Tausend Küsse für Santa Kate Hoffmann
Tiffany 975
26/2 2001
gescannt von suzi_kay korrigiert von Dodoree
1. KAPIT...
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Tausend Küsse für Santa Kate Hoffmann
Tiffany 975
26/2 2001
gescannt von suzi_kay korrigiert von Dodoree
1. KAPITEL
"Ich möchte mich für den Posten als Elfe bewerben." Claudia Moore hätte es nie für möglich gehalten, dass sie diese neun Worte jemals über die Lippen bringen würde. Ebenso wenig wie "Ich wäre begeistert über eine Wurzelkanalbehandlung" oder "Himmel, ich muss wirklich ein paar Pfund zunehmen" oder "Ja, ich weiß genau, was mit meinem Auto los ist". Sie legte ihre Bewerbungsunterlagen auf den Schreibtisch der Sekretärin und bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln. So weit war es also mit ihr, der hoffnungsvollen Nachwuchsjournalistin, gekommen. Sie musste irgendeinen Personaltypen in Dalton's Department Store, der sich wahrscheinlich nicht gerade totarbeitete, davon überzeugen, dass sie die ideale Besetzung für eine der Elfen war, die Santa Claus in der Weihnachtszeit begleiteten. Die grauhaarige Sekretärin kniff die Augen zusammen und überflog das Bewerbungsschreiben, dann sah sie hoch. "Mr. Robbins hat gleich für Sie Zeit. Bitte nehmen Sie solange Platz. Ich sage ihm, dass Sie da sind." Claudia setzte sich, legte die Hände in den Schoß und hielt den Rücken gerade. Sie musste den Eindruck erwecken, als wollte sie den Job unbedingt haben, als sei es schon immer ihr Traum gewesen, eine Elfe des Weihnachtsmanns zu sein. Für ihren Lebenslauf hatte sie sich allerlei ausgedacht, was diesen Eindruck unterstützte. Ihre Angaben waren vage gehalten, und Dalton würde sie sicher nicht überprüfen. Sie hätte an verantwortlicher Stelle in einem Sommercamp gearbeitet, außerdem im Kindergarten, als Aufsicht in einem öffentlichen Schwimmbad und vieles andere mehr. Nicht alles war hundertprozentig korrekt. Sie fühlte sich zwar normalerweise als Journalistin der Wahrheit verpflichtet, aber in diesem Fall taten ein paar Notlügen keinem weh. Es musste unbedingt etwas Entscheidendes in ihrem Leben passieren. Sie konnte unmöglich so weitermachen und sich von einem schlecht bezahlten Reporterjob zum nächsten hangeln. Seit sie mit acht Jahren ihre erste "Zeitung" herausgegeben hatte, den "Maple Street Chronicle", hatte sie gewusst, dass sie Journalistin
werden wollte. Als einziges Kind einer unglücklichen Ehe waren alle Erwartungen ihrer Mutter auf sie gerichtet gewesen. Die Tochter sollte es einmal besser haben, sollte ihren High-School-Abschluss machen, einen netten jungen Mann kennen lernen, der einen vernünftigen Beruf hatte, und glücklich als Mittelpunkt einer großen Familie leben. Aber Claudia hatte schon auf der High School gemerkt, dass sie den gesellschaftlichen Verpflichtungen in einer Kleinstadt nichts abgewinnen konnte. Statt den beliebtesten Footballspielern der Schule zuzujubeln und auf Schulpartys zu gehen, hatte sie jede freie Minute beim "Buffalo Beacon" verbracht. Sie liebte den Geruch von Druckerschwärze und das rhythmische Rollen der Druckerpresse. Nach der Schule war sie sofort von zu Hause ausgezogen, hatte sich während der Collegeausbildung mit allen möglichen Jobs über Wasser gehalten, denn das, was sie für die Artikel bekam, die sie hin und wieder veröffentlichte, reichte kaum für eine Pizza alle zwei Wochen. Nach der Ausbildung hatte sie freiberuflich als Springer bei allen möglichen New Yorker Zeitungen gearbeitet, aber die Zeiten waren härter geworden. Viele Journalisten waren entlassen worden, und die Zeitungen bemühten sich, mit "abgespeckten" Redaktionen zurechtzukommen. Doch Claudia war entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie verfolgte eisern ihr Ziel und war durch nichts aufzuhalten, eine Eigenschaft, die ein guter Reporter ihrer Meinung nach unbedingt haben musste. Sie versuchte, Aufträge für schwierige Themen zu bekommen, die unsachgemäße Lagerung von Chemieabfällen zum Beispiel, politische Korruption und Wirtschaftsbetrug. Aber in den letzten Wochen war sie gezwungen gewesen, jeden Job anzunehmen, etwa zu Themen wie "Über die Schwierigkeiten, den Friseur zu wechseln" oder "Wie Sie Ihren Hund am Besten verwöhnen können". Doch Claudia hatte eine Nase für Geschichten und ein Gespür dafür, wenn irgendetwas nicht stimmte. So wie Bernstein und Woodward damals bei der Watergate-Affäre. "Wer weiß, vielleicht ist das hier auch so eine heiße Sache", murmelte sie, "das reinste Santa-Gate." Die Idee war ihr gekommen, als sie einen Artikel in dem Saratoga Springs Chronicle las, eine typische Vorweihnachtsgeschichte von gütigen Menschen und kleinen Wundern. "Der Santa Claus einer kleinen Stadt erfüllt Weihnachtswünsche" erzählte von einem kleinen
Jungen, der den Santa Claus von Dalton's Department Store in Schuyler Falls, New York State, um einen Rollstuhl für seine Schwester gebeten hatte. Und dieser Wunsch war ihm erfüllt worden. Nicht nur ein Rollstuhl, auch ein nagelneues Auto stand am Weihnachtstag vor der Tür. Keiner wusste, woher es kam, und auch die Geschäftsführung des Kaufhauses verriet nichts. In einer Zeit, in der fast alle Unternehmen und auch viele private Spender gar nicht genug mit ihrer Großzügigkeit prahlen konnten, war ein solches Verhalten ausgesprochen ungewöhnlich. Claudia ahnte sofort, dass man daraus eine wunderbare Story für die gefühlsselige Weihnachtszeit machen konnte, und hatte sie gleich der New York Times angeboten. Eine der leitenden Redakteurinnen witterte wie sie eine gute Geschichte und gab Claudia zwei Wochen Zeit, herauszufinden, wer der Spender war. Außerdem sollte sie Interviews mit den Leuten führen, die so großzügig bedacht worden waren. Claudia war überzeugt, dass sie in drei Tagen nicht nur wissen würde, wer der geheimnisvolle Spender war, sondern auch seine näheren Lebensumstände kennen würde, von seiner Hutgröße bis zum Abschlusszeugnis. Wenn der Artikel ein Erfolg würde, so hatte die Redakteurin ihr versprochen, würde Claudia auf der Anwärterliste für neue Stellen ganz nach oben rutschen. "Miss Moore?" Claudia sprang auf. Was für eine Stimme! Sie gehörte eindeutig zu jemandem, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Ein Mann in einem sehr gut geschnittenen Anzug ging eilig an ihr vorbei und durch die offen stehende Bürotür. Sie starrte ihm hinterher. Breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine - nicht schlecht - . Sollte sie ihm folgen, oder was? "Kommen Sie bitte!" rief er. "Ich habe wenig Zeit." Claudia ging schnell in das Büro und setzte sich auf einen Stuhl dem Schreibtisch gegenüber. Als ihr Blick auf das Namensschild fiel, wurde ihr heiß und kalt zugleich. Dies war nicht das Büro von Mr. Robbins, sondern von Thomas Dalton. Ihre Augen wurden größer, als sie den Mann betrachtete, der ihren Recherchen zufolge Dalton's Department Store leitete. Claudia war davon ausgegangen, dass er älter war, vielleicht in den Fünfzigern, mit
grauen Schläfen und einem kleinen Bauchansatz, der von dem gut geschnittenen Anzug geschickt verdeckt wurde. Doch da hatte sie sich geirrt. Thomas Dalton war auf eine Weise attraktiv, die bei Frauen weiche Knie verursachte. Groß und schlank, trug er den Anzug mit einer lässigen Eleganz, als sei ihm sein Äußeres vollkommen gleichgültig oder als wüsste er, dass er sowieso in allem gut aussah. Obwohl sein Outfit ihm eine gewisse Würde verlieh, wirkte er doch beinahe jungenhaft mit seinem etwas zu langen Haar. Höchstens dreißig, schätzte Claudia. Warum gibt er sich damit ab, sich mit mir wegen irgendeines untergeordneten Postens zu unterhalten? fragte sie sich. Doch warum sollte sie sich darüber den Kopf zerbrechen? Und sie ließ sich von keinem Mann einschüchtern, auch nicht, wenn er so sexy war wie Thomas Dalton. Vielleicht konnte sie dieses kleine Missverständnis, und um etwas anderes konnte es sich nicht handeln, zu ihrem Vorteil nutzen. Vielleicht brauchte sie dann die Tarnung als Elfe gar nicht mehr. Sie musste ihn nur zum Reden bringen und immer ein wenig im Ungewissen lassen. Und dann, wenn er es nicht vermutete, würde sie ihm plötzlich knallhart ein paar Fragen stellen. Andererseits musste sie auf alle Fälle so tun, als sei sie wirklich an dem Job als Elfe interessiert, für den Fall, dass die andere Strategie nicht funktionierte. Er nahm die Mappe hoch und schlug sie auf. "So, Sie wollen also in unserer Unterwäsche-Abteilung arbeiten. Sagen Sie mir, wie Sie gerade auf diese Sparte gekommen sind." Claudia sah ihn kurz überrascht an, fing sich dann aber wieder. Also war sie tatsächlich in dem falschen Büro bei dem falschen Mann gelandet. Ein glücklicher Zufall? "Weil", fing sie an und dachte fieberhaft nach, "weil doch jeder Unterwäsche trägt." "Ich bin nicht ganz Ihrer Meinung", sagte er jetzt mit leicht gedehnter Stimme, "die neuesten Umfragen haben ergeben, dass immer mehr Menschen überhaupt keine Unterwäsche tragen." Er sah sie beinahe amüsiert an. Er wollte sie aus der Fassung bringen. Da kannte er Claudia Moore aber schlecht! "Und Sie?" fragte sie. Oh, das hätte sie nicht sagen sollen. Wenn sie frech wurde, würde sie den Job nie bekommen. Aber manchmal war
ihr Instinkt als Reporterin stärker als die Vernunft. Ein Reporter durfte sich bei einem Interview nie das Heft aus der Hand nehmen lassen. Wenn man sich immer korrekt verhielt, fand man nie die Wahrheit heraus. "Wie bitte?" "Ich meine, glauben Sie das?" "Das ist vollkommen unerheblich. Ich möchte wissen, was Sie davon halten. Sie sind doch diejenige, die sich um eine Stellung bewirbt." Was für Augen der Mann hatte! Grün und sehr scharf beobachtend. Er sah Claudia kühl an, und ihr lief ein prickelnder Schauer über den Rücken. Sie versuchte sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihr lag. "Was mich betrifft, ich meine in Bezug auf Unterwäsche, so muss ich sagen, dass ich auf die Auswahl große Sorgfalt verwende. Zum einen muss sie passen, denn nichts ist unbequemer als schlecht sitzende Wäsche. Außerdem gehe ich natürlich auch mit der Mode. Ich stelle mir immer vor, dass ich einen schweren Unfall habe. Dann möchte ich doch wenigstens etwas Hübsches anhaben, wenn man mich findet. Kaufen Sie Ihre Wäsche selbst, oder erledigt das Ihre Frau?" Er wirkte leicht irritiert. "Also, ich bin nicht verheiratet. Wenn ich etwas brauche, rufe ich einfach unten in der Abteilung an." "Tragen Sie Boxershorts oder Slips?" fragte Claudia. Nur mit Mühe konnte sie ein Lächeln unterdrücken, als sie merkte, wie unbehaglich er sich fühlte. Er war nicht verheiratet. Umso besser. Unverheiratete Männer ließen sich leichter manipulieren. "Boxershorts", sagte er leise. Langsam ließ er den Blick über ihr Gesicht schweifen und betrachtete schließlich nachdenklich ihren Mund. "Aus Seide", fügte er langsam hinzu. Claudia hatte Schwierigkeiten, ihre Fassung zu bewahren. Thomas Dalton hatte eine Art und Weise, eine Frau anzusehen, die sie neugierig machte. Immer noch betrachtete er ihren Mund. Wollte er sie küssen? Oder war irgendetwas mit ihrem Lippenstift nicht in Ordnung? "Gemustert oder einfarbig?" fragte sie schnell, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen. Sonst konnte sie den Job vergessen. "Gemustert." Er schüttelte den Kopf. "Warum, um Himmels willen, unterhalten wir uns eigentlich über meine Unterwäsche?"
"Sie wollten doch meine Meinung hören. Ich persönlich mag
Boxershorts. Knappe Slips finde ich nicht so besonders sexy."
Dalton räusperte sich. "Ich fürchte, wir sind bei einem völlig
unwichtigen Thema gelandet und sollten lieber noch einmal von vorne
anfangen." Er stand auf und streckte ihr die Hand hin. "Miss Webster,
ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Ich bin Thomas Dalton, der
Geschäftsführer dieser Firma. Und ich möchte sehr gern wissen, wie
Sie sich die Leitung unserer Unterwäsche-Abteilung vorstellen."
"Ich bin nicht Miss Webster", sagte Claudia und sah ihn unschuldig
an, was ihr nicht ganz leicht fiel, weil er ihre Hand fest umschlossen
hielt. "Ich bin Claudia Moore und bin wegen des Jobs der Elfe hier."
Dalton runzelte die Stirn und ließ schnell ihre Hand los. "Sie sind
was?"
"Ich möchte den Job als Elfe haben. Ich sollte mich darüber mit Mr.
Robbins unterhalten. Ich dachte, Sie sind Mr. Robbins."
Dalton schüttelte den Kopf und sah sie amüsiert an.
Claudia zuckte nur mit den Schultern. Er schien ihr die Naivität zu
glauben. "Ich war schon ein wenig überrascht, dass Sie mit mir über
Unterwäsche reden wollten, aber mir geht es wirklich um den Job. Ich
hätte mich mit Ihnen auch über Ihr Liebesleben unterhalten und Ihnen
gute Ratschläge gegeben, wenn ich nur den Job bekomme."
Claudia konnte sehen, dass er mit Mühe ein Lächeln unterdrückte.
Dann wurde er wieder ernst. Ihr wurde ganz heiß. Würde er sie aus
dem Büro werfen?
"Ich möchte sehr gern eine Elfe werden", sagte sie rasch.
Er betrachtete sie lange. "Und warum?" fragte er schließlich.
"Ich kenne die Geschichten von Daltons Santa Claus. Ich habe
gelesen, dass er Kindern, die es verdienen, ihre Wünsche auch
tatsächlich erfüllt. Richtig große Wünsche, meine ich."
"Davon weiß ich nichts", entgegnete er.
"Nein? Aber Santa ist doch hier angestellt, und Sie sind der
Geschäftsführer von Dalton."
"Das könnte schon sein."
"Und ich möchte gern dabei sein, wenn die Wünsche der Kinder wahr
werden. Ich möchte diesen Wohltäter kennen lernen."
Schritte waren auf dem Marmorboden vor dem Büro zu hören. "Mr.
Dalton, ich ... " Die Sekretärin blieb wie angewurzelt stehen, als sie
Claudia sah. "Ach, hier sind Sie! Ich dachte schon, Sie seien gegangen." "Miss Moore hat sich mit mir unterhalten", sagte Dalton und warf Claudia von der Seite her einen schnellen Blick zu, den sie nicht einordnen konnte. "Mrs. Lewis, sagen Sie bitte Mr. Robbins, dass ich Miss Moore für diesen Job nur wärmstens empfehlen kann. Sie ist vertrauenswürdig und intelligent und bringt alle Voraussetzungen mit, die eine gute Elfe haben muss." "Gut, dann kommen Sie bitte mit." Die Sekretärin wies auf die Tür. "Wir wollen Mr. Robbins nicht länger warten lassen." Claudia nickte und stand auf, dann sah sie Thomas Dalton an. Er kam um seinen Schreibtisch herum und trat an ihre Seite. "Es freut mich, Sie kennen gelernt zu haben, Miss Moore. Und ich hoffe, Sie werden hier das Weihnachtswunder erleben, das Sie sich wünschen." Als er ihr jetzt die Hand schüttelte, wurde Claudia die Wärme seiner kräftigen Finger ganz besonders bewusst, und sie errötete leicht. Eine Ewigkeit, so schien es ihr, hielt er ihre Hand fest. "Sie können gern Claudia zu mir sagen", meinte sie schließlich. "Ich habe mich auch gefreut, Sie kennen zu lernen, Tom. Oder werden Sie allgemein Thomas genannt?" Diesmal lächelte er herzlich und plötzlich wirkte er vollkommen anders als der Thomas Dalton, mit dem sie sich bisher unterhalten hatte. "Geschäftsfreunde sagen Thomas zu mir", sagte er. "Freunde und Familienangehörige dagegen Tom. Wenn Sie in meinem Geschäft als Elfe arbeiten wollen, dann sollten Sie mich lieber Mr. Dalton nennen." Mrs. Lewis hüstelte, und Claudia drehte sich schnell um und folgte ihr. An der Tür drehte sie sich noch einmal kurz um und sah, wie Tom Dalton ihr mit einem rätselhaften Lächeln nachblickte. Als sie schließlich wieder unten beim Empfang war, atmete sie ein paar Mal tief durch. Falls Thomas Dalton etwas von seinem großzügigen Santa Claus wusste, würde es nicht leicht aus ihm herauszubringen sein. Aber irgendwann würde er schon preisgeben, was sie wissen wollte. Nichts und niemand würde sie davon abhalten, diese Geschichte zu recherchieren. Nicht einmal der unglaublich attraktive und aufregende Thomas Dalton.
"Ich verstehe nicht, warum wir so große Schwierigkeiten haben, passende Elfen zu finden. Die letzte, die du angestellt hast, war wie ..." Theodore Dalton machte eine viel sagende Pause. "Die habe ich doch nicht angestellt", unterbrach ihn Tom, "das hat Robbins getan. Er scheint der Auffassung zu sein, dass jeder, der klein ist und eine rosa Nase hat, für den Job geeignet ist. Aber wenn dir das Ganze so wichtig ist, Großvater, dann solltest du selbst die Bewerbungsgespräche führen." Theodore Dalton schüttelte den Kopf, und eine dicke silbergraue Locke fiel ihm in die Stirn. "Ich kann mich nicht auch noch um Personalangelegenheiten kümmern. Außerdem hast du doch die Zeit dafür. Dein Privatleben scheint mir nicht sehr ausgefüllt zu sein." Tom presste kurz die Lippen zusammen. Es stimmte, er hatte genügend Zeit. Seit sieben Jahren war er nun hier in Schuyler Falls und hatte das Geschäft von der Pike auf gelernt. Im Grunde wartete er nur auf den Tag, an dem sein Großvater und sein Vater ihn endlich in die New Yorker Zentrale des Unternehmens schicken würden. Er beherrschte die einzelnen Vorgänge im Schlaf und begriff nicht, warum er hier immer noch in der kleinsten Filiale des Konzerns festgehalten wurde. "Meiner Meinung nach sollten wir endlich mit dieser Sache aufhören, Großvater", sagte Tom leise. "Wenn du dein Geld unbedingt aus dem Fenster werfen willst, dann mach es doch bitte schön, ohne unser Kaufhaus hineinzuziehen. Du hast schließlich deine eigene Stiftung. Diese ganze Geschichte geht jetzt schon viel zu lange, und jedes Jahr wird die Vorbereitung komplizierter und zeitaufwändiger." Sie gingen gerade durch die Haushaltswarenabteilung, beide hatten die Hände auf dem Rücken verschränkt. Dalton's Department Store war ein Relikt aus vergangenen Zeiten, als jede Stadt ab einer bestimmten Größe ein Kaufhaus hatte. Sein Urgroßvater hatte beim Bau des Gebäudes keine Kosten gescheut. Die meisten Angestellten arbeiteten hier ihr ganzes Leben und fühlten sich dem Haus sehr verbunden. Mit diesem Kaufhaus hatte alles angefangen, es war der Grundstein ihres höchst erfolgreichen Familienunternehmens. Tucker Dalton, Toms Vater, hatte früher dieses Kaufhaus geleitet und verwaltete jetzt von New York City aus den Immobilienbesitz und das Vermögen der Familie. Verschiedene Onkel und Cousins waren im Vorstand tätig.
Und Toms Großvater, der jetzt im Ruhestand war, verbrachte die Wintermonate in seinem Haus in Arizona. Lediglich für die Weihnachtszeit kam er in den kalten Norden, denn er liebte es, den Weihnachtsmann zu spielen. Theodore Dalton räusperte sich. "Sag mal, Tommy, wie lange bist du eigentlich nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen?" Tom blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. "Wie bitte?" "Seit wann bist du nicht mehr mit einer Frau im Bett gewesen? Du kannst es mir ruhig sagen, von mir erfährt keiner was." "Warum willst du das denn wissen?" Sein Großvater zuckte mit den Schultern. "Ach, nur so. In meinem Alter wird man neugierig." "Ich werde doch nicht mit dir über mein Liebesleben reden. Mein Problem ist weniger der Sex als vielmehr eine tödliche Langeweile. Ich beherrsche die Arbeit hier im Schlaf, und du weißt das genau. Ich habe unsere Gewinne gesteigert und die Marketingabteilung auf Vordermann gebracht. Warum schickst du mich nicht endlich nach New York?" "Hier gibt es noch viel zu tun, und ich bin nicht davon überzeugt, dass es sinnvoll für dich ist, schon etwas Neues anzufangen. Wenn du dich langweilst, musst du eben selbst etwas dagegen tun und dir Abwechslung verschaffen." Tom rieb sich nachdenklich den Nacken. Da war schon etwas oder jemand, der ihn interessierte. Wieder sah er das Gesicht von Claudia Moore vor sich, ihre funkelnden Augen und ihr schwer zu deutendes Lächeln. "Robbins hat gestern eine neue Elfe eingestellt, sie fängt heute Nachmittag an. Sie ist sehr hübsch." Sein Großvater sah ihn aufmerksam von der Seite her an. "Hübsch? Wie hübsch?" Tom schüttelte leicht den Kopf. Normalerweise behielt er seine Gedanken für sich, aber seit er Claudia Moore getroffen hatte, tat er Dinge, die ihm früher nie im Traum eingefallen wären. Ihre Schlagfertigkeit hatte ihn mehr beeindruckt, als er sich eingestehen wollte. "Sehr hübsch. Sie hat eine gute Figur und lockiges dunkles Haar." Wieder sah er sie genau vor sich. "Außerdem hat sie ein reizvolles Lächeln und schöne Augen." "Welche Farbe?"
Tom zuckte mit den Schultern. "Eine merkwürdige Mischung aus Braun und Golden ... bernsteinfarben. Sehr ausdrucksvoll." "Du scheinst diese Elfe ja schon ganz gut zu kennen." Sein Großvater wiegte bedenklich den Kopf und hob warnend den Finger. "Du hast doch hoffentlich nicht Regel Nummer eins vergessen? Nie ..." "Ich weiß, ich weiß. Man soll sich nie mit Angestellten einlassen." Auf die Idee war er bisher auch nie gekommen. Bei Claudia Moore würde es nicht so einfach sein, sich an die Regel zu halten. Er hatte sie zwar erst einmal gesehen, aber er hatte große Lust, sie näher kennen zu lernen. Ihr Witz und ihre Wortgewandtheit hatten ihm gut gefallen. "Nein, das ist nicht Regel Nummer eins", sagte Theodore, "das ist Regel Nummer drei. Eins sagt eindeutig, dass man nie die Gelegenheit verpassen darf, mit einer schönen Frau zu flirten. So habe ich doch auch deine Großmutter kennen gelernt. Sie stand hinter der Bonbontheke und hatte einen süßen Hut aus Papier auf und eine dieser gestreiften Schürzen um. Wir lächelten uns an, und dann war's geschehen." "Ich würde mich nie mit einer Elfe einlassen", erklärte Tom und wusste gleichzeitig, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. "Oder mit einer Angestellten. Nie." Aber konnte er nicht ein bisschen Spaß haben, während sie hier war? Theodore blieb an einem Regal mit Tischwäsche stehen und strich ganz automatisch die Leinenservietten glatt. "Okay, das ist deine Entscheidung. Weißt du übrigens, dass ich am Freitag nächster Woche in die Stadt fahre?" "Oh nein!" Tom hielt ihn am Arm fest. "Das kannst du mir nicht antun. Ich denke nicht daran, mich lächerlich zu machen, Großvater. Ich werde diesen albernen Anzug nicht anziehen und auf diesem blöden Stuhl sitzen, um den ganzen Tag lang lallenden Babys zuzuhören, die auf meinem Schoß herumrutschen." In diesem Punkt blieb Theodore Dalton unnachgiebig. "Die Rolle des Weihnachtsmannes zu spielen ist eine alte Familientradition, und ich nehme sie sehr ernst. Ich habe sie übernommen, dein Vater auch, und nun bist du dran. Das ist eine Verpflichtung und hat noch niemandem geschadet. Außerdem hast du dann häufiger Gelegenheit, mit deiner hübschen kleinen Elfe zusammen zu sein." Er zwinkerte Tom zu und blickte auf die Uhr. "Oh, es wird Zeit, dass ich mich um meine Pflichten als Santa Claus kümmere."
Tom blickte dem Großvater hinterher und seufzte tief auf. Er liebte ihn wirklich von Herzen, aber er konnte nicht verstehen, warum Theodore so an dieser albernen Tradition hing. Natürlich kannte er die Vorgeschichte. Sein Urgroßvater hatte in dem Eröffnungsjahr beschlossen, dass finanzieller Erfolg auch gewisse Verpflichtungen nach sich zog. Derjenige, dem es gut ging, musste sich um die kümmern, die Probleme hatten. So war Thaddeus Dalton der erste Santa Claus geworden, der geheime Wünsche erfüllte, und diese Aufgabe hatte er bis zu seinem Tod im Jahre 1988 wahrgenommen. Und weil er der Meinung war, dass man Gutes tun, aber darüber nicht reden sollte, war strikte Geheimhaltung Teil der Familientradition geworden. In den zwanziger Jahren war es noch einfach gewesen. Keiner konnte herausfinden, woher der Briefumschlag mit Geld kam, der am Weihnachtsmorgen auf der Türschwelle lag. Heutzutage war es schwierig, ein solches Geheimnis zu wahren. Zu viele Menschen waren mit der Erfüllung der immer komplizierteren Wünsche betraut, und früher oder später würde die Sache herauskommen. Tom hatte seinen Großvater beschworen, sein Geld sinnvoller auszugeben, etwa Geld für Schulcomputer zu spenden oder für die bessere Ausstattung der Bücherei. Das hatte Theodore auch getan, aber dennoch bestand er darauf, die Tradition als Santa Claus weiter fortzusetzen. Nun gut, soll der alte Mann seinen Willen haben, dachte Tom. Aber er selbst hatte keine Lust, den Weihnachtsmann zu mimen. Wenn die Angestellten ihn nun trotz des Bartes und des Kostüms erkannten? Würden sie trotzdem noch Respekt vor ihm haben? Er fluchte leise. Nicht, wenn sie so scharfzüngig waren wie Claudia Moore. Eine Frau wie sie war ihm noch nicht begegnet. Sie zog ihn an, aber sie irritierte ihn. Vielleicht hatte sein Großvater Recht, und er war zu lange nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen. Seit seine Verlobung vor drei Jahren in die Brüche gegangen war, hatte er ein paar kurze Affären gehabt, aber die rein körperlichen Beziehungen befriedigten ihn nicht mehr. Er sehnte sich nach einer Frau, die ihn als Person interessierte, mit der er nicht nur im Bett gern zusammen war. Eine Frau, die ihm gewachsen war und die eine eigenständige Persönlichkeit hatte.
Im Vorzimmer blieb er vor Mrs. Lewis' Schreibtisch stehen und sah die Nachrichtenzettel durch. Er runzelte die Stirn und warf den Packen wieder zurück. Mrs. Lewis sah ihn überrascht an. "Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Dalton?" Tom überlegte kurz, dann nickte er. "Würden Sie mir bitte die Personalakte von Claudia Moore besorgen? Sie liegt wahrscheinlich bei Robbins auf dem Schreibtisch." "Ist das nicht die Elfe, die wir gestern eingestellt haben?" "Ja. Ich möchte auch gern wissen, wann sie arbeitet." Mrs. Lewis sah ihn neugierig an. "Ist irgendetwas nicht in Ordnung?" "Nein, nein. Ich möchte mir nur die Akte ansehen." Er hatte sich noch kaum hinter seinen Schreibtisch gesetzt, als Mrs. Lewis schon mit der Akte hereinkam. Sie sah ihn missbilligend an. Er kannte Mrs. Lewis schon lange. Sie hatte bei seinem Großvater als Sekretärin angefangen und hatte auch schon für seinen Vater gearbeitet. Sie war für ihn mehr eine vertraute Tante als eine Angestellte. "Sehen Sie mich nicht so an. Wir haben sie angestellt. Ich sehe mir doch immer die Personalunterlagen an." "Aber normalerweise erst, nachdem ich Sie mehrmals daran erinnert habe. Sie kennen doch noch die Regel Nummer eins hier bei Dalton?" "Das ist jetzt Regel Nummer drei. Mein Großvater hat die Reihenfolge geändert." Mrs. Lewis schnappte hörbar nach Luft. "Davon hat man mir aber nichts gesagt. Warum wurde ich nicht darüber informiert?" Tom lachte leise. "Das sollten Sie lieber mit meinem Großvater besprechen. Sie wissen ja, wo Sie ihn finden können." Mrs. Lewis drehte sich auf dem Absatz um und ging aus der Tür. Tom war sicher, dass sie den Großvater sofort darauf ansprechen würde, aber das war jetzt nicht sein Problem. Er schlug schnell den Aktendeckel auf. Obendrauf lag die Kopie von Claudias Kaufhausausweis. Trotz der schlechten Qualität des Fotos konnte er das Gesicht von Claudia Moore gut erkennen. Sie war kaum geschminkt und trug das halblange dunkle Haar offen. Er hatte sie zwar erst einmal gesehen, aber dabei bereits bemerkt, dass sie sich gern recht sexy anzog. Was das Foto nicht zeigte, waren ihr Witz, ihre Schlagfertigkeit und ihre Fähigkeit, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Sie war ganz offensichtlich intelligent und auch noch ausgesprochen hübsch. Warum nahm sie dann einen so unbedeutenden Posten an? Von ihrer Ausbildung her hätte sie ganz andere Jobs im Kaufhaus haben können. Weshalb wollte sie unbedingt als Elfe arbeiten? Er griff nach ihrem Einsatzplan. Heute würde sie um zwölf Uhr mittags anfangen. Vielleicht sollte er mal in den ersten Stock gehen und sich die Nordpol-Siedlung ansehen. Bisher hatte er das Chaos vermeiden können, das in der Spielzeugabteilung herrschte, seit Santa Claus am Tag nach Thanksgiving das erste Mal aufgetaucht war. Aber jetzt war da noch etwas anderes zu besichtigen außer kreischenden Kindern und ungeduldigen Eltern und frustrierten Angestellten Claudia Moore, eine sicher sehr reizvolle Elfe. "Das soll ich anziehen??" Claudia starrte entsetzt auf ihr Spiegelbild. Sie stand vor einem großen Spiegel in dem Umkleideraum für die Angestellten gleich hinter der Spielzeugabteilung. Sie zerrte an dem engen Jäckchen und versuchte, den kurzen Rock herunterzuziehen. Ihr Kostüm aus kratzigem rotem Wollstoff mit grünen Punkten war mindestens vierzig Jahre alt und roch penetrant nach Mottenkugeln. Darunter trug sie eine schlabberige grüne Strumpfhose. "Ist es nicht süß?" Claudia drehte sich zu Mrs. Eunice Perkins um, der Leiterin der Abteilung. Schon der Gedanke, als Elfe zu arbeiten, war schlimm genug. Aber dieses Kostüm, das war die reine Folter. "Ich muss doch etwas anderes anziehen können. Vielleicht etwas aus hübscher lila Seide? Ich wäre ja auch schon mit etwas aus weicher Kunstfaser zufrieden." Mrs. Perkins zog einen kleinen albernen Hut aus einer Schachtel und setzte ihn Claudia schräg auf den Kopf. Nun sah sie aus, als käme sie direkt aus einem Weihnachtsfilm über Robin Hood. "Mrs. Theodore Dalton hat dieses Kostüm im Jahre 1949 selbst entworfen, als wir beschlossen, dass Santa Claus in Zukunft von Elfen begleitet werden sollte." Mrs. Perkins lächelte gedankenverloren. "Ich hatte damals gerade die Schule beendet und hier als Verkäuferin angefangen." Sie griff wieder in die Schachtel und holte Stiefeletten heraus, deren Spitzen hochgebogen waren und kleine Glöckchen trugen. "Und hier sind Ihre Stiefelchen, mein Kind. Und Ihr Namensschild. Ihr
Elfenname ist Twinkie. Damit gehören Sie zur Inkie-Gruppe, Twinkie, Winkie, Dinkie und Blinkie." Sie kniete sich nieder und half Claudia in die kleinen Stiefel. Dann stand sie schnell auf und verließ den Umkleideraum. "Twinkie?" Claudia folgte ihr in den angeschlossenen Aufenthaltsraum. "Das ist ja zu albern." "Nein, es hört sich an wie ein blinkender kleiner Stern. Kinder mögen so was. Die Begegnung mit Santa Claus muss etwas Magisches haben." "Aber ich habe doch nicht eigentlich mit Kindern zu tun, oder? Ich meine, ich habe nicht viel Erfahrung mit Kindern. Kann ich nicht lieber im Hintergrund bleiben? Aufpassen, dass nichts zu Bruch geht und dass Santa Claus immer alles hat, was er braucht." Eunice drehte sich zu ihr um. "Aber das würde doch keinen Spaß machen. Ihre Aufgabe ist es, am Zuckerstangentor zu stehen und darauf zu achten, dass immer nur ein Kind zur Zeit hindurchgeht. Die anderen Kinder müssen Sie ein wenig unterhalten. Sie können ihnen Witze erzählen, mit ihnen Lieder singen und so. Auf Santas Schoß darf nur immer ein Kind zur Zeit sitzen." "Apropos Santa", sagte Claudia schnell, "was wissen Sie eigentlich von ihm?" "Nur das, was jeder weiß. Er lebt am Nordpol mit den Elfen. Er hat einen Schlitten und acht Rentiere. Er ist ein fröhlicher alter Mann ..." "Nein, das meine ich nicht", unterbrach sie Claudia, "was wissen Sie von dem richtigen Mann unter dem Kostüm? Wer ist das?" "Aber der Santa Claus von Dalton ist der echte Santa Claus, mein Kind. Und hören Sie nicht zu, wenn jemand meint, es besser zu wissen." Eunice zwinkerte ihr zu, ihre Augen glitzerten vor Vergnügen. "So, nun machen Sie die Schuhe zu, und kommen Sie in die Eingangshalle. Dort stelle ich Ihnen die anderen Inkies vor." Der rote Wollstoff kratzte wie verrückt. Claudia versuchte das zu ignorieren. Du liebe Zeit, was war aus ihrer Journalistenkarriere geworden? In einem scheußlichen Elfenkostüm würde sie vor kreischenden Kindern herumhüpfen müssen, die sie Twinkie nannten! Claudia schob ihr Jäckchen hoch und kratzte sich den Bauch. Ah, das tat gut. "Miss Moore?"
Die Stimme kannte sie doch! Claudia fuhr herum. Thomas Dalton persönlich. Er starrte auf ihren nackten Bauch. Na, wenn schon! Sie machte regelmäßig ihre Sit-ups, und ihr Bauch konnte sich sehen lassen. "Ich heiße Twinkie", stieß sie leise hervor und versuchte, sich am Rücken zu kratzen. Dabei spannte sich das Jäckchen über ihren Brüsten, was sie genau wusste. Daltons Augenlider flatterten, als sein Blick kurz an ihren Brüsten hängen blieb, bevor er ihn auf ihr Gesicht richtete. "Sie sehen nicht gerade glücklich aus." Das stimmte, doch sie freute sich sehr, ihn zu sehen. Sie hatte sich schon gefragt, wann er sie wohl aufsuchen würde. Ihr war gleich klar gewesen, dass ihm ihr verbaler Schlagabtausch viel Spaß gemacht hatte. Sie besaß eine gute Menschenkenntnis und wusste, dass Thomas Dalton sie attraktiv fand. Und das konnte sie für ihre Zwecke ausnutzen. "Es wundert mich nicht, dass Sie Schwierigkeiten haben, Elfen zu finden, und deshalb Anzeigen aufgeben müssen", sagte sie. "Diese Kostüme sind ein einziger Albtraum. Ich bin sowieso gegen Wolle allergisch, aber die Stiefel sind zu eng, und in dem Hut sitzen die Motten." "Ich finde, Sie sehen genau wie eine Elfe aus." Sie kratzte sich an der Schulter und sah, dass er mühsam ein Lächeln unterdrückte. "Wenn Sie nur gekommen sind, um sich über mich lustig zu machen, dann sollten Sie lieber etwas Nützliches tun. Hier." Sie drehte sich um. "Da zwischen meinen Schulterblättern juckt es fürchterlich." "Miss Moore, ich glaube nicht, dass ..." "Ach was, nur zu!" Sie stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. "Sonst werde ich noch verrückt." Zögernd streckte er die Hand aus und strich mit den Fingern fest über ihre Schulterblätter. Claudia seufzte zufrieden, schloss die Augen und lehnte sich leicht zurück. "Diese Kostüme sind fünfzig Jahre alt. Kann Dalton sich denn keine neuen leisten? Ja, so ist es wunderbar ... vielleicht noch etwas nach rechts ... Ja, herrlich." Tom räusperte sich verlegen. "Die Kostüme sind Teil der Tradition", erklärte er nüchtern. "Und bisher hat sich noch nie jemand beschwert." "Wahrscheinlich hat man Angst, von Ihnen rausgeworfen zu werden. Wenn wir Elfen in einer Gewerkschaft wären, würde so etwas nie
passieren." Sie beugte den Nacken und genoss die Berührung seiner Finger. Mit beiden Händen knetete er ihr jetzt die Schultern. Schon lange hatte kein Mann sie mehr massiert, ihren Rücken gestreichelt, ja sie überhaupt berührt. Und schon lange hatte sie nicht mehr mit ... Sie riss die Augen auf und war plötzlich hellwach. Das ging ja nun doch zu weit. Auf keinen Fall durfte sie ihre Aufgabe aus den Augen verlieren. Sie hatte schließlich ein Ziel, und davon durfte sie weder ein kratziges Kostüm noch ein attraktiver Hilfsmasseur abhalten. Sie machte einen Schritt vorwärts, drehte sich langsam um und lächelte Tom etwas verkrampft an. Er sah sie an, und der Blick aus seinen grünen Augen schien sie geradezu zu durchbohren. "Und Sie, Miss Moore? Haben Sie keine Angst, dass ich Sie entlasse?" "Warum denn?" fragte Claudia. "Wegen meiner Wollallergie?" "Wegen Aufsässigkeit und Respektlosigkeit." Tom grinste. "Sie haben mir nicht den mir zustehenden Respekt erwiesen." Claudia rollte mit den Augen. "Ich wusste nicht, dass es zu meiner Aufgabe gehört, Ihr Ego zu streicheln." Er lachte laut. "Denken Sie jemals nach, bevor Sie etwas sagen, Miss Moore? Oder sind Sie genauso überrascht wie ich von dem, was Sie von sich geben?" Claudia zog ihr Kostüm gerade und drückte sich den Hut fester auf den Kopf. Dann grinste sie Dalton an. "Wenn Sie das stört, Tom, können Sie mich ja jederzeit feuern." Er nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie bemerkte sofort, dass das Jackett leicht über dem breiten, muskulösen Rücken spannte. Wie er wohl unter diesem seriösen Outfit aussah? "Warum haben Sie sich um diesen Posten beworben, Miss Moore? Ich habe mir Ihre Personalakte angesehen. Sie haben einen CollegeAbschluss, haben schon freiberuflich als Journalistin gearbeitet. Es gibt sicher eine Menge Jobs hier bei Dalton, die Sie sehr gut ausfüllen könnten." "Ich brauche kurzfristig Geld", log sie, "ich muss Weihnachtsgeschenke kaufen und habe auch noch einige Rechnungen zu bezahlen. Ich wusste, dass ich diesen Job kriegen würde. Um dieses Kostüm zu tragen, braucht man ja nicht unbedingt ein Diplom."
"Soll ich mich nicht mal nach einer anderen Position für Sie umsehen? Wir brauchen immer jemanden im Verkauf. Und die Bezahlung ist besser." "Warum? Wäre es Ihnen peinlich, Tom, wenn man Sie dabei überraschte, wie Sie einer schlecht bezahlten Elfe den Rücken kratzen?" Er schüttelte missbilligend den Kopf. "Und außerdem möchte ich Sie bitten, mich in Zukunft mit Mr. Dalton anzusprechen." Claudia hob langsam die Schultern und ließ sie wieder fallen. "Wir haben uns über Ihre Unterwäsche unterhalten. Wenn ich an Sie in seidenen Boxershorts denke, fällt es mir schwer, Sie sich mir auf einem Podest vorzustellen." Sie ging um ihn herum und dann in Richtung der Verkaufsräume. "Miss Moore!" Sie drehte sich um. Er starrte sie an, die Lippen zusammengepresst und die Brauen zusammengezogen. Claudia hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Wann würde sie endlich lernen, nicht gleich mit allem herauszuplatzen, was ihr in den Sinn kam? "Ja, Mr. Dalton?" "Ich werde sofort veranlassen, dass neue Kostüme angefertigt werden. Bitte sagen Sie das Mrs. Perkins und den anderen Elfen." Sie nickte nur kurz und wandte sich schnell um, damit er ihr zufriedenes Grinsen nicht sah. Offensichtlich hatte sie Mr. Dalton genau da, wo sie ihn haben wollte, nämlich um ihren kleinen Finger gewickelt. Nun musste sie ihn nur noch irgendwie dazu bringen, die Familiengeheimnisse in Bezug auf Santa Claus zu verraten. Dann konnte sie ihren Auftritt als Elfe ganz schnell vergessen und wieder ihre Journalistenkarriere verfolgen.
2. KAPITEL
Claudia trat von einem Fuß auf den anderen. Ihre Zehen verkrampften sich, denn die dünnsohligen Elfenstiefelchen waren alles andere als bequem. In der letzten Stunde hatte sie mindestens schon fünf zig Mal auf die Uhr gesehen, aber deshalb war die Zeit auch nicht schneller vergangen. Claudias Aufgabe war todlangweilig. Sie musste die Kinder einzeln durch das Zuckerstangentor durchlassen, Tor auf, Tor zu. Sie schob ein rundliches kleines Mädchen hindurch, dann wandte sie sich zu dem nächsten in der langen Schlange um, einem Jungen mit goldblondem Haar und großen braunen Augen. "Du bist der Nächste!" sagte sie und bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Er schreckte leicht hoch, dann sah er sie zögernd an. Sie konnte sehen, dass er sehr nervös war. Was er sich wohl wünschte? Sie hatte nie einen besonderen Draht zu Kindern gehabt, denn sie wusste nicht, worüber sie mit ihnen reden sollte. Sie interessierten sich schließlich nicht dafür, was in der Welt passierte, und hatten ein sehr begrenztes Vokabular. "Und du", fragte sie freundlich und hoffte, dass ihr Tonfall ihn etwas beruhigen würde, "was wirst du dir denn wünschen?" Er sah sie ernst an. "Das geht nur Santa und mich etwas an." Claudia lachte. Das war ihr bisher noch nie passiert. Normalerweise platzten die Kinder sofort mit ihrer langen Wunschliste heraus, vor allen Dingen ihr gegenüber, die doch mit Santa Claus so eng zusammenarbeitete. "Aha, es soll also ein Geheimnis zwischen dir und Santa sein." Der Junge nickte. "Du kennst ihn ziemlich gut, was?" Claudia zuckte mit den Schultern. "So gut wie die anderen Elfen auch", sagte sie. Das war gelogen, denn sie war ihm lediglich einmal vorgestellt worden. Die beiden Elfen dagegen, die neben Santa standen und ihm die Kinder auf den Schoß hoben, hatten Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Und wie Geheimagenten schirmten sie ihn vor allen anderen ab. Claudia, die in der Elfen-Hierarchie ganz unten
stand, konnte an ihrem Zuckerstangentor leider nicht verstehen, was da oben geflüstert wurde. "Vielleicht kannst du mir helfen", sagte der Junge und zog einen grünen Briefumschlag aus der Tasche, den er offensichtlich selbst verziert hatte. In großen Buchstaben hatte er seinen Namen und seine Adresse in die linke obere Ecke gemalt. "Er muss meinen Brief unbedingt lesen. Es ist sehr, sehr wichtig." Dann zog er einen großen Dauerlutscher aus der anderen Hosentasche. "Meinst du, wenn ich ihm den hier ..." Das war sehr lieb gemeint, aber Claudia schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf den Briefumschlag. "Nein, Eric, eins ist sicher: Der Weihnachtsmann lässt sich nicht bestechen." "Aber ich ..." "Du bist dran", sagte Claudia und schob ihn durch das Tor. Zögernd näherte er sich dem Thron. Als er schließlich auf dem Schoß des Weihnachtsmanns saß, wandte sie sich dem nächsten Kind zu. Sie versuchte zu lächeln und heiter zu wirken, was ihr besonders schwer fiel, als sie Tom Daltons Stimme hörte. Drei Mal hatte sie ihn heute gesehen. Er hatte so getan, als überprüfe er die Weihnachtsdekoration der Nordpol-Siedlung. Auch den anderen Elfen war das aufgefallen, denn noch nie hatte er sich so intensiv um diese Weihnachtsaktion gekümmert. Alle waren überzeugt, dass er überlegte, wen er denn entlassen könnte, und sie warteten nervös und angespannt. Aber Claudia war ziemlich sicher, dass er ihretwegen so oft kam. Sie winkte Blinkie heran und bat sie, doch vorübergehend ihren Platz an dem Tor einzunehmen. Dann zog sie ihr Kostüm gerade und ging direkt auf Thomas Dalton zu. Die Glöckchen an ihren Stiefelchen klingelten bei jedem Schritt. Er schien überrascht zu sein, als er sie auf sich zukommen sah, und einen kurzen Moment lang dachte Claudia, er würde flüchten. Aber er blieb stehen und blickte sie betont gleichgültig an. "Sie machen die Elfen nervös", sagte Claudia und baute sich mit in die Taille gestützten Armen direkt vor ihm auf. "Wollen Sie nicht einfach lieber in der Abteilung für Damenunterwäsche herumlungern? Es soll eine neue Lieferung entzückender Spitzenstrapse gekommen sein." "Bitte?"
"Was wollen Sie hier? Die Elfen sind ganz durcheinander. Wenn Sie nur darauf warten, dass ich einen Fehler mache, damit Sie mich feuern können, warum tun Sie es dann nicht einfach?" Er antwortete nicht gleich, und sie hatte den Eindruck, dass er sich seine Worte sehr genau überlegte. "Miss Moore, dies ist mein Kaufhaus. Wenn ich mich den ganzen Tag hier auf diesem Stockwerk aufhalten will, dann werde ich es tun, auch wenn es Ihnen nicht passt. Wenn mir danach ist, mich an den großen Weihnachtsbaum in der Eingangshalle zu hängen und Weihnachtslieder zu singen, dann kann mir das keiner verbieten. Egal, was Sie oder die anderen Elfen davon halten." "Und? Wann feuern Sie mich nun endlich?" fragte sie. Tom fluchte leise, nahm sie beim Ellbogen und zog sie zu den Fahrstühlen. Als die Tür sich öffnete, schob er sie in den Fahrstuhl. "Was soll das? Wohin gehen wir?" "Sie werden in meinem Büro auf mich warten. Ich komme gleich nach." "Ihrem Büro?" "Ja. Sie haben offensichtlich vergessen, sich die Einstellungsbedingungen genau durchzulesen, besonders den Abschnitt über den Umgang mit Vorgesetzten. Wir werden ihn zusammen durchgehen, und dann werde ich mir überlegen, was ich mit Ihnen mache." Claudia trat schnell wieder aus dem Fahrstuhl heraus. "Oh nein, bitte nicht. Das können Sie nicht tun. Wenn Sie mich jetzt feuern, müssen die anderen Überstunden machen, und das wird für Sie sehr viel teurer. Und dann fehlt Ihnen nachher das Geld für Ihre Weihnachtswunder." Tom hielt mit einem Arm die Fahrstuhltür offen und starrte Claudia an. "Wovon reden Sie da?" Aha, sie hatte richtig getippt. Claudia lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Tun Sie doch nicht so. Ich kenne all diese Geschichten. Sie brauchen sich doch für Ihre guten Taten nicht zu entschuldigen. Im Gegenteil, Sie sollten dafür sorgen, dass alle Welt davon erfährt." "Auch ich kenne diese Geschichten, Miss Moore, und glauben Sie mir, ich würde Ihnen nur zu gern erzählen, was dahinter steckt. Aber ich habe damit nichts zu tun und weiß nichts davon."
Tom wirkte absolut glaubhaft, und Claudia war enttäuscht. Wenn er es nicht wusste, wer dann? Sie war bereits einen ganzen Tag bei Dalton und war der Wahrheit noch nicht einen Schritt näher gekommen. Vielleicht sollte sie die anderen Elfen mal einladen und sie ordentlich unter Alkohol setzen. Vielleicht würde sie dann etwas aus ihnen herausbekommen. Oder sie sollte Santa Claus nach Hause folgen und sehen, wer sich wirklich hinter dem weißen Bart verbarg. "Sind Sie denn gar nicht neugierig?" fragte sie. "Wenn nicht Sie es sind, der das ganze Geld ausgibt, dann kriegen Sie die gute Presse ja für nichts und wieder nichts." Er nahm sie sanft bei den Schultern und schob sie wieder in den Fahrstuhl. "Bitte, warten Sie in meinem Büro. Ich komme gleich nach." Die Tür schloss sich, und Claudia lehnte sich frustriert gegen die Spiegelwand des alten Aufzugs. Wollte er ihr wirklich kündigen? Das konnte er nicht tun. Sie hatte doch erst einen Tag hier gearbeitet und hatte im Grunde nichts falsch gemacht. Die Fahrstuhltür öffnete sich wieder, und Claudia trat heraus. Mrs. Lewis hob überrascht den Kopf. "Oh, Miss Moore. Ist irgendetwas nicht in Ordnung?" "Tom ... ich meine, Mr. Dalton hat mich raufgeschickt. Ich soll in seinem Büro auf ihn warten." Mrs. Lewis kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und bedeutete Claudia, ihr zu folgen. Und zum zweiten Mal während ihrer kurzen Zeit bei Dalton sah sich Claudia dem imponierenden Mahaghonischreibtisch gegenüber. Sie ließ sich in den Besucherstuhl fallen, gerade als Mrs. Lewis die Tür hinter sich zuzog. Ihr letztes Zusammentreffen mit Tom war irgendwie merkwürdig gelaufen. Was hatte er wirklich gemeint? Sie war ihm nicht gleichgültig, so viel war sicher. Claudia wusste genug von Männern, um diesen gewissen Ausdruck in seinen Augen deuten zu können. Allerdings waren ihre persönlichen Erfahrungen eher begrenzt. Sie war nie länger als sechs Monate mit einem Mann befreundet gewesen, denn dann fingen die Männer immer an, mehr zu erwarten. Dann ging es um die Zukunft, und dann wollten die meisten Männer, dass sie ihnen mehr Zeit und Zuwendung widmete. Das aber passte nicht in Claudias Lebensplan, denn ihre Karriere stand für sie
an oberster Stelle. Als Hausfrau und Mutter konnte sie sich nicht sehen. Aber irgendwie hatte sie den Eindruck, dass Tom anders war. Sie wurde aus ihm nicht schlau, konnte ihn nicht einschätzen. Sie rutschte auf dem Stuhl hin und her. Warum kam er denn nicht? Sein Schreibtisch war mustergültig aufgeräumt. Ob er selbst dafür verantwortlich war? Das würde zu ihm passen. Die Bleistifte lagen angespitzt in einer Reihe nebeneinander, und die Hefter mit den kleinen bunten Reitern waren sorgfältig zu einem Stapel geschichtet. Die Hefter! Claudia rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne. Wenn er irgendetwas von dem Santa von Dalton wusste, dann müssten darüber Unterlagen in seinem Büro zu finden sein. Sie warf einen schnellen Blick auf die geschlossene Tür und ging dann hastig die Papiere durch. Nur die Ruhe, ermahnte sie sich im Stillen. Sie hatte wahrscheinlich drei bis vier Minuten Zeit. Sie musste nur darauf achten, dass sie die Mappen wieder so zurücklegte, wie sie sie vorgefunden hatte. Nach dreißig Sekunden hatte sie alles durchgesehen. Eine Minute später hatte sie auch die Hängeordner inspiziert. Nichts. Sie blickte kurz auf die Uhr an der Wand. Noch Zeit. Sie versuchte, die große Mittelschublade aufzuziehen, doch die war abgeschlossen. Da, in dem kleinen Kästchen, vielleicht lag da der Schlüssel. Ja. Und er passte. Mit fliegenden Fingern schloss sie die Schublade auf. Da, auf dem einen Ordner stand "Santa". "So, so, du weißt überhaupt nichts über Santa?" stieß Claudia leise zwischen den Zähnen hervor. Sie beugte sich vor und wollte die Mappe herausnehmen, als sie Mrs. Lewis' Stimme hörte. Schnell legte sie die Mappe wieder zurück, schob die Schublade zu und schloss ab. Aber als sie hastig den Schlüssel wieder zurücklegen wollte, hing sie fest. Ihr Rock war eingeklemmt. "Bitte stellen Sie in der nächsten Zeit keine Gespräche durch", hörte sie Tom sagen. Claudia zerrte verzweifelt an dem Rock. Wenn er sie in dieser Situation erwischte, dann war das das Ende ihrer Karriere, und zwar nicht nur als Elfe, sondern auch als Journalistin. Sie zog immer stärker. Diese mottenzerfressene Wolle musste doch nachgeben! Ritsch! Gerade als sich der Türknopf drehte, riss der Stoff.
Claudia wurde ganz schlecht vor Entsetzen. Jetzt bloß die Nerven behalten. Die Tür öffnete sich, und Tom Dalton trat ein. Das Büro war leer. Tom sah sich verblüfft um. Sollte hier nicht Claudia auf ihn warten, in ihrem engen Elfenkostüm, das ihre hübsche Figur so toll betonte? Er runzelte die Stirn und wandte sich zu Mrs. Lewis um. "Ich dachte, Miss Moore sei hier." Die Sekretärin erhob sich schnell von ihrem Stuhl. "Ja. Ich habe sie in Ihr Büro geführt und war die ganze Zeit hier. Sie muss da sein." Tom fluchte leise und fuhr sich durch die Haare. Wo steckte Claudia nur? Sie hatte aber auch wirklich überhaupt kein Verantwortungsgefühl ihrem Chef gegenüber. Das war Gehorsamsverweigerung. Jede andere Elfe hätte Tom sofort rausgeworfen. Verärgert ging er um seinen Schreibtisch herum und blieb verblüfft stehen. Da unten war sie ja. Sie kniete auf dem Boden und schien etwas zu suchen. "Miss Moore?" Sie sah hoch und lächelte. "Oh, hallo! Ich habe nur gerade mein Glöckchen verloren." "Ihr Glöckchen?" "Ja, von meinem Stiefel. Ich saß da auf dem Stuhl und wartete auf Sie, und plötzlich löste es sich und rollte unter Ihren Schreibtisch. Da es aber zu dem Kostüm gehört, wird Mrs. Perkins sicher sehr ärgerlich werden, wenn ich nicht..." Tom stöhnte ungeduldig auf, streckte die Hand aus und zog Claudia auf die Füße. "Ich bin sicher, dass Mrs. Perkins für Sie noch ein Glöckchen hat." Sie stand dicht vor ihm, und Tom war sich ihres warmen Körpers nur allzu sehr bewusst. Eine Ewigkeit, so schien es, sahen sie sich in die Augen. Am liebsten hätte Tom Claudia in die Arme gerissen und sie geküsst. Nur mit Mühe beherrschte er sich. Schnell trat er einen Schritt zurück. "Meinetwegen", sagte er, "suchen Sie weiter nach Ihrem Glöckchen." Claudia, die erwartungsvoll die Lippen geteilt hatte, schrak zusammen. "Was?" fragte sie atemlos. "Ach so, ja, mein Glöckchen." Sie ließ sich wieder auf die Knie nieder und blickte unter den Schreibtisch, dann stand sie auf. "Gefunden." Sie hielt ihm das Glöckchen auf offener Handfläche hin. Er nickte kurz. "Gut. Dann können wir ja endlich zur Sache kommen. Setzen Sie sich bitte, Miss Moore."
Claudia ließ sich schnell auf dem Stuhl nieder und blickte Tom aufmerksam an. Er lehnte sich zurück und ließ sie nicht aus den Augen. Zum ersten Mal hatte sie getan, was er wollte. Er beugte sich vor, nahm einen Beurteilungsbogen aus einem Ordner und trug ihren Namen ein. Das Beste wäre, jetzt einfach Schritt für Schritt vorzugehen. Wenn er sich an die einzelnen Punkte hielt, würde er seine Gedanken am ehesten zusammenhalten können. Er räusperte sich. "Normalerweise sind Probleme mit dem Personal Sache unseres Personalchefs, aber da Sie mit mir Probleme zu haben scheinen, sollte ich mich wohl selbst darum kümmern." "Was denn für Probleme?" fragte Claudia lächelnd. Mehr, als du glaubst, dachte Tom. Er sah ihr an, dass sie ihn wieder provozieren wollte. Und nicht nur du hast Probleme. Denn mehr als ihr etwas aufsässiges Verhalten ihm gegenüber beunruhigte ihn, wie heftig er auf sie reagierte. Etwas lief zwischen ihnen ab, das konnte Tom nicht mehr leugnen. Claudia schien eine Expertin im Flirten zu sein und schaffte es immer wieder, ihn durch ihre schlagfertigen Bemerkungen aus der Reserve zu locken und zu irritieren. "Ihre Haltung Ihren Vorgesetzten gegenüber muss sich unbedingt bessern." "Wollen Sie mich rauswerfen?" fragte sie und sah ihn eindringlich an. Was für dichte schwarze Augenwimpern sie hat, dachte er. "Sollte ich?" "Nein", sagte sie mit Nachdruck, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich mache meine Sache als Elfe gut, das wissen Sie ganz genau." "Sie weigern sich, Mr. Dalton zu mir zu sagen." "Aber Sie heißen doch Tom. Warum soll ich Sie dann nicht Tom nennen? Im Übrigen habe ich immer Mr. Dalton zu Ihnen gesagt, wenn andere dabei waren." "Ich bin Ihr Chef, und Sie sind meine Angestellte, Miss Moore. Da sollten Sie mich grundsätzlich immer mit Mr. Dalton anreden." Sie wirkte beinahe etwas verlegen. Aber Tom wusste, dass die Sache damit noch nicht beendet war. Obwohl sie so tun konnten, als beschränke sich ihre Beziehung auf das rein Berufliche, so war ihnen beiden doch klar, dass da mehr war zwischen ihnen. Sie interessierten sich füreinander, und auch wenn Claudia ab sofort nur noch Mr. Dalton zu ihm sagte, würde sich nichts daran ändern.
"Entschuldigen Sie", sagte sie leise. "Ist das alles, Mr. Dalton?" Er nickte. "Ich werde hierüber keine Aktennotiz machen, Miss Moore. Aber betrachten Sie es als Warnung." Sie erhob sich langsam, und er musterte sie von oben bis unten. Die schmale Taille, der sanfte Schwung der Hüften, die schlanken, wohlgeformten Beine in der grünen Strumpfhose ... Tom schluckte. "Sie sollten jetzt aber wieder an Ihren Arbeitsplatz gehen. Die anderen wundern sich wahrscheinlich schon, wo Sie abgeblieben sind." Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und begleitete sie zur Tür. Gerade als er nach dem Türknauf greifen wollte, drehte Claudia sich zu ihm um. Ihm stockte der Atem, als er ihr Gesicht so dicht vor sich sah. Wenn er meinte, dass sie jetzt einsichtiger und gefügiger war, dann irrte er sich. Ihre schönen bernsteinfarbenen Augen blickten herausfordernd wie eh und je. "Ich verspreche Ihnen, dass ich mich bemühen will, ein bisschen umsichtiger zu sein, Mr. Dalton", sagte sie mit einer verdächtig sanften Stimme. "Sie werden sich nicht mehr über mein Verhalten zu beklagen haben, Mr. Dalton. Und Sie sollen wissen, Mr. Dalton, dass ich wirklich gern hier als Elfe arbeite, auch wenn ich manchmal die Neigung habe, zu direkt zu sein, aber eigentlich bin ich ..." Tom wusste hinterher nicht mehr, warum er das getan hatte. Vielleicht wollte er einfach ihren Redefluss stoppen, vielleicht reizte ihn ihr kleines Lächeln, das sie nur mühsam verbarg. Aber vielleicht wollte er auch wenigstens ein einziges Mal ihre Lippen spüren. Er packte sie bei den Armen, riss sie an sich und küsste sie. Zu seiner Verblüffung stieß sie ihn nicht zurück. Im Gegenteil, sie schmiegte sich an ihn, legte die Hände auf seine Brust und erwiderte seinen Kuss. Tom wusste, dass er sie sofort loslassen sollte, aber er konnte es einfach nicht. Zu warm und schmiegsam war ihr Körper, zu weich ihr Mund. Tom wusste nicht, wie lange sie sich küssten, noch wer sich schließlich als Erster losmachte. Aber er wusste genau, dass er diesen Kuss nie bedauern würde. Sicher, ein Chef sollte sich nie mit einer Angestellten einlassen, aber dann hätte diese Angestellte ihren Chef auch nicht bei seinem Vornamen nennen dürfen. Doch sie hätten es beide nicht so weit kommen lassen dürfen. Au ch wenn Claudia im Grunde nicht seine Angestellte war. Sie wurde von der Stiftung
bezahlt, der sein Großvater vorstand. Und obwohl Tom sie eingestellt hatte, konnte nur sein Großvater sie entlassen. Sie sah zu ihm hoch, offenbar neugierig, was er als Nächstes tun würde. "Mr. Dalton, ich ..." "Ach verdammt, sag Tom zu mir", murmelte er und strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange. "Tom." Sie holte tief Luft. "Warum hast du das gemacht?" Er konnte den Blick nicht von ihren feuchten, halb geöffneten Lippen lösen und hätte sie fast wieder an sich gezogen und geküsst. Aber das sollte er sich lieber für später aufheben. Momentan hatte er die Oberhand, und das sollte er ausnutzen. Er griff um sie herum, öffnete die Tür und schob Claudia dann sanft aus dem Büro. "Ich glaube, ich habe endlich einen Weg gefunden, dich sprachlos zu machen." Er schloss schnell die Tür hinter ihr, bevor sie noch Zeit hatte, etwas zu erwidern. Tom lachte leise und ließ sich hinter seinem Schreibtisch in den Sessel fallen. Die Sache wurde interessant. Es war wie eine Schachpartie. Jetzt war er am Zug gewesen und hatte Claudia in eine schwierige Position gebracht. Und nachdem sie auf so eindeutig lustvolle Weise auf seinen Kuss reagiert hatte, würde sie sich wohl erst mal ein wenig zurückhalten. Tom sah auf die Uhr. Normalerweise schien sich die Zeit endlos auszudehnen, aber heute war die Zeit ausgesprochen schnell vergangen. Das hatte sicher nicht nur mit Claudia Moore zu tun, aber er musste zugeben, dass durch sie alles ein bisschen interessanter geworden war. Er nahm die Ordner hoch und lächelte dabei in dem Gedanken an den Kuss. Er wollte die große Schreibtischschublade aufziehen und öffnete das Kästchen. Kein Schlüssel. Tom runzelte die Stirn. Der Schlüssel war doch immer da. Er drückte auf den Verbindungsknopf zu seinem Vorzimmer. "Mrs. Lewis, haben Sie den Schlüssel zu meiner Schreibtischschublade benutzt?" "Nein, Sir, ich habe meinen eigenen Schlüssel." Er lehnte sich zurück und überlegte. Er legte doch den Schlüssel immer in das Kästchen zurück. Dann fiel sein Blick auf die Federschale. Da, mitten zwischen den Kugelschreibern und Papierklammern, lag der Schlüssel. Er schüttelte den Kopf. Wie konnte ihm so etwas passieren. Er steckte den Schlüssel ins Schloss
und zog die Schublade auf. Ein kleines Stückchen Papier fiel zu Boden. Er bückte sich und hob es auf. Nein, das war kein Papierschnipsel, das war ein Stückchen Stoff, roter Wollstoff, der ihm nur allzu bekannt vorkam. Hatte Claudia etwa die Schublade aufgeschlossen und die Akten durchgesehen? Und wenn, warum? Wonach suchte sie? Er fluchte leise und schob die Schublade wütend zu. Plötzlich sah er ihr kleines Katz-und-Maus-Spiel unter einem ganz neuen Gesichtspunkt. Was wusste er denn eigentlich wirklich von Claudia Moore, außer dass er sie gern küsste? Er hatte sich ja gleich gewundert, warum eine so intelligente, hübsche Frau einen so miesen Job annahm. Was wollte sie wirklich? Er ging alle Möglichkeiten durch und musste plötzlich grinsen. Was auch immer sie im Schilde führte, es würde ihm sicher Spaß bringen, es herauszufinden. Claudia liebte Weihnachtslieder, aber "Jingle Bells", gebellt von Hunden, das ging nun doch zu weit. Leider war es das Lieblingsstück der Gäste in der kleinen Bar in der Nähe des Kaufhauses. Auch ihre drei Begleiterinnen steckten ihr sauer verdientes Geld immer wieder in die Musikbox und wählten diesen Song. Den ganzen Tag über hatte in der Nordpol-Siedlung eine angespannte Atmosphäre geherrscht. Die anderen Elfen hatten sich gewundert, als Claudia am Morgen wieder zur Arbeit erschien, weil sie sicher gewesen waren, dass man ihr am Tag zuvor gekündigt hatte. Aber Claudia hatte ihnen versichert, dass sie mit Tom Dalton keine Probleme hatte. Auf alle Fälle wurde sie mit Fragen bestürmt. Wie war Dalton, was hatte er vor, war er launisch, würden sie ihre Jobs behalten können? Claudia war schnell klar geworden, dass sie die Neugierde für ihre eigenen Zwecke nutzen konnte, und so hatte sie die drei zu einem Drink nach der Arbeit eingeladen. Dann würde sie ihnen alles erzählen, was sie über den rätselhaften Mr. Dalton wusste. Na, vielleicht nicht alles. Die Erkenntnisse über ihn, die sie nach dem Kuss gewonnen hatte, zum Beispiel nicht. Mr. Dalton küsste ausgesprochen gut, und ihr Puls beschleunigte sich auch jetzt noch, vierundzwanzig Stunden später, allein bei dem Gedanken an die Berührung seiner Lippen und seiner Zunge.
So überraschend der Kuss auch für sie gekommen war, sie hatte jeden Moment genossen. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, Tom wegzustoßen. Nein, sie hatte sich ganz automatisch an ihn geschmiegt, die Augen geschlossen und den Kuss erwidert. Sie griff nach ihrem Gin Tonic und nahm einen großen Schluck. Sie hatte erwartet, dass er ihr kündigen würde, und stattdessen hatte er sie in die Arme genommen und geküsst. Eindeutig hatte er jetzt die Oberhand in der Beziehung. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, sie hätte alles unter Kontrolle und könne bestimmen, was als Nächstes geschah. Und wie war es mit ihrer Journalistenehre? Sie hatte am Nachmittag immer nach Tom Ausschau gehalten in der Hoffnung, dass sie mit ihrer Schlagfertigkeit die Machtverhältnisse zwischen ihnen wieder verändern könnte, aber er hatte sich nicht mehr in den Verkaufsräumen blicken lassen. Claudia war schon kurz davor gewesen, ihn in seinem Büro aufzusuchen, aber als sie versuchte, sich über ihre Motive klar zu werden, hatte sie es lieber gelassen. Denn sie musste sich eingestehen, dass sie ihn nicht wegen seines Verhaltens zur Rede stellen wollte, sondern sich danach sehnte, sich in seine Arme zu schmiegen und ihn zu küssen, bis sie sich beide schwindlig vor Verlangen fühlten. Wieder griff sie nach ihrem Glas. Sie leerte es auf einen Zug und bedeutete der Kellnerin, ihr einen zweiten Drink zu bringen. Ihre Kolleginnen waren schon weiter. Wenn die Elfen einmal aus ihren Pflichten rund um den Nordpol entlassen waren, neigten sie dazu, sich gehen zu lassen. Die anderen "Inkies" hatten bereits den dritten Drink vor sich stehen. Claudia stöhnte innerlich auf. Glücklicherweise konnte sie diese Ausgaben später von ihrem Spesenkonto bezahlen - vorausgesetzt, die Story kam zu Stande. "Sagt mal", fing Claudia jetzt an, "kennt ihr eigentlich diese Geschichten, die man sich von Daltons Santa erzählt?" "Dieser Santa!" stieß Winkie kichernd hervor. Sie war etwa Mitte vierzig, geschieden und hatte zwei erwachsene Söhne. Sie fluchte schlimmer als ein Seemann und rauchte wie ein Schlot. "Ich trau ihm nicht. Er sieht irgendwie verschlagen aus." "Vielleicht trägt er ja Kontaktlinsen, das wirkt manchmal so", sagte Dinkie und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Martini. Sie war klein und rundlich. "Meine Tochter hat auch welche."
"Weiche oder harte?" fragte Blinkie. Sie war die Jüngste und ging noch zum College. Sie hatte eine besondere Vorliebe für Piercing und Tätowierungen und sah mit ihren schwarzen Lippen und dem pechschwarzen kurzen Haar wie ein auf den Nordpol verschlagener Vampir aus. Claudia biss sich vor Ungeduld auf die Lippen. "Und was ist nun mit diesen geheimnisvollen Geschenken?" fragte sie. "Keine Ahnung", sagte Winkie. "Mir schenkt auch keiner was, warum sollte ich mich darum kümmern?" "Apropos Geschenk", sagte Dinkie, "ich suche schon lange nach einem Geschenk für mein ..." "Hört auf!" schrie Claudia und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. "Können wir nicht einmal bei einem Thema bleiben?" "Was ist denn in dich gefahren?" Blinkie lehnte sich langsam zurück. "Reg dich doch nicht so auf." "Seid ihr denn nicht ein bisschen neugierig?" fragte Claudia. "Das ist doch eine spannende Sache. Und Santa muss doch etwas damit zu tun haben. Er kriegt die Briefe, muss also auch wissen, wer der geheimnisvolle Wohltäter ist." "Ja, wahrscheinlich", sagte Winkie und gähnte, "aber das kann uns doch ganz egal sein. Es ist ja nicht unser Geld, das er da ausgibt." "Irgendjemand muss doch Bescheid wissen. Wenn ich nur mit Santa mal außerhalb des Kaufhauses reden könnte, dann ..." "Noch nie hat ihn jemand draußen gesehen", sagte Blinkie nachdenklich. "Er scheint aus dem Nirgendwo zu kommen. Jeden Morgen taucht er hinter dem großen Knusperhaus auf, und am Abend verschwindet er wieder dahinter. Vielleicht wohnt er da irgendwo." Offenbar waren die Elfen nicht wegen ihrer scharfen Beobachtungsgabe eingestellt worden. Claudia presste frustriert die Lippen zusammen. Wie konnte man vierzehn Tage mit einem Mann zusammenarbeiten und nichts über ihn wissen? Hinter der SantaClaus-Maske steckte doch ein wirklicher Mann, jemand, den man vielleicht überreden konnte, sein Geheimnis preiszugeben, ein Mann, der noch ein anderes Leben hatte außerhalb der Nordpol-Siedlung. "Wer könnte denn etwas darüber wissen?" "Dalton natürlich", meinte Winkie. "Warum fragst du ihn nicht einfach? Ihr scheint doch sehr gut miteinander auszukommen."
Claudia seufzte leise. Hatten sich denn alle gegen sie verschworen? Die Elfen konnten doch nicht wirklich so dumm sein. Vielleicht waren sie alle eingeweiht und hatten geschworen zu schweigen. Aber als sie sich in der leicht angetrunkenen Runde umsah, ließ sie den Gedanken gleich wieder fallen. So viel schauspielerisches Talent traute sie ihnen nicht zu. "Ihr solltet mal zusammen ausgehen", sagte Dinkie jetzt mit schwerer Zunge, "ich glaube, er ist ganz nett, und bisher hat er nicht viel Glück mit Frauen gehabt. Dieses ganze Elend mit seiner Verlobten und dann ..." Claudia sah sie überrascht an. "Er war mal verlobt?" "Ja, mit einem sehr hübschen Mädchen", sagte Dinkie. "Aus einer der besten Familien hier in Schuyler Falls. Drei Wochen vor der Hochzeit hat sie schließlich alles abgesagt. Ihr hat wohl nicht gepasst, dass er so viel arbeitete und so wenig Zeit für sie hatte. Danach, hatte der arme Junge nur hin und wieder mal eine kurze Affäre." Ganz so dumm waren sie also doch nicht, die Elfen. Dazu wussten sie viel zu viel von Daltons Privatleben. Aber auch wenn Claudia gern noch mehr über den Mann erfahren hätte, der sie so überraschend geküsst hatte, es war jetzt wichtiger, für ihre Story zu recherchieren. Als die Bedienung kam, bestellte sich Claudia nichts mehr zu trinken, sondern bat um die Rechnung. Sie gab reichlich Trinkgeld und stand auf. Die anderen Elfen blieben noch sitzen, tief in eine Diskussion über die Vor- und Nachteile von desodorierenden Sohlen in den Elfenstiefelchen verwickelt. Draußen war es frisch und kühl, und Claudia atmete befreit durch. Sie war froh, der stickigen Luft entkommen zu sein. Der Marktplatz funkelte in seiner Weihnachtsbeleuchtung, und viele Menschen waren noch unterwegs, um Weihnachtseinkäufe zu machen. Immer wieder blieben sie vor der riesigen. Tanne in der Mitte des Platzes stehen, die weihnachtlich geschmückt war. Claudia schlug den Mantelkragen hoch und überquerte die Straße. Daltons Kaufhaus hatte immer noch geöffnet, die nächste Elfencrew leistete ihre Schicht in der NordpolSiedlung ab. Claudia sah zu den Fenstern im fünften Stock empor. Ob Tom Dalton wohl in seinem Büro saß und über den Kuss nachdachte? Sie musste lächeln und schüttelte den Kopf. Nein, er war ganz sicher nicht der Typ, der Tagträumen nachhing. Dazu war er viel zu pragmatisch.
Aber sicher war er doch von der Intensität des Kusses überrascht worden. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Sie hatte kurz so etwas wie Erstaunen in seinen Augen aufblitzen sehen, als sie sich voneinander lösten, wenn er auch sehr schnell wieder seine gleichmütige Miene aufsetzte. Wahrscheinlich versuchte er sich einzureden, dass der Kuss ihm nichts bedeutete, aber sie wusste es besser. Sie war ihm nicht gleichgültig, und wenn der Klatsch der Elfen stimmte, dann hatte er lange keine Frau mehr gehabt. Wieder lächelte sie und blickte gedankenverloren zu dem großen Baum hinüber. Da, das war doch Tom Dalton! Er stand da ganz in der Nähe der Tanne und unterhielt sich mit zwei Frauen. Claudia trat schnell hinter einen Laternenmast. Er schien in ein Gespräch mit der hübschen Blonden in dem eleganten Wintermantel vertieft zu sein, während die andere Frau, klein und mit roten Locken, nur dabeistand und zuhörte. Wer diese Blonde wohl war? Eine Freundin? Eine Geschäftsbekannte? Oder die neueste Eroberung von Tom Dalton? Sie passten sehr gut zusammen, beide wirkten selbstbewusst und weltgewandt. Jetzt zog Tom einen großen Briefumschlag aus der Tasche und gab ihn der Blonden. Beide nickten sich noch zu und gingen dann in unterschiedlichen Richtungen davon. Tom kam direkt auf Claudias Laternenmast zu! Sie sah sich schnell nach einem Versteck um, entschied sieh dann aber doch dafür, zu bleiben. Wer weiß, vielleicht würde sie noch etwas herauskriegen. Sie trat hinter dem Pfahl hervor und stand direkt vor Tom Dalton. Er blieb überrascht stehen. "Claudia!" "Mr. Dalton." Sie grinste. "Oder soll ich lieber Tom sagen? Außerhalb des Kaufhauses bin ich nicht sicher, was angemessen ist." Er sah sich nervös um und lächelte dann gezwungen. "Vielleicht sollten wir das Namensproblem endlich begraben." "Ich dachte, das hätten wir bereits." "Wenn du auf den ..." "... Kuss anspielst? Nein, eher auf deine Bitte, dich Tom zu nennen. Das war doch gleich nach dem Kuss, wenn du dich richtig erinnerst." Sie hätte am liebsten laut losgelacht. Himmel, war es einfach, ihn aus der Fassung zu bringen! Sie standen: in der Mitte des Marktplatzes, und immer wieder sah Tom sich hastig um. "Was machst du hier?" fragte er schließlich.
"Ich habe den Elfen einen Drink spendiert. Und du?" "Ich wollte gerade etwas essen gehen. Möchtest du mitkommen?" Claudia war schwer versucht, Ja zu sagen. Seit dem Schokoriegel in der Mittagspause hatte sie nichts mehr zu sich genommen. "Soll das etwa bedeuten, dass du mit mir ausgehen willst?" Er stutzte und lächelte sie dann entschuldigend an. "Du hast Recht. Wir sollten unsere Beziehung streng beruflich halten. Was heute passiert ist, war ein unglücklicher Ausrutscher." Warum hatte sie nicht einfach seine Einladung angenommen? Warum versuchte sie immer, sein Selbstbewusstsein zu erschüttern? Sie hätten sicher einen sehr netten Abend miteinander verbracht, und sie hätte vielleicht noch etwas über ihn erfahren. "Davon abgesehen", sagte sie schnell, "ich bin auch nicht passend angezogen." Sie öffnete kurz den Mantel, unter dem sie immer noch das Elfenkostüm trug. "Okay." Tom schlug den Kragen hoch. "Vielleicht kann ich dich wenigstens nach Hause bringen. Mein Auto steht gleich da drüben." Nein, das war unmöglich. Er sollte nicht wissen, dass sie da in einer kleinen Pension ganz in der Nähe des Kaufhauses wohnte. Vielleicht würde er sich wundern, dass sie kein Apartment hatte, und würde fragen, wie lange sie denn schon in Schuyler Falls war. Und dennoch hätte sie fast Ja gesagt. Ein paar Minuten allein mit Tom Dalton schienen ihr plötzlich das Risiko wert zu sein. Claudia schüttelte den Kopf. "Vielen Dank, aber ich möchte dich nicht länger vom Essen abhalten." Sie wartete, in der stillen Hoffnung, er würde vielleicht noch etwas sagen oder sich vorbeugen und sie zum Abschied küssen. Aber nichts geschah. "Auf Wiedersehen, Mr. Dalton", sagte sie deshalb nur leise, drehte sich um und ging davon. Dieser Abschied hatte irgendwie etwas Endgültiges, und dennoch wusste Claudia, dass das erst der Anfang war. "Du wirst mich nicht so schnell los", sagte Claudia halblaut zu sich selbst. "Ich bleibe, bis ich genau das erreicht habe, was ich will." Aber was wollte sie eigentlich? Manchmal hatte sie das Gefühl, sie war sehr viel mehr hinter Tom Dalton her als hinter ihrer Story.
3. KAPITEL
"Wo ist Mrs. Lewis? Sie hilft mir doch immer beim Anziehen! Estelle! Kommen Sie!" Tom stand in der Tür zu dem Büro seines Großvaters und sah zu, wie der alte Mann sich mit der ausgestopften Hose des Santa-ClausKostüms abmühte. "Tut mir Leid, ich habe sie gebeten, die Memos wegen der nächsten Sitzung zu verteilen", sagte Tom. Sein Großvater fluchte leise. "Sie hat diese verdammten Hosen waschen lassen. Das macht sie jedes Jahr, und diesmal ist die Hose eingegangen." Tom lachte leise und schloss die Bürotür. "Vielleicht sollte man einfach ein bisschen was von der Polsterung heraustrennen. Du hast etwas zugelegt und brauchst nicht mehr so viel." Er hielt Theodore Dalton die Hand hin, der ihn empört ansah. "Ich bin in Top-Form, das weißt du genau." Er ergriff die Hand, ließ sich hochziehen und fiel dann ächzend in den großen Ledersessel. "Du musst mir helfen, die Stiefel anzuziehen, Tommy. Mit diesem Bauchpolster bin ich so dick, dass ich meine eigenen Füße nicht sehen kann." Tom klemmte sich den Ordner unter den Arm, kniete sich hin und schob vorsichtig die Füße des Großvaters in die kniehohen Stiefel. Danach setzte er sich auf die Fersen und blickte den alten Mann an, der sich seufzend nach hinten lehnte. "Ich werde dafür allmählich zu alt." Theodore tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah Tom an. "Du wirkst irgendwie nervös." Tom stand auf und schlug sich den Staub von der Hose. "Nein, alles ist in Ordnung. Mir geht nur so vieles durch den Kopf." Im Grunde ging ihm nur eins durch den Kopf: Claudia Moore. "Bist du meinem Rat gefolgt?" "Welchem Rat?"
"Sex. Du brauchst eine Frau, Tommy. Dann wirst du wieder normal. Eine Frau zum Entspannen. Erinnerst du dich an unser Gespräch von neulich?" Tom seufzte. "Hör doch endlich auf. Ich bin an Sex nicht interessiert", sagte er. "Das heißt, ich bin natürlich interessiert, damit du mich nicht missverstehst. Ich meine nur, ich habe keine Lust mehr zu diesen oberflächlichen Beziehungen. Ich will etwas mit mehr Tiefgang." Sein Großvater nickte. "Sehr schön. Und wo willst du eine solche Frau finden?" "Das weiß ich ja eben nicht!" Beide schwiegen. Tom starrte auf seine Schuhspitzen. Sein Ausbruch hatte ihn selbst überrascht. Aber sein Großvater hatte es schon immer verstanden, die Sache auf den Punkt zu bringen. Kein Mensch auf der Welt kannte Tom besser als Theodore Dalton. "Wie war denn dein Treffen mit Holly Bennett?" fragte Theodore. "Wird sie den Job für den kleinen Marrin übernehmen?" Tom sah zu, wie Theodore sich vor dem Spiegel den Bart befestigte. "Sie wäre schön dumm, wenn sie es nicht täte", sagte er. "George hat sie zur Stony Creek Farm rausgefahren und meint, sie würde da bleiben. Sie scheint sehr umsichtig zu sein, und ich glaube nicht, dass sie verraten wird, wer sie für ihre Arbeit dort bezahlt. Außerdem weiß sie das auch gar nicht genau." Sein Großvater blickte ihn aufmerksam im Spiegel an. "Sie ist nicht zufällig solo?" fragte er dann. Tom runzelte die Stirn. "Holly Bennett interessiert mich nicht! Claudia Moore ..." Erschreckt hielt er inne. Auf keinen Fall durfte er seinem Großvater etwas von Claudia erzählen. "Claudia Moore? Wer ist das?" "Eine der Elfen, Twinkie. Die hübsche Dunkelhaarige, die an dem Zuckerstangentor steht." Aber als Elfe hatte Tom sie eigentlich gar nicht mehr vor Augen. Eine Frau war sie, eine ausgesprochen reizvolle, offene, witzige Frau mit viel Sex-Appeal. Theodore, nickte. "Ja, ja, Twinkie. Hübsche Beine, schnelle Auffassungsgabe, wenn auch etwas ungeduldig mit den Kindern. Aber sie ist eine Angestellte. Du kennst doch unsere Regeln?" "Ich bin doch auch nicht in sie verknallt", log Tom. Er stand langsam auf und reichte seinem Großvater den Ordner. "Ich habe sie mal
überprüfen lassen. Sie wohnt in einer Pension in der Longwell Street und gibt pro Nacht beinahe so viel aus, wie sie hier tagsüber verdient." "Hm. Das ist nicht sehr schlau." "Außerdem arbeitet sie freiberuflich als Journalistin. Unter anderem für das Albany Journal und die New York Times." Der alte Mann zog seine Lesebrille aus der Tasche und studierte aufmerksam die Unterlagen. "Du weißt, was dein Vater von Reportern hält. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass uns ein paar viel versprechende Geschäfte durch die Lappen gegangen sind. Immer schreiben sie über Dinge, die sie gar nichts angehen." Tom nahm den Ordner wieder an sich. "Vielleicht braucht sie einfach Geld. Vielleicht hat sie im Moment keinen Auftrag." "Oder sie ist an unserem Birnamwood-Geschäft interessiert. Oder sie hat von der Absicht deines Vaters gehört, CellTech zu kaufen." "Vielleicht will sie wissen, wer hinter der TD-One-Stiftung steckt. Und dem geheimnisvollen Santa Claus von Dalton." Theodore hob die buschigen weißen Augenbrauen. "Das kann ich mir nicht vorstellen. Mit einer solchen Story kann man sich doch keine Lorbeeren verdienen." Er seufzte leise. "Wenn du dir wirklich Sorgen machst, musst du sie eben entlassen." Tom starrte ihn an, als hätte er nicht richtig gehört. "Claudia Moore entlassen?" "Sie hat offensichtlich die Bewerbungsunterlagen nicht korrekt ausgefüllt. Eine freiberufliche Journalistin ist ja nun nicht dasselbe wie Reporterin bei ein paar größeren Zeitungen. Grund genug für eine sofortige Entlassung." "Nein!" sagte Tom spontan. "Ich möchte sie nicht gehen lassen. Noch nicht." "Dann werde ich sie entlassen", sagte sein Großvater. "Über die Elfen habe ich letzten Endes zu bestimmen." "Nicht über diese." Er wusste genau, dass sein Großvater gute Gründe hatte, Claudia zu entlassen, aber wenn Claudia ging, würde er sie nie mehr küssen, nie mehr berühren können. Oder ihre Schlagfertigkeit bewundern und die Art und Weise, wie ihr Gesichtsausdruck von einer Sekunde zur anderen wechselte. Wieder musste er an den Kuss denken, an die Leidenschaft, die er dabei plötzlich empfunden hatte. Warum gerade bei Claudia? Im Grunde war sie gar nicht sein Typ.
Seine Freundinnen waren eher kühl und elegant gewesen. Und vielleicht auch ein wenig langweilig? Ja, es stimmte. Die Frauen, mit denen er sich abgab, waren meist so aufregend wie Quark ohne alles. Seine Verlobte hatte sich für Vorhangstoffe und Küchenausstattungen begeistern können. Wenn er dagegen mit Claudia sprach, hatte er das Gefühl, mit dem Feuer zu spielen. "Du solltest dich auf keinen Fall von deinen persönlichen Empfindungen leiten lassen", sagte Theodore und schnallte sich den breiten schwarzen Gürtel um. "Was für persönliche Empfindungen? Sie ist eine Angestellte, und ich möchte herausfinden, was sie eigentlich will." "Hast du nicht gerade gemeint, sie brauche vielleicht nur Geld?" "Ja. Aber sie war gestern allein in meinem Büro, und ich hatte den Eindruck, als hätte sie meine Unterlagen durchwühlt. Und als ich mich gestern abend mit Holly Bennett auf dem Marktplatz traf, tauchte sie auch wie zufällig auf. Entweder ist sie einfach neugierig, oder sie sucht etwas Bestimmtes. Wenn ich ihr gegenüber vielleicht mal irgendetwas über Santa fallen lasse und sie beißt an, dann wissen wir Genaueres. Inzwischen kann ich mich mit ihr doch ruhig ein bisschen amüsieren." "Du bist doch in sie verknallt." "Nein, ich will nur wissen, was dahinter steckt." Ob ihre Taille wirklich so schmal war, dass er sie mit den Händen umfassen konnte, ob sich ihr Haar so weich anfühlte, wie es aussah, ob sie ihn wohl wieder küssen würde ... Theodore sah auf seine Schreibtischuhr und stülpte sich den Hut mit der Perücke auf den Kopf. "Ich bin spät dran. Ich muss schnell los." Er drehte sich um und drückte auf einen Knopf in der vertäfelten Wand. Eine Tür schwang auf, und eine hölzerne Treppe wurde sichtbar, Santas geheimnisvoller Fluchtweg. "Vorsicht mit den Stufen!" rief Tom ihm noch hinterher. Sein Großvater nickte nur und zog die Geheimtür hinter sich zu. Tom setzte sich hinter den Schreibtisch und öffnete den Ordner. Er überflog den Bericht, dann las er ein paar Artikel, die Claudia in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht hatte. Auch wenn er es nicht genau beurteilen konnte, so hatte er doch den Eindruck, dass sie eine
Begabung fürs Schreiben hatte. Ihre Texte waren sachlich, klar und doch, voller Leidenschaft für das Thema. "Warum, um Himmels willen, gibst du dich mit diesem KleinstadtKaufhaus ab?" sagte er halblaut vor sich hin. "Hinter was bist du tatsächlich her?" Er drückte auf einen Knopf. "Mrs. Lewis, würden Sie bitte mal kommen?" Als sie in der Tür stand, lächelte er sie an. "Was tun Sie und mein Großvater eigentlich mit den Briefen, die für Santa abgegeben werden?" "Wir lesen sie sorgfältig durch und legen sie dann nach Datum ab. Wir haben noch alle seit Beginn der Aktion." "Ich möchte Sie bitten, ein paar der Briefe kopieren zu lassen, und zwar so, dass man sie von den Originalen nicht unterscheiden kann, also inklusive Umschlägen." "Darf ich fragen, wozu Sie das brauchen?" "Sie dürfen, aber ich werde es Ihnen nicht sagen." Sie nickte nur kurz und wandte sich dann zum Gehen. "Und ich brauche das Ganze bis mittags", fügte er noch hinzu. Dann lehnte er sich wieder in dem bequemen Schreibtischsessel zurück. Er lachte leise. Diese Weihnachtszeit versprach interessant zu werden. "Also, Twinkie, ich glaube, das Spiel kann beginnen. Und noch vor Ende der Woche werde ich wissen, was du eigentlich vorhast." "Hier, Kind, putz dir die Nase, bevor du auf Santas Schoß kletterst." Claudia zog ein Taschentuch aus der Tasche und hielt es der Kleinen hin. Das kleine Mädchen sah hoch und lächelte Claudia an, aber nahm nicht das Tuch. Mit einer leichten Überwindung hielt Claudia ihr das Tuch an die Nase. "Los jetzt. Aber ordentlich!" befahl sie. "Und noch mal." Sie steckte das Tuch wieder in die Tasche. "So, jetzt kannst du zu Santa gehen." Allmählich kam sie besser mit den Kindern zurecht. Aber auch nach vier Tagen war sie der Lösung des Geheimnisses noch keinen Schritt näher gekommen. An diesem Tag hatte sich Tom Dalton noch nicht im ersten Stock blicken lassen, was ungewöhnlich war. Sie überraschte sich dabei, dass sie alle paar Minuten nach ihm Ausschau hielt.
Plötzlich stieß Winkie sie an. "Sieh nicht gleich hin", zischte sie, "aber Dalton steht dahinten und beobachtet dich." Claudia tat so, als interessiere sie das Ganze kaum, aber ihr Herz schlug wie verrückt. "Wer?" Winkie verdrehte die Augen. "Tom Dalton, natürlich. Nach dem guckst du dir doch schon den ganzen Tag die Augen aus." Sie seufzte leise. "Was er wohl will?" "Keine Ahnung", murmelte Claudia und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Tom auf sie zukam. Er sah sie an und wirkte äußerst entschlossen. Sie schluckte. Schnell überlegte sie, was denn heute vorgefallen war und ob er Grund hatte, sie zu feuern. Sie war ein bisschen unfreundlich gewesen, als ein paar halbwüchsige Mädchen versucht hatten, das Zuckerstangentor zu zertrümmern. Und sie hatte eine Mutter mit einem Zweijährigen darauf hingewiesen, dass es wohl an der Zeit sei, die Windeln zu wechseln. Als Tom vor ihr stand, hatte sie sich wieder gefasst. "Wollen Sie die Elfen wieder nervös machen? Wir haben uns gerade von Ihrem letzten Besuch erholt." Claudia verschränkte die Arme vor der Brust und wich keinen Zentimeter zurück. Aber auch er blieb stehen und verschränkte die Arme, als wollte er sich über sie lustig machen. Winkie stand daneben, die Augen weit aufgerissen. Tom lächelte sie an und blickte auf ihr Namensschild, "Hallo, Winkie. Wie läuft's denn hier so am Nordpol?" "Gut, Sir", war alles, was sie hervorbrachte. "Wunderbar." Tom nickte. "Dann nur weiter so." Aber Winkie starrte ihn immer noch an wie ein Kaninchen die Schlange und rührte sich nicht. "Sie können gehen", sagte er. Winkie schoss davon, und Claudia wollte ihr hinterher, aber Tom trat ihr in den Weg. "Kann ich Sie noch mal kurz sprechen, Miss Moore?" Claudia blieb stehen. "Was ist denn jetzt schon wieder? Sitzt mein Kostüm nicht richtig? War ich unverschämt zu einem Kunden? Oder habe ich irgendeine andere Regel nicht befolgt?" Er sah sie überrascht an. "Nein. Ich wollte dich fragen, ob du mit mir eine Tasse Kaffee trinken willst. Hast du nicht gleich Pause?" Das hatte sie nicht erwartet. "Also, ich mache normalerweise Pause, wenn nicht viel los ist."
Tom blickte über ihre Schulter. "Momentan sind doch nur sehr wenige Kinder da." "Gut, dann kann ich wohl weg. Wohin gehen wir denn?" "In die Cafeteria." Claudia war verwirrt. Warum wollte er mit ihr Kaffee trinken? Nur, um mit ihr zusammen zu sein? Vielleicht konnte auch er den Kuss nicht vergessen. Eigentlich schade, dass sie nicht in sein Büro gingen. In der Cafeteria vor allen Leuten würde sich keine Gelegenheit ergeben ... Sie fanden einen ruhigen Tisch in einer Ecke. Nachdem die Kellnerin ihnen den Kaffee gebracht hatte, griff Tom in seine Jacketttasche und zog einen Stapel Umschläge heraus. "Der hier ist für dich", sagte er, reichte ihr einen Briefumschlag und legte die anderen auf den Tisch. "Ach so, verstanden", sagte Claudia leise. "Du gibst mir meine Entlassungspapiere hier in der Öffentlichkeit, damit ich dir keine Szene machen kann." Sie starrte auf den Umschlag und legte dann die gefalteten Hände auf den Tisch. "Du kannst mich nicht zwingen, den Umschlag zu öffnen. Und wenn ich ihn nicht öffne, kann ich auch nicht entlassen werden." "Aber das ist doch nur dein Scheck. Die Angestellten, die stundenweise bezahlt werden, kriegen den Scheck immer am Freitag." Claudia griff schnell nach dem Umschlag und steckte ihn in die Tasche. "Danke." Dann blickte sie auf den Stapel Briefe, die vor Tom auf dem Tisch lagen. Die enthielten ganz sicher keine Schecks, denn sie waren liebevoll verziert und mit großer Kinderschrift an Santa Claus adressiert. "Willst du ihn dir nicht ansehen?" Claudia blickte hoch. "Wen?" "Den Scheck." Sie schüttelte den Kopf. "Lieber nicht, sonst bin ich so deprimiert, dass ich heulen muss. Und das ist mir in der Öffentlichkeit peinlich." Er lehnte sich vor und legte die Hände auf den Briefstapel. "Nun sei mal ehrlich. Weshalb hast du diesen schlecht bezahlten Job angenommen?" "Ich kann doch nichts dafür, dass die Elfen so schlecht bezahlt werden'", gab sie schnell zurück. "Keiner hindert dich daran, mehr zu zahlen. Die Inkies und Itsies hätten sicher nichts dagegen. Was verdienst du denn in der Woche?"
"Keine Ahnung." Tom zuckte nur mit den Schultern. "Und wenn ich es wüsste, würde ich es dir ganz sicher nicht sagen." "Das kann ich mir denken. Das ist wohl die Politik des Hauses, was? Oder ist das typisch für Großverdiener? Vielleicht hast du ja auch Angst, dass ich dich nicht mehr mag, wenn ich weiß, was du verdienst." "Du magst mich?" Tom lächelte, strich ihr mit dem Daumen kurz über das Handgelenk, griff dann aber nach dem Milchkännchen, als sei die Geste nur zufällig gewesen. "Aber ich kann es dir nicht sagen, weil ich es wirklich nicht weiß. Mein Gehalt geht direkt auf mein Konto, und den Kontostand überprüfe ich nur selten." Claudia konnte nur verwundert den Kopf schütteln. Ihre Einnahmen von ihrer freiberuflichen Reportertätigkeit deckten kaum ihre monatlichen Fixkosten. Sie hatte ein zehn Jahre altes Auto und fuhr einmal im Jahr ein paar Tage in Urlaub. Und dieser Mann hatte keine Lust, sich um seinen Kontostand zu kümmern. Sie zog den Umschlag aus der Tasche und öffnete ihn. "Wir wollen doch mal sehen, womit die kleinen Leute zurechtkommen müssen. Aha, 62 Dollar und 98 Cent für zwei Tage Arbeit. Na, da muss ich ja sofort zu meinem Anlageberater und mir ein paar Aktien kaufen." Tom griff nach dem Scheck. "Was? So wenig? 62 Dollar? Das ist ja furchtbar." "Wundert dich das?" "Ja, allerdings. Ich glaube, ich sollte den Elfen eine kleine Gehaltserhöhung geben." Claudia musterte ihn neugierig. "Tust du das, weil du der Meinung bist, dass die Elfen tatsächlich eine Gehaltserhöhung verdienen, oder hast du andere Gründe?" "Wie meinst du das?" Claudia lehnte sich zurück und beobachtete ihn aufmerksam. "Ich dachte schon, du hättest dich zu der Gehaltserhöhung entschlossen, weil du mich noch mal küssen möchtest." Sie lächelte. "Oder vielleicht hast du auch gehofft, ich wäre vor Begeisterung so außer mir, dass ich dich küssen würde." Er erwiderte ihr Lächeln und beugte sich vor. "Nur zu." Claudia fühlte, dass ihr die Röte in die Wangen stieg. "Ich würde es ja tun, aber ich habe den leisen Verdacht, dass ich dann wirklich
rausgeworfen werde." Sie fächelte sich mit dem Scheck die heißen Wangen. Er blickte auf seine Armbanduhr und griff nach dem Stapel Briefe. "Ich fürchte, wir müssen los. Deine Pause ist vorbei, und ich muss noch was erledigen." Sie starrte auf die Briefe. Was hatte Tom Dalton denn mit der Post für Santa zu tun? Und was hatte er damit jetzt vor? Betont langsam trank sie ihren Kaffee aus. "Ach, übrigens, was sind denn das für Briefe?" fragte sie in einem möglichst gleichmütigen Ton. Er blickte auf den Stapel in seiner Hand, als sähe er ihn zum ersten Mal. "Das? Nichts", murmelte er, "die muss ich nur wegbringen." Das war ihre Chance! Wenn er vorhatte, sich jetzt mit dem geheimnisvollen Wohltäter zu treffen, der hinter dieser ganzen SantaGeschichte stand, dann musste sie ihm auf den Fersen bleiben. Sie sah auf ihre Uhr. "Du liebe Zeit, so spät schon." Sie stand auf. "Danke für den Kaffee, Tom, ich meine, Mr. Dalton." Sie ging schnell in Richtung Tür. Bevor sie die Cafeteria verließ, warf sie schnell einen Blick zurück. Tom stand noch neben dem Tisch und sah die Briefe sorgfältig durch. Hinter einem Stapel Koffer in der anschließenden Lederabteilung konnte sie sich gut verstecken. Ein paar Minuten später kam Tom aus der Cafeteria. Er sah noch nicht einmal in ihre Richtung. Claudia ließ ihn dreißig Meter vorgehen und folgte ihm dann. Wenn sie bloß nicht dieses alberne Kostüm anhätte! Was sollten die Leute denken? Und dann diese Glöckchen an den Stiefeln. Wie konnte man damit jemanden unbemerkt verfolgen? Dennoch folgte sie Tom durch Abteilungen, die sie noch nie gesehen hatte. Zweimal drehte er sich um, weil er wahrscheinlich das Klingeln gehört hatte. Claudia duckte sich hinter den nächsten Verkaufsständer und zog die Schuhe aus. Sie stopfte sie vorne in ihr Jäckchen und kam dann wieder hoch. Verdammt, dahinten war er und verschwand gerade durch eine unauffällige Tür in der Kosmetikabteilung. Hoffentlich war die Tür nicht verschlossen. Sie lief schnell darauf zu und drehte an dem Türknopf. Offen. Sie sah sich kurz um und schlüpfte dann hindurch. Dunkelheit umgab sie, und sie blieb zögernd stehen. Wollte sie das wirklich? Aufdecken, was mit diesem Santa los war, eine hübsche Story schreiben und dann ihr altes Leben in New York wieder aufnehmen?
Selbstverständlich. Sie holte tief Luft. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. "Weshalb bin ich denn sonst hier?" sagte sie halblaut vor sich hin. Vorsichtig machte Claudia einen Schritt vorwärts. Sie zuckte zurück. Etwas hatte ihr Gesicht gestreift. In dem schwachen Licht, das von den Ausgangsschildern herrührte, sah sie, wie vor ihr eine Hand hin und her baumelte. Sie schrie auf und schob die Hand weg, stolperte und stieß im Fallen noch gegen weitere Gliedmaßen. Das Kettensägen-Monster! schoss es Claudia durch den Kopf, aber dann wurde ihr klar, dass sie sich in dem Lagerraum für die Schaufensterpuppen befand. Sie presste die Hand auf die Brust und blieb wie benommen stehen. Sie war Tom bereits durch das ganze Kaufhaus gefolgt, auch durch andere finstere Lagerräume, über staubige Treppen, die nirgendwo hinzuführen schienen, und hatte bisher noch keine Ahnung, wo sie landen würde. Ein paar Mal war sie versucht gewesen, die Verfolgung doch lieber aufzugeben. Ihre Pause war längst vorbei, und wenn Mrs. Perkins sie erwischte, dann war sie draußen, das wusste sie. Andererseits fühlte sie sich ihrem Ziel schon ganz nah. Da, was war das eben am anderen Ende des Raumes? Claudia hielt die Luft an. Plötzlich wurde eine Tür zugeschlagen. Es war beinahe so, als machte Tom Dalton die Jagd richtig Spaß. Der Heizungsraum im hinteren Teil des Kaufhauses war die nächste Station, und Claudia blieb wie angewurzelt stehen, als sie leise Stimmen und Lachen hörte. Hatte Tom endlich den gefunden, den er suchte? Sie wischte ein Spinnennetz zur Seite und machte erschreckt einen Schritt vorwärts, als plötzlich hinter ihr die Tür krachend zufiel. Stille. Sie war allein. In panischer Hast versuchte Claudia einen Ausgang zu finden. Da war eine Tür. Sie stieß sie auf und befand sich plötzlich draußen auf der Laderampe. Die Luft war feucht und kalt und roch nach Schnee. Claudia fröstelte. Lief dahinten nicht jemand? In dem trüben Licht konnte sie die Gestalt nicht erkennen. Doch sie hätte lieber auf ihre Füße achten sollen, denn sie kam zu nah an die Kante, rutschte aus und fiel. Sie versuchte, den Kopf mit den Armen zu schützen, aber statt auf dem harten Pflaster landete sie auf einem weichen Untergrund, der nicht sehr gut roch.
Sie setzte sich auf. Igitt! Sie war in einen offenen Müllbehälter gefallen. Sie kroch schnell an die Seite und ließ sich über den Rand fallen. Autsch! Aber das harte Pflaster war angenehmer als der stinkende Müll. "Das ist die Sache nun wirklich nicht wert", schimpfte sie leise, während sie sich hoch rappelte. "Der verdammte Job bei der Times kann mir gestohlen bleiben. Ich hau jetzt ab, und Wolle kommt mir auch nie wieder an meine Haut!" Sie ging außen um das Kaufhaus herum und betrat es wieder durch den Personaleingang. Als sie an einem Spiegel vorbeikam, blieb sie erschreckt stehen. In ihrem Haar hingen Papierschnitzel und alte Nudeln, und die Vorderseite ihres Kostüms hatte dunkle Flecken und roch nach Knoblauch und saurer Milch. Aber das war Claudia jetzt ganz egal. Sie wollte nur ihre Sachen aus dem Schließfach holen, das alberne Kostüm ausziehen und mit dem nächsten Zug nach New York zurückkehren. Im Fahrstuhl starrten sie alle an und zogen die Nasen kraus. Als sie im ersten Stock ausstieg, stürzte Dinkie auf sie zu. "Wo bist du gewesen? Eunice sucht dich." Sie schnüffelte. "Was ist denn passiert? Du hast ... Spaghetti im Haar." Claudia ging unbeirrt auf den Aufenthaltsraum zu. "Wo ist Mrs. Perkins?" "Sie musste zu einer Sitzung." Dinkie blieb ihr dicht auf den Fersen. "Was war denn los?" Claudia ging nicht darauf ein. "Gut, wenn Eunice nicht da ist, musst du eben meine Kündigung entgegennehmen." Sie hielt die Hand hoch wie zum Schwur. "Hiermit kündige ich meine Stellung als Elfe." Dann drehte sie sich um und ging schnell weiter. Dinkie lief hinter ihr her. "Warte", schrie sie, "du kannst doch nicht einfach kündigen! Mr. Dalton, kommen Sie. Sie müssen mit ihr reden!" Claudia erstarrte und wandte sich langsam um. Tatsächlich, Tom Dalton stand neben Dinkie, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte Claudia langsam von oben bis unten. "Wo sind Sie denn gewesen?" Sie fluchte leise vor sich hin und ging in den Umkleideraum. Tom folgte ihr. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie riss ihren Schrank auf und fing an, sich den Rock auszuziehen. Immer noch
fühlte sie Toms Blick wie einen Feuerstrahl auf dem Rücken. "Du bist eine halbe Stunde weg gewesen", sagte Tom. "Deine Pause beträgt aber nur fünfzehn Minuten. Ich fürchte, wir müssen dein Gehalt kürzen." Sie wandte sich zu ihm um, zog den Scheck aus der Tasche und wedelte ihm damit vor dem Gesicht herum. "Du willst mein Gehalt kürzen? Hier, du Geizhals, nimm den Scheck. Euer mieses Gehalt kann mir sowieso gestohlen bleiben. Ich hau ab. Sucht euch eine andere Elfe." Kurz entschlossen zog sie sich das kratzende Oberteil über den Kopf und stand nur noch in ihrem seidenen Hemd und der grünen Strumpfhose vor ihm. "Willst du hier etwa stehen bleiben und zusehen, wie ich mich ausziehe?" fragte sie kampflustig. "Nein", sagte er leise und sah auf ihre Brüste. Sein Blick war wie eine zärtliche Berührung. Ihre Brustspitzen wurden hart und richteten sich unter dem dünnen Stoff auf, was deutlich zu sehen war. Claudias Haut prickelte. Was war das? Angst? Vorfreude? Würde er sie berühren oder sich umdrehen und weggehen? Sie wandte ihm zögernd den Rücken zu, doch Tom legte den Arm um ihre Taille, drehte Claudia zu sich um und zog sie fest an sich. Und ehe sie noch protestieren konnte, küsste er sie. Es war ein leidenschaftlicher, fordernder Kuss, der Claudia erschauern ließ vor Entzücken. Sie schloss die Augen, schmiegte sich an Tom und legte ihm die Arme um den Nacken. Sie konnte einfach nicht weggehen. Noch nie hatte sie jemand so geküsst wie er. Als sie seine Zunge spürte, öffnete sie bereitwillig die Lippen, und plötzlich konnte sie sich nicht mehr erinnern, weshalb sie vorhin so wütend gewesen war. Tom strich ihr über die Hüften und zog spielerisch am Spitzensaum ihres Hemdchens. Claudia stöhnte leise. Warum konnte sie ihm nicht widerstehen? Warum musste er sie auch in die Arme nehmen und küssen, gerade als sie sich entschlossen hatte, Schuyler Falls zu verlassen? Er legte ihr die Hände um die Taille und lachte leise. Dann trat er einen Schritt zurück, sah ihr tief in die Augen und strich ihr leicht über die Wange. "Was habe ich da gehört? Du willst gehen?" "Ich ... Ach was!" Sie griff in sein dichtes Haar, zog seinen Kopf zu sich herunter und presste ihm die Lippen auf den Mund. Für einen Mann, den sie als ziemlich konventionell einschätzte, küsste Tom
erstaunlich gut. Von Hemmungen war nichts zu merken, wenn er sie in den Armen hielt. "Dann wirst du nicht gehen?" flüsterte er und liebkoste ihren Nacken. "Ich sollte es", erwiderte Claudia. "Aber vorher verrätst du mir doch noch, warum du wie ein Abfallhaufen riechst?" "Abfallhaufen?" Wollte er es wirklich wissen, oder kannte er die Antwort bereits? Schließlich war es seine Schuld, dass sie in dem Müllcontainer gelandet war. Sie blickte ihn gelassen an. "Der Frau in der Parfümerieabteilung habe ich gesagt, dass ich Designer-Parfüms nicht leiden kann. Dieses war Daltons Spezialparfüm, Eau de Müll." Tom hob die Hand und zog ihr eine Nudel aus dem Haar. "Vielleicht solltest du nicht zu nahe an Müllcontainer rangehen. Und an Laderampen." Er gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. "Ich erwarte in fünf Minuten einen Telefonanruf aus New York. Vielleicht säuberst du dich inzwischen, und ich informiere die anderen Elfen schon mal darüber, dass du bleibst." Er ging zur Tür. "Ich bleibe aber nicht, weil du mich geküsst hast", rief sie ihm noch hinterher. Tom drehte sich um. "Und ich habe dich nicht geküsst, damit du bleibst." "Warum dann?" Er zuckte mit den Schultern und grinste. "Ich scheine eine Schwäche für Elfen zu haben. Damit hatte ich zwar früher nie Probleme, aber jetzt bin ich geradezu besessen von ihnen." "Vielleicht solltest du mal einen Arzt deshalb aufsuchen." Er lachte und zog die Tür hinter sich zu. Claudia atmete tief durch und berührte ihre Lippen. Sie lächelte versonnen vor sich hin. Doch dann verdüsterte sich ihre Miene. Warum erwähnte er die Laderampe? Und woher wusste er, dass sie in einen Müllbehälter gefallen war? Sie stöhnte leise. Er musste sie dabei beobachtet haben. "Er wusste, dass ich hinter ihm her war", stieß sie wütend hervor. "Er hat mich ausgetrickst mit diesen Briefen an Santa!"
4. KAPITEL
Immer noch roch Claudias Kostüm leicht nach Knoblauch, obwohl sie sich wirklich bemüht hatte, die Flecken auszuwaschen. Sie hatte keine Zeit gehabt, die Sachen zur Reinigung zu geben, und so sah Eunice sie zu Recht missbilligend an, als sie die Elfen vor Dienstantritt inspizierte. Claudia musste sich eingestehen, dass ihre ganze Mission bisher nicht sehr erfolgreich verlaufen war. Zum einen hatte sie auch nicht die geringste Ahnung, wer der geheimnisvolle Weihnachtsmann war, der in Schuyler Falls so großzügige Geschenke verteilte. Zum anderen war sie in großer Gefahr, entlarvt zu werden. Außerdem dachte sie ständig an ihre letzte Begegnung mit Tom, anstatt sich auf ihr eigentliches Ziel zu konzentrieren. Sie sollte sich neue Strategien überlegen, auch für den Fall, dass ihre Tarnung aufflog. Stattdessen rief sie sich jede Sekunde mit Tom ins Gedächtnis, spürte seine Hände auf der Haut, seinen Mund auf ihrem. Ganz offensichtlich wollte er, dass sie blieb, und seine Methode war leider auch sehr überzeugend. Aber was steckte hinter all dem? Weshalb tat er das? Begehrte er sie einfach nur, oder hatte er irgendeine hinterhältige Absicht? Wenn er nun wusste, dass sie den Job als Elfe nur angenommen hatte, weil sie hinter Santas Geheimnis her war? Sie stieß das Tor auf, um das nächste Kind durchzulassen, und blickte dann auf die lange Schlange von Kindern, die Santa Claus ihre Wünsche vortragen wollten. Sie stutzte. Hatte sie das Gesicht dahinten nicht schon mal gesehen? Wie hieß der kleine blonde Junge noch mal? Hatte er nicht einen großen grünen Umschlag dabeigehabt? Richtig. Er hieß Eric. "Hallo, du da!" rief sie und ging auf ihn zu. "Warum bist du denn noch mal gekommen?" Diesmal war er nicht allein da, sondern in Begleitung einer Frau, die Claudia irgendwie bekannt vorkam. Aber woher kannte sie sie? Sicher nicht aus dem Kaufhaus, nein, sie hatte sie irgendwo draußen gesehen. Auf dem Marktplatz. Claudia riss die Augen auf. Mit Tom Dalton!
Das war die schicke Blonde, mit der er sich auf dem Marktplatz unterhalten hatte. "Hallo, Twinkie", rief Eric und strahlte, als sie näher kam. "Sieh mal, wen ich mitgebracht habe. Meinen Weihnachtsengel!" Claudia sah von dem Jungen zu der eleganten jungen Frau. "Deinen was?" "Meinen Engel. Sie heißt Holly, und Santa Claus hat sie geschickt. In diesem Jahr wird Weihnachten ganz toll! Ich bin nur gekommen, um mich bei Santa zu bedanken." Claudia sah Holly an. "Santa hat Sie geschickt?" Der Engel wirkte plötzlich unsicher, sah sich hastig um und lächelte gezwungen. "Ich kann dazu wirklich nichts sagen", erklärte sie leise. Sie nahm Eric bei der Hand. "Komm, Eric, wir kommen später wieder, um Santa zu danken. Jetzt wollen wir erst mal unsere Einkäufe erledigen." Sie drehte sich schnell um und zog den kleinen Jungen mit sich fort. "Warten Sie!" rief Claudia und versuchte ihr zu folgen. "Ich habe ein paar Fragen an Sie!" Aber sie kam nicht voran, denn die Kinder hatten sich um sie geschart. Verdammt! Dabei war hier endlich ein Hinweis. Diese Holly hatte sich doch mit Tom auf dem Marktplatz getroffen. Und ausgerechnet sie war jetzt Erics Weihnachtsengel! Da bestand ganz eindeutig eine Verbindung. Wenn sie doch bloß mit Holly reden könnte, dann hätte sie im Nu das Material für ihre Story zusammen. Endlich hatte sie sich von den Kindern befreit und hastete den beiden hinterher. Aber so kurz vor Weihnachten war das Kaufhaus voller Menschen, alle mit Tüten und Schachteln beladen. Claudia stieß mit einem jungen Mann zusammen, dessen Einkäufe sich über den ganzen Gang verteilten. "Oh, entschuldigen Sie!" Claudia bückte sich, um ihm beim Aufsammeln zu helfen, und als sie wieder hochsah, waren Holly und Eric verschwunden. "Verdammt!" schrie sie und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. "Miss Moore!" Claudia fuhr zusammen. Tom! Sie wandte sich langsam um. Sicher würde er sie wieder abkanzeln, denn Fluchen war den Elfen wahrscheinlich auch nicht erlaubt.
"Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass du mich verfolgst", stieß sie wütend hervor. "Bist du immer noch von den Elfen fasziniert?" Tom grinste. "Nein, ich glaube, ich habe die Sache jetzt unter Kontrolle. Du hast angeblich deinen Posten vor sieben Minuten verlassen, und Mrs. Perkins sucht dich." "Zieh die sieben Minuten von meinem nächsten Gehalt ab, die ganzen fünfunddreißig Cents." Sie lächelte flüchtig. "Und wenn sonst nichts ist, würde ich jetzt gern wieder an meine Arbeit gehen." "Doch, da ist noch etwas", sagte er leise. "Ich würde gern heute Abend mit dir essen gehen." "Aber ich muss arbeiten." "Das Haus schließt heute um acht. Wir können doch danach essen gehen." "Warum?" Er runzelte die Stirn. "Warum? Weil ich Hunger habe. Und weil ich es leid bin, dich immer nur in diesem albernen Elfenkostüm zu sehen. Und weil ich mich mit dir mal in Ruhe unterhalten will, ohne das Gefühl haben zu müssen, dass alle Welt zuhört." Claudia blickte an sich herunter und strich den Rock glatt. "Ich habe mich so an das Kostüm gewöhnt." Sie grinste. Er lachte leise. "So gern ich dich auch in dieser mottenzerfressenen Wolle und der schlecht sitzenden Strumpfhose sehe, so könnte ich mir doch vorstellen, dass es auch etwas gibt, was dir besser steht. Kennst du Silvio's, das kleine italienische Restaurant am Markt? Es ist sehr gut. Komm doch in mein Büro, wenn du mit der Arbeit ..." "Ich treffe dich im Restaurant", sagte sie schnell. "Um Viertel nach acht, okay?" Er drückte leicht ihre Hand. "Ich freue mich darauf. Auch darauf, die Nacht mal nicht in meinem Büro verbringen zu müssen." Er blickte sich kurz um und drückte ihr einen Kuss auf die Handfläche. Dann wandte er sich um und ging pfeifend davon. Claudia blickte ihm hinterher, tausend Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Wenn Tom Dalton um acht bei Silvio's saß, konnte er nicht in seinem Büro sein. Und wenn er nicht in seinem Büro war, dann ...
"Genau", murmelte Claudia, "das ist meine Chance. Ich werde mir diesen Santa-Ordner mal genauer ansehen. Morgen früh spreche ich dann mit dem Jungen, und abends habe ich die Story im Kasten." Auf dem Weg zurück zur Nordpol-Siedlung dachte sie darüber nach, wie sie wohl am Besten in den Verwaltungstrakt kam. Natürlich durften die Wachleute sie nicht sehen. Aber eine der staubigen Treppen, über die sie gestern gestolpert war, würde sicher in die oberste Etage führen, wo die Daltons ihre Büros hatten. Ihr blieb ungefähr eine halbe Stunde. Denn erst dann würde Tom sich wundern, wo sie blieb. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Es gefiel ihr gar nicht, dass sie Tom hinterging. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, mal mit ihm auszugehen, in einem schicken Kleid und mit einem verführerischen Parfüm. Und wenn sie daran dachte, was nach so einem Essen alles passieren könnte ... Sie schüttelte energisch den Kopf. Ich muss die Story schreiben, ermahnte sie sich. Und dann gehe ich wieder nach New York und vergesse Tom Dalton. Aber Claudia wusste genau, dass das nicht leicht werden würde. Die Frage, was wäre gewesen, wenn, würde sie noch lange verfolgen. Wenn er nicht ihr Chef und sie nicht nur eine kleine Elfe gewesen wäre, hätte ihre Beziehung dann eine Zukunft gehabt? Nachdem alle gegangen und die Lichter gelöscht waren, wirkte das Kaufhaus richtig unheimlich. Claudia schlich auf Zehenspitzen durch die dunklen Räume und suchte ganz automatisch Deckung hinter den großen Kleiderständern. Wer weiß, vielleicht hatte sich doch noch irgendwo jemand verborgen. Sie hatte sich umgezogen und trug einen dunkellila Kaschmirpullover und einen kurzen Lederrock. Beides hatte sie sich vor kurzem gekauft. Sie hatte gehofft, dass die dunklen Farben möglichst unauffällig wirkten, aber als sie an einem Spiegel vorbeikam, hätte sie beinahe losgelacht. Sie sah eher aus wie einer von Charlys Engeln als wie eine Reporterin, die einer heißen Story auf der Spur war. Falls sie allerdings aufgegriffen würde, konnte sie immer behaupten, sie sei mit Tom Dalton verabredet und versehentlich im Kaufhaus eingeschlossen worden. Sie ging die Rolltreppe hinunter. Die Tür da in der Kosmetikabteilung führte zu einer Treppe, das wusste sie, aber ging diese Treppe auch
hoch bis in den fünften Stock? Der Türknauf ließ sich drehen. Vorsichtig stieß sie die Tür auf. Absolute Dunkelheit. Claudia holte das Feuerzeug aus der Tasche, das sie sich von Winkie geliehen hatte. Bei dem flackernden Flämmchen konnte sie gerade das Nötigste sehen. Vorsichtig ging sie die abgetretenen Stufen hinauf. Als sie den ersten Stock erreicht hatte, blieb sie kurz auf dem Treppenabsatz stehen und öffnete die Tür, die zu den Verkaufsräumen führte. Aber das war doch die Nordpol-Siedlung! Hier also ging Santa rein, und hier verschwand er auch wieder. Schnell schloss sie die Tür wieder und stieg bis zum vierten Stockwerk hinauf. Leider hörte hier die Treppe auf. Claudia drehte sich einmal um sich selbst. Es musste doch auch einen Zugang zum fünften Stock geben. Das Flämmchen flackerte, wurde kleiner und verlosch. "Verdammt!" Vollkommene Dunkelheit umgab sie. Hätte sie bloß eine Taschenlampe mitgenommen. Sie tastete sich an der Wand entlang, um zu der Treppe zurückzufinden. Plötzlich machte es klick, und die Wand gab nach. Licht fiel in das Treppenhaus, und Claudia kniff geblendet die Augen zusammen. Als sie sie vorsichtig wieder öffnete, hielt sie vor Überraschung den Atem an. Vor ihr hatte sich eine Tür geöffnet, hinter der sie eine Treppe sah, die nach oben führte. Also doch! Über der Treppe hing eine nackte Glühbirne, die offensichtlich immer brannte. Claudia stieg schnell die Treppe hinauf und stand wieder vor einer Tür. Sie stieß sie auf und blieb verblüfft stehen. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet! Sie machte einen Schritt vorwärts und stand in einem eleganten Büro, mit Mahaghoni getäfelt und kostbaren Orientteppichen ausgelegt. Eine kleine Lampe brannte, und an einem Haken neben der Tür hing der rote Mantel von Santa Claus. Dies war nicht Tom Daltons Büro, obgleich es sehr ähnlich eingerichtet war. Dies war das Büro von jemandem, der mindestens so bedeutend war wie er und der den Weihnachtsmann spielte. Aber wer verbarg sich hinter der Maske? Sie sah zum Schreibtisch. Kein Namensschild, keine Briefe. "Das werde ich ja wohl noch herauskriegen", stieß sie leise hervor und zog langsam die Tür hinter sich ins Schloss.
"Möchten Sie noch einen Scotch?" fragte der Kellner mit
italienischem Akzent.
Tom blickte auf seine Armbanduhr, dann warf er die Serviette auf den
Tisch. Er hatte jetzt schon fast eine Stunde hier auf Claudia gewartet.
„Man hat mich wohl versetzt."
"Ach, Mr. Dalton, das ist aber schade", sagte Carlo und griff nach dem
Sektkühler. "Nach so langer Zeit endlich mal wieder eine
Verabredung. Und dann das!"
Tom warf ihm einen vernichtenden Blick zu. "Die Rechnung, bitte.
Und geben Sie mir den Champagner mit. Und die Antipasti auch. Ach
ja, und noch eine Portion Spaghetti mit Salat. Wenn sie doch nicht
kommt, kann ich genauso gut ins Büro gehen und arbeiten."
"Sofort, Mr. Dalton."
Tom lehnte sich nachdenklich zurück. Er hatte geglaubt, dass
zwischen ihm und Claudia alles in Ordnung sei. Dass sie endlich diese
Spielchen hinter sich hätten und zugeben konnten, dass sie sich
mochten. Wenn sie zusammen waren, mussten sie sich immer
ansehen. Und wenn er sie küsste, dann erwiderte sie seinen Kuss voll
Leidenschaft. Warum hatte sie ihn dann jetzt versetzt?
Er trank seinen Scotch aus und setzte das Glas hart auf. Carlo kam mit
dem verpackten Essen, und Tom stand auf, warf ein paar Scheine auf
den Tisch, griff nach seinem Mantel und verließ das Restaurant.
Nur noch wenige Menschen waren unterwegs. Tom überquerte den
Platz. Er seufzte. Er würde wie schon so oft noch drei bis vier Stunden
an seinem Schreibtisch verbringen und dann nach Hause fahren. Ein
tolles Leben, dachte er, eine geplatzte Verabredung und italienisches
Essen aus der Pappschachtel. Und eine aufregende Nacht vor dem
Computer.
Er ging zum Personaleingang und klingelte. Der Summer ertönte, und
Tom drückte die Außentür auf. Er sah zu der Überwachungskamera
hoch und winkte. Die Tür vor ihm öffnete sich, und Tom trat in das
dunkle Kaufhaus. Während er zum Fahrstuhl ging, sog er tief die Luft
ein.
Es roch noch genauso, wie er es von früher in Erinnerung hatte. Er
liebte es, durch das dunkle Kaufhaus zu gehen. Dabei überkam ihn
immer ein Gefühl der Befriedigung, denn es war ihm zu verdanken,
dass das Kaufhaus auch in diesen schwierigen Zeiten einen guten
Gewinn abwarf. Denn die Konkurrenz hatte stark zugenommen, schon durch die vielen neuen Einkaufszentren, die gebaut worden waren. Da wirkte ein familieneigenes Kaufhaus wie ein Überbleibsel aus der Steinzeit. Aber er hatte hart dafür gearbeitet, dass das Haus wieder eine gesunde Bilanz aufwies. Wer weiß, vielleicht würde sein Sohn eines Tages das Ganze übernehmen können. Sein Sohn ... Wie kam er denn darauf? Bisher hatte er den Gedanken an eine Familie immer weit von sich geschoben. Aber jetzt konnte er sich vorstellen, eine Familie zu haben und irgendwo richtig zu Hause zu sein. Ob das was mit Claudia zu tun hatte? Nicht, dass er sie heiraten wollte. Er hatte schon so lange keine feste Beziehung mehr gehabt, dass er nie mehr über eine Ehe nachgedacht hatte. Warum denn gerade jetzt? Claudia und er hatten sich doch lediglich ein paar Mal geküsst, das konnte man nun wirklich nicht als feste Beziehung bezeichnen. Was verband sie denn eigentlich außer ihrer Vorliebe für witzige Wortgefechte? "Sie ist die faszinierendste Frau, die mir je begegnet ist", sagte er halblaut und steckte seinen Kartenschlüssel in den Schlitz des Aufzugs. Dann drückte er auf den Knopf für den fünften Stock. "Und mehr brauche ich eigentlich im Augenblick gar nicht zu wissen." Er lehnte sich gegen die Wand, bis der Fahrstuhl hielt. Die Tür öffnete sich, und Tom ging sofort auf sein Büro zu. Plötzlich blieb er stehen. Irgendetwas war anders als sonst. Die Tür zu seinem Büro war nur angelehnt. Er sah sich schnell um. Die Tür zum Büro seines Großvaters stand ebenfalls offen. Seltsam, dachte Tom, Großvater bleibt doch nie nach Geschäftsschluss hier. Sollte er gleich den Wachdienst anrufen? Oder sollte er lieber selbst mal nachsehen? Seine Neugier siegte. Auf Zehenspitzen schlich er zu seinem Büro und blickte durch den Türspalt. Die Schreibtischlampe brannte, und jemand beugte sich über den Schreibtisch und sah die Akten durch. Claudia! Hier also war sie. Vermutlich hatte sie sich in den Verkaufsräumen versteckt, um dann in seinem Büro herumzuspionieren. Er war kurz davor, die Tür aufzustoßen, um herauszukriegen, was sie hier suchte. Aber dann hielt er inne. Wenn er das tat, dann war alles aus zwischen ihnen. Er müsste sie entlassen, und sie würde Schuyler Falls sofort den Rücken kehren. Und sein Leben wäre so langweilig wie früher.
Tom trat leise einen Schritt zurück und schlich auf Zehenspitzen zum Fahrstuhl. Wenn er es richtig anstellte, dann konnte er die Situation zu seinem Vorteil nutzen. Er konnte herausfinden, was sie in seinem Büro wollte und ob sie etwas für ihn empfand. Er holte tief Luft und pfiff laut vor sich hin. Er hörte einen kurzen erschreckten Ausruf, dann raschelte Papier, als schob sie hastig alles wieder an seinen Platz. Er sah auf die Uhr. Er würde ihr dreißig Sekunden Zeit geben, damit sie sich eine glaubhafte Erklärung ausdenken konnte. Polternd rückte er an dem Schreibtischstuhl im Vorzimmer, stellte die Tüte von Silvio's ab, zog dann eine der Schubladen auf und suchte darin herum, während er halblaut vor sich hinredete. Nach einer Minute dann griff er nach der Tüte mit dem Essen und der Flasche Champagner und stieß die Tür zu seinem Büro auf. Claudia hatte sich auf dem Ledersofa zusammengerollt und tat so, als ob sie schlief. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt statt des Elfenkostüms einen sexy Pullover, einen kurzen Lederrock und knöchelhohe Stiefeletten, wodurch ihre langen, schlanken Beine besonders gut zur Geltung kamen. Er lächelte kurz. "Claudia!" rief er dann. Sie fuhr hoch, die Augen weit aufgerissen in dem blassen Gesicht. Dann fiel ihr ein, dass sie ja eigentlich geschlafen hatte, und sie streckte sich und gähnte und rieb sich die Augen. "Tom, endlich ..." "Was tust du hier?" fragte er. "Waren wir nicht bei Silvio's verabredet?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein, wir wollten uns hier treffen. Ich habe nach Ladenschluss hier im Büro auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen. Ich muss dann wohl eingeschlafen sein." Sie schwang die Beine auf den Boden und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. "Wie spät ist es denn?" "Fast neun", sagte er. Erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit sie lügen konnte. "Oh, das tut mir so Leid. Ich fürchte, jetzt ist es zu spät, um noch essen zugehen." Tom hielt die Tüte und die Champagnerflasche hoch. "Ich habe mir bei Silvio's was zum Essen einpacken lassen, nachdem mir klar war, dass du mich versetzt hast. Wir können doch jetzt etwas essen, die Nacht wird uns noch lang genug werden." "Wieso das denn?"
"Weil wir hier eingesperrt sind." "Was?" Mal sehen, wer besser schauspielern konnte. "Na ja, wenn das Kaufhaus erst einmal geschlossen ist, dann kommt man auch nicht mehr raus. Die Alarmanlage ist eingeschaltet, der Sicherheitsdienst ist gegangen, und alle Türen sind automatisch verriegelt. Wir sitzen fest." Sie stand auf. "Dann schalte die Alarmanlage doch ab." Sie hatte die Hände auf die Hüften gestützt, so dass ihre Brüste unter dem weichen, engen Pullover gut sichtbar waren. Tom hatte Mühe, sich auf seine Rolle zu konzentrieren. "Ich weiß nicht, wie", log er. "Aber du bleibst doch oft spätabends noch im Büro." Er sah sie überrascht an. "Woher weißt du das?" "Das ist doch ganz egal. Wir müssen hier raus. Kannst du nicht irgendjemanden anrufen? Dies ist doch kein Gefängnis, es ist ein Kaufhaus." "Die Telefonzentrale schaltet sich automatisch ab. Und ich selbst habe dem Mann vom Wachdienst gesagt, er könne gehen. Ich lasse mich manchmal einschließen und schlafe dann noch ein paar Stunden auf der Couch, wenn ich lange zu arbeiten habe." Er lächelte. "Aber mach dir keine Sorgen, so schlimm ist das doch nicht. Wir haben was zu essen und einen warmen Platz zum Schlafen. Außerdem gibt es hier alles, was du dir nur wünschen kannst, auf fünf Stockwerke verteilt. Du wirst schon sehen, wir werden uns gut amüsieren." "Amüsieren?" "Das Essen von Silvio's ist sehr gut. Aber wenn du keinen Appetit auf italienisches Essen hast, können wir uns auch unten aus der Lebensmittelabteilung was holen. Wir können auch in der Damenabteilung etwas Bequemes für dich für die Nacht aussuchen. Und in der Bettenabteilung Kissen und Decken. Und wenn du das Sofa nicht magst, können wir auch ganz in die Bettenabteilung übersiedeln." Er drückte ihr die Flasche Champagner in die Hand, ging ins Vorzimmer und holte aus Mrs. Lewis' Schreibtisch zwei Kaffeebecher. "Aber ich schlafe nicht mit dir!" Er nahm ihr seelenruhig die Champagnerflasche aus der Hand. "Und ich möchte auch keinen Champagner!" Sie ließ sich wieder auf das Sofa fallen und starrte ihn düster an. Auch wenn sie wütend war, sah sie noch hinreißend aus. Ihre Augen funkelten, und das Gesicht
war leicht gerötet. Sie war eine temperamentvolle Frau, und Tom hatte große Lust, dieses Temperament auch in anderen Situationen kennen zu lernen. Er brauchte sie nur in die Arme zu nehmen. Vielleicht würde sie sich anfangs wehren, aber er wusste genau, dass sie nachgeben würde, wenn er sie küsste. "Ich finde, wir sollten das Beste daraus machen." Er lächelte nachsichtig. "Das ist schließlich unsere erste Verabredung." "Aber dies ist doch keine richtige Verabredung", entgegnete Claudia verärgert. Sie stand wieder auf und sah sich in dem Büro um. "Wir müssen hier doch irgendwie rauskommen." Sie drehte sich zu ihm um, und beide blickten sich an. Die Zeit schien stillzustehen, und Tom fühlte beinahe schon ihre Lippen auf seinem Mund. Doch dann war dieser magische Augenblick vorbei. "Versuch es nur", sagte er leise. "Aber wundere dich nicht, wenn die Sirenen losgehen und die Polizei auftaucht." Er ging zu seinem Schreibtisch und holte den Schlüssel zu der Schublade aus dem Kästchen. Er warf ihn sogar ein paar Mal in die Luft, nur damit sie ihn auch sah. "Ich muss noch ein paar Akten durchsehen." "Akten?" Die Stimme schien Claudia nicht ganz zu gehorchen. Sie lächelte angestrengt. "Vielleicht sollten wir doch eine Kleinigkeit essen. Ich habe Hunger." Tom presste die Lippen aufeinander, um sein Lächeln zu unterdrücken. Er kam um den Schreibtisch herum und bot ihr den Arm. Als sie zögerte, ergriff er ihre Hand und legte sie in seine Armbeuge. Er würde dafür sorgen, dass sie diese Nacht nicht so schnell vergessen würde.
5. KAPITEL
Claudia und Tom schlenderten Seite an Seite durch den Hauptgang im Parterre, nur ihre Schritte waren zu hören. "Wie angenehm", meinte Claudia, "es ist so herrlich ruhig. Keine lange Schlange von aufgeregten Kindern, denen man die Nase putzen oder die Tränen trocknen muss." Tom stützte sich auf den Verkaufstresen und sah ihr direkt in die Augen. Sie zitterte innerlich und wandte schnell den Blick ab. Er hatte sie schon oft angesehen, aber noch nie mit solcher Intensität. Irgendetwas war heute Nacht anders, und sie wusste nicht, was. "Ich habe als Kind oft davon geträumt, hier allein eingesperrt zu sein", sagte er, "und hatte mir schon alles Mögliche überlegt, was ich dann tun würde. Einmal hatte ich mich kurz vor Ladenschluss in einem Lagerraum versteckt und hoffte, dass keiner mich finden würde. Aber mein Dad hat mich doch entdeckt." Claudia lachte, aber ihr Lachen hörte sich nicht ganz echt an. Sie hatte das Gefühl, als könnte er Gedanken lesen. Ob er den Verdacht hatte, dass sie sich absichtlich hatte einschließen lassen? Hatte er deshalb diese Geschichte aus seiner Kindheit erzählt? Die Lüge, sie habe geglaubt, ihn im Büro zu treffen, lag ihr schwer auf der Seele. Sie hasste es, Tom zu hintergehen. Nicht, weil er ihr Chef war, sondern weil sie sein Vertrauen nicht enttäuschen wollte. Falls er sie irgendwie verdächtigte, dann ließ er sich das nicht anmerken. Sie musste an die gestohlene Akte denken, oben in ihrer Tasche. Wie hatte sie so etwas nur tun können? Claudia wandte sich ab und ging weiter den Gang entlang. Schnell war er neben ihr und griff nach ihrer Hand. Allein schon diese Berührung setzte ihren Körper unter Strom. Du liebe Zeit, da hatten sie sich bereits leidenschaftlich geküsst, und jetzt genügte eine einfache Berührung, und sie geriet außer sich. "Und was hättest du getan, wenn man dich nicht erwischt hätte?" "Zuerst hätte ich sicher voller Begeisterung auf den Betten herumgehopst. Mit Schuhen. Dann wäre ich in die Spielzeugabteilung
gegangen und hätte mit allem gespielt, was da war. Und in der Cafeteria hätte ich mir den Bauch mit Kuchen und Eis voll geschlagen." "Noch was?" "Damals wäre es ein Albtraum für mich gewesen, die Nacht mit einem Mädchen zu verbringen." Er stieß Claudia spielerisch an. "Aber jetzt finde ich diese Vorstellung durchaus attraktiv." "Komisch, ich hatte ganz andere Vorstellungen von dir als Kind. Ich hatte den Eindruck, du seist schon als Vorgesetzter auf die Welt gekommen, in einem kleinen Anzug mit Krawatte." Tom musste lachen. "Um Himmels willen, wie schrecklich! Aber ganz so verknöchert bin ich doch nicht, oder?" Claudia blieb mitten im Gang stehen und musterte ihn nachdenklich. "Es gibt noch Hoffnung. Es kommt nur auf das richtige Outfit an." Sie nahm ein Hawaiihemd von dem nächsten Drehständer. "Hier, zieh das mal an. Ananas, Palmen, Orchideen - das steht dir sicher gut." Tom betrachtete das Hemd angewidert. "Aber so etwas habe ich noch nie in meinem Leben getragen." "Dann wird es Zeit." Sie grinste. "Du musst auch mal was wagen. Na los. Außer mir ist keiner da, und ich werde keinem etwas verraten." Tom zog das Jackett aus und lockerte die Krawatte. "Du wirst sehen, ich kann durchaus spontan sein. Es kommt nur auf die Umstände an." Er zog das Hemd aus der Hose und knöpfte es auf. Claudia hätte schwören können, dass er darunter ein weißes Unterhemd trug. Aber als er das Hemd abstreifte, stand er mit nacktem, muskulösem Oberkörper vor ihr. Sie schluckte. Das verschlug selbst ihr die Sprache. Wie gern hätte sie ihm über die glatte, warme Haut gestrichen! Sie starrte ihn an, während er das Hawaiihemd vom Bügel nahm. Offenbar hatte er keine Ahnung, wie sein Anblick auf sie wirkte. Diese breiten Schultern, die schmalen Hüften! Claudia hielt den Atem an. Sie wollte ihn schon bitten, das Hemd lieber wegzulassen oder es sehr, sehr langsam anzuziehen. Aber er hatte es bereits übergestreift und wollte es gerade zuknöpfen. Sie hob die Hand. "Nicht!" "Nicht? Magst du es nicht?" Er blickte auf den Drehständer. "Ich kann ja ein anderes anziehen."
"Nein", sagte Claudia nur. "Du musst es offen lassen. Wegen der lässigeren Wirkung." Tom lächelte und hob die Hände. Dann drehte er sich einmal um die eigene Achse. "Na, wie sehe ich aus?" Claudias Knie zitterten, und das Blut schoss ihr in die Wangen. Sie konnte den Blick nicht von seinem flachen Bauch lösen. Tom sah wirklich zum Anbeißen aus. "Das ist sehr viel besser", sagte sie schließlich, "aber die Hosen passen nicht mehr dazu." Sie blickte sich um. Hier in der Abteilung Freizeitmode musste sich doch irgendetwas finden lassen. Im Grunde war sie überrascht, dass er sich das so einfach gefallen ließ. Tom Dalton war eigentlich nicht der Typ, den man leicht manipulieren konnte. Da, diese weiten, dunkelblauen Surfershorts müssten ihm stehen. "Hier, probier die doch mal an." Sie gab ihm die Shorts. "Aber zieh erst die Socken und die Schuhe aus." Er nickte, nahm die Shorts und wollte in eine Umkleidekabine gehen. "Bist du zu schüchtern, um dich vor mir umzuziehen?" rief sie ihm hinterher. "Ich weiß doch schon, was für Unterwäsche du trägst. Boxershorts aus Seide, klein gemustert, keine Pastellfarben." Er lachte. "Meine Unterwäsche, bleibt wie sie ist." Während Claudia auf ihn wartete, gingen ihr viele Bilder durch den Kopf. Tom, angezogen und ausgezogen. Sie machte ein paar Schritte auf den Umkleideraum zu. Ob er den Vorhang wohl zugezogen hatte? Doch dann blieb sie kopfschüttelnd stehen. Was war bloß mit ihr los? Noch nie hatte sie so stark auf einen Mann reagiert. Ob der lockere Ton, das Frotzeln und Flirten bereits der Auftakt für das waren, was heute Nacht passieren würde? "Was meinst du?" Claudia fuhr herum. "Oh ja, gut." Sehr gut sogar. Er hatte nicht nur tolle Schultern und einen fantastischen Oberkörper, auch die langen, muskulösen Beine waren ausgesprochen sexy. Ja selbst die Füße ... Tom trat vor einen Spiegel. "Ja, nicht schlecht. Ich sehe aus wie jemand, für den Arbeit ein Fremdwort ist, aber das ist wohl heute modern." Claudia trat neben ihn und strich ihm langsam über die Schultern. Wie wunderbar sich seine kräftigen Muskeln anfühlten. Schnell nahm sie die Hand wieder weg. "Aber irgendetwas fehlt noch." Sie sah sich
suchend um. "Erst wenn ich es sehe, weiß ich, was es ist. Komm mit." Sie ging weiter den Gang entlang, und Tom kam schnell hinter ihr her. Diesmal aber nahm er nicht ihre Hand, sondern legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Und ohne nachzudenken, legte sie ihm den Arm um die Taille. "So was macht sehr viel mehr Spaß als ein Essen bei Silvio's", sagte er. Claudia konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Sie hatte sich doch sonst besser zusammennehmen können. Warum übte der Mann bloß eine solche Wirkung auf sie aus? Sie musste sich unbedingt auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren. Es ging um ihre Reportage, ihre Story. Sie hatte sich schließlich nur mit Tom Dalton eingelassen, um das Geheimnis um den Weihnachtsmann bei Dalton zu lüften. Sie gingen durch die Kosmetikabteilung, der ein kleiner Frisiersalon angeschlossen war. Plötzlich wusste sie, was fehlte. Sie wies auf den Eingang zum Frisiersalon. Dann nahm sie eine Haartönung aus dem Regal, ein dunkles Pink, was die Teenager von Schuyler Falls momentan besonders cool fanden. "Das ist genau das Richtige. Eine farbige Strähne oberhalb der Schläfen." "Kommt gar nicht infrage." "Aber das hält doch nicht vor", sagte Claudia. "Das verliert sich nach ein paar Wäschen. Nur Mut." Sie zog ihn in den Salon und schob ihn auf einen Stuhl. "Du findest es sicher toll. Du wirst dich wie ein vollkommen anderer Mensch fühlen." "Ja, vollkommen ausgeflippt", murrte er. "Ich möchte noch einmal betonen, dass ich das, nur deshalb über mich ergehen lasse, damit du deinen Spaß hast." "Erst mal müssen wir dein Haar nass machen." Sie schob das Becken hinter ihn und ließ ihn den Kopf zurücklehnen. Tom schloss die Augen, und sie drehte den Wasserhahn auf. Während sie das warme Wasser über sein Haar laufen ließ und mit der linken Hand nachhalf, damit es auch überall nass wurde, blickte sie nachdenklich in Toms entspanntes Gesicht. Vielleicht hatte sie ihn ganz falsch eingeschätzt. Vielleicht war er doch keiner von diesen Anzugträgern, die nur das Geschäft im Kopf hatten. Seine leidenschaftlichen Küsse und zärtlichen Gesten hatten sie immer wieder überrascht. Sie griff jetzt mit beiden Händen in sein kräftiges
Haar. Wer war er wirklich? Mit dem Hawaiihemd und den Shorts war er plötzlich ein ganz anderer Typ und nicht mehr nur der Mann, der sie daran hindern wollte, die Story ihres Lebens zu schreiben. Er war warmherzig und witzig und rücksichtsvoll, konnte albern sein und selbstironisch und wirkte sogar ein bisschen verletzlich. Er war zweifellos ein Mann, in den sie sich verlieben könnte, wenn sie es nur zuließe. Claudia drückte das Haar aus und öffnete die Tube mit der Haartönung. Sie zögerte. Sollte sie wirklich so weit gehen? Was würden die Leute sagen, wenn er plötzlich mit rosa Strähnen auftauchte? Schließlich hatte er einen Ruf zu verlieren. Ach was, dachte sie, warum denn nicht. So würde er diese Nacht ganz sicher nie vergessen. Zumindest nicht, bis sein Haar wieder die normale Farbe angenommen hatte. "Ich würde sehr gern noch ein Glas Champagner haben." Tom sah Claudia kurz an. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen blitzten. Sie hatte etwa eine halbe Flasche Champagner getrunken, und die Wirkung war nicht zu übersehen. Ob beschwipst oder nüchtern, sie war die verführerischste Frau, die ihm je begegnet war. Aber heute Nacht sollte sie ihre Sinne beisammen haben. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und reichte ihr stattdessen eine geöffnete Dose mit Austern. Sie hatten sich aus der Delikatessenabteilung alles mitgebracht, worauf sie Appetit hatten. Claudia hatte sich belgische Schokolade, Austern in Dosen, englische Cracker, Kaviar, Leberpastete und drei Sorten französischen Käse ausgesucht. Und falls sie frisches Baguette verlangt hätte, hätte Tom auch das noch möglich gemacht, und wenn er es hätte einfliegen lassen müssen. Er konnte ihr einfach nichts abschlagen, und er merkte, wie viel Freude es ihm machte, ihr ihre Wünsche zu erfüllen. Sie nahm sich noch eine Auster und fixierte Tom eindringlich. "Ich weiß genau, was du brauchst", sagte sie und wies mit dem Zeigefinger etwas unsicher in seine Richtung. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. "Und das wäre?" Claudia stand leicht schwankend auf und fiel beinahe auf ihn. Sie kicherte und lächelte geheimnisvoll. "Bin gleich wieder da. Geh nicht weg." "Unmöglich. Wir sind doch eingesperrt."
Sie lief schnell aus dem Büro. Er hörte, wie sich die Fahrstuhltür hinter ihr schloss, und atmete tief durch. Er hatte sich ungeheuer zusammennehmen müssen, um sie nicht einfach auf das Sofa zu drücken und sein Verlangen zu befriedigen. Vielleicht sollte er ihr einfach die Wahrheit sagen. Er brauchte doch nur den Geheimcode einzugeben, und sie könnten ohne Schwierigkeiten das Haus verlassen. Aber er wollte gern wissen, was sich in dieser Nacht noch entwickeln würde. Etwas hatte sich verändert zwischen ihnen. Die Spannung hatte ein wenig nachgelassen, und er sah Claudia plötzlich mit ganz anderen Augen. Das spielerische Miteinander lag hinter ihnen, und er konnte sich vorstellen, was sie in Zukunft verbinden könnte. Noch nie hatte eine Frau ihn so fasziniert. Aber vielleicht machte er sich auch etwas vor. Dahinten stand ihre Tasche. Er griff schnell danach und öffnete sie. Eine seiner Akten lag zusammengefaltet zwischen ihren Sachen. "Santa Claus!" stieß er leise hervor und fühlte sich jäh ernüchtert. "Also hatte ich doch Recht mit meinem Verdacht." Er stand auf und wollte die Unterlagen schon in seine Schreibtischschublade zurücklegen. Doch dann zögerte er. Er wollte sehen, wie weit Claudia gehen würde. Er konnte jetzt und sofort die Sache beenden. Er brauchte ihr nur die Papiere vor die Füße zu werfen, wenn sie zurückkam, und eine Erklärung verlangen. Aber Tom war dazu noch nicht bereit. Er wollte sich noch nicht von ihr trennen. Morgen war auch noch ein Tag. Er hörte, wie der Fahrstuhl hielt. "Das ist es, was du brauchst"; sagte sie triumphierend und ging schnell auf ihn zu. In der Hand hielt sie ein Kärtchen mit zwei blitzenden Steinen. "Ohrringe!" "Ein Ohrring", sagte sie. Sie griff nach ihrer Tasche und wühlte darin herum. Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. "Hier!" "Nähzeug?" "Eine Nadel. Ich werde dein Ohr durchstechen." "Oh nein!" Tom rutschte an das andere Ende des Sofas. "Das wirst du nicht tun." "Aber du wirst sehr cool damit aussehen." "Und du siehst so aus, als hättest du zu viel Champagner getrunken. Ich rate dir, komm mir nicht zu nahe."
"Sei kein Frosch." Sie kniete sich auf das Sofa. "Wenn du mich dein Ohrläppchen durchstechen lässt, darfst du mich auch küssen." Er grinste und strich ihr über die entblößten Schenkel. "Wenn ich wollte, könnte ich dich jetzt sofort küssen." Claudia drohte ihm mit dem Zeigefinger. "Aber ich würde den Kuss nicht erwidern. Ich finde Männer mit Ohrringen sehr sexy, habe aber noch nie einen geküsst." Tom sah, dass sie wild entschlossen war. Bei jeder anderen Frau hätte er gern auf den Kuss verzichtet, aber Claudia Moore war ein anderer Fall. Für sie würde er sogar in den eisigen Hudson River springen, nur damit sie ihn hinterher wärmte. Er würde nackt auf dem Marktplatz tanzen, wenn sie ihn eigenhändig ausziehen würde. Plötzlich schien ihm ein durchstochenes Ohrläppchen kein allzu hoher Preis für einen Kuss zu sein. "Aber wir haben doch kein Betäubungsmittel", sagte er. "Tut das nicht weh?" Claudia nahm ein paar Eiswürfel aus dem Sektkühler. "Hier, halt das Eis an dein Ohr, bis du nichts mehr fühlst." Tom presste die Eiswürfel gegen sein Ohr. Nach wenigen Minuten war sein Ohr gefühllos. Sie hatte inzwischen die Nadel und einen Ohrring in ein Glas Wodka getaucht, um beides zu sterilisieren, und kniete sich jetzt neben ihn auf das Sofa. "Immer mit der Ruhe. Es ist gleich vorbei." Sie hatte Recht. Ehe er noch richtig wusste, wie ihm geschah, hatte sie ihm das Ohrläppchen durchstochen, und wenige Sekunden später war der Ohrring befestigt. Sie lehnte sich zurück und betrachtete Tom zufrieden. "Blute ich?" Sie schüttelte grinsend den Kopf. "Du siehst ganz anders aus. Irgendwie gefährlich." Tom knurrte drohend, fasste Claudia um die Taille und warf sie aufs Sofa. "Wenn mein Ohr abstirbt und abfällt, dann ist das deine Schuld." Er strich ihr das Haar aus der Stirn und sah ihr in die Augen. "Und nun bist du dran." Sie legte ihm langsam einen Arm um den Nacken. "Ein Kuss." "Nur einer?" Claudia nickte nur und blickte träumerisch auf seinen Mund. "Dann will ich mir mal besondere Mühe geben."
Dieses Mal wollte er sich richtig Zeit lassen. Sie waren hier allein, und niemand würde sie stören. Er kam näher und fuhr mit der Zungenspitze über ihren Mund. Sie stöhnte leise auf und öffnete die Lippen. Ihren Mund zu erkunden war so berauschend wie Champagner. Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und küsste sie voller Begierde, wie ein Verdurstender, der endlich eine Wasserquelle gefunden hat und nicht mehr aufhören kann zu trinken. Er rollte sich auf Claudia, und sie legte die Arme um ihn und presste sich an ihn. Ihre Körper passten wunderbar zusammen, ihre Brüste drückten an seinen Oberkörper, die Hüften lagen aufeinander, und ihre Beine waren miteinander verschlungen. Claudia seufzte leise, und Tom fühlte, wie er hart wurde vor Erregung. Sollten sie hier und jetzt wirklich ihrem Verlangen nachgeben? Trotz all der Lügen, die zwischen ihnen standen? Wäre es nicht besser zu warten, bis jeder die Wahrheit über den anderen erfuhr? Er hob langsam den Kopf und löste sich widerstrebend von Claudia. Sie sah ihn unter schweren Lidern an, die Lippen feucht und halb geöffnet. "Du darfst mich noch mal küssen", flüsterte sie, "ich glaube, ein Kuss ist etwas wenig für ein durchstochenes Ohrläppchen." Tom stöhnte leise und beugte sich wieder vor. Noch einen Kuss, oder zwei oder drei ... er konnte sie nicht mehr zählen. Normalerweise waren Küsse Teil des Vorspiels, aber Tom war noch nicht bereit, mit Claudia zu schlafen. Die Lügen, die zwischen ihnen standen, ließen kein Gefühl wirklicher Nähe aufkommen. Er schob sich von ihr herunter und legte sich neben sie. Sie kuschelte sich in seine Armbeuge und strich ihm zärtlich über die nackte Brust. "Küss mich", bat sie. Tom lachte leise. "Wenn ich dich noch mal küsse, kann ich vielleicht nicht mehr aufhören. Und du hast zu viel getrunken und kannst auch nicht aufhören. Vielleicht sollten wir also beizeiten stoppen." "Was machen wir denn dann, wenn du mich nicht mehr küssen willst?" Sie zeichnete mit dem Zeigefinger seine Lippen nach. "Wir könnten uns unterhalten. Du kannst mir von dir erzählen. Mich interessiert alles." Sie sah ihn nachdenklich an. "Was möchtest du denn wissen?" "Alles, was du mir erzählen willst." Er sah ihr direkt in die Augen, und für einen Moment hatte er den Eindruck, sie würde ihm die
Wahrheit sagen. Warum sie überhaupt nach Schuyler Falls gekommen war, was sie vorhatte, warum sie die Unterlagen gestohlen hatte. Aber dann lächelte sie nur und erzählte ihm von ihrem Zuhause in Buffalo, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. Doch allmählich wurde ihre Stimme leiser, und die Worte kamen immer langsamer. Schließlich verstummte sie vollkommen, und Tom sah, dass sie eingeschlafen war. Eine große Zärtlichkeit überkam ihn, und er zog Claudia fester in die Arme, als wollte er sie schützen. Eines Tages würde sie ihm alles erzählen, und dann, da war er ganz sicher, würde ihre Zuneigung füreinander auch ihr wichtiger sein als jede Story. Er musste ihr nur Zeit lassen. Für Tom gingen die Stunden bis zur Morgendämmerung erstaunlich schnell vorbei. Er hielt Claudia fest im Arm und betrachtete sie im Schlaf, ihr ebenmäßiges Gesicht mit der kleinen, geraden Nase, dem sanft geschwungenen Mund mit den vollen Lippen, der samtweichen, leicht geröteten Haut und den langen, dunklen Wimpern. Er musste doch geschlafen haben und wohl auch länger als ein paar Minuten. Claudia kuschelte sich immer noch fest an ihn, das Haar war ihr ins Gesicht gefallen. Plötzlich hörte Tom den Fahrstuhl rumpeln, dann hielt er an und öffnete sich mit einem leisen "Ding!" Aber am Sonntag arbeitete hier doch keiner im fünften Stock. Sein Großvater! Tom fluchte leise. Vorsichtig zog er den Arm unter Claudias Kopf hervor und stand auf. Doch bevor er die Bürotür schließen konnte, stand Theodore schon vor ihm. "Was zum ...." Der alte Mann starrte ihn an. "Tommy?" Tom legte den Finger auf die Lippen und schob seinen Großvater aus der Tür. Dann zog er sie schnell hinter sich zu. "Was hast du denn mit deinem Haar gemacht? Und das, ist das etwa ein Ohrring? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?" "Ich kann dir alles erklären, Großvater, aber nicht jetzt." Theodore kniff misstrauisch die Augen zusammen. "Was ist denn mit dir passiert? Du hast doch nicht etwa eine .... wie sagen sie immer? Eine Identitätskrise? Ich meine, es gibt doch Männer, die sich plötzlich für eine Frau halten." "Nein! Das ist nur ein Ohrring und eine kleine Haartönung. Ich habe doch kein Kleid an und trage auch keine Damenunterwäsche!"
"Reg dich nicht auf. Schließlich hast du dich in der letzten Zeit etwas
seltsam benommen. Als ich von Frauen und Sex sprach, schienst du
dich sehr unbehaglich zu fühlen. Und jetzt das hier."
"Das habe ich doch nicht getan, das war Claudia."
Theodore sah ihn verwirrt an. "Claudia? Meine Elfe?"
"Wir waren die ganze Nacht hier." Er zeigte auf sein Ohr. "Und haben
uns damit die Zeit vertrieben."
"Und ist sie immer noch da? Trägt sie vielleicht Reithosen und hat
eine Peitsche?"
Tom schüttelte den Kopf. "Nein, sie schläft, in ihren eigenen Sachen.
Und da du es sicher wissen willst, nein, es ist nichts zwischen uns
passiert."
"Das wollte ich gar nicht wissen. Mich interessiert viel mehr, warum
ihr die Nacht hier verbracht habt."
"Weil ich behauptet habe, dass wir nicht raus könnten."
"Dann hast du sie angelogen?"
"Ja, ich habe ihr nicht die Wahrheit gesagt."
"Du wirst sie jetzt wohl aufwecken und hier rausschaffen müssen.
Dein Vater versucht dich zu erreichen. Er braucht dich dringend in
New York. Noch heute. Er meint, du solltest dich auf mindestens drei
Tage einrichten, denn er möchte allerlei mit dir besprechen."
Tom blickte kurz auf die Bürotür, dann sah er wieder den Großvater
an. "Ich kann nicht weg, nicht heute." Er würde am liebsten hier
bleiben mit Claudia, abgeschlossen von der Welt in seinem Büro.
Aber er konnte sich dem Ruf der Firmenspitze nicht verweigern.
"Wenn ich sie jetzt aufwecke, hat sie sicher schlechte Laune. Kein
Wunder bei dem vielen Champagner, den sie gestern in sich
hineingeschüttet hat. Ich glaube, ich hinterlasse ihr lieber eine
Nachricht und rufe sie später an."
Sein Großvater nickte. "Dir ist schon klar, dass du dabei bist, mit einer
Angestellten etwas anzufangen?"
"Du hast gut reden. Du hast doch Großmutter selbst in der
Süßwarenabteilung kennen gelernt."
"Das habe ich nicht vergessen, aber ich habe sie schließlich geheiratet.
Sind denn deine Absichten auch so ehrenwert?"
Tom sagte nichts, sondern öffnete leise die Tür zu seinem Büro. Er
ging auf Zehenspitzen zu dem Sofa und küsste Claudia leicht auf die
Stirn. Dann schrieb er eine kurze Notiz und versprach Claudia, sie
sofort in der Nordpol-Siedlung anzurufen, sowie er in New York war. Den Zettel steckte er halb unter ihre Tasche, die auf dem Tisch lag. Er hatte Angst, dass sie alles bedauerte, wenn sie aufwachte und sah, wo sie sich befand. Und dass sie einfach mit der Santa-Akte in der Tasche sein Büro verließ, als wäre nichts geschehen. Sie mussten unbedingt über alles reden, und sobald er aus New York zurück war, würde er sie um ein Gespräch bitten. Claudia wachte mit bohrenden Kopfschmerzen auf. Zuerst wusste sie nicht, wo sie sich befand, nur dass sie nicht in ihrem winzig kleinen Apartment in Brooklyn war. Und auch nicht in der Pension. Plötzlich fuhr sie hoch. "Das ist das Büro von Tom Dalton!" Sie sah sich hastig um. Außer ihr war keiner hier, und auch im Vorzimmer schien nicht gearbeitet zu werden. "Ach so, Sonntag", sagte sie leise. In den Büros wurde am Sonntag nicht gearbeitet. Sie blickte auf die Uhr. Fast zehn! In fünfzehn Minuten musste sie ihren Platz am Zuckerstangentor einnehmen. Sie schwang die Beine vom Sofa, und plötzlich fiel ihr wieder ein, was gestern passiert war. Um Himmels willen! dachte sie. Ich habe ihm das Haar rosa gefärbt und ihm das Ohrläppchen durchstochen! Mit ein bisschen zu viel Champagner intus schien alles nur ein einziger großer Spaß gewesen zu sein. Aber dafür konnte sie nun wirklich gefeuert werden. Claudia angelte nach ihren Stiefeletten und zog sie an, dann stand sie auf. Aber ihr wurde so schwindelig, dass sie sich wieder setzen musste. Was war denn gestern noch passiert? Sie hatten hier zusammen auf der Couch geschlafen, davon zumindest ging sie aus. Und er hatte sie geküsst, leidenschaftlich und zärtlich zugleich, und schon bei dem Gedanken daran schlug ihr Herz schneller, und einen Augenblick lang spürte sie auch keine Kopfschmerzen. Vielleicht sollte sie warten, bis Tom wiederkam. Schließlich hatten sie die Nacht zusammen verbracht. Da verschwand man nicht einfach. Dann fiel ihr wieder das rosa Haar und der Ohrring ein. "Vielleicht sollte ich doch lieber gehen." Sie griff nach ihrem Mantel, der über einem Stuhl hing. Dahinten lag ihre Tasche. Claudia stand auf und nahm die Tasche an sich. Ein Stück Papier flatterte zu Boden. Sie hob es ungeduldig auf, ohne es sich weiter anzusehen, und legte es wieder auf den Tisch. Dann öffnete sie schnell die Bürotür, sah sich
kurz nach allen Seiten um und huschte zu dem Fahrstuhl. Sie drückte auf den Knopf, der Aufzug kam, und erst als sie auf dem Wege nach unten war, atmete sie auf. Gerade als sie im ersten Stock angekommen war, klingelte es zum Zeichen, dass nun die Kunden hereingelassen wurden. In wenigen Minuten ständen sicher schon zehn Kinder vor dem Zuckertor, und sie war noch nicht einmal umgezogen. Claudia hastete zu dem Aufenthaltsraum und versuchte unterwegs, sich das Haar zu glätten und die Spuren der Wimperntusche von den Wangen zu wischen. Sie hatte fast schon den Raum erreicht, als Mrs. Perkins hinter einem Riesenkorb mit Gummibällen hervortrat und sich ihr in den Weg stellte. "Ist Ihnen klar, Miss Moore, dass Sie in mindestens fünfzig Prozent der Zeit, die Sie hier arbeiten, entweder zu spät zur Arbeit kommen oder Ihre Pausen überziehen?" Claudia schluckte. Sie war immer noch so benommen, dass ihr einfach keine gute Ausrede einfiel. "Wirklich?" "Allerdings. Und das kann nicht einfach hingenommen werden." "Ja, ja, das verstehe ich. Ich verspreche Ihnen, ich werde mich wirklich bessern." Mrs. Perkins hob überrascht die Augenbrauen. "Und Sie haben keine Erklärung dafür, Miss Moore?" Claudia seufzte und rieb sich die schmerzenden Schläfen. "Doch, das schon, aber Sie würden mir sowieso nicht glauben." "Warum wollen Sie es nicht versuchen?" "Gut." Claudia seufzte. "Ich habe die Nacht mit Tom Dalton verbracht. Ich habe zu viel Champagner getrunken, bin in seinen Armen eingeschlafen und zu spät aufgewacht." Eunice schüttelte den Kopf und sah Claudia streng an. "Damit macht man keine Scherze, und Sarkasmus ist nicht angebracht. Das ist Ihre letzte Verwarnung, Miss Moore. Wenn Sie nicht endlich pünktlich sind, kann ich Sie als Mitglied in unserem Nordpol-Team nicht länger dulden. Ist das klar?" "Vollkommen." Claudia drehte sich um und stürzte in den Aufenthaltsraum. Sie warf die Tasche in ihr Schließfach, und bei dem Aufprall öffnete sich die Tasche. Claudia starrte auf den Hefter, der halb heraus gefallen war. "Oh nein!" Sie hatte gestern fest vorgehabt, ihn zurückzulegen, aber dann hatte sie keine Gelegenheit gehabt. Und
heute Morgen war sie zu benommen gewesen und hatte sich nicht mehr daran erinnert, dass sie die Unterlagen in ihre Tasche gesteckt hatte. Warum hatte sie das bloß getan? Wie konnte sie nur! Sie hatte bei ihren Recherchen doch noch nie gegen das Gesetz verstoßen. Und nun sah es so aus, als hätte sie Tom auf hinterhältige Art und Weise ausgenutzt. Ich muss den Ordner sofort zurückbringen, dachte sie und seufzte leise. Vielleicht war sie doch keine Top-Journalistin, vielleicht war die Times eine Nummer zu groß für sie. Sie wusste nur, dass der Artikel ihr plötzlich viel weniger bedeutete als das, was sie für Tom Dalton empfand. Aber er war ein knallharter Geschäftsmann, das wusste sie genau, und würde kein Verständnis für jemanden haben, der seine Unterlagen stahl. Auch wenn es sich um eine Frau handelte, die er gern küsste. Sie würde einen Weg finden, den Ordner wieder an seinen Platz zu legen, das schwor sie sich. Es musste einfach klappen.
6. KAPITEL
Claudia saß auf einer Bank im Umkleideraum der Elfen und riss sich die neuen Stiefelchen von den Füßen. Seit letzten Dienstag waren die neuen Kostüme da, die zwar aus einer weichen Kunstfaser gefertigt waren, deren Design aber noch alberner war als das frühere. Es gab noch üppigere Verzierungen mit Goldlitze und Glitzersteinchen. Und statt der milden ausgeblichenen Farben der alten Kostüme prangte nun alles in knalligem Grün und Rot. Allerdings wäre Claudia auch mit der feinsten Seide und dem geschmackvollsten Design nicht einverstanden gewesen. Sie war in einer Laune, in der man ihr nichts recht machen konnte. Im Grunde war nur Tom Dalton daran schuld. Nach der verrückten Nacht zum Sonntag hatte sie angenommen, dass sich etwas zwischen ihnen geändert hatte. Sie waren sich näher gekommen. Aber dann war er spurlos verschwunden, und sie fragte sich, ob sie das Ganze vielleicht nur geträumt hatte, unter dem Einfluss von zu viel Champagner. Sie streckte sich lang auf der Bank aus und legte die Arme über die Augen. Fünf Tage waren seitdem vergangen, und sie hatte nichts von ihm gehört. Keiner schien zu wissen, wo er sich aufhielt. Er war einfach wie vom Erdboden verschwunden. Wenn sie am Zuckerstangentor stand, ertappte Claudia sich dabei, wie sie alle paar Minuten angestrengt nach ihm Ausschau hielt. Er musste doch einfach mal auftauchen. Bei der Vorstellung, ihn nie wieder zu sehen, nie wieder seine Küsse und seine Berührungen zu spüren, wurde ihr ganz elend. Aber was hätte sie denn von Tom schon zu erwarten? Gut, sie hätten für eine gewisse Zeit sicher eine ganz aufregende Beziehung, aber irgendwann würde er die gleichen Forderungen stellen wie alle Männer. Er wollte eine Ehefrau, die ihm den Rücken stärkte, die ihm sein Essen kochte und die Wäsche wusch. Eine Frau, die seine Kinder erzog und mit der er bei gesellschaftlichen Anlässen einen guten Eindruck machte.
Und eine solche Frau war sie ganz sicher nicht! Sie war eine
ehrgeizige Journalistin, die irgendwann einmal für eine der großen
Zeitungen schreiben wollte. Und kein Mann, nicht einmal der
unwiderstehliche Tom Dalton, würde sie von diesem Ziel abbringen.
Sie warf einen schnellen Blick in ihren Metallspind. Da oben auf dem
Bord lag der Hefter, den sie aus Toms Büro gestohlen hatte.
In den vergangenen fünf Tagen hatte sie ihn immer wieder in die
Hand genommen, aber dann hatte sie es doch nicht über sich gebracht,
ihn aufzuschlagen. Entschlossen stand sie auf und griff nach der
Mappe. Damit war jetzt Schluss. Schließlich brauchte sie sich einem
Mann nicht verpflichtet zu fühlen, der sie so schmählich im Stich ...
"Wie findest du denn die neuen Kostüme?"
Claudia ließ schnell den Hefter los und fuhr herum. Vor ihr stand Tom
Dalton. Er hatte einen Smoking an und sah einfach hinreißend aus.
Sein Haar hatte wieder die normale Farbe, und auch der Ohrring war
verschwunden.
Bei seinem Anblick musste sie einfach lächeln. Aber dann fiel ihr ein,
wie wütend sie eigentlich auf ihn war, und sie runzelte die Stirn. "Sieh
an, wen haben wir denn hier? Ich habe schon geglaubt, ich würde dich
nie wieder sehen." Sie hatte alles Recht der Welt, wütend zu sein!
"Wieso bist du denn so elegant? Oder laufen Kaufhausbesitzer
heutzutage nur noch im Smoking herum?"
"Ich gehe zu einer Party. Was ist denn mit dir? Bist du wütend auf
mich?"
"Oh nein, warum sollte ich?"
"Ja, warum?"
Claudia stieß ein verbittertes Lachen aus. "Keine Ahnung. Vielleicht,
weil wir eine ganze Nacht in diesem verdammten Kaufhaus verbracht
haben und du mich dann ohne jede Erklärung einfach sitzen ließest."
"Aber ich habe dir doch einen Zettel hinterlassen. Und dir jeden Tag
mindestens zwei Faxe geschickt. Mrs. Lewis hat sie in deinen
Briefkasten getan."
"Briefkasten, was für ein Briefkasten?"
Er wies auf die Tür zum Aufenthaltsraum. "Dahinten die kleinen
grauen Kästen. Für Rundschreiben, Memos und Ähnliches."
"Davon hatte ich ja keine Ahnung", sagte sie leise. Er hatte Faxe an
sie geschickt, mehrmals am Tag?
Er lächelte zärtlich und legte ihr die Hände um die Taille. "Da muss ich wohl etwas wieder gutmachen. Ich wollte dich fragen, ob du mit mir zu einer kleinen Weihnachtsparty kommst. Nur Familie und ein paar Geschäftsfreunde. Was meinst du?" Sie sah ihn zögernd an. "Heute? Es ist schon ziemlich frech, mich zu einer Party einzuladen, die in einer Stunde beginnt." "Erst in eineinhalb Stunden. Du hast also noch viel Zeit." "Nein, ich komme nicht." "Warum denn nicht? Weil ich dich zu spät gefragt habe? Das ist doch kein echter Grund. Außerdem habe ich dich schon Montagmorgen per Fax gefragt." Er seufzte leise. "Aber gut, wenn du nicht willst, muss ich eben Janine fragen oder Lila." Eifersucht stieg in Claudia auf. Nein, das kam nicht infrage. Keine Frau durfte in Toms Nähe kommen, wenn er diesen Smoking anhatte. "Also gut", lenkte sie ein. "Du kommst mit mir zu der Party?" "Ja", sagte sie. Dann sah sie ihn erschrocken an. "Warte, ich kann ja gar nicht mitkommen, ich habe nichts anzuziehen. Ich kann ja schließlich nicht in meinem Elfenkostüm kommen. Ich brauche ein passendes Kleid. Und Schuhe und Schmuck." "Zufällig bin ich der Besitzer eines kleinen Ladens, in dem man all das bekommen kann, was dir fehlt." Er lächelte und blickte auf die Uhr. "In fünf Minuten ist Ladenschluss. Ich sage dem Sicherheitsdienst Bescheid, dass du noch etwas länger bleibst. Du wirst schon etwas finden." "Aber das kann ich nicht annehmen." "Betrachte es als Leihgabe. Du kannst ja nach der Party alles wieder zurückgeben." Es klingelte. "Ladenschluss! Sieh dich doch schon mal um. Du kannst ja in mein Büro kommen, wenn du fertig bist. Ich sage dem Wachmann Bescheid, dass er den Fahrstuhl in Betrieb lässt." Claudia nickte kurz. Sie setzte sich auf die Bank und zog ihre Elfenstiefelchen wieder an. Das Licht war bereits abgedunkelt, und nur noch wenige Verkäuferinnen waren zu sehen. Claudia fuhr mit der Rolltreppe in den dritten Stock, wo es eine Extraabteilung für Abendgarderobe gab. Ihr Blick fiel sofort auf ein dunkelblaues Abendkleid mit einem engen Oberteil aus Wildseide und einem weiten Samtrock. Die Seide
schimmerte, und der Samt fühlte sich wunderbar an. Claudia griff nach dem Preisschild. Fünfzehnhundert Dollar! "Das würde Ihnen hinreißend stehen!" sagte eine Stimme hinter ihr. Claudia wandte sich schnell um. Eine ältere Verkäuferin lächelte sie an. "Nein, das geht nicht. Außerdem weiß ich auch gar nicht, was erwartet wird. Vielleicht wäre ich damit auf der Party etwas overdressed. Wie wäre es mit einem kleinen Schwarzen vielleicht? Und etwas preiswerter?" Doch die Verkäuferin nahm schnell das blaue Kleid von dem Bügel. "Probieren Sie es doch einfach mal an. Ich gehe inzwischen in die Schuhabteilung und sehe nach, ob wir etwas Passendes haben. Welche Größe?" "38." "Gut, bin gleich wieder da." Sie sah Claudia freundlich an. "Übrigens, ich bin Millie, und Mr. Dalton hat mir gesagt, dass Sie wegen eines Abendkleides kommen würden." "Claudia. Ich bin Claudia." Sie nickte Millie zu und verschwand mit dem Kleid in der Umkleidekabine. Sie zog die Tür hinter sich zu, sank seufzend auf den gepolsterten Stuhl und starrte in den Spiegel. Worauf ließ sie sich da ein? Doch dann richtete sie sich auf. Ich sollte das Ganze als Teil meiner Recherchen betrachten, sagte sie sich. "Auf dieser Party kann ich vielleicht Wichtiges erfahren. Und auch nur zu diesem Zweck bin ich mit ihm verabredet." Doch sie wusste, dass sie sich etwas vormachte. Als Journalistin für eine große Zeitung zu arbeiten war immer ihr Ziel gewesen. Aber nun hatten die Gefühle für Tom Dalton sie ganz verwirrt, und plötzlich schien ihr eine Zukunft mit ihm durchaus erstrebenswert zu sein. Sie schlüpfte aus ihrem Elfenkostüm und sah an sich herunter. Es war eine Schande, dieses wunderschöne Kleid über einfache Baumwollunterwäsche zu ziehen. Kurz entschlossen zog sie ihren Slip und ihr Hemd aus und stieg in das Kleid. Sie zog das trägerlose Oberteil über die Hüften und dann über ihren Oberkörper. Fassungslos starrte sie auf ihr eigenes Spiegelbild. "Das ist ja ..." Claudia hatte sich nie schön gefunden. Hübsch, ja. Aber in diesem Kleid sah sie vollkommen verändert aus. Das tiefe Blau
brachte den schimmernden Elfenbeinton ihrer Haut gut zur Geltung
und harmonierte wunderbar mit ihrem dunklen Haar.
Sie schloss die Augen und machte probehalber ein paar Tanzschritte.
Das Taftfutter raschelte, und Claudia strich zärtlich über den weichen
Samt. "Vielleicht wird ja auch getanzt", murmelte sie. Wie gern würde
sie mit Tom tanzen, seine Arme spüren, sich an ihn schmiegen ...
Es klopfte. "Ich habe die Schuhe!" rief Millie. Claudia öffnete schnell
die Tür. Millie hielt ein Paar dunkelblaue Satinpumps in der Hand,
außerdem hatte sie noch eine passende Abendtasche mitgebracht.
Millie zog den Reißverschluss auf dem Rücken des Kleides hoch, und
Claudia schlüpfte schnell in die Pumps.
Millie betrachtete Claudia prüfend im Spiegel. "Ein bisschen mehr
Farbe im Gesicht könnte nicht schaden."
Claudia nickte. Sie tuschte sich die Wimpern kräftiger und zog noch
einmal ihre Lippen nach. Währenddessen steckte ihr Millie das Haar
mit einer großen silbernen Spange hoch.
"Perfekt", sagte Millie befriedigt. "Sie sehen wunderschön aus. Ich bin
sicher, Mr. Dalton wird zufrieden sein."
"Das kann man sagen." Tom stand lächelnd im Gang und blickte
Claudia bewundernd an. "Fertig?"
Claudia strich noch einmal mit zitternden Fingern über den Rock und
nickte dann. "Wenn ich nichts esse und nichts trinke, dann sollte dem
Kleid nichts passieren", sagte sie leise. "Aber wenn doch, dann musst
du dafür geradestehen. Das Kleid kostet mehr, als eine Elfe in einem
ganzen Jahr verdient."
Er ging nicht darauf ein. "Das habe ich übrigens unten noch
gefunden." Er reichte ihr ein schlichtes, aber edles Collier aus
Diamanten und Saphiren. Er trat hinter Claudia und legte ihr die Kette
um. Sie passte genau zu dem Kleid.
"Danke", flüsterte Claudia, doch dann musste sie plötzlich lachen.
"Das ist ja wie in ,Pretty Woman' mit Richard Gere und Julia Roberts.
Nur dass ich keine Prostituierte bin und du nicht Ri..." Und du siehst
viel besser aus als Richard Gere, setzte sie in Gedanken hinzu.
"Pretty Woman?"
"Ja, der Film. Sag bloß, du kennst ihn nicht."
"Nein, ich gehe nie ins Kino."
"Dann leihe ich mir das Video mal aus. Das können wir dann bei mir
ansehen."
Er strich ihr sanft über die nackten Schultern. "Sehr gern." Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und ihre Haut prickelte, da, wo er sie berührte. Am liebsten hätte Claudia sich umgedreht und ihn auf der Stelle geküsst. Das Ganze war wie das Märchen von Aschenputtel und dem Prinzen. Aber die Geschichte würde kein gutes Ende nehmen, wenn Tom herausfand, dass sie den Hefter genommen hatte. "Wollen wir gehen?" fragte er. Claudia sah sich neugierig um, als sie die Innenstadt verließen und in eine reine Wohngegend einbogen. Sie hatte sich Schuyler Falls bisher noch nicht genauer angesehen und war überrascht über die großzügige und elegante Anlage. Sie kamen an riesigen Steinhäusern vorbei, die in weiträumigen Parks lagen, offensichtlich die Sommerresidenzen der reichen New Yorker. Jetzt bog Tom in eine Einfahrt ein und fuhr eine geschwungene Straße entlang, die von großen Bäumen gesäumt wurde. Dann wurde der Baumbewuchs spärlicher und gab den Blick frei auf eine schneebedeckte Rasenfläche und auf ein großes, hell erleuchtetes Herrenhaus. Claudia blieb der Atem stocken. "Das sieht ja aus wie ein Schloss", flüsterte sie dann. Jetzt fühlte sie sich erst recht wie Aschenputtel, allerdings mit einem quälenden Geheimnis. Wenn der Prinz das rauskriegte, würde sie ganz schnell wieder in der Asche am Herd sitzen, während der Prinz sich eine andere Prinzessin suchte. "Das hat mein Urgroßvater gebaut", sagte Tom. "Meine Großeltern haben hier gelebt, bis sie nach Arizona zogen. Auch meine Eltern haben hier eine Zeit lang gelebt, aber es gefällt ihnen in New York besser. Ja, und nun gehört es mir." "Das ist dein Haus?" Er zuckte beinahe verlegen mit den Schultern. "Ich weiß, es ist ein bisschen zu groß für eine Person, aber es ist mein Zuhause." "Es ist sogar ein bisschen zu groß für zehn Personen!" "Aber für eine Familie wäre es doch wunderbar geeignet, findest du nicht?" Er wandte sich zu ihr um und sah ihr direkt in die Augen. Claudia fühlte, wie sie errötete, und war froh, dass es im Wagen ziemlich dunkel war. Sie versuchte zwar den Gedanken weg zu schieben, aber immer wieder musste sie daran denken, wie es wohl
wäre, mit Tom Dalton verheiratet zu sein. Sie hätten sicher auch ein paar Kinder ... Aber das waren nur Tagträumereien. Claudia gehörte nicht zu den Frauen, die einen Mann anschmachteten, auch nicht, wenn er so attraktiv und charmant war wie Tom Dalton. Nein, Claudia Moore war eine erfahrene berufstätige Frau, der die Karriere über alles ging und die sich auch durch eine Romanze nicht davon abbringen ließ. "Wieso gibt jemand in deinem Haus eine Party?" fragte sie. "Ehrlich gesagt, ich bin selbst der Gastgeber. In der Weihnachtszeit lade ich einmal die wichtigsten Geschäftsfreunde zu mir ein, dazu die Politiker der Stadt, die Chefs der wichtigsten Banken und ein paar Freunde und Verwandte." "Was?" rief Claudia. "Das ist dein Fest? Und du bringst mich mit? Bedeutet das nicht, dass sie erwarten ..." "Keine Angst." Tom lächelte beruhigend und nahm ihre Hand. "Keiner erwartet etwas von dir. Sei einfach so, wie du bist. Und wenn du nach Hause willst, sagst du mir Bescheid, und ich bringe dich heim." Sie hielten vor dem Eingang, und Claudia atmete tief durch. Bisher hatte sie das Ganze gar nicht so ernst genommen, Tom nahm sie eben zu irgendeiner Party mit. Aber das hier war ja etwas ganz anderes. Sie würde seine Freunde und Bekannten kennen lernen, und die Leute würden über sie reden und sich fragen, wer sie wohl war. Tom stellte den Motor aus und drehte sich zu ihr um. "Hab keine Angst", sagte er leise. "Du siehst hinreißend aus. Du brauchst nur zu lächeln, und sie werden dir alle zu Füßen liegen." "Danke." Sie lächelte verkrampft. Er beugte sich vor und strich mit den Lippen kurz über ihren Mund. Doch dann konnte er nicht widerstehen, legte ihr die Hand in den Nacken und zog sie an sich. "Vielleicht sollten wir einfach nicht auf die Party gehen", sagte er schließlich schwer atmend, als er sie wieder losließ. "Ich kenne ein hübsches Plätzchen, wo wir ganz für uns sind. Keiner wird mich vermissen. Die Catering-Firma hat alles unter Kontrolle." "Aber vielleicht sollten wir uns das für später aufsparen", sagte sie lächelnd. "Komm, wir müssen gehen. Es ist schließlich deine Party." "Aber nur, wenn du mir versprichst, dass es auch ein Später geben wird."
"Aber natürlich", sagte Claudia leichthin, obwohl sie genau wusste,
dass sie ein solches Versprechen gar nicht geben konnte. Denn sowie
ihre Recherchen hier in Schuyler Falls beendet waren, würde sie die
Stadt verlassen.
Tom sprang aus dem Wagen und warf die Schlüssel dem Mann zu, der
die Wagen parkte. Er öffnete die Beifahrertür und reichte Claudia die
Hand. Sie stieg aus, und als sie seine warme Hand auf dem Rücken
spürte, fühlte sie sich seltsam getröstet. Sie gingen die Stufen zum
Eingang hoch, die Tür öffnete sich vor ihnen, und eine festlich
gekleidete Menge empfing sie.
Alle wandten sich Tom zu, um ihn zu begrüßen, wobei sie Claudia
verstohlen musterten. Sie setzte ein freundliches Lächeln auf und
nahm kaum wahr, was gesprochen wurde. Als sich die Menge endlich
wieder verzogen hatte, zogen sich Tom und Claudia in eine Nische
des geräumigen Esszimmers zurück.
"Das ging doch schon sehr gut", sagte Tom und drückte ihre Hand.
"Soll ich dir nicht ein Glas Champagner holen?"
"Ja, sehr gern. Aber bitte nur eins, zur Entspannung."
Sie sah ihm hinterher und wandte sich dann um, um eine chinesische
Vase zu betrachten, die auf einem Sockel in der Nische stand.
"Wunderschön, nicht wahr? Leider kann ich mich nicht mehr erinnern,
aus welcher Dynastie sie ist."
Claudia fuhr herum. Vor ihr stand ein älterer Herr.
"Sie sind Claudia, nicht wahr?"
"Sie kennen mich? Aber ich weiß nicht, wo wir uns schon begegnet
sein sollten." Sie sah ihn an. Irgendetwas an diesem Gesicht kam ihr
bekannt vor, aber sie wusste nicht, was.
"Ich bin Toms Großvater, Theodore Dalton. Ich habe Sie schon im
Geschäft gesehen. Sie sind eine der Elfen."
Claudia streckte ihm lächelnd die Hand hin. Er hatte die gleichen
grünen Augen wie Tom. "Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Mr.
Dalton." Auch sein Lächeln und das ausgeprägte Profil erinnerten an
Tom.
Er nickte freundlich und sah sich dann schnell im Raum um, bevor er
fort fuhr: "Na, wie ist es? Haben Sie schon alle Rätsel gelöst?"
"Wie meinen Sie das?" fragte sie verwirrt.
"Haben Sie schon herausgefunden, wer der Santa Claus von Dalton
ist?"
Ihr Herz schlug plötzlich schneller. "Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe." Wusste er, wer sie war und was sie wollte? Wie hatte er das herausgefunden? "Sie sind doch Reporterin, oder?" "Woher wissen Sie das?" Er lächelte triumphierend. "Ich habe so meine Quellen. Wissen Sie, ich bin eigentlich mehr dafür, eine Sache sehr direkt anzugehen, anstatt hintenrum Nachforschungen anzustellen, wie ihr Journalisten es ja gern tut. Warum fragen Sie nicht einfach nach dem, was Sie wissen wollen, und die Sache ist ausgestanden?" Claudia starrte ihn an wie einen Geist. So einfach konnte es doch nicht sein, nicht nach all dem, was sie schon auf sich genommen hatte. Aber sie konnte es ja mal versuchen. "Gut", sagte sie, "dann werde ich Ihnen meine Fragen stellen. Wissen Sie, wer hinter den Wohltaten steckt, die Santa jedes Jahr verteilt?" "Ja", sagte er fröhlich. "Und wer?" "Ich natürlich. Und davor war es mein Vater, und danach wird es mein Sohn sein und danach sein Sohn. Es gibt eine Stiftung, die Thaddeus Dalton einrichtete, als er das erste Kaufhaus eröffnete. Und die ist nicht nur für Santas Gaben zuständig, sondern gibt auch eine ganze Menge für andere wohltätige Zwecke aus." Er zwinkerte ihr zu, und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. "Sie! Sie sind Santa! Die ganze Zeit war ich nur ein paar Meter von Ihnen entfernt." Er nickte. "Und Sie sind eine unmögliche Elfe", sagte er. "Für diesen Beruf sind Sie ganz bestimmt nicht geschaffen." "Nein, das stimmt. Aber ich dachte einfach, ich würde so am schnellsten an die Story kommen." "Und nun haben Sie sie ja." "Ja", sagte Claudia leise, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Sie hatte ihre Geschichte, und sowie sie noch ein paar Sachen nachrecherchiert hatte, konnte sie Schuyler Falls verlassen. Ohne Tom und ohne Aussicht auf ein Leben mit ihm. "Aber ich glaube nicht, dass Sie die Geschichte in die Zeitung bringen", sagte Theodore. Sie sah ihn überrascht an. "Warum denn nicht?"
Er lachte leise. "Weil Sie meinen Enkelsohn lieben. Und wenn Sie mein Geheimnis verraten, würden Sie die ganze Familie verraten und damit auch ihn. Und das werden Sie ganz sicher nicht tun." "Aber ich kann nicht anders. Ich kann mich ohne die Story bei der Times nicht blicken lassen. Das ist meine einzige Chance, dort als Reporterin angestellt zu werden." Er nickte langsam. "Ich fürchte, die Entscheidung wird nicht einfach für Sie, Claudia. Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken." "Warum sind Sie so offen mit mir?" "Weil ich meinen Enkel liebe und nur das Beste für ihn will." "Also soll das hier eine Art Test sein?" Er hob langsam die Schultern und ließ sie wieder fallen. "Nennen Sie es, wie Sie wollen." "Und werden Sie Tom erzählen, wer ich bin und warum ich hergekommen bin?" Er lächelte. "Das sollte wohl Ihre Aufgabe sein." Er hob noch einmal grüßend sein Glas und ging. Claudia ließ sich langsam in einen Sessel sinken. Erst allmählich begriff sie, was sie da eben gehört hatte. Würde der alte Mr. Dalton wirklich zu seinem Wort stehen und seinem Enkel nichts erzählen? Oder würde er sich verpflichtet fühlen, ihn über Claudias wahre Motive aufzuklären? Und wie sahen ihre wahren Motive eigentlich aus? Je länger sie mit Tom zusammen war, desto mehr wünschte sie sich, diese ganze Santa-Story würde sich in Luft auflösen. Plötzlich wusste Claudia, was sie zu tun hatte. Es würde auch noch andere Storys geben und sicher auch andere Jobangebote. Aber es gab nur einen Tom Dalton. Sie hatte jetzt ihre Chance, und sie würde das Beste daraus machen. Während der Party konnte Tom mit Claudia nur wenige Worte wechseln. Natürlich waren sie sich immer wieder begegnet, hatten sich angelächelt und kurz berührt, aber im Übrigen musste er sich um seine Gäste kümmern. Jetzt stand er in der Eingangshalle und beobachtete Claudia, die sich lebhaft mit dem Bürgermeister von Schuyler Falls unterhielt. Tom sah sich um. Viele waren schon gegangen, da sie am nächsten Tag wieder früh raus mussten. Nur der harte Kern der unverdrossenen Partygänger war übrig geblieben. Claudia wandte sich jetzt einem gut aussehenden Abgeordneten des Stadtparlaments zu, an dessen Namen
er sich momentan nicht erinnern konnte. Er wusste nur, dass er als notorischer Schürzenjäger galt. Tom ging quer durch den Raum direkt auf die beiden zu und nahm Claudia bei der Hand. "Entschuldigen Sie uns bitte", sagte er zu dem Abgeordneten, "ich habe noch kaum Gelegenheit gehabt, mit Claudia zu sprechen. Und so sollte man doch mit einer schönen Frau nicht umgehen." Er zog Claudia hinter sich her in Richtung Küche. "Was soll das? Wohin führst du mich?" protestierte sie halbherzig. "Dahin, wo wir endlich allein sein können." Er stieß die Schwingtür zur Küche auf, holte eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank und griff nach zwei Sektgläsern, die er Claudia in die Hand drückte. "Komm, ich zeige dir das Haus." Über die hintere Treppe gelangten sie in den ersten Stock, und als Claudia in den breiten oberen Flur trat, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ein riesiger Weihnachtsbaum stand auf der gegenüber liegenden Seite, Orientteppiche lagen auf dem schimmernden Parkett, und die schweren Mahaghonimöbel leuchteten in einem warmen Rotbraun. "Wie schön!" "Die Einrichtung stammt noch von meiner Großmutter und meiner Mutter. Außer den üblichen Renovierungen hat sich das Haus eigentlich seit den Tagen meines Urgroßvaters kaum verändert." Er blickte sich lächelnd um. "Ich habe das Haus immer geliebt, ich bin ja auch hier aufgewachsen." "Zeig mir dein Zimmer", sagte Claudia. Sie gingen durch den Flur, und Tom öffnete eine schwere, breite Holztür. Falls Claudia vermutet hatte, hier noch Sannestrungen an seine Jugend zu finden wie Modellflugzeuge und Poster der berühmtesten Rockbands, so wurde sie enttäuscht. Der Raum war sehr maskulin eingerichtet, in dunklem Holz gehalten. Ein großes Bett stand auf der einen Seite, dem Kamin gegenüber, der von zwei gemütlichen Sofas flankiert wurde. Tom sah Claudia von der Seite her an. Sie starrte auf das große Bett und fühlte sich offensichtlich unbehaglich. "Sehr schön. Nun zeig mir das übrige Haus." Tom lachte leise und zog sie in den Raum. "Keine Angst, dir geschieht nichts, was du nicht selber willst." "Ich habe keine Angst. Ich weiß doch, dass du der perfekte Gentleman bist."
Ein Gentleman mit nicht jugendfreien Gedanken, korrigierte er sie im Stillen. Er konnte an nichts anderes denken, als sie in die Arme zu nehmen und zu küssen. Dann würde er sie langsam entkleiden, bis sie vollkommen nackt vor ihm stand. Sie war so schön, dass selbst der frömmste Mönch sein Keuschheitsgelübde vergessen würde. Und Tom war alles andere als ein Mönch. Er setzte sich auf das Bett und stellte die Flasche auf den Nachttisch. "Komm, wir wollen etwas trinken." "Müssen wir nicht zu deinen Gästen gehen?" Tom schüttelte den Kopf. "Noch nicht. Ich möchte endlich mal mit dir allein sein." Er betrachtete sie liebevoll. "Du warst wunderbar." "Ich?" "Ja, auf der Party. Du hast alle mit deinem Charme bezaubert." Sie blickte verlegen an sich herunter. "Das war nur wegen des Kleides und des Schmucks." "Nein, das glaube ich nicht." Tom legte ihr den Arm um die Taille, beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. "Du bist wunderschön." Wieder küsste er sie, diesmal länger und fordernder. Und als sie leise stöhnend nachgab, zog er sie fest an sich und küsste sie so stürmisch, wie er es schon den ganzen Abend vorgehabt hatte. Er schob sie langsam in Richtung Bett und hielt sie fest, als sie gemeinsam auf die Matratze sanken. Claudia lag auf ihm, und er hielt sie fest umschlungen. "Möchtest du etwas trinken?" Er wies mit dem Kopf auf die Champagnerflasche. "Nein." Sie schüttelte den Kopf. "Du hast gesagt, dass nichts passieren würde, was ich nicht selber will", sagte sie leise und stockend. "Und wenn ich nun ... etwas will?" Er sah ihr prüfend in die Augen. "Bist du ganz sicher?" Claudia nickte, aber Tom war nicht ganz überzeugt. Er setzte sich auf und zog sie hoch. Beinahe vorsichtig strich er ihr über die Wangen, über den Hals, das Dekollete. Währenddessen beobachtete er sie genau. Er wollte wissen, was sie wirklich empfand. Sie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Tom beugte sich vor und liebkoste mit den Lippen ihren Hals und die nackten Schultern. Diese wunderbare seidenweiche Haut! Plötzlich wusste er, dass es kein Zurück mehr gab. Er wollte, dass Claudia in seinen Armen lag, sich ihm hingab, seinen Namen ausrief
in höchster Erregung. Und dass in ihren Augen nicht nur Begierde stand, sondern Liebe. Er hakte das Collier auf, hielt es aber nicht rechtzeitig fest, so dass es zwischen Claudias Brüste glitt. Tom lachte leise. "Das war ja sehr schlau." Er starrte ihr in den Ausschnitt. "Ich fürchte, ich bin ein wenig aus der Übung." Er blickte ihr ins Gesicht. "Vielleicht bin ich auch ein bisschen nervös. " Claudia war ganz rot geworden. "Ich hole sie aus dem Ausschnitt." Er schob ihre Hand beiseite. "Nein, lass nur. Das mach' ich." Er versuchte, die Kette mit den Fingern zu greifen, aber sowie er Claudias Brüste berührte, stieg das Verlangen so unbezähmbar heiß in ihm auf, dass sein Atem schneller ging. Sein Puls raste. Schnell griff er nach hinten und zog ihr den Reißverschluss auf. Claudia stockte der Atem, als sich das Oberteil des Kleides löste, und versuchte es mit beiden Händen festzuhalten. "Nein, nicht", sagte er leise und hielt ihre Hände fest. Das Oberteil rutschte herunter. Beinahe ehrfürchtig streckte er die Hand aus und strich über Claudias Brüste. Mit dem Daumen reizte er die harten, aufgerichteten Spitzen, die sich ihm entgegenreckten. "Du bist schöner, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen habe vorstellen können", flüsterte er. Wieder lächelte sie beinahe verlegen, und er konnte sehen, dass ihr nicht bewusst war, welche Wirkung sie auf ihn hatte. Er zog ihr die silberne Spange aus dem Haar, das ihr nun in weichen Locken auf die Schultern fiel. Dann drückte er sie sanft in die Kissen und streckte sich lang neben ihr aus. Er konnte nicht anders, er musste Claudia küssen. Erst auf die Lippen, dann auf den Hals. Er kitzelte sie mit der Zunge zwischen den Brüsten, schmeckte ihre Haut. Langsam bewegte er sich weiter, und als er mit Lippen und Zunge die harten rosa Spitzen umspielte, schrie Claudia auf und versuchte, ihn weg zu schieben. So sehr er sich auch danach sehnte weiterzumachen, er spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Keinesfalls wollte er etwas gegen ihren Willen tun, dafür bedeutete sie ihm viel zu viel. Er hob den Kopf und blickte in ihr gerötetes Gesicht. "Claudia, wir können jederzeit aufhören", sagte er leise.
Sie öffnete die Augen und er sah, dass sie unsicher und verwirrt war. "Nein, nein, ich will ja!" stieß sie hervor und zog seinen Kopf wieder zu sich herunter. Aber Tom wusste, dass etwas anders war. Er küsste sie auf die Nasenspitze. "Wir haben noch jede Menge Zeit, Liebste. Ich werde mit dir schlafen, darauf kannst du dich verlassen. Aber erst, wenn du volles Vertrauen zu mir hast." Sie sah ihn an, und bei ihrem Blick wäre er beinahe wieder rückfällig geworden, aber er wusste, dass er warten musste. Zu vieles war noch ungeklärt zwischen ihnen. "Ich glaube, ich sollte dich jetzt lieber nach Hause bringen. Ich hole schon mal meinen Wagen aus der Garage, während du dich anziehst." Sie nickte und wirkte beinahe erleichtert. "Aber ruf mir doch einfach ein Taxi. Du solltest lieber hier bei deinen Gästen bleiben." "Großvaters Chauffeur ist noch da. Er kann dich nach Hause fahren." Er griff nach dem Türknauf, aber ihre Stimme hielt ihn noch einmal zurück. "Ich fürchte, du musst mir mit diesem Reißverschluss helfen", sagte sie. Er lachte leise, kam zurück, reichte ihr die Hand und half ihr hoch. Sie drehte ihm den Rücken zu, und er zog langsam den Reißverschluss zu. Als das Oberteil ihre Brüste wieder fest umschloss, legte er ihr noch einmal die Hände auf die Schultern. Sie drehte sich um und sah ihn an. Er drückte ihr einen zarten Kuss auf die Lippen. "Es wird Zeit, dass du ins Bett kommst", flüsterte er. Er öffnete die Tür und ließ sie vorgehen. Bevor er die Tür schloss, warf er noch einen Blick auf das Bett. Wie sehr er sich wünschte, sie hier zu behalten, sie zu lieben, bis sie erschöpft in einen tiefen Schlaf sank. Und morgens würden sie gemeinsam aufwachen, eng aneinander geschmiegt, und würden sich wieder lieben ... Tom atmete tief durch. Auf manche Dinge musste man eben etwas länger warten im Leben, und Claudia war es ganz sicher wert.
7. KAPITEL
"Einen wunderschönen Guten Tag!" Der Wachmann strahlte Claudia an. "Das muss sich erst mal zeigen", murmelte sie, als sie an ihm vorbei durch den Personaleingang ging. Sie hatte daran gedacht, sich krank zu melden, aber nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollte. An Mrs. Perkins, an die Personalabteilung, oder sollte sie bei der NordpolSiedlung direkt anrufen? Oder gar bei Tom? Um Himmels willen, nur das nicht. Denn er war der Grund, weshalb sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte und jetzt nicht imstande war, den einfachsten Gedanken zu fassen. Er hatte sie zum Auto gebracht und hatte sie zum Abschied auf die Stirn geküsst wie ein guter Onkel. Als er die Tür zugeschlagen hatte und das Auto sich in Bewegung setzte, ging ihr nur ein Gedanke durch den Kopf. Wie hatte sie es nur so weit kommen lassen können? Sie hatte ein paar Erfahrungen mit Männern und war bisher immer davon ausgegangen, dass es eine Frau immer in der Hand hatte, ob sie mit einem Mann schlief oder nicht. Aber obwohl sie sich entschlossen hatte, mit Tom Dalton nicht ins Bett zu gehen, war es fast dazu gekommen. Sie hatte ihm kaum widerstehen können, obwohl sie doch genau wusste, was danach folgen würde. Er würde mehr und mehr erwarten, und Claudia war sich noch überhaupt nicht sicher, ob sie ihm das sein könnte, wonach sich offensichtlich alle Männer sehnten, nämlich seine Ehefrau. Er hatte ihr gesagt, dass er ihr Zeit lassen würde. Er glaubte also daran, dass es für sie eine gemeinsame Zukunft gab. Aber Claudia war davon nicht vollkommen überzeugt. Sein Großvater wusste ja bereits, weshalb sie nach Schuyler Falls gekommen war. Er würde Tom sicher bald davon erzählen. Und wenn Tom erst den Hefter in ihrem Garderobenschrank fand und begriff, aus welchen Gründen sie wirklich hier war ... Er war ein leidenschaftlicher Mann, und sie wollte diese Leidenschaft so gern erfahren. Wenn sie wieder in New York zurück war, wären die
Tagträume darüber, wie es hätte sein können, nicht genug. Aber wenn sie mit ihm wirklich schlafen würde, dann könnte sie sich später immer daran erinnern, und das wäre ein Trost in ihrem liebeleeren Leben, in dem nur noch die berufliche Karriere eine Rolle spielte. War nun schon alles vorbei, weil sie die Gelegenheit nicht genutzt hatte, oder gab das Schicksal ihr noch eine zweite Chance? Als sie letzte Nacht schlaflos im Bett lag, hatte sie sich alle möglichen Szenarien ausgemalt. Wie würde Tom reagieren, wenn er von Theodore die Wahrheit erfuhr? Und wie würde ihr Zusammentreffen danach aussehen? Würde er wütend sein? Würde er sie verachten? Würde er sich weigern, mit ihr zu sprechen, und sie einfach feuern? Oder würde er ihr ins Gesicht sagen, was für einen miesen Charakter sie hatte? Sie stieg die Treppe zum ersten Stock hoch und sah sich immer wieder nach Tom um. Wenn sie aber den ganzen Tag nur darauf wartete, dass die Bombe endlich platzte, dann Gute Nacht! Vielleicht hätte sie doch lieber zu Hause bleiben sollen. Sie winkte Mrs. Perkins zu und deutete auf ihre Armbanduhr. "Fünfzehn Minuten zu früh!" "Sehr gut!" Als sie in den Umkleideraum trat, sah sie, wie sich alle Elfen über eine Zeitung beugten, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatten. "Was ist denn los?" Dinkie hielt die Morgenausgabe des Schuyler Falls Citizen hoch. "Sieh mal. Hier ist ein Bild von Tom Dalton und seiner neuen Freundin. Keiner weiß, wer sie ist. Schon seit Jahren ist er ohne Freundin. Die schreiben, dass er sie zu seiner großen Weihnachtsparty mitgebracht hat und dann mit ihr nach oben verschwand, noch bevor die Party zu Ende war." Sie kicherte. Claudia griff nach der Zeitung und starrte auf das Foto. Auch wenn die anderen Elfen sie nicht erkannten, sie sah genau, wer da neben Tom Dalton stand. "Was sagt man denn sonst noch so?" fragte sie und bemühte sich um einen gleichmütigen Ton. "Sie soll nicht besonders schön sein", sagte Winkie eifrig, "aber sie muss sehr reich sein. Sofern der Schmuck echt ist." "Natürlich ist der Schmuck echt", murmelte Claudia.
Blinkie blickte ihr über die Schulter. "Sie kommt mir irgendwie bekannt vor. Entweder habe ich sie gerade in irgendeinem Film gesehen, oder ich kenne sie hier aus dem Kaufhaus." "Es stimmt, ich habe sie auch schon mal gesehen", sagte Dinkie nachdenklich. "Natürlich kennt ihr sie!" sagte Claudia heftig und drückte die Zeitung Dinkie in die Hand. "Ich bin es." Die drei Elfen sahen erst das Foto und dann Claudia an. "Du bist die neue Schnecke von Tom Dalton?" fragte Blinkie ungläubig. "Nein, natürlich nicht. Er hat mich zu der Party eingeladen, und ich habe die Einladung angenommen. Das ist alles. Ich hatte keine Ahnung, dass auch jemand von der Zeitung da war." "Nun geht mir ein Licht auf", sagte Winkie und starrte Claudia an, "die Gehaltserhöhung, die neuen Kostüme, das hat er nur gemacht, weil er auf eine der Elfen scharf ist!" "Er ist nicht scharf auf mich!" protestierte Claudia. "Wir sind nur Freunde." "Los, Elfen, beeilt euch!" rief Mrs. Perkins von der Tür her. "In zehn Minuten wird geöffnet." Claudia ging schnell zu ihrem Garderobenschrank, blieb aber abrupt stehen, als sie ihren Namen hörte. "Miss Moore!" Das war wieder Mrs. Perkins. "Santa möchte mit Ihnen sprechen, jetzt noch vor Geschäftsbeginn. Und zwar in der Nordpol-Siedlung. Bitte beeilen Sie sich, wir wollen ihn nicht warten lassen." Claudia wurde ganz elend zumute. Was mochte Theodore Dalton von ihr wollen? Wollte er ihr damit drohen, alles aufzudecken? Oder wollte er sie nur davon informieren, dass er bereits mit seinem Enkel gesprochen habe und sie ihre Sachen packen könne? Mit zitternden Fingern öffnete sie den Garderobenschrank und holte ihr Kostüm heraus. Es musste ja dazu kommen. Vom ersten Augenblick an, als sie Tom Dalton sah, hatte sie gewusst, dass sie etwas ganz Besonderes verband, etwas, was sie noch bei keinem anderen Mann bisher empfunden hatte. Auf der anderen Seite aber hatte sie die Aufgabe zu erfüllen, wegen deren sie hergekommen war, auch wenn sie dadurch sein Vertrauen zwangsläufig bitter enttäuschen musste. Ihre innere Stimme hatte ihr gesagt, dass sie schleunigst wieder aus Schuyler Falls verschwinden sollte, wenn sie nicht ihren Stolz, ihr Herz und
ihre Integrität als Journalistin verlieren wollte. Denn etwas, was mit einer Lüge, einem gefälschten Lebenslauf und halbwahren Ausflüchten begann, konnte nur böse enden. Claudia setzte sich auf die Bank und ließ die Schultern sinken. Der Hefter war immer noch in ihrem Schrank, weil sie sich bisher nicht getraut hatte, ihn an dem Wachmann vorbei nach draußen zu schmuggeln. Sie hatte immer noch auf die Gelegenheit gewartet, die Seiten zu kopieren und die Akte wieder in Toms Schreibtisch zu legen. Seit gestern Nacht bedauerte sie, was sie getan hatte. Vielleicht würde sie sich besser fühlen, wenn der Folder wieder an seinem Platz wäre. Seufzend stand sie auf und nahm die Stiefel aus dem Schrank und den Bügel mit dem Kostüm. Sie legte beides auf die Bank und fing an, ihre Bluse aufzuknöpfen. Der Beruf war für sie immer das Wichtigste gewesen, wichtiger als alles andere in ihrem Leben. Aber wie sollte sie vorankommen, wenn sie nichts veröffentlichte? "Die New York Times", sagte sie leise, während sie ihre Bluse auf den Bügel hing. Sie hatte ihre Redakteurin schon viel zu lange warten lassen. Entweder kam sie nun bald mit ihrer Geschichte rüber, oder sie brauchte sie gar nicht mehr zu schreiben. Und das war undenkbar. Ohne etwas in der Hand zur Times zurückzukehren bedeutete, dass sie eine Gelegenheit verpasst hatte, die sich einem Journalisten wahrscheinlich nur einmal im Leben bot. Die Tür zum Umkleideraum öffnete sich wieder, und Winkie kam herein. "Bist du immer noch nicht angezogen? Beeil dich, Santa wartet." Was sollte sie bloß zu Theodore Dalton sagen? Gab es irgendeine sinnvolle Erklärung? Wenn sie ihm nun sagte, er habe Recht mit seiner Vermutung, sie habe sich in seinen Enkel verliebt, ob er dann Nachsicht mit ihr haben würde? Aber sie selbst konnte ja kaum daran glauben. Schließlich kannte sie Tom ja erst zehn Tage. Sie blickte auf den Hefter. Vielleicht konnte sie Theodore bitten, die gestohlenen Unterlagen wieder zurückzulegen. Das sollte ihm ja nicht schwer fallen. Aber wäre er auch bereit zu verschweigen, dass sie die Akte genommen hatte? Oder war die Loyalität seinem Enkel gegenüber so groß, dass er ihm die Wahrheit sagen musste? "Twinkie!"
Claudia fuhr herum und presste sich die Hand auf die Brust. Mrs. Perkins stand in der Tür und winkte ungeduldig mit der Hand. "Los jetzt!" Claudia griff hastig nach den Stiefeln und dem Hut. "Ich komme sofort, bin gleich da. In fünf, höchstens zehn Sekunden!" Sie schlüpfte schnell aus der Jeans, zog sich das Röckchen über und die neuen Strumpfhosen. Jetzt noch die Stiefel. "Fertig!" Und plötzlich wusste sie auch, wie sie Theodore Dalton dazu bringen konnte, den Mund zu halten. Sie würde an seinen Sinn für Anstand und Würde appellieren, an seine Liebe für den Enkel, dem er doch sicher jeden Kummer ersparen wollte. Und wenn das alles nichts half, würde sie anfangen zu heulen. Claudia hastete aus dem Umkleideraum, durch die vielen Displays in der Spielwarenabteilung hindurch. Mrs. Perkins stand bereits an dem Zuckerstangentor, umgeben von den anderen Elfen. Sie öffnete das Tor und ließ Claudia passieren. "Er wartet in dem großen Knusperhaus auf Sie. Bitte, halten Sie ihn nicht lange auf, die Kinder warten schon." Santa so nahe zu kommen hätte Claudia mit Ehrfurcht erfüllen sollen, aber sie hatte eher das Gefühl, sie ginge zu ihrer eigenen Hinrichtung. Ihre Hand zitterte, als sie die Tür zum Knusperhäuschen aufmachte. Sie atmete tief durch, als sie die Tür wieder hinter sich zuzog. Eine Sekunde später spürte sie, wie jemand sie um die Taille fasste und herumwirbelte. Dann zog Santa sie an sich und küsste sie! Claudia war entsetzt. Sollte sie ihm einen Handkantenschlag gegen den Adamsapfel versetzen oder einen Fußtritt in die Weichteile? Aber er war doch sicher schon siebzig. Sollte sie einfach schreien? Alle Anweisungen aus den Selbstverteidigungskursen wirbelten ihr durch den Kopf, und sie konnte sich nicht erinnern, was zuerst zu tun war in einem solchen Fall. Sie riss die Augen auf und versuchte, ihn wegzustoßen, aber für einen alten Mann von siebzig war sein Griff erstaunlich fest. Und er küsste sie mit einer Leidenschaft, die sie einem Mann seines Alters nie zugetraut hätte. Kein Wunder, dass Tom so gut küssen konnte. Als sie schließlich den Kopf zur Seite drehen konnte, keuchte sie. "Hören Sie sofort auf! Wie können Sie es wagen!" Er strich ihr über die Hüften, über den Rücken und den Po.
"Lassen Sie das!" Claudia versuchte, seinen Arm weg zu schieben. "Lassen Sie mich sofort los!" Aber er ließ sich nicht beirren, sondern drückte ihr jetzt kleine Küsse auf den Nacken, wobei sie sein Bart kitzelte. Sie stieß ihn heftig gegen die wattierte Brust, aber er lachte nur. Das hätte er nicht tun sollen. Sie ballte die rechte Faust und versetzte ihm mit aller Wucht einen Hieb. Doch statt ihn an der Schulter zu treffen, wie sie vorgehabt hatte, landete sie einen Volltreffer gegen Kinn und Nase. Er schrie auf und fluchte laut. "Das ist allein Ihre Schuld! Ich hasse Gewalt, aber Sie haben mich dazu getrieben. Sie sind ein schlimmer alter Mann und sollten sich schämen! Ich bin eine Elfe, und Sie sind Santa Claus. Das sollten Sie nicht vergessen! Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?" Der Weihnachtsmann fluchte wieder leise und rieb sich das Kinn. "Ich habe wahrscheinlich nur darüber nachgedacht, wann ich wohl wieder eine Gelegenheit hätte, dich zu küssen." Die Stimme kam ihr sehr bekannt vor. Und als er mit einem Taschentuch das Blut an seiner Nase abwischen wollte und dazu den Bart herunterziehen musste, riss Claudia die Augen auf. "Du?" Tom zuckte mit den Schultern und befühlte vorsichtig seine Nase. "Ja, ich. Blute ich noch? Sieht die Nase gebrochen aus? Meine Güte, du hast ja vielleicht einen Schlag drauf! Wo hast du das gelernt?" "Was machst du denn hier?" "Der eigentliche Santa konnte heute nicht kommen, da musste ich für ihn einspringen." Er zog sie an sich, aber sein dicker Wattebauch hielt sie auf Abstand. "Und ich musste dich einfach wieder sehen." "Ich dachte, du seist er, ich meine, er sei es, der ..." "Immerhin weiß ich jetzt, dass du eine sehr tugendhafte Elfe bist", sagte er und grinste. Claudia sah ihn schuldbewusst an, und er lachte laut los. Dann warf er das Taschentuch zur Seite und riss sie wieder in seine Arme. Sein Kuss war leidenschaftlich und voller Sehnsucht, und sie fühlte, wie sie nicht anders konnte, als sich ihm ganz und gar auszuliefern. "Ich habe dir doch gesagt, ich hätte eine Schwäche für Elfen", sagte Tom leise und schob eine Hand unter ihr kurzes Jäckchen. "Komm, setz dich auf meinen Schoß." Sie lachte leise und klopfte ihm auf den dicken Bauch. Plötzlich fühlte sie sich wie befreit. Er wusste nichts, sein Großvater hatte ihm
offenbar nichts erzählt. "Nein, wir müssen raus. Die Kinder warten schon. Und Mrs. Perkins ist wahrscheinlich ganz nervös und fragt sich, was Santa mit mir alles zu besprechen hat. Wenn sie nun hier hereinplatzt!" Aber er lachte nur, ließ sich auf eine Holzbank fallen und zog sie auf seinen Schoß. "Ich lass dich nur los, wenn du mir versprichst, dass wir uns heute Abend sehen. Ich komme auch als Santa, und du kannst dein Elfenkostüm anbehalten." Sie wollte nur zu gern Ja sagen, aber sie wusste, dass sie erst einige ihrer Fehler wieder gutmachen musste. "Ich kann leider nicht, ich muss noch einiges tun." "Wirf doch deine Pläne einfach um", sagte er. "Ich mach' uns was Schönes zu essen, massiere deine Füße und bügle dein Kostüm. Und dann können wir uns diesen Film leihen, von dem du erzählt hast." "Ich kann wirklich nicht. Wie wäre es mit morgen Abend?" Tom seufzte. "Gut, dann eben morgen. Aber du musst mir versprechen, dass du Santa heute immer mal wieder besuchst." "Das werde ich nicht tun", sagte sie und küsste ihn auf die Nase. "Santa kann sich nicht benehmen. Was sollen denn die Kinder von ihm denken!" "Gut, dann kriegst du auch nichts zu Weihnachten geschenkt, kleine Elfe. Du wirst schon sehen!" Sie lachte leise und schlüpfte aus der Tür. Mrs. Perkins und die anderen Elfen standen immer noch an dem Zuckerstangentor und machten besorgte Gesichter. Claudia lächelte ihnen aufmunternd zu. "Alles in Ordnung, er kommt gleich." Sie nahm ihren Platz an dem Tor ein, doch sie konnte sich nicht richtig auf die Kinder konzentrieren. Stattdessen dachte sie nur darüber nach, was sie heute Abend zu tun hatte. Sie musste den Hefter unbedingt wieder in Toms Schublade legen, und dann würde sie ihre Redakteurin anrufen und ihr sagen, dass sie mit der Story nicht weiterkam. Und vielleicht würde sie sich dann endlich frei und unbelastet ihrer Liebe überlassen können. Und Tom Dalton würde gar nichts anderes übrig bleiben, als ihre Liebe zu erwidern. Die Nacht wollte einfach nicht vorbeigehen. Zum hundertsten Mal wälzte Tom sich von einer Seite auf die andere und blickte auf die
Uhr. Er konnte einfach nicht einschlafen. "Claudia", sagte er leise. Immer noch spürte er ihren Duft, und als er die Betttücher zurückgeschlagen hatte, hatte er das Collier gefunden, das ihr in den Ausschnitt gefallen war. Er hatte gedacht, dass es sein Verlangen etwas abkühlen würde, wenn er sie im Geschäft sehen konnte. Sein Tag als Santa war eigentlich ziemlich schnell vorbeigegangen. Und er musste zugeben, dass es ihm sogar Spaß gemacht hatte, die aufgeregten Kinder zu begrüßen, die Kleinen auf den Schoß zu heben und endlose Wunschzettel in die Hand gedrückt zu bekommen. Allmählich konnte er sich vorstellen, weshalb sein Großvater an dieser Tradition festhielt. Vielleicht aber hatte er den Tag auch nur so gut überstanden, weil Claudia in der Nähe war. Sie hatte ihren Posten an dem Zuckerstangentor nicht verlassen, aber er konnte sie wenigstens immer ansehen, wenn er wollte. Und hin und wieder hatte sie ihm auch verstohlen zugelächelt. Am Morgen, bevor er das Santa-Kostüm anzog, hatte er seinem Vater und seinem Großvater ein Ultimatum gesetzt. Entweder sie versetzten ihn zu Beginn des Jahres nach New York, oder er würde das Familienunternehmen verlassen und sich selbst eine Stellung dort suchen. Die Drohung hatte den von ihm erwünschten Erfolg. Was Claudia wohl dazu sagen würde? Er würde auch in New York leben, und sie könnten endlich anfangen, sich besser kennen zu lernen. Denn vieles stand noch zwischen ihnen, diese Reportage zum Beispiel. Aber er war sicher, dass sie alles regeln könnten, wenn sie nur mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Und dazu hatten sie in New York wahrscheinlich mehr Gelegenheit als hier. Aber als Tom sich nach Ladenschluss nach Claudia umsah, konnte er sie nirgendwo entdecken. Winkie meinte, sie wollte was trinken gehen, Dinkie war sicher, sie hätte einen Termin beim Arzt, und Blinkie hatte gar keine Ahnung. So war Tom über die Hintertreppe wieder in das Büro seines Großvaters gelangt, hatte sich umgezogen und war nach Hause gefahren. Warum sie wohl so schnell verschwunden war? Er musste sich eingestehen, dass er eigentlich tatsächlich kaum etwas von ihr wusste, außer dass sie Reporterin war und eine Geschichte über den Santa Claus von Dalton schrieb. Sie lebte in Brooklyn und arbeitete für eine Reihe verschiedener Zeitungen. Aber er wusste nichts von ihrer
Familie, was sie für Freunde hatte und was sie gern in ihrer Freizeit tat. Eigentlich war sie eine Fremde für ihn. Tom wälzte sich wieder auf die andere Seite und schlug auf sein Kopfkissen. Vielleicht traf sie sich gerade mit ihrem Freund. Sie saßen in einer Bar, rauchten und tranken, und sie erzählte ihm, wie sie Tom Dalton an der Nase herumführte, um zu ihrer Story zu kommen. Er fluchte leise und zog sich die Decke über den Kopf. Da klingelte das Telefon. Er blickte auf die Uhr. Wer rief denn da um elf Uhr nachts an? Großvater? Vater? Claudia? Er nahm den Hörer ab. "Ja, hallo?" "Mr. Dalton?" "Ja." "Hier ist LeRoy Varner. Ich habe Nachtdienst hier bei Dalton." "Ist alles in Ordnung?" "Vielleicht ist es besser, wenn Sie mal rüberkommen. Wir wissen nicht so richtig, was wir machen sollen." "Inwiefern?" "Ich habe eine Einbrecherin festgenommen, die behauptet, Sie zu kennen." "So?" "Ja. Sie behauptet, dass sie im Kaufhaus arbeitet und Sie kennt. Sie heißt Claudia Moore, aber ich weiß nicht, ob das ihr richtiger Name ist. Wahrscheinlich kann die Polizei uns da Genaueres sagen." "Lassen Sie die Polizei aus dem Spiel", sagte Tom hastig. "Ich bin gleich da." Er sprang aus dem Bett, zog sich schnell etwas über und raste nach unten. Er griff nach seiner Jacke, die in der Garderobe hing, und nahm die Autoschlüssel vom Haken. Dann setzte er sich auf die nächste Treppenstufe und zog sich Strümpfe und Schuhe an. Was wollte Claudia nur wieder nach Ladenschluss im Kaufhaus? Schon das letzte Mal war sie doch fast erwischt worden. Diesmal würde er den Einbruch nicht mehr vertuschen können. War denn diese Reportage so wichtig für sie, dass sie bereit war, so viel zu riskieren? Schließlich könnte er sie einfach verhaften lassen. Er könnte es noch verstehen, wenn sie hinter einer wirklich heißen Story
her wäre, aber diese harmlose Santa-Claus-Geschichte lohnte den Wirbel doch nicht. Er rannte aus dem Haus, sprang in sein Auto und raste ohne Rücksicht auf die Geschwindigkeitsbegrenzung zum Marktplatz. Nur noch wenige Passanten waren unterwegs. Er hielt vor dem Personaleingang. LeRoy wartete schon an der Tür und ließ ihn ein. "Wo haben Sie sie gefunden?" fragte Tom. "Um halb elf habe ich wie immer meine Runde gedreht. Ich kam gerade an Ihrem Büro vorbei, als ich etwas bemerkte. Sie versuchte noch zu fliehen, aber ich hatte sie schnell gepackt." "Hat sie irgendetwas gesagt?" "Nur, dass ich Sie anrufen soll. Danach kriegte sie die Zähne nicht mehr auseinander." Tom fuhr sich nervös durchs Haar. "Ich kümmere mich darum", sagte er schnell, "wo ist sie?" "Bei uns im Büro. Ich wollte ihr eigentlich Handschellen anlegen, aber sie versprach, nicht wegzulaufen, wenn ich Sie anrufe." Tom öffnete die Tür und trat in das hell erleuchtete Büro. Auf einer Seite des Raumes hingen die Monitore, die das gesamte Kaufhaus inklusive des Verwaltungstrakts überwachten. In einem kleineren angeschlossenen Raum stand ein Tisch mit ein paar Stühlen. Durch die Glasscheibe konnte Tom sehen, dass Claudia an dem Tisch saß und den Kopf auf die verschränkten Hände gelegt hatte. Tom klopfte, und sie hob den Kopf und lächelte zögernd. Als er eintrat, stand sie schnell auf. "LeRoy hat mich angerufen", sagte Tom. "Er sagt, sie haben dich nach Ladenschluss hier aufgegriffen. Würdest du mir netterweise sagen, was du hier zu suchen hattest?" "Eigentlich nicht so gern", sagte sie mit leiser Stimme, "es ist wirklich nicht so wichtig, und du würdest dich nur aufregen. Das lohnt sich nicht. Lass mich doch einfach nach Hause gehen, und wir vergessen das Ganze." Er schüttelte den Kopf. "So geht das nicht, Claudia. Ich will wissen, was los ist. Und wenn wir die ganze Nacht hier zubringen. Oder möchtest du lieber, dass die Polizei dich verhört?" "Du kannst mich nicht einschüchtern", sagte sie, setzte sich und lehnte sich zurück. "Und ich brauche dir nicht zu sagen, was ich gemacht
habe. Wenn ich mir einen Anwalt nehme, brauche ich gar nichts zu
sagen."
"Das stimmt. Aber bisher bist du doch noch nicht verhaftet worden."
Sie sah ihn flehend an. "Können wir das hier nicht einfach vergessen?
Ich schwöre dir, ich werde es nie wieder tun."
Es klopfte, und als sie sich umwandten, stand LeRoy in der Tür mit
einem Hefter in der Hand. "Das haben wir ihr abgenommen."
Tom griff nach dem Pappdeckel. War das nicht der, den sie in der
Nacht, die sie hier in seinem Büro verbracht hatten, gestohlen hatte?
"Also, den wolltest du haben?"
"Ich habe ihn mir nur ausgeliehen. Ich wollte ihn gerade zurücklegen,
als dieser LeRoy kam."
"Du brauchtest die Unterlagen wohl für deine Story?"
"Meine Story?"
"Ja, deshalb bist du doch hier." Er knallte den Hefter auf den Tisch,
und Claudia fuhr zusammen. "Du wolltest doch herauskriegen, was es
mit dem Santa Claus von Dalton auf sich hat. Du hast die Akte an dem
Abend gestohlen, als du eigentlich mit mir bei Silvio's verabredet
warst. Ich habe sie in deiner Tasche gesehen, als du nach unten gingst,
um die Ohrringe zu holen."
Sie rieb sich die Stirn und sah ihn nicht an. "Ich wollte den Hefter
wirklich gerade zurücklegen, denn ich hatte beschlossen, die
Informationen nicht zu nutzen." Sie sah ihn misstrauisch an. "Woher
weißt du, dass ich Journalistin bin? Hat dein Großvater dir das
erzählt?"
"Nein, im Gegenteil, ich habe ihm davon erzählt." Allmählich wurde
Tom ärgerlich. "Ein paar Tage nachdem wir dich angestellt hatten,
ließ ich einen Sicherheitscheck machen. Ich wollte wissen, warum
eine Frau deiner Intelligenz einen solchen Posten annahm. Nun weiß
ich, warum."
Er stand auf. "Komm mit."
Sie schüttelte den Kopf, aber er nahm sie bei der Hand und zog sie
hoch. Er schob sie in den Fahrstuhl, und dank seines Spezialschlüssels
landeten sie auch tatsächlich im fünften Stock. Wieder nahm er ihre
Hand und zog Claudia in sein Büro. Sie wehrte sich nicht.
"Was wirst du tun?" fragte sie. "Mich der Polizei übergeben? Ich
schwöre, ich wollte den Hefter gerade zurücklegen, als Le Roy mich
überraschte."
"Und was wolltest du dann tun? Einfach verschwinden, als sei nie etwas gewesen?" "Nein, das ging nicht. Ich hatte mich darauf vorbereitet, die Nacht hier zu verbringen." Tom stieß ein verbittertes Lachen aus. "Du hättest einfach rausgehen können, denn die Türen sind von innen verriegelt. LeRoy hätte dich sicher durchgelassen, wenn du ihm deinen Dalton-Ausweis gezeigt hättest. Irgendeine Erklärung wäre dir schon noch eingefallen." "Wieso? Ich hätte raus können? Dann waren wir neulich auch nicht eingeschlossen?" "Natürlich nicht", sagte Tom. "Als ich dich damals erwischte, habe ich dir etwas vorgemacht. Ich behauptete, wir könnten nicht raus, damit du die Nacht mit mir verbringen musstest. Ich wollte gern herausfinden, was du eigentlich vorhattest." Claudia wurde blass vor Wut. "Du hast mich angelogen! Du hast mich benutzt!" "Bist du jetzt wütend auf mich, weil ich dir wegen des Sicherheitssystems nicht die Wahrheit sagte? Das wird ja immer besser! Was du getan hast, war gegen das Gesetz!" "Und was du getan hast, war unmoralisch!" schrie sie ihn an. "Ich bin hier geblieben, weil ich dachte, dass ich keine andere Wahl hätte. Im Grunde war das ein Fall von Entführung! Du solltest verhaftet werden!" "Sei nicht albern!" "Ich habe nur aus beruflichem Interesse so gehandelt. Es gehörte zu meinen Nachforschungen. Aber was du getan hast, war etwas Persönliches! Das war gefühlsmäßige Erpressung!" "Du bist also immer noch hinter deiner Story her? Bitte!" Er öffnete die Schublade, zog eine Reihe von Heftern heraus und legte die Mappe, die sie gestohlen hatte, oben drauf. "Hier, nimm! Das ist alles, was du für deine Geschichte brauchst! Alle Namen, die Geldsummen und die Briefe der Kinder." "Ich will sie nicht", sagte sie. Er hob den Aktenstapel hoch und drückte ihn ihr in den Arm. "Aber du sollst alles haben. Deshalb bist du doch nach Schuyler Falls gekommen." Trotz seiner Wut hätte er sie am liebsten in die Arme genommen und geküsst. Aber er war nicht sicher, ob er ihr glauben konnte. Wollte sie die Mappe tatsächlich zurücklegen? Vielleicht
suchte sie auch noch nach anderen Unterlagen. Das würde er nur herausfinden, wenn er ihr wirklich alles überließ und herausfand, was sie damit machte. Er ging langsam zur Tür. "Leider können wir dich nicht weiter als Elfe beschäftigen. Aber dafür hast du ja jetzt deine Story. Ich bin schon auf deine Titelzeile gespannt." Er ging und zog die Tür hinter sich zu. Als er bei den Wachmännern vorbeikam, wies er LeRoy an, Claudia ohne Kommentar zu entlassen. Erst als er in seinem Auto saß, wurde ihm klar, was er getan hatte. Er hatte Claudia genau das in die Hände gespielt, was sie haben wollte. Und wenn ihr die Story wichtiger war als er, dann würde er sie nie wieder sehen. Er war kurz versucht, wieder zurückzugehen und Claudia zu zwingen zuzugeben, was sie für ihn empfand. Sie sollte ihm ins Gesicht sagen, was sie gefühlt hatte, gestern Nacht in seinem Schlafzimmer. Aber das hatte wahrscheinlich gar keinen Sinn. Wenn sie ihn liebte, würde sie zu ihm zurückkommen. Und ob sie die Geschichte nun veröffentlichte oder nicht, würde nichts an seinen Gefühlen für sie ändern. Er liebte sie.
8. KAPITEL
Claudia stand in dem Flur der Pension vor dem Telefontischchen. Sie zog den kleinen Zettel mit der Telefonnummer ihrer Redakteurin von der Times aus der Hosentasche und nahm den Hörer ab. Sie schloss kurz die Augen. Was sollte sie bloß tun? Seit einer Stunde schon quälte sie sich mit der Entscheidung herum, und immer noch war sie nicht sicher, was richtig war. Eigentlich sollte ihre Story in der morgigen Abendausgabe der Times erscheinen. Sie hatte die Geschichte bereits ziemlich genau skizziert, und es war genau das, was die Leute in der Weihnachtszeit gern lasen, warmherzig und anrührend. Sie hatte mit drei Familien gesprochen, die von Daltons Santa Claus bedacht worden waren, und hatte gesehen, wie sehr die großzügige Hilfe das Leben dieser Menschen verändert hatte. Claudia wusste, dass der Artikel gut werden würde, wahrscheinlich das Beste, was sie je geschrieben hatte. Wenn sie damit nicht ihr Ziel bei der Times erreichte, dann konnte sie ihre Hoffnungen auf einen Job dort gleich begraben. Entschlossen wählte sie die Nummer. Erst nach zehnmaligem Klingeln hob Anne Costello ab, und während des Klingeins wusste Claudia immer noch nicht, was sie sagen sollte. "Anne Costello." "Es gibt keine Reportage!" stieß Claudia hervor, ohne sich zu melden. Sie wusste kaum, was sie sagte. "Wer spricht denn da?" "Anne, hier ist Claudia Moore. Ich habe keine Story." "Oh, Claudia. Wo sind Sie? Ich versuche Sie schon dauernd in Ihrem Apartment zu erreichen. Wo bleibt meine Geschichte? Wann schicken Sie uns Ihren Text? Wir haben dafür einen Topplatz in der Mittwochausgabe reserviert. Wie viele Zeilen werden es? Wir wollen unbedingt auch ein paar Fotos bringen. Ich schicke gleich jemanden rauf. Sagen Sie mir nur, wohin. Ich kümmere mich um alles andere." Claudia atmete tief durch und sagte dann langsam, wobei sie jedes Wort betonte. "Es gibt keine Story, Anne."
"Was? Da gibt jemand jedes Weihnachten Tausende von Dollar aus, ohne das PR-mäßig auszuschlachten, und Sie wollen behaupten, das geht alles mit rechten Dingen zu? Die Zeiten der selbstlosen Wohltäter sind vorbei, Claudia, hören Sie mich? Heutzutage spendet man nur noch, wenn man damit auch gut Werbung machen kann!" "Tut mir Leid, aber ich habe nichts herausfinden können." Claudias Stimme klang jetzt gefestigter. "Zuerst habe ich auch geglaubt, dass das Stoff für eine gute Geschichte sein kann, aber als ich dann etwas nachbohrte ..." "Wissen Sie, wer dieser geheimnisvolle Santa ist?" "Ja." "Und haben Sie sich mit Familien unterhalten, denen er geholfen hat?" "Ja." "Na bitte! Das ist doch Stoff für eine wunderbare Geschichte!" Claudia wartete, bis Anne sich etwas beruhigt hatte. "Es ist nur, dass dieser Santa Claus seine Identität gern geheim halten möchte. Und das sollten wir respektieren. Wenn die Sache aufgedeckt wird, gerät alles zu leicht außer Kontrolle. Immer mehr Menschen werden sich an diesen Santa wenden, auch solche, die es gar nicht nötig haben. Und die Familien, mit denen ich gesprochen habe, haben mir zwar gern alles erzählt, aber ich bin sicher, dass sie ihre persönlichen Probleme nicht unbedingt in der Times wieder finden möchten." "Ich erwarte, dass Ihr Text morgen früh auf meinem Schreibtisch liegt, Claudia. Ich entscheide, ob die Geschichte gedruckt wird oder nicht." Obwohl Claudia Annes Gesicht nicht sehen konnte, verriet ihr Tonfall nur zu deutlich, wie wütend sie war. "Und wenn ich nichts schicke?" "Dann, fürchte ich, kann ich Sie nicht für den Job empfehlen", sagte Anne mit eisiger Stimme. "Dann werden wir uns wohl nach jemand anders umsehen müssen." Vor Wut und Verzweiflung standen Claudia die Tränen in den Augen. "Ich bin gut in meinem Job, und das wissen Sie genau. Ich habe Ihnen doch schon eine Menge guter Storys geliefert. Warum kommt es denn nun auf diese eine an?" "Morgen früh, das ist mein letztes Wort." Klick. Langsam legte Claudia den Hörer auf. Tränen liefen ihr über die Wangen. Nun war alles aus. Sie hatte alles verdorben. Nach dem Streit
gestern würde Tom sich nie wieder melden. Wie sollte er ihr denn auch jemals wieder vertrauen können? Also, warum sollte sie dann nicht doch die Geschichte schreiben? Ein Job bei der Times war doch immerhin etwas. Sie würde regelmäßig ihr Gehalt bekommen und wäre bei einer Zeitung angestellt, die weltweit gelesen wurde. Das hatte sie sich doch immer gewünscht. Aber sie musste auf Tom verzichten. Ihr Leben würde ohne Liebe und Leidenschaft sein, ohne Nähe und Zärtlichkeit. Sehr traurig, aber nicht zu ändern. Entschlossen wischte sie die Tränen ab und schob den Zettel in die Hosentasche. Sie setzte sich an ihren Laptop und sah sich kritisch an, was sie bisher geschrieben hatte. Dann fing sie an, den Text zu überarbeiten. Als sie schließlich ihren Namen unter den letzten Absatz gesetzt hatte, lehnte sie sich aufatmend zurück. Sie hatte fast zwei Stunden ohne Unterbrechung gearbeitet. Sie druckte den Text aus, und als sie ihn abschließend noch einmal durchlas, wusste sie, dass es das Beste war, was sie je geschrieben hatte. Sie lächelte und fühlte so etwas wie Stolz. Aber dann fiel ihr wieder ein, welchen Preis sie dafür bezahlt hatte, und das Herz wurde ihr schwer. Seufzend stand sie auf und klappte den Computer zu. Aber vielleicht war ja doch noch nicht alles vorbei, vielleicht gab es doch noch eine Hoffnung. Etwas blieb ihr noch zu tun, denn im Grunde sollte sie nicht allein eine so folgenreiche Entscheidung fällen. Sie nahm schnell ihre Jacke vom Haken, rollte das Manuskript zusammen, steckte es in die Innentasche ihrer Jacke und verließ das Haus. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Sie schloss schnell den Wagen auf und setzte sich ans Steuer. Ob sie das Haus wieder finden würde? Sie war ja die Strecke nur ein Mal gefahren, und damals war es dunkel gewesen, und sie hatte nicht auf den Weg geachtet. Aber sie hatte einen guten Orientierungssinn und fand ohne Probleme die breite Allee. Claudia beugte sich über das Steuerrad und blickte angestrengt durch die Windschutzscheibe. Welches war denn nun das richtige Haus? Die großen Grundstücke waren meist dicht bewachsen, so dass die Häuser hinter den Bäumen kaum zu sehen waren. Da, das musste es sein, dieses riesige Herrenhaus mit der weiten Einfahrt. Claudia bog von der Straße ab. Es war jetzt fast sechs Uhr,
das Kaufhaus schloss am Sonntag um fünf. Ob er schon zu Hause war? Egal, sie würde hier so lange warten, bis er kam. Als sie sich dem Haus näherte, sah sie, dass sein Wagen bereits in der Garage stand. Ihr Herz schlug schneller. Gut, dann also gleich. Sie liebte Tom, und was auch immer jetzt passieren würde, daran würde sich nichts ändern. Aber was empfand er für sie? Wenn er sie wirklich liebte, dann sollte er ihr diese Täuschung verzeihen können. Aber bei ihrem letzten Zusammentreffen hatte sie gemerkt, dass er wirklich sehr gekränkt und wütend war. Claudia stellte den Motor ab, öffnete die Tür und stieg aus. Ihr Herz klopfte wie verrückt, und ihr Atem ging schnell. Langsam schritt sie auf die Eingangstür zu und versuchte, ihren Mut zusammenzunehmen. Wenn sie nur wüsste, ob sie das Richtige tat. Bevor ihre zitternden Finger noch den Klingelknopf erreicht hatten, wurde die Tür aufgerissen. Claudia schrie auf und trat einen Schritt zurück. Dabei kam sie ins Stolpern, und während sie noch versuchte, ihr Gleichgewicht wieder zu finden, fühlte sie, wie sich ein Arm um ihre Taille legte und sie fest an einen schlanken, muskulösen Körper gepresst wurde. Sie sah hoch und blickte in Toms finsteres Gesicht. "Hallo", sagte sie leise und lächelte vorsichtig. Er ließ sie abrupt los und musterte sie feindselig. "Dich habe ich hier nun wirklich nicht erwartet. Was willst du?" Claudia zog das Manuskript aus der Jackentasche. "Hier." Er griff nach dem Text. "Ich brauche dich ja wohl nicht zu fragen, was das ist?" "Ich möchte gern, dass du es liest." "Warum denn? Brauchst du einen Korrektor? Oder meinst du, dass ich dann meine Meinung ändere und dir vergebe?" "Mir vergeben?" Claudia schüttelte den Kopf. "Nein, damit rechne ich wirklich nicht. Ich erwarte noch nicht einmal, dass du mich verstehst." "Du kannst es ja mal versuchen." "Dieser Artikel bedeutet viel für mich. Bisher habe ich mich nur so von Auftrag zu Auftrag gehangelt, aber jetzt habe ich die Chance, bei einer großen Zeitung angestellt zu werden. Und das war immer mein Traum, seit ich als Jugendliche versuchte, meine kleinen Artikel bei unserer Provinzzeitung unterzubringen. Dieser Traum könnte nun Wirklichkeit werden, aber irgendwie schaffe ich den letzten Schritt nicht."
Er wedelte mit dem Manuskript vor ihrem Gesicht herum. "Wenn das dein Traum ist, dann tu es doch. Ich möchte dich doch nur glücklich sehen." "Bitte lüg mich nicht an. Du willst im Gegenteil, dass es mir schlecht geht. Du möchtest, dass ich meine Geschichte schreibe und mich mies dabei fühle. Du möchtest, dass ich nachts nicht schlafen kann und mir plötzlich klar wird, dass ich dich liebe. So sehr, dass ich all das aufgebe, wonach ich mich mein Leben lang gesehnt habe." "Liebst du mich?" fragte er leise und sah ihr direkt in die Augen. Sie wandte den Kopf zur Seite. "Ich weiß nicht, ich bin nicht sicher." Tom streckte schon die Hand aus, um ihr zärtlich über die Wange zu streichen, hielt aber im letzten Moment in der Bewegung inne. "Ich würde doch nie von dir verlangen, dass du etwas aufgibst, was dir so wichtig ist." "Nein?" Er legte ihr die Hand an die Wange, und die Berührung durchfuhr Claudia wie ein Stromstoß. Ihre Knie drohten nachzugeben, und sie griff schnell nach Toms Handgelenk. "Vielleicht, weil ich dich auch liebe", sagte er leise. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. "Ich habe nicht geglaubt, dass du mir jemals verzeihen würdest", sagte sie und lächelte ihn zaghaft an. "Vor allen Dingen jetzt, wo du weißt, dass ich nicht nachgeben werde." "Das ist zum Teil auch meine Schuld", sagte er ernst. "Ich wusste doch schon ziemlich von Anfang an, was du wolltest. Ich hätte dich ja aufhalten können, hätte dich entlassen oder mit der Wahrheit konfrontieren können. Aber ich wollte dich auf keinen Fall verlieren." "Dann ist wieder alles gut zwischen uns?" fragte Claudia. Er gab ihr das Manuskript zurück. "Ja." Sie nickte und blickte auf ihre Schuhspitzen. "Ich sollte jetzt lieber gehen." "Nein", sagte er. Er zog sie an der Hand in das Haus und stieß die Tür mit dem Absatz zu. Sie hatte erwartet, dass er sie jetzt an sich ziehen und küssen würde, aber statt dessen nahm er sie schnell auf die Arme. Vor Überraschung fielen ihr die Manuskriptseiten aus der Hand und segelten zu Boden. "Was machst du da?" fragte sie. "Das, was ich schon in der Nacht nach der Party hätte tun sollen!" Er trug sie über die gewundene Treppe in den ersten Stock hinauf. Von
wegen Julia Roberts und ,Pretty Woman'! Claudia fühlte sich jetzt wie Scarlett O'Hara aus ,Vom Winde verweht'. Im Schlafzimmer angekommen, stellte er sie sanft auf die Füße, zog sie an sich und küsste sie so, wie er sie noch nie geküsst hatte. Er legte all seine Leidenschaft, Verzweiflung, Sehnsucht und Hoffnung in diesen Kuss, und Claudia erwiderte ihn voller Verlangen. Sie wusste, wohin das führen würde, und diesmal würde sie Tom nicht stoppen. Ihre Finger bebten, als sie anfing, ihm das Hemd aufzuknöpfen. So lange schon sehnte sie sich danach, ihn zu berühren, aber erst jetzt hatte sie auch den Mut, es zu tun. Sie strich langsam über seine muskulöse Brust und schob ihm dann das Hemd von den breiten Schultern. Sie waren sich erst vor zwei Wochen begegnet, aber Claudia hatte den Eindruck, sie würde ihn schon ihr ganzes Leben lang kennen, so vertraut waren ihr die Wärme seiner Haut, der Duft seiner Haare. Vielleicht hatte sie immer schon auf ihn gewartet. Und gerade als sie sich dazu entschlossen hatte, nun ganz für ihre berufliche Karriere zu leben, war er gekommen und hatte ihr Herz gestohlen. "Diesmal soll uns nichts aufhalten", sagte sie leise und presste die Lippen auf seine Brust. Tom stöhnte auf, als sie mit der Zunge seine kleinen Brustwarzen reizte, und warf den Kopf zurück. Stück für Stück entledigten sie sich ihrer Kleidung und warfen sie achtlos auf den Boden. Ihre Bewegungen wurden immer ungeduldiger, und ihre Leidenschaft wuchs mit jedem Teil, das sie auszogen. Claudia wunderte sich selbst, dass sie nicht ängstlich oder nervös war, aber bei Tom fühlte sie sich absolut sicher. Schließlich trug sie nur noch das Hemdchen und den Slip, und Tom stand da in seinen seidenen Boxershorts. Da konnten sie sich nicht mehr beherrschen und fielen gemeinsam auf das Bett. Sofort schob er ihr Hemd hoch und liebkoste ihren glatten, weichen Bauch. "Du bist so schön", flüsterte er und küsste sie auf den Bauchnabel. "Als Elfe?" Er hob kurz den Kopf und sah sie an. Dann lachte er. "Schon seit langer Zeit warst du mehr als nur eine Elfe für mich." Er schob das Hemdchen weiter hoch, ließ allerdings ihre Brüste gerade noch bedeckt. Jeden Zentimeter ihrer Haut erforschte er mit Lippen und
Zunge, bis er ihr schließlich das Hemd über den Kopf zog und endlich die harten Spitzen reizte. Claudia stöhnte auf und presste seinen Kopf fester an sich. Was für ein unglaubliches Gefühl! Ihr Körper bebte vor Verlangen, und als sie spürte, wie er ihr über die Innenseiten der Schenkel strich und die Finger unter ihren Slip schob, war ihr, als stünde sie in Flammen. Sie schrie leise auf und krallte sich in seinem dichten Haar fest. Er streichelte ihre empfindsamste Stelle, während er Claudia küsste und mit seiner Zunge den Rhythmus seiner liebkosenden Finger nachahmte. Immer wenn sie kurz davor war, zum Höhepunkt zu kommen, hielt er kurz inne, so dass ihre Erregung etwas nachließ, um sie dann umso nachhaltiger wieder anzufachen. "Tom, oh Tom ..." Claudia bat und flehte, und als sie es gar nicht mehr aushalten konnte, hielt sie seine Hand fest. Er gab ihre Lippen frei und sah sie an. Wilde Begierde stand in seinen grünen Augen, und seine flachen, hektischen Atemzüge verrieten, dass auch er hochgradig erregt war. Und sie wollte, dass er dasselbe fühlte wie sie - die Macht über den anderen und das Ausgeliefertsein. Sie kniete sich über ihn. "Jetzt bin ich dran", sagte sie leise und schob seine Boxershorts herunter. Sie hielt kurz den Atem an, als sie ihn da vor sich liegen sah in seiner ganzen männlichen Schönheit. Er war groß und hart, und das Bewusstsein, dass Tom es kaum noch erwarten konnte, mit ihr eins zu werden, verlieh dem Ganzen einen zusätzlichen Reiz. Bewusst langsam strich sie über seinen Körper, schloss die Augen und genoss es, seine heiße glatte Haut unter den Fingerspitzen zu fühlen, die angespannten Muskeln, die feinen Härchen. Als sie schließlich zu seinen Lenden kam und seinen sensibelsten Körperteil streichelte, stöhnte Tom laut auf und hielt ihre Hand fest. "Jetzt bist du wieder dran", stieß er schwer atmend hervor, schob Claudia auf den Rücken und zog ihr hastig den Slip aus. Dann rollte er sich auf sie, und sie legte ihm die Beine um die Hüften. "Tom, bitte, ich kann nicht mehr ..." Er lachte rau und nahm ein Kondom vom Nachttisch. "Hier, mach du das für mich." Er riss die Packung mit den Zähnen auf. "Aber beeil dich." Sie streifte ihm schnell das Kondom über, und er legte sich wieder zu ihr. Wie herrlich war es, sein ganzes Gewicht zu spüren. Sie spreizte
die Beine, und sofort drang er in sie ein und begann sich zu bewegen. Sie war heiß und bereit und hatte keinerlei Schwierigkeiten, seinem Rhythmus zu folgen. Wieder und wieder hob sie sich ihm entgegen, rastlos, hungrig, und als ihr Körper endlich in einem überwältigenden und befreienden Höhepunkt erbebte, kamen ihr die Tränen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich einem Mann so nahe gefühlt. Tom war ihr Ein und Alles, jetzt und für immer. Nie würde es einen anderen für sie geben. Er bäumte sich auf, schrie ihren Namen und sank dann langsam auf sie. So blieben sie eine ganze Weile schwer atmend liegen, dann rollte Tom sich auf die Seite und legte sich dicht neben Claudia. Doch bald schon schob er sich wieder halb auf sie und küsste sie. "Ich habe längst noch nicht genug von dir", flüsterte er. Erst eine ganze Zeit später hatten sie ihr Verlangen gestillt und lagen ruhig nebeneinander. Aber Claudia konnte nicht einschlafen. Zu fremd waren ihr die Geräusche des Hauses. Tom schien zu schlafen, den Arm um ihre Taille geschlungen, ein Bein über ihre Schenkel gelegt. Sein Kopf lag in ihrer Armbeuge. Claudia lächelte gerührt. Wie verletzlich er aussah. "Schläfst du schon?" flüsterte sie. "Beinahe. Ich muss mich ein bisschen ausruhen. Aber in einer halben Stunde ..." Sie lachte und strich ihm übers Haar. "Schlaf." Tom nickte und schmiegte sich dichter an sie. Gerade als sie dachte, er sei nun wirklich eingeschlafen, murmelte er: "Ich möchte, dass du das mit der Story weiter verfolgst. Ich möchte, dass du den Job bei der Times annimmst. Du musst mir versprechen, das Manuskript ... hinzufaxen." Die Worte kamen langsamer, und schließlich war er eingeschlafen. Lange Zeit lag Claudia regungslos da und starrte an die Decke. Was hatte das zu bedeuten? Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Warum schickte er sie weg? Sie dachte an alles, was an diesem Abend passiert war, und versuchte, sich an jedes Wort und jede Geste zu erinnern. Sie musste ihn missverstanden haben. Er hatte doch gesagt, dass er sie liebe, und sie hatte ihm auch ihre Liebe gestanden. Das bedeutete doch, dass sie gemeinsam leben wollten. Aber vielleicht bedeuteten diese Worte für Tom Dalton etwas anderes. Vielleicht sagte er zu jeder Frau, er liebe sie, bevor er mit ihr ins Bett ging. Wie sollten sie
eine gemeinsame Zukunft haben, wenn er hier in Schuyler Falls und sie in New York lebte? Sie sah ihn an. Und wie könnte sie ohne ihn weiterleben, wo sie doch nun wusste, was sie für ihn empfand? Würde er denn überhaupt noch mal an sie denken, oder würde er einfach sein Leben weiterleben wie bisher? Nein, sie wollte nicht nach New York, sie wollte nirgendwohin ohne ihn. "Vielleicht kannst du mir doch nie ganz verzeihen", flüsterte sie. Sie schob seinen Arm und sein Bein sanft von sich und stand auf. Leise suchte sie ihre Kleidung zusammen. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte sie einmal geglaubt, dass sie zufrieden leben könnte, wenn sie wenigstens eine Nacht mit Tom Dalton verbracht hätte. Und nun sehnte sie sich nach so viel mehr. Sie wollte mit ihm ihr ganzes Leben zusammen sein. Sie zog sich an und beobachtete ihn. Wie gern wäre sie einfach in das Bett zurück gekrochen und hätte sich mit dem zufrieden gegeben, was er ihr zugestand. Aber sie wusste, dass sie sich selbst etwas vormachte. Nie könnte sie damit zufrieden sein. Sie wollte ihn ganz seine Liebe, seine Leidenschaft, sein Vertrauen. Weniger war zu wenig. Dazu liebte sie ihn viel zu sehr. Nachdem sie angezogen war, stand Claudia noch lange da und betrachtete den schlafenden Tom. Sie wollte sich alles genau einprägen, sein Gesicht, die Schultern, die langen, kräftigen Beine, seinen dunklen wilden Haarschopf. Als sie glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, wandte sie sich schnell um und ging aus dem Zimmer. Ihr Manuskript lag immer noch vor der Treppe, und sie bückte sich und hob Seite für Seite auf. Eine Träne fiel auf die erste Seite, und sie wischte sie unwillig weg. Sie durfte sich jetzt nicht von ihren Gefühlen überwältigen lassen. Sie würde darüber hinwegkommen, das schwor sie sich. Sie musste es einfach. Sie machte die Haustür auf, und die kalte Luft verschlug ihr vorübergehend den Atem. Als sie die Tür hinter sich zuzog, wurde ihr noch einmal sehr bewusst, was sie da tat. Sie würde Tom nie wieder sehen. Und der Schmerz, den sie dabei empfand, würde sie ihr Leben lang begleiten.
Am nächsten Morgen hatte Tom erwartet, Claudia dicht neben sich zu finden, an ihn gekuschelt. Aber das Bett war leer, als er aufwachte, und im Badezimmer war auch keiner. Warum war sie gegangen? Obwohl er von der vergangenen Nacht immer noch erschöpft war, war er viel zu unruhig, um weiterschlafen zu können. Er musste sie finden. Schnell setzte er sich auf. Ihr Parfüm hing noch in der Luft, und Tom griff nach ihrem Kopfkissen und presste es sich an die Brust, Er dachte, letzte Nacht sei alles klar gewesen zwischen ihnen. Sie würde die Story einschicken und den Job bei der Times annehmen. Und ein paar Wochen später würde er hier in Schuyler Falls seine Sachen zusammenpacken und auch nach New York ziehen. Er hatte ihr alles am Morgen erklären wollen, wie und wann sie heiraten würden, wo sie eventuell wohnen könnten und dass sie eines Tages hoffentlich eine große Familie hätten. Was die Reportage über Daltons Santa Claus betraf, so war Tom sicher, dass sein Großvater darüber hinwegkommen würde. Denn schließlich stand das Glück seines Enkels auf dem Spiel. Tom sprang aus dem Bett und durchquerte schnell den Raum. Was sollte er anziehen? Er sah sich suchend um. Da lagen seine Sachen in einem unordentlichen Haufen auf dem Fußboden. Er bückte sich und zog sich an. Nur schnell, er musste Claudia unbedingt finden! Er fuhr sich einmal kurz durch das Haar und lief dann nach unten, um nachzusehen, ob sie sich nicht doch irgendwo im Haus aufhielt. Alles leer, und auch ihr Wagen stand nicht mehr in der Einfahrt. Wo konnte sie sein? Eigentlich doch nur in ihrer Pension oder im Kaufhaus. Er würde erst einmal zum Kaufhaus fahren, würde seinem Großvater alles erklären und dann in der Schmuckabteilung den schönsten Diamantring für sie aussuchen. Dann würde er sie in ihrer Pension aufsuchen und ihr einen ganz offiziellen Heiratsantrag machen. Tom hielt direkt vor dem Kaufhaus, mitten im Parkverbot. Sein privater Parkplatz lag knapp hundert Meter entfernt, und er wollte keine Sekunde vergeuden. Als er die Tür zu dem Personaleingang auf stieß und LeRoy ein Zeichen machte, kam der Wachmann schnell aus seinem Büro. "LeRoy, ich möchte gern, dass Sie eine unserer Angestellten ausfindig machen. Es handelt sich um Claudia Moore. Wenn Sie wissen, wo sie sich aufhält, rufen Sie mich bitte in dem
Büro meines Großvaters an. Ihre Adresse müsste im Computer sein, irgendeine Pension in der Longwell Street." LeRoy nickte. "Ist das dieselbe Claudia Moore, die ich gestern Nacht festgenommen habe? Diese Diebin, die in Ihr Büro eingebrochen war?" Tom hob warnend den Zeigefinger und lächelte. "Vorsicht, LeRoy, Sie sprechen von meiner zukünftigen Frau." LeRoy sah ihn beschämt an. "Oh, entschuldigen Sie, Sir, das habe ich nicht gewusst. Ich wollte nicht unhöflich sein. Wenn sie erst mal mit Ihnen verheiratet ist, wird sie ihre kriminelle Vergangenheit ganz schnell hinter sich lassen." Tom nickte nur und stieß schnell die Tür zu den Verkaufsräumen auf. Es war kurz vor zehn, und er hoffte, seinen Großvater noch in seinem Büro anzutreffen. Wenn nicht, würde er ihn in seiner Verkleidung als Santa Claus aus der Nordpol-Siedlung herauszerren. Denn was er ihm zu sagen hatte, war sehr viel wichtiger als die Kinder mit ihren Weihnachtswünschen. Er sprang in den Fahrstuhl und drückte hastig auf den Knopf zum fünften Stock. Kaum hatten die Türen sich geöffnet, lief Tom zu dem Büro seines Großvaters, der zu seiner Erleichterung noch da war und sich wieder mit dem Weihnachtsmannkostüm abmühte. "Tommy!" rief Theodore gequält aus. "Wie gut, dass du kommst. Ich komme in diese verdammten Hosen nicht rein!" "Lass die Hosen Hosen sein, Großvater, ich muss mit dir über etwas ganz anderes und sehr viel Wichtigeres sprechen." "Was gibt es Wichtigeres in dieser Jahreszeit als meinen Auftritt als Weihnachtsmann?" Ächzend zog Theodore die Hose hoch und befestigte die Hosenträger. "Genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Claudia Moore hat eine Story über Daltons geheimnisvollen Santa Claus geschrieben, die in der New York Times erscheinen soll." "Was?" Theodore starrte Tom entsetzt an. "Und du hast nicht versucht, sie daran zu hindern?" "Nein, ich möchte, dass sie die Story veröffentlichen kann. Denn dann hat sie eine gute Chance, bei der Times fest angestellt zu werden. Das ist ihr größter Wunsch, und ich möchte, dass sie glücklich ist." Er machte eine kurze Pause. "Ich werde sie heiraten, Großvater. Ich liebe
sie und möchte mein ganzes Leben mit ihr verbringen. Und ich hoffe, dass mein Glück dir mehr bedeutet als diese alte Familientradition." Sein Großvater sah ihn nachdenklich an. "Du kennst sie doch kaum." "Ich weiß, was ich wissen muss. Wenn ich zulasse, dass sie aus meinem Leben wieder verschwindet, würde ich mir das nie verzeihen." "Gut, dann hast du meine volle Unterstützung", sagte Theodore, "ich hoffe, ihr werdet so glücklich werden, wie deine Großmutter und ich es waren." Tom lächelte, trat auf Theodore zu und umarmte ihn. "Ich werde mich bemühen." Der alte Mann lachte leise. "So was habe ich mir schon immer gedacht. Du brauchst nicht irgendeine Frau, du brauchst eine Ehefrau." Das Telefon klingelte, und er nahm den Hörer ab. Er meldete sich, schwieg dann und reichte den Hörer anschließend an Tom weiter. "Für dich." LeRoy. "Mr. Dalton, ich habe die Dieb... ich meine, ich habe die Dame gefunden, die Sie suchen. Sie ist gerade hier in dem Pausenraum der Angestellten hinter der Spielwarenabteilung. Soll ich sie dort festhalten?" "Nein, vielen Dank. Ich werde mich selbst darum kümmern." Tom legte auf und sah seinen Großvater lächelnd an. "Drück mir die Daumen!" Und als Theodore nur nickte, fügte er hinzu: "Wusstest du, dass so was passieren würde?" Der alte Mann zuckte nur mit den Schultern. "Nicht direkt. Mir war nur klar, dass irgendetwas Neues in deinem Leben geschehen würde. Und als du das erste Mal Claudias Namen erwähntest, wusste ich, dass das etwas mit ihr zu tun haben würde. Das war wohl auch der Grund, weshalb dein Vater und ich der Meinung waren, dass du nun reif für den Vorstand und damit für eine neue Aufgabe bist." Tom schlug ihm noch einmal liebevoll auf die Schulter. "Das stimmt. Sowie ich für Claudia den schönsten Diamantring gekauft habe und sie Ja gesagt hat." "Und wenn sie ablehnt?" "Ein Nein werde ich nicht akzeptieren." Tom ging auf die Tür zu, drehte sich aber noch einmal um, bevor er den Raum verließ. "Danke für alles."
Theodore nickte schmunzelnd, und Tom lief zum Fahrstuhl. Das Kaufhaus hatte noch nicht geöffnet, aber die Angestellten waren bereits auf ihren Posten. Tom ging zur Schmuckabteilung und betrachtete die Ringe, die in den Schaukästen ausgestellt waren. "Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?" Der Abteilungsleiter blickte ihn abwartend an. "Ich möchte den schönsten und größten Diamantring, den wir haben." "Im Tresor haben wir noch ein paar sehr schöne Stücke. Drei Karat in einer schlichten und edlen Platinfassung." Der Abteilungsleiter schloss etwas umständlich den alten Tresor auf und kam mit einer flachen, mit Samt ausgeschlagenen Schublade wieder zurück. "Hier, dieser zum Beispiel." Er nahm einen der Ringe hoch und hielt ihn gegen das Licht. "Ein sehr besonderes Stück." Tom nahm ihm den Ring aus der Hand und betrachtete ihn. "Er ist auch für eine sehr besondere Frau." Er nickte und steckte den Ring in die Hosentasche. "Bitte buchen Sie das von meinem Konto ab." "Sehr wohl, Sir." Der Mann nickte eifrig. "Und darf ich vielleicht meine herzlichsten Glückwünsche aussprechen?" Tom nickte nur und war schon wieder auf dem Weg zum Fahrstuhl. Im zweiten Stock wartete er ungeduldig, bis sich die Türen geöffnet hatten, dann lief er durch die Spielwarenabteilung und platzte in den Aufenthaltsraum der Angestellten. Aber keine Claudia war zu sehen, sondern nur die drei anderen Elfen, die sofort aufgeregt aufsprangen. "Guten Morgen, Sir", sagten sie wie aus einem Mund und strahlten ihn an. "Guten Morgen. Man hat mir gesagt, Claudia Moore sei hier." Dinkie zeigte auf den Umkleideraum. "Sie ist da drin und packt ihre Sachen zusammen. Sie hat gesagt, dass sie geht. Wollen Sie sie zum Bleiben überreden?" "Würden Sie uns bitte entschuldigen?" sagte Tom, ohne auf die Frage einzugehen. "Wir haben etwas Privates miteinander zu besprechen." Die Elfen nickten und verließen schnell den Aufenthaltsraum. Tom drückte die Tür zum Umkleideraum langsam auf. Claudia hatte ihn nicht gehört, und Tom blieb eine ganze Weile stehen und beobachtete sie, wie sie ihre Sachen aus dem Schrank holte und in eine große Einkaufstüte warf. Er machte leise einen Schritt auf sie zu. "Ich habe dich heute Morgen vermisst."
Er sah, wie sich ihr Rücken versteifte, dann drehte sie sich langsam um. Aber zu seiner Überraschung lächelte sie ihn nicht an, sondern blickte kühl und gleichgültig. "Ich packe nur meine Sachen zusammen. Ich werde noch heute nach New York fahren." Er runzelte die Stirn. "Warum denn?" "Ich habe meine Story fertig und muss noch eine ganze Menge tun, wenn ich die Stellung bei der Times wirklich annehmen will." "Aber es gibt so vieles, worüber wir uns unterhalten müssen." Sie schüttelte den Kopf. "Ich wüsste nicht, was wir noch zu besprechen hätten. Du hast doch sehr eindeutig klar gemacht, wie du empfindest." Ihre Stimme klang, als sei sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. "Allerdings", sagte Tom. "Und deshalb hätte ich auch nie damit gerechnet, dass du sofort nach unserer gemeinsamen Nacht nach New York fahren würdest. Du kannst noch nicht gehen, Claudia. Fahr doch ein paar Tage später." "Tut mir Leid", gab sie nur kurz zurück und wandte sich wieder ihrem Garderobenschrank zu, "ich werde nicht bleiben, nur damit du dich noch ein paar Tage länger im Bett amüsieren kannst." Er packte sie beim Arm und zwang sie, ihn anzusehen. "Aber das ist doch nicht der Grund, weshalb du bleiben sollst. Für uns sollst du es tun, für unsere Zukunft." Sie öffnete schon den Mund, um ihm eine zornige Antwort zu geben, aber dann begriff sie, was er da eben gesagt hatte. "Ich verstehe dich nicht. Du hast doch gemeint, ich sollte die Story einreichen. Ich dachte, dass das das Ende ..." "Das Ende?" Tom zog sie dichter an sich heran und umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen. "Das ist doch erst der Anfang. Ich sagte, du solltest die Story einreichen, weil ich möchte, dass du glücklich bist. Ich möchte, dass du das tust, wovon du immer geträumt hast. Aber ich möchte auch, dass du mich heiratest." Sie schluckte und starrte ihn an. "Was?" Tom zog den Ring aus der Hosentasche. "Eigentlich habe ich mir diesen Augenblick sehr viel romantischer vorgestellt. Ich wollte dir eigentlich nicht in einem öden Umkleideraum einen Heiratsantrag machen, aber ich kann nicht länger warten. Ich muss deine Antwort sofort haben. Außerdem hat hier im Kaufhaus schließlich alles angefangen." Er ließ sich auf die Knie nieder und nahm ihre Hand.
"Was soll das?" Sie versuchte, ihm die Hand zu entziehen.
Tom hielt ihr den Ring hin. "Claudia Moore, ich liebe dich. Ich weiß,
dass wir uns noch nicht sehr lange kennen. Aber als ich dich das erste
Mal sah, wusste ich schon, dass wir zusammengehören. Willst du
mich heiraten?"
"Was?" Sie sah ihn ungläubig an.
"Willst du mich heiraten?" wiederholte er und betonte dabei jedes
Wort.
Sie starrte ihn lange an und wirkte vollkommen verwirrt. Dann
schüttelte sie schließlich langsam den Kopf. "Du möchtest, dass ich
dich heirate?"
Er stand auf und ließ sie dabei nicht aus den Augen. "Ich habe schon
alles vorbereitet. Ich gehe nach New York in die Zentrale. Du kannst
bei der Times arbeiten, und wir können zusammenleben. Es wird
wunderbar. Wir werden uns ein Apartment suchen, vielleicht auch ein
Haus."
"Nein!" schrie sie.
Tom zuckte zusammen, das Wort traf ihn wie ein Messer. "Nein?"
"Nein, ich kann dich nicht heiraten."
"Darf ich erfahren, warum nicht?"
Sie sah zu Boden und suchte nach einer Antwort. "Du kennst mich
doch gar nicht. Ich bin nach Schuyler Falls gekommen, um eine Story
zu schreiben, und ich war bereit, dafür alles zu tun. Ich wollte nie
heiraten, ich wollte immer nur als Journalistin arbeiten. Und ich weiß,
dass ich nicht beides haben kann. Früher oder später würdest du
meinen Beruf hassen und bald auch mich."
"Aber natürlich kannst du beides haben", sagte Tom, "wenn wir uns
lieben."
Sie schüttelte den Kopf. "Warum muss man immer gleich heiraten,
wenn man sich liebt? Warum kann man sich nicht einfach nur lieben,
ohne Verpflichtungen, solange es eben dauert?"
"Weil das keine richtige Liebe ist, Claudia. Das ist nur ein
angenehmer Zeitvertreib, bis etwas Besseres kommt."
"Aber das geht mir alles zu schnell. Was zwischen uns geschah, ist
irgendwie so unwirklich. Das fiel mir gestern Nacht auf. Es begann
mit einer Lüge und ..."
"Aber es ist wirklich, verdammt noch mal!"
"Tom, wir haben doch ganz unterschiedliche Vorstellungen von unserer Zukunft. Natürlich können wir eine Beziehung haben, meinetwegen auch zusammenleben. Aber wir können nicht heiraten. Du verlangst von mir, eine richtige Ehefrau zu sein, und das kann ich nicht." Sie griff nach der Tüte. "Ich kann es einfach nicht. Ich weiß auch nicht, warum. Bitte!" Sie sah ihn flehend an. "Bitte versteh mich. Es tut mir so Leid." Sie drehte sich um und rannte aus dem Umkleideraum. Tom blieb wie erstarrt eine ganze Weile stehen. Ihm war, als könne er die Beine nicht bewegen. Dann rannte er los, hinter ihr her. Vor der Nordpol-Siedlung hatte sich bereits eine große Menschenmenge versammelt. "Wo ist sie hin?" rief er den Elfen zu. Sie zeigten auf den Fahrstuhl, und er drängte sich durch die Menge. Aber als er endlich im Parterre angekommen war, war von Claudia nichts zu sehen. Sie war einfach aus seinem Leben verschwunden, als habe es sie nie gegeben. Er blieb stehen und sah sich verzweifelt nach allen Seiten um. Verdammt, hätte er doch bloß mit dem Antrag gewartet. "Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Claudia Moore", stieß er zornig aus.. "Du wirst Ja sagen, und wir werden heiraten. Und wenn es auch ein Jahr dauert, ich werde einen Weg finden!"
9. KAPITEL
Tom Dalton starrte sein Spiegelbild düster an. Der leuchtend rote Anzug, der nach oben gebogene Schnurrbart, der lustige dicke Wattebauch, all das stand im Gegensatz zu seiner schlechten Laune. Und dabei hatte er seinen Einsatz als Santa Claus doch gerade schätzen gelernt. Aber ohne Twinkie war das Ganze unerträglich. Nun, morgen war Weihnachten, und er musste nur noch diesen Tag durchstehen. Danach konnte er das Ganze erst mal für elf Monate vergessen. "Nur dieser Tag noch", murmelte er. Tom blickte auf seinen Schreibtisch, auf dem die gestrige Ausgabe der New York Times lag. Er hatte sämtliche Ausgaben der letzten fünf Tage durchgesehen, immer auf der Suche nach Claudias Artikel. Auch Mrs. Lewis hatte die Zeitung sehr sorgfältig durchgeblättert, aber auch sie hatte nichts gefunden. Hatte die Redakteurin die Story nun doch nicht veröffentlichen lassen? Oder hatte Claudia die Geschichte zurückgezogen? Und was war nun mit ihrem Job bei der Times? Viele Fragen und keine Antworten. Immer wieder hatte er den Hörer in der Hand gehabt, um Claudia anzurufen. LeRoy hatte ihre private Telefonnummer in New York herausbekommen und ihre Adresse in Brooklyn. Aber bevor nicht ihre Geschichte veröffentlicht war und Weihnachten weit hinter ihnen lag, würde sie möglicherweise nichts von ihm wissen wollen. "Nur dieser Tag noch", wiederholte er. Die letzten Tage waren nur sehr langsam vergangen, und ständig hatte er an Claudia denken müssen. Immer wieder hatte er sich ihr letztes Zusammentreffen in Erinnerung gerufen, und immer noch wusste er nicht, was er eigentlich falsch gemacht hatte. Vielleicht fühlte sie sich einfach überrumpelt. Vielleicht hätten sie sich etwas besser kennen lernen sollen ... Ach, verdammt! Es hatte keinen Sinn, sich mit Vorwürfen zu martern. Die würden Claudia auch nicht zurückbringen. Er konnte nichts anderes tun als abwarten.
Irgendwann würde er schon erfahren, was aus der Geschichte geworden war und ob es für sie beide eine Zukunft gab. Es klopfte und Tom ging zur Tür und öffnete sie. "Hier ist Ihre Zeitung, Sir", sagte LeRoy. "Danke." Tom griff nach der New York Times. "Vielen Dank, dass Sie sie mir geholt haben. Das ist für mich in dieser Verkleidung etwas schwierig." "Gern geschehen, Sir." Obwohl Tom bereits spät dran war, breitete er schnell die Zeitung auf seinem Schreibtisch aus. In der Rubrik "New York Report" stand nichts. "Wieder Fehlanzeige", murmelte er. "Los, Claudia, das wolltest du doch. Durch diese Geschichte sollten endlich all deine Träume wahr werden. Wo bleibt sie denn nun?" Sport, Unterhaltung, Lifestyle ... Auch in diesen Rubriken stand nichts. Morgen war Weihnachten. Spätestens heute müsste man eine solche Story in die Zeitung bringen. Tom ließ sich schwer in den Sessel sinken. "Es sei denn, sie haben es sich als Weihnachtsüberraschung ausgedacht", sagte er laut. Er seufzte. Ja, natürlich, sie hatten den Artikel für die Weihnachtsausgabe aufbewahrt. Eine rührselige Geschichte über einen Santa Claus, der den Armen half. Wütend warf er den Rest der Zeitung beiseite. Aber was machte das schon für einen Unterschied? Ob die Geschichte nun veröffentlicht wurde oder nicht, Claudia würde ihn auf keinen Fall heiraten. Sollte sie allerdings doch bedauern, dass sie ihn zurückgewiesen hatte, und sollte sie irgendwie versuchen, ihre Beziehung zu retten, dann würde sie die Story sicher nicht zum Abdruck freigeben. Wenn also der Artikel nicht erschien, dann gab es immerhin noch Hoffnung, dass sie sich noch nicht endgültig gegen ihn entschieden hatte. Tom griff nach seiner Mütze und ging zum Fahrstuhl. Er müsste endlich mal an etwas anderes denken, vielleicht würde ihn seine Santa-Rolle auf andere Gedanken bringen. Aber wo er auch hinblickte, alles erinnerte ihn an Claudia. An die Nacht, die sie in seinem Büro verbracht hatten, Claudias verrückte Ideen in dem kleinen Frisiersalon, ihre Küsse in dem Knusperhaus, ja selbst ihre Abenteuer auf der Laderampe, als sie in den Müllbehälter fiel. Er drückte auf den Knopf für den ersten Stock. Gut, dass er bald nach Manhattan versetzt wurde. Wenn er schon nicht mit Claudia
zusammenleben konnte, würde er sich in der großen Stadt sicher besser ablenken können als in Schuyler Falls. Allerdings lebte sie in New York. Ihr Apartment in Brooklyn war nur ein paar U-BahnStationen von Manhattan entfernt. Und die Zentrale von Dalton Enterprises war nur ein paar Straßen vom Sitz der New York Times entfernt. Und wenn er ihr nun überraschend begegnete, vielleicht im Bus oder auf dem Bürgersteig oder in einem Laden? Er wusste genau, dass er überall nach ihr Ausschau halten würde. Denn er musste mit ihr einfach noch einmal sprechen, sonst würde er nie zur Ruhe kommen. Er musste ihr in die Augen sehen, um festzustellen, ob sie wirklich meinte, was sie sagte, oder ob sie nur aus einem Impuls heraus Nein gesagt hatte. Er hatte vor, gleich nach Ladenschluss zu seinen Eltern in ihr Landhaus nach Connecticut zu fahren, dort zu übernachten und Weihnachten bei ihnen zu verbringen. Warum sollte er nicht einen kleinen Umweg über Brooklyn machen? Er musste kurz vor Mitternacht dort sein, sofern das Wetter mitspielte und kein zu dichter Verkehr herrschte. Aber vielleicht war Claudia gar nicht da? Vielleicht besuchte sie ihre Eltern oder Freunde über die Weihnachtstage. Aber vielleicht arbeitete sie auch oder war zur Erholung gen Süden gefahren. Tom trat aus dem Fahrstuhl und ging in Richtung Knusperhaus. So sehr er sich auch danach sehnte, Claudia wieder zu sehen und zu berühren, er wusste genau, dass ihr nächstes Treffen auch ihr letztes sein konnte. Die Elfen warteten schon in der Nordpol-Siedlung. Winkie, Dinkie und Blinkie waren bereit, die ersten Kinder durch das Zuckerstangentor hindurch zu lassen. Heute war nicht viel los. Die meisten Kinder waren früher gekommen, weil sie Santa auch Zeit lassen wollten, all ihre Wünsche zu erfüllen. Die wenigen, die heute auf Santa warteten, hatten sich wahrscheinlich nicht entscheiden können, was sie denn nun auf ihren Wunschzettel schreiben sollten. Tom setzte sich in den großen Ohrensessel, Winkie stellte sich rechts neben ihn. Es war ihre Aufgabe, die Kinder auf seinen Schoß zu setzen. Dinkie stand auf der linken Seite und hatte kleine Weihnachtsstrümpfe mit Süßigkeiten in der Hand. Und Blinkie stand am Tor, um die Kinder einzeln durchzulassen.
"Guten Morgen, Sir", sagte Winkie. Bei Toms letztem Auftritt als Santa hatte man ihn erkannt, aber das war ihm auch gleichgültig. Nachdem sich seine "Affäre" mit Claudia dank ihres plötzlichen Abgangs wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte, war an seinem Ruf sowieso nichts mehr zu ruinieren. Im Gegenteil, es sprach eher für ihn, dass er Daltons Santa war. Dass er im Grunde nur aushilfsweise für seinen Großvater einsprang, wusste nur Mrs. Perkins. "Guten Morgen, Winkie", sagte er. "Wie geht es Ihnen?" "Danke, gut, Sir. Soll das erste Kind kommen?" Tom nickte und sah zu, wie eine kleine Dreijährige schüchtern durch das Tor trat. Jeder Schritt schien ihr schwer zu fallen, und als Winkie sie auf Toms Schoß setzte, brach sie in Tränen aus. Tom versuchte sie zu trösten, aber sie weinte nur nach ihrer Mutter, und so nahm Blinkie sie schnell wieder hoch. Die fünf anderen Kinder, die noch warteten, lasen ihm schnell ihre Wunschzettel vor, und nach einer halben Stunde war alles vorbei. "Ist es am vierundzwanzigsten Dezember immer so ruhig?" fragte Tom. Dinkie nickte. "Am Vormittag ist meistens eine ganze Menge los, aber nachmittags ist es ruhig." Alle schwiegen. Tom wusste nicht, was er sagen sollte, und die Elfen schienen zu befangen zu sein. "Es tut mir Leid, dass wir keinen Ersatz für Miss Moore angestellt haben", sagte er schließlich. "Ich weiß, dass Sie sowieso schon viel zu tun hatten, und danke Ihnen, dass Sie ihre Pflichten auch noch übernommen haben." "Ich habe Claudia gestern gesehen", sagte Dinkie. "Was?" Sie wurde rot und sah Tom nicht an. "Entschuldigen Sie, Sir, wahrscheinlich wollen Sie gar nicht darüber reden. Warum kann ich bloß nicht meinen Mund halten!" "Nein", sagte Tom schnell, "ich möchte es wissen. Wo haben Sie sie gesehen?" "Auf dem Marktplatz." "Dann ist sie also noch in der Stadt?" "Keine Ahnung, ich habe nicht mit ihr gesprochen." Tom lehnte sich zurück. So, so, sie war also noch in Schuyler Falls. Vielleicht bedauerte sie ihre Reaktion, und es gab doch noch eine Chance für sie beide.
Je später es wurde, desto nervöser wurden die Kunden, die ihre Weihnachtseinkäufe immer wieder aufgeschoben hatten. Claudia stand an einem Ständer mit Ledergürteln und versuchte ihren ganzen Mut zusammenzunehmen. Sie wusste, dass Tom irgendwo hier im Kaufhaus war. Seit sie seinen Antrag zurückgewiesen hatte und weggelaufen war, hatte er sich fast rund um die Uhr im Kaufhaus aufgehalten, zumindest hatte er sein Auto ständig hier geparkt. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm hinterher spionierte, aber da sie den Job bei der Times geschmissen hatte, hatte sie nicht viel zu tun. Jeden Morgen, wenn sie in der Pension beim Frühstück saß, nahm sie sich vor, Schuyler Falls den Rücken zu kehren. Sie hatte auch schon ein paar Mal gepackt, hatte sich aber einfach nicht überwinden können, den endgültigen Schritt zu tun. Solange sie in der Stadt blieb, hatte sie immer noch die Hoffnung, dass doch alles wieder gut würde zwischen ihnen. Wer weiß, wenn sie ihm nun zufällig begegnete ... Aber nach vielen Überlegungen hatte sie doch beschlossen, dass es das Beste sei, ihn direkt anzusprechen. Prompt hatte sie geträumt, er machte ihr noch mal einen Antrag und diesmal sagte sie Ja. Sie hatte ihre ganzen Ängste und Zweifel, die sie seit ihrer Kindheit mit sich herumschleppte, hinter sich gelassen und sich ihm in die Arme geworfen. Sie war schließlich nicht ihre Mutter, und Tom war nicht ihr Vater. Sie liebten sich und würden glücklich miteinander werden. Aber wie konnte sie ihn dazu bringen, sie noch einmal zu fragen? Wenn sie nur jemanden hätte, der ihr einen Rat gab. Jemanden, der aber auch Tom kannte ... "Santa Claus! Ich kann mit Santa Claus sprechen", stieß sie leise hervor. Warum hatte sie nur nicht früher daran gedacht? Wo war die Rolltreppe? Sie musste sofort zu Theodore Dalton. Er könnte ihr sagen, wie es Tom ging. Und wenn die Sache auch nur halbwegs positiv aussah, würde sie einfach in Toms Büro gehen und mit ihm sprechen. Kein Kind stand vor dem Zuckerstangentor. Die Elfen standen zusammen und schwatzten. Der Sessel des Weihnachtsmanns war leer. "Hallo", sagte Claudia betont fröhlich. Die Elfen fuhren herum und starrten sie an, als wäre sie ein Geist. "Was willst du denn hier?" fragte Winkie schließlich.
"Ich möchte mit Santa sprechen."
"Er ist in dem Knusperhaus und ruht sich aus."
"Dann warte ich."
"Oh nein", sagte Winkie schnell. "Ich hole ihn."
Ehe Claudia noch protestieren konnte, war Winkie schon wieder
zurück. "Er kommt gleich."
Nur wenige Sekunden später trat Santa aus dem Haus. Er setzte sich
langsam in den Sessel und nickte dann Winkie zu.
Winkie öffnete das Tor. "Santa hat jetzt für dich Zeit."
Claudia trat durch das Tor. Wie allen Kindern war auch ihr
beklommen zumute. Aber anders als bei den Kindern hatte ihr
Wunsch nichts mit Spielzeug zu tun. Sie wünschte sich einen
ausgewachsenen, atemberaubend aussehenden Mann zu Weihnachten.
Sie stellte sich vor Santa hin, sah ihn aber nicht an. "Mr. Dalton,
wahrscheinlich wollen Sie mit mir gar nicht sprechen, vor allen
Dingen, weil Sie sicher wissen, was zwischen Tom und mir
vorgefallen ist. Aber ich brauche Ihren Rat."
Er klopfte auf sein Knie.
"Soll ich mich auf Ihren Schoß setzen?"
Als er nickte, setzte sie sich gehorsam. "Tom hat Ihnen bestimmt von
seinem Heiratsantrag erzählt?"
Wieder nickte der alte Mann.
"Sie müssen wissen, alles ging so schnell, ich wusste nicht, was ich
sagen sollte. Aber ich konnte die Stadt nicht verlassen, weil ich ihm
doch so gern sagen wollte, dass ich ... dass ich ...", sie atmete tief
durch, "... dass ich ihn liebe und dass es nicht richtig war, einfach
davonzulaufen." Zögernd hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen.
"Meinen Sie, dass es für uns noch eine Chance gibt?"
Santa schien eine lange Zeit über diese Frage nachzudenken. Dann
streckte er plötzlich die Arme aus, zog Claudia fest an sich und küsste
sie. Sie wollte schreien, aber sowie sie seine Lippen spürte, wusste sie,
dass sie nicht auf Theodores Schoß saß.
Sie küsste Tom Dalton! Eine unglaubliche Erleichterung,
abgelöst von Sehnsucht und Verlangen, durchfuhr sie. Tom war bei
ihr! Sie hob den Kopf. "Santa Claus hat mich geküsst!" rief sie aus.
Applaus erscholl, und jetzt erst bemerkte sie, dass sich eine
Menschenmenge vor dem Zuckerstangentor angesammelt hatte.
"Nein, Darling", sagte Tom vernehmlich, "dein zukünftiger Mann hat dich geküsst. Aber nun entschuldigen Sie uns", sagte er, lächelnd zu der Menge gewandt, "wir haben noch etwas zu besprechen." Er nahm Claudia auf die Arme und trug sie unter dem Beifall der Umstehenden in das Knusperhaus. Als er die Tür geschlossen hatte, wandte Claudia sich zu ihm um und zog ihm den Bart vom Gesicht. "Ich hätte nie weglaufen dürfen", sagte sie leise. "Und ich hätte es nie zulassen dürfen", sagte er und schloss sie in die Arme. "Aber was ist denn nun mit deinem Artikel?" "Der wird nicht gedruckt. Eure Familiengeheimnisse sind bei mir sicher. Und ich werde auch in Zukunft freiberuflich arbeiten. Denn wenn ich gerade mal keinen Auftrag habe, können wir den ganzen Tag im Bett verbringen!" Sie küsste ihn auf die Nasenspitze. "Sofern du mir noch einmal einen Antrag machst." Tom lachte kurz und sah sie dann ernst an. "Claudia Moore, willst du meine Frau werden?" In ihren Augen standen Tränen. "Ja, ich möchte deine Frau werden."
- ENDE