Nr. 354
Sperco und der Fremde Auf der Welt ohne Flügel von Hans Kneifel
Pthor, dessen Horden Terra überfallen sollten...
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Nr. 354
Sperco und der Fremde Auf der Welt ohne Flügel von Hans Kneifel
Pthor, dessen Horden Terra überfallen sollten, hat sich längst wieder in die unbe kannten Dimensionen zurückgezogen, aus denen der Kontinent des Schreckens ur plötzlich materialisiert war. Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem Start zu verlassen. Der ungebetene Besucher ging wieder auf eine Reise, von der niemand ahnt, wo sie eines Tages enden soll. Doch nicht für lange! Denn der überraschende Zusammenstoß im Nichts führte da zu, daß der »Dimensionsfahrstuhl« Pthor sich nicht länger im Hyperraum halten konnte, sondern zur Rückkehr in das normale Raum-Zeit-Kontinuum gezwungen wurde. Und so geschieht es, daß Pthor auf dem Planeten der Brangeln niedergeht, nach dem der Kontinent eine Bahn der Vernichtung über die »Ebene der Krieger« gezo gen hat. Natürlich ist dieses Ereignis nicht unbemerkt geblieben. Sperco, der Tyrann der Galaxis Wolcion, schickt seine Diener aus, die die Fremden ausschalten sollen. Dar auf widmet sich Atlan sofort dem Gegner. Um ihn näher kennenzulernen und seine Möglichkeiten auszuloten, begibt sich der Arkonide zu den Spercoiden. Atlan erreicht als Gefangener das Ziel, das er sich setzte. Er wird in das Haupt quartier des Tyrannen von Wolcion gebracht – und damit kommt es zur Konfrontati on: SPERCO UND DER FREMDE …
Sperco und der Fremde
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Die Hautpersonen des Romans:
Sperco - Tyrann von Wolcion.
Atlan - Der Arkonide soll spercotisiert werden.
Alför, Norc und Körz - Braisische Leibwächter Spercos.
Slosc - Atlans Todfeind.
Tancai - Die Braisin erwartet ein Junges.
1. Die turmartigen Wohnbäume waren aus wuchtigen, grauen Quadern zusammenge setzt. Vom Boden führten geschwungene Treppen zu den einzelnen Eingängen. Man sagte, daß die Architektur auf dem Planeten Roppoc ein niedrigeres Abbild der Wolken stadt des Garmanago-Landes war. Das ste chende Licht des Mondes und die halb ver deckten Lampen machten aus den Säulen der Türme ein Wirrwarr aus Schatten und Helligkeit. Etwa vierzig solcher Säulen drängten sich eng zusammen. Die Treppen wirkten wie hochgekrümmte Wurzeln. Die Stege, mit denen viele Türme untereinander verbunden waren, sahen wie abgestorbene oder abgesägte Äste aus. Körz, der zuverläs sige Wächter, blieb stehen, als er bei dem großen, blattlosen Baum angekommen war. »Wirklich!« staunte er. »So muß Nikhor ausgesehen haben, die Stadt, aus der Sperco gekommen ist.« Aqiroda-Bäume aus Stein, das waren die Wohntürme. Die kleinen Wohnzellen, nichts anderes als scheibenförmige Abschnitte der zylindrischen Säulen, konnten mit einiger Phantasie als späte Nachkommen der »Nester« angesehen werden. Aus diesen ehemaligen Baumplattformen kam das Volk der Braisen, das Sperco hervorgebracht hat te. »Mein Dienst für heute ist beendet«, mur melte der Braise und ging wieder weiter. Um viele Teile der Umfassungsmauern und zwischen den Türmen rankten sich lange, blattlose Gewächse. Ein Tyrph-Baum reckte seine kahlen Äste in die Nacht. Aus einigen Fenstern und Eingängen hinter den Kanzeln drangen mildes Licht und leise Stimmen.
Körz war ein großer, schlanker Braise mit silbergrauem Fell und großen, leuchtenden Augen. Seine langen Beine zeigten dicke Muskeln und scharfe Krallen. Er wohnte, zusammen mit Tancai, am Rand der riesigen Burg MOAC. Viele Braisen, die Aufseher funktionen unter den Truppen und Robotern Spercos versahen, wohnten hier in den Tür men. Körz sprang das Gewirr der Treppen hinauf und öffnete die Tür seiner Wohnung. »Du kommst spät«, begrüßte ihn Tancai. »Sperco erwartet ein Raumschiff. Er ist wütend, weil es den Fachleuten abermals nicht gelang, ihn fliegen zu lassen. Viele werden bestraft werden. Deshalb konnte ich nicht früher kommen.« Sie legten ihre Hände gegeneinander. Tancai war aufgeregt und schwach; sie trug das Ei schon seit mehreren Tagen. Sie hoff ten, daß es ein weiblicher Braise werden würde, aber auch ein Junge war ihnen lieb. »Es ist selten, daß ein Raumschiff lan det«, sagte Tancai. »Ich weiß. Auf Roppoc darf solange nichts und niemand fliegen, bis es Sperco gelungen ist.« Die Blätter der Bäume rund um MOAC wurden entfernt, während sie noch grün wa ren. Es gab Moose und viele Gräser, aber kein einziges fallendes Blatt durfte den Un willen des Tyrannen erregen. Weder Körz noch Tancai konnten sich erinnern, jemals einen Vogel oder ein Fluginsekt in der Nähe MOACs gesehen zu haben. Körz legte den Waffengürtel ab und zog sich zurück. »Ich möchte, daß unser Kind fliegt«, sagte zu seiner Überraschung Tancai, als sie sich am Tisch gegenübersaßen. Er starrte sie erschrocken an. Körz dachte an die Spercoiden-Anzüge, die geöffnet wurden, worauf sich der Insasse in lautlo
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Hans Kneifel
sem Feuer auflöste. Der gerechte Lohn für Ungehorsam oder Versagen. Oder an die Diener, die mitsamt den Anzügen verbrann ten. »Sag es niemals wieder!« zischte er. »Die Spercoiden werden unserem Kind ebenso die Flügel stutzen wie dir und mir und allen anderen.« Sie hob den Kopf und sah durch das Fen ster hinaus zu den Sternen und zur Mond scheibe. »Ich habe geträumt«, sagte Tancai leise. »Von einer Zeit, als die Braisen die Luft be herrschten.« »Die Zeit wird kommen«, entgegnete Körz leise. »Sprich nicht mehr davon. Das ist Verrat an Spercos Gesetzen. Willst du, daß er dich bestraft?« »Nein«, antwortete Tancai. »Aber ich kann mir die eigenen Träume nicht verbie ten.« »Dann sorge dafür, daß niemand deine Träume erfährt«, riet Körz seiner Gefährtin. »Wer von Sperco bestraft wurde, kann nicht mehr träumen.« »Ich werde es versuchen.« Mühsam beruhigt stand Körz auf und trat ans Fenster. Gegen den Nachthimmel hob sich der Koloß MOAC deutlich ab. MOAC beherrschte eine riesige Ebene, und soweit das Auge reichte, gab es nichts, das flog oder so wirkte, als fliege es. Auch Sperco flog nicht. Noch immer nicht.
2. Der schwere Sessel, mit dickem Fell aus geschlagen, war speziell für Sperco angefer tigt worden. Er saß verkrümmt vor der Ar beitsplatte und stützte das spitze Kinn in die Klauen. Ein akustisches Signal durchschnitt die Stille. Der persönliche Diener wollte den Raum betreten. Spercos Klauenfinger zuckte vor und be rührte einen Sensor. Das Bild auf einem rie sigen Schirm verblaßte, verschwand aber nicht völlig. Von hier aus verkehrte Sperco
mit den Wachstationen, die über Roppoc schwebten und die wichtigsten Knoten des ungeheuren Nachrichtennetzes darstellten. Der Druck auf einen anderen Kontakt ließ den Riegel zurückgleiten. Eine Tür schob sich geräuschlos auf. Ein Spercoide trat ein und blieb in achtungsvollem Abstand stehen. Sperco fragte ungeduldig: »Was gibt es?« »Die WAHRHAFTIGKEIT, o Herr, be findet sich im Anflug. Der Kommandant bit tet, wegen der Dringlichkeit des Problems auf Roppoc landen zu dürfen.« »Slosc und der Fremde sind an Bord und bewacht?« erkundigte sich Sperco. »So ist es, Herr.« »Wann kann das Schiff landen?« »In der Morgendämmerung, Herr«, erwi derte der persönliche Diener. »Ich warte auf die beiden«, erklärte der Tyrann. »Sie sollen sofort nach der Landung hierher gebracht werden.« »Selbstverständlich, Herr.« »Der Frevel wird gesühnt werden«, sagte Sperco leise und scharf. »Sperco hat die Macht.« Der Diener zog sich einige Schritte zu rück. »Die Spercotisierten sind seine Diener.« Der Spercoide in dem Raumanzug verließ die kleine Halle. Sperco lehnte sich zurück und spürte wieder einmal seine verkümmer ten Flügel und seine körperliche Hinfällig keit. In diesem Raum MOACs herrschte er uneingeschränkt über jeden und alles. Ein Viertel Tausend Sonnensysteme mit insge samt 498 Planeten gehörte zu seinem Herr schaftsbereich. Sechsunddreißigtausend Raumschiffe durchpflügten Spercos Imperi um. Im Augenblick sah es so aus, als wäre jener geheimnisvolle Fremde mit Namen Botosc der einzige, der sich ihm entgegen zustellen wagte. Sperco nahm nach einigen Sekunden wei tere Schaltungen vor. In barschem Ton for derte er die Spercoiden in der Raumstation über Roppoc auf, mit der Weitergabe der In formationen aus seinem Imperium fortzufah ren.
Sperco und der Fremde
* Ein Bild von grandioser Einsamkeit ent faltete sich. Die ersten Strahlen der Sonne legten sich über die riesige Ebene. Zwischen den Grä sern erhoben sich die Stelzvögel mit den prächtigen Schwänzen und den gestutzten Flügeln. Ein dunkelgrüner Teppich von Gras breitete sich bis zum Horizont aus. Die Bäu me in dieser Grasfläche trugen kein einziges Blatt. Viele der Bäume waren abgestorben. An dere, die noch nicht so alt waren, trugen winzige, lederartige Knospen. Die Stelzvö gel rissen ihre Hälse hoch und rannten eini ge Schritte davon, als aus dem großen Tor von MOAC drei Wagen hervorschossen und über die Grenzlinie fuhren. Sie rasten auf der breiten Straße in die Richtung des Raumhafens. Ein fernes Donnern kam durch die Mor gennebel. Dann senkte sich in der noch dunklen, ne belverhangenen Zone im Westen von MOAC ein Raumschiff herunter und lande te. Ein letztes Aufdröhnen der Triebwerke, dann herrschte wieder Ruhe. Es war außergewöhnlich selten, daß Sper co einem Raumschiff die Landung und den Start auf dem winzigen Raumhafen von Roppoc erlaubte. Jeder Spercoide, der die Geräusche des landenden Schiffes hörte, wußte jetzt, daß etwas Ungeheuerliches zu erwarten war.
* Die Erschütterungen hörten auf. Das Schiff senkte sich weich auf die Lan deteller. Nach einem letzten Aufbrüllen der Triebwerke erwachte Botosc. Er richtete sich auf und hob den Kopf. Du bist wahrscheinlich auf Spercos Pla net. Dein Ziel scheint erreicht zu sein, mel dete der Extrasinn. Atlan trug keinen Spercoidenanzug mehr.
5 Einerseits war seine letzte Tarnungsmög lichkeit hiermit verbaut. Er hatte keine echte Chance mehr, sich zu verbergen. Anderer seits war die unerträgliche psychische Bela stung vorbei, die ihn zu einem emotionellen Krüppel machen konnte. Nicht länger war er mehr der Sklave dieser finsteren Einflüste rungen, die das Verweilen in diesem dumpf riechenden Anzug mit sich brachte. Atlan schwang seine Füße von der harten Pritsche der primitiven Kabinenzelle, in der man ihn gefangenhielt. »Nun wird sich zeigen«, murmelte er im Selbstgespräch, »was es mit der WAHR HAFTIGKEIT auf sich hat.« Er meinte es zweideutig. Er konnte sich unschwer ausrechnen, daß er als Fremder er kannt worden war. Sein Ruf war ihm vor ausgeeilt. Falls das Schiff tatsächlich auf dem Planeten gelandet war, auf dem der Ty rann Sperco lebte, war er in höchster Gefahr. Und trotzdem: Er fieberte dem Augen blick entgegen, in dem er Sperco gegenüber gestellt wurde. Seine Erfahrungen, Tyrannen und Diktatoren betreffend, waren einschlä gig. Natürlich hatten die Raumsoldaten der WAHRHAFTIGKEIT Atlan und Slosc längst getrennt. Daß der ehemalige Kom mandant der BESCHEIDENHEIT ihn erbit tert haßte, war völlig klar. Dreimal hatte Slosc versucht, ihn umzubringen. Atlan schloß langsam die Schnallen seiner Stiefel. Er fragte sich besorgt, ob er das Haupt quartier Spercos jemals lebend verlassen würde. Er kannte sein Überlebenspotential; es war sehr hoch, wie er sich selbst gegen über bewiesen hatte. Loors und Atlantis oder Pthor lagen unvorstellbar weit zurück. Gab es eine Möglichkeit, nach Pthor oder gar nach Terra zurückzukehren? Atlan blieb auf der Kante des Lagers sit zen und wartete. Rund fünf Minuten später hörte er knar rende Stimmen und schwere Schritte auf dem stählernen Schiffskorridor vor seiner Zelle. Aus einem völlig unerklärlichen
6 Grund hatte er keine Furcht vor dem, was ihn erwartete. Die Tür öffnete sich. Ein halbes Dutzend von Spercoiden drängte sich auf dem Korridor zusammen. Zwei von ihnen kamen in sein primitiv aus gestattetes Gefängnis herein und richteten ihre schweren Strahlwaffen auf ihn. Inzwischen vermochte der Arkonide die Sprache der Spercoiden zu verstehen, selbst wenn er keinen Anzug trug. Wenn er das ei ne oder andere Wort oder diese oder jene Wendung nicht verstand, war er in der Lage, die Bedeutung zu erraten. »Wir sind auf Roppoc gelandet!« sagte ei ner der Wächter. Er trug außer einer Reihe von weißen Punkten um einen Anzugbuckel unterhalb des Kopfteils keinerlei Zeichen. »Was bedeutet das für mich?« fragte At lan und stand auf. Ob der Spercoide ihn verstanden hatte oder nicht, er antwortete jedenfalls: »Sperco hat befohlen, dich sofort vor ihn zu bringen. Komm!« Atlan ging langsam auf die Schottöffnung zu. Neben dem Kommando der Spercoiden entdeckte er zwei hochgewachsene Fremd wesen. Sie ähnelten riesigen Fledermäusen. Ihre Hände und Füße waren mit gut ausge bildeten Klauen ausgestattet. Auch sie waren mit langläufigen Energiewaffen ausgerüstet. »Wer ist das?« fragte der Arkonide und deutete auf die beiden Wesen, die er nicht kannte. »Das sind Braisen. Zuverlässige Wächter. Es sind Angehörige der Elitetruppe Sper cos«, war die knarzende Antwort. »Sie sehen aus«, sagte Atlan provozie rend, »als wären sie einst die Herrscher der Winde und Wolken gewesen. Aber jetzt, da ihre Flügel gestutzt sind, taugen sie nur noch zu niederen Aufgaben.« Er hatte sofort bemerkt, daß man ihre Flü gel gewaltsam gestutzt hatte. Offensichtlich war dies in ihrer frühesten Jugend gesche hen. Er sah in der spiegelnden Wand des Korridors die häßlichen Narben zwischen den Schultern der Fledermauswesen.
Hans Kneifel »Keine Unterhaltungen. Schnell, dort ent lang!« schnarrte einer der Spercoiden. »Selbstverständlich«, murmelte Atlan und folgte ihnen. Die grauhäutigen Wesen waren fast so groß wie er selbst. Sie bewegten sich tat sächlich so, als wären sie noch vor einigen Generationen virtuos durch die Luft geflo gen. Aber ein Blick auf die starken Schen kelmuskeln belehrte Atlan, daß sie das Ge hen gewohnt waren. Warum hatte man dann ihre Flügel ge stutzt? Wer? Interessante Aspekte! sagte der Logiksek tor. Die Spercoiden trieben ihn hastig den lan gen Korridor hinunter. Immer wieder be merkte der Arkonide, daß sie vor den Fle dermauswesen eine gewisse Scheu hatten. In der Bodenschleuse näherte sich ihnen eine andere Gruppe. Deutlich abgesetzt von den anderen bewegte sich in deren Mitte ein Spercoide. Ein schneller Blick zeigte Atlan, daß die charakteristischen Färbungen einiger Noppen des Anzugs vorhanden waren. Slosc! Und kaum, daß Slosc des Arkoniden ansichtig wurde, schleuderte er mit verzwei felter Kraftanstrengung seine Bewacher zur Seite und warf sich auf den anderen Gefan genen. Aus dem Helm unter der ovalen Quarzscheibe ertönte wütendes Gebrüll. »Du bist an allem schuld! Sperco wird mich bestrafen. Aber vorher bringe ich dich noch um!« gellte Slosc. Atlan sprang geschickt zur Seite. Der er ste Angriff des ehemaligen Raumschiffkom mandanten ging ins Leere. Die Wächter sprangen vor und umringten Slosc, schlugen mit den Kolben ihrer Waffen auf ihn ein und schrien durcheinander. »Trennt sie!« »Er will ihn töten!« »Sperco hat befohlen, beide lebend zu ihm zu bringen …!« Ein Keil von Raumanzügen schob sich zwischen Slosc und den Arkoniden. Man trieb sie in höchster Eile aus der Schleuse, die Rampe hinunter und auf einige wartende
Sperco und der Fremde Fahrzeuge oder Gleiter zu. Erst, als eines der Vogelwesen die Bewe gung des Anzugöffnens machte, hörte die Gegenwehr des ehemaligen Kommandanten auf. Zwei Gruppen bildeten sich. Atlan sah, daß der Raumhafen offensichtlich ziemlich klein war, und daß er von Büschen mit schwarzen, blattarmen Zweigen und einem saftigen, kurzen Rasen umgeben war. Zu seiner Verwunderung warteten auf ihn und Slosc keine Gleiter, sondern Fahrzeuge mit kleinen Rädern. Als man sie die Rampe hinuntertrieb, hat te er Gelegenheit, die Vogelwesen genau zu betrachten. Sie waren groß, schlank, kräftig und ge schmeidig. Eine gewisse Traurigkeit oder Gemessenheit beherrschte sie. Die langen, weißlich schimmernden Narben machten deutlich, daß die Schwingen sehr groß und kräftig geworden wären – wenn man sie nicht amputiert hätte. Verstümmelte man auf Spercos Befehl diese Flugwesen? überlegte sich Atlan. Vielleicht ist es Mode auf diesem Plane ten? Alles ist möglich! mischte sich der Ex trasinn in seine Gedanken. Vor dem ersten Fahrzeug wandte sich ei nes der Fledermauswesen an Atlan und sag te, schwer verständlich in der Sprache der Spercoiden: »Ich bin Norc. Der andere Zuverlässige Wächter heißt Alför. Mache keinen Flucht versuch, denn sonst müßten wir dich töten.« Atlan verstand sie mühsam und versuchte, ihnen verständlich zu antworten. »Keine Sorge«, sagte er langsam. »Ich bin begierig, den Tyrannen Sperco kennenzuler nen.« »Verhalte dich ruhig. Wir haben nichts gegen dich oder Slosc. Wir führen die Be fehle Spercos aus. Wir sind Braisen aus dem Stamm, der auch Sperco hervorbrachte. Wir gehören zur Leibwache des Herrschers.« Atlan hatte inzwischen einen Punkt er reicht, an dem ihm vieles gleichgültig war. Solange er nicht vor Sperco selbst stand, war er ungefährdet.
7 »Ihr seid Braisen?« fragte er ruhig. Die Fahrzeuge waren schnittig, hatten vier Paar kleine Räder, die wie die Gummireifen der antiken terranischen Automobile aussahen. Etwa oberhalb einer Linie, die sich in Schenkelhöhe des Arkoniden befand, wölb ten sich einzelne Teile einer transparenten Kuppel. Atlan sah, wie Slosc von den Sper coiden in das andere Fahrzeug gestoßen wurde. Die Braisen standen ruhig dabei und ließen ihre Klauen nicht von den Griffen der schweren Waffen. »Ja. Auch Sperco ist ein Braise. Wir ge horchen ihm bedingungslos«, lautete die Er widerung. »Ich verstehe nichts. Wohin bringt ihr Slosc und mich?« »Zu Sperco.« »Tatsächlich! Sperco sieht aus wie ihr?« Er registrierte ein kurzes, aber bedeu tungsschweres Zögern der Braisen. Sie war fen sich aus ihren großen, strahlenden Au gen einen merkwürdigen Blick zu. Dann deutete Norc auf das Fahrzeug. »So ähnlich. Keine Diskussion mehr. Dort hinein.« Atlan gehorchte schweigend. Je ein Braise nahm neben dem Fahrer Platz. Vor, neben und hinter Atlan drängten sich Spercoiden in den Wagen, der augenblicklich anfuhr, nachdem die Türen und die Teile der Kup peln geschlossen wurden. Die Fahrzeuge ra sten mit leise brummendem Antrieb unter dem Schiff hervor, fuhren sirrend auf die Baumreihen am Raumhafenrand zu und wurden schneller. Atlan blickte durch die transparente Kuppel hinaus. Er sah: Eine riesige Ebene. Die Sonne hob sich über den Horizont und blendete ihn. Die Ebene bestand aus einem dunkelgrünen, ge pflegt wirkenden Rasen oder einem hoch wachsenden Moos. Die Bäume faszinierten ihn. Sie waren groß und mächtig und reckten Äste und Zweige über die Fahrbahn. Aber Atlan bemerkte mit ständig steigender Ver wunderung, daß sie keine Blätter trugen. Sie waren kahl wie terranische Bäume mitten im
8 klirrenden Frost des Winters. Seltsam, sagte er sich. Wesen, die einst geflogen waren, und de ren Flügel wegoperiert worden waren. Bäu me, die wie echte Bäume wirkten, aber nicht ein einziges Blatt besaßen. Dann sah er im Gras eine Gruppe farbenprächtiger, großer Vögel. Zunächst wußte er nicht, was ihn an diesem Anblick störte. Aber plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Die Vögel besaßen keine Flügel. Er versuchte, zwischen den Zweigen der Bäume fliegende Vögel zu sehen. Nichts. Nicht einen einzigen. Nachdenklich gewor den, entspannte sich der Arkonide. Er wußte natürlich, daß die Spercoiden verschiedene Arten von Luftgleitern und solchen Fahrzeu gen besaßen, die dicht über dem Boden da hinrasen konnten. Hier auf Roppoc aber mußten sie in Fahrzeugen mit Rädern her umfahren. Ein wahrhaft echter Anachronis mus. Atlan war sicher, daß in der Umgebung Spercos interessante psychologische Um stände herrschten. Wie krank oder eigenartig mußte Sperco sein – falls Atlans Überlegungen richtig wa ren –, und er selbst herunterschwebende Blätter nicht leiden konnte. Atlan sagte so deutlich er konnte zu Norc: »Es ist ein winziger Raumhafen. Und doch ist Roppoc das Hauptquartier Sper cos?« Norc drehte sich halb herum und sagte krächzend in der Sprache der Spercoiden: »Unser Herr kann fliegende Raumschiffe nicht leiden. Um dich zu sehen, hat er eine Ausnahme gemacht. Daran kannst du erken nen, wie groß seine Wut ist.« »Und ich bin ihr Ziel«, murmelte Atlan. »Sperco lebt ruhig und zurückgezogen. Er meidet den auffälligen Kontakt mit Angehö rigen seines Imperiums. Wer in MOAC oder nahe der Riesenburg wohnt, kann sich glücklich schätzen, denn er gehört zu denen, die Sperco besonders achtet.« Atlan nickte; offensichtlich waren die Leibwächter besonders loyal. Er erwartete, da es sich um die Hofhaltung eines Tyran-
Hans Kneifel nen handelte, eine Unmenge von Personen, die nutzlos waren und versuchten, sich ge genseitig auszustechen. Alle würden sie be müht sein, dem Tyrannen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. »Unser Herr ist mit jedem Punkt seines mächtigen Imperiums in Gedankenschnelle verbunden«, erklärte Norc weiter. War dies ein Zeichen dafür, daß Atlan deswegen alles erfahren konnte, weil er nicht mehr lange le ben würde? »Im Weltraum rund um Roppoc stehen riesige Stationen. Sie sind voller Re chenzentren und Befehlszentralen. Und dazu verfügt Sperco, er ist die Macht, über eine sehr große Wachflotte voller Elitetruppen. Roppoc ist wirklich der mächtigste und am besten ausgerüstete Teil des Reiches.« Zu seinem größten Erstaunen war Atlan nicht gefesselt worden. Als die breite Allee abwinkelte und er, ohne direkt in die Sonne sehen zu müssen, Genaueres erkennen konn te, tauchte am Horizont eine wuchtige, annä hernd kuppelförmig wirkende Masse von Gebäuden auf. Sie hob sich dunkel und drohend gegen den rosafarbenen Himmel ab. »Das ist MOAC!« sagte Norc, als sei da mit alles erklärt. MOAC war eine riesige Ansammlung von mehr oder weniger säulenartigen Bauwer ken. Einige von ihnen wirkten schräg und wie zusammengebrochen, andere lehnten sich gegeneinander, je weiter innen die Ge bäude, von denen manche wie ins Monströse vergrößerte Steine mit Löchern wirkten, de sto höher waren sie. Untereinander waren viele von ihnen mit dicken Röhren verbun den. Sperco schien eine düstere Figur zu sein, wenn er die Anlage so hatte errichten lassen. Der erste Wagen wurde langsamer und näherte sich einem Tor. Auf ein leises Kommando des Vogelwe sens bog der Wagen, in dem Atlan saß, nach rechts ab. Aufmerksam betrachtete der Ar konide jede Einzelheit seiner Umgebung. Die Sonnenstrahlen erfaßten erst die ober sten Teile der Bauwerke. Hier, unmittelbar
Sperco und der Fremde über dem Boden und zwischen der zerklüfte ten Welt der Basisgeschosse herrschten Halbdunkel und starke Feuchtigkeit. Aus einem Durchgang kam eine seltsame Gestalt. Sie wirkte wie eine große, weißliche Wurzel. Hunderte winziger Fasern berührten die flachen Treppenstufen und bewegten, sich zu immer dickeren Bündeln und Ästen zusammenringelnd, die Gestalt über die Schrägfläche abwärts. Am obersten Punkt des Fremdwesens war ein Kopf ohne Körper zu sehen. Er war zylindrisch, und mehrere breite Bänder schienen Sinnesorgane zu ent halten. In zwei der hochgereckten Wurzeln hielt das Wesen dicke Stäbe. Sie glitzerten wie Kristalle. Das bleiche Wesen zitterte mit allen dicken und dünnen Wurzelfasern und schien den beiden Wagen nachzusehen. Die Wagen fuhren auf einer breiten Flä che bis zu einer Ansammlung bunkerartiger Gebäude. Zwischen ihnen standen einige Büsche und niedrige Bäume, ebenfalls ohne jedes Blatt. Die Wagen hielten dicht vor dem Eingang, der ausgesprochen massiv und gefängnisartig wirkte. Lautlos öffneten sich die Türen und die einzelnen Teile der Kabi nendächer. Die Spercoiden und die Braisen sprangen hinaus und bildeten zwei Reihen. Aus dem anderen Wagen zerrten die Spercoiden den ehemaligen Kommandanten heraus. Seine Arme waren auf dem Rücken gekreuzt und mit einer metallenen Fessel aneinander befe stigt. Die Doppelfessel sah aus wie eine le bende Schlange und schien sich zu bewegen. »Du Verräter!« schrie Slosc und riß sich mit einem gewaltigen Ruck von den Sper coiden los. Er rannte auf Atlan zu, rammte Norc mit der breiten Schulter des noppenbedeckten Anzugs und versuchte wieder, sich auf den Arkoniden zu stürzen. Zwei Spercoiden tau melten zur Seite. Norc und Alför rissen ihre Waffen hoch, aber Atlan war schneller. Er sprang zur Seite, ergriff Sloscs Ober arm, riß den wuchtigen Mann zu sich heran, schmetterte ihn gegen die Breitseite des Wa gens und wandte einen einfachen Fußhebel
9 an. Krachend schlug Slosc zu Boden und rollte einmal um seine Achse. Sofort waren die Vogelwesen heran und richteten die Waffen auf den zuckenden Spercoiden. Unverständliche Flüche in der knarrenden Sprache drangen aus dem Helm des Anzugs. »Aufstehen! Du wirst an deiner Lage nichts mehr ändern können. Auch wenn du den Fremden umbringst.« »Botosc! Dort hinein. Sofort!« krächzte Norc. Sofort liefen sechs Spercoiden auf den an deren Gefangenen zu, rissen ihn rücksichts los in die Höhe und trieben ihn auf den Ein gang zu. Atlan atmete zum erstenmal be wußt die kühle, vergleichsweise wohlrie chende Luft des Planeten Roppoc ein und überlegte sich, als er mit mühsam erzwunge ner Ruhe der Gruppe um Slosc folgte, einen anderen Aspekt dieser Welt. Offensichtlich wuchsen in den anderen Gebieten Roppocs lebende Bäume. Die Pflanzen, die Sauerstoff lieferten, waren demnach nur im Bereich der Ebene um MOAC manipuliert worden. »Schneller!« Der Platz begann sich zu beleben. Überall tauchten bewaffnete Spercoiden auf. Als At lan sich zwischen den dicken Stahlstäben und Mauern des Eingangs umdrehte, sah er, daß sie sich in einem Innenhof befanden, der schwer bewacht wurde. Dann nahm ihn ein breiter Korridor auf. Er war wieder einmal in einem Gefängnis. An jeder Ecke des Korridors und der ver schiedenen Quergänge standen Roboter des Tyrannen. Atlan und Slosc wurden in zwei kleine Zellen gebracht, die sich auf einem Querstollen gegenüberlagen. Ein kleines Gefängnis, stellte der Logik sektor fest. Für Atlan stellte sich die Frage, ob es auf Roppoc nur wenige Gefangene gab. Oder ob keiner der Gefangenen lange genug lebte, so daß ein kleines Gefängnis den Bedürfnissen Spercos genügte. Als die massive Gitterflä che sich aus der Decke heruntersenkte,
10 schüttelte sich Atlan schaudernd. »Ausgerechnet schon wieder in der Nach barschaft dieses Slosc!« murmelte er. Norc warf einen prüfenden Blick auf Atlan und die karge Zelle und sah, daß der Fremde ihm den Rücken zuwandte und zum kleinen, of fenen Fenster hinausblickte. Die Wachmannschaft rückte ab. Ruhig standen die schweren Roboter da. Die Ge räusche bewiesen, daß schwere Gitter und eingeschaltete Energiefelder die Korridore in einzelne Abschnitte unterteilten. Ein Ge danke an Flucht erschien zu diesem Zeit punkt völlig unsinnig. Der Arkonide sah hinaus auf den geräu migen, in viele kleine Abschnitte unter schiedlichen Aussehens gegliederten Innen hof. Von Minute zu Minute erschienen im mer mehr Personen hier. Es schien ein Be zirk zwischen der eigentlichen Stadt und der freien Ebene zu sein, also so etwas wie eine Ansammlung von Nebengebäuden. Sämtli che architektonischen Einzelheiten deuteten darauf hin, daß wesentliche Stilelemente aus Spercos Erinnerungen verwendet worden waren. Sah es so ähnlich auf Spercos Hei matwelt aus? Atlan wußte es natürlich nicht. Aber er sah, daß in Spercos Imperium viele höchst unterschiedliche Völker zusam mengefaßt waren. Zuerst dieses bleichhäutige, borkige We sen, das wie eine fahle Wurzel aussah. Dann die Spercoiden in ihren Anzügen; je länger er frei von der dumpfen und emotionsverän dernden Dunkelheit der verschiedenen An züge blieb, desto freier fühlte er sich. Außer dem stieg sein Lebensgefühl. Die Braisen schienen tatsächlich Kommandofunktionen zu haben. Überall, wo die Wesen mit den gestutzten Flügeln auftauchten, verhielten sich die Spercoiden gehorsam und unterwür fig. Es schien nicht die geringsten Probleme der Befehlsweitergabe und deren Ausfüh rung zu geben. Atlan zweifelte nicht daran, daß sämtliche Wesen im MOAC spercoti siert und daher ihres freien Willens hinrei chend beraubt waren. »Vermutlich«, flüsterte er vor sich hin,
Hans Kneifel »stehen mir Spercotisierung oder Tod un mittelbar bevor. Ich muß einen Ausweg fin den. Und das möglichst bald.« Er wandte sich um und lehnte sich an die dicke, kalte Mauer. Durch die Gitter der Zel lentür sah er Slosc, der die Finger seines An zugs um die dicken Stäbe der gegenüberlie genden Zelle geklammert hatte. »He, Verräter!« erklang die knarrende Stimme Sloscs. »Was willst du?« fragte Atlan und be mühte sich, die Aussprache richtig zu tref fen. »Sie werden dich töten. Sperco wird mir vergeben.« »Das kannst nicht einmal du glauben, Slosc!« sagte der Arkonide. »Deine einzige Rettung ist, sich mir anzuschließen. Zusam men könnten wir es schaffen.« »Sperco wird meine Erfolge zusammen zählen und mich in die Flotte zurück schicken«, geiferte der ehemalige Raumfah rer. »Sperco haßt Versager. Er wird deinen Anzug öffnen«, erwiderte Atlan sachlich. »Nur mit mir zusammen hast du eine Chan ce!« »Ich habe eine bessere Chance, wenn ich dich töten werde!« schrie Slosc. Atlan gab kalt zurück: »Du hast es mehrmals versucht. Es wird dir auch das nächstemal nicht glücken.« »Ich werde dich umbringen!« schwor Slosc und fügte einen erbitterten Fluch hin zu. »Oder Sperco wird dich vernichten. Ich aber werde in Ehren wieder in die Raumflot te übernommen. Du warst es, der meine Karriere vernichtet hat.« »Du bist ganz einfach ein Versager. Sper co läßt Versager nicht lange leben«, sagte Atlan. »Du solltest wirklich mit mir zusam men einen Ausbruchversuch wagen.« So weit Atlan sah, waren sie in diesem Teil des Gefängnisses die einzigen Insassen. Das Schreien und Toben des Spercoiden schien niemand zu stören. Die Roboter rühr ten sich nicht. Atlan winkte ab und ließ Slosc weiterschimpfen. Er ging wieder ans
Sperco und der Fremde Fenster und beobachtete die Szenerie auf dem Innenhof. Die Sonne war ein gutes Stück höher ge klettert. Deutlich sah der Arkonide jetzt die blattlosen Bäume. Sie wirkten wie rätselhaf te Fremdkörper zwischen den dunklen Fron ten der Steinmauern und der steinernen Ge bäude. Nicht ein einziges Insekt summte herum. Wieder kamen drei Braisen in ihrem wiegenden Gang über den Platz. Roboter schleppten einen mächtigen Container in entgegengesetzter Richtung. Spercoiden ver sammelten sich und marschierten in die Richtung des Tores, durch das die Wagen hereingefahren waren. Ein Baumwesen tän zelte mit zitternden Fasern vorbei und huschte raschelnd eine Treppe hinauf. Atlan legte sich auf die Pritsche und streckte sich aus. Es gab nichts zu tun. Er fühlte leichten Hunger und Durst, aber er hatte keine Furcht: sie würden ihn nicht ver hungern lassen. Also wartete er.
* Lärm schreckte ihn etwa zwei Stunden später auf. Er setzte sich auf und lehnte sich an die kalte, klamme Mauer. Die Panzergitter roll ten draußen im Korridor zurück, mit peit schenden Lauten schalteten sich die Projek toren ab. Die schweren Schritte von Spercoi den waren zu hören und das Rascheln der hornigen Zehen von Braisen. Durch die Git terstäbe blickte Atlan hinaus und sah, daß sich die Spercoiden mit gezogenen Waffen vor Sloscs Zelle aufstellten. Sie holen ihn ab. Sperco wird ihn hinrich ten lassen, sagte der Logiksektor mit Be stimmtheit. Zwei Braisen blieben vor der Zelle ste hen. Das Gitter hob sich mit schleifendem Geräusch. »Ihr bringt mich zu Sperco!« rief Slosc mit neuerwachter Hoffnung. »Sperco ist die Macht. Die Spercotisierten sind seine Diener«, entgegnete ein Braise langsam. »Er hat befohlen, dich abzuholen.«
11 »Ich werde ihn überzeugen, daß ich nicht versagt habe!« sagte der Spercoide eifrig. Er war noch immer gefesselt, als ihn die ande ren Spercoiden an den Armen faßten und aus der Zelle in den Korridor schoben. Dann formierten sie sich zu einer Gruppe, in deren Mittelpunkt Slosc ging. Gitter öffneten und schlossen sich wieder, die Schritte wurden leiser. Ein Braise, Atlan konnte nicht mit Si cherheit sagen, ob es Norc, Alför oder ein anderer war, blickte aus großen Vogelaugen in Atlans Zelle hinein, sagte aber kein Wort. Er drehte sich um und schloß sich der Grup pe an. Wenig später konnte Atlan sehen, wie Slosc quer über den Innenhof geschleppt wurde und vor einem breiten Stahltor ste henblieb. Das Tor schwang auf und schloß sich hinter den Braisen und den Spercoiden. Abermals rund zwei Stunden nach diesem Zwischenfall kam ein Spercoide. Er öffnete eine kleine Klappe neben der Zellentür und stellte einen konischen Krug Wasser und ei ne Schüssel in die Öffnung. Als Atlan nach einiger Zeit nachsah, ent deckte er in dem Krug eine Flüssigkeit, die gewisse Ähnlichkeit mit stark verdünntem, bittersäuerlichen Fruchtsaft hatte. Er nahm einen kleinen Schluck, spürte aber keinerlei negative Wirkungen. In der Schüssel lagen eckige Klumpen, die wie Fleisch oder wie faseriges Brot aus sahen. Er zwang sich dazu, etwa die Hälfte der Nahrungsmittel herunterzuwürgen. Dann wartete er wieder.
3. Ganz plötzlich empfand er starke Unruhe. Ein deutliches Gefühl der Angst ergriff den Arkoniden. Er vergegenwärtigte sich, wo er eigentlich war. Lichtjahreweit von jeder Si cherheit entfernt, in der Macht eines Tyran nen, der zudem unberechenbar und vielleicht psychisch krank war. Umgeben von Wesen, die er schwer verstand. Waffenlos, ohne Ori entierung, auf dem wichtigsten Planeten des Imperiums dieses Sperco. Eine Geste des
12 Tyrannen würde genügen, ihn binnen Se kunden zu töten. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß du ir gendwo eine Chance siehst, sagte der Extra sinn. Schon lange hatte er die Hoffnung fast völlig aufgegeben, die Erde wiederzusehen. Die Wahrscheinlichkeit, nach Loors und so mit nach Pthor zurückzukommen, war sehr gering. Vielleicht aber glückte es Atlan, eine überraschende Wendung herbeizuführen, durch eine Manipulation sich aus seiner we nig beneidenswerten Situation herauszuwin den. Keine sinnlose und übereilte Verzweif lung, Arkonide, beschwor ihn der Extrasinn. Er nahm einen Schluck aus dem Krug und spürte, wie sich sein Gaumen sträubte. Wie der hörte er ungewöhnliche Geräusche auf dem Innenhof und dazwischen die Stimmen von Braisen. Er rührte sich nicht und ver suchte weiter, seine Lage richtig abzuschät zen. Als er das erste Gitter zurückfahren hörte, dann das Schaltgeräusch der Projekto ren, begann er zu ahnen, daß er jetzt an der Reihe war. Sechs Spercoiden und zwei Braisen blie ben vor seiner Zelle stehen. Das Gitter glitt hoch, einer der Braisen sagte: »Du mußt mit uns kommen, Fremder.« Atlan stand auf und wunderte sich, daß man ihn noch immer nicht fesselte. Eine Vorahnung naher Gefahren packte ihn, als er in der Mitte der Gruppe durch die Gefäng niskorridore ging und in das grelle Sonnen licht des Hofes hinaustrat. Die Sonne stand fast im Zenit. Sie gingen durch dasselbe Tor, durch das sie auch Slosc gebracht hatten. Zuerst kamen sie in einen düsteren Gang, der sein Licht durch waagrechte Schlitze dicht unterhalb der Decke erhielt. Dann trieb man ihn eine schräge Fläche hinauf, die in einer Art Rohr untergebracht war. Anschlie ßend wechselten einige zylindrische Räume miteinander ab, die ausnahmslos leer und ohne jede Einrichtung waren. Schwere Por tale öffneten und schlossen sich mit don nernden Geräuschen. Wieder ging es auf-
Hans Kneifel wärts, der Höhenunterschied zwischen dem nächsten Raum und dem Innenhofgefängnis betrug sicher mehr als zweihundert Meter. »Wohin werde ich gebracht?« fragte At lan. »Vor das Gericht!« lautete die deutliche Antwort aus einem Spercoidenanzug. »Gericht? Ich war sicher, daß mich Sper co sehen will.« »Sperco hat es angeordnet. Wir bringen dich vor das Gericht.« Wieder schob sich ei ne massige Platte zur Seite. Der Raum da hinter war ebenfalls rund und glich einer Kuppel. Diesmal aber sorgte eine leuchtende Decke für grelle Helligkeit. Atlan blieb überrascht stehen. Vom Eingang führte eine breite, aus einem hellen Raster bestehende Rampe bis zum tiefsten Punkt der elliptisch geformten Halle. Rundherum an den Wän den standen schweigend und starr in Dop pelreihen Spercoiden in den charakteristi schen Anzügen. Vor den Spercoiden hatten sich etwa dreißig Braisen aufgestellt. Auch dieser Raum war völlig ohne Schmuck, sah man von einer Säule ab, die mit allen er denklichen technischen Ausrüstungen be stückt war. Sie stand außerhalb des deutlich gekennzeichneten hellen Kreises. Eine be drohliche Feierlichkeit ging von diesen etwa zweihundert Einzelwesen aus. Der unbe kannte Braise in seinem Rücken sagte mit seltsam fauchender Stimme: »Du gehst hinunter in den Kreis.« Es scheint tatsächlich eine Art Gerichts verhandlung zu werden, erklärte der Logik sektor. Atlan ging die schräge Fläche hinunter und blieb inmitten des Kreises stehen. Etwa dreißig Paar Braisenaugen starrten ihn an. Nichts rührte sich, es war totenstill. Mit ei nem endgültigen Geräusch schloß sich das Portal. Atlan drehte sich schnell herum und sah gerade noch, wie die beiden Braisen die Schrägfläche herunterkamen. Ein Spercoide aus der hintersten Reihe fragte: »Du bist der Fremde, der sich Botosc nennt?«
Sperco und der Fremde Atlan war einigermaßen sicher, daß in der Säule Mikrophone und Linsen sowie andere, unbekannte Beobachtungsgeräte unterge bracht waren. Entweder sah und hörte Sper co alles, oder er ließ sich zu gegebener Zeit die Aufnahme vorspielen. Er, Atlan, mußte sich jedes Wort genau überlegen. »Ich bin Botosc«, antwortete er. »Ist das ein Gericht?« »Ja. Es wird dir vorgeworfen, Spercos Ideen und Vorhaben sabotiert zu haben.« »Ich wüßte nicht, wie ich als einzelner ge gen die Macht Spercos Widerstand leisten könnte.« »Und trotzdem ist es dir gelungen, die Verschmelzung zwischen dem Imperium Spercos und dem Sternenreich Vallischor zu verhindern.« Atlan schüttelte den Kopf. Er antwortete langsam: »Wenn dieser Eindruck entstanden sein sollte, dann bin ich daran unschuldig. Es muß eine Kette von Mißverständnissen ge wesen sein.« »Sperco sieht deine Teilnahme an der Verschwörung ganz anders. Du wirst außer dem beschuldigt, den Abgesandten Camau ke ermordet zu haben.« Dies schienen die beiden wichtigsten Vor würfe zu sein. Alle anderen Unternehmun gen des Arkoniden waren nicht beweisbar, wenigstens hoffte er es. »Ich habe mit der Ermordung des Camau ke nicht das geringste zu tun«, antwortete Atlan in sachlich wirkender Ruhe. »Außerdem wurde seine Leiche nie gefun den.« Er verstand ziemlich gut. Aber er rechnete damit, daß er schlecht oder gar nicht ver standen wurde. Ohne die Übersetzungsfunk tion eines dieser Anzüge konnte er sich kaum gut verständlich machen. »Sperco ist auch hier anderer Ansicht«, wurde ihm geantwortet. Die Vorstellungen, die Atlan von einem Gericht hatte, waren zwar recht umfang reich, aber auf wenige Kernpunkte reduziert, gehörten dazu Richter, Verteidiger, Ange
13 klagte und Ankläger. Vielleicht auch noch Geschworene oder Justiz-Computer. Aber diese anonyme Masse konnte ihn nicht recht überzeugen. Einer der Braisen sagte wieder: »Du fühlst dich unschuldig? Du hast, dei ner Meinung nach, nicht versagt?« Versagen bedeutete Tod und Auslö schung. Atlan hob die Hand und versuchte zu erklären: »Ich bin nichts als ein einfacher Mann. Ich verteidige die Freiheit des einzelnen. Aber dessen, wessen ich beschuldigt werde, bin ich unschuldig.« Er sah sich aufmerksam um. Keine der Linsen, die in der Säule eingebaut waren, bewegte sich. Ruhig und wie eine Serie von Statuen standen Spercoiden und Braisen da. Das Wort »Freiheit« war Atlans erste und vorsichtige Provokation gewesen. Es machte keinerlei Eindruck. »Du willst beweisen, daß du Camauke nicht umgebracht hast?« lautete die nächste Frage. »Das Gericht ist nichts als eine Masse von Gesichtslosen«, rief Atlan. »Dieses Gericht muß etwas beweisen. Ich bin solange un schuldig. Ihr seid nicht Sperco.« »Wir sind nicht Sperco. Sperco ist die Macht, und die Spercotisierten sind seine Diener. Was meinst du mit Freiheit?« »Ich kann es euch nicht erklären. Ihr seid spercotisiert«, sagte der Arkonide. »Freiheit ist etwas, das ihr alle nicht kennt und nie mals kennenlernen werdet. Denn Sperco hält euch in Unfreiheit.« Die Braisen bewegten sich unruhig, aber keiner sagte etwas. Atlan zuckte unmerklich zusammen und erkannte, daß er auf dem richtigen Weg war. Jedenfalls auf dem be sten Weg, Unruhe zu stiften und sowohl Braisen als auch Spercoiden zu verunsi chern. »Außerdem bin ich derjenige, der euch andere Wahrheiten sagen wird. Ich spreche zu den Braisen. Euch allen sind die prächti gen Schwingen aboperiert worden. Niemals habt ihr die Gelegenheit gehabt, die Luft zu
14 beherrschen.« Er setzte voraus, daß die Schwingen auf alle Fälle prächtig gewesen wären. Ob je mals eines dieser Wesen in der Lage gewe sen wäre, wirklich zu fliegen, wußte er nicht. Aufmerksam beobachtete er die Wir kung seiner Worte. Diesmal war die Unruhe unter den Fledermausgeschöpfen größer. Also war er abermals auf dem richtigen Weg! »Es gibt keine Insekten. Es gibt keine Gleiter, obwohl die Spercoiden auf anderen Welten Gleiter benutzen. Allen Vögeln wur den die Flügel gestutzt. Raumschiffe dürfen nicht landen oder starten! Selbst die Bäume haben keine Blätter, weil Blätter auch flie gen können, nach der Meinung dessen, der euch knechtet. Ich bin derjenige, der euch sagen kann, was Freiheit ist. Freiheit für die Vögel ist, fliegen zu können. Für die Braisen, die Leib wache des Tyrannen, war Freiheit einst das selbe. Fliegen! Durch die herrliche Luft glei ten, sich immer höher schrauben und leicht zu sein wie die Wolken. Ehe man mich beschuldigt, ein Mörder von Spercoiden zu sein, sollte Sperco seinen Dienern das Fliegen gestatten. Und warum fliegt hier niemand und nichts? Ich denke, es ist deshalb, weil Sperco al les haßt, das sich in die Luft erheben kann. Jeder, der Sperco gesehen hat, weiß, warum er diesen Haß empfindet. Ich habe nichts mehr zu sagen zu diesem … Gericht.« Er war immer lauter geworden, um gegen das ansteigende Gemurmel anzukommen. Die Spercoiden in ihren blaßblauen Anzü gen schwankten erschrocken hin und her. Die Braisen warfen sich Blicke zu und rede ten hastig miteinander. Die Ordnung der ringförmigen Aufstellung geriet durcheinan der. Schließlich liefen einige Braisen die schräge Fläche hinauf und verschwanden jenseits der offenen Tür. Atlan drehte den Kopf und starrte in die braunen Sichtflächen und die großen Augen der zurückgebliebe nen Braisen.
Hans Kneifel Verglichen mit dem bisherigen Zustand, herrschte in diesem »Gerichtssaal« geradezu ein Aufruhr. Wieder verließ eine Gruppe von Spercoi den und Braisen den Saal und entfernte sich in großer Hast. Offensichtlich richtig gehandelt, bestätig te der Extrasinn. Atlan fühlte eine selten ge kannte Erregung. Würde es ihm glücken, die Situation noch mehr zu seinen Gunsten zu verändern? Er blieb stehen. Zusehends leerte sich die leuchtende Kuppel. Der Rückzug glich einer Flucht. Atlan rief den Gruppen nach: »Sagt es Sperco! Sagt es ihm, daß sich Freiheit immer nur eine Zeitlang unter drücken läßt. Und bringt mich zu Sperco, damit ich es ihm selbst sagen kann!« Seine Annahme, daß Sperco tatsächlich aus psychologischen Gründen seiner gesam ten Umgebung bis hinunter zu den flugfähi gen Insekten das Fliegen verboten hatte, schien also doch nicht falsch gewesen zu sein. Er bekam keine Antwort. Aber innerhalb von weniger als fünf Mi nuten hatte sich der große Saal geleert. Atlan hatte nicht im entferntesten damit gerechnet, mit dieser Verteidigung, die mehr ein An griff ins Blaue gewesen war, einen derarti gen Erfolg zu haben. Er wartete kurze Zeit, dann öffnete sich hinter der Säule eine schmale Tür. Ein Braise tauchte auf und richtete seine Strahlwaffe auf den Arkoni den. »Du kommst mit mir«, krächzte er. Atlan fragte: »Wohin? Zu Sperco?« »Du wirst es erleben. Ich bin Körz, ein Leibwächter Spercos.« »Er ist die Macht«, antwortete Atlan sar kastisch. »Also komme ich mit.« »Es gibt wenige Alternativen«, erwiderte der Braise. Er unterschied sich nicht von den anderen, die Atlan bisher erlebt hatte, aber irgendwie schien er bedächtiger oder nach denklicher zu sein.
Sperco und der Fremde »Durchaus vorstellbar«, meinte Atlan und ging an dem Fledermauswesen vorbei. Der Braise richtete die Spitze der Waffe auf At lans Schulterblätter und bedeutete ihm, durch die Tür zu gehen. Schweigend ge horchte Atlan. Wieder verlor er völlig die Orientierung. Korridore, schräge Flächen, wenige Trep pen und viele aufeinanderfolgende Kam mern oder Säle lösten einander ab. Schließ lich, nach einer Wanderung, die Atlan end los erschien, blieb Körz stehen. »Wir sind da«, sagte er knapp. »Wo sind wir? Bei Sperco?« fragte Atlan, etwas küh ner geworden. »Nein. In der Halle der Versuche.« »Welche Versuche?« »Das kannst du selbst sehen. Du bist für die Freiheit des Fliegens, ja?« Atlan konnte die Mimik des Vogel- oder Fledermauswesens nicht deuten, aber er meinte, etwas wie Spott oder Zynismus zu erkennen. Im gleichen Moment erhellten sich Decke und Wände einer riesigen Halle. Sie war rechteckig und sehr hoch. Die inneren Kan ten waren abgerundet, auf dem Boden schi en Gras zu wachsen. Zuerst dachte Atlan, er befände sich in einer Werkhalle. Dann sah er einen Treppenturm mit einem Aufzugs schacht darinnen. Und schließlich entdeckte er überall an den Wänden und auf Galerien höchst seltsam aussehende Gegenstände. »Das bin ich in der Tat«, gab Atlan zu. »Nicht nur für die Freiheit des Fliegens. Für jede andere Freiheit auch.« »Sperco gibt dir die Gelegenheit, die Frei heit des Fliegens auszukosten«, sagte Körz. Sein Echsenmund zog sich breit auseinan der. Atlan legte den Kopf in den Nacken und versuchte, genau zu erkennen, welcher Art diese seltsamen Ausstellungsstücke waren. »Merkwürdige Apparaturen«, sagte er lei se, mehr zu sich selbst. Er ging zwanzig Schritte weit und kauerte sich neben einem Gerät zu Boden. Es sah aus wie ein Flugdrachen aus Papier und dün nen Stäben. Ein bestimmter Verdacht erfüll
15 te ihn. Wozu dienten die Halle, dieser kan zelartige Vorsprung am oberen Ende des Treppenturms und die vielen Ausstellungs stücke? Die Halle war ausgesprochen gigantisch. Ihre Basis war aus mächtigen grauen Qua dern gemauert. Als Atlan das Gerät betrach tete, das vor ihm auf einem weichen Rasen aus Kunststoff lag, wußte er: Zumindest diese Mischung aus bespann ten Flächen und Stäben, aus merkwürdig ge formten Gelenken und Scharnieren hatte ir gendwann den Zweck gehabt, jemandem die Flügel zu ersetzen! Wieder versuchte der Arkonide einen Bluff. Er ging zu dem Braisen zurück, der kaum weniger als eine Handbreit kleiner war als er selbst, und fragte beschwörend: »Diese Halle der Versuche … hier ver sucht Sperco, mit Hilfe künstlicher Geräte zu fliegen?« Körz senkte den Lauf seiner Waffe um einen geringen Winkel und entgegnete: »Es ist ein Teil von Spercos Sammlung einschlägiger Geräte.« »Und was soll ich hier?« erkundigte sich Atlan. Sein Blick wanderte hinauf zu dem Podest in etwa zweihundert Meter Höhe. »Du sagtest, daß du viel vom Fliegen ver stehst!« »Das ist einerseits richtig«, begann Atlan. Er meinte zu wissen, worauf Körz hinaus wollte. »Andererseits …« Wieder hob sich die Waffe. Mit seiner krallenbewehrten Klaue deutete Körz auf den Treppenturm. »Wenn du das Lied der Freiheit des Flie gens singst, sagte Sperco, dann sollst du auch zeigen, was du kannst!« erklärte das Vogelwesen mit den langen, weißlichen Narben unter dem grauen Pelz. »Aber …«, fing der Arkonide an, dann hob er die Schultern und ging auf den Lift zu. Er hoffte, unter all den Geräten eines zu finden, mit dem sich ein mehr oder weniger einwandfreier Gleitflug vom Ende des Po dests bis zum Boden würde durchführen las sen.
16 »Sagte Sperco, wie schnell das alles vor sich gehen soll?« erkundigte er sich. »Nein. Aber es kann tödlich sein, gegen über den Erwartungen Spercos zu versa gen«, antwortete Körz. »Dort hinauf!« »Langsam!« beschwor ihn Atlan und ging zu der Konstruktion zurück. Sie stellte ein Konglomerat aus Fäden und Kordeln dar, aus verschieden dicken und biegsamen Stä ben, die zudem hohl zu sein schienen. Drei eckige Teile, auf deren Bespannung einzelne Federn aufgemalt waren, bewegten sich, durch Scharniere und dünne Seile miteinan der verbunden, wie Vögelflügel. Aber Atlan schien es, als sei bei der Konstruktion mehr als nur ein logischer Fehler begangen wor den. Diese Apparatur hatte niemals funktio nieren können. Bestenfalls hatte sie denjenigen, der damit einen Gleitflug versucht hatte, vor schweren Verletzungen bewahrt. »Oder verstehst du in Wirklichkeit nichts vom Fliegen?« fragte der Braise. Atlan glaubte, echte Unsicherheit aus dem Tonfall herauszuhören. Vielleicht hatte die ser Braise seine Operation nicht verarbeitet oder zweifelte tatsächlich an Spercos Recht, niemandem das Fliegen zu erlauben. Körz konnte unter diesen Umständen ein wertvol ler Verbündeter werden. »Ich bin kein Wesen wie du, das mit Flü geln geboren wurde«, sagte Atlan in be schwörendem Ton. »Ich nehme an, du und deinesgleichen schlüpfen aus Eiern. Aber ich bin in der Lage, mit jedem Gegenstand, der wirklich fliegen kann, auch zu fliegen. Aber nicht mit solchen Fehlkonstruktionen!« Er deutete auf das Ding im Kunstgras. »Dennoch verlangt Sperco, daß du den Beweis antrittst!« antwortete der Braise. »Ich werde es versuchen!« »Ich werde dir dabei helfen, falls Ent scheidungen notwendig sind«, versicherte Körz zweideutig und deutete mit der Waffe auf die Liftkabine. Selbst ein Wesen, das sich zeit seines Le bens nur auf dem Boden fortbewegen konn te, mußte sehen, daß Atlan weder mit einem
Hans Kneifel Vogel, noch mit einer Fledermaus oder ei nem Gleiter die geringste Ähnlichkeit hatte. Es gab für ihn keine Voraussetzungen für einen solchen Versuch. Atlan sah ein, daß er sich in eine mehr als nur heikle Lage manö vriert hatte. Aber wahrscheinlich gab es das eine oder andere Gerät, das ihn heil zu Bo den bringen würde. Er ging vor Körz zu der Liftkabine und sah zu, wie der Braise einen Schalter betä tigte. Der Würfel schoß mit atemberauben der Geschwindigkeit aufwärts und hielt an. Die Tür öffnete sich, und Atlan sah sich dem Absprungpodest und einer Galerie gegen über, die um die Halle lief. An den Wänden standen und hingen die verrücktesten Fluggeräte oder Schwebehil fen, die er jemals gesehen hatte. Alles, was er sich vorstellen konnte, war vorhanden: weiches, starres und biegsames Material. Die abenteuerlichsten Farben und Formen. Allein auf dieser Galerie befanden sich etwa hundert solcher Apparate. Atlan ging aus dem Lift heraus und blieb stehen. »Geradeaus!« sagte Körz. Genau vor ihm lag das Podest, von dem wohl die meisten Flug- oder Schwebeversu che durchgeführt worden waren. »Halt!« rief Atlan. »Ich sagte eben, daß ich ohne Gerät nicht fliegen kann! Verstehst du? Ich habe keine Flügel!« Er versuchte, nach rechts zu gelangen. Dort waren an den Wänden Geräte befestigt, die einigermaßen vielversprechend aussa hen. »Sperco befahl, daß du uns das Fliegen zeigen sollst!« rief der Braise und hob die Waffe wieder an. »Geradeaus!« Irrtümer über Irrtümer! dachte der Arko nide. Auf diese Wendung der Ereignisse war er nicht gefaßt gewesen. Er hob abwehrend beide Arme und rief beteuernd: »Ich brauche zuerst einen Flugapparat!« Körz bewegte seinen Reptilienkopf und stieß hervor: »Nicht, daß ich dich nicht verstehen wür de. Auch ich würde mich zu Tode schmet
Sperco und der Fremde tern, wenn ich es ohne Hilfe versuchen wür de. Aber Sperco ist anderer Ansicht. Er be fahl mir, dich zum Fliegen ohne Hilfsmittel zu bringen. Sperco ist die Macht.« »Und die Spercotisierten sind seine Die ner. Ich bin hingegen nicht sein Diener, da ich nicht spercotisiert bin. Ich ziehe den an deren Weg vor.« Eine spitze, hornige Zunge schoß unruhig aus dem Rachen voller kleiner Zähne her aus. Der Braise Körz blickte nach rechts und links, dann wiederholte er befehlend: »Geradeaus!« Atlan faßte eine der Konstruktionen ins Auge. Sie sah aus wie eine Mischung zwi schen einem starren Fallschirm und dreifach gegliederten Gleitschwingen mit allerlei Handgriffen und breiten Gurten. Er machte drei Schritte nach rechts. »Das war ein Befehl!« krächzte Körz und feuerte eine Handbreit vor Atlans Zehen in die Rampe. Knisternd und funkensprühend entlud sich die Energie und trieb eine Wolke aus Hitze und stinkendem Rauch in Atlans Gesicht. Er meint es ernst, sagte der Logiksektor. Atlans Gedanken überschlugen sich rasend. Zögernd ging er tatsächlich geradeaus und näherte sich dem Ende der vorspringenden Rampe. Eine seltsame Stimmung erfüllte ihn, aber er war sicher, daß die Todesahnung diese Illusion hervorrief. Es war ihm, als ob etwas oder jemand ihm zuflüstern wollte, daß er Hilfe erhalten würde. Sperco? Unfaß bar und undenkbar! Ein zweiter Strahlschuß fuhr unmittelbar hinter ihm in den federnden Belag und riß einen kleinen Krater. »Auf Befehl Spercos darf ich nicht zö gern, auch auf dich zu schießen!« sagte Körz drohend. »Ein Toter fliegt ziemlich schlecht, Freund Körz!« rief Atlan verzweifelt. Der Gedanke an einen Sturz aus knapp zweihun dert Metern Höhe machte ihn rasend vor Angst. Trotzdem ging er weiter und blieb drei Meter vor der Kante des Podests stehen. Vor ihm gähnte der Abgrund.
17 »Nun sollst du fliegen!« sagte Körz und kam näher. Atlan mußte sich geschickt ver halten, um den Braisen zu überrumpeln und in den Besitz der Waffe zu kommen. Sie wa ren allein in dieser riesigen Flughalle. Aber Körz blieb etwa vier Meter hinter ihm stehen und richtete die Waffe auf Atlans Rücken. Der Arkonide zweifelte nicht daran, daß Körz den Befehl des Tyrannen ausfüh ren würde. Entweder er starb dort unten auf dem grünen Kunstrasen, oder er starb hier durch einen Energieschuß. Noch einmal ver suchte er es. »Wenn du feuerst, bin ich tot und kann niemandem mehr zeigen, wie schön das Fliegen ist. Aber ohne Hilfsmittel vermag ich es nicht.« »Fliegen …«, sagte Körz etwas leiser, »es muß eine schöne Kunst sein. Warum zögerst du?« »Weil ich sterbe, wenn ich ohne Gerät herunterspringe!« »Ich sterbe, wenn ich den Befehl nicht ausführe«, erinnerte ihn Körz. Ein unge wohnter Tonfall von Mitgefühl schien in sei ner rauhen Stimme zu schwingen. »Wenn du schießt, bin ich tot. Dann wird Sperco das Geheimnis des Fliegens niemals erfahren.« »Du hast recht. Im Augenblick bin ich verwirrt. Aber meine Verwirrtheit ist nicht die des Herrschers.« »Er soll entscheiden!« sagte Atlan. Noch zwei Meter trennten ihn vom sicheren Tod. Die Sekunden des Wartens dehnten sich un erträglich. Unverändert stand Körz da und kam nicht näher. Die Waffe war nach wie vor auf Atlan gerichtet. Atlan war sicher, daß Sperco ihn auch jetzt intensiv beobach tete. Wie würde der Tyrann entscheiden? Jeden Augenblick würde diese Entscheidung fallen.
4. Tancai wußte, daß sie nicht die Klugheit ihres Gefährten besaß. Aber ebenso wußte sie, daß sie alles andere als dumm war.
18 Dennoch war und blieb sie eine spercoti sierte Dienerin des Tyrannen. Sie betrachtete mit einem intensiven Gefühl das Ei, das in seinem Wärmebehälter lag. Noch zeigte sich nicht der kleinste Sprung in der gefleckten, glatten Schale. Tancai brauchte sich nicht lange zu erinnern; sie kannte alles, was jetzt folgen würde, aus den Erzählungen der an deren Braisenfrauen und eigenen Beobach tungen. Je länger es dauerte, bis die Schale brach, desto kräftiger, gesünder und stärker wurde das Junge. Einige Tage nach dem Ausschlüpfen schlug der junge Braise mit verhältnismäßig großen Schwingen und versuchte, sich in die Luft zu erheben. Aber noch waren die Schwingen nicht von den schillernden, hor nigen Plättchen bedeckt. Die Braisen beka men keine Federn wie die flügellosen Vögel draußen in der Ebene – es waren Hautzellen, die sich binnen kurzer Zeit vergrößerten und überlappten. Aber niemals ließ es Sperco soweit kom men. Wurde das Ausschlüpfen eines Braisen bekannt, erschienen kurz darauf Spercoiden ärzte und amputierten die Schwingen. Ihr Junges würde niemals fliegen können, so, wie Tancai es geträumt hatte. Mehrmals hatte sie denselben eindringlichen Traum gehabt. Als ob sie selbst geflogen wäre – weit unter sich die Ebene, die Gebäude von MOAC und die blattlosen Bäume, über sich nur die Sonne und die Wolken. Sperco verbot es. Sperco erlaubte nieman dem, etwas zu können, was er selbst nicht konnte. Warum eigentlich? Unruhig betrachtete Tancai immer wieder ihr Ei. Ihre Träume konnte sie behalten, aber jeder Versuch, das Junge dem Zugriff der Ärzte zu entziehen, würde mißlingen müs sen. Entweder wurde der Junge amputiert, oder Körz und sie starben. Sie hatte in den Nächten mit Körz dieses Problem lange dis kutiert. Immer wieder kamen sie zu dersel ben Einsicht. Was sollte sie tun? Konnte sie etwas tun? Nicht einmal die Flucht mit ih rem Jungen würde ihr helfen.
Hans Kneifel Vielleicht überlebte das Junge auch die Operation nicht. Es gab viele kleine Gräber auf der Ebene, längst vom Gras überwu chert. Dort begruben die Braisen ihre Toten. Mutterinstinkt und Pflicht zum Gehorsam kämpften in Tancai lautlos, aber qualvoll. »Wir haben noch ein wenig Zeit, mein Kleiner«, murmelte sie und kontrollierte die Temperatur des Wärmekastens. Tancai hatte vermieden, mit anderen Brai senfrauen über das Ereignis zu sprechen. Aber mit Sicherheit hatten die anderen ihren Zustand erkannt und würden sie melden. Vielleicht gab es noch eine winzige Chance, daß ihr Junges seine Schwingen behalten konnte. Dann würde sich der schönste Traum erfüllen: ein Braise oder eine Brai senfrau als erste des Geschlechts fliegender, die Luft beherrschender Wesen!
* Sperco streckte die Hand aus und sah, daß seine Finger zitterten. Ein sicheres Zeichen für außergewöhnliche Erregung. Ein riesiger Bildschirm zeigte Körz und Botosc in der Halle der Versuche. Der Frem de konnte nicht fliegen! Sein Körper war nicht dafür geschaffen – er hatte nicht ein mal Flughäute, die er ausspannen konnte. »Du hast recht«, sagte Körz gepreßt. Sperco erkannte, daß der Braise überfordert war. »Im Augenblick bin ich verwirrt. Aber meine Verwirrtheit ist nicht die des Herr schers.« Auch Sperco war verwirrt. Er wußte es genau. Wieder überflutete ihn eine Welle des Hasses auf alles, das fliegen konnte. Ausgerechnet dieser Fremde wollte die Frei heit des Fliegens garantieren! Neugierde, Abscheu und makabre Faszination stritten in Sperco miteinander. »Er soll entscheiden«, sagte Botosc lang sam. Sperco zitterte am ganzen Körper. Er blickte fassungslos den Fremden an. Es war kein Spercoide – es war tatsächlich ein Fremder, keineswegs im Bereich des Imperi
Sperco und der Fremde ums geboren. Wenn er das Geheimnis des Fliegens kannte, dann würde er, Sperco, es ihm entreißen können. Das Zögern dauerte zu lange! Wenn der Fremde das Geheimnis kannte, brauchte er keine der von Versagern konstruierten Flugmaschinen. »Er weigert sich!« stieß Sperco hervor. »Er kann nicht fliegen! Er kennt das Ge heimnis also nicht. Betrügerischer Versa ger!« Seine Kralle tippte auf einen Kontakt. Sperco wollte einen Befehl hinausbrüllen, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Wieder stand das Bild seines toten Bruders vor ihm, der mit bestechender Leichtigkeit die Wipfel von Wolkenstadt umkreiste. Mühsam zwang sich Sperco da zu, ruhiger und gefaßter zu werden. Die pei nigenden Bilder der Erinnerung verblaßten, die Abbildung auf dem Spionschirm wurde wieder deutlicher. »Stoße diesen Scharlatan vom Podest! Er soll fliegen! Auf seine Art«, schrie Sperco. Er schickte ein keuchendes Lachen hinter her und schaltete den Lautsprecher wieder aus. Körz bewies, daß er ein hervorragender Diener war. Sperco rechnete mit einer Wahnsinnstat des Fremden, mit einem Kampf auf dem Vorsprung der Halle. Aber im selben Augenblick sprang Körz vor, fin tierte nach links und drehte die Waffe um, als wollte er den Fremden mit dem Kolben treffen. Der Mann namens Botosc reagierte blitz schnell. Er ging in Abwehrhaltung, drehte sich herum und duckte sich. Aber der wendige Körper des Braisen wich noch schneller aus und tauchte unter den Griffen des anderen hinweg. Mit dem linken Arm stieß er zu. Der Fremde geriet aus dem Gleichgewicht. Er stolperte, seine Arme fuhren in die Höhe. Der Braise versetzte ihm einen weiteren Stoß. Der Fremde trat ins Nichts. Er stieß einen unterdrückten Schrei aus und kippte, hilflos mit beiden Armen und Beinen ru dernd, über den Rand der Plattform.
19 Als der Fremde zwei oder drei Meter weit gefallen war, kam er fast waagrecht in der Luft zu einem vorläufigen Halt. Der Sturz wurde weich aufgefangen und angehalten. Der Fremde schwebte. Sperco schrie gurgelnd auf. Ein stechender Schmerz schoß durch sei nen verkrüppelten Körper. Eisige Lähmung packte ihn. Der fremde Eindringling flog tat sächlich. Ungeduldig starrte Sperco auf den Bildschirm und verfolgte den Flug. Jede ein zelne Bewegung prägte sich ihm unaus löschlich ein. Jetzt breitete der Fremde seine Arme aus, wie es einst das stolze Geschlecht der Braisen getan hatte. Auch die Beine spreizte er. In einer weit ausholenden Spira le schwebte er tiefer und tiefer. Körz stand, ebenfalls mit allen Zeichen der Verblüffung, an der Kante des Podests. Er starrte fas sungslos dem Fremden nach, der jetzt schon die Hälfte der Fallhöhe zurückgelegt hatte. Sperco erhob sich halb aus dem schalen förmigen Sessel und fiel schwer wieder zu rück. Er traute seinen Augen nicht. Es gab nicht die geringste sachliche Begründung dafür, daß Botosc eine magische Fähigkeit besaß. Jedenfalls schwebte er wie ein großes, fallendes Blatt zu Boden. Jetzt ver änderte er die Haltung seines Körpers und federte leicht auf die Füße. Er war direkt neben dem Flugapparat ge landet, mit dem er, Sperco, lebensgefährlich abgestürzt wäre, wenn ihn nicht das Prall feld aufgefangen und sicher zu Boden ge bracht hätte. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er stockend. Die Wut über das, was er eben miterlebt hatte, schwang noch in ihm nach. Und gleichzeitig gierte er danach, das Ge heimnis zu erfahren. »Ich lasse ihn auslöschen!« keuchte Sper co. Das war der erste Impuls, der ihn be herrschte. Ein unerträglicher Anblick, dieses geradezu herausfordernd sichere Gleiten! Dann aber siegte der sichere Instinkt des Herrschers. Botosc konnte jederzeit getötet werden. Aber zuerst mußte er befragt, sper cotisiert und zum Verraten dieses Geheim
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nisses gezwungen werden. Dieses Wissen war außerordentlich wertvoll, denn es schien der eigentliche Besitz des Fremden zu sein.
* Innerhalb von drei Sekunden erlebte At lan drei verschiedene Höhepunkte des Schreckens. Zuerst den Stich des sicheren Wissens, dem Tode entgegenzustürzen. Dann der kalte Schlag eines anderen Schreckens, als er auf ein Feld aufprallte wie auf einen straff gespannten Ballon. Und schließlich die hämmernde Erkenntnis, daß ihn etwas rettete. Ab dieser Sekunde reagier te er wieder normal und mit den blitzschnel len Reflexen seiner langen Erfahrung. Er breitete Hände und Arme und Beine aus und zwang sich, nicht aufzuschreien. Dann spürte er einen langsamen Druck, der ihn in eine bestimmte Richtung trieb: ein völlig unerklärlicher Vorgang. Zuerst dachte er an einen verborgenen Projektor, aber die se Möglichkeit schloß er sofort aus. Jedenfalls bist du gerettet, flüsterte ein dringlich der Extrasinn. Atlan beschrieb auf dem unsichtbaren Feld eine weitere Abwärtsspirale. Wieder ein Schub der Erinnerung: Bevor ihn der schnelle Braise über die Kante gestoßen hat te, war ihm die vage Empfindung einer Ret tungs- oder Überlebensmöglichkeit vermit telt worden. Jemand half ihm also. Wer? Auf keinen Fall Sperco. Denke auch nicht an eine Untergrundbewegung! warnte der Logiksektor eindringlich. Der Boden kam langsam näher. Das Ge fühl der Sicherheit hielt an. Aber das Rätsel, wer ihm nun wirklich geholfen hatte, blieb. Atlan war fassungslos, aber inzwischen hatte ihn die Ruhe überkommen. Er war, den si cheren Tod vor Augen, wieder einmal da vongekommen. Die letzte Spirale. Er versuchte, seinen Körper zu verlagern. Elastisch gab das geheimnisvolle Feld nach. Die Kraft richtete ihn auf, und er beugte die
Knie, um den Aufprall abzufangen. Ohne besondere Mühe landete er in der Nähe des Flugapparats und blieb daneben stehen. Er hob langsam den Kopf und sah am Rand des Podests den Braisen stehen. »Freund Körz«, murmelte Atlan, »ich glaube, du wirst ein wenig anders denken.« Mit weitaus größerem Selbstvertrauen wartete er darauf, daß der nächste Akt be gann. Kurze Zeit danach begannen seine Finger und Knie unkontrollierbar zu zittern. Am ganzen Körper brach der kalte Schweiß aus. Atlan zwang sich mit erheblicher Mühe dazu, stehenzubleiben und sich nicht zu Bo den zu werfen. Das Knacken von Lautsprechern schien plötzlich die Halle zu erschüttern. Eine Stimme, die wohl Sperco gehörte, sagte: »Bringt den Fremden unter schwersten Si cherheitsbedingungen in den Thronsaal!« In den hallenden Echos ging die leise Antwort des Braisen unter. Atlan hielt es nicht mehr aus. Er mußte sich bewegen und ging, noch immer mit schwachen Knien, in die Richtung auf den bekannten Eingang zu. Körz trat von der Kante zurück und sprang in den Liftwürfel.
* Der Braise wußte, daß er eben Zeuge ei nes wichtigen Ereignisses gewesen war. Mit brutaler Plötzlichkeit verstand er die Träume seiner Gefährtin und mußte seine eigenen Gedanken und Empfindungen relativieren. Während dieses erstaunlichen Fluges hat te er seinen Sohn gesehen: Obgleich er nicht wußte, ob ein männlicher oder weiblicher Braise die Schale zertrümmern würde, dach te er immer nur an einen Sohn. Mit großen, prächtigen Schwingen, deren Enden leicht vibrierten, war es eben ein Braise gewesen, der sich als Herrscher der Luft und Winde gezeigt hatte. Spercos Stimme, unkenntlich vor Wut, Haß und Verblüffung, hatte Körz gezeigt, wie sehr der Tyrann das Fliegen haßte, wie sehr andererseits der Tyrann selbst das Geheimnis des freien Fluges zu
Sperco und der Fremde erfahren suchte. Der Lift senkte sich schnell abwärts. Körz schob sämtliche rebellischen Gedan ken beiseite. Er würde heute nacht in Ruhe über alles nachdenken. Jetzt blieb er, was er bisher gewesen war: ein gehorsamer Diener. Er hob die Waffe, als die Tür der Liftkabine sich öffnete. Seltsam, dachte er. Der Fremde sah dem Tod ins Auge. Trotzdem ist er ruhig und be herrscht. Wenigstens wirkte er nicht anders. Wenn er wüßte, welchen Schlag er eben dem Tyrannen versetzt hat! Versagen bedeutete Tod. In fast jedem Fall. Mit einigem Schaudern dachte Körz daran, wie viele der Spercoiden ausgelöscht wurden. Eine Gruppe jener Fachleute, die Spercos letzten Versuch miterlebt hatten, war nicht mehr existent, weil sie das fehler hafte Modell gebaut hatte.
* Er erreichte den Fremden und sagte, wäh rend er sich um einen kühlen Tonfall be mühte: »Du hast den Befehl Spercos gehört und verstanden?« Der Fremde gab zurück: »Er war weder zu überhören noch mißzu verstehen, Körz. Schöner Flug, was?« Wahrheitsgetreu antwortete Körz: »Ich habe derlei noch nie in meinem Leben gese hen.« Und er dachte: Aber etwas in meinen un deutlichen Erinnerungen und den vergesse nen Träumen sagt mir, daß meine Rasse mindestens ebenso souverän und elegant ge flogen ist wie du vor wenigen Sekunden. »Und was, meinst du, dachte Sperco bei dieser einmaligen Vorführung?« Körz zwang sich dazu, unbeteiligt zu ent gegnen: »Niemand kennt die Gedanken Spercos. Sie sind unerforschlich, stets richtig und von außerordentlicher Kühnheit.« »Dann werden wir, ich und Sperco, uns sicher ausgezeichnet unterhalten können.
21 Denn auch ich denke ununterbrochen solche Gedanken«, antwortete der Fremde. »Kein Kommentar. Ich führe den Befehl aus!« sagte Körz schroffer als beabsichtigt. Seine Waffe zielte auf den Fremden. Sie gingen schweigend bis zum Ausgang. Kurz bevor sie ihn erreichten, glitt die Sicher heitstür auf. Ein gutes Dutzend bewaffneter Braisen, andere Leibwächter für einen ande ren Teil des Palasts, umstanden im Halb kreis die Türöffnung. Körz, der die meisten von ihnen kannte, grüßte sie kurz und sagte halblaut: »Ihr kennt den Befehl?« »Wir kennen ihn. Kommt!« Tatsächlich schien Sperco ihn jetzt zu fürchten, dachte Atlan. Fünfzehn oder mehr Braisen eskortierten ihn schweigend aber mals durch eine Zone von ansteigenden Rampen, Treppen und Korridoren in einen anderen Teil MOACs. Hin und wieder ka men sie an Bezirken der Burg vorbei, in de nen Spercoiden und andere Wesen, die At lan noch nie gesehen hatte, unbekannten Ar beiten nachgingen. Es schienen einerseits Labors, andererseits aber Nachrichtenstatio nen zu sein, denn er sah viele Bildschirme und Geräte, die ihn entfernt an Rechenma schinen erinnerten. Schließlich teilte sich die vorausgehende Gruppe der Braisen und nahm rechts und links eines schmalen und hohen Doppelportals Aufstellung. »Der Thronsaal«, sagte Körz. »Sperco er wartet dich.« Neben dem Portal öffnete sich eine ver gleichsweise unbedeutend wirkende Tür. Ein Spercoide kam heraus und blieb wartend stehen. »Wir bringen«, erklärte einer der Leib wächter, »den Fremden Botosc. Er scheint das wahre Geheimnis des Fliegens zu besit zen. Sperco, er ist die Macht, ließ ihn ru fen.« Der Spercoide verschwand wieder. Wieder bildete die Leibwache einen Halb kreis, diesmal vor dem schlanken Portal. Unverändert richteten sie die Waffen auf den unbewaffneten Arkoniden. Mit einem
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drohenden Summen schwangen die Portal flügel nach außen auf. »Vorwärts«, sagte Körz. »Geradeaus. Sperco wird dich erkennen.«
5. Auf der Trennlinie zwischen Vorraum und Thronsaal blieb Atlan stehen. Diesen Anblick hatte er nicht erwartet. Es war ein riesiger, einer Höhle ähnlicher Raum von einer düsteren, schwarzen Schön heit. Der Boden war von einem wahrhaft rie sigen schwarzen Fell bedeckt oder einer Art Teppich. Die einzelnen Fasern schienen sich zu bewegen. Als Atlan die ersten Schritte wagte, verstärkte sich dieser Eindruck. Eine beklemmende Atmosphäre beherrschte die sen Raum. Es war, als beträte man eine Gruft. Wie zitternde Finger oder wie sich ver zweigende Wurzeln hingen von der Decke stalaktitenähnliche Dinger herunter. Schwa che Zonen von geringer Helligkeit ließen unbekannte Gegenstände erkennen, die ebenfalls dunkel und massig waren. Wieder ging Atlan ein paar Schritte weiter auf die ebenfalls überdimensionierte Platte eines Tisches zu, der aus Metall und Stein blöcken zu bestehen schien. Mit einem dumpfen Krachen schlossen sich hinter ihm die Torflügel. Der Abstand zwischen dem Tisch und At lan betrug nicht viel weniger als fünfzig Me ter. Ein Überraschungsangriff auf den Ty rannen schien ausgeschlossen; auf diese Di stanz würden sämtliche denkbaren Sicher heitseinrichtungen längst angesprochen ha ben. Atlan sah sich um, er wollte einen bes seren Eindruck dieses bedrückenden Saales haben, ehe er Sperco selbst sah. Er unter drückte seine Neugierde und sagte sich, daß er noch lange nicht gerettet war. Möbel stücke, die ziemlich niedrig waren, dafür aber ausladend und seltsam gekurvt, löchrig und in geschweiften Linien geformt, unter brachen die schwarze Fläche des lebenden Teppichs.
Nur ein krankes Wesen oder ein Höhlen bewohner kann es hier aushalten, sagte der Logiksektor deutlich. »So ist es!« flüsterte der Arkonide. Er mußte sich selbst etwas Mut machen. Die Umgebung wirkte nicht nur beklemmend, sondern geradezu deprimierend auf ihn. Fordere seinen Zorn nicht heraus! Er wird keinesfalls berechenbar reagieren, warnte der Extrasinn. Atlan zuckte die Schultern und ging etwas schneller. Er näherte sich der ungeheuren Kombination von Steinblöcken und Tisch platte und sah schräg davon, für ihn nur aus einem ungünstigen Winkel heraus erkenn bar, einen riesigen Bildschirm und mehrere Reihen kleinere Schirme. Und schließlich sah er Sperco, den Tyran nen, den Herrscher von Wolcion. Jenseits des Tisches, der mit allerlei Uten silien übersät war, befand sich ein Sitz, der wie eine ovale Schale geformt war. Er feder te leicht, und sein Inneres war mit dichtem dunklen Pelz ausgeschlagen. Ein Braise saß darin. Aber es war ein verkrüppelter, kleine rer Braise. Seine Schwingen waren nicht ge stutzt, sondern verkümmert und ungleichmä ßig ausgeprägt. Atlan sah es teilweise, als sich Sperco vorbeugte. Mindestens dreißig Zentimeter Größe fehlten im Vergleich zu Körz, Norc oder Alför. Der Kopf und das reptilartige Gesicht gerieten jetzt in den Ke gel eines senkrecht gerichteten Scheinwer fers, der innerhalb einer ganzen Batterie von der weit entfernten Decke befestigt war. Ein Krüppel. Er konnte niemals fliegen, sagte der Extrasinn. Atlan blieb unmittelbar vor der Platte ste hen und stützte sich darauf. Er war vorsich tig bemüht, einerseits selbstsicher aufzutre ten und andererseits den Tyrannen nicht zu reizen. Schweigend wartete er darauf, daß Sperco ihn ansprechen würde. Der spitze Kopf mit den leuchtenden, großen Braisen-Augen war geradeaus ge richtet. Der schnabelartige Mund stand halb offen, in den Kiefern glänzten die scharfen, dreieckig wirkenden Zähne. Als die Zunge
Sperco und der Fremde hervorschoß, hörte Atlan: »Warum kannst du fliegen, Fremder?« Er hatte damit gerechnet, daß die erste Frage so oder ähnlich lauten würde. Er er kannte die Stimme sofort wieder. »Mein gesamtes Volk kann fliegen«, sag te er und fügte wohlüberlegt hinzu: »Aber zur Meisterschaft entwickeln wir diese Fä higkeiten nur, wenn wir in echter Gefahr sind.« Er begriff noch immer nicht, was mit ihm geschehen war. Der Verdacht, daß Sperco ihm bewußt geholfen oder ihn auf eine ma kabre Probe gestellt hatte, verflog schnell, je mehr Zeit verging. »Du kennst das Geheimnis des freien Fluges?« fragte Sperco sofort. Atlan runzelte die Stirn. Ein Wesen, das die natürlich wachsenden Flügel von natürlich fliegenden Wesen operieren ließ, mußte das Geheimnis doch genau definiert haben. Es waren bei Vögeln und Braisen selbstverständlich die Flügel, die die Fähigkeit ermöglichten. Sper co mußte irre sein. Eine Fangfrage? »Ich kenne es nicht bewußt«, sagte Atlan. »Aber diejenigen, die es erklären können, le ben auf dem Planeten Loors.« Atlan konnte die Mimik der Wesen nur höchst unvollkommen deuten. Aber der Blick, den ihm Sperco zuwarf, war eindeutig voller Mißtrauen. »Wie sieht das Geheimnis aus? Wer kennt es?« war die erwartete Frage des Tyrannen. Atlan mußte eine Antwort finden, die ihn schützte und Sperco nicht wütend werden ließ. Langsam sprach er: »Der Schlüssel des Geheimnisses liegt auf Loors. Dort befindet sich ein Stück meiner Heimat. Wenn es mir gelänge, die Einrich tungen und den Rat der Weisen benutzen zu können, wäre es ein leichtes, die Fähigkeit zu erlernen.« Spercos Kopfhaut war voller Kerben und Runzeln. Er wirkte wie ein uralter Vogel. Oder wie eine Kreuzung zwischen Echse und Hominiden. Die schmalen Nasenlöcher bebten. Der Hals war gekrümmt und ebenso faltig. Feine schwarze Linien in dem grauen,
23 dünnen Pelz deuteten auf etwas Besonderes hin. »Dein Volk kann fliegen? Jeder von ih nen?« stieß Sperco gierig hervor. Atlan sah, daß die vogelartigen Klauen zitternd über die polierte Tischplatte rutschten. Hinter ihm bewegte sich jemand über den Teppich. »So gut wie jeder, der erwachsen ist. Die se Fähigkeit wird vererbt. Aber sie ist auch erlernbar, denn ich weiß von Fällen, in de nen man Verunglückten das Fliegen in kurz er Zeit wieder beibrachte!« sagte er. Die Überlegung, warum Spercos Flugma schinen-Hersteller nicht an die Verwendung von Antigravstrahlen gedacht hatten, behielt der Arkonide für sich. »Warum hast du dich geweigert, hinunter zuspringen?« fragte Sperco nach einer Wei le. Die Farben und Bewegungen vom Bild schirm ließen die Tischplatte und ihn selbst im Spezialsessel ununterbrochen in den Re flexen zittern und aufleuchten. »Weil ich nicht ohne Angst bin. Ich wußte nicht, ob die geheimnisvolle Kraft ausbleibt, oder ob sie mich rettet. Deswegen wollte ich eines der Fluggeräte haben. Ich sterbe un gern, wie jeder andere.« Sperco, verkrüppelt wie er war, schien durch Geburt oder durch einen Unfall ver stümmelt worden sein. Sein seltsames Ver halten ließ darauf schließen, daß er niemals das Gefühl erlebt hatte, ohne gewaltige tech nische Hilfsmittel sich vom Boden erheben zu können. Eine andere psychologisch eini germaßen zufriedenstellende Theorie gab es für Atlan nicht. Logischerweise haßte er al les, das von Natur aus fliegen konnte, ohne groß darüber nachzudenken. Wenn der Herr scher nicht flog, durfte auch nichts anderes fliegen. Das erklärte die kahlen Äste der Bäume und irgendwelche Schutzschirme oder Barrieren, die jeden ungehindert aufge wachsenen Vogel aus der Ebene verdamm ten. Daß Sperco die Fluginsekten und Vögel des gesamten Planeten ausrotten bezie hungsweise deren Flügel stutzen ließ, war undenkbar: daß er hingegen jeden Braisen amputieren ließ, lag viel eher im Bereich des
24 Wahrscheinlichen. Aber offensichtlich sehn te sich Sperco danach, endlich fliegen zu können. Also mußte ihm Atlan eine Möglichkeit geschickt anbieten, endlich dieses Geheim nis erfahren zu können. Gleichzeitig mußte er sich schützen und, wenn irgendwie mög lich, seine mißliche Lage verbessern. Er ver drängte die schmerzlichen Erinnerungen an seine Todesangst und fuhr fort: »Du, Sperco, willst fliegen können? Ich meine, daß ich dir helfen kann. Aber keines wegs hier.« Sperco erwiderte schlagartig: »Nur auf Loors?« »Nur dort, es sei denn, du läßt meine Hei mat hierher transportieren und gibst den Fliegenden in der Ebene eine neue Heim statt.« Deutlich sah Atlan, wie Sperco zurück schrak. Die unruhigen Bewegungen der Fin ger nahmen zu. »Undenkbar! Unmöglich! Außerdem hast du Camauke umgebracht!« Atlan schüttelte den Kopf und berichtigte: »Camauke und Erytder verloren die Ner ven. Sie rannten in das Feuer. Vielleicht sind sie tot. Vielleicht nur leicht angesengt. Ich habe weder den Wald in Flammen gesetzt, noch die beiden in die Flammen getrieben. Es mag sein, daß jemand gelogen hat, um sein Leben zu retten. Aber ich bin sicher, daß sich meine Unschuld herausstellen wird.« Er hatte keine Illusionen; die vergleichs weise ruhig geführte Unterhaltung war kei nerlei Garantie dafür, daß Sperco ihn sym pathisch fand, ihn schonte oder als ebenbür tig betrachtete. Im Gegenteil: Atlan stand unverändert am Rand des Abgrunds. Eine Laune oder ein Augenblick der Wut Spercos würde ihn binnen weniger Sekunden vom Leben zum Tod befördern. »Unschuld. Ein Begriff, der von vielen mißbraucht und je nach Blickwinkel ver wendet wird«, sagte Sperco mürrisch und unkonzentriert. Atlan merkte erst jetzt, daß er den Tyrannen deutlicher und besser ver-
Hans Kneifel stand als alle Spercoiden und als die Brai sen. Immerhin. »Ein Begriff, der seine Bedeutung im Im perium Wolcion noch hoffentlich nicht ver loren hat«, entgegnete er. »Mag sein … du hast keine Ahnung, wie du fliegen konntest? Welche geistige An strengung das bedeutete? Welche körperli chen Konditionen? Welche metaphysische Einstellung?« rief der Tyrann. »Ich habe keine Ahnung.« »Aber da du in dieser Zivilisation aufge wachsen bist, da du von Anfang an alles ge lernt hast, auch wenn du nicht bewußt ge lernt hast – kurzum: Das Wissen über dieses Geheimnis ist in dir. Sonst würdest du mit zerschmetterten Gliedern in der Halle lie gen.« Atlan sah die weit geöffneten Kiefer der Falle. Sperco hatte nachgedacht und war zu einem Schluß gekommen, der ihn, den Ar koniden, aufs neue in Gefahr stürzte. »Du willst darauf hinaus, daß ich willen los gemacht oder gefoltert oder unter der Einwirkung von anderen Methoden – das Geheimnis preisgeben könnte? Ich weiß, daß dies nicht der Fall sein wird. Wir selbst auf Loors haben es versucht. Mit allen Mitteln versuchten wir es, denn wir wollten unab hängig sein. Der Prozeß der vergeblichen Versuche dauerte Jahrzehnte. Der Erfolg? Eine Menge von flugunfähi gen Wracks und geistigen Krüppeln«, Atlan wählte diesen Ausdruck bewußt, verzog aber keine Miene, »die von den Meistern und Philosophen des Fliegens mühsam wieder aufgebaut werden mußten.« Sperco hob seine Klaue und deutete scheinbar ziellos auf jemanden hinter Atlan. »Ich werde dich spercotisieren. Die Sper cotisierten sind meine Diener. Sie geben al les freiwillig von sich, was sie wissen. Sper cotisierung ist der Ausdruck des höchsten Gutes, nämlich des Dienstes an mir. Als Diener Spercos wirst du mir alles sagen, was du weißt und was du kannst. Und sollte dies nicht genügen, werden wir uns einen Weg nach Loors überlegen.
Sperco und der Fremde Ob spercotisiert oder nicht, du wirst mir alles sagen, was zu sagen ist.« Atlan drehte sich nicht um. Er wußte mit tödlicher Sicherheit, daß hinter ihm ein Kommando der Braisen-Leibwächter stand und die Strahlwaffen gezückt hatte. Er war tete auf den nächsten Befehl Spercos, der nur eine einzige Bedeutung haben konnte. Trotzdem wagte er noch, laut und deutlich zu erklären: »Ein Vogel oder ein Braise, dem die Flü gel gestutzt oder amputiert wurden, kann nicht fliegen. Ich und meinesgleichen kön nen nicht weiterleben, wenn wir nicht frei sind. Wenn sich einer aus meinem Volk un ter fremdem Willen befindet, stirbt er bald. Ich bettle nicht darum, von der Spercotisie rung verschont zu bleiben, aber das Risiko ist für dich, Sperco, größer als für mich. Denn: was nützt dir ein toter Flugfähiger? Was hilft ein toter Mann, der dir den Weg nicht zeigen kann?« Widerwillig mußte er anerkennen, daß Spercos Gedanken und also auch seine Ant wort von einsamer, hochfliegender Kühnheit waren. »Das Leben ist hart und ständig von schwerem Risiko überschattet. Ich gehe die ses Risiko ein. Ich verliere dabei am wenig sten.« Dann sagte Sperco im Befehlston: »Bringt ihn hierher! Ich spercotisiere ihn!« Harte Klauen ergriffen Atlan. Bis zu Sperco war es ein Weg von rund dreißig Schritten. Mindestens fünf Braisen hielten ihn fest und zerrten ihn mit sich. Scharfe Projektordorne bohrten sich an verschiede nen Stellen durch die dünne Kleidung schmerzhaft in seine Haut. Du wirst zum willenlosen Sklaven ge macht! schrillte der Logiksektor. Atlan hatte es von Anfang an geahnt. Zu nächst ließ er sich mitschleppen und zog auch noch nach vorn. Aber als sie an der Kante der Tischplatte angekommen waren, spannte er seine Muskeln und begann, zu kämpfen. Er wollte sich losreißen und in den Schutz von Spercos Körper oder Sessel
25 flüchten. Die Braisen waren geschulte Leib wächter und lockerten keinen ihrer Griffe. Sie hoben ihn hoch. Seine Füße fanden keinen Halt mehr. Sie schleppten ihn an der Kante des Schreibtisches vorbei. Sperco stemmte sich ächzend aus seinem Sessel. In wenigen Augenblicken würde alles vorbei sein. Atlan, zwar nicht tot, aber nichts ande res als ein lebender Leichnam! Ein Zombie dieses Fledermauswesens! Ohne Willen … und bei dieser Aussicht zog er den Tod vor. Er fühlte zum zweitenmal an diesem Nach mittag den Griff der Todesangst. Aber er wehrte sich, und die Braisen konnten ihn nur zentimeterweise in die Nähe des Tyrannen drängen. Plötzlich lockerte sich der Doppelgriff ei nes einzelnen Leibwächters. Atlan hörte einen undeutlichen Lärm; verschiedene Ge räusche, einen Schuß, wilde Schreie und das Trampeln schwerer Füße. Jede Unterbre chung war gut, denn sie half ihm und gab ihm einen Aufschub. Er wandte den Kopf und spähte in die Richtung, aus der jener wirre Lärm erscholl. Jemand schrie gellend: »Es ist der Versager Slosc!«
6. Sperco, der Unbezwingbare, der Erste Magier der Squooner, Herrscher über alle Nester und Höhlen von Arsyhk, war davon überzeugt, daß das Schicksal ihm eine be sondere Rolle zugedacht hatte. Er war der legitime Inhaber der ultimaten Macht, mit der er jedes lebende Wesen überzeugen konnte. Auch der Nicht-Spercoide Botosc würde »mit dem Gruß der Freundschaft« be dacht werden. Nur eine Berührung und die eingesetzte Kraft, die ihn vor allen anderen Wesen auszeichnete, genügten. Dann war auch Botosc bis zu einem niemals vorher ge kannten Maß kooperativ und gehorsam. Wenn Sperco das Geheimnis kannte, dann durfte Botosc schnell und schmerzlos »ins Land des Todes reisen«. Der plötzlich erstandene Lärm an der Ein
26 gangspforte des Saales beunruhigte Sperco nicht. Die Leibwache würde mit Slosc schon fertig werden. Slosc rannte mit erheblicher Geschwin digkeit näher. Hinter ihm liefen in einer Ket te die Braisen. Sie wagten im Thronsaal nicht zu schießen. Im selben Augenblick schaltete der persönliche Diener Spercos die Lautsprecher ein. Die laute Musik, die bei wichtigen Freundschafts-Berührungen ertön te, begann im Saal zu dröhnen. Trotzdem feuerte einer der Braisen und traf Slosc an der Schulter. Aber der Anzug verging nicht in Flammen. Sperco stand auf und rief mit donnernder Stimme durch den Lärm: »Ich habe dich am Leben gelassen, Versa ger! Ich habe dir nur Amt und Würden ge nommen. Bist du wahnsinnig, mich zu stö ren?« Fast ebenso laut schrie der ehemalige Kommandant zurück: »Herr! Ich hasse diesen Botosc. Er ist an allem schuld. Ich bringe ihn um.« Ein riesiges Orchester, bestehend aus Ka nukas, Zimbeln und wuchtigen Trommeln, spielte die feierliche Musik. Die Knattern und Klappern setzten ein und steigerten das Orchesterstück dem Höhepunkt entgegen. Zwei Braisen, die bisher den sich wehrenden Fremden gehalten hatten, warfen sich auf Slosc. Als der Höhepunkt der Musik erreicht war, hatte sich auch Slosc dem Thron oder der Tischplatte bis auf wenige Schritte genä hert. »Ich will meine Rache!« schrie er aus dem Helm des Spercoidenanzugs. »Werft euch auf ihn. Er soll niemals wieder unter meine Augen treten!« donnerte Sperco. Die Braisen sprangen von allen Seiten den Spercoiden an. Augenblicklich bildete sich zehn Schritt vor dem Tisch, zwischen Atlan und dem großen Bildschirm, ein Knäuel von Leibern und blitzenden Waffen. Dumpfe Schreie und keuchendes Ächzen ertönten. Slosc wehrte sich verbissen und mit gewalti gen Körperkräften. Sperco hatte sich auf die Tischplatte gestützt und beobachtete mit al-
Hans Kneifel len Zeichen äußersten Zorns die Gruppe vor sich. Die Musik erreichte einen zweiten lau ten und stark rhythmischen Höhepunkt. »Seid ihr alle Schwächlinge? Spercos Zorn trifft euch!« schrie der Tyrann. Für einen kleinen Moment ließ seine Auf merksamkeit nach. Der Kampf, das Geschrei und die zu laute Musik lenkten ihn ab. Die sen Augenblick nutzte der Fremde aus und riß sich los.
* Langsam spannte Atlan seine Muskeln, federte in die Knie und wartete den günstig sten Zeitpunkt ab. Slosc wollte ihn wieder einmal ermorden, aber ohne seinen Willen und seine Absicht hatte er Atlan abermals eine echte Chance gegeben. Dann riß der Arkonide seine Arme aus einander, sprang nach vorn und in die Höhe und schleuderte die Braisen von sich. Er kannte nur ein Ziel. Weg von hier. Das Portal stand noch immer weit offen. Er spurtete, so schnell er überhaupt konnte, darauf zu. Hinter ihm ebbte der Geräuschorkan aus vielen archaischen Instrumenten langsam ab. Er wußte, daß er um sein Leben rannte. Wieder einmal. Außerdem war er der Bedro hung, zu einem geistig verstümmelten Wrack gemacht zu werden, vorübergehend entkommen. Er stob in meterweiten Sätzen über den weichen Belag des Bodens. Das of fene Portal war sein erstes Ziel, und den Weg hierher hatte sein photographisches Gedächtnis exakt gespeichert. Er sah kurz über die Schulter zurück. Die Braisen kämpften noch immer mit dem tobenden und brüllenden Slosc. Die beiden Leibwächter, die Atlan meterweit zur Seite geschleudert hatte, kamen gerade wie der auf die Beine. Zwischen dem Arkoniden und dem offenen Tor war niemand, der sich ihm entgegenstellte. Ein Schuß fauchte dröhnend auf. Atlan hatte nicht damit ge rechnet, aber er warf sich im richtigen Au genblick zur Seite. Der Strahl fauchte über
Sperco und der Fremde seinen Kopf hinweg und verlor sich in dem Halbdunkel des Vorraums. »Verdammter Sperco!« fluchte er und rannte weiter. Er wußte nicht, wie weit er kommen wür de. Vielleicht glückte ihm die Flucht. Aber MOAC wurde von Sperco und seinen Leib wächtern beherrscht, und er war völlig fremd hier. Was er in der kurzen Zeit gese hen hatte, reichte nicht. Vielleicht konnte er sich verstecken, aber diesen Planeten würde er ohne die Erlaubnis Spercos nicht verlas sen können. Ein Gedanke schoß wie ein Blitz durch seine Überlegungen. Jetzt kennst du dein zweites Ziel! sagte der Logiksektor. Eigentlich hatte er gedacht, daß Sperco den Ex-Kommandanten Slosc hatte töten lassen. Was hatte diese Großzügigkeit zu be deuten? Soweit er es miterlebt hatte, waren Spercoiden für geringere Vergehen getötet worden. Warum nicht Slosc? Er schoß aus der Halle heraus wie ein Ra sender. Auf den ersten Blick sah er, daß es hier keine Leibwächter gab. Er rannte gera deaus weiter und grinste kalt; irgendwie würde er es schaffen. Sein Orientierungsvermögen funktionierte wie immer, wenn er konzentriert und ange spannt war, hervorragend. Den gesamten Weg, den ihn Körz und die anderen Braisen mit sich geschleppt hatten, legte er rennend zurück. Niemand beachtete ihn – besser: je der, der ihn rennen sah, war sicher, daß dies einen Sinn hatte und einem Befehl Spercos entsprach. Atlan erreichte nach einem rasenden Ren nen von rund einer Viertelstunde Dauer – er schaffte es mühelos, die entsprechenden Öffnungsmechanismen auszulösen! –, den Punkt, an dem ihn die Leibwache nach sei ner überraschenden Landung abgefangen hatte. Vor ihm lag der Eingang zur Halle der Versuche. Während er die Korridore, Schrägflächen, Hallen und Labors durcheilt hatte, mußte er ununterbrochen an diesen merkwürdigen
27 Sperco denken. In der kurzen Zeit glaubte Atlan, einige wichtige Beobachtungen gemacht zu haben. Vielleicht waren seine Schlüsse, die er dar aus ziehen konnte, ebenfalls richtig. Sperco war unzweifelhaft aus dem Volk der Brai sen. Er war ein Krüppel. Irgendwie hatte er eine Haßliebe zu den Braisen entwickelt oder zu allem, was von den Braisen verkör pert wurde. Er versklavte diejenigen, die fliegen konnten. Immer wieder hörte Atlan die schrillen Flüche, die ihm Sperco nachgeschickt hatte. »Fangt diesen Botosc! Er darf nicht ent kommen!« Atlan wartete, bis die ziemlich niedrige, aber breite Türplatte aufglitt. Dann sprang er auf den grünen Kunstrasen. Der Eingang schloß sich. Der Arkonide spurtete bis zur Liftkabine und drückte seinen Finger auf den einzig wichtigen Knopf. Sofort schoß der Würfel in atemberaubender Geschwin digkeit aufwärts und hielt mit starker Verzö gerung an. Atlan rannte auf die Galerie hin aus und hielt an, als er den ersten Flugappa rat entdeckte, der ihn von Form und Technik her beeindruckte. Du spielst sehr gewagt! schaltete sich der Logiksektor ein. Atlan knurrte voller Grimm: »Es geht schließlich um mein Leben und weitaus mehr!« Er zwang sich dazu, seine Hast abzulegen und die Unruhe zu unterdrücken. Wenn er fliehen wollte, durfte er sich nicht zusätzlich in Gefahr bringen, indem er das ungeeignete Instrument aussuchte. Sein Verstand für technisch mögliche Lö sungen war hoch entwickelt; die unendlich lange Erfahrung auf mehreren Welten und in vielen Abenteuern hatte ihn entsprechend geschult. Die meisten Flugapparate, die hier wie Museumsstücke aufgestellt und ausge stellt waren, interessierten ihn nicht, aus ei nem einfachen Grund: Es waren künstliche Schwingen. Mit ih nen konnte man bestenfalls gleiten, und, wie die Knickstellen und die gerissenen Verbin
28 dungen deutlich zeigten, auch nur unter Le bensgefahr. Sie waren möglicherweise dazu geeignet, vom Gipfel eines hohen Berges unter Ausnutzung von starken Aufwinden elegant zu Tal zu schweben, aber ein echtes Fliegen war unmöglich. Falls Sperco versucht hatte, diese Geräte zu benutzen, hatte er zwangsläufig scheitern müssen. Atlan musterte prüfend ein Ausstellungs stück nach dem anderen. Er sah viele Stäbe, eine wahre Unzahl verschiedener Gelenke, federnde Elemente und Handgriffe, Schwin gen mit und ohne Schwanzteil, Konstruktio nen, die wie riesige bunte Winddrachen aus sahen, ausgesprochen utopische Geräte, die alle auf der Muskelkraft basierten, Verbin dungen zwischen den Ansätzen aller nur denkbarer aerodynamischer Prinzipien. Schneller! Entscheide dich! Sie sind hin ter dir her! drängte der Logiksektor. »Richtig!« murmelte Atlan. Trotzdem ließ er sich Zeit bei der Prüfung seiner Fluchtmöglichkeiten. Er hatte bisher sicherlich nicht weniger als dreißig verschie dene »Flugapparate« gesehen. Die unzählba ren Knick- und Bruchstellen bewiesen ihm nachdrücklich, daß jeder einzelne Versuch mit diesen phantastisch wirkenden Gerät schaften ein neuer Mißerfolg Spercos gewe sen war. Schließlich, in einer Nische der Wand, entdeckte er ein merkwürdig aussehendes Gerät. Es sah aus, als wäre es niemals benutzt worden. »Ich glaube«, flüsterte er im Selbstge spräch, »das ist es, was ich suchte.« Das Fluggerät wirkte wie eine Art Sitz. Da Sperco humanoide Formen hatte, würde sich auch der Arkonide dieses Geräts ohne größere Schwierigkeiten bedienen können. Dieses Fluggerät bestand im Gegensatz zu allen anderen aus verschiedenen Bündeln von röhrenförmigen Teilen, die wie Raketen aussahen. Jedes einzelne der gedrungenen, langen Rohre hatte eine andere Farbe. Vor dem »Sattel« krümmte sich ein Rohr auf-
Hans Kneifel wärts, das mit vielen kleinen Hebeln und Schaltern bestückt war. Einige Stabilisie rungsflächen und kurze Stummelflügel ver vollständigten den Eindruck von Kraft, Si cherheit und Geschwindigkeit. Mit einem weiten, schnellen Satz war At lan bei diesem Gerät. Auch jener Apparat war kein »Fluggerät«. Aber es war ein Gegenstand, der ihn mit großer Geschwindigkeit aus der Zone der Gefahr hinaustragen konnte. Er löste das Gerät von den Haken und Dornen, mit denen es an der Wand der Halle der Versuche be festigt war. Es gab einen Zentralschalter. Atlan kippte den Hebel und sah sich durch das Aufleuch ten von etwa drei Dutzend verschiedenfarbi ger Lämpchen in einem winzigen Armatu renbrett belohnt. Keuchend schleppte er die ses Raketenaggregat bis an den Rand des Podests, von dem er vor nicht ganz einer Stunde heruntergestoßen worden war. Er klappte die drei stelzenförmigen Aus läufer heraus und setzte sich in den schma len Sattel. Ziemlich gefährlich, dein Fluchtversuch! kommentierte der Extrasinn. »Das Leben ist hart!« murmelte er, zu al lem entschlossen. Jene Raketen besorgten den Vortrieb. Die anderen waren mit Sicherheit Bremsraketen. Die Zündung erfolgte, wenn man einen Schalter kippte. In sehr engen Grenzen ließ sich diese Konstruktion durch Verstellen von ruderartigen Klappen und Verwindungs flächen steuern. Ein System von kugelförmi gen Energiebehältern und konkav geformten Projektoren schien darauf hinzuweisen, daß Antischwerkräfte wirksam wurden. Atlan kniff die Augen zusammen und versuchte, in das Geheimnis der Steuerung einzudringen. Bist du wahnsinnig? Die Braisen kom men! schrie der Logiksektor alarmierend. Atlan versuchte, sich nicht selbst in Panik bringen zu lassen. Seine Gesundheit und sein überleben hingen davon ab, daß er die ses Gerät richtig bedienen konnte. Er setzte sich auf diesen harten Sattel, schnallte sich
Sperco und der Fremde mit breiten, gepolsterten Gurten an und ver suchte weiterhin, die Konstruktion und de ren Funktionsweise zu analysieren. Raketen, Antigraveinrichtungen, Steuerung … ver mutlich sollte nach dem Willen und den Vorstellungen der braisischen oder spercoi dischen Konstrukteure das ganze, verwirren de Konglomerat aus Hebeln, Schaltern und Zündmechanismen so ähnlich funktionieren wie die Flugaggregate der terranischen Raumanzüge. Diese Technik allerdings be herrschte der Arkonide nahezu im Schlaf. Er kippte den ersten Schalter. Er war auf einen energetischen Fausthieb oder einen Schubimpuls gefaßt, der ihn vom Podest riß und in die Höhe katapultierte. Statt dessen klappte ein elliptisch geform tes Doppelrohr in die Höhe. Weich gepol sterte Gurte oder Spangen schlossen sich um seinen Kopf und den Oberkörper. Sie sind da! kreischte der Extrasinn. Von unten erscholl das Geräusch der auf gleitenden Tür. Stimmen schrien aufgeregt durcheinander. Es war sicher, daß die Ange hörigen der Braisenleibwache in die Halle eingedrungen waren. »Ich versuchte es. Schlimmer kann es nicht mehr werden!« flüsterte Atlan und konzentrierte sich. Er drückte den ersten Knopf mit dem Zeigefinger der linken Hand und umklammerte einen knaufartigen Hebel, der für ihn die Funktionen eines Steuerknüp pels darstellte. Hinter ihm blitzte es auf. Ein zunächst schwaches, dann immer lauter werdendes Zischen ertönte. Dann zündete die rosafarbene Rakete. Sie knatterte, heulte durchdrin gend auf und erzeugte während der ersten Sekunde einen rosafarbenen Strahl und ebensolche Wolken. Dann fühlte Atlan, wie der Schub einsetzte und ihn – mitsamt die sem surrealistisch wirkenden Gestell – hoch hob. Und dann setzte die Beschleunigung ein. Atlan wurde mit dem Fluggerät von der Kante des Podests weggerissen und schräg in die Luft geschleudert. Er drückte den Steuerhebel nach rechts. Hinter ihm beweg
29 ten sich Klappen und Ruder. Aus seinem Flug wurde eine gierende Bewegung. Sofort drückte er den Hebel in die andere Richtung. Er kippte augenblicklich nach links. Als er den Hebel zu sich heranzog, trieb ihn die Kraft in seinem Rücken schräg nach oben und in die Richtung des Fensters aus Glas. »Ich verstehe«, keuchte er und merkte, daß ihn der Andruck schwer gegen den el liptischen Schutz und die karge Polsterung drückte. Seine Finger berührten den zweiten Knopf. Eine helle, schmetternde Explosion ertönte in seinem Rücken. In dem Lärm gin gen die aufgeregten, fast hysterischen Schreie der Braisen tief unter ihm unter. Ein zweiter Schub, kräftig wie der Schlag eines Dampfhammers, traf den Arkoniden im Rücken. Der Flugapparat hob sich noch etwas hö her. Er verharrte eine halbe Sekunde hoch über dem Niveau des Podests. Dann begann er zu schweben und überwand den dunklen Abgrund der Halle. Als der volle, konzen trierte und außerordentlich kräftige Schub der zweiten Rakete einsetzte und sich in ei ner hellvioletten Wolke aus Feuer, Gasen und Rauch äußerte, hob sich das Gerät und schleuderte den Arkoniden schräg vorwärts. Unter ihm schrien und gestikulierten die Braisen. Sie schienen ratlos zu sein. Aber das Fauchen, Heulen und Kreischen über tönte das Schreien. Noch schoß keiner der Leibwache, aber es würde nicht lange auf sich warten lassen. Atlan versuchte weiter hin, einigermaßen richtig zu steuern. Er merkte, daß ihm das Gerät in Maßen ge horchte. Die Glasfläche des Fensters kam ra send schnell näher. Hindurch! Dann bist du im Freien! schrie der Extrasinn. Atlan zündete die dritte Rakete und schal tete verzweifelt an der Antigraveinrichtung. Der Apparat beschleunigte noch einmal, sta bilisierte die Flugbahn und wurde auffallend schneller. Gleichzeitig hörte das Schwanken und Schleudern des Gerätes auf. Nach einem
30 Flug von schätzungsweise hundertfünfzig oder zweihundert Metern, der in einer fla chen ballistischen Kurve erfolgte, raste das Gleitgerät auf die Glasflächen zu. Atlan riß beide Arme hoch und bedeckte die Augen und das Gesicht mit den Händen. Vor ihm gab es ein betäubendes Krachen, dann ein lautes, langgezogenes Klirren. Er fühlte den Anprall von Tausenden kleiner Glasteilchen. Sie prasselten gegen seinen Körper und ge gen die Teile des Flugapparats. Atlan spreizte die Finger. Vor sich erkannte er, scharf voneinander abgegrenzt, drei verschiedene Zonen. Das Blau des nachmittäglichen Himmels, das dunkle Grün der Ebene und das braune Grau der Festungsbauten. »Soweit, so gut«, murmelte er und drück te auf den nächsten Schalter. Wieder traf ihn der Schlag der Beschleu nigung. Das Gestell schob sich noch immer weiter schräg in die Höhe. Atlan beherrschte das Gerät jetzt schon viel besser und genoß für einige Sekunden das Gefühl, frei zu flie gen. Die Wärme der Sonne auf seinem Ge sicht, das Pfeifen des Fahrtwinds und das Donnern der gezündeten Raketen – es waren Faktoren, die ihn kurzzeitig seine mißliche Lage vergessen ließen. Die nächste Feststoffrakete zündete. Sie veränderte nicht die Flugbahn, sondern er höhte die Geschwindigkeit Atlans. »Wohin?« fragte er sich und merkte, wie das Wort ihm förmlich von den Lippen ge rissen wurde. Er konnte nicht mehr sehr lan ge in der Luft bleiben. Irgendwann würde er landen müssen. Es gab sicher Zehntausende Spercoiden, viele Tausende Braisen und eine unbekannte Anzahl anderer Wesen in und um MOAC. Wenn er landete, würden sie ausgeschickt werden und nach ihm suchen. Er war waf fenlos, allein und ohne Nahrungsmittel. Es blieb eine Frage der Zeit, wann sie ihn fin den würden. Im Augenblick aber war er der Beherrscher der Luft über dem Komplex der Riesenburg des Tyrannen. Wohin du auch flüchtest, wo du auch lan-
Hans Kneifel dest, sagte der Logiksektor in seiner kalten Logik, sie werden dich früher oder später finden und zu Sperco zurückbringen. Atlan bewegte den Hebel und steuerte in einer langgezogenen Kurve einen Punkt an, der ihm eben aufgefallen war. Wenn er schon keine Fluchtchance hatte, sondern nur einen Aufschub erreichen konnte, dann wollte er wenigstens allen zeigen, was er konnte. Vielleicht genügte diese Demonstra tion, um ihm irgendeine Vorzugsstellung einzuräumen. Diesmal drückte er einen blau en Knopf, und die blau gefärbte Feststoffra kete zündete. Sie erzeugte einen ungeheu ren, bläulichen Schweif von Gasen und Rauch und bewegte das komplizierte Gestell mit dem Arkoniden weiter. Die Kurve war halb durchmessen. Atlan steuerte die Spitze des höchsten Turmes an, den er in diesem Gewirr der baumwurzelartigen Masse von Gebäuden und Höhlungen auszumachen in der Lage war. Es war ein säulenstumpfartiges Gebäude fast im Zentrum MOACs. Es sah wirklich aus wie ein dicker, knotiger Baum mit ver zweigtem Wurzelwerk, den man im unter sten Viertel waagrecht abgesägt hatte. Auf dieser Fläche erhoben sich verschieden ho he, nadelartige Antennen oder Projektoren. Sie alle waren unterbrochen durch mehr oder weniger elliptische, kugelförmige oder würfelförmige Elemente. Diesen Punkt steuerte Atlan an. Er blickte hinter sich. Niemand verfolgte ihn, aber er zweifelte nicht daran, daß sich eine Unzahl von Antennen und Linsen auf ihn richteten. Wenn es zutraf, was er von Sperco und des sen psychologischen Behinderungen wußte, dann würde der Tyrann toben und seine Gier, das Geheimnis des freien Fliegens be treffend, bis ins Unermeßliche steigern. Die nächste Rakete begann zu feuern und er zeugte einen grünsilbernen Schweif von Ab gasen. Der Fluggleiter lag ausgezeichnet. Die Stabilität dieses Fluges hätte nicht bes ser sein können. Atlan bewegte die Steuer anlage und flog ein paar kühn wirkende
Sperco und der Fremde Kurven. »Ich werde es ihnen allen zeigen!« mur melte er im Selbstgespräch. »Seit undenkba rer Zeit ist hier um und über MOAC nie mand so geschickt und sicher geflogen. Der Tyrann wird seinen Haß auf mich projizie ren. Er wird jammern und sich selbst bedau ern. Und schließlich wird er von mir verlan gen, ihm das Fliegen beizubringen!« sagte er fast begeistert. Kaum bist du scheinbar gerettet, wirst du übermütig, sagte mit deutlicher Mißbilli gung der Logiksektor. »Richtig!« gab der Arkonide zu. Eine un kontrollierte Euphorie erfaßte ihn. Das Ziel kam, nachdem er die Kurve fast durchflogen hatte, immer näher, wurde größer und deutli cher. Wieder riskierte er ein gewagt erschei nendes Manöver und steuerte dann das Flug gerät aus. Er schätzte die Entfernung ab und zündete, wie er hoffte, die letzte Rakete. Sie trug ihn, über eine Reihe von plattformarti gen, waagrechten und schrägen Dachflächen hinweg, genau auf die längste und höchste Nadel zu, und dort auf den Würfel, der von dieser Nadel aufgespießt schien. »Eines meiner wildesten Abenteuer!« knurrte er. »Und jetzt sollen sie mich fan gen!« Es würde für die flugunfähigen Braisen und die Spercoiden, die keinen Gleiter be nutzen durften, keineswegs leicht sein. Je denfalls würde es helfen, das Geheimnis die ses Fremden zu vergrößern. Er schaltete alle Antigraveinrichtungen ein, von denen er annahm, daß sie senkrecht nach unten arbeiteten und ihn vor einem schnellen Absturz bewahren würden. Dann versuchte er, die Distanz auszurechnen. Er drehte sich wieder um und sah den purpur farbenen Rauch der letzten Rakete, der sich langsam auflöste und verteilte. Auf dem Schaltbrett vor ihm waren viele Knöpfe und Schalter. Er drückte einen, von dem er annahm, daß er eine Bremsrakete zünden würde. Für jeden anderen Bewohner von MOAC mußte diese Demonstration ein wahres Jahrhunder
31 tereignis sein. Etwas, das aussah wie ein Vo gel mit starren, kleinen Flügeln, flog an der Spitze von grell gefärbten Rauchsäulen über die Dächer der großen Siedlung dahin. Je der, der Atlans Flucht beobachtet hatte, wür de starr vor Verwunderung und Schrecken sein. Die tobenden Geräusche der Raketen würden ein weiteres tun, um diesen Flucht versuch zu einem wahren Ereignis werden zu lassen. Vor sich sah Atlan den schlanken Schaft aus federndem Stahl. Der oberste würfelförmige Projektor, oder was immer es war, kam näher. Die Rakete hatte erwartungsgemäß gezündet und die Geschwindigkeit des Fluggeräts stark verzö gert. Die Bewegung in der horizontalen Richtung wurde langsamer. Aber der Sattel mit all seinen Flügeln, Steuerflächen und Projektoren schwebte unverändert in dersel ben Höhe. Fast so exakt wie die Steuerung eines terranischen Kampfanzugs funktio nierten die Hebel und Schalter in Atlans Fin gern. Die letzten Meter legte das Gerät langsam und sicher zurück. Atlan drehte das Ding nach rechts und klammerte sich, als der stäh lerne Schaft herankam, an das Rohr. Er win kelte schließlich den linken Arm ab, hielt sich fest und betätigte die Schalter, deren Bedienung er kannte. Zentimeterweise senkte sich der Flugap parat. Er sank mit einem gedämpften Knir schen auf die dunkle Oberfläche des Wür fels. Sie war nicht größer als vier Quadrat meter. Atlan hob den Kopf und atmete auf, als er merkte, daß er wieder einmal in trüge rischer Sicherheit zu sein schien. Und wenn ein Sturm kommt? flüsterte der Logiksektor. »Sperco hat durch irgendwelche Manipu lationen die Stürme abgeschafft!« sagte der Arkonide leise. Richtig. Dann werden Spercoiden und Braisen diesen Punkt stürmen! »Sollen sie«, meinte Atlan. »Vorübergehend bin ich in Sicherheit. Die Chancen für mich haben sich zumindest
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Hans Kneifel
theoretisch verbessert.« Optimismus kann, wenn leichtfertig be gangen, gefährlich werden! sagte der Extra sinn vorwurfsvoll. Atlan grinste kalt. »Ich warte es ab. Der nächste Zug liegt bei meinem Gegner.« Das Fluggerät stand auf vier Beinen, die ihrerseits durch kugelähnliche Gummipuffer geschützt waren, auf der Oberfläche des würfelformigen »Dinges«. Langsam löste Atlan den Griff des linken Armes und stieg aus dem schmalen Sattel des Geräts. Unter ihm lag MOAC. Er versuchte zu rechnen und glaubte zu wissen, daß bis zum Sonnen untergang noch rund vier oder fünf Stunden waren. Unter den vielen Dächern und Zinnen kochte es vermutlich. Der Tyrann hatte zwei niederdrückende Erlebnisse innerhalb ganz kurzer Zeit gehabt. Der Spercoide Slosc, der seiner Ämter beraubt worden war, griff im Thronsaal einen Fremden an, und dies un mittelbar vor den Augen des Tyrannen. Und dieser Fremde, der vor dem zweifelhaften Gericht die Freiheit des Fliegens verteidigt hatte, entkam fliegend mit einem von Sper cos Flugapparaten! Und überdies zeigte er allen noch, wie man wirklich flog. Diese Schaustellung mußte ganz einfach positive Ergebnisse hervorbringen! Jetzt stand Atlan auf der Oberfläche des Würfels. Neben ihm knackte das abkühlende Metall der verschiedenen Raketenhülsen. Der Arkonide drehte den Kopf und versuch te, Einzelheiten der Stadt oder Burg MOAC zu erkennen. Den Gedanken an eine wirk lich geglückte Flucht hatte er mittlerweile aufgegeben. Er mußte ganz einfach versu chen, das Beste aus seiner wirklich nicht gu ten Situation zu machen. In einer Anwandlung von Fatalismus setz te sich Atlan neben das Flugaggregat und lehnte sich an den Schaft der Antenne. Wie der einmal wartete er.
* Als Körz an der Spitze von etwa einem
Dutzend Braisen in die Halle der Versuche eindrang, ahnte er bereits, daß ihm eine Zur schaustellung von unbekannten Fähigkeiten bevorstand. Er wußte nicht, warum er solche aufrührerische Gedanken hatte, aber er hatte sie einfach, und er wußte, daß der seltsame Fremde diese Demonstration besorgen wür de. Als aus der Höhe das kreischende, ner venzermürbende Heulen und Jaulen er scholl, und als der Fremde auf einem der bunten Gestelle ritt und lange, farbige Wol ken hinter sich ließ, staunte Körz von allen Leibwächtern am wenigsten. Irgendwie hat te er es erwartet. Schweigend sah er zu, wie das zweite rauchausstoßende Ding sich entleerte und den Fremden auf das Fenster zu schleuderte. Das fliegende Gerät mit einem lebenden Wesen, das dieses Gerät steuerte, schien auf alle anderen Braisen einen ausgesprochen verheerenden Einfluß zu haben. Sie blieben starr stehen, und alle blickten nach oben. Sie sahen, wie ein lebendes Wesen flog! Die Vorführung war von bestechender Eleganz. Atemlos und gebannt sahen sie alle zu, wie der Fremde auf das Fenster zusteuer te. Die Sonnenstrahlen verwandelten die Rauchfahnen und die langen Stichflammen und das farbige Gerät mitsamt dem nach vorn gekrümmten Fremden in Erscheinun gen aus einer anderen Welt. Das Kreischen und Donnern des Raketenantriebs taten ein übriges, um die Leibwache zu verwirren. Die schlanken Braisen erinnerten sich unbe wußt an ihre eigenen Fähigkeiten – die sie vor Generationen gehabt hatten. Dann kam der Zusammenprall des Frem den mit den Glasflächen des Fensters. Ein markerschütterndes Klirren, Prasseln und Bersten ging durch die riesige Halle. Dann verschwand der Fremde durch das geborstene Fenster und raste weiter durch die Luft. Körz erinnerte sich schlagartig an viele Dinge: an seine eigenen Träume. An die Träume von Tancai, seiner Gefährtin. An die eigenen Vorstellungen, einmal Flügel zu ha
Sperco und der Fremde ben und zu fliegen, die dritte Dimension zu beherrschen. An das Ei, das vielleicht jetzt schon aufgebrochen war. Und daran, daß man allen Braisen die Flügel gestutzt hatte, noch ehe sie ihre Schwingen richtig zu ge brauchen gelernt hatten. Die letzten Fetzen der Rauchwolken lösten sich jetzt hoch oben im Sonnenlicht vor dem zerbrochenen Fen ster auf. Einzelne Glasteile fielen noch im mer herunter und schlugen in den Belag ein. Die Leibwächter standen erstarrt da. Sie hatten zum erstenmal in ihrem Leben etwas Fliegendes gesehen. Dazu kam die Rauch entwicklung des dahinschießenden Flugap parats. Der Fremde war geflüchtet und nicht abgestürzt wie Sperco, der alle diese Hilfs geräte getestet hatte. Auf jeden Leibwächter hatte der Anblick psychologisch verheerend gewirkt. Urängste und längst untergegangen geglaubte Bewußtseinsinhalte brachen auf, wurden aber unterdrückt. Die Braisen dach ten zitternd darüber nach, was sie eben er lebt hatten. Der Flug war dem Tyrannen ebenfalls nicht verborgen geblieben. Einige Sekunden, nachdem der Fremde den Saal verlassen hatte, schalteten sich die Lautsprecher ein. Spercos Stimme ertönte. »Botosc ist mit dem Gerät über den Spit zen MOACs gesehen worden. Sein Ziel ist der Turm des Herrschers! Die Leibwächter werden diesmal nicht versagen. Holt euch aus den Magazinen, was ihr braucht: Seile, Haken, Netze und ähnli che Geräte. Holt den Fremden von der Hauptantenne herunter und bringt ihn in den Thronsaal.« Es war undenkbar, daß dieser Befehl nicht befolgt werden würde. Sperco wartete keine Bestätigung ab. Körz wandte sich an die an deren und sagte mit rauher Stimme: »Kommt. Wir werden Botosc fangen müssen.« Ein wenig später waren sie unterwegs. Hin und wieder überquerten sie – inzwi schen verstärkt durch andere Gruppen mit demselben Auftrag – auf offenen Galerien die Räume zwischen den mächtigen Bau
33 werken. Dann sahen sie weit entfernt den Fremden mit dem Fluggerät sitzen. Er schien auf die Braisen zu warten.
* MOAC war in seiner Sicht ein mehr als merkwürdiges Bauwerk, dachte der Arkoni de. Es lag dem Bauplan keinerlei Systematik zugrunde. Chaotisch ragten kleine und große Gebäude unmittelbar nebeneinander auf. Es gab, soweit er dies erkennen konnte, einige Nebenstädte oder aus der Baumasse hinaus ufernde kleinere Zonen. Ein lähmendes Schweigen der Ereignislosigkeit lag über der gesamten Stadt. Alles, was in dieser Hin sicht andere Siedlungen auszeichnete, näm lich Verkehr, Menschenmassen oder Grup pierungen anderer Wesen, fehlte hier völlig und spielte sich in dunklen Korridoren und Stollen ab. Der Verdacht, daß diese Stadt ein ins Gigantische vergrößertes Modell einer anderen Siedlung war, lag nahe. Atlan war sicher, daß es einst die Siedlung von licht empfindlichen Wesen sein mußte, von ei nem Planetenvolk, das mehr Ähnlichkeit mit Maulwürfen als mit Adlern hatte. Jetzt ertönte schwacher Lärm. Atlan ver änderte seine Körperhaltung und sah in die entsprechende Richtung. Zwischen den Mauern näherte sich eine riesige Gruppe Braisen und Spercoiden. Atlan sah genauer hin und erkannte, daß sie ungewöhnliche Ausrüstungsteile schleppten. »Ich verstehe«, knurrte er. »Sperco will mich lebend. Ich werde ihnen die Arbeit nicht leichtmachen.« Die Kommandos kamen schnell näher. Aber immer wieder verschwanden sie vor übergehend hinter Mauern oder anderen Ge bäudeteilen. Unterhalb Atlans gab es nur die runde Plattform des Daches und ziemlich glatte, senkrechte Mauern. Der nächste Punkt, vom dem aus die Braisen operieren konnten, lag mehr als fünfundzwanzig Meter weit entfernt. Ausnahmslos waren es die Dachflächen und Terrassen oder Kanzeln
34 niedriger gelegener Gebäude. Jetzt waren die ersten Gruppen nahe ge nug. Atlan erkannte Körz, der eine Kom mandoeinheit anführte. Sie trugen dünne Seile, Haken und Schlingen und zusammen steckbare Leiterteile mit seltsamen Dornen daran. Dein Plan scheint halbwegs geglückt! Sperco gab nicht den Befehl, dich zu töten, sagte der Logiksektor. Einen Augenblick lang überlegte Atlan, ob er ein zweites Mal starten sollte. Noch war die Hälfte der Raketen nicht gezündet. Aber dann mußte er sich eingestehen, daß er den Tyrannen nur noch mehr reizen und sei ne Leibgardisten noch mehr herausfordern würde. Richtig! Körz brüllte zu ihm herauf: »Sperco befahl, dich lebend zu fangen. Gegenwehr macht alles noch schlimmer!« »Ich habe verstanden«, gab Atlan zurück. »Kommt und holt mich.« Sofort begann von vier verschiedenen Plätzen aus ein seltsames Bombardement. Seile mit Wurfankern wur den geschleudert. Ein Anker schlug klirrend gegen den Stahlmast. Andere fielen zu kurz zwischen die Gebäude. Wieder andere prall ten auf das Dach unterhalb der Konstrukti on. Eine Gruppe schweigender Spercoiden setzte die Teile der Leiter zusammen. Eine Schlinge legte sich um das Vorderteil des Flugapparats. Die Braisen am anderen Ende zogen und zerrten das Gerät herunter. Es schlug schwer auf das Dach. Eine Rakete, die schwarzen Rauch ausstieß, zündete au genblicklich und beförderte das Gerät mitten in eine Gruppe Spercoiden, die erschrocken auseinandersprang. Bis die Rakete ausge brannt war, torkelte der Apparat auf dem Dach herum und verwickelte sich dabei in einige der Seile. Eine Harpune jaulte dicht über Atlans Kopf durch die Luft und schleppte ein lan ges Tau hinter sich her. Die Leiter schob sich Meter um Meter hö her und an seinen Standort heran.
Hans Kneifel Wieder warfen die Braisen Schnüre und Seile mit kugelartigen Gewichten und An kern in Atlans Richtung. Die meisten Anker trat er von der kleinen Plattform, aber viele der Taue wanden sich um den Schaft. Aber bisher gab es noch keine Möglichkeit, zu At lan vorzustoßen. Der Arkonide würde sich einfangen las sen. Er stand ruhig da, schleuderte ab und zu einen Wurfkörper zur Seite, wich den Ge schossen aus und sah dem vorderen Ende der Leiter entgegen. Das kompliziert wir kende Gerät wurde mit Seilen und Stützroh ren auf dem Dach befestigt. Wieder heulte eine gefährlich aussehende Harpune heran. Atlan warf sich zu Boden, der Dreizack schlug in den Mast ein. »Sie werden ungeduldig«, murmelte er. Vorausgesetzt, daß seine Flugdemonstration eben die Spercoiden und die Braisen aufge stört hatte, konnte er annehmen, daß sie in ihm etwas wie ein Wunderwesen sahen. Ei ne positive oder negative Reaktion? Er wuß te es nicht. Über ihm wickelte sich das vor dere Ende einer Art Strickleiter um den Mast. Die Leiter wurde schwankend weiter geschoben und legte sich mit den vordersten Krallen an den Rand des Würfels. Kaum war die Leiter gesichert, kletterten einige Spercoiden in halsbrecherischer Eile die Sprossen hinauf. Atlan erwartete sie und sagte sich, daß der Weg über die Leiter zu rück gefährlicher sein würde als sein Flug hierher. »Deine Flucht ist zu Ende, Botosc«, kam es knarrend aus einem der Anzüge. »Ich weiß das genau«, erwiderte Atlan. »Wohin werde ich gebracht?« Der erste Spercoide betrat die kleine Platt form und schob Atlan nachdrücklich auf die Leiter zu. »Zu Sperco. Er ist die Macht!« Die anderen Spercoiden, die diesen ersten Teil der Grußformel gehört hatten, antworte ten laut im Chor: »Und die Spercotisierten sind seine Die ner.« Atlan begann zu ahnen, daß auch er in
Sperco und der Fremde kurzer Zeit zu den Spercotisierten gehören würde. Er kletterte die Leiter hinunter und wurde von einer Gruppe Braisen übernom men. Körz blieb dicht vor ihm stehen und sagte: »Der Flug war kühn und mutig. Er scheint dich nicht weit gebracht zu haben.« »Möglicherweise weiter, als wir im Au genblick wissen«, antwortete Atlan ruhig. »Vielleicht war es nicht der letzte Flug in MOAC.« »Niemand hat je gehört, daß ein Spercoti sierter fliegen kann«, sagte der Braise. Er schien tatsächlich vergleichsweise ironischer oder sarkastischer Überlegungen fähig zu sein. »Sperco wird, wie immer, entscheiden«, schloß Atlan. Diesmal war der Fußmarsch wesentlich kürzer. Atlan sah sich um und prägte sich den Weg genau ein. Schließlich, nach dem üblichen Zickzack durch einen Teil des dunklen Höhlensystems, standen die Braisen mit ihrem Gefangenen wieder vor dem Por tal zu Spercos Thronsaal. Der persönliche Diener des Tyrannen kam heraus, nahm die Meldung entgegen, ver schwand wieder, und kurz darauf schwangen die Torflügel auf. »Slosc wird dich dieses Mal nicht stören«, erklärte Körz und schob Atlan vorwärts. Es gab keine Musik, wie es Atlan erwartet hatte. Er ging wieder durch den riesigen Raum bis an den riesigen Tisch. Voller er kennbarer Gespanntheit starrten ihn die großen, leuchtenden Augen Spercos an. Atlan versuchte, den unergründlichen Blick ruhig zurückzugeben. Er wußte selbst nicht, warum er sich nicht fürchtete. Der entscheidende Moment rückte näher; dies mal würde ihn niemand entkommen lassen. Nach einem qualvoll langen Schweigen fragte Sperco: »Warum stiehlt jemand, der behauptet, fliegen zu können, eine Flugmaschine?« Natürlich hatte sich der Arkonide auch auf diese Frage lange genug vorbereiten können.
35 »Ich habe es dir bereits einmal erklärt«, sagte er. »Ich bin kein Vogel und kein Brai se.« »Braisen fliegen nicht.« »Ohne Amputation würden sie zweifellos hervorragend fliegen können«, entgegnete Atlan. »Ich bin zudem nicht auf Loors, und deshalb kann meine Antwort nur ungenau ausfallen.« Sperco machte in die Richtung der Leib garde eine kurze Bewegung. Atlan fühlte sich von den harten Klauen gepackt und auf gehoben. Mindestens sechs Braisen schlepp ten ihn um den gewaltigen Tisch herum bis dicht an die Sitzschale des Tyrannen heran. »Sperco ist die Macht«, sagte Sperco halblaut. »Beugt ihn herunter.« Er rutschte schwerfällig in der weichge polsterten Schale nach vorn. Deutlich sah Atlan wieder die mißgestalten Schwingen. Sie wirkten bei ihm wie eingeschrumpfte Flughäute, mit hornigen Hautstückchen be deckt, den entwicklungsgeschichtlichen Vorgängern echten Vogelgefieders. »Die Spercotisierten sind seine Diener«, erwiderte der Chor hinter Atlan und zwang den Arkoniden, sich zu bücken und in die Knie zu gehen. Achtung! Konzentration! schrie der Extra sinn aufgeregt. Atlan empfand noch immer keine Furcht. Er sah, wie Sperco beide Arme ausstreckte, um ihm die Klauen auf den Kopf oder an die Schläfen zu legen. Aber eine entsetzliche Lähmung nahm von ihm Besitz. Dann spürte er die eingezogenen, scharfen Krallen und die hornigen Finger auf seiner Haut. Er wurde spercotisiert. Was veränder te sich? Die Lähmung, die nicht von Spercos Handlung, sondern von ihm selbst ausging, wurde schmerzhaft – alle Nerven schienen gleichzeitig in Aufruhr zu sein. Etwa fünf Sekunden lang mußte Atlan die Berührung erdulden. Dann ließen ihn die Braisen los. Er taumelte auf die Füße und versuchte zu erkennen, was eigentlich stattgefunden hatte. Daß man ihn nicht mehr festhielt, deutete darauf hin, daß das Spercotisieren vorbei
36 war. Sperco ließ sich wieder zurückfallen und fragte mit lauernder Stimme: »Du wirst sicherlich in Zukunft alles tun, um mir zu dienen, Botosc?« »Das steht außer Zweifel«, sagte Atlan. »Wie kann ich dir am besten dienen, Herr scher?« Bisher hatte er sich taktisch richtig verhal ten. Er merkte es daran, daß sich Sperco und auch die Braisen irgendwie zu entspannen schienen. Also doch! Jetzt war er ein Sklave des Tyrannen Spercos. Er zweifelte nicht daran, daß nach kurzer Zeit eine Lähmung auch seines freien Willens einsetzen würde. Bisher hatte er nichts merken können, obwohl er versuchte, in sich hineinzuhorchen. Seine Lähmung ließ langsam nach. Aber er spürte nicht die geringste Beziehung zu Sperco; jedenfalls keine andere als bisher. Er war ihm nicht verfallen, er fühlte keinen Zwang, ihm zu gehorchen, er besaß seine eigenen Gedan ken. Er zwang sich zu dem Satz: »Sperco ist die Macht, die Spercotisierten sind seine Diener.« Der Treueschwur wurde ohne sonderliche Regung aufgenommen. Atlan ging wieder um die Tischplatte herum und blieb davor stehen. Jedenfalls tat er das einzig Mögliche: Er spielte den gehorsamen Diener. Es konn te nicht falsch sein. »Du kennst das Geheimnis des Fliegens?« fragte Sperco abermals. Er war erregt, stellte Atlan fest. Immer, wenn Sperco sich nach diesem Geheimnis erkundigte oder daran dachte, schien er erregt zu sein. »Ich kenne es nicht«, sagte Atlan zurück haltend. »Man kennt es auf Loors, dort wür dest du es erfahren.« Gab es neue Hoffnungen? Würde ihn der Tyrann vielleicht doch nach Loors schicken, um das Geheimnis zu erfahren? Sperco zeig te keine Reaktion, die Atlan verstehen konn te. Noch immer wartete hinter ihm die Leib garde der bewaffneten Spercoiden. Aber als Atlan einen Blick auf Körz warf, sah er, daß dieser Mann seine Waffe weggesteckt hatte.
Hans Kneifel Die Braisen jedenfalls waren davon über zeugt, daß die Spercotisierung gewirkt hatte. Also wirkte sie immer, wenn Sperco sie vor nahm. Meinst du, daß er persönlich sämtliche Spercoiden berührt hat? fragte sarkastisch der Logiksektor. Sicher nicht! »Loors hat Zeit. Für die nächsten Tage ist Körz für dich persönlich verantwortlich. Er wird dir zeigen, was nötig ist. Du bist ein geschickter Diener!« »Ich versuche, meine Fähigkeiten im Dienst für dich einzusetzen«, erklärte Atlan mit geheimer Schadenfreude und dachte an seinen halsbrecherischen Flug. »Dann wirst du sämtliche Flugapparate untersuchen. Sie sind von Versagern kon struiert worden. Nicht einer davon brachte Erfolg. Vielleicht findest du ein Paar Schwingen, die ich benutzen kann. Ich will fliegen! Ich will das Geheimnis kennen!« »Vielleicht gibt es eine Kombination, Herr«, sagte Atlan geduldig. »Ich werde mein Leben wagen, um zu finden, was du suchst.« Noch immer merkte Atlan nichts von dem Akt der Unterwerfung. Je länger er auf den Effekt wartete, je länger er hoffte, daß er niemals eintreten würde, desto mehr nahmen Unruhe und Furcht wieder zu. Sperco deute te auf Körz und sagte: »Zeige ihm das Quartier. Und morgen werdet ihr anfangen, die Apparate zu unter suchen. Botosc soll überleben, setze dich nicht zu großen Gefahren aus. Ich wünsche, daß die Arbeit beendet wird.« Atlan nickte. »Ich werde mein Bestes tun. Ich bin kein Versager«, sagte er. Eine weitere Handbe wegung des Tyrannen beendete diese denk würdige Audienz. Schweigend verließen Braisen und der neue Diener des Tyrannen den Thronsaal. Tiefe Nachdenklichkeit überfiel Atlan, als er mit Körz zusammen weiterging. Die Leibwache zerstreute sich; ihre Mitglieder schienen andere Aufgaben zu haben. Oder
Sperco und der Fremde ihr Dienst war beendet. Obwohl Atlan sich sagte, daß der Dienst eines Spercotisierten niemals beendet sein würde. Jedenfalls hast du überlebt, meinte der Logiksektor. »So scheint es«, sagte Atlan laut. »Ich habe nicht verstanden. Was hast du gesagt?« fragte Körz sofort. »Nichts«, antwortete der Arkonide. »Ich sprach mit mir selbst.« Sie gingen weiter, und Atlan ahnte nicht, wohin ihn Körz brachte.
7. Zwei Stunden nach Einbruch der Abend dämmerung drang ein feines Knistern an die Ohren Tancais. Sofort war sie hellwach. Das Knistern konnte nur eines bedeuten: Die Schale ihres Eies brach auf! Sie schaltete das Licht ein und glitt schnell durch den Raum. Sie klappte den Deckel des Wärmebehälters auf und kauerte sich davor nieder. Tatsächlich! Ein feiner, gezackter Riß verlief über die gewölbte Oberfläche. Heiße Erregung überflutete die Braisenfrau. Sie konnte den entscheidenden Augenblick nicht mehr erwarten, aber sie zwang sich zur Ruhe. Sie wartete voller Ungeduld. Wieder ertönte ein Knistern. Von dem Riß zitterten zwei andere Bruchlinien nach rechts und links. Dann erschien eine Aus buchtung in der Schale, genau am Schnitt punkt der Linien. Etwas bahnte sich von in nen einen Weg an die Luft. Die Beule wurde größer, die Schale zersplitterte an dieser Stelle in einem Muster aus winzigen, mosa ikartigen Bruchstücken. Dann sprang die Eischale auseinander, und ein kleiner Kopf schob sich hindurch. Die Fühler waren win zig, die Augen viel zu groß, der schnabelför mige Mund war das Schönste, das Tancai je mals gesehen hatte. Das Junge holte mit einem langen, pfei fenden Atemzug Luft, dann schien sich der winzige Körper plötzlich zu straffen und un natürlich große Kräfte zu entwickeln. Der Rest der Eischale barst mit trockenem
37 Knacken. Ein leises Wimmern ertönte. So fort tauchte der Kopf wieder in den Resten der Schale unter, und hungrig begann das Junge, den Nahrungsmittelvorrat zu essen; schmatzend, wimmernd, immer wieder pfei fend Luft holend. So verstrichen einige Mi nuten. Tancai wußte, daß junge Braisen Nestflüchter waren. Sie zwang sich dazu, das Kleine nicht zu berühren, unterdrückte den natürlichen Drang, ihm zu helfen. Nur eine einzelne Klaue streckte sich vor und schob mit unendlicher Behutsamkeit einige Schalenstücke zur Seite. Wenn nur Körz hier wäre! Vermutlich hatte ihn ein Ereignis im Zusammenhang mit dem seltsamen Fremden aufgehalten. Sperco war ein erschöpfender Herr, aber sie dienten gern und emsig. Als das Junge die körnigen Reste des Dot ters gefressen hatte, stand es bereits sicher auf den dicken, krummen Beinchen. Es stemmte sich hoch und spreizte die dünnen, langen Schwingen. Schwingen! Bewundernd schaute Tancai auf die langen Knochen mit den vielen weichen Verstrebungen und der hauchdünnen Haut dazwischen. Die Schwin gen waren dreimal so groß wie der Körper selbst. »Sie sollen dich nicht operieren!« flüster te Tancai und zog einen Schemel heran. Sie versuchte, die untrüglichen Geschlechts merkmale zu erkennen. Und dann erfolgte der eigentliche, ent scheidende Moment. Das ausgeschlüpfte Junge richtete die großen Augen auf das erste und einzige We sen, das in seiner Nähe war. Seine Mutter. Zuerst noch blinzelten die Pupillen etwas hilflos, dann erkannte das Junge sein Gegen über und kletterte stolpernd und flügelschla gend aus den Trümmern der kalkigen Hülle. Tancai sah ganz genau hin. Ein Junge! Ein männlicher Braise! »Wir werden dich Etorc nennen«, flüster te Tancai und klapperte vor Erregung mit dem hornigen Schnabel. Dann streckte sie endlich einen Arm aus und hielt dem Klei nen die Hand entgegen. Mit erstaunlich si
38 cheren Bewegungen kletterte Klein-Etorc aus der weichen, warmgepolsterten Unterla ge und den Bruchstücken und klammerte sich an die Finger. Überglücklich zog Tan cai den Kleinen an sich und wischte den zuckenden, weichen Körper am eigenen Fell ab. Schutzsuchend drängte sich Etorc an den wärmenden und weichen Körper seiner Mut ter. »Wo ist Körz! Er muß ihn sehen!« Die großen, schönen Schwingen zuckten und pulsierten im Herzschlag des Kleinen. Tancai fühlte die Enttäuschung und stellte sich jetzt schon den Verlust vor: diese wun derbaren Instrumente, mit denen Etorc der Herrscher der Luft sein würde, gab es in ei nigen Tagen nicht mehr. Die Spercoiden würden sie mit zwei schnellen, scharfen Schnitten entfernen – und alle Träume wur den zu Alpträumen. Sie ging langsam im Wohnraum hin und her. Ihre Klauen schienen plötzlich ganz weich geworden zu sein, als sie den hilflo sen Körper streichelten. Als sich Tancai wieder einmal der Tür näherte und schon al lein deswegen unruhig wurde, weil niemand da war, dem sie ihre Freude laut und deut lich zeigen konnte, öffnete sich die Tür. »Körz!« rief sie. »Schau! Es ist … Etorc!« Ihr Gefährte war mit einem einzigen Schritt bei ihr, faßte ihre Schultern und blickte den Kleinen voller Zärtlichkeit an. Hinter Körz stand jemand. Jetzt kam er zö gernd herein und bückte sich auf der Schwelle, obwohl der Eingang hoch genug war. »Der Fremde«, murmelte Körz und strei chelte den gerundeten, unausgeprägten Schädel des Kleinen. »Er heißt Botosc. Ich wollte ihm sein Quartier zeigen … aber ich wußte …«, er stockte und betrachtete seinen Sohn. »Er ist kräftig und gesund!« sagte Körz. Tancai antwortete atemlos: »Sehr kräftig. Er sprengte ganz allein das Ei. Und er hat wunderschöne, große Schwin gen.«
Hans Kneifel Sie kümmerten sich nicht um den Frem den. Irgendwie schienen sie ihm zu vertrau en, oder wenigstens nicht zu mißtrauen. Atlan schloß leise und verblüfft die Tür und sah sich schweigend um. Er bemerkte die geradezu innige Versunkenheit der bei den Braisen und die Freude, die sie aus strahlten. Der Eindruck, seelenlose Ge schöpfe des Sperco vor sich zu haben, schmolz binnen unglaublich kurzer Zeit da hin. Trotz der Spercotisierung verhielten sich Tancai und Körz wie ganz normale und durchschnittliche Eltern eines jeden ihm be kannten Planetenvolks, die sich über den ge sunden Nachwuchs freuten. Noch etwas sah er. Schwingen! kommentierte lakonisch der Extrasinn. Er hatte es erwartet und richtiggehend ge wußt. Der eben ausgeschlüpfte Braise sah so aus wie alle Braisen dieser Galaxis. Er war ohne jeden Zweifel flugfähig. Dies war der Beweis. Auch Tancai, Körz und alle anderen Wesen dieser Gattung – zu der ebenfalls Sperco zählte! – waren einst ebenso flugfä hig gewesen, bevor man ihnen auf Befehl des Tyrannen die Flügel amputierte. Atlan war gerührt, als er die drei Braisen ansah. Er lehnte sich gegen die Tür und sag te nachdenklich: »Ich sehe, daß ich zu einem entscheiden den Moment hierher gekommen bin. Ich tei le eure Freude!« Tancai verzog ihr Gesicht. Vermutlich lä chelte sie; eine andere Deutung gab es nicht. »Wir danken. Wir haben uns so lange und so sehr auf Etorc gefreut.« »Etorc«, sagte der Fremde. »Es klingt wie der Name für einen stolzen, männlichen Braisen?« Körz drehte sich herum und deutete auf den Kleinen. »Es ist ein männlicher Braise.« Atlan stellte die unvermeidliche Frage. »Und wann kommen die Spercoiden, um die herrlichen Schwingen abzuschneiden?« Auch das Schweigen war eine Art Ant wort. Atlan hatte die Bestätigung dafür, daß
Sperco und der Fremde die Braisen zwar gehorchten und sich dieser sicherlich zeremoniellen Kupierung nicht widersetzen würden, aber sie wußten, worum es sich handelte. Sie wären froh, wenn die Operation nicht erfolgen würde. Sie erkannten sie als das, was es war: eine Verstümmelung nicht nur des Körpers, son dern auch des Verstandes. Der junge Braise würde ebenso wie ein Krüppel aufwachsen – wie alle Braisen seit langer Zeit vor ihm. Spercos psychologischer Defekt ist grö ßer, als du angenommen hast, erklärte der Logiksektor. »Nach einigen Tagen!« sagte Tancai. Tie fe Traurigkeit klang aus ihrer Stimme. »Wäre ich an eurer Stelle«, wagte Atlan einen zögernden Vorstoß, »würde ich dar über sehr verbittert sein.« »Wir sind niedergeschlagen«, sagte Körz zögernd. »Aber wir gehorchen Sperco.« »Denn die Spercotisierten sind seine Die ner. Wäre ich an eurer Stelle«, setzte Atlan vorsichtig nach, »würde ich Mittel und We ge finden, diese Operation zu verhindern.« »Ich …«, begann Tancai, aber Körz be deutete ihr, nicht weiterzusprechen. Er wandte sich an Atlan und fragte scharf: »Willst du den Aufstand gegen Sperco be ginnen?« Atlan schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Allein bin ich zu schwach. Selbst zusammen mit Etorc wären wir zu wenige und zu schwach. Du weißt, daß auch du noch viel leichter, schneller und besser hättest fliegen können? Ich meine den Versuch, den wir heute gesehen haben!« »Ich weiß es.« »Du bist traurig darüber, an den Boden gefesselt zu sein?« Tancai würde sich überreden lassen. Ver mutlich würden sich alle weiblichen Brai sen, die einer Operation zugesehen hatten, beeinflussen lassen. Aber Körz schien sich zumindest zu fürchten. Vielleicht galten auch Überlegungen wie Gehorsam, Pflicht oder einfach Angst vor der Bestrafung. Er würde sich nicht bewußt gegen einen Befehl des Tyrannen stellen. Außerdem war ihm
39 dies ohnehin vermutlich unmöglich, denn er schien spercotisiert worden zu sein. Atlan hob die Schultern. »Ich bin traurig darüber. Ich würde gern fliegen. Aber ich kann es nicht. Sperco weiß, warum wir nicht fliegen sollen. Er kann es auch nicht.« Wieder einmal in seinem langen Leben befand sich Atlan an einem Punkt, der ihn herausforderte. Letzten Endes war alles ein moralisches Problem. Wie alle Fragen dieser Art war es alles andere als einfach. Das Le ben von vielen Wesen hing daran. Atlan haßte jede Form der Regierungsgewalt, die sich mit Diktatur mehr oder weniger exakt beschreiben ließ. Er hatte selbst genug darunter gelitten. In diesem Fall zwang ein körperlich und geistig verkrüppelter Diktator nahezu eine ganze Galaxis dazu, nichts anderes anzuer kennen als ihn und seine Wünsche. Darüber hinaus betrieb er eindeutig die Politik der Versklavung anderer Sternenvölker. Es war höchste Zeit, Sperco zu entmachten. Aber er, Atlan, würde es sicher nicht schaffen. Er hatte nicht einmal Körz und Tancai als Ver bündete. »Sperco hat mich zu seinem Flugmeister gemacht«, sagte Atlan. »Wenn ich euch hel fe, werdet ihr mir vertrauen?« Körz funkelte ihn an. »Helfen, wobei?« »Zu versuchen, daß Etorc seine herrlichen Schwingen behält?« »Das können wir nicht wagen!« sagte Tancai. Trotzdem hoffte sie, der Fremde wä re mächtiger und unabhängig. »Wie lange dauert es, bis Etorc richtig fliegen kann?« Körz und Tancai sahen sich ratlos an. »Wir wissen es nicht«, erwiderte der Brai se schließlich und streichelte den dicken Hals seines Jungen. »Bevor es soweit ist, kommen die Spercoidenärzte.« Atlan nickte langsam und sagte: »Dann werden wir uns vielleicht etwas einfallen lassen müssen, das die Ärzte ver treibt und eurem Sohn die Schwingen er
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hält.« Körz hob den Kleinen vorsichtig in die Höhe und gab ihn Tancai. Der Braise deute te zur Tür und erklärte: »Ich zeige dir dein Quartier. Und auch das Magazin, aus dem du holen kannst, was du brauchst. Morgen werde ich dich abholen und zur Halle der Versuche bringen.« »Einverstanden.« Über ein Gewirr von Treppen und Ram pen gelangten sie in einen schlankeren, hö heren Turm. Im Basisgeschoß befand sich ein großes Magazin; hier fand Atlan einige weiche Decken, verschiedene Nahrungsmit tel und andere Kleinigkeiten. Er bezog ein winziges Apartment, das alles enthielt, was er zum Überleben brauchte. Körz erklärte ihm Teile der Einrichtung, die Atlan nicht verstand, dann ließ er den Arkoniden allein. Atlan duschte, löschte die Beleuchtung und zog die Decke bis ans Kinn. Eine breite Bahn Mondlicht fiel durch das Fenster in den Raum. Atlan wartete noch immer auf das Gefühl beginnender Willenlosigkeit. Er war völlig wehrlos gegen jene geheimnis volle Kraft des Tyrannen. Aber zu seinem Erstaunen merkte er nichts. Er schlief ein, und bevor seine Gedanken ins Dunkel ab glitten, fragte er sich, ob seine Situationen besser oder schlimmer geworden war.
* Körz deutete auf die scheinbar massive Wand und hob den Arm. »Achtung«, sagte er. Ein Teil der Wand drehte sich um un sichtbare Lager. Licht flammte auf. Atlan blickte in eine ziemlich große Werkstatt, die voller blitzender Geräte und verschiedenster Maschinen stand. »Und hier repariert Sperco die zertrüm merten Flugmaschinen?« fragte er ironisch. »Nein. Diese Werkstatt wurde für die vie len Versager eingerichtet, um unmittelbar vor den Prüfungen noch Reparaturen oder Modifikationen vornehmen zu können«, er widerte Körz. »Du kannst sie benutzen,
wenn es nötig ist.« Atlan besaß noch immer seinen uneinge schränkten freien Willen. Er war noch nicht ganz sicher, aber er schätzte, daß ihn entwe der der Zellschwingungsaktivator, die Men talstabilisierung oder der Besitz des Extra sinns gerettet hatte. Denkbar war ebenfalls, daß alle drei Faktoren zusammengewirkt hatten und seine geistige Gesundheit be wahrten. Oder die geheimnisvollen Helfer deines ersten Fluges, schaltete sich der Logiksektor ein. »Es wird sicher nötig werden«, sagte At lan und inspizierte den Raum. Er war mit fremdartigem Werkzeug ausgestattet. Dann ließ er sich von Körz sämtliche Räume die ses seltsamen Museums zeigen und rechnete überschlägig aus, daß es etwa fünfhundert verschiedene Flugapparate gab. Sie waren grob in drei Gruppen einzuteilen. Die erste Gruppe verwendete Antischwerkraft und Rückstoßtriebwerke, und jedesmal saß der Lenker dieses Geräts auf einem Sattel oder in einem Sessel, der Teil der Konstruktion war. Diese Apparate, zu denen auch andere mit Raketenantrieb gehörten, sahen unge braucht und unfertig aus. Atlan sah Körz fragend an. Der Braise meinte knapp: »Sperco will fliegen wie … als ob ihm große Schwingen gewachsen wären. Keinen dieser Apparate soll er wirklich benutzt ha ben.« »Ich verstehe.« Die zweite Gruppe waren mehr oder we niger künstliche Vögel, in die oder unter die der Fliegende geschnallt wurde. Armmus keln und Beine sollten die Bewegungen der Flügel ausführen. Seit dem ersten Gedanken eines lebenden Wesens ans Fliegen zählten solche Alptraumkonstruktionen zu den Er rungenschaften der Phantasie einer jeden nichtfliegenden Rasse im Kosmos. Entweder man wurde mit Schwingen geboren, oder man benutzte die reine Technik. Nach die sem Prinzip flogen nur echte Vögel oder ge borene Flugwesen, und manche von ihnen
Sperco und der Fremde auch nicht besonders gut und elegant. »Dies sind die Lieblingsapparate Spercos. Fast jedes davon probierte er aus. Keines ge nügte seinen Anforderungen«, erklärte Körz. »Verständlich. Keines davon konnte funk tionieren.« »Wirst du es trotzdem versuchen?« Atlan hob fragend die Schultern. Es war ziemlich sicher, daß er mit den Ausstel lungsstücken dieser Galerien wenig Glück haben würde. Wenn die fähigsten Konstruk teure aus Spercos Imperium es erfolglos ver sucht hatten, würde er wenig Chancen se hen, es besser machen zu können. Vielleicht glückte es ihm mit einer Kombination ver schiedener Prinzipien und unterschiedlicher Bauteile. Er konnte sich Zeit lassen – auf einen schnellen Erfolg hoffte nicht einmal Sperco. »Natürlich. Dank der schützenden Felder wird mir nichts geschehen«, versprach der Arkonide. Nach dem Erwachen war er lange re gungslos liegengeblieben und hatte versucht, sich über seine Lage klar zu werden. Durch aus denkbar war, daß sein unsichtbarer Hel fer ihm vor Spercos Thron auch ein zweites Mal geholfen hatte. Jedenfalls hatte Atlan eine Menge Zeit vor sich, in der er sich Ge danken über sein überleben machen konnte. Ein Teil dieser Zeit würde auch dafür ge braucht werden, mehr über Sperco und MOAC zu erfahren. »Ich verspreche es dir.« Atlan winkte ab. »Du hast schon Sperco versprochen, daß ich keinen Schaden nehme. Wie geht es Klein-Etorc heute morgen?« »Ausgezeichnet. Er wird von Stunde zu Stunde stärker und schöner«, sagte Tancai. Atlan deutete auf irgendwelche Geräte der dritten Gruppe und murmelte: »Wenn wir es geschickt anstellen, wird Etorc keinen dieser Apparate brauchen.« »Still!« beschwor ihn Körz. »Stelle dich nicht gegen Spercos Befehle.« »Hüten werde ich mich!« antwortete At lan und lachte kurz. Die dritte Gruppe von
41 Fluggeräten war ungefügig, klobig oder zu kompliziert. Es waren vermutlich eine Men ge funktionierender Gleitapparate darunter. Aber man würde sie nur in freier Natur ver wenden können, wo es Berge, Hänge und Aufwinde gab. Diese Apparate waren auch durchwegs viel größer als die anderen Ex emplare. In der Halle allerdings waren die wenigsten von ihnen auch nur experimentell einzusetzen. Mit einem versonnenen Lä cheln betrachtete Atlan einige winzige, zier lich ausgeführte Modelle, die sich zwischen den Großgeräten befanden. »Dann werde ich also versuchen, diese vielen Erfindungen zu testen. Hilf mir. Für den Anfang werde ich einen Apparat ver wenden, der einigermaßen professionell aus sieht.« Er deutete auf ein Gestell aus farbigen, dünnen Häuten, biegsamen Röhrchen und langen, federnden Stäben. Viele Knoten punkte waren mit dünnem Draht oder einer Art Band zusammengefügt. Komplizierte Züge aus Drähten, Untersetzungen und Ge lenke ließen die Flügel auf- und abknicken, bewegten die äußersten Spitzen der langen, geschwungenen Enden, die wie echte Federn aussahen. Ein Dreieck aus denselben Kon struktionselementen versinnbildlichte den breitgefächerten Schwanz eines Vogels. Auch dessen Teile waren beweglich und mit dem komplizierten Hebelwerk der Schwingen verbunden. Alle drei Teile ende ten in einem annähernd trogförmigen Ge stell, das mit breiten Gurten über dem Rücken des Trägers befestigt werden konn te. Aussparungen für Füße, Arme und Finger waren deutlich zu sehen. »Damit willst du fliegen?« fragte Körz mit einiger Skepsis. Vermutlich erinnerte er sich an Spercos mißglückten Versuch. »Vorausgesetzt, du schaltest die Prallfel der ein und rettest mich, wenn ich abstürze!« sagte Atlan und schleppte mit Körz zusam men das überraschend leichte, aber sperrige Gerät an die Kante des Podests. »Ich habe den Auftrag. Ich fange dich in jeder Höhe und in jedem Winkel sicher ab«,
42 versicherte Körz. »Dein Sohn Etorc hätte alle diese Schwie rigkeiten nicht!« »Vergiß ihn!« »Wenigstens für den Augenblick.« Atlan stellte das Gerät aufrecht hin und fing an, die Riemen und Haltegurte anzulegen und mit Körz' Hilfe festzuschnallen. Die Halte schlaufen für die Arme mußten verstellt werden, auch Atlans Beine waren zu lang. Schließlich stand er mit gespreizten Beinen und mit weit ausgebreiteten Armen da. Pro beweise bewegte er die Arme; die Flügel knickten im richtigen Rhythmus ab – soweit er dies aus seiner Sicht sagen konnte. Der Luftzug war beträchtlich. Körz ging einige Schritte zurück und bewegte mit dem Fuß einen Schalter. Am Rand des Absprungpo dests schob sich eine Instrumentenkonsole hervor. »Ich mache die Felder deutlich erkenn bar«, sagte Körz. »Ich weiß dann also, wo ich auf nachgie bigen Widerstand stoßen kann?« »So ist es. Verschiedene Farbintensität bedeutet unterschiedliche Nachgiebigkeit der Felder.« »In Ordnung.« Atlan blieb dicht vor der Kante stehen, verscheuchte seine unangenehmen Erinne rungen und Empfindungen und blickte in den Abgrund hinunter. Ein leises, tiefes Summen hatte eingesetzt. Die einzelnen Sektoren der Felder bauten sich auf und schoben sich langsam höher. Die Anordnung wirkte wie ein großer, rechteckiger Becher mit dem tiefsten Punkt genau unter ihm. Die Randzonen glühten dunkelblau, die Färbung wurde immer dünner und heller, je mehr sie sich dem Zentrum näherte. Das bedeutete, daß das Feld am tiefsten Punkt am nachgie bigsten war. »Fertig?« rief Körz und projizierte einen laserähnlichen Fangstrahl kreuz und quer durch den freien Raum. »Mit diesem Strahl kann ich dich auffangen und wieder in die Höhe heben.« »Nur im Notfall einsetzen!«
Hans Kneifel »Verstanden. Du springst?« »Ich fliege – wie ein steinerner Vogel«, knurrte der Arkonide, breitete die Schwin gen aus und sprang vorwärts, als wolle er ins Wasser eines Bassins springen. Nach vier oder fünf Metern Flug faßten die Schwin gen. Er stellte den Schwanzteil gerade und bewegte mit aller Kraft die Flügel abwärts. Aus dem schrägen Gleiten wurde eine leich te Aufwärtsbewegung und ein vorsichtiges Kippen nach links. Das Gerät segelt tatsächlich, staunte der Logiksektor. Atlan war einigermaßen verwundert. Er näherte sich einer Wand und versuchte nach wie vor, nicht nur zu segeln, sondern echte Flugbewegungen auszuführen. Aber jedes mal, wenn er Höhe gewinnen wollte, begann die Konstruktion gefährlich zu schwanken. Probeweise veränderte er die Stellung seiner Beine, und dadurch verlangsamte er den Flug. Nach einer kurzen Bewegung, in der sich der Gleiter förmlich aufbäumte, kippte er über den linken Flügel wieder ab. An seinem Gesicht rauschte die Luft vor bei. Die Flughäute erzeugten ein knatterndes und zischendes Geräusch. Der Flug wurde schneller und führte steiler nach unten. At lan sah vor sich die mittelblauen Zonen und schaffte es gerade noch, an dem letzten Aus läufer des Feldes vorbeizukommen. Wieder schlug er mit den Schwingen und spürte den ziehenden Schmerz der Anstrengung. Er verhielt sich jetzt bis auf vorsichtige Steuer bewegungen mit den Handgelenken völlig unbeweglich und versuchte, seinen Körper starr zu halten. Wieder ein neuer Kreis, abermals ging es tiefer. Das Blau wurde hel ler, Atlan steuerte dagegen und stöhnte auf. Die Geschwindigkeit reichte nicht mehr aus. Der Auftrieb war zu gering, die Luft strömung riß ab, und der Arkonide begann hilflos zu trudeln. Er fiel tiefer und schnel ler. Der Strahl zuckte auf, das Licht hüllte ihn ein und fing ihn auf wie in einem Netz aus elastischen Schnüren. Körz vergrößerte den Kegel und kippte dann den Strahl.
Sperco und der Fremde Während Schnüre rissen und Verbindun gen sich lösten, sank Atlan nun sehr viel langsamer dem tiefsten Punkt der Auffang felder entgegen. Dort setzte er in einem Wirrwarr aus Verbindungen und teilweise abgerissenen Bespannungsfetzen auf und glitt hinunter bis zum Boden. Er landete auf der Seite und zerbrach noch einige der dünnen Streben. Mit einem reißenden Laut zerfetzte die Bespannung auch der anderen Schwinge. »Verdammt! Jetzt verstehe ich Spercos Wut!« murmelte Atlan erschöpft. Er ver suchte, auf die Beine zu kommen. Nach und nach befreite er sich aus den Trümmern, wickelte Schnüre von den Armen und Schenkeln und sah schließlich den Braisen, der aus dem Lift auf ihn zueilte. »Nichts gebrochen?« fragte Körz unruhig. »Nein. Nur dieses Gerät. Es verdiente es auch nicht besser.« Körz sagte, noch immer unter dem Ein druck von Verwunderung: »Aber zuerst sah es mitreißend aus. Du bist ein wahrer Meister der Lüfte.« »Mein Freund Körz«, antwortete Atlan und registrierte dankbar, daß Körz ihm mit energischen Griffen half, »das Fliegen ist wirklich eine Sache für Vögel, Braisen und Insekten. Der Rest ist angewandte Technik.« »Dieser Trümmerhaufen ist schlecht an gewandte Technik – gewesen. Und auf diese Weise werden wir ein Ausstellungsstück nach dem anderen in seine Einzelteile zerle gen.« Er schüttelte einige Splitter ab und holte tief Luft. »Nur auf Loors lernt man wirklich das echte Geheimnis des Fliegens. Schade, daß ich nur ein mäßig begabter Schüler in den ersten Schultagen bin …« Er rechnete damit, daß Sperco ununter brochen seine Versuche beobachtete. Wenn er zusah, dann hörte er sicherlich auch zu. »Wir sind aber nicht auf Loors«, schränk te Körz ein. »Nein. Wir sind in MOAC und versuchen es noch einmal«, sagte Atlan. Sie fuhren mit
43 dem Lift wieder hinauf, und diesmal suchte Atlan sich einen Apparat aus, von dem er begeistert war: Diese Konstruktion würde sich noch in der Luft zerlegen und in Einzel teilen in die Netzfelder fallen.
* Es war eine Art Kastendrachen; mehrere hohle Kästen, deren Winkel zueinander ver stellbar waren. Auch an dieser Flugmaschine konnten seitlich angebrachte Schwingen durch den Flugwind und komplizierte Hebel und Seilverbindungen in ein ratterndes Aufund Abbewegen gebracht werden. Atlan stemmte den riesigen Apparat, in dem er bis zu den Knien verschwand, in die Höhe. »Ich achte auf dich, Botosc!« rief Körz. Er schien Atlans Mut zu bewundern. »Das wirst du tun müssen!« gab Atlan zu rück. Er rannte los. Es waren etwa fünfundzwanzig Meter bis zum Absprungpunkt. Atlan hing mit den Achseln in dem Gestell, hatte ein handbrei tes Sitzbrett hinter sich und griff mit den Fingern in tiefe Einschnitte, in denen soge nannte Steuerhebel saßen. Er wurde schnel ler, das Gerät begann zu dröhnen, die Klap pen vollführten einen höllischen Lärm. Nach dreißig Schritten verlor Atlan den Boden un ter den Sohlen und schoß mit dem ratternden und heulenden Gerät in die Luft. Zwei der Kunstflügel, die sich rasend schnell bewegt hatten, rissen aus den Schar nieren und flogen nach rechts und links da von, tiefe Schnitte in der Bespannung her vorrufend. Als Atlans Körpergewicht sich auf das Brett senkte und die Konstruktion zusätzliche Kräfte auszuhalten hatte, gab es binnen weniger Sekunden eine Serie aufre gender Geräusche. Schnüre rissen peitschend. Bespannungen begannen zu flattern. Der Flug ließ sich nicht lenken und beschrieb einen Spiralaus schnitt mit einem fürchterlichen Neigungs winkel. Ein Kasten löste sich und flog senk recht nach unten, sich effektvoll drehend.
44 Splitter rissen aus den längeren Stäben. Du hattest recht. Es demontiert sich selbst! sagte der Logiksektor. »Aufgepaßt!« schrie Körz laut. Atlan konnte gar nichts tun, außer sich aus der Konstruktion nach unten durchfallen lassen. Im nächsten Sekundenbruchteil muß te sich die Flugmaschine auch noch in den letzten Resten auflösen. Die Felder kamen schnell näher. Wieder riß ein Kasten ab, zer schmetterte auf seinem Weg nach hinten und nach unten die Bespannungen mehrerer an derer Elemente und riß einen der gräßlich knatternden Flügel ab. Atlan zog die Beine ein, löste die Hände von den stabförmigen Steuergriffen und wartete auf den Anprall. In etwa hundert Metern Höhe schoß der Kastendrachen in den ziemlich unnachgiebi gen Feldschirm hinein und zerstörte sich selbst. Peitschend zuckte der helle Fangstrahl auf und hielt die Trümmermasse mit Atlans Körper darinnen in der Luft fest. Wieder senkte Körz den Flugmeister be hutsam auf den grünen Boden ab und fuhr ihm mit dem Lift entgegen. »Du bist kühn und risikofreudig, Botosc!« sagte er bewundernd. Atlan schüttelte abwehrend den Kopf. »Das ist es weniger. Ich weiß, daß ich nicht wirklich mein Leben riskiere. Ich bin der Ansicht, daß die meisten dieser fünfhun dert Geräte niemals so etwas wie einen ech ten Flug hervorbringen können.« »Aber Sperco hat es befohlen!« wandte Körz ein. »Er befahl es. Also werden wir weiterma chen, bis sich das Museum in Schrott, Fet zen und Splitter verwandelt hat. Das wahre Geheimnis des Fliegens lernen wir ohnehin nur auf Loors, in meiner Heimat, kennen.« »Loors ist für mich unendlich weit ent fernt«, erklärte der Braise. »Auch für mich!« Atlan befand sich abermals in einer Lage, die ihm ein gewisses Maß an Sicherheit vor täuschte. Er hatte mindestens bis zum Ende aller Versuche Zeit. Er konnte sich nicht un unterbrochen schwebend in diesen Abgrund
Hans Kneifel stürzen; er brauchte Pausen. Es galt, die Pausen sinnvoll zu füllen. Sperco durfte kei nen Verdacht schöpfen. Atlan selbst plante bereits wieder weiter. MOAC war nicht nur die Zentrale des Ty rannen. Das riesige düstere Schloß war der Ner venknoten. Vieles, was er aus dem Reich der Spercoiden schon kannte, würde er hier wie derfinden. Er mußte sich Zugang zu vielen versteckten Bezirken der Burg verschaffen. Er besaß so etwas wie zwei Freunde – aller dings würde ihre Hilfe durch die Spercoti sierung stark eingeschränkt sein. Sie würden ihm vielleicht nicht helfen, aber sie würden ihn auch nicht besonders aufhalten. Er muß te geschickt und behutsam vorgehen. Sie fuhren mit dem Lift wieder hinauf. Atlan wandte sich an Körz. »Ich werde versuchen, aus einem der be sten Segelapparate unter Verwendung von technischen Zusatzteilen einen echten Flug apparat zu machen. Er wird, wenn ich es schaffe, die Illusion des Fliegens am besten vorspiegeln können. Der beste Kompromiß ist wichtiger und bedeutungsvoller als der größte Mißerfolg.« »Einverstanden. Sperco wird diese Me thode von dir erwartet haben!« sagte Körz. »Hast du bestimmte Geräte schon ins Auge gefaßt?« Atlan wanderte in die Abteilung, in der sich all die Sitze, Sättel und Raketengestelle befanden. »Das eine oder andere. Ich bin ein wenig erschöpft und werde die Einrichtung der Werkstatt benutzen.« »Gut so.« Sie schleppten drei verwegen aussehende, aber technisch einwandfrei konstruierte Gleitapparate nacheinander in die Werkstatt und befestigten sie auf Böcken und Leitern, so daß Atlan leicht an ihnen montieren und demontieren konnte. Dann holten sie die am meisten vertrauenerweckenden Geräte aus der anderen Abteilung. Je mehr Atlan von ihnen sah, desto tiefer sank sein neu ent flammter Optimismus. Mit diesen Geräten
Sperco und der Fremde hatte er etwas Bestimmtes vor. Würde er es schaffen? Er beschäftigte sich den Rest des Tages damit, eine Art Prüfstand zu bauen. Die Flugapparate wurden dort befestigt, und ein Schalter und Hebel nach dem anderen wurde vom Arkoniden ausprobiert. Körz half Atlan zunächst, dann holte er Nahrungsmittel und wieder etwas von dem bitteren Fruchtsaftgetränk, sie räumten eine Ecke der Werkstatt aus und setzten sich. Ir gendwann erkundigte sich Körz: »Ich habe den Auftrag von Sperco, dich nicht aus den Augen zu lassen. Ich bin für dich verantwortlich.« Atlan spülte die trockenen Bissen mit ei nem langen Schluck hinunter und nickte. »Davon bin ich überzeugt. Er wird dich töten, wenn ich flüchte?« »Ich fürchte, so ist es, Botosc.« »Verstanden«, sagte der Arkonide. Er hat te es nicht anders erwartet. »Ich verspreche dir, nicht zu flüchten. Nicht etwa, weil ich nicht möchte, sondern deswegen, weil ich mich rund um MOAC nicht verbergen und den Planeten auch nicht verlassen kann.« »Das ist wahr.« Atlan zerlegte langsam ein Fluggerät, das wie ein leichter Sessel mit verschiedenen surrealistisch wirkenden Ausläufern aussah. Überall waren kleine Antischwerkraftpro jektoren verstellbar angebracht. Atlan testete einen nach dem anderen und verfolgte die Auslöser und die Steuerleiter. Das Objekt besaß den Vorzug großartiger Einfachheit. Ein Wesen wie Sperco oder er würde sich, hatte man die Steuerung einmal begriffen, eleganter und leichter fortbewegen können als mit einem Raumanzugschwebeaggregat. Körz tippte ihm auf die Schulter und sagte: »Fluchtchancen oder nicht. Wir beide sind spercotisiert. Flucht verbietet sich dadurch von selbst.« »Natürlich. Ich erörterte lediglich eine theoretische Möglichkeit.« Am späten Nachmittag hatte Atlan das Energie-Fluggerät demontiert und begann sich zu überlegen, an welchen Stellen und
45 auf welche Art er die Projektoren in den Schwebeapparat einbauen sollte. Scheinwer fer leuchteten auf und erleichterten ihm die Arbeit. Das Durcheinander von Teilen und Werkzeugen nahm zu. »Eines Tages werde ich hier mein Lager aufschlagen«, sagte der Arkonide. »Eine naheliegende Überlegung für einen Flugmeister!« bestätigte der Braise. Schon jetzt hatte sich das Verhältnis zwischen ih nen entspannt. Beide waren Spercos Diener, beide hatten genau umrissene Aufgabenbe reiche. Atlan wußte, daß er diese keimende »Freundschaft« nicht gefährden durfte, wenn er sich die Vorteile sichern wollte. Sie beendeten die Arbeit, und Körz brachte At lan zurück in die kleine Vorstadt. Sperco hatte sich an diesem Tag nicht ein einziges Mal gemeldet.
* Wieder blieb der Arkonide an der Tür ste hen, um schweigend die rührende Familien szene zu beobachten. Auffällig waren die Veränderungen des jungen Braisen. Etorc schien größer, musku löser und aufgeweckter geworden zu sein; teilweise sicherlich ein persönlicher Ein druck, der nicht in allen Einzelheiten stim men mußte. Aber seine Schwingen, gestern noch glatt und weich, begannen sich zu ver ändern. »Ist er nicht hübsch und stark?« fragte Tancai den Fremden und strahlte ihn an. At lan hatte es inzwischen gelernt, die Mimik der Braisen ein wenig besser zu deuten, was nicht ganz einfach gewesen war. »Er wird so schön werden wie beide El ternteile zusammen«, antwortete Atlan ein wenig hilflos. »Können Braisenkinder auch krank werden?« Er fügte hastig hinzu: »Nicht, daß ich sagen wollte, Etorc sieht kränklich aus. Ganz im Gegenteil.« Körz drehte sich herum, Etorc in den Ar men. Der Kleine richtete den bereits zielge richteten Blick der großen Augen auf Atlan und brabbelte etwas Undeutliches. Dann
46 klapperte er leise mit den hornigen Lippen und riß gähnend den Rachen auf. Atlan ver suchte ein schüchternes Winken; seine Am bitionen als Braisen-Kindermädchen waren denkbar gering. »Wir wissen, daß am vierten oder fünften Tag nach dem Aufbrechen der Schale eine Art Ausschlag die Jungen befallen kann. Blaue und rote Flecken sind das erste Zei chen. Sie werden größer, und schließlich stirbt der junge Braise. Es ist eine An steckungskrankheit.« »Etorc ist mit niemandem sonst zusam mengekommen!« rief Tancai. Atlan wehrte ab. »Keine Panik. Es war nur eine Frage. Ich kenne das Volk der Braisen nicht. Ich bin ein neugieriger Mensch.« Ohne jeden Zweifel liebten Tancai und Körz ihr Junges ebenso, wie jedes Wesen im Kosmos seinen Nachwuchs liebte. Du und deine verruchten Pläne! sagte in widerwilliger Anerkennung der Logiksektor. Atlan streckte die Hand aus und streichel te vorsichtig den spitzen, dreieckigen Schä del Etorcs. »Von uns allen bist du der beste Flugmei ster«, murmelte der Arkonide. »Du kennst – noch – das Geheimnis dieses freien Flie gens.« »Nicht mehr lange«, sagte Körz niederge schlagen. Atlan nickte den beiden zu und verließ die kleine Wohnung. Er machte in seinem win zigen Sklavenappartment ein bißchen Ord nung, aß und trank und setzte sich auf das Lager. Mit dem Rücken an der kühlen Wand, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, dachte er die einzelnen Punkte seines Planes durch. Noch zeichneten sich viel zu wenige Einzelheiten ab. Aber die Richtung stand fest, ebenso die meisten der Werkzeuge. Sein Ziel war nicht gering. Er wollte versuchen, Sperco zu entmach ten, ohne sich selbst zu gefährden. Und schon gar nicht wollte er Etorc, Körz und Tancai in Gefahr bringen. Einer der wichtig-
Hans Kneifel sten Faktor seiner Überlegungen war die Gleichgültigkeit, mit der die Spercotisierten ihr eigenes und daher auch fremdes Leben betrachteten. Ein fremdartiges, aber ihm irgendwie be kannt vorkommendes Geräusch schreckte ihn aus den Überlegungen auf. Er schwang die Beine auf den weichen Boden und stütz te sich auf den Fenstersims. Das Geräusch kam von einem Wesen, das er kannte – je denfalls hatte er einen Angehörigen dieses Sklavenvolks bereits einmal gesehen. Es war das Baumwesen, eine optisch ver blüffende Kombination aus weißem, ver zweigtem Wurzelwerk und einem kurzen Stammteil mit den breiten, umlaufenden Bändern. Dieses Wesen tappte auf Hunder ten von weißlichen Faserhärchen die Trep penstufen hinunter, kreuzte eine breite Schneise aus kalkweißem Mondlicht und tappte raschelnd und rauschend auf den brei ten Pfad hinaus. Atlan wußte nicht, woher er diese Emp findung bezog. Aber er war überzeugt, daß das Baumwesen oder alle der in MOAC ge fangenen Wesen dieses Volkes wichtig wa ren. Nicht eigentlich wichtig für Sperco, aber unentbehrlich für etwas, von dem der Organismus von MOAC in Gang gehalten wurde.
* Es wurde Nacht. Die richtige Stunde war da. Tamcaythor T'haams Arbeitszeit fing an. Er nahm die beiden Stäbe, die voller Hilfs geräte waren, schüttelte seinen Körper und verließ die feuchtkühle Höhle, die seine Wohnung war. Er haßte das grelle Sonnen licht; jeder Aufenthalt kostete das Dryaden wesen einige Tage des Lebens, war aber von Zeit zu Zeit unumgänglich. Im weichen Licht, das seinen Sinnesorga nen noch immer viel zu hell erschien, ihn aber nicht wirklich belästigte, machte sich Tamcaythor daran, die vielen Stufen abwärts zu überwinden. Er war ein grundsätzlich ortsfestes Wesen, aber seine Arbeit hier
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zwang ihn zu solchen Bewegungen. Er kreuzte einen breiten Streifen Mond licht. Erinnerungen an seine Heimat durch fluteten das schweigende Wesen. Er konnte sich nicht beklagen: Er lebte und hatte nicht nur eine sinnvolle, sondern auch wichtige Arbeit. Andere Artgenossen waren in den Kaminen reicher und luxusverwöhnter Völ ker verbrannt, nur weil sie nicht rechtzeitig mit Erde an ihren Wurzeln geflüchtet waren vor der Motorsäge irgendwelcher Holzarbei ter aus Spercos Armeen. Die dünnen, weich federnden Wurzelhärchen ertasteten die an dere Oberfläche. Er war auf dem Pfad und ging weiter. Ein Innenhof, angenehm feucht in der beginnenden nächtlichen Kühle, eine Schrägfläche, wieder eine Treppe, und schließlich kam er an den zylindrischen Turm. Eine seiner vielen Wurzeln – Finger, Hand, Fuß, Bein und Zehe zugleich – hob den weißen Stab. Aus einem Ende schob sich ein dicker Dorn hervor. Tamcaythor T'haam drückte den Rufschalter. Eine Tür rollte zurück, eine kleine Liftkabine öffnete sich. Eine einzige dunkelbraune Lampe ver breitete mildes Licht. Der Lift sank langsam
in große Tiefen hinunter, und je länger die Fahrt dauerte, desto vertrauter wurden die Gerüche, die Tamcaythors Sinnesorgane aufnahmen. Es roch nach Wasser und nach Nährsal zen, nach verfaulenden Insekten, nach schwarzer Erde und nach triefender Feuch tigkeit. Nach sauerstoffarmer und kohlendi oxydreicher Luft. Es war warm, und über al lem schwebte der unverkennbar süße, narko tische Geruch der Pflanzen. Diese Pflanzen liebte er. Sie liebten ihn. Sie waren so unvorstellbar gut und edel in ihrer schweigenden, intensiven Ausstrah lung. Die richtige Stunde war da. Seine Ar beit begann. Er liebte die Arbeit, weil er die Pflanzen liebte. Die Pflanzen liebten ihn – und im Augenblick schienen sie über etwas sehr Wichtiges nachzudenken. Der Lift hielt. Tamcaythor T'haam befand sich mitten unter seinen Lieblingen, und die Zweige bewegten sich, um ihn zu begrüßen.
E N D E
ENDE