaftliche Wissensproduktion ist eben etwas ganz Anderes als eine „Informationsverarbeitungsmaschine“, wie dies die kognitivistische Psychologie nahe legt (Flick 1995: 120). Da keine Gesellschaft vollkommene Transparenz des sozialen Verhaltens ertragen würde, besteht wohl auch immer ein variabler innerer Zusammenhang zwischen dem jeweils bestimmten, immer begrenzten Wissen und gesellschaftlichem Vertrauen, Verstehen und sozialer Akzeptanz (Popitz 1968: 8; Hartmann 2001; Lucke 1998; Taylor 1992: 235ff.). Ebenso wenig wie das Problem des Nichtwissens und Vergessens wird das Problem der Dequalifikation, das für immer mehr Menschen in der künftigen Wissensgesellschaft von existenzieller Bedeutung werden könnte, in der konventionellen Sozialisationsforschung ernst genommen. Die Medizin ist schon immer davon ausgegangen, dass Organe, die lange Zeit nicht oder nur selten benutzt werden, zur Hypotrophie neigen. Das wird jedem Patienten nach einer Operation eingeschärft. Doch warum sollten solche Dequalifikationsprozesse sich nur im körperlichen Bereich auffinden lassen? Jede Mutter, die einige Jahre nicht beruflich tätig war, jeder Langzeitarbeitslose weiß um die Realität der Dequalifikation, weil eine Dekompensation der eigenen Wissensbestände ebenso schmerzlich erfahren wird wie das rasche Veralten und die rasende Entfaltung neuen Wissens. Es reicht auch nie, die formalen Grundzüge und die Wissensstandards, Normen, Regeln, Vorschriften oder Gebrauchsanweisungen zu kennen, um qualifizierten Wissenstransfer zu bewältigen. Und oft sind in modernen Gesellschaften nicht einmal überall Wissensstandards vorhanden oder, wenn sie vorhanden sind, in ihrer situativen Relevanz fraglich (Nowotny 1990: 90). Um die tatsächliche Risiken, Chancen, Gefahren, synergetischen Effekte, ihre Kontingenz und Ambivalenz wirklich abschätzen zu können, muss man mit ihnen in prakti-
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schen Situationen souverän umzugehen wissen. Man kann auch unter dem Ansturm immer neuer Informationen unfähig zur Applikation des Wissens werden. Nicht nur Kinder wissen oft nicht recht, was sie mit vorhandenem Wissen anfangen sollen. Und die Aneignung und der geübte Umgang mit bestimmten Qualifikationen lässt andere in den Hintergrund treten. Manche Internetfans gewöhnen sich das Lesen von Büchern ab, obwohl sie sowohl Lesen wie Surfen im Internet im technischen Sinn können. Umfassende Sozialisation kann durch Dequalifikation ins Stocken geraten wie bei bestimmten Gering-Qualifizierten und muss immer neu ansetzten (Hörning 2001: 14ff.). Für die Vermittlung und Sicherung öffentlich definierter Qualifikationen sind in modernen Gesellschaften vor allem soziale Institutionen, in Sonderheit die des Bildungssystems, zuständig. Sie sollen „Qualitätssicherung“ leisten und andererseits über bestimmte momentane, rasch veraltende Qualifikationsdefinitionen durch „formale Bildung“ hinausführen, aber andererseits auch eine gewisse Alltagsnähe wahren und lebenskundliches Orientierungswissen vermitteln. Das ist nicht wenig und birgt die Gefahr der „Halbbildung“ in sich. Zur Deckung des von der Gesellschaft geforderten Wissensbestandes reicht seit einer Reihe von Jahren die schulische Bildung der Kindheit nicht mehr aus. Auch Kinder geraten immer öfter in die kommerziellen Scholarisierungsprozesse (Nachhilfe etc.) außerhalb der Schule. Die Vorstellung einer „natürlichen Auslese“ der Begabungen und Qualifikationen hält einer differenzierten Betrachtung auch heute nicht stand (Stehr 2003: 13, 121), obwohl neben strukturellen Faktoren auch das Schulklima und die Unterrichtsqualität, also eher interaktionsdynamische Faktoren, hier eine große Rolle spielen. Auch der kulturelle Imperativ der Weiterbildung übersieht oft und simplifiziert den Wissenserwerb in seiner Verknüpfung mit sozialer Selektion, Exklusion und sozialen Problemen bei einer wachsenden Zahl von Menschen, denen schon in der Kindheit entscheidende Weichen gestellt werden. Neue Polarisierungen und Wissensklüfte und dauernd mögliche Dequalifikationen sind Probleme, die die gegenwärtigen Kinderkohorten zum ersten Mal als dauerhafte Lagerungsbedingungen in voller Schärfe lebenslang begleiten dürften und die ihrer Sozialisation vielleicht den Charakter eines spezifischen „Generationenzusammenhangs“ (Mannheim) verleiht.
5.10 Implizites Wissen und Latenz Die Lehrpläne und Curricula der Schule scheinen sich heute weniger auf entwicklungspsychologische Auskünfte, sondern auf soziologische Befunde, ökonomische oder hirnphysiologische Empfehlungen zu stützen (Heinzel 2002: 550). Damit gewinnen aber verschiedenartige Vorgänge des vielschichtigen Prozesses kindlichen Wissenserwerbs eine wachsende Bedeutung, die nicht durchweg plan- und kontrollierbar sind. Kinder, die heute nicht nur in der Familie und der Schule lernen, konstruieren eigenaktiv Lernprozesse in einer Situation und Wissensstruktur, die selbst nicht wieder konstruierbar sind. Sie bleiben zu dem noch in den Austausch von Wissen zwischen der „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ verschiedenartiger Wissensorganisationen und institutioneller Strukturen verstrickt. Wie können Kindern gleichzeitig als kompetente Akteure tätig sein und dennoch zutiefst gesellschaftlich bestimmt werden? Zwischen öffentlicher Rhetorik, Zeitdiagnosen und den um Vorherrschaft ringenden oder konkurrierenden Diskursen, der Identitätszuschreibung und der Offenheit für neue
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Anwendungen und Verknüpfungen mit sozialen Bedingungen besteht offenbar ein Zusammenhang (Lüscher 2003: 15). Die hier wirksamen Wissensstrukturen verzahnen sich aber nicht immer reibungslos und ohne Diskrepanzen. Es wird oft übersehen, dass der Transformation von Wissen in Kompetenzen und situationsadäquaten Wissenskonstruktionen insbesondere implizites und praktisches Wissen zugrunde liegt. Es leitet das Handeln von Akteuren, erschließt gestaltende Kraft und begrenzt sie zugleich. Dezentral wahrgenommene Verantwortung, Verständnis für das „Ganze“ und Bereitschaft zum Mitdenken entspringen daraus (Hörning 2001). Wissen wird also unerlässlich, um die durchaus komplexe Alltagspraxis zu bewältigen. Wissen steht nicht einfach zur Anwendung und Verwertung bereit. Man muss es wahrnehmen, aneignen, durchdringen, ordnen, zuspitzen und applizieren, sich mit anderen dabei ständig, umsichtig und relativ kreativ abstimmen. Die alte schematische Unterscheidung und Idealisierung zwischen Theorie und Praxis stimmt in dieser Schlichtheit längst nicht mehr. Wissen ist in vielfältige Wissensordnungen und „Sinnprovinzen“ (Schütz) eingelassen. Gewöhnlich wird Wissen nicht in vollem Umfang – ausgenommen in Wissenskrisen – voll reflektiert, bleibt zu einem hohen Maße (selbst im wissenschaftlichen Wissen) implizit, halbverdeckt, latent oder unbewusst, auch zeitweise vergessen. Die „natürliche Einstellung“ des Alltagswissen, der selbst Wissenschaftler, wenn sie nicht als geistig „gestört“ gelten wollen, zeitlebens verhaftet bleiben, verdeckt allerdings gerade die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit, die dauernden Übergänge und Konstitutionsprozesse sozialer Phänomene in statu nascendi (Honer 2000: 197). Divergenzen zwischen verschiedenen Wissensordnungen, Diskrepanzen, Inkompatibilitäten, Homogenisierungssuggestionen zwischen verschiedenen Wissensperspektiven sind heute ebenso wenig ungewöhnlich wie Inkonsistenzen in ein und derselben Perspektive. Der Rückgriff auf historisches, alltägliches und biographisches Wissen kann ganz verschieden, naiv oder hochreflektiert, kopierend oder höchst originell, seriös oder ironisch erfolgen, aber trotz aller „Geschichtslosigkeit“ ist er in einer Gesellschaft mit einer langen kulturellen Wirkungsgeschichte und synchronen Definitionskämpfen in bestimmten Umfang unvermeidlich historisch. Hier sickert viel implizites Wissen in die aktuellen Diskurse und das Alltagswissen ein. Viele kennen zwar die historischen Quellen ihres impliziten Wissens überhaupt nicht, gehen damit jedoch selbstbewusst und skrupellos selektiv um. Natürlich ist dieses implizite Wissen auch zugleich die Quelle schlimmer sozialer Vorurteile und Ressentiments (Alheit 1994; 2000: 269; Hörning 2001: 15). Es stützt nicht so sehr kognitive Figuren autopoietischer Konstrukteure, sondern Alltagspraktiken und Regelapplikationen, sozialen Takt, Empathie und Umsicht in Interaktionsprozessen; auch einen Blick für Ausnahmen. Diejenigen Erfahrungen, die Gegenstand der Wahrnehmung, des Handelns und der sozialen Reaktionen von Kindern werden, geben ihnen zugleich tiefen Aufschluss über die gesellschaftlichen Bedingungen der Interaktion und Kommunikation; vor allem wenn sie sich strukturell wiederholen. Ausgehend von einem kulturell geprägten „Vorverständnis“ entfaltet sich Wissen als vielschichtiger Wissenszusammenhang. Die impliziten Wissensvoraussetzungen spüren Kinder aber erst, wenn sie auf Missverständnis und zunehmende Verständnisschwierigkeiten stoßen: Vertrautes und vertraute Menschen besitzen erstaunlich viel Fremdheiten. Manche davon kann man nicht auflösen, wenn man nicht Vertrauen und menschlichen Respekt verlieren will. Hier taucht das Problem der richtigen Darstellung von Erfahrungen und Erlebnissen auf, die ja nie einfache Widerspiegelungen momentaner Be-
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troffenheit und Sinneseindrücken sind. Und es fließt auch mancher explizite „Sinnsplitter“ ins habituell geprägte „gedankenlose“ Sprechen und Wissen zurück, den man nicht in jedem Augenblick wieder thematisiert. Auch relativ „verkopfte“ Mitteleuropäer verdanken dem impliziten Wissen meist weit mehr, als ihr Stolz wahrhaben will (Polanyi 1985: 14). Geläufig ist auch der „Trick“, Wissensdiskrepanzen dadurch zu entschärfen, dass man Disparates zu Komplementärem umdeutet und so hermeneutisch zu planieren sucht (Joas 1997: 236ff.; Waldenfels 1997: 108). Sozialisation setzt Wissen voraus, fragt aber nicht, welchen Status es hat, wie es zustande gekommen ist, welche Beziehungen es impliziert, welche Kriterien der Produktion, Verteilung und Validierung herangezogen wurden (Schütz 1971: 5). Auf die Frage der Zugänglichkeit und der Zugänge kann die Sozialisation selbst streng genommen keine Antwort geben. Es geschieht eben, was ohnehin geschieht. Kinder wissen weit mehr als sie explizit zu äußern in der Lage sind (Elschenbroich 2001: 68ff.). Schon um die Bedeutung unterscheidbarer Ereignisse, aber auch einfacher Handlungen ermessen zu können, benötigt jedes Kind mehr als formales Wissen, nämlich eine praktisch erprobte Applikationsfähigkeit und einen kundigen und wachen Blick für Kooperations- und Kommunikationschancen. Jedes Kind weiß auch, dass Regeln nicht alles sind und es immer auch Ausnahmen von der Regel gibt. Unter der Hand lernt es auch, dass die eigene Regelinterpretation oft nicht mit der seiner Interaktionspartner übereinstimmt, aber dennoch oft, allerdings nicht immer „intuitive“ Wissensbrücken geschlagen werden können (Schütz 1972: 63; Honer 2000: 197). In dieser Lage versuchen Kindern zuerst mit implizitem Wissen eine unsicher gewordene Situation zu reparieren und zu normalisieren und erst dann, wenn dies nicht gelingt, lassen sie sich aufs Reflektieren ein.
5.11 Die Ausklammerung soziokultureller Vermittlungsstrukturen Funktionale Differenzierung der Gesellschaft zwischen unterschiedlichen Handlungsbereichen vervielfältigt auch die funktionalen Abhängigkeiten des Einzelnen und die Interdependenzen, ohne dass die gesamtgesellschaftliche Integration und die Inklusion in die zentralen sozialen Institutionen damit gesichert wären. Wenn auf diesem Hintergrund die frühkindliche Sozialisation einsetzt, bietet das demnach noch keine Garantie für schlüssige Kontextualisierungen in die vorhandene Fülle gesellschaftlicher Wissensvorräte und sozialer Praktiken. Aus der Sozialisation von Alltagssolidarität in den nahen lokalen Kontexten folgt heute noch keineswegs, dass dies überlokalen Institutionen zugute kommt, und sie es gebührend registrieren und darauf verstärkend reagieren. Die in der Öffentlichkeit weithin herrschende Anonymität und begrenzt funktionierende Indifferenz ermutigt Kinder nicht gerade, sich von der familienzentrierten Alltagssolidarität abzulösen, generalisierte Normen zu internalisieren und so etwas wie gesamtgesellschaftliche Solidarität für notwendig zu halten (Zoll 1993). Anschlussfähiges, bereichsspezifisches und prozedural korrektes Verhalten reicht aus, um hinreichend enttäuschungsfeste Kommunikation aufrecht zu erhalten. Und doch setzen auch Institutionen ein Mindestmaß an „Systemvertrauen“ voraus, wenn sie nicht immer mehr durch Trittbrettfahrer unterhöhlt werden wollen. Persönliches Vertrauen muss folglich in irgendeiner Weise in gesamtgesellschaftliches Vertrauen transformiert werden können (Giddens 1995; Hartmann 2001). Kognitive Aufklärung über Funktionsprinzipien reicht dafür nicht aus, weil Enttäuschungen über die „nachlässige“
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oder „inkonsequente“ Prinzipieneinlösung kaum ausbleiben dürften. Kann man von der Erwartung heute noch ausgehen, dass es konkurrierenden Sozialisationsinstanzen trotz entgegengesetzter Interessen möglich sein wird, zu einer hinreichend geteilten und übereinstimmenden Realitätsdeutung und erfahrungsgemäßen Handlungsbereitschaft hinzuführen, die Wissen, Praktiken und normativ-moralische Verpflichtung nicht opportunistisch oder repressiv zur Disposition stellt? Weil solche Erwartungen zwar sehr wohl als nachträgliche Rechtfertigung für ein einmal gewährtes Vertrauen, nicht aber unbedingt für die tatsächliche Entstehung notwendigen neuen Vertrauens herhalten kann, scheint es in jeder Gesellschaft und ganz besonders in der modernen Gesellschaft eines ausreichenden Maßes an antizipatorischer Sozialisation zu bedürfen, das in der Lage ist, immer wieder Vertrauen, Verstehen und den Willen zur Verständigung zu generieren. Ein für allemal internalisierte abstrakte Werte reichen hier nicht aus. Der Bedarf an Sozialisation nimmt offenbar immer mehr zu, obwohl die Zahl der Kinder seit langem abnimmt. Es ist freilich auch unklar, ob auch das kindliche Bedürfnis nach Sozialisation zunimmt. Wäre das so, so wäre immer noch unklar, ob der Bedarf dafür ohne weiteres gedeckt werden könnte. Mit zunehmender Handlungsautonomie der Akteure in der Moderne verdunkelt sich offenbar die paradoxe Tatsache, dass auch vergleichsweise autonome Akteure zugleich abhängiger von interdependenten Teilstrukturen werden. Demokratische Partizipation und Inklusion sind von neuer Exklusion begleitet. Damit wäre eigentlich mehr Vertrauen und Solidarität notwenig. Doch dies scheint eher Mangelware zu werden und „bezahlter Indifferenz“ (Luhmann) zu weichen. Die moderne Optionsvielfalt verheißt vollmundig größere Freiheit und stößt doch viele Kinder in die „Modernisierungsfalle“ oder den „Relativierungshexenkessel“: Enttäuschung und Entmutigung vorprogrammiert (Wahl 1989: 16; Kaufmann1995: 168; Berger 1980: 23). Sozialisation wird daher heute nicht stabil und stetig durch die bloße „Entwicklungstatsache“ induziert und in ein entwicklungslogisches Programm verbindlicher „Entwicklungsaufgaben“ hineingetrieben. Sie ist auch weniger denn je ein völlig selbstreferentieller Prozess; jedenfalls für die weitaus meisten Kinder. Erst durch ihren Kontakt mit der Lebenslauf- und Biographieforschung (Elder 1978: 78ff.; Kohli 1991; Hoerning 2000) wurde die Sozialisationsforschung darauf aufmerksam, dass sie sich zugleich mit sozialen Lernprozessen und Prozessen der ohnmächtigen oder machtbewussten Lernverweigerung befasst, die ganz tief biographisch und historisch in der Gesellschaftsgeschichte verankert sind. Heutige Sozialisation wird von Sozialisationsagenten angestoßen, die selbst sozialisiert wurden und weiterhin noch sozialisiert werden. Sie ist nicht ohne ihre historischen Vermittlungsprozesse und -strukturen denkbar und möglich. Jede lineare oder multilineare Sichtweise ist daher eine idealisierte Simplifikation der vielfachen Brüche und Neuanfänge in historischen Konstellationen, die unterkomplex bleibt. Auch die familiale Sozialisation ist historisch-biographisch situiert. Vor 1945 und 1989 erfolgte sie strukturell und prozessual in Deutschland ganz anders als danach, was freilich manche Zeitgenossen und Sozialisationsforscher kaum wahrgenommen zu haben scheinen. Sie ist ebenfalls nicht einfach unmittelbar, wie sie viele Betroffene erleben mögen, sondern zutiefst vermittelt und eingebettet in die spezifische Kultivierung sozialer Beziehungen und diskursiver Kategorisierung der jeweiligen Zeit und markiert auch zeitgebundene soziale Reaktionen auf Bedingungen und Folgen ihres Vollzugs. Die Soziogenese und die sozialen
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Reaktionen darauf schaffen eine ganz spezifische „Generationenlagerung“ (Mannheim) und ein „Kohortenschicksal“ gegenüber sich wandelnden sozialen Institutionen. Es wäre wenig plausibel, davon zu abstrahieren und „Handlungsfähigkeit“ nur formal, unabhängig von solchen „materialisierten“ historischen Bedingungen zu konzipieren. Es ist vielmehr von einer starken Interdependenz formaler und materieller Faktoren auszugehen, die allerdings jeweils unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet werden kann. Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ oder „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ ist nicht gleichzusetzen mit einem determinierenden „Zwang der Verhältnisse“ (Marx), aber ebenso wenig mit einer voluntaristischen oder spiritualisierten „Freiheit“ unabhängig vom Gefälle okkassioneller Strukturen, die weder schlicht einer „List der Vernunft“ (Hegel) noch einer „List der Ohnmacht“ (Foucault) zuzurechnen sind. Sie ist aber jedenfalls die Grundlage dafür, dass Eltern und Kinder sowohl in einer mehr oder minder geteilten und zugleich in einer ungeteilten Wirklichkeit „hausen“ und entsprechend heterogene kulturelle Schemata der Weltinterpretation ins Spiel bringen. Sie stoßen hier nicht immer nur auf Gemeinsamkeit, sondern auch auf wechselseitige Fremdheit. Diese „dialektische“ Mischung aus diachron-synchron strukturiertem Hintergrundwissen der Selbst-, Fremd-, Gesellschafts- und Weltinterpretation macht wahrscheinlich, was Kindern als sehenswert, interessant und real möglich erscheint, in was sich Kinder erwartungsgemäß involvieren lassen, was Kinder betroffen macht, wann, wo Kinder damit rechnen können, Gefühle zu äußern, sich passiv oder aktiv zu verhalten, wo und worin sie sich in der Gemengelage indifferenter und engagierter Verhaltensmöglichkeiten herausgefordert oder nicht herausgefordert zu responsivem Verhalten sehen können, sollen, dürfen, müssen. So gesehen ist die selektiv-exklusive „Transmitterfunktion“ der Familie, allerdings in ganz anderer Weise wie vor einigen Jahren, in spezifischer Form immer noch bedeutend (Ulich 1991: 204ff.). Die hier relevante Zeiterfahrung wird natürlich heute Kindern schon im Elternhaus nicht nur von Familienmitgliedern geliefert. Von Anfang an wird eine Gemengelage von sozialen Zeiten und Eigenzeit erfahrbar (Nowotny 1990; Zoll 1988). Es ist allerdings die Frage, ob Kinder heute die Chance zur „Zeitsouveränität“ wahrnehmen können, wenn ihnen die Indifferenz gegenüber Rhythmisierungen der Zeit und dauernde Flexibilität von allen Seiten als „normales“ Verhalten indirekt empfohlen wird. Es kostet schon mehr Zeit, dessen Folgen aufzufangen. Noch weit mehr Zeit kostet es, Alternativen zu omnipräsenten „Angeboten“ rund um die Uhr selbstorganisiert auf den Weg zu bringen. Auch hier ist die Handlungsfähigkeit der Kinder nicht unabhängig von den vermittelnden Kontext- und Zeitbedingungen zu sehen, die Kinder stets in den sozialen Vergleich und Opportunitätsstrukturen „hineinzieht“ und dabei „völlig freiwillig“ entscheiden lässt, wie viel Zeit sie für was, wie und wem widmen und einräumen. Kulturelle Grundrelevanzen, Prioritäten, Präferenzen der Sozialisationsagenten, die der konkreten Sozialisation vorausliegen und die diese nur in begrenztem Maße selbst erzeugt hat, bilden durchaus wirksame strukturelle Raster, auch wenn auf sie sehr verschieden, responsiv oder nichtresponsiv, reagiert werden kann. Kinder sind daher heute zugleich freier und abhängiger von der Familien- und Gesellschaftsgeschichte. Es gibt keinen Nullpunkt einer bloßen „Entwicklungstatsache“, die nur zur „Erziehungstatsache“ transformiert werden bräuchte. Auch die „Lust am labilen Spiel mit Unentschiedenheit“ (Nedelmann 1997: 162; Stichweh 1997: 169) oder die Tragfähigkeit anonymer „bezahlter Indifferenz“ hat Grenzen, weil sie „Kosten“ und Belastungen nur abzuwälzen und zu externalisieren versucht, die aber irgendjemand über-
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nehmen muss, der sich im entscheidenden Moment nicht als Trittbrettfahrer für indifferent und nichtzuständig erklärt (Hengsbach 1996): Diese Folgen entstehen schon aufgrund eines intergenerationalen, institutionellen, mentalitätsmäßigen, rituellen, kommunikativen Zeitund Ressourcenmangels. Unsicherheit kann nicht unbegrenzt zugelassen werden, weil sie sonst das soziale Leben lähmt. Die „proximalen Zonen der Entwicklung“ und gegenwartsbezogene Handlungsfähigkeit sind nur im Idealfall mit den vorliegenden sozialökologischen Strukturen identisch. Dennoch braucht es – zwischen Globalisierung und Relokalisierung – Zonen des verlässlichen Übergangs und intermediäre Strukturen sozialen Handelns von Kindern, die Sichtbarkeit von Handlungsmöglichkeiten, Nähe, Distanz, Indifferenz und Intimität, Aktualität und Deaktualisierung verlässlich strukturieren. Diese können wohl auf Dauer nur existieren, funktionieren oder wirksam werden, wenn sie mit einer politischen Kultur kompatibel erscheinen, ohne dass sie sich, wie dies die ökologische Sozialisationsforschung unterstellt, auf sozialpolitische Projekte reduzieren ließen. Solche Projekte setzen also immer von ihnen nicht selbst produzierbare soziokulturelle Umwelten und Kultivierungsprozesse oder „kulturelle Stilisierungen“ zwingend voraus, die nicht beliebig austauschbar sind (Böckenförde 1976: 42ff., 185ff.; Kaufmann 1995: 11, 166ff.). Passen sozialökologische Arrangements oder soziale Institutionen und politische Projekte nicht mit temporalisierten Kontextualisierungen zusammen, müssen sie entweder passend gemacht oder preisgegeben werden. Sie verwandeln sich sonst allzu leicht in Patronage-Systeme, verdeckte KlientelNetzwerke oder offene Gewaltmärkte, weil sie sich heute nationaler oder lokaler Kontrolle ohne Mühe entziehen können. Daher bleiben intermediäre Vermittlungsstrukturen vom Engagement und konkreten, revitalisierenden, aber heute nicht unbedingt nur lokalen Interaktionen abhängig (Berger 1995; Srubar 1998: 69f.; Offe 2001: 241ff.). Es ist nicht zu leugnen, dass dies keine einfachen Konkordanz- oder Korporationsstrukturen, sondern komplizierte Vermittlungsprobleme zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Handlungssphären und dem Einzelnen hervorrufen dürfte. Auch Interaktionen, das „Reich primärer Evidenzen“ (Srubar 1998: 69), haben ihre spezifischen Voraussetzungen, die von den Akteuren nur begrenzt und nachträglich mitzugestalten sind. Wenn die verschiedenen Akteure nur noch Ambivalenz erkennen, nicht mehr dialogfähig oder responsiv eingestellt sind, ist Leerlauf, Betriebsblindheit und Selbstblockade eine Frage der Zeit. Sie müssen sich vielmehr in einer „Zwischenwelt“ treffen, die mehr ist als ein „fauler Kompromiss“, weil sie Missverständnis und wachsendes Unverständnis immer wieder produktiv und kreativ aufzufangen und umzubiegen versteht. Erst mit dem Blick auf eine mögliche gemeinsame Zukunft lässt sich häufig Vergleichbarkeit herstellen, Fremdes und Eigenes zuordnen, geteilte und ungeteilte Wirklichkeit verflechten (Waldenfels 1990: 52ff.; Hettlage 2000; 9ff.; Joas 1992: 240ff.). Es gibt zunehmend mehr Interaktionen, die von kurzer Dauer sind, und wo sich die Interaktionspartner fremd bleiben, wenn sie nicht von einem Willen zu zukünftiger „Vergleichbarkeit“ getragen werden, der in gleicher Weise von einer kommunikativen Einstellung wie dem Respekt vor dem alten und neu aufbrechenden Fremden getragen wird. Die tatsächlichen Interaktionen in einer „Zwischenwelt“ setzen keineswegs nur Konsens oder konsensuelle Feststellung des faktischen Dissenses, sondern Zugänglichkeit und vermittelnde Zugänge im Blick auf die Zukunft voraus (Stehr 1991: 183ff.). Hingegen muss ständig zwischen den oszillierenden Prozessen der Über- und Untersozialisation vermittelt werden. Man darf nicht nur Unsicherheit erzeugen und diese funktional zu bändigen suchen, sondern muss vielmehr auch
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neues Vertrauen entstehen lassen, ohne den Anderen subsumtionslogisch „durchschauen“ und vereinnahmen zu wollen (Firsching 1994: 325).
5.12 Divergenz und Konvergenz von Sozialisation und Sozialkontrolle Der Gegenstandsbereich von Sozialisation wurde ursprünglich in der strukturstabilen Vermittlung von Werten, Normen und Lernprogrammen gesehen. Er sollte in der Regel umstandslos in den Zugriff einer funktionstüchtigen Sozialkontrolle der zentralen Institutionen westlicher Gesellschaften führen. Später, im „interpretativen Paradigma“ ging es eher um die Vermittlung eines breiten Wissens zur vorinstitutionellen und institutionellen, pragmatischen Lebensbewältigung und entsprechende Grundqualifikationen der Sozialkompetenz. Die Schnittstellen von Normorientierung, Normpraxis, Sozialkontrolle und extranormativem Wissen werden damit vielfältiger und weniger von den Strukturen her prognostizierbar, obwohl eine strukturstabile Identität weiterhin noch als unfragliches Sozialisationsziel erscheint (Joas 1997: 233ff.). Doch erst wenn man diesen Zusammenhang als geschichtliches und nicht strukturstabiles „Definitionsverhältnis“ begreift, wird man seiner heutigen Dynamik gerecht. Das führt freilich zur theoretischen Konsequenz, dass künftig ebenso wenig von einer irgendwie noch teleologischen Entwicklungslogik unumstößlicher Sozialisationsphasen transkultureller Universalität die Rede sein kann wie von „evolutionären Universalien“ (Parsons), obwohl damit nicht geleugnet werden soll, dass es in den jeweils zu strukturierenden Merkmalsaggregaten auch universelle Aspekte gibt. Doch die Merkmalspalette ist immer viel breiter und tiefer als einzelne Momente. Und sie ist immer nur historisch-biographisch von subjektiv geprägten Akteuren in kommunikativer Auseinandersetzung erfassbar. Jede Unterstellung eines Sozialisationsdeterminismus ist unhaltbar. Sozialisation muss demnach als heuristisch-sensitive Kategorie verstanden werden. Für das jeweilige Sozialisationsergebnis, seine Folgen und Funktionen, das Tempo und die Nachhaltigkeit der Sozialisationseffekte hat es große Bedeutung, wie stark kindliche Akteure in traditionellen Sozialmilieus, Mentalitäten, Habitusformationen, Bildungsaktivitäten, Markt- und Medienabhängigkeiten befangen sind, und in welchem Umfang sie sich in ihren Dispositionen, Stimmungslagen, ihrem Wollen, Handeln und ihrem Argumentieren kontrollieren lassen. Was wir sehen, registrieren, fühlen, wovon wir reden und diskutieren, was wir zulassen oder handelnd aufgreifen, wovon wir uns distanzieren oder womit wir uns identifizieren, das hat viel mit dem zu tun, was wir gelernt oder nicht gelernt haben, wissen oder nicht wissen und wissen wollen. Mindestens genauso wichtig ist jedoch, wie weit wir die manifeste oder latente Sozialkontrolle an uns heran lassen oder ihr ganz selbstverständlich trauen, wieweit wir mit ihren Sanktionen rechnen und sie einkalkulieren. Auch eine normalistische „Abstimmungsgesellschaft“, die ihr Fähnchen in den Wind zu halten gewohnt ist, anscheinend Meinungsumfragen, Rankings etc. besser als ihre Normen kennt und sich nicht selten in ihren Meinungen vor allem nach momentaner sozialer Erwünschtheit ausrichtet, steht unter der Furcht, sich öffentlich zu blamieren, sich vor „Dritten“ als ignorant unzuverlässig, unglaubwürdig, hinterwäldlerisch, zwiespältig, unsympathisch oder unattraktiv zu erweisen (Hahn 1995: 10, 13f.; Lucke 1995: 21). Eine intuitiv gespürte Ablehnungsbereitschaft in der Bevölkerung führt oft zur Selbstzensur und zum Zusammenzucken vor Sozialisationsinstanzen, die immer wieder der Stimmungslage in der Bevölkerung
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und dem Zeitgeist Rechnung tragen. Es gibt daher eine oft unterschätzte Dialektik von Sozialisation und Sozialkontrolle. Die Gesellschaft erspart sich dadurch Kosten und unpopuläre Repression und kann dabei noch das Missverständnis der „Selbstsozialisation“ für sich arbeiten lassen. Die beste Kontrollmanipulation ist die, die auf den ersten Blick und möglichst lange unsichtbar bleibt. Demgegenüber erscheint selbst eine totale Überwachung des Telefons und flächendeckende Videoüberwachung von Straßen und Plätzen als weniger elegante Lösung. Schon zwangloser lassen sich interaktive Medien subtil zur Kontrolle nutzen, die den Eindruck völliger Freiheit wahren (Bröckling 2000; Foucault 2000: 41ff.). Auch Prävention ist ein gutes Instrument – jedenfalls kann sie dies immer auch sein. Eine Fülle „guter Absichten“ lässt sich so instrumentalisieren. Und was sich instrumentalisieren lässt, das instrumentalisiert auch oft tatsächlich kindliches Bewusstsein und kindliches Handeln (Neumann 2001: 91ff.). Jenseits aller Verschwörungstheorien dürfen faktisch ablaufende Kontrollprozesse nicht schöngefärbt werden. Die tatsächliche Sozialisationskapazität ist daher vom Zustand und der Qualität der Sozialisation in ihrem Verhältnis zur Sozialkontrolle abhängig. Da sich die wahrgenommenen Objekte wie die Wahrnehmung und ihre Kriterien – manchmal wechselseitig und gleichzeitig – immer öfter wandeln und in unterschiedlicher Gestalt und Intensität ins Blickfeld treten, können längst bekannte Einsichten, Lebenserfahrungen von Jahrhunderten, aber auch wirklich kreative Ideen vergessen, verdrängt, aus Feigheit und „bestandswesentlichem Opportunismus“ (Luhmann) verraten werden. Wissen kann Informationen quasi umschreiben, rechtfertigen, hervorheben, abwerten etc. Es impliziert mehr als das Registrieren von Informationen. Es wird im Rahmen von Praktiken hervorgebracht, aktualisiert, erinnert (Kohli 1976: 320f.; Fischer 1995; Hörning 2001). Wissen bildet sich nicht nur thematisch-inhaltlich oder formal. Es besitzt immer auch einen „Beziehungsaspekt“ (Watzlawick) und einen Aspekt potentieller Wissenskontrolle und Wissenspolitik (Stehr 2003). In diesem Zusammenhang lösen sich zuweilen in Interaktionszusammenhängen Wertbewusstsein, Konsens, Zustimmung, Loyalität und andere kulturelle Gemeinsamkeiten auf. Es können auch neue entstehen oder alte modifiziert erinnert werden. Eine komplizierte Erlebnisschichtung bildet so den Horizont konkreter Sozialisation. Sozialisation und Sozialkontrolle können auf längere oder kürzere Sicht konvergieren oder divergieren, wenn sich das Alltagswissen und das professionelle Wissen und die Expertise pluralisieren. Dabei wird das Wissen der einen Seite aus der Sicht der anderen als Nichtwissen eingestuft und oft auch bekämpft. Sozialkontrolle kann insofern Druck ausüben, als sie signalisiert, etwas müsse schleunigst vergessen oder verlernt werden (Vollmer 1996: 224, 330). Macht weigert sich nicht selten, sich zu erinnern oder zu lernen. Auch „fundamentalistische“ Gegenreaktionen sind beobachtbar, die sich nicht scheuen zu fordern, voraufklärerisches Wissen sei in die geplante Sozialisation wieder aufzunehmen. Ob Divergenz oder Konvergenz zum Lernen oder zu Lernverweigerung genutzt werden, inwiefern dies Akteurnetzen gelingt, hängt davon ab, ob eine soziale Konstruktion von Kindheit hervorgebracht wird, die Wissensdifferenzen nicht als Lernblockaden, sondern als kulturelle Bereicherung auszuweisen vermag. Ob sie institutionelle Reaktionen ermöglicht, in denen ihre Protagonisten einen neuen, ungewohnten Blick auf die Kinder in ihrer lebendigen Fülle werfen, ist durchaus fraglich. Dabei gibt es auch die groteske Situation, dass Organisationen mit schlampiger Abarbeitung von Entscheidungsproblemen über die besseren Ressourcen verfügen, mit künftigen Problemen zu Recht zu kommen als korrekt funktionierende (Vollmer 1996: 332, 334, 336).
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Bei der Beobachtung des Verhältnisses von Sozialisation und Sozialkontrolle kann man immer wieder auf Diskontinuitäten und Divergenzen stoßen. Auch Meinungsführerschaft und die herrschende Sprache als Teil der sozialen Kontrolle (Schweizer 1973) können – anfangs ganz harmlos – allmählich unterwandert werden und ihre Kontrollmacht verlieren. Es steht allerdings noch dahin, ob unsere Gesellschaft auf dem Weg zur „geschwätzigen Gesellschaft“ ist, die sich selbst nicht mehr ernst nimmt oder über den Weg traut (Knoblauch 1996: 7ff.). Wenn kindliche Akteure hier auch nur begrenzt mitspielen, liegen die Schwellen ihrer ablehnenden Reaktionen recht hoch. Ein Blick auf die kindlichen Entscheidungen zeigt, dass die individuelle Entscheidung nicht nur das Resultat einer Unzahl von Abstimmungsprozessen darstellt, sondern häufig auch von einem Mangel an Wissen und Kriterien der Auswahl gekennzeichnet ist. Sowohl die Interessen Dritter wie eigene Erfahrungen spielen hier eine große, selektiv-exklusive Rolle. Die Autonomie des Selbstbildes ist aber nicht gleichzusetzen mit der Autonomie des Handelns (Oerter 1993; Abels 1993: 47). Während Sozialisation individuelle Dispositionen zu schaffen sucht, konzentriert sich die formelle Sozialkontrolle ganz wesentlich auf die Sicherung von gate-keeping-Effekte (Behrens 2000: 101ff.), also darauf, wer über Sozialisationsarrangements wacht, wer ihre Gewinn- und Verlustbilanzen (nicht nur politisch) konditioniert. Sozialisation bleibt eingebettet in den Lebenslauf als (Quasi-) Institution unter anderen Institutionen und in die historische Generationenbildung (Fischer 2000: 227ff.). Für Kinder besteht heute ein wachsender Druck zur Selbstdarstellung und Inszenierung, auch weil sich die Gruppenbildung selbst aufgeweicht hat und Kinder eher in lockeren Interaktionsgeflechten und relativ diffusen Interaktionsfeldern leben, bestehen kaum gängige Kollektivzwänge.
5.13 Veränderlichkeit und temporale Schwankungen der Grenzen der Sozialisation Sozialisationstheorien arbeiten in der Regel mit undurchschauten Konstanzannahmen, selbst wenn sie pausenlos von sozialem Wandel sprechen. Sie leugnen dann nicht inhaltlich Varianz, behaupten aber, der Entwicklungsfortschritt und Zuwachs an Komplexität in der Sozialisation sei nicht kumulativer, sondern strukturell-teleologischer Art (Hurrelmann 1991: 3ff.). Auffällig ist freilich, dass in vielen Theorien von einem ständigen Wandel von Spannungen und Konsolidierung, Krise und neuer Entwicklungsgestalt ausgegangen wird. Das ändert aber selbst dann wenig an der teleologischen Qualität und irreversiblen Struktur der Sozialisationsphasen, wenn von einer lebenslangen Entwicklung ausgegangen wird. Entweder eine strukturell stabile Rollenkompetenz oder eine strukturstabile Identität ist Ziel aller Sozialisation. Weil hier auch eine normativistische Fixierung von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik ganz im Sinne der strengen methodischen Unterscheidung Poppers von Entstehungs-, Geltungs- und Verwertungszusammenhang vorgenommen wird, bleibt die voraussetzungsvolle Konstitutionsproblematik von Sozialisation selbst dann unberücksichtigt, wenn empirische Untersuchungen längst eine historische „Infektion“ der Entwicklungslogik durch die Entwicklungsdynamik festgestellt haben und eine Ergänzung und Korrektur der entwicklungslogischen Strukturtheorien durch „performatorisch gerichtete Theorien“ nahe legen (Siegert 1979: 18f.).
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Zumindest eine wissenssoziologische Beschreibung verträgt sich nicht mit einer dogmatisch-normativistischen Dichotomie von Logik und Dynamik, Kompetenz und Performanz, Norm und Faktizität, Wissen und Nichtwissen, Ordnung und Unordnung, Sozialisation und Desozialisation, weil sich hier immer Übergänge, Wechselwirkungen und Rekursivität abzeichnen, und sich Extremwerte nur als Grenzbegriffe legitimer Idealisierung und idealtypischer Modellierung dann bewähren, wenn sie nicht reifiziert und substanzialisiert werden. Soziale Phänomene bleiben immer eingebunden in das Spannungsfeld und Wechselspiel von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, Strukturierung und Entstrukturierung. Unterschiedliche Spektren „gesättigter“ oder fragmentarischer Entwicklungsund Biographieverläufe zwischen Anpassung und habitueller Distanz sind zu erkennen (Hoerning 2000). Es kann keine Rede davon sein, dass es ausreicht „Realität anzueignen“, wenn sie oft nicht einmal deutlich erkennbar und transparent vorliegt. Erst wenn es gelingt diese intransparente Gemengelage mit plausiblem Wissen zu durchdringen, kann ich sie überhaupt aneignen (Weick 1995: 91ff.). Dabei machen zuweilen schon Kinder die Erfahrung, dass zwischen kreativen Neuanfängen und dem, was laufend als „Innovation“ suggeriert wird, bedeutende Unterschiede liegen und viele „Innovationen“ nur modische Spielereien darstellen, die ihren Sinn und Wert rasch verlieren oder sich sogar als Reprise von vorgestern herausstellen (Vollmer 1996: 326ff.; Douglas 1991: 113ff.). Über- und Unterinstitutionalisierung sind aber heute nicht Ausnahme, sondern Regelfälle. Zusätzliche – aus Beobachterperspektive vielleicht redundante – Strukturierungen, eben soziale Konstruktionen, werden immer wieder notwendig. Manchmal wird sogar davon ausgegangen, dass Sozialisation einen gewissen Realitätsverlust als kleineres Übel hinnehmen müsse (Vollmer 1996: 329). Sozialisation erlebte auch dadurch in den letzten Jahren zahlreiche Schwankungen, weil sie in gesellschaftspolitische Kontroversen und Veränderungsschübe hineingezogen wurde, bei denen fast nie das herauskam, was ursprünglich intendiert wurde (Stehr 1991: 144) Sie verhält sich auch deshalb spröde gegenüber Stabilisierungsbemühungen, weil sie flankiert wird von verwirrenden Situationsveränderungen und Institutionenwandel. Sozialisation wie Erziehung beruht geradezu auf der Langsamkeit ihrer Wirkungen, ist deswegen aber keineswegs zeitresistent. Und natürlich können sich kluge Kinder heute sozusagen in die vielen toten Winkel der verschiedenen Sozialisationsagenturen flüchten und sich so eine Zeit lang in begrenztem Maße ihrem Sog entziehen. Und sie tun das wahrscheinlich öfter, als dies Erwachsene in ihrer „seligen Unwissenheit“ annehmen. Manchmal müssen sogar Gerichte viel zu spät feststellen, dass noch gar keine solide Erstsozialisation stattgefunden hat und verordnen Resozialisation, obwohl Praktiker wissen, dass zunächst einmal Primärsozialisation anstünde. Sozialisatoren machen sich heute auch manchmal ihr Leben deshalb schwer, weil sie den Sozialisationsprozess einer endlosen Debatte aussetzen, was „optimale Förderung“ bedeuten könne. Dagegen setzen andere auf einen hurtigen Dezisionismus, der sich schon dadurch im Recht fühlt, dass er kurzen Prozess macht und „Null Toleranz“ verkündet. Dadurch werden allerdings manche Kinder auch nicht definitiv daran gehindert, Ansätze egozentrischer Bedürfnisdefinition und -befriedigung zu überwinden und zu einer überraschenden Form moralischer Selbstbindung vorzustoßen (Nunner 1999: 299ff.; Taylor 2002: 218ff.). Wenn sich Sozialisationsziele und -mittel wie auch die Sozialisanden dauernd, einmal mehr, einmal weniger wandeln, müssen anscheinend Sozialisationsinstanzen zufrieden sein, wenn sie im Spiel bleiben und von Zeit zu Zeit den einen oder anderen Pol zu
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stabilisieren vermögen. Sozialisation ist nur in der Lage „soziale Tatsachen“ zu institutionalisieren, wenn sich diese einerseits in der alltäglichen Lebenspraxis und Biographie bewähren, andererseits sich hinreichend „intrinsische Motivation“ internalisieren lässt (Abels 2001: 133). Das ist weit mehr, als eine abstrahierende Wertuniversalisierung leisten kann. Deshalb kann eine Sozialisation eher institutions- oder situationsbezogen ausfallen, instabiler oder stabiler erscheinen (Böhnisch 1996: 189ff.). Manche Kinder lieben auch das Spiel auf und mit Grenzen. Darauf kann man mit dem Versuch der Kommunikationsintensivierung, der Repression, der (gespielten) Indifferenz oder einer wechselnden Mischung antworten, die einen größeren oder geringeren Erfolg kurz- mittel -und langfristig haben können; je nach der öffentlichen Resonanz in kollektiven Erfahrungs- und Wahrnehmungsschemata (Eder 1989: 31). Kinder können sich überraschenderweise auch wieder sehr konformistisch verhalten. Die meisten Kinder tragen beide Orientierungen mit sich herum und reagieren je nach Bedarf. Es genügt daher künftig nicht mehr, Durchschnittseffekte nach dem Grad der Statuskristallisation abzufragen und solche durchschnittliche Normalität danach zu beurteilen, ob sie sich einer Statuskonsistenz fügen. Die heutige soziale Differenzierung der Sozialisationsinstanzen, die Pluralisierung der Lebensformen, die Ausdehnung und Differenzierung der lebenslangen Bildungsprozesse, die Medien- und Konsumkonjunkturen und die Ausdehnung der Desozialisationsvorgänge erzeugen permanent und überall Statusinkonsistenz. Die Grenzen der Sozialisation zerfließen. Sozialisation ist kein einfacher Prozess sondern höchst riskant. Luhmann (1984: 50) geht sogar davon aus, dass soziale Systeme heute in relativ hohem Maße Unsicherheit benötigen. Es wäre daher zu beachten, dass das Verhältnis gesellschaftlicher Inklusion und Teilnahme immer wieder schwankt (Bude 2001: 1255ff.). Sozialisationsunternehmer können keineswegs immer und unter beliebigen Bedingungen Ansprechbarkeit der Sozialisanden einklagen. Und sozialisationswillige Kinder können nicht immer auf eindeutige Sozialisationsangebote rechnen. Hier müssen von beiden Seiten anstrengende Abstimmungen vorgenommen werden. Auch die Grenzen der Sozialisation bleiben verschiebbar.
5.14 Anthropologische und modernisierungstheoretische Konstruktionsnotwenigkeiten Trotz aller Schwankungen zwischen Über- und Untersozialisation, Sozialisation und Desozialisation versuchen sich natürlich Sozialisatoren wie Sozialisanden ein Bild über die Schwankungen, bestehenden Resistenzen und Stabilisierungsmöglichkeiten zu machen und daraus konstruktive Konsequenzen zu ziehen. Wie lassen sich hier Konvergenzen und Divergenzen, Variabilität und Stabilität, Vervielfältigungstendenzen und Tendenzen der Deutungsmonopolisierung, Differenzen und Gemeinsamkeiten aufeinander abstimmen, beobachten, beschreiben, erklären und praktisch sozial sichern? Können sie sich wenigstens auf anthropologische und/oder modernisierungstheoretisch fundierte Konstruktionsimperative stützen, oder sind sie nur negative Ergebnisse der heutigen Sozialisationsschwäche und nur ephemer? Kann die anthropologische Verfassung des Menschen auch in der Moderne mit einer gewissen Verlässlichkeit Validierungsprozesse in Gang setzen oder freisetzen (Luthe 1997: 223ff.), die es erlauben, Ambivalenz „verantwortlich“ auszubalancieren, ohne den Weg zur Kanonisierung und Systemfixierung einschlagen zu müssen? Die Hoffnung ist
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also, dass es transkulturelle oder epochal invariante Grundlagen der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit gibt, die eine Art Erklärungsfolie abgeben könnten. Der Mensch kann heute biologisch nicht mehr trennscharf vom Primaten unterschieden werden. Die gegenwärtige Biologie gibt Anlass und Grund zur Vermutung, dass die klassischen Unterscheidungsmerkmale (Sprache, Vernunft, „extrauterine Frühgeburt“, „zweite Geburt“, aufrechter Gang) durch neue Forschungsbefunde relativiert werden. Offensichtlich müssen sich die Menschen damit abfinden, sich durch eine immer geringere Zahl genetischer Merkmale zu unterscheiden. Statt einer scharfen Differenz Tier/Mensch drängt sich eher die Vorstellung eines breiten „Tier-Mensch-Übergangsfeldes“ auf (Eßbach 1996: 79). Das jeweilige „Menschenbild“ hängt demnach stark vom Stand der Interpretation phylogenetischer Befunde ab. Immerhin hat sich aber die anthropologische Formel Plessners von der spezifisch menschlichen „exzentrischen Positionalität“ als erstaunlich haltbar erwiesen (Plessner 1964: 49ff.). Daraus lässt sich aber keine inhaltlich oder strukturell überzeitliche Wesensbestimmung ableiten. Die Geschichtlichkeit des menschlichen „Wesens“ führt zu einer Historischen Anthropologie, die sich im Spannungsfeld der Bestimmung des Menschen als „Mängelwesen“ (Gehlen) und als „Möglichkeitswesen“ (Musil) bewegt. Als transkulturelle Quintessenz wird immer wieder hervorgehoben, dass kein Kind die Zeit zwischen Geburt und Kleinkindzeit ohne seine Eltern oder ähnliche ständige Bezugspersonen überleben könnte. Kinder bräuchten auch dann noch dringend jahrelangen Schutz, Fürsorge, Pflege und Erziehung. Vor allem die Bindungstheorie betont, dass für die Entwicklung des Kindes vor allem konsistente Muster der emotionalen Bindung in der Familie unerlässlich seien (Hassenstein 1978). Doch bleiben diese Urteile eigentümlich pauschalierend und undifferenziert und ziehen überhaupt nicht in Erwägung, dass selbst liebevolle Eltern ihre Kinder immer wieder kognitiv und emotional verunsichern, und sie übersieht auch allzu deterministisch ein häufig vorfindliches Kulturgefälle in den Erziehungs- und Pflegepraktiken, die eine Balance zwischen Bindung und Autonomie, Kontinuität und Diskontinuität schwierig macht (Benedict 1978: 195; Bilden 1991: 246). Mit Recht fordert Joos auch eine Differenzierung in psychosozial-physischer inhärenter und struktureller Hilflosigkeit der Kinder (Joos 2002: 44ff.), die kulturell und historisch bedingt sei. Kinder und Erwachsene unterscheiden sich immer und haben doch als Menschen vieles gemeinsam. Doch diese Differenzen und Gemeinsamkeiten werden kulturell und historisch ganz unterschiedlich betont. Einmal ist der Unterschied nicht so groß, dann ist er aber wieder gewaltig. Kinder und Erwachsene suchen in ihrer geschichtlichen Handlungspraxis, in der sie durch Differenzen und Gemeinsamkeiten in gleicher Weise verbunden sind, die jeweils „angemessene“ Form und Ausprägung. Das ist weit mehr als eine bloße kulturelle Überformung einer plastischen natürlichen Substanz. Es geht hier vielmehr um die Gestaltgebung in spezifischen sozialen Relationen, die ohne diese völlig amorph und vieldeutig bliebe. Es geht auch um Gestaltwerdung im Sinne eines Durchdringungsverhältnisses von Natur und Kultur, das sich sowohl phylogenetisch wie historisch betrachten lässt. Zusammenhang und Differenz im Kultur-NaturÜbergangsfeld bleiben keineswegs konstant und ungeschichtlich. Sie verschieben sich immer wieder (Luckmann 1980: 56ff.). Es erscheint daher höchst problematisch, ohne Einschränkung von einer universalen, linearen, entwicklungslogischen, also historisch unvermittelten Kompetenzentwicklung auszugehen, die ebenso unvermittelt auf eine situative Performanz abgeleitet wird. Und diese ist doch durch eine historische alltägliche Lebens-
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führung und durch Biographieversuche zutiefst qualifiziert (Bohnsack 1999: 66, 96; Eßbach 1996: 74). Es sind daher stets nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von strukturellen Entwicklungsvarianten möglich. Wenn nur ein einziger Verlauf erkennbar ist, wäre das eher ein Alarmzeichen einer zwanghaften Entwicklungsverengung und Persönlichkeitspressung. Eine soziologienahe Anthropologie muss sich daher als historische Anthropologie verstehen (Lepenies 1971; Geulen 1991: 20f.; Rehberg 2001: 71). Immer wieder tauchen anthropologische Grenzen auf. Grenzen und „seelische Zentralität“ (Simmel) des Menschlichen sind aber vor allem in der Moderne niemals eindeutig und unverrückbar. Die Art und Weise, wie sich heute Menschen aufführen und darstellen, sind nicht nur unterschiedlich. Sie sind oft völlig widersprüchlich. Nicht selten haben Menschen auch die Neigung, dies auch Anderen zu unterstellen oder sich hinter die Fassade „bezahlter Indifferenz“ zu flüchten. Heterogene Kulturen legen den Eindruck nahe, als zerfließe alles Feste. Sie neigen dazu, die Gemeinsamkeiten und zukunftsgewandten Verständigungsmöglichkeiten zu unterschätzen oder zu verdecken. Kulturelle Konsistenz erfordert jedenfalls heute wesentlich mehr empathische und zugleich respektvolle Verständigung; nicht nur über „letzte Entscheidungen“ (Schluchter 1997: 307ff.). Grenzen einer historischen Anthropologie liegen einmal in der stets problematischen Epochendifferenzierung und der Gefahr eines Historismus oder Soziologismus, der das Kind und seine Handlungsfähigkeit einseitig von seiner Aktivität her sieht und die Kehrseite einer „passiven Intentionalität“ und Responsivität nur als träge Passivität missversteht und verdrängt. Es kommt dann eine gewisse Schieflage in die Betrachtung, die „Werden“ und „Sein“, „Opfer“ und „Täter“ abstrakt polarisiert und eben nicht in ihrer wirklichen Raffinesse, Differenziertheit und Freiheitsgraden theoretisch zu beschreiben vermag. Wenn man diese aber nicht leugnet, dann kann man ruhig sagen, dass es durchaus anthropologische Gründe für die Notwendigkeit sozialer Konstruktionen gibt (Honneth 1980). Die Modernisierungstheorie geht freilich davon aus, dass nicht anthropologische Grundfragen, sondern die zugespitzte moderne Gesellschaftsentwicklung Gründe für soziale Konstruktionen liefert. Optionen und Dispositionen der Menschen haben sich so erweitert, die Handlungsbereiche soweit entkoppelt, dass der einzelne Mensch sich gezwungen sieht, eine Auswahl zu treffen und doch in möglichst vielen Inklusionssystemen präsent zu sein, auch seine Flexibilität und soziale Mobilität ständig unter Beweis zu stellen. In der „reflexiven Moderne“, die keine Halbheiten mehr duldet, wird er auf sich zurückgeworfen und muss sich neu erfinden. Neben dieser radikalen Variante, die oft aus der Beckschen Individualisierungstheorie hervorscheint, gibt es eine eher evolutive, die dem Menschen in den „evolutionären Universalien“ zentraler moderner Institutionen immerhin eine beachtliche Selektionschance und demokratische Handlungsspielräume verheißt. Zapf verzichtet zwar auf das quasi geschichtsphilosophische Konzept „evolutionärer Universalien“, sieht aber doch auch auf längere Sicht keinerlei Alternative zu „Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft und Wohlstandsgesellschaft mit Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum“ (Zapf 1991: 36; Beck 1991: 40ff.). Geraten nun demnächst spätmoderne Gesellschaften ins „Medium des Sichvoraus-seins“ (Gamm 2000: 188ff.; Schulze 2003), gar der Hyperkonstruktivität? Modernität findet bei Habermas (1981; 1985) im kommunikativen Handeln von Akteuren mit „postkonventioneller Identität“ ihre adäquate Verkörperung. Hier können Erfahrungen nur noch über prozedural-diskursethische Normen ihre Verbindlichkeit gewinnen. Philosophie, Soziologie und Psychologie können sich bei der Begründung einer Moral gegenseitig stützen und die Vollendung des „Projekts der Moderne“ anmahnen. Die so
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gewonnenen moralischen Kriterien ermöglichen zugleich eine Kritik der Entgleisungen des Projekts der Moderne. Die Menschlichkeit des Menschen ist damit nicht inhaltlich, aber strukturell vorgegeben durch universalpragmatisch-strukturgenetische Stufen der kognitiven, moralischen und sozialen Kompetenzentwicklung und Selbstverwirklichung, die sich jeweils historisch darzustellen hat. Es ist jedoch fraglich, ob sich die Moderne als teleologisches Projekt zur Gänze verstehen lässt (Kaufmann 1986: 283ff.) und ob hier die „transzendentalen Bedingungen“ einer historisch bedingten Konstruktionsnotwenigkeit des Verhältnisses von Diskontinuität und Kontinuität richtig getroffen werden. Da sich Alltagskonstruktionen der Wirklichkeit und sozialwissenschaftliche Konstruktionen „zweiten Grades“ in der Moderne immer schon sowohl vorausgesetzt wie wechselseitig relativiert haben, ist eine entwicklungslogischlineare Konstruktionsschiene, die von einer „unverzerrten“ Reziprozität der Perspektiven und historisch ungebrochenen Intersubjektivität ausgeht, in der Gefahr, zu einer aprioristischen, empiriefernen Subsumtionslogik zu werden. Soziale Konstruktionen in historischen Konstellationen gelingen weder in einer entwicklungslogischen „Autopoiesis“, noch sind sie dazu da, gesellschaftliches Chaos quasitechnokratisch zu eliminieren. Vielmehr schaffen sie relative Klarheit auf mittlere Sicht in der Gemengelage von Ordnung und Unordnung, von geteilter und heute immer auch ungeteilter Wirklichkeit. Sie sind nicht technischer Art, sondern immer kommunikative Wissenskonstruktionen (Luckmann 2002: 201ff.). Ihr Hauptakzent liegt nicht darin, eine perfekte „Ganzheitlichkeit“ gegenüber partikularer Objektivierung zu insinuieren, sondern „Kosmisierung“ auf ihre Doppelform von Ressourcen und Unsicherheit, von Gewinn und Verlust von Sinnfragmenten mittlerer Reichweite transparent zu machen. Und die Kindheitssoziologie könnte genau solche alltagsweltlichen „Selbstimplifikationen“ (Kieserling) kritisch (re-)konstruieren (Lüscher 2003; Honig 1999).
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6.1 Implikationen eines Paradigmawechsels Gute Gründe sprechen dafür, die Neukonzeption der Kindheitsforschung nicht nur als Theorienwechsel sondern als viel grundlegendere paradigmatische Blickverschiebung zu begreifen ist, die letztlich im historischen Wandel wurzelt. Es findet mehr als ein Austausch einer eher strukturtheoretischen durch eine eher handlungstheoretische Begründung oder umgekehrt statt. Der gesamte wissenschaftsphilosophische Hintergrund und die Identität des Faches als einer Hilfswissenschaft der klassischen Kinderwissenschaften, die theoretischen und methodischen Präferenzen (inkl. der wissenschaftstheoretischen „Rehabilitation“ der qualitativen Sozialforschung) und die methodischen Optionen sowie die gesteigerte Kooperation bestimmter „scientific communities“ ändern sich von Grund auf (Hengst 2005: 9ff.). Die neue Kindheitssoziologie ist nur noch in zweiter Linie an rein individueller Sozialisation interessiert und schiebt die Thematik ihrer Rahmenbildung und Gegenstandskonstitution in den Vordergrund. Kinder werden demgemäß nicht mehr als passive Entwicklungs- und Sozialisationsadressaten, als defizitäre Wesen, sondern als von Anfang an andere, aber vollwertige Subjekte und gesellschaftliche Akteure verstanden. Wichtig ist nun nicht mehr nur ihre zukunftsbezogene Entwicklung, ihr Aufwachsen und „Werden“. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht bedeutungsvoller erscheint ihr „Hier-und-Jetzt“, ihr „Sein“. Der Paradigmenwechsel zeigt, dass der „soziologische Präsentismus“ (Assmann) mittlerweile in der Tat die früher fast rein pädagogisch-psychologischen Kinderwissenschaften stark durchformt hat. Kindheitsforschung ist heute vorrangig soziologische Kindheitsforschung mit wachsender Affinität zu kulturtheoretischen Fragestellungen. Im Zentrum der Forschung steht nicht mehr das (gattungsspezifische) individuelle Kind, sondern die Mobilisierung oder Demobilisierung der Bevölkerungsgruppe „Kinder“ in ihrer heterogen gewordenen Lebensphase, ihrem Kinderalltag und ihrer Kinderkultur, die von marginalem oder hyperkritischem gesellschaftlichen Interesse und Aufmerksamkeit begleitet sein kann. Durch diese paradigmatische Wende kommt es zu erheblichen Verschiebungen der Wissenschaftsorganisation. Gewandelte theoretische Präferenzen und ein anderes Theorienvokabular sind eng mit methodologischen Revisionen verknüpft. Inhaltlich werden Probleme der gesellschaftlichen Platzierung in vorfabrizierten funktionalen Qualifikationsrastern zweitrangig. Aufgewertet werden indes Probleme des praktischen Umgangs mit gesellschaftlicher Selektion und Exklusion eines gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozesses, den man mit Gurvitch (Hahn 1995: 364) als kontinuierliche „Bewegung der Strukturierung und Entstrukturierung“ kennzeichnen kann. Methodologisch wird statt der reinen Beobachterposition die Teilnehmerperspektive oder der Wechsel und das Changieren zwischen beiden stärker bevorzugt. Kinder gelten als seriöse „Forschungssubjekte“ (Zinnecker 1996).
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Die Paradigma-Abhängigkeit zeigt sich darin, dass es heute immer zugleich zuviel und zu wenig Informationen und Wissen über Kindheit und entsprechende Deutungsmöglichkeiten gibt. Und es gibt genau genommen keine wirkliche Chance zu einer Metatheorie als überragende Instanz in Interpretationskonflikten. Wohl aber gibt es eine mehr oder minder rationale Option für ein heuristisch fruchtbares Paradigma, das weitere theoretische Differenzierung gestattet. Ein solches Paradigma bestimmt zwar nicht im Einzelfall, welche Theoriesprache in welchem Forschungszusammenhang angemessen ist, wohl aber, was in einer bestimmten Gesamtperspektive als relevant und irrelevant, komplex genug oder unterkomplex, richtig und falsch, angemessen oder unangemessen gelten kann. Daraus entspringen auch ganz bestimmte Vorlieben für bestimmte Forschungsfelder und -schwerpunkte. Übersehen wird oft, dass die Paradigmenbindung auch eine soziale Praxis einer Forschergemeinschaft mit zwanglosen Kommunikations- und Übersetzungsmöglichkeiten begünstigt (Kuhn 1974; Reckwitz 1999: 9ff.). Eine Strukturierung des Wissens setzt im Alltagsbereich soziale Konstruktionen, in der Wissenschaft umgangssprachlich gebundene Paradigmata und darauf aufbauende „Konstruktionen zweiten Grades“ (Schütz), Theorien, voraus. Paradigmen überzeugen eher durch ihre interne heuristisch-explorative Fruchtbarkeit und dadurch, dass sie möglichst wenig Unterstellung simpler Komplementarität benötigen, stattdessen aus eigenen Mitteln ihre Forschungsregister durch originelle „Supplemente“ (Derrida) souverän erweitern. Gamm spricht in diesem Zusammenhang von einer Logik der Repräsentationen, die durch keine repräsentative Statistik ersetzt werden könne (Gamm 1994: 315ff.). Sie ist von elementarer Bedeutung für die theoretische Argumentation. Nur dadurch (und nicht schon durch das Verfahren der Falsifikation) können theoretische Selbstimmunisierung, „naturalistische Fehlschlüsse“ und fragwürdige Konstanzunterstellungen gegenüber sozialen Prozessen vermieden werden. Weil jede Theoriesprache – manchmal sozusagen in ihrem Rücken – lebensweltlich infiziert bleibt, sie in ihrer Argumentation wohl forschungspragmatisch, aber genau genommen nie erschöpfend „gesättigt“ ist, also des Abbruchs weiter möglicher Beobachtung, Beschreibung, Diskussion überführt werden kann, bewahrt nur eine Reflexion auf das leitende Paradigma vor undurchschauten Idealisierungen und einem sich einschleichenden reifizierenden Dogmatismus. Endgültig ist ja eine Theorie nie zu falsifizieren (Lakatos 1974; Kelle 1994; Putnam 1991). Es gibt für die jeweiligen Anhänger eines Paradigmas oder einer sich nahe stehenden Theoriegruppe keine Aussage, einen Begriff, eine Metatheorie, die gleichsam neutral oder restlos theoriesprachlich definierbar wären und schlicht einem logisch zwingenden experimentum crucis – gleichsam vom Gottestandpunkt her – unterworfen und endgültig falsifiziert werden könnten. Es führt daher theoretisch nicht recht weiter, wenn Anhänger der Sozialisationsforschung die Kritik an ihren Konzepten und paradigmatisch-theoretische Grunddifferenzen in bloße Komplementaritäten umdeuten (Honig 1996). Inzwischen lässt sich, nach weiteren 40 Jahren Theorieentwicklung, das „interpretative Paradigma“ auch expansiver und differenzierter lesen. Zu ihm sind heute alle Theorieansätze zu zählen, die von einem Vorrang konstitutionstheoretischer Fragestellungen ausgehen. Damit wird auch der objektivistische Dualismus von Struktur- und Handlungstheorien obsolet. Schon der Sozialkonstruktivismus Berger/Luckmanns hatte sich als theoretische Dialektik zwischen sedimentierter Institutionalisierung und einer vorinstitutionellen sowie deinstitutionalisierenden, lebensweltbezogenen Interaktionsdynamik verstanden. Ähnlich
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sehen dies Giddens und Bourdieu. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist die Umdeutung von Struktur in einen komplexen Strukturierungsprozess: Struktur ist zugleich historisch gegeben wie aufgegeben. Jedes „objektive“ soziale Phänomen setzt immer schon einen soziogenetischen Blick voraus und fordert mehr oder minder zu responsivem Verhalten im Blick auf zukunftsfähige Entwicklung und künftige gesellschaftliche Verständigung heraus. Eine undialektische Struktur- oder Handlungstheorie bleibt sozialen Prozessen gegenüber unterkomplex. Sie erfordern zumal in einer „postindustriellen Gesellschaft“ mit ihrem forcierten Wandlungstempo eine konstitutionstheoretische Fundierung.
6.2 Das Kind als aktives und zugleich verletzliches Gesellschaftsmitglied Im Anschluss an den Paradigmenwechsel wurde das Kind immer mehr als „Subjekt“ und Experte für das eigene Leben von der Geburt an konzipiert (Honig 1999). Manchmal wurden – in Opposition zur bisherigen Auffassung – die Akzente nicht weniger einseitig gesetzt wie zuvor, als das Kind nur als Entwicklungsobjekt und Sozialisationsadressat Beachtung gefunden hatte. Wenn die Kinder nun von Anfang an als ausgesprochen aktiv und „selbstwirksam“ dargestellt werden, ist das mehr als eine „Entwicklung des Kindes im Kontext“, wie eine Defensivposition der neueren Entwicklungspsychologie (Honig 1999: 63) zugesteht. Es ist die Anerkennung der Tatsache in der Kindheitssoziologie, dass Kinder heute oft regelrecht ihre Entwicklung und Sozialisation in die Hand nehmen oder in die Hand nehmen müssen, auch weil ihre Bezugspersonen verwirrt sind und zwischen der Erinnerung an ihre eigene Kindheit und dem Chor der sich widersprechenden Ratgeber und Experten hin und her schwanken. Kinder werden auf diesem Hintergrund zu „kompetenten Interpreten“ (MacKay) und Mitgestaltern ihrer eigenen Kindheit – und, was oft übersehen wird – der Elternschaft ihrer Eltern. In dem Moment, wo man Kinder als aktive Subjekte begreift, gesteht man ihnen eine gesellschaftlich relevante, spezifische Handlungsfähigkeit („agency“) nicht erst in der Jugend oder im Erwachsenenalter zu, sondern bereits in der frühen Kindheit. Sogar die psychoanalytische Säuglingsforschung spricht heute vom „kompetenten Säugling“ (Dornes 1993). Die Kompetenz besteht vor allem darin, dass vielen Kindern eine eindrucksvolle Alltagsorganisation und ein Einstieg in biographische Selbstverständigung gelingt (Leu 2002: 14, 27). Allseits hervorgehobenes Indiz dafür ist eine gewachsene Selbstständigkeit und Verhandlungstüchtigkeit der Kinder. Dadurch sind Kinder auch in der Lage, im Hier und Jetzt die soziokulturelle Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern maßgeblich mitzubestimmen (Honig 1996: 20f.). Das macht sie allerdings nicht immer zu bequemen Verhandlungspartnern, gleichwohl aber in gewisser Weise zu einem umworbenen „kollektiven Gut“ als strategisch bedeutsame Bevölkerungsgruppe, die nicht weiterhin mit einem zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gespaltenen Sonderstatus abgespeist werden kann (Zeiher 1996: 8ff.; Bühler 1996: 97). Kinder als kompetente Akteure in der gesamten Breite gesellschaftlicher Selbstpräsentation haben wir also vor uns, wenn wir erkennen, dass sie relativ kontinuierlich qualifizierte „Werke“ und dokumentarische Handlungen vorzulegen vermögen, die einfach ohne einschlägiges Wissen und praktische Kompetenz nicht zu schaffen sind (Leu 1999: 9, 14; Grundmann 1999: 330ff.).
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Diese Neueinschätzung ist umso erstaunlicher, als Kinder weithin immer noch in ihren Defiziten erlebt werden und sogar ihre frühere Funktion als Stabilisatoren und Sinngarantie der Ehe oder Partnerschaft zu verlieren scheinen (Alt 2002: 154f.). Eine deutliche Relativierung der frühen Kindheit, der früher nach fast allgemeiner Ansicht eine determinierende Schicksalhaftigkeit zugesprochen wurde, ist auch im Bereich der sozialpsychologischen und soziologischen Lebenslaufforschung nicht zu übersehen. Umfangreiches Forschungsmaterial belegt aber immer noch, dass insbesondere Säuglinge und Kleinkinder ohne materielle, sensomotorische, emotionale und soziale Versorgung, Unterstützung, Anregung, Pflege, Erziehung und Beratung nicht auskommen. Widerstreiten solche Befunde nicht vollständig dem Konzept des kompetenten Akteurs? Muss es nicht wenigstens für die späte Kindheit eingeschränkt werden? Und ist Sozialisation nicht doch ein quasi determinierender Prozess, der trotz aller historischen Variabilität dem Kind kaum Chancen lässt, in ihn aktiv einzugreifen? Mit dem Titel „Selbstsozialisation“ verweist selbst die heutige Sozialisationsforschung darauf, dass Sozialisation eine komplexe soziale Konstruktionen begünstigender oder erschwerender Prozess bio-psycho-sozialer Wechselwirkungen darstellt, der nie ohne das betreffende Kind selbst formiert werden kann. Gerade darin bestätigt sich also der Akteursstatus, dass Sozialisation nicht mehr ohne die Normalitätsunterstellung kindlicher Selbstständigkeit und kommunikativer Verhandlung überhaupt in Gang gehalten werden kann (Geulen 2004: 84f.). Kinder sind „unbequem“ geworden! Eltern und Erzieher vermögen sich nicht mehr über diesen Sachverhalt hinwegzusetzen, wollen dies zum großen Teil auch nicht mehr und werden auch von wissenschaftlichen Ratgebern und teilweise von Instanzen der öffentlichen Meinung und der Sozialkontrolle davon abgehalten. Nicht zuletzt auch deswegen findet Gewalt gegen Kinder immer öfter und vorwiegend im engsten „verschwiegenen“ Privatbereich statt. Es zeichnet sich seit einigen Jahren eine breite Meinungskoalition ab, dass Kinder und Kindheit einen spezifischen „Eigenwert“ jenseits einer rein ökonomischen oder bevölkerungspolitischen Interpretation des Begriffs „Humankapital“ (Bühler 1996: 97ff.; 2005: 111ff.) haben. Doch solche Verschiebungen der gesellschaftliche Grundsemantik können mehr oder minder stark registriert und auf sie kann mehr oder minder konsequent gesellschaftlich und politisch reagiert werden. Und was bedeutet es, wenn heute von einer Subjektivierung der Kindheitsforschung gesprochen wird? Eine Antwort darauf kann die Kindheitsforschung in der Beschreibung dessen finden, was in welchen Handlungsdimensionen unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die „Handlungsfähigkeit“ von Kindern ausmacht. Zunächst kann festgestellt werden, dass Kinder in westlichen Gesellschaften heute in unterschiedlichem, aber beträchtlichem Wohlstand leben und sich einer Überfülle an Informationen, Wissen, Optionen der Lebensgestaltung und der Freizeitnutzung gegenüber sehen. Dies alles führt offensichtlich zu erhöhtem Entscheidungs-, Selektions- und Exklusionsdruck und in vielen Fällen zu ausgeprägter und früher Selbstständigkeit. Es ist hier aber auch zugleich anzumerken, dass bestimmte Gruppen von Kindern in der Sozialstruktur und den unterschiedlich weit gespannten und differenzierten sozialen Netzen erhebliche Vorteile abschöpfen können (Leu 2002: 27). Einige sind daher in zentralen Institutionsbereichen weit aktiver als andere Gruppen. Dies zeigt sich daran, dass sie selbst präsenter in Gesellschaft sind und diese sie aktiver zur Kenntnis nimmt. Einige stehen eher im Schatten, was vielfach im Alltagsdiskurs auf die eigene Schuld oder die Schuld ihrer Eltern zurückgeführt wird, obwohl sich zeigen lässt, dass sich hier immer wieder eine typische Form gesellschaftlicher Reproduktion Bahn bricht (Joos 2001; Leu 2002; Hradil 1999; 2004; Butter-
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wegge 2002; 2004). Die „freie Entfaltung des Kindes“ mündet zusehends in polarisierte soziale Lagen und in zunehmende gesellschaftliche Kontroversen über die gerechte Ressourcenverteilung. Das Bild vom „kompetenten Akteur“ prallt demnach auf das des „verletzlichen Kindes“ (Joos 2002: 44f.; Zeiher 2000: 9). Zeiher hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, zwischen einer „inhärenten“ und einer diese überschreitenden „strukturellen“ Verletzlichkeit zu unterscheiden. Inhärent hilflos und verletzlich sind Kinder, weil sie körperlich schwach, ihre Organe noch nicht voll ausdifferenziert sind, ihre psychosoziale Verfassung stark von der Verlässlichkeit und Qualität ihrer unmittelbaren sozialen Kontexte, besonders dem Eltern-Kind-Verhältnis, abhängen und weil ihnen kulturelles Wissen und Kompetenz fehlt. „Strukturell“ verletzbar sind hingegen Kinder, weil und insofern sie geringe politische, ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen und Macht besitzen. Diese strukturelle Sedimentierung ihrer sozialen Lagen ist spezifisch „konstruiert“. Sie geht eindeutig über das hinaus, was die natürliche Schwäche der Kinder ausmacht. Doch lässt sich diese analytisch wichtige Unterscheidung gleichsam chemisch rein in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfassen? Lässt sich ein redundanter oder „repressiver Überbau“ ohne weiteres von der „Naturbasis“ trennen und gesellschaftspolitisch beseitigen oder wenigstens zurückdrängen? Kultur überformt nicht nur Natur, beide durchdringen sich aufs Engste. Und beide sind komplementäre, historisch verschiebbare Grenzbegriffe. Gehäufte Effekte auf der einen führen zu Effekten auf der anderen; freilich in jeweils unterschiedlicher Gewichtung. Und es darf nicht vergessen werden, dass es sich hier um eine „verkörperte Handlungsfähigkeit“ (Merleau 1976; Taylor 1992: 9ff.) handelt, die zugleich ihre „konstitutiven Umwelten“ rekontextualisiert, transformiert, verändert sozial konstituiert. Dabei kommt es besonders darauf an, ob und in welcher Weise Kinder in diesen offenen, häufig auch unterbrochenen zirkulären Strukturierungsprozessen zu Aktivität oder Passivität ermutigt oder entmutigt werden. Offenbar ist die Handlungsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit nicht in allen Kulturen und historischen Epochen bei unterschiedlichen Kindern und sogar in der Kindheitsphase jedes einzelnen Kindes gleich und stabil (Stern 1992: 21; Keller 1993; Schäfer 2002: 75ff.). Aus empirischen und prinzipiellen Gründen ist auch davon auszugehen, dass menschliche Handlungsvollzüge – auch für den betroffenen Akteur – nie völlig durchsichtig werden können. Es handelt sich so immer um begrenzte und historisch situierte Autonomie. Dies gilt natürlich für Kinder in einer besonderen Weise. Andererseits ist damit allerdings nicht die Frage beantwortet, ob Kinder nicht doch mehr Kompetenz entwickeln können, wenn man ihnen, was bislang ja gerade vermieden wurde, eine wirkliche Chance gibt, sich in weitergehende gesellschaftliche und politische Partizipation einzuüben. Festzuhalten bleibt, dass offenbar eine Gesellschaft die Verhandlungskapazität von Kindern ausdehnen oder einschränken, nachfragen oder zurückdrängen kann. Alle Kinder sind zugleich kompetent wie verletzlich, wenngleich in (temporal) unterschiedlicher Dosierung. Dabei müsste freilich auch bedacht werden, dass „passive Intentionalität“ und Verletzlichkeit wichtige Voraussetzungen für echte Kreativität darstellen. Wer nicht verletzlich und responsiv orientiert ist, kann nicht wirklich kreativ handeln (Popitz 1997; 1995: 71, 76, 80; 1986: 22; Joas 1992; Oerter 1993: 377ff.).
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6.3 Ein epochenzentriertes Kindheitsverständnis: Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder Der Rückgriff auf Epochenzäsuren war nicht nur, aber vor allem, in der Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts heimisch und beliebt. Damit sollten widerstrebenden Tendenzen ein einheitliches, klar konturiertes Gepräge verliehen werden. Epochen wurden als Erfahrungsräume verstanden, die z.B. Kindheit in „Muster von Relationen“ (Honig) zwischen Familie, Kindergarten, Schule etc. eine klare zeitgeschichtliche Gestalt zu geben vermochten. In epochaler Beschreibung sah noch Schelsky eine zentrale Aufgabe der Soziologie (Abels 1993: 199ff.). Darin könnten anthropologische Natur und epochale Sozialstruktur zusammen gesehen und synthetisiert werden. Epochalgliederungen können durch ihre Prägnanz überzeugen oder aber als ungeheure Simplifikation abstoßen. Eine Einteilung in Epochen neigt dazu, einer unübersichtlichen, stets multifaktoriellen Gemengelage eine zeitspezifische Gestalt abzuringen. Die Frucht solcher Bemühungen können alltagsweltliche Klischees, reißerische Topoi (Generation „Golf“), Stereotype oder sorgfältig dimensionierende, heuristische Idealtypen sein. In der Zwischenzeit gelten Epochengliederungen in der Geschichtswissenschaft als gefährliches Terrain, das man möglichst meidet, weil der Historiker neben ganz klaren Zäsuren, etwa den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, meist fragmentierte historische Konstellationen mit vielfältigen Wechselwirkungen, Flexibilisierungstendenzen und Übergängen begrenzter Reichweite vorfindet. In der Soziologie haben sich neben dem Hauptstrom evolutionistischen und modernisierungstheoretischen Denkens nur wenige geschichtsnahe Ansätze behauptet (Vester 1995), die in den historischen Ingredienzien Elemente der Perspektivenverschränkung und sozialer Konstruktion erkennen. Bei aller methodischen Problematik sind jedoch Epochenschnitte nicht ganz vermeidbar. Dies gilt vor allem für eine Kultur, wie die der westlichen Gesellschaften, die vor allem aufgrund ihres jüdisch-christlichen Kulturerbes die Einmaligkeit und Individualität betont. Auch eine kritische Soziologie wird ihren mehrfaktoriellen Pointilismus überschreiten müssen und orientierende Stichworte epochaler Art zu heuristischen Zwischenbilanzen einsetzen. So wird etwa zwischen „Vormoderne“, „Moderne“, „reflexiver Moderne“, „zweiter“ und „dritter Moderne“, „Postmoderne“ etc. nicht nur in der Modernisierungstheorie, sondern auch der damit nicht zu verwechselnden differentiellen Modernisierungsforschung (v. Kondratowitz 1999: 241f.) unterschieden. Historische Beschreibungen von Kindheit, die in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften vorgelegt wurden, bewegten sich überwiegend im Umkreis einer der Varianten der Modernisierungstheorie (Weber, Parsons, Simmel, Luhmann, Elias, Beck). Bei allen durchaus beträchtlichen Unterschieden im Einzelnen schildern doch fast alle den Modernisierungsprozess als relativ bruchlosen Übergang von einer partikularen zu einer universal individualisierten Kindheit. Nur selten wird deutlich, dass dieser Modernisierungsprozess ein durch und durch historischer „Relativierungshexenkessel“ (Berger 1980: 23) ist. Die Vorstellungen einer linearen oder auch multilinearen Entwicklung sind daher deutlich unterkomplex, weil sie die Kette der Brüche und „Neuverschweißungen“ verdecken und mit ein paar Randglossen planieren (Mitterauer 1986: 19, 21). Die fortgeschrittene Moderne ist in den meisten Studien, sogar denen, die sich gegen eine lineare Deutung explizit wenden, eigentlich nichts Anderes als eine prolongierte und entfaltete Neuzeit und eben nicht ein historisches Spektrum widersprüchlicher Figurationen einer longue dureé. Selbst Fends
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differenzierte „Sozialgeschichte des Aufwachsens“ (1988: 12), mit der Deutungsfolie des Weberschen „okzidentalen Rationalismus“ im Hintergrund, entgeht nicht ganz und gar der Gefahr, diese Geschichte durchgängig als Abfolge vormoderner, moderner, postmoderner Formen kindlicher Existenzbewältigung darzustellen und Gegenbewegungen auszublenden. Seiner Meinung nach gibt es triftige Hinweise darauf, dass „sich epochal die Trennung der jungen von der alten Generation“ in den letzten Jahrzehnten gravierend verstärkt und die Identifikation mit der gleichaltrigen Altersgruppe größer geworden ist (277f.). Schon allein dadurch werde eine epochenzentrierte Darstellung möglich und sinnvoll. Fends Darstellung nähert sich damit Vorstellungen der historischen Modernisierungsforschung. Eine andere epochenzentrierte Darstellung, weit weniger theoretisch anspruchsvoll als die Untersuchung Fends, aber sehr anschaulich und mit breiter Rezeption, haben PreussLausitz u. a. (1983: 12ff.) vorgelegt. Die Autoren dieser Studie gehen davon aus, dass sich, vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, die Sozialisationsbedingungen epochal geändert hätten. Kindheitserfahrungen determinieren zwar nicht die gesamte Biographie, seien aber schwer auszulöschen. Deshalb bilde eine „veränderte Kindheit“ nach 1945 einen relativ homogenen Rahmen. Während die Generation der Kriegskinder durch Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit zusammengeschweißt wurde, bestimmte der wachsende Wohlstand die Kindheit zwischen 1955 und 1965. Die in den 60er Jahren Geborenen seien dann zu „Krisenkindern“ geworden, weil ihnen wachsender Wohlstand angesichts offensichtlicher gesellschaftlicher Widersprüche keinen Lebenssinn mehr bot. In jedem Fall werden hier die Zusammenhänge zwischen historischen Entwicklungen und psychosozialen Verhaltensdispositionen und Mentalitäten als ähnlich eng wie bei Elias gesehen. Sozialisationsbedingungen setzen sich, zwar nie ungefiltert, aber mit großer Wahrscheinlichkeit direkt und umfassend durch. Es besteht auch noch eine gewisse Übereinstimmung der Sozialisationsinstanzen. Allerdings zeichnet sich auch schon damals, zur Zeit der Publikation dieser Studie, eine größere Diversifizierung der Modernisierungseffekte ab. Und die große Zahl von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen lässt es als unwahrscheinlich erscheinen, dass sich bruchlos eine isomorphe Kumulation der Lebensbedingungen einstellt, die eine problemlose Kontinuität der Entwicklungsstadien und Lebensphasen aufrecht erhalten hätte können. Trotz aller notwenigen Kritik an dieser Studie zeigt sich hier, dass schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sich Andeutungen einer „veränderten Kindheit“ zeigten. Schon damals deutete sich an, dass Kinder einerseits autonomer und verhandlungsmächtiger, andererseits aber stärker in gesamtgesellschaftliche Strukturen verwoben wurden. Es wird auch erkennbar, dass sich der „aktive Konsument“ des 21. Jahrhunderts bereits bei den „Konsumkindern“ ankündigte. Distinktions- und Identifikationschancen aus dem Freizeitbereich schoben sich immer stärker nach vorne. Es zeigt sich auch hier, dass dies für viele Kinder nach einer gewissen Zeit an Faszination verliert, spätestens dann, wenn sich größere gesellschaftliche Unsicherheit abzeichnet. Schon Fend sprach daher nicht mehr vom „Sozialwerden“ des Kindes sondern von „Sozialmachung“, was freilich auch noch nicht vollständig den Subjektstatus von Kindern anerkennt. Kinder mussten aber schon in den letzten Jahrzehnten fehlenden gesellschaftlichen Konsens über „Entwicklungsaufgaben“ und manchmal auch fehlende Einigkeit der Eltern über Erziehungsziele, -stile und -praktiken oder eine transpädagogische Orientierung selbstständig zu kompensieren suchen (Abels 2000: 7). Es gab offenbar schon in den 60er Jahren Indizien dafür, dass überkommene Kindheitsbilder und Gewissheiten mit neuen
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Entwicklungen und Wahrnehmungen zu kollidieren begannen. Dabei zeigt sich, dass quantitative in qualitative Veränderungen umschlagen konnten und mithalfen, die epochalen Sozialstrukturen nach dem Zweiten Weltkrieg selbst in Frage zu stellen (Abels 2000: 81). Die 60er Jahre waren mitnichten nur die Zeit der „Studentenrebellion“. Eher war diese ein Teil eines weiteren, differenziert zu betreibenden „Modernisierungsschubs“, der fast alle Lebensbereiche erfasst hatte (Beck 1986). Zwischen traditionellem Kindheitsbild und der tatsächlichen Statusgenerierung brachen Spalten auf. Wohl nicht erst an der Schwelle des Millenniums (Abels 2000: 97) konnte man den Satz hören: „Also ich möchte heute nicht mehr Jugendlicher (oder Kind – H.S.) sein!“ Inzwischen haben sich die Widersprüche wohl noch verstärkt und multipliziert. Die nachfolgenden „Krisenkinder“ schienen in der „Erlebnisgesellschaft“ sehr weit weg von jeglichem Krisenbewusstsein und in einer rundweg glücklichen Kindheit zu leben (Mansel 1996). Nicht nur sozialwissenschaftliche Beobachter entdeckten jedoch latente Risiken und eine Widerzunahme gesellschaftlicher Spaltungen vor allem nach 1989. Auch die Kinder an dieser Epochenscheide schienen erstaunlich leichtgläubig oder naiv, überwiegend zufrieden zu sein (LBS 2002). Doch mussten immer mehr Kinder, zumal die, deren Eltern arm und arbeitslos waren oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen lebten, erkennen, dass die „Erlebnisgesellschaft“ einem „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ und „Konsumsouveränität“ entsprungen war, der Albträume hinterlassen hatte (Griese 2000: 211ff.). Das spricht wiederum nicht gerade für die These, Kinder gerieten generell aus einem Bildungs- in ein kulturelles Moratorium (Zinnecker 1995; Honig 2002: 319). Ein Fazit könnte eher lauten: immer mehr Kinder werden aus einem Moratorium herausgedrängt und in ein Laboratorium hineingezwängt. Doch erstaunlicherweise präsentieren sich viele – aufgrund vielfältiger Schutzfaktoren – nicht als „Krisenkinder“.
6.4 Von der Straßensozialisation zur verhäuslichten Kindheit Man kann, wenn man will, auch das Deutungsmuster „von der Straßensozialisation zur verhäuslichten Kindheit“, das Zinnecker (1990: 142f.) im Anschluss an Elias kreierte, als eine epochale Bilanzformel der Veränderung der Kindheit der letzten zwei Jahrhunderte begreifen. Das Spätwerk von Elias (1991; 1990) spricht eher für eine epochaltypische Interpretation. Frühere Ausführungen und die Argumentation von Zinnecker selbst deuten eher auf eine modernisierungstheoretische Leseart. Während Kinder, nicht zuletzt Arbeiterkinder, im 19. Jahrhundert auf der Straße die entscheidenden Sozialisationserfahrungen gemacht hätten, seien sie Zug um Zug immer mehr aus diesem Raum vertrieben worden und in die elterliche Wohnung und separate institutionell definierte Spezialräume abgedrängt worden. Zwischen Straße und Familie, den Kinderinstitutionen oder Kinder-Abteilungen von Organisationen und allen hausgebundenen Sozialisationsinstanzen habe sich die symbolische Grenze verschoben und verhärtet. Damit sei der Erfahrungs- und Handlungsraum von Kindern total umgestaltet worden. Das sei zuerst durch kontrolltheoretisch zu verstehende Disziplinarmethoden der Gesellschaft und des Staates und im 20. Jahrhundert durch eine funktionalistische Stadtplanung und den Straßenverkehr vollendet worden. Oft ist übersehen worden, das Zinnecker nicht so sehr die Raumveränderungen, sondern vor allem die symbolische Codierung des Raumes und die daraus erwachsenden psy-
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chosozialen und mentalitätsmäßigen Folgen im Auge hatte. Damit war eine Transformation des „Wir-Gefühls“ oder, wie Elias sagt, eine grundlegende Verwandlung der „Ich-WirBalance“ und des gesellschaftlichen Habitus, also auch ein Wandel der Identitätserfahrung eingeleitet und mittlerweile auch erfolgreich durchgesetzt und internalisiert worden. In der interessanten Hypothese Zinneckers, die leider relativ unreflektiert zum Schlagwort reifiziert wurde, wird auf die historische Tatsache abgehoben, dass die Durchsetzung des bürgerlichen Familienideals erst allmählich und in dem Maße für breitere Bevölkerungsschichten durchsetzbar war, wie sozialstrukturelle und psychosoziale Transformation, nicht zuletzt auch durch staatliche Interventionen, ineinander zu greifen begannen. In dem Maße wie es die materiellen Bedingungen, Bildungsprozesse und die innerfamiliale Arbeitsteilung zuließen und nahe legten, konnte so etwas wie eine Familienintimität entstehen. Das war zunächst für viele, insbesondere Arbeiter und Kleinbauern, nur beschränkt möglich. Es bildete sich aber ein Familienideal aus, das allmählich, flankiert durch staatlichen Druck, auch in die allgemeine Lebenspraxis von Familien einging. Wenn die Hausfrau nicht mehr einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen musste, hatte sie nun viel Zeit für eine Kindererziehung, die überwiegend in der Familienwohnung, dann im Schulgebäude, im Vereinsheim, im kirchlichen Gemeindehaus stattfand. Entscheidend ist aber nicht das veränderte Raumarrangement, sondern die symbolische Grenz- und Rahmenbildung einer zunehmenden Institutionalisierung der Kindheit. Der Straßenverkehr erschwerte zwar nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich das Spielen im Freien, besonders in den Innenvierteln großer Städte. Der Prozess der Verhäuslichung setzte aber viel früher ein und ihre eigentlichen Ursachen waren nicht äußere Hindernisse, sondern eine sich grundlegend ändernde soziokulturelle Deutungspraxis. Sie setzt sich langfristig auch dann durch, wenn empirische Befunde klar zeigen, dass gegenwärtig von einem gänzlichen Verschwinden der Straßensozialisation, besonders bei Jungen selbst in Großstädten nicht die Rede sein kann (Nissen 1998; Blinkert 1996; LBS 2002). Es geht bei der Verhäuslichung um einen kontrollierten Umbau des kindlichen Ökosystems auf lange Sicht, um die Durchsetzung eines gesamtgesellschaftlichen, nicht nur familialen Dispositivs (Foucault, M. Weber) in einem langfristigen Zivilisationsprozess (Elias 1977). Entscheidend ist, dass damit Kindheit im Zivilisationsprozess von allen Seiten – ähnlich wie das auch Ariès sah – unter einen wachsenden Kontrolldruck gerät, wobei die Beteiligten vielleicht gar nichts von diesem steuernden Zugriff merken. Verhäuslichte Kindheit impliziert natürlich auch einen grundlegenden Wandel der Eltern-Kind-Beziehung. Es wurde ja früh erkannt, dass die Kleinfamilie außer Stande war, allein die für die bürgerlich geprägte Industriegesellschaft und modernen Nationalstaat notwendige Qualifikation und Verhaltensdisziplin des gesellschaftlichen Nachwuchses zu garantieren. Nicht zuletzt deshalb wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt und u. a. auch verstärkt der Kindergarten angeboten. Durch Zwang oder freiwillig wurden so die Eltern in ein System der Versorgung, Betreuung und Bildung hineingezogen, das nicht nur unterstützend und entlastend sondern auch kontrollierend war. Unter der Hand wurden die Eltern relativiert und einem staatliche gesteuerten System der Sozialkontrolle einverleibt. Es wäre indes verkehrt, diese in ähnlicher Weise auch bei M. Weber und Foucault wieder zu findende These schlicht als staatliche Einmischung und als Entmündigung zu deuten, weil diese „Einmischung“ einerseits von den Betroffenen oft nicht als solche empfunden wurde und sie oft erst unter modernen Bedingungen in Stand setzte, eine „verantwortete Elternschaft“ und eine „optimale Förderung“ zu praktizieren (Büchner 2002: 490).
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Unbestreitbar aber war diese „Unterstützung“ ambivalent und auch ein Stück gouvernementaler Steuerung und Sozialkontrolle (Donzelot 1979; Meyer 1981; Ariès 1982). Mit dem Ausbau der modernen, kapitalistisch geprägten Arbeits- und Wirtschaftsgesellschaft und der Entstehung des neuzeitlichen, souveränen Territorialstaates mit seinem Gewaltmonopol institutionalisierte sich ein polares Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit, das räumlich als Privatwohnung und rechtlich als privatrechtlicher Verfügungsraum sich vom Raum des öffentlichen Rechts und öffentlicher Repräsentation abgrenzte, aber zunächst und unmittelbar einen neuen, stark emotional geprägten soziokulturellen und psychosozialen Sinnrahmen, vor allem für die sich herausbildende industrielle Großstadt vordringen ließ. Der Prozess der Urbanisierung trieb diesen Zivilisationsprozess noch an. Im Verlauf dieser längerfristigen Polarisierung von Öffentlichkeit und Privatheit entstand erst allmählich jener informell-formelle „Kodex“ von Verhaltensweisen und Praktiken, die „typisch moderne“ Kinder von früh an lernen sollten. Verhäuslichung wurde also nach Zinnecker nicht in erster Linie durch den zunehmenden Straßenverkehr oder die wuchernde Versiegelung und Zersiedelung der Landschaft Kindern aufgezwungen, sondern primär und positiv von der Logik der modernen Zivilisation, in der Form einer neuartigen Institutionalisierung der Sozialkontrolle, insinuiert. Erst im Zusammenhang damit ist die moderne Intensivierung und der Rückzug der Erziehung in institutionalisierte Räume richtig zu bewerten. Zu diesem Zivilisationsprozess gehört nach Elias ganz wesentlich eine einschneidende Distanzierungsleistung von den Bezugsgruppen und die Bereitschaft, die eigene Nation gegen „Fremdes“ abzuschirmen. In diesem Zusammenhang sieht Elias auch die Verwandlung vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt (du Bois 1994: 143). Gesamtgesellschaftlich zeichnet sich eine neue Macht- und „Ich-Wir-Balance“, auch der Chance zu gesellschaftlichem Engagement und Distanzierung (Elias 1977; 1992) ab. Elias selbst möchte diesen Zivilisationsprozess nicht linear und bruchlos verstanden wissen, unternimmt aber in seinem Hauptwerk zu wenig Anstrengungen, genau diese evolutionistische Leseart des von ihm gezeichneten Zivilisationsprozess nicht gedeihen zu lassen. Es ist höchst fraglich, ob man in den vergangenen 400 Jahren nur einen und nur den Zivilisationsprozess der Selbstdomestikation des Kindes und „reflexiver Verinnerlichung“ (bei gleichzeitiger Zunahme einer Informalisierung) sehen kann, selbst wenn man wie Elias dabei an unterschiedliche Konfigurationen und Konstellationen dieses Prozesses denken will. Einer dezidiert modernisierungstheoretischen Lesart fügt sich sein Konzept der historischen Figuration und historisch bedingten lebensweltlichen „Netzwerke“ trotzdem nicht restlos ein, wie das oft behauptet wird. Im Grunde hat schon Goffman diese Problem mit seinem begrifflichen Wechselspiel von ingroup-outgroup-Relationierungen, von Strategie und Interaktionsritual in der Interaktionsdynamik gut getroffen (Goffman 1967: 140ff.; 1994). So kann man auch sagen, dass der zivilisationstheoretisch gut erklärbare Vorgang expansiver Pädagogisierung immer ein Doppelgesicht in sich trug und auch – z.B. in der Wandervogelbewegung – Resistenzen und Widerstand hervorrief. Und man darf wohl auch nicht die sich sozusagen unter der Decke seit vielen Jahren aufkommende, wachsende Schulverdrossenheit, Mentalrestriktion, „innere Kündigung“ und instrumentalisierende Strategien und „Ausbruchsversuche“ (Cohen 1977) übersehen. Das auf Elias zurückgehende Konzept ist außerordentlich plausibel. Trotzdem bleibt ein Unbehagen gegenüber seinen evolutionistischen Implikationen, seinem linearen Über-
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schuss und der Nähe zu ökologischen Fehlschlüssen. Der tatsächliche Kinderalltag ist sehr viel widersprüchlicher und empirisch in außerordentlich hohem Maße regional, saisonal, geschlechtsspezifisch, ethnisch differenziert und auch instabil. Viele verhäuslichten Aktivitäten verlieren auch wieder nach einiger Zeit ihre Attraktivität und Relevanz. Und die ausschließliche Konzentration eines Teils der Kindheitsforschung auf den Wandel der Sozialisationsbedingungen wird jedenfalls den theoretischen Intentionen Elias mit seinem Figurationsansatz und der Dialektik bewusster und unbewusster Handlungsstrategien variabler Ich-Wir-Geflechte nicht voll gerecht (Schröter 2000: 82).
6.5 Der Trend zur verinselten Kindheit Schlagwörter gehen um: „veränderte Kindheit“ sei „verhäuslichte“ und „verinselte“ etc. Kindheit. In einem Atemzug werden oft Verhäuslichung und Verinselung gemeinsam genannt. Verhäuslichte Kindheit habe in einer funktional differenzierten Gesellschaft dazu geführt, dass Kinder ihren Kinderalltag räumlich und referentiell nicht mehr wie in der Vormoderne in konzentrischen Kreisen von ihrem familialen Lebenszentrum her, sondern nur noch in Sprüngen von „Insel“ zu „Insel“ organisieren könnten. Man könnte somit in der Verinselung die organisatorische Konsequenz zur institutionellen Verhäuslichung sehen. Das trage dazu bei, dass sich die zeitlichen und räumlichen Schnittmengen zwischen Erwachsenen und Kindern im Laufe eines Tages, einer Woche, eines Jahres spürbar verringerten. Kinder verbringen nach der von H. Zeiher (1993: 389ff.) verbreiteten Verinselungsthese immer weniger Zeit gemeinsam mit ihren Eltern. Der Anteil an elternunabhängiger Zeit nehme deutlich zu. Allerdings gebe es auch neue Aktivitäten mit Kindern; auch im Rahmen von Projekten des Kindergartens, der Grundschule, der Kirchen- und Wohngemeinde, der Gemeinde, die freilich den linearen Trend zu einer „verinselten Kindheit“ kaum stoppen könnten. Zwar bestünde eine Wechselwirkung zwischen Familienkindheit, schulischer und außerschulischer Kindheit. Doch die Dynamik werde eindeutig von der Verinselungstendenz bestimmt und dominiert. Aufgrund sozialstruktureller, städtebaulicher und verkehrstechnischer Entwicklungen werde die lebensweltliche Konzentrik unterhöhlt. Auf den ersten Blick hat auch die Verinselungsthese eine gewisse Plausibilität, obwohl gegen sie dieselben und noch weitere empirische Befunde wie gegen die Verhäuslichungsthese sprechen (Nissen 1998; Herzberg 2001; LBS 2002). Es ist empirisch unhaltbar zu behaupten, Kinder verbrächten immer weniger Zeit mit ihren Eltern, und die Schnittmengen ihrer Kommunikation würden generell geringer. Eher ist eine Temporalisierung, Polarisierung und Labilisierung typisch. Und die Ausgrenzung der Privatsphäre ist ebenso wie die funktionale Differenzierung ein höchst ambivalenter, widersprüchlich sich vollziehender und vielfach gebrochener Prozess. Und er ist sicher nicht ohne Weiteres mit einem langfristigen Zivilisationsprozess im Sinne von Elias zu identifizieren, sondern allenfalls kurzfristig relevant, was sich schon daran zeigt, dass räumliche Segregationstendenzen und der angebliche Druck auf Kinder, einen Terminkalender wie ein Manager in der Industrie zu führen, schon wieder durch die Einführung und Verbreitung des „Handy“ gestoppt wurde, wenn er denn je durchgängig für alle Kinder galt. Dieser Trend war immer nur partiell unter der Voraussetzung wirksam, dass Optionen verfügbar, ausreichend Rationalität zum Tragen kam und/oder utilitaristische Präferenzen und entsprechende Ressourcen das Privatleben von Familien und Kindern bestimmten. Das waren durchaus Werte, die das Bürger-
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tum, aber schon nicht mehr alle Sozialmilieus oder die ganze Mittelschicht oder gar die Unterschicht westlicher Gesellschaften bestimmte. Und von der Parzellierung der Wohnlandschaften kann man nie direkt auf Mentalitäten, Ideen und Habitusformationen schließen, wenn man nicht einem naturalistischökologischen Fehlschuss verfallen will. Kinder sind oft sehr kreativ, wenn es darum geht, Zwänge zu unterlaufen, zu verfremden und „umzuwidmen“. Sie konstruieren Territorien und „Zeitbögen“ nicht in der gleichen Weise wie Erwachsene (Sichtermann 1982, 1981). Das Deutungsmuster der „verinselten Kindheit“ wurde massenhaft aufgegriffen, aber kaum differenziert und reflektiert. Es gilt freilich darauf hinzuweisen, dass H. Zeiher den Topos der Verinselung viel vorsichtiger als „individualisierten Alltagszusammenhang“ und Möglichkeitsraum begreift (Zeiher 1993: 390ff.), der sich auch bei ihr milieuspezifisch differenziert. Es bleibt allerdings der methodisch-methodologisch nicht aufgearbeitete lineare „bias“: Kinder müssen gleichsam von Lernort zu Lernort und von Spielort zu Spielort springen und hüpfen – jedenfalls dann, wenn sie in der normativ vorgezeichneten raum-zeitlichen Opportunitätsstruktur Erfolg haben wollen. Eine normative Kapazität determiniert aber nicht das lebenspraktische Verhalten. Im konkreten Fall erleichtert oder erschwert sie die kindliche Alltagsorganisation, dann wenn keine kindliche „Gegenwehr“ oder advokatorisches und politisches Bemühen von Eltern und erwachsenen „Kinderfreunden“ mobilisierbar ist. Der Status quo momentaner Lebensbedingungen und ihrer Belastungen ist doch nur eine „halbierte“ Realität. Er blendet voraussetzungsvolle lebensweltliche Selektion der Vergangenheit und Zukunftsprojekte, Mobilisierungspotentiale und Schutzfaktoren völlig aus. Sicher begünstigen oder erschweren Straßenverkehrsregulierungen etc. ganz bestimmte Nutzungsformen. Sie determinieren aber nie eine einzig lineare Entwicklungsmöglichkeit und hängen stets auch von den reflexiven Reaktionen der unterschiedlichen Kinder ab. Zudem gibt es immer auch neue und alternative Lern- und Spielorte. Das begünstigt heute sehr oft hybride und paradoxe Mischungen und Provisorien. Suggeriert wird von einer dogmatisierten Verinselungsthese auch, dass dies früher grundsätzlich ganz anders gewesen sei und lebensweltliche, raum-zeitliche Konzentrik jemals ungefährdet gewesen sei. Vor allem aber wird – im Gegensatz zu Zinnecker und Elias – die Ebene symbolischer Definitionen sozialer Situationen völlig vernachlässigt und intervenierende Interpretationen und interpretationsimprägnierte Formen der praktischfaktischen Inanspruchnahme und Praktiken übersehen. Erinnert werden darf in diesem Zusammenhang, das Claessens (1976: 75ff.) vor Jahren jegliche menschliche Lebensweise, also auch die von Erwachsenen, aufgrund der „exzentrischen Positionalität“ (Plessner) als „Inselbildung“ bezeichnet hat. Solche „Insulation“ hindert aber Zusammenhangsbildung keinesgwegs. Das Deutungsmuster „verinselte Kindheit“ wird nicht nur oft viel zu pauschal benutzt. Es steht in der Gefahr, reifizierenden Vorstellungen noch mehr vorzuarbeiten als das von der „verhäuslichten Kindheit“. Zwischen der technischen Kapazität, der normativen Vorzeichnung und der lebenspraktischen Nutzung normativer „codierter“ technischer Möglichkeit gibt es sicher Korrelationen, aber eben variable Kohärenz, die die tatsächliche gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit fundiert. Es gilt jeweils genauer die gesellschaftlichen Bedingungen von partiellen und temporalen Trends herauszuarbeiten, Trends, die auch ganz überraschend stocken oder sogar in sich zusammenbrechen können, wenn Menschen sie nicht für zwangsläufig ansehen.
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6.6 Ungleiche Interaktions- und Beziehungschancen Interaktion ist nicht gleich Interaktion. Es macht einen Unterschied, wer sie beginnen kann, und wer sie, vielleicht abrupt, zu beenden in der Lage ist, in welchem Augenblick einer kurzen oder längeren, vorinstitutionellen oder institutionell eingebundenen Interaktionsordnung, Interaktionsdynamik und Interaktionsgeschichte eine Interaktion eingegangen wird, ob sie von Dritten beobachtet und ob diese mit Intervention drohen. Es gibt sozusagen in der Interaktion prinzipielle, gleichsam inhärente Chancenprofile und einen strukturellhistorischen „Surplus“. Dieses vielschichtige Einfluss- und Machtgefälle kann Exklusionsvorgänge verschärfen, abfangen und entschärfen. Ungleichheiten in der Interaktionsordnung „vor Ort“ sind kein direkter Ausfluss sozialstruktureller Ungleichheiten, obwohl sie sicher auch von deren Opportunitätsstruktur abhängen (Leu 2002: 28f.; Joos 2002: 35ff.; Krappmann 2002: 67ff.). Die kumulierten Ergebnisse der Interaktionsdynamik haben aber ihrerseits Rückwirkungen auf die Verhärtung oder Lockerung sozialer Ungleichheiten der Gesamtgesellschaft. Daher lassen sich Indikatoren einer Ressourcenoptimierung ermitteln, die pädagogisches und politisches Handeln bestimmen können. Der Verlauf von Interaktionen jedoch, in denen die Ressourcenverteilung akzeptiert und durchgesetzt werden soll, lässt sich aber nur begrenzt voraussagen und steuern, weil er historisch bedingt und kontingenzreich ist. Nicht selten verselbstständigt sich die Interaktionsdynamik, beschwört eine Dramatisierung der Situation herauf und erlaubt – vielleicht zur Überraschung aller Beteiligten – durch ein beherztes Wort zur rechten Zeit eine Entdramatisierung, bei der alle Seiten ihre Gesicht wahren können (Goffman 1969; 1994). Zwar ist die Annahme Dahrendorfs zu simpel, dass der Mensch, da wo er sozialisiert ist, nicht mehr Subjekt ist, und dort, wo er Subjekt ist, nicht sozialisiert sei. Habermas und Krappmann gebührt das Verdienst, diese „schlechte Ambiguität“ (Merleau-Ponty) aufgelöst zu haben. Dabei entsteht jedoch nun die Gefahr, dass ihr Leitkonzept, die „Identitätsbalance“, zu harmonistisch und spannungsfrei interpretiert wird. Und ein solches Verständnis ist ebenfalls zu simpel. Keineswegs nur in pathologischen Fällen muss heute jeder Mensch, wahrscheinlich sogar jedes Kind schon mit zeitweiligen Identitätsimbalancen fertig werden. Kindliches Leben läuft eben manchmal nicht wie eine harmlose Inszenierung einer „Familienkonferenz“ (Rosenthal 1997: 57ff.; 2000: 162ff.) ab, sondern eher wie ein paradox verknoteter Delegationsprozess, wo auch „alte Rechnungen“ oft über Generationen hinweg beglichen werden. Theoretisch lässt sich daraus der Schluss ableiten, dass Sozialisation heute als kontinuierlich-diskontinuierlicher Prozess verstanden werden muss. Soziales Lernen kann erst erfolgen, wenn es gelungen ist, hinreichend viele kontextualisierende Interaktionsverhältnisse zu eröffnen und arrangieren. Lern- und Sozialisationsverweigerung ist fast jederzeit möglich, wo sich nicht nur die Chancen, sondern auch die Risiken, Gefahren, toten Winkel und die Möglichkeiten „bezahlter Indifferenz“ (Luhmann) multiplizieren. Die Zunahme der Optionen ist nicht gleichzusetzen mit ihrer Wahrnehmung und der hellwachen Reaktion darauf. So ändert sich auch nichts daran, dass auch moderne Kinder Zwängen, Kontingenzen, Abhängigkeiten unterliegen. Es gibt ganz unterschiedliche „Marktverhältnisse“, unterschiedliche Handlungsspielräume und Freiheitsgrade für das Eingehen oder die Verweigerung von Interaktionen. Auch das Engagement (commitment) und die Bewältigungskompentenz (coping) differenzieren stark, obwohl auch dies nicht nur „eine persönliche Entscheidung“ ist. Es gibt also durchaus soziokulturelle, sozialstrukturel-
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le und spezifisch situative Opportunitäten. Machtverhältnisse und die Schwerkraft traditioneller Stereotypen und Routinen schränken natürlich auch immer kindliches Verhalten ein. Sie verdecken oft, dass sich selbst im größten „Durcheinander“ in Interaktionen eine Interaktionsordnung und selten lange ein „reißerischer Situationismus“ (Goffman) durchzusetzen pflegt. Das egalitäre Ideal von Kindern unter Ihresgleichen steht vielfach in einem krassen empirischen Gegensatz zur Lebenspraxis. Und ein manchmal auftretender Omnipotenzwahn entlarvt sich meist überraschend schnell. Die Intransparenz der Optionen und die eingeschränkte Veto-Macht, die Informationsflut oder der Informationsmangel, mangelndes Orientierungswissen, begrenzte Rationalität, Routinen, eingefleischte Habitusstrukturen, Angst oder Ungeduld und mangelndes „soziales Kapital“ schränken das Spektrum der real möglichen Interaktionen in konkreten Situationen durchaus ein. Sie bewirken immer wieder Asymmetrien in Interaktionen. Und es hilft hier nichts, nur die Zahl der Angebote zu erhöhen (v. Foerster 1985: 41), wenn die Verarbeitungs- und Verstehenskapazität und die sozialen und sozioökonomischen Ressourcen nicht mitwachsen. Im Gegenteil: die Modernisierungsfalle schnappt in diesem Fall ungebremst zu (Kaufmann 1995: 168; Gamm 2000: 45f.; Wahl 1989). Einer riesigen Erwartung folgt eine abgrundtiefe Enttäuschung auf dem Fuß. Häufig ist dann auch eine Sozialisationsverweigerung, Resignation und ein Sich-Ausruhen auf einer Wissenskluft die Folge, die nicht mit moralisierenden Appellen oder Skandalisierung zu beseitigen ist. Es ist wohl auch eine ungenaue Unterstellung, die Kinderwelt sei stets in gleicher Weise interaktionsoffen. Zeitweilig ist sie weit offen, dann aber wieder ziemlich verschlossen, misstrauisch abgeschirmt auch gegenüber vielen gleichaltrigen Co-Konstrukteuren. Kontingenz in Interaktionen kann sogar den Abbruch der Beziehungen implizieren. Oder später: Neuanfang von „neuen Ufern“. Die Strukturierung von Interaktionen erfolgt damit nur begrenzt linear, manchmal zyklisch, heute offenbar öfters in wellenförmiger Abfolge schubweise und immer sozialdifferenziert (Grundmann 2000). Damit werden Fragen von Strategie und Taktik, Umsicht und situativem Fingerspitzengefühl, Empathie, Taktgefühl, rascher Auffassungsgabe, performativer Präsenz, „punktgenauer Reaktion“, Improvisationsvermögen und sozial durchaus unterschiedlich verteiltes, ausgesprochen praktisches Wissen für kurzfristigere Inszenierungen tendenziell immer wichtiger (Hörning 2001). Und in einer Kinderkultur, die durchaus eine „raue Streitkultur“ hat (Krappmann 1993: 371; 1999: 243f.; Geulen 1999: 41f.), liegt Erfolg und Misserfolg hier viel enger bei einander, als dies Erwachsene gewöhnlich wahrhaben wollen (Bukow 1999: 13; 2000: 19ff., 171ff.). Verhandeln – unter stets beschränkten und konditionalen Voraussetzungen – ist eine Chance. Es gibt aber keine Garantie für Chancengleichheit und den Verhandlungsverlauf im öffentlichen wie im privaten sozialen Raum (Nissen 2003: 215; Preuss 1990: 56). Eltern-Kind-Beziehungen unterscheiden sich in vieler Hinsicht von anderen Interaktionen. Traditionell und weitgehend auch noch normativ geht man heute davon aus, dass sie asymmetrisch sein müsen. Doch oft wird übersehen, dass Normen sozusagen Rost anlegen können und dass sie in ganz verwirrender, widersprüchlicher Form zur Anwendung kommen können. Manchmal wird sogar die Normrhetorik beibehalten und die sozialen Verhältnisse werden dennoch auf den Kopf gestellt. Es ist jedenfalls nötig, künftig genauer die realtypischen Interaktionsverläufe zu untersuchen. Vor allem die Untersuchungen Krappmanns führen hier weiter, weil er sich von der Piaget-Kohlbergschen Universalgrammatik der ontogenetischen Stufen immer weniger seinen theoretisch-empirischen Blick trüben lässt. Die
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tatsächlichen Machtressourcen entsprechen jedenfalls kaum noch der traditionellen Norm in der „Verhandlungfamilie auf Zeit (Beck). Familien-Situationen unterscheiden sich vor allem dadurch, dass die Familienmitglieder nicht einfach Kompetenz besitzen oder erwerben, sondern sich völlig ungeschützt immer wieder präsentieren und diese nachweisen müssen, weil sich z. B. „Familienmenschen“ dauernd hautnah beobachten und dieser Fremd- und Selbstbeobachtung nur beschränkt ausweichen können. Und dazu ist noch zu bedenken, dass sich jedes Familienmitglied auf Dauer eine Art Unterstützungs- und Bündnissystem aufbaut, auf das bei Gelegenheit zurückgegriffen werden kann. Jede Familiengruppe besitzt ein Sympathie-, ein Sach- und ein Machtsystem (Lüschen 1989: 442). Je nachdem vertieft oder flacht sich die Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern ab, gewinnt so Relevanz und „seelische Zentralität“ (Simmel) oder wird zur „sekundären Zone“ (Durkheim). Die Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern sind keineswegs immer schlechter als früher, aber zugleich anspruchsvoller und labiler, und werden offenbar von Erwachsenen und Kindern immer wieder unterschiedlich gesehen (Krappmann 2002: 68, 71ff.). Neben den Geschwistern, wenn sie vorhanden sind, spielen die Beziehungen zu ungefähr Gleichaltrigen heute weit früher und stärker als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten eine bedeutende Rolle. Von großer Bedeutung ist, ob und wie sich die Beziehungen zwischen Familie und Peer-group einpendeln. Selektionsprozesse spielen hier – bewusst und unbewusst – offenbar eine eminente Rolle (Mansel 2000: 192ff.). Gleichaltrige schwören sozusagen auf strikte egalitäre Normen. Man nennt das manchmal aus überheblicher Erwachsenenwarte „Idealismus“ und lächelt darüber, zumal man unschwer erkennen kann, dass die Interaktionspraxis nicht immer damit übereinstimmt und eher als „raue Streitkultur“ verstanden werden kann. Immerhin scheinen sich Gleichaltrige manchmal toleranter, zuweilen aber auch schroffer und erbarmungsloser als Erwachsene zu verhalten. Da sich alle Gleichaltrigen auf Identitätssuche befinden, bieten die von ihnen beherrschten Interaktionsfelder ein besonders geeignetes Übungsfeld, um Frustrationstoleranz und Aggressionskontrolle aber auch alle sozialisatorische Grundqualifikationen zu lernen und auszuprobieren. Sicher ist das freilich nicht. Auch eine leichtere Einübung gruppenspezifischer Gewaltnormalität und entsprechender Interaktionsrituale ist im Prinzip jederzeit möglich. Viele Kinder haben Geschwister. Sie sind einerseits vertrauter als außerfamiliale Spielpartner. Andererseits besitzen sie ein hohes Wissen über die Schwächen der Kinder und können lästig werden. Dennoch scheinen sie oft besonders günstige Sozialisationsvoraussetzungen zu bilden. Sie sind zweifellos immer Miterzieher und nicht nur beiläufige Sozialisationsfaktoren. Die außerfamilialen Gleichaltrigen-Beziehungen behalten heute selten über längere Zeit den Charakter einer homogenen Sozialisationsinstanz. Ihr Einfluss wird größer, wenn die Familienbeziehungen angespannt sind. Gleichaltrigen-Beziehungen weisen oft eine hohe Fluktuation auf und bestärken durch ihre Flüchtigkeit oft den Eindruck, dass alltägliche und biographische Grundentscheidungen beliebig revidierbar seien, was sie selten tatsächlich sind. Einmal treten sie als ausdifferenzierte Gruppe, dann wieder als lockeres Interaktionsgeflecht oder -netz und nicht selten als extrem gelegenheitsorientiertes Interaktionsfeld oder szenenartiges Arrangement auf (Oswald 1993: 353). Und überraschenderweise gewinnen sie gerade in diesen variablen Formen und nicht – wie Eisenstadt annahm – als stabile „interlinking sphere“ oft große sozialisatorische Bedeutung. Wichtig aber bleibt, dass die Kindheitssoziologie künftig auch das verschiebbare Verhältnis von inhärenter und struktureller Interaktionsgleichheit erforscht (Krappmann 1999; 2002: 67ff.). Armut macht
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sich hier immer als Armut in sozialen Beziehungen und gesellschaftlicher Partizipation geltend.
6.7 Kinder als Außenseiter Die Dynamik zwischen konfligierenden Kindheitsvorstellungen hat also auch sozialstrukturelle Gründe. Sie macht in der Moderne Kinder immer wieder zu Außenseitern (Zeiher 1996: 7ff.). Wie mit Naturgewalt entstehen oft – weltweit betrachtet – aus Außenseitern soziale Minoritäten durch soziale Segregation (James 1998: 30ff.). Fremd – und Selbstverstehen, die Sicht von „innen“ und von „außen“, werden zwar nach sozialkonstruktivistischer Sicht immer wieder übersetzt (externalisiert), greifen ineinander, sind aber wohl nie völlig deckungsgleich. Eigenes Erleben oder der Blick von innen und der eigene, immer auch subjektiv verankerte Interaktionsbeitrag wird meist als relativ transparent imaginiert, selbst wenn uns heute nicht nur Psychoanalytiker darauf verweisen, dass sich kein Mensch selbst über die Schulter zu schauen vermag. Fremdverstehen ist aber wohl doch wesentlich schwieriger. Sie ist allenfalls als Annäherung möglich und bleibt prekär und sehr lückenhaft. Oft führt sie in äußerst gewagte Analogieschlüsse, Extrapolationen, wilde Projektionen. Daraus folgt eine ausgeprägte Neigung, in in-group/out-groupKategorien zu denken und schließlich auch dazu bereit zu sein, unliebsame oder unbequeme „Außenseiter“ zu diskriminieren und auszuschließen (Goffman 1967: 140ff.). Das ist nicht nur im mikrosoziologischen Nahbereich so. Sozialstrukturelle Wandlungsprozesse erwecken Ängste. Sie führen auch dazu, dass ganze Bevölkerungsgruppen als Außenseiter oder „gefährliche“ soziale Minderheiten abgestempelt werden. Gesellschaftliche Wahrnehmung und sozialer Vergleich verortet auch Kindheit im Prozess sozialer Differenzierung und gesellschaftlicher „Distinktionskämpfe“ (Bourdieu) in ganz bestimmten „Erstsortierungen“, denen zusätzliche Statuszuschreibungen unmittelbar nachfolgen. Individuelle Ausgrenzung und kollektive Verweigerung fordern jedoch ganz unterschiedliche Bewältigungsformen. Aber kann man im Zeitalter der gefeierten oder beklagten „Kindzentrierung“ und „Vergöttlichung des Kindes“ (Lenzen) wirklich von einer Marginalisierung von Kindheit und Kindern ohne Übertreibung sprechen? Seit Jahren werden doch sogar die Curricula von der Grundschule nach bekannten Entwicklungsstufen der Entwicklungspsychologie eingerichtet (Heinzel 2002: 551). Es gibt doch sogar öffentliche Aufrufe, ein Herz für Kinder zu haben. Doch die Kinderkultur kommt fast nirgendwo außerhalb der Kinderforschung vor. Hin und wieder wird auch wieder verstohlen die Rede laut, seriöse Erwachsene mögen sich nicht mit „Kinderkram“ befassen (Pieper 1994). Kinder erfahren immer noch nicht Inklusion in alle zentralen sozialen Institutionen. „Allinklusion“ (Luhmann), wie es dem Anspruch einer funktional differenzierten und demokratischen Gesellschaft entspräche, ist wohl ein frommer Wunsch. Die Kumulation gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und sozialer Mobilitäts- und Flexibilisierungsansprüche verändern laufend die gesamtgesellschaftlichen Chancen- und Risikostrukturen, wobei viele Kinder nach wie vor keine günstige Startchance geschweige denn lebenslang Chancengleichheit besitzen. Der Zunahme von Lernorten entspricht auch eine Zunahme der Orte, wo nicht gelernt werden kann. Der Zunahme von Spielorten korreliert auch eine Zunahme der Orte, wo Zeit für „nutzlose“ Geschäfte nicht
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nutzlos vergeudet werden darf. Dies hat zur Folge, dass gesellschaftliche Asymmetrien unsichtbare Barrieren entstehen lassen (Honig 2002: 316f.). Die Kindheit ist sicher keine natürliche, aber nach wie vor eine strukturelle Zeit der Weichenstellung. Für viele Kinder besteht eine Modernisierungs- und Individualisierungsfalle (Ecarius 1996: 192ff.). Massive Diskriminierung von Kindern ist gewiss nicht mehr die Norm, aber „Chancengleichheit“ wird gesellschaftlich wie politisch fast fatalistisch hingenommen, obwohl viele um die Mechanismen früher Weichenstellung wissen. Kinder werden ungefragt in diese Welt hinein geboren und ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als sich durch Erziehung entwickeln zu lassen. Kindheit ist in unserer modernen Vorstellung schlechterdings eine „Erziehungstatsache“ (Bernfeld). Doch dauert diese uns so geläufige „soziale Tatsache“ unterschiedlich lange und vollzieht sich in unterschiedlicher Intensität. In vormodernen europäischen Gesellschaften mussten viele Kinder mit 6 oder 7 Jahren fast ebenso hart wie Erwachsene arbeiten. Von einem Schutz- und Schonraum bis mindestens zum 14. Lebensjahr konnte keine Rede sein. Und 6-jährige Straßenkinder in Südamerika müssen oft schon für ihren eigenen Lebensunterhalt und manchmal den der Herkunftsfamilie sorgen. Immerhin zeigen auch pathologische Phänomene (Autismus), dass ein gewisser Widerstand gegen Entwicklung und Erziehung möglich ist, der bis zum „Kaspar-Hauser-Syndrom“ und zu „wilden Kindern“ ohne jegliche Erziehung gehen kann (Malson 1972). Und „Entwicklung“ kann auch als „geraubte Kindheit“ erscheinen (van de Loo 1993; James 1998). Sind das schlichtweg und rundum „abnormale Kinder“ und „Stammesmitglieder“, die sozusagen einen eigenen, widerständigen, minoritären „Stamm“ in einer feindseligen Erwachsenengesellschaft bilden oder beides in unterschiedlichen Situationen und Handlungsbereichen und zu unterschiedlichen Zeiten zugleich, evtl. zeitversetzt? Die normativen Standards der Ersten Welt sind nicht die der Dritten Welt und nicht die der vormodernen Gesellschaften. In unseren Breiten kann man jedoch in der Regel davon ausgehen, dass es sich hier zunächst um eine inhärente Entwicklungsabhängigkeit handelt. Deren Auftauchen findet ein gesellschaftliches Echo, provoziert sozusagen spezifische gesellschaftliche Bedingungen, unter denen Entwicklung und Erziehung konkret stattfinden können. Seit ca. 200 Jahren können Kinder mehr oder minder selbstverständlich erwarten, Kindheit als Schutz- und Schonraum und Zeit des Lernens und Spielens vorzufinden. Zeiher spricht hier von „Binnenwahrnehmung“, weil sie innerhalb der Gesellschaft besondere soziale Strukturen als „Reaktion auf die Entwicklungstatsache“ für unbedingt notwenig ansieht (Zeiher 1996: 10). Zugleich rückt dieselbe Gesellschaft diesen Bereich, den „Kinderkram“, ganz an den Rand des gesellschaftlichen Interesses und betreibt seit Jahrhunderten eine Marginalisierung der Kinder. Sie macht im Vergleich und in der Relation von Kindheit zu zentralen Relevanzen der Gesellschaft, Kindheit zum Randphänomen und Kinder zu Außenseitern. Weit über ihre „natürliche“, inhärente Verletzlichkeit hinaus werden so Kinder strukturell als Abhängige und „Hilfsbedürftige“ marginalisiert, vielleicht sogar zu einer QuasiMinderheit etikettiert (Joos 2002: 45). Die spezifische Konstellation des gesellschaftlichen Institutionensystems begünstigt strukturell, aber kaum auf den ersten Blick transparent, eine „Außensicht“ und damit eine „Eigendynamik in der Entwicklung der Wahrnehmung“ und eben implizit konfligierende Kindheitsvorstellungen, die bei allem guten Willen im Einzelnen nicht zur Deckung zu bringen sind. In dieser „Außenansicht“ geht es um die „Art und Weise der gesellschaftlichen Konstruktion der Abhängigkeit der Generationen“, also um
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die gesellschaftlichen Machtstrukturen der modernen, von Erwachsenen dominierten modernen Gesellschaften. Das Leitkonzept der „kindgemäßen“ Erziehung birgt ein Paradox in sich: „Kinderfreundlichkeit“ im persönlichen Umgang und „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ in der von der Ökonomie dominierten Öffentlichkeit bestehen offensichtlich nebeneinander (Zeiher 1996: 12; Engelbert 1986; Qvortrup 1993; Kaufmann 1995; Vetter 1999). Und dies ist übrigens auch die Quintessenz des modernen, in sich gespaltenen Sonderstatus von Kindern: hohe Anerkennung und Bewertung im Privatbereich und eigentlich immer noch geringe Chance gesellschaftlicher Partizipation und Prestige in der Öffentlichkeit. Die öffentliche Rhetorik freilich vermittelt gerade das gegenteilige Bild: Hohe Bedeutung der Kinder als künftiges „Humankapital“ in der Öffentlichkeit – geringer Nutzen oder nur Kostenfaktor im Privaten (Bühler 1996; Zelizer 1985; Nauck 2001). Diese Paradoxie wird selten erkannt. Das Ideal „verantworteter Elternschaft“ hat sich bis zu einem gewissen Grad im Familienrecht der letzten Jahre niedergeschlagen und ist rhetorisch weit verbreitet, dient vielleicht sogar im Einzelfall zur Selbstausbeutung der Eltern. Man kann vielleicht sogar die These aufstellen, dass bei der gesellschaftlichen Umdeutung von Familie und Elternschaft vom (ungewollten) Schicksal zu einer Lebensentscheidung die soziale Norm nicht an Verbindlichkeit eingebüßt hat (Kaufmann 1995: 128f.). Man muss dabei allerdings aufpassen, dass man angesichts zunehmender Kinderlosigkeit nicht in hermeneutische Akrobatik verfällt. Noch viel schwieriger sind die beträchtlichen Zahlen von Kindesmisshandlung und sexuellen Missbrauch mit dem Ideal zu vereinbaren. Das zunehmende, manchmal aber doch widersprüchliche familiale Engagement beider Eltern, zunehmend auch des Mannes, verträgt sich aber in der Gesellschaft offenbar durchaus mit einer Haltung, die die Marginalisierung der Kinder in der Öffentlichkeit hinnimmt. Die Marginalisierung von Kindern zeigt sich auch daran, dass man zeitliche, soziale und materielle Nachteile von Eltern hinnimmt und so eine Option für Kinder zumindest als eine zwiespältige erscheinen lässt. Sie zeigt sich auch daran, dass die funktional differenzierte Gesellschaft Kindern nach der Geburt sehr viel (bezahlte) Indifferenz entgegenbringt und die Zeitrhythmen der sozialen Zeiten eigentlich immer noch wenig kinderfreundlich gestaltet. Bezeichnenderweise diskutiert man gleichzeitig über „Elterngeld“, das allen jungen Eltern die Chance für Familie und Beruf garantieren soll, und über einen „Familienfreibetrag“, der in erster Linie den Familien zugute kommt, die ihn eigentlich gar nicht brauchen. Man fordert von Betrieben zu Recht mehr „Familienfreundlichkeit“ und diskutiert doch fast ausschließlich ökonomisch über die Verlängerung der täglichen, wöchentlichen und lebenszeitlichen Erwerbsarbeit und Flexibilität. Wann sollen denn junge Menschen denn Eltern sein, wenn ihnen permanent die Botschaft signalisiert wird, absolute Flexibilität und Disponierbarkeit seien die Voraussetzungen für Erfolg im Beruf und Lebensglück? Am wahrscheinlichsten ist nicht eine Entmarginalisierung „der“ Kinder, sondern eine wachsende Polarisierung von Familie und Kinderlosen und eine Spaltung wohlhabender und prekärer oder armer Familien (Griese 2000: 246ff.; Butterwegge 2004; Huster 2002: 43ff.). Wenn Partnerschaften in prekären Verhältnissen leben, werden sie bei der Geburt von Kindern in reichen Gesellschaften arm. Und armen Kindern fehlt es keineswegs nur materiell am nötigen Rüstzeug im Leben in „postindustriellen“ Gesellschaften (Leu 2002: 11ff.; Kaufmann 1995: 134). Noch immer geht offensichtlich eine gesellschaftliche Mehrheit in manchen westlichen Ländern davon aus, dass Kinder von Natur Außenseiter sind und es auch bleiben sollen, weil sich das angeblich später von alleine ausgleiche.
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6.8 Dekonstruktion der sozialen Kategorie „Kindheit“ und ihre sozialstrukturelle Relationierung Epistemologisch bestimmt Honig im Anschluss an Alanen und Lüscher den Forschungsgegenstand der Kindheitssoziologie als konstruierte bzw. zu dekonstruierende und zu rekontextualisierende und sozialstrukturell zu relationierende „Kindheit“. Mit einer analytischen „Strukturkategorie“ und ihren jeweiligen Anbindungen könne sowohl die Sozialgeschichte der Kindheit wie die synchrone Kindheitsforschung ihren Forschungsgegenstand voll erfassen. Die Strukturkategorie lasse sich auf ihre jeweiligen binären Konstruktionen der Differenz von Kindern und Erwachsenen sowie auf die gesellschaftlichen Muster von Relationen zwischen Kindheit, Familie, Jugend, Schule, öffentlichem Raum, politischen Institutionen, Arbeitsmarkt abfragen und beschreiben. Sie ließen dabei stets auch Ambivalenzen einer „generationalen Ordnung“ erkennen. Der Umgang mit ihnen bestünde heute vor allem in einer politischen Antwort, einer unterschiedlich konzipierbaren, möglichst zwischen den Generationen vermittelnden „Kinderpolitik“ (Honig 2002: 310; 2002: 13ff.; 2000: 264ff.; 1999). Das Erkenntnisinteresse der soziologischen Kindheitsforschung liege in der systematischen Beschreibung der Institutionalisierung von Kindheit im Rahmen der „generationalen Ordnung“. Kindheit sei demnach nicht als Ausgangspunkt sondern als gesellschaftliches Ergebnis zu erforschen. Ursprünglich ging es Honig darum, die gesellschaftlichen Bedingungen dafür zu finden, dass offensichtlich der zwischen öffentlichem und privatem Bereich gespaltene moderne Sonderstatus des Kindes und das normativ codierte soziale Moratorium in den letzten Jahrzehnten sich aufzulösen begannen. Die leitende Hypothese Honigs war, dass dies nicht auf diese oder jene der vielfältigen Änderungen der Sozialisationsbedingungen, sondern auf die Kapazitätsgrenzen des modernen Kindheitsmodells selbst zurückzuführen sei. Bei Honig blieb indes lange Zeit unklar (Honig 1996: 9f.), ob diese theoretische „Anomalie“ von einer revidierten Sozialisationsforschung aufzufangen ist, oder ob dies einen ganz neuen Anfang erforderlich macht. Wenn nicht alles trügt, hat er sich nun für eine kindheitssoziologische Neukonzeption entschlossen, die sich freilich alle Türen offen hält. Der paradigmaähnliche Perspektivenwechsel in der Kindheitsforschung sei nur deshalb möglich geworden, weil die enorme Ambivalenz der modernen Konzeption einer pädagogisch interpretierten „Entwicklungstatsache“ (Bernfeld) und der damit eng verbundenen advokatorischen Ethik sich nicht länger verheimlichen lasse: Schutz und Schonraum für Kinder gingen Hand in Hand mit Abhängigkeit und Bevormundung – oder, wie es Qvorstrup und Beck zugespitzt sagen, mit „fürsorglicher Belagerung“. Diese Einsicht fordere theoretischmethodische Konsequenzen. Die bisherigen Kinderwissenschaften hätten sich in einem Dilemma zwischen Historisierung und Anthropologisierung verfangen. Es gehe also um ein eigenes kindheitssoziologisches Paradigma oder Forschungsprogramm, das sich endlich der Problematik der Konstitution des Forschungsgegenstandes der Sozialisationsforschung, das „vergesellschaftete Subjekt“, seiner „Handlungsfähigkeit“ (agency) konsequent zuwende (Honig 1996: 14ff.) und dessen latente Normativität kritisch reflektiere. Die Kindheitsforschung müsse sich endlich aus dem pädagogisierenden Blick lösen – und sieht sich gleichwohl von der „pädagogischen Differenz“ gefangen (Honig 2002: 23f.). Forschungspragmatisch weist Honig der soziologischen Kindheitsforschung also zwei Aufträge zu. Einmal müsse sie die geschichtlichen Ausprägungen der Kindheitssemantik (Strukturkategorie) und
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zum anderen ihren sozialstrukturellen, relationalen Stellenwert ermitteln, der sich in einem stets ambivalenten Generationenverhältnis dokumentiere. Hier zeigt sich, dass Honig wichtige Anstöße von Alanen empfangen hat. Schon Alanen (1997: 162ff.) hatte in Anlehnung und Auseinandersetzung mit der Frauenforschung wie andere skandinavischen und angelsächsischen Autoren gefordert, Kindheit sei nicht weiterhin nur als abhängige Variable und Appendix der Familie, sondern ohne jeden Unterschied wie jedes andere soziale Phänomen, auch als unabhängige, als eigene analytische, strukturelle Kategorie zu erforschen, und Kinder seien ohne Vorbehalt als forschungswürdige, eigene Bevölkerungsgruppe theoretisch zu konzipieren. Kindheit müsse demnach auf die ihr zugrunde liegende soziokulturelle Definition sowie deren kritische Dekonstruktion und ihren Stellenwert bei der Chancen- und Ressourcenverteilung zwischen den Generationen, also der „generationalen Ordnung“, hin thematisiert werden. Der politische Akzent wird hier insofern deutlich, als Alanen eine „mögliche Strategie der Einbeziehung von Kindern in die soziologische Darstellung des sozialen Lebens“ fordert. Honigs anderer Referenzautor Lüscher hat seit einigen Jahren in vorsichtig-heuristischer Anlehnung an das postmoderne Denken den Gedanken einer prinzipiellen Ambivalenz der Generationsbeziehung in die familienpolitische Diskussion eingebracht. Das Problem des „Umgangs mit Ambivalenz“ (Lüscher 2002: 322) zwischen Generationen scheint Honig geeignet, ein ausreichend komplexes Konzept von Kinderpolitik zwischen einer advokatorischen und emanzipatorischen Orientierung zu entwickeln. Damit könne die Kindheitssoziologie kategorial und material abgerundet werden. Wenn nun also das „Kind als kompetenter sozialer Akteur“ zum begriffsstrategischen Leitkonzept werde, könne dieses durchweg als „relationales Konstrukt“ definiert werden. Damit lasse sich die „generationale Ordnung“ als „generationing“ dynamisieren, was sich in einem variablen generationalen Verhältnis von Kindern und Erwachsenen verdichte (2002: 13, 18f, 22f). Doch Honig selbst erkennt, dass dieses Leitkonzept in vielen Punkten noch höchst unklar bleibt (28ff.). Ist aber nicht schon eine analytische Strukturkategorie auch von ihren historisch-materialen Inhalten infiziert und imprägniert? Zerfließt nicht schon der soziokulturelle Begriff des Kindes in viele divergierende Perspektiven und die Relationen in eine Vielzahl möglicher und disparater Entwicklungsvarianten? Geht es bei der Frage der generationalen Ordnung um ein oder zwei Prinzipien und intergenerative Geflechte? Honig optiert für die Unterscheidung familialer und transfamilialer Generationsbeziehungen, sieht aber letztendlich keine Möglichkeit, die tatsächlichen Unterschiede anders als „pädagogische Differenz“ zu begründen. War nun der ganze Rummel um eine neue, nicht pädagogisierte Kindheitsforschung vergeblich? Relationierung versteht Honig in einem kultursoziologischen Verständnis von Institutionalisierung seltsamerweise vor allem als Normierung und überspringt damit gerade die gesamte kulturtheoretische Kritik an einem einseitigen Normativismus (Reckwitz 2000). Er verspielt damit die theoretische Chance, Kindheit konsequent als soziale Konstruktion im Wechselspiel von Strukturierung und Entstrukturierung oder einer Soziogenese und reflexiven Reaktionen darauf zu entfalten. Muss Kindheit letztlich weiterhin ausschließlich aus den normativen Setzungen der Erwachsenen abgeleitet werden? Könnte die historische Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen nicht auch und vielleicht besser dadurch geklärt werden, dass man auch den spezifischen Beitrag von Kindern für die „Reifung“ und „Emanzipation“ von Erwachsenen, die sich als „Familienmenschen“ eben auch von Kinderlosen deutlich unterscheiden, theoretisch herausarbeitet? Das postmoderne Zauberwort der
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„Ambivalenz“ wird hier von Honig oder Lüscher doch etwas zu undifferenziert überstrapaziert. Gibt es nicht den Unterschied zwischen zeitlos-inhärenter, strukturell-überschüssiger, partieller und umfassender, momentaner und nachhaltiger Ambivalenz; und nicht nur von „verantworteter“ und „unverantworteter“? Manche Ambivalenz ist auch eine Scheinambivalenz – „von oben“ wie „von unten“ betrachtet. Die Kindheitsforschung täte gut daran, statt sich weiterhin an Entwicklungslogiken oder uferlose Ambivalenztoleranzsteigerung anzulehnen, sich auf die differenzierte Beschreibung typischer Spektren der normalisierten und entnormalisierten, der „hoffnungsvollen“, „undurchsichtigen“, „zwielichtigen“, „unauffälligen“, „abweichenden“ und „hoffnungslosen“, sowohl lokal gebundener wie transnational und global ausgerichteter Formen heutiger Kindheit zu konzentrieren. Es ist auch nicht ersichtlich, dass für Alanen wie für Honig der Dekonstruktivismus etwas Anderes als klassische Ideologiekritik mit fließenden Grenzen zur Wissenssoziologie bedeutet. Für Derrida, der sich stets vom Postmodernismus distanzierte, war Dekonstruktivismus aber mehr als ein Schematismus von Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion. Er sucht nicht verschleierte Interessen oder die „Seinsgebundenheit“ (Mannheim) der Ideen. Ihm ging es vielmehr um die „Vorgeschichte“ der Geschichte, um die Entzifferung des Nicht-Offensichtlichen, das Nicht-Gesagte im Gesagten, die „originären Supplemente“ zu allen Aussagen, die Bedingungen der Möglichkeit binärer Differenzen (Waldenfels 1995: 83ff.). Nach Derrida (1976; 1994) geht es bei Definitionen nicht um harmlose Dinge, sondern um Selektion dessen, was Inhaber von Definitionsmacht thematisieren wollen. Kategorisierungen implizieren auch soziale Schließungsprozesse, in denen Identitäten geschaffen werden. Damit werden also thematische Privilegierungen (Selektion) und soziale Exklusion realisiert (Wartenpfuhl 2000: 123ff.). Durch Akzentverschiebung wird deutlich, wie das Eine durch das Andere bedingt und geschaffen wird und wie binäre Oppositionen von vielfach sich durchkreuzenden Differenzen getragen werden und sich gegenseitig verschlüsseln. Nach Derrida wäre für Kindheit wohl zu sagen, dass sowohl die Festlegung von Kindheit als biologische „Naturtatsache“, als biologisch-soziale Differenz, als Verdopplung in einer „biologischen“ und einer „soziale“ Kindheit voraussetzungsvolle soziokulturelle Konstruktionen darstellen, die folgenreiche Privilegierung eines Moments zu ungunsten anderer impliziert; auch wenn das weder beabsichtigt noch entdeckt wird. Dabei sind auch die Semantik und ihre Konnotationen der Unterscheidung biologisch-sozial nicht zeitlos und fixierbar und werden fortwährend durch Verschiebungen irritiert. Wo ein krasser altersspezifischer Gegensatz erfahrbar war, ist ebenso gut eine schlichte Differenz oder ein Bündel sich überkreuzender Differenzen herstellbar. Derrida kann auch eine wissenssoziologische Beschreibung der Wissensproduktion, -verteilung, des Wissensverfalls und der Wissenstransformation sensibel dafür machen, dass in jeder Konstruktion (und Dekonstruktion) eine Wissenslücke klafft, die nicht durch noch soviel methodische Akkuratesse beseitigt werden kann. Sie liegt einmal in der Situation, in der konstruiert wird. Der Konstruktionsakt und die Konstruktionssituation sind auch nicht mehr Teil der Konstruktion. Und das, was konstruiert werden soll, ist geschichtlich mindestens in roher Form und im synchronen Alltagswissen und der Umgangssprache längst vorkonstruiert (Waldenfels 1999: 96). Das soziale Wissensgefälle in der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit und ihrer Spannungsfelder wird durch historisch einund ausschließende Fremd- und Selbstzuschreibungen konturiert, die nie abschließend durchschaubar wären.
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Die Zugehörigkeit von Kindern als „kompetente Akteure“ fungiert heute als „Horizont der Inklusion“ – aber eben nicht ständig und für alle Kinder dauerhaft gleich. Sie erhält ihren sprachlichen Ausdruck in den Personalpronomina: Ich, du, er, sie, es, etc. und manifestiert sich in Konstellationen von „Ich-Wir-Balancen“ (Elias) und ihren Übergangsstrukturen. Die sprachlichen Unterscheidungen sind keine äußerlichen Etikette für funktionalistische Positionszuweisungen sondern voraussetzungvolle und folgenreiche Sinnrahmungen (Stenger 1998: 171f.; Goffman 1974: 28; Elias 1986; Schröter 2000: 109ff.; Waldenfels 1999: 96). Während natürlich Ambivalenz nie verschwindet, absorbieren soziale Konstruktionen auch Ambivalenz. Sie repräsentieren zuweilen recht schroff und ungemütlich soziale Wirklichkeit. Was zwischen Kindern und Erwachsenen nicht zur Aussprache kommt, ist nicht einfach nichts und nicht da. Es ist nicht einmal prinzipiell und für alle Zeiten unverständlich und ambivalent. Vielmehr bleibt es unterhalb einer gegenwärtigen Verstehens- und Gestaltungsschwelle: Es ist (vielleicht noch nicht) an der Zeit.
6.9 Aufwachsen in Zeiten postmodernen Unsicherheiten Noch hat die Moderne nicht alle Faszination verloren. Der Fortschrittsenthusiasmus früherer Jahrzehnte ist aber längst verschwunden. Allgemein haben sich „postmoderne Unsicherheiten“ mächtig ausgebreitet. Sie haben auch die Kindheit eingeholt (Herlth 2000). Vor ca. 15 Jahren ist auch in der Soziologie debattiert worden, ob das Ende der Moderne eingeläutet sei, ob wir in einer „zweiten“, einer „reflexiven“ oder einer „dritten“ Moderne oder schon eindeutig in der „Postmoderne“ gelandet seien (Zapf 1991: 23ff.; Beck 1991: 40ff.; Münch 1998; Miller 1996). Die meisten Stellungnahmen sahen sich diesseits der Moderne. Ist nun Moderne schon ein mehrdeutiger Begriff, so der der Postmoderne noch mehr. Immerhin wird aber deutlich, dass meist keine eigene Epoche, sondern eine Art Selbstkonfrontation der Moderne mit ihren eigenen Resultaten gemeint war. In diesem Sinn war Postmoderne durch einen radikalen Pluralismus, durch intensivierten Individualismus, durch Auflösung aller „Großen Erzählungen“ (Religion, Metaphysik, Geschichtsphilosophie, Utopien, Ideologien), Ganzheiten und Identitäten, eine Diffusion zwischen primärer und virtueller Realität und schließlich – und vielleicht am folgenreichsten – durch die Erosion oder Relativierung einer bestimmten Subjektvorstellung gekennzeichnet, die die gesamte Moderne seit ca. 400 Jahren bestimmt hatte: der Mensch als vollkommen autonomes und anthropozentrisches Wesen im vollen Besitz seiner Verstandeskräfte (Welsch 1996; Waldenfels 1995; Taylor 2001: 166ff.). Ganz im Sinne der eingefleischten Postmodernisten betrachtete Lenzen (1997: 129ff.) die moderne, meist anthropologisch begründete Konzeption der Kindheit als eine obsolete Mythologie. Wesentlich vorsichtiger optierte Lüscher (Lüscher 1997: 94ff.) für das Konzept „postmoderner Ambivalenz“ als heuristische Kategorie. Doch auch bei ihm wird nicht recht deutlich, was „verantworteter Umgang mit Ambivalenz“ in der heutigen kindlichen Lebenssituation meint: Aushalten von Ambivalenz, Ambivalenztoleranzsteigerung, Reduktion der Ambivalenz auf ein lebbares und praktikables Niveau? Zuvor (1976: 129ff.) hatte Lüscher einen Theorievorschlag in ganz andere Richtungen vorgetragen: eine anthropologisch begründete und sozialökologisch gestützte Darstellung einer typenfesten „Kinderrolle“, wovon jetzt offensichtlich nur eine anthropologische Not-
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wendigkeit zur Diskursivierung („Familienrhetorik“) übriggeblieben ist. Im Mittelpunkt seiner früheren Beiträge stand die Familie sozusagen als „Nullpunkt“ einer sozialökologischen Konzentrik „verschachtelter Ökosysteme“ und einer sozialökologischen Sozialisationstheorie (Lüscher 1985: 13ff.). Hingegen blieb seine angekündigte wissenssoziologische Fundierung immer eigentümlich blass, beschränkte sich auf die Voraussetzungen der Elternkompetenz und neuerdings auf die Bedeutung der Familienrhetorik für die Familienpolitik und die Interpretation der advokatorischen Ethik des Erziehungsverhältnisses. Häufig blieb dabei auch die Differenz zwischen sozialräumlich-sozialökologischer und lebensweltlicher Orientierung ziemlich unklar. Die sozialphänomenologische Konzentrik-Hypothese geht aber mit H. Plessner davon aus, dass Menschen über keine gesicherten Zonen der Vertrautheit verfügen und sich die empirische „Zonenstruktur“ in beständigen Umbrüchen „zwischen der heimischen Zone vertrauter Verweisungen…und der unheimlichen Wirklichkeit der bodenlosen Welt“ (Endreß 2001: 179; Soeffner 2000: 395) immer erst herauskristallisieren muss. Im Prinzip kann sie dann empirisch konzentrisch in unterschiedlicher Ausformung, polyzentrisch oder dezentrisch ausfallen, konvergiert aber nie einfach mit der geographischen Umwelt (Alheit 1994; Soeffner 2005: 395). Dabei ist die Familie bei kleinen Kindern zwar nach wie vor von großer Bedeutung, aber keineswegs das einzige und automatisch das überragende Sinnzentrum, was vielfach Eltern „in glückseliger Unwissenheit“ freilich oft verdrängen. Hier wäre nun eine wissenssoziologische Analyse der Familie aus verschiedenen inner- und außerfamilialen Perspektiven und der Bedingungen ihrer Verknüpfung und Verflechtung, auch mit anderen Relevanzsystemen, am Platz gewesen. Strittig wird damit nicht nur der Begriff der Familie einschließlich der Kompetenz der Kinder, sondern auch der des advokatorisch denkenden Erwachsenen, nicht nur weil er von kinderlosen Erwachsenen immer stärkere Konkurrenz erfährt, sondern selbstverständlich auch, weil sich – nicht erst postmodern – die Ambivalenz advokatorischer Ethik unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen gar nicht mehr verheimlichen lässt: wo beginnt Fürsorge in Bevormundung umzukippen? Kinder selbst in ihren verschiedenen sozialen Relationen und Kontexten mit, neben, gegen Erwachsene erzeugen in Auseinandersetzung mit Institutionen ihre Relevanzstrukturen (Beck 1997: 9ff., 195ff.). Diese sind nicht einfach das Resultat erzieherischer Motive. Es geht Lüscher mit seinem Rückgriff auf den Postmodernismus nicht wie Derrida darum, dass bisher im eiligen Sortieren Verschwiegene, Tabuisierte, Übersehene, Ungesagte oder Unsagbare aufzudecken. Vielmehr soll die Familiensoziologie darauf hinweisen, dass der Entwicklungsbegriff auch für überraschende Entwicklungen geöffnet werden muss. Das ist angesichts des „soziologischen Präsentismus“ (Assmann) und der Vorliebe für Entwicklungslogiken ein wichtiger Hinweis, bedürfte aber der Applikation auf die Theorie der Kindheit. Lüscher versteht die Gestaltung von Generationsbeziehungen als gesellschaftliche Zuschreibung von Ambivalenz statt als Ambivalenzabsorption (Lüscher 2002: 330). Ob sie das eine oder andere ist, ist aber keine prinzipielle oder theoretische, sondern eine empirische Frage. Lange (2000: 209ff.) versucht nun im Anschluss an Lüscher die postmodernen Unsicherheiten im Horizont einer „massiven Kulturalisierung der Gesellschaft“ genauer auszuleuchten. Diese werte die Ebene der öffentlichen Diskurse und Rhetorik auf. Genauere Differenzierungen dieses Trends werden allerdings ebenso wenig berücksichtigt wie Gegentrends oder partielle Stagnation, Brüche, Fragmentierungen. Es werden nur Belege für
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die aufgeführten Trends gesammelt. Viel plausibler scheint ihm die Arbeitshypothese, dass Kinder neu verfügbares Wissen souverän im Rückgriff auf schon bestehende Symbolvorräte nützen. Differentielle Bedingungskonstellationen werden nur am Rande angedeutet, Distanzierungstechniken erscheinen durchweg zugänglich. Schließlich stellt er fest, dass sich „eine dichte, bilder- und zeichenreiche Medienökologie, die die heutige Kindergeneration mit einer reichen Palette von Identitätsbausätzen, mit speziellen, kindgerechten Informationen und Wissen konfrontiert“ (219) hat. Er räumt später ein, dass dies keineswegs eine „risikolose“ Rezeptions- und Konsumsituation „zwischen Fremdsteuerung und Selbstselektion“ darstelle (221). Es bleibt aber der Gesamteindruck eines allzu optimistischen „Umgangs mit Ambivalenz“. Ist es schon eine Illusion, Erwachsenen eine „Konsumsouveränität“ anzudichten angesichts der unzähligen Wissensprobleme und notwendigen Abstimmungen (Jäckel 2004: 125f., 153ff.), so grenzt es schon fast an Zynismus, dies Kindern zuzumuten, auch wenn man sie heute durchaus als „aktive Konsumenten“ bezeichnen kann: „Der kindliche Rezipient kann unter Gebrauchsvarianten flexibel wählen – mehr aber nicht, denn an vorstrukturierte Erlebniswelten bleibt er gebunden. (…) Hier entstehen Dynamiken, die wir auch unter dem Stichwort der wachsenden Wissenskluft in unserer Gesellschaft diskutieren sollten“ (Neumann 2001: 108).
6.10 Das Kind als aktiver Konsument Es gibt wohl keinen Zweifel mehr: die klassisch moderne Erziehungs-, Lern- und Spielkindheit ist in den letzten 3 Jahrzehnten von einer Konsum- und Medienkindheit überlagert worden (Preuss 1983; Lange 2000: 221; Hengst 1996). Wie sollte das in einer von Erwachsenen forcierten Konsumgesellschaft denn auch anders sein? Zwar verschwindet damit nicht einfach der Einfluss von Familie und Schule etc. Sie sind aber längst unter Marktimperative geraten und können sich diesen nur mit Mühe entwinden. Im Bereich der Politik demonstriert das der absolute Vorrang der Wirtschafts- vor der Familien- und Bildungspolitik trotz der Human-Kapital-Rhetorik (Kaufmann 1995: 75f.). Und Kindern selbst wird längst allgemein zugemutet, sich selbstständig, so früh wie möglich und mit Kompetenz im Medien- und Konsumbereich zu bewegen (Feil 2003). Das hat wohl auch eine zeitliche Vorverlagerung der jugendkulturellen Aktivitäten in der Szenenbildung zur Folge. Und es hat zur Konsequenz auch, dass auch in kindheitssoziologischen Diskussionen der Medienund Konsumbereich nicht mehr als abhängige sondern als unabhängige Variable höher eingestuft wird (Lange 2000: 222). Doch bedeutet dies auch automatisch eine Steigerung kindlicher Handlungskompetenz und, dass die meisten Kinder sich als „kleine Erwachsene“ auch zurechtfinden, wenn das Optionenspektrum unübersichtlich wird (Hurrelmann 1997: 76; Lange 2000: 217; Neuman 2001: 91ff.; Hengst 2000)? Konsum, Mediennutzung und Marktfähigkeit haben nicht nur einen materiellen und informativen sondern auch einen symbolischen Aspekt. Umfang, Qualität, Struktur und Wissen um diese Aspekte verweisen auf Prioritäten „seelischer Zentralität“ (Simmel) oder Marginalität und den gesellschaftlichen Stellenwert von Medien und Konsum bei der Statusgenerierung. Unabhängig von der tatsächlichen Liquidität ist die imponierende Größe der „Kaufkraft“ mit einer Symbolwirkung behaftet, die das Marketing der Wirtschaft ganz offensichtlich begehrlich macht (Feil 2003). Und meist wollen Kinder heute nicht „kindliche“ sondern „ernsthafte“ Angebote, die insgeheim an der Konsumtüchtigkeit der Erwach-
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senen Maß nehmen. Und jeder einzelne Kaufakt lässt sich in verschiedene Symbolsysteme und Relevanzstrukturen übersetzen: Tausch-, Nutzen- oder Erlebnisorientierung. Konsum und Mediennutzung lassen sich selbstverständlich auch pädagogisch und normativ diskutieren. Die bislang aber fast nur normativistische Diskussion verkürzt die Problematik enorm. Es geht zuerst um Wirklichkeitsräume und Wissensordnungen, in denen erst Normen greifen können. Konsum- und Medienpädagogik senden doch paradoxe Signale aus, wenn sie zu Recht „kritische Auswahl“ predigen, aber nicht nur der Wirtschaftsminister alle Menschen pausenlos zur Konsumtüchtigkeit ermahnt. Kinder merken bald, wie der Hase wirklich läuft. Sie merken sicher auch bald, dass Konsum- und Medienkompetenz etwas mit der Machtstruktur der „generationalen“ Ordnung zu tun hat (Hengst 1996: 117ff.; Neumann 1996: 135ff.). Kinder als Mediennutzer und aktive Konsumenten nutzen nicht nur die Medien und konsumieren nicht nur tüchtig, sie werden eingerahmt von einer komplexen, Bedeutung generierenden und zerstörenden „Kommerzialisierung der Kindheit“ und einer gesellschaftlichen Definition, wie die Gesellschaft in Zukunft leben will (Beck 1993), welchen reellen Wert dabei Kindheit einnehmen soll, kann, muss. Die Taschengeld-Frage, die oft Pädagogen allein interessiert, ist dabei durchaus sekundär. Zum Taschengeld kommt noch selbstverdientes Geld, das bei allen möglichen Gelegenheiten z.B. einem Ferienjob erworben wurde. Noch bedeutender sind oft Zuwendungen von Eltern, Großeltern und Verwandten oder Freunden der Familie, die oft erstaunliche Sparguthaben ergeben. Hier ist nicht die einzelne Kaufentscheidung isoliert zu betrachten, sondern der gesamte Möglichkeitsraum konsumtiver und medialer Optionen und das damit gekoppelte Statusproblem zwangloser gesellschaftlicher Anerkennung, Inklusion und Exklusion oder die gesellschaftlichen Bedingungen eines intelligenten und nicht destruktiven „Lernens des Mehr-wollens“ (Schultze 2003: 49ff.) und symbolischen „Identitätsmanagements“ (Goffman). Dies leistet weder der „Markt selbst“ noch bloße Medienund Konsumerziehung, die die Marktkonditionierung im Grunde nicht zu lockern vermag. Die Arbeitsteilung und Solidarität der Generationen verschwindet keineswegs, aber wird sachlich als überflüssig hingestellt und marginalisiert. Dabei steuert längst nicht mehr der Blick aufs Überleben oder kognitive, soziale oder moralische Kompetenz des Kaufens und Verbrauchens einschließlich der Müllproduktion, sondern das „Erleben“ von „events“ (Lange 2000: 221f.) die kindliche Wahrnehmung. Kindern wird zunehmend immer und überall die kulturelle Botschaft übermittelt, dass sie gerade beim Kauf ihre „Selbstständigkeit“ als „Konsumsouveränität“ erfahren könnten.Quantität, Qualität und Struktur des Konsums bzw. der Konsumausgaben haben sich in den letzten Jahren völlig gewandelt. Im Vordergrund steht nicht mehr das „Überleben“ sondern das „gute Leben“. Damit hat sich auch die symbolische Rahmung des medial vermittelten Konsums gewandelt, und zwar nicht linear sondern in Schüben, Sprüngen und Wellen. Der „Warenkorb“ des Durchschnittskonsums hat sich zwischen 1950 und 2005 ungefähr verzehnfacht. Auch die Qualitätsansprüche, die freilich oft enttäuscht werden, sind deutlich gestiegen. Insbesondere Kleider, modische Accessoires, spezielle Nahrung und Getränke, Medien- und Freizeit- und Sportausstattung werden von Kindern gekauft. Die mit Zahlen beschworene kindliche „Kaufkraft“ ist freilich eine imaginäre Größe, weil viele Eltern sie kontrollieren. Sie hat sich nach Expertenschätzung mittlerweile auf zwischen 15 und 50 Milliarden Euro entwickelt (Prahl 2002: 45f., 255; Feil 2003). Diese Datenskizze wäre unvollständig, würde hier nicht auch darauf hingewiesen, dass „Naturnähe“ (in ihren verschiedenen Aspekten) für die meisten Kinder in den letzten Jahren
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deutlich teurer, für nicht wenige Kinder überhaupt nicht mehr erschwinglich ist. Oft wird sie auch gar nicht mehr produziert. Die konsumtiv geprägte Alltagsorganisation wird dadurch in mancher Hinsicht einseitiger und einfältiger. Obwohl der Konsum durch systematisches Marketing angeheizt und nicht nur das einzelne Kind angesprochen, sondern oft versucht wird, Kinder zu einer „Corporate Construction of Childhood“ zusammenzuschweißen (Lange 2000: 216; Steinberg 1997), muss auch das pfiffigste Marketing immer wieder damit rechnen, dass das kindliche Konsuminteresse erlahmt und auch Kinder nicht unter jeder Bedingung alles mitmachen. Sich Gruppenzwängen zu entziehen, ist allerdings nicht leicht. Es ist jedenfalls eine Simplifikation, dies auf eine „ganz persönliche Entscheidung“ zu reduzieren. Volle Markttransparenz, vollständige Kundeninformation, Kauf unter persönlicher materieller Sicherheit und allgemeiner Prosperität wären die Mindestvoraussetzungen für eine reichlich utopische „Konsumentensouveränität“ von Kindern.
6.11 Die soziale Konstruktion der Kinderwelt Kindheit wäre vorsoziologisch verstanden, würde sie nur, wie bei Piaget oder im Radikalen Konstruktivismus, als je individuelle kognitiv-selbstreferentielle Konstruktion begriffen. „Konstruktion“ würde auch völlig missverstanden, würde man sie als rein „technisches“ oder „technokratisches“ Machwerk verstehen. Es handelt sich hier vielmehr um kommunikative Konstruktionen (Luckmann 2002: 157ff.). Das zeigt sich besonders deutlich in der ethnographischen Kindheitsforschung. Entscheidend ist dabei, was Kinder aus unzulänglichen Diskursen und praktischen Optionen herausbrechen, und wie sie dies in interaktiven Anstrengungen lebenspraktisch verwerten (Jenks 1992: 23f.). Die ethnographische Kindheitsforschung, vor allem in ihrer ethnomethodologischen Variante, erforscht die „Perspektive“ (nicht unbedingt im Meadschen Sinn) oder die „Stimme“ der Kinder, indem sie in sorgfältiger „Dokumentenanalyse“ nach der typischen interaktiven Herstellung oder ihrem interpretativen Zusammenhang fragt, nach Prozeduren, Methoden, Verfahren von Kindern als speziellen, aber im vollen Sinn kompetenten Mitgliedern der Gesellschaft und nicht nur als zukünftige Erwachsene (Corsaro 1998; Kelle 1997: 138; 2001: 192ff.; 1998; Breidenstein 1997: 53ff.). Sie richtet ihren Fokus auf die Struktur und Qualität sozialer Situationen: Was müssen, können, sollen Kinder wissen? Was kann man von ihnen tatsächlich typischerweise erwarten, wenn sie sich glaubwürdig und eigenständig als Kinder in Szene setzen und in der Gesellschaft und der sozialwissenschaftlichen Forschung Beachtung verschaffen wollen. Somit setzt diese Form der Kinderforschung einen ganz besonders methodisch reflektierten Zugang zum Interaktionsfeld voraus (Hitzler 1997; Honer 2000: 194ff). Die Distanz wird systematisch zu einer Fremdheitsperspektive vergrößert, in dem sich die Forscher „dumm stellen“ (Hitzler) und damit gerade die kommunikative Qualität des „Forschungsgegenstandes“ hervorlocken. In dem der Perspektivenabstand (im Gegensatz zu Meads problemlos reziproken Perspektivenverständnis) zwischen erwachsenem Forscher und untersuchtem Kind vergrößert und eben nicht hermeneutisch harmonisiert wird, können, auf einem ganz ähnlichem Weg wie bei Derrida und seinem originären Dekonstruktivismus, zugleich die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern aufgehellt werden.
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Die ethnographische Methodologie geht also weder davon aus, dass die Sicht des Kindes ein konstantes, objektives und fix und fertig vorliegendes Datum ist, noch dass sie direkt abbildbar ist. Sie ist nicht Ausgangspunkt, sondern eher Zwischenergebnis eines fortlaufenden Konstitutionsprozesses. Abgesehen von ihrer gelegentlichen „Institutionenabstinenz“ besitzt die Ethnomethodologie damit viele Berührungspunkte mit dem Sozialkonstruktivismus. Theoretisch (Corsaro 1997: XV, 8, 19, 24f., 97) und methodisch rückt damit eindeutig die Soziogenese vor die Sozialisation. Kindheitssoziologie wird zur systematischen Beschreibung der Konstitution der Sozialwelt der Kinder. Erwachsene wissen eben nicht grundsätzlich besser, was Kinder sind, was sie brauchen, was sie und wie sie etwas können. Kinder sind von Anfang an die besten Experten für ihr eigenes Leben in Gesellschaft. Ethnographische Kindheitsforschung rekonstruiert die „Sicht“ der Kinder durch die Rekonstruktion ihres praktischen Wissens und ihrer Interaktionskompetenz als Mitglieder einer Kultur. Kinderkultur ist eine eigene Teilkultur mit oft halbverdeckten subkulturellen Einschlägen. In den „Abweichungen“ ihrer Alltagspraktiken von den Intuitionen der Erwachsenen und der erwachsenen Forscher über die Sicht der Kinder zeigt sich in größter Annäherung die „wahre“ Sicht der Kinder in ihrer Handlungs- oder Vollzugslogik (Kelle 1999: 99; Breidenstein 1998: 100, 102). Man muss hier allerdings vorsichtig und kritisch vorgehen, denn explizite Konzepte und Repräsentationen der Kinderkultur müssen nicht das praktische Wissen, das oft viel umfangreicher ist, widerspiegeln. Alltagspraktiken von Kindern, die ihr Leben zu bewältigen versuchen, und Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, die sie beobachten und beschreiben, können nicht einfach in die Haut des anderen wie in eine Livree schlüpfen. Sie können sich aber in ihrem Verstehen annähern oder auseinanderrücken. Daher ist Differenz zwischen ihnen eine bewegliche und keine starre. Und Sozialwissenschaftler können ihr durch minimale und maximale Kontrastierungen nahe kommen. Wenn die Soziologen die Regeln soziokultureller Praxis erkennen, sind sie den sozialen Konstruktionen der Kinder selbst auf der Spur (Kelle 1999: 99). Kinder sind nämlich ihrem Alltag so selbstvergessen hingegeben, dass sie weitgehend unfähig sind, die Regeln der eigenen kulturellen Praxis zu explizieren oder gar prägnant zu formulieren. Die regelbestimmte Ordnung im Verlauf der Praxis und interaktiven Performanz ist die kommunikative Konstruktion selbst, nicht eine Tiefenstruktur hinter dem Geschehen (Kelle 1999: 101f.), weil das konstruktive Wissen den Praktiken selbst innewohnt und im Vollzug re-präsentiert wird. Bedeutung im Verständnis der Kinder hat dabei nicht einfach das, was Erwachsene vernünftig finden. Kinder nehmen sich auch das Recht heraus, offensichtlichen „Nonsens“ sinnvoll zu finden, mit Grenzen zu spielen, sozusagen einen fliegenden Wechsel zwischen Spiel, Konsumieren, Trödeln, Spaß, Ernsthaftigkeit miteinander zu haben, Wissen auszutauschen oder zu lernen (Kelle 1999: 103). Und Kinder unterscheiden auch nicht kognitive Leistungen und Beziehungsgestaltung. Alles hat oder kann auch Konsequenzen auf die Beziehungsstruktur haben. Sie werden nicht in erster Linie von Normen angetrieben, suchen vielmehr Normalitäten und Normalisierung durch Grenzziehung und Grenzverschiebungen. Sie suchen unentwegt Vermittlungsstrategien und -taktiken, gangbare Übergänge und Abstimmung heterogener Ansprüche. Sie ziehen Schlussstriche und wagen Neuanfänge. Kurzum: es geht hier um eine erstaunlich reiche Wissenskultur, die Erwachsene oft nicht würdigen und scharf beobachten, wenn sie kindliches Verhalten nur unter dem Blickwinkel der Normkonformität oder des Normverstoßes beurteilen (Waksler 1991: 60ff.)
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Die Konstruktionsleistungen zeigen sich also nicht als selbstreferentielle, sondern als soziale Kompetenzen, die den Sinnrahmen von sozialen Situationen aufbauen, ausloten, verschieben, reparieren und stabilisieren und damit das Ausmaß an möglicher Sozialisation, Kontrolle und Kooperation präparieren (Kelle 1999: 108). Eigentümlich ist, dass Kinder oft Probleme beklagen, aber nicht ernsthaft nach Problemlösungen suchen. Sie handeln oft – trotz ihrer Klage – so als ob alles normal wäre und man einfach weitermachen könnte (Kelle 1999: 105, 110). Viele „offene Rechnungen“ werden auf später vertagt, wenn man „den Frust“ bequem heimzahlen kann. Kinderkultur hat immer auch subversiv-subkulturelle Aspekte, wobei sich immer auffällige Wissensdifferenzen, gelegentlich schon ganz früh eine Wissenskluft anzeigen. Solche Indizien könnten sicher sozialstrukturell vertieft werden. Viele ethnographische Forschungsarbeiten sind sehr spannend, weil sie in erstaunlichem Maße mikrologisch Handlungsszenen ausleuchten. Sie kranken aber oft an einer geringen Thematisierung des gesamtgesellschaftlichen Institutionalisierungsprozesses und einer Überbewertung von Regeln und Strategien zuungunsten von Improvisationen, die immer wieder durch Kontingenz und Überraschungen erzwungen werden. Selten thematisieren sie auch die Frage der „Angemessenheit“ der gefundenen sozialen Konstruktionen gegenüber einzelnen „institutionellen Tatsachen“ (Wittgenstein) und divergierender Perspektiven, die erst zusammengebunden werden müssen. Sie könnten noch genauer die Gemengelage von normativen, als normal akzeptierten, erst zu normalisierenden Wissenselementen und das weite Feld vor und nach der Regelfindung thematisieren. Noch deutlicher würde dann, dass es nicht mehr genügt, Kinder nach der Form ihrer sozialisatorischen „Realitätsaneignung“ zu beschreiben. Sie sind – nolens volens – Konstrukteure geworden. Sie können heute ihr Kindsein nicht mehr in Sozialisationsprozessen gleichsam speichern. Einen ganz neuen Akzent hat die theoretische Diskussion mit dem Konzept des „aktiven Konsumenten“ dadurch gewonnen, dass kindlicher Konsum als „Konsumarbeit“ in den Zusammenhang der notwendigen produktiven Leistungen einer heutigen Gesellschaft gestellt wurde (Hengst 1996; 2000). Damit scheint der Rückzug des modernen Kindheitsprojekts besiegelt. Der Markt braucht nicht länger vorzutäuschen, der Konsum habe irgendeinen pädagogischen Sinn außer der Selbstdarstellung der „selbstständigen“ aktiven Konsumenten. Aus psychologischen Gründen versucht er zwar zuerst immer noch die frühere pädagogische Drapierung beizubehalten. Immer öfter wenden sich aber Werbung und Marketingstrategien direkt an die Kinder – unter bewusster Umgehung elterlicher Aufsicht. Insofern die Monetarisierung des Kinderalltags (Taschengeld etc.) sich als generalisierte Geschäftsfähigkeit aufspiele, besitze sie auch einen emanzipatorischen Akzent expansiver Bürgerrechte für alle. Angesichts des von Hengst unterstellten Endes der klassischen Arbeitsgesellschaft rückt das Konsumieren neben Haus-, Schul- und Eigenarbeit als „Konsumarbeit“ in einen „postmodernen“, erweiterten Arbeitsbegriff ein und sichert dadurch Kindern in ganz neuer Weise eine genuin produktive Funktion, die sie als „Zeitpioniere“, „Trend-Scouts“, Trendsetter, prototypische „Tester“ von Waren und Dienstleistung und auch immer mehr als „Berater“ und Marketing-Missionare wahrnehmen könnten. Konsumarbeit nähme demgemäß einen immer größeren und zentraleren Teil des kindlichen Alltags ein. Hengst leugnet nicht den ambivalenten Charakter, glaubt jedoch gegen einen hier sehr nahe liegenden kritischen „Kulturpessimismus“ an die emanzipatorische Chance des „aktiven Konsumenten“ des „Kinderbürgers“ (Hengst 2000: 74; 1996: 117ff.; Beisenherz 2002: 148). Damit pflichtet er explizit der These Hurrelmanns (1997: 76ff.) bei, der ja behauptet, Kinder lebten heute im Großen und Ganzen wie Erwachsene. Deshalb müsse man sie auch
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konsequent als „kleine Erwachsene“ behandeln. Zweifellos führt das auch zu neuen Machtbalancen und -imbalancen zwischen den Generationen. Aber geben Kinder doch nur Geld aus, das Andere verdient haben (Hengst 1996: 117)? Das lässt sich wohl nicht – auch nicht mit dem Konzept der Ambivalenz – pauschal beantworten. Kinder sind manchmal kompetenter, manchmal weniger kompetent als Erwachsene und manchmal durchschauen Erwachsene Kinder. Jedenfalls hat das zur Folge, dass sich das Kindheitsbild wie das sozialstrukturelle Ressourcenarrangement und die situativen Opportunitätsstrukturen für beide gravierend ändern. Obwohl so noch immer die meisten Kinder in europäischen Ländern nicht einer Erwerbstätigkeit nachgehen, gewinnen sie über die Warenzirkulation und den Konsum neue, freilich nicht widerspruchsfreie und zwielichtige Bedeutung. Sie avancieren mindestens in der Projektion der Marketingstrategien zu einem wichtigen Kalkulationsfaktor „Kaufkraft“, selbst wenn diese empirisch sozial von den meisten Eltern kontrolliert wird. Sie werden als gegenwärtige und zukünftige Markenkonsumenten und als Multiplikatoren hoch geschätzt und insgeheim sogar ermutigt, die Sozialkontrolle ihrer Eltern, Erzieher und Lehrer etc. zu unterlaufen. Der Konsummarkt und die Medien in ihrer wechselseitigen Verzahnung stellen so nicht eine Ergänzung zu bisherigen Sozialisationsinstanzen dar. Sie sind zukünftig – nicht zuletzt im Sinne des neoliberalen Ökonomiediskurses – die allumfassende und schlechthin dominierende Sozialisationsinstanz (Feil 2003: 241f.). Es ist allerdings fraglich, ob solche „Konsumentensouveränität“ mehr als ein Phantom ökonomischer Begehrlichkeit sein kann. Kinder müssen sie ja unter deutlich begrenzten Konditionen der Wissens- und Ressourcenverteilung angehen und enorm komplexe Abstimmungen treffen, die vielfach sogar – wie die vielen privaten Haushaltsinsolvenzen beweisen – Erwachsene überfordern (Jäckel 2004: 153ff., 166ff.; Feil 2003: 241ff.). Es deutet sich schon hier an, dass sowohl das Bild des zielstrebigen „aktiven Konsumenten“ wie das gegenteilige Bild des vom Markt völlig manipulierten Kindes viel zu einfach ist. Doch dies darf nicht im Sinne einer verharmlosenden „persönlichen Entscheidung“ missverstanden werden, wie es nicht selten geschieht. Die Chancen des „aktiven Konsumenten“ können meist erst freigelegt werden, wenn die wachsenden Risiken zurückgedrängt wurden (Feil 2003: 245ff.). Dies allein einer schulischen Konsum- und Medienerziehung anvertrauen zu wollen, wäre entweder naiv oder zynisch (Feil 2003: 251).
6.12 Die gesellschaftliche Konstruktion des sozialen Phänomens „Kindheit“ in statu nascendi Sozialkonstruktivistische Ansätze begreifen „Kindheit“ nicht als konstantes soziales Phänomen, als „versteinerte“, objektive Gegebenheit, als zeitlos ein für allemal fix und fertig vorgegebene Substanz, die allenfalls kulturell überformt werden könnte. Sie ist in ihrem Verständnis ein (nicht nur interaktives) Prozessresultat, das aus winzigen riesige Unterschiede hervortreten lassen kann. Setzen sie konsequent an, so erscheinen soziale Konstruktionen immer nur als konstruktive „Zwischenbilanzen“ eines sozialen Phänomens in statu nascendi (Waldenfels 1980: 238, 275; Ritsert 2002: 231), als zeitweilig normalisierte Realität im forcierten sozialen Wandel. Die angelsächsische Kindheitssoziologie ist schon lange auf diesem Weg. Sie hatte mit der skandinavischen viele, mit der deutschen bis auf die letzten Jahre kaum Berührung.
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Dennoch hat das Werk von Jenks (1992 (1982): 9ff.) neben der historischen Studie von Ariès wohl bahnbrechende Bedeutung. Jenks zeigt, dass Kindheit bis ca. 1980 für die Soziologie kein eigentliches Thema war, und sie – ungeprüft und unsoziologisch – die Grundprämissen von den klassischen Kinderwissenschaften, insbesondere der Psychologie, übernommen hatte. Kinder waren daher nur Sich-Entwickelnde, die ihre Relevanz fast ausschließlich aus der Familie und – abgeschwächt – der Schule herleiten mussten. Die Soziologie sei nicht in der Lage noch willens gewesen, das Paradox genuin soziologisch zu erfassen, dass Kinder sowohl im „Sein“ wie im „Werden“ begriffen und den Erwachsenen gleichzeitig nah und fern sind. Daran sei nicht zuletzt die Sozialisationsforschung schuld, die sich immer nur als Konditionierung des Aufwachsens verstanden habe; fast zwangsläufig aufgrund ihrer individualistischen, ethnozentrischen, adultozentrischen, funktionalistischen und teleologischen Methodik. Die deutsche Kindheitsforschung hat auf diese Kritik fast indigniert mit dem stereotypen und nicht sehr genauen Argument reagiert, die Kritik treffe nicht, weil sich die deutsche Sozialisationsforschung, die nun wiederum Jenks nicht kannte, seit Mitte des vorigen Jahrhunderts mehrfach korrigiert habe. Aber sie blieb eben doch Sozialisationsforschung und versuchte weiterhin, das theoretische Problem ihrer Gegenstandskonstitution mit dem etwas irreführenden Titel „Selbstsozialisation“ zu verdrängen. Es war später der Verdienst S. M. Honigs, dieses Problem als Erster in aller Schärfe gesehen und beherzt angepackt zu haben (Honig 1999). Jenks wollte keineswegs, wie ihm oft vorgeworfen wurde, die Gegenwart gegen die Zukunft des Kindes ausspielen, sondern darauf hinweisen, dass beide in einem dauernden Konstitutionszusammenhang gesellschaftlicher Realität zu sehen sind. Seine substantielle Kritik geht daher weit über die zeitbedingte Auseinandersetzung mit der Parsonschen Sozialisationstheorie hinaus. Zweifellos hat Jenks Impulse der phänomenologischen Soziologie (Dreitzel 1973) und der Philosophie Foucaults aufgegriffen. Für ihn war das moderne Kindheitsmodell nicht einfach (paradigmatisch) aus der Mode gekommen. Vielmehr schien ihm Kindheit noch gar nicht genuin soziologisch behandelt; allenfalls eben als Appendix der funktionalistischen Familiensoziologie. Seine Forschungsintention ging dahin, die Soziogenese einer Kindheit zu erforschen, die sich immer aus alten und neuen, temporalisierten Elementen rekrutierte (Jenks 1992: 11f.). Dabei ist einerseits auf die historische Veränderlichkeit der sozialen Kategorie aufgrund soziokultureller Klassifikationskämpfe als Ausfluss des sozialen Wandels der Gesellschaft und andererseits auf deren gruppendynamische Einbettung in den Alltag zu achten. Es gilt dabei gerade die „natürliche Einstellung“ des Alltags und der Umgangssprache zu suspendieren und streng soziologisch zu hinterfragen, um mit dem theoretischen Blick zur kinderkulturellen „Eigenwelt“ vorzustoßen. Jenks kritisiert hier Parsons und Piaget in ihrer ungeschichtlichen, normativistischen und kognitivistischen Einseitigkeit (Jenks 1992: 23). Er wie andere Autoren der angelsächsischen Kindheitssoziologie sehen deutlicher als deutsche Autoren, dass Kindheit soziologisch aus einem komplexen Definitionsverhältnis von Kindern und Erwachsenen als eigenständiges soziales Phänomen in statu nascendi herausgearbeitet werden muss und nicht einfach als in der Pädagogik und Psychologie bekannte Gegebenheit vorausgesetzt werden darf. Auch James/Prout (1990: 5ff.) sehen die Schwierigkeit, eine wirkliche Kindheitssoziologie zu entfalten unter der bisherigen Dominanz von Sozialisationsforschung und Entwicklungspsychologie. Während die Entwicklungspsychologie nicht das konkrete einzelne Kind,
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sondern epistemologisch das einzelne Exemplar der natürlichen Spezies (Menschengattung) thematisiere, behandle die Sozialisationsforschung das konkrete Kind nur als Exemplar einer abstrakten „Basispersönlichkeit“. Kindheitssoziologie könne es erst dann geben, wenn Kinder von Anfang als soziale Persönlichkeiten und nicht nur als erziehungsbedürftige NichtErwachsene anerkannt werden. Erst dann könnten ihre spezifischen Statusgenerierungen und ihr Ringen um Handlungsspielräume als genuines Thema einer Kindheitssoziologie thematisiert werden. Werden sie nur als künftige Vollmitglieder gesehen, so führe das nolens volens zu ihrer Marginalisierung. Die entscheidende methodisch-theoretische Aufgabe einer Kindheitssoziologie sei es, den binären Schematismus der Entwicklungspsychologie und der Sozialisationsforschung zu überwinden (13ff.) und damit endlich auch die Widersprüche, Konflikte, Krisen der Sozialisation, also Desozialisationsprozesse, mitzuberücksichtigen. Um die Geschichtlichkeit der Kindheit zum Ausdruck zu bringen, genüge es nicht, Serien primärer, sekundärer etc. Sozialisationsphasen aneinander zu reihen. James/Prout versuchen Umrisse einer sozialkonstruktivistischen Kindheitssoziologie im Anschluss an A. Giddens Strukturationstheorie zu entwickeln, um damit Kindheit umfassend re-konstruieren zu können. Giddens hatte den Begriff der Struktur zur Strukturierung verflüssigt, die in „dualer Struktur“ sowohl das „Gegebene“ als auch das „Aufgegebene“ zukünftiger sozialer Konstitutionen als Teil der gesellschaftlichen Realität betrachtet. Kindheit erscheint damit einerseits historisch geprägt, zum anderen von alternativen Optionen herausgefordert. James/Prout erkennen dabei wie Jenks, dass die Soziologie selbstkritisch neben der Soziogenese die sozialen Reaktionen darauf und auch die reflexiven Prozesse zu thematisieren hat, die heute unausweichlich durch die Publikation ihres Wissens in der Öffentlichkeit entstehen. Obwohl sich James und Prout freilich große Mühe geben, bleiben hier noch viele methodische Einzelschritte und manche theoretischen Aspekte offen. Das zeigt sich auch an ihrer synkretistischen Einstellung. Ähnlich denken auch Butler/Shaw, wenngleich weniger theoriebewusst. Eine wirkliche Soziologie der Kindheit müsse konsequent vom Standpunkt und der Sicht der Kinder ausgehen (Butler 1996: 12ff.). Damit stoßen die Autoren auf die entscheidende Frage, die auch die deutsche Kindheitssoziologie seit Jahren beherrscht, ohne dass sie gelöst erscheinen könnte: Wie ist die Sicht der Kinder authentisch zu erfassen? Butler/Shaw schließen sich Qvortrups Auffassung an, die Kinder als Untersuchungseinheit und seriöse „Vermittler von Information“ bestimmt. Sie erkennen allerdings die Problematik dieser Position, die darin besteht, dass Kinder Informationen aus zuvor von Erwachsenen produziertem Wissen beziehen. Ähnlich wie James und Prout suchen sie dieses Dilemma dadurch zu entschärfen, dass sie Kinder auffordern, aus möglichst abgelegenen Wissensbereichen zu erzählen, die Erwachsenen weitgehend verschlossen bleiben. Aus diesen Bereichen soll vorsichtig auf die wahren Interessen der Kinder geschlossen und die Interessensdefinition in der Familie näher untersucht werden. Komplexere Gesichtspunkte werden nicht erwogen. Corsaro (1997: 8ff.), ein amerikanischer Soziologe italienischer Herkunft, hat ebenfalls eine Soziologie der Kindheit vorgelegt. Seine theoretische Orientierung nennt er selbst „sozial interpretativ“. Wenn man aber den Begriff „Konstruktivismus“ vorschnell nicht mit dem kognitivistischen oder selbstreferentiell-individualistischen Konstruktivismus gleichsetzt, kann man sie durchaus als sozialkonstruktivistisch bezeichnen. Dafür spricht auch die Ablehnung der deterministischen Schlagseite der traditionellen Sozialisationstheorie. Sie sehe nur die Abhängigkeit des Kindes von der Gesellschaft, nicht aber die Abhängigkeit der Gesellschaft von Kindern – und zwar nicht nur als Rekrutierungsmaterial. Selbst Autoren
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wie Wygotsky (1974), die die Einseitigkeit und Aporien von Piagets Kognitivismus klar erkannt hätten, hätten das Problem sozialer Konstitution im Grunde auf interpersonale Beziehungen reduziert und damit kein Verständnis einer „emergenten“, komplexeren soziokulturellen Kontextualisierung erreicht (17, 24). Diese erfordere ein konsequentes Konzept „interpretativer Reproduktion“, die die Soziogenese gesellschaftlicher Partizipation von Kindern in der ganzen Breite und Phänomenvielfalt im Sinne eines komplexen Netzwerkmodells rekonstruiere: Kinder seien immer gleichzeitig in zwei Kulturen eingebunden und müssten sich in diesem Spannungsfeld ihren gesellschaftlichen Platz und ihre gesellschaftliche Anerkennung in „interpretativer Reproduktion“ erkämpfen (27). Weil Corsaro leider das Tableau sozialkonstruktivistischer Autoren nicht oder nur gelegentlich am Rande wahrnimmt, kommt er zu dem Fehlurteil, dieser sei zwangsläufig nur mikrosoziologisch ausgerichtet. Wichtig bleiben jedoch seine Hinweise, eine Kindheitssoziologie müsse künftig stärker nicht nur extrafunktionale sondern vor allem innovative und kreative Aspekte des Kindseins aufgreifen (17f.). Für Corsaros Ansatz sprechen nicht nur viele interessante Einzelaspekte, die hier nicht erörtert werden können, sondern vor allem auch seine selbstkritische Begrenzung des stets idealisierenden Modelldenkens. In Corsaros Werk wird schließlich erkennbar, dass nicht unilineare sondern auch multilineare Sozialisationskonzepte unterkomplex bleiben, weil sie den ständigen heterogenen „Zeitkämpfen“ (Sichtermann) und Vor- und Rückgriffen von Kindern als sozialen Konstrukteuren nicht gerecht werden, die jeder teleologischen Normalisierung – vor allem der aus Erwachsenensicht – Grenzen setzen (Corsaro 1997: 17, 26). In der deutschen Kindheitssoziologie greifen eigentlich ähnliche Fragen der sozialen Konstitution des Forschungsgegenstands nur Honig und mit Abstrichen Zinnecker (1996: 31ff.; 2001) und Zeiher (2005) auf. Honig erkennt am deutlichsten, dass sich das Kindheitsleitbild einer Gesellschaft mit ihrer Bereitschaft berührt, entsprechende sozialstrukturelle Ressourcen zu mobilisieren, aber heute nicht einfach deckt. Genau das macht die methodische Abkehr vom objektivistischen Sozialisationskonzept und die theoretische Option für einen konstruktivistischen Ansatz notwendig, aber auch schwierig und riskant (Honig 1999: 152ff., 157). Sie muss zugleich den Konstruktivismus durch eine solide rekonstruktive Orientierung begrenzen. Die jeweilige historische Wahrnehmung von „Kindern“ und „Erwachsenen“ ist eine Abstraktion oder „Selbstimplifikation“ mit gesellschaftlichen Folgewirkungen, die z.B. festlegen, welches Subjekt als „korrekt“, „normal“, „noch akzeptabel“, „auffällig“, „schwierig“ oder als „hoffnungsloser Fall“ gelten kann, soll, muss. Solche Definitionsleistungen einer solchen kommunikativen Konstruktion zeigen sich z.B. an der Devise skandinavischer Bildungspolitik: Kein Kind darf verloren gehen… Doch moralische Aspekte sind nur ein Moment an Wirklichkeitserfahrung. Mit der Arbeit von James/Prout nähert sich die Forschungsdiskussion um ein wesentliches Stück der heutigen Sicht der Problematik sozialer Konstitution des sozialen Phänomens Kindheit. Die Grundfrage, was ein Kind sei, kann nicht länger ausgespart werden, wenn man soziologisch ergiebig die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen kindlicher Gegenwart und Enwicklungschancen, „veränderte Kindheit“ beschreiben will – zwischen Alltagswissen und mannigfachem, nicht zuletzt wissenschaftlichem Sonderwissen von Institutionen und ihren Professionen, Experten, Wissenschaftlern, Juristen, Politikern, „zwischen Autonomie und Verbundenheit“ (Leu 1999), zwischen Erwachsenen- und Kinderkultur (Corsaro), zwischen einer von Erwachsenen definierten Kindheit und infantilisierter Erwachsenheit (Lenzen, Postman), zwischen der Statusimagination des Kindes als
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„Fremder“ (Meyer-Drawe/Waldenfels) und der des „kleinen Erwachsenen“ (Hurrelmann). James/Prout thematisieren das völlig selbstverständlich in Abhebung vom alten Sozialisationsparadigma und in Zuwendung zum neuen „interpretativen Paradigma“ des Kindes als sozialem Konstrukteur, das sozusagen damit international ratifiziert wird. Diese Sicht führt das Buch von James/Jenks/Prout (1998: 9ff.) fort, rückt aber noch stärker in einen internationalen Rahmen weltweiter Kindheitsforschung und stellt einen interessanten Theorienvergleich an. Vier Hauptstränge theoretisch-methodischer Argumentationen fallen ihnen dabei auf: das sozial konstruierte Kind, das Kind als Stammesmitglied (tribal child), das Kind als sozialstruktureller Außenseiter und Kinder als soziale Minderheit. (Im deutschsprachigen Raum wurden nur die Konzeption der sozialen Konstruktion, der sozialen Platzierung der Bevölkerungsgruppe „Kinder“ sowie Kombinationen beider aufgegriffen.) Die innertheoretische Ausdifferenzierung habe zur diskursiven Bereicherung und Verbreiterung des theoretischen Blicks geführt und öffne sich nunmehr einer Dekonstruktion der Standpunkte und strukturellen Zwänge, die einerseits der kritischen Beschreibung der geschichtlichen Gestalt, andererseits Vorarbeit für eine Kinderpolitik leisten könne. Die verschiedenen Theorien widersprächen sich nicht unbedingt in allen Punkten, gingen aber letztlich auf unterschiedliche „paradigmatische“ Grunderfahrungen und gesellschaftlicher Divergenzen wachsender Autonomie von Kindern bei gleichzeitiger Steigerung der gesellschaftlichen Kontrollmöglichkeiten zurück (9f, 28, 34, 213ff.). James/Jenks/Prout favorisieren weiterhin einen sozialkonstruktivistischen Ansatz, der von den anderen nicht dadurch zu lernen versucht, dass er alle ergänzenden Aspekte aufsaugt und als komplementäre Anreicherungen subsumiert, einen Weg, den der mitteleuropäische Sozialisationsdiskurs zu gehen versuchte. Sie suchen vielmehr Vertiefung und theoretische Ausdifferenzierung des eigenen sozialkonstruktivistischen Ansatzes durch ausdrückliche Selbstbegrenzung zu erreichen. Man kann diesen Ansatz – trotz seiner, allerdings nicht sehr strengen Anleihe beim sog. Dekonstruktivismus – auch als sozialhermeneutisch verstehen, weil hier – ganz im Gegensatz zu Derridas Insistieren auf den „Bruchstellen der Erfahrung“ (Waldenfels) und nur begrenzter Übersetzbarkeit – in der Taxonomie des Theorienvergleichs im Grund von einem kontinuierlichen, nur graduell unvertrauten Standpunkt und allerdings immer schon pluraler gesellschaftlicher Sinnstiftungsprozesse im sozialen Alltag (27) ausgegangen wird. James/Jenks/Prout sehen es für forschungspragmatisch notwendig an, dass Kindheitssoziologie nicht einfach Theorien empirische Forschung via Falsifikationsprinzip voranzutreiben versuchen, sondern sie die eigenen impliziten Gehalte reflektiert und die eigentlich unbewältigten Datenmassen durch metatheoretische Taxonomien übersichtlich ordnet. Eine dieser formalen Ordnungsachsen scheint schon die Unterscheidung zu bieten, ob in einer Theorie von einer einzigen gesamtgesellschaftlichen Kindheit oder von mehreren ausgegangen wird (124f.). Die entscheidende sozialkonstruktivistische Frage, unter welchen Bedingungen von einer oder mehreren Kindheiten gesprochen werden kann, ist aber nicht metatheoretisch zu entscheiden, weil Taxonomien immer nur formale Raster darstellen, die gerade die Konstitutionsfrage ausklammern bzw. nur verschieben. Die Autoren geraten damit in die Gefahr, einen metatheoretischen „Gottesstandpunkt“ zu unterschieben, den es jedenfalls für Sozialkonstruktivisten in der Wissenschaft nicht geben kann. Metatheorien unterschlagen den impliziten Beobachtungsabbruch. Auch die Unterstellung eines epochal konstanten kulturellen Musters oder strukturstabiler Relationen können zwar die Differenz zwischen Kin-
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dern und Erwachsenen relativ klar theoretisch darstellen, erklären aber gerade nicht das Umschlagen von einer zu mehreren Kindheiten als Beschreibungsgrundlage verschiedener Theorieansätze, die ja alle mindestens eine minimale sachliche Referenz, empirische Basis und Validität besitzen. Für alle sozialkonstruktivistische Ansätze gilt jedoch die Prämisse der genannten Autoren, dass Kinder auch als gesellschaftlich anerkannte Akteure ihr Leben nicht unabhängig von „objektiven Bedingungen“ führen können, dabei aber Freiheitsgrade und Handlungsspielräume nutzen – und ihrerseits Reorganisationsimpulse geben können (139). Damit kann es sein, dass gleichzeitig ein Standardmodell von Kindheit in der Hochkultur mit einem variablen Spektrum teil- und subkultureller und milieuspezifischer Leitbilder koexistieren und mit noch viel bunteren „Realitäten“ der Sozialstruktur und Situationen einhergehen. Neben funktionaler Ausdifferenzierung zeigen sich Entdifferenzierungen, Stagnationen, Rückbildungen, Schwankungen und Hybridbildungen. James/Jenks/Prout plädieren ganz zu Recht für einen differentiellen Kindheitsbegriff in Einbindung in transnationale Prozesse der Globalisierung und interkultureller Kommunikation und der Berücksichtigung der leiblichen Existenz.
6.13 Voraussetzungen einer konstruktivistischen Theorienperspektive Das wissenschaftstheoretische Argument, es könne keinen sozialen Konstruktivismus geben, weil Konstruktionen immer kognitive Konstrukte seien, ist nur triftig, wenn man diese reduktionistische erkenntnistheoretische Prämisse teilt. Geht man hingegen davon aus, dass wir – wiewohl individuelle Subjekte – unsere Individualität erst mühsam in einem Prozess der Individuation aus einem diffusen, sozial-symbiotischen aber auch von Anfang an rudimentär individuellen „Kokon“ von Lebenszusammenhängen herausarbeiten und also vom ersten Atemzug nach der Geburt in soziale Kontexte eingebunden sind, geht die Rechtfertigungspflicht eher an den kognitivistischen Konstruktivismus. Und selbst die – eigentlich gar nicht so eindeutigen Verweise auf die Hirnforschung – können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch „selbstreferentielle“ Hirnkonstrukte eine Zwei-Ebenen-Differenzierung in „Innen“ und „Außen“ unterstellen, insofern immer „etwas“ aus „etwas“ konstruiert werden muss, auch die Differenz zwischen Konstrukteur, Konstrukt und Konstruktionssituation nicht aufzuheben ist und überdies den Rekurs auf die soziale Umgangssprache und das Alltagswissen nicht vermeiden kann (Varela 1990: 97f., Stern 1996; Waldenfels 1998: 192ff.). Wenn also die Sozialität niemals hintergehbar ist, weil wir schon intrauterin immer aus einer „Primärsozialität“ leben (Joas 1992: 262ff.; Todorov 1996), gibt es keinen Grund, sozialen Konstruktionen mangelnde epistemologische Begründung zu unterstellen. Vorausgesetzt also, man nimmt das Konzept der sozialen oder kommunikativen Konstruktionen ernst, dann bedeutet das Attribut „sozial“ nicht ein rein kosmetisches Attribut (Flick 1995: 11ff.). Ein Sozialkonstruktivismus kann und sollte auch mehr als ein „Sozialkognitismus“ sein, der Wirklichkeitsherstellung auf interpersonelle Prozesse der Informationsverarbeitung verengt (Taylor 1996). Bei sozialen Konstruktionen geht es auch nicht um vollständige Internalisierung von Werten und Normen, sondern um die Konstituierung von Wahrnehmungssubjekt und Wahrnehmungsobjekt durch „Welterschließung“ (Goodman 1990), nicht nur um Realitätsaneignung, weil jene nicht beziehungs- und zeitlos gegeben sind,
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sondern einem komplexen Prozess der Selbstdifferenzierung im „Sein-zur-Welt“ (MerleauPonty) entstammen. In einem ersten Zugriff können daher soziale Konstruktionen als wechselseitige ReKontextualisierung von Sozialisationsagent und Sozialisand bestimmt werden, die logisch und oft auch zeitlich vor allem Sozialisationsgeschehen anszusetzen ist. Diese Rahmenbildung widersetzt sich jedem offenen oder versteckten linearen oder multilinearen Sozialisationsdeterminismus oder ihrer noch so versteckten Teleologie. Konstruktive, stets selektive und exklusive Wirklichkeitsrahmung ist nicht das automatische Ergebnis von Sozialisationsbedingungen, sondern umgekehrt, was diese historisch-biographisch-alltagsweltlich bedeuten, qualifiziert diese erst. Sozialisation bildet einen „Raster“ für Sozialisationschancen und -risiken. Sie erscheint daher als abgeleitetes Konzept. Sie vollzieht sich nicht zwangsläufig und als abstrakt logische Universalisierung und „Rollenübernahme“ (Mead), sondern als historisch kontextualisierende und organisierende Verknüpfung von Schnittstellen zwischen Individuum und Gesellschaft und als praktizierte Kommunikationstopologie (Corsaro 1997: 35, 43, 77; Waldenfels 1997). Konstruktivismus erschöpft sich in den Augen mancher Anhänger und Gegner heute darin, Differenzen, z. B. die Geschlechts- oder Altersdifferenz zu konstruieren. Dieses Verständnis findet sich auch in der Kindheitsforschung, wo soziokulturelle Differenzkonturierung und ihre sozialstrukturelle Relationierung zum eigentlichen Fokus der Forschung erklärt werden (Honig 1999). Nicht selten wird dann Konstruktivismus in einem Atemzug mit Dekonstruktivismus genannt, so als liefere dieser jener quasi die ideologiekritische Weihe. Es zeichnet sich oft ein Schema von Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion ab. Dieser Schematismus ist wie fast jeder Schematismus theoretisch nicht sehr ergiebig und fördert reifizierende Vorstellungen. Er liegt dem Protagonisten des „Dekonstruktivismus“, J. Derrida, eigentlich völlig fern. Ihm ging es darum, dass – was ein „halbierter“ Konstruktivismus meist vergisst – eine Phänomendefintion aus einer „Vorgeschichte“ lebt und nur ein „Supplement“ in einem Bedeutungsregister darstellt, das im Grunde – auch im Blick auf die Zukunft – unabschließbar ist. Es zeichnet sich somit eine Unmöglichkeit ab, zu einem absoluten Anfang oder Ende zu gelangen. Das ist so ziemlich das Gegenteil einer schematischen Methodik! (Derrida 1976: 88ff.; 1979: 145; 1997: 150). Derrida lehnt denn auch eine pure Vervielfältigung von Differenzkonstruktionen und ein Spiel mit Differenzen als substanzlosen Leerlauf ab (Waldenfels 1995: 89f.). Ein Missverständnis wäre es auch, soziale Konstruktionen mit sozialen Systemen im Sinne des späten Luhmann (1986) gleichzusetzen. Diese bieten sich bekanntlich der Beobachtungsperspektive zweiter Ordnung als Resultate des durchweg funktionalen Prozesses der gesellschaftlichen Evolution und funktionaler Differenzierung als die jeweils mögliche „Kontingenzunterbrechung“ an. Der Sozialkonstruktivismus aber steht jedem Evolutionismus skeptisch gegenüber, ist auch der Ansicht, dass soziale Konstruktionen sich stets auf „offene“ Systeme oder eigentlich eher „Systemfragmente“ beschränken müssen, wollen sie sich nicht von Kommunikationsprozessen abkoppeln, die trotz ihrer Habitualisierungsneigung heute immer etwas Flüchtiges und Kontingentes an sich behalten. Soziale Konstruktionen gehen daher immer auch auf „Systemunterbrechungen“ ein. Salopp formuliert: Systemtheorie hat Angst vor Unordnung, der Sozialkonstruktivismus sieht das Leben in Gesellschaft als eine Gemengelage von Ordnung und Unordnung an, mit der konstruktiv umzugehen ist (Eßbach 1996: 149f.; Gamm 1994). Unbestimmtheit kann nicht komplett in Bestimmtheit überführt werden, wie der gesamte modernisierungstheoretische Rationalis-
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mus annahm. Theorie kann sich nicht nur darauf beschränken, „kühne Vermutungen“ zu hegen und umstandslos empirisch zu testen, sie muss vielmehr auch die epistemischen Normen und Umstände bezeichnen, unter denen „Theorie“ und „Empirie“ als wahr oder richtig gelten können; und zwar nicht nur durch formal-schematische Abstraktionsprinzipien (Validität, Reliabilität), sondern durch die Rekonstruktion von Validitäts- und Repräsentativitätskonstruktionen (Luthe 1997: 223ff.; Gamm 1994). Das heißt aber auch, dass die durchaus legitime „Fixierung der Fragestellung“ reflektierend entreifiziert werden muss. Schon physikalisch gibt es im Horizont der Heisenbergschen Unschärferelation und der Gödelschen Axiome zu jedem „Sachverhalt“ immer zu viele „Idealtypen“ und „Entwurfsmodelle“ des Zusammenhangs und der Kovariation von Wahrnehmung und „objektiver“ Realität, als dass sie noch durch einen strikten Kausalbegriff oder ein strammes korresponenztheoretisches Passungsverhältnis (etwa wie Schlüssel zum Schlüsselloch), binäre Relationsierungen ausgedrückt und in restlose Bestimmung überführt werden könnten (Putnam 1991: 154; Gamm 1997; 2000). Es gibt auch keinen eindeutigen Parameter des „Überlebens“, der „Bedürfnisse“, der „Funktionen“, der „äquifunktionalen Geltung“, der Strukturbildung oder des „guten Lebens“. Allerdings gibt es plausiblere oder weniger plausiblere soziale Konstruktionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die heuristisch breitere und tiefere Normalisierungsleistungen und Begrenzungen der Normalisierung zum Vorschein bringen. Es gibt damit variable Kohärenz, aber keine strikte Konsistenz zwischen kulturellen Horizonten, sozialstrukturellen Relationierungen (nicht Relationen!) und Interaktionsfeldern mit begrenzter Reichweite und theoretischer Übersetzbarkeit (Putnam 1991: 157). Wirklichkeitserfahrung ist nie wirklich konstant und abgeschlossen. Wenn sich allerdings – wie in der „spätmodernen“ Gesellschaft – die Indizien mehren, dass diese Kohärenz schwieriger geworden ist, erhält die reflektierte Konstruktionstätigkeit besondere Dringlichkeit (Gamm 2000: 308ff.).
6.14 Arten des Konstruktivismus Wenn sich schon in der Sprache heute Diskrepanzen zwischen Signifikat und Signifikant und in der Gesellschaft ein Misstrauen gegenüber „reiner Rhetorik“ in der Öffentlichkeit im Blick auf die alltägliche Lebenspraxis kaum übersehen lassen, dann ist es eigentlich kaum verwunderlich, dass seit einigen Jahren das theoretische Interesse am konstruktiven Umgang mit Diskrepanzen und Differenzen stetig zugenommen hat, obwohl dahinter ältere philosophische Fragen sichtbar werden, die schon Kant und Husserl aufgeworfen hatten. Zum In-Ordnung-Bringen heterogener Impressionen, Informationen, Optionen, zur Differenzierung, Relationierung und zur Erfassung sozialer Verweisungszusammenhänge bedarf es stets eines konstruktiven „soziokulturellen Aprioris“ (Luckmann 1992: 119; 1999: 194ff.; 2002; Waldenfels). An Konstruktivismen herrscht daher heute kein Mangel. Doch der Begriff „Konstruktivismus“ ist dadurch auch schillernd geworden. Je nach wissenschaftstheoretischer, paradigmatischer und theoretischer Ausrichtung besagt er in vieler Hinsicht etwas vollkommen Anderes. Es ist fraglich, ob es nur drei Arten des Konstruktivismus gibt, wie das KnorrCetina sehen will: den Sozialkonstruktivismus, den Radikalen Konstruktivismus und den „empirischen Konstruktivismus“, dem sich Knorr-Cetina (1989) selbst zuordnen möchte, der angeblich die Stärken der beiden anderen Konstruktionsvarianten vereint, ohne deren
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Nachteil zu teilen. Und es besteht bei Anhängern und Gegnern eine Tendenz, sich mit diesem Etikett einen Ehrentitel oder eine Schmähung einzuhandeln. Th. Luckmann z. B. verbittet sich den Titel „Sozialkonstruktivist“. Doch selbst seine eigenen Schüler bezeichnen ihn so (Knoblauch 1995). Zweifellos hat der Radikale Konstruktivismus in den letzten Jahren die größte Resonanz erfahren. Nicht selten wird er fatalerweise mit dem Konstruktivismus schlechthin gleichgesetzt. Jeder gegenwärtige Konstruktivismus setzt innerhalb des „interpretativen Paradigmas“ eine eigene Interpretationstradition, die spezielle Serien von Übersetzungen begünstigt – im Blick auf sperrige Phänomene und den möglichen Überschuss an Idealtypen oder Modellen für ein und dasselbe Phänomen. Konstruktionen versuchen divergierende Signifikate und Signifikanten und/oder soziokulturelle Rhetorik mit den sozialkulturellen Lebensbedingungen (wieder) in eine gewisse Kohärenz zu bringen. Alle Arten des Konstruktivismus gehen davon aus, dass es ein „Innen“ und ein „Außen“, mithin auch eine Außenwelt gibt, aber die einzelnen Varianten haben ganz unterschiedliche Vorstellungen von der Chance des Fremdverstehens. Sie gehen auch gemeinsam davon aus, dass Wahrnehmung Eigenerfahrung, also subjektive Verankerung des Erkennens, Empfindens, Handelns voraussetzt. Doch unterscheiden sie sich enorm darin, ob dies die Verabschiedung der Konzeption der Intersubjektivität und klassischen Vorstellung von Sozialität bedeutet. Alle Varianten des Konstruktivismus treffen sich darin, dass Konstruktionen keine beliebigen Korrelationen zwischen Wahrnehmung und ordnendem Konstrukt unterstellen dürfen, dass vielmehr Konzept und beschriebenes Objekt zusammenpassen müssen. Zumindest alle sozialkonstruktivistischen Theorieansätze sind sich darin einig, dass eine Kontinuität der Konstruktionsgeschichte – ähnlich wie im Konzept der „Wirkungsgeschichte“ Gadamers – immer wieder herstellbar ist und daher „trotz aller Bruchlinien der Erfahrung“ (Waldenfels), wenn auch oft mühsam, zeitversetzt und nachträglich, begrenzt, „repariert“ und normalisiert werden kann. Doch Normalisierungen sind hier eben nie Kopien im strengen Sinn. Es ist nie möglich, „Wiederholungen“ ohne mindestens geringfügige Strukturabwandlung zu praktizieren. Sie sind daher wegen ihres rekonstruktiven Bezugs immer zugleich „Entdeckungen“ und „Erfindungen“, rekonstruktive Konstruktionen. Und soziologische Konstruktionen sind dies als „Konstruktionen zweiten Grades“ (Schütz) im eminenten Sinn (Meinefeld 1995; Bohnsack 1999: 24, 176), bleiben an die „Konstruktionen ersten Grades“ des Alltags gebunden. Allen konstruktivistischen Versionen ist gemeinsam, dass sie Erkennen nicht als naive Abbildung und Widerspiegelung äußerer Wirklichkeit deuten. Während der Sozialkonstruktivismus und der empirische Konstruktivismus (Ethnomethologie) das Verhältnis von „Innen“ und „Außen“ für eine empirische Frage und eine gänzliche Abkopplung für einen „performativen Widerspruch“ ansehen, geht der radikale Konstruktivismus davon aus, dass zwischen kognitiven Projektionen und „viablen“ Konstruktionen nicht unterschieden werden kann. Der radikale Konstruktivismus, der vieles mit dem klassischen Skeptizismus gemein hat, kann sowohl mit dem Kognitivismus Piagets wie mit dem sozialpsychologischen Sozialkognitivismus und der kommunikationstheoretisch fundierten autopoietischen Systemtheorie des späten Luhmann in Verbindung gebracht werden (Frindte 1998; Gergen 1991: 133ff.; Youniss 1994; Luhmann 1988). Er ist ursprünglich keine sozialwissenschaftliche Theorie, sondern eine erkenntnistheoretische Position, die nicht besonders empirieoffen ist. Sie befasst sich mit der Ordnung und Organisation von Erfahrungen im Bewusstsein oder Gehirn bzw. mit der Informationverarbeitung. Das Gehirn arbeitet streng selbstreferentiell.
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Die Außenwelt ist zwar real aber vollkommen unzugänglich für menschliches Erkennen. Alle Erkenntnis ist daher Resultat der Selbstorganisation des Gehirns. Sozialkontakte sind nichts Anderes als Tastversuche im Dunkeln, die auf Irritationen und „Perturbation“ von außen reagieren und nach dem pragmatischen Suchprinzip der „Viabilität“ sich einen Weg zu bahnen suchen. Dabei formuliert der radikale Kontruktivismus auch einen „kategorischen Imperativ“: Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglickeiten größer wird!“ (v. Foerster 1985: 41). Es bleibt hier völlig offen, ob diese Optionen quantitativ und qualitativ angemessen, ob sie transparent oder relativ intransparent, moralisch – unmoralisch, ob sie (selbst-)destruktiv oder produktiv – auch gegenüber kurz-, mittel- und langfristigen Selektionsgesichtspunkten – sind. Steigerung und Wachstum sind per se moralisch und „real“ (Waldenfels 1998: 95, 193; Schulze 2003; Gamm 2000: 226). In seiner Kritik an der klassischen Objektivitätsvorstellung stilisiert der radikale Konstruktivismus Erkenntnis als Beobachterresultat. Es entstamme einer Unterscheidung, die nichts Anderes als eine Entscheidung sei, die verantwortet werden müsse, aber sich immer weiter ausdifferenzieren lasse. Immerhin setzt aber dieses konstruktive Unterscheiden eine Zwei-Ebenen-Differenzierung, mithin eine Unterscheidung zwischen „innen“ und „außen“ – und letztlich zwischen Gesellschaft und gesellschaftlichem Akteur in kurz-, mittel- und langfristiger Perspektive voraus, mögen diese auch noch so stark in Interdependenz und Interaktion stehen. Das hat im Übrigen letzthin auch einer der Gewährsleute des radikalen Konstruktivismus, und der Luhmannschen Systemtheorie eingeräumt. Er sehe sich zur Konsequenz gezwungen zu akzeptieren, „dass Kognition ohne Berücksichtigung des Alltagswissens nicht angemessen verstanden werden kann und dieses Alltagswissen in nichts anderem besteht als in unserer körperlichen und sozialen Geschichte“ (Varela zitiert nach Flick 1995: 54). Diese letzte Abhängigkeit vom lebensweltlichen Wissen haben aber alle sozialkonstruktivistischen Ansätze im Anschluss an den späten Husserl, den späten Schütz oder Merleau-Ponty immer betont. Kognitive Selbstorganisation oder Systeme im Sinne Luhmann bleiben daher immer auch „verletzungsoffen“ (Popitz 1986: 35ff.) und historisch in die Lebensgeschichten anderer Menschen verstrickt. Kinder bleiben in einem gewissen Sinn immer Kinder ihrer Eltern und Gesellschaft (v. Werdt 1980: 17ff.). Und Verstehen und Missverstehen liegen nicht soweit auseinander und durchdringen sich oft. Schon Konstruktionen im Alltag haben daher selektive und exklusive Momente, die im Falle der Stereotype und Ressentiments zur zwanghaften „Selbstsimplifikation“ führen können. Unausweichlich bleiben prinzipiell interessante thematische Aspekte, die von ganz bestimmten prinzipiell wichtigen Bezugspersonen oder Bezugsgruppen angeboten werden, ausgeschlossen. Der „kategorische Imperativ“ des radikalen Konstruktivismus ist nicht nur sachlich und ethisch problematisch. Er ist oft schlicht undurchführbar. Im Sozialkonstruktivismus geht es um weit mehr als um die Berücksichtigung gesellschaftlicher Realitätsaneignung und Sozialisation. Es geht um Rekontextualisierung von Sozialisand und Sozialisationsagent. Einen Übergang zum konsequenten Sozialkonstruktivismus kann man im sozialpsychologischen Sozialkognitivismus sehen, der soziales Lernen als Informationsverarbeitung im interpersonalen Rahmen sieht (Flick 1995: 8ff., 102). Hier bleibt die Argumentation insofern unterkomplex, als Wirklichkeit nur als kognitive Wirklichkeit und interpersonale Beziehungen ohne ihre soziolkulturellen und sozialstrukturellen Vermittlungsstrukturen und Interpretationskämpfe beschrieben werden. Eine diskursanalytisch weiterentwickelte Form versucht diesen Defiziten rein kulturtheoretisch beizukom-
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men: „Psychologische Wirklichkeiten“ wie Denken und Erinnern werden im Sinne Wittgensteins als „Sprachspiele“ konzipiert, die auch komplexe interpersonelle Vorgänge mittels Konversationspraktiken zentrieren. Dabei erscheint jede Person mit einem eigenen „Standpunkt“ als lokalisierbarer Punkt in einem Kommunikationsraum, der durch öffentliche Diskurse erschlossen wird. Damit lassen sich auch „sozial organisierte Erscheinungen“ fundieren. Menschen bedienen sich in diesem Raum einer „narrativen Form“ für Fremdund Selbstzuschreibungen und handeln so Biographien aus (Gergen 1991: 133ff.). Schon Halbwachs hatte freilich gesehen, dass solche „Aushandlung“ eine gewisse Synchronisierung der Zeiterfahrungen voraussetzt und somit prinzipiell die sozialpsychologische Erklärungsebene verläßt. Und dies geht auch über eine rein diskursanalytische Begründungsmöglichkeit hinaus, weil gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit nicht nur ein – gewiss oft folgenreiches – „Gedankenbild“ sondern ein Konglomerat aus Habitualisierungen, Institutionalisierungen, Machtkonstellationen und Entstrukturierungsvorgängen oder Kontingenz darstellt. Gerade diese disparaten Elemente der Soziogenese will der Sozialkonstruktivismus von Berger/Luckmann thematisieren. Statt „Tatsachenbeschreibung“ von fix und fertigen Sachverhalten geht es um die Beschreibung der gesellschaftlichen Bedingungen der sozialen Konstitution von „sozialen Tatsachen“durch Aushandlung, Auseinandersetzung mit Institutionen (Soeffner 2004: 62ff.). Dies zielt auf eine wissenssoziologische Analyse, die untersucht, worin, wie, warum Kinder als gesellschaftliche Akteure spezifische Routinen, Regeln, Normen, Rituale einerseits vorfinden, teilweise aneignen oder verwerfen und andererseits immer wieder neu deuten, variieren und „eigen-willig“ oder „eigen-sinnig“ erfinden müssen. Der Sozialkonstruktivismus ist daher nicht epistemologisch abstinent, wie ihm KnorrCetina vorwirft. Er nimmt implizit Stellung, indem er eine Reduktion soziologischer Theorie auf Metatheorie oder „Protosoziologie“ ablehnt. Hier gibt es zwar Zusammenhänge aber auch eine grundsätzliche Differenz. Damit vermeidet er das Paradox des radikalen Konstruktivismus, gleichzeitig erkenntnistheoretische Aussagen treffen zu müssen, die die kategoriale Analyse der sozialen Konstitution faktisch blockieren (Kurt 1995; Waldenfels 1997; 1998). Im Verständnis von Berger/Luckmann ist Konstitution nicht ein einmaliger, längst vergangener Gründungsakt, sondern ein fortwährendes Geschehen.
6.15 Das Kind als kompetenter Akteur, Co-Konstrukteur und Konstrukteur Selbst in der heutigen Sozialisationsforschung – nicht zuletzt unter dem Feuer der Kritik der neuen Kindheitsforschung – wird das Kind nicht mehr nur als Objekt, Adressat oder lediglich als „Medium der Erziehung“ (Luhmann), sondern als Subjekt betrachtet. Diese aktive „Rolle“ im Sozialisationsprozess wird neuerdings immer öfter mit dem missverständlichen Begriff „Selbstsozialisation“ belegt (Geulen 2002: 82). Er lässt allerdings offen, wohin er führt und woher dieser Prozess erfolgt, und welche Vermittlungsstrukturen hier mitzudenken sind. Verweist das „Selbst“ der „Selbstsozialisation“ auf einen Genetivus subjektivius oder objektivius? „Selbstsozialisation“ kann zunächst eigentlich noch problemlos im Horizont einer Modernisiserungstheorie – als ein weiterer Emanzipationsschub im „unvollendeten Gesellschaftsprojekt der Moderne“ (Habermas 1986; Beck 1997; Hengst 2005: 10; Kaufmann 1986: 290) gefeiert werden. Immer mehr Autoren, auch solche, die
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nicht umstandslos dem „Postmodernismus“ zuzurechnen sind, sehen es allerdings als offene Frage, ob dieses Gesellschaftsprojekt abgebrochen oder „reflexiv“ fortgeführt wird. Als „kompetente Akteure“ können Kinder nur dann gelten, wenn sie ihre eigene und die gesellschaftliche Entwicklung, sicher stets begrenzt, aktiv deuten und mitgestalten können. Dann können sie auch dazu beitragen, dass diese Entwicklungen in die eine oder andere Richtung verläuft, dass sie sich verlangsamt oder beschleunigt, fragmentiert oder homogenisiert. Schließlich sind sie dann auch in der Lage, diese Entwicklung zu instrumentalisieren: Kinder können dann Eltern gegenüber das „Kind“ spielen und Gleichaltrigen gegenüber auftrumpfen, als ob sie schon perfekte Erwachsene wären. Hier deutet sich schon an, dass die „Handlungsfähigkeit“ (agency) eine hochinterpretierbare Größe und kein „factum brutum“ darstellt. Sie hängt auch offensichtlich mit intensivierter und früher einsetzender „selbstständiger“ Alltagspraxis und Biographie zusammen. Immer weniger kann auch übersehen werden, dass Kindern immer früher immer umfangreichere „partizipative Identitäten“ in sozialen Institutionen angeboten werden. Die Einrichtung von „Kinderuniversitäten“ ist dafür ebenso ein Ausdruck wie die Diskussion über das Wahlrecht für Kinder. Handlungsfähigkeit macht sich soziologisch am spezifischen Akteursstatus fest. Kindern werden immer weniger Optionen und gesellschaftliche Chancen grundsätzlich und rechtlich vorenthalten; und dann offensichtlich mit erkennbar schlechtem Gewissen und höchst gedrechselten Bekundungen einer advokatorischen Moral. Noch immer ist aber der soziologische Blick vieler Sozialwissenschaftler durch das Hintergrundkonzept der zeitlosen, homologen Ontogenese gebannt, wie es Piaget klassisch entwickelt hat. Nach anfänglicher Steuerung durch die Eltern sind Kinder demnach, durch antizipatorische Sozialisationsschübe „proximaler Entwicklung“ (Wygotski) veranlasst, in der Lage, sich vom Umgang mit konkreten Objekten zu lösen und in hypothetischdeduktiver Orientierung universelle Prinzipien zu entdecken. Das ist gegenüber behavioristischen Aussagen gewiss ein theoretischer Fortschritt. Doch selbst, wenn heute von immer mehr Psychologen die Möglichkeit multilinearer und pluraler Entwicklungsvarianten nicht mehr ausgeschlossen wird, bleibt diese Argumentation – offen oder versteckt – teleologisch und evolutionistisch. Brüche, Stagnationen, Vor- und Rückgriffe, Neuanfänge, wie sie in historisch-biographischen Prozessstrukturen nun einmal unvermeidbar sind, bleiben nach wie vor unberücksichtigt oder werden marginalisiert. Und ob biographisch-soziale Vernetzungen, soziale Organisationen und emergente Komplexität wirklich als Abstraktionsvorgang gedeutet werden kann, ist mehr als fraglich. Es ist schon erstaunlich, dass Soziologen allen Ernstes glauben, die Sozio-Logik sei deckungsgleich mit der formalen Logik (Kelle 1994; Bühl 1972; 2002; Giddens 1984; Wagner 1999; 2000). Wie lässt sich die Handlungsfähigkeit kompetenter Akteure zwischen „Druck“ und „Sog“ des Wissens von Erwachsenen praktizieren? Sie lässt sich heute nicht mehr ohne einen Blick auf die forcierte Dialektik zwischen Individualisierung und Institutionalisierung bestimmen (Beck 1986; Grundmann 1999: 12f.; Joas 1992). Sie hat – um das stichwortartig zuzuspitzen – eine Dialektik der (modernen) Entwicklungslogik und der Entwicklungsdynamik oder von Kompetenz und Performanz zur Folge, die ontogenetische Entwicklungslogiken durch eine „biographische Situation“ aufbricht und sie zu einer aufwändigen alltagsweltlich-biographischen Artikulation gleichsam zwingt (Schütz 1979: 85ff.; Leu 1996: 174ff.; Siegert 1979: 18f.). Man kann das auch konstruktivistisch formulieren: Auch kindliche Wirklichkeitserfahrung ist heute wohl nur als soziale Konstruktion möglich (Beck 1997).
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Letztlich können heute nur Kinder selbst entscheiden, mit welchem Wissen sie sich als Kinder identifizieren, ob und wieweit sie sich auf soziokulturelle Kindheitsbilder einlassen, ob und wie sie sozialstrukturelle Lebensbedingungen als „kinderfreundlich“, „indifferent“ oder „kinderfeindlich“ empfinden, ob und wie sie „in performance“ ihr situationsgebundenes Kindsein selbst „langweilig“, „riskant“ darstellen und deuten, also dramatisieren oder entdramatisieren, aktualisieren oder deaktualisieren wollen. Folglich ist nur noch empirisch zu entscheiden, ob und wie sich dauerhaft Handlungsfähigkeit eher über Alltagswissen oder Sonderwissen, über Routinen oder Routineunterbrechung, „Abenteuer“ oder „Action“ vollzieht. Gewinnen Kinder ihre Handlungsfähigkeit unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen eher durch unbeschwerte Teilnahme am Alltag, der immer ein „gemischter“ Alltag ist, oder durch gezielte Distanzierung als „Kleine Single“ (Herzberg 2001)? Es spricht Einiges dafür, dass sich Handlungsfähigkeit nur differentiell – nach Handlungsbereichen und Situationen differenziert – bestimmen lässt. Es zeigen sich weniger lineare, sondern wellenförmige Entwicklungen, gepaart mit „wechselnder Abfolge liberaler und rigider „Rollenvorschriften“ oder ganz groben Erfahrungssedimentierungen (Herlth 2000: 13). Und was bedeutet hier „Kompetenz“? Allgemeine oder bereichsspezifische Kompetenzen? Oder ein spezifisches Verhältnis zwischen beiden? Und zeigen sich diese unter allen gesellschaftlichen Bedingungen als kompatibel? Bleiben das über die Zeit und alle Schwankungen hinweg identische Größen? Schon vor vielen Jahrzehnten hat die Ethnologie die inzwischen vergessene Einsicht betont, dass Kinder in westlichen Gesellschaften viel mehr vergessen müssen als in „segmentären Gesellschaften“ (Benedict 1978: 195ff.) und der „soziologische Präsentismus“ (Assmann) zu sehen in der Lage ist. Trotz immer stärkerer Konzentration sozialisatorischer Aktivitäten seit ca. 200 Jahren auf die klassischen Kinderinstitutionen, die von den klassischen Kinderwissenschaften gestützt werden, kommt es heute zu einer breiten Streuung der Sozialisationsimperative und -einflüsse und zu einer halbverdeckten Konkurrenz der Definitionsansprüche auf Kompetenz. Unter jeweils unterschiedlichen historischen Bedingungen kommt es sowohl zu Schwankungen der Sozialisationsangebote wie ihrer Nachfrage. Deshalb erscheint es fraglicher denn je, ob heute noch von einem homogenen Begriff kommunikativer Kompetenz ausgegangen werden kann (Geulen 1991: 48; Leu 1996; 199ff.; Siegert 1978: 18f.). Einerseits erweist sich der Kompetenzbegriff als zu kompakt. Dann ist außerordentlich fraglich, ob vor der Pubertät noch von einer „rollengebundenen Identitätsformation“ (Nunner-Winkler) überhaupt noch im Zeitalter der „Verhandlungsfamilie“ die Rede sein kann. Und schließlich ist das Schwellenkriterium „Pubertät“ ebenso diffus wie gesellschaftlich unverbindlich. Es mag immer noch nachgeschleppte Stereotype von der „Kinderrolle“ geben, verhaltensleitend sind sie aber immer weniger, weil es dafür fast unzählige typische „Exposés“ gibt (Schülein 1990). Löst sich dann nicht die ontogenetische kommunikative Kompetenz des kompetenten Akteurs „Kind“ in ein Spektrum sozial akzeptierter „gelebter Gesellschaftgeschichte“ in typischen Biographien und eine ihnen korrespondierende Alltagstypik auf (Fischer 1995: 10, 45, 51f.)? Es sieht ganz so aus, als stehe die Pragmatik kindlicher Kommunikation zwar noch eingeschränkt im Verweisungszusammenhang moderner Kindheit, werde aber immer stärker gesteuert durch heutige Interessen von Kindern. Jedenfalls zeichnet sich ab, dass die reale Orientierung an verfügbarem Orientierungswissen und dessen rationale Strukturierung und Aktualisierung sich ständig zuspitzt, fragmentiert, verschärft oder abschwächt, temporalisiert und transformiert. Damit verschiebt sich aber auch die Relevanz der „Realitätsakzente“ des gesellschaftlichen Wissens von der Zentrierung um Institutionen zu der um In-
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teraktionen, von der transsituativen auf die situative Lebensbewältigung. Kinder erfahren z. B. ihre Familie kaum noch als Institution, was sie ja nach wie vor ist, sondern ganz massiv als Interaktionsfeld oder ein Interaktionsgeflecht. Im Alltag gewinnen Kinder ihre Handlungsfähigkeit und Kompetenz – vorinstitutionell, institutionell und zwischen den Lücken des Institutionensystems – in dauernden Übergängen zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Die Lebenswelt beschränkt sich ja nicht nur aufs Momentane und Alltägliche in einer Art netzförmigem Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhang (Corsaro 1997; Waldenfels 1980). Ein traditionelles Pathos der stellvertretenden Erziehungsverantwortung und ein neueres Pathos der Emanzipation (Honig 1999: 212) überlagern diese gesellschaftlich bedeutsame Sinnaufschichtung. Kinder sind in erstaunlichem Maße, wenn ihre „Hilflosigkeit“ nicht künstlich fixiert wird, fähig, eine alltägliche Lebensführung zu organisieren (Kirchhöfer 2001: 61ff.). In der neueren Kindheitsforschung ist auch die kindliche Fähigkeit gewürdigt worden, Marginalisierungen in Institutionen und Generationszusammenhängen einerseits Widerstand entgegenzusetzen, aber andererseits auch mit positiven Gestaltungsbeiträgen auf sich aufmerksam zu machen. Kinderkultur bewegt sich somit nicht nur auf der Ebene symbolischer Repräsentation, sondern als Folge davon, auch auf der des Ressourcenarrangements, zumal der Auswahl, dem Aufbau, der Konsolidierung, dem Abbruch und Neuaufbau sozialer Beziehungen. Gerade diese Kraft zur Mobilisierung von Alltagssolidarität unter Kindern und ihrem gleichsam zivilgesellschaftlichen Engagement hat Kindern schon den Ehrentitel von „Kinderbürgern“ eingetragen (Hartwig 1997; Bukow 2000; Knaur 1998). Der Begriff Co-Konstrukteur wird überwiegend in der Wissenschaftstradition Piagets aufgegriffen (Krappmann 1993; Oswald 1993). Manchmal blitzt heute aus diesem Konzept eine generalisierte Konnotation auf, die sich dem Sozialkonstruktivismus stark annähert: Konstruktionen erscheinen dann in einem weiten Sinn stets Co-Konstruktionen. Überwiegend wird der Begriff aber im Fahrwasser von Piaget und Mead als strukturgenetisch-interaktionistisch interpretierte Phase der Ontogenese verstanden, in der das Zusammenleben mit Gleichaltrigen herausragende Bedeutung gewinnt; sowohl auf der moralisch-normativen wie der Ebene des Verhaltens. Unter Ontogenese verstehen die genannten Autoren die Entwicklung des Organismus, der, stammesgeschichtlich (phylogenetisch) angepasst, seine spezifisch menschliche Eigenart erst in einer teleologisch verstandenen kognitiven Struktur und moralischen sowie sozialen Kompetenz gewinnt. Damit sei es möglich, sie nach einem streng entwicklungslogischen, auf keiner Ebene reversiblen und selektiven Erzeugungsmodell zu beschreiben. Damit könnten auch die spezifischen Inkohärenzen einer individuellen und kollektiven, „postkonventionellen“ Moral und Identität als systematische Entfaltung sprachlicher, kognitiver, sozialkognitiver und moralischer Fähigkeiten in eine innere Verbindung gebracht werden. Gleichsam zur Vorbereitung dieser „postkonventionellen Identität“, zu der übrigens nach Replikationsstudien nur 10 % der amerikanischen Bevölkerung vorstößt (Siegert 1978: 18), bilde die Zeit der Co-Konstruktion unter Gleichaltrigen in der Pubertät das Scharnier. Hier zeige sich, dass die Ontogenese nicht nur vom Sozialisationswissen der Eltern und vom eigenen Wissen, sondern auch vom Wissen derer abhänge, die sich in der gleichen Entwicklungsphase befänden. Im Kindergarten, der Schule und in Freizeitkameradschaften bauten sich die Kinder allmählich eine eigene „soziale Kinderwelt“ mit eigenen Normen, Regeln, Praktiken, Strategien und Wissensformen auf, die sie nicht oder nur sehr begrenzt
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im Elternhaus mitbekommen könnten. Empirisch amalgamierte sich hier eine traditionelle „Eigenwelt“, die Ethnologen (Volkskundler) oder Kulturhistoriker in ihrer Spielkultur etc. oft über mehr als ein Jahrhundert zurückverfolgen können, mit einer spezifisch heutigen, weitgehend kommerzialisierten „Kinderkultur“. Eine ausgesprochen rigide egalitäre Moral stünde hier einer „rauen Streitkultur“ gegenüber, die entgegen ihrem stark idealisierten Normanspruch faktisch doch hierarchische Verhältnisse aufwiese. Trotzdem sei diese Kinderkultur von unschätzbarem Wert, weil sie die Kinder veranlasse, Kinder selbstbestimmt und ohne Unterstützung oder elterliche Autorität Konflikte zu regulieren, Regeln selbsttätig aufzustellen und zu praktizieren (Krappmann 1993; Oswald 1993). Wissensoziologisch kann man die durch Co-Konstruktion formierte Kinderkultur als spezifisch praktische Wissensstruktur verstehen, die nicht durch kognitive Vermittlung von Erwachsenen oder Theorie ersetzbar ist (Hörning 2001). Zur Lebensbewältigung ist sie vielleicht auch heute noch wichtiger als rein kognitives, professionell vermittelbares Wissen. Foucault (1995) nennt solches praktisches Hintergrundwissen „Lebenskunst“ oder „Sorge um sich selbst“, manche anderen Autoren lebensweltliche „Welterschließung“ (Schütz 1979; 1984). Es ist auch gewiss die Grundlage für den „Eigen-Sinn“ von Kindern, der Erwachsenen durchaus manchmal lästig erscheint. Hier geht es um Orientierungswissen und eben nicht um vorliegende sozialökologische Kontexte des kindlichen Alltags (Engelbert 2002: 98), wie ein Großteil der Kindheitsforschung und besonders sozialökologische Forscher annehmen. Es kann dabei unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen zwar zur kürzeren oder längeren Identifikation mit den Status-quo-Bedingungen kommen, doch dies ist immer nur ein Grenzfall, wo „autoritäre Erziehung“ und restriktive Kontextbedingungen des Städtebaus etc. dumpfe Resignation über den Zwang der Verhältnisse aufkeimen lassen. Viel häufiger sind jedoch Verformung und Verfremdung der sozialökologischen Kontextbedingungen, eine subversive kindlichen „List der Ohnmacht“ (Foucault) (v. Beyme 1999: 127). Kinderkulturelle Traditionsbildung ist etwas grundsätzlich Anderes als ein rein gegenwartsfixiertes Sich-Einfügen in sozialökologische Nischen (Alheit 1994). Darüber hinaus lässt sich allerdings fragen, ob das kindliche Verhalten in der „Kinderkultur“ heute so ganz anders verläuft als in „Verhandlungsfamilien“. Kinderkultur geht aus einer spezifischen Soziogenese hervor und auf sie wird immer spezifisch reflexiv (nicht unbedingt reflektiert!) reagiert. Nicht nur beeinflusst die Gesellschaft die Sozialisation der Kinder. Vielmehr beeinflussen auch Kinder die gesellschaftliche Reproduktion nicht unwesentlich; und zwar nicht nur demographisch. Die wechselseitige Beeinflussung braucht nicht symmetrisch zu sein. Meist ist sie aber irgendwie reziprok. Die konstruktiven Deutungsprozesse sind aber weder hermetisch gegenüber denen der Erwachsenen noch temporal konstant. Das Verhältnis kindlicher und erwachsener Konstrukteure kann rigid-eigenwillig oder sanft-anpassungsbereit sein; und das oft in ein und demselben Kinderleben. Und Kinder erleben ihrerseits, dass die kulturelle Einschätzung und speziell die Orientierung ihrer engeren Bezugspersonen durchaus wechselnden Konjunkturen unterliegt. Die Unterstellung einer immer gleich bleibenden Qualität der Beziehungen ist hoch unrealistisch. Immer wieder wird deutlich, dass die Perspektiven von Kindern und Erwachsenen systematisch divergieren (LBS 2002; Zinnecker 2001). Was Erwachsene offenbar besonders schwer nachvollziehen können, obwohl sich auch ähnliche Prozesse der Dequalifikation bei Erwachsenen finden, ist die Tatsache, dass nicht nur die Definition von Grundqualifikationen sich ändert, sondern Kinder westlicher Gesellschaften sich gezwungen sehen, bereits
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Gelerntes zu verdrängen, wieder zu vergessen und zu verlernen (Benedict 1978: 195ff.). Das Aufwachsen von Kindern ist eben nicht ein völlig linearer Wissens- und Kompetenzzuwachs, sondern ein konstruktiver, selektiv-exklusiver Prozess des In-Ordnung-Bringens von Wissen und Nichtwissen, Ordnung und Unordnung, der Lebensbewältigung erlaubt. Wissen kann auch wieder vergessen werden; auch wenn es in den Speichern der Computer ruht. Wissenszuwachs in einem Bereich kann mit gesteigertem Nichtwissen in einem anderen Handlungbereich zusammengehen, und dieses Verhältnis dürfte sich im kindlichen Leben immer wieder ändern. Wie werden Kinder zu genuinen Konstrukteuren? Dies gelingt nicht einfach durch Lernen und verbesserte Leistungsfähigkeit durch Unterricht etc. Ohne dass ihre Abhängigkeit von Erwachsenen und die Notwendigkeit sozialer Akzeptanz damit verschwände, werden Kinder dann zu Konstrukteuren, wenn sie sich in ihrer alltäglichen Lebensführung und in ihrer Biographie als „letzte Instanz“ der Ordnungsbildung inszenieren können, also sich nicht mehr davon stark beeindrucken lassen, was Erwachsene für „entwicklungsfördernd“ und „sozialisationsfähig“ halten, selbst wenn diese objektiv Recht haben. Das ist nicht gleichzusetzen mit „Erwachsensein“. Was aber Erwachsene immer noch gerne ins Feld führen, zeitlose oder wenigstens epochal invariante „Entwicklungsaufgaben“, hat dann jede Kraft verloren. Honig (1999: 212) ist allerdings insofern zuzustimmen, dass dies kein „Pathos der Emanzipation“ rechtfertigt. Es rechtfertigt aber ebenso wenig ein Pathos advokatorischer Allzuständigkeit der Eltern und Erwachsenen, was natürlich die großen pädagogischen Klassiker immer wussten. Kindheit ist immer zunächst – vor aller Sozialisation – ein „interpretativer Rahmen“ (Honig). Er steht in einem Prozess der Relationierung zu seiner sozialstrukturellen „Verbesserung“. Zu dem muss er sich noch in konkreten Situationen bewähren. Folglich ist er ein wechselseitiger, in konkreten Situationen zugespitzter, aber nicht unbedingt symmetrischer Konstruktionsprozess. Es kommt also vor allem darauf an, in historisch situierten, selektiv-exklusiven Operationen spezifische kommunikative Konstruktionen zwischen Kindern und Eltern zustande zu bringen, die zwanglos Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf absehbare Zeit umreißen (Honig 2002: 310) und eine flexibel veränderliche Perspektive und Übersetzungsplattform bieten. Angesichts steigender Ambivalenz ist das nicht wenig. Soziale Konstruktionen von Kindern entpuppen sich somit als Ausdruck kindlicher Kreativität. Sie sind natürlich nicht frei von sozialen Zwängen und neuronalen Schaltungen des Gehirns, aber zu entdecken sind sie gerade dort nicht, denn sie setzen sowohl „Einfälle“ voraus wie „Zwischenbilanzen“ und soziale Akzeptanz. Elias spricht von „Ich-Wir-Balancen“ (Elias 1992: 207ff.).
6.16 Grenzen konstruktivistischer Theorienperspektiven Mit der Enttraditionalisierung der Gesellschaft in den letzten zwei Jahrhunderten hat sich die innere Beziehung zwischen Kultur, Sozialstruktur und jeweils konkret zu lebender Situation ganz offensichtlich gelockert. Die wachsende Zahl von Informationen, das Ausmaß relationierenden Wissens und die Optionen verlangen nicht so sehr eine laufende Erhöhung des Angebots, sondern eine relevante und signifikante Dosierung und Optimierung, einen sozial akzeptablen Umgang, eine konstruktive Bündelung.
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In der Debatte wie sich die künftige gesellschaftliche Entwicklung gesellschaftstheoretisch am griffigsten zusammenfassen lässt, wird immer wieder hervorgehoben, dass die materielle und symbolische Reproduktion immer mehr von wissensbasierten Operationen durchdrungen werden wird. Soziale Wissenskonstruktionen scheinen alles zu dominieren. Zumeist ungeklärt bleibt dabei das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen. Nimmt das Wissen kumulativ zu wie unangefochtene Aufklärer immer noch glauben? Nimmt auch das Nichtwissen zu, wie Romantiker immer schon meinen? Gibt es eine Balance oder eine Imbalance von Wissen oder Nichtwissen? Oder beides zugleich in unterschiedlichen Bereichen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten? Offensichtlich gibt es auch Grenzen der Verkraftbarkeit von Komplexität, Kontingenz und Ambivalenz, wo Alltagsmenschen entweder mit Mentalrestriktion oder mit „Fundamentalismus“ unterschiedlicher Art reagieren. Unbestimmtheit lässt sich durch soziale Konstruktionen nie vollständig in Bestimmtheit überführen (Gamm 1994; 2000). In der Kindheitsforschung setzt Honig (1999: 209f.), ähnlich wie Lüscher, soziale Konstruktionen mit „Perspektiven“ gleich. Bei Mead (ähnlich wie bei Piaget) geht es aber bei perspektivischer „Verwiesenheit“ nicht um ein konsequent interaktiv-responsives Verhältnis, sondern – durchaus in einem vormoralischen, nicht abwertend misszuverstehenden Sinn – um die durchaus ego-zentrische Selbsttätigkeit des „Selbst“. Eine solche Perspektive kann erworben werden durch die Übernahme des „signifikanten“ oder „verallgemeinerten“ Anderen. Es geht weder um den Anderen als Anderen, noch streng genommen um das „Zwischen“ der Inter-Aktion oder um eine erst herzustellende tragfähige soziale Konstruktion (Mead 1973: 218). Wenn es aber bei sozialen Konstruktionen nicht einfach darauf ankommt, eine Perspektive zu installieren, sondern um die konstruktive Rekontextualisierung von Sozialisationsagent wie Sozialisand, deutet dies auch auf implizite Grenzen des Konstruierens hin. Soziale Konstruktionen müssen sich als kommunikative Konstruktionen erfahren lassen und die Konstrukteure müssen sich immer wieder responsiv zurücknehmen, wenn es nicht zu einem konstruktivistischen Leerlauf oder einem – oft nicht einmal verdeckten – Monologisieren oder autistischen Projektionen kommen soll. Daher legt der Sozialkonstruktivismus Wert darauf, dass auch die soziologischen Konstruktionen „zweiter Ordnung“ durchgängig ein rekonstruktives Moment behalten. Wissenskonstruktionen werden nicht schlicht gewusst. Sie müssen vielmehr wahrgenommen, ratifiziert geordnet und mit gesellschaftlichen Wissensvorräten in Einklang gebracht werden. Spontanes Verstehen ist möglich, aber es ist immer nur unter bestimmten Bedingungen und begrenzt möglich (Grundmann 1999: 134). Fremdverstehen hebt die Fremdheit nie völlig auf und erzeugt immer auch neue Fremdheit. Vielleicht missverstehen sogar Erwachsene, die meinen Kinder total zu verstehen, sie besonders gründlich. Konstruktionen, die „in seeliger Unwissenheit“ die Fremdheit von Kindern negieren, riskieren, zur tautologisierenden Subsumtionslogik zu werden (Waldenfels 1998). Konstrukteure – im Alltagswissen wie im sozialwissenschaftlichen Sonderwissen – erleben immer wieder „Störungen“, „Risse“, „Lücken“, Grenzen in ihren Konstruktionen. Gerade in sozialwissenschaftlicher Systematik ist die Verführung groß, „Anomalien“ zu überspielen und die Konstruktion zu harmonisieren. Eine rein analytische Modellierung ist zwar legitim, muss aber auf die konstitutive Erfahrung rückübersetzbar bleiben. Sonst entgleisen analytische Idealisierungen in Reifizierungen oder gar in praktische „Fluchtutopien“, die jeden Erfahrungstest meiden. Soziale Konstruktionen müssen sich daher selbstkritisch als
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„offene Systeme“ oder besser als strukturierende „Systemfragmente“ reflektieren und dürfen sich eben nicht als „geschlossene Systeme“ missverstehen, die keinen toten Winkel und blinde Flecken aufweisen. Obwohl der sozialkonstruktivistische Ansatz die übliche Makro-, Meso- und Mikrodifferenzierung transzendiert, hebt er sie nicht einfach auf. Je nach analytischer Schwerpunktbildung nimmt aber jeder theoretischer Zugriff unvermeidlich scheinbare und/oder wirkliche „Einseitigkeiten“ in Kauf, die aber dann hingenommen werden können, wenn ihre Selektivität sichtbar gemacht und zur „Primärerfahrung“ des Alltagswissens reflektiert rückgebunden werden (Srubar 1997: 25ff.). Es darf also nicht unterschlagen werden, dass soziale Konstruktionen bloße „Zwischenbilanzen“ der Dialektik von Strukturierung und Entstrukturierung darstellen und in keiner Weise das Problem der sozialen Konstitution des sozialen Phänomens zur „sozialen Tatsache“ jemals hinter sich bringen. Vorrangige Aufgabe sozialer Konstruktion ist es, Komplexität zu reduzieren und Ambivalenz lebbar zu machen. Dabei ist es eine urkonstruktivistische und nicht erst eine dekonstruktivistische Maxime, die eigenen Voraussetzungen, Folgen und Nebenfolgen und die Grenzen der Normalität zu reflektieren und damit eine Gewichtung der Konstruktion oder des konstruktiven Normalisierungsgeschehens vorzunehmen. Also sind die Grenzen von Konstruktionen nicht etwa Randerscheinungen sondern konstitutiver Teil eines selbstkritischen Konstruktivismus. Prinzipiell kann man alles konstruieren nur eben die Situation und die zeitliche Situiertheit des Konstruierens nicht. Alle Theoretiker stehen an einem ganz bestimmten Platz der Konstruktionsgeschichte und der aus ihr hervorgehenden Übersetzungsgeschichte. Keiner fängt bei Null an. Im Grunde ist jede Konstruktion ein zeitweiliger Diskussions- und Kommunikationsabbruch mit spezifischen Voraussetzungen, Folgen und Nebenfolgen. Jede Konstruktion muss mit einer spezifischen Konstruktionssensibilität und Rezeptionsbereitschaft rechnen und nicht nur mit einer Abfolge von Argumenten. Konstruktivisten unterstellen nicht selten im Sinne der Kommunikationstheorie, selbst wenn diese von der „Unwahrscheinlichkeit sozialer Kommunikation“ (Luhmann) spricht, gerade die Wahrscheinlichkeit, ja die Automatik von „Anschlusshandeln“. In Wahrheit ist dieses stets historisch konditioniert und kann auch scheitern. Wird das übersehen, so wird in verschleierter Form eine „richtige“ Ordnung unterstellt, die sich ohne weiteres durchsetzt. Normative Prämissen sind nicht illegitim, müssen allerdings expliziert und mit ihrer Wirkungsgeschichte in Verbindung gebracht werden. Noch wichtiger ist es, dass Konstruktionen aber nicht normativistisch verkürzt werden dürfen (Reckwitz 1999, 2000), sondern normative Orientierungen als konstitutiver Teil der dialektischen Transformation Wirklichkeit erzeugenden, stabilisierender und entstrukturierender Wissensordnungen verstanden werden. Dabei muss einkalkuliert werden, dass sich beim Umgang damit laufend Verschiebungen der Relevanz und der den Wissensordnungen korrespondierenden sozialen Netzwerken ergeben, eine auf Wissen basierende Gesellschaft nicht wirklich still gestellt werden kann. Nur dann kann ein Konstruktivismus davor bewahrt werden, zu einem schematischen Formalismus zu entarten, der ungewollt reifizierenden Schlagworten Vorschub leistet. Es bleibt eine Differenz zwischen dem, was wir konstruieren wollen, wie wir dies konstruieren wollen, warum und wozu wir dies so und nicht anders konstruieren wollen. Und deshalb bleibt jeder „substanzhaltige“ Konstruktivismus darauf verwiesen, immer wieder und immer genauer hinzusehen auf die Erfahrung, wie sie zunächst und zum Schluss zur Konstruktion passen muss (Waldenfels 1997: 44; Soeffner 2004: 82).
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Die stärkste und letzte Grenze des Konstruktivismus liegt freilich in der „Verletzungsoffenheit“ (Vulnerabilität) der Kinder selbst, die trotz aller Schutzfaktoren (Resilienz) nicht zu beseitigen ist. Verletzlichkeit und Schutzfaktoren lassen sich auch nur begrenzt gegeneinander aufrechnen. Es gibt auch „Fehlkonstruktionen“, die sich nicht an einer quasiquasitranszendentalen Entwicklungslogik messen lassen, aber die Strukturierungsfähigkeit von Kindern lahm legen. Am krassesten wird dies natürlich im Fall der Misshandlung und des sexuellen Missbrauchs deutlich. Gewiss kann Leid prinzipiell gelindert werden, aber es wäre eine Schönfärberei, nicht sehen zu wollen, dass auch „gut gemeinte“ (advokatorische, emanzipatorische) Konstruktionen Verletzungen nie ganz vermeiden können. Diese Einsicht lässt sich natürlich dramatisieren oder verharmlosen. Das ändert aber nichts daran, dass diese „Tragik“ nicht zu beseitigen ist, aber in die konstruktivistische Reflexion einkalkuliert werden muss, weil sie oft einen Stachel in der Biographie bildet (Prout 2003: 42f.; Waldenfels 1990; Soeffner 2004: 62ff.) und manchmal zeitlebens eine Sprachlosigkeit oder eine unsichtbare Mauer – jenseits aller spektakulären Generationskonflikte – erzeugen kann.
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7.1 Die Funktion des Wissens Angesichts zunehmender Globalisierung von Wirtschaft, Politik und Kultur stellt sich die Frage, wie interkulturelle Kommunikation und internationale Konfliktbewältigung möglich wird. Ein Verständigungsproblem von nie gekanntem Ausmaß zeichnet sich ab. Einer politischen „global governance“ und einer Erweiterung der Geltung und Durchsetzung des Völkerrechts sind universelle Vernunftkriterien und, wichtiger noch, sich ausweitende reale Verständigungsprozesse vorgeschaltet, wenn sie nicht in der Luft hängen sollen. Solche Verständigungszusammenhänge können nicht mehr einfach als Ausfluss der Modernisierung begriffen werden. Sie setzen auch die Legitimität der Modernisierungskritik voraus, auch wenn dabei nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies ein fundamentalistischer Antimodernismus ausnutzt. Vernunft erscheint dann nicht als „absolutes Wissen“, sondern eher als Bemühen, die faktische Partikularität aller Vernunftsansprüche immer wieder zu überwinden; nicht durch einen „internationalen Gerichtshof“ universaler Prinzipien, sondern durch systematisch entgrenzter Wissensbestände oder „laterale Universalisierung“ (Waldenfels). Nicht nur wegen der Umstellung von Handarbeit auf Wissensarbeit, sondern auch wegen der Entstehung interkultureller Kommunikation sind wir auf dem Weg zur Wissensgesellschaft (Knoblauch 1995). Soziale Akzeptanz, auch und gerade von Kinderpolitik, setzt also Verstehen, Verständigung und Wissen voraus und ist mit einer stets hypothetisch bleibenden Reziprozität der Perspektiven durch Sozialisation keineswegs gesichert. Interkulturelle Kommunikation verlangt immer wieder neu die Perspektive des Fremden durch einen Vergleich mit der eigenen allererst kennenzulernen und die dann vielleicht unsicher gewordene eigene Perspektive durch neues Wissen über den Anderen und sich selbst im Spiegel des Anderen zu restrukturieren und zu profilieren. Es gibt natürlich unterschiedliches Wissen. Alltagswissen, professionelles und wissenschaftliches Wissen stehen in starker Konkurrenz. Wissenschaft hat lange versucht, Alltagswissen als „unseriös“ zu disqualifizieren. Aber wo immer sie den tollkühnen Versuch gemacht hat, sich sozusagen an die Stelle des Alltagswissens zu setzen, hat sie sich kräftig blamiert. Wissen ist nicht nur Wissen um das, was normativ oder funktional vorgegeben ist, sondern auch Wissen um Normbildung, Normdurchsetzung, Normerosion, Substitute von Normen, Normalitätsunterstellungen und Normalisierung. Es ist auch Wissen, wie man mit Normen, Regeln, Ritualen umgeht, welche Entscheidungen anstehen, welche Verfahren gewählt werden können, wie lange die Handlungsketten sind, die man ins Kalkül ziehen muss, welche Lebensstile und Weltbilder, die immer schon da sind, man berücksichtigen muss, wer welchen Handlungsbereich beherrscht und wie das alles – höchst selektiv – von der Alltagswirklichkeit als ausgezeichneter Wirklichkeit gedeckt ist (Berger 1971: 43ff.). Von unterschiedlicher Seite wird Wissen angeboten und nachgefragt. Manche Soziologen
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sprechen von Wissensmärkten. Immer noch populär ist die typisch moderne Vorstellung, dass Wissenschaft ein unanfechtbares Wissen bereitstelle, das im Gegensatz zum Alltagswissen strikt neutral und ausschließlich sachbezogen ist. Techniker und Praktiker könnten dieses „absolute Wissen“ unmittelbar umsetzen, wenn sie qualifiziert seien. Nur ist es seltsam, dass in allen Wissenschaften, die Naturwissenschaften eingeschlossen, jedem Experten sogleich ein Gegenexperte mit ähnlich plausiblen Argumenten auf den Fuß folgt. Und selbst schlichte Zeitgenossen wissen, dass Wissenschaft stets einen höchst ambivalenten Fortschritt gebracht und auch Unsicherheit vermehrt hat. Alltagswissen und damit korrespondierende soziale Praktiken begründen eine ganz bestimmte Handlungsnormalität im Alltag. Sie verdichten sich zuweilen zu institutionsgebundenen normativen Imperativen, gehen aber darin nie restlos auf. Normalität bildet den Rahmen für Handeln, Kommunikation und auch Sozialisation. Alltagswissen verliert auch darin nicht seinen Wissenscharakter, dass es meist implizit, halb- oder unbewusst in Routinen als Können und Geschicklichkeit aufleuchtet (Hörning 2001: 161; Schütz 1979). Durch häufige und regelmäßige Kooperation bilden sich auch schon zwischen Eltern und kleinen Kindern Handlungsgepflogenheiten. Sie können sich zu informellen und u.U. auch zu formellen Normen fortentwickeln, werden aber auch dann laufend reinterpretiert. Lebensweltliche Orientierung ist mit einer Förderung des Abstraktionsvermögens nicht gleichzusetzen. Sie verlangt einen aufmerksamen Blick auf die Situation, nicht nur ein Prinzipienwissen, aus dem konkrete „Anwendung“ niemals deduziert werden kann. Wichtig sind vielmehr eine kreative Fähigkeit des Transfers, der Übersetzung, der sinngemäßen Analogiebildung, der Applikation und der Abduktion. Es ist auch nötig, anknüpfen zu können an schon erreichte Verständigung. Es wäre weltfremd, annehmen zu wollen, widersprüchliche Erfahrungen ließen sich dabei ausklammern.
7.2 Das Erbe der Sozialphänomenologie Nach langer Karenzzeit und über Umwege ist das Erbe der Sozialphänomenologie auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt und ist dann auch in die soziologische Theoriedebatte eingesickert. Der Sozialkonstruktivismus Berger/Luckmanns ist davon zutiefst bestimmt. Die Grundfrage der phänomenologischen Philosophie ist: Wie kommt es, dass etwas in einer ganz bestimmten Weise einem ganz bestimmten Menschen so erscheint, wie es ist? Mit Kant geht Husserl davon aus, dass wir in unserem Erkenntnisbemühen durch und durch endlich und begrenzt sind und nicht zu letzter ontologisch-metaphysischer Wesenserkenntnis vordringen können. Das „Wesen“ oder die Tiefenstruktur einer Sache muss vielmehr aus den Erscheinungen selbst in systematischer gedanklicher Variation und phänomenologischer Reduktion abgeleitet werden. Es verbirgt sich nicht hinter der Sache wie die Person hinter einer Maske. Berger/Luckmann modifizieren diese Grundfrage mit dem Blick auf die soziologische Theorie: Wie kommt es, dass kulturell geprägte Subjekte objektives Wissen produzieren und dieses wieder subjektiv aneignen, verändern und wieder in gesellschaftliche Sinnstiftungsprozesse einweben (Berger 1971)? E. Husserl versucht in seiner Phänomenologie, die nicht einfach deskriptive Abschilderung, sondern Analyse der mannigfachen Bedeutungsaufschichtungen von Phänomenen sein will, die neuzeitliche Subjekt-Objektspaltung des Denkens zu überwinden. Ein Subjekt steht nicht unvermittelt einem Objekt gegenüber. Vielmehr tritt diese Differenz erst im
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Erkenntnisprozess auf. Objekte existieren nicht außerhalb des Bewusstseins. Sie müssen schließlich wahrgenommen werden. Ein Subjekt ohne Bewusstseinsinhalte freilich wäre völlig leer. Wo gedacht wird, Husserl spricht hier von „Noesis“, wird etwas als etwas Bestimmtes („Noema“) in einer ganz bestimmten Weise wahrgenommen oder gedacht. Subjekt und Objekt sind also gleichursprüngliche Aspekte oder Momente des Erkennens. Husserl suchte mit großer Leidenschaft den archimedischen Punkt und das Erzeugungsprinzip allen Erkennens und Wissens, konnte ihn aber nirgends im Bewusstsein selbst finden. Daher wandte er sich in seinen letzten Jahren der „Lebenswelt“ als Begründungsquelle zu, die als „Boden“ und Vorverständnis, von dem alles Wissen, auch das wissenschaftliche, seinen Ausgang nehmen muss, und zugleich als „Horizont“ (Hintergrundwissen) dienen kann, in den alles Wissen, auch das wissenschaftliche, schließlich rückübersetzt werden muss, wenn es wirklich verstanden ist. Damit hat Husserl nicht etwa nur einen nach wie vor populären Leitbegriff in die Diskussion geworfen, sondern auf Zusammenhänge aufmerksam gemacht, die heute ausdrücklich von Varela (1990: 97f.) anerkannt werden, einem der Neurobiologen, der sowohl für den radikalen Konstruktivismus wie die autopoietische Systemtheorie Luhmanns ein Gewährsmann ist. Wir kommen niemals ohne Alltagswissen und Umgangssprache aus. Schütz hatte zunächst im Fahrwasser Husserls vor seiner Krisis-Schrift versucht, Sozialität transzendental-egologisch zu entfalten. Später hat er aber die Lebenswelt rein „mundan“, also durchaus als historische Sozialwelt verstanden (Srubar 1988). Konsequenter noch hat Merleau-Ponty kritisch die Lebenswelt als dynamisches „Zur-Welt-sein“ konzipiert, das als bewegliche, leibgebundene Zentrierung begriffen wird, deren subjektive und intersubjektive Akzentuierung verschiebbar bleibt. Hier geht es immer wieder darum, Eigenwelt und Fremdwelt in ihrem Verhältnis zu ordnen. So kann hier noch weniger als bei Husserl und Schütz Lebenswelt als „idyllischer Ort“ oder rein formal gegebene sozialökologische Nischenstruktur missverstanden werden (Waldenfels 1984: 332ff.). Sie ist keine summarische Ordnung, die fix und fertig vorläge, keine Topik, sondern eine Topologie auf der Basis fundierender Hintergrundorientierung und insofern „Nullpunkt“ der Erfahrung aller gesellschaftlichen Akteure. So kann man mit gebotener Vorsicht sagen, dass eine weiterentwickelte LebensweltKonzeption nicht nur in die Nähe des soziologischen Konzepts der „agency“ gelangt, sondern das validere und differenziertere Konzept darstellt. Es impliziert immer auch eine reflexive Umformung gegebener gruppenspezifischer Relationen und eine „Umgruppierung der Kultur- und Zivilisationsmuster in ein individuumbezogenes Relevanzsystems, das der biographischen Prägung und Aneignung der Kulturmuster (d.h. der Sozialperson) gleichkommt,…“ (Srubar 1988: 211). Diese Lebenswelt ist keineswegs institutionsfern. Sie ist immer auch an der subversiven Verformung, Selektivität und Exklusivität erkennbar, mit der sich Kinder, z.B. in der Schule, ein „gutes Leben“, nicht nur das schiere Überleben zu sichern und in diesem Sinn pragmatische Lebensbewältigung zu praktizieren suchen (Luckmann 2002: 45ff.; Bühl 2002: 23ff.). Lebenswelt als immer wieder von Dezentrierungen gestörter Prozess subjektiv-intersubjektiver, leibgebundener Orientierung hat immer räumliche, zeitliche, soziale Relevanzen, ohne indes mit irgendeinem räumlich-zeitlichensozialen Arrangement distanzlos zusammenzufallen. Sie bleibt in „statu nascendi“. Der Soziologie wird damit die Möglichkeit eröffnet, wissenssoziologisch die verschiedenen Erfahrungsaufschichtungen zwischen intimer Privatheit und anonym-formalisierter Öffentlichkeit, die Soziogenese des soziokulturellen Kindheitsbildes und ihrer unterschied-
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lich kohärenten Relationierungen in der Sozialstruktur sowie der reflexiven Reaktionen darauf in konkreten Situationen auch unter dem Gesichtspunkt des „Ungleichzeitigen/des Gleichzeitigen“ zu beschreiben, also die Konstitution des „sozialen Phänomens“ Kindheit zur jeweiligen „sozialen Tatsache“ und das Wechselspiel zwischen Strukturierung und Entstrukturierung zu beobachten.
7.3 Die Affinität der Konstitutionstheorien In der heutigen soziologischen Theoriediskussion spielt der Sozialkonstruktivismus nicht gerade eine marginale aber auch noch immer keine zentrale Rolle. Oft wird jedoch nicht beachtet, dass verschiedene völlig disparat erscheinende Theorieansätze, nämlich der symbolischen Interaktionismus, die Giddenschen Strukturierungstheorie, die Reproduktionstheorie Bourdieus und der Sozialkonstruktivismus, bei allen Unterschieden im einzelnen darin übereinkommen, dass sie sich als Konstitutionstheorien verstehen lassen (Joas 1992). Der klassische Werturteilsstreit liegt fast ein Jahrhundert zurück. Die erbitterte Fehde um den „Neopositivismus“ in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist nur noch wenigen in Erinnerung (Ritsert 2002). Mit neuer Vehemenz versucht die postempiristische Epistemologie unserer Tage (Reckwitz 1999; 2001) erneut, mit der immer noch geläufigen objektivistischen Vorstellung aufzuräumen, Theorien könnten angeblich interpretationsfreie „Fakten“ direkt und übersetzungsfrei erklären. Theorien sind demnach weder voraussetzungslose Abbildungsinstrumente noch sind empirische Befunde „pure facts“. Theoriesprache korrespondiert auch nie nahtlos mit der selbst durch Alltagswissen und Umgangssprache infizierten Beobachtungssprache (Lakatos 1974; Kelle 1994; Meinefeld 1995). Es ist vielmehr mit Giddens (1984; 1988) von einer „doppelten Hermeneutik“ zwischen zwei Konstruktionsebenen (Schütz 1974) auszugehen, die locker oder strenger gekoppelt und kohärent sein können. Die gesellschaftlichen Akteure, auch Kinder, sind keine „kulturellen Deppen“ (Garfinkel). Sie wissen in der Regel mindestens implizit, was sie wahrnehmen, unter welchen Bedingungen sie denken, empfinden und handeln, auch wenn sie es für müßig erachten, explizit darüber zu sprechen. Andeutungen genügen meist. Auf Nachfrage, in kritischen Situationen oder nach Provokationen sind auch viele Kinder in der Lage, mehr oder minder deutlich darüber zu reden. Weil das handelnde Subjekt jedoch nicht der Schöpfer der Wirklichkeit ist, sondern in den oft hektischen Handlungsfluss immer schon hineingezogen ist, nur ab und zu schöpferische Beiträge zur Geltung bringen kann, ist die moderne Konzeption eines völlig souveränen und autonomen Menschen pure Illusion. Im günstigsten Fall haben wir ein relativ autonomes Kind vor uns, das die Handlungssituation in ihren Hauptlinien einigermaßen korrekt einschätzt. Handeln im Alltag ist daher zunächst immer an Routinen orientiert, setzt analoge Handlungsserien voraus, bleibt regelgeleitet und ressourcenabhängig, instabil und prekär. Und nur durch hellwache Konzentration auf die stets restriktiven Bedingungen des Handelns wird paradoxerweise reales Handeln positiv ermöglicht. Insofern steht jeder konstitutionstheoretische Ansatz vor der doppelten Aufgabe, sowohl die Soziogenese sozialer Typen wie deren individuierte Transformation in gesellschaftlichen Abläufen, deren möglichen Geltungs- und Wirkungsbereich mit rekonstruktiven Mitteln zu entwerfen. Es geht, um mit Giddens zu sprechen, um eine „doppelte Hermeneutik“, die eine „duale Struktur“ gesellschaftlicher Prozesse durchsichtig zu machen hat. Der Ak-
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teur ist keine Marionette und bringt als Konstrukteur namenhafte Beiträge ein. Er ist jedoch nicht autonomer Steuermann, welcher die gesellschaftliche Eigendynamik umfassend steuern könnte (Matthiesen 1994: 80; Giddens 1988; Schütz 1979; 1984). Soziale Strukturen werden sowohl durch menschliches Handeln konstituiert und sind zugleich als strukturelle Figurationen selbst Anstoß und Medium dieses konstituierenden Konstruktionsprozesses gesellschaftlicher Wirklichkeit, in den unzählige partikulare soziale Konstruktionen verwoben sind. Giddens hat dieser Theorieperspektive in Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, dem Strukturalismus und Poststrukturalismus den Namen Strukturierungstheorie gegeben, der freilich in einem weiten Sinn für alle Konstitutionstheorien gelten könnte. Diese Strukturierungstheorie versucht die nach wie vor scharfe Gegenüberstellung von Handlungstheorien und Strukturtheorien und einer makro- oder mikrosoziologischen Methodik zu überwinden. Dies sind nur Momente eines komplexen Strukturierungsgeschehens, das Akteure profiliert und Strukturen konturiert, Ergebnis und zugleich irritierendes Medium des sozialen Handelns. Das setzt einen Akteur voraus, der zwar einen „praktischen Sinn“ zielstrebig verfolgt, aber nur in begrenzter Rationalität agiert, ohne deswegen der Irrationalität geziehen werden zu können (Giddens 1984: 199). Er muss sich, um überhaupt bestehen zu können, von seinem praktisch-pragmatischen Wissen leiten lassen. Aufgabe der Strukturierungstheorie im Einzelnen ist es, die „strategischen“ Regeln und Ressourcen der jeweiligen Wirklichkeitsstrukturierung ausfindig zu machen. Giddens arbeitet dabei mit drei Leitkonzepten: Signifikation, Legitimation, Herrschaft. Wirklichkeit muss ausdrücklich als solche bezeichnet und sozial definiert werden. Sie gewinnt erst durch institutionelle Legitimierung soziale Akzeptanz. Giddens glaubt, dass dies nicht genügt, sondern durch politische Herrschaft noch zusätzlich durchgesetzt werden muss. Gerade in der Spätmoderne treten Widersprüche auf, die speziell ausgesteuert werden müssen. Deutlicher als andere Konstitutionstheoretiker thematisiert Giddens die Zuspitzung gesellschaftlicher Eigendynamik durch eine globalisierte Individualisierung und die ambivalenten Konsequenzen der Modernisierung (Giddens 1995: 195ff.). Zwischen den Leitbegriffen von Giddens und denen Berger/Luckmanns gibt es viele Berührungspunkte und einige Unterschiede. Beide gehen von einem Wechselspiel von Subjektivierung und Objektivierung statt fixierten Subjekt-Objekt-Relationen aus. Der Hauptunterschied besteht darin, dass bei Berger/Luckmann politische und gesellschaftliche Definitionsmächte näher zusammenrücken, während Giddens die Prominenz politischer Herrschaft und Macht eigens hervorhebt. Berger/Luckmann sprechen von der „Dialektik“ des Wirklichkeitserzeugungsprozesses, Giddens in neuerer Terminologie von „Rekursivität“. Im Sinne Wittgensteins hebt Giddens die Regeln stärker hervor, während Berger/Luckmann deutlicher die Begrenzung von Regeln, die nichtregulativen Voraussetzungen der Regeln, den Umgang mit „Lebensrevisionen“ (Konversionen) und Überraschungen, die Dialektik von Habitualisierung und Kontingenz vor Augen haben, die zur Lebensbewältigung oft wichtiger ist (Matthiesen1994:80, 85, 90). Auch Bourdieu kann als exzellenter Konstitutionstheoretiker verstanden werden. Auch bei ihm gibt es ein dominierendes Spannungsfeld zwischen „Struktur“ und „Praxis“, die durch die Sozialisation eines „Habitus“ vermittelt sind. Wirklichkeit wird – ähnlich wie bei Berger/Luckmann und Giddens – erfahren als „Spiel“ zwischen „symbolischer Beherrschung und praktischer Handhabung“ (Bourdieu 1982: 40f.). In seinen Werken versucht er die alltagsweltlich bedeutsame Reproduktion der Geschmacksurteile und des Lebenstils als
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„homologe“ Indikatoren gesellschaftlicher Reproduktion sozialer Ungleichheit zur Geltung zu bringen (Bourdieu 1988; 1992). Bourdieu zufolge reproduziert sich die Sozialstruktur in einem ständigen Kampf um Macht und gesellschaftliche Distinktion sowie kulturellem, symbolischem, sozialem und ökonomischem Kapital in großen sozialen Feldern. Er kann sich nicht vorstellen, dass Habitualisierungen ohne Machtinteressen aus gedankenloser Routine erfolgen. Berger/Luckmann rechnen durchaus mit machtgestützten Definitionskämpfen, darüber hinaus aber mit unpolitischer Konvention, mit Verzicht auf Machtinteressen, mit schierer Indifferenz und Ratlosigkeit oder Bequemlichkeit, die nichts desto trotz mittels Interpretationen und sozialen Praktiken oder Kommunikation Wirklichkeit generieren. Von Bourdieu werden „gemischte Motive“ und Kontingenz zwar grundsätzlich nicht bestritten, sie werden aber fast unsichtbar (Matthiesen 1989: 225; Miller 1989: 191ff.). An manchen Stellen deutet sich jedoch ein überraschender, insgesamt nicht repräsentativer Sozialisationsbegriff an, der als Vorrang sozialer Konstruktionen vor Sozialisation und Reproduktion gedeutet werden könnte: Sozialisation könne durch „Akte der Etikettierung“ auch „magisch“ werden (Bourdieu 1987: 101, 103, 107). Allerdings kann man sich des Eindruckes kaum erwehren, dass der brilliante Dialektiker immer wieder etwas zurücknimmt, was er zuvor geäußert hat. Viel eindeutiger und längst bekannt scheint die Nähe von Mead und Schütz zu sein, die gewiss beide vom Vorrang der sozialen Konstitution vor der Faktizität ausgingen (Joas 1992; Berger 1971). Mead wird meist mit dem Symbolischen Interaktionismus gleichgesetzt, was nicht ganz korrekt ist. Im Rahmen der pragmatischen Philosophie versteht Mead Wahrheit in Begriffen von Handlungsfolgen. Das handelnde „Selbst“ (Self) wird durch die menschliche Evolution und die Ontogenese im Sozialisationsprozess durch die Instanzen des „Me“, der sozialen Identität, und des „I“ als zunächst rein impulsive persönliche Identität geformt. Dies geschieht in sozialisatorischer Interaktion zwischen Ego und Alter und daraus folgende ständige Differenzierung, Abstraktion und Transfer. So bindet sich der Sozialisand zunächst an den „signifikanten“ und schließlich „in der kompletten Rollenübernahme“ an den „verallgemeinerten Anderen“. Ohne die Hintergrundannahme funktionierender Symbolsysteme, besonders der Sprache, kann dieser Prozess nicht ablaufen, gelingt im Grunde auch keine einzelne Interaktion, in der sich das Selbst, die Anderen und die Dinge begegnen. Interaktionen bringen in ihrer Verkettung die Gesellschaft zur Darstellung. Mead bleibt im Gegensatz zu Schütz viel stärker einem evolutionistischen Fortschrittsdenken verhaftet. Bei ihm gibt es zwar Anzeichen, dass er den Prozess der Logik und der Sozio-Logik unterscheidet. Meist überwiegt jedoch der Eindruck, dass er Rollenübernahme nicht als kontingentes, „laterales“ oder „transversales“ Organisationsproblem, sondern als logische Abstraktion versteht. Und genauso wird er ja auch meist interpretiert. Damit trifft Mead jedoch nicht das Problem der Perspektivenverflechtung unter Bedingungen „gebrochener Intersubjektivität“ und der Alltagsorganisation unter spätmodernen Bedingungen. Mead übersieht auch, dass mit kommunikativen Handlungen immer auch unkommunikative konkurrieren (Assmann 1990: 11ff.). Schütz selbst hat viele Gemeinsamkeiten mit Mead hervorgehoben. Wirklichkeit ist bei beiden keine Summe von isolierten Fakten, sondern in gewisser Weise kommunikative Konstruktion, die soziale Konstitution in Gang bringt. Während jedoch Mead mit einem einmaligen, lineare Prozess der Rollenübernahme rechnet, bleibt bei Schütz die Reziprozität der Perspektiven eine rein tentative Normalitätsunterstellung, die gelingen, aber auch erfolglos sein kann (Schütz 1979: 26). Sozialisation bleibt bei ihm folglich prekär, schon
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weil es „multiple Realitäten“ zu verschränken gilt, die darüber hinaus sowohl von der Teilnehmer- wie der Beobachterposition aus betrachtet werden können, und weil Alltagswissen sich an außeralltäglichem Sonderwissen stößt oder, weil es einen verwirrenden Austausch beider Wissensordnungen gibt. In der gesellschaftlichen Konstruktion – hier berührt sich Schütz wieder mit Mead – geht es nicht nur um kognitives, sondern praktisch-pragmatisches Wissen zur „Welterschließung“, d. h. um eine umfassende Ordnung von Ich, Gesellschaft und Welt. Jede Form intersubjektiven Wissens beruht grundsätzlich auf subjektiver Erfahrung und bleibt auch dann subjektiv verankert, wenn sie in Institutionen verobjektiviert ist. Im Gegensatz zu seinen Frühschriften bleibt diese Wissenskonstitution bei Schütz später strikt mundan und äußert sich in historischen Konstruktionsimperativen, die durch kleine, mittlere und große Transzendenzen nicht nur über ein egologisch konstituiertes Bewusstsein, sondern auch über rein evolutive Prozesse der Sozialisation oder Sozialkontrolle hinausdrängen (Schütz 1979; 1984; Luckmann 2002).
7.4 Weiterentwicklung und Neuakzentuierung des Sozialkonstruktivismus „Veränderte Kindheit“ wird zweifellos sozial konstruiert. Mittels Formen der Dramatisierung oder Verharmlosung, durch suggestive oder schönfärberische Bilder, Assoziationen, Argumente und gezielte oder gedankenlos nachgeplapperte selektive Darstellungen und implizite, folgenreiche Ausgrenzung werden Meinungen bei einem entsprechend interessierten Publikum heimisch. Um diese eindrucksstarken Assoziationen der Öffentlichkeit nahe zu bringen, genügt es freilich nicht, dem verunsicherten Publikum „Soziodramen“ vorzuspielen oder Gefahren zu beschwören oder zu verniedlichen. Vielmehr muss das entsprechende Publikum symbolische Taten, soziale Praktiken sehen, die es darin bestärken, dass es einen „bewährten“ Weg oder Ausweg aus der Misere oder sogar bestimmte „Wunderwaffen“ gibt, die das eigene Nichtstun legitimieren. Im Gegensatz zum heute typischen, stark sozialpsychologischen und mikrosoziologischen Sozialkonstruktivismus (Frindte 1998), hat der Sozialkonstruktivismus Berger/Luckmanns einer rein mikrosoziologischen und kulturalistischen Reduktion stets widerstanden. Die heute gängigen sozialkonstruktivistischen Ansätze reduzieren soziale Konstruktionen weitgehend auf interaktive Ratifizierung kultureller Diskurse. Im Gegensatz zum radikalen Konstruktivismus betont der sozialpsychologische Konstruktivismus, dass wir mittels sozialer Artefakte und Produkte einen Kommunikationszusammenhang schaffen können, der weit über kognitive Projektionen hinausgeht und die Welt kommunikativ zu erschließen vermag. Kinder verstehen so die Welt und die sozialen Beziehungen durch sozialen Austausch innerhalb kommunikativer Konstruktionen von sich selbst organisierenden Diskursen (Frindte 1998: 41f.; Flick 1995: 13, 130ff.). Daher gehen Sozialkonstruktivisten meist davon aus, dass soziale Phänomene in ihrer Entstehung, ihrer Formung und ihrem Inhalt weitgehend durch die sozialen und politischen Umstände ihrer Konstruktion bedingt sind und auf dieser Basis interaktiv hergestellt werden. Dann aber erscheinen sie komplett, fix und fertig und haben auch ihre Vor-Geschichte völlig hinter sich gebracht. Sie stehen dann eigentlich nur noch zur ebenso kompletten Dekonstruktion an. Sinnansprüche prallen aufeinander und machen neue Integration notwendig (Frindte 1998: 41ff.). Wenn man freilich Derrida im Original liest, ist das gerade
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nicht sein Verständnis von „Dekonstruktivismus“ (Derrida 2004: 173ff.; Waldenfels 1995: 83ff.). Ihm geht es eher um die „Erscheinung des Unscheinbaren“, des bislang Übersehenen aber Nachwirkenden, das jeden aktuellen Diskurs übersteigt. Auch die Sozialstruktur und die situative Eigendynamik übersteigen Diskurse. Der gängige Sozialkonstruktivismus verfehlt so gerade den Prozess der sozialen Konstitution und der Soziogenese sowie der darauf folgenden reflexiven sozialen Reaktionen, die nicht nur eine Kontextsensitivität voraussetzen, sondern eine Rekontextualisierung und Reinterpretation freisetzen und notwendig erscheinen lassen. Ein Kind beispielsweise wird erst dann wirklich zu einem Konstrukteur, wenn es den Unterschied zwischen seiner Sicht der Dinge und derjenigen der anderen Interaktionspartner erfasst und tatsächlich in seinem Handeln gesellschaftlich verorten kann. Gewöhnlich geht man jedoch davon aus, dass Kinder, die die Mindestqualifikation besitzen, dies ohne weiteres können und aus bestimmten konstruierten Interaktionen mehr „mitnehmen“ als andere. Der sozialpsychologische Sozialkonstruktivismus abstrahiert so von ineinander greifenden mehrfachen Sinnrahmungen in einer komplexen Gesellschaft und reduziert Konstruktion auf den Ausfluss sozialer Kompetenzen und sozialer Kognitionen, über die ein Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügen muss. Er sieht nicht, dass sich zugleich die sozialen Kontexte wandeln und eine Verflechtung individueller und sozialer Kovariation zu leisten ist (Grundmann 1999). Er nimmt zudem naiv an, dass nach Abschluss der sozialen Konstruktionsprozesse die Deutungspraxis der Gesellschaft still gestellt werden kann. Soziale Konstruktionen passen nicht einfach in eine gesellschaftliche Situation. Eine Gesellschaft muss sich vielmehr darauf einlassen und mindestens Affinitäten empfinden, d. h. Konstruktionen passend machen. Sonst wäre ja Konstruktion nicht von Indoktrinierung zu unterscheiden. Vor allem geht es heute nicht mehr ohne Zustimmung der Kinder selbst: Können sie sich in einer sozialen Konstruktion grob wieder erkennen? Der sozialpsychologische Sozialkonstruktivismus vergisst, die Probleme der kulturellen Vermittlung und der gesellschaftlichen Bedingungen des Konstruierens von Alltagsakteuren von denen der Beobachter zu unterscheiden und zu relationieren. Deren Erfassung setzt aber ein zweistufiges Konstruktionskonzept voraus (Schütz 1979; Meinefeld 1995; Flick 1995; 1999). Einer „Konstruktion ersten Grades“ der gesellschaftlichen Akteure steht eine „Konstruktion zweiten Grades“ aus der Beobachterposition beschreibender Sozialwissenschaftler gegenüber. Die Frage auf welcher Ebene und unter welchen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen konstruiert wird, darf nicht unterschlagen werden, denn die Konstruktionssituation muss jede Konstruktion voraussetzen und kann sie nicht auch noch selbst konstruieren. Jeder Konstruktivismus lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst schaffen kann. Gesellschaftliche Praxis wird von Kindern selektiv-exklusiv wahrgenommen, gedeutet, rezipiert, akzentuiert, zurechtgebogen, „frisiert“, teilweise verdrängt, nicht verstanden, und Kinder sehen, ahnen, empfinden, reagieren auf ähnliche selektiv-exklusive Reaktionszusammenhänge unter Erwachsenen. Doch wenn ein Kind „soziale Kompetenz“ besitzt, muss es diese noch lange nicht konstruktiv ausspielen und ein minder kompetentes Kind kann sie in bestimmten historischen und sozialen Situationen erstaunlich „überkompensieren“, u. a. weil es darin eine persönliche oder generationale Aufgabe oder Herausforderung erkennt (Elder 1978: 78ff.) und entsprechende „Zeitfenster“ und Gelegenheitsstrukturen wahrnimmt. Es wird auch nicht gesehen, dass Wissen nicht nur kognitives Wissen umfasst, sondern immer auch und zuerst Gebrauchswissen und Wissen um Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhänge ist. Ein rein sozialpsychologischer Sozialkonstruktivis-
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mus erweist sich daher als unterkomplex (Ulich 1991: 204ff.). Hingegen lässt der Sozialkonstruktivismus Berger/Luckmanns Raum für die Einsicht, dass ständig, auf verschiedenen Handlungsebenen und dialektisch oder rekursiv reinterpretiert werden muss, weil ständig neue Unklarheiten oder Missverständnisse oder soziale Diskrepanzen und Konflikte auftauchen. Soziale Konstruktionen sind (nur) „Zwischensynthesen“ im komplexeren „Konstruktionsspiel“ gesellschaftlicher Konstruktion der Wirklichkeit. So ist es unvermeidbar, dass schon in einem kurzen Kinderleben neben Habitualisierungen immer auch Kontingenzen und Ambivalenzen aufleuchten, die „provisorische“ Sinnrahmungen in Gang bringen, die kleinen, mittleren, großen Transzendenzen „antworten“, sich also responsiv verhalten, ein „Antwortregister“ installieren (Schütz 1979; 1984; Luckmann 1996: 112ff.; Waldenfels 1994) und gerade dadurch Ambivalenz auf mittlere Sicht begrenzt absorbieren und reduzieren. Auch Kinder werden ständig durch die „kleine Transzendenz“ von Zäsuren der alltäglichen Lebensführung und mehr noch der eigenen Biographie, von „mittleren Transzendenzen“ verschiedener sozialer Ansprüche und schließlich durch die „große Transzendenz“ des Stachels umfassender Identitätssuche und der Frage nach einem letzten Sinn und einer möglichen „Weltansicht“ („Weltbild“) herausgefordert. Das erfordert Konstruktionsleistungen, die nicht automatisch mit der sozialen Kompetenz und Grundqualifikation gegeben sind. Solche konstruktiven Reinterpretationen können linear, zyklisch, fragmentarisch oder hybrid ausfallen. Damit passen sie mehr oder minder zu sozialen Disparitäten und historischen Ungleichzeitigkeiten, unter denen verschiedene Kinder leben müssen.
7.5 Wissenssoziologische Aspekte Der rasante soziale Wandel konfrontiert Menschen im Alltag mit einer wachsenden Zahl heterogener sozialer Kontexte, Perspektiven, Themen und Praktiken – einem zunehmend divergierenden Wissen, das nur unter größten Mühen in einen kohärenten Bildungshorizont eingespannt werden kann, der zunehmend ein fluktuierendes „Stückwerk“ darstellt. Das schließt nicht aus, dass sich (nicht nur) Kinder hinter sachlich problematischen Stereotypen, ja Vorurteilen verschanzen, um das Gefühl der Vertrautheit des Alltags aufrecht zu erhalten. Die Skala des Wissens, das sie aufbieten ist breit, vage und von ganz unterschiedlicher Dignität. Es umfasst Wissen, das ihnen ihre Eltern vermittelt haben, Wissen das sie im Kindergarten oder der Schule erworben haben, vorgedeutete Informationen aus den Medien, Wissen von ihren Freunden, von anderen Gleichaltrigen, „Geheimwissen“, „Wissen von der Straße“, überprüfbares und unüberprüfbares Wissen, kognitives und praktisches Wissen und Können. Konstruktionen bauen auf Wissensordnungen auf und verändern sie zugleich, bieten synchrone Orientierung an, die Handeln nicht (nur) lähmt, sondern ermöglicht, partiell Ambivalenz zurückdrängt (Flick 1999: 34). Wissensprozesse generieren Strukturen und sind nicht mit einer „Informationsverarbeitungsmaschine“ zu verwechseln. Die Wissensoziologie interessiert sich vor allem für die impliziten Wissensrahmungen sozialer Prozesse. Sie geht davon aus, dass alles Wissen von typisierten Deutungsschemata und -praktiken gelenkt oder offen oder versteckt mitgeprägt wird. In den einzelnen Funktionssystemen, Staat, Wirtschaft, Bildungs- und Gesundheitssystem etc., und intermediären Strukturen, die oft übersehen werden, besteht darüber hinaus eine starke Tendenz zur Standardisierung und Formalisierung bestimmter Wissenstypen, die sich manchmal sogar hinter
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dem Etikett „Entbürokratisierung“ verstecken kann. Diese entstehen dann nicht mehr aus der Erfahrung, sondern werden aus Doktrinen von „Managementphilosophen“ deduziert und zum großen Teil, manchmal sogar blind aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat übernommen. Viele glauben, man verabschiede sich aus der Zeitgenossenschaft, wenn man dieses Wissen verschmäht oder kritisch zu nutzen sucht. Doch – meist unscheinbar – dringt auch subjektives Wissen, wenn es gehäuft aufgegriffen, regelmäßig zur Darstellung gebracht und repräsentiert wird, in die Wissenstruktur ein und verändert seinerseits die Abrufbarkeit und Qualität standardisierten Wissens. Gerade bei funktionsspezifischen Rollen, z.B. manchen Berufsrollen, besteht im Alltag zuweilen der Eindruck, es handle sich einfach um allgemeine Kategorien wie Bauer, Fischer, Handwerker etc., die sozusagen selbstevident sind und von sich aus – fast magisch – Wirkung entfalten könnten. In Wirklichkeit handelt es sich um Zuschreibungskämpfe höchst komplexer Mischungen professioneller Normen und zeitbedingter Normalisierungen. Wissen wird nur relevant, wenn es wahrgenommen wird, wenn mit ihm umgegangen wird, wenn darauf – affirmativ oder kritisch – sozial reagiert, wenn es also auch reorganisiert und reinterpretiert wird. Die Wissenssoziologie konzentriert sich daher auf die Interaktionsbedingtheit individueller und sozialer Zuschreibungen in soziokulturellen Horizonten. Kindliches Wissen kann natürlich – mindestens auf den ersten Blick – so traditionell und konventionell erscheinen, dass man es mit einem Begriff Bourdieus als „Habitus“ bezeichnen kann, der praktisches Wissen in Fleich und Blut übergehen lässt und Sinn „verkörpert“. Es gibt demgegenüber natürlich auch einen unreflektierten hochmodernen Suchhabitus bei bestimmten Kindern. Bei den meisten Kindern ist es aber weitaus komplizierter, gemischter, widersprüchlicher; abhängig von Handlungsbereich zu Handlungsbereich und von Situation zu Situation. Klare „epochale“ Habitusformationen lassen sich über längere Zeit trotz aller Habitualisierung über längere Zeit nicht immer feststellen. Interaktionen scheinen flüchtiger zu werden (Hitzler 2001; Nissen 1998: 164ff.). Allerdings heißt das nicht, dass sich keine neuen, emergenten Momente zeigen. Sie beruhen darauf, dass auch Sozialisation kein wirklich stetiger, sondern ein kontingenzhaltiger Prozess ist, der immer neu angekurbelt, gesichert und als sinnhaft ausgewiesen werden muss (Marotzki 1999: 176f.). Es ist pure Illusion, dass sich Kinder immer gleich sozialisieren ließen. Auch hier gibt es selbstverständlich Schwankungen, „Zeitfenster“ und den „richtigen Augenblick“, selbst wenn man Etliches mit größeren Anstrengungen nachholen kann. Angesichts der Fülle immer schon in gewisser Weise vorinterpetierter Informationen und des oft mühevollen Versuchs, Wissenszusammenhänge ausfindig und Perspektiven kompatibel zu machen, stellt sich mit immer größerer Dringlichkeit das Problem der passenden Selektionskriterien subjektiven und objektiven Wissens: was ist unverzichtbar, wichtig, was interessant, was verzichtbar? Ist eine vertikale und horizontale Wissensschichtung, also Wissensordnung überhaupt noch möglich oder müssen sich Kinder einfach den Wissenskonjunkturen des „Zeitgeistes“ anvertrauen? Auch eine Kommunikation um der Kommunikation willen verlöre längerfristig an Bedeutung, wenn sie immer weniger durch relevantes Wissen „gefüttert“ würde. Paradoxerweise gibt es allerdings ein präzises Wissen, das gerade durch seine Präzision Unbestimmtheit steigert (Gamm 1994; 2000). Das für den Alltag taugliche Wissen darf nicht zu unbestimmt sein. Es muss wenigstens typisch sein und durch seine weiche Zeichnung gerade Analogiebildung und den Entwurf von Prototypen und kreative Applikation in die konkrete Situation begünstigen. Die sogenannten „harten Fakten“ sind zum größten Teil Formalis-
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men, die gerade dadurch wilde Kommentare begünstigen, oder pure Trivialitäten. Es gibt natürlich auch eine fahrlässige Undeutlichkeit und eine zu üppige Mehrdeutigkeit und Metaphorik. Mithin gibt es nicht „das“ Alltags- oder Sonderwissen, sondern beides in unterschiedlicher Dosierung und differentieller Präsentation – einmal aus der Teilnehmer, zum andern aus der Beobachter-Perspektive – und Repräsentativität (Bühl 2002: 23; Schütz 1979). Transparenz kann soziale Kommunikation nach Schütz nur gewinnen, indem sie sie den handelnden Menschen in seinen sozialen Geflechten so zur Erscheinung bringt, dass alle klugen und hellwachsen gesellschaftlichen Akteure, also gerade auch Kinder, in praktischpragmatischer Evidenz ihre reale Welt, ihre Gesellschaft und sich selbt einigermaßen verstehen, „Weltvertrauen“ aufkommen kann und gesellschaftliche Einmischung und Gestaltung nicht sinnlos scheinen. Doch gerade von solchen Gefühlen und Vorstellungen der Sinnlosigkeit werden nicht nur viele Kinder in der „Zweidrittelwelt“, sondern erstaunlich viele auch in westlichen postindustriellen Gesellschaften heimgesucht (Mansel 1996; Herlth 2000: 7ff.; Bründel 1996; Psychologie heute 1980). Bis zu 20 % leiden in Deutschland an psychosozialem Stress. Wenn man wissenssoziologisch die lebensweltlichen Wirklichkeitskonstruktionen von Kindern re-konstruiert, wird deutlich, dass Begriffe oft enorme und schwankende Konnotationshöfe aufweisen und Alltagswissen von vielerlei Appräsentationen unterschiedlicher Entwicklungsmöglichkeiten umgeben sind. Da sie aber in historischen Opportunitätsstrukturen des Wissens eingebettet sind, vermag sich davon nur Weniges tatsächlich durchzusetzen. Situationen scheinen dann fast zwangsläufig. Die dabei zugrunde liegende Wissensstruktur gewinnt strukturgenerativen Charakter, wird zur „Situationsdefinition“, die nicht leicht umzustoßen ist oder von der „Situationsproduktion“ einfach umgeworfen werden kann (Haferkamp 1990: 140ff.). Wissenssoziologisch bedeutet das freilich auch, dass man die volle Spannbreite pränormativer, normsetzender, norminterpretierender, normzersetzender, normreparierender, normsubstituierender, normalisierender Wissensproduktion ausleuchten muss. Die Beschränkung auf normengebundenes Wissen ist im Sinne analytischer Genauigkeit preiszugeben, gerade wenn man das Gewicht normativen und moralischen Wissens anerkennt (Luckmann 2002: 111f.). Deshalb muss man auch zukünftig das Wechselspiel von Sozialisation, Desozialisation u. U. Resozialisation viel genauer beobachten als dies bislang auch in der „kritischen“ Sozialisationsforschung der letzten Jahre geschehen ist (Bühl 1972: 25). Die durch Wissen strukturierte Wirklichkeitserfahrung im Horizont gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion erscheint somit als vielschichtige Gemengelage von Ordnung und Unordnung, von Wissen und Nichtwissen, von Sicherheit und Unsicherheit, Vertrautheit und Unvertrautheit, die immer wieder in Ordnung gebracht werden muss. Auch Wissen ist nur scheinbar ein eindeutiger Begriff. Er kann eingeschränkt oder erweitert werden. Oft wird er mit dem nicht weniger vieldeutigen Begriff der Information gleichgesetzt. Wissen unterscheidet sich davon aber mindestens durch seine Zusammenhangsstruktur und dadurch, dass Zusammenhänge der Wahrnehmung, des Handelns und des Lebens bei realen Akteuren begünstigt (Ritsert 2002: 191; Berger 1971; Luckmann 2002; Grathoff 1989). Zeitlebens bleibt lebensweltliches Orientierungswissen am wichtigsten (Husserl 1992; 1993). Es übersteigt nach wie vor – selbst in Zeiten der „virtuellen Realität“ – die Relevanz
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jedes Sonderwissens einschließlich der Medien und der Wissenschaft: Ihr Leben können Kinder nicht von Anderen leben lassen. Es zeichnet sich jetzt ab, dass „Kindheit“ ebenso wenig ein uninterpretiertes Naturdatum wie ein beliebig zu definierendes Konstrukt ist. Bestimmte gesellschaftliche Akteure stimmen sich in einer ganz bestimmten historischen und auch durch synchrone Ansprüche markierten Konstruktionssituation ab, was sie aus verfügbarem Wissen in einer ganz bestimmten Weise und Akzentuierung als „wirkliche Kindheit“ gelten lassen und akzeptieren wollen und wessen Wissensangebot sie, aus welchen Gründen auch immer, die Annahme verweigern oder etwas Eigenes entgegensetzen wollen (Luke 1998). Wissensvorräte lassen sich auch nicht beliebig konservieren oder speichern. Grundsätzlich sind bei Interpretationskonflikten, manchmal gleichzeitig, Dominanz, Konsens, Konkurrenz, Konsensfiktion, Täuschung und Selbsttäuschung oder pragmatisches Feilschen und Pokern möglich. Wissensproduktion läuft häufig um die Wette mit Wissenserosion und Wissenspolitik (Stehr 2003). Vieles, was jedes einzelne Kind heute wissen kann oder wissen sollte, beruht immer noch auf intergenerationaler und milieuspezifischer Lebenserfahrung. Vieles davon kann allerdings in Vergessenheit geraten – immer mit Folgen und Nebenfolgen, manchmal um einen hohen Preis. Die Aufblähung medialer Wissensspeicher bewahrt Kinder keineswegs vor dem Verlust wichtigen Orientierungswissens. Dies kann sogar zu neuer Wissensreduktion aus Bequemlichkeit führen; oft auch zu erhöhter Unsicherheit und Abhängigkeit. Manches Vergessene wird später wieder ausgegraben. Vieles wird auch vergessen, was vielleicht objektiv vergessenswert ist. Dennoch muss eine Wissenssoziologie, die für die Kindheitssoziologie fruchtbar werden will, auch das Problem des Vergessens stärker thematisieren (Assmann 1991; Platt 1995; Esposito 2002; Bude 1991). Wissen gewinnen Kinder nicht ausschließlich durch eigene Anstrengungen. Vieles „fliegt“ Kindern gleichsam zu. Manches kindliche Wissen geht unter der Hand in den gesamtgesellschaftlichen Wissensvorrat ein; z.B. manche gar nicht so feinen Redensarten. Wissen ist nie stabil und entsteht doch nicht bei jedem Neugeborenen ganz neu (Berger 1971: 2, 22, 66; Luckmann 2002: 203). Wissensproduktion steht daher im Dienst lebenspraktischer Normalisierung (auch von nicht normierten, intransparenten Situationen) und alltäglicher Lebensführung und Biographiearbeit. Kinder wollen und müssen auch angesichts einer strukturellen „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) „Durchblick“ zu gewinnen suchen und den Konstruktionsprozess des laufenden In-Ordnung-Bringens in Gang halten, „Verinselung“ mittel- und langfristig transzendieren. Welches Wissen über und von Kindern kann man künftig bei Kindern und Erwachsenen erwarten, das ihre Lebenssituation und ihr wirkliches Verhältnis bestimmt? Wie geht die Gesellschaft mit medialen, ökonomischen, reproduktionsmedizinischen, neurobiologischen, psychologischen und soziologischen Wissensangeboten um? Nähern sich Erwachsene und Kinder mit relevantem Wissen dem Ideal eines souveränen und verantwortungsbewussten Umgangs mit zeitlichen, räumlichen, thematischen, motivationalen und sozialen Relevanzen an oder entfernen sie sich immer weiter davon und fühlen sich dabei noch als „autonom“? Keine „Eigenzeit“ oder „Zukunftsperspektive“ zu haben, bedeutet für manche Kinder frühzeitig, auf das Abstellgleis der Gesellschaft zu geraten.
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7.6 In den Netzen der Lebenswelt Die Lebenswelt ist nicht deckungsgleich mit der „Verschachtelung“ gegenwärtiger sozialökologischer Arrangements, obwohl sie sich für kurze oder längere Momente „unter Vorbehalt“ darin materialisieren kann. Sie ist vielmehr eine bewegliche historisch-biographische Struktur netzartiger Verweisungs- und Orientierungszusammenhänge (Corsaro 1997; Waldenfels 1980). Für Husserl, von dem der Begriff stammt, war die „Lebenswelt“ letzter sinnvoller „Boden“ und zugleich „Horizont“ allen Wissens. Bei Schütz ist sie ein grundlegendes Koordinationssystem zeitlicher, räumlicher, sozialer Relevanzen. Dieser Begriff wird dann soziogenetisch und relational differenzierbar (Srubar 1988: 123ff.). Bei MerleauPonty ist Lebenswelt sinngemäß eine grundlegende, um den „Nullpunkt“ des eigenen Leibes konstruierbare, bewegliche, grundlegende Wissensordnung des „Zur-Welt-Seins“ und „fungierender Intentionalität“ (Bühl 2002: 25ff.). Erwachsene glauben oft auf Anhieb alles zu verstehen und zu überblicken, was Kinder betrifft. In Wahrheit dürften sie sich öfter in „seliger Unwissenheit“ befinden, was Kinder wirklich wahrnehmen, denken, fühlen und tun. Sie haben sich historisch lange Zeit mit dem Deutungsmuster „Kindgemäßheit“ in Sicherheit gefühlt. Das sollte nahe legen, dass sie voll und ganz von ihren Erziehungsabsichten als Erwachsene absehen und ganz auf das Kind und seine Bedürfnisse einzugehen versuchten. Die moderne Pädagogik hat sich als dauernde „Reformpädagogik“ laufend an „Einfühlung“ zu übertreffen bemüht (Oelkers 1989). Doch wer definiert, von woher mit welchen Absichten und in welchen Zitierkartellen die authentischen „Bedürfnisse“ der jeweiligen Kinder zu sehen sind? Unter welchen soziokulturellen Bedingungen nähert sich die „Sicht der Kinder“ aus der Optik verschiedener Kinder und verschiedener Erwachsener an, unter welchen entfernen sie sich? Gibt es unter realen Bedingungen den idealen Grenzfall völliger Kompatibilität der Perspektiven? Vieles deutet eher darauf hin, dass sie sich keineswegs heute decken (LBS 2002; Alt 2005). Allerdings bestimmen sich auch Kinder nicht nur aus Abweichungen von der „Sicht der Kinder“, die Erwachsene letztendlich bis heute „advokatorisch“ definieren, sondern gebrauchen auch Wissen, das sie von Erwachsenen empfangen haben. Die Lage ist also wissenssoziologisch und methodologisch äußerst kompliziert. Wirklichkeitserfahrung ist rekonstruktiv und konstruktiv zugleich. Sie ist ebenso Entdeckung wie Erfindung (Waldenfels 1997). Und Kinder müssen ständig dabei darauf achten, das Sinn nicht durch Un-Sinn, konstruktive Leistungen nicht durch „Müllproduktion“, Normen durch Taten, Ansprüche nicht durch Verantwortungslosigkeit überlagert oder widerlegt scheinen. Darüber hinaus müssen sie unentwegt hinreichend Schnittpunkte und Schnittmengen des Verstehens oder reparierender Normalisierung und responsive Kreativität und Verständigung suchen, die einen hinreichenden Vertrauenszusammenhang gewährleisten (Endreß 2001: 161ff.; Offe 2001: 241ff.; Waldenfels 1994: 456). Lebenswelt ist also nicht nur ein kognitiver Verstehens – sondern auch ein lebenspraktischer Vertrauens – und Gestaltungszusammenhang. Jedenfalls lässt sich kindliche Existenz nicht ohne lebensweltliche Fundierung denken und erforschen. Sie impliziert auch eine Dimension des Mitteilens, Mitleidens, also eine sozial ganz fundamentale Schicht der Erfahrung des Gebens und Nehmens (Waldenfels 1994: 78; 1999: 63, 65, 101; Mauss 1975; Habermas 1981; 1996). Lebenswelt ist ein vielschichtiges Netz, worin Kinder voranschreiten „zu den in Austauschprozessen ausgehandelten ‚kleinenǥ sozialen Institutionen, in denen sich solitäre und subjektive Sinnentwürfe zu
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intersubjektiv geteiltem Wissen, zu sozial objektiviertem Sinn, verfestigen, damit tradierbar werden und forthin individuelles Wissen, Handeln und Deuten „determinieren“. Sie führt hin zur Religion als jener „großen“ sozialen Konstruktion, in der die Letztbegründung jeglicher Sinngebung ihre Institutionalisierung erfährt.“ (Luckmann 2002: 12). Sie ist „Vorverständnis“ (Heidegger, Gadamer) und „Horizont“, in den jegliches Wissen, auch das wissenschaftliche, rückübersetzt werden muss, sofern es verstanden sein will. Diese konkrete Lebenswelt wird jedoch verfehlt, wenn sie als fix und fertige, ungeschichtliche und formal-nominalistische Strukturkategorie und fixierte strukturelle Relationen gegenüber Familie, Schule etc. verstanden wird (Honig 1999; Alanen 1997). Diese Vorstellung bleibt implizit noch dem alten „Substanzdenken“ verhaftet, auch wenn es sich explizit als relationales Denken drapiert. Es geht nicht mehr um feste Relationen und „Entwicklungsschübe“ der „Entwicklungstatsache“, sondern um wissensoziologische Rekonstruktionen der „Netze der Lebenswelt“ und der davon angestoßenen Zentrierungen, die aber laufend durch Dezentrierungen beirrt und gestört, deformiert werden. Die Lebenswelt ist keine gegebene Topik oder ein „idyllischer Ort“ (Srubar 1997: 43ff.; Alheit 1994) sondern ein beweglicher Konstitutionsprozess (Topologie), der heute einfach ohne die Kinder selbst nicht mehr voranzubringen ist. Solche interpretativen Verknüpfungsprozesse transzendieren prinzipiell die „langsame Sozialisation“ (Heitmeyer) und eine irgendwie verdeckt doch linear vorgestellte Kompetenzentwicklung oder die universalistische Abstraktion von Werten. Sensibilität und reinterpretierte Kontextsensitivität liegen vor der Möglichkeit der Sozialisation und konditionieren sie. Ein Wertgerede hilft Kindern, die keine Wertsensibilität in lebensweltlichen Rekontextualisierungen und Erfahrungen gemacht haben, keinen Schritt weiter, selbst wenn man ihnen anspruchsvolle moralische Dilemmata à la Kohlberg vorspielt. Lebenswelt besitzt, wie Husserl bereits hervorhob, nicht nur eine apriorische sondern auch eine aposteriorische Funktion. Sie ist Ausgangspunkt aller Erfahrung und Ziel, woraufhin alles Wissen rückzuübersetzen ist. Sie ist kein „Ort“, sondern ein Orientierungsrahmen, indem Selbstund Fremdverständigung möglich bleibt, aber keinesfalls sicher ist. Zinnecker hat zu Recht darauf verwiesen, dass auch Kinder von solchen „prinzipiellen Fragen“ heute weniger den je verschont bleiben (Zinnecker 1998: 331f.).
7.7 „Zwischenwelten“: das Wechselspiel von Eigenem und Fremdem Mehr denn je werden Brückenschläge, Übergänge, intermediäre Strukturen notwendig (Berger 1995). Pluralismus und Individualisierung haben sich ja stark in die spätmoderne Gesellschaft „hineingefressen“. Eine Wissenskluft trennt immer mehr Kinder und die Generationen voneinander; mehr schleichend als spektakulär. Die Einheit des kindlichen Lebens hängt immer stärker davon ab, wenn schon keine endgültigen Problemlösungen, so doch „Übergangssynthesen“ (Husserl) zuwege zu bringen und eine „Zwischenwelt“ zu erstellen (Merleau 1966: 477, 481; Hettlage 1984; 2000: 9ff.), die zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften und unterschiedlichen kulturellen Orientierungen eine gewisse, transsituative Balance und auf mittlere Sicht ein „Präsenzfeld“ entstehen lässt und so sach- und personorientierte Abstimmungen begünstigt. Nach Merleau-Ponty konstituiert sich die Einheit des Lebens in seiner „Zwischenleiblichkeit“, die von vorneherein isolierte Körper übersteigt, in immer neuen Übergängen; Übergängen von Statuspassagen, von Generatio-
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nen, Nachbarschaftsverhältnissen, Übergängen zwischen vorinstitutionellen und institutionellen Interaktionen. Sie erleichtern oder erschweren in eminenten Sinn auch gesellschaftliche Gestaltbildungen und strukturbildende Relationierungen. Man kann so heute die These vertreten, die in sich pluralisierte Lebenswelt der Kinder sei im Grunde eine temporalisierte Zwischenwelt, in der Kinder auch als kompetente Akteure in ein komplexes Spannungsfeld verschiedener kultureller Traditionen, nicht zuletzt aber der pluralen Teilkulturen der Erwachsenen und einer keineswegs hermetisch abgeschotteten Kinderkultur geraten, und dennoch zielstrebig ihren Weg zu gehen versuchen. Manche vermitteln nicht nur, sondern spielen auf traditionellen Grenzen als „Zeitpioniere“ (Hörning 2001; Cavalli 1988: 387ff.; Sichtermann 1988: 641ff.). Auf diese strukturelle Notwendigkeit von Zwischenwelten als transsituative „Übergangssynthesis“ wirft die Lebenssituation von Kindern mit Migrationshintergrund ein deutliches Schlaglicht, ohne dass hier gesagt werden soll, dass die soziale Lage von Migrantenkindern mit der anderer Kinder identisch sei. Sie ist sicher viel stärker durch gesellschaftliche Desintegration, Kulturkonflikte, sozioökonomische Deprivation, Sprach- und Akzeptanzkonflikte gekennzeichnet. Und doch praktizieren Migrantenkinder prototypische Züge künftiger Kindheit in einer sich andeutenden global-lokalen Gesellschaftswirklichkeit (Münch 1998: 9ff.). Von ihr weiß keiner genau, welche Elemente hier dominieren oder im Widerspruch koexistieren werden. Doch vieles deutet daraufhin, dass Kinder immer unausweichlicher sich eine Zwischenwelt konstruieren müssen, ihre Chancen wahrzunehmen versuchen, ohne ihre Risiken los zu werden. Migrantenkinder werden oft hin- und hergerissen zwischen ihrer Herkunfts- und ihrer jetzigen Bezugskultur. Es gibt Kinder, die sich hier als hervorragende Übersetzer betätigen. Die Mehrheit aber wird froh sein, wenn sie eine einigermaßen kreative Balance zustande bringt. Und nicht wenige werden scheitern und sich nirgends richtig zuhause fühlen. Und ihre Zahl scheint sich oft in der dritten Generation noch zu erhöhen. Die Zwischenwelt ist fast eine virtuose Leistung, und sie ist selten ein idyllischer Ort. Sie impliziert auch einen gekonnten Umgang mit neu aufbrechenden Re-Ethnisierungstendenzen und interkultureller Kommunikation. Dabei zeigt sich die paradoxe Tatsache, dass sich die globalisierten Diskursuniversa schon aufgrund medialer Vernetzung stark angleichen oder einer „bezahlten Indifferenz“ (Luhmann) anheim fallen können, während die sozialstrukturellen Relationierungen und sozialen Distanzen sich eher verhärten, und die situativen Differenzen scheinbar eindeutig oder bliebig werden. In der Begegnung mit Eltern, Verwandten, Nachbarn, Gleichaltrigen tauchen ganz unterschiedliche kulturelle Horizonte, Chancen und Risiken und situative Möglichkeiten auf; nebeneinander, gleichzeitig und manchmal zeitlich nur gering verschoben. Dieser komplizierten Problemlage wird weder die Modernisierungstheorie noch das Konzept des Postmodernismus hinreichend gerecht (Matthes 1992; Hettlage 2000: 9ff.). Eigenes und Fremdes geht hier scheinbar chaotisch durcheinander. Und sogar das „Eigene“ ihres „Eigen-Sinns“ wird für Kinder immer wieder fraglich und ist neu zu bestimmen. Kurzschlüsse sind hier keineswegs ausgeschlossen; endgültige Synthesen verbaut. Die Zwischenwelt zieht auch Kinder in ein internationales Diskursfeld. Balance kann diskursiv gelingen. Es können aber auch Konsens, Konkurrenz, Illusion, Täuschung Anderer, sinnloses bloßes Umetikettieren oder sterile Dauerkommunikation und ermüdendes Feilschen auftreten. Und selten handelt es sich hier um ein reines „Sprachproblem“, denn es geht auch um sozialstrukturell voraussetzungsvolle Statusgenerierung, soziale Anerkenung
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und Artikulation politikfähiger gesellschaftlicher Interessen. „Interkulturalität“ vollzieht sich demnach in der jeweiligen Ausprägung wechselseitiger Fremd- und Selbstzuschreibung und der Bestimmung von „Normalität“ oder „sozialer Probleme“: Wo kann sich „seelische Zentralität“ und wo eine „Peripherie“ und Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern abzeichnen? Wo kreuzen sich ihre Wege (Waldenfels 1997: 66)? Übergangsstrukturen werden offensichtlich nicht nur für eine kurzfristige Übergangszeit notwendig. Weder stehen für Statuspassagen oder soziale Teilreifen ausreichend kleine zeremonielle Ereignisse für alle Kinder zur Verfügung, noch kann sich die gesamte Gesellschaft auf deren symbolische Interpretation einigen: Sie sind, falls vorhanden (z.B. Kommunion, Konfirmation, Jugendweihe etc.) nicht mehr für alle verbindlich oder sie haben kaum herausragenden symbolischen Charakter (Taschengeld, Führerschein etc.). Und dazu werden soziale Teilreifen (z.B. Besuch des Gymnasiums) von Kindern, Eltern, Großeltern, Lehrern und Außenstehenden oft noch unterschiedlich interpretiert. Es gibt sogar eine leise Diskussion um die Abschaffung der Schulpflicht. Selbst die Parameter der Entwicklungspsychologie werden freilich noch als eine Art von „quasinaturrechtlicher Vorzugsregel“ (Eckert) mangels Alternativen immer wieder herangezogen, obwohl diese längst nicht mehr überzeugend begründet werden können (Abels 1993: 425f.). Damit zeichnen sich aber vielerlei elterliche „Vernachlässigungen“ und „KontrollLöcher“ ab, die kluge Kinder sofort erspähen. Der der bürokratischen Verrechtlichung geziehene Staat sieht sich oft unfreiwillig zu immer häufigerer rechtlicher Konfliktintervention verpflichtet. Und an die Gesellschaft ergehen von unterschiedlichen Meinungsführern moralische Appelle, dafür zu sorgen, dass wieder mehr Kinder geboren werden. Gesellschaftliche Bezugsgruppen müssen auch dafür werben, dass die Kinder gegenüber den klassischen Kinderinstitutionen keine Mentalrestriktion aufbauen und diese zu instrumentalisieren suchen. Solche impliziten oder expliziten „Appellstrukturen“ haben etwas Verwirrendes an sich. Auch insofern als hier keine verbindliche Altersnorm mehr erkennbar ist, werden Kinder verstärkt veranlasst, sich konstruktiv in Zwischenwelten zu repräsentieren (James 1998: 83f, 22f.). Das bedeutet jedoch, dass von Kindern weniger denn je erwartet werden kann, dass sie sich an einer einzigen, normativ vorgezeichneten Entwicklung orientieren können, sondern dass sie – als heuristische Normalitätsunterstellung – von Anfang an mehrere Entwicklungsvarianten und Interpretationen der obligatorischen sozialen Karrieren vor Augen haben. Auch die Generationsverflechtungen können ausgreifender oder enger, intensiver oder weniger relevant gelebt werden. Absehbar ist, dass sich Kinder immer öfter in Situationen befinden werden, in denen sie sich zugleich als Neulinge und als Experten erfahren können. Das schwächt bei ihnen selber wie bei Erwachsenen eine sichere (Selbst-) Einschätzung. Die Kindheitssoziologie hat dementsprechend zur Kenntnis zu nehmen, dass Kinder nicht mehr uneingeschränkt in einer klassischen Nationalgesellschaft zuhause sind, sondern auch in globalen, europäischen und in regional-lokalen Bezügen leben und sich heterogenen Bezugsgruppen verpflichtet fühlen (James 1998; Prout 2003: 33f.). In ihren eigenen Augen wie in denen von Erwachsenen wird zunehmend unklar, ob sie als Miniatur-Erwachsene gelten oder sich in eine kinderkulturelle Eigenwelt zurückziehen und damit gesellschaftliche Marginalisierungstendenzen verstärken wollen. Können sie in dieser Deutungssituation Erwachsene überzeugen, dass eine Gesellschaft mit Kindern nicht nur Belastungen und geringen Nutzen, sondern vor allem eine Bereicherung der menschlichen Biograpie darstellt? Kinder, wie sie nun einmal heute sind, scheinen immer mehr
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jungen Menschen, die eine Familie gründen könnten, irgendwie fremder geworden zu sein. Der Statusinkonsistenz von Kindern ist in den letzten Jahren von verschiedener Seite, manchmal mit den besten Absichten, vorgearbeitet worden. Das gibt selbst altehrwürdigen Kinderinstitutionen wie der Schule Rätsel über die „veränderte Kindheit“ und ihre „Übergangsidentitäten“ auf (Behnken 1995; Meister 1997: 5ff.; Gemende 1999: 7ff.). Damit werden ja auch zeitliche, räumliche und soziale Relevanzen fragmentiert und verschoben. Doch erstaunlicherweise scheinen sich viele Kinder von diesen multiplizierten Übergängen nicht beirren zu lassen. Manche gehen freilich in die Defensive. Immer mehr Kinder scheitern auch daran. Oft bleibt diese Situation auch unüberschaubar und veranlasst zum Verschieben von neuen Regulierungen. Das Zauberwort Toleranz löst nicht alle Probleme, Formen neuer sozialer Akzeptanz sind zu finden (Hettlage 1997: 12ff.; Luke 1998) und auf Seiten der Kinder wie der Erwachsenen zu erproben.
7.8 Zwischen Alltags- und Lebensgeschichte Die kindliche Zwischenwelt ist nicht nur eine „Zwischenlösung“ zwischen Eigen- und Fremdwelt, zwischen den Generationen und Institutionen, sie ist vor allem auch eine intermediäre Struktur zwischen Alltags- und Lebensgeschichte jeden Kindes. Dieser Strukturierungsprozess ist nicht identisch mit einer linearen Entwicklung und einer strukturstabilen Identität zwischen moderner und traditioneller Kindheit, die eigentlich noch gar nicht die Identitätsfrage aufwarf (Berger 1971: 141ff.). Und auch hier geht es darum, einen psychosozialen und kulturellen Standort zu gewinnen, „den ein Mensch bezieht, wenn er unter dem Anspruch eines einheitlichen Lebensentwurfs versucht, gegensätzliche Lebenswelten, von denen er abhängig ist, zusammenzufügen.“ (Hettlage 1984: 378). Dabei können, episodisch oder dauerhaft, subjektive oder objektive Momente der Institutionen einer sozialen Mehrheit oder Minderheit in den Vordergrund treten (James 1998; Heckmann 1992: 206f.; 1997: 51f.). Die Beziehung zwischen Alltagsgeschichte und Lebensgeschichte ist keine bloß imaginäre Projektion, sondern Gestaltungsresultat verschiedener definierender gesellschaftlicher Kräfte und kultureller und gesellschaftlicher Wirkungen als „Grundlage“ der Entstehung neuer Formen der Gesellschaft. Nachdem frühere soziale Konstruktionen einmal existieren, entwickeln sie ein bestimmtes Beharrungsvermögen („Hysteresiseffekt“) und zugleich oft eine provokative Kraft („Appellstruktur“), die Kontingenz geradezu anzieht. Auch das Verhältnis von Alltagsgeschichte und Lebensgeschichte ist dialektisch und transitorisch zwischen Habitualisierung und Kontingenz anzusiedeln. Die Alltagswelt entsteht auf der Grundlage des Alltagswissen in wiederkehrenden, gewohnheitsbildenden und routinierten Praktiken und des praktischen Umgangs mit der Natur, den Dingen und technischen Geräten und quasi naturalisierten sozialen Beziehungen. Alltagswissen und Alltagssprache tendieren zu einer subjektiv-intersubjektiven „Abrundung“ der Welt, die heute Beobachtern gleichwohl fragmentarisch und fluktuierend erscheinen mag. Sie erlauben eine bewegliche Selbstdifferenzierung der Alltagsvollzüge, die u. U. in „natürlicher Einstellung“ erheblichen Widerstand gegen modernisierende Planierung zu mobilisieren vermögen (Alheit 1994; 1997: 941ff.; Fischer 2000: 227ff.). Die Alltagswelt mit ihren thematischen, motivationalen und interpretativen Relevanzen manifestiert sich in beweglichen räumlichen Netzen (Relationierungen) und mindestens rudimentä-
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ren zeitlichen Rhythmen und sozialen Strukturierungen, die hinter dem „ganz gewöhnlichen Chaos“ des Alltags von Kindern, wenn man nur genauer bohrt, eine ganz erstaunliche Ordnung rund um den „leiblichen Nullpunkt“ ans Tageslicht bringen. Im Alltag lernt schon das kleine Kind, wenn es nicht von Menschen oder Umständen daran gehindert wird, und erwirbt Alltagswissen en passent, die jede geregelte Sozialisation überschreitet und die sie voraussetzen muss und nur unvollkommen kompensieren kann, z.B. kommunikative Zugänglichkeit, Konzentrationsfähigkeit, Basisregeln des Anstands etc. (du Bois 1994: 15f.). Die alltägliche Raumerfahrung ist durch die geographische oder sozialökologische Topographie zwar konditioniert aber keinesfalls determiniert, wie auch in der Kindheitssoziologie immer wieder angenommen wird (Zeiher 1991: 243ff.). Moderner, zwischenzeitlich funktionalistischer Städtebau oder stark motorisierter privater und öffentlicher Nahverkehr bedeuten für Kinder zwar zunächst erhebliche Schwierigkeiten und Einschränkungen. Sie erschweren oder hindern zweifellos „naives“ Spiel. Nach einer vergleichsweise kurzen „Schrecksekunde“ gewöhnen sich Kinder aber, auch wenn sie die Bedingungen nicht gut heißen, bis zu einem gewissen Grad an die unvermeidliche Lage, versuchen sie so umzuformen oder zu verfremden, dass sie damit leben können. Sie versuchen also durchaus kreativ, das Beste daraus zu machen (Rogge 1995; Waksler 1991). Ja manchmal reizen sie gefährliche Arrangements geradezu, das „Abenteuer“ zu suchen. Der mittlerweile zum Schlagwort verkommene Topos der „verinselten Kindheit“ trifft daher die tatsächliche konstruktive Leistung der Kinder nicht, die „Inseln“, wo sie sich denn überhaupt abzeichnen“, nur als „Rohmaterial“ einstufen und daraus nachträglich eine neue bewegliche (heute oft medienbewusste) Konzentrik konstruieren. Schon vor der Schulzeit (Kindergartenzeit) lernt das kleine Kind unter der Hand den gravierenden Unterschied zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Vor- und Nachmittag. Der Nachmittag wird frühzeitig als eigentliche Spielzeit angesehen (Nissen 1998; DJI 1992). Moderne Kinder mögen in manchen sozialen Milieus für eine gewisse Zeit viele Termine haben (du Bois 1994: 67f.). Es ist gleichwohl übertrieben, undifferenziert von einer „Terminkalender-Kindheit“ auszugehen, da diese Termine ganz anders „spontan“ zur Disposition gestellt werden können als die Termine eines Managers. Außerdem verändert sich die Zeiterfahrung nach lokalen, zeitlichen und technischen Kontextbedingungen oft rasch. Die Verbreitung des „Handy“ etwa scheint alle längerfristigen Planungen wieder überflüssig zu machen. Soziale Differenzierung ist Kindern nicht fremd, auch wenn sie auf eine egalitäre Rhetorik unter Gleichaltrigen pochen. Kinder unterscheiden verbal zwischen Freunden und Nicht-Freunden. Der Freundschaftsbegriff ist aber redundant und Freundschafterfahrungen wenig festgelegt und exklusiv. Manchmal sind Kinder mit der ganzen Klasse befreundet und differenzieren den Grad der Freundschaft zeitlich. Weniger ausgeprägt als noch vor einigen Jahrzehnten scheinen sich feste Gruppen zu bilden. Hingegen sind lockere Interaktionsgeflechte und noch lockerere Interaktionsfelder oder situative Szenen ähnlich wie bei Jugendlichen auf dem Vormarsch (du Bois 1994: 98f.; Krappman 1993; Oswald 1993; LBS 2002; Klöckner 2005). Hier darf man aber nicht aus räumlichen, technischen, normativen Voraussetzungen darauf schließen, wie Kinder tatsächlich mit anderen Kindern oder Erwachsenen tatsächlich typischerweise umgehen. Im Grunde wollen sich alle Kinder möglichst viele Optionen offen halten. Auch „Beliebtheit“ ist keine eindeutige, nur normative Größe und nur eine unter anderen lebensweltlichen Koordinaten. Und „beliebte“ Kinder können überraschend schnell unbeliebt werden.
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Der Alltag lässt auch für Kinder schon nach wenigen Jahren eine gewisse Alltagsgeschichte entstehen. Diese bleibt aber meist implizit und wird nur bei bestimmten Gelegenheiten explizit. Auf den ersten Blick erscheint sie oft trivial. Einer genaueren Beobachtung offenbaren sich aber doch Weichenstellungen, Schwellen und Kanalisierungsderivate besonderer, genauer: atypischer Art. Diese Alltagsgeschichte hinterlässt auch erste Spuren zur Lebensgeschichte, von der heute – im Gegensatz zu früher – durchaus schon bei manchen Kindern gesprochen werden kann, weil man ihr jetziges Verhalten nur dann versteht. Oft stehen hier kritische Lebensereignisse im Vordergrund, die zur biographischen Selbstverständigung drängen. Schon die Alltagsgeschichte ist eine erste „Zwischenbilanz“ dessen, was „tagaus-tagein“ passiert (Voß 2001; Jurczyk 1993). Sie dokumentiert vor allem, ob und wie es zur Durchdringung bestimmter räumlicher Verhältnisse und zur Zeitrhytmik bei der Gestaltung von Interaktionsfigurationen gekommen ist, auch ob und wie das Außeralltägliche einen anregenden Gegenpol zum kindlichen Alltag auszuprägen vermochte (Hörning 1997; Zoll 1988; Nowotny; Zeiher 1991: 243ff.; 1994; Kirchhöfer 2001: 61ff.). Biographie ist eine voraussetzungsvolle narrative Konstruktion, die Glaubwürdigkeit ausstrahlen muss. Mehr noch als die konstruierte Biographie muss die ihr zugrunde liegende, tatsächlich erlebte Lebensgeschichte immer wieder dem Vergessen entrissen werden. Die Lebensgeschichte erwächst bei Kindern besonders deutlich aus dem „Sumpfbeet“ der Alltagsgeschichte. Sie haben oft Schwierigkeiten, Alltags- und Lebensgeschichte auseinander zu halten. Und doch ist zu erkennen, dass immer mehr Kinder aus den verschiedensten Gründen beginnen, an einer Biographie zu basteln. Die „Zeitbögen“ ihrer Handlungen und das Verhältnis zu „Wechselfällen“ werden anders als bei Erwachsenen erfahren und mit konstruktiven Vor- und Rückgriffen erzählt (Sichtermann 1981: 5ff.; 1982; 1988: 641ff.; Merleau 1994: 11f., 101ff.; Rosenthal 1995), die sich vollkommen anders lesen als entwicklungspsychologisch abgeleistete „Entwicklungsaufgaben“. Insofern dient dann eine sich anbahnende „Biographiearbeit“ (Beck-Gernsheim) auch meist zur Selbstaufklärung der Alltagsgeschichte. Und spätestens dann zeigt sich auch, dass der Alltag eine ganz eigene Interaktionsordnung besitzt und eben nicht einfach ein bloßer raum-zeitlicher Container darstellt, auch wenn sie meist implizit bleibt (Alheit 1994). Es zeichnen sich hier positiv erschließende und begrenzende Serien und Wissensordnungen und ein variables Verhältnis von Alltags- und Lebensgeschichte ab (Behnken 1998: 156ff.). Durch die weitgehende Erosion der Altersrollen und insbesondere der Kinderrolle in verschiedene unscharfe Erfahrungsscripts sehen sich immer mehr Kinder immer häufiger veranlasst, sich einen biographischen „Suchhabitus“ zuzulegen. Es ist daher fast grotesk, wenn Luhmann (1991: 19ff.) Kinder heute nur als „Medium der Erziehung“ gelten lassen will. Dem gegenüber muss eher beobachtet werden, ob die relativ neuen biographischen Anstrengungen nicht umgehend als „biographische Beichte“ von der Sozialkontrolle instrumentalisiert werden (Fischer 2000: 134).
7.9 Die Verschiebbarkeit der Grenzen des Sozialen und des Verhältnisses von Sozialisation und Individuation Im modernen Denken ist zumindest bis Decartes eine schroffe Subjekt-Objekt-Spaltung zurückzuverfolgen, die auch heute noch nachwirkt. Sie betrachtet das Subjekt und das Objekt als unterschiedliche Entitäten und suggeriert auch, Individuum und Gesellschaft seien
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streng getrennt. Manche gehen sogar noch weiter. M. Thatcher, die allen Ernstes die Gesellschaft als Phantom bezeichnete, betrachtete nur das Individuum als reale Größe. Im Gefolge dieses tief eingegrabenen individualistischen Denkens gehen immer noch viele davon aus, dass die Grenzen zwischen Sozialem und Menschlichen endgültig, quasi erbcodiert, für alle Zeit festlägen und anthropologisch oder sogar ontologisch zementiert wären. Schon Simmel u. a. hat allerdings vor über 100 Jahren diesen Subjekt-Objekt-Dualismus kritisiert. Er hat gezeigt, dass Subjekt und Objekt oder Individuum und Gesellschaft nur zwei Pole bzw. Limesbegriffe eines variablen Kontinuums einer „Kreuzung sozialer Kreise“ benennen. Und jede, auch noch die einsamste Persönlichkeit, ist demnach von allem Anfang soziale Persönlichkeit im Schnittpunkt von Soziogenese und Individuation (Bühl 1972: 13ff.; 21f.). Und A. Schütz (1979; 1984) verweist auf die stets prekäre Situation von Fremd- und Selbstverstehen, also des konstitutiven Bemühens, Individuelles und Soziales zusammenzubringen oder jedenfalls nicht soweit divergieren zu lassen, dass dies nur noch in pathologischen Kategorien verstanden werden könnte. Dann ist aber die aus kulturanthropologischen Befunden sorgfältig entwickelte Feststellung Luckmanns (1980: 56ff.) zwingend, dass die Grenzen zwischen Natur und Kultur und zwischen Individualität und Sozialität bzw. Sozialisation und Individuation keinesfalls transhistorisch festliegen und schon gar nicht mit dem Menschlichem konvergieren. Sie lassen sich in „universaler Projektion“ von Kultur zu Kultur und manchmal in ein und derselben Kultur von Epoche zu Epoche verschieben; ähnlich wie heute über Anfang und Ende menschlichen Lebens gestritten wird. Daher ist es unhaltbar, Individuum und Gesellschaft als substanzielle Entitäten begreifen zu wollen. Da ihre Grenzen jeweils konkret geschichtlich gezogen werden, stammen ihre Relevanzkriterien aus bestimmten sozialen Institutionen und einem umfassenden Prozess kultureller Verständigung. Es stellt auch eine unstatthafte Überverallgemeinerung einer Konsistenzunterstellung dar, wenn angenommen wird, Natur und Kultur seien völlig getrennte Bereiche (Matthes 1992: 3ff., 8, 75ff.), wo sie sich doch überall – graduell unterschiedlich – eng durchdringen. Seit Jahrtausenden gibt es keine völlig kulturfreie Natur und eine Kultur, die ihre natürlichen Lebensgrundlagen vergisst, ist dabei, sich selbst zu zerstören. Auch Natur und Kultur sind idealisierte Limesbegriffe. Natur bezeichnet das, was für Menschen (noch) nicht verfügbar und gegenwärtig gestaltbar erscheint, Kultur das, was als gestaltbar angesehen wird. Auch hier zeigt sich, dass die jeweiligen Grenzen in einem Spannungsfeld zwischen Sozialisation und Desozialisation gezogen werden müssen. Und es gibt keine perfekte Sozialisation oder Individuation, aber sehr wohl Gewichtsverlagerungen und Umakzentuierungen. Und diese haben immer schon eine Vorgeschichte ihres Verhältnisses hinter sich, die sich nicht einfach überspringen lässt. Das hat zur Konsequenz, dass auch die moderne Individualisierung verschiebbare Grenzen, aber eben Grenzen in sich birgt (Kalupner 2003; Taylor 2002). Gesellschaft und Individualität sind also wirklich nur in ihrer jeweiligen geschichtlichen Verflechtung. Alles Andere sind idealisierte Modellierungen, aber keine gesellschaftlichindividuelle Realität, also nur begrenzt brauchbar (Todorov 1996). Man könnte freilich heute im Rückblick zur Ansicht gelangen, dass durch die fortschreitende naturwissenschaftliche Grundlagenforschung und ihre Anwendung in der Technik und Technologiepolitik der Bereich der Kultur sich auf Kosten der Natur ausgedehnt hat. In Wirklichkeit dürfte es sich wohl eher so verhalten, dass Natur und Kultur wie ihr Verhältnis variable Größen darstellen, aber notwendige Ordnungskategorien bleiben. Das zeigt sich heute an der Diskussion um den Beginn und das Ende des menschlichen
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Lebens oder den Sinn oder Unsinn der Stammzellenforschung (Waldenfels 2000). Der Verzicht der Sozialisationsforschung, über ihre Grenzen ernsthaft nachzudenken, und immer mehr in den Sozialisationsbegriff hineinzupacken, hat weder der kategorialen Präzision noch ihrer inhaltlichen Diskussion gut getan. Sozialisation wird stets durch Desozialisation bedroht; keineswegs nur im Alter. Sie bleibt eingebettet in den Prozess konstruktiv mitgestaltbarer Vergesellschaftung und kollektiver Verankerung, die keineswegs mit individueller Sozialisation gleichgesetzt werden darf. Gerade wenn Kinder ihre Handlungsoptionen in den stets historisch bestimmten und auch begrenzten Modernisierungsprozessen zu nutzen, zu wahren und zu erweitern suchen, so sind sie immer in Myriaden individueller, ebenso voraussetzungsvoller Entscheidungen nahe stehender und anonymer Akteure in einer nationalstaatlich ausgefransten und sich globalisierenden Gesellschaft eingebunden, müssen sich ihren Bedingungen – mehr oder minder hellwach und unterstützt oder gehindert von Erwachsenen –, Folgen und Nebenfolgen stellen, ob sie wollen oder nicht. Dabei geraten sie nicht selten in eine „Modernisierungsfalle“ (Wahl). Sie können die vielen Optionen nicht deutlich und rechtzeitig beurteilen. Enorm hohe Erwartungen programmieren tiefste Enttäuschung und Entmutigung vor. Zudem lauert aber für Erwachsene eine „Reproduktionsfalle“, die auch die weniger werdenden Kinder vor immer größere Belastungen zu stellen scheint, wenn der gesellschaftlich erwirtschaftete Reichtum immer ungleicher verteilt wird (Franz 1999: 235f.). Zwar beabsichtigt vermutlich kein Erwachsener „kinderfeindlich“ zu sein, aber viele finden sich nicht nur mit der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ ab, sondern betrachten Kinderlosigkeit als attraktive normale Lebensform, wenn sie auch in eine „alternde Gesellschaft“ einmünden mag. Dadurch geraten die Kriterien des Interessenausgleichs jedoch in eine Schieflage, und es entstehen latente Spaltungen zwischen Kinderlosen und Familien. Das berührt auch hochbrisante Diskurse über die Grenzen von Sozialität und Individualität (Butterwegge 2002; Taylor 2002; Hengsbach 1995). Es zeichnen sich paradoxe Effekte ab, so dass es in hochindividualisierten Gesellschaften nicht unwahrscheinlich ist, dass bei hohem und sogar steigendem Wohlstand ein zunehmender Anteil an Kindern mit ungünstigen äußeren Bedingungen heranwächst (Franz 1999: 237). Gerade die gleichzeitig auftretende „Kindzentrierung“ und der „Kindermangel“, die Steigerung des öffentlichen und ökonomischen Wertes bei gleichzeitig sinkendem privaten Nutzen von Kindern, die weitgehende öffentliche Indifferenz bei gleichzeitiger Skandalisierung der demographischen Fertilitätsrate, die Gleichzeitigkeit von „Frauenfrage“ und „Kinderfrage“ veranlasst zu einer offenen oder verdeckten Verschiebung durch öffentliche Rhetorik. Und dies kann zur Folge haben: „Für einen zunehmenden Teil der Kinder in hochindividualisierten Gesellschaften sind die Sozialisationsbedingungen systematisch „unmoderner“ als die Lebensbedingungen der Gesamtheit der Erwachsenen. Dies hat wiederum Auswirkung auf die Qualität der unter solchen Bedingungen stattfindenden Sozialisationsprozesse“ (Franz 1999: 237, 243f.). Dies muss nur dann kulturpessimistisch stimmen, wenn der Sozialisation eine strikt determinierende Kraft attestiert wird. All diese Vorgänge können und müssen aber auch reinterpretiert werden. Hirschman weist darauf hin, dass der Vergesellschaftungsmodus (Integration, Inklusion) angesichts scharfer interkultureller Konflikte dann gefährdet erscheint, wenn diese interpretativ nicht in teilbare Konflikte kleinzuarbeiten sind.
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7.10 Kleine, mittlere, große Transzendenzen Dass die kindliche Lebenswelt biographische und alltagsweltliche Kohärenz gewinnt und eine Welt gemeinsamen Handelns und gemeinsamer und unterschiedlicher kultureller Prioritäten wird, verdankt sie nicht der Wucht „reiner Fakten“ sondern ihrem Bezugsrahmen des Wissens und sinnvoller gesellschaftlicher Repräsentation, die gerade durch Erlebnisse der Transzendenz als Konstitutionsprozess (in statu nascendi) in Gang gehalten wird. Der pure Status quo ist eine Idealisierung eines winzigen, flüchtigen Moments, der auch durch magische Praktiken nicht festgehalten werden kann. Gesellschaftliche Wirklichkeit ist wesentlich Handlungsprozess, der in Stößen kleiner, mittlerer und großer Transzendenzen den unmittelbaren Moment überschreitet: „In dem Bedürfnis der Transzendenz, d. h. des Überschreitens des Vertrauten auf ein Unvertrautes hin, in welchem das Unvertraute zum Vertrauten wird, ist ein grundlegendes Motiv der Konstitution der Lebenswelt verankert.“ (Srubar 1998: 71; Endreß 2001: 161ff.). Viele moderne Erwachsene beachten diesen von Transzendenzen getriebenen Konstitutionsprozess zu wenig und glauben „utopische Energien“ hätten sich erschöpft (Habermas 1985: 141ff.). Luckmann (1980: 161ff.) hatte solchen Ansichten, die wohl in einer überverallgemeinerten Säkularisierungsthese wurzeln, stets widersprochen und mit Schütz daran festgehalten, dass Zeit, Raum, Intersubjektivität keine rein formalen Strukturkategorien, sondern durch kleine, mittlere und große Transzendenzen in Bewegung gehaltene Konstitutionsoder Strukturierungsprozesse sind, die nicht unter der Hand reifiziert werden dürfen. Sie stellen mit Alltagstypik und lebensweltlichen Relevanzen Beschreibungsmöglichkeiten bereit, die sich in historisch-biographischen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhängen kristallisieren. In kleine Transzendenzen werden Kinder verwickelt, wenn sie sich von einem gegenwärtigen Moment lösen müssen. Mittlere Transzendenzen erfordern Interaktion und Dialog mit Anderen. Große Transzendenzen stimulieren weltbildähnliche Sinnstiftungen, die auch letzten Begründungsfragen nicht ausweichen. In den letzten sieht Luckmann die Grundlage einer anthropologisch verstandenen Religiösität, die weit über institutionelle Religionen hinausgeht (Luckmann 1996; 2002). Soziales Handeln bleibt meist trotz großer Verwirrungen leidlich verstehbar, weil wir wissen, dass Koordinierungen von Handlungen in der Zeit möglich sind und zeitlich weiter differenziert werden können, dass die räumliche Struktur sich als Sinnstruktur menschlichen Handelns bewährt hat und sich in einen sinnhaften Handlungsraum verwandeln lässt, sich in Zonen der aktuellen, potenziellen und wieder erlangbaren Reichweite gliedert, und soziale Relationierungen sich in einer Skala von Intimität und Anonymität ausdifferenzieren lassen. All das darf aber nicht als statische „Strukturmetaphysik“ missverstanden werden, die den Konstitutionsprozess gesellschaftlicher Wirklichkeit mittels sozialer Konstruktionen jemals still stellen könnte. H. Garfinkel (1996: 12) konnte in seinen berühmten „Krisenexperimenten“ allerdings zeigen, dass selbst die größten „realistischen“ Selbstverständlichkeiten und Handgreiflichkeiten enorm voraussetzungsvoll sind und immer schon „realistisch“ filternde Sinnrahmungen voraussetzen. Sprachliche und gesellschaftliche Prozesse sind zwar alles andere als regellos, aber sie werden auch durch Handlungsregeln oder Normen nie vollkommen determiniert. Sie könnten ohne weiteres auch anders verlaufen, verlaufen aber dennoch oft wie erwartet. Genau genommen oszillieren sie immer zwischen Über- und Unterdetermination, sind nie „zwingend“ und pendeln sich oft im Horizont impliziten, lebensweltlichen
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Hintergrundwissens, manchmal zur Überraschung der Beteiligten, ein (Waldenfels 2000: 174f.; Polanyi 1985; Fleck 1994; Goodman 1993). Soziale Prozesse bleiben also unhintergehbar in Deutungspraktiken eingebunden und insofern stets reinterpretierbar, transzendenzhaltig. Damit ist es auch nicht zu verhindern, dass jedes Kind schon etwas dunkel erfährt, was ihm im Augenblick trotz aller sonstigen Klarheit (noch nicht) vertraut und geläufig ist. Schon eng verstandenes Lernen überfordert immer etwas, wenn überhaupt gelernt wird. Mit praktischem Wissen ist es nicht viel anders. Wer nur das weiß, was er aus der Vergangenheit weiß, weiß wahrscheinlich nicht einmal dies richtig. Individuelle wie kollektive Wissensproduktion lässt sich deshalb nie stoppen, ohne dass dies einfach zu einer Wissenskumulation führen könnte. Normalität wird allein durch Normen nicht hergestellt. Und trotz „reparierenden“ Normalisierungsanstrengungen ist auch Normalisierung begrenzt: Man muss immer mit Überraschungen rechnen. Schon ein Schmetterlingsflügelschlag kann nach Auffassung der physikalischen Chaostheorie Chaos in dumpfe Konventionalität bringen. Wirklichkeit kann nicht fixiert werden (Waldenfels 1997). In der sozialphänomenologischen Tradition, in der der Sozialkonstruktivismus Berger/ Luckmanns steht, stellen gesellschaftliche Wirklichkeit also nicht nur eine Verkettung von Interaktionen dar, sondern eine reinterpretierbare Strukturierung prekär bleibender, explorativer Reziprozitäts- und Normalitätsunterstellungen, die sich in der konkreten Erfahrung bewähren müssen und nur bis auf Abruf gelten. Auch wenn das von den Akteuren im Alltagswissen gerade abgeblendet wird, besitzen alle lebensweltlichen Orientierungen immer einen Sinnüberschuss, andere Gesichtspunkte und Gestaltungsmöglichkeiten, also Alternativen, die eine Grauzone bilden. Hier durchdringen sich Alltags- und Sonderwissen. Jede „Ebene“ der gesellschaftlichen Konstruktion greift auf Voraussetzungen zurück, die sie selbst nicht zu schaffen vermag. Die große Transzendenz setzt die mittlere, diese die kleine, und diese lässt sich auch kein Frageverbot aufzwingen, so dass die Dialektik und Deutungsdynamik in Gang bleibt. Ordnung ist ein In-Ordnung-Bringen. Sie ist wesentlich „Widerspruchseinheit“ (Husserl). Der intensivierbare oder abzuschwächende soziale Wandel ist heute in der Zeitdimension vor allem durch dauernde Beschleunigung und Flexibilisierung und durch den Wechsel von der Dominanz des Nationalstaates zur Dominanz des globalen Marktes als zeitsetzende Institution, sowie durch Zeitkonflikte sozialer Institutionen und insbesondere mit der sozialen Zeit der Familie und der Eigenzeit des Kindes bestimmt. Ebenso ist die Raumdimension, nicht zu verwechseln mit einer geographischen Matrix, durch globale, polyzentrische Orientierung und ein Gemisch sozialer und virtuell-medialer Räume gekennzeichnet, das durch gesteigerte individuelle und soziale Mobilität und gleichzeitig alte und neue „Sesshaftigkeit“ bestimmt ist. Aber die Ausgangs-Verinselung ist nie das letzte Wort! Der Wandel der Zeit- und Raumdimension wird begleitet von neuen Formen sozialer Differenzierung, die in überkommene Sozialstrukturen eindringt. Dies bedeutet einerseits eine Multiplizierung „feiner Unterschiede“ des Lebensstils und zugleich neue Polarisierungen und ein damit bewirktes gewandeltes (intra- und intergenerational differenziertes) Verhältnis von Nähe und Ferne, Intimität und Anonymität oder Privatheit und Öffentlichkeit (Srubar 1998: 76ff.): ein neuer sozialer Raum. Für Kinder heißt das, dass sie immer wieder spüren, dass sie von Müttern geboren und meist von Eltern erzogen werden, aber sich dennoch dauernd um Ablösung und ein sinnvolles Eltern-Kind-Verhältnis und geordnetes Verhältnis zu den anderen sozialen Kontexten
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bemühen müssen, obwohl ihnen bald klar wird, dass dies nie allein von ihnen abhängt. Sie haben auch keine wirkliche Alternative, nur in der Zukunft oder nur im Hier- und Jetzt zu leben. Sie müssen sich auch ihren „Lebensraum“, so beengt er auch sein mag, erschließen, wenn er Teil ihrer Lebenswelt werden soll. Und die Sinnfrage, ob das alles gewesen sei und nicht ein größerer, weiterer „religiöser“ Sinnrahmen notwendig erscheint, können sie wohl zurückweisen, aber sie stellt sich dennoch immer wieder. Und die Transzendenzproblematik zeigt sich schließlich auch darin, dass kindliche „Zeitkämpfe“, die ganz andere „Zeitbögen“ und den eigentümlich kindlichen Umgang mit „Wechselfällen“, nicht abstrakt „Ambivalenz“ aufscheinen lassen und spezifische alltagsweltlich-biographische Kraftanstrengungen hervorlocken (Sichtermann 1981; 1982; Berger 1971: 41, 109, 121; Böhnisch 1996). Selbst die „natürliche Dissidenz des Kindes“ (Saner 1987) wird untergraben und würde erlahmen, wenn solche transzendierenden Konstruktionsimperative ausblieben. Kinder würden dann wohl tatsächlich – trotz allen Wohlstands – sich in einen „goldenen Käfig“ eingesperrt fühlen, wie ihnen das Ariès nachsagt. Auch das kindliche Bohren nach „Kontroll-Löchern“ ist wohl ein soziales Handeln, das den schieren Status quo zu überwinden sucht. Manche Kindheitssoziologen fragen dann etwas verlegen, ob man Kinder deshalb als „Miniaturerwachsene“, als „fremden Stamm“ oder „barbarische Invasoren“ (Parsons) einschätzen soll (James 1998).
7.11 Die Struktur der Soziogenese: die Dialektik der Externalisierung, Objektivierung, Internalisierung In unserer „natürlichen Einstellung“ sind wir der festen Meinung, Wirklichkeit als sinnvoll und rational bearbeitbar voraussetzen zu können. Und doch erfahren schon Kinder, wie trügerisch und zerbrechlich sich diese Normalitätsunterstellung immer wieder erweist. Dennoch können wir ohne „normale Realität“ kaum leben. Auch schwer traumatisierte Kinder, die etwa misshandelt wurden, wühlen geradezu nach verbliebenen oder alternativen Sinnzusammenhängen zwischen Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit (Alheit 1997: 94ff.; Rosenthal 1995: 51). Kinder präsentieren sich, wenn sie gesund und normal entwickelt sind, häufig so, als wären sie vollkommen autonom, obwohl sie wahrscheinlich wissen, wie sehr sie z.B. von ihren Eltern abhängen. Sie stellen sich als immer wieder „verändert“ und „entwickelt“ und doch zugleich als „identisch“ dar und rechnen stillschweigend damit, dass Erwachsene dies nicht als Widersprüche ansehen. Zugleich erzeugen sie den Eindruck, keine autistischen, um sich kreisenden Monaden zu sein. Wie soll man dies auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Wissenssoziologisch kann man dieses Problem konstituierender Erfahrungsrahmung und „unwahrscheinlicher Kommunikation“ (Luhmann) zwischen der Strukturierung und Entstrukturierung einer Wissensstruktur ansiedeln. Der Prozess des sozialen Wandels wird ja entscheidend durch Veränderungen des Wissens der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens und Tuns der Akteure in Interaktionen vorangetrieben. Manche Soziologen qualifizieren die gesellschaftliche Gesamtentwicklung als Entwicklung zur „Wissensgesellschaft“ (Giddens 1995: 702). Unbestreitbar ist, dass die frühere „Arbeitsgesellschaft“ mit ihrer „Normalbiographie“ und die tayloristische Arbeitsorganisation tendenziell durch eine „wissensbasierte“ Produktion, auch mit biographischen Konsequenzen, ersetzt wird. Unvermeidlich werden dadurch auch die Sozialisationsbedingun-
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gen in Mitleidenschaft gezogen (Grundmann 1999: 9f., 13). Die schulischen Grundqualifikationen und Kompetenzen rücken gegenüber situativer Wissensperformanzkompetenz in den Hintergrund. Aktueller Wissenserwerb und ihre kommunikative Darstellung werden immer entscheidender. Jede Gesellschaft ist zwar unfertig, unsere heutige aber besonders wandlungsintensiv. Das bisherige Kindheitsbild und die traditionelle Stellung der Kinder im Leben der Gesellschaft sind problematisch geworden (Zeiher 2005). Kindheit lässt sich nicht mehr umstandslos aus der „Entwicklungstatsache“ deduzieren. Kindheit ist nicht mehr „Vorstufe“ gesellschaftlicher Partizipation. Aber was ist sie dann, da sie ja doch nicht „Erwachsenheit“ ist? „Miniaturerwachsenheit“, demographische Minderheit – oder scharen sich Kinder mit ihrer Kinderkultur in postmodernen Zeiten zu einem „fremden Stamm“ zusammen? „Modernisierung von Kindheit“ ist inzwischen auch ein Allerweltsschlagwort geworden, woraus kaum noch ein Erkenntniswert zu gewinnen ist. Und je weiter sich Kinder als „kompetente Akteure“ in das komplizierte heutige „Spiel“ der Gesellschaft einlassen, um so mehr machen sie die Erfahrung, dass sie „auferlegten Relevanzen“ heutiger Institutionen nicht entgehen und auch sonst höchst verletzlichen ihrem Eigen-Sinn bleiben. Gesellschaftlicher Sinn oder Wissen muss stets auch gegen Un-Sinn und Entstrukturierung verteidigt werden. Dabei ergeben sich auch „Weichenstellungen“ für ein ganz bestimmtes Spektrum von Entwicklungspfaden, die aktuelle Eigenaktivität sowohl begrenzen als auch positiv ermöglichen, aber konkrete Motivation und Mobilisierung nicht ersetzen können. Manches passt hier zu unterschiedlichen Diskursen, manchens zu alten und neuen Institutionen, manches zu aktuellen Interaktionen. Dass alles auf Anhieb und ohne Risse und Lücken passt, ist heute eher unwahrscheinlich. Vieles passt nicht und funktioniert doch noch eine ganze Weile. Mit all dem müssen letztendlich Kinder als Konstrukteure zu Recht kommen. Indem Kinder als gesellschaftliche Konstrukteure aus der Geschichte und der zeitgenössischen Gesellschaft Möglichkeiten selektiv-exklusiv aufgreifen, wirken sie mit an der Produktion und Verteilung von Wissen. Sie wählen das Eine, das die eine Bezugsgruppe repräsentiert, und lassen Anderes beiseite, dass eine andere Bezugsgruppe vertritt. Berger/Luckmann (1971: 1-20, 112, 117, 201) differenzieren diesen Prozess des Passend-Machens in Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung entlang der Leitfrage: Wie geschieht es, dass subjektives Wissen in der Gesellschaft „objektive“ Härte annimmt und doch von den handelnden Subjekten als subjektiv relevantes Wissen angesehen wird? Externalisierung geht davon aus, dass wir soziale Phänomene nicht automatisch, konstant und einheitlich erleben. Sie erscheinen vielmehr unterschiedlichen Subjekten im Horizont vorselegierender kultureller Typen, die flexibel variiert werden. Kultur dient als soziokulturelles Apriori. Soziale Phänomene müssen aber aus subjektiver Erfahrung so artikuliert und differenziert werden, dass sie Andere als inhaltsbezogener Ausdruck des ihnen gegenübertretenden Interaktionspartners wahrnehmen, verstehen und kulturell einordnen können. Dies geschieht mit repräsentativen Symbolisierungen. Konkret leisten das weitgehend Diskurse, die öffentliche Resonanz finden. Objektivierung bedeutet eine transsituative Verstetigung und Distanzierung von rein situativer Erfahrung. Sie geschieht zunächst in alltagsweltlichen Habitualisierungen und setzt sich oft fort in Institutionalisierungen, die regulierende Programme prinzipiell tradierbar machen, weil sie diese prinzipiell legitimieren können. Damit können sie, losgelöst von
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ihrer Entstehungssituation, von Generation zu Generation in spezifischen Sozialisationsprozessen weitergegeben werden. Auf dem Hintergrund solchen verobjektivierten Wissens finden sich Kinder immer schon in normativen und regulierten Zusammenhängen; traditionell in denen der Kleinfamilie und der öffentlichen Schule als „institutionelle Tatsachen“ (Wittgenstein), die wechselseitiges Handeln seriell sichern. Eine Internalisierung, d. h. eine subjektive Aneignung oder Resubjektivierung ist auch dann nötig, wenn soziale Institutionen unangefochten erscheinen und Situationen verbindlich vorsortieren. Regeln, Normen, Rituale und Verfahren müssen ja angewandt, d. h. rückübersetzt und subjektiv appliziert werden. Abstrakt entfalten sie keine Wirkung. Bei Berger/Luckmann geht es nicht um totale und ungefilterte Internalisierung wie bei Freud oder Parsons, schon allein weil sie „Rollendistanz“ ausdrücklich als Verhaltensmodus anerkennen (Luckmann 1971: 153). Doch gibt es heute sicher noch ein größeres Repertoire von Distanzierungsmöglichkeiten, als dies zur Zeit der Abfassung ihres Buches (1966!) erkennbar war. Entscheidend ist, ob und wie der Akteur in Situationen Bedeutung zuschreibt und mit fremden Bedeutungszuschreibungen konfrontiert ist. Damit wird der Prozess der sozialen Kultivierung in Gang gehalten, der wieder auf die Externalisierung zurückwirkt. Die massenhaften „Entscheidungen“ für Konsum und Medien, die Kinder in den letzten Jahrzehnten getroffen haben, hat auch das Kindheitsbild in der Gesellschaft wie der Soziologie gravierend verändert. Hier wurde sozusagen mit den Füßen abgestimmt. Dennoch haben weder die Kinder noch die Erwachsenen zu einer einheitlichen Interpretation von Kindheit gefunden.
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8.1 Außen und Innen als symbolische Differenzierung Woher wissen Erwachsene, was Kinder – etwa gegenüber Zwergwüchsigen – ausmacht, was sie brauchen und womit in konkreten Interaktionen mit ihnen zu rechnen ist? Wohl kaum durch eine angeborene Elternliebe, die durch ein „Kindchenschema“ ausgelöst wird. Solche „Auslösemechanismen“ können durchaus „neutralisiert“ werden (Badinter 1981). Erwachsene wissen um die Bedeutung von Altersunterschieden, die jeweils geschichtlich zum Ausdruck kommen und biologisch keineswegs „selbstevident“ sind, durch kulturelle Definitionsprozesse, die sie nicht nur gelernt haben, sondern an denen sie – heute zusammen mit Kindern – fortlaufend mitarbeiten. Im Ausdruck und im Vollzug des jeweiligen Kindseins taucht nicht etwa eine ewige Tiefenstruktur oder das „Wesen“ auf, sondern nur hier stellt sich dar, was Kindsein jeweils bedeutet und wo in der Gesellschaft es seinen Platz hat. Allerdings gibt es dafür einen historischen Grobraster, ein „soziokulturelles Apriori“, auf das „spontan“ zur ersten Orientierung zurückgegriffen werden kann. Dadurch wird Kindheit überhaupt erst sichtbar, verständlich und möglicherweise interessant. Soziokulturelle Aprioris sind keine „Ideen“, die geistesgeschichtlich aufgehellt werden können, sondern „Sinnsplitter“ des Alltagswissens, die als einfache und oft suggestive Bilder oder Wissenstexturen verschiedener Medien sich im Umgang mit Kindern abzeichnen. Nicht die Ursprünge und die Herkunft, sondern immer schon der pragmatische Umgang und die Macht dieser Bilder stehen hier im Vordergrund (Bühler 2005: 17). Der praktische Umgang ist selbst eine Art Definition, die sich sprachlicher Deutungsmuster oder Stichworte bedient und sie zugleich kommentiert. Was Kindheit ist, muss also jeweils immer erst in einer geschichtlichen Gesellschaft sichtbar gemacht werden. Dieser Prozess verlief sicher anders in einer vormodernen Gesellschaft Europas, in der es, soweit sie überlebten, nur so von Kindern wimmelte, als in einer spätmodernen Gesellschaft, in der Kinder manchmal in manchen Stadtvierteln wie in einem sozialen Zoo zu leben scheinen. Dieser externalisierende Artikulationsprozess eröffnet bestimmte Sehweisen und verschließt andere. Man kann nie alles gleich gut sehen. Und jeder hat sozusagen kulturelle Bilder von Kindheit aus den eigenen Kindertagen wie der gängigen öffentlichen Rhetorik und einer umgangssprachlichen Alltagstypik vor Augen, von denen er ausgeht, selbst wenn er sich darauf nicht ausruhen mag und bereit ist, dieses Vorverständnis zu differenzieren oder zu korrigieren (Lange 2000: 209ff.). Übersetzung subjektiver Kindheitsbilder geschieht im Blick auf gängige informelle Typisierungen oder öffentliche Diskurse zwischen Hoch- und Volkskultur und zwischen Alltagswissen und lebensweltlichem, heute nicht selten interkulturell infiziertem Sonderwissen verschiedenen Grades der Deutlichkeit und kognitiver Konsistenz (Berger 1971: 25, 52f.). Vormodern zeigt sich hier ein diffuses Bild einerseits auf der Ebene verschiedener regionaler Volkskulturen zwischen dem Kleinkind als „lustigem Kobold“, einem wachsenden
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Argwohn gegenüber dem „lästigen Balg“ und der zentralen Erwartung, Kinder stünden möglichst früh als Arbeitskraft zur Verfügung. Hochkulturell schwankt das Kindheitsbild zwischen dem erbsündlich verdorbenen „bösen“ und einem umso strahlenderen „unschuldigem Kind“. Beide diskursive Wirkungsgeschichten sind in der kirchlich geprägten Öffentlichkeit des Spätmittelalters nachweisbar und ringen um Vorherrschaft. Doch bei aller Hegemonie kirchlich geprägten religiösen Denkens und Empfindens gab es schon damals keine dauerhafte und unbestrittene Diskursdominanz oder gar die durchgängige Herrschaft einer elaborierten „Idee“, sondern nur unterschiedliche Konstellationen des Umgangs interdiskursiver Verständigungsversuche und diskursiver Sinnsplitter. In den diskursiven, nicht in erster Linie argumentativen, sondern plakativen Bildassoziationen ging es nicht um Vorstellungen individueller und kollektiver Entwicklung, sondern einerseits um das Seelenheil, andererseits um blankes Überleben. Auch damals wurden die Diskurse schon durch das „Innen“ der Teilnehmerperspektive und das „Außen“ der Beobachterperspektive in Spannung gehalten. Je nachdem, welche dieser beiden Grundperspektiven gewählt wurde, wurden unterschiedliche gesellschaftliche Inklusions- und Exklusionsvorgänge empfohlen oder bekämpft. Dabei reicht das „Innen“ immer in das „Außen“ hinein und umgekehrt, was erst aufgrund der Subjekt-Objektspaltung der modernen Philosophie in Abrede gestellt wurde. Daher fand es kein Zeitgenosse des 16. Jahrhunderts anstößig, dass der Kindheitsbegriff gespalten und mit einem Spektrum regional und temporal unterschiedlicher, aber typischer Kindheitsbilder angereichert war. Er bezeichnete sowohl die konkrete Eltern-Kind-Beziehung wie den Status in der Genealogie (Geschlecht) und im Recht und wurde konkretisiert von einer Skala typischer bäuerlicher, stadtbürgerlicher und adliger Kindheitsbilder. Dadurch war die Wahrnehmung von Kindheit wesentlich konsolidiert. Es wurden ganz bestimmte Sachverhalte sichtbar und sagbar, andere unsichtbar und diese wären prinzipiell zu dieser Zeit nicht oder nur schwer verständlich gewesen. Soziale Phänomene unterliegen also keinem „natürlichen“ Assoziationszwang. Sie werden vielmehr in diskursiver Herstellung von Kindheitsbildern oder kulturellen Modellen normalisiert oder als natürlich insinuiert. Ganz bestimmte natürlich-kulturelle Eigentümlichkeiten springen in die Augen, andere werden mehr oder minder verdrängt, obwohl sie nicht einfach verschwinden. Doch sie gelten als irrelevant. Die sich in der Moderne auffällig oft widersprechenden Blickrichtungen zwischen den Diskursen zentrieren sich zwischen den Leitbegriffen „Entwicklungstatsache“ und „Erziehungstatsache“ (Honig 1999) und lenken „innen“ hohe Aufmerksamkeit auf die „normale“ Erziehung, die zunächst nur der Staat, später auch die „Zivilgesellschaft“ definieren, unter der Bedingung, dass Kinder in dieser Zeit des sozialen Moratoriums normkonform in ihre gesellschaftliche Marginalisierung einwilligen (Zeiher 1996; 2005). Im Vordergrund steht die Entwicklung des einzelnen Kindes durch Sozialisation, während Kinder als Bevölkerungsgruppe in ihrer sozusagen mikropolitischen Dimension oder die kinderkulturellen Interaktionsgeflechte kaum eines Blickes gewürdigt werden. Der Erfolgsgeschichte der „Entwicklungstatsache“, der eine umfassende Kultivierung des „Erziehungsauftrags“ sowie eine Flankierung durch Familien- und Bildungspolitik entsprach, steht eine umstrittene gesellschaftliche Marginalisierung von Kindern gegenüber. Die diskursive Selektivität besteht darin, dass viele Zeitgenossen mit einem „kalten Blick“ von „außen“ diese Marginalisierung nicht einmal in Ansätzen erkennen können. Heute legt nach Zeiher oder Beck (1997: 9ff.) gerade der geschärfte Blick „von außen“ nahe, den gespaltenen, in der Sache diskriminierenden Sonderstatus als „künftige Bürger“ zu revidieren, zumal es keine Kultur
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gibt, die Kinder so stark von Erwachsenen abhebt wie die der modernen Gesellschaften. Herrschaftssoziologisch entpuppt sich dieses Verhältnis von „Innen“ und „Außen“ im Grunde als Definitionsverhältnis von sozialer Mehrheit zu sozialer Minderheit (James 1998: 30ff.). Doch wer bestimmt im Einzelnen, nach welchen Kriterien wann die Legitimität oder soziale Akzeptanz eines solchen Verhältnisses? Als purer Zwang fände es keine Akzeptanz. Als schiere subjektivistische Willkür eignete ihm keine Legitimität. Setzt die soziale Differenzierung damit nicht schon einen gemeinsamen diskursiven Boden und Horizont voraus, bevor es zu „Politisierung“ dieses Verhältnisses und seiner sozialökologischen Kontexte kommen kann? Balancen von Innen und Außen sind denkbar aber nicht zwangsläufig. Und sie haben ihren materiellen und immateriellen Preis. Diskurse behalten auch dann etwas Zwielichtiges, wenn man ihre allzu offensichtlichen Widersprüche beseitigen kann (Waldenfels 2000: 216f.; 1987). Die inzwischen transnationalen gesellschaftlichen Transformationsprozesse machen es für alle Beteiligten außerordentlich schwer, klar zu unterscheiden, was zum „Innen“ und was zum „Außen“ gehört (Gallino 1990: 307f.). Weniger denn je kann die gesellschaftliche Kultivierung bruch- und nahtlos in die Sozialstruktur eingehen. Vieles wird nur ephemer angeeignet. Paradoxerweise begünstigt der forcierte Wandel das Bedürfnis nach Sicherheit und manchmal nach romantisierender Nostalgie. Im Grunde müssen Erwachsene und zunehmend auch Kinder bereit sein, in jeder Interaktionssituation „Außen“ und „Innen“ neu im Rückgriff auf den Pool der Diskurse zu verflechten: „wie Kette und Schuß bei einem fein gewebten Stoff, dessen Muster jedesmal, wenn er benutzt wird, wunderbar umgestaltet wird“ (Gallino 1990: 308; Berger 1971: 122f.). Jedes „Innen“ ist auch ein „Außen“ für den jeweiligen Interaktionspartner. Diese Doppelstruktur der Exteralisierung bleibt beweglich und unabschließbar. Sie begründet mittels soziokultureller Typisierungen den sozialen Konstitutionsprozess um den leiblichlebensweltlichen „Nullpunkt“, der heute durchaus medial-virtuelle Relationen implizieren und eine hybride Struktur annehmen kann. Ganz neu ist eigentlich die Tatsache, dass die vorgeschlagenen Interpretationen von „Kindgemäßheit“ durch Kinder „gegengelesen“ werden müssen. Dies „authentisch“ zu erfassen, ist nach wie vor eine schwierige Forschungsaufgabe. Mitnichten kann sie als endgültig geklärt gelten (Honig 1999; Zeiher 2005).
8.2 Die kulturelle „Idee“ Kindheit und die „Illusion des autonomen Diskurses“ Das moderne Denken verstand sich in Deutschland zumeist nicht als antichristlich, wollte sich aber dem Aberglauben und kirchlicher Bevormundung entziehen. Moderne Diskurse suchten stattdessen größere Rationalität und erstrebten auch technische Operationalität und zweckrationale Organisation in Staat und Wirtschaft. In der Aufklärungszeit galt das Axiom der reinen und autonomen Vernunft, die sich auch noch ihrer transzendentalen Bedingungen und Grenzen versichern wollte. Doch nach Kant und Hegel wurde das moderne Denken sich seiner nur begrenzten Autonomie bei Nietzsche, Marx, Kierkegaard und Freud u.a. bewusst. Foucault spricht gar von der „Illusion des autonomen Diskurses“ (Waldenfels 1995: 198ff.): Es gäbe nur begrenzte, historische diskursive Wissensordnungen. Bis heute hat sich die Vorstellung erhalten, die moderne Vorstellung von Kindheit sei Ausfluss einer abgerundeten „Idee“, die bis heute wesentlich und umfassend Kindheit
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bestimme. In diesem Zusammenhang wird auf die großen pädagogischen Denker Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Schleiermacher u.a. hingewiesen. Besonders Rousseau wird als „Meisterdenker“ nachgesagt, er habe als erster erkannt, dass jede Lebensphase ihre eigene Bedeutung habe, und Kindheit ihren Eigenwert darin besitze, dass sie die „Natur“ des Menschen unkorrumpiert zum Ausdruck bringe, und kindliche Person mit eigener und besonderer Würde, eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Rechten von jedem Erzieher zu respektieren sei. Von ihm stammt ja auch das pädagogische Prinzip der „Kindgemäßheit“ oder der „Kindgerechtigkeit“ (James 1998: 13f.; Fetscher 1993). Nun kann natürlich Rousseau in eine weitere geistesgeschichtliche Tradition gestellt werden, die bis auf Augustinus zurückgeht. Es ist auch nicht unwichtig, an seine synchronen Referenzautoren zu erinnern. Viel wichtiger ist aber soziologisch und diskursanalytisch, wie man mit Rousseaus Denken umging und welche diskursive Resonanz Rousseau in der Kultur Europas fand. Es ist bezeichnend, das Rousseau, der ein genuiner politischer Philosoph u.a. war, in Deutschland eigentlich meist nur als Protagonist der „pädagogischen Provinz“ ernst genommen wurde. Insofern kann man Rousseau auch in den pädagogischen Diskurs zurückstellen, in der er eine Stimme unter anderen in einem viel breiteren, aber auch zerklüfteten Diskurs darstellt, der seit dem 16. Jahrhundert die Natur des Kindes anthropologisch zu bestimmen sucht. Bittner (1996: 10, 34, 41) umschreibt den pädagogischen Diskurs mit einem Wortspiel: „Kinder in die Welt, die Welt in die Kinder setzen.“ Kinder sind demnach vollwertig, aber noch nicht entwickelte, erziehungsfähige Personen, deren Potenzialität durch konsequente Erziehung und Sozialisation erschlossen werden kann (Honig 1999: 31, 39f.). Doch von woher und von welcher Position aus werden hier „feine kleine Linien“ und „Sinnfäden“ verschiedener gleichsam imaginärer Gesprächspartner verflochten und Anstöße für eine „Weltansicht“ und ein Kindheitsbild gegeben (Deleuze 1980: 246ff.)? Jedenfalls geschieht dies nicht abstrakt von einem „Gottestandpunkt“ eines gesellschaftlich isolierten „Meisterdenkers“. Damit wird nicht der bedeutende Diskursanteil großer Denker bestritten. Sie bleiben jedoch eingebunden in größere Diskursforen und -publika und ihre Geschichte, die nicht abgerundete, substanzielle Ideen oder Wesenserkenntnis zum Ausdruck bringen. Sie repräsentieren vielmehr ein Gespräch über eine „Sache“, das unerschöpflich bleibt. Dies hatte natürlich Bernfelds in der Kindheitsforschung oft zitiertes Diktum von der „Entwicklungstatsache“ bestritten. Zumindest im Kapitalismus könne Erziehung keinen kulturellen „Surplus“ für die Psyche des Kindes „erwirtschaften“ (Honig 1999: 53). Nun sind gesellschaftliche Grenzen und Zwänge ja keineswegs zu bestreiten, doch zumindest die Diskursanalyse geht heute von veränderlichen Korrelationen zwischen Diskurs und gesellschaftlicher Resonanz aus. Erziehung wird seit langem als Konditionierung der „Disponibilität seelischer Energien“ (Bittner 1996: 44) konzipiert, ohne das deren diskursvermittelte „Dispositive“ genauer untersucht worden wären. Wie immer man im Einzelnen Erziehung definiert hat, so hat das räsonierende Publikum doch meist an der Einheit, Homogenität und Abgeschlossenheit der „Idee“ des Kindes festgehalten. Vermutlich könnten viele Pädagogen noch heute Luhmann zustimmen: Kinder sind Medium der Erziehung – und sonst nichts (Luhmann 1991: 19ff.). So gesehen setzt eine Idee des Kindes ein ganz bestimmtes, durch und durch geschichtliches Korrespondenzverhältnis zwischen Kind, Erwachsenem, Welt voraus, das sie aber verdeckt und als quasi natürlich einzureden sucht. Es geht also in Diskursen gar nicht bloß um ein isoliertes Kindheitsbild sondern um ein anthropologisches und in nuce kosmo-
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logisches Verständnis von Kindern; auch um den Stellenwert in einem Gesellschaftsbild (Honig 1999: 12, 42). Ein Diskurs wird immer in einer bestimmten Zeit von bestimmten Teilnehmern in ganz bestimmten Arenen und von ganz bestimmten Publika geführt (Waldenfels 1999: 75f.). Er kann weder auf eine intuitive Ideenanamnese im Sinne Platons noch auf einen kommunikationstechnischen, binären Code reduziert werden. Stattdessen kann man auf ein hochselektiertes Gewebe von Diskursfäden zurückgreifen, die auf Wissensordnungen mittlerer Reichweite verweisen. Es gibt durchaus Grenzfälle, wo Kinder an die Stelle von Erwachsenen treten müssen. In und nach Kriegen oder in chronischen Situationen einer „Kultur der Armut“ (Lewis) treten sie gar nicht einmal so selten auf. Schelsky sprach etwa nach dem Zweiten Weltkrieg mit großer Plausibilität von einer frühreifen „skeptischen Generation“. Davon abgesehen ist offensichtlich nirgends der kulturelle Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern so stark ausgeprägt wie in modernen Industriegesellschaften bis weit in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. In den meisten Fällen sind in allen Gesellschaften die sozialen Positionen von Erwachsenen und Kindern nicht austauschbar. Doch es gibt unterschiedliche, oft konkurrierende oder gleichzeitig auftretende Definitionsperspektiven, die sich – langsam oder schneller – verschieben lassen. Standpunkte in einem Diskurszusammenhang lassen sich verändern, Grenzen verschieben, Gesichtspunkte und ein „Präsenzfeld“ des Handelns anders umreißen, erweitern oder verengen.
8.3 Diskursgeschichte Viele Biologen, Psychologen und Soziologen setzen schlicht voraus, dass jedermann mit Bestimmtheit wisse, was Kinder sind. Sie setzen auch voraus, dass es sich um ein konstantes Naturphänomen handelt, das endgültig geklärt werden könnte. Allenfalls konzedieren sie eine „kulturelle Überformung“. Doch was meint hier „Überformung“, wenn sich Natur und Kultur von Anfang an durchdringen und nicht einmal methodisch sauber zu trennen sind? Kultur ist auch nicht vorzustellen als einflussloser „Überbau“ oder gleichsam als eine Art Zuckerguss über einen fix und fertigen Kuchen. Dass Kindheit, wie wir sie kennen, erst zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert „entdeckt“ und/oder „erfunden“ worden ist, will auch bei Ariès nicht besagen, dass es zuvor keine Kinder aus Fleisch und Blut und emotionale Eltern-Kind-Beziehungen gegeben hat. Doch sie fielen im Allgemeinen kaum im Gewimmel mittelalterlicher Dörfer oder Stadtviertel besonders auf. Vielmehr wird damit die These vertreten, dass die soziale Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern geringer war, der „kleine“ in der Moderne zu einem „großen“ Unterschied hochstilisiert wurde, Kindheit zuvor als kein scharf geschnittenes, durchgängig unterscheidbares soziales Phänomen galt und auf keine große Aufmerksamkeit und öffentliches Interesse stieß. Kinder waren einfach da. Und sie waren in großer Zahl und überall da, falls sie überlebten. Der „große“ Unterschied“, den die Moderne zwischen Kindern und Erwachsenen zu erkennen glaubte, schlug sich nun in unzähligen, nicht nur privaten Gesprächszusammenhängen und öffentlichen Diskursen nieder, die nicht nur den kulturellen Unterschied herausstellten, sondern ein bündiges institutionelles Programm für den dezidiert pädagogischen Umgang mit kindlichen Menschen dieser Lebensphase vorzeichneten, institutionelle Zuständigkeiten entwarfen und für normative, alltagsästethische und im
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Ansatz auch politische Standards sozialer Praktiken warben, die Bevölkerung zu überzeugen suchten. Damit lässt sich eindrucksvoll zeigen, dass Kindheit eben kein zeitloses, sondern ein durch und durch geschichtliches soziales Phänomen ist, das wesentlich auch von soziokulturellen Konstruktionen bestimmter halböffentlicher und öffentlicher Diskurse abhängt. Diese bieten für alle Gesellschaftsmitglieder eine tragfähige Sehweise, gleichsam zur ersten „Vorsortierung“ sozialer Kommunikation, an. Sie schließen damit sowohl an das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft wie deren gleichzeitige öffentliche Meinung an (James 1998: 27). Zu beachten ist, dass Diskurse nicht nur rationale Argumente liefern, sondern eindrückliche, manchmal sehr plakative Bilder assoziieren und ein soziales Klima und zählebige Mentalitäten erzeugen können. Sie manifestieren sich nicht nur im gesprochenen und im geschriebenen Wort, sondern auch in künstlerischen und medialen Dokumenten und nicht zuletzt in symbolischen Praktiken, Taten, Entscheidungen und Nichtentscheidungen, gegebenen und nichtgegebenen Zuständigkeiten, dem was sozusagen auf der Hand liegt und dem Ungesagten und gegenwärtig Nichtsagbaren, das momentan nicht verstanden wurde. Diskursanalyse bietet daher eine Alternative zur Benutzung einer angeblich konnotationsfreien und dekontextualisierten, formalen „Strukturkategorie“ Kindheit, wie sie gegenwärtig als methodische Option der Kindheitsforschung favorisiert wird (Honig 1999; Alanen 1989). Sie setzt auf ein jeweils historisches „soziokulturelles Apriori“ (Luckmann), das sich in jeweiligen Diskursen dokumentiert. Auch Formalkategorien sind in Wahrheit latent von Diskurssplittern infiziert, die sich spätestens bei der Rückübersetzung in die Alltagssprache offenbaren. Die mit leichter Hand vorgenommenen Analogisierungen oder Vergleiche übergeneralisieren Teilaspekte, denn den diskursiven Gesamtzusammenhang kann man nicht umstandslos vergleichen (Waldenfels 1997: 50, 107, 113f.). Die starke Pädagogisierung des sozialen Phänomens Kindheit im modernen europäisch-amerikanischen Kindheitsverständnis entspringt keiner biologischen oder psychologischen Zwangsläufigkeit und ist interkulturell und historisch durchaus singulär (Ariès 1994; Bühler 2005; Donzelot 1980). Vormodern war Kindheit nicht nur ein vergleichsweise randständiges gesellschaftliches Phänomen und kaum eine interessante „soziale Tatsache“. Erziehung war weitgehend beiläufig, eben „Kinderkram“, den man mit der linken Hand besorgen konnte. Und sie wurde keineswegs exklusiv von Eltern und Lehrern betrieben. Sie war jedenfalls nicht die Hauptsache, die sich zwischen Kindern und Eltern abzuspielen hatte. Religiöse, ökonomische und hausherrschaftliche sowie erbrechtliche Fragen standen vielmehr im Vordergrund. Insgesamt hatte diese vormoderne „Kindheit“ recht wenig mit dem zu tun, was Erwachsene und Kinder heute fast ganz selbstverständlich als Kindheit verstehen. Das Wort „Kind“ hatte in vormodernen Gesellschaftsformationen zwei Grundbedeutungen. Einmal bedeutet es die konkrete Eltern-Kind-Affiliation, zum anderen einen Quasi-Rechtsstatus für Menschen jeden Alters, die nicht zum „vollkommenen Gebrauch der Kräfte des Leibes sowohl der Seele“ fähig waren. „Kind“ kann in diesem historischen Kontext sowohl ein Kleinkind wie einen 25-jährigen, bei einigen Autoren bis zu 40 Jahre alten Menschen bezeichnen (Mühlbauer 1976: 828f.; Mitterauer 1986). Kindheit war historisch in einen in zwei, drei, vier, sechs oder mehr Stufen gegliederten, meist durch vielfältige Initiationsriten markierten Lebenszyklus eingebunden (Nemitz 1996). Offiziell war Kindheit in christlichen Kulturen kein defizienter Modus des Menschseins. Hingegen hielt sich in den bäuerlichen Volkskulturen eine skeptische Einstel-
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lung wie in der ganzen Antike, die eine explizite Liebe zu Kindern als eher nicht erwartbar erscheinen ließ. Es erregte daher, nach allem, was wir wissen, keinen nennenswerten Anstoß, wenn die Eltern-Kind-Beziehungen oft sehr derb praktiziert wurden. Es ist auch nicht zutreffend, das konventionelle Verständnis der entwicklungsmäßigen Kindheit auf Rousseau zurückführen zu wollen. Bei ihm hatte das Kind eine nie mehr später erreichte „natürliche“ Vollkommenheit, weil es glücklich in sich ruht und in sich das Zentrum seiner Existenz birgt. Sein Aufwachsen ist daher keine homogene Entwicklung, sondern ein Sprung, ja eine zweite Geburt. Kindheit ist menschliche „Ursprünglichkeit“ (Mühlbauer 1976: 834). Die Diskurse betonen jeweils unterschiedliche Aspekte und Merkmale von Kindern, die nun öffentlich thematisiert werden, aber sich natürlich auf die herkömmliche Thematisierung einlassen und sich erst durchsetzen mussten. Im Verlauf der neuzeitlichen Diskursgeschichte haben sich immer stärker die wissenschaftlichen, professionellen und technischen Wissensordnungen durchgesetzt und den Alltagsdiskurs überlagert. Allerdings müssen auch die selektiven Wirkungen des Alltagswissens bei der Thematisierung, Popularisierung und Rezeption des Sonderwissens berücksichtigt werden (Berger 1997: 212ff.). Diskurse leben sozusagen aus einer „Osmose“ von Volks- und Hochkultur. Diskursanalytische Arbeiten in der Tradition Foucaults betonen zu Recht gegenüber der Hermeneutik Gadamers (1965), dass Verstehen nicht immer und voraussetzungslos möglich ist. „Gebrochene Intersubjektivität“ muss vielmehr mit historischen Abbrüchen, Neuanfängen, mit Kommunikationsunterbrechungen, Störungen und Entfremdungsprozesse systematisch rechnen. Oft gelingt auch dann noch eine Verständigung. Sie ist aber im günstigsten Fall nur nachträglich und manchmal erst nach Jahren wahrscheinlich. Und sicher ist auch, dass sie selektiv auf alltagsweltlichen „konjunktiven Erfahrungsräumen“ (Mannheim) aufbauen muss. Diese sozialwissenschaftliche Methode verwirft damit das Dogma von Watzlawick, man könne nicht nichtkommunizieren und impliziert somit in nuce auch eine Theorie des unkommunikativen Handelns (Assmann 1990: 11f.). Sie beharrt darauf, dass soziale oder kommunikative Konstruktionen stets selektiv-exklusive Effekte haben: man thematisiert im Diskurs etwas Bestimmtes einer Referenzgruppe und dethematisiert etwas Anderes einer anderen Bezugsgruppe oder eines Kommunikationsteilnehmers (Hitzler 1997). Wissensoziologisch handelt es sich um Interpretationskonflikte im Spannungsfeld verschiedener Wissensordnungen oder Deutungsmuster, die nicht immer zu klaren Verhältnissen führen, in dem ein „hegemonialer Diskurs“ alle anderen dominiert. Es gibt auch eine nicht aufzulösende Konkurrenz oder komplizierte hybride Verflechtungen von Diskursen und wechselnde Meinungsführerschaft. Wenn man die Diskursgeschichte des Verhältnisses Kind-Erwachsener kursorisch zu überblicken sucht, so spricht vieles dafür, dass fast überall „kleine“ Unterschiede, in der europäisch-amerikanischen Kulturtradition jedoch bis in unsere Tage ein „großer“ gesehen wird und nachwirkt. Dies hat eine ganz bestimmte Institutionalisierung und ganz bestimmte Erziehungspraktiken zur Folge. Und damit reduziert ein ganz bestimmtes Diskursfeld übermäßige Generationenambivalenz ohne sie ganz beseitigen zu können. Was heißt es dann, wenn heute wieder vom „kleinen Erwachsenen“ in einer „veränderten Kindheit“ gesprochen wird? Mit Sicherheit etwas ganz Anderes als im 15. Jahrhundert oder heute in der „Dritten Welt“, wo sich auch die Charakteristik vom „Miniaturerwachsenen“ anbietet. Unser heutiger diskursiver Wahrnehmungsraum hat eine ganz bestimmte, nicht zu überspringende Diskurs-, Wirkungs- oder Übersetzungsgeschichte hinter sich und steht in ganz anderen zeitgenössischen Meinungsfronten. Begriffe und Bilder eines sozialen Phä-
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nomens bleiben in spezifische Diskurswelten eingebunden, und Diskurse können nur nach sorgfältiger Vergleichsvorbereitung im Hinblick auf einen neuen Diskurs oder eine neue interdiskursive Verflechtung und nur in Teilaspekten und nie umfassend verglichen werden. „Natürliche“ Differenzen wie die von Schwarz und Weiß, Mann und Frau, Kind und Erwachsener reproduzieren sich ungewöhnlich schnell und leicht, obwohl diese Reproduktion seit langem auch kritisch gesehen wird. Doch zweifellos kann sie nicht nur thematisiert, sondern auch dethematisiert und diskursiv marginalisiert werden. Der Kindheitsdiskurs des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr automatisch mit dem familiären Erwachsenen, sondern auch mit dem kinderlosen Erwachsenen beider Geschlechter relationiert. Welche diskursive Botschaft senden typische zeitgenössische Formen der „Kindesmisshandlung“ und der Pädophilie aus? Erinnert werden darf hier auch, dass in manchen Stammesgesellschaften Kinder eine ganze Reihe von Jahren nach der Geburt nicht als Vollmenschen oder nur als Reinkarnation der Ahnen akzeptiert wurden (Auge 1993: 46ff., 49; 1994: 46; Schuster 1991: 254ff.; Dracklé 1996: 7ff.; van de Loo 1993). Heute geht die Rede von der Notwendigkeit der „Gleichbehandlung“ vielen leicht über die Lippen. Lassen sich die verschiedenen Diskurse aber im Handstreich auf einen Generalnenner bringen? Und meist wird überhaupt nicht beachtet, dass Kinder auf heutige Kindheitsdiskurse einen namhaften Einfluss ausüben (Dracklé 1996: 8).
8.4 Das beiläufig interessante „wilde“ und „ungezogene“ Kind Selten haben Kinder in der Vergangenheit durch kollektive Aktionen oder Kinderproteste auf sich aufmerksam und von sich reden gemacht: in den Kinderkreuzzügen, als Kinderpolizei Savonarolas, in der orgiastischen Wahl eines Kinderbischofs oder heute als Bettlerhorden von Straßenkindern und Bataillone von Kindersoldaten. Wenn Kinder hier als Kinder Eingang in öffentliche Diskurse finden, hat das komplizierte Ursachen. In der Vormoderne kreuzen sich zwei Diskurslinien. Die eine ist genealogisch, die andere wird nicht von der interpersonaler „Kinderliebe“, die empirisch durchaus auch damals im Einzelfall bestanden haben mag, sondern von der sozialen Kommunikation des „ganzen Hauses“ bestimmt. Ökonomische und erbrechtliche Interessen bestimmten diese ebenso wie das Interesse an häuslicher Solidarität und lokaler Identifikation. Es ging sozusagen um eine „Hauskindheit“, nicht um einen Eltern-Kind-Dialog. Hier zeigt sich auch, dass häusliche Arbeit nicht nur Auseinandersetzung mit der äußeren Natur war, sondern sich auch als Prozess symbolisch vermittelter gesellschaftlicher Reproduktion darstellte. Das uns noch geläufige Attribut „ungezogen“ bezog sich wohl ursprünglich auf den Versuch, sich der väterlichen Zucht und Autorität im Haus zu entziehen. Im weiteren Sinn symbolisierte „Ungezogenheit“, dass Kinder dem „ganzen Geschlecht“, d. h. genealogisch, Schande zu bereiten in der Lage waren. Hier offenbart sich andeutungsweise, dass Kinder trotz aller Arbeitspflichten wohl immer insofern „unberechenbar“ waren, als sie auch Formen des Widerstandes, der Subversion und der Dissidenz erprobten (van Dülmen 1987: 14ff.; Saner 1987; Cohen 1977). Dieser außerhäusliche und außerkindliche Bereich war aber offensichtlich für die vormoderne Gesellschaft eher ein wenig unheimlich, weil sich hier eigene, nicht kontrollierbare kindliche Interessen bilden konnten. Diese mehr oder minder verdeckten Ängste der Erwachsenen legten sich aber meist, und der tatsächliche soziale Status konnte sich in dem Maße verbessern, wie die Loyalität gegenüber der lokal
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verankerten Hausgemeinschaft, insbesondere durch Arbeitsleistungen, nachgewiesen wurde. Ohne solchen „Surplus“ oder eklatanten Verstoß gegenüber der Repräsentation der „Familienehre“ waren Kinder kein Gegenstand öffentlichen Interesses (Lüdtke 1989; Medick 1984; Levi 1995). Erziehung, falls man von ihr hier überhaupt sprechen will, ist synonym mit häuslicher „Zucht“. Die Vorstellung von Kinderrechten wäre schlicht als Perversion des Denkens verstanden worden. „Zucht“ blieb lange noch der diskursive Leitbegriff und das normative Muster des Umgangs zwischen Erwachsenen und Kindern. Das wurde sowohl von der örtlichen Geistlichkeit wie der jeweiligen Grundherrschaft mit Wohlgefallen unterstützt. Man hatte auf der Hut zu sein vor kindlicher „Ungezogenheit“. Kindliche Eigenart konnte sich offensichtlich immer nur am Rande dieser gefürchteten „Ungezogenheit“ entfalten.
8.5 Historische Konnotationen zwischen „Kinderkram“ und „Humankapital“ Erwachsene und Kinder missverstehen einander oft. Eltern glauben beispielsweise, dass ihre Kinder noch Kinder sind, und Kinder stufen sich gleichzeitig schon als Nicht-mehrKind ein. Beide mögen in einer konkreten Interaktionsituation gar nicht von einer Perspektivendivergenz sondern vom mangelndem „guten Willen“ der „Gegenseite“ ausgehen, dies dennoch aber meist nicht als Sprachlosigkeit zwischen den Generationen verstanden wissen wollen. Eine solche ist aber in Zukunft nicht ausgeschlossen, nicht nur, weil die gesellschaftlichen Interessen in einer „alternden Gesellschaft“ auseinander treten, sondern auch weil die Strukturkategorie „Kindheit“ oder „Kinder“ unterschwellig durch Konnotationen des alltagssprachlichen Begriffs „Kinderkram“ wie des scheinbar rein deskriptiven Begriffs „Humankapital“ infiziert sind, die die Blicke divigieren lassen. Strukturkategorien und Klassifikationen wie Geschlecht, Alter, Klasse und Ethnie sind einerseits deskriptiv-denotativ andererseits tatsächlich aber kulturell voraussetzungsvoll (Knoblauch 1995: 104, 107). Sie können zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Situationen immer einen sozial nicht irrelevanten Beiklang annehmen, der weit über den lexikalisch-semantischen Gehalt hinausgeht. In der Linguistik spricht man auch von einer situationspragmatischen Dimension, die für eine lebendige Sprache von großer Bedeutung ist (Hörmann 1978: 310ff.). Die sprachlich unterbestimmte Rede wird durch nichtsprachliche Voraussetzungen und kontextspezifische, implizite konnotative „Erläuterungen“ hinreichend bestimmt. In vielen sozialen Situationen gilt indes ein „Übermaß“ an Präzision und Bestimmtheit als verdächtig, als Ausdruck von Unsicherheit und Unvertrautheit oder Gestelztheit, die Distanz schafft. Daher ist auch die Beharrungskraft von Bildern, Redensarten und Stereotypen beträchtlich; trotz aller Pluralisierung der Lebenswelten oder Individualisierung. Sie erscheinen nicht selten als „Rettungsanker“ in aller Sprachverwirrung, werden aber hochselektiv interpretiert und sind von Konnotationen durchdrungen. Dies gilt natürlich auch von Redensarten und Schlagworten über Kindheit, zu denen selbst wissenschaftliche Begriffe immer wieder verkommen. „Kinderkram“ ist ein traditionelles Deutungsmuster, das sicher nicht wertneutral ist. Und der Begriff „Humankapital“ ist trotz vehementer wissenschaftlicher Reinigungsversuche längst zu einem schillernden Allerweltswort des Jahres 2004
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geworden. Es hat keinen Sinn zu dekretieren, dass das nicht sein dürfe. Beide Deutungsmuster sind längst diskursiv „enteignet“ worden (Pieper 1994: 11). Eigentümlich abgehoben erscheint manchmal die heutige Kindheitsrhetorik (Lange 1996: 75ff.; 2000: 209ff.) von den realen Lebensverhältnissen von Kindern in Raum und Zeit. Aus verschiedenen Richtungen werden diskursive Leitbegriffe in der Öffentlichkeit oder im Alltagsdiskurs benutzt und generalisierte Aussagen gemacht, die mehr als Aussagen sind. Sie verraten eine Wissensstruktur einer Gesellschaft, die unentwegt Differenzen in soziale Ungleichheiten verwandelt, aber nur selten soziale Ungleichheiten in bloße Differenzen abschwächt. Was die Gesellschaft über und von Kindern wissen will, was sie wirklich interessiert, sind nicht so sehr „Ideen“ oder ihre Sonntagsreden, sondern der Umgang, der damit gemacht werden kann. Ein erstes Indiz dafür ist so die Tatsache, dass jeder kinderfreundlich sein will, aber immer mehr Menschen ihr Leben gestalten, als gäbe es keine Kinder mehr. Ein weiteres Indiz ist die Tatsache, dass zumindest in Deutschland „Kinderberufe“ wie Erzieher, Kinderärzte etc. bis vor kurzem einen außerordentlichen geringen sozialen Status abwarfen. Und Kindergärtnerinnen und Grundschullehrerinnen besitzen weithin noch heute einen niedrigeren Status als Gymnasiallehrer. Und warum thematisieren die Erziehungswissenschaften nach wie vor stärker die „Institutionalisierung der Kinder“ im Unterricht als die selbstorganisierte Freizeitgestaltung von Kindern? Ist Kindheit informell auf der „Hinterbühne“ des Alltags vielleicht doch noch „Kinderkram“? Pieper weist darauf hin, dass „Kinderkram“ in der alltäglichen Mentalität in vielen Fällen synonym mit „Weiberkram“ gesehen wird; eine semantische Korrelation, die sicher auch noch durch die Feminisierung der Erziehungs- und Pflegeberufe begünstigt wird (Pieper 1994: 13, 32f.). Der „Kinderkram“ der vormodernen Zeit ist wesentlich „Hauskindheit“ in der Ordnung der Dinge des „ganzen Hauses“ und nicht moderne „Familienkindheit“, verstanden als fast exklusive Erziehungsaufgabe der Eltern. Bühler-Niederberger (1996: 100ff.) hat mit bezeichnender diskursiver Wirkungslosigkeit schon vor 10 Jahren darauf hingewiesen, dass selbst Soziologen mythologisierenden Klischees verfallen, wenn sie nicht nur vom Mythos der früheren Großfamilie ausgingen, sondern noch heute behaupten, in vormodernen Gesellschaften hätte das Kind einen eindeutigen ökonomischen Wert besessen. Bis ins 14. Jahrhundert hinein aber hatten die Kinder in Wirklichkeit meist einen ausgesprochenen unsicheren ökonomischen Wert, der außerdem immer mit emotionalen Erwartungen durchtränkt war. Kinder waren im Grunde bis zu der Zeit eher ein „Kostenfaktor“, wo sie den Eltern hätten wirklich nützlich werden können. Und dann verließen sie oft als Dienstboten das elterliche Haus und unterstützten oder unterstützten eben nicht ihre Eltern: „Kinder waren nur eine (und obendrein keine zuverlässige) unter den verschiedenen Möglichkeiten vorzusorgen“ (101). „Kinderkram“ hatte auch von dieser Seite her einen doppelbödigen Beiklang. Nicht zuletzt deshalb hielt sich sehr lange die Vorstellung vom „Wechselbalg“ in der bäuerlichen Volkskultur Mitteleuropas. Dazu kommt eine weitere Eigentümlichkeit des alltagsweltlichen Kindheitsbildes. Kindheit wird weithin als geschlechtsneutral und ursprünglich auch als verhältnismäßig wenig sensitiv gegenüber Altersunterschieden verstanden (Pieper 1994: 10f., 16). Erwachsene nehmen in den letzten Jahrhunderten altersspezifische Alltagsorganisationen offenbar nur ausnahmsweise wahr und eher als Anlass für die territoriale „Polizey“, worunter man bis ins 18. Jahrhundert eine umfassende, auf Sozialdisziplinierung zielende, staatliche Administration verstand (van Dülmen 1990).
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Der heutigen Vorstellung von Kindheit als „letzte unkündbare Sozialbeziehung“ stehen historisch durchaus tatsächliche soziale Kündigungen empirisch gegenüber. Kinder reißen von zuhause aus und werden manchmal nie mehr von ihren Eltern gesehen. Manchmal leben sie mit Wissen ihrer (ohnmächtigen) Eltern als Straßenkinder in zunehmendem Maß auch in europäischen Großstädten. Flüchtlingskinder ergänzen die Palette der möglichen „Kündigungen“, die von der einen oder anderen und manchmal von beiden Seiten ausgesprochen werden können. (Allerdings sind dies nicht immer wirklich endgültige und echte Zerwürfnisse). Adoptionsverhältnisse und reproduktionstechnologische Möglichkeiten führen noch eindeutiger zu einer Lockerung von biologischer und sozialer Eltern- und Kindschaft neben der Pluralisierung familialer Lebensformen, deren dynamische Zunahme nicht selten von Soziologen unterschätzt wird. Die Pluralisierung ist auch keine eruptive Entwicklung erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Allerdings ging das moderne Deutungsmonopol der Kleinfamilie erst nach 1965 endgültig verloren. Als verstecktes Ideal wird sie wohl weiterleben (Tyrell 1978: 620; von Trotha 1990: 470; Beck 1986: 208). Die Temporalisierung des modernen Familienprojekts erscheint auch vielen als Abendröte des modernen Kindheitsprojekts eines Schonraums. Schon die Geburt verwandelt sich vom „freudigen Ereignis“ zum intimen „event“. Immer deutlicher artikuliert sich die „Kinderfrage“ zu einer eigentümlich schillernden Problematik. Während der scheinbar harmlose „Kinderkram“ lange einfach hingenommen wurde, wird die „Kinderfrage“ eigentümlich dramatisiert (Hettlage 1992). Während es im 19. Jahrhundert zunächst noch zulässig war, auch den ökonomischen Aspekt von Kindheit zu beachten, was emotionale Zuneigung und Sinnunterstellung gegenüber Kindern keineswegs ausschloss, wurde das im 20. Jahrhundert immer mehr verpönt. Seit einigen Jahren sind allerdings Gegentendenzen erkennbar, die – eher unterschwellig – nur das nützliche Kind, das zuhause mit anpackt, für liebenswert, andere als „verwöhnt“ ansehen (Bühler 1996: 97ff.). Gesamtgesellschaftlich erscheinen Kinder heute umso nützlicher, je seltener sie werden. Doch auch diese Bewertung zeitigt bislang relativ wenig sozial- und bildungspolitische wie umweltpolitische Konsequenzen. Wachsende Prominenz gewinnt hingegen der durchaus schillernde Begriff „Humankapital“, der eben meist nicht sozialpolitisch, sondern überwiegend rein ökonomisch aufgegriffen wird und entsprechende kulturelle Konnotationen freisetzt. Er bezeichnet bei den Ökonomen den materiellen Regenerationsaufwand der erwachsenen Personen gegenüber Kindern, der aufgebracht werden muss, um ihr Humanvermögen, das sie für die künftige Gesellschaft darstellen, zu erhalten bzw. zu steigern. Ökonomen betrachten dies meist als rein private Angelegenheit, deren Kosten die Wirtschaft externalisieren kann, obwohl es ja im Grunde eine gesamtgesellschaftliche „Infrastrukturmaßnahme“ nicht nur der Bildungspolitik, sondern gesellschaftlicher Kultivierung ist (Kaufmann 1995: 75f.; Berger 1999: 315). Sieht man einmal von der nordeuropäischen Wohlfahrtsdiskussion und den ihr nahe stehenden Kindheitsforschern auch in Mitteleuropa ab (Qvortrup 1993: 109ff.; 1991: 231ff.; Kränzl 2003; Joos 2002: 35ff.), so dürfte auch vom Begriff Humanvermögen landläufig immer noch vorrangig der Eindruck erweckt werden, dass Kinder ihren größten Nutzen erst in der Zukunft bringen. Ergebnisse der Hirnforschung müssen neuerdings dazu herhalten, um diesen zukünftigen Nutzen durch Frühförderung zu intensivieren und zu beschleunigen (Peukert 1997: 277ff.). Es ist freilich ein Mythos, dass Kinder jemals eine rein ökonomische oder monetäre Frage gewesen sein sollen. Neuere diskurs- und sozialgeschichtliche Forschungen widerle-
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gen das ganz eindeutig (Bühler 1996: 97ff.; 2005). Der Humankapitaldiskurs ist daher immer schon kulturell voraussetzungsvoll und auch als Modellannahme davon latent abhängig (Zelizer 2005: 123ff.). Das zeigt sich auch daran, dass verschiedene Diskurse (z. B. der politische, der pädagogische, der psychologische Diskurs) streckenweise parallel ansetzen, ihre „Realitätsakzente“ im 21. Jahrhundert aber offenbar wieder auseinanderlaufen. Einen neuen Blickwinkel kann man in der diskursiven Leitfrage (Beck 1990; Zoll 1992; 1993) entdecken, ob sich das „eigene Stück Leben“ der Kinder mit den Kindheitsaspirationen und dem Wunsch der Eltern nach Selbstbestimmung irgendwie zur Deckung bringen lassen. Und sofort stellt sich diskurstheoretisch auch die Anschlussfrage, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Divergenz oder Neuverflechtung der unterschiedlichen Diskursperspektiven Kindern nicht zum Nachteil gerät (Wintersberger 2005: 181ff.). Die Verbesserung der Rechtslage von Kindern in den letzten Jahren ist beeindruckend. Doch das ist ja nicht mit der sozialen Lage zu verwechseln. Der rechtliche Diskurs weist stark generalisierende, enttextualisierende Tendenzen auf, die aber von Erwachsenen und Kindern stets wieder in vielfältiger Weise rekontextualisiert werden. Daraus entstehen auch neue, oft undurchschaute Abhängigkeiten. Der in der Regel flüchtige Blick öffentlicher Rhetorik kann nicht umgangen werden, verstellt jedoch den Durchblick auf interdiskursive Zusammenhänge, Meinungskartelle und Differenzen zwischen Diskursprogrammen mit ihrer immer begrenzten Kapazität und der oft ganz anderen Lebenspraxis (Rerrich 1993: 112ff.; Voss 2001). Menschen orientieren sich zwar immer an Diskursen, lassen jedoch zuweilen Diskurse Diskurse sein. Im Allgemeinen werden Diskurse als Art Steinbruch verstanden.
8.6 Das Wechselspiel der Diskurse Ein naiver Blick sagt sich stets: Kinder sind eben Kinder; immer und überall. Das ist eine „Naturtatsache“. Doch diese muss und kann verschieden wahrgenommen, kann stark oder kaum beachtet werden. Sie findet in unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen ganz unterschiedliche Aufmerksamkeit und Interesse und einen „gebührenden“ Platz. Kinder wurden bis vor wenigen Jahren auch in unserer Gesellschaft so ausschließlich als Anhängsel oder Abhängige von Familien gesehen, dass die Forderung nach einer Emanzipation der Kinder im Sinne einer konsequenten Demokratietheorie von vielen nur als lächerlicher Affront „gegen die Familie“ verstanden werden kann, obwohl er dies – aus Beobachtersicht – keineswegs zu sein braucht. Kindheit und Kinder erscheinen uns also immer schon kulturell vorinterpretiert, selbst wenn wir sie als „biologisch determiniert“ oder im Hinblick auf ihre „biologisch-soziokulturelle Doppelnatur“ hin definieren (Zeiher 1994: 45ff.). Erst mittels eines kulturellen Vorverständnisses lässt sich so etwas wie Kindheit überhaupt als Kindheit identifizieren. Wir stellen uns vormoderne Gesellschaften zu Unrecht als statisch vor. Doch immerhin kann man sagen, dass deren Wissensvorrat über das, was jedes Gesellschaftsmitglied auf Anhieb und spontan sehen, interessant, beachtlich finden kann, was es ganz selbstverständlich oder „natürlich“ verstehen kann, und wo es Verständnis oder wenigstens leichte Verständigung zu erreichen meint und daher als real empfindet, gleich zu bleiben schien und im großen und ganzen von Generation zu Generation weiter gegeben werden konnte. Und gerade dies hat sich erheblich geändert – für Kinder wie Eltern und die gesamte Gesellschaft. Sie können sich ihres gemeinsamen und selbstverständlichen Wissens längst
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nicht mehr sicher sein. Ihre Perspektiven gehen oft auseinander und müssen von Zeit zu Zeit erst mühsam wieder auf Zeit verflochten werden. Nicht nur jeder „Erziehungsberechtigte“, sondern jedes Kind sieht sich heute einem verwirrenden Wirbel von Diskursen ausgesetzt. Sie drängen sich auf oder bieten sich subkutan gesellschaftlichem Verständigungshandeln in Wort, Ton, Bild, Text etc. an, entscheiden, was normal, moralisch korrekt, natürlich, schön, authentisch ist. Die Grundstruktur dieses Verständigungshandelns besteht vor allem in der Konstatierung und zugleich der Überwindung der Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern. Bevor Kinder und Erwachsene in verständlicher Form kommunizieren können, müssen sie kulturell selbstverständlich wissen, was ihnen gemeinsam ist und was sie trennt und was sie im kulturellen, immer weiterentwickelten Sinnregister einer Gesellschaft ungefähr von einander erwarten können. Dies zeigt ihnen nicht mehr ein stabiles System von Werten, Normen und Rollen, sondern in vielen Bereichen, besonders auf der vorinstitutionellen „Hinterbühne“ (Goffman), nur noch der aktuelle und konstituierende Verständigungsprozess, der heute stets einem diskursiven „Konflikt der Interpretationen“ (Ricoeur) ausgeliefert ist (Soeffner 1999: 32, 44, 46). Dabei sind endgültige Gewissheiten und Lebenssynthesen bei immer mehr Kindern ausgeschlossen. Die Schwerkraft des gewöhnlichen Alltags macht natürlich nicht in jeder Situation, aber doch immer wieder eine soziale Konstruktion kindlicher Wirklichkeit in Anlehnung und ständiger Auseinandersetzung mit der Kultur notwendig, die immer stärker in einen diskursiven Kultivierungsprozess mutiert. Eben darin in der Teilnahme an dieser Diskursivierung, besteht die eigentümliche „wirklichkeitskonstituierende Perspektive der Kinder selbst“ (Honig 1996: 15), die die neue soziologischhistorisch orientierte Kindheitsforschung als Forschungsgegenstand untersuchen möchte. Dies ist sachlogisch deswegen gerechtfertigt, weil der Unterschied und die Gemeinsamkeiten zwischen Kindern und Erwachsenen nicht überzeitlich stabil, sondern – wie u.a. die Geschichtswissenschaft und die Ethnologie (Kulturanthropologie) zeigen können – unterschiedlich sichtbar, unterschiedlich scharf ausgeprägt, zentral oder marginal, unterschiedlich statusgenerierend. Es kann „Kinderrollen“ geben oder auch nicht und sie können auch wieder verloren gehen und dann müssen Kinder und Erwachsene manchmal eine zeitlang nicht und dann wieder sehr intensiv über ihre Beziehungen verhandeln. Ganz unterschiedliche Gesichtspunkte können eben nicht auf klare und abgerundete „wesensmäßige“ Ideen zurückgeführt werden. Es ist also fast schon gefährlich geworden, sich auf invariante „Entwicklungsaufgaben“ zu verlassen. In ganz neuer Weise müssen Erwachsene und Kinder eine „Entfatalisierung des Lebens“ (Honer) zu erreichen suchen, in dem sie aus dem oft verwirrenden „Diskursgemurmel“ (Foucault) zunächst einmal ein grobes soziokulturelles Vorverständnis sortieren, auf dem sich weiterbauen lässt. Für den Kultivierungsprozess von Gesellschaften der „reflexiven Moderne“ scheint kennzeichnend, dass sich der Diskursprozess beschleunigt, aufspaltet, aber auch immer wieder Diskurse ineinandergreifen und Erwachsene wie Kinder immer wieder in ein Wechselspiel von Überund Unterinformationen, Wahrnehmungsveränderung und déjà-vu Erlebnisse – „völlig freiwillig“ – verwickelt, wenn sie sich überhaupt noch verständigen und sich nicht mit „bezahlter Indifferenz“ (Luhmann) abspeisen lassen wollen. Verschiedene Parameter von „Sinn“, „emotionaler Erfüllung“, „Wert“, „Nutzen“, „Lust“, „Erlebnis“, „Last“, „Betroffenheit“ geraten ständig durcheinander. Daher ist hier weniger ein Diskursverständis, wie es Habermas vertritt, sondern eines, das sich eher Foucault nähert, heranzuziehen, das Diskurse immer auch als Spiele um Macht und Einfluss versteht (Foucault 1989: 46ff.).
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Die heutige Diskurslandschaft mit ihren verschiedenen „Märkten der Möglichkeiten“ hat längst auch die Grenzen zwischen Hoch- und Trivialliteratur, falls es sie ja gab, überwunden. Sie liebt zeitbedingte Einseitigkeiten der „Vergöttlichung“ und des „Verschwindens“ von Kindheit, so dass gelegentlich Zeitgenossen abwechselnd das Gefühl haben, es hätte sich alles oder nichts geändert. Dabei zeigt sich aber nur, dass Diskurse Thematisierung wie Dethematisierung von Kindheit ständig in Gang halten und ihre „blinden Flecke“ besitzen. Das letzte Wort ist nicht gesprochen. Während Kinder vormodern Ressource des Hauses waren, stilisieren sie moderne Diskurse als soziale Ressource der Gesamtgesellschaft, die scheinbar wenig Raum lässt für privaten Nutzen oder für eine Kombination von Nutzen und Emotion, obwohl gerade dies angeblich eine „wertvolle“ Beziehung zwischen Eltern und Kindern stört oder unterhöhlt (Giddens 1993: 15ff.; Bühler 1996: 1007ff.). Die Diskursdynamik führt also nicht nur zu Unterscheidungen oder einfach zum „Durchstreichen“ von Unterscheidungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Sie induziert gleichsam auch Kontrollprozesse der „korrekten“ Wahrnehmung, des guten und schlechten Gewissens, des Vergleichens, Verdrängens, Rechtfertigens und Umschreibens und betätigt sich so als „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, indem sie einen ganz bestimmten Wahrnehmungsraum eröffnet und zugleich verschließt. Nicht alles Wissen über Kinder ist jederzeit in der gleichen Weise verfügbar und abrufbar. Und es lässt sich durchaus eine Aufwertung von einem wachsenden Desinteresse unterscheiden, das sich manchmal hinter einem Schwall von Festtagsreden versteckt. Biologische, psychologische etc. Beschreibungen können hier nicht mehr sein als diskursive Aussagen zum Natur-Kultur-Verhältnis unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen und einer ganz bestimmten Konstruktions- und Übersetzungsgeschichte im Spannungsfeld des Bemühens von Erwachsenen und Kindern, sich kurz-, mittel- oder langfristig zu verständigen. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen ist u. U. zu gegebener Zeit zwischen bestimmten Erwachsenen und Kindern geringer als der zwischen Zwergwüchsigen und Riesen, zwischen gesunden und kranken, behinderten und nichtbehinderten, ethnisch verschiedenen, straffälligen und nichtstraffälligen Erwachsenen unterschiedlichen Geschlechts. Nicht schon Sprache als „neutrales“ Zeichensystem oder nonverbale Kommunikation schlechthin, sondern bestimmte Diskurskonstellationen bilden den historisch konkreten Fundus gesamtgesellschaftlichen Wissens und ein bewegliches, aber objektiviertes Repertoire typisierter Bedeutungen sozial akzeptabler oder normativ als legitim geltender Kindheiten. Diskurse als in der Moderne konventionalisierte Sprachen, Redensarten, Sehweisen und Mentalitäten bilden das historische „soziokulturelle Apriori“ und die Grundlage jeglicher Verständigung, so sehr sich die kindlichen Akteure subjektiv in sie hineinarbeiten, und sie zuweilen auch Erwachsene als arbiträr und rein subjektiv ansehen mögen. Die Unterscheidung Kind/Erwachsener oder wenigstens Alt/Jung tauchen in unserer Sprache nicht deswegen immer wieder auf, weil sie Naturkonstanten wären. Sie sind ja in Wahrheit immer zugleich Natur und Kultur, deren „Reinheit“ oder „Mischungscharakter“ erst einmal kulturell wahrgenommen, festgestellt und reinterpretiert werden muss. Doch selbst, wenn wir uns zwingen wollten, diese immer schon soziokulturell vorsortierte Unterscheidung nicht zu sehen, stießen wir immer schon auf diese Unterscheidung, weil die unterschiedlichen sozialen Positionen nur im Ausnahmefall frei bleiben, getauscht oder kompensiert werden können (Nemitz 1996). Dies ist zwar abstrakt durchaus denkbar und in
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einigen wenigen Fällen pflegen Kinder Erwachsene, übernehmen für sie tatsächlich Verantwortung und sozialisieren sie, etwa im Fall von Migrantenkindern der zweiten Einwanderergeneration. Doch dies scheint uns in „natürlicher Einstellung“ geradezu widernatürlich. Wir sehen Kinder noch, wenn wir von ihnen als „Miniaturerwachsenen“ oder von Kinderbürgern“ reden. Doch welch ein Unterschied zwischen dem „kleinen Erwachsenen“ des Mittelalters und dem heutigen „kleinen Erwachsenen“, für den Autoren wie Hurrelmann werben. Dasselbe Wort kann in unterschiedlichen semantischen Bezügen ganz Unterschiedliches besagen. Diskurse stehen also sozusagen unter Markierungsdruck. Sie schaffen Sichtbarkeit und machen zugleich Anderes unsichtbar. Sie setzen Thematisierung und Dethematisierung zugleich in Gang. Alle Diskursteilnehmer, nicht nur die „Meisterdenker“, Diskursunternehmer und Meinungsführer der verschiedenen Diskurse sind Gesprächspartner in einem gesellschaftlichen Verständigungsprozess, sofern sie das gleiche Ziel verfolgen, Wissen über Kindheit als soziales Phänomen zu produzieren, mit Hilfe dessen sie es zur „sozialen Tatsache“ machen und damit Wirklichkeit schaffen können. Dabei ist dies bei weitem mehr als ein formales Sprecher-Hörer-Verhältnis, weil eben nicht gleichgültig ist, wer zu wem in welcher sozialen Position und zu welcher Zeit spricht, weil die Gesprächsteilnehmer unterschiedliche Zugangsbedingungen, Ressourcen und Koalitionspartner besitzen. Je schmaler Diskurspfade sind, desto mehr ist ein Dialog gefährdet, je breiter er geführt wird, umso lautstärker ist das Diskursgemurmel und „Rauschen“. Erwachsene wie Kinder sind zwar beide Menschen, aber sie lassen sich dazu immer wieder animieren, Differenzen aufzubauschen, zu bagatellisieren, kulturelle Distinktion zu sozialer Ungleichheit zu transformieren, obwohl sie dazu von Natur aus keineswegs gezwungen werden. Diese Transformationsprozesse führen heute zu einer Pluralisierung von Kriterien und Maßstäben. Jeder scheint Anderes zu sehen, zu verstehen, anderes zu kommentieren und bleibt doch – offen oder versteckt – vom kollektiven Gedächtnis und synchronen Wissensvorrat der Gesellschaft viel stärker abhängig, als er das manchmal zugeben mag: „Ein Wissen, das erworben, erobert, weitergegeben, verarbeitet, aufbewahrt, vernachlässigt, vergessen, geheim gehalten oder schlichtweg nicht erworben wird, unterliegt bestimmten Diskursordnungen und Wissensdispositiven, die umrisshaft festlegen, was von wem zu wem mit welchen Mitteln in den Blick und zur Sprache gebracht werden kann.“ (Waldenfels 1999: 113).
8.6.1 Der theologisch-religiöse Diskurs Viele Gründe gibt es, den Menschen anthropologisch als religiöses Wesen anzusehen, was noch in antiklerikaler, antikirchlicher oder atheistischer Diskurseinstellung durchschimmert (Luckmann 2002; Berger 1980; Kaufmann 1986: 283ff.) Unbestreitbar ist zumindest, dass die europäische Kultur nicht ohne die Christentumsgeschichte und die Lawine der modernen Kindheitsdiskurse nicht ohne diese zu verstehen ist. Das pastorale Ziel des religiösen Diskurses, die Hinordnung des ganzen Menschen auf das „Reich Gottes“ oder die „civitas Dei“ (Augustinus) oder das „Seelenheil“, entwertete teilweise genealogische Spekulationen und ökonomische Anstrengungen für lange Zeit, wie sie in vorchristlichen Gesellschaften nicht unüblich waren. Die pastorale Arbeit und Herrschaft der mittelalterlichen Kirche folgte dabei nicht nur der Eigenlogik der christlichen Theologie, sondern auch handfesten eigenen Interessen und gesellschaftlichen Bedingungen. Das Christentum prallte auf Kultu-
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ren, die weit stärker von Mythen geprägt waren als das im Grunde antimythologische Christentum, das allerdings spätestens im frühen Mittelalter – vor allem auf der Ebene lokaler Volksfrömmigkeit – viele mythologische Denkfiguren in sich einließ und amalgamierte. Der antike Mythos der hochkulturellen Mittelmeerkulturen lebt aus der Erfahrung eines naturverbundenen, immer wiederkehrenden Lebenszyklus und der Wiederkehr des mythischen Anfangs. Die vorchristlichen Mythologien waren weit mehr als eine religiöse Weltdeutung im modernen Sinn. Sie waren eine kosmologisch orientierte Lebenspraxis, die im Vollzug der mythisch gedeuteten Erneuerung des Lebens Wirklichkeit erfuhr und keine Unterscheidung profaner und sakraler Sphären zuließ. Sie ließ auch keine Unterscheidung kollektiver und privater Religionsausübung zu. Im Mythos hatte das schwache, aber dessen ungeachtet neue natürliche Energien freisetzende „Göttliche Kind“ eine ganz zentrale symbolische Bedeutung (Wolff 1991: 69ff.). Kindheit symbolisierte damit einen engen Verweisungszusammenhang von Geburt, Fortpflanzung, kultureller bzw. lebenszyklischer „Wiedergeburt“ und Kindheit. Die Tiefenpsychologie C. G. Jungs knüpfte später daran an und sprach vom „Archetypus“ Kind, den der Mensch nur loswerde, wenn er sich pathologisch selbst verstümmele. Judentum und Christentum bergen sicher im Verlauf ihrer Wirkungsgeschichte auch mythologische Elemente in sich, sind aber trotzdem nur sehr begrenzt als „Mythologie“ im engeren Sinn zu begreifen, weil Gott jenseits der mythischen „Mächte und Gewalten“ zu erfahren ist und damit erst der irdischen Wirklichkeit einen eigenen Raum freilässt. Gott ist nicht in erster Linie der Uranfang des Lebens, sondern er ist der, der sich seinem Volk auf seinem geschichtlichen Weg in die Zukunft zeigt. Die geläufige Deutung, die – ähnlich wie beim göttlichen Kind des Mythos – Kinder als authentisches Stück „Unschuld“ im zur Degeneration neigenden Lebenskreis des Menschen sehen will, ist zwar in der christlichen Kirche durchaus früh zu finden, trifft jedoch nicht die Kindheitsvorstellung Jesu in ihrem eigentlichen Kern (Weren 1996: 147ff.). Jesus war ganz offenbar kein Mythologe oder ein romantischer Schwärmer, der Kinder als ausschließlich unschuldig und göttlich ansah. Bei ihm ist im Grunde kein „Kinderkult“ anzutreffen (Richter 1987: 17ff.). Er deutete Kinder nicht als Erinnerung des Anfangs allen Lebens des Lebenszyklus, sondern als Prototypen eines vorbehaltslosen Glaubens an Gott und sein kommendes „Reich“ (Basileia) und als Prototypen einer herrschaftlosen, geschwisterlichen Gemeindepraxis. Jesus stellte Kindheit also nicht mitten in die sich erneuernde „Natur“, sondern mitten in die Gemeinde auf ihrem Weg zum nahen „Reich Gottes“; jedenfalls in den synoptischen Evangelien. Die Gemeinde bestand aus „Gotteskindern“, die in diesem Sinne sich auch in der Gemeinde geschwisterlich verhalten sollten. Demgemäß bezeichnete er seine Jünger oft als „Kinder“. Kinder galten in der zeitgenössischen Kultur als die „Kleinen“ und „Schwachen“. Und gerade die erwählt Jesus zu Modellen einer christlichen Gemeinde- und Lebenspraxis. Dies wird vor allem dadurch unterstrichen, dass Jesu Predigt keine mythische Wiedergeburt, sondern das Kommen des Reiches Gottes in baldiger Zukunft verkündete (Raske 2001: 59ff.). Sie war also nicht archeologisch wie der Mythos, sondern eschatologisch; wie auch ein großer Teil des jüdischen „Ersten Evangeliums“. Die Hochschätzung von Kindern ist hier keine mythologische und moralische, sondern eine spirituelle, die heilsgeschichtlich interpretiert werden kann. Jesu Deutung und Verhalten gegenüber Kindern war jedenfalls zur damaligen Zeit völlig ungewöhnlich und erschien den Zeitgenossen eher befremdlich. Er betrachtete Kinder nicht als unterentwi-
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ckelt, aber auch nicht als göttlich. Er nahm sie uneingeschränkt ernst, und zwar nicht nur als Glieder ihrer Familie. Die antifamiliale Skepsis Jesu ist unübersehbar. Das Reich Gottes wird gerade ihnen zugesprochen. Diese Hochschätzung von Kindern als Abglanz des „amor Dei“ zu den „Menschenkindern“ hat sich in der christlichen Kirche – auch nach den Glaubensspaltungen – nie ganz verloren. Sie wurde aber in der Folgezeit durch volksreligiöse Vorstellungen und Praktiken, sowie vor allem durch den mächtigen Einfluss des Neoplatonismus und der Gnosis überdeckt. Einen Meilenstein bildete dann sicher das ungeheuer einflussreiche Denken Augustins. Es brachte einen in Jesu Botschaft völlig unbekannten pessimistischen Grundton in die kirchliche Sicht des Kindes. Nicht die kindliche Offenheit bzw. das Vertrauen und das Rücksichtnehmen auf die Schwachen waren hier maßgeblich, sondern die sich von Anfang auswirkende Erbsünde und die Neigung zum Bösen in allen Menschen. Augustinus schrieb in seinen „Confessiones“: Niemand, auch Neugeborene, seien nicht von Sünde frei. Diese Interpretation setzte sich gegenüber der originell jesuanischen immer mehr durch. Sie rückte die Taufe, die ab dem 3. Jahrhundert Kindestaufe war, in den Mittelpunkt. Ungetaufte Kinder waren völlig anders als getaufte zu bewerten. Den Wettlauf, den gläubige Christen im Mittelalter um die „Nottaufe“ (Imhof 1983) anstellten, ist sonst überhaupt nicht zu verstehen. Da aufgrund der extrem hohen Kindersterblichkeit viele Kinder bei oder kurz nach der Geburt starben, war stets Eile mit der Taufe geboten. Kinder, die bald nach der Geburt getauft starben, waren für die zurückbleibenden Eltern allerdings ein starker Schatz im Himmel und eine Quelle der Fürsprache bei Gott. Immerhin gestand der große Theologe und Philosoph Thomas von Aquin im Hochmittelalter ungetauften Kindern aber den „untersten Stand der Glückseligkeit“ zu. Doch diese größere Gelassenheit setzte sich nicht recht durch (Tänzler 1997: 128). Es gab auf diesem Hintergrund auch eine makabre, weit verbreitete Tradition zur Weihnachtszeit, den Tod vieler ungetaufter „unschuldiger Kinder“ den Juden anzulasten und sie deshalb zu verfolgen. Man rechtfertigte dies mit dem Verweis auf die Kindstötungen des Herodes und schreckte in vielen Fällen nicht einmal vor einem Ritualmord zurück (Vassas 2005: 23ff.). Immerhin gab es auch im Mittelalter immer wieder selektive Rückgriffe auf die jesuanische Botschaft und eine tiefe Überzeugung, dass Kinder Geschöpfe Gottes sind und daher nicht misshandelt oder gar getötet werden dürfen. Das Verbot des Kindesmordes hatte die christliche Kirche schon früh durchgesetzt, der bekanntlich im alten Rom durchaus als legal galt. Die Schöpfungsordnung wird im Mittelalter neben dem Augustinismus zum Koordinatenkreuz theologischer Diskurse. Sie gebietet es allen Eltern, ihre Kinder „gut“ zu erziehen und macht es den zugleich kirchlich wie weltlich organisierten Gemeinden zur Pflicht, ausgesetzte Findelkinder würdig zu versorgen. Diese in der Kirche zur Herrschaft gelangende Anschauung drückte sich auch in der Metapher aus, dass Kinder als Worte Gottes zu lesen seien. Sie sind die Spuren der Liebe Gottes zu den Menschen. Dieser Gedanke lässt sich zum ersten Mal im 12. Jahrhundert bei Hugo von St. Viktor in Frankreich nachweisen (Assmann 1988: 244). In jedem Kind können die Gläubigen auch die Handschrift Gottes lesen, weil Kinder zwar mit der Erbsünde, aber nicht mit persönlicher Schuld behaftet sind. Erst auf diesem Hintergrund ist die spätmittelalterliche Kindheitsmystik zu verstehen, die recht wenig mit der mythologischen Denkweise des göttlichen Kindes in vorchristlicher Zeit zu tun hat. Allerdings wird die Geburt Jesu in Texten und Bildern der Volksfrömmig-
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keit auch in diese Beziehung zurückgestellt und oft remythologisiert. In der mittelalterlichen Kirche ringen also ganz verschiedene wirkungsgeschichtliche Traditionslinien, die sich um 1200 kreuzten, um ein deutliches christliches Bild des Kindes. Sie haben nur sehr entfernt etwas mit Jesu Kinderfreundlichkeit zu tun. Insbesondere scheint es ab dem Frühmittelalter eine ständige, offen oder versteckt wirkende Konkurrenz, aber auch fließende Übergänge zwischen der hochkirchlichen Pastoral und der Pastoral auf lokaler Ebene gegeben zu haben. Die Pfarrer vor Ort machten oft notgedrungen angesichts einer nicht immer steuerbarer Volksfrömmigkeit vielmehr Konzessionen als der hohe Klerus, obwohl auch der sich – immer vorausgesetzt, die Interessen der entsprechenden Kirchenverwaltungseinheit wurden gewahrt – gegenüber den Fürsten zu vielfältigem Entgegenkommen bereit fand. Trotzdem gab es zwischen diesen beiden Traditionsströmungen keine wirkliche Toleranz (Brown 1999: 99). Im Spätmittelalter gab es Zusammenstöße mit dem volkskulturellen „Aberglauben“ mit der Wohlfahrtsbewegung, in deren Folge andere Diskurse, besonders der medizinisch-biologische, an Attraktivität gewannen. Das nachreformatorische wie das gegenreformatorische, nun mehr scharf gespaltene Christentum wahrte Kontinuität, setzte aber auch ganz neue Interpretationsakzente. Beide waren in gewisser Weise konsequenter, aber auch einseitiger als die mittelalterliche Christenheit. Die strenge Einweisung in die Hl. Schrift wurde bei den Protestanten, die Unterwerfung unter die „Seelenführung“ eines ständigen Beichtvaters zur obersten pastoralen Maxime der Katholiken. Die stille „kindliche Einfalt“ war jetzt nicht mehr ausreichend. Dies führte wohl auch zur Zustimmung beider konfessionellen Kirchenleitungen zur staatlichen Bemühung um bessere Ausbildung. In der katholischen Kirche setzte sich allerdings auch schon im Spätmittelalter die Vorstellung durch, dass bestimmte Heilige eine besondere Fürbitte bei Gott einlegen könnten (Imhof 1983: 174). Kinder waren hier sowohl Subjekte wie Objekte der Fürbitte (Richter 1987; Labouvie 1990: 15ff.). Die Schriften Luthers, aber etwas später auch die der katholischen Moralisten um Port Royal, verraten ein gespaltenes Verhältnis zu Kindern. Einerseits wird ihnen Schutzbedürftigkeit und Unschuld zugestanden, andererseits wird ihnen ein gefährlicher Hang zur Triebhaftigkeit nachgesagt, vor der sie nur eine strenge Erziehung und Zucht bewahren könnte (Bühler 2005: 13). Positiv ausgedrückt: Auch das besonders bedürftige Kind verdient als „Zeichen der Kindheit“ die allerbeste Erziehung nach christlichen Grundsätzen. Diese verträgt sich aber durchaus mit strenger Disziplinierung. Aus dem Alten Testament wurde immer wieder zitiert: „Wer sein Kind liebt, züchtigt es.“ Liebe ist eben auch nur eine Leitformel, die zur Leerformel werden kann, wenn man sie unabhängig von konkretisierenden öffentlichen Diskursen verkündet. Es ist daher wichtig zu erkennen, dass sich in weiten Teilen der Bevölkerung beider Konfessionen bis weit ins 19. Jahrhundert ein ungebrochenes Vertrauen in die Schöpfungsordnung Gottes hielt, die zumindest eine beachtliche normative Restriktion gegenüber erzieherischer Willkür markierte, wenn diese auch im praktischen Leben nicht immer eingehalten wurde. Damit wurde gegenüber der Vorstellung vom durch die Erbsünde „bösen“ Kind das des „guten“ Kindes immer wieder sichtbar. Daher konnte dann auch Rousseau später an christlichen Schriftstellern wie Fénelon und an kirchlichen Teiltraditionen anknüpfen. Es darf schließlich auch nicht vergessen werden, dass schon im 11. Jahrhundert die Kindheitsmystik im Protest gegen die Amtskirche eine Rückkehr zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens forderte (Imhof 1983: 60; Duby 1985: 29ff.), die freilich die abgelaufene Wirkungsgeschichte auch nicht einfach hätte übersprin-
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gen können. Dieser theologisch-religiöse Diskurs über Kindheit und Kinder ist nun nicht einfach endgültig im 20. Jahrhundert zusammengebrochen (Raske 2001: 59ff.; Rahner 1966; Siewerth 1957), aber er wird als partikulärer Teildiskurs natürlich längst stark von anderen Diskursen überlagert, die er zum Teil selbst in Bewegung gesetzt hat. 8.6.2 Der medizinische Diskurs Nicht erst im Spätmittelalter setzt der medizinische Diskurs ein. Er reicht mindestens bis in die frühe Antike zurück. Doch bis zum Spätmittelalter war er fest eingebettet in kosmologisches und onto-theologisches Denken. Und nun erst gewann er auch neue Dynamik und gesellschaftliche Ausbreitung als diskursive Einzelperspektive der öffentlichen Rhetorik. Sein Erfolg verdankt er paradoxerweise der kirchlichen Pastoral – besonders nach den Religionskriegen in Europa. Schon im Spätmittelalter waren die Kirchenleitungen mit einem schwärmerischen, durchaus kirchenkritischen „Aberglaube“, der in der Wallfahrtsbewegung sich besonders exzessiv erwies (Labouvie 1990: 15ff.), kaum noch fertig geworden und riefen in ihrer Not nach den rationaleren „Abkühlungsstrategien“ der Mediziner. Außerdem machte sich nach den verheerenden Epidemien zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert, die ganze Landstriche entvölkert hatten, und in denen sich die Geistlichkeit als wenig hilfreich erweisen konnte, eine größere Bereitschaft breit, es einmal mit der „weltlichen“ Medizin zu versuchen, ohne dass man sich dabei die Hintertür zu geistlichen Praktiken („Wunder“) damit gleich verbauen wollte. In bestimmten Gegenden (Vovelle 1983; Hahn 1999: 62ff., 69; Kittsteiner 1992), vor allem Frankreichs, lässt sich eine gewisse Säkularisierung gut nachweisen. Es verschwanden z. B. früher durchweg übliche religiöse Bekräftigungsformeln und Fürbitten in Testamenten. Auch in der reformatorischen und gegenreformatorischen Frömmigkeit konnte das Heil nicht mehr von einzelnen Praktiken, sondern nur durch eine überzeugende Gesamtbiographie erworben werden. Dies setzte planmäßige Lebensführung und Gewissensbildung voraus, die auch eine stärkere Selbstbeobachtung bis ins Körperliche hinein implizierte. Gleichzeitig empfahl sich der neuzeitliche Territorialstaat als moderner „Wohlfahrtsstaat“, der eine systematische Modernisierungspolitik durch umfassende Medikalisierung und Pädagogisierung voranzutreiben suchte. „Gesundheit“ statt „Seelenheil“, „Erzogenheit“ statt „Frömmigkeit“ wurden zu vordringlichen Staatszielen, wobei man allerdings private Religiosität und ein prunkvolles Staatskirchentum lange zu schätzen wusste und schlicht voraussetzte. Die Modernisierungspolitik bildete auch die Basis der Anfänge einer Familienpolitik, mit der der Staat auch stärker geordnete Verhältnisse in den Bereich der Familienbildung und Haushaltsführung bringen wollte (Medick 1984; Willems 1999: 62ff.; Donzelot 1980). Auch die Rolle des Buchdrucks spielte eine große Rolle bei der Verbreitung medizinischen Wissens. Die Medizin konnte sich in diesem gesellschaftlichen Klima als Wissenschaft gut entfalten und etablierte sich darüber hinaus im 17., 18. und 19. Jahrhundert als erstes ausdifferenziertes professionelles System, das sich zur infrastrukturellen Durchdringung der Gesellschaft nutzen ließ. Mit dem Beginn der Neuzeit setzt in der Diskursgeschichte eine entscheidende Zäsur ein. Die Medizin begreift sich nicht mehr als „Heilkunst“, eines Teils der klassischen „Lebenskunst“, sondern als einzelwissenschaftliche Disziplin, die isolierbar und methodisch operationalisierbar ist. Sie wollte sich nun von Symptomen zu Krankheitsbildern vortasten.
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Krankheit wurde nun immer mehr zur kausalanalytisch erklärbaren, lokalisiert zu diagnostizierenden und zu therapierenden Funktionsstörung eines einzelnen Organs, nicht mehr des ganzen Menschen. Die Metastase eines krebskranken Kindes bietet daher überall und immer dasselbe physiologische und biochemische Krankheitsbild. Die Krankengeschichte des Kranken wird nicht unwichtig, aber sekundär. Sie ist etwas medizinisch genau so Alltägliches und Normales wie eine Schnittwunde, obwohl natürlich jeder Arzt die unterschiedlichen Risiken für die Lebensgeschichte genau kennt: von der Krankengeschichte zur Krankheitsgeschichte. Es geht in der klassischen allopathischen Medizin immer um die Korrelation statistischer Durchschnitte und funktionaler Normalwerte. Die Schulmedizin setzt sich deutlich von der sehr verbreiteten Volksmedizin ab, die lange dominierte (Loux 1991: 44f.). Dies wirkte sich wiederum auf die Kindertherapie aus. Gehäufte Kinderkrankheiten und Kindersterblichkeit wurden als Ursache des allgemeinen schlechten Gesundheitszustandes der Bevölkerung gesehen. Wer diesen verbessern wollte, musste hier ansetzen (Ariès 1976: 54). Während Krankheit und Gesundheit im Mittelalter als unverfügbares Schicksal empfunden wurden, führten jetzt die narrativ-diskursiven Strategien zu einem Kindheitsmodell, das durch und durch von der Schulmedizin geprägt wurde. Kindheit ohne intensive Beobachtung und ärztliche Versorgung wird immer weniger denkbar. Diese Vorstellung wird im 19. Jahrhundert dadurch ergänzt, dass Leibeserziehung und regelmäßiges Turnen unter ärztlicher Aufsicht wesentlich zu einer gesunden leiblichen Entfaltung gehörte. Hier deutete sich schon eine Vernetzung mit dem pädagogischen Diskurs an (Stolberg 2003; Labisch 1992: 69ff.). Der medizinische Diskurs war also nicht nur eine wissenschaftliche Veranstaltung. Er fungierte immer auch als Kontrolle und Legitimation körperlichen Verhaltens von Kindern. Normale Kinder waren nun eben nur solche, die den medizinischen Standards entsprachen. Reformation und abgeschwächt auch die katholische Gegenreformation bewirkten zusehends eine Spiritualisierung des Lebens, die dem dualistischen Denken der Moderne (Descartes) Vorschub leistete. Die Medizin befasste sich in der Neuzeit mit dem Körper, der zunehmend als äußere Wirklichkeit vom Seelischen abgetrennt wird. Diesem Denken kam sogar die damalige Pastoraltheologie entgegen: Da Gott den Körper geschaffen hat, kann er nicht durchweg schlecht sein, wie die vielen Theologen, die seit dem 3. Jahrhundert in wachsendem Maße unter dem Einfluss neoplatonischer-gnostischer Gedankengänge standen, angenommen hatten (Imhof 1983: 44). Eine grundsätzlich lebensbejahende und zukunftszugewandte Einstellung zum Leib propagierte aber erst die Aufklärung. In ihrem Fahrwasser wandten sich dann auch Prediger, Staatsbeamte, Generäle auf einmal scharf gegen das „gesundheitsschädliche“ Weggeben von Säuglingen an Ammen, was zuvor meist keinen Anstoß erregt hatte (Badinter 1981). Erst im 18. und 19. Jahrhundert setzte sich aber – nicht ohne Widerstand – eine staatliche Überwachung und „Politik der Hygiene“ voll durch (Göckenjan 1985). Gesundheit war natürlich auch zuvor ein erstrebenswertes, aber eben nicht das höchste Ziel des Lebens. Und die Kontinuität des Wortes trügt. Denn nicht nur die medizinischen Mittel, Medikamente, Instrumente und Verfahren hatten sich geändert. Geändert hatte sich die Grundperspektive. Als die Ärzte begannen, ihr Hauptaugenmerk dem funktionsgerechten Aufwachsen der Kinder und der Körperpflege und Gesundheitsvorsorge zuzuwenden, gerieten jetzt auch Eltern, Kinder, Erzieher und Lehrer unter die sanfte Aufsicht der Ärzte. Später entwickelten sich daraus auch die Vorstellungen obligatorischer Reihenuntersuchungen, die Gesundheitämter durchführten. Ein normales Kind sollte unter ärztlicher Qualitätskontrolle
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aufwachsen. Das Durchwursteln mit gelegentlicher Volksmedizin und Selbstmedikation galt nun als unkorrekt. Konsequenterweise verlagerte sich das Interesse des medizinischen Diskurses mit der Zeit immer stärker auf die Prävention und Gesundheitserziehung. Es gab natürlich in der Zeit zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert gewisse Reibereien zwischen Theologen und Ärzten, aber zumindest in Deutschland keine durchgängige Konfrontation. Seelsorge und Sorge um den Körper erschienen nun wesensverwandt. Bei einer wirklichen Konfrontation hätte wohl der medizinische Diskurs über lange Zeit den Kürzeren gezogen. Beide Diskurse, der religiöse und der medizinische, konnten sich in vielen Fällen bei der Bekämpfung kindlichen Leids treffen. Die Theologen sahen allmählich ein, dass der „Königsweg des Kreuzes“, die von Jesus geforderte Nachfolge, nicht gleichzusezten war mit der Verherrlichung von Leid und Schmerz (Kittsteiner 1992: 39f). Die Mediziner arbeiteten oft eng mit Pfarrern zusammen. Im 19. Jahrhundert spezialisierte sich der medizinische Diskurs. Die Kinderheilkunde (Pädiatrie) konzentriert sich auf gesundheitliche Probleme von Kindern, auch von behinderten Kindern. Dies bringt einerseits neues Wissen, führt andererseits aber zum Vergessen vieler Naturheilverfahren, die später in der „alternativen Medizin“ z. T. rehabilitiert werden. Paradoxerweise bringt der Rückgang der Kindersterblichkeit auch neues Leid mit sich, z. B. bei behinderten Kindern, die später sorgar hören müssen, dass sie „unwertes Leben“ seien. Im Prozess der Medikalisierung der Gesellschaft gewinnt der „medizinische Blick“ durch die „Geburt der Klinik“ nach Foucault (1976) seinen vorläufigen Höhepunkt und zerlegt alles körperliche Geschehen mit der umfassenden Klassifikation „funktionell“ und „pathologisch“, obwohl kluge Ärzte auch danach um die vielen „unentschiedenen“ Übergänge und Grauzonen menschlichen Wohlbefindens wissen. Die Medizin macht damit ganz Bestimmtes sichtbar, Anderes an der „Gesamtrealität“ unsichtbar und unverständlich. Hier zeigt sich eine grundlegende Struktur des Sehens, der Beachtung, der Aufmerksamkeit und eine grundlegende Rationalität, ohne die auch Kindheit künftig kaum vorstellbar ist, obwohl sie keineswegs „naturgegeben“ ist. Sie rahmt auch Kindheit sozusagen fundamental ein, klassifiziert, zergliedert und entscheidet bzw. gibt „dringende Ratschläge“ für das, was gesehen und nicht gesehen und was gesagt und nicht gesagt werden kann, welche Praktiken im Umgang mit dem kindlichen Körper und welche Therapieverfahren angezeigt sind, ohne die sich „verantwortliche Eltern“ blamieren und Kinder diskreditieren. Nicht zuletzt reguliert der medizinische Diskurs auch die legitimen und offiziellen Zuständigkeiten der Körperkontrolle, die von Psychologen heute etwas unbekümmert als „Selbstwirksamkeit“ oder „Kontrollbewusstsein“ bezeichnet wird. Im 3. Jahrtausend hat der kindliche Körper als biochemisches System nach wie vor seine diskursive Prominenz, da „Gesundheit“ heute mehr denn je als oberster Wert bei vielen gilt. Wenn er auch nicht mehr allein die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ der Öffentlichkeit bestimmt, so ist er doch zum Zentrum einer umfassenden Biopolitik und „Gouvernementalität der Gegenwart“ geworden (Foucault 2000: 41ff.). Der kindliche Leib wird nicht nur wie von einem Panoptikum aus von allen Seiten beobachtet und thematisiert. Er wird in gute Verfassung gebracht, aufgerüstet, mit Schutzkleidung (z. B. im Sport oder Straßenverkehr) versehen, verziert, verjüngt, kultiviert. Kinder unterscheiden sich in dieser Hinsicht immer weniger von körperbewussten Erwachsenen. Manche nennen dies auch eine „Infantilisierung“ oder einen „Jugendkult der Gesellschaft“ (Lenzen 1985). Der Diskurs hat also durchaus gesellschaftliche Folgen, nicht aber zwangsläufig in eine Richtung und mit
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immer gleicher, „linearer“ Entwicklungsintensität in der praktischen Lebensführung. Manchmal erscheint heute der menschliche Leib nur noch ein Ersatzteillager oder eine Baustelle zu sein. Wenn ein Kind krank oder behindert ist, erscheint das keine „natürliche Sache“ mehr zu sein, mit der man eben umgehen muss, sondern selbst die Rechtsprechung spricht in einigen Fällen vom „Schadensfall“ und vom Gegenstand „selbstloser“, „ethisch bedenklicher“ oder „kommerzieller“ Forschungsbegierde. Die Diskussion ist längst zum „Fötus als Bürger“ vorangeschritten, während sich die meisten Menschen noch mit höchst traditionellen Kategorien begnügen (Czarnowsky 1996: 236; van den Daele 1988). 8.6.3 Der pädagogische Diskurs Nach den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts mit ihren verheerenden Verwüstungen wuchs der Wunsch auf allen Seiten, die allgemeinen Lebensbedingungen zu verbessern. Gerade auch absolutistische Regenten waren sich darin mit den aufstrebenden bürgerlichen Schichten trotz aller sonstigen Spannungen offenbar einig: Erziehung des „ganzen Menschen“ tat not. So konnten sich auch die Forderungen der Ärzte und die der Pädagogen ergänzen. Immer weniger schien es vertretbar, Kinder gleichsam naturwüchsig heranwachsen zu lassen. Mit den Bauern gab es in diesem Punkt freilich ständig Auseinandersetzungen, weil sich diese immer wieder weigerten, ihre Kinder nicht in erster Linie als Arbeitskräfte zu betrachten, auch wenn sie sie liebten (Rosenbaum 1982). Dennoch wurde es immer mehr zum soziokulturellen Gemeingut, dass normale Kinder systematische medizinische Versorgung und pädagogische Betreuung und Unterweisung brauchten. Im Blick auf eine Standardqualität einer zeitgemäßen „Normalbiographie“ und eines ihr entsprechenden „Sozialcharakters“ bot sich Medizinern wie Pädagogen – vollends im 19. Jahrhundert – ein Entwicklungsmodell in Analogie zur Entwicklung von Pflanzen an: vom Keim zur Blüte und Frucht. Im Ausbuchstabieren eines kindlichen Entwicklungsprozess und der von ihr vorgesehenen „Entwicklungsaufgaben“ – ein Begriff, der im 17. Jahrhundert nicht explizit auftaucht, aber der Sache nach präsent ist – befasste sich die pädagogische Reflexion mit der Überführung der „Entwicklungstatsache“ (Bernfeld) in die „Erziehungstatsache“, womit Kindheit modern im ersten Zugriff definiert wurde (Honig 1999). Kindheit wird wichtiger und sie ist vor allem im pädagogisch angeleiteten öffentlichen Diskurs ein Verhältnis beider, wobei der intergenerationale Rahmen zwar als selbstverständlich vorausgesetzt, im Grunde aber eingeklammert wurde. Lediglich Schleiermacher scheint dazu eine Ausnahme zu bilden. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden Kinder interessanter als je zuvor. Man sah sie jetzt deutlicher als wichtige kleine Persönlichkeiten, von deren Gedeihen der Zustand der Gesellschaft entscheidend abhing. Sie waren nicht einfach da, ohne dass man davon viel Aufhebens machte. Doch noch galten sie im 17. Jahrhundert überwiegend als „wild“, „roh“ und oft „ungezogen“. Sie galten jetzt zwar als erziehungsfähig aber auch erziehungsbedürftig. „Erziehung“ stellte nun eine weit über das beiläufige Sozialisationsverständnis der Vormoderne hinausreichende, nur intensional zu meisternde Aufgabe reifer Erwachsener mit spezieller Erziehungsverantwortung dar, die implizit eine gesteigerte Bildungsaspiration und Erziehungskompetenz voraussetzte. Sie war zunächst vor allem „Zucht“, mit der der „Eigen-Sinn“ unerzogener Kinder gebrochen werden musste. Die Triebunterdrückung hatte
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zum Ziel, Kindern die zukünftigen Folgen ihres Tuns vor Augen zu halten und durch Aufschub gegenwärtiger Triebbefriedigung zugunsten höherrangiger späterer Ziele Selbstbeherrschung und Belastungsfähigkeit einzuüben. Dies waren allerdings eher langfristige Ziele und Begründungen. Kurzfristig ging es Landesherren, Geistlichen, Bürgermeistern, Unternehmern, Militärs und nicht zuletzt Pädagogen, die sich zu Wort meldeten, im 18. Jahrhundert vor allem darum, möglichst bald die Straßen und Plätze von bettelnden (verwaisten) Kinderhorden frei zu bekommen und die Gesellschaft innenpolitisch „sicherer“ zu machen oder erscheinen zu lassen. So wurzelt der pädagogische Diskurs eher zu einem geringeren Teil in Philanthropie und eher in seiner funktionalisierbaren Eigenlogik, die sich darauf einließ, die funktionale Belastbarkeit, ein Arbeitsethos und die generelle „Leistungsfähigkeit“ von Kindern, zu gewährleisten. Die Schule war nicht einfach eine zusätzliche Sozialisationsinstanz, die die bürgerliche Familie sowohl entlastete wie ergänzte, sie wurde zu einer neuen, strategisch geschaffenen Definitionsinstanz der Sozialkontrolle und diskursiven Logik der modernisierungspolitischen Sozialdisziplinierung (Sachße 1980: 35ff.). Neben dem neuen anthropozentrischen Denken der Humanisten und Aufklärer verhalf die schlechte Beurteilung der körperlichen, charakterlichen und kognitiven Qualität der Kinder durch fast alle damaligen Meinungsführer und die soziale Mehrheit in entscheidender Weise dem pädagogischen Diskurs zum Durchbruch: Kinder waren nur noch als erzogene sozial akzeptabel und normal. Der moderne, sich schon von seinen Anfängen an als „Wohlfahrtstaat“ verstehende Territorialstaat und die moderne, sich andeutungsweise in Europa schon im 18. Jahrhundert abzeichnende Industriegesellschaft brauchten unbedingt qualifizierte Erwachsene, die in der Familie intensional erzogen und in einem öffentlichen Schulwesen gezielt auf charakterliche, kognitive und technische Grundqualifikationen hin unterrichtet werden sollten. Daher war der pädagogische Diskurs der „Bildsamkeit“, der nur wenig später als der medizinische zur gesellschaftlichen Geltung kam, keineswegs nur eine Modifikation des religiösen Diskurses, obwohl das so bei einer oberflächlichen Lektüre einschlägiger Texte erscheinen könnte. Es ging hier um die quasiprofessionelle Entfaltung einer „Natur“ des Kindes, die dem Zufall oder der „Vorsehung“ grundsätzlich entzogen sein sollte und trotz des verbalen, oft fromm klingendem Familialismus grundsätzlich bereits über die Laienkompetenz hinauswies (Nemitz 1996: 146, 149). Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein immer umfänglicheres Repertoire von z. T. widersprüchlichen Erziehungsgrundsätzen, -maximen, -rezepten, -ratschlägen, didaktischen Modellen und institutionellen Programmen des Schulunterrichts. Im 20. Jahrhundert gesellten sich dazu noch sozialpädagogische Konzepte (Meyer 1986: 258f.). Dabei ist auffällig, dass „Zucht“ und körperliche Strafen zwar laufend zurückgedrängt werden, dass die Pädagogen aber meist findig darin waren, neue äquifunktionale Marterinstrumente, z. B. den „Liebesentzug“, auszuhecken und durch Lobinflationierung Desorientierung zu erzeugen. Diskurstheoretisch kann man heute durchaus in einem gewissen Sinn mit Postman (1983) vom langfristigen „Verschwinden der Kindheit“ im Sinne des modernen Kindheitsideals sprechen. Die „Erziehungstatsache“ im Sinne entwicklungslogischer Stringenz hat sich in der Tat verflüchtigt, die Umlaufgeschwindigkeit und Entropie pädagogischer Diskurse gewaltig beschleunigt. Und „Back to the Basics“ hat sich auch nur als eine unpraktikable, zum „Fundamentalismus“ neigende diskursive Parole entlarvt. Historisch machte sich aber pädagogisches Denken jenseits gewisser Zirkel pädagogischer Meisterdenker schon im 16. Jahrhundert breit, als Pastoraltheologen beider Konfessi-
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onen spezifisch pädagogische, keineswegs nur pastoraltheologisch instrumentalisierte Argumentationen und Narrationen „zu Nutz und Fleiß“ künftiger Eheleute in die kirchliche Ehevorbereitung aufnahmen (Kittsteiner 1992: 364f, 376). Auch hier wurde den künftigen Adressaten im Eigeninteresse einer gedeihlichen Familienatmosphäre geraten, den kindlichen Eigen-Sinn beizeiten zu brechen. Doch dabei ging es nun darum, in der Strafpraxis das Herz, nicht den Leib zu schlagen. So erscheint also schon damals Liebesentzug konsequenter als impulsive Reaktionen durch körperliche Strafen. Es geht also nicht nur um momentane Disziplinierung, sondern um die Steuerung umfassender Gewissensbildung im Sinne der Erziehenden, genauer, des pädagogischen Diskurses. Man kann das auch als eine typisch moderne Art einer „subtilen Bevormundungsstruktur“ ansehen, wenn man sich der Zeit- und Diskurs-Abhängigkeit jeglicher Erziehung bewusst bleibt. Kein Diskurs kommt ohne Rückgriff aus. So schimmern im modernen pädagogischen Kindheitsdiskurs immer wieder mythologische Motive des „göttlichen Kindes“ – nicht erst in der Romantik um 1800 – auf (Lenzen 1991). Durch Rousseau (1978: 16f., 26, 180) kamen sie bei aller gedanklicher Raffinesse und Dynamik seines Denkens wieder zum Tragen. Unverkennbar ist aber die gegenüber der zeitgenössischen Kultur kritische Note. Statt eines weiteren Plädoyers für Erziehung als Zucht und Unterricht oder Repression geht es im „Emile“ um eine Ermutigung zu einer Erziehung, die die Eigenart und selbsttätige „Natur“ des Kindes voll respektiert. Dabei zeigt sich freilich auch schon hier die Zwielichtigkeit des spezifisch modernen Erziehungsdenkens. Zum einen sieht sie alles in einer phylogenetisch-ontogenetischen Universalität und Entwicklungslogik, zum anderen versucht sie dem „krummen Holz“ (Kant) einer ganz individuellen Lebensgeschichte gerecht zu werden. Die Topoi „Kindgemäßheit“ und „Kindgerechtigkeit“ wollen diese widersprüchlichen Tendenzen zusammenbinden. Bezeichnenderweise hat das Bürgertum, zumal in Deutschland, aus Rousseaus Denken meist nur sein Plädoyer für „Entwicklung“ nicht aber die politischen, gesellschaftskritischen auch kindheitspolitischen Implikationen herausgepflückt: Ziel der Erziehung ist bei Rousseau ja nicht der Bourgeois, sondern der „nicht korrumpierte“, „natürliche“ republikanische Citoyen, der sich seiner politischen Mündigkeit und Verantwortung bewusst geworden ist. Rousseau will also nicht naiv Erziehung auf Natur reduzieren, sondern das zu erziehende „Ich“ oder „Selbst“ in der dauernden Spannung zwischen der eingängigen „volonté des tous“ und der gemeinwohlorientierten „volonté géneral“ kritisch zusammenführen. Erst mit der Anerkennung seines politischen Momentes verliert der moderne pädagogische Diskurs aber seinen impliziten Entwicklungsdeterminismus (Böhnisch 1997: 213, Honig 1999). Eigentlich ist das pädagogische Entwicklungsdenken Rousseau ganz fremd, da er ja gerade von der „Natürlichkeit“, d. h. Vollkommenheit des unerzogenen Kindes ausgeht, die es in seiner Sozialisation und Erziehung eher verliert. Erziehung ist daher weniger Evolution denn Sprung in die Verantwortungsfähigkeit als demokratischer Citoyen. Bei Schleiermacher deutet sich bei allen sonstigen Unterschieden doch Ähnliches an. Erziehung ist bei ihm nicht auf das interpersonelle Erzieher-Zögling-Verhältnis zu reduzieren. Sie hat immer eine intergenerationale Dimension, die sogar über die intergenerationale Beziehung auf historische Generationenbezüge hinweist. Daher kann von Schleiermacher her Kindheit nicht funktionalistisch als „nachwachsender Rohstoff“ eng geführt werden. Was aber als „Generationenbezug“ in und außerhalb der Familie thematisiert wird, das unterliegt einem geschichtlichen Diskurswandel (Münchmeier 1997: 113). Indem Kinder in Familie, Schule und Gesellschaft Wissen erwerben, sollen sie sich auch mit sich selbst und
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mit den anderen Generationenangehörigen in ein produktives Verhältnis setzen und sich innerhalb dieses Generationenbezugs kritisch selbst definieren. Schleiermacher hat dem pädagogischen Diskurs eine Hintergrundfrage hinterlassen, an der sich nicht nur Pädagogen meist vorbeigemogelt haben: Brauchen Kinder Erwachsene? Brauchen Erwachsene auch Kinder? Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen können sie einen hinreichend verbindenden und vermittelnden Rahmen und intermediäre Strukturen finden, die Nähe und Distanz für beide ermöglichen und beide für einander interessant machen? (Taylor 2002: 218ff.; Gamm 2000: 248; Nemitz 1996: 40). Das sind in gewisser Weise gerade auch heutige Fragen. Diese Fragen sind ursprünglicher und grundlegender als veränderliche Sozialisationsbedingungen. Dass der Sinnrahmen tatsächlich diese Bedeutung hat, zeigt sich etwa an der empirisch nachweisbaren Tatsache, dass radikal andere Sozialisationsempfehlungen vor und nach Kriegen Wirksamkeit entfalten (Baumgärtel 1979). Es bildet sich in diesem Diskurs bis heute immer wieder eine Weichenstellung, ob man für eine „Erziehung zum Menschen“ im Sinne Kants oder eine enge Ausbildung im Interesse des ökonomischen Systems optiert. Diejenigen, die eine Synthese für problemlos machbar ansehen, vergessen oder verdecken meist die empirische Tatsache, dass konkret nur selektiv-exklusive Diskursoptionen verfügbar sind, und man die Grundfrage der Sinnrahmung nie von nirgendwo oder von einem angemaßten „Gottesstandpunkt“ aus aufwerfen und beantworten kann. Das lehrt auch die Geschichte des pädagogischen Diskurses. Kindheit ist vom modernen pädagogischen Diskurs durch einen interkulturell betrachtet außerordentlich scharfen Unterschied zur eigenen Lebensphase markiert worden. Pädagogische Kompetenz wird immer mehr von erziehungswissenschaftlich ausgebildeten, professionellen Erziehern repräsentiert. Die Legitimation des Bildungssystems kann immer weniger angefochten werden. Radikale Schulkritik erscheint daher bis heute sektiererisch. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass das konkrete Kind mit seiner intergenerational vernetzten Lebensgeschichte Nebensache wird. Daher ist es immer wieder angezeigt, auf die Mahnung des Pädagogen Campe aus dem Jahre 1778 zurückzukommen: „Nötige Erinnerung, dass Kinder Kinder sind, und als solche behandelt werden sollten.“ (Peikert 1982: 118). Doch die Diskursfäden auch des pädagogischen Diskurses werden ohne absehbares Ende weitergestrickt. 8.6.4 Der rechtlich-politische Diskurs Auf ihre Art definieren Juristen mindestens seit Einführung des preußischen Allgemeinen Landrechts (1794-1810) in ihren nicht nur akademischen Spezialdiskursen mit, was ein Kind ist, was Kinder brauchen, dürfen und können und vor allem, wem das Elternrecht zusteht und wem demgemäß Kinder gehören. Vielfach wird hervorgehoben, dass Jahrhunderte lang Kinder – trotz kirchlicher Einreden und Ermahnungen – einen nahezu sachrechtlichen Status als Besitz und Eigentum vor allem des Vaters einnehmen mussten (Stein 1994: 17). Ihr sozialer Status mag sich dann erhöht haben, wenn sie ähnlich der Hausfrau einen namhaften Arbeitsbeitrag im Bauernhaus einbringen oder auf eine sonstige Art „Heimssolidarität“ nachweisen konnten. Doch dies war in vielen Fällen gar nicht möglich, entweder weil sie von schlechter Gesundheit waren oder schon früh auf einen Nachbarhof „ausgeliehen“ wurden. Die patriarchalische Einstellung des Hausvaters wurde durch archaische Vorstellungen der Volkskultur noch
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beeinflusst, die davon ausgingen, dass der Ursprung des Lebens fast ausschließlich beim Mann liege. Besonders rigide galt im alten Rom die „patria potestas“ des „pater familias“. Er konnte im Prinzip legal selbst in der Öffentlichkeit seine Kinder töten oder töten lassen. Trotz manchen Einspruchs konnte erst die christliche Kirche im 4. Jahrhundert ein Verbot der Kindestötung durchsetzen. Die Kirche kritisierte auch schon früh ein überhartes Erziehungsregiment der Väter, trat aber nicht konsequent dem väterlichen Hausrecht grundsätzlich entgegen. Es wurde auch als ganz natürlich empfunden, dass die Eltern-KindBeziehungen den Rechtsordnungen der regionalen Grundherrschaften unterworfen waren (Stein 1994: 78). Die Transformation der vormodernen „Hauswirtschaft“ in eine kapitalistische Marktwirtschaft und die damit verbundene Deinstitutionalisierung des „ganzen Hauses“ entwertete die Familienarbeit von Kindern. Stattdessen wurde politisch-rechtlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts dafür Sorge getragen, dass eine systematische Ausbildung und Vorbereitung auf den Beruf bzw. das künftige Lohnarbeitsverhältnis für immer mehr Kinder möglich wurde. Kinder erschienen jetzt weniger als „Sache“ oder Arbeitskraft, sondern wurden als gesellschaftliche Ressource der gesamten Gesellschaft angesehen. Sie wurden darum schrittweise von der Geburt an als eigenständige und rechtlich zu schützende Personen und Rechtssubjekte betrachtet. Das lag auch im innersten Interesse des frühneuzeitlichen Staates, der gut ausgebildete Staatsbürger, Steuerzahler und stramme Rekruten zu gewinnen suchte (Badinter 1981; Donzelot 1980; Stein 1994: 211ff.; Gerhardt 1981). Solche Interessen schlugen sich vor allem im Familienrecht nieder. Die Forderung nach speziellen Kinderrechten ist jüngeren Datums. Die stark familienrechtliche Fixierung, die durchaus gute Gründe vorweisen kann, wird erst seit wenigen Jahren als nicht konsequent demokratisch kritisiert (Richter 2000: 292, 305; Salgo 1996). Gegner dieser emanzipatorischen Argumentationslinie weisen auf den notwendigen Schutz und Förderung hin. Schon das BGB hatte jedoch um 1900 das Attribut „väterlich“ durch „elterlich“ ersetzt und damit die väterliche Omnipotenz eingeschränkt. Seit dieser Zeit ging es um die entsprechende Interpretation des Leitbegriffs „elterliche Gewalt“. Dieser uns heute fremd anmutende Begriff stammte noch aus vordemokratischer Zeit, wollte aber auch schon damals nicht als Synonym für patriarchalische Willkür verstanden werden. Ganz selbstverständlich ging man von der Natürlichkeit elterlicher Autorität aus, die ja nur das Beste des Kindes im Blick haben konnte. Die vielen Gewaltübergriffe in der Familie wurden nicht gesehen oder galten als Ausnahme. Elterliche Gewalt meinte vor allem aber Recht auf Erziehung. „Erziehung“ aber war durch den pädagogischen Diskurs zur geschichtlichen Variable geworden. Mitte des 20. Jahrhunderts zielte der rechtliche Diskurs in Europa – eigentlich schon seit 1924 – auf die Reklamation eigener Kinderrechte. Es handelte sich im Einzelnen um vielfältige Überlebens-, Entwicklungs-, Schutz-, Mitbestimmungs- und Erbrechte (Kindschaftsrecht). Dennoch bestand hier doch eine gewisse Differenz zu den allgemeinen Menschenrechten als überpositivem Recht, die selbstverständlich über die Familie und das Familienrecht hinaus Geltung beanspruchten (Fassai 1975). Trotzdem ergab sich mit der Zeit eine bemerkenswerte rechtliche Verbesserung der rechtlichen Situation der Kinder und fast eine Gleichstellung von Eltern und Kindern (Heinz 2001: 93). Es darf indes nicht vergessen werden, dass das Familienrecht erst 1976 in Deutschland reformiert wurde. Damals wurde mit Bedacht der archaische Terminus „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Sorge“ ersetzt. Dies ist nicht eine äußerliche Umetikettierung, sondern
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eine symbolische Machtverschiebung, die von den politischen Gegnern dieser Reform auch genau registriert wurde. Es ging um die Verwandlung in eine demokratische Erziehungsund Sorgepflicht. Damit war implizit auch schon das Problem demokratischer Partizipation von Kindern angesprochen. Der pädagogische Diskurs gewinnt damit eine Art politische Anreicherung. Er wird zum „gemischten Diskurs“. Der Begriff „Kindeswohl“, der nun mehr und mehr zum diskursiven Leitbegriff avancierte, distanzierte sich sozusagen von einer Beschränkung der Kinderrechte auf eine negative Abwehr der „Gefährdung des Kindes“. Doch noch das reformierte Sorgerecht klärt zwar die Stellung der Eltern, stärkt jedoch kaum die Rechte der Kinder. Im Vordergrund steht die Absicht, die Eltern stärker in die Pflicht zu nehmen. Bis heute dominiert bei Juristen wie Laien die Ansicht, Kinder könnten ihre Rechte überhaupt nur über die Eltern in Anspruch nehmen. Doch entgegen dieser Absicht, die Familie zu stärken, kann nun der Staat auf leisen Sohlen auch durch „Familienschutz“ in die Familien eindringen (Riedmüller 1981: 88, 133, 151). Es ist dann geradezu notwendig, die familienergänzenden, z. T. sozialpädagogischen Maßnahmen zu vermehren (Limbach 1989: 237). Was ist nun für das Kind, was für die Eltern das „Optimum“? Auf der internationalen Ebene, besonders in den Diskussionen der UNO und UNESCO, hat die Verabschiedung der „Konvention über die Rechte des Kindes“ 1989/90 ganz neue Maßstäbe gesetzt. Sie offenbart jedoch auch, dass in der nationalen Rechtssprechung, auch bei Staaten, die diese Konvention angenommen haben, immer noch eine Diskrepanz zwischen dem Recht auf Erziehung und Fürsorge und dem Recht auf Selbstbestimmung aufbrechen kann (Schwarz 1998: 105ff.). Und wie stark bindet die UN-Charta die Unterzeichnerstaaten? Auch dieser rechtliche Diskurs regelt natürlich nicht, was geschehen soll, damit die Rechte der Kinder nicht mit denen ihrer Eltern in Gegensatz geraten können (Richter 2000). Obwohl Juristen von der Pluralität zeitgenössischer Interpretationen des „Kindeswohls“ sehr wohl Kenntnis besitzen, verleugnen sie oft die Politikhaltigkeit der Rechtssprechung und fassen den Rechtszustand lieber als Repräsentation eines selbstreferentiellen Rechtssystems auf. Der ausdifferenzierte Rechtsstaat steht in einem ambivalenten Prozess der Verrechtlichung. Er vermehrt – meist notgedrungen – die Zahl der „Schutzgesetze“ und erhöht damit die Regelungsdichte. Die Folge davon ist nicht immer ein besserer Schutz, geschweige denn mehr Mitsprache der Kinder. Sie werden nämlich dadurch von Beratung umso abhängiger. Wie jeder Konflikt ist auch der rechtliche nicht einheitlich. Um das Kindeswohl eifern viele Stimmen. Die juristische Bestimmung von Anfang und Ende der Kindheit ist nicht nur im Konfliktfall von Bedeutung, sondern Grundlage zahlreicher Teilreifen in sozialen Institutionen. Sie ist vor allem symbolisch. Und entgegen der Meinung vieler Menschen sind Fragen der symbolischen Grenzziehung immer auch Machtfragen. Und daher ist der rechtliche Diskurs oft mit dem politischen Diskurs verknüpft (Wiesner 2003: 153ff.). Wem gehört das Kind nun eigentlich? Der rechtliche Diskurs beruht einmal auf Vorgaben politischer Institutionen inkl. sozialer Bewegungen. Zum anderen erzeugt aber die Rechtspraxis selbst politische Probleme. Das „Politische“ kann also nicht auf Entscheidungen der „politischen Klasse“ der demokratischen Parteien beschränkt werden. Es diffundiert weit in die angeblich unpolitische Gesellschaft in subpolitische und mikropolitische Vorgänge politischer Klientele, die die politische Kultur einer Gesellschaft tragen. Wissenssoziologisch geht es hier um Wissen und Kompetenzen der Erfassung und Gestaltung der Möglichkeiten der politischen Partizipation, der Interessenartikulation, der Konfliktbeurteilung und des Wissens um die Reichweite
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und Grenzen des Sozialisationswissen: Was bedeuten Kinder in einer Gesellschaft? Welchen politischen Stellenwert besitzen sie? Welche Bedürfnisse der Kinder werden unterstützt, welche toleriert und welche muss die Gesellschaft ohnmächtig hinnehmen? Was traut sie Kindern zu? Wieviel „Störung“ durch Kinder ertragen Erwachsene im „Ernstfall“? Welche Formen des „Förderns“ und „Forderns“ von Kindern bieten die Parteien zur Wahl an? Erkennen dies auch die erwachsenen Wahlbürger als wahlentscheidende Optionen an? Das sind einige der wichtigen Fragen, die sich dem politischen Diskurs immer wieder stellen. Natürlich besitzt auch dieser Diskurs „blinde Flecken“. Das Verhältnis solcher Sinnund Wertfragen ist kontingent und selbst politisierbar: Gibt es überhaupt ein gesellschaftliches Interesse an genuiner Kinder- oder Kindheitspolitik? Im Grunde geht es hier letztlich immer darum, wie eine Gesellschaft in Zukunft leben will, welche Zukunft sie für ihre Kinder offen halten will und auch darum, ob und wie sie um diese moralischen Probleme weiß oder ob sie sie überhaupt wissen will (Firsching 1994: 287f.; Beck 1991: 82ff., 154ff.; 1993). Rechtliche Universalisierung erfordert nicht nur zwingend Applikation, sondern auch vermehrte Rekontextualisierung und Reinterpretation, die manchmal unterbleiben und bewirken, dass ein geschriebenes Gesetz nur „auf dem Papier steht“. So ist etwa die UNKinderrechtskonvention aus dem Jahr 1990 nicht überall ein positives Gesetz und noch viel weniger in gesellschaftliche Praxis umgesetzt. Sowohl eine – idealtypisch gesprochen – familienzentrierte wie eine kindzentrierte Ausgestaltung kindlicher Lebensbedingungen bringt Kindern nicht nur Chancen, sondern auch Risiken. Eine advokatorische Grundorientierung kann sinnvolle gesellschaftliche Partizipation unterbinden. Eine rein kindorientierte kann Schutz und Förderung sehr kurzsichtig behandeln. Es scheint sich hier ein Dilemma abzuzeichnen. Ambivalenz kann und sollte so gut es geht reduziert werden. Verschwinden wird sie aber nicht. Entscheidend ist die aktuelle Diskursqualität. Immer entstehen Konstellationen von Chancen und Risiken in unterschiedlicher Dosierung und mit unterschiedlichen ungeplanten Nebenfolgen und unterschiedlicher Korrigierbarkeit. Manchmal gleiten Eltern und Kindern nur von einer alten in eine neue Abhängigkeit in der Umstrukturierung familialer Lebensformen. Jedenfalls erreicht der politische Diskurs damit auch jede einzelne Familie und jedes Kind (Stein 1994: 18f.; Schwarz 1998: 124). Am politischen Umgang mit der demographischen Minderheit der Kinder lässt sich auch generell ablesen, wie die soziale Mehrheit mit sozialen Minderheiten umzugehen geneigt ist (Bourdieu 1987: 123). So ist der politische Diskurs oft eingeklemmt zwischen der Forderung auf „Rechtsgleichheit“ und der Forderung nach politischer Partizipation in Form konkreter Gruppenrechte für soziale Minderheiten und steht heute überdies unter dem wachsenden Druck einer dynamischen Weltwirtschaft und wissenschaftlich-technischen Innovationen wie der Biotechnologie und der Reproduktionsmedizin. Auch in der Bildungspolitik ist es leichter zu versprechen, als Forderungen einzulösen, „Hochbegabtenförderung“ und „Breitenförderung“ zu balancieren. Es ist schon überraschend, dass sich der politische Diskurs über Kindheit heute (wieder) bemerkbar macht. Jahrelang hat ihn Misstrauen begleitet. Er war in den Verdacht geraten, auf Schleichwegen die Projekte der antiautoritären Erziehung, diesen „lächerlichen Traum von gestern“ wieder aufleben lassen zu wollen (Sühnker 2002: 703). Die entscheidenden neuen Impulse hat er aber durch die neuen Kinderrechte, die „Kinderrechtsbewegung“, wenn man das so nennen will, und vielleicht auch durch die neue Kindheitsforschung bekommen. Auf diesem vermehrten Wissenshintergrund lässt sich genau genommen erst klären, was die „Aktivität“ des allseits beschworenen „kompetenten Akteurs“ denn nun eigentlich ausmacht.
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Dazu genügen nominalistische Definitionen keineswegs. Das Definitions- oder Präsenzfeld oder der für jeden Bürger präsente Wahrnehmungsraum politischen Kampfes, das die gesellschaftlichen Definitionsmächte, die zentralen sozialen Institutionen, gleichzeitig voraussetzen wie umstrukturieren, markiert so den tatsächlichen Gehalt des heutigen Verständnisses aktuell möglicher, akzeptabler, legitimer Kindheit entscheidend mit. Das impliziert Fragen wie: Wie viel Schutz, Förderung und „Befreiung“ benötigen Kinder? Wie ergänzen und relativieren sich diese Prinzipien? Kurz: Wie viel Eigen-Sinn und Schutz ist die Gesellschaft bereit, Kindern zuzugestehen? Ist sie auch bereit, traditionelle politische Deutungsmuster auf den Prüfstand zu stellen? Will sie auch unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen Kinder um jeden oder um welchen Preis (Vetter 1999; UNICEF 1998ff.)? Und welche „Gegenleistungen“ erwartet sie verdeckt oder offen? Und: Was bedeutet dann „Jugendschutz“ und „Selbstbestimmung“? Wie ordnet man in Folge dessen das Problem der Gewalt gegenüber und von Kindern ein? Welche Formen kindlicher Selbstorganisation fördert man, auch wenn das eine Begrenzung umfassender Kommerzialisierung und Ökonomisierung bedeutet (Sühnker 2002: 705ff)? Welches Kindheitsbild versucht das politische System in den nächsten Jahren mit welchem gesellschaftlichen Rückhalt in der bunten Diskursarena durchzusetzen oder mindestens ins Spiel zu bringen? Es gibt sicher eine Schwelle oder einen bestimmten Punkt, wo sich „Stellvertretung“ der Eltern und „Selbstständigkeit“ der Kinder als unvereinbar erweisen. Dies sollte nicht beschönigt werden, denn es bleibt ein „moralisches Dilemma“. Entscheidend ist aber, ob und wie der politische Diskurs, nicht nur in seiner Festtagsrhetorik sich bemüht, dieses Dilemma zu lockern und welches sichtbare Möglichkeitsfeld er symbolisch als gestaltbar vorzeichnet (Foucault 1987: 254; 1977: 252; Qvortrup 1993). Je nach dem unterschiedlichen Kindheitsbild lässt sich eine unterschiedliche Konzeption von Kindheits- oder Kinderpolitik konzipieren. Das Bild des „verletzlichen“ Kindes drängt zu einer Politik des Kinderschutzes, das des selbstständigen, zumindest auf eine Politik der Förderung oder aber – radikaler – auf eine emanzipatorisch-partizipatorische Kinderpolitik, die das Kind als individuelle Person (durchaus im Rahmen seiner realen Sozialbezüge, aber nicht ausschließlich im Horizont seiner Familie) begreift (Lüscher 1996; Honig 2000; Joos 2002: 43f.; Kränzl 1998: 418ff.). 8.6.5 Der psychologische Diskurs Im 18. Jahrhundert wagte sich eine verhältnismäßig neue diskursive Zugangsweise ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, die dann später in einem fachwissenschaftlichen Sonderwissen der Psychologie ihre Gestalt fand. Seit 1750 wurde ein Innen- und Zwischenraum zwischen physiologischen und kognitiven Strukturen gesucht und immer mehr erweitert. Körpergebundenes Ausdrucksverhalten wurde nun primär als „seelisches Erlebnis“ verstanden. Während zuvor leibliche Abläufe von seelischen begleitet wurden und durchdrungen erschienen, wurden jetzt seelische von körperlichen flankiert (Labisch 1992: 27ff.; Scarry 1992). Dies ist eine erhebliche Uminterpretation. In den letzten 100 Jahren wurden nun zunehmend „Körperbotschaften“ als wichtige Indikatoren einer gleichsam tiefer liegenden Psyche uminterpretiert, wie das ja auch noch bei der Psychosomatik geschah (Eßbach 1996: 73). Seit 1890 zeichnet sich eine disziplinäre Linie des Fachs ab, die von einem konstanten, gattungsmäßigen Verhältnis der Verbindung
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von Empfindungen verschiedener Sinne ausgeht und individuelle Verhaltensmodifikationen oder später feste Schaltkreisen der kognitiven Informationsverarbeitung als das Psychische beschreibt. Dabei bieten sich zunächst drei große psychologische Arbeitsfelder an: Arbeit, Therapie und Erziehung. Speziell die Entwicklungspsychologie hat seit Herbart die Aufgabe übernommen, mit dem Leitkonzept „Entwicklung“ die Fundierung der Pädagogik zu leisten. Damit hat sie jedoch nicht nur die Pädagogik entlastet, sondern auch in entscheidenden Punkten diagnostisch gesteuert. Aufs Ganze gesehen, hat sie die Pädagogik individualistischer und normativer werden lassen. Der psychologische Diskurs hat den pädagogischen deutlich überlagert. Vielleicht hat der psychologische Diskurs die Psychologisierung der Pädagogik und des gesellschaftlichen Klimas Mitte des 20. Jahrhunderts gar nicht intendiert. Er wollte nur erfolgreich sein. Und das war er in der Tat. In den Augen vieler Menschen ist Erziehung heute nichts Anderes als psychologisch orientierte Regulierung der Entwicklung des Kindes. Keineswegs nur von den Fachpsychologen geführt, bietet er sich in dem Wirrwarr von Diskursen in der sich modernisierenden Gesellschaft als relativ stabile und plausible Orientierungsperspektive an. Die „naturgemäße“ Entwicklung, so wie sie die Entwicklungspsychologie aufgewiesen hat, bleibt bis heute ein fester Anker aller Erziehung. Damit werden aber unter der Hand die Differenzen zwischen Erwachsenen und Kindern faktisch naturalisiert. Kinder sind psychologisch gesehen immer und überall spezifisch unerwachsene Menschen, die eine Sequenz von Entwicklungsstufen oder eine Entwicklungslogik bestimmter transkultureller oder mindestens kulturell-epochal invarianter Entwicklungsaufgaben absolviert haben. Mit einer solchen Argumentation hat die Psychologie über viele Jahrzehnte auf die öffentliche Meinung, das Bildungssystem und die Rechtsprechung nachhaltig Eindruck gemacht. Dabei sind interdisziplinäre Differenzierungen, kritische historische und ethnologische Hinweise kaum zur Kenntnis genommen worden. Die Entwicklungslogik wurde lange Zeit als lineare Entwicklung gedeutet, die der differenziellen psychischen Entwicklung von Kindern wohl auch nicht sehr angemessen war. Seit einigen Jahren wird aber verstärkt von multilinearen Entwicklungssequenzen ausgegangen, die auch auf ein und derselben Entwicklungsstufe mehrere mögliche Entwicklungsvarianten zugestehen. Zunehmend wurde auch die Rolle der Umwelt anerkannt. Manche Psychologen behaupten, damit sei die teleologische Ausrichtung der Entwicklungspsychologie überwunden (Oerter 1993; 1995). Doch davon kann nicht die Rede sein, solange von der prinzipiellen Irreversibilität und automatischen Anschlussfähigkeit aller Entwicklungsstufen auch in der „Lebensspanne“ ausgegangen wird. Auch wird das Verhältnis von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik oder „epigenetischer Krisen“ nach wie vor relativ statisch bestimmt (Siegert 1979: 18f.). Und auch die „Wechselseitigkeit“ von „Ich“ und „Umwelt“ wird selten auf Macht und Vermittlungsstrukturen hin durchsichtig gemacht. Die sozialen Rahmenbedingungen, unter denen hier Asymmetrie in Symmetrie und umgekehrt Symmetrie in Asymmetrie in der Eltern-Kind-Beziehung umkippt, werden einfach ausgeklammert oder als strukturstabil stilisiert. Dabei bleibt auch immer etwas unklar, wie die leichten Überforderungen, mit denen die sozialisatorischen Interaktionen in Gang gesetzt und vorangetrieben werden sollen, überhaupt möglich sind. Nur wenige Psychologen beschäftigen sich mit den Übergangsmodalitäten von Entwicklung und Sozialisation als Rahmungen der historischbiographischen Entwicklungsprozesse (Winnicott 1979; 1984; Ulich 1991: 204ff.; Todorov
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1996: 78f.). Die Rahmungen und die fließende, immer wieder neu zu bestimmende Grenze, sowie die Überschneidungen zwischen Natur und Kultur, Psychogenese und Soziogenese bleiben daher ein ungelöstes Problem des psychologischen Diskurses, das ihn weiterhin in Atem hält (Grundmann 1999; Keupp 1991: 467ff.; 1994). Der psychologische Diskurs der „Entwicklungstatsache“ tut sich dabei – unter Nichtpsychologen mehr als unter Psychologen – sehr viel schwerer als Soziologie, Geschichtsund Sprachwissenschaft sowie die heutige Sozialphilosophie, sich die Reflexivität (Rekursivität) ihres Wissens und die Reflexivität (Reinterpretation) der Identitätsentwicklung einzugestehen (Keupp 1991). Immerhin haben in den letzten Jahren systemische, sozialökologische und sozialkonstruktivistische Ansätze hier ein gewisses Umdenken eingeleitet. Sie alle gehen davon aus, dass sich Eltern und Kinder gleichzeitig und nicht unbedingt synchron weiterentwickeln. Doch dann ist auch nach den Rekontextualisierungen und der reflexiven Soziogenese der sozialökologischen „Verschachtelungen“ (Bronfenbrenner) oder systemischen Konstitutionsbedingungen zu fragen. Mit dem zeitgenössischen Konzept der „Selbstwirksamkeit“ oder des „Kontrollbewusstsein“ stärkt indes die Psychologie die Illusion totaler Autonomie und des absoluten Nullpunkts der Entwicklung der Sozialkompetenz im Sinne des voraussetzungsvollen neuzeitlichen Subjektglaubens erneut, statt von einer zu fundierenden „Primärsozialität“ auszugehen, die schon intrauterin festgestellt werden kann und als Selbstdifferenzierung und „Dialektik“ von Sozio- und Psychogenese ein lebenslanger und unabschließbarer Konstitutionsprozess erfahrbarer Wirklichkeit darstellt (Flick 1995; Todorov 1996; Joas 1992). Mag auch das „sozialisatorische Schneckentempo“ (Heitmeyer) bemerkenswert sein, so lässt sich der Sozialisationsprozess doch nie vom Strukturwandel der Gesellschaft abschotten oder abkoppeln. Die Skala der Entwicklungsvarianten kann breiter oder enger, dauerhafter oder episodischer ausfallen. Eine Entwicklungsvariante kann dramatische Wendungen erfahren, die andere sozusagen „monoton“ dahinplätschern. Entwicklung und Sozialisation können sich also intensivieren oder abschwächen oder in Schwankungen geraten und zur „Bruchbiographie“ werden. Sie sind heute nur selten linear, homogen und stetig. Daher hat es wenig Sinn, an einer einheitlichen „Reife“ oder „postkonventionellen Identität“ (Piaget, Kohlberg, Habermas) festzuhalten (Siegert 1979: 18; Fischer 2000: 227ff.; Bion 1990: 14f.). Die Eltern-Kind-Beziehung ist keine feste Entität, sondern eine kaum zu isolierende prozesshafte Teilstruktur in einem unabschließbaren Konstitutionsprozess. So offenbart auch der psychologische Diskurs, das „Entwicklung“ ein vieldeutiger Leitbegriff ist und immer wieder neu diskursiv bestimmt werden muss und kann, und er stets ganz bestimmte Dinge sichtbar und andere unsichtbar werden lässt, ganz bestimmte soziale Praktiken des Umgangs mit Kindern und spezifische Zuständigkeiten und Abhängigkeiten nahe legt oder erschwert. Dem psychologischen Diskurs ist es zeitweise nicht gelungen, eine uferlose Psychologisierung aller Sachverhalte und einen überfordernden Psycho-boom unübersehbarer Therapie-Märkte zu kanalisieren und zu disziplinieren. In den Köpfen vieler Menschen geistert heute die Vorstellung herum alles sei auf Psychologie reduzierbar, für alles und jedes müsse es Therapie geben und immer mehr Therapie sei eo ipso ein „Fortschritt“. Es besteht ganz offensichtlich eine riesige Nachfrage nach Therapie und psychologischen Ratgebern für jede Lebenslage. Der Philosoph Gadamer hat dazu einmal launig geäußert, ein ganzes Volk könne man nicht auf die Couch legen. Die kontrolltheoretisch-wissenssoziologische Seite des Psycho-booms wird immer noch selten gesehen: Therapie kann nicht nur süchtig machen, sie kann durch ihr Wissen eine „zweite Realität“ oder „Hinterwelt“ (Nietzsche)
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schaffen, die total verdeckt, dass man von therapeutischen Diskursen beherrscht wird (Foucault 1974:106; Keupp 1994; Bittner 1996: 250f.). Die Therapeutisierung ist aber keine unvermeidliche Entwicklungsnotwendigkeit, sondern eine „Diskursverführung“; in ähnlicher Weise wie die Pädagogisierung sich einer spezifischen Attraktivität des pädagogischen Diskurses verdankt. Der therapeutisierende psychologische Blick bezieht sich nicht auf das einzelne, u. U. zu therapierende Kind, den Einzelfall, sondern auf Definitionen der Behandlungswürdigkeit und der Angemessenheit bestimmter Therapieverfahren, die heute unter einem scharfen Konkurrenzdruck stehen und dadurch wieder Ratlosigkeit aufkommen lassen. Die Wahl einer Therapieform scheint manchmal sehr zufällig und marktabhängig. Die Promotoren der Therapeutisierung können auch wenig Interesse daran haben, die Reflexion über Sinn, Reichweite und Grenze von Therapie allzu offen zu thematisieren. Und unterschwellig und unbeabsichtigt legt dieser erweiterte psychologische Diskurs ein kulturelles Bild vom „Risiko-Kind“ nahe. Damit wird verdeckt, dass das jeweilige historisch-biographische Selbstbild wesentlich an die Art gebunden bleibt, wie Kinder und Erwachsene erleben, erzählen, beschreiben, Empfehlungen abgeben und mehr oder minder reflektieren (Eßbach 1996: 81; Holzkamp 1993; Dreier 1981; Keupp 1994). Wenn jedoch Kinder und/oder Erwachsene in der Lage sind, mitzubestimmen, wann und wo Kindheit anfängt und aufhört, welche „seelische Zentralität“ (Simmel) sie in unserer Gesellschaft hat, ist das zwar nicht die große Autonomie, die sich die Moderne jahrhundertelang erträumt hat, aber ein reales „Stück eigenes Leben“ (Beck-Gernsheim). 8.6.6 Der sozialwissenschaftliche Diskurs Man sieht dem sozialwissenschaftlichen Diskurs noch heute relativ leicht seine Herkunft aus der Aufklärung, der Aufklärungskritik und den Gründerjahren der Soziologie an, die sich ja als „Krisenwissenschaft“ auf den Weg gemacht hatte (Abels 1978; 2002). Auf diesem Hintergrund warf der sozialwissenschaftliche Diskurs, den wir hier trotz seiner inneren Pluralität als relativ einheitliches Diskursfeld behandeln, immer schon – im Gegensatz zum psychologischen Diskurs – einen Blick darauf, dass sich das soziokulturelle Selbstverständnis und die sozialstrukturellen Lebensverhältnisse von Eltern und Kindern immer gleichzeitig oder zeitlich versetzt, aber wechselseitig stimulierend wandeln. Aus dem jahrzehntelangen Streit zwischen Struktur- und Handlungstheorien schälten sich ungefähr seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Theorien heraus, die den Vorrang der Konstitutionsproblematik betonten. In der Kindheitssoziologie konzentrierte sich dieses Bemühen um das Konzept der „Handlungsfähigkeit“ des sozialen Akteurs „Kind“ (agency) (James 1998; 1990; Jencks 1994). Dieser Leitbegriff wird heute oft in einer Mehrebenenanalyse als Strukturkategorie und ihre sozialstrukturellen Komplemente kleingearbeitet (Honig 1999). Ganz eindeutig stand und steht noch heute dabei ein stark normativ aufgeladenes Sozialisationskonzept im Vordergrund. Sozialisation wird – ähnlich wie „Entwicklung“ in der Psychologie – als individuelle Ontogenese und als interpersonale Vermittlung eines „Sozialcharakters“ oder einer „Basispersönlichkeit“ und von „Grundqualifikationen“ verstanden, die von einem als relativ strukturstabilen „kulturellen System“ von Werten, Normen, Einstellungen garantiert werden. Im Horizont der Sozialisationsforschung zeigt sich zunächst
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die Unterscheidung „zeitgemäß“ oder „modern“ oder „unzeitgemäß“ und „traditionell“ sozialisierter Kinder. Selten wird hier die historische und politische „Sättigung“ des Sozialisationskonzepts und seiner Abhängigkeit von einem „soziologischen Präsentismus“ (Assmann 2002: 400ff.) oder Evolutionismus zur Kenntnis genommen. In der Eigenlogik des sozialwissenschaftlichen Diskurses zeigte sich meist eine typische Sequenz: Prozessen der Normsetzung folgten deren kritische Thematisierung, eine Verständigung über deren Defizite, eine neue Normverbindlichkeit, neue kritische Thematisierung, Verständigung über Defizite etc. (Eßbach 1996: 160f.). Dies impliziert die Frage, wie die Definitionsprozesse „von oben“ „nach unten“, von der institutionellen Kompetenzzuschreibung zur Performanz – oder traditioneller: von der Ebene der „Entwicklungslogik“ auf die der „Entwicklungsdynamik“ – heruntertransformiert werden. Hirschman (1987; 1988; 1995) sieht in diesen Vorgängen ein dauerndes Schwanken zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und zwischen Engagement und Enttäuschung der Sozialisatoren und/oder der Sozialisanden in den letzten 300 Jahren. Die Instabilität des historischen Sozialisationsprozesses, schockartig nach den beiden Weltkriegen erfahren, schob sich immer deutlicher in den Vordergrund. So wurde erkennbar, dass weder die einzelnen Institutionen, noch die einzelnen Gruppen und Individuen sich wechselseitig stützten, und eine homogene und stetige Sozialisation und gesellschaftliche Integration wirklich gewährleistet waren (Wagner 1995; Heitmeyer 1997; 2005; Habermas 1985). Nicht nur akzidenziell, sondern strukturell zeichnete sich somit so etwas wie eine „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas) ab. In dieser Situation konnte der sozialwissenschaftliche Diskurs Aufklärung und deskriptives und analytisches Wissen anbieten, das seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in wachsendem Umfang auch Anklang fand. Im Rahmen der Gegenstandsbestimmung der Kindheitsforschung kann er heute auch die Abfolge und Überlagerung diskursiver Rahmungen der Kindheit und der Haus-, Familien-, Schul-, Konsumkindheit etc. und ihrer jeweiligen „Agenda settings“ thematisieren und teilweise reflektieren. Wissenssoziologisch bedeutet dies, zu ermitteln, was normale und was als abweichende Sozialisation gilt, welches Wissen zur Verfügung steht, genutzt wird und als akzeptabel oder nichtakzeptabel gilt. Unverkennbar stand bis vor einigen Jahren das Thema Kind in allen Sozialwissenschaften mehr oder minder am Rand. Kinder gelten dann nicht als gegenwärtig schon vollwertige, sondern als sich erst entwickelnde Gesellschaftsmitglieder, denen die Gesellschaft seit ca. 300 Jahren einen Sonderstatus in der „pädagogischen Provinz“ eingeräumt hat. Es besteht zwar ein verhältnismäßig großer Unterschied zwischen der jüdisch-christlichen Kulturtradition und außereuropäischen vormodernen Stammesgesellschaften, die z. T. Kinder bis zu 4 Jahren nicht als wirkliche Menschen anerkannten (Schuster 1991: 254ff.), aber auch in europäischen Gesellschaften der Moderne hing in der gesellschaftlichen Praxis das Schicksal des einzelnen Kindes von spezifischen regionalen Kulturtraditionen und der sozialen Position ab, in der sich sein Vater befand und wo seine „Familie“ im Krieg oder Frieden lebte. So verwies der sozialwissenschaftliche Diskurs zumindest implizit immer auf die Relevanzsetzung, Aushöhlung der Relevanz und neuerliche Relevanzaufwertung vorinstitutioneller und institutioneller Generationenzusammenhänge. Vom Kind als Sozialisationsobjekt führte eine zuweilen unterbrochene Linie zum Kind als sich selbst sozialisierendes Subjekt. Dies ist allerdings keine einfache Fortschritts- oder Dekadenzgeschichte, weil damit immer auch ein relationales Machtproblem gegeben ist. Die Aufwertung der Kindheit kann z. B. zur Abwertung der Jugend führen etc.. Selbst eine „geschwätzige Gesellschaft“ (Knoblauch) ist in der Lage, Themen zu tabuisieren, die geeignet erscheinen, Machtver-
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hältnisse, Mentalitäten und Habitusformationen anzutasten. Selbst eine Gesellschaft, die so stolz ist, Reflexion gesteigert zu haben, produziert „Mythen des Alltags“ (Barthes). Schlagzeilen in der Presse etc. lassen sie oft prächtig gedeihen, weil hier isolierte, prozessgebundene Informationen auf einen Schlag geklärt erscheinen. So lautet etwa eine Schlagzeile einer deutschen Regionalzeitung zum Geburtenrückgang bei Akademikerinnen: „Das Kinderhaben einfach abgewöhnen“ (RNZ 17.3.2005). Der sozialwissenschaftliche Diskurs, der sich solchen „kulturpessimistischen Horrormeldungen“ entgegenstemmt, ist dabei selbst in der Gefahr, in mythenbildende Schönfärberei umzuschlagen (Steinert 1999: 59). Sozialwissenschaftliche Diskurse können sich mit anderen Diskursen berühren oder ein Stück weit zur Deckung bringen lassen. Aufs Ganze gesehen aber stehen sie in einer starken Konkurrenz. Sicher hat der sozialwissenschaftliche Diskurs über Kindheit gegenwärtig zum Teil großen Einfluss. Andererseits ist aber seine Attraktivität schwankend. Wie alle Diskurse beeinflusst auch er die öffentliche Meinung und das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft. Und heute zerfasert er sich in viele Spezialdiskurse der unterschiedlichen Fachdisziplinen, wissenschaftlichen Schulen, unterschiedlichen Theorieansätzen. Und alle Sozialwissenschaftler stehen heute in der Spannung, einerseits Aufklärung andererseits auch Hiobsbotschaften überbringen zu müssen. Beides ist unpopulär. Sie wissen auch, dass man viele Befunde „von oben“ und „von unten“, „von innen“ und „von außen“ unterschiedlich interpretieren und auch instrumentalisieren kann. Sozialwissenschaftler bemühen sich, unbestechlich zu sein und wissen doch, dass die Publikation ihrer Forschungsbefunde oder öffentliche Stellungnahme artifizielle und reaktive Effekte auslöst, die oft wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen wirken (Steinert 1999: 67f.; Ritsert 1999: 51ff.; 2002). Politische und gesellschaftliche Beratung ist (nicht nur finanziell) lukrativ, schafft aber binnen kurzem Abhängigkeiten. Und, wenn Diskursunternehmer schon auf die politische Dimension achten, können ihre Ereignisse einer „Systempolitik“ oder „Mitgliederpolitik“, einer „Sozialpolitik für Kinder“ oder einer „Kinderpolitik“, einer „Kinderpolitik“ des Schutzes, der Förderung oder der Emanzipation der Kinder dienstbar gemacht werden. Und es ist auch Teil der diskursiven Wirklichkeit, das Sozialwissenschaftler, z. B. Soziologen, an ihren Kollegen oder speziellen Publika vorbei reden oder den Blick der Betroffenen nicht aufs Wesentliche hinlenken können. Immerhin können aber Soziologen heute nicht nur auf die gesellschaftlichen Bedingungen des Kindheitsdiskurses, sondern auch auf dessen Folgen und Nebenfolgen aufmerksam machen. Einer naiven Versozialwissenschaftlichung steht die Chance gegenüber, einer „Selbstsimplifikation“ und „Selbsttechnokratisierung“ vorzubeugen (Tänzler 1997: 138). Gerade der soziologische Diskurs kann dabei nicht bei der Frage stehen bleiben: Was ist der Fall? (Bourdieu 1992: 33). Wichtig ist auch, wie etwas zum „Fall“ geworden ist und welche alternativen Entwicklungsszenarien sich abzeichnen. In der Vergangenheit wäre z. B. statt eines totalen Arbeitsverbots für Kinder auch eine intelligente und „kinderfreundliche“ Beschränkung auf Teilzeitarbeit – nach dem Alter gestaffelt – denkbar gewesen. Warum hat sich die Gesellschaft und Politik so vollständig auf Erziehung und Bildung festgelegt, obwohl sie hätte wissen können, dass Kinder immer schon auch Anderes taten, als für die Schule zu lernen? Warum will die Gesellschaft, angeregt durch die Kindheitsforschung, nur noch Kinder als „aktiv“ sehen und nicht „Aktivität“ und „Verletzlichkeit“ zusammen untersuchen (Herzberg 2001: 14)? Warum reagieren viele allergisch, wenn davon gesprochen wird, dass zum echten Respekt gegenüber Kindern auch das Eingeständnis gehört, dass sie
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uns immer auch fremd bleiben und immer wieder fremd werden (Lippitz 1990: 93ff.; Meyer 1988)? Auch die Kindheitsforschung kann prinzipiell das soziale Phänomen nicht endgültig ausschöpfen, sondern nur weiterführende Beiträge und Gesichtspunkte liefern. Gegenwärtig zeigt sich dies bei der Lockerung von biologischer und sozialer Eltern- und Kindschaft besonders deutlich. Kinder sind nicht nur Konstrukteure, sie können auch zu „Konstrukten“ „umgebaut“ werden. Manchmal müssen sie sogar selbst Hand anlegen bei diesem Umbau des Kindheitsbilds. Das Thema ist längst in den modernen „Relativierungshexenkessel“ (Berger) geraten. Daraus leitet sich eine gewisse Notwendigkeit einer stärkeren Versozialwissenschaftlichung der Kindheitsforschung ab (Beck 1989: 7): Wann, wo, wie, wozu, von wem wird auf welches (sozialwissenschaftliche) Wissen zurückgegriffen? Und welche Konsequenzen hat das auf das Kindheitsbild? Dabei handelt es sich aber nicht einfach um Anwendung, sondern einen Diskursanstoß, der neue Wissensproduktion über sozial akzeptable, erwünschte, abgedrängte Kinder einleitet (Beck 1989: 19; Firsching 1994: 318ff.). Ein Kernproblem sozialwissenschaftlicher Diskurse ist heute nicht mehr Planung, sondern die Bewältigung der Erfolge und Krisen der Nutzung gesellschaftlichen Wissens und der dadurch erzeugten Problemverschiebung. 8.6.7 Der Mediendiskurs Der Mediendiskurs bringt eine spezielle Sicht ein und bringt die „Medienkindheit“ hervor. Damit ist nicht gemeint, dass alle Kinder mediensüchtig geworden sind. Damit ist auch nicht gesagt, dass jegliche „Primärerfahrung“ durch „Sekundärerfahrung“ aufgesogen wird. Medienkindheit heißt vor allem, dass Kindheit heute ohne Bezug zu Medien nicht mehr scharf wahrgenommen, gesellschaftliches Interesse hervorrufen und verstanden werden kann. Medien bestimmen inzwischen deutlich das Realitätsformat und auch das Selbstverständnis von Kindern – mit und ohne Imponiergehabe. Sie bilden demnach eine wesentliche Quelle des Wissens über Kindheit und entwerfen eine Form repräsentativer Kindheit, die ja nicht einfach das Abbild von Meinungsumfragen ist. Mit dem Mediendiskurs wird nicht nur eine „Liquidierung“ des traditionell modernen Kindheitsmodells eingeleitet (Hengst 1981: 11ff.), sondern ein neues Diskursfeld eröffnet, das – ähnlich aber doch wieder ganz anders als der künstlerisch-literarische Diskurs – die Unterscheidung von virtueller und realer Kindheit verschwimmen lässt. Nicht die Benutzung der Datenautobahn des Internet oder die Fernsehrezeption erzeugt schon die Medienkindheit, sondern erst die dauerhafte Lockerung der Wahrnehmungsform in der sozialen Kommunikation, der Sozialbindung und der Vorstellung der Wunschrealisation (Pateau 1999: 275f.; Lange 2002: 87f.). In einem allgemeinen Sinn ist Diskursgeschichte immer auch Mediengeschichte. Hier wird sie aber spezifischer verstanden. Nun thematisieren sich technische Medien sozusagen selbst, sind nicht nur technisches Hilfsmittel. Sie avancieren zur symbolischen Form dessen, was Kinder können. Damit wirft der Mediendiskurs sein Licht auf die Tatsache, dass Medien nicht einfach ein weiteres, u. U. exzessiv genutztes Freizeitangebot (Fuhs 2002: 64) darstellen, sondern eine neue Sicht auf die Welt, die Gesellschaft und Kindheit erschließen und Anderes beiseite schieben. Deshalb bleibt auch der Hinweis auf die zunehmende Visualisierung und ihre Folgen noch an der Oberfläche. Vielmehr scheint die Virtualisierung aller Lebenserfahrung und
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ihre scheinbar beliebige Revidierbarkeit eine spezifische Chance und zugleich das Hauptproblem des Mediendiskurses zu sein. Der Sinn für den Entscheidungscharakter des sozialen Lebens und „reife“ Verantwortlichkeit scheint unterhöhlt zu werden, wenn man alles speichern und jederzeit an jedem Ort aktualisieren und revidieren kann. Und stellen wir uns künftig als „Kind“ nicht mehr ein konkretes einzelnes Kind in einer bestimmten Kultur, sondern ein mediales „Weltkind“ vor, das an keine historisch gewachsene Gesellschaft mehr gebunden ist – oder höchstens residual? Vor einigen Jahren hat N. Postman (1983: 29ff.) mit seiner spektakulären These vom „Verschwinden der Kindheit“ großes Aufsehen und heftige Ablehnung erfahren. Postmans Kritik mag in manchen Formulierungen überzogen und zu apodiktisch erscheinen. Wenn man sie diskursanalytisch betrachtet, ist sie aber keineswegs so rundweg abwegig, wie das manchmal empfunden wurde. Schon gar nicht ist sie mit dem Verdikt des Kulturpessimismus zu widerlegen. Postman behauptet ja nicht, dass Kindheit in jeder Form und Kinder verschwänden. Wenn auch nicht allein durch die Medien so deutet doch einiges daraufhin, dass die moderne, in Europa zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entstandene Form der Kindheit verschwindet oder sogar schon verschwunden ist. Die schroffe Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern repräsentierte sich allerdings nicht, wie Postman unterstellt, nur in „Geheimnissen“, die durch das Fernsehen preisgegeben wurden, sondern in einer ganz bestimmten, auf schulisches Lernen und erholsames Spiel eingegrenzten Wissensstruktur, die mehr und mehr obsolet geworden ist. Postman sieht schärfer als manche seiner Kritiker, dass sich mit dem Kindheitsbild auch das Bild des Erwachsenen grundlegend wandelt, und damit eine grundlegende diskursive Sichtverschiebung eingeleitet wurde. Die Bilderflut, die Geschwindigkeit des Bildwechsels in den neuen Medien und die Suggestion der Omnipräsenz durch das Internet scheint die Vorstellung von einem „sozialisatorischen Schneckentempo“ (Heitmeyer) von Grund auf zu widerlegen. Dies führt natürlich laufend zu Irritationen und auch Missverständnissen in der Kommunikation von Erwachsenen und Kindern. Erwachsene finden wenige Vergleichsmöglichkeiten mit eigenen Kindheitserfahrungen. Kinder können oft mit den Kriterien und Kategorien der Erwachsenen bei bestem Willen nicht viel anfangen. Sie stehen dabei vor der Gefahr, die schnelle Entwertung von technischem Wissen mit dem von allem Wissen in einen Topf zu werfen: also auch kulturelle Lebenserfahrungen, „Lebenskunst“ und Orientierungswissen, das nur in Jahrhunderten erworben werden konnte. Wissen ist dann eben Wissen – ohne qualitative Differenzierung. Die Beschleunigung des Wissenserwerbs scheint das einzige Gütekriterium und Medienwissen wirklicher als die Wirklichkeit zu sein (Keppler 1994: 39; Bründel 1996: 234ff.). Häufig handelt es sich hier aber um eine vorübergehende Faszination, die rasch der Ernüchterung weicht. Es bleibt allerdings ein Dilemma: man kann verstrichene Lebenszeit auch dann nicht mehr zurückholen, wenn man alles speichern kann. Und auch die qualitativen Selektionskriterien eines „Funktionsgedächtnisses“ werden immer stärker zum Problem: Wer gibt Kindern Gewähr, dass das, was sie wissen, wirklich relevant für sie ist? Erwachsene wissen es doch immer häufiger selbst nicht. Der mediale Diskurs – innerhalb und außerhalb der Medien – zeichnet nicht einfach „normales“ Wissen vor, sondern Wissen, mit dem Wissende glauben, auf der Höhe der Zeit zu stehen und jeweils über das aktuellste Wissen zu verfügen, obwohl sich aus der Beobachterposition leicht erkennen lässt, dass die Zahl der zu vollziehenden Auswahloperationen ständig steigt und eigentlich von Niemandem mehr tatsächlich noch zu überblicken ist (Weizenbaum 2001). Und die Vielzahl der multimedialen Botschaften ergänzt ja nicht
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einfach Wissenslücken. Die Attraktivität der Medien offenbart so also, dass Mediennutzung kein rein technisches Problem, sondern ein Problem der kulturellen Deutung und des diskursiven Vorverständisses ist. Und die typische Nutzung ist nicht ein beliebiger Habitualisierungsvorgang, sondern ein vorläufiger Endpunkt einer längeren Entwicklung, die nicht zu Ende ist (Heintz 1993: 298f.; Barthelmeß 1988: 381ff.; Lange 2000). Und er ist ständig von optimistischen und pessimistischen Konnotationen, Über- und Unterinformation umlagert. Nichts desto trotz beziehen Erwachsene und Kinder ihr Wissen übereinander heute wesentlich auch aus den Medien, insofern diese auch implizite Leitfäden der Orientierung anbieten. Eltern wollen, wie es bestimmte Fernsehserien zeigen, nicht mehr Eltern sondern Freunde sein, wo man sich doch oft auf gleiches Wissen bezieht. Kinder sehen das allerdings anders. Sie glauben oft, keine Chance mehr zu besitzen, sich in ihrer Charakterbildung zu reiben, abzugrenzen, sich zu profilieren und finden das elterliche Verhalten manchmal fast peinlich. Im Allgemeinen kommen ja Kinder und Eltern trotzdem ganz gut miteinander aus, aber nur 12 % der Kinder betrachten ihre Eltern wirklich als Freunde (Feibel 2001: 59ff.). Es bleibt allerdings fraglich, ob Kinder die Auskünfte und Eigenarten des erstbesten Menschen übernehmen, mit dem sie jeweils in Berührung kommen (Stoll 1995: 95f.). Medien machen Kinder nicht automatisch einsam, ausgedehnte Medienerfahrung macht sie aber meist auch nicht geselliger und kompetenter. Kinder mit hohem kulturellem und sozialem Kapital haben von Medien den größten Nutzen. Vor allem frisst Medienzeit aber unzweifelhaft Lebenszeit auf und erspart oft einiges Denken. Was in diesem Zusammenhang als „Lernfortschritt“ oder als „Verödung“ bezeichnet wird, ist keine objektive Größe. Diese Deutungsmuster, ohne die viele nicht auskommen zu können glauben, sind Interpretamente, die unsere unausweichlich diskursiv orientierte Wahrnehmung immer schon leiten. Mediale Diskurse bieten brauchbare Leitfäden durch das Labyrinth widersprüchlicher Deutungen, aus denen man sich nicht einfach heraushalten oder die man einfach abschalten kann, wenn man sich nicht einfach ausschalten will (Großklaus 1995: 96). An wen sollten sich Kinder denn wenden, wenn sie ein medienfreies Wissen reklamieren wollten? Medien favorisieren – trotz ihrer unbestreitbaren Heterogenität im Einzelnen – eine ganz bestimmte Sicht, was Kinder wollen, sollen, dürfen, können, wen sie als medienkompetent gelten lassen wollen. Sie machen es einerseits Erwachsenen leicht, Kinder zu verstehen. Andererseits können sie nicht gut verstehen, dass Kinder das nicht so toll finden, rundum in die „Wut des Verstehens“ (Hörisch) zu geraten und sozusagen gänzlich durchschaut zu werden. Und für beide ist es oft schwierig, Anfang und Ende oder Grenzen des Wissens responsiv zu beurteilen. Für jede Information gibt es entweder keine klare oder mehrere Deutungen (Heintz 1993: 122) sowie eine „Verführung“ der „Herrschaft der Regel“. 8.6.8 Der literarische Diskurs Gemeinhin wird einer ästhetisierenden Literalisierung eines gesellschaftlichen Realitätsbereichs wie der Kindheit in den modernen Gesellschaften Europas und der westlichen Welt kaum Beachtung geschenkt. Das ist der Bereich der gefährlichen Narrenfreiheit, der Irrationalität ankündigt, heute allerdings auch kommerzialisierbar ist. Man leugnet natürlich nicht, dass Dichter, Maler und Musiker in den letzten Jahrhunderten reichlich „Kinderszenen“ vorgestellt haben. Aber diese gelten vielfach sogar in den Augen von Pädagogen, Psycho-
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logen oder Soziologen eher als irrelevante „Randbemerkungen“, auf die gut verzichtet werden kann. Solche Diskursbeiträge stören nicht nur Alltagsdiskurse, sondern auch wissenschaftliche Diskurse. Der moderne Rationalismus neigt, obwohl er das nicht gerne zugibt, zur Verbannung künstlerischer Kreativität in Nischen oder beginnt erst mühsam Kreativität und Innovation zu unterscheiden. Doch bei Licht besehen war der moderne Rationalismus nie so ausschließlich rational, wie er sich das selbst vorzumachen und zu bestätigen pflegte (Assmann 1994: 190f.). Der literarische Diskurs kann hier beispielhaft für die anderen künstlerischen Diskurse auf die „Osmose“ zwischen Alltags- und Sonderwissen und Wirklichkeit und Phantasie aufmerksam machen. Das Aufkommen eines künstlerischen Eigenbereichs in der frühen Neuzeit (Kittsteiner 1992: 283ff.) hängt eng mit dem Zerbrechen des mittelalterlichen Kosmos und der onto-theologisch geprägten Welterfahrung sowie der funktionalen Differenzierung und Polarisierung moderner sozialer Institutionen der modernen Gesellschaft zusammen. Die Mäzene der modernen Künstler betonten ebenso ihre kirchliche Unabhängigkeit wie die „freien Künstler“ ab dem 16. Jahrhundert. Es zeichnete sich immer deutlicher die Trennung des sakralen und weltlichen Raums und von Real- und Kunstraum und künstlerischer „immanenter Transzendenz“ ab, deren Grenzen ein eigener künstlerischer und nicht zuletzt auch ein literarischer Diskurs zu bestimmen suchte. Moderne Künstler empfanden diesen Bereich des „schönen Scheins“ keinesfalls mehr als Narrenfreiheit und illusionsnahe Nische. Damit konnte gerade der literarische Diskurs zum Vorschein bringen, dass zwischen den Zeilen vieles gesagt oder nicht gesagt, wahrgenommen oder nicht wahrgenommen werden kann und der moderne Mensch nie ganz „Herr im eigenen Hause“ (Freud) war. Kinderbilder zeigen schon im 16. Jahrhundert ansatzweise das „ideale“ moderne Kind: pausbäckig, kulleräugig, patschhändig; fast schon mit einem Barockengelchen vergleichbar; durchaus mit weichen und kindlichen Gesichtszügen. Es dominieren zu diesem Zeitpunkt plötzlich „kindliche“ Kinder, die sich ganz klar von Erwachsenen unterscheiden. 50 Jahre zuvor werden Kinder noch viel weniger kindlich gemalt. Wir haben streng gezeichnete „Miniaturerwachsene“ vor uns. Ähnliches Bildmaterial u. a. hatte Ph. Ariès oder B. Tuchman u. a. zu dem diskursanalytisch zutreffenden Urteil veranlasst, dass Kinder als Kinder vor dem 16. Jahrhundert kein beachtliches öffentliches Interesse gefunden hätten, sondern als kleine Erwachsene galten (Ariès 1976; Tuchman 1980). Mit großer Wahrscheinlichkeit lag dies nicht nur an der geringeren technischen Fertigkeit der vormodernen Maler und Schriftsteller. Vielmehr wollten sie damit deutlich machen, dass Erwachsene und Kinder bezogen auf ganz bestimmte Relevanzgesichtspunkte des damaligen Lebens in kirchlichen und grundherrschaftlichen Bezügen keine bedeutenden Unterschiede erfahren konnten. Danach wurde hingegen aus dem kleinen ein großer Unterschied. Die pädagogisierten Redensarten von der „kindgemäßen Erziehung“, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass nun zwischen Erwachsenen und Kindern Welten aufgebaut wurden. „Kindgemäße Erziehung“ verstärkt den Unterschied, baut ihn nicht ab, was oft unterstellt wird. Vor 1800 sucht man aus ähnlichen Gründen in der deutschen Literatur vergebens nach differenzierten Schilderungen über Kindheit in unserem traditionellen Verständnis. Es finden sich wohl vereinzelt Hinweise auf schlimme Kinderschicksale und vor allem Traktate über „unschuldige Kinder“, die angeblich von Juden ermordet wurden (Vassas 2005: 23ff.), und über die Verehrung von Kinderheiligen (Richter 1987: 15ff.). In der Zeit der frühen Aufklärung wurde Kindheit, wenn sie überhaupt erwähnt wurde, relativ abstrakt stilisiert
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und moralisierend dargestellt. Kinder waren roh und ungezogen, aber erziehungsfähig. Wenn sich ihre Eltern und sie selbst auf Anstand und gängige Lebensregeln hielten, konnten sie jedoch unbeschadet die Kindheit überstehen (Berg 1990: 203). Im 18. Jahrhundert entsteht in der Tat etwas ganz Neues: Kindheit wird nun als fast schicksalhafte Grundlage der gesamten Biographie angesehen. Die frühe Kindheit determiniert das ganze spätere Leben. Kindheitserlebnisse sind entscheidende Weichenstellungen; Vorstellungen, die bekanntlich auch die Psychoanalyse ihrer Theorie zugrunde legte. Danach gab es in der Spätaufklärung und vor allem in der europäischen Romantik (und z. T, schon bei Rousseau) so etwas wie den ethnologischen Blick auf Kinder als „Fremde“, aber noch nicht von der Zivilisation Verdorbene. Diese Vorstellung konnte sehr nüchtern sein oder sich geradezu zur schwärmerischen Sakralisierung und Mythologisierung steigern lassen (Richter 1987: 139ff., 175ff.). Von dieser Traditionslinie her fand Kindheit sogar Eingang in die revolutionäre Utopiegeschichte: Kindheit sozusagen als zu erreichendes Land Atlantis unerfüllter menschlicher Sehnsüchte. Danach wurde aber immer realistischer der oft scheiternde Versuch kindlicher Selbstbehauptung geschildert. Dieser Versuch kulminierte meist in der Ablösung und im Kampf gegen einen repressiven Vater. Manchmal führte dies in der fortgeschrittenen Moderne zur gänzlichen Verabschiedung und zur Aufkündigung des „letzten unkündbaren Verhältnisses“ (Beck) (Karst 1976; Grotzer 1991; Stern 1991): Musils, Kafkas, Sartres „Kindheitsgeschichten“ haben nichts Erbauliches mehr an sich. Man kann den Eindruck gewinnen, dass sie Kindheit als Hölle erfahren haben. Der literarische Diskurs bedeutet so in jedem Fall eine Relativierung der im modernen Sinn „ordentlicheren“ Diskurse der Pädagogik, Psychologie etc. und oft eine Provokation, die geeignet war, das „wilde Denken“ des ethnologischen Blicks der Spätaufklärung fortzuführen, auch wenn der literarische Diskurs jeder Romantik entwachsen war. Hier blitzt auch immer so etwas auf wie die „natürliche Dissidenz des Kindes“ (Saner 1987) auf, die sich nie ganz von Erwachsenen vereinnahmen lässt, und die Erwachsene gewöhnlich bis heute als Eigen-Sinn bezeichnen. Goffmans (1969) dialektisches Verhältnis von „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ war im literarischen Diskurs eigentlich von Anfang an präsent Ganz anders als im religiösen Dialog war hier Kindheit nie nur eine Projektion erbsündlicher Triebhaftigkeit oder Unschuld, obwohl auch gelegentlich mythologische Formeln auftauchen, sondern entweder ein riskantes Kindheitsprojekt oder eine Zeit unbeschwerter Wildheit und schöpferischer Unangepasstheit, aber auch eine Zeit großen Leids und nie „kinderleicht“; fern jeder Kindertümelei über „unbeschwerte Kindertage“ im Kreis einer heilen Familienwelt. Damit irritiert und provoziert der literarische Diskurs durch seine eigene „Rätselhaftigkeit“ (Adorno). Unverkennbar ist, dass sich literarische Entwürfe weder eins-zu-eins ins Alltagswissen noch in das Sonderwissen wissenschaftlicher Diskurse einfügen lassen. Sie bleiben irgendwie subversiv (Bühler 2005: 10) und appellieren auch immer stärker an die kreative Vernunft des „impliziten Lesers“ (Iser) in ihren „dokumentierenden“ Texten. Die Grundfrage des literarischen Diskurses ist: Wie lässt sich etwas bislang Ungesagtes oder Unsagbares neu sagen? Kinder sind hier „Möglichkeitswesen“ (Musil), denen kein mögliches Schicksal in jungen Jahren erspart bleibt. Sie sind produktiv aber auch verletzlich, leidend und Leid verursachend, gequält und gemordet oder selbst Mörder und Quälgeister, Entdecker und bequemliche Konsumenten. Diese gewaltige Spannbreite wird aller-
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dings erst zu Ende des 19. und im 20. Jahrhundert erreicht (Lenzen 1991: 229ff.; Richter 1996: 76ff.). Das Bild des Kindes scheint in der Literatur damit immer mehr ins Extreme umzuschlagen und damit die anthropologische Qualität „exzentrischer Positionalität“ (Plessner) voll auszuloten. Kindheit wird zur historischen und intergenerationalen Botschaft, die Beziehung zu den Eltern löschen zu müssen, aber nicht zu können. Kindheitsidyllen tauchen zwar durchaus auf, sind aber von Anfang an gefährdet und finden oft ein jähes Ende; auch durch Kriege und Zeitumstände. Becchi (2005: 111) stellt noch einen anderen Aspekt im literarischen Diskurs von heutigen Kindern heraus: Das Kind ist weder schuldig noch unschuldig. Es ist schlicht unerkennbar, aber gleichwohl Subjekt und Objekt (pädophilen) Begehrens. Gleichzeitig wird aber noch das Gefühl der privaten Intimität gewaltig gesteigert. Und die heute diskutierte Kindheits- oder Kinderpolitik bleibt sozusagen ein ferner, vielleicht „harmloser“ Kontinent. Sowohl mythologisierende, religiöse, moralisierende, naturalistische wie zunehmend auch surrealistische Sinnsplitter tauchen im literarischen Diskurs auf. Sie schränken sich auch gegenseitig ein. Damit machen sie das gleichsam dünne Eis sichtbar, auf dem sich Kinder in Gesellschaften der fortgeschrittenen Moderne bewegen. In aller Normalität und Rationalität lauern Abgründe, die es auch dem Erwachsenen schwieriger machen, zu dem „Kind in sich selbst“ zu stehen, das er nie ganz hinter sich bringt (Taylor 1994: 539f.; Stern 1991: 124). In der Welt der Kunst sucht sich der gestresste moderne Zeitgenosse gegen die Zudringlichkeit des Alltags abzuschirmen. Literatur lässt zunehmend den pädagogischen Diskurs fragwürdig erscheinen. An Kindern werde deutlich, dass das Alltägliche an die dunklen Ränder des Außeralltäglichen angrenze. Das kindliche „Spiel auf der Grenze“ ist hier hochriskant aber unausweichlich: In jedem Kind steckt ein ermordeter Mozart wie ein Mörder (Bittner 1996). Wie im Kinderspiel (Gebauer 1997: 259ff.) verschieben sich im kindlichen Leben insgesamt immer wieder die Grenzen zwischen Ernst und Imagination, zwischen dem Aufgehen im Augenblick und dem Vorwärts-Gehen in die Zukunft in der „Leichtigkeit des Seins“ (Kundera). Wie in der Familie und „im wirklichen Leben“ werden Kinder überall auf der Welt immer wieder in „Stellvertreterkriege“ hineingezogen. Im modernen literarischen Diskurs werden daher – gleichsam im Protest dazu – Eltern, vor allem aber die Väter, immer mehr zur Disposition gestellt. Dennoch sind auch künftig neue „Kindheitsmuster“ (Ch. Wolf) zu erwarten. 8.6.9 Der ökonomische Diskurs Das im ökonomischen Diskurs zentrale Deutungsmuster des „Wertes von Kindern“ verweist zunächst auf die Tatsache, dass der Wertbegriff sich schon immer eng an das ökonomische Denken angelehnt hat. Wert hatte etwas als Nutzen für jemanden. Selbst die luftige Wertdiskussion des Neukantianismus, die die Rede von den immateriellen Werten erst populär gemacht hat, verweist auf den komplexen Zusammenhang von kulturellen Prioritäten und individuellen Präferenzen. Darauf hat der Rational-Choice-Ansatz in der Soziologie hingewiesen, ohne theoretisch die Problematik überzeugend zu bewältigen. Auf den ersten Blick scheint uns allerdings heute eine ökonomische Betrachtungsweise der Kindheit eher befremdlich. Muss eine Bewertung von Kindern nicht berücksichtigen, dass wir uns seit einigen Jahrzehnten angewöhnt haben, die Beziehungen zwischen Eltern
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und Kindern rein selbstzwecklich als „reine Beziehungen“ ohne jegliche instrumentalisierende oder utilitaristische Aspekte wahrnehmen zu wollen (Giddens 1992: 60ff.)? Dies ist in der Tat eine heute sehr geläufige Art, Kinder zu sehen und zu interpretieren. Sie ist jedoch durchaus historisch bedingt und kann sich daher auch wieder ändern (Zelizer 2005: 123ff; Bühler 2005: 9ff.). Lange Zeit haben sich nämlich bis tief in die moderne Industriegesellschaft hinein Sinn-, Nutzen-, Emotions-, Produktions- und Konsumgesichtspunkte keineswegs ausgeschlossen. Schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts schienen das aber Widersprüche: Man konnte nun Kinder nicht richtig lieb haben, wenn man sie auch als nützlich ansah. Heute wird wieder kontrovers diskutiert (Kaufmann 1995). Jedenfalls steht offensichtlich im gesellschaftlichen Leben heute eine „Neubestimmung und Vereinheitlichung der ökonomischen Rolle von Kindern“ (Honig 1996: 117) an. Die „Kommerzialisierung von Kindheit“ (Feil 2003: 5ff) ist die Folge weltweiter gesellschaftlicher Transformationsprozesse und eines neuen Schubs einer umfassenden Ökonomisierung des Lebens, deren Dynamik durch globale Finanz-, Produkt-, Konsum- und Arbeitsmärkte bedingt ist (Beck 1997; Altvater 2002; Loch 2001). Kindheit wird zur marktfähigen Kindheit. Was ist in dieser Konstellation nun der Marktwert von Kindern? Wer bestimmt ihn nach welchen Kriterien? Darüber ist vielleicht nur in einem Teil der Öffentlichkeit aber auch in Teilen der Sozialwissenschaften ein Streit ausgebrochen (Qvortrup 1991; 1993; Hengst 1996; Wintersberger 1998; Neumann 2001; Nauck 2001; Feil 2003): Sind Kinder als „kompetente Akteure“ Produzenten und Berater des Konsums ihrer Eltern, auch „strategische Zwischengüter zur Befriedigung der Grundbedürfnisse von (potenziellen) Eltern“ (Nauck), und somit selbst „aktive Konsumenten“(Hengst), relativ unabhängig von ihren Eltern und künftige Konsumenten, Bedürfnismultiplikatoren und Produzenten in einem (Wintersberger)? Kinder haben im Verlauf der Moderne – so wurde zuvor unisono argumentiert – an privatem Nutzen verloren, aber als Investitionsgüter für die künftige soziale Sicherung und bildungspolitisch als Humankapital in der Öffentlichkeit gewonnen. Daraus erwächst ein gespaltener Sonderstatus von Kindern (Zelizer 1995; Honig 1996; Kaufmann 1995). Dieser Ansicht wird nun jedoch in den letzten Jahren widersprochen (Bühler 1996; Wintersberger 1998). Dies sei allenfalls eine vorübergehende und partielle Entwicklung. Die Gesellschaft habe zwar Kinder im 19. Jahrhundert in die pädagogische Provinz zu verbannen versucht. Die Entökonomisierung sei jedoch nur begrenzt gelungen. Kinder hätten latent immer eine ökonomische Bedeutung. Auch in der vormodernen Hauswirtschaft sei der private Nutzen von Kindern stets unsicher gewesen und in der Industriegesellschaft seien die ökonomisch durchaus gewichtige Selbstqualifikation der Kinder sowie andere Arbeitsbeiträge der Ökonomie als Gratisleistungen zugefallen (Bühler 1996; Qvortrup 1993; Hengst 1981; 1996; 2000; Zeiher 2005; 201ff.; Wintersberger 1998). Bis heute ist der ökonomische Wert von Kindern unsicher und ungeklärt, während die Kosten kontinuierlich höher veranschlagt werden, was nicht verhindert hat, dass durch den Sog des globalen Marktsystems in den letzten Jahren eine systematische Kommerzialisierung der Kindheit mit werbestrategischen Projektionen einer imaginären, aber gleichwohl realen „Kaufkraft“ eingetreten ist. Damit sei eine höchst riskante historische Konstellation und Konkurrenz zwischen einem modernen „Erziehungsprojekt“ und einem postmodernen, stark konsumorientierten „Autonomieprojekt“ entstanden, dass potenziell die Eltern bei Bedarf ausschalte und Kinder direkt anspreche. Während Hengst hier eher einen Autonomiegewinn veranschlagt, sehen andere Autoren stärker die wachsende Ambivalenz (Honig
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1999) und wieder andere eine Asymmetrie bescheidenen Gewinns und steigenden Risikos (Neumann 2001; Bröckling 2000). Während Wintersberger teilweise Hengst zuzustimmen scheint, dass es einen gewissen Fortschritt bedeute, wenn Kinder in einer Konsumgesellschaft als „aktive Konsumenten“ in Erscheinung treten, hält er dies nur für eine Zwischenetappe zu einem Endziel eines gesellschaftspolitischen Projekts, das Kindern in der Zukunft einen sozioökonomischen Doppelstatus als Konsument und zugleich als Produzent sichere. Fast alle Autoren sind sich jedoch darin einig, dass der traditionell moderne Schonraum Kindheit in Erosion begriffen ist. Am weitestgehenden ist sicher das Konzept von Wintersberger, der konsequent aus dem „Abschied von der Arbeitsgesellschaft“ den Status eines kindlichen Produzenten projiziert. Wohl innerhalb einer künftigen „Tätigkeitsgesellschaft“ (im Sinne eines erweiterten Arbeitsbegriffs) sollen auch Kindern neben ihrer Konsumtätigkeit unterschiedliche für den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang wichtig Arbeitsbeiträge einbringen und damit sich auch ökonomisch als vollwertige „Kinderbürger“ qualifizieren können, was sich ja nicht unbedingt gegen eine innige Eltern-Kind-Beziehung richten muss. Vor allem ist das ein Konzept, das mit den Menschenrechten für Kinder und allgemeiner demokratischer Partizipation radikal ernst macht (Wintersberger 2005: 181ff.). Vielleicht als erster hat Qvortrup darauf beharrt, dass Kinder nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Produzenten gelten dürfen, da sie mittels Schularbeit etc. ihre eigene Qualifikation produzieren und daher nicht nur einen Kostenfaktor, sondern Humankapital verkörpern. Auch Kaufmann hatte Kinder als Humankapital gesehen, aber zurückhaltendere Forderungen in der Sozialpolitik angeregt. Engelbert (1986) betont den gesellschaftlichen Wert von Kindern, (potenziellen) Eltern ein erweitertes Handlungsrepertoire und biographische Erfahrung zu verschaffen, die kinderlose Paare nicht gewinnen könnten. Hengst hingegen verklärt ein wenig die „Konsumarbeit“ von Kindern als „aktive Konsumenten“. Honig sieht hier gesteigerte Generationenambivalenz entstehen. Neumann-Braun betrachtet dies eher skeptisch. Kinderkonsum gelinge nicht als „Konsumentensouveränität“, weil Kinder noch weniger als Erwachsene kognitiv dazu in der Lage seien und außerdem der Markt dauernd komplexer werde, und viel zu viele Informationen und Sozialbeziehungen hierbei abzustimmen sind. Im günstigsten Fall könnten Kinder aus einem Optionsspektrum auswählen. Auch Feil sieht die Marktabhängigkeit der Kinder kritisch, weist jedoch auch auf den imaginären Gehalt der Zielvariable „Kaufkraft“ hin, die darin begründet sei, dass niemand die wirkliche Kontrolle der Eltern über das Geld der Kinder kenne. Aus der Argumentation der genannten Autoren aber auch ihrer gesellschaftlichen Relevanz wird jedoch deutlich, dass die ökonomische Bestimmung von Kindern zugleich eine soziokulturell-politische Entscheidung ist, die auf die Teilhabe oder Ausschließung von gesellschaftlichen Ressourcen hinausläuft und eine voraussetzungsvolle soziale Konstruktion darstellt (Bühler 1996: 97ff.). Dies gilt natürlich auch für das Konzept des „aktiven Konsumenten“, das nicht einfach einer Reaktion und Abbildung alleine im Jahre 2001 auf 32 Milliarden geschätzten kindlichen Konsums (Prahl 2002: 253; Feil 2003) entspringt, sondern auf „kinderpolitische“ Einflussnahme auf den Konsummarkt hofft. In jedem Fall hat das aber zur Folge, dass sich nicht nur innerhalb der herkömmlichen Sozialisationsbedingungen Veränderungen vollziehen, sondern durch Konsummarkt und Medien u.a. der Rahmen der Sozialisation in totalem Umbau begriffen ist. Allzu oft waren in der Geschichte kulturelle Überhöhung von Kindern und Marginalisierung keine wirklichen Alternativen (Bühler 2005: 9). Und sogar das Nichtfunktionieren
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familialer Lebensformen und das gleichzeitige Funktionieren des Wirtschaftssystems brauchen sich nicht zuwiderlaufen. Da Kinder in absehbarer Zukunft nicht automatisch als eindeutige monetäre Größen oder Produktionsfaktoren der Wirtschaft Eindruck machen werden, bleibt es ungewiss, ob sie zukünftig als mehr denn als Humankapital zählen werden (Giddens 1988: 228ff.). Gleichsam als gesellschaftliches Echo auf die Frage des ökonomischen Werts von Kindern hat sich längst eine sozialphilosophisch-ethische Debatte über „Generationengerechtigkeit“ Gehör verschafft: Werden Lasten und Ressourcen zwischen Kindern gerecht verteilt? Dabei treffen Positionen der Chancengleichheit, des Familienausgleichs und familien- und kindheitspolitische Konzepte aufeinander, die alle eine gewisse Legitimität und Berechtigung haben. Es wäre an sich sinnvoll, sie zu integrieren. Doch ist das eigentlich nicht möglich. Eine wirklich weiterführende Diskussion müsste sich aber der Frage stellen, was sozialpolitisch getan werden kann, damit es nicht zu einer Zielkollision kommt (Wintersberger 1998: 92f.; Butterwegge 2002). Gerade der ökonomische Diskurs trägt heute zur Definition und Kategorisierung von Kindheit im erheblichen Maße bei.
8.7 Kindheit im Spannungsfeld von Hoffnungen und Befürchtungen Diskursive „Sprachspiele“ (Wittgenstein) zeichnen normativ, normalisierend, stilistisch und gleichsam atmosphärisch vor, was Kindheit jeweils ist und wie sichergestellt werden kann, dass Kinder (noch oder wieder) Kinder sein dürfen. Sie reichen damit in ein tief emotionalisiertes Spannungsfeld mit ihren Projektionen hinein. Sie sind nicht im Sinne von Marx „Überbau“. Allerdings machen sie auch nicht die ganze und volle gesellschaftliche Wirklichkeit aus. Diskurse sind keine rein kognitiven Strukturen. Sie arbeiten oder wirken vielfach unterschwellig und oft nur andeutend mit zahlreichen Assoziationen in Wort, Text, Bild oder Musik oder auch mittels Emblemen und Ritualen. Stets wecken sie auch Hoffnungen und Befürchtungen, die sich allerdings oft nur „zwischen den Zeilen“ bemerkbar machen. Formen der verschwiegenen emotionalen Bindung und Erlebnisse von einzelnen Ereignissen halten zusehends mehr als externe Kontrollen Diskurspublika zusammen. Man spricht heute auch von Szenen. Vielfältige informelle Abstimmungen und freiwillige Zusammenarbeit treten an die Stelle von offenem Zwang oder durchsichtiger Manipulation. Daher hält sich hartnäckig das Gerücht, jeder sei völlig frei, sich diesen Diskursen anzuschließen oder nicht (Bröckling 2000). Doch schon das bloße momentane gesellschaftliche Arrangement von „Gewinnern“ und „Verlierern“ und zunehmend völlig „Überflüssigen“ (Bude 1998: 363ff.; Offe 1996: 258ff.) reizt zu diskursiven Kommentaren des ohnehin schon Wahrgenommenen. Es stellt nämlich ein „Gefälle“ dar, das Hoffnungen oder Befürchtungen geradezu stimuliert. Dabei ist oft unklar, ob hier Kinder oder Erwachsene das Problem sind und Hoffnung oder Befürchtungen mobilisieren. So kann es etwa als böses Omen von sich orientierenden potenziellen Eltern verstanden werden, wenn ihnen heute – durchaus sachlich begründet – immer wieder die Botschaft übermittelt wird, Kinder stellten ein „Armutsrisiko“ dar. Ebenso können moralische Appelle zur „Kinderfreundlichkeit“ heute zwiespältige Reaktionen auslösen und als „Überforderung“ oder „Einmischung“ gedeutet werden. Manchmal hören Kinder aufmerksam zu, was über sie geäußert wird und versuchen Diskurssplitter für sich zu nutzen, um Eltern ein schlechtes Gewissen einzureden. Manchmal fühlen sie sich ein wenig umworben, immer wieder aber auch in entscheidenden Mo-
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menten der Diskursexegese allein gelassen. Auch bei ihnen sind dabei natürlich Hoffnungen und Befürchtungen im Spiel. Gerade weil Kinder oft ein dankbares Publikum sind, wenn man sich ihnen überhaupt zuwendet, sind sie auch leicht zu verführen. Sie sind natürlich nicht immer nur Verführte, sondern können auch Erwachsene zu Hoffnungen und Befürchtungen verführen. Doch gegenüber entscheidenden Zukunftsfragen wie Globalisierung, Bedeutung der Informations- oder der Biotechnologie, der Reproduktionstechnologie oder auch nur der eigenen Bildungskarriere sind sie, noch mehr als die meisten Erwachsenen, total überfordert und voll banger Zukunftsgefühle (Mansel 1996). In verschiedenen Diskursarenen lässt sich erkennen, in wie hohem Maße soziale Phänomene nicht nur kulturspezifisch, sondern emotional belastet und umstritten bleiben (Stern 1991: 130f., 146). Normalisierung liegt dabei nahe an der Artikulation sozialer Probleme, der Problematisierung von Leitbildern und Leitbegriffen oder Deutungsmustern wie Spiel, Lernen, Arbeit, Freizeit, Konsum etc. (Hengst 2000: 73). Eine der ältesten Hoffnungen dürfte die sein, dass unsere Kinder unsere Zukunft sind. Ähnliche Parolen kann man heute sogar auf internationalen Konferenzen vernehmen. Diese Perspektive setzt voraus, dass die traditionelle Generationenordnung unangetastet bleibt. Doch gerade das ist von Grund auf fraglich geworden, wird auch von der Kindheitsforschung problematisiert (Hengst 2000: 75; Honig 1999). Weder über eine neue synchrone noch eine diachrone Arbeitsteilung und einen entsprechenden „Generationenvertrag“ herrscht Klarheit und Einigkeit zwischen und in den Generationen. Eine „sakrale Rhetorik“ hindert eine Gesellschaft selten an einer praktischen und politischen Unverbindlichkeit (Bühler 2005: 13). Eine andere Hoffnung ist, dass Kinder neuen Lebensmut, „Weltoptimismus“, ein erweitertes Handlungsrepertoire bewirken, dass sie irgendwie auch privaten Nutzen bringen und als „sozialer Kitt“ zwischen Eheleuten dienen. Empirisch ist das oft widerlegbar. Es hält sich aber eine zähe Hoffnung: im Mittelalter, falls sie getauft früh gestorben waren, als Schatz im Himmel und spezielle Fürbitter bei Gott (Vassas 2005: 53; Imhof 1983; Tremp 2005: 61) bzw. „sozialer Kitt“ in der Moderne … Gemessen an den kognitiven Standards, die Erwachsene in der von ihnen beherrschten modernen Gesellschaft festlegen, ist das Kind ein defizitärer kleiner Mensch, der aber eine mehr oder minder hoffnungsvolle Zukunft vor sich hat. Gemessen an seinen eigenen unverbrauchten und noch nicht gelebten Möglichkeiten ist es aber deutlich „mehr“ als ein „verbrauchter“ Erwachsener. Gerade in der Moderne, die alle Reste eines archaischen Lebens-Zyklus abzustreifen suchte, wurde so das Kind immer wieder zum Symbol einer grundlegenden Zukunftsorientierung, seltener einer remythologisierenden Ursprungshoffnung. Und deshalb finden sich auch in den letzten 250 Jahren immer wieder parallele Gedanken von dem „neuen Menschen“ für eine „neue Gesellschaft“. Naturgemäße Erziehung soll der Revolution zum Durchbruch verhelfen, ertönt es schon vor der Französischen Revolution z. B. bei Rousseau. Das Kind erfährt in den politisch-pädagogischen Diskursen dieser Zeit eine auffällige Aufwertung. Es ist weder erbsündlich belastet noch unkultiviert, sondern ein „ursprüngliches“ und „spontanes“ Wesen, dem eigentlich die Menschenrechte und die volle politische Partizipation des republikanisch-demokratischen Staates offen stehen müssten. Das Kind, frei von konformistischer Anpassung an das alte Regime und im Besitz seiner natürlichen Kräfte soll frei und ohne Zwang eine naturnahe Erziehung zum mündigen Bürger (citoyen) erfahren. „Natur“ ist bei Rousseau sowohl Ausgangspunkt jeg-
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licher Entwicklung wie kritische Instanz (Fetscher 1975). Insofern ist „kindliche Natur“ immer auch ein kritisches Gegenmodell zur „dekadenten“ Erwachsenenwelt der Zeit. Die utopische Rhetorik dieser Zeit und der folgenden Jahrhunderte konnte freilich die eingelebte volkskulturell geprägte Mentalität und ihre sozialstrukturell verankerten Lebensformen nur relativ wenig verändern. Das Kind als „neuer Mensch“, der notwendig ist, wenn die politische Revolution ins Ziel gelangen will, wird von manchen revolutionären Autoren und andererseits von rückwärtsgewandten Romantikern geradezu als „Erlöser“ hochstilisiert und mit sakralen Weihen versehen (Richter 1987). Wohl nicht schwer zu verstehen ist, dass solche übersteigerte Hoffnung, die auch heute noch bei (potenziellen) Eltern auftauchen kann, die um jeden Preis ein eigenes Kind möchten (Vetter 1999), stets problematisch war. Einerseits blieb sie immer begleitet von habituellen Befürchtungen tiefsitzender Angst vor dem Chaos, das Kinder bereiten können. Andererseits konnte sie selbst in Enttäuschung und Furcht vor Kindern umschlagen, die nicht so recht mitmachen wollten. Seltsamerweise sind solche „göttlichen Kindern“ oft im extremen Maße von den Erziehern und Erziehungsprojekten abhängig, instrumentalisiert. „Revolutionäre Kinder“ haben oft Angst und Schrecken verbreitet. Das zeigte sich schon bei den eifernden Kindern der Kinderkreuzzüge. Auch die Kinderpolizei fanatisierter Kinder und Jugendlicher, die Savonarola die Sitten der Florentiner beobachten ließ, wurden gefürchtet. Grundsätzlich taucht eine malthusianische Befürchtung immer wieder auf, eine Gesellschaft habe zu viele oder zu wenige Kinder und sei in der Gefahr auszusterben. Einen deutlichen konservativen Hintergrund hat auch die Befürchtung, Kinder könnten sich in kürzester Zeit vom „braven“ zum „bösen“ wandeln und müssten daher notwendig in einem Familienklima aufwachsen, das auch vor extremer Strenge nicht zurückschrecke (Becchi 2005: 98, 103). Totalitäre Regime zeigen, zu was Kinder fähig seien können und was unkritische Hoffnung oder Befürchtungen anrichten. In der einen oder anderen Richtung wurden Kinder, streng genommen, nicht als sich hervorbringendes oder aktiv an der sozialen Konstruktion von Kindheit beteiligtes Subjekt verstanden. Das ist offenbar ein relativ neues Phänomen (Rauschenbach 1991). Wer die Kinder in seinem Sinne zu sozialisieren vermag, hat damit nicht unbedingt, wie viele heute immer noch glauben, die Zukunft in der Hand, sondern er stößt Entwicklungen an, die in verschiedene zukünftige Richtungen führen können. Sie vermag kein Mensch wirklich umfassend vorherzusagen, noch gar zu steuern.
8.8 Der moralische Aspekt moderner Familienkindheit Extremsituationen tauchen auch in ganz normalen Eltern-Kind-Verhältnissen auf. Spätestens dann stellen sich Fragen nach deren moralischer Qualität. Dies umso mehr, als kaum zu bestreiten ist, dass sich die normativen Rahmenbedingungen und die Rollendifferenzierung vieler Familien gelockert haben und angesichts eines hohen Maßes notwendiger Verhandlungen „Kurzschlüsse“ leicht möglich sind, die schwerwiegende Folgen und Nebenfolgen haben (Nave 2001: 206). Das Problem ist dann: wer kann sagen, er habe bei den gefundenen Entscheidungen „Recht und Billigkeit“ auf seiner Seite? Es ist zu klären, auf welche moralischen Kriterien zurückgegriffen werden kann. Viele misshandelte Kinder lieben ihre Peiniger, die Eltern oder nahe Verwandte und zeigen eine „Identifikation mit dem Aggressor“. Oder sie fühlen sich allein gelassen, ohne
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Unterstützung, wenn sie von ihren Eltern getrennt werden. Im Extremfall sollte sich das Familiengericht rechtzeitig einschalten. Doch wer zeigt den Beschuldigten an? Neuerdings wird zu außergerichtlicher Mediation geraten. Wie „verführen“ Diskurse dazu? Doch selbstverständlich zeigen sich auch in ganz unauffälligen Familien moralische Probleme. Unterschiedliche Ansprüche und unklare Pflichten prallen aufeinander. „Elterliche Verantwortung“ wird von einer diffusen öffentlichen Meinung nahegelegt. Doch wer zeigt ihre konkreten Konsequenzen im Einzelfall auf, wo es keine anerkannte Kasuistik oder einen Kanon von informellen Regelungen, sondern eben nur das für alle gleiche formelle Recht im Sinne eines eingespielten „Stands der Rechtsprechung“ gibt? Eltern wird ein eigenes Elternrecht und eine Stellvertreterfunktion zugesprochen. Es gibt mittlerweile auch ein beachtliches Kindschaftsrecht. Dadurch sind Familien gegenüber kinderlosen Frauen und Männern ausgezeichnet. Doch was nützt das Kindern? Selten offen, aber hinter vorgehaltener Hand werden heute Kinderlose als egoistisch und kinderreiche Familien gleichwohl als asozial denunziert. Zeigt sich hier ein moralisches Dilemma oder schlicht ein Ressentiment der Mittelmäßigkeit? Solche moralischen Anschlussfragen heften sich heute mindestens latent an alle Kindheitsdiskurse. Wenn man unterstellt, dass moralische Fragen oft nicht isoliert auftauchen, sondern mit anderen Gesichtspunkten verwoben sind und viele Faktoren ineinander greifen, dann stellt sich die Frage, wie dies alles gedeutet und bewertet werden soll, ohne dass die moralische Relevanz liquidiert wird. Man wird dann allerdings auch auf das Gefälle zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und interaktiven Erfahrungen achten müssen, das ein moralisches Dilemma fördert. Wenn man wie Luhmann von den prinzipiellen Grenzen moralischer Kommunikation in einer Gesellschaft ausgeht (Firsching 1994: 309), so wird man sich immerhin dem Eindruck stellen müssen, dass trotzdem bestimmte „moralische Unternehmer“ favorisiert sein könnten. Der explizit hohen Bewertung von Familie und Kindern in Befragungen stehen seit Jahren abnehmende Eheneigung, Ehezufriedenheit und der Geburtenrückgang sozusagen als implizite Vorbehalte gesellschaftlicher Akteure gegenüber. Und über die Zukunft der Familie wird selbst unter Familiensoziologen kontrovers diskutiert. Während die einen zur Verharmlosung neigen, sprechen die anderen vom „Auslaufmodell“ (Luhmann), von der „Verhandlungsfamilie auf Zeit“ (Beck), von der „Familie nach der Familie“ (Beck-Gernsheim) und von der künftig zu erwartenden „Lebensabschnittspartnerschaft“ (Hoffmann-Nowotny). Andere greifen auf die Metapher „Familie als Balanceakt“ (Rerrich) zurück. Was ist hier „Familienmoral“? Was wäre eine „Kindermoral“? Die Interpretation identischer Daten kann extrem unterschiedlich ausfallen und erfolgt nie völlig argumentativ, sondern auch nach diskursiven Opportunitäten oder Machtgesichtspunkten, denn jeder moralische Unternehmer muss auf ganz bestimmte Argumentationsbeiträge eines laufenden Gesprächszusammenhangs zurückgreifen und Anschluss suchen. Im Alltag wie in der Wissenschaft werden „Zwischenbilanzen“ erstellt und dabei wird unvermeidlich auf vorhandenes Alltagswissen und geläufige Deutungsschemata der Fachdisziplin zurückgegriffen, die implizit auch moralische Momente enthalten (Ritsert 2002). Manches deutet darauf hin, dass die moralische Ordnung der Familie sich als Balance des Gebens und Nehmens in speziellen kommunikativen Gattungen kondensiert (Luckmann 2002). Dann stellen sich Anschlussfragen wie: Unter welchen sozialen Bedingungen sind längerfristige Balancen überhaupt denkbar? Was geschieht bei sich häufenden Imbalancen? Ist es denkbar, dass geglückte Beziehungen zwischen Eltern auch „Durststrecken“ überwinden? Was ist der Preis dafür? Wie kann dies vor jedem einzelnen Familienmitglied
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und der Außenwelt gerechtfertigt werden? Diskurse führen unausweichlich zu moralischer Argumentation und zum Versuch der Legitimation. Sie ist Teil der Wirklichkeitskonstruktion. Die Geschichte der Familie (Rosenbaum 1982) legt den Eindruck nahe, dass das emotionale Klima in Familie und das Eltern-Kind-Verhältnis vor ca. 400 Jahren vielfach sehr rau war, und es eher auffiel, wenn es herzlich war. Frauen wurden als „Baby-Maschinen“ und Kinder fast sachrechtlich als eine Art „standardisierte Ware“ betrachtet (Shorter 1979: 96). Auch die uns selbstverständlichen moralischen Leitbegriffe „Liebe“, „Fürsorge“, „Verantwortung“, „elterliche Pflicht“ bedeuteten teilweise etwa ganz Anderes. Als „Liebe“ galt beispielsweise etwas schon, wenn man sich nicht hasste und leidlich miteinander auskam. Wir betrachten die vielen Beispiele rohen Umgangs mit Kindern und von (erwachsenen) Kindern gegenüber ihren Eltern (Flandrin 1978; Sieder 1987: 116ff.) nicht mehr aus der Moral des Überlebens des gesamten Haushalts, sondern strikt aus einer individuellen Moral. Vielleicht würden die Menschen von damals die heutigen Kindern gewährte „Selbstständigkeit“ als Vernachlässigung und Unverantwortlichkeit deuten. Und bei alledem können wir heute auf eine Pluralität religiöser, ethischer, kontextueller und rechtlicher Maßstäbe zurückgreifen, was freilich das moralische Urteil zwischen Eltern nicht einfacher und unbedingt kompetenter werden lässt. Moralische Kriterien entscheiden auch heute noch über die Legitimität und die innere Berechtigung zur Zugehörigkeit zu Gemeinschaften und Gruppen. Sie sind auch heute nicht einfach subjektivistische, einsame Präferenzen, wie dies der Utilitarismus verstehen möchte. Präferenzen bleiben immer eingebettet in soziale und kulturelle Prioritäten von kurz-, mittel- und langfristiger Relevanz, die in Diskursen ausgehandelt werden. Auch der Utilitarismus ist einer davon. Distanziert man sich lange von zentralen Sinnbezügen, so bilden sich gleichsam unsichtbare Mauern, und Ausschließungsprozesse setzen ein. In unserer Kultur ist auffällig, dass sich ein prälegaler Konsens über „verantwortete Elternschaft“ und „Stellvertretung“ herausgebildet zu haben scheint, was immer das im Einzelnen besagen mag. Eine gewisse moralische Sprachlosigkeit, vielleicht sogar eine Polarisierung mit sehr vielen Ressentiments zwischen Familie und Kinderlosen ist aber offenbar im Entstehen. Unter welchen Bedingungen ist eine moralische Solidarität zwischen beiden möglich? Moral verschafft nicht nur das Gefühl der Legitimität, sondern auch der Kommunizierbarkeit eines historisch konkreten Verhältnisses von Kindern und Erwachsenen (Luckmann 2002). In der Moderne herrschte in diesem Sinn lange Zeit eine relative Klarheit über die legitimen Ansprüche und Bedürfnisse von Kindern; weniger über deren Pflichten. Doch wenn sich die Zahl der Gestaltungsvarianten, deren Wahrnehmung und die Art der Sanktionen verfeinern und unsicherer werden, wird es auch schwieriger, im Sinn eines individualisierten Verursacherprinzips vorzugehen. Immer mehr Probleme können ohne eine vielfältige Inanspruchnahme von Organisationen, Gruppen oder Initiativen gar nicht mehr gelöst oder reguliert werden. Damit wird aber immer unklarer, wer eigentlich die wirkliche Verantwortung trägt, obwohl alle von Verantwortung reden (Kaufmann 1992: 48ff.). Die reformatorische und die gegenreformatorische und dann die aufklärerische Pädagogik bewirkten zweifellos eine Verschärfung der moralischen Argumentation, die sich immer universalistischer verstand, damit aber auch viel abstrakter wurde. Dieser Tradition sind die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte zu verdanken. Warum erschien dann aber die Bestrebung, diese Rechtstradition auch für explizite Menschenrechte für Kinder zu
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entwickeln bis fast zum Ende des 20. Jahrhunderts als wenig zwingend? Sicher standen dem lange Konventionen und alte Interessen entgegen. Auch „Stellvertretung“ bleibt ein vieldeutiges und immer diskursabhängiges Wort; „Verantwortung“ ein anderes. Wer ist für wen verantwortlich? Auch Eltern und Kinder können ihre wechselseitige Verantwortung nicht allein tragen. Der sozialwissenschaftliche Diskurs hat insofern auch einen moralischen Aspekt, als er darauf hinweist. Heute müsste in einer globalisierten Welt Verantwortung für ein „Gesamtergebnis“ von allen eingefordert werden, die zu diesem beigetragen haben (Zelizer 2005: 124; Vetter 1999: 20ff.). Ist das aber nicht, zumindest für Kinder, eine Überforderung?
8.9 Protagonisten der Diskursgeschichte: Ariès und de Mause Die bahnbrechenden Arbeiten von Ariès und des Mause sind auch noch für die heutige historische Kindheitsforschung wegweisend, selbst wenn vereinzelt Korrekturen notwendig geworden sind. Insofern sie zu einer „Schule des Sehens“ geworden sind, können sie auch sekundär, Ariès noch weit mehr als de Mause, diskursanalytisch gelesen werden. Was man von ihnen, selbst wenn man Kindheit als ahistorische, rein formale Strukturkategorie verstehen will, zunächst lernen kann, ist, dass die Vorstellung von Kindheit, wie wir sie ganz selbstverständlich hegen, eine historisch bedingte und keine anthropologische Konstante ist. Sie ist geschichtlich entstanden und kann daher auch wieder verschwinden. Im Verständnis von Ariès (1979: 42ff.; 1980: 22ff.) ist dies sogar nicht unwahrscheinlich und nicht einmal zu bedauern. Nach de Mause (1980: 13ff.) ist eher eine „Aufhebung“ im Hegelschen Sinn zunehmender Vernunft wahrscheinlich. Zwischen den Zeilen wird auch bei beiden Autoren sichtbar, dass es kein Kinderreservat zu irgendeiner Zeit gegeben hat. Auch Kinder wissen nicht überzeitlich von Natur aus, was Kindsein bedeutet, was sie wissen müssen, um als „wirkliches“ Kind angesehen zu werden, und Erwachsene in diesem Zusammenhang den Eindruck gewinnen, dass Kinder (noch) Kinder sind. Dabei drängt sich Manchen das Urteil auf, früher sei alles besser gewesen, und Anderen, sie befänden sich auf der Seite des unaufhaltsamen Fortschritts in der Geschichte. Die meisten aber basteln sich ein unscheinbareres Kindheitsbild, mit dem sie leben können. Diese Urteile sind allesamt problematisch, weil sie sich sozusagen einen „Gottesstandpunkt“ erschleichen und damit ihrer Deutungsunsicherheit ein Ende bereiten. Sie neigen auch zur übermäßigen Homogenisierung und Verallgemeinerung und zu einer impliziten Gleichsetzung von Sozialisationsimperativen mit der Sozialisationpraxis. Sie operieren sozusagen Widersprüche weg. Entscheidend in der Diskursgeschichte der Kindheit ist aber, ob und wie der Platz des Kindes in der gesellschaftlichen „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ thematisiert und sichtbar wird. Dann aber beginnen gleich die gravierenden Unterschiede in der Gegenstandsbestimmung und Methodik der beiden kindheitsgeschichtlichen „Meisterdenker“. De Mause wählt ein universalgeschichtliches Panorama unter einer eingeschränkten Kategorie der Emotionsentwicklung zwischen Eltern und Kindern. Ariès kann einer universalgeschichtlichen Betrachtung mit psychoanalytischen Kategorien und einer Isolierung einer abstrakten, rein emotionalen Dimension einer kontextfreien Elternschaft nichts abgewinnen. Er hält wohl eine umfassende Universalgeschichte für eigentlich unmöglich, weil sie sich ahistorischer Kategorien bedienen muss, die in Wirklichkeit höchst zeitbedingt sind; wie etwa die
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bei de Mause benutzten Freudschen Kategorien. Es gäbe wohl begrenzte interkulturelle Schnittmengen in eingeschränkten Verhaltensdimensionen aber keinen wirklichen Vergleich zwischen Gesamtkulturen und komplexen Teilkulturen; denn Kulturwelten bestehen aus impliziten und selektiven Verweisungszusammenhängen. Kontextkonstellationen sind aber nicht einfach – unkritisch – übersetzbar, weil sie allesamt von einem bestimmten, situierten Ort her beschrieben werden. Universalhistorische Beschreibungen seien ständig in der Gefahr, in höchst zeitbedingte Universalprojektionen abzustürzen und in teleologischen Überverallgemeinerungen zu enden. Es hat so nach Ariès keinen Sinn, in vormodernen Gesellschaften eine isolierte Kernfamilie, gar eine noch abstraktere Eltern-Kind-Beziehung oder gleichsam archäologisch eine primordiale Mutter-Kind-Dyade herauspräparieren zu wollen, weil diese damals als valide Referenzgröße unabhängig von ihrem lokalen „Milieu“ gar nicht bestanden. „Familie“ und „Kindheit“ waren viel fester in transfamiliale Strukturen eingebunden, als sich dies die meisten heutigen Menschen überhaupt vorstellen können. Deshalb schreibt Ariès keine „Geschichte der Kindheit“, sondern eine mentalitätshistorische Studie zur Entstehung des Familiensinn und der damit zusammenhängenden „Entdeckung der Kindheit“ im vorrevolutionären Frankreich. Ariès (1980: 22ff.) hat allerdings manchmal sehr missverständliche und zugespitzte Zusammenfassungen vorgetragen und Formulierungen gewählt, sie aber stets dann wieder relativiert und eine Prognose abgelehnt. Populär sind beide Autoren vor allem durch ihre Bilanzen geworden. Ariès vertrete die Vorstellung einer Verfalls-, de Mause die einer Fortschrittsgeschichte. Dieses Urteil mag für de Mause zutreffen, verfehlt aber weitgehend die Intention von Ariès, schon weil es für Ariès nicht „den“ Verfall gibt. Ariès spricht zwar davon, dass die Entmischung und Auflösung vormoderner hauszentrierter „Milieus“ Kinder in einen „goldenen Käfig“ hinein manövrierte und sie, vor allem durch die Schule, im 18. und 19. Jahrhundert einer Politik des Einsperrens und gesellschaftlichen Disziplinierung unterworfen worden seien. Er verkennt dabei aber keineswegs, dass Kinder seit dieser Zeit einer anspruchsvolleren Erziehung und Fürsorge teilhaftig werden. Jedoch sieht er ganz stark die andere Seite: die wachsende Kontrolle in einer „verhäuslichten Kindheit“. Und er sieht in dem Zerfall der hermetischen Privatsphäre der modernen Kleinfamilie sogar eine Chance, dass sich wieder offenere und gemischtere Lebensverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern bilden könnten. Insofern ist de Mause mit seiner Fortschrittsgeschichte viel normativistischer. Bei Ariès kann man aus einiger Distanz durchaus die diskursanalytische Einsicht erkennen, dass, wenn auch typische Verhaltensweisen sich noch so aufdrängen mögen, entscheidend ist, ob sie überhaupt wahrgenommen und wie sie auf der Folie kultureller Deutungsmuster öffentlicher Aufmerksamkeit gefunden haben. Während Ariès meint, dass sich zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert ganz Neues angebahnt hat, geht de Mause wohl von zeittypischen Variationen, aber nie unterbrochenen Entwicklungslinien aus. Es handelt sich bei Ariès um einen ganz neuen dominierenden Blick auf Kindheit, wie er wenige Jahrzehnte vor dem 16. Jahrhundert überhaupt nicht anzutreffen sei. Nun werde erstmals Kindheit in ihrer kulturellen Differenz zum Erwachsenenalter interessant und explizit normativ anerkannt. Dafür zuständig werden zum einen die im Entstehen begriffene bürgerliche Kleinfamilie mit einer spezifischen Erziehungsverantwortung der Eltern und die flankierende und zugleich relativierende Schule (Internate). In diesem Sinn kann dann Ariès von einer Entdeckung der Kindheit sprechen, wobei sich die oft geäußerte kritische Anfrage, ob es sich um eine neue Erscheinung oder nur eine
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Einstellungsänderung handle, als diskursanalytisch unsinnig zurückgewiesen werden muss: Etwas, was gesellschaftlich nicht wahrgenommen wird, sozusagen ein „Ding an sich“, wird kulturell nicht unterschieden und existiert so als differentes soziales Phänomen einfach nicht. Ariès kommt sozusagen in einer Diskursanalyse mittlerer Reichweite zum Schluss, dass die Blickwendung keine akzidentielle, sondern eine emergente Veränderung darstellt, eine Beurteilung, die er später unter dem Feuer der Kritik zu Unrecht wieder zurücknimmt. Auch die Metapher vom „goldenen Käfig“ einer entmischten, strukturell isolierten Kindheit darf nicht individualpsychologisch als Vereinsamung oder individuelle Repression missverstanden werden. Ariès meint damit – ähnlich wie Elias oder Foucault – die in den letzten zwei Jahrhunderten eingetretene immer umfassendere Institutionalisierung der „verhäuslichten Kindheit“ und das sie kontrollierende lückenlose System institutioneller Wissensprozesse des Erziehens, Betreuens, Versorgens, Beobachtens, Therapierens und präventiver Strategien, die in der Tat soziologisch immer auch als Formen neuartiger Sozialkontrollen betrachten werden können. Ariès bestreitet auch nicht, dass es in der europäischen Vormoderne auch gefühlsbetonte Eltern-Kind-Beziehung gegeben hat, was ihm fälschlicherweise oft unterstellt wird. Allerdings behauptet er, dass es bezeichnenderweise gar nicht besonders auffiel, wenn diese Beziehung sehr nüchtern oder sogar rau war. Es war kulturell keineswegs wie danach zwingend normativ vorgeschrieben, seine Eltern speziell zu lieben, auch wenn das von der Kirche eigentlich vorgeschrieben war. Statt wie in vielen Fällen den Eltern konnte auch den Großeltern, den Ammen, Verwandten oder Dienstboten besondere Zuneigung entgegengebracht werden. Erst ab dem 16. Jahrhundert galt eine spezielle „Elternliebe“ als Pflicht und andere Optionen eher als Perversion. Emotionalität und Intimität sind vormodern keine konstitutiven Bedingungen der Hausgemeinschaft (Ariès 1976: 45ff.; 1980: 13f.). Kinder galten daher zuvor sofort als Erwachsene, wenn sie allein zurechtkommen konnten. Schmerzhafte Ablösungsprozesse, die sich über Jahre hindehnten, wurden nicht unbedingt erwartet. Durch die intensivierte, moderne Emotionalität haben sich die nun strukturell isolierten Eltern-Kind-Beziehungen auch verlängert und verkompliziert, obwohl wahrscheinlich die erbrechtlichen Auseinandersetzungen abgenommen haben. Das Neue an der modernen Kindheit ist nach Ariès also die neue Aufmerksamkeit und das neue Interesse an der Eigenart der Kinder. Plötzlich wurde ein „großer“ statt eines „kleinen“ Unterschieds bemerkt und das Recht auf familiale Erziehung und schulische Sozialisation in einer ansatzweise eigenen Lebensphase prinzipiell anerkannt. Auch nach de Mause (1980: 13f.) gab es in der Neuzeit bemerkenswerte Wandlungen; etwa das Zurückdrängen schwerer körperlicher Strafen und erster psychohygienischer Maßnahmen. Erwachsene begannen verstärkt Mitgefühl gegenüber kindlichem Leid in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das ist aber für ihn keine „Entdeckung der Kindheit“, weil er diese objektivistisch als Entität in einem bruchlosen Zivilisationsprozess interpretiert. Es komme darauf an, sich darauf zu konzentrieren, wie von Erwachsenen die Psyche der nächsten Generation am stärksten beeinflusst werde. Die Neuartigkeit moderner Kindheit ist bei Ariès nicht so sehr eine Veränderung der Sozialisationsbedingungen im gleichen „ontologischen“ Rahmen. Sie stellt eine Veränderung des Rahmens selbst durch neues Wissen dar. Vor allem geht es um eine neue Sensibilität und Zugänglichkeit durch neue Sichtweisen und Kategorisierung von Kindheit in gesellschaftlichen Transformationsprozessen (Ariès 1995). Es mag in mancher Hinsicht berechtigt und angezeigt sein, die Beschreibung von Ariès in Einzelheiten zu präzisieren und zu korrigieren. Seine Hauptthese ist jedoch von der Kritik nicht wirklich getroffen worden
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und daher weiterhin gültig. Im Grunde beweisen die Arbeit von Ariès und eingeschränkt auch die von de Mause nicht nur die Fruchtbarkeit der Diskursanalyse, sondern die Eigendynamik der Diskurse selbst (Ariès 1976: 46ff.; Honig 1999: 16ff.).
8.10 Reichweite und Grenzen einer historischen Anthropologie Diskurse suchen so etwas wie eine anthropologische Bestimmung des sozialen Phänomens. Anthropologie tritt heute aber in doppelter Form in Erscheinung. Die klassische Anthropologie seit der Neuzeit suchte die konstante Bedürfnisstruktur des Menschen. Daneben entwickelte sich auch eine historische Anthropologie im 19. und 20. Jahrhundert im Umkreis der Humanwissenschaften. Der Mensch muss sich diesem Verständnis gemäß aus seiner „exzentrischen Positionalität“ heraus immer aufs neue angemessene Lebensformen schaffen, die ihn symbolisch als „Mensch“ ausweisen. „Kindgemäßheit“ wird – nicht nur in der Pädagogik – meist als ein Eingehen auf kindliche Bedürfnisse verstanden. Doch „Bedürfnis“ ist nach Auffassung einer historischen Anthropologie keine zeitlose, sondern eine durch und durch historische Bedürfniszuschreibung der Gesellschaft, über die immer wieder eine gesellschaftliche Verständigung erreicht werden muss (Bühler 2005: 18; 1996: 97). Was ist ein Kind? Was braucht es? Was soll es? Was darf es? Was kann es? Auf diese sich immer wieder aufwerfenden Fragen gibt es offenbar keine endgültigen, sondern immer nur vorläufige Antworten in Diskurszusammenhängen. Antworten müssen aber unausweichlich immer wieder gefunden werden, weil diese Fragen auch nicht unterdrückt werden können. Und diese Fragen können sich heute offensichtlich immer weniger an traditionellen Diskursen orientieren. Aus dem sozialen Moratorium scheint ein soziales Laboratorium geworden zu sein. Bedürfnisse werden heute oft in Primär- und Sekundärbedürfnisse aufgespalten, die sich jeweils unterschiedlich kulturell inkarnieren. Das geht letztlich auf eine aristotelische Unterscheidung zwischen „Überleben“ und „gutem Leben“ zurück. Doch was für den Einen eine Form des Überlebens darstellt, scheint heute für einen Anderen bereits ein gutes Leben zu sein. Ist alles nur Ausdruck einer beliebigen Präferenzstruktur? Wohl nicht. Damit würden nämlich die zwingend vorauszusetzenden Grundlagen eines Nutzendenkens in Frage gestellt. Es muss offenbar selbst bei engen Nutzungsdefinitionen immer ein Minimum an gemeinsamen Sinn- und Gütekriterien kurz-, mittel- und langfristiger Nutzungswahrnehmung gegeben sein, das die ohnehin bestehende Ambivalenz auf ein lebbares Maß reduziert und die Differenzierung in inhärente und redundante Ambivalenz zulässt. Reale Interaktionen beruhen nicht auf einer abstrakten, sondern einer historisch konkreten Sozialkompetenz mit anthropologischer Basis, die Relevanzunterscheidungen immer wieder, wenngleich nicht in zeitenthobener Form möglich macht. Der „anthropologische Blick“ in Interaktionen von Sprechern und Hörern, von Konstrukteuren und Ko-Konstrukteuren hält sich nicht zu lange bei der sprachlichen oder nonverbalen Form der Diskurse auf, sondern sucht ihre gesellschaftliche Relevanz zu ergründen. Die verschiedenen Diskursäußerungen bilden einen Strukturzusammenhang. In der Erfahrung und der Auseinandersetzung mit öffentlichen Diskursen bildet sich, wenn auch oft nur mühsam, ein verbindendes und verbindliches Gewebe von Diskurssplittern, das sich als Verständigungsgrundlage anbietet, aber nicht aufzwingt. Jeder kann an der Äußerung
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des Andern anknüpfen und sich sprachlichen und nichtsprachlichen Verhaltensäußerungen anschließen, obwohl wir heute selten eine länger dauernde Diskursbalance erleben. So spielt sich auch die soziale Kommunikation zwischen verschiedenen Erwachsenen und Kindern ab. Diskurse haben ihre Grundlage nicht in einer (zeitlosen) ontologischen Wesens- und Ideenordnung, sondern in Verständigungsprozessen und der daraus folgenden Wissensordnung, vorinstitutionellen Interaktionsordnungen und institutionellen Regulierungen; trotz „gebrochener Intersubjektivität“. Damit wird allerdings auch die Chance geschaffen, trotz gleicher Begriffe, Metaphern und Bilder aneinander vorbei zu reden, sich wirklich näher zu kommen und sich wirklich responsiv zu verhalten. Der Einzelne ist nicht auf sich selbst zurückgeworfen. Er geht aber auch nicht in einer bestimmten verfestigten Sozialisationsform auf. Die Bedeutung kindlicher Bedürfnisse kann weiter verhandelt werden. Die sozialen Definitionen des Kindes sind nie diskursunabhängig, und übersteigen doch jeden unterscheidbaren Diskurs. Es kommen immer auch neue Gesichtspunkte zum Tragen, die weit über die klassische Formel des Menschen als „animal rationale“ hinausgehen, freilich auch die Schattenseiten jedes Phänomens aufzeigen. Es führt so nicht weiter, das Kind nur als künftigen Erwachsenen oder als Nichterwachsenen zu definieren, weil sich ja Kind und Erwachsener in einer wandlungsintensiven Gesellschaft beide wandeln. Die „Ganzheit“ oder „Ganzheitlichkeit“, auf die alle anthropologischen Überlegungen zielen, ist prinzipiell eine historische und fragmentarische, die sich immer auch wieder voraussetzungsvollen lateralen Universalisierungsschüben ausgesetzt sieht. Diese führen ihrerseits aber wieder zu historischen Rekontextualisierungen und Reinterpretationen. Diskurse leiten Interpretationsprozesse ein. Sie ermöglichen eine erste kulturelle Vorsortierung. Unbestreitbar ist aber auch, dass Diskurse Quellen von Stereotypisierungen und Vorurteilsbildung sein können. Sie lassen sich nicht mit zwingender Logik auseinander herleiten und restlos zur Deckung bringen. Unsere Erfahrung von Kindheit ist weder völlig subjektiv und voraussetzungslos noch wirklich zwingend und determiniert. Sie beruht auf einem diffusen kollektiven Gedächtnis und synchronen Diskursformationen. Die Konfrontation verschiedener Diskurse erleichtert, erzwingt aber nicht eine kritische Selektion. Diese erfordert eine Selektion von Themen, Orientierungskriterien und eine Exklusion von Meinungsführern und Bezugsgruppen. Ein Perspektivenwechsel führt aber nur dann zu kritischer Distanz, wenn alle Beteiligten strikt auf die Sache selbst achten und auch historische Herausforderungen gemeinsam ernst genommen werden. Die Steigerung der „Angebote“, die Steigerung der Umlaufsgeschwindigkeit und die reine Beschleunigung schafft keinen Durchblick, sondern meistens nur eine weitere Kultivierung allgemeiner Ratlosigkeit. Tatsächlich aber zeigt sich empirisch, dass viele Meinungsführer und/oder Publika oft nur oberflächlich zuhören und hinsehen. Oft fehlen auch gute Übersetzungen und Übersetzer zwischen den Diskursen (Knoblauch 1995: 105, 108). Diskurse sind keine starren Rahmen. Rahmungen werden in Interaktionen mindestens modifiziert. Die anthropologische Verfassung veranlasst und befähigt uns, die Intention eines kommunikativen Bezugs der Sprecher im Nachvollzug erfassen zu können, da wir stillschweigend auf zugängliche Diskurse zurückgreifen, mit denen wir etwas anfangen können. Auch Erwachsene verhalten sich hier nicht viel anders als ein Kind (Hörmann 1975: 354). Wir halten z.B. heute den Begriff „Selbstständigkeit“ nur deswegen für relativ eindeutig, weil wird uns längst einem „langatmigen“ Diskurs anvertraut haben. Wissenssoziologisch wird hier das Wissen über das Wissen relevant. Dies umfasst auch ein ausweitbares Wissen über
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die Grenzen und die Irritierbarkeit kommunikativ praktizierten und vermittelten Wissens: „Grenzthemen“ und „Grenzbegriffe“. Dass Kinder lernen, ist kein neues Phänomen. Dass sie aber möglichst früh lernen sollen, „selbstständig“ zu lernen haben und Eltern unter dem Druck beruflicher und häuslicher Flexibilisierung die Last der Unselbstständigkeit der Kinder kaum noch ertragen können, ist in den letzten Jahrzehnten deutlich geworden. Und wo solche Erwartungen diskursiv geschürt werden, ist eine Eigenphase Kindheit eigentlich gar nicht mehr zwingend nötig. Wir sprechen heute über „Selbstständigkeit“ mit vergleichbarer Selbstverständlichkeit, wie frühere Menschen ganz selbstverständlich von der „Notwendigkeit von Zucht“ sprachen, als hafteten diese Attribute den Kindern wie eine feste Eigenschaft an, während sie primär doch auf einem diskursiven Urteil beruhen. Im Unterschied zum kleinen Kind, so wird allgemein angenommen, habe der Erwachsene für sich selbst zu sorgen (Krebs 2002: 290; Rauschenbach 1991: 212). In Wirklichkeit sind weder alle Erwachsene in jeder Hinsicht in allen Bereichen und in jedem Augenblick selbstständig und Kinder unselbstständig. Verräterischerweise fügen wir meistens hinzu: normalerweise, in der Regel etc. … Eine schlechte Eltern-Kind-Beziehung wird auch durch die Selbstständigkeit des Kindes nicht besser und eine gute durch Unselbstständigkeit nicht schlechter, was natürlich nicht als Plädoyer für Unselbstständigkeit missverstanden werden darf. Das Kind ist zwar (wie der Erwachsene) auch ein „Mängelwesen“ (Gehlen), mindestens genauso wichtig ist aber, dass es auch ein „Möglichkeitswesen“ (Musil) ist. Das haben gerade die verschiedenen Diskurse in der Moderne deutlich gemacht (Joas 1992: 118, 257ff.). Der Erwachsene ist nicht nur ein rationales und das Kind nicht nur ein irrationales Wesen. Beide sind in „Mischungen“ wie in „Extremen“ antreffbar. Die Frage der Dosierung, des Durchdringungsgrades, der Mischungsverhältnisse, der Schwankungen, also der Modalitäten, können künftig in anthropologischer Reflexion und Bildgebung nicht mehr unterschlagen werden. Anthropologie ist kein Metadiskurs, sondern die diskursive Quintessenz und Präsenz des Menschen, auch die Identität des Kindes (Bourdieu 1996: 25, 83, 103). Unter spezifischen Bedingungen ist dabei die kritische Distanz ebenso möglich wie die bestimmte, immer historische Ausweitung und Universalisierung aber nicht eine komplette Universalität ohne Rekontextualisierungeffekte. Ein erster Schritt dazu eröffnet die Frage: Was machen Diskurse mit Menschen, die Kinder „sind“, in den Augen von Erwachsenen und Kindern. Paradoxerweise ist diese anthropologische Definitionsausgangslage dadurch charakterisiert, dass zugleich Knappheit und Überfluss der Definitionschancen bestehen.
8.11 Sozialgeschichtlicher Hintergrund und Kontrast Einer sozialgeschichtlichen Betrachtung stellt sich die Aufgabe (Honig 2002: 325), die Soziogenese der kulturen Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern im Lichte der historischen Kontexte zu untersuchen. Sie liefert dabei so etwas wie die Hintergrundfolie für das Verständnis geringer oder starker Resonanz der öffentlichen Diskurse und bildet zugleich einen Kontrast zur Diskursgeschichte, die sozusagen den Horizont der Sozialgeschichte bildet. Gegenüber modernisierungstheoretischen, linearen, periodenübergreifenden Vorgehen ist aber mancher Vorbehalt angebracht. Vormoderne Relikte finden sich auch noch in der modernen, vergleichsweise moderne Aspekte in der vormodernen Gesellschaft.
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Das Bild einer homogenen Modernisierung ist fragwürdig. Modernisierung kann daher nur ein rein heuristischer Gesichtspunkt unter anderen sein (von Kondratowitz 1999: 142f.). Auch der kindliche Status ist nicht durchweg konsistent und evolutionsbestimmt. Immerhin kann eine offene Modernisierungsforschung zeigen, dass sich der erfolgreiche Diskurs des modernen Individuums auch auf Kinder auswirkt (Taylor 1994: 367). Eine überragende Bedeutung besaßen die Genealogie, die Nachkommenschaft und das Erbrecht in der vormodernen (großen) Haushaltsgemeinschaft. Diese stellte eine Variante des „ganzen Hauses“ dar, die mindestens in der idealisierenden Vorstellungswelt, häufig aber auch in der Lebenspraxis das gesellschaftliche Leben bestimmte. Es wäre unzulässig, daraus abzuleiten zu wollen, dass Kinder in der spätmittelalterlichen Gesellschaft mehr als „ganz normal“, d. h. beiläufig Beachtung im Haus fanden. Wir finden zu dieser Zeit allenfalls einen rudimentären Begriff von der Eigenart von Kindern (van Dülmen 1995: 80f.). Doch um 1500 zeichnete sich eine ganz neue gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber Kindern ab, was viele Gründe hat. Ein wesentlicher Grund ist der, dass die vielen Waisenkinder aber auch Kinder armer Eltern – Armut betraf in den Städten bis zu 40 % der Bevölkerung – im ganzen Mittelalter sich in Bettlerhorden zusammenrotteten und damit unangenehm auffielen. Diese Erscheinung verstärkte sich noch nach Hungersnöten, Epidemien und Kriegen; ganz besonders im 30jährigen Krieg. Andererseits machte aber vor allem auf dem Land die Tatsache, dass Kinder schon früh, spätestens im 7. Lebensjahr, vereinzelt schon mit 4 Jahren, als Arbeitskraft an Nachbarn oder auch (weiter weg wohnende) Verwandte „ausgeliehen“ wurden, Kinder im Alltag unsichtbar (Mitterauer 1979: 76; Laslett 1991: 70). Es gab genau genommen keine auch nur annähernd gleiche Kindheit bei den verschiedenen Ständen, den Bauern, Handwerkern, Stadtbürgern oder dem Adel. Und es gab auch bei aller Beharrenskraft der vormodernen Gesellschaft keine wenigstens in jedem Stand transregional und temporal homogene und stabile Kindheit. Es traten ganz zeitbedingte Extreme und dann wieder relativ unauffällige typische ständische Formen auf. Kinder konnten im Mittelalter kindliche Herrscher (z.B. Friedrich II) sein, oder als Heilige verehrt werden. Sie waren Kindersoldaten, Kinderprostituierte, Kinderbischöfe am Nikolaustag, Teilnehmer der Kinderkreuzzüge (1217-1221), relativ unabhängige Wallfahrer, Sittenpolizei (Savonarola), Agenten der örtlichen Sozialkontrolle (Fastnacht, Charivari, Fest der „unschuldigen Kinder“) (Hermann 1987: 133f.; Mayer 1995; Piper 1998; Vassas 2005; Flandrin 1978). Die „normale“ ständische Kindheit durchlebten Kinder in der Stadt und auf dem Land extrem unterschiedlich; oft in schlechter Gesundheit, in materieller Not und geringer Ausbildung. Es verwundert eigentlich nicht, dass von unbeschwerten Beziehungen zu den Eltern nicht oft die Rede ist. Die Verantwortung der Eltern wurde immer wieder von kirchlicher Seite eingefordert, weil sie offenbar nicht selten vernachlässigt wurde. Und Kinder waren offenbar keineswegs in jedem Fall dazu verpflichtet, ihre verarmten Eltern zu unterstützen (Borst 1979: 56ff.). Die Qualität der Beziehungen war daher sehr stark von der konkreten sozialen Lage und Lebenssituation noch weit mehr als heute abhängig (Shahar 2002: 18ff.). Allerdings waren alle Kinder fest eingebunden in die Halt bietenden Rhythmen, Sitten, Regeln, Gebote, Hilfsverpflichtungen und Rituale ihrer lokalen Lebenswelt. Das lokale Milieu, das eine feste Wirtschafts- und Lebenseinheit bildete, war ganz fest ins Dorf oder Stadtquartier sozial integriert, so dass es fast unmöglich erscheint, darin eine „Familie“ in unserem heutigen Sinn von der Umgebung klar zu unterscheiden (Ariès 1995).
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Von der Wiege bis zur Bahre konnten die Menschen damit rechnen, unspektakulär aber wirksam von diesem Milieu getragen zu werden. Diese starke lokale Verwurzelung bot beides: Rückhalt und penetrante Sozialkontrolle, die keine häusliche Intimität und Privatheit aufkommen ließ. Dabei prägten sicher bis zu einem gewissen Grade die kirchliche Pastoral, christliche Gebote und Verbote und religiöse Praktiken und nicht selten eine tiefe Volksfrömmigkeit das Alltagsleben vom Morgen bis zum Abend im Sinne des Kirchenjahres (Hardach 1981; Imhof 1983). Es wäre freilich Schönfärberei zu übersehen, dass die kirchliche Lehre nicht immer beachtet wurde, und auch die Ortskirche manchen Kompromiss mit mythologischen Deutungen und magischen Praktiken einer im Grunde immer heidnisch gebliebenen Volkskultur eingegangen war. Kinder erlebten, dass Kindheit nicht mit der Geburt, sondern eigentlich erst mit der Taufe begann. Sie sahen ihr Leben durch eine strenge Sequenz klarer kirchlicher und weltlicher Statuspassagen gegliedert (van Dülmen 1995: 55f., 80), wobei es fließende Übergänge zu dem gab, was wir heute als „Jugend“ unterscheiden. Eigentliche „Kindheit“ war oft wesentlich kürzer als heute, während der rechtliche Unmündigkeitsstatus, den man damals mit „Kindheit“ assoziierte, bis zum 40. Lebensjahr anhalten konnte (Mitterauer 1986). Viele Kinder fanden in dieser Zeit keinerlei intentionale Erziehung außer der religiösen Unterweisung durch die Ortsgeistlichen. Dabei deckten sich die Absichten der regionalen Grundherrschaft, der Ortsgeistlichen und der autochtonen Volkskultur nicht immer (Labouvie 1990). Reformation und katholische Gegenreformation veränderten auch den Alltag auf die Dauer beträchtlich. Die „Zeit der Kirche“ begann immer mehr der „Zeit der Händler“ zu weichen. Das veränderte die Rhythmen der alltäglichen Lebensführung ebenso wie die lebensgeschichtlichen Sinnkonstruktionen. Erste Verbote eines bürokratischen Zentralismus, eines Anspruches auf ein staatliches Gewaltmonopol und einer „protoindustriellen“ wirtschaftlichen Arbeitsteilung und Zeitmanagements wurden wirksam. Langfristige Gesellschaftsbeobachtung und Sozialdisziplinierung gerade auch der Kinder erschienen als unerlässlich, wenn territorialstaatliche „Wohlfahrt“ vorankommen wollte. Der spätere Zugriff spezieller Institutionen der Wissensvermittlung und Charakterbildung für Kinder ist ohne diese politische und ökonomische Wandlung der Gesellschaft nicht richtig verständlich. Wenn man schon einen familienähnlichen Kern des lokalen Milieus etwas abheben will, so ist bis ins 18. Jahrhundert davon auszugehen, dass dies eine der regional und temporal unterschiedlichen Varianten des „ganzen Hauses“ war, das immer auch nichtverwandte Personen umfasste. Emotionale Beziehungen zwischen Eltern und Kindern kamen zwar vor, fielen aber offensichtlich deswegen auf, weil nüchterne eher die Regel waren. Jedenfalls waren sie für das Zusammenleben nicht konstitutiv. Konstitutiv waren die Ehre und das ökonomische Funktionieren des Hauses unter Führung des Hausvaters. Man muss sich hier aber vor Augen halten, dass es keine uns selbstverständliche Privatheit und strukturelle Isolierung von der Nachbarschaft, der örtlichen Gemeinschaft und der Kirchengemeinde gab. Was Kinder lernen mussten, das lernten sie zum großen Teil durch Nachahmung und nicht nur bei ihren Eltern. Alle Mitglieder des Hauses, Nachbarn und Verwandte etc. beobachteten und kommentierten das häusliche Leben und versuchten sich ganz selbstverständlich einzumischen. Und nach getaner Arbeit, die manchmal, besonders in Erntezeiten, schwer war, hatten Kinder anscheinend viel Zeit relativ unbeaufsichtigt zu spielen. Was im Haus und auf der Straße nicht zu lernen war, lernten sie eben nicht. Das war natürlich im Adel und im Stadtpatriziat ganz anders. Hier erfuhren Kinder in Kloster- und Stadtschulen
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früh eigens Unterricht. Die Stadtbürger versuchten dabei im Spätmittelalter die Lebensart des Adels zu kopieren. Dabei wurde ihr Familienleben aber viel privater als das des Adels. Man führt die Entstehung der modernen Familie meist auf die Trennung von Produktion und Wohnung zurück. Das ist wohl nicht falsch, aber übersieht den kulturellen Wandel, der den ökonomischen bedingte und begleitete und die Wechselwirkung von Emotionen und materiellen Interessen (Medick 1984). Genau genommen kann man allgemein erst in der bürgerlichen Familie des 18. und 19. Jahrhunderts von besonderen Eltern-Kind-Beziehungen ausgehen. Enge Beziehungen bestanden oder sollten normativ besonders zwischen der Mutter und ihren Kindern bestehen. Diese Vorstellungen setzten sich aber erst ganz allmählich in der gesamten Gesellschaft durch. Auch die Schule öffnete sich erst allmählich Kindern aller Bevölkerungsschichten und wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zur öffentlichen Schule mittels Schulpflicht. Die modernen Territorialstaaten betrieben teilweise schon um 1800 eine gezielte Bildungs- und Gesundheitspolitik. Die erste Wurzel der Bildungspolitik lag aber nicht nur in philanthropen Wohlfahrtskonzepten, auch nicht in der Absicht der Qualifikationssteigerung, sondern in der sozialdisziplinierenden Absicht, die Kinder von den Straßen zu holen und damit größere Sicherheit zu schaffen. Neben die Schule trat langsam auch der Kindergarten. Beide wurden als Ergänzung und Unterstützung der Familienerziehung gedacht, gewannen aber zunehmend an Eigenbedeutung (Blankertz 1987: 935ff.). Unverkennbar war ihr zentrales Sozialisationsziel neben Qualifikation und Selektion die Vermittlung einer Leistungsbereitschaft, die später im Beruf vorausgesetzt werden konnte (Schlumbohm 1983: 21). Die Situation der Arbeiterkinder bot dafür noch um die Wende zum 20. Jahrhundert geringe Voraussetzungen, weil diese Kinder oft in materieller Not und mit geringen kulturellen Anregungen lebten. Verdeckt wird dabei die Tatsache, dass die Schule die zuvor beachteten Arbeitsbeiträge von Kindern durch ihre pädagogische Ausrichtung vollkommen entwertete. Sozialgeschichtlich zeichnen sich erhebliche Unterschiede zwischen den traditionellvormodernen, den protoindustriell-frühindustriellen (1750-1850), den industriellen (ab 1850) und den postindustriellen Lebensverhältnissen der letzten Jahrzehnte ab, die sich auch im kindlichen Leben auswirkten. Arbeit und Ausbildung, Produktion und Konsum, Privatheit und Öffentlichkeit kommen damit immer wieder in ein neues Spannungsverhältnis. Vielleicht ist in Zukunft auch wieder ihre Reintegration möglich (Wintersberger 1998: 77ff.; 2005: 181ff.). Während Kindheit noch im 19. Jahrhundert überwiegend ländliche Kindheit war, häuften sich schon damals die Fälle, in denen Kinder aus Arbeiterhaushalten außerhalb ihrer Familie schwere Arbeiten in Fabriken zu leisten hatten. Ab 1843 gab es gewisse Schutzrechte, die aber erst im 20. Jahrhundert zum Verbot der Kinderarbeit führten. Vieles deutet daraufhin, dass dies nicht aus Philanthropie geschah, sondern in erster Linie deswegen, weil die ökonomische und technische Entwicklung selbst Kinderarbeit überflüssig machte. Die sozialgeschichtliche Entwicklung wurde natürlich durch die Anfänge der Sozialpolitik der europäischen Nationalstaaten Ende des 19. Jahrhunderts und durch die Verwerfungen tief beeinflusst, die der Erste und Zweite Weltkrieg anrichteten. Auffällig ist die allgemeine, aber dennoch milieuspezifische Wohlstandssteigerung, die sich schon vor der „sanften Revolution“ 1989 allerdings als „kurzer Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz) entlarvte und heute wieder klassenartige Polarisierungen sichtbar werden lässt. Zunächst dehnte sich also in den letzten 200 Jahren Kindheit bei immer mehr Kindern aus und wurde zur institutionalisierten Lebensphase des Lernens und Spielens. Im 20. Jahr-
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hundert strukturierte sie zunehmend bildungs- und sozialpolitisch verbindliche soziale Karrieren des Kindergartens und der Schule, aber zunehmend auch außerschulische Scholarisierungsprozesse. Die Bedeutung von Kindheit liegt nicht nur auf der Ebene kultureller Diskurse, sondern auch im Arbeitsbeitrag, den Kinder innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erbringen sollen und können, der sich – im Sinne eines erweiterten Arbeitsbegriffs einer „Tätigkeitsgesellschaft“ – keineswegs nur in volkswirtschaftlichen oder gar nur betriebswirtschaftlichen Kategorien fassen lässt. Erwachsene und Kinder werden sich in Zukunft über die möglichst gerechte Verteilung kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitals im Sinne von Bourdieu (1992: 135ff.) einigen müssen.
8.12 „Normale“ und „exzentrische“ Kindheiten Dass Kindheit in einer modernen Transformationsgesellschaft mit ihrem forcierten und ungleichzeitigen sozialen Wandel dauernd zwischen Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung sozial konstruiert werden muss, zeigen nicht nur die sich ändernden Normalitäten, die vornehmlich „Mischungen“ darstellen, sondern auch die „Extreme“. Beide zusammen markieren erst den Möglichkeitsraum jeweiliger sozialer Konstruktionen. Kinder waren Kinderherrscher, Kinderhexen, Kindersklaven, Kindersoldaten, Kinderprostituierte, Sittenpolizei, vollstreckender Arm örtlicher Sozialkontrolle, Teilnehmer des Kinderkreuzzuges, Wallfahrer, Heilige, Ernährer ihrer Eltern. Dies sind alles Phänomene, die wir heute keineswegs mit normaler Kindheit in Verbindung bringen, und die selbst die zur Normalität komplementäre Kategorie „Abweichung“ sprengen. Sie zeigen aber auf, wie enorm breit und widerspruchsreich sich die gesellschaftliche Konstruktion kindlicher Wirklichkeit gestalten kann, und dass das Konzept einer jeweils normalisierten „Entwicklung“ nicht alles abdeckt. Sie offenbaren auch, dass die Unterscheidungen zwischen Kindern und Jugendlichen nicht immer scharf und überall und zu jeder Zeit gleich gezogen wurden. Als „Kind“ wurde damals beispielsweise auch der junge normannisch-sizilianische Stauferkaiser Friedrich II. allgemein empfunden, der im Schatten seines Vormunds, des machtbewussten Papstes Innozenz III., im jugendlichen Alter seine Herrschaft antrat, 1215 zum König und danach zum Kaiser gekrönt wurde. Er imponierte seinen Zeitgenossen nicht nur durch seine strategischen und staatspolitischen Fähigkeiten, sondern auch durch seine ungewöhnlich breite Bildung und seine für die damalige Zeit ganz unübliche Toleranz gegen fremde Völker und deren Kultur und Religion (Bosl 1978: 216). Dies zeigt, dass das jugendliche Alter im Mittelalter, besonders im Adel, nie ausschloss, dass Kinder unter bestimmten Umständen auch (politische) Verantwortung übernehmen konnten. Eine „exzentrische“ Qualität zeigt Kindheit auch beim sozialen Phänomen des Kinderkreuzzuges (1212), in dem Kinder und Jugendliche in großer Zahl aus dem Rheinland und Lothringen nach Italien zum Kreuzzug ins Heilige Land aufbrachen. Ihnen schlossen sich auf ihrem Weg immer mehr „Kinder“ an, die sich auch von ihren Eltern nicht von ihrem „heiligen“ Vorhaben abbringen ließen und dabei jämmerlich scheiterten. Die Aufgabe der Rückeroberung des Heiligen Landes, an der erwachsene, gut gerüstete und trainierte Kreuzritter gescheitert waren, wollten diese Kinder unbewaffnet, ohne Geld und ohne militärische Organisation vollbringen (Mayer 1995: 201ff.; Shahar 2002: 284). Exotisch mutet uns auch die Kinderpolizei an, die der Mönch Fra Girolamo Savonarola (1497) in Florenz ins Leben rief. Sie überwachte oft mit Methoden des Psychoterrors den
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Lebenswandel der Florentiner Bürger und sollte nach Meinung Savonarolas die verkommene Stadtbevölkerung veranlassen, dem Evangelium Jesu Christi gemäß zu leben. Er war aber nicht in der Lage, Auswüchse zu unterbinden und entschuldigte immer wieder ihren Übereifer. Von denselben Kindern wurde er dann selbst, nachdem die politische Stimmung umgeschlagen war, auf den Scheiterhaufen getrieben (Piper 1998). Kindheit war lange Zeit keine gesamtkulturelle, stabile und konsistente Lebensphase und Lebensform. Neben den ständischen Unterschieden, nach der Geschlechterdifferenz und episodischen Unterschieden spielte auch eine Rolle, ob Kinder getauft oder nicht getauft, behindert oder nicht behindert, gesund oder krank waren. Und zwischen Kindern und Jugendlichen wurde lange nicht streng unterschieden. Im Wesentlichen war Kindheit kein Ergebnis der Altersdifferenz sondern der soziokulturellen Zuschreibung. Bei bestimmten Ereignissen und Anlässen trat Kindheit kurzfristig und episodisch grell in Erscheinung, trat dann aber wieder ins Dämmerlicht des gewöhnlichen Alltags zurück. Der Nikolaustag, Fastnacht, das Fest der „unschuldigen Kinder“ am 28. Januar und die in ganz Europa anzutreffenden Charivari-Feiern (Haberfeld-Treiben) waren solche Gelegenheiten. Am Nikolaustag (6.12.) kam nicht nur der St. Nikolaus zu den kleinen Kindern. Es konnte vielmehr auch ein Kinderbischof gewählt werden, der bis zum 16. Jahrhundert in der Kirche und dem Kirchensprengel diesen Tag zu einem Festgelage der Kinder, zu Spendensammlung, Tanz, Spiel und Schabernack werden ließ (Shahar 2002: 210ff.). Bei den Charivari-Feiern heizten Kinder und Jugendliche – sozusagen im informellen Auftrag der Dorfgemeinschaft – als episodische Sozialkontrolle lokalen Außenseitern, z.B. den „gefallenen Mädchen“, mächtig ein und stellten sie vor der Dorföffentlichkeit gnadenlos bloß, ohne dass die Erwachsenen zur Mäßigung rieten (Flandrin 1978). Unkundige Beobachter hätten an diesen Tagen glauben können, dass Kinder in der mittelalterlichen Gesellschaft Deutschlands, Frankreichs, Englands oder Spaniens eine große Rolle spielten. Doch die erwähnten Vorgänge waren eben bloße Episoden und eher „Ventilsitten“, die an der vergleichsweise marginalen Stellung des Kindes nichts änderten. De Mause u.a. berichten bekanntlich, dass Kinder als Kinderhexen, Kindersoldaten, Kindersklaven, Kinderprostituierte, Straßenkinder, Schwerarbeiter anzutreffen sind und oft massiv misshandelt oder getötet wurden. Im Gegensatz zur fortschrittsoptimistischen Auffassung von de Mause gibt es solche Phänomene noch heute in nicht geringer Zahl; nicht nur in den Ländern der so genannten „Dritten Welt“. Kinder werden in Afrika und Südamerika immer wieder in Bürgerkriege hineingezogen und brutal instrumentalisiert. Straßenkinder treten seit einigen Jahren nicht nur in der Zweidrittelwelt des globalen Südens, sondern mittlerweile auch in allen Großstädten westlicher Gesellschaften auf. Oft werden Kinder durch Erwachsene oder Umstände so stark konditioniert, dass sie aus fragwürdigen Lebensformen selbst mit sozialpädagogischer Unterstützung nicht mehr herausfinden und selbst am „Abenteuer“ des „Kriegshandwerks“ etc. Gefallen finden (Ennew 1993). Es lässt auch aufhorchen, wenn heute in den Medien von massenhaften, kommerziell betriebenen Kinderporno-Ringen berichtet wird, Das Bild des sozial akzeptierten Kindes ist weder unerschütterlich noch naturwüchsig. Weder „Mutterliebe“ noch „Kindchenschema“ funktionieren voraussetzungslos und automatisch, auch wenn sie manchmal noch in unserer Kultur als „Instinkt“ verstanden werden. Lange Zeit konnten Kinder auch zu anderen Personen als den Eltern eine dominierende emotionale Beziehung haben, ohne dass dies als pervers gegolten hätte. Großmutter, Amme, Tanten und Onkel und sogar Dienstboten genossen nicht selten größere Zuneigung als
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Eltern. Entweder stellte sich Liebe zu den Eltern im Einzelfall spontan ein oder nicht. Sie wurde nicht einfach als „gesollt“ oder normativ vorausgesetzt. Deswegen konnte man u.U. immer noch seine Eltern ehren (van Dülmen 1995: 106, 108). Erst, wenn sozusagen das ganze Dorf oder Stadtviertel Kopf stand, griff die weltliche Obrigkeit oder der Ortspfarrer in die Verhältnisse im Hause ein. Jenseits aller sozial akzeptierten Sozialisation wachsen Straßenkinder auf. Selbst die übliche „Straßensozialisation“ kann damit nicht verglichen werden. Diese Kinder fallen auch noch heute weitgehend durch die Raster der zuständigen Kinderinstitutionen und sogar der Sozialadministration (von Dücker 1992; 2001). Gegen Erwachsene misstrauische, scheue, bettelnde, u.U. drogensüchtige Kinder sind keine neue Erscheinung. Solche Kinder fielen schon in mittelalterlichen Städten hin und wieder unangenehm auf. Gegen sie richtet sich nicht zuletzt die Strategie der Sozialdisziplinierung ab dem 16. Jahrhundert (Foucault 1977). Doch die drastischen Maßnahmen gegen Straßenkinder z.B. in Südamerika, die ja z.T. von Polizei oder „Todesschwadronen“ wie Kaninchen gejagt und abgeschossen werden, ist keineswegs ein Relikt der Vormoderne, und sie gehen über die sozialdisziplinierenden Maßnahmen unserer eigenen Sozialgeschichte noch deutlich hinaus (van Dülmen 1992: 9). Ganz übersehen wird oft auch, dass Straßenkinder nicht nur Praktiken abweichenden Verhaltens beherrschen, sondern manchmal in geradezu rührender Weise ihre Familie zu unterstützen suchen (van Dücker 2001: 127ff.). Kinder, die lange in der Anormalität gelebt haben, finden schwer in die Normalität zurück, weil sie ihre eigene Situation zunehmend als normal und die der Normalen als anormal, problematisch, verlogen oder spießig ansehen. Genau besehen waren Kinder nie nur Adressat pädagogischer Überlegungen und Maßnahmen, sondern manchmal auch „Objekt der Begierde“ und der Furcht der Erwachsenen. Entwicklungspsychologische Normalitätsparameter helfen hier nicht weiter, wenn sich ganze Kulturen oder beachtliche Teilkulturen in den „Masken des Begehrens“ spiegeln (Ariès 1984). Kindheit war nicht immer „kindlich“, und sie war viel öfter nicht „kinderleicht“ als das Erwachsene gemeinhin annehmen. Sie geht in keiner flüchtigen Durchschnittsnormalität auf. Viele Kinder setzen sich auch über Verbote und gute Ratschläge hinweg und geraten in verführerische Situationen, mit denen sie dann schwer fertig werden. Vielen Kindern fehlt auch der Sinn für Folgen ihres Tuns. Rasch rutschen Kinder manchmal in eine Gegenwelt, die ihr Gefühl für Macht und aggressive Durchsetzung steigert. Nicht immer liegt das abweichende Verhalten nur an den Eltern.
8.13 Die Problematik evolutionistisch-modernisierungstheoretischen Denkens Die Modernisierungstheorie versucht zu beschreiben und zu erklären, dass und wie die Moderne Einzug in Gesellschaften gefunden hat. Moderne meint dabei eine Form des forcierten gesellschaftlichen Wandels, in dem nicht mehr das „Bewährte“ oder die Tradition, sondern das jeweils Neueste, die Innovation, als gesellschaftliches Legitimationskriterium gilt. Daraus folgt eine Pluralität der Lebenswelten, der Gruppen, der Meinungen, der Werte und des Wissens für unterschiedliche, funktional differenzierte Handlungssphären sowie eine Individualisierung der Chancen und Risiken. Oft werden diese komplexen Entwicklungsprozesse mit linearen Trends der Rationalisierung, Säkularisierung, Urbanisierung und Industrialisierung in Verbindung gebracht.
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Die meisten Arbeiten der Kindheitsforschung berufen sich auf die Modernisierungstheorie. Neuerdings werden sie jedoch nicht müde, auf Gegenbewegungen, Brüche und Resistenzen hinzuweisen. Viele beziehen sich dabei auf das Individualisierungstheorem U. Becks, der vom Ende der „ersten“ und vom Beginn der „zweiten“ oder „reflexiven“ Moderne spricht, in der sozusagen die Modernisierung auf sich selbst zurückgeworfen wird und dadurch eine Modernisierung der Modernisierung auslöst (Beck 1986: 39; Fuhs 1999: 18f.). Wenn aber Modernisierung immer nur ein partieller, d.h. begrenzter und gebrochener Prozess ist und noch zusätzlich dadurch irritiert wird, dass Modernes sich im Vormodernen, Vormodernes und Postmodernes im Modernen findet und manchmal ein Sammelsurium von vormodernen, modernen und postmodernen Elementen zu entdecken ist, was Beck (1986) eine „reflexive“, Münch (1991) gar die „dritte Moderne“ nennt, ist es sinnvoll, mit K. Mannheim oder E. Bloch von der „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ oder der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auszugehen. Das Modernisierungskonzept kann dann durchaus aber als heuristisches und sensitives Konzept im Sinne einer historischen Modernisierungsforschung weiterbenutzt werden. Ein evolutionäres Gesamtmuster von Modernisierung muss folglich „als ein Trugbild der Moderne“ (Arnasson) verabschiedet werden. Auch die „Globalisierung“ ist keine „einfache Moderne“ mehr, sondern umfasst mehrdimensionale, ungleichzeitige und paradoxienreiche Vorgänge, die auch einen einheitlichen Systembegriff in Frage stellen und es angemessener erscheinen lassen, von multiplen globalen Kontexten oder Strukturen zu sprechen. Es ist dann aber nicht mehr konsequent, wie dies die meisten Autoren der Kindheitsforschung tun, von der heutigen Kindheit als „Ausdifferenzierung“ eines irgendwie homogenen Modernisierungsprozesses in einem Teilbereich zu sprechen (Fuhs 1999: 17). Die (Selbst-) Kritik der Modernisierungstheorie bleibt damit folgenlos. Die Disparitäten und Verschiebungen zwischen makro-, meso- und mikrosoziologisch relevanten Prozessen und die vielfältigen Überraschungen werden simplifiziert zu einer bloßen Sonderentwicklung in einem Teilbereich. Und es bleibt – trotz aller verbalen Einschränkungen – doch bei einem quasiteleologischen Trendmodell zwischen einer binären, traditionellen oder modernen Kindheit. Demgegenüber käme es bei einer konstitutionstheoretischen Akzentuierung darauf an, die Aufmerksamkeit auf die historischen Ursachen der auffälligen Variabilität der Entwicklungswege und Modernisierungsverläufe zu richten. Eine modernisierungstheoretische Blickrichtung in der Kindheitsforschung geht im allgemeinen nicht nur ziemlich schematisch vom Übergang einer traditionellen zu einer modernen Kindheit aus, sondern unterstellt mehr oder minder deutlich eine lineare Substitution des kulturellen Verständnisses der Kindheit als Objekt der Sozialisation durch ein Konzept des Kindes als Subjekt in gesellschaftlicher Wirklichkeit. Entgegen ihren allgemeinen Verweisen auf Brüche in der Modernisierung thematisiert sie damit eben faktisch nicht die Resistenzen, Fragmentierungen und reflexiven Reaktionen, „Rückblenden“ und widersprüchlichen Weichenstellungen verschiedenartiger Entwicklungswege. Dies gilt auch dann noch, wenn sie abstrakt von graduellen Abstufungen und Mischungen innerhalb eines idealtypischen Kontinuums „traditionelle“ und „moderne“ Kindheit spricht. Ursprünglich hatte die Modernisierungstheorie die Entwertung des Senioritätsprinzips und des vormodern dominierenden Status des alten Menschen, speziell des patriarchalischen alten Mannes, als Ursache des Statuswandels des Kindes betrachtet (Renner 2002: 167; von Kondratowitz 1999: 242f.). Der Arbeitsmarkt der Industriegesellschaft habe zwar
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vorrangiges Interesse für den arbeitsfähigen Erwachsenen. Das schließe jedoch nicht den längerfristigen Blick auf die Bedeutung des Kindes als künftiges „Humankapital“ aus. Im Grunde ist aber diese Prämisse durch die Erosion der „Normalbiographie“ und die Norm lebenslangen Lernens als Kriterium der Inklusion in den Arbeitsmarkt unter Globalisierungsaspekten längst entfallen. Die Modernisierungstheorie ging auch davon aus, dass die Entkopplung von Produktion und Reproduktion in jedem einzelnen Fall durchgängig und irreversibel ist, was durch neue technologische und organisatorische Entwicklungen jedenfalls nicht mehr zwangsläufig erscheint. Als Folge der funktionalen Differenzierung sollte der Primärsozialisation die fundamentale Aufgabe obliegen, Kinder für Wirtschaft und Staat funktionsfähig, belastbar und loyal zu machen. Die Schule sollte dann in sekundärer Sozialisation, allgemeinbildendes und berufsvorbereitendes Wissen, Grundqualifikationen und zentrale Werte vermitteln und abrunden und die Kinder in Stand zu setzen, von einer partikulären zu einer universalen Orientierung hinzufinden. Es ist allerdings fraglich geworden, ob eine fragil gewordene und pluralisierte Familie und eine Schule, die immer mehr sozialpädagogische Aufgaben übernehmen soll, in der Lage sind, einer wachsenden Konkurrenz vielfältiger Sozialisationsinstanzen zu widerstehen. Und die Schule hat schon vor langer Zeit die intergenerationale Wissensvermittlung unterhöhlt und wird selbst durch immer mehr selbstorganisierte, öffentliche, vor allem kommerzielle und mediale, außerschulische Scholarisierungsprozesse selbst stark relativiert. Unverkennbar zeigen sich somit Entwicklungswidersprüche bei den Optionen und Probleme, die Konsequenzen von Fehlentscheidungen aufzufangen. Das erzeugt immer wieder Wissensklüfte und Disparitäten des Wissens. Der Modernisierungsprozess wird damit so komplex, dass nichts Anderes übrig bleibt, als historische Konstellationen zu beschreiben (Wagner 1995: 51). Die Kindheitsforschung kann jedenfalls nicht länger die fundamentale Mehrdeutigkeit modernisierungstheoretischer Argumentation übersehen, die darin besteht, dass Subjektivierung sich institutionalisiert und Autonomie von Personen oder Gruppen sich nicht einfach addieren lassen, sondern die Deinstitutionalisierung, Beherrschung oder Abwertung einer anderen Person oder Gruppe zur Folge hat. Modernisierung ist nicht nur Themenwechsel und wachsende Rationalisierung. Auch die Irrationalität wächst mit. So hat etwa die Verlängerung der Lebenserwartung sowohl für die alte wie jüngere Generation auch problematische Folgen. Die Alten lassen sich in die Falle der Juvenilisierung locken und die Jungen betrachten voll latenten Misstrauens die Folgen einer „überalterten Gesellschaft“ für das eigene Leben. In diesem Klima erheben sich Forderungen wie die Rationierung der Medizin für über 60-Jährige (in England) und die Forderung nach einem neuen „Generationenvertrag“ (Hengsbach 2002). Schon daran wird deutlich: Themenwechsel läuft auf einen Machtwechsel hinaus. Dieses Wissen verweist auf jeweils andere Möglichkeiten, auf die eine Generation zurückgreifen kann. Modernisierung verläuft also nie unilinear, sondern verändert das Verhältnis zu Institutionen und Generationen, die ihrerseits auf diese Veränderung reagieren. Auch der Kinderalltag moderner Kinder braucht nicht für alle Kinder zu jeder Zeit moderner werden.
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8.14 Historische Kinderstuben von Adel, Bauern und Bürgern Die moderne bürgerliche Kultur war lange Zeit so dominierend, dass sie für die Kultur schlechthin angesehen wurde. Ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen, ihre begrenzte Reichweite und inneren Widersprüchen wurden selten deutlich vermerkt (Wagner 1995: 176). Im 20. Jahrhundert konnte daher der Eindruck entstehen, dass die – nicht nur sozialräumlich zu verstehenden – „Kinderstuben“ generell in die funktionalen Teilsegmente „Gebäranstalt“ (Geburtsstation einer Klinik), in die Familienwohnung, den Kindergarten oder das Klassenzimmer auseinander getreten war. Ganz in diesem Sinne lässt sich auch die erstaunliche Vorverlagerung des Kindseins in früheste Lebensabschnitte als Effekt eines modernen Zivilisationsprozesses verstehen (Elias 1977): nach der „Verhäuslichung“ der Geburt quasi die des Zeugungsaktes (Prä- und Perinataldiagnostik, Deproduktionsmedizin). Eine der Vorbedingungen war die Senkung der Kindersterblichkeit. Auch die vielen gefährlichen Kinderkrankheiten oder Behinderungen konnten im Laufe des 19. Jahrhunderts zurückgedrängt werden. Dies kann natürlich nicht unabhängig von den gravierenden soziokulturellen, soziopolitischen und sozioökonomischen Veränderungen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert gesehen werden; der zunehmenden Anthropozentrik seit der Renaissance und Aufklärung; dem Entstehen des neuzeitlichen Staates mit seinem außenpolitischen Souveränitätsanspruch und Gewaltmonopol nach innen sowie dem Entstehen der kapitalistischen Marktwirtschaft und der Industrialisierung. Nicht vergessen werden darf darüber freilich, dass die bürgerliche Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts stark von der Ständegesellschaft vorgeprägt worden ist. Auf dem Hintergrund der neuzeitlichen Freiheitskämpfe, die in der Französischen Revolution ihren Höhepunkt fanden, verfolgten die sozialen Kreise des Bürgertums eine doppelte Abgrenzung: vom „schmarotzenden“ Adel und von den städtischen Unterschichten. Den Bauern fühlte man sich ohnehin kulturell überlegen. Adelige Kinder mussten jahrhundertelang nicht arbeiten. Ja, ihnen wurde früh vermittelt, dass dies „unfein“ sei und sich für Adelige nicht schicke. Auch auf strenge Distanz zu den Kindern anderer Stände und dem „gemeinen Volk“ wurde von den Eltern geachtet. Alle, häufig delegierten Erziehungsanstrengungen richteten sich darauf, standesgemäßes Verhalten und Gehorsam einzuüben. Zu diesem Zweck wurden Kinder in die „freien Künste“ eingeführt und auf einen strengen Verhaltenskodex verpflichtet. Aus ganz anderen Gründen als die Kinder von Bauern oder Handwerkern hatten sie daher wenig Raum und Zeit für eine genuin kindliche Lebensphase. Sie wurden von klein auf mit einem rigiden Pflichtenkodex konfrontiert, genossen eine strenge und gezielte Erziehung, waren umfassend überwacht und sozial kontrolliert. Sie konnten etwa nicht damit rechnen, nach Erledigung ihrer Pflichten unbeaufsichtigt spielen zu dürfen. Außerdem waren adelige Kinder noch viel mehr als die Kinder anderer Stände der Hausgewalt des adeligen Hausherrn unmittelbar und vollständig unterworfen. Die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsenheit wurde im Adel durch die Heirat, die oft früh erfolgte, gesetzt (van Dülmen 1995: 113, 121f.). Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts blieben die europäischen Gesellschaften bäuerlich geprägt. Der weitaus größte Teil ihrer Bevölkerung lebte bis dahin auf dem Lande und in bäuerlichen Lebensformen, einem bäuerlichen Lebensstil und einer ländlichen Mentalität. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestimmten die regionale Grundherrschaft und Formen des „ganzen Hauses“ das ländliche Gemeinschaftsleben. Der Alltag der Bauern
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wurde sehr stark von den Jahreszeiten, der Witterung und Natur aber auch – zumal in katholischen Gebieten – durch das Kirchenjahr und die von der Religion vorgezeichneten zeitlichen Zäsuren und Zeitrhythmen des Tages, also der „Zeit der Kirche“ (Le Goff) bestimmt. Neben der Witterung vermittelten unzählige kleine und größere Kriegswirren den Bauern das Gefühl des Ausgeliefertseins. Stabilitätsfaktoren waren hingegen die Volkskultur und die landständische Rechtsordnung sowie, sozusagen hautnah, die obrigkeitliche Gewalt des Hausherrn (Hardach 1981). Ganz selbstverständlich mussten Kinder in Haus und Feld mitarbeiten, sobald sie nicht mehr auf die Pflege der Mutter oder von Dienstboten unbedingt angewiesen waren. Manchmal wurden sie schon mit 4 spätestens aber mit 7 Jahren als Knechte oder Mägde „ausgeliehen“. Auf der Viehweide waren Hütejungen schon früh unabhängig. Ganz allgemein galt, dass Kinder, wenn sie ihre Mitarbeit geleistet hatten, unkontrolliert und unbeaufsichtigt, allenfalls von der Sozialkontrolle des Dorfes beobachtet, spielen konnten. Doch hatte dies immer im Rahmen der väterlichen Allzuständigkeit zu geschehen. Im Haus – nicht in der dörflichen „Öffentlichkeit“ – hatte das Kind durchaus eine erbrechtliche und arbeitsbedingte Bedeutung sozusagen in einem sachrechtlichen Sinn als soziales „Inventar“, aber nur in relativ seltenen Fällen oder ansatzweise als selbstständige Persönlichkeit und Liebesobjekt. Es fiel jedenfalls nicht sonderlich auf, wenn das Verhältnis nüchtern war. Die Einbindung des Kindes in den bäuerlichen Haushalt war offensichtlich nie vollständig, was Kindern eine beachtliche Freiheit verschaffte (Schlumbohm 1993: 9f.). Es gab durchaus so etwas wie „Gassenfreiheit“, die sich zu bestimmten Anlässen, z. B. am Nikolaustag, ausdehnen konnte. Wahrscheinlich war das städtische Bürgertum schon im Spätmittelalter die treibende Kraft des gesellschaftlichen Wandels. Hier deutet sich die künftige Form der nachständegesellschaftlichen Sozialstruktur bereits an. Die Zünfte regelten ja nicht nur rigide und detailliert die geschäftlichen Belange und die Lehrlings- und Gesellenausbildung und deren Status, sondern auch die Familienfähigkeit und den allgemeinen Lebensstil. Er betonte in der Spannung zum städtischen Markt das Recht auf eine Privat- und Intimsphäre. Erst in einer Privatwohnung (ab dem 15. Jahrhundert) konnte sich so etwas wie eine feste Rollendifferenzierung und eine spezielle Sozialisation und Erziehung des Kindes abzeichnen. Aber immer noch war auch der einzelne Handwerksmeister vor der Zunft verantwortlich für die Zustände seines Hauses und die religiös-sittliche Erziehung seiner „Lehrkinder“. Doch breitete sich in den Städten des 15. und 16. Jahrhunderts auch bereits ein spezielles Schulwesen aus. Wesentlich stärker als in bäuerlichen Haushalten war hier auch das Alltagsleben der Kinder reglementiert, doch nicht in dem Maße und exklusiv wie im Adel. Durch die städtischen Märkte wurde nicht nur eine Privatsphäre (als künftige Möglichkeit) vorgezeichnet, sondern auch eine Relativierung des „ganzen Hauses“ und der lokalen Sozialkontrolle. Vor allem ab Mitte des 18. Jahrhunderts bildete sich die bürgerliche Kleinfamilie nicht nur aufgrund ökonomischer Veränderungen, der Trennung von Produktion und Reproduktion, im marktbezogenen Betrieb oder Handelskontor, sondern auch auf dem Hintergrund kultureller Verschiebungen und einer sich herausbildenden Privatsphäre, die sich gegenüber dem lokalen Milieu immer mehr strukturell zu isolieren begann. Nun wurde der Mann zum Alleinernährer und die Frau auf die spezielle Rolle der Hausfrau und Mutter zurückgedrängt. Der Vater sollte nun die „instrumentelle“ und die Frau die „expressive“ Rolle übernehmen. Dem Kind wurde eine spezielle „Kinderrolle“ angesonnen, die durch Lernen und Spielen und differenzierte soziale Karrieren in Kinderinstitutionen normativ definiert wur-
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de. Kindheit war zu allererst und vorrangig bürgerliche „Familienkindheit“ und an die Familienwohnung gebunden. Sie sollte von einer subsidiären „Schulkindheit“ flankiert werden. Und zur „natürlichen“ Ausstattung der Kinderrolle gehört nun eine spezielle, normative Liebe der Kinder zu ihren Eltern, was vormodern nicht konstitutv war. Dieses bürgerliche Familienideal, das in der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Anfang an nicht immer funktionierte (van Dülmen 1995: 90), vermochte binnen 200 Jahren eine beachtliche Faszination auszustrahlen und verbreitete sich endgültig im 20. Jahrhundert in allen Sozialmilieus. Genau betrachtet war das allerdings kein quasi-sozialepidemiologischer Vorgang. Er kam nur durch massive bürgerliche Propaganda und staatliche Nachhilfe zum Erfolg. Von Anfang an wurde das bürgerliche Familienideal nicht nur als Ideal des Bürgertums verstanden, sondern als Leitbild für die ganze Gesellschaft. Diesem Verständnis hinkte der deutsche Katholizismus etwas nach, insofern er bis zum Ersten Weltkrieg immer noch der „Großfamilie“ nachtrauerte, die es im strikten Sinn nie mehrheitlich in Mitteleuropa gegeben hat (Mitterauer 1977). Doch zwischen 1750 und 1850 war die Familiensituation bei den Heimarbeitern und den protoindustriellen Lohnarbeitern noch völlig anders. Ihre Produktionsweise bestimmte die Möglichkeiten ihrer Lebensführung. Sie beruhte im Unterschied zum lokalen oder regionalen Warentausch bereits auf einem marktförmigen Ware-Geld-Prinzip und wurde ab dem 16. Jahrhundert zunehmend durch eine frühkapitalistische Marktorganisation des Handels, Vertriebs, und Absatzes bestimmt und durch die merkantilistische Handelspolitik gefördert. Dadurch veränderten sich auch die Sozialbeziehungen und alltäglichen Praktiken. Zwar war oft noch die Einheit von Produktion und Ausbildung gewahrt, doch kam es schon oft zu einer Segregation der Altersgruppen bei verschiedenen Arbeiten, und es zeichnete sich eine erste Abwertung des kindlichen Arbeitsbeitrages und damit eine neuartige Machtverlagerung und Altersdifferenzierung ab (Wintersberger 1998: 78f., 91). Die Einheit von Arbeit und Wohnung, Produktion und Konsum begannen sich allmählich aufzulösen, obwohl noch keine streng funktional definierte Qualifikation erforderlich wurde. Auch die Beziehungen zu den Eltern wurden lockerer. In dieser Zeit, angeregt durch ständige bürgerliche Klagen über die Sittenlosigkeit der Unterschichten, entfaltete sich immer mehr eine staatliche Sozialdisziplinierung, die sich u.a. auch in der Einführung eines öffentlichen Schulunterrichts niederschlug. Allerdings zeigten sich Bauern, Heimarbeiter und später Industriearbeiter lange Zeit renitent. Die Herauslösung der Kinder aus dem Haushalt zu speziellen Arbeiten in der Zeit der protoindustriellen „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ (Medick 1984) bewirkte eine erste Segregierung von Erwachsenen und Kindern in jeweils eigenen Arbeitswelten, besonders aber eine weitere Entkopplung der Stände und eine Entfremdung der Bürger von der lokalen Volkskultur und Volksreligiösität sowie eine Differenzierung der Groß- und Kleinbürger und eine klassenmäßige Abgrenzung zu proletarischen und bäuerlichen Sozialmilieus. Das bürgerliche Konzept der Sozialisation war einerseits auf Qualifikationsverbesserung des eigenen Nachwuchses und andererseits darauf bedacht, Distanz zu den Unterklassen zu schaffen oder zu erhalten. In den Stadt- und Industriezentren fand sich das Bürgertum immer stärker mit der Massenzuwanderung von Industriearbeitern konfrontiert und versuchte den Kontakt der eigenen mit den proletarischen Kindern zu unterbinden, die formell schließlich in die gleiche „Volksschule“ gingen und einen ähnlichen Schulvormittag erlebten. Prägnant und zweifelsfrei war der Tag bürgerlicher Kinder strukturiert: am
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Vormittag in der Schule – am Nachmittag im häuslichen Bereich schulische Hausaufgaben, Spiele, kaum Mitarbeit im Haushalt.
8.15 Arbeiterkinder in der frühkapitalistischen Gesellschaft Zwischen 1780 und 1850 hat die Industrialisierung große Teile Europas erfasst und völlig umgeformt. Das gilt zumindest für England, Frankreich, Deutschland und Norditalien. Die Industrialisierung zog eine Urbanisierung in erheblichem Umfang nach sich. Oft wird aber vergessen, dass eine vorangehende Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens und eine protoindustrielle „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ zwischen 1750 und 1850 der eigentlichen Industrialisierung Deutschlands erst den Boden bereiteten (Medick 1984). Die Zahl der Lohnabhängigen im 19. Jahrhundert stieg unentwegt. Nicht die Kindheit der Bürger, Bauern oder Handwerker, sondern die der Heimarbeiter oder protoindustriellen Arbeiter in Manufakturen nahm die Kindheit der Kinder der Industriearbeiter vorweg. So wird es wohl erklärbar, dass die Menschen der „industriellen Revolution“ einerseits vormoderne Praktiken lange beibehielten, andererseits alte und neue soziale Beziehungen und Lebensformen erstaunlich bruchlos zusammenfügten. Produktion, Reproduktion und Ausbildung waren noch nicht völlig getrennt, lockerten sich aber und gerieten immer stärker in den Sog überregionaler Warenmärkte. Kinder erfuhren nun auch erstmals die Faszination eines expansiven Konsums trotz miserabler elterlicher Subsistenzbedingungen. Der Übergang von der lokalen Subsistenzwirtschaft zur Kapital schöpfenden, marktförmigen Warenproduktion beruhte nicht nur auf ökonomischen, sondern mindestens ebenso auf kulturellen und sozialen Veränderungen. Die beherrschende Erfahrung der Arbeiter des 19. Jahrhunderts war die sich verschärfende Klassenspaltung, die meist unversöhnliche Konfrontation von Unternehmer- und Arbeiterinteressen, vor allem aber die ständige Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren oder wegen eines Unfalls oder einer Krankheit entlassen zu werden und keine soziale Sicherung zu haben. Diese Gefahren und materielle Not bildeten auch den Hintergrund der Eltern-Kind-Beziehungen, die nicht gerade günstige Bedingungen für eine intime „Familienkindheit“ bürgerlichen Zuschnitts abgaben. Erst allmählich besserte sich die soziale Lage der Arbeiter (Mooser 1984). Die Kinder der Industriearbeiter gleichen in vielem den Kindern der protoindustriellen Lohnarbeiter. Andererseits haben sich die Segregationstendenzen im städtischen Kontext noch enorm gesteigert. Ausbildung und Produktion, kindliche Arbeit in der Industrie und Arbeit der Erwachsenen fiel nun räumlich und sachlich noch weiter auseinander. Die Arbeiterkultur war eine Art milieugebundener Subkultur und die Arbeits- und Freizeit von Arbeitern, Arbeiterinnen und Arbeiterkindern, die selbst in der Industrie tätig waren, stellten fast abgeschottete kleine Lebenswelten dar. Von einer Familienidentität, wie sie vom Bürgertum moralisch gefordert wurde, konnte angesichts der zeitlichen Dissonanzen und den beengten Wohnverhältnissen kaum die Rede sein. Die Peer-Group scheint manchmal zu einer Art Familienersatz zu werden. Die kulturelle Distanz zu den Kindern des Bürgertums ist selbst dann noch groß, als die allgemeine Schulpflicht die Kinder in den unteren Schulklassen der „Volksschule“ eigentlich integrieren soll (Mooser 1984: 113f.). Arbeiterkindheit war weithin Straßenkindheit, nicht Familienkindheit und erst viel später im eigentlichen Sinn auch Schulkindheit.
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Andererseits wäre es verkehrt zu übersehen, dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern hier keineswegs durchweg instrumentalisiert waren und nicht selten von herzlicher Anhänglichkeit und Solidarität, allerdings ohne jeden emotionalen Überschwang geprägt waren. Die Wohnungsgemeinschaft wurde durch gemeinsame Aufgaben und Überlebensprobleme zusammen geschweißt. Aus dieser realen Erfahrung des Aufeinander-Angewiesenseins entwickelten sich spezifische intergenerationale Zusammenhänge. Dies wurde allerdings oft nicht von der bürgerlichen Umwelt gesehen und gewürdigt. Das Bürgertum und die staatliche Obrigkeit erblickten überall nur Sitten- und Disziplinlosigkeit der Arbeiter (Rosenbaum 1982). Arbeiterkindern blieb meist gar keine andere Wahl, als im zartesten Alter in der Industrie zu arbeiten. Manchmal fanden „billige“ Kinder eher Arbeit als ihre „teuren“ Väter. Die Erwerbstätigkeit der Kinder konnte bis 1853 bis zu 10 Stunden dauern. Industrielle Kinderarbeit wurde erst 1903 verboten. Und das Einkommen der Eltern war oft so gering, dass alle Familienmitglieder arbeiten gehen mussten, vorausgesetzt sie bekamen überhaupt Arbeit. Verständlicherweise konnten Eltern nach einem langen Arbeitstag ihre Kinder nicht in relevantes Wissen einweisen. Sie besaßen dazu auch vielfach nicht die Kompetenz. Für Familienleben, Freizeit, Spiel und Bildungsanstrengungen war wenig Zeit und Raum. In den Fabriken ließ sich – ohne staatliche Schulpflicht – Kinderarbeit mit Schulbesuch nicht vereinbaren (Hardach 1981). An den Parametern der bürgerlichen Kindheit gemessen hatten Arbeiterkinder – noch bis Ende des 19. Jahrhunderts – keine wirkliche Kindheit. Jede freie Minute wurde zunächst durch Mitarbeit im Haushalt aufgesogen. Kinderspiel und Schabernack verschwand trotzdem nicht und nahm bestimmte Formen an. Es war aber noch stärker den Produktionsrhythmen unterworfen als in der vormodernen Hauswirtschaft, die ja nicht nur durch die Jahreszeit und die Witterung, sondern durch eine Vielzahl kirchlicher und volkskultureller Feste und tägliche Pausen die Härte der Arbeit zu mildern wusste. In der Industriegesellschaft konnten noch viele Jahrzehnte bürgerliche Kinder und Kinder aus der Arbeiterklasse nicht wirklich identifiziert werden. In Notzeiten bildeten Arbeiterkinder bis Mitte des 20. Jahrhunderts stets das Hauptkontingent von Bettlergruppen. Die vertikale, horizontale und regionale Mobilität unter Arbeitern war immer relativ gering (Mooser 1984: 117, 126). Infolge dessen bildete sich in den Industrieregionen eine eigene, recht bodenständige Arbeiterkultur, die das gesamte Leben umfasste (Ritter 1979). Das förderte eine Milieustruktur „von der Wiege bis zur Bahre“. Während Arbeit immer mehr aus dem direkten Erfahrungshorizont bürgerlicher Kindheit verschwand, überschattete sie das Leben von Arbeiterkindern vom Beginn ihres Lebens an (1993; Berg 1990: 44). Kinder spielten in den nichtbürgerlichen sozialen Klassen als „Nachkomme“ durchaus eine Rolle. Sie galten freilich nicht als Fortsetzung der Genealogie des Geschlechts, Stammes oder Hauses und der Erbschaft wie bei den Bauern und auch nicht als künftige Persönlichkeit mit einer zukunftsbezogenen Entwicklung. Soziale Vererbung schien lange Zeit ein unabwendbares Schicksal. Kinder waren Verstärkung der eigenen Arbeitskraft oder Einkommensquelle, seltener Alterssicherung. Eltern wollten durchaus oft, dass es ihre Kinder besser als sie hätten. Doch handelte es sich meist um niedrige Aspirationen. Man war ja im Grunde schon froh, wenn es ihnen nicht schlechter ging. Die Arbeiterbewegung stärkte allerdings den Fortschrittsglauben. Arbeiterkinder erlebten die „Volksschule“ nicht als Teil der eigenen, sondern als bürgerlich geprägte Schule und galten daher lange als besonders renitent und eigensinnig. Sie
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erlebten viel früher den „Ernst des Lebens“ wurden aber auch in dem Großmilieu der Industriearbeiterschaft in spezifische Geselligkeit, Bildungsarbeit und Kooperationsbeziehungen der Arbeiterkultur miteinbezogen und fanden hier Halt. Ähnliche, aber doch wieder andere Erfahrungen machten die Kinder „kleiner Leute“. Das waren in der Stadt bis weit über das 19. Jahrhundert hinaus vor allem Handwerker, Krämer und kleine Angestellte, die aber keinen engeren Kontakt zu Arbeitern pflegten, sondern sich eher vom klassischen Bildungs- und Besitzbürgertum angezogen fühlten. Ihr Familienleben war oft nicht strikt bürgerlich, sondern eher vormodern bestimmt. Doch hier gab es noch keine getrennten Produktions- und Reproduktionsbereiche. Diese Bedingungen formten natürlich die Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen, die weder ganz so privat wie die des Bürgertums noch so halböffentlich wie die der Arbeiterschaft waren. Kinder mussten hier durchweg mitarbeiten, durchschauten aber gerade deshalb die enge Verbindung von Arbeit und Freizeit und wussten sich auf diesem Hintergrund ihre Handlungsspielräume zu sichern (Schlumbohm 1983: 216). Wie die der Arbeiterschaft war Sozialisation hier vielfach Straßensozialisation.
8.16 Regionale Unterschiede Die Konfessionsspaltung im 16. Jahrhundert hatte in Deutschland bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine klare kulturelle und sozialstrukturelle Scheidung norddeutscher und süddeutscher Regionen bewirkt. Daraus ergab sich im 19. Jahrhundert ein eindeutiges Gefälle nord- und mitteldeutscher Industrieregionen und eher landwirtschaftlicher Regionen Süddeutschlands mit ihren überwiegend katholischen Bevölkerungen. Der Unterschied zwischen Agrarregionen und industrialisierten Gebieten war in ganz Europa lange wirksam. Damit setzten sich jeweils höchst unterschiedliche Traditionen, Lebensformen und ein deutlich regionaler Lebensstil durch. Historiker sprechen hier von unterschiedlichen regional verankerten Mentalitäten, die sich bis ins kollektiv Unbewusste eingegraben haben (Imhof 1981: 31). Schon durch die soziale Mobilität arbeitssuchender Menschen nach Aufhebung der Leibeigenschaft und die Zuwanderung in die neu entstehenden Industriegebiete lösten sich allerdings die Familien immer mehr aus ihren regional verwurzelten kulturellen Traditionen. Eine deutliche Tendenz zur Privatisierung und Intimisierung ist vor allem in Industrieregionen erkennbar. Verschiedene Migrationswellen sowie die Integration von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg haben das lange Zeit typische regionale Gepräge in den letzten 60 Jahren stark verändert, aber nicht ausgelöscht. Bedeutsam ist auch, dass sich damit auch eine schwer zu definierende und zu assimilierende eigene politische Kultur behauptet hat, deren kulturelle Reproduktion sich „Zugezogenen“ noch immer schwer erschließt. Schon vor der deutschen Wiedervereinigung im Jahre 1989 hatte sich ein regelrechtes Nord-Süd-Gefälle herausgebildet, das danach freilich von einem viel stärkeren zwischen Ost- und Westdeutschland überlagert wurde. Die regionale Mobilität hat sich in den letzten Jahrzehnten insgesamt erhöht, ist in Deutschland aber immer noch weit geringer als in anderen Gesellschaften. Dies hat sich natürlich auch im Kinderleben bemerkbar gemacht. Da das Glück und Leid von Kindern zumindest nicht ausschließlich ökonomisch, politisch oder rechtlich verstanden werden kann, ist es wichtig, die regionalen Unterschiede zu beachten. So wird das Lebensschicksal von Kindern, weit über das 18. Jahrhundert hinaus, von religiösen Ver-
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hältnissen und Veränderungen spürbar mitbeeinflusst (Imhof 1981: 62f.). Reformatorische und gegenreformatorisch geprägte Landstriche Europas zeigten über Jahrhunderte eine unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklung; z. B. in der Kindersterblichkeit. In den reformatorischen und speziell den calvinistischen Gegenden wurde die Zahl der Geburten wie die Erziehung nicht mehr ausschließlich der göttlichen Vorsehung und ihrer kirchlichen Flankierung überlassen, sondern der Gewissensentscheidung der Eltern, und zwar zunehmend Vater und Mutter. Sie hatten schon vor der Geburt sorgfältig lebensförderliche Umstände für die Säuglinge zu treffen, die die Überlebensmöglichkeiten der Kinder nachweislich erhöhten (Imhof 1981). Katholische Gebiete in Süddeutschland unterschieden sich hier klar von protestantischen in Norddeutschland. Und beide unterschieden sich auch durch die Leichtigkeit, mit der Kinder an Ammen weitergegeben wurden, wo die Kinder oft „wie Fliegen“ wegstarben. Auch die Zahl der unehelichen Geburten waren in katholischen Landstrichen weit höher als in protestantischen, was freilich weniger an der Tugend der Protestanten, sondern an ihrer frühzeitigen Bereitschaft zur Familienplanung und Abtreibung gelegen haben dürfte. In wirtschaftlich meist zurückgebliebenen katholischen Regionen reagierte die Bevölkerung auf die kargen Lebensverhältnisse mit zunehmender Abwanderung, großen Ledigenquoten und hohem Heiratsalter, was Kindern auch ledige oder getrennt lebende Mütter und alte Eltern verschaffte (Imhof 1981: 65f.; Flandrin 1978; Mitterauer 1977). Um 1800 vollzogen sich offenbar nicht nur politische und ökonomische, sondern vor allem auch, graduell unterschiedlich, regelrechte soziokulturelle Modernisierungsschübe, die bekanntlich von bürgerlicher Seite oft schlicht als „allgemeiner Sittenzerfall“ der anderen neuen Klassen und als generelle Säkularisierung gedeutet worden ist (Imhof 1981: 6ff; Ariès 1995). Sie wurden auch als gesteigerter Versuch des Territorial- oder Nationalstaats zur effizienten Sozialdisziplinierung, Modernisierungspolitik und Integration, z. B. der besseren Wehrtauglichkeit und beruflichen Qualifikation erfahrbar (Imhof 1981: 72; Badinter 1981; Ariès 1984: 176ff.; 1995). Auch der Unterschied zwischen Stadt und Land begann sich schon seit dem Spätmittelalter zu vertiefen (Ilien 1978). Die stadtbürgerlichen Lebensformen unterscheiden sich immer stärker von den ländlichen durch ihre größere Freizügigkeit. Das hatte auch zur Folge, dass Kinder immer weniger die Nähe zur Natur erlebten und um die natürlichen Lebensvoraussetzungen aus der Primärerfahrung wussten. Erfahrung aus zweiter Hand ist also für viele Kinder nicht wirklich neu im 20. Jahrhundert. Größe, Struktur und soziales Klima städtischer Haushalte bei Handwerkern und Kleinhändlern entwickelten sich in Richtung auf eine Kontraktion des Familienverbandes zur Kleinfamilie hin. Zwar waren die Größenunterschiede auch unter städtischen Hausgemeinschaften lange beträchtlich. Je dichter die Siedlung bebaut war, umso kleiner war aber nach relativ kurzer Zeit auch die Hausgemeinschaft. Es gab hier freilich große regionale und temporale Unterschiede, die allerdings nicht so gewaltig waren, wie oft angenommen wird. Die Vorstellung, hier habe immer die „Großfamilie unter einem Dach“ existiert, ist von der historischen Forschung längst als Mythos entlarvt worden (van Dülmen 1995: 24; Mitterauer 1977; Laslett 1991; Flandrin 1978). Der oft nicht scharf heraus zu präparierende „Kern“ des vormodernen Haushaltes war immer relativ klein; schon aufgrund der hohen Kindersterblichkeit. In der Regel lebten in Stadt und Land fast nie mehr als ein Ehepaar mit zwei bis vier Kindern in einer Familienwohnung oder einem Haus zusammen. In allen Gesellschaften Europas bestand eine Neigung, Kinder als Knechte und Mägde zu Nachbarn oder Verwandten in der Region zu
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geben, wenn sie mehr kosteten als vom „ganzen Haus“ erwirtschaftet werden konnte. Dies galt vor allem für die Kinder, die nicht den Hof der Eltern oder den Handwerksbetrieb bzw. Kleinhandel der Eltern erbrechtlich übernehmen konnten. Während die breiten bäuerlichen Massen durch ihre Arbeit und das kirchliche Leben völlig gebunden waren, konnten die Städter aufgrund ihrer „unvollständigen Integration“ (Bahrdt) über den städtischen Markt und die hier mögliche soziale Distanz schon früh viel mehr kulturell erleben. Doch genau genommen war dies lange Zeit ein Privileg weniger, relativ wohlhabender Kaufmannsfamilien (Mitterauer 1979: 11). Zu einer intensiveren sozialen Kommunikation über den engen lokalen Bereich ist es im Allgemeinen erst in den frühneuzeitlichen Territorialstaaten und auch hier vorwiegend nur im regionalen Nahbereich gekommen. Kinder erlebten die Welt in wenigen „zählebigen“ konzentrischen Kreisen von der lokalen Nachbarschaft zu den Nachbargemeinden und zur Regierungsmonopole; meist zwischen Gemeinde (Gerichtsgemeinde), Pfarrei, dem Haushalt der Eltern und ihren regionalen Kontakten und zunehmend auch der Schule, wobei der kindliche Alltag auf dem Lande oft stärker von der Feldarbeit bestimmt wurde, der städtische Kinderalltag jedoch trotzdem strenger durchorganisiert war (Mitterauer 1979: 25). Kinder waren niemals vollberechtigte Gemeindemitglieder, wuchsen aber als „das Natürlichste der Welt“ verhältnismäßig zwanglos auf. Für sie gab es zunächst viele Gelegenheiten in der Stadt, über Standesgrenzen hinweg Kontakte zu anderen Kindern zu pflegen und Straßensozialisation zu erleben. Selbst noch zu Zeiten der Frühindustrialisierung wurde versucht, traditionelle Sozialbeziehungen, Lebensformen und kulturelle Praktiken beizubehalten und nur geringfügig anzupassen. Doch nach einigen Jahren veränderten sich doch die Familienleitbilder, die Rollenteilung, das soziale Klima, die Verkehrskreise und Unterstützungsstrukturen. Es bildeten sich, auch mit regionalen Schwerpunkten, vergleichsweise konsistente, stark polarisierte Großmilieus der Konfessionen und der Arbeiterschaft in Deutschland, deren Reste noch Mitte des 20. Jahrhunderts erkennbar waren (Mooser 1984). Sie bestimmten das Wahlverhalten und regelten das alltägliche Leben von der Wiege bis zur Bahre. Kinder waren lange Zeit milieugeprägt und unterscheiden sich in ihrem Bildungsschicksal ja zu einem beträchtlichen Teil noch heute durch ihre soziale Herkunft. Stadt und Land sind heute nur noch graduell unterschiedliche Erfahrungsräume, die aber noch von einer gewissen Relevanz für die Lebensbedingungen von Kindern geblieben sind (du Bois 1994). Sie sind soziologisch eher als Stadt-Land-Kontinua zu beschreiben und haben sich mittlerweile oft zu komplexen metropolitanen Gebieten verdichtet, die immer stärker auch global vernetzt sind. Durch räumliche Mobilität und Migration bilden sich in den großen Stadtlandschaften in allen Ländern Verdichtungszonen und Zonen verdünnter sozialer Kommunikation, die für die Kinder – mittlerweile medial vernetzt und nicht nur über die lokalen Arbeitsbeziehungen ihrer Eltern vermittelt – eine hybride Struktur aus direkter und sekundärer Erfahrung bereitstellen. An den Rändern der metropolitanen Gebiete leben sehr heterogene Teile der Bevölkerungsgruppe „Kinder“, die nicht einfach problemlos miteinander spielen können, selbst wenn sie gemeinsam in den Kindergarten gehen oder dieselbe Grundschule besuchen. Damit kommt heute für Kinder ein regionaler und interkultureller Polyzentrismus voll zum Tragen. Hierbei zeigt sich eine dreifache Aufschichtung in Deutschland, nämlich zwischen den Städten, den ländlichen Bezirken der neuen und den ländlichen Regionen der alten Bundesländer.
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8.17 Altersunterschiede Auch das Alter ist keine selbstevidente, deutungsfreie Variable. Alter kann auf den ersten Blick oder eher implizit wahrgenommen werden. Es kann stark oder kaum differenziert erscheinen. Altersgleiche können sozial ungleich, Altersungleiche gleich erscheinen. Manchmal dominiert und überlagert es andere soziale Grundkategorien wie weiblich/männlich, ethnisch zugehörig/nichtzugehörig, arm/reich, manchmal kovariiert es in komplexen Wahrnehmungssynthesen. In vielen Gesellschaften existiert eine klare Klassifikation des Alters. Zahl, Struktur, sozialer Rang und das Gewicht und die Prägnanz von Alterskriterien ist aber sehr unterschiedlich (Nemitz 1996). In außereuropäischen Gesellschaften verbindet die Mitglieder von Altersklassen nicht nur die Erfahrung gemeinsam erlebter Initiationsriten und Enkulturationsphasen. Sie sind vielmehr dadurch aufs engste durch das ganze Leben hindurch stärker als durch die Blutsverwandtschaft zusammengeschweißt. Dadurch bildet sich eine Art Freundschaftskultur wie sie in dieser Form in Europa kaum bekannt ist. Sie ist in hohem Maße sozialisationsrelevant und unterstreicht damit auch eindrucksvoll, dass kulturelle Sinnrahmungen der Sozialisation jeweils vorausliegen. Selbstverständlich nimmt auch jeder noch so individualisierte moderne Mensch in Europa die Grundkategorien Alter und Geschlecht wahr. Er sieht sie aber zweifellos anders, wenngleich mit typisierenden „Brillen“. Es stellt sich jeweils die Frage, welchen Stellenwert und Relevanz Alterskriterien im gesamtgesellschaftlichen Raum besitzen. Das individuelle Kindsein steht dabei über die Vermittlung der kollektiven Kindheit in Relation zu den anderen Lebensphasen und damit zur gesamten intergenerationalen Struktur, kann aber damit nicht gleichgesetzt werden. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass man in Zukunft sogar mit zunehmenden Spannungen und Dissoziationen zwischen den Erfahrungswelten der Kinder und soziokulturellen, sozialstrukturellen und situativ-interaktiven Zuschreibungen rechnen muss. Das deutet sich etwa zart in den noch verhaltenen Diskussionen über einen neuen „Generationenvertrag“ an (Butterwegge 2002). Die soziale Lebenswelt ist durchaus mehrschichtig und spannungsreich und „kein idyllischer Ort“ (Srubar). Sie muss zwar subjektiv verankert bleiben, ist aber zugleich vielfach subjektiv-intersubjektiv und sozial relationiert und vernetzt, wenn sie nicht auf ein boden- und horizontloses, leeres „Ich“ zusammenschrumpfen will, das nicht existenzfähig ist. Alter ist darum keine selbstevidente Angelegenheit, die sich automatisch aus einem biologischen Substrat und dem Stand der Organdifferenzierung objektivistisch ableiten ließe, sondern ein hochkomplexes Resultat gesellschaftlicher Konstruktion von Wirklichkeit. Man sieht das Alter Kindern eigentlich nur sehr grob an und ist sich doch im Allgemeinen relativ sicher, ob man ein Kind oder einen Erwachsenen vor sich hat. Man wird einen Zwergwüchsigen nicht als Kind einschätzen und einen aufgeschossenen Achtjährigen nicht für einen Erwachsenen halten. Doch welche Bedeutung hat die altersspezifische Einschätzung, welche Folgen und Nebenfolgen zeitigt sie? In der modernen Gesellschaft war diese Definitionsleistung zunächst das Geschäft der Pädagogen und Psychologen: Sie sollten die Altersdifferenz als „Entwicklungsstand“ „operationalisieren“. Inzwischen sind deren Parameter in das breite Sozialisationswissen fast jeden verantwortungsbewussten Elternpaares eingegangen. Man versucht durchweg „altersgemäß“ zu erziehen, das Kind weder zu über- noch zu unterfordern, zu fordern aber zugleich zu fördern. Eher noch expliziter orientieren sich Lehrer oder professionelle Erzie-
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her an der angeblich selbstevidenten „Kindgemäßheit“ – ohne dass der Interpretationskonflikt über den semantisch-pragmatischen Inhalt dieser Kategorie des „pädagogischen Bezugs“ damit behoben werden konnte. Das selbstverständliche pädagogisch-psychologische Gliederungsschema (Remplein 1994: 122; Abels 1993: 171), das von einem homogenen Kontinuum von gleichgewichtsstörenden und – wiederherzustellenden – Entwicklungsprozessen ausgeht, erweist sich damit als durch und durch voraussetzungsvoll. Die Stufen, Entwicklungsniveaus, Entwicklungsaufgaben als Ergebnis von „Entwicklungskrisen“ zwischen Kindheit und Jugend oder dem Erwachsenenalter bleiben historisch und kulturell bedingt. Es gilt auch, zwischen der globalen Diffusion und dem kulturellen Export dieser Diskurse durch UNO und UNESCO und den typischen Umgangsweisen damit in historisch unterschiedlich bedingten Gesellschaften zu unterscheiden. Wenn sich etwas kulturell transferieren lässt, heißt dies noch lange nicht, dass sich nur dies und in dieser bestimmten Form transferieren lässt. Entwicklungen sind immer auch ganz anders möglich, obwohl sie oft den „bequemen Weg“ gehen (Abels 1993: 260). Altersdifferenzen lassen sich soziologisch als Schnittpunkte lebenszeitlicher, alltagszeitlicher, sozialer und historischer Zeit begreifen und als soziale Konstruktionen fassen. Welches Verhalten und welche soziale Erwartung zu welchem Alter passt, ist zwar alles andere als beliebig, aber dennoch immer wieder in Auseinandersetzung mit der eigenen geschichtlichen Tradition und den Synchronizität anstrebenden Institutionen zu ermitteln. Passt heute „altkluges“ Verhalten von Kindern zu „infantilisiertem“ und „juvenilisiertem“ Verhalten, das heute vielen Erwachsenen nachgesagt wird (Lenzen 1985; 1997: 367ff.)? Vor ca. 300 Jahren wurde die „Volljährigkeit“ in manchen Regionen faktisch erst mit 30 oder 40 Jahren eingeräumt. Es gibt heute Autoren (Hurrelmann), die dafür plädieren, Kinder (wieder) als „kleine Erwachsene“ zu behandeln. Ist diese Zuschreibung auch nur im Entferntesten mit der des „Miniaturerwachsenen“ des Mittelalters zu vergleichen, obwohl das gleiche Wort gewählt wird? Und es gibt als Begrenzungskriterium die „Pubertät“, die faktisch extrem streut, und das Konzept der „ersten“ und „zweiten“ Geburt. Manche glauben heute sogar an eine „Wiedergeburt“. Das alles sind keine ganz und gar eindeutigen und objektiven Daten, die sich einfach aufzwingen, sondern soziokulturelle Zäsuren. Die Lebenslaufbahn kann in verschiedenen Kulturen lebenszyklisch oder linear und diese Lebenslinie kann in zwei, drei, vier oder mehr Altersstufen eingeteilt werden (Nemitz 1996). In vormodernen Gesellschaften sind Kinder solange Kinder und werden als Kinder behandelt oder verhalten sich selbst wie Kinder, wie sie entweder rechtlich als nicht erbfähig oder heiratsfähig gelten oder solange sie noch nicht laufen, sprechen und mitarbeiten können (Mitterauer 1989: 179; 1977: 21ff.). Auch das ist natürlich keine eindeutige Kategorisierung, sondern eine soziale Konstruktion. In der europäischen Diskursgeschichte finden sich keine universalen und eindeutigen Kriterien für Altersdifferenzen. Dies hindert Kinder sozialgeschichtlich nicht, dass sie sowohl „kindliche“ Spiele inszenieren, als auch gelegentlich Aufgaben oder Anschauungen übernehmen, die wir heute erst Erwachsenen zumuten. „Kinderzeit“ ergab sich im vormodernen bäuerlichen Bereich dann, wenn die häuslichen Pflichten erledigt waren, und sich die Erwachsenen nicht mehr einmischten und kontrollierten. Oder sie wurden nur zu bestimmten Zeiten episodisch eingeräumt (z.B. Nikolausfest). Kind- und Erwachsensein sind zum einen vor allem erbrechtliche Bestimmungen. Andererseits sind die Übergänge so vielfältig und flexibel, dass man vor dem 16. Jahrhundert nicht von einer konsistenten Lebensphase sprechen kann (Mitterauer 1977: 34). Ein und derselbe Altersabstand kann als
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„groß“ oder als „klein“, als „normal“ oder „problematisch“ eingeschätzt werden. Und diese Einschätzungen können relativ folgenlos oder zu wechselseitigen Forderungen oder Konzessionen führen; insbesondere bei Eltern und Lehrern (Schmidt 1993: 345). Kinder geraten dann in kulturell definierte Altersklassen oder bilden selektiv Altersgruppen. Es bleibt indes äußerst fraglich, ob aus der realen Sozialstruktur isolierte und universale Altersstufen abstrahierbar sind. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich hier um tautologische Artefakte handelt. Im Grunde unterstellt auch die übliche Definition von Kindheit als Übergangs- oder Eigenphase zwischen Geburt und Pubertät in bedenklicher Weise eine Konstanz und Substanzialität, die Kindheit heute gar nicht haben kann (Markefka 1993: 21). Ist Geburt „Menschwerdung“ oder beginnt diese nicht auch sozial viel früher, was die Geburt zur zweiten Zäsur machen würde (Czarnowski 236ff.)? Ist die weit streuende Pubertät Übergang und ist sie Übergang zum Jugendalter oder zur Erwachsenheit? Gibt es noch kulturelle Statuspassagen oder nur institutionelle Normalitätsunterstellungen? Kinder scheinen heute sowohl eine verkürzte wie zugleich verlängerte Kindheit mit zahlreichen Widersprüchen zu besitzen. Sie wissen vieles ungemein früh und anderes, was zur anistischen „Lebenskunst“ gehören mag, erstaunlich spät. Ihnen bietet sich sozusagen eine intergenerationale „Mehrperspektivität“ und ein „time lag“ an (Lüscher 2003). Ein Teil der Belastungen und der auch bei Kindern auftretenden „autistischen“ Selbstbeobachtung kann von Altersgleichen aufgefangen werden, die sich tatsächlich als „altersgleich“ einstufen und damit „Überforderungen“ in Schule und Freizeit ausfiltern. Geburt, Kindergarteneintritt, Einschulung sind in unserer Gesellschaft institutionell definierte und allgemein verbindliche Einschnitte, während das Reifekriterium obsolet zu werden beginnt und kaum noch fraglos als Naturdatum gilt. Aus der Natur lässt sich jedenfalls keine gesellschaftliche Teilreife mehr begründen. Die weiteren Differenzierungen des Alters von Kindern in der Psychologie sind wohl für spezielle Zusammenhänge aber nicht mehr allgemein in Kraft. Von daher gibt es unübersichtliche Resonanzbedingungen für Altersdiskurse (Abels 1993: 90). Pragmatisch wird noch lange Vieles, mangels Alternativen, beibehalten, auch wenn dessen Plausibilität eingeschränkt ist. Nach vorne und hinten bleibt Vieles offen, unbestimmt, fragmentiert – und all das hat verschiedene Bedeutung für Kinder und Eltern verschiedener Sozialmilieus. Eine erhebliche Rolle spielt notgedrungen immer der konkrete soziale Vergleich unter Kindern, wenn der Begriff der Kindheit zu verschwimmen droht, während Eltern und Kinder in ihren Definitionen offenbar immer mehr divergieren (Bründel 1996: 25). Sogar der Verzicht oder das bewusste Hinausschieben der klassischen Statuspassagen scheint heute manchmal von Kindern oder Eltern eine gewählte Strategie faktischer Altersdifferenzierung zu sein (Abels 1993; Mansel 1996). Die Vorstellung eines in jeder menschlichen Gesellschaft strukturell gleich verlaufenden, ausschließlich biologisch determinierten Entwicklungsprozesse wäre selbst dann problematisch, wenn seine Universalität partiell nachgewiesen werden könnte, weil nie auszuschließen ist, dass Vorstellungen und Einschätzungen ja auch durch einen „Kulturimperialismus“ diffundiert werden können. Jedenfalls müsste diese Möglichkeit sorgfältig geprüft werden, bevor umstandslos von „Universalität“ die Rede ist. Fast alles in einer interepochalen und interkulturellen Betrachtung deutet daraufhin, dass es sich hier um ein legitimes, aber zu entsubstanzialisierendes methodisches Artefakt und eine idealisierende Modellierung handelt. „Alter“ ist aber auch nicht einfach ein kulturell überformtes Naturdatum, sondern eine soziale Konstruktion im Sinne einer umfassenden Bestimmung menschlicher (immer zugleich natürlicher und kultureller) Möglichkeiten und Verpflichtungen in einem
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Lebensabschnitt und im gesamten Lebenslauf (Eisenstadt 1964: 49f.; Kohli 1991). Es handelt sich also um eine komplexe Plausibilitätsstruktur, die auf ganz bestimmten Formen der Wahrnehmung, des Wissens, der Kommunikation, der Bewertung und des typisch praktischen Umgangs mit dem wahrgenommenen Alter beruht. Vormodern und modern hat der Altersunterschied keineswegs dieselbe soziokulturelle Bedeutung im normalen Lebensalltag. „Kindsein“ war einerseits eine rechtliche Klassifikation und andererseits sozial auf wenige Episoden und die informelle „Schattenseite“ der nicht mehr kontrollierten Zeit nach getaner Mitarbeit beschränkt. Und in modernen Gesellschaften wurde sie dann zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert zur kompakten, „nachhaltigen“ und für alle zugängliche Lebensphase. Es ist auch ein wichtiger Unterschied, ob kulturelle Differenzen sich in Institutionalisierungsprozessen manifestieren, die langfristig eine eigene Bevölkerungsgruppe aus einer Lebensphase konstituieren, wer diese Orientierungen durchsetzt und wie die Betroffenen jeweils darauf reagieren, ob und wie die Zusammenhänge zwischen soziokulturellen Klassifikationen und altersspezifischen Gruppenbildungen hergestellt wird (Tenbruck 1962: 94). Eine jahrhundertelange, durchaus widersprüchliche kulturelle Wirkungsgeschichte wirkt selbst dann noch lange nach, wenn sie erodiert und viele sie explizit gar nicht mehr kennen. Auch eine relativ individualisierte Wahlbiographie von Kindern ist keine völlig subjektive Option und impliziert – meist undurchschaut – altersspezifische Typisierungen und Normalitätsunterstellungen, die nicht rein synchron zu begreifen sind. Die soziale Konstruktion der Altersunterschiede hat ihre historischen Ursachen und weist jeweils Wahrscheinlichkeitsspektren zukunftsfähiger Gestaltungsversuche auf. Es könnte dann durchaus sein, dass sich die Altersstrukturen in der Zukunft polarisieren.
8.18 Geschlechtsspezifische Unterschiede Zumindest stark umstritten ist es, ob man heute von einer klar definierten, verbindlichen, durchgängig legitimierten und wenigstens sozial akzeptierten Geschlechtsrolle noch sprechen kann. Manches deutet eher darauf hin, dass es sich hierbei eher um ein Stereotyp handelt, das recht wenig mit den intensiven und oft unübersichtlichen „Geschlechterkämpfen“ und Verhandlungen zu tun hat, die die heutige Lebenspraxis in und außerhalb der Familie charakterisieren (Bilden 1991: 279ff.). Ein biologischer Reduktionismus ist keineswegs ausgestorben. Er zeigt sich vielmehr gestärkt (Bischof 1996). Geschlecht wird hier strikt und exklusiv als angeboren verstanden. Jenes Geschlecht werde jeweils evolutionär bevorzugt, „das vermehrt Aussicht auf zukünftige Reproduktion besitzt“. Zwar ist die harte Deutungsvariante der Soziobiologie gesellschaftlich nicht besonders beliebt, aber Anklänge an sie schwingen selbst im Alltagsdiskurs mit. Geläufiger ist heute die Unterscheidung von „sex“ und „gender“. Freilich erscheint auch sie oft eigentümlich statisch und substanzialistisch. Ein milder Geschlechtsdimorphismus wird fast überall zugrunde gelegt (Keller 1993: 321), der davon ausgeht, dass geringfügige biologische Unterschiede kulturell überformt werden. Doch der Unterschied kann „groß“ oder er kann „klein“, er kann stark herausgestellt oder eher überdeckt erscheinen und in vielen Fällen ist er von vielen Menschen, die nicht befugt sind, Leibesvisitation zu betreiben, mindestens nicht auf Anhieb zweifelsfrei zu erkennen. Doch trotzdem hat noch keine Gesellschaft Grund gesehen, auf die Geschlechtskategorie als soziokulturelle
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Grundkategorie völlig zu verzichten. Mit einer Deutung von „sex“ als „Basis“ und „gender“ als „Überbau“ ist aber theoretisch noch nicht viel erklärt. Es gibt offenbar eine Vielzahl von normativen und faktisch-typischen Kombinationen, die eine mehrdeutige Wahrnehmung eingrenzen, gesellschaftliche Erwartungen vorzeichnen und öffentliche Darstellungsformen lenken, wenngleich hier habituelle und institutionelle Trägheitsmomente eine erhebliche Rolle spielen; denn „Geschlecht“ wird ja nicht in jeder Interaktion völlig neu ausgehandelt. Bisher galt immer: ein Kind ist entweder ein Mädchen oder ein Junge. Da wurde und wird noch heute kurzer Prozess gemacht und es wirkt eher „peinlich“, wenn ein Mädchen „männlich“ und ein Junge „weiblich“ auftritt, obwohl das Konzept der „Androgynie“ und die Möglichkeit der chirurgischen Geschlechtsumwandlung vielen durchaus bekannt sind. Ausgangspunkt biologischer Erklärung ist bekanntlich die Differenz zwischen den Geschlechtshormonen xx (weibliches Geschlecht) und xy (männliches Geschlecht). Außer Chromosom- und Hormonunterschieden werden immer wieder die Spezialisierung der beiden Hirnhälften, unterschiedliche Raumvorstellungen, größere Aggressionsneigung des Mannes, unterschiedliches Reifungstempo, stärkere Dauerbelastbarkeit der Frau mit dem spezifischen Geschlechtsverhalten in Verbindung gebracht (Asendorpf 1993: 17ff.). Doch alle diese physischen Merkmale sind weder isoliert wirksam, noch eindeutig platzierte Wirkfaktoren, die nicht in einem engen Wirkungszusammenhang stehen. Es sind förderliche oder hemmende Faktoren, die vielerlei Ausprägung erfahren können. Es gibt keinen Winkel, der nicht zugleich von Natur und Kultur geprägt ist. Piaget hatte noch angenommen, dass Kinder zum Erwerb ihrer Geschlechtsidentität zwei kontrastierende Geschlechtsmodelle, eben Vater und Mutter, notwendig brauchen. Und bestimmte Probleme allein erziehender Eltern scheinen das zu bestätigen. Doch auch dies lässt sich nicht verallgemeinern, weil unter bestimmten Bedingungen so etwas wie eine Kompensation lebenslang möglich erscheint. Eine jahrhundertealte, geschlechtsspezifische Spielkultur wirkt immer noch nach. Ebenso lassen sich bestimmte räumliche, zeitliche, mediale Bedingungen nicht mit einem Handstreich ändern. Nach wie vor gibt es geschlechtsspezifische Lieblingsspiele und Jungen spielen nach wie vor lieber im Freien als Mädchen (Nissen 1998; Gebauer 1997: 259). Da unentwegt und überall Geschlechtsstereotype auftauchen, braucht man sich nicht zu wundern, dass trotz allem kulturellen Pluralismus und der Desorientierung hinsichtlich der Geschlechtsrollen in der Sozialisation, „Geschlechtsrollen“ weiterhin den Blick automatisch auf sich lenken. Doch was die praktische Relevanz anlangt, ist eher davon auszugehen, dass sie immer wieder konkret auszuhandeln sind und eher von Diskontinuität statt von Kontinuität kultureller Tradierung auszugehen ist (Walper 1993: 443). In den heute oft komplizierten Familienkonstellationen verkompliziert sich natürlich auch die Praxis der Geschlechtsdifferenz (Kaufmann 1995). Vor allem ist sie abhängig vom real verfügbaren Wissen über die gängige alltägliche Geschlechtsproblematik. Geschlecht umfasst nicht nur Kenntnisse der Differenz, sondern auch der Gemeinsamkeiten und symbolischen Verweisungszusammenhänge, sowie u. U. möglicher Übergänge des Geschlechtsverhaltens. Die Unterscheidung „sex“ und „gender“ erweist sich so keineswegs als voraussetzungslos, stabil und omnipräsent. In manchem gleicht sie der Altersrolle. Geschlechtsdifferenzen werden sicher oft biographisch recht unterschiedlich akzentuiert, doch bestimmen sie weit hartnäckiger die ganze Lebensgeschichte (Honer 1991: 130; Neumann 1993: 144). Überall zeigt sich zwar eine natürlich-kulturelle Gemengelage. Was aber konkret als Ge-
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schlecht erfahren werden kann und als sozial relevant gilt, ist durchaus verschieden, ohne dass dies schlicht beliebig wäre. Welche gesellschaftliche Relevanz besitzt nun die Geschlechterdifferenz in unserer Gesellschaft? Zunächst ist noch in aller Munde, dass sie jahrhundertelang durch das „Patriarchat“ verschleiert und ausgebeutet wurde. Physische, psychische und soziale Unterschiede zwischen Männern und Frauen werden nicht mehr so exklusiv, aber noch als normal empfunden, obwohl über ihr Zustandekommen und ihre Geltung seit Jahren gestritten wird. Kaum noch kontrovers erscheint die Forderung, noch bestehende Benachteiligungen abzubauen. Ein Respekt vor der Geschlechtsidentität hat sogar Verfassungsrang und ist Teil der Grundrechte. Kinder dürfen nicht wegen ihres Geschlechts benachteiligt werden und sind stets Jungen und Mädchen (Rauschenbach 1991; Nissen 1998: 213). Zwischen dem Geschlechterdiskurs und den konkreten gesellschaftlichen Lebensbedingungen besteht aber bekanntlich immer eine kleinere oder größere Spannung; manchmal sogar Widersprüche. Hier wird deutlich, dass die Geschlechtersozialisation erst in einem bestimmten, kulturellen Rahmen ihre Normalität gewinnt. „Veränderte Kindheit“ bringt auch „veränderte“ Mädchen und Jungen hervor. Die Begleitforschung zur Koedukationsproblematik zeigt, dass selbst dieser Unterschied im Bildungsbereich trotz aller Anstrengungen bislang erhalten geblieben ist. Und trotz mittlerweile besserer Zeugnisse haben Mädchen immer noch oft ungünstigere Berufschancen wie Jungen (Gebauer 1997: 259). Es scheint allerdings, dass Kinder und Jugendliche geschlechtstypische Verhaltensmodelle zurückdrängen und sich ihnen zunehmend verweigern. Erhebliche Veränderungen haben sich sogar in der Geschichte der Pubertät herausgestellt. So wurde noch 1620 berichtet, dass in Deutschland die Bauernmädchen sehr viel später geschlechtsreif waren als die Töchter von Adligen und Stadtbürgern (Sieder 1987: 36ff.; Mitterauer 1986: 11, 23, 41; 1990: 25ff.). Ganz generell wurden Mädchen gezielter und früher auf ihre spätere Bestimmung hin sozialisiert. Erwachsenheit hat im Mittelalter für Mädchen manchmal nur bedeutet, von der „Gewalt“ des Vaters in die des Ehemanns überzugehen (Sieder 1987: 45). Noch heute müssen Mädchen nicht nur in der Dritten Welt“ in bestimmten Fällen um ihre politische Partizipation kämpfen. Frauen haben oft noch die einfacheren Bildungsgänge und nur den Ausblick auf Frauenberufe. Kindheit war und ist geschlechtsspezifische Kindheit (Mitterauer 1986: 8). Freilich hat das immer etwas Anderes bedeutet. Nicht immer gab es die Geschlechtsdifferenzierung wie zwischen 1800 und 1965. Zwar gibt es immer noch geschlechtsspezifische Unterschiede. Sie haben sich aber deutlich abgeflacht und pluralisiert, sind in ihrer Bedeutung in vielen Bereichen relativiert und temporalisiert worden. Für Mädchen war bis vor einigen Jahrzehnten meist der Übergang von der Herkunfts- zur Zeugungsfamilie die entscheidende Lebenszäsur. Schon in jungen Jahren trennte sich die Sozialisation und die Lebensgeschichte von Jungen und Mädchen. Jungen wurden zur „Härte“, Mädchen zur „Sanftheit „ und „Häuslichkeit“ erzogen. Das hat sich heute doch sehr geändert. Die traditionellen Sozialisationsziele sind weitgehend zur bloßen Option unter anderen Optionen geworden. Geschlecht ist also kein reines Naturdatum oder eine stabile „sex“- „gender“-Komplementärstruktur, weil nicht nur „gender“, sondern auch das Verhältnis zwischen beiden ein geschichtliches Verhältnis ist. Es ist immer nur symbolisch vermittelt erfahrbar; im Zusammenhang mit all den anderen Ordnungsbemühungen des Menschen, des lebenspraktischen, nicht nur diskursiven Umgangs und der typischen Inanspruchnahme von gesellschaftlich verfügbarem Wissen und sozialen Reaktionen. Und nur so kann „Geschlecht“
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sozial gelernt und vergessen werden. Körperliche Differenzen bieten sich natürlich unmittelbar zur Normalisierung und Stigmatisierung an (Goffman 1967; 1994). Doch sie sind nicht eo ipso normal. Sie können wahrgenommen oder nicht wahrgenommen werden, auf sie wird reagiert oder nicht reagiert. In einer Vielzahl körperlicher Praktiken werden sie dauernd umgebaut, die immer auch eine politische Dimension haben (Nissen 1998). Die Grundkategorie „Geschlecht“ wird immer zusammen mit anderen Grundkategorien sozialer Differenzierung wie Alter, ethnische Herkunft, oben/unten, soziale Mehrheit/soziale Minderheit benutzt. Und sie kann mehr oder minder mit diesen konvergieren oder divergieren; auch mit der situativen Inszenierung, die zirkulär reproduziert oder suspendiert (Breidenstein 1998: 16).
8.19 Intra- und intergenerationale Mobilität Nähe und Distanz und soziale Mobilität wird u.a. auch heute noch (z. B. neben der aufgewerteten medialen Präsenz) synchron durch „Nachbarschaften“ und „Verkehrkreise“ und das Maß an Sesshaftigkeit und diachron vor allem durch familiale Generationsbeziehungen und transfamiliale Generationsverhältnisse markiert (Grathoff 1994: 29ff.; 1989). In beiden Dimensionen wird nicht einfach eine kollektive Kategorie übergestülpt, sondern in Bezug auf habituelle und institutionelle Vorgegebenheiten und historische Ereignisse interaktiv getestet, erprobt, ratifiziert, pointiert, modifiziert, verworfen, also reinterpretiert. Eine solche Generationenorientierung kann dauerhaft stark oder relativ ephemer erscheinen und u.U. von kurzfristigen, auf wenige Jahre beschränkten Abständen von der nächsten Generationszuschreibung abgelöst werden. Das alles kann sich binnen kurzem sogar als „Spuk“ herausstellen, der plötzlich ganz unwirklich erscheint (Lüscher 2003: 26). Zweifellos ist schon dadurch der Mobilitätsdruck gestiegen. Vormoderne Gesellschaften mit ihrem überwiegend zyklischen Zeitverständnis kennen einen Vorrang genealogischer Strukturen, deren Charakteristikum war, dass man aus der „familialen“ Gegenwart (Vergangenheit) auf die transfamiliale Zukunft schließen konnte. Schon in der frühen Moderne wurde die Möglichkeit, in dieser Weise zu extrapolieren, zusehends prekärer. Einerseits stieg die Möglichkeit der Lebensplanung durch die um das „Normalarbeitsverhältnis“ zentrierte lückenlose Erwerbsbiographie des Erwachsenen, andererseits war die moderne Produktionsweise von vorneherein auf systematischen Produktivitätsfortschritt durch Innovation, d.h. auf immer schnellere Wissenserosion ausgerichtet. Generationenbildung wurde damit konditioniert und konnte immer weniger schlicht Tradierung sein. Besondere Ereignisse konnte sie anstoßen. Sie musste jedoch immer wieder interaktiv hergestellt und in die Biographie implantiert werden (Rosenthal 1997: 57ff.; 2000: 162; Bude 2000: 19ff.). Durch die höhere Lebenserwartung ergibt sich zeitlich eine immer längere Kette sich überschneidender Lebensverläufe der einzelnen Familienmitglieder. Kinder erleben ihre Eltern oft viele Jahrzehnte, heute fast immer ihre Großeltern und nicht selten die Urgroßeltern, aber immer weniger Seitenverwandte. Wenn es sich um eine der Formen der Stieffamilie handelt, kann sich der Bezug zwischen biologischer und sozialer Kindschaft und der genealogische Bezug sehr kompliziert gestalten. Der genealogische Bezug steht dann auch relativ frei gewählten intragenerationalen und intergenerationalen Beziehungsnetzen gegenüber. Die Veränderungen in der Geburtenentwicklung und das immer spätere Gebäralter
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der Mütter verändern vollends die herkömmlichen familialen Generationsbeziehungen. Was die Verlängerung der Lebenserwartung möglich erscheinen lässt, eine extreme Spanne familialen Generationenzusammenhangs, wird durch das relativ hohe Alter der Mutter doch wieder erheblich verkürzt. Je später die Erstgeburt stattfindet, umso wahrscheinlicher wird es, dass die Dauer der Intergenerationenbeziehung kurz ist. Da allerdings familiale Beziehungen auch nach einer Ablösung von den Eltern oder der Trennung der Eltern fortbestehen können, multipliziert sich die Zahl möglicher intergenerativer Beziehungen. Für die Kinder aus vorhergehenden Partnerschaften ergeben sich zunehmend komplexe Familienkonstellationen und Netzwerke, die eigens strukturiert werden müssen (Peukert 1999: 33f., 189). Da es unmöglich ist, vorweg die Entwicklung dieser Beziehungen zu beurteilen, wird zusätzlich deutlich, dass es sich hier um prekäre soziale Konstruktionen handelt. Die erhöhte Lebenserwartung und der Geburtenrückgang machten es möglich, sich jedem einzelnen Kind als geliebte Person zuzuwenden und damit auch die Sinnhaftigkeit der Elternschaft, aber auch die Steigerung des Anspruches der „verantworteten Elternschaft“ bis hin zur Selbstausbeutung zu erleben (Lüscher 2003: 75ff.). Damit konnte sich Kindheit als eigene Lebensphase relativ zwanglos durchsetzen. Die heute sich häufende Kinderlosigkeit lässt hingegen innerhalb der Familie die Generationskette abbrechen. Das wohl einflussreichste Generationenkonzept von K. Mannheim (1969: 23ff.) differenziert den Begriff der historischen, transfamilialen Generation in die Begriffe Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit. Jede Generation beruht auf einer sozialen Lagerung einer oder mehrerer Jahrgänge. Diese ist jedoch etwas Potenzielles, ein bloßes soziales Aggregat. Es kann im Bewusstsein und Handeln der betreffenden gesellschaftlichen Akteure eine völlige Nebensache darstellen. Erst durch die Wahrnehmung bestimmter Probleme, Risiken und Chancen bildet sich ein Generationszusammenhang meist im Horizont eines markanten historischen Ereignisses. Innerhalb dessen können aktive Kerne und politisierbare Generationseinheiten entstehen. Historischkulturelle Generationenverhältnisse verweisen auf die Tatsache, dass im Denken und Handeln soziale Reaktionen und Reinterpretationen auf die bloße Jahrgangszugehörigkeit (Kohorteneffekte) und u. U. Generationssolidarisierungen oder Generationskonflikte zum Ausdruck kommen können. Mit der Modernisierung schien zunächst die Abwertung der Altersdifferenz und des Einflusses des Generationsverhältnisses unausweichlich. Mit der Orientierung des Zeitverständnisses an der Zukunft erschien „Jungsein“ als eigentliche Glückschance jedes einzelnen Menschen, sei er nun an chronologischem Alter jung oder alt (Lüscher 2003: 99). Manche Erwachsene glauben noch heute, „im Prinzip“ hätten alle Kinder den „Marschallstab im Tornister“, ihnen stünden in gleicher Weise alle Türen zu sozialen Aufstieg offen, wenn sie intelligent und leistungsbereit seien. Doch die demographische Entwicklung und die ökonomische Rationalisierung (Produktivitätsfortschritt) lässt tendenziell Kindheit wie Alter eher als Ballast erscheinen. Kinder besitzen zwar im Gegensatz zu alten Menschen noch einen gewissen Zukunftswert als „Humankapital“. Ökonomisch ist das eine suboptimale Größe, solange nicht die geballte „Kaufkraft“ der Kinder durch das „Autonomieprojekt“, das Kinder als „aktive Konsumenten“ gegen das typisch moderne „Erziehungsprojekt“ in Stellung bringt, genutzt werden kann (Hengst 1996; 2000; Feil 2003; Neumann 2001). Auch wechselseitiges „Generationenlernen“ wird diesen Strategien strikt untergeordnet. Es erweist sich hier wieder einmal
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die Einsicht von K. W. Deutsch als treffend, dass derjenige die Macht hat, der nicht lernen muss (Offe 1994: 11). Wenn es richtig ist, dass tendenziell für jedes Individuum heute Mehrgenerationalität möglich ist (Lüscher 2003: 100), so folgt daraus keineswegs, dass diese unter konkreten historischen Bedingungen tatsächlich lange Zeit durchzuhalten ist. Akteure sind nämlich gezwungen, ihre stets knappen Ressourcen zu ordnen und zu vergleichen. Sie müssen daher unausweichlich auf typische Deutungsmuster zurückgreifen, um wenigstens verstanden und akzeptiert zu werden. Während die familiale Generationsbeziehungen durch die widersprüchlichen Interessen der Eltern, ihre Erziehungsabsichten, und der Kinder, deren Streben nach Unabhängigkeit, strukturell konfliktanfällig sind, ist umgekehrt das transfamiliale Generationenverhältnis schon deshalb konfliktbedroht, weil es sich oft nicht „handfest“ erfahren lässt und allzu abstrakt oder anonym erscheint. Der heute sicher weniger asymmetrischen Machtverteilung im gesellschaftlichen Raum droht daher immer eine Mentalrestriktion, wenn nicht ein Entzug der „Massenloyalität“. Institutionen haben auch bei Kindern denkbar schlechte Noten. Die mit der Abfolge von Generationen beschriebene Institutionalisierung menschlichen Zusammenlebens gelingt heute nur als selektiv-exklusiver Konstruktionsvorgang und bleibt von Interaktionen abhängig, kann daher auch leer laufen und misslingen. Soziale Konstruktionen des Generationsverhältnisses bringen somit einmal mehr die „duale Struktur“ zum Vorschein, die gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit generell charakterisiert. Einerseits sind ihre Erfahrungsbedingungen durch Geburtenentwicklung und Gebäralter der Mutter, politische Entwicklungen und historische Ereignisse vorgegeben. Andererseits entscheiden erst der Umgang, die Gestaltung und die Deutung des „Kohortenschicksals“ darüber, ob und in welcher Form Generationen entstehen (Lüscher 2003: 37). Eine Jahrgangskohorte braucht daher noch nicht einmal automatisch zur Generationenlagerung zu führen, wenn etwa klassenmäßige, ethnische, gesellschaftsspezifische Kämpfe alles dominieren und den Blick auf die Generationenproblematik verstellen. Wenn sie aber mehrheitlich wahrgenommen und als gemeinsame Chance oder Hypothek empfunden wird, besteht schon ein lockerer oder festerer Generationenzusammenhang. Auf dem Boden eines Generationenzusammenhangs entsteht unter Umständen eine oder mehrere Generationseinheiten, die sich nie ganz mit dem Generationszusammenhang und schon gar nicht mit der Generationslagerung decken müssen. Sie setzen vielmehr voraus, dass aktive (soziale) Minderheiten in öffentlichen Arenen als politische Akteure, Interessenlobby, Initiative oder soziale Bewegung in Erscheinung treten (Szydlik 2000: 9; Bude 2000: 167ff.). Nur wenn also spezifische politische, technische, mediale, ökonomische Probleme thematisiert und – noch so diffus – spezifisch artikuliert werden, kann man im Sinne von Karl Mannheim von Generationseinheit sprechen. Das bedeutet streng genommen, dass zur Bildung von Generationen weder die bloße Jahrgangszugehörigkeit, noch dieselbe Opportunitätsstruktur ausreicht, sondern sehr voraussetzungsvolle Bedingungen in Interaktionen und der sozialen Biographien gegeben sein müssen, die weit über eine formale „Mehrgenerationalität“ hinausgehen und die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ konstruktiv in einem politischen oder mikropolitischen „Projekt“ und in einem intensivierten „Familiendialog“ bewältigen und nicht in uferlose „Ambivalenz“ verfallen lassen (Rosenthal 1997: 59ff.; 2000). Damit aber wird das herkömmliche Verständnis sozial vererbter und sozialer Mobilität und sozialisatorischer Tradierung oder Transmission obsolet, weil erneut der Vorrang ge-
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sellschaftlicher Sinnrahmung vor individueller Sozialisation und ihre heutige Interaktionsabhängigkeit deutlich wird. Es ist abwegig zu unterstellen, dass sich ein Generationsverhältnis in jedem Falle und allein aufgrund einer einzigen formativen Erfahrung in Kindheit und Jugend konstituiert (Rosenthal 1997: 61). In der „spätmodernen“ Gesellschaft wächst wohl die Zahl derer, die sich generationsmäßig öfters umorientieren. Doch dieses „switching“ ist immer dadurch begrenzt, dass es verständlich, nicht nur opportunistisch, „authentisch“ und sozial akzeptabel erscheint. Es ist auch auffällig, dass die kindliche Lebenswirklichkeit in Gesellschaft wie Wissenschaft lange Zeit nicht als Teil der generationalen Ordnung wahrgenommen und rein synchron diskutiert wurde. Schon gar nicht wurde die intergenerationale Problematik in Organisationen und deren latente „Mobilitätsbremse“ wahrgenommen. Lehrer-Schüler-Verhältnisse z. B. wurden oft nur als funktionsspezifische Rollenbeziehungen thematisiert. Damit blieben aber wichtige Hintergrunderwartungen extrafunktionaler Art völlig unterbelichtet. Und diese tragen mit Sicherheit auch zum Funktionieren oder Nichtfunktionieren, zur Eruption von Gewalt oder gewaltlosen Konfliktregulierung bei. Im Horizont möglicher Generationserfahrungen vergleichen Schüler ihr eigenes Leben mit dem von Gleichaltrigen und Älteren und kommunizieren untereinander, „wodurch das Kontingenzerleben der Biographie einen Anker in kollektiven Erfahrungen findet“ (Bude 2000: 187; Prahl 2002: 283). Die Geburtskohorten des vergangenen Jahrhunderts wurden wohl entscheidend durch die beiden Weltkriege, die Nachkriegszeiten, durch den Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und die „sanfte Revolution“ in den postkommunistischen Staaten beeinflusst. Aber beileibe nicht alle Kinder haben das gleich und gleich intensiv erlebt (Kirchhöfer 2001: 61ff.). Die genealogisch-intrafamiliale Generationenbeziehung ist damit immer schon in ein sie übersteigendes transfamiliales Generationenverhältnis eingelagert; allerdings in einem variablen und unterschiedlich dichten, lebensweltlich geprägten Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhang. Politisch kann darauf „von oben“ und „von unten“ reagiert werden. Dabei können sich die Mobilitätschancen der gesamten Bevölkerungsgruppe „Kinder“ durchaus verringern, während sie sich für das einzelne Kind sogar noch erhöhen. Synchrone und diachrone Mobilitätschancen sind stets Ausdruck eines sozialstrukturell gerahmten Definitionsverhältnisses, das freilich nur wirksam wird, wenn es irgendwie „gewusst“ wird.
8.20 Herrschaftsverdünnte Zonen und Kontroll-Löcher Die Vorstellung, Sozialisation und Soziakontrolle könnten jemals komplett funktionieren, ist ebenso unrealistisch wie die einer tatsächlichen Herrschaftsfreiheit. Wohl aber können sich beide oder eine von ihnen intensivieren oder abschwächen. Sie sind sogar in einer einzigen Biographie Schwankungen unterworfen. Die „Befreiung“ des Kindes aus seiner modernen „fürsorglichen Belagerung“ (Qvortrup 1991: 231ff.; Lüscher 1991: 222ff.; Beck 1997: 9ff., 195ff.) und scheinbar friktionsfreien sozialökologischen Einbettung hat weder in der Vergangenheit noch heute Erwachsene daran gehindert, zu versuchen, die Sozialkontrolle zu komplettieren und – oft unter trügerisch „progressiven“ Etiketten – zu verfeinern, noch Kinder davon abgehalten, diesem Zugriff der Erwachsenen zu entgehen, wegzutauchen oder sich zu entziehen. Dies ist zunächst keine Frage mangelnder Zuneigung, sondern unterschiedlicher Perspektiven und Interessen.
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Nach getaner Mitarbeit konnten Kinder in der vormodernen Gesellschaft und wohl noch die Kinder der Industriearbeiterschaft in einem gewissen Umfang damit rechnen, dass sie die Erwachsenen in Ruhe lassen und relativ unzensiert und unkontrolliert spielen ließen und nicht wie die Familien des Bürgertums vor lauter Fürsorge und Förderungsbemühen, eigentlich ungewollt, unter Dauerbeobachtung stellten. Sie konnten sich relativ unbeschwert zu Spiel, Spaß und Schabernack treffen. Es gab nur eine lockere Hintergrundswachsamkeit einer viel breiteren lokalen Sozialkontrolle, des sozialen Vergleichs der Spielgruppen und der kindlich-jugendlichen Subkulturen. Spielen und Suspension der elterlichen Verantwortung war fast synonym (Ariès 1995). Erst das Konzept der bürgerlichen Erziehung hat mit besten pädagogischen Absichten ein lückenloses Netz von Kontrollen möglichst lautlos zu installieren versucht. Zuerst die Steigerung der erzieherischen Intentionen der Kleinfamilie, dann der Kindergarten und die Schule, kirchliche Unterweisung und später Jugendorganisationen und, wo es nottat, die Sozialadministration (Jugendamt etc.) schufen einen ziemlich umfangreichen Erziehung- und Fürsorgezusammenhang, dessen sozialdisziplinierender Charakter aufdringlicher oder halbverdeckt erscheinen kann. Mit Elias kann man dabei eine Tendenz zur Umstellung von der Fremdsozialisation auf Selbstdisziplinierung erkennen, die oft mit eleganteren Mitteln und „weicheren“ Methoden Ähnliches anzielt und oft erreicht: Statt Prügel Tadel, statt Tadel Ermahnung, statt Ermahnung Lob und Liebesentzug, statt Strafen jeder Art Evaluationen, deren Parametern jedes Kind zustimmen „kann“. Solche mehr oder minder sublimen Formen der Sozialkontrolle schlagen sich auch in der Form des praktischen Wissens von Kindern nieder, die oft in der Lage sind, nach einiger Zeit der Eingewöhnung diesen neuartigen, äquifunktionalen Charakter der jeweiligen Sozialkontrolle zu durchschauen oder wenigstens intuitiv zu erahnen und zu unterlaufen. Dies ist ein noch kaum erforschter Verhaltensbereich von Kindern (Valtin 1991). Etwas besser steht es um die Erforschung der Wechselseitigkeit des „heimlichen Curriculums“ und entsprechender subversiver Aktivitäten, die das Spannungsfeld tatsächlicher Sozialkontrolle definieren. Deren Nebeneffekte scheinen ähnlich wie rigide elterliche Erziehung geeignet, Kindheit zu verlängern oder, durch kindlichen Widerstand, zu verkürzen. Schon in der Familie erfahren Kinder tabuisierte „Familiengeheimnisse“ und „geheime Aufträge“ (Stierlin) und die für sie vielleicht bittere Tatsache, dass pauschal und diffus gegebenes Vertrauen nicht immer von den Eltern und Geschwistern voll erwidert wird und dass Mentalrestriktionen auch in einer „geschwätzigen Gesellschaft“ an der Tagesordnung sind. Für viele mag dennoch unfraglich bleiben, dass Vertrauen in der Familie prinzipiell sicher scheint. Außerhalb der Familie wird in der Regel viel weniger Rücksicht vorausgesetzt. Die Außenkontexte, beginnend mit dem Kindergarten und der Grundschule, gelten daher als viel unsichereres und relativ anonymeres Terrain (Krappmann 1993: 370). Nicht nur unkritische Vertrauensseligkeit, sondern vielleicht empirisch nicht weniger macht Unsicherheit für listig vorgetragene Kontrolltätigkeit der Erwachsenen empfänglich und stärkt das Bedürfnis, die sozialen Kontexte stärker zu kontrollieren. Kinder treffen auf klare Verhältnisse und wollen mittels „Kontrollbewusstsein“ ihrerseits alles im Griff behalten. Partizipation lässt also Kontrolle nicht verschwinden, modifiziert sie nur. Genauer: Es gibt offenbar Wendepunkte, wo relativ interesselose Partizipation sich durch Kontrolle zu sichern versucht. Die vielgepriesene psychologische „Selbstwirksamkeit“ oder amorphe „IchStärke“ merkt oft gar nicht, wie tief sie in das Spiel der Sozialkontrollen verwoben ist (Bröckling 2000; Krappmann 1993: 370f.; Zeiher 1993: 394). Der soziale Ort dieses wechselseitigen Ringens um Kontrolle, Teilhabe und Vertrauen sind die vielen, nicht nur verba-
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lisierten Verhandlungen bzw. der demonstrative und schweigende Verhandlungsverzicht bzw. die Provokation. Doch insofern technische Regulierungen ihren Sinn sehr bald verdecken, implizieren sie immer einen Überschuss und ein Verlangen, Kontrollen zu unterlaufen oder auszuhebeln, was natürlich nicht immer gelingt und neue Folgeprobleme schafft. Kaum sind alte Schlupflöcher gestopft, so ersinnen lebendige Kinder neue. Die Definitionsinstanzen sind gegenüber der Vormoderne einerseits formalisierter, andererseits informeller, weicher in ihren Methoden, stärker psychologieorientiert und auf Prävention bedacht; weniger „handgreiflich“. Auch die sozialen Reaktionen auf sie passen sich an oder entgleisen zu „Kurzschlüssen“ der Gewalt. Die Erfahrung, dass Gesellschaft teilweise in zahlreiche verselbstständigte Teilsysteme (Kirche, Staat, Wirtschaft etc.) zerfallen ist, lockert und verschärft zugleich Sozialkontrolle. Kinder müssen daher in unterschiedlichen Bereichen ganz anderen, teilweise gegensätzlichen Verhaltensanforderungen Genüge tun und sich faktisch kontrollieren lassen. Sie versuchen aber dennoch, ihre Handlungsspielräume zu erweitern und lebensweltlich zugänglich zu machen. Die einheitliche Kindheitsphase ist von einer Übergangs- zur Eigenphase voller Übergänge geworden und scheint nun wieder in heterogene Fragmente zu zerfallen, die neben Desorientierung natürlich gesteigertes experimentell-exploratives Verhalten nahe legen. Die hier wirksam werdenden polyzentrisch-multirelationalen Wissensstrukturen implizieren auch spezifische Praktiken des Übergangs, des Ausweichens, der Subversion, der Koalitionsbildung in Interaktionen, die Handlungsspielräume eröffnen, aber, das ist ihre Kehrseite, immer auch Chancen verschließen und ihre schlichte Kumulation verhindern. Reine Null-Summenspiele sind selten. Und überall tauchen Gewinner, Verlierer und auch Überflüssige mehr oder minder offen oder verschleiert auf. Mit dem Anwachsen und der Multiplikation der gesellschaftlichen und sozialen Normen ist der Kreis der Normadressaten und -interpreten und die faktische Normintransparenz einer scheinbaren „Multioptionsgesellschaft“ (Gross) ständig gestiegen. Dies bereitet Kindern Unbehagen und auch Leiden an der Gesellschaft, die immer mehr paradoxe Folgen bereit hält (Hornstein 1994; Dreitzel 1972). Das Problem, das sich real für Kinder stellt, ist nicht, jeglichen Kontrollen entgehen zu können, sondern sie einzugrenzen, dosieren, verschieben und mitgestalten zu können. Es ist natürlich nicht so, dass vor dem 19. und 18. Jahrhundert Kinder nicht kontrolliert wurden, aber bei aller Härte der Sanktionen und Kontrollmechanismen gab es wohl nie die Illusion, alles durchrationalisieren zu können, wie dies seit der Aufklärung fester Bestandteil aller Modernisierungsprogramme wurde. Mit einer gewissen Gelassenheit wurde die Tatsache zur Kenntnis genommen, dass zwischen Norm und Faktizität, zwischen Erziehungsideal und Erziehungswirklichkeit zwischen Alltag und Festen eigentlich oft Welten lagen, ohne dass man die „Ideale“ deswegen in Frage stellte oder vollkommen in institutionelle Zuständigkeiten umzuwandeln suchte. Mit dem Auftauchen dessen, was manche „Postmoderne“ andere „reflexive“ oder „dritte“ Moderne nennen, ist wohl auch die Ambivalenz der Rationalisierung deutlich geworden (Baumann 1995). Doch das jeweils angemessene, durchaus variable Verhältnis von Kontrolle und Kontrollverzicht – von beiden Seiten, der der Erwachsenen wie der der Kinder – wird immer wieder prekär. Kontrollüberschuss wie Kontrollmangel machen Kindern offenbar das Leben schwer (Goffman 1969: 231). Die relative Entstrukturierung der traditionell modernen Kindheit verweist Kinder auf eine materiell manchmal gut ausgestattete, aber insgesamt komplizierte Lebenssituation, wo sie nicht nur Sozialbeziehungen wählen und gewinnen müssen, sondern Optionen und
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Scheinoptionen bunt durcheinander wirbeln und entsprechendes Orientierungswissen nicht selten fehlt. Und Kinder wissen, dass sie in dieser Situation nicht auf eine Struktur sich wechselseitig stützender Kontexterwartungen bauen können, sondern wissen müssen, was Erwachsene über sie und Kinder allgemein wissen, sich rasch einen Vers daraus zu machen und so die „List der Ohnmacht“ (Foucault) auszuspielen. Entgegen der faktisch oft unterstellten Vorstellung, Kinder würden immer oder meist, wenn sie nicht eindeutig „delinquent“ erscheinen und gut erzogen seien, normkonform verhalten, ist eine gut behütete Illusion der Erwachsenen. Kindlicher Eigen-Sinn ist allerdings bereits eine alte Erfahrung, wie sie auch im sogenannten „Trotzalter“ zu Tage tritt. Die Konkurrenz und Sequenzialität von Sozialisationsprozessen bietet findigen Kindern immer neue Möglichkeiten, KontrollLöcher zu erspähen (Cohen 1977: 99ff.; Büchner 1985: 66ff.); auch weil Erwachsene heute noch weniger Zeit für Kinder haben. Kinder können nach einiger Zeit der Gewöhnung auch belebteste Straßen, Bahnhofsoder U-Bahn-Unterführungen, einen wenig originellen Kinderspielplatz, Pausen in der Schule, Medien etc. auf höchst originelle Weise „umwidmen“, verfremden und so reinterpretieren, dass er für die Kontrolle der Erwachsenen oft fast uneinsehbar wird. Sie können das aber weder beliebig, noch ohne soziale Ressourcen und zu jeder Zeit und an jedem Ort. Gelegentlich überschätzen sie sich ebenso wie die Erwachsenen.
8.21 Die Entstehung der Kinderfrage Kinder waren lange Zeit, ob erwünscht oder unerwünscht, die natürlichste Sache der Welt. Sie sind aber heute zur „Kinderfrage“ geworden. Sie hat einen existenziellen und einen sozialen Hintergrund. Es geht zum ersten darum, ob gegenwärtig und noch mehr in der Zukunft Kinder eine reine „Kopfgeburt“ werden. Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen lassen sich junge Menschen auf einen expliziten Kinderwunsch ein und setzen Kinder in die Welt? Haben Kinder eine Chance, das Licht der Welt zu erblicken? Zum zweiten geht es um die Eigendynamik dieses Kinderwunsches und drittens darum, welchen Ort Kinder in der Gesellschaft gewinnen, angesichts der Konkurrenz der Kinder- und Frauenfrage, die auch eine Männer- und Familienfrage ist? (Hettlage 1992) Da die Männer oft nach wie vor zurückhaltend im familialen Engagement sind und die professionelle Infrastruktur der Familienunterstützung in Deutschland nach wie vor zu wünschen übrig lässt, bleibt die Hauptlast der Familienarbeit nach wie vor an den Müttern hängen. Dies wird in einem Teil der Gesellschaft noch für „natürlich“ oder als „naturbedingt“ angesehen, obwohl das herkömmliche Arrangement und die traditionelle Arbeitsteilung eindeutig auf das europäische Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts zurückgeht und keinesfalls universal ist. Viele junge Menschen entziehen sich diesem bürgerlichen Modell und fürchten nicht grundlos den Interaktionsstress einer Doppelbelastung und gesellschaftlicher „Rücksichtslosigkeit gegen die Familie“ (Kaufmann). Dazu kommt noch, dass weder Männer noch Kinder anspruchsloser geworden sind. Zusätzliche Motivation, Entlastungsangebote und soziale Ressourcen sind offensichtlich notwendig. Von einem unkonditionierten natürlichen Kinderwunsch kann in vielen Fällen nicht (mehr) die Rede sein. Die geringere Kindersterblichkeit und Krankheitsanfälligkeit schafft die Chance, mit wenigen Geburten die gewünschten Kinder zu bekommen.
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Das heute vorherrschende Verständnis von Kindern, die öffentlich nützlich, privat jedoch nutzlos aber sinnstiftend seien, offenbart jedoch nicht nur ein gespaltenes kulturelles Bewusstsein, sondern eine wachsende Unsicherheit über Sinn und Wert oder Zukunft von Kindern und ein Zögern, die Realisierung des Wunsches ernsthaft anzuzielen oder zuzulassen. Es spricht vieles dafür, dass hier neben materiellen soziokulturelle Aspekte eine entscheidende Rolle spielen. Der Hinweis, junge Menschen wünschten sich in allen Umfragen Kinder, und man müsse nur die Hindernisse dazu wegschaffen, unterschätzt das „soziale Problem“. Abgesehen davon, dass dieser Kinderwunsch auch mittlerweile zurückzugehen scheint (LBS 2002: 106), ist er auch in eine Eigendynamik eingebettet. Öffentliche Auskünfte über ein „intimes Thema“ sind nicht sehr valide, sondern häufig Artefakte. Sie gehen oft über Widersprüche zwischen Prioritäten im Alltagsdiskurs, gelebten Rollenklischees und der Alltagspraxis sowie einem spefischen Kommunikationsklima hinweg. Sie berücksichtigen nicht die Möglichkeit einer Verschiebbarkeit und späteren Aufgabe des Kinderwunsches. Überdies ist es ein alt bekannter Fehlschluss, umstandslos von einer Einstellungsäußerung auf das Verhalten oder die Verhaltensdisposition zu schließen. Im Zusammenhang mit gelebten Stereotypen wäre zudem noch der Aspekt sozialer Erwünschtheit der Antwort genauer zu beleuchten. Deshalb ist der ständige Hinweis auf einen statisch betrachteten, vorhandenen „Kinderwunsch“ in der Familien- und Jugendsoziologie außerordentlich fragwürdig. Hingegen besitzt der Hinweis auf den Zusammenhang der sinkenden Geburtenrate und der Herausbildung einer „veränderten Kindheit“ als widersprüchliche Lebensphase größere Plausibilität (Lüscher 2003: 77). Das Wissen darum wächst und damit auch die Möglichkeit einer neuen Sinnrahmung von Sozialisation und Erziehung: welchen Lebenssinn kann man Kindern vermitteln, und welchen Sinn vermögen Kinder für Erwachsene zu stiften (Bühler 2005: 9ff., 117ff.; Zelizer 2005)? Es erhebt sich hier die Frage, ob Kinder nur dann eine Motivation für einen Kinderwunsch bilden, wenn sie sich als „erfreulich“ „nützlich“ oder nur, wenn sie sich als „sinnvoll“ und als „reine Beziehung“ zwischen Eltern und Kindern erweisen (Giddens 1993: 109ff.). Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen schließen sich privater/öffentlicher Nutzen und Sinnstiftung aus und unter welchen können sie sich ergänzen und wechselseitig verstärken? Wie geht eine Gesellschaft mit der zunehmenden Kinderlosigkeit um, die Generationsketten zusammenbrechen lässt und immer weniger Kinder mit immer mehr älteren Menschen konfrontiert? Zweifellos hat auch die Verlängerung der familialen Möglichkeiten der Generationsbeziehungen Auswirkungen auf eine Sozialstruktur, die eine immer deutlichere Polarisierung in Familien (mit Armutsrisiko) und Kinderlose aufweist und damit die Reste einer Klassengesellschaft revitalisiert. Kinderlosigkeit hat empirisch verschiedene Gründe; freiwillige und unfreiwillige. Sie ist auch Ergebnis einer allseits gelobten „verantworteten Elternschaft“, die immer höhere, gelegentlich unerfüllbare Ansprüche erzeugt (Beck 1989). Wenn Kinder Optionen unter Optionen sind und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch keine kulturelle Priorität besitzt, kann der Kinderwunsch immer wieder problematisiert, negiert oder verschoben und dann schließlich aufgegeben werden, weil er, besonders Frauen, in ein moralisches und lebenspraktisches Dilemma stürzt, das viele nicht aufzulösen vermögen. Moralische Appelle für Kinder und Kinderfreundlichkeit oder Vorwürfe an die Kinderlosen helfen hier ebenfalls nicht weiter, solange nicht generell die ökonomischen durch soziokulturell-politische Prioritäten ersetzt werden.
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Im öffentlichen Diskurs werden diese Aspekte oft verdeckt und überlagert von der Frauen-, Ehe-, Familien- und Männerfrage (Hettlage 1992: 92ff.), die bislang allerdings eher angedeutet denn ausdiskutiert wurden, prinzipiell aber durchaus normsetzend werden könnten. Die Frauenfrage hinsichtlich der Zukunftsperspektive des weiblichen Geschlechts gilt gemeinhin als eine der wesentlichen Resultate der Individualisierung und wird meist auch von den Frauen rein individuell angegangen. Damit wird aber eine kulturelle Debatte gerade vermieden, was Kinder für erwachsene Frauen und Männer und was Erwachsene beiden Geschlechts für Kinder in Zukunft bedeuten könnten. Leitbilder besitzen neben ihrer Orientierung zwar immer auch die Gefahr, „Mythen des Alltags“ (Barthes) statt alltagsnahe Problemlösungen hervorzurufen. Aber das Fehlen von Leitbildern und kulturellen Normen strapaziert doch auch die ständigen Verhandlungen und bewirkt nicht selten Ratlosigkeit und Überforderung. Damit erweist sich das „soziale Problem“ des Geburtenrückgangs nicht als therapeutisches oder quasitherapeutisch zu lösendes Problem, das viele ängstigt und wohl noch mehr Menschen ratlos zurücklässt, sondern als kulturelles Problem der Sozialverträglichkeit der verschiedenen sozialen Kontexte und der kulturellen Prioritäten. Dass Männer, selbst bei – oft nicht vorhandenem – gutem Willen, keine Kraft zur stärkeren Familienorientierung und Unterstützung der Frauen entwickeln, hängt nicht nur an ihrer eigenen Bequemlichkeit, ihrem Traditionalismus oder ihren persönlichen Interessen, sondern mindestens ebenso an der Rigidität des Arbeitsmarktes, fehlenden Infrastrukturen und an kultureller Desorientierung. Doch warum reproduzieren sich immer wieder Geschlechtsstereotype? Und warum treten Frauen nicht nur biologisch immer wieder in einen engeren Deutungszusammenhang mit Kindern als Männer? Die gesellschaftliche Stellung der Frau und Mutter in der modernen Gesellschaft war innerlich eng an den normativen Verweisungszusammenhang der modernen Kindheit und beide Konzeptionen an die lückenlose Erwerbsbiographie des Mannes rückgebunden. Wenn sich eines dieser Elemente ändert, ändern sich unvermeidbar der Gesamtzusammenhang und die anderen Elemente. Auf dem Arbeitsmarkt beginnt allmählich die Geschlechtsdifferenz ihre frühere Bedeutung unter der stillschweigenden Unterstellung zu verlieren, dass Kinder keine oder nur geringe „Störungen“ hervorrufen. Es ist völlig klar, dass diese Tendenz – jenseits der Sonntagsrhetorik eine objektive Verschlechterung des sozialen Status des Kindes nahe legt, wenn dem nicht u.a. durch Prioritätenwechsel und politische In-Pflichtnahme der Wirtschaft und Politik für eine familienfreundliche Infrastruktur und ein entsprechendes soziales Klima begegnet werden kann. Auch die Erziehungsansprüche für die „Persönlichkeit Kind“ (Hettlage 1992: 103f.) dürfen nicht einfach linear und pauschal durch quasiprofessionelle Standards des Sozialisationswissens ohne Beachtung der Unterstützungs- und Entlastungsnetzwerke gesteigert werden, was keineswegs weniger und schlechtere Elternbildung zu bedeuten braucht. Diese richtet sich aber bislang vorwiegend an „Familienwillige“ und versucht zu wenig, desorientierte und schwankende junge Menschen zur Familienpraxis zu ermutigen. Ein bloßes Mehr an Kindergeld etc. ist ein viel zu schlichtes Konzept. Alle vorliegenden Schwierigkeiten sind unter günstigen Einzelbedingungen selbstverständlich auch heute zu lösen. Doch die wirkliche oder imaginierte Kumulation der Schwierigkeiten ist eben auch kein reines Phantom des Egoismus. Die Kinderfrage läuft daher ziemlich direkt auf die kulturelle Frage hinaus, wie die Gesellschaft in Zukunft leben will (Beck 1991). Auch die „Verhandlungsfamilie auf Zeit“ beruht auf kulturellen Voraussetzungen, die sie sich nicht selber durch Verhandlungen schaffen kann und voraussetzen muss. Einen kulturellen Verhandlungsrahmen setzt gerade auch ein sozialkonstruktivistisches Konzept vor-
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aus, das die Familie der „reflexiven Moderne“ (Beck) als Sinngeflecht geteilter und ungeteilter Wirklichkeit zu verstehen sucht.
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9 Objektivierung: Wem gehören Kinder, was können, lernen, brauchen, müssen Kinder? – Kinderleben und Kinderalltag 9 Objektivierung: Wem gehören Kinder, was können, lernen, brauchen, …
9.1 Gesellschaftliche Prozesse der Verwandlung von wahrgenommenen zu handelnden Kindern (Kinderleben) Wenn Diskurse Erfolg haben, haben sie diesen nicht nur im Diskursuniversum mit seiner relativen Eigendynamik. Sie regen dann vielmehr auch zu sozialem Handeln an, genauer: zu einer ganz bestimmten Form des praktischen Umgangs mit den angebotenen diskursiven Unterscheidungen, Assoziationen, Bildern und Argumenten. Damit machen sie aus rein imaginierten Kindern handelnde Kinder als typisch und dauerhaft erwartbare Interaktionspartner innerhalb bestimmter sozialstruktureller Rahmenbedingungen. Wenn soziale Phänomene real werden wollen, müssen sie nicht nur thematisiert, sondern mit gegebenen objektiven Bedingungen in Einklang gebracht werden und als selbst objektivierbare „soziale Tatsachen“ erscheinen. Sie müssen sich folglich in einen Objektivierungsprozess einfügen lassen, der über eine Habitualisierung zu Institutionalisierungsprozessen führt, die schließlich durch eine universalistische Legitimierung (in der Regel durch lateral-transversale Verständigung) eine Tradierung an die Nachkommen zulässt. Gerade ein wandlungsbewusster Umgang mit Diskursen über Kindheit muss von gegebenen sozialstrukturellen Struktursedimentierungen ausgehen, wenn er diese zu verändern sucht. Die Akteure müssen wissen, womit sie wahrscheinlich rechnen können oder was normativ erwartet wird, selbst wenn sie sich nicht voll daran zu halten gedenken. Selbst wenn „auffällige“ Kinder gesellschaftliche Aufmerksamkeit finden, ist es noch längst nicht ausgemacht, dass man sich mit ihnen ernsthaft beschäftigt und ihnen neue, zusätzliche Handlungschancen zugesteht und nicht repressiv reagiert. In der Gesellschaft beobachten sich und reagieren widerstreitende Interessen, Habitusformationen und gesellschaftlich-politische Kräfte aufeinander und verobjektivieren dadurch ein Präsenzfeld förderlicher und hemmender Bedingungen oder einen sozialen Raum sozialer Reproduktion zwischen sozialer Mehrheit und sozialer Minderheit, zu dem Kinder nicht umstandslos Zutritt finden. Wenn es nicht bereits zu einer informellen Habitualisierung von Handlungschancen gekommen ist, ist eine explizite Institutionalisierung und Legitimation ganz unwahrscheinlich. Zudem macht die Kontingenz aller pragmatischen Verhandlungssituationen heute immer auch eine Deinstitutionalisierung möglich. Selbst wenn abstrakte Verfassungsprinzipien, rechtlich-administrative Verfahren und Prozeduren, Normen oder nicht konkretisierte Anerkennungsverhältnisse sich verselbständigen können und stets appliziert werden müssen, bilden sie doch einen Anker moderner gesellschaftlicher Ordnung. Jeder kann mit ganz bestimmten Chancen und Risiken rechnen (Berger 1971:49ff.). Damit können öffentliche Diskurse auf Alltagsdiskurse herunter transformiert werden, sich heute oft auch über ein „flooting gap“ hinwegsetzen.
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Der Diskurs über die Folgen des demographischen Wandels und „veränderter Kindheit“ wird zur Frage des pragmatischen und praktischen Wissens, unter welchen dauerhaften gesellschaftlichen Bedingungen Erwachsene sich Kinder wünschen können und Kinder als Vollmitglieder behandelt werden dürfen. Offensichtlich sind es nicht interpretationsfreie soziale Lebenslagen, sondern Deutungsmuster und Deutungspraktiken, die hier wirksam werden. Alltagswissen wird stark durch den sozialen Vergleich mit bestehenden Verhältnissen geprägt. Wer bleibt unberührt von Veränderungen? Wer gewinnt, wer verliert durch Veränderungen? Gibt es eine Chancen- und Risikenhierarchie? Kindern werden schon in den ersten Lebensjahren Handlungen von Eltern, Erziehern, Lehrern zugemutet, die gar nicht aus deren Machtvollkommenheit und Belieben resultieren. Der Wandel des globalisierten Arbeitsmarktes führt zu einem Wandel der Berufsstruktur und zu Abhängigkeiten der Lebensverhältnisse und Zeitrhythmen des Familienlebens und der schulischen Anforderungen. Das deutliche Ansteigen der Qualifikationsanforderungen der Arbeitsplätze kann nicht ohne Auswirkungen auf das Konsumniveau familialer Haushalte und der Freizeit bleiben, selbst wenn sich die Eltern mühen, die Kinder davon abzuschirmen. Schulische Zusatzanforderungen und Scholarisierungsangebote außerschulischer „Lernorte“ nehmen die Kinder in Beschlag. Eltern und Kinder müssen sich darüber klar werden, ob und in welchem Maß das unvermeidbar, von Vorteil oder von Nachteil sein kann. Ausschlaggebend ist dabei, dass sich die Zukunftstauglichkeit des Wissens, das sich in der Form von Typisierungen von singulären Situationsdefinitionen abgelöst hat, durch die Problemlösungskapazität und Anschlussfähigkeit an neues Wissen auszeichnet. Altes und neues Wissen haben einen ganz bestimmten Stellenwert und bleiben im gesamtgesellschaftlichen Wissensvorrat auch historisch situiert (Soeffner 2005: 392). Sozialstrukturell gerahmtes Kinderleben bedeutet Verschiedenes. Es bedeutet aber nie Beliebiges. Es erscheint als ganz bestimmtes Spektrum pluraler Formen des normalen Kindseins im Alltag und in außeralltäglichen Zusammenhängen, die ein Sonderwissen voraussetzen. Mit der Bevölkerungsentwicklung zeigen sich damit weit mehr als demographische Kennziffern. Sie verweist auf eine ganz bestimmte Form sozialer Differenzierung, die immer wieder hergestellt werden muss (Imbusch 2005: 13). Heutige komplexe Gesellschaften mit strukturell voneinander abgehobenen Sozialmilieus und funktional differenzierten sozialen Institutionen stellen besondere Objektivierungsprobleme dar. Vor allem ist hier die Gleichsetzung von Gesellschaft bzw. Vergesellschaftungsprozessen mit Nationalgesellschaft immer fragwürdiger geworden. Sie alle werden unter zeitlichen, räumlichen und sozialen Relevanzkriterien laufend transformiert. Die Eigenzeit des Kindes ist in der Zeitstruktur der Interaktion verankert und wird als eigene Alltagszeit und Lebenszeit in Auseinandersetzung mit den sozialen Zeiten spezieller Gruppen und Organisationen markiert. Sie hat ihren Ursprung darin, dass in Interaktionen Zeit verlässlich abgestimmt werden muss. Darüber hinaus ist die temporalisierte Interaktion von sozialen Zeiten verschiedener Institutionsprogramme abhängig, die auf Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zurückgehen. Die Eigenzeit und die Zeitstruktur der Interaktion sind auf diese Weise mit zahlreichen sozialen Strukturen relationiert und eng verwoben. Die menschliche Erfahrung wird durch Geburt und Tod und die Differenzen des „Kohortenschicksals“ und von Generationszusammenhängen sowie synchronen sozialen Verkehrskreisen und Institutionen strukturiert. Kindheit wird heute in einem neuen Zeithorizont erfahren, weil die intergenerationale Vorsortierung des Wissens unsicher und fraglich geworden ist und nicht nur von einem Teil
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der Kindheitsforschung in Frage gestellt wird. Die früher wenigstens Kindern gewährte Kontinuität der Lebensführung kann in immer mehr Fällen nicht mehr aufrechterhalten werden. Zeitliche Überraschungen, die alles über den Haufen werfen, müssen bewältigt werden. Es geht auch darum, zugleich mit wachsendem Zeitdruck wie wachsender Langeweile fertig zu werden und zu einer „differenziellen Zeitgenossenschaft“ zu gelangen (Hengst 2004: 273ff.). Institutionen und Organisationen, die ein institutionelles Programm umzusetzen versuchen, haben ihre eigene Geschichte, die Kindern oft ganz fremd erscheint. Als Mitglied oder Teil eines institutionellen Publikums verschiebt sich das Realitätsfeld und dessen Zeitdimension deutlich von den „spontanen“ zeitlichen Handlungsbögen, die Kinder außerhalb dieser sozialen Kontexte praktizieren. Es gibt innerhalb und außerhalb von Organisationen strategische, taktische und situative Koalitionsmöglichkeiten, die sich manchmal nur für einen Augenblick anbieten, gleichsam in Sekundenschnelle als „richtiger Augenblick“ aufleuchten und dann wieder in die Monotonie des Alltags zurückfallen. So unterscheidet sich die Zeiterfahrung von Kindern erheblich hinsichtlich von institutionellem Zeitdruck, freier Zeit, Freizeit, Schnelligkeit und Langsamkeit, der Struktur der alltäglichen Zeitrhythmen, der zeitlichen Verlaufskurven der Biographie und der dauernd notwendigen Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der Linearität oder Zyklizität und der Weite des Zeithorizontes. Die Struktur des Lebensverlaufs, der institutionellen Handlungsstrukturen ist zwischen der Alltagszeit mit ihren zyklischen Zeitrhythmen und Routinen und der eher linearen Lebenszeit, die sich durch die sozialen Zeiten zur Eigenzeit durcharbeitet, ausgespannt. Je nachdem kann das kindliche Leben durchaus auch strukturell bedingt, zeitweilig dramatischer oder langweiliger werden. Krankheit oder Unfälle oder andere kritische Lebensereignisse werfen Kinder manchmal völlig aus der Bahn. Zeiterfahrung kann aber weder am konkreten Verhalten noch am Körper direkt abgelesen werden, sondern ist einer interaktiven Deutung unterworfen. In modernen Gesellschaften gibt es zwar viele unterschiedliche Zeiten, aber keine festen Fahrpläne durch die Kindheit, und Altersnormen werden von verschiedener Seite in Zweifel gezogen oder ganz unterschiedlich beurteilt. Weder wissen die Eltern, noch die Kinder genau, was jeweils zu tun ist, obwohl es alltägliche Routinen gibt. Auch die sichere Einschätzung des jeweiligen Lebensabschnitts ist unsicher; trotz der pädagogischen, psychologischen und pädiatrischen Taxonomien. Ist das Kind in seinem Verhalten noch ein Säugling oder ein Kleinkind etc.? Eine historische Betrachtung zeigt auch, dass selbst organische Zäsuren sich verschieben können (Mitterauer 1986). Durch die zeitbedingten Verflechtungen von Zeitschemata werden Handlungsmöglichkeiten eröffnet und begrenzt (Srubar 1998: 73). Neben der intergenerationalen Mobilität besitzt auch die Synchronisierbarkeit kindlichen Verhaltens mit der zeitlichen Normalitätsunterstellung sozialer Institutionen eine strukturierende Funktion (James 1998: 99). Die Zeit in der Familie, dem Kindergarten, der Schule etc. bleibt wichtig, wird aber immer stärker durch die Medien und die Zeit des Konsumierens unterhöhlt. Während die Familie ihre Familiengeschichte Kindern gegenüber zur Geltung bringen und die Schule ihre Schüler zukunftstauglich zu machen versucht, spielen Medien und Konsum Kindern die Illusion einer rein punktuell-gegenwärtigen Existenz vor. Statt des „Erziehungsprojekts“ propagieren sie ein rein präsentisches „Autonomieprojekt“ (Hengst 1996), das Kinder ermuntert, sich im Augenblick auszuleben. Durch die wachsende Abhängigkeit der Eltern von einer sich oft schnell ändernden Marktlage erscheint die Zukunft Kindern als
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wenig stabil, planbar und lohnenswert, rasch angesteuert zu werden. Die Gegenwart scheint dann als das einzig Reale (Mansel 1996). Für die eigene Lebensgestaltung halten sie zwar an der Hoffnung fest, in ihrem Leben Erfolg zu haben, aber die gesellschaftliche Zukunft erscheint trübe. Kinder sehen sich auch durch eine Reihe von Diskursen, die sie am Rande mitbekommen, bestärkt, die Zukunftstauglichkeit schulischen Wissens zu bezweifeln. Sie ahnen auch, dass die Formel vom „lebenslangen Lernen“ verbirgt, dass nicht alle beliebig lange mithalten können und Mächtige durchaus nicht immer lernen müssen. Im Gegensatz zum geographischen Raum entbehrt die Raumerfahrung gesellschaftlicher Akteure nie einer symbolischen Qualität, der Bedeutungsachsen der Zentralität oder Peripherie, stellt also eine als sinnvoll gedeutete Struktur des menschlichen Handlungsfeldes dar. Die sozialräumlichen Figurationen der Alltagswelten und symbolischen Welten sind keineswegs notwendigerweise territorial organisiert: „Entscheidend für die Konstitution ist die Teilhabe an einem Interaktionszusammenhang, nicht die Festsetzung territorialer Grenzen“ (Soeffner 2005: 395). Diese Struktur verkörpert sich allerdings in räumlichen Gegebenheiten, die aber nicht vom Raum selbst determiniert sind. Sie gliedert sich nach Schütz in Zonen aktueller, potenzieller und wieder erlangbarer Reichweite und Zugänglichkeit sozialen Handelns (Srubar 1998: 73f.) für alltägliche Lebensführung und Biographie. Damit zeigt sich eine Skala von Nähe und Distanz, Vertrautem, prinzipiell Vertrauenswürdigem aber auch Fremdem, Prozessen des Vertrautwerdens und Fremdwerdens, die lokale „Nischen“ und sozialökologische Differenzierungen immer wieder neu überziehen (Srubar 1998: 74, 79ff.). Raumrelationen sind daher in Prozesse der Statusgenerierung und Differenzierung sozialer Positionen eingebunden. Deren Veränderung schlägt sich in kollektiven Definitionen des sozialen Raumes nieder, für den der physische Raum bloßer „Rohstoff“ darstellt. Räumliche Implementationen sind also immer symbolische Differenzierungen verschiedener Verhältnisse von vertraut und unvertraut oder intim und anonym: das nächste Dorf kann Kindern heute unendlich fern sein, eine geographisch ferne Ferieninsel, wo sie mit ihren Eltern den Urlaub verbringen, dagegen nahe. „Verinselte Räume“ mit ihren geographischen oder sozialökologischen Indizes werden mindestens nachträglich neu „zusammengeschweißt“, weil sie sonst nicht verstanden werden können. Die Medien bringen noch einmal alles durcheinander. Doch die vielbeschworene „virtuelle Realität“ veralltäglicht und relativiert sich oft nach einer gewissen Eingewöhnung auch wieder und wird dann nach den üblichen Kriterien „motivationaler Relevanz“ räumlicher Koordinaten geordnet und differenziert. Für wenige Kinder ist Medienrealität wirklicher als die Wirklichkeit (Keppler 1994). Das heutige räumliche Handlungsfeld, das durch technische Transportmittel und global recherchierende Medien charakterisiert ist, wird durch vielerlei regionale Disparitäten, polyzentrische, aber auch nach wie vor konzentrische Orientierungen, lokale Resistenzen und soziale Mobilität und Migration unübersichtlicher und widersprüchlich geprägt. Es ist weder rein global, noch wie in der Vergangenheit exklusiv national und lokal strukturiert (Srubar 1998: 79; Beck 1997; Loch 2001). Kindern sind heterogene Topiken und Topologien zwischen ihrer Wohnungsumgebung, anderen Lebens- und Lernorten der Region und medial und transporttechnisch verbundenen entferntesten Winkeln der Welt durchaus geläufig. Es zeichnet sich auch durch fortwährende Migration eine laufende Redefinition des sozialen und physischen Raumes durch ethnisch-kulturelle, geschlechtsspezifische und altersmäßige Kategorisierungen und Praktiken sowie praktisches Wissen ab. Einerseits wird
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so die soziale Mobilität unterstützt, andererseits gebremst. Diese Widersprüche sozialer und symbolischer Raumerschließung dürften sich in absehbarer Zeit nicht etwa verflüchtigen, wie die orthodoxe Modernisierungstheorie annahm, sondern mit größter Wahrscheinlichkeit noch verschärfen. Dies bringt relativ zwangsläufig und fortwährend Umstrukturierungen in den „sozialökologischen Verschachtelungen“ (Lüscher) mit sich und tangiert auch die symbolischen Beziehungen zwischen Familienwohnung, Wohnviertel, Straßen und Parks, Kaufhäusern und Stadtpassagen, Schulhaus, Kirche, Vereinsheim und allen lokalen Identifikationsmöglichkeiten des Stadt-Land-Gefälles. Die dialektische Sinnachse globaler und zugleich lokaler Orientierung ist dabei nur eine unter mehreren, wenngleich die auffälligste (Münch 1998). Schon die Gliederung der Relevanzen des Raumes zeigt, dass nicht der physischobjektive Raum, sondern die Symbolisierungen durch den beweglichen, leiblichlebensweltlichen „Nullpunkt“ des interagierenden Akteurs entscheidend sind. So differenziert sich auch die Sozialität als sozialer Raum ähnlich wie der von ihm abhängige physische Raum in einer Skala von Nähe und Distanz oder sozialen Relevanz und Irrelevanz, Intimität oder Anonymität (Srubar 1998: 75). Er lässt sich ausdifferenzieren, rekombinieren und unterschiedlich, u. U. hybrid, erweitern und reinterpretieren. Er wird heute durch neue Segregationen, vor allem in den großen Städten, fragmentiert. Soziale Mobilität und Migration lassen buntscheckige soziale Netzwerke entstehen, die keineswegs an den Landesgrenzen der Nationalgesellschaften Halt machen. In diesen auch stark temporalisierten Strukturen schlägt sich unterschiedliches Wissen nieder, das Macht und Einfluss verschaffen kann oder durch seine Wissenskluft Angst und Ohnmacht erzeugt (Foucault 1973; Giddens 1998). Damit entscheidet sich, welche Kinder zu welchen Kommunikationsprozessen, sachbezogener Kooperation, zu welchen Formen der Konflikt- und Krisenbewältigung, zu Identitäts- oder Stigmamanagement befähigt sind. Präsenzfelder und Grenzen sozialen Handelns beruhen auf praktischem, allgemeinem, gruppenspezifischem und individuellem Wissen: Dieses wird immer wieder neu verteilt und der Wissensvorrat transformiert. Die Definition von Bedürfnissen, Interessen und Ressourcen und Sanktionen wurden in der Vergangenheit ausschließlich von Erwachsenen besorgt. Vieles deutet darauf hin, dass dies in immer weniger Fällen künftig ganz ohne Verhandlungen mit Kindern möglich sein wird. Das gilt mit großer Wahrscheinlichkeit sowohl für den Bereich der Familie, des Kindergartens und der Schule etc., weil angesichts unklarer Wissensnotwendigkeiten, Curricula, Wissenshorizonte und einer Überfülle nicht validierter Informationen Kinder fortwährend zum Lernen „nachmotiviert“ werden müssen. Es ist wohl auch nicht mehr zu verhindern, dass ihre Sozialbezüge nicht mehr nur unter Gesichtspunkten des Schutzes und Lernens gesehen werden können, sondern auch nach Kriterien des Lernens des Lernens, des einfachen „lebenskundlichen“ Umgangs mit Wissen, des kritischen Gebrauchs der Medien, der Kultivierung des Konsums und der politischen Interessenvertretung organisiert werden müssen. Das erfordert nicht weniger, sondern mehr Orientierungswissen. Erforderlich ist ganz besonders die Einsicht, dass gesellschaftliche Solidarität nur dann Bestand haben wird, wenn sie nicht nur für die eigenen sozialen Netzwerke ausgebeutet wird oder lediglich für Trittbrettfahrer „nützlich“ erscheint. Es bleibt allerdings offen, ob die heutige Marktdynamik Solidarität zugunsten „bezahlter Indifferenz“ noch stärker zurückzudrängen vermag.
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Die Sozialstrukturanalyse vermittelt den Eindruck, dass die Erosion der Klassengesellschaft bis 1990 stark fortgeschritten war, danach aber eine Reihe von Spaltungen und Polarisierungen wieder deutlich geworden sind: die Gegensätze zwischen West- und Ostdeutschen, Ausländern und Einheimischen, Familien mit Kindern und Kinderlosen, Reichen und Armen, Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, Menschen in sicheren und prekären Arbeitsverhältnissen und Frauen und Männern (Butterwegge 2002; Hengsbach 1996; 2002; Griese 2000: 246ff.; Hradil 2004). Die Kontingenzsteigerung durch einen globalisierten Markt legt einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ nahe, der auch Kinder ermutigen könnte, sich auf die unsichere Zukunft einzulassen. Er könnte durch neue Sicherheiten und ein sozialpolitisches Stützsystem fundiert werden, die vermutlich auch zu einer neuen Mischung lebensweltlicher und professioneller Beziehungen in vielen Einzelbereichen führen würde. Bildung wäre dann nicht einfach ein Fundament der beruflichen Ausbildung. Sie müsste einer aktuellen Welterschließung der Kinder Vorrang geben, da sich die soziale Lage immer mehr aufgrund der aktuellen Wissensstrukturen temporalisiert (Srubar 1998: 82; Loch 2001: 11f., 21). Gleichzeitig vollzieht sich dabei offenbar ein Prozess der Globalisierung, Europäisierung und der lokalen Resistenz oder Renaissance und eine Fragmentierung der nationalgesellschaftlichen Sozialstruktur mit erheblicher offener oder versteckter sozialer Ungleichheit besonders in Form von ethnischen Segregationen in allen Großstadtlandschaften. Trotz aller Auflösungstendenzen der traditionellen Milieustrukturen der Konfessionen und der Arbeiterschaft, die sich im 19. Jahrhundert sedimentiert hatten, verschwinden diese nicht einfach, bleiben aber auch nicht stabil. Es entsteht ein neues Spektrum von Mikromilieus in einer bestimmten Pluralität, die durch temporalisierte Polarisierungen überlagert werden, die durchaus dauerhaft werden können. Alte Reste der Klassengesellschaft und neue Polarisierungen schaffen unübersichtliche Konfliktlinien und Konstellationen intergenerationaler und institutioneller Sozialkontrollen (Vester 2001: 309, 314ff., 342). Das heterogene Feld sozialer Disparitäten unter Kindern verleiht der Kindheit zwar viele institutionelle Normalitätsunterstellungen, aber im Alltag viele neue verwirrende Gesichter. Sogar in den optisch stabil gebliebenen Sozialmilieus erleben viele Kinder tief greifende Veränderungen und eine Zunahme unsicherer sozialer Lagen. 9.1.1 Dimensionen der Objektivierung: Habitualisierung, Institutionalisierung, Legitimierung Gesellschaftliche Reproduktion funktioniert offenbar auch dann eine gewisse Zeit, wenn Traditionslinien unscharf, Normensysteme brüchig und nicht einmal durchgängige Systemzusammenhänge erkennbar sind. Der objektive wie der subjektive Sinn gesellschaftlicher Wirklichkeit kann sogar gleichzeitig verblassen. Erstaunlicherweise aber geht das gesellschaftliche Leben auch dann weiter, weil sich die meisten Menschen von einer gewissen Ordnung und Solidarität des Alltags getragen fühlen (Zoll 1993), die selten reflektiert wird. Dadurch können mindestens einige Sinnfäden und Handlungszusammenhänge aufrechterhalten werden, ohne dass das schiere Chaos ausbricht. In der gesellschaftlichen Praxis einer immer mehr interkulturell geprägten und global ausgefransten Gesellschaft sind manche Akteure froh, wenn wenigstens Traditionsreste und Systemfragmente auftauchen und aufgegriffen werden können. Schon Kinder
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erleben immer öfters dieses fast pausenlose Wechselspiel von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, das bereits im vorinstitutionellen Bereich möglicher Routinebildung ansetzt und immer neue Balanceakte in familialen, schulischen, beruflichen und freizeitlichen Handlungssphären erfordert. Im Sinne Berger/Luckmanns (1970: 137ff.) manifestiert sich hier eine konstruktiv zu bewältigende Dialektik von Habitualisierungstendenz und Kontingenz, während Giddens von einer „dualen Struktur“ (Giddens 1988) spricht. Man kann sich in diesem Sinne fragen, ob die diskursive Aufwertung von Kindern einer durchgängigen Statusaufwertung entspricht, ob sie leere Sonntagsrhetorik darstellt oder eher Ausdruck eines gesellschaftlichen Desiderats ist (Hengst 2005: 11, 13). Hinterlassen die Diskurse objektive Spuren? Eine erste Schicht gesellschaftlicher Objektivierung stellen Habitualisierungen in einer Fülle von Aktivitäten dar, mit denen Kinder in Auseinandersetzung mit Erwachsenen ihren Alltag, den Vormittag meist anders als den Nachmittag, zeitlich, räumlich, sachlich, sozial zu routinisieren vermögen. Gestalten sie ihn, gehen sie mit Routinezumutungen der Erwachsenen selbständig um, lassen sie sich hängen und treiben? Können sie den familialen, schulischen, kommunalen, ärztlichen Normalitätsunterstellungen überhaupt trauen? Unter welchen Bedingungen stellen sich dabei „gewohnheitsrechtliche“ Praktiken, Verlässlichkeiten, lockere Regeln, Rituale und verhandelbare „virtuelle Solidaritäten“, normale (noch nicht strikt verbindliche normative) Standards des Gebens und Nehmens, der wechselseitigen Für- und Vorsorge und der Arbeitsteilung ein (Kelle 2005: 98, 102), die durchaus nicht nur zu Harmonie, sondern auch zu dauernden Streitereien führen können (Krappmann 1993)? Die hier aufblitzenden relationalen Strukturen zwischen Kindern und Kindern und Kindern und Erwachsenen bilden objektivierte Elemente von familialen Generationenbeziehungen, „Nchbarschaften“ und dem gesamtgesellschaftlichen Generationenverhältnis. Sie zeigen, dass Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Blick in ihren habituellen Verhaltenseigentümlichkeiten typisch eingestuft werden, obwohl ein forschender Blick unsicher bleiben kann. Typisierungsneigung der Erwachsenen und Alltagstypik des kindlichen Verhaltens begegnen sich hier in „natürlicher Einstellung“ (Alanen 2005: 75; Honig 1999). Kinder inszenieren und erleben sich habituell, in dem sie fast reflexartig auf typische, manchmal stereotype Verhaltensmuster vorfindlicher Generations- und Institutionsbeziehungen ganz selbstverständlich zurückgreifen und so ihr nie ganz eindeutiges Verhalten stimmig erscheinen lassen. Damit stehen nicht nur Unterscheidungen, sondern auch Praktiken des Umgangs mit diesen Unterscheidungen bereit. Weil man zum Handeln nicht nur durch exzessives Reflektieren, sondern vor allem durch eine lebensweltliche, nicht nur kognitive Basissicherheit kommt, muss Reflexion immer schon diese generative, vorprädikative Hintergrundstruktur und eine „Totalität der von Situation zu Situation wechselnden Selbstverständlichkeiten“ (Schütz 1979: 31) voraussetzen. Das sind nicht einfach statische Zustände. Vielmehr handelt es sich um implizite symbolische Hinweise, Impulse, „Instrumente“, um sich auf normalisierende Verhandlungen einlassen zu können und zu wollen. Das wird von Seiten der Eltern durch Gesten der „unkündbaren“ Solidarität und von Seiten der Kinder durch Identifikation symbolisiert. Trotz z. T. früher einsetzender Ablöseprozesse verzichten die meisten Kinder nicht nur aus rationalem Kalkül darauf, von zu Hause auszuziehen oder auszureißen. Trotz „Schulverdrossenheit“ verlegen sich noch immer relativ wenige Kinder darauf, die Schule zu schwänzen etc.
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Der Schutz von Konventionen darf nicht unterschätzt werden. Bis vor wenigen Jahren war es Erwachsenen möglich, hier das Koordinatenkreuz eines pädagogischen „Panoptikums“ einzuziehen, doch ist dieses längst demontiert worden. Die lebensweltliche Sicherheit eines relativ homogenen Wissens familialer „Soziabilisierung“, schulischer Sekundärsozialisation und beruflicher Qualifikation und eine Dominanz der Erziehungsperspektive über alle anderen Perspektiven gesellschaftlicher Arbeitsteilung und der Freizeitkonsums erscheint in der Konkurrenz der Sozialisationsinstanzen vom zartesten Babyalter an zutiefst problematisiert und nur noch mühsam normalisierbar. So gesehen ist es durchaus erstaunlich, dass Kinder ganz selbstverständlich in der „natürlichen Einstellung“ als Kinder erkennbar bleiben (Kelle 2005: 87, 93f.). Es scheint aber wahrscheinlich, dass sich künftig auch andere soziokulturelle Relevanzen durchsetzen werden. Damit zeigt sich, dass Normalität nicht in einer fixierbaren Normativität aufgeht, sondern jeweils voraussetzungsvollen historischen Normalisierungsprozessen entspringt, die erst das Gemisch von Optionen und Scheinoptionen lebbar machen, Widersprüche einschränken und Chancen aus der faktischen Gemengelage von Chancen und Risiken sozusagen herauspräparieren; und zwar zunächst und zumeist durch ein vortheoretisches, nur halb- oder sogar vorbewusstes und vorprädikatives praktisches Wissen und soziale Kompetenz, die in Habitualisierungsprozessen ihre Wurzeln haben. Soziokulturelle Kategorisierungen erschließen sich nicht vorrangig von einer isolierten kognitiven Instanz her, sondern sind von tatsächlichen, habituellen Praktiken und der aus ihnen erwachsenen Alltagstypik bestimmt. Im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern bleibt so meist in der Regel quasi selbstevident im Sinne einer „quasi naturrechtlichen Faustregel“, welcher als „sorgender“ und welcher als „versorgter“ Akteur normalerweise zu gelten hat, längst bevor rechtliche Normierungen in Erwägung gezogen werden. Diese offensichtliche Naturalisierung der Normalitätsunterstellung kann jedoch in heutigen Familien schon mit kleinen Kindern zu lästigen Auseinandersetzungen führen, was Kinder „schon alleine können“ oder können sollten. Von einem beträchtlichen Teil der Soziologie (Bourdieu 1997: 167ff.; Hörning 2001) und auch der Kindheitssoziologie werden solche Habitualisierungen und soziale Praktiken zugunsten kognitiver Strukturen unterschätzt oder gar nicht registriert. Sie bestimmen aber gerade die Relationen von Generationsbildungen und Interaktionsgeflechten weit mehr als kognitive Differenzierungen oder normative Funktionszuschreibungen. Die Relevanz der Altersdifferenz ist nicht durch zeitlose Taxonomien und Klassifikationen determiniert, die die „Natur“ widerspiegeln, sondern praktisch zu bewerkstelligen. Sie kann durch historisch ganz verschiedene Wissensstrukturen repräsentiert werden und ist in Interaktionen immer wieder zu ratifizieren und zu modifizieren (Kelle 2005: 91f.; Rosenthal 1997). Auch die „Gleichaltrigkeit“ ist eine soziale Konstruktion und kein naturwüchsiges „Kohortenschicksal“; manchmal sogar tief umstritten. Es ist ausdrücklich zu betonen, dass es sich hier durchaus um praktisches Wissen und nicht nur um dumpfe Affektivität oder Irrationalität handelt, auch wenn nur selten und ausschließlich in „kritischen“ Situationen darüber reflektiert wird. Damit kann vieles kundig und gekonnt auf Anhieb in Ordnung gebracht werden, was Kinder plagt und beunruhigt; meist viel wirkungsvoller als durch (theoretische) Reflexion, die oft ja faktisch die Unruhe vermehrt, weil sie sichtbar macht, dass heute fast alles auch anders sein könnte. In und durch Habitualisierungen können Kinder vieles performativ einholen und verstehen lernen, was ihnen Institutionen zunächst einmal vorsetzen (Learning by doing“).
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Schon die Tatsache, dass die meisten Kinder heute in Familien (pluralen Zuschnitts) leben, in den Kindergarten und eine Grundschule gehen, hat inzwischen nicht nur etwas mit normativen Vorschriften, sondern mit der ganz selbstverständlichen Alltagspraxis zu tun, auf die sich explizite Normen verlassen können müssen. Sie wird durch sozialisatorische Interaktion angestoßen, besitzt aber auch eine gewisse Eigendynamik. Freilich erfährt diese auch durch eine weitergehende Institutionalisierung und die Ausprägung expliziter, formeller und legaler Normen oft eine beträchtliche Stützung. Weder Familie noch Kindergarten oder Schule sind heute ohne explizite Normen, offizielle Anerkennung und Gesetzesgrundlagen in einer stark pluralisierten Gesellschaft ausschließlich aus ihren vollzogenen Habitualisierungen stabilisierbar (Qvortrup 2005: 31, 33). Sie regulieren eine sonst zu konturlose Form und den Status von Kindern auch unter Bedingungen vermehrter sozialer Konflikte, die oft nicht durch informelle Mediation zu regulieren sind. Institutionen haben sich von konkreten Entstehungsbedingungen prototypischer und habituell vorgezeichneter Problembearbeitung abgelöst und reklamieren universale Geltung in einer Gesellschaft, obwohl durch solche formelle Normen die Lebensverhältnisse abstrakter und anonymer werden und zudem immer eine konkrete Applikation auf die jeweilige Situation voraussetzen. In solchen institutionellen Referenzsystemen werden heute natürlich auch Sozialisation und Sozialkontrolle programmiert (Hahn 1995). Je stärker hier das Spannungsfeld zwischen der kindlichen Klientel und professionellen Experten ausdifferenziert werden kann, umso stärker legt sich eine Deutungsperspektive in der Gesellschaft nahe, Kinder heute auch als eigene Bevölkerungsgruppe und nicht nur als Appendix der Familie oder Familienmitglied zu begreifen und mit ihrem neuen Sozialstatus oder ihrer Einschätzung als „kleine Erwachsene“ zu rechnen, was von Experten, Familien und unterschiedlichen Erwachsenen, unterschiedlichen Kindern und oft in der Öffentlichkeit anders als in der Privatsphäre verschieden oder kontrovers beurteilt wird (Qvortrup 2005: 34f.). Die amtliche Sozialstatistik, die Sozialpolitik sowie das Rechtssystem (Kinderrechte) und die Kindheitsforschung haben nicht nur zur diskursiven Differenzierung in den letzen vier Jahrzehnten viel beigetragen. Und diese zunehmende Institutionalisierung ist noch keineswegs abgeschlossen. Das zeigt z. B. die Diskussion um die Ganztagsschule oder über verschiedene „Lernorte“ außerhalb der Schule. Dies ist nicht nur neu im Blick auf die Definitionsmacht traditioneller Kinderinstitutionen und Kinderwissenschaften und ihren herkömmlichen normativen Funktionszuschreibungen, sondern wegen der verschobenen Wissensproduktion über Kinder und von Kindern. Die wichtige Differenz zwischen technischer, lebenspraktischer, biographischer und sozialer Kompetenz und politischem Wissen ist nicht mehr ganz klar, wenn auch Kinder heute mehr denn je ihre Eltern und Lehrer sozialisieren (Lüscher 2003; Qvortrup 2005: 43). Die sozial wenig akzeptierten Gruppen haben entgegen offiziellen Diskursen und sogar rechtlichen Normen ihre historische Irrelevanz stets durch ihre faktisch-habituellen Beiträge zur intrafamilialen wie gesellschaftlichen Arbeitsteilung korrigieren und mindestens teilweise kompensieren können. So war der Arbeitsbeitrag der Frauen und mit gewissen Einschränkungen auch der Kinder in vormodernen, stark agrarisch-hauswirtschaftlich orientierten Gesellschaften so bedeutend, dass ihre rechtliche Diskriminierung faktisch weitgehend wettgemacht erschien und sie eine erhebliche Verhandlungsmacht hatten. Erst durch die gesellschaftliche Abkopplung der „strukturell isolierten Kleinfamilie“ und ihre Rollendifferenzierung zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert wurde diese Verhandlungsmacht erheblich eingeschränkt oder beseitigt. Es ist heute allerdings hoch umstritten, ob Kinder noch
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einen sozioökonomischen Wert durch habituelle „Hausarbeit“ und/oder „Schularbeit“ oder neuerdings „Konsumarbeit“ besitzen (Hengst 1996, 2000, 2005; Wintersberger 1998, 2005; Qvortrup 2003). In dem Maße wie das anerkannt wird, dürfte auch ihr Außenseiterstatus verschwinden. Auf eine stärkere Institutionalisierung drängt die Dynamik des Generationenverhältnisses in einer „überalterten Gesellschaft“ (Lüscher 2003). Unverkennbar zeichnet sich eine Verschärfung der Interessengegensätze zwischen Familien mit Kindern und Kinderlosen und von Kindern und Jugendlichen und Erwachsenen, insbesondere alten Menschen ab, obwohl diese Beziehungen in der Regel gar nicht konfliktbeladen, ja eher freundlich scheinen. Diese Beziehungen sind jedoch nicht isoliert zu betrachten und hängen vom jeweiligen Institutionensystem sowie der Dynamik des Weltmarkts ab. Hier geht es natürlich auch um die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen in sozialstrukturellen Gelegenheitsstrukturen, die allerdings nur von Belang sind, wenn sie wahrgenommen und als symbolischer Ausdruck von Machtverhältnissen bzw. des Verhältnisses von sozialer Mehrheit und Minderheit im Wissenshorizont der Gesellschaft bedeutungsvoll und legitimiert erscheinen. Doch ist nicht zu übersehen, dass die Imperative von Sozialisations- und Kontrollinstanzen keineswegs mehr zeitunabhängig von Erwachsenen und Kindern interpretiert werden und beide identisch auf diese Differenz und Wissenskluft sozial reagieren (Hengst 2005: 22). Die heute intensivierten Diskussionen um den „Generationenvertrag“ sind gewiss nicht zu überschätzen, aber dennoch wohl nur die Spitze eines Eisbergs unterschiedlicher Beurteilungen intra- und transfamilialer Generationenakzentuierung. Lern- und Arbeitszeit, Sozialisations- und Konsumzeit, Lernen und Wissen, Lernschwächen und Lernverweigerung aus Kurzsichtigkeit, Unfähigkeit oder auch, was oft vergessen wird, aus Machtbewusstsein vermischen sich fortwährend und müssen, ohne dass dies immer erkannt wird, eigens praktisch-habituell geordnet werden (Lüscher 2003: 144, 187). Kinder müssen sich ihre Spielräume nicht nur verbal-kommunikativ, sondern vor allem alltagspraktisch erschließen und sichern, Institutionen ihre Ansprüche immer wieder legitimieren. Sie können immer weniger ihre traditionelle Legitimation voraussetzen. Die aus der modernen Gesellschaft entstehende „postmoderne“, besser: interkulturelle Gesellschaft muss – weniger durch Dauerreflexion – einen Weg finden, gesellschaftliche Objektivierungen, also Habitualisierung, Institutionalisierung und Legitimation in Gang zu halten und zu transformieren, die der Welt und der Gesellschaft über den Augenblick hinaus Bedeutung verleiht und eine gesellschaftliche Konstruktion geteilter und ungeteilter Wirklichkeit zulässt (Soeffner 2005: 395), ohne alles verrechtlichen und bürokratisch-professionell rationalisieren zu wollen. 9.1.2 Inkorporierung von Hintergrundwissen; Einbettungsprozesse, „Zwischenwelten“ Bloße Aufmerksamkeit, nicht einmal gezielte Beobachtung, ergibt schon ein klares Bild einer Situation. Tausend Einzelheiten können auffallen. Andererseits verdeckt ein zu energischer Zugriff mittels Stereotypen oder formaler Schablonen Einzelheiten und Differenzierung eines sozialen Phänomens. Und gerade der Wille zur praktischen Intervention setzt voraus, dass sich eine Einzelhandlung aus dem Handlungsfluss herausheben lässt. Dies wäre kaum mit einiger Sicherheit zu erreichen, gäbe es nicht ein lebensweltliches Raster, das sogar angesichts größter Irritationen mit der Frage nach dem „Sitz im Leben“ Wahr-
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nehmen und Handeln in eine spezifische Erfahrungsgeschichte zurückverweisen und filtern würde. Durch eine präverbale, lebensweltliche Hintergrundsorientierung, praktisches Wissen und Können in typisierter Form stehen horizontbildende Ressourcen bereit, die Schnittstellen sozialen Handelns mit seinen sozialen Kontexten aufscheinen und wirksam werden lassen und praktische Lebensbewältigung begünstigen. Dabei ist diese Wissensform nicht so sehr als explizite Ressource von Strategien und Deutungen vorzustellen, sondern eher als eine „Totalität der von Situation zu Situation wechselnden Selbstverständlichkeiten“ (Schütz 1979: 31; Alheit 1994: 163). Mit dieser generativen, vor allem praktischen Hintergrundstruktur wird auch eine Gewichtung und Vorsortierung der mannigfachen Impulse, Informationen, Optionen und des Wissens nach Kriterien des Vordringlichen, des Zweitwichtigsten, Nebensächlichen oder Verzichtbaren in aktueller, potenzieller und wieder erlangbaren Reichweite des praktischen Handelns fast intuitiv möglich (Schütz 1979, 1984; Alheit 1994: 43, 49). In ganz erheblichem Maße kann so Ambivalenz heute selbst dann reduziert werden, wenn sie übermächtig zu werden droht. An die stützenden Routinen und sozialen Projektionen „virtueller Solidarität“, die die (nicht nur) alltägliche Lebenswelt immer wieder erfahrbar macht, kann man sich halten. Von hier aus lassen sich immer wieder Übergangsstrukturen zwischen „Überleben“, „gutem Leben“ und einbrechende Kontingenz finden. Vor jeder Sozialisation bedarf es so lebensweltlicher Sinnstiftung, die in einer transitorischen und intermediären Primärsozialität und Handlungsfähigkeit gründet, die weder schlicht ein für allemal angeboren noch einfach gezielt „gelernt“ werden kann. Wären Kinder total sozial „unmusikalisch“, wie könnten Sie dann sozialisatorisch jemals „musikalisch“ angesprochen werden? Daher setzt Primärsozialisation immer schon eine gewisse Primärsozialität und die Sensibilität einer „passiven Intentionalität“ oder Zugänglichkeit vor jeglichem „Sozialmachen“ voraus. Mannigfache Übergänge müssen schon in der Primärsozialisation, die heute immer schon in Konkurrenz praktiziert werden muss, vorausgesetzt werden: zwischen den Generationen, den Institutionen, den Statuspassagen, den normalen und außerordentlichen und kritischen Lebensereignissen. Die hier immer schon unterstellten vorprädikativen, praktischen Wissensstrukturen und Muster fragloser sozialer Akzeptanz geeigneter „Übergangsobjekte“ (Winnicott) benötigen schon Babys, wenn sie in den auftretenden Konflikten unterschiedlicher Erwartungen ihrer Bezugspersonen und uneinheitlicher Triebimpulse konsistentes Verhalten zustande bringen. Es geht hier weniger um ein psychologisch interessantes stabiles Grundgefühl, das „Urvertrauen“ (Erikson), sondern um eine konstruktive Art der lebensweltlichen Welterschließung durch praktisches Wissen um Selbstverständlichkeiten und nicht blockierte Projektionen „virtueller Solidarität“ anwesender oder als anwesend und stützend imaginierter Bezugspersonen und -gruppen. Nicht ein bloßes Gefühl, sondern praktisches Wissen um eine vertrauenswürdige Sozialwelt (Verlässlichkeit) mit differenzierten Handlungszusammenhängen fundiert Vertrauen, das sich nach den lebenspraktischen Kriterien des Erreichbaren und Nichterreichbaren, des Vertrauten und Nichtvertrauten, des Ansprechbaren und Nichtansprechbaren strukturieren lässt (Joas 1992: 233; Endreß 2001: 161ff.). Erst solche Erfahrung, nicht allein gelassen zu sein und nicht isoliert zu handeln, veranlasst etwa das ganz kleine aber auch das ältere Kind, sich entspannt und spielerisch auf die eigenen Impulse, die konkreten sozialen Kontexte (Joas 1992: 233) und die (heute schon im Ansatz transnational-interkulturelle) Gesellschaft einzulassen.
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Es bedarf dazu allerdings immer wieder lebensweltlich ordnender kognitiv-affektivsozialer Grunderfahrungen. Und sie müssen immer wieder sozusagen in Fleisch und Blut übergehen, in Hintergrundwissen inkorporiert, nicht nur oberflächlich ankonditioniert werden. Dann lassen sich sogar divergierende und abweichende Deutungen und Interessen verhältnismäßig reibungslos aushalten (Alheit 1994: 64). Sozialisation muss sozusagen vorgebahnt, auch nachgebessert und nachsozialisiert werden können. Damit wird zugleich die Konkurrenz heutiger Sozialisationsinstanzen begrenzt, ein jeweils nur bestimmter Pluralismus der Gruppen-Meinungs-Optionsorientierung möglich und Anderes ausgeschlossen. Kinder machen dann „das Beste aus der Sache“, bauen auch soziale Kontexte wieder auf, wagen Neuanfänge und versuchen ihre Umwelt auf neuem Niveau wieder in Ordnung zu bringen. Institutionen können als bereichsspezifische, situationsübergreifende, potenziell legitimierbare, also normative Programme verstanden werden, die Handeln in gewissen Grenzen vorweg an formelle Regeln und Verfahren binden. Sie gliedern viele Handlungsbereiche für reguläre Organisationen durch. Zu beachten ist, dass sie immer von bestimmten Funktionseliten geführt werden, die der konkreten organisatorischen Umsetzung des Institutionsprogramms ihren Stempel aufdrücken, heute aber auch mit mikropolitischen Fraktionsbildungen rechnen müssen; auch mit der manchmal überraschenden sozialen Reaktion ihrer Klientel und ihrer verschiedenen Publika. Institutionen müssen heute vor allem auch wegen ihrer Gate-Keeper-Funktion beachtet werden, die sich temporal verschärfen oder lockern kann. Damit verändern sich auch Generationslagen, soziale Karrieren in Organisationen und Statuspassagen im Lebenslauf (Behrens 1996, 2000: 101ff.; Alheit 1994: 176). Während die Familie relativ wenig formell organisiert werden kann, zeigen soziale Institutionen und Organisationen im Bereich der Bildung, Gesundheit oder Sozialpolitik ein Bild vieler „Rolltreppen mit unterschiedlicher Länge, Geschwindigkeit und verschiedenen Möglichkeiten der Übergänge“ (Behrens 1996: 16), die relativ schwer zu bewältigen und zu integrieren sind. Aus einer traditionellen „Normalbiographie“ entsteht zwar relativ selten eine reine „Wahlbiographie“, aber komplexere Strukturen vielfältiger „Normalitätsunterstellungen“ mit einer spezifischen (immer interpretierten) Druck- und Sogwirkung, die weder präzise und fixierbar normative Automatiken in Gang bringen, noch beliebig und rein subjektiv zu nutzen sind, sich vielmehr interaktiv einpendeln. Im institutionellen Dreieck von (schwach organisierter) Familie, (stark organisierter) Schule und informell organisierter und latent hierarchisierter Peer Culture kommen heute eigentümliche Übergänge zustande, die die Hermetik funktionaler Differenzierung unterlaufen oder auffangen. Es geht dabei um vorvertragliche, ja präkommunikative Voraussetzungen und gesellschaftliche Zugänglichkeiten expliziter kommunikativer Verständigung und möglicher einforderbarer Funktionszuschreibungen. Allzu viele Erklärungen und technische und organisatorische Anweisungen und Formalisierungen verwirren oder irritieren hier nur, weil sie selbständige Umsicht und praktisches Können lähmen oder schwächen. Vielmehr werden gesellschaftliche Akteure, auch schon Kinder, durch ihre generative Hintergrundstruktur lebensweltlicher Orientierung zu „Experten“ von Anfang an. Sie erfahren sich dann als solche, wenn man sie daran nicht hindert oder pathologisiert, sondern in die Lage versetzt, mit Inkonsistenzen, irritierender Differenzerfahrung und Mehrdeutigkeit relativ souverän und selbständig umzugehen, die heute auch im Bereich traditioneller Kinderinstitutionen und Kinderwissenschaften auftreten.
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Es wäre eine unsachgemäße Simplifikation, sich heutige Sozialisation als bloße „Rollenübernahme“, Erweiterung des Rollenrepertoires oder auch nur als homogenen, gemächlich abzuschreitenden Weg wechselseitiger sozialisatorischer Interaktion vorzustellen. Vielmehr muss stärker denn je die Aufmerksamkeit auf die Konstitution ihrer dynamischen Sinnrahmung angesichts auftretender Identitätsimbalancen und eruptiver „Formen der Entdeckung einer die Ich-Grenzen in Frage stellenden Sozialität“ (Joas 1992: 279) gerichtet werden. Damit muss sich die Sozialisation darauf beschränken, Kindern die Voraussetzungen einer Übergangsidentität offen zu halten. Im Alter von sechs Jahren muss einem Kind heute nicht nur beigebracht werden, dass es seine Hand im Unterricht erheben muss, bevor es sich zu Wort meldet. Kulturtechniken, soziale Praktiken und ein gesellschaftliches Basiswissen der klassischen Moderne reichen nicht mehr aus. Interkulturalität der Schüler verlangt Bereitschaft und Fähigkeit zu Übersetzungen verschiedener kultureller Wissensproduktionen, die Übergänge zu unterschiedlichen Wissenskulturen und den Umgang mit Widersprüchen einer Lernorganisation möglich machen, die prinzipiell nicht mehr von der Schule monopolisiert werden kann. Es ist noch nicht entschieden, ob Statuspassagen zukünftig nach Kriterien des Alters organisiert werden. Dies sehen die sozialen Institutionen des Bildungssystems und das System sozialer Sicherung des Staates zwar noch vor. Doch mit der Verweildauer in diesen sozialen Systemen entfaltet sich eine Eigendynamik. Andererseits hinterlassen immer häufiger Verwerfungen des Arbeitsmarktes auch schon im kindlichen Leben ihre Spuren und entwerten immer aufs Neue Lebensplanungen, die sich noch an einer „Normalbiographie“ zu orientieren versuchen (Heinz 2001: 150). Damit wird auch die Statuspassage zwischen Kindheit und Jugend weiter entstrukturiert, fragmentiert und verhandelbar. Das eigentliche Problem besteht heute nicht mehr darin, dass Kinder „Neuankömmlinge“ in der Erwachsenengesellschaft sind, sondern dass Kindern gerade die Chance genommen wird, sich in Ruhe als lernende und spielende Kinder und als „Neuankömmlinge“ zu präsentieren. Manchmal mögen sie sich sogar als „gehetzte Kinder“ unter dauerndem Interaktionsstress fühlen (Elkind 1994). Kinder werden heute auch in die Lage versetzt, bestimmten Sozialisationsimperativen auszuweichen oder sie zu instrumentalisieren. Sicher besitzen Kinder auch heute oft noch mehr Optimismus und Lebensmut als bestimmte Erwachsene. Doch sie können sich weniger denn je in einem Schonraum nach festen Fahrplänen orientieren und eine ruhige Identitätsentwicklung abwarten (Meister 1997: 5f.). Ihre „Zwischenwelten“ sind temporalisierte „Zwischensynthesen“ oder „Zwischenbalancen“ zwischen gesellschaftlichen Tendenzen der Strukturierung und Entstrukturierung in Handlungszusammenhängen, die immer mehr ausfransen und von interkultureller Kommunikation und globaler Kommerzialisierung bestimmt sind. Das Maß gesellschaftlicher Offenheit und des biographischen Engagements stehen in einem relationalen und variablen Verhältnis (Meister 1997: 84), sind also keine Konstanten. Zwischenwelten können Übersetzungsvirtuosität, lähmende Widersprüche, schillernde Ambivalenz oder eine pathologische „Doppelbindung“ hervorbringen, die auf ganz unterschiedlichen Formen homogener Sozialisation und Sozialisationsgefährdung beruhen (Meister 1997: 89; Hettlage 1997, 2000). Je nachdem werden interkulturell bestimmte Interaktionen zu ganz unterschiedlichen, oft temporalisierten „Zwischenwelten“. Sie schwanken oft zwischen Überanpassung, Herkunftsorientierung, Marginalität, Formen der Mentalrestriktion, der Resistenz und Identifikation der Betroffenen wie ihrer sozialen Kontexte. Ihr Hauptbestreben – auf beiden Seiten – ist aber das Vermeiden alltagsweltlicher und biographischer Grundwidersprüche,
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Selbstblockaden und die umsichtige Behebung von Sozialisationsstörungen, nicht die ruhige sozialisatorische Internalisierung von Werten und Normen oder das gleichförmige Management sozialisatorischer Interaktion. Zwischenwelten finden weder einen eindeutigen Anfang noch ein eindeutiges Ende. Kindheit ist damit kein in sich homogener Schonraum und keine konsistente Übergangszeit oder Lebensphase mehr. Sie wird zum Geflecht ständiger Übergänge, zum gesellschaftlichen Laboratorium intermediärer Strukturen im Ringen um Definitionsmacht zwischen sozialer Mehrheit und Minderheit. 9.1.3 Institutionenwandel, gesamtgesellschaftliche Veränderungen und das Machtspiel von Mehrheit und Minderheit Offen ist jeweils, in welchen Formen das konkrete Kindsein in die Vergesellschaftung und Institutionalisierung des Sozialen eingeht und sich in institutionelle Wissensordnungen „rückbetten“ und inkorporieren lässt, die denen von Erwachsenen nicht nachstehen. Soziologisch betrachtet reicht es dabei nicht aus, nur die rechtlichen Bestimmungen zu würdigen. Von mindestens gleichem Rang ist die Geltung der öffentlichen Meinung und das Ausmaß informeller Akzeptanz bestimmter Lebensformen und Alltagsorganisation. Sie sickern als Rezeptionsbedingungen auch in Organisationsprozesse institutioneller Programme und in die Organisationskultur ein und werden nicht nur von den Institutionen kanalisiert. In großen und historisch verwurzelten Institutionen wie Kirchen, staatlicher Administration, Parteien und Verbänden finden sich ausgeprägte Funktionskriterien, Normen und Regeln, Rollensysteme, standardisierte Verfahren und (historische) Rituale. Zusätzlich aber vollzieht sich eine starke soziale Differenzierung des Engagements und der Identifikation sowie der Gate-Keeping-Funktionen. Nicht allein durch die sozialen Zeiten und sozialen Karrieren, sondern ganz wesentlich durch die aktuelle Interaktionsdynamik des gate-keeping bringt z. B. die Schule nach wie vor – trotz aller Individualisierung – „Gleichaltrige“ durch ihr Reden und ihr Tun hervor, die sonst blasse Artefakte oder Aggregate blieben (Kelle 2005). Institutionen vernetzen so zahlreiche unterschiedliche Übergänge vom Kindergarten zur Grundschule, von dort zur weiterführenden Schule, zur Berufsausbildung oder dem Hochschulstudium bis zum Einstieg in den Arbeitsmarkt. Sie haben heute nur bedingt den Charakter der Teilreifen oder Statuspassagen, werden aber immerhin vom Sog der institutionellen „Normalitätsunterstellungen“ sehr wirkungsvoll gelenkt und stellen daher ein pragmatisches, äquifunktionales Substitut dafür dar. Solche lockeren institutionellen Markierungen erhöhen in bestimmter Hinsicht die Unsicherheit oder beseitigen sie jedenfalls nicht, weil sie durchaus selektiv kombinierbar bleiben, z. T. auch Revisionen zulassen. Sie eröffnen aber heute – empirisch durch Gate-Keeper vermittelt – auch bestimmte Chancen für ganz bestimmte Kinder, die traditionell wenige Chancen hatten. Dabei muss gesehen werden, dass Institutionen sich als interdependent erweisen und ein komplexes Institutionensystem bilden. Und dieses befindet sich heute durchaus in starkem Wandel, was natürlich auch Unsicherheit bei bestimmten Kindern erzeugt. Der Prozess der Pluralisierung der (familialen) Lebensformen, die Reform des Schulsystems, die Expansion und Diversifizierung des Mediensystems, die Veränderung des Arbeitsmarktes, die Diversifizierung des Konsummarkts vollziehen sich gleichzeitig, wenngleich nicht gleich schnell und in stetigen Wandlungsprozessen und beeinflussen sich auch wechselseitig,
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wenngleich kaum koordiniert. Statt auf eine verlässliche Aussicht auf eine Normalbiographie treffen Kinder auf ambivalente und z. T. paradoxe Optionen, die durch einen Kranz von konditionierten Normalitätsunterstellungen der Versprechen des „Wohlbefindens“ oder „Erlebnisses“ sich selten zur reinen Wahlbiographie eignen (Behrens 1996: 18). Dabei bleibt stets fraglich, ob die „Mittelschicht-Institutionen“ eher Chancen öffnen oder verschließen, entlasten oder eher belasten, ermutigen oder entmutigen, Selbstbehauptung oder Sozialverträglichkeit in den Vordergrund rücken. Das entscheidet sich nicht am programmatischen „Organigramm“ oder einer Internalisierung institutionsspezifischer Werte, die durchaus keine „Ideale“ sein müssen, sondern normative Vorgaben darstellen können, die sich in realen Routinen als lebensdienlich erwiesen haben. Viel wichtiger aber erscheint, ob sich in der Organisationsgeschichte, die sich im Umgang damit tatsächlich abgespielt hat, so etwas wie diffuses, aber belastbares „Systemvertrauen“ gebildet hat. Und gerade dies scheint bei Kindern und Jugendlichen recht gering ausgeprägt. Freilich ist die Vorstellung, dass institutionelle Programme, Identitätsentwicklung und alltägliche Lebensführung von Kindern fugenlos zusammenpassen, seit langem eine Fiktion, die nicht länger aufrecht erhalten werden kann (Siegert 1987: 141). In jedem institutionellen Handlungsbereich gestaltet sich die Einbettung der „institutionellen Tatsache“ (Wittgenstein) zu verschiedenen Zeiten recht unterschiedlich (Luckmann 2002: 105ff., 1980: 138). Und gerade darum können sich Kinder auch immer wieder ein Stück weit dem fortlaufenden Wechselspiel von vorgegebenem historischen Institutionssediment und Institutionalisierungsprozess entziehen. Darum zeigen sich bei jedem Institutionalisierungsschub auch Chancen der Deinstitutionalisierung (Joas 1992: 98; Popitz 1992: 234; Hettlage 1997: 46f.). Institutionen können eine instabile Ordnung stabilisieren. Sie können aber auch wegen ihrer Starrheit zwanglose Ordnung stören. Dabei ist bei jeder Institution eine Neigung mehr oder minder stark ausgeprägt, den gesellschaftlichen Status quo zu begünstigen. Institutionen können aber auch, wenn ihr Revisionsprinzip sachlich beachtet wird, völlig umgekrempelt werden. In aller Regel aber werden sie pragmatisch in „Stückwerkstechnologie“ (Popper) weiterentwickelt. Heute ist die Veränderung der Institution der Familie – vielleicht zur „Verhandlungsfamilie auf Zeit“ – in aller Munde. Das Bildungs- und Gesundheitswesen steht unter starkem Reformdruck. Der Nationalstaat hat an „Kompetenzkompetenz“ stark verloren. Die größte Dynamik aber hat der Arbeitsmarkt angenommen, der beinahe schutzlos unter die Herrschaft internationaler Finanzmärkte geraten ist (Loch 2001: 12). Dadurch werden die gesellschaftliche Partizipation und die Machtverhältnisse zwischen den Generationen und „Zeitgenossen“ massiv berührt. Nach den Enttraditionalisierungsschüben der beiden Weltkriege und dem weltpolitischen Duopol nach 1945 formierten sich die Machtstrukturen international und national neu. Das Bildungssystem und wissenschaftliche Lehre und Forschung werden – im Zeitalter der „Wissensgesellschaft“ – allgemein aufgewertet, aber zugleich stärker an die Ökonomie rückgebunden und so ihrer relativen Autonomie beraubt. Die politische Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen gelingt im Nationalstaat immer weniger souverän. Politische Verantwortung kann immer weniger durch ein raum-zeitlich klar und eindeutig abgegrenztes „Verursacherprinzip“ reguliert werden (Kaufmann 1992). Familiale Verantwortung kann immer weniger auf den männlichen „Normalarbeiter“ abgewälzt werden. Formen der intrafamilialen Arbeitsteilung bleiben in
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hohem Maße von dem Flexibilisierungsdiktat der Wirtschaft abhängig, die sich ihrerseits von einem schicksalhaften internationalen Konkurrenzdruck getrieben weiß. Kindheit war in den modernen Industriegesellschaften bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eindeutig durch eine „Kinderrolle“ und einen kindlichen Sonderstatus definiert. Aus ihr ergaben sich das Sozialisationsziel und der Sozialisationsmodus der primären und der sekundären Sozialisation. Solange Kinder bei ihren Eltern lebten und die Schule besuchten, gab es nicht den geringsten Zweifel, dass es sich um Kinder handelte. Ab dem 14. Lebensjahr oder der Pubertät sprach man in den letzten Jahrzehnten von „Jugend“. Das waren keine rein formalen Strukturkategorien oder formale Klassifikationen, sondern verhältnismäßig genaue institutionelle Regulierungen und normative Bestimmungen der Verantwortlichkeit, Zurechnungsfähigkeit kindlicher Handlungsmöglichkeiten, aber auch institutionell geregelter, legitimer Zuständigkeiten für Kinder. Hinter diesen Definitionen stand die kulturell-institutionelle Vorstellung einer für die Mehrheit verbindlichen „Normalbiographie“ mit der Dreiteilung des Lebenslaufs; denn Kinder wurden lange Zeit nicht scharf von Jugendlichen unterschieden. Kindheit wurde eher als Schonraum, Jugend als die Zeit der Ablösung vom Elternhaus verstanden. Dieses moderne normative Konzept verliert zunehmend an Prägnanz, Verbindlichkeit und Zustimmung. Ob Kindheit ein nur schwach konturiertes soziales Phänomen zwischen zwei Lebenshorizonten bleibt, dem des Ungeborenen und des Erwachsenen, oder deutlicher artikuliert in das gesellschaftliche Rampenlicht tritt, hängt nicht nur von den sozialen Zeiten und den sozialen Karrieren der Institutionskonzepte ab, die eine Art äquivalenter Statuspassagen darstellen. Nachhaltige weitere Wirksamkeit verleihen ihr heute Arrangements tatsächlicher Organisationsprozesse und die Figurationen persönlich bekannter oder unbekannter „Türhüter“ (Gutachter, Personalchefs, unbekannte Repräsentanten, Prüferinnen von Anspruchsberechtigungen und Eignungen, Chefs und Kollegen, Primärgruppen, Familie, Freunde etc.). Sie werden wichtig, weil sie – weit über die formalen Ansprüche hinaus – die Statuspassagen besorgen und bewachen (Behrens 2000: 119f.). Damit zeigt sich, dass heute kulturelle und institutionelle Normen keineswegs reale soziale Prozesse determinieren und der konkrete Lebensverlauf erst durch Zusammenarbeit oder Dissens nichtprofessioneller und professioneller Gate-Keeper zustande kommt. Die klassische Modernisierungstheorie hatte hingegen angenommen, dass institutionelle Zweckrationalität soziales Kapital völlig verdrängen werde. Die Korrelation von Lebensjahren (Kohorteneffekt) und Statusdauer bzw. -qualität (Statuskristallisation) wird zunehmend selektiver und das Verhältnis von Leitbildern und Lebenspraxis vielfach gebrochen (Behrens 2000: 132). Leitbilder und institutionelle Fahrpläne garantieren immer weniger die realen Handlungsspielräume von Kindern. Trotz der wachsenden Notwendigkeit zu verhandeln ist aber dennoch nicht alles verhandelbar, wie eine oberflächliche Interpretation der Individualisierungstheorie nahe legen mag. Die Schwierigkeit für Kinder besteht nun darin, dies zu erkennen und die Wahrscheinlichkeit kontingenter Entwicklungen einzuplanen. Gerade von verantwortungsbewussten Eltern wird ihnen ihre Lebenswirklichkeit ja als verlässlich geschildert. Es gibt auch Indizien dafür, etwa die rechtliche Normierung. Immer mehr Eltern fordern auch ein Recht auf einen Kindergartenplatz und immer mehr Kinder gehen in einen Kindergarten. Bis zum 19. Lebensjahr besuchen 30-40 % eines Alterjahrgangs die Schule. Gute schulische Zeugnisse werden aber einerseits immer notwendiger, aber zugleich immer weniger hinreichend. Wichtiger werden das „Lernen des Lernens“ und Zusatzqualifikationen, die mehr und mehr außerschulische Scholarisierungsprozesse fördern. Kinder sehen sich auch immer weniger
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mit der Aussicht konfrontiert, sich mit 14 von ihren Eltern unabhängig zu machen. Neue informelle Abhängigkeiten erwachsen dadurch für diese „Nesthocker“, die es eigentlich nicht geben dürfte; denn man hat es ja mit „selbständigen Kindern“ zu tun. Verkompliziert wird das alles noch dadurch, dass zunehmend schon in der mittleren Kindheit die Möglichkeit besteht, in Teilbereichen jugendliches Verhalten zu kopieren. Verhandeln angesichts so fragmentierter und zwielichtiger Verhandlungsparameter wird für Erwachsene und Kinder nicht leichter, weil hier immer auf situative „Empfindlichkeiten“ zu achten ist und viele Streitpunkte einfach ausgeklammert oder marginalisiert werden müssen, wenn es nicht vorschnell zu hochexplosiven, unteilbaren „existentiellen Konflikten“ (Hirschman) kommen soll, die selten Kompromissfähigkeit mobilisieren. Die immer wieder beschworene Abwesenheit von „Generationenkonflikten“ besagt daher im Einzelfall wenig. Die empirische Jugendsoziologie prüft nicht einmal die Möglichkeit „paradoxen Kommunikation“ (Watzlawick) und Mentalrestriktion, die sich potenziell auf dem Hintergrund einer Deinstitutionalisierung der modernen Kindheit als „Selbstblockade“ des Verhandelns abzeichnet. Kinder wie Erwachsene wissen immer weniger genau, was spezifisch „kindlich“ ist und sie divergieren in ihren Urteilen immer öfter. Und Kinder bemerken diesen Dissens ebenso wie die „Schmeicheleien“ des kommerziellen Marketings, das sie zunehmend nicht mehr als Elternabhängige, sondern als gegenwärtig „autonome Konsumenten“, Multiplikatoren und künftige Konsumenten auf der ebenso imaginären wie realistischen Leitfolie ihrer wachsenden „Kaufkraft“ hofiert (Feil 2003). Die Übergänge im kindlichen Leben erscheinen auch dadurch nicht so sehr verhandelbar als kontingent. Kinder und/oder Erwachsene sind allerdings heute in der Lage, dies als „verhandelbar“ zu reinterpretieren. Eltern können zusehends weniger Kindern ihre religiösen oder moralischen Lebensperspektiven oder Rechtsvorstellungen sozialisatorisch vermitteln und einfordern, da diese nicht mehr eo ipso durch einen Wert- und Normenkonsens der Gesamtgesellschaft gedeckt und auch von den konkurrierenden Normalitätsunterstellungen der Institutionen nicht sehr stark gestützt werden. Durchwursteln wird dann zur Tugend. Es ist endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass auch verantwortungsvolle Eltern – trotz der emotionalen Tiefenbindung der Kinder an sie – von den ersten Kindertagen an einer Konkurrenz von Sozialisationsinstanzen ausgesetzt sind, die nur unter kumulativ günstigen Bedingungen neutralisiert werden kann. Ihr Einfluss ist jedenfalls selbst in der „Primärsozialisation“ deutlich eingeschränkt und konditioniert. Obwohl sich viele Lehrer um eine bessere Kooperation zwischen Schule und Elternhaus bemühen, wird es eher schwieriger, diese zu praktizieren und durchzuhalten. Eltern können ihren Kindern auch bei ihren Schularbeiten immer seltener helfen und die eigenen Orientierungsmuster anbieten, weil die Wahrscheinlichkeit geringer wird, dass Kinder z. B. ungefähr in ähnlichen Berufen arbeiten werden und dann einen identischen Wissensstandard vorfinden werden. Es zeigt sich, dass auch Institutionen in die intensivierten gesellschaftlichen Definitionskämpfe verwickelt sind und kein Hort der Stabilität mehr darstellen. Bislang mag – angesichts klarer Alternativen – gleichsam „gewohnheitsrechtlich“ dennoch ein gewisser minimaler, diffuser Wert- und Normkonsens bestanden haben. Es kann aber kaum übersehen werden, dass er sich vielfach zur rein pragmatischen „Normalitätsunterstellung“ verdünnt hat und eine Fülle nachträglicher und „redundanter“ Normalisierungsoperationen zur Voraussetzung hat. Eltern und Kinder sehen sich damit genötigt, die „natürlichste Sache der Welt“, ihr Eltern-Kind-Verhältnis, immer wieder neu zu definieren.
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Traditionelle Wissensgrundlagen des sozialen Handelns sind nicht verschwunden, können aber nur noch selektiv dann verwendet werden, wenn Risiken abgewehrt und Widersprüche reduziert sind. Interaktionsstress der Erwachsenen macht sich somit im „ganz normalen Chaos“ des Familienalltags breit (Beck 1990). Die Verhandlungen zwischen Eltern und Kindern führen daher nicht automatisch zur stärkeren Personalisierung, sondern zu riskanter Wirklichkeitssuche. Noch komplizierter erscheint der praktizierte, manchmal lähmende „Suchhabitus“ von Eltern und Kindern dadurch, dass er sich in einer zunehmend interkulturellen Gesellschaft zu bewähren hat, die das Spektrum des jeweils bestimmten, sozialakzeptierten Pluralismus der Gruppen, Meinungen und Wissensordnungen weitgehend als intransparent erscheinen lässt. Die Reproduktion der sozialen Ungleichheit der Sozialstruktur wird durch die sich wandelnde Institutionenstruktur nicht determiniert und ist nicht schon aus der Selektivität der Institutionen abzuleiten, da diese in die Definitionskämpfe der sozialen Mehrheit und der sozialen Minderheit und ihrer Funktions- und Machteliten eingespannt bleibt. Sie verdankt sich somit auch der dadurch ausgelösten Verschiebung, Stabilisierung und Restitution eines informell-formellen Mehrheits- und Minderheitenverhältnisses als Definitionsresultat, das die selektiven Effekte bestätigt oder bestreitet, fördert oder hemmt. Dieses Mehrheits- und Minderheitenverhältnis scheint sich nur mit kultureller Semantik zu befassen und ist doch äußerst folgenreich. Der „symbolische Kampf“ um das „Monopol der legitimen Benennung“ (Bourdieu 1992: 135ff.; Berger 1970: 116f.) ist für die einen zuweilen ein Kampf ums „Überleben“ und für die anderen ein Kampf ums „gute Leben“ und nur selten ist sie für beide ein Kampf um beides. 9.1.4 Die gebrochene, begrenzte, gebremste und immer wieder forcierte Modernisierung Modernisierung ist der Prozess, durch welchen die Moderne überall auf der Welt ihren Einzug hält. Dies ist empirisch aber ein höchst widerspruchsreicher Prozess, der zeitweilig stagniert, Gegenbewegungen auslöst und sich manchmal auch umkehren kann, sich in immer neuen größeren und kleineren Wellen oder Schüben ausbreitet und ganz verschiedene Entwicklungspfade sichtbar werden lässt. Er ist nie umfassend, sondern immer begrenzt, gebrochen, zuweilen gebremst. Dann tritt er wieder forciert auf (Fuhs 1999: 18f.). Die Modernisierungstheorie will im Grunde keine Beschreibung einer konkreten historischen Periode oder Epoche liefern. Sie ist vielmehr der Versuch, das Aufkommen der industriegesellschaftlichen Klassengesellschaft und ihre Umschmelzung durch den Hinweis auf grundlegend unterschiedliche Reproduktionslogiken zu erklären. Sie lebt aber auch aus einem Fortschrittspathos, das die historische Modernisierungsforschung und die neuen „kritischen“ Versionen einer neomodernistischen Transformationstheorie nicht mehr teilen (v. Kondratowitz 1999: 238ff.; Müller 1998), die durchweg von einer gebrochenen Linearität und einer widerspruchsreichen Gleichzeitigkeit von Homogenisierung und Differenzierung ausgehen und auch den Einbruch von Kontingenz konstatieren. Insbesondere aber haben die beiden Weltkriege und vielfältige Erschütterungen und Katastrophen (z. B. Tschernobyl etc.) den ursprünglichen westlichen Fortschrittsglauben wenn schon nicht beseitigt aber schwer erschüttert. Vor allem die ursprüngliche strukturfunktionale Fassung der Modernisierungstheorie erklärte den Erfolg und die Durchsetzung der Modernisierung aus einem besseren „Funkti-
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onieren“ modernisierter Funktionssysteme und der hohen Effizienz moderner Gesellschaften, ohne deren konfliktgesättigte Voraussetzungen und die destruktiven Effekte oder Nebenfolgen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Gesellschaftliche Sonderentwicklungen und Transformationen, etwa die der postkommunistischen Staaten Osteuropas, wurden stets als „nachholende Modernisierung“ verharmlost und auch die stets begrenzte Reichweite der funktionalen Differenzierung in modernen Gesellschaften verabsolutiert. Allerdings hatte schon Max Weber auf die prekäre Widersprüchlichkeit dieses Glaubens hingewiesen und wie die historische Modernisierungsforschung eine widersprüchliche Entwicklung und Fragmentierung der modernen Gesellschaften vorausgesehen (Hörning 2001: 43f.). Diese hat offensichtlich inzwischen auch die moderne Kindheit voll erfasst. Wenn sich einzelne gesellschaftliche Handlungssphären, ohne Chance einer Integration, neben- und gegeneinander entwickeln, bleibt immer auch die Möglichkeit der Resistenz gegenüber möglicher Modernisierung oder sogar einer Gegenmodernisierung, die obgleich undurchschaut modern, zur Gegenmodernisierung, etwa in der Form eines Fundamentalismus innerhalb einer Weltreligion, aufrufen und zur Verschärfung der Antinomien der Moderne beitragen kann (Eisenstadt 1998; Müller 1998). Modernisierungsprozesse lassen sich auf analytisch unterscheidbaren Ebenen beobachten und hinterlassen hier keineswegs überall die gleichen Effekte und Nebeneffekte. Makrostrukturell kann sich vieles verändern, aber an „versteinerten“ Institutionen oder eingelebter Alltagssolidarität lange Zeit abprallen. Oder relativ unvermittelt schlägt eine modernisierte Interaktionschance etwa im familialen Bereich ein, vervielfacht sich lawinenartig, trifft aber auf konservative Institutionen und traditionelle Machtverhältnisse. Und die funktionale Differenzierung tritt auf der Stelle, weil sich „Funktionieren“ als kompliziertes Resultat kontroverser Funktionszuschreibung von Gate-Keepern, mikropolitischen Fraktionen einer Organisation oder Interessengegensätzen der Mitglieder und ihrer Publika und sozialen Kontexte erweist. Dies alles verweist weit über „funktionale Erfordernisse“ oder normative Programme auf kollektive Wissensproduktion und Praktiken hin, die Institutionen, Organisationen und Kleingruppen erst die Chance zu erfolgreicher Sozialisation und Sozialkontrolle zuspielen. Auch Kinder eignen sich ihre Kindheit nicht nur an oder internalisieren ihre normativen Imperative. Sie sind selbst wirkungsvolle Darsteller und Interpreten heutiger Kindheit. Und sie fädeln sich damit in einen Prozess der kulturellen Selbstverständigung und der Chancen- und Risikoverteilung, der Zwecksetzung, der Optionenkreation der Gesellschaft ein. Daher kann keineswegs alles, was Veränderungen heutiger Kindheit betrifft, einfach quasi epidemiologisch als Resultat funktionaler Differenzierung und als „Ausdifferenzierung“ begriffen werden. Die vielen Einzelvariablen, die in der Modernisierung wirksam werden, interagieren nicht nur. Vielmehr kann sich ihr Sinn, ihre Funktion, ihr Nutzen, ihre Kosten verflüchtigen, entwerten oder kurz-, mittel- und langfristig sehr heterogen und widersprüchlich gestalten (Müller 1998). Beispiele der Diskontinuität mehren sich auch im Bereich der Kindheit, etwa in ihrer ganz unterschiedlichen privaten oder öffentlichen Einschätzung von Erwachsenen mit und ohne Kinder in und nach der Erziehungsphase: Kindheit wird öffentlich überwiegend als „kostbar“, andererseits als kostentreibend und hinderlich für Flexibilität, privat als „wenig nützlich“ aber „sinnvoll“ und „lästig“ interpretiert. Das alles ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Transformationsgesellschaften sind (vielfach schon interkulturelle) Gesellschaften, die dem Dilemma der Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Wünsche und Möglichkeiten unterworfen sind und sich daher immer wieder selbst zu blockieren
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drohen (Offe 1991), daher immer vormoderne, moderne und postmoderne Elemente aufweisen. Zu verabschieden ist daher ein Modernisierungsmodell universaler Entwicklung (Hettlage 1997: 15f.), das keine verschiedenen Entwicklungspfade und fragmentierten, widersprüchlichen Entwicklungsstränge vorsieht und Modernisierung als unaufhaltsamen, linearen Prozess begreift. Demzufolge kann die Erosion der typischen modernen Kindheit bedeuten, dass sich zu Zeiten der Entwicklungs- oder der Präsenzbezug von Kindheit stärker bemerkbar macht. Wenn der Blick in die Zukunft sich verdüstert, wächst die Hingabe an die unmittelbare Gegenwart. Und wenn die unmittelbare Gegenwart kurzsichtig erscheint, so kann sich auch der Blick wieder zur Zukunft hin weiten. Andererseits untergräbt eine zu rigide Entwicklungsorientierung die gelassene Lebensfreude und den spielerischen Umgang mit gegenwärtigen Optionen (Hettlage 1997: 17, 19). Elias hat ganz in diesem Sinn darauf verwiesen, dass dieses Verhältnis keineswegs statisch zu sehen ist oder fixiert werden kann, sondern im Verlauf der Modernisierungsgeschichte sich immer wieder verschoben hat (Elias 1991: 207ff.). Es spricht daher vieles dafür, dass die Geschichte der modernen Individualität und die auf strukturstabile Identität hinzielende Sozialisationsteleologie in eine stark selektive und temporalisierte biographische, lebenslange Identitätssuche mündet, die kulturell internationale, transnationale, nationale und lokale Komponenten aufweisen dürfte. Höhere Effizienz auf dem einen Gebiet kann durchaus mit einer Primitivisierung in anderen Bereichen einhergehen. Ursachen und Folgen auf der Makro-, Meso- oder Mikroebene können daher divergieren oder sich wechselseitig behindern und bremsen. Es kann sogar sein, dass sich Prognosen über „realistische“ Entwicklungswege als nicht besonders ergiebig erweisen, weil sie der allgemeinen Ratlosigkeit über vernünftige Entwicklungsziele Vorschub leisten (Hradil 2004: 24, 29). Dann wird Modernisierung reflexiv, kippt in einen Diskurs über die Modernisierung der Modernisierung um (Beck 1986), der zweifellos – mindestens vorübergehend – das Modernisierungstempo bremsen kann. So handelt es sich bei der Modernisierung eigentlich um unterschiedlich nachhaltige Modernisierungsschübe oder Wellen statt um einen stetigen, linearen Prozess (Hradil 2004: 25). Postindustrielle Entwicklungen rücken dabei statt Arbeit und gelerntem Beruf immer stärker die laufende Wissensproduktion und Wissensverteilung der Gesellschaft als „axiales Prinzip“ in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Wandels. Die internen Diskontinuitäten, Brüche, Intransparenzen modernisierter Gesellschaften beeinträchtigen nicht nur die gesamtgesellschaftliche Integration (Heitmeyer 2005), sondern auch die Fähigkeit der entsprechenden Gesellschaft, in der globalen Konkurrenz und/oder Kooperation mit „global players“ mithalten zu können. Sie verhindert bislang auch, dass (europäische) Staaten zur „global governance“ fähig werden und sich dringend notwendige globale Rahmenbedingungen und Minimalstandards für ökologische und soziale Verträglichkeit gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Handelns durchsetzen lassen (Beck 1997; Altvater 2002; Berger 1976); ganz zu schweigen von der Machtlosigkeit der UNO. Die Mehrdeutigkeit der verschiedenen Fremd- und Selbstzuschreibungen modernisierter Gesellschaften führen weder zur stabilen Identitätsbalance, noch zu einer gesamtgesellschaftlichen Balance der Teilprozesse der Modernisierung, der Rationalisierung, Säkularisierung, Urbanisierung und Post-Industrialisierung (Hettlage 2000: 221). Seltsamerweise wird Modernisierung manchmal von „Modernisierungsgewinnern“ durchaus kritisch beur-
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teilt und von „Modernisierungsverlierern“ indifferent oder positiv eingeschätzt (Hettlage 2000: 41). Je näher man an die Gegenwart interkultureller Transformationsgesellschaften herankommt, umso mehr zeigt sich, dass die Generationsbeziehungen, die die Modernisierungstheorie ursprünglich für tot erklärt hatte, eine übersehene zentrale Dimension gesellschaftlicher Konstitution geblieben ist, aber auch unklarer und umstrittener geworden ist. 9.1.5 Die zeitgeschichtliche Achse Keine Gesellschaft ist in der Lage, alle Kriterien und Wissensbestände ihres kollektiven Gedächtnisses oder ihre politischen Traditionen in vollem Umfang lebendig und gegenwärtig zu halten. Variable Identitätsbedürfnisse oder herausragende gesellschaftliche oder politische Ereignisse können sie aber – manchmal ganz überraschend – reaktivieren (Greiffenhagen 2002: 471). Epochenbezeichnungen und -abgrenzungen sind heute selbst in der Geschichtswissenschaft hoch umstritten. Was freilich die großen Zäsuren der letzten Jahrzehnte anbelangt, so sind sich doch erstaunlicherweise fast alle Zeitdiagnostiker darin einig, dass die beiden großen Weltkriege, die jeweiligen Vor- und Nachkriegszeiten sowie der Zusammenbruch des weltpolitischen Duopols des „Kalten Krieges“ tiefe und nachhaltige Spuren hinterlassen haben und sozusagen zeitgeschichtliche Sinnachsen des verflossenen Jahrhunderts darstellen. Diese Ereignisse bedeuten in mancher Hinsicht einen Bruch mit der bisherigen modernen Gesellschaftsentwicklung. Je näher man jedoch der Gegenwart kommt, die wenige Soziologen noch als Industriegesellschaft verstehen, umso umstrittener wird die Bestimmung der zeitgeschichtlichen Gliederung. Ist der 11. September 2001, der Irak-Krieg oder die Erweiterung der EU wirklich ein epochenähnlicher Einschnitt? Oder kann man die intergenerationale Zeitgenossenschaft schematisch auf die jeweils letzten 75 Jahre beziffern? Ist die „differenzielle Zeitgenossenschaft“ der Enkel wirklich mit der der Großeltern oder Urgroßeltern, die ja heute immer häufiger von Kindern erlebt werden, vergleichbar (Eßbach 1996: 95f.)? Wenig spricht dafür, dass die politische, soziale oder ökonomische Geschichte in Deutschland ab 1850 annähernd homogen und synchron industriegesellschaftlich verlaufen ist. Sicher bildete nach der Konfessionsspaltung im 16. Jahrhundert, den Auswirkungen der Französischen Revolution im frühen 19. Jahrhundert die Klassenbildung im Gefolge der Industrialisierung einen charakteristischen Zug der deutschen Nationalgesellschaft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Doch kann von einer ähnlichen Homogenität wie in anderen mittel- und westeuropäischen Nationen in Deutschland nicht die Rede sein (Elwert 2001: 250f.). In mancher Hinsicht war die nationalsozialistische Diktatur moderner als das preußisch beherrschte Kaiserreich, in anderen Zügen deutlich vormoderner (Miller 1996). Durch die innerdeutsche Migration ab 1890 und verstärkt nach 1945 wurden die zuvor schroffen regionalen Differenzen stark abgeflacht. Doch Homogenisierungstendenzen trafen immer auch auf Widerstand und Verharrungsvermögen sowie auf akute soziale Reaktionen und haben auch zu neuen sozialen Differenzierungen geführt. Es gibt wohl immer noch keine homogene „deutsche Alltagskultur“; stattdessen nach wie vor Verständigungsschwierigkeiten, weniger zwischen Nord- und Süddeutschen, aber zwischen West- und Ostdeutschen. Und mancherorts werden sie nationalistisch zum Kampf gegen die neuen
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Sündenböcke, die Ausländer, und die moderne Demokratie hochstilisiert. Im Hintergrund macht sich auch immer noch die tiefe Unsicherheit über die eigene Geschichte bemerkbar. Für die Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft entstehen heute Probleme, wenn die Lesarten der Verfassung, die institutionellen „Versprechen“, mit den aktuellen Chancen verglichen und die strukturellen Auswirkungen des Versuchs nationaler und europäischer Integration aufeinander abgestimmt werden sollen (Elwert 2001: 256). Die lokale, nationale und transnationale Ausrichtung von Kindern, besonders von Kindern mit Migrationshintergrund, wird damit in neuer Weise attraktiv oder unattraktiv. Es muss sich zeigen, ob Deutschland als interkulturelle Gesellschaft in der Lage sein wird, kulturelle Differenzen und Fremdheit so in kulturelle Pluralität, Verfassungsgarantien, in gemeinsame Zeitgenossenschaft und Gruppenrechte zu verwandeln, dass die Vielfalt einerseits nicht zum beliebigen Pluralismus ausfranst und dann Segregationseffekte forciert, andererseits zur Erfahrung kultureller Bereicherung der autochthonen Bevölkerung führt (Elwert 2001: 260; Heckmann 1992; Hettlage 2000, 1997). Spätestens die Ausdehnung der EU in Gebiete, die früher als europäische Randgebiete galten, führt vor Augen, dass die gesellschaftliche Verständigung in allen europäischen Nationalgesellschaften mit Problemen interkultureller Kommunikation aufgeladen ist. Wenn man all die potenziellen, imaginierten und tatsächlichen Konflikte und die sich zeigende Wissenskluft begreifen will, darf man sie nicht mit Kategorien der traditionellen Nationalgesellschaften messen und sich nur auf die augenblickliche Interessenstruktur konzentrieren. In diesem Zusammenhang wird auch die Vorgeschichte wichtig. Und man muss untersuchen, wer durch einen Konflikt oder eine Konfliktvermeidung Vorteile, Macht, Einfluss, Ressourcen und Wissen gewinnen oder verlieren kann. Welche Form des Konfliktaustrags wird auf dem Hintergrund einer spezifischen politischen Kultur die wahrscheinlichste sein? Die alte Untertanenmentalität ist weitgehend in Deutschland verschwunden. Die Bewährung der deutschen Demokratie unter Bedingungen knapper materieller Verteilungsspielräume aufgrund ökonomischer Globalisierung steht in dessen noch dahin. Seit den kulturellen und politischen Diskussionen der Studentenbewegung von 1968 und der etwas späteren Frauenbewegung ist längst auch eine Grundsatzdiskussion um die „Kinderfrage“ und die „veränderte Kindheit“ – mehr oder minder explizit – im Gang, die in der „Kinderrechtsbewegung“ und der neuen Kindheitssoziologie wohl ihren augenfälligsten Ausdruck fand (Hettlage 1992; Rolff 1985). Als in Deutschland 1945 der Wiederaufbau angekurbelt wurde, war es für die meisten Menschen unklar, wohin die gesellschaftliche Entwicklung führen könnte. Nach wenigen Jahren hatte sich die Mehrheit an das „Wirtschaftswunder“ gewöhnt und es weitgehend mit der Demokratie identifiziert. Der Alltag nach 1945 war aber lange Jahre mit Unsicherheit behaftet. Auf die Nachkriegskinder folgten die Kinder im Wohlstand eines „golden age of marriage“, wobei aber nicht übersehen werden darf, dass die Kinder von sieben Millionen Nachkriegsflüchtlingen wohl auch zu dieser Zeit spezielle Integrationsprobleme hatten. Dennoch hätten um 1960 verstärkt „Konsumkinder“ und etwas später „Krisenkinder“ das Bild der Kindheit in Deutschland bestimmt (Preuss 1983), als der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz) ausgeträumt schien. So scheint es bis heute nicht wenigen Bürgern. Die nationale Vereinigung der beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit im Jahre 1989/90 traf Politiker wie Bürger völlig unvorbereitet. Sie erweckte zunächst riesige Hoffnungen und kurz darauf lähmende Enttäuschung und eine gewisse neue Entfremdung von Ost- und Westdeutschen (Greiffenhagen 2002: 216f.). Das eigentliche „Endresultat“ dieser
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„samtenen Revolution“ oder „nachholenden Modernisierung“ ging weit über Deutschland hinaus, weil es nach dem Verschwinden der Konkurrenz zwischen den weltpolitischen Bündnissystemen von Ost und West der Globalisierung ungebremsten Lauf ließ (Schwengel 1996: 58f). Da im Verlauf der deutschen Vereinigung auch das Bildungssystem der DDR demontiert wurde, hatte dies für Kinder vielfältige Auswirkungen, nicht zuletzt durch die Einschränkung der Ganztagsbetreuung. Der Kinderalltag zwischen ost- und westdeutschen Kindern hat sich angenähert, findet aber dennoch noch nicht unter gleichen Bedingungen statt (Kirchhöfer 2001: 61ff.). 1992 versuchte „Kerneuropa“ durch die Einführung des Binnenmarktes einen ersten Schritt zur politischen Einigung zu unternehmen. Dem sollte in den nächsten Jahren die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung folgen, was aber bislang nicht gelungen ist. Dennoch dürfte die Europäisierung der nationalen Politik in ihrem gleichzeitigen Zusammenhang mit der Globalisierung immer mehr Kinder, ohne dass sie dies ahnen, in den kommenden Jahren beeinflussen (Münch 1998: 271f.; Schwengel 1996: 57f.). Damit bekommen gegenüber der im Grunde nationalgesellschaftlichen funktionalen Differenzierung hybride kulturelle Strukturen und globale Machtkonzentrationen von „global players“ in den USA, Südostasien und Westeuropa ein entscheidendes Gewicht und machen das Steuerungsdefizit der traditionellen Nationalstaaten ganz offensichtlich, determinieren aber dennoch nicht völlig nationale Politik. Im Einzelnen mag dieser langsame Bruch ganz undramatisch verlaufen, er zwingt aber Kinder zusätzlich zu dauernder Reorientierung und lässt einen deutlichen Mangel an Orientierungswissen aufscheinen. Globalisierung und Europäisierung wecken neben Hoffnungen auch neue Ängste, Widerstand und Geborgenheitssehnsüchte. Globales, Europäisches, Nationales und Lokales verschränken sich zusehends, wobei aber nicht übersehen werden darf, dass nationale, regionale und lokale Traditionen nicht mehr aus sich reproduziert werden können (Münch 1998: 15; Butterwegge 2004: 87ff.). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde das Verblassen einer „solidarischen Gesellschaft“ überall in Europa angesichts eines neoliberalen Zeitgeistes ebenso leidenschaftlich diskutiert wie der Umbau der Sozialsysteme in vielen Gesellschaften Europas. Die einen empfinden ihn als notwendigen Umbau zur Erhaltung des Wohlfahrtstaats, die anderen als unintelligente und phantasielose Sparpolitik auf dem Buckel der sozial Schwachen. Jedenfalls stellt sich hier einer Gesellschaft die Aufgabe, moralische Texturen sozialmoralischer und soziokultureller Milieus zu schaffen, in denen eine Biographie und alltägliche Lebensführung eines Kindes innerhalb bestehender und neu zu markierender Generationsverhältnisse sich als „sinnvoll“, „gut“ und „wertvoll“ zu rekonstituieren vermag (Reckwitz 2001: 216). Höchstwahrscheinlich temporalisiert sich die Generationsbildung noch weiter. Sie wird wohl auch selektiver und lässt die gemeinsame Zeitgenossenschaft mit Erwachsenen stärker hervortreten, die sich bis hinein in zunehmende Erwachsenenkrankheiten und Suchtabhängigkeiten andeutet (Hengst 2005: 250ff.). Aber auch damit kann ganz unterschiedlich umgegangen werden. Folglich zeitigen Statuspassagen „differenzielle Zeitgenossenschaft“. 9.1.6 Die Dynamik der Lebenswelt in ihrer Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimension Während die einen „Lebenswelt“ heute belächeln (Luhmann 1986: 176ff.; Grathoff 1987: 251ff.), betrachten sie andere fast nostalgisch als Refugium. Beide Lesarten übersehen, dass sie „kein harmloser Ort“ ist (Srubar 1997: 43ff.; Alheit 1994), sondern eine komplexe und
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durchaus auch konfliktfähige, bewegliche, subjektiv-intersubjektive Orientierungs- und Ordnungsperspektive des Alltäglichen und Außeralltäglichen konstituiert. Sie wird eine „generative Hintergrundsstruktur“ in all dem Gewirr und Chaos aktuell auftauchender Informationen und Optionen und speist sich aus lebenspraktischem Wissen, das zu immer erneuter Normalisierung und Bewältigung des Lebens taugt (Alheit 1994: 14; v. Beyme 1987: 37ff.). Sogar wenn sie den routinierten Alltagstrott zu sprengen versuchen, setzen Kinder Normalität oder die Chance neuer Normalisierung voraus. Auf diesem lebensweltlichen Hintergrund wird darum nicht nur kognitives Verstehen, sondern auch Vertrauen und Zivilisierung oder Kultivierung widersprüchlicher Folgen und Nebenfolgen sozialen Handelns möglich. Die Lebenswelt reduziert damit immer wieder überbordende gesellschaftliche Ambivalenz auf ein erträgliches, lebbares Maß, bricht aber auch die hypostasierenden und überverallgemeinernde Rezeptionstendenzen wissenschaftlichen Modellwissens auf und sucht ihren „Sitz im Leben“ zu ermitteln bzw. zu relativieren, zu übersetzen, lebenspraktisch zu ordnen (Schütz 1979/1984; Berger 1970; Alheit 1994: 45, 66f., 156f.). Im dialektischen Wechselspiel von Habitualisierung und Sensibilität für Kontingenz achtet sie auf Kontinuität und Diskontinuität. Sie ist damit wahrlich kein „harmloser Ort“, sondern eine praktische Kompetenz zur immer erneuten topologischen Erfassung und zum In-Ordnung-Bringen von Sachverhalten und Sozialprozessen und fällt eben nicht zusammen mit faktischen, konditionierten sozialökologischen Nischen-, Revier- und Territorienbildungen (Alheit 1994: 43, 194). Lebenswelt ist nicht einfach Widerspiegelung des sozialökologischen Status quo und „Überlebens“, sondern leistet „zugleich die Entdeckung kreativer Muster neuer Assoziationen“ und Vernetzungen (Schütz 1979: 31ff., 36, 62ff.) im Blick auf ein „gutes Leben“. Sie bewirkt damit eine gewisse „Entfatalisierung des Lebens“ (Horner). Stattdessen schafft sie einen „sense of one’s place“ (Bourdieu) in aktueller, potenzieller und wieder erlangbarer Reichweite der Wirkungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Akteure als mitgestaltende Teilnehmer, nicht als „Opfer“ einer Entwicklung. Kinder bewegen sich heute von Anfang an in verschiedenen Sinnregionen und ausgezeichneten Wirklichkeiten, die aber allesamt auf der Alltagswirklichkeit aufruhen und im Alltagswissen verankert sind. Von hier aus zeichnet sich ein Netz von Verarbeitungs-, Bewältigungs- und Deutungsmustern ab, mit denen sich Kinder, aktiv und rezeptiv, mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt konstruktiv auseinandersetzen können. Die alltägliche Lebenswelt als „Kern“ der Lebenswelt ist nach Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1979: 23) diejenige Wirklichkeitsregion, an der der „Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt“ und in die er „eingreifen und die er verändern kann“. Zugleich aber werden seine „freien Handlungsmöglichkeiten“ in dieser Wirklichkeitsregion durch die „Gegenständlichkeiten und Ereignisse, einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen“ begrenzt, historisch und mundan situiert. Soziale Phänomene werden in Habitualisierungs- und Institutionalisierungsprozessen von einer „Idee“ zur verobjektivierten „sozialen Tatsache“ (Durkheim), bleiben aber zugleich in ein Wechselspiel von Institutionalisierungs- und Deinstitutionalisierungsprozesse verstrickt. Diese generative Hintergrundstruktur des praktischen Wissens besitzt nach Husserl, von dem der Begriff „Lebenswelt“ stammt, einen „Boden“ als historischen Ausgangspunkt und einen zukunftsbezogenen Horizont (Waldenfels 1984: 332ff.; 1985). Sie setzt das Kind in Stand, auch das Unvertraute und Fremde als Erkenntnisquelle und Spiegel aufzugreifen, um im Bekannten das Unbekannte und im Unbekannten das Bekannte zu entdecken (Flick 2000: 14, 21).
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Soziale Kontexte und Wissen um sie kann somit gar nicht mehr schematisch nach dem Kriterium „außen“, „innen“ differenziert werden, weil sich Lebenswelt, zumal die pluralisierte Lebenswelt unserer Tage, vielfach als bewegliche „Zwischenwelt“ manifestiert, die sich bewegt, „wenn wir uns bewegen, sie verändert unser Handeln – wenn wir uns verändern“ (Soeffner 2000: 164). Diese lebensweltliche Wissensstruktur inkarniert sich in einer gewissen Normalität und Normalisierbarkeit zeitlicher, räumlicher, sachlich-thematischer und sozialer Relevanzen, die auch kindliche Akteure fast instinktiv aus der jeweiligen Gemengelage von Informationen und Optionen „herauslesen“. Zeitliche Routinen regen ebenso wie sozialräumliche Areale oder eine „Ordnung der Dinge“ (Foucault), die immer schon historisch vorinterpretiert sind, zu weiterführenden Deutungspraktiken an und schaffen angesichts des ganz normalen Chaos des Kinderalltags durch ein Netz von Unterscheidungen und Verweisungsund Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhängen einen ganz erstaunlichen alltäglichen Ordnungsrahmen, der sich dann im Außeralltäglichen weiter differenzieren und „anbauen“ lässt (Soeffner 2005: 395). Das reale lebensweltliche In-Ordnung-Bringen lässt sich weder auf Normen und Werte noch auf utilitaristische Präferenzen noch auf formale Verfahren und Techniken oder eine informationstechnologische „Herrschaftsregel“ (Heintz) reduzieren. Es geht vielmehr um Welterschließung, Kosmisierung oder Kultivierung ablaufender Sozialprozesse, die erst dadurch wirklich erfahrbar sind. Es ist nicht zu bestreiten, dass sie stets in „statu nascendi“, unfertig und unvollkommen bleiben und weitere Strukturierung verlangen. Sie lassen sich immer nur als Grenzfälle idealtypisch modellieren und werden oft in Mischungen und Hybridbildungen jenseits binärer Dichotomien (etwa „traditionell“ oder „modern“) erfahren. Gerade durch diese Eigentümlichkeit können sie zur Erweiterung kindlicher Handlungsspielräume genutzt werden (Kirchhöfer 2001: 66f.). Das Normalität stiftende Alltagswissen schließt Ausnahmen nicht aus, stößt aber immer wieder „reparierende“ Normalisierungen an. Kindliche Akteure sehen sich daher höchst selten zur prinzipiellen „Konversion“ genötigt (Matthiesen 1997: 162; Polanyi 1985). Normen stützen nur dann Normalität, wenn sie sich bereits auf bestehende Normalität und implizites, lebensweltliches Wissen stützen können. Durch deren „federnde Resistenz“ können sich Kinder einmal aktiver, dann wieder passiver ins Spiel bringen. Grenzen der Erfahrung können zurückgenommen oder vorverlegt werden und sind immer wieder zu erproben. Selbst wenn ursprünglich divergierende Situationsdefinitionen Interaktionspartnern schmerzlich ihre wechselseitige Fremdheit geoffenbart haben, ist eine schrittweise Annäherung unter bestimmten Bedingungen durchaus möglich; nie aber eine völlige Übereinstimmung und Empathie (Strauss 1968; 1994: 73ff.; Endreß 1988: 189). Allerdings ist hier festzuhalten, dass ein solches lebensweltliches (gemeinsames) Vorverständnis auch die Wurzel von Stereotypen und Vorurteilen werden kann. Dennoch bedeutet dies nicht, dass hier einzig bornierte Gesichtspunkte des „Überlebens“ zum Zuge kommen. Kindliche Akteure wagen auch aus der Spannung von Vertrautem und Unvertrautem gelegentlich mit „utopischer Energie“ einen Ausblick auf ein „gutes Leben“, weil sie hier von kleinen, mittleren und großen Transzendenzen in Bewegung gehalten werden (Luckmann 1996: 112ff.). Und deswegen ist auch ein zeitlicher Bedeutungszuwachs oder -schwund möglich (Waldenfels 1985: 25). Der konkrete Kinderalltag wäre gründlich missverstanden, sähe man in ihm nur ein Abziehbild des kulturellen Modells von Kindheit. Die größere oder geringere Einheit oder
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Verschiedenheit des Kinderlebens manifestiert sich ausschließlich in einer historischen Alltagstypik und den „anbaufähigen“, aber nicht davon ableitbaren Registern des typischen Sonderwissens um das Außeralltägliche, die zusammen erst die sinnstiftenden „Netze der Lebenswelt“ (Waldenfels) auf sozialstruktureller Grundlage ausmachen. Besitzen nun Kinder in unserer Gesellschaft uneingeschränkt die soziale Akzeptanz, in lebensweltlicher Orientierung sich an der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zu beteiligen? Manches spricht trotz Sonntagsreden eher dafür, dass man ihnen diese Konstruktionskompetenz immer noch nicht oder nur rhetorisch einräumt. Gelten sie nicht immer noch, wenn sie die pädagogischen Nischen und vorfabrizierten Soziotope verlassen, als Störenfriede, die gefälligst die guten Absichten der Erwachsenen aufgreifen sollten? Die Aufmerksamkeit für die Belange der Kinder ist sicher gewachsen, aber von einem „Jahrhundert des Kindes“ (E. Key) können Kinder doch immer noch nur träumen. Wenn sich allerdings die Sinnstiftungsprozesse unter Erwachsenen – etwa zwischen Beruf und Familie – verändern, hat dies in jedem Fall immer noch stärkere Auswirkungen auf Kinder als auf Erwachsene (Hochschild 2003). Diese Tatsache darf auch die neue Kindheitsforschung nicht aus dem Auge verlieren. Mindestens 40.000 Kinder – neue Zahlen sprechen sogar von 6 Millionen – sterben jährlich durch Unterernährung. 130 Millionen wird das Menschenrecht auf Bildung verweigert. Auch im vergleichsweise reichen Deutschland stellen ca. 1,7 Millionen Kinder ein „Armutsrisiko“ dar. Die weitgehende gesellschaftliche Indifferenz, mangelnde Responsivität oder „strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Kindern“ ist sicher keine Ermutigung kindlicher Existenz (UNICEF 1996; 1998; 1999; 2004). Und die Lebenssituation, die heutige Erwachsene in ihrer Kindheit hatten, war eine ganz andere, wie sie Kinder heute antreffen (Vetter 1999: 122ff.). Dennoch ist es mit Kampagnen für „Kinderfreundlichkeit“ nicht getan. Immer mehr advokatorisches Engagement verantwortungsvoller Erwachsener löst das Problem der Konstitution der kindlichen Lebenswelt nicht. Es geht nicht ohne die Kinder selbst (Rauschenbach 1991) und deren soziale Möglichkeitsräume. Paradoxerweise verschärft sich die Erfahrungs- und Wissenskluft nicht nur durch die neuen Medien, sondern auch dadurch, dass immer mehr Kinder erfreulicherweise in weiterführende Schulen drängen und danach vielfach ein Studium aufnehmen. Die Selektion nach der Grundschule macht die Haupt- und noch weit mehr die Sonderschule zur Restschule, die heute Lehrer wie Schüler demotivieren kann. Es kann so Kindern immer weniger verheimlicht werden, dass das deutsche Schulsystem nicht etwa Chancengleichheit herstellt, sondern die Selektion sogar noch verschärft (Heinzel 2002). Kinder aber müssen ihr zeitliches Verhalten unter solchen Lebensbedingungen noch ordnen. Sie tun es durch die Strukturierung des Verhältnisses von Alltagszeit und Lebenszeit. Je besser es ihnen gelingt, dieses Verhältnis spannungsreich und anregend zu gestalten, umso weniger kommt Langeweile und Leerlauf auf. Sie müssen sich natürlich auch früh den sozialen Zeiten sozialer Institutionen stellen. Je weniger sie diese aber als einziges Ordnungsprinzip heranziehen, sondern zum Teil mit ihrer Familie in der Lage sind, eine eigene Rhythmik des Kinderalltags und entsprechende Zeitzyklen und Routinen zu entwickeln, vermögen sie ihre Lebenswelt ins Spiel zu bringen. Dies verlangt spezifisches Wissen und Kompetenzen, aber auch Zeitressourcen. Eine völlig „verplante“ Kindheit ist unausweichlich fremdbestimmt. Die Nutzung des Raums wird keineswegs vom sozialökologischen Status quo erzwungen. Ihre Geschichte kann auch nicht auf das lineare, heute sehr populäre Schema „von der
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Straßenkindheit zur verhäuslichten Kindheit“ simplifiziert werden; nicht nur aus gravierenden empirischen Gründen (Nissen 1998; Blinkert 1996; Peck 1995). Eine theoretische Rekonstruktion der lebensweltlichen Orientierung von Kindern und der darauf aufbauenden sozialen Konstruktionen kann sich nie mit überverallgemeinernden Trendbotschaften zufrieden geben, sondern muss genauer hinsehen, wie Kinder unter spezifischen Bedingungen differenziell mit linearen Trends umgehen, die ja nur Umrisse rein normativer Entwicklungskapazitäten oder Extrapolationen sind und eine widersprüchliche Variation gesellschaftlicher Entwicklungen oder unterschiedliche Entwicklungspfade gar nicht berücksichtigen können. Die Strukturierung einer räumlichen Konzentrik oder Polyzentrik kann durchaus kulturell ganz Verschiedenes bedeuten und sich in der Lebenswirklichkeit von Kindern unterschiedlich auswirken. Gleiches gilt von der Differenzierung von „Nähe“ und „Ferne“ und Zonen des Vertrauten und Fremden und selbst den Erfahrungsräumen zwischen Familie und Öffentlichkeit. Oft wird der Umgang mit einfachen Dingen, Gebrauchsgegenständen oder mit Technik in der Soziologie als wichtiges lebensweltlich nutzbares praktisches Wissen völlig übersehen oder ausgeblendet. Gerade dieser Umgang und die „Ordnung der Dinge“ sind für das lebensweltliche In-Ordnung-Bringen ihrer Lebenswelt von großer Bedeutung. Ob sie als sinnvoll, nützlich, tauglich, konsumierbar oder „Schrott“ angesehen werden, ist für Kinder als Praktiker ein wichtiger Gesichtspunkt der Organisation ihres Alltags. Sie fühlen sich durch Sachen, Geräte oder Medien herausgefordert. Die Reichhaltigkeit oder Dürftigkeit, der Gebrauchs- oder Waren- und Demonstrationswert von Dingen sind nicht nur Randbedingungen der Sozialisation, sondern fordern einen ganz bestimmten Stil und eine besondere Kennerschaft und praktisches Wissen im Alltag (Hörnig 2001: 14). Und ganz besonders sind die sozialen Relevanzen und die damit zusammenhängenden „mittleren Transzendenzen“ und Relationen von entscheidender Bedeutung für den Alltag und das Außeralltägliche des Kinderlebens. Noch immer sehen sich Kinder heute überwiegend von direkter Interaktion in leiblicher Kopräsenz getragen. Doch sie lassen sich auch früh in kollektive organisatorische und mediale Auseinandersetzungen einschleusen. Diese sozialen Beziehungen sind viel formaler, selektiver, funktionsspezifischer und universaler. Sie lassen sich allerdings oft auch um gegenständlich-lokale Substrate wie Wohnkomplexe, Schulzimmer, Fernsehempfänger, PC, Spielplatz, Supermarkt, Sportvereinsheim, Kirche gruppieren. Diese Formen stärker institutionalisierter Sozialbeziehungen können auf „Zufall“, mangelnden Alternativen, lokalen Gegebenheiten, gleichen Interessen, Arbeitsteilung oder Konflikterfahrung zwischen und in Generations- und Geschlechtsidentifikation beruhen. Auch hier geht es um Gruppen- und Intergruppenbeziehungen unterschiedlicher Relevanz, um Konkurrenz, Dominanz, Konsens oder pragmatisches Feilschen und Verhandeln.
9.2 Der demographische Wandel Die „Kinderfrage“ ist nicht nur eine soziokulturelle Anfrage, welchen Platz und sozialen Raum die Gesellschaft Kindern in Zukunft einräumen will. Sie ist auch eine demographische Frage. Hinter ihr lauern indes ganz verschiedene Deutungsstrategien. Eine Frage wirft sich sofort auf. Warum gehen Geburten zurück, obwohl diese Gesellschaft keineswegs „kinderfeindlich“ sein will und junge Menschen vielfach die Meinung äußern, später Kinder haben zu wollen? Sind es nur materielle Hindernisse, soziale Umstände oder auch kul-
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turelle Motivationsblockaden in einer vergleichsweise wohlhabenden Gesellschaft wie der deutschen? Die Bevölkerung in ihrer Zahl und Zusammensetzung bildet sozusagen das „Rohmaterial“ einer Gesellschaft. Der Anteil der Kinder an der Bevölkerung repräsentiert eine ganz bestimmte Relation der Bevölkerungsgruppen, die nach Alter, Geschlecht, ethnischer und milieuspezifischer Zugehörigkeit differenziert werden können. Bevölkerung ist auch die Grundlage rechtlich-politischer Operationalisierung des „Volkes“, also jener Personen, die in einer Demokratie von Belang erscheinen und zur politischen Steuerungsgröße werden. Sie ist daher keineswegs eine „unschuldige“ und rein deskriptive Kennzahl, sondern Objekt des Streits verschiedener Interessen. Neben der momentanen Größe interessiert vor allem die künftige Entwicklung, die allerdings nur zu schätzen und nicht genau vorauszusagen ist. Was also bei den Bevölkerungsstatistiken nie direkt in Erscheinung tritt, ist ihr gesellschaftspolitischer Stellenwert. Wenn Personen wie die Kinder nicht als eigene Bevölkerungsgruppe ausgewiesen sind, ist das immer auch eine symbolische Botschaft hinsichtlich ihres gesellschaftspolitischen Stellenwerts. Auch in Deutschland waren Kinder bis vor kurzem sozialstatistisch nicht als eigene Bevölkerungsgruppe, sondern nur über die Familienhaushalte ausgewiesen. Die „postindustrielle Bevölkerungsweise“ (Hradil 2004: 39f.) zeichnet sich dadurch aus, dass die Geburtenrate dauerhaft unter die Sterberate sinkt. Die dadurch entstehenden Bevölkerungsverluste können durch Zuwanderung gemildert, aber nicht vollständig kompensiert werden. In vielen Fällen gelingt dies nur ungenügend und ist mit komplizierten ethnischen Konflikten verbunden. In einzelnen Gesellschaften begann das Schrumpfen der Bevölkerung früher und schlägt sich auf Dauer gravierender nieder. Dies wirft Fragen auf, die seit Jahren in der Gesellschaft z. T. mit simplifizierenden Antworten diskutiert werden. Vielfach wird das Argument zur Erklärung herangezogen, Kinder hätten ihren privaten Nutzen verloren, obwohl ihr öffentlicher beträchtlich sei. Doch genauere historische Untersuchungen (Bühler 1996; 2005) zeigen, dass der private Nutzen von Kindern in vormodernen Gesellschaften häufig auch sehr unsicher war. Und es ist keineswegs unbestreitbar, dass der öffentliche Nutzen steigt, wenn weniger Kinder geboren werden. „Wert“, „Nutzen“, „Kosten“, „Sinn“ von Kindern sind keine isolierten, selbstevidenten Sachverhalte oder Kriterien, sondern kurz-, mittel- und langfristig zu differenzierende und zu interpretierende Parameter, die im Grunde nur schwer und mit einem validen tertium comparationis vergleichbar gemacht werden können. Es ist auch nicht so, dass in einer Gesellschaft, in der viele Kinder als wünschenswert gelten, auch entsprechend viele Kinder zur Welt gebracht werden. Es muss zuvor gefragt werden, wie es zu solchen Leitbildern oder Normen kommen konnte. Es spricht auch Einiges dafür, zwischen direkten und indirekten Ursachen des Bevölkerungsrückgangs zu unterscheiden. Als direkte Ursachen gelten in der Demographie, dass Lebensbedingungen seltener werden, die zuvor für zahlreiche Kinder gesprochen haben. Bekanntlich sind dies Arbeitskräftemangel und ein fehlendes System der Alterssicherung. Indirekte Ursachen sind Lebensbedingungen, die eher gegen Kinder sprechen. Hier wird oft die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes als familien- und kindindifferente Entwicklung genannt. Sehr unwahrscheinlich ist, dass hier nur ein Motiv und dazu noch ein angeblich rein rationales, die Familienplanung, greifen soll. Viel realistischer scheint es, von einer variablen und komplexen, variabel interpretierten „Mischmotivation“ auszugehen, die allenfalls indirekt durch ein förderlich oder hemmend erscheinendes soziales und kulturel-
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les Klima beeinflussbar ist. Solche komplexen Vorgänge sind keine deutsche Spezialität. Sinnaspekte, Moralvorstellung, technische Möglichkeiten der Geburtenplanung und ökonomische Erwägungen sind in der Lebenspraxis oft faktisch nicht zu trennen. Obwohl die Deutschen mit einer bemerkenswert geringen Geburtenrate von 1,34 Kinder pro Frau statt der 2,1 zur Nettoreproduktion notwendigen keineswegs die „Weltmeister im Nicht-Kinderkriegen“ sind, sondern von einer ganzen Reihe europäischer Gesellschaften unterboten werden (Hradil 2004: 52), neigen sie zu einer besonders dramatisierenden Selbstinterpretation, die wenig mit einer ruhigen Kultivierung des „Kinderwunschs“ zu tun hat. Dabei bleibt auch unklar, ob dies etwas mit dem Modernisierungsgrad oder der besonderen zeitgeschichtlichen Situation des vereinigten Deutschlands zu tun hat. Es gibt sowohl hochmoderne wie wenig modernisierte Staaten in Europa, die einen mäßigen Geburtenrückgang aufweisen. Auch außerhalb Europas sinken die Geburtenraten, sind mehr Ressourcen für Kinder verfügbar, steigt die Lebenserwartung, werden Gesellschaften durch Migration zum Einwanderungsland, steigt das Bildungsniveau und breitet sich eine flexibilisierte, wachstumsorientierte Wirtschaft aus, die tendenziell weniger Arbeitskräfte benötigt (Hradil 2004: 54). Allerdings bricht dieser Konflikt in postindustriell-westlichen Gesellschaften weniger scharf aus als in den so genannten Entwicklungsländern. Aber er verschärft sich wohl auch hier zunehmend. In den kommenden Jahren werden vor allem zwei Entwicklungen politisch und gesellschaftlich zu verkraften sein. Die demographische Alterung der Bevölkerung wird zu einer signifikanten Verschiebung zwischen Jung und Alt führen, mit deutlichen, aber nicht zwangsläufigen Auswirkungen auf die unterschiedlichen Systeme sozialstaatlicher Sicherung. Ebenso deutlich wird der Anteil der zugewanderten Bevölkerung und ihrer Nachkommen wachsen: Ausländische und Kinder mit Migrationshintergrund werden in 20 Jahren in vielen größeren Städten vermutlich in der Mehrzahl sein. Deutschland wird älter, kinderarm und zugleich ethnisch bunter als je zuvor sein. Die härteste Nagelprobe der politischen Relevanz sozialstaatlicher Definitionen der Kinder als – nicht nur sozialstatische – Bevölkerungsgruppe stellt jeweils der regelmäßige Bericht westlicher Regierungen zur „Lage der Nation“ dar. Dem wachsenden politischen Interesse an der durchschnittlichen und speziellen Situation von Kindern einer Gesellschaft stehen dann aber wachsende Kinderarmut und Probleme abweichenden Verhaltens von Kindern und Eltern gegenüber. Schon seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wollten sich immer mehr europäische Regierungen als Wohlfahrtsregime verstehen, das die Nöte und sozialen Probleme ihrer Bevölkerung aufgreifen wollte, und versprachen, sie einer Lösung oder Linderung zuzuführen. Angesichts dessen wirkt die viel zitierte Formel von F. X. Kaufmann von der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft gegenüber Kindern natürlich provokativ (Kaufmann 1995). Unterstellt, diese Bilanzformel sei triftig, so drängen sich hier doch Vorstellungen auf, die tiefe Strukturveränderungen in Erwägung ziehen, die hart an die in einer Demokratie zu wahrende Privatsphäre heranreichen und – etwa gegenüber Kinderlosen – den Grundsatz der Gleichberechtigung tangieren, der allerdings bislang nicht konsequent gegenüber Familien angewandt wurde. In postindustriellen Gesellschaften wächst die Zahl junger Menschen, die sich bewusst gegen Kinder entscheiden oder die „Kinderfrage“ solange vertagen, bis sie von der Natur geregelt wird, und zugleich die Zahl derer, die um fast jeden Preis Kinder möchten (Vetter 1999: 14ff., 54).
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Rohe Zahlen der Demographie hinterlassen eine Menge Fragen und können nach optimistischen und pessimistischen Szenarien hin interpretiert werden. In vormodernen Gesellschaften schlossen sich eine Beurteilung von Kindern nach ihrem „Sinn“ und „Nutzen“ keineswegs aus (Bühler 2005; 1996), in modernen gelten einerseits nur (ökonomische) Humankapitalbetrachtungen oder nutzenfreie „Sinnstiftung“ durch Kinder im Sinne „reiner Beziehungen“ (Giddens 1993: 125ff.) als relevant. Eigentümliche Widersprüche treten dabei auf, die auf ein verändertes Wissen um Geburt, Tod und prekäre Familienverhältnisse in der Gesellschaft zurückgehen. Eltern schaffen sich durch eigene Kinder intergenerative Bezugspersonen und Liebesobjekte und Kinder lassen sich dafür gewinnen, die Zuwendung zu erwidern und ihrerseits Eltern zu zentralen Bezugspersonen und zu strategischen Kernen intergenerationaler Beziehungen über das gesamte Leben zu machen (Münz 1983: 242). Die demographische „Kinderfrage“ erweist sich somit tief soziokulturell imprägniert. In Deutschland nimmt die Geburtenzahl seit über 30 Jahren kontinuierlich ab und verharrt auf einem niedrigen Niveau. Mit leichter Schwankung nach unten oder oben blieb diese Entwicklung bislang konstant. Es gibt derzeit keinen Hinweis darauf, dass sich dies durch irgendwelche Interventionen kurzfristig ändern ließe. Manches deutet im Gegenteil auf eine zusätzliche Erschwerung des „Kinderwunsches“. Die rigorose Flexibilitätszumutung des globalisierten Arbeitsmarktes ist kaum kinder- und/oder familienfreundlich, weil Kinder nun einmal soziale Stabilität, viel Zeit und lokale Verlässlichkeit brauchen. In Skandinavien und den angelsächsischen Ländern oder in Frankreich zeigt sich, dass trotz ähnlicher Probleme der Eltern auf dem Arbeitsmarkt eine Familien- und Kinderpolitik, die eine entsprechende Infrastruktur für Eltern bereitgestellt, die beide arbeiten, der Geburtenrückgang zwar nicht gestoppt, aber doch viel milder ausfällt als in traditionell als kinderfreundlich geltenden Gesellschaften wie Italien und Spanien, die solche Maßnahmen bislang scheuten (Hradil 2004: 52f.). Offenbar fällt es heute – vor einigen Jahrzehnten mag das noch ganz anders gewesen sein – jungen Frauen leichter, sich für Kinder zu entscheiden, wenn sich Frauen und Männer Erwerbstätigkeit und Familienarbeit gleichberechtigt teilen. Vielleicht kann auch die Rehabilitation der Mitarbeit der Kinder im Haushalt zusätzlich einen kleinen positiven Beitrag zur Zufriedenheit in der Familie leisten.
9.3 Lebenslage und Lebenslauf von Kindern Dauerhafte soziale Netze von Kreuz- und Querverbindungen sind heute in ein Geflecht sozialer Institutionen und eine vielschichtige Struktur sozialer Ungleichheit eingebunden, die sich oft aus scheinbar „harmlosen“ sozialen Differenzen mit großer Zähigkeit reproduzieren (Luckmann 2002: 79). Statusinformationen aber eröffnen oder verschließen den Zugang zur Wissensproduktion und -verteilung der Gesellschaft zu ganz bestimmten Strategien, Taktiken und Praktiken sowie Beteiligungschancen mit einer spezifischen Legitimation oder sozialen Akzeptanz. Die hier sichtbar werdenden vertikalen und horizontalen Disparitäten erschließen nach wie vor sehr wirkungsvoll Chancen und Risiken, Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen, Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit gesellschaftlicher Ressourcen, Inklusions- und Exklusionsprozesse bei der Generierung von kindlichem Status. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass die meisten theoretischen Modelle sozialer Ungleichheit sowohl die Bedeutung der Prozesse der Wissensdifferenzierung zur Repro-
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duktion sozialer Ungleichheit unterschätzen wie eine relativ strukturstabile Statushierarchie voraussetzen. (Es gibt allerdings auch einige, die von einer vollständig individualisierten Lebensstiloption ausgehen und die Beharrungstendenzen und Selektivitäten unterschätzen). Kinder sind aber heute schon über ihre Eltern in vielen, wahrscheinlich in Zukunft noch viel häufigeren Fällen, in gebrochene Lebensläufe geraten (Hradil 1999; Beck 1996). Verunsicherung löst immer wieder auch soziale Desintegration aus (Heitmeyer 2005). Die Abschottung führt zu Prozessen der Lernverweigerung und der Dequalifikation. Kinder verzichten dann früh auf Wissenserwerb und geraten in eine immer größere Wissenskluft zu konkurrierenden Kindern. Und nicht zuletzt deswegen sind die sozialen Beziehungen zwischen Kindern unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und -milieus von Misstrauen, Spannungen und Konflikten geprägt (Karstedt 1999: 268). Die Folgewirkungen sozialer Exklusion oder Marginalisierung und Wissenskluft begünstigen die Neigung zur Segregation, kollektivistischen Orientierung und nicht selten zur Aggressions- und Gewaltbereitschaft oder Diskriminierung (Heitmeyer 2005; 2004). Es ist allerdings bis heute umstritten, ob und wie (mangelnde) Kompetenzen, gesellschaftliche Ressourcen und soziale Probleme zusammenhängen. Offenbar produzieren sozialstrukturelle Konstellationen förderliche oder hemmende Bedingungen, die bei einer entsprechenden Kumulation von Bedingungsfaktoren „das Fass zum Überlaufen“ bringen, aber nicht automatisch determinieren. Unterstellt man allerdings, dass hierbei die Wahrnehmung und das Wissen oder Nichtwissen über Prozessverläufe und soziale Reaktionen eine konstitutive Rolle spielen, führt das „Problem der kritischen Masse“ letztendlich auf das Konzept der gesellschaftlichen Konstruktion von sozialer Akzeptanz. Die Sozialstruktur ist also keine Versteinerung der Statusdifferenzierung einer Gesellschaft, sondern ein fortlaufender Strukturierungsprozess des Wissens, der auch schon Kinder als kleine soziale Akteure zu bewertenden „Zwischenbilanzen“ hinsichtlich sozialer Differenzierung veranlasst und mit oft hartnäckig verteidigten Zwischenbilanzen der Erwachsenen konfrontiert. So werden soziale Differenzen in vertikale und horizontale Ungleichheit transformiert. Dabei werden immer wieder statusgenerierende Mobilisierungswellen und Phasen der „Abkühlung“ und der Abschwächung oder Vertiefung von gesellschaftlichen Spaltungen oder Polarisierungen erfahrbar. Die Mobilisierung wird heute in erster Linie durch organisations- und konfliktfähige Interessengruppen, Funktions- und Machteliten, Lobbyisten und politische Meinungsführer angekurbelt, vorangetrieben, gebündelt und in Gelegenheits- und Opportunitätsstrukturen verdichtet. Für die politischen Protagonisten wie die Betroffenen ist dabei ausschlaggebend, ob und wie Sinn, Funktion, Nutzen, Kosten sich auf „öffentliche Güter“ als Vergleichsmaßstab beziehen (Hradil 2004). In spätmodernen Gesellschaften erweitern sich das Wissen und die Ziel- und Wertvorstellungen der Menschen. Sie treten aber auch immer wieder als „objektives“ und „subjektives“ Wissen auseinander. Neben dem ökonomisch verwertbaren Wissen erlangen auch die (un-)vorteilhaften kulturellen und politischen Gesichtspunkte und jene „Fakten“ Beachtung, die durch wohlfahrtstaatliche Transfermaßnahmen geschaffen worden sind. Neben den beruflichen und einkommensmäßigen Rangstufen wiegen dann auch das Wissen über die oft kumulierenden Vor- und Nachteile ihres Geschlechts, Alters, ihrer regionalen und lokalen Lebenssituation, ihres sozialen Kapitals, der familialen Lebensform, der ethnischen Zugehörigkeit und nicht zuletzt des Bildungsniveaus schwer und markieren die soziale Lage von Kindern (Hradil 1999: 39f.). Wissen schafft ganz unterschiedliche Mobilitätschancen und lässt durchaus Schlüsse auf den individuell variierten Lebenslauf und seine
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konkreten Lebensbedingungen zu. „Objektive“ soziale Ungleichheit wird erst dann voll wirksam, wenn die Betroffenen die damit verbundenen Vor- und Nachteile selbst wahrnehmen, sich darauf einlassen und darauf reagieren. Die objektiven Spielräume machen sich gegenüber den subjektiven Einschätzungen geltend, wenn sie als „institutionelle Tatsachen“ im sozialen Vergleich deutliche Restriktionen der Handlungsmöglichkeiten spürbar werden lassen und damit nur zum eigenen Schaden übersehen werden können. Es zeigt sich damit, dass objektive und subjektive Momente sozialer Ungleichheit eng korrelieren und diese Korrelation sich verstärken und abschwächen kann. Unterschiedliche Lebenslagen werden von den meist egalitär denkenden Kindern weder immer verstanden noch akzeptiert. Doch nach einiger Zeit spüren sie durchaus, wenn sich ihre Handlungsspielräume und Handlungsressourcen verengen und krass unterscheiden (Wacker 1976; Hradil 1999: 28; Leu 2002). Die kindliche Lebenslage bezieht sich auf eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitsverpflichtungen, Freizeit- und Konsummöglichkeiten, unterschiedliche Beziehungschancen, aber auch auf das breite Spektrum von Zusatzqualifikationen zur schulischen Bildung. Sie schlägt sich in Statuskristallisationen nieder, die oft einen biographischen Beharrungseffekt aufweisen (Krappmann 2002: 67ff.). Durch das Verbot der Kinderarbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen europäischen Gesellschaften sind Kinder für lange Zeit total abhängig von der Alimentierung durch ihre Eltern geworden; zuvor waren sie es manchmal nicht in diesem Maße durch u. U. außerhäusliche Arbeitsverhältnisse als Gesinde. Und heute werden sie als „Armutsrisiko“ ihrer Eltern nicht selten in Notlagen hineingerissen, die nicht nur in Einkommensarmut (Infrastruktur, Versorgungsqualität, Mangel an bildungsmäßigen und kulturellen Anregungen, Sozialkontakte etc.) besteht. Armut zerstört natürlich nicht automatisch ein Kinderleben, aber sie gibt doch einen Humus für kumulierende kindliche Lebensprobleme ab (Butterwegge 2002; Beisenherz 2005: 216f.). Noch die neuesten Erhebungen (z. B. PISA) zeigen, dass es in Deutschland nach wie vor – mehr als in anderen europäischen Gesellschaften – ein herkunftsbedingtes „Bildungsschicksal“ für Kinder aus unteren sozialen Milieus gibt. Arbeitslose Eltern oder Eltern in prekären Arbeitsverhältnissen können ihren Kindern nicht die gleichen Bildungs- und Gesundheitschancen geben wie wohlhabende Familien. Selbst sozialpolitische Transferleistungen und die Anerkennung der Hilfsbedürftigkeit hinterlassen oft Spuren, indem sie das Selbstbewusstsein und die Bereitschaft zur Eigeninitiative von Kindern untergräbt. Solche Resultate oder Symptome sind bei ca. 12% der Kinder festzustellen (Bründel 1996; Groenemeyer 1999: 220ff.; Klocke 2001; Mansel 1998; Beisenherz 2002). In allen europäischen Ländern zeigt sich eine Tendenz zur Infantilisierung der Armut, d. h. eine Verschiebung der Altersarmut, die nicht verschwindet, zur Kinderarmut (Berger 2001: 241), die zu einer Reproduktion der Armut über Generationen hinweg führen kann. Diese ungünstigen Bedingungen bleiben oft fast unsichtbar. Dennoch fühlen sich die meisten Kinder in ihrer Familie wohl (Olk 2003; LBS 2002), und die Familie besitzt neben den Gleichaltrigen die größte Alltagsrelevanz in ihren gesamten sozialräumlichen Kontexten (Kränzl 2003: 18, 26ff.). Städtische und ländliche Wohnumwelten bieten Kindern je unterschiedliche Gelegenheiten zu sozialen Kontakten, Spiel, Freizeit, Bildungsmöglichkeiten und zu unterschiedlicher gesellschaftlicher Partizipation. Kinder nutzen dabei infrastrukturelle Gegebenheiten anders als Jugendliche und Erwachsene. Westdeutsche Mädchen der mittleren Sozialmilieus zeigen sich am stärksten individualisiert, ostdeutsche Jungen am stärksten familienzentriert. Die Schulpflicht und das Schulleben ist für fast alle Kinder jener Lebensbereich, in dem sie sich am wenigsten wohl fühlen.
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Nach wie vor gibt es keine einheitliche soziale Lebenslage für Kinder; wohl aber zahlreiche tief greifende Widersprüche. Die stärksten Spannungen und psychosozialen Konflikte bestehen – auch hinsichtlich der öffentlichen, kommerziellen und selbstorganisierten Freizeit – bei Migrantenkindern, Kindern mit chronischen Krankheiten, Behinderungen und bei Kindern in ungesicherter materieller Lebenslage (Butterwegge 2004: 210, 217, 219). Mehr oder minder stark erleben also Kinder im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen, dass sie faktisch doch nicht kleine „Vollbürger“, sondern nur über ihre Eltern sozial anerkannt sind und auf diesem Weg z. T. deren Status „erben“. Doch ungeachtet dessen scheinen Kinder voll vom Alltagsstress der Eltern eingeholt worden zu sein. Die Lebenssituation der Kinder kann sich in der Längsschnittbetrachtung ändern oder verfestigen und ist daher nicht einseitig individualistisch und zeitstabil zu erklären. Sie ist an bestimmte (selbst nicht zeitenthobene) soziale Institutionen und an zeitbedingt typische Lebensverläufe und u. U. auch an einen institutionalisierten Lebenslauf mit einer mehr oder minder normativen Ablaufstruktur gebunden, scheint aber heute vor allem auch von pragmatischen „Türhütern“ zunehmend geprägt. Doch diese Zusammenhänge sind heute alle sehr „wackelig“ geworden. Hier zeigt sich erneut, dass der soziale Status heute weder lebenslang zu fixieren ist noch völlig individualisierten Optionen offen steht. Es ist fraglich, ob bei den tentativen Versuchen der lebensgeschichtlichen Identitätsentwürfe und der Kette schwach konturierter Statuspassagen die Kindheit auf Dauer als Lebensphase eine Eigendynamik entfalten kann. Krisenhafte Veränderungen der Sozialstruktur setzen Kindern und Erwachsenen zu, aber eben nicht allen Erwachsenen und Kindern gleich (Heinz 2001: 155). Es kann in einer differenziellen Zeitgenossenschaft (Hengst 2005) zwischen bestimmten Kindern und Eltern eine viel größere Gemeinsamkeit geben als zwischen bestimmten Kindern. Und es ist ja auch nicht ausgeschlossen, dass sich Privilegien und Diskriminierungen relativ spät in der Kindheit einschleichen oder spät auswirken. Es verbietet sich daher eine substanzialisierende Überverallgemeinerung zur Lage der Kinder und ihrer Familien.
9.4 Die Zugänglichkeit der gesellschaftlichen Infrastruktur Sofern der Zugang zur Kindheit einen Prozess in Gang setzt, der sich als gegenläufiges Identifizieren und Differenzieren gegenüber Erwachsenen und Kindern bestimmen lässt, vollzieht sich hier ein Teil der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Die Zugangsbedingungen erwachsen in bestimmten Habitualisierungen und sanktionsbewehrten Regeln als Ergebnis von Institutionalisierungsprozessen, die sich zu einer begrenzten Ordnung zusammenfügen. Kinder sind ja nicht einfach da. Sie müssen geboren und in einem Gefüge von sozialen Relationen und ganz bestimmten Sinnrahmungen einer anspruchsvollen Sozialisation für wert gehalten und von ihren sozialen Kontexten anerkannt werden, indem man sie nicht nur rhetorisch-diskursiv unterscheidet und beachtet, sondern praktikable Handlungsspielräume und „faire“ Zugangsbedingungen zu gesellschaftlichen Ressourcen verschafft. Gesellschaftliche Ressourcen sind nicht einfach nachwachsende Rohstoffe. Spezielle Kompetenzen sind notwendige aber nicht hinreichende Bedingungen. Es muss auch zugängliche Gelegenheiten in ausreichender Zahl, Interaktionschancen mit Kindern und für Kinder geben (Krappmann 2002: 67ff.). Nur zufällige und sporadische Kontakte schaffen noch keine tragfähigen intergenerationalen Strukturen. Manche Erwachsene in manchen
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städtischen Wohnbezirken können sich schon heute beim Stichwort „Kinder“ nur an ihre eigene Kindheit erinnern. Und für Kinder nimmt mit der Zunahme der Optionen auch vielfach undurchschaut die Zahl der Menschen zu, von denen sie irgendwie abhängig sind (Münch 1998: 21). Die Verwirklichung von Optionen erzeugt zugleich Nicht-Optionen, die Verwirklichung von gleichen Lebenschancen an einer Stelle führt zum Aufbrechen neuer sozialer Ungleichheit an einer anderen Stelle. Kinderfreundlichkeit in der einen Maßnahme macht Kinderfeindlichkeit in einer anderen nicht unmöglich. Die bedingte Zugänglichkeit zur gesellschaftlichen Chancenstruktur für Kinder erfordert immer wieder einen Prozess schwieriger Prüfung der „Kinderverträglichkeit“ und der gesellschaftlichen Verständigung – ohne Ende (Joas 2001: 13ff.). Kindern wird wenig Ressourcenproduktion zuerkannt, sie tragen aber auch nach wie vor weniger zum Ressourcenverbrauch bei als Erwachsene. Mit dem Problem der gesellschaftlichen Zugänglichkeit gesellschaftlicher Ressourcen oder – nach Bourdieu – zum kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital zeigt sich ein Schlüsselproblem der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Selbst eine Fixierung auf Diskurse und ein Unterlassen von Förderung oder Diskriminierung, ein Verzicht auf Intervention entgeht nicht dem Risiko, von nicht intendierten Nebenfolgen eingeholt zu werden. Chancenerhalt ist oft nur möglich durch den mehr oder weniger bewussten und sensiblen Umgang mit Paradoxien der Moderne und durch mehr oder minder gelungene Vermeidung ihrer schlimmsten Auswirkungen (Münch 1998: 22). Die moderne Marktgesellschaft unterstellt, dass tendenziell alle sozialen Prozesse marktförmig verlaufen und nach den Prinzipien von Angebot und Nachfrage alle sozialen Phänomene regulieren lassen; gleichviel, ob es sich um die Religionswahl, private Partnerbeziehungen, den Kinderwunsch, Lehrer-Schüler-, Eltern-Kind oder Arzt-Patienten-Beziehungen oder die Identifikation mit der politischen Kultur handelt (Elwert 2001; Münch 1998: 38). Damit wird nicht nur die Spezifik unterschiedlicher Sinnregionen geleugnet, sondern auch das Zugänglichkeitsproblem gröblich vernachlässigt. Die Schwierigkeit nicht weniger Kinder besteht eben darin, weder zu allen Handlungsbereichen gleich gut Zugang zu finden noch reelle von scheinbaren Optionen in einem Handlungsbereich unterscheiden zu können. Die utilitaristische Tauschtheorie stößt immer wieder dort an Grenzen, wo das Prinzip der Wechselseitigkeit durch interkulturelle Fremdheit oder Vertrauen, Kontingenzen und Routinen, normative (Selbst-)Bindungen, eingelebte Intergruppenbeziehungen und Machtverhalten „verzerrt“, gestört oder intransparent erscheint. Es bedarf in diesen Fällen kreativer Übersetzungen und mutiger, vertrauensbildender Maßnahmen, um solche „verletzte“ Kommunikation nachträglich wieder zu reparieren, zu normalisieren. Bei Kindern ist dies nicht fundamental anders wie bei Erwachsenen (Münch 1998: 42). Dies wird immer dann umso schwieriger, je weniger Vertrauen und Handlungsspielräume bestehen. Es erweist sich auch deshalb als schwierig, weil Kindheit heute eine gesteigerte Ambivalenz ausstrahlt. Sie ist für Erwachsene nicht nur „Lust“, sondern auch „Last“ (Münz 1981; Beck 1990). Diese Ambivalenz besteht auch kulturell und politisch. Kinder erscheinen wichtig als Humankapital, aber ihr Insistieren auf ihrer „kindgemäßen“ Gegenwart im Hier und Jetzt erscheint als verlorene Zeit, die bekanntlich heute vorwiegend als Geld kodiert wird. Die gesellschaftlichen Versprechen der Chancengleichheit und Zukunftsfähigkeit erscheinen so leicht als leere Versprechungen. Heute treten ziemlich gut sichtbar neue Formen der Deklassierung und Wissensentwertung auf, die die Institutionen der Demokratie in der Moderne zu überwinden vorgaben. Solche Prozesse der Deklassierung können im Prinzip jedes
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Kind, nicht nur die Unbegabten oder Faulen treffen, wenn sich ganz bestimmte Verluste häufen (Bude 1998: 364f.). Chancen sind dann nur noch um den Preis erhöhter Risiken zu haben. Man kann dies als „Modernisierungsfalle“ (Wahl) ansehen (Kaufmann 1995; Münch 1998: 124f.; Beck 1986). Das Tückische an dieser Argumentation ist vor allem, dass sie diese Modernisierungseffekte ganz einfach auf individuelles Versagen zurückführen kann, obwohl selbst ein Individualisierungstheoretiker wie U. Beck das der Individualisierung zugrunde liegende Bedingungsgefüge als durch und durch sozialstrukturell verursacht diagnostiziert. Die Komplexität der spätmodernen Gesellschaft verhindert es, dass diese sozialstrukturelle Rückbindung individueller Optionen leicht zu durchschauen ist (Münch 1998: 155; Taylor 1992). Doch das schwindende „Systemvertrauen“ in zentrale Institutionen und die Einigelung in Alltagssolidarität können Kinder auch deshalb leicht lernen, weil Erwachsene ihnen dies vielfältig vormachen. Mindestens ebenso wie Erwachsene sind Kinder auf einen Konsens über „öffentliche“ oder „kollektive“ Güter und entsprechende infrastrukturelle Operationalisierungen und politische Institutionalisierungen angewiesen; gerade weil gesellschaftliche Prozesse nicht mehr schlicht auf Gebrauchswerte des Familienlebens zu reduzieren sind. Viele für das kindliche Leben notwendige Dienstleistungen, die in ihrer Notwendigkeit deswegen früher nicht aufgefallen sind, weil sie durch erzwungene „Selbstlosigkeit“ insbesondere der Mütter und der Familien abgedeckt wurden, sind heute knapper geworden. Sie werden in Deutschland heute aber nur spärlich angeboten. Und es kann nicht unterstellt werden, dass jedes Kind und jede Familie von denselben Grundrisiken bedroht werden. Es fehlt vielerorts z. B. an günstigen öffentlichen Verkehrsmitteln oder diese werden sogar noch weiter abgebaut. Damit verkomplizieren sich Bildungs-, Gesundheits-, Freizeitnachfrage von kommunalen, kommerziellen und selbstorganisierten Angeboten. Wo diese am Konzept der „öffentlichen Güter“ überhaupt noch gemessen und angeboten werden, so sind sie meist zu teuer, nicht überall und zeitlich verfügbar. Die Akzeptanz der gesellschaftlichen Ordnung hängt auch an der Lebensqualität des Wohnortes, der ökologischen „Integrität“ der Ausstattung mit Grün- und Freiflächen, der Qualität eines preiswerten Nahverkehrs, kommunalen Service, der Versorgung mit Kindergartenplätzen, Schulen, der Freizeit, des Gesundheitswesens, der Familienfreundlichkeit, der Arbeitsplatzsicherheit und Solidarität örtlicher Betriebe (Hradil 199: 310). Auch Kinder sträuben sich dagegen, nur fremdem Willen oder Macht unterworfen zu sein (Offe 2001: 13; Bukow 2000).
9.5 Der kindliche Leib Auf den ersten Blick fällt auf: Kinder sind in der Regel kleiner als Erwachsene; jedenfalls meist bis zur späten Kindheit. Daraus schließen wir leicht, dass auch ihr Gewicht geringer ist und ihre Organe noch nicht ausdifferenziert sind. Bis heute scheinen dies die Unterscheidungskriterien zu sein, die vor allem in Europa als völlig selbstverständlich erscheinen (Prout 2003: 34; Fuhs 2003: 64f.). Jeder kennt auch den Unterschied zwischen einem Kind und einem zwergwüchsigen Erwachsenen. Oder doch nicht? Soziokulturelle Deutungen schmuggeln sich schon hier unversehens ein. Physische Merkmale sind vieldeutig und keine ihrer wahrnehmbaren Ausdrucksweisen zwingen sich auf. Diese Problematik hat die meisten Soziologen bislang nicht interessiert. Der menschli-
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che Leib galt ausschließlich als Forschungsobjekt der Biologie. Und fast scheint es immer noch so, dass sich der Körper als soziales Phänomen erst als „soziales Problem“ der Körperbehinderung aufdrängt (Cloerkes 2001; 2003). Immerhin gibt es aber einige Soziologen, für die dieses Urteil nicht zutrifft. In der sozialphänomenologischen Theorietradition ging etwa Schütz davon aus, dass der Leib der bewegliche „Nullpunkt“ lebensweltlicher Orientierung sei. Bourdieu und ähnlich schon früher Elias sehen, dass sozialisierte Einstellungen habituell in den Leib eingeschrieben sind (Schütz 1979/1984; Elias 1977; Bourdieu 1987: 122ff.) und erst die körperliche Regulierung gesellschaftliche Kompetenzen entbinde. Der Mainstream der Soziologie nahm das in seiner cartesianischen Grundeinstellung einigermaßen befremdet zur Kenntnis. Die Materialität des menschlichen Leibes wurde kaum beachtet (Reckwitz 2000: 104, 107). Erst neuerdings interessiert sich auch die Kindheitssoziologie dafür, dass das Kind nicht nur einen Körper hat, sondern dessen „Innenleben“ in sozialen Relationen erfahren kann (Hengst 2003). Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf die Beziehung zwischen den Symbolen der Lebensform und den bio-psychischen Dimensionen. Ein kulturalistischer Reduktionismus verfehlt allerdings ebenso wie ein biologistischer die Chance, die Bedingungen und Folgen eines Übergangs von einer biologischen zu einer soziokulturellen Bestimmung körperlicher Unterschiede zu thematisieren. Wie kommt es etwa zur Vorverlagerung der stark körperbetonten Jugendkultur in die Verhaltensstile von Kindern? Gesellschaft ist kein bloßes „Außen“ eines biopsychischen „Innen“, sondern eine Kette von Schnittpunkten zwischen biopsychischen Abläufen und kulturell-symbolischen Deutungspraktiken. Der kindliche Leib ist ja weder reine Natur noch reine Kultur, sondern ein praktisch erfahrenes Gesamtphänomen im Wechselspiel von Symbolischem und Materiellem (Prout 2003: 43ff.); nicht zuletzt im Alters- und Geschlechtszusammenhang. Er ist sozusagen ein Erfahrungsraum zwischen zwei nur analytisch unterscheidbaren Polen und Bedeutungsnetzen, die die Gesellschaft konstituieren. Gerade die Gegenwart von Kindern hängt wesentlich von ihrem Leib und ihrer leiblich gebundenen, raum-zeitlichen und sozialen Alltagswelt ab (Berger 1971: 49ff.). Auch die kindliche Welt ist „weltoffen“, zugleich über- und unterdeterminiert, also „plastisch“ und nur unzureichend durch die biologische Konstitution festgelegt, obwohl sie ihre physischen Grenzen nie verleugnen kann. Daher ist auch die „Handlungsfähigkeit“ (agency) des Kindes als kompetenter Akteur nie fixierbar und kann, wie die Gesundheit, auch verloren gehen (Prout 2003: 47; Joas 1992). Kinder können sich körperlich „breit machen“ oder verstecken. Manchmal trumpfen sie als kleine, heimliche „Chefs“ der Familie auch körperlich auf. Die Häufung alltagsspezifischer Alltagstypik trägt zu ihre eigenen Reproduktion normalerweise bei: Kinder sind eben doch klein, schwach, hilflos etc. Ethnologen zeigen jedoch, dass Kinder des chronologisch gleichen Jahrgangs in verschiedenen Kulturen ganz erstaunlich selbständig oder unselbständig sein und dies auch körperlich demonstrieren können. Der bestimmte Sonderstatus des modernen europäischen (westlichen) Kindes verdankt sich einer ganz bestimmten historischen Konstellation zirkulärer Fremd- und Selbstzuschreibung, die nicht in allen Kulturen in dieser strukturellen Form zu finden ist (Nauck 1993: 281f.; Tromsdorff 1993; v. de Loo 1993; Dracklé 1996). In Alltagssituationen wirken einerseits eingespielte Erwartungen oder Stereotype auf die Wahrnehmung der Erwachsenen, andererseits die Darstellungsweisen von Kindern so
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„spontan“, dass die dahinter liegenden institutionellen Zuschreibungen und kulturellen Diskurse über organische Differenzen gar nicht mehr sichtbar werden. Aus der Beobachtersituation kann aber gezeigt werden, dass sie den „Boden“ und den „Horizont“ der Interaktionen von Erwachsenen und Kindern bilden, ohne dass – in „künstlicher Reflexion“ – auf differenziertes Wissen zurückgegriffen werden müsste. Alle Beteiligten der Interaktion erfahren sie als natürliche und moralisch gerechtfertigte Wirklichkeit (Lindemann 1996: 148; Imhof 1983: 51). Doch ist der Körper, so wie ihn heute Kinder, die Eltern, der Arzt, der Lehrer etc. sehen, wirklich der gleiche „Körper“? Und bleiben die verschiedenen Perspektiven und Diskurse nicht doch hinter der körperlichen „Erdenschwere“ und Materialität oder libidinösen Energie und der spürbaren Qualität von Schmerz zurück? In den letzten Jahren wurde versucht, die Körperlichkeit des Menschen semiotisch restlos in Zeichensysteme aufzulösen. Der menschliche Körper wird dann zum Speicher von Werten, Symbolen, Gedanken und Assoziationen (Bourdieu 1987: 127; Lindemann 1996: 151; Borck 1996: 36). Doch der menschliche Leib ist soziologisch weder eine Informationsverarbeitungsmaschine, wie ihn die kognitivistische Psychologie sieht, noch ein biologischer Computer. Eher stellt das Nervensystem eine Art Stellwerk für lebenspraktische Regelnetze, Gewohnheiten und Rituale sowie Steuerungsprozesse zum Zusammenspiel von Leib und Seele, Individualität und Sozialität dar. Doch dessen Grenzen und Brennpunkte sind enorm verschiebbar und sie können auch besser oder weniger gut funktionieren. Neuerdings stellt sich sogar die Frage, was geschieht, wenn Kinder nicht mehr von Müttern geboren werden und sozial fundierende körperliche Zusammenhänge im Mutterleib nicht mehr „erleben“. In Zukunft macht es die Reproduktionsmedizin möglich, dass Kinder zur Welt kommen, deren Mütter niemals geboren wurden, weil weibliche Eizellen zur Gewinnung embryonaler Stammzellen aus abgetriebenen Embryos gewonnen werden konnten (Kimbrell 1994). Sogar einige zeichentheoretisch-diskursanalytische Arbeiten kommen heute zum Ergebnis, dass der Körper nicht nur als Zeichensystem aufgefasst werden darf, sondern wesentlich an der (schmerzempfindlichen) Erfahrung und Sensibilität des Körpers festgemacht ist. Senso-motorische, emotionale und praktische Faktoren schlagen sich in jeder Form der Kommunikation nieder (Barkhaus 1996: 13). So können Kinder ihren Leib „leise“ oder „laut“ spüren, was sich freilich nur sehr begrenzt ausdrücken lässt. Man kann den menschlichen Körper bis zu einem gewissen Grad durchaus als „Medium sozialer Kommunikation“ betrachten, wenn man auch die materiell-körperlichen Entzugs- und Störungspotenziale berücksichtigt (Dreitzel 1983: 179ff.; 1992). Kinder bewegen sich in ihrem Körper, wenn sie in ihrem sozialen Handeln ihren Standort markieren und sich gegenüber anderen Interaktionspartnern und den Dingen ihrer Umgebung orientieren und inszenieren wollen. Damit finden Kinder in aller Regel – auch im Zeitalter der medial bestimmten virtuellen Realität – eine lebensweltliche Topologie und Architektonik der Handlungsübergänge und ein „Zwischen uns“, eine „Zwischenleiblichkeit“ (Merleau-Ponty), und sogar eine „Zwischenwelt“ (Waldenfels 1999: 175), mit der sie sich aus dem scheinbaren Chaos der momentanen Eindrücke, Informationen, Empfindungen, Optionen entwinden. Der Körper als bewegliches Handlungszentrum macht sich „spontan“ bemerkbar in Durst, Hunger, Krankheit, Sexualität, Erschöpfung, Nervosität oder Ruhe. Oft macht er Kindern auch einen Strich durch die Rechnung und Lebensplanung. Der Körper ist daher weniger ein Speicher momentaner Impressionen, sondern der Alltags- und Lebensgeschichte, deren Spuren manche Kinder sogar in der Form sichtbarer
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Narben tragen. Und das körperliche Erscheinungsbild kann in ganz bestimmten Gesellschaften eine „Empfehlung“ oder eine „Warnung“ bedeuten (Imhof 1983: 51). Im Prozess der Verkörperung (embodiment), in Gestik, Mimik, Expressivität die zur Sprache drängt, aber doch oft in der Sprachlosigkeit hängen bleibt und verharrt, nimmt der menschliche Leib kommunikable Gestalt an. Und diese geschieht zuweilen „aktiv“, zuzeiten aber auch „passiv“ und kann nicht zeitlos und schwankungsfrei als Handlungsfähigkeit konzeptualisiert werden, wie dies nach wie vor ein erheblicher Teil kindheitssoziologischer Arbeiten unterstellt (Prout 2003: 37, 41, 43; Bourdieu 1987: 127; Plessner 1975: 81; Waldenfels 2000: 246ff.). Somit kann der Leib auch soziologisch als prozesshafte „Nahtstelle“ und „Schnittpunkt“ oder „Umschlagstelle“ von Körper und Seele, Subjekt und Objekt, von Individualität und Sozialität, von Innen und Außen betrachtet werden, der eine Kette von Interaktionen voraussetzt und auslöst. Der kindliche Leib ist nicht einfach da. Er stellt sich als Teil gesellschaftlicher Wirklichkeitsherstellung dar. Er erscheint in Prozessen, die seine Präsenz erhärten oder blass werden lassen, betonen oder verschleiern. Seit kurzem wird daher auch in der Kindheitsforschung (Hengst 2003) die Aufmerksamkeit auf Projekte der „Körperarbeit“ gerichtet, die der intensivierten kindlichen Identitätssuche dienen: Essgewohnheiten, Sport, Kosmetik, Körperpflege, medizinische Beobachtung, Umgang mit Krankheiten, chirurgische Eingriffe und körperliche Gewalt. Kindheit erscheint so nicht als fix und fertige Lebensphase, sondern als Zeit, wo gesellschaftliche Akteure zum ersten Mal, auch körperlich, auf Identitätssuche gehen und sich auf den Weg zu eigenständiger leibgebundener Alltagspraxis aufmachen.
9.6 Zwischen Milieubildung und Neukonstitution sozialer Milieus Externalisierte „entbetteten“ Diskurse erzielen nur dann nachhaltige Resonanz, wenn sie die relativ autonome öffentliche Arena der Diskurse zugleich übersteigen und sich an der gesellschaftlichen Lebenspraxis reiben. Dann erwecken sie zumindest den Eindruck gesteigerter praktischer Relevanz und eines beachtenswerten Beitrags für die alltägliche Lebensführung mit ihren realen Möglichkeiten und Grenzen, bleiben nicht „rein akademisch“. Um solche Wirkung entfalten zu können, müssen sie sich sozusagen in soziale Milieus einnisten, in denen sich wechselseitiger sozialer Austausch, Ähnlichkeiten der Anschauungen und Empfindungen, Affinitäten alltäglicher Vorgänge und vertrauter Einflüsse ebenso selbstverständlich abspielen wie reflexartige Distanzierungen und Marginalisierungen (Derrida 1997: 21; Giddens 1995). Die alltägliche Lebensführung wie die Lebensgeschichte von Kindern ist von vorneherein historisch situiert und synchron sozialstrukturell eingebettet. Leitbilder, Normen, formelle Regeln und Sanktionsordnungen dringen nur dann in den Lebensvollzug ein, wenn sie irgendwie als „passend“, sozial akzeptabel oder gar internalisierungswürdig erscheinen. Dann finden sie einen guten Nährboden im „praktischen Wissen“ der Akteure, selbst wenn sie eine schmerzliche Revision der Lebenspraxis zur Folge haben. Soziale Milieus verschränken so sozialmoralische, alltagsästhetische, alltagspraktische und sozialräumliche Strukturaspekte zu einem filternden Erlebnis-, Wissens- und Handlungszusammenhang, der selbst in großer Verwirrung und Interaktionsstress in erheblichem Umfang Ambivalenz und Kontingenz aufsaugt. Sie fungieren selektiv und identifikatorisch, als ordnend, im sponta-
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nen sozialen Vergleich als Normalitätsfolie; gerade angesichts der Tatsache, dass heute auch jede Normalität irgendwie von Problemen infiziert erscheint, und sie schaffen mit ihren Wissenshorizonten so etwas wie eine naturwüchsige kollektive Verbundenheit oder einen „konjunktiven Erfahrungsraum“ (Mannheim) und repräsentieren gerade so die kindliche Lebenswelt in statu nascendi. Handlungsfähigkeit („agency“) von Kindern ist also keine isoliert individuelle, sondern stets schon eine milieugebundene und milieuschaffende Existenzform und Qualität von Kindern als „kompetenten Akteuren“. Ihr Eigen-Sinn, der sich mit formellen Programmen nie umstandslos zufrieden gibt, sondern immer auch nach zusätzlichen Handlungsspielräumen fahndet und – offen oder verdeckt – auch abzuweichen vermag, ist stets schon von Milieukoordinaten durchsetzt. Milieus bilden daher auch einen Resonanz- und Akzeptanzboden bzw. sozialen Raum für die Aneignung institutioneller, administrativer und politischer Systemimperative, von denen sie nicht nur kolonisiert werden, sondern die sie selbst auch idiosynkratisch durchdringen (Grathoff 1989; Matthiesen 1995: 549ff.; Srubar 2003: 159ff.; Berger 1997). Sie schaffen damit intuitiv eine Halt gebende Betroffenheit über habituelle Dispositionen, in denen sie tief „verkörpert“ und „eingebettet“ sind. Und deshalb bleibt selbst die Erfahrung, dass kein Kind heute in seiner herkünftigen Milieubindung aufgeht, auf diese bezogen. Sie lässt Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen und mehr oder minder hellwach empfundene soziale Ungleichheit unter Kindern manchmal fast zwanghaft spürbar werden. Diese Erfahrung sozialer Ungleichheit und milieubedingter Statusdifferenzen und vor allem die Transformation von bloßen Distinktionen in soziale Ungleichheit sind allerdings in den letzten Jahrzehnten zunehmend unübersichtlicher und instabiler geworden. Klare Klassenfronten scheinen hinter einem Flickenteppich von Mikromilieus zu verschwinden. Nicht nur vertikale, sondern auch horizontale soziale Differenzierung macht sich in ihnen bemerkbar. Temporale Schwankungen gewinnen an Gewicht. Hier wird zumeist auf Becks Individualisierungstheorem zurückgegriffen, das von einer Individualisierung der Lebenschancen und Risiken ausgeht. Beck hatte allerdings immer auch darauf verwiesen, dass mit der Individualisierung zugleich auch immer wieder Reintegration und Standardisierung einsetzt (Beck 1986). Radikale Individualisierung ist schon aufgrund zeitlicher, räumlicher, personaler und sachlicher Verhandlungsgrenzen nicht unbeschränkt möglich (Kalupner 2003). Handlungsorientierung setzt kognitive Perspektivierung, im Grunde sogar ein „Weltbild“, moralische Kriterien der Selbstbindung, individuelle Geschmackssicherheit etc. immer schon voraus. Bei aller Fülle der Eindrücke muss Überschaubarkeit und Zugänglichkeit gewahrt werden. Und jeder braucht „Gruppen“ von Menschen, auf die er zurückgreifen zu können glaubt. Ohne sie wirken manche Kinder wie gelähmt. Erst solche milieubezogenen Deutungsschemata erschließen die Handlungsfähigkeit und ermöglichen ein Zusammenspiel allgemeiner Normen, Regeln, Normalitätsstandards und Sozialkompetenzen in der Typik der Alltagswelt (Schütz 1979: 293ff.; Matthiesen 1998: 17ff.). So gesehen ist es mehr als zweifelhaft, ob Individualisierung nur Enttraditionalisierung auslöst und nicht binnen kürzester Frist wieder Habitualisierung und Traditionsneubildung anstößt. Und schon gar nicht kann davon ausgegangen werden, dass sich in einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) soziale Ungleichheit verflüchtigt hätte. Selbst Beck sieht bei aller Zunahme sozialstruktureller Heterogenität in den letzten Jahrzehnten keine Ab-, sondern eine Zunahme sozialer Ungleichheit. Dem und der starken kulturellen Diversifizie-
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rung und teilweise Temporalisierung der Ungleichheitsformation trägt nun das Milieukonzept besser Rechnung als die relativ statischen Klassifikationen der Klassen- und Schichtmodelle. Aktuelle Polarisierungen werden also nicht geleugnet. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch soziale Milieus sozioökonomisch fundiert sind und in jedem Milieu bestimmte soziale Schichten, Berufsgruppen und kindheitskulturelle Stile alltäglicher Lebensführung bzw. Umgang mit der eigenen Biographie vorherrschend sind. Dominierende Meinungsführer und Türsteher prägen auch den Stil, wie materielle Lebensbedingungen und auch Bildungsvoraussetzungen in Anspruch genommen und genutzt werden (Matthiesen 1998: 17ff.; Alheit 1994; Bourdieu 1988). Kinder verlassen sich ganz besonders naiv auf solche kulturellen und sozialen Ressourcen, die nicht mit ihren sozialökologischen Nischen zu verwechseln sind. Entscheidend für deren Relevanz und Konstitution ist nicht die territoriale Organisation oder ihre sozialpolitische Valenz, sondern die Teilhabe und Teilnahme an einem Interaktionszusammenhang (Soeffner 2005: 395). Eigen-Sinn beruht nicht auf psychologisch interessanten persönlichen Eigenarten, sondern ist Ausdruck eingespielter Übergänge, die aufgrund der „federnden Resistenz“ und „schwachen aber zugleich gemeinsamen Kraft“ möglich werden, und die Kinder immer wieder, selbst unter Interaktionsstress, ihre Handlungssicherheit zurückgewinnen lässt. Gekonntes soziales Handeln entspringt nicht einfach einer allgemeinen Sozialkompetenz, sondern einer Fähigkeit, immer erneut zwischen Universellem und Partikulärem, soziologisch gesprochen, zwischen Mikro-, Meso- und Makrostruktur zu changieren. Wie soziale Ungleichheit erlebt wird, hängt also stark von der milieuzentrierten, nonverbalen wie verbalen Selektions- und Exklusionsstruktur ab, in der Kinder aufwachsen. Dabei werden heute natürlich auch die Wissensbestände der vielen informellen und formellen Ratgeber, Gutachter und Türhüter benutzt, die Kindern als „soziales Kapital“ zugespielt werden (Behrens 2000: 101ff.). Selbst unbeschwert lebende und neugierige Kinder halten oft an solchem Wissen fest, wenn es gar nicht mehr „in die Zeit“ passt. Soziale Milieus bilden sich zwischen Familie und Gleichaltrigen, sind aber nicht auf ganz bestimmte Bezugsgruppen einzugrenzen, verschieben sich immer wieder und fransen diffus aus. Daher ist auch keine scharfe Wahl zwischen einem „Herkunftsmilieu“ und einem „Wahlmilieu“ möglich. Einerseits treten hier Kinder immer häufiger mit Großeltern und sogar Urgroßeltern in Kontakt. Andererseits nimmt durch die Häufung elterlicher Scheidungen und Trennungen oder Ortswechsel die Wahrscheinlichkeit zu, dass Kinder ganz neue Milieuzusammenhänge erleben, die weit über die Verkehrskreise traditioneller Familien und traditioneller Kinderfreundschaften hinausreichen. Kennzeichnend ist hier immer auch, dass die Bedingungen der sozialen Lage – meist je nach Bildungsniveau – kulturell ganz unterschiedlich aber typisch rezipiert werden. Und erst dadurch kommen Chancen und Risiken voll zur Geltung. Die Wissensstrukturen des Milieus und nicht die äußeren Lebensbedingungen entscheiden über die Wirkung sozialer Ungleichheit. Soziale Milieus werden zwar durch „objektive“ Lebensbedingungen herausgefordert, angeregt, beeinflusst und begrenzt, aber keinesfalls festgelegt. Daher handelt es sich bei sozialen Milieus nicht in erster Linie um sozialwissenschaftliche Klassifikationen (Hradil 1999: 425), sondern um lebensweltliche Wirklichkeitskonstruktionen der Kinder als Akteure selbst. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit in die Jahre nach 1945 bestimmten zwei mächtige Großmilieus, das der beiden christlichen Konfessionen und das der Arbeiterschaft, die Sozialstruktur und die politische Kultur Deutschlands (Lepsius 1990; Mooser
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1984). Sie sind jedoch längst in Erosion geraten und haben einer buntscheckigen Landschaft von Mikromilieus unterschiedlicher Konsistenz und Haltbarkeit Platz gemacht. Diese ist spätestens seit den 80er Jahren des verflossenen Jahrhunderts von einem neuerlichen Modernisierungsschub erfasst worden (Beck 1986). Bislang noch relativ traditionelle Milieus werden so ebenfalls modernisiert. Hinter diesen Größen- und Strukturveränderungen, nicht zuletzt aufstiegsorientierter und traditionsloser Milieus, stehen weniger die „traditionelle“ Individualisierungstendenz, sondern soziokulturelle Verschiebungen, die sich mit sozioökonomischen Verwerfungen durch globalisierte Finanzmärkte verbünden. Dabei werden nun die scheinbar radikal individualisierten Chancenstrukturen durch neue Polarisierungen überlagert, die nicht nur „Modernisierungsgewinner“ und „Modernisierungsverlierer“, sondern bis weit in die Mitte der Sozialstruktur prekäre Lebensverhältnisse, aber auch soziokulturelle Desorientierungen von „Überflüssigen“ unterscheidbar macht (Offe 1994; Bude 1998: 363ff.). In vielen sozialen Milieus bis weit hinauf in die Mitte schrumpft der Anteil der dauerhaft Gesicherten. Es zeichnet sich keine homogene Unterklasse ab, sondern ein breites und heterogenes Feld von Benachteiligten. Die Zahl der schichtübergreifenden Verflechtungsmilieus nimmt zu. Vertikale und horizontale Ungleichheitsstrukturen werden zwar zeitweilig weniger sichtbar und temporalisieren Ungleichheitserfahrung, üben aber immer wieder massiven Druck aus. Sie lassen jedoch immer mehrere soziokulturelle Aneignungsformen zu und führen daher nicht zu einem homogenen Klassenbewusstsein (Vester 2001: 300, 305). Bei aller Zählebigkeit der Milieus auf den Ebenen der sozialen Lage, den Mentalitäten und der Beziehungspraxis fällt jedoch auf, dass sich langfristig nur solche Milieus zu artikulieren vermögen, die die von Macht- und Funktionseliten bestimmte Öffentlichkeit akzeptiert. Pädagogische, medizinische, therapeutische, kommerziell-ökonomische oder mediale Problembearbeitungen setzen oft so an, als sei ihr „Gegenstand“, den sie doch voraussetzen, nicht längst alltagsweltlich-milieubezogen konstituiert. Auch die Konzeptbildung der Kindheitsforschung und der Diskussion um Kinderrechte oder Kinderpolitik missversteht sich, wenn sie annimmt, ihren Forschungsgegenstand durch ihre Konzepte schaffen zu können (Mierendorf 1998; Honig 1999). Die Konstitution von Kindheit kann von den Sozialwissenschaften nur kritisch rekonstruiert, nicht konstituiert werden. Durch Milieubezüge werden regulierende Strukturen erzeugt, objektiviert „objektiviert gewusst“, die durch demographische Muster und typische Lebensverläufe oder den institutionalisierten Lebenslauf und biographiefähige Lebensplanung vermittelt, Altersnormen und Statuspassagen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher, differenzierter oder undifferenzierter erscheinen lassen. Sie sind konstitutiver Teil des praktischen Wissens. Ohne dieses verschwimmt die sozialstrukturelle Gelegenheitsstruktur zur Schimäre, zur ideologischen Indoktrination oder soziologischen Artefakt. Es geht hier immer auch um eine erste Eingrenzung von Unsicherheit, Kontingenz und Ambivalenz (Beckenbach 1994: 151). Soziale Kommunikation ist nicht immer und überall gleich möglich und Erfolg versprechend. Die „objektive“ Rationalität der Sozialstruktur hat sozusagen ein Gefälle und weist auch horizontale Disparitäten auf, die zuzeiten deutlicher, dann wieder undeutlicher erscheinen. Die höchste Rationalität liegt nicht dann vor, wenn Funktionszuschreibung und Planung gelingt. Es gibt ja auch funktionalen Leerlauf und betriebsblinde Planung. Und auch im Zeitalter der Notwendigkeit des „lebenslangen Lernens“ gibt es privilegierte gesellschaftliche Akteure, die es sich erlauben können, selbst nicht zu lernen, während sie von Anderen lernen fordern. Die milieugestützte Sozialstruktur überschreitet daher funktionale
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Kommunikationssysteme und stellt sich wissenssoziologisch als Struktur dar, die auch eine Kette von Störzonen, tote Winkel des Nichtwissens, Zonen verdünnter Kommunikation und „Kontrolllöcher“ in sich birgt und auch Wissensklüfte begünstigt. Dies bietet für Kinder einerseits Halt und Unabhängigkeit, andererseits aber auch Einschränkungen. Diese Strukturen können sich erweitern oder verengen. Sie markieren die normalen Handlungsspielräume kindlichen Eigen-Sinns (Weymann 2001: 38).
9.7 Die generationale Ordnung als „Zwischensynthese“ Manche Kinder, zum Beispiel solche, die in Kriege hineingezerrt oder in Naturkatastrophen involviert worden sind, erfahren äußerst schmerzhaft, dass die Lebenszeit von historischen Zäsuren scharf durchbrochen werden kann. Generationslinien und Zeitgenossenschaft blitzen dann schlagartig auf. Ein unverwechselbarer Motivationszusammenhang und ein kollektives Gedächtnis treten in Erscheinung. Sie können aber wieder in der Routine des Alltags verblassen. Oft tauchen Generationszusammenhänge heute nur schemenhaft für Momente auf oder erscheinen gar nur als modische Etikettierungen in einem Knäuel möglicher soziokultureller Verweisungszusammenhänge. Auch unter relativ undramatischen Verhältnissen vergleichen Kinder ihr eigenes Leben mit dem ihrer Großeltern, Eltern und mit dem der Gleichaltrigen, um der scheinbaren Beliebigkeit ihrer Existenz zu entgehen, die sich zumal in einer „Multioptionsgesellschaft“ (Gross) in biographischen Entwürfen auszubreiten scheint. Kinder sind dann eher in der Lage, ihre eigene kurze Lebensgeschichte zu verstehen und ihre biographischen Erwartungen zu präzisieren. Im Generationenbegriff wird die rein synchrone bzw. evolutionistische Sicht überschritten und auch mit dem Blick darauf verstanden, dass neue Jahrgangskohorten den Ton angeben und einen neuartigen Zugang zum Überkommenen schaffen. In seiner bahnbrechenden Studie von 1928 hatte Karl Mannheim (1969: 23ff.) zwischen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit unterschieden. Generationslagerungen knüpfen an Geburtskohorten an, sind aber mehr als diese. Es geht nicht um die Gleichzeitigkeit des Geburtsdatums allein. Vielmehr zeigt sich hier eine mögliche Verknüpfung von biographischen und historischen „Zeitschichten“ (Kosseleck). Gleichaltrige besitzen oft nicht nur einen gemeinsamen Blick auf historische Ereignisse von ihrem selben Lebenszeitpunkt aus. Sie durchleben darüber hinaus auch dieselbe Lebensphase und langfristig die gleiche Abfolge von Lebensphasen in jeweils identischen historischen Zeiten. Ein Generationszusammenhang entsteht jedoch erst dann, wenn die Generationsangehörigen diesen Zusammenhang wahrnehmen und – sehr unterschiedlich – darauf reagieren. Er stiftet dann eine gewisse affektive Verbundenheit: „Normalerweise bleibt es bei einem Gefühl ohne weitere Verpflichtung. „Schwingung“, Stimmung und Verschmelzung stellen das einzelne Ich mit seiner kontingenten Biographie in den Horizont des gesteigerten „Wir“ seiner „Generation“ (Bude 2000: 33; Corsten 2001: 478). Auch hierzu reicht allerdings nicht die bloße Jahrgangsstärke und historische Gelegenheitsstruktur, die die demographisch-objektiven Lebensbedingungen von Jahrgängen festlegen. Der Generationszusammenhang stößt dann an einen Konstitutionsprozess voraus, der aus diversen Effekten eine virtuelle Zuschreibung einer gesellschaftlichen Generationseinheit zu schaffen vermag. Erst wenn dieses Gefühl der Partizipation an einem gemeinsamen Empfinden und möglichen vergleichbaren Reaktionen vorliegt, kann der Generationszusammenhang durch
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die bloße Chronologie oder eine vorübergehende Zeitgenossenschaft nicht mehr widerlegt werden. Zur Artikulation der weiter gehenden Generationseinheit führen nicht homogene Vererbungen des Sozialstatus, sondern ein historisches Ereignis, das die kontinuierliche Traditionsübergabe unterbricht und zu gesteigerter, nicht selten politischer Interaktion führt, die die Generationseinheit erst ratifiziert und damit die verschiedenen Generationen in Definitionskämpfe wechselseitig verstrickt. Nicht gleitende Übergänge, sondern sprunghafte Veränderungen kennzeichnen den durchaus spezifisch modernen Sachverhalt politischer Generationseinheiten, wie er uns besonders in der politischen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert vor Augen tritt. Die alltagssprachlichen, oft von Journalisten geprägten Etikettierungen können dann auf Formeln weit verbreiteter öffentlicher Diskurse bezogen werden. Und diese korrespondieren dann unter bestimmten Bedingungen mit sozialstrukturellen Mobilisierungschancen. Allerdings scheint es so zu sein, dass die Menschen vormoderner europäischer Gesellschaften es für normal hielten, wenn das, was wir modern „Generation“ nennen, durch Tradition von Generation zu Generation in einen ewig gültigen Lebenszyklus (im Sinne des Senioritätsprinzips) eingebettet erschien und Kontinuität alles dominierte. Intergenerationales und intrafamiliales Generationenverhältnis verhält sich hier wie Makrokosmos zu Mikrokosmos. Die rein chronologische Bestimmung von Generation im Alltagsdiskurs ist in soweit ein Stereotyp der vormodernen Zeit, das kaum Notiz von den modernen Konstitutionsprozessen nimmt (du Bois 2002: 378). Demgegenüber bleibt ein modernes Generationsverständnis in seiner Spezifik unverstanden, wenn die wachsende Diskontinuitätserfahrung in der monotonen Chronologie nicht zur Kenntnis genommen wird. Kinder erfahren sich vielleicht gerade deswegen nach dem Zweiten Weltkrieg als „Kriegskinder“, „Nachkriegskinder“, „Konsumkinder“, „Krisenkinder“, „Kinder der deutschen Einigung“, „Kinder in den Zeiten der Globalisierung“. Doch wie erfahren sich Kinder, „die keine Kindheit hatten“, als „Generation“? Die Kinder von Opfern und Tätern, Kinder, die als Terroropfer, „Kriegsbeute“ als Kindersoldaten, Kinderprostituierte, Flüchtlinge oder Migranten eine intergenerationale und intragenerationale Orientierung suchen? Hier deutet sich schon an, dass es sich bei der Generation um interaktiv herzustellende und institutionelle Regulierungen handelt, die ganz bestimmte Relationen aktivieren oder brach liegen lassen. Sie sind eng an die laufende Fremd- und Selbstzuschreibung der Biographie angelehnt, in denen Kinder durch Betonen, Vertuschen, Verdrängen, Rechtfertigen und Umschreibungen ihre Lebens- und Alltagsgeschichte organisieren. In den vergangenen Jahrzehnten rückte im Fahrwasser der Modernisierungstheorie auch in der Soziologie das Generationenproblem an den Rand des Forschungsinteresses, obwohl von einer kontinuierlichen Stabübergabe der Generationen seit ca. 200 Jahren immer weniger die Rede sein konnte. Zwar wurden die Effekte der demographischen Entwicklung mit ihrer grundlegenden Umschichtung der Altersstruktur seit Ende des 19. Jahrhunderts überall in Europa lebhaft registriert, aber die symbolischen Aspekte generationaler Beziehungen und ihre Konsequenzen sozusagen als bloßer Zierrat unterbelichtet. Begründet wurde dies damit, dass im Prozess der Modernisierung synchronisierende soziale Systeme oder Institutionen die traditionellen, auf dem Senioritätsprinzip beruhenden Generationenverhältnisse obsolet erscheinen ließen. Durch die Industrialisierung sei der Status des Alters an den Rand des gesellschaftlichen Aufgabenspektrums gerückt und später in eigenen sozi-
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alen Institutionen ausdifferenziert, d. h. aber auch faktisch abgewertet worden (Engelbert 2003: 59ff.). Auf dem Hintergrund neuerer sozialhistorischer Forschungen lässt sich einerseits eine pauschalierende Verklärung des angeblichen Nutzens von Kindern in durchweg stabilen Generationsbeziehungen in der Vormoderne nicht mehr aufrechterhalten (Bühler 2005, 1996; von Kondratowitz 1999: 242) und durch Forschungen konnte schon für die frühe Neuzeit belegt werden, dass nicht moderne, sondern vormoderne Deutungsmuster längst vor dem 19. Jahrhundert die „Einbettung“ der industriellen Produktion leisten (Medick 1984). Das modernisierungstheoretische Institutionenverständnis hat die Generationentiefe der Institutionen und den latenten Wiedereinzug des Senioritätsprinzips in die meisten modernen Institutionen so gut wie vollständig übersehen. „Generationen“ sind in der Moderne nicht umfassend unwichtig geworden. Erst hier wurden sie vielmehr zur konstruktiven Gestaltungsaufgabe, während die vormoderne Generationenkontinuität eigentlich mit der Traditionsübermittlung im Lebenszyklus zusammenfällt. Der moderne Generationenbegriff seit Mannheim kann also nicht mehr davon ausgehen, dass komplette Geburtskohorten automatisch zu Generationen transformiert werden. Es geht hier vielmehr um Typen biographisch-historischer Formationen und selektive Figurationen. Das wird erst in der neueren soziologischen Generationenforschung erkannt (Bude 2000; Kohli 2000; Lüscher 2003). Dabei steht letztlich die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Integration der Gesellschaft aufgrund der demographischen Entwicklung im Hintergrund (Heitmeyer 2005). Auch die Kinderpolitik hat bemerkt, dass kinderfreundliche Politik ohne Sensibilität für die intergenerationale Ambivalenz und Responsivität für Herausforderungen des sich ändernden Generationsverhältnisses nicht getrieben werden kann; schon allein deswegen, weil Kinder und Erwachsene als Akteure in einem intergenerationellem Netzwerk miteinander kooperieren oder streiten und so der Etablierung neuer institutioneller Strukturen erheblichen Widerstand entgegen bringen können. Sind nun Kinder einer Familie nur Kinder dieser Familie und Sozialisationsadressat spezifischer Institutionen oder auch – in welchem Umfang und welcher Form – unser aller Kinder, Kinder der gesamten Gesellschaft? Welche Relationen innerhalb und außerhalb werden aktiviert oder still gestellt? In welcher Weise sind Eltern oder Großeltern nicht nur Fixpunkte in der intrafamilial-genealogischen Generationenverständigung, sondern Modelle, Protagonisten, Provokateure für die generationale Deutung und Disposition der Kinder oder umgekehrt die Kinder für eine mögliche Revision des gesamtgesellschaftlichen Generationenverständnisses der Älteren? Und welche anderen Bezugspersonen, z. B. Kindergärtnerinnen, Lehrer, Ausbilder, Professoren, Vereinsvorstände etc. fädeln sich in das Netz transfamilialer Generationenbildung ein? Wie kommt es, dass Kinder die familiale Generationenbildung als relativ gut, die transfamiliale jedoch durchweg als problematisch ansehen, obwohl doch bekannt ist, dass reale Konflikte vor allem dann aufbrechen, wenn sie durch räumliche Nähe erleichtert werden (Szydlik 2002: 147ff; Zoll 1993)? Vieles spricht indes dafür, dass weniger ein ungebrochener Transfer eines Modells oder ein einzelnes historisches Ereignis, sondern paradoxe Effekte intrafamilialer Interaktion und unbewusste Delegationsbindungen zur Konstitution der eigenen Identität als Mitglied einer bestimmten Generation im gesamtgesellschaftlichen Kontext entscheidend beitragen (Rosenthal 2000: 162ff.; 1997: 57ff.); dies umso mehr als gegenwärtig „gesellschaftsbezogene Kontrastgenerationen“ (Rosenmayr) im Sinne eines vormodernen Senioritätsprinzips nur ganz schwach konturiert sind. Unterfüttert werden solche Erfahrungen durch äußerst
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bedeutungsvolle intergenerationale Netzwerke, die oft eine große Entlastung darstellen, u. U. aber auch zur Belastung führen können. Empirische Studien zeigen, dass sie ein Orientierungs-, Unterstützungs-, Entlastungs-, aber auch ein Belastungs-, Arbeits- und Krisenpotenzial allererster Ordnung darstellen (Szydlik 2000; Lüscher 2003). Bis heute ist allerdings noch ungeklärt, in welchem Umfang und welcher Qualität Kinder Generationsbeziehungen brauchen. Auffallend ist jedoch, dass sich die Beurteilungen von Kindern und Erwachsenen hierzu durchaus unterscheiden (Peukert 1999: 257ff.; LBS 2002). Die Generationszusammenhänge in der Familie sind also sowohl imaginativ wie sozial mit anderen Generationsbeziehungen verknüpft, dürfen aber nicht schematisch extrapoliert werden. Der Begriff „Generation“ zielt also im gesamtgesellschaftlichen Strukturzusammenhang auf ganz andere Sachverhalte als in der Familie. Politische, kulturelle, technische oder ökonomische Grunderfahrungen mit identitätsstiftender Bedeutung können auch familial fokussiert und als Impulse des öffentlichen Raumes verstanden werden, sich in der Familie einzuigeln, dem gesamtgesellschaftlichen Generationszusammenhang auszuweichen oder sich als kollektiver Akteur in Szene zu setzen; sich etwa in Diskussionen beim ideologieträchtigen Thema der „Generationengerechtigkeit“ zu erhitzen. Gleichzeitig handelt es sich hier aber um verschiedene Handlungstypen, die aus der gemeinsamen Betroffenheit unterschiedliche Konsequenzen zu ziehen vermögen. Die offene oder verdeckte Konkurrenz der Generationen wird auch heute oft tabuisiert und eine Enttabuisierung ihrer Ambivalenz würde die Gegensätze bei der Wissensproduktion und -verteilung wohl nicht entschärfen. Daher wird meist auch dann ein Verhältnis gesucht, das für beide Seiten erträglich erscheint, auch wenn dabei Vieles ausgeklammert wird (Giddens 1995: 48, 143). Das hindert Kinder indes nicht zu versuchen, die Konstellation zwischen biographischen und historischen Abläufen stärker zu plausibilisieren und ihre generationimprägnierte Alltags- und Lebensgeschichte ständig umzuschreiben: „In unserer Generation ist es auf jeden Fall so, dass der Prozess des Erwachsenwerdens dauert. Wahrscheinlich dauert er das ganze Leben.“ (Corsten 2001: 509). Daher gibt es nicht einfach eine „generationale Ordnung“ (Alanen, Honig), hingegen ein ständiges In-Ordnung-Bringen typischer familialer und transfamilialer Generationenverhältnisse.
9.8 Partizipative Identitäten in sozialen Institutionen Der heutige Alltag wäre ohne institutionelle Sicherung und Flankierung höchst labil und wohl auch unterkomplex. Besonders die Institutionen des Arbeitsmarkts, Berufs und der indirekten und direkten Berufsvorbereitung markieren immer noch Grenzen der Alltagsorganisation, die im Übrigen aber optional geworden zu sein scheint. Schon in vormodernen Gesellschaften versuchten bildliche, schriftliche und verbale Darstellungen eine dauerhafte Präsenz der Themen, handelnden Akteure und Praktiken, mithin repräsentativer gesellschaftlicher Wirklichkeit, aufzuweisen. Repräsentativität wird von den Menschen nicht danach beurteilt, wie oft und wie lange eine bestimmte Darstellungsform benutzt, wiederholt oder zitiert wird, sondern vor allem, ob sich damit ein „objektiver“, institutioneller Sinn verbinden, plausibilisieren oder legitimieren lässt (Berger 1971: 84ff.). Institutionelle Programme stellen sozusagen „repräsentative Zitate“ eines Felds von Wissensordnungen verschiedener Reichweite und Art dar. Inhaltlich bedeutet dies, dass ein ganzer funktionaler Bereich auf Dauer gestellt und reguliert wird.
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In diesem Sinn wurde auch die moderne Kindheit als Schonraum des Lernens institutionalisiert und als spezifische Lebensphase des modernen Lebenslaufs programmatisch ausgewiesen. Zuständig für die speziellen Statuspassagen und Zuschreibung „partizipativer Identitäten“ sind seit über 200 Jahren die moderne Kleinfamilie und die öffentliche Schule. Sie sollen gesellschaftliche Integration und Inklusion verbürgen. Seit einigen Jahrzehnten werden sie durch andere Institutionen ergänzt. Es ist daher nicht mehr möglich, Kindheit vorinstitutionell als „Naturtatsache“ anzusehen, nachdem eine so lange institutionelle Wirkungsgeschichte Kindheit durchdrungen hat. Auch wo man diese „soziale Tatsache“ kritisiert, kann man sie nicht einfach hintergehen. Ohne solches Wissen wird Kindheit zur semantischen Leerformel, die die beliebigsten Interpretationen oder eine kaum weniger nichtssagende biologisch-soziologische „Stockwerksdefinition“ zulässt. Erst durch eine Wissenskonstruktion wird aus der subjektiven Wahrnehmung einer soziokulturellen Unterscheidung ein „objektiver“ Handlungsadressat, der sich objektiv durch eine „auferlegte Relevanz“ erfahren kann (Schütz 1971; Flick 2000: 15). Doch Institutionen sind keine zeitlosen Substanzen, sondern Ergebnisse von Objektivierungen, Habitualisierungen, Institutionalisierungen, die auf Zeit Regulierungsverfahren stabilisieren und standardisieren. Und sie sind aus Interaktionen hervorgegangen und bleiben von ihnen abhängig; verkümmern ohne interaktives Engagement. Dadurch bleibt auch die objektiv „gehärtete“, institutionelle Wirklichkeit mit einer gewissen Ambivalenz umgeben und ist vor Deinstitutionalisierungsprozessen nicht grundsätzlich geschützt. Gesellschaftliche Wirklichkeit kann nie unvermittelt erfahren werden und stammt zu einem erheblichen Teil aus zweiter Hand. Deshalb lassen sich realistische Deutungen aber auch immer wieder durch subversive Lesarten und mikropolitische Versionen in Frage stellen, die Vorannahmen nachweisen können. Stellt sich gar eine grundsätzliche „Krise der Repräsentation“ ein, so helfen nicht einmal Sanktionsverschärfungen, vielmehr muss eine Neubestimmung des Verhältnisses von Repräsentant und Repräsentiertem, von Beobachter, Interpretation und Repräsentationsform erfolgen, die auch die „partizipative Identität“ und Inklusion in der jeweiligen Institution berührt (Soeffner 2002: 17ff.; Willems 1999: 9ff., 15). Der Übergang von der bloßen Gewohnheitsbildung und Habitualisierung zur expliziten Institutionsformation wird in der Moderne immer mehr durch abstrakte Wissens- und Rechtsprinzipien bestimmt. Sie begründen ein ganz bestimmtes Verhältnis von symbolischer Darstellung in einem standardisierten Funktionsbereich, einer legitimen Vertretung und Delegation. Nicht mehr das Senioritätsprinzip in homogenen und quasi naturwüchsigen Generationslagerungen, sondern das Leistungs- und Qualifikationsprinzip wird maßgeblich. Es scheint freilich bislang nicht unstatthaft, dies Kindern vorzuenthalten, wenn sie sich kundig machen und entsprechendes Wissen und Qualifikation nachweisen; denn diese Chance steht ihnen ja später als Erwachsenen zu. Kinder ernst zu nehmen bedeutet auch heute zumeist nur, sie als Junior-Partner ernst zu nehmen. Und es kann auch sein, dass die partizipative Identität minimiert wird, indem Stellvertretung in kaum kaschierte Selbstvertretung der Erwachsenen umkippt. Unter bestimmten Bedingungen kann aber auch selbst aus einer Repräsentationskrise eine neue Offenheit und neue wechselseitige Zugänglichkeit durch kreative Responsivität entstehen (Waldenfels 1998: 44, 90f.; Vetter 2002: 114ff.; Herzog 1998: 298ff.). Institutionen können auf Loyalität und innere Zustimmung nur hoffen, wenn sie sich nicht als Unterwerfungspakt repräsentieren. Vielmehr muss der institutionelle Regulierungsprozess der Darstellung von Funktionen und Rollen etc. und Stellvertretung „sach-
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lich“ einleuchten und überzeugen. Genau dieser Problemzusammenhang wäre kindheitssoziologisch künftig genauer auszuleuchten und zu erforschen. Moderne Institutionen dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern stehen im Spannungsfeld der gesamten Institutionenordnung und im Horizont einer bestimmten politischen Kultur. Einerseits werden in der modernen Gesellschaft allen gesellschaftlichen Vollmitgliedern gleiche Rechte, Inklusion in alle zentralen Institutionen und Partizipationschancen versprochen. Andererseits mit der Alltagspraxis wird Inklusion schon aufgrund wachsender Konflikte tendenziell partieller und Partizipation imaginärer und fragmentierter. Auch ihre Vereinbarkeit wird zum Problem. Dem „Privatmenschen“ ist oft nicht bewusst, dass er in seiner Institutionenvergessenheit in der Gefahr steht, in gesellschaftlichen Prozessen auf eine konsumorientierte Nischenexistenz reduziert zu werden, sich gleichsam mit einem „sozialen Zoo“ zufrieden geben zu müssen. Eine „innere Kündigung“ ist dann oft eine spontane Reaktion. Die entscheidenden Kriterien setzen und verhandeln heute weder die Generationen, noch die sozialen Milieus oder Gruppen. Seit Jahrhunderten gewinnen hier professionelle Experten, Juristen, Politiker, Ökonomen, Wissenschaftler, Experten der Sozialadministration etc. immer mehr Einfluss. Die juristische Rationalität bezieht sich auf den Rechtsstaat, die Funktionslogik der Politik auf die (soziale) Demokratie, die ökonomische Vernunft auf das System der Märkte, die Wahrheit der Wissenschaft liegt in (noch) nicht falsifizierten Forschungsbefunden. Doch die Globalisierung in Form internationaler Finanzmärkte bringt diese säuberliche funktionale Gewinneinteilung der Nationalgesellschaften durcheinander. Aber auch so wird erkennbar, dass Institutionen nicht wie technische Apparate oder Kommunikationsmaschinen funktionieren, sondern partizipative Identitäten voraussetzen (Willems 1999). Zwar greifen hier die Organisationsprozesse wie Kettenglieder ineinander. Doch die teils beratenden, teils unterstützenden, teils fordernden, teils selektiven Aktivitäten sind an die Steuerung durch Gate-Keeping-Mechanismen gekoppelt, zumal prägnante Normen entweder fehlen, in Konkurrenz stehen oder umgestaltet werden können (Behrens 2000: 101f.). Genau genommen können Institutionen oder Organisationen keiner Identitätsdiffusion Einhalt gebieten. Sie setzen im Gegenteil bereits belastbare Funktionsträger voraus, können jedoch Identitätsprobleme zeitweilig ausklammern und teilsystemische partizipative Identitäten anbieten, die Anschlussfähigkeit garantieren und Biographiearbeit strukturieren. Handlungen haben in der Moderne eine mehrfache Bedeutung, je nachdem, in welchem Handlungsbereich sie auftauchen. Personen können ihre Biographie entwerfen, indem sie die partizipativen Identitäten nachträglich abstimmen. Partizipative Identität bedeutet institutionsspezifische Inklusion. Alle Inklusionen zusammen ergeben das Fundament gesellschaftlicher Integration. Das Kind ist nicht nur Familien- oder Schulkind. Es ist auch Kindergarten-, Musikschulen-, Kirchengemeinde-, Vereinskind, Kind im Gesundheits- oder Therapiesystem etc. – in je partiellem Engagement. In keinem dieser Systeme geht es (als Rollenträger) auf, erfährt jedoch einen bezeichnenden „Realitätsakzent“ durch jede einzelne Inklusion. Die Differenzen zwischen jedem einzelnen Kind und der Institution bestehen weiter fort, werden aber auf Zeit durch Identifikation ausgeklammert. Sie stellen Stabilisierungsfaktoren dar, schaffen aber auch neue Probleme der Verträglichkeit und Konsistenz, setzen auch einen Spielraum voraus, indem partizipative Identitäten angeeignet und biographiefähig gemacht werden können. Institutionen neigen auch dazu, auf Rollenkonzepten zu beharren, auch da, wo Rollendiffusion eingetreten ist und die Voraussetzungen für Verän-
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derungen gegeben sind (Mitterauer 1989: 190f.). Und sie neigen auch zu expansiven Ansprüchen. Die integrative Einheit der kindlichen Akteure ist paradoxerweise nur durch politische Kontrollsteigerung gegenüber den sich verselbständigenden Funktionsbereichen und die Bändigung der marktradikalen ökonomischen Interessen denkbar. Und je abstrakter und funktionaler die Mitgliedschaften werden, umso stärker wächst gerade bei Kindern der Wunsch nach neuer „großer Gemeinsamkeit“ oder wenigstens neuen „Ich-Wir-Balancen“, (Willems 1999: 15, 17f.). Durch die funktional-institutionelle Ausdifferenzierung erfuhren Kinder zunächst nur eine expansive Pädagogisierung. Diese orientiert sich immer weniger an der eigenen Kindheitserfahrung der Eltern und öffnet sich immer weiter dem Modell professioneller Erziehung und geplanter und sozialpolitisch unterfütterter Sozialisation. Sie bietet den Eltern zweifellos Entlastung an. Dadurch wird aber auch Entfamilialisierung vorangetrieben. Die Vielfalt pädagogischer Konzepte fördert die wachsende Orientierung am einzelnen Kind. Dieses „einzelne“ Kind wird jedoch professionell „katalogisiert“. Bei den Eltern und gelegentlich auch bei Kindern trägt dies zu einer Verunsicherung bei. Die neuerliche Relativierung der modernen Pädagogisierung durch Medien, Konsummarkt, Sozialpolitik und Kindheitsforschung ist streng genommen keine weitere funktionale Ausdifferenzierung, wie dies meist interpretiert wird. Es handelt sich eher um eine Hybridbildung und multifunktionale Entdifferenzierung mit starken extrafunktionalen Beimischungen. Kinder sind nicht nur einzelne und verschiedene Kinder. Die Betonung institutioneller Gemeinsamkeiten dokumentiert sich auch im Verhalten der Kinder selbst. Sie treffen, spiegeln, streiten und verständigen sich ja im Kindergarten, in der Schule und in öffentlicher, kommerzieller, selbst organisierter Freizeit, gewinnen damit viele Möglichkeiten des sozialen Vergleichs in der Verwandtschaft, den Verkehrkreisen der Eltern, der Nachbarschaft, dem öffentlichen Spielplatz, in Gleichaltrigenkontakten auf dem Schulweg, in der Schule, der Freizeit. Selektive partizipative Identitäten können dabei bestätigt, neu aufgeladen oder abgebaut werden. Aber eine dauerhafte und stabile Identitätsbalance zwischen sozialer und personaler Identität im Sinne Meads bleibt ihnen vielfach versperrt. Hier macht sich allerdings häufig die Milieubindung der Kinder als „Schutzfaktor“ bemerkbar. Trotzdem ist ersichtlich, dass Kinder immer stärker von Beratung, Expertise, Unterstützung und Folgenabschätzung zahlreicher informeller und formeller „Türhüter“ abhängig werden (Behrens 2000: 101ff.). Die „moderne institutionelle Selbstthematisierung“ durch partizipative Identitäten und entsprechende soziale Karrieren ist daher weder als Emanzipation noch einschränkungslos als Inklusion einzuschätzen. Sie setzt vielmehr Normalisierungsschübe begrenzter Reichweite frei. Dadurch werden unausweichlich auch neue Abhängigkeiten und Desorientierung gesetzt. Es wächst auch bei manchen Kindern „die Empfindung der absoluten Einsamkeit“ (Willems 1999: 17ff.; Herzberg 2001). Sozialisation wird dadurch multipliziert und zugleich fragmentiert. Der Ausgleich zwischen individuellen Interessen und sozialen Verpflichtungen wird zunehmend prekärer, ist weder strukturell noch durch Akteure dauerhaft zu sichern (Jäckel 1999: 211ff.). Kinder sind kaum noch in der Lage, zwischen Partizipation und Nichtpartizipation und Option und Scheinoption mit hinreichender Klarheit und rechtzeitig zu unterscheiden.
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9.9 Kinder zwischen organisatorischer Formalisierung und lebensweltlicher Informalisierung Am vorläufigen Ende eines Jahrhunderte alten Zivilisierungsprozesses der Subjekte in Europa macht sich nach Elias (1977; Wouters 1999) im 20. Jahrhundert eine mächtige Informalisierungstendenz breit. Sie führt schon deshalb nicht zu einem völlig entspannten subjektiven Verhalten, weil sie die Nebenfolge einer rigiden gesellschaftlichen und staatlichen Disziplinierung darstellt, die sich allerdings listig immer stärker einer „Selbstsozialisation“ bedient. Man kann nun durchaus kritisieren, dass Elias die eher wellenförmigen Informalisierungsschübe oft zu linear beschreibt, ohne das Phänomen selbst zu negieren. Freilich erscheint es ratsam, von einer dialektischen Gleichzeitigkeit wachsender Formalisierung durch Organisation und Informalisierung auszugehen. Institutionalisierung der Kindheit drängt zu ihrer Organisation. Diese ist durchaus aber nicht unvermittelt ableitbar. Gewagt erscheint es, aus der wachsenden Institutionalisierung eine Kausalität organisatorischer Selbstoptimierung zu deduzieren. Institutionen werfen nämlich in mehrfacher Hinsicht die Frage nach Trägern, Handlungsfähigkeit („agency“), Handlungsstrategien und Kontextsensitivität oder Entwicklungspfaden auf. Es geht hier um die auffällige Tatsache, dass institutionelle Strukturen unter konkreten personellen, sozialen, zeitlichen, räumlichen und sachlichen Rücksichten für Manche Vieles ermöglichen und für Viele Vieles einschränken (Türk 1997: 153). Organisationen besitzen so eine ganz eigentümliche, „emergente“ Selektivität und sind in bestimmter Hinsicht überdeterminiert. Institutionen verorten das soziale Phänomen der Kindheit in den als legitim betrachteten Kinderinstitutionen, weisen ihm dadurch einen funktionalen Aspekt von der historischen Sozialstruktur her und im Spannungsfeld des umfassenden Institutionensystems zu. Organisationen koordinieren darüber hinaus eine Vielzahl von Verträgen, rechtlichen Bestimmungen, Produktions-, Verteilungs-, Reproduktions-, Qualifikations-, Sozialisations-, Kontrollbemühungen unter jeweils konkreten Kontextbedingungen. Institutionalisierung der modernen Kindheit bedeutet bis tief ins 20. Jahrhundert hinein expansive Pädagogisierung; ferner auch Medikalisierung, Therapeutisierung, Mediatisierung und Politisierung. Diese Prozesse implizierten – oft undurchschaut – nicht nur funktionale Ausdifferenzierung, sondern auch wachsende Formalisierung und Zuweisung zur formalen Organisation mit ihrer organisatorischen Eigendynamik, die nicht auf die Interaktions- oder Gruppendynamik reduziert werden kann. Spontane Interaktion wird in Organisationen zwar keineswegs gänzlich verhindert, muss aber ausweichen in informelle Handlungszusammenhänge, deren Verhältnis zur formellen Ebene prekär bleibt. Sie haben eher Nischencharakter in einer „Hinterbühne“, die immer in einer gewissen Diskrepanz zur formellen „Vorderbühne“ verharrt. Diese macht sich gewöhnlich noch rigider in nichtpädagogischen Organisationen bemerkbar, mit denen etwa behinderte oder langfristig kranke Kinder in großem Ausmaß zu tun haben. Organisationen nehmen somit Kinder auf spezifische Weise in Beschlag. Sie verweisen sie strikt auf soziale Zeiten, soziale Räume und organisierbare Ressourcen, Sach- und Mittelarrangements und organisatorische Verfahren und Prozeduren, operationalisieren somit institutionelle Programme. Was Kinder hier wissen können, ist im Wesentlichen von den Stäben und Kadern der Organisation vorgegeben. Von Stunde zu Stunde gibt es ziemlich präzise Aufgaben und Qualifikationsanforderungen oder rechtlich-administrative Vorschriften, die erledigt werden müssen, selbst wenn unter mehreren Optionen ausgewählt
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werden kann. Nichtwissen schützt hier nicht vor „Strafe“ oder sanktionierenden Konsequenzen; ganz im Gegensatz zu informellen Interaktionen zuhause oder unter Gleichaltrigen, wo es ja keinen festen Stundenplan und kein formales Statut gibt. Wie kommt es aber, dass das Individuum in seinem alltäglichen Wirkungskreis immer mehr Optionen vorfindet, aber dennoch immer öfter in organisierte Abläufe gerät (Neuberger 1997: 506, 514)? Individualisierung wird von immer neuen Standardisierungen eingeholt, die allererst verlässliche individuelle Nutzung ermöglichen. Die „große Freiheit“ schrumpft somit zum immer öfter kommerziell bedingten, gar nicht riesigen Optionsspielraum, den organisierte Interessen zulassen. Dieser setzt immer häufigere und intensivierte Klassifikationen und Vergleiche voraus. Diese Auswirkungen einer „Organisationsgesellschaft“, die sie oft nicht richtig verstehen, treffen Kinder freilich in vollem Umfang erst im 20. Jahrhundert. Die moderne Gesellschaft kann insofern auch als „Organisationsgesellschaft“ verstanden werden, weil sie immer stärker durch ein breites Band formaler Organisationen eingesäumt ist (Ortmann 1997: 458), von dem alle Akteure abhängig bleiben. Eine Organisation, die Erfolg haben will, kann aber nicht darauf verzichten, die Zahl ihrer „Trittbrettfahrer“ klein zu halten und ist insofern immer auch auf interaktives, auch generationsabhängiges Engagement angewiesen. Sie darf daher nicht als völlig abstraktes Gebilde aufgefasst werden. Die Art und Weise, wie mit ganz bestimmten Organisationsproblemen umgegangen wird, unterliegt einer historischen Wissenspraxis, mit der diese immer neuen Lösungen oder Regulierungen zugeführt werden können. Die institutionellen Normen sind nur eine „Variable“ und müssen überdies noch in strategischen und operationalen Verfahren umgesetzt werden. Manchmal werden diese empirisch erst im Nachhinein anerkannt oder abgelehnt also rationalisiert. Organisatorische Prozesse sind keine Gleichgewichtsprozesse, wie in früheren Organisationstheorien angenommen wurde, sondern Prozesse, die grundsätzlich mit Ungleichgewichten der verschiedenen relevanten Faktoren zu rechnen haben (Kappelhoff 1997: 232). Analytisch gesehen implizieren sie auch stets Übergänge vom Bereich der Makro- zu Mikrostrukturen, setzen immer auch eine „Mikrofundierung“, voraus. Keineswegs entspringen sie einem puren Effizienzstreben oder ungebrochener Professionalisierung. Sie verweisen auf „Gewinn“, wo sie leicht auch hätten „Verlierer“ sein können (Ortmann 1997: 338). Fast zwangsläufig müssen sie aber den Eindruck erwecken, sie entsprängen reiner Effizienz, und organisatorische Verfahren würden nur Vorteile bieten, ja ohne sie bräche das reine Chaos und durchgängige „Ineffizienz“ aus (Neuberger 1997: 501f., 509). Sosehr sich Eltern und Lehrer auch bemühen mögen, Kinder individuell zu fördern, so setzen sie heute – oft durch die Ratgeberliteratur ermuntert – bei diesem Bemühen doch ständig professionelle Standards voraus, die eine Professionalisierung der Elternrolle und eine Klientelisierung der klassisch modernen Kinderrolle nahe legen (du Bois 1998: 100ff.; Büchner 2002: 488). Dennoch stößt auch eine solche organisationsabhängige Professionalisierungstendenz Vorgänge subjektiver Sinngebung an; schon allein, um Erwachsene oder Kinder entsprechend motivieren und mobilisieren zu können. Schließlich wollen gesellschaftliche Akteure Organisationsprozesse verstehen und sich ihnen verständlich machen. Dabei fließen immer auch wichtige informelle Informationen und symbolische Verweisungszusammenhänge „zwischen den Zeilen“ ein. In der Schule zeigt sich dies etwa darin, dass die informellen Abläufe während des Unterrichts und noch mehr in den Pausen und auf dem Schulweg u.U. größere Bedeutung erlangen als das offizielle Unterrichtsgesche-
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hen. Außerdem werden ständig die tatsächliche Interaktionsdynamik und die faktischen Autoritätsverhältnisse „abgetastet“. Die heutige Schulorganisation sieht sich daher veranlasst, auf diese Motivationslage zu achten und nicht mehr rein bürokratisch vorzugehen. Sie muss flexibel reagieren und sich immer auch auf spezifische Interaktionserfahrungen und lebensweltliches Hintergrundwissen stützen können (Ortmann 1997: 488). Dabei bekommen Organisationen jedoch heute immer mehr Aufgaben und Verhaltensweisen aufgebürdet, die sie chronisch überfordern. Dennoch müssen sie den Eindruck aufrechterhalten, ihre Arbeit sei für alle vorteilhaft und im Grunde alternativlos. Organisationen unterbinden auch Obstruktion, indem sie ihren Mitgliedern weitgehende Mitwirkung (nicht immer wirkliche Partizipation) anbieten und Akteure in ihre „corporate identity“ einbinden: Kinder dürfen „mitmachen“. Erstaunlicherweise werden Rituale hier keineswegs marginal. Neben taktischstrategischen Überlegungen „von oben“ resultiert dies daraus, dass gerade Kinder angesichts wachsender Anonymität in Großorganisationen ein gesteigertes Verlangen nach „persönlichen Beziehungen“ und „Wir-Gefühl“ entwickeln. Daher müssen speziell Organisationen oder Organisationsabteilungen, die sich für Kinder öffnen, also nicht nur Kindertagesstätten, Kinderhort, Kindergarten, Schule, Kinderklinik, um eine Verschränkung formeller und informeller Prozesse, von individuellen, sozialen Motiven und institutionellen Imperativen bemühen (Neuberger 1997: 502f.; Ortmann 1997: 333, 345). Und so zeigt sich nicht nur, dass es in formalen Organisationen immer auch ein beträchtliches Maß an Informalität gibt, sondern dass Organisationen auch viel kontingenzhaltiger ablaufen, als dies ihre rationalistischen Effizienzmythen wahrhaben wollen. Der grundlegende Mangel des klassischen Modells bürokratischer Organisationen besteht darin, dass Struktur und Funktion allzu zweckrational und intentional, ziel- und inhaltsbezogen gesehen wurden, Funktionsdifferenzierung, Rationalität und Individualisierung zu einseitig als evolutionäres Resultat und nicht als Frucht von Kämpfen, Widersprüchen und reflexiven Reaktionen begriffen werden. Auch finden sich in allen Organisationen zugleich hierarchische und horizontale sowie marktähnliche Elemente (Kappelhof 1997: 241ff.; Etzioni 1969). Einmal werden davon alle, eine Mehrheit der Organisationsmitglieder und Publika, oder nur eine Minderheit davon profitieren. Auch die Beziehung zwischen organisatorischem „Normsender“ und „Normadressat“ ist keine strukturstabile Relation und Rollenbeziehung, sondern führt immer wieder durch eine „Zone der Unsicherheit“ bei verschiedenen Organisationsfraktionen oder Publika und lässt daher mehr als eine Entwicklungsvariante aufblitzen. Die stets eingeschränkte Effizienz und Rationalität ist daher auch ein Resultat vieler verschiedener und nicht selten widersprüchlicher informell-formeller Machtkonstellationen. Und sie kann auch zur (unbeabsichtigten) Machtverschiebung führen. Vieles ist daher z.B. in Schulorganisationen faktisch nicht möglich, was institutionell auf dem Programm und „Papier“ steht. Die Art wie ein soziales Phänomen wie Kindheit organisiert ist, unterliegt selbst einer sich ständig verschiebenden Wissenspraxis und nicht einfach einem rechtsförmigen „Organigramm“. Wissenspraktiken, institutionelle Setzungen, typische organisatorische Implementationsmuster, Routinen und medial erzeugte „Sachzwänge“ sind keineswegs nur Beiwerk einer „Organisationsidee“, sondern haben ein eigenes Gewicht. Die Durchsetzung formeller Normen setzt bereits informelle Organisationserfahrungen voraus, auf denen aufgebaut werden kann. Die von vielen Faktoren abhängige Effizienz ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung organisatorischer Selbstbehauptung. Die hier verlangte
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Selbstkontrolle und Selbstorganisation setzt eine Balance zwischen formeller und informeller Ebene voraus, die Motivation und Mobilisierung zulässt. Sie setzt auch grundlegendes Vertrauen voraus (Hartmann 2001), dass die Vielzahl organisatorischer Teilinklusionen tragfähig und harmonisierbar sind. Vertrauen wird so zugleich notwendiger und schwieriger (Türk 1997: 165ff.), weil hier immer auch mikropolitischer Fraktionskämpfe zu erwarten sind. Organisationsprozesse, wie sie von Kindern heute etwa in Schulen erlebt werden, überschreiten nicht nur die Ebene der einzelnen Abteilung. In vielen Fällen überschreiten sie sogar die gesamte Einzelorganisation. Damit zeichnen sich verschiedene Kooperationsund Konfliktallianzen ab. Weltweit machen sich, nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, interorganisatorische Verflechtungen und Fusionen bemerkbar. Diese Beziehungen erlauben einerseits einen raschen Informationsaustausch, bringen aber auch neue Abhängigkeiten und undurchschaubare Kontrollen ins Spiel (Ortmann 1997: 351); ein seltsames Gemisch von Kooperation und Wettbewerb. Effizienzvorstellungen und Situationsbewältigung lassen sich hier nur bedingt auf einen Nenner bringen. Damit wird der Spielraum der Kinder, etwa im Bereich des Konsums, zwar erweitert, aber ihr soziales Handeln zugleich oft einseitig kanalisiert sowie einer Entfamiliarisierung Vorschub geleistet. Was Kinder als „aktive Konsumenten“ an Familienzeit erfahren, ist genau genommen – trotz ihrer zeitlichen Ausdehnung – eine Art „Restkategorie“. In jeder heutigen Gesellschaft sind unterschiedliche Organisationen und Behörden für die Umsetzung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen zuständig und verantwortlich. Da die Fähigkeit der Eltern, solche Ressourcen für die Gestaltung eines anregenden Familienlebens zu nutzen, neben dem Bildungsstand vom zunehmend global werdenden Markt abhängt, wirkt sich dieser auch über die berufliche Arbeitsplatzsituation der Eltern auf die Kinder aus. Die zunehmende Einbindung beider Eltern schafft zunächst das Problem der Betreuung, sei es durch Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen und außerschulische Nachmittagsbetreuung. Dann aber werden damit auch die innerfamiliale Arbeitsteilung und die Art der Haushaltsführung neu zum Problem. Auf diesem Hintergrund werden verschiedene Mischungen öffentlich-privater, „pluraler Wohfahrtsproduktion“ diskutiert, mit denen die heutige Gesellschaft aber noch wenig konkrete Erfahrungen besitzt (Engelbert 2003; Qvortrup 2003: 105f.). Einfluss auf die Mitgestaltung von Organisationen könnten Kinder nur erwerben, wenn sie eine spezifische Organisations- und Konfliktfähigkeit (auch als Bevölkerungsgruppe in der generationalen Ordnung) erwerben könnten. Die Förderung innerorganisatorischer Inklusion wird aber meist an die formale Mehrheitsfähigkeit gebunden. Diese wird aber überhaupt nur erlangt, wenn Interessen von einer mächtigen Problemgruppe dauerhaft vertreten werden und das entsprechende Problem als abgeschlossen gilt. Nur hochaggregierte Interessen haben in einer „pluralistischen Demokratie“ Erfolgschancen. Zwar sind die Stimmen, die sich in den letzten Jahren für Kinder einsetzen, lauter und zahlreicher geworden. Es ist aber nicht recht erkennbar, dass kindliche Interessen zentrale gesellschaftliche Bedeutung erlangt hätten. Im Gegenteil: rein ökonomische und politische Organisationskomplexe bewirken bis heute eine dauerhafte Marginalisierung von Kindern angeblich im eigenen Interesse. Und ganz abwegig erscheint die Hoffnung, aus Organisationen ein selbstorganisiertes „zweites Zuhause“ (Böhnisch 1995; Hochschild 2002) oder eine „Lebenswelt“ machen zu können. Intelligente Kinder misstrauen manchmal von Grund auf der Selbstpropaganda „kundenorientierter“ Organisationen, die stets vorgeben, besser als die Kinder selbst zu wissen, was diese „in Wahrheit“ wollen.
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9.10 Kooperation und Konkurrenz: Gruppen- und Intergruppenbeziehungen in Familie und Peer-Group Menschen haben – aus großer Distanz betrachtet – einige grundlegende Aufgaben. Sie müssen sich ernähren, dem schlechten Wetter trotzen oder sich vor der Sonne schützen. Und irgendwie müssen sie miteinander und mit ihren „Nachbarn“ der Generation auskommen. Dafür bilden sie Gruppen, die sich von ihrer Umwelt abgrenzen und sich im Binnenbereich durch ein Sympathie-System eines „Wir-Gefühls“ versichern, durch ein Sachsystem Aufgaben und Arbeit verteilen und in einem Machtsystem über die Notwendigkeit von Konsens, Kooperation, Konkurrenz, Hegemonie, Führung/Gefolgschaft oder egalitäres Verhandeln befinden. Gruppenprozesse spielen sich dabei immer in einem Geflecht von Intergruppenprozessen ab. Gruppenbildung ist universal. Ihre speziellen historischen Voraussetzungen in modernen Gesellschaften dürfen aber nicht übersehen werden. Selbst traditionelle und stark institutionalisierte Gruppen müssen ihr „Innen“ und „Außen“, oft mühsam, abstimmen. Sie erscheinen oft als Option unter anderen Optionen. Subjektiver Sinn erwächst erst in Auseinandersetzung mit objektivem Sinn, der sich in Habitualisierungen und Institutionalisierungen abzeichnet. Gruppenidentität besitzt demnach eine relationale und temporale Qualität und muss immer wieder in Ordnung gebracht werden. Für jede Gruppenbildung ist aber ein eigener Sprung aus bloßer Serienbildung sozialen Handelns erforderlich (Eßbach 1996: 140). Kinder erfahren Gruppen als Hort der Unterstützung und nicht selten zugleich als Ort ausgeprägter Sozialkontrolle. Gruppenbildung wird zunächst durch die Bevölkerungs-, Generations- und Institutionsentwicklung erleichtert oder erschwert. Manche Erwachsene in bestimmten Stadtquartieren verfügen kaum noch über direkte Erfahrung mit Kindern, kennen Kindheit nur aus der eigenen Kindheit oder medialen Stereotypisierung. Entsprechend abstrakt und wenig zeitgenössisch sind daher ihre Kindheitsvorstellungen. In anderen Wohngebieten und sozialen Milieus hingegen finden sich durchaus noch traditionelle Verhältnisse. Und für die Kinder selbst, bilden sich entsprechend unterschiedliche Lebensbedingungen, soziale Ressourcen und Gelegenheitsstrukturen im Umkreis von Kindergarten, Schule, Nachbarschaft, Wohnquartier, Medien- und Konsumerfahrungen, aber auch schon ansatzweise der Transnationalisierung bestimmter Teilbereiche der Gesellschaft: Viele Soziologen gehen auch heute noch davon aus, dass Kinder spätestens durch den Kindergarten oder die Grundschule aus dem warmen Schoß der Primärgruppen, vor allem der Familie, in die kalten Organisationen oder Sekundärgruppen hineingestoßen werden und damit durchgängig auf eine universale, statt eine partikulare Handlungsorientierung treffen und eine tendenzielle Übereinstimmung zwischen subjektiven Bedürfnissen, schulischen Funktionsansprüchen und gesamtgesellschaftlichen Stabilisierungsnotwendigkeiten erfahren (Tillmann 1989: 180f.). Trotz der sehr verbreiteten Kritik an der strukturfunktionalistischen Sozialisationstheorie wird faktisch immer noch verschwiegen, dass dies immer nur bedingt und begrenzt möglich ist. In modernen Gesellschaften sind Kinder ja Mitglieder und /oder Publika mehrerer Gruppen, die auch die Organisationsabhängigkeit abfedern oder filtern. Gruppendruck und Konformitätszwang sind freilich wohlbekannte Phänomene. Häufig besitzen Gruppenbindungen sogar biographische Relevanz, wenn habitualisierte Gruppenbindungen lange Zeit oder gar lebenslang beibehalten werden (Oswald 1993: 356). Bei relativ geringem Zusammenhalt von Eltern und Kindern erhöht sich die Neigung zu früher Gruppenbildung
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unter Gleichaltrigen. Bei unbefriedigenden Gleichaltrigenbeziehungen steigt die Tendenz, sich in die Familie zurückzuziehen (Herzberg 2001). Den meisten Kindern scheint eine ausgeglichene Einstellung zu gelingen. Nicht unterschätzt werden darf allerdings, dass immer mehr Kindern eine Balance nicht zu gelingen scheint. Wie jede andere Gruppe ist auch jede Kindergruppe durch ihre Binnenstruktur und ihre Außengrenzen charakterisiert. In kindlichen Gruppen besteht dabei oft ein Gegensatz zwischen radikal egalitärem Selbstverständnis und egalitären Normen und durchaus hierarchisierter Lebenspraxis. Die Binnendifferenzierung ist aber keine bloße Abbildung typischer Gegebenheiten, sondern deren Deutung. Nur solche Merkmale erscheinen wichtig, wertvoll oder interessant, die der aktuellen Gruppensituation entsprechen. Objektive Bedingungen sind immer nur „Rohmaterial“ im Wechselspiel von Fremd- und Selbstzuschreibung. Selbst realistische Beschreibungen werden imaginativ akzentuiert und kommunikativ „interpunktiert“. Es kann heute nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Einheit der Gruppe in einem einmaligen Gründungsakt gegeben sei. Immerhin lässt dieser oft aber ein diffuses „Wir-Gefühl“ entstehen, das eine Abgrenzung von „Anderen“ möglich macht (Hengst 2000: 7ff.). Dieses WirGefühl erleichtert auch die Verortung und Balancierversuche in den Intergruppenbeziehungen. Ein Gruppenkonsens bei Kindern ist heute oft nicht substanziell und stabil im Sinne des Konzepts der Wertintegration (Parsons) oder der stabilen Präferenzstruktur (Coleman). Eher trifft der Topos „working consensus“ (Goffman). Modernisierungstheoretische Vorstellungen, dass traditionelle Gruppenorientierungen komplett durch posttraditionale verdrängt würden, treffen kaum die tatsächliche Gruppenpraxis von Kindern. Eher handelt es sich um temporalisierte hybride Mischungen oder temporalisierte Extreme. Daher ist der pauschalierende Eindruck, dass sich heute schon Kinder und nicht erst Jugendliche in eher fluktuierenden Szenen als in festen Gruppen aufhalten, nicht falsch aber ungenau und darf nicht überschätzt werden. Längerfristig gesehen machen sich stärker habituelle Faktoren der Milieubindung bemerkbar (Krappmann 2002: 67ff.; Joos 2001: 121, 126). Es treten auch neue Gruppen auf, sogar gleichzeitig mehrere nebeneinander, die auch ineinander übergehen können (Jäckel 1999: 226). Allerdings bedürfen heutige Kinder offensichtlich nicht eines universalen „Du“ oder „Wir“, sondern eine wirklich anregende, reichhaltige und zugleich verlässliche Beziehungsstruktur mit jeweils einem bestimmten Beziehungs-Spektrum. Sie kann nicht mit der Dichotomie von „Herkunftsmilieu“ und „Wahlmilieu“ erfasst werden. Auch unter Kindern scheint es immer mehr „experimentelle Gruppen“ zu geben, die Selbstbeschreibungen zwischen der Gruppenmehrheit und der Gruppenminderheit kontrovers aushandeln. Sie bieten dem einzelnen Gruppenmitglied erhebliche Mitwirkungsmöglichkeiten, aber auch – im Falle des Scheiterns – riskante Haftungen (Hondrich 1999: 247ff.; Hettlage 1997: 12ff.). Der Handlungsspielraum, den Kindern in der aktuellen kinderkulturellen Wissensproduktion über mögliche Gruppenbildung und Gruppenpraxis gewinnen können, hängt ganz entscheidend davon ab, welchen Sinn, Wert, Nutzen, Kosten, in der Gesellschaft den familialen und extrafamilialen Lebensformen und Gruppen beigemessen wird. In ihnen sollen sich Kinder ja entwickeln und sich zugleich von ihnen ablösen. In diesem Zusammenhang dürfte man sich nicht mit den altersspezifischen Kategorisierungen begnügen, sondern müsste auch die Struktur konkreter Gruppenbildungen unter Kindern beobachten. Könnte es nicht sein, dass das Ausbleiben des Generationenkonflikts auch damit zusammenhängt, dass Erwachsene zunehmend weniger auf konkrete Kindergruppen stoßen? Ist auch die
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„anthropologische Aufgabe“ der Generationenbildung (Lüscher) zum optionalen Projekt zusammengeschrumpft? Kinderkultur erschöpft sich nicht in der Rezeption von oft jahrhundertealten Kinderspielen, Kinderliedern, Kinderreimen, Kinderspielzeug etc., sondern umfasst auch ein Wissen um spezifische Interaktionsformen und Gruppenbildungen unter Kindern. Es ist (Oswald 1991: 355) sicher richtig, wenn den meisten Erwachsenen hier „selige Unwissenheit“ attestiert wird. Was wissen denn Erwachsene schon von Kindergeheimnissen und „besten Freunden“? Mit dem Grad der Desintegration bestimmter Gruppen nehmen unteilbare Konflikte zu und ihre Regulierungsmöglichkeit ab (Anhut 2005: 75). Es scheint fraglich, ob ambivalente Individualisierungsschübe zu „normaler“ Gruppenbildung führen, aber auch ob sich nicht nur die Form der Sozialkontrolle und des Gruppendrucks gewandelt hat. Heute werden zwar von Erwachsenen weichere und psychologisierende Methoden bevorzugt. Diese sind jedoch nicht weniger penetrant. Die kindliche Semantik von „Freunden“ und „besten Freunden“ ist mehrdeutig und kontextabhängig. Es lassen sich hier variable Differenzierungen von Nähe und Ferne, starker und schwacher Gruppenbildung, lose Mitgliedschaft und begrenzt kooperierende Einzelgänger unterscheiden, die die jeweils ähnlichen Kinder zusammenführen. Soziale Kategorisierungen zielen so nicht nur auf kognitive Ordnung, sondern implizieren zugleich ein Netz lebenspraktischer Koordinaten der „Welterzeugung“ (Goodman). Ist die kindliche Identität unsicher oder scheint sie stark bedroht, so intensiviert sich der soziale Vergleich und die Grenzen zwischen den Gruppen werden durchlässiger. Intensivierte Zuschreibung und ingroup-outgroup-Differenzierung verrät verstärkte Suche nach Gruppenkohärenz oder Gruppensolidarität. Es zeigt sich dabei, dass die kontextabhängige „Wahl“ der Bezugsgruppe und die individuell-soziale Interpretation positiver sozialer Identitäten sich wechselseitig erhellen und normalisieren. Starke familiale Orientierung ist hier nicht unbedingt hilfreich bei der Erprobung von Alltagswissen und Gestaltung einer beziehungsreichen Biographie. Außerdem formt sozusagen die Gesellschaft über Institutionen und Medien optionale Prototypen und Handlungsspielräume für Gruppen. Die Integration oder Nichtintegration in die Intergruppenprozesse haben Auswirkung auf das Selbstverständnis des einzelnen Akteurs. Und sie schlagen sich vor allem auf die regelmäßigen Interaktionen und das soziale Klima zwischen Erwachsenen und Kindern nieder. Alle Gruppenbeziehungen werden auch durch die sozialstrukturelle Statushierarchie mitbestimmt. Diese verschiedenen Einflussfaktoren qualifizieren Alltagssolidarität. Doch diese ist nur bedingt und begrenzt abrufbar und vorauszusetzen. Oft schließen sich Kindergruppen dann wieder enger zusammen, wenn es gilt, gegen einen Außenseiter vorzugehen. Erst altershomogene Gruppen repräsentieren und „verkörpern“ die Sozialkategorie und das zunächst rein sozialstatistische Aggregat einer Bevölkerungsgruppe „Kinder“. Sie können ihren Ursprung in der Generationenspanne als Form der Sekundäranpassung haben oder den Ausgangspunkt für kinderkulturelle, subkulturelle oder abweichende Gruppenbildung darstellen, die Erwachsene stören, irritieren oder zumindest auf konkrete heutige Kinder aufmerksam machen (Abels 1993). Sie bilden sich seltener, wo in einer Gesellschaft soziokulturelle Vorstellungen einer, von den Erwachsenen durch wesentliche Aufgaben und Merkmale getrennten, eigenständigen Altersgruppe fehlen oder zum Stereotyp verkümmern und relativ künstlich von der Entwicklungspsychologie am Leben gehalten werden. Dass Kinder tatsächlich das sind und werden, was wir mit Kindheit meinen, liegt demnach nicht nur am soziokulturellen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern, son-
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dern nicht zuletzt an ihrer Re-präsentation durch „handgreifliche“ Kindergruppen und gruppenartigen Handlungszusammenhängen, mit denen sich die Gesellschaft herumschlagen muss und die sich durch ihre unterschiedliche und verzögerte Eingliederung in die jeweilige historische Gesellschaft u.U. „störend“ bemerkbar machen. Ohne solche gleichsam hautnahen „Reibereien“ verflüchtigt sich Kinderleben leicht zum luftigen Stereotyp. Daher müssen Kinder auch von den für sie typischen sozialen Gruppen einer bestimmten Zeit her verstanden werden, in denen sie „Kindheit“ in ihrem „Kinderleben“ repräsentieren, und Kindheit als erfahrbare „Substanz“ einer (nicht ausschließlich) nominalistischen Sozialkategorie oder sozialstatistischen Bevölkerungsgruppe in „Fleisch und Blut“ wirklich erlebt werden kann. So umfasst in dieser Bedeutung die Bevölkerungsgruppe nicht abstrakt alle Kinder (in einem gattungslogischen Sinn), sondern das Insgesamt wirklicher Kindergruppen. Solange man Kinder nämlich nur als Exemplar einer Kategorie oder Gattung oder als bloßes Anhängsel ihrer Familie sieht, verfehlt man die besondere geschichtliche Qualität des Verhältnisses kindlichen Seins und Werdens. Im Grunde verweisen schon die gelebten Differenzen und Spannungen in der Familie auf die mögliche Orientierung auf außerfamiliale Gruppierungen von Gleichaltrigen, die heute immer früher ins Blickfeld des Familienlebens treten (Krappmann 1993: 135ff.). Intra- wie intergenerationale Beziehungen können sich auf diesem Hintergrund profilieren oder (wieder) abschwächen. Diese historisch bestimmten Beziehungen oder ihr Fehlen geben alltäglichem wie außeralltäglichem Kinderleben nicht nur sein Profil, sondern seine gesellschaftliche „Verkörperung“. Dieser Aspekt in der sozialen Konstruktion von Kindheit durch reale Kindergruppen oder kindliche Interaktionsgeflechte scheint einer sozialen Reaktion auf die Unbestimmtheit historisch weiter gereichter Kategorien und sozialer Erwartungen gegenüber Kindern zu entspringen. Gruppenbestimmte Kinderkultur ist also nicht ein museales Repertoire kultureller Bestände, sondern zuallererst ein Prozess lebendiger Kultivierung (Grundmann 1999: 20ff.). Und auch auf dieser Ebene ist wohl heute zwischen Kindern und Erwachsenen aus einem „großen“ ein „kleiner Unterschied“ geworden. Wo sich gar – etwa im kommunalen Bereich – Kinder lautstark zu Wort melden, deutet sich sogar schwach die Möglichkeit an, dass sie zur mikropolitischen „Generationseinheit“ im Sinne Mannheims zu avancieren. Anscheinend werden heute Differenzen zwischen der Intimgruppe Familie und Gruppierungen von Kindern im außerfamilialen Bereich weniger beseitigt oder überbrückt, sondern oft ausgeklammert. Da alle Prozesse der Abgrenzung und Identifikation im Flusse sind, muss man hier sehr vorsichtig sein. Ob ganz allgemein altershomogene Gruppen in Zukunft eine zentrale Rolle spielen werden, kann nicht schlüssig beantwortet werden, obwohl das zunächst als unwahrscheinlich erscheint. Gruppenbildung ist aber längst nicht so spontan, wie das auf den ersten Blick aussieht. Sie ist oft nichts Anderes als eine Option unter vorfabrizierten Sozialisationsvarianten. In allen modernen Gesellschaften hat sich die Gruppenbildung von Kindern nach vorne verschoben und bis in die Zeit der Postadoleszenz verlängert. Kinder erscheinen daher erstaunlich früh als Jugendliche und Jugendliche in manchen Bereichen als relativ kindlich. Der junge Mensch ist aber nicht nur länger altershomogenisierenden Tendenzen ausgesetzt. Er erfährt auch radikal die „Emanzipation“ durch Medien und Konsummarkt und das Dogma, dass Lebensformen nur noch eine „Kostenfrage“ sein sollen.
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9.11 Der ganz normale Kinderalltag „Selbstständigkeit“, das heute verbreitete Erziehungsziel, ist ein mehrdeutiger, auch operational dehnbarer Begriff. Unbestreitbar ist indes, dass sie sich zunächst im Alltag bewähren muss. Als Norm hängt sie ebenso von der alltäglichen Verhaltenstypik ab, wie diese von ihr. Und beide korrelieren auch mit den gesellschaftlichen, generationalen, institutionellen und sozialen Veränderungen (Kirchhöfer 2001: 61ff.). Die Typisierungen des Alltagsverhaltens und die ihnen zugrunde liegenden Relevanzstrukturen sind die Hauptindikatoren gesellschaftlicher Wirklichkeit interagierender Kinder (Schütz 1979; Grathoff 1978: 67ff.). Sie sind nicht einfach gleichzusetzen mit isolierbaren Regeln, die sich von außen aufdrängen. Da keine Regel ohne Ausnahme ist, setzen Regeln immer schon Wissensordnungen voraus, die plausibel machen, warum Akteure sich so und nicht anders verhalten (Reckwitz 2000: 130). Der Alltag ist die fundamentale und vorprädikative Wissensordnung und implizite Hintergrundstruktur schlechthin, die den Versuch von Kindern leitet, das ganz normale Chaos des Kinderalltags in eine gewisse zeitliche, räumliche, sachliche und soziale Ordnung zu bringen. Er ist keinesfalls ein abtrennbarer Handlungsbereich oder eine bloße Ansammlung alltäglicher Optionen, Regeln, Normen, Prozeduren und Praktiken. Der Sinnrahmen des Alltags konstituiert sich in Habitualisierungsprozessen, die eine erste „Kontingenzunterbrechung“ (Luhmann) vor jeglicher Reflexion leisten. Seine zyklische Zeitrhytmik und seine räumliche Struktur der Arbeits-, Lern-, Spiel- und Lebensorte, sowie seine sozialen Netze verbürgen selbst im größten Interaktionsstress eine gewisse Beruhigung, Zentrierung und Anschlussfähigkeit an vorangehendes eigenes und fremdes Handeln. Der Alltag geht sozusagen weiter, auch wenn die Welt zusammenzustürzen scheint. Und daher ist er auch eine fundamentale Voraussetzung und perspektivischer Strukturierungsprozess „primärer Evidenzen“ (Husserl) für kindliche Handlungsfähigkeit. Zugleich ist er jener elementare Interaktionsraum, der uns verändert und der sich durch uns verändert (Soeffner 1989: 12f.; Schütz 1979: 26f.). Der Alltag ist also jene ausgezeichnete Wirklichkeit, auf der alle anderen Wirklichkeiten aufruhen, auf die jedes Kind „immer wieder“ in seinem sozialen Handeln zurückkommen kann und „so weiter“ Schlüsse extrapoliert. Die alltägliche Lebenswelt ist nicht die ganze Lebenswelt. Doch sie ist jene Orientierung, in der nach Schütz „der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt“ und in die er „eingreifen und diese verändern kann.“ Gleichzeitig werden freilich dadurch „seine freien Handlungsmöglichkeiten“ beschnitten und durch die objektivierte und institutionalisierte „Gegenständlichkeit und Ergebnisse, einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen“ begrenzt. Die „Wirkwelt“ des Alltags bewirkt so zugleich „Welterschließung“ wie Schließung von Chancen, also eine bestimmte historische Form von Normalität. Auch Kinder sind durch ihren Kinderalltag stark geprägt. Auch ihre „Selbstständigkeit“ ist alltagsgebunden. Schon dadurch sind sie immer in die Alltags- und Lebensgeschichte anderer Menschen verwickelt. Sie leben in einer historischen Gesellschaft, deren Mitglieder zunächst schon froh sind, wenn sie ihren Alltag bewältigen. Diese erkennen aber auch, dass der Alltag nicht alles und unvollständig konstituiert ist. Kinder leben in einem Übergangsfeld zwischen „Sein“ und „Werden“, Alltäglichkeit und Nichtalltäglichem, „Überleben“ und „gutem Leben“, zwischen dem Status alltäglicher „Normalität“ oder als Teil eines „sozialen Problems“. Sie selbst wollen Verlässlichkeit aber
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auch „Abenteuer“. Praktiken des Arbeitens, Lernens, Spielens, Essens, Trinkens, Konsumierens, der Mediennutzung, des Schlafens, der Entspannung etc. stellen in westlichen Gesellschaften ein recht umfangreiches alltägliches Hintergrundwissen bereit, das so selbstverständlich erscheint, dass es kaum thematisiert wird, gerade weil es „spontan“ soziale Akzeptanz verschafft und den Eindruck vollkommener Normalität erzeugt. Kinder, die dieses Alltagswissen nicht besitzen oder rasch genug erwerben, setzen sich rasch dem Verdacht aus, „verhaltensauffällig“ zu sein. Gerade die Verweigerung sozialer Akzeptanz (Lukes 1998) bringt zum Ausdruck, dass Kinder nicht erst beim offensichtlichen Normbruch oder -verstoß schief angesehen werden, sondern immer schon dann, wenn, gemessen an alltäglicher Normalität, ihr Verhalten nicht plausibel erscheint. Alle Vorgänge des Kinderalltags werden in dieser Weise vorsortiert. Empirisch verbinden sich darunter jedoch – aus Unsicherheit oder Übermut – recht häufig Elemente der Normalität und der Abweichung und müssen sozusagen erst auf ihre „Alltagstauglichkeit“ hin und im Blick auf die „Belastbarkeit“ des kindlichen Akteurs geprüft werden. Und an dieser Stelle zeigt sich die Zeichenhaftigkeit und Vielschichtigkeit des Alltagshandelns, das somit nicht einfach aus der Spannung zwischen Norm und Faktizität heraus verstanden werden kann (Schütz 1984; 178ff.; Luckmann 2002; Berger 1970). In den Alltag können auch jeder Zeit Überraschungen einbrechen. Der Alltag kann sich aber auch wie eine Firnisschicht auf „Sonderwelten“ ausweiten. Auch die Welt der Religion, der Wissenschaft, der Erotik ist z.B. nicht davon verschont. Die alltägliche Lebenswelt ist also nicht statisch. Sie kann sich erweitern und schrumpfen. Auch sie wird von kleinen, mittleren und großen Transzendenzen in Atem gehalten (Luckmann 2002; Klöckner 2005: 12). Von hier aus eröffnen sich auch grundlegende intergenerationale Bindungen und „partizipative Identitäten“ in sozialen Institutionen, die ja nicht in der Luft hängen (Alt 2005: 11). Alltägliche Lebensführung erfordert also umfangreiches Alltagswissen. Dieses bietet sicheren Zugang zu bestimmten gesellschaftlichen Ressourcen unter kurz-, mittelund langfristigen Ordnungsgesichtspunkten der Lebensbewältigung. Diese Alltagsgeschichte wird auch Teil der Lebensgeschichte, freilich auch durch diese relativiert. So kann eine Verzeitlichung und Einbettung in Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhänge noch im größten Wirrwarr erfolgen (Alheit 1994): Sonntag und Werktag, Arbeit und Freizeit, fremd- und selbstbestimmte Zeit im Wechsel bilden noch heute bei vielen Menschen alltagsabhängige Sinnmarkierungen ihres Lebens und Schwellen einer geordneten alltäglichen Lebensführung, sowie „Identitätsanker“ (Goffman). Schon Säuglinge beobachten ihre Umgebung im Hinblick auf die Ordnungsfunktion alltäglicher Routinen und ziehen daraus praktische Schlüsse (Stern 1996). Gerade wo die Rhythmik und Struktur des Alltags bei Kindern gestört wird, offenbart sich ihre Notwendigkeit. Viele Familien bringen allerdings kaum noch einen sinnstiftenden Familienalltag mit gemeinsamer Familienarbeit, gemeinsamen Mahlzeiten, gemeinsamen Feierabend, gemeinsam gestalteten Festen, gemeinsamen Urlaub, gemeinsamen Familienritualen etc. zustande, sondern müssen „krampfhaft“ nach artifiziellen Regeln fahnden, die eine Dauerreflexion oder „Daueropportunismus“ erforderlich machen und gerade dadurch Spontaneität erschweren (Kirchhöfer 1998: 109; 2000: 189ff.; Holzkamp 1993: 817ff.). Alltag setzt also nicht nur Sozialkompetenz, sondern eine komplexe „multi-relationale Synchronisation“ (Berger) voraus. Der Alltag von Kindern mag jedoch allein schon deswegen mit einer gewissen Furcht als „verändert“ kategorisiert werden, weil kindliches Handeln sich nicht nur kaum noch in
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der Kontinuität der Generationen bewegt, sondern den Eindruck erweckt, das Handeln der Erwachsenen nicht nur zu modifizieren, sondern für die Erwachsenen selbst Bedingungen zu schaffen, unter denen sie sich auf eine Lebensrevision und eine neue Zukunft einstellen müssen. Daher ist der Alltag nicht mehr als schlichtes Produkt der Erziehung und Sozialisation zu konzipieren. Er ist voraussetzungsvolle soziale Konstruktion geworden. Auch die durch Routinen eingefasste Alltagszeit läuft nicht einfach monoton und unstrukturiert ab. Sie kennt Einschnitte und Schwellen. In der Alltagszeit müssen die Zeit der Familie, der Gleichaltrigengruppe, mit den sozialen Zeiten der sozialen Institutionen und der Eigenzeit koordiniert und mit Hilfe der Sprache, in Vor- und Rückgriffen konstruktiv Bewusstseins- und Handlungsabläufe aufeinander bezogen werden (Srubar 1998: 72). So wird Zeit verdichtet, gedehnt, beschleunigt oder verlangsamt. Kinder müssen ihre eigentümlichen „Zeitbögen“, die manchmal in den Augen von Erwachsenen durch „Trödeln“ charakterisiert sind, zur Geltung (Sichtermann 1981: 77) und insbesondere mit der Arbeitszeit von Erwachsenen in Einklang bringen. Die zeitliche Dynamik wird heute freilich auch zusehends von der transnationalen Wissensproduktion und globalen Marktorientierung bestimmt. Die Vorstellung einer individuellen Zeitsouveränität ist im Alltag eine Illusion, da hier stets verschiedene und sehr heterogene Zeitkonzepte und –imperative aufeinander abgestimmt werden müssen (Prahl 2002: 135). Der zeitliche Interaktionsstress scheint inzwischen auch die Kinder erreicht zu haben (Mansel 1996). Der Zuwachs an Zeit durch Konsumzeit ändert daran nichts. Er lässt im Gegenteil viele Kinder noch fremdbestimmter erscheinen. Auch die Modernisierung der Raumdimension bleibt bis heute widersprüchlich. Raumerfahrung wird zuweilen, ähnlich wie die Erfahrung der Körperlichkeit, durch die zunehmende Mediatisierung und Semiotisierung regelrecht verdrängt. In der Kindheitssoziologie wurde mit der Verinselungsthese zusätzlich noch eine Simplifikation vorgenommen: Raumerfahrung von Kindern vollziehe sich nicht mehr in konzentrischen Kreisen, sondern sprunghaft von Insel zu Insel. Wenn aber „Inseln“ in Strukturierungsprozessen vernetzt werden, sind sie im strikten Sinn gar keine isolierten Inseln mehr, sondern Schnittoder Knotenpunkte in den „Netzen der Lebenswelt“ (Waldenfels 1985; Bühl 1972; 2002). Auch empirisch gibt es Zweifel, ob dies jemals eine für alle geltende, durchgängige Tendenz gewesen ist und nicht in Wirklichkeit auf westdeutsche Mädchen der mittleren oder oberen Mittelschicht in der Stadt und im Winter beschränkt war (Nissen 1998; Blinkert 1996). Die Verbreitung des Mobiltelefons (Handy) lässt überdies tatsächliche Ansätze von Verinselung rasch wieder verschwinden. Spontane Begegnungen können nun wieder jeder Zeit und an jedem Ort arrangiert werden. Doch die sozialen Interaktionen werden nach wie vor auch durch räumliche Nähe und Ferne bestimmt, wenngleich sie sich nun mehr gegen mediale Assoziationen durchsetzen müssen. Damit wird soziales Handeln durch verschiedene sozialräumliche Zonen markiert. Sie erschließen die aktuelle, potenzielle und wiedererlangte Reichweite der Interaktionen und sich überschneidende Grenzen. Damit kann der Raum vielfältig, konzentrisch, polyzentrisch, insulär, hybrid, gegliedert und individuell, sozial, institutionell und historisch angeeignet und (wieder) vernetzt werden. Globale, europäische, nationale und lokale Raumorientierungen koexistieren heute. Das existenziell oder soziale Nahe ist nicht mehr durch eine nationalstaatliche Kartographie zu bestimmen. Nicht wie sich Räume kartographieren lassen, sondern wie sie genutzt und dieser Gebrauch gedeutet wird, macht die alltägliche Raumerfahrung von Kindern zwischen Öffentlichkeit und Privatheit aus. Obwohl die Thesen über „verhäuslichte“
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und „verinselte“ Kindheit kaum in der Kindheitsforschung in Zweifel gezogen werden und vermuten lassen, dass sich Kinder kaum noch im Freien aufhalten, wird dies in zahlreichen Studien nicht bestätigt (Nissen 1998: 182f.). Raum kann für verschiedene Kinder in unterschiedlichen biographischen oder alltagsweltlichen Situationen sehr Unterschiedliches bedeuten. Er ist keine isolierte physische Größe, sondern stets soziokulturell imprägniert. Daher ist vom Container-Modell des Raumes Abschied zu nehmen, das auch noch viele kindheitssoziologische Studien bestimmt. Obwohl sich die objektive Ausstattung öffentlicher, halböffentlicher oder privater Räume sehr geändert hat, kann nachgewiesen werden, dass diese von Kindern durchaus kreativ genutzt und reinterpretiert wird. Die Sozialdimension des Alltags beruht auf einer sich wandelnden sozialen Differenzierung durch uminterpretierte oder neue Wissensbestände. Sozialer Wandel setzt sich besonders dann erfolgreich durch, wenn er gleichsam in die Alltagskultur einzusickern vermag (Srubar 2003: 162f.). Generelle Kennzeichen scheinen größere Pluralisierung, Flexibilität, Fluktuation und Instabilität zu sein; sowohl im familialen wie im außerfamilialen Bereich. Gesellschaftliche Transformation hängt entscheidend von der gesellschaftlichen Anerkennung oder Akzeptanz, genauer, dem fortlaufenden Prozess der Legitimierung und Delegitimierung und der Neuverteilung handlungspraktischen Wissens, Kompetenz und Macht, der Selektion und Exklusion sozialer Mitgliedschaften und Partizipationschancen im Alltag ab. Paradoxerweise können sowohl die Kumulation von Wissen wie die strategisch weitsichtige Lernverweigerung Macht und Einfluss begründen (Offe 1994: 11). Soziale Differenzierung erzeugt Wissensasymmetrien und Wissensklüfte. Schulwissen ist eine notwendige, aber immer weniger hinreichende Wissensressource. Zum allgemein geteilten Wissen gehört mittlerweile das Wissen um Normpluralismus und Funktionsdifferenzierung. Suchverhalten stellt geradezu einen informellen Kompetenzausweis dar. Das gespeicherte Wissen ist zwar offiziell für jeden Menschen abrufbar, tatsächlich aber herrscht ein immer größeres Wissensgefälle, das oft undurchschaut große soziale Ungleichheit zementiert. Alltägliche Kommunikation rechnet heute mit hoher Anonymität und Vertraulichkeit zugleich. Wissen in netzwerkartiger Sozialintegration und Expertenwissen aus professionell arbeitenden Organisationen werden im Alltag verwoben. Wissen wird immer besser speicherbar. Doch eigens muss deren Sicherheit und Handlichkeit vorangetrieben werden. Immer neue „Geheimnummern“ und Sicherheitscodes sollen das sicherstellen. Es ist aber doch die Frage, ob diese Sicherheitssteigerung nicht faktisch und ungewollt eine neue Form der „Leichtgläubigkeit“ erzeugt (Berger 1994). Das ergibt eine ungewöhnlich komplexe Aufschichtung von Sinnstrukturen und sozialen Beziehungen, die die geläufigen Theorien der Modernisierung, der funktionalen Differenzierung und Individualisierung als viel zu grob und linear erscheinen lässt (Srubar 1997: 51f.). Die Strukturierung der Sozialbeziehung wird also völlig missverstanden, wenn sie im Sinne eines simplen und bruchlosen Übergangs von der Partikularität zur Universalität, also doch wohl in Analogie zu einem logischen Abstraktionsprozess verstanden wird (Joas 1992; Wagner 1999). Realistischer scheint die Vorstellung eines „Dilemmas des Gleichzeitigen“ (Offe), das die Selbstdifferenzierung sozialer Beziehungen nicht als bloße „Ausdifferenzierung“, sondern als hybride Mischung oder Anbauten an vorhandenen Handlungsregistern erscheinen lässt. Nicht jede diskursive Funktionszuschreibung vermag alltägliche Handlungsrelevanzen zu mobilisieren. Die verschiedenen Handlungsfelder eröffnen mit ihren Wissensordnungen die Zugänglichkeit zu ganz bestimmten sozialen Netzen, und zwar
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nicht nur mit funktionalen Imperativen (Soeffner 2003: 135). Vorinstitutionelle und institutionelle Sozialbeziehungen formieren einen Symbolzusammenhang, der sich nach verschiedenen Kriterien in vertraut/unvertraut, anonym/intim, privat und öffentlich, milieu- oder gruppenspezifisch oder individuell, spezifisch oder unspezifisch, analytisch im engen Anschluss an lebensweltliche Selbstdifferenzierung des Wissens unterscheiden lässt. Je nach historischer Konstellation müssen Sozialbeziehungen im Alltag erweitert oder eingeschränkt, reformiert oder neu formiert werden. Kinder treffen sich binnen eines Jahres, einer Woche oder eines Tages mit einer Vielzahl von Kindern und Erwachsenen, an verschiedenen Orten und zu verschiedener Zeit, besonders oft und intensiv mit Eltern, Geschwistern, Freunden. Ein Kind steht auf, rechnet mit einem kurzen Gespräch mit den Eltern, später mit einem kommunikativen Austausch mit anderen Kindern im Kindergarten und der Grundschule etc. Es unterhält sich oder streitet mit Gleichaltrigen auf dem Weg. Während des Schulalltags hat es sehr viele, formelle und informelle Sozialkontakte von flüchtigen Zurufen bis zu pädagogisch verordneter Gruppenarbeit. Jeder dieser Kontakte wird symbolisch markiert. Jede einzelne Episode, Sequenz, Situation ist in Interaktionsordnungen zwischen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ eingebettet (Goffmann 1959; 1974). Der Nachmittag wird, solange es in Deutschland noch wenige Ganztagsschulen gibt, ganz anders und verhältnismäßig unpädagogisch verbracht. (Ausgenommen davon sind die Hausaufgaben.) Es stehen öffentliche, kommerzielle und selbstorganisierte Angebote zur Freizeitgestaltung bereit. All dies erfordert Alltagswissen darüber, „was hier vorgeht“. Persönliche Beziehungen werden in modernen Gesellschaften zwar wichtiger, aber auch konfliktanfälliger. Erwachsene sprechen davon, dass sie Kinder vor anderen Erwachsenen blamieren. Doch blamieren Erwachsene nicht auch oft Kinder vor anderen Kindern?
9.12 Die ständige Präsenz des Außeralltäglichen Außeralltägliches wird von Alltäglichem belagert. Aber auch das Umgekehrte gilt. Der Alltag vieler Kinder auf der ganzen Welt wird von Katastrophen, Kriegen, Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen und Grenzsituationen überschattet. Sie wurden in der Vormoderne als unabwendbare Schicksalsschläge betrachtet. Erst die Moderne wollte sich mit solchem Fatalismus nicht mehr abfinden und blieb doch von wachsender Kontingenz bestimmt. In der Vormoderne wie der Moderne aber wollten sich Menschen nie ausschließlich mit dem grauen Einerlei der sich scheinbar ewig wiederholenden Alltagsroutine zufrieden geben. Eindeutiger als die modernen Menschen suchten die vormodernen durch kirchliche und weltliche Rituale, z. B. auch Initiationsriten, Übergänge zum Außeralltäglichen offen zu halten. Einen prominenten Rang nahmen Feste des kollektiven Gedächtnisses ein (Assmann 1991; 2000; Otto 1977). Damit wurde eine sinnvolle Spannung und ein strukturierender Rhythmus zwischen Werktag und Feiertag institutionalisiert, der das Leben vor Nivellierung bewahrte. Die expansive Marktrationalität der Industriegesellschaft schwächte das Verständnis für sinnvolle Polaritäten der Lebensgestaltung immer mehr und versuchte, relativ spät aber nicht ohne Erfolg, als kompensierendes Gestaltungselement für ein offensichtlich nicht ganz verschwundenes anthropologisches Bedürfnis, das „event“ oder das „shopping“ kommerziell hoffähig zu machen. Kinder können ohne verlässlichen, normalen Alltag nicht leben.
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Doch der Alltag allein füllt sie nicht aus. Sie halten schon früh Ausschau nach Außeralltäglichem und Abenteuern, werden allerdings auch oft schmerzlich mit Überraschungen, kritischen Lebensereignissen, Grenzsituationen und dem ohnmächtig erlebten Einbruch von Kontingenz konfrontiert. Kindsein ist also mehr als Kinderalltag. Es ist auch die situationsgebundene Erfahrung des Hier- und Jetzt zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem. Dieses Verhältnis ist analog zu sehen wie das von Alltags- und Lebenszeit. Niemand lebt ausschließlich in den Routinen des Alltags oder umgekehrt in der scheinbar bruchlosen Linearität einer fortschreitenden Lebensgeschichte (Lebenslauf). Beide ergänzen und durchdringen sich in unserem Erleben. Freilich ist diese Komplementarität nicht konflikt- und störungsfrei. Kein Kind möchte nur alltäglich leben. Keines würde sich auf Dauer im Nur-Außeralltäglichen wohlfühlen. Dieses Spannungsverhältnis ist nie unproblematisch. Und man muss es auch immer wieder in Ordnung bringen (Alheit 1988: 373; Garfinkel 1973: 189ff.). Die Alltagsroutinen entfernen Kinder immer wieder von der Erfahrung biographischer Originalität; das Außeralltägliche von der selbstverständlichen sozialen Akzeptanz und Alltagssolidarität und der soziokulturellen Plausibilitätsstruktur. Deshalb müssen beide immer wieder über vorgängige biographische Ereignisse vermittelt und „passend“ gemacht werden. Nichts anderes ist der konstruktive Lebenszusammenhang und Umgang mit dem Lebenslauf, den man in der Moderne Biographie nennt und der mit seinen vielen Rück- und Vorgriffen heute oft zwischen den Extremwerten einer rigid-repressiven Identität und einer Identitätsdiffusion oszilliert (Schütz 1984; Rosenthal 1995; Joas 1997: 227). Die Lebenswelt von Kindern erschöpft sich jedenfalls nicht in der alltäglichen Sozialwelt und im Kinderalltag. Sie wuchert sozusagen in „Sonderwelten“ mit spezifischem Sonderwissen hinein und wird von diesen auch ständig unterwandert (Berger 1997: 212ff.; Alheit 1994). Alltagswissen und Sonderwissen reiben sich auch aneinander und lassen sich dann doch meist in hybrider Form verweben und vernetzen. Das Sonderwissen übersteigt das Alltagswissen zur Wissenschaft, zur religiösen Ekstase, zur Kunst und Erotik und zum „Wahnsinn“ hin. Nur ein moderner „mausgrauer“ Dogmatismus der Erwachsenen geht davon aus, dass solche Erfahrungsbereiche Kindern völlig verschlossen seien, obwohl doch erkennbar ist, dass sie sich durchaus in einem „reißerischen Situationismus“ (Goffman), im hingebungsvollen Spiel, im Feste feiern, im Abenteuer, in „action“, „event“, im „Spaß“, in der Identifikation mit Stars und Idolen etc. verlieren können. Wo diese „Würze des Lebens“ ganz fehlt, pflegt bei Kindern rasch Langeweile auszubrechen (Huber 1991: 36ff.; Sichtermann 1988: 641ff.). Von ganz anderer Art ist das Außeralltägliche, das Kinder in großen Kummer stürzt. Oft verändern kritische Lebensereignisse und Schicksalsschläge, z.B. eine Behinderung aufgrund eines Verkehrs- und Sportunfalls, ein Kinderleben von Grund auf. Auch die Alltagsorganisation muss dann völlig anders erfolgen. Manchmal führt das sogar dazu, dass eine normale alltägliche Lebensführung unmöglich erscheint und Kinder Selbstmord begehen. Die neuerliche Transformation der nationalgesellschaftlichen Industriegesellschaft zur transnationalen Wissensgesellschaft mit ihren widersprüchlichen, polyzentrischen Strukturkernen zwischen Globalisierung und lokaler Resistenz verkompliziert das traditionelle Verhältnis von Alltags- und Sonderwissen und Veralltäglichung und Kontingenz dadurch, dass jetzt nicht nur das fremde Außeralltägliche zwischen den globalen Bezügen, Europa, Nation und Region angeeignet und integriert werden muss, sondern auch das Eigene zunehmend fremd wird und durch stramme Leitkulturdebatten nicht magisch festgehalten
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werden kann (Hettlage 1997; 2000; Waldenfels 1990). Auch die Steigerung interkultureller Kommunikation bietet dafür keine automatische Lösung, vor allem, wenn sie den Eindruck erweckt, Alltag und Außeralltägliches seien heute ununterscheidbar geworden; jedenfalls aber in einer Konsumgesellschaft eine sekundäre Frage, die kommerziell gelöst werden könne. In Wirklichkeit ist dies eine zentrale Frage einer Kultivierung der Gesellschaft wie des Verhältnisses von Erwachsenen zu Kindern und keine Frage der Diversifizierung des Konsums. Die bloße Steigerung von Angebot und „action“ und aufreizenden „events“ führt nicht zur Strukturierung, sondern zum „Gehen ohne Grund“ und auch immer näher an Gewalt heran (Heitmeyer 2004; Miller 1996: 16). Für Kinder ändert manchmal ein einziger Augenblick oder eine positive oder negative Überraschung die Selbsteinschätzung und die Beurteilung der Gesellschaft und der Welt total. Wirklich außeralltägliche Erfahrungen haben etwas Überwältigendes und schlagen sich in einer „ganzheitlichen“ Körpererfahrung nieder. Soeffner (2004: 64f., 69f.) sieht darin Momente der Ekstase, die sich sowohl zur Religiösität wie zur Gewalt öffnen können. Überraschungen lassen sich eigentlich nicht kaufen, „machen“ und programmieren. Aus dieser Einsicht heraus finden nicht wenige Kinder gut gemeinte Abenteuerspielplätze oder Erlebnispädagogik binnen kurzem langweilig oder lehnen sie als inattraktive Alibiveranstaltung ab. Manche Kinder („Trebegänger“) reißen auch von zuhause aus (Vaskovics 1989: 780), weil sie den Alltag nicht mehr ertragen. Eine ganz andere Frage ist, unter welchen Bedingungen sich Alltag und Nichtalltag unterscheiden und integrieren lassen (Wicke 1997: 375). Wenn immer mehr Feiertage abgeschafft werden, viele Menschen mit ihnen nichts mehr anzufangen wissen, die Geschäftsöffnungszeiten auf die ganze Woche bis tief in den späten Abend ausgedehnt werden, verschlechtern sich die Ausgangsbedingungen einer kulturellen Autonomie der Gestaltung eines anregenden Spannungsverhältnisses von Alltag und außeralltäglicher Erfahrung. Es besteht die Gefahr, dass z.B. Werktag und Sonntag nur noch zu Modi kommerzieller Optionen werden. Das Bedürfnis nach Rhythmen und Polaritäten wird damit nicht verschwinden, aber scheinbar nur noch zur Kostenfrage oder zur Frage des kommerziellen Design. Statt Kreativität wird verstärkt auf innovativen Thrill gesetzt. Die eigentliche Herausforderung des Außeralltäglichens liegt nicht in der Steigerung von Innovationen, sondern deren Kultivierung. Kinder sehen, dass Grenzen zwar notwenig sind, immer aber auch kollektiv verschoben werden können, damit ein reichhaltiges, relativ selbstbestimmtes und kreatives Leben und soziale Kommunikation möglich bleiben, die sich auf Fremdes einlassen kann, ohne es zum Eigenen und Eigentlichen zu machen (Waldenfels 1990: 39f., 190f.; Joas 2000: 36f., 101). Alltag und Außeralltägliches sind keine separaten Bereiche, sondern kulturelle Einstellungen eines eigentümlichen Hintergrundwissens. Prozessen der Veralltäglichung können solche folgen, die die Alltäglichkeit durchbrechen und sie nicht einfach modifizieren. Kinder sind Kinder ihrer Zeit. Sie leben in einer Gesellschaft, der eingeredet wird, alle Lebensstilfragen könnten auf Modifikationen des kommerziellen Angebots der „Freiheit“ reduziert werden. Sie hat erkennbar Mühe, die Eigenart des Kulturellen zu erfassen, obwohl ihre Kulturalisierung stärker denn je beschworen wird. Es deutet Manches darauf hin, dass dies nicht der wirklichen und eigenen Stärke der Kultur, sondern wachsender Unsicherheit vor den überbordenden Märkten der Kulturwaren und Dienstleistungen entspringt. Es ist freilich festzuhalten, dass die Erfahrung des Außeralltäglichen nichts Beschauliches an sich hat, sondern nahe an „unheimliche“ Grenzsituationen heranführt (Joas 1997:
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95f.). Kinder haben in diesem Sinn auch zusammen mit Jugendlichen in der Geschichte Psychoterror z.B. gegen lokale Außenseiter, alte Menschen und vor allem Minderheiten, nicht zuletzt Juden ausgeübt (Vassas 2005: 23ff.). Diese Ambivalenz des Außeralltäglichen als Zeit der Begeisterung und Ekstase kann aber nicht seine konstitutive Bedeutung für die kindliche Lebenswelt beseitigen, selbst dann nicht, wenn die Bereitschaft zur „Begeisterung“ oft von Erwachsenen manipuliert wurde. Der Absturz in vollkommenes Chaos oder pure Alltagsmonotonie ist nur dann unvermeidlich, wenn sich der jeweilige Pol von der komplementären Gegenbewegung ablöst und kindliche Interaktionen nicht auf strukturierende Schwellenerfahrungen in einer Gesellschaft stoßen, die beides, Alltägliches und Außeralltägliches begrenzen.
9.13 Kinderprobleme – Kindheit als soziales Problem? Wenn Kinder misshandelt, sexuell missbraucht, vernachlässigt, behindert, arm sind, als Kinder mit Migrationshintergrund gemieden werden oder deliquent geworden sind, neigt die Gesellschaft dazu, sich zunächst einzureden, das seien bedauerliche Einzelfälle. Ist aber dieser Eindruck aufgrund der Häufung nicht mehr aufrecht zu halten, so kommen rasch pauschalierende Stereotype auf, hier könnten rasch bedrohliche soziale Brennpunkte und soziale Probleme entstehen, die nicht zu beherrschen und zu steuern seien. Noch fassungsloser reagiert man allenthalben auf Kindersoldaten, kindliche Selbstmordattentäter oder Kinder, die in unserer Gesellschaft Gewalt gegen Erwachsene, etwa alte Menschen, ausüben. Sind hier in Wahrheit nicht ausschließlich ihre Eltern schuld? Die übrigen sozialen Kontexte und die gesellschaftlichen Interdependenzen geraten meist völlig aus dem Blickfeld. Ob freilich ein Einzelproblem zum expliziten sozialen Problem aufsteigt, hängt von vielen Faktoren ab und stellt keine immer gleiche Faktorenkombination dar. Zunächst ist die „gesellschaftliche Ökonomie der Aufmerksamkeit“ entscheidend. Wichtig ist auch, ob die spezifische Problemkapazität von Diskursen durch professionelle Experten bestimmt und deren Definitionen in der Öffentlichkeit – selten ausreichend umsichtig, differenziert und sachbezogen – diskutiert und zur Bestätigung eigener Vorurteile als Beleg verwendet wird. Wichtig ist auch das Verhalten von Politikern, Juristen und Beamten der Sozialadministration und Polizei, die u. U. die Entwicklung auch von ihrer „Standespolitik“ her beurteilen. Und die Publikationen von Wissenschaftlern wirken heute keineswegs mehr „wertneutral“, sondern wirken – so oder so – reflexiv. Eltern können sich aufgrund des Stimmengewirrs in der Öffentlichkeit rasch veranlasst sehen, entweder als „gute Eltern“ durch ihre Fassungslosigkeit öffentlichen Trendbeobachtungen zuzustimmen, sie können resignieren oder ihre „Verstocktheit“ dadurch demonstrieren, dass sie sich trotz allem zu ihren Kindern bekennen. Sie können auch ihre Anstrengungen verstärken, dass Kinder doch noch die gesellschaftliche Inklusion in zentrale soziale Institutionen schaffen. Wenn aber Institutionen in Unkenntnis der komplizierten Sachlage und unter dem Druck der öffentlichen Meinung ihre Ansprüche und Leistungszumutungen steigern, ist vorauszusehen, dass sich die Eltern bald überfordert fühlen und der Prozess der Konstitution des sozialen Problems seinen weiteren Gang nimmt. Folge davon sind nicht selten strafrechtlicher Aktionismus und „symbolische Politik“, die an der wahren Sachlage wenig ändern, ja sie nicht selten noch forcieren (Helsper 2002: 579f.).
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Es zeigt sich dann oft ein im Prinzip vermeidbares Übermaß an Ambivalenz, das sozialstrukturell bedingt und nicht der Problemlage inhärent ist. Sie wirkt häufig lähmend und fatal auf die unmittelbar betroffenen Kinder und Eltern und fördert nicht selten einen Teufelskreis, dem kaum zu entkommen ist, und der allenfalls in frühen Phasen seiner Soziogenese aufgebrochen werden kann. Die Steigerung pädagogischer, therapeutischer und politischer Interventionen erweist sich dann nicht nur in vielen Fällen als nutzlos, sondern manchmal sogar problemverschärfend, weil sie weder die Motivation der inkriminierten kindlichen Akteure und ihrer Bezugspersonen, noch die notwendige Mobilisierung der Gesellschaft gegenüber Simplifikationen und Kurzschlüssen zu leisten vermag. Armut ist ein klassisches soziales Problem, bei dem Exklusion von Kindern unvermeidlich ist. Die offensichtliche Unfähigkeit westlicher Wohlfahrtstaaten in den letzten Jahrzehnten, Kinderarmut und ihre Folgen zu beseitigen, ist ein nicht zu unterschätzendes Legitimationsrisiko, weil ja die Chancengleichheit ein zentrales Legitimationskriterium der modernen Demokratie darstellt. Insofern spricht die Tatsache Bände, dass in vielen Arbeiten und sogar in den großen Kompendien der Kindheitsforschung das Thema Kinderarmut entweder gar nicht oder nur marginal berührt wird, obwohl nicht zu Unrecht von einer „Infantilisierung der Armut“ in allen westlichen Staaten gesprochen werden kann. Annähernd 2 Millionen Kinder sind allein in Deutschland davon betroffen, dass ihre Eltern arm sind. Relative Armut ist zwar für die meisten Kinder kein Dauerzustand, dürfte aber in jedem Fall bleibende Spuren hinterlassen. Dabei zeigt sich immer wieder, dass Armut ein komplexes Problem ist und nicht auf Einkommensarmut reduziert werden darf. Armut trifft vor allem Kinder Alleinerziehender. Ähnliche materielle Bedingungen finden Kinder in kinderreichen Familien mit relativ geringen Einkommen. (Kinder sind jedoch nicht in allen Familienhaushalten ein „Armutsrisiko“, wie zuweilen pauschal behauptet wird!) Ausgaben für Miete, Ernährung, Kleidung sind vor allem in städtischen Gebieten für sie zu hoch und lassen schon gar nicht weitergehende Bildungsanstrengungen und kulturell anspruchsvolle und anregende Freizeitgestaltung als möglich nahe liegend und interessant erscheinen. Die Diskussionen über Reichtum und Armut rühren an gesellschaftliche Tabus und wurden bis zum Prozess der deutschen Einigung im Jahre 1989 sozusagen nur hinter vorgehaltener Hand geführt. Immerhin hat der Armuts- und Reichtumsbericht, der seit wenigen Jahren von der Regierung abgegeben wird, im Jahre 2005 jeden Zweifel an den sich verschärfenden materiellen Ungleichheiten, an der Zunahme öffentlicher Armut und privaten Reichtums und an der Vorhandenheit von Kinderarmut beseitigt. Dies wirft das alte intergenerationale Grundproblem wieder auf, wer für wen in welcher Lebensphase zu sorgen hat. Soll dies überhaupt als gesellschaftliches und nicht nur als rein privates Problem betrachtet werden? Zu wessen Vorteil und wessen Nachteil? Soll der gemeinsam erwirtschaftete gesellschaftliche Reichtum, der nicht zuletzt auch auf einer gesellschaftlich bereit gestellten gesellschaftlichen Infrastruktur, einem hohen Qualifikationsniveau und sozialem Frieden beruht, nur privat verteilt werden? Oder bedarf es neuer „Gesellschaftsverträge“ und eines Konsenses über „öffentliche Güter“, die allen Kindern, gleich welcher sozialer Herkunft, in jedem Fall zur Verfügung gestellt werden müssten (Hengsbach 2002: 11ff.; Butterwegge 2004)? Sowohl relative Verelendungstendenzen, soziale Deprivation und Exklusion wie schematisierende Sozialadministration forcieren Statusprobleme und anomische Tendenzen. Krappmann hat vor kurzem in der Kindheitsforschung zum ersten Mal die für Kinder fatale Beziehungsarmut – allerdings ohne große Resonanz – thematisiert (Krappmann 2002:
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67ff.). Auch an kranke und behinderte Kinder denken der Alltagsdiskurs und die Kindheitsforschung selten, wenn sie von Kindern sprechen. Sind das exotische Phänomene? Werden nicht die meisten Kinder auch heute noch und manche schwer und zeitlebens krank oder behindert? In den seltensten Fällen verläuft ja die leibliche und/oder die psychosoziale Entwicklung von Kindern vollkommen glatt. Fast etwas verschämt wird allerdings dann doch immer wieder von besonderen Maßnahmen ausdifferenzierter institutioneller Kontexte berichtet, die zur Linderung, Behandlung oder Heilung chronischer Krankheiten beitragen sollen (Palentien 2002: 886; Bründel 1996: 253f.). Aus der Stressforschung werden Beschreibungen der Gesundheitsrisiken und -gefahren übernommen: falsche Ernährung, zu wenig Bewegung, einseitige Belastungen, Drogengebrauch. Belastungen werden mit Ressourcen und Coping-Strategien verglichen und daraus Typologien entwickelt. Krankheit und Behinderung werden in modernen Gesellschaften speziellen Institutionen zugewiesen, die nachhaltig eine Patienten- oder Behindertenrolle definieren, funktionalisieren und kontrollieren. Während eine Kinderrolle bei gesundheitsmäßig unbelasteten Kindern seit langem in Auflösung begriffen ist, wird sie im Falle von langer Krankheit oder Behinderung eher noch konsolidiert. Deren gesellschaftliche Langzeitfolgen werden noch immer unterschätzt. Außerdem gilt Krankheit und Behinderung weithin noch als rein physisches Problem und ausschließlich Sache von Medizinern oder seit einigen Jahren auch von Psychologen. Der Pharmasektor, medizinische Apparate und Technologien erwecken immer wieder die Illusion, dass die gesellschaftliche Inklusion und -integration ein rein technisches Problem darstellen (Groenemeyer 1999: 258ff.). Die Formen, wie diese Probleme zugänglich sind und wie sie in Anspruch genommen werden, Hilfesuche, die therapeutische Infrastruktur, Hilfsbereitschaft, Folgeprobleme und die soziokulturellen Vorstellungen und die zeitbedingten sozialen Reaktionen darauf, sowie die wissenschaftlichen, medialen und alltagskulturellen Definitionen verdanken sich jedoch eindeutig sozialen Faktoren. Es handelt sich auch nicht um statische Krankheitsbilder. Vielmehr verändern sie sich fortwährend. Und damit ändert sich auch der Kinderalltag kranker und behinderter Kinder immer wieder nach deutlich institutionellen Selektionskriterien. Nach repräsentativen Studien weisen ca. 15-20 % der Kinder im Grundschulalter körperliche und/oder psychosoziale Auffälligkeiten auf (Bründel 1996: 272). Aus öffentlichen Statistiken geht hervor, dass 3,2 % der schulpflichtigen Kinder als behindert eingestuft werden (Cloerkes 2001; 2003; Wisotzki 2000; Bründel 1996: 258, 263, 267). Weitaus die meisten Kinder, die behindert sind, sind seit ihrer Geburt behindert. Auffällig ist, dass sie – auch stärker als kranke Kinder – sofort als „ Problemgruppe“ klassifiziert und nur ihre Defizite beachtet werden. Hier zeigt sich deutlich, dass ihre Situation nicht nur durch ihre selbst erfahrenen Handicaps, sondern vor allem durch eine bestimmte Wissensstruktur einer Gesellschaft verursacht ist, die zu binärer Schematisierung neigt. Und noch massiver als bei kranken Kindern ist ihre soziale Lage an bestimmte Gelegenheits- und Opportunitätsstrukturen und die gesellschaftlichen Infrastruktur gebunden. Behinderte Kinder bleiben daher in rigider Weise auf ihre Kinderrolle fixiert, was die Normalisierung des Alltags und mögliche Kontakte zu nichtbehinderten Kindern erheblich einschränkt (Engelbert 1999; Chlebecek 1998: 362ff; Prout 2003: 48f). Die spezifische Normalität, die Stärken und die eigentlichen Beeinträchtigungen behinderter Kinder bleiben nichtbehinderten Kindern meist verborgen. Die sozial- oder heilpädagogische Profession steht ständig aus strukturellen Gründen in der Gefahr, entweder eine Disziplinierung zu organisieren oder der Gesellschaft einzureden, behinderte Kinder
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hätten keinerlei inhärente Einschränkungen und Affinitäten zu sozialen Problemen, weil es für Behinderte ausdifferenzierte Instanzen der Problembearbeitung gibt, die seit einiger Zeit teilweise sogar zur gesellschaftlichen Integration und institutionellen Inklusion in Institutionen Nichtbehinderter bereit sind. Kinderkriminalität wird aus rechtlichen Gründen als Kinderdelinquenz bezeichnet. Es handelt sich hier um Verstöße gegen legale Normen vor der vollen Rechtsmündigkeit. Diese Phänomene sind jedoch nicht nur durch die sonderrechtlichen Delikt- und Strafkriterien charakterisiert, sondern teilweise auch durch eine abnehmende Sozialkontrolle und die starke Ausbildungs- und Schwerpunktbildung der Arbeit von Polizei und Justiz, bzw. der öffentlichen Jugendhilfe. Es ist eine alte Einsicht der Kriminologie, dass fast alle älteren Kinder irgendeinmal Dinge unternehmen, die bei strikter Beurteilung den Tatbestand abweichenden Verhaltens erfüllen, meist aber weder rückfällig, noch entdeckt und angezeigt oder verurteilt werden. Manche finden auch einen verständigen Jugendrichter oder Bewährungshelfer, der ihnen statt Strafe Ermutigung und Hilfe anbietet. Nicht wenigen wird diese jedoch nicht zuteil. Sie sind mit 10 delinquent und mit 14 schon kriminell. Polizeistatistisch und in den Justizdokumentationen zeigen sich seit vielen Jahren schwankende, aber stetig steigende Delinquenzraten. Sie geben aber nach Meinung vieler Kriminologen keinen verlässlichen Aufschluss und Anlass zur Dramatisierung, da sie durchweg sehr selektiv angelegt sind. Es ist ein deutlicher Anstieg bei der Altersgruppe der 12-13 Jährigen und ein leichter Anstieg bei jüngeren Jahrgängen festzustellen, die dem Anstieg der Durchschnittszahlen zugrunde liegen. Ein Großteil der Kinder, die einmal delinquent geworden sind, finden bei kluger sozialer Reaktion ihrer sozialen Umgebung zurück in die legale Normalität. Etwa 6% der Kinder werden delinquent, entdeckt und angezeigt und noch weit weniger Rückfalltäter und später kriminell. Allerdings nehmen bestimmte Deliktarten auffällig zu: Diebstahl, Vandalismus und Gewalt. Auch die Härte und Brutalität scheint zuzunehmen. Es gibt aber keinen eindeutigen Schwellen- und Prognosewert weitergehender Delinquenzentwicklung (Müller 1998: 15). Und es gibt noch weniger strafrechtliche oder sozialpädagogische Patentrezepte. Das Delinquenzniveau bei Kindern korreliert entscheidend auch mit dem Umfang an Kriminalität und Gewalt, das in der Gesellschaft unter Erwachsenen zu Tage tritt. In verhältnismäßig immer noch wenigen Fällen, die oft Gegenstand von Sensationsmeldungen sind, wird von Gewaltexzessen von Kindern gegen Erwachsene berichtet. Hier scheint sogar eine steigende Tendenz gegeben zu sein (Palentien 1999: 879; Holtappels 1997: 328ff.; Scherr 2004: 202ff.; Soeffner 2004: 62ff.). Immer noch exotisch erscheint vielen Erwachsenen der Wohlstandsgesellschaft das Phänomen der Straßenkinder, obwohl immer schon eine kleine Zahl von Kindern ihren Familien davon gelaufen ist. Vormodern gab es ganze Straßenbanden von Kindern, die entweder Waisen waren oder zuhause nur Not, Elend und Grobheit vorfanden und daher ihre Familien verließen. Gegen sie richtete sich die Sozialdisziplinierung der modernen europäischen Territorialstaaten nicht zuletzt. Es wird auch bei großen politischen Umbrüchen z. B. nach Kriegen und politischen Revolutionen von ganzen Scharen umherziehender Kinder berichtet. Viele Erwachsene haben durchaus schon etwas von Straßenkindern der großen Metropolen Südamerikas, Asiens, Russlands oder anderer postkommunistischer Gesellschaften gehört, wollen aber nicht glauben, dass es ähnliche Phänomene mittlerweile auch in größeren und mittleren Städten westeuropäischer Gesellschaften gibt. Natürlich kann man die gesellschaftlichen Bedingungen der „Dritten Welt“ nicht mit denen westlicher Wohlfahrtsgesellschaften gleichsetzen. Und wohl stärker als dort schlagen sich hier
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wohl Prozesse familialer Desorganisation und psychosozialer Stress und administrative Reaktionen neben materieller Armut im Ursachenbündel der Entstehung nieder (Butterwegge 2004: 127ff.). Es handelt sich hier im engeren Sinn bei Straßenkindern nicht nur um obdachlose Kinder, sondern um Kinder, die den Hauptteil ihrer Zeit auf der Straße verbringen und die Familie fliehen, öffentliche Freizeitangebote ausschlagen, nicht selten die Schule schwänzen und dabei früh in Kontakt mit der „Unterwelt“ kommen. Die meiste Zeit des Tages treiben sie sich in Bahnhöfen, Parkanlagen, U-Bahn-Schächten oder Kaufhäusern herum. In den meisten Fällen handelt es sich um jüngere Jugendliche. Es gibt aber auch Kinder der mittleren Kindheit (zwischen 7 und 10 Jahren) darunter, die manchmal von älteren Kindern in die „Szene“ hineingezogen werden. Es gibt keine genauen Zahlen, aber Schätzungen, die in die Tausende gehen. Inzwischen wird der Begriff „Straßenkinder“ kontrovers diskutiert, weil er medial hochgeputscht werde und als „paternalistische Metapher“ (Liebel) fungiere. Immerhin entschlossen sich mittlere Städte wie Freiburg oder Mannheim zu besonderen sozialpädagogischen Programmen (Butterwegge 2004: 129; v. Dücker 2001). Es ist allerdings zu vermuten, dass sozialpädagogische und sozialtherapeutische Maßnahmen dieses Phänomen nicht beseitigen werden, solange die Folgen der Weltmarktdynamik nicht reguliert und kultiviert werden und der Abbau des Sozialstaates voranschreitet. Erstaunlich ist es, dass der Migrationshintergrund vieler Kinder in der Kindheitsforschung relativ selten ausgeleuchtet und interkulturelle Kommunikation nicht als relationale Variable auch für „ganz normale“ Kinder berücksichtigt wird, treffen doch deutsche Kinder spätestens im Kindergarten und in der Grundschule selbst im kleinsten Dorf auf Kinder anderer ethnischer Herkunft. Die ca. 8 Millionen „inländische Ausländer“, die im vereinigten Deutschland leben, haben ungewöhnlich viele Kinder und wirken schon deswegen auf manche Deutschen irritierend. Mit der Einreise neuer Migrantengruppen treten die vergleichsweise traditionellen Probleme der „Gastarbeiter“ zurück gegenüber Asylsuchenden, Kriegsflüchtlingen, Aussiedlern aus Osteuropa und Saisonarbeitern, sowie den legalen und illegalen Arbeitsmigranten aus aller Herren Länder, verzahnen sich aber auch teilweise damit. Das scheint in der deutschen Bevölkerung immer neu einen Ethnozentrismus aufblühen zu lassen. Doch dies ist ein höchst beschränkter Blickwinkel, der genau genommen höchstens regional ansetzt und sich auf soziale Brennpunkte konzentriert, statt die internationalen Migrationsbewegungen zur Kenntnis zu nehmen (Apitzsch 2002: 819f.). Immerhin wurde zwischenzeitlich bemerkt, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen der ersten, zweiten und dritten Generation von Migranten erheblich unterscheiden und geändert haben. Es wird darüber gestritten, was gesellschaftliche und politische Integration bedeuten könne und ob jedem Kind tatsächlich ein „Recht auf Förderung seiner Entwicklung und Erziehung“ oder nur eingeschränkte Duldung zugestanden werden soll. Nicht nur die soziale Lage, sondern auch die nicht immer ganz aufrichtige politische Diskussion, das Wissen der betroffenen Eltern und Kinder und das Wissen der Gesellschaft darum und ihre sozialen Reaktionen darauf, bewirken im jeweiligen Fall einen besonderen Interaktionsstress. Bei allem erkennbaren guten Willen scheint es dem deutschen Kindergarten und der Grundschule bislang nicht zu gelingen, die relative soziale Deprivation von Kindern mit Migrationshintergrund auszugleichen. Dennoch hoffen die meisten davon, dass sich ihre schwierige Gegenwart in der Zukunft auflöse (Apitzsch 2002: 823). Doch sie spüren auch, dass ihnen dies die „Selbstethnisierung“ der deutschen Kinder erschwert.
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Darüber hinaus ist damit die hohe soziale Selektivität sozialer Institutionen nicht aufgehoben; ebenso wenig wie die hier oft erschwerende und meist interdependente Einkommens-, Versorgungs-, Bildungs- und Beziehungsarmut. Erstaunlicherweise sind Kinder aber dennoch oft in der Lage, als Übersetzer und Vermittler zwischen den Kulturen aufzutreten und sich als Einheimische zu verstehen. Für alle Außenseiter, Kinder in besonderen Problemlagen und Angehörige von sozialen Minderheiten, gilt, dass gesellschaftliche Bedingungen, Situationsopportunitäten und das soziokulturelle Bild des „Abweichenden“ voneinander abhängen und sich wechselseitig beeinflussen. Eine relativ stabile gesellschaftliche Entwicklung könnte nur dann erreicht werden, wenn sowohl die betroffenen Kinder, ihre Bezugspersonen als auch deutsche Kinder und Erwachsene sich kulturell gegenseitig annäherten. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel, von dem die deutsche Gesellschaft, die wieder verstärkt über eine deutsche „Leitkultur“ bestimmen möchte, weit entfernt ist. Es ist wohl auch nur unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und längerfristig bei einzelnen Akteuren erreichbar. Es gibt auch nicht das „Kind in besonderen sozialen Lagen“, sondern nur ein bestimmtes temporales Spektrum typischer sozialer Konstruktionen abweichender Kindheiten in bestimmten zeitlichen Konstellationen (Treibel 2003: 108).
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10.1 Internalisierung als Aktualisierung Man kann Berger/Luckmanns Konzept der Internalisierung durchaus noch von Husserls Lebensweltkonzept und vom frühen Schütz her verstehen. Nichts verbietet jedoch eine Leseart, die sich stärker am späten Schütz und an Merleau-Ponty orientiert. Schütz (1979; 1984) und Merleau-Ponty (1965; 1994) hatten die Lebenswelt nicht mehr als transzendentale Struktur, sondern als historisch-biographische oder „mundane“ und variable Zusammenhangsstruktur verstanden, die zugleich subjektiv und intersubjektiv orientiert ist und sich als bestimmtes „Zur-Welt-sein“ in Interaktionen artikuliert und aktualisiert. Dann ist nicht mehr der Transfer von der partikulären zur universalen Erfahrung im Bewusstsein das eigentliche Konstitutionsproblem, sondern die aktualisierende Verankerung und Resubjektivierung eines Interaktionszusammenhangs, der zunächst weder dem Ich noch dem Du allein zurechenbar ist. Der theoretische Akzent hat sich somit vollständig verschoben (Srubar 1988; Waldenfels 1980). Aus dem „egozentrischen“ Konzept ist ein relationales und temporalisiertes Konzept der „Netze der Lebenswelt“ geworden, das immer wieder aktualisiert werden muss und aktualisiert werden kann. Damit wird freilich Berger/Luckmanns (1970: 189f.) ursprüngliches Verständnis auch dynamisiert (Srubar 1988: 266f.). Zugleich zeigt sich hier eine große Nähe zu Mead, der die Konstitution der Wirklichkeit nie im transzendentalen Subjekt, sondern stets in Interaktion und Kommunikation gesehen hatte. Auch der Prozess der Selbstwerdung war nach Mead (1987: 211ff.) ja daran gebunden, sich mit den Augen des Anderen und seiner Umgebung zu sehen. Das war in gewissem Umfang auch die Auffassung des späten Schütz und Merleau-Pontys. Sie, Merleau-Ponty noch stärker als Schütz, betonten jedoch, dass dies nur heuristische Normalitätsunterstellungen seien, die nicht die letzte Intransparenz des Interaktionspartners beseitigen könnten und so eine vollkommene „Rollenübernahme“ als einen linearen Universalisierungsprozess, vom situativ verorteten „signifikanten“ zum abstrakten „verallgemeinerten Anderen“ auch noch streng genommen nie oder nur als idealisierenden Limesbegriff zulasse. Evolutionistische Sozialisationskonzepte, wie sie Mead vertrat, sind dann nicht mehr tragfähig und viel zu fortschrittsgläubig. Auch die Internalisierung bleibt somit eine temporal konditionierte soziale Reinterpretation (Konstruktion), Rekontextualisierung und Resubjektivierung und führt nicht zu einem kompakten, nach der Primärsozialisation substanzialisierten Selbst und korrespondierenden Rollensystemen. Rollen bleiben prekäre Leitfäden oder Sedimente der Interaktionsgeschichte (Berger 1976). Heute sind sie zudem noch soziokultureller Erosion in vielen nicht funktional stabilisierten Bereichen unterworfen. So gibt es nur noch Versatzstücke und Rollenstereotypien von Alters-, Geschlechts- und Familienrollen, während Rollen in funktional differenzierten Sozialsystemen wie dem Berufs- und Beschäftigungssystem nicht nur nach wie vor beste-
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hen und voll anerkannt sind, sondern häufig professionalisiert werden. Kinder müssen vielfach weit über „Rollendistanz“ hinausgehen zu einer „Rollenschöpfung“, die kaum noch mit allgemein verbindlichen „Rollen“ rechnen kann, aber umso intensiveres Verhandeln und explorative Eigenarbeit voraussetzt. Gerade auf diesem Hintergrund wird Internalisierung als aktualisierende Resubjektivierung in individualisierten Gesellschaften notwendiger denn je. Damit wird natürlich auch die „Wechselseitigkeit“ der Interaktion nach Kriterien der Sympathie, sachlicher Zusammenarbeit und Macht laufend reinterpretiert. Sie kann dann z.B. symmetrischer oder asymmetrischer, reziproker oder weniger reziprok, kommunikationsfreundlicher und für Kommunikation im Moment unzugänglich und gestört, vertrauter oder fremder, transparenter oder intransparenter sein. Und das hat wiederum Rückwirkungen auf die Struktur und Qualität des Selbst in der aktuellen Resubjektivierung. Diese ist also kein Resultat linearer, schlicht universalisierender Evolution. Sie erreicht begrenzte Universalisierung, die nie neue Partikularität im Sinne der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und biographischer Rück- und Vorgriffe ausschließt (Merleau-Ponty 1994). So verstandene Internalisierung vollzieht sich nur konstruktiv in historisch-biographischen Konstellationen und prekären „Ich-Wir-Balancen“ (Elias 1991: 207ff.). Es werden hier also nicht im subjektiven Bewusstsein Lerngegenstände gehortet, transportiert und vom Gehirn als Informationsverarbeitungsmaschine verarbeitet, sondern mittels Wissen praktische Lebensbewältigung angestrebt, Serien von Situationen geordnet, verstehbar und Vertrauen erweckend gemacht, so dass kindliche Handlungsfähigkeit gesichert bleibt. Auch sozialisatorisch erworbene Sozialkompetenz genügt nicht. Selbst Kinder, deren hohe Sozialkompetenz gemessen wurde, sind nicht immer in der Lage, sie kreativ auf ihre biographische Situation anzuwenden (Leu 1996: 174ff.). Oft wollen sie es auch nicht. Sie können auch jederzeit durch wiederholte Nichtanwendung etwas verlernen. Die Umstände können Kompetenzen unterdrücken etc. Kinder können heute in vielen Fällen in Situationen nicht einfach Normen applizieren und spezifizieren. In vielen Fällen gibt es gar keine klaren, für alle verbindlichen Normen, in vielen Handlungsbereichen herrscht ein verwirrender Normenpluralismus, in anderen Fällen arbeiten selbst Institutionen mit rein pragmatischen Normalitätsunterstellungen, in vielen Situationen herrscht ein wetterwendischer Zeitgeist und „Normalismus“ vor, der sich opportunistisch an Meinungsumfragen orientiert (Link 1998; Bröckling 2000; Behrens 1996). Hier müssen sich Kinder in Prozessen aktualisierender Resubjektivierung (Berger 1970: 142; Luckmann 2002: 140f.) immer wieder eine Lichtung durch einen Orientierungsdschungel schlagen, den Berger (1980: 23) nicht zu Unrecht auch als modernen „Relativierungshexenkessel“ bezeichnet. Kinder können zwar, je jünger sie sind, umso weniger ihre Bezugspersonen und -gruppen ohne weiteres aussuchen. Doch es zeigt sich, dass die kindliche „List der Ohnmacht“ einflussreicher geworden ist, und Eltern kaum noch in der Lage sind, selbstherrlich Entscheidungen zu dekretieren, selbst wenn sie dies wollen. Wenn sie Kinder motivieren wollen, müssen sie heute Kinder zumindest mitbestimmen lassen. Auch die Gesellschaft muss sich Einiges einfallen lassen, um Kinder zum Mitmachen zu mobilisieren. Dennoch schießen Kinder manchmal übers Ziel hinaus, nicht aus bösem Willen, sondern aus Unsicherheit. Ihren wirklichen eigenen Standpunkt müssen sie immer wieder suchen. Berger/Luckmann gehen davon aus, dass gesellschaftliche Wirklichkeit, in der wir alle leben, sich durch vielfältige, zu verschränkende Konstruktionsvorgänge von einer „Zustandsaktualität“ zur Vollzugswirklichkeit einer „Ereignisaktualität“ hin durch Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung dialektisch, und zwar nicht ausschließlich durch
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Bewusstseinsakte (Srubar 1991: 17), entfaltet. Die dabei wirksame Institutionalisierung wird immer wieder durch Deinstitutionalisierung gefährdet und erfordert in jedem Fall subjektive Sinnsicherung in interaktiven Zusammenhängen (Luckmann 2002: 57f., 61; Srubar 1988: 266f.). Resubjektivierung ist zugleich Begrenzung der Sozialisation. 10.1.1 Internalisierung bei Freud, Parsons, Berger/Luckmann Der Begriff Internalisierung ist mehrdeutig. An prominenter Stelle taucht er bei Freud, Parsons und Berger/Luckmann auf. Dabei werden ganz verschiedene semantische Akzente in den Vordergrund gerückt. Ohne dass hier ein ausführlicher Konzeptvergleich angestellt werden könnte, lässt sich wohl sagen, dass sich heute besonders der dynamische und prozesshafte Aspekt des Konzepts für eine theoretische Bearbeitung nahe legt, der bei der Rezeption Berger/Luckmanns noch stärker hervorgehoben werden kann, als es den Autoren zeitbedingt bei der Publikation Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts notwendig erschien. Internalisierung bei Freud ist nicht wie bei Parsons und Berger/Luckmann ein Übersetzungsvorgang von „Außen“ nach „Innen“, sondern eine eigene Wirklichkeitsebene der Psychodynamik, die im Unbewussten ihr Recht fordert. Freud (1950; 1984) zerlegt bekanntlich das Seelenleben, das sich von Anfang an in einer alternativen Bewegung zwischen Attraktion und Distraktion zwischen den Eltern und Kindern und bleibenden Spuren frühkindlicher Erlebnisse vollzieht, in einem Dreiebenenmodell von Es, Ich und Über-Ich. Was in der Körpersprache der Symptome ans Tageslicht tritt, lässt sich demnach analytisch ordnen, insoweit sich Symbolisierungen dieser drei Ebenen finden und dechiffrieren lassen. Wenn sich die frühkindliche Vorgeschichte verselbstständigt und den Weg des Kindes zu ihnen blockiert, verhindert das einen Weg in die Zukunft und einen entspannten und differenzierten Zugang zu den verschiedenen Vorgängen mit ihren spezifischen Symbolisierungen. Aber auch in den Handlungen des normalen Menschen deuten sich immer wieder unbewusste Motive an, die sich der direkten Reflexion und sprachlichen Thematisierung entziehen. Die Äußerungen des Trieblebens („Es“) machen sich auf einer spezifischen Ebene in Symbolisierungen der Körpersprache bemerkbar, die nur aus der Distanz und von geschulten Psychotherapeuten dechiffriert werden können. Psychotherapeutische Praxis versteht sich als qualifizierte Symptomdeutung des Unbewussten, als dem „inneren Ausland“ der Psyche. Das rational nie voll auslotbare Leben der Psyche hat sich stumm in den Körper eingeschrieben und einen Grad der Latenz angenommen, der auch nicht durch Reflexion nonverbaler Kommunikation, sondern nur durch die psychotherapeutisch angestoßene Wiederholung überhaupt erst wieder zum Vorschein kommt. Internalisierung ist also bei Freud kein kognitiver Übersetzungsprozess, sondern etwas, was den Menschen buchstäblich in die Knochen gefahren und nur schwer zur Erscheinung zu bringen ist und sie so an Kommunikation hindert. Der Psychotherapeut muss tief ins Unbewusste hinabsteigen und seine Symbolisierung und deren Schauplatz erst zur Repräsentanz bringen. Das Ich ist keine Informationsverarbeitungsmaschine, sondern ein Schauplatz eigener Art, an dem oft widersprechende Botschaften des „Es“ und des „Über-Ich“ aufeinander treffen. Es gewinnt seine Steuerungsfähigkeit nicht durch Reflexion, vielmehr dadurch, dass es seine Triebanteile nicht verleugnet, sondern sanft sublimiert. Ein Teil dieser tief internalisierten Verletzungen sind unvermeidbar, weil die unbewussten Interessen von Erwachsenen beiderlei Geschlechts und die der Kinder divergieren. Während das Kind
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durch Gebote und Verbote gleichsam von außen gesteuert wird, versucht der Erwachsene im Horizont seiner frühkindlichen Erfahrungen sein Ich (auch im Verhältnis zum Über-Ich) zur Geltung zu bringen. Man könnte auch sagen: während das Kind sozialisationsbestimmt ist, reinterpretiert der Erwachsene seine Sozialisation in Anerkennung der Trieb- und der Über-Ich-Sphäre. Parsons war subjektiv der Meinung, Freud korrekt rezipiert zu haben, hat auf ihn aber tatsächlich äußerst selektiv zurückgegriffen und ihn in vieler Hinsicht simplifiziert. Das gilt auch gerade für sein Internalisierungskonzept. In der sozialen Interaktion spielen Zeichen und Symbole als Kommunikationsmedien zwischen den Akteuren eine große Rolle. In einem System sozialen Handelns werden kulturelle und psychisch-motivationale Elemente in eine Ordnung gebracht, deren Struktur durch das Persönlichkeitssystem der beteiligten Individuen, durch das Sozialsystem der interaktiven Prozesse und durch das Kultursystem gebildet und im Prozess der Sozialisation reproduziert werden. Dabei geht Parsons von einer natürlichen Affinität und Kompatibilität dieser drei Systeme aus, die eine vollständige, einmalige oder kontinuierliche sozialisatorische Internalisierung prinzipiell unproblematisch erscheinen lässt. Jede Gesellschaft hat genau jenes Verhältnis von „Innen“ und „Außen“, kulturellem Wert und psychischer Motivation, Motiv und Bedürfnis in jedem ihrer normal sozialisierten Persönlichkeiten, die zu ihr passen. Brüche, Selektionseffekte, Diskrepanzen verweisen auf pathologische oder deviante Vorgänge. Normen müssen vollständig verinnerlicht, d.h. in Werten fest integriert werden, damit intrinsische Motivation gesichert ist. Nur intrinsische Motivation sichert auf Dauer langfristig Systemidentifikation und politische Loyalität. Gesellschaftliche Erwartungen und persönliche Bedürfnisse können dabei in aller Regel problemlos zur Deckung gebracht werden. Damit wird aber vieles postuliert, dessen Verträglichkeit und Isomorphie erst nachgewiesen werden müsste. Mead war hier eigentlich schon ein Stück weiter, als er von einem inneren Dialog zwischen „I“ and „Me“ als Resonanzboden der Sozialisation ausgegangen war. Parsons setzt demgegenüber hier rein voluntaristisch an. Der Verweis auf die Stabilität der Motive reicht aus, um biographische Gefährdungen, die bei Freud sehr deutlich gesehen werden, vergessen zu lassen. „Rollendistanz“ ist weder notwendig noch sinnvoll. Kritische Reflexion muss dem Wissenschaftssystem vorbehalten werden. Frühkindliche Abspaltungen in der Psyche, die bei Freud bis zu einem gewissen Grad als unvermeidbar erschienen waren, müssen verhindert werden. Biographie ist bei Parsons (1979: 205, 208) korrekte Sozialisationsgeschichte, keine konstruktive „Sublimierung“ oder gar ein dauerndes Umschreiben, Gewichten, Auswählen, Rechtfertigen, Betonen, Auslassen, Verdrängen, Anfertigen von „Zwischenbilanzen“ mittels konstruktiver Vor- und Rückgriffe und Bewältigen des „Dilemmas der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Offe). Internalisierung gewinnt bei Parsons vor allem dadurch Gewicht, weil sie ein für allemal intrinsisch Motive schafft, die sich fugenlos in die gegenwärtigen Wertestrukturen einfügen lassen. Und der Prozess internalisierender Sozialisation schreitet linear und irreversibel von der Verinnerlichung partikulärer zu universalen Normen voran, wie es einem orthodoxen modernisierungstheoretischen Evolutionismus entspricht. Berger/Luckmanns Buch (englisch 1966!) mag sich, oberflächlich betrachtet, der damaligen Theoriesprache, die noch um 1960 stark vom Strukturfunktionalismus und insbesondere von Parsons geprägt war, angepasst haben, besaß aber immer schon eine andere, eine sozialkonstruktivistische Stoßrichtung: Gesellschaftliche Wirklichkeit ist nicht Systemdifferenzierung, sondern Strukturierung oder gesellschaftliche (Re)-Konstruktion historisch vorkonstruierter All-
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tagswirklichkeit – oder, wie Giddens sagt, „duale Struktur“, deren „Dialektik“ nie still gestellt werden kann. Internalisierung ist bei Berger/Luckmann daher nicht direkte und selektionsfreie Verinnerlichung von Werten und Normen, sondern subjektive Sinnsicherung und Resubjektivierung, aber auch Reintegration individualisierter Handlungszusammenhänge. Demnach determiniert nicht Systemproduktion und Sozialisation das, was Kindheit ausmacht, sondern umgekehrt die jeweilige historische Sinnrahmung, was Sozialisation ausrichten kann. „Variationen… bei der gesellschaftlichen Definition der Kindheit und ihrer Stadien wirken sich offensichtlich auf das ganze Lernprogramm aus“ (Berger 1970: 147). Internalisierung ist kein unbewusster psychodynamischer Vorgang wie bei Freud und kein voluntaristischer wie bei Parsons, sondern eine Art Wissensrelationierung und „multirelationale Synchronisierung“ (Berger). Sie ist soziologisch „Mikrofundierung“ von „Makro- und Mesofundierung“. Erst vor diesem Hintergrund können Kultur, Imperative und Institutionen Verpflichtungen und Gate-Keeping-Prozesse wirkungsvoll in Bewegung setzen, wobei es nicht nur um „einfache“ oder „erweiterte“, sondern auch immer um kreative „Reproduktion“ geht. Die zentrale Implikation dieses Ansatzes, dass gesellschaftliche Prozesse immer durch Sinnrahmungen vermittelt sind und diese Sinnstrukturen kontingent bleiben, kann heute auch explizit thematisiert werden (Alheit 1997: 943f.; Reckwitz 2000: 46). Gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit bleibt transitorisch: zwischen Habitualisierung und Kontingenz. 10.1.2 Rollendistanz und Selbstpräsentation Berger/Luckmann schließen sich schon in den Jahren um 1960 Goffman mit seinem Begriff der „Rollendistanz“ an, weil ein strukturierungs- oder konstitutionstheoretischer Ansatz stets einen Freiraum für Distanzen gegen Struktursedimentierungen des Status quo offen halten muss. Nicht Strukturen in Relation zu sozialem Handeln, sondern Akteure in Strukturierungsprozessen „in statu nascendi“ sind das Grundmotiv einer sozialkonstruktivistischen Theorie (Coenen 1985: 277f.). Rollendistanz bedeutet Relativierung eines gesellschaftlichen Anspruchs und Relativierung des rollenspezifischen Teil-Selbst, ohne sich schlicht vom institutionell verankerten Rollenimperativ zu dispensieren. Dies setzt erhebliche Souveränität, ja im Einzelfall Virtuosität voraus und gelingt nicht mit bequemer Ignoranz oder Dilletantismus. Rollendistanz ist also ein wissenssoziologischer Modalbegriff, der gut in die Argumentation Berger/Luckmanns passt (Berger 1970: 153). Ebenso lässt sich der Begriff der „Rollenschöpfung“ (rôlemaking) hier gut unterbringen. Empirisch und theoretisch drängt die Analyse soziogenetischer Prozesse heute freilich über die Rollentheorie hinaus zu den impliziten Wissensvoraussetzungen nicht-normativer wie normativ-institutioneller Strukturbildungen. Allerdings halten Berger/Luckmann – wahrscheinlich zeitbedingt – Rollendistanz wie Identitätssuche von Kindern für unmöglich. Eine kurze Visite in heutigen „Verhandlungsfamilien auf Zeit“ (Beck) oder Grundschulen könnten sie sofort eines Besseren belehren. In der Sozialisationstheorie hatte Rollendistanz ursprünglich keinen Platz und erweist sich nach wie vor selbst in interaktionistischen Versionen als sperrig, da sie streng genommen auch den Gedanken zeitweiliger Unterbrechung und Suspension sozialisatorischer Interaktion nahe legt. Mit dem Begriff Rollendistanz wurde aber zum ersten Mal anerkannt, dass
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innerhalb von Normen und Rollen wissensabhängige Handlungsspielräume anzutreffen sind, die auch Institutionen immer wieder in einen interpretativen und u. U. mikropolitischen Prozess involvieren. Nicht alles steht dabei zu jeder Zeit in gleicher Weise zur Disposition. Rollendistanz ist kein subjektivistisch-psychologisches, sondern, wie schon gesagt, ein Modalbegriff der Wissensproduktion mit ihren immer zugleich subjektiven wie intersubjektiven Momenten. Da wir heute jedoch nicht nur mit Änderungen innerhalb eines Bezugsrahmens, sondern mit Veränderung des Sinnrahmens selbst und dauernden fließenden Übergängen zwischen den beiden analytisch unterscheidbaren Wandlungsprozessen, „Rollenübernahme“ und „Rollenschöpfung“, zu rechnen haben, drängt der theoretische Blick, die grundlegende Problematik der Konstitution von Wissenszusammenhängen zu beschreiben. Nicht zuletzt der Rollenbegriff hat das Denken immer zu Verdinglichung und Substanzialisierung sozialer Prozesse verleitet und die Interpretationsdynamik von Normen und die vielen informellen Normalisierungspraktiken verschleiert (Coenen 1985; Grathoff 1989). So ziemlich alles wurde als Rolle offeriert, was Normalität beanspruchte; selbst wenn es auf den zweiten Blick als ephemer zu durchschauen war. Rolle war Rolle, gleichviel ob es sich um kulturelle Codierung, funktionsspezifische Erwartungen, Rollenstereotype, Normalitätsvermutungen, ein egologisches Bewusstseinsschema oder anthropologische „Masken“ handelte. Völlig übersehen wurde vielfach, dass Rollen durch affektive Informalität so stark entwertet werden können, dass sie zwar fassadenhaft noch gelten, ihre Einforderung aber zwecklos ist: „Stell dir vor, es sei Krieg und keiner geht hin…“. Normen und Rollen müssen nicht nur internalisiert sein. Sie müssen plausibel sein und sozial mobilisieren und ihre Deutung muss zumindest sozial akzeptabel erscheinen. Dazu kommt, dass persönliche Identität, obwohl immer öfter verfehlt oder in einen „Suchhabitus“ transformiert, in der Moderne längst zu einem „Schlüsselwert“ (Luckmann) oder leitenden Ideal geworden ist. Doch die Optionen für dessen lebenspraktische Realisierung werden vielfältiger, inkonsistener, kontingenter, disparater. Jeder Akteur wird explizit oder implizit aufgefordert, seinen Halt in sich selbst zu suchen. Freilich fehlt es notorisch an Orientierungswissen und klaren Entscheidungskonstellationen, um Optionen von Scheinoptionen zu unterscheiden und sie nach Relevanzkriterien vernünftig zu gewichten. Etwas, was sich fortwährend wandelt, soll das Wirklichste des Wirklichen sein. Ganz offensichtlich zerfasert dies immer öfter in disparate Zukunftsszenarien und Inszenierungsmöglichkeiten. Inszenierung beschränkt sich somit nicht auf Menschen, die mehr scheinen wollen, als sie sind. Mehr oder minder alle Kinder können sich Anderen nur noch verständlich machen und sich auch selbst verstehen, wenn und insofern sie sich auf Inszenierungen einlassen. Resubjektivierung und Orientierung kann dann nur noch nachträglich in reflexiver Konfrontation und expliziter Reflexion rationalisierend betrieben werden (Berger 1976: 248f.; Abels 1993: 583). Traditionell war das Kind Produkt seiner kurzen Vergangenheit, Hoffnungsträger und Gestalter seiner Zukunft. Nun aber scheint es möglich, dass selbst diese kurze Vergangenheit immer wieder neu und alternativ gedeutet und die Zukunft immer auch anders sein könnte. Und selbst die „handfeste“ Gegenwart stürzt Kinder oft in ein Gewirr divergierender Perspektiven. Es wächst der – objektiv falsche Eindruck –, dass alles beliebig und subjektivistisch inszenierbar sei: „Hauptsache man kommt an…“. Dies ist gewiss nicht immer, aber manchmal eben doch auch der semantische Beiklang des heute vielfach strapazierten, aber höchst problematischen Konzepts „Selbstsozialisation“ in den Erziehungs- und Sozi-
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alwissenschaften. Selten will man ja dadurch zum Ausdruck bringen, das „Selbst“ des Kindes lasse sich zum Lakaien der Gesellschaft machen und betreibe – mehr oder minder undurchschaut – die Selbstdisziplinierung in eigener Regie; am langen Zügel der Sozialisationsinstanzen. Wenn hochgradiger Normenpluralismus und Normalitätsintransparenz immer wieder an den „Suchhabitus“ von Kindern appellieren, gewinnen Inszenierungen einen ganz neuen Stellenwert, obwohl Kinder immer noch mit zahllosen Stereotypien über ihre angeblich immer noch gültige, angeblich anthropologische „Kinderrolle“ (Lüscher 1976: 129ff.) konfrontiert sind. Selbstbild, Rollenbild, Gesellschaftsbild überschneiden sich und kovariieren aber immer häufiger in verwirrender Weise, sodass nichts anderes übrig bleibt, als explorative Formen der Selbstdarstellungen zu Hilfe zu ziehen und auf zeitweilige „Identitätsbalance“ in absehbarer Zukunft zu hoffen, die dann auch wieder dem Gefühl der inneren Stabilität zuträglich ist (Alheit 1997). Das Alter spielt insofern noch eine Rolle als es als ein technischer „Identitätsanker“ und eine Form entdramatisierender Normalitätsunterstellungen sozialer Institutionen fungiert, die damit oft auch naturalisierende Nebeneffekte erzielen. Viele glauben in genau diesem Sinn noch heute, „Pubertät“ sei ein natürliches Datum für das Ende der Kindheit, obwohl sich historisch und ethnologisch zeigen lässt, dass sie weder ein natürliches, noch ein präzises und konstantes Definitionskriterium darstellt. Das chronologische Alter bietet aber immerhin Institutionen die Möglichkeit, den Lebenslauf kurz-, mittel- und langfristig zu strukturieren. Und selbstverständlich bietet dieses Zeitkorsett verunsicherten Kindern und Eltern eine gewisse Stütze bei der Zuschreibung altersspezifischer „Entwicklungschancen“. Doch genau betrachtet lassen sich diese weder aus biopsychisch-anthropologischen noch aus soziokulturellen „Entwicklungsaufgaben“ stringent deduzieren. Das zeigt trotz hirnphysiologischer Ausrichtung die gegenwärtige Diskussion über die Frühförderung schlagend. Physiologische Dispositionen und soziale Kontexte müssen zusammenpassen. Wer entscheidet, aber nach welchen Kriterien, dass sie zusammenpassen? Es hat sich beispielsweise gezeigt, dass frühe Multilingualität ohne laborierte Muttersprache kontraproduktiv ist. Die Rede vom „evidenzbasierten“ Wissen hat durchaus einen dogmatischen, zeitbedingten und mikropolitischen Unterton im Wechselspiel von Experten und Gegenexperten. Die Strukturierung des Alters ist heute in hohem Maße von explorativen Inszenierungen, Formen der Selbstdarstellung und Verhandlungen zwischen Erwachsenen und Kindern abhängig. Die viel beschworene Individualisierung bedeutet ja nicht notwendig, dass Kinder immer einsamer, individualistischer oder egozentrischer werden, sondern dass ihnen die Gesellschaft immer stärker die Verantwortung für die Qualität von Sozialbeziehungen individuell zumutet; auch in Fällen, wo soziologische Beobachter dies als objektiv „falsches Bewusstsein“ beschreiben können. Der soziale Vergleich der Variation von Szenarien bestimmter Bezugsgruppen gewinnt hier wachsende Bedeutung (Abels 1993: 493): Dürfen dies die Anderen auch? Mit wem darf, kann, soll ich mich vergleichen – mit welchen Konsequenzen bei der Durchsetzung eines Lebensplans angesichts welcher typischer Lebensverläufe und welchen Resten eines institutionalisierten Lebenslaufs? Wenn Altersnormen in einer „Normalbiographie“ nur noch rudimentär aufzufinden sind und allenfalls partiell gelten, nimmt einerseits die kulturelle Entstrukturierung, andererseits die Notwendigkeit der Inszenierung zu. Gerade bildungsbeflissene Eltern der mittleren und oberen Sozialmilieus haben in den vergangenen Jahrzehnten die Bedeutung von
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Selbstdarstellung neu entdeckt und planen und proben geradezu gemeinsam mit ihren oft noch kleinen Kindern eine attraktive und kommunikationsfreundliche „Inszenierung der Kindheit“ (Beck 1990: 65f.). Kinder selbst, besonders aus den erwähnten Kreisen, sondieren ihren konkreten sozialen Status, der sich ja optisch und direkt nicht als soziales Erbe demaskieren lassen will, immer stärker mittels Inszenierungen. Es geht dabei genau genommen also nicht um die Frage, ob man (schulische) Leistungen erbringt, sondern wie man sie „verkauft“. Notwendige Selbstdarstellung ist dabei nicht immer von gezieltem „Eindrucksmanagement“ und Show-Effekten eindeutig zu unterscheiden. Auch demonstrativer Konsum ist heute ein Mittel der Wahl der Inszenierungstechniken (Bourdieu 1988). Erst die inszenatorische Durchsetzung und soziale Akzeptanz (nicht unbedingt die positive Anerkennung!) bestätigt Kindern im Umgang mit anderen Kindern und Erwachsenen, „richtige“ Kinder zu sein und dabei „ein gutes Gefühl“ zu haben. Die Rede vom „Aufwachsen“ der Kinder erweist sich so immer mehr als unterkomplex, weil es diese inszenatorischen Aspekte übersieht, ohne deren Berücksichtigung Kindsein immer weniger zu verstehen ist. Es gibt sie natürlich noch in Einzelfällen, die „natürlich“ aufwachsenden Kinder. Sie haben es aber immer schwerer gegenüber der wachsenden Zahl der Inszenierungskünstler, die sich ihrer sozialen Umgebung gegenüber als „richtige Kinder“ in Szene setzen und „Kinderfreundlichkeit“ – ähnlich wie „optimale Förderung“ auf Seiten ihrer Eltern – zu einem inszenatorischen Projekt machen, das buchstäblich bodenlos ist und Kinder selbst auf Dauer auch zur ständigen Steigerung der Selbstdarstellungsanstrengungen und zur Selbstausbeutung verführen kann (Schulze 1994: 79ff.; Beck 1987; Sichtermann 1982). Kinder bleiben natürlich weiterhin auch von transsituativen, soziokulturellen und sozialstrukturellen Bedingungen abhängig. Neu ist aber, dass sie mehr denn je zunächst in konkreten Situationen durch die Art und Weise ihrer Selbstdarstellung überzeugen müssen. Inszenierungen setzen so „Imaginäres, Fiktives und Empirisches“ relativ kreativ zueinander in Beziehung (Willems 1998: 12ff.; Goffman 1969; 1973; 1974; 1994). Sie bewegen – manchmal fast virtuos – sich in einem dramatisierbaren oder entdramatisierbaren Wechselspiel von Selbst- und Fremdrepräsentation. Weniger denn je genügt es, auf „natürliches Aufwachsen“ oder zwingende Imperative der „Kinderrolle“ zu vertrauen. Es ist klar, dass dies ganz neue Chancen, aber genauso neue Risiken, Gefahren und Möglichkeiten grandiosen Scheiterns für Kinder in sich birgt. Und sie sind dann immer „selbst schuld“ an ihrem Jammer, auch wenn sie nach Beobachtungen distanzierter soziologischer Beobachter tatsächlich in „Teufelskreise“ und in die Falle eines „Interaktionsstress“ geraten sind. Rollendistanz ist in Institutionen gefordert und eine Frage der Kompetenz des ausreichenden Wissens und Mutes. Interaktive Inszenierungen gehen jedoch weit darüber hinaus und verwischen die herkömmlichen Grenzen zwischen „rôle-taking“ und „rôle-making“, bringen dabei ganz neue mikropolitische Aspekte zum Tragen (Neuberger 1997: 490f., 521f.; Beck 1997: 9ff.). 10.1.3 Das Spannungsverhältnis zwischen alltagszentriertem Lebenslauf und der aktuellen Biographie Kinder bewegen sich schon als Kleinkinder nicht nur im heimischen, alltäglichen Interaktionsfeld. Sie bekommen mindestens am Rande mit, welche beruflichen und freizeitorientier-
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ten Kontakte ihre Eltern haben. Im elterlichen Urlaub, in den Berichten häufig rüstiger Großeltern und nicht zuletzt durch die Medien und den transnationalen Konsummarkt gewinnen sie einen erstaunlichen Wissensvorrat. Schon im Kindergarten und oft schon davor im Wohnumfeld stoßen sie auf Kinder anderer ethnischer Herkunft. Sie haben aus all diesen Gründen Teil an mehreren ausgezeichneten Wirklichkeiten verschiedener Sinnprovinzen (Schütz 1979, 1984), die z.T. auch schon durch die herkömmlichen Kinderinstitutionen repräsentiert, jedenfalls oft aber konsolidiert werden. Alle aber ruhen auf der meist immer noch alles überragenden Alltagswirklichkeit. Die Übergänge in Raum und Zeit sind jedoch vielfältiger geworden. So werden etwa die Übergänge von Stunden-, Tages-, Wochen- und Jahresablauf heute weder durch den natürlichen Biorhytmus noch das Kirchenjahr bestimmt, sondern von einer Vielzahl sozialer Zeiten und der Eigenzeit, die nur in einer sozialen Konstruktion Koheränz gewinnen. In einen gewissen Gegensatz oder zumindest in eine Spannung dazu gerät dabei der kindliche Wille zur biographischen „Authentizität“, der sich nicht mit Alltagsroutinen zufrieden geben will. Obwohl die Schwerkraft des Alltags alles zu erfassen sucht und der Sog der Veralltäglichung auch gegenüber Sonderwissen und Außeralltäglichem kaum zu bremsen ist, hat er doch seine Grenzen. Sie liegen unmittelbar da, wo plötzlich etwas Unerwartetes und Überraschendes geschieht, wo Sprachlosigkeit ausbricht, wo ein Ausnahmezustand eintritt; ein Abenteuer, ein irritierendes Erlebnis, ein wirkliches Fest oder eine Katastrophe. Alltagszeit und Alltagswissen bezeichnen die Perspektive und Disposition aktuell-spontaner Handlungsorientierung, die für den Zyklus alltäglicher Routinen benötigt wird (Reichertz 2000: 281). Die Zeit der Lebensgeschichte und das hierfür notwendige Sonderwissen eröffnen einen weiteren Horizont und stehen für die konstruktive „Sequenzialisierung“ einzelner Handlungen und Erlebnisse, die subjektive „Kontinuität“, „Kohärenz“ und eine linear erkennbare Gesamtgestalt des Lebens, sogar noch bei aktueller „Identitätsdiffusion“, anzeigen und ausweisen sollen. Alltagszeit entfernt sich immer wieder von der Zeit der Biographie, ohne dass der wechselseitige Bezug ganz verloren ginge, der ja gerade in der Biographie thematisiert und eigens geordnet werden kann (Schütz 1984: 23). Auch die alltägliche Lebensführung (Voß 2001) lässt an gewissen Nahtstellen ihren Bezug zu der linearisierten Biographie durchscheinen, da sich auch in ihr kurz-, mittel- und langfristige Differenzen erkennen lassen, deren biographischer Zusammenhang freilich fraglich erscheint. Die Gestaltungsleistungen der Kinder sind hier beachtlich, ändern sich jedoch fortwährend. Kulturell stabile und institutionell generalisierbare „Normalbiographien“ haben kaum noch erwartbare Zukunftswahrscheinlichkeit (Kirchhöfer 2001: 61ff.). Schon im Alltag gelingt oft nicht der geforderte Balanceakt der Synchronisation verschiedener Zeiten, Räume und Sozialbeziehungen trotz größerer Zahl der Optionen und technischen Hilfsmittel – entweder aus der Sicht der Kinder, der Eltern oder Lehrer etc.. Alltagsroutinen können sich auch gegenüber den konkreten Kindern so stark verselbstständigen, dass Kinder nicht mehr als Konstrukteure ihres eigenen Lebens angesehen werden können. Die durchaus verletzliche Handlungsfähigkeit der Kinder ist keine hinreichende Bedingung für eine eigene Biographie. Aber selbst diese Normalität kann zeitweise verloren gehen, ohne dass deswegen die Biographiearbeit völlig zusammenbrechen müsste. Die Dialektik von Alltagszeit und Lebensgeschichte ist recht kompliziert und instabil geworden, unterliegt institutionalisierenden wie deinstitutionalisierenden Tendenzen.
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Im Normalfall bietet freilich auch der heutige Kinderalltag Chancen, der Alltagsgeschichte Bausteine für die Lebensgeschichte zu entnehmen, insofern er eine Rekontextualisierung der Familien-, Bildungs-, Versorgungs- und Freizeit erlaubt (Voß 2001: 9ff.). Oder ein stabiler alltäglicher Ordnungsrahmen hilft zeitweilig über biographisches Scheitern hinweg. Empirisch sind Alltags- wie Lebenszeit und ihr Wechselverhältnis stets eine gemeinsame und keine einsame Leistung. Sie besitzt soziologisch durchaus mikro-, mesound makrosoziologische Aspekte. Zwischen Erwachsenen und Kindern finden hier nicht nur Einvernehmen, sondern auch „Zeitkämpfe“ statt (Sichtermann 1981; 1982). Der Alltag kann relativ beschaulich oder stressreich, die Biographie rudimentär oder profiliert auf dem Hintergrund eines ungewöhnlichen und individualisierten Lebensstils in Erscheinung treten. Beide sind somit nicht rein funktional bestimmbar. Sie sind vielmehr durch ganz bestimmte Konstruktionsleistungen und die Handlungslogik eines bestimmten „modus operandi“ (Bourdieu) gekennzeichnet. Je nachdem ist ihr wechselseitiges Verhältnis auch sehr unterschiedlich. Kinder können sich u. U. zum Leben in zwei Zeiten veranlasst sehen. Auf die Dauer führt dies zu einer stressreichen „Schizophrenie“. Deshalb muss alltägliche Lebensführung immer wieder ein Stück weit reinterpretiert und in die Biographie reintegriert werden. Dies gilt vor allem für Kinder mit biographischen Brüchen, die z. B. die Optionen ihrer Eltern für verschiedene familiale Lebensformen und deren mangelnde Ressourcen zu verkraften haben. Dies gelingt aber häufig nicht auf Anhieb. Diese Kinder hinterlassen dann oft den Eindruck, sich rückhaltlos dem Konsum hinzugeben oder sogar schon mit Alkohol und Drogen zu experimentieren. Es gibt hier angeblich wenig zu erzählen und biographisch zu „frisieren“ oder inszenieren (Rosenthal 1995). Zur Biographiearbeit animieren einerseits gehäufte Brüche und Zäsuren, andererseits ein Selbstbewusstsein, das zur Darstellung in einer Lebensgeschichte drängt. Bei Kindern tritt oft der Fall auf, dass nur eines davon gegeben ist. Dann fällt das Biographisieren offensichtlich äußerst schwer. Das „Kind als Persönlichkeit“ gut situierter Bevölkerungskreise (Beck 1990: 59f.) sieht sich jedoch zunehmend veranlasst, was ihm bislang komplett abgesprochen wurde, nämlich von frühester Kindheit Biographiearbeit zu treiben. Wie sollte es sonst seine prätenziös beschworene „Persönlichkeit“ unter Beweis stellen? Wenn man alltägliche Lebensführung als System von Verträgen konzipiert, dann kann die Biographie als Geschichte eines interaktiven Umgangs mit diesen Verträgen erzählt werden. Schon der Alltag ist mehr als das Ausfüllen eines vorfabrizierten Zeitschemas in einem sozialökologischen Kontext. Er verlangt konstruktive Perspektivenbildung und eine hohe Kunst der Abstimmung mit zahlreichen vorinstitutionellen und institutionellen Arbeits- und Freizeitkontexten verschiedener Akteure. Er schafft auch Raum zu sozialer Differenzierung. Und diese erzeugt erstaunlich schnell soziale Ungleichheit. Zusätzliche Stabilisierungsbemühungen sind dann notwendig, weil Änderungen in der Art, wie Kinder ihren Alltag organisieren, oft auch Änderungen in ihrer biographischen Situation zur Folge haben können (Kirchhöfer 2001: 61f., 73). Das biographische „Arrangement der Arrangements“ kann heute nur unter äußerst günstigen und unwahrscheinlichen Bedingungen relativ stabil bleiben, wenn sich einzelne Arrangements ändern. Alltagskompetenz in den Rhythmen von Arbeit und Freizeit, Werktag und Sonntag, Schulzeit und Ferien vermögen innerhalb eines elaborierten familialen Lebensstils durchaus Gestaltelemente für die Biographie zu liefern. Und die Inkompetenz bei der Gestaltung der Alltagszeit und ein rudimentärer und inkonsistenter Lebensstil schaffen ihrerseits bestimmte Voraussetzungen. Insgesamt scheinen sich jedoch Tendenzen der Entkopplung von All-
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tagszeit und Lebensgeschichte abzuzeichnen. Das Problem der Koordination verschiedener Zeitordnungen bleibt auch dann (Kirchhöfer 2001: 76, 87f.). Und die Widersprüchlichkeit in der alltäglichen Lebensführung von Erwachsenen und Kindern verstärkt den Wunsch nach Biographisierung. Ortswechsel, Wechsel der Schule, soziale Mobilität der Eltern, Migration etc. lassen das Bedürfnis nach biographischer Identitätssuche gedeihen. Auch die Erosion des institutionalisierten modernen Lebenslaufs fördert diesen Wunsch (Kohli 1991: 315f.; Neuberger 1997: 505). Dieser sich intensivierende Bezug zur Biographie kann bei verschiedenen Kindergruppen episodisch oder dauerhaft sein. Biographische Reinterpretation scheint ebenso dringlich wie schwierig für Kinder zu werden. Zentrale kulturelle Zeitmarkierungen sind trotz residualer Teil-Reifen, die erworben werden können, nicht sehr biographiefördernd, wenn sie wirklich allen offen stünden. Und deren Rezeption erscheint willkürlich. Tausend unterschiedliche Ratgeber und Experten bieten ihren Rat „ganz selbstlos“ an. Eine kulturell abgestützte intergenerationale Stafettenübergabe, wie sie Jahrtausende lang als Ordnungsmodell in Gebrauch war, findet kaum noch statt. Damit nimmt die Ambivalenz biographischer Orientierung strukturell in einem Maße zu, wie sie keineswegs dem Generationenverhältnis „von Natur“ aus inhärent war. Selbst die Kindheitsdefinition wird polysemantisch und polykontextural. Es gibt, wie bereits gezeigt, heute subjektive, gruppenspezifische, rechtliche, psychologische, pädagogische und soziologische Kindheitsbegriffe. Und selbst in der Kindheitssoziologie differenziert sich der Begriff in Kindheitsbild, sozialstatistische Bevölkerungsgruppe, institutionell definierte Lebensphase, Kinderkultur. Auswirkungen und Nebenfolgen der (begrenzten) Individualisierung bzw. neuerer Individualisierungsschübe sind im Grunde unklar. Vieles deutet darauf hin, dass die relativ ungewohnte Biographiearbeit eine Art temporalisierter „Zwischenwelt“ voller „Zwischenbilanzen“ und „Übergangsidentitäten“ auf „alten und neuen Bühnen“ wird, die freilich keineswegs subjektivistischen Launen oder einer schlichten „Patchwork-Identität“ (Keupp) zu verdanken sind (Winnicott 1973; Hettlage 2000; Waldenfels 1987: 46ff.). Die Problematik „Noch-Kindsein“ und „Nicht-mehr-Kindsein“ verlangt von Kindern eine flexible biographische Suchstrategie, die dauerhaft zum situativen und aktuellen Kindsein konstitutiv gehört. Sie kann in verschiedener Weise beeinflusst sein von unterschiedlichen Perspektiven oder höchst pragmatisch oder individualisiert erfolgen. Dieses spannungsreiche Definitionsverhältnis stellt eine facettenreiche „Doppelbindung“ dar, die keineswegs unbedingt pathologisch und von „paradoxer Kommunikation“ (Watzlawick) überlagert sein muss. Dabei zeichnen sich verschiedene typische Formen biographischer Portraits ab; solche, die vom Willen zum Brückenbau und zur Übersetzung bestimmt sind, solche, die sich vom konstruktiven Konflikt bestimmen lassen, Indifferente, Streitsüchtige, Kinder, die zu gelassener Loyalität bereit sind (Lenz 1998: 122ff.). Auch improvisierende Bewältigungsformen tauchen auf (Dunkel 1993: 162ff.). Überall aber sind exklusiv-selektive Strukturen erkennbar, die „Allinklusion“ zur Illusion werden lassen. Biographisierende Kinder schreiben ihre Lebenserfahrung immer wieder um, betonen bestimmte Entwicklungslinien, verdecken und verschweigen andere, überspringen alltägliche Notwendigkeiten, rechtfertigen Umwege etc. Auch die Kommunikation und die Verhandlungen, die dazu notwendig sind, dürfen nicht allzu linear und rational vorgestellt werden, werden hingegen nachträglich fast immer rationalisiert. Es ist sicher meist ein Irrtum, wenn Erwachsene beim ersten Blick Kindern – wie Piaget dies tat – „Egozentrik“ unterstellen (Merleau-Ponty 1994; Wygotski 1974). Die biographische Selbstaus-
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legung erfolgt jedoch stets zunächst vom Hier- und Jetzt, entwicklungslogische Symbolisierungen sind eher Versatzstücke aus eingespielten öffentlichen Diskursen, die fast wie „Fremdkörper“ wirken. Biographische Konstruktionen bilden sich nicht nur über „Identitätsbalancen“, sondern auch und gerade über „Bruchstellen der Erfahrung“ (Waldenfels 2002). Dabei wird bei Kindern noch weit stärker als von Erwachsenen Phantasie eingesetzt: es könnte immer auch anders sein, anders gekommen sein. In der Biographie sind erlebte, erzählte Lebensgeschichte und Phantasie nie durch Abgründe getrennt. 10.1.4 Der Widerspruch zwischen Entscheidungszwang und Begründungspflicht Wenn man davon ausgeht, dass die Moderne eine ungeheure Steigerung der Optionen mit sich gebracht hat, wird man sagen können, dass sich das Problem der Auswahl und des Entscheidungsdrucks enorm verschärft hat. Auch in dieser intransparenten Situation wird vom modernen Menschen Rationalität gefordert, die Begründungspflicht tendenziell erhöht. Das Entscheidungsspektrum kann so groß werden, dass es weder rational überblickt noch eine rationale Auswahl getroffen werden kann. Kinder können sich auch schlicht gelähmt verhalten oder alles unterlassen. Dann kann die generelle Rede vom „aktiven Subjekt“ fast lächerlich wirken. Oder sie können beliebig oder nach Stimmung entscheiden. Und auch dann verweist dies indirekt auf das Dilemma zwischen Entscheidungszwang und Begründungspflicht. Heute wird auch bei Kindern sachliche und soziale „Komplexitätsreduktion“, immer schon ein Gütesiegel echter Didaktik, zum Moment der perspektivisch-lebensweltlichen Konstruktion sozialer Realität selbst (Ortmann 1997: 24). Dadurch wird eine wirkliche, relativ zukunftsoffene Entscheidung überhaupt erst möglich. „Entscheidung“ ist freilich eine äußerst abstrakte Kategorie. Es geht um wählbare Handlungsvollzüge, die Kinder entweder „grundlos“ oder „begründet“ im Rahmen ihres Kinderalltags oder bei ihren Biographiemarkierungen zugerechnet werden können. In klar definierten Situationen ist Kindern das Jetzt im Zusammenhang mit dem NichtJetzt gegeben. Im Jetzt ist eine ganz bestimmte Entscheidung fällig, die ganz bestimmte mitgegebene Entscheidungsalternativen ausgrenzt und einer Entscheidung für eine und nur eine Option nicht ausweicht. Damit wird vom Handeln jedes beliebige Als-ob-Verhalten vermieden. Rationales Entscheidungsverhalten deuten wir gemeinhin so, dass ein Akteur sich externen Erwartungen – nicht unbedingt unkritisch – anpasst. Ein völlig autonomes Entscheidungsverhalten ist aber schon deswegen unmöglich, weil sich schon jedes Kind stets mit vielen anderen Akteuren, nicht zuletzt mit Erwachsenen, abstimmen und arrangieren muss. Typisch spätmodernes Entscheidungsverhalten lässt sich kaum noch mit einer kausalen Rückführung eines Unbekannten auf ein Bekanntes, einer unentschiedenen Handlung auf eine bereits getroffene Entscheidung der Vergangenheit begreifen (Gamm 1994; 1997; Kaufmann 1992). Es gibt einfach zu viele Entwicklungspfade aus einer vergangenen Entscheidung, weil der Options- und Variantenreichtum immer mehr als eine Entwicklungsvariante zulässt. Jede mögliche Entscheidung unter solchen Unsicherheitsbedingungen trägt so Undurchschautes und Unbekanntes in sich, was sich im Nachhinein in unerwarteten Nebenfolgen dokumentiert. Gäbe es nur die binäre Schematisierung, so wäre das unverständlich. Doch jede Entscheidung ist heute in eine lange Entscheidungslinie längerfristigen, facettenreichen Ausbalancierens, Abstimmens und Verhandelns eingebunden und
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nicht nur eine punktuelle Identifikation mit einer Option; gleichsam auf der Schnittfläche eines Rasiermessers. Als Entscheidungseffizienz kann daher auch nicht der Erfolg einer punktuellen Entscheidung ausgewiesen werden. Was mehr zählt, ist das verfügbare Register an Wissen und Allianzen also sozialen und kulturellen Kapitals. Das ist weit mehr als „kommunikative Kompetenz“ (Türk 1997: 138, 164). Eine richtige Einschätzung der wirklichen Entscheidungssituation, die heute ja (fast) immer komplex ist, ist letztlich nur möglich aufgrund von ebenfalls problematischem Hintergrundwissen. Handlungsalternativen liegen nicht einfach auf der Hand. Sie müssen vielmehr entdeckt, und/oder kontrastiv entworfen und erfunden werden. Dies alles verlangt Zeit, Wissen, Kreativität und Bereitschaft, die nur teilweise prognostizierbaren Folgen und die tückischen Nebenfolgen zu verstehen, rechtfertigen und zu plausibilisieren. Nicht einmal im Nahbereich der face-to-face-Kommunikation kann dies freilich restlos rational begründet und muss doch verantwortet und Zweifelnden, Desorientierten oder Zögerlichen verständlich gemacht werden. Praktisches Wissen sucht sich meist zwischen der vollkommenen Transparenz und vollkommener Intransparenz erst einen gangbaren Weg. Kinder sind aber auch in der Lage, sich ihr Nichtwissen einzugestehen und einfach auf Glauben und Vertrauen zu setzen. Dies ist wohl auch eine Lage, in die in einer Wissensgesellschaft auch immer mehr Erwachsene geraten können (Giddens 1995; Beck 1996). Gadamer (1965) und Garfinkel (1967: 262ff.) kritisierten die im westlichen Rationalismus zentrale Vorstellung, Handlungsbegründungen müssten sich stets von partikularen Normen zu universalen hin bewegen. Ebenso möglich sei der umgekehrte Weg und das Insistieren auf einer Alltagstypik mittlerer Reichweite. Sonst würde die Vorgeschichte, die sich im Vorverständnis verdichtet, divergierende Stränge der Wirkungsgeschichte und die Interpretationszusammenhänge von Alltagspraxis und Biographie in ihrer lebenspraktischen Relevanz im Sinne eines Verständlichmachens und Ordnungschaffens unterschlagen (Bergmann 2000: 53, 115, 134). Wissen ist eben mehr als kognitiv verarbeitete Information und hat eine kommunikative und praktische Seite. Entscheidungen müssen daher auch die „Opportunitätskosten“ in der Situation berücksichtigen. Normen und Regeln helfen hier, wie beim Sprachen lernen, nicht weiter, wenn nicht ihre vermittelbaren Wissenskontexte durchsichtig gemacht werden und sie sozusagen übersetzbar werden. Und ganz bestimmte „überregulierte“ oder „unterregulierte“ Bereiche werden angesichts des tatsächlichen Informationsmangels oder Informationsüberflusses im Zweifelsfall nicht nur von Kindern so gemanagt, dass sie die eigene Position verbessern oder jedenfalls nicht verschlechtern. „Begründungspflicht“ meint also mehr als nach logisch zwingenden Argumenten zu suchen, die es immer nur begrenzt gibt. Die rhetorische Darstellung, die Ermittlung der Handlungsrelevanz und die gesellschaftliche Mobilisierung von Wissen sind konstitutive Momente praktischer Begründungen (Soeffner 2000: 173; Honer 2000: 200). Wenn Kinder eine Entscheidung vollziehen, realisieren sie auch gleichzeitig Sinn und Bedeutung und vermitteln, erschließen also gesellschaftlich relevantes Wissen. Solche wissensbasierte Kommunikation wird nun auch dadurch mitbestimmt, dass kommunikative Netze präsentiert werden, als Filter wirken und so repräsentative Wirklichkeit schaffen. Kinder wissen oft, dass es andere Möglichkeiten gibt, Entscheidungen zu treffen und Ordnung herzustellen, aber sie wissen auch, dass diese hier und jetzt nicht berücksichtigt werden und Anwendung finden können. So zeigt sich auch hier, dass die Regeln nicht auch ihre Anwendung regeln können. Erst in der Situation selbst kann oft entschieden werden, was sie bedeuten, welche Relevanz sie besitzen, was Regeln zu leisten vermögen (Ortmann
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1997: 329). Der Begründungszwang einer selektiv-exklusiven Entscheidung wird aus vielerlei Gründen immer größer, aber auch schwieriger, je weniger „objektivierte Tatsachen“ zweifelsfrei vorgeben sind oder je stärker diese durch Deinstitutionalisierungsprozesse geschwächt erscheinen. Kinder werden heute mit immer mehr rasch entwertetem Wissen konfrontiert. Gerade deswegen gibt es immer mehr Entscheidungsspielräume und Freiheitsgrade, aber eben nie wirkliche Autonomie der Entscheidung. Dem Wissen sieht man auf den ersten Blick auch nicht an, ob es sich um Jahrtausende alte, vielleicht anthropologische Lebensweisheit, „Lebenskunst“ oder nur um problemlos ersetzbares, technisches Wissen handelt und wieweit somit die Begründungspflicht reicht. Oft spricht vieles für verschiedene Optionen. Um handlungsfähig zu werden und zu bleiben, müssen Kinder die Optionenambivalenz soweit zu reduzieren in der Lage sein, dass Übergangszustände auf Abruf stabilisiert werden können. Selbst die Sicherheit einer naturwüchsigen Nutzendefinition geht bei einer differenzierten Betrachtung unter kurz-, mittel- und langfristigen Aspekten allmählich verloren. Mehr und mehr tritt die Konstruiertheit von Zwecken zu Tage und wird auch zum Problem (Schulze 1994: 102; Gamm 1994). Internalisierung erweist sich so als reflexive (nicht immer aber als voll reflektierte) Tätigkeit, nicht als schlichte Wertinternalisierung oder Informationsverarbeitung. Sie repräsentiert Wissen anhand von Präzedenzfällen und historischen Beispielen und Prototypen darüber, was getan werden kann, soll, muss und wie das jeweils zu tun ist. Heute steht dabei auch zur Entscheidung, ob nicht nur ein Entweder-Oder, sondern auch ein Sowohl-alsauch zugelassen ist und wie breit der Korridor des Wissens und Nichtwissens ausfallen können. Erst wenn so darauf geachtet wird, dass etwas auf ein Worauf in einer bestimmten Weise (also nicht schematisch und kausal) entschieden wurde, lassen sich lebensweltliche Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhänge in Ordnung bringen. Die Vorstellung einer „kinderleichten“ und „arbeitslosen“ Kindheit, die Kinder als „Sich-Entwickelnde“ ausschließlich zum (schulischen) Lernen und zum (häuslichen) Spielen bestimmt, war historisch immer nur für eine kleine Zahl annähernd real. Schon der Schonraum bürgerlicher Kinder war oft gefährdet. Und auch heutige Kinder sind nicht schwankungsfrei, ungefährdet und schlechthin souverän „handlungsfähig“, auch wenn ihnen durch Sozialisation Grundqualifikationen und Sozialkompetenz zugewachsen sind. Durch problematische Performanz kann Kompetenz bis hin zur „erlernten Hilflosigkeit“ abgebaut werden. Handlungsfähig bleiben sie nur, wenn ihnen lebenspraktisch nennenswerte Beiträge zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung zugetraut, zugestanden und abverlangt werden; etwa Hausarbeit, Beziehungs- und Pflegearbeit, Schularbeit oder beratende Konsumarbeit (Hengst 2000; Wintersberger 2003; Butterwegge 2004). Mit jeder wichtigen Tätigkeit werden Kinder für die Gesellschaft wertvoll (Bühler 2005); nicht durch bloße Rhetorik. Freilich bleiben auch diese möglicherweise anerkannten „Arbeitsverträge“ zur Reproduktion von Sozial- und Humankaptial ambivalent. Sie können auch zu einer einseitigen Ökonomisierung der Kindheit im Sinne einer „selbstsozialisatorischen“ Selbstqualifikation führen, die „Bildung“ auf „Ausbildung“ reduziert, statt umfassende „Welterschließung“ und lebensweltliche Reorientierung zu fördern. Kinder entgehen daher heute nie der Paradoxie eines (selektiv-exklusiven) Entscheidungszwangs, der dennoch gesteigerte Begründungspflichten gegenüber sich und ihrer Umgebung impliziert. Im Gegensatz zu Lernen und Spielen lässt sich „Kinderarbeit“ (in dem skizzierten breiten Arbeitsverständnis) nie ohne Produktionsentscheidung realisieren. Kinder sind so gesehen weniger „aktive Konsumenten“ als Konstrukteure eines bestimmten Tätigkeits-
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spektrums, das der Gesellschaft mehr oder weniger wertvoll und akzeptabel erscheint und das in vielen fließenden Übergängen zwischen Arbeit, Lernen, Spielen, Freizeit und Konsumieren und zwischen Selbst- und Fremdbezug bzw. Gemeinschaftsbezug heutiges Kindsein realisiert (Hengst 2000: 13). Die Durchsetzung der Konsumgesellschaft und ihr Übergang zur Wissensgesellschaft begünstigt eine Deregulierung der klassischen diachronen Arbeitsteilung der „Industriemoderne“. Damit geraten die sozialen Differenzierung zwischen Erwachsenen (beiderlei Geschlechts) und Kindern, die institutionelle Zuordnung spezifischer Institutionen zur kindlichen Lebensphase und die situative Gelegenheitsstruktur für kinderkulturelle Vernetzungen, Szenen- und Gruppenbildung ins Rutschen, öffnen sich aber auch für neue Konstitutionsprozesse. Kindheit als im Hier-und-Jetzt einflusslose soziale Konstruktion des „Nichtstuns“ jenseits gesellschaftlich notwendiger Arbeit scheint damit der Vergangenheit anzugehören und nur noch als Stereotyp weiter zu bestehen. Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass wesentliche Entscheidungen in der Zukunft nicht mehr von Erwachsenen monopolisierbar sind, obwohl eine breitere Verständigung mit Einschluss der Kinder möglich erscheint. Manche Kinder entlasten die Haushaltskasse ihrer Eltern schon in der mittleren Kindheit durch Jobben, z.B. Zeitungaustragen, Babysitten, Nachhilfeunterricht bei anderen Kindern etc. So ist auch die Arbeit im engeren Sinn als Erwerbstätigkeit längst wieder ins Kindsein eingesickert. Die pauschale Polemik gegen Kinderarbeit hat daher auch merkwürdig weltfremde Züge, weil nicht hinreichend zwischen der ausbeuterischen Kinderarbeit der Zeit des frühen Kapitalismus und heutiger Kinderarbeit unterschieden wird. Damit sind auch Exzesse bei uns nicht überzeugend zu problematisieren. Der Kinderschutzbund hat verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht. Viele Kinder machen sich auch im Haushalt nützlich. Es ist noch ungewiss, ob die Gesellschaft den Schulbesuch als „Schularbeit“ und zu honorierende „Selbstqualifikation“, also der Transformation von potenziellem Humankapital in „Humanvermögen“ (Engelbert 2003; Kaufmann 1995) Anerkennung zollen wird. Zu beachten wäre auch die wichtige „Übersetzungsarbeit“ und der integrative Beitrag, den einige Kinder mit Migrationshintergrund schon seit längerem leisten. 10.1.5 Reichweite und Grenzen kindlichen Verhandelns Resubjektivierung kann durch Machtverschiebung, Konsensfindung oder pragmatisches Verhandeln von Fall zu Fall geschehen. Jede dieser Formen hat ihre spezifische Reichweite und Handlungskapazität und ihre Grenzen; damit auch das Verhandeln. Es kann nicht mehr endlos darüber verhandelt werden, ob und wie verhandelt werden soll und in welcher historisch-biographischen Situiertheit verhandelt werden muss. Selbstverständlich gehen auch wir heute noch davon aus, dass Eltern für ihre Kinder verantwortlich sind und sich erst allmählich von ihrer Elternkompetenz zurückziehen können. Kinder werden größer und Erwachsene müssen ihre Grenzen im Lerntempo und in ihrer Lernkapazität auch dann erkennen, wenn sie mit allen Kräften durch „lebenslanges Lernen“ versuchen, auf der Höhe der Zeit bzw. der Wissensproduktion zu bleiben. Selbst wenn die Lernfähigkeit des Lernens bis ins hohe Alter beachtlich sein kann, ist der heute nicht selten praktizierte Jugendlichkeitsmythos eigentlich lächerlich. Nicht zu übersehen ist, dass „verantwortete Elternschaft“ sicherlich heute eine informelle Norm ist, aber doch unterschiedlich interpretiert und wahrgenommen werden kann und dabei auch der Einfluss
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anderer Sozialisationsinstanzen berücksichtigt werden muss. Aber wenigstens die Norm ist einigermaßen unbestritten und in Deutschland als „Elternrecht“ sogar verfassungsgemäß verankert. Bis in die frühe Neuzeit wird die Elternverantwortung demgegenüber regional, temporal und hinsichtlich unterschiedlicher sozialer Milieus, Schichten oder Klassen sehr unterschiedlich akzeptiert, wie die Verbreitung des Ammen- und Findelkinderwesens zeigen. Auch die Tatsache, dass Kinder mit 6 oder 7 und in manchen Fällen schon mit 4 oder 5 Jahren als Knechte und Mägde an andere Höfe in der Umgebung weggegeben wurden, spricht nicht für ein heutiges Verständnis von Elternverantwortung. Neue gesellschaftliche und familiale Veränderungen haben zu einer strukturellen Spannung zwischen Partnerorientierung und einer Kindzentrierung, zwischen einem Bestreben, zu einem partnerschaftlichen Eltern-Kind-Verhältnis zu kommen, und der „elterlichen Sorge“ geführt. Die Eltern sollen ihre Verantwortung in gegenseitigem Einverständnis und zum Wohl des Kindes ausüben, das auch durch die zunehmende Ausdifferenzierung der „Kinderrechte“ ein wachsendes Mitspracherecht gewonnen hat (Stein 1994). Damit werden Interessendivergenzen nicht mehr zwanghaft geleugnet, sondern zur Gestaltungsaufgabe gemacht, die einen steigenden Aushandlungsbedarf nach sich ziehen. Zusammen mit anderen Veränderungen erhöht dies allerdings auch die Ambivalenz des Kindseins und macht deren Reduktion auf ein lebbares Maß zur Daueraufgabe. Notwendige Entscheidungen fallen in vielen Familien und noch stärker in sozialen Formationen von Gleichaltrigen nicht mehr „autoritär“ oder ritualisiert, sondern auf dem Verhandlungsweg. Daraus erschließen sich für viele Kinder wachsende Handlungsspielräume aber zuweilen auch überzogene Erwartungen, die rasch enttäuscht werden. Eltern geraten dabei aus Unsicherheit nicht selten in die Gefahr inkonsistenten Verhaltens. Aus diesem Grund ist es auch theoretisch sinnvoll, Familien nicht von vorneherein als Einheit (Institution, Gruppe) zu konzipieren, sondern genauer Verflechtungs- und Entflechtungsprozesse in den innerfamilialen Verhandlungen zu verfolgen (Schneider 1994; Hess 1975). In Verhandlungen müssen die Verhandlungspartner immer wieder klären, worüber sie sich einig sind, was ein Problem darstellt, was (vorläufig) ausgeklammert werden kann oder muss, in wieweit ihnen ihre Verhandlungsoptionen von Anderen oder ihren Bezugsgruppen abgenommen werden, wie weit ihr Verhandlungsraum ausgespannt ist (Willems 1998: 23ff.). Situative Verhandlungsergebnisse überlagern auch ausdifferenzierte Systeme in ihrer normativen Eigenrationalität und führen zur Hybridbildung oder zur Systemfragmentierung (Lucke 1998: 22, 24). In Verhandlungen setzen sich also keineswegs eo ipso Sachbezogenheit und Qualität oder Effizienz durch. Vielfach wird etwas als „Sachzwang“ oder „Qualität“ nachträglich etikettiert, was sich einfach durchgesetzt hat. Und nicht selten erweisen sich Verhandlungserfolge im Nachhinein als Pyrrhussiege, Irrtümer, Fiktionen oder Scheinkonsens. Viele Verhandlungen enden letztlich enttäuschend und mit Erschöpfung der Verhandlungsführer. Als Folge davon macht sich oft eine Sehnsucht nach einer „starken Hand“ breit. Sachzwänge sind oft Sozialzwänge. Ein Verhandlungspartner hat immer die Möglichkeit, die Anderen im Dunkeln über seine wirklichen Pläne und seine weiteren Schritte zu lassen. Um diese Möglichkeiten einzugrenzen, setzen Verhandlungen nicht nur Vertrautheit mit der Situationsdefinition, sondern erhebliches, immer riskant bleibendes Vertrauen, Zeichen und Symbole, Regeln und Rituale, nicht zuletzt aber bestätigende und korrektive Interaktionen voraus (Goffmann 1974: 97ff.). Die heute gerade auch zwischen Erwachsenen sehr ausgeprägte Verhandlungsneigung wird häufig damit erklärt, dass Normenpluralismus, -inkonsistenz oder -intransparenz mo-
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derne Gesellschaften charakterisieren und zu einer strukturellen „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) geführt habe. Das mache ständiges Verhandeln geradezu lebensnotwendig (Münchmeier 1997: 126). Aber der Begriff Verhandlung hat viele Facetten. Er wird geradezu unterkomplex, wenn er mit jeglichem Austausch und jeder Form des Gebens und Nehmens gleichgesetzt wird. Von pragmatischen Verhandlungen sollte nur gesprochen werden, wo nicht nur eine Folgebedingung innerhalb eines strikt vorgegebenen Verhandlungsrahmens ermittelt wird. Die Bearbeitung von Einzelproblemen ist nämlich hier eingebettet in die „wechselseitige Determination“ der Verhandlungspartner. Inhalts- und Beziehungsaspekt durchdringen sich hier (Strauss 1968: 30ff.). Nicht selten führt Verhandeln daher zu dramaturgisch beschreibbaren Aufschaukelungs- oder Abkühlungsspiralen. Sie führen Kinder immer wieder an kritische Übergänge und Schwellen heran, die ursprünglich gar nicht intendiert waren. Verhandlungsstrategen wissen um die Interaktionsdynamik, die alles ruhige Verhandeln erheblich erschwert, ja oft unmöglich macht. Sie wird noch dadurch schwerer zu steuern, dass sich Dritte oder dritte Parteien gern einmischen oder die Verhandlungen genau beobachten und damit die Unsicherheit erhöhen. Sie können „Freunde“, Bündnisgenossen, Kontrolleure, Kombattanten oder Feinde werden. Verhandlungen können kurz-, mittel- und langfristig angelegt sein. Wer Verhandlungen nur unter dem Gesichtspunkt kurzfristiger Chancenmaximierung betreibt, handelt kurzsichtig. Verhandlungen, die langfristig fortgeführt werden sollen, setzen im Grunde nicht nur eine Bindung an institutionelle Programme, sondern eine gesellschaftliche Verständigung über „öffentliche“ oder kollektive Güter voraus, auf die sich eine Mehrheit geeinigt hat (Rawls 2000; Walzer 2000). So zeigt sich, dass erfolgreiches Verhandeln nicht einfach auf universalem zweckrationalem Kalkül, sondern auf etwas beruht, was Goffman (1969: 10) „working consensus“ nennt, der sich von einem expliziten Wertkonsens dadurch unterscheidet, dass er trotz divergierender Interpretation der Situation zu einem partiellen beweglichen Konsens findet, weil alle Interaktionspartner in aktiver Revision ihrer verschiedenen Interpretationen sich aufeinander zu bewegen. Er kann festgefahrene Verhandlungsfronten aufbrechen. Das hat freilich zur Folge, dass Kinder nicht zu jeder Zeit gleich gut über ein bestimmtes Thema verhandeln können. Sie müssen auch auf den richtigen Zeitpunkt achten, wenn sie sich nicht auf einen substanziellen Wertkonsensus berufen können. Manchmal werden ergebnislose Verhandlungen auch nur deswegen weitergeführt, weil man die Hoffnung noch nicht verloren hat, dass zu einem späteren Zeitpunkt der „richtige Augenblick“ doch noch kommen wird. Verhandeln bleibt damit ein situationszentrierter Prozess mit einer höchst intensiven reflexiven, selten aber voll durchreflektierten Struktur und einer beachtlichen mikropolitischen Dynamik. Normative Asymmetrien können im Verhandlungsprozess ebenso wie symmetrische Beziehungen glatt auf den Kopf gestellt werden. Dies erfordert im Gegensatz zu blinder Gefolgschaft oder fraglosem Gehorsam ein spezifisches, taktisch-strategisches Wissen, nicht nur Regelkenntnisse (Krappmann 1999: 241ff.) und impliziert zugleich ein Wissen um Alternativen, die „Sachzwänge“ klein arbeiten, um Seiten- und Umwege einschlagen zu können, die u.U. besser zum Ziel führen als Versuche, mit „dem Kopf durch die Wand“ zu wollen. Verhandlungswissen kann aber auch – gepaart mit Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz – veranlassen, von rein situativen Impulsen oder kurzschlüssiger Gewalt Abstand zu nehmen. Eine strategische Grundregel wird offenbar auch von Kindern fast intuitiv beherrscht: den Verhandlungspartner nicht so zu
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demütigen, dass er sein Gesicht nicht mehr wahren kann und nur noch als Dauerverlierer erscheinen kann (Krappmann 1993; 1995; Oswald 1993). Da insbesondere Gleichaltrigenbeziehungen von Kindern strikt egalitär verstanden werden, darf sich besonders hier die Verhandlungspraxis nicht zu krass davon unterscheiden, um nicht als Diktat Widerstand hervorzurufen. Ergiebige Verhandlungen zwischen Erwachsenen und Kindern finden statt, wenn die jeweiligen Verhandlungspartner Asymmetrien als momentane und nicht prinzipielle verstehen und zudem noch das Gefühl haben können, dass die Verhandlungen sie über kurz oder lang als Subjekte etwas angehen und Sinn machen, also – im Sinne von Berger/Luckmann – internalisiert werden können (Berger 1970: 157ff.). Verhandlungen sind also zutiefst interpretationsimprägniert und bleiben auch immer situativ „indexalisiert“ und keine mechanischen Druck- und Sog-Szenarien. Das schließt Transfer und Übersetzung nicht aus, bindet diese aber an kommunikative Konstruktionen und sozialen Vergleich: Handelt der Verhandlungspartner erwartungs- und/oder erfahrungsgemäß oder bricht hier „doppelte Kontingenz“ durch, die alles als unsteuerbares Vabanque-Spiel erscheinen lässt? In Verhandlungen müssen Kinder aber zumindest auch mit Zögern, Ausweichen, Ausklammern, Verschieben, Sich-Vertragen, Übergehen, Unterlassen, Schweigen, Täuschen und Verdecken, Ablenken, Rechtfertigen (Goffman 1967), also mit einem reichen Repertoire und mit symbolisch bedeutsamen Nuancen rechnen, die Regelwissen bei weitem übersteigen. Sicher dokumentieren sich in aktuellen Verhandlungen auch die Wandlungen, denen typische Lebensverläufe unterliegen. Verhandeln zwischen Kindern und Erwachsenen zeigt sich daher eingebunden in das gesellschaftliche Wechselspiel von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung und transzendiert somit auch in bestimmten Umfang rein situative Indizien (Behrens 1996: 47ff.). Wenn also spektakuläre Generationenkonflikte nicht sichtbar werden, so bedeutet dies keineswegs, dass Verhandlungen in Generationsbeziehungen rundum spannungsfrei sind und nicht langfristig ein Krisenpotenzial in sich bergen (Kohli 2000; Szydlik 2004). Vielmehr kann auch niemals die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass hier aus Verhandlungsklugheit, Feigheit oder mangelndem Selbstbewusstsein und Konfliktfähigkeit zentrale Streitthemen schlicht ausgeklammert werden. Darauf deuten etwa empirische Befunde, die auf wachsende Divergenzen zwischen Kindern und Erwachsenen aufmerksam machen (Zinnecker 1998; LBS 2002; Wahl 2005: 123ff.). Solche Divergenzen sind selten voll bewusst und schlicht durch Meinungsumfragen zu erschließen. Ganz auffällig ist, dass Kinder heute in vielen Familien früher Gelegenheit bekommen, über ihre Lebensplanung und die Alltagsorganisation ihres Kinderlebens mitzuentscheiden. Kinder erweisen sich daher oft als erstaunlich verhandlungskompetent. Sie sind auch nicht selten fähig, realistisch zu entscheiden, welche Verhandlungen aussichtsreich oder chancenlos sind. Dazu sind sie nicht deswegen in erster Linie in der Lage, weil sie Normen oder ihre Bedürfnisse kennen, sondern weil sie über deren Wissensgrundlagen Bescheid wissen und sozusagen zielgenaue „Zwischenbilanzen“ der Verhandlungsgeschichte aufzustellen vermögen. Verhandlungen erfordern nicht in erster Linie einen Blick auf Normen oder Bedürfnisse, sondern dafür, was in konkreten Situationen den Verhandlungspartnern zu vermitteln und zuzumuten ist. Sie haben daher prinzipiell transitorische Strukturen. Verhandlungen generieren „Zwischensynthesen“, keine endgültigen Verhaltensimperative. Sie sind daher das Resultat von Interaktionen einer stabilisierten, aber nicht endgültig stabilen „Zwischenwelt“, die sich in vielen intermediären Strukturen im Wechselspiel zwischen
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Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung und „zwischen alten und neuen Bühnen“ konstruktiv erschließt (Hettlage 2000: 9ff.). Sie können eher kreative, eher komplementäre oder eher pathologische Indizien einer „double bind“-Struktur und „Identitätsdiffusion“ aufweisen (Joas 1997: 227ff.). Die Verhandlungsstruktur erschließt heute interkulturelle und intergenerative Aspekte in Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhängen und intermediäre, aber stets auch ambivalente Lebensräume, die Kinder sich in einem widerständigen, nuancenreichen und nie ganz widerspruchsfreien Wechselspiel zwischen sich und ihrer Umwelt schaffen, „stimmig“, „passend“ und subjektiv wie intersubjektiv oder sozial akzeptabel machen. Allerdings können sich verhandelnde Kinder nicht ihre Verhandlungssituation aussuchen und über diese auch noch verhandeln. 10.1.6 Internalisierung: ständiges In-Ordnung-Bringen und Weltbildkonturierung Genau genommen ist Internalisierung bei Berger/Luckmann ein unabschließbarer Teilprozess der Wirklichkeitserfahrung und ihrer konstruktiven Stabilisierung. Er wird durch Sozialisation angestoßen, endet aber nicht darin; denn längst ist dadurch ein transformativer Prozess in Bewegung gebracht, der im selektiv-exklusiven und u. U. kritisch reflektierten Umgang damit „Zwischenwelten“ zwischen alten und neuen, subjektiven und objektiven Anschlussstrukturen sucht. Es geht hier also nicht nur um das Lernen grundlegender Wertstrukturen oder individueller Präferenzen, sondern um den ständigen Vorgang der Wissens(re-)produktion und insofern um ein resubjektivierendes Zugänglich-Machen und Reinterpretation objektivierter Lebensbedingungen. Die Internalisierung hat somit einen differenzierenden wie einen kosmisierenden Aspekt: Phänomene sollen unterschieden, aber auch in symbolische Verweisungszusammenhänge eingefügt werden. Sie ist damit mehr als das psychische Korrelat sozialer Strukturen; eben ein wissensfundierter Prozess der Erschließung von passablen „Zwischenwelten“ und Übergangsstrukturen; weder nur der objektiven noch nur der subjektiven Sphäre angehörend; ein „Zwischen“, das sich aus laufenden Schnittstellen zwischen Individualität und Sozialität zu einem Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhang verfugt. Und gerade so schichtet sich Internalisierung zur „Weltansicht“, zur „Sinnklammer verschiedener Realitätsschichten“ oder zum „Kosmion“ sozialen Handelns auf (Berger 1970: 106f.; Srubar 1988: 88ff., 229ff.). Hier wird zugleich lebenspraktisch der „Sitz im Leben“ allen Wissens ermittelt. Nicht nach Übereinstimmung oder Gleichgewicht oder dem sozialisatorischen Erwerb von Grundqualifikationen zielt der fortlaufende Prozess des internalisierenden In-OrdnungBringens, sondern auf Strukturierung und Lebensbewältigung auch noch von Identitätsimbalancen, Widersprüchen. Es geht nicht nur um die Herstellung geteilter, sondern das Ordnen von geteilter und ungeteilter Wirklichkeit im Lebenshorizont von Kindern (Berger 1965; Joraschky 1990: 43ff.). Handlungsfähigkeit, die keineswegs unverlierbar ist, wenn man sie im Sozialisationsprozess einmal erworben hat, kann so immer wieder hergestellt werden. Die Aufrechterhaltung einer bestimmten Lebenspraxis ist nicht unbedingt an stabile intrinsische Motivation gebunden. Sehr oft vergeht Kindern die begeisterte Identifikation mit der Welt der Erwachsenen. Sie hoffen dann einfach auf „bessere Zeiten“. Notwendig aber bleibt, dass ihnen zumindest implizit durch bestimmte Praktiken und Deutungen eine minimale subjektive ordnungsfähige Relevanz aufgewiesen werden kann, die Abläufe dem
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kindlichen Subjekt nicht ganz und gar äußerlich erscheinen. Objektive institutionelle Programme, Normen, Regeln, Rituale oder Verfahren reichen nie aus, um die „innere Beteiligung“ und das Engagement der Akteure zu sichern und auch kollektive Mobilisierung möglich zu machen. „Autokinetische Effekte“, auf die eine Gesellschaft auf Dauer nie ganz verzichten kann, gehen aus internalisierbaren Deutungspraktiken und Plausibilität hervor, die Wirklichkeit erschließen und nicht einfach voraussetzen. Kinder, die die Internalisierung beherrschen, „fressen“ keineswegs alles in sich hinein. Sie zeigen etwa Verständnis für ihre Großeltern, Eltern, Lehrer oder die Eigentümlichkeiten sozialer Institutionen und ihre „auferlegten Relevanzen“, ohne sich ihnen mit Haut und Haaren ausliefern zu müssen. Entscheidend ist, dass hier Interaktion und Kommunikation als dynamische Umschlagplätze der temporalen Vermittlung von Individuum und Gesellschaft dienen und nicht einfach aus einer behäbigen und langsamen Einschreibung der Sozialisation deduziert nur äußerlich oktroyiert erscheinen (Neuberger 1997: 34, 103f.). Auf dem Hintergrund intersubjektiver und sozialer Verankerungen muss doch jeder kindliche Akteur unverwechselbar erscheinen und eigene unaustauschbare Erfahrungen machen. Nur dann bleibt er – von den Gemeinsamkeiten einmal abgesehen – auch für andere „neugierige“ Kinder interessant, die vom Anderen stets mehr erwarten als ein Abziehbild des eigenen Selbst. Auch Organisationen, Gruppen und Interaktionsgeflechte müssen den einzelnen motivieren und mobilisieren, wenn sie mobil erscheinen sollen. Damit kommt zum Ausdruck, dass Sozialisation heute nicht mehr ohne aktive Mitwirkung der Kinder selbst gelingen kann, ohne dass damit der Begriff „Selbstsozialisation“ diese komplexen Konstruktionsprozesse befriedigend abbilden könnte, die oft auch „nachholende Sozialisation“, Desozialisation und Resozialisation und „nachträgliche Rationalisierung“ misslungener Sozialisation umfassen. Die zahllosen Schnittflächen zwischen Individualität und Sozialität scheinen im Sog der Globalisierung weder kognitiv, noch affektiv oder praktisch und politisch eine klare Struktur abzugeben. Ihre Komplexität und ihre widersprüchlichen Auswirkungen werden ja nicht einmal von Erwachsenen ganz verstanden. Das macht eine Beurteilung und Resubjektivierung für Kinder außerordentlich schwer. Man bekommt z. B. von Eltern und Lehrern „Verantwortlichkeit“ des Handels gelehrt und erlebt, dass die „Verantwortlichen“ Verantwortlichkeit auch deswegen als strategischen Begriff nutzen können, weil konkret aufweisbare Verantwortungszusammenhänge im Sinne des „Verursacherprinzips“ kaum noch belegbar sind. Alle und niemand scheinen faktisch verantwortlich zu sein (Kaufmann 1992). So geben Erwachsene – gleichsam im Auftrag der Gesellschaft – Kindern viele Versprechen in die Zukunft, die erkennbar nicht eingehalten werden können. Und manche intelligenten Kinder erkennen das sehr früh. Langfristige Sozialisation wirft oft mehr Fragen als befriedigende Antworten auf. Desozialisation wie Resozialisation und neue Schübe sekundärer, tertiärer, quartärer Sozialisation scheinen genauso möglich und nahe liegend, weil die heutige forcierte Wissensproduktion, -verteilung und -aneignung nicht nur Enkulturation und Akkulturation, sondern mindestens ebenso rasches Vergessen und Verlernen bereits vorhandener Qualifikationen und gewonnenen Wissens – im Blick auf ubiquitäre Wissensspeicher – notwendig macht. Erkennbar überblicken immer weniger Menschen die gewaltigen Wissensspeicher (Weizenbaum 2001: 7ff., 15ff.; Turkle 1999). Leichtgläubigkeit und kontingente Hyperselektivität scheinen nicht selten „Markenzeichen“ der „Selbstsozialisation“ zu sein. Die Steigerung der Sozialisation – immer mehr Sozialisation für immer weniger Kinder – beseitigt diese Widersprüche keineswegs. Sozialisation reicht eben nicht mehr für ein ganzes Kinderleben.
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Resubjektivierung wird zur Daueraufgabe. Die Kluft zwischen offiziellen Sozialisationsimperativen verschiedener Sozialisationsinstanzen und der eigenen internalisierenden Wissenspraxis von Kindern dürfte sich in der Zukunft eher noch vertiefen.
10.2 Die Relativität sozialisatorischer Grundqualifikationen Noch vor einigen Jahrzehnten schien alles so einfach und klar. Es herrschte ein weitgehender Konsens zwischen Philosophen, Soziologen, Psychologen und Biologen: Der Mensch als extrauterine Frühgeburt hat zwar die Anlage zum Menschen, bedarf aber zu ihrer vollen Entfaltung der ungewöhnlich langen und intensiven Sozialisation und Erziehung, weil sie relativ unspezifisch und enorm plastisch formbar auftrete. Was er hier nicht gelernt hat, lernt er später kaum mehr. Was er aber an Grundqualifikationen gelernt hatte, das schien praktisch unverlierbar. Eine weitere Ausdifferenzierung schien dann gesichert. Phänomene der Dehabitualisierung, der Desozialisation und des Vergessens oder der situativen Intransparenz schienen unbekannt. Es bestand auch ein fundamentaler Unterschied zwischen dem ungeborenen Embryo und dem geborenen Kind. Der Mensch wurde eben nicht als Mensch geboren. Er konnte es aber durch Sozialisation werden, indem er durch Sozialisation sozial gemacht wurde (Henecka 1985: 57). Kein Problem wurde darin gesehen, dass ein völlig a-soziales Wesen nun plötzlich sozial werden sollte. Diese elegante Entwicklungslinie ist mittlerweile fraglich geworden. Zum einen hat die biologisch-medizinische Embryologie inzwischen eine Fülle von empirischen Belegen dafür vorgelegt, dass das Übergangsfeld zwischen ungeborenem menschlichen Leben viel weniger schroff durch eine Zäsur getrennt ist wie zuvor allgemein angenommen wurde. Zum anderen erweist sich dieses Übergangsfeld in hohem Maße kontrovers interpretier- und politisierbar: Der Fötus erscheint den einen als Zellklumpen, den anderen aber als Subjekt, das von Anfang an, von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle volle Menschenwürde genießt (Czarnowski 1996: 236ff.; Waldenfels 2002: 405ff.). Die Einschätzung der Effekte von Sozialisation wird noch dadurch erschwert, dass die verschiedenartigen Einflüsse verschiedener Sozialisationsinstanzen kaum noch homogene, sondern zunehmend auch widersprüchliche Ergebnisse zeitigen. Die Vielfalt und das Gewirr der Stimmen verschiedenartiger Sozialisationsprozesse würden bei einer weiteren Pluralisierung den Sozialisationsbegriff unterhöhlen. Geriete ein Kind in den Sog einer so disparaten ungefilterten Sozialisation, so wäre es kaum noch in der Lage, dieses Stimmengewirr zu ordnen und strukturiert anzueignen. D. Claessens (1972) ist einer der Autoren, die den herkömmlichen Sozialisationsbegriff als homogene Vermittlung von Werten, Wissen und Fähigkeiten am differenziertesten entfaltet hat. Sozialisation soll Soziabilisierung und Enkulturation der nachwachsenden Generation sicherstellen. Soziabilisierung soll unmittelbar nach der Geburt das Kind für Sozialisationsprozesse empfänglich, also sozial machen, seinen Egozentrismus (Piaget) aufsprengen. Sie vermittelt die Fundierung eines belastbaren „sozialen Optimismus“ (Erikson: „Urvertrauen“) und stellt damit zugleich die erste Kategorie kindlicher Weltbewältigung bereit, indem sie das „Durchhalten sozialer Distanz“ garantiert. Zum anderen soll Enkulturation in einer Art „zweiter soziokulturellen Geburt“ vollzogen werden. Danach werden, in weiteren Sozialisationsphasen, alle wichtigen kulturellen und funktionalen Aufgaben und Kompetenzen, die Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Rollenhaushalts
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und der sozialen Differenzierung gelernt. Wie andere Sozialisationstheoretiker geht Claessens davon aus, dass das neugeborene Kind völlig a-sozial ist und als eine Art „tabula rasa“ betrachtet werden kann. Sozialisation wird damit zu einem fundamentalen Begriff, der, weitgehend identisch mit „Vergesellschaftung“ , alle Geschehensabläufe umfassen soll, durch die das einzelne Kind zu seiner Verhaltenssicherheit und Sozialkompetenz hingeführt und womit die „Vergesellschaftung der menschlichen Natur“ (Hurrelmann) irreversibel geleistet wird (Henecka 1985: 67). Vor Jahren wurde allerdings schon an einer „anpassungsmechanistischen“ Interpretation des Sozialisationskonzepts heftige Kritik von Autoren vorgebracht, die dem Symbolischen Interaktionismus, der strukturgenetischen Entwicklungstheorie Piagets sowie der „Kritischen Theorie“ nahe stehen (Habermas 1973: 118ff.). Verstärkt wurde auch auf die „Wechselseitigkeit“ und die Qualität und Bedeutung sozialisatorischer Interaktion hingewiesen, wobei deren Struktur und Soziogenese bis heute theoretisch nicht hinreichend geklärt ist: Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen kann „antizipatorische Sozialisation“ erfolgreich sein und asymmetrische in symmetrische Interaktion überführt werden (Grundman 1999)? Genügt dazu kritische Einstellung und Reflexion? Fast gänzlich wird dabei – mit wenigen Ausnahmen – die Bedingung der Möglichkeit sozialisatorischer Interaktion, die vorgeburtliche Primärsozialität des Embryos und Fötus, deren Realität durch viele biologisch-medizinische Studien belegt und nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann, nach wie vor von den meisten Sozialisationstheoretikern vernachlässigt. Wäre das Kind völlig a-sozial, wie könnte es dann sozialisiert werden? Nur durch suggestives „proximales Verhalten“ der Eltern? Der wirkliche Anknüpfungspunkt liegt aber in der Primärsozialität des Embryos und der Übergangsprozesse und Interaffektivität zwischen Mutter und Kind (Stern 1996: 47; Joas 1992: 269; Waldenfels 2002: 436, 450; Todorov 1996). Die intersubjektiven Strukturen sind schon tief in den kindlichen Körper eingebettet. Sozialisation setzt daher bio-psycho-soziale Zugänglichkeit und Sensibilität bereits voraus. Und Sozialisation garantiert auch keineswegs, dass kindliche Handlungsfähigkeit ein für allemal erhalten bleibt. Ihr Resonanzraum muss vielmehr immer wieder, gerade nach traumatischen Erfahrungen und angesichts wachsender Kontingenz in der Wissensgesellschaft, restituiert werden. Sozialisation sollte noch in der kritischen Wendung durch Habermas ganz bestimmte, allerdings interaktiv-kritisch zu qualifizierende Grundqualifikationen für die gesamte Biographie, gleichsam als Baustein für eine „postkonventionelle Identitätsbalance“, sicherstellen: Sprachfähigkeit, Selbstdarstellungs- und Interaktionskompetenz, Empathie, Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz, Rollendistanz – manche fügen heute noch Teamfähigkeit an. Identität übersteigt hier immer schon „Rollenidentität“ (soziale Identität). Allerdings ging wohl auch Habermas noch damals von einer vergleichsweise ungefährdeten Rollenidentität aus, die heute nicht mehr gegeben erscheint (Nunner 1999). Sozialisation erfährt auch dadurch Irritationen, dass die Internalisierung nicht mehr nur generalisierende Wertinternalisierung ist, sondern einem zwischen Universalität und Partikularität hin und her laufenden Resubjektivierungsprozess voraussetzt, der im Extremfall nicht selten auch zu einer erneuten „Selbstethnisierung“ oder zum Autismus führen kann. Der Einfluss und die Relevanz von Primärsozialisation ist lebensgeschichtlich heute deutlich abgeschwächt. Das lässt einerseits leichter Korrekturen und Kompensation zu, begünstigt aber auch die Verfestigung anomischer Tendenzen (Heitmeyer 1997), und er bleibt auch umstritten. Kaum noch umstritten ist allerdings, dass sich die soziokulturellen
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Rollen des Alters, des Geschlechts, der Elternschaft – im Unterschied zu funktionsspezifischen Rollen – in den letzten 50 Jahren entkonturiert und entstrukturiert haben, was das Weiterleben von Stereotypen nicht unmöglich macht. Wenn sich aber soziale Identität verändert, führt dies unausweichlich auch zu einer Verschiebung und Problematisierung personaler Identität. Wenn inzwischen feststeht, dass die von Habermas empfohlene „postkonventionelle Identität“ offenbar nur von einem Bruchteil der Bevölkerung einer postindustriellen Gesellschaft erreicht werden kann, wird auch dieses Leitkonzept und die Effizienz von Sozialisation fragwürdig (Fischer 2000: 227ff.; Siegert 1978). Sozialisation vollzieht sich offenbar nur unter spezifischen Bedingungen. Schaffen sich die heutigen Familien und ihre Kinder ihre eigene Nachfrage und ihren eigenen Bedarf nach Sozialisation? Sozialisation ereignet sich mehr und mehr in Sozialisationsschüben, deren Kohärenz erst nachträglich hergestellt werden muss. Daher ist es durchaus ungewiss, ob Grundqualifikationen, die ohnedies immer wieder neu bestimmt werden, flächendeckend und dauerhaft unterstellt werden dürfen (Ortmann 1997: 341). Vergessen, Verlernen und Desozialisation geschehen nicht nur ausnahmsweise, sondern werden in einer auf ständige Innovationen bedachten Wissensgesellschaft geradezu systematisch verlangt und besonders gepflegt, um „auf der Höhe der Zeit“ zu sein. Die Irrelevanz von Sozialisation bestimmter Bezugsgruppen und das Obsolet-Werden eines umfangreichen traditionellen Wissens schließen nicht aus, dass neue sozialisatorische Abhängigkeiten erwachsen (Beck 1986; Hondrich 1999: 97ff.). „Selbstsozialisation“ ist im besten Falle eine Auswahl und Einwilligung in ein Optionsspektrum und nur eingeschränkt Autonomie. Dabei geht es längst nicht mehr um die Alternative „Anpassung“ oder „Rollendistanz“, sondern um die Bewältigung eines „Normalismus“, der sein Fähnchen immer in den Wind des „Zeitgeistes“ hängt. Kinder müssen gar nicht mehr umfassend sozialisiert sein. Fast wichtiger ist schnellstes Reagieren geworden. Subjektivität wird dadurch gewiss zu einer Eigenleistung. Doch es ist unklar, ob dies ein Anschmiegen an Märkte oder den widerständig-kreativen Eigen-Sinn mehr herausfordert. Marktorientierung externalisiert gemeinhin die Folgelasten des eigenen Tuns und fördert auch Trittbrettfahren. Aber auch ein bequemer Normalismus schützt nicht vor Erschütterungen der „Identitätsbalance“ und lässt sich auch nicht mit präzisen Regeln auffangen. Ein beträchtliches Stück der Selbstverständigung von Kindern muss in den konkreten Handlungssituationen selbst immer neu geklärt werden, weil nur hier Sinn transparent und bewusst werden kann (Joas 1992: 237f., 240). Erst hier erlangen kindliche Akteure eine gewisse Klärung der Erwartungen des Anderen und der eigenen Motive. Dabei geht es nicht um Sozialisationswissen oder entwicklungspsychologisches Wissen, sondern um Wirklichkeitskonstruktionen, die sowohl für das Hier-und-Jetzt wie die Entwicklung für Sozialisatoren wie Sozialisanden einen Erfahrungsraum erschließen und Übergangsstrukturen erzeugen, auf denen sich weiterleben lässt. Erst die Rahmung eines Resonanzraumes, der sowohl Grenzziehung wie Zentrierung, Grenzverschiebung und Dezentrierung erlaubt, verschafft aller Sozialisation Wirksamkeit. Die bloße Vermehrung und Steigerung von Sozialisation führt unter unseren bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen nur zu einer Omnipräsenz abrufbaren Spezialisten- und Expertenwissens, zu einer demotivierenden Inkompetenzvermutung gegenüber kindlichen Akteuren und letztlich zu einer Abwärtsspirale des Interaktionsverzichts, der Indifferenz und der weiteren Spezialisierung von Kommunikation (Offe 1996: 286ff.). Statt der Erweiterung des Wissensregisters treten oft „Methoden des Fremdmachens, der Bestreitung der Gemeinsamkeit in Sprache und Lebensformen“ (Rehberg) in Erscheinung. Es ist auch keineswegs sicher,
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dass Sozialisation nicht hinter und unter ein schon erreichtes Niveau der Zivilität fällt und Vergessen nicht weiter wuchert als es strukturell vorausgesetzt werden muss (Miller 1996: 15; Offe 1996: 258ff.). Vollständige Sozialisation wie Integration wäre keinesfalls per se „Fortschritt“, sondern eher ein Schreckensszenario, weil sie kreative „Ausbruchsversuche“ aus dem Status Quo unterdrücken müsste. Daraus erwächst die Notwendigkeit, theoretisch von einer „gebrochenen Sozialisation“ auszugehen (Waldenfels 2002: 84; Joas 1992).
10.3 Handlungsspielräume Internalisierung ist ständig auf der Suche nach subjektiven Handlungsspielräumen; auch noch im konventionellsten Handeln. Meist ist die naiv in Handlungssituationen angewandte „Strategie“ allerdings eine Nicht-Strategie, nämlich eine alltagsweltliche Idealisierung wie die: „Ich kann immer wieder“ oder „Und so weiter“ (Schütz 1979: 26, 29). Normen sind hier weniger Ursache als Ressource. Sie setzen jedenfalls praktisches Wissen voraus. Schon die interaktionistisch orientierte Sozialisationstheorie hatte betont, dass selbst die normalen Sozialisationsvorgänge nur mittels Interpretationen und kommunikativer Abstimmung Verbindlichkeit erlangen. Wechselseitigkeit sozialisatorischer Interaktion ermöglicht Annäherung oder Distanzierung und stößt Interpretationen über die dabei frei werdenden oder sich verengenden Handlungsspielräume der Interaktionspartner an. Noch stärker hatte Schütz darauf aufmerksam gemacht, dass die Reziprozität der „Rollenübernahme“ eine pragmatische Normalitätsunterstellung bleibt, auch wenn ihre kontrafaktische Notwendigkeit im Sozialisationsprozess angeeignet worden ist. Alle Übergänge in der alltäglichen Lebensführung wie im biographiegenerierenden Lebensverlauf sind dann nicht nur sozialisatorische Rolltreppen, sondern konditionierte und situierte kritische Gestaltungsaufgaben (Behrens 1996: 17ff.). Nur die rasch einsetzende Gewohnheitsbildung, die tradierten Formen sozialer Akzeptanz und Machtprozesse sorgen oft dafür, dass sich die faktische Entwicklung des kindlichen Akteurs, die auch ganz anders verlaufen könnte, im Endeffekt doch nicht stark verändert (Allert 1997: 959; Ludwig 1999: 72). Allerdings kann man dennoch nicht mehr davon ausgehen, dass Kinder heute in der Sozialisation genau das Wissen und jene Handlungsdispositionen erwerben, die sie in der Zukunft benötigen. Wenn man mit Goffman (1967) davon ausgeht, dass gelingendes und misslingendes Identitätsmanagement sich nur graduell unterscheiden und erstaunlich nahe beieinander liegen und sich sogar zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Bereichen beim normalen Menschen nachweisen lassen, dann kann die bloße Optionsvermehrung (v. Foerster) nicht schon als Freiheitszuwachs verstanden werden. Mit dem Zugewinn wachsen auch das Risiko und die offenen und verdeckten Abhängigkeiten. Es geht hier immer nur um die Abwägung von Gewinn und Verlust. Und es kann nicht länger übersehen werden, dass Sozialisation immer auch Desozialisation – und zwar nicht nur im Alter – freisetzt. Die Handlungsspielräume ergeben sich aus der Interpretation des Verhältnisses beider (Joas 1992: 268; Kohli 1991). Handlungsfähigkeit wird in der Sozialisation ausdifferenziert, kann aber auch jederzeit entdifferenziert und wieder verloren gehen. Sie muss ständig in „Übung“ gehalten und eigens durch kommunikative Konstruktionen gesichert werden. So können auch Handlungsspielräume wieder verspielt werden, wenn sie nicht in die jeweilige „biographische Situation“ (Schütz 1979: 83ff., 124ff.; Leu 1996: 174ff.) eingebettet werden. Und damit
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wird auch der soziale Status qualifiziert. Statusinkonsistenz kann die Folge sein. Kinder erscheinen dann als „frühreif“ oder als „kindisch“ – oder beides in verschiedenen Situationen. Sie können heute in fliegendem Wechsel vom Sozialisationsobjekt zum hyperaktiven Subjekt werden, das u. U. Erwachsene in retroaktive Sozialisation zwingt und von sich abhängig macht, etwa im Bereich des technisch-medialen Wissens (Lüscher 2003: 26). So erzeugt die Optionsvermehrung keineswegs symmetrische Chancengleichheit für immer mehr Menschen, sondern neue Wissensklüfte und einen übergroßen Entscheidungsund Selektionsdruck. Dieser führt nicht selten dazu, dass statt fälliger politischer oder gesellschaftlicher Reformen Beharrungskräfte einen fast unwiderstehlichen Sog entfalten oder fundamentalistische Kurzschlüsse attraktiv erscheinen. „Vergesellschaftung“ ereignet sich so nicht nur in ruhiger „Aneignung der menschlichen Natur“ (Hurrelmann), sondern in der konstruktiven Bewältigung sich verschiebender Handlungsspielräume im Wechselspiel von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, von Habitualisierung und Kontingenz. Und in diesem Prozess können sich Bevölkerungsgruppen oder Generationen deutlicher hervortun oder stärker zurückhalten, sich näher kommen oder sich entfremden. Und diese Strukturierungsresultate rahmen in ganz entscheidender Weise Sozialisation und machen sie von solchen Rahmungen abhängig. Sie werden als elementarer Spielraum sozialer Mobilität erfahren (Ortmann 1997: 22). Gerade im Zeitalter der Globalisierung erweisen sich offenbar solche Rahmungen als besonders notwendig, weil hier Desozialisation und Entpolitisierung gefördert werden, und es als Folge davon zu einer Fragmentierung von gesellschaftlichem Leben und persönlicher Erfahrung kommen kann. Gerade in Zeiten länger anhaltenden Wohlstands wird dieser soziale Rahmen oft übersehen, der weit mehr als ein tragendes Institutionensystem umfasst. Objektive Handlungsspielräume müssen nicht nur subjektiv wahrgenommen werden. Sie müssen auch vielfältig interaktiv abgestimmt oder verhandelt werden. Formale Chancen und/oder Risiken verdunsten sonst gleichsam für spezielle Kinder. Für andere kumulieren sie hingegen. Es geht hier nicht nur um sozialstrukturelle Modifikationen, sondern um das konkrete Wissen um solche Zugangschancen und tatsächliche Muster der Inanspruchnahme und der gesellschaftlichen sozialen Reaktionen darauf, die es abzustimmen gilt. Chancen in den verschiedenen sozialen Milieus sind nicht einfach gegeben, sondern werden kurz-, mittel- und langfristig im alltäglichen Geschehen immer wieder hervorgebracht und bestätigt und in Wissensstrukturen „verkörpert“. Handlungsspielräume in verschiedenen Bereichen lassen sich besonders deutlich am Beginn einer speziellen Sozialisationsphase erkennen, indem das Geschehen von allen Beteiligten unterschiedlich interpretiert werden kann: stärker von der vorherigen oder der zukünftigen Sozialisationsphase, stärker von den Erwachsenen oder den Kindern, stärker von den Eltern oder den Pädagogen her etc. Sozialisation geschieht nicht automatisch und mechanisch. Einerseits klaffen schon beim „Start“ Chancen nach wie vor auseinander, andererseits können sich die Differenzen und sozialen Ungleichheiten noch verstärken. Sozialisation, restringierte, kumulierte Sozialisation und Desozialisation werden so immer mehr zum fast ununterscheidbaren Teil der „negotiated order“ (Strauss) interagierender Kinder, die zwischen Unter- und Übersozialisation ihren Weg suchen müssen. Es liegt an diesem Rahmen praktischen Wissens, dass für manche Kinder Vieles möglich wird und für viele Vieles sich einschränken oder versperren lässt (Türk 1997: 153). Handlungsspielräume werden auch durch den institutionellen Wandel zwischen Privatheit und Öffentlichkeit geöffnet oder verschlossen. Sozialstrukturelle Differenzen wer-
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den maßgeblich durch das Institutionensystem stabilisiert, verändern sich aber auch, wenn sich Institutionen wandeln. Ob dies zu einer weiteren Kumulation von Auf- oder Abstiegschancen führt oder zu einer Fragmentierung des Status, hängt vom Wechselspiel normativer Imperative und Muster typischer Inanspruchnahme sozialer Ressourcen ab, in dessen Verlauf beide immer wieder neu „in Form“ gebracht werden. Damit muss sich der Blick nicht nur auf Bedeutung strukturierende und handlungsorientierende, sondern auch auf Bedeutung unterminierende und desorientierende Aspekte, mithin auf die Dialektik von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, richten. Institutionelle Strukturen versuchen Wissenschancen über den Ursprungsort und die Ausgangssituation zu bewahren, erleichtern oder erschweren aber die „Beziehungsspiele“ in verschiedenen Bereichen. Sie formen auch ein Gefälle eines abnehmenden oder zunehmenden Anpassungs- oder Innovationsdrucks, das jedoch immer interpretiert wird. Mikropolitische Fraktionsbildungen in Organisationen, die die institutionellen Programme umzusetzen versuchen, zielen darauf ab, vertrauliche halböffentliche und öffentliche Kommunikation zu optimieren. Da sie dabei auf Zustimmung angewiesen sind, bieten sie potenziell die Chance, intra- und interinstitutionelle Handlungsspielräume, allerdings in engen Grenzen, auszubauen. Gerade „moderne“ Institutionen wollen ja mehr und mehr den Eindruck erwecken, Kinder könnten überall mitmachen; in Kinderparlamenten, Kinderpolitik in der Stadtplanung, Kinderkirche, Kinderuniversität etc. Die Pluralisierung der Lebensformen, vor allem aber die zunehmende Erwerbstätigkeit beider Eltern und die Einführung oder weitere Verbreitung der Ganztagsschule hat in vielen europäischen Ländern zu einer Veränderung und Verschiebung kindlicher Handlungsspielräume geführt. Manchen Kindern, nicht zuletzt privilegierten, bringt das u. U. Einschränkungen, vielen Kindern und Eltern aber Vorteile. In Norwegen (Solberg 1990: 118ff.) wurde beobachtet, dass dies nicht zur Schwächung der Familie und zur Verwahrlosung der Kinder, sondern zur Erschließung neuer Handlungsspielräume der Kinder in der elterlichen Wohnung führt. Selbst in der optisch unveränderten Kleinfamilie hat sich inzwischen Vieles verändert. Kurzfristige Effekte und Spätfolgen sind zu unterscheiden. Beide verändern die Handlungsspielräume der Kinder. Die Veränderungen hängen auch von der Lebendigkeit der Generationsbeziehungen, speziell der zu Großeltern und Urgroßeltern, und der Qualität und Dichte sozialer Netze, intermediäre Strukturen und der Infrastruktur ab. Im Alltag sind die Übergänge zwischen institutioneller und lebensweltlicher Orientierung und zwischen formeller und informeller Kommunikation fließend. Die Interaktionsdynamik öffnet und verschließt manche Gelegenheit. Es bilden sich auch Grauzonen zwischen verschiedenen Bezugsgruppen, besonders zwischen Familien und Gleichaltrigengruppen. Der immer noch schmale Lobbyismus für Kinder ist sicher heute ernster als vor einigen Jahrzehnten zu nehmen. Doch nach wie vor scheinen die „Schlüsselpersonen“ der Machtund Funktionseliten über solchen „Kinderkram“ nur zu schmunzeln. Das soziale Handeln von Kindern in Handlungsspielräumen hat es nicht nur mit sozialstrukturellen Opportunitätsstrukturen, sondern auch mit situativen Gelegenheitsstrukturen (Interaktionsordnungen) und auch immer mit divergierenden Darstellungs-, Begründungs-, Durchsetzungs- und resubjektivierenden Aneignungsansprüchen zu tun. Erst in einem vielschichtigen Abstimmungs- und Rahmungsprozess – also nicht in einem fix und fertigen oder normativen Rahmen – erschließen sich die tatsächlichen und typischen Handlungsspielräume der Kinder. „Selbständigkeit“ (Leu 1996: 174ff.) ist Vorgabe, Medium, Resultat einer komplexen kommunikativen Konstruktion, die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz zu
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begrenzen sucht. Und gerade kreative Versionen dürften sich nicht widerstandslos durchsetzen lassen. Da die traditionelle Kinderrolle verblasst oder obsolet geworden ist, müssen sich Kinder durchaus inszenieren; mit der Gefahr, dass diese Inszenierung die Show streift und ein Schauspiel auf der Vorderbühne medialer Diskurse abgibt.
10.4 Die ganz normalen Wiederholungen Wiederholungen sind unvermeidlich, weil sich selbst im stärksten sozialen Wandel nicht immer alles und auf einmal ändern kann. Wiederholungen können natürlich in Monotonie münden. Sie tragen vor allem aber auch dazu bei, dass Kinder auf Anhieb Situationen, Personen, Dinge und Sachverhalte wieder erkennen und sich in einer vertrauten Welt heimisch fühlen können. Dieses spontane analogisierende Wiedererkennen wurzelt in einem historischen Vorverständnis und sorgt dafür, dass in „natürlicher Einstellung“ Normalität im Alltag in hohem Maße unfraglich bleibt (Schütz 1979: 174ff.). Diesen auf Wiederholungen gründenden „Realismus“ des Alltags kann nicht einmal der radikale Konstruktivismus leugnen. Er setzt ihn vielmehr „autopoietisch“ voraus, weil auch er die Möglichkeit einer Differenzierung in zwei Ebenen unterstellt. Erst Vorverständnisse schaffen die Möglichkeit sicherer Wissensdifferenzierung (Varela 1990). Wiederholungen lassen sich jedoch weder vollständig habitualisieren, noch umfassend rational projizieren und strategisch steuern. Sie beruhen auf der begrenzten Rationalität praktischen Handelns, das nach Anschlussfähigkeit und transsituativem Transfer in Serien analoger Situationen drängt. Wenn wir auch, wie der Ökonom J. M. Keynes trocken feststellte, auf lange Sicht tot sind, so sucht doch jeder Akteur nach einer Perspektive mittlerer Reichweite und ist selten mit einem „reißerischen Situationismus“ (Goffman) zufrieden, weil der keinerlei Planungssicherheit und Verlässlichkeit verheißt. Auch schon Interaktionspartner in direkten face-to-face-Situationen wollen von einer gewissen Erwartungssicherheit ausgehen. Damit stützen sie sich lebenspraktisch auf die alltäglich wirksame „Rationalitätsfiktion“ (Schimank) und Reziprozitätsvermutung, die unhintergehbar ist. Bis zum Beweis des Gegenteils gehen sie ganz selbstverständlich davon aus, Handlungen immer wieder wiederholen und ungefähr ähnlich handeln zu können (Schütz 1979: 26, 29; Habermas 1981: 198f.). Das scheint damit auch für individualisierte Kinder zu gelten, die sich rasch von Neuem ablenken lassen. Auch Kreativität ist strukturell nur als Negation notwendiger Wiederholung und als divergierendes Denken praktizierbar. Alles Handeln in einer Lebensgeschichte ist sozial eingebettet und verdankt sich einer Vorgeschichte, die gerade durch Wiederholungen an die Alltagsgeschichte gebunden bleibt (Joas 1997: 270; Soeffner 1989). Weil das so ist, bedarf es heute in weiten Bereichen offensichtlich nicht mehr einer universalisierenden Wertgeneralisierung im Sinne Parsons. Kinder legen heute oft keinen gesteigerten Wert auf konsistentes Verhalten, aber sie setzen doch voraus, dass alltägliches Handeln verstehbar und verlässlich bleibt. Der Rahmen der Alltagsnormalität wird durch Wiederholungen und Alltagsroutinen fundiert. Er bildet eine Struktur. Daher kann Bourdieu auch sagen, dass das Spiel des Lebens schon mehr oder weniger gelaufen sei, wenn wir über es zu reflektieren beginnen. (Bourdieu 1997: 20). Und wir wissen praktisch davon immer nur in einer hermeneutischen Rekonstruktion bereits im Alltag vorliegender „Dokumente“ vorsprachlicher, sprachlicher und praktischer Art. Der kindliche Akteur kann dies
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durchaus wissen und damit kundig umgehen, ohne explizit darüber nachzudenken, welche verschiedenen Wege es speziell für ihn gibt. Er greift auf Alltagstypisches zurück. Die andern Kinder und Erwachsenen tun dies auch. Das kann man sehen und einen sozialen Vergleich anstellen. So wird soziale Kommunikation und Vertrauen gesichert. Dieses strukturierende Hintergrundwissen und diese diachron-synchronen Abstimmungsvorgänge bleiben an die Teilnehmerperspektive gebunden und dem Beobachter zunächst verborgen. Statt „einfacher“ sieht er allenfalls „erweiterte“ Reproduktion, aber nicht die komplexen Verflechtungen konventioneller und kreativer Momente im Strukturierungsprozess. Doch genau betrachtet gibt es hier nie völlig identische Kopien, weil Wiederholungen sich nur interaktions- und kontextsensitiv durchführen lassen. Jede weist mindestens winzige Veränderungen auf. Und der Variationsgrad kann zu- und wieder abnehmen. Auch Wiederholungen weisen somit eine „duale Struktur“ (Giddens) auf: sie sind einerseits gegeben, andererseits als Gestaltungsaufgabe aufgegeben. Strukturentfaltung als Wiederholung ist nicht nur von Habitualisierung, sondern auch von Kontingenz infiziert. Aus der Steigerung der Variation kann sich schließlich eine neue, emergente Struktur herausbilden. Hegel sprach in diesem Sinn vom Umschlag der Quantität in die Qualität. Zyklen und Serien analoger Situationen geraten dann an ihr Ende und machen neuen Zyklen und Serien Platz. Alltagstypisches Handeln gerät aus dem Rhythmus und passt nicht mehr in seine angestammten räumlichen Territorien. Solche fließenden Veränderungen oder schrofferen Übergänge finden heute öfter statt als die schlichte Reproduktion zeitlich-sozialökologischer Arrangements. Strukturen entpuppen sich als Strukturierungen in „dualer Struktur“. Nicht selten haben auch Kinder den Eindruck, dass solche Strukturierungsvorgänge immer kürzere Laufzeiten besäßen. Adorno und Luhmann fassen diesen Eindruck zugespitzt in dem Urteil zusammen, dass in der modernen Gesellschaft alles möglich erscheint, aber nichts mehr geht (Gamm 1994: 39). Jedenfalls aber tritt deutlich hervor, dass Wiederholungen in komplexere Strukturierungsprozesse eingebettet sind (Waldenfels 1999: 65) und auch Variationsmöglichkeiten eröffnen oder verschließen und damit Wahrnehmung und Handeln realer Interaktionspartner profilieren. Im ganz normalen Alltag als der hier und jetzt erfahrbaren alltäglichen „Wirkwelt“ verwandelt sich jedwedes soziale Phänomen in eine strukturell verankerte, aber mindestens minimal variierte Wiederholung und sozial eingebettete Routinehandlung innerhalb einer typischen zeit-räumlichen Rhythmik in historischer Situiertheit. Nur dadurch gewinnt der Alltag seine verbindliche Gestalt innerhalb einer Überfülle von Einflussfaktoren, Informationen und Optionen, die heute schon auf Kinder einstürmen. Er wird auch durch strukturgebende Zäsuren, Schwellen, geordnete Teilkontinua, Übergänge und entsprechende Wissensstrukturen strukturiert und ist so mehr als eine amorphe Abfolge von „Momentaufnahmen“ und Addition von winzigen „pointillistischen“ Assoziationen. Am Alltag können sich Kinder manchmal „festhalten“, wenn sich ihre Lebensgeschichte zeitweise verdüstert und eine klare Zukunftsperspektive sich entzieht. Wäre hier jedoch nun alles glatt und nur monoton, so würde auch das wechselseitige Interesse potenzieller Interaktionspartner an einer tendenziell immer uninteressanteren Interaktion schwinden. Die Strukturierung der alltäglichen Lebensführung ist somit nicht nur ein Ergebnis notwendiger Ökonomie der Kräfte oder bloßes Produkt dumpfer Gewohnheitsbildung, sondern elementares Sinnerfordernis des Lebens, möglicher Interaktion und Ausfluss lebensweltlichen Hintergrundwissens (Alheit 1994).
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Doch es wäre in hohem Maße illusorisch zu unterstellen, dass solche Strukturierung ein für allemal durch Sozialisation zu erwerben wäre. Sie kann durchaus auch verloren werden. Sowohl völlige Monotonie (Langeweile, „Ritualismus“) wie reiner Interaktionsstress (Hektik, „Eskapismus“) können als idealtypische Grenzmarken eines solchen Verlustes an praktischer Interaktionskompetenz und eines Prozesses gelten, in denen das Subjekt sich von seiner eigenen Biographie entfremdet (Riemann 1987). Auch die relevanten Bezugssysteme verblassen dann und zeit-räumliche wie soziale Relevanzen müssen erst mühsam in einem neu zu entdeckenden Spannungsfeld zwischen Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit wieder angeeignet werden. Kurz: Alltag ist kein bloßer Ablauf. Alltägliche Lebensführung ist vielmehr eine durchaus voraussetzungsvolle, interaktionsorientierte Strukturierungsleistung. Manche Erwachsene und manche Kinder schaffen es einfach nicht, dauerhaft einen „interessanten“ und zugleich kohärenten Alltag zu gestalten. Er wird dann gleichsam zum residualen Container umfassender Kontingenz. Kraft der durchaus auch kreativitätshaltigen reproduktiven Gestaltungsvorgänge in einem strukturierten Alltag sind Kinder in der Lage, sich und Anderen Wirklichkeit in potenzieller, realer, wieder erlangbarer und alternativer Reichweite zu erschließen, die nicht einfach in Besitz genommen werden kann. Ohne solche lebensweltliche Strukturierung gehen Wahrnehmung, Handeln der Subjekte und soziale Verlässlichkeit weitgehend verloren. Man spricht nicht ohne Grund von drohendem Realitätsverlust im Alltagsdiskurs. Sie sind also nicht einfach Wirkungen von außen, sondern soziale Konstruktionen von Übergängen zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit und somit konstitutiv immer wieder auch auf resubjektivierende Internalisierung angewiesen. In der Hektik des ganz normalen heutigen Familienalltags, der in den meisten Fällen abhängig von der Dynamik und den Verwerfungen des „globalisierten“ Arbeitsmarktes geworden ist, inszenieren Kinder und Erwachsene zuweilen Ereignisse und manchmal künstlich hochstilisierte Pseudoereignisse, deren Differenz sie selbst nicht immer voll durchschauen (Schenk 1998: 141; Park 2001). Dennoch wäre es abwegig, etwa ein kommerzialisiertes Event einfach als Ergebnis schlichter Manipulation und einer Rezeption nach dem Muster des bedingten Reflexes vor der „stummen Macht der Möglichkeiten“ (Esser) zu deuten. Natürlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass bestimmte Krisen- und Kontrasterlebnisse plötzlich Reflexion in Gang bringen. In einem strikten Sinn wird aber eine lebensweltliche Alltagsorientierung – zwischen schierer Anpassung und Reflexion – keine „Verinselung“ auf Dauer dulden, sondern eben neue Zusammenhangsstrukturen des Wahrnehmens, sozialen Handelns und des Lebens konstituieren. Es muss indes offen bleiben, ob und wie sich Kinder in einer „online world“ einrichten und sich langfristig veranlasst sehen, sich improvisierend und ungeplant auf situative Experimente und (großen Teils) kommerzialisierte Events sowie kurzfristige Selbst- und Fremdzuschreibungen einzulassen (Hepp 2003).
10.5 Die Bewältigung von Konflikten Gesellschaftliche Ordnung war historisch stets mehr oder weniger prekär. Doch Differenzen zwischen Normen und der gesellschaftlichen Faktizität konnten meist leicht identifiziert werden. In der späteren Moderne wird nun der Unterschied zwischen Normverstoß und Innovation zusehends unschärfer. Was heute anormal erscheint, wird oft schon morgen
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als innovativ gefeiert. Die moderne Pluralisierung von Werten, Meinungen, Gruppen und Lebensformen schafft dauernd Zündstoff und vielfältige Reibungspunkte. Verrechtlichung und Bürokratisierung erscheinen in diesem Licht weniger als Systemübergriffe, sondern als Folge von immer mehr unbewältigten gesellschaftlichen Konflikten. In der vormodernen Gesellschaft versuchte man – mit immer geringerem Erfolg – Konflikte entweder kurzerhand mit Repressionen oder lokalen „Weistümern“ zu meistern. Die moderne Gesellschaft verlangte hingegen stärkere Rechtssystematik und Universalisierung, individuelle Selbstdisziplinierung und Internalisierung tragender Werte und Normen. Es zeigt sich dabei ein wachsendes Bestreben, existentielle Grundkonflikte in eine Vielzahl kleinerer Konflikte zu zerlegen, was freilich auch immer wieder in Frage gestellt wird (Hirschman 1994). Es wuchs auch die Einsicht, dass Konfliktbewältigung nicht ausschließlich an guten Willen, sondern an eine ganz bestimmte Problemlösungskompetenz (Coping) und engagierte zivilkulturelle, moralische Selbstbindung (Commitment) (Elias 1997; Giegel 1998: 10; Nunner 1996: 129ff.) gekoppelt sein muss. Enthält die moderne kindliche Streitkultur erste Anknüpfungspunkte für diese demokratische Konfliktfähigkeit (Krappmann 1993)? Und wie verhält sich der Diskurs vom „unschuldigen Kind“ zu solcher Konfliktkompetenz? Kinder können nicht nur als „sozialer Kitt“ ehelicher Beziehungen betrachtet werden. Oft sind sie auch Anlass zu Zerwürfnissen. Es bedarf heute sicher bei Eltern und Kindern einer bestimmten Sensibilität, Bereitschaft und Fähigkeit, Konflikte, wenn schon nicht für immer zu lösen, so doch zu regulieren und einen Umschlag von prinzipiell konstruktiven in destruktive Konflikte zu verhindern (Giegel 1998: 22). Schon in der frühen Kindheit erwerben Kinder offenbar vielfach entsprechende Einsichten und praktische Kompetenzen (Nunner 1999: 299f.). Moderne Gesellschaften sind aber immer weniger in der Lage, Kindern einen anwendbaren Wertkonsens zu vermitteln. Stattdessen bieten sie allerdings Raum für spezielle Konfliktregulierungen, Kompromissbildungen und Verständigung über Legitimationskriterien (Firsching 1994: 289ff.; Grundmann 1999: 124ff.). Kinder gewinnen dabei einerseits einen größeren Weitblick andererseits größere Sehschärfe für die Spezifität einer Konfliktsituation. Insofern verläuft weder die moralische noch die lebenspraktische Sozialisation allein vom Partikularen zum Allgemeinen wie es fast die gesamte Sozialisationstheorie annimmt (Grundmann 1999: 124f.). Wissenskonstruktionen für die Reichweite beider Prozesse liegen der Praxis der Verhandlungen und Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen zugrunde und sind letztlich die Basis, dass sich Eltern und Kinder wechselseitig beeinflussen, begrenzen und zeitlich variabel Einfluss und Handlungsspielräume zugestehen können (Grundmann 1999: 131, 135, 142). Der ungleiche Zugang zu Verhandlungen ist nicht direkt und streng kausal-linear, sondern nur über soziale Konstruktionsprozesse wirksam, die bestimmte typische Zugänglichkeiten und Formen praktikabler „Wechselseitigkeit“ interpretierend vorzeichnen oder insinuieren. Praktischer Umgang mit Konflikten und die tatsächliche Fähigkeit zur Konfliktregulierung setzen somit ein durchaus komplexes Wissen um den Charakter, die Struktur, die möglichen Entwicklungsvarianten und Regulierungsund Lösungsmöglichkeiten voraus, das v nie vollständig reflektiert und institutionell gelernt wird, aber als praktische, nie ganz explizite Lerngeschichte (Hirschman) zwischen „voice“ (Protest) und „exit“ (Aussteigen) innerhalb eines sozialen Milieus von allergrößter Bedeutung ist. Damit ist „autoritäre Erziehung“ zwar immer noch im Einzelfall möglich, aber doch sehr erschwert und kaum noch zu rechtfertigen. Zustimmungsfähigkeit beider Seiten ist zwar empirisch nicht immer in vollem Maße gewährleistet. Auf ihre Vortäuschung oder
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Erschleichung können aber nicht einmal mehr machtbesessene Personen verzichten. Ein Problem bleibt freilich: Können die betroffenen Kinder die Kräfteverhältnisse, Regeln, Rituale, Sanktionen und gemachten Ausnahmen realistisch einschätzen (Neumann 2001)? Das scheint im Bereich der familialen Interaktionsordnung eher als in formalen Organisationen wie der Schule etc. der Fall zu sein, wo z. B. Grundschüler strukturelle Probleme häufig personalisieren. Es gibt verschiedene Klassifikationen sozialer Konflikte (Bühl 1972) und der Beschreibung typischer Konfliktdynamik, Konfliktfelder, Konfliktthemen, Konfliktverläufe, die hier nicht genau entfaltet werden können. Immer wieder werden Normen-, Rollen-, Identitäts-, Macht- und Interessenskonflikte genannt. Reale soziale Phänomene sind meist eine Mischung, die die eigentümliche Wandlungstypik der modernen Gesellschaft besonders deutlich hervortreten lassen. Dafür wird komplexeres Wissen notwendig. Wahrscheinlich ist eine vollständige Integration hier unmöglich oder sogar bedenklich. Minimalkompetenzen, ständige Lernbereitschaft und Verstehen unterschiedlicher Normen, genereller Verfahren und Formen der Konfliktregulierung werden umso wichtiger; sowohl für die rechtlichen wie die praktisch-sozialen Konflikte. Sie sind ohne Internalisierungsprozesse und „interne Standpunkte“ nicht zu erwerben (Nunner 2005: 161, 164f.). Dies gilt selbst dann, wenn empirisch auch dysfunktionale Arrangements eine erstaunlich lange Zeit überleben können, ehe sie ihren Fassadencharakter offenbaren. Die meisten Konfliktarten treten in allen Lebensphasen auf, Identitätskonflikte und -krisen besonders gehäuft aber von jeher in Kindheit und Jugend. Diese Konfliktzone wird aber heute lebensgeschichtlich immer mehr hinausgeschoben und prolongiert, worauf die Etikettierungen einer Infantilisierung und Juvenilisierung der Gesellschaft verweisen. Andererseits wird immer deutlicher, dass es grundlegende Perspektiven- und Bewertungsunterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern gibt (Mansel 1996: 8, 11ff.). Dabei scheint ein paradoxer Zusammenhang zwischen zunehmender Lebensqualität, Optionenvermehrung und abnehmender Zufriedenheit zu bestehen, der auch neue Konfliktlinien und Formationen sozialer Ungleichheit in und zwischen den Generationen in der Zukunft andeutet und vorzeichnet (Kohli 2000; Szydlik 2004). Interaktionsstress aufgrund struktureller, funktionaler Spannungsausweitung und geringer Deutungsvalidität ist vielen Kindern, obwohl ein alles beherrschender Generationenkonflikt offenbar bislang ausbleibt, eine geläufige, zuweilen sogar traumatische Erfahrung. Je nachdem wie diese Erfahrung verarbeitet wird, erfolgen unterschiedliche Zuschreibungen und Bewertungen der Zeithorizonte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Maß an Zuversicht kann dabei in wenigen Jahren z. B. im Blick auf familiale oder gesamtgesellschaftliche Generationenerfahrung enorm schwanken, wie die Shell-Studien des letzten Jahrzehnts dokumentieren. Gerade Konflikte mit Eltern oder Erziehern bzw. Lehrern und verwickelter Streit mit Gleichaltrigen beschäftigen Kinder intensiv in ihrem Alltag und implizieren das Problem des richtigen Anfangs oder Einstiegs in eine originelle Lebensgeschichte. Sie bilden erste Markierungen und Schwellen. Sie können fatalistisch herausgelesene Bedingungszirkel oder Teufelskreise zementieren oder durchbrechen. Vor allem als kritische Lebensereignisse werden sie dann notiert, wenn sie die zwanglose Formierung neuer sozialer Kontakte zu blockieren scheinen (Krappmann 1999; 2002; 1993: 369) oder gar eindeutig als destruktive Vorgänge erlebt werden. Krappmann verweist darauf, dass Kinderinteressen sich keineswegs nur auf ihre Familien konzentrieren. Kinder erstreben ein komplexes Spektrum optimaler Beziehungsnetze,
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die auch heute noch durch lokale Schwerpunkte, aber nicht mehr durch konzentrischsozialökologische Exklusivität gekennzeichnet sind. Diese Beziehungslandkarte bleibt offen und ambivalent, aber dennoch meist nicht strukturlos, lässt also Wiederholungen durchaus zu. Die bisherigen Bezugspersonen und -gruppen behalten einen hohen Orientierungswert, Kontakte zu ihnen gelten aber zugleich als zu eng. Es erscheint so Kindern ebenso riskant, das Vertrauen auf Eltern und Freunde zu monopolisieren wie zu relativieren. Offenbar gibt es heute nie völlig singuläre wie ausschließlich „gute“ und „schlechte“ Beziehungen. Alle Beziehungen, nicht nur die intergenerativen, haben ein Doppelgesicht und können rasch umkippen (Krappmann 2002: 73, 76). Selbst konstruktive Konfliktschlichtung braucht weder anerkannt zu werden, langfristig Frieden zu stiften, noch eindeutig Vorteile zu bringen. Bündnissysteme erweisen sich als außerordentlich wichtig; gerade auch bei der Validierung zentraler Konfliktlinien. Strukturierung richtet sich so auf beides: Risikominderung und Chancenverbesserung, was ja nie von statischen Referenzsystemen gewährleistet werden kann. Doch das gelingt keineswegs allen Kindern. Manche empfinden sich dann schon in ihrer Kindheit als „Überflüssige“, die endgültig in eine tranversale Sozialkategorie und eine soziale Schieflage rutschen (Offe 1996: 258ff.; Bude 1998: 363ff.). Soziale Kompetenz und soziale Ressourcen steigern oder schwächen sich wechselseitig: Wer hat, dem wird noch gegeben, wie Merton den Evangelisten Matthäus (miss-)verstehen wollte. Ambivalenz wächst nur den Kindern nicht über den Kopf, die eine (nicht nur individuelle) Bewältigungsstrategie und ein sich selbstverpflichtendes Engagement sowie soziale Ressourcen zwanglos ins Spiel zu bringen vermögen und sich dadurch in der Lage zeigen, sie auf ein lebbares Maß herabzutransformieren und zu reduzieren. Konstruktive Konfliktbewältigung muss immer neu gesucht werden und bleibt verwoben mit gesellschaftlichen Definitionen dessen, was Kinder brauchen, können, sollen, dürfen, müssen (Olk 2003), was als legitimiert, sozial akzeptiert oder ohne größere Widerstände verhandelbar gilt. Die Steigerung kindlicher Ansprüche auf genuine Rechte (meist im informellen Bereich) und elterliche Anspruchssteigerungen an ihre „verantwortete Elternschaft“ stellen Mechanismen dauernder Konfliktgenerierung dar, die keineswegs auf psychische Eigenarten reduziert werden können. Konfliktregulierung, und noch weniger Konfliktlösung, ist nicht jederzeit möglich; etwa auch nicht, wenn sich Perspektiven, Interessen, Gefühle und Ressourcen wechselseitig blockieren. Konfliktmanagement erfordert Handlungsspielräume, Kompetenzen, Ressourcen, den Sinn für den „richtigen Augenblick“ und prinzipielle Bereitschaft zum Frieden (Herzfeld 2001: 14, 356). In Zeiten gesteigerter Wissensproduktion ist das gesamtgesellschaftliche Konfliktniveau erstaunlicherweise nicht niedrig, sondern hoch. Nach jeder gelösten Frage bricht ein neues Problem auf. Ursachen und Wirkungen von Konflikten sind nicht immer säuberlich zu trennen. Nachträgliche Rationalisierungen sind hier durchaus üblich. Kinder sind nicht selten Opfer der Umstände, die sich nie unbeeinflusst von Markt, Staat und intermediären Strukturen herausbilden (Kränzl 2003; Nollmann 1997: 261). Die Gesellschaft sieht zwar das Recht als zentralen Regulierungsmechanismus der sich multiplizierenden Konflikte in der „offenen Gesellschaft“ an. Doch gerade es erreicht die meisten Konflikte der Kinder nicht. So fehlen hier manchmal Entscheidungsregeln oder sie werden übersprungen (Beck 1986: 36ff.; Giegel 1998: 13f.). Viele Konflikte unter Kindern sind vom Spiel kaum zu unterscheiden. Die genauen Grenzen zwischen Spiel und Streit können verschoben werden, sind also nicht kanonisierbar. Es geht daher nicht um perfektes Konflikttraining, sondern um die Fähigkeit, Interaktionsdynamiken auch zu durchbrechen, realisti-
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sche „Zwischenbilanzen“ der Konfliktlösung oder -regulierung zu fördern und Interaktionsstress abzubauen (Badura 1990: 370ff.).
10.6 Interaktionsdynamik und Interaktionsstress Viele Handlungen sind Interaktionen, soziales Handeln, in das soziale Akteure wechselseitig und durchaus dramatisch (Willems 1998) involviert sind, wo sie sich näher kommen oder auf Distanz gehen; gelegentlich auch einen Neuanfang wagen. Dies gilt oft sogar für Konfliktprojekte, die im Hinterzimmer von (scheinbar) einsamen Kindern – im Hinblick auf bestimmte Adressaten – ersonnen werden. Meist wird dabei hypothetisch deren Antwort oder Reaktion eingeplant. Aus einzelnen Interaktionen werden Interaktionssequenzen, aus unverbindlichen Begegnungen in lockeren Interaktionsfeldern dichtere Interaktionsgeflechte und schließlich nicht selten voll institutionalisierte Gruppen. Im Prinzip sind auch Rückbildungen möglich, aber oft aufgrund der üblichen Beharrungskraft bestehender Verhältnisse wenig wahrscheinlich. Interaktionen dürfen in ihrer Nachhaltigkeit nicht über-, aber eben auch nicht unterschätzt werden, denn sie sind immer auch in Interaktionsordnungen mit spezifischem Wissen eingebettet (Goffman 1994). Sie dringen selbst in formale Organisationen vor und lassen sie doppelbödig erscheinen: Unter die formellen Beziehungen schieben sich stets informelle und lassen ein oszillierendes Verhältnis von „Vorderund Hinterbühne“ aufblitzen. Und gerade im informellen Bereich erzielen kleinste Ursachen manchmal große Wirkungen. Ein winziger Streitanlass hat dann u. U. ein dramatisches Zerwürfnis zur Folge. Die Interaktionsdynamik zeigt sich in nur begrenzt steuerbaren Aufschaukelungs- und Abkühlungsvorgängen (Goffman 1973: 38ff.). In pathologischen Extremfällen entwickelt sich eine „paradoxe Kommunikation“ mit einer tückischen Diskrepanz der Inhalts- und Beziehungsebene (Watzlawick 1974: 106ff., 171ff.): Komm her zu mir, aber bleib lieber weg, denn ich habe zuviel Angst, wenn du kommst, obwohl ich nichts lieber möchte als dies. Durchaus analoge paradoxe Effekte kann auch strategische Interaktion in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erzeugen (Goffman 1961; 1981). Interaktionen laufen also nicht in monotoner Wechselseitigkeit, sondern im zur Beschleunigung neigenden Spannungsfeld von Dramatisierung und Entdramatisierung, Aufschaukelung und Abkühlung ab. Und dies führt folglich zur (zeitweiligen) Aufwertung oder Degradierung bestimmter Personen in dialektischen Zuschreibungsprozessen. Nicht normativ fixierte oder stabile Präferenzen, sondern die Dynamik dieser interaktionsabhängigen Zuschreibungsprozesse bestimmt die konkrete Situationsdefinition und den gegenwärtigen „Stand der Dinge“ (Abels 1998: 46ff.; Reckwitz 2000: 136). Wichtig ist, dass jeder Interaktionspartner über ein einschlägiges Wissen verfügt, das zu einem gewissen Verstehen und verstehbaren Handeln führt. Dieses Verstehen braucht nicht respektvolles Verstehen zu sein. Dabei besteht die eigentliche Interaktionsdynamik gar nicht in einer isolierbaren Einzelsituation, sondern in der stark temporalisierten Verkettung von Handlungen, die mehr ist als eine bloße Addition (Abels 1998: 54ff.). Die relative Gleichartigkeit der Situationen kann gerade dadurch erhalten werden, weil jeder darauf achtet, dass Konventionen und Machtunterschiede nicht allzu deutlich verändert werden. Reziprozität bleibt jedoch eine hypothetische Normalitätsunterstellung und kann eben nicht in einer stabilen und homogenen Sozialkompetenz („Rollenübernahme“) sozialisatorisch gesichert werden (Schütz 1979: 30ff., 211ff.; Eßbach 1996: 13f.; Behrens 1996: 18). Weil
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aber diese Inadäquanz unaufhebbar ist, sind Interaktionssequenzen nicht einfach mechanische oder „anschlussfähige“ Verkettungen, sondern deutungsimprägnierte und riskante soziale Konstruktionen mit selektiven und exklusiven Momenten. Und zudem folgt aus dieser theoretischen Position, dass der Beobachter sich keineswegs hier heraushalten kann und nur in Einsamkeit und Freiheit beobachten kann. Selbst wenn er sich herauszuhalten sucht, wird seine „Neutralität“ von Kindern oft als eine Art versteckter Parteinahme eingeschätzt: Kein Urteil ist auch ein Urteil. Er wird affiziert und konfrontiert mit einer lebensweltlichen Sinnkonstruktion („erster Ordnung“), die er in seiner Re-Konstruktion („zweiter Ordnung“) nicht überspringen kann oder überspringen sollte. Teilnehmer- und Beobachtungsperspektiven bleiben in die Dialektik objektiver und subjektiver Wirklichkeitsinterpretation eingespannt. Soziale Konstruktionen beruhen nicht nur auf der Notwendigkeit, dass objektive Strukturen subjektiv wahrgenommen werden müssen. Es wird auch auf Wahrnehmungen reinterpretierend reagiert (Goffman 1994: 55, 65; Strauss 1968: 95ff.). Fatalerweise kann gerade diese rekursive Vorgehensweise eine sich verselbständigende Eigendynamik der sozialen Beziehungen begünstigen, die von außen als doppelbödig erscheint: Kinder werden rhetorisch hofiert und sozialstrukturell marginalisiert. Diese widersprüchlichen Botschaften erzeugen vermeidbare Ambivalenz. Interaktionen sind daher mehr als „Anschlusshandeln“. Sie treiben Kinder immer auch in diskursiv, sozialstrukturell vorgebahnte Inklusions- und Exklusionsprozesse. Natürlich ist für jeden Interaktionsteilnehmer bereits soziokulturell vorsortiert, was er unter „Sein“, „Entwicklung“, „Wert“, „Bedürfnis“, „Anspruch“, „Nutzen“ verstehen kann, wenn er noch in der Gesellschaft verstanden werden will. Diese soziokulturelle Grundsemantik erfährt allerdings in unterschiedlichen sozialen Kontexten unterschiedliche Resonanz, selektive und temporalisierte Rezeption und Akzentuierung, weil hier unterschiedliches ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital zu Buche schlägt (Bourdieu 1992: 99ff.). Diese Voraussetzungen machen sich bis heute in unterschiedlichen Sensibilitäten, habituellen Dispositionen und Sozialkompetenzen bemerkbar. Sie werden aber dennoch immer wieder in konkreten Entscheidungssituationen angesichts ganz bestimmter konkreter Ereignisse überprüft, bestätigt oder revidiert und in jedem Fall auch noch einmal selektivexklusiv reinterpretiert und resubjektiviert. Häufig kommt es hier auch zu emotionalen Eruptionen. Dieses rekursiv-reflexive Vorgehen kann also kumulativ oder in divergierenden Interpretationen seine Dialektik oft schubartig entfalten (Luckmann 2002: 70ff.). Das Wissen über Kinder, mit dem Erwachsene Kindern begegnen und sich mit ihnen einlassen, ist heute sehr vielfältig und heterogen und nicht immer fundiert. Es entstammt aus unterschiedlichen Diskursen, hat eine komplizierte sozialstrukturelle „Zustandsaktualität“ und eine damit nicht immer kompatible „Ereignisaktualität“. Es reicht von verstaubten Stereotypen bis zu (positiv/negativ) schockierenden Überraschungen in aktuellen Erfahrungen, die Stereotypen völlig über den Haufen werfen: Das hätte man nun wahrlich nicht von Kindern angenommen und vermutet! Sind das noch wirkliche Kinder? Sind uns Kinder doch fremder und zugleich ähnlicher, als wir uns das träumen ließen? Wie bringt man das auf einen Nenner? Auch auf der analytischen Ebene der Interaktionen geht es um ein Wissen, das gleichzeitige und historische Erfahrungen in praktikable „Zwischenbilanzen“ überführt. Dieses Wissen ist genau genommen nicht selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheint, sondern höchst voraussetzungsvoll und variabel. Eltern neigen offenbar heute dazu, Kinder homogener und länger als Kinder einzustufen, als das Kinder akzeptieren. Kinder setzen sich lange gegen Pflichten und Normalitätsstandards, die ihnen Erwach-
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sene zumuten wollen, zur Wehr. Gleichwohl beanspruchen sie aber gesellschaftliche Rechte immer früher (Abels 1993: 497). Der Grundunterschied zwischen Erwachsenen und Kindern muss daher von widersprüchlichen Perspektiven und Interessen her in Interaktionen immer wieder auf Zeit ins Lot gebracht werden. Da sich heute Familienzeit unter dem Druck des Arbeitsmarktes und angesonnener Frei- und Konsumzeit durch familienindifferente Betriebszeit und unbeschränkte Geschäftsöffnungszeit immer häufiger zerfasert und damit entstrukturiert, geraten Kinder auch in der Familie immer öfter unter Interaktionsstress, der sich in mangelndem psychosozialem Wohlbefinden, Orientierungsproblemen sowie Zeitdruck äußert. Sie bekommen auch die Folgen zu spüren, wenn ihre Familien kein anregendes, reichhaltiges, gehaltvolles und interessantes Familienleben mehr zustande bringen und in reine Konsumhaltung verfallen, alles zum konsumbestimmten „Werktag“ und Einerlei werden lassen. Bei vielen Familien verschwimmen zusehends die Unterschiede und Grenzen zwischen Familienzeit und Zeit des Betriebes, Familien- und Konsumzeit, Familien- und Eigenzeit, Werktag und Sonntag, Feiertag und arbeitsfreiem Tag und zwischen alltäglichen und außeralltäglichen Ereignisketten (Hochschild 2002) oder werden durch eine uferlose Flexibilitätszumutung überspielt. Eine gewisse aktivistische Hektik und Flüchtigkeit des Augenblicks hat offenbar auch die Kinderwelt erreicht (Mansel 1996; Herlth 2000). Kinder müssen sich dann recht mühsam wieder Orientierung verschaffen. Folge davon kann sein, dass sie sich entweder zu sehr anpassen, irrational auflehnen, „unberechenbar“ werden oder grenzenlos zu verhandeln suchen, um lebensgeschichtlichen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen (Ecarius 1998). Unsicherheit wird heute auch von Kindern häufig durch gesteigerte Kommunikation zu kompensieren versucht (Krappmann 1993; Oswald 1993). Vieles wird dabei aber nur hinausgeschoben und nicht wirklich entschieden. Provisorien bestimmen zunehmend den Alltag und halten sich dann erstaunlich lange. Auch die „Vorder- und Hinterbühne“ der interaktiven Selbstpräsentation divergieren zeitweilig oft stark. Listigerweise werden diese Diskrepanzen und Disparitäten im Nachhinein oft rationalisiert (Mead 1968: 86f.). Das ist besonders dann der Fall, wenn Kinder ihre Interaktionskompetenz überschätzen und dies verschleiern wollen. Es ist heute freilich auch nicht immer auf Anhieb leicht möglich, die eigene Chancen-, Risiken- und Gelegenheitsstruktur realistisch einzuschätzen, da öffentliche Diskurse Kindern einreden wollen, es bestünde tatsächlich Chancengleichheit. Und da die oft beklagte Reizüberflutung Kinder wohl kaum lähmt, aber keine klare Zukunfts- und Gegenwartsorientierung zulässt, sind Kinder immer öfter gehalten durch Inszenierung ihre Handlungsspielräume zu explorieren (Willems 1998). Wenn gesellschaftliche Integration nicht mehr zweifelsfrei durch einen gesamtgesellschaftlichen Wertkonsens, aber auch nicht durchgängig durch rein utilitaristische Präferenzordnungen zu gewährleisten ist, werden Interaktion und Kommunikation – nicht erstaunlich in einer „geschwätzigen Gesellschaft“ – auch von Kindern überschätzt und überfrachtet. Im Alltag müssen nicht nur Entscheidungen getroffen, sondern auch – nicht zuletzt im Hinblick auf die eigene Lebensgeschichte – eigene Identitätsimbalance und Kommunikationsunterbrechungen gemeistert werden. „Gesprächstherapie“ kann nicht alle Probleme verflüssigen. Sie verkompliziert häufig auch Konfliktregulierung und lässt neue Konflikte aufbrechen. Und der Ruf nach Experten, der dann heute regelmäßig ertönt, nimmt sich manchmal als magische Beschwörungsformel aus. Er reduziert ja nicht die gesellschaftlichen Definitionskämpfe, sondern multipliziert sie, wenn man sich nicht einfach blind einem Diskurs anvertraut. Zwar vermögen Experten Teilfragen zu klären. Sie versuchen sich aber
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immer auch verdeckt strategisch Vorteile zu verschaffen und durch einen Wechsel der Systemreferenzen intrasystemische Differenzen und mikropolitische Fraktionsbildungen zu vernebeln (Giegel 1998). Soziale Integration und Konfliktexpansion bleiben somit gleich wahrscheinliche Entwicklungsrichtungen interaktiver Optionen. Normativ asymmetrische werden dann manchmal in symmetrische, symmetrische in asymmetrische transformiert. Ein von allen Gesellschaftsmitgliedern ohne Alterunterscheidung gefordertes „lebenslanges Lernen“ unterminiert eine solide Struktur des Wissenstransfers und verwischt auch den Generationenunterschied in Interaktionen (Ecarius 1998). Auch ein fester Zusammenhang familialer und außerfamilialer Sozialbeziehungen kann angesichts einer expansiven Flexibilitätszumutung – nicht nur an die Erwachsenen – nicht als hineichend tragfähig erlebt werden. Manchmal gelingt es Kindern trotz Interaktionsstress die Fassade alltäglicher Normalität zu wahren, obwohl dauernd die Nerven blank liegen. Im Allgemeinen aber ist die Ermittlung des Verhältnisses des „Markts der Möglichkeiten“ zu den Kontrolllöchern und Kontingenzen eine schwierige Pionierleistung, weil sie einer Beobachtung aller durch alle unterliegt (Hahn 1995: 160f., 169; Tietze 2002: 509f.). Hier lauert mehr als „doppelte Kontingenz“ der konkreten Interaktionspartner. Unter Interaktionsstress versteht Badura (1990: 317ff.) ein auch körperlich nachwirkendes „subjektiv beeinträchtigend (z. B. als bedrohlich) erlebtes akutes oder chronisches Ungleichgewicht“ im Interaktionsprozess zwischen fremdbestimmten Zwängen oder selbstbestimmten Anforderungen und gegebenen Fähigkeiten und Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Häufen sich solche Erfahrungen im Generationenverhältnis, so ist heute eher eine lähmende Sprachlosigkeit oder „Egotaktik“ des fortwährenden Ausklammerns als ein sensationeller Generationenkonflikt zu erwarten.
10.7 Totale Überraschungen: Kommunikations- und Systemunterbrechungen Man kann mit Luhmann (1997: 1084; 1995: 55ff.) Information als „punktuierte Überraschung“ verstehen. Sie bestätigt damit, dass alles auch anders sein könnte. Damit nimmt man aber der Überraschung ihre ätzende Schärfe und trivialisiert sie. Wirkliche Überraschungen verursachen oft einen regelrechten Schock und falsifizieren bisherige Erwartungen und Erfahrungen. Sie machen betroffen, fassungslos, nachdenklich, ratlos oder irritieren und verwirren. Erinnerungen und Erwartungen scheinen wertlos zu werden oder völlig zu verblassen, ja die Sprache scheint zu versagen. Die geläufige „natürliche Einstellung“ wird erschüttert (Schütz 1984: 197; Reichertz 2000: 283, 281). Jedenfalls kann nicht einfach zur routinisierten Informationsverarbeitung übergegangen werden. Kinder sehen sich veranlasst, einen alternativen Bezugsrahmen zu suchen, der ihnen im Augenblick der Überraschung eben nicht zur Verfügung steht. Sie sind dann oft sprachlos und emotional überwältigt. Kommunikationskontinuität und Systemzusammenhänge sind unterbrochen und können – wenn überhaupt – nur mühsam und nachträglich repariert werden. Das Moment irreduzibler Kontingenz lässt sich aber nur dann als Chance der Freiheit und des Neuanfangs nutzen, wenn es gelingt, explorativ die Grenzen des Alltags grundsätzlich zu überschreiten, sich dem Wechselspiel von Veralltäglichung und Entalltäglichung auszusetzen und kreativ in andere Wissenshorizonte einzutauchen, um dort nach einer Weile eine neue Struktur- und Sinnsicherung zu erreichen (Elias 1990: 37; Assmann 1988: 241).
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Das Erlebte erscheint zunächst einmal unübersehbar. Interaktionspartner „starren mit anhaltender Aufmerksamkeit“ auf nicht voll verständliche und einzuordnende „kritische Lebensereignisse“ und werden zum „Halten und Verweilen“ in „passiver Intentionalität“ gebracht. Von heute auf morgen kann sich dadurch das Leben verändern, wie es scheint. Eine gesteigerte Unruhe tritt auf, die nur durch neue Wissenshorizonte aufzufangen und zu verstehen ist und sich zugleich von der eigenen Lebensgeschichte entwöhnen muss (Schimank 2000: 33ff.; Fischer 1995: 43ff.). Überraschungen lassen sich daher besser mit Mead als „collapsed act“ als mit Luhmanns Diktum verstehen. Identitätsgrenzen werden sozusagen gesprengt (Joas 1997: 118ff.). „Selbstüberschreitung“ wird gleichsam erzeugt. Es fehlt plötzlich durch einen „Kollaps“ etwas Entscheidendes an Kommunikation. Risse, Lücken, Inkonsistenzen sind nicht mehr zu verheimlichen. Wenn z. B. ein Kind verliebt ist oder misshandelt wurde, trägt es nicht unbedingt sichtbare Zeichen der Überwältigung oder Misshandlung davon. Immer aber beflügeln oder belasten ekstatische Erfahrungen Kinder und erschließen ihnen transzendierende Erfahrungen, die in Sonderwissen durchsichtig zu werden versuchen. Sie widersetzen sich den rasch einsetzenden Habitualisierungsprozessen und verweisen darauf, dass das kindliche Leben im Spannungsfeld von Habitualisierung und Kontingenz, Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung zugleich verankert ist. Interaktionen und Verhandlungen setzen Routine und Verlässlichkeit voraus. Ohne jegliche Spannung und Offenheit werden sie jedoch fade und langweilig. Sie führen jedoch auch immer in unübersichtliches Gelände, kommen ins „Stottern“ und verstummen oder verharren wie gelähmt auf der Stelle, wenn sie von wirklichen Überraschungen heimgesucht werden. Es ist eine schwerwiegende Unterschätzung zu glauben, das kindliche Leben verliefe überraschungsfrei. Neben Verlässlichkeit suchen Kinder geradezu Erfahrungen, die noch Überraschungen bieten können: „Abenteuer“, „Action“, „Thrill“, „Event“ und Ekstase. Schon der Sport einer „sportiven Kindheit“, dient mehr als der Körperertüchtigung: das Leben an oder auf der Grenze. Doch hier lauern auch Enttäuschungen und Abgründe. Alltagswissen erschöpft nicht die Kapazität der Lebenswelt (Honer 2000: 194ff.; Srubar 1988). Sie verlangt ein In-Ordnung-Bringen des Verhältnisses von Alltäglichem und Außeralltäglichem. Das Außeralltägliche entzieht sich mindestens zeitweilig, partiell und graduell der alltäglichen „Wirkzone“ sozialen Handelns kindlicher Akteure (Schütz 1979: 69ff., 211ff.). Haben Überraschungen nicht mehr einen Einmaligkeitscharakter oder wenigstens den Charakter der Ausnahme, so münden solche Erfahrungen in neue Strukturen oder in eine bloße Modifikation der Alltäglichkeit. Weder der Sonntag, das Wochenende, noch die Schulferien bieten heute in aller Regel die Möglichkeit der Überraschung. Das Meiste lässt sich (scheinbar) vorprogrammieren. Oder: Einerseits gibt es den Kindergeburtstag nicht jeden Tag, er ist aber als ritualisiertes Ereignis gut erwartbar. Kinder bieten, allerdings offenbar Eltern oft Überraschungen. Erwachsene bereiten aber auch, z. B. durch einen gut gehüteten und überraschenden Scheidungsentschluss böse Überraschungen. Immer aber werden damit der Wissenshorizont des Alltags und die gewöhnliche Kommunikation durchbrochen und gestört. Es gibt übrigens in unserer Gesellschaft wenig Riten und Rituale, um den schroffen Übergang abzufedern und zu normalisieren. Und pure Kommunikation ersetzt nicht die Lebensbewältigung. Es gibt wenig allgemein verbindliches Sonderwissen zur „Lebenskunst“ jenseits professioneller Diskurse, die immer auch neue Abhängigkeiten schaffen. Die Tatsache, dass neben rasch einsetzenden Habitualisierungstendenzen sich auch Kontingenz verstärkt heute bemerkbar macht, bleibt den Kommerzialisierungsstrategen
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natürlich nicht verborgen. Sie legen daher Spezialangebote und Stimulantien der Ekstase für Bedürfnisse vor, die traditionell in Schockerlebnissen entstanden sind: „Action“, „Thrill“, Abenteuer“, „Events“, Drogen – mit und ohne pädagogische Begleitung. Sie rüsten auch von dieser Seite Kinder als „aktive Konsumenten“ bestens aus. Rauscherlebnisse von Kindern erscheinen heute längst als keine Seltenheit mehr. Kinder immer jüngeren Alters rauchen, trinken, nehmen Drogen, suchen den medialen Thrill, lassen sich in okkulte Gruppen hineinziehen. Der Hang zu „Action“ und „Thrill“ und der Markt für „Events“ setzen immer früher ein (Waksler 1991: 73ff.; Palentien 2002: 879ff.; Hepp 2003), obwohl sie von Erwachsenen vielfach nicht ohne Grund als „Gesundheitsgefährdung“ von Kindern eingestuft werden. Allerdings verschafft jedwede „Droge“ auf Dauer keine „Ekstase“, sondern wird Teil eines suchtbestimmten Alltags. Phänomene wie der historische Kinderkreuzzug (1212) erinnern auch daran, dass hier immer auch religiöse Erfahrungen berührt werden können, die sich bei manchen Kindern noch heute oder schon wieder in Gebet, Meditation oder Zuwendung zu religiösen oder okkulten Phänomenen bemerkbar machen. Es ist allerdings fraglich, ob Kinder, die von ihren Eltern als einziger Sinn im Leben erlebt werden, zu weitergehenden Transzendenzerfahrungen fähig sind und ein religiöses Grundvertrauen entwickeln, dass aller Unordnung zum Trotz eine sinnvolle Ordnung in der Welt auszumachen ist. Neugier lässt Kinder sozusagen wittern, wo sich in unseren Wirklichkeitserfahrungen Risse, Lücken und Kontrolllöcher auftun. Häufig genügt auch nur ein schräger und verfremdender Blick, um Problematisches in unserer Alltagsroutine aufzudecken und Implizites explizit zu thematisieren. Damit können auch Regulierungen unterlaufen werden. Spiel ist zwar pädagogisierbar, aber übersteigt erzieherische Absichten bei weitem. Hier sind Kinder oft kaum zu bremsen. Ein wirkliches Spiel ist immer ein Übergang zwischen Ernst und Spiel, also ein Spiel mit den Grenzen der Normalität. Kinder achten auf Grenzen zwischen Normalität und Abweichendem oder Realität und Phantasie in ihrem Verhalten relativ wenig; vor allem im Spiel. Sie betrachten diese Unterscheidungen als fließend und als bloße Provisorien, nicht als etwas Endgültiges und Fix und Fertiges. Darin zeigen sie Ähnlichkeit mit Künstlern und dem ästhetischen Diskurs. Kinder spielen nicht immer selbstlos aber mit wachsender Hingabe und beweisen gerade damit, dass das Spiel seinen Sinn in sich selbst haben kann und nicht aus instrumentellen oder pädagogischen Gründen erfolgt (Joas 1992: 195, 228, 240). Aktuelle Sinnerfüllung und Abrundung stehen im Zentrum des Spiels und drängen darauf, bis zum Ende durchgespielt zu werden. Gerade weil Kinder oft im Rahmen der Haus- und Schularbeit das Gefühl haben, die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu verlieren (Giddens 1992: 8), haben sie das alternative Bedürfnis, dass noch Überraschungen in ihrem Leben möglich sind. Meistens laufen Kinder deswegen nicht ihrem normalen Alltag davon. Nur in relativ seltenen Fällen reißen sie als „Trebegänger“ oder „Straßenkinder“ von zuhause aus. Immerhin scheint sich aber deren Zahl in den letzten Jahren selbst in reichen postindustriellen Gesellschaften zu erhöhen (Butterwegge 2004: 127ff.). Versuchen Kinder damit – wie das Ariès vielleicht sehen würde – ihrem „goldenen Käfig“ zu entrinnen? Doch zeichnet sich auch hier eine Art Tragik ab. Da „Verhaltensauffälligkeiten“ in einer individualisierten Gesellschaft paradoxerweise stärker auffallen, da sie alle anderen beobachten, gibt es immer wieder überraschende Möglichkeiten, die Pirschgänge der Kinder ins Außeralltägliche als „Auffälligkeiten“ professionell und kommerziell zu thematisieren und das semantische Register professioneller Sachverhalte kontrolltheoretisch zu erwei-
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tern (Peters 2002). Dieses Bestreben wird von Kindern selbst noch durch ihre fast instinktive habituelle Übereinstimmung mit anderen Kindern unterstützt (Bohnsack 1998: 260ff.). Doch eine hermetische Abschirmung gegenüber der immer kontingenzhaltigeren Welt ist immer weniger möglich. Darum beginnen Überraschungen und Abenteuer schon um die Ecke (Gamm 2000: 23; Augé 1994). Doch auch so setzt unversehens und rasch der Wettlauf mit der „Kulturindustrie“ ein. Wirkliche Überraschungen widerlegen das kommunikationstheoretische Dogma, man könne nicht nichtkommunizieren. Die Kommunikationssysteme können vielmehr – wie die Kontingenz – immer wieder durchbrochen werden, obwohl dies nicht die „große Freiheit“ spätmoderner Kinder darstellt. Kinder schaffen und erleben in „passiver Intentionalität“ immer wieder Überraschungen. Ekstase, Erotik, Kreativität und Gewalt (Krieg) bleiben auch Kindern nicht verschlossen.
10.8 Zwischen technischer Innovation und kreativem Handeln Das Bemerkenswerteste am Transformationsprozess von der vormodernen zur modernen Gesellschaft in Europa ist sicher die Umstellung der Legimitätskriterien. An die Stelle der Tradition („das Bewährte“) tritt nun die Innovation („das Neue“, „Fortschrittliche“) eines zweckrationalen Kalküls. Damit wird die Wissensproduktion, -verteilung und -aneignung nicht nur erweitert, sondern revolutioniert und derart beschleunigt, dass Teilnehmer wie Beobachter gelegentlich heute den Eindruck eines „rasenden Stillstands“ (Virilio) gewinnen und glauben, wir wären in eine „Modernisierungsfalle“ geraten, in der sich Ansprüche und Ressourcen immer weniger zur Deckung bringen ließen (Wahl 1989) und insoweit Gewalt begünstigten. Innovationen können Umetikettierungen oder geringfügige Variationen sein. Sie erscheinen im Rückblick oft als „Spielereien“ und reine Moden. Sie führen nur selten zu kreativer Problemlösung und ins unwegsame und nie bequeme Terrain wirklich kreativen Handelns, das divergierendes Denken, Abschied von vertrauten Entwicklungspfaden verlangt. Kreativität ist nicht nur Austausch des Designs, sondern alternative Bestimmung des Neuartigen und Pioniergang, der einer gewissen „Gewalttätigkeit“ nicht entbehrt, weil er alte Abhängigkeiten kappt und Prämissen verabschiedet. Bestimmende Orientierung ist nicht technische Neuerung, sondern eine andere Lebensform. Kreativität lässt sich daher weder technisch, noch ökonomisch, politisch und rechtlich in Gang bringen, programmieren oder steuern. Steuerungsversuche zerstören vielmehr gerade Kreativität, wie dies eine übereifrige „Kunstpolitik“ immer wieder bewiesen hat. Dieser „Unsicherheit“ entrinnen auch nicht „Experten für Kreativität“, die nicht nur selbst immer wieder den Überblick verlieren, sondern Kreativität häufig mit wenig origineller „Innovation“ verwechseln und damit geradezu sterilisieren und bürokratisieren. Eine absolute Scheidelinie zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“ gibt es allerdings nicht. Alt und Neu sind keine säuberlich getrennten Sphären oder substanzielle Entitäten. Alt und Neu sind Indizien von Blick- und Dispositionsverschiebungen oder „Deformationen“ (Waldenfels 2004: 165ff.) und blickabhängige Deutungsresultate kommunikativer Prozesse, die das jeweils Thematisierbare ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zerren und die eigenen Abhängigkeiten von vergangener Alltags- und Lebensgeschichte, gegenwärtigen
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gesellschaftlichen Erwartungen, eigenen Erfahrungen und Zukunftsprojekten suspendieren, verschleiern, also auch verschleiern, dass dies immer wieder abgestimmt werden muss. Doch das Tempo dieser Abstimmungsversuche hat sich wohl derart gesteigert, dass diese immer weniger durchschaut und verstanden werden können. Dies scheint ein rein technisches und kein kommunikatives Problem mehr zu sein. Es geht hier aber nicht um eine angeblich immer erreichbare Balance zwischen sozialer und personaler Identität, sondern die Geschichtlichkeit ihrer Form oder „Formbestimmtheit“. Und dabei ist zu beachten, dass sich jede kreative Abweichung vom bisherigen Normalniveau erst durchsetzen und auch unter Einsatz sozialer Macht gegen die zunächst nicht zu leugnende Übermacht des bislang üblichen der herrschenden Kreise behaupten muss. Kreativität als „divergierendes Denken“ besitzt daher – und nicht nur aus der Sicht der Herrschenden, sondern aller Etablierten – durchaus ein „gewalttätiges“ Moment. Gerade dadurch erweist sie sich als eine ganz neue Kraft, die nicht Altes einfach modifiziert, komplementiert und fortsetzt. Jedenfalls gilt das für wirklich kreative Lösungsangebote, während von Innovationen oft das Wittgenstein-Wort zutreffen mag: „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer aussieht, als er wirklich ist“ (zitiert nach Waldenfels 2004: 165). Kinder erfahren diese notwendige, aber nicht immer vorhandene Kreativität zunächst alltagsweltliche Re-Konstruktion etwa, wenn ihre Eltern zwischen Familie und Beruf hinund her gerissen werden und durch den Sog der globalen Ökonomisierung an überzeugenden neuen Lebensformen gehindert werden, oder wo es gar zu einem offenen Kampf zwischen Familie als Familie und Betrieb als Familienersatz zu kommen scheint (Hochschild 2002: 45ff.; Nowotny 1989: 17ff.). Kaum weniger herausfordernd ist Folgenbewältigung wechselnder familialer Lebensformen und Neuvernetzung. Dies ist immer auch ein Ringen um „alt“ und „neu“ und Kreativität. Für traditionell gesonnene Kinder bedeutet dies vor allem Unruhe und Angst vor dem, was sich nicht als komplementäre „Ergänzung“ verstehen lässt, für „Neuerer“, dass sie das Alte im Neuen übersehen und ihre Kräfte überschätzen und sich einer kreativen Sensibilität gegenüber allzusehr abschotten. Kreativität beginnt auch für Kinder erst da, wo der Glaube an Regeln oder Strategien endet und offene zukunftsbezogene Responsivität Platz greift, die ohne „Erfindung“ (auch neuer Regeln) und Exploration nicht auskommt und somit einen eigentümlich abenteuerlichen aber auch gewalthaltigen Risikocharakter besitzt. Dies lässt sich allerdings auch mit der kommunikationstheoretischen Prämisse verbinden, dass nun alle Beteiligten das Gefühl haben können, ernst genommen zu werden und befähigt zu sein, sich über ihre gemeinsame Zukunft zu verständigen . Technische Innovationen, entsprechende Regeln oder Strategien betreffen jeweils die Ausgestaltung institutioneller Programme und ihre organisatorische Implementation. Sie sind aber eingebettet in historische und gesellschaftliche Bedingungen, die weder rein technisch noch rein organisatorisch oder rein individuell zu bewältigen sind, sondern kreative Vernetzungen und Übergangsstrukturen benötigen, weil von den vorliegenden Orientierungskomplexen und Wissensstrukturen nicht abstrahiert werden kann. Die Vorstellung, dass sich Innovationen oder gar Kreativität einfach linear auf der Grundlage „evidenzbasiertem Wissen“ verbreiten, ist viel zu simpel. Sie unterschlägt die kommunikative wie die mikropolitisch-politische Selektivität und Exklusion, überspringt auch viel zu schnell die zahlreichen „Bruchlinien“ sozialer Konstruktionen zwischen Marktwert, Gebrauchswert, Alltagsästhetik und politischem Engagement in alltäglicher Lebensführung, situativer Okkasionalität und Biographisierungsversuchen. Außerdem ist zu beachten, dass technische Innovationen in aller Regel auf kurzfristige Wirksamkeit,
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nicht auf mittel- und langfristige soziale und soziokulturelle Verträglichkeit und Anregung ausgelegt sind. Ein Kinder- und Familienleben, das aber fortwährend unter Innovationsdruck und Flexibilisierungszumutung gerückt ist, kann Kindern weder eine verlässliche Heimat bieten noch Kreativität gedeihen lassen. Beides kann man nicht mit dem Chronometer produzieren. Kreativität unter Kindern lässt sich nicht mit der Maxime herbeizwingen: „Zeit ist Geld!“. Das vielleicht problematischer gewordene Zusammenleben von Kindern und Erwachsenen kann nicht von „Unwahrscheinlichkeit“ und „Störvariablen“ gereinigt werden und hat gerade darin auch seine einzigartige Chance zu kreativer Lebensbewältigung. Es verlangt nicht in erster Linie eine „Herrschaft der Regel“ oder der „Strategie“, sondern einen heuristischen Blick und Responsivität für kreative Möglichkeiten (Joas 1992; Strauss 1968: 67ff., 178ff.). Doch dies ist stets auch ein selektiver und exklusiver Prozess zwischen Strategien der Inklusion bzw. Exklusion und der Taktik der Öffnung: Man kann es nie allen recht machen (Giegel 1998: 170). Dabei gewinnt immer wieder ein „floating gap“ zwischen soziokulturellen, institutionellen und individuell-intersubjektiven Reinterpretationen Gewicht (Niethammer 1995: 27, 31f.). Weder das Alltagswissen noch lebensgeschichtliche Kommunikation ist bloßer Speicher oder Container technischen Wissens. Beispielsweise müssen Kinder ihr praktisches Wissen heute kreativ zwischen spezifisch vertikalen und horizontalen Generationsverhältnissen einbetten und erproben. Sie haben eher Urgroßeltern und Großeltern als eine zahlreiche Schar von Seitenverwandten: Wer gehört zu wem, wer lässt wem die Freiheit, ohne ihn zu vernachlässigen, wer hilft wem, wer bringt wen über den engen Kreis der Familie hinaus in der Gesellschaft zusammen, wer beteiligt sich an intergenerationale Verpflechtung? Es ist eher Mythologie, wenn noch heute behauptet wird, Technik und Wissenschaft dienten einschränkungslos der ganzen Menschheit. Innovationen bedeuten nicht nur immer Chancen und Risiken zugleich. Sie bieten für manche Kinder auch heute noch große Chancen und für viele Kinder eher Risiken (Bude 1998: 365; Münch 1998: 140ff.; 415ff.). Gelegentlich scheint sich der Alltag für viele Kinder in ein Labyrinth an Optionen und Scheinoptionen bzw. Scheininnovationen zu verwandeln. Erst eine explorative kommunikative Lebenspraxis, die Zeit verlangt und nicht nur von ökonomischen Output-Kategorien bestimmt sein kann, erlaubt Kindern die Unterscheidung von Option und Scheinoption, von Innovation und Kreativität (Hörning 2001: 189; Rosenthal 2000: 164; Zeiher 1993: 334ff.). Diese wichtigen Kriterien der „Lebenskunst“ und kommunikativen Praxis kristallisieren sich erst im dialektischen Wechselspiel von Fremd- und Selbstzuschreibung heraus und lassen sich eben nicht rein technisch oder pädagogisch herauskitzeln. Die Pluralisierung und Veralltäglichung der Neuanfänge wirft unausweichlich die Frage der Selektions- und Exklusionskriterien auf, und zwar als Problem des konstruktiven In-Ordung-Bringens und der selektiv-exklusiven sozialen Reaktionen darauf. Dass Gesellschaft auf Kinder Einfluss hat, ist unbestritten. Dass hingegen auch Kinder Einfluss auf die Reorganisation der Gesellschaft besitzen, ist heute weniger durch die Rhetorik des Humankapitals als durch die Kreativität der Kinder selbst zu erfahren. Eine Gesellschaft mit immer weniger Kindern ist in der Gefahr, diese „Produktivkraft“ zu übersehen.
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10.9 Die umstrittene Allgegenwart der Gewalt: kurzen Prozess machen Gemeinhin wird Kindern ein starker Hang zur Impulsivität zugeschrieben und vielfach auch zugebilligt (Sichtermann 1994). Wenn sie in Situationen geraten, die von ihnen als schwierig empfunden werden, scheinen sie das Werben von Erwachsenen um Verständnis oft zurückzuweisen und impulsiv zu reagieren. Halten sie dann Erwachsene für geschwätzige Umstandskrämer? Impulsivität wird nicht selten in die Nähe von Aggressivität gerückt und diese mit Gewalt gleich gesetzt. Regeln seien entweder nicht vorhanden oder würden nicht beachtet. Gewalt an und von Kindern erscheint in diesem Licht in erster Linie als Chaos, nicht als Leid, das anderen angetan wird. Richtig ist allerdings: Schon wenn sich Neues durchsetzt und Altes zu behaupten sucht, zeigt sich eine irritierende Nähe von Kreativität und Gewalt. Metaphorisch gesprochen kann sich in Kontrolllöcher und Kommunikationsunterbrechungen sowohl Kreativität als auch Gewalt einschleichen. Unterbrechungen der Normalität haben immer etwas Beirrendes und Gewaltsames an sich (Waldenfels 1994: 105). Während Kreativität jedoch responsiv ist, erschöpft sich Gewalt in der Androhung, Schädigung oder (symbolisch angedeuteter) Liquidierung des Interaktionspartners und der bequemen „Selbstsimplifikation“, kurzen Prozess zu machen. Gewalt wird allerdings damit verharmlost und unterkomplex beschrieben, wenn sie nur als Unbeherrschtheit einer Person verstanden wird. Vielmehr setzt sich personale Gewalt, die es natürlich gibt, nur in gesellschaftlichen Korrespondenzverhältnissen durch, die allerdings auch nie so anonym werden, wie dies der missverständliche und grenzenlose Begriff „strukturelle Gewalt“ suggeriert. Die vorherrschende Klassifikation von körperlicher, psychischer, verbaler oder nonverbaler Gewalt ist nicht falsch, aber theoretisch unergiebig und trifft die spezifische Asymmetrie des Täter-Opfer-Verhältnisses nicht. Gewalt ist dennoch keine Substanz, sondern ein in Grenzen konstruierter asymmetrischer Prozess der Gewalteskalation oder deeskalation, der individuelle, soziale und kulturell-symbolische Dimensionen der Schädigung und Liquidationsbereitschaft sowie des Kommunikationsabbruchs impliziert. Er besitzt daher soziologisch im Sinne von Schütz thematische, motivationale (mobilisierende) und interpretatorische Relevanzstrukturen. Die häufig auftauchende Hoffnung, Gewalt ein für allemal etwa durch sanfte oder demokratische Sozialisation, durch Konflikttraining, Mediation oder sozialpädagogische Projekte (z.B. „Faustlos“) endgültig zu überwinden, ist nicht nur naiv, sondern insofern gefährlich, als sie das gesamtgesellschaftliche Gewaltpotenzial unterschlägt und den politischen Kampf wie das divergierende Denken der Kreativität pauschal zu diffamieren geeignet ist (Joas 2000; Soeffner 2004: 62ff.). Kinder können aufgrund der Enge wie der mangelnden Grenzen ihrer Erziehung gewalttätig werden und von Gewalt betroffen werden (Abels 1993: 144, 431). Wer als Kind hofiert wird, ist ebenso gewaltgefährdet wie ein vernachlässigtes Kind. Gewalt kann aus Langeweile oder aus Perspektivlosigkeit, aus Mangel an Schutzfaktoren, an Coping und Commitment (Selbstverpflichtung) entstehen. Kinder können Opfer oder Täter in kindzentriertem und erwachsenenzentriertem Lebensstil werden. Gewaltprozesse sind besonders kontingenzbehaftet (Joas 2000: 283ff.) und letztlich nur begrenzt prognostizierbar. Dennoch haben habitualisierendes Konflikttraining und Mediation ihren begrenzten Sinn. Wie jedes soziale Verhalten in einer Wissensgesellschaft ist auch Gewalthandeln nicht restlos irrational und strukturlos. Auch Gewalt ist nicht nur „bedingter Reflex“. Sonst würden nicht unterschiedliche Formen der Gewalt zwischen staatlichem Gewaltmonopol,
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Kriegsführung, destruktiver Wirtschaftskriminalität, Gewalt von Erwachsenen und Kindern, Kannibalismus, Gewalt an Tieren, Fleischverzehr etc. unterschiedlich verstanden. Es ist noch nicht so lange her, dass man körperliche Züchtigung von Kindern nicht als Gewalt, sondern als ein besonders probates Erziehungsmittel hielt. Das Spektrum der Verhaltensweisen, die als gewalttätig gelten, kann unterschiedlich eng und weit gefasst werden und es verschiebt sich auch zwischen Kulturen und historischen Epochen. Gewalt schließt aber auch eine bis zu einem gewissen Grad kalkulierte interaktive Komponente ein, die von Opfern und Tätern gekannt wird und gerade deswegen symbolisch so demütigend wirkt. Ein misshandeltes Kind fühlt sich ja nicht nur körperlich verletzt, sondern auch gedemütigt. Und eine Gesellschaft, die die von ihr selbst definierten Gewaltformen nicht beherrscht und in Schranken weist, riskiert den Ruf, keine Zivilgesellschaft modernen, demokratischen Zuschnitts zu sein (Bukow 2000). Weil Gewalt in solche Zuschreibungsprozesse von „Kurzschlüssen“ und Bedingungs-, Entscheidungs- und Kontrollzirkeln gerät, ist es unbefriedigend, sie nur psychologisch als psychische Eruption zu verstehen. Manchmal geraten Kinder sehenden Auges in zirkuläre Aufschaukelungsprozesse, die im Prinzip an jeder Drehung der „Spirale“ aufgebrochen werden können, aber erstaunlich selten tatsächlich aufgebrochen werden. Manchmal gelingt es Kindern mit etwas Glück, u. U. mit fremder Hilfe, einem „Teufelskreis“ zu entgehen. Sie setzen sich mit Gewalt – als Täter wie als Opfer erzwungener Nichtreziprozität – nicht nur unter Gesichtspunkten der Moral, der Norm, der Präferenzen auseinander, sondern suchen nach Relevanzkriterien, indem sie auf alltagsweltliche und biographische Wissensbestände, Problembeschreibungen, Strategien, Regeln, Rituale etc. zurückgreifen (Heinz 2000: 172) und sich auf unterschiedliche Ansprüche beziehen: Was wird von wem wie als Gewalt erlebt bzw. praktiziert und warum wird es so erlebt, wie es erlebt wurde. Zwar ist das gesellschaftliche Leben nie ganz gewaltfrei. Es gibt aber große Unterschiede in der wahrgenommenen Breite und praktizierten Intensität in unterschiedlichen Handlungsbereichen, die gerade Kinder, die im Frieden aufgewachsen sind, sehr verwirren können. Viele werden u. U. zu Opfern irgendeiner als Gewalt anerkannten Handlung und manche werden aus Opfern selbst zu Tätern. Die gesellschaftliche Gewalt scheint auch unter Kindern zu vagabundieren (Joas 2000: 283ff.). Doch ist dieser Prozess der Eskalation und Deeskalation bzw. des Transfers kein strukturloser Prozess, weil er in Netzwerke eingebettet ist und dadurch eine gesellschaftliche Mobilisierung für und gegen Gewalt erfolgen kann. Dies setzt also Resonanz- und Akzeptanzstrukturen voraus und entscheidet, wie weit Gewalt an und von Kindern Erfolg haben kann und nicht in kompakte Repression („Nulltoleranz“) gerät. Dabei dürfen weder das Familienleben noch das soziale Klima unter Peers idealisiert oder beschönigt werden. Wichtig bleiben indes auch die anderen Kontextinterdependenzen. Gewalt gegen Kinder wird besonders im Umkreis der Familie beobachtet. Sie scheint bei weitem die verbreiteste und am stärksten unterschätzte, schwer zu kontrollierende und zu untersuchende Form zu sein (Melzer 2002: 838; Honig 1992: 22). Doch was heute als Gewalt in der Familie skandalisiert wird, gilt informell noch heute z. T. als legitimes Erziehungsmittel. Es zeigt sich jeweils eine bestimmte Skala gewaltsamen Verhaltens gegenüber Kindern, die als nicht anstößig erscheint und eine Skala grell beleuchteter familialer Gewalt: Ist Liebesentzug, Overprotection auch schon Gewalt oder die nicht hinreichend verfeinerte „optimale Förderung“, die aus der gesellschaftlichen Norm „verantworteter Elternschaft“ deduziert werden kann? In der Schule und in der Öffentlichkeit wird körperliche
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Gewalt diskursiv und rechtlich verpönt oder verboten, psychosoziale Disziplinierung immer mehr eingeschränkt. Es wäre aber sorgfältig zu untersuchen, ob es nicht stets auch äquifunktionale Substitute gibt, die in die Lücke des tabuisierten Verhaltens spielend einrücken, aber ihren manipulativen Charakter gut verstecken können. Nicht so sehr die leichte Zunahme schwerer Gewalt (bei ca. 4 % der Schüler), sondern deren Akzeptanz und die enorme Zunahme von sprachlicher und symbolischer Gewalt, Sachbeschädigung und Vandalismus scheint Lehrer und Schulbehörden ebenso zu beunruhigen wie die Interdependenz schulischer und außerschulischer Gewalt. Dadurch scheint die strukturelle und funktionale Autonomie der Schule ernsthaft gefährdet (Melzer 2002: 850f.). Jungen sind dabei nach wie vor weit höher involviert als Mädchen. Mädchen holen jedoch neuerdings auf. Kindern gilt nicht alles als Gewalt, was Erwachsene so bezeichnen. Nicht immer führt verbal angedrohte oder ausgesprochene Gewaltbereitschaft von Kindern auch tatsächlich zur Gewalttätigkeit. In jedem Fall aber scheint sie ein guter Nährboden zu sein. Unter Gleichaltrigen ist oft eine auffällige Diskrepanz zwischen strikt egalitären Normen und einem erstaunlichen Spektrum gewaltbesetzter Verhaltensmuster schon in der Grundschule zu erkennen (Krappmann 1996: 99ff.; 1993; Oswald 1993; Melzer 2002: 851). Offiziell werden Kinder in Familie und Schule zu gewaltfreiem Verhalten aufgefordert. Sie sehen aber gleichzeitig – nicht nur in den Medien –, dass das heutige gesellschaftliche soziale Leben offen oder versteckt gewaltbesetzt ist und als Mittel der Interessendurchsetzung durchaus in vielen Fällen toleriert oder gar noch psychologisch als „Ich-Stärke“ gepriesen wird. Auf all diese Widersprüche könnte der missverständliche und dehnbare Begriff der „strukturellen Gewalt“ aufmerksam machen, der ursprünglich von Galtung für gesellschaftliche „Entwicklungsblockaden“ reserviert worden war (Melzer 2000: 849; Honig 1992; Habermehl 1999: 419ff.; Heitmeyer 2004). Entscheidend für die Konstitution der Gewalt im heutigen Kinderleben ist die Art der Thematisierung von Sachverhalten, der Institutionalisierung von Zuständigkeiten, GateKeepern und sozialen Karrieren und der Aktualisierung situativer Gewaltrelevanz. Jeder dieser Teilprozesse der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit muss abgegrenzt, strukturiert und im gesellschaftlichen Raum verortet und bestimmt werden. Die Art solcher wechselseitiger Identifikationen der Aktivitäten von Kindern kann heute freilich auch durch Skandalisierung und wählerwirksame Sensationsberichte auch strategisch instrumentalisiert werden. Daher erweist sich Gewalt nicht als substanzielle Entität, sondern als ein konstruktionsimprägnierter Prozess und Ausdruck gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Ein entscheidendes Problem besteht immer darin, ob und wie Opfer und Täter unterschieden werden und ob für sie künftig produktivere Verhaltensangebote zur Verfügung stehen (Honig 1992: 115). Genauso abwegig wie der Mythos der heilen Familie ist die Vorstellung, dass „unschuldige“ Kinder nur Opfer von Gewalt und nie Täter werden könnten. Auch in die Generationsbeziehungen kann heute nicht nur Ambivalenz, sondern auch Gewalt eindringen. Vielleicht ist Gewalt sogar Ausdruck einer übersteigerten Ambivalenz, die ihre inhärente Kontingenz nicht mehr von der gesellschaftlich hinzugefügten, strukturellen zu unterscheiden und zu disziplinieren vermag. Soeffner (2004: 75, 73) verweist darauf, dass schon in der Französischen Revolution bemerkt wurde, dass Kinder und Erwachsene Gewalt ästhetisieren und genießen können, „ohne sich im geringsten zu schämen“. In Situationen, in denen Gewalt nahe liegend zu sein scheint, ist die Zielsetzung des ganzen Prozesses höchst
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unklar. Sie wird aber dadurch „geklärt“, dass durch implizite Wissenskonstruktionen kurzer Prozess gemacht werden kann und der Interaktionspartner seine Reziprozität verliert, d. h. symbolisch oder wirklich liquidiert werden kann. Gewalttätige Augenblickserfahrungen scheinen eine effiziente Unterbrechung monotoner, irrelevanter oder lästiger Kausalketten zu bewirken, ohne dass man auf ernüchternde Veralltäglichungsprozesse, Folgen und Nebenfolgen achten muss.
10.10 Regeln, Normen, Rituale, Normalisierung Normalisierung kann verschieden geschehen: durch informelle Regeln, formelle Normen, durch Unterwerfung, Rituale oder pragmatische Normalisierungsunterstellungen und gatekeeping-Prozeduren. Regeln kanalisieren soziales Verhalten zunächst als anerkannte Daumenregeln und „Patentrezepte“. Sie können formelle, in der Regel gesetzliche Geltung besitzen. In vielen Bereichen fungieren Rituale nicht nur als Wiederholungsmechanismen, sondern als Schwellenmarkierungen um monotone soziale Kommunikation zu verhindern, formelle von informeller, „Zentren“ von „Rändern“ zu unterscheiden und in einer gewissen Spannung zu halten (Turner 1989: 28ff.). In Zeiten der Norminkonsistenz und des zunehmenden Normpluralismus gehen immer mehr Gruppen und Organisationen zu pragmatischen Leitfäden, ad-hoc-Regeln und Normalitätsunterstellungen über. Die Bemühungen von Kindern, trotz ihres ganz normalen Alltagschaos Normalisierung zu praktizieren, bewegen sich zwischen dem Streben nach Wiederholbarkeit, Regelfindung und Regelpraxis. Kinder werden nicht mit Regeln geboren oder erwerben sie durch Sozialisation zeitlos und für immer. Regulierung ist wesentlich Habitualisierung zwischen Über- und Deregulierung, die jeweils praktisch bewältigt und in einem dynamischen Prozess der normalisierenden Strukturierung gemeistert werden müssen. Es geht dabei immer auch um die Regulierung von Regelfall und Ausnahmen. Wenn es keine Ausnahmen gibt, wird die Regel leicht zum Zwangskorsett. Gibt es zu viele Ausnahmen, so wird die Ausnahme zur neuen Regel, oder ein anomischer Prozess der Regellosigkeit breitet sich aus. Immer, wo zuviel oder zu wenig Ordnung aufscheint, fühlen sich Kinder unwohl und von Wirklichkeitsverlust bedroht. In den vergangenen Jahren wurde auch die positive Funktion der Schwellenbildung durch Rituale unterschätzt. Es gibt aber immer auch die Entwicklungsmöglichkeit, dass sich Rituale entleeren und in einen sinnschwachen Ritualismus abgleiten. Regulierung und Deregulierung, Rituale und Antirituale sind Spannungsmomente im Strukturierungsprozess, der auch von Kindern selbst richtig „dosiert“ werden muss. Die Bemühung um das richtige Wissen, um das „Zuviel“ oder „Zuwenig“ an Ordnung, um die Unterscheidung des „Zu früh“ oder „Zu spät“, „Zu schnell“ oder „Zu langsam“ der kindlichen Entwicklung ist Bestandteil sozialer Kommunikation zwischen Kindern und Eltern bzw. Erwachsenen um Wirklichkeitserschließung, Kompetenzpraxis, Verfügbarkeit von sozialen Zugängen und Praktiken, sozialer Akzeptanz oder Anerkennung. Praktisches Wissen deckt sich also nicht unbedingt mit soziokultureller Semantik und Sozialisationswissen. Es geht hier um Abwendung faktischer Inkompetenz und Erschließung zusätzlichen Wissens des praktischen Umgangs mit kognitivem Wissen und NIchtwissen, um gesellschaftliche oder politische Mitbestimmung oder Partizipation, für die es in unterschiedlichen Situationen jeweils unterschiedliche Landkarten gibt (Soeffner 1989: 17).
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Kinder müssen nicht nur unterschiedliche Normen lernen. Sie müssen die Angemessenheit ihrer Normwahrnehmung und Normpraxis überprüfen oder Ratlosigkeit über die Undurchsichtigkeit der Situation überwinden und sozialökologische Arrangements neu justieren – so dass soziale Verständlichkeit gewahrt und Vertrauen immer wieder begründet werden kann. Sie müssen also auch mit der „Präventivwirkung des Nichtwissens“ zu Recht kommen (Beck 1996: 304; Popitz 1986). Sozialisationswissen korreliert so mit Wissen um die soziale Kontrolle und beider Verhältnisse und Grenzen. Wie kann der Gefahr begegnet werden, dass aus der Wahrnehmung und Angst um Nichtwissen ein Nichtwissenwollen und eine Lern- und Realitätsverweigerung entsteht? Kindern kann eine Norm nicht einfach ankonditioniert werden. Sie müssen mindestens minimal der Überzeugung sein, dass diese Norm „funktional“ ist und eine gewisse Relevanz für ihre eigene Lebenswelt besitzt, sonst lösen sie sich von ihr, wenn sie nicht umfassend kontrolliert werden. Oder sie betreiben Mentalrestriktion und ein doppeltes Spiel („Innere Kündigung“ ist ein weit verbreitetes Phänomen). Hyperselektivität der Normgeltung wäre die wahrscheinliche Folge und könnte die gesellschaftliche Verbindlichkeit dieser Norm noch weiter schwächen. Praktisches Wissen bezieht sich auf vertraute wie unvertraute, normale und anormale Voraussetzungen, Formen von Handlungen und ihre Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen in potentieller, unmittelbarer, wiederherstellbarer oder alternativer Reichweite und auf ihre „kausale“ Zurechnung als Teil der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (Schütz 1979: 62ff.; Luckmann 2002: 69ff.). Regeln können sich zu informellen Normen entwickeln, sind aber meist nur enttäuschungsfeste Resultate von Habitualisierungen sozialen Verhaltens. Sie präsentieren transsituative und überpersonale Kriterien der Selektivität der Wahrnehmung und des Handelns im Alltag. Sie haben praktischen nicht nur pragmatischen Charakter, da sie wichtiger Teil der Alltagspraxis geworden sind. In der Regel sind das nicht binäre Schemata, sondern flexible Interaktionsleitfäden oder „Gewebemuster“ im unmittelbaren Verkehr zwischen Kindern und Kindern bzw. Erwachsenen (Berger 1971: 104f.). In ihrer routinisierten Form sind sie kaum noch bewusst. Ihre Begründung würde einen unendlichen Regress nach sich ziehen. Eine Regel der Regel ist nicht praktikabel. Der Reflexionsprozess wurde hier aus lebenspraktischen Gründen abgebrochen, um die Handlungsfähigkeit aufrechterhalten zu können. Damit wird Wissen verfügbar, das der Regulierung voraus liegt. Regeln setzen so konditionale Programme und begrenzen zugleich das Handeln der Kinder. Sie setzen aber stets lebensweltliches Hintergrundwissen voraus, da sie sich nicht selbst noch regulieren können. Sie werden durch Reflexion auch nicht robuster, sondern versinken dann leicht ins uferlose Grübeln und Zweifeln. Dies ist nun freilich kein Plädoyer gegen Reflexion, wenn Regeln fragwürdig geworden sind (Kreutz 1989: 174f.). Kinder sind wohl in der Lage partiell zu reflektieren und zu generalisieren, aber sie interpretieren und handeln dennoch, heute mehr denn je, situationsbezogener und spontaner. Sie generalisieren eher lateral und sind daher in den Augen der Erwachsenen in der Gefahr, generelle Normengruppen- und situationsspezifisch, d.h. „abweichend“ kinderkulturell, auszulegen. Der eigentliche Sinn von Regulierung ist nach Meinung der Kinder nicht logische Abstraktion und binäre Codierung, sondern Situationsbewältigung. Es geht darum zu verstehen, wie in dieser Situation ein „Wir“ zustande kommt oder scheitert bzw. sich modifiziert fortsetzen lässt, gerade wenn diese Fortsetzung von den Umständen her unwahrscheinlich erscheint. Wie kann weitergemacht werden, so dass alle sich an Interaktionsergebnisse gebunden fühlen. Es müssen die selbstverständlich gehandhabten Typisierungen, Idealisie-
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rungen so gehandhabt werden, dass sie ein „weiter so“ gestatten, ohne gegenüber Überraschungen betriebsblind zu werden (Schütz 1979/1984). Eine jede Regelungspraxis erfolgt unter einer praktischen Perspektive und ist daher selektiv-exklusiv und bleibt daher indexalisch vom Kontext imprägniert. Dazu kommt noch, dass auch die herkömmlichen Typisierungen im Horizont der Entnationalisierung der bisherigen Nationalgesellschaften mit ihrer „alten Identitäts-, Abgrenzungs-, und Distinktionschemie“ zwischen Erwachsenen und Kindern nicht mehr richtig funktionieren. Regeln müssen in diesem Sinn neu an den „Zeichen der Zeit“ gemessen und auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft werden. Alltags- und Sonderwissen ermöglichen es aber auch heute, ein Netz der Lebenswelt zu knüpfen, das vorgegebene Strukturen und Ereignisse, neue Sichtweisen und andere Zugangsweisen zu Normalitätstypen vereint (Merleau 1966: 16f.). So bestimmen Regeln, was hic et nunc der Fall ist und was bei einem Regelverstoß unter konkreten Bedingungen geschehen kann (Lenz 1998: 51f.). Schon kleine Kinder begreifen, dass Regeln notwendig, aber nie ausreichend sind, um Interaktionen gelingen zu lassen. Obwohl Regeln austauschbar sind, bevorzugen Kinder ganz bestimmte Regeln, die ihnen unmittelbar einleuchten (Zeiher 1994: 367f.) und Brückenschläge zur Welt erlauben. Die Anwendbarkeit und Vollzugslogik der Regeln ist Regeln nicht inhärent, sondern beruht auf dem umsichtigen Blick auf die Rationalisierbarkeit vorliegender Situationen, der Situationslogik. Da soziales Handeln zu einem nicht geringen Teil aus Sprechen besteht oder von Sprache flankiert wird, können Kinder oft ihre Regeln sozusagen beim Verfertigen von Gedanken, Projekten und praktischen Versuchen entdecken und beherrschen. Und aus der Art, wie Kinder über ihre „Ordnung der Dinge“ sprechen, lässt sich ein gewisser Rückschluss auf ihre Regeln vollziehen. Kinder müssen sich heute freilich auch daran gewöhnen, dass immer mehr Regeln rechtfertigungsbedürftig sind, repariert oder transformiert werden müssen. Das setzt nicht nur Reflexion, sondern zusätzliches Wissen voraus. Noch wichtiger ist vielleicht, dass aufeinander bezogene Handlungen aufrechterhalten werden und nicht sogleich wieder verschwinden, also institutionalisiert werden können, was kognitive Reflexion bei weitem übersteigt (Kelle 1999: 105f.). Das setzt aber gemeinsame Produktion von Wissen und nicht puren Aktivismus voraus: Man muss wissen, mit welchen Mitteln welches Ziel in welcher Betrachtungsweise und im Sinne welcher Interessen man eine Situation vorantreibt und ihr eine konkrete Entwicklungsrichtung im Rahmen welcher Grenzen zu verleihen versucht. Die Zusammenarbeit kindlicher Akteure vollzieht sich nicht auf der Ebene einer abstrakten Regeldeduktion, sondern auf der Grundlage der Absicht, dem kindlichen Leben praktischen Sinn zu sichern. Dem dienen die verschiedensten Praktiken: Ermutigen, bestärken, sich helfen, Spaß haben, herumalbern, imponieren, auftrumpfen, einander hänseln, den anderen demütigen, provozieren, animieren etc. Sinn- und Wissensproduktion ist hier alles andere als nur prosozial im moralischen Sinn. Sie dient zunächst der Normalisierung und wird dabei von kleinen, mittleren und großen Transzendenzen in Bewegung gehalten. Manchmal führt bloße Ritualisierung zu einer gewissen Stabilisierung. Nichtritualistische Rituale stützen jedoch heute viel nachhaltiger kindliche Lebenspraxis und Lebensverhältnisse (Kirchhöfer 2000: 155ff.), zumal die verfügbare freie Zeit nicht durchweg verplant werden kann. Planungen erweisen sich gegenüber Ritualen als viel stärker falsifizierbar. Der Kindergeburtstag z. B. darf nicht vergessen werden und erfordert feierliche Aktivitäten, die erst im Vollzug ihre eigentliche Wirkung erfahren. Rituale nehmen Kinder sozusagen bei der Hand, erzeugen Gemeinschaftsbewusstsein und Übergänge vom Sakralen ins Profa-
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ne, von der Geburt zum Tod, von einer Lebensphase zur anderen, von einem Lebensjahr in ein anderes, vom Wachen zum Schlafen etc.. Wenn Lebens- und Alltagsgeschichte keine rituellen Übergänge, Schwellen und Einschnitte aufweisen, bringen sie die Gefahr mit sich, dass Planungen, Strategien, Regeln als Mechanismen des „Re-entry“ in einer vollkommen monotone gesellschaftliche Ordnung erfahren werden. Sie strahlen letztlich nur Langeweile und Spannungslosigkeit aus und erscheinen durch ständige Anspruchsteigerung im Grunde auch nicht sinnvoller (Schulze 2003: 81ff.). Im Ritual erfährt das Kind symbolisch zugleich das Ich, das Du, das Wir und die Welt und gerät in eine spannungsvolle Bewegung, die den blanken Status quo überschreitet, die Prozesshaftigkeit gesellschaftlicher Wirklichkeit durchsichtig macht. Die Zäsur, die durch Rituale zur Geltung kommt, lässt einen Spielraum zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem erfahren. Er wird nicht durch binäre Unterscheidung geschaffen, die an soziale Prozesse herangetragen wird, sondern geschieht in ihnen als spannungsreicher, strukturierender Rhythmus und Gestalt des Lebens. Verhältnismäßig deutlich wird das bei Kindern an dem allgemein praktizierten Gute-Nacht-Ritual am Ende des Tages, indem sich die Kommunikation zwischen Kindern und Eltern intensiviert und dabei den Übergang von Tag und Nacht Kindern auf eine lebenspraktische Art strukturiert und lebbar macht. In den letzten Jahren gesellt sich zur elterlichen Zuwendung noch eine „Einschleifphase, in der die Eltern für eine gewisse Zeit dulden, dass ihre Kinder lesen, Musik hören, fernsehen“ (Kirchhöfer 2000: 156, 164). Kirchhöfer sieht in dieser Ritualisierung eine „Verlagerung der persönlich-sozialen auf vergegenständlichte Beziehungen“ und eine „Erosion einer emotionalen Balance“. Es handelt sich bei diesem vielleicht gefährdeten Ritual keinesfalls nur um eine mechanische Wiederholung, sondern um einen strukturierten Übergang, der eine auch körperlich spürbare emotionale Erfahrung eines stützenden „Wir-Gefühls“ vermittelt. Eine eigene kindheitssoziologische Betrachtung (Kirchhöfer 2000: 159f.) kann die strukturellen Veränderungen in den aktuellen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und ihren innerfamilialen Kommunikationsstrukturen und die Struktur ihrer geteilten und ungeteilten Wirklichkeit identifizieren. Sie zeigt auch, dass bestimmte Rituale in ganz bestimmten sozialen Kontexten entlastend, in anderen lähmend sein können, weil sie nur noch ritualistisch praktiziert werden.
10.11 Improvisation und Aleatorik Für Improvisation und Aleatorik kommt die Stunde im Prozess der resubjektivierenden Internalisierung, wenn forcierter sozialer Wandel in gewohnte Lebensverhältnisse einbricht; etwa nach den beiden Weltkriegen oder dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ nach 1989, aber auch im Gefolge von eher weniger spektakulären gesellschaftlichen Verwerfungen mit spezifischen Gewinner-Verliererformationen, die bestimmte Gruppen in Prozesse erhöhter sozialer Mobilität hineinziehen. Solche Situationen sind eben nicht schematisch, sondern nur mit explorativen Strukturierungen und spontanen Improvisationen abzufedern, weil normative Strukturen inkonsistent oder inhomogen, weil selbst institutionell standardisierte Rollendifferenzierung intransparent und eingeschliffene Habitusformationen labil geworden sind. Nach einem Moment der Kommunikationsstarre und Sprachlosigkeit versuchen Kinder durch mehr oder minder offene oder aleatorisch geprägte Improvisationen am Bisheri-
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gen anzuknüpfen, auch wenn an ein Weitermachen wie bisher mit leichten Variationen nicht mehr zu denken ist. Irgendwie muss ja das soziale Alltagsleben weitergehen. Die Improvisation steigert sich zur Aleatorik, wenn Kinder auf Zufälle ohne Hintergrundsfolie auf „mehrfache Mannigfaltigkeit“ oder „multiple Diversität“ spontan zu reagieren versuchen (Lüscher 2003: 67f.). Es handelt sich hier um Überbrückungsmaßnahmen bis sich neue habituelle Übergangsstrukturen einspielen können, die dann in gewohnter Weise variiert werden können. Improvisationen schaffen so oft Provisorien, die sich paradoxerweise oft zu „Endgültigkeiten“ habitualisieren. Sie bilden so eine Schnittstelle zwischen traditionellen und alternativen gesellschaftlichen Erwartungen. Wo aber eine Wissenskluft und eine wechselseitige Entfremdung eingetreten ist, da reichen Reparaturen oft nicht. Kinder suchen mittels Improvisationen neue Rahmungen, die sich in Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung Zeit-Räume und soziale Relevanzen schaffen. Kindern zerbricht zwar bei Kommunikationsstörungen nicht sofort das Familienleben oder die Schulorganisation, strukturelle Rahmenbedingungen verlieren aber erkennbar an Kraft, wenn sie nicht verstanden und lebenspraktisch als wichtig eingeschätzt werden. Habitualisierung und Institutionalisierung werden durch Kontingenzen durchbrochen und die aufgebrochene Wissenskluft muss „frei schwebend“ oder improvisatorisch überbrückt werden. Soziale Prozesse sind neu und provisorisch zu verflechten und können nicht in herkömmlicher Funktionszuschreibung einfach ausdifferenziert werden. Einerseits erfolgt bei Kommunikationsunterbrechung oft eine Abwälzung der Verantwortung und eine Re-Externalisierung bereits internalisierter Erwartungen, da sich diese in speziellen Ereignissen als nicht tragfähig erwiesen haben. Andererseits tritt oft – nach einer „Schrecksekunde“ oder Zeit der Sprach- und Ratlosigkeit – oft ein gesteigertes Interesse an einer resubjektivierenden Internalisierung und Überbrückung der Wissenskluft durch exploratorische Improvisationen zu Tage (Kieserling 1999: 56ff.). Verlieren die Kinder dazu den Mut oder fehlt ihnen dazu das Vertrauen oder die Fähigkeit, so dürfte rasch die Schwelle erreicht sein, wo Interaktionszusammenhänge fast unmöglich werden. Kindliche Improvisation entspringt einer Sponaneität, die sich leicht ablenken lässt, die entweder an einer Einzelarbeit hängen bleibt oder die Einheit auf Kosten der Einzelheiten überbetont. Auch unter Erwachsenen wechseln sich Spontaneitätseuphorie und Sponaneitätsskepsis immer wieder ab. Die Kindheitssoziologie wäre allerdings gut beraten, wenn sie die ambivalente Spontaneität von Kindern und Phänomene wie Improvisation und Aleatorik im Leben heutiger Kinder kategorial und thematisch nicht ausgrenzen würde. Es geht hier um die synchron oder nachträgliche Anbahnung und Verknüpfung von Interaktionen unter Bedingungen einer kurz- oder langfristigen Wissens- und Erfahrungskluft und wachsender Kontingenz. Wir haben es da mit einer neuartigen Form der internalisierenden Resubjektivierung jenseits langsamer Mentalitätsprägungen durch Sozialisation zu tun, die diese nicht verflüchtigt, aber immer wieder durchbricht und in eine Dialektik von Habitualisierung und Kontingenz verwickelt. Es bringt wenig theoretisch-empirischen Gewinn, auch diese wieder mit Sozialisation zu etikettieren. Neues und Neuartiges lässt sich nicht umstandslos wieder unter die sozialisatorischen Kategorien Norm, Regel, Ritual als Antiregel, Antinorm oder Antiritual subsumieren. Brüche, Drehungen, Wenden und Übergänge, Schwellen haben ein eigenes, unableitbares Wirklichkeitsmoment. In direkter Kommunikation geht es in diesem sachlichen Umkreis um neuartige Formen der Geselligkeit, der Nähe und Distanz und der Lebensstilpraktiken zwischen Erwach-
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senen und Kindern (Hengst 2003; Baacke 1984: 37f.). Wo früher Gemeinsamkeiten vorherrschten, brechen jetzt – in einem soziokulturellen Klima der „Infantilisierung“ oder „Juvenilisierung“ – sublime Gegensätze auf, in anderen Handlungsbereichen stellen sich überraschende Gemeinsamkeiten und eine adultozentrische Ausrichtung von Kindern ein, die eine erstaunliche Neigung zur strategischen Interaktion und zur Instrumentalisierungsneigung aufblitzen lassen (Krappmann 1999: 241ff.; 2000: 77ff.; Meulemann 1989: 421ff.). Natürlich ist hier auch zu beachten, dass die Veränderung der Feinsynchronisation von Familie, Schule, Betrieb, Arbeitsmarkt und Konsummarkt auch ihren Tribut fordert, aber nicht mehr einfach mit einer standardisierten und vergleichsweise ähnlichen sozialen Reaktion zu rechnen ist. Vor allem aber intensiviert und verschärft sich dadurch die „doppelte Kontingenz“ in Interaktionssituationen, die für immer weniger Kinder immer mehr Expertise und sozialisatorische Neuanfänge und Kompensation erforderlich zu machen scheint. Je mehr sich Sozialisationsschübe überlagern und je stärker die funktionale Norm kompetitiver Beziehungen (auf dem Hintergrund einer globalen Konkurrenz) dominiert, umso häufiger werden u. U. latente Konfrontationen zwischen den Generationen. Erstaunlicherweise scheint aber, dass, wenn sie auch faktisch-empirisch durchaus vorkommt, feindselig motivierte Konkurrenz unter Gleichaltrigen nach wie vor tabuisiert ist (v.Salisch 2000: 73; Krappmann 1993). Die intensivierte „doppelte Kontingenz“ in Interaktionen macht es erforderlich, dass improvisatorisch und explorativ immer wieder nach akuten Lösungen und potenziellen Institutionalisierungschancen gefahndet wird, damit die gemeinsame oder im akzeptierten Dissens erreichte Interaktion nicht gleich wieder zerfällt (Kieserling 1999: 164). Eine solche kommunikative Konstruktion ist also weit mehr als eine Projektion oder ein voluntaristisches Projekt. Sie ist Ausdruck eines immer auch verletzlichen Eigen-Sinns, der um seine Verstrickungen in intergenerative, institutionelle und situative Auseinandersetzungen weiß und sie mittels lebenspraktischen Wissens zu bewältigen sucht (Bude 2000: 187ff.; Bohnsack 1998: 260ff.). Doch diese explorativen Improvisationen können so oder so, unterschiedlich deutlich, nachwirkend oder flüchtig ausfallen. Sie können der Interaktionssequenz auch einen Ruck oder eine Wende verleihen, die Interaktionsdynamik sozusagen zum Drehen bringen. Die Gegenwart des Kindseins im Hier und Jetzt erscheint als soziales Phänomen damit zweifach. Sie ist einmal naiver Zufluss, Ablauf von Ereignisserien, in denen unaufhörlich irgendetwas aus der Zukunft in die Vergangenheit rutscht und damit seine „Ereignisaktualität“ verliert. Zum anderen aber ist sie auch komplizierte, situierte soziale Konstruktion, die ihrer (Re-)konstruktion durch vielfältige Rück- und Vorgriffe einen bestimmten Drall und spezifische „Realitätsakzente“ verleiht und so in Grenzen reversible Konstruktionen der Alltags- und Lebensgeschichte zulässt oder fast erzwingt. Dies vermittelt nun Kindern immer wieder den Eindruck völliger und voraussetzungsvoller Spontaneität der Interaktionen (Ahlheit 1997: 943). Wollen sich Improvisationen nicht rasch verflüchtigen, so müssen sie aber in der Öffnung zur Gesellschaft eine Art kognitiv-affektiv-praktischen „konjunktiven Erfahrungsraum“ (Mannheim) erfinden und schaffen, „der „Soziales“ biographisch codierbar und „Biographisches“ sozial erfahrbar macht“ (Ahlheit 1997: 947). Es muss gelingen ein breites neues Band von Schnittstellen zwischen Individuum und Gesellschaft zu schaffen. Die Kalkulierbarkeit von Interaktionen ist nicht nur historisch eingegrenzt. Die Selbstdarstellung und interaktive Finten sind auch oft dadurch eingeschränkt, dass eine Steigerung der Informationen oder Optionen Kinder eher unsicher als freier macht und die Revision eines Verhaltens oder ein ironisches Dementi als Ausweichen, Unklarheit, Unzu-
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verlässigkeit oder moralischer Opportunismus verstanden werden kann (Kieserling 1999: 35f; Goffman 1971: 105). Es ist kein Wunder, dass Kinder als noch junge Zeitgenossen die „Ereignisaktualität“ statt der „Zustandsaktualität“ in den Vordergrund schieben. Ihr Anliegen ist vor allem, wie sie sich aus augenblicklichen Interaktionen heraushalten oder wie man andere Kinder oder Erwachsene in Interaktionen hineinziehen kann, ohne dass sich irgendjemand gezwungen fühlt. Dabei ist eine beträchtliche Veränderung von Nähe und Distanz, institutionell orientiertem oder spontanem Verhalten möglich, das weit über informelle Normen, Regeln, Rituale hinausgeht, ohne auf sie völlig verzichten zu müssen. Ganz generell wird von Kindern mehr Spontaneität, Neugierde und Lernbereitschaft erwartet. Stille Kinder erzeugen oft den Eindruck innerer Gehemmtheit, auch wenn dieser Eindruck objektiv trügt (Herzberg 2001). Gruppen von Kindern, die Spontaneität zur Mitgliedspflicht machen, besitzen ein positives Verhältnis zu Show-Effekten und zu Maskeraden. Das schließt nicht aus, dass sie viel konventioneller als „Eigenbrötler“ empfinden. Meist ereignet sich wirkliche Spontaneität nur auf der „Hinterbühne“. Allzu oft wird vergessen, dass Eltern, Erzieherinnen und Lehrer heute nicht nur normales, sondern originelles Verhalten von Kindern als „Persönlichkeiten“ erwarten. Sie beobachten und vergleichen Kinder auch unter diesem Gesichtspunkt. Kinder bekommen das natürlich bald heraus. Gleichwohl spüren sie wohl auch, dass man das nicht einfach mit Zukunftssicherheit gleichsetzen kann. Eine gewisse Zwiespältigkeit bleibt. Nicht nur Lernen, auch Improvisation scheint notwendig. Beim Improvisieren kommen Kinder nicht selten auch zu wirklich „hautnahem“ Lernen. Vielleicht sind Kinder weder immer zur „Rollendistanz“ noch gar zur „Rollenschöpfung“, sicher aber in den meisten Fällen zu mehr oder minder pragmatischem Improvisieren fähig, während ihnen offensichtlich radikale postmoderne Aleatorik in den wenigsten Fällen zu bekommen scheint (Kaufmann 1992: 9f.; Herlth 2000; Mansel 1996). Improvisation gestattet meist kein langes Räsonieren. Sie verlangt Entscheidungsrisiko und übereignet gerade dadurch Kinder der Interaktionsdynamik und ihren „improvisierten Kontexten“ (Coenen 1984: 39ff.), die Sieger hervorbringt, die leicht auch Verlierer oder „Überflüssige“ hätten werden können. Dennoch hat es keinen Sinn, kulturpessimistisch dieser höchst riskanten und selektivexklusiven „Interventionsressource“ prinzipiell zu misstrauen. Es bleibt aber notwendig, hier auf Gewinn und Verlust zu achten und auch nicht zu übersehen, dass dabei immer auch eine Art systematisches Vergessen eintreten kann, das nichts mit binärer bewusster oder unbewusster Verdrängung zu tun hat (Strauss 1968). Kinder können schon Gewusstes und Gelerntes vergessen und vor lauter spontanen Interaktionen auch ihre dauerhafte Handlungsfähigkeit zugunsten eines kurzatmigen „reißerischen Situationismus“ (Goffman) aufs Spiel setzen. Gerade die unsteten Zuckungen des Zeitgeistes oder globalen Marktes erhöhen diese Gefahr. Doch je schneller Informationen, Wissen, Optionen veralten, umso schwieriger wird der Überblick und gesellschaftliches Vertrauen. Kinder müssen sich gleichsam als „Springer“ zwischen verschiedenen relativ intransparenten Handlungsszenen oder Entwicklungsszenarios betätigen. Das kann zuweilen den vordergründigen Anschein erwecken, sie seien durchweg, überall und immer virtuose „Zeitpioniere“ und verinselte „Grenzgänger“ (Hörning 2001: 117ff.). Die „List der Ohnmacht“ (Foucault) von Kindern in einer kontingenzreichen Transformationsgesellschaft ist allerdings auch nicht zu unterschätzen. Mit Regeln, Normen, Strategien und Ritualen lässt sich aber die Interaktionsdy-
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namik nie allein bewältigen (Goffman 1973: 149ff.; 1971: 21ff.). Es bedarf auch zupackender, möglichst kreativer Improvisation.
10.12 Normative und pragmatische Situationsdefinitionen Streng genommen werden Situationen nicht – sozusagen am grünen Tisch – intentional definiert. Sie werden den Akteuren mehr oder minder bewusst und werden am Leitfaden bisheriger Interaktionserfahrungen durchsichtig, die selbstverständlich auch Elemente normativer Situationsdefinitionen implizieren. Es zeigen sich „Erfahrungskristalle aus Tradition, Geschichte und Biographie“ (Soeffner 1989: 184, 142). Im Übrigen bleiben Situationsdefinitionen meist implizit und entfalten deshalb ihre habituelle Kraft im Rahmen einer vielschichtigen Lebenswelt. Lebenswelten sind keine stabilen sozialökologischen Nischen, sondern sinnhafte Zusammenhänge mittels derer Kinder ihre Wahrnehmungen, Handlungen und ihre Lebensgeschichte verknüpfen (Soeffner 1989: 154ff.; Schütz 1979: 279). Diese Strukturierungsprozesse sind auch mehr als Regeln und Ressourcen (Giddens 1988). Es sind keine strukturell gleich bleibenden Relationen, sondern interpretativ verschiebbare Relationierungen. Das pragmatische Motiv ist dabei außerordentlich stark und übersteigt normative Festlegungen: „Es gibt zwar keine Regeln, aber wir verhalten uns danach“ – und – „Es gibt zwar Regeln, aber wir verhalten uns nicht danach“ (Soeffner 1989: 148). Normen, Regeln, Rituale haben zwar eine wichtige, aber eine durchweg begrenzte Funktion. Sie bilden Elemente und Bausteine eines Normalisierungsprozesses, der sich darin nie erschöpft, weil diese in einer symbolischen Organisation gesellschaftlicher Wirklichkeit und auch politischen Repräsentationsverhältnissen und einer politischen Kultur verankert bleiben und ohne diese Wissensfundamente fast willkürlich oder zwangsläufig erscheinen, obwohl sie doch Zustimmung voraussetzen (Reckwitz 2000: 129f.). Nur die jeweilige Wissensproduktion, ihre Verteilung und Aneignung können plausibel machen, was die einzelne Situation bedeutet, wie sie zugänglich und warum kindliche Akteure sich so und nicht anders verhalten. Interaktionen ziehen Kinder völlig freiwillig in ihren Sog. Kinder passen sich aber nicht nur an, sondern versuchen, die Umwelt ihren eigenen Vorstellungen anzupassen. Das gelingt aber nicht immer. Oder sie peilen instinktiv eine neue Situationsdefinition an, in der sie und die Umwelt besser zusammenpassen. Was hier im Einzelnen überwiegt, ist eine empirische Frage. Einzelsituationen sind aber in eine Interaktionsgeschichte eingebettet und können nicht isoliert verstanden werden. Jede Situation hat daher einen „horizonthaften Charakter“ (Schütz 1979: 273ff.) und dieser ist immer nur unter selektiv-exklusiven Gesichtspunkten zu bearbeiten: Themen werden bevorzugt, Bezugspersonen privilegiert, Anderes und Andere, die u. U. zu mindestens ebenso wichtigem Wissen beitragen könnten, ausgegrenzt oder marginalisiert. Man hört einfach nicht genug oder hört nur flüchtig zu. Genaues Zusehen und Zuhören kann man zwar kultivieren, aber nicht deren selektivexklusiven Charakter tilgen. Auch Kinder können nicht mit jedem beliebigen Kind zu jeder Zeit über beliebige Themen sprechen oder verhandeln. Jeder interaktiven Inszenierung ist aber nicht nur eine Auswahl, sondern eine reinterpretierende Regieanweisung (sozusagen als „Mehrwert“) mitgegeben, über die manchmal gestritten wird, auch wenn man den Streitgegenstand gar nicht richtig durchschaut.
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Noch am ehesten bleiben institutionell programmierte Situationen leidlich stabil. Aber selbst hier gibt es oft einen Dissens zwischen Organisationsmitgliedern und ihrem Publikum. Lehrer wissen recht häufig ein Liedlein über Elternschaften zu singen, die dauernden Interaktionsstress hervorrufen. Auch in institutionellen Kontexten gibt es eine Normativität des Faktischen, die formelle Normen aushöhlen kann. Und viele Institutionen werden heute in einen Diskussionsprozess zunehmender Deregulierung und Deinstitutionalisierung hineingezogen, obwohl sehr fraglich bleibt, ob Deregulierung mehr Menschen praktische Selbstbestimmung beschert. Der normativ bestimmten Rationalität wird die weichere einer statistischen Schematisierung in normal und anormal vorgezogen, die sich an variablen Durchschnittswerten oder pragmatischen Normalitätsunterstellungen institutioneller Gatekeeper orientiert (Foucault 2000; Bröckling 2000; Link 1999). Dies ist nicht nur eine Ergänzung bisheriger Betrachtung, sondern entspricht im Grunde einer „epistemologischen Verschiebung“. Hier wird nicht nur von einem Wertkonsens abgesehen, der immer schwieriger zu erreichen scheint, sondern auch von gleichberechtigten Normensystemen in verschiedenen Funktionsbereichen. Die ökonomische Allokation knapper Ressourcen und Flexibilität wird zum Bezugspunkt schlechthin (Bröckling 2000:16). Damit verschiebt sich auch der Fokus der Beobachtung von Kindern. Die Frage ist immer weniger, ob Kinder einer generalisierbaren Entwicklungslogik und den von ihr vordefinierten „Entwicklungsaufgaben“ entsprechen, sondern was sie u. U. durch Selbstqualifikation, Arbeits- und Konsumfähigkeit dem Marktkalkül als Human- und Sozialkapital bieten können. Die demokratische Freiheit und Partizipation kann in einer vom Terrorismus und Gewaltmärkten bedrohten globalen Ökonomie nicht mehr länger unbeschränkt als Sozialisationsziel gelten. So scheint es auf den ersten Blick wenigstens. Statt generalisierbarer Normen gilt ein Sicherheitskalkül, das angeblich allein demokratischen Lebensformen noch ihre Existenz sichert. Und dieses orientiert sich an der Aufrechterhaltung der Normalität, die laufend Präferenzen und ein Ranking eines ökonomischen Qualitätsmanagements sichert. Normalität wird von einer (ethischmoralischen) Normiertheit zur Durchschnittsnormalität jenseits öffentlicher „Verhaltensauffälligkeit“. Natürlich werden Kinder, die im Ranking vorne liegen, mit diesem Verfahren wohl kaum unzufrieden sein, während Kinder, deren Chancen lebensgeschichtlich gemindert erscheinen, darin, vielleicht undurchschaut, eine strukturelle Chancenungleichheit erfahren werden. Sind „Problemkinder“ oder „auffällige Kinder“ Kinder zweiter Klasse? Im vorinstitutionellen Raum war eigentlich immer klar, dass keine Situation von Normen umfassend bestimmt werden kann und daher in mancher Hinsicht relativ offen bleibt (Fischer 2000: 227ff.; Krappmann 1999: 258f.). Normen und Regeln verlangen situative Applikation, Spezifikation, vor allem müssen sie überhaupt als situationsrelevant wieder erkannt werden. Doch diese regulierende Spezifikation kann heute weniger denn je auch wieder geregelt werden, da dies zu einem unendlichen Regress und zur Lähmung des Handelns führen würde. Kompetenz und Performanz der Handlungsfähigkeit hängen zwar zusammen, lassen sich aber nicht auseinander deduzieren, bedingen und relativieren sich wechselseitig. Kinder müssen demnach heute ständig vielerlei Ziele, Motive, Mittel, Interessen, Machtaspekte, äußere Umstände und pure Zufälle im Auge behalten und zu balancieren wissen, was kaum immer überzeugend, selbst bei „unauffälligen“ Kindern, gelingen dürfte. Diese aber haben den großen Vorteil, dass dies weitgehend nicht bemerkt wird. Sie sind vielleicht „Gewinner“ und hätten doch so leicht auch „Verlierer“ sein können. So hat etwa die Sozio-
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logie der Kindheitsdelinquenz und Jugendkriminalität immer wieder darauf hingewiesen, dass Kinder und Jugendliche generell immer wieder gegen Normen verstoßen, und wenn sie beobachtet, erwischt, angezeigt und gerichtlich verfolgt würden, in beträchtlichem Umfang als vorbestraft gelten könnten. Kinder brauchen sicher Normen, aber ohne zusätzliches Orientierungs- und Anwendungswissen sind sie nicht in der Lage, sich situationsangemessen zu verhalten. Fast jede Interaktionssituation ist heute mehrdeutig und muss durch soziale Konstruktionen, die freilich historisch situiert sind, allererst in ihren Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen kommunikativ konturiert werden (Krappmann 1999: 264). Dies bedeutet meist auch, dass noch zusätzlich verhandelt und ein Tauschprozess in Gang gebracht werden muss. Kinder müssen sich schon allein deshalb aktiver um pragmatische Problemlösung bemühen, weil auch intelligente und verantwortungsbewusste Eltern heute oft ratlos sind. Sie müssen aus explorativen Pirschgängen und Improvisationen immer mehr Wissen herausziehen. Kinder wissen oder ahnen, dass heutiges Schulwissen kaum Sicherheit im Beschäftigungssystem der Zukunft bietet und auch zur Lebensgestaltung bislang wenig beitragen konnte. Sie werden von immer mehr Menschen (auch in den Informationsmedien) abhängig, die gesellschaftliche Komplexität zu reduzieren vorgeben, sich als selbstlose Übersetzer betätigen und ihnen „Selbstsimplifikation“ erlauben. Faktisch werden sie allerdings auf dem Gebiet technischen Wissens selbst oft zu Übersetzern, die zuweilen in manchen Gebieten eine „retroaktive Sozialisation“ anstoßen. Insgesamt werden Relevanzkriterien und Orientierungswissen knapper bei gleichzeitiger Monopolbildung von gesellschaftlichen Zitierkartellen und Begünstigung von „Schweigespiralen“ (Noelle-Neumann). Auf diese „neue Unübersichtlichkeit“ können verschiedene Kinder zu verschiedener Zeit angesichts unterschiedlicher Themen ganz unterschiedlich reagieren, während die Sozialisation, die Sozialkontrolle, der Markt und die Politik nur sehr begrenzt in der Lage sind, den Kindheitsstatus nicht schematisch zu homogenisieren, da sie ja Standards verpflichtet sind. Außerdem hat sich bis weit in die wissenschaftliche Expertise hinein das Gefühl verstärkt, dass von einer „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ gegenüber Familie und Kindern von Seiten der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Politik ausgegangen werden könne (Kaufmann 1995). Einerseits ist hier mit einer Dauerabhängigkeit, andererseits mit einem irgendwann einsetzenden Problembewusstsein „innerer Kündigung“ und Responsivitätsschub zu rechnen. Bei Erwachsenen wie Kindern hat sich in den letzten Jahren eine Schwerpunktverlagerung von der normativen zur pragmatischen Betrachtung abgezeichnet. Damit verliert soziale Kommunikation ihre (begrenzt) prognostische Qualität. Neben Ad-hoc-Maßnahmen und Improvisationen werden allenfalls mittelfristige Planungen ins Auge gefasst. Es muss stärker mit Kontingenz gerechnet werden. Eine Verschiebung von der längerfristigen „Zustandsaktualität“ zur nur noch pragmatisch auffangbaren „Ereignisaktualität“ zeichnet sich als Trend ab. Immer mehr Handlungen von Kindern sind heute alles andere als Normanwendung. Normen, wo sie bestehen und noch nicht in Zweifel gezogen wurden, etwa das Rechtssystem, erweisen sich in einem Maße von komplexen Wissensordnungen abhängig, wie sich dies Menschen noch vor einigen Jahrzehnten in der „einfachen Moderne“ (Beck) einfach nicht vorstellen konnten. Wissensordnungen sind dabei nicht einfach „Ausdifferenzierungen“ vorgeprägter Selektionsregeln, sondern vielfach pragmatische Leitfäden, explorative Funde und Verhandlungsergebnisse, die zu ebenso pragmatischen „Zwischenbilanzen“ animieren. Aber auch sie sind Teil einer komplexen Sinnrahmung, nicht einfach „Informa-
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tionsverarbeitung“ (Flick 1995) – jenseits struktureller Determiniertheit und subjektiver Beliebigkeit.
10.13 Die „natürliche Dissidenz des Kindes“ Kindern, denen das Improvisieren leicht fällt, scheinen mühelos auf allen Vorder- und Hinterbühnen des gesellschaftlichen Lebens mitspielen zu können. Sie entwinden sich einer Entwicklungslogik, die korrekte Entwicklungsniveaus und Entwicklungsaufgaben vorschreibt. Sie finden sich ohne Skrupel in fast jeder privaten und öffentlichen Situation zurecht. Genau darin haben sie anscheinend ihre Stärke (Willems 1998: 580f.). Solche kindlichen Akteure sind sofort da. Sie tauchen unmittelbar in die augenblickliche Situation ein und benötigen keine Vorbereitungs- und Entwicklungszeit, da sie keinen Gedanken auf die Vergangenheit oder die Zukunft verschwenden. Souverän steuern sie intergenerative Beziehungen, Lebensformen, institutionelle Zugriffe, Medien, ja sie scheinen mit ihnen zu spielen. Kurz: ihr Eigen-Sinn durchdringt ihr Bild von sich und den anderen sowie die „Ordnung der Dinge“ und alle Situationsdefinitionen. Ein solches Kind ist schwer von der Sozialkontrolle zu erfassen und entzieht sich auch immer wieder der Sozialisation. Es stürzt sich gleichsam in den Fluss der Interaktionsdynamik und gibt sich rückhaltlos der situativen Interaktionsordnung hin. Hier wissen weder andere Kinder noch Erwachsene mit einiger Wahrscheinlichkeit, was kommt. Mit Überraschungen und Improvisation muss man immer wieder rechnen. Die Kinder sind immer anders. Unter günstigen Umständen und im Erfolgsfall, der allerdings immer dicht an den Misserfolg angrenzt, erscheinen solche Kinder „temperamentvoll“. Wenn es weniger gut läuft, gelten sie als „zu impulsiv“. Sie sind sich dann ihrer Selbstdarstellung sicher und verstehen mit ihrem Eigen-Sinn andere mitzureißen oder zu faszinieren. Solche Kinder gab es wohl zu jeder Zeit. Wahrscheinlich kommen heute in einer individualisierten Gesellschaft solche kindlichen „Dissidenten“ häufiger vor. Warum dieser Eigen-Sinn, wo es Kinder doch noch nie so gut hatten, wenn sie sich den Maximen einer Konsumgesellschaft anvertrauen (Mansel 1996). Gut bekannt ist das Phänomen des kindlichen Eigen-Sinns in der frühkindlichen „Trotzphase“, die die Psychoanalyse als ontogenetische Zwangsläufigkeit begreift. Dieser Trotz erwachse aus dem wachsenden Streben nach Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Angst vor dem Verlassenwerden oder dem Rückzug der Mutter (Renggli 1976: 94ff.). Hier deuten sich schwach in unserer Kultur überdies ein Machtkampf der Generationen und eine biographische Ambivalenz an. Dies sei ein Stück weit unausweichlich und notwendig, zum anderen aber durchaus auch problematisch und kulturabhängig. Ein Teil der nichtpsychoanalytischen Entwicklungspsychologie betrachtet diesen zeitweilig verschärften kindlichen Trotz indes als „nicht notwendige Nebenerscheinung der kindlichen Weltbewältigung“ (Sichtermann 1994: 111). Da diese Trotzphase weder überall gleich auftaucht, noch den längerfristigen, nicht nur psychischen Eigen-Sinn insgesamt zu erklären vermag, stellt sich die Frage, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen ein „Trotz ohne Anlass“ wahrscheinlich ist, nur in der Kleinkindphase beobachtet und auf rein individuelle Gefühlsregungen reduziert werden kann. Wann kann diese „Trotzphase“ mit der Psychoanalyse als unvermeidlich, wann mit der Lerntheorie etc. als vermeidlich verstanden werden? Ist das wirklich ein und dieselbe Kultur und Gesellschaft, in der psychologisch beides möglich
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erscheint? Und hat sich da nicht auch das soziokulturelle Verhältnis von kindlichem „Sein“ und „Werden“ zusammen mit regionalen, milieu- und geschlechtsspezifischen und ethnischen „Randbedingungen“ erheblich verändert? Es lässt sich durchaus empirisch zeigen, dass Kinder trotz funktionaler Differenzierung und Individualisierung der Gesellschaft selbstbewusst und risikoreich nach einer neuen Verbindung von Gegenwarts- und Zukunftsorientierung, Individualismus und Solidarität, eigenem Zugriff auf Optionen und Rücksicht, „Selbstsorge“ und Bereitschaft, Rat anzunehmen, fahnden (Krappmann 1999; LBS 2002; du Bois 1994). Wenig spricht allerdings dafür, dies mit einer Suche nach einer „intuitiven Postkonventionalität“ oder „postkonventionellen Identität“ (Habermas 1976; 1981; 1988; Fischer 2000: 227ff.) gleichsetzen zu können. Sperriger Eigen-Sinn entfaltet sich erst im eigenwilligen Umgang mit dem Verhältnis von Subjekt- und Soziogenese in der kindlichen „Welterschließung“, die individuelle Trotzreaktionen weit übersteigt. Es geht hier auch um die Bewältigung der Grenzen von Individualisierung und heute gängiger normalistischer Normalisierung. Angesichts einer pluralisierten und individualisierten Sozialwelt gewinnt das Ringen von Kindern um einen Eigen-Sinn und eine Eigenwelt einen neuen gesellschaftlichen Stellenwert. Beide scheinen gesamtgesellschaftlich eher funktional zu sein, auch wenn sie u. U. Eltern stört. Daher spricht Einiges dafür, dass solche zunächst nur psychologisch betrachteten Phänomene, die sich vermutlich noch häufen und ausdehnen (Vetter 1999; Münz 1983: 228ff.) als Element der kindlichen Alltagstypik verstanden werden. Die „Störgröße“ des kindlichen Eigen-Sinns kann nicht festgeschrieben aber auch nicht verdrängt werden, stattdessen ist mit dessen zunehmender Instabilität zu rechnen. Wenn allerdings unterstellt wird, dass Kinder heute oft eigen-sinniger erscheinen, erklärt das noch nicht, dass Kinder dennoch Erwachsene (Eltern) brauchen, und wieso junge Erwachsene Kinder wollen oder wollen sollen. Zusätzlicher Verständigungsbedarf ist angesagt. Die Zeiten, als Kinder ganz selbstverständlich waren und selbstverständlich Erwachsene brauchten, erscheinen endgültig vergangen. Ausdruck dieser gesteigerten Notwendigkeit, zu neuen kommunikativen Konstruktionen zu gelangen, ist die Tatsache, dass es längst nicht mehr einen einzigen, sondern fast immer mehrere mögliche Entwicklungspfade und historische Konstellationen der „Weggabelungen“ gibt, und biographische Reinterpretationen sozialisatorischer Identitätskonzepte. Kinder können sich auch heute nicht ihre Lebenszeit, ihre Gesellschaft, ihre Eltern, ihre Lehrer etc. aussuchen. Ihnen stehen aber ungleich mehr Möglichkeiten der Revision, der Kompensation, der Komplementarität und Korrektur zur Verfügung. Insofern können und müssen sie aktiver als frühere Kindergenerationen ihre gesellschaftliche Situation mitkonstruieren, stoßen dabei aber unausweichlich auch auf neue Grenzen, die ihnen nicht immer plausibel erscheinen und offenbaren neue Verletzlichkeiten. Doch die Chancen stehen nicht immer transparent offen. Sie sind auch in „Zeitfenster“ und konditionale Gelegenheitsstrukturen eingebunden. Es besteht oft ein enormer Entscheidungsdruck. So zeigt sich also hier, dass dies zu Folge haben kann, dass soziale Konstruktionen nicht nur eine geteilte, sondern eine geteilte und ungeteilte Wirklichkeit darstellen, die zusammen mit, neben und gegen Erwachsene praktiziert wird (Berger 1980: 39ff., 67f.; Joraschky 2000: 43ff.; Beck 1997). Der „Eigen-Sinn“ von Kindern ist meist kein monologischer, sondern ein wirklich kommunikativer, der in vielerlei Relationierungen vibriert. Gesellschaftliche Konstruktion ist keine Addition selbstreferentieller Konstrukte, sondern ein Verflechtungsprozess zwischen Gesellschaft, Gruppen, Individuen, der in einer ganz bestimmten historischen Situa-
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tion und Konstellation stattfindet. Ähnliche oder sogar identische Faktenkonstellationen führen dann aber zu ganz verschiedenen Realitätsbildern, zum typischen Umgang mit diesen Bildern und praktischen oder politischen Gestaltungen. Und Kinder sehen Chancen und Risiken ganz unterschiedlich und reagieren unterschiedlich, sehen aber auch, dass Vergleichbarkeiten und Homogenisierungen weder vermeidbar noch z. B. Interessenvertretung verzichtbar sind. Dadurch sehen sich Kinder heute spezifisch in ihrem konstruktiven EigenSinn herausgefordert. Soziale Konstruktionen gehen selbstständig mit freien und auferlegten Relevanzen um und setzen unterschiedliche „Realitätsakzente“ (Schütz 1979; 1984; Elias 1992: 207ff.). Stärker als noch vor einigen Jahrzehnten muss heute davon ausgegangen werden, dass sich wirkliche Chancen erst dann zeigen, wenn nahe liegende Risiken bewältigt, Imbalancen alltäglicher Lebensführung verwunden, aufbrechende Diskrepanzen der Biographie oder Konflikte kanalisiert werden konnten. Nicht in einer einsamen Genialität, sondern in der konstruktiven Rekonstruktion solcher Aspekte konstituiert sich heute kindlicher EigenSinn. Solche spezifischen Strukturierungsaufgaben scheinen sich schon den Beziehungen zwischen den Eltern und dem Säugling zu stellen. Damit werden variable Nähe-Distanz Spektren und thematische, motivationale und interpretatorische Relevanzen, aber auch nonverbaler und verbaler Widerstand konstituiert (Stern 1992; Malson 1972; Ernst 1985). Die interaktiv bestimmten Bedingungszirkel des Kinderlebens bilden sich nur über „selbstbewusste“, spezifisch subjektive Erfahrungszusammenhänge, die den Rahmen geteilt-ungeteilter Wirklichkeit ausweiten oder schrumpfen lassen können und den jeweiligen Interaktionspartnern damit ganz bestimmte Erwartungen bzw. reflexive Reaktionen auf gemeinsame und individuelle Erfahrungen präsentieren. In der aktualisierten Kinderkultur entwickeln schon kleine Kinder eine „Streitkultur“ mit erstaunlichen Selektionsverfahren für Thematisierungen von bestimmten Inhalten, Motiven und interpretativen Zugängen und nicht zuletzt auch erstaunlich rigide Ausschließungsverfahren (Corsaro 1998: 157f.; Krappmann 1999: 241ff.), aber auch unspektakulären „Ausbruchsversuchen“ und Widerstand (Sichtermann 1983: 10) gegenüber vollständiger familialer, schulischer und gesellschaftlicher Integration. Kinder nehmen sich heute das Recht heraus, sich aufgeschlossen oder abweisend gegenüber Sozialisationszumutungen zu verhalten. Manchmal sind sie lernwillig, manchmal nicht. Lernbereitschaft wie Handlungsfähigkeit sind keine schwankungsfreien und unverlierbare Sozialisationserrungenschaften. Mit ihnen kann ganz unterschiedlich konstruktiv umgegangen werden. Da Wissenserwerb immer in gewissem Maße Zustimmung benötigt, liegt hier auch die Möglichkeit des Widerstands und der Lernunwilligkeit. Die „List der Ohnmacht“ der Kinder nährt sich aus ihrem konstruktiven Eigen-Sinn. Es fällt auf, dass die Bedeutung der Gesellschaft für Kinder und ihre „Wildheit“ bis heute nur psychologisch, aber kaum soziologisch beschrieben worden ist. Dabei hatte schon Parsons entdeckt, dass die kulturelle Ordnung durch die „barbarische Invasion“ jeder Kindergeneration in gewissem Maße erschüttert wird (Parsons 1951: 208). Es geht hier eben nicht nur um Angst oder Ambivalenz, sondern um einen grundlegenden Streit oder eine Spannung von Wirklichkeitsperspektiven, ein Repertoire von Deutungspraktiken und typischer Inanspruchnahme von Ressourcen. Sowohl das Steigen der Geburtenrate wie ihr Rückgang können ganz verschiedene kognitive, affektive, praktische Relationen auslösen, sich verändern und schwanken. Kinder fordern Erwachsene mit ihrem Eigen-Sinn so oder so heraus.
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In unserer Zeit des gravierenden Geburtenrückgangs könnte man annehmen, dass die gesamte Gesellschaft Kinder weniger als latente Bedrohung denn als kostbare Bereicherung ansieht. In dieser Allgemeinheit kann davon aber keine Rede sein. Während auf der einen Seite Kinder um jeden Preis gewünscht werden, sehen nicht wenige Erwachsene Kinder auch als „Stressoren“, und manche mögen daraus ihre Entscheidung ableiten, ganz auf Kinder zu verzichten (Vetter 1999). Kindzentrierung nimmt gleichzeitig mit (freiwilliger) Kinderlosigkeit zu. Strukturelle Rücksichtslosigkeit mag das Leben mit Kindern erschweren, determiniert aber nicht die kulturellen Perspektiven bejahter Kinderlosigkeit. Sind Kinder nur dann wertvoll, wenn sie „nützlich“ oder „pflegeleicht“ und nicht eigen-sinnig sind? Freilich ist nicht schon die polarisierende Attribuierung „nutzlos“ und „selbstzwecklich“ eine Garantie dafür, dass eigen-sinnige Kinder als gesellschaftliche Bereicherung anerkannt und nicht in den „Rechenregeln“ der Gesellschaft instrumentalisiert werden (Bühler 2003: 183ff.), weil sie heute eine spezifische Herausforderung darstellen.
10.14 Die Dialektik von Habitualisierung und Kontingenz Die Handlungsfähigkeit des Kindes als kompetenter Akteur erweist sich auch darin, wie sie sich in der Dialektik von immer wieder rasch einsetzender Habitualisierung und unabwendbarer Kontingenz, also Ambivalenz, zur Darstellung bringt. Kinder sind ja nicht schon dann voll handlungsfähig, wenn sie ja oder nein zu vorliegenden Optionen sagen können, sondern erst dann, wenn sie Optionen von Scheinoptionen unterscheiden können und dabei das Optionsspektrum mitbestimmen, Handlungsspielräume offen halten und sich damit auch auf beunruhigende Ambivalenz einlassen in der Lage sind. Der „Umgang mit Ambivalenz“ ist jedoch immer ein spezifischer und er ist unterschiedlich einzuschätzen, je nachdem, ob es sich um unvermeidliche und inhärente oder redundante und anfechtbare, strukturell überhöhte Ambivalenz handelt. Inhärente Ambivalenz liegt insofern vor, als Kinder als verletzbare Wesen auf vorgegebene gesellschaftliche Verhältnisse angewiesen bleiben. Strukturell aufgesetzt ist Ambivalenz insofern, als Erwachsene heute – oft wider besseres Wissens – davon ausgehen, dass Chancengleichheit, Reziprozität und soziale Akzeptanz in strukturell homologer Weise bei der je individuellen Relevanzsetzung in der Auseinandersetzung mit Ambivalenz gegeben seien (Junge 2000: 250f.; Lüscher 2003). Sicherheit bieten Kindern daher nicht abstrakte Werthorizonte, sondern letztlich nur die Erinnerung an habituell erfahrene Solidarität und Vertrauen. Habitusformationen tragen den kindlichen Alltag nicht nur in ihren Routinehandlungen, sondern auch in den habitualisierten Solidaritätsbeziehungen. Wer nicht in der Familie, Schulklasse und unter Gleichaltrigen Solidarität erlebt hat, wird sich jeweils auf die restriktivste Wertinterpretation konzentrieren. Die Art und Weise, wie mit struktureller Ambivalenz umgegangen wird, qualifiziert auch die bestimmte Form ihrer Handlungsfähigkeit. „Individuelle Relevanzsetzung“ geht jeweils von bestimmten historischen Bedingungen und einem Spektrum typischer Formen wahrscheinlicher Reziprozität und sozialer Akzeptanz aus. Kinder versinken auch deshalb nicht in unbegrenzter Ambivalenz, weil durch Habitusstrukturen ihr Übermaß verhindert und strukturelle Ambivalenz reduziert und absorbiert werden kann. Der Alltag geht oft im größten Chaos weiter. Und schon das verschafft eine gewisse Sicherheit. Im Alltag werden auch dramatisch scheinende Zäsuren wie Beginn und Ende graduell entschärft und Vorgänge der Zentrierung und Dezentrierung und der Akzen-
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tuierung der Lebensphase kanalisiert. Kinder machen es eben im Zweifel, wie dies typischerweise andere Kinder auch tun. Diese habituellen Schwerkraftmomente beruhigen oft die Lage bis zu einem gewissen Grad. Wer Verhaltensweisen zeigt, die von Erwachsenen als (nicht mehr) oder (noch nicht) als angemessen angesehen werden, wird von Gleichaltrigen nicht auf Anhieb ausgegrenzt, schon weil auch bei ihnen die Variation der Verhaltensstandards erheblich streut. Mit der Zeit kann es aber geschehen, dass das auch ihnen zu weit geht, weil informelle und habitualisierte Gruppenprozesse diese Position zur Sonderposition stempeln. Aus einem schwierigen Kameraden kann gar ein hoffnungsloser Fall werden. Die Akzeptanz eines Kindes geschieht nicht aufgrund eines restlos rationalen Kriteriums, sondern aufgrund der habituellen Homogenisierung der Gruppenstandards. Daher ist heute auch die Zuordnung eines Menschen zur Sozialkategorie „Kind“ und das Ende der Kindheit mit einem habituellen aber auch einem stark kontingenten Moment behaftet und kein präzises Datum und typenfestes Phänomen (Abels 1993: 534). In mancher Hinsicht erscheint Kindheit höchst konventionell, in anderen fast amorph. Eine starke Fragmentierung und Diskrepanzen verschiedener kognitiver, affektiver, moralischer, ästhetischer und politischer Sozialisationsdimensionen führen fast notwendig zu den unterschiedlichsten Wahrnehmungen, Deutungen und Bewertungen. Auch Kindheit ist heute in sehr hohem Maße segmentiert und auch von Interaktionsstress heimgesucht. Vieles spricht dafür, dass die Gemengelage eines relativ homogenisierten Kindheitsbildes und eines ganz gewöhnlichen differentiellen Alltagschaos der Kinder weder geeignet ist, eine einheitlich schematisierende Entwicklungslogik zu bestätigen noch eine gesamte Biographie zu prägen, wie das ein beträchtlicher Teil der Sozialisationsforschung, der Entwicklungspsychologie und vor allem die Psychoanalyse lange annahm (Rosenthal 2000: 162ff.). Immerhin kann man von Filtersystemen, Schutz- und Belastungsfaktoren ausgehen, die die Verfügbarkeit zwischen Habitualisierungs- und kontigenzhaltigen Dehabitualisierungsprozessen strukturieren und jeweils ein Spektrum typischer Entwicklungsverläufe wahrscheinlicher machen und damit Kindheit definieren. Wenn nun Kinder ganz selbstverständlich auf soziale Ressourcen zurückgreifen, so erfahren sie doch früher und intensiver „doppelte Kontingenz“ in Interaktionen und so etwas wie eine flüchtige „Residualkindheit“, die manche Erwachsene gar nicht mehr als Kindheit wiedererkennen können. Und sie kann sicher auch bei Kindern mit der Angst besetzt sein, jederzeit verlassen werden zu können. Es geht hier aber letztlich nicht um kognitive Klarheit und affektive Stabilität, sondern um die interaktive Reinterpretation von kulturellen Kindheitsbildern, sozialen Räumen und Handlungsspielräumen in ihrer potentiellen, unmittelbar gegebenen, wiederherstellbaren oder alternativen Reichweite. Es geht auch um Relevanzstrukturen in zeitlicher, räumlicher und sozialer Hinsicht im Sinne von A. Schütz oder Berger/Luckmann, angesichts des realen Dilemmas der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und eben nicht um ein homogenes Niveau der Modernisierung. Soziale Konstruktionen sind sozusagen die kritische Variable in „individueller Relevanzsetzung in der Auseinandersetzung mit Ambivalenz“ (Junge) und auch in allen Verhandlungs- und Kommunikationsprozessen, die die individuelle Sozialisationsgeschichte heute deutlich transzendieren. Solche Selbst- und Fremdverständigung reicht in präreflexive, ja präkommunikative Kategorien und Prozesse der gesellschaftlichen Zugänglichkeit und praktischen Überzeugungsarbeit hinein, in denen um Zustimmung und Anerkennung gerungen wird, denn das zentrale Problem ist die Reduzierung der strukturellen auf inhärente Ambivalenz, die Bewältigung von mangelnder Durchsichtigkeit, Nicht-
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wissen und sozialer Kontingenz (Offe 2001: 250). Das führt oft zu dem historischen Problem, dass einerseits aus Habitualisierung heute immer weniger auf die Zukunft hin extrapoliert werden kann, andererseits aber Neues stets nur vor dem Hintergrund des bisher typisch Geltenden verstanden und bewusst werden kann (Endreß 2001: 196). Das Verhältnis der Dialektik von Habitualisierung und Kontingenz wird zusehend komplizierter und entspricht zentralen Anschauungen auch einer kritisch revidierten Modernisierungs- und Sozialisationstheorie nicht mehr. Statt der Modellvorstellung eines „balanced growth“ oder der „Identitätsbalance“ wird nun immer wichtiger die des „unbalanced growth“ und der biographieinduzierten Identitätsimbalance und historisch-biographischer „Bruchlinien“ (Müller 1998; Waldenfels 2002). Das Kind hat zwar immer noch oder schon wieder ein erstaunliches Alltagswissen, aber – in Vielem ähnlich wie Erwachsene – kaum fundiertes Wissen über die wahrscheinliche gesellschaftliche Entwicklung und die künftige Ontogenese. Auch Eltern und Lehrer kultivieren oft genug nur Ratlosigkeit. Deshalb muss man davon ausgehen, dass Kinder in einem Maße zur Exploration und zum Experiment fast gezwungen sind und sich das traditionelle soziale Moratorium tendenziell in ein soziales Laboratorium verwandeln wird, das kein Kind aber für sich allein im Sinne einer übersimplifizierten Individualisierungstheorie bewältigen kann. Das liegt auch völlig außerhalb der Vorstellungen einer heutigen „verantworteten Elternschaft“. Gleichwohl werden auch heute alle Innovationen rasch habitualisiert aber zugleich in den soziokulturellen „Relativierungshexenkessel“ (Berger 1980: 22) hineingezogen und als obsolet etikettiert. Abstrakt liegen in der Zuspitzung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zur „Wissensgesellschaft“ ebenso viele Chancen wie Risiken. Tatsächlich aber stellt sich allenfalls eine Dynamisierung ein, die Intransparenz steigert und den wirklichen Möglichkeitsüberschuss und mögliche Kreativität stark einschränkt (Endreß 2001: 201; Offe 2001: 263) und oft nicht rechtzeitig präsentiert. Dieser chronische Mangel an einschlägigem Prognosewissen ist angesichts steigender sozialer Mobilität ein ganz zentrales praktisches Zukunftsproblem der heutigen Kindergeneration, dass das der „Generationengerechtigkeit“ bei weitem an Brisanz übertrifft und zusätzlich verkompliziert. Einschneidende „kritische Lebensereignisse“ unterstreichen noch diese Lage. Kinder sehen oft, dass sie oft mehr Chancen haben als ihre Eltern als Kinder hatten. Aber sie spüren ebenso, dass diese durch größere Risiken gefährdet scheinen. „Belastungen“ und „Schutzfaktoren“ sind weder kontextfrei noch zeitstabil. Sie können unterschiedlich wahrgenommen werden und mit ihnen wird vielfach ganz unterschiedlich umgegangen, was eine Modellidealisierung sozialwissenschaftlicher oder psychologischer Beobachtung gerne verschweigt (Weick 1985: 213f.; Neuberger 1995: 32). Dahinter verbergen sich kontingente Ordnungsleistungen oder soziale Konstruktionen jenseits standardisierter „Entwicklungsfahrpläne“. Obwohl aber Vielerlei möglich ist, tritt nur Weniges und manchmal nur das Eine ein, was man für zwingend hält. Man muss überdies mit Abkürzungen des Verfahrens und mit Kurzschlüssen rechnen, die Eindeutigkeit herbeizuzwingen versuchen. Eine zeitlang können sich Kinder durchwursteln. Verwerfungen des Marktes und rasante Wissensproduktion scheinen das sogar zu begünstigen. Doch eine Folge davon ist, dass vielfach latent bleibende Fremdzuschreibungen und als „letzter Schrei“ übernommenes Wissen das Alltagswissen unterminiert. Das kindliche Wissen kann sich der Beeinflussung nicht entziehen, auch wenn nur zusätzliches Wissen aufgenommen werden soll. Rein mit Durchwursteln gelingt es auf Dauer daher nicht, die „Perturbation von außen und das innere Coping“ ins Lot zu bringen. Dies setzt vielmehr einen „konjunk-
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tiven Erfahrungsraum“ (Mannheim) voraus, der „Soziales“ biographisch codierbar und „Biographisches“ sozial erfahrbar macht (Alheit 1997: 947). In ähnlichem Sinne spricht Hettlage (2000: 9ff) mit Merleau-Ponty von „Zwischenwelt“, die Selbstvergewisserung auf alten und neuen Vorder- und Hinterbühnen gestattet. Kinder geraten sowohl durch sich verhärtende Habitualisierungsprozesse wie schroffe Kontingenz in praktische Schwierigkeiten und lähmende Ratlosigkeit. Das Wechselspiel zwischen Habitualisierung und Kontingenz bricht zwar nie ab, kann aber über- und unterkomplex werden. Es legt Kindern nahe, bestimmte Perspektiven und/oder Praktiken und situative Reaktionen rein stimmungsmäßig zu bevorzugen, andere zurückzustellen oder abzuwerten. Es handelt sich nicht selten um „glückliche“ Lösungen von „Gewinnern“, die sehr leicht auch zu „Verlierern“ oder „Überflüssigen“ hätten werden können (Ortmann 1997: 335, 341; Bude 1998: 363ff.). Die Sozialisationsforschung rationalisiert das oft im Nachhinein als „kindgemäße“ Lernprozesse säuberlich getrennter Sozialisationsphasen.
10.15 Ringen um Solidarität oder Ambivalenztoleranz Ist kindlicher Desorientierung nun mit Solidarität oder Steigerung der Ambivalenztoleranz, durch eine Mischung oder ein alternatives konditionales Programm einer „ambivalenten Gesellschaftlichkeit“ zu begegnen (Junge 2000: 253), die realistischerweise „auf eine Einheit der Ambivalenzkontrolle und Ambivalenzakzeptanz“ oder problemlos „auf Inklusionsund Exklusionsformeln“ abzielt? Speziell Interaktionen sind ein Umschlagplatz der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, nicht lediglich Mechanismen einer Sozialisationsinstanz oder Sozialkontrolle. Sie weisen jedoch immer über sich hinaus und verbreiten so „doppelte Kontingenz“ (Ortmann 1997: 341) oder deren Multiplikation. Es gibt fast nie nur eine einzige Option und es gibt verschiedene Perspektiven, insbesondere den grundlegenden Kontrast der Teilnehmer– und der Beobachterposition und synchrone und diachrone Rationalisierungen (Soeffner 2004: 70). Es wird unschwer erkennbar, dass Habitualisierung oder Institutionalisierung heute keine totale, kontextenthobene und zeitlose Aneignung von einschlägigem Wissen gestattet. Die Frage etwa, ob wir es heute noch mit der traditionellen modernen Kindheit zu tun haben, unterliegt bislang selbst einem impliziten modernisierungstheoretischen Zeitschema, das erst genauer zu untersuchen wäre. Partieller Ordnungsverlust bildet ja eine produktive Herausforderung, die ganz bestimmte Sinnlinien gleichsam hervorlockt, die sonst kaum beachtet worden wären. Zwar kann nie alles zugleich sein. Aber jede Entwicklung bietet zunächst mehr als eine zwingende „Verlaufskurve“. Speziell Kinder nehmen das „Zwangsdenken“ seriöser Erwachsener nie ganz ernst. Manchmal erscheint es ihnen auch nur als phantasielose Pedanterie. Ambivalenz kann auf diese Weise nicht durch eine Solidarität verscheucht werden, die in Wahrheit eine Kumpanei mit Denkverbot wäre. Missbrauch kann aber nicht die Möglichkeit eines guten Gebrauchs widerlegen. Bedenkliches Wegsehen der „Volksgemeinschaft“ bei Leid und Gewalt macht z.B. die notwendige Orientierung nicht hinfällig. Es ist jedoch mittlerweile unklar geworden, in welchem Umfang Kinder nicht nur Verlässlichkeit und Vertrauen, sondern auch Solidaritätszuwendungen benötigen. Kinder müssen heute sicher lernen, dass modernen Gesellschaften prinzipiell inhärente Ambivalenz nicht auszutreiben ist. Daraus folgt aber keineswegs, dass alle Ambivalenz, die die heutige Gesellschaft beirrt, unab-
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wendbar ist, und sich Kinder auch damit abfinden, dass Erwachsene zuweilen redundante Ambivalenz kultivieren. Die Forderung nach Steigerung der Ambivalenztoleranz kann zum Alibi des Status Quo verkommen (Beck 1993: 189ff.). Die zur Differenzierung notwendigen Maßstäbe können heute nicht mehr vorausgesetzt werden, zeigen sich vielleicht nicht einmal am „runden Tisch“ von Experten, sondern müssen von Kinder – zusammen mit, neben und gegen Erwachsene – im Laufe der Alltagsund Lebensgeschichte ausgebildet und ausgehandelt werden. Dabei kann die Frage nach der notwendigen Solidarität mit „Verlierern“ bis zu dem Punkt gehen, wo betroffene Kinder über die Angemessenheit und Zumutbarkeit der Lebensbedingungen mitentscheiden können. Die Grenzen der Solidarität wie der Leid-, Problem- und Ambivalenzverarbeitung von Kindern liegen nicht ein für allemal fest. Solidarität muss angemessen sein (Waldenfels 1990: 133). Der Ruf nach Nüchternheit und funktionaler „Sachgesetzlichkeit“ reicht jedoch nicht aus, weil z.B. die Zuschreibungen von Seiten der Mitgliedschaft und des Publikums oder von Gate-Keepern selbst in gut funktionierenden Organisationen divergieren und auf zahlreichen extrafunktionalen Voraussetzungen beruhen. Kinder können nicht umhin, zwischen akzeptabler und nichtakzeptabler, lebenssteigernder oder lebensmindernder Ambivalenz zu unterscheiden (Waldenfels 1990: 133). Zufallsbegegnungen und Zwangsverbände oder Märkte benötigen wenig Solidarität, „Kinderwelten“ aber setzen sie in beträchtlichem Umfang voraus. Da internalisierende Resubjektivierung nicht gleichzusetzen ist mit subjektzentrierter Abstraktion, sondern Ressourcenbildung für biographische Selbstbeschreibung anstrebt, beruht sie implizit auf möglichen solidarischen Handlungsbündnissen, nicht einer rein kognitiv verstandenen Sozialkompetenz. Der Reichtum, die Vielfalt und Unaufdringlichkeit und die Generierung von Vertrauen in soziale Relationen und nicht eine hohle „Ich-Stärke“ macht die tatsächliche Bedeutung einer stabilisierten Biographie aus (Todorov 1996; Zoll 1993; Alheit 1994). Individuelle Stabilität hat sich bis tief in die Moderne auf die Alltagssolidarität gestützt, von der man annehmen konnte, dass sie in der normalen Sozialisation aus partikularen Wertbindungen zu einem generalisierten Wertkonsens weitergetrieben werden konnte. Das hatte immer auch zwei Seiten. Kinder können sich bis heute auffällig „clanhaft“ benehmen und „Außenseiter“ ihrer Gruppen und Cliquen gnadenlos niedermachen und einen Gruppendruck erzeugen, der „Sonderlinge“ zwingt, sich bis in Kleinigkeiten und geringfügige Geschmacksnuancen zu unterwerfen (Krappmann 1993). Eine fortschreitende Kultivierung und Universalisierung im Sinne von für alle geltenden Solidaritätsnormen gelingt den verschiedenen, häufig konkurrierenden Sozialisationsinstanzen immer weniger. Es scheint Erwachsenen wie Kindern inzwischen wohl immer fraglicher, ob Solidarität und Vertrauen in anonymen Systemen möglich oder notwendig ist. Mit Kommunikation und Verhandeln versucht man einstweilen über die Runden zu kommen (Zoll 1983). Der Drang der Kinder, sich von ihren Eltern abzulösen, ist nicht neu, neu ist aber, dass außerfamiliale Solidaritätsadressen nicht mehr durch „universale Projektion“ und konzentrische Analogiebildung zu ermitteln sind, sondern einer globalisierten Aleatorik und polykontexturalen Kombinatorik zu entspringen scheinen. Plötzlich wird wichtiger, dass sich kollektive Identitäten, die viele Kinder ihren persönlichen und sozialen Identitäten hinzufügen, sich nicht gegen universalistische Werte, Gruppenrechte und Menschenrechte richten und auswirken. Die Geltung der Menschenrechte und die Praxis der Gruppenrechte sind aber nie zur völlig befriedigenden Deckung zu bringen. Das bedeutet, dass nicht sozialisa-
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torische „Rollenübernahme“ im Sinne eines „generalisierten Anderen“, sondern selektivexklusive soziale Konstruktionen und Reinterpretationen wichtiger werden (Eckert 2005: 274f.), zumal der Wissens- und Erfahrungsvorsprung von Erwachsenen in manchen Bereichen sehr geschrumpft ist, Ordnungsbildung temporalisiert und mediatisiert worden ist. Freilich behält dann auch heute das Konzept des emanzipierten „Kinderbürgers“ trotz allem die Aura des Utopischen. Eine eindeutige Grenzziehung mit dem extrem semantisch streuenden Konzept der Pubertät wird zwar noch weiter kolportiert, ist aber im Grunde längst nicht mehr ergiebig. Würde man nun rein subjektiven Kriterien folgen, so wäre die Vergleichbarkeit differentieller Formen des Kindseins fraglich. Wenn man aber rechtlichen Kriterien folgt, wird unklar, inwiefern der realen Alltagstypik Rechnung getragen werden kann und dann wenigstens gemeinsame Teilreifen verbindlich werden können, die Kinder durchgängig von Jugendlichen unterscheiden. Auf welche sozialen Ressourcen und Solidaritätspotenziale können Kinder nun verlässlich rechnen? Steht Solidarität wirklich auf der Agenda zwischen Erwachsenen und Kindern (Wagner 1995: 263)? Die Bildung von Interaktionsketten und zivilgesellschaftlichen Aktivitätskernen verlangt von Kindern eine neuartige Sensibilität für Aufgaben und die Bereitschaft zur Entwicklung zur kommunikativen und sozialen Konstruktion von Sinnzusammenhängen, die mit der Internalisierung von Werten, Normen Präferenzstrukturen nur am Rande zu tun haben und mit Sozialisationswissen allein nicht zu bewältigen ist: „Die Wiederherstellung eines gewissen Ausmaßes an Überlappung von sozialen Identitäten, politischen Grenzen und sozialen Praktiken ist die Voraussetzung für die Schaffung politischer Handlungsfähigkeit“ (Wagner 1995: 270). Viel weniger anspruchsvoll scheint die Forderung einer kontinuierlichen Ambivalenztoleranzsteigerung und „bezahlten Indifferenz“ (Luhmann), wie sie der expansiven Marktlogik entspricht. Sie geht von einer funktionalen Verringerung von Solidarität aufgrund funktionaler Differenzierung und Selbstregulation durch Angebot und Nachfrage aus, die allerdings deutungsabhängig bleiben und keine objektiven Stellgrößen darstellen. Gegen die unterstellte Selbstregulierung spricht, dass die verheißene „Multiinklusion“ sich nicht kontinuierlich durchsetzt und von Exklusionsbewegungen durchbrochen wird. Und es gibt keine beliebige, sondern immer nur eine historisch bestimmte Form der Ordnungspluralität. Zuweilen ist auch solche Pluralität nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einer neuen Homogenisierungswelle. Die These einer gleichzeitigen Existenz unterschiedlicher Ordnungsentwürfe und rein funktionaler Wissensordnungen ist jedenfalls keine evolutionäre Zwangsläufigkeit und Universalie und historisch höchst voraussetzungsvoll. Die Klagen über abnehmende Solidarität sind nicht neu. Man könnte es bei der Unterscheidung verschiedener Formen der Solidarität in der Familie, der Schulklasse, der Betriebsorganisation, der Kirchengemeinde und Kommune belassen, wenn die Übergänge, Interdependenzen und Verflechtungen problemlos wären. Solidaritätsverluste müssen ja nicht eo ipso zur „Auflösung des Sozialen“ (Bude) ausarten. Sie können zu mehr oder minder harmloser Indifferenz führen, wie sie in modernen Städten seit eh und je gepflegt wurde. Wenn aber nicht nur eine gewisse Erwartbarkeit, sondern die Abrufbarkeit expansiver Unterstützung und Hilfe in Frage gestellt würde, könnte die Solidaritätsfrage nicht mehr ausgeklammert werden. Wie kann man die anomieträchtige Expansion des Trittbrettfahrersyndroms und öffentlicher Unverantwortlichkeit sowie ungebremste Exklusion und gesellschaftliche Spaltungen, Polarisierungen und Wissensklüfte auch nur eingrenzen, wenn man ausschließlich oder überwiegend nur auf die funktionalistische „Ambivalenztoleranzsteigerung“ (Junge) setzt? Weil
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man sich der intergenerationalen Solidarität und der institutionellen Regulierung nicht mehr sicher ist, bricht die Solidaritätsfrage neu auf. Kinder erleben Solidarität außerhalb der Familie und Schulklasse heute recht selten. Das Beschäftigungssystem oder andere Systeme sind keine große Familie und hier kann man dementsprechend nicht auf erprobte Formen der Alltagssolidarität zurückgreifen. Aber selbst im Nahbereich direkter Kommunikation gibt es heute viele Brüche und Enttäuschungen. In der Öffentlichkeit vertraut man stärker der Regulierungskraft der Institutionen als der Möglichkeit, Formen der Solidarität und des Teilens zu erproben. Und neuerdings wird die marktförmige Deregulierung als Lösungsmechanismus immer stärker propagiert. Die Gesellschaft scheint nicht nur nicht mehr „Volladressen der Kommunikation“ zu fördern, sondern Solidarität gerade dann zu entziehen, wenn sie die nicht funktionierende Multiinklusion und Exklusion auffangen müsste (Leu 1999: 17). Eine rein funktionalistisch verstandene allgemeine Indifferenz erzeugt irgendwann Identifikationsmängel, die leicht in Trittbrettfahrermentalität umschlagen und schließlich in pures Anspruchsdenken münden kann. Funktionales Verhalten hat extrafunktionale Voraussetzungen, die es nicht selbst wieder erzeugen kann. Es gibt auch Schwellen und Grenzen, wo „Funktionieren“ von struktureller Rücksichtslosigkeit kaum noch zu unterscheiden ist. Es bleibt auch höchst fraglich, ob man Schwierigkeiten des Transfers von Alltags- zu gesamtgesellschaftlicher Solidarität durch Intensivierung der Kommunikation beseitigen kann (Zoll 1993: 10, 14ff.). Doch vielleicht erscheinen Kinder nur deswegen heute als unsolidarischer, weil wir traditionelle Maßstäbe und Interpretationsfolien benutzen. Manches deutet auch darauf hin, dass aber gleichzeitig eine zeitlich befristete Bereitschaft für Solidaritätsprojekte durchaus besteht und sogar zunehmen könnte.
10.16 Kindsein im flüchtigen Augenblick Plötzlich war es dann aus seinem Umfeld verschwunden, das Kind ehrbarer Eltern, und tauchte in der Bahnhofsregion einer Großstadt als Straßenkind wieder auf. Dieses Ereignis machte unter allen Kindern der Schulklasse die Runde und war auch Gesprächsstoff der Erwachsenen. Eines Tages setzten sich die Eltern kurz nach der deutschen Einigung ab und ließen ihre kleinen Kinder im Stich. Das wurde in einer Boulevard-Zeitung berichtet. Zugegebenermaßen sind solche bösen Überraschungen selten. Sie zeigen jedoch, dass sich Kinder und Erwachsene immer wieder Überraschungen bereiten können, die schlagartig deutlich machen, dass in einem einzigen Augenblick ein ganzes Leben über den Haufen geworfen werden kann. Sie zeigen auch, dass die angeblich „letzte Unkündbarkeit“ (Beck), die Eltern-Kind-Beziehungen, durchaus gekündigt werden kann. Und für Vieles, was auch zwischen Erwachsenen wichtig ist, gibt es den „richtigen“ und den „falschen“ Augenblick; also „Zeitfenster“, die sich in Ereignissen auftun oder verschließen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit des Kindseins ist in einer spezifischen Weise von flüchtigen Augenblicken mitgeprägt. Das Gefühl ist auch unter Kindern verbreitet, keine Zeit zu haben und vom Strudel einer sich beschleunigenden Zeit mitgerissen zu werden. Kinder äußern häufig, im Stress zu leben (LBS 2002). Das bedeutet wissenssoziologisch, dass das tradierte Wissen um die Ordnung der Zeit in Unordnung geraten ist. Die Wiederholungen regulierenden Strukturen werden nicht nur durch seltene Überraschungen, sondern den Abbruch von Interaktionsserien und den Umbau von Interaktionsse-
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quenzen verändert. Die Flüchtigkeit des Augenblicks ist nicht nur eine objektive Zeitkondition und ein begleitendes Zeitgefühl. Sie ist vielmehr eine dritte Dimension symbolisch vermittelter Differenzen und Verweisungszusammenhänge. Sie ist soziale Konstruktion von Wirklichkeit, die in einer Konstellation von stillschweigend vorgenommenen Unterstellungen die Vorstellungen gesellschaftlicher Akteure artikulieren. Doch selbst das Staccato unstetiger Ereignisketten führt selten zum strukturlosen Chaos, sondern meist nur zur ungewöhnlichen Strukturbildung und treibt damit den Konstitutionsprozess sozialer Realität voran. Ein „reißerischer Situationismus“ (Goffmann) ist vielleicht – im Gegensatz zum Vertrauen auf jeweilige pragmatische Lösungen – nicht lange konsequent durchzuhalten. Dennoch spielt der konkrete Augenblick in den eigentümlichen „Zeitbögen“ der Kinder eine erhebliche Rolle (Sichtermann 1982). Der viel diskutierte Terminkalender der Kinder besteht jedoch in den meisten Fällen nicht sehr ausgeprägt und empirisch meist als transitorischer Modus der Zeitökonomie oder eher als Terminkalender mancher Eltern (Mütter). Im Gegenteil tendieren zumindest Vorschulkinder zu zeitlicher Aleatorik: sie reagieren jeweils auf Impulse spontan. Und der angeblich überall sich ausbreitende kindliche Terminkalender zeigte und zeigt immer Spuren der Verfremdung und Umformung vorgegebener zeitlicher „Rohdaten“. Erwachsene unterstellen, Kinder ließen sich leicht ablenken und seien nicht zu einer vernünftigen Zeitökonomie im Stande. Die immer stärkere Institutionalisierung der Kindheit in den letzten 400 Jahren hat offensichtlich bei Kindern ein wachsendes Bedürfnis erzeugt, nach „Zeitnischen“ zu fahnden und die flüchtigen Augenblicke zwischen den formalisierten Situationen in der Kinderorganisation zu nutzen. Das zeigt sich darin, dass der „Terminkalender“ fast schlagartig selbst bei den individualisierten Töchtern städtischer Bildungsmilieus verschwand, als das Handy weite Verbreitung fand. Idealtypisch kann man die differentiellen Typen kindlicher Zeitnutzung auf einem Kontinuum zwischen den idealtypischen Grenzwerten einer Stabilisierung durch Eigenkontrolle oder Vertrauen in spontanes Finden einer Zeitordnung abbilden (Dunkel 1993: 197ff.). Während die einen – nicht unbedingt mit einem Terminkalender – unter dem Druck der Verhältnisse und oft sanfter Nachhilfe der Eltern ihre Zeit strukturieren, versuchen die anderen gerade durch Planungsverzicht den Augenblicken gerecht zu werden oder sie zu genießen. Beide „Strategien“ sind nicht fix und fertig und unveränderlich. Sie verschieben ihre Handlungsspielräume und ihre Relevanzen und Reichweiten. Das bedeutet, dass die Lebenswelt der Kinder nicht an sozialökologische „Verschachtelungen“ (Soeffner 2005: 395) gebunden ist, sondern der Interaktionsdynamik entscheidende Aspekte der Situationsdefinitionen entnimmt. Wie hier auch immer Akzente gesetzt werden, so fordern sie doch immer auch soziale Akzeptanz oder Anerkennung. Erst in der „Schärfe“ einer konkreten Situation bekommt eine Sinnrahmung ihre volle, plastische Gestalt, fügen sich die Sinnschichten zu einem klaren Profil zusammen, kann strukturelle auf inhärente Ambivalenz reduziert werden: „Nur im alltäglich-praktischen Handeln ver-wirklicht sich gesellschaftliche Wirklichkeit“ (Bergmann 2000: 123), auch mit all ihren überraschenden Momenten. In der Situation werden auch die einfließenden gesellschaftlichen Bedingungen modifiziert. Insofern hat jede Situation in jedem Augenblick neben Typischen auch Einmaliges, historisch Partikulares an sich. Sie ist nie eine reine Kopie. Dieses Singuläre kann so stark in den Vordergrund rücken, dass das Typische fast verdeckt wird. Und zumal dann wird die Flüchtigkeit des Augenblicks auch von Kindern
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empfunden. Sie scheint auch im vergeblichen Bemühen auf, die Zeit festzuhalten oder still zu stellen. Daher fordert die Situation keineswegs nur Aktivität. Man muss sich vielmehr auf sie einlassen, auf sie in „passiver Intentionalität“ konzentrieren. Wenn Kinder nicht auch rezeptiv sein können, verfehlen sie gesellschaftliche Realität in purem ungerichteten Aktivismus und Umtriebigkeit und sind gänzlich unfähig, Scheinoptionen von realen Optionen zu unterscheiden. Aber auch uneingeschränkte Rezeptivität oder gar volle Symmetrie ist unmöglich. Man muss Fragen stellen, aktiv zuhören, den Blick genau auf Einzelheiten richten, wenn man seinen Originalbeitrag in Interaktionen leisten können will. Durch die Anzahl der Interaktionsteilnehmer, die Art der Interaktion, der Komplexität der Themen erhöht sich der Anteil zugemuteter Passivität und die Eigendynamik der Situation (Kieserling 1999: 44). Sie fließt oft auch in nachfolgende Situationen mit ein und wird von Dritten beobachtet, die damit auch die Chance gewinnen zu intervenieren. Der Zeitdruck steigt nicht selten. Und wer das für eine faule Ausrede ansieht, hält den sozialen Verkehr auf. Es ist eher ein Wunsch oder Ideal, dass alles jederzeit von allen hinlänglich besprochen werden kann. Kinder erleben den Zeitdruck oft schmerzlich bei ihren Eltern, die viel zu wenig Zeit für sie haben und manchmal ihre Zeitnischen allzu aufdringlich zu qualitativ verdichteter Kommunikation mit ihnen nutzen wollen und sie dann zu wenig in Ruhe lassen (Hochschild 2002). Freilich bringt auch der Zeitstress heutiger Kinder Erwachsene in Erstaunen. Was ein Kind Anderen bieten kann, verdankt es seiner Inszenierung, deren Regieanweisung in der Interaktionssituation den „Mehrwert“ von Kommunikation über reinen Informationsaustausch ausmacht (Soeffner 1989). Soziale Ordnung ist zwar immer transsituativ vorstrukturiert. Die eigentliche Sinnkonstruktion erreichen Kinder aber als kompetente Akteure erst in der konkreten Situation, die freilich ihren bestimmten Platz in einer längeren Interaktionsgeschichte hat. Aber auch episodische Situationen kommen heute öfter in einer sich globalisierenden Welt vor, in der immer öfter Fremde auf Fremde treffen, die sich zuvor noch nie gesehen haben. Kinder können sich jedenfalls immer weniger darauf verlassen, dass die Privilegien, die sie zuhause genießen, andernorts auch gelten. Die interkulturelle Kommunikation nimmt selbst in Dorfkindergärten weit ab von Metropolen ständig zu und macht sich spannungsreich bemerkbar, ohne dass sozialstrukturelle, rechtliche, politische oder sozioökonomische Rahmenbedingungen damit außer Kraft gesetzt wären. Solche interkulturell bestimmten Interaktionen können im „richtigen“ oder im „falschen“ Augenblick stattfinden. Sie können auch nicht folgenlos und beliebig vertagt werden. Situationsbewältigung ist keine mechanische Wiederholung in einer fixierbaren Ordnung. Interaktionsordnungen haben vielmehr einen fließenden Charakter und fördern oder erschweren den gesellschaftlichen Herstellungsprozess geteilter und ungeteilter Wirklichkeit und Statusgenerierung. Daraus folgt, dass sich Kinder in Interaktionen nicht als unfertige Erwachsene benehmen, sondern nach eigenständigen Interaktionsordnungen und Formen alltäglicher Lebensführung und Biographisierung suchen. Sie schaffen damit zugleich soziale Bedingungen, auf die sich Erwachsene in Zukunft einstellen müssen, wenn sie Zustimmung finden wollen (Bergmann 2000: 53). Der Rückgriff auf eine bekannte oder normative Situationsdefinition erfolgt ziemlich intuitiv und hat nur einen groben Nährungswert, einen „pragmatischer“ Leitfaden auf dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen und eine Hypothese und im Grunde keine wirklich zwingende Vorschrift (Hitzler 2000: 113). Und zwischen den soziokulturellen, sozialstruk-
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turellen und situativen „Determinanten“ besteht nicht immer Konsistenz, gelegentlich sogar schroffe Divergenz (Bergmann 2000: 114). Für Kinder gibt es durchaus eine Zeit, in der sie nichts tun müssen, sich vielleicht der Freizeit der Erwachsenen oder ihrem Festkalender anschließen und sich doch unter Zeitdruck sehen. Erwachsene verpassen ihnen auch einen „Terminkalender“, um ihre Ruhe zu haben. Dadurch kann Zeit nicht zwanglos und kontinuierlich investiert werden. Die vorgegebenen sozialen Zeiten können nicht bruchlos in Eigenzeit verwandelt werden. Kinder verstehen es aber, subversiv „Zeit zu schinden“ und sich informell sozusagen verlorene Zeit teilweise wieder anzueignen. Immer eignet den sozialen Prozessen etwas Unstetes an. Manchmal scheint die Gegenwart auf „punktuelle“ und „flüchtige Beziehungen“ zu schrumpfen, die unaufhörlich in Verbindung gebracht werden, aber sich auch auflösen (Derrida 1976: 16). Im Augenblick geschehen auch Brüche, Kehrtwendungen, Richtungswechsel, die „Auflösung des Sozialen“ (Bude 1988). Jähe Augenblicke verstärken die Kontingenz sozialer Wirklichkeit. Manchmal erleben Kinder schlagartig, dass eine ganze Lebensgeschichte entwertet wird. Damit wird deutlich: Alles könnte auch anders sein, aber aus kontingenten Gründen ist es eben so, wie es ist. Der Augenblick scheint so der eigentliche Umschlagplatz zwischen Kultur und Sozialstruktur zu sein, und umgekehrt werden denkbare Möglichkeiten zu praktischen Möglichkeiten. Möglichkeiten werden konkretisiert, präzisiert und gehen dennoch nicht immer wunschgemäß auf. Folgen ziehen unerwartete und unangenehme Nebenfolgen und Risiken nach sich. Themen werden eingegrenzt, Bezugsgruppen und Bezugspersonen ausgegrenzt. Ein Aufbruch ist ebenso möglich wie eine Regression. Bestehende Handlungsspielräume müssen überprüft werden. Sie stehen unter dem Druck kleiner, mittlerer und großer Transzendenzen. Der Status Quo lässt sich nur scheinbar konservieren. Es scheinen immer Bezüge zur eigenen früheren Alltags- und Lebensgeschichte, zur sozialen Mitwelt und zum umfassenden Wirklichkeitshorizont, zur „Weltansicht“ (Luckmann) auf, die reine „Immanenz“ blockieren. Gerade von Kindern erwartet die Gesellschaft eine besondere Lebendigkeit und augenblicksbezogene Spontaneität. Sonst wittert sie „Entwicklungsstörungen“ oder die Gefahr des Auffälligwerdens. Kinder sollen weder „altklug“ oder „zurückgeblieben“ noch „frühreif“, weder „verschlossen“ noch „ungezogen“ sein. Komplementäre Normalisierungen suchen Kinder an ihren Eltern und Lehrern vorzunehmen. In den interaktiv bestimmten Deutungen werden differenzierende und homogenisierende, also widersprüchliche Bestrebungen und dialektische Zuschreibungen transparent. Weder Erwachsene noch Kinder wissen im Augenblick mit Sicherheit, ob ihr Verhalten kurz-, mittel- oder langfristige Auswirkungen für die Teilnehmer oder die Beobachter, die Zuschreibungen anbieten, in welchem sozialen Raum und Kräftefeld haben werden. Das gesellschaftliche Wissen, das hinter ihnen steht, wird über vielfältige, oft widersprüchliche und keineswegs nur sozialisatorische Prozesse wirksam. Es verändert sich unmerklich oder abrupt und revidiert damit auch Sozialisationsbedingungen und Sozialisationswissen. Soziale Wirklichkeit ist auch interaktive Reaktion auf Sozialisation und die Umstände und Folgen der Sozialisation. In ihr werden auch Bilder und typisch ins Spiel gebrachte Praktiken und Deutungen eine gewisse Bedeutung behalten, doch ebenso der Wunsch, auf die singulären „Zeichen der Zeit“ einzugehen und dabei nicht ganz der Normalität aller anderen Kinder zu entsprechen. Eine gewisse Originalität wird sogar von der Gesellschaft erwartet. Diese will sich ja nicht nachsagen lassen, sie fördere keine Kreativität (Strauss 1968: 99f.). Kinder werden aufgrund des for-
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cierten sozialen Wandels immer stärker veranlasst, mit situationsbezogenem Wissen ihr Leben zu bewältigen und ihre Zeit nicht mit Plänen zu verschwenden. Planungssicherheit böten ja die sozialen Karrieren und verschiedenen sozialen Zeiten der Institutionen (Rerrich 1993: 310; Zeiher 1993: 334ff.). Man könnte vielleicht auch von einer Akzeleration des Perspektivenwechsels sprechen (Behrens 2000: 107). Planung und Improvisation rotieren immer schneller. Die resubjektivierende Aktualisierung des Kindseins im Hier und Jetzt erweist sich so nicht als Ausfluss subjektivistischer Deutungsbeliebigkeit, sondern als Ergebnis eines vielschichtigen sozialen Wandels.
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11.1 Kindheit als heterogenes soziales Phänomen Es wäre naiv oder illusionär, sich „Kindheit“ heute noch als rundum homogenes, natürliches oder soziales Phänomen vorzustellen. Schon im frühmodernen Kindheitsmodell begannen die natürlichen und die kulturellen Aspekte der „biologisch-sozialen Doppelnatur“ eigentümlich zu oszillieren. Als „bloße Natur“ tritt die Natürlichkeit erst in einem ganz bestimmten methodischen Raster der Medizin und Biologie oder Biochemie auf, indem systematisch von den gesellschaftlichen Lebensbedingungen und den soziokulturellen Bedeutungszusammenhängen abstrahiert wird. Und die Soziologie – mehr als die Psychologie – neigt dazu, ein Kontrastraster anzulegen, in dem die lebensweltliche Leibgebundenheit sozialer Akteure oft glatt „verdunstet“. In Wirklichkeit durchdringen sich ja Natur und Kultur auch beim sozialen Phänomen „Kindheit“ oder „Kind“ aufs Engste (Waldenfels 2000: 253f.; Meyer-Drawe 1984; Merlau 1976). Diese unfragliche Konsistenz lebensweltlich verstandener Kindheit geht schon in der frühen Moderne und dann immer mehr verloren. Kindheit muss konstruiert werden. Sie zerfällt in ein immer wieder zu externalisierendes, diskursiv sichtbar und interessant gemachtes „Kindheitsbild“ oder soziokulturelles Modell von Kindheit, sozialstrukturelle Handlungsspielräume des alltäglichen Kinderlebens und in ein Kindsein, das immer einer Situationsdynamik ausgesetzt ist. Alle Teilkonstruktionen des Konstitutionsprozesses hängen locker und dialektisch zusammen, müssen aber immer wieder im Rahmen der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zusammengefügt, verflochten und validiert werden. Wenn heute kleine Kinder auf kleine Schwierigkeiten und große Probleme stoßen, werden sie in aller Regel von ihren Eltern, Erziehern, Lehrern etc. unterstützt, sind aber in jedem Fall gezwungen, die soziale Konstruktion laufend zu überprüfen, „objektiv“ zu stabilisieren, zu korrigieren, vor allem aber selbst umzusetzen, sich sozial abzustimmen und zu „internalisieren“ (Ritsert 2002: 206). Solange eine historisch-rekonstruktive „Konstruktion zweiten Grades“ nicht die diskursiven Argumentations- und Assoziationsstrukturen, die praktischen, nicht nur gedachten oder besprochenen Handlungs- und Möglichkeitsräume, Rezeptionsmuster und Typen der Inanspruchnahme von Normen, Regeln, Ritualen und Strategien und ihre symbolischen Netze, die aktuelle und situative Weitergabe von Erfahrungen sowie die verformenden sozialen Reaktionen darauf theoretisch nicht thematisiert, verfehlt sie eine Analyse des in den letzten Jahrzehnten entkonturierten sozialen Phänomens und seiner potenziell divergierenden Dimensionen Kindheit, Kinderleben und Kindsein (Soeffner 1999: 44f.). Diskurse sind nicht einfach die Füllmasse einer angeblich zeitenthobenen Strukturkategorie „Kindheit“. Vielmehr entscheidet die Konstellation und Dynamik themenspezifischer Diskurse, ob und wie eine Kategorisierung möglich ist und wie sie angemessen erfolgen kann. Diskurse sind gleichsam Anfragen an den auftauchenden, erscheinenden „Gegenstand“ und umsichtige Versuche, ihn als etwas Bestimmtes sichtbar zu machen. „Ge-
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genstände“ sind demnach keine Abbildungen objektiv schlicht gegebener Dinge. Gegenstandsbestimmungen schaffen einen ganz bestimmten, durchaus veränderlichen Zugang zu etwas als etwas, das prinzipiell auch anders erfragt werden kann: „Der imposante Gedanke eines umfassenden Dialogs, zu dem alle in gleicher Weise Zugang haben und in dem alles, wenigstens auf Dauer, in gleicher Weise zur Sprache kommen kann, gehört zu den Illusionen des Totalitätsdenkens“ (Waldenfels 1997: 33). Kategorien sind keine Container, sondern mehr oder minder brauchbare stets historisch infizierte Annäherungen an prinzipiell unausschöpfliche Phänomene. Kindheit wurde erst ab dem 16. Jahrhundert wirklich fragwürdig, weil sich ab dieser Zeit die Problematik der Subjektwerdung und der gesellschaftlichen Rationalisierung mit aller Schärfe stellte. Es ist verhältnismäßig unwahrscheinlich, dass die Notwendigkeit der Diskursivierung der Kindheit nachlässt, aber ausschließen lässt sich für alle Zukunft auch nicht ein „Verschwinden der Kindheit“ in diesem spezifisch diskursiv-soziokulturellen Sinne. Bei der Veränderung des Kindheitsbildes oder kulturellen Modells von Kindheit handelt es sich um den Übergang von einer zur anderen diskursiven Wissensordnung, die eine jeweils spezifische Institutionalisierbarkeit und jeweils verschiedene soziale Praktiken nahe legt und so gerade einen spezifischen, nicht einfach austauschbaren sozialstrukturellen Zugang zu einer Gegenstandsbestimmung eröffnet. Kinder gab es und gibt es hoffentlich immer. Kindheit als diskursives „Projekt“ ist eine voraussetzungsvolle, geschichtliche Frage, was Kinder „sind“ und in unserer Gesellschaft sein „können“. Und dieser heute fast unausweichliche diskursive Streit lässt sich auch nicht auf die simple binäre Schematik von „Kinderfreundlichkeit“ und „Kinderfeindlichkeit“ reduzieren. Vielleicht erwächst aus diesem Streit nicht nur eine neue diskursive Sinngestalt künftiger Kindheit, sondern zuweilen auch der Eindruck, dass Kinder so ungeheuer interessant sind, dass eine Gesellschaft ohne sie kulturell verarmen würde. Ebenso gut ist freilich möglich, dass im Zeitalter eines totalisierenden Ökonomismus die Belange von Kindern in geschichtlich neuer Weise als hinterweltlerischer „Kinderkram“ erscheinen. Und beide denkbaren diskursiven Entwicklungsvarianten können von einem „großen“ oder „kleinen“ Unterschied zwischen Kindern und Jugendlichen und dem zwischen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen ausgehen. Ist das dann aber noch die identische „Strukturkategorie“ der heutigen Kindheitssoziologie (Ritsert 1999: 51ff.)? Vieles deutet auch daraufhin, dass diskursives Wissen – nicht nur Argumente und Reflexionen, sondern auch ikonische Darstellungen, Embleme, Assoziationen, Gefühlswertigkeiten, Mentalitäten – nur dann Resonanz gewinnt, wenn es mit der strukturellen Ordnung der Wissensproduktion und ihren Rezeptionsmustern vereinbar und anschlussfähig erscheint. Die „Türhüter“ des eingespielten Wechselspiels zwischen sozialer Mehrheit und sozialer Minderheit, die Funktions- und Machteliten der Gesellschaft und die institutionellen Klassifikationen bestimmten die „soziale Landkarte“ und die soziale Lokalisierung nicht nur nach der „Diskurslandschaft“, sondern nach Habitusformationen, Interessen, institutionellen Rahmenbedingungen und Machtverhältnissen. Die gesellschaftliche Platzierung von Kindern als eine (sozialstatistisch registrierte) Bevölkerungsgruppe ist nichts anderes als eine Konkretisierung dieser sozialen Topologie der Chancen und Risiken bzw. der Verteilung von Ressourcen und Kompetenzen für den alltäglichen Normalfall. Individuelle Lebensführung und Biographiekonstruktion müssen sich unausweichlich an diesen sedimentierten, objektivierten normalen Lebensbedingungen abarbeiten und behaupten. Das führt zu verschiebbaren Grenzkonstruktionen und zur mehr oder minder lockeren Koppe-
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lung verschiedener Statuskriterien wie Milieuzugehörigkeit, Bildungsniveau, Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft in verschiedenen Handlungsfeldern zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Im Kern ist das ein durchaus unterschiedlich verteiltes und schwankendes Bewusstsein und Wissen der Differenzen und der sozialen Ungleichheit bzw. ihrer Legitimität. Wenn Diskurse gegen herrschende Werte und Kräfteverhältnisse verstoßen oder zu verstoßen scheinen, stoßen sie, zunächst jedenfalls, auf eine Mauer der Ablehnung bei den Meinungsführern der sozialen Mehrheit, weil sonst der Weg frei scheinen könnte, eine Revision der Inklusions- und Exklusionsprozesse einzuleiten. Hier ist es besonders interessant, dass sich besonders Erwachsene dagegen wehren, dass es wirklich gravierende Interessensunterschiede zwischen Eltern und ihren Kindern gäbe, obwohl solche Unterschiede sich aus Beobachtersicht nicht leugnen lassen und interessanterweise von den Kindern viel schärfer als von den Erwachsenen gesehen werden (Zinnecker 1998; LBS 2002). Während Erwachsene die gesellschaftliche Integration von Kindern vergleichsweise unproblematisch sehen, erkennen Kinder mehr oder weniger große Spannungen (Mansel 1996; Herlth 2000). Dies ist aber nicht durchgängig reflektiertes, sondern eher implizites „praktisches Wissen“ (Alheit 1994). Es lohnt sich nicht, darüber zu räsonieren… Solch praktisches Wissen ist stets situiert, d. h. historisch-diachron und zeitbedingtsynchron verankert. Es lässt sich nicht nur an sozialstrukturellen Handlungsspielräumen differenzieren, sondern nach dem Ausmaß der Variation, Improvisation und Aleatorik und Kontingenz, die in konkreten Handlungssituationen bei der Lebensbewältigung möglich werden. Manche impliziten Situationsdefinitionen bestimmen in hohem Maße die Wahrnehmung und/oder Handlungsfähigkeit. Manche Situationen sind dagegen sehr offen. Wieder andere erscheinen völlig opak und unübersichtlich. Trügerische Klarheit manch anderer Situationen kann sich im Nachhinein als zwanghafte Naivität der beteiligten Akteure herausstellen, die vielleicht guten Mutes in die Katastrophe hineinschlittern. Es gibt aber auch die Erfahrung, dass man viel zu schwarzgesehen hat und die Dinge sich erstaunlich freundlich entwickelt haben. In vielen Situationen sticht vor allem ihr Wiederholungscharakter ins Auge. Dagegen fordern überraschende oder festgefahrene Situationen ein hohes Maß an Offenheit, Flexibilität und kreativ-explorativem Engagement und Responsivität von Kindern und/oder Erwachsenen im wechselseitigen Umgang: keiner ist dann nur „Sozialisationsagent“ des Anderen, sondern Gesprächs- und Interaktionspartner. Je nach dem augenblicklichen Eindruck können Kinder entweder einen bequemen Weg der Konvention gehen oder sich in das Risiko von „Zeitpionieren“ oder „Wellenreitern“ stürzen etc. (Hörning 2001). Sie können umsichtig Hindernisse erkennen und beiseite räumen oder in Sackgassen sehenden Auges hineingehen. Mit einem Wort: für die praktische Lebensbewältigung ist nicht nur die Berücksichtigung des kulturellen Horizonts und der sozialstrukturellen Alltagsgrundlagen, sondern auch die mehr oder minder souveräne situative Wachheit und Bewältigung der Interaktionsdynamik als Grundlage der Wirklichkeitserfahrung von Kindern als kompetente Akteure maßgeblich. In manchen Situationen ist es leicht, die Erfahrung auf andere analoge Situationen zu übertragen. In anderen scheint ihr symbolischer Ausdruck und ihre resubjektivierende Aneignung (Internalisierung) nur für den vorliegenden Fall zu gelten und zu gelingen. Jedenfalls besitzt die situative Dimension der Wirklichkeit eine Eigendynamik, Indexalität und Kontingenz. Die potenzielle Disparatheit der drei Dimensionen der sozialen Konstruktion Kindheit, Kinderleben, Kindsein ist keine Projektion des sozialwissenschaftlichen Beobachters, son-
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dern Ausdruck der heutigen Heterogenität des sozialen Phänomens selbst. Deshalb ist hier nochmals die modernisierungstheoretisch-funktionalistische Vorstellung einer reibungslosen „Ausdifferenzierung“ von Kindheit als unterkomplex zurückzuweisen. Die referierten sozialen Konstruktionen als Teilkonstruktionen der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit sind auch hier nicht „Systeme“, obwohl es hier systematische Strukturierungen gibt. Sie bleiben aber „duale Struktur“ und insofern „Systemfragment“. Und schon gar nicht sind sie Füllungen einer Container-Strukturkategorie. Soziale Konstruktionen sind prekäre intermediäre Strukturierungen einer „Zwischenwelt“ „geteilter“ und „ungeteilter“ Wirklichkeit zwischen Kindern und Erwachsenen. Weder Kinder noch Erwachsene leben in einer hermetisch getrennten Eigenwelt. Sie leben aber auch nicht in einer unkonditionierten „Gemeinschaft“. Vielmehr müssen sie immer wieder Schnittmengen, Schnittpunkte und Verflechtungen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung (M. Weber) suchen. Und insofern oszilliert ihr Status und ihre Statusgenerierung zwischen der des Konstrukteurs und des Mitkonstrukteurs, zwischen Selbständigkeit und Abhängigkeit oder Angewiesenheit und Schutz, Aktivität und Rezeptivität oder Responsivität. Kinder gelten auch heute noch nicht grundlos als höchst gefährdet, aber auch als gefährlich. Die Gesellschaft überspielt diese Ambivalenz wo immer sie kann. Sie bricht aber immer wieder durch. Mit ihr muss nicht nur „irgendwie“ oder „verantwortlich“ (Lüscher) umgegangen werden. Sie muss durch soziale Konstruktion auf ein lebbares Niveau reduziert werden, wenn nicht einfach Ratlosigkeit kultiviert werden soll. Die Wissensproduktionen sind keine bloßen Projektionen oder etikettierende Sprachregelungen: Sie konstituieren gesellschaftliche Wirklichkeit von Kindern zugleich als Ergebnis einer historischen „Zwangslage“ und „simultaner Umgestaltungsanforderungen“ (Offe 1994: 76).
11.2 Kindheit als Konstruktion zwischen „Entdeckung“, „Erfindung“ und „Gabe“ Alanen (2005: 76) hebt jüngst hervor, dass soziale Konstruktion nicht nur Wahrnehmung und Interpretation von Ereignissen ist. Sie sei vielmehr Arbeit und soziale Praxis. Dem ist insofern zuzustimmen, als ein kulturalistischer oder interaktionstheoretischer Reduktionismus zu kurz greift. Doch ist soziale Praxis interpretationsfrei? Und kann nicht auch „Arbeit“ und „soziale Praxis“ in einem betriebsblinden Aktionismus enden? Ist nicht ein Konstruktivismus, der kein rekonstruktives und rezeptives Moment besitzt, in der großen Gefahr, irgendetwas dem beschriebenen sozialen Phänomen aufzupfropfen, was mit dessen realen Fragen nichts oder wenig zu tun hat? Demgegenüber versteht sich der Sozialkonstruktivismus Berger/Luckmanns konsequent als (re-)konstruktiver Konstruktivismus, der sich von vorneherein dem Konstitutionsproblem sozialer Konstruktion stellt: Wirklichkeit ist gegeben und zugleich immer aufgegeben – in „dualer Struktur“ (Giddens). Jede konstruktive Aufgabe setzt auch eine „Gabe“, einen Prozess des Gebens und Nehmens, voraus (Berger 1970: 171, 181ff., 193; Mauss 1975). In der konstruktiven Erschließung eines sozialen Phänomens wird etwas, was historisch schon in einer Konstruktions- und Übersetzungsgeschichte vorgegeben ist, als etwas, genauer: als etwas Bestimmtes, neu erschlossen. Soziale Konstruktionen sind daher etwas fundamental anderes als Kaskaden kognitiver Projektionen. Sie sind historisch und synchron verortet. In ihnen wird Wissen kulturell für Subjekte verfügbar, bjektiviertes Wissen
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subjektiv mikrofundiert, und dieser Prozess in rekursiv-reflexiven Interpretationsschleifen dialektisch in Gang gehalten. Der „Gegenstand“ sozialwissenschaftlicher Beschreibung Kindheit, kann so nicht einfach als ausschließlich gegeben erscheinen. Er bleibt von den sozialen Erfahrungskonstruktionen der Kinder in ihrem Alltag entscheidend abhängig, kontrastiert diese aber mit systematisch-kritischen Konstruktionen soziologischer Beobachter, die sich allerdings selbst nicht auf einen „Gottesstandpunkt“ herausreden können. Kontexte und Relationen sind nicht zeitlos fixierbar. Kontextualisierungen werden freilich selbst zu Verdinglichungen sozialer Prozesse und zu Schlagworten, wenn sie nicht sensitiv und situationsangemessen erfolgen, sich nicht responsiv in das Wechselspiel von Fragen und Antworten einfädeln. Soziologisch geht es hier, allgemein gesprochen, stets um die Interdependenz von sozialer Differenzierung und gesellschaftlicher Integration (Heitmeyer 2005; Joas 1992; 1997; Beck 1996: 289ff.). Immer wieder müssen umsichtig neue Schnittstellen zwischen Sozialität und Individualität, zwischen Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, Selbstbildung und Selbstüberschreitung, zwischen Individualisierung und Standardisierung, auch zwischen Wissen und Nichtwissen gesucht und gefunden werden. Darin besteht letztlich die „Arbeit“, die in sozialen Konstruktionen steckt und einen konstruktiven „Durchbruch“ und neuen „Durchblick“ erzielt. Soziale Prozesse müssen nicht nur „passen“. Es muss möglich bleiben, sie unbeliebig „passend zu machen“. Es dürfte unter phänomenologisch geschulten Soziologen unstrittig sein, dass vom Erscheinungsbild und Wortlaut der Erfahrung auszugehen ist. Das kann aber nicht mehr als ein Ausgangspunkt und eine Grundlage sein. Ziel ist, die Bedeutung und den Sinn eines Erfahrungsaggregats sorgfältig aus den sich aufdrängenden „Mehrdeutigkeiten“ und dem unauslotbaren „Sinnüberschuss“ (Waldenfels) freizulegen. Ziel ist nicht ein zeitloses „Wesen der Sache“, „transzendentale Bedingungen“ oder ein abschließender kumulativer Wissensbestand, aber auch nicht einfach austauschbare Projektionen. Offenbar gibt es aber noch eine mittlere Ebene der Übergänge von transsituativen Wissensordnungen mittlerer Reichweite (Waldenfels 1980; 1997), die an „Zwischenwelten“ oder „Zwischensynthesen“ kindlicher Akteure anschließen und dem „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Offe) abgerungen sind. Konstruktionen sind demnach Kondensate im Wechselspiel von Normalisierungs- und Anormalisierungs-, Strukturierungs- und Entstrukturisierungsprozessen. In gewisser Weise ist nicht nur Kommunikation mit einem Migrationshintergrund „interkulturelle Kommunikation“. Selbst „normale“ Abläufe in einer Nationalgesellschaft sind nicht einfach selbstevident oder normativ determiniert, sondern verdanken sich meist einer Deutungskonkurrenz verschiedener Teil- oder Subkulturen, die manchmal noch von „Gegenkulturen“ provoziert werden. Sie finden nur vorläufig und immer prekär Einlass in einer „repräsentativen Kultur“ (Tenbruck 1990: 20ff.; Matthes 1992), die oft umso vitaler erscheint, je mehr Mischungen, wechselseitige Beeinflussung und Spannungen in ihr durchscheinen. Im Zeitalter der so genannten Globalisierung hat freilich der kulturelle Pluralismus längst nationalgesellschaftliche Grenzen überschritten und sich in transnationalen Hybridbildungen des Wissens verdichtet, die Angst und gesellschaftliche Deidentifikation oder privatistische Mentalrestriktion und doppelbödige Ich-Wir-Imbalancen hervorrufen können (Elias 1991: 207ff.). Je komplizierter, vielschichtiger und heterogener sich ein soziales Phänomen darstellt, umso dringlicher erscheint die Notwendigkeit einer kommunikativen Konstruktion, die der Gesellschaft mehr oder minder plausibel erscheint (Berger 1970: 165ff.) und Normalisie-
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rung erwirkt. Auf ihrer Grundlage können Regeln, Normen, Rituale, Normalitätsunterstellungen und Vorstellungen zulässiger „Ausnahmen“ entwickelt werden. Sie greifen auch immer auf ein einigermaßen geordnetes Verhältnis von Speicher- und Funktionsgedächtnis zurück, die nicht nur ordnen, was „ist“, was sein „kann“ und in der Vergangenheit sein „sollte“ und Kinder „dürfen“, sondern was sie legitimerweise herkömmlich „brauchen“ und mit welcher Akzeptanz, Anerkennung und Unterstützung sie rechnen können, ob und wie sie – zentral oder marginal – zur Gesellschaft gehören (Assmann 1995: 51ff.; 169ff.). Heute werden immer mehr Informationen speicherbar, was manche kindlichen Media-Freaks mit Wissen oder gar Lebenserfahrung verwechseln mögen. Die Informationsschwemme kann oft nur noch mit standardisierten „Suchmaschinen“ bewältigt werden, deren Selektionskriterien alles andere als valide sind (Weizenbaum 2001: 44ff.; Turkle 1999: 41ff.). Medienrezipienten, die nach einschlägigem Wissen fahnden, lassen sich insofern täuschen, als sie häufig glauben, unverrückbares Wissen zu besitzen und auch für das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen und das Problem folgenreichen Vergessens unempfindlich werden. Ausschlaggebend ist, dass auch solche medialen Wissenszentrierungen selektiv-exklusiv strukturiert sind und übersetzt werden oder übersetzt werden müssen. Erst dann ermöglichen sie begründbare Grenzziehung und Relationierungen eines sozialen Phänomens. Und erst auf diesem Wege ist Ambivalenz absorbierbar. Kinder können in solchen sozialen Konstruktionen als „reine“ Kinder gesehen werden und sich sehen, die nichts als Kinder sind. Ihre Kindheit (Alter) kann aber auch nur eines unter mehreren Differenzierungskriterien sein. Kinder sind dann z. B. Jungen oder Mädchen mit und ohne Migrationshintergrund in einer bestimmten Region, etwa in Ostdeutschland. Manchen Kindern ist der Unterschied zwischen Kindern und Jugendlichen nicht wichtig, was von Erwachsenen hingenommen oder in Frage gestellt werden kann. Kinder können auch wieder als „kleine Erwachsene“ verstanden werden, was freilich heute ganz anders als im Mittelalter gesehen wird: Kinder sind „Kinderbürger“. Kinder können zwischen diesen idealtyischen „Grenzbegriffen“ mannigfaltige, typische „Zwischensynthesen“ praktizieren, und dies kann gesellschaftlich unterschiedlich toleriert werden. Und sie können zwischen diesen Positionen immer wieder hin- und herwechseln. Auch ganz neue typische „Exposés“ sind möglich. Kinder können sich auch ganz unterschiedlich in unterschiedlichen Handlungsbereichen von der traditionellen Kinderwelt und der heutigen Kinderkultur entfernen und der traditionell oder neuartig verstandenen Erwachsenenwelt annähern. Soziale Konstruktionen sind allerdings niemals eine schlichte Abbildung geltender Vorstellungen des sozialen Status von Kindern. Sie rekonstruieren und reinterpretieren die historisch eingetretenen Verengungen und Konkretisierungen eines ursprünglich denkbaren Möglichkeitsraums, einer „Handlungslogik“, zu einem tatsächlich praktikablen Möglichkeitsraum und zeichnen insofern – mindestens implizit – die Soziogenese des sozialen Phänomens „Kindheit“ zur „sozialen Tatsache“ nach. Sie beruhen daher immer auf „Entdeckungen“ und „Erfindungen“ nahe liegender Entwicklungslinien und praktisch möglicher „Spielräume des Verhaltens“ von Kindern und sind keine Widerspiegelungen des Status Quo oder „positivistische“ Momentaufnahmen (Gamm 1994: 18; Waldenfels 1980: 126ff.). Entdeckungen zeigen Wissen, das bisher übersehen oder marginalisiert wurde. Erfindungen hingegen durchbrechen und „verformen“, rekombinieren kreativ verfügbare Wissensstrukturen. Beide Zugangsweisen zu Wissen fließen in unterschiedlicher Dosierung in soziale Konstruktionen ein; und zwar immer selektiv und exklusiv: Ganz bestimmte Thematisierungen werden im Blick auf ganz bestimmte Bezugsgruppen ausgewählt und zugespitzt.
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Jedenfalls muss die gewöhnlich unterstellte Dingkonstanz und perspektivenfreie „Objektivität“ von Grund auf in Frage gestellt werden (Ritsert 1999: 51ff.; 2002). Das zeigt sich etwa daran, dass Kinder nicht unabhängig von ihrem Verhältnis zu Erwachsenen und nicht unabhängig vom Generationenverhältnis definiert werden können, dass sie kulturell als „frühreif“ oder als „kindisch“ eingestuft werden, ihr Versuch, die sozialstrukturellen Handlungsspielräume zu erweitern entweder phasenspezifisch „korrekt“ oder „auffällig“ erscheint. Und all dies kann heute aus verschiedenen Perspektiven wahrgenommen und praktisch beurteilt werden. Wenn der Grad der sozialen Differenzierung sehr weit geht, also der methodische Aspekt der „Erfindung“ überwiegt, könnte man im gesellschaftlichen Leben von einer neuen Lebensform, in den Sozialwissenschaften, die diesen fundamentalen Wandel beschreiben, von einem Paradigmenwechsel sprechen. Die methologische Neuorientierung vom Sozialisationsobjekt zum Kind als kompetenter Akteur, der einmal eher Konstrukteur dann wieder eher Mitkonstrukteur zu sein scheint, ist daher mit einer gewissen sachlichen Berechtigung als Paradigmenwechsel bezeichnet worden. Kinder werden auch in der Forschung ganz anders in ihrer „Glaubwürdigkeit“ als kommunikative Forschungsobjekte beurteilt. (Zinnecker 1996: 3ff.). Vor allem zeigt sich eine normative Vorzeichnung, dass Kinder kommunikativ zu behandeln seien, mit ihnen verhandelt werden müsse. Realtypisch sieht das freilich sehr viel komplizierter aus: im einen Bereich wird mehrheitlich verhandelt, im anderen kaum, im einen gibt es viele Konzessionen, im anderen klare Grenzsetzungen oder sogar Repression und körperliche Strafen. Idealtypische Modellierungen haben dennoch eine bestimmte Funktion, wenn dies manchmal auch nur die einer nachträglichen Rationalisierung ist. In diesem Sinn ist Kindheit von einem „sozialen Moratorium“ zu einem „sozialen Laboratorium“ und so in einer bestimmten Weise vom sozialen Phänomen zur sozialen Tatsache geworden (Baacke 1985: 11, 17, 21). Nicht nur der traditionelle Sonderstatus von Kindheit zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, sondern die kollektive Kinderkultur wird damit in den Strudel der Transformation der Wissensgesellschaft durch außerschulische Scholarisierung („Lernorte“), Mediatisierung und die stimulierte wachsende Konsumneigung der Kinder hineingezogen (Feil 2003). Die Doppelbödigkeit traditioneller Kindheit, ihr zugleich affirmatives wie subversives Moment, scheint verloren zu gehen in einer umfassenden „Normalisierung“, die keine Grenze kennt und die Fremdheit und Wildheit der Kinder in einer „weichen“ Normalität versinken lässt. Eigen-Sinn schrumpft zum psychischen „Eigensinn“ der „Trotzphase“ oder zur „Verhaltensauffälligkeit“, die unter die Kuratel einer umfassenden Therapeutisierung zu geraten droht (Sichtermann 1994; Wambach 1981: 191ff.). Oder aber er erscheint nur noch als eine kaum noch graduell unterschiedene Manifestation einer „Erlebnisrationalität“, die beträchtliche Teile der Gesellschaft erfasst zu haben scheint. Eine allgemeine Infantilisierung oder ein Jugendkult scheint ihr Ausdruck zu verleihen. Die methodologische Kehrtwendung scheint einem allgemeinen Modernisierungs- und Individualisierungsschub zu entsprechen. Seine Auswirkungen lassen sich allerdings schlecht begrenzen. Wann, wo, wie, von wem, warum wird der Beobachtungsprozess abgebrochen (Gamm 2000: 186)? Und dann tritt noch ein weiteres Paradox auf: Auf der einen Seite wächst die Möglichkeit der Problembearbeitung, auf der anderen aber brechen neue Probleme auf und türmen sich bis an den Rand der Anomie. Was über die Grenzen der verfügbaren Wissensordnungen hinausgeht, muss aber nicht Indiz des Chaos, sondern kann auch Indiz eines Sinnüberschusses und eines „Surplus“ oder einer „Gabe“ und der Prozesshaftigkeit des sozialen
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Phänomens selbst sein. Ohne solche Fundierung kann auch eine funktionale Zuschreibung zum Korsett und zur Selbstblockade führen. Und nur durch eine „Gabe“ und eine Selbstbegrenzung durch eine „passive Intentionalität“ (Husserl) können soziale Konstruktionen vor konstruierendem Leerlauf und „Blindflug“ (Luhmann) oder einem „Münchhausendilemma“ (Popper) bewahrt werden. Jede Konstruktion trifft auf ganz bestimmte Voraussetzungen in einer ganz bestimmten Konstruktionssituation, die sie sich nicht schaffen, sondern als schlicht gegeben akzeptieren muss. Insofern kann man auch sagen, dass Erwachsene, die sich ihre Welt konstruieren wollen, durch Kinder gestört und gerade durch deren „Schwäche“ und ihren inkomensurablen Eigen-Sinn herausgefordert werden: Kinder sind „Gabe“ und daraus folgend „Aufgabe“. Deshalb fürchten sich oft Erwachsene – verdeckt oder offen – vor der „barbarischen Invasion“ der Gesellschaft durch Kinder. Sie werden durch ihre (kleinen) Kinder in einen Prozess des Gebens und Nehmens verwickelt, der erst eine Erfahrung der Unhintergehbarkeit einer Reziprozitäts- und Solidaritätsunterstellung schafft und soziale Sinnkonstruktionen möglich und notwendig erscheinen lässt. Durch die „Gabe“, die ihnen ihr Kind anbietet, werden Eltern ohne explizite moralische Reflexion und fern eines „Elterntriebes“ zu Höchstleistungen der Fürsorge und Hingabe veranlasst, obwohl ihr kleines Kind ihnen zunächst nur Hilflosigkeit zu „geben“ scheint. Kinder vermögen in der „List der Ohnmacht“ (Foucault) fast spielerisch Eltern in ein „Kindchenschema“ hineinzuziehen und Konstruktionsprozesse verantwortlicher Repräsentation anzustoßen. Hier zeigen sich nun die präkonstruktiven Voraussetzungen des Konstruierens, die nicht auch noch konstruiert, sondern schlicht vorausgesetzt werden müssen (Waldenfels 1990: 17). Soziale Konstruktionen gelingen daher nur, wenn sie sich auch immer wieder selbst begrenzen.
11.3 Tendenzen der Umorientierung von Institutionen auf Interaktionen Im heutigen Kinderalltag verändern sich die zeit-räumlichen Strukturierungen, die sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Relevanzen grundlegend. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass sich fundamentale Einstellungen zur Welt, zum eigenen Körper und zur „freien Natur“, die jetzt noch positiv erscheinen (LBS 2002), sich in absehbarer Zeit denen von vielen Jugendlichen annähern, die „Natur“ nur noch „langweilig“ empfinden. Findet hier eine Umpolung von einer Orientierung über Werte zu einer über individuelle Präferenzen vereinzelter Akteure statt (Habermas 1994: 444)? Genauer betrachtet sieht es eher danach aus, dass sich eine soziokulturelle Verschiebung von den auferlegten Relevanzen der Institutionen zu Interaktionen und Verhandlungen über normative wie pragmatische Prioritäten, also über eine im Wesentlichen lokal-situative Verständigung und Alltagssolidarität vollzieht (Zoll 1993; Alheit 1994). Hitzler (1999: 223ff.) interpretiert dies im Anschluss an Durkheim als gleichzeitig zunehmende funktionale Abhängigkeit als auch als steigenden Autonomieanspruch. Dies korrespondiert mit Ambivalenzen des gesellschaftlichen Prozesses im Zusammenhang der Globalisierung. Traditionelle Leitbilder, Normen, Legitimationen scheinen massenhaft entwertet worden zu sein und einer merkwürdigen Schizophrenie neuester (medialer) Technik und globaler „Weltläufigkeit“ bei manchmal obsessiver Orientierung am gesellschaftlichen Status Quo und lokaler und medialer Interaktion oder schlicht am obsole-
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ten Stereotypen zu weichen. Dies ist mit Sicherheit mehr als „Individualisierung“ im klassischen modernen Sinn und auch mehr als ein allgemeiner Trend „vom Schicksal zur Wahl“ (Zeiher 1994: 360ff.); dies vor allem auch deswegen, weil jede solche Wahl als Auswahl von vorsortierten Optionen „zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit“ erfolgt und komplizierte und schwierige „Brückenschläge“ zwischen verschiedenen Handlungssphären und disparaten Lern-, Spiel- und Konsumorten verlangt, also zweifach begrenzt ist. Immer wieder drängt sich auch der Verdacht auf, das global-lokale „Chaos“ entspringe einem generellen Wert- und Funktionsverlust zahlreicher zentraler Institutionen, nicht zuletzt der Familie und der Schule. Dementsprechend wird ein neuer Wertkonsens eingeklagt, der sich einfach nicht einstellen will. Groteskerweise funktionieren sogar Institutionen, die einen Legitimationsverlust hinnehmen mussten, ganz munter weiter. Nicht wenige Soziologen halten daher einen solchen Wertkonsens für weder erreichbar noch notwendig. Viel wichtiger seien deliberative Kommunikationstechniken, prozedurale Funktionssicherheiten, Steigerung der Ambivalenztoleranz oder effektive Konfliktregelungen und Konfliktgemeinschaften. Kollektive und individuelle Identitäten seien eben nicht mehr zu verschränken: Das schließe jedoch begrenzte Übergänge von einem Funktionssystem zum anderen nicht aus. Schließlich stabilisiere sich selbst eine konflikthaltige Familie und ihre Netze selten nur noch über das „Pinbrett in der Küche“ (Imbusch). In der Tat wurde in der Vergangenheit nur der Zerfall alter Traditionen, nicht die Entstehung neuer beachtet. Sicher gibt es auch so etwas wie „Äquifunktionaliät“ (Luhmann), also alternative Funktionszuschreibungen, freilich immer auch Grenzen funktionaler Normalisierung. Sogar „verinselte Kindheit“, die durch ungünstige Umstände kommunaler Bebauung und die Verkehrssituation nahe gelegt wird, hindert viele vitale Kinder nicht daran, „das Beste daraus zu machen“ und die „Möglichkeitslogik“ dadurch zu unterlaufen oder auszureizen, dass sie diese Bedingungen verfremden und verformen. Der Zusammenhang separater Tätigkeiten wird nicht nur im zeitlichen Nacheinander gestiftet, z. B. wenn Kinder auf dem Schulweg oder an U-Bahn-Stationen inoffizielle Lern-, Spiel- und Konsumgelegenheiten z. B. mittels kurzfristiger Arrangements per Handy zu synchronisieren vermögen, die Erwachsenen weder behagen noch von ihnen für möglich gehalten werden. Soziale Welten von Kindern vertragen eine erstaunliche „geographische Streuung“ oder zeitliche Disparatheit, ohne dass Kinder sich „verinselt“ fühlen, weil sie es weder bei der „Verinselung“ belassen oder von vorneherein nicht darin einwilligen. Zeit-räumliche Strukturen im Kinderalltag werden an lebensweltliche Interaktionszusammenhänge gebunden und nicht umgekehrt Interaktionen an zeit-räumliche „Verschachtelungen“ (Soeffner 2005: 395). Für die Zukunft zeichnen sich mehr und mehr Wissensprobleme für Kinder ab, die nicht oder nur äußerst grob und vieldeutig normiert werden können und in relativ kurzfristigen oder sogar Ad-hoc-Interaktionen vorläufig klein zu arbeiten sind. Sie setzen immer mehr Verhandlungen aufgrund wachsender Kontingenz voraus. Es gibt nicht eine einheitliche gesellschaftliche Entwicklung, sondern immer mehrere Entwicklungsszenarien für die „besten“ und die „schlechtesten Fälle“ wahrscheinlicher Entwicklung. Selbst die manchmal pfiffig erscheinende „subversive Mobilität“ ist kein Ausdruck einer strukturstabilen Identität, sondern allenfalls ein Ausdruck momentaner Souveränität. Schon morgen kann sie zerstoben sein unter dem Druck immer neuer Wellen der Kontingenz. Aus vielerlei Richtung können immer wieder „Verletzungen“ geschehen. Kinder sind vor Verunsicherungen selten frei, aber unterschiedliche Kinder in unterschiedlichem Ausmaß. Es treten auch Relevanzschwankungen auf. Zwar sieht es so aus, als erforderten immer mehr unregulierte
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Situationen immer mehr legale Normen. Deren Relevanz aber wird speziell bei Kindern stark personalisiert und von ihrer Ergiebigkeit für den Erfolg in Interaktionen „strategisch“ abhängig gemacht (Krappmann 1993; 2002; Oswald 1993; Leu 1996). Solche strategische Interaktion in „subversiver Mobilität“ scheint aber auch Kinder oft zu überfordern, so dass sie die Intervention von Institutionen oder Organisationen im Einzelfall sogar (schon im Kindergarten) als entlastend finden mögen: „Müssen wir heute wieder, was wir wollen…“ (Beck 1994; Coenen 1994: 456). Das heute übliche Wechselspiel von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung des Kinderlebens konfrontiert Kinder immer wieder mit Institutionen, wahrscheinlich sogar öfter als in der Vergangenheit. Deren Komplexität und ihre institutionelle Inkompetenz verleitet Kinder aber zu einer „gegeninstitutionellen“ personalisierenden Disposition und zum Bemühen, auftretende Spannungen generell als Verhandlungssache einzustufen (Coenen 1994: 451ff.). Die sicher stets komplexen, heute aber überkomplexen Wissensstrukturen sozialer Praxis von Kindern erlauben keinen sicheren, rechtzeitigen und lebenspraktisch verbindlichen Zugriff. Lücken und Risse von Regulierungen werden nicht kleiner, sondern eher größer. Für clevere Kinder mag das momentane Chancen und Vorteile bringen. Insgesamt macht es fast alle kindlichen Lebensplanungen unsicherer. Manchmal gleicht das Agieren von Kindern einem „Blindflug“, der überraschenderweise dann doch mit glimpflichen Folgen verbunden sein mag. Nicht selten scheint die Situation so wenig strukturiert, dass Kinder sie eher mühsam durch sozialen Vergleich als durch nie zu endende Reflexion, die ja immer auch unsicher macht, zu präzisieren und zu überbrücken suchen. Nicht wenige Entscheidungen werden ähnlich, wie dies auch Erwachsene zu machen pflegen, schlicht vertagt, in der Hoffnung, dass sie sich von alleine lösen. Oft können Optionen und Scheinoptionen nicht rechtzeitig unterschieden werden. Auch Institutionen geben hier oft keine wirklich hilfreiche Auskunft. Sie scheinen selbst oft verunsichert und „randunscharf“, weil sie tief in einen Institutionswandel hinein verstrickt sind. Oft entlasten sie kaum, aber kontrollieren durchaus. Wie sollten sich Kinder in einer solchen Konstellation allzu sehr mit Institutionen identifizieren, da deren Entlastungsfunktion fraglich erscheint. So wird etwa die Schule schon bald auch in der Grundschule von ihren Schülern instrumentalisiert (Meulemann 1989: 421ff.): Sie ist zwar notwendig, aber weniger denn je für den Berufs- und Lebenserfolg hinreichend. Daher setzt schon früh die interaktive Bemühung ein, in ihr wenigstens auch seinen Spaß zu haben und sie vorrangig als Erfahrungsort von Gleichaltrigenkontakten zu nutzen. Diese Schwerpunktund Relevanzverlagerung von Institutionen auf Interaktionen mag einseitig, unterkomplex und riskant sein. Sie ist aber eine empirisch wirksame Tendenz (Kalupner 2003: 8f.). Offe weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sowohl Sozialisation wie Sozialkontrolle schon mittelfristig nicht mehr funktionieren können, wenn sie nicht auf diffuses „Systemvertrauen“ interagierender Akteur zurückgreifen können. Interaktionen und Institutionen müssen sich gleichsam entgegenkommen (Offe 1986; 2001: 241ff.) und können so erst kognitive und moralische Potenziale entbinden. Das erfordert in erster Linie von den Institutionen als den gegenüber dem einzelnen Kind mächtigeren gesellschaftlichen Kräften eine gewisse Selbstbeschränkung und Zurückhaltung. Aber auch dann bleiben die Chancen und Handlungsbedingungen konkreter Kinder labil (Beck 1994: 115ff.). Ob eine solche Entwicklung eintritt und wie weit sie anhält, kann hier nicht entschieden werden. Kinder scheinen aber durch diese Ungewissheit ein stark verdichtetes Zeitgefühl zu entwickeln (Wallerstein 1994: 177). Trotz ihrer immer wieder erstaunlichen Lebenskraft
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und Invulnerabilität brauchen aber Kinder doch auch geraume Zeit, mit Schicksalsschlägen und kritischen Lebensereignissen fertig zu werden. Organisationen neigten hingegen in der Vergangenheit und viele wohl auch noch heute dazu, die Lebenswelt der Kinder zu marginalisieren. Heute bemühen sich einige immerhin, familienfreundlicher und „kinderfreundlicher“ zu werden. Gerade einige erfolgreiche Organisationen verstehen dies allerdings so, dass sie die eigene Sphäre der Familien als unattraktiv erscheinen lassen (Hochschild 2002). Mehr und mehr Organisationen versuchen ihre institutionellen Programme auf ihre verschiedenen Mitglieder und Publika auszurichten. Wollen sie das ernstlich, so müssen sie einen beträchtlichen Spielraum für motivationale Reinterpretation und kollektive Mobilisierung offen lassen (Eßbach 1996: 141f) und ihre Entscheidungen zu plausibilisieren zu suchen. Dies fällt umso leichter, je kürzer und überschaubarer und dezentraler die Handlungsketten und Entscheidungsstrukturen sind. Paradoxerweise erzeugt gerade ein Mehr an Partizipation und Inklusion mindestens vorübergehend zusätzliches „Chaos“ und eine institutionelle Unentschiedenheit, die zum äußerlichen „Mitmachen“ animiert. Je nach dem Verhältnis von formeller und informeller Kommunikation kann sich in dieser Situation der Aktionsradius des einzelnen Kindes erweitern oder verengen.
11.4 Verschiebungen in der Handlungsorientierung Bilden Familien und Schulen heute wirklich noch immer monopolartige Gravitationszentren kindlichen Lebens? Sind diese nicht längst durch Medien, Konsummarkt und Gleichaltrige insoweit relativiert, als nicht von einer synergetischen Kovariation dieser Einflussgrößen von vorneherein ausgegangen werden kann, sondern eher Konkurrenz der Normalfall sein dürfte? Ändert sich in diesem Zusammenhang aber deren funktionales Verhältnis, so ist nicht einfach mit einem kompakten „Funktionsverlust“, sondern meist eher von einer Funktionsverschiebung mit zarten „Keimen der Vernunft“ (Merleau Ponty) und dem Versuch einer – durchaus ambivalenten und ethisch vielleicht problematischen – Neuinstitutionalisierung von Kindheit auszugehen. Heute versuchen auch Kinder selbst in z. T. schöpferischer Weise ihr Kinderleben (immer wieder) in Ordnung zu bringen. Erwachsene vermögen in dieser Situation vielleicht nur „Chaos“ zu sehen. Kinder sind dabei ihrerseits vielleicht in der Gefahr, uralte Menschheitserfahrungen mit leicht entwertbarem technischem Wissen zu verwechseln. Jedenfalls aber verschieben sich im Handeln jedes kindlichen Akteurs zeitliche, räumliche, soziale, sachlich-thematische und interpretative Relevanzen seines Alltags (Schütz 1979). Vielleicht hat sich optisch wenig verändert, doch die Handlungslogik der Handlungsfähigkeit mutiert hier grundlegend. Daher wäre es natürlich absurd, das sprachliche Etikett „kleiner Erwachsener“ begriffsmagisch und zeitlos zu verstehen. Genau genommen hat der „kleine Erwachsene“ des Spätmittelalters überhaupt nichts mit dem „kleinen Erwachsenen“ (Hurrelmann) als „Kinderbürger“ des ausgehenden 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts zu tun. Im Horizont solcher Relevanzverschiebungen ändert sich nun nicht nur die institutionell-organisatorische Praxis in den Kinderinstitutionen, sondern auch die Bedeutung und Qualität kindlicher Interaktionen. Sie nimmt zusehends mikropolitisch-subpolitische Momente auf. Politische Repräsentation beginnt und endet ja nicht im „politischen System“, sondern sie hebt schon in der impliziten politischen Kultur an. Wer diese nicht beachtet, ist binnen kurzem auch nicht mehr in der Lage, die formellen Normen und das geschriebene
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Gesetz zu meistern. Insofern darf man die partiellen Fortschritte im Kinderrecht, der expliziten Kinderpolitik und der neuen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung nicht isoliert betrachten. Sie hängen engstens mit (vielleicht zaghaften) informellen Kultivierungsschüben zusammen (Kaufmann 1995; Grundmann 1999). Interaktionen gewinnen nicht nur immer stärker den Charakter von Verhandlungen. Schon die Verhandlungen zwischen Eltern und kleinen Kindern nehmen vielmehr den Charakter von bargaining-Prozessen an, die sich nicht nur auf Interaktionen innerhalb von vorliegenden Regelsystemen beziehen, sondern immer öfter an den Rand von Verhandlungen über die Regeln selbst führen (Krappmann 1999: 241ff.; Beck 1993). Dabei geht es nie um dezionistisch verstehbare Regelsetzung, sondern um deren Plausibilierung, um Selbstverständigung und Überzeugung sowie Werben und soziale Akzeptanz einschließlich des zu klärenden Verhältnisses von „Regel“ und „Ausnahme“, also um den „Sinn zwischen den Zeilen“ und die Wissensfundamente des Handelns selbst: Regeln können Handeln nur dann längerfristig steuern, wenn sie nicht als sinnloser Formalismus erscheinen, sondern im Horizont praktischer Vernunft Zustimmung finden können. Soziale Kommunikation „funktioniert“ nur dann, wenn sie konstitutiv für den Sinn und die Bedeutung der Erfahrung und der sozialen Alltagspraxis ist und nicht nur einen schematisierten und vorfabrizierten Regelmechanismus dogmatisiert. Interaktive Sinnstiftung ist nur denkbar, wenn sich konventionelle „Normalitätsunterstellungen“ in einer interaktiven Verflechtung realer Handlungen und Bezugspersonen in kulturell hinreichend verständlichen und transparenten Zeichenund/oder Symbolhorizonten auszuweisen vermögen (Berger 1971: 36ff.; Bourdieu 1997: 99ff.). Regeln sind ja kein Selbstzweck, sondern sie müssen der sozialen Kommunikation und Praxis dienen. Es erschien zunächst nur dem europäischen Bürgertum notwendig und sinnvoll, den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern stark herauszustreichen (Benedict 1978: 195ff.; Nemitz 1996), mit einem einer spezifischen Lebensphase zugeordneten kindlichen Sonderstatus und eine spezifischen Kinderrolle auszuzeichnen. Als eigenständige Bevölkerungsgruppe wurden Kinder trotzdem lange nicht anerkannt; auch nicht als kompetente Akteure in einer Kinderkultur mit ihrem Eigen-Sinn. Dies sind also spätere Strukturierungsmomente sozialer Konstruktion von Kindheit, die erst im 20. Jahrhundert Relevanz erzeugten. Soziokulturelle „Kindheit“, sozialstrukturell eingebettetes „Kinderleben“ und situativ verankertes „Kindsein“ sind daher die geschichtlichen Hauptindizien einer spezifisch modernen sozialen Konstruktion kindlicher Realität in der Gesellschaft. Soziale Phänomene sind keine bloßen natürlichen Gegebenheiten, die sozusagen kulturell nur wie ein Kuchen mit einem Zuckerguss akzidentiell überzogen werden könnten. Sie sind stets historisch tief imprägnierte Produkte, zu denen erst gesellschaftliche Wissensproduktion und Wissensvorräte jeweils spezifische Zugänge ermöglichen und andere verschließen. Sie bleiben letztlich nur verständlich und vertrauensbildend als sinnvoll erscheinende Antworten auf implizite Fragen wie, was Kinder „sind“, „können“, „brauchen“, „sollen“, „wozu sie nützen“, kurz: welchen Sinn sie für das gegenwärtige und künftige gesellschaftliche Leben haben. Erst in diesem Rahmen werden emotionale wie rationale „Rechenregeln“ überhaupt relevant. Daher sind „Optimismus“ oder „Pessimismus“ in der „Kinderfrage“ sekundäre Derivate einer gesellschaftlichen Verständigung, also Fragen zur gesellschaftlichen Konstitution des sozialen Phänomens. Historisch wurde diese Frage offenbar zunächst vom modernen Staat (nicht zuerst unter Qualifikations-, sondern Kontrollgesichtspunkten) aufge-
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worfen: wie kann die Zahl der auf den spätmittelalterlichen Straßen und Plätzen herumlungernden Kinderbanden reduziert werden? Einige Zeit später rückte allerdings der vom Bürgertum favorisierte Aspekt der Sicherung des „Humankapitals“ in den Vordergrund. Soziales Handeln handlungsfähiger Kinder spielt sich maßgeblich, aber nicht ausschließlich auf der Ebene symbolischer Repräsentation ab, die durch einen vitalen oder stagnierenden kulturellen Horizont abgesteckt wird. Ebenso wichtig sind aber die praktizierten sozialen Netze, die Allokation der Wissensressourcen und die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich in die gesellschaftliche Wissensproduktion einzufädeln. Wissen können Kinder ab dem 18. Jahrhundert immer weniger auf den freien „Wissensmärkten“ der Straße und beiläufiger Wissensvermittlung durch Erwachsene, sondern –mindestens aus der Perspektive der „seligen Unwissenheit der Erwachsenen“ (Fine) – fast ausschließlich über die Wissenskanäle der pädagogischen Kinderinstitutionen erwerben. Kindliche Handlungsorientierung sollte sich normativ nur noch zwischen (schulischem) Lernen, Erziehung und Spiel bewegen können. Empirisch wurde Kindheit jetzt aber immer in einem dynamisch interpretierten Spannungsfeld zwischen Über- und Untersozialisation angesiedelt. Damit hing nun die Anerkennung der Eltern in viel höherem Maß vom Qualitätssiegel der Gesellschaft, der „verantworteten Elternschaft“, ab (Anhut 2005: 80). Vor allem die allgemeine Schulpflicht, die sich ab 1840 immer weiter ausdehnte, mag von Kindern nie ausschließlich als „Wohltat“ des modernen Wohlfahrtsstaates empfunden worden sein. Und es gibt heute unübersehbare Indizien wachsender Schulverdrossenheit. Lange Zeit wurde die heute relativ gut dokumentierte „subversive Mobilität“ (Hitzler) in der Kinderkultur und die „natürliche Dissidenz“ der Kinder, die stets eine kulturelle Deutung war, kaum beachtet. Häufig wurde sie entweder auf die „Trotzphase“ oder auf „widerspenstige“ oder „schwierige“ Persönlichkeitstypen beschränkt. Warum aber traten ganz bestimmte „Persönlichkeitstypen“ zu bestimmten Zeitpunkten und an bestimmtem Orten gehäuft, in andern aber nur gelegentlich und relativ selten auf? Und warum wird das im einen Fall relativ geräuschlos, im andern unter dem dramatischen Titel „Wertverlust“ oder „Funktionsverlust der Familie“ diskutiert? Traditionelle Formeln lassen sich relativ lange beibehalten, auch wenn sie empirisch nur als abgestandene Stereotype fungieren. Handlungsorientierung kann hier als ein rein kognitiv-praktischer Aspekt beschrieben werden. Zwar kann kein Kind absolut gewiss sein, wie es sich selbst und der Interaktionspartner in der konkreten Situation verhalten werden. Ein gewisses Risiko „doppelter Kontingenz“ bleibt unvermeidlich bestehen. Dennoch bleibt es dabei, dass, was Kinder über andere in Erfahrung bringen, die Basis für kognitive sowie soziale „Welterschließung“ und Vertrauen oder Misstrauen, „Optimismus“ oder „Pessimismus“ ist (Giddens 1995: 143). Aus welchen psychischen Motiven Realitätserfahrung gespeist wird, aus „Optimismus“ oder „Pessimismus“, aus Furcht vor Sanktionen, ethischer Überzeugung, Nutzenkalkül oder konventioneller Beharrlichkeit, ist letztlich für das Verhältnis zur Wirklichkeit und für die Handlungsorientierung zweitrangig. Kinder vertrauen ihren Interaktionspartnern nur eingeschränkt, wenn sie ihnen nicht oder nur wenig bekannt sind. Sie vertrauen ihnen im starken Sinne des Wortes, wenn sie um ihr praktisches Verständnis und ihr Wohlwollen ihnen gegenüber wissen. Das Wissen um Relevanzen und zwanglos aktivierbare soziale Beziehungen sowie die Reichhaltigkeit von Sachen und Dingen bilden den lebensweltlichen „Boden“ und „Horizont“ kindlicher Handlungsorientierung. Es ist allerdings zu unterscheiden zwischen einem fassadenhaften „Funktionieren“, das auch noch erstaunlich lange gelingen mag, auch wenn die Funktion längst zum Funktionsstereotyp versteinert ist, und einer sinn-
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stiftenden Balance von Fremd- und Selbstzuschreibung. Mit einem reduktionistischen Verständnis von Zwang, Norm, Präferenzen lässt sich das, was ihnen vorausliegt, und sie alle in welcher „dünnen“ Lesart auch immer voraussetzen müssen, nämlich Sinn, Bedeutung und Wissen, nicht selbst begründen. Man muss bereits wissen, was ein Kind „ist“, wenn man es „kindgemäß“ behandeln will. Das Wissen darum schien jahrhundertelang als völlig selbstevident und natürlich, ist aber in den letzten 40 Jahren nach und nach fraglich geworden. Es konturiert sich heute oft erst im Handlungsvollzug der sozialen Praxis. Handlungsfähigkeit ist keine universalgattungslogische Strukturkategorie. Sie ist ein praktisch verbindlicher, „nachhaltiger“ Status im historisch geprägten Lebenslauf oder eine kaum transferierbare episodische Erfahrung (Bühl 2002: 286f.). Im Extremfall (Krankheit, Behinderung, Suchtabhängigkeit, Deprivation etc.) kann sie sogar für kürzere oder längere Zeit ganz verloren gehen. Die Erwachsenen werden zudem über die Verbindlichkeit eines gestuften Entwicklungsprozesses oder einer universalen Entwicklungslogik immer unsicherer und krallen sich an Entwicklungsschemata nur aus Mangel an Deutungsalternativen. Handlungsfähigkeit kann daher kaum noch durch einen einzigen Sozialisationsschub im Sinne des Erwerbs einer strukturstabilen Soziabilisierung, Enkulturation usw., „Rollenübernahme“ gesichert werden (Behrens 2000: 120ff.). Es zeichnen sich vielmehr vielfältige Übergänge zwischen den Generationen und innerhalb einer Generation, zwischen den Institutionen (z. B. Schule und Beruf), innerhalb und zwischen den gesellschaftlichen Gruppen sowie den eher strukturgeprägten und kontingenten Situationen ab. Selbst die traditionsreichen Kindheitsinstitutionen lancieren mit jeder „Statuspassage“ neue Orientierungen. Alte müssen aufgegeben und sogar vergessen werden. In mancher Hinsicht hat eine rein kumulative Vorstellung „lebenslangen Lernens“ etwas Illusionäres, ja ideologisch Verblendetes an sich. Die Unmittelbarkeit kindlicher Interaktionsperformanz ergibt sich daher heute immer seltener im Sog quasinormativer „Lebensbahnen“ (Zeiher 1993: 397) und in konstruktionsfreien Handlungsketten im Rahmen struktureller Entwicklungsschemata. Der heutige und wohl noch mehr der künftige Alltag ist kein abgrenzbarer Bereich, der einfach ausdifferenziert werden könnte. Er konstituiert sich um ein bewegliches „Handlungszentrum“ kindlicher Lebenswelten in leibzentrierter potentieller, aktueller und wieder- oder zurückgewinnbarer Reichweite des Handelns (Alheit 1994: 11, 23; Eßbach 1996: 105f.). Der Alltag hat heute nicht einfach Kontinuität. Kontinuität muss immer wieder, wenngleich nicht in jeder Sekunde, neu hergestellt werden (Berger 1970: 139ff).
11.5 Mit Widersprüchen leben Die klassisch moderne Vorstellung einer strukturstabilen Balance zwischen sozialer und personaler Identität, wie sie etwa Mead vertreten hat (Abels 1998: 11ff.; Joas 1991: 137ff.), ist kaum noch unrevidiert brauchbar. Einerseits setzt die Identitätssuche früher ein, andererseits ist sie strukturell kaum noch stabil. Schon Kinder erfahren vielleicht schmerzlich, dass sie immer wieder zeitweise mit Imbalancen zurecht kommen müssen. Kindliche Erfahrung ist nicht in jedem Falle widerspruchsfrei, kontinuierlich und konsistent. Wirklichkeit zwischen Erwachsenen und Kindern ist sowohl geteilte wie ungeteilte Wirklichkeit. Es gibt einerseits immer mehr Wissen über einander aber mindestens ebenso-
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viel Nichtwissen voneinander. Und das kann auch wissenschaftliches Wissen nicht einfach kompensieren, da Wissenschaft nicht von einem „Gottesstandpunkt“ beobachtet, es in jeder Disziplin mehrere Theorie- und Methodenrichtungen gibt und wissenschaftliches Wissen immer nur vorläufig nach dem Stand der Forschung informiert, also prozessgebunden bleibt. Mit Widersprüchen leben heißt daher für Kinder lernen zu müssen, mit Ambivalenz und Kontingenz kompetent umzugehen, sie zu reduzieren, wo sie sich reduzieren lässt, sie zu ertragen, wo sie nicht zu beseitigen ist. Bis heute ist es noch üblich, Wissen nach den Legitimitätskriterien Tradition und Innovation zu polarisieren. Oft wird angenommen, dass die Tradition „durch den Fortschritt“ obsolet geworden sei. Doch die vielen sozialen Bewegungen der Moderne, etwa die Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts, haben nicht nur zerstört, sondern neue Traditionen hervorgebracht. Ähnliches ist sogar im Bereich der Wissenschaften mit ihren Paradigmatraditionen zu beobachten. Und es gibt auch einen Leerlauf und einen „rasenden Stillstand“ von Innovationen, die einerseits oft nur neu etikettierte Reprisen oder Moden sind und andererseits eine klare Entscheidung fast unmöglich erscheinen lassen, ob alles, was machbar ist, auch gemacht werden soll. Es ist längst fragwürdig geworden, ob das Neue per se das Lebensdienliche sein kann; unabhängig von lebenspraktischen Zielen, der Frage des Energie- und Ressourcenaufwands, der Folgen und Nebenfolgen (Beck 1986; 1991; 2001). Unter diesem Gesichtspunkt der Zukunftsfähigkeit und Lebensdienlichkeit des Wissens wird nun heute die „Kinderfrage“ jenseits von Tradition und Fortschritt zu einer eminenten Frage des Orientierungswissens um Relevanzen. Oft drängt sich hier der Eindruck einer „inflationären Überziehung der Moderne“ auf (Münch 1998: 11). Giddens spricht hier von der Aufgabe der „Rückbettung“ eines Wissens, das zuvor „entbettet“ worden ist (Giddens 1995: 102f.). Es ist daher eine Illusion, davon auszugehen, dass beliebig viel Ambivalenz erträglich und Ambivalenztoleranz zu generieren ist (Junge 2000; Kalupner 2003; Hondrich 1999: 97ff.; Beck 1994). Es ist ja auch zu berücksichtigen, dass nicht nur die Komplexität des Wissens nicht zu bremsen ist, sondern die Folgeprobleme einer entfesselten Moderne längst den politischen Rahmen einer (transnational-global ausgefransten) Nationalgesellschaft überschritten haben und zu einem elementaren Problem interkultureller Kommunikation geworden sind. Wie sind hier „Freiheit“ wie „Solidarität“, die beide gefährdet scheinen, zu erhalten, zu verknüpfen, zu balancieren (Heitmeyer 2005)? Es hilft da nicht viel, dass sie als notwendige universale Prinzipien deduziert werden. Sie müssen im ganz normalen Chaos des heutigen Kinderalltags übersetzbar und relevant und „dosierbar“ erscheinen und mit Handlungszusammenhängen verknüpft werden. Am weitesten geht hier der neue soziokulturelle Deutungsvorschlag, Kinder nicht nur als „aktive Konsumenten“, sondern als „Kinderbürger“ zu konzipieren (Hartwig 1997: 129ff.; Knauer 1998; Bukow 2000; Kuhn 2000; Beutel 2001). Es muss allerdings beachtet werden, dass dieser Status des Kinderbürgers je nach angelegter Perspektive und Handlungsbereich ganz unterschiedlich weit interpretiert werden kann und auch Deutungsschwankungen unterliegt. Er bietet also zunächst nur eine formelle Chance, die oft aktuell in Handlungssituationen gar nicht eingeklagt wird. Es besteht sogar die Gefahr, dass dies eine leere, handlungsunwirksame Rhetorik und Alibiformel bleibt, wovon sich die soziale Praxis krass unterscheidet. Ein Beispiel ist die gegenwärtige Diskussion um die soziale Ächtung der Prügelstrafe. Obwohl sie sogar seit jüngstem gesetzlich verboten ist, billigen sie tatsächlich mehr oder minder offen zwischen 45-75 % der Bevölkerung
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(Vetter 1999). Diskursebene, sozialstrukturelle Chancenstruktur und Aktualität brauchen sich keineswegs zu decken. Die seit Jahren virulente Kinderfrage hat bislang nicht zur Beseitigung der Kinderlosigkeit geführt. Im Gegenteil war dieser Diskurs offensichtlich durchaus mit steigender Kinderlosigkeit gebildeter junger Frauen gesellschaftlich vereinbar. Ebenso wenig führt die bloße Vermehrung „familienfreundlicher Maßnahmen“ eo ipso zur „Kinderfreundlichkeit“ und besseren gesellschaftlichen Integration der Kinder. Auch die durchaus sozialstrukturell belangvolle Erweiterung der Kinderrechte im Familienrecht und die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 verlangen eigentlich eine breite gesellschaftliche Zustimmung, Handlungsbereitschaft, die empirisch nicht einfach vorausgesetzt werden können. Sie implizieren nicht nur lokal und national gleichmäßige Mentalitäten, sondern internationale Solidarität und gleichmäßige Lebensbedingungen, die nicht gegeben sind. Immerhin haben jedoch die Veränderungen im Recht eine beachtliche gesellschaftliche Diskussion in vielen westlichen Ländern nach sich gezogen und die Forderung der gesellschaftlichen Umsetzung unterstrichen. Nicht zu übersehen ist aber die nach wie vor beträchtliche Indifferenz gegenüber „Kinderkram“ und – zumindest in Deutschland – das geringe berufliche Ansehen der Kinderprofessionen, des Lehrers, des Erziehers, des Kinderarztes etc.. Und die Polarisierung zwischen der wachsenden Zahl der Kinderlosen, ca. 23-30 % der Frauen im gebärfähigen Alter, und den Erwachsenen, die mit Kindern zusammenleben, hat sich eher noch verschärft. Diese zögerliche und widerspruchsreiche Entwicklung der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Kindern und der gesellschaftlichen Verständigung über Sinn, Bedeutung, Nutzen, Funktion von Kindern und des Zusammenlebens der Erwachsenen mit Kindern wirft mit aller Schärfe das Problem auf, wie private Alltagssolidarität in gesamtgesellschaftliche Solidarität und Integration transferiert werden kann (Zoll 1993; Alheit 1994; Heitmeyer 2005). Dabei zeigt sich immer wieder eine große Schwierigkeit, die Interessen von Familien zu externalisieren. Sie spielen im Konzert der Interessensvertretungen sozusagen stets die zweite Geige. Die herrschende soziale Mehrheit, die sich immer mehr aus Kinderlosen und (alten) Einzelhaushalten rekrutiert, ist offensichtlich stillschweigend immer noch überzeugt, dass dies „rein private Probleme“ sind. Nicht zu unterschätzen ist auch die Interessendifferenz zwischen wohlhabenden Familien und Familien in prekären Lebensverhältnissen, die von Lobbyisten der Familienverbände oft verschleiert wird. Viele dieser Familien und noch mehr die mit einem akuten Armutsrisiko haben darüber hinaus geringes soziokulturelles Kapital und auch wenig Zutrauen zur eigenen Fähigkeit einer Interessensartikulation und Problementschärfung. Ebenso wenig Vertrauen haben sie zu den politischen Institutionen (Butterwegge 2002). Eine anspruchsvolle Familienrhetorik lässt sich so durchaus bislang mit einer gewissen praktischen und politischen Indifferenz gegenüber Kindern in Einklang bringen und wird auch kaum von großen Teilen der Öffentlichkeit als Widerspruch empfunden (Hradil 2004: 47ff., 94ff.). Hier tut sich demnach auch eine Wissenskluft über die tatsächliche polarisierte Lebenssituation von Kindern in unterschiedlichen Sozialmilieus und gesellschaftlichen Figurationen auf, die kaum bemerkt wird. Die Ratlosigkeit vieler Erwachsener über die gesellschaftliche, nicht nur demographische Bedeutung von Kindern und eines Lebens mit Kindern scheint auch auf Kinder abzufärben und schlägt sich bei manchen Kindern in einer gewissen Perspektivlosigkeit nieder (Mansel 1996; Vetter 1999; LBS 2002). Auch hier zeigt sich, dass „objektive“ Befunde und gesellschaftliche Indikatoren zumindest „optimistischer“ und „pessimistischer“ und nie rein
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„wertneutral“ rezipiert werden (Ritsert 1999; 2002; Luckmann 2002; Vetter 1999: 47ff.). „Stimmungen“ sind in mehrschichtige Rahmungen einer „Weltansicht“ (Luckmann) eingebettet, werden immer wieder „entbettet“ und „rückgebettet“ oder mehrfach reinterpretiert, auch schon von kleinen Kindern. Ergebnis ist, dass sich hier sehr verschiedene Zukunftsszenarien in sehr verschiedener Bewusstheit und Interessiertheit abzeichnen und eben nicht eine homogene und irgendwie noch immer linear vorgestellte Entwicklungslogik durchsetzt, deren Polarisierung bei aller Differenzierung den Wahrnehmungshorizont der meisten Erwachsenen zu übersteigen scheint (Griese 2000: 246ff.; Butterwegge 2002). Lähmend wirkt auch die Erfahrung, dass Erfolgschancen eigenen Handelns außerhalb direkter Zugriffsmöglichkeiten liegen. Eine reine Optionssteigerung für Kinder ohne bessere Auswahlkriterien, also Orientierungswissen, und Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten hat dann oft eher eine demotivierende Funktion. Strukturelle Vorgaben des Zeit-Raums, etwa zwischen Wohnung, Wohnviertel, SpielOrt und Schule, auch wenn sie funktionsgebunden sind, wirken nie unmittelbar, sondern stets vermittelt, also nie zwingend. Sie wirken umso mehr, als Kinder ihre Wissensvorräte über ihre Bezugsgruppen wahrnehmen und in der Regel aus Ressourcenmangel hinnehmen, kaum durch „Gegenstrukturen“ neutralisieren oder kompensieren können. Freilich dürfen Erwachsene den „Wissenshunger“ kindlicher „List der Ohnmacht“ (Foucault) nicht länger unterschätzen, der auf der informellen Ebene zahlreicher „Hinterbühnen“ Kindern auch zusätzliches Alltagswissen verschafft und geradezu einen Sog einer „subversiven Mobilität“ (Hitzler) zum Tragen bringt, über den sich Erwachsene oft hinwegträumen. Für Kinder nimmt sich die erweiterte Optionslandschaft so aus, dass Vieles planbarer erscheint, konkrete Planungen aber dann doch oft auf überraschende Hindernisse stoßen. Familien und das Bildungssystem sind keineswegs mehr in der Lage, die Vielfalt der Information und Optionen zu überblicken, ihre Komplexität zu reduzieren und für Kinder „handlich“ zu machen. Kinder sind daher oft nicht in der Lage, die Optionssteigerung zu durchschauen und produktiv zu nutzen. Sie versuchen – ähnlich wie viele Erwachsene – diese Optionsflut mit einer eigentümlichen „Erlebnisrationalität“ zu bewältigen (Schulze 1992; 1995: 79ff.; Neumann 2001), die scheinbar kognitiv ein „Gehen ohne Grund“ ermöglicht. Damit entgehen sie aber keineswegs der Wissensdynamik einer Wissensgesellschaft, der „Präventivwirkung des Nichtwissens“ (Popitz 1968), der „Offensivwirkung des Zuvielwissens“ (Nedelmann 1990: 121ff.) und der wissensbasierten Eigendynamik von Nähe und Distanz. Seit etlichen Jahren hat – entgegen modernisierungstheoretischen Mythen – diese komplexe Gemengelage aus Wissen und Nichtwissen die Folge, den Glauben an die Rationalität und den Rationalisierungseffekt der Wissensproduktion zu blamieren und auszuhöhlen (Stehr 2003: 12f.; Rinderspacher 1994: 23ff.). Es wäre nicht undenkbar, wenn enttäuschte Kinder, denen man zuweilen noch heute einreden will, wenn sie sich mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Wissensvorräten ausstatten ließen, stünde ihnen die Zukunft offen, noch stärker den gesellschaftlichen Institutionen ihr Vertrauen entziehen, als sie dies ohnehin tun: Sind Wissensoptionen leere Versprechen? In dieser Situation ist es schon viel wert, wenn sich Kinder nicht lähmen lassen und sie sich mittels „Zwischenbilanzen“ zwischen der unmittelbaren Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft in konstruktiven Vor- und Rückgriffen die Herstellung sinnvoller Handlungssequenzen zutrauen.
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11.6 Figurationen multipler Erwachsenen-Kinder-Beziehungen Soziale Differenzierung erschöpft sich nicht in der vertikalen und horizontalen Strukturierung ungleicher moderner oder traditioneller Kindheit. Es zeichnet sich vielmehr eine Vielfalt von temporalisierten Figurationen des Verhältnisses von Kindern und Erwachsenen ab. Jede einzelne scheint sich sogar noch dimensional zu zerfasern. Allerdings lassen sich auch Neustrukturierungen erkennen. Darin verschränken, durchdringen, überlagern sich dann in komplexer Weise soziokulturelle Diskurse über Kindheit, gesellschaftliche Interessen am Kinderleben und situative Inszenierungen von Kindsein. Sie fügen sich damit ein ins Wechselspiel der gesellschaftlichen Strukturierung und Entstrukturierung und in die Dialektik von Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung in der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (Berger 1971). Der Maßstab ist damit nicht eine unproblematisierte binäre Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern unabhängig von ihrer historischen Qualität, sondern eine flüssige Kombination subjektiver wie objektiver Indikatoren, die bei Kindern beobachtbar sind und das kindliche Leben tatsächlich beeinflussen. Doch diese vielen Gesichter der Kindheit bleiben vorläufige Hinweise sozialer Prozesse gesellschaftlicher Integration im Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander von Erwachsenen und Kindern. Heute ist dieser gesellschaftliche Konstitutionsprozess längst aus dem nationalgesellschaftlichen Rahmen herausgetreten und drängt schon Kinder in interkulturelle Kommunikation. Es lösen sich die nationalgesellschaftlichen Bezugsgrößen teilweise auf oder mutieren zumindest erheblich. Probleme interkultureller Kommunikation können daher schon bei kleinen Kindern im Wohnviertel, im Kindergarten und in der Grundschule oder in öffentlichen Freizeiteinrichtungen aufbrechen. Damit wird auch die vertraute Milieudifferenzierung fraglich, was „fundamentalistische“ Resistenz keineswegs ausschließt. Die Folgen und Nebenfolgen sind allerdings oft nicht rechtzeitig hinreichend durchsichtig (Imbusch 2005: 35f.). Konstitutionsprozesse gesellschaftlicher Realität sind weder „Hirngespinste“ noch kataklysmische Abläufe, die einzelne Akteure einfach mitreißen. Sie entspringen aus Bedingungs- und Folgenzuschreibungen, die sich in impliziten, aber praktisch gewussten Situationsdefinitionen kondensieren. Solche Situationsdefinitionen zwischen unbewusster und bewusster Wahrnehmung und Handlungsbereitschaft bedürfen der Anregung, müssen abgestimmt und durchgesetzt werden und bleiben ohne Aktualisierung relativ kraftlose Regeln, Normen, Habitusformationen, die immer mehr verblassen. So sind gesellschaftliche Bedingungen, Folgen und Nebenfolgen nicht einfach Setzungen, sondern gedeutete und ausgehandelte Übersetzungen. Normen und Regeln setzen jeweils schon Sensibilität, Plausibilität und transparente Applikationsmöglichkeiten, also viel praktisches Wissen voraus (Reckwitz 2000). Selbst Gefühle erscheinen unverständlich, wenn sie außerhalb eines plausiblen Rahmens geäußert werden, sind also keineswegs per se unabhängige Variablen, zu denen etwa Psychologen direkten Zugriff hätten. Auch sie setzen bereits implizite Wissensordnungen voraus. Kaum verwunderlich ist, dass eine europäische Gesellschaft, die in so vielfältige, stets gedeutete Wandlungsprozesse eingebunden ist, eine „veränderte Kindheit“ hervorbringt und sozusagen Kinder stimuliert, ihr Kinderleben und ihr aktuelles Kindsein anders als früher zu leben. Weniger durch eine quasiepidemisch verstandene Individualisierung, funktionale Differenzierung oder politische Planung als durch vielfältig praktizierten sozialen Vergleich und seine Auswertung von Seiten konkreter Eltern, Lehrer etc. sowie vor allem
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der Kinder selbst konstituiert sich eine „veränderte Kindheit“. Dabei sind nicht alle Kinder „Modernisierungsgewinner“, sondern nicht wenige „Modernisierungsverlierer“ und wieder andere erscheinen sogar als gänzlich „Überflüssige“. Die deutsche „Leistungsgesellschaft“ setzt – anders etwa als skandinavische Gesellschaften – nach wie vor stärker auf Selektion statt auf Fördern (Bude 1998: 363ff.; Vester 2001: 248ff.; Poferl 1998: 297ff.). U. Beck hat mehrfach darauf hingewiesen, dass Prozesse der Individualisierung weder linear, noch konsistent und isoliert verlaufen. Individualisierungsprozesse scheinen stets von Standardisierung flankiert und gebrochen zu werden (Beck 1986). Das zieht komplizierte figurative Streuungen typischer Kinderalltage und nicht immer homogenisierbare kindliche Lebensgeschichten nach sich (Leu 1999; 1996). Auffällig ist dabei die Palette schnelllebiger Mischungen und Entmischungen der „Realtypen“ und der idealtypischen Grenzwerte oder Grenzpositionen sowie der damit verbundenen Desintegrationsvorgänge, die offenbar auch heute oft zu gesellschaftlichem Ausschluss oder zur gesellschaftlichen Marginalisierung führen. Es gibt also durchaus auch heute Spaltungs- und Polarisierungsprozesse bei der Figuration sozialer Lebenslagen, aber keine Konzentration in kompakten und dauerhaften Klassen- oder Schichtsubkulturen. Figurationen bringen temporalisierte, mehrdimensionale, materielle und kulturelle, objektive und subjektive Dimensionen sozialer Ungleichheit zur Darstellung, die damit nicht nur abstrakt-analytische Indikatoren bleiben, sondern kontextuell verankert sind (Schröter 2001: 38, 41ff; Elias 1992). Sie beruhen auf dem Wechsel von Normalität und Krisen oder Brüchen, Kontinuität und Diskontinuität und der Abfolge von Lebensereignissen und markieren das wechselseitige Verhältnis von ausgeloteten Spielräumen und konkreter Lebenspraxis. Figurationen sind also keine invarianten Strukturen, sondern Resultate fortlaufender Strukturisierungsprozesse und habitualisierter Stabilisierung mittlerer Reichweite, in denen sich empirisch vormoderne, moderne und postmoderne Elemente verknüpfen und verflechten (Beckenbach 1994: 13). Kindliche Sozialkompetenz verkörpert sich in verzeitlichten Formen typisch praktizierten Wissens, nicht in kognitiven Prinzipien und universalen Normen, ist also im Hinblick auf die temporale Performanz hin zu differenzieren. Die Problematik (scheinbar) universaler Altersrollen zeigt sich auch darin, dass sie von Manchen zwar fast magisch beschworen werden, aber immer weniger den Alltag der Kinder zu bestimmen scheinen und sich längst andere und plurale Optionen aufdrängen und gewählt werden (Mitterauer 1989: 190; Dracklé 2002: 30, 38). In diesem Sinne entspringt die obsessive pädagogische Orientierung (Heinzel 2002: 25f.) einer klaren Überschätzung der „pädagogischen Provinz“ in der Orientierungsdynamik von Kindern und einer Unterschätzung grundlegender Wandlungen in der Wissensgesellschaft: Kindheit verliert angesichts der Notwendigkeit „lebenslangen Lernens“ ihre Lerndramatik. Frühkindliche Sozialisation wird nicht nur immer schwieriger angesichts der Konkurrenz der verschiedenen Sozialisationsinstanzen und der sich multiplizierenden Sozialisationsphasen oder –schübe. Ansatzweise wird sie – zumindest schon in der mittleren Kindheit – auch durch die Möglichkeit retroaktiver Sozialisation, in der Erwachsene von Kindern lernen, zunehmend in Frage gestellt. Auf diesem Hintergrund lässt sich eine Skala vielfältiger Mischungen und Figurationen zwischen einer wie immer gearteten Sozialisations- und einer Kinderkulturorientierung entdecken. Eltern spüren, dass sich ihre Kinder früher als noch vor einigen Jahrzehnten vom Elternhaus abzulösen beginnen. Es kommt auch vor, dass ein abrupter „Ausbruchsversuch“ aus einem auf Kontinuität achtenden Sozialisationssystem plötzlich Entfremdung
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erzeugt. Kinder können auch hin- und hergerissen werden zwischen inkonsistenten Sozialisationsprozessen. Es gibt durchaus im Extremfall eine „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch soziale Systeme (Habermas 1981; Münch 1998: 15). Habermas hat aber wohl nicht gesehen, dass Kinder ihrerseits sehr häufig soziale Systeme subversiv unterwandern und diese zu „kolonialisieren“ suchen (Berger 1997: 212ff.; Srubar 1997: 43ff.; Rogge 1995). Die „subversive Mobilität“ (Hitzler) und die „natürliche Dissidenz“ (Saner) vitaler Kinder sind oft beeindruckend. Die in den letzten Jahren gesteigerte Bedeutung der Kommunikation lässt zuweilen die Illusion gedeihen, alles durch Kommunikation regeln zu können. Die Betonung der Human Relations im Betrieb erweckt offenbar bei immer mehr Amerikanern die Vorstellung, das Leben sei dort enlasteter als im häuslichen Bereich (Hochschild 2002: VII ff.). Traditionale Grenzen von Funktionssystemen werden damit aufgeweicht. Familie, Schule Freizeit sind für Kinder keine strikt getrennten funktionale Systeme, sondern lediglich Knotenpunkte eines lebensweltlichen Netzwerks oder einer Figuration alltagstypischer Handlungsspielräume (Fuhs 1999: 21). Wenn sich so auch der soziale Raum für Kinder in den letzten 50 Jahren erweitert hat, so dürfen aber die nachträglichen Kontraktionen und Restriktionen keinesfalls übersehen werden. Alte Abhängigkeiten sind oft nicht verschwunden, wurden aber durch neue ergänzt. Und auffällig ist, dass fast in alle Optionen kommerzielle Elemente eindringen. So wird die Eigentätigkeit scheinbar in geringem Umfang notwendig. Damit aber wird der Raum für praktisches Wissen eingeschränkt. Lebenswelten können sich dann nicht mehr auf zeitgenössischem Niveau reproduzieren (Münch 1998: 15; Hochschild 2002). In allen Lebensbereichen können sich Kinder kindzentriert, partnerbezogen, intergenerational oder systemorientiert verhalten. Sie können auch die Orientierung wechseln und verschieben. Je nach Alter, Geschlecht, sozialem Milieu, ethnischer oder regionaler Herkunft wirkt sich das unterschiedlich aus. Diese Unterschiede werden vom Bildungssystem oft nicht oder nicht voll kompensiert. Am ehesten kann man das noch vom Geschlechtsunterschied sagen. Rechtspraxis, Sozial- und Bildungspolitik versuchen wachsender sozialer Ungleichheit durch organisationspragmatische „Normalitätsunterstellungen“ zu begegnen (Behrens 1996: 16ff.). Dies gilt zumindest bis zum Grundschulalter. Da sich soziale Institutionen auch im Umbruch befinden, ist ihr Stabilisierungs- und Homogenisierungseffekt allerdings stark geschwächt. Neue Polarisierungen nach sozialer Herkunft brechen durch. Damit werden dann aber auch Eltern-Kind-Beziehungen prekärer, fragmentierter „nervöser“ und unregelmäßiger (Schroeter 2000: 94). Den Typen der „gut Integrierten“ stehen „prekär Integrierte“, „Deprivierte“ und „Überflüssige“ gegenüber. Entscheidend ist hier, ob und wie sie wahrgenommen und ob und wie auf sie reagiert wird, ob und wie sich fortlaufend Beziehungsgeflechte oder „temporale Statusunbestimmtheiten“ bilden (Schroeter 2000: 84, 116f.). Kinder sind dann nicht nur „traditionell“ oder „modern“, sie leben nicht einfach „zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit“ und sind in der Lage vom „Gehorsam zum Verhandeln“ (Zeiher 1994: 353ff.; Münchmeier 1997: 113ff.; Reuband 1997: 129ff.; du Bois 1994) überzugehen. Sie tun dies in Spektren spezifisch differenzierter temporaler Ungleichheitslagen und sozialen Geflechten, die auch Auswirkungen auf die alltägliche Lebensführung und die Biographiekonstruktion besitzen. Somit zeigt sich ein breites Spektrum multipler Eltern-Kind-Verhältnisse im Laufe der Lebensphase Kindheit, die nicht einer völlig freien Optionswahl entspringen, sondern auch von historischen Zufällen, sich verschiebenden Ressourcen- und Kompetenzstrukturen
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sowie gesellschaftlichen und biographischen Spannungs- und Bruchlinien geprägt sind (Ortmann 1994: 125; Waldenfels 2002). Beobachtung der realen Opportunitätsstrukturen der Gesellschaft erzeugt nicht nur Wissen, sondern immer auch Nichtwissen und punktuelle Unaufmerksamkeit. Und ein beträchtlicher Teil des eigenen Wissens hängt von Referenzkriterien von Bezugsgruppen ab; so etwa, wenn Kinder als „frühreif“ und Eltern als „nicht zeitgemäß“ wahrgenommen werden: Wahrnehmungen dieser Binnenperspektive, die wesentlich von der Entwicklungspsychologie begründet wurden, konkurrieren aber in vielfältiger Weise mit gesellschaftlichen Außenperspektiven (Zeiher 1996). Und Kinder sind heute nicht mehr durchgängig „kindlich“ und Erwachsene immer „reif“. Differenzen entwickeln und verblassen heute auch schneller. In diesen auf den ersten Blick verworrenen sozialstrukturellen Verhältnissen können sich Kinder ganz bestimmter milieubildender Figurationen virtuos zurecht finden oder an ganz bestimmten Knotenpunkten zu Sonderlingen werden, in generationaler Ambivalenz verharren oder diese bis zu einem gewissen Grad abbauen und kontrollierbar machen (Herzberg 2001). Von strategischer Bedeutung werden nun – nicht nur ausnahmsweise – Übergänge und intermediäre Strukturen zwischen den Generationen, den Institutionen, verschiedenen Statuspassagen und sozialen Karrieren, zwischen verschiedenen Gruppen und Interaktionsfeldern.
11.7 Differenzielle Zukunftsfähigkeit und Zeitgenossenschaft Lange Zeit sah es so aus, Kindheit sei soziologisch hinreichend als Status-Rollen-Konfiguration erschöpfend zu behandeln. Kinder wären demgemäß durch einen strukturstabilen, biologisch-sozial vorgegebenen Kinderstatus und eine allgemein verbindliche und präzise zu beschreibende Kinderrolle charakterisiert. Doch Kinderstatus und Kinderrolle sind in den letzten 50 Jahren merklich erodiert. In der gesellschaftlichen Realität war das aber immer schon verwickelter. Vor allem in den Unterschichten waren Kinder durchaus bis weit ins 20. Jahrhundert „primordial“ in familiäre Arbeitszusammenhänge involviert. Die stark bürgerlich geprägte Kinderrolle wurde hier eher verhalten rezipiert. Der soziale Status war im Grunde seit dem 18. Jahrhundert ein marginalisierter Sonderstatus, der überdies zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit ganz unterschiedlich eingeschätzt wurde. Während Kinder des Bürgertums von Anfang in der Familie einen vergleichsweise hohen Status unter dem Blickwinkel ihres zukunftsichernden Charakters und „diachroner Arbeitsteilung“ besaßen (Qvortrup 2005: 27ff.), mussten Arbeiter- und Bauernkinder oder Kinder kleiner Geschäftsleute ihren Nutzen durch ihre synchronen Beiträge zur familialen Arbeitsteilung jeweils erst unter Beweis stellen. Der sichtbare private Nutzen von Kindern trat aber in den letzten 100 Jahren immer mehr zurück, während der öffentliche – allerdings ohne stringente Konsequenzen – immer deutlicher erkennbar wurde: Humankapital (Zelizer 2005: 123ff.). Die tatsächliche Bewertung erfolgte historisch und empirisch aber nicht genau nach diesen normativen Deutungsmustern und „Rechenregeln“ und war noch einmal wesentlich komplizierter (Bühler 1996: 97ff.; 2005: 9ff.; Wintersberger 2005: 181ff.). Heute intensivieren sich die Inkonsistenzen und Risse im Kinderstatus und der Kinderrolle so stark, dass sie vielfach nur noch als mitgeschleppte Stereotypien Bedeutung behalten. Auf der einen Seite rückt immer mehr der Begriff des Humankapitals in den Vordergrund. Doch Kinder
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sollen auch unabhängig von ihrem materiellen Nutzen als Selbstzweck ernst genommen werden. Und am weitesten prescht wohl das noch immer sperrig erscheinende Konzept des „Kinderbürgers“ vor (Hartwig 1997). Der Status des Kindes unterliegt heute folglich konkurrierenden Fremd- und Selbstzuschreibungen in verschiedenen sozialen Kontexten einer Wissensgesellschaft. Obwohl die Standpunkte und Perspektiven eigentlich widersprüchlich sind, bemühen sich manche Autoren (Honig 1999) um eine glättende Synthese. Je nachdem zeigt sich immer eine andere Vorstellung der Zukunftsbedeutung und Zukunftsfähigkeit von Kindern. Aber handelt es sich hier immer um die gleichen Kinder? Einschätzungen beruhen auf mehr oder weniger validem Wissen und oft übersehenem Nichtwissen und nicht selten auf plumpen Vorurteilen, einem praktischen Wissen, das sich nicht der Selektivität formeller und informeller Sozialkontrolle zu entziehen vermag. Und es bleibt in einer pluralisierten Demokratie natürlich strittig. Die Unsicherheit dieses Wissens lässt auch die „klassische“ Sozialisationsperpektive brüchig und von Grund auf problematisch erscheinen. Wissen denn die sozialisierenden Erwachsenen einvernehmlich und klar, welche Sozialisationsziele und -stile sie unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen und um welchen Preis bzw. mit welchen Konsequenzen sie künftig verfolgen sollen? Oder verrät der – vielleicht fälschlicherweise emanzipatorisch verstandene – Begriff „Selbstsozialisation“ die tiefe Unsicherheit einer Gesellschaft, die den Schwarzen Peter an die Kinder loswerden will? Angesichts dessen bleibt Kindern nichts Anderes übrig, als zwischen einer gegenwartsbezogenen „Kontrollüberzeugung“ gegenüber ihrer Umwelt und einer Vertrauen heischenden Zukunftshoffnung zu lavieren. Fast instinktiv mögen sie dabei spüren, dass selbst die scheinbar „bombensicheren“ sozialen Karrieren der Kinderinstitutionen erst im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstzuschreibung ihre Festigkeit gewinnen und auf diesem Weg auch erst als selbstverständlich akzeptabel erscheinen. Erst die langen Handlungsketten intermediärer Strukturen mit ihren Gate-keeping-Mechanismen schaffen die notwendige Interdependenz sozialer Institutionen und die gesellschaftliche Integration (Heitmeyer 2005). Notwendiger denn je werden „Scharniere“ und „Schwellen“, etwa zwischen Elternhaus und Kindergarten, Familie und Schule, Familie und Kirchengemeinde, Familie und Kommune etc. Dadurch bleibt trotz steigender sozialer Mobilität und sogar Kommunikationsabbrüchen und Neuanfang immer wieder Anschlussfähigkeit sozialer Interaktionen möglich. Der notwendige „Weltoptimismus“ verlangt stärkere Fundamente als einen bloß gefühlsmäßigen „Optimismus“. Er setzt die Erfahrung von Sinn- und Symbolzusammenhängen immer schon voraus (Hartmann 2001). Schon von kleinen Kindern kann auf diesem Wege die Bereitschaft abgerufen werden, die „objektive“ Wirklichkeit nicht zu verleugnen, sondern anzuerkennen, ohne sich einfach resignativ anzupassen (Joas 1992: 241). Dabei gewinnt ein konstruktives „Spielverhalten“ allmählich immer mehr die Oberhand, das sich einerseits voll dem Spielverlauf hingibt, ohne den Boden der „objektiven Wirklichkeit“ zu verlassen. Es zeigt sich hier eine beachtliche Fähigkeit, Realismus und Phantasie (Kreativität) zu verbinden und Übergänge zustande zu bringen. Von Anfang aber bleibt das Problem, so zu handeln, dass sich rationales Kalkül und Kreativität nicht wechselseitig ruinieren, sondern ergänzen und Übergänge zulassen, besonders in Zeiten, wo immer breiteren Bevölkerungskreisen Sicherheit der Lebensplanung und eine gelassene, offene Zukunftsorientierung immer schwerer gemacht wird. Grundlage für Zukunftsorientierung ist jedenfalls Orientierungswissen für eine „passgenaue“ Situations- und Selbstdefinition, die als sozial akzeptabel erscheinen kann. Wissen,
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das immer auch ein Wissen um Interdependenzen und symbolische Verweisungszusammenhänge objektiver und subjektiver Wissensvoraussetzungen ist, wird heute und in Zukunft wohl noch viel schneller entwertet und hinterlässt auch immer wieder Ratlosigkeit und Nichtwissen. Zinneckers (1996) Hoffnung, die Zunahme des Wissens über Kinder verbessere automatisch die soziale Position von Kindern, muss daher etwas gedämpft werden, denn Wissen bewirkt nicht nur Sicherheit, sondern immer auch Unsicherheit (Stehr 2003). Wie sollte denn Wissen und Nichtwissen – nach wessen Rationalitätskriterien – bilanziert und verglichen werden? Und dies allein den wechselnden Stimmungen einer „Erlebnisrationalität“ anzuvertrauen, ist wohl auch keine Lösung. Welches Wissen und Nichtwissen fundiert die „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ der Gesellschaft und zumal der Wirtschaft und welches Wissen und Nichtwissen erzeugt die anscheinend um sich greifende „Angst vor dem Kind“ vieler kinderloser junger Frauen und Männer? Schlittern Erwachsene und/oder Kinder in eine „Modernisierungsfalle“ (Wahl), die übersteigerte Erwartungen und zugleich übertriebene Enttäuschungen freisetzt? Wird die Zukunft der Kinder dadurch, dass ihre Gegenwart stärker beachtet wird, besser oder schlechter? Wahrscheinlich wird sie unwahrscheinlicher, je stärker unterstellt wird, dass die demokratische „Multiinklusion“ oder Partizipation von Kindern immer stärker ökonomischen Prioritäten unterworfen und nachgeordnet wird (Kränzl 1998: 47). Kinder sind nicht nur hilflos und Erwachsene nicht nur selbständig. Das Verhältnis von Unterstützung, Hilfe, Abhängigkeit und Selbständigkeit ist empirisch bei unterschiedlichen Erwachsenen und Kindern durchaus variabel und lässt sich auch nicht pauschal fixieren. Es lässt sich aber immer wieder neu justieren und im Blick auf Kinder aus verschiedenen Sozialmilieus und Figurationen neu institutionalisieren. Demokratietheoretisch bleibt es unbefriedigend, einem drogenabhängigen Erwachsenen mehr Rechte einzuräumen als einem gesunden und klugen Kind. Doch auch dieser extreme Vergleich darf nicht überstrapaziert werden. Zwischen Kindern aus verschiedenen Sozialmilieus, verschiedenen Geschlechts oder ethnischer Herkunft kann weniger Gemeinsamkeit als zwischen einem konkreten Erwachsenen und einem konkreten Kind bestehen. Es ist natürlich auch eine mythologische Übertreibung, wenn suggeriert wird, die Geburt eines Kindes sei in jedem Falle ein „Armutsrisiko“ (Kränzl 2003). In diesem Zusammenhang zeigt sich auch, dass das Generationenverhältnis bislang stets in die Struktur der auf das „Normalarbeitsverhältnis“ bezogenen „Normalbiographie“ eingebettet und die „generationale Ordnung“ an die Institutionenordnung rückgebunden blieb. Die sich wandelnden gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen sickern auch in die Wissensgesellschaft ein, die daher nicht länger eine „Arbeitsgesellschaft“, sondern ansatzweise eine „Tätigkeitsgesellschaft“ genannt werden kann. Wenn ein erweiterter Arbeitsbegriff („Tätigkeit“), der weit über die industriegesellschaftliche Erwerbstätigkeit hinaus reicht, wieder den Blick auf differenzielle Arbeitsbeiträge konzentriert, die jedes Kind erbringt, damit das Leben nicht nur „funktioniert“, sondern als „gutes Leben“ (incl. „öffentlicher Güter“) erfahren werden kann, wird die Bedeutung von Kindern für eine künftige Gesellschaft rationaler diskutierbar. Wenn Kinder die Zukunftsfähigkeit vieler anderer Kinder wahrnehmen, verstärkt sich wohl auch bei ihnen reflexiv die Zukunftshoffnung. Polarisierungen und Spaltungen lähmen ganz generell die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft, weil sich die klassenähnlichen sozialen Blöcke – offen oder verdeckt – misstrauisch beäugen.
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11.8 Versuch einer Realtypologie Repräsentativität von Forschungsbefunden und sozialwissenschaftlichen Aussagen wird heute meist quantitativ verstanden. Es wird z. B. statistisch registriert, wie oft ein kindliches Verhalten wie lange auftritt. Repräsentativität kann aber auch qualitativ verstanden werden (Flick 2000; Meinefeld 1995: 277ff.; Kelle 1994: 351ff.), als strukturell repräsentative Repräsentation eines Forschungsgegenstandes, wobei weder die Konstitutionsleistung kindlicher Konstrukteure noch die des Sozialforschers ausgeklammert werden darf. Diese qualitative Repräsentativität bemisst sich weniger an der objektiven Zahl, sondern einmal daran, ob die betroffenen und untersuchten Akteurinnen und Akteure einen Sachverhalt für repräsentativ ansehen (Gamm 1994: 303ff.), und ob eine Untersuchung zentrale Fragen und Perspektiven theoretisch plausibel zu erschließen vermag, ohne dass der „rekonstruktierte“ Alltagsmensch sich als „cultural dope“ (Garfinkel) vorgeführt sieht. Letztlich: Können sich unvoreingenommene Kinder mit einer vorgelegten theoretischen (Re-)konstruktion und den ihr zuordenbaren empirischen Befunden irgendwie identifizieren? Die meisten Kindheitsforscher gehen heute davon aus, dass Kinder eine Eigenwelt besitzen, die nicht mit der Entwicklungsdefinition aus Erwachsenensicht zusammenfällt. Viele bieten jedoch den Eindruck, sie sei nicht mit der der Erwachsenen verflochten, und Kinder und Erwachsene seien in ihrer Alltags- und Lebensgeschichte nicht wechselseitig verstrickt. Insbesondere moderne Pädagogen neigen dazu, „Kindgemäßheit“ so zu codieren: Kinder leben in einer eigenen „pädagogischen Provinz“, die nur durch Entwicklungsgesetzlichkeit der jeweiligen Entwicklungsstufe kindlicher „Reife“ begrenzt sei (Abels 1993: 139f.). Natürlich gab und gibt es auch Pädagogen, die dies immer für ein Artefakt der Pädagogenzunft ansahen, das nie ganz der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Kindern entsprach. Heute ist aber ein erheblicher Trend zur Entpädagogisierung festzustellen. Genauer: Wenn man von der theoretischen Annahme ausgeht, dass sich die soziale Konstitution des sozialen Phänomens Kindheit weder linear noch homogen, sondern sehr widerspruchsreich und gebrochen vollzieht, lassen sich nur noch als „Zwischenwelten“ differenzielle und temporalisierte Figurationen an verschiedenen Schnittstellen, Knotenpunkten und Verflechtungen zwischen pluralisierten Lebenswelten von Kindern und Erwachsenen in real- und idealtypischen Spektren kindlicher Normalität ermitteln. Die üblichen groben Trendidealisierungen, die durch die Bank modernisierungstheoretisch ausgelegt sind, sind nur halb – auf der normativen Ebene – richtig, als sozialwissenschaftliche Bilanzen aber unterkomplex und daher höchst problematisch, vor allem weil sie meist nicht wissenssoziologisch verankert sind. Sozialwissenschaftliche Typologien müssen zunächst an den Typisierungen der kindlichen Akteure selbst anknüpfen, die nicht „traditionelle“ und „moderne“ Kindheit unterscheiden, sondern Kinder in Graden der „Normalität“ und „sozialen Akzeptanz“, also nach sozialer Nähe und Distanz und der Welt aktueller, potenzieller, wiedererlangbarer oder alternativer Reichweite differenzieren (Schütz 1979: 63ff.; Grathoff 1989: 51f.). Sie setzen damit an der Umgangssprache und am Alltagswissen an. Auch die alltäglichen, schon vorsprachlich greifenden Typisierungen oder Realtypen sind keine reine Abschilderung oder Abbildung quantitativer Häufungen, sondern „repräsentative“ Wissenskonstruktionen, die mittels Stichworten, Schlagworten oder raffenden Deutungsmustern und „Sinnsplittern“ aus allgemein zugänglichen, öffentlichen Diskursen eine elementare Kommunikationstopologie des Alltags umreißen. Dies sind gewiss auch Idealisierungen und Modelle, aber sie werden
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in „natürlicher Einstellung“ für völlig selbstverständlich und selbstevident gehalten und eben nicht systematisch abstrahiert, kritisch und heuristisch wie die idealtypischen Modelle der Sozialwissenschaftler benutzt. Soziologen sollten erkennen, dass sich die Realtypen durch vielerlei Schnittstellen sich überkreuzender Idealtypen re-konstruieren und beschreiben lassen. So gibt es z. B. „moderne“ Kinder, die keineswegs „selbstständig“ und „traditionelle“, die keineswegs „abhängig“ sind. Es gibt „individualisierte“ Kinder, die keineswegs eine „Verhandlungskindheit“, sondern Sequenzen zunehmender Exklusion hinter sich haben etc. Zudem ist allerdings zu beachten, dass Idealtypen „Grenzbegriffe“ sind, die zu Schlagworten substanzialisiert, essentialisiert und naturalisiert werden können, weil sie häufig den Eindruck nahe legen, soziale Prozesse dürften verdinglicht aufgefasst werden (Grathoff 1989: 112; Abels 1993: 496). Sie verhindern genaues Hinsehen, Differenzierung, und dass uns wirlich an sozialen Phänomenen etwas auffällt oder einfällt, das nicht eine Art Tautologie ist, selbst wenn sie mit höchster forschungstechnischer Raffinesse ermittelt wurde (Goffmann 1981: 109). Nicht nur „analytische“, sondern auch „synthetische Urteile“ a posteriori sind notwendig, wenn man Kant leicht modifiziert. Die neue Kindheitssoziologie kann nicht mehr idealisierend unterstellen, die soziale Position, der soziale Status, die Rolle von Kindern seien strukturell typenfest, konsistent oder könnten in irgendeiner Weise weiterhin systemreferentiell oder epochal als hinreichend „funktional“ konzipiert werden. Sie kann sich daher nicht länger der Beschreibung der Konstitution und Soziogenese des sozialen Phänomens Kindheit in seinen verschiedenen Dimensionen und temporalen Figurationen entziehen. Es ist nicht angemessen, die erfreulicherweise aufgetauchte Bevölkerungsgruppe „Kinder“ problemlos aus einem nach wie vor nationalgesellschaftlich gedeuteten Generationsverhältnis zu deduzieren (James 1998). Die klassisch modernen Kindheitsinstitutionen sind auch nicht mehr in der Lage, Kindheit, Kinderleben und Kindsein bruchlos zu definieren und ohne neue Wissensperspektiven, die sowohl global, europäisch, national und regional geprägt sind, mit Kindern kundig und erfolgreich praktisch umzugehen (Hengst 2005: 10f.). Enorme Informationsmassen über Kinder überschwemmen Erwachsene und Kinder. Jeder kann sich vielleicht etwas Anderes herauspicken. Die tatsächlichen nationalen, regionalen und lokalen Auswirkungen auf die lebensweltlichen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebenszusammenhänge sind zwar hin und wieder zu erahnen (Münch 1998: 15), aber nicht hinreichend genau zu bestimmen. Einige Informationen verweisen auf neue Wissenszusammenhänge, andere lassen nicht einmal korrelationstatistische Projektionen zu (Gamm 1997: 35ff.; 2000: 178ff.). Paradoxerweise nimmt also sowohl das Wissen wie das Nichtwissen und die Unbestimmtheit zu. Die Multiplizierung der Optionen und wahrscheinlichen Entwicklungsszenarien wird zwar durch die Verkleinerung und Versiegelung des Lebensraums vieler Kinder, die Konkurrenz sozialer Zeiten, die Verlängerung sozialer Handlungs-, Produktions- und Distributionsketten – ein Joghurt legt bis zum Konsumenten 9000 km zurück –, die Zunahme der Komplexität transnational-nationaler Entscheidungsprozesse undurchsichtiger, unübersichtlicher, schwerer zu steuern und damit faktisch verengt. Viele Optionen werden entweder nicht rechtzeitig von Scheinoptionen unterscheidbar oder nicht zeitig für alle verfügbar. Die Beschleunigung und Vervielfachung von „Innovationen“ nähert sich gefährlich dem „rasenden Stillstand“ (Virilio) und „Null-Optionen“ (Offe) und nicht etwa „substanzieller“ Kreativität (Schulze 2003; Offe 1986: 97ff.; Joas 1992). Doch der modernistische Fortschrittsmythos ist nur teilweise oder scheinbar gebrochen. Wissen, das aus der
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„Wachstumsfalle“ führen könnte, wird weitgehend gemieden. Und auch in den Sozialwissenschaften wird das, was als wirklich angesehen werden kann, immer häufiger durch Computersimulation zeitlicher und räumlicher Normalverteilungsmuster von Ereignissen und Sachverhalten beschrieben: „Wirklichkeit stellt sich als ein hochkomplexes System vielfacher Vermittlungen dar, deren Einzelwirkungen ebenso wenig zu überschauen sind wie das Zusammenspiel aller an einem Ereignis beteiligten Komponenten. Lange Wege, d. h. verzögerte Rückkopplung und hochgradig mediatisierte Handlungen, geben überhaupt kein direktes Feedback, um einen Vergleich von Input und Output durchzuführen. Der Handlungsanstoß kann nicht wirklich mit dem Ergebnis, der Anfang nicht systematisch mit dem Ende einer Handlungssequenz eindeutig zusammengeschlossen werden“ (Gamm 2000: 184). In dieser Situation ist es natürlich höchst riskant, von der Gegenwart der heutigen Erwachsenen auf die der künftigen zu extrapolieren. Trotzdem können zwei soziologische Grundfragen natürlich nicht unterdrückt werden: Wie wirkt sich die heutige, durchaus inkonsistente Sozialisation wahrscheinlich auf (verschiedene) Kinder aus? Und: Was tragen heutige Kinder zu ihrer eigenen und der Sozialisation der Erwachsenen bei? In welchem Rahmen und „Definitionsverhältnis“ spielen sich beide Prozesse ab? Soziale Konstruktionen sind keine Prozesse innerhalb der Sozialisation. Sie können eher als Bemühungen verstanden werden, Sozialisation „passend zu machen“ oder Sozialisation und Sozialkontrolle „in Ordnung zu bringen“ und zu „normalisieren“. Diese Sinnrahmungen können als „passend“, „nur bedingt passend“ oder als völlig „unpassend“, als hinreichend reziprok oder nur gebrochen reziprok, als symmetrisch oder asymmetrisch erlebt werden. Sozialisation ist jedenfalls kein automatisch „funktionierender“ Mechanismus! Eher kann man sich wundern, dass Erziehung und Sozialisation unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen nicht öfter misslingen. Außerordentlich beliebt ist in der Kindheitsforschung die modernisierungstheoretische idealtypische Dichotomie: traditionelle versus moderne Kindheit. Sie wird meist normativ und nicht empirisch verstanden und entfaltet: Kindheit sei nicht mehr wie in der Vormoderne durch „Gehorsam“, sondern durch „Verhandeln“ und „Selbstständigkeit“ geprägt. Zeiher (1994: 353ff.) hat diese übliche binäre Sicht gradualistisch zu differenzieren versucht: „Zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit“. Hier wird aber immer noch normativistisch eine Konstanz des sozialen Phänomens trotz aller Variation unterstellt, die über die Zeit mit einem einzigen (idealtypischen) Kontinuum zu bewältigen sei, obwohl auch H. Zeiher in ihren Ausführungen die Prozesshaftigkeit und Heterogenität dieses Phänomens andeutet. Der Problemzusammenhang von Einheit und Diversität wird auch von Qvortrup (2005: 27ff.), Alanen (2005: 65ff.), Honig (1999) aufgegriffen, doch entweder monistisch konzipiert oder dualistisch-ambivalent konzipiert, aber nicht konstitutionstheoretisch entfaltet: Unter welchen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen tritt die Einheit, unter welchen die Verschiedenheit kindlichen Lebens als soziales Phänomen in den Vordergrund? Und wie ändert sich dadurch der Lebenslauf, das Verhältnis der Lebensphasen in der Institutionenordnung und im Generationenverhältnis. Fast alle Autoren der Kindheitssoziologie verengen die Beschreibung der Kindheit herrschaftssoziologisch auf eine fast substanzialisierte „generationale Ordnung“, die es so transtemporal heute gar nicht mehr gibt. Statt dessen sollte sich die Kindheitsforschung eher temporalisierten Figurationen von „Ich-Wir-Balancen“ (Elias) von Kindern und Erwachsenen zuwenden, die sich als Schnittmenge verschiedener normativer, erfahrungsba-
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sierter und lebenspraktischer Wissensordnungen und Kontinua begreifen lassen, die nicht ausschließen, dass unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen Extremfälle auftreten, die sich idealtypischen „Limesbegriffen“ stark annähern. Die soziale Position, der soziale Status und das Verhaltensskript, das residual noch auf die traditionelle „Kinderrolle“ und entsprechende Stereotypien zurückverweist, kann heute nicht mehr auf eine homogene, lineare und normative Entwicklungslogik reduziert werden, ohne dem sozialen Phänomen „Kindheit“ Gewalt anzutun. Kindheit hat nicht nur viele Gesichter. Jedes einzelne Gesicht wandelt sich dauernd soziokulturell, sozialstrukturell und situativ. Alle Teilstrukturierungen der sozialen Konstruktion unterliegen einem Wechselspiel von situierter Fremd- und Selbstzuschreibung im Horizont verschiedener Kontexte, die sich ebenfalls verändern. Je verschiedener die Vorstellungen über die Handlungsdispositionen gegenüber Kindern sind, und je mehr Ansprüche an und von Kindern an die Gesellschaft gestellt werden, desto aufwändiger und schwieriger wird die Konstruktion und der Prozess der Positions- und Statusgenerierung und der Rollenimagination. Wo die normativen Konzepte fraglich oder vieldeutig werden, bedarf es vielleicht nicht immer der Reflexion, sicher aber mehr reflexiv-rekursiver Abstimmung der Perspektiven, Interessen, der Grenzen und Grenzverschiebungen und wohl auch der Institutionen (Schülein 1990: 11, 45; Lepsius 1990). Das klassisch moderne Kindheitsmodell hat sich schon seit ca. 1960 erheblich verändert; desgleichen die soziale Praxis zwischen Kindern und Erwachsenen. Im Geflecht der Bedeutungszuschreibungen war lange ein patriarchalisches und geschlechtsspezifisches Gefälle erhalten geblieben, das in den letzten 50 Jahren obsolet geworden zu sein scheint. Trotzdem war die Unterstellung einer linearen und generellen Planierung und Egalisierung immer voreilig und normativistisch verengt. Es ist ja gar nicht gesagt, dass neue Abhängigkeiten der Beseitigung alter nicht auf den Fuß folgen können. Zieht man aus den mittlerweile zahlreichen empirischen Befunden und theoretischen Reflexionen der Kindheitssoziologie der letzten 30 Jahre ein erstes Zwischenfazit, so zeichnet sich eine in vielen Dimensionen unterschiedlich und auch nicht zeitstabile „veränderte Kindheit“ ab; sowohl im kulturellen Kindheitsverständnis, im Kinderalltag und im okkasionellen Kindsein wie dessen strukturellen Rahmenbedingungen. Diese lassen sich nicht länger reduktionistisch auf einem einzigen idealtypischen Kontinuum eines normativen Möglichkeitsraumes zwischen „Tradition“ und „Modernität“ abbilden, schon deswegen nicht, weil es auch neue Traditionen und möglicherweise überholte Formen der „Modernität“ gibt. Sehr viel relevanter als das Kriterium der „Funktionalität“ oder Normorientierung erweist sich immer mehr der praktische Umgang mit Wissen und Kommunikation, die ja genau betrachtet auch den konventionellen Funktionszuschreibungen und Normbestimmungen vorauslagen (Reckwitz 2000; Hörning 2001; Stehr 2003). Die Lebensphase Kindheit als Teil der modernen „Normalbiographie“ zerfällt nicht einfach in eine Vielzahl von „Wahlbiographien“, sonden in eine vielschichtige Gemengelage dauernder Vor- und Rückgriffe in unterschiedlichen Handlungsdimensionen und sozialen Relationen zu verschiedenen Zeiten. Kinder können sich z.B. in der Familie sehr „aufmüpfig“, bei Bekannten als „äußerst wohlgesittet“ und bei Gleichaltrigen als „unberechenbar“ darstellen. Da es normative wie praktische Trends und Gegentrends gibt, ist es unwahrscheinlich, wenngleich im Extremfall möglich, dass sich ein Kind dauerhaft auf ein und dieselbe Art klassifizieren lässt. Die vielfältigen soziokulturellen Verschiebungen in den Konnotationen von Normen, Regeln, Ritualen oder pragmatischen Normalitätsunter-
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stellungen und die forcierten Kontextualisierungen lassen eine Konstanzunterstellung auch nur einer nominalistischen, angeblich historisch keimfreien „Strukturkategorie“ „Kindheit“ fragwürdig erscheinen. Der heterogene, „materielle“ Gehalt der geschichtlichen Form heutiger Kindheit ist kein äußerlicher Überzug über ein zeitloses Substrat. Es ist die einzige Form, wie Kindheit wirklich und tatsächlich leiblich-lebensweltlich erfahren wird. Wissenschaftler können hier höchstens Korrekturen und Vertiefungen liefern. Statt einer linearen Entwicklungslogik oder einer quasi-substanzialisierten „generationalen Ordnung“ zeichnen sich verschiedene Entwicklungspfade zwischen drei zu skizzierenden (idealtypischen) Entwicklungsszenarios und intra- bzw. intergenerationaler Strukturbildung ab: Szenario eins: In absehbarer Zeit gibt es aufgrund kultureller Homogenisierungen im Horizont der Globalisierung überall auf dem Erdball dieselbe Kindheit, die alle internen Differenzierungen dominiert. Die kulturelle Vielfalt wird damit bis auf einige quasi folkloristische Reste eingeebnet. Das Globale wird zwar aus Gründen der besseren Verkäuflichkeit indigenisiert. Doch die wesentlich lokal verankerten Lebenswelten lassen sich nicht mehr aus sich selbst reproduzieren und kultivieren. Zumindest aber gibt es überall auf der Welt vergleichbare rechtliche, politische und pädagogische Mindeststandards, wie sie heute der UNO, der UNESCO oder UNICEF vorschweben. Universal zeigt sich ein Trend, „autoritäre“ durch „autoritative Erziehung“ unter Anleitung einer weltweit ähnlich arbeitenden Erziehungswissenschaft und Entwicklungspsychologie zu ersetzen, die erzieherische Zielorientierung mit Verständnis, Zuneigung und Unterstützung kombiniert. Eine weniger orthodoxe Variante der „kritischen“ Modernisierungstheorie geht hingegen davon aus, dass für längere Zeit traditionelle und moderne Eltern-Kind-Verhältnisse nebeneinander bestehen werden. Sie konzediert sogar, dass es nicht ausgemachte Sache sei, dass traditionelle Verhältnisse aussterben werden. Die meisten Vertreter gehen freilich von der Vermutung aus, dass sie nur noch „fundamentalistische“ Residuen darstellen. Szenario zwei: Im Moment befinden wir uns in einer zeitlich unklar befristeten Übergangsgesellschaft. Der Übergang wird aber irgendwann abgeschlossen sein. Gesellschaft und Kindheit werden dann neue Stabilität und eine neue Gestalt erlangt haben. Es handelt sich um eine überschaubare Periode der Unsicherheit und Imbalancen. Verhaltensweisen, die von den einen als strukturell gleich und nur inhaltlich neu empfunden werden, erleben die anderen als „Strukturbruch“ des klassischen Kindheitsmodells im Sinne einer „zweiten“ oder „dritten Moderne“. Allen aber ist klar, dass diese Übergangszeit zur Strukturkrise oder zur schöpferischen Epikrise einer Strukturneubildung führen kann. Wahrscheinlich scheint aber eine Fusion oder Synthese alter und neuer Trends und alter und neuer Elemente des kindlichen Lebens. Andererseits haben selbst die unmittelbar betroffenen kindlichen Akteure öfters das Gefühl „gebrochener Intersubjektivität“ und intensivierter Diskontinuität. Im Allgemeinen werden jedoch schroffe Polarisierungen vermieden und mit einer „weichen“ Hermeneutik, Kontinuität und Komplementarität der Elemente fast magisch beschworen. Auch eine Politisierung oder eine institutionelle Dauerkonkurrenz der Sozialisationsinstanzen gelten als wenig wünschenswert und durch institutionelle „Ausdifferenzierung“ überwindbar. Rheto-
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risch bekennt man sich zur Gleichwertigkeit, aber Unterschiedlichkeit von Kindheit und Erwachsenenalter in unterschiedlichen kulturellen Varianten. Szenario drei: Statt der modernisierungstheoretischen Deutungsfolie der linearen oder multilinearen Entwicklung orientiert man sich zunächst an der Dialektik von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik, die sich in zahlreichen Widersprüchen und Paradoxien manifestieren kann. Oder man orientiert sich konsequenterweise im Sinne historischer Konstellationen am Prinzip der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Mannheim) bzw. dem „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Offe). Die unter forciertem Wandlungsdruck stehende Gesellschaft gilt nicht für eine befristete Übergangszeit als „Übergangsgesellschaft“, sondern auf unabsehbare Zeit, alternativlos als Transformations- und Wissensgesellschaft. Sowohl eine lineare Entwicklung von der „traditionellen“ zur „modernen Kindheit“ als auch eine bloße Koexistenz, Komplementarität oder „Fusion“ gilt hier als unterkomplex und empiriefern. Kindheit wird zur verschiedenartigen „Zwischenwelt“ unterschiedlicher soziokultureller, sozialstruktureller, situativer Übergangsstrukturen und verschiedenartiger Realitätsakzente, Übergänge zwischen Kulturen, Teil-, Sub- und Contrakulturen, zwischen verschiedenen Institutionen und Organisationen unterschiedlicher Anonymität, Komplexität und Nationalität oder Transnationalität, zwischen unterschiedlichen Gruppen und Intergruppenbeziehungen und zwischen Interaktionen direkter oder medial vermittelter Kommunikation. Es geht hier nicht um ein prinzipielles „Verschwinden der Kindheit“ oder eine „Infantilisierung“ der Erwachsenenwelt und wohl auch nicht nur um die Erosion eines geschichtlichen Modells, sondern um fortlaufende Strukturierungen von Figurationen im Sinne der „dualen Struktur“: Mehr denn je ist Kindheit nicht nur historisch gegeben, sondern responiv aufgegeben; mehr denn je auch zusammen mit, neben, gegen und in Abstimmung mit Erwachsenen und anderen Kindern. Kinder sind nicht nur gleichwertig, sondern bedürfen des Respekts vor ihrem Anderssein. Sie haben als Gleichwertige aber Andere (Fremde) mit Erwachsenen jeweils Gemeinsamkeiten, Schnitt- und Berührungspunkte, aber auch Eigenheiten und „Unverständlichkeiten“, die Erwachsene stehen zu lassen haben. Diese Gemengelage muss in diachron-synchronen sozialen Konstruktionen geteilter und ungeteilter Wirklichkeit dosiert, gebündelt und akzentuiert werden, um soziale Akzeptanz muss gerungen werden. Es ist auch wichtig, in welchem sozialen Kontext und sozialen Milieu welche Figuration sich wie dauerhaft durchsetzt. Wo wird der „Kinderwunsch“ stärker oder schwächer, wo die „Kinderfrage“ brennender, wo die Kinderlosigkeit selbstverständlicher? Und welche sozialen Reaktionen werden im Alltag erfahrbar?
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554 Schaubild 1: Homogenisierung
Soziale Kategorie
Sozialer Raum
Aktualität
Externalisierung
+
-
-
Objektivierung
-
+
-
Internalisierung
-
-
+
Fragmentierung
Schaubild 2:
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Schaubild 3: Art der Handlungskoordination
Soziale Kategorisierung
Sozialer Raum/Handlungsspielräume
Aktualität
Grad der Handlungskoordination Homogenisierung der Kinderkultur als Teilkultur
Distinktion, soziale Differenzierung
Zustandsaktualität: langfristige soziale Platzierung
Tendenz der Fragmentierung, Segregation in der Kinderkultur Streben nach Statuskonsistenz
vertikale und horizontale soziale Mobilität Hierarchisierung des Kinderlebens
pragmatische oder außeralltägliche Ereignisaktualität Wiederholung, einfache, erweiterte gesellschaftliche Reproduktion
(partielle) Statusinkonsistenz
offene Strukturierung
transformative Reproduktion
Externalisierung
Objektivierung
Kohärenzherstellung der Wissensproduktion
temporalisierte Figurationen
Deinstitutionalisierung Desozialisation
Internalisierung Kosmisierung (Weltbild, Selbstdifferenzierung)
Sondierung nach lang-, mittel- und kurzfristigen Opportunitäten
Dramatisierung Entdramatisierung des Kindseins (Kontingenz)
11.8.1 Triangulation verschiedener idealtypischer Kontinua Normalität ist nicht gleich Normalität. Sie kann unterschiedlich in unterschiedlichen Handlungsbereichen und Situationen einmal durch „harte“ (formelle, legale) Normen, zum andern aber auch durch „weiche“ Durchschnittswerte und pragmatische Normalitätsunterstellung herbeigeführt werden. Je nachdem ist sie mit offizieller Anerkennung legitimiert oder vielleicht nur aus Mangel an Alternativen, Gedankenträgheit, Opportunismus oder aus Ohnmachtsgefühlen heraus und u. U. zähneknirschend sozial akzeptiert. Heute stoßen Kinder auf all diese unterschiedlichen Formen der Normalität in ihrer Sozialisation wie in der Erfahrung der formellen und informellen Sozialkontrolle. Auch durch listigen sozialen Vergleich ist nicht immer weiterzukommen, wenn die Vergleichskriterien im Dunkeln bleiben. Und die vielen – stets sehr selbstlos auftretenden – Ratgeber jeglicher Art konkur-
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rieren oft wild, und ihr Rat wird erkennbar auch nicht von einem „Gottesstandpunkt“ her vorgetragen. Gerade in Zeiten hoher kultureller Intransparenz und Unübersichtlichkeit kann es nützlich sein, dass die soziologische Kindheitsforschung nicht einfach die Zitierkartelle des wissenschaftlichen, professionellen und des von Ratgebern heimgesuchten Erziehungsalltags quasi tautologisch reproduziert und verdoppelt, sondern sich explorativ und heuristisch orientiert. Dazu kann die theoretische (nicht nur Methoden akkumulierende) Triangulation mit ihren minimalen und maximalen Kontrastierungen einen interessanten Beitrag leisten und ein breiteres und tieferes Beobachtungsfeld erschließen, so dass auch kreative, wirklich zukunftsfähige Vergleichs- und Verständigungsaspekte zu Tage treten (Waldenfels 1997: 39, 77, 87, 114). Im besten Falle wäre dies dann eine „Topographie des Fremden“ und bislang Übersehenen, indem der von Erwachsenen definierten „Sicht der Kinder“ deren abweichende Deutungen und evtl. ihre Zustimmung (Reaktionen) gegenüber träte. Beide könnten sich dann ergänzen, relativieren, erweitern, aber auch teilweise ausschließen. Dies wäre dann keine Addition und unkritische Fusion, sondern eine historisch-synchron situierte Verflechtung der Perspektiven, mit der zwar keine (angeblich transkulturelle und ungeschichtliche) Entwicklungslogik kindlicher Entwicklung, aber doch transsituative Wissensordnungen mittlerer Reichweite zu gewinnen wären. Eine theoretische Triangulation kann zwanglos an der üblichen Differenzierung von „Innen“ und „Außen“ anknüpfen, die ja erst aus der Beobachterperspektive eines Dritten mehr als zwei Momente und zwei Bewusstseinsebenen der Selbstdifferenzierung subjektbezogener, aber auch kulturell eingebetteter Externalisierung von Wissen darstellen. Der beobachtende Dritte bringt heute auch nicht mehr die große Synthese und universale Rationalität, aber immerhin möglicherweise kontrastive Gesichtspunkte ins Spiel, unter denen ein fruchtbarer, explorativer Wissensprozess eingeleitet werden kann. „Dreiecksbeziehungen“ bringen immer, manchmal auch produktive Unruhe in den Mainstream des (wissenschaftlichen) Wissens, weil sie Subsumtionsbemühungen stören, Versuche vorschneller Komplementarisierung und Analogiebildung erschweren. Wo könnte heute eine Triangulation bestehender idealtypischer Trendmeldungen ansetzen? Vor allem muss der empirischen Tatsache Rechnung getragen werden, dass sich im sogenannten Zeitalter der Globalisierung und des globalen, oft sozial aber nicht verstandenen Informationsaustauschs reflexive Wissensstrukturen völlig umgebaut werden (Luckmann 2002; Ritsert 2002; Stehr 2003), wenn sich Globales und Lokales überlagern, durchdringen, aber auch konkurrieren. Kinder haben das wohl viel stärker als Erwachsene (in der Zukunft) „auszubaden“. Auch auf diesem Hintergrund versuchen Kinder freilich laufend, ihr typisches Alltagswissen zu „vervollständigen“ und u. U. kreativ zu modifizieren. Nur für eine kurze „Schrecksekunde“ reagieren sie nicht reinterpretierend, um danach aber stets das Beste aus den „Gegebenheiten“ zu machen und sich davon herausfordern zu lassen (Zeiher 1994; Honig 1999; du Bois 1994; Bühler 2005: 9f.; Zinnecker 1986: 321; 1996; Feil 2003: 11f.). Die stets prekäre, ja immer auch gefährdete Handlungsfähigkeit der Kinder wird nicht nur pädagogisch, rechtlich, politisch beeinflusst. Diese Aspekte durchdringen geradezu den Alltag der Kinder und stoßen immer wieder – mehr oder minder zaghaft oder leidenschaftlich – kulturelle Verständigungsprozesse („Kultivierung“) an (Grundmann 1999). Auch die Diskussion um Frühförderung aus letztlich ökonomischen Gründen ist ein solcher Kultivierungsschub, dessen Bedingungen und Wirkungen freilich ziemlich schematisch diskutiert werden. Auch er wird eine Verschiebung des Kindheitsbildes und mit der Zeit wahrschein-
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lich auch der Lebensbedingungen der Kinder und des Wissens über und von Kindern zur Folge haben. Es kann dabei bislang nicht als entschieden gelten, ob durch die stärkere Konsumorientierung und Integration in den Markt und die rechtlichen, politischen und kulturellen Optionen Kindern auch nur der Hauch einer Chance zu wachsender Autonomie eröffnet werden kann (Feil 2003: 12f.; Hengst 2005; Wintersberger 2005). Die Triangulation plädiert hier dafür, die Familien- und Generationenzentrierung unter dem dritten Aspekt einer ökonomiezentrierten, aber nicht ausschließlich ökonomischen Globalisierung zu relativieren und zu überschreiten. Schon heute zeigt sich, dass eine Vielzahl idealtypischer Achsen durch das soziale Phänomen gelegt werden kann. Realtypische Beschreibungen historischer Figurationen können diese Achsen aufgreifen und kombinieren. Einmal zeigen sich verschiedene Konstellationen von Autonomie und Schutz (Abhängigkeit), von wohlfahrtsstaatlicher Kinderförderung und neoliberaler Deregulierung, von starker Elternabhängigkeit und früher Ablösung vom Elternhaus, von Scholarisierung und Entscholarisierung, von Emotionalisierung und Rationalisierung, von Politisierung und Entpolitisierung (Nauck 1995: 21; Feil 2003: 85). Ein komplexes Problem bietet auch der Kinderwunsch und die distanzierte Einstellung vieler Kinderloser (Vetter 1999) sowie die die konkurrierenden Perspektiven elterlicher und kindlicher Lebensqualität. Kinder können nach wie vor als „Anhängsel ihrer Eltern“ mehr denn je aber auch als lukratives „Marktsegment“ angesehen werden. Und all dies oszilliert zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre. Jedenfalls ändert sich dadurch mit Sicherheit die Positionierung und Statusgenerierung der Kinder. 11.8.2 Die Problematik der Triangulation Triangulation ermöglicht keinen umfassenden, sondern nur einen spezifischen Vergleich unter einem oder einigen kombinierten Gesichtspunkten, da Beobachter immer von einem bestimmten Beobachtungspunkt und historischen Vorverständnis aus beobachten. Triangulation kann auch nur dann Kontraste aufzeigen, wenn sie zwar nicht den gesamten Rahmen „dekonstruiert“, wie das etwas zu kühn der „Dekonstruktivismus“ behauptet, aber doch Risse, Spalten, Lücken, Übersehenes und u. U. eine Wissenskluft in der herkömmlichen sozialen Konstruktion der Kindheit aufzuweisen vermag (Reichertz 2000: 279ff.). Nur so kann wirklich Neues eindringen und soziologisch erforscht werden. Sie kann daher auch in idealtypischen binären Schemata wie „traditionell“ und „modern“, „alt“ und „neu“ Diskrepanzsplitter aufdecken und thematisieren. Es gibt weder „das Neue“ noch „das Alte“ schlechthin. Und in jedem Neuen ist ein alter Sinnsplitter und jedem Alten ein neuer, an den sich anknüpfen lässt. Damit kann dann auch begrenzt Reifizierungstendenzen begegnet werden. Festgehalten muss dabei freilich werden, dass nur Kontraste und keine „Wesensunterschiede“ aufgedeckt werden können. „Die Einheit der Differenz lässt sich nicht begreifen als Synthesis im Mannigfaltigen, sondern als Verschränkung von Eigenem und Fremdem…“ (Waldenfels 1999: 97). Kontraste können demnach nicht unter eine „Strukturkategorie“ subsumiert werden, wenn sie ihre Kontrastivität behalten, also nicht nur als „Komplement“ von Altbekanntem klassifiziert werden sollen. Strukturelle Muster haben immer nur eine begrenzte Reproduktionskapazität. Konkret gilt es durch theoretische Triangulation ein spezifisch variables Verhältnis und eine spezifische Verschränkung von Eigenem und Fremden, Gemeinsamen und Unver-
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trautem, geteilter und ungeteilter Wirklichkeit herauszuarbeiten, die Erwachsene und Kinder in unterschiedlichen Lebensbereichen und Situationen jeweils historisch zusammenbindet, aber auch unterscheidet. Dieses Verhältnis kann lockerer oder dichter, reziproker oder weniger reziprok, symmetrischer oder asymmetrischer, differenzierter oder undifferenzierter, responsiver oder monologisch-egozentrischer ausfallen. Es kommt hier speziell auf die Struktur, Qualität, Akzentuierung und Dauerhaftigkeit dieser Verflechtungen an. Verflechtung von unterschiedlichen Übergängen stellen aber nur im Grenzfall eine bloße Erweiterung dar und sind in Perspektive vor allem transformative Übergänge bzw. transitorische Geflechte von sich fortlaufend wandelnden „Ich-Wir-Balancen“ oder altersspezifische Figurationen von Kindern und Erwachsenen mit jeweils spezifischen Wissensmustern und „Transformationen des Wir-Gefühls“ (Elias 1992: 207; Waldenfels 1998: 154ff.; Schröter 2000; 2001; Treibel 1993: 313ff.). Es handelt sich hier nicht um Forschungsartefakte, sondern durchaus um Typisierungen kindlicher Akteure im Alltag selbst; also um Alltagswissen und sozial akzeptierte Ergebnisse eines „normal“ oder typisch empfundenen momentan sedimentierten „Zwischenergebnisses“, das die Soziologie freilich in einem kritisch-systematisierenden Zugriff „in zweiter Instanz“ typologisch re-konstruieren kann; etwa durch Konfrontation und theoretische Triangulation mit der unkonventionellen Sozialisationsund Kontrollinstanz „Markt“ und dessen „verformenden“ Interventionen (Neumann 2001: 91ff.; 1999: 212ff.). Triangulation bringt sozusagen Dynamik (Performance) und den Aspekt der dauernden Transformation und Transition in typologische Bemühungen, widersetzt sich aber im Sinne des prinzipiellen Vorrangs der Konstitutionsproblematik in allen Strukturierungstheorien (Matthiesen 1994: 80) konsequent einem Substanzialisierungssog rein strukturtheoretischer Analyse und Subsumtion eines „halbierten Strukturbegriffs“. Sie erhöht damit zugleich die Reflexivität soziologischer Analyse: soziale Konstruktionen als Aufschichtungen verschiedener Schnittpunkte und „Weichenstellungen“ von „Zwischenwelten“ und lebensweltlichen Netzen, wo sich die Wege von Kindern und Erwachsenen kreuzen, Wege zusammen- und auseinandergehen (Waldenfels 1980; 1997: 66). Es wird damit hier Abschied genommen von einer umfassenden modernisierungstheoretischen Betrachtung einer Gesamtordnung einer (angeblichen) transkulturellen Entwicklungslogik, die die Dialektik und historischen Umbrüchen und Widersprüche von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik eigentlich nie richtig zur Kenntnis genommen hat und nur sehr abstrakt von „gebrochener Intersubjektivität“ spricht (Joas 1997: 227ff.). „Modernisierung“ und „Modernität“ werden so zu rein heuristisch gemeinten „sensitiven“ Konzepten und theoretisch zurückgenommenen bzw. auf diverse Entwicklungspfade und „plurale Universalierungen“ fokussiert. Für die Kindheitssoziologie bedeutet dies: Die soziale Positionierung und Statusgenerierung oder sedimentierte Verhaltenserwartungen an Kinder („Kinderrolle“) können nicht in einer auf ihre Geschichtlichkeit nur akzidentiell achtenden „Strukturkategorie“ oder nur reproduzierbaren relationalen „generationalen Ordnung“ eingefangen werden. Die soziologische Analyse muss ihre Kategorien und Modelle verflüssigen und entsubstanzialisieren (Bude 2000: 187ff.; 1988: 4ff.; Matthes 1992). Dass Kinder als Bevölkerungsgruppe heute immer mehr anerkannt werden, obwohl der Unterschied zu Erwachsenen in vieler Hinsicht unscharf wird, ist weder automatische Konsequenz der Moderne noch ihrer Ontogenese. Und es ist auch kein endgültiges Resultat, das strukturell nicht wieder verloren gehen kann
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und sich zwangsläufig weltweit durchsetzen und auf Dauer erhalten müsste, selbst wenn das Vielen unvorstellbar bleiben mag. 11.8.3 Bedeutung strukturierender Kriterien kindlicher Lebenszusammenhänge Wie alle heutigen sozialen Phänomene, wenngleich in spezifisch irritierender, historischer Form, ist auch das der heutigen Kindheit nicht voll bestimmt und eigenartig schillernd. Mit etwas Entschlossenheit kann „veränderte Kindheit“ sowohl als historische Weiterentwicklung wie als „Bruch“ und Erosion des klassischen Kindheitsmodells verstanden werden. Es mehren sich zwar die Aspekte, die für eine wachsende Diskontinuität und auch für einen notwendigen Paradigmawechsel in der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung sprechen. Doch absolut zwingend ist das alles nicht. Die Anhänger des alten Paradigmas finden durchaus immer neue listige Argumente dafür, dass dies alles nur eine „Ausdifferenzierung“ und im Grunde funktionalistisch („äquifunktional“) dem Sozialisationsparadigmas subsumiert werden könne. Sie spielen so die Interpretationskonflikte um die Funktionszuschreibungen einfach herunter und berufen sich auf den disziplinären Mainstream. Subjektive und objektive Aspekte des Kindheitsphänomens divergieren aber immer stärker, sind kaum noch kompatibel und fast nur noch zwanghaft addier- oder synthetisierbar. Und die heutige gesellschaftliche Konstitution kindlicher Erfahrung überschreitet eine sozialpsychologische Betrachtungsweise im Rahmen gegebener Sozialisation: Ihr Rahmen selbst wird veränderlich und nicht nur etwas innerhalb des Rahmens (Honig 1999). Einmal hat dieser Rahmen eine Geschichte verengter und positiv artikulierter historischer Möglichkeiten, die man nicht einfach überspringen kann. Zum anderen ist er mit gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen konfrontiert, die nicht einfach technokratisch vorausgeplant werden können, weil sie eine eigene kommunikative Sensibilität und höchst schwierige kommunikative Konstruktion und reflexive, nicht unbedingt eine reflektierte Verständigung immer schon voraussetzen. (Manche Sozialwissenschaftler sprechen hier von „Mikropolitik“ in einer „politischen Kultur“). Wer dieses ungeschriebene Hintergrundwissen nicht beachtet und darauf kundig einzugehen versteht, wird wohl auch nicht mit den formellen Wissensvorräten einer Gesellschaft zu Recht kommen. Dieses entzieht sich sogar vielfach der Instrumentalisierung von Politisierungskampagnen, sogar der der „Kindheitspolitik“, ist vielmehr Voraussetzung ihres Erfolgs (Krappmann 2000: 77ff.; Grundmann 1999; Kaufmann 1995; Alheit 1994). Erst in diesem Rahmen, oder besser: dieser Rahmung, lassen sich Bedeutung und Funktion einzelner Sozialisationsschübe oder -phasen bestimmen. Und solche „Referenzsysteme“ oder unvollständigen Strukturzusammenhänge erschließen Möglichkeiten der Alltagstypik und wechselnder Relevanz sowie (nachträglicher) Normalisierung und „Reparatur“ und können sich lebenspraktisch konjunktiv oder eher disjunktiv nutzen und gebrauchen lassen (Bohnsack 1998: 260ff.). Die mehr oder minder kommunikativ ausgehandelte alltagspraktische Thematisierung entsprechenden Wissens (Gesichtspunkte, Kriterien, Kategorien, Stichworte, Kommunikationstopologien) entspricht mehr oder weniger dem praktischen Wissen um Handlungsspielräume und Möglichkeiten situativer Aktualisierung, als der Chance, Situationen zu dramatisieren oder herunterzuspielen. Diesen Wissensordnungen liegt also immer auch eine Selektion von Gesichtspunkten, themenschwerpunkten und eine höchst voraussetzungsvolle Konstruktion des „Agenda
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Setting“, der Exklusion von Bezugspersonen oder Bezugsgruppen, Kommunikatoren, Rezipienten, Adressaten und Publika zugrunde. Bedeutung, Sinn, Wissen entstehen nicht gleichsam naturwüchsig aus Informationen oder einem Informationsfluss. Sie müssen ausgewählt, aufbereitet, unterschieden, geordnet, in Zusammenhänge eingebaut, verstehbar und mitteilungsfähig gemacht werden und gründen immer in komplexen, durch Zeichen und Symbole fundierten Verweisungszusammenhängen. Oft sind sie auch mehr oder minder diffus in ein „kollektives Gedächtnis“ eingebettet. Diese (offenen und dauernd transformierten) Wissensvorräte und Wissensordnungen der Gesellschaft verändern, filtern und sichern oder überbrücken zugleich soziales Handeln, auch wenn dies heute immer wieder durch Kontingenzen perforiert und unterbrochen wird (Luckmann 2002: 69ff.). Es handelt sich also gar nicht nur um einen „Informationsfluß“, sondern stets um höchst voraussetzungsvolle kommunikative Konstruktionen und Wissensstrukturierungen, die alle soziologisch einen makro-, meso- und mikrosoziologischen Aspekt besitzen. Sie regeln die Wissensproduktion, -verteilung, -aneignung und die reflexivrekursiven sozialen Reaktionen auf diese grundlegenden Vorgänge (Luckmann 2002: 79, 83). Dabei sind natürlich auch Wissensmonopole, Wissensklüfte und die Chancen von Definitionsmächten und Macht- und Funktionseliten zu beachten, die Herrschaftswissen akkumulieren und sich sogar den Luxus leisten können, nicht lernen zu müssen (K. W. Deutsch), während sie Anderen vorschreiben, „lebenslang zu lernen“. Eltern und Kinder können sich auch dem „Risikowissen“ verweigern, weil sie die Gesellschaft im „Wegsehen“ bestärkt. Selbst die heute weit verbreitete, modezentrierte Ansicht, dass nichts so normal wie die Anormalität sei, verweist auf Kontrollprozesse der zentralen Definitionsmächte. Sie spielen sozusagen oft auf der Klaviatur der Präventivwirkung des Wissens und Nichtwissens (Popitz 1968; Bröckling 2000). Kinder handeln immer schon mit alltäglichem Hintergrundwissen. Gleichzeitig werden sie gefordert und gefördert; stets nicht „schlechthin“, sondern selektiv-exklusiv. Selbstverständlich werden sie auch von gut gemeinten „Förderungsmaßnahmen“ auch bis zu einem gewissen Maße kontrolliert. Meist werden dann die Spuren gut verwischt (Luckmann 2002: 89). Unterschiedliche Teilgruppen von Kindern geraten auch in die Definitionkämpfe der Interpretationskonflikte der sozialen Minderheiten mit der herrschenden sozialen Mehrheit, die bekanntlich empirisch und quantitativ in der Minderheit sein kann. Sie geraten auch in die synchronen Verständigungsprozesse (auf verschiedenen Ebenen) über den Charakter und die Gestaltung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die sie tragende Institutionenordnung. Doch oft verhalten sich Kinder auch (scheinbar) ganz spontan und „als ob“ sie ganz autonom wären (Luckmann 2002: 89). Die „gebrochene Intersubjektivität“ verhindert, dass sie sich heute exklusiv an einer irgendwie „gehärteten“ „generationalen Ordnung“ orientieren könnten. Der heutige Kinderalltag und, das was Kinder konventionell in der Freizeit als „Außeralltägliches“ erfahren, mag auf den ersten Blick oft recht traditionell wirken. Ein zweiter, genauerer Blick kann aber wohl die vielen, ambivalenten Verwerfungen kaum noch übersehen.
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11.9 Gesellschaftliche Reproduktion und gesellschaftliche Responsivität Wenn alles wie geschmiert zu laufen scheint, braucht keineswegs alles in Ordnung zu sein. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt es durchaus „Betriebsblindheit“ und notdürftig kaschierten „Leerlauf“, „Null-Optionen“ und „Selbstblockaden“, die dank perfekter Wahrnehmungsverweigerung oder „Impressionsmanagement“ noch eine ganze Zeit zu „funktionieren“ scheinen. Vogel-Strauss-Politik gibt es nicht nur im Tierreich (Offe 1986: 97ff.; 1994). Kinder werden oft rhetorisch akzeptiert und dann doch „vertagt“, praktisch „gewollt“ oder nicht „gewollt“. Sie werden „gewünscht“ und dann doch nicht geboren. Vielleicht sind sie von ihren Eltern ursprünglich gar nicht gewünscht worden und werden dann doch sehr geliebt. Es ist möglich, Kinder hymnisch zu preisen und ihnen dann doch in der Lebenspraxis einen äußerst geringen Raum zu bieten. Die Gesellschaft kann auch von Kindern wenig Aufhebens machen und ihnen trotzdem sehr viel Zuwendung und Fürsorge bieten. Kurz: das Verhältnis zwischen Diskurs und sozialstrukturellen Handlungsspielräumen und konkretem Umgang mit Kindern ist weder eindeutig noch linear-kausal determiniert. Es kann mehr oder weniger große Diskrepanzen aufweisen. Kinder bestimmen über die Jahrhunderte in Europa nur sehr am Rande den Lauf und die Ordnung der Dinge (Vetter 1999) und ihr eigenes Kinderleben und Kindsein. Unverkennbar ist aber, dass man den Kindern, die in immer geringerer Zahl unsere Gesellschaft bevölkern, formal immer mehr gesellschaftliches Interesse entgegenbringt. Sie gelten als gefährdet und gleichzeitig als gefährlich. Vergeblich suchen sie heute freilich nach der ihnen von der sozialökologischen Sozialisationsforschung zugeschriebenen homogenen und stabilen Nischenstruktur. Sie sehen sich wohl immer stärker genötigt, in lockeren „Netzen der Lebenswelt“ zu hausen und sich eine „Zwischenwelt“ zu sichern, die sie sich um die bewegliche Konzentrik des leiblichen „Nullpunkts“ interaktiv schaffen und die sich notfalls pragmatisch revidieren lässt. Darüber hinaus stößt der soziologische Blick auch in der „Multioptionsgesellschaft“ (Gross) auf eine zunehmende Zahl von „Modernisierungsverlierern“ und „Überflüssigen“, die eindeutig im Schatten der „Modernisierungsgewinner“ unter den Kindern stehen. Die „proportionale Chancengleichheit“ scheint in weitere Entfernung als jemals gerückt zu sein (Bude 1998: 363ff.; Offe 1996: 258ff.; Vester 2001: 298ff.). Aufgrund welcher Schlüsselerfahrung nehmen sich Kinder in der Regel so wahr, wie es ihnen die Gesellschaft von ihrer sedimentierten Chancenstruktur her nahe legt? Einmal sprechen ihre Eltern gelegentlich nicht immer sehr realistisch darüber. Die Medien liefern Distinktionskriterien, die sich oft rasch als illusorisch herausstellen. Die Gleichaltrigen markieren ein Anspruchsniveau und viele andere Menschen, z. B. die Großeltern, Erzieher und Lehrer, vermitteln sozialen Vergleich und Kommentare auch durch ihre vorsprachlichen, aber symbolisch codierten Verhaltensformen. All diese Wahrnehmungen, Reaktionen und unausgesprochene und ausgesprochene Sanktionen liefern ein Mosaik sozialstruktureller Hierarchien und Chancen- und Risikostrukturen, die sich immer mehr zu einem handlungsmotivierenden bzw. demotivierenden bzw. kollektiv mobilisierenden oder entmutigenden „Bedingungszirkel“ verengen und zur self-fullfilling-prophecy oder zum „heimlichen Lehrplan“ mutieren können. Je länger er sich festigen und schließen kann, umso schwerer ist er zu durchbrechen oder zu sprengen. Wissen ist daher ein unverzichtbares,
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eminent wichtiges Medium der Wirksamkeit der Sozialstruktur und Situationsdefinition in ihrer „dualen Struktur“. Die heutige gesellschaftliche Reproduktionskonstellation ist durch ein Überangebot an Optionen wie an Fremdbestimmung ausgezeichnet. Sinnangebote wie Sinnverlust tauchen bei der Orientierung der Kinder im „Markt der Möglichkeiten“ zugleich auf, führen aber nicht immer zur individuellen Desorientierung oder kollektiven Anomie. Doch ein Mangel an „Passung“ zwischen Wünschen und realen Angeboten ist nicht ungewöhnlich. Immer stärker zeigt sich die Notwendigkeit bei Kindern, sich aktiv als Konstrukteur in Szene zu setzen, auch wenn die dann anfallenden Koordinations- und Abstimmungsmöglichkeiten gar keinen großen Verhandlungsspielraum mehr lassen (Jäckel 2004; Neumann 2001: 102ff., 108). Kinder können oft nur im besten Fall im Rahmen ihrer familialen Verhältnisse und jeweiligen Zugänge der Marktsituation zwischen einem beschränkten Optionsangebot, also stark vorstrukturierten Optionsspektren, flexibel wählen, mehr auch nicht. Oft scheinen sie auch die Angebote nicht richtig zu verstehen und große Abstimmungsprobleme in ihrem Alltag zu erleben. Informationen, Verstehen, praktische Entscheidungen und Planungsmöglichkeiten scheinen oft nicht zu harmonieren. Nicht selten scheinen sie auch auf illusionäre Suggestion, z. B. der Werbung in einer „geschwätzigen Gesellschaft“, hereinzufallen, alles sei verhandelbar, zu konsumieren und in interpersonale Kommunikation aufzulösen. Mindestens verwirrend auf den ersten Blick mag für Kinder auch sein, dass sich bunt gemischt geregelte Verlaufsformen, „modern-oppositionelle“ und „postmoderne“ Experimente, Reste alter Lebensformen und weitgehend unstrukturierte oder rein pragmatisch-situative Formen der Biographie dicht beieinander finden (Abels 1993: 490f., 511ff.; Schülein 1990; Burkhart 1992: 235ff.). Für immer mehr Kinder kann es schon bald zu einem durchschnittlichen Kinderleben gehören, nacheinander in mehrere Lebensformen hineingezogen zu werden. Seit Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ist auch ein erheblicher, oft allerdings künstlich verschleppter Institutionenwandel beobachtbar. Es breitet sich auch ein immer breiter werdendes und temporal schwankendes Spannungsfeld der Lebensverhältnisse und ein Spektrum gleichzeitiger Normalitäten und Ungleichzeitigkeiten im historisch-biographischen Verlauf zwischen verschiedenen Sozialmilieus, sozialen Lagen und figurativen Feldern und Lebensstilszenen aus. Sie führen zu einer gewissen Deinstitutionalisierung des modernen Lebenslaufs und der Lebensphasen und noch kaum beachteten längerfristigen Hybridbildungen und Mischungen oder exzeptionellen Extremen. Interaktionssituationen werden dann oft entscheidend. Und trotz dieser oft widersprüchlichen Diversifizierung der Kindheit treten auch neue Polarisierungen in Erscheinung, die gefährlich an die frühmoderne Klassenbildung erinnern. Arbeiterkinder und Kinder mit Migrationshintergrund sind bislang z. B. eindeutige „Modernisierungsverlierer“ oder sogar „Überflüssige“. Doch auch Kinder aus Kreisen von „Modernisierungsgewinnern“ und aus „individualisierten“, „avantgardistischen“ oder „alternativen“ Sozialmilieus im Umkreis von Metropolen oder Großstädten mit Universitäten, Medien-, Kommunikations- und Kulturzentren (Burkhart 1992: 239) haben zwar häufig viele Optionen, die sie allerdings nur nutzen können, wenn sie zuvor Belastungen und Risiken zu bewältigen in der Lage waren. Ohne spezielles „Coping“ sind dies oft nutzlose Optionen. Sie sind Gewinner und hätten doch leicht auch Verlierer sein können. Kinder sind heute nicht einfach „aktiv“. Sie sind meist auch zeitweilig „passiv“ oder „rezeptiv“ und verletzlich. Sie sind also unterschiedlich selbstbewusst, selbstständig, selbstkritisch, kon-
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formistisch. Jedes Kind erlebt Aktivitätsschwankungen, auch Situationen, in denen Impulsivität und Aktivität eher nachteilig wirken (Herzberg 2001: 54ff.). Viel zu wenig wird von manchen Beobachtern die jeweilige Vorgeschichte gewürdigt; sowohl bei Kindern wie Erwachsenen, die mit Kindern Umgang haben. Hier entwickelt sich ein Geflecht von Schutzfaktoren und Belastungen im Horizont des jeweiligen sozialen, kulturellen, ökonomischen Kapitals (Bourdieu 1988; 1991: 7ff.). Individuelle psychische Dispositionen sagen ohne Berücksichtigung der Vorgeschichte und der synchronen Ressourcenlage der Akteure, genauer: der reinterpretierenden „Rahmungen“, wenig aus. Hier zeigt sich eben, dass optisch identisch und konstant erscheinende „Gegebenheiten“, in Wirklichkeit ganz verschiedenen Konstitutionsprozessen entstammen können und Normalisierung ein komplexer, vielschichtiger und u. U. widersprüchlicher Transformationsprozess darstellen kann. Mit traditionellen Vorstellungen „einfacher“ oder „erweiterter“ Reproduktion und nicht einmal mit „nachholender Modernisierung“ (Habermas) muss das viel zu tun haben. Kinder erobern sich heute unter ähnlichen Lebensbedingungen ganz unterschiedliche und unter ganz verschiedenen Umständen ganz ähnliche „Zwischenwelten“. Sie können einmal eher an Erwachsenen und dann wieder an Kindern, eher an Erwartungen von Institutionen oder an Interaktionspartnern orientiert sein und in ihren „Realitätsakzenten“ auch vielfältig wechseln (Herzberg 2001: 56f.). Und diese „Zwischenwelten“ lassen sich auch temporal nach der dauerhaften „Zustandsaktualität“ des Routinealltags oder außeralltäglichen „Ereignisaktualitäten“ bzw. Kontingenzen akzentuieren. Besonders durch außerordentliche „Zeitfenster“ können eingefahrene Bedingungszirkel der Alltags- und/oder Lebensgeschichte leicht über den Haufen geworfen werden. Doch je weniger beherzt die offenen Augenblicke in ihren Chancen genutzt werden, umso mehr macht sich dann auch wieder die „dumpfe Macht der Verhältnisse“ geltend. Für viele Kinder verschließt sich dann noch immer oder schon wieder früh die sozialstrukturelle Opportunitätsstruktur: Die soziale Herkunft nimmt sozusagen Schicksalscharakter an. Schicksalsaspekte dringen aber auch neu durch technische Planung und Technologie ins kindliche Leben ein. Kinder können so nicht nur zu „Kopfgeburten“ (Beck 1998) ihrer Eltern werden, sondern zu „Retortenkindern“, die ganz „archaische“ Vorstellungen über die Genealogie nicht nur modifizieren, sondern auf den Kopf stellen: Kinder können verschiedene, mehrere biologische und soziale Eltern haben. Die kulturelle und soziale Qualität der Verwandtschaft und des Generationenverhältnisses wird übermächtig und scheint frei u. U. nach Katalog kombinierbar. Zusammen mit der steigenden Scheidungshäufigkeit und Neuallianzen der Eltern zeichnet sich für nicht wenige Zeitgenossen die Chimäre einer allgemein um sich greifenden „Patch-work-Familie“ ab. Jedenfalls verweisen die neuen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin darauf, dass der schlichte Unterschied zwischen „einfacher“ und „erweiterter“ Reproduktion und Variation der „Strukturkategorie“ Kindheit deutlich unterkomplex ist. Ganz neues Wissen formiert und transformiert die Wissensgesellschaft (Stehr 2003: 17f.). Auch das Eltern-Kind-Verhältnis wird „machbar“ und zusehends durch Leistungskriterien rationalisiert. Schon junge (potenzielle) Eltern werden von „Ratgebern“ „mitgenommen“, sich u. U. schon vor der Geburt von einer auf dauernde Optimierung bedachten „verantworteten Elternschaft“ in Pflicht nehmen zu lassen und sich für die Steigerung der Leistungsgerechtigkeit ihres Kindes unermüdlich einzusetzen. Gesellschaftliche Reproduktion geschieht als Transformation objektiven in subjektives Wissen und reaktive, zeitlich oft verschobene Rückkopplungseffekte. Wie kann dieser Prozess sozialer Konstruktion sowohl zukunftsoffen, wie „gegenwartsfreundlich und kom-
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munikativ-responsiv werden? Man missversteht den Begriff „freie Meinung“, wenn man ihn nur individualpsychologisch als ein separates Stück Wissen und als quasi sachrechtlichen Besitz einer einzelnen Person interpretiert. Weder der Eine noch der Andere oder die Gesellschaft hat ihr Wissen als exklusives Eigentum. Wissen ist mehr als speicherbare Information. Es setzt ein „Funktionsgedächtnis“ (Assmann) und eine vitale Verständigungsbereichtschaft voraus, die sich vom Anderen, vom Fremden und der Zukunft noch herausfordern lässt (Steinert 1999: 69; Luckmann 2002). Individuelle und kollektive Wissensvorräte provozieren, relativieren und ermöglichen „Zwischenbilanzen“ und sich darauf gründende „substanzielle“ Kommunikation und Kooperation von Kindern zusammen mit, neben und gegen Erwachsene.
11.10 Die vielen Gesichter der Kindheit: Kindheit, Kinderleben, Kindsein Außer Zweifel steht, dass viele Beiträge zur neuen sozialwissenschaftlich-soziologischen Kindheitsforschung das heutige Bild der Kindheit mitbestimmt, erweitert, vertieft und farbiger gemacht haben. Sie haben die „Sicht der Kinder“ methodisch neu (u.a. aus der typischen Teilnehmerperspektive) erschlossen und auch lebenspraktisch und politisch die „Stimme der Kinder“ laut vernehmlich gemacht. Theoretisch haben sie einen Paradigmenwechsel eingeleitet und der soziologischen Forschung einen ganz neuen Bereich erschlossen. Allerdings blieb dieser Schritt oft halbherzig und allzu eifrig bemüht, den Kontakt zu einer „kritisch revidierten“ Sozialisationsforschung nicht abreißen zu lassen. Damit blieb aber das Spannungsfeld zwischen kindlichem Eigen-Sinn und seiner Verletzlichkeit eigentümlich unterbestimmt. Die gezielte Vermittlung des notwendigen Basiswissens für den praktischen Umgang und die soziale Kommunikation mit Kindern wird bekanntlich seit dem 16. Jahrhundert immer stärker professionellem und wissenschaftlichem Sonderwissen übertragen. Gelernt wird aber heute keineswegs nur in der Schule. Es gibt öffentliches, kommerzielles und selbstorganisiertes Lernen an ganz verschiedenen „Lernorten“. Und schließlich werden Kinder auch immer wieder zum Vergessen gedrängt. Die Schule animiert Kinder, das teilweise zu vergessen, was sie in der Familie schon gelernt haben. Später signalisieren ihnen ihre Ausbilder oft, dass sie „Schülerallüren“ und Schulwissen möglichst schnell vergessen sollen, um den Kopf frei zu bekommen, für das, was nun zählt (Assmann1995: 169ff.). Im 16. und 17. Jahrhundert wurden meist die politischen Berater der Fürsten mit der Vermittlung einschlägigen Wissens betraut: Theologen, Philosophen, Mediziner, Juristen, Literaten. Später traten Schulfachleute, Bildungsadministratoren, Verwaltungsspezialisten an ihre Stelle (Steinert 1999: 65). Oft wird übersehen, dass es immer auch „Gegenexperten“ und „Gegenwissen“ zum herrschenden Wissen gab; etwa im Bereich der Reformpädagogik oder der eigenen Bildungstradition der europäischen Arbeiterbewegung. Auch Wissenschaftler mit ihrem Sonderwissen bleiben Kinder ihrer Zeit und deren herrschenden Vorstellungen. Sie beobachten nicht vom „Gottesstandpunkt“, sondern aus ihren Fachdisziplinen und deren „Stand der Forschung“ aus. Sie vermeiden aber nicht immer den Eindruck, sie könnten endgültige Aufklärung liefern (Ritsert 2002). Auch die systematisch-kritische Wissenschaft ist nicht nur standpunktgebunden und historisch situiert, sondern in vielfältige reflexive soziale Prozesse verwoben.
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Darum kann das Verständnis der Kindheit in den Sozialwissenschaften nie endgültig sein. Das soziale Phänomen der Kindheit bleibt an seinen Konstitutionsprozess gebunden, konstituiert sich immer von neuem. Vielfach geäußertes Wissen erreicht heute mindestens bruchstückhaft auch schon Kinder und diese reagieren darauf. Und dann wird oft neues Wissen über die solchermaßen „veränderte Kindheit“ notwendig. Kinder und Kindheit sind daher nie völlig zu durchschauen und bleiben mehrdeutig und aspektreicher, als dies jede vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Einzelperspektive gelten lassen will. Die kritische Qualität von Wissen hängt aber davon ab, ob die jeweilige Perspektive ihre eigene Reflexivität und auch die von ihr ausgelösten Publikumseffekte mitreflektiert (Flick 2000: 20ff.). Diese Reflexivität ruft auch immer wieder neue Fragen und Antworten und Reaktionen auf neu sichtbares Nichtwissen hervor. Manchmal aber kommen da nicht nur Kinder nicht mehr mit. Jedes neue Wissen muss daher auch eine gewisse vorläufige Klarheit schaffen, wie „altes“ und „neues“ Wissen zusammenhängt, und Akteure daran anknüpfen können. Und das ist die eigentliche Funktion sozialer Konstruktion auf Zeit. Kindheitssoziologie kann sich also nicht damit begnügen, mit rohen Daten oder objektiven Fakten über Kinder historisch überkommene Lebensformen zu thematisieren. Sie muss künftig auch stärker die reflexiven Reaktionen der eigenen Wissensproduktion auf die Konstitution des sozialen Phänomens Kindheit und die Perspektivenverflechtung der vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Perspektiven erforschen und daher über Forschungen hinausgehen, die nur „universalpragmatische“ und kontrafaktisch-normative Sachverhalte beachten. Die soziale Konstruktion von Kindheit ist heute eben nicht nur die sozialisatorische Entfaltung einer „Rollenübernahme“ (Mead) und eines homogenen Kompetenzerwerbs, sondern weit fundamentaler deren Ermöglichung, Normalisierung und Wiederaufnahme eines immer wieder unterbrochenen Sozialisations- und Kommunikationsprozesses. In Konzepten der ontogenetisch-interaktionistischen Sozialisationsforschung formuliert muss folglich geklärt werden, wie Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik, Kompetenz und Performanz tatsächlich zusammenhängen, sich wechselseitig bedingen, stützen, fördern, aber auch relativieren, schwächen, stören (Grundmann 1999; Siegert 1979: 19f.). Faktisch geht es hier allerdings immer um viel mehr, nämlich um Bausteine oder Surrogate einer Art „Kosmologie“ oder „Landkarte der Gesellschaft“ und um eine „multirelationale Synchronisation“ als grundlegende Rahmung für Sozialisation und Sozialkontrolle wie für „Ausbruchsversuche“ (Cohen) aus beiden; vor allem aber um die Möglichkeit von „Neuanfängen“ für Kinder, die heute immer öfter aus vertrauten Lebenszusammenhängen herausgerissen werden (Abels 1993: 536). Die enge Verwobenheit ihrer alltäglichen Erfahrung mit technischen, professionellen, wissenschaftlichen Bruchstücken von Sonderwissen setzt Kinder in begrenztem Umfang in Stand den „sozialen Raum“ mitzugestalten, der dauerhaft praktikable, nicht nur denkbare Möglichkeiten und situative Gelegenheitsstrukturen der Interaktion eröffnet. Bei ihrer konkreten Erschließung verschließen sich aber immer auch auf dem Hintergrund der „Zeitfenster“ andere, ebenfalls nicht unwahrscheinliche Möglichkeiten. Hier zeichnet sich also eine gewisse Dramatisierungschance – und ebenfalls eine Chance zur Entdramatisierung – ab. Es verläuft eben nicht alles stetig oder monoton im kindlichen Leben zusammen mit, neben, gegen Erwachsene. Durch die gesellschaftlichen Verwerfungen der Globalisierung entstehen neue Möglichkeiten der Perspektivenverflechtung und der sozialen Netze globaler, europäischer,
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nationaler und regionaler, aber auch diachroner Referenzen und eine neue Art „multirelationaler Synchronisation“ im Rahmen einer „Mehrebenengesellschaft“ dauernder Wissensproduktion. Sie ist nicht länger nur mit Konzepten der funktionalen Differenzierung zu begreifen, denn in ihr kommen neben funktionalen Ausdifferenzierungen, symbiotischsynergetische, paradoxe und hybride Aspekte sozialer Differenzierung und Integration zum Tragen (Wagner 1999: 68f.; Heitmeyer 2005). Immer wichtiger werden Übergangsmöglichkeiten und intermediäre Strukturen (Berger 1995; Luckmann 2002; Hettlage 2000). Jeder Übergang kann nicht mehr einfach Sozialisation voraussetzen. Er muss ihre Möglichkeit erst schaffen und sichern. Besonders schwierig wird für viele Kinder der Übergang von der vertrauten Alltagssolidarität im lokalen Sozialmilieu zur notwendigen gesamtgesellschaftlichen Solidarität, weil diese immer abstrakter und anonymer zu werden scheint (Zoll 1993; Alheit 1994). Eine sozialkonstruktivistisch belehrte Kindheitssoziologie kann Kindheit nicht einfach als akzidenzielle Anreicherung einer Natursubstanz oder als Strukturkategorie (ContainerKonzept) voraussetzen. Sie muss das soziale Phänomen aus seiner Konstitution zur (vorläufigen) „sozialen Tatsache“ oder der Soziogenese beschreiben. Im Sinne der phänomenologischen Tradition und Vorgeschichte ist das zu beschreibende „Wesen“ oder die „Tiefenstruktur“ eines Phänomens identisch mit der in allen zum Erscheinen gebrachten Varianten aufscheinenden Handlungslogik. Diese liegt also nicht jenseits der Phänomene. Sie zeigt sich heute in den verschiedenen Formen der „Zwischenwelt“ zwischen „alter“ und „neuer“ Kindheit, die als temporalisierte „Ich-Wir-Balance“ Kindern ganz verschiedene Akzentuierungen gestatten. Zwischen Kindern und Erwachsenen gab es vermutlich nie, heute jedoch weniger denn je, pure Gemeinsamkeit oder reine Trennung; eben „Zwischenwelten“: primordiale, exklusive, fusionierte, projektiv-kreative oder hybride Figurationen von Erwachsenen-Kinder-Beziehungen. Damit versuchen sich Kinder ihrerseits einen Eigen-Sinn zu schaffen oder zu bewahren und Kommunikationsbarrieren und -abbrüche zu überbrücken und zu überwinden (Hettlage 1997: 9, 13). So können damit gegenwärtige und zukünftige Tranformationen in der Welt, Europa und anderen Großregionen mit unterschiedlichen Freiheitsgraden und Zugzwängen in einen gewissen Zusammenhang gebracht werden (James 1998). Manche Kinder planen weit voraus, manche finden das widerlich und lassen sich von Gelegenheiten zum Handeln animieren. Andere improvisieren aktiv und versuchen der Umwelt ihren Stempel aufzudrücken. Es gibt allerdings auch Kinder, die sich in erster Linie defensiv verhalten und trotzdem recht zufrieden sind. Manche ändern auch von Zeit zu Zeit ihre „Strategie“ und Disposition. Und oft verändern sich der Grad, die Intensität und der Charakter von „Aktivität“ und „Passivität“ erheblich. Manche Kinder akzentuieren eher das präsentische „Sein“ und das konkrete Hier und Jetzt, andere das „Werden“ auf die Zukunft hin. Und einige erspähen fast schlafwandlerisch den „richtigen Augenblick“ oder das „Zeitfenster“ zum Umschalten und Handlungserfolg. Überaus bezeichnend ist für Kinder der Wissensgesellschaft, dass Übergänge nicht ein Provisorium einer begrenzten Übergangszeit, sondern eine Ordnungsform für unabsehbare Frist darstellen. Die Strukturierung mittels vielfältiger Übergänge wird anscheinend zur spezifischen Art kindlicher Lebensgestaltung (Berger 1995). Was sich hier ereignet, deckt sich auch nie völlig mit dem, was außenstehende Beobachter protokollieren und schon gar nicht mit dem, was später in der Lebensgeschichte erzählt wird (Rosenthal 1995; Waldenfels 1985: 61). Die Akteure entnehmen den Sinnsplittern von Diskursen, Handlungsmustern
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und Situationsdefinitionen der verschiedenen Konstruktionsebenen ihr Konstruktionsmaterial. Wären die Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen ein für allemal gezogen, so könnten viele neue Aspekte „veränderter Kindheit“ überhaupt nicht wahrgenommen werden, wäre Kindheit aber ein zufälliges Ergebnis rein zufälliger situativer Interaktion, so könnten wir weder unterscheiden noch identifizieren. In soziokulturellen Diskursen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wurde Kindheit als soziales Phänomen entdeckt und als „soziale Tatsache“ weithin sichtbar gemacht. Aus dem „kleinen Erwachsenen“ und „kleinen Unterschied“ zu erwachsenen wurde das moderne „kindgemäße“ Kind mit seinem „großen Unterschied“ herauspräpariert und den zwei Kinderinstitutionen Kleinfamilie und Schule legitim zugesprochen. Spätestens in der Wissensgesellschaft unserer Tage lässt sich der notwendige Wissenserwerb weder in der Familie noch der Schule allein sichern. Aus dem „erziehungsfähigen Kind“ wird nun ein „kompetenter Akteur“, „aktiver Konsument“ oder ein politikfähiger „Kinderbürger“. Langsamer als der Diskurswechsel vollzieht sich der Wandel der Sozialstruktur und der kindlichen Lebensverhältnisse, insbesondere der der sozialen Platzierung oder Positionierung und der Statusgenerierung, obwohl die soziale Mobilität zunimmt. Der moderne Sonderstatus des Kindes mit seinem öffentlich-privaten Janusgesicht und der Schonraum der Lebensphase Kindheit löste sich schon zu Ende des 20. Jahrhunderts auf. Das soziale Moratorium wurde zum sozialen Laboratorium mit einer Vorverlegung des Beginns der Jugend und einem merkwürdig diffusen Ende kindlicher Verhaltensweisen und endgültigen Abschluss der sozialen Kindheit aufgrund des nicht kompletten Ineinandergreifens der (z. T. unscharfen) Statuspassagen und der Verwischung des Unterschieds zu den Erwachsenen. Dennoch wurden Kinder in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern zur anerkannten Bevölkerungsgruppe, der durch bestimmte institutionelle Normalitätsunterstellungen bestimmte formelle Ressourcen zugesprochen werden. Sie wird nicht nur durch ihren Bildungsanspruch, sondern viel breiter rechtlich und sozialpolitisch gestützt und eigens legitimiert durch „Kinderrechte“ (Richter 2000: 289ff.; Wiesner 2003: 153ff.). Obwohl viele Kinder mit ihren Lebensverhältnissen gut zu Recht kommen, ist Kindheit heute keineswegs „kinderleicht“ (Psychologie 1982; Mansel 1996). Paradoxerweise stammt ein Teil der Schwierigkeiten gerade aus einer überzogenen Vorstellung kindlicher Autonomie und Verhandlungsmacht. Kinder verhandeln aber nicht nur, wie Erwachsene auch, unter Bedingungen einer konkreten historischen Situation und „multirelationalen Synchronisation“, sondern in mehrfach, z. T. latent vorsortierten sozialen Kontexten. Im besten Fall besteht ihre Freiheit aus der Möglichkeit, aus vorbereiteten Optionen auswählen zu können, im schlechtesten Fall überfordert sie diese Situation aber durch die Notwendigkeit, ihre Optionschance mit anderen Optionen und gefällten Lebensentscheidungen in Abstimmung zu bringen. Und: Neben den Optionen nehmen auch gleichzeitig die Scheinoptionen und Risiken zu und können oft nicht rechtzeitig unterschieden werden. Ein optionaler „Surplus“ tut sich Kindern erst auf, wenn sie ihre „natürliche Dissidenz“ entdecken und so die „List der Ohnmacht“ in kreativer und nicht nur normwidriger „Abweichung“ zu nutzen wissen. Entscheidend sind hier nicht nur kulturelle Traditionen und geltende Normen, sondern praktische Kompetenz und Wissen um die Entstehung, Reichweite, hermeneutische Dehnbarkeit und die „situative Relevanz“ von Normen oder Normalität (Schütz 1979: 87ff.), ihre Applizierbarkeit, sowie die ungefähre Kenntnis des Verhältnisses von Regel und Ausnahme. Normen und Regeln setzen immer schon solches Gebrauchswissen zwischen struktu-
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reller „Zustandsaktualität“ und strukturierender „Ereignisaktualität“ voraus, das teilweise heute durchaus nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Dabei stoßen Kinder stets unausweichlich auf Grenzen und das Problem der Differenz von Grenzverletzung und Grenzverschiebung (Herzberg 2001; Matthiesen 1994: 110). In vielen Fällen bewirkt das bei Kindern nicht ein konzentriertes Nachdenken. Gerade wenn sie sich dem gegenwärtigen Hier und Jetzt hingeben, setzt sich eher für längere Zeit eine „Erlebnisrationalität“ (Schulze) durch. Sie wird beispielsweise von der Werbung in den Medien gezielt genutzt. Jedenfalls bekommt aber die Gegenwart und das gegenwartsbezogene Interagieren bei immer mehr Kindern eine wachsende Bedeutung (Strauss 1968: 181f., 189). Und: „Neuanfänge“ vermehren sich zuungunsten von „Wiederholungen“. Gesellschaftliche Wirklichkeit von Kindern muss daher immer auch auf die Möglichkeit der Dramatisierung und Entdramatisierung (Abkühlung) hin abgefragt werden (Goffman 1969; Willems 1998; Kieserling 1999: 91). Das soziale Phänomen Kindheit ist weder „natürlich“ noch „kulturell“, weder „positiv“ noch „negativ“, weder soziokulturell, noch rechtlich, politisch, ökonomisch oder pädagogisch determiniert (eher: überdeterminiert), aber es wird durch alle diese Faktoren mitbestimmt und in die Interpretationsprozesse der Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung hineingezogen, konstituiert und transformiert. Es bleibt jedoch ein veränderliches Phänomen „in statu nascendi“. Heute franst dieses Phänomen sozusagen transnational wie lokal aus (James 1998; Hengst 2003): Wie lässt sich unter Bedingungen der Globalisierung eine Statusverbesserung des Kindes mit gesellschaftlicher Integration und Transfer von Alltagssolidarität in global-lokale Dimensionen so erreichen, dass zugleich der „Kinderwunsch“ junger Leute und allgemeine „Kinderfreundlichkeit“ angeregt und gefördert werden kann, und sich sowohl Familien und Kinderlose nicht ausgegrenzt fühlen müssen? Diese Grundfrage basiert auf der empirischen Einsicht, dass sich eine wachsende Diversifizierung und Streuung unterschiedlicher temporaler Figurationen von Sozialmilieus und wachsende Polarisierung keineswegs ausschließen. Wenn z. B. heute allenthalben, empirisch zu Recht, davon gesprochen wird, dass Kinder ein „Armutsrisiko“ seien, dann ist die Gesellschaft auf dem besten Weg, Kindheit als „soziales Problem“ anzusehen, obwohl dies explizit kaum jemand zugeben will. Die Folgen scheinbar chaotischer Perspektivendifferenzierung im vorwissenschaftlichen Alltagswissen und im wissenschaftlichen Sonderwissen der unterschiedlichen Theorierichtungen des human- und sozialwissenschaftlichen Sonderwissens und die gleichzeitigen strukturellen Veränderungen und strukturierenden Wahrnehmungen, sowie sozialen Reaktionen darauf in der Gesellschaft bleiben nicht ohne Rückwirkung auf das Fremd- und Selbstbild von Kindern, aber auch auf das junger Menschen, die im Alter sind, eine eigene Familie zu gründen und Kinder zu haben. Mit abstraktem Moralisieren oder diskursiver Propaganda eines schöngefärbten Kindheitsbildes oder der „sanften Macht der Familie“ (N. Blüm) ist jungen Menschen ihr Zögern oder gar ihre Angst vor dem „Risiko Kind“ nicht auszutreiben. Es gibt eben – offen oder verdeckt – viel zu viel Angst erzeugende und entmutigende Informationen z.B. über die zunehmenden Schwierigkeiten in einer Welt mit flexibilisierten und deregulierten Arbeitsmärkten etc. Und es gibt die massive Erfahrung, dass selbstbewusste Kinder selbst unter günstigen Rahmenbedingungen zum „Störfaktor“ werden (Sichtermann 1983). Beide Erfahrungen lassen sich auch nicht wissenschaftlich, quasi durch magische Praktiken, oder durch einzelne „Maßnahmen“ wegzaubern, die oft löblich sein mögen. Nur
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ist es eben unwahrscheinlich, dass sich damit eine „Wende“ in demographischer Hinsicht erreichen lässt. Es bedeutet vielfach nur, dass der „schwarze Peter“ weitergereicht wird und ein moralisierender Diskurs einem rigorosen Vorführ-Regime unterworfen wird, auch wenn nur eine winzige Minderheit von potenziellen Eltern zu den Verdächtigen zählt. Die Kampagnen dieser Form von Sozialkontrolle müssten aber auch in dichter Folge von Medizinern, Jugendhilfe, Kassen, Pädagogen etc. wiederholt und sozusagen der Polizei zu Protokoll gegeben werden. Das ist eine schiere, überdies in einer Demokratie nicht wünschbare Illusion, eine Simplifizierung komplexer Probleme. Eine Kultivierung der „Kinderfrage“ muss daher viel tiefer und breiter ansetzen. Inzwischen zeigt sich wohl deutlicher, dass Kinder – ähnlich, aber doch anders als Erwachsene – nicht rundum, immer und in jeder Hinsicht und jeder Situation „hilflos“ oder „kompetent“ sind. Eigen-Sinn schließt seine Verletzlichkeit gerade nicht aus. Nur Kinder, die sich als „Betroffene“ erkennen, können ihre Kompetenz kreativ, empathisch und „zivilkulturell“ zur Geltung bringen und brauchen sich nicht latent konditionieren zu lassen (Alheit 1994). Vielleicht sind gerade „aktive“ Kinder, die Konflikten nicht ausweichen, verletzlicher, weil sie sich ja immer dicht an der Schwelle der Normalität aufhalten und exponieren, ohne grundsätzlich Grenzen endgültig hinter sich lassen zu können. Manche Kinder treffen dabei auf eine Mauer der gesellschaftlichen Verständnislosigkeit, des wirkungsvollen Schweigens, der entfamiliarisierenden zeitlichen Ordnung (Hochschild 2002) oder Gewalt, vor allem, wenn sie über die Stränge schlagen und Normen oder Normalitäten verletzten oder verschieben wollen. Dahinter zeigt sich bei Erwachsenen manchmal eine enttäuschte Empathie und „Wut des Verstehens“ (Hörisch), die Kinder dabei kräftig missachtet; ebenso natürlich, wenn sie sie explizit ausgrenzt oder marginalisiert. Marginalisierung ist sogar möglich bei einer zur „Kinderfreundlichkeit“ hochstilisierten Rhetorik. Entscheidend ist aber, ob Kindern kreative „Neuanfänge“ konzediert und eine Wiederaufnahme sozialer Kommunikation ernsthaft ermöglicht wird, sich Formen der Kommunikationsunterbrechungen oder der Gewalt nicht verfestigen. Es wäre also zwischen „EigenSinn“ und „Verletzlichkeit“ aber auch „Larmoyanz“, Eigenständigkeit und Egozentrik, Rücksichtnahme und Abhängigkeit genauer zu differenzieren und einer „responsiven Rationalität“ Raum zu geben (Waldenfels 1998: 118, 123f.). Kinder werden immer früher zu „Jugendlichen“, ohne dass bei Jugendlichen „kindische“ Verhaltensweisen verschwänden. Kinder müssen daher immer früher mit offenem Risiko auf Identitätssuche gehen. Sie erleben dabei, dass das frühere Ideal der „Identitätsbalance“ (Habermas, Mead) nicht dauerhaft zu erreichen ist, und sie auch immer wieder – hoffentlich nur sporadisch und begrenzt – auch mit Imbalancen leben müssen. Der Mut und die Fähigkeit zu „Neuanfängen“ wird immer mehr zu einem konstitutiven Parameter der Kindheit. Dazu brauchen aber Kinder nicht weniger, sondern mehr Orientierungswissen, als ihnen vielfach die Gesellschaft anbietet. Es gibt Kinder, die beeindruckend offensiv ihr Leben zu meistern suchen, solche, die sich willig treiben lassen, solche die völlig defensiv erscheinen, aber doch in der Lage sind, ihren Weg zu gehen, solche, die weit in die Zukunft hinein planen, wieder andere, die selbstbewusst improvisieren oder fast virtuos umschalten können. Erstaunlich wenig werden aber die Kinder wahrgenommen, die in großer Zahl früh scheitern und sich als geborene „Modernisierungsverlierer’“ darstellen. Und es gibt natürlich auch geborene „Modernisierungsgewinner“, die unter günstigen gesellschaftlichen Bedingungen jeweils den „richti-
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gen Augenblick“ oder das „Zeitfenster“ des Erfolgs erfassen. Es ist eine fundamentale, kulturelle und politische Frage, an welchen dieser Typen sich Gesellschaft und Politik angesichts schrumpfender soziokultureller und sozioökonomischer Ressourcen orientieren wollen. Normalität, Normalisierung als „Reparatur“ von Normen und pragmatische Normalitätsunterstellung bei Normdiffusion sowie ihre Grenzen erfahren bei jedem einzelnen, durchaus interaktionsbestimmten Kind und seinen Bezugsgruppen und institutionellen Bezugssystemen unterschiedliche, reflexive aber dennoch typische „Realitätsakzente“: Einzelne Kinder können hier dominieren. Es kann zum wirklichen oder fiktionalen Konsens kommen. Konkurrenz kann unüberwindlich erscheinen. Normalität kann aber auch opportunistisch oder dialogisch bzw. responsiv auch ad hoc und situativ-pragmatisch hergestellt werden. Die Konstruktivität des Kindes als Konstrukteur dokumentiert sich also in höchst differenziellen, kommunikativen, nicht technischen (Scholz 1994) Konstruktionen, die sich soziologisch gut als „Zwischenwelten“ beschreiben lassen. Und diese Formationen sozialer Differenzierung werden laufend weiter transformiert und können auch ineinander übergehen. In dieser Weise behalten Kinder wohl auch in absehbarer Zukunft ihren prekären und verletzlichen Eigen-Sinn.
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