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scanned & corrected by himmelreich
U.T. greift ein …überall dort, wo etwas Wichtiges zu erkunden ist, wo Rätsel zu lösen, verschollene Menschen zu suchen sind, wo verzweifelt Kämpfenden geholfen werden muß. Eine Fülle von abenteuerlichen Schicksalen und unvergeßlichen Taten haben die Männer von U.T. erfahren. Ihre Geschichte ist eine Kette großartiger Leistungen, die nicht in mörderischen Kriegen vollbracht wurden, aber immer mit dem Einsatz des Lebens, im Kampf um Leben und Tod. Im unwegsamen Hindukusch sollen sie geheime Bodenforschungen vornehmen und geraten dabei in das Netz eines mörderischen Banditen. In der Dschungelhölle Brasiliens suchen sie nach der »Eldorado« – einem abgestürzten Flugzeug.
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Aus den Satzungen der Gesellschaft Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Ermittlungen, Nachforschungen und Expeditionen nur dann, wenn ihr der Auftrag moralisch gerechtfertigt erscheint. § Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Expeditionen in alle Teile der bewohnten und unbewohnten Erde, soweit deren Ausführung nicht den Gesetzen des betreffenden Landes widerspricht. Sollten aber die Gesetze eines Landes den Gesetzen der Menschlichkeit widersprechen, so wird die Gesellschaft bereit sein, übernommene Aufträge auch dort auszuführen. § Die Kosten einer Expedition werden vom Chef-Expeditionsleiter provisorisch festgelegt. Die eine Hälfte dieser Summe ist vor dem Aufbruch der Expedition zu zahlen, die andere nach deren Beendigung. Überschreiten die tatsächlich entstandenen Kosten den veranschlagten Betrag, so werden sie zur Hälfte vom Auftraggeber, zur Hälfte von der Gesellschaft getragen. § Betrifft eine Ermittlungs- oder Erforschungsaufgabe Menschen, die in Not sind und niemand haben, der sich ihrer annehmen kann, so übernimmt die Gesellschaft die Kosten der notwendigen Hilfs- und Rettungsaktion. § Die Teilnehmer an einer Expedition haben sich über deren Ziel, Zweck und Ergebnis zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Berichte über Expeditionen werden nur dann veröffentlicht, wenn der Generaldirektor der Gesellschaft und der Auftraggeber damit einverstanden sind. Nichtveröffentlichte Expeditionsberichte werden im Geheimarchiv der Gesellschaft niedergelegt und dort dreißig Jahre lang aufbewahrt.
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Die Männer von U.T. Generaldirektor
Arthur Miller Chef-Expeditionsleiter
Stephan Slanton, V. C. aus England, genannt »Chef« Expeditionsforscher
Dr. phil. Dr. rer. nat. Peter Geist aus Deutschland, genannt »GG« (Großer Geist) Expeditionsarzt: Docteur en Medecine
Gaston de Montfort Comte de Darifant-Croy Ehrenritter des souveränen Malteserordens aus Frankreich, genannt »Graf« und ihre Mannschaft Patrick Cromby aus Irland, genannt »Plumpudding« Bertram Kunke aus Deutschland; genannt »Figur« Tschandru-Singh aus Lala Gul/Indien Cyprian Bombardon aus Marseille/Frankreich, genannt »Neunauge«
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In den Klauen des Ungenannten Abenteuer in den Schluchten des Hindukusch
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Inhalt Im Stich gelassen Eine unheimliche Spur Die Schreckensherrschaft des Ungenannten Vor den schwarzen Zelten Kiste Nr. 17 Die Felslöcher Ins unbekannte Land »Ihr werdet sterben Neunauge feuert Nur ein Tröpfchen Blut Mit 300.000 km in der Sekunde Ins Garn gegangen Die Rückkehr Im Schatzhaus Die unheimliche Nacht Der Überfall Eine schwere Entscheidung Ein gewagter Plan Gefangen und gefesselt Auge in Auge mit dem Ungenannten Der Sahib aus Amerika Tschandru-Singh bricht zusammen Telegramm aus London Wort- und Sacherklärungen
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Im Stich gelassen GG wachte auf. Vom Zelteingang her schimmerte Morgenlicht. Er sah auf seine Armbanduhr. Der leuchtende Zeiger stand genau auf der leuchtenden Fünf. Jeden Morgen wachte GG um fünf Uhr auf, weil die Träger lärmten. Jeden Morgen ärgerte er sich darüber, daß sie sich nicht daran gewöhnen konnten, leise zu sein. Aber jetzt vernahm er nichts. Er war aufgewacht, weil es so still war. Er freute sich, daß sie endlich auf ihn gehört hatten. Es war eben doch gut mit diesen dunkelbraunen Männern der Mahori-Berge auszukommen, die sie in Tschitral angeworben hatten. Man mußte nur Geduld haben. Es dauerte lange, bis sie begriffen hatten, was die weißen Sahibs wollten, weil ihnen deren Gedanken und Wünsche im Grunde unbegreiflich waren. Warum sollten sie leise sein, wo es doch so herrlich war, beim Wasserholen, beim Feuermachen zu singen, daß es von den Bergen widerhallte? Aber er hörte ja überhaupt keinen Laut! Jetzt horchte GG angespannt – wahrhaftig, es war totenstill draußen, und mit einem Male überkam es ihn: Gefahr! Er streifte den Schlafsack ab. Er fuhr in die -7-
Sandalen, Buschhemd und kurze Hose hatte er an. Hinaus aus dem Zelt – aber vorher noch rasch den Griff zu seiner Pistole. Er schob sie in die rechte Hosentasche. Jetzt stand er draußen in der Morgendämmerung. Ein Blick, und er sah, weshalb es so still war: die Träger waren fort. Heimlich hatten sie sich in der Nacht davongemacht. Mitten in den Bergen hatten sie die Sahibs im Stich gelassen. Er weckte die Kameraden nicht. Er dachte überhaupt nicht daran. Er fragte sich auch nicht, was denn nun weiter werden solle, wo sie ohne Träger so gut wie hilflos waren. Er hatte nur einen Gedanken. Er stürzte zu den Kisten, in denen ihr Gepäck verstaut war. Da lagen sie, sorgfältig aufgestapelt, wie die Londoner Firma Fortnum & Mason sie unübertrefflich geliefert hatte, aus gut getrocknetem Holz, sorgfältig zusammengefügt, mit Zink beschlagen, wasser- und luftdicht imprägniert. Einzeln konnten sie als Sitz dienen. Zu vieren in einer Reihe gaben sie eine Bettstelle, drei waren als Stuhl und Tisch verwendbar, und vier, auf kunstvolle Art verbunden, gaben ein Boot, in dem man einen Fluß überqueren konnte. Sie waren als Wasserfaß, ja als Badewanne zu verwenden, und keine wog mehr als 25 Seers (23 Kilo), denn das war das höchste Gewicht, das ein Träger schleppte. Er atmete auf. Da war auch Kiste Nr. 17, -8-
seine kostbare Nr. 17, auf die er persönlich oben und unten mit roter Farbe ein dickes Kreuz gemalt hatte. Sie war sein Augapfel. Sie durfte nicht aufgeladen, nicht abgesetzt werden, ohne daß er dabei war. Die Träger waren fort – aber seine Kiste war noch da. Alles weitere würde sich finden. Er ging in das Zelt Stephen Slantons. Er legte die Hand auf den Schlafenden. Der war sofort wach und sah ihn klar an. »Chef«, sagte Peter Geist, »die Träger sind auf und davon!« »Oh«, sagte der Engländer, und das war viel, denn er war ein Mann, der nicht gern viel redete. Eine halbe Stunde später standen fünf von den sechs Europäern, die der Auftrag der Londoner Company »UBIQUE TERRARUM« in die Einsamkeit der indisch-afghanischen Grenzgebirge verschlagen hatte, beisammen und erwogen die fatale Lage, in die sie die heimliche Flucht der Träger gebracht hatte. Der Morgen war schön. Zu ihrer Rechten hoben sich die gewaltigen, vereisten Siebentausender des Hindukusch gegen den blauen Himmel, und vor sich sahen sie in das Gewirr der afghanischen Waldtäler. Ihr Lager hatten sie im Windschatten einer Felswand zwischen kahlem Geröll aufgeschlagen. »Jedenfalls, eins steht fest«, sagte eine empörte Stimme heftig, »ich schleppe nicht eine der elenden Kisten auch nur einen halben Me-9-
ter! Dazu bin ich nicht verpflichtet, und das kann kein Mensch von mir verlangen!« »Es hat ja auch niemand von dir verlangt, Neunauge!« »Aber ich sehe schon, daß es dazu kommen wird!« Der aufgeregte Mann schrie beinahe. »Ich bin kein Kistenträger. Ich bin gelernter Koch! Ich habe in meinem Kontrakt ausdrücklich stehen, daß ich nur für die Zubereitung der mitgenommenen Nahrungsmittel verantwortlich bin! Kein Wort steht davon da, daß ich sie auch schleppen müßte! Herr Graf, geben Sie sich keine Mühe, mich dazu zu überreden.« Der sechste Mann kam heran und brachte eine Kanne mit dampfendem Kaffee. »Du sagst, du wärest Koch«, sagte der Graf, »aber du kochst nicht, sondern hältst Brandreden, und derweile geht Plumpudding hin und kocht Kaffee!« Man hätte die merkwürdigen Namen »Neunauge« und »Plumpudding« vergeblich in den wohlabgestempelten Reisepässen der genannten Männer gesucht. Der aufgeregte Koch, der in Marseille geboren und aufgewachsen war, hieß in Wahrheit Cyprian Bombardon, und Plumpudding war im Geburtsregister seiner irischen Heimatstadt Limerick als Patrick Cromby eingetragen. Seine füllige Körperbeschaffenheit, sein Vollmondgesicht war eine überzeugende Erklärung seines Spitznamens. Es kam indessen hinzu, daß sein stilles Wesen -10-
auch an das angenehm Sanfte eines Puddings erinnern konnte. Zu seinen Besonderheiten gehörte, daß er gern ein Lied vor sich hinsummte, vielmehr nur die erste Strophe eines Liedes, oder, wenn wir ganz genau sein wollen, nur die erste Zeile dieser ersten Strophe; immer trat dann irgend etwas dazwischen, das ihn daran hinderte, sie zu vollenden. Dem hageren Südfranzosen aber war zum Verhängnis geworden, daß es der Traum seines Lebens war, eines Tages in Paris ein kleines Bistro (Restaurant) mit dem verlockenden Namen »Zum vergnügten Neunauge« zu eröffnen. Der Graf freilich wurde mit Recht so genannt, jedoch legte Gaston von Montfort, Graf von Darifant, Ehrenritter des Souveränen Malteserordens, nicht etwa Wert darauf, an seine Herkunft erinnert zu werden. Aber jeder nannte ihn so, weil kein anderer Name seinem ebenso feinen wie liebenswerten Wesen gerecht zu werden schien. Daß Dr. Geist auch im fernen Asien wieder von dem Beinamen nicht loskam, der ihm vor Jahren in seinem Jugendbund feierlich verliehen worden war, das verdankte er seinem alten Schulkameraden Bertram Kunke, den er als seinen Begleiter mit auf die Expedition genommen hatte. Hinter der bequemen Abkürzung »GG« nämlich verbarg sich die anspruchsvolle Benennung »Großer Geist« – ein Name, auf den er selbst freilich nicht gekommen war, sondern sein Bund, und worin neben versteckter Anerkennung so viel Spott lag, daß er ihn sich gefallen lassen -11-
konnte. Doch hatte das zur Folge, daß Peter Geist auch Kunkes alten Namen wieder aufleben ließ, weshalb er nie anders als »Figur« gerufen und angeredet wurde. Mit dieser Bezeichnung hatte der erbarmungslose Scharfblick der Jungen einmal den Mißklang aufgedeckt, der in seiner Erscheinung zu Tage trat. Auf einem überaus kräftigen und muskulösen Körper saß ein wahres Kindergesicht. Dieses Mißverhältnis war ihm geblieben, obwohl das, was er erlebt hatte, dazu ausreichen konnte, ein Greisengesicht durch die Welt zu tragen. Nachdem er aus der Schule vorzeitig ausgebrochen war, hatte er sich in der weiten Welt erst als Schiffsjunge durchgeschlagen, später als Matrose, als Erdölarbeiter in Texas, als Bergarbeiter in Südafrika. Dieser Mißklang wurde besonders deutlich, wenn er sich in seinen Kindermund einen Priem steckte, denn beim Kautabak war er seit seiner wüsten Matrosenzeit geblieben. Es schien ihm beschieden zu sein, nicht zu einer vollen Menschengestalt heranzureifen, sondern im Figurenhaften stecken zu bleiben. Den Engländer, den Leiter der Expedition, nannte jeder »Chef«. Darin lag ohne Frage Zuneigung, denn die Männer hätten ja ebensogut Mr. Slanton zu ihm sagen können – aber es lag darin auch das willige Zugeständnis, daß sie diesem schweigsamen, zähen Mann mit jenem Respekt gern begegneten, den innere Überlegenheit erweckt. -12-
»Ehe wir erwägen, was wir jetzt tun«, sagte der Graf, »sollten wir herausbekommen, warum uns die Träger verlassen haben. Ich habe auf dem langen und mühseligen Weg über den Darapaß, bei diesem entsetzlichen schweren Anstieg auch nicht bei einem einzigen ein Zeichen von Unwillen gesehen. Wie ist es, GG – Sie sind ja natürlich der einzige, der mit ihnen reden konnte –, was sagen Sie dazu?« »Dasselbe wie Sie, Graf. Die Männer waren in bester Laune. Wir haben gehört, wie vergnügt sie morgens immer sangen. Daß ich sie bat, erst zu singen, wenn wir aufgestanden wären, kann sie unmöglich so gekränkt haben, daß sie verschwunden sind.« »Bei den Küchenkisten fehlt nichts«, sagte Neunauge. »Nicht einmal von dem Kandiszukker haben sie was gestohlen, und hinter dem waren sie her wie die Bremsen nach dem Kuhfladen.« »Sie haben sogar ihr Geld im Stich gelassen«, sagte der Chef, »denn ihre Löhnung sollte doch erst am Ziel ausgezahlt werden.« »Jedenfalls sitzen wir jetzt schön in der Patsche«, sagte Figur. »Wir können nicht weiter und können nicht zurück Die ganze Sache ist sozusagen im –« »Ich habe Ihnen gleich gesagt, Herr Graf!« sprudelte Neunauge los. »Weshalb sollen wir ausgerechnet nach Kafiristan, der gottverlassensten Stelle von ganz Asien?! Kennen Sie einen einzigen Menschen, der jemals in Kafiri-13-
stan gewesen wäre? Jetzt können wir hier alles stehen- und liegenlassen und froh sein, wenn wir überhaupt lebendig wieder in eine vernünftige Gegend kommen, wo man eine Fahrkarte kaufen kann.« Der Graf lächelte, aber er wie die andern fanden, daß Neunauge nicht unrecht hatte. Da es für sie ausgeschlossen war, eine offizielle Einreise-Erlaubnis nach Afghanistan zu bekommen, hatten sie den streng bewachten Khaiber-Paß nicht benutzen können, sondern den weiten Umweg durch die Gebirge im Norden machen müssen, und nun waren sie in diesen menschenleeren Steinöden tatsächlich wie verloren. »Sieh da«, redete Neunauge höhnisch weiter, »die netten Boten von der hiesigen ›Pietät‹ wollen sich schon um uns bemühen!« Er zeigte geradeaus, wo Geier aufgetaucht waren. Sie kreisten um eine verdorrte Zeder, die am Rande eines jäh abstürzenden Felsens stand. Der Chef hatte sich erhoben. Er legte die Hand über die Augen und sah hinüber. Ehe er ein Wort gesagt hatte, hielt ihm Plumpudding schon seinen Feldstecher hin. »An dem Baum ist ein Mensch angebunden«, sagte er. »Mit dem Kopf nach unten.« »Äußerst nachteilig für sein Wohlbefinden«, sagte der Graf, »wenn sein Blutkreislauf nicht in Ordnung sein sollte«. »Ich sage ja, – eine -14-
reizende Gegend!« wetterte Neunauge. Der Chef nahm die Winchester-Büchse, die ihm Plumpudding gebracht hatte. Er legte an, zielte. Der Schuß fiel. Einer der Geier stürzte getroffen ins Tal. Die andern schraubten sich höher, dann stießen die ausgehungerten Vögel dem toten Tier nach, um es zu zerfleischen. »Ich bleibe dabei, eine ganz reizende Gegend!« grollte Neunauge voller Verachtung. »Der Chef schießt nie, ohne zu treffen«, sagte Plumpudding stolz. »Ich treffe auch, wenn ich will«, sagte Neunauge sehr entschieden. »Ich bin zweiter Vorsitzer in unserm Jagdklub ›Die Briganten‹.« »Ich habe gehört«, sagte Plumpudding, »in Marseille schießt man auf ausgestopfte Kaninchen?« Neunauge antwortete nicht. Er würde diesen Satz Plumpuddings nicht vergessen, und eines Tages würde er ihm die gehörige Antwort geben, nicht mit dem Munde, sondern mit der Waffe in der Hand. Aber nicht jetzt. Er hastete den andern nach. GG, der Chef, der Graf und Figur waren ihm schon weit voraus auf dem Wege zu dem Gefesselten.
Eine unheimliche Spur
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»Mein Gott«, sagte GG, »es ist TschandruSingh!« »Tot?« fragte der Chef. »Bewußtlos«, sagte der Graf. Sie hatten ihn losgeschnitten, und der braune Knabe lag regungslos vor ihnen auf dem kahlen Boden. Der Graf band ihm den linken Oberarm ab, daß sich das Blut in der Vene der Ellbogenbeuge staute, er führte die Hohlnadel ein, und das Blut lief aus. »Gesunder Bursche«, sagte der Graf. »Die Augen sind nicht erheblich vorgequollen. Keine Lähmung infolge Hirnblutung. Ich brauche nicht einmal Traubenzucker einzuspritzen. Er kommt zu sich.« Der Knabe schlug die Augen auf. »Holen Sie ihn aus«, sagte der Chef zu GG. »Lassen Sie ihn sich erst verschnaufen«, sagte der Graf und verband ihm die Einstichwunde. »Wir wollen verschwinden, denn erstens verstehen wir doch nicht, was er sagt, und so viele Sahibs um ihn machen ihm nur Angst.« So war GG ganz allein mit dem Knaben. In Tschitral war der Vierzehnjährige zu ihm gekommen, als er die Träger mietete, und hatte demütig seine Dienste angeboten. Er war nicht stark genug, daß er die übliche Last hätte schleppen können, aber das Gestell des Tretsatzes für ihren Funkapparat konnte er tragen, als Wasserholer und zum Zusammen-16-
suchen von Dung, mit dem man später feuern mußte, war er vielleicht zu gebrauchen. Doch sah GG in dieser Begründung mehr eine Entschuldigung, mit der er vor sich rechtfertigte, daß er diesen Knaben mitnahm. Es lag, fand er, im Blick seiner schwarzen Augen etwas so unsäglich Flehendes, daß er es nicht fertigbrachte, nein zu sagen. Sie sahen sich an, aber GG schwieg. Er nickte dem Knaben nur freundlich zu und streichelte ihm die Hand, und es dauerte lange, bis er fragte: »Wie geht es dir, Tschandru-Singh?« Es schien, als wolle das Gesicht des Knaben aufleuchten. Aber wie von einer unsichtbaren Wolke verdunkelt, erlosch dieser Glanz wieder. Der Knabe hielt sich die Hand vor den Mund, ehe er antwortete. »Ich lebe, Sahib«, sagte er. »Wer hat dich hier an den Baum gebunden?« »Die Träger, Sahib.« »Warum?« Tschandru-Singh schwieg. »Warum haben die Träger uns verlassen?« Tschandru-Singh schwieg. »Waren die Wege zu schlecht?« »Nein, Sahib«, sagte Tschandru-Singh, sichtlich froh, daß das keine Frage war, auf die er nicht antworten konnte. »War der versprochene Lohn zu gering?« -17-
»Nein, Sahib.« »Waren wir nicht gut zu den Trägern?« »O Sahib, sie sagten noch, nie hätten sie Sahibs getroffen, die so gut zu ihnen waren!« »Warum haben sie uns dann verlassen?« Tschandru-Singh atmete tief. Er rang mit dem, was über seine Lippen sollte und was er doch nicht zu sagen wagte. Er sah den weißen Sahib an, als wäge er bei sich ab, ob er sein Schicksal ein für allemal in die Hände dieses fremden Mannes legen dürfe. Aber vor drei Wochen hatte den Weißen die stumme Klage seiner dunklen Augen angerührt, jetzt gab ihm der klare Blick dieser hellen blauen Augen eine ihm unbegreifliche Zuversicht. »Es kam eine Botschaft«, sagte er, »wir sollten euch alle verlassen.« Eine Botschaft? In diese Einöde? Wo sie keiner Karawane, keinem Händler begegnet waren? Aber nur nicht jetzt den Knaben durch einen Zweifel verwirren! »Wer schichte die Botschaft?« Tschandru-Singh wußte, er konnte nicht mehr zurück. Er hatte sich schon zu sehr in die Gewalt dieses Sahibs begeben. Aber als er auch diese Frage beantwortete, flüsterte er nur: »Botschaft vom Ungenannten, o Sahib!« GG erschrak. Gewiß, von dem Augenblick an, wo die Träger verschwunden waren, sah ihre Lage nicht rosig aus – aber jetzt, da dieser Name gefallen war, stand es ernst, sehr ernst. -18-
Doch war das denn am Ende nicht alles nur ein Hirngespinst dieser Eingeborenen, waren sie nicht vielleicht nur das Opfer irgendwelcher Einbildungen? »Tschandru-Singh«, sagte er, »seit Tagen ziehen wir ganz allein durch die Berge, niemand geht gern über den Darapaß, denn er ist verrufen – wie konnte euch da ein Bote des Ungenannten erreichen?« »Du hast selbst mit ihm gesprochen, Sahib!« »Ich?!« »Hast du nicht zu dem Fakir gestern gesagt: ›Gehe einen guten Weg?‹« Der Fakir! GG sah den schauerlichen Mann wieder vor sich, den sie tatsächlich gestern in der Einöde der Dreitausender getroffen hatten. Seine dunkle Haut war mit Asche bedeckt, die ihr eine gespenstische Färbung gab. Das dichte lange Haar war in viele kleine Zöpfe geflochten, weiß gefärbt, der Bart aber rot. Seine eingesunkenen Augen lagen tief in den Höhlen, Stirn und Wangen waren dich mit weißer Farbe bemalt. Er war kaum bekleidet, um die Lenden trug er nur die Kamarjuri, die Fakirkette, und um den Arm hatte er sich ein messingnes Armband schmieden lassen. Ein Kranz von Holzperlen hing ihm um die Hüften, um den Hals ein Band von geflochtenen Haaren. GG selbst hatte ihm in die bittend erhobene Schale Reis, Hafermehl und roten Pfeffer gelegt und dabei gesehen, daß er die Gabe in die Hirnschale eines Toten schüttete. Daß sie -19-
in der völligen Einsamkeit auf dieses wahre Schreckgespenst gestoßen waren, hatte ihn gestern nicht verwundert, denn die HinduAsketen suchen gerade menschenleere Öden auf, um sich ungestört ins Nichts versenken zu können – aber dieser Fakir war also der Bote des Ungenannten gewesen… »Ich verstehe, daß ihr der Botschaft gehorchen mußtet«, sagte GG. »Aber ich verstehe nicht, daß dich die Träger an den Baum gebunden haben. Das wäre dein Tod gewesen, wenn dir die Geier nicht geholfen hätten.« »Die Träger wollten auch meinen Tod, Sahib«, sagte der Knabe. »Aber sie durften mich nicht töten, denn die Bergleute töten nur den, der selbst getötet hat. Deshalb sollte ich von allein sterben oder von den Geiern zerhackt werden.« »Weshalb solltest du sterben?« »Ich war ihnen weggelaufen. Ich wollte zurück zu« – nein, er brachte es nicht über die Lippen, was er hatte sagen wollen, »zurück zu dir« – – deswegen sagte er: »zu den Sahibs.« »Warum wolltest du zurück zu uns, gegen den Willen des Ungenannten?« »O Sahib, ich hatte dir doch versprochen, Wasser zu holen und Dung für das Feuer und das Ding mit den Eisenstangen zu tragen.« »Tschandru-Singh«, sagte der Weiße langsam, »du bist uns willkommen. Aber von nun an sollst du mein Diener sein und in meinem -20-
Zelt schlafen –« »Vor deinem Zelt, Sahib, vor deinem Zelt!« rief der Knabe, hingerissen von dem herrlichen Leben, das sich da vor ihm auftat – aber dann überfiel ihn wieder unendliche Traurigkeit, »O Sahib«, sagte er leise, »ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt!« »Weshalb wolltest du nicht mit den Trägern gehen? Wolltest du nicht zurück über die Grenze, weil du gestohlen hast?« »Wenn ich nur gestohlen hätte, Sahib, so wäre ich glücklich. Sahib, ich habe dir einen falschen Namen gesagt. Ich heiße nicht Tschandru-Singh. Ich heiße Nattu.« »Warum nennst du dich Tschandru-Singh, wenn du Nattu heißt?« »Sahib, ich wollte ein anderer werden.« »Warum?« »O Sahib«, stöhnte der Knabe, »ich bin ein Unberührbarer.« Der Knabe warf sich verzweifelt zu Boden und preßte sein Gesicht auf die Erde, als sei es nicht wert, die Sonne zu sehen, und erschüttert sah Peter Geist den Jammer dieses Knaben. Er wußte, was es hieß, zur Kaste der Unberührbaren zu gehören: nur die unsaubersten Arbeiten waren für sie. Begegneten sie den Menschen der anderen Kasten auf der Straße, so hatten sie demütig in den Rinnstein zu treten. Nicht einmal ihr Schatten durfte auf die Begnadeten fallen… Nie durften sie über einen Lohn handeln, son-21-
dern mußten nehmen, was ihnen der andere gab, nirgends durften sie anderswo hausen als in den elenden Löchern des Viertels, das ihnen bestimmt war, und wer als Unberührbarer auf diese Welt gekommen war, der sollte es bleiben bis zu seinem Tode. »Tschandru-Singh, hörst du, was ich dir sage?« Ohne sich wieder aufzurichten, schüttelte der Knabe den Kopf, das Zeichen für ja. »Tschandru-Singh«, sagte Peter Geist, »als Buddha, der Erwachte, durch deine indische Heimat zog, sagte er, es solle keine Kasten geben, und als der Sohn des Gottes, an den wir glauben, auf der Erde erschien, lehrte er, vor dem Antlitz Gottes seien alle Menschen gleich.« Der Knabe richetet sich auf. Es war ihm, als werde das Unwahrscheinlichste wahr, das Unmöglichste möglich. »Bist du ein Christ, Sahib?« fragte er, und als er das »Ja« vernommen hatte, stieß er atemlos hervor: »Macht es dir wirklich nichts aus, wenn ein Unberührbarer vor deinem Zelt schläft?« »Für mich gibt es keinen Menschen, der unberührbar ist, Tschandru-Singh.« »Und die andern Sahibs?« »Sie denken wie ich.« »So sind die Weißen!« rief der Knabe überwältigt. »Hast du nie von Mohandas Karamchand -22-
Gandhi gehört?« »Wer spricht denn mit einem Unberührbaren…?« »Er ist ein Inder wie du, der Sohn eines Ministers, und er hat eine Unberührbare als Tochter angenommen. Du siehst, auch Inder wollen den Unberührbaren helfen!« »In Lala Gul, wo ich lebte, ohne zu leben, will das niemand!« »Du brauchst nicht nach Lala Gul zurück. Du wirst bei mir bleiben, Tschandru-Singh.« »Ich höre deine Worte, Sahib«, sagte der Knabe und verneigte sich knieend. »Warum hältst du dir die Hand vor den Mund, wenn du mit mir sprichst?« Peter Geist wußte, warum, aber er wollte dem Knaben diese Stunde unvergeßlich machen. »Damit mein Atem dich nicht beschmutze, Sahib.« »Tue das nie wieder, Tschandru-Singh, denn wisse: dein Atem ist ebensoviel wert wie meiner!« »Mir ist, als ob ich träume, Sahib«, sagte der Knabe. »So war es, Sahib: sie feierten in Lala Gul das Fest der Göttin Bhagavati. Vor ihrem Tempel brannten unzählige Lämpchen. Die Tänzer der Göttin tanzten, die Frauen und Mädchen der hohen Kasten schritten in den Tempel, verneigten sich vor dem Altare und opferten Blumen und Reiskörner. Meine Mutter stand weitab im Staub und sah alles, aber -23-
sie durfte den Tempel nicht betreten, und ich stand neben ihr. Als das Fest vorüber war, da schwemmten die Priester den Tempel mit Wasser wieder sauber, und aus dem Spülwasser klaubte meine Mutter sich die Reiskörner auf, damit wir zu essen hatten. Meine Mutter ist Witwe, o Sahib, und eine Witwe ist schlimmer dran als ein räudiger Hund. Da habe ich zu meiner Mutter gesagt: ›Mutter, ich gehe dahin, wo mich niemand kennt. Ich sehe, wo ich Rupien finde, und wenn ich sie habe, hole ich dich, und wir gehen zusammen dahin, wo uns niemand kennt.‹ Sie sagte: ›Mein Herz geht mit dir‹, und ich ging. Ich änderte meinen Namen, und ich fand dich, o Sahib!« »Tschandru-Singh«, sagte Peter Geist, »du behältst den Namen, den du dir gegeben hast, und was du mir erzähltest, werde ich nie vergessen.« Da kam Figur eilig heran. »Komm schnell, Großer Geist!« rief er schon von weitem. »Es sind drei Kerle aufgetaucht – in schwarzen Ziegenfellen, sie sehen aus wie die Waldteufel. Du mußt mit ihnen reden!« Und als er mit dem ehemaligen Schulkameraden, gefolgt von Tschandru-Singh, ihrem Lager zuschritt, sagte er: »Wenn der Engländer und der Franzose dich nicht hätten, kämen sie überhaupt nicht weiter!« – »Jeder tut das, was er kann«, erwiderte Peter Geist. »Was hat der Bengel gesagt? Weshalb sind -24-
sie getürmt? Und warum haben sie ihn angebunden?« »Es ist nicht leicht, aus ihm klug zu werden«, war die ausweichende Antwort. Peter Geist hatte selbst dafür gesorgt, daß sein alter Schulkamerad mit auf die Expedition kam; er wußte, Figur war ein überaus brauchbarer Mann – aber er ließ ihn doch nicht ohne weiteres in alles hineinsehen. Seitdem der Ungenannte mit im Spiel war, galt es, auf der Hut zu sein, damit keiner die Nerven verlor.
Die Schreckensherrschaft des Ungenannten Vor dem Zelte des Chefs saßen die weißen Männer, und vor ihnen standen drei tief braune unheimliche Gesellen. Sie waren in zerlumpte schwarze Schaffelle gehüllt, ihre wilden Bärte waren brandrot gefärbt, die Augen bei dem einen tiefblau untermalt, bei den andern schwarz. »Jetzt, GG«, sagte der Chef, »zeigen Sie Ihre Gaben. Fragen Sie, wer sie sind und ob sie mit ihrer werten Verwandtschaft nicht geneigt wären, als Träger mitzukommen.« GG redete sie auf Hindustani an, doch sie blieben stumm. Aber als er sie auf Puschtu, in der Sprache der afghanischen und persischen -25-
Hochlandsherren, fragte, ging eine Bewegung über ihre fremdartigen Gesichter, und sie verloren etwas den Ausdruck des scheuen und lauernden Tieres, der sie bis dahin zu beherrschen schien. GG erklärte seinen Freunden, was er aus den dunkelhäutigen Männern herausbekam. Sie waren Schinwari, gehörten also einem der unzähligen Stämme von Hochland-Afghanen an, die, untereinander alle verfeindet, unter dem Fluch der Blutrache leben. Ihr Dorf lag weit unten im Tal. Sie hatten es im Frühjahr verlassen und hausten jetzt den Sommer über mit ihren Herden in den Bergen und zogen von Hochweide zu Hochweide. »Und wie ist es?« fragte der Chef. »Sind sie Männer genug, daß sie uns Träger geben können?« Als GG ihnen das übersetzte, sahen sie sich an, aber schwiegen. Schließlich meinte der, dessen Augen blau untermalt waren, das könne nur die Versammlung vor den schwarzen Zelten entscheiden. »Wie weit ist es bis zu ihrem Lager?« GG übersetzte – zwei Stunden, meinte er, würden sie bis zu den schwarzen Zelten brauchen. »Neunauge«, sagte der Chef, »geben Sie den Männern zu essen. Wenn sie satt sind, sollen sie uns zu ihren Leuten bringen. Und was ist mit dem Jungen?« -26-
»Kommen Sie«, sagte GG, und während die andern die Bewirtung der sonderbaren Gäste übernahmen, ging er mit dem Chef und dem Grafen so weit fort, daß niemand ihr Gespräch hören konnte. »Nicht uninteressant«, sagte der Chef, als GG berichtet hatte. »Verzeihung«, sagte der Graf, »wer ist der Ungenannte? Ich muß gestehen, daß ich noch nicht das Vergnügen hatte, von ihm zu hören.« »Räuberhauptmann a. D. Müßte längst baumeln«, sagte der Chef und hielt das für eine ausreichende Auskunft. Aber GG fand doch, der Graf müsse etwas mehr erfahren. »Sein eigentlicher Name ist Ali Bardur Khan«, sagte er. »Es gab Leute, die ihn auch den blutigen Bardur nannten, aber wer das tat, kam gewöhnlich am Morgen danach nicht mehr zum Frühstück, sondern wurde von seinen nächsten Angehörigen mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Daher gewöhnten sich die Leute daran, seinen Namen überhaupt nicht mehr auszusprechen. Sie reden seitdem lieber vom Ungenannten. Er beherrschte hier im nordwestlichen Grenzland ein weites Gebiet, und die Sache war gut organisiert. Von jedem Transport per Lastwagen oder Karawane erhoben seine Leute an der Straße einen bestimmten Teil als Tribut. Wer zum Beispiel zehn Zentner Reis zu liefern hatte, der gab den Fahrern gleich zwölf mit, und die zusätzlichen zwei waren eben für die Leute des Ungenannten bestimmt. Eines Tages bekam der -27-
Britische Agent von Tschitral eine komplette Badeeinrichtung und einen großen Kühlschrank geliefert. Die Leute des Ungenannten hielten wie üblich den Transport an und fanden zu ihrer Empörung, daß für sie nichts Geeignetes beigepackt worden war, denn weder für die Badeeinrichtung noch den Kühlschrank hatten sie Verwendung. Um ihrer Enttäuschung deutlichen Ausdruck zu geben, schlugen sie sowohl das eine wie das andere kurz und klein, verbrannten das Lastauto und verprügelten Chauffeur und Beifahrer so sachgemäß, daß die beiden sich zwar gerade noch bis Tschitral schleppen konnten, im übrigen jedoch längere Zeit gebrauchsunfähig waren. Aber damit hatte der Treffliche sich doch etwas übernommen. Jetzt wurde durchgegriffen. Verschiedene seiner Kumpane verschwanden für lange Zeit in den Gefängnissen, und er verschwand daraufhin völlig. Das heißt – er lebt hier nach wie vor, aber keiner weiß wo. Er ist auch nach wie vor tätig – aber sozusagen lautlos. Er wendet jetzt die Methoden der Gangster an, die sich in Hongkong und den Großstädten der Vereinigten Staaten so sehr bewährt haben. Bei einem Juwelier oder einem anderen wohlhabenden Herrn erscheinen plötzlich ein paar harmlos aussehende Männer und machen ihn ebenso höflich wie bestimmt darauf aufmerksam, es sei an der Zeit, daß er sein mitleidiges Herz entdecke und einen erheblichen Beitrag für die Ärmsten der Armen stifte –« -28-
»Und er stiftet?« »Was soll er anders tun? Er hängt am Leben! Und die harmlos aussehenden Herren haben die fatale Angewohnheit, einen Hartherzigen zu entführen und seine Fußsohlen mit glühendem Holz zu behandeln. Für dieses unzarte Verfahren haben sie den teuflischen Ausdruck, daß sie ihm nur das Singen beibringen wollen. Ehe er singt, zahlt er lieber. Er wagt nicht einmal, sich der Polizei anzuvertrauen, nachdem er gezahlt hat – denn vor dem unsichtbaren Ungenannten zittert alles.« »Warum aber interessiert er sich jetzt für uns? Warum nimmt er uns die Träger?« »Der Inhalt unsrer Kisten interessiert ihn offenbar nicht, denn sonst lägen sie nicht mehr da.« »Sie wären auch nur eine Enttäuschung für ihn«, sagte GG. »Lebensmittel hat er selbst genug, und über unsern kostbarsten Besitz, die Kiste Nr. 17, und dann die drei mit der Funkanlage, würde er so enttäuscht sein wie seinerzeit über die Badeeinrichtung und den Kühlschrank!« »Kann der Mann gehört haben«, sagte der Chef, »was wir eigentlich vorhaben, und will er uns etwa daran hindern?« Die Frage war an GG gerichtet, und der überlegte. »Über das Ziel unserer Expedition habe ich zu niemand gesprochen«, sagte er dann. -29-
»Haben wir vielleicht gerade dadurch seine Aufmerksamkeit erregt?« fragte der Graf. Sie dachten hin und her, aber sie kamen zu keinem Schluß. »Die Sache ist nicht klar«, sagte der Chef. »Wir werden den Finger am Abzug halten. Palaver ist zu Ende.« Er erhob sich von dem Stein, auf dem er gesessen hatte. »Einverstanden, Chef, daß Tschandru-Singh als mein Diener mitgeht?« fragte GG. »Anstelliger Junge«, sagte der Chef. »Garantieren Sie, daß er kein Spion des Ungenannten ist?« GG war so verblüfft, daß er nichts sagen konnte. »Aber Chef!« rief der Graf. »Denken Sie doch an die Geier! Das war doch verdammt echt!« »Nicht schlecht gemacht«, sagte der Chef, »gebe ich zu«. »Nein, Chef, nein!« sagte Peter Geist voller Überzeugung. Er dachte daran, wie der Knabe zu ihm gesprochen hatte – diese seelische Not konnte nicht gespielt sein… »Ich verbürge mich für den Jungen, Chef.« »Großes Wort«, sagte der Chef. »Erledigt. Ihre Sache!« Aber als sie zu den andern gingen, kam er noch einmal darauf zurück. »Nehmen Sie ihn mit, wenn wir mit den Männern gehen«, sagte er. -30-
»Gut«, sagte GG und dachte: »Er traut ihm nicht. Er will den Jungen unter Augen haben!«
Vor den schwarzen Zelten »Nehmen wir Waffen mit, Chef?« fragte der Graf. »Pistolen«, antwortete der Chef. Da sie bergab zu gehen hatten, brauchten sie nicht einmal ganz zwei Stunden, bis sie die schwarzen Zelte sahen, die auf einer almartigen Hochfläche aufgeschlagen waren. Wütendes Hundegekläff wurde laut und verstummte plötzlich wieder. Die Zelte waren in einem Halbkreis aufgestellt und umgaben einen großen freien Raum, in dem viele Männer standen, die sich in nichts von denen unterschieden, die sie zuerst getroffen hatten. Der Chef überflog die Menge mit einem scharfen Blick und stellte bei sich fest: Fünfzig bis sechzig. Keine Frauen. Keine Kinder. Beunruhigend. Waffen nicht zu sehen. Dann blieb er in der Mitte des freien Raums stehen und zündete sich seine kurze Pfeife an. Der Graf war mit GG vor einem schweren Mann stehen geblieben, der wie ein Koloß im Grase hockte und idiotisch vor sich hinlallte. »Siehe da«, sagte der Graf, »sie haben ihren Dorftrottel mit in die Sommerfrische genom-31-
men. Könnte ein schöner Fall von dementia apathica sein – abgestumpfter Blödsinn. Die geistige Kraft ist auf ein Minimum beschränkt, kein Gedächtnis mehr, keine Sprechfähigkeit – nur beim Anblick von Essen wird der dicke Herr noch ein bißchen munter. Es könnte natürlich auch dementia senilis sein, Greisenblödsinn – aber so alt scheint dieser Riese im Gras nicht zu sein.« Die Schinwari-Männer standen stumm und unbeweglich Alle hatten sie die farbig untermalten Augen und rotgefärbten Bärte. Die drei, mit denen die Sahibs gekommen waren, waren zu den andern getreten, und es wäre den Europäern unmöglich gewesen, sie aus der Menge wieder herauszufinden. Wie böse Masken starrten die dämonischen Gesichter sie an. »Friede sei mit euch!« rief GG ihnen zu, aber keine Lippe bewegte sich, keine Antwort kam. »Ich finde es hier sehr nett, aber etwas ungemütlich«, bemerkte der Graf. »Glaubt ihr, daß die Sahibs gewohnt sind, zu stehen?« rief Tschandru-Singh in seinem Hindustani, in seiner Empörung ganz unbekümmert, ob die Schinwari ihn auch verstanden. Er ging zu dem Eingang eines Zeltes, wo Schaffelle lagen, nahm drei, legte sie vor den Europäern nieder und sagte: »Entschuldigt bitte, aber diese Wilden wissen nicht, was sich gehört!« Die Sahibs setzten sich, wobei sie die Waffen -32-
spürten, die sie in den Revolvertaschen ihrer kurzen Hosen trugen, was ihnen keine ganz unwillkommene Erinnerung war. »Männer der Schinwari«, sagte GG feierlich, »ihr seid unter den Bergvölkern berühmt als hervorragende Hirten. Keiner kennt die guten Weidegründe wie ihr, und kein Bergwolf hat euch je ein Kalb davongetragen. Aber euer Leben ist hart, und wenn ihr auf meine Worte hört, werdet ihr reicher sein, als ihr jemals wart!« Alle die wild untermalten Augen starrten den Sprecher an. Hinter ihm stand TschandruSingh unbeweglich, als sei er aus Erz gegossen. Er wußte nicht, was das alles hier sollte; er wußte nur eins: wenn sich diese Wilden etwa auf die Sahibs stürzen würden, dann würde er sich dazwischen werfen, um mit diesem herrlichen Manne zu sterben, der ihn von der Unberührbarkeit erlöste und so klug war, daß er die Sprachen aller Völker der Erde sprach. »Die Sahibs kommen weit aus Feringistan«, so fuhr GG in seiner Rede fort, »sie wollen in das Land der Kafiri. Sie wissen, daß es nicht weiter sein kann als drei Tagesmärsche, bis sie zu den Kafiri kommen. Ihre Träger aber wandelte die Furcht an, und sie liefen fort. Wenn ihr, Männer der Schinwari, Mut habt, und wir wissen, daß ihr mutig seid – wenn ihr mit uns geht und unsere Lasten bis zu den Kafiri tragt, dann werden wir jedem von euch dreimal zehn Silberrupien geben -!« -33-
Er hob seine beiden Hände, spreizte die Finger auseinander und schlug dreimal in die Luft. Keiner der Männer rührte sich. Aber einer, der älter schien als die anderen, fing an zu reden, mit einer sonderbar gurgelnden Stimme. »Die Kafiri«, sagte er, »sind falsch und grausam. Sie werden sprechen ›Im Namen Allahs‹ und euch die Kehlen aufschneiden!« »Die Farbe der Feringi ändert sich nicht in der Stunde der Gefahr!« antwortete GG. Ein Raunen schien über die Männer zu gehen wie eine dunkle Welle. Sie verebbte wieder, und die gurgelnde Stimme erhob sich von neuem. »Du sprichst von Silberrupien, die du uns geben willst, aber wir sehen sie nicht.« »Was sagt er?« fragte der Graf. GG erklärte es ihm. Der Graf erhob sich. Er ging langsam auf die Menschenmauer zu. Das Buschhemd, das er trug, hatte lange Ärmel, während die der andern beiden kurzärmlig waren. GG wußte, was jetzt kommen würde. »Seht, ihr Männer der Schinwari, wie reich wir sind!« sagte er. »Wenn wir Rupien brauchen, so nehmen wir sie uns aus der Luft!« Der Graf griff mit seiner rechten Hand in die Luft, drehte sie blitzschnell um und hielt sie den Männern hin: auf seiner flachen Hand la-34-
gen Silberrupien! Er schloß die Finger zur Faust, er schüttelte sie hin und her, er öffnete sie wieder – und auf seiner flachen Hand lagen doppelt so viel Silberstücke wie vorher. Der Knabe war nicht mehr hinter GG geblieben. Er war vorgelaufen, um besser zu sehen, und der Mund stand ihm offen, so staunte er. Die Männer hatten ihre Augen aufgerissen, daß man auf einmal das Weiße sah, in dem ihre Augäpfel lagen. Sie waren wie vom Donner gerührt. Aber der Graf ließ ihnen keine Zeit, mit seiner Zauberkunst überrumpelte er sie völlig. Er fuhr dem einen mit der Hand über die Stirn – und in seiner Hand lagen Silberrupien, die er aus dieser Stirn geholt hatte. Er zog den andern Silberrupien aus der Nase, aus den Ohren, und dann trat er zurück. Er stand jetzt drei Schritt vor den ganz verzauberten Männern und hielt ihnen seine beiden Hände hin, die wie eine Schale mit Silberrupien gefüllt zu sein schienen. »Sagen Sie einem hochverehrten Publikum«, rief der Graf, »die Herrschaften möchten sich so viel Silberrupien nehmen, wie sie wollten. Da ich sie ihnen aus ihren Nasen und Ohren gezogen hätte, wären sie sozusagen beinahe ihr Eigentum!« »Nehmt euch die Silberrupien, wenn ihr wollt!« rief GG. Mit einem Aufschrei, als ob sie aus einem quälenden Traum erwachten, stürzten die Männer auf die ausgestreckten Hände des -35-
Grafen zu. In dem Augenblick aber, wo sie zugreifen wollten, drehte der Graf die Hände um. Die Silberrupien waren verschwunden. Die Männer warfen sich auf die Erde, sie suchten auf dem Boden – aber keine Rupie war zu finden. »Sagen Sie den Herren, sie bekämen die Rupien, wenn sie uns unsere Kisten hübsch dahin schleppten, wohin wir sie haben wollen«, sagte der Graf und setzte sich so gleichmütig auf sein Schaffell, als hätte er sich eben nur einmal die Nase geputzt. »Wieder ausgezeichnet gemacht«, sagte GG. »Es ist dankenswert, daß eine so alte Nummer in Innerasien noch nicht bekannt ist«, sagte der Graf. Der starre Widerstand der Männer war gebrochen. Daß die folgenden Verhandlungen noch drei Stunden dauerten, war nur normal und den Landessitten angemessen. Jedenfalls war das Ergebnis, daß die Männer versprachen, morgen früh noch vor Sonnenaufgang im Lager zu erscheinen, und daß dreißig von ihnen die Lasten bis an die Grenze von Kafiristan tragen würden. GG und der Graf waren recht erfreut über diesen Erfolg, um so mehr fiel ihnen das verbissene Schweigen des Chefs auf. »Nicht einverstanden mit unserem Auftritt?« fragte der Graf, als sie zu dritt auf dem Rückweg waren. -36-
»Wundere mich«, sagte der Chef. »Und worüber, Chef?« »Warum haben uns die Männer nicht eins ihrer Zelte betreten lassen? Warum hat uns keiner von ihnen ein Stück Hammel oder wenigstens einen Fladen angeboten?« »Wir kamen wohl nicht gerade zur Tischzeit«, meinte der Graf. »Wenn sie mit uns gegessen hätten«, sagte der Chef langsam, »dann wären wir ihre Gastfreunde geworden, und als Gastfreunde hätten sie nie unser Leben antasten dürfen. Aber wir haben nicht zusammen gegessen, daher sind wir für sie Fremde, und Fremde darf man jederzeit umbringen.« »Es ist schön«, sagte der Graf, »wenn ein Land feste Gesetze hat, nach denen sich jeder richtet.« Am Abend machte sich Tschandru-Singh sein Lager vor dem Zelt seines neuen Herrn; er war nicht dazu zu bewegen, sich mit in das Zelt zu legen, obwohl darin Platz genug war. Aber sichtlich quälte ihn ein ganz anderes Problem als sein Platz zum Schlafen. »O Sahib«, sagte er, »darf ich dich etwas fragen?« »Immer, Tschandru-Singh.« »Der weiße Sahib, dein Freund, kann zaubern – warum zaubert er sich dann keine Träger her?« -37-
Großer Geist zögerte mit der Antwort. Sollte er dem Ratlosen sagen, daß der Graf als ein Amateur-Zauberer, als Mitglied des berühmten »Magischen Zirkels« nur eines der 52 Taschenspielerkunststücke vorgeführt hatte, die er meisterlich beherrschte? In dem Verzeichnis dieser Zauberer »Who is who in Magic« rangierte er sogar noch vor dem König von England, da Eduard VIII. nur fünfzig Tricks vorführen konnte. Sollte er dem Knaben erklären, daß die Rupien aus den langen Ärmeln seines Buschhemdes gekommen und dahin wieder verschwunden waren? Was würde auf diesen ahnungslosen Knaben noch alles einstürmen, wenn er nun so aus allernächster Nähe in die verwirrende Welt der weißen Männer sah… »O Tschandru-Singh«, sagte er, »frage mich immer, wenn du etwas wissen möchtest. Aber viele Fragen werde ich dir erst beantworten können, wenn wir so oft miteinander gegessen haben, daß wir beide zusammen eine Last Salz verbraucht haben.«
Kiste Nr. 17 »Deliziös, Neunauge«, sagte der Graf und ließ den Bissen auf der Zunge zergehen. »Wenn du erst dein Bistro in Paris hast, werde -38-
ich deine Küche unbedingt empfehlen.« Neunauge machte ein Gesicht, als hätte er scheußliches Zahnweh. Nichts tat ihm wohler, als wenn seine Kochkunst gelobt wurde; aber immer gab er sich den Anschein, als sei ihm nichts gleichgültiger als das. »Was ist das eigentlich, was wir essen?« fragte Plumpudding mißtrauisch, ehe er zum zweiten Male nahm. »Das werde ich dir mitteilen, wenn der Topf leer ist«, sagte Neunauge. Sofort ließ Plumpudding die schon ausgestreckte Hand wieder sinken, denn er befürchtete Schlimmes. Neunauge bemerkte es mit diabolischem Vergnügen. »Was ist das, was wir essen?« fragte GG auf Hindustani, und Tschandru-Singh antwortete: »Mung, Sahib.« Er war überwältigt: noch nie war etwas so köstlich Zubereitetes auf seine Zunge gekommen, aber noch unbegreiflicher erschien ihm, daß die Sahibs sich nicht erst sättigten und ihm dann gaben, was übrig geblieben war, sondern daß er wie ein Herr zugleich mit ihnen dieselbe Portion bekam. »Die Dinger sahen wie Erbsen aus«, berichtete Neunauge. »Ich sah sie auf dem Markt von Tschitral. Aber was sie so delikat macht«, setzte er genießerisch hinzu, »ist die Specksauce. Der Witz ist, daß man sie in einem Extratopf kocht. Etwas gewiegte Petersilie dazu, Zwiebel, ein Lorbeerblatt, eine Prise grauen Pfeffer, und dann, meine Herren – die Sauce -39-
nicht etwa drübergießen wie aus einem Asphaltkocher – sondern träufeln, langsam träufeln: das ist das Geheimnis!« Aber das eigentliche Geheimnis, daß er an die Mungfrüchte fünf Tropfen Nelkenöl getan hatte, verschwieg er, denn er hatte immer Angst, es könne ihm jemand seine Kochrezepte stehlen. »Wenn ich erst wieder in Paris bin, wenn ich mein Bistro habe –« »Zum vergnügten Neunauge!« »Sehr richtig – also dann nehme ich einfach Erbsen und nenne das Gericht ›Afghanisches Frühstück‹.« Plumpudding war beruhigt. In seiner gemächlichen Art wollte er jetzt die Kelle greifen, aber blitzschnell hatte Neunauge sie gefaßt und tat das Letzte aus dem Topf auf Tschandru-Singhs Aluminiumteller. »Ich dachte«, sagte er mit scheinheiligem Bedauern zu Plumpudding, »es schmecke dir nicht.« Plumpudding konnte ihm darauf nicht antworten. Er sah, daß der Chef mit Essen fertig war und in dessen Augen der ihm wohlbekannte suchende Blick trat. Er hatte die Pfeife des Chefs schon mit Dunhill-Tabak gestopft, hielt sie ihm hin und zündete sie an. »Danke«, sagte der Chef, und dann: »Wir besprechen die Lage.« Die Männer steckten sich Zigaretten an. Nur GG rauchte nicht. Spannung lag in der Luft. -40-
Da der Chef nur sprach, wenn etwas zu sagen war, bedeutete es etwas, wenn er sprechen wollte. Tschandru-Singh hatte ihn nicht verstanden. Trotzdem hielt er seine großen dunklen Augen fest auf ihn gerichtet, als wolle er ihm den Sinn seiner Worte von den Lippen ablesen. »Wir haben einen Feind«, sagte der Chef. »Was er von uns will, wissen wir nicht. Vielleicht will er uns nur hindern, das Land der Kafiri zu erreichen. Warum er das will, wissen wir auch nicht. Jedenfalls hat er uns die Träger weggeholt. Wir haben die SchinwariMänner als Träger gemietet. Ob sie kommen, wissen wir nicht. Wenn sie kommen, wissen wir nicht, ob sie nicht nur deshalb kommen, damit sie uns die Kehlen durchschneiden, wenn wir nicht aufpassen. Das ist die Lage.« »Wenn wir nicht alle geschlafen, sondern Nachtwachen eingeteilt hätten«, sagte Figur, »wären uns die Träger nicht unbemerkt davongelaufen.« »Teilen Sie von jetzt an Wachen ein«, entschied der Chef. »Geht in Ordnung, Chef«, sagte Figur. Tschandru-Singh drehte den Kopf. »Was ist?« fragte GG. »Ich höre«, sagte der Knabe. »Die Schinwari kommen.« »Wenn der Junge so bleibt«, sagte Neunauge, »dann brauchen wir keinen Hund!« -41-
Tatsächlich – die gespenstischen Männer in den schwarzen Schaffellen kamen einer hinter dem andern in langem Zuge zum Lager der Weißen herauf. Einige trugen Gewehre mit langen Läufen, an denen sie wie an Stöcken gingen. »Vorderlader«, sagte der Chef, mit dem Feldstecher vor den Augen. »Mit denen können sie nur schießen, wenn sie Absichten auf Selbstmord haben«, sagte Figur. »Kurze Dolche können gut unter den Schaffellen stecken«, sagte GG. »Nehmen Sie mir’s nicht übel, Herr Graf«, sagte Neunauge, »einmal haben Sie mich überredet, mit Ihnen auf Expedition zu gehen – aber ein zweites Mal glückt Ihnen das nicht!« »Jedenfalls sind die Männer pünktlich«, sagte Plumpudding anerkennend. »Gefällt mir nicht«, sagte der Chef. »Kein Eingeborener ist pünktlich.« »Ich weiß nicht«, sagte der Graf, »ob das nicht ein Vorzug ist. Die Unpünktlichen genießen das Leben ganz anders als die Pünktlichen.« »Sie haben recht, Chef«, sagte GG. »Es sieht ganz danach aus, als ob jemand dafür gesorgt hat, daß sie pünktlich sind.« »Aber müßte das nicht ein ganz erstaunlicher Mann sein«, wandte der Graf ein, »der soviel -42-
Gewalt über diese Männer hätte?« Großer Geist und der Chef sahen sich an. Beide dachten das gleiche: der Ungenannte! Aber sie sagten nichts. Die Schinwari waren angelangt. GG begrüßte sie, aber sie antworteten kaum. Er und Figur zeigten ihnen die Kisten. Sie hoben sie auf und prüften ihr Gewicht. Sie waren offenbar zufrieden, daß keine schwerer war als die übliche Trägerlast. Sie warteten, bis das Lager abgebrochen und alles verstaut war, wobei es auffiel, mit wie scheuen Blicken sie jede Bewegung des Grafen verfolgten, offenbar war ihnen dieser Zauberer durchaus unheimlich. Als sie sich dann in Marsch setzten, wollte keiner der Schinwari hinter ihm gehen. Aber die rechte Marschordnung war bald hergestellt. Voran gingen der Chef und Figur, der die Kartentasche trug, und die anderen Weißen bildeten mit Tschandru-Singh den Schluß des Zuges. Der Weg, ein kaum erkennbarer Ziegenpfad, ging abwärts und verlor sich ganz, noch ehe sie die Talsohle erreicht hatten. Ein wildes Wasser schoß nach Süden zu, dem großen Kabulfluß entgegen, und das war auch die Richtung, die sie einschlagen mußten. Aber dieses Gebirgswasser hatte sich in vielen Windungen durch die Felsen nagen müssen. Immer wieder sprangen riesige Stellwände wie Kulissen vor und mußten mühsam umgangen werden. Nur am Rande des Wasserlaufs ka-43-
men die Männer vorwärts, und oft genug, wenn die überhängenden Felsen keinen Fußbreit Raum hergaben, mußten sie vorsichtig auf den glatten Steinen des Bergstroms, der kein Bach mehr, aber auch noch kein Fluß war, sich ihren Weg im Wasser suchen. Doch so schwer es war, in diesem wüsten Tal voranzukommen, so gleichmütig nahmen die Schinwari-Männer die Mühsal hin. Sie schleppten ja noch die schweren Kisten auf ihren Schultern, aber es schien, als mache ihnen das überhaupt nichts aus. Sie blieben finster, sie blieben stumm – aber sie gingen und schleppten. Es war, als seien sie von einem unbegreiflichen Schicksal, gegen dessen Spruch es keine Auflehnung gab, dazu verdammt. Den Europäern kam es vor, als würden sie von einer Schar Dämonen bedient, die ein Bannfluch in völlige Unterwürfigkeit zwang. Trotzdem hielten sie daran fest, daß Wachsamkeit geboten war. In die zehn Stunden der Nachtruhe teilten sie sich zu fünf, weil es ihnen selbstverständlich schien, daß der Chef, der die Verantwortung für das Ganze trug, damit ein Anrecht auf ungestörten Schlaf hatte. Es sollte aber nicht auffallen, daß sie den Schinwari nicht recht trauten; so blieb jeder, der Wache hatte, in seinem Zelt und horchte nur aufmerksam in die Nacht. War die Zeit um, so verließ er sein Zelt, als habe er eben einen kleinen Gang zu tun, und weckte den Nachfolger. Jedoch vergingen die Nächte, -44-
ohne daß sich irgend etwas ereignete, das diese Wachsamkeit gerechtfertigt hätte. Nur wurde es immer schwerer, den nächsten aus dem Schlaf zu rütteln, da die Strapazen der Tagesmärsche nicht geringer, die Müdigkeit aber immer stärker wurde. Es war am Morgen nach der dritten Nacht, als GG wachgerüttelt wurde. Er fuhr aus dumpfem Schlaf auf und murmelte, noch ganz befangen: »Was denn? Ich war doch schon dran!« Denn er hatte als zweiter gewacht und danach den Grafen geweckt. »Sahib, die Schinwari sind fort!« Jetzt war er wach! Neben ihm kniete Tschandru-Singh und sah ihn aus entsetzten Augen an. GG stürzte aus dem Zelt. Es war heller Tag. Der Platz, an dem die Männer geschlafen hatten, war leer. Er schrie: »Alarm!« Im Nu wurde es lebendig. Als erster stand der Chef da, die entsicherte Pistole in der Hand. »Chef, die Schinwari!« Der Chef hatte den leeren Lagerplatz schon gesehen. »Wer hatte Wache?« fragte er. »Uns hat niemand geweckt!« rief Neunauge außer sich, der mit Plumpudding in einem Zelt schlief. Die beiden hatten in den letzten vier Stunden zu wachen. -45-
»Ich habe Figur geweckt«, sagte der Graf. Alle sahen auf den Schuldigen. Das Blut war ihm in sein kindliches Gesicht geschossen, dunkelrot war es, und trotzdem er so ein großer, breitschultriger Kerl war, trotzdem er in mehr als einer Messerstecherei der andere gewesen war, der nicht abtransportiert werden mußte, stand er jetzt armselig wie ein Schuljunge da, der bei einer Schlamperei erwischt wird. »Tut mir schrecklich leid, Chef«, sagte er. »Der Graf hat mich geweckt, jawohl. Aber ich muß dann wieder eingeschlafen sein. Mein verdammtes Pech, Chef.« Der Chef sagte darauf nichts. Aber er sah über Figur hinweg, als sei er überhaupt nicht mehr vorhanden. Er sicherte seine Pistole und steckte sie in die Tasche. »Bitte sehr«, sagte Plumpudding und reichte ihm die gestopfte Pfeife. Die Flamme des Zündholzes strich angesogen über den Tabak hin. In diesem Augenblick trat GG wieder zu den Männern. Aber die ruhige Heiterkeit, die ihn sonst auszeichnete, war fort. »Sie haben Kiste 17 mitgenommen!« sagte er. Am Inhalt seiner Kiste 17 hing das Schicksal der Expedition. Die beiden Lederkoffer, die in ihr verstaut waren, bargen das kostbare Geoskop, das mit seinem Sender und Empfänger eigene elektromagnetische Felder erzeugte, in -46-
denen GG durch Störungen des Bildes, die von unbekannten Erdstrahlungen ausgehen, auf das Innere der Erde schließen konnte. Auf Grund der Störungsmessungen konnte er unterirdische Sprünge im Gestein erschließen, Überschiebungen, Sättel und Mulden, und besondere Messungen verrieten ihm die Bodenschätze an Erdöl, Salz, Erzlager und Erzgänge. Ihre Aufgabe war, unauffällig die Bodenschätze Kafiristans zu ermitteln – – und jetzt war die ganze Unternehmung zwecklos geworden, denn die Kiste 17 war verschwunden… »Wenn wir gleich zu Hause geblieben wären«, dachte Neunauge, »hätten wir uns das ganze Elend ersparen können, denn es hat sowieso zu nichts geführt.« Aber das sprach er nicht aus. Er begriff die scheußliche Lage, in die GG gekommen war; es kam ihm vor, als solle GG ein Diner für achtzehn Personen kochen, und im Augenblick, wo er den ersten Kessel Wasser aufsetzen wollte, zerfiel der ganze Herd in Staub. »Immerhin«, sagte der Graf, »die Gegend ist ja doch nicht ohne Reiz.« »Kiste 3 aufmachen«, sagte der Chef. Mechanisch holte Figur die Liste mit dem Inhalt der Kisten aus der Tasche. Ihm war schauderhaft zumute. Den Abzug der bemalten Kerle hätte er schließlich nicht hindern können – aber daß sie die Kiste da ließen, das hätte er erreicht. Am Verlust des kostbaren Geoskops war er allein schuld… -47-
Er sah in das Verzeichnis. Kiste 3: Hafermehl. Plumpudding und Neunauge brachten sie heran. Sie war noch nicht gebraucht worden. Die Eisenbänder saßen noch so, wie sie vor dem endgültigen Aufbruch darum geschlagen worden waren. Der Deckel wurde gehoben. GG sah hin, aber wie abwesend. Sein Geoskop war verschwunden; was ging ihn der Inhalt der Kiste 3 an? Plötzlich wurde sein Blick starr. In Kiste 3 lagen zwei Lederkoffer. Es waren die beiden Lederkoffer seines Geoskops. »Großer Geist«, sagte der Chef, und aus dem Blick seiner grauen Augen funkelte spöttische Überlegenheit, »das Geoskop ist das Herzstück unsrer Expedition, und als Sie Kiste 17 deshalb höchstpersönlich mit den roten Kreuzen bemalten, war mir klar, daß Sie es damit etwaigen Dieben geradezu präsentierten. Deshalb habe ich die Koffer, als sich die Herren sämtlich in Tschitral herumtrieben, höchstpersönlich in die unauffällige Kiste 3 gepackt. Sie werden mir zugeben, daß das von mir nicht ganz ungeschickt war.« GG war verblüfft. Er war glücklich, daß sein Geoskop nicht verschwunden und damit die Expedition nicht sinnlos geworden war – aber zugleich hatte er das peinliche Gefühl, genarrt zu sein. »Ja«, sagte er, »Ihr Trick hat sich bewährt, und ich freue mich, Ihnen manchen heiteren Augenblick verschafft zu haben, denn es muß -48-
Sie doch sehr ergötzt haben, daß ich um eine Kiste mit Hafermehl so unendlich besorgt war.« Der Graf fühlte die Spannung, die zwischen den beiden im Entstehen war, und sagte leichthin: »Jedenfalls wird der geheimnisvolle Auftraggeber, auf dessen Geheiß die liebenswerten Schinwari die Kiste entführten, auch sehr erheitert sein, wenn er sich damit nur um Hafermehl bereichert sieht!« Plumpudding lachte laut los, und er lachte sein herrlich ansteckendes Lachen, dem keiner widerstehen konnte. Nun lachten alle, selbst Tschandru-Singh, der gar nicht wußte, warum gelacht wurde, und am herzlichsten lachte Figur, denn jetzt war ihm ein schwerer Stein vom Herzen genommen: er war nicht mehr mit dem Scheitern der Expedition belastet.
Die Felslöcher Aber was nun? Was jetzt weiter? Die Männer überlegten. »Es ist klar«, sagte GG, »der Ungenannte hatte es auf diese Kiste abgesehen, in der er irgend etwas unerhört Wertvolles vermutete. Mit unseren ersten Trägern stand er nicht so, daß er die Kiste von ihnen stehlen lassen konnte. Deshalb begnügte er sich damit, sie -49-
durch eine Drohung so zu erschrecken, daß sie uns verließen. Die edlen Schinwari muß er uns selbst ausgesucht haben, und sie haben ihn auch gut bedient, nachdem sie uns erst in Sicherheit gewiegt haben.« »Ich finde die ganze Sache etwas matt oder doch unräubermäßig«, sagte der Graf. »Mir würde es bedeutend mehr Eindruck machen, wenn wir hier sämtlich mit durchschnittenen Kehlen lägen und sie die ganze Beute weggeschleppt hätten. Da wir dem britischen Agenten in Tschitral auf sein Verlangen ausdrücklich bescheinigen mußten, daß wir auf eigene Verantwortung, ohne jede Berechtigung auf irgendwelchen Schutz reisten, hätte er doch kaum Unannehmlichkeiten zu erwarten.« »Mich interessiert etwas anderes mehr«, sagte der Chef langsam. »Was macht der Mann, wenn er sieht, daß er sich auf drei Wochen mit Hafermehl eingedeckt hat?« »Und ich möchte gern wissen«, sagte Neunauge, »wer schleppt unsre Kisten nun eigentlich weiter? Ich habe schon einmal bemerkt: zum Kistenträger bin ich meinerseits nicht geeignet!« Es kam jetzt nicht zur Beantwortung dieser Fragen, denn Tschandru-Singh, der gebadet hatte, trat in den Kreis der Männer. »O Sahib«, sagte er zu GG, »ich habe etwas Merkwürdiges gesehen«, und er zeigte auf den Felsen, die auf der gegenüberliegenden Seite des Wassers die Talwand bildeten. -50-
»O Sahib«, sagte er, »nimm deine Zauberaugen!« GG nahm sein Fernglas heraus, die anderen taten es auch, und alle sahen zum Felsen hinauf. »Siehst du den Weg, der an der steinernen Wand hinaufgeht?« GG übersetzte das. »Das kann man wohl einen Weg nennen«, sagte er dann. »Ich halte es für ein sehr schmales Felsband.« »Auf dem immerhin gehen könnte, wer schwindelfrei ist«, meinte der Graf. »Herr Graf«, sagte Neunauge erregt, »so wenig wie zum Lastenträger eigne ich mich zum Seiltänzer! Selbst wenn das ein Weg sein sollte, so weigere ich mich jetzt schon, ihn jemals zu begehen!« »O Sahib«, sagte Tschandru-Singh, »siehst du, wie der schmale Weg um einen Felsen geht, der wie ein sitzender Mensch aussieht?« Sie sahen alle die so bezeichnete Stelle. »Jetzt, o Sahib, geh mit deinen Augen von da an den schmalen Weg immer weiter, immer weiter – siehst du, wie er auf einmal aufhört?« »Ich sage ja, das ist kein Weg, sondern ein Felsband.« »Ein Weg, der an einer Felswand über tausend Meter hoch plötzlich aufhört, ist natürlich kein Weg«, bemerkte Neunauge befriedigt. »O Sahib«, sagte Tschandru-Singh, »siehst du die Löcher im Felsen von da an, wo der Weg aufhört?« -51-
Wahrhaftig – in der glatten Steinwand, an der das Felsband aufhörte, sahen sie einige Löcher. »Wie kommen die Löcher dort in den Stein, o Sahib?« »Nisthöhlen«, sagte Figur. »Unwahrscheinlich«, sagte GG. »Die Löcher liegen in zwei Reihen, die einander genau parallel sind.« »Den Abstand zwischen den parallelen Reihen schätze ich auf ein Meter achtzig«, sagte der Chef. »Innerhalb einer Reihe liegen die Löcher immer genau einen Meter auseinander.« »Die Löcher sind künstlich angelegt«, sagte der Graf. »Wie soll ein Mensch da hinaufkommen?« Neunauge ereiferte sich. »Haben die Löchermänner vielleicht von der Talsohle aus ein kilometerlanges Gerüst gebaut, bis da oben hinauf? Und, meine Herren« – er spielte seinen besten Trumpf aus –, »was hat es für einen Sinn, in eine Felsenwand Löcher zu schlagen?« »Sie haben sich dazu von oben an Seilen heruntergelassen«, sagte GG. »Tschandru-Singh hat recht: das Felsband ist ein Weg. Da, wo er aufhört, tritt man mit der Fußspitze in das erste Loch der unteren Reihe und hält sich mit den Fingern einer Hand im ersten Loch der oberen Reihe – und so geht es dann weiter.« -52-
»Was ist das für ein Vorsprung, ungefähr in der Mitte der Löcher?« fragte der Graf. »Sieht wie ein Dach aus«, bemerkte Figur. »Eine Felsplatte«, sagte GG. »Aber die ist aus gewachsenem Stein und nicht angelegt.« »Bitte sehen Sie an die oberste Felsenkante«, sagte der Chef. Sie sahen dort eine Art Verhau aus Baumstämmen, über den lose Steine hinaussahen. »Wenn sie die Stämme wegstoßen«, sagte Figur, »dann kommt eine Lawine herunter. Wer dann gerade in den Löchern hängt, wird keine Zeit mehr haben, sein Testament zu machen!« Neunauge sagte kein Wort. Er nahm das Glas von den Augen und setzte sich hin. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte auf den Boden. Wohin hatte er sich von dem Grafen verschleppen lassen! In ein Land, wo die Wege plötzlich aufhörten und man sich wie ein Affe an Felswände hängen sollte! Er war so bekümmert, daß er die brennende Zigarette in der Hand hielt, ohne sie zu rauchen. »Aber wohin geht es dann weiter?« fragte der Graf. Das war nicht zu beantworten. Sie konnten die Löcherreihe bis zu einer Kante verfolgen, wo sie aufhörten, aber wohl nur für den Betrachter im Tal unten – sicher ging der eigenartige Weg auf der ihnen abgewandten Seite weiter. »Er muß zu Siedlungen führen«, sagte GG, -53-
»sonst wäre er nicht so mühsam angelegt.« »Ihre Bewohner scheinen aber auf einen lebhaften Fremdenverkehr keinen Wert zu legen«, bemerkte der Graf. »Um so interessanter sollten sie für ihre Besucher sein«, sagte GG und setzte nicht ohne eine gewisse Erregung hinzu: »Meine Herren, durch die Überraschung mit den verschwundenen Schinwari haben wir eins ganz vergessen: seit gestern Abend befinden wir uns in Kafiristan!« »Wir werden erkunden, wohin der Weg führt«, sagte der Chef. Jetzt hatte sich Neunauge wieder so weit, daß er sprechen konnte. Aber er polterte nicht los wie sonst, sondern sagte ruhig, allerdings mit einer gefährlichen, hochexplosiblen Ruhe: »Meine Herren, ich schlage vor, daß ich ganz allein unsere 28 Kisten nacheinander die Felswand entlang balanciere. Es wird mir ein Vergnügen sein, mit Fingern und Fußspitzen in den Löchelchen da oben zu hängen und dabei immer eine halbzentnerschwere Kiste auf dem Kopf zu tragen. Wenn es gewünscht wird, kann ich dazu ja noch die Nationalhymnen der durch uns hier vertretenen Nationen pfeifen.« »Ich habe immer gewußt, Neunauge«, sagte der Graf, »daß du viel mehr Talente besitzt, als du denkst.« »Wir werden uns teilen«, sagte der Chef. »Wir können die Kisten hier nicht unbewacht -54-
liegen lassen. Wir müssen damit rechnen, daß der Ungenannte, wenn er das Hafermehl entdeckt hat, etwas gegen uns unternimmt – er weiß, von dieser Stelle aus können wir die Lasten nicht fortbringen. Wer geht? Wer bleibt?« »Ich gehe«, sagte GG. »Gewiß«, sagte der Chef, »Sie sind der einzige, der mit den Eingeborenen sprechen kann.« »Natürlich gehe ich mit«, sagte Figur. »Es würde mir ein Vergnügen sein, Sie zu begleiten«, sagte der Graf. Der Chef sah vor sich hin. »Es wäre mir lieb, Figur«, sagte er dann, ohne ihn anzusehen, »wenn Sie mit dem Jungen tauschten. Wenn es hier zu einem Kampf kommt, sind Sie als sicherer Schütze für uns wichtiger als der Junge.« »Wie Sie wünschen, Chef«, sagte Figur. Tschandru-Singhs Augen leuchteten auf, als er hörte, daß er die beiden Sahibs in das unbekannte Land jenseits der Felswand begleiten solle. Sofort nach dem Essen wollten sie gehen. So gut wie nichts war mitzunehmen, da der Übergang an den Löchern ja jedes Gepäck verbot. Die Pistolen, Munition und etwas Mundvorrat kam in den Taschen unter. Dazu Kompaß und Ferngläser, das mußte genügen. »Ich schlage vor«, sagte der Chef, »Sie gehen einige Tage weit und kehren dann um, damit wir hören, wie es dort aussieht. Sehen -55-
Sie zu, daß Sie Träger mitbringen.« »Gut, Chef«, sagte GG. Aber ehe sie aufbrachen, nahm ihn Figur beiseite. »Sag mal«, stieß er barsch hervor, womit er eine gewisse Verlegenheit zu verdecken suchte, »warum hat mich der Chef eigentlich nicht mit dir gehen lassen? Du und ich gehören zusammen, finde ich.« »Aber er hat es dir doch gesagt: du kannst schießen, aber Tschandru-Singh nicht.« »Ist das wirklich der Grund?« fragte Figur mißtrauisch. »Sicher«, sagte GG. »Und außerdem: keiner von euch kann mit dem Jungen reden.« »Geht in Ordnung«, sagte Figur. »Ich dachte einen Augenblick, er traute mir nichts mehr zu, nachdem ich das Malheur mit der Wache hatte. Aber das kann doch jedem mal passieren.« GG sah noch eine Möglichkeit für die Entscheidung des Chefs, die er aber verschwieg: hatte er noch immer einen Verdacht gegen Tschandru-Singh? Hielt er ihn immer noch für einen Spion des Ungenannten? Wollte er ihn nicht dabei haben, wenn der unsichtbare Feind das Lager überfallen ließ? Er suchte den Chef auf. Aber er sprach mit ihm nicht über Tschandru-Singh. Ihm lag etwas anderes auf dem Herzen. »Chef«, sagte er, »wir wissen nicht, was mir drüben passiert, und ich schätze Sie zu sehr, -56-
als daß ich Sie verlassen möchte, ohne einen leisen Groll bereinigt zu haben!« »Oh«, sagte der Chef, »steht eine Wolke zwischen uns?« »Nur eine kleine«, sagte GG. »Mit der verdammten Kiste 17. Offen gestanden, ich finde es nicht ganz fair, daß Sie mich das Hafermehl immer haben behandeln lassen, als sei es mein Geoskop. Es war richtig, daß Sie die Kisten vertauschten – aber warum haben Sie mir nicht einen Wink gegeben?« »Wissen Sie, was ein Geheimnis ist, Dok?« fragte der Engländer und gab gleich selbst die Antwort: »Eine Sache, die einer weiß.« »Mit anderen Worten: Sie trauten mir nicht zu, daß ich das Geheimnis bewahren könnte?« Die Frage klang scharf. Sie war auch so gemeint und – wurde so verstanden. »Ich mute mir mehr zu als anderen«, war die geschliffene Antwort. »Mich kenne ich, aber den anderen nicht.« Dies war Ernst. Der Deutsche und der Engländer standen sich wie zwei Fechter gegenüber. Hier ging es Mann gegen Mann. »Wir haben einen Auftrag gemeinsam zu erledigen, Slanton«, sagte Peter Geist. »Wenn uns die Gesellschaft vor den nächsten stellt, können wir überlegen, ob wir die neue Sache gemeinsam machen oder nicht.« Damit war das Visier heruntergelassen. Jetzt stand der Deutsche vor dem Engländer wie -57-
fremd und schon fern. Slanton sah ihn an, und Peter Geist erschrak, denn es schien ihm, als sei das beherrschte Gesicht des andern plötzlich gealtert. »Lassen Sie mir doch das kümmerliche Vergnügen«, sagte Slanton, »daß ich einmal schlauer war als ein Mann, der so viel klüger ist als ich!« Peter Geist begriff. In diesem überlegenen Mann war nicht alles Überlegenheit. Er trug einen Panzer – aber darunter waren wunde Stellen. »Okay, Chef«, sagte er fest. Diese Männersache war wieder in Ordnung. Es war Zeit zum Aufbruch. Keiner war über die Teilung so zufrieden wie Neunauge. Er hatte sich mit seinem Abschiedsessen selbst übertroffen. Er hatte eine Büchse mit Gänselebern geöffnet, sie raffiniert gewürzt, in festes weißes Papier eingeschlagen, das er sorgfältig an den Rändern kniffte, und in heiße Asche gelegt, vorsichtig drauf bedacht, daß kein Tropfen der Sauce dabei verloren ging, und nach dieser gehaltvollen Vorspeise kam er mit einem Reisgericht, das er mit Kognak belebt hatte. »Aber glauben Sie nicht«, sagte er beim Abschied zu GG, »daß ich nur etwas von der Küche verstehe. Es gibt Leute, die behaupten, in meinem Marseiller Schützenklub würde auf ausgestopfte Kaninchen geschossen – aber, Monsieur GG, das sage ich Ihnen: wenn Sie wiederkommen und diese bemalten -58-
Schufte sollten uns angegriffen haben, dann werden Sie jeden dieser Hafermehldiebe durch einen sauberen Kopfschuß erledigt vorfinden! Sie sprechen bewundernswert viele Sprachen – aber ich sage Ihnen: die Sprache, die mein Gewehr spricht, versteht jeder!« Als GG, der Graf und Tschandru-Singh das schmale Felsband entlang zogen, folgten die Männer unten im Lager ihnen mit den Feldstechern.
Ins unbekannte Land GG ging als erster, dann kam TschandruSingh, dann der Graf. Das Felsband war sehr schmal. Sie konnten nicht zwei Füße nebeneinander setzen. Sie mußten auch immer darauf achten, daß sie mit den Händen einen Halt fanden, aber es stieg allmählich an, in weitausholenden Kehren, und das erleichterte den Weg. Daran sahen sie auch, daß es einmal aus dem Gestein herausgehauen war. Sie tasteten sich mit dem Gesicht zur Felswand nach oben: in die Tiefe, die jäh ins Bodenlose zu stürzen schien, sahen sie nicht, sondern blickten nur gerade auf das Stück des Gesteins, auf das sie treten wollten. Jetzt hatte GG die Stelle erreicht, wo das Felsband zu Ende ging und die ersten beiden -59-
Löcher erreichbar waren. Noch fand sein linker Fuß festen Halt auf dem Ende des Bandes und seine linke Hand konnte sich an eine Steinkante klammern. Vorsichtig tastete sich sein rechter Fuß zu dem unteren Loch hin. Noch fühlte er, wie der Fuß die glatte Steinwand entlang fuhr – da, jetzt war es so weit, daß er das Loch erreicht hatte. Zugleich aber fand er, daß der Mann, der es einmal in die Wand geschlagen hatte, nicht mit einem schweren europäischen Bergstiefel gerechnet hatte: es war zu klein, weil es nur für bloße Zehen bestimmt war. Er zog das Bein zurück. »Umkehren!« rief er. »Wir müssen die Stiefel ausziehen!« Tschandru-Singh war barfuß, er hätte nicht umzukehren brauchen. Aber es war unmöglich, aneinander vorbeizukommen, und so zogen sie denselben Weg wieder abwärts, eine gute Stunde, bis sie an eine kleine Ausbuchtung kamen, wo sie die Stiefel ausziehen konnten. »Wirklich«, sagte der Graf, »dieses interessante Land legt zu wenig wert auf Fremdenverkehr. Sonst hätten die guten Leute doch gleich eine Tafel anbringen können: Es empfiehlt sich, die Stiefel auszuziehen!« »Mich beschäftigt etwas anderes mehr, Graf«, sagte GG. »Werden wir unsre Stiefel drüben wieder anziehen können? Werden unsere Füße nicht von dem Gestein so zerschnitten sein, daß das einige Schwierigkeiten ma-60-
chen wird?« »Das ist ja gerade ein Vorzug der Reisen in unerschlossenen Gebieten«, sagte der Graf, »daß man immer wieder vor unerwartete Probleme gestellt wird, und finden Sie es nicht auch nett, daß unser kleiner brauner Reisebegleiter, der sich uns in allem unterlegen fühlen muß, nun auf einmal sieht, daß er uns wenigstens mit der Lederhaut seiner Fußsohlen überlegen ist?« »Was werden die unten denken, warum wir umgekehrt sind?« »Jedenfalls geht für sie der amüsante Film jetzt weiter«, sagte der Graf. »Also bitte, meine Herren! Achtung – Aufnahme!« Aber ehe sie wieder hinanstiegen, sagte GG: »Graf, wenn wir oben an den Löchern sind, warten Sie am besten mit dem Jungen, bis ich rufe.« »Ich habe mich damit abgefunden, daß ich immer nur die zweite Geige spiele, nie die erste – immer nur Begleitung, nie die Melodie«, sagte der Graf. Die Stiefel um den Hals gehängt, daß sie ihnen auf den Rücken baumelten, zogen sie an der unerbittlichen Felswand wieder hoch. Der Stein war warm von der Sonne und glatt von Regengüssen, die in vielen Jahren darüber gegangen waren. Aber so verwundete er wenigstens ihre empfindlichen Fußsohlen nicht. Schließlich standen sie wieder an der kriti-61-
schen Stelle. Mit den Gesichtern an die Felswand gelehnt, ruhten sie sich aus. »Auf, Brüder«, sagte der Graf, »halten wir uns in dieser kitzligen Situation an den Ausspruch des Weisen: ›Nicht der ist der Tapferste, der sich nie fürchtet, sondern der die Furcht überwindet!‹« »O Sahib«, sagte Tschandru-Singh, »warum läßt du mich nicht als ersten gehen? Wenn ich falle, so seht ihr, daß es nicht geht, und um mich ist es nicht schade.« »O Tschandru-Singh«, sagte GG, »niemand wird fallen. Die Reiter der Feringi lieben das Wort: ›Wirf dein Herz über die Hürde, und das Pferd springt nach!‹ Ich habe mein Herz schon hinübergeworfen, und nun hole ich es mir wieder!« Wieder tastete sich sein rechter Fuß zu dem ersten Loch unten. Jetzt fühlten seine Zehen die Öffnung, er klammerte sich mit ihnen in die Höhlung, und nun ließ er den rechten Arm über den Felsen gleiten, bis sich seine Finger an die Kante des Lochs krallen konnten, das genau über dem war, in dem sich sein rechter Fuß befand. Jetzt kam das entscheidende Wagnis: sein linker Fuß und seine linke Hand verließen den sicheren Halt. Langsam schob er, auf dem rechten Bein stehend, am rechten Arm hängend, sich ganz hinüber, bis er mit beiden Füßen und beiden Händen in den zwei ersten Löchern hing. Weiter, weiter! Ja, es ging weiter. Die immer -62-
gleiche Entfernung der Löcher erlaubte ein sicheres Tasten. Er konnte sich ganz auf sein Gefühl verlassen. Jedesmal, wenn er ganz in einem der Löcher hing, atmete er tief und ruhig. Dann schwang er sich weiter, und die Überwindung der Gefahr in diesem gleichmäßigen Rhythmus des Verweilens und wieder Weiterschwingens genoß er geradezu, weil er sich von einer unnennbaren Kraft getragen fühlte. Schon hatte er die Steinplatte über sich, die wie ein Dach wirkte, und jetzt hatte er die Kante erreicht, bis zu der sie von unten hatten sehen können. Hinter ihr lag das völlig Unbekannte; sie mußte ihn auch endgültig den Blicken seiner beiden Begleiter entziehen. Vorsichtig tastete sein Fuß um die Felsecke herum, um die er nicht sehen konnte. Waren dort keine Löcher geschlagen, so war alles vergeblich, und er mußte wieder zurück. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke, dieser ganze Weg von Loch zu Loch über dem schrecklichen Abgrunde sei nur ein sinnloser Höllenspuk, in den er sich habe verlocken lassen. Aber in demselben Augenblick erfühlte sein Fuß die Öffnung, und ihn durchströmte die herrliche Sicherheit der geglückten Leistung. Nur drei Löcher noch, und er stand auf einem Felsband, das gut dreißig Zentimeter breit war – nach dem, was er hinter sich hatte, war das ein geradezu beglückender Weg. Er rief zurück: »Kommt! Kommt!« Von der anderen Seite kam der Gegenruf des -63-
Grafen: »Wir kommen!« Und danach der Jubelruf des Knaben: »O Sahib, wir kommen!« Sie kamen. GG saß auf dem schmalen Wege, und die beiden setzten sich zu ihm. Tschandru-Singhs Augen leuchteten, seine strahlenden Züge glichen denen eines bronzenen Engels, aber der Graf sah mitgenommen aus. »Wissen Sie«, sagte er, »es war einigermaßen aufregend, gewissermaßen durch die Luft zu steigen – aber mitanzusehen, wie Sie da in der Felswand hingen, das hat mich noch mehr Kraft gekostet.« Sie waren am Ende oder am Anfang eines Tals, das nicht wie das, aus dem sie gekommen waren, von Norden nach Süden lief. Fast rechtwinklig dazu erstreckte es sich nach Westen. Wo sie standen, war der Boden mit Moos und Flechten bedeckt. Weiter unten sahen sie einzelne verkümmerte Birken. Dann wurde der Pflanzenwuchs reicher: wilder Rhabarber wuchs neben Tamariskenbüschen, dazwischen standen hohe Wacholder wie schwarze Wächter. Da und dort eine einzelne Zeder, und dann erst kam dichter Zedernwald. In der Ferne sahen sie schweigende Bergspitzen und mächtige Fichtenwälder. Ihre Füße waren in keinem so schlimmen Zustand, wie sie befürchtet hatten. Trotzdem gingen sie nur noch so weit, bis sie aus der baumlosen Zone zu den ersten Zedern kamen. Da fanden sie auch eine Quelle. »Ich denke, hier bleiben wir und warten die -64-
Nacht ab«, sagte GG, und der Graf war sehr damit einverstanden. Sie hatten Schokolade und getrocknete Aprikosen mit; damit kamen sie aus. Die Zeltbahnen, die sie flach zusammengelegt über den Buschblusen trugen, genügten zum Zudecken. »Wie ist es mit einem Feuer?« fragte der Graf. »Lieber nicht«, sagte GG. Aber die beiden Männer rauchten ihre Zigaretten mit großer Befriedigung. Nebeneinander auf den Rücken liegend, sahen sie in den Himmel. Er war plötzlich dunkel geworden. Die Sterne schimmerten mit fast wildem Glanz. »Jetzt, mein gelehrter Geist«, sagte der Graf, »wäre eigentlich der geeignete Augenblick, wo Sie einem interessierten, aber ziemlich ahnungslosen späten Nachkommen aus dem Geschlecht des tapferen Gottfried von Bouillon einmal genau erzählten, was es mit diesem Lande Kafiristan eigentlich auf sich hat. Ich muß gestehen, ich hatte den Namen überhaupt noch nie gehört.« »Es ist noch gar nicht lange her«, sagte GG, »daß man über dieses Land überhaupt etwas weiß. Die erste Kunde kam von afghanischen oder indischen Händlern. Sie hatten auf gut Glück die Täler des Hindukusch durchzogen und berichteten, da lebe ein wilder Volksstamm, dessen Männer größer und stämmiger -65-
wären als die Menschen, die sie kannten. Die Haut der Leute sei hell, ihre Augen blau, ihr Haar blond, und sie säßen nicht auf dem Erdboden oder einem Kissen, sondern auf kleinen Stühlen. Sie beteten zu einem Gotte Imra, und deshalb nannten die Afghanen das Land ›Kafiristan‹, das Land der Ungläubigen, denn kafir, woraus wir ›Kaffer‹ gemacht haben, ist das arabische Wort für ›Ungläubiger‹.« »Erlauben Sie«, unterbrach der Graf, »wieso gebrauchen die Afghanen da ein arabisches Wort und kein afghanisches?« »Die Afghanen sind ja Mohammedaner, und die Sprache des Korans, ihres heiligen Buchs, ist arabisch. Die Kafiri selbst haben gar keinen Namen für ihr Land, sie kennen nur Namen für die Stämme der einzelnen Täler. Die Händler waren übrigens nicht sehr entzückt von ihnen – die Kafiri waren nämlich die Schrecken der Karawanen. Wie der Blitz kamen sie nachts von ihren Bergen herunter, fielen über die Fremden her und töteten und raubten, was ihnen in die Hände kam. So rasch, wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder in ihren Bergnestern. Erst vor fünfzig Jahren kam von Kabul der Emir Abdul Rachman und stellte das ab, wobei es freilich auch wieder schlimm zuging. Es gab Mord und Brand, ihre Tempel gingen in Flammen auf, die Kafiri wurden in der Nähe von Kabul angesiedelt, und erst als sie mit Gewalt zum Islam bekehrt waren, durften sie in ihre alten Täler zurück.« -66-
»Nun sagen Sie einmal – helle Haut, blaue Augen, blondes Haar – zu welchem Volk gehören denn die Kafiri überhaupt?« »Wenn ich Ihnen das beantworten könnte«, erwiderte GG, »dann wäre ich glücklich. Aber das weiß kein Mensch: sie gehören zu den rätselhaftesten Völkern der Erde. Sie haben nichts Mongolisches, nichts Tatarisches – es geht die Sage, sie seien einmal von Westen gekommen. Aber es gibt keine Felseninschriften, keine Bücher, sie haben überhaupt keine Schrift! Es gibt kein einziges historisches Zeugnis über ihre Herkunft – es gibt nur eine phantastische Vermutung: über den Khaiberpaß zwischen Kabul und Peschawar ist einmal das Heer Alexanders des Großen nach Indien gezogen. Seine Soldaten meuterten, er mußte umkehren; wie man weiß, ist er durch Belutschistan nach Babylon gezogen. Haben sich etwa mazedonische Krieger in den Tälern Kafiristans niedergelassen? Sie sollen fruchtbar und sehr schön sein. Aber es sind damals überhaupt griechische Siedler nach Asien eingeströmt – es gibt Buddhastatuen und Felsskulpturen, die unzweifelhaft nach griechischen Vorbildern geschaffen sind.« »Dann wären sie nach Asien versprengte Europäer?« »Vielleicht. Sehen Sie, mir hat Sirdar Ali Schah Ikbal, ein sehr unterrichteter Afghane, der ein Buch über Afghanistan in Englisch geschrieben hat, einmal gesagt: ›Ich habe nie -67-
ein Volk gesehen, das den Europäern durch Aussehen, Sitten und Scharfsinn so ähnlich wäre wie die Kafiri‹.« »Und ihre Sprache?« »Wird weder von Hindus noch von Afghanen verstanden. Ich habe sie in Kabul von Kafiri gelernt, die sich am Hofe des Emirs aufhalten mußten.« »Aber in Kafiristan sind Sie auch noch nie gewesen?« »Nein. Die Europäer, die hier gewesen sind, kann man an den Fingern einer Hand aufzählen – und sie haben keineswegs alle Täler besucht.« »ES gibt also noch unbekannte Gegenden auf unserer Erde!« »Genug, Graf, genug. Wir fliegen heute über Meere und Erdteile – aber ihre eigentlichen Geheimnisse liegen nach wie vor verborgen. Als ich vierzehn war, dachte ich verzweifelt, du bist zu spät auf die Welt gekommen, alles ist bekannt, es gibt nichts mehr zu entdecken. Heute weiß ich, daß vor jedem, der tiefer sehen will, noch die größten Aufgaben liegen.« »Ja. Man muß viel wissen, um einzusehen, wie wenig wir wissen«, sagte der Graf. Die Männer schwiegen. Sie hörten die regelmäßigen Atemzüge des Knaben neben sich, der längst eingeschlummert war. Sie schlossen die Augen; es war auch für sie Zeit, zu schlafen. -68-
Als sie am andern Morgen eine gute Stunde durch den Zedernwald bergabwärts gegangen waren und an den Rand des Waldes kamen, blieben sie überrascht stehen: sie sahen in ein Tal von unbeschreiblicher Schönheit. Auf der Talseite, auf der sie sich befanden, standen in Bergwiesen, die bunt von Blumen waren, immer wieder Gruppen von riesigen Nußbäumen; auf der anderen Seite aber lag Weinberg an Weinberg. Von Terrasse zu Terrasse lief in kunstvollen Kanälen Wasser die Hänge herab und füllte im Tal immer flacher werdende Brunnen. In ein paradiesisches Gartenland schienen sie versetzt. Kein Windhauch rührte sich, und sie hörten nur von den Wiesenblumen her den Orgelton des Bienensummens. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Sie gingen weiter, quer über die Wiesenhänge, und im Talgrund kamen sie schließlich auf einen Weg, der breit und sorgfältig angelegt war, aber nur begangen zu werden schien, denn sie sahen nirgends eine Radspur. Aus den Wiesen waren Gärten geworden. Sie sahen über und über blühende Jasminbüsche, deren Duft sie betäubend anwehte, sie sahen dichte Rosenhecken und ganze Felder von hohen Liliengewächsen in Weiß und einem flammenden, rötlichen Gelb. Die Rosenhecke zu ihrer Rechten war hoch wie eine Mauer. Als sie wohl eine halbe Stunde an ihr entlang gegangen waren, öffnete sie sich zu einem rosenüberwölbten Eingang. Sie -69-
zögerten einen Augenblick, dann durchschritten sie ihn. Der Talhang, der die Weinberge trug, war hier wieder näher gerückt, und von dem Eingang aus führte ein gerader Pfad auf eine grottenartige Höhlung zu, die in den Fels gehauen war. Sie traten in ihr Dämmerlicht. Es war angenehm kühl, denn obwohl sie sehr früh am Morgen aufgebrochen waren, war es doch schon heiß geworden. Ein zarter Duft füllte den Raum, und als sich ihre Augen nach dem grellen Tageslicht an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sahen sie einen hohen Tonkrug, der in einer Nische des grauen Gesteins stand. Der Graf trat an ihn heran; der Duft schien ihm aus dem Kruge zu kommen. Er beugte sich prüfend über ihn und wandte sich wieder zurück:: »Wein«, sagte er und setzte dann hinzu: »Es muß ein herrlicher Wein sein.« Aber sie tranken ihn nicht. Sie hatten seit gestern Abend nichts mehr gegessen, und da war der Wein, der noch dazu vielleicht schwer war, nichts für ihren leeren Magen. Was sie hier sahen, mutete sie auch so traumhaft an, daß sie fast nicht wagten, etwas anzurühren, als müsse es, wie im Märchen, in dem Augenblick, wo sie danach griffen, unwiederbringlich versinken. Sie gingen wieder durch das Rosentor auf die Straße und dann weiter nach Westen in der Richtung des Tals. Noch immer hatten sie keinen Menschen erblickt, aber dann geschah es. Sie sahen, daß ein Knabe, der vielleicht zehn Jahre alt war, -70-
mit einem etwas breiten, aber im Griff handlich zugeschnitzten Brettchen ein rundes Spielzeug, in dem weiße Federn staken, in die Luft schlug und wieder auffing. Er war so darin vertieft, daß er die Fremden nicht sah. Jetzt aber flog sein Federspiel durch einen besonders kräftigen Schlag in hohem Bogen auf den Weg, und als er hinlief, um es wieder zu holen, fiel sein Blick auf die Fremden. Er erstarrte geradezu. Das Blut wich aus seinem Gesicht, so daß seine hellbräunliche Haut fahl wie Pergament wurde. Kein Schrei entrang sich dem entsetzten Kinde. Unwillkürlich waren die drei sofort stehen geblieben. Der Schrecken, den sie dem ahnungslosen Kleinen einjagten, hatte etwas Beängstigendes. »Geh langsam auf ihn zu«, flüsterte GG Tschandru-Singh ins Ohr. Aber als der Inder den ersten Schritt tat, kam in den zu Tode Erschrockenen plötzlich Leben. Er drehte sich um, er rannte wie gehetzt und war sofort in einem Jasmingebüsch verschwunden. Dessen Zweige bebten, so heftig hatte er sich dort durchgepreßt, und von überreifen Blüten rieselten weiße Blätter in das hohe Gras. »Schade«, sagte GG, und der Graf stimmte ihm zu. »Wer weiß«, sagte er, »was der arme kleine Kerl jetzt seinen Leuten über uns berichtet…« Sie brauchten nicht mehr lange zu gehen, um die Wirkung der Schreckensbotschaft zu -71-
spüren. Plötzlich erscholl rechts vor ihnen ein dumpfes Trommeln. Es dauerte nur wenige Augenblicke, und das Trommeln wurde von links her aufgenommen, und als sie einige Schritte weiter gegangen waren, schien das ganze Tal zu dröhnen. Jetzt sahen sie rechterhand menschliche Bauten. Die Weingärten waren verschwunden, nackter Fels trat zu Tage, und auf schwindelnden Felsvorsprüngen, an steilen Abhängen aufgetürmt hingen die Häuser wie Schwalbennester. Eins stand über dem andern, und sie schienen aus mächtigen Balken gebaut. Offenbar war von diesem Dorf her das erste Trommeln gekommen. Jetzt war es verstummt, aber aus weiter Ferne donnerte es noch nach; der Alarm hatte schon die entlegensten Siedlungen des Tals erreicht. Vom Dorf her kam ihnen eine Menschenmenge entgegen. »Erwarten wir sie oder gehen wir weiter?« fragte der Graf. »Ich meine«, sagte GG, »wir gehen ruhig weiter.« »Wie merkwürdig«, setzte er hinzu, »kein Mohammedaner geht ohne Turban oder ein Turbantuch – aber die Männer tragen Lederkappen!« Jetzt standen sie sich gegenüber. »Ich grüße die Männer des Tals!« sagte GG in der Sprache der Kafiri. Die hellhäutigen Männer trugen Hosen und -72-
Umhänge aus Ziegenwolle. Jeder hatte im Gürtel einen Dolch stecken, und an den Füßen weiche Schuhe aus rotgefärbtem Leder mit hellen Nähten. »Großer Gott«, flüsterte der Graf, »was für Gestalten! Und was für Köpfe!« Sie hatten die Begegnung mit den gespenstischen Figuren der Schinwari noch in so deutlicher Erinnerung, – und nun sahen sie hier wahrhaft königlich wirkende Männer. Sie waren alle hoch von Wuchs, ihre Gesichtsfarbe war leicht gebräunt, die Züge regelmäßig und schön. Blaue oder hellbraune Augen, das in Knoten geflochtene Haar war verschieden getönt. Alle hatten mächtige Nasen. Ein alter Mann mit weißlichem Bart, von dem sich die andern deutlich in Abstand hielten, antwortete auf den ersten Gruß der Fremden. Er trug im rechten Ohr einen großen silbernen Ring und um den Hals eine Schnur, die mit kleinen Schellen besetzt war. Die Hand um den Dolchgriff gelegt, sagte er: »Imaba deschaki neora (Wo ist deine Heimat)?« »Ehrwürdiger Weißbart«, antwortete GG, »wir kommen von sehr weit her, aus dem Lande des Westens.« Das erregte offenbar großes Erstaunen, ja Erregung. »Vor Zeiten«, sagte der Alte rasch, »sind auch unsere Ahnen aus dem Westen gekommen!« -73-
Das schien ihn für diese Fremden günstig zu stimmen, aber sogleich nahmen seine Züge wieder einen gespannten, ja beunruhigten Ausdruck an. »Wenn euer Land so weit von unserem Tale liegt, wie du sagst – wie kommt es dann, daß du unsere Sprache sprichst?« »Ich habe zwei Jahre in Kabul gelebt –« Es war, als ob eine schwarze Wolke plötzlich die Sonne verdunkelte. So wie er den Namen der afghanischen Hauptstadt ausgesprochen hatte, fuhren die Hände aller Männer an die Dolchgriffe, ihre Augen funkelten gefährlich. Alle schienen bereit, sich auf die Fremden zu stürzen. »Seid ihr Musulman?« fragte der Alte drohend. »Mein Freund und ich sind Christen«, antwortete GG, »und dieser Knabe ist ein Hindu.« »Siehst du die Schellen, die ich um den Hals trage?« fragte der Alte. »Ich sehe sie.« »Fremder, zähle sie.« GG zählte sie nach. Es waren zwölf. »Zwölf Musulman hat mein Dolch getötet«, sagte der Alte hart, »und er hätte auch dich getötet, wenn du ein Musulman wärest.« Er sagte darauf etwas zu den Männern, sprach jedoch so rasch, daß GG seine Worte nicht verstand. Aber er mußte etwas Beruhigendes -74-
gesagt haben, denn die gewittrige Spannung schien nachzulassen. »Was wollt ihr in unserm Tal?« fragte der Alte. »Ehrwürdiger Weißbart«, sagte GG, »wir sind weder Händler noch Jäger. Wir sind Gelehrte. Wir wollen das verborgene Gesicht der Erde erforschen.« Die Wirkung seiner Worte war verblüffend. Die Männer lachten schallend. Sie konnten sich gar nicht wieder beruhigen. Schienen sie sich wieder zu fassen, so lachte einer von neuem los und weckte wieder das Lachen aller. So befreiend und überzeugend war ihr Lachen, daß GG und der Graf mit ihnen lachen mußten, und sie dachten, mit Männern, die so herzlich lachen konnten, müßte doch auszukommen sein, wenn auch die reichlich wilde Schellenrechnung zeigte, daß der Untergrund nicht ungefährlich war. »Wir kennen uns, die wir uns sehen, nicht einmal selbst«, sagte der Alte. »Wie wollt ihr dann das kennen lernen, was die Erde vor uns verbirgt?« »Laß uns in eurem Tale leben«, sagte GG. »Wir sind sechs Feringi und dieser indische Knabe, und wir werden euch sagen, was in der Erde unter euren Füßen ist.« Das Gelächter war verklungen. Offensichtlich machte GGs Vorschlag, im Tal zu bleiben, den Männern sehr zu schaffen. -75-
»Ein andrer als ich wird dir darauf antworten«, sagte der Alte schließlich. »So werden wir auf die Antwort warten«, sagte GG. »Aber ich bitte dich, gib uns zu essen. Wir sind hungrig.« »Lebt deine Mutter noch?« fragte der Alte. »Ja«, antwortete GG, ohne zu verstehen, was diese Frage zu bedeuten hatte. »Und lebt die Mutter deines Freundes noch?« »Sagen Sie ja«, antwortete der Graf, nachdem ihm GG die Frage übersetzt hatte. »Schwört ihr beim Haupte eurer Mutter«, fragte der Alte langsam, »daß ihr den Menschen dieses Tals kein Unheil bringt?« »Ich glaube«, sagte der Graf, »das können wir beschwören. Denn wir wollen niemand Unheil bringen; es ist Unheil genug auf der Erde.« »Wir schwören es«, sagte GG feierlich. »Dann sollt ihr zu essen bekommen«, sagte der Alte. »Kommt mit uns.« Sie schritten zusammen dem Dorfe zu. »Du hast mich viel gefragt«, sagte GG im Gehen zu dem Alten, »nun laß auch mich etwas fragen. Ich habe gehört, der Emir Abdul Rachman habe alle Männer der Täler weggeführt und zu Mohammedanern gemacht. Ihr aber seid keine?« »Unser Gott ist Imra«, sagte der Alte, »um dessen Thron tausend Engel stehen.« -76-
»Wie habt ihr dem Schwert der Musulman entrinnen können?« »Dieses Tal hat noch nie ein Afghane betreten«, sagte der Alte, »und niemals noch sah es so weiße Menschen wie dich und deinen Freund.« GG blieb stehen. »Graf«, sagte er erregt, »wir sind die ersten Europäer in diesem Tal! Und es ist auch der Verfolgung durch die Afghanen entgangen! Wir werden hier sehen können, was noch keiner vor uns gesehen hat.« »Großartig«, sagte der Graf. »Hoffentlich sind wir den Männern so willkommen wie sie uns. Das täte mir sonst leid, denn ich habe lange nicht so viele ausgezeichnet geschnittene Gesichter beisammen gesehen wie hier.« Sie kamen in das Dorf. In den Türrahmen standen Frauen. Sie hatten enge schwarze Hosen an, über die ein schwarzes Hemd bis zu den Knöcheln fiel. Sie trugen Hals- und Armbänder, an den Fingern silberne Ringe. Sie sahen die Fremden nicht böse, aber ernst an. Es schien, als läge eine geheime Trauer über ihren Gesichtern. Kinder waren nicht zu sehen. Das Haus, in das der alte Mann sie führte, war groß. Auf einem Steinfundament war es aus Zedernholz errichtet, die Balken waren mit der Axt behauen. Eine große, feste Holztür schloß es ab; sie bewegte sich nicht in Angeln, sondern durch Zapfen, die sich in Löchern -77-
drehten. In dem Raum, den sie betraten, stand ein Herd aus Lehm. Über dem Herd war ein Rauchloch, das durch einen Griff, der von oben herabhing, geschlossen werden konnte. Zwei junge Männer, die dem Alten gefolgt waren, brachten niedrige dreibeinige Hocker, die mit Leder bespannt waren, und als sich die Gäste gesetzt hatten, nahm auch der Alte Platz. Jetzt trat eine alte Frau herein, deren gleichmäßige Züge aus Stein gemeißelt zu sein schienen. Sie brachte breite, runde Kuchen von weißem Mehl. Deren Mitte war mit Salz bestreut, um die Ränder war Käse gebakken. Sie stellte eine tiefe hölzerne Schüssel dazu, in der sich zerlassene Butter befand, und dann ging sie wieder, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Auch die beiden jungen Männer hatten den Raum verlassen. Jetzt nahm der Alte einen der runden Kuchen, brach ihn in vier Stücke und gab jedem seiner Gäste eins davon, nachdem er es in die flüssige Butter getaucht hatte; dann nahm er sich selbst das letzte Stück. »Möge auf der Erde jeder Hungrige satt werden«, sagte er, und GG wiederholte diesen schönen Wunsch. Tschandru-Singh legte die Hand an die Stirn, der Graf verneigte sich, und dann aßen sie schweigend. Als sie den Kuchen aufgegessen hatten, kamen die beiden jungen Männer wieder herein. Der eine brachte vier silberne Becker, der an-78-
dere einen Krug, und sie schenkten daraus ein. Als GG und der Graf in ihre Becher blickten, sahen sie, daß er einen dunklen, schweren Wein enthielt. »O Tschandru-Singh«, sagte GG, »trinke nur einen kleinen Schluck, denn sonst dreht sich das ganze Haus um dich.« Dem Knaben war ja noch niemals ein Tropfen Wein über die Lippen gekommen. »Die Männer des Tals lieben die Menschen, die Wein trinken und fröhlich sind«, sagte der Alte, und sie tranken. »Ausgezeichnet«, sagte der Graf. »Wie erstklassiger alter Madeira.« »Wissen Sie«, sagte GG, »daß die Malvasiertraube, die den echten Madeira liefert, aus Kreta stammt?« »Natürlich habe ich das nicht gewußt«, sagte der Graf, »und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie es mir sagen. Als ich bei dem Professor Faragnol Homer übersetzte, hätte ich nicht gedacht, daß ich in Asien Wein trinken würde, dessen Reben vielleicht einmal von Männern, die Lieder von Achill und Hektor sangen, aus Griechenland in die Täler Afghanistans gebracht wurden.« »Was sagt dein Freund?« fragte der Alte. GG überlegte. Es war ihm unmöglich, dem Alten jetzt mit irgendeiner billigen Ausflucht zu kommen. »Mein Freund«, sagte er langsam, »gedenkt der Männer, die einmal die er-79-
sten Reben in dieses Tal gebracht haben.« »Dein Freund hat schöne Gedanken«, sagte der Alte, »und es ist gut, vor dem Tode schöne Gedanken zu haben.« »Wir denken noch nicht ans Sterben, ehrwürdiger Alter«, sagte GG. »Wir sind noch jung und haben viel vor.« »Ihr werdet hier sterben«, sagte der Alte ruhig, »wenn der Älteste des Tals es wünscht.« »Was hat der Alte gesagt?« fragte der Graf, denn GG war so verblüfft, daß er die Antwort nicht übersetzt hatte. »Er ist der Meinung«, sagte GG, »daß wir hier umgebracht würden, wenn der Älteste des Tals das für wünschenswert hält.« »Wie interessant«, sagte der Graf. »Sollten wir dieses wahrhaft biblische Mahl, das man uns gegeben hat, als unsere Henkersmahlzeit aufzufassen haben?« Der Alte erhob sich, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als es ihm nachzutun. Er machte dann eine Handbewegung zur Tür und ging voran. »Wohin geht es jetzt?« fragte der Graf. »Ich weiß es nicht«, sagte GG, »und ich habe keine Lust, den Alten danach zu fragen.« »Immerhin haben wir noch unsere Pistolen«, sagte der Graf.
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»Ihr werdet sterben!« Als sie aus dem Hause traten, standen die Kafiri in zwei Reihen einander gegenüber und bildeten eine so schmale Gasse, daß sie nur immer einer hinter dem anderen gehen konnten. Der alte Mann durchschritt sie als erster, und es schien den Männern das Beste, ihm gleichmütig zu folgen. Nur schob der Graf den Knaben, der als letzter das Haus verlassen hatte, wie zufällig zwischen sich und GG. ES war ihm unerträglich, Tschandru-Singh in seinem Rücken zu wissen, ohne sehen zu können, was ihm geschah. Er musterte im Gehen wieder die Köpfe der Männer. »Die Situation ist nicht ohne einen etwas pikanten Beigeschmack«, sagte der Graf, »aber ich bleibe dabei – die Männer haben Gesichter wie große Staatsmänner und Philosophen. Trotzdem hoffe ich, daß sich die europäische Erfindung des Spießrutenlaufens nicht bis hierher herumgesprochen hat; denn –« Er kam nicht weiter. Starke Arme umschlossen ihn eisern, und GG, selbst dem Knaben erging es nicht anders. Während ein Mann jeden so von vorn umschlungen hielt, ein anderer am Boden knieend von hinten ihre Beine fest umklammerte, so daß keiner einen Kniestoß ausführen konnte, tastete ein dritter sie ab und fuhr den beiden Europäern in die Ta-81-
schen. Er fand die Pistolen, und es blieb ihnen nichts in den Taschen. Aber dann ließen die Männer sofort von ihnen ab. »Das wäre dem Chef nicht passiert!« rief GG aus. »Wie er die Menschengasse gesehen hätte, da hätte er die Pistole schon in der Hand gehabt!« Die Männer hatten dem Alten gezeigt, was sie gefunden hatten, und kamen zurück. Die Pistolen behielten sie, aber sonst gaben sie ihnen alles wieder. Selbst die gefüllten Ladestreifen, die sie lose in der Tasche getragen hatten, erhielten sie zurück; offenbar wußten die Männer nicht, daß sie zu den Waffen gehörten. »Ich sage ja, es sind Ehrenmänner«, sagte der Graf. »Sie legen Wert darauf, daß keiner ihrer Gefangenen in der Verzweiflung selbst Hand an sich legt.« Ja, sie waren Gefangene. Der alte Mann führte sie schweigend in ein Haus, das kleiner war als das, in dem sie gegessen hatten. Der Raum, in den er sie brachte, enthielt keinen Herd und darum auch keinen Rauchfang, aber außer den niedrigen Lederstühlen drei Lager, die aus breiten Lederbändern geflochten waren und Ziegenfelle als Decken hatten. »Hier müßt ihr bleiben«, sagte er, »Ihr bekommt zu essen und unsern Wein. Wenn ihr es wünscht, schicken wir euch unsere Liedersänger, damit sie euch die Zeit verkürzen. Aber wer das Haus verläßt, wird von den -82-
Wächtern niedergestoßen.« »Die Instruktion zeichnet sich durch Klarheit aus«, sagte der Graf und legte sich auf eins der Lager, denn er war müde. Aber GG war nicht bereit, sich mit der plötzlichen Veränderung der Lage abzufinden. »Ehrwürdiger Alter«, sagte er, »in der Welt der freien Männer, die in Zelten leben, die Jäger sind und Hirten, ist das Gesetz der Gastfreundschaft heilig. Du hast mit uns gegessen und mit uns getrunken – wie kannst du zugeben, daß deine Gastfreunde getötet werden?« »Fremder«, sagte der alte Mann, »nie werde ich meine Hand gegen euch erheben. Nicht ich werde euch töten, sondern die Männer des Mir, die ihr nie gesehen, mit denen ihr kein Brot und Salz gegessen, keinen Wein getrunken habt.« »Wer ist der Mir?« »Der Älteste des Tals ist der Mir, der König des Tals.« »Warum wird der Mir uns töten lassen?« »Das weiß der Mir allein.« »Wie lange sollen wir warten, bis der Mir gesprochen hat?« »Der Bote an ihn ist schon unterwegs.« »Wir sind es nicht gewohnt«, sagte GG sehr entschieden, »daß andere über uns sprechen, ob wir leben sollen oder nicht. Bringe uns sofort zu dem Mir!« -83-
Der Alte war sichtlich unruhig. Die festen Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. »Ich werde mit den Männern reden«, sagte er und verschwand. »Ich finde es hervorragend, GG«, sagte der Graf, der auf dem Lederriemenbett bequem ausgestreckt lag, die Arme unterm Kopf verschränkt, »daß Sie sich so um unser Leben bemühen. Ich muß sagen, ich lebe auch gern, aber immerhin gibt es einiges, was mir, wenn ich es mir vergegenwärtige, den Abschied von der Erde nicht übermäßig schwer machen würde. Es gibt zu viel Mißwachs unter den Menschen. Und ich habe mir angewöhnt, eigentlich nur noch ein bißchen Zuschauer zu sein. Man muß ja so viel geschehen lassen, ohne es ändern zu können… Sehen Sie, einer meiner Vorfahren war Zeremonienmeister am Hofe Seiner Majestät Ludwigs XVI. Ehe ihm die Guillotine der Revolution den Kopf abschlug, tanzte er mit den Damen und Herren, die in der Pariser Conciergerie auch auf den Tod warteten, ein Menuett. Sie waren noch im Tanzen, als sie in die Henkerskarren geholt werden sollten. ›Pardon, meine Herren‹, sagte mein Urahn zu den Henkersknechten, ›diese Figur ist noch nicht zu Ende!‹ Und sie tanzten ihr Menuett tatsächlich bis zum Schluß. Man wird zugeben, das ist Haltung, – wenn ich auch keineswegs verkenne, daß derselbe Urahn-Zeremonienmeister seine Bauern so himmelschreiend schlecht behandelte, daß alle -84-
mit Recht aufatmeten, als er tot war. Die meisten Dinge haben eben ihre zwei Seiten.« Tschandru-Singh saß auf einem Stuhl und hing mit erschreckten Augen an GGs Gesicht. Von dem, was gesprochen worden war, hatte er nichts verstanden. Aber daß die Lage schwierig geworden war, sah er klar genug. »O Tschandru-Singh«, sagte GG, der in dem Raum auf und ab ging, und fuhr ihm mit der Hand leicht über das Haar, »die Männer des Tals wissen nicht, was sie mit uns machen sollen, und wir dürfen das Haus nicht eher verlassen, als bis sie es wissen.« »O Sahib«, sagte der Knabe, »du wirst ihnen sagen, was sie tun sollen, und sie werden auf dich hören!« Die Tür ging auf, und der Alte trat wieder ein. »Es geht nicht an«, sagte er, »daß ihr alle vor den Mir tretet. Aber die Männer draußen sind damit einverstanden, daß du vor ihn gebracht wirst, weil du unsere Sprache sprichst!« »Was denken Sie, Graf?« fragte GG. »Selbstverständlich müssen Sie hin«, sagte er. »Vielleicht ist es vergeblich – aber es gibt nur noch so wenige echte Könige auf der Erde, daß man keine Gelegenheit versäumen sollte, eins dieser aussterbenden Exemplare kennenzulernen. Grüßen Sie Seine Majestät von mir.« »Ich werde zu dem Mir gehen«, sagte GG zu dem Alten. -85-
»Du sollst erst essen«, sagte der alte Mann, »es wird Nacht, bis du im Hause des Mir bist, und dort darfst du nicht essen. Du mußt wissen«, setzte er hinzu, »ihr seid in einer bösen Zeit gekommen. Ich sagte dir, wir Männer des Tals sind gern fröhlich und lieben es, zu trinken und zu singen. Aber es ist lange her, daß ich habe singen hören.« »Die Gesichter der Frauen, die in den Türen standen«, sagte GG, »sahen traurig aus.« »Das ist es«, antwortete der Alte. Die beiden jungen Männer, die sie schon bedient hatten, kamen wieder, mit einer großen Holzschüssel voll gebratenem Fleisch, das in Würfel geschnitten war und in einer dicklichen dunklen Sauce lag. Dazu gab es Brot – kein hartes Fladenbrot der Nomaden, sondern gesäuertes Brot, das gut aufgegangen war. Sie aßen das Fleisch mit den Fingern und tauchten Brotstücke in die Sauce. »Neunauge, mein Guter«, sagte der Graf, »was wirst du jetzt unseren trauernd Hinterbliebenen auftischen? Und unter welchem Namen würdest du unser rätselhaftes Essen hier den Gästen in deinem zukünftigen Bistro auf die Speisekarte setzen?« »Ich nehme an«, sagte GG, »afghanische Bergziege.« »In die Brühe ist Honig gerührt«, sagte Tschandru-Singh und strahlte. »Einen Jungen essen zu sehen«, sagte der -86-
Graf, »gehört auf die positive Seite der Lebensrechnung. Übrigens, GG«, fuhr er fort, »wenn Sie herauskommen, sehen Sie sich doch gut um. Wenn mit der Majestät nicht gut Kirschen essen ist, müßten wir doch vielleicht vorziehen, daß wir uns ohne Erlaubnis aus der Mausefalle hier entfernen.« »Was machen Sie die ganze Zeit?« fragte GG. »Sie verstehen Tschandru-Singh nicht, und er versteht Sie nicht.« »Stellen wir diesen bedauerlichen Zustand ab«, sagte der Graf. »Wir müssen überhaupt für das Fortkommen des Jungen sorgen – ich werde ihm Englisch beibringen. Sagen Sie ihm, daß wir mit den Zahlen anfangen, und dann kommen die Körperteile vom Kopf bis zu den Zehen dran.« »Tschandru-Singh, ich gehe jetzt, aber du wirst inzwischen die Sprache der Sahibs lernen«, und GG sagte ihm, wie das vor sich gehen solle. »O Sahib«, sagte Tschandru-Singh, »wie ein Regen kommt das Glück über mich!« Als GG mit dem Alten aus dem Hause trat, sah er auf den Stufen vor der Tür zwei Wächter sitzen, und um das Haus lagerten anscheinend alle Männer des Dorfs. Wenn das so blieb, war an eine Flucht nicht zu denken. Der alte Mann brachte ihn an das letzte Haus der Siedlung. Dort warteten drei junge Burschen, die etwa zwanzig Jahre alt waren. Je-87-
der hatte einen Dolch im Gürtel stecken. Zwei nahmen GG in ihre Mitte, der dritte schritt hinter ihm. Sie gingen nicht sehr schnell, aber in einem stetigen Schreiten, mit dem, wie GG überschlug, sie in der Stunde fünf Kilometer zurücklegen würden. »Wirst du mit uns Schritt halten können?« fragte einer der Männer. »Ich will mit dem Mir sprechen«, sagte GG, »und nicht mit euch.« Darauf sagten die Männer nichts mehr. GG nahm fast mechanisch auf, was er sah. Wieder Weinberge auf der Südseite des Tals. Eichenwälder auf der anderen. Nach wie vor keine einzige Wagenspur auf dem Wege, kein Zeichen eines Pferdehufs. Er sah auch nirgends Kühe. Auffällig schien ihm, daß keinerlei Wind zu spüren war, selbst jetzt nicht, wo es dem Abend zuging. Völlig abgeschlossen schien das Tal zu sein. Jetzt wurde es breiter, er sah an den wegrückenden Talwänden Dörfer, deren Häuser wie in dem, in das sie gekommen waren, übereinander getürmt auf dem Hang zu wachsen schienen. Aber aus den Siedlungen kam kein Laut. Alles war still, wie durch eine Verwünschung gebannt. Links und rechts des Weges waren keine Wiesen mehr, sondern ganze Wälder von Granatbäumen. Aus dem hellen Grün der Blätter leuchteten die dunkelroten, großen Blüten, aber zugleich trugen die Zweige eine Unzahl -88-
von Äpfeln, deren Last sie tief herabzog. In diesem Granatbaumwald mündete ihr Weg in einem freien halbkreisförmigen Platz, von dem sternartig neue Pfade ausgingen, sieben, wie GG rasch zählte, und alle liefen weiter durch das rote Blütenmeer der Granatbäume. Wurden sie erwartet oder standen an diesem Platz immer Wächter? Die Männer, die ihn hergebracht hatten, sprachen leise mit ihnen, wobei alle auf ihn sahen, jeder die Hand am Dolchgriff. Dann winkten ihm zwei und schlugen mit ihm einen der sieben Sternwege ein. Aber er war so schmal, daß sie hintereinander gehen mußten, wobei GG zwischen den beiden Dolchmännern schritt. Es waren keine Granatbäume mehr, durch die sie zogen, sondern undurchdringliche, zweimannhohe Heckenwände, in denen sie in vielen Windungen und scheinbar kreuz und quer gingen. Es war GG rätselhaft, wie die beiden Männer sich hier zurechtfanden; ihm war es so, als ob sie nur immer wieder an denselben Stellen vorbeikamen. Und da wußte er, wo er ging: in einem Irrgarten! Es durchschauerte ihn – doch es war nicht Furcht, die ihn anfiel, sondern die Ahnung dunkler Zusammenhänge. Der Wein, den er getrunken, hatte wie der Wein geschmeckt, der einmal von Kreta gekommen war, und jetzt sah er wieder, was er einmal in den ausgegrabenen Straßen der verschütteten Stadt Pompeji ge-89-
sehen hatte. Da hatte vor fast zweitausend Jahren eine Menschenhand die Linien eines solchen Irrgartens gezeichnet und in lateinischer Sprache hinzugeschrieben: »Dies ist das Labyrinth. Hier wohnt der Minotaurus.« Der aber war ein Ungeheuer, ein Mensch mit einem Stierkopf, der, wie die Sage ging, auf der Insel Kreta in einem Wunderbau von tausend Irrgängen hauste und die Menschen fraß, die als seine Opfer in dieses Labyrinth gejagt worden waren. Hatten die Männer aus Westen, die einmal in dieses Tal gekommen waren, mit den kretischen Reben auch die Erinnerung an das Labyrinth mitgebracht? Plötzlich standen sie in der Mitte des Irrgartens. Vor ihnen erhob sich ein Haus, das GG etwa sechs Meter hoch und vielleicht fünfzehn Meter breit schien. Es war aus Holz, und hölzerne Säulen trugen das vorspringende Dach, das ein flaches, dreieckiges Giebelfeld hatte, wie ein griechischer Tempel. Die Säulen hatten Widderköpfe. Auf den Stufen, die in das Haus führten, saß ein Mann. Er war in einen langen schwarzen Fellmantel gehüllt und hielt in der einen Hand einen Speer, den er senkrecht auf den Boden gestemmt hatte. Er rührte sich nicht. Die beiden Männer erschraken, als sie ihn sahen. Er beachtete sie nicht. Die Zedernholzwand hinter den Säulen hatte sieben Türen, und stumm wiesen GGs Begleiter auf die äußerste Tür links. -90-
Er schritt auf sie zu. Er sah, daß die anderen sechs verschlossen waren, diese aber angelehnt war. So machte er sie vollends auf und trat ein. Er stand vor einem alten Mann, der auf einem der ledergeflochtenen Stühle saß. Der Sitzende war nicht anders gekleidet als die Männer, die GG bis dahin gesehen hatte, aber der Stuhl hatte eine Lehne, und der alte Mann trug zwei silberne Ohrringe, während der Alte im Dorf nur einen hatte. Doch es waren nicht diese Besonderheiten, die den Besucher davon überzeugten, daß er den Mir vor sich hatte. Das Antlitz des hochgewachsenen Mannes war entscheidend. Es war von einer unbestreitbaren Majestät. Peter Geist war zumute, als stehe er vor einer Königsgestalt versunkener Zeiten. Unwillkürlich verneigte er sich tief. »Ich habe gehört«, sagte der Mir, »daß du mit einem Mann und einem Knaben in das Tal gekommen bist. Das ist nicht gut. Denn jetzt mußt du sterben, der andere Mann muß sterben, der Knabe muß sterben.« »Warum willst du unsern Tod?« fragte Peter Geist. »Die Männer des Tals leben, weil niemand weiß, daß sie leben. Du und der andere Mann und der Knabe – ihr geht wieder fort. Ihr werdet erzählen, wo ihr gewesen seid, die Musulman werden es hören, sie werden über uns kommen, und wer das überlebt, wird nicht mehr sein, der er war.« -91-
Der Mir sah ihn an – ohne Feindseligkeit, aber auch ohne Teilnahme. Was er sagte, schien ihm so selbstverständlich wie Tag und Nacht. »Es wird nicht gut sein, wenn wir getötet werden«, sagte Peter Geist. »Wir haben Freunde, die auf uns warten. Wenn wir nicht wiederkommen, so werden sie uns suchen. Sie werden denselben Weg gehen, den wir gegangen sind, und sie werden das Tal finden.« »Sie werden denselben Weg gehen, wie du sagst«, erwiderte der Mir. »Sie werden sterben wie ihr.« Es war Peter Geist, als beträfen diese Entscheidungen weder ihn noch seine Freunde. Er schien all dem, was einmal gewesen war, völlig entrückt. »Wir sind in der unheilvollen Zeit des Monats«, sagte der Mir. »Der Mond ist im Abnehmen, und wenn er sein Haupt ganz abgewandt hat, wird euer Tod gekommen sein wie der meine.« »Warum solltest du sterben? Du siehst nicht krank aus.« »Als ich hörte, es seien Fremde ins Tal gekommen, wußte ich, daß die Stunde des Todes auch für mich gekommen war. Ich hatte nicht mehr die Kraft gehabt, das Unglück zu verhindern. Ihr seid nicht das einzige Unglück, das über das Tal gekommen ist. Unsere klei-92-
nen Kinder siechen dahin und werden sterben. Auch das habe ich nicht verhindern können. Es ist die Zeit des großen Opfers gekommen. Wenn ich noch länger warte, wird das Gras verdorren, werden die Quellen versiegen und die Reben eingehen. Wenn der König nicht mehr die Kraft hat, das Unheil zu verhindern, dann muß er getötet werden, damit auf seinem Stuhle Platz wird für einen neuen König, der jünger ist als er und noch Macht hat über die unsichtbaren Dinge. Hast du den Mann gesehen, der vor meinem Hause sitzt?« Peter Geist nickte. »Er ist der Priester, den wir den Löwentöter nennen. Wenn die Stunde da ist, werden er und ich auf den Berg gehen, von dessen Spitze ich die ganze Welt sehe, und dann wird er allein zurückkommen. Geh jetzt und sag dem Manne, mit dem du kamst, und dem Knaben, was du gehört hast. Es hat keinen Sinn, darüber noch weiter Worte zu machen.« Peter Geist trat aus dem Hause. Es war Nacht geworden. Nur noch ungefähr sah er den Mann, der zwischen den Säulen saß. Am Himmel stand der Mond im letzten Viertel. Im völligen Dunkel wurde er wieder durch die Gänge des Irrgartens gebracht; er konnte nicht erkennen, ob ihn dieselben Männer, die ihn hereingebracht hatten, jetzt zu dem Sternplatz führten. Hier warteten noch die drei, mit denen er aus dem Dorf hergekommen war. -93-
»Hast du den Mir gesprochen?« fragte der eine. »Ja«, sagte Peter Geist. »Nun kannst du auch mit uns reden«, sagte der Mann. Er hatte die Abweisung von vornhin allem Anschein nach nicht übelgenommen. Der Mond war fort. »Die große Lampe ging aus im Zelt der Nacht«, sagte der Mann. »Auch die kleinen Lichter zittern schon«, sagte ein andrer, »sie spüren den Hauch der Morgenhelle.« »Wir wollen gehen«, sagte der dritte. »Ich bin müde«, sagte Peter Geist. »So werden wir langsam gehen«, sagten die Männer. »Fürchte dich nicht, auch wenn du keinen Dolch trägst. In der Nacht stürzt sich der Teufel Yusch auf jeden Mann, der keinen Dolch hat; aber wir sind um dich, da rührt er dich nicht an.« Peter Geist ging langsam. Aber es war nicht eigentlich Müdigkeit, die ihn dazu nötigte. Er war wie benommen. Indem er dem Mir begegnete, war er in eine Zeit der Menschheitsgeschichte zurückgetreten, die einige Jahrtausende hinter der Gegenwart lag. In uralter Zeit hatten die Römer, das wußte er, Könige gehabt, die sich dem Opfertode auslieferten, um ihrem Volk zu helfen. Auch da und dort in Afrika waren die Forscher auf Spuren eines solchen Ritus gestoßen, und hier sah er nun leibhaftig, was es in Urzeiten bedeutet hatte, -94-
ein König zu sein… Es wurde allmählich hell. Die mächtigen Leiber der Berge vor ihnen, schlafende Ungeheuer, färbten sich in einem dunklen Violett. Über ihnen leuchtete der Himmel seegrün, zart wie irisierendes Perlmutt, und feine Flämmchen von Zirruswolken wurden von der Sonne, die noch nicht zu sehen war, wie mit alter Bronze übergossen. Als sie in ihr Dorf kamen, saßen die Männer noch immer um das Haus. Auch der alte Mann war da. »Hast du den Mir gesprochen?« fragte er. »Ja«, sagte Peter Geist. »Dann ist es gut«, sagte der Mann. »Hallo, GG«, sagte der Graf, als er den Innenraum des Hauses betrat. »Ich hörte die Stimme draußen, da bin ich aufgewacht.« GG setzte sich auf das freie Bett, der Graf war von dem seinen aufgestanden. Tschandru-Singh schlief fest. GG berichtete. »Das ist ernst«, sagte der Graf. »Ja«, antwortete GG. Dann schwiegen beide lange. »Hören Sie«, sagte der Graf, »wie ist das mit den Kindern zu verstehen?« »Ich weiß nicht mehr, als was der Mir sagte«, antwortet GG. »Sie sagen, der Alte sei draußen. Rufen Sie -95-
ihn herein, ja?« Der Alte kam. »Der Mir hat mir mitgeteilt«, sagte GG, »eure Kinder seien krank. Was ist mit ihnen?« »Es sind die kleinen Kinder, die nicht mehr leben wollen«, sagte der Alte. »Sagen Sie ihm doch, er solle mich in ein Haus bringen, wo ein Kind krank ist.« GG tat es, und der Alte ging mit dem Grafen fort. GG war todmüde. Er sank auf das Lager und war sofort eingeschlafen. Er hörte nicht mehr, daß Tschandru-Singh, der wach geworden war, glücklich zu ihm hinüber rief: »O Sahib, ich kann in der Sprache der Sahibs bis zwanzig zählen!« Als GG erwachte, dachte er einen Augenblick lang, er habe geträumt. Aber dann wußte er, alles war wirklich: der Gang durch die Nacht, das Labyrinth, der Mir, und der wartende Tod der kommenden Neumondnacht. Jetzt war es spät am Tag, er mußte stundenlang geschlafen haben. Vor seinem Lager stand eine Holzschüssel mit Brot und Käse, was für ihn aufgehoben worden war. Der Graf ging in dem Raume auf und ab. Er war angespannt. Das Elegant-Lässige, das ihm sonst eigen war, schien ganz geschwunden. »Ich habe nicht ein Kind gesehen«, sagte er auf GGs Frage, »sondern zwölf. Alles Kinder zwischen ein und drei Jahren. Bei dem einen genau dasselbe wie bei dem andern: jedes -96-
sieht fahlgelb aus, die Haut merkwürdig welk. Wenn man mit dem Finger daraufdrückt, bleiben Dellen in der Haut. Also Gewebwasser. Oedeme. Und dann: die Milz ist sehr groß. Ich habe sie am linken Rippenbogen gefühlt, aber normalerweise dürfte sie überhaupt gar nicht zu spüren sein. Auch die Leber ist übergroß.« »Eine Blutkrankheit?« fragte GG. »Vielleicht«, sagte der Graf. »Die armen Bambini liegen da, matt wie die kranken Fliegen, – und, mein Gott, ich kann die Augen der Mütter nicht vergessen. Dabei konnte ich mit keiner reden – keine konnte ich fragen, womit sie die arme Brut hier füttern!« »Graf«, sagte GG, der immer noch auf seinem Lederbett lag, »so habe ich Sie überhaupt noch nie gesehen! Sie sagten, Sie wären im Leben nur noch ein Zuschauer – aber mit einem Male sind Sie ja toll in Fahrt!« »Was faulenzen Sie da herum?« sagte der Graf heftig. »Stehen Sie auf, sagen Sie dem Alten, er soll unsre Kisten herschaffen lassen, ich brauche mein Mikroskop, ich brauche meine Spritzen – hier ist doch etwas zu tun!« GG sprang auf. »Das kann die Rettung sein, Graf!« sagte er erregt und lief zur Tür. Als er sie aufriß, standen die beiden Wächter da, die blanken Dolche in der Faust. »Sagt dem Graubart, ich müsse ihn sprechen!« rief er ihnen zu und schloß die Tür wieder. Der Alte kam. »Dieser Mann«, sagte GG und -97-
wies auf den Grafen, »ist ein – –.« Da fiel ihm ein, daß er das Wort für Arzt nicht wußte; wahrscheinlich hatte die Sprache der Kafiri gar keins, weil sie keine Ärzte kannten. »Er ist ein Deschtau«, so half er sich; das Wort bedeutete »Priester«. »Er hat eure kranken Kinder gesehen, er will ihnen helfen, daß sie wieder lachen und die Augen der Mutter leuchten. Gib mir dreißig Männer« – wollte er sagen, aber die Sprache der Kafiri kannte nur gleiche Zehner. »Gib mir vierzig starke Männer, damit ich mit ihnen holen kann, was er für seinen Zauber braucht.« »Wo ist das, was er braucht?« »Im Lager meiner Freunde. Es sind vierzig Trägerlasten.« »Wo ist das Lager?« »Im Tal drüben, in das du kommst, wenn du den Weg gehst, der an den Löchern im Fels aufhört!« Der Graubart sah von einem zum andern. Dies alles schien über seine Kräfte zu gehen, aber der Gedanke, dieser Mann könnte die Kinder heilen, war doch stärker als seine Verwirrung. »Ich muß mit den Männern reden«, sagte er, »ich muß einen Läufer zum Mir schicken!« Er verließ sie. »Aber das ist ja doch unmöglich«, rief der Graf aus. »Wir können die Kisten nicht über die Löcher balancieren lassen!« -98-
»Vielleicht gibt es noch einen andern Weg ins Tal«, sagte GG. Jetzt war er so aufgeregt wie der Graf. »Wenn Sie die Kinder retten«, sagte er, »dann erreichen wir in diesem Tal alles, was wir wollen.« »Offen gestanden«, sagte der Graf, »die Kinder sind mir wichtiger als die Company in London.« Spät in der Nacht war es so weit. Es gab einen andern Weg ins Tal, wie sich bei den neuen Verhandlungen mit dem Alten herausstellte, und der Mir hatte entschieden, daß die Feringi mit ihren Lasten über diesen anderen Weg ins Tal geholt werden sollten. Aber von ihnen beiden sollte keiner die Träger zum Lager führen, und ihre Freunde sollten auf diesen anderen Weg mit verbundenen Augen gebracht werden, damit ihn keiner jemals wiederfinden könne. »Schreiben Sie das dem Chef genau auf«, sagte der Graf, »und setzen Sie hinzu, daß sie ja drauf eingehen. Es hängen mehr Leben daran als unsere sieben.« GG schrieb das Nötige nieder und gab dem Manne, der die Kafiri führen sollte, den Brief. Er sollte damit winken, wenn er die Männer im Lager sähe. Dann setzte er ihm genau auseinander, wo sich das Lager befand. Da es im Tal unterhalb jener Felslöcher lag, die alle Männer kannten, mußten sie es finden. Die Männer waren aufgebrochen. Vor der bisherigen Gefängnistür saßen keine Wächter -99-
mehr. Der Graubart nur war noch bei ihnen. »Glaubst du wirklich«, fragte der alte Mann, »daß dein Freund unsre Kinder heilen wird?« »Er wird tun, was er kann«, sagte GG. Er wollte fortfahren »und vielleicht wird er sie heilen«, aber von seinem geheimen Wunsch verführt, vergriff er sich im Wort. Er sagte nicht »geschku«, vielleicht, sondern »tawara«, und damit sagte er, ohne es zu merken: »Ganz sicher wird er sie heilen.« Auch Tschandru-Singh war mit in dem Raum. Von dem, was um ihn vorging, hatte er nichts verstanden. Aber trotzdem war er glücklich. Immer wieder zählte er an Fingern und Zehen auf englisch eins bis zwanzig. Eines Tages würde er alles verstehen, was die Sahibs sagten.
Neunauge feuert Im Lager waren nur Neunauge und Plumpudding. Dem Chef, der immer mit einem Überfall durch die Leute des Ungenannten rechnete, war es unwillkommen, diesen Angriff im Tal erwarten zu müssen. Denn hier konnte das Lager nicht nur von zwei Seiten angegriffen werden, sondern auch noch von oben her, was sich verhängnisvoll auswirken mußte, wenn die Angreifer über Gewehre ver-100-
fügten. Aber da sie die Kisten nicht verlassen konnten, ohne ihren kostbaren Inhalt aufs Spiel zu setzen, mußten sie schon unten bleiben. Jedoch machte er am Tage mit Figur zusammen weite Streifen, da er hoffte, die vermutlichen Feinde schon im Anmarsch aufhalten zu können. Sie waren beide gut bewaffnet. Denn ihre Winchester-Gewehre waren auf seine Veranlassung in einer Sonderanfertigung geliefert worden; das Magazin ihrer Mehrladegewehre umfaßte nicht wie bei der üblichen Ausführung nur fünf Patronen, sondern zwölf, und außerdem mußte nach jedem Schuß der walzenförmige Griff unter der Mitte des Laufes nicht vor- und zurückgeschoben werden, sondern das geschah selbsttätig. Da der Chef ein unbedingt sicherer Schütze und Figur kein schlechter war, konnten sie gewiß sein, auch mit einer zahlenmäßig weit überlegenen Gruppe fertig zu werden – nur mußte sie sich auch zeigen. So streiften sie auf den Höhen und suchten, hinter Steinen wohlverborgen, mit ihren Feldstechern sorgsam die Gegend ab. Plötzlich griff Figur nach seinem Gewehr. Er hatte einen sibirischen Steinbock erspäht, ein wahres Prachtexemplar, und dabei hieß es, das Tier käme nur noch in den Bergen des Himalaya vor. Der liegende Steinbock schlief. Wohlig hatte er sich der Sonne hingegeben, den Kopf zurückgebogen und ihn auf seine gewaltigen Hörner gestützt. Er bewegte sich nicht. Doch Figur ließ das Gewehr wieder sinken. »Ich kann ihn nicht im Schlaf erschie-101-
ßen«, sagte er. »Wollen überhaupt nicht schießen«, sagte der Chef, »nur wenn die Kerle kommen.« Rudel von wilden MarkhurZiegen mit ihren langen, wunderlich schraubenförmigen Hörnern sahen sie vorüberziehen, sie sahen auch Pantherspuren – aber sie sahen keine Menschen. Doch um so stärker trieb es den Chef zu diesen Streifen. Denn je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, daß sich ihnen näherte, was da im Anmarsch war. Plumpudding hatte gewaschen, Neunauge kam vom Fischen. Er war zum ersten Male mit der Lage zufrieden. Niemand verlangte von ihm anstrengende Märsche, im Bergwasser gab es Forellen, die bis zu zwei Pfund schwer waren, im Tal Unmengen von rotbeinigen Rebhühnern, so daß er mit dem, was er den Männern an Gebratenem und Gekochtem vorsetzen konnte, sich seiner Meinung nach selbst übertraf. »Ein Dichter«, sagte er zu Plumpudding, der zwei Buschhemden des Chefs zum Trocknen aufhing, »lebt von seinen Träumen, aber ein Künstler der Pfanne ist von dem Material abhängig, das er für seine Pfanne bekommt, worin er übrigens einem Künstler wie Michelangelo nicht unähnlich ist, denn ohne Marmor –« Weiter kam er nicht. Talabwärts sah er Gestalten. »Plumpudding!« schrie er. »Sie kommen!« »Wer?« fragte Plumpudding und drehte sich -102-
langsam um. »Geh in Deckung!« keuchte Neunauge. Er selbst kroch schon am Boden. Sie hatten ihr Lager mit einem Steinwall umgeben, so daß er schon außer Sicht war. Wie ein Wiesel schoß er in ihr Zelt und kam mit seinem Gewehr und dem Plumpuddings gleich wieder herausgekrochen. Tatsächlich – da bewegten sich Menschen. Auch Plumpudding sah sie. Er nahm sein Gewehr, das Neunauge ihm hinhielt, und gebückt lief er an den Steinwall, wo er sich hinkniete, das Gewehr im Anschlag. Neunauge neben ihm war von wilder Entschlossenheit. »Der Chef erwartet sie im Norden, und sie kommen von Süden!« sagte er. »Aber er soll mit uns zufrieden sein!« »Ich sehe niemand mehr«, sagte Plumpudding. »Sie haben gesehen, daß ich auf dem Posten war«, sagte Neunauge. »Sie sind wie wir in Deckung gegangen. Sie werden geschlichen kommen, flach auf der Erde, wie die Schlangen, den Dolch zwischen den Zähnen!« »Scheint mir unpraktisch«, sagte Plumpudding, »auf die Art schneiden sie sich doch selbst die Zunge kaputt.« »Selbstverständlich mit der Schneide nach außen«, sagte Neunauge ärgerlich. »Du vergißt, daß die Dolche hierzulande zweischneidig sind.« -103-
Neunauge antwortete nicht. Er spähte scharf zu dem Buschwerk hin, welches das Ufer des Wildbaches fast undurchdringlich machte. Bis auf zweihundert Meter hatten sie es umgehauen, um freies Schußfeld zu haben. »Würde mich interessieren«, sagte Plumpudding hartnäckig, »wie du einen zweischneidigen Dolch zwischen die Zähne nimmst, ohne deine eigene Zunge zu Haschee zu zerschnippeln.« Neunauge zog ab. Der Schuß krachte. Wildtauben flogen auf. Von den Berghängen hallte es wider. Danach schien es noch stiller als zuvor. Nur das Wasser rauschte. »Es rührt sich nichts«, sagte Plumpudding. »Kunststück«, sagte Neunauge verächtlich. »Sie sind nicht so dumm, daß sie mir direkt ins Schußfeld laufen.« »Worauf hast du denn geschossen?« fragte Plumpudding. »Hast du nicht gesehen, wie sich der Busch links bewegte?« »Aha«, sagte Plumpudding befriedigt. »Du schießt auf Büsche.« »Soll ich warten, bis sie dir an die Kehle springen?« sagte Neunauge erbost. »Jetzt bewegt sich aber nichts mehr«, sagte Plumpudding. »Der Kerl hat genug«, sagte Neunauge. »Kopfschuß. Der rührt sich nicht mehr.« -104-
»Jetzt – Achtung!« Plumpudding machte keine Späße mehr. Er hatte sein Gewehr entsichert. In den Büschen zeigte sich ein Mann. Er war in schwarzes Schaffell gekleidet. »Er winkt«, sagte Plumpudding. »Nicht schießen!« »Der Hund will uns nur irrmachen!« sagte Neunauge. Aber er schoß nicht. Plumpudding hatte Augenblicke, wo eine unsichtbare Macht von ihm ausging wie vom Chef. »Er hat etwas Weißes in der Hand«, sagte Plumpudding. »Ein Stück Papier!« »Eine List«, antwortete Neunauge aufgeregt, »eine infame List – er will unsre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dabei schleichen die Höllenhunde heran –.« Tatsächlich bewegten sich die Büsche am Wasser. Wieder krachte Neunauges Schuß. Der Mann mit dem weißen Zeichen in der Hand verschwand. »Auf dich fallen wir nicht herein, mein Junge«, sagte Neunauge befriedigt, und wie berauscht von der Macht seiner Waffe, gab er Schuß auf Schuß ab, bis sein Magazin leer war. »Feuerschutz für mich!« schrie er Plumpudding zu, indem er sein Magazin auffüllte. »Warum schießt du nicht?« »Weil ich nichts sehe«, antwortete Plumpudding. »Natürlich siehst du nichts mehr«, sagte Neunauge befriedigt. »Ich habe sie aufgerieben. Jedenfalls sind sie so dezimiert, daß sie -105-
nicht zum direkten Angriff übergehen. Sie werden ihre Toten und Verwundeten abschleppen. Du siehst«, setzte er mit finsterem Triumph hinzu, »daß ich nicht an ausgestopften Kaninchen schießen lernte.« Indem hörten sie hinter sich Schritte. Neunauge fuhr herum – aber es waren Chef und Figur, die auf das Krachen der Schüsse hin Hals über Kopf von den Bergen heruntergelaufen waren. »Volle Deckung!« schrie ihnen Neunauge zu. Die beiden Männer waren im Nu auf dem Boden. »Melde, Chef«, sagte Neunauge, und in seiner Stimme schwang die tiefe Dankbarkeit gegen das Schicksal, die ein Mann empfindet, der einen Höhepunkt seines Lebens erreicht hat, »melde, Chef: Angriff abgeschlagen!« »Wer hat angegriffen?« fragte der Chef. »Niemand«, sagte Plumpudding. »Man sah einen Mann, der mit einem Stück Papier winkte.« »Wer hat geschossen?« »Neunauge«, sagte Plumpudding, »sonst niemand.« Der Chef erhob sich, ohne ein Wort zu sagen. Figur grinste Neunauge an, der als einziger noch hinter dem Steinwall kauerte. »Sie hätten doch schießen können!« rief Neunauge empört, der sich durch dieses allgemeine Schweigen angegriffen fühlte. -106-
»Du hast ganz recht«, sagte Plumpudding, »wenn sie was zum Schießen haben, dann hätten sie auch schießen können.« Der Chef hatte sein Gewehr schon im Laufen in die Hand genommen. Jetzt gab er es Plumpudding. Dann stieg er über den Steinwall und ging über den freien Raum auf die Büsche zu. Als er etwa zehn Meter vor ihnen stand, hob er seine beiden Hände und hielt sie hoch in die Luft, damit alle, die in den Büschen versteckt waren, sehen konnten, daß er unbewaffnet war. Eine Hand bog die Zweige auseinander, und ein Mann trat hervor und ging langsam auf ihn zu. Der Chef war überrascht – der Tracht nach kam ein Eingeborener auf ihn zu, aber noch nie hatte er hier in Asien ein so europäisch wirkendes Gesicht gesehen. Doch irgendwo mußte er Menschen mit diesem kühnen Schnitt des Gesichts schon begegnet sein, und plötzlich entsann er sich: bei seinen Kletterfahrten in Tirol. Der Mann sagte etwas, das er nicht verstand, aber der Mann lächelte dazu, und das war zu verstehen. Der Chef lächelte auch, und da hielt ihm der fremde Mann ein Papier hin. Es war der Brief, den ihm GG schickte. Die Männer hinter dem Steinwall hatten die Szene genau beobachtet. »Du wirst Unannehmlichkeiten haben«, sagte Figur zu Neunauge, »das ist ja ein Briefträger! Also hast du Beamte der hiesigen Postverwaltung beschos-107-
sen!« »Mancher wird ihm dankbar sein«, sagte Plumpudding. »Er hat sich des Nachwuchses angenommen und einige freie Stellen geschaffen!« Neunauge war sichtlich betroffen. Aber er schüttelte das ab. »Wenn sich eine Bande in feindlicher Absicht dem Lager nähert«, sagte er entschieden, »dann habe ich das Recht, zu schießen.« »Wieso ist es eine feindliche Absicht«, fragte Plumpudding, »wenn jemand mit einem Brief winkt?« Der Chef hatte den Bericht GGs gelesen und zeigte auf das Lager. Der Mann, von dem der Chef nun wußte, daß es der Führer der Kafiri war, rief etwas zurück in die Büsche, woraufhin es in ihnen lebendig wurde. Es traten nach und nach an die vierzig Männer hervor. »Neunauge«, sagte Plumpudding, »da kommen alle die Männer, die du totgeschossen hast.« Neunauge antwortete nicht. Er war niedergeschmettert. Der Chef kam mit den Kafiri ins Lager. »Ein Brief von GG«, sagte er. »Das sind echte Kafiri, gute Leute, wie er schreibt.« Er unterrichtete die drei, daß sie von den Kafiri in das Tal gebracht würden, wo ihre Vorausabteilung war. »Koch ihnen etwas Gutes, Neunauge«, setzte er hinzu. -108-
»Für vierzig Mann?!« sagte Neunauge, aber nicht aufbegehrend wie sonst, sondern nur klagend, wie ein gebrochener Mann. »Du kannst alles verbrauchen, was wir an Reis und Mehl haben«, sagte der Chef. »Drüben im Tal gibt es zu essen.« »Wenn du ein bißchen besser getroffen hättest«, wollte Plumpudding sagen, »dann brauchtest du nicht für so viele zu kochen« – er unterdrückte aber die Bemerkung, denn er hatte jetzt Mitleid mit Neunauge. »Chef«, sagte Neunauge, »ich gebe zu, ich habe mich da hinreißen lassen. Ich muß schon sagen, ich schieße so gern… Es scheint ja, daß es keine Toten gegeben hat, und ich bin heilfroh darüber, wenn das so ordentliche Menschen sind. Aber es müssen doch noch Verwundete da sein, und für die muß ich erst sorgen, ehe ich ans Kochen gehe.« Das war der Augenblick, in dem Figur wieder zur Geltung kam. Ohne ein Wort zu sprechen, machte er den Kafiri klar, worum es sich handelte: er tat, als ob er ein Gewehr anlege, und schrie dazu bumbum. Dann faßte er sich jäh ans Bein, als sei er getroffen worden, und sein Gesicht verzog sich wie in wilden Schmerzen – und dann zeigte er in die Büsche. Die Kafiri verstanden ihn durchaus. Sie machten auch bumbumbum, zeigten dabei aber hoch in die Luft, als habe der unsichtbare Schütze mit seinen Schüssen die Bergspitzen unter Feuer genommen, und sie lachten dabei wie Kinder. -109-
»Neunauge«, sagte Figur, »fang an zu kochen. Wir brauchen das Rote Kreuz nicht anzurufen.« Der Chef verständigte sich, auch durch Zeichen, mit den Kafiri, daß sie am andern Morgen aufbrechen wollten. GG hatte ihm geschrieben, sie würden wohl, da sie einen Umweg machen müßten, nach dem, was er verstanden, drei Tage unterwegs sein. »Chef«, sagte Neunauge, als es Abend geworden war, »kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« »Gewiß«, sagte der Chef und ging mit ihm aus dem Lager. »Chef«, sagte Neunauge, »ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß ich auf die Expedition nur dem Grafen zuliebe mitgegangen bin. Ich wollte in Paris mein Bistro aufmachen, ich hatte es schon an allen vier Zipfeln, da hat er mich überredet. Und ich kann dem Grafen nichts abschlagen. Ich bringe das nicht fertig. Wir waren zusammen bei Douaumont. Er war mein Kompanieführer, ich war sein Melder. Und am 25. Februar kam der Fritz. Mich hatte es erwischt, ich lag verschüttet in meinem Loch. Er hat die Fritze geholt, und sie haben mich ausgebuddelt. Er hätte türmen können vorher, aber er ist geblieben und hat sich gefangennehmen lassen, nur damit er mich ausbuddeln konnte, es hätte ja sonst keiner von mir gewußt. Und aus dem Gefangenenlager sind er und ich dann zusammen getürmt. Also -110-
da kann ich nicht nein sagen. Aber, Chef, einmal und nie wieder. Sagen Sie dem Grafen, er soll mich loslassen. Er soll mich nie wieder zu so was bitten. Ich bringe das nicht übers Herz. Diese Expedition wird ja einmal zu Ende sein. Und dann will ich nach Paris. Ich will keine zweite mitmachen. Sagen Sie das dem Grafen, Chef!« »Gut«, sagte der Chef. Als GG vier Tage später morgens aus dem Hause trat, das aus ihrem Gefängnis zu ihrem Quartier geworden war, sah er die lange Kolonne der Kistenträger den gewundenen Weg zwischen den Häusern heraufkommen, und als letzte gingen die vier. Er winkte ihnen zu. »Da sind wir«, sagte Figur, »aber ich kann nicht sagen, wie wir hergekommen sind. Ich habe aufgepaßt wie ein Luchs – aber die Kerle haben das großartig gemacht.« »Drei Stunden habe ich mit einem Tuch um den Kopf gehen müssen, daß ich nichts sehen konnte«, beklagte sich Neunauge. »Ich bin schließlich über das Alter hinaus, wo man Blindekuh spielt. Und wir sind wieder gelaufen und gelaufen und gelaufen…« »Neunauge«, sagte der Graf zu dem mitgenommenen Mann, »es gibt hier Fasane. Ich kann kein Ziegenfleisch mehr sehen. Mach mir eine Chartreuse von Fasan!« »Der Herr Graf weiß, was er an mir hat«, sagte Neunauge ebenso stolz wie beglückt. -111-
Alle seine Niedergeschlagenheit, alle seine Müdigkeit war verflogen. »Wo richte ich hier meine Küche ein?« rief er und machte sich auf die Suche. GG kam mit dem Chef. »Hallo«, sagte der Graf, winkte ihm zu und wandte sich dann gleich an GG. »Sie müssen mir assistieren, Mann. Wir packen Kiste 15 aus. Da habe ich das Mikroskop und zum Glück auch Farbesubstanzen, und dann sofort an die BlutUntersuchungen!« »Sehe, daß Sie mich nicht brauchen«, sagte der Chef, zündete sich seine Pfeife an, setzte sich und hörte stumm zu, wie beide über Blutbildungsherde diskutierten und dann auf anomale Formen der Erythrozyten kamen. Es fielen Namen, die er noch nie gehört hatte, es wurden Begriffe verwandt, unter denen er sich nichts vorstellen konnte. Er kam sich wie ausgeschlossen vor. Figur trat ein. »Hallo, Chef«, sagte er, »suche Sie. Habe ein sehr schönes Quartier für Sie. Ich denke, die beiden Doktoren lassen wir hier mit dem Jungen. Neunauge sagt, wir sollten Fasanen schießen gehen.« »Dazu bin ich schließlich noch zu gebrauchen«, sagte der Chef. Figur hatte sein Jagdgewehr, Kaliber 16, schon umhängen. Der Chef sah es, und der Blick galt nicht nur der Schrotflinte. Figur verstand. »Die Ihre habe ich leider nicht gleich mitgebracht«, sagte er. »Ich konnte ja nicht wissen, daß Sie abkömm-112-
lich waren.« Sie traten aus dem Haus. Plumpudding kam die Straße herauf, den Drilling des Chefs in der einen Hand und den Beutel mit Vogeldunst in der andern. Er sang sein Leib- und Magenlied: »Ich fuhr mal auf ‘nem Segler, sagte Karlssen«, – aber er kam nicht weiter. Denn als er das Gesicht des Chefs sah, war ihm die Lust zum Singen vergangen.
Nur ein Tröpfchen Blut »Sie sind da«, sagte GG. Der Graf warf noch einen Blick in ihren Wohnraum, der sein Laboratorium geworden war. Das Mikroskop war so gerückt, daß das Tageslicht voll darauf fiel, der kleine runde Spiegel eingestellt. Die Glasplättchen waren da, die beiden Farbstoffe, mit denen die Blutstropfen für die Untersuchung behandelt werden mußten, standen bereit – alles war fertig. Er konnte beginnen. Er trat mit GG und Tschandru-Singh vor das Haus. Hier warteten die Frauen mit den Kindern. Der Graf überflog ihre Kopfzahl – ja, es waren die zwanzig Frauen aus ihrem Dorf, die kranke Kinder hatten. Die kleinsten trugen sie auf dem Arm, die größeren, die aber nicht älter als drei Jahre waren, hatten sie an der Hand. GG sah den müden Blick der Kleinen; alle Le-113-
benslust schien in ihnen erloschen. Die Augen der Mütter aber blickten voll Erwartung auf die beiden Männer. »Jetzt«, dachte TschandruSingh, der vor der Tür gestanden hatte, »wird der Sahib Zauberer einen gewaltigen Zauberspruch sprechen, und alle Kinder werden gesund sein.« »Machen Sie bitte den Frauen klar«, sagte der Graf, »daß ich von jedem der Kinder ein bißchen Blut brauche. Ich werde es mir immer aus der Ferse nehmen.« GG tat es, aber die Wirkung war erschrekkend. Sowie das Wort »Blut« über seine Lippen gekommen war, ging eine Bewegung des Entsetzens über die Frauen. Sie drückten ihre Kinder an sich, ihre Augen weiteten sich vor Schrecken. All ihre vertrauende Erwartung war verflogen. Einen Augenblick standen sie da wie Steinbilder der Angst. Dann aber kam wieder Leben über sie – die am weitesten weg standen, drehten sich um und rannten mit ihren Kindern davon. »Ihr Mütter der kranken Kinder«, rief GG ihnen zu, »fürchtet doch nicht, daß euren Kleinen etwas Böses geschieht!« »Blut, Blut!« stammelte eine Frau, und eine andere schrie auf: »Der Deschtau will das Blut unserer Kinder!« »Was haben wir falsch gemacht?« fragte der Graf hastig. »Daß Sie Blut brauchen, erschreckt sie«, sagte GG rasch, »und ich kann ihnen doch nicht erklären, daß sie darin nur -114-
die roten und weißen Blutkörperchen zählen wollen! Kann ich ihnen sagen, daß ich in meinem Blut 29 Billionen rote besitze und sie nebeneinandergelegt so viel Raum bedecken wie ein Marktplatz?« »Hier«, sagte der Graf und gab ihm eine Stecknadel, »zeigen Sie ihnen den Stecknadelknopf und sagen Sie ihnen, ich brauchte von jedem Kinde nur ein einziges Bluttröpfchen so klein wie der Stecknadelknopf!« Aber das Entsetzen war nicht zu besiegen. »Mit der Nadel sticht der Deschtau unsern Kindern ins Herz«, stöhnte eine Frau, und wieder rannten einige mit den Kindern davon. Am liebsten wären alle davon gelaufen, doch die unmittelbar vor den gefährlichen Männern standen, wagten es nicht, aus Angst, dann würde irgend etwas ganz Fürchterliches geschehen. »Großer Geist«, sagte der Graf, »die Sache hängt nur noch an einem ganz dünnen Faden. Wenn ich das Blut nicht untersuchen kann, dann ist den Kindern nicht zu helfen. Retten Sie die Situation, oder alles ist hin!« Das sah GG wohl. Er besaß die erstaunliche Gabe, sich eine fremde Sprache in kürzester Zeit anzueignen, er konnte nicht einmal angeben, wie viele Sprachen er beherrschte – aber jetzt empfand er so brennend, daß es noch nicht alles ist, wenn man die Wörter, ihr Gefüge und den Satzbau einer Sprache beherrscht – man muß in ihr auch die Sprache des Her-115-
zens reden können, wenn man Menschen gewinnen will. Er trat auf eine junge Frau zu, die ein zweijähriges Kind im Arm hielt, und er redete sie an, als ob sie beide ganz allein unterm Himmel stünden. »O Mutter«, sagte er, »ich komme aus einem Lande, das liegt weit, weit von dem Tal, in dem du lebst. Ich habe dich nie gesehen, und du hast mich nie gesehen. Aber ich weiß deine geheimsten Gedanken, weil auch ich eine Mutter habe, und auf der ganzen Erde denken alle Mütter das gleiche. Mit Schmerzen hast du dein Kind geboren, und mit welcher Freude nahmst du es, als sie es dir zum erstenmal in den Arm legten! Weißt du noch, wie du lächeltest, als du ihm in die Augen sahst? Und weißt du noch, wie du erschrakst, als du sahst, daß es nicht gesund war, wie die Kinder früher gewesen waren? Gäbst du nicht dein Leben her, wenn du damit erkaufen könntest, daß dein Kind wieder gesund würde? Und wir verlangen dein Leben gar nicht – ich bitte dich nur, daß du diesem Mann vertraust. Nur wenn du ihm vertraust, kann er dein Kind retten – und als Beweis deines Vertrauens gib ihm das Tröpfchen Blut aus der Ferse deines Kindes. Es ist ein Opfer für dich, ich weiß es. Aber du weißt auch: nur das Opfer hilft weiter. Warum geht der Mir mit dem Löwentöter auf den Berg, von dem nur der Löwentöter zurückkommt?« »Ist es wahr«, fragte die Frau, »daß du zu -116-
dem Alten gesagt hast, der Deschtau kann unsre Kinder ganz sicher heilen?« »Nein«, wollte GG antworten, »ich habe gesagt, vielleicht kann er sie heilen« – aber da wurde ihm siedendheiß. Mit Schrecken wurde ihm bewußt, daß er damals nicht »geschku« gesagt hatte, sondern »tawara« – – und mit noch größerem Schrecken durchfuhr es ihn, daß er dieses falsch gewählte Wort nicht zurücknehmen konnte. Er fühlte, er hatte die junge Mutter schon fast ganz gewonnen. Sagte er aber jetzt »vielleicht« – so stieß er sie wieder zurück in Zweifel und Angst. Es half ihm nichts. Hier konnte er nur mit einer Antwort helfen, die eine Lüge war. »Ja«, sagte er, »das habe ich gesagt.« »Ich gehe mit dir«, sagte die Frau. »Großer Geist hat gesprochen«, sagte der Graf, als sie mit ihrem Kinde die Stufen heraufkam. »Hören Sie auf«, sagte GG. »Sie können nicht wissen, wie mir zumut ist.« Sie gingen mit der Frau in das Haus. Dann war es im Nu geschehen. Mit einer kleinen Lanzette ritzte der Graf die rechte Ferse des Kindes. Es wimmerte ein bißchen, als habe eine Mücke zugestochen. Die Frau ging. Der Graf hatte den Blutstropfen mit der kleinen länglichen Glasplatte aufgefangen, auseinander gestrichen und ließ ihn trocknen; dann ließ er die beiden Farbstoffe, die er vorbereitet hatte, nacheinander auf den getrockneten -117-
Blutstreifen einwirken und schob das Plättchen unter das Mikroskop. »Bitte notieren Sie«, sagte er, und GG schrieb auf, was der Graf nun bei einer 850fachen Vergrößerung sah. »Wenig Blutzellen im Gesichtsfeld«, sagte der Graf. Er zählte laut. »Es müßten viel mehr sein. Dabei sind unverhältnismäßig viele weiße. Alle roten sind zu stark gefärbt. Das ist nicht normal. Die roten sind auch nicht ausgereift. Das Blut ist krank.« Der Graf war vom Mikroskop aufgestanden und ging in dem Raum auf und ab. »Eine Mangelkrankheit, – so sieht es aus«, sagte er. »Aber rufen Sie die nächste! Ich muß von allen ein Blutbild haben.« GG ging hinaus und sah zu seiner Überraschung, daß alle Frauen wieder da waren. Sie lachten ihn etwas verlegen an, und keine weigerte sich mehr, ihren Sprößling der Lanzette auszusetzen. Der Graf hatte damit lange zu tun, aber er war zufrieden. »Immer genau dasselbe Bild«, sagte er zu GG. »Es sieht aus wie eine gefährliche Leere im Blut.« »Und woher kommt sie?« Der Graf antwortete nicht, was bei der ihm angeborenen Höflichkeit noch niemals vorgekommen war. Aber GG respektierte seine Versunkenheit. Mitten in der Nacht fuhr er auf. Der Graf hatte ihn wachgerüttelt, was auch -118-
ungewöhnlich war, denn er vertrat immer die Meinung, einen essenden oder schlafenden Menschen dürfe man nicht stören. »GG«, sagte er, »haben Sie in diesem Tal schon einmal eine Kuh gesehen?« GG brauchte etwas Zeit, um ganz zu sich zu kommen. »Nein«, sagte er dann. »Es gibt hier offenbar weder Rindvieh noch Pferde.« »Und was kriegen die Bambini für Milch?« »Ziegenmilch.« »Großer Geist«, sagte der Graf, »dann haben wir’s. Die Ziegenmilch macht das Blut der Kinder kaputt. Es gibt eine Ziegenmilchkrankheit, wenn der Milch bestimmte Vitamine fehlen. Manchmal liefern die Ziegen sie eben nicht.« »Was ist jetzt zu tun?« »Ich kann den Kindern Blut in die Hinterbäckchen spritzen. Sie müssen mit Leber von Wild und Geflügel gefüttert werden, sie müssen Eisenpräparate bekommen – aber vor allem muß Kuhmilch her.« »Sind Sie ganz sicher«, fragte GG, »daß die Kinder damit gerettet sind?« »Soweit ein Arzt überhaupt sicher sein kann, bin ich’s«, sagte der Graf. »Dann haben Sie auch uns vor dem Tode gerettet«, sagte GG. »Ich weiß nicht, ob das verdienstlich ist«, erwiderte der Graf und hatte einen abweisenden Zug im Gesicht, den GG noch nie an ihm -119-
gesehen hatte. Aber er grübelte darüber nicht nach. Daß er trotz seinem verzweifelten Vorgriff in die Zukunft die vertrauende Frau nicht betrogen hatte, das beglückte ihn im Augenblick mehr als ihre eigene Rettung. Am Morgen gingen GG und der Graf sofort zum Chef, und Tschandru-Singh war allein. Er hatte bei den Blutuntersuchungen geholfen, soweit das möglich war, denn er verstand ja gar nichts davon. Er hatte die Glasplättchen hingereicht, er hatte sie weggenommen, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden – aber was da eigentlich vorging, blieb ihm natürlich ganz verborgen. Um so heftiger lockte es ihn, hinter dies Geheimnis zu kommen. Was der Sahib Zauberer da tat, hatte er genau gesehen – was lag näher, daß er es ihm nun nachmachte? Er nahm die Lanzette und stach sich damit in den Finger. Den Blutstropfen, der herausquoll, strich er auf eine Glasplatte und legte ein Deckplättchen darüber. Von den Flüssigkeiten, mit denen der Sahib die Plättchen bestrichen hatte, war nichts mehr da – so legte er es, wie es war, unter das Ding, das wie eins der Zaubergläser war, mit denen die Sahibs sich das, was fern war, dicht vor die Augen holten. Den Atem anhaltend, sah er in das Mikroskop und fuhr sogleich entsetzt zurück. Er zog das Blättchen wieder hervor. Mit bloßem Auge sah er das Blut, das er zu einer hauchdünnen Schicht ausgestrichen hatte, in der das Rot zu -120-
einem rötlichen Gelb abgeblaßt war – aber was hatte er gesehen, als er durch das Glas sah? Er überwand seine Furcht, schob das Glasplättchen noch einmal ein und sah wieder darauf. War das sein Blut, das er da sah? Oder war das, was er da sah, in seinem Blut?! Da das Glasplättchen nicht gefärbt worden war, sah er nicht verschiedenartige rote und weiße Blutkörperchen, sondern er sah die Zellen seines Blutes als fahle, gelbliche Scheiben. Er wußte nicht, was Zellen waren – was er da sah, dies Gewirr von zusammenhängenden, seltsam geformten, in vielfachen Windungen erstarrten Gebilden, mutete ihn wie eine der vielen steinernen Skulpturen an, die er an Tempelwänden gesehen hatte, wo Wesen mit vielen Armen und Händen in Lotosranken verstrickt waren. Nein, es war vielmehr ein feingehämmerter Goldschmuck für den Hals einer Maharani, was er da sah – aber er wußte nicht mehr, was er sah. Er zog das Glasplättchen wieder heraus – der Zauber war fort, nur der gelbliche Bluthauch war da. Nichts war ihm geschehen, aber ihm war Angst. Voller Bangigkeit sah er sich in dem Raum um – doch in ihm hatte sich nichts verändert. Da standen die Lederbetten, die kleinen Stühle. In diesem Raum war er gewesen und zugleich ganz irgendwo anders, wo er Dinge gesehen, mit seinen Augen gesehen hatte, die nicht da waren und die es doch gab. »O Sahib«, sagte er, als GG zurückkam, »es -121-
ist herrlich bei euch, aber zuweilen ist es, als bekäme ich keine Luft.« GG sah, daß der Knabe verstört war. »Was nimmt dir die Luft, Tschandru-Singh?« fragte er freundlich. »O Sahib, da ist so viel… Warum nimmt der Sahib von den Kindern Blut, und trotzdem bleiben sie krank? Warum zaubert er sie nicht gleich gesund?« GG spürte, daß er jetzt nicht mehr ausweichen konnte. »Tschandru-Singh«, sagte er, »der Sahib kann nicht zaubern.« »O Sahib, ich habe wie du gesehen, daß er Rupien aus der Luft nahm, aus den Ohren und Nasen der Schinwari, und als sie danach griffen, waren die Rupien verschwunden.« »Hast du auch einmal gesehen, wie ein Fakir ein Kind in einen Bastkorb verschließt, den Bastkorb mit einem Messer zersticht, daß Blut herausläuft – und auf einmal klettert das Kind heil und gesund von einer Palme, der Bastkorb aber ist leer?« »Ja, Sahib, solch einen Zauberer habe ich gesehen.« »Es ist kein Zauber, Tschandru-Singh. Es ist ein Trick, mit dem alle, die das zu sehen glauben, getäuscht werden. Auch der Sahib kann diese Tricks. Die Silberrupien kamen aus dem langen Ärmel seines Hemds, und dahinein ließ er sie wieder gleiten, ohne daß es einer merkte.« -122-
Der Knabe starrte ihn an. »Wir wissen und können sehr viel«, sagte GG, »aber wir sind Menschen wie du, und was wir wissen und können, das kannst du genau so lernen wie wir.« Tschandru-Singh atmete tief. Würde er eines Tages auch wissen, was er vorhin gesehen hatte? Figur trat ein. »Ich denke«, sagte er, »der Boy könnte den Tretsatz meiner Funkerei bedienen.« »Ja«, sagte GG, »nimm ihn mit.«
Mit 300.000 km in der Sekunde »Auf geht’s!« sagte Figur, und die kleine Karawane setzte sich in Bewegung. Figur ging voran, dann kam ein Kafirimann mit der Kiste 8, die Sender, Empfänger und Netzteil enthielt, was mit zwanzig Kilo das Gewicht der üblichen Traglast nicht überschritt. In der Kiste 9, die auch ein Kafirimann trug, war der zusammengelegte Tretsatz, mit dem der Strom gewonnen wurde, der für den Betrieb der Funkanlage nötig war, und TschandruSingh, der als dritter ging, trug wieder das dazugehörige Gestell. Als Schlußmann ging Plumpudding. So stiegen sie langsam aus dem Tal auf die Höhe, von der aus Figur senden -123-
wollte. Im Tal mochte er seine Station nicht aufbauen, denn das Gestein war, wie GG vermutete, sehr erzhaltig. Tschandru-Singh war wieder voll Erwartung. Was er tun sollte, hatte Figur ihm mit wilden Bewegungen angedeutet. Er hatte das keineswegs verstanden, denn wie sollte er sich einen Vorgang vorstellen können, von dem er in seinem Leben noch nie etwas gesehen hatte? Wohl aber hatte er begriffen, daß in dem, was die Sahibs jetzt vorhatten, ihm eine wichtige Rolle zufiel, und er brannte darauf, sie aufs beste auszufüllen. Es versetzte ihn auch in Spannung, daß er nun sehen würde, wozu das rätselhafte Gestänge diente, das er von Tschitral bis in das Lager unter den Löchern im Felsen immer getragen hatte. Figur ging nicht aufs Geratewohl; er hatte sich schon nach einem geeigneten Ort umgesehen. Die Stelle lag auf einer Bergkuppe, am Rande eines dickten Fichtenwaldes. Die umgestülpten Kisten gaben den Unterbau, auf dem er seine Apparate unterbrachte. Der Platz war windgeschützt, da er von mannshohen Wacholderbüschen wie von einer spanischen Wand umstanden war. Aber sie war nicht groß genug, daß er hier auch den Tretsatz hätte aufschlagen können. So ging er damit einige Meter weiter weg. Die Wacholder nahmen zwar die Sicht zwischen den beiden Plätzen fort, aber das machte nichts, denn bei der kurzen Entfernung konnte man sich durch Zu-124-
ruf gut verständigen. Jetzt sah TschandruSingh, daß sein Gestänge zusammen mit dem Inhalt der Kiste 9 eine Art Fahrrad ergab, wie er sie in der Stadt schon häufig gesehen hatte. Aber dieses Fahrrad bewegte sich nicht vom Fleck. Er kletterte auf den Sitz. Seine Füße suchten die Pedale, seine Hände faßten den Halt, er fing an zu treten, schneller, immer schneller. Tschandru-Singh strahlte. Es machte ihm nichts aus, daß er nicht von der Stelle kam. Ihm war, als führe er wie ein großer Sahib durch die Herrlichkeit der Welt. »Stop!« rief Figur, denn noch hatte er ja keinen Strom nötig, und er brauchte den fixen Jungen beim Aufrichten der Antenne. Wie ein hohes, dünnes T stand sie dann da, in die geographische Richtung auf London gestellt. Sie waren am Nachmittag auf die Höhe gezogen, um die Station im Hellen aufbauen zu können. Doch nun hatten sie lange Zeit. Die Leitstelle der Gesellschaft in London war immer von 22 bis 24 Uhr besetzt, aber wegen der Verschiedenheit der Uhrzeit konnte Figur nicht vor halb drei Uhr morgens beginnen. Plumpudding hatte Windlichter mitgenommen, damit sie dann im Dunkeln hantieren konnten. Es war eine feste Bestimmung, daß die Nachrichten der Expedition nach London nur verschlüsselt gegeben werden durften. Der Text, den der Graf nach London schicken wollte, lautete: »Gebt an Chefarzt Burry Mayo Krankenhaus Lahore folgende Nachricht stop Auf -125-
Expedition rasche Hilfe nötig stop Bitte senden Sie eine halbe Traglast Milchpulver mit zugesetztem Vitamin D sowie Baby-Frühnahrung schnellstens an Agent Mr. Belcher Tschitral stop Paket wird dort abgeholt stop Herzlichen Dank stop Rechnung an U. T. Company London. Montfort.« Diese Worte hatte Figur in ein scheinbares Gewirr von Zahlen übersetzt, die in Fünfergruppen eingeteilt waren, so daß für einen Uneingeweihten nicht einmal ersichtlich war, wo ein neues Wort begann. Die beiden Kafiri wollten wieder ins Tal zurück, und Plumpudding ging mit ihnen. Hier oben war ja alles in Ordnung. »Schick uns Neunauge herauf«, sagte Figur. »Wir könnten natürlich zum Frühstück bequem unten sein – aber er soll in aller Frühe uns etwas heraufbringen, Bewegung tut dem Manne gut.« »Wird besorgt«, sagte Plumpudding, und dann waren Figur und Tschandru-Singh allein. Der Knabe hatte Moospolster zusammengetragen, und so lagen sie weich. Die Nacht war schon gekommen. »Tschandru-Singh«, sagte Figur, »du sprechen Sprache der Sahibs?« »Yes, sir!« antwortete Tschandru-Singh stolz. Er zählte von eins bis zwanzig, und dann suchte er alle die einzelnen Wörter zusammen, die er aufgeschnappt hatte: blood, eat, thank you, foul, microscope, glass, baby, milk. »Very good«, sagte Figur. Er konnte ein wenig Hindustani, und so setzte er ihm ausein-126-
ander: »Ich dir neue Worte sagen.« »Oh, Sahib sein very good!« sagte Tschandru-Singh entzückt. »Gute Worte, schöne Worte – du sie sprechen, alle Sahibs sagen: oh, Tschandru-Singh first class boy!« »Alle Sahibs gut zu Tschandru-Singh«, sagte der Knabe. »Wenn Sahibs gut«, sagte Figur, »du nicht sagen, ›Sahib good‹, du zu ihm sagen: ›damned rascal‹!« Tschandru-Singh hatte Mühe, die schwierigen Wörter auszusprechen, aber er gab sich große Mühe. Er wiederholte sie wieder und wieder, bis sie ganz gut klangen – er konnte ja nicht ahnen, daß das, was er sich da glühend einprägte »Verdammter Schuft« hieß… Aber Figur war mit seinem Erfolge noch nicht zufrieden. »Wenn Sahib gut, du also sagen, ›damned rascal‹. Wenn Sahib sehr gut, du sagen: ›bloody fool‹!« Auch dieses heftige Schimpfwort »blutiger Idiot« nahm Tschandru-Singh mit Begeisterung auf, jedoch war Figur noch nicht zufrieden. »Wenn Sahib sehr, sehr gut«, sagte er, »dann du sagen: ›son of a bitch‹!« »Son of a bitch, son of a bitch«, wiederholte Tschandru-Singh. Wie sollte er wissen, daß das »Sohn einer Hündin« hieß und die allerärgste Beleidigung war, die er jemand an den -127-
Kopf werfen konnte? Figur streckte sich befriedigt aus. Er freute sich unsäglich auf den Augenblick, wo Tschandru-Singh den Chef oder GG mit seinen frisch gelernten, eleganten Wendungen begrüßen würde. Aber während der Knabe noch die neuen Worte glücklich vor sich hinsagte, war Figur schon eingeschlafen. Doch sein Taschenwecker machte ihn zur rechten Zeit munter. Er weckte den Knaben, der fest schlief, er zündete die Windlichter an, er brachte Tschandru-Singh an den Tretsatz, der Knabe begann zu treten, und Figur hockte vor seinem Apparat und suchte auf den unsichtbaren, geheimnisvollen Kurzwellenwegen des 25m-Bandes die Funkstelle der Gesellschaft in London. Er suchte sie auf 12.300 Kilohertz. Er gab das vereinbarte Rufzeichen P9D, P9D, er horchte auf den Empfänger, aber er vernahm nichts. Er setzte die Kopfhörer ab, er ging mit seinem Windlicht noch einmal zur Antenne und gab ihr eine etwas andere Richtung. Wieder hockte er vor den Apparaten, wieder gab er sein Rufzeichen, und da – London! Aber schwach, ganz schwach, und schon war es wieder weg. »Ich höre nichts, ich höre nichts«, gab er durch, »qsa null, qsa null«, und immer wieder sein Rufzeichen P9D. Da: London, ganz klar! Der Funker im Haus der Gesellschaft hatte verstärkt, qrv gab er durch, qrv »Ich bin bereit«, und Figur sendete seine -128-
Ziffern. Die Kurzwelle, die seine Botschaft trug, lief über den Erdboden hin und verebbte, nachdem sie dreißig Kilometer wie ein unsichtbarer Blitz dahingezuckt war. Gleichzeitig aber strahlte die Welle in den Äther empor, über die höchsten Berge und die von Menschen jemals erreichten größten Höhen hinweg, und höher, höher in die Stratosphäre, über die Wolken weg in den Wärmemantel der Erde, in dem Meteoriten aufleuchten, in dem sich der Wärmegrad fast niemals ändert – und noch höher, in die kalte Sphäre, durch welche die Sternschnuppen rasen, deren Licht wir sehen, hinein in die Sphäre, wo der Himmel ewig schwarz ist, die Sonne eine glanzlose Scheibe, neben der die Sterne stehen, bleich und starr, ohne Funkeln, und hier, in etwa achtzig Kilometer Höhe, stieß die Welle an die Schicht, deren winzige Teilchen elektrisch geladen sind. Sie ließ die Welle nicht weiter zu den anderen Gestirnen, sondern warf sie auf die Erde zurück, und so strahlte die Welle, die Figur auf einem Berge Afghanistans entsandte, für die Tschandru-Singh auf seinem feststehenden Fahrrad den Strom erzeugte, immer wieder von der Erde bis zu der zurückwerfenden Schicht und wieder zurück rund um den Erdball, schneller als dies geschrieben oder gelesen werden kann, mit 300.000 Kilometer in der Sekunde…Überall auf der Erde aber saßen Funker an ihren Apparaten und nahmen die -129-
Botschaft in Ziffern an, – der Bordfunker auf dem Motorschiff »Annemarie«, das auf dem Wege nach Europa Kap Race passierte; der Bordfunker der »Cleopatra« auf der Höhe von Las Palmas; der Bordfunker des Hapagschiffes »Magdeburg«, das Maracaibo verließ. Sie hörten die Ziffern und beachteten sie nicht, weil sie wußten, das war keine Nachricht für sie. Es hörte sie in Kerth in Australien der Wollgroßhändler Mr. Harry F. Robertson, der nicht mehr gehen konnte, seitdem ihn im australischen Busch Wildhunde angefallen hatten, wobei er sich ihrer nicht hatte erwehren können, weil er sich sechs Tage durch eine Wüste ohne Wasser hatte schleppen müssen und am Ende seiner Kräfte gewesen war. Er saß Nacht für Nacht ohne Schlaf an seinem kostbaren Apparat und horchte auf die Rufe der Welt, und saß auch jetzt noch daran, wenn es auch schon heller Morgen war, denn seine Uhr zeigte halb sieben. Es hörte die Ziffern Jens Peer Marts in Rjukan im nördlichen Telemarken, dessen Vater hier Ingenieur an der Fabrik war, die künstlichen Salpeter erzeugte, aber der Dreizehnjährige hörte sie heimlich, denn seine Eltern durften nicht wissen, daß er aus dem Bett wieder an seinen geliebten Apparat geschlichen war. Er verstand die Ziffern nicht, aber er notierte sie alle haargenau, denn er wollte Bordfunker eines Flugzeuges werden. Die Ziffern notierten auch die Funker aller Nationen, die im Dienst der Spionage die drahtlosen Meldungen Tag und Nacht abhören. -130-
Auch sie verstanden nicht, was die Ziffern bedeuteten, die sie aufschrieben, aber der Streifen mit den rätselhaften Zeichen wurde in gewaltigen Archiven aufgehoben – vielleicht kam der Tag, wo sie gebraucht und entziffert würden. Es hörte sie aber auch der Funker der U. T. Company in London, und der hatte den Schlüssel, daß er die Botschaft verstand. Er gab die Meldung den amtlichen Stellen weiter, mit denen die Gesellschaft arbeitete, und es war keine Stunde vergangen, da war von Lahore aus über London wieder an den Empfänger, den Figur bediente, die Nachricht zurückgekommen: »Gewünschtes geht heute mit Flugzeug ab stop guten Erfolg Burry.« Den Zettel mit dem entschlüsselten Bescheid gab er dem Knaben. »Sahib Graf«, sagte er, und Tschandru-Singh machte sich damit gleich auf den Weg, sobald es hell geworden war. Als er den Talgrund erreicht hatte, begegnete er Neunauge, der mit einem Korbe zu der Funkstation wollte. Der Knabe lächelte ihn an und ging weiter, während Neunauge langsam und ächzend den Berg hinanstieg. Er traf Figur, wie er an seinem Apparat bastelte. »Was bringst du denn, Neunauge?« fragte er interessiert. »Kalten Fasan«, sagte Neunauge, »frisches Brot und einen Rotwein, den ich in meinem Bistro als allerbesten Beaujolais ausschenken würde.« »Geht in Ordnung«, sagte Figur und machte -131-
sich an das willkommene Frühstück. »Mit London hat es geklappt?« fragte Neunauge. Es wäre für ihn besser gewesen, er hätte geschwiegen, denn indem Figur diese Frage hörte, erinnerte er sich, daß Neunauge nichts von der Funkerei verstand und er ihm damit einen bösen Streich spielen konnte. »Schauderhaft«, sagte er, »die ganze Nacht versucht – keine Verbindung bekommen!« »Ja schlafen die denn in London?« fragte Neunauge entrüstet. »Es liegt nicht an London«, sagte Figur. »Es liegt ganz einfach an uns.« »Wieso an uns?« »Strom ist zu schwach. Der Junge hat es nicht geschafft. Der hat eben noch keine Ausdauer – er tritt ein paar Minuten, und dann kann er nicht mehr.« »Wie kann man aber auch den Jungen dafür nehmen!« ereiferte sich Neunauge. »Plumpudding ist doch mit heraufgekommen – der hätte eben treten müssen.« »Tja, das wäre besser gewesen«, sagte Figur. »Ich weiß nicht«, sagte Neunauge, »warum der Chef auf Plumpudding so versessen ist. Ich finde, der drückt sich, wo er nur kann.« »Und ich weiß nicht«, sagte Figur in einem bekümmerten Ton, daß es jedem ins Herz schneiden mußte, »wie ich das hinbekommen -132-
soll. Ich kann doch nicht senden, empfangen und auch noch selber treten!« »Nein, das geht nicht.« Neunauge stimmt ihm überzeugt zu. »Aber ich will dir was sagen: ich werde die Sache machen!« »Meinst du denn, daß du das schaffst?« »Wofür hältst du mich?« sagte Neunauge heftig. »Meinst du, ich mache auf dem Ding da schlapp?« »Immerhin«, sagte Figur, »wenn du nicht zwei Stunden ununterbrochen trittst, hat es keinen Zweck!« »Zwei Stunden!« rief Neunauge verächtlich. »Mehr nicht? Das sagst du mir, wo ich die Tour de France mitgefahren habe? Nach der achten Etappe mit dem gelben Trikot! Von Nancy bis Mühlhausen 252 Kilometer in 8 Stunden 17 Minuten 21 Sekunden! Alle andern glatt herausgefahren!« »Menschenskind«, sagte Figur, »ich lebe auf. Ich hätte mich da unten ohne Antwort aus London gar nicht wieder sehen lassen können. Der Chef hätte gedacht, ich verstünde überhaupt nichts vorn Funken. Neunauge, wenn du mir das machst, vergesse ich das nie!« »Kleinigkeit«, sagte Neunauge. »Wieviel Malheur kommt nicht immer dadurch in die Welt, daß man sich nicht gleich an die richtige Adresse wendet.« Er erhob sich. Er war glücklich. Für eine Lage, bei der er sich als Retter in die Bresche -133-
werfen konnte, gab er ein Jahr seines Lebens. »Wo steht der lahme Esel?« fragte er. Auch Figur hatte sich erhoben. Er ging mit ihm die paar Meter bis zu der Stelle, wo der Tretsatz hinter der Wacholderwand stand. »Neunauge«, sagte er, »wenn wir durch dich London erreichen, gebe ich deinen Namen bis zum Generaldirektor weiter!« »Gar nicht nötig, gar nicht nötig«, sagte Neunauge fast wegwerfend, aber trotzdem war daraus zu hören, wie sehr ihn das kitzelte. Er setzte sich auf das Gestell, er fing an zu treten. »Aber du weißt ja«, sagte Figur warnend, »der Witz ist, daß du keine Pause machst. Wenn du aufhörst, wird der Strom unterbrochen – immer gleichmäßig durch, darauf kommt alles an! Das hat der Junge eben nicht geschafft!« »Auf mich kann man sich verlassen«, sagte Neunauge und begann zu treten. »Allheil!« sagte Figur und verschwand. Es bestand keine Verbindung mehr zwischen dem Tretsatz und den Apparaten. Da Figur nicht mehr sendete, brauchte er gar keinen Strom. Es war völlig überflüssig, daß Neunauge da trat und trat… Figur legte sich noch einige Meter von seinem Apparat weg am Waldrand ins Gras. Er hatte den Rotwein mitgenommen, er lag da sehr behaglich, sah in die wilde Bergland-134-
schaft hinein und trank langsam den Krug mit Rotwein aus. »Ist es so schnell genug?« rief Neunauge herüber. »Ganz schön so!« rief Figur zurück. »Aber wenn es geht, noch ein bißchen schneller!« »Wird gemacht!« rief Neunauge und trat noch heftiger auf die Pedale. Eine Viertelstunde nach der andern verging. Die Sonne war hochgestiegen, es wurde ihm warm. Immer fest tretend (er durfte doch nicht unterbrechen!) zog er sein Buschhemd aus, warf es ohne abzusteigen ins Moos und trat und trat. Daß er von Figur nichts mehr hörte, verwunderte ihn nicht; im Gegenteil, es bestärkte ihn in seinem wilden Eifer, denn offenbar war Figur mitten im Senden und Aufnehmen. Er trat und trat und trat. Der Schweiß rann ihm in Bächen über den nackten Oberkörper und durch die kurze Hose an den Beinen entlang. »Das schafft, das schafft!« dachte er befriedigt. Die erste Stunde war um, und die zweite brach an. Die Zeit schien ihm jetzt langsamer zu vergehen, denn das Treten wurde ihm schon sauer. Er spürte seine Muskeln, auch der Rücken tat ihm weh. Aber er gab nicht auf. Er hielt noch die ganze zweite Stunde durch – doch dann war er so gut wie fertig. Mühsam kletterte er von dem Tretgestell -135-
herunter. Er rief noch immer nicht, um Figur beim Hören nicht zu stören. Er kam an die Stelle, wo die Apparate auf den Kisten standen. Niemand sendete, niemand hörte. Er blickte sich um – das Kabel, das von dem Tretsatz zu dem Sender lief, lag wie eine dicke Schlange im Gras. Neunauge verstand nichts vom Funken – aber so viel sah er nun doch, daß dieses Kabel aus dem Sender herausgezogen war und sich nutzlos über den Boden schlängelte. Er hörte ein Geräusch, ein verdächtiges Geräusch vom Walde her. Er ging darauf zu. Figur lag auf dem Moos, den Kopf auf dem Arm, und schnarchte. Neunauge hatte begriffen. Es brodelte in ihm wie in einem Vulkan, dessen Lavaausbruch ungezählte Tausende das Leben kosten wird. Aber er drehte lautlos um. Sein Entschluß war ja gefaßt. Er hatte es dem Chef bereits klar und endgültig gesagt: einmal und nie wieder. Diese Expedition mußte schließlich ihr Ende finden. Und dann: aus. Fort. Nach Paris. Und keinen Tag länger mit diesen Menschen zusammen… Zur selben Stunde, als Neunauge mit seiner Niederlage innerlich fertig werden mußte, öffnete sich vor Tschandru-Singh eine großartige Aussicht. »Höre«, sagte GG zu ihm, »du kannst uns einen wichtigen Dienst tun. Du weißt, hier sind die Kinder krank. In Tschitral, bei dem -136-
Agenten Sahib Belcher, liegt ein Mittel, mit dem der Sahib die Kinder wieder gesund machen kann. Wir alle meinen, du könntest es uns holen. Du gehst denselben Weg, den wir gekommen sind, zurück. Du holst das Paket ab und gehst dann denselben Weg wieder bis hierher. Über die Löcher im Fels kannst du es nicht tragen. Deshalb vergräbst du es da, wo wir unser letztes Lager gehabt haben, damit die Kafiri es holen können. Traust du dir das zu, Tschandru-Singh?« »Ich gehe, Sahib«, sagte der Knabe. »Ich gehe jeden Schritt so, wie du es gesagt hast. Ich bin glücklich, daß ich für euch den langen Weg gehen kann, Sahib!« Er war so selig, daß er in seiner Erregung nicht darauf kam, einen der neuen Ausdrücke anzuwenden, die er von Figur gelernt hatte.
Ins Garn gegangen Tschandru-Singh sprang von dem Lastauto ab. Er war ungeheuer stolz. Er hatte es geschafft. Er war über die gefährlichen Felslöcher gestiegen, er hatte dann den ganzen Weg zurückgelegt, den er mit den Sahibs gegangen war, er hatte den Paß überquert und war, schon auf dem Gebiet des Eingeborenenstaats Tschitral, auf ein Lastauto gestoßen, -137-
das von Mastudsch über die Hauptstadt nach Kala Drosch wollte, sich aber verfahren hatte. Der Chauffeur und sein Mitfahrer, beide dunkelhäutige Mohammedaner aus einem Bergstamm, hatten ihn gern mitgenommen, und jetzt waren sie mit einer gewaltigen Staubfahne in die Stadt Tschitral eingebogen. Der Wagen, ein alter Ford-Dreivierteltonner, hatte mit einem wilden Ruck gehalten, die beiden Turbanträger hatten ihm noch einmal zugelacht, und schon suchte er sich durch das Gewühl der Menschen seinen Weg. Heute war der zehnte Tag, daß er von den Sahibs fort war. Sie hatten ihm Rupien genug gegeben, daß er sich das Wenige kaufen konnte, was er für den Rückweg brauchte; noch heute wollte er wieder aufbrechen, wenn er das bekommen hatte, was er holen sollte. Er brannte darauf, in den Augen der Sahibs, die soviel für ihn taten, der beste Boy zu sein, den sie unter den 390 Millionen Bewohnern Indiens hätten finden können. Er fragte sich nach dem Büro des Britischen Agenten durch und kam zu dem weißen Bungalow, das unter hohen Palmen stand. Ein Diener wies ihm den Weg, und er betrat einen Büroraum, wo ein Mann in einem vorzüglich gebügelten Anzug aus weißer Seide an einem Tisch saß und schrieb. Er war von heller Haut, aber Tschandru-Singh sah, daß er ein Eurasier war, der Abkömmling einer indischen Mutter und eines englischen Vaters. -138-
Der Assistent des Agenten blickte kurz auf, aber als er sah, daß nur ein Inderjunge das Zimmer betreten hatte, schrieb er weiter. Er war durch seine Abkunft in einer schwierigen Lage. Über die Eingeborenen fühlte er sich erhaben, aber die Europäer nahmen ihn nicht als voll. Er wußte, daß sie ihm immer nur untergeordnete Posten geben würden, daß er bei ihnen niemals als Sahib gelten würde. Aber gerade das war sein glühender Wunsch, und weil er unerfüllbar war, zehrte er an ihm wie eine Krankheit. Er fühlte sich von den Europäern verachtet, aber er wagte es nicht, sich gegen diese unverdiente und herzlose Verachtung aufzulehnen; er suchte die ständige Zurücksetzung vor sich selbst dadurch auszugleichen, daß er die Eingeborenen noch verächtlicher behandelte, als es ihm von den Engländern widerfuhr. »Ich will mit dem Sahib sprechen«, sagte Tschandru-Singh. »Warte, bis ich dich frage, was du willst«, sagte der Assistent. »Ich habe keine Zeit zu warten«, sagte der Knabe stolz. »Ich bin zehn Tage und Nächte unterwegs, und man erwartet mich.« »Was willst du?« fragte der Assistent gelangweilt und nahm sich die Tabelle der Tarife, in der er einen Frachtsatz zu suchen hatte. »Ich will nicht mit dir sprechen«, sagte Tschandru-Singh. Das Hochgefühl über seine Sendung durchströmte ihn und die Freude an -139-
dem Leben, zu dem er gekommen war. »Ich bin gewohnt, mit den Sahibs selbst zu reden.« Der Assistent suchte nicht mehr in dem Frachttarif. Er sah voller Wut auf diesen barfüßigen Bengel, der von den Sahibs sprach, als wären sie seinesgleichen, und der, ein Eingeborener, ein Farbiger, ihn behandelte, als sei er nichts. Aber zugleich schreckte er, der seinem Wesen nach furchtsam war, vor dem stolzen Freiheitsgefühl dieses unbefangenen jungen Burschen zurück. Er schluckte seine Empörung hinunter, wie er das gewohnt war, und sagte, wobei seine Stimme von verhaltenem Groll noch leiser wurde: »Der Sahib ist nicht da.« Tschandru-Singh spürte, daß hier etwas schief gegangen war. Er sah auch, daß dem Anglo-Inder, der sich jetzt eine Zigarette ansteckte, die Hand zitterte. Er war zu ihm doch wohl nicht höflich genug gewesen, und er wollte das wieder ausgleichen. Sie hatten bis jetzt Hindustani gesprochen; nun nahm er seine englischen Sprachkenntnisse zusammen, um dem verärgerten Mann einerseits die besten Worte zu geben, die ihm Figur beigebracht hatte, zugleich aber auch, um ihm zu zeigen, daß er die Sprache der Sahibs verstand: »Wann Sahib kommen, du verdammter Schuft? Wie lange ich warten, du blutiger Idiot? Rufe den Sahib, du Sohn einer Hündin!« Der Eurasier war ganz bleich geworden. Er -140-
sprang auf, er wollte diesen Unverschämten mit eigenen Händen aus dem Bungalow hinauswerfen, als die Tür aufging und ein Europäer eintrat, seinen Tropenhelm in der Hand. »Was ist?« fragte er. Der Assistent rang nach Luft. Unmöglich, dem Engländer zu sagen, daß dieser Bengel ihn da aufs gemeinste beschimpft hatte – »Nicht einmal mit einem vierzehnjährigen Eingeborenen werden Sie fertig!« würde die Antwort sein. Keine Schwierigkeiten, um alles in der Welt keine Schwierigkeiten machen… So verbeugte er sich nur und sagte: »Good morning, Sir. Der Boy möchte Sie sprechen.« Tschandru-Singh hatte begriffen. Das war der Sahib. Schon hatte er den Brief hervorgezogen und hielt ihn dem Sahib hin. Mr. Belcher nahm ihn, riß ihn auf und überflog ihn. »Also du bist das«, sagte er, »anscheinend die jüngste Kraft der COMPANY UBIQUE TERRARUM!« Die Sache amüsierte ihn, und auf Hindustani sagte er zu dem Knaben: »Geh mit mir!« Sie gingen beide in sein Arbeitszimmer, wo sich Mr. Belcher in einem Klubsessel niederließ. »Nun sag mal, wo kommst du denn her?« fragte er. »Das darf ich nicht sagen«, antwortete Tschandru-Singh und setzte, um den Sahib auch so zu behandeln, wie Sahibs behandelt werden müssen, auf englisch hinzu, »du ver-141-
dammter Schuft.« Mr. Belcher vergaß, weiter an seiner Zigarette zu ziehen. »Was sagst du zu mir?« fragte er entgeistert. »Ich sage, daß ich nicht sagen darf, woher ich komme, du blutiger Idiot!« Mr. Belcher schluckte. Aber die dunklen Augen des Knaben waren so gläubig auf ihn gerichtet, daß er ihm keine beleidigende Absicht zutrauen konnte. »Woher hast du die englischen Worte?« fragte er auf Hindustani, und Tschandru-Singh antwortete: »Ich lerne die Sprache der Sahibs, du Sohn einer Hündin« – und fuhr auf englisch fort: »One, two, three –« bis zwanzig. »Und wer hat dir gesagt, wie du die Sahibs anreden mußt?« »Sahib Figur«, antwortete Tschandru-Singh, aber Mr. Belcher konnte sich darunter nichts vorstellen. »Hör mal genau zu«, sagte er. »Wenn du den Sahib wiedersiehst, dann sage ihm ›You dirty pig‹ (Du dreckiges Schwein)! Das ist ein Segenswunsch. Dann wird er sich freuen. Präge dir das ein!« Tschandru-Singh wiederholte das, was er für die höchste Lobpreisung hielt, aber er mußte es mehrmals tun, bis Mr. Belcher mit der Wiedergabe zufrieden war. Damit hatte er dem unbekannten Spaßvogel gehörig heimgezahlt. -142-
Er stand auf, von diesem Tagesanfang erheitert, und ging mit dem Knaben wieder in das Büro des Assistenten. »Geben Sie dem Boy, was da aus Lahore gekommen ist«, sagte er. Einen Augenblick überlegte er, ob er seinem Gehilfen nicht erzählen sollte, was dem Boy für ein spaßiges Mißverständnis mit seinen englischen Brocken passiert war, aber er unterließ es. Er hatte keine Lust, mit dem Eurasier mehr zu reden, als was im Geschäft nötig war. Das Halbblut war ihm eben unsympathisch. Aber von Tschandru-Singh verabschiedete er sich aufs freundlichste. »Ich habe gemerkt«, sagte er, »du bist ein Bursche, auf den man sich verlassen kann. Atscha giao (gehe gut)!« Er hatte die Tür geschlossen, und Tschandru-Singh war wieder mit dem Assistenten allein. Der Anglo-Inder war eisig, als habe er kein warmes Blut in den Adern, sondern kaltes Gift. Stumm holte er aus einem Schrank ein Paket, das in Wachstuch eingenäht war, und stumm übergab er es dem Knaben. Tschandru-Singh sagte auch kein Wort, als er es nahm. Er fühlte, hier war etwas verschüttet. »Gut, daß ich mit diesem Manne nie wieder etwas zu tun habe«, dachte er und ging mit seinem Paket unterm Arm durch den Garten mit den hohen Palmen auf die Straße. Welche Überraschung – nur wenige Schritte weiter, und er sah den alten Ford wieder, der ihn in die Stadt gebracht hatte. Der Wagen -143-
hielt, und die beiden bärtigen Turbanmänner lachten ihn an. »Fährst du wieder mit?« »Nicht mit euch«, sagte Tschandru-Singh, »ihr wollt doch nach Kala Drosch, aber ich muß genau entgegengesetzt nach Norden!« »Du bist ein Hindu«, sagte der Beifahrer, »du weißt nicht, was wir Muslimun wissen: jedem Gläubigen Allahs sind zwei Engel beigegeben; der eine zeichnet seine guten Taten auf, der andere seine schlechten – und dich werden wir ein Stück an die Berge heranfahren, damit in unserm Buch der guten Taten die Seiten nicht so leer bleiben!« Tschandru-Singh war entzückt. Nach dem unheimlichen frostigen Abschied von dem Halbblut in dem seidenen Anzug tat es ihm so wohl, der offenen Herzlichkeit der beiden Männer aus den Bergen zu begegnen. »Ich muß mir aber erst noch einen Sack kaufen und etwas zu essen, denn ich will noch weiter.« Das Paket, das er bekommen hatte, wog gut und gern eine halbe Traglast, aber er würde es schon über die Berge bringen und an der Stelle des alten Lagers vergraben. Er ging auf den Markt, er feilschte, wie es sich gehörte, beim Reiskuchenhändler und erstand auch für zwei Silber-Ana einen Sack, in dem ein Hindumönch milde Gaben gesammelt hatte. Darin verstaute er sein Paket und die Reiskuchen. Am Stadtausgang traf er das Auto wieder, das dort mit ratterndem Motor wartete. -144-
Aber der Beifahrer war nicht mehr da. »Ich treffe ihn erst heute abend wieder«, sagte der Chauffeur, »wenn ich zurückkomme.« Tschandru-Singh saß noch nicht recht, als der Mann auch schon schaltete und so heftig Gas gab, daß der Wagen in einem Satz davonschoß, als mache eine Katze mit einer Kugel im Leih ihren letzten verzweifelten Sprung. Tschandru-Singh saß neben dem Fahrer. Sie fuhren durch das fruchtbare Tal mit seinen Weizen-, Mais- und Reisfeldern, und der Wagen rollte in einem höllischen Tempo. Schon nach einer halben Stunde sah TschandruSingh die Abzweigung vor sich, von der es links zum Paß und rechts nach Mastudsch ging. Hier hatte er heute morgen das Auto getroffen, und weiter konnte ihn der freundliche Fahrer nicht bringen, denn zum Paß ging es nur auf einem schmalen Karawanenweg hinauf, wo die Wagen der Feringi nicht fahren konnten. Er zeigte dorthin. »Da steig ich aus!« schrie er dem Fahrer zu, um das Rattern des Motors zu übertönen. Der Fahrer antwortete nicht. Er sah starr auf die Fahrstraße, die von der Abzweigung an nicht breiter war, als daß gerade ein Wagen fahren konnte. Gleich war es soweit, und Tschandru-Singh faßte nach seinem Sack, um ihn beim Aussteigen in der Hand zu haben. »Jetzt!« schrie er – aber der Fahrer verminderte die Geschwindigkeit nicht. Wie ein Gefährt der Hölle ratterte der Wagen weiter. »Halten! Halte doch!« -145-
schrie Tschandru-Singh. Der Fahrer antwortete nicht. Er fuhr nur noch schneller. Er lächelte auch den Knaben nicht mehr an. Er saß am Steuer finster wie der Böse selbst, und Tschandru-Singh begriff: es stand nicht gut um ihn. Hinausspringen? Aber wie konnte er in voller Fahrt von dem rasenden Wagen springen?! Was wurde dann aus dem kostbaren Paket, nach dem ihn die Sahibs auf den weiten Weg geschickt hatten? Und mit dem Sack konnte er schon gar nicht aus dem Wagen springen… Das Paket – das war es! Sie hatten ihn mit dem Paket kommen sehen, und jetzt wollte es ihm der Fahrer rauben – deswegen fuhr er ihn aus der Stadt, wo Menschen waren, an eine Stelle irgendwo draußen, wo niemand sie beobachtete! Aber da sah er, daß sich auf der Straße vor ihnen etwas Hohes bewegte. Langsam kam es wie ein riesiger Wurm die Straße entlang, ihnen entgegen. Elefanten, geschmückte Elefanten, die Howdas auf ihren Rücken trugen, die überdachten Sitze, in denen sich die Großen dieser Erde von den gewaltigen und so geduldigen Tieren tragen ließen. Natürlich hatte auch der Fahrer diesen Zug gesehen. Schon verlangsamte er das Tempo. »Wenn du dich rührst«, sagte er böse, »wenn du schreist, schneide ich dir die Kehle durch, ehe sie einen Laut von dir gehört haben!« Tschandru-Singh dachte aufgeregt nach. Der -146-
Fahrer konnte nicht weiterfahren. Er mußte halten, bis der Zug vorüber war. Er konnte auch nicht umkehren, denn das erlaubte die Straße hier nicht. Doch wie, wenn die Mahuts, die Elefantenlenker, aus Furcht vor dem Kraftwagen ihre Tiere vorher von der Straße abbiegen und zur Seite gehen ließen, so daß der Kerl gar nicht zu halten brauchte? Dann waren sie vorüber, ehe er hatte rufen können… Jetzt aber sah er, daß der vorderste Elefant auf der mächtigen Stirn ein golddurchwirktes Gehänge trug, das in der Sonne glitzerte. Nein, dieser Zug wich dem alten Ford nicht aus, denn dies war der Zug eines Fürsten, sicher des Mehtar von Tschitral, der von einer Tigerjagd kam. Der Wagen mußte halten – aber rufen, rufen war sinnlos. Würde sich der hochgeborene Herr oder einer seines Gefolges darum kümmern, wenn ein elender Hindujunge um Hilfe rief? Nein, rufen durfte er nicht – aber handeln mußte er, handeln – Der Wagen hielt. Er fuhr dicht an den Straßenrand, so daß die Tiere Platz hatten. Tschandru-Singh sah, wie sich ein grauer Leib an der scheibenlosen Fensteröffnung vorbeischob. Er hörte etwas, das wie ein ängstliches Schnauben klang, dann ein aufgeregtes Trompeten – Der Fahrer beugte sich aus dem linken Fenster, um zu sehen, ob es eine Schwierigkeit mit den Tieren gab, und diesen Augenblick -147-
nutzte Tschandru-Singh aus. Blitzschnell hatte er einen Schraubenschlüssel gepackt, der vor seinem Sitz gelegen hatte, und eben, als der Fahrer sich wieder zurückbeugen wollte, schlug Tschandru-Singh ihm mit voller Kraft das Eisenstück auf den Hinterkopf. Der Schlag hätte den Schädel zertrümmern müssen, aber der Turban schützte den Mann. Jedoch ließen seine Hände das Steuer los, und er sank darüber zusammen. Schon hatte TschandruSingh die rechte Tür aufgestoßen. Er kletterte schnell wie ein Affe heraus und rannte, seinen Sack auf dem Rücken, querfeldein. Erst nachdem er ein weites Stück gelaufen war, wagte er, sich umzudrehen. Die Elefanten waren nicht mehr zu sehen. Der Lastwagen stand noch am alten Fleck, wie ein gestrandeter und verlassener Kahn. Tschandru-Singh wagte nicht, auf die Straße zurückzukehren. Doch er mußte wieder an die Abzweigung, um den Weg zum Paß zu gewinnen; so ging er wohl in der Richtung der Straße, aber er schlug sich, immer seinen Sack schleppend, durch Felder und Büsche. Dabei wurde er freilich so müde, daß er sich hinlegte, um sich auszuruhen. Er horchte auf verdächtige Laute, hörte aber nichts außer dem Kreischen der Papageien und dem keckernden Schnattern der Affen, das ihm der Wind aus den Bergwäldern zutrug. Er legte den Kopf auf den Arm, die Augen fielen ihm zu. Als er wieder erwachte, war es um ihn dunkel. Die -148-
Nacht war gekommen. Er fühlte sich so einsam, wie er es in den zehn Tagen noch nie empfunden hatte. Da hatte ihn der Schwung seines Auftrags sicher geführt; jetzt, durch die Hinterlist des Chauffeurs, war er unsicher geworden. Er überlegte, ob er nun im Schutze der Dunkelheit nicht doch lieber die große Straße aufsuchte, denn ohne zu sehen, wo er ging, konnte er ja gar nicht mehr quer durch die Felder. Wie er noch stand und nachdachte, roch er Rauch. Er blickte sich um und sah zu seiner Linken einen leichten Schein wie von einem Hirtenfeuer, und obwohl ihn das aus seiner eigentlichen Richtung brachte, ging er vorsichtig darauf zu. Er hatte solches Verlangen danach, unter Menschen zu sein, die zu ihm freundlich waren. Er sah drei Männer um eine niedriggehaltene Glut sitzen, die einen Kessel mit Suppe wärmten. Sie sprachen miteinander. Plötzlich schwiegen sie und drehten die Köpfe nach der Richtung, aus der er kam. Sie hatten ihn gehört. »Hier bin ich«, rief er, um zu zeigen, daß sie niemand zu fürchten hätten, und jetzt trat er in die matte Helligkeit ihres Feuers. »Ich bin Tschandru-Singh«, sagte er. »Ich bin Diener bei den großen Sahibs. Sie haben mich nach Tschitral geschickt, um etwas für sie zu holen. Räuber haben es mir abnehmen wollen, aber ich bin geflohen und habe, was ich den Sahibs bringen soll, noch hier in meinem Sack.« -149-
»Setze dich zu uns«, sagte der eine der Männer. »Du wirst müde sein.« »Bei uns bist du sicher«, sagte der Mann neben ihm, und der dritte rückte zur Seite, damit der Knabe einen guten Platz bekam. »Friede für euch«, sagte der Knabe, als er sich setzte. »Friede für alle«, sagten die drei Männer. Sie hatten in einer Holzschale Wasser, davon gaben sie ihm zu trinken. »Räuber, sagtest du?« fragte der eine. »Er hatte einen Wagen ohne Pferde. Er sagte, er wolle mich mitnehmen, damit ich nicht so weit zu laufen hätte. Aber dann fuhr er mit mir davon. Er fuhr, daß mir Hören und Sehen verging.« »Unter der untersten Erde«, sagte einer der drei, »liegen die Meere der Dunkelheit. Niemand weiß ihre Zahl. Unter den Meeren der Dunkelheit aber liegen die sieben Höllen. Die erste ist für schlechte Muslimun. Die zweite ist für Christen. Die dritte ist für Juden. Die vierte ist für Feueranbeter. Die fünfte ist für Zauberer. Die sechste ist für Götzenanbeter. Die siebente aber, die unterste, die schrecklichste, ist für Heuchler und Lügner.« Die Männer fragten nicht, wie er dem Räuber entronnen war. Sie waren nicht neugierig. Sie lebten bei ihren Schafen wie jenseits der Zeit. »Es hilft den Räubern nicht, daß sie vom Raube leben«, sagte der zweite. »Es wird aus-150-
gerufen werden am Tage der Auferstehung: ›Es sollen aufstehen die Zornbeladenen des höchsten Gottes!‹ Da werden sich ihre Knochen zusammenfügen, und sie müssen sich erheben wider ihren Willen. Sie werden schreien: ›Wehe uns! Wehe uns!‹ Aber es wird zu spät sein.« »Bei uns kannst du ruhig schlafen«, sagte der dritte. »Ihr seid gut zu mir«, sagte der Knabe. Ihm war wohl bei den drei Männern. Er öffnete seinen Sack und holte die Reiskuchen heraus, die er im Tschitral gekauft hatte, und bot sie ihnen an. »Das ist etwas Gutes«, sagten sie, und jeder nahm sich ein Stück. »Wer satt ist, weiß nicht, wie dem Hungrigen zumut ist«, sagte der erste wieder. »Hunger, das ist die Wolfskrankheit«, sagte der zweite. »Auch Wölfe müssen sein«, sagte der dritte, »sonst hätte Allah sie nicht erschaffen.« In dem Augenblick hörten sie Stimmen, und Hunde gaben Laut. Die Schafhirten hatten keine Hunde. »Sucht ihn! Sucht ihn! Sucht ihn!« schrie eine Stimme. Die drei Männer sahen auf den Knaben. Er erschrak bis ins Innerste seines Herzens. »Sie suchen mich –« flüsterte er. »Versteckt -151-
mich! Versteckt mich!« Die drei Männer rührten sich nicht. »Warum sollten wir dich verstecken?« fragte der Mann, der neben ihm saß. »Wenn Allah nicht will, daß sie dich finden, dann gehen sie an dir vorüber wie die Blinden – und wenn Allah will, daß sie dich finden, hilft es dir nicht, selbst wenn du dich auf dem Monde versteckst.« Die Hunde waren herangejagt. Sie waren zottig und glichen mit ihrem buschigen Schwanz noch dem Rotwolf der Berge, von dem sie stammten; sie wagten sich nicht in die Nähe der Glut, aber sie bellten, daß es wie Heulen klang, und mit Entsetzen sah der Knabe ihr furchtbares Gebiß. Jetzt waren auch die Männer da. »Das ist er!« schrie eine Stimme, und dem Knaben wurde kalt: es war der Chauffeur. Tatsächlich da stand er. Er hatte fünf Männer bei sich. »Gebt den Boy heraus!« schrie er böse zu den Hirten. »Er ist nicht unser Bruder«, sagte der eine der Hirten, »aber auch er ist ein Mensch, wenn er auch nicht den Weisungen Mohammeds, des Propheten, folgt.« »Und wenn er dein eigener Sohn wäre«, sagte der Chauffeur, »dann gäbst du ihn her.« Er machte eine Pause. Dann flüsterte er, aber sein Flüstern klang scharf: »Der Ungenannte will ihn haben!« Die drei Hirten rührten sich nicht, als habe sie alles Leben verlassen. Tschandru-Singh aber war überwältigt von Angst. Der Unge-152-
nannte… der Schreckliche verlangte nach ihm! Damals, als der Unsichtbare auch ihm hatte befehlen lassen, die Sahibs zu verlassen, hatte er nicht gehorcht, und jetzt war er in der Gewalt des Furchtbaren. »Steh auf, du stinkende Kröte!« schrie der Chauffeur Tschandru-Singh an, und er erhob sich. »Nimm deinen Sack, du Mißgeburt, Abkömmling einer unreinen Sau! Denkst du, wir werden ihn dir tragen?!« Tschandru-Singh stand da, seinen Sack auf dem Rücken. Er erwartete, daß der erboste Mann über ihn herfallen, daß er ihm einen Tritt in den Leib geben würde, denn der Chauffeur stand wie ein gereizter Bulle vor ihm. Es kostete den Kerl auch sichtlich Überwindung, nicht zuzuschlagen. »Warte nur, mein Liebling, mein Goldener«, keuchte er, »wenn er dir glühende Späne unter die Sohlen halten läßt, dann wirst du schon singen!« Das Auto ratterte davon. Jetzt saß Tschandru-Sing nicht neben dem Chauffeur, sondern lag mit gefesselten Füßen hinten zwischen Kisten und Körben. Er war verzweifelt. Er fragte nicht danach, was der Ungenannte mit ihm machen würde. Aber das war seine Qual: sie würden ihn nicht in das Tal zurückgehen lassen. Sie würden ihm das Paket abnehmen. Die Sahibs würden nie erfahren, was mit ihm geschehen war, und der Sahib, den er liebte, würde denken, er hätte sich das Paket abgeholt und wäre damit auf und davon gegan-153-
gen… Der Wagen hielt. Ein Mann riß ihm den Strick ab, den sie um seine Füße geschnürt hatten. »Steh auf, du Heilloser«, fuhr er den Knaben an, »und mach die Zähne auseinander, wenn der Ungenannte dich fragt!« Tschandru-Singh kletterte vom Wagen. Er nahm seinen Sack mit. Das Nachtdunkel war um ihn. Männer brachten ihn in ein Haus. Kein Wort würde er sagen. Schweigen würde er, was sie auch mit ihm anstellen würden. Trotz erfüllte ihn, wilder, verbissener Trotz. Sie brachten ihn in einen großen Raum, in dem Teppiche und dicke Polster Jagen. Der Raum war hell erleuchtet. Es brannten die Lampen der Sahibs, wie er die elektrischen Birnen nannte. Auf einem der Polster lag ein Mann, der aus einer Wasserpfeife rauchte. Er war groß und schwer, ein Koloß – und als der Knabe ihn anblickte, durchfuhr es ihn, daß er diese mächtige Gestalt schon einmal gesehen hatte. Ja, das war der Mann, der wie ein Mensch ohne Verstand im Grase gehockt hatte, als die Sahibs mit ihm zu den Schinwari gegangen waren… Der riesige Mann lag halb aufgerichtet da, den Arm auf ein Kopfpolster gestützt. Die andern waren verschwunden. Tschandru-Singh war ganz allein mit dem Liegenden. Der sah ihn aus kleinen, schwarzen Augen an, ganz gelassen, wie es schien – aber der Knabe dachte: »Ein Panther vor dem Sprung… ein -154-
Panther vor dem Sprung…« »Weißt du, wer ich bin?« fragte der riesige Mann. Er hatte eine dunkle, volle Stimme. Der Knabe antwortete nicht. Er konnte sich denken, wer der Mann war. Aber der Trotz in ihm war stärker als die Furcht. So schwieg er. »Ich bin der Ungenannte«, sagte der riesige Mann. »Ich frage dich nicht, ob du weißt, wer das ist.« Er wartete etwas, damit der Knabe Zeit hatte, ganz aufzunehmen, vor wem er stand. Dann fragte er: »Wo kommst du her?« Der Knabe antwortete nicht. Er sah den gefährlichen Koloß nicht an. Er preßte die Lippen zusammen und blickte zu Boden, wo ein kostbarer, eisenvioletter Yomud-Teppich lag, den turkmenische Nomaden gewoben hatten. Er starrte auf das eingewobene Muster, jagende Windhunde, blaßgold. »Wo wolltest du hin?« fragte die dunkle, gefährlich drohende Stimme. Der Knabe antwortete nicht. Er hatte die Hände zu Fäusten gepreßt, als könne er sich damit in seinem Schweigen bestärken. »Es ist schön«, sagte der Ungenannte, »daß du nicht redselig bist. Ich weiß das zu schätzen. Wenn einer meiner Männer zu viel redet, so bekommt das seiner Gesundheit nicht. Ich will dir sagen, woher du kommst, TschandruSingh: du bist den Weg an den Felslöchern gegangen. Du bist an dem Platz vorbeigegan-155-
gen, wo die Schinwari die Sahibs verlassen haben. Dann bist du über den Paß gegangen. In Tschitral bist du bei dem Sahib Belcher gewesen. Du hast ein Paket geholt. Das Paket ist aus Lahore gekommen. Du willst wieder über den Paß und über die Felslöcher gehen. Das Paket wirst du vorher so vergraben, daß die Kafiri es holen können. Und die Sahibs werden zu dir sagen: Tschandru, du bist ein guter Bote.« Der Knabe starrte den Ungenannten an. Seine verkrampften Hände hatten sich gelöst, seine Lippen halb geöffnet – dieser Mann wußte alles. Seine Spione hatten ihn auf dem ganzen langen Weg belauert. »Tschandru-Singh«, sagte der Ungenannte, »du wirst mir jetzt berichten: was tun die Sahibs im Tal der Kafiri? Sage nicht«, fügte der unheimliche Mann schnell hinzu, »daß du nicht antworten wirst. Du wirst antworten.« Der Knabe straffte sich wieder, seine Brauen zogen sich zusammen, senkrechte Falten standen ihm zwischen den Augen. »Ich kenne deine Mutter«, sagte der Ungenannte. »In Lala Gul?« fragte der Knabe entsetzt. »Meinst du, meine Macht reiche nicht bis Lala Gul?« sagte der Ungenannte, sehr mit sich zufrieden, daß er den Knaben übertölpelt hatte. »Und sich her, Tschandru-Singh – sieh hier deine Mutter!« -156-
Der Ungenannte schlug ein seidenes Tuch auseinander, und der Knabe sah tatsächlich die Gestalt seiner Mutter. Die handlange Wachsfigur war nicht mehr als das Abbild einer alten indischen Frau aus den niederen Volksschichten, aber gerade weil in ihnen das Besondere noch nicht ausgebildet ist, der eine genau so lebt wie der andere, sie untereinander noch vertauschbar sind, sah der Knabe in dieser typischen Gestalt seine leibhaftige Mutter. »Wenn ich diese Nadel nehme«, sagte der Ungenannte und zog aus dem Tuch eine lange dünne Nadel, auf der ein dunkelroter Stein wie ein Blutstropfen saß, »und sie in einer Neumondnacht diesem Abbild deiner Mutter ins Herz stoße, so sinkt deine Mutter um und ist tot. Das werde ich tun, Tschandru-Singh, wenn du mir nicht sagst, was ich wissen will.« Der Knabe zweifelte nicht an dem, was der Ungenannte sagte. Was war auf dieser Erde nicht möglich? »Den Sahibs geschieht nichts Böses, Tschandru-Singh«, sagte der Ungenannte. »Ich will ihnen nicht ans Leben. Sie sollen gesund nach Feringistan zurückkehren. Ich will nur wissen, was sie tun.« Der Knabe atmete schwer. »Du wirst zu ihnen zurückkehren. Niemand wird dir das Paket wegnehmen, das du für sie holen solltest. Du sollst mir nur sagen, was sie tun.« Der Ungenannte hatte um die Wachsfigur wieder das Tuch geschlagen und sie fort-157-
gelegt. Aber die lange dünne Nadel mit dem steinernen Blutstropfen hatte er in der Hand behalten. Der Knabe sah, wie die Finger der bösen Hand damit spielten. Diese Nadel würde der Schreckliche seiner Mutter ins Herz stoßen… Alle Menschen mußten sterben. Auch seine Mutter. Aber sie durfte nicht sterben, ehe er ihr nicht die Rupien des Sahibs gebracht, ehe er ihr mit diesen Rupien nicht ein neues Leben gekauft hatte… »Also, Tschandru-Singh, was tun die Sahibs im Tal der Kafiri?« »Die Kinder sind krank«, sagte er langsam. »Sie wollen die Kinder gesund machen.« Der Ungenannte überlegte. »Sind sie in das Tal gegangen, um die kranken Kinder zu heilen?« fragte er dann, und am Ton seiner Stimme konnte der Knabe hören, daß er das nicht glaubte. »Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Aber das weiß ich, daß sie die Kinder gesund machen wollen.« »Was tun sie noch?« fragte der Ungenannte. »Sie sprechen durch die Luft mit den Männern in Feringistan.« Der Ungenannte schwieg. Das war ihm nichts Neues; das war eine der vielen Erfindungen der unwillkommenen Weißen, durch die selbst unzugängliche Bergnester keine Sicherheit mehr boten, weil die Kommandos der Grenztruppen von den allessehenden Flugzeu-158-
gen aus durch die Fernsprache gelenkt wurden. Der Knabe sah, daß seine Antworten den Ungenannten nicht befriedigten. Er frohlockte innerlich. Er hatte die Sahibs nicht verraten; was sie getan hatten, konnte jeder wissen. »Es ist gut«, sagte der Ungenannte. »Die Sahibs heilen die kranken Kinder und sprechen mit den Männern in Feringistan. Aber sie werden noch mehr tun. Du wirst sie überwachen, Tschandru-Singh, und wirst mir genau melden, was sie tun.« Der Knabe war entsetzt, und der Ungenannte sah das Tschandru-Singhs Augen an. »Warum bist du nicht mit den Trägern zurückgekommen«, sagte er hart, »als ich ihnen durch den Fakir befahl, sie sollten die Sahibs verlassen? Hättest du getan, was ich befohlen hatte, so stündest du heute nicht hier. Warum hast du dich zwischen mich und die Sahibs gedrängt? Glaubst du, du könntest mit mir spielen?« Er erhob sich langsam, und der riesige Mann stand nun gewaltig vor dem Knaben. »Jetzt bist du mit im Spiel«, sagte der Koloß, »und wehe dir, wenn du nicht so spielst, wie ich es dir sage! Noch einen einzigen falschen Zug, Tschandru-Singh, und du bist der Mörder deiner Mutter! Als was, glaubst du, wirst du dann wiedergeboren? Als Tiger vielleicht, als reißender Tiger im Dschungel!« -159-
Wie vernichtet stand der Knabe da. Er war in ein Netz gelaufen, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte. »Höre gut zu«, sagte der Ungenannte erbarmungslos. »Wenn du die Löcher im Felsen hinter dir hast, was siehst du dann?« »Ich sehe kleine Bäume mit weißer Rinde, die krumm sind vom Wind. Ich sehe Büsche mit Blättern wie Fischschuppen.« »Kann sich da ein Mann verbergen?« »Nein, das kann er nicht.« »Was siehst du dann, wenn du ins Tal absteigst?« »Dann sehe ich Büsche, deren Wurzeln die Händler haben. Dann kommen Zedern, einzelne, und dann kommt ein dichter Wald von Zedern.« »Höre gut zu«, sagte der Ungenannte. »Wenn du bei den Sahibs im Tal angekommen bist, wartest du vierzehn Tage. Am fünfzehnten Tage gehst du an den Rand des Zedernwaldes und wartest da auf den Mann, den ich dir schicken werde. Dem sagst du dann alles, was er von dir wissen will.« Tschandru-Singh war wie benommen. Es war ihm, als nähme eine entsetzliche Hand die Sonne weg, und nun war alles auf der Erde ohne Farbe und Wärme, als sei die ganze Erde gestorben. Aber da blinkte ein Fünkchen auf: Die Sahibs waren doch mächtiger als der Ungenannte! Er brauchte die Anschläge des -160-
gräßlichen Mannes nur den Sahibs zu sagen, und sie würden ihn mattsetzen. »Es ist gut«, sagte er. »Ich werde tun, was du willst.« »Du weißt noch nicht alles, was ich will«, sagte der Ungenannte. Der Knabe erschauerte. Das Netz, das dichte Netz um ihn – er konnte ihm nicht entrinnen… »Du wirst den Sahibs nicht sagen, daß du mich gesehen hast. Du wirst ihnen nicht sagen, daß dich mein Bote treffen wird.« »Sie werden sehen, daß deine Männer das Paket aufgemacht haben«, sagte der Knabe. Sein Atem flog. »Sie werden mich fragen, wer das getan hat. Und wenn ich ihnen sage, ich selbst hätte es getan, dann habe ich vor ihnen mein Gesicht verloren.« Der Ungenannte sah, wie den Knaben die Verzweiflung schüttelte. Er sah es mit Befriedigung; so blieb der Knabe ganz in seiner Hand. »Meine Männer haben das Paket nicht angerührt«, sagte er. »Denkst du, ich wüßte nicht, was darin ist, ohne daß es aufgemacht werden muß? Denkst du, meine Macht endete vor dem Bahnhof von Lahore? Denkst du, meine Männer trinken Milch aus weißem Pulver?« Die letzte Frage verstand der Knabe nicht, aber er nahm sie hin wie alles, was der überlegene Koloß auf ihn niederprasseln ließ. Der Schreckliche hatte ihn nicht angerührt, keine -161-
Folter hatte ihn gequält, und doch war er wie zerschlagen, ja vernichtet. Er lebte sein Leben nicht mehr. Er ging, er sprach, wie es der Ungenannte wollte, er mußte von nun an dessen Gedanken denken. Ein Mann trat herein, und es knackte leicht. Das Licht erlosch. Die Morgenhelle war da. »Ruhe dich noch aus«, sagte der Ungenannte, »und dann fahren sie dich, so weit es geht. Das hatte dir doch der Chauffeur versprochen«, setzte er mit überlegenem Hohn hinzu. Der Knabe hörte den Hohn heraus. Aber er war müde. »Ja, Sahib«, sagte er, »wie du befiehlst.«
Die Rückkehr »Neunauge«, sagte Plumpudding, »hier habe ich etwas für dich!« Er kam mit schweren, gelbüberhauchten Früchten in das Haus, in dem Neunauge als Koch hantierte. »Was ist das?« fragte Neunauge mißtrauisch. »Früchte vom Yakbaum, sagte GG, mußt mal probieren.« Er schnitt eine auf und gab Neunauge ein Stück. Der roch erst einmal vorsichtig daran, aber schon verklärten sich seine Züge: ein -162-
zarter Duft stieg ihm in die Nase, ein Duft wie von aufgeschnittener Ananas, eben abgezogenen Bananen und frischen reifen Erdbeeren. Er biß hinein und stöhnte beinahe auf vor Entzücken, denn er genoß einen köstlichen Geschmack, der auch an alle die drei Früchte erinnerte. »Mensch«, sagte er, »das ist ein Nachtisch! Den serviere ich heute abend zum Dinner. Das gibt eine Überraschung!« »Tut mir leid«, sagte Plumpudding, »die Herren haben sie schon gegessen.« »Wieso?« fragte Neunauge leicht erbost. »Ich wollte dem Chef ein paar bringen«, sagte Plumpudding, »da saßen gerade alle bei ihm, und da haben sie mitgegessen. Die hier sind nur für dich.« Neunauge ärgerte sich. Wieso hatte Plumpudding diese einzigartige Frucht gefunden und nicht er? Warum versorgte Plumpudding den Chef mit Extra-Rationen? Sah das nicht aus, als liefere die Expeditions-Küche nicht genug? »Besten Dank«, sagte er brummig und schnitt die Früchte, die für ihn bestimmt waren, eine nach der andern auf. »Dann esse ich sie eben allein heute abend zum Dinner.« »Ich würde sie an deiner Stelle lieber gleich essen«, sagte Plumpudding. »Ja, du«, sagte Neunauge verächtlich. »Du kannst immer essen zu jeder Tag- und Nachtzeit, wie ein Hund, aber ich genieße die Komposition einer Speisenfolge, und so werde ich -163-
mich an dieser einzigartigen Frucht heute abend als delikatem Abschluß meines Dinner delektieren. Du bist ein Gourmand, ein Vielfraß, aber ich bin ein Gourmet, ein Feinschmecker.« »Wie du denkst«, sagte Plumpudding und entfernte sich, ohne daß sich in seinem freundlichen Vollmondgesicht eine Miene verzog, und am Abend, als sie alle beisammen saßen und mit dem Essen fertig waren, fragte er in demselben unschuldigen Tone: »Wie ist es, Neunauge, mit deinem Nachtisch? Oder hast du ihn doch noch gleich heute morgen gegessen?« »Nein«, erwiderte Neunauge, »das habe ich nicht, denn ich kann mich beherrschen, und jetzt werde ich ihn mir holen!« Er ging hinüber in den Keller unter seiner Küche – und fuhr zurück, als er seine Früchte aufnehmen wollte: aus ihrem feinen Duft war ein unerträglicher Aasgeruch geworden, und in dem zerlaufenden Fruchtfleisch saßen dicke blauschillernde Schmeißfliegen wie in einem Kadaver. Plumpudding hatte ihm verschwiegen, daß sich die reifen Früchte nur wenige Stunden halten… »Ich glaube«, sagte der Graf, »auf meinen guten Neunauge warten wir vergebens. Er kommt nicht wieder.« »Ich räume ab«, sagte Plumpudding, und Figur half ihm. »Graf«, sagte der Chef, als die drei allein -164-
waren, »ich habe Ihnen immer noch etwas von Neunauge auszurichten. Nach seiner ebenso wilden wie unschuldigen Schießerei hat er mich beiseite genommen. Sie wissen, er ist nur Ihnen zuliebe mit auf unsere Expedition gegangen –« »Pardon«, sagte der Graf, »er hat mich flehentlich beschworen, ich möchte ihn mitnehmen.« »Er stellt das anders dar«, sagte der Chef. »Es ist interessant«, sagte der Graf, »wie die Menschen immer wieder bereit sind, sich über sich selbst zu täuschen. Da er mich aber sonst in ein falsches Licht setzt, muß ich sein Geheimnis verraten. Er ist, wie wir alle, unverheiratet und wohnt in Paris bei Madame Delorme. Madame Delorme ist eine nette Witwe, und sie hat drei sehr nette Töchter, Odette, Manon und Angélique. Er möchte gern eins von diesen sehr netten Mädchen heiraten, aber er weiß nicht welches, und da alle drei Töchter hinter ihm her sind wie die Fliegen nach dem Käse und jede ihn haben will, wußte er nicht mehr aus noch ein und hat mich, wie gesagt, angefleht, ihn mitzunehmen – Afghanistan war ihm noch nicht weit genug von Paris weg, am liebsten wäre er mit mir in einer Rakete auf den Mond geflogen.« »Palaver ist zu Ende«, sagte der Chef, aber damit meinte er, daß für ihn nur das Thema Neunauge erschöpft sei. Jetzt gaben der Graf und GG ihren Tagesbericht. Die Ernährung der -165-
Kinder mit Leber schlug gut an; von Blutübertragungen hatte der Graf noch abgesehen, da er doch nicht sicher war, ob die Kafiri darauf eingehen würden. »Ich setze alles auf die Milchpräparate«, sagte er. »Wenn sie so wirken, wie ich denke, ist das Problem gelöst. Dann müssen Kühe ins Tal, und die Bambini springen herum wie die Osterlämmer.« »Wie lange brauchen Sie, bis Sie klar sehen?« »Die Milchkur mache ich nur mit zwei Kindern«, sagte der Graf. »Nach sechs Wochen muß ich sehen, ob sie anschlägt oder nicht.« »In sechs Wochen bin ich auch so weit«, sagte GG, »daß ich etwas Endgültiges berichten kann. Einen um den anderen Tag ziehe ich mit dem Geoskop und Figur und vier Kafiri durch das Gelände.« »Wie sieht es aus?« fragte der Chef. »Lassen Sie mir die sechs Wochen, Chef«, sagte GG ausweichend. »Alles hängt davon ab, daß der Boy sich gut durchschlägt«, sagte der Graf. Da hörten sie einen leichten Schritt die Stufen herauf kommen. »Tschandru-Singh!« rief GG und sprang auf. Ja, er war es. Der Knabe stand vor den Sahibs. »Friede für alle!« sagte er. »Ich habe die Traglast bekommen. Ich habe sie über die Berge gebracht und an der Stelle unseres alten Lagers vergraben.« -166-
»Gut gemacht, sehr gut gemacht!« rief der Graf, als GG das übersetzt hatte, und GG sagte es ihm auf Hindustani. »Warum lächelt er nicht?« dachte GG. »Wir loben ihn, und er lächelt nicht?« Er mußte sich zu ihnen setzen, GG rief nach Essen, es wurde gebracht, er aß, und als er satt war, sollte er berichten. Er erzählte auch, wie es ihm gegangen war, aber es kam kein Lächeln in sein Gesicht. »Bist du müde, Tschandru-Singh?«, fragte GG. »Ja, Sahib, ich bin sehr müde.« GG ging mit ihm in das Haus, wo der Knabe bei ihm und dem Grafen schlief. Er wusch sich lange und legte sich dann auf sein Bett. »Du hast alles gut gemacht«, sagte GG zu ihm. »Wir werden dir viele Rupien für deine Mutter geben, weil du es so gut gemacht hast.« »O Sahib, ich möchte schlafen und nie wieder aufwachen.« »So müde bist du?« »Todmüde bin ich, Sahib.« »Schlaf dich aus, und wenn du ausgeschlafen vors Haus trittst, werden die Kafiri sagen: ›Das ist der Boy, der für unsere Kinder ganz allein über die Berge gegangen ist‹ – und die Mütter werden voll Liebe an dich denken.« Tschandru-Singh antwortete nicht, und GG ging leise hinaus. Aber der Knabe schlief nicht. Er war überwach und fand keinen -167-
Schlaf. »Ich werde nicht mehr auf das hören, was der Sahib mir sagt. Ich will nicht mehr wissen, was die Sahibs sagen. Ich will nicht mehr sehen, was sie tun. Wenn ich nichts davon weiß, kann ich auch nichts verraten…« Aber da schoß ihm ein neuer Gedanke durch sein müdes Gehirn. »Ich kann den Boten des Ungenannten immer Falsches berichten – wie will er wissen, ob es falsch oder richtig ist?« Doch auch damit war er nicht beruhigt. Um etwas Falsches zu sagen, mußte er ganz genau wissen, was die Sahibs unternahmen, damit er aus Versehen ja nicht etwas Richtiges sagte… Er mußte sie ausspionieren, damit er sie nicht unversehens verriet… Er war im Netz, im unsichtbaren, unzerreißbaren Netz… »Der Boy gefällt mir nicht«, sagte der Chef, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. »Er ist übermüdet«, sagte der Graf. »Kann sein. Aber es sitzt etwas in seinem Blick, das war nicht darin, als er losging«, sagte der Chef. »Offen gestanden«, sagte der Graf, »mir ist das Wichtigste, daß die Kafiri jetzt die Traglast mit den Milchpräparaten auf ihrem Geheimwege herschaffen können.«
Im Schatzhaus
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Der Chef, GG und Figur standen vor dem hohen Hause des Mir. Der Alte aus ihrem Dorf hatte sie durch den Irrgarten geführt. »Wie anders«, dachte GG, »wie anders ist es heute als damals in der Nacht!« Heller Tag war es, und unter den Säulen war niemand zu sehen: der Löwentöter war fort, wie ein Nachtgespenst, das sich vor dem Licht der Sonne in nichts aufgelöst hat. Auch der Mir empfing sie anders, als er GG empfangen hatte. Es waren Lederstühle für sie aufgestellt, aber nur der Mir und sie drei setzten sich. Der Alte aus ihrem Dorf blieb stehen. Von dem ehrwürdigen Haupt des Mir waren die Schatten des Todes gewichen, ja es schien, als strahlten seine Augen einen belebenden Glanz aus. »Ich höre«, sagte er feierlich, »daß zwei der Kinder gesund werden, denen ihr das weiße Pulver gegeben habt, ihre Mütter lachen wieder, und alle Mütter hoffen, daß ihr auch ihre Kinder gesund macht. Ich habe gedacht, es sei ein Zeichen des großen Unglücks, daß ihr unser Tal betreten habt – aber jetzt sehe ich, daß ihr uns Glück bringt. Die Priester sagen, meine Sorge um das sterbende Leben im Tal habe euch hergezogen, ohne daß ihr es wußtet, und der Löwentöter ging, weil er sah, daß seine Stunde noch nicht gekommen war.« »O Vater des Tals«, sagte GG, »wir kommen zu dir der Kinder wegen, die noch krank sind, und um alle Kinder zu retten, die in diesem -169-
Tal noch geboren werden. Es ist die Ziegenmilch, die sie krank macht. Ich habe im Tal keine einzige Kuh gesehen, aber ihr müßt Kühe beschaffen, denn von deren Milch werden die Kinder nicht krank.« »Früher«, sagte der Mir, »waren viele Kühe im Tal, aber in der Zeit der Verfolgung wurden sie alle getötet, weil wir fürchteten, ihr Brüllen könne die Verfolger ins Tal bringen. Hörten sie Ziegen meckern, so war das nicht verdächtig, denn wilde Ziegen gibt es überall in den Bergen. Jetzt können wir wieder Kühe haben, denn unser Tal ist vergessen, und Kabul ist weit.« »Wir müssen die Kühe in Indien kaufen«, sagte der Alte aus dem Dorf, »wir bringen sie ungesehen ins Tal, wie wir eure Lasten ins Tal brachten.« »Das ist gut«, sagte der Mir. »Es soll sofort geschehen.« »O Vater des Tals«, sagte GG, »womit wollt ihr die Kühe jenseits des Passes bezahlen? Ich habe in den Händen eurer Männer nie Geld gesehen.« Der Mir wechselte mit dem Alten einen Blick. Dann fragte er: »Habt ihr genug Rupien mit, daß man davon zehn Kühe und einen Stier kaufen kann?« Der Chef, dem GG alles übersetzte, was gesprochen wurde, antwortete: »Sagen Sie ihm, daß wir genug indische Rupien und afghani-170-
sche Goldamani haben. Aber ich müßte doch erst in London fragen, ob wir das investieren sollen. Sagen Sie ihm, daß die Rupien uns nicht gehören, daß wir über sie Rechenschaft ablegen müssen.« »Ihr sollt uns eure Rupien nicht schenken«, sagte der Mir. Er erhob sich und verließ mit den vier Männern sein Haus. Mit unbeirrbarer Sicherheit schritt der Mir durch die verwirrenden Gänge des Labyrinths, und nach einer Viertelstunde kamen sie wieder in einen großen Wald von Granatbäumen, die aber in einiger Entfernung von riesigen Zedern überragt wurden. Auf die gingen sie zu, und als die Männer sie erreicht hatten, sahen sie, daß die hohen Bäume ein Kreisrund umstanden, in dem ein flachgedecktes, ziemlich langes Holzhaus stand, das aber durch keine Tür verschlossen war, sondern durch eine Art Torrahmen ungehindert betreten werden konnte. Der Mir ging als erster hinein, sie folgten, und was sie jetzt sahen, das verschlug GG und Figur den Atem – selbst die kühlen grauen Augen des Chefs weiteten sich. Sie erblickten unerhörte Schätze. An den Wänden zogen sich lange Gestelle, und auf ihnen standen Krüge und Becher, lagen Waffen, Geräte und Schmuckstücke und alles, wie es schien, aus Silber und Gold. GG nahm eine der goldenen Kannen in die Hand. Sie war schwer. Er betrachtete das Ornament, das in feinster Arbeit in das kostbare Metall -171-
geritzt war. Er erkannte Palmblätter und Doppelspiralen, und nun, nachdem er sie mehr ans Licht gedreht hatte, sah er, wie eine männliche Gestalt einen Pferdmenschen, einen Zentauren, am Hinterkopf packte und ihm ein Schwert in den Rücken stieß. »Griechische Arbeit«, sagte er erregt, »uralte griechische Arbeit –« Jetzt entdeckte er auch die winzigen Schriftzeichen, die neben dem Mann mit dem Schwert eingeritzt waren: »Herakles« las er in griechischen Großbuchstaben, die senkrecht untereinander standen. »Herrlich, herrlich«, sagte GG ganz außer sich. »Das ist der Beweis, daß in diesen Tälern einmal griechische Siedler gelebt haben!« »Wie hoch schätzen Sie den Wert?« fragte der Chef. »Unvorstellbar«, sagte GG. »Bringen Sie das hier auf den Weltmarkt, und sie bekommen Dollar-Millionen dafür.« »Und davor machen die Leute nicht einmal eine Tür!« rief Figur. »Dies ist ein Mischkrater«, sagte GG und wies auf ein herrliches schwarzes Gefäß, das vergoldete Weinblätter in erhabener Arbeit umkränzten, »in ihm mischten die Griechen vor zweitausend Jahren Wasser und Wein. Dies hier« – seine Hand faßte in einer Schale fingerlange Goldplatten und ließ sie wieder in die Schale zurückgleiten – »hat einmal die Gewänder einer Königin verziert – dies goldene Gewinde hat ihre schwarzen Locken gehal-172-
ten –« Der Chef hatte ein Schwert in die Hand genommen. Der Griff war von Gold. Die Klinge zeigte mit Silber und blauem Email eingelegte Bilder, männliche Gestalten, die in einem wilden Kampf verstrickt waren. »Wer ist das?« fragte er. GG besah das Kunstwerk. »Kampf der Titanen mit den Göttern«, sagte er dann. »Wenn Sie das dem Britischen Museum zeigen, so werden die Herren sagen: ›Bedauere, so viel Geld haben wir in England nicht mehr. Das müssen Sie Mr. Rockefeller in USA anbieten.‹ « Der Mir hatte eine Truhe geöffnet. Sie war voller Geldstücke. GG griff hinein und hatte dann Gold- und Silbermünzen auf seiner flachen Hand liegen. »Tetradrachmen aus Mazedonien«, sagte er. »Sehen Sie den Kopf des Apollon – und hier: lesen Sie die Schrift neben dem sitzenden Zeus. ›Alexandros‹! Ein Silberstück aus der Zeit Alexanders des Großen. Und hier: ein Silberschekel aus Jerusalem! Um dreißig solcher Münzen wurde Christus verraten…« »Wir können für dieses Geld keine Kühe in Indien kaufen«, sagte der Mir. »Nehmt euch, was ihr wollt, und gebt uns dafür so viele indische Rupien, wie wir für das Vieh brauchen.« »Mit drei goldenen Krügen ist die ganze Expedition bezahlt«, sagte GG zum Chef. -173-
»Heiliges Kanonenrohr«, sagte Figur, »Wenn jeder von uns nur einen von den goldenen Töppen bekäme, hätte er genug bis an sein Lebensende.« »Nehmen Sie etwas im Wert von 500 Rupien«, sagte der Chef. GG überlegte lange. Dann nahm er zwei kleine Gemmen – eine aus Bergkristall, in die ein Seepferd, und einen lilafarbenen Chalzedon, in den eine Harfenspielerin geschnitten war. »Nach zweitausend Jahren«, sagte GG, »retten sie den Kindern des Tals das Leben.« »Nun frage doch bloß den alten Herrn«, sagte Figur, »warum sie sein Haus, in dem nichts zu holen ist, in dem Irrgarten verstecken, und diese Millionenbaracke hat nicht einmal eine Tür! Darüber komme ich nicht weg. Frag ihn doch, warum sie keine Angst vor Dieben haben!« »Das kann ich nicht«, sagte GG. »Wieso nicht?« fragte Figur. »In der Kafirisprache gibt es kein Wort für ›Dieb‹.«
Die unheimliche Nacht Wieder dröhnte das Tal vom dumpfen Widerhall der Trommeln, aber diesmal erklangen sie -174-
nicht, um die erschreckten Menschen zu warnen: ein Fest wurde gefeiert, drei Tage und zwei Nächte schon, und eben begann der dritte Abend und damit die letzte Nacht des großen Festes. Wochen waren vergangen. Aus dem nordwestlichen Grenzgebiet Indiens waren Kühe geholt worden, die veränderte Ernährung der Kinder hatte ihre Wirkung getan. Noch waren nicht alle wieder hergestellt, aber es war keine Frage mehr, daß sie gerettet waren. Darum dröhnte das Tal von den Trommeln, darum saßen die Alten beim Wein, darum tanzten die jungen Männer die uralten Tänze, indessen die Frauen und Mädchen wie besessen in die Hände klatschten und immer wieder sangen »soti katai, soti katai« – sieben Messer, denn es war der Tanz der sieben Dolche, der getanzt wurde. Der Chef, GG, der Graf saßen mit Plumpudding, Neunauge und Tschandru-Singh unter den alten Männern auf der Gromma, dem Tanzplatz des Dorfes, das dem Haus des Mir am nächsten lag, und sahen den Tänzen zu. Man hatte ihnen die kleinen Lederstühle gebracht, und das war eine hohe Ehre für sie, denn im Freien durften nur der Mir und die ältesten Priester auf Stühlen sitzen. Aber Figur hatte sich wieder davongemacht. »Ich kann nicht den ganzen Tag im ersten Parkett sitzen«, sagte er, »ich muß mir ein bißchen die Beine vertreten!« Er hatte sich unter die Män-175-
ner verzogen, die wie eine Mauer hinter den auf der Erde hockenden Frauen standen, die klatschten und sangen. Sieben Tänzer waren in die freie Tanzfläche gesprungen, sie rissen die Dolche aus den Gürteln, sie begannen zu tanzen, die Köpfe in den Nacken geworfen, die Arme ausgebreitet, in der rechten Hand den Dolch lang ausgestreckt. Schneller klatschten die Frauen, schneller sangen sie ihr anfeuerndes »Soti katai, soti katai«, und schneller drehten sich die Tänzer, in ihren rasenden Bewegungen aber sicher wie Nachtwandler – keiner kam dem gefährlichen Dolch eines andern zu nahe. Jetzt schrie einer der Tänzer: »Soti katai!«, und im selben Augenblick fuhren die Arme der Tänzer hoch, die Dolche wirbelten, mit unerhörter Schnelligkeit um das Handgelenk gedreht, und plötzlich flogen alle sieben Dolche in die Luft, mit ganzer Kraft geschleudert – und mit unbegreiflicher Sicherheit fingen die Tänzer, während sie wie rasend weiter tanzten, die herabfallenden Dolche wieder auf. Ohne hinzusehen packte jeder die Waffe wieder am Knauf. Ein Griff in die Schneide hätte ihnen die Hand zerfetzt… Und wieder, immer wieder: siebenmal flogen die sieben Dolche hoch, siebenmal wurden sie wieder aufgefangen. In dem Augenblick aber, wo die Tänzer zum siebenten Mal zufaßten, brach das Klatschen ab, der Gesang verstummte, und in der jähen Stille standen die Tänzer wie erstarrt, die Dol-176-
che noch hochgestreckt. Niemand rührte sich, alles war wie verzaubert. Dann kam es über die Tänzer, als erwachten sie aus einem unbegreiflichen Traum. Sie gingen mit unsicheren Schritten aus dem Kreis, als bewegten sie sich auf einem ganz fremden Boden. Doch kaum war der letzte von der Tanzfläche abgetreten, da sprangen schon wieder sieben andere herzu, und von neuem setzte das Klatschen und das Singen ein: »Soti katai, soti katai!« Figur sah behutsam nach links und rechts. Alle Menschen neben ihm und um ihn starrten auf die Tanzenden. Die Dunkelheit setzte ein. Er strich über seine rechte Hosentasche und fühlte die Taschenlampe. Langsam löste er sich aus der Mauer der Zuschauenden und verlor sich auf den Weg, der in den Granatbaumwald verlief. Wochenlang hatte er über seinem Plan gebrütet. Am ersten Abend des Festes hatte er ihn ausführen wollen und es dann doch auf den zweiten verschoben. Auch da hatte er sich nicht aufraffen können, aber jetzt mußte es sein. Eine solche Gelegenheit kam nie wieder. Immer wieder hatte er, sobald er sich unbeobachtet wußte, mit dem Fernglas die Gegend um das Schatzhaus abgesucht. Der Kreis der hohen Zedern gab eine sichere Orientierung; er wußte genau, wie er dorthin kam, ohne erst durch den Irrgarten gehen zu müssen – in einem weiten Umweg war dessen An-177-
lage zu umgehen. Keine halbe Stunde, und er hatte das Haus erreicht. Die Nacht war da. Er hielt sich noch im Schutz der mannshohen Granatapfelbüsche. Er horchte. Von fern klang das Dröhnen der Trommeln, das Klatschen und Singen, aber es klang nur sehr gedämpft herüber. Um ihn war alles still. Da – was war das? Zwischen ihm und dem Haus bewegte sich etwas, nicht auf dem Boden, nein, in der Luft. Lautlos, ganz lautlos huschte etwas vorüber. Aber seine Spannung löste sich. Fliegende Hunde umflatterten das Hausdach, die großen Fledermäuse, die auf Jagd nach Insekten waren. Er ging auf das Haus zu. Er schritt durch die türlose Öffnung, die keinem den Eintritt verwehrte. Er blieb stehen und horchte wieder. Doch hörte er nichts, das ihn beunruhigte. Da holte er die Taschenlampe heraus und knipste sie an. Aber er hielt die Finger vor die kleine Birne, damit der Schein nicht etwa von außen gesehen werden konnte. Dicht trat er an die Gestelle heran und ließ das gehemmte Licht auf die Schätze fallen. Das Gold der hohen Krüge funkelte auf, in den silbernen Becher schimmerte es… War es nicht verrückt, daß dieser unerhörte Reichtum hier nutzlos herumlag? Was machte es den Kafiri aus, ob sie diese Kostbarkeiten hatten? Was wußten sie denn damit anzufangen, bitte sehr? Gar nichts, gar nichts waren ihnen diese -178-
Schätze nutz. Eine Sentimentalität war es, hier nicht zuzufassen, und er war nicht sentimental, wahrhaftig nicht. Dazu hatte ihn das Leben schon zu sehr geschleift… Zu dumm, zu dumm – von den großen Sachen konnte er nichts nehmen. Wo sollte er einen der Krüge im Gepäck unterbringen, ohne daß man ihn sah? Nicht einmal einen Becher – doch, einen Becher brachte er unter, und schon hatte er einen Goldbecher in der Hosentasche. Aber er wußte, was er wollte. Das hatte er sofort gesehen, als er das erstemal hier im Schatzhaus gewesen war. Neben der Truhe, in der das alte Geld lag, hatte er in einer Schale Ringe gesehen, und die waren leicht zu verstecken. Da waren sie. Goldene Ringe mit dunklen Steinen, in die etwas geritzt war; manche trugen statt der Steine Goldplatten, die aber auch Gravierungen hatten. Doch da fiel ihm ein, daß der Kunstwert dieser Dinge vielleicht größer war als ihr Goldwert. Wo waren die reinen Goldplättchen, die GG wieder zurückgeschüttet hatte, als sei es zersplittertes, wertloses Furnierholz? Ja, das war ganz der Große Geist: Er wußte das Jahr, wann diese Sachen vor Olims Zeiten hergestellt worden waren, er konnte gescheit erzählen, was davon einmal über Kreta von Ägypten gekommen war – aber sich hier mit einem raschen Griff ein für allemal gesund zu machen, das traute sich dieser gescheite Hund nicht. Er -179-
konnte es sich auch erlauben, ein feiner Kerl zu sein, weil er alle seine Examina mit eins bestanden hatte und als Musterknabe durchs Leben lief… Er griff in die Schale mit den fingerlangen Goldplättchen und stopfte sie sich in die Taschen. Die waren richtig. Die konnte man einschmelzen lassen, damit keiner sah, woher sie kamen. Die mußte man in Marseille losschlagen. Die französischen Bauern kauften immer Gold, weil sie keiner Währung mehr trauten; zu den Gold-Schmugglern, die ständig von Tanger herüberkamen, hatte er gute Beziehungen, da brauchte er nur zu dem Mulatten in der Kneipe »Zur Frau ohne Kopf« zu gehen. Plötzlich stutzte er. Er stand genau an der Stelle, wo GG aus der Reihe der goldenen Krüge einen genommen und ans Licht gedreht hatte. Da hatte eine ganze Reihe von fünf oder sieben gestanden, und jetzt waren sie alle weg! Er leuchtete noch einmal hin. Er sah es genau: auf dem Gestell lag Staub, und deutlich hoben sich darin die Kreise ab, wo die Krüge gestanden hatten. Er knipste seine Lampe aus. Er stand im Dunklen. Da war vor ihm einer dagewesen, und, Teufel noch einmal, der hatte anders zugefaßt als er! Der hatte gleich das Allerwertvollste eingesackt. Immer kam er zu spät, immer war er es, der das Pech hatte… Aber wer? Wer? Ausgeschlossen, daß es GG gewesen war. Der Chef? Er sah das unbewegte Ge-180-
sicht des Engländers vor sich. Wer wußte denn, was hinter diesen steinernen Zügen vor sich ging? Verdammt, da fiel ihm ein: er selbst hatte den Mund nicht halten können, er hatte ja Plumpudding und Neunauge genau erzählt, was sie hier im Schatzhause gesehen hatten! Natürlich, von den beiden war einer hier gewesen oder beide zusammen, und sie hatten gründlich aufgeräumt. Von Neunauge wunderte ihn dies nicht, der war aus Marseille, das sagte genug – doch dieser Plumpudding, dieser Heimtücker, dieser hinterhältige Ire, der sich immer benahm, als käme er gleich nach dem lieben Gott – Jetzt aber erschrak er bis in die Knochen. Daß ein paar Ringe fehlten, ein Becher, von dem Dutzende da waren, oder die kleinen Goldplatten, die keiner nachgezählt hatte – das merkte niemand. Doch wenn die großen Krüge fehlten, das mußte auffallen, das kam an den Tag – und wenn die Kafiri erst mißtrauisch geworden waren, dann würden sie auch suchen, was er sich genommen hatte. Er verfluchte die Unvorsichtigen, die ihn ins Unglück brachten; auf niemand war Verlaß, auf niemand… Sollte er am Ende die Sache aufgeben? Was – wieder hinlegen, was er in den Taschen hatte? So dumm war er nicht, nein. Die Sache war verdammt riskant geworden, gewiß. Aber schließlich: das ganze Leben war ein einziges -181-
Risiko… Er tastete sich im Dunkeln aus dem Haus. Als er wie von ungefähr wieder auf dem Tanzplatz erschien, hatte sich dort nichts verändert. Die Frauen klatschten in ihrem wilden Takt, der einem ins Blut ging und alles Denken auslöschte, sie sangen ihr soti katai wie berauscht, ja besessen, und die Tänzer tanzten, als wären sie nicht mehr auf dieser Erde, sondern irgendwo auf einem anderen Gestirn. Figur drängte sich langsam durch die Menge, bis er wieder auf seinem Stuhl neben den anderen saß. Der Tanz war zu Ende, und die Weißen wollten aufstehen, als sie ein wildes Geschrei hörten. Die Frauen und Mädchen sprangen auf und wollten fortstürzen; die Männer blieben stehen, wo sie standen, aber alle fuhren mit der Hand an den Dolchgriff. Eine laute Stimme rief etwas über den Platz. Die Frauen und die Mädchen hockten sich wieder auf den Boden; aber sie legten die Arme vor die Augen, als wollten sie nicht mit ansehen, was nun geschah. »Was ist los?« fragte der Chef. »Niemand soll den Platz verlassen«, sagte GG. »Ich weiß nicht«, sagte der Graf, »ich habe das Gefühl, als sei dies im Festprogramm nicht vorgesehen.« Sie sahen einen Feuerschein. -182-
»Da brennts«, sagte Neunauge unruhig. »Fackeln«, sagte der Chef. »Kommt aus der Richtung des hohen Hauses, in dem der Mir wohnt«, sagte GG. »Nein«, sagte der Chef. »Weiter weg.« »Dann kann es am Schatzhaus sein«, sagte GG. Figur schluckte. Ihm wurde der Mund trokken. Er sah auf Neunauge und Plumpudding. Sie blickten wie die andern in die Richtung des Feuerscheins, aber er konnte ihnen nichts anmerken. Aufstehen, schnell aufstehen und weggehen? dachte er aufgeregt. Aber das mußte ja auffallen… Was denn? Er wird sich doch nicht ins Bockshorn jagen lassen. Wer weiß denn überhaupt, ob sie – – Das Geschrei kam näher. Auch die rötliche Helligkeit des Feuerscheins. Die Frauen und die Mädchen beugten die Köpfe tiefer, die sie noch immer mit den Unterarmen bedeckten. Sie murmelten etwas, das wie eine beschwörende Klage klang. »Was sagen sie?« fragte der Chef. »Ich kann es nicht deutlich verstehen«, sagte GG. »Wenn ich mich nicht täusche, muß es irgend etwas mit dem Schatzhaus sein.« Figur saß neben ihn. Er hatte genau gehört, was GG sagte. »Diese Hunde«, dachte er, »diese elenden Hunde! Mich bringen sie ins Unglück… Hätten -183-
sie nicht bescheiden sein können wie ich? Kein Mensch hätte etwas gemerkt, kein Mensch. Und dabei sitzen sie so unschuldig da, als wären sie eben erst auf die Welt gekommen!« Der Kreis von Menschen, der um den Tanzplatz wie eine Mauer gestanden hatte, war an der Stelle auseinander gegangen, auf die hin sich Geschrei und Feuerschein zu nähern schienen. Hier hatte sich jetzt eine Gasse gebildet, aber auch da hockten die Frauen und die Mädchen mit gesenktem Kopf auf dem Boden. Jetzt schrien sie auf, und es rannte, gefolgt von Geschrei und Fackellicht, ein fast nackter Mann an ihnen vorbei und warf sich in der Mitte des Tanzplatzes nieder. Schon waren auch seine Verfolger angelangt. Ein Teil der Männer trug Fackeln, ein anderer Speere. Die Fackelträger rannten weiter und stellten sich im weiten Umkreis des Tanzrunds auf, so daß es auf einmal hell erleuchtet war, und in dieser flackernden Helle lag der geflüchtete Mann, ohne sich zu regen. Die Speerläufer aber waren etwa zehn Meter vor ihm stehengeblieben, und einer nach dem andern schleuderte seinen Speer auf das Opfer. Doch keine der tödlichen Waffen traf seinen wie aus Erz gegossenen Leib. Die Speere fuhren unmittelbar neben ihm in die Erde, so daß er im Umsehen von ihnen umstellt war wie von einem Gitter. Aber dessen Stäbe schwankten und zitterten, denn da der Boden des Tanzplatzes durch die stampfenden Füße wie von Stein -184-
war, hatten die Männer die Speere mit furchtbarer Kraft schleudern müssen. Jetzt trat ein Mann in den Kreis, bei dessen Anblick GG sich sagte, er habe ihn schon einmal gesehen, und schon wußte er auch, wo das gewesen war: das war der Löwentöter. Der Priester trat an den liegenden Mann heran, von dem ihn die Speere trennten. »Lebst du?« fragte er. »Ich lebe«, sagte der liegende Mann. »Er lebt!« rief der Priester der Menge zu. »Er hat dem Gott sein Leben angeboten, aber Gott hat ihm das Leben gelassen.« Die Frauen und die Mädchen stöhnten auf wie befreit. Sie nahmen die Arme von den Augen und hoben die Köpfe. Die Speerwerfer traten herzu und rissen ihre Speere aus dem Boden, der Liegende erhob sich. »Du Lebendiger! Du Lebendiger!« riefen ihm die Mädchen jauchzend zu, und er lachte sie an. »Nun sagen Sie doch, GG«, flüsterte der Graf, »was soll das?« Aber GG kam nicht dazu, zu antworten, daß er das auch nicht wisse, wenn schon es ihm wie eine Opferhandlung schiene. Ein feierlicher Zug von Fackelträgern schritt den Gang herauf, und ihnen allen voran der Mir, der während des ganzen Festes nie zu sehen gewesen war. Hinter ihm gingen Männer, von denen trug jeder einen der goldenen Krüge. -185-
Figur zählte sie. Es waren genau sieben Männer. Und das waren die sieben Krüge, die im Schatzhaus gefehlt hatten. Sie mußten irgendwo anders gestanden haben. »Mich laust der Affe«, dachte er. Er wollte in die Taschen fahren, um sich einen Priem zwischen die Zähne zu schieben. Aber er kam an seinen Kautabak nicht heran. Der lag ja ganz unten, von Ringen und Goldplatten begraben. Der Mir blieb vor den Weißen stehen. Sie erhoben sich, denn es war ihnen unmöglich, sitzen zu bleiben, wo dieser ehrwürdige alte Mann vor ihnen stand. Tschandru-Singh legte die Hand an die Stirn. »Freunde des Tals«, sagte der Mir, »ihr habt unsern Kindern neues Leben geschenkt – nehmt nun die Gegengabe der Männer und Frauen des Tals!« Die Träger setzten vor jeden der Gäste einen goldenen Krug nieder. »Fürchtet euch nicht«, so fuhr der Mir fort, »die Gabe zu nehmen. Was in unserm Schatzhaus liegt, gehört unserm Gott, und damit er uns nicht zürnt, weil wir die goldenen Krüge verschenken, und auch euch nicht, die ihr sie haben sollt, haben wir Gott ein Opfer angeboten, aber ihr habt gesehen, daß Gott es nicht wollte. Er hat die Hände der Speerwerfer so geführt, daß kein Speer den Mann traf, der bereit war, zu sterben, um Gott zu versöhnen. Nehmt und geht und lebt in unserm Tal, solange ihr mögt!« -186-
Als sie ihrem Dorf zugingen, trug jeder seinen goldenen Krug. Nur Plumpudding trug zwei, da er es nicht sehen konnte, daß der Chef nicht die Hände frei hatte. »Meine Vorfahren«, sagte der Graf, »die mit Gottfried von Bouillon ins Heilige Land gefahren sind, haben niemals ein so wertvolles Stück mit nach Haus gebracht wie ich.« »Wie hoch schätzen Sie die Kanne?« fragte Plumpudding. »Unter zehntausend Dollar brauchen Sie nichts abzugeben«, antwortete GG. »Für alle sieben?« »Für das Stück«, sagte GG. »Nicht ganz schlecht«, sagte der Chef. »Wenn man bedenkt«, sagte GG, »daß diese goldenen Kannen, die wir hier tragen, gehämmert wurden von einem Goldschmied, der vierhundert Jahre lebte, ehe Christus erschien. Zu dieser Zeit starb Buddha.« »Der Krug wird nicht verkauft«, sagte Neunauge. »Wenn ich erst mein Bistro habe, kommt er in eine große Vitrine aus Glas. Die Leute werden nicht mehr ins Louvre gehen, sondern ins ›Vergnügte Neunauge‹, und wenn Vanderbilt persönlich kommt und mir seinen Scheck hinhaut – ›Tut mir leid, Monsieur‹, sage ich, ›nehmen Sie einen Calvados oder, wenn Sie fürs Süße sind, einen Cointreau – aber der Krug ist unverkäuflich. Persönliches Geschenk von seiner Königlichen Hoheit dem -187-
Emir von Afghanistan‹. Natürlich muß ich ihn gegen Diebstahl hoch versichern.« »Ein Krug von Gold«, dachte TschandruSingh, »meine Mutter hat so etwas noch nie gesehen. Ich muß mir von den Sahibs einen Schein schreiben lassen, daß ich ihn nicht gestohlen habe, und wenn wir ihn verkaufen, werden wir so viele Rupien dafür bekommen, daß meine Mutter weinen wird vor Glück, denn nun ist sie erlöst von Elend und Schande. Ich werde sie wegbringen, weit, weit weg von Lala Gul, und die Leute werden sagen: ›Da geht eine gute Frau, die reich ist‹, und niemand wird wissen, daß sie eine Unberührbare war.« Aber das dachte er alles, ohne daß es ihn glücklich machte, denn die unsichtbare Last des Verrats, mit der er sich abschleppte, wog schwerer als die Freude über den goldenen Krug. Auch Figur ging seinen Weg schweigend. Er schämte sich über das, was er in den Taschen hatte. »Wie konnte ich wissen«, so suchte er sich vor sich selbst zu rechtfertigen, »daß die Kerle in dieser gottverlassenen Gegend so anständig sind? Wer Menschen vertraut, hat auf Sand gebaut – das ist so wahr wie zweimal zwei vier ist. Mich haben zu viele übers Ohr gehauen, als ich noch nicht fix genug war.« Aber in der Nacht, als alles schlief, machte er sich wieder auf den Weg ins Schatzhaus und leerte dort seine Taschen.
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Der Überfall Vorsichtig von Baum zu Baum huschend, den Browning in der Tasche, schlich sich der Chef durch den Zedernwald. Etwa fünfzig Meter vor ihm ging Tschandru-Singh, ahnungslos, daß er verfolgt wurde. Nie war der Chef sein Mißtrauen gegen den Knaben losgeworden. Daß der Inder das Paket von Tschitral her besorgt hatte, war eine Leistung, die der Chef anerkannte. Aber war sie Tschandru-Singh nicht vielleicht gerade deswegen geglückt, weil er drüben Helfershelfer hatte? Hing er nicht doch mit dem Ungenannten zusammen? Und warum zeigte sich der Inder, seitdem er wieder zurückgekommen war, so verschlossen? Was verbarg er? Was ging in ihm um? Niemals wieder hatte der Chef etwas darüber geäußert, daß er Verdacht gegen ihn hatte. Immer blieb sein Gesicht unbewegt, sein Wesen beherrscht freundlich. Aber unablässig beobachtete er, ohne daß das irgend jemand auffiel. So war es ihm nicht entgangen, daß Tschandru-Singh eines Tages längere Zeit fort war. Darauf geschah nichts; dann aber war er wieder verschwunden, und zwar vierzehn Tage später. Zufall oder nicht? Der Chef paßte auf, als der fünfzehnte Tag zum dritten Mal gekommen war – und richtig, TschandruSingh verließ wieder das Dorf! Der Chef sah, -189-
welche Richtung er einschlug. Der Knabe ging dem Talschluß zu – suchte er etwa den Weg über die Felslöcher? Der Chef ging ihm nicht nach. Aber wieder vierzehn Tage später verließ er noch im Dunkel der Nacht das Dorf und ging vor Tschandru-Singh den Weg, den er ihn hatte einschlagen sehen. Er lag auf halber Höhe versteckt, als der Knabe an ihm vorüberkam, und nun war er hinter ihm her und würde ihn nicht mehr loslassen, bis er entdeckt hatte, was hier vor sich ging. Dreimal hatte Tschandru-Singh am Ende des Zedernwaldes den Boten des Ungenannten getroffen, der ihn jedesmal wieder auf vierzehn Tage später bestellt hatte. Dreimal hatte er ihm gesagt, daß die Sahibs nichts anderes täten, als die kranken Kinder zu heilen. Er hatte ihm verschwiegen, daß der Sahib, den er liebte, sich nicht um die kranken Kinder bekümmerte, sondern Tag für Tag mit einigen Kafiri, die ihm zwei Lederkoffer trugen, durch das Tal und in die Berge zog. Zuweilen begleitete dabei Figur den Sahib, oft war auch er, Tschandru-Singh, mitgegangen und hatte gesehen, wie der Sahib den Koffern geheimnisvolle Dinge entnahm und sie aufbaute. Er war auch schon mit dem Band vorausgeschritten, auf dem Striche und Zahlen waren und womit, ohne daß er begriff, was da vor sich ging, am Boden Meßpunkte festgelegt wurden. Er hatte gesehen, wie sein Sahib sich über den sonderbaren Kasten beugte und dann Zeichen auf -190-
ein Blatt schrieb. Er hatte es über sich gebracht und gefragt: »Was tust du da, Sahib?« und er hatte die Antwort erhalten: »Ich höre, wie das Erz sich meldet.« Mit dem sicheren Instinkt, daß dies etwas war, das verschwiegen werden mußte, hatte der Knabe mit keinem Worte davon gesprochen. Jedesmal hatte der Bote des Ungenannten ihm gedroht, was er sage, sei zu wenig, und jedesmal hatte er beteuert, er könne nicht mehr erzählen, als er gesehen habe. Aber jedesmal ging er seinen Weg auch mit schwererem Herzen, denn der Tag mußte kommen, wo der Mann, den der Ungenannte schickte, sich mit seinem mageren Bericht nicht zufrieden gab. Er sah schon den Rand, wo der Zedernwald aufhört. Jetzt hatte er ihn erreicht und näherte sich am Waldrand entlang der äußersten Zeder, von wo aus man wieder einen Blick ins Tal hatte und wo der Bote immer wartete. Heute aber war niemand da, und der Knabe setzte sich, müde von dem langen Wege. War er eingeschlafen? Er fuhr hoch – und vor ihm stand eine mächtige Gestalt. Diesmal war der Ungenannte selbst gekommen! Der Knabe erschrak sehr. Er wußte: der furchtbare Mann würde sich mit seinen Ausflüchten nicht zufrieden geben. Jetzt kam für ihn die Stunde des Verrats. »Ich sehe, daß du gekommen bist«, sagte der Ungenannte. »Ich werde hören, was du berichtest – aber ich sage dir gleich, ich will -191-
nicht hören, daß die Sahibs die Kinder heilen. Ich will wissen, was sie noch tun.« »Sie essen«, sagte der Knabe trotzig, »sie schlafen, sie sehen zu, wie die Männer tanzen.« »Und was tun sie noch?« »Sie schießen Fasane, und ein Sahib geht immer wieder fort, einen Steinbock zu schießen, aber er hat noch keinen geschossen.« »Und was tun sie noch?« »Ich habe dir gesagt, was sie tun.« »Du hast mir nicht alles gesagt, was sie tun«, sagte der Ungenannte langsam. »Ich sehe, du lügst, und ich sehe auch, daß du deine Mutter töten willst. Es ist gut. Ich gehe.« Voller Entsetzen sah der Knabe, daß der Ungenannte sich umdrehte, um in die Richtung zu gehen, aus der er gekommen sein mußte. »Bleib«, stammelte er, »bleib doch –« Aber der riesige Mann ging langsam den Bergen zu. Der Knabe lief hinter ihm her. »Ich will es dir sagen!« schrie er verzweifelt. »Ich will dir alles sagen!« Der Ungenannte blieb stehen. Er wandte sich wieder dem Knaben zu. »Ich habe nur noch einen Augenblick für dich«, sagte er verächtlich. »Sprich schnell, eh’ es zu spät ist!« »Hände hoch!« rief der Chef scharf. Er stand etwa fünfzig Meter von den beiden, seinen -192-
Browning in der erhobenen Hand. Der Ungenannte sah auf und begriff die Lage. Er hob seine Hände. Aber der Knabe warf sich blitzschnell zu Boden, rollte zum Abhang hin und war in den Büschen verschwunden. Langsam, ohne die Pistole sinken zu lassen, ging der Chef auf den riesigen Mann zu, der da mit erhobenen Händen stand. Er hatte den scheinbar Irren damals bei den Schinwari nicht beachtet; so konnte er ihn auch nicht wiedererkennen. »Was tust du hier?« fragte der Chef. Er blickte ihm fest in die Augen. So sah er nicht, daß die Finger der erhobenen Hände auf und nieder gingen. »Was tust du hier?« fragte der Riese zurück. Er sprach ein gutes Englisch -. »Was hast du mit unserm Boy zu reden?« fragte der Chef. »Was geht das dich an?« fragte der Riese. Sie standen sich auf drei Schritt gegenüber. Der Chef hörte, wie sicher die Stimme des andern klang. Also fühlte sich der Riese nicht unterlegen, trotzdem er die gefährliche Waffe auf sich gerichtet sah. Sagte er sich, was auch den Chef bestimmte – daß ein toter Mann nicht spricht, daß er lebend gefangengenommen werden mußte, wenn er sprechen sollte? Und war er etwa sicher, daß er das verhindern würde? Der Chef hörte den Schrei eines Geiers. Aber -193-
er sah nicht auf, um den Vogel zu suchen. Er hätte sonst gesehen, daß keiner über ihnen kreiste. Er sah, daß der Riese sich spannte. Er sah, daß sich dessen rechter Fuß fast unmerklich vom Boden hob. »Tritt in den Bauch«, berechnete der Chef. Jetzt – aber ehe der Stoß ihn erreicht hatte, traf seine eiserne Linke die Halsschlagader seines Gegners, der furchtbare Hieb drosselte dem Getroffenen die Blutzufuhr zum Gehirn ab, und der Koloß sank zu Boden wie ein gefällter Baum. Doch da rauschte es um den Sieger. Aus dem Rhabarbergestrüpp um ihn sprangen die drei Männer hoch, die auf das unbemerkte Zeichen des Unaussprechlichen aus dem Wald herangekrochen waren. Während ihm der eine die Hand mit der Pistole hochstieß, wobei die Schüsse in die Luft gingen, hatte der zweite ihm die Füße umklammert, und ein dritter riß ihn von hinten zu Boden. An diesem Vormittag war Neunauge in miserabler Verfassung. Über Nacht hatte ihn ein Hexenschuß heimgesucht, daß er sich nur mit den größten Schmerzen vom Fleck bewegen konnte. Plumpudding hatte es deshalb übernommen, das Essen zu besorgen, und Neunauge saß vor dem Haus, in dem gekocht wurde, untätig, das Fernglas in der Hand. Es hatte ihm gar nicht gefallen, daß er Figur immer wieder angetroffen hatte, wie der mit dem scharfen Glase das Tal abgesucht hatte. Auf seine Fragen, was es denn immer zu sehen -194-
gäbe, hatte er nur eine unbestimmte Antwort erhalten, denn Figur hatte sich gehütet, ihm zu sagen, er suche einen sicheren Weg zum Schatzhause. So hatte Neunauge das Gefühl, er würde hier um irgend etwas gebracht, und die unfreiwillige Muße, zu der er heute verdammt war, benutzte er dazu, seinerseits das Tal und die gegenüberliegenden Höhen abzusuchen, noch dazu weil er wußte, daß Figur drüben wieder unterwegs war, um endlich einen Steinbock zur Strecke zu bringen. Er hörte auch, aber nur schwach, Schüsse. Er sah in die Richtung, aus der sie kamen, und der Zufall spielte; er bekam die freie Fläche vor dem Zedernwald in dem Augenblick ins Blickfeld, als der Chef niedergerissen wurde. Er sprang auf und schrie vor Schmerzen, denn er hatte seinen Hexenschuß ganz vergessen. »Plumpudding!« schrie er. »Plumpudding!« »Was bleibst du denn nicht sitzen?« rief Plumpudding hinaus, der eben Reis auf den Herd setzte, »du weißt doch, daß du dich nicht rühren darfst!« Aber Neunauge stand schon im Türrahmen, zusammengekrümmt und mit einem Gesicht, das die Aufregung verzerrte. »Plumpudding«, keuchte er, »sie haben den Chef überfallen!« »Wer?« fragte Plumpudding. Er dreht sich nicht um. Er rührte mit seinem Holzlöffel ruhig weiter, damit der Reis nicht ansetzte. »Kerle, irgendwelche Kerle!« schrie Neunau-195-
ge. »Dafür sind wir in Asien«, sagte Plumpudding. »Da soll so etwas schon vorkommen!« Ihm war völlig klar, daß Neunauge ihn auf den Arm nehmen wollte. Nachdem er mit seiner Schießerei, der Yak-Frucht und auf dem Tretrad sich so blamiert hatte, mußte er ja wohl zeigen, daß er auch imstande war, jemand hineinzulegen. »Mensch, Plumpudding«, schrie Neunauge, »mach mich nicht rasend! Wenn ich nur kriechen könnte, wäre ich schon längst dort. Es geht um sein Leben!« »Seine Sache«, antwortete Plumpudding. »Er hat nicht gern, daß man sich in seine Angelegenheiten mischt. Außerdem hat er weder Frau noch Kinder, Eltern sind beide gestorben, sie waren zusammen 170 Jahre alt – also wenn’s ihn erwischt, gibt es keine trauernden Hinterbliebenen.« Und er begann sein Lieblingslied: »Ich fuhr mal auf ‘nem Segler, sagte Karlsen.« Neunauge kam ganz verzweifelt in die Küche gehumpelt, »Ich mache doch keinen Witz«, stöhnte er. »Ich hab’s durch das Glas gesehen, wie ihn wer umriß! Plumpudding, du mußt los! Du mußt hin! Der Graf ist irgendwo im Tal bei den Kindern, der Deutsche, der alles weiß, ist mit seinen Trägern fort, Figur ist hinter einem Steinbock her, der Junge ist wer weiß wo – nimm deine Pistole, Mensch, und sause los! Oben, bei dem Zedernwald, ich zeig -196-
dir’s!« Nun stutzte Plumpudding doch. Er stand mit dem Rücken zum Herd, er sah dem aufgeregten Franzosen aufmerksam ins Gesicht – und ließ sich noch nicht überzeugen. »Du hättest zum Theater gehen sollen, Neunauge«, sagte er seelenruhig. »Du machst das wirklich großartig! Aber das könnte dir so passen, daß ich jetzt wegstürze, meine Pistole hole und dann drüben die andere Seite hochkeuche, für nichts und wieder nichts. Das kannst du mit meines Vaters Sohn nicht machen, Neunauge.« Er drehte sich wieder dem Herd zu. »Menschen sind das, Menschen!« stöhnte Neunauge und humpelte fast berstend vor Wut, daß ihm der Ire nicht glaubte, aus der Küche. Er nahm das Glas wieder vor die Augen. In der Aufregung hatte er an der Schraube gedreht, so daß er sie neu einstellen mußte. Endlich hatte er das Bild wieder scharf, und jetzt hatte er die Stelle. »Na, Neunauge«, sagte Plumpudding, der ihm nachgegangen war, »was siehst du denn nun?« »Nichts, gar nichts!« sagte Neunauge, sein Herz bis an den Rand voll Bitternis. Tschandru-Singh hatte sich in die verholzten Stämme der Büsche geklammert, die am Abhang standen. Der Absturz hätte ihm den Tod gebracht. So aber rollte er nicht weiter, son-197-
dern hing über der Tiefe, und langsam zog er sich auf sicheren Grund. Vorsichtig bog er, immer noch auf der Erde liegend, die breiten Blätter, die ihn verbargen, auseinander und spähte zu der Zeder hin. Was sich inzwischen dort abgespielt hatte, wußte er nicht. Nur die Schüsse hatte er gehört. Er sah, daß der Ungenannte mit drei Männern sprach. Den Chef sah er nicht. Was dort geredet wurde, konnte er nicht hören. Der Ungenannte ging in der Richtung auf den Weg zu den Löchern im Fels. Einer der Männer bückte sich und hob dann etwas hoch. Es war der Chef, den sie zusammengebunden hatten. Sie packten ihn unter den Armen und zogen ihn so über den Boden, auf dem seine Füße schleiften. Sein Kopf hing nicht herab; er lebte also noch. »Sie binden ihn an einen Baum, genau so wie mich damals!« Behutsam ließ er die auseinandergebogenen Blätter wieder zusammengehen, hielt sie aber fest, damit sie nicht noch nachschwankten. Er wartete einige Atemzüge lang; dann kroch er zurück. Als er den Wald erreicht hatte, richtete er sich auf und rannte die Strecke zurück, die er gekommen war. Er mußte wieder ins Dorf. Er mußte die Sahibs rufen. Sie mußten ihre Gewehre und Pistolen nehmen, und er mußte sie, so schnell es nur ging, an die Stelle bringen, wo er die Männer und den Chef gesehen hatte. Er hatte jetzt keine Zeit, daran zu denken, was aus ihm würde, nachdem der -198-
Chef gesehen hatte, wie er mit dem Ungenannten sprach. Er mußte jetzt nur laufen, was er konnte. Er mußte zurück ins Dorf – nein, er brauchte nicht zurück ins Dorf! Welch ein unerhörtes Glück: dort kam Figur den Hang heruntergeklettert. Er hatte die Schüsse gehört und den Steinbock aufgegeben. Tschandru-Singh stieg ihm entgegen. »Hallo, Boy!« »Sahib, Sahib«, keuchte Tschandru-Singh, »Sahib Chef – bad men – bad men –« und er legte die Arme ganz eng um seinen Leib, Figur verstand: der Chef war gefesselt worden. Er hatte nach dem Klang der Schüsse schon auf den Browning des Chefs geschlossen. »Junge«, sagte er »du kommst mir gerade richtig. Der Bock hat mich wieder sitzen lassen – ich werde den Lumpen zeigen, was Kunkes Bertram mit einer Winchester und einem Zielfernrohr drauf fertigbringt.« Tschandru-Singh konnte nicht verstehen, was der Sahib sagte. Sie hasteten zusammen auf den Zedernwald zu. Der Knabe blieb stehen, hielt Figur am Ärmel fest und hob warnend drei Finger in die Höhe. Figur nickte und hastete weiter. »Versteh’ schon, Kerlchen«, sagte er, während er weiter ging, so schnell er nur konnte. »Und wenn es sechs wären, mit denen werde ich fertig. Bin gerade in der richtigen Laune. Der verdammte Bock – die ganze Nacht habe ich mir wieder um die Ohren geschlagen, und wenn ich dann das blöde Grin-199-
sen sehe, mit dem Neunauge sein Gesicht illuminiert, weil ich ohne nach Haus komme, kann das einen milden Missionar in Wut bringen.« Sie hatten den Hochwald erreicht. Tschandru-Singh legte den Finger auf die Lippen. Figur war im Bilde. Lautlos bewegte er sich von Stamm zu Stamm, immer in der Richtung, die Tschandru-Singh angab. Am Waldrand legte der sich auf den Boden, Figur tat es ihm nach. Sie lagen dicht nebeneinander. Sie spähten hinaus. Sie sahen die einzelnstehende Zeder, aber sie sahen kein lebendes Wesen. Sie krochen weiter. Sie kamen an den großen Baum, sie sahen das niedergetretene Gras, da war die Schleifspur, sie zog sich lang hin. Figur verfolgte sie durch das Fernglas, bis sie hinter einer Bodenwelle verschwand. Dahinter sahen sie jetzt leichten Rauch aufsteigen. Die ansteigende Bodenwelle mußte sie gegen Sicht decken. Sie liefen gebückt die Schleifspur entlang. Zwanzig Meter vor der Kante warfen sie sich wieder hin und näherten sich dem Rand kriechend. Sie hatten ihn erreicht. Figur legte die Hand auf den Kopf des Knaben, damit er sich ja nicht verriete, und ganz langsam hob er seinen eigenen empor. »Da sind sie«, sagte er, nahm das Glas von den Augen und schätzte die Entfernung. »Gerade richtig«, sagte er, nahm die Winchesterbüchse und stellte das Fadenkreuz des Zielfernrohrs, das auf dem Lauf saß, haargenau -200-
ein. Der Chef wußte, was ihm bevorstand. Die drei Männer hatten ihn so festgebunden, daß er im Grase saß, mit dem Rücken gegen eine kleine Birke. Sie hatten ihm die Stiefel ausgezogen und die Strümpfe. Dann hatten sie dürres Holz zusammengesucht, ein Feuer angemacht und einen dicken Ast hineingelegt. Sie warteten darauf, daß er ins Glühen kam. Damit würden sie ihm die Fußsohlen verbrennen. Er sollte singen. Es waren Männer des Ungenannten, und der Riese, den er niedergeschlagen hatte, war der Ungenannte selbst gewesen. Das war ihm jetzt klar. Und klar war ihm auch, daß Tschandru-Singh im Dienst des gefährlichen Mannes stand. Wäre er doch gleich seinem Mißtrauen gefolgt… Als Spion hatten sie ihn damals zurückgelassen, zum Schein nur angebunden. Er hörte wieder GGs Worte: »Ich verbürge mich für den Jungen, Chef!« Großer Geist… Großer Geist… Seine Lippen verzogen sich spöttisch. Großes Wissen, enormes Wissen, – aber was wußte GG von den Menschen? Nichts… Er vertraute ihnen wie ein junger Hund, der auf alle wedelnd zuläuft, weil er noch keine Erfahrungen gemacht hat. Nachsichtige Verachtung – die verdienten die Menschen, und weiter nichts. Er rechnete. Wann würde er im Dorf vermißt werden? Nicht vor sechs Uhr abends. Das war die Stunde ihres gemeinsamen Essens. GG -201-
war unterwegs, Figur auch, der Graf bei den Kindern – Plumpudding würde natürlich nach ihm aussehen, warum er so spät zum Essen käme – aber auch das würde nichts helfen, denn keiner wußte ja, wo er war… Er sah nach dem Feuer. Lange konnte es nicht mehr dauern, dann mußte der dicke Ast glühen. Nun, er würde den Männern nicht das Vergnügen machen, zu singen. Nicht schlecht, was Großer Geist damals gesagt hatte: »Die Farbe der Feringi ändert sich nicht in der Stunde der Gefahr.« Natürlich, ein bißchen Trompete – aber hatte nicht alles Großartige etwas von Trompetengeschmetter? Nein, nicht jeder Trompetenstoß hatte etwas Großartiges. Er dachte an den Trompetenruf, der in seinem Regiment jeden Abend damals in Flandern geblasen wurde, jeden Abend, wenn die Nacht kam – der Gruß an die toten Kameraden und an die einsam Sterbenden draußen vor dem Schützengraben, die man nicht mehr hereinholen konnte – er dachte daran, wie der Klang über das Trichterfeld hinweg wehte und nicht Freund noch Feind kannte, sondern nur sterbende Menschen… Nein, er würde nicht singen. Aber er würde die Prozedur auch nicht überstehen. Die U. T.Company würde einen Nachruf verfassen müssen. Die Times würde sogar etwas im redaktionellen Teil bringen. Alles Unsinn. Blumiger Unsinn. Von den Nachrufen her sah es aus, als ob die Erde nur von den prächtigsten -202-
Menschen bevölkert wäre. Der einzige Nachruf, der etwas wert war, hieß: vermißt werden. Und wer würde ihn vermissen? Aha, es war wohl so weit. Tatsächlich, der dicke Ast war ins Glühen gekommen. Der eine Mann, der auf der Erde hockte, drehte ihn noch ein bißchen herum. Die andern beiden standen aufrecht, etwa einen Meter auseinander. Der eine hatte sich die Pfeife angezündet, eine von denen, die sie ihm gestohlen hatten. Der andere sagte etwas, und sein Kumpan hielt ihm die brennende Pfeife mit ausgestrecktem Arm hin, jener streckte selbst den Arm aus, um sie zu nehmen und sich daran eine Zigarette anzustecken – da fiel ein Schuß, und die beiden Männer sprangen entsetzt auseinander: dem einen war die Pfeife genau aus der Hand geschossen worden. »Figur«, dachte der Chef. »Mit dem Zielfernrohr. Nicht ganz fair, finde ich. Schade um meine Pfeife. Gut, daß Plumpudding eine in Reserve hat.« Schuß auf Schuß peitschte herüber. Die drei Männer hatten sich flach auf den Boden geworfen. Haarscharf pfiffen die Kugeln über sie weg. Der unsichtbare Schütze machte sich ein Vergnügen daraus, sie unter den Kugelregen wie unter dem Strahl eines Wasserschlauchs zu halten. Als er innehielt, als ob er neu laden müsse, sprangen sie auf und rannten gebückt davon. Aber er brauchte nicht zu laden, er hatte sie mit seiner Feuerpause nur aufge-203-
scheucht. Hinter den Fliehenden her schlugen die Kugeln splitternd in die Steine, und Figur kam gelaufen. Er schnitt die Fesseln los und half dem Chef beim Aufstehen. »Wäre beinahe schief gegangen«, sagte der Chef, und Figur verstand, daß das die höchste Form der Anerkennung war, die der Wortkarge sich abringen konnte. »Ich hätte sie alle ins Gras beißen lassen können«, sagte Figur. »Aber ich hab’s nicht gern, wenn die Leichen so herumliegen wie im letzten Akt von ‘ner Verdi-Oper.« »Wie kamen Sie so rasch her?« fragte der Chef. »Der Boy hat mich noch rechtzeitig geholt.« Der Chef sah sich um. Da stand TschandruSingh. Aber er sah den Chef nicht an. Er stand da und blickte zu Boden.
Eine schwere Entscheidung »Ich kann es nicht glauben«, sagte GG erregt. »Sie müssen zugeben«, sagte der Graf, »es sieht für den armen Burschen nicht zum besten aus.« »Alle vierzehn Tage«, sagte der Chef, »hat -204-
er sich da oben mit dem Kerl getroffen. Beim vierten Male habe ich ihn erwischt. Jeder muß sehen, daß die beiden unter einer Decke stekken.« »Schade, schade«, sagte der Graf. »So ein nettes Kerlchen. Man hatte ihn richtig gern.« GG saß da, den Kopf in die Hand gestützt. Er stellte sich wieder genau vor, wie es damals gewesen war, als er mit dem Knaben allein bei dem abgestorbenen Baum auf dem Boden gesessen hatte. Er sah den Ausbruch der Verzweiflung wieder, mit dem sich der Knabe auf die Erde geworfen hatte, als er ihm gestanden hatte, er sei ein Unberührbarer – und er sah, wie seine Augen so gläubig aufstrahlten, als er ihm die Gewißheit gab, die Weißen sähen in seiner Herkunft keinen Makel. Wenn das alles gespielt sein sollte, wenn dieser Junge, ein halbes Kind noch, so vollendet lügen könnte, – wem sollte man dann trauen? »Nein, Chef«, sagte er entschieden. »Wie das alles zusammenhängt, sehe ich nicht. Aber ich bleibe dabei: Tschandru-Singh ist kein Verräter.« »Man kann sehr gelehrt sein«, sagte der Chef, »und doch von den Menschen sehr wenig wissen.« GG fuhr auf. Da war sie wieder, diese unbegreifliche Feindseligkeit, die im Chef immer wieder gegen ihn aufzuckte, dieser kaum noch versteckte Hohn. Er hatte eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber er unterdrückte sie. -205-
Er mußte den Chef mit dessen eigenen Waffen schlagen. »Wollen wir wetten, Chef?« sagte er, scheinbar ganz kühl. »Ihre Meinung: Tschandru-Singh taugt nichts. Meine Meinung: der Junge ist o. k.« »Wette gilt«, sagte der Chef. »Es ist immer wieder angenehm, zu sehen«, sagte der Graf, »wie der Spieltrieb des Menschen über bedrohliche Situationen hinweghelfen kann.« Mit seiner feinen Witterung für menschliche Dinge hatte er wohl gespürt, daß zwischen den beiden Männern, die er so schätzte, eine Kluft aufzureißen drohte. »Worum geht die Wette?« »Eine Flasche Sekt bei der ersten Gelegenheit, wo sie zu haben ist«, sagte GG. Der Chef nickte. Aber damit waren sie ja nur scheinbar über die Schwierigkeit hinweg, vor der sie gestanden hatten. Die bittere Frage mußte noch gelöst werden. »Wir wollen mit dem Jungen reden«, sagte GG. Er rief nach ihm, und Tschandru-Singh kam herein. Er hatte vor dem Haus zwischen Figur und Neunauge gesessen. Plumpudding ließ sich nirgends mehr sehen. Daß er mit seinem falschen Verdacht den Chef im Stich gelassen hatte, machte ihn ganz verzweifelt. Der Knabe stand vor den drei Männern, die in dem Raum saßen, den der Chef bewohnte. Er sah sie nicht an. Er sah zu Boden – -206-
»Genau wie da oben«, dachte der Chef. »Schuldbewußt, aber will uns rühren. Raffinierter Bursche.« »Tschandru-Singh«, sagte GG, »wir verstehen nicht, was da geschehen ist. Als du heute morgen hinauf in den Zedernwald gingst – wußtest du, daß du dort den Ungenannten treffen würdest?« »Nein, Sahib«, sagte Tschandru Singh. »Er lügt«, sagte der Chef. »Sagen Sie ihm, daß er ihn heute zum vierten Male getroffen hat.« »Tschandru-Singh«, sagte GG, »du bist viermal oben gewesen.« »Ja, Sahib.« »Aha«, sagte der Chef. »Du hast dich also doch viermal mit dem Ungenannten getroffen.« »Nein, Sahib. Dreimal hatte er seinen Boten geschickt. Ich wußte nicht, daß er heute selbst kam.« GG fuhr sich mit der Hand übers Haar. »Tut mir leid für Sie«, sagte der Chef. »Sie sehen, die Sache war genau verabredet.« GG faßte sich wieder. Nein, er gab nicht auf. Noch nicht. »Tschandru-Singh«, sagte er, »wann hat dir der Ungenannte befohlen, uns zu belauern?« Der Knabe schwieg. Er schloß die Augen. Da war die Zaubergestalt, durch die der Unge-207-
nannte das Leben seiner Mutter in der Hand hielt; da war die lange, feine Nadel, mit der er ihr ins Herz stach, wenn er nicht verschwiegen war… »Tschandru-Singh«, sagte GG, »warum wolltest du uns verraten?« Der Knabe hörte die tiefe Trauer, aus der diese Worte kamen. Aber der Schmerz, den der Sahib litt, war nur das Echo seines eigenen Schmerzes. Alles in ihm drängte sich dem Manne entgegen, den er liebte. »O Sahib«, wollte er sagen, »die Sonne ist hinter Wolken gegangen und kommt nicht wieder. Du warst so gut zu mir, wie noch nie ein Mensch gut zu mir war, denn meiner Mutter ließ das Elend nicht die Kraft, so gut zu sein, wie sie sein sollte. Und ich liebe dich, weil du gut zu mir bist – aber der Ungenannte hat alles verflucht. Wir sind keine Menschen mehr, er hat uns in Steine verwandelt, deshalb muß ich stumm sein wie ein Stein, und du wirst den Stein mit deinem Fuß wegstoßen, so weit du nur kannst.« Das alles wollte er sagen, aber kein Wort kam über seine Lippen. »Tschandru-Singh«, sagte GG, »was habe ich getan, daß du mich verraten wolltest?« Der Knabe war am Ende seiner Kraft. Er sah nicht mehr auf den Boden. Er sah GG in die Augen, und GG blickte in ein ganz verstörtes Gesicht. »O Sahib!« schrie der Knabe auf, »hast du einen stärkeren Zauber als der Ungenannte? Kannst du meine Mutter am Leben -208-
erhalten, wenn der Ungenannte ihr die Nadel ins Herz stößt?« GG sprang auf. »Ich habe natürlich nicht verstanden, was der Junge will«, sagte der Graf. »Aber so viel verstehe ich, der Junge lügt nicht. Den hat irgend etwas schrecklich gepackt!« »Ich verstehe es selbst nicht«, sagte GG und übersetzte, was der Knabe geschrien hatte. Aber dieser Aufschrei war wie ein Dammbruch – Tschandru-Singh sprach und sprach. Er schüttete alles aus, was ihn seit Wochen bedrückte; er schilderte alles, was ihm drüben, jenseits des Passes, geschehen war. »Toll, toll, toll«, sagte der Graf, als GG übersetzt hatte. Der Chef sagte nichts. Er sog an seiner neuen Pfeife. Er merkte nicht, daß sie längst ausgebrannt war. »Tschandru-Singh«, sagte GG mit aller Eindringlichkeit, deren er fähig war, »glaubst du mir, wenn ich zu dir spreche, als wärest du mein Sohn?« »Ja, Sahib.« »O Tschandru-Singh, höre, was ich dir sage: der Ungenannte hat dich betrogen. Die Nadel in seiner Hand hat keine Gewalt über das Leben deiner Mutter. So ist das – wahr und wahrhaftig.« Der Knabe sah auf den weißen Mann. Er sah nicht mehr verzweifelt aus, nur erschöpft – -209-
»Ja, Sahib«, sagte er, »ich glaube dir.« »Es ist gut«, sagte GG, »daß du endlich gesprochen hast, aber wir sehen ein, daß du nicht früher zu uns sprechen konntest. Es tut uns leid, daß du es so schwer gehabt hast, Tschandru-Singh. Nun müssen wir überlegen, was zu tun ist. Aber wisse: du bist uns jetzt noch lieber als an dem Tage, wo wir dich vom Baum schnitten. Geh jetzt, und ruh dich aus.« Aber der Knabe ging nicht. Er stand noch immer da und sah von einem zum andern. Er wollte etwas sagen, aber er vermochte es nicht. Er atmete tief, – und dann ging er. »Sie haben die Wette verloren, Chef«, sagte der Graf. »Die Flasche zahle ich gern«, rief GG. »Es sollte überhaupt immer der Gewinner einer Wette zahlen, denn das kann er aus der Freude darüber, daß er Recht behielt!« »Die Expedition ist noch nicht zu Ende«, sagte der Chef und stopfte sich seine Pfeife, denn Plumpudding war nicht da. »Verflucht, sind Sie zäh, Chef!« sagte GG. »Vergessen Sie nicht«, sagte der Graf, »er ist Engländer.« »Mir recht«, sagte GG. »Also Abrechnung am Schluß der Expedition.« »Immerhin«, sagte der Graf, »eins zu null für Sie, GG!« Der Chef räusperte sich. »Meine Herren«, -210-
sagte er, »sehen Sie den entscheidenden Punkt? Wenn sich dieser Räuberhauptmann a. D. für den Inhalt unsrer Kisten interessierte, so wäre das in seinem Stil. Aber das tut er nicht. Er interessierte sich nur für die Kiste 17, weil er sich von ihr Aufschlüsse über den Zweck der Expedition versprach. Die bekam er nicht. Also hetzte er den Jungen auf uns – ob das wirklich so war, wie der Boy das hier darstellte, wissen wir nicht, aber auf jeden Fall steht fest, daß der Mann wissen will, was wir hier unternehmen. Warum tut er das?« »Wie Sie uns den Mann schilderten, GG«, sagte der Graf, »tut er nichts ohne Bezahlung.« GG nickte. »Das ist ja der Punkt«, sagte der Chef. »Wer bezahlt ihn dafür, daß er sich so mit uns beschäftigt?« »Sie haben recht, Chef«, sagte GG. »Hinter dem Ungenannten steht jemand anders. Das ist jetzt ganz klar.« »Offenbar ein Mann, der sich die Sache etwas kosten lassen kann«, sagte der Graf. »Von wem«, fragte GG, »hatte die U.T. Company eigentlich den Auftrag übernommen, diese unbekannten Täler Afghanistans auf ihren Erzgehalt zu untersuchen?« »Nicht bekannt«, sagte der Chef. »Vom Auftraggeber wurde nicht gesprochen. Habe auch nicht danach gefragt, als ich es merkte.« -211-
Die Männer schwiegen. Stumm rauchte der Chef seine Pfeife, der Graf steckte sich die soundsovielte Zigarette an, und GG saß da, wie er es liebte – leicht vorgeneigt, die Hände ineinandergelegt, ganz entspannt. Sie dachten alle drei dasselbe: eine unsichtbare Hand will nach uns greifen… »Meine Herren«, sagte GG langsam, »jetzt ist, glaube ich, der Augenblick gekommen, wo ich über etwas sprechen muß, das mich von Woche zu Woche mehr bedrückt.« »Bodenuntersuchungen ergebnislos?« fragte der Chef. »Leider nein.« »Leider?« »Ja, leider. Ich habe so etwas noch nie erlebt: Tag für Tag, überall im Tal heftige senkrecht nach oben gerichtete Strahlungen. Es gibt nur eine Erklärung: Erdöl. Es müssen unerhört ergiebige Lager sein, und, wie ich annehme, gar nicht tief.« »Großartiges Ergebnis«, sagte der Chef. »Verstehe nicht, was Sie dabei für Bedenken haben. Die U. T. Company wird sich Prozente vom Gewinn sichern.« »Und was wird aus den Menschen hier im Tal? Was wird aus ihnen, wenn hier die Welle der Ausbeutung und Spekulation hereinbricht?« fragte GG. »Mein Gott«, sagte der Graf, »worauf haben wir uns da eingelassen! Dieses Tal ist viel-212-
leicht die einzige Stelle auf der Erde, wo die Menschen noch in Frieden leben, weil sie von den andern Menschen vergessen worden sind. Sie leben hier noch so wie vor tausend Jahren, und sie können glücklich sein, weil ihnen der sogenannte Fortschritt der technischen Entwicklung erspart geblieben ist.« »In dem Augenblick, wo wir mein Ergebnis nach London durchgeben«, sagte GG, »haben wir sie dieser fortschrittlichen Entwicklung ausgeliefert.« »Wollen Sie das Ergebnis Ihrer Untersuchungen vielleicht fälschen?« fragte der Chef. »Wollen Sie vielleicht durchgeben lassen, hier sei nichts zu holen – nur damit diese Kafiri in Frieden ihren Wein trinken können?« »Was wird aus den Kafiri des Tals, Chef«, fragte GG, jedes Wort betonend, »wenn das Erdöl hier im Tal gebohrt wird?« »Sie gehen vor die Hunde«, sagte der Chef. »Als ich dieses Tal betrat«, sagte GG, »habe ich feierlich beschworen, daß ich den Bewohnern kein Unheil bringen wolle.« »Ich auch«, sagte der Graf. »Ich nicht!« sagte der Chef scharf – und bereute sofort, was er ausgesprochen hatte. Das Schweigen um sie war bitter. Es drohte sie zu zerfressen wie eine scharfe Säure. Denn in ihnen wirkte die Antwort des Chefs nach, die ihm den Anschein gab, als wolle er einen Vorteil rücksichtslos ausnutzen, den ihm die ah-213-
nungslosen Kafiri zufällig eingeräumt hatten. »Sie haben geschworen«, sagte er, »daß Sie keinen Schaden bringen wollen. Sie wollen das ja auch nicht. Daß er trotzdem eintritt, liegt außerhalb Ihrer Macht.« GG schwieg. In ihm kochte es. Aber der Graf parierte den Hieb. »Kein ganz gutes Argument, Chef«, sagte er. »Formal haben Sie natürlich recht, aber in der Sache – – Wissen Sie, von mütterlicher Seite her bin ich ein Darifant-Croy, und die Croys haben eine Devise: ›Où que ce soit – Croy‹. Sie verstehen: wo ich auch bin, immer bin ich ein Croy, das heißt: ein anständiger Kerl. Offen gestanden, ich finde das recht nett ausgedrückt.« GG hatte sich wieder in der Hand. Gerade weil er seine aufbrausende Natur kannte, hatte er es sich zum Grundsatz gemacht, nie eine Antwort im Zorn zu geben. Er konnte nun wieder ruhig sprechen: aber das, was er jetzt zu sagen hatte, war seine innerste Überzeugung, und deshalb sprach er so eindringlich, wie er es nur vermochte: »Chef, Sie werden mit mir darin einig sein, daß auf dieser Erde viel Unrecht geschieht. Ich kann nicht darauf warten, bis die Menschen das einsehen. Aber ich kann dafür sorgen, daß da, wo ich stehe, kein Unrecht geschieht. Vielleicht kann ich mich auf das Wort, das der andere mir gibt, nicht verlassen – aber auf mein Wort soll er sich verlassen können. Die Unordnung in der Welt kann ich nicht ändern – aber in mir sel-214-
ber kann ich Ordnung halten. Und dazu gehört, daß ich Wort halte.« Was er ausgesprochen hatte, war auch des Engländers innerste Überzeugung. Aber in dessen Gesicht verzog sich keine Miene. Noch nie hatte er so unnahbar ausgesehen wie jetzt. Er saß da, unbeweglich, die erkaltete Pfeife in der Hand. Das Gefühl für Recht und Unrecht empfand er tief; aber ein Gefühl zu zeigen war ihm unmöglich. »Wir sind«, sagte er nüchtern, »auch verpflichtet, der Gesellschaft unser Wort zu halten. Wir haben dort zugesagt, den Auftrag, den sie uns gab, nach bestem Wissen und Gewissen auszuführen. Wir stehen hier nicht für uns. Wir sind die Treuhänder der Gesellschaft. Wenn wir das, was wir ermitteln, für uns behalten wollen, dann hätten wir den Auftrag nicht übernehmen dürfen. Auch hier handelt es sich um Treu und Glauben.« »Das ist richtig, Chef«, sagte GG. Aber er hörte aus dessen Worten vor allem heraus, daß der Engländer von »Wir« sprach – der Chef hielt sich nicht mehr von ihnen isoliert – innerlich hatten sie ihn zu sich hinübergezogen. »Ich sehe schon«, sagte der Graf, »wir sitzen wieder einmal zwischen zwei Stühlen. Man sitzt da reichlich unbequem. Aber für den, der es auf dieser Erde ernst nimmt, gibt es, glaube ich, überhaupt keinen anderen Platz.« »Großer Geist«, sagte der Chef und sagte -215-
das ohne jenen Nebenton, den er sonst in diesen anspruchsvollen Namen zu legen wußte, »halten Sie es denn überhaupt für möglich, einen einzigen Fleck dieser Erde vor der unausbleiblichen Entwicklung zu bewahren? Wenn wir jetzt schweigen – eines Tages werden andere kommen, und die werden dann nicht schweigen. Was erreichen Sie im besten Fall? Nicht mehr als einen Aufschub.« »Sie haben recht«, sagte GG. »Aber es gibt da ein Christuswort, das ist mir in die Knochen gefahren, als ich es das erstemal hörte, und es gewinnt an furchtbarer Eindringlichkeit, je älter man wird: Das Böse muß in die Welt kommen, aber wehe dem, durch den das Böse kommt.« Sie schwiegen. Was konnte auch noch gesprochen werden, nachdem das Wort gefallen war, in dem ein für allemal, bis ans Ende der Zeiten, ausgesagt war, wie es um die Menschen stand, und auch um sie? Sie waren in eine Lage geraten, aus der sie nicht herauskommen konnten, ohne Schuld auf sich zu laden. Es war kein Trost für sie, daß niemand durchs Leben kommt, ohne schuldig zu werden. Sie saßen da und schwiegen. Sie fühlten die Schwere der Schuld, als läge sie schon wie eine Last auf ihren Schultern. »Wir werden weiterleben«, dachte der Chef, »aber was wird das schon für ein Leben sein?« – »Wie können wir noch ruhig schlafen«, dach-216-
te GG, »wenn wir daran denken, was hier in diesem Tal geschehen wird?« – »Immerhin«, dachte der Graf, »wir machen uns wenigstens nicht vor, wir wären ohne Schuld…« Der Chef stand auf. »Funkspruch aufsetzen«, sagte er und verließ den Raum. Erbarmungslos hart hatte seine Stimme geklungen. Als GG den Text niedergeschrieben hatte, gab er ihn nicht sofort an Figur, sondern brachte ihn dem Chef. Der las: »Ungewöhnlich starkes Vorkommen von Erdöl in breiter Ausdehnung wahrscheinlich stop Annahme hohen Gehalts an Radioaktivität begründet stop Sollen weitere Gebiete abgesucht werden? stop Hier alles wohl.« »Ja«, sagte der Chef, als er zu Ende gelesen hatte. »So ist es.« GG hätte jetzt gehen können. Figur wartete schon auf den Text, um ihn zu verschlüsseln. Aber der Chef gab den Zettel nicht her. Er behielt ihn in der Hand. GG spürte, daß in dem Chef etwas wühlte. Sicher wollte dieser jetzt, wo sie unter vier Augen waren, ihm noch etwas sagen, ein Wort von Mann zu Mann. Es hatte im Gespräch vorhin zwischen ihnen doch Funken gegeben. Der Chef reichte ihm das Blatt. Wortlos. Dann stopfte er sich seine Pfeife. GG ging zur Tür. »Was ich noch sagen wollte –«, sagte der -217-
Chef. GG drehte sich um, den Türgriff in der Hand. »Eigentlich schade, daß Sie nicht rauchen«, sagte der Chef. GG brummte etwas und ging endgültig. Ihm war fast wohl ums Herz. Der Chef hatte ihm mit dieser letzten Bemerkung auf seine Weise versichert, daß er seine Sympathie besäße. Es war eine verteufelte Welt. Aber wenn die rechten Männer zusammenhielten, gab es Augenblicke, die das Leben lohnten.
Ein gewagter Plan Als Figur den Text der Mitteilung, die so voller Bedeutung war, nach London durchgegeben hatte, kam der Gegenspruch: »Generaldirektor dankt für wichtige Meldung stop erwartet seine Antwort in fünf Tagen stop seid empfangsbereit für S-Text am 26. um 23 Uhr MEZ.« »Oha«, sagte Figur, als er das entschlüsselt hatte, »da ist etwas im Gange!« Denn S-Text hieß Secret-Text; er wurde in einer Verschlüsselung gesendet, für die nicht der Funker der Expedition, sondern allein der Chef die Auflösung hatte. »Niemals eine Meldung in S-Text bekommen«, sagte der Chef. »Muß ziemlich heikle -218-
Sache sein.« Er bat GG und den Grafen, am 27. in aller Frühe bei ihm zu sein, denn Figur hatte ausgerechnet, daß er spätestens gegen halb sechs mit der Meldung im Dorf sein könne. Sie kamen pünktlich und fanden den Chef schon dabei, die Ziffern der Antwort in Buchstaben zu übertragen. Er winkte ihnen leicht mit der linken Hand zu, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Plumpudding hatte Kaffee gekocht und schenkte ihnen ein. Sie tranken ihn schweigend, um den Chef nicht zu stören. Der Graf rauchte hastig. Er drückte seine Zigarette schon aus, ehe sie zu Ende war, und steckte sofort eine neue an. Auch GG war erregt. Zwar saß er scheinbar gelassen da, leicht vorgebeugt, die Hände ineinandergelegt, aber er war gequält. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Das trostlose Schicksal, dem sie das stille Tal auslieferten, stand ihm wie dem Grafen schrecklich vor Augen, und zu wissen, daß sie es nicht verhindern konnten, war eine seelische Alarter. »Fertig«, sagte der Chef. Aber er las den ausgeschriebenen Text nicht gleich vor. Erst nahm er die Pfeife, die ihm Plumpudding gab. Dann faßte er das Blatt wieder. »In Erwartung des Todesurteils«, sagte der Graf. »Wozu habe ich die Kinder eigentlich erst gesund gemacht?« »Also, meine Herren, die Antwort aus London«, sagte der Chef und las langsam vor: »Nach Besprechung mit höchster Stelle wich-219-
tige Entscheidung getroffen stop Ausbeutung der Funde nicht mehr erwünscht da politische Lage völlig verändert stop Britische Regierung hat sich entschlossen Indien Selbständigkeit zu geben stop da Folgen vorerst unübersehbar keine Neigung mehr dort britisches Kapital zu investieren stop aber von höchster Wichtigkeit daß sich dort nicht anderes Kapital festsetzt stop daher unbedingte Geheimhaltung der Funde erforderlich stop brecht Expedition ab stop tut alles um Zweck der Expedition von niemand erkennen zu lassen stop Kosten dieser Tarnung spielen keine Rolle stop vom Erfolg hängen lebenswichtige Interessen des Commonwealth ab stop wir vertrauen Ihrer Geschicklichkeit wie Ihrem Verantwortungsgefühl.« GG sprang von seinem Stuhl auf. »Das Tal ist gerettet!« rief er begeistert. Er schlug dem Grafen auf die Schulter: »Sie bleiben der Retter des Tals!« »Wie sagt unser verehrter Chef?« fragte der Graf. »Ein bißchen zu sehr Trompete, wie? Immerhin, ich gebe zu -- wenn ich mich hier als praktischer Arzt niederlassen würde, dann würde ich dabei wenig Schwierigkeiten begegnen.« Trotz seinen spöttischen Worten sah man es ihm an, wie glücklich er war. »Meine Herren«, sagte der Chef, und die beiden wandten sich ihm voller Erwartung zu. Auch er konnte sich offenbar der Bedeutung des Augenblicks nicht entziehen, ja er schien von ihr so gepackt, daß er bereit war, eine -220-
Rede zu halten. Breitbeinig stand er da, die Pfeife in der Hand, er setzte mit einem heftigen Entschluß an, – aber er brachte nicht mehr heraus als »Plumpudding!« Sofort war Plumpudding da. »Whisky, bitte«, sagte der Chef, und als die Gläser gefüllt waren, trank er schweigend den Männern zu. Damit hatte er der Aufwallung des Gefühls ihr Recht eingeräumt und konnte zur sachlichen Überlegung übergehen. »Lage ist also klar«, sagte er. »Expedition wird abgebrochen. Wir kehren um. Erste Frage: Wer weiß etwas von dem Ergebnis Ihrer Untersuchungen, GG?« »Wir drei«, sagte GG. »Dann Figur, der die Meldung verschlüsselt hat. Und London.« »Sie haben Figur für unsere Expedition vorgeschlagen«, sagte der Chef. »Sie garantieren für ihn?« GG überlegte die Antwort genau. Hier kam es jetzt auf jedes Wort an. Er wußte, sein alter Schulkamerad war ein guter Kerl, aber Figur hatte im Leben mehrmals Pech gehabt, und als er den gänzlich Abgebrannten sozusagen von der Straße aufgelesen und als Expeditionsfunker untergebracht hatte, war er sich darüber klar gewesen, daß es sich wohl empfahl, sich nicht nach allen Stationen seines bewegten Daseins zu erkundigen. »Figur hat«, sagte er, »wie wir alle die Verpflichtung unterschrieben, absolut verschwiegen zu sein, und ich habe nicht den Eindruck, daß er sich nicht im ganzen bewährt hätte.« -221-
»Jeder kann einmal verschlafen«, sagte der Graf. »Auf Wache nicht«, wollte der Chef sagen, aber er unterließ es. »Guter Schütze«, sagte er. »Bin ihm dankbar.« Er sah das als erledigt an. »Zweite Frage: Wer weiß, außerhalb des Tals, daß wir ein Geoskop mithaben?« »Niemand«, sagte GG. »Selbst wer die Lederkoffer gesehen hat, kann nicht ahnen, was darin ist.« »Aber der Ungenannte hat wissen wollen, was in den Koffern ist!« sagte der Graf, und jetzt, nach dem Funkspruch aus London, sahen alle drei plötzlich, wie das zusammenhängen konnte: der Chef hatte schon erkannt, daß hinter dem Ungenannten jemand anders stehen mußte. London warnte – hatten sich etwa irgendwelche Unbekannte von Anfang an für ihre Expedition interessiert und herausbekommen wollen, was sie eigentlich bezweckte? »Hallo, Chef«, sagte GG, »mir fällt eben ein: ich habe auch mit Tschandru-Singh über das Geoskop gesprochen.« Unheimlich war es. Nach dem, was sich in diesem Raum mit dem Knaben ereignet hatte, war man so sicher gewesen, daß die Zweifel an seiner Aufrichtigkeit grundlos seien – jetzt aber war es wieder, als gebe der Boden unter den Füßen nach. »Was haben Sie ihm gesagt?« fragte der -222-
Chef. »Als wir einmal mit dem Apparat unterwegs waren«, sagte GG, »hat mich der Junge gefragt: ‘was tust du da, Sahib?‹ und ich habe ihm gesagt: ›Die Erde verrät mir ihre Geheimnisse‹.« War das nicht eine harmlose Antwort? Nein, jetzt konnte sie nicht mehr so angesehen werden. Wenn nur dieser eine Satz über den Ungenannten an die Unbekannten gelangt war, so war der Zweck der Expedition verraten. »Wir müssen wissen«, sagte der Chef, »was Tschandru-Singh dem Ungenannten erzählt hat.« Er nannte ihn nicht mehr Räuberhauptmann a. D. Es war niemand mehr nach Späßen zumut. Der Knabe wurde gerufen. »Fragen Sie ihn«, sagte der Chef. »Tschandru-Singh«, sagte GG, »was hast du den Boten des Ungenannten und ihm selbst von uns gesagt?« »Ich habe gesagt«, antwortete der Knabe, »die Sahibs machen die Kinder gesund. Die Sahibs gehen auf die Jagd. Die Sahibs sprechen durch die Luft mit ihren Brüdern in Feringistan.« »Bitte«, sagte der Chef, nachdem ihm diese Antwort verdolmetscht worden war, »fragen Sie ihn jetzt wörtlich: Was hat der Ungenannte geantwortet, als du ihm sagtest: ›Der Sahib -223-
horcht auf die Geheimnisse der Erde‹?« Dem Fragenden wurde etwas schwül, als er diese Fangfrage übersetzte, aber er brachte es über sich, den Knaben dabei nicht anzusehen, um ihn nicht etwa durch seinen besorgten Blick zu einer Vorsicht zu mahnen, die er der Sache wegen nicht wünschen durfte. »Darauf hat der Ungenannte nichts antworten können«, sagte der Knabe, »denn das habe ich ihm nicht gesagt.« GG atmete erleichtert auf und übersetzte rasch. Aber der Chef sagte sofort scharf: »Warum hat er nichts davon gesagt?« »Warum hast du nicht davon gesprochen?« fragte GG und setzte hinzu: »Ich hatte dir nicht verboten, darüber zu reden.« »Ich dachte, es wäre nicht gut, wenn ich davon spräche.« GG nickte ihm freundlich zu. Aber der Chef war unzufrieden. »Verdächtig«, sagte er. »Mir sehr verdächtig. Er gibt also zu, gemerkt zu haben, daß hier etwas Besonderes im Gang war.« Der Knabe sah, wie das Lächeln aus GGs Gesicht wich und er ihn nicht ohne Besorgnis ansah. »O Sahib«, sagte der Knabe traurig, denn er mußte jetzt seine Schande gestehen, »ich hätte es ihm um ein Haar sagen müssen. Ich wollte es ihm auch sagen, als ich ihm nachlief. Aber ehe ich es aussprechen konnte, da kam -224-
der Sahib!« Er deutete auf den Chef. »Es ist gut«, sagte GG, »du kannst wieder gehen«, – und als sie allein waren, setzte er hinzu: »Ich meine, das wäre in Ordnung.« »Auch meine Meinung«, sagte der Graf. »Es ist in Ordnung«, sagte der Chef, »wenn er wirklich aufrichtig ist.« »Sie zweifeln immer noch?« fragte der Graf. »Sie glauben, daß er uns verrät?« fragte GG. »Ich halte es nicht für unmöglich«, sagte der Chef. »Keine Gemeinheit ist auf dieser Erde unmöglich«, sagte der Graf. »Nehmen wir an, daß er nicht gesprochen hat«, sagte der Chef, »aber wer bürgt uns dafür, daß er nicht noch spricht? Nur ein Toter ist wirklich stumm.« »Sagen Sie das nicht«, warf der Graf ein. »Unter Umständen schreit er zum Himmel.« »So kommen wir nicht weiter«, sagte GG entschieden. »Entweder glauben wir ihm oder wir glauben ihm nicht. Wenn wir ihm nicht glauben, müssen wir ohne ihn zurück. Dann müssen ihn die Kafiri hier festhalten.« »Ist mir keine Garantie, daß er von drüben nicht doch erreicht wird. Gerade dann, wenn wir ihm nicht glauben, müssen wir ihn unter Augen haben«, sagte der Chef. »Wenn wir ihm nicht glauben«, sagte der Graf, »müssen wir ihn also mitnehmen und so -225-
tun, als ob wir ihm glauben, aber jederzeit damit rechnen, daß er uns verrät, wenn die Gelegenheit dazu da ist.« »Meine Herren«, sagte GG, »ich wiederhole, was ich schon einmal sagte: ich verbürge mich für ihn.« Darauf folgte Schweigen. Aber ehe es drükkend wurde, sagte der Chef: »Also gut. Wir nehmen an, drüben weiß niemand etwas von dem Geoskop. Es wird vernichtet. Sie vernichten, Dr. Geist, bitte alle Aufzeichnungen über Ihre Messungen. Es handelt sich jetzt darum, die Gegenpartei davon zu überzeugen, daß wir Altertumsforscher sind. Das beweisen die goldenen Kannen. Wir müssen dem Ungenannten Gelegenheit geben, unser Gepäck zu durchsuchen. Das wird ihn überzeugen, und über ihn seinen Auftraggeber.« »Und wie wollen Sie es vermeiden, Chef, daß er nicht annimmt, wir hätten uns auf diese Visitation entsprechend präpariert und vorher alles Belastende beiseite geschafft?« »Wir lassen uns von ihm gefangennehmen«, sagte der Chef. »Er muß auf das Rendezvous im Zedernwald noch antworten. Ich habe ihn niedergeschlagen, er hat mir dafür die Füße verbrennen wollen, aber das ging daneben, und er ist mit mir noch nicht quitt.« »Er wird die Abrechnung nachholen, Chef«, sagte der Graf, »wenn er uns hat.« »Also müssen wir ihm in die Hände fallen. -226-
Bei dieser Gelegenheit wird er unser Gepäck revidieren, nichts weiter finden als die goldenen Kannen, und sie sind der einwandfreie Beweis für den Zweck der Expedition.« »Nicht uninteressant finde ich«, sagte der Graf, »was er dann mit uns macht.« »Das wird sich drüben abspielen«, sagte der Chef. »Die Provinz Nordwestgrenze gehört, wie Sie wissen, zum Britisch-Indischen Kaiserreich. Drüben wird er nicht wagen, sich an uns zu vergreifen.« »Wissen Sie, Chef«, sagte der Graf, »das ist eine ausgezeichnete Idee, was mich nicht wundert, denn Sie haben nie andere, aber der Sache fehlt die künstlerische Note. Wir müssen die Geschichte, meine ich, wirkungsvoller inszenieren. Ich sehe das so an: wir sind heimlich in dieses Tal gegangen, damit der Große Geist seiner Leidenschaft für die Ermittlung historischer Zusammenhänge hier einmal ungehemmt frönen konnte. Um uns bei den Kafiri gut einzuführen, haben wir erst ihre Kinder geheilt und sie auf die Vorteile der Kuhmilch-Ernährung aufmerksam gemacht. Dann haben wir die goldenen Kannen entdeckt und sie gestohlen, was dem Ungenannten absolut einleuchten wird. Aber die Kafiri haben das gemerkt, sie sind hinter uns her, wir haben auf der Flucht unser ganzes Gepäck zurückgelassen und schlagen uns nun mit unserm Raube nach Tschitral durch. Dort hat man seinerzeit den gloriosen Aufbruch der Ex-227-
pedition gesehen und erlebt nun zur tiefen Befriedigung aller eingeborenen Zuschauer deren klägliches Ende. Dem politischen Agenten Seiner Majestät des Kaisers von Indien aber, dem uns wohlbekannten Mr. Belcher, werden wir mit unserm Reinfall die größte Freude machen, denn er wird sich die Hände reiben und befriedigt äußern: ›Sehen Sie, ich habe Ihnen ja gleich gesagt, mit den Kafiri ist nicht gut Kirschen essen!‹« Der Chef überlegte. »Nicht ganz schlecht«, sagte er schließlich. Diese Formulierung gebrauchte er da, wo andere »ausgezeichnet« gesagt hätten. »Wir müssen das noch genau Punkt für Punkt festlegen und dann alle unterrichten.« GG hatte lange geschwiegen. Er war von der spielerischen Art des Grafen nicht recht angetan. Er fand auch, daß der Chef die Sicherheit im nordwestlichen Grenzbezirk überschätzte – aber was ihn am meisten beschäftigte, und drückend beschäftigte, war eine andere Frage: Was war mit Tschandru-Singh? In voller Überzeugung war er für ihn eingetreten – aber worauf gründete sich denn seine Überzeugung? Auf den Glauben, daß das Antlitz dieses Knaben nicht das Gesicht eines Lügners war, auf die Meinung, daß aus seinen Augen eine reine Seele sprach. Aber gibt es nicht höllische Verstrickungen auf dieser Erde, in denen keiner sein Bestes bewahren kann? Plötzlich hörte er wieder, was ein Lehrer, der bedeutende -228-
Indienforscher Richard von Garbe, ihm auf einem abendlichen Spaziergang in der Tübinger Platanenallee am Neckarufer so eindringlich gesagt hatte: »Die Seele des Inders wie des Orientalen überhaupt wird dem Europäer nie ganz verständlich werden. Sie müssen immer wieder darauf gefaßt sein, daß Sie plötzlich vor den größten Rätseln stehen…« Doch zu tun war da nichts; es mußte hingenommen und abgewartet werden. Als den drei andern der Plan der scheinbaren Flucht mitgeteilt wurde, nahmen sie ihn nicht ohne Widerspruch auf. Der kam allerdings nicht von Plumpudding, der anscheinend mit nichts anderem beschäftigt war, als dafür zu sorgen, daß der Chef seine Pfeife nicht selbst auszukratzen brauchte. Aber Neunauge wetterte los: »Ohne Gepäck? Ohne meine Küchenkisten? Wie soll ich da kochen? Wovon sollen wir leben? Sollen wir Gras fressen?« »Du wirst uns Forellen auf heißen Steinen braten à la Robinson«, sagte der Graf. »Ich bin überzeugt«, sagte GG, »für unsere Verpflegung wird der Ungenannte sorgen, solange ihm daran liegt, daß wir am Leben bleiben.« Der Chef schwieg. Er diskutierte mit dem Marseiller nicht. Neunauge hatte den Doppelsinn, der in den Worten GGs lag, gar nicht aufgenommen. Er war schon von einer anderen schrecklichen Vorahnung überwältigt. »Wie kommen wir überhaupt aus dem Tal?« -229-
fragte er. »Etwa über die Felslöcher?« »Ja«, sagte der Chef. »Der hiesige Verschönerungsverein hat noch keinen anderen Weg angelegt«, sagte der Graf. Neunauge lief rot an. »Meine Herren«, sagte er, und seine Stimme war vor Empörung heiser, »meine Herren, in einer unbedachten Minute meines Lebens habe ich mich verpflichtet, auf dieser Expedition als Koch mitzugehen. Eine Verpflichtung, als Seiltänzer aufzutreten, habe ich nicht unterschrieben!« »Hast du solche Angst?« fragte Plumpudding heiter. »Angst?« schrie Neunauge auf. »Wovor sollte ich Angst haben?!« »Vor den Felslöchern«, sagte Plumpudding. »Ich werde dir zeigen, daß ich keine Angst habe«, sagte Neunauge grimmig. »Ich werde mich barfuß wie ein armseliger Urwaldneger an der Felswand entlang hangeln, in dem Bewußtsein, daß ich damit endlich dem Augenblick näher komme, wo diese Expedition ein Ende hat und ich nach einem Land zurückkehren kann, wo mir nichts Unwürdiges zugemutet wird.« »Chef«, sagte Figur, »der Witz bei der Sache ist doch, daß wir dem Ungenannten in die Hände fallen.« »Ja«, sagte der Chef. -230-
»Du hast wohl Angst davor?« fragte Neunauge. Er hatte das Gefühl, als habe er sich doch eine kleine Blöße gegeben, die zu bedekken sich empfahl. Aber Figur warf ihm nur einen nachsichtigen Blick zu und sprach weiter: »Und die goldenen Kannen sind sozusagen unsere Legitimation?« »Ja«, sagte der Chef. »Was wird aber, wenn der Kerl uns die Kannen abnimmt?« »Dann sind wir sie los«, sagte Plumpudding. »Erlaube mal«, sagte Figur, »dann sind meine zigtausend Dollar futsch! Wie ist es, Chef: kriege ich die in London ersetzt?« »Darauf haben Sie keinen Anspruch«, sagte der Chef. »Warum nicht?« fragte Figur. »In dem Vertrag, den Sie unterschrieben haben«, sagte der Chef, »steht im Paragraphen 27: ‘was Expeditionsmitglieder auf der Expedition durch die besonderen Umstände der Expedition erwerben, gilt nicht als ihr persönliches Eigentum, sondern wird Eigentum der Gesellschaft‹.« »So«, sagte Figur. »Wenn das im Vertrag steht, dann ist ja alles in Ordnung. Unterschrieben hab’ ich. Ich unterschreibe jeden Vertrag. Aber ich lese keinen. Das ist mir zu umständlich.« Mit Tschandru-Singh sprach GG allein, aber der Knabe erschrak, als er hörte, was die Sa-231-
hibs vorhatten. Entsetzt sah er GG an: »O Sahib«, flüsterte er aufgeregt, »das ist nicht gut!« »Warum nicht?« fragte GG. »Hast du uns nicht erzählt, daß der Ungenannte dir gesagt hat, uns solle nichts geschehen?« »O Sahib, das hat er gesagt. Aber da wußte er nicht, daß Sahib Chef ihn niederschlagen würde. Er hat vor ihm auf dem Boden gelegen, und seine Männer haben das gesehen. O Sahib, er hat einen Flecken im Gesicht, den kann er nur mit Blut abwaschen.« »Tschandru-Singh«, sagte GG, »du warst schon einmal in seiner Gewalt. Willst du bei den Kafiri bleiben, bis er dich vergessen hat? Die Menschen hier im Tal sind gut, und es wird dir an nichts fehlen.« »Die Menschen hier im Tal sind sehr gut«, sagte der Knabe, »aber du würdest mir fehlen, Sahib. Du hast mich zweimal gerettet, Sahib. Einmal, als ihr mich vom Baum abgeschnitten hattet, und das zweite Mal, als du mir glaubtest, trotzdem Sahib Chef mir nicht mehr glaubte. Nun muß ich da sein, wo du bist, Sahib.«
Gefangen und gefesselt »Der Mir«, sagte der Alte des Dorfs zu GG, -232-
»ist voll Trauer, daß ihr das Tal verlaßt.« »Wir werden ihn zum Abschied besuchen«, antwortete GG. »Das wird nicht mehr möglich sein«, sagte der Alte. »Der Mir hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen und fastet eine Woche. Er bittet unsern Gott, daß er euch gut über die Berge bringe.« Rasch gingen die letzten Tage hin. Das Geoskop war auseinander genommen, seine einzelnen Teile waren vernichtet. Das Funkgerät hatten die Kafiri in ihr Schatzhaus gebracht wie alles Gerät, was die Männer nicht mitnehmen konnten, und die Lebensmittel, die zurückgelassen werden mußten, waren im Dorf verteilt. Es war den Kafiri sehr recht, daß die Sahibs jenseits der Grenze darüber klagen würden, alles sei ihnen geraubt worden – so würde niemand Lust verspüren, dieses Tal der Räuber zu suchen. Die jungen Männer freuten sich auf den Scheinkampf, den sie am Ausgang des Tals, am Weg der Felsenlöcher, mit den Sahibs aufführen würden, und Figur war in seinem Element – GG hatte alle Einzelheiten dieses Rückzuges in letzter Minute, die Figur sich ausgedacht hatte, den Kafiri klargemacht, und am Morgen des Aufbruchs strömten sie zusammen. Immer trugen sie ihre Dolche im Gürtel; jetzt hatten sie noch ihre Speere in der Hand. Jeder der sieben, die sich nun das Ende ihrer Expedition in einem letzten, gefährlichen Gang -233-
erkämpfen mußten, hatte seine kostbare Kanne in eine Zeltbahn gewickelt und trug sie wie einen Rucksack auf dem Rücken; so hatten sie die Hände frei für die schwierige Stelle am Felsen. Die Europäer hatten ihre Pistolen geladen in den Taschen und dazu einige Rahmen Munition, auch für die Gewehre, die sie umgehängt hatten. »Go on!« sagte der Chef. Er hatte sich noch nach dem Alten umgesehen, konnte ihn aber nicht erblicken. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Sahibs und Tschandru-Singh gingen voran, dann folgte der große Haufe der Speerträger. So kamen sie an den Ausgang des Dorfs, und da sahen sie, daß der Alte sie erwartete. Jedoch stand er hier nicht allein – alle Frauen des Tals warteten mit ihm, und auf dem Arm oder an der Hand hatten sie ihre Kinder, die von den weißen Sahibs gesund gemacht worden waren. Der Zug stand still. Der Alte verneigte sich vor den Sahibs, was er noch nie getan hatte. »Ihr habt euren Schwur gehalten«, sagte er. »Ihr habt uns nichts Böses gebracht. Ihr habt noch mehr getan. Wir werden euch nicht vergessen.« Wieder verneigte er sich, und jeder der Scheidenden gab ihm die Hand; nur TschandruSingh führte die seine ehrfürchtig an die Stirn. Der Chef winkte, zum Zeichen, daß es weitergehen sollte. Da sagten die Frauen alle leise: »Kuda hafis« – lebt wohl. Sie hatten sich diesen Abschiedsgruß in Hindustani gelehrt, -234-
um die Fremden damit grüßen zu können. Als die Männer eine gute halbe Stunde gegangen waren und an die Biegung des Weges kamen, nach der sie das Dorf nicht mehr sehen konnten, drehte sich der Chef noch einmal um. Da sah er, daß die Frauen noch immer unbeweglich standen und ihnen nachblickten. »Sie gehen nicht eher fort, als bis sie uns nicht mehr sehen können«, sagte GG. »Das ist Ihr Honorar, Graf.« »Leider kann ich es nicht an die zurückgeben«, sagte der Graf, »bei denen ich gelernt habe.« »Mein Vater«, sagte GG, »war ein ganz kleiner Schuster, und für mein Studium konnte er nicht mehr aufbringen, als daß ich immer tadellos besohlte Schuhe hatte. Ich habe mich so durchgeschlagen. Aber als es einmal nicht weiterging, habe ich einen meiner alten Lehrer gefragt, ob er mir nicht helfen könne. Er hat es getan, und dazu gesagt: ›Das Geld geben Sie mir nicht wieder. Aber wenn Sie so weit sind, daß es Ihnen gut geht, dann helfen Sie wieder jemand anderem, unter derselben Bedingung.‹ So wird diese eine Summe immer weitergegeben, von Generation zu Generation. Das Empfangene weitergeben – das ist doch wohl das Schönste, was man tun kann.« »Du siehst schlecht aus«, sagte, während dieses Gespräch am Ende des Zuges geführt wurde, Neunauge zu Plumpudding, die beide gleich hinter dem Chef vorn gingen. -235-
»Nichts ohne Ursache«, antwortete Plumpudding dunkel. »Ja, ja«, sagte Neunauge, »manch einer wird auf dem trockenen Lande seekrank.« Ihm hatte Figur bei dem bevorstehenden Scheingefecht mit den Kafiri eine besondere Rolle zugedacht. Sie beide würden schießend den Rückzug der anderen als letzte decken, und diese Aufgabe berauschte ihn geradezu. Seine Phantasie spielte darüber hinweg, daß es ja nur Luftschüsse waren, die er abgeben würde, daß sie gar keine wirklichen Gefahren abzuwehren hatten. Er war ganz in seinem Wunschtraum befangen, in einer höchst bedrohlichen Situation der Retter der Lage zu sein, und fühlte sich allen anderen weit überlegen – vor allem natürlich diesem Plumpudding, der ihn neulich mit falscher Freundlichkeit gefragt hatte, ob er Angst hätte, und der jetzt offenbar selbst von der Furcht vor dem Weg über die Felslöcher gepackt war. Denn weshalb, dachte Neunauge erheitert, sah er heute morgen so bemerkenswert schlecht aus? Ihm saß eben der kalte Schrecken im Gesicht, nichts anderes! Es war unbestreitbar, daß er, Cyprian Bombardon, der mit dem etwas verletzenden Namen Neunauge genannt wurde, sich geweigert oder doch dagegen widersprochen hatte, daß man ihn auf diesen halsbrecherischen Weg schickte. Aber sie würden sehen, daß er nur aus Grundsatz sich dagegen aufgelehnt hatte, weil es seinem Un-236-
abhängigkeitssinn widersprach, etwas zu tun, das man von ihm verlangte. Aus freien Stükken, wenn es ihn dazu trieb, war er bereit, durch helle Flammen bis ans Ende der Welt zu gehen. So dachte er wenigstens, denn über nichts täuschen wir Menschen uns lieber als über uns selbst. Sie waren schon über die Waldgrenze hinaus, und es war Zeit, mit dem Spiel zu beginnen, das die Späher des Ungenannten, die drüben im andern Tal saßen, so gründlich in die Irre führen sollte. Die Sahibs schossen ihre Gewehre ab, wieder und wieder. Die Kafiri schrien ihr »Dschirah, dschirah!«, mit dem sie sich bei einem Angriff anzufeuern pflegten, und das Gebrüll mußte wie der Nachhall der Schüsse weit genug dröhnen. Jetzt machten sich die Weißen fertig. Der Chef, der Graf, GG und Plumpudding zogen sich die Stiefel aus und hingen sie sich, an den Schuhbändern zusammengebunden, um den Hals. TschandruSingh, der den Weg so genau kannte, ging als erster. Dann kam der Chef, dann die andern, wobei Plumpudding als Letzter ging. Figur und Neunauge aber schossen weiter. Daraus, daß jetzt nur noch zwei Gewehre Schüsse abgaben, mußten die Horcher schließen, die übrigen seien entweder außer Gefecht gesetzt oder auf der Flucht ins andere Tal. Neunauge schoß und schoß. Er hatte sich von denen, die nun schon außer Sicht waren, die noch unverschossene Munition geben las-237-
sen, und das Dröhnen seiner Schüsse versetzte ihn in einen wahren Taumel. Er konnte Schein und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Er schrie »Volle Deckung!«, sprang hinter einen Felsblock und schoß von daher weiter in die Luft. Nun aber hatten sich auch die Kafiri durch ihr Schlachtgeschrei in eine mächtige Erregung gesteigert. Sie standen auf Speerwurfweite von den beiden Schützen entfernt, und wie sie jetzt den einen der beiden hinter dem Felsen plötzlich verschwinden sahen, wie einen Steinbock auf der Flucht, schrien sie auf, und ein Hagel von Speeren flog durch die Luft. Sie bohrten sich sausend in den Erdboden rings um den großen Stein ein, während zwei, drei auf ihm zersplitterten. Figur sah die Bewegung der Speerwerfer, wie sie zum Abwurf ausholten, und warf sich schnell auch hinter einen deckenden Block, wobei er sich vor Lachen schüttelte, denn er konnte sich ausmalen, wie erschrocken Neunauge über diese unverhoffte Wirkung seines Versteckspielens sein mußte. Der war auch ganz entsetzt, als die Speere um ihn herum dumpf krachend in den Boden fuhren – bei jedem dieser bösen Laute zuckte er zusammen. Dann war alles still. Er schoß nicht mehr, hörte auch von Figur keinen Schuß mehr. So streckte er seinen Kopf vorsichtig über seinen Felsblock empor und schrie: »Das haben wir doch gar nicht ausgemacht!« Schon aber sausten die tückischen Speere wieder -238-
heran, denn den sicheren Werfern war es die höchste Lust, ihre Waffen genau zwei Handbreit über die Felskante dahinschießen zu lassen. »Feuer!« schrie Figur, »Feuer, Neunauge!« Es machte ihm das größte Vergnügen, den aufgeregten Mann vollends zu verwirren. »Schieß doch! Schieß! Die Kerle machen ernst!« Und er schoß selbst, so rasch er nur konnte, aber natürlich nach wie vor in die Luft. »Ich hab’ keinen Schuß mehr!« schrie Neunauge verzweifelt zurück. »Hau ab.‹« schrie Figur ihm wieder zu. »Stiefel ausziehen! Um den Hals hängen! Auf dem Boden kriechen, bis zu den Löchern – dann nichts wie ‘rüber! Ich decke dich bis zu meinem letzten Schuß!« Neunauge stöhnte. Unzivilisierte Menschen! Warfen ihre Speere, als wenn sie damit niemand verletzten könnten! Gottlob, einen Stiefel hatte er aus. Hoffentlich hatte Figur genügend Munition, daß er noch bis zu den Felslöchern kam. Jetzt die Schuhbänder zugeknotet, die Stiefel umgehängt, und los! Er ächzte. Es war keine Kleinigkeit, über diesen elend steinigen Boden zu robben. Schon waren seine Knie aufgerissen. Weiter… nur weiter… Wenn er gewußt hätte, daß er diesen Marterweg ohne alle Gefahr behaglich schlendernd hätte zurücklegen können! Der Schweiß rann ihm über das Gesicht; schon war er am ganzen -239-
Körper naß. Aber das schwerste Stück kam ja noch. Jetzt hatte er die Felswand erreicht. Noch immer fielen hinter ihm Figurs Schüsse. Das war nur gut, Figur hielt also diese unverständigen Menschen im Schach. Ach, alle seine Freude am Schießen und Kriegsspiel war zum Teufel. Nicht einmal sein Gewehr hatte er mitgenommen. Das lag hinter dem Felsen. Ihn kümmerte es nicht. Jetzt war er so weit, daß er mit Händen und bloßen Füßen sich an der Felswand entlang tasten mußte, wie ein Urmensch, wie ein Riesenaffe, wie ein zu entsetzlichen Qualen Verdammter… Und da geschah das Schreckliche. Figur hatte sich als unerhört wirksamen Schlußeffekt für alle Späher, die diese Flucht an der Felswand verfolgten, ausgedacht, daß das Steingeröll, das über dem luftigen Weg gesammelt und hinter Baumstämmen gestaut war, von den Kafiri gelöst werden sollte, nachdem der Letzte, nämlich er, den Weg passiert und mit einem allerletzten Schuß das Zeichen dafür gegeben hätte. Der Trupp der Kafiri aber, der schon vor den Speerträgern aufgebrochen war und oben auf dem Berge an den Geröllsperren hockte, war durch das heftige Schießen und die Kriegsrufe seiner Stammesgenossen in helle Aufregung gekommen. In der Meinung, jetzt sei ihr Augenblick schon da, sprangen sie auf und lösten die Baumstämme, die das Steinwehr bildeten. Wie ein Wasserfall pras-240-
selte die aufgestaute Steinflut den Steilhang hinunter. Zum Glück hatte Neunauge eben die Stelle erreicht, die eine vorspringende Felsplatte wie ein Regendach schützte. Gerade hatte er mit der linken Hand das nächste Loch ertastet, das schon wieder ungeschützt lag, als er über sich das donnernde Rauschen hörte. Entsetzt nahm er die Hand zurück und klammerte sich mit ihr wieder in das Loch, in dem sie vorher gehangen hatte. Er preßte sich, so eng er es nur vermochte, an die Felswand. Er hatte die Augen geschlossen. Er wagte kaum noch zu atmen. Links und rechts von ihm, außerhalb des schützenden Daches, schoß der Steinschlag an ihm vorbei. Aber die Steine, unter denen mehr als handliche Blöcke waren, schlugen auch krachend auf das Dach über seinem Kopf und sprangen dann in einem hohen Bogen weiter. Wäre es nicht aus gewachsenem Fels gewesen, so hätte es diese ständige Erschütterung gar nicht ausgehalten; für den Unglücklichen aber, der da schreckensbleich am Felsen hing, war es auch so schrecklich genug. »Ich sterbe«, dachte er, »ich sterbe…« Aber seine Hände ließen deshalb doch nicht los. Was ihn am Leben hielt, war Wut, reine Wut. Wut auf die Männer, die ihn einer Lage aussetzten, die schlimmer war als der schlimmste Traum; Wut auf den Grafen, der ihn überredet hatte, auf diese dreimal vermaledeite Expedi-241-
tion mitzugehen; Wut auf Figur, der ihn dazu bestimmt hatte, bei diesem Abgang aus dem Tal die Nachhut zu bilden; Wut auf Plumpudding, der es natürlich wieder verstanden hatte, sich an den Anfang des Zuges zu mogeln, wo nichts zu riskieren war – Wut also und noch einmal Wut und das rasende Verlangen, von dieser Wut erfüllt, mit allen Schuldigen abzurechnen… Es rauschte nicht mehr um ihn. Der Höllensturz war vorbei. Nein – da kam noch etwas. Das rauschte nicht. Das schlug auf, das dröhnte, das schlug wieder auf, das krachte von neuem – das mußte ein gewaltiger Felsblock sein, der als später Nachzügler den schrecklichen Schlußpunkt unter diesen Hexensabbat setzen sollte. Jetzt schlug die Zentnerlast auf sein Steindach. Es dröhnte, als wäre der Schlag ihm auf den Schädel gegangen. Selbst als dann alles still war, als der schreckliche Brocken schon längst bewegungslos unten im Fluß lag und die jagenden Wasser an ihm weiß aufschäumten, hing Neunauge noch ganz regungslos an der Wand. Er war vor weiteren Angriffen aus der Höhe sicher. Aber er wußte, daß die nächsten Griffe und Schritte von Felsloch zu Felsloch ihm erst die eigentliche Lebensgefahr brachten, denn er war mit seiner Nervenkraft zu Ende. Selbst seine Wut war fort, weil er nicht mehr die Kraft hatte, wütend zu sein. Er war fertig. Ganz mechanisch, ohne noch eines Gedankens fähig zu -242-
sein, tastete er sich weiter. Er erreichte wirklich den Anfang des eigentlichen Weges. Als er wieder mit beiden Füßen auf festem Boden stand, sank er zusammen wie ein leerer Sack. »Hallo, Neunauge«, sagte Figur, als er ihn hier erreichte, nachdem er die Felslöcher hinter sich gebracht hatte, »genießt du ein bißchen die schöne Aussicht?« Neunauge antwortete nicht. Aber er sah ihn mit einem Blick aus rotgeäderten Augen an, daß Figur an das Schlimmste erinnert wurde, was es dieser Art gibt, nämlich an einen gereizten Kafferoder Schwarzbüffel, Bubalus caffer, vor dem Angriff. Er fühlte sich daher veranlaßt, besänftigend zu wirken. »Tut mir schrecklich leid«, sagte er, »daß der Vorhang zu früh ‘runterging. Aber du hast dich großartig gehalten. Ich glaube, wenn es hätte sein müssen, wärst du durch den Steinhagel glatt weitergegangen!« Das tat wohl. Indessen sagte Neunauge noch immer nichts. Jedoch war er schon fähig, sich die Stiefel wieder anzuziehen, und als er nun mit Figur mühelos bergabging, kam er mit jedem Schritt in eine immer bessere Verfassung. So, wie die andern die gefährliche Stelle passiert hatten, war es wahrhaftig kein Kunststück. Was er geleistet hatte, das hatte noch keiner zustande gebracht, und dieser Triumph schwellte von neuem seine Brust. Jetzt konnte er es diesem Plumpudding erst so richtig geben, dem schon, noch ehe er an den Felslö-243-
chern angelangt war, das bleiche Entsetzen im Gesicht gestanden hatte. »Abstechen werde ich ihn«, dachte er, »kunstgerecht abstechen, daß ihm die Luft ausgeht wie einem Kinderballon.« Aber als er mit Figur ihren alten Lagerplatz erreicht hatte, traute er seinen Augen nicht. Da saßen die andern Männer, und da hantierte Plumpudding an einem Steinherd. Zwei brodelnde Töpfe standen auf einer Art Rost, und in eine große Pfanne goß er eben Teig für ein Omelett, der in dem zerlassenen Fett aufzischte. Die Männer aßen; jeder hatte einen der großen Aluminiumteller in der Hand. »Wie kommen denn die Küchensachen her?« fragte er entgeistert. »Nichts ohne Ursache«, sagte Plumpudding dunkel. »Plumpudding hat alles vorher herübergeschafft«, sagte der Graf. »Dreimal ist er über die Felslöcher hin und her.« »Deshalb war ich heute morgen so kaputt, verstehst du?« fragte Plumpudding. »Eigentlich wär’s ja deine Sache gewesen, denn du bist der Koch, und hättest auch für die Küche sorgen sollen. Aber du weißt ja, ich nehme dir gern was ab.« Er hatte dabei das Omelett aus der Pfanne auf den Teller gekippt und hielt ihn Neunauge hin. Neunauge nahm und aß. Jeder Bissen quoll ihm im Munde. Er war hier überflüssig. Das -244-
war klar. Nie hätte er auf diese Expedition mitgehen sollen. Einmal war er so gutmütig gewesen, ja zu sagen – aber sie ging nun zu Ende. Gut. Vorhin war er mit den Nerven fertig gewesen, jetzt war er endgültig mit diesen Leuten fertig, die ihn ins einsamste Asien geschleppt hatten, obwohl sie ihn gar nicht brauchten… Auch Figur aß, aber dabei fiel ihm auf, daß keiner der anderen sprach. Er konnte nicht wissen, daß wenige Minuten, ehe er mit Neunauge aufgetaucht war, der Chef gesagt hatte: »Sie sind da. Sie warten nur, bis wir alle da sind.« Es war dem scharfen Blick des Chefs nicht entgangen, daß sich um sie Büsche bewegten, auch wenn kein Wind ging, daß Rebhühner aufgeflogen waren, die jemand aufgescheucht haben mußte. Er wiederholte jetzt seine Instruktion: »Figur, bitte denken Sie daran: schießen, ja, damit es aussieht, als ob wir uns wehren. Aber keinen treffen. Wenn Blut geflossen ist, kommen wir aus der Geschichte kaum wieder heraus.« Figur wischte sich eben mit dem Handrücken den Mund; denn Plumpudding hatte mit dem Fett nicht gespart, da sprang der Chef auf, riß seine Pistole heraus und schoß rasch ein paarmal. Im Umsehen wimmelte es von fremden Männern, die sich auf sie stürzten. Sie schossen, sie schlugen um sich, aber es war keine Frage, daß die Überzahl sie rasch erledigen mußte. GG stürzte als erster, nach ihm -245-
Plumpudding, der die noch heiße Pfanne seinem Angreifer auf den Kopf geschlagen hatte. Der Chef hatte sich verschossen und deshalb die Pistole weggeworfen; er wehrte sich ohne Walle, aber so formgerecht, als stünde er zwischen den Seilen. Er streckte das rechte Bein, hob gleichzeitig dabei die rechte Ferse hoch, wodurch er seinen Oberkörper mit einem Ruck nach vorn brachte, und seine Faust schlug zu, ein wenig nach innen gedreht, so daß er den Turbanmann, der ihn niederzwingen wollte, mit der Knöchelkante des Faustrückens scharf am Kinn traf; schon aber konnte auch er sich nicht mehr auf den Füßen halten, denn sie wurden ihm vom Boden her weggerissen. Es dauerte nicht länger als zwanzig Minuten, da lagen sie alle gefesselt auf der Erde. »Ich finde«, sagte der Graf, den ein Fußtritt neben den Chef und GG rollte, »es ist alles genau programmäßig verlaufen.« GG antwortete nicht. Ein heftiger Schlag, den er auf den Hinterkopf erhalten hatte, machte ihm zu schaffen. Aber der Chef richtete sich auf, so schwer es ihm auch wurde. »Graf«, sagte er, »ich sehe den Boy nicht. Können Sie ihn sehen?« Der Graf drehte sich langsam auf die Seite. »Nein«, sagte er, »ich sehe den Boy auch nicht.« »Er ist fort«, dachte GG, »Tschandru-Singh ist fort –« Weiter kam er nicht, denn er verlor das Bewußtsein. -246-
Auge in Auge mit dem Ungenannten »Ein reizendes Quartier, das die guten Leute für uns ausgesucht haben«, sagte der Graf. Nachdem sie tagelang durch die Berge geschleppt worden waren, hatten die Turbanmänner sie durch dunkle Felsgänge gezogen und dann einen nach dem anderen an Stricken in die Tiefe gelassen; der letzte, der so herunterkam, war der Graf, und als er wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte, tat er den obigen Ausspruch. Es war nicht dunkel um sie, aber dämmrig. Offenbar waren sie tief unter der Erde in einer Art Felsenkammer; aus schmalen Schächten, die senkrecht und schräg nach oben gingen, fiel ein matter Lichtschein. Als sie sich in ihm nun umsahen, erblickten sie eine riesige und schreckliche Gestalt aus Stein. Es war eine Frau. Ihr wildes Gesicht war schwarz, eine glühend rote Zunge schoß ihr wie lechzend zum Munde heraus. Um den Hals hing ihr eine Kette von Schädeln, die aber nicht aus Stein waren – sie hatten einmal lebenden Menschen gehört. Vier Arme reckten sich von ihrem Leibe in die Luft. Die eine Hand trug ein Schwert, das von Blut zu triefen schien, die zweite einen Menschenschädel, die dritte zeigte abwärts auf einen steinernen Leichnam, in dem ihre Füße ruhten, und die vierte Hand bog sich nach oben, als wolle sie den Himmel zeigen. -247-
Etwa einen halben Meter vor dem Standbild erhob sich ein Sockel, der aus dem gewachsenen Stein gehauen war. »Können Sie uns nicht verraten«, sagte der Graf zu GG, »was diese erschreckende Dame bedeutet?« GG hatte die Statue aufmerksam betrachtet. »Das ist Durga Schakti«, sagte er langsam, »Durga, die Mächtige, die schreckliche Göttin des Verderbens und der Vernichtung. Ihre Anhänger, die Schaktas, glauben, sie könnten ihren Zorn weder durch Blumen- noch durch Kerzenopfer besänftigen, sondern nur durch Blut. Unter dem sanften Druck der Britischen Verwaltung opfert man ihr heute Ziegen, aber das ist nach Ansicht der Gläubigen nur ein dürftiger Ersatz. Das wirkliche Opfer, das sie verlangt, ist Menschenblut. Sehen Sie den Sockel hier? Darauf hat vordem eine goldene Schüssel gestanden. Darin wurde ihr der Menschenkopf dargebracht, den man ihr zu Ehren dem Opfer abgeschlagen hatte – die Schädel, die sie um den Hals trägt, stammen von solchen Opfern.« »Meinen Sie«, fragte der Graf, »daß man uns hierhergebracht hat, weil man unsere Schädel in diesem Sinne verwenden möchte?« »Das glaube ich nicht«, sagte GG, »das hier ist ohne Frage ein Höhlentempel, aber er macht einen ganz verlassenen und vergessenen Eindruck. Wissen Sie, es müßte nach Blut riechen, wenn hier noch geopfert würde.« -248-
»Wie angenehm«, sagte der Graf, »daß wir diesen Duft entbehren dürfen. Hoffentlich kommen die lieben Leute nicht auf die Idee, die Bräuche der guten alten Zeit wieder zu beleben.« Neunauge, Plumpudding und Figur hörten dem Gespräch der beiden nicht zu. Sie hatten sich auf den Steinboden gesetzt und dämmerten vor sich hin, zermürbt von den Strapazen des qualvollen Transports, auf dem sie Tag und Nacht gefesselt waren. Auch der Chef schwieg. Aber seine Augen suchten sorgsam die Felswände ab. Sie waren gut zwanzig Meter hoch und glatt. In fünfzehn Meter Höhe etwa mündete der Gang als schwarzes Loch, aus dem die Turbanmänner sie herabgelassen hatten. Das Seil aber, das sie dazu benutzten, hatten sie wieder zu sich heraufgezogen. Er sah keine Möglichkeit, zu entkommen. Er setzte sich auf den Boden, und schweigend taten GG und der Graf das gleiche. Zehn Tage lang hatten sie sich nicht rasiert und nicht gewaschen. Wohl hatten sie zu essen und zu trinken bekommen, jedoch nicht viel. Es hatte mehrere Nächte gebraucht, bis sie sich daran gewöhnt hatten, auch in Fesseln schlafen zu können. Jetzt waren sie von den Fesseln befreit, aber die Müdigkeit war groß. »GG«, sagte der Chef, »was halten Sie davon? Wie soll das weitergehen? Kein einziges Mal haben wir den Ungenannten gesehen.« »Ich habe die Männer immer wieder nach ihm gefragt«, sagte GG. »Ich habe verlangt, -249-
daß wir vor ihn gebracht würden – aber Sie haben ja gesehen, daß mir keiner geantwortet hat. Wenn sie nicht unter sich gesprochen hätten, dann hätte man denken können, wir wären einer Bande Stummer in die Hände gefallen.« »Wovon haben sie gesprochen?« »Nur das Notdürftigste über den Weg.« »Wissen Sie, wo wir sind?« »Ich nehme an, irgendwo in den Bergen des Nordwestbezirks.« »Denke ich auch. Über den Paß haben sie uns gebracht.« Die andern schliefen schon, und jetzt fielen auch ihnen die Augen zu. Als sie wieder erwachten, kam aus den Schächten kein Licht mehr, aber von dem Gang oben fiel ein flackriger Schein auf sie, und in der Öffnung sahen sie eine mächtige Gestalt stehen, die zwei Fackelträger neben sich hatte. Das war er, der Ungenannte, Ali Bardur Khan. »Guten Abend, meine Herren«, sagte er in tadellosem Englisch. »Wie geht es Ihnen?« »Ausgezeichnet, danke bestens«, erwiderte der Chef, und so setzten sie das Gespräch fort, von oben nach unten und von unten nach oben. »Das freut mich wirklich«, sagte Ali Bardur Khan, »Sie werden verstehen, daß unsere kleine Auseinandersetzung an jenem Morgen von mir aus doch fortgesetzt werden mußte.« -250-
»Es tut mir leid«, sagte der Chef, »daß ich Sie niedergeschlagen habe.« »Oh, Sie entschuldigen sich?« »Keineswegs, ich wollte nur mein Bedauern darüber ausdrücken, daß ich Sie bei der Gelegenheit nicht niedergeschossen habe. Das wäre für viele eine Wohltat gewesen.« »Ja, es war ein Fehler von Ihnen. Dadurch bin ich wieder zum Zuge gekommen. Interessiert es Sie, zu hören, was meine Absichten sind?« »Ich nehme an«, sagte der Chef, »Sie werden die goldenen Kannen, die uns Ihre Männer gestohlen haben, zu Geld machen.« »Ach bitte«, sagte der Gefährliche lächelnd, »wie sind Sie denn in den Besitz dieser hübschen Gefäße gekommen?« »Ich gebe zu«, sagte der Chef, »daß wir sie auch ohne das Einverständnis der Besitzer mitnehmen mußten, weil die unverständigen Leute für keinen vernünftigen Preis zu haben waren – aber wir taten das nicht, um dabei ein Geschäft zu machen, sondern im Interesse des Britischen Museums in London. Es würde Ihnen übrigens auch einen sehr anständigen Preis für dieses Standbild zahlen. Ich wäre bereit, das zu vermitteln.« »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte das Koloß. »Aber leider kein Interesse an dem Geschäft.« »Ach, Sie meinen, das Lösegeld, das Sie für -251-
uns herausschlagen wollen, sei ein besseres?« »Ich werde für Sie von niemand Lösegeld verlangen.« »Wollen Sie uns im Stil dieses Felsenloches vielleicht die Kehlen durchschneiden lassen?« »Sie irren«, sagte der Ungenannte, »den Opfern der Göttin Durga wurde niemals die Kehle durchschnitten. Ihnen wurde der Kopf abgeschlagen, und zwar mit einem einzigen Hiebe. Der Durga-Priester hat darin eine unerhörte Fertigkeit. Man kann das noch heute sehen, wenn er einen mächtigen Büffel mit einem einzigen Schlage köpft. Leider werden Sie dazu keine Gelegenheit mehr haben, sich das einmal anzusehen.« »Wieso nicht? Wir sind doch in den besten Jahren.« »Sie werden hier verhungern.« Er lächelte nicht mehr, der Koloß da oben. Alle unten hatten den Satz gehört, und nur Neunauge hatte ihn nicht verstanden, da er kein Englisch sprach. »Was hat er gesagt?« fragte er, denn ihm fiel die Bestürzung in den Gesichtern der andern auf. »Unser Souper wird sich noch etwas verzögern, meint er«, sagte der Graf. »Ich habe versprochen, daß sich niemand an Ihnen vergreift«, sagte der grausame Mann langsam, »und ich bin gewohnt, mein Wort zu halten. Niemand wird Ihnen etwas tun. Sie werden von uns sogar zu essen bekommen. -252-
Heute sechs Fladenbrote, morgen wieder, allerdings dann nur fünf, und so einen um den andern Tag immer eins weniger. Auf Wasser werden Sie verzichten müssen, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, die Wände haben eine natürliche Feuchte.« »Unangenehm für Sie«, sagte der Chef, »wenn man dann eines Tages unsere Leichen hier findet.« »Dieser alte Höhlentempel steht nicht im Baedeker für Indien«, sagte Ali Bardur Khan. »Es hat ihn überhaupt noch kein Engländer gesehen. Überschätzen Sie Ihre Chance nicht, Sir. Selbst wenn irgendwer Ihre Gebeine eines Tages hier finden würde, so wird man sich nur dunkel erinnern, daß einmal auf einer Expedition für das Britische Museum einige Sahibs drüben irgendwo in Kafiristan Kultgefäße gestohlen haben und dann zur Strafe für ihren Frevel aus einem Höhlentempel nicht wieder ans Tageslicht finden konnten.« Ali Bardur Khan genoß es, daß keiner seiner Gefangenen gegen die Folgerichtigkeit seiner Antwort etwas zu sagen wußte, und fuhr voll Überlegenheit fort: »Ähnliches ist übrigens schon vorgekommen. Haben Sie jemals von dem armen König Tirumala gehört? Er hatte zu viel mit Ihren Missionaren gesprochen und verweigerte der Göttin Durga die Blutopfer. Da lockten ihn die Priester in das Gewirr des Höhlentempels, den er selbst einmal hatte erbauen lassen. Plötzlich steht er im Dunkel, -253-
das Licht seines Führers sieht er nur noch von fern – er will ihm nach, verirrt sich, und in der Zeit haben die Priester den Gang zugemauert. Dem Volk haben sie dann gesagt, der Gott Schiwa habe ihn entführt. Sie sehen, man ist hier so etwas gewohnt.« Der Chef sah ein, es stand sehr schlecht für sie. Aber er gab noch nicht auf. »Ali Bardur Khan«, sagte er, »ich habe Sie niedergeschlagen, und ich begreife vollkommen, daß Sie das Ihren Männern gegenüber bereinigen müssen, sonst haben Sie keine Ordnung mehr in Ihrem Laden. Aber sehen Sie, was haben die andern fünf hier damit zu tun? Ich schlage vor, ich bleibe hier unten, aber die andern lassen Sie holen.« »Sie können mich nicht übertölpeln«, sagte der erbarmungslos Kalte, »nur Tote schweigen.« Und höhnisch setzte er hinzu: »Sonst vielleicht noch einen Wunsch?« »Ich wüßte nicht«, sagte der Chef. »Doch«, ergriff Plumpudding plötzlich das Wort. »Ich möchte Ihnen gern eine Geschichte erzählen, Sir«, sagte er zu dem Inder hinauf. »Sie wissen vielleicht«, erwiderte Ali Bardur Khan, »wir Orientalen hören sehr gern Geschichten.« »Sie machten, Sir, den Chef auf die Geschicklichkeit der hiesigen Priester im Kopfabschlagen aufmerksam. Ich muß Ihnen sagen, daß wir in Limerick, wo ich geboren bin, mit -254-
dergleichen aufwarten können. Da hatten wir einen sehr geschickten Scharfrichter, Dunsy Duns mit Namen. Der stellte die armen Sünder nur so vor sich hin und hatte ihre Köpfe herunter, ehe sie’s merkten. ›Denn‹, sagte er, ›ich bin kein Barbier nicht und darum braucht bei mir keiner zu warten.‹ Einmal war’s wieder so weit, aber es war ein hundskalter Tag, der Frost messerscharf, und wie er wieder mit seinem Henkersschwert einem armen Sünder den Kopf glatt abgeschlagen hatte, blieb der Kopf auf dem Rumpf doch stehen, denn er war sofort festgefroren. Der Räuberhauptmann, dem das passiert war, freute sich nicht wenig, so davon gekommen zu sein, und ging mit seinen Freunden gleich in das nächste Wirtshaus. Aber in der warmen Stube wird’s ihm doch am Halse und in der Nase so wunderlich, als wenn er niesen solle. Er faßt zu – und da hat er seinen Kopf in der Hand und fällt vom Stuhl und ist tot.« »Interessant«, sagte Ali Bardur Khan. »Es wäre Ihnen sicher erwünscht, wenn ich an der Stelle dieses Bedauernswerten gewesen wäre.« »Keineswegs«, sagte der Chef. »Das würde uns nur irr machen.« »Wieso das?« »Wir sind es gewohnt«, sagte der Chef, »daß Erzschurken frei herumlaufen und ordentliche Leute im Elend sitzen.« »Ich sehe«, sagte Ali Bardur Khan, »Sie ha-255-
ben die Wahrheit gesprochen, als Sie den Schinwari sagten: ›Die Farbe der Feringi ändert sich nicht in der Stunde der Gefahr!‹« Er wandte sich um, und die beiden Fackelträger drückten sich an die Wände des Ganges, um ihn vorbeizulassen. »Einen Augenblick noch, Ali Bardur Khan«, rief GG hinauf, und der Gefürchtete drehte sich wieder um. »Sagen Sie mir noch eins«, bat GG, »war Tschandru-Singh Ihr Spion oder nicht?« »Ach, Sie meinen diese unberührbare Kröte, die Nattu heißt? Der Boy hat mich gut bedient, und dafür darf er als einziger seine goldene Kanne behalten!« Er ging, die Fackelträger folgten ihm, der Lichtschein wurde schwächer und schwächer, und dann lagen die sechs Männer ganz im Dunkel. »Geben Sie zu, GG«, sagte der Chef, »daß Sie die Wette verloren haben?« »Ja. Aber die Flasche Sekt muß ich Ihnen schuldig bleiben.« »Ich finde«, sagte der Graf in seinem heitersten Ton, »daß uns alles ausgezeichnet geglückt ist: der Mann ist vollkommen überzeugt, daß wir im Auftrag des Britischen Museums unterwegs waren. Die U. T. Company kann zufrieden sein.« »Ja«, sagte der Chef, »Das kann sie. Aber ich bin es nicht.« GG schwieg. Er dachte an Tschandru-Singh. -256-
Er dachte an die Augen des Knaben, an seinen vertrauenden, strahlenden Blick. »Haben Sie gehört, GG«, fing der Chef wieder an, »wie der Kerl sagte: ›Ich habe versprochen, daß sich niemand an Ihnen vergreift?‹ Oder habe ich mich da verhört?« GG riß sich zusammen. »Ja, das hat er gesagt«, antwortete er. »Das habe ich auch gehört«, sagte der Graf, und Plumpudding nickte, aber im Dunkeln sah das niemand. »Aber wem hat er das versprechen müssen, Herrschaften?« »Seinem unbekannten Auftraggeber«, sagte GG. »Schade, daß wir dessen Bekanntschaft nicht auch noch machen können«, sagte der Graf. »Der Mann hat es offenbar gut mit uns gemeint und nicht damit gerechnet, daß er hereingelegt wurde.« »Wie wird das nun mit dem Abendessen?« fragte Neunauge. »Bekommen wir das bald oder nicht?« Noch ehe ihm jemand antworten konnte, wurde es im Gang oben wieder etwas hell. Sie hörten Schritte, die Helligkeit nahm zu. Alle sahen hinauf. Neben einem Fackelträger stand ein Mann, der ihnen sechs pfannengroße Fladenbrote hinunterwarf. »Du siehst, Neunauge«, sagte der Graf, »du brauchst nur einen Wunsch zu äußern, und -257-
schon wird er erfüllt. Der Komfort läßt etwas zu wünschen übrig, aber die prompte Bedienung nicht.«
Der Sahib aus Amerika Tschandru-Singh machte einen großen Bogen um die Stadt Tschitral. Er hatte eine Scheu davor, sie an derselben Stelle zu betreten wie damals. Tage waren vergangen. Er war abgerissen, seine Backen waren eingefallen, er sah wie ein armseliger Betteljunge aus. Was hatte er auch hinter sich! Als die Turbanmänner im Lager unter den Felslöchern aufgetaucht waren, war er wie eine Eidechse weggehuscht. Die Sahibs wollten sich vor den Ungenannten bringen lassen, sie wollten sich in dessen Gewalt begeben – aber sie kannten ihn nicht, und sie würden es bereuen, daß sie nicht sahen, wie der Entsetzliche wirklich war. Er jedenfalls würde ihm nie aus freien Stücken in die Klauen laufen – und so folgte er dem Weg über die Berge, den die Gefangenen geschleppt wurden, unablässig, doch ungesehen. Kümmerlich ernährte er sich von Abfällen, die liegenblieben, wenn der große Haufen weiterzog. Hätten die Männer die Hunde mitgehabt, die ihn damals aufgespürt hatten, so wäre ihm sein Wagnis -258-
nicht geglückt. So aber konnte er den andern unbemerkt folgen. Er beobachtete noch, wie sie in den Felsen unterhalb des Tiratsch-Mir, des Königs der Berge, verschwanden; er kroch ihnen nach, bis er sah, daß es, hinter den Felsblöcken versteckt, einen Eingang in den Berg gab, nicht größer freilich als ein Fuchsloch; man mußte sich auf den Bauch legen, wollte man hindurch. Er kroch nicht weiter hinein, denn in dem Felsenverlies des Ungenannten konnte er den Gefangenen nicht helfen. Er kehrte um. Er wollte nach Tschitral. Er wollte so schnell, wie es ihm nur möglich war, in die Stadt zu dem Sahib Agenten, damit der etwas für die Rettung der Gefangenen tun konnte. Aber so sehr es hier auch auf jeden Tag ankam, so wagte er doch nicht, die große Straße zu benutzen, wo er den Spähern des Ungenannten in die Hände fallen konnte. Wieder schlug er sich durch Felder und das Ufergebüsch am Fluß durch, und als er die Stadt endlich vor sich liegen sah, ging er nicht durch den Nordeingang, sondern suchte durch einen großen Umweg die Straße zu erreichen, die von Süden her, aus der Richtung von Peschawar, auf Tschitral zulief. Er hatte Glück. Er traf eine Karawane, die mit Kamelen und Maultieren den Lowarai-Paß überschritten hatte, und ihr hatten sich Händler mit ihren zweirädrigen Karren angeschlossen, die von indischen Höckerochsen gezogen wurden. Hinter einem der Karren ging er nun -259-
her, als gehöre er dazu. Noch immer hatte er seine goldene Kanne im Arm. Er trug sie aber in ein Stück Zeltbahn gewickelt, und es sah aus, als hätte er da ein Bündel Lumpen. So kam er durch das alte Südtor, an dessen Flügel noch immer die großen Eisenstacheln saßen, die Angriffe mit Kriegselefanten hatten abwehren sollen. Er drückte sich durch das Gewühl in den engen Gassen der Eingeborenenstadt und kam aufatmend an den weiten Garten, unter dessen Palmen das weiße Bungalow des Agenten lag. Der Diener, der ihn damals zurechtgewiesen hatte, war nicht da. So ging er ohne weiteres in das Büro, in dem der eurasische Assistent gesessen hatte. Er saß auch wieder an seinem Tisch. Aber diesmal schrieb er nicht, sondern lag halb in einem Korbsessel, hatte die Füße auf die Schreibtischkante gelegt und las eine große Zeitung, die er mit ausgebreiteten Armen hielt. Er ließ sie einen Augenblick sinken, als er die Tür gehen hörte. Er wollte sein Blatt wieder aufnehmen, als er sah, daß nur ein Betteljunge gekommen war. Aber er ließ die »Times of India« auf seinen Beinen liegen. Zum Teufel, das war doch der unverschämte Bengel, der ihm die Schimpfworte an den Kopf geworfen hatte? Er sah abgehärmt und geradezu verkommen aus, anders als damals, aber der Assistent erkannte ihn wieder. Im Nu hatte er die Füße heruntergenommen -260-
und war aufgesprungen. »Hinaus!« schrie er, »hinaus!« Tschandru-Singh erschrak. Er begriff nicht: was hatte er dem Manne getan? »O Sahib«, sagte er, doch kam er nicht weiter. Der andere hörte den erwünschten Titel nicht, den ihm der verhaßte Besucher heute ohne weiteres gab. Er schrie nach den Dienern. Sie kamen von allen Seiten, und ehe Tschandru-Singh wußte, wie ihm geschah, sah er sich von kräftigen Männern aus dem Haus gedrängt. »Ich muß den Sahib Agenten sprechen – ich muß den Sahib Agenten sprechen!« schrie er außer sich, aber das half ihm nichts. Es war noch viel, daß ihm einer der Diener schließlich zurief: »Der Sahib Agent ist in Urlaub.« Tschandru-Singh trottete davon. Er war verzweifelt. In den Felskammern des Tiratsch-Mir lagen die Sahibs gefangen, und nun, wo der Agent fort war, wußte er niemand, den er um Hilfe bitten konnte. Nur ein weißer Sahib vermochte etwas zu tun; wandte er sich an einen der großen eingeborenen Kaufleute oder an einen Diener des Mehtar, so konnte er sicher sein, daß der aus Furcht vor dem Ungenannten nichts tun würde. Am Ende gehörte der Mann sogar zu dessen Leuten und hielt ihn fest. Und wie konnte er überhaupt an irgend jemand herankommen? Überall würde er weggejagt werden, ehe er den Mund aufgetan hatte. Ohne zu wissen, wo er ging, war er in die -261-
Basarstraße gekommen, in der die Silberschmiede saßen und da fiel sein Blick auf einen Tschapwalla, der bei einem Juwelenhändler saß und dort indisches Sodawasser trank. Es durchzuckte ihn: das war der Mann, den er brauchte. Der Tschapwalla hat den eigenartigen Beruf des Schiedsrichters bei Käufen und Verkäufen. Können sich Kunde und Händler über den Wert einer Sache auch nach stundenlangem Handeln nicht einigen, so wird der Kunde, und vor allem der Europäer, den Tschapwalla holen lassen. Dessen Ehre liegt in unbedingter Unbestechlichkeit. Nie wird er eine Schnitzerei, die als gute Elfenbeinarbeit ausgegeben wird, aber eine freche Imitation ist, für echt ausgeben, nie wird er zulassen, daß ein feiner Schal, der aus Zwickau kam, als echtes Kaschmirgewebe verkauft wird, kein Händler kann ihn dazu bewegen, eine silberne Kette, die aus Pforzheim importiert wurde, als altindische Arbeit aus der Schatzkammer eines Maharadscha anzuerkennen. Ja er wird noch dafür sorgen, daß der Sahib, der eine Elfenbeinschnitzerei kaufen will, eine bekommt, die aus »lebendem Elfenbein« besteht, das heißt, die aus dem Stoßzahn eines auf der Jagd erlegten Tieres stammt, denn dieses Elfenbein ist besser, weil es härter ist. Er ist ein Mann, der das schöne Amt des Treuhänders wirklich mit Treue ausübt. »O Vater eines vaterlosen Knaben«, redete -262-
Tschandru-Singh ihn an, »ich habe etwas, das ich dir zeigen möchte.« »Wickle es aus«, sagte der Tschapwalla. »Ich kann es dir nicht zeigen, wo viele Augen sind«, sagte der Knabe. »Ich sehe mir keine Dinge an, die nur im Verborgenen gezeigt werden können, weil sie gestohlen sind«, antwortete der alte Mann. »Was ich habe, ist nicht gestohlen«, sagte der Knabe. »Mein Name ist Tschandru-Singh.« Seine Stimme zitterte ein wenig, denn ihn bangte davor, daß er auch hier nicht zum Ziele gelangen würde. Der Alte sah ihn an. »Komm mit mir«, sagte er dann und führte ihn in das Haus, das er bewohnte. Sie waren beide allein in dem Raum, den sie betreten hatten. TschandruSingh zog die Fetzen der alten Zeltbahn ab. Das matte Gold der Kanne leuchtete auf. Der Tschapwalla nahm sie in die Hände, als fasse er ein hauchdünnes, zerbrechliches Gebilde, und betrachtete sie. »Bei meinen Augen«, sagte er nach einer langen Weile, »so ein Stück habe ich noch nie gesehen. Du bist sehr reich, Knabe, wenn es dir gehört.« »Beim Haupte meiner Mutter«, sagte der Knabe, »es gehört mir. In den Bergen hat es mir einer geschenkt, den ich nicht nennen darf. Aber weißt du nicht einen weißen Sahib, der sie kauft?« -263-
»Im Dak Bungalow ist ein weißer Sahib angekommen«, sagte der Tschapwalla, »aber ob er kaufen wird, weiß ich nicht. Er hat mich nicht rufen lassen.« Das Dak Bungalow war das Rasthaus, das die britische Regierung für europäische Reisende hatte einrichten lassen, und sie gingen zusammen hin. Sie trafen Mr. Josua Aristoteles Gruggs aus Prairie du Chien im Staate Wisconsin U. S. A. den seine Freunde nur Jari nannten, wie er bei Whisky Soda und einer Shagpfeife saß. Der Tschapwalla hatte um die goldene Kanne ein zartes blauseidenes Tuch aus Buchara gewunden. Jetzt enthüllte er sie langsam und stellte sie geradezu feierlich vor den Amerikaner hin. Der warf nur einen kurzen Blick darauf und sagte dann, ohne die Pfeife aus den Zähnen zu nehmen: »No.« Aber er faßte in die Tasche und holte einen kleinen gelblichweißen Elefanten heraus, der seinen Rüssel nach links schwenkte. Der Tschapwalla sah sofort, daß das Tier nicht aus Elfenbein, sondern aus einem Büffelknochen geschnitzt und nur wie altes Elfenbein nachgefärbt war. Er kannte den Mann, der diese Sachen in Rawalpindi fälschte. »Elfenbein«, sagte Mr. Gruggs. »Sehr, sehr alt. Sehr, sehr schon. Aber ich suchen einen Elefanten, der nicht machen so, sondern der machen so -.« Er schlenkerte mit dem Arm und deutete an, daß das gesuchte Stück den Rüssel nach -264-
rechts schwenken sollte, damit er das rechtsschwenkende Rüsseltier dann links und das linksschwenkende als Pendant rechts auf seinen Schreibtisch stellen konnte. Der Tschapwalla erwiderte darauf nichts. Er zeigte keine Verachtung für die Wünsche eines Gehirns, das offenbar anders funktionierte als das seine, jedoch war er auch nicht gewillt, für die sonderbaren Erzeugnisse dieses Gehirns nur ein Wort zu verlieren. Tschandru-Singh hatte nicht verstanden, was der Sahib geantwortet hatte. Aber der kleine gelblichweiße Elefant und die Gleichgültigkeit, die der Sahib für den edlen Krug an den Tag legte, sprachen für ihn deutlich genug. »Sage dem Sahib«, flüsterte er aufgeregt dem alten Manne zu, »er soll den goldenen Krug umsonst haben, wenn er sechs weiße Sahibs rettet!« Der Tschapwalla sah den Knaben mit abgründiger Verwunderung an. Aber das eigenartig Dringliche des Knaben, dem er sich schon im Basar nicht hatte entziehen können, wirkte auch jetzt wieder auf ihn ein. Doch meinte er, den beunruhigenden Vorschlag des Knaben etwas anders fassen zu müssen. »Sahib«, sagte er zu Mr. Jari Gruggs, »dieser Boy kommt aus den Bergen. Wie er berichtet, sind dort sechs weiße Sahibs in Not geraten. Ihnen muß geholfen werden. Man wird Träger und Sänften mieten müssen, aber die Rupien, die das kostet, sollen durch den Verkauf dieses -265-
Kruges gewonnen werden!« Der alte Inder erwartete keineswegs, daß die Gedanken des Knaben den fremden Sahib irgendwie interessieren könnten. Er hatte sie nur übersetzt, wie er so manchen nutzlosen Auftrag übernahm. Er würde wieder ein rundweg ablehnendes No hören, dachte er. Zu seinem Erstaunen aber hatten seine Worte eine ganz andere Wirkung. Mr. Jari Gruggs nahm zum erstenmal die Pfeife aus dem Munde. Er sah den zerlumpten Knaben an und fragte: »Hat der Boy die Sahibs gesehen?« »Yes, Sir! Yes Sir!« antwortete TschandruSingh sofort selbst, glücklich, daß er die Frage verstanden hatte, voller Hoffnung, daß der Sahib doch noch zu gewinnen war. Mr. Jari Gruggs griff wieder in die Tasche, aber nicht in die Außentasche seiner leichten Jacke, in der er den Elefanten gehabt hatte, sondern in die Brusttasche. Er holte seine Brieftasche heraus und entnahm ihr eine Photographie. »Ist dieser Sahib dabei?« fragte er und hielt das Bild dem Knaben hin. Tschandru-Singh sah einen merkwürdig gekleideten Mann. Es war der Oberhäuptling des »Klubs der letzten Elche«, dem anzugehören Mr. Jari Gruggs die Ehre hatte. Dieser Oberhäuptling war der Inhaber eines großen Beerdigungsinstituts, hatte sich aber in das Kostüm eines Waldläufers aus der Zeit Leder-266-
strumpfs geworfen, denn in dieser Verkleidung pflegten die »letzten Elche« ihre Klubabende zu begehen. »No, Sir«, sagte Tschandru-Singh. Mr. Jari Gruggs verdeckte mit einer unbeschriebenen Postkarte die Waldläuferfigur, so daß nur das glatte, runde, bemüht grinsende Gesicht seines Freundes zu sehen war, und hielt die Photographie dem Knaben noch einmal hin, zeigte mit dem Finger darauf und fragte eindringlich: »Sahib? Sahib?« Tschandru-Singh sah noch einmal auf den vergnügten Sarghändler und dessen offenbar prächtige Zähne, aber er blieb bei seiner Antwort: »No, Sir!« Mr. Jari Gruggs war befriedigt. Der Boy schien kein Schwindler zu sein. Jetzt zeigte er ihm eine andere Photographie, und Tschandru-Singh rief erregt aus: »Yes, Sir! Yes, Sir!« Es waren die scharf geschnittenen Züge des Chefs, die er sah. Jetzt hielt er sich nicht mehr damit auf, den Tschapwalla übersetzen zu lassen, worum es ging. Er streckte die Hand aus, als hielte er eine Pistole darin, und schrie: »Bum, bumbum!« Er legte die Hände wieder zusammen, als wären sie gefesselt. Er tat ein paar schwere, schleppende Schritte, die scheinbar gebundenen Hände auf dem Rücken, was den Abtransport der Gefangenen unmißverständlich darstellte. Er machte Bewegungen, als würfe er Menschen in einen Kerker, und end-267-
lich fuhr er sich mit der flachen Hand die Kehle entlang. »Dead?« schrie Mr. Jari Gruggs auf. »No, Sir«, antwortete Tschandru-Singh, aber er setzte hinzu: »Sahib, schnell, schnell, schnell!« »Glorious boy!« rief Mr. Jari Gruggs, drückte dem verblüfften Tschapwalla einen Zehnrupien-Schein in die Hand, ging mit den riesigen Schritten seiner langen Beine wie ein Sturmwind los und rief dem Knaben zu »Come, come, come!« Tschandru-Singh nahm seine Kanne vom Tisch, schlug sie in das blaue Seidentuch und rannte dem Amerikaner nach. Der riß die Tür eines gewaltigen Buick auf, schob den Knaben auf den Platz neben den Führersitz, setzte sich selbst ans Steuer, der Motor sprang an, und schon schoß der Wagen los. Solch einen Sahib hatte Tschandru-Singh noch nicht gesehen. Auf der Straße kam ihnen eine Kamel-Karawane entgegen. »Sahib, stop!« schrie er auf, aber der Sahib dachte nicht daran, sein Tempo zu verringern. Die langsam trottenden Tiere waren wie verwandelt. Unter grellen Schreien brachen sie links und rechts aus, rannten davon, von ihren Treibern brüllend verfolgt. Schon warfen die entsetzten Tiere ihre Lasten ab. Gleichmütig sauste der Sahib weiter, als wäre nichts geschehen, und der mächtige Wagen hielt vor dem Bungalow des britischen Agenten. -268-
Der Assistent ging sofort zum Fenster, als er ein Auto kommen hörte. Er sah hinaus und erstarrte: aus dem Wagen stieg der unverschämte Betteljunge und kam mit dem langen Amerikaner durch den Garten auf das Haus zu, mit dem er schon Unannehmlichkeiten gehabt hatte, weil er ihm eingelaufene Post nicht sofort hatte bringen lassen. Tschandru-Singh aber sah zu seinem Erstaunen, was dieser Sahib auch hier wieder vermochte. Er sagte etwas, und schon sprang der Assistent zum Telephon. Nach kurzem Hin und Her reichte er dem Sahib den Hörer mit der Muschel, und nun sprach der Sahib mit einem unsichtbaren Manne ebenso energisch, wie er mit dem Assistenten umgesprungen war. Jetzt aber änderte sich sein Ton. Offenbar redete er nun mit einem so hohen Sahib, daß selbst er ihn nicht wie einen Schuhputzer behandeln konnte. Mehrmals hörte Tschandru-Singh, daß von ihm gesprochen wurde, denn immer wieder fielen die Worte »the boy«. Der Amerikaner gab den Hörer zurück und sagte etwas zu dem Assistenten, worauf der sich verbeugte. »Come, come, come«, sagte er zu dem Knaben, und schon brauste das Auto mit ihnen fort. Es hielt erst wieder, als sie die Baracken erreicht hatten, in denen die Abteilung des 36. Sikh-Regiments kampierte, die in Tschitral stationiert war. Unterwegs hatten sie ein schmetterndes Trompetensignal gehört; während sie, von einer Ordonnanz der -269-
Lagerwache geführt, auf die Baracke zuschritten, in welcher der Kompaniechef untergebracht war, sahen sie, wie aus den Ställen schon Pferde herausgebracht und gesattelt wurden. Tschandru-Singh, immer seine goldene Kanne mit dem blauen Seidentuch im Arm, stand vor den Offizieren. Alle waren sie eingeborene Sikhs, mit schwarzen Vollbärten und gelben Turbanen über den gebräunten Gesichtern. Jetzt war es Mr. Jari Gruggs, der schwieg, denn hier konnte Tschandru-Singh Hindustani sprechen. Er erzählte, was er gesehen hatte. Er beschrieb ihnen den Weg, den er zurückgelegt hatte, bis er nach Tschitral gekommen war. Er versicherte, er könne dahin führen, wo die Sahibs in den Felsen verschwunden waren. Der Captain gab Befehle. Zwei ältere Sergeanten verließen die Baracke. Nach einer Weile ging der Captain mit dem Amerikaner und dem Knaben ihnen nach. Als sie draußen standen, war schon ein Zug Lanzenreiter aufgesessen. »Hallo, boy«, sagte Mr. Jari Gruggs und ging zu seinem Auto. Das war sein ganzer Abschied. Der Sergeant aber, der an der Spitze der Reiter hielt, winkte ihm. Er lief auf ihn zu, ein Soldat hob ihn hinauf, und der Sergeant nahm ihn vor sich auf den Sattel. Ein Kommando, und die Reiter trabten an. Sie schlugen den Weg nach Norden ein, wo der Tiratsch-Mir mit seinen 7 750 -270-
Metern gewaltig vor ihnen lag.
Tschandru-Singh bricht zusammen Es war still in dem alten Heiligtum der schrecklichen Göttin Durga. Die Männer lebten noch, aber sie waren erschöpft. Der Hunger quälte sie. Gegen den Durst konnten sie nichts anderes tun, als an den feuchten Wänden lekken. Sie lagen oder hockten auf dem harten, kalten Boden. Wenn sie sprachen, flüsterten sie nur noch. Erst hatten sie viel geschlafen, aber jetzt schien der Schlaf sie zu fliehen. In dem Dämmer, der um sie war, hing ein jeder seinen Gedanken nach, und da sie den Tod erwarteten, rechneten sie mit dem Leben ab. »GG«, sagte der Chef leise, »ich glaube, ich bin zu Ihnen manchmal ziemlich scheußlich gewesen.« »Nein«, erwiderte GG. »Ich habe wohl hin und wieder den Eindruck gehabt, daß Sie irgendeinen Groll gegen mich hatten. Ich sah keinen Grund dafür, und ich nahm es hin. Ich dachte, das würde sich eines Tages schon klären. Ich konnte warten, denn ich hatte, wie ich glaubte, bei der Sache keine Schuld.« »Die Schuld lag bei mir«, sagte der Chef, »und deshalb möchte ich das gern bereinigen. Ich habe noch nie zu jemand darüber gespro-271-
chen«, sagte er langsam. »Aber jetzt, wo es zu Ende geht, kann man wohl aussprechen, was man sonst lieber in sich herumschleppt.« Er schwieg. GG drängte ihn nicht, weiter zu reden. Er hatte die Beine angezogen und die Arme um die Knie geschlungen; so saß er da in dem ungewissen Licht, in dem die Gestalt der Göttin mit den Totenschädeln wie ein tanzendes Gespenst stand. »Sehen Sie, GG«, fing der Chef wieder an, »Sie können das, was ich nicht kann. Und daß ich das nicht konnte, hat mir mein Leben verdorben. Sie wissen, ich bin ein unbedingt sicherer Schütze. Ich habe das Matterhorn über die Nordseite gemacht. Ich habe zweimal mit meinem Wagen in Monte Carlo als erster das Zielband zerrissen – ein nicht unangenehmes Gefühl, muß ich gestehen. Ich traute mir auch zu, wenn es mich lockte, ein Profi zu sein, sowohl mit Gene Tunney wie mit Jack Dempsey fertig zu werden. Aber als Beruf gab es für mich nur eins: Offizier. Ich bin überzeugt, ich wäre kein schlechter Offizier geworden. Ich kenne, glaube ich, keine Furcht. Ich bin für klare Situation. Ich übersehe nichts. Ich bin rasch entschlossen. Ich fühle mich verantwortlich für die Menschen, die mir anvertraut werden, und ich habe erfahren, daß sie mir folgen, auch wenn das nicht leicht ist.« »Ich glaube wirklich«, sagte GG, »es gäbe keinen besseren Mann zum Berufsoffizier als Sie.« -272-
»Aber es hat nicht dazu gelangt«, sagte der Chef. »Kein Geld?« »Nicht genug Grips.« Das klang bitter. GG sagte nichts. »Zweimal habe ich versucht, die Aufnahmeprüfung für die Offiziersschule in Sandhurst zu machen. Jedesmal gerasselt. Turnen: I. Mathematik: I. Aufsatz: Ungenügend. Sprachen: Ungenügend. Sie sprechen jede Sprache, GG. Man kann Sie fragen, was man will: Sie wissen überall Bescheid. Sie können eben alles das, was ich nicht kann. Das ist mir manchmal sauer hochgekommen. Das hätte nicht sein sollen. Es war nicht fair. Entschuldigen Sie das bitte.« »Chef«, sagte GG, »Sie gehören zu den wenigen durch und durch anständigen Menschen, die ich kenne. Ich hätte gern mehr Expeditionen mit Ihnen gemacht. Doch schade, daß gleich unsre erste die letzte wird… Aber ich will Ihnen auch etwas erzählen. Ich habe dem Grafen gegenüber schon einmal erwähnt, mein Vater war ein kleiner Schuster. Mit zwölf habe ich lateinische Verse gemacht, die nicht ganz schlecht waren. Mit sechzehn habe ich in der Homerausgabe, die seit Jahren auf unsrer Schule benutzt wurde, Fehler nachgewiesen, die bis dato die erlauchtesten Geister nicht bemerkt hatten. Meine Aufsätze in der letzten Klasse wurden nicht mehr zensiert; sie überschreiten, sagte unser Professor Bloch, das -273-
Maß, das die Schule anlegen kann, – für einen Siebzehnjährigen auch kein unangenehmes Gefühl, wie Sie es ausdrückten. Aber es gab für mich auf dieser selben Schule entsetzliche Momente: wenn ich unter der Reckstange stand und einen Bauchaufschwung machen sollte. Es war entsetzlich. Ich kam einfach nicht hoch. Ich träume noch heute davon. Es waren so beschämende Augenblicke, daß ich manchmal denke, alles, was ich so zustande gebracht habe, ist eigentlich nur der Ausgleich dafür, daß ich an keiner Reckstange hochkomme.« »Neunauge«, sagte der Graf, »es tut mir leid, daß ich dich überredet habe, auch in Innerasien für anständiges Essen zu sorgen. Auch wenn du ein Stück Ziegenfleisch brätst, dann schmeckt es so, als ob ich ein Chateaubriant im Tour d’Argent esse. Ich hätte dich in Paris lassen sollen. Ärzte wie mich gibt es genug. Aber um einen exzellenten Koch ist es schade.« Bei jeder Schwierigkeit war Neunauge losgepoltert. Er hatte empört abgelehnt, etwa als Lastenträger mitwirken zu müssen; er war außer sich geraten, als er es für möglich hielt, daß man von ihm verlange, er solle über die Felslöcher balancieren; er war immer sehr darauf bedacht, daß ihm ja nicht mehr zugemutet wurde als einem andern. Aber jetzt, wo es ums Letzte ging und kein Ausweg mehr zu sehen war, hielt er sich ganz still. Er hatte ei-274-
nen natürlichen Sinn für das, was sich schickt. Vielleicht verbarg sein sonst so aufgeregtes Gebaren nur, daß er im Grunde seines Wesens ein herzensguter Mensch war. Er mußte das vielleicht vor sich und andern verstecken, weil er zu oft erfahren hatte, wie gerade Herzensgüte von den Skrupellosen mißbraucht wird. »Sie sind sehr gütig, Herr Graf«, sagte er. »Aber wir sind aus Douaumont wieder herausgekommen, wo es 99 zu eins gegen uns stand. Vielleicht kommen wir auch aus diesem ungemütlichen Lokal wieder heraus. Und wenn es nicht geschieht – dann weiß ich, daß ich die Ehre habe, neben einem Manne die Augen zuzumachen, den ich hochachte. Ich glaube nicht, daß das viele Menschen von sich behaupten können.« »Es ist wie verdammt«, sagte Figur zu Plumpudding, »aber ich soll nicht hochkommen. Wie ich die goldene Kanne in der Hand hatte, dachte ich: ›Jetzt bist du so weit‹. Weißt du, einmal im Leben nur so viel Geld in die Hand kriegen, daß du damit eine solide kleine Existenz aufbauen kannst! Damit ist es wieder nichts. Wie ich mich in der Bultfontein-Mine in dem gottverfluchten Kimberley abgeschunden habe, für nichts und wieder nichts, da saß ich Abend für Abend, wenn ich todmüde von der Schufterei war, auf einer alten Kiste. Die stand an der Baracke, wo ich schlief. Die habe ich mir nicht weiter angesehen, sondern eben nur immer darauf gesessen. Eines Abends -275-
stehe ich auf, ich muß mal wohin. Wie ich wiederkomme, steht der Hully-Bully da, ein Kerl, der bloß in der Kantine aushilft und nicht gern einen Finger krumm macht. Der stößt mit dem Fuß mal kräftig gegen die alte Kiste, sie bricht auseinander, und was fällt heraus? Banknoten gebündelt, 15.000 Pfund! Das Geld hatte einer gehamstert, Buddington hieß er, dem hatte aber der Aufzug den Schädel zerquetscht und von seinem Hamstergeld hatte kein Mensch was gewußt. Jetzt kriegte es seine Witwe, und der Hund, der Buddington, kriegte doch seine zehn Prozent. Und dabei habe ich immer auf der Kiste gesessen! Ich soll eben nicht hochkommen, das ist es.« »Graf«, sagte GG leise, »Sie sind ein hervorragender Arzt, jetzt wissen wir’s. Aber sagen Sie mir eins: warum sind Sie da nicht in Frankreich geblieben? Warum verstecken Sie sich im innersten Asien, wo Sie zu Hause ein großer Mann wären?« »Nehmen Sie es mir nicht übel«, antwortete der Graf, »wenn Sie dahingehen, ohne das von mir erklärt zu bekommen. Es ist wahr – wenn ich daran denke, könnte mir der Abschied von der Erde leicht fallen – – aber ich möchte jetzt doch nicht an die Gemeinheiten denken, die auf der Erde möglich sind.« GG schwieg. Er hatte eigentlich nur gefragt, um von dem loszukommen, woran er immer wieder voller Kummer denken mußte – an seine Enttäuschung über Tschandru-Singh. -276-
Auch Plumpudding sagte nichts. Aber es war merkwürdig. Wenn keiner mehr ein Stück von den Fladenbroten hatte, die ihnen zugeworfen wurden – Plumpudding hatte immer noch ein Eckchen übrig. »Ich Mach’ mir aus dem Zeug nichts«, sagte er und bot es unter den andern aus, die mit ihrer kargen Ration schon längst zu Ende waren. Und jetzt sang er leise vor sich hin, sang das einzige Lied, das er kannte, das er sang, wenn ihm wohl war, und das er sang, wenn ihm weh war, das traurige Lied von dem Vollmatrosen Bill, und zum ersten Male kam er über die Anfangszeile hinaus, zum ersten Male sang er die ganze erste Strophe: »Ich fuhr mal auf ‘nem Segler, sagte Karlssen, Da starb der alte Vollmatrose Bill. Wir nähten ihn in ein zerfetztes Segel Und kippten über Bord ihn still. Das Schönste war, daß jeder von der Bande Aus seinem Seesack sich das Beste nahm, Eh’ der verdammte kleine Trottel Von Käptn auch nur Wind davon bekam!« Aber er sang nicht weiter. Bis zur zweiten Strophe gedieh das Lied nicht. Er blieb mit geöffneten Lippen halb aufgestützt – und alles, was lag, richtete sich auf. Was war das, was jeder eben gehört hatte? Jetzt – und wieder – -277-
»Schüsse«, sagte der Chef. Es waren Schüsse aus den Karabinern der Sikhs vom 35. Regiment. Von den Männern des Ungenannten waren nur noch zwei in dem Gewirr der Höhlengänge. Sie hatten den Gefangenen das letzte Brot zugeworfen und wollten sie für immer verlassen, als sie, noch ehe sie aus dem Felsenloch herausgekommen waren, draußen Stimmen, Pferdegewieher und zwei rasche Kommandos hörten. Sie wichen zurück und horchten. »Hier sind sie in den Berg gegangen«, hörten sie eine Stimme sagen, die Stimme eines Knaben, die sie kannten. »Der Tschokra!« sagte der Chauffeur, der Tschandru-Singh aus Tschitral verschleppt hatte. »Sikhs«, sagte sein Kamerad, der damals als Mitfahrer dabei gewesen war. Er hatte die Soldaten sprechen hören. Nachdem sie auf dem Bauch durch das niedrige Eingangsloch gekrochen waren, standen die Sikhs jetzt in den hohen Gängen. »Der Tschokra hat sie geholt«, flüsterte der Chauffeur dem andern zu. »Der Tschokra muß still gemacht werden – er weiß zuviel!« Lautlos waren sie von dem Haupteingang in eine Felsengalerie ausgewichen. Hinter dem durchbrochenen Steingeländer lagen sie auf dem Fußboden der Galerie. Von unten konnte sie niemand entdecken, sie aber konnten von oben jeden sehen, der unten ging, denn der -278-
Haupteingang mündete in eine große Halle. Sie hatten ihre Parabellum-Pistolen gezogen und fühlten sich sicher, denn jede war vollgeladen; sie verfügten zusammen also über sechzehn Schuß, sie kannten sich in den Höhlengängen aus und konnten die Eindringlinge leicht übertölpeln. Sie sahen, wie sich aus dem Haupteingang ein schwanker, grellweißer Lichtschein näherte. Jetzt fiel das Licht der großen Lichtdolche schon in die Halle, und der erste Sikh kam aus dem Gang, vorsichtig, den Karabiner schußfertig vor sich haltend, während der Mann hinter ihm die elektrische Lampe trug. Ein Soldat nach dem andern trat so aus dem Gang. Die beiden oben in der Galerie zählten – es waren zwölf. Zwei hatten Lichtdolche. Der weiße Schein huschte die hohen Wände herauf, strich auch über die Stelle des Gewirrs von steinernen Lotosblumen, hinter dem sie lagen, aber sie blieben den suchenden Blicken der Soldaten verborgen. »Der Tschokra ist nicht dabei«, flüsterte der Chauffeur dem andern zu. »Er wartet draußen«, flüsterte der Kumpan zurück. »Wir fassen ihn ab«, flüsterte der Chauffeur. »Wir gehen zum Dachsloch ‘raus!« Noch immer standen die Sikhs unschlüssig in der Felsenhalle, sie wußten nicht, wo sie nun weitergehen sollten. Der Chauffeur hob seine Pistole. Zwei Schüsse knallten, die beiden Lichtdolche erloschen. Wie wild feuerten die Soldaten in die Höhe, denn sie hatten wohl-279-
gemerkt, daß die Schüsse von oben gekommen waren. Aber die beiden Männer waren längst davon. Sie hatten den Weg zu dem zweiten Ausgang eingeschlagen. Das waren die Schüsse gewesen, welche die Gefangenen gehört hatten, und als sie verhallt waren, riefen sie zusammen, so laut sie es noch vermochten: »Come here! Come here! Come here!« Aber die Schüsse waren auch draußen gehört worden, wo der Sergeant mit dem Reservetrupp hielt. Bei ihm war auch Tschandru-Singh. Es war ihm hart angekommen, daß er nicht mit den Soldaten hatte in die Felsenhöhlen gehen dürfen. Aber der Sergeant hatte entschieden: »Das ist nichts für dich, Boy!« Und auch jetzt, wo der Sergeant selber mit dem Reservetrupp in die Höhle kroch, durfte er nicht mit. »Bleib bei den Pferdehaltern!« rief ihm der Sergeant zu, und schon war auch dieser zweite Trupp in den Felsen verschwunden. Nein, er blieb nicht bei den Pferdehaltern. Bei ihnen ließ er nur seine goldene Kanne in dem blauen Tuch und spürte dann durch die Felsblöcke, hinter denen der Eingang lag. Es schien ihm da eine Fußspur zu geben – kaum zu erkennen, und vielleicht ein Irrtum. Aber er ging ihr nach. Nicht weit, er hörte noch das Wiehern der Pferde. Da blieb er jäh stehen. Ein gutes Stück vor sich sah er den Chauffeur. Es war wie ein schrecklicher Alpdruck. Wieder stand er vor seinem unerbittlichen Verfolger. -280-
»Hierher! Hierher!« schrie der Knabe auf, aber schon krachten Schüsse, und er brach zusammen. Von den Pferden her kamen Sikhs gelaufen. Sie sahen, wie zwei Männer davonrannten. Sie rissen ihre Karabiner hoch, und stehend schossen sie ihnen nach. Als erster stürzte der Beifahrer, dann der Chauffeur. Sie waren tot. Zwei Sikhs beugten sich über den Knaben. »Er lebt noch«, sagte der eine. – »Aber wie lange?«, fragte sein Kamerad und ging weg, um Verbandzeug zu holen. Die Soldaten in der Halle hatten sich nicht rühren können, bis der Sergeant mit dem zweiten Trupp sie erreicht hatte. Jetzt hatten sie wieder Licht, und jetzt hörten sie die Rufe der Gefangenen. Sie gingen dem Hall nach und antworteten. Aber dreimal mußten sie umkehren, weil die Gänge, die sie eingeschlagen hatten, vor Felswänden endeten. Erst der vierte war der richtige, und dann sahen die Gefangenen oben in der Höhe, wo in rötlich flackerndem Fackellicht der Ungenannte gestanden hatte, nun den Sergeanten der Sikhs stehen, der mit dem weißen Schein seines Lichtdolchs zu ihnen hinableuchtete. »Nett von Ihnen, daß Sie uns suchen, Sergeant!« sagte der Chef. »Haben Sie Stricke mit? Sonst kommen wir nicht heraus.« Das Nötige wurde geholt und einer nach dem andern heraufgezogen. Die Männer fühlten sich schwach, ja sie taumelten mehr die Gänge -281-
entlang, als daß sie noch gehen konnten. Durch das enge Eingangsloch mußten sie fast gezogen werden. Dann hoben die Soldaten sie auf, denn allein hätten sie sich nicht mehr aufrichten können. Sie blinzelten mühsam, denn das lang entbehrte Tageslicht tat ihren Augen weh. Ihre abgefallenen Gesichter sahen mit den wilden Bärten wüst aus. »Nie wieder«, stöhnte Neunauge, »nie wieder… Bringt mich an irgendeinen Bahnhof! Und dann mit dem nächsten Schnellzug zum nächsten Hafen.‹« Ein Sikh trat heran und wollte melden. Aber der Sergeant winkte ihm ab, er sprach mit dem Chef, was zu tun war: ein Auto mußte geholt werden, um sie abzutransportieren. Der Sergeant würde ihnen so lange eine Wache da lassen und selbst mit seinem Zug zurückreiten. »Aber, Sergeant«, sagte GG, »wer hat Sie denn eigentlich alarmiert?« »Der Boy, Sir –« Jetzt trat der Soldat entschlossen vor und meldete: »Der Boy ist schwer verwundet, Sergeant. Zwei flüchtende Männer von uns erschossen.« Sie standen um den Knaben, der im Grase lag. Er sah sie nicht. Seine Augen waren geschlossen. Der Graf beugte sich über ihn. Der Kopf war dick verbunden, und trotzdem trat Blut durch die weißen Mullbinden; auch am Oberschenkel saß ein Verband. »Wo sitzen die Wunden?« fragte der Graf. -282-
»Schläfe links«, antwortete der Sikh, »Oberschenkel rechts, zwei Handbreit überm Knie.« »Was denken Sie?« fragte GG. »Die starke Blutung am Kopf muß nicht gefährlich sein«, sagte der Graf. »Die Kopfhaut sitzt voller Blutgefäße, und das gibt immer viel her. Aber die Bewußtlosigkeit… Gehirnerschütterung, kann auch eine Hirnverletzung sein, die zu Lähmungen führt. Muß operiert werden. Üble Sache. Und bei der Schenkelwunde kommt es drauf an, ob es ein glatter Durchschuß ist oder eine Schußfraktur. Der Puls ist etwas beschleunigt, aber gut.« »Wichtiger als das Auto ist eine Ambulanz«, sagte GG. »Schon beordert«, erwiderte der Sergeant. »Reiter ist fort.« GG sah in das Gesicht des Knaben, das fast schon etwas Wächsernes hatte. Er war voller Unruhe. Er sah hier nicht klar. »Wie ist es möglich«, fragte er den Sergeanten, »daß der Boy die Truppe alarmieren konnte?« »Das hätte er nie geschafft«, antwortete der Sergeant, »das kam nur durch den Amerikaner!« »Was für ein Amerikaner?« Der Sergeant schilderte den Hergang. Dabei saßen seine Leute schon auf. »Chef«, sagte GG sehr aufgeregt, »es ist wie verflucht, daß wir auf das Auto warten müssen. Wir müßten sofort mitreiten. Aber dazu -283-
ist keiner von uns imstand.« »Weshalb so rasch?« fragte der Chef. »Chef«, sagte GG, »der Amerikaner hängt mit dem unbekannten Auftraggeber zusammen – zehn gegen eins!« Der Chef stieß einen scharfen Pfiff aus. »Ich reite mit«, sagte er. »Unmöglich, Chef«, sagte GG. »Sie fallen unterwegs vom Gaul.« »Der Mann darf uns nicht durch die Lappen gehen!« sagte der Chef. Er sprach mit dem Sergeanten. Der ließ einen der Sikhs wieder absitzen. Aber der Chef kam nicht allein in den Sattel. Der Reiter mußte ihm helfen. Der Sergeant winkte, und sie ritten davon. Einer der Sikhs, die zu ihrem Schutz bei ihnen geblieben waren, trat auf GG zu. »Dies gehört dem Tschokra«, sagte er und gab ihm das verhüllte Bündel. GG nahm das Seidentuch ab. Alle sahen den goldenen Krug. Was hatte Ali Bardur Khan gesagt, als er von dem Verrat des Knaben sprach? »Dafür darf er als einziger seinen goldenen Krug behalten.«
Telegramm aus London Zu fünft saßen sie auf der Terrasse von Flashmans Hotel in Peschawar, und der Graf -284-
fehlte, weil er noch nicht zurück war von einer Autofahrt nach Tschitral, wo er sich nach Tschandru-Singhs Ergehen erkundigen wollte. Der Knabe lag im Krankenrevier des Militärpostens, den das 35. Sikh-Regiment dort stellte, und die Männer hatten versprochen, sich seiner aufs beste anzunehmen, was freilich noch nicht hieß, daß er überhaupt mit dem Leben davonkam. Schon sah man den Befreiten die Strapazen kaum noch an, die sie hinter sich hatten. Peschawar, die große Stadt, hatten sie in einem halben Tag Autofahrt bequem erreicht; die Hauptstadt der Grenzprovinz war nicht nur der Sitz des 1. Divisions-Kommandos der Nordarmee, sondern hier residierte auch der Oberkommissar der Grenzprovinz, der höchste britische Verwaltungsbeamte, mit dem der Chef mehr als eine Unterredung hatte. »Sie wissen nicht«, sagte der Chef zu seinen Freunden, »wohin sich unser guter Ali Bardur Khan verzogen hat. Die Berichte ihrer Spitzel sind sich nur darin einig, daß er nicht mehr hier in der Provinz ist. Die einen vermuten ihn in Afghanistan, die anderen in Kaschmir.« Er nahm einen kräftigen Schluck Whisky mit Soda, und Plumpudding reichte ihm die frisch gestopfte Pfeife. Nur Neunauge trug noch seinen fransenartigen Bart. Er war nämlich entschlossen, ihn sich erst abnehmen zu lassen, nachdem alle seine Pariser Freunde ihn mit dieser fragwürdigen Verschönerung gesehen hatten, weil -285-
sie ihm der unwiderlegliche Beweis dafür schien, was er in den Schluchten und Bergen des Hindukusch hatte ausstehen müssen. »Wie weit«, fragte GG, »haben Sie dem Oberkommissar über unsere Lage berichtet?« »Ich habe ihm nur gesagt, daß der Ali Bardur Khan uns hat ausrauben lassen – ich habe verschwiegen, daß er im Auftrag eines andern gehandelt hat.« »Dafür hätten Sie ja auch keinen Beweis gehabt«, sagte Figur. »Sie hätten ihm nur mitteilen können«, sagte GG, »daß Sie ihn um ein Haar erwischt hätten!« »Ich?!« fragte der Chef höchst erstaunt. »Ja sehen Sie denn noch immer nicht«, sagte GG, »daß der Amerikaner der Auftraggeber des Ungenannten gewesen sein muß?!« »Der Amerikaner?!« »Aber er hat doch die Sikhs alarmiert -!« »Er hat uns ja gerettet!« »Aber warum«, fragte GG, »ist der Retter in seinem Auto nicht gleich mitgefahren? Warum wartet dieser unser Retter nicht ab, bis die durch ihn Geretteten in Tschitral ankommen? Als der Chef mit den Sikhs eintrifft, ist er fort, Hals über Kopf, wie es scheint – und das einzige, was Sie noch hören können, Chef, das ist, daß ein Mr. Harriman in einem Buick angekommen, wieder abgefahren ist und nach -286-
seiner Post herumkrakehlt hat.« »Vermutungen, GG, Vermutungen«, sagte der Chef. »Nicht zu widerlegende logische Schlüsse«, sagte GG mit einer Sicherheit, als vertrete er die Meinung, am Tage sei es hell und in der Nacht dunkel. »Entsinnen Sie sich, daß der Khan unserem armen Boy versicherte, uns würde nichts geschehen? Er hatte also den Auftrag, herauszubekommen, was wir drüben in Kafiristan vorhätten, aber auch die strikte Anweisung, uns dürfe dabei nichts passieren. Den Auftrag hat der Ehrenmann erfüllt – er wird Mr. Harriman berichtet haben, wir seien für das Britische Museum drüben gewesen. Aber daß er vorhatte, uns aus der privaten Feindschaft, die er gegen Sie hatte, allesamt verhungern zu lassen, das hat er dem Amerikaner verschwiegen. Als der es dann durch Tschandru-Singh erfuhr, setzte er sofort alles in Bewegung, uns aus der Klemme zu helfen; sechs Leichen waren ihm keinesfalls erwünscht.« »Können recht haben«, sagte der Chef langsam. Er zog an seiner Pfeife. »Werden recht haben.« Wieder ein Zug aus der Pfeife. Dann blies er den Rauch zu den Nasenlöchern wieder aus. Er saß da, ohne sich zu rühren. Alles in ihm schien sich zu spannen. Seine Hand preßte sich um den Pfeifenkopf, als wollte sie ihn zerbrechen. GG sah, wie die Knöchel dieser Hand weiß wurden… -287-
Es wurde ihm fast Angst um den Mann, dessen Erregung sich in einem fürchterlichen Fluch oder in einem anderen Ausbruch entladen mußte und der sich doch zwang, sich nicht gehen zu lassen. Aber da atmete der Chef auch schon wieder und sagte ruhig: »Sehe, Sie haben recht. Das ist der Mann.« Und nach einigen Pfeifenzügen setzte er hinzu: »Jetzt gebe ich auf. Der Boy ist ohne alle Schuld. Sie haben Ihre Wette gewonnen, Großer Geist!« »Glauben Sie mir«, sagte GG, »es liegt mir gar nichts daran, daß ich recht behalte – aber daß ich mich nicht getäuscht habe, das macht mich glücklich.« »Schade, daß wir kein Photo von dem Jungen haben«, sagte Neunauge. »Ich würde es gern in meinem Bistro aufhängen – ›mein indischer Diener‹ – das macht sich doch gut.« »Moment mal«, sagte Plumpudding. Er dachte nicht rasch, aber er blieb einem Gedanken zäh auf der Spur. »Wenn der Amerikaner hinter dem Ungenannten steht, dann ist doch immer noch nicht klar« – er wollte weitersprechen: warum, oder vielmehr wer steht denn nun eigentlich hinter dem Amerikaner? Aber dazu kam er nicht, denn sie sahen alle, daß dem Auto, das eben vorgefahren war, der Graf entstieg. Er schritt rasch auf sie zu. »Wie geht es ihm?« rief GG. »Nicht schlecht«, antwortete der Graf. »Es -288-
wird eine langwierige Sache, aber er kommt davon.« »Gott sei Dank«, sagte GG. »Ja«, sagte der Chef. »Es wäre schade um den Boy gewesen.« »Der Kerl hat zum Glück miserabel geschossen«, sagte der Graf und setzte sich mit an den Tisch. »Die Verletzung an der linken Schläfe ist nur ein Prellschuß, und der rechte Oberschenkel ist glatt durchschossen. Immerhin: der arme Kerl kann nicht sprechen. Das Sprachzentrum im Gehirn ist in Mitleidenschaft gezogen.« »Bleibt das so?« fragte GG bedrückt. »Nein«, sagte der Graf. »Das kann sich erholen. Immerhin: wenn er sprechen kann, wird er sich noch schwer damit tun, weil ihm die Worte und Begriffe fehlen – es geht ihm dann so, als ob wir in einer Fremdsprache reden wollen, und wir kommen nicht auf die richtigen Vokabeln.« »Kann davon etwas zurückbleiben?« fragte GG besorgt. »Unwahrscheinlich«, sagte der Graf. »Alles kommt auf gute Pflege an.« »Sowie er transportfähig ist«, sagte GG, »möchte ich ihn ins Mayo-Hospital nach Lahore bringen.« »Ausgezeichnet«, sagte der Graf. »Mit Dr. Burry bin ich ja von Paris aus gut bekannt. Ich gebe Ihnen ein paar Zeilen mit.« -289-
Vom Eingang des Hotels hörten sie laute Stimmen. Anscheinend versuchten der Portier und auch der Empfangschef einen aufgeregten Gast zu beruhigen, aber es gelang ihnen nicht. Die empörte Stimme klang näher und näher und mit einem Mal stand Mister Jari Gruggs auf der Terrasse. Mit der Unbefangenheit vieler Amerikaner, die annehmen, was sie angehe, müsse jeden interessieren, wandte er sich sofort an die Herren. »Ist das nicht unerhört, meine Herren«, sagte er noch immer ganz außer sich, »ich will auf den Khaiberpaß, ich will einen Blick hinüber tun nach Afghanistan, obwohl es ein Land ohne alle hygienischen Einrichtungen sein soll – und da läßt man mich einfach nicht durch! Am Freitag, sagen sie, soll ich wiederkommen, und heute ist Mittwoch!« Der Chef verzog keine Miene. Ihm als eingefleischtem schweigsamem Engländer war die amerikanische Redseligkeit völlig gegen die Natur. Aber GG antwortete ihm geduldig: »Sie können den Khaiberpaß tatsächlich nur Dienstag und Freitag besuchen«, sagte er. »Aber ich bitte Sie, was sind das für Zustände? Ich kann nicht zwei Tage hier herumlungern und warten, das erlaubt meine Zeit nicht.« »Nur Dienstag und Freitag besetzen die Khaiberschützen den Paß und sichern so den Karawanenverkehr – versuchen Sie es an andern Tagen, so kann es Ihnen passieren, daß -290-
Sie zwar hinaufkommen, aber nicht mehr zurück, und dann interessieren sich nur noch die Geier für Sie!« »Wissen Sie, meine Herren«, sagte der Amerikaner, »Indien ist eine Enttäuschung für mich.« Er zog sich einen Korbsessel heran und setzte sich mit an den großen runden Tisch, an dem die andern saßen, obwohl ihn niemand dazu eingeladen hatte. »Da ist zum Beispiel das berühmte Tadsch Mahal, das Grabmal für irgendeine von den zweihundert Frauen irgendeines Sultans –« Der Graf bekam einen leidenden Zug. »Erlauben Sie«, sagte er, »sie war die Lieblingsfrau des Schahs, er gab ihr den Namen Mumtazi-Mahal, das heißt Auserwählte des Palastes. Sie war so schön und von so edler Gesinnung, daß der Schah bei ihrem Tode untröstlich war und ihr dieses ergreifend schöne Grabmal errichten ließ. Es ist das herrlichste Bauwerk der mohammedanischen Kunst!« »Ich habe es besichtigt«, sagte der Amerikaner, »es ist schwach, und zwar einfach deshalb, weil es nicht richtig beleuchtet wird.« »Sie hätten es im Mondschein sehen müssen«, sagte GG. »Hab’ ich, hab’ ich«, sagte der Amerikaner. »Ich sage Ihnen ja: schwach. Wenn das bei uns in Kalifornien stünde, dann würde es bengalisch beleuchtet, und dann wäre es was, aber auch nur dann. Haben Sie ‘mal die Scheinwerfer gesehen, die jeden Abend das -291-
Kapital in Washington beleuchten? Das ist Sache, meine Herren! So muß man die Geschichte in die Hand nehmen. Aber hier ist alles rückständig, und das ist so enttäuschend.« Es fiel ihm anscheinend nicht auf, daß jenes steinerne Schweigen, in dem der Chef verharrte, offenbar etwas Ansteckendes hatte, denn nun zeigten auch der Graf und GG eine Ablehnung, die er eigentlich hätte spüren müssen. Aber unbekümmert redete er weiter. »Sehen Sie, meine Herren, ich bin Josua Aristoteles Gruggs, meine Freunde nennen mich Jari, ich bin Unterhäuptling im Klub der ›Letzten Elche‹, ich stamme aus Wisconsin, aber ich lebe jetzt in Fresno in Kalifornien, in der Rosinenstadt, wie Sie wissen, und da ist man eben zu verwöhnt. Denn, meine Herren, welches ist das zivilisierteste Land der Welt?« Niemand beantwortete ihm seine Frage. Jedoch störte ihn das nicht. Er tat es selbst. »Kalifornien, meine Herren. Wir haben sechs Millionen Automobile, wir haben die meisten Eisfabriken, den größten Wasserfall der Welt, Weltrekorde in der Apfelsinenzucht, die schnellsten Fortschritte in der Universitätsbildung und die beste Wurstversorgung. Ist das etwas, meine Herren, oder ist das nichts?« Er sah voller Erwartung in die Runde. Aber alle schwiegen. Wenn einer gewußt hätte, daß dies der Mann war, mit dem Tschandru-Singh gesprochen hatte, der die Sikhs alarmiert hatte, so hätte er wohl geredet. Aber gerade dar-292-
auf vertraute ja der angebliche Mr. Harriman, daß ihn von den sechs Männern keiner in Tschitral gesehen haben konnte, und er durfte sich das Zeugnis ausstellen, daß er die Rolle des harmlosen, unbedeutenden Durchschnittsamerikaners vollendet spielte. Keiner der andern konnte merken, wie scharf sein Gehirn arbeitete, während er sich scheinbar ganz dem törichten Geschwätz hingab, das er wie mühelos produzierte. Während er so daher redete, schätzte er jeden der Sechs genau ab. Das heißt, mit dem Chef brauchte er sich gar nicht aufzuhalten, dessen hartes Gesicht kannte er ja schon genau von der Photographie, die er in seiner Brieftasche hatte, – der war nicht zu kaufen. Auch mit dem Deutschen, da ging es bestimmt nicht, der hatte so einen merkwürdigen Blick. Jari Gruggs kannte das, solche Leute waren sonderbarerweise an Geld gar nicht interessiert, sie mußten irgendeinen Defekt haben. Neunauges Fransenbart mißfiel ihm so, daß er sich mit dessen Träger gar nicht weiter abgab. Der Graf sah vornehm aus, die vornehmen Leute in Europa hatten meistens kein Geld mehr, von daher also hätten sie zugänglich sein müssen, aber sie kamen oft auch von ihren überlebten Begriffen nicht los. Den Iren hielt er einfach für einen Simpel, doch jetzt blieben seine Gedanken an Figur haften. Der war schon einmal unter den Schlitten gekommen, das witterte er. Der war schon einmal ganz unten gewesen – wenn sich hier mit einem etwas machen ließ, dann -293-
war es der… »Wollen Sie auch auf den Khaiberpaß?« fragte er. Ein kaum bemerkbares Kopfschütteln war die Antwort. »Wo kommen Sie denn her?« »Aus Tschitra!«, sagte Figur, der beinahe Mitleid mit dem Manne hatte. »Den Namen habe ich nie gehört«, versicherte Mr. Jari Gruggs. »Ist denn da irgend was zu sehen?« »Nichts Besonderes«, sagte Figur. »Na, sehen Sie«, sagte Mr. Jari Gruggs, »weshalb fahren Sie dann erst hin? Bye, bye, meine Herren. Ich muß weiter. Noch 480 Kilometer bis Lahore.« Er war fort. »Eine schreckliche Nummer«, sagte der Graf, und sie genossen die Stille. Indem sie aber schweigend einander so gut verstanden, wurde ihnen bewußt, daß sie nicht mehr lange beisammen sein würden. »Heute in vierzehn Tagen, Neunauge«, sagte der Graf, »stehen wir beide am Ballard Pier in Bombay und warten auf die ›Empress of India‹.« »Wenn ich erst Notre Dame de la Garde über Marseille sehe«, sagte Neunauge, »dann gibt es einen wirklich glücklichen Menschen auf dieser Erde.« »Verstehe nicht, daß Sie nicht fliegen«, sagte der Chef. »Plumpudding und ich fliegen 21 Uhr 05 in Karatschi ab und sind 17 Uhr 55 in London.« -294-
»Sie werden mich altmodisch und lächerlich nennen«, sagte der Graf, »aber ich finde: je rascher wir fliegen, desto mehr entfernen wir uns nur von uns selbst.« »Sie beide fliegen«, sagte GG, »und Sie beide fahren mit der P. & O. Wie Figur und ich wegkommen, weiß ich noch nicht, denn wir reisen erst ab, wenn ich unseren Boy in Lahore habe. Aber etwas anderes wüßte ich gern: wann und wo sehen wir uns wieder?« »Meine Herren«, sagte Neunauge, »kommen Sie nach Paris. Fragen Sie dort nach dem Bistro ›Zum vergnügten Neunauge‹, ich werde, sowie ich es aufgemacht habe, die Adresse in Cooks Reisebüro, Madeleineplatz 2, niederlegen und die Herren dort bedeuten: ›Weltreisende werden Sie nach dieser Adresse fragen!‹« »In Ordnung«, sagte der Chef. »Paris.« »Und wann?« fragte der Graf. »Heute in einem halben Jahr!« sagte GG. »Heute in einem halben Jahr«, sagte der Chef und hob sein Glas. Der Sekt, den er bestellt hatte, war gebracht worden. Alle fünf taten ihm Bescheid. »Und jetzt«, sagte der Chef, »auf unseren Boy! Tut mir leid, daß ich ihn verdächtigt habe. Schade, daß er nicht bei uns sein kann.« Sie tranken die Gläser leer. »Wie ist denn das?« fragte Figur. »Uns haben die verdammten Kerle die schönen golde-295-
nen Kannen abgenommen, aber der Junge hat seine immer noch – kann er die denn behalten?« »Gewiß«, sagte der Chef. »Der Boy hat keinen Vertrag mit der Gesellschaft gemacht.« »Wir werden sie dem Britischen Museum anbieten«, sagte GG. »Auf jeden Fall wird der Erlös daraus so hoch sein, daß damit für den Jungen ein für allemal gesorgt ist.« »So ist es«, sagte Figur. »Der eine hat eben Glück, und der andere hat immer Pech.« Einer der Pagen, die am Hoteleingang Dienst hatten, erschien mit einem silbernen Tablett. »Telegramm für Mr. Slanton«, sagte er. Der Chef nahm es. »Wird die Bestätigung unserer Flugzeugplätze sein«, sagte er und machte es auf. Er las: »Flugzeug der PAA im brasilianischen Dschungel abgestürzt stop Schicksal der Besatzung und der Fahrgäste völlig ungewiß stop Unter den Passagieren Graziella Castaneda 13jährige Tochter des bekannten Millionärs und ihr Zwillingsbruder Mario stop sofortige Suche erforderlich stop bitte übernehmen Sie Führung der Suchexpedition stop drahtet ob Ihr Team mitgeht oder ob ich für Sie neues Team zusammenstellen soll stop habe bei PAA Strato Clipper Karatschi – Rio für Sie bestellt stop Alles nähere durch Anwalt Juan Carzal Rio de Janeiro Avenida Rio Branco 235 stop Hals- und Beinbruch stop Miller.« »Treffen in Paris höchstwahrscheinlich ohne -296-
mich«, sagte der Chef. »Fliege nach Rio.« Er gab das Telegramm weiter. Als letzter bekam es Neunauge. Der Graf übersetzte ihm den Text. »Du wirst allein fahren müssen, Neunauge«, sagte er dann. »Ich bin noch nie im brasilianischen Dschungel gewesen. So eine Gelegenheit darf man sich nicht entgehen lassen.« Er sprach sehr schnell, als wolle er sich sofort darauf festlegen, daß ihm die Rückkehr nach Frankreich erspart blieb. »Da fliegen wir ganz sauber«, sagte Plumpudding, »Karatschi – Beirut – Rom – Lissabon – Dakar – Rio.« »Chef«, sagte GG, »selbstverständlich gehen Figur und ich mit, wenn Sie uns haben wollen.« »Ebenso selbstverständlich«, knurrte der Chef. »Nur muß ich mich erst um den Jungen kümmern«, sagte GG. »In Ordnung«, sagte der Chef. »Kommen beide nach.« Neunauge sagte gar nichts. Er war sehr unglücklich. Er fühlte sich ausgeschlossen. Er fühlte sich verlassen wie ein verlaufener Hund. Alle flogen nach Südamerika, und er mußte ganz allein nach Europa fahren. Das war der Dank, daß er auf dieser höllischen Expedition sein Bestes gegeben hatte. Alle ließen ihn im Stich, selbst der Graf, von dem er so viel hielt. Es war Plumpudding, der die tiefe Betrübnis -297-
in Neunauges Gesicht nicht mehr mitansehen konnte. »Schade«, sagte er, »daß du nicht mitkannst, Neunauge!« »Wir hatten uns gerade so aneinander gewöhnt«, sagte Figur. »Wie soll der Graf ohne Sie auskommen?« fragte GG. »Ich muß mir dann einen armseligen Indio aus dem brasilianischen Dschungel anbändigen«, sagte der Graf. »Zum Frühstück wird er mir ein paar aufgespießte dicke Spinnen bringen.« »Noch auf keiner Expedition so gut gegessen wie auf unserer letzten«, sagte der Chef. Neunauge war wieder aufgegangen wie eine bayerische Dampfnudel. »Dann muß ich eben mit«, sagte er. »Ich kann Sie ja nicht einfach Ihrem Schicksal überlassen. Aber das steht fest, meine Herren – sowie diese brasilianische Expedition zu Ende ist, gehe ich unweigerlich nach Paris und mache mein Bistro auf.« Er war, offen gesagt, heilfroh, daß sich das Wiedersehen mit Odette, Manon, Angélique Delorme und ihrer Mutter nun wieder auf unbestimmte Zeit verschob. Der Chef stand auf. »Drahte also nach London zurück: ›Unser Team bleibt zusammen!‹« Plumpudding hielt ihm schon das dazu nötige Telegrammformular hin. Jeder hatte zu tun. Plumpudding sollte auf die Post, der Chef mußte bei der B. O. A. C. in -298-
Karatschi die Flugzeugplätze nach London abbestellen und dort bei der PAA, im Bandukwalla-Haus, Telephon 2297, sich nach dem Strato Clipper erkundigen. Der Graf bestellte in Bombay die Schiffsplätze ab, GG sprach mit dem Mayo-Hospital in Lahore – und Figur ging in die Stadt. Ihn überkam seine böse Stunde. Er ging in die kleine Bar »Zum König Fu«, die ein Chinese in der Nähe der Markthalle eingerichtet hatte. Da saß er und hatte außer einer Flasche Whisky die gewaltige Kanone Zamzammah vor sich, was »Löwengebrüll« heißt, mit der ein Afghanensultan irgendwann einmal eine Schlacht gewonnen haben sollte. Figur grübelte vor sich hin. Schön, jetzt ging es also nach Brasilien. Es war ihm recht. Warum auch nicht? Irgendwohin mußte er ja gehen, und die U.T. Company zahlte gut, keine Frage. Aber warum warf es ihn so in der Welt herum? Warum mußte er sich so mühselig durchschlagen, immer wieder irgendwo etwas Neues anfangen – warum gelang ihm niemals ein großer Schlag, mit dem er ein für allemal aus allem Wirbel heraus war? Er hatte eben kein Glück, das war es. Er konnte machen, was er wollte – auf alles, was er anfaßte, hatte der Teufel seinen Schwanz gelegt… »Hallo«, sagte Mister Jari Gruggs und setzte sich neben ihn. Daß der Unterhäuptling der »Letzten Elche« Figur hier traf, kann nur den verwundern, der nicht weiß, daß Mister Jari Gruggs keineswegs nach Lahore abgebraust -299-
war, sondern ganz still in seinem Auto gesessen und darauf gelauert hatte, ob er nicht Figur allein erwischen konnte. Figur war, wie gesagt, nicht in der besten Laune. Er hatte noch dazu ziemlich viel Whisky getrunken. Die Augen in seinem Kindergesicht saßen merkwürdig tief; jetzt aber kniff er sie noch zusammen, daß sie fast ganz verschwanden, und damit kam etwas Verschlagenes und Böses in sein Gesicht. Was wollte der Kerl von ihm? Denn daß der etwas von ihm wollte, das witterte er genau; für so etwas hatte er seine Nase. Es dauerte auch gar nicht lange, da war es heraus: Mister Jari Gruggs hätte so furchtbar gern gewußt, was in dem Telegramm gestanden hatte, das vorhin gekommen war… Wohin geht es jetzt? Und was haben die Herren dort, wo es hingeht, eigentlich vor? Während er darüber noch so redete, halb in Andeutungen, halb unzweifelhaft klar, hatte er, wie zufällig, einen Briefumschlag aus der Tasche genommen, mit dem er beim Sprechen spielte. Der Umschlag war nicht leer, sondern recht prall gefüllt, und während Mister Jari Gruggs mit ihm auf den Tisch klopfte, konnte Figur deutlich sehen, daß er mit Dollarnoten vielsagend gefüllt war. Erst hatte er Lust, dem Kerl die Whiskyflasche auf den Kopf zu schlagen; es wäre nicht das erstemal gewesen, daß er eine Unterhaltung kurzerhand so beendet hätte. Dann aber -300-
packte ihn seine Lust, den Partner mit einem Eulenspiegelstreich hereinzulegen. Er kam im Leben nicht hoch, aber wenn er jemand einen Streich spielte, wie damals, als er Neunauge umsonst sich die Lunge aus dem Leibe strampeln ließ, als er dem ahnungslosen Knaben die Schimpfworte beibrachte, dann fühlte er sich oben und den andern unten, dann war ihm wieder wohl… Irgend jemand war hinter ihnen hergewesen, als sie nach Kafiristan gingen. Dem hatten sie weisgemacht, es sei eine harmlose wissenschaftliche Expedition gewesen. Jetzt in Brasilien handelte es sich um eine wirklich harmlose Sache, um ein verunglücktes Flugzeug und die Suche nach zwei Millionärskindern. Aber es juckte ihn, gerade diese Angelegenheit als ein ganz geheimnisvolles Unternehmen zu verkaufen: der verrückte Kerl da sollte sein Dollargeld für ein Windei bezahlen. »Eine Maschine der PAA ist verunglückt«, sagte er leise, als verriete er ein tiefes Geheimnis. »Im brasilianischen Dschungel. Das muß gesucht werden. Aber Sie verstehen natürlich, nur wegen einer abgesackten Maschine – das lohnt ja nicht. In der Maschine, da ist ‘was drin -‹« »Papiere?« fragte Mister Jan Gruggs. »Pläne?« Am liebsten hätte Figur jetzt hemmungslos gegrinst. Der dumme Kerl hatte ja schön angebissen! Aber er blieb ganz ernst. »Einen tol-301-
len Riecher haben Sie«, sagte er anerkennend. Mister Jari Gruggs spielte nicht mehr mit dem dicken Briefumschlag. Er hatte ihn überhaupt nicht mehr in den Fingern. Der Briefumschlag lag auf einmal ganz dicht an Figurs Whiskyglas. Wie war er da nur hingekommen? »Brasilien also«, sagte Mister Jari Gruggs. »Nach Rio?« Figur nickte. »Wo kann ich Sie in Rio erreichen?« fragte Mr. Jari Gruggs. Figur stutzte. Das ging ja nun zu weit. Er hatte den Kerl zuschnappen lassen, und jetzt sah es aus, als habe ihn der an der Angel. »Warte«, dachte er, »du sollst dich wundern«, und dann sagte er: »Durch Cook natürlich. Fragen Sie nach Henry Potter.« Er ergötzte sich daran, wie der Kerl die Leute im Reisebüro durch seine Fragerei nach einem Manne, den es überhaupt nicht gab, verrückt machen würde. Er steckte den Briefumschlag ein, warf seine Rupien für die Whiskyflasche hin und ging davon, ohne sich weiter nach dem Amerikaner umzusehen. Acht Tage später saß GG am Bett TschandruSinghs in dem hübschen Zimmer, das er im Mayo-Hospital zu Lahore bekommen hatte. Er verstand alles, was man ihm sagte, nur das Sprechen gelang ihm noch nicht. Der Blick seiner großen dunklen Augen hing am Gesicht des Sahibs, der ihn hierhergebracht hatte, und er verlor keins der Worte, die der Sahib zu -302-
ihm sprach. »Tschandru-Singh«, sagte GG, »ich muß nun fort, sehr weit fort, in ein ganz anderes Land, aber für dich habe ich vorgesorgt. Den goldenen Krug, der dir gehört, schicke ich nach London, und dafür werden sie dir so viele Rupien schicken, daß du reich bist. Höre aber gut zu, Tschandru-Singh. Damit dir niemand diese Rupien wegnimmt, wird sie dir ein Sahib aufbewahren, den ich gut kenne, der Sahib Pater Bonaventura in Allahabad. Ihm gebe ich auch die Rupien, die wir dir schulden, weil du uns ein treuer Tschokra warst. Und wenn du hier das Mayo-Hospital verläßt, weil du gesund bist, wird dich der Sahib Pater abholen. Er wird mit dir nach Lala Gul reisen, und du wirst ihn zu deiner Mutter führen. Dann wird der Sahib Pater mit deiner Mutter und dir Lala Gul verlassen, und ihr werdet beide bei ihm in Allahabad wohnen. Ihr werdet dort mit den Christen leben, für die es keine Unberührbare gibt, und du wirst die Sprache der Sahibs lernen und lesen und schreiben. Wenn du das alles kannst, wirst du nach Bombay gehen und auf der Elphinstone-Schule weiterlernen. Das ist eine hohe Schule für junge Inder, und wenn du sie hinter dir hast, wirst du das College in Bombay besuchen. Das kannst du alles mit dem Gelde bezahlen, das du für den goldenen Krug bekommen hast, und von dem Gelde hat auch deine Mutter ein schönes Leben. Was du aber tust, wenn du auf dem Col-303-
lege alles gelernt hast, was es dort zu lernen gibt, das muß du dann selbst wissen. Ich reise fort, wenn ich dich in das Hospital gebracht habe. Aber von dem Sahib Pater Bonaventura werde ich immer hören, wie es dir geht und wo du bist, und ich werde dir immer schreiben, wo ich bin und wie es mir geht.« Peter Geist hielt inne. Er horchte. Dann trat er ans Fenster. Auch Tschandru-Singh hörte, daß draußen gesungen wurde, ein mächtiges Lied, von vielen Stimmen gesungen. »Sie ziehen vorbei mit vielen Fahnen«, sagte GG. »Männer, Frauen und Kinder. Sie singen das Lied von dem neuen Indien, das sie schaffen wollen. Hörst du, was sie singen?« Tschandru-Singh hörte das Lied der werdenden indischen Nation, er hörte die weithin hallenden, mächtigen Worte, das ergreifende Loblied auf die Allmutter Indien: »Ich grüße die Mutter, Die wasserdurchfunkelte, Reich mit köstlichen Früchten begabte Und von Himalajawinden gelabte, – Lächelnde, die uns den Segen bringt, Mutter, ich grüße dich! Du bist das Wissen, das Recht und die Pflicht, Du bist das Herz, der Kern und das Licht, -304-
Die dunkle, die ragende, Lächelnde, tragende, Alles erhaltende, waltende Mutter!« Das Lied der Singenden war verklungen, aber noch immer waren die Schritte der Tausende zu hören, die dem Zuge folgten, das Lied aber noch nicht mitsingen konnten. »Tschandru-Singh«, sagte GG und stand wieder dicht vor dem Lager des Knaben, »du wirst ein echter Sahib werden. Dein Land braucht Männer, die soviel wissen wie die Europäer, die aber Inder sind. Es wird nicht leicht für dich sein, aber du weißt: der Drachen steigt nicht mit dem Winde, sondern immer nur gegen ihn.« Tschandru-Singh war wie überflutet von einem Strom des Glücks. Tränen standen ihm in den Augen. Er rang nach Worten. Er wollte diesem Sahib das Schönste sagen, das er überhaupt sagen konnte, und er suchte die besten, die allerbesten Worte zusammen. Mit einem Male fiel ihm ein, daß er ja Figur gar nicht ausgerichtet hatte, was ihn damals der Sahib Agent in Tschitral gelehrt hatte; er war zu bekümmert gewesen, als er danach in das Tal zurückkam. Jetzt aber war aller Kummer zu Ende, jetzt konnte, jetzt mußte er den Segenswunsch sich vom Herzen lösen. Seine Lippen bewegten sich – zum ersten Male nach seiner Verwundung konnte er wieder spre-305-
chen. Mit dem zärtlichsten Ausdruck, den er nur in die Worte legen konnte, und in gutem Englisch sagte er, ohne zu ahnen, was er damit sagte: »O Sahib, you dirty pig! You very, very dirty pig!«
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Wort- und Sacherklärungen
Agent. Ein Agent ist jeder, der in irgendeiner Weise für einen anderen tätig ist (lateinisch agere, handeln, tätig sein, wirken). Unter einem politischen Agenten verstehen wir heute meist jemand, der im geheimen für einen fremden Staat arbeitet. Der politische Agent von Tschitral aber war der amtliche Vertreter der britischen Regierung in dem Eingeborenenstaat Tschitral (Chitral). Seitdem Indien ein selbständiges Mitglied des britischen Commonwealth (siehe dort) geworden ist, gibt es das Amt nicht mehr. Tschitral gehört heute zu dem mohammedanischen Staat Pakistan. Bad men, englisch, schlechte Männer. Bambini, italienisch, Mehrzahl von bambino, kleines Kind. B. O. A. C, Abkürzung für den Namen der britischen Fluggesellschaft British Overseas Airways Corporation. Buddha, indisch, das heißt »Der Erwachte, der Erleuchtete«. Er war ein Religionsstifter und lebte um die Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus. Er entstammte einer vornehmen indischen Adelsfamilie, verließ mit 29 Jahren Frau und Kind und ging als Bettler in die -307-
»Heimatlosigkeit«. Nach seiner Lehre ist das Leben nur Leiden, ihr Ziel das Aufgehen im Nichts. Einen eigentlichen Gott kennt sie nicht. Calvados, ein französischer Obstbranntwein, der in der Landschaft Calvados (Norman die) bereitet wird. Er ist sehr scharf. Chartreuse ist sowohl ein berühmter französischer Kräuterlikör, der früher einmal im Kloster La Grande Chartreuse bei Grenoble hergestellt wurde, wie auch ein delikates Gericht aus Wildgeflügel, Kohl und Speckscheiben. Chateaubriant (mit t!) ist ein Lendenstück, das auf dem Rost (Grill) gebraten wird, also nicht in der Pfanne. (Chateaubriand mit d ist ein französischer Schriftsteller und Diplomat.) Cointreau, ein besonders guter, milder Likör. College (von lateinisch collegium, Gemeinschaft, Innung) ist in England ursprünglich eine Haus- und Studiengemeinschaft von Studenten und Dozenten. Die Universität Oxford hat 21, die von Cambridge 18 Colleges, die noch aus dem Mittelalter stammen. Das College von Bombay ist Universität. Commonwealth, englisch, wörtlich Gemeinwesen, dasselbe wie Republik. »Britische Republik der Völker (British Commonwealth of Nations)« ist der Name für das Britische Reich (British Empire), in dem frühere Kolonien heute als »Dominions« mit dem Mutterlande Eng-308-
land gleichberechtigt sind. Jack Dempsey, ein Berufsboxer, wurde 1919 Weltmeister im Schwergewicht. Ihn besiegte Gene Tunney 1926 und 1927 in zehn Runden nach Punkten. Erythrozyten, von griechisch erythros, rot, und zytos, die Zelle, ist der wissenschaftliche Name für die roten Blutkörperchen. Eine anomale Form ist eine Mißbildung, die von der gewöhnlichen Form abweicht und bei Blutkrankheiten auftritt. Im Blut sind rote und weiße Blutkörperchen. Überschreitet die Zahl der weißen eine bestimmte Menge, so ist das Blut krank. Feringi, persisches Wort für Fremde, Europäer. Feringistan ist deren Heimat. Fritz nennen die Franzosen den deutschen Soldaten, wie wir den englischen Tommy oder den russischen Iwan nennen. Gemme, ein geschnittener Edel- oder Halbedelstein, der mit einem vertieft oder erhaben gearbeiteten Bilde geschmückt ist. Geoskop, Dieses interessante Meßgerät ist eine Erfindung des Herrn Dr. Machts, Marburg, Weidenhäuser Str. 90. Der Erfinder hat damit im In- und Ausland erstaunliche Ergebnisse erzielt. Hindustani ist die indische Verkehrssprache. In Indien und Pakistan, die zusammen halb so groß sind wie Europa, werden acht Hauptsprachen gesprochen (in Europa 23). -309-
Hindustani hat aber nicht viele Ausdrucksmöglichkeiten; nur das Alltägliche kann darin bezeichnet werden; es ist mehr die Sprache der unteren Schichten. Kafiristan ist der nordöstliche Teil Afghanistans, und nachdem dieses Land von Kabul aus endgültig unterworfen wurde, heißt es neuerdings Nuristan; aber in unsern Atlanten liest man noch den früheren Namen. Das Land grenzt im Osten an Pakistan, den neuen mohammedanischen Staat. Im Norden stößt es an die afghanische Provinz Badakschan, die an die sowjetische Republik Uzbekistan grenzt – hier kommt die südliche Grenze des Sowjetrussischen Reichs Indien am nächsten.
Die Abstammung der Kafiri ist dunkel; das Wenige, was man über ihre Geschichte weiß, erzählt GG dem Grafen (S. 41 ff). »Die Ebenmäßigkeit und Schönheit ihres Wuchses«, so berichtet Friedrich D. Römer, »wurde von allen europäischen Reisenden geschildert. Als -310-
Kleidung tragen sie ein weitarmiges Wams, als Kopfbedeckung eine kleine Mütze aus Wollstoff oder heute ein Turbantuch. Ihre Schuhe haben eine ebensolche Berühmtheit erlangt wie der Kafirendolch. Die Schuhe sind aus rohgegerbtem Ziegenleder verfertigt, rot gefärbt und mit hellen Nähten versehen. Sie sind weich und schmiegsam wie die Kletterschuhe unserer Bergsteiger. Früher trugen die Kafiri Hosen und Umhänge aus Ziegenwolle. Heute haben sich die langen, kuttenähnlichen Kleider aus Baumwolltuch durchgesetzt, wie die Afghanen sie tragen. Wenn sie Europäer in englischen Shorts sahen, fragten sie: ‘was haben euch eure Knie getan, daß ihr sie nackt laßt?‹« Fast jedes Dorf, bestimmt alle Dörfer eines Tales bildeten einen in sich abgeschlossenen Kleinstaat, und in diesen einsamen, an Erdschätzen ungeheuer reichen, unzugänglichen Tälern leben die Menschen wie vergessen. Aber jetzt wirkt sich der Machtkampf um den Besitz der Erde vielleicht auch hier aus. Immer war Afghanistan ein Land, das sowohl England wie Rußland interessierte. Heute, wo nun wahr geworden ist, was der Chef in jenem Telegramm aus London erfuhr (S. 147), wo Indien selbständig wurde und die Engländer auf manche alten Pläne verzichten müssen, scheinen die Vereinigten Staaten von Nordamerika um das Schicksal Afghanistans besorgt zu sein. Im Jahre 1952 las man eines -311-
Tages in der Zeitung die folgende Meldung, die der Redaktion von der pakistanischafghanischen Grenze, aus Torkham, telegraphiert worden war: »Die Sowjetunion hat Afghanistan in ultimativer Form aufgefordert, das mit Hilfe der Vereinten Nationen und Amerikas in der nördlichen Grenzprovinz begonnene wirtschaftliche Entwicklungsprogramm unverzüglich einzustellen« – und die Zeitung schreibt dazu: »Die Russen wenden sich gegen die Anwesenheit von technischen Beratern der Vereinten Nationen und Amerikas an ihrer Südgrenze. Ein Blick auf die Karte genügt, um die strategische Bedeutung Afghanistans zu ermessen. Es nimmt in Asien eine Lage ein, die sehr wohl mit derjenigen der Schweiz in Europa verglichen werden könnte. Beherrscht es doch die großen Paßstraßen, die von dem sowjetrussischen Teil Zentral-Asiens nach Indien führen. Dem alten russisch-britischen Gegensatz in diesem Teil der Welt verdanken die 16 Millionen Afghanen ihre bis heute unangetastete Selbständigkeit. Die Sowjetunion ist peinlichst darauf bedacht, daß sich an ihrer Südflanke keine Großmacht festsetzt. Eine große amerikanische Baufirma ist im Nordgebiet des Landes mit ausgedehnten Kulturarbeiten beauftragt. Deutsche Ingenieure und Techniker sind an dem Werk beteiligt. Übrigens ist auch der Oberbürgermeister von Kabul gebürtiger Deutscher. Das Bergland Afghanistan ist reich an Bo-312-
denschätzen, besonders an Kupfer, Blei und Eisenerz, sowie an Petroleum. Die von den Vereinten Nationen und den USA gewährte Finanzhilfe soll der wirtschaftlichen Erschließung des an Mineralien besonders reichen und äußerst fruchtbaren Nordteils zwischen dem Hindukusch und dem Fluß Amur-Darja (Oxus), der in den Aralsee fließt, dienen.« Bis jetzt war Afghanistans bester Schutz seine Unwegsamkeit. Wird aber ein Bergland wirtschaftlich aufgeschlossen, so müssen vor allem moderne Straßen gebaut werden – sind aber erst einmal solche Straßen da, dann können sie eines Tages auch von Panzern befahren werden… Aber wir wissen nicht, ob diese Nachricht wahr ist. Wir wissen auch nicht, was in Afghanistan vor sich geht. Unmöglich jedoch scheint es nicht, daß weltpolitische Überlegungen den Gedanken nahelegen, man müsse gegen einen Gegner, der von Norden her über Afghanistan nach Süden dringen möchte, die afghanischen Grenzländer abriegeln. Wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich sogar könnte uns Mister Jari Gruggs darüber einiges sagen. Denn warum wäre sonst die Stelle, für die er arbeitet, so daran interessiert, zu erfahren, was die Expedition der U. T.-Company in den Tälern der Kafiri sucht? Kimberley, ein Ort in einer trostlosen Gegend Südafrikas, wo Bergbau auf Diamanten getrieben wird. -313-
KCIE: Knight Commander of the Order of the Indian Empire (Ritter und Kommandeur des Ordens des Britischen Kaiserreichs) ist die hohe Stufe eines britischen Ordens für Verdienste um Indien. MEZ: Mitteleuropäische Zeit. Olim: lateinisch, einst. PAA: Abkürzung für die große amerikanische Fluggesellschaft Pan American World Airways. PRGS: Präsident der Königlichen Geographischen Gesellschaft. Sie wurde 1830 in London gegründet und ist die bedeutendste geographische Gesellschaft. Sie besitzt ein Klubhaus mit einem Observatorium, wo sich Forschungsreisende ausbilden können. Team: englisch, Mannschaft. Eine Gruppe, deren Mitglieder aufeinander eingespielt sind. The Times (engl. »Die Zeiten«) ist eine führende englische Tageszeitung, über deren politische und geschäftliche Unabhängigkeit ein besonderer Ausschuß von angesehenen Persönlichkeiten wacht. Die Auflage des Blattes ist, verglichen mit den Millionenauflagen anderer Blätter, nur klein. Aber es verzichtet auf Sensationsnachrichten und hat seine Bedeutung durch den inneren Gehalt dessen, was es bringt. Eine Besonderheit der Zeitung ist ihre sogenannte »Seufzerspalte«, in der die Leser ihre privaten Wünsche annoncieren, in der mit rätselhaften Abkürzungen an rätselhafte Unbekannte rätselhafte Botschaften gegeben -314-
werden, in der Juwelen gesucht werden, die im Taxi liegen blieben, wo man auch Folgendes lesen kann: »Forschungs- und Sportexpedition will Flüsse Zentral-Brasiliens erforschen. Reichlich Jagd auf Groß- und Kleinwild. Außerordentliche Fischereimöglichkeiten. Für zwei Gewehre noch Platz.« Die »Times of India« ist eine in Indien erscheinende Zeitung, die in Bombay herausgegeben wird. Tour d’Argent (Silberturm) ist das älteste Restaurant in Paris, auf dem linken Ufer der Seine, 1582 gegründet. Wer dort essen will, muß gut bei Kasse sein. Merke: Montags immer geschlossen. Tour de France ist das berühmte Radrennen durch ganz Frankreich. Der schnellste Fahrer eines Tages wird durch ein gelbes Trikot und einen hohen Geldpreis ausgezeichnet. Tschokra: indisches Wort für Diener, Boy. VC ist die Abkürzung für Victoria Cross, Viktoriakreuz. Der sehr angesehene britische Orden kann nur vor dem Feinde erlangt werden und ist mit einem Ehrensolde verbunden. Er trägt die Inschrift »For Valour« – für Tapferkeit. Verdi ist ein italienischer Opernkomponist (1813-1901). Vogeldunst ist die feinste Sorte Schrot. Kaliber 16 bedeutet, daß in den Lauf des Jagdgewehres 16 Schrotkugeln passen, die zusammen ein Pfund wiegen. -315-
Im Dschungel abgestürzt Abenteuer in den Urwäldern Brasiliens
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Inhalt Nachts zwischen zwei und drei Der Überfall Die Retter kommen Zwölf Gewehre gegen vier Pistolen Die Auskunft ist nicht erschöpfend Kein Schuß noch besser als ein Schuß Zwei Späher Von dem Major ist nichts mehr zu erfahren Jetzt geht die Sache voran An der Flußsperre der Vampir-Indianer Die Raketen Die Kinder sind fort Hartes Herz und Falkenauge Im Dorf der Schakaräh Rätsel über Rätsel Der Felsen der Mutter Gefahr! Flucht? Aufbruch – aber wohin? Auf der Zauberinsel Nur ein alter Mann In die Höhle des Löwen Graziella wird gesucht »Ich bin es ja!« Der Eiserne Stier von Manaos Figurs böse Stunde Ein Telegramm Wort- und Sacherklärungen
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Nachts zwischen zwei und drei Der Wächter, der mit seinen beiden riesigen Doggen Pronto und Agudo viermal des Nachts den Park abzugehen hatte, blieb stehen. Ein Blick auf die Leuchtziffern der Armbanduhr – zwei Uhr zehn. Dann sah er wieder in den zweiten Stock des schloßartigen Hauses, das in der Mitte des Parks lag und dem brasilianischen Kaffeekönig Castaneda gehörte. Aus dem dritten Fenster von links war für eine Sekunde ein Lichtschein gekommen. Er hatte nicht das ganze Fenster erhellt. Es war mehr so gewesen, als hätte jemand im Vorübergehen an die zugezogenen Fenstervorhänge gestoßen, so daß sie für einen Augenblick auseinanderklafften, und gerade das beunruhigte den Wächter. Das dritte Fenster von links im zweiten Stock gehörte zu dem Zimmer Graziellas, der dreizehnjährigen Tochter Senhor Castanedas. Wenn sie vom Bett aus Licht gemacht hätte, weil sie vielleicht nicht schlafen konnte, dann hätten sich die Fenstervorhänge nicht bewegt. Also mußte sie oder jemand anders in ihrem Zimmer umhergehen. War das in der Ordnung, jetzt, tief in der Nacht? Aber wenn er Lärm schlug, machte er sich vielleicht nur lä-318-
cherlich. Die Hunde waren ganz ruhig, die Türen, die ins Haus führten, fest verschlossen, wie er sich noch einmal überzeugte. Er sah wieder zu dem Fenster hinauf. Alles dunkel. Es war wohl nichts. Er setzte seine Runde fort. Seine Schritte knirschten im Kies der Parkwege. Aber die Unruhe verließ ihn nicht. Er hatte Graziella gern und ihren Zwillingsbruder Mario auch. Millionärskinder, aber ohne falschen Stolz. Hatten alles, bekamen alles, was sie sich nur wünschten – nur die Mutter konnten sie nicht wieder bekommen. Die Mutter war tot. Drei Jahre war das jetzt her. Gewiß, Senhora Delgado, die Hausdame, sorgte für die beiden Kinder, es ging ihnen nichts ab, wie man so sagt – aber eine Mutter kann man nicht kaufen. Seine eigenen beiden Kinder hatten es besser, dachte der Wächter, wenn auch bei ihm zu Haus das Geld knapp war. Seine Frau war eben eine richtige Mutter. Er drehte um. Er ging wieder auf das Haus zu. Vielleicht war mit Graziella doch etwas nicht in Ordnung. Vielleicht war sie krank. Er würde keinen Lärm schlagen, nein, aber den Administrador behutsam wecken, dann konnte der das Nötige veranlassen. Der Verwalter des großen Haushalts, der Senhor Administrador, war sehr ungnädig, daß er einer solchen Lappalie wegen aus dem Schlaf geholt wurde. Aber nachdem er nun einmal wach war, wollte er nicht der einzige -319-
sein, der um die wohlverdiente Nachtruhe kam, und so weckte er die Hausdame. Senhora Delgado erhob sich sofort, war im Nu so weit angezogen, daß sie sich sehen lassen konnte, und als ihr der Administrador auf dem Korridor zugeflüstert hatte, worum es sich handele, dankte sie ihm und sagte: »Ich sehe sofort nach. Warten Sie bitte noch ein paar Augenblicke, und wenn Sie dann von mir nichts weiter hören, legen Sie sich ruhig wieder hin.« Sie war wie immer von einer kühlen Freundlichkeit. Sie ging die Treppe hinauf ins zweite Stockwerk. Die Stufen waren mit dicken roten Läufern belegt und ihre Schritte nicht zu hören. Leise öffnete sie die Tür zu dem Schlafzimmer des Mädchens – und stand sprachlos vor dem, was sie jetzt sah. Graziella und Mario, die beiden Dreizehnjährigen, waren fix und fertig angezogen. Sie hatte ihre rote dreiviertellange Seeräuberhose an und ein Buschhemd, er trug zu seinem Buschhemd seine kürzeste Hose. Auf dem Tisch lagen zwei Moskitonetze und die beiden Jagdgewehre der Kinder. Sie waren gerade dabei, eine Jagdtasche mit dem Notwendigsten für eine Reise vollzustopfen. Senhora Delgado unterdrückte jedes entsetzte Wort. Sie machte nur schnell die Tür zu und sagte dann freundlich und beherrscht wie stets: »Was habt ihr denn vor?« Der Junge und das Mädchen standen da, oh-320-
ne sich zu rühren. Stumm sahen sie auf die Hausdame, die sie überrascht hatte. Sie waren gewohnt, das zu tun, was sie für richtig hielten, sie hatten nie erst lange gefragt, wenn sie sich etwas vorgenommen hatten, – aber jetzt schien sie eine düstere Entschlossenheit gepackt zu haben. Ohne sich erst noch verständigen zu müssen, war es beiden klar, daß sie keine Ausflüchte machen würden. Dafür war es ihnen mit dem, was sie planten, zu ernst. »Wir wollen fort«, sagte Mario. »Wohin?« fragte Senhora Delgado. »Zu den Indianern«, sagte Graziella. Senhora Delgado hatte drei Jahre mit den beiden gelebt, denn Senhor Castaneda, dem sie aufs wärmste empfohlen worden war, hatte ihr sofort nach dem Tode seiner Frau Kinder und Haus anvertraut. Sie hatte gesehen, daß Graziella und Mario anders aufwuchsen, als es sonst üblich war. Sie hatte sich damit abfinden müssen, daß beide sehr viel selbständiger handelten, als sie es von gleichaltrigen Kindern gewöhnt war. Aber sie spürte deutlich, daß hinter diesem Plan zu einem heimlichen Aufbruch etwas Besonderes stand. Das war kein plötzlicher Einfall, das Indianerspiel aufzugeben und dafür bei wilden Indianern zu leben. Sie setzte sich. »Warum wollt ihr zu den Indianern?« fragte sie und fügte noch hinzu: »Das möchte ich wirklich gern wissen.« -321-
Mario sah seine Schwester an. Sie stand wie er an dem Tisch, auf dem die Moskitonetze und die Gewehre lagen, sie hatte die Jagdtasche noch immer in der Hand. »Senhora«, sagte Graziella langsam, »wir haben erfahren, daß Senhor Castaneda wieder heiraten wird. In diesem Hause hat unsre Mutter mit uns gelebt. Mit einer Stiefmutter können wir nicht unter einem Dache leben.« Jetzt war es mit Senhora Delgados Beherrschung zu Ende. »Wer hat euch das gesagt?!« rief sie aus. »Wir haben versprochen, das nicht zu verraten«, antwortete Graziella fest. Die Senhora war sehr erregt. Wie hatte sie sich bemüht, den Kindern zu verbergen, was sie noch nicht hatten erfahren sollen – und nun hatte irgendeine Magd oder sonstwer geschwatzt. Wie sollte das jetzt wieder eingerenkt werden?! »Der Mann oder die Frau, durch die wir das wissen«, sagte Graziella voller Feindschaft, »hat uns noch mehr erzählt!« »Was denn noch?!« rief Senhora Delgado entsetzt. »Sie hat gesagt: ›Wer eine Stiefmutter hat, der hat auch einen Stiefvater.‹« »Aber das ist doch nur so ein dummes Sprichwort!« rief die Senhora und sprang auf. »Sind alle Sprichwörter dumm?« fragte Mario. -322-
»Ihr wißt, wie euer Vater euch liebt!« sagte die Senhora und bemühte sich, so eindringlich zu sprechen, wie es ihr nur möglich war. »Jeden Wunsch erfüllt er euch – ihr habt ein so schönes Leben, wie es die wenigsten Kinder kennen –« »Wenn er die fremde Frau heiratet, hat er unsre Mutter vergessen, und wenn er unsre Mutter vergessen kann, dann wird er auch uns vergessen«, sagte Graziella. Der Schmerz packte sie. »Nein, nein«, rief sie, »ich kann hier nicht mehr leben! Ich will hier nicht mehr leben, wenn die Menschen so sind! Ich will da leben, wo die Menschen noch wahr, treu und einfach sind! Das sind sie in den Millionenstädten nicht mehr. Aber die Indianer im Urwald sind es noch. Wenn ich doch nur kein Mädchen wäre! Aber ich werde mich hartmachen und wie ein Mann leben – dann werden wir den Urwald besiegen wie die Indianer!« Bestürzt sah Senhora Delgado auf das leidenschaftlich erregte Mädchen und den Bruder, der schweigend und finster dastand. Drei Jahre lang hatte sie nun für beide gesorgt, so gut sie es nur vermochte. Hätte sie ihnen nicht noch mehr geben müssen? Aber sie hatte von Anfang an gespürt, daß die beiden sich gegen sie wehrten, daß sie sich gegen sie versperrten – und jetzt erst verstand sie, warum sich die Kinder ihr gegenüber so ablehnend verhalten hatten. Die beiden hatten gefürchtet, sie wolle die Gestalt der Mutter aus ihren -323-
Herzen verdrängen… »Senhora, ist es denn überhaupt wahr, daß Vater wieder heiraten will?« fragte Mario, und aus dem Ton seiner Stimme war deutlich zu hören, daß er plötzlich die Hoffnung hatte, die böse Sache könne sich noch in nichts auflösen. Er sagte auch herzlich »Vater«, während seine Schwester feindselig »Senhor Castaneda« gesagt hatte. Die junge Frau atmete hastig. Sollte sie jetzt lügen und sagen, alles sei gar nicht wahr? Konnte sie so nicht Zeit gewinnen, damit sich inzwischen irgendein Ausweg finde? Aber sie sah den Kindern an, wie ernst es ihnen war. Da mußte auch sie die beiden ernst nehmen. Sie konnte deren schwierige Lage nicht ändern. Aber sie konnte ihnen vielleicht helfen, wenn sie ihnen die Augen dafür öffnete, daß sie selbst die Hilfe der Kinder brauchte. »Mario«, sagte sie, »ihr habt versprochen, nicht zu verraten, wer zu euch über diese Sache geredet hat, und mir ist aufgetragen worden, über sie zu schweigen. Trotzdem will ich euch die Wahrheit sagen, wenn ihr mir auch etwas versprecht.« »Was?« fragte Graziella rasch und mißtrauisch. »Seht, Kinder«, sagte Senhora Delgado, »wenn ihr heimlich aus dem Haus geht, wo ihr mir doch anvertraut seid, dann bekomme ich nie wieder eine Stelle. Jeder wird sagen: wenn sie sich um die Kinder richtig gekümmert hät-324-
te, dann wären sie nicht davongelaufen. Alle werden denken, ich sei zu euch scheußlich gewesen.« »Das waren Sie nicht, Senhora«, sagte Mario sofort. »Ihr Unglück wollen wir nicht«, sagte Graziella. »Versprecht mir«, sagte sie jetzt rasch, »daß ihr nicht weggeht, solange ich hier bin!« »Aber das klingt ja so, als ob Sie nicht mehr lange hier wären!« sagte Graziella. »Ich werde auch gehen müssen«, sagte Senhora Delgado. »Es ist wahr, Kinder: Senhor Castaneda will wieder heiraten, und dann braucht euer Vater keine Hausdame mehr. Dann muß ich mir eine andere Stelle suchen. Versprecht mir, mich nicht im Stich zu lassen, und ich verspreche euch, daß ich etwas für euch finde. Auch ihr sollt hier aus dem Haus. Aber nicht zu den Indianern – das geht nicht. Das ist zu gefährlich.« »Das versprechen wir Ihnen«, sagte Mario. Graziella sagte nichts, aber sie hielt wie ihr Bruder der Senhora die Hand hin. Als sie die Hände der Kinder in der ihren fühlte, war ihr wohl und schmerzlich zugleich. Wohl, weil es ihr gelungen war, diese Flucht erst einmal zu verhindern, und schmerzlich, weil sie dachte: »Wenn ich zu ihnen so vor drei Jahren schon gesprochen hätte, wären wir uns vielleicht so nahegekommen, daß sie sich mir anvertraut -325-
und nicht daran gedacht hätten, in den Urwald zu fliehen.« Sie hatte den beiden einen Ausweg versprochen, aber sie wußte nicht, wo sie ihn finden sollte. Sie überlegte. Mit dem Vater konnte sie nicht sprechen, denn er war nicht in Rio de Janeiro, sondern hielt sich in den Vereinigten Staaten auf. Aber den Anwalt konnte sie anrufen, der für Senhor Castaneda alles zu erledigen hatte, wenn er selbst außer Landes war, und der seine Familie seit Jahrzehnten kannte. Ihm setzte sie genau auseinander, daß für die Kinder sofort etwas geschehen müsse, und er wußte auch gleich, was zu tun war. Da wohnte doch in Belém Senhora Saraiva, die Schwester Castanedas. Die Dame war ein bißchen schnurrig, gewiß, aber sollte sich nur die Tante einmal um Neffen und Nichte kümmern, wenn sie eine Luftveränderung nebst Tapetenwechsel brauchten! Das tat so einer älteren Dame sicher gut! Ein Telegramm hin, eins her, und dann noch ein drittes, das die Sache abschloß: »kinder ankommen mittwoch 15 uhr 30 mit eldorado stop bitte am flugplatz abholen.« Der Anwalt hatte das wohltuende Gefühl, eine verwickelte Angelegenheit wieder einmal durch einen geschickten Griff aufs beste gelöst zu haben. Daß er mit seinem Einfall mehr aufregende und gefährliche Abenteuer heraufbeschwor, als ihm je ein Aktenstück seiner vieljährigen Praxis beschert hatte, konnte der gu-326-
te Mann nicht ahnen. Er tat sogar noch ein übriges. In seinem eigenen Wagen holte er die Kinder und Senhora Delgado ab und fuhr mit ihnen zum Flugplatz Santos-Dumont.
Der Überfall Die »Eldorado«, eine zweimotorige Dakota der Panair do Brasil, war sechs Uhr dreißig morgens vom Flugplatz in São Paulo, der zweitgrößten Stadt Brasiliens, abgeflogen, hatte dann, wie es der Fahrplan vorsah, genau eine Stunde später Rio de Janeiro erreicht und war, nach dem üblichen Aufenthalt von einer Stunde, zum Weiterflug wieder aufgestiegen. Er sollte zum Flughafen der Cidade de Nossa Senhora de Belém do Pará (Stadt Unserer Lieben Frau von Bethlehem von Pará) gehen; der schöne und feierliche Name stammte freilich noch aus einem Jahrhundert, wo die Menschen Zeit hatten, – in dem Flugplan, der jedem Passagier auf den Platz gelegt worden war, hieß das kurz Belém Pará. Aber dort war der Flug noch nicht zu Ende, sondern erst in Port of Spain, der reizenden Hauptstadt der britisch-westindischen Insel Trinidad. Das war eine Entfernung von 4500 Kilometern, und die Luftstrecke führte über den ganzen Osten des so ungeheuer weiträumigen Brasiliens mit sei-327-
nen gewaltigen Strömen, seinen zahllosen Flüssen, über Bergländer, Urwälder und undurchdringliche Dschungel, deren Schrecken die Passagiere der »Eldorado« in ihren bequemen Sesseln aufs angenehmste enthoben zu sein glaubten, bis sie eine jähe Wendung mitten in diese Schrecken werfen sollte. Das Flugzeug war nicht stark besetzt. Da war ein älterer Herr, dessen gelbliche Gesichtsfarbe vermuten ließ, daß seine Leber nicht mehr recht funktionierte, weil er sein Leben lang zu fettes Essen, zu starken Kaffee und zu viel Zuckerrohrschnaps bevorzugt hatte. Dann zwei Damen, eine Mutter mit ihrer sechzehnjährigen Tochter, die nach Belém wollten und deren Gepäck nicht nur aus bezaubernd schönen Lederkoffern bestand, sondern auch aus einem Geigenkasten, den die Tochter nicht aus den Augen ließ. Sie unterschied sich von ihrer Mutter nicht nur durch ihre Jugend. Während jene mit Brillantringen an Händen und Ohren und mit kostbaren Armbändern geradezu überladen war, trug sie als Schmuck auf der weißen Bluse ihres Reisekostüms nur eine Platinnadel mit einer einzigen Perle, und das kostbare Stück sah an ihr unauffällig, ja selbstverständlich aus. Dann waren da noch vier Herren zwischen zwanzig und dreißig, die wohl nicht zusammen gehörten, denn jeder hatte sich seinen Platz möglichst weit weg vom anderen gesucht. Sie hatten leichte, weite Reisemäntel an, die alle neu gekauft schienen. War das auffällig? Liebe Zeit, die Herren -328-
sahen so aus, wie hunderttausend Herren zwischen zwanzig und dreißig aussehen; ihre Gesichter hatte man schon in dem Augenblick wieder vergessen, wo man sie sah. Stunde um Stunde verrann. Die »Eldorado« hatte das Bergland des Staates Minas Geraes überflogen. Sie überquerte die unübersehbaren Urwälder des Staates Mato Grosso, was »Dichter Wald« heißt, zog jetzt über dem Rio Anaguaya hin, an dessen Mündung Belém Pará liegt. Sie war schon über dem Staat Grao Pará — da geschah es. Einer der unauffällig und so alltäglich aussehenden jungen Herren zwischen zwanzig und dreißig war wie von ungefähr im Flugzeug immer weiter nach vorn gegangen. Die Tür zu der Kabine, wo Flugzeugführer und Funker saßen, öffnete er, obwohl darüber stand »Eintritt nicht gestattet«, er hatte plötzlich eine Smith-Wesson in der Hand und rief (was man im Passagierraum bei dem Donnern der Motoren nicht hörte) ihm zu, er solle ihm sofort seinen Platz einräumen. Der Flugzeugführer war ein beherzter Mann. Er dachte, er habe es mit einem Irren zu tun. Er lächelte ihn freundlich an und rief: »Sowie wir in Belém sind, kannst du auf meinen Platz, camarada!« Auch die beiden Schüsse, die darauf fielen und die dem Flugzeugführer und dem Funker das Leben kosteten, hörten die Passagiere nicht. Aber nun zeigte es sich, daß jene vier unauffälligen Herren mit den Alltagsgesichtern doch -329-
zusammengehörten, und es zeigte sich weiter, daß sie ihre so weit voneinanderliegenden Plätze mit viel Überlegung ausgesucht hatten. Jeder hatte jetzt eine Pistole gezogen, und sie standen so verteilt, daß sie den Passagierraum völlig beherrschten. Die beiden Damen waren sehr erschrocken, die Mutter erbleicht; da sie aber, wie das in Südamerika üblich ist, ziemlich viel Rot aufgelegt hatte, saß ihr jetzt die Farbe plötzlich wie die plumpe Bemalung eines Clowns im weißen Gesicht. Die Stewardeß befiel eine schreckliche Gedankenflucht wie ein Schwindel. Vergeblich suchte sie sich daran zu erinnern, was sie an Instruktionen für außerordentliche Vorkommnisse bekommen hatte. Ihr fiel nur ein, daß sie zur Vermeidung von Paniken den Passagieren mit ihrem reizendsten Lächeln Sekt und Whisky anbieten müsse, und das paßte hier doch offenbar nicht. Jetzt gingen zwei der jungen Männer auf den älteren Herrn zu, dem man sein Leberleiden ansah. Er hatte sich in die Passagierliste als »Kaufmann« eintragen lassen. Aber die vier Verbrecher wußten über ihn genau Bescheid. Sie wußten, daß er Diamantenhändler war, sie wußten, daß er auf der Rückreise nach großen Einkäufen war – und sie nahmen ihm alles ab, was er in den Taschen hatte. Er mußte noch Rock und Weste ausziehen, und die beiden nahmen die Kleidungsstücke an sich; wahrscheinlich vermuteten sie, daß darin noch ei-330-
niges eingenäht sei. Er ließ das übrigens ruhig mit sich geschehen. Er war gegen Diebstahl hoch versichert, und er bemühte sich seit Jahren, sich über nichts mehr aufzuregen, weil das nur ungünstig auf seine Leber wirkte. Jetzt beschäftigten sich beide Männer mit den zwei Damen. Zitternd streifte die Mutter ihre kostbaren Ringe ab, sie war so aufgeregt, daß sie die Ohrringe kaum abbrachte. Sie mußten auch noch ihre Handkoffer öffnen, und was sie an Geld bei sich hatten, verschwand in den Taschen der Räuber. »Sie haben noch etwas vergessen«, sagte die Tochter und hielt dem einen ruhig ihre Platinnadel hin, die sie abgemacht hatte, und sah ihm dabei fest in die Augen. Der Mann wußte nicht, was er sagen sollte. So etwas war ihm noch nie passiert. Die überlegene Gelassenheit des schönen Mädchens verwirrte ihn, und zugleich fühlte er sich beschämt. Er fluchte laut – aber er nahm die Nadel nicht und ging weiter. Jetzt kamen die Männer zu den beiden Kindern. »Wie heißt ihr?« fragten sie. »Graziella Castaneda«, sagte das Mädchen. »Mario Castaneda.« Die Männer stutzten bei den Namen. »Ist euer Alter etwa der Kaffeekönig?« »Ja«, sagten sie zugleich. Die beiden jungen Männer sahen sich an. Sie -331-
hatten denselben Gedanken: Soll man diese niños verschleppen? Lösegeld eine Million? »Zu gefährlich«, sagte der eine, und der andere stimmte zu. Das Flugzeug hatte die Richtung geändert. Es flog nicht mehr nach Norden, es flog nicht nach Belém zu, sondern nach Westen, immer nach Westen. Sie hatten den Staat Grao Pará schon wieder im Rücken. Sie waren über dem Mato Grosso. Unter ihnen wälzte der größte Fluß der Erde seine gelben Wasser dem Meere entgegen – sie aber flogen mehr und mehr seinem Oberlauf zu. Es gab keine Städte mehr, keine Dörfer, keine Siedlungen. Es gab nur noch Wälder und Dschungel und Wasserläufe… Der eine Kerl wandte sich höflich an die Stewardeß: »Hätten Sie nicht die Liebenswürdigkeit, uns ein kleines Frühstück zu servieren?« Sie tat es. Sie brachte es nicht mehr fertig, zu lächeln, aber sie servierte es so sorgfältig, wie das Vorschrift war. Das Flugzeug war jetzt, wo es in menschenleere Gegenden gekommen war, sehr weit niedergegangen. Sie flogen ziemlich dicht über den höchsten Palmen hin, die noch über das Waldmassiv hinausgewachsen waren und sich wie riesige Schirme ausbreiteten. »Was machen Sie mit uns? Was machen Sie mit uns?« schluchzte die Mutter, während die Tochter mit einem deutlichen Zug der Verach-332-
tung schweigend dasaß, die schönen schlanken Hände still ineinandergelegt. »Wir landen. Senhora«, sagte einer der Vier, »sobald wir die Stelle erreicht haben, die uns dazu geeignet scheint.« »Und dann?« fragte sie entsetzt weiter. »Dann werden wir Sie verlassen, Senhora«, war die höfliche Antwort. »Mitten im Urwald – im Dschungel?!« schrie die Dame völlig verzweifelt. »Senhora«, sagte der eine der jungen Männer, und mit einem Male sah sein Gesicht gar nicht so alltäglich aus, sondern schien von Bitterkeit durchtränkt, »wir haben nie anders als im Dschungel gelebt – vielleicht versuchen Sie es nun einmal!« »Weißt du was?« sagte Graziella zu ihrem Bruder, »jetzt steht Tante Carlota auf dem Flugplatz von Belém und kann warten, bis sie schwarz wird! Ich finde das prima.« »Ja«, sagte ihr Bruder, »vor der sind wir sicher.« »Mario«, sagte Graziella, »paß auf: wenn wir im Dschungel landen, dann kommen wir auch zu Indianern! Genau das, was wir wollten!« »Da haben wir wirklich Glück«, sagte er, »daß uns Senhora Delgado ausgerechnet in dieses Flugzeug gesetzt hat. Es ist nur schlimm, daß dafür der Flugzeugführer und der Funker sterben mußten.« -333-
»Dafür können wir nichts«, sagte Graziella. »Sie wären auch ermordet worden, wenn wir nicht mitgeflogen wären.« Ihr Bruder schwieg, und er verschwieg, was er dachte: »Wenn ich das Vater erzählen könnte, dann würde er wenigstens für ihre Frauen und Kinder sorgen.« Aber das konnte er nicht tun, denn sie waren ja auf der Flucht vor ihrem Vater.
Die Retter kommen Sie waren eigentlich sechs, aber jetzt waren sie nur vier. In Flashmans Hotel zu Peschawar, nicht weit von der indisch-afghanischen Grenze, hatte sie der Auftrag der UT-Company erreicht, sofort nach den beiden Kindern des Kaffeemillionärs Castaneda zu suchen, die im Dschungel der brasilianischen Urwälder spurlos verschwunden seien, und eben diese vier, von denen wir sprechen, waren mit dem nächsten Flugzeug der PAA von Karatschi aus losgeflogen. Über Beirut – Rom hatten sie Lissabon erreicht und waren dort um drei Uhr morgens in die mächtige Maschine umgestiegen, die von London über Paris gekommen war und nun nach Rio de Janeiro weiterflog. Die Tür des Flugzeuges fiel zu, über der Kabine der Piloten glühte in Leuchtschrift auf: -334-
BITTE SETZEN SIE SICH! BITTE ANSCHNALLEN! – und dann rannte die Maschine nicht wie bei den bisherigen Abflügen des Flugzeugs, in dem sie gekommen waren, als besessener Riesenkäfer über den Boden, sondern fauchte über das Wasser. Da hörte das Rauschen der Wellen auf, der Ton der Motoren änderte sich, die Maschine hob sich, die Passagiere fielen leicht in die Sessel zurück, und im Dunkel unten blieb Europa zurück. Die Maschine stieg dem nächtlichen Himmel zu, der mit Sternen übersät war. Der Chef-Steward, in schwarzer Hose und weißem Smoking, hatte freilich keinen Blick für die Himmelslichter. Er bewegte sich diskret von Platz zu Platz und erkundigte sich nach den Wünschen der Gäste. Die Maschine war stark besetzt, aber überall wurde nur der Wunsch geäußert, man möchte schlafen. So knipste er störende Lampen aus, ein wohliges Dunkel füllte den Raum, und bei dem ganz gleichmäßigen Flug ließ sich in den bequemen Sesseln ausgezeichnet schlafen. Nur hin und wieder erinnerte die Schlafenden ein leises Wiegen daran, daß sie zu den Bevorzugten gehörten, die durch die Luft von Erdteil zu Erdteil fliegen konnten; aber wie die Menschen schon sind – keiner fand mehr etwas Besonderes dabei. Auch unsere Vier hatten das Licht bei ihren Sitzen löschen lassen, jedoch schlief von ihnen keiner. Da saß, in einem Sessel am Fenster, der -335-
Führer der Expedition, der Engländer Slanton, der nie anders als »Chef« genannt wurde. Er schlief nicht, weil er an die beiden denken mußte, die in Indien zurückgeblieben waren, an die zwei, mit denen die vier sechs waren. Neben ihm saß sein treuer Patrick Cromby, ein Ire, dessen Spitzname Plumpudding jeden überzeugte, der nur einen Blick auf sein freundliches Vollmondgesicht warf. Er schlief nicht, weil der Chef nicht schlief. Hier, wo Rauchen nicht gestattet war, konnte er ihm allerdings nicht die Pfeife mit dem ein für allemal bevorzugten Dunhill-Tabak stopfen – aber es konnte ja sein, daß der Chef irgendeinen andern Wunsch hatte, und deshalb schlief Plumpudding nicht. Den andern Eckplatz hatte der Expeditionsarzt inne, der Franzose Gaston von Montfort, Graf von Darifant-Croy, Ehrenritter des Souveränen Maltheserordens. Weshalb er nicht schlief, war nicht ersichtlich. Aber er war, seitdem sie sich auf ihrem Fluge Europa genähert hatten, immer nachdenklicher geworden, und obwohl sie sich nun von Europa wieder entfernten, schien er von schweren Gedanken noch nicht frei zu sein. Keiner seiner Kameraden wußte übrigens, warum er aus Frankreich weggegangen war und es vorzog, sich als Expeditionsarzt der UT-Company in den entlegensten Teilen der Erde herumzutreiben. Daß aber sein Nachbar nicht schlief, wird jeder verstehen. Cyprian Bombardon, ein gebür-336-
tiger Marseiller und Kriegskamerad des Grafen, war der Expeditionskoch. Daß er nur »Neunauge« genannt wurde, rührte daher, daß es sein einziger Wunsch war, in Paris ein »Bistro«, eine kleine Kneipe »Zum vergnügten Neunauge« aufzumachen. Nur war er immer noch nicht dazugekommen, weil er es nicht übers Herz brachte, den Grafen allein zu lassen. Jedenfalls sagte er das – es gab allerdings noch einen weiteren Grund, weshalb ihm die Rückkehr nach Paris ebenso wünschenswert wie bedenklich schien. Jetzt freilich nahmen ihm ganz andere Gedanken den Schlaf: er hatte eine neue Idee, eine fabelhafte Idee, die ihn so elektrisierte, daß an Schlaf nicht zu denken war. Es wurde hell, Afrika tauchte auf, rötlichgelb lag der neue Erdteil da, einsam, ja wie in trostloser Verlassenheit. Dürftige Dorngehölze, dann Tamarindenbäume, die über zwanzig Meter hoch waren, aber von oben nicht größer als Streichhölzer aussahen. Palmen, Kamele. Es war, als flögen sie durch einen glühenden Ofen. Der Chef rechnete: Wie lange würde es dauern, bis ihr fünfter Mann, der Dr. Peter Geist, sie in Rio de Janeiro eingeholt hatte? Er war mit seinem Begleiter in Indien zurückgeblieben, weil er erst noch für den jungen Inder sorgen mußte, der ihnen auf ihrer letzten Expedition in das unbekannte Kafiristan so vorzügliche Dienste geleistet, der ihnen über-337-
haupt das Leben gerettet hatte.*
(* Dieses Abenteuer ist im Kranz-Band I erzählt. Das Buch hat den Titel: »In
Der Chef schätzte den Deutschen überaus, der mit seiner beispiellosen Sprachbegabung und seinen wissenschaftlichen Kenntnissen eigentlich das wichtigste Mitglied ihres Teams war. Der »Große Geist«, wie er halb bewundernd, halb spöttisch genannt wurde, führte seinen Beinamen wirklich zu Recht – allerdings kürzten sie die anspruchsvolle Bezeichnung mit dem farbloseren GG ab. »Was lächeln Sie so erheitert, Chef?« fragte der Graf. »Mußte mir was Komisches vorstellen«, sagte der Engländer. »Sie und ich stehen am Flughafen von Rio, und da kommt die Maschine angebraust, in der GG und Figur sitzen. Die beiden klettern heraus. ›Hallo, GG‹, sage ich, ‘was wollen Sie denn hier?‹ – ›Na, wir müssen doch die Kinder aus dem Urwald holen!‹ sagte er. ›Völlig überflüssig‹, sage ich. ›Haben der Graf und ich schon besorgt!‹« »Sehr nett«, sagte der Graf, »nur sehr unwahrscheinlich!« »Wieso?« fragte der Chef. »Sie sehen, – traue Ihnen einiges zu.« »Viel zu viel, Chef, viel zu viel.« »Kann das nicht leiden, daß Sie sich so unterschätzen, Graf. Gebe zu: GG weiß viel, was ich nicht weiß, und einiges, das auch Sie nicht wissen. Aber Kinder aus dem Urwald holen, ist den Klauen des Ungenannten«.)
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keine wissenschaftliche Aufgabe. Zupacken – und die Sache ist erledigt. Das bringen wir beide ganz allein hin, Graf.« »Wirklich, nett von Ihnen«, sagte der Graf. »Wetten, daß ich Recht habe?« »Chef, Sie haben kein Glück mit Ihren Wetten. Bei unsrer letzten Sache in Afghanistan haben Sie gewettet, daß der nette Inderjunge nicht hasenrein sei – und die Wette haben Sie glatt verloren.« »Würde diesmal hundert zu eins gewinnen«, sagte der Chef. Das Flugzeug senkte sich. Sie waren in Dakar. Furchtbar die Sonnenglut. Auf den Hafenkais Berge von Erdnüssen, in dem grauen Meer kleine Boote mit gelben oder purpurroten oder rosa Segeln – und ihr Flugzeug, das in der Luft einem mächtigen Geier gleicht, liegt jetzt auf dem Wasser wie ein mißgelaunter Haifisch. Dann hebt es sich wieder, der Flug geht weiter, und Neunauge träumt weiter, wie er schon seit Lissabon geträumt hatte, wo eine Amerikanerin ins Flugzeug gekommen war, die einen Photoapparat umhängen hatte. Daß ihm das nicht schon eher eingefallen war! Das nämlich war die großartige Idee: er würde sich sofort in Rio eine Kamera kaufen, und wenn sie dann im Dschungel die Kinder suchten, würde er nicht nur für die Expedition kochen, sondern er würde für sich photographieren. Selbstverständlich verstand er etwas davon. Er hatte doch als Junge genug geknipst! -339-
Allerdings hatte er seinen Apparat sehr bald gegen ein Luftgewehr vertauscht, denn er war auch ein leidenschaftlicher Schütze, aber so etwas verlernt man so wenig wie schwimmen. Das würden vielleicht Aufnahmen! Krokodile im Amazonas, wie sie sich auf Wasserschweine stürzten und sie zerrissen. Es mußte doch eine Kleinigkeit sein, mit irgendwelchem Aas einen Jaguar anzulocken und ihn dann auf den Film zu bekommen! Und die Geier! Und die Wilden! Mit diesen Bildern, auf fünfzig mal fünfzig vergrößert, würde er die Wände in seinem Bistro »Zum vergnügten Neunauge« schmükken. Das war eine Sensation! So etwas gab es in ganz Paris nicht! In seine Träume donnerten die Motoren. Von Dakar bis Natal, zur Hauptstadt des brasilianischen Staates Rio Grande do Norte, 3040 Kilometer quer über den Atlantik. Weiter bis Bahia 961 Kilometer und dann noch einmal tausend Kilometer – und sie sahen Rio de Janeiro vor sich, die schönste Stadt der Erde. Wilde Bergketten sehen aus wie ungeheure Wellen, die plötzlich, ehe sie sich überschlugen, zu Stein wurden. Himmel und Erde fließen in einem märchenhaften Türkisblau zusammen, Bucht an Bucht öffnet sich, und in drei mächtigen Brandungswellen rauscht der Ozean gegen die Küste und ihren Strand. Da der Zuckerhut-Berg, wie ein ungeheurer Zahn, und da, auf dem Corcovado, dem buckligen -340-
Berg, ein großes Kreuz – nein, jetzt sind sie näher gekommen, jetzt sehen sie, daß es kein Kreuz, sondern die Statue des segnenden Christus ist, der seine Arme weit ausbreitet, als segne er diese Stadt, dieses Land, diesen Erdteil, diese ganze Welt. Die Leuchtschrift glüht auf: BITTE ANSCHNALLEN! BITTE BLEIBEN SIE SITZEN! Das Flugzeug senkt sich, und je tiefer es sinkt, desto mehr steigt die Christusgestalt wieder in die Höhe. Jetzt setzen sie auf dem Wasser auf. Sie sind im Flughafen der Ilha dos Ferreiros, sie sind in Rio de Janeiro angekommen. »Herr Graf«, sagt Neunauge, »was heißt Rio?« »Fluß«, ist die Antwort. »Wieso heißt die Stadt nach einem Fluß – es war doch überhaupt kein Fluß zu sehen?« Der Graf zuckt die Achseln. »Und was heißt Janeiro?« fragt Neunauge weiter. »Das weiß ich auch nicht«, sagt der Graf und setzt hinzu: »Sehen Sie, Chef – schon kann ich nicht weiter, weil GG nicht da ist! Der hätte alles sofort beantwortet.« »Kunststück«, sagt der Chef. »Sehe im Reiseführer nach. Steht alles drin. Halte nach wie vor meine Wette. Bieten Sie dagegen oder nicht, Graf?« »Es ist mir nicht gegeben«, sagt der Graf, »jemand einen Spaß zu verderben. Wenn Sie -341-
wieder eine Wette verlieren wollen – meinetwegen!« »Werden mir dankbar sein«, sagt der Chef, »daß ich Ihr Selbstbewußtsein steigere. Also abgemacht: ich wette, wir holen die Kinder ohne GG!« »Ich wette dagegen: das glückt uns nicht!« »Worum geht die Wette?« fragt Plumpudding sachlich. Daran hat weder der Chef noch der Graf gedacht. »Um einen Männerwitz«, sagt der Chef. »Um die Einsicht«, sagt der Graf.
Zwölf Gewehre gegen vier Pistolen Der Mann, der sich zum Piloten der »Eldorado« gemacht hatte, konnte nicht länger nach einem besonders guten Landungsplatz suchen. Der Treibstoff ging zu Ende; die Maschine hätte ja in Belém tanken sollen. Er wurde nervös. Mit letzter Energie hielt er auf einen einigermaßen freien Fleck zu. Er stellte die Motoren ab. Dann gab es einen schrecklichen Ruck. Die Passagiere fanden sich plötzlich auf dem Boden des Flugzeugs mit heftigen Beulen und schmerzenden Gliedern. Es lag schief – aber sie konnten von Glück sagen, denn um -342-
ein Haar hätte sich die Maschine noch überschlagen. Schließlich, nachdem sie über sehr unebenen Boden gerumpelt und gebockt hatte, war sie gegen eine Wand von Bussupalmen geprellt, die Propeller krachten und splitterten, und mit schrillem Gekreisch flog eine Unzahl erschreckter Papageien aus dem Walddickicht auf. Die Affen hatten sich schon schreiend davongemacht, als der unheimliche Riesenvogel heruntergekommen war. Er hielt auf einer Lichtung, einer sogenannten Roça, wie jung gerodete Waldstücke hier heißen. Die Menschen aber, die sie einmal durch Abbrennen des Waldes gewonnen hatten, waren längst wieder verschwunden. Nur einige Bananenbäume bezeugten, daß sie einmal hier gewesen waren, denn die köstliche Frucht ist ja in Südamerika nicht heimisch. Es war kurz vor Sonnenuntergang, als das vorläufige Ende dieser unvorhergesehenen Reise erreicht war. Aber von den Reiseteilnehmern hatte niemand Lust, das unerhörte Purpurrot zu bewundern, mit dem die sinkende Sonne den Himmel übergoß. Die Kinder allerdings wären noch am ehesten dazu bereit gewesen, jedoch waren sie so gespannt, wie dieses Abenteuer sich nun weiterentwickeln würde, daß sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Vorgänge im Flugzeug konzentrierten. Es stellte sich heraus, daß die vier Verbrecher, denen man den allerdings etwas zweifelhaften Ruhm zubilligen muß, die ersten Flugzeugpira-343-
ten in der Geschichte der Luftfahrt zu sein, sich auf ihr Unternehmen umsichtig vorbereitet hatten. Aus ihren Handkoffern hatten sie Kerzen herausgeholt, und als nun die Dunkelheit mit einem Schlage hereinfiel, war das Innere dieses schiefliegenden Urwaldhauses mit deren flackerndem Licht erhellt. Sie gaben auch der Stewardeß eine Kerze, und die hübsche junge Person, deren schnittige Uniform nun auf einmal ganz fehl am Platz erschien, versorgte die Anwesenden mit einem improvisierten, aber guten Essen, denn dazu reichten die Vorräte noch aus. Der Herr mit dem Leberleiden aß wenig, die ältere Dame so gut wie nichts, ihre Tochter begnügte sich mit drei belegten Weißbrotscheiben, aber die Lufträuber (welches neue Wort wir wohl dem »Seeräuber« nachbilden dürfen) und die Kinder zeigten sich bei bestem Appetit. Es war merkwürdig – so verdrossen und mißmutig sie beim Abflug inmitten aller Möglichkeiten der Zivilisation gewesen waren, so munter, angeregt und voller Erwartungen waren sie jetzt, wo sie doch ein Schicksal zu erwarten schien, das man niemand wünschen möchte. »Es steht den Passagieren frei, das Flugzeug jederzeit zu verlassen«, verkündete der Wortführer der vier Räuber höflich, als alle mit dem Essen fertig waren. Aber niemand hatte Lust, die vorläufig noch so sichere Unterkunft gegen die Unbilden und Gefahren einer Nacht im Urwald zu vertauschen, und so machten sich -344-
Räuber und Beraubte daran, so gut es ging, sich ein Lager zum Schlafen herzurichten. Die Stewardeß brachte herbei, was sie an Decken hatte, wobei die Räuber keineswegs anspruchsvoll waren, sondern darauf bestanden, daß die Damen und die Kinder bevorzugt würden. Trotzdem hörte man, als die Kerzen ausgeblasen waren, die ältere Dame leise vor sich hinjammern. Aus dem Sessel, in dem es sich der Herr mit dem Leberleiden bequem gemacht hatte, kam bald ein deutliches Schnarchen, wogegen indessen einer der Räuber empfindlich war. Man hörte ein leises Tappen, dann wurde der Schlafende angestoßen, und das Schnarchen hörte wieder auf. Die Sessel waren, wenn man ihre Polster herauszog, so breit, daß die Kinder nebeneinander liegen konnten. Sie schliefen noch nicht. Sie lauschten. Nichts war zu hören. Kein Papagei kreischte mehr, kein Affe schrie, nur ein leises Rauschen ging dann und wann über die Baumwipfel hin und verebbte wieder. »Du, Mario«, flüsterte Graziella ihrem Bruder zu, »jetzt sind wir im Dschungel!« »Ja«, antwortete er. »Schöner können wir es uns gar nicht wünschen«, sagte sie. »Nein«, sagte er. »Hör nur, wie herrlich still es ist«, sagte sie. In dem Augenblick erscholl ein Schrei, ein -345-
entsetzlich scharfer, durchdringender Schrei. Man konnte nicht sagen, ob das ein Mensch war, der so schrie – jedenfalls war es eine Kreatur, die da in Todesnot aufgeschrien hatte. Gleich darauf ein wildes Brüllen. Affen kreischten, aus dem Schlaf geschreckt, und ganze Vogelkolonien antworteten schrill. Dann war wieder alles still, und die Stille schien jetzt noch tiefer als vorher. »Ein Jaguar hat vielleicht einen Tapir gerissen«, sagte Graziella. »Oder ein Bisamschwein«, sagte Mario. »Prima, was?« sagte Graziella. »Primissima«, sagte er. Aber in Gedanken war er ganz woanders. Er hörte an ihrem gleichmäßigen Atem, daß sie schon schlief. »Wie bringe ich sie nur wieder nach Haus?« dachte er. Aber ehe er darauf eine Antwort gefunden hatte, war auch er eingeschlafen. Mit einem zitronengelben Streifen in einem fahlgrünen Himmel kündigte sich die Sonne wieder an. Die vier Räuber verschwanden im Packraum. Als sie wieder erschienen, hatten sie sich erheblich verändert. Die Eleganz, mit der sie das Flugzeug betreten hatten, war fort, sie hatten zerschlissene Hemden und abgetragene Hosen an. Aus ihrem aufgegebenen Koffer hatten sie sich die Tracht wieder herausgeholt, die ihnen eigentlich angemessen war und an der man sah, wer sie waren – enttäuschte Garimpeiros, Diamantensucher, die es satt hatten, sich in mühseliger Arbeit abzu-346-
schinden, bis sie ein unverhoffter Fund unerhört reich machte. Jetzt hatten sie alles auf eine Karte gesetzt. Da unter ihnen ein gescheiterter Flugzeugführer war, hatten sie sich die Diamanten aus der Luft geholt. Und war das nicht gut gegangen? Sie kannten sich aus, wie man sich durch die Dschungel des brasilianischen Urwaldes schlug. Da sollte sie einmal jemand finden! Erst würden sie einmal völlig untertauchen, und wenn es auch lange dauerte, bis sie an die Grenzecken im Westen kamen, wo Brasilien mit Kolumbien und Peru zusammenstößt – sie waren Entbehrungen gewohnt. Wirklich, war es gut gegangen? Und die beiden Schüsse auf den Flugzeugführer und den Funker? Hatten sie ihre Diamanten jetzt nicht aus Menschen geholt und mit zwei Morden bezahlt? Senhor, die Toten findet niemand! Die sind rechtzeitig über Bord gegangen – die haben die Krokodile gefressen oder die Piranhas! Die tun uns nicht mehr weh, die Toten! »Herrschaften«, sagte der Mann, der als einziger von ihnen redete, »wir werden Sie jetzt verlassen. Kommen Sie gut nach Hause! Bons dias!« »Und was wird aus uns?« schrie die Mutter der Tochter verzweifelt. »Regen Sie sich nicht auf, Senhora«, sagte der Mann. »Was meinen Sie denn, wie die verschwundene Maschine gesucht wird! Sie werden gefunden, Sie kommen in die Zeitun-347-
gen, und machen Sie sich rechtzeitig hübsch, denn Sie kommen bestimmt in die Wochenschau!« Die andern hatten schon das Flugzeug verlassen, er ging jetzt als Letzter. Eben war er aus der Türöffnung hinabgesprungen, als der Diamantenhändler, der unverwandt zu seinem Fenster hinausgesehen hatte, zur Tür rannte, sie zuschlug und verriegelte. Im selben Augenblick; hörte man draußen den Ruf: »Hände hoch!« Die vier Räuber dachten nicht daran. Sie warfen sich in das hohe Gras. Da krachte aber auch schon eine Salve. »Von den Fenstern weg«, rief der Diamantenhändler. Alles kauerte sich auf den Boden. »Haben Sie gehört, meine Damen«, sagte er weiter, »das waren mindestens zwölf Schüsse – das heißt also zwölf Gewehre. Es steht zwölf gegen vier! Sie werden die Kerle kleinkriegen!« »Ist das schon die Polizei?« flüsterte die Dame. Der Diamantenhändler war höflich genug, nicht zu antworten: »Reden Sie nicht solchen Unsinn! Wie soll Polizei in den Urwald kommen!« Nein, er sagte: »Ich glaube nicht. Aber ich sah, wie sie das Flugzeug von allen Seiten umstellten.« Jetzt knallten die Smith-Wesson-Pistolen der angegriffenen Vier. Gleich darauf kam wieder -348-
eine Salve von Gewehrschüssen. »Das geht auf Leben und Tod«, sagte der Diamantenhändler. »Mario«, flüsterte Graziella ihrem Bruder zu, »wenn das Männer sind, die uns nach Hause bringen wollen, gehen wir einfach in den Urwald!«
Die Auskunft ist nicht erschöpfend Das Taxi, das der Chef und der Graf sich genommen hatten, hielt wie gewünscht vor der Nummer 235 der Avenida Rio Branco, und der Fahrstuhl brachte sie in den vierten Stock, wo der Anwalt Juan Carzal seine Büroräume hatte. Sie hatten sich telefonisch angemeldet und wurden sofort in sein Arbeitszimmer geführt. Sie machten sich miteinander bekannt, – aber wir kennen ihn schon, denn er ist der bewegliche Herr, der Graziella und Mario mit an die »Eldorado« gebracht hatte. »Meine Herren«, sagte er, nachdem sie in großen Klubsesseln Platz genommen hatten, »ich bin glücklich, daß Sie sofort hierhergekommen sind, aber ich muß Ihnen auch sagen, Sie kommen keine Stunde zu früh. Sie sind über den Fall unterrichtet?« Der Chef nickte. Er fand das als Antwort ausreichend. -349-
»Wir haben die Zeitungen gelesen«, sagte der Graf. »Die Zeitungen!« rief der Anwalt in einem Gemisch von Empörung und Verzweiflung aus. Er sprang wieder aus seinem Sessel auf und rannte in dem großen Raum auf und ab. »Was wissen denn die Zeitungen?! Entweder sind die Nachrichten, die sie bringen, falsch. – oder wenn sie richtig sind, so sagen sie nichts über die Hintergründe der Vorfälle, und, meine Herren, allein die Hintergründe sind von Wichtigkeit!« Er war wieder in seinem Klubsessel gelandet. »Meine Herren«, sagte er, »ich bin über die Unternehmungen der Company Ubique Terrarum genau unterrichtet. Ich weiß, Sie haben schon das Unmögliche möglich gemacht. Aber Sie müssen sich über eins klar sein: Sie stehen hier vor der schwierigsten Aufgabe Ihres Lebens!« Die Wirkung seiner großartigen Ankündigung war gering. Der Chef nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte: »Tatsachen, bitte.« Das war alles. Dann steckte er die Pfeife wieder zwischen die Zähne. Auch der Graf zeigte keine Spur von Erschütterung; sein aristokratisch feines Gesicht behielt den leicht amüsierten Zug, der ihm eigen war. »Gut«, sagte der Anwalt. »Also die Tatsachen!« Aber wieder hielt es ihn nicht in seinem Klubsessel. Er sprang auf, rannte auf und ab und gab seinen Bericht mit heftigen Arm-350-
bewegungen, so daß die Szene, hätte sie der Stummfilm gebracht, beim Beschauer unfehlbar den Eindruck erweckt hätte, hier deklamiere ein aufgeregter Mime ein Heldengedicht. »Meine Herren«, so begann er, »Mittwoch, den sechsten dieses Monats, morgens früh um 8 Uhr 30, habe ich mich in eigener Person davon überzeugt, daß die beiden noch nicht mündigen Kinder Graziella und Mario Castaneda das Flugzeug ›Eldorado‹ bestiegen und daß es fahrplanmäßig den Flughafen verließ. Der nächste Platz, wo es wieder niederzugehen hatte, war Belém. Dort wurden die beiden Kinder von Senhora Carlota Saraiva erwartet, ihrer Tante väterlicherseits. Ich war an diesem Tage außerordentlich beschäftigt, und zwar außerhalb Rios. Als ich abends spät zurückkam, nahm ich an, ich würde hier ein Telegramm aus Belém vorfinden, das, wie verabredet, die Ankunft der Kinder bestätigte. Das Telegramm war aber nicht da, statt dessen war während meiner Abwesenheit, wie ich jetzt hörte, von Belém aus mehrmals angerufen worden, das Flugzeug sei überhaupt nicht gekommen, was ich selbstverständlich für krassen Unsinn hielt, denn ich hatte doch mit eigenen Augen gesehen, wie es nach Belém abgeflogen war. Zur Sicherheit aber rief ich noch die Panair an und erhielt den Bescheid, Port of Spain habe mitgeteilt, die ›Eldorado‹ müsse sich in Belém verspätet haben. Verspä-351-
tet, meine Herren, ist etwas anderes als ›nicht angekommen‹. Die Dame hatte also, wie ich denken konnte, die Kinder einfach verfehlt. Auch das war noch ernst genug, meine Herren. Ich flog am andern Morgen sofort nach Belém – und hier hörte ich, was dann auch die Morgenzeitungen brachten, die Funkmeldung aus Port of Spain beruhe auf einem Irrtum, die ›Eldorado‹ sei tatsächlich nicht in Belém eingetroffen.« Die leicht erheiterte Miene war aus dem Gesicht des Grafen verschwunden. »Kann die Maschine nicht aus irgendeinem Grunde einen andern Flughafen angeflogen haben?« »Die Fluggesellschaft hatte die Hoffnung«, erwiderte der Anwalt, »sie sei vielleicht in Guyana notgelandet – aber auch das erwies sich als falsch.« Er hatte sich in eine solche Hitze geredet, daß er sich die Schweißtropfen von der Stirn wischen mußte. »Haben Sie eine Passagierliste des Flugzeugs?« fragte der Chef. »Nein«, antwortete der Anwalt empört, »die habe ich nicht, und die brauchen Sie auch nicht, denn wer sonst noch daringesessen hat, ist für uns völlig uninteressant, uns gehen hier nur die beiden Kinder an!« Darauf sagte der Chef nichts. Er dachte nach. »Meine Herren, das Flugzeug ist verschwun-352-
den. Mehr als siebzig Flugzeuge haben es bis jetzt gesucht, aber vergeblich. Die Maschine liegt irgendwo im undurchdringlichen Dschungel. Eine Rettungsexpedition der Regierung ist aufgebrochen, und zwar hat sich der Major Carreo mit einer Truppe brasilianischer Fallschirmjäger in Cupeja stationiert. Cupeja liegt hier, meine Herren –« Der Anwalt führte sie an eine große Karte Brasiliens, die an der Wand hing und hier offenbar erst aufgehängt war, seitdem das Flugzeug verschwunden war, denn einige Bilder, die sonst wohl hier ihren Platz gehabt hatten, standen in der Ecke auf dem Fußboden. Die beiden Männer sahen ein Gewirr von Strömen und Flüssen, sie sahen auch einen winzigen Punkt, nicht größer als ein Stecknadelkopf, um den mit Rotstift ein Kreis gezogen war, und sie lasen, in einer ebenso winzigen Kursivschrift, den Namen »Cupeja«. Der Chef sah, langsam an seiner Pfeife ziehend, auf diesen Punkt; der Graf aber sah, daß auf dieser Karte sehr viele weiße Flecken waren, und er las, was darin in Großbuchstaben quer hineingedruckt war: UNERFORSCHT oder VON WEISSEN NOCH NICHT BETRETEN… »Wieso glaubt der Major«, sagte der Chef langsam, »ausgerechnet von diesem verlorenen Nest Cupeja her das Flugzeug zu finden?« »Das weiß ich nicht«, sagte der Anwalt, »das ist seine Sache.« »Dann muß er doch im Besitz einer Nachricht -353-
sein, auf die hin er vermutet, von Cupeja aus das Flugzeug erreichen zu können!« »Das leuchtet ein«, sagte der Graf. »Wozu sollen wir dann noch das Flugzeug suchen?« fragte der Chef weiter. »Offenbar weiß er, wo es liegt – er wird es also erreichen. Was sollen wir dann noch dabei?« Der Anwalt rang nach Luft. Alles in ihm drängte, wie ein Vulkan auszubrechen. Aber er bezwang sich. Er hatte das Gefühl, diesem kühlen Engländer gegenüber seiner Natur Gewalt antun zu müssen, um weiterzukommen. »Meine Herren«, sagte er ganz beherrscht und leise, »Ihre Aufgabe ist, vor der Rettungsexpedition des Majors das Flugzeug zu erreichen!« Der Chef nahm die Pfeife aus dem Mund, und der Graf dachte: »Jetzt wird es aber interessant!« »Meine Herren«, sagte der Anwalt, nachdem sie sich auf seine einladende Handbewegung wieder gesetzt hatten, »Sie sehen die Schwierigkeit Ihrer Aufgabe darin, das verschwundene Flugzeug zu erreichen. Aber ich sage Ihnen, die eigentliche Schwierigkeit beginnt erst, wenn Sie es erreicht haben. Mit dem Dschungel werden Sie fertig, das weiß ich, das verbürgt mir Ihre Firma. Aber Sie müssen auch mit den Kindern fertig werden!« »Versteh ich nicht«, sagte der Chef. »Wenn wir das Flugzeug finden, bringen wir die Pas-354-
sagiere und die Kinder, soweit sie noch leben, zurück. Einfache Sache.« »Meine Herren«, stöhnte der Anwalt, »die Kinder wollen nicht zurück. Sie werden, sobald sie merken, daß sie von Ihnen zurückgebracht werden sollen, im Urwald verschwinden!« Der Chef hatte das Gefühl, mit einem Mann zu sprechen, der reinen Unsinn redete. Aber der Graf fragte voll Verständnis: »Haben die beiden etwas ausgefressen?« Der Anwalt winkte wehmütig ab. »Meine Herren, wenn es so einfach wäre, hätten wir selbstverständlich die Bemühungen des Majors abwarten können. Meine Herren, es sind Millionärskinder. Sie haben alles haben können und alles gehabt, was ihnen ihr Vater, der sie unbeschreiblich liebt, hat verschaffen können.« »Und ihre Mutter?« fragte der Graf. »Ihre Mutter ist nicht interessant. Sie ist gestorben, als die Kinder zehn Jahre alt waren. Aber wie gesagt, es hat ihnen nichts gefehlt, gar nichts. Und nun stellen Sie sich vor – da ruft mich die Dame, welcher der Vater die Erziehung der Kinder anvertraut hat, aufgeregt an. Sie hat entdeckt, daß die Kinder heimlich die Flucht in die Wildnis vorbereiteten! Die ist bei uns nicht weit, wie Sie vielleicht nicht wissen – jetzt sind Sie in der Avenida Rio Branco, sie nimmt es an Eleganz und Glanz mit allen Hauptstädten der Welt auf –, und eine halbe Stunde weiter weg beginnt der Urwald. So ist -355-
das bei uns. Sie können sich denken, daß da etwas geschehen mußte. Ich setze mich mit ihrer Tante in Belém in Verbindung. Die Dame ist selbstverständlich bereit, die Kinder bei sich aufzunehmen –« »Und der Vater?« fragte der Graf. »Senhor Castaneda ist sehr beschäftigt«, sagte der Anwalt. »Er hält sich in New York und Washington auf. Er hat weitreichende politische Pläne. Sie wissen vielleicht, daß der brasilianische Bundespräsident im nächsten Jahr neu gewählt wird, und wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich wird es Senhor Castaneda sein.« »Aber er weiß, daß seine Kinder verschwunden sind?« fragte der Graf. »Man muß ihm jetzt jede Ablenkung von seinen schwierigen politischen Verhandlungen ersparen«, sagte der Anwalt. War das eine Antwort? »Sie haben vom Vater den Auftrag, die Kinder suchen zu lassen?« fragte jetzt der Chef. »Ich nehme die Interessen Senhor Castanedas wahr«, sagte der Anwalt. Der Chef und der Graf tauschten einen Blick. Der Mann wich bestimmten Fragen aus. Hier war etwas unklar… Um so lebhafter redete der Anwalt darüber hinweg. »Meine Herren«, sagte er, »aus ganz besonderen Gründen habe ich mich an Ihre Firma gewandt. Es ist mir zu gefährlich, Einheimi-356-
sche in diese Hintergründe einzuweihen. Denn wenn die Gegenpartei erfährt, daß die Kinder des Mannes, der Bundespräsident werden will, aus seinem Hause fliehen wollen, dann wird das gegen ihn in der wildesten Weise ausgeschlachtet. Sie wissen, in einem Wahlkampf kennt man keine Rücksicht.« »Sie ist auch sonst unter Menschen selten«, erwiderte der Graf und fuhr dann mit seinem leicht ironischen Lächeln fort: »Sie haben uns in dankenswerter Weise über alles sehr gut unterrichtet. Aber eins haben Sie uns bis jetzt noch nicht gesagt: Weshalb wollten denn die Kinder von zu Hause fort in die Wildnis?« Der Anwalt zuckte die Achseln. »Sie wollten fliehen«, sagte er. »Das genügt mir.« Er blickte den Chef an, der überhaupt nichts mehr gesagt hatte. Er sah in dessen Gesicht einen gelangweilten Zug, als könne der Engländer das alles nicht recht ernst nehmen. »Meine Herren«, sagte er eindringlich, »vielleicht sind hier Fehler begangen worden, aber Sie würden neue Fehler begehen, wenn Sie diese beiden Kinder unterschätzten. Ich sagte Ihnen, diese Millionärskinder haben gehabt, was sie sich nur wünschen konnten. Sie sind ausgezeichnete Reiter – beide, der Junge und das Mädchen. Sie schießen wie die Teufel – beide, der Junge wie das Mädchen. Sie haben die lingua geral gelernt –« Er merkte, daß die beiden Besucher nicht verstanden, was das hieß. -357-
»Das ist, meine Herren, die Mischsprache aus Portugiesisch und Indianisch, die hier seit dem 17. Jahrhundert floriert. Auf ihren Wunsch hat ihr Vater, der ihnen, wie gesagt, nichts abschlug, sie in Tupi und Guarani unterrichten lassen –« Er stockte. Sie hatten die Unterredung in Englisch geführt. »Sie sprechen doch Portugiesisch, meine Herren?« fragte er. »Nein«, sagte der Chef. »Aber wenn Sie auch die lingua geral nicht kennen, dann sprechen Sie wohl Tupi oder Guarani?« »Wir erwarten noch Dr. Geist«, sagte der Graf. »Er spricht jede Sprache.« »Dem Himmel sei Dank«, sagte der Anwalt. »Ich lebe wieder! Denn, meine Herren, hier in Rio kommen Sie natürlich mit Englisch und bei den älteren Herrschaften auch mit Französisch aus – aber im Innern hilft Ihnen nicht einmal Portugiesisch. Da reicht sogar die lingua geral nicht immer. Sie müssen bedenken – im Innern haben wir 95 Prozent Analphabeten.« Der Chef erhob sich. Ihm war die Sache klar. Der Anwalt beeilte sich, noch zu bemerken, daß die Herren bei der Banco do Brasil jede Summe abheben könnten, und gab dem Chef einen Kreditbrief. »Wie kommen wir nach Cupeja?« fragte der Chef. -358-
Der Anwalt nannte ihm eine militärische Dienststelle und deren Telefonnummer. Sie verschmähten den Fahrstuhl. Sie wollten sich etwas Bewegung machen und gingen die Treppe hinunter. »Aufgeregter Mann«, sagte der Chef. »Einfachste Sache der Welt. Fliegen nach Cupeja. Reden mit dem Major. Holen die Kinder. Hauptsache: sofort!« »Sie denken anscheinend nur an Ihre Wette«, sagte der Graf. »Wollen wir nicht doch lieber auf GGs Ankunft warten?« »Wieso?« knurrte der Chef. »Der Major spricht englisch. Genügt vollkommen.« »Chef«, sagte der Graf, »mir kann es ja nur recht sein, wenn Sie die Wette verlieren – trotzdem wende ich mich warnend an Ihre Phantasie. Bitte stellen Sie sich vor: der Major ist vielleicht nicht mehr dort. Oder nehmen Sie an, daß er mit uns nichts zu tun haben will. Weder Sie noch ich können dort mit einem Menschen reden – was soll denn dann werden? Ich meine, ohne unsern GG geht es einfach nicht!« »Meine Spezialität, Graf: Suche keine Schwierigkeiten da, wo keine sind. Haben doch gehört: sollen vor dem Major bei den Kindern sein. Sache ist lächerlich einfach, aber eilig. Können nicht warten.« Während der Chef und der Graf mit dem Anwalt verhandelten, waren Neunauge und -359-
Plumpudding dabei, sich mit Senhor Mizquia, dem Besitzer des Photographengeschäfts in der Rua dos Andradas, auseinanderzusetzen, wo Neunauge sich einen Photoapparat erstehen wollte. Zum Glück sprach der Brasilianer Englisch, und so konnte Plumpudding helfen, denn Neunauge sprach nur sein Französisch, und das noch mit erheblich Marseiller Klangfarbe. Er hatte zuerst nach französischen Apparaten verlangt, jedoch zu seinem Bedauern erfahren müssen, daß sie auf dem Weltmarkt keine Rolle spielten. So hatte er die Wahl zwischen einem Eastmann Kodak und einem deutschen Erzeugnis, und da tat es ihm eine reizende Rollfilmkamera Cocarette an, sechs mal neun, gar nicht teuer, 27 Dollar umgerechnet (denn auf die verwickelte brasilianische Währung ließ er sich erst gar nicht ein). »Ist der Apparat auch tropenfest?« fragte Plumpudding, umsichtig und überlegend, wie er war. »Tropenfest«, sagte Senhor Mizquia, »nein, tropenfest ist die Cocarette nicht, aber da hätten wir hier unbedingt das Richtige!« Er brachte eine Contessa-Nettel auf den Ladentisch, einen ausgezeichneten Apparat, neun mal zwölf, und pries dessen Qualität: »Sehen Sie, Senhoras – aus Teakholz, Sie wissen, das ist so gut wie unzerstörbar, dem Insektenfraß nicht ausgesetzt, außerdem ist die Filmpakkung für die Tropen mit Stanniol verlötet –« »Kostenpunkt?« fragte Neunauge. -360-
Senhor Mizquia sagte leichthin, als lohne es nicht, über eine solche Bagatelle zu reden: »136 Dollar«. Aber Neunauge begriff sehr gut, daß das fünfmal soviel war wie bei der Cocarette, die ihm so gut gefiel. »Das ist ein Apparat für Millionäre!« schrie er auf. »Immerhin«, sagte Plumpudding, »Teakholz! Ameisensicher!« »Hier, die Cocarette ist aus Metall«, sagte Neunauge empört. »Ich habe noch nie gehört, daß Ameisen Metall fressen!« »Bedenken Sie, Senhor«, flötete Senhor Mizquia, »die Contessa-Nettel ist absolut rostfrei – was sage ich: wasserdicht!« »Ich habe nicht die Absicht, unter Wasser zu photographieren«, sagte Neunauge ablehnend. »Wie ist das mit dem Balgenleder?« fragte Plumpudding. »Bei der Tropenkamera selbstverständlich imprägniert!« sagte Senhor Mizquia eifrig. »Lächerlich«, sagte Neunauge. »Den Augenblick, wenn ich knipse, werden sich gerade die Ameisen auf das Balgenleder stürzen, und nachts, wenn ich schlafe, mache ich den Apparat doch zu!« Nein, er ließ sich nicht von diesem ausgekochten Brasilianer hereinlegen, Plumpudding konnte für den Tropenapparat sagen, was er wollte. Er bezahlte die Cocarette und alles, -361-
was dazugehörte, und verließ den Laden mit Siegermiene. »Der muß früher aufstehen, wenn er mit einem Marseiller fertig werden will«, sagte er befriedigt zu Plumpudding, als sie draußen standen. »Der wollte mir nur seinen teuersten Ladenhüter aufhängen!« Und dann sah er sich nach einem Objekt für die erste Aufnahme um – Straßenleben in Rio de Janeiro –, und was er suchte, sprang ihm geradezu in die Augen: eine Trambahn wie hier hatte er überhaupt noch nicht gesehen. Da kam sie wieder an, mit zwei Anhängern – nach allen Seiten offen, ein uraltes Modell wie aus einem prähistorischen Museum, rasselnd und lärmend, daß in der Nacht verzweifelte Schläfer sie noch bis in den zehnten Stock der Hochhäuser hören mußten. Sie donnerte heran, als sei sie die Vorbotin des Jüngsten Gerichts. Sie hatte keine Farbe mehr und Türen nie besessen. Die Menschen sprangen einfach auf die Trittbretter, und dann waren sie drin oder doch dran – denn sie hingen in wahren Trauben an den vorsintflutlichen Wagen, und sauste ihnen ein Auto entgegen, so preßte sich die ganze Menschentraube angstvoll zusammen, damit keiner von ihnen abgequetscht wurde. Aber über sie hin, unter ihnen weg balancierte der Schaffner, der das Fahrgeld einsammelte, und führte dabei ständig akrobatische Leistungen aus, die in jedem Zirkus der Welt stürmischen Beifall gefunden -362-
hätten. Wie jeder echte Artist vollbrachte der arme Kerl sie mit heiterem Lächeln… »Das muß auf die Platte!« rief Neunauge begeistert aus, machte den Apparat fertig und hielt ihn, auf das einzigartige Vehikel gerichtet, vor sein Auge. Knips – und im selben Augenblick schlug ihm jemand auf den Arm, daß ihm um ein Haar die eben gekaufte Kamera zu Boden gefallen wäre. Drei Kerle, von denen keiner Schuhe an den Füßen hatte, fuchtelten um ihn herum und schrien auf ihn ein. Als leidenschaftliche Bewohner der schönsten Stadt dieser Erde waren sie empört, daß er ausgerechnet die elende Trambahn knipsen wollte – konnte dieser estrangeiro nicht eine der vielen Herrlichkeiten der Stadt photographieren, den Catete-Palast zum Beispiel oder die Kathedrale, wo der Entdecker Brasiliens begraben liegt, oder die Herrlichkeiten des Botanischen Gartens? Da schrien sie aufgeregt, aber davon verstand Neunauge kein Wort. Er mußte denken, diese wilden Männer hätten es auf seinen funkelnagelneuen Apparat abgesehen, und da gab es für ihn kein Pardon. Von einem Kinnhaken gezeichnet, taumelte der Mann weg, der ihn auf den Arm geschlagen hatte. Den zweiten setzte er durch einen Kniestoß gegen den Magen außer Gefecht – aber das verschob für die Zuschauer, die interessiert stehengeblieben waren, die Diskussion ganz und gar. Der dritte Kerl nämlich, der sich vorsichtig abgesetzt hatte, schrie wild: »Zeigt dem Rauf-363-
bold aus dem verdammten alten Europa, daß die Bewohner der freien Neuen Welt sich nicht fürchten!« Von dieser aufreizenden Parole angefeuert, stürzten sich mehr wilde Männer auf Neunauge, so daß er mit dieser Übermacht unmöglich fertig werden konnte. Das hatte Plumpudding sofort erkannt. Sich in das Gewühl werfen, um den Kameraden herauszuhauen, war aussichtslos. Den aufgeregten Leuten gut zuzureden, war ebenso unmöglich, noch dazu verstand Plumpudding ja kein Portugiesisch. Aber er als Ire war ein Mann von Phantasie. Er kletterte an einem Laternenpfahl hoch, und dann, über allen stehend, sang er schmetternd sein Leib- und Magenlied, den schönen Seemanns-Song: »Ich fuhr mal auf ‘nem Segler, sagte Karlssen.« Von Orpheus wird berichtet, daß die wildesten Löwen sanft wie Eichhörnchen wurden, wenn er zu seiner Zither das Lied von der Schöpfungsgeschichte sang. Das ist vielleicht übertrieben, aber der Zauber der Musik wirkte auch hier. Als die Männer jemand am hellichten Tage singen hörten, verließ sie ihre Angriffswut; als sie den Mann auf dem Absatz der Laterne stehen sahen, dachten sie, er sei des süßen Weines voll, und das entfesselte bei den Heißblütigen Sympathie. Sie ließen von Neunauge ab, sie wandten sich Plumpudding jubelnd zu, umgaben den unentwegt Singenden und winkten zu ihm hinauf. Als er hinabrief: »Luxor-Hotel!« verstanden sie, daß der -364-
fremde Sänger dorthin gebracht sein wollte. Sie schrien: »Sim, sim, sim, Senhor!« In einem wahren Triumphzug ging es durch die Straßen, und Plumpudding schritt Arm in Arm mit Neunauge, der stolz war, seinen schönen neuen Apparat aus dem Handgemenge heil herausgebracht zu haben. Aber der Chef und der Graf waren sprachlos. Sie kamen gerade die Straße von der entgegengesetzten Seite herauf und erreichten das Hotel in dem Augenblick, als die beiden Helden an der Spitze des Zuges vor der mächtigen Drehtür angelangt waren. »Neunauge«, rief der Graf, »wie siehst du denn aus?« Wahrhaftig, er hatte sich verändert. Sein Rock war zerrissen, sein Hemd hing in Fetzen, und sein geschwollenes Gesicht hatte Ähnlichkeit mit einem Kürbis bekommen. »Ach«, sagte Plumpudding, »er hat nur seine erste photographische Aufnahme gemacht!«
Kein Schuß noch besser als ein Schuß Das Schießen hatte aufgehört. Der Diamantenhändler spähte vorsichtig aus dem Fenster. Die vier Garimpeiros lagen noch im Grase, aber sie rührten sich nicht mehr, ihre Köpfe waren vornüber gesunken. Er begriff: sie waren tot. -365-
Er ging zur Tür und kletterte aus dem Flugzeug. Zwölf Männer kamen näher, allerdings sehr vorsichtig. Schritt für Schritt verengten sie den Kreis, den sie um die abgestürzte Maschine gezogen hatten. Es waren Neger, Mestizen und ein Mann mit einem schwarzen Vollbart. Sie sahen abgerissen aus, einige waren barfuß. Aber alle hatten sie Gewehre, die sie schußfertig hielten. Der Diamantenhändler hob seine Hände hoch, ohne daß es einer der zwölf verlangt hätte. »Tu deine Flossen ‹runter!« rief ihm der Mann mit dem Vollbart zu. »Jeder blutige Idiot sieht, daß du keiner Fliege was zuleide tust, und außerdem, wenn du falsch spielst, bist du in der nächsten Sekunde nur noch ein Sieb!« Seine dunkle Hautfarbe fügte sich harmonisch in die Skala der andern Gesichter ein, die sich vom Farbton schwarzgebrannter Kaffeebohnen bis zu dem ungebrannter aufhellten, aber sein Vollbart und seine überlegene Ausdrucksweise wiesen ihn als Angehörigen der weißen Rasse aus. »Ich danke Ihnen für das Vertrauen, Senhores«, sagte der Diamantenhändler. »Wir Flugzeugpassagiere sind Ihnen sehr dankbar, daß Sie uns zu Hilfe gekommen sind, und Sie können sicher sein, daß wir uns in jeder Weise erkenntlich zeigen werden, wenn Sie uns von hier zu irgendeinem bewohnten Fleck bringen! Ich bin«, setzte er hinzu, um seinem Angebot ein größeres Gewicht zu verleihen, »der Dia-366-
mantenhändler Pindaro Tasso Netto aus Port of Spain.« Zwei Neger hatten die vier im Gras liegenden Gestalten auf den Rücken gelegt, und es gab keine Zweifel: sie lebten nicht mehr. Tot war der Mörder, der den Piloten und den Funker erschossen hatte, tot war der Mann, der den Fluggästen ihren Besitz an Geld und Juwelen abgenommen hatte – tot waren auch die beiden andern, die nur mit den Pistolen in der Hand dabeigestanden hatten. Im Besitz ihres Raubes glaubten sie, am Anfang eines neuen Lebens zu stehen, aber noch vor dem ersten Schritt waren sie ausgelöscht wie Kerzenstummel. Vor jedem Gericht hatten sie sich sicher geglaubt, – aber furchtbar hatte sie die Vergeltung getroffen. »Das hätte nicht zu sein brauchen«, sagte der Vollbart mißbilligend. »Hätten sie die Hände hochgehoben, dann hätte man sich doch verständigen können. Aber wie sie sich hinwarfen, da war es aus. Das ist Gesetz im Sertão.« »Sie waren überhaupt nicht für gesetzmäßiges Verhalten«, sagte Senhor Netto. »Sie haben mir meine sämtlichen Diamanten abgenommen, den Damen den Schmuck und außerdem unser ganzes Bargeld.« »Wer hat das besorgt?« fragte der Vollbart. »Der da«, sagte Senhor Netto und wies auf den Toten, der im Leben gewissermaßen der Kassierer der Bande gewesen war. -367-
Die Männer hatten den Leichen schon die Smith-Wesson-Pistolen aus den erkalteten Händen gedreht. Jetzt, auf einen Hinweis des Vollbarts, durchsuchten sie die Taschen der Toten, und was einmal deren Beute gewesen war, schütteten sie in den alten Hut, den ihnen der Vollbart hinhielt. Als dabei die Diamanten zum Vorschein kamen, begannen ihre Gesichter zu strahlen. »Das ist alles unser Eigentum«, bemerkte Senhor Netto. »Das war Ihr Eigentum«, antwortete der Vollbart, »jetzt gehört es uns.« »Erlauben Sie –« »Ich erlaube Ihnen gern«, sagte der Vollbart, »daß Sie um Ihre Diamanten jammern, aber die haben Sie gehabt, Senhor!« »Mit welchem Recht –« »Recht?« Der Vollbart lachte. »Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen von dem, was Recht ist. Wie wir hier sind, haben wir drei Monate lang beim Eisenbahnbau gearbeitet. Verdammt harte Arbeit, Senhor, und drei Monate lang, das geht in die Knochen. Immer hundert Kilometer überläßt die EisenbahnGesellschaft einem einzelnen Unternehmer, verstehen Sie? Der gibt dann Kost und die Baracke zum Schlafen, Werkzeug stellt die Gesellschaft, und außer der Kost gibt es natürlich Lohn. Ein Monat ist ‘rum – und der Unternehmer sagt: ›Noch kein Geld von der Gesell-368-
schaft da!‹ Na gut, warum nicht? Im Sertão brauchst du kein Geld. Das Fressen war nicht schlecht, und in der Baracke gab es nicht mehr Flöhe als sonst auch. Zwei Monate sind ‘rum – dasselbe Lied. Na gut, auf die Art spart man Geld. Aber nach dem dritten Monat singt der Kerl die dritte Strophe, und die ist genau so wie die erste. ›Wenn das nur nicht stinkt‹, denke ich und gehe in den Nachbarabschnitt. Also die haben jeden Monat ihr Geld bekommen! Jetzt aber dem Kerl auf die Bude gerückt – und da ist er fort! Auf und davon! Mit unserm Geld – und dafür haben wir drei Monate geschuftet!« »Das war natürlich nicht Recht«, sagte Senhor Netto. »Nicht Recht nennen Sie das?« schrie der Vollbart. »Eine verdammte Schweinerei war das! Aber wie wir die Maschine hier ‘runtergehen sahen, da wußten wir: die schickt euch der liebe Gott persönlich! Die ist jetzt im Sertão – und im Sertão nimmt man sich, was man braucht!« »Das ist Gesetz im Sertão!« sagte eine helle Stimme hinter ihnen. Alle drehten sich um. Über ihnen, in der Türöffnung des Flugzeugs, stand Graziella. Sie hatte sich umgezogen. Sie hatte aus ihrem Handköfferchen herausgeholt, was sie heimlich hineinpraktiziert hatte, das selbstgenähte Buschhemd und die dreiviertellange rote Seeräuberhose. -369-
»Senhores«, rief sie hinunter, »nehmen Sie sich ruhig, was der Unternehmer Ihnen genommen hat! Es ist eine Entschädigung, die Ihnen der Sertão gibt, denn hier herrscht noch die Gerechtigkeit, die es in der Welt der großen Städte nicht mehr gibt!« »Senhorita!« rief der Diamantenhändler empört. »Geben Sie zu, Senhor Netto, daß diesen Männern Unrecht geschehen ist?« fragte Graziella. »Selbstverständlich –« »Und sind Sie nicht dafür, daß ein begangenes Unrecht wiedergutgemacht werden muß?« »Selbstverständlich – aber wieso komme ich denn dazu, ein Unrecht wiedergutzumachen, das ich nicht begangen habe?« »Haben Sie noch nie ein Unrecht begangen?« rief Graziella, und ihre Augen blitzten. »Mein Gott«, sagte Senhor Netto verwirrt, »ich bin auch nur ein Mensch.« »Hier haben Sie Gelegenheit, Unrecht wiedergutzumachen«, rief sie und sprang hinunter auf den Erdboden. »Senhorita«, sagte der Diamantenhändler grollend, als sie nun neben ihm stand, »ich glaube nicht, daß Ihr Vater mit solchen Grundsätzen Millionär geworden ist! Ihr Vater«, erklärte er den Männern, »ist Anibal Castaneda.« -370-
Die Wirkung war erstaunlich. Die Neger und die Mestizen lüfteten ihre Kopfbedeckungen, und der Vollbart hätte es auch getan, wenn in seinem Hut nicht die Kostbarkeiten gewesen wären. Aber Graziellas Miene hatte sich verfinstert. »Was mein Vater denkt und tut«, sagte sie böse, »geht mich nichts an. Ich tue das, was ich für richtig halte.« »Senhorita«, sagte der Vollbart, »ich sehe, Sie haben ein Herz für die Menschen des Sertão. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meine Hochachtung ausspreche!« Er hielt ihr seine mächtige, schmutzige Pranke hin, und Graziella nahm sie und schüttelte sie fest. »Senhores«, sagte Senhor Netto, »wenn ich dies auch nicht billigen kann, so weiß ich, daß man sich in die Verhältnisse schicken muß. Also gut, behalten Sie alles – aber bringen Sie uns dafür zum nächsten Ort!« »Gar nicht dumm, Senhor«, sagte der Vollbart. »Und wenn wir da angekommen sind, dann lassen Sie uns hochgehen!« »Ich verspreche Ihnen«, rief der Diamantenhändler – aber weiter kam er nicht. »Diacho«, sagte der Vollbart heftig, »kein Wort mehr. Das hat der verdammte Unternehmer auch jedesmal gesagt: ›Ich verspreche Ihnen‹ – und dann ist er mit unserm Geld fort. Ich glaube nur noch an das, was ich in -371-
der Hand habe! Adiante!« »Meus Senhores«, sagte der Diamantenhändler verzweifelt, »tun Sie uns doch wenigstens den Gefallen und begraben Sie die Leichen!« »Ich will dir was sagen«, antwortete der Vollbart, »drüben am Waldrand haben wir unser Zeug liegen, und da werden wir dir eine Spitzhacke und einen Spaten dalassen, und dann machst du selber den Totengräber – gesunde Arbeit tut dir gut!« Ein Neger grinste und zeigte in die Luft. Da kreisten schon die Urubus, die dunklen Rabengeier der Neuen Welt, die gefräßigen Totenbestatter des Urwalds, die auf rätselhafte Weise bereits gewittert hatten, daß hier im Grase Nahrung für sie lag. »Ja«, sagte der Vollbart, »beeilen mußt du dich damit, sonst nehmen die dir die Arbeit weg.« »Senhor«, sagte Graziella, »lassen Sie mir und meinem Bruder bitte eine Smith-Wesson da, und es wäre besonders nett, wenn uns einer von ihnen ein Gewehr gäbe – sie nehmen dafür ja drei Pistolen mit!« »Können Sie denn damit umgehen?« fragte der Vollbart interessiert. Graziella nickte nur. Die Männer hielten ihr ein paar Gewehre hin. Alles Jagdgewehre, wie sie sah. Ein alter Lefaucheux darunter, den nahm sie nicht. Auch zwei Lancastergewehre -372-
gefielen ihr nicht – aber ein Drilling hätte sie schon gelockt, doch wenn sie nicht verschiedene Munition hatte, halfen ihr auch die verschiedenen Läufe nichts. Da sah sie, daß einer der Männer seine Büchse nicht zeigte, sondern sie im Gegenteil hinter seinem Rücken zu verstecken suchte. Sie lächelte ihn an und nahm ihm das Gewehr ab: es war eine gute Repetierbüchse mit einem Mauserschloß. Sie war geladen. Alles lachte, denn sie hatte sich die beste Waffe ausgesucht. »Wohin soll ich schießen?« fragte sie. Der Vollbart wies auf eine Caranapalme, um deren dornigen Stamm sich eine wilde Fuchsie gewunden hatte. Ihre roten Blüten hingen in einem viele Meter langen Gewinde von den dornigen Palmenzweigen wie ein Blumenvorhang herab. Graziella schätzte die Entfernung. Zweihundert Meter. »Eine Fuchsienblüte«, sagte sie. Langsam hob sie den Arm, visierte, wobei sie die Waffe, die noch entsichert war, bewundernswert ruhig hielt, und dann zog sie durch. Der Schuß fiel, Blütenblätter segelten zur Erde hinab, und kreischend flogen grüne Papageien auf. Sie sicherte das Gewehr. Mario war aus dem Flugzeug gesprungen und stand bei ihr. »Jetzt schieß du«, sagte sie und gab ihm die Waffe. -373-
»Auf denselben Baum«, sagte der Vollbart. Auch Mario zielte ruhig. Sie warteten auf seinen Schuß. Aber dann ließ er seinen Arm sinken. »Nein«, sagte er, »wir müssen Munition sparen.« »Das wird ein Mann für den Sertão«, sagte der Vollbart anerkennend. Er ließ ihnen die Waffen und die Munition, die sie dafür brauchten. Dann wandten sich die Männer und wollten gehen. »Senhores«, sagte der Diamantenhändler flehend, »beerdigen Sie doch die Toten – ich bitte Sie darum!« Der Vollbart machte eine wegwerfende Handbewegung und ging. »Senhores«, rief der Diamantenhändler, »es sind doch Damen im Flugzeug!« Der Vollbart blieb stehen. »Du Esel«, sagte er, »warum sagst du das nicht gleich?« Sie schleppten die Toten fort und begruben sie am Waldrand. Dann waren sie verschwunden. »Wie soll man nun wieder ins Flugzeug kommen?« sagte Senhor Netto verzweifelt. »Wir werden uns eine Treppe bauen«, sagte Graziella. »Nein«, sagte Mario, »wir müssen eine Strickleiter aus Lianen flechten; die ziehen wir nachts herein.« -374-
Zwei Späher »Senhor Netto«, sagte Frau Menezes empört, »ich habe kein einziges Flugzeug gesehen, das nach uns sucht!« Sie sah nicht zum besten aus, die arme Frau. Immer hatte sie es verstanden, durch die Kunst der Farbgebung ihr Gesicht zu verjüngen. Hier aber, in der Verzweiflung völliger Verlassenheit, hatte sie nicht mehr die Spannkraft, das fortzusetzen. Damit war eine schöne Maske plötzlich von ihr abgefallen, und sie schien über Nacht um ein Jahrzehnt gealtert; so glich sie einer Blume, der man vergessen hat Wasser zu geben, und die am Morgen verwelkt ist und daliegt wie weggeworfen. »Wie sollen wir uns bemerkbar machen?« fragte Herr Netto bekümmert. »Ich bekomme den Motor nicht wieder in Gang«, sagte Mario, »deswegen können wir auch nicht funken!« »Und selbst wenn der Motor liefe«, rief Herr Netto, »ich verstehe doch nichts vorn Funken!« Mario sah Graziella an und sie ihn. Sie verstanden sich. Sie hielten es beide für überflüssig, zu bemerken, daß sie als Amateurfunker Gespräche mit unbekannten Männern in Alaska und Betschuana-Land geführt hatten. »Wir werden hier verhungern, wir werden hier elend umkommen!« jammerte Frau Me-375-
nezes. »Es ist ausgeschlossen, Senhora«, sagte die Stewardeß, »daß uns die Fluggesellschaft im Stich läßt!« Es war erstaunlich – mitten im Urwald, nach unbequem verbrachten Nächten und trotz der Ausweglosigkeit ihrer Lage sah sie genau so adrett und nett aus wie fünf Minuten nach dem Abflug aus São Paulo. Sie pflegte sich jeden Morgen, wenn alle andern noch schliefen, so sorgfältig, wie sie das nur vermochte. Sie hatte begriffen, was ihre Aufgabe war: hier im Dschungel war sie ein Sendbote jener anderen Welt der Zivilisation und des Komforts, und indem sie sich selbst elegant und zuversichtlich hielt, konnte sie den andern die Zuversicht erhalten, jene andere Welt existiere nach wie vor, und sie wären alle sozusagen nur auf einem kleinen Ausflug in den Sertão. »Wir brauchen auch nicht zu verhungern, Senhora«, sagte sie weiter. »Meine Vorräte reichen noch wenigstens für drei Tage!« »Und wenn sie zu Ende sind«, sagte Mario, »werden Graziella und ich Wild in Schlingen fangen. Außerdem ist von der Pflanzung, die hier einmal war, noch einiges übriggeblieben: es gibt Bananen, und Araruta wächst noch genug.« »Was ist das?« fragte Frau Menezes böse. »Pfeilwurzel«, sagte Mario, »daraus machen wir Tapioka!« -376-
»Man kann mir doch nicht zumuten«, rief Frau Menezes, »wie die Nigger zu essen!« »Das brauchen Sie auch nicht, Senhora«, sagte die Stewardeß liebenswürdig, »wir waschen die Wurzeln, wir rösten sie und schaben dann Mehl daraus. Damit kann ich backen! Wir müssen uns nur draußen einen guten Rost bauen!« »Wird gemacht«, sagte Mario. »Die Indianer des Amazonas«, sagte Graziella und sah dabei Frau Menezes freundlich ins Gesicht, »leben nur vom Tapiokabrei, und als Delikatesse kochen sie ihn mit dicken Fröschen zusammen!« Die arme alte Dame bedeckte wortlos ihre Augen. »Meine Herrschaften«, sagte Herr Netto, »das bringt mich auf eine Idee!« »Hören Sie auf!« stöhnte sie. »Ich will nichts mehr von Fröschen hören!« »Ich denke auch nicht an Frösche«, sagte er. »sondern an das Feuer. Es ist richtig, wir haben noch kein einziges Flugzeug über diese Lichtung fliegen sehen – aber vielleicht, nein höchstwahrscheinlich kommen sie doch in die Nähe – ich meine, wir sollten Tag und Nacht ein großes Feuer unterhalten und am Tage richtige Rauchzeichen geben!« »Man kann auch mit Rauch morsen!« sagte Mario. Graziella sah ihn unwillig an. -377-
»Das ist wirklich eine Idee!« rief Frau Menezes. »Das müssen wir sofort anfangen. Wir suchen alles zusammen, was sich nur brennen läßt, und je mehr Rauch es gibt, desto besser!« »Ja«, sagte die Stewardeß, »das machen wir!« Sie standen auf, um aus dem Flugzeug zu klettern, an dessen Tür die Strickleiter hing, die Mario und Graziella aus Lianen geflochten hatten. »Aber Heloisa!« rief Frau Menezes außer sich, »du willst doch nicht etwa mit Holz suchen?« »Natürlich, Mutter«, sagte ihre Tochter, »dabei helfen wir alle!« »Ich helfe, aber du nicht«, sagte die Mutter energisch. »Denk doch an deine Hände! Was wird aus deinem Geigenspiel, wenn du dir die Finger verdirbst? Nein, du bleibst hier im Flugzeug, und am besten ist es, du fängst sofort an zu üben! Meine Tochter«, setzte sie erklärend und stolz hinzu, »ist ein Genie. Sie ist erst sechzehn und spielt ebensogut Geige wie Fritz Kreisler. In einem Jahr ist sie so weit, daß sie öffentlich auftreten kann – dann wird die Welt um ein Wunder reicher sein!« Mario und Herr Netto halfen ihr, die Strickleiter hinunterzukommen. Graziella blieb vor Heloisa stehen und fragte: »Wie halten Sie es nur bei der alten Dame aus? Sie redet so -378-
schreckliches Zeug!« »Ja«, antwortete die Geigerin, »das ist wahr, und eines Tages werde ich ihr einen großen Schmerz antun: ich werde mich von ihr trennen und meine Laufbahn allein gehen müssen. Da will ich jetzt wenigstens so nett mit ihr sein, wie ich nur kann.« Dabei hatte sie die Geige aus dem Kasten genommen und begann zu stimmen. »Wie klar sie ihren Weg vor sich geht«, dachte Graziella – und wie war es mit ihr? »Ich gehe eben zu den Indianern«, dachte sie energisch und kletterte auch aus dem Flugzeug. Sie wollte zu den Holzsuchern – aber das Feuer, mit dem die Rettungsexpedition herangeholt werden sollte, mußte sie zu verhindern suchen. Viel brauchbares Holz war nicht zu finden. Was sie aufhoben, war morsch und faul. Es zerfiel, indem sie es anfaßten. Langsam gingen sie dem Waldrand zu. Da sahen sie abgestorbene Aste, die von den Lianen abgewürgt waren. Sie zogen an ihnen, die wie Taue und Seile herunterhingen, und die Aste krachten ab. »Warum hilfst du noch?« flüsterte Graziella ihrem Bruder zu. »Wir wollen keine Rauchzeichen! Sie sollen uns doch gar nicht finden!« »Brennholz brauchen wir«, flüsterte Mario zurück und ging etwas nach rechts, wo Frau Menezes ohne Erfolg, aber mit puterrotem Kopf an einer grünen Liane zog. -379-
Da packte er die Ahnungslose auch schon und riß sie fort. »Was fällt dir denn ein?!« schrie sie auf. Aber schon hatte er die Pistole herausgerissen: von dem Ast, den die gute Frau hatte abreißen wollen, züngelte aus dem Lianengewirr ein grünlicher Kopf – eine Machaco, eine Papageischlange. Ihr giftiger Biß ist tödlich. Der Schuß fiel, und mit zerschmettertem Kopf glitt der glatte Leib des toten Tieres in das Gewirr des Unterholzes. Alle waren zusammengelaufen, und das Geigenspiel aus dem Flugzeug riß ab. Heloisa stand im Türrahmen. Die Stewardeß hielt die ohnmächtige Frau. »Um Gottes willen«, rief Herr Netto. »Sie stirbt!« »Kein Gedanke«, sagte die Stewardeß. Sie war im Kurs der Ersten Hilfe ausgebildet und konnte ihre Sache am Schnürchen: Ohnmacht mit blassem Gesicht ist ungefährlich, aber bei rotem sieht es schon eher böse aus, und Frau Menezes war so blaß, wie man’s nur wünschen konnte. »Helfen Sie mir, sie hinzulegen«, sagte die Stewardeß. »Der Kopf muß flach liegen – machen Sie ihr die Bluse auf!« sagte sie zu Heloisa, die wie der Wind gekommen war. Auf einmal hatte die Stewardeß auch noch Kölnisch Wasser bei der Hand und wusch der Bewußtlosen damit das Gesicht. -380-
Sie kam zu sich. Sie schlug die Augen auf. »Was ist denn?« fragte sie. Ihr Blick fiel auf Mario, und ihr wurde wieder bewußt, was geschehen war. »Du hättest mich auch schonend auf das Tier aufmerksam machen können«, sagte sie beleidigt. »So geht man nicht mit Damen um!« Aber vom Holzsammeln hatte sie genug. Sie ließ sich von ihrer Tochter ins Flugzeug bringen. »Ich dachte«, sagte Mario zu der Stewardeß, »Sie wären bloß eine Filmpuppe. Aber Sie sind ganz brauchbar. Wie heißen Sie eigentlich?« »Paula Pira«, sagte sie und lächelte ihn an. »Wenn sie nur nicht immer so süß grinste«, dachte er, aber er verschwieg seine Meinung, denn sie hatte sich sonst einwandfrei benommen. Im Laufe des Tages war doch ein großer Berg Holz zusammengekommen. »Morgen werden wir ihn anstecken«, sagte Herr Netto zufrieden. »Hoffentlich sehen die Flieger den Rauch«, sagte Frau Menezes. »Wenn die Flieger ihn nicht sehen«, sagte Graziella, »dann sehen ihn die Indianer bestimmt.« »Die Indianer?« sagte Frau Menezes entgeistert. »Natürlich«, sagte Graziella. »Bis jetzt haben sie noch nichts davon bemerkt, daß wir hier -381-
sind; aber im Urwald Rauch – das ist so, als wenn Sie in Rio etwas in die Zeitung setzen!« »Herr Netto«, rief Frau Menezes entsetzt, »Sie hetzen uns mit Ihrem Feuer die Indianer auf den Hals!« »Nun, nun, nun –« begütigte Herr Netto die Aufgeregte. »Wenn wir unsre Tür fest schließen, dann können sie uns nicht belästigen, und außerdem verfügen wir ja über ein Gewehr und eine Pistole!« »Wenn die Weißen«, sagte Graziella erbarmungslos, »ihnen mit den Waffen überlegen sind, dann zünden sie einfach ringsum alles an, und dann müssen wir mit dem Flugzeug verbrennen oder ersticken!« »Herr Netto«, jammerte Frau Menezes, »ich halte es für unverantwortlich von Ihnen, daß Sie uns dem aussetzen wollen.‹« »Ich dachte, es wäre eine gute Idee«, sagte er betrübt, »aber ich sehe, sie könnte uns in Schwierigkeiten bringen!« Die Sonne sank. In einem Augenblick wandelte sich das Grün und Gold des Waldes in ein helles Rot. Es wurde rotbraun, es wandelte sich wieder, glühte purpurn auf – und dann lag der Wald, der sie umgab, in einem gespenstischen Schwarz. Der Lärm der Zikaden, der sie den ganzen Tag wie das Spulenschwirren einer großen Spinnerei umdröhnt hatte, war abgeebbt und dann ganz erloschen. Kein Vogel rief mehr. -382-
Das Schweigen war schrecklich. Selbst die Stewardeß lächelte nicht mehr. Alle saßen ganz still in den Sesseln des schiefliegenden Flugzeugs. Um zu sparen, hatten sie keine Kerzen angesteckt. Sie hatten die Tür fest verschlossen. Aber sie mußten die Fenster aufmachen, weil die Luft zu stickig war. Danach, als das getan war, fiel sie wieder die furchtbare Stille an. »Heloisa, mein Kind«, sagte Frau Menezes, »spiel etwas! Etwas Süßes – spiel die ›Lieder ohne Worte‹!« Heloisa war zu allem sonst bereit – aber in ihrem Geigenspiel machte sie keine Konzessionen. Sie spielte – doch nicht die weichen Melodien Felix Mendelssohns, sondern die Chaconne Johann Sebastian Bachs, und von der festen Hand des jungen Mädchens beschworen, erklangen die kühnen, strengen, unerbittlichen Tonfolgen in die Stille der Nacht. »Ich begreife nicht«, flüsterte ihre Mutter Herrn Netto zu, »warum sie so schrecklich ernste Musik liebt. Ich denke immer, das wird sich wieder legen.« Graziella stand an einem der offenen Fenster und sah hinaus. Der Mond war aufgegangen und übergoß den Wald und die Lichtung mit seinem weißen Licht. Der helle Schein fiel auch auf sie, so daß ihr Gesicht deutlich zu sehen war. Plötzlich wurden ihre Augen groß. Ohne sich sonst zu bewegen, wandte sie ih-383-
ren Kopf Mario zu und gab ihm ein kaum merkliches Zeichen. Er stand auf, und leise, um das Geigenspiel nicht zu stören, ging er zu ihr. Da sah auch er, was sie erblickt hatte: zwischen dem Waldrand und dem Flugzeug standen zwei Indianer. Ihre Haut hatte die Farbe matter Bronze, und ihre nackten Leiber waren bemalt. Sie hatten die Haare rundgeschnitten, in den Händen hielten sie Speere und Bogen. Um die Beine hatten sie unterhalb der Knie etwas gewickelt, aber es war nicht zu erkennen, was das war. Sie standen unbeweglich und horchten auf die rätselhafte Musik aus der rätselhaften fliegenden Hütte, die da am Waldrand stand. Die Geigerin war zu Ende. Sie stand auf, das gab Geräusch – und im Nu waren die Indianer verschwunden. Die Kinder verschwiegen, was sie gesehen hatten, aber als die andern schon schliefen, waren sie noch wach, denn sie konnten nicht schlafen. »Mario«, flüsterte Graziella ihrem Bruder zu, »vielleicht waren das Indianer, die noch nie Weiße gesehen haben!« »Kann gut sein«, sagte er. »Mario, jetzt können wir endlich, was wir immer wollten: jetzt können wir zu den Indianern gehen und immer bei ihnen bleiben!« »Ja«, sagte er. -384-
»Mario, paß auf: die Leute hier sollen sehen, wie sie nach Hause kommen! Morgen machen wir uns fort und suchen die Indianer!« »Graziella, das geht nicht.« »Warum nicht?« flüsterte sie heftig. »Ich meine«, sagte Mario, »es geht noch nicht. Die Leute hier brauchen uns noch.« Darauf sagte Graziella nichts, und Mario fuhr fort: »Wenn wir ihnen nichts schießen, dann gehen sie drauf, und wir müssen uns überhaupt um sie kümmern. Wenn ich heute die Machaco nicht kaputtgeschossen hätte, wäre die Frau schon tot.« »Eine dumme Pute ist das«, sagte Graziella. »Sie ist vom Stamme der Hodu«, sagte Mario. So bezeichneten sie Leute, die sie für hoffnungslos dumm hielten. »Aber ihre Tochter ist prima.« »Wenn ich etwas so könnte, wie sie Geige spielt«, flüsterte Graziella nachdenklich. »Sie hat etwas vor, weißt du? Sie will eine ganz große Künstlerin werden –« Sie verlor sich in ihre Gedanken. Sie sah, wie dieses Mädchen war, von zäher Geduld, schweigend, das große Ziel vor Augen, nichts sonst – »Du hast recht, Mario«, sagte sie. »Weil Heloisa dabei ist, dürfen wir nicht fort. Aber wenn sie kommen und uns finden, dann brauchen sie uns nicht mehr, dann gehen wir zu den Indianern, Mario!« -385-
Er antwortete nicht. »Er schläft schon«, dachte sie. Aber vielleicht tat er nur so, als ob er schliefe, um ihr nichts versprechen zu müssen.
Von dem Major ist nichts mehr zu erfahren Pünktlich um fünf Uhr nachmittags hielt das Auto, das die vier Männer zum Flugplatz Santos-Dumont brachte, am Eingang. Ihr Gepäck war äußerst gering. Sie hatten ihre Waffen, die Winchesterbüchsen, in den Lederfutteralen und nicht mehr als zwei wasserdichte Seesäkke, die Neunauge und Plumpudding trugen. Sie sahen das kleine Militärflugzeug, das auf sie wartete. Sie gingen auf das Flugzeug zu. Der Pilot war schon in seiner Flugkleidung und kam ihnen ein paar Schritte entgegen. Sie schüttelten sich die Hände. Er lächelte sie freundlich an. »Ausgezeichnetes Flugwetter, anscheinend«, sagte der Chef zu ihm. Der Brasilianer lächelte und sagte: »Cupeja!« »Sie haben ja eine nette kleine Maschine«, sagte der Graf, um ihm eine Freundlichkeit zu erweisen. -386-
Der Brasilianer lächelte und sagte: »Cupeja!« »Aha«, sagte der Graf zum Chef, »der gute Mann versteht überhaupt nicht, was wir sagen! Und wir werden nicht verstehen, was er sagt. Ich denke es mir höchst reizvoll, in einem Lande zu reisen, wo man mit keinem Wort verstanden wird. Wenn ich mich recht erinnere, herrschten beim Turmbau zu Babel ähnlich heitere Zustände. Wirklich, ein entzückender Einfall von Ihnen, Chef. Nur fürchte ich, Sie tun das alles nur, damit ich unsre Wette gewinne!« Plumpudding sah, daß der Chef nahe daran war, wie ein überhitzter Dampfkessel zu platzen. Aber er wußte auch, daß der Chef eher an innerer Erregung gestorben wäre, als daß er sich zu einer Explosion hätte hinreißen lassen. Er reichte ihm die rasch gestopfte Pfeife. Das war das einzige, was er jetzt für ihn tun konnte. Der Graf überlegte rasch. Sollte er jetzt sagen: »Chef, warten wir doch auf GG«? Aber das hätte so ausgesehen, als dächte er nur daran, die Wette zu gewinnen. Der Chef fühlte die unausgesprochene Kritik, die in den Worten des Grafen lag. »Brauchen niemand«, sagte er heftig. »Habe es von Anfang an gesagt. Werden ganz allein fertig. Der Major weiß, wo das Flugzeug liegt. Der Major hat die Leute längst alle geholt. Oder ist dabei, sie zu holen. Brauchen nur mit dem Major -387-
zu sprechen, das ist alles. Heute hin, morgen reden – übermorgen sind wir schon wieder zurück!« Und er rief dem Piloten zu: »Go on!« Das verstand der, strahlte auf und ging äußerst rasch zu seiner Maschine. Der Chef und Plumpudding folgten ihm. Der Graf blieb einen Augenblick noch in der Halle. Natürlich, es konnte sein, daß der Chef recht hatte – aber wenn er irrte, was dann? Er warf einige Zeilen auf ein Blatt Papier, steckte es in einen Briefumschlag, klebte zu, schrieb eine Adresse darauf und gab ihn mit einem Geldschein der Telefonistin an der Zentrale. »Tausend Dank, Senhor, tausend Dank!« stammelte sie, als sie sah, was das für ein gewaltig hoher Schein war, den sie da bekommen hatte. Er hastete hinaus und hatte das angenehme Gefühl, daß sie ihr Leben opfern würde, um diesen Brief an der richtigen Stelle abzugeben. Sie flogen ab. Sie flogen über Berge und dann über endlose Wälder. Plötzlich war die Dunkelheit da. Langsam verrannen die Stunden der Nacht. Die kleine Maschine rüttelte sehr, die Männer saßen unbequem und waren froh, als der Morgen anbrach. Sie kamen sich wie gerädert vor, als das Flugzeug schließlich auf dem behelfsmäßigen Flugplatz nicht ohne Schwierigkeiten landete. Aber nun waren sie wenigstens in Cupeja. Sie kletterten hinaus und sahen sich um – sie hatten den Eindruck -388-
einer schrecklichen Trostlosigkeit, ja einer Verlassenheit, die etwas Tödliches hatte. Der Boden war noch schwarz, denn die freie Stelle war nur durch Abbrennen des Waldes gewonnen und dann notdürftig eingeebnet worden. Ein Hubschrauber lag da, bot aber einen trostlosen Anblick, denn er war halb zu Bruch gegangen, anscheinend bei der Landung. Kein Mensch war zu sehen! An drei Seiten umgab der Urwald den Platz mit undurchdringlichen grünen Mauern. Die vierte schien lichter, und von daher kam ein Brausen wie von einem Wasserfall. Dort standen auch einige Baracken, die mit riesigen Palmblättern gedeckt waren. Aber niemand kam, um sie zu begrüßen. Sie gingen auf die Unterkünfte zu. Der Pilot rief etwas über den freien Platz, aber er erhielt keine Antwort. Sie blickten in das dämmrige Innere der Baracken. Man sah, sie waren benutzt worden, aber jetzt waren sie leer. Zwischen ihnen war eine Feuersteile, wo ein großer Kessel auf drei unbehauenen großen Steinen stand. »Aha, das dürfte als meine Küche gedacht sein!« sagte Neunauge, etwas krampfhaft heiter. Niemand antwortete ihm darauf. Allen war ausgesprochen beklommen zumute. Jetzt aber rührte sich etwas. Sie wandten sich um. Durch den lichteren Wald kam eine -389-
dicke Negerin, die offenbar Wasser geholt hatte, denn sie trug in jeder Hand eine schwere Kalebasse. Als sie die Männer sah, fing sie schon aus der Entfernung an, heftig zu reden. Ihre Worte übersprudelten sich. Der Pilot schien zu verstehen, was sie sagte, denn er antwortete ihr – und dann hatte er es auf einmal sehr eilig. »Adeus, Senhores!« rief er. Er ging sehr beschleunigten Schritts zu seiner Maschine, sie rumpelte los, stieg auf und verschwand über dem Walde. Die Negerin redete weiter auf die schweigenden Männer ein. Sie wies immer wieder in den Wald. »Sie will uns etwas zeigen«, sagte der Chef. Plumpudding und Neunauge hatten ihre Schiffssäcke an die Wand einer Baracke gelehnt. Aber ihre Gewehre behielten sie wie der Chef und der Graf bei sich, und so gingen sie alle vier mit der Negerin. Sie schritt voran und schlug einen schmalen Pfad ein, der offenbar erst kürzlich durch das Unterholz geschlagen und getreten war. Sie kamen an eine mächtige Seringueira, einen Gummibaum. Sein hoher Stamm war glatt und wie der einer Buche lange unverzweigt. Aber die Blicke der Vier gingen nicht nach oben. Sie sahen auf das, was die Negerin ihnen zeigte: da standen vier Kreuze, notdürftig aus Ästen geschnitten und mit Lianen zusammengebunden. Auf jedem hing eine Soldatenmütze. »Vier Fallschirmjäger«, sagte der Chef. -390-
Der Chef tat so, als ob er sein Gewehr anlege, und sagte fragend: »Bum bum?« Die Negerin verneinte lebhaft. Dann gab sie offenbar ein Bild der Krankheit, an der die hier Begrabenen gestorben waren: sie stöhnte und tat, als ob sie sich Schweiß von der Stirn wische; danach wieder schien sie entsetzlich zu frieren. »Klarer Fall«, sagte der Graf. »Malaria. Nur gut, daß ich Chinin bei mir habe.« Der Chef zeigte auf die Gräber. »Major?« fragte er. Die Negerin verstand. Wieder verneinte sie lebhaft. Sie führte die Weißen durch den lichteren Wald. Das Rauschen wurde lauter, sie kamen an einen Fluß. Er war ziemlich breit, und viele Inseln zerteilten ihn in schmale reißende Wasserläufe, die sich wie kochend an Felsen brachen. Aber die Inseln waren nicht kahl, sondern mit einem wahren Palmendikkicht bestanden, um das die Wasser schäumten. In drei Katarakten stürzten sie etwa zehn Meter tief hinab. Die Negerin zeigte in die Richtung, aus welcher der Fluß kam, und sagte: »Major!« Dann zeigte sie auf die Sonne, die sie im Walde unter den dichtverzweigten Bäumen gar nicht hatten sehen können, und die schwarze Frau beschrieb mit dem ausgestreckten Arm dreimal einen großen Bogen. »Vor drei Tagen«, sagte der Chef, »ist der -391-
Major also flußaufwärts gefahren!« Was das hieß, war allen klar. Sie waren hier zu einem nutzlosen Warten verurteilt, bis er zurückkam. Auf derselben Seite des Flußes, auf der sie standen, sahen sie in einiger Entfernung unterhalb des tiefsten Katarakts eine Hütte stehen. Der Chef zeigte darauf. Die Negerin verstand, was er meinte. »Caboclo«, sagte sie verächtlich, und dann, wie erschrocken über das, was sie geäußert hatte, flüsterte sie: »Capanga!« »Vorwärts«, sagte der Chef, »wollen Mister Caboclo Capanga kleinen Besuch abstatten!« Sie setzten sich in Bewegung. Aber als die Negerin begriffen hatte, was sie beabsichtigten, redete sie heftig, als wolle sie diesen Besuch verhindern. Doch daran kehrten sich die Männer nicht. Da lief sie in der Richtung auf die Baracken davon. Die vier kamen am Flußufer nur mühsam vorwärts. Als sie schließlich an der Hütte standen, sahen sie Netze zum Trocknen an den Büschen hängen; der Mann, vor dem sich die Negerin fürchtete, war also ein Fischer. Jetzt sahen sie, wie ein Dunkelhäutiger in einem kleinen Kanu sich flußaufwärts paddelte. Sie traten ganz ans Ufer, so daß er sie sehen konnte. Sofort hielt er mit Paddeln an, drehte ab, und sein Kanu verschwand unter überhängenden Zweigen des Ufergebüsches. »Scheint nicht das beste Gewissen zu ha-392-
ben«, sagte der Chef. »Aber müssen ins Gespräch kommen!« »Da bin ich doch gespannt, wie der Chef das machen will«, dachte der Graf, »denn der Mr. Capanga ist bestimmt kein Abonnent der Times!« Aber er behielt seine Überlegung für sich. Um nichts in der Welt hätte er jetzt dem Chef mit Spott zusetzen wollen. Er wußte zu gut, wie sehr der sich mit seiner falschen Beurteilung der Lage vergaloppiert hatte. Der Chef vermied auch jede Anspielung darauf, daß die Wette jetzt doch wohl neunzig zu zehn für den Grafen stand. Der Chef sagte, sie sollten alle die Gewehre auf den Boden legen, und dann, als das geschehen war, trat er mit den dreien dicht an das Ufer, und sie hielten ihre leeren Hände hoch. Er rechnete damit, daß der scheue Mann im Kanu sie im Auge behalten hatte, und das war richtig. Sie sahen, wie das Kanu wieder auftauchte und der Mann langsam, ganz dicht am Ufer, auf sie zupaddelte. Er rief ihnen etwas zu. Der Chef biß die Zähne zusammen. Was hätte er jetzt nicht darum gegeben, wenn er ihm in irgendeiner Urwaldsprache hätte antworten können: »Wir sind Freunde!« Bis in die Stille des Sertão reichte eben die Macht des Englischen nicht. Aber Plumpudding kam ihm zu Hilfe. Er rief hinüber, was er in Rio aufgeschnappt hatte: »Bom dias, Senhor!« -393-
Noch nie in seinem Leben war der einsame Mann mit »Senhor« angeredet worden. Als er jetzt seinem Kanu entstieg, konnten sie auch sehen, daß er offenbar seinen Frieden mit der neuen Zeit gemacht hatte. Zwar war sein bronzebrauner Oberkörper noch nackt, aber er trug eine lange Hose, die freilich verblichen und zerfetzt war. Um den Hals freilich hatte er einen Schmuck hängen, der wie eine Erinnerung an wildere Lebensformen war. So schien der Mann zwischen zwei Zeitaltern oder zwischen Barbarei und Zivilisation zu leben. Er musterte die weißen Männer aufmerksam. Scharf sah er in ihre Gesichter. Es schien, als ob er sich besinne, jemals eins von ihnen schon gesehen zu haben. Der Chef zeigte zum Himmel und machte das Geräusch eines Flugzeugs. Der Mann nickte und zeigte auch hoch in die Luft – aber natürlich meinte er das Flugzeug, das er zuletzt gesehen hatte, in dem der Pilot sie verlassen hatte. »Das ging daneben«, dachte der Graf. Jetzt zeigte der Chef auf die Fischnetze, machte die Bewegung des Essens und wies dann in die Gegend der Baracken. Der Indianer begriff – die weißen Männer wollten Fische haben. Er nickte wieder, zeigte auf die Sonne und ließ sie untergehen: also nach Sonnenuntergang würde er sie bringen. »Sie sehen«, sagte der Chef nicht ohne eine gewisse Befriedigung zu Neunauge, »die Beschaffung von Eßvorräten macht gar keine -394-
Schwierigkeiten.« »Sagen Sie, Herr Graf«, sagte Neunauge, »was hat denn der Mann um den Hals hängen?« »Ja«, erwiderte der, »ich besehe mir das auch schon die ganze Zeit, und ich glaube, ich bin mir jetzt klar, was er da auf der Schnur aufgereiht hat!« Der Chef hatte auf das verkrumpelte Zeug nicht geachtet. Jetzt sah auch er es genau an. »Menschenohren, wie?« sagte er. »So ist es«, sagte der Graf. »Offensichtlich scheint er sie gern abzuschneiden, und hoffentlich müssen wir seine Fische nicht in dieser Ohrenwährung bezahlen!« Der Chef sagte nichts, und stumm verließen sie alle den merkwürdigen Fischhändler. Nur Neunauge war schlechthin begeistert. Der Mann mit den abgeschnittenen Ohren um den Hals war sein erstes großartiges Urwaldmotiv! Die Negerin hatte Essen gekocht, schwarze Bohnen mit einer Pfeffer-Sauce. »Heute abend«, sagte Neunauge, »werde ich ihr zeigen, wie man Fische anrichtet.« Die Mittagshitze machte jede Bewegung unerträglich. Die Männer lagen in der dämmrigen Baracke und mochten sich nicht mehr rühren. Auch die Natur schien wie gelähmt. Sie hörten keinen Vogelruf mehr. Nur die Moskitos kannten keine Ruhe und waren schwer zu ertragen. »Ich möchte nur wissen«, sagte der Graf, -395-
»wovon sich die lieben Tierchen ernährt hätten, wenn wir nicht gekommen wären!« Er erhielt darauf keine Antwort, denn die andern drei schliefen schon. Neunauge war der erste, der die Baracke wieder verließ. Er hatte seinen kostbaren Apparat in der Hand. Draußen sah er sich nach einem dankbaren Motiv um. Die Waldtiere waren wieder wach. Er hörte die Papageien kreischen, er sah bunte Pfefferfresser fliegen, die eine orangefarbene Brust und mächtige grüne Schnäbel hatten, – aber sie reizten ihn nicht, weil er doch nicht nah genug an sie herankam. Aber als er zum Fluß hinunterschritt, sah er ein erstaunliches Bild: da saß ein Riesentukan am Wasser und trank. Neunauge wußte nicht, daß der merkwürdige Vogel sich verflogen haben mußte, denn hier war er nicht zu Haus – den angehenden Photographen begeisterte nur der außerordentliche Anblick, den das Tier bot. Der glänzend schwarze Vogel war über einen halben Meter groß und hatte einen hellblutroten Bürzel, der jedesmal, wenn das Tier sich zum Wasser niederbeugte, zu sehen war, wie das Stoplicht am Auto. Das Erstaunlichste aber war der ungeheuerliche, orangerote Schnabel. »Groß wie eine Kommode!« dachte Neunauge, und den zukünftigen Gastwirt entzückte, wie der Vogel mit diesem Riesenschnabel trank. Er steckte dessen äußerste Spitze ins Wasser und zog die Luft energisch an sich. Dadurch füllte sich -396-
der untere Teil des Schnabels wie ein gewaltiger Holzschuh mit Wasser. Jetzt hob der Vogel langsam den Kopf, der Schnabel stand fast steil gegen den Himmel, und wie ein Genießer ließ sich der Vogel den Trunk in den Leib rinnen. »Das gibt ein Bild!« dachte Neunauge hingerissen –, »das kommt, riesengroß, gleich über die Theke!« Vorsichtig hob er den Apparat und stellte ihn ein. Aber da hörte er einen leichten Schritt. Nackte Sohlen gingen den glattgetretenen Pfad, der vom Wasser zu den Baracken führte. Er drehte sich um und sah den Indianer mit dem unheimlichen Halsschmuck kommen; er trug in jeder Hand einen großen Fisch. Neunauge verzichtete auf den gefiederten Trinker. Er kniete sich hin und stellte seinen Apparat auf den herankommenden Mann ein. Das Bild war aus dem prallen Leben – keine gestellte Aufnahme, sondern ein Halbwilder, wie er vom Fischen kam! Neunauge visierte scharf – wenn der Indianer an der kleinen Palme links war, dann würde er abdrücken. Es kam nicht dazu. Plötzlich hatte der Indianer ihn gesichtet, und nicht nur ihn, sondern auch den Apparat, der auf ihn gerichtet war. Er wußte, was das war; er hatte gesehen, wie die Missionare mit solch einem Apparat Gruppenaufnahmen von ihren Täuflingen machten. Er ließ die Fische fallen und sprang mit wenigen Sätzen auf den Knienden los. Der unerwartete heftige Anprall warf Neunauge um. -397-
Sein Apparat fiel in das Dickicht. Er brauchte beide Hände, um dem Kerl, der auf ihm lag, die Kehle zuzudrücken. Der Indianer packte seine Unterarme wie mit eisernen Klammern und bog sie zur Seite. Seine Kehle war wieder frei. Jetzt ließ seine Rechte Neunauges Arm los, und mit einemmal hatte sie ein Messer gefaßt. Neunauge sah es. »Jetzt schneidet er mir die Ohren ab!« schoß es ihm durch den Kopf, und er schrie: »Hilfe! Hilfe!« Zum Glück hatten die andern drei inzwischen die Baracke schon verlassen. Sie stürzten in die Richtung, aus welcher der Hilferuf kam, der Chef voran, und als er die beiden sah, die da am Boden miteinander rangen, schoß er seine Pistole zweimal schnell in die Luft ab. Der Indianer sprang auf, duckte sich zusammen und war im Augenblick verschwunden. Ächzend richtete sich Neunauge auf, und immer wieder nach Atem ringend, schilderte er, was geschehen war. »Offenbar hat der Mann kein Vertrauen in deine photographischen Fähigkeiten, Neunauge«, sagte der Graf. »Muß aufgeklärt werden«, sagte der Chef. »Der Mann ist zu wichtig für uns.« Neunauge suchte seinen Apparat, fand ihn, und sie gingen alle zusammen zu der Fischerhütte. Der Indianer war nicht da, die Netze hingen nicht mehr an den Büschen, die Hütte war leer, das Kanu fort. -398-
»Du hast wirklich Pech«, sagte Plumpudding. »Schau, da fliegt dein einsamer Trinker auch davon!« Tatsächlich, der Riesentukan flog dem andern Ufer zu. Es sah aus, als ob er seinem phantastischen Schnabel nachflöge. »Wenigstens haben wir heute Abend Fisch«, sagte Neunauge leicht bedrückt. Sie lagen in den Hängematten der Toten, ohne zu schlafen, und starrten ins Dunkle. Neunauge schlief nicht, weil er noch nicht damit fertig geworden war, daß ihn heute ein Indianer ohne jeden Grund beinahe ums Leben oder um seine Ohren gebracht hatte. Plumpudding schlief nicht, weil es ihn bekümmerte, daß der Chef keinen Schlaf fand, und der Graf blieb wach, weil er sich vergebens besann, wie er den Chef etwas aufheitern könne. Plötzlich fing der Chef an zu reden. Da es sehr selten war, daß er von sich aus sprach, wurde daran das Außerordentliche ihrer Situation besonders deutlich. Aber der Chef fühlte zu sehr, daß hier etwas geklärt werden müßte. Oder meinte er, in dem Schweigen der andern Vorwürfe gegen ihn zu hören, die er entkräften wollte? »Gar kein Grund zur Besorgnis«, sagte er. »Können jetzt nichts anderes tun, als warten, bis Major mit seinen Leuten zurückkehrt. Sind ohne Zweifel fort, weil sie wissen, wo Flugzeug liegt. Werden mit den Insassen zurückkommen. Außerdem wird der Posten hier, wie -399-
sie mir in Rio sagten, wenigstens alle acht Tage einmal von einem Flugzeug erreicht. Haben dann nichts anderes zu tun, als mit den Kindern nach Rio zurückzufliegen. Habe dem Anwalt gleich gesagt; völlig überflüssig, daß wir uns mit der Sache abgeben.« Als sie am andern Morgen aufwachten, waren ihre Gesichter von Moskitostichen so geschwollen, daß sie sich nicht rasieren konnten. »Vortrefflich«, sagte der Graf. »Vollbärte werden uns sehr gut stehen.« Sie schossen ein paar Pfefferfresser, die eine gute Brühe gaben. Auch mit deren Fleisch war Neunauge zufrieden; es schmeckte wie Taube, nur war es fetter. Das Mittagessen war also gesichert. Mithin konnte er sich dem Photographieren widmen. Er nahm seinen Apparat. Einen Augenblick kam es ihm vor, als sei der heute leichter als gestern, aber das konnte ja nicht sein. Immerhin machte er ihn auf – und erstarrte. Seine Cocarette, seine reizende Cocarette sah wie ein gerupftes metallenes Hühnchen aus: wo sich gestern Abend noch das Balgenleder befunden hatte, war heute nichts mehr… Plumpudding kam, die Hände in den Taschen. Stumm vor Gram, hielt ihm Neunauge den zwecklos gewordenen Apparat hin. Plumpudding nahm ihn und beäugte ihn genau. »Ameisen«, sagte er. »Vor denen ist eben auch ein geschlossener Apparat nicht sicher.« Neunauge stöhnte auf. »Plumpudding«, sag-400-
te er verdüstert, »auf mich hat der Teufel seinen Schwanz gelegt. Ich wollte doch überhaupt nicht mit nach Brasilien. Ich wollte nach Paris, um mein Bistro aufzumachen. Nur dem Grafen zuliebe habe ich mich breitschlagen lassen, diese eine Expedition noch mitzumachen. Meine letzte, meine allerletzte, das schwöre ich dir. Damit ich wenigstens selbst etwas davon hätte, wollte ich mich aufs Knipsen legen – und nun sich dir den Jammer an! Jetzt vergeude ich mein Leben hier in dem verfluchten Dschungel…« Und dann setzte er hinzu: »Ich hätte eben doch eine Tropenkamera nehmen müssen…« Plumpudding sagte nichts und ging in die Baracke. Als er wiederkam, saß Neunauge immer noch da wie der erste Entwurf eines Bildhauers zu einer trauernden Grabfigur. »Hier, Neunauge«, sagte er. Er hielt ihm etwas hin. Gequält sah Neunauge auf – was konnte es auf dieser Erde noch an Trost für einen verzweifelten Mann wie ihn geben?! Aber da wurden seine Augen groß. Er nahm wie im Traum, was Plumpudding ihm anbot: eine ContessaNettel, neun mal zwölf, in Tropenausführung, aus Teakholz, mit imprägniertem Balgenleder… »Und absolut wasserdicht«, bemerkte Plumpudding sachlich. »Plumpudding!« schrie Neunauge auf. »Nimm Gas weg«, sagte Plumpudding. »Da ist doch nichts weiter dabei. Bin nochmal hin-401-
gegangen und hab’ sie gekauft mit allem Drum und Dran. Bloß so für alle Fälle.« »Plumpudding –« fing Neunauge wieder an. Er war aufgesprungen, er wollte den Iren umarmen. »Wird’ nur nicht lästig«, sagte Plumpudding. »Wo kämen wir denn hin, wenn man nicht ein bißchen Phantasie hätte?« »Plumpudding«, sagte der Graf, dem Neunauge freudestrahlend berichtet hatte, was er dem Iren zu verdanken hatte, »Sie denken immer an das, was der andere braucht. Ich nehme an, Sie müssen eine wunderbare Mutter gehabt haben.« »Ja«, sagte Plumpudding. »Aber ein bißchen anders, als Sie denken. Wir waren sechs Kinder, und meinen Vater haben die Engländer damals bei dem Aufstand in Dublin totgeschossen. Unsere Mutter mußte uns sechs ganz allein durchbringen. Sie war Waschfrau, müssen Sie wissen. Keiner von uns hatte ein eigenes Bett. Und die Mutter hatte keine Zeit, mal einen von uns Kleinen auf den Schoß zu nehmen, sie mußte eben arbeiten, und wenn sie nicht arbeitete, dann war sie todmüde. Das verstand ich damals natürlich nicht. Ich war der Jüngste, verstehen Sie? Ich habe immer darauf gewartet, daß sie mich ‘mal auf den Schoß nahm. Aber ich hab’ umsonst gewartet. Später hab’ ich dann begriffen: hat keinen Zweck, drauf zu warten, bis einem geholfen wird. Man muß selber zufassen. Hilf anderen. -402-
Komisch – das hilft einem dann selbst.« »Sie haben recht, Plumpudding. Es hat keinen Sinn, über die Jämmerlichkeit dieser Welt zu jammern –« »Schade um die Spucke«, sagte Plumpudding. Der Graf bückte sich und hob die traurigen Reste des zerstörten Photoapparates auf, die noch auf der Erde lagen. Er schraubte das Objektiv heraus. »Das kann man doch noch verwenden«, sagte er und steckte es in die Tasche. »Herr Graf«, sagte Plumpudding, »wo wir gerade davon reden – wissen Sie nicht, wie das hier weitergehen soll? Der Chef tut so, als sei ihm niemals wohler gewesen als hier in dem gottverlassenen Cupeja – aber das spürt man doch, daß ihn die ganze Geschichte wurmt. Können Sie denn nichts für ihn tun?« Der Graf kam nicht dazu, zu antworten. Die Negerin schrie etwas, sie zeigte auf den Fluß: zwei Kanus trieben mit der Strömung näher. »Der Major mit seinen Leuten!« rief der Graf, und sie liefen alle zum Ufer. Ehe die Boote den ersten Katarakt erreicht hatten, wurden sie von ihren Insassen ans Land gesteuert. Tatsächlich, es waren die erwarteten Fallschirmjäger, aber nur noch drei. Sie waren von schweren Malariaanfällen so geschwächt, daß sie die Boote allein nicht verlassen konnten; die Vier mußten ihnen heraushelfen. Sie brachten einen Toten mit. Es war der Major. -403-
Was ihnen geschehen war, mußten sie durch Zeichen verständlich machen, denn sie sprachen nur portugiesisch. Im Boot lagen Pfeile, die mit Vogelfedern befiedert waren. Sie deuteten an, daß außer dem Major sechs ihrer Kameraden durch solche Pfeile getötet worden waren. Nur ihn hatten sie mitbringen können. Der Graf hatte die Pfeile in der Hand und besah sie genau. »Sie werden vergiftet sein«, sagte er zum Chef. Die Männer wurden in die Baracken gebracht, sie legten sich hin, der Graf gab ihnen Chinin. Wo die vier Kreuze standen, gruben Neunauge und Plumpudding ein Grab. Der Tote mußte rasch in die Erde. Ehe es so weit war, nahm der Chef ihm alles aus den Taschen. In einer Hülle aus wasserdichtem Stoff fand er eine Kartenskizze. Sie verzeichnete Wasserläufe und Wälder. Der Chef sah, daß die Station Cupeja eingezeichnet war – und dann sah er in einem großen Waldstück, das von zwei Wasserarmen umschlossen war, ein Kreuz. Sofort ging er damit zu den Kranken hin. Sie verstanden ihn. Als er auf das eingezeichnete Kreuz zeigte, gaben sie ihm zu verstehen, das sei das Flugzeug. Hatten sie es erreicht? Nein – einer der Männer, dem er die Karte hinhielt, zeigte ihm den Weg, den sie zurückgelegt hatten. Er zeigte ihm die Flußstelle, wo sie umgekehrt waren: dort mußten sie überfallen worden sein. Von da bis zu dem Kreuz, wo das Flugzeug lag, -404-
war es anscheinend gut noch zweimal so weit, wenn aus dieser rohen Kartenskizze überhaupt etwas über Entfernungen zu entnehmen war. Aber damit war die Kraft des Kranken auch schon erschöpft. Er sank zurück, das Fieber hatte ihn wieder in einem heftigen Anfall gepackt. Keiner der Soldaten war imstande, dabeizusein, als die Vier den Major begruben. »Es ist ausgeschlossen, Chef«, sagte der Graf, als sie dann zu den Baracken zurückgingen, »daß wir auch nur mit einem Kranken rechnen können. Das dauert Wochen, bis sie wieder bei Kräften sind, wenn nicht überhaupt noch Komplikationen eintreten.« »Wir müssen zu dem Flugzeug«, sagte der Chef. »Dann müssen wir vier eben in den beiden Kanus flußaufwärts fahren!« »Ohne jede Ausrüstung?« fragte der Graf. »Wir haben unsere Waffen«, sagte der Chef. »Damit können wir uns die Indianer natürlich vom Leibe halten, wenn wir im Boot sind«, sagte der Graf. »Aber wir müssen ja die Boote verlassen, wir müssen, wie Ihre Karte zeigt, zu Fuß quer durch den Dschungel – und da hilft uns die beste Winchester nichts, Chef. Die nackten braunen Männer sitzen wie unsichtbar in den Bäumen und schießen lautlos ihre Giftpfeile ab; ehe wir wissen, was eigentlich los ist, sind wir erledigt.« »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, sagte -405-
der Chef. »Mir ist so, als ob ich diesen Ausspruch schon einmal gehört hätte«, sagte der Graf. »Vielleicht hat man ihn überhaupt schon so oft gehört, daß man ihn gar nicht mehr äußern sollte – und außerdem: Ist er wirklich richtig? Alles schafft der Wille nämlich auch nicht. Drücken Sie einmal Zahnpasta aus der Tube – und dann drücken Sie das Zeug ‘mal wieder zurück! Was nicht geht, das geht nicht!« »Sie geben auf?« fragte der Chef scharf. »Keineswegs«, sagte der Graf. »Aber wenn wir mit den Indianern nicht verhandeln können, kommen wir nicht durch den Dschungel. Ich kann das nicht, und Sie können das auch nicht. Wir beide können ja nicht einmal von den Fallschirmjägern erfahren, was da eigentlich los gewesen ist.« Er brauchte nicht hinzuzusetzen: »Aber was wir nicht können, das kann GG.« Unausgesprochen lag das in dem, was er sagte, und der Chef hörte es wohl heraus. »Und dann, Chef: Selbst wenn wir mit den Indianern fertig würden – mit den Moskitos werden wir nicht fertig. Ohne Moskitonetze des Nachts kommen wir nicht weiter.« »Habe verdammten Fehler gemacht. Hätte auf GG warten sollen. Sie gewinnen die Wette, Graf!« »Fehler machen wir alle«, sagte der Graf. Er hätte auch bemerken können: »Sehen Sie, -406-
das habe ich Ihnen damals gleich gesagt!« Aber er war ein Mann von Herzensbildung. »Wir können nicht vorwärts«, sagte der Chef, »und wir können nicht zurück. Wir sitzen hier wie die Fliege auf dem Leim.« »Einmal muß ja auch wieder ein Flugzeug kommen«, sagte der Graf. Es kam schon am andern Morgen. Der erste, der herausstieg, war GG. Nach ihm sprang sein Begleiter Figur aus der Maschine auf den Erdboden.
Jetzt geht die Sache voran Sie gaben sich die Hände. »Hallo, GG«, sagte der Chef, »freue mich, daß Sie da sind.« Dann brachte er es doch nicht fertig, sein Erstaunen zu unterdrücken. »Nun sagen Sie bloß, wie kommen Sie jetzt hierher?« »Aber Chef«, sagte GG, »Sie haben mir doch den Auftrag hinterlassen, sofort alles Nötige für eine achtwöchige Dschungelexpedition zu beschaffen und damit so schnell wie möglich nach Cupeja zu fliegen!« Der Chef begriff nichts. »Wo haben Sie den Auftrag bekommen?« »Wie wir es in Peschawar verabredet hatten, bin ich sofort, nachdem Figur und ich in Rio -407-
angekommen waren, zu dem Rechtsanwalt gegangen, und dort erhielt ich den Brief!« »Was für einen Brief?« »Den Brief, den mir der Graf in Ihrem Auftrag geschrieben hat!« Der Graf, der dabeistand, zündete sich eine Zigarette an. »Entschuldigen Sie, Chef«, sagte er dabei, »wenn ich Ihnen damit vielleicht vorgegriffen habe. Aber als wir so plötzlich abflogen, habe ich mir das nicht erst lange überlegt. Und außerdem war ich natürlich daran interessiert, unsere Wette zu gewinnen!« Dem Chef wurde auf einmal so wohl ums Herz. Das war ein Mann, dieser Graf! Er hatte damals erkannt, was der Aufbruch Hals über Kopf für eine Dummheit war, und sofort das einzige getan, was den Fehler reparieren konnte – aber in einer so behutsamen Form, daß der Chef vor GG in keiner Weise bloßgestellt war… »Graf«, sagte der Chef, von Dankbarkeit erfüllt und nahe daran, sein Gefühl zu zeigen. Doch im allerletzten Augenblick bremste er sich wieder ab. Nein, das brachte er doch nicht über sich, hier ein paar Seelentöne von sich zu geben. »Geben Sie mir eine Zigarette, Graf«, sagte er. Seine Stimme klang sonderbar heiser. »Gern«, sagte der Graf und hielt ihm sein Etui hin. »Nun zeigen Sie mal, GG«, sagte er dann heiter, »was Sie mitgebracht haben!« Alles war da: Hängematten, Moskitonetze, -408-
sechs Paar Moskitostiefel. »Lebensmittel habe ich nicht viel gekauft«, sagte GG, »die finden wir im Urwald genug. Nur für alle Fälle eiserne Portionen an Büchsenmilch und dem Allernotwendigsten.« »Und was ist in den Blechröhren?« »Raketen«, sagte GG. »Ich dachte, wir könnten sie brauchen, wenn wir uns auf der Suche nach dem Flugzeug verständigen müssen. Und hier«, sagte er, »haben wir etwas für unsere Freunde im Urwald!« Er machte eine Kiste auf, und sie sahen Messer, Beile, Paketchen mit Sicherheitsnadeln, Angelhaken, Nähnadeln und durchsichtige Säckchen mit großen Glasperlen. »GG«, sagte der Chef, »haben gut eingekauft!« Und mit grimmigem Humor setzte er hinzu: »Hatte es mir genau so vorgestellt! Wenn Sie gleich dagewesen wären, dann wären wir schon weiter!« Sie gingen in die Baracke, wo die Kranken lagen. Der Pilot war ihnen schon vorausgegangen. »Mensch, Figur«, sagte Neunauge stolz, »ich photographiere jetzt! Habe eine fabelhafte Contessa-Nettel, Tropenausführung.« »So?« sagte Figur. »Was hast du denn schon alles geknipst?« »Ach, Verschiedenes«, sagte Neunauge etwas unbestimmt. Er konnte doch unmöglich gestehen, daß ihm bis jetzt noch jede Auf-409-
nahme mißglückt war. »Weißt du was?« sagte Figur. »An deiner Stelle hätte ich mich vor allem mal selber aufgenommen – deine Visage ist ja so geschwollen und rot wie ein Mantelpavian von hinten!« »Wenn du glaubst, daß die Moskitos dich verschonen werden«, erwiderte Neunauge böse, »dann irrst du dich, und wer überhaupt ein Gesicht hat wie du, der sollte sich nicht über andere aufhalten!« In der Tat sah Figur auffallend aus, sonst wäre er ja auch nicht zu seinem Spitznamen gekommen. Auf seinem überaus kräftigen und muskulösen Leib saß ein wahres Kindergesicht, als wäre es in einer Frühzeit steckengeblieben und nicht mit dem Körper zum Manne gereift. Es war klar, was als erstes zu geschehen hatte: der Pilot mußte die Kranken in das nächste Militärhospital bringen und dann den Überfall auf den Major und seine Leute weitermelden. Er meinte, dann würde sofort eine starke Truppe zu einer Strafexpedition gelandet werden. »GG«, sagte der Chef, »fragen Sie die Männer erst noch, wie das Unglück passiert ist!« Das war mit wenigen Worten geschehen. In ihren zwei Kanus waren sie flußaufwärts gepaddelt. Nachdem sie zwei Tage unterwegs gewesen waren, hatte sich der Fluß verengt, und sie waren auf eine Sperre gestoßen, die mit Baumstämmen künstlich angelegt worden war. Sie hatten aber niemand gesehen. Sie -410-
mußten die Sperre umgehen, waren deshalb gelandet und hatten die Kanus getragen. Der Major war mit den sechs anderen, die später gefallen waren, vorangegangen. Plötzlich waren sie mit einem Pfeilregen überschüttet worden, aber auch dabei war nicht ein Indianer zu sehen gewesen. Sie schossen aufs Geratewohl in das Dickicht. »Zurück! Und die Kanus ins Wasser!« war das letzte, was sie vom Major gehört hatten. Gleich darauf mußte ihn der tödliche Pfeil getroffen haben. Noch bis in die Kanus seien ihnen Pfeile nachgeflogen. »Wenn wir nur einen von den Hunden gesehen hätten«, sagten die Männer aufgeregt – »wir hatten Gewehre und genug Munition – aber wir wurden abgeschlachtet wie wehrlose Kinder!« »GG«, sagte der Chef, »fragen Sie, seit wann der Major wußte, wo das gesuchte Flugzeug liegt!« Der Major, erfuhren sie, hatte zu den Fliegern gehört, die auf der Suche nach der verschwundenen Maschine gewesen waren. Er hatte es entdeckt, es photographiert und dann die Kartenskizze gemacht. In seinem Hubschrauber war er nach Cupeja zurückgekommen, hatte aber bei der Landung Pech gehabt, so daß die Maschine nicht mehr zu benutzen war. »Aber warum hat er denn nicht gemeldet, daß er die ›Eldorado‹ gefunden hatte? Wollte er die Belohnung für sich allein haben?« -411-
Nein, deren ganze Summe hatte er den Männern versprochen, die er mit auf die Kanufahrt nahm. Es war nur eins denkbar: er wollte den Ruhm der Entdeckung für sich haben. Eine Stunde später waren sie abtransportiert. »Meine Herren«, sagte der Chef, »so rasch es geht: auf die Suche nach dem Flugzeug! Stellen Sie sich vor, eine Strafexpedition! Dann ist es zu spät. Dann massakrieren die Indianer alles, was ihnen in die Hände fällt. – Wie sollen sich die Passagiere verteidigen?« »Wir müssen Ruderer haben«, sagte GG. »Der einzige Kerl, der uns vielleicht welche hätte verschaffen können, den haben wir mit Erfolg vertrieben!« sagte der Graf, und er erzählte, was mit dem Indianer vorgefallen war. »Eine Halskette mit abgeschnittenen Ohren?« fragte GG überlegend. »Dann war es ein Capanga!« rief er. »So hieß er auch!« sagte der Graf. »Das wissen wir von der Negerin. Caboclo Capanga hat sie ihn genannt!« GG lachte ein bißchen. »Caboclo ist kein Name«, sagte er. »So nennt man alle Halbblutindianer, und Capanga ist ein Beruf.« »Wieso ist Ohrenabschneiden ein Beruf?« fragte der Graf. »Oder habe ich in dem dunklen Mann einen Kollegen zu sehen, der Spezialist für die Chirurgie des Ohres ist?« »Keinesfalls«, sagte GG. »Sie müssen die -412-
abgeschnittenen Ohren als ein in seiner Art durchaus überzeugendes Quittungssystem betrachten. Sehen Sie, wenn irgendwo ein Verbrechen geschieht, es wird meinetwegen ein Familienvater erstochen oder ein Mann erschlagen, weil ein anderer die Diamanten haben möchte, die der Unglückliche gerade gefunden hat, dann ist das natürlich eine Sache für die Polizei. Aber wenn der Übeltäter in den Sertão entweicht, dann kann die Polizei nicht den Urwald durchkämmen. Sie zuckt bedauernd die Achsel und sagt: ›Er ist fort!‹ Man muß zugeben, das ist für die Geschädigten keine befriedigende Lösung, und deshalb wenden sie sich in einem solchen Fall an den Capanga, was man vielleicht am besten mit ›Rächer‹ übersetzt. Der Capanga prüft die Sache. Es ist ein Ehrenpunkt bei ihm, daß er nur da eingreift, wo es die Gerechtigkeit erfordert. Man muß ihn natürlich bezahlen, aber er läßt sich nicht kaufen, und er taucht dann dem Verschwundenen im Sertão nach und verfolgt die Fährte, bis er ihn hat und aus dieser Welt befördert. Dann kommt er zurück und verlangt das wohlverdiente Honorar.« »Aber wer will kontrollieren, ob er auch tatsächlich das Gewünschte besorgt hat?« »Dafür bringt er eben als Beweis die abgeschnittenen Ohren mit. Ihre Ablieferung ist im Preis mit einbegriffen, aber man tut ihm einen Gefallen, wenn man sie ihm nach Kenntnisnahme überläßt, denn ihm dienen sie gewis-413-
sermaßen als Geschäftsempfehlung.« »Jetzt ist mir auch klar«, sagte der Graf, zu Neunauge gewandt, »warum er solche Abneigung gegen deine Kamera hatte – er fürchtete offenbar, daß du für irgendwelche Interessenten sein Bild als warnenden Steckbrief verteilen würdest!« »Wir müssen den Mann haben«, sagte GG. »Wenn wir sein Vertrauen gewinnen, so ist er für uns unschätzbar.« Sie riefen die Negerin, mit der GG sich in lingua geral gut verständigen konnte, aber sie war gar nicht damit einverstanden, daß sich die Senhores nach diesem Caboclo erkundigten. »Chico nao bem«, versicherte sie immer wieder. Da Chico die Abkürzung für Francisco war, ging daraus hervor, daß der Indianer so hieß und getauft war, aber warum er nicht »gut« sein sollte, das wollte sie nicht näher erklären. Immerhin berichtete sie, daß er vielleicht in einer kleinen Siedlung, zwei Stunden flußabwärts, sei, wenn er seine Hütte hier in der Nähe verlassen habe. »Kommen Sie, GG«, sagte der Chef, »sofort hinfahren. Wollen keinen Tag verlieren.« GG sah nach seiner Uhr. »Nach dem Regen, Chef«, sagte er dann. »Nun hören Sie mal, GG«, sagte der Graf, »alles, was recht ist – hier regnet es jeden Tag einmal, und zwar recht kräftig, wie wir bis jetzt bemerken konnten –, aber wieso können -414-
Sie an Ihrer Uhr sehen, wann es regnet?!« »Mein lieber Graf«, sagte GG, »Sie haben also beobachtet, daß es hier jeden Tag regnet, aber es ist Ihnen entgangen, daß es immer nur zwischen drei und vier Uhr nachmittags regnet. Wenn Sie sich erst daran gewöhnt haben, können Sie Ihre Uhr danach stellen!« Drei Uhr zwanzig kam der Sturzregen, und wie jeden Tag hörte er nach wenigen Minuten wieder so plötzlich auf, wie er losgebrochen war. Dann gingen die Männer an den Fluß. »Neunauge«, sagte der Graf, »wir beide bleiben am besten hier, denn wenn der Ohrenspezialist dich so unvorbereitet sieht, denkt er am Ende, er solle mit Gewalt geknipst werden.« Figur saß vorn im Kanu, Plumpudding hinten. Sie beide paddelten. Der Chef und GG saßen in der Mitte. Die Strömung war stark, die beiden Paddler benutzten ihre Paddel eigentlich nur zum Steuern. Sie hielten sich in der Mitte des Flusses, und so glitten sie lautlos mit den Wassern dahin, der wilden Natur ganz eingefügt. Die Wälder waren dichte Wände von hunderterlei verschiedenem Grün. Die Affen zeterten, Papageien kreischten, sie hörten Spechte klopfen. Dann und wann krachte es im Unterholz der Ufer – dann brach sich dort irgendein großes Tier seinen Weg, aber sie vernahmen es nur, sie sahen es nicht. Einmal hörten sie ein lautes Pfeifen. »Tapir«, sagte GG. -415-
Der Chef nickte. Ihm war zumute wie einem Kapitän, auf dessen Schiff der Lotse gekommen ist, und der nun trotz der unbekannten See eine sichere Fahrt verbürgt. Verrückt, daß er sich auf die Wette eingelassen hatte. Wie war ihre Sache vorangekommen, seitdem der Doktor da war! Schluß mit den Dummheiten! Nun waren sie alle sechs wieder beisammen, und es gab nur noch eins: zum Flugzeug, und die Passagiere und die Kinder holen. Der Fluß weitete sich zu einer seeartigen Ausbuchtung. In dem flachen Wasser am Rande standen Störche, weißgefiederte, mit langen, dicken, schwarzen Schnäbeln und orangefarbenen Hälsen. Auf einer Sandbank in der Mitte des Sees lagen Krokodile. Sie waren in der Entfernung kaum von Baumstämmen zu unterscheiden. Graugrün lagen sie da, von Schlamm überzogen, regungslos. Kleine weiße Reiher liefen ihnen auf dem Rücken herum, sogar auf dem Kopf. Das war den vorzeitlichen Ungeheuern offenbar ganz gleich. Jetzt sahen die Kanufahrer eine kleine Siedlung. Die Einwohner liefen zusammen, als sie darauf zuhielten, Männer und Frauen. Sie waren bekleidet – nicht so sehr, daß sie sich in einer Großstadt, ohne Ärgernis zu erregen, hätten bewegen können, aber doch für den Urwald ausreichend, um zu zeigen, daß sie nicht mehr zu den Wilden gehörten, wobei sie freilich nicht wußten, daß dieses Entwicklungsstadium wie jeder Fortschritt bezahlt -416-
werden mußte: die Kleidung machte sie anfällig gegen Erkältungen, die ihre wilden Brüder im Sertão nicht kannten… »Bom dia, compadres!« rief ihnen GG zu, als sie aus dem Kanu ausgestiegen waren. Die Leute lachten vergnügt, aber als er sie fragte: »Wo ist Chico, der Capanga?« wurden alle Gesichter scheu, denn wer wegen des Capanga kam, der kam in einer ernsten Sache. Langsam drehten sich ihre Köpfe nach rechts – und da stand der Mann, den sie suchten, unter einer sehr hohen Miritypalme, aus deren breiten, fächerartigen Zweigen Trauben von scharlachroten Früchten hingen. Unter dem Baum wuchsen schilfähnliche Assai, die sich beim kleinsten Windhauch zitternd bewegen. Auch jetzt bebten sie, obwohl sich sonst kein Blatt rührte. Es sah aus, als hätte sich ihnen die tiefe Erregung mitgeteilt, die den Halbblutindianer erfüllte, der unbeweglich dastand, wie ein bronzenes Standbild. GG ging auf ihn zu. Aber drei Schritte vor ihm blieb er stehen. »Chico«, sagte er in der lingua geral, »Senhores bedauern, du weggehen aus deiner Hütte. Chico, sie wollen sein deine Freunde!« »Mann wollen nehmen meinen Schatten«, sagte der Indianer düster. »Chico ohne Schatten wie Mann ohne Gesicht.« »Dicker Irrtum, Chico«, sagte GG, und dann setzte er ihm die Sache auseinander. In dem Lande, aus dem sie kämen, gäbe es keine Ca-417-
panga. Deswegen hätte Neunauge sein Bild haben wollen, um es seinen Landsleuten zu zeigen, weil sie ihm sonst nicht glauben würden. Chico war interessiert. Keine Capanga? wunderte er sich. Was machten denn da die Leute, wenn ein criminoso, ein Verbrecher, im Sertão verschwand? »Bei uns nada sertão, Chico!« Ungläubig starrte ihn der Indianer an. GG ereiferte sich. Er erzählte ihm, bei ihnen zu Haus sei alles anders – es gäbe andere Tiere als hier, andere Bäume, andere Früchte, andere Sterne – Da konnte sich Chico nicht mehr halten. Er lachte, er lachte, bis ihm die Tränen über sein Gesicht liefen. Nein, so dumm war er nicht, das zu glauben! Als ob es irgendwo anders sein könnte als hier! Das war der beste Witz, den er je gehört, und dieser Senhor, der so herrlich log, war ein Spaßvogel, dem er nicht böse sein konnte. Er rief, was er da gehört hatte, den andern in der Eingeborenensprache zu, und kaum war er zu Ende, als auch sie sich vor Lachen bogen. »Gratuliere zu Ihrem Heiterkeitserfolg«, sagte der Chef, »was ist denn los?« Aber GG winkte ihm nur zu. Er wollte das Eisen schmieden, solange es weich war. Er bot Chico eine Zigarette an, er erzählte ihm, daß sie einen der großen Vögel suchten – -418-
Ja, das war wieder Wahrheit. Diese Vogelmaschinen hatte er gesehen. Und er wußte auch schon, was mit dem Major und seinen Männern geschehen war. Wie sich solche Nachrichten im Urwald sofort verbreiteten, gehörte zu den ungelösten Rätseln. »Caschibo-Indios«, sagte er. Caschibo war der Name der Vampirfledermaus – es waren also Männer vom Stamm der Vampir-Indianer, die an der Flußsperre saßen, Chico machte die Bewegung des Halsabschneidens – es waren offenbar Kopfjäger. GG sah, er hatte es mit einem Manne zu tun, der wußte, was er sagte. »Chico«, sagte er, »wenn du uns Ruderer bringst und wir zusammen den eisernen Vogel finden, bekommst du von uns, was du willst – ein Gewehr oder eine Pistole oder dinheiro (Geld). Du brauchst nur zu sagen: ›Das will ich‹ – und du bekommst es!« Chico atmete tief. GG sah, in ihm arbeitete es schwer. Er brauchte Zeit, bis er ganz erfaßte, was sich da an ungeheuerlichen Möglichkeiten vor ihm auftat. Endlich fand er die Sprache wieder. »Alles, was ich will?« fragte er, ganz leise, als könne ein lautes Wort dieses Traumbild verjagen. »Was du willst, das gebe ich dir«, sagte GG fest. »Bom«, sagte er, nichts weiter, und dann ging er zu den Leuten. -419-
Der Chef und ihre zwei Begleiter hatten sich nicht weit von ihrem Kanu auf einen Baumstamm gesetzt, und GG kam nun zu ihnen. Er berichtete, wie es stand. Sie sahen selbst, wie die Leute heftig miteinander redeten, und nach einer halben Stunde kam Chico mit zehn Männern an. Er machte GG klar, worum es ihnen ging. »Chef«, sagte GG, »man sieht, daß wir es mit zivilisierten Menschen zu tun haben: sie haben Schulden!« Die Männer arbeiteten nämlich für einen Weißen als Gummizapfer. Sie hatten bei ihm aber viel Vorschuß genommen, und sie durften sich keine andere Arbeit suchen, ehe nicht der Vorschuß abgearbeitet oder zurückgezahlt war. »Sagen Sie ihnen, der Weiße soll morgen hierherkommen, dann bezahle ich alle ihre Schulden!« Die Männer schrien: »Katu! Katu!« »Das heißt gut«, sagte GG. »Die Sache ist in Ordnung.« Sie winkten ihnen zu und gingen zu ihrem Kanu. Aber die Indios duldeten nicht, daß die weißen Senhores jetzt selbst stromaufwärts paddelten. Sie holten eine ihrer großen Pirogen heran, in der für zwölf Männer Platz war, und machten das Kanu der Weißen am Heck fest. Sechs Männer paddelten, und das große Boot schnitt gut durch die Wasser. So ruderten sie geradezu in den Sonnenuntergang hinein. Der Himmel vor ihnen war wie strahlendes Gold, purpurne Wolken zogen -420-
über sie hin. Die Palmenufer waren in Gold und Rosenrot getaucht, das Wasser schimmerte in einem Violett von unvorstellbarer Leuchtkraft – und plötzlich war um sie die schwarze Nacht. Aber als das Dunkel um sie gefallen war, fingen die Ruderer an zu singen: »Ulalu lo – ulalu lo« – und singend fuhren sie auch wieder zurück, als sie die Weißen abgesetzt hatten. »Herrschaften«, sagte der Graf, »macht doch den guten Kindern noch eine Freude: Wozu haben Sie denn das Feuerwerk mitgebracht, GG?« Schnell öffneten sie die Blechröhre, nahmen eine Rakete heraus und liefen damit ans Ufer. Zischend fuhr sie hoch. Aufsteigend streute sie in das Dunkel der Nacht ihre Goldfunken. Ein leiser Knall, und eine Garbe von weißen Sternen perlte auf die schwarzen Wasser herab. »Freudenrakete, weil Sie da sind, GG.‹« sagte der Chef. »Und ein Zeichen für Sie, Graf: Sie haben die Wette gewonnen – ohne GG geht es nicht.« GG lachte. »Worum ging denn die Wette?« »Ach«, sagte der Graf, »nur um einen Witz.« »Nein«, sagte der Chef, »um mehr: um Einsicht.«
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An der Flußsperre der Vampir-Indianer Die Negerin, die sonst für die Fallschirmjäger kochte und allein in Cupeja zurückblieb, winkte ihnen nach – und die Kanus, mit Axt und Feuer ausgehöhlte Baumstämme, zwölf Meter lang, nicht ganz einen Meter breit, gingen stetig gegen die Strömung des Flusses an. In jedem saßen vier Indios und zwei Weiße. Die braunen Männer hockten im Vorderteil paarweise nebeneinander und ruderten mit ihren kurzen, löffelförmigen Pagais ganz ausgezeichnet im Takt, und das hatte keineswegs das Entseelte einer automatischen Bewegung – es war, als ob sich ihre braunen Leiber im Rhythmus eines Tanzes nach vorn neigten und wieder fallenließen. Sie sangen auch dazu. Im vordersten ruderte Chico mit drei Indianern, und im Hinterteil des Bootes saßen der Chef und GG Im zweiten folgte der Graf mit Neunauge, und den Beschluß bildeten Plumpudding und Figur. Die Vier, die schon längere Zeit als die beiden Nachzügler in den Barakken von Cupeja zugebracht hatten, waren aufgelebt. Dank den Moskitonetzen hatten sie die Nächte endlich ungestört schlafen können, und so fuhren sie gut ausgeruht den Abenteuern des geheimnisvollen Sertão entgegen. In großer Spannung hielt Neunauge seinen Apparat schußbereit. Undurchdringlich schienen diese Mauern von lebendem, wucherndem -422-
Dschungelwald. Das Palmengewirr neigte sich noch über die Wasser und spiegelte sich darin. Massive silberweiße Stämme hoben sich ab gegen eine Wand von dunklen Blättern, und hoch über einem Meer von gelben und purpurroten Blüten breiteten die Jacitara, wahre Urwaldriesen, ihre Zweige wie gewaltige Schirme aus. In allen Schattierungen leuchtete es grün, von bläulichsatten Tönen der Baumblätter bis zu den hellen, zarten, sonnenschimmernden der Schlinggewächse. Aber das interessierte Neunauge nicht, Farben konnte er nicht photographieren, – auf Tiere lauerte er, auf die wilden Tiere des Dschungels. Und er wartete nicht umsonst. In das dichte Unterholz waren immer wieder Durchgänge gebrochen, die sich die großen Tiere, Tapir und Jaguar, als Zugang zum Wasser gebahnt hatten – hier mußte er doch zu einem lohnenden Bildschuß kommen! Zentnerschwere Wasserschweine sah er, die am Ufer wie Hunde auf den zusammengezogenen Hinterbeinen saßen; ihr dünner Pelz sah aus, als sei er mit einem Ungewissen Braun angestrichen, dem der Maler da und dort Rot oder Gelb zugesetzt hatte. Stumm und dumm glotzten sie die Vorüberfahrenden an. Sie rührten sich nicht vom Fleck – offenbar kannten sie den Menschen noch nicht. Auch die großen Hokkos, die oben auf den Bäumen saßen, beachteten die Kanus nicht. Die blauschwarzen Vögel mit den hornfarbenen Schnäbeln und den fleischroten Füßen, die sich immer in den Wipfeln aufhalten, -423-
waren nicht gewohnt, daß ihnen von Wesen, die auf dem Erdboden oder im Wasser lebten, irgendwelche Gefahr drohte. Auch GG hatte sie gesehen. »Die Indianer«, bemerkte er zum Chef, »erzählen, daß diese Vögel ihr Huhuhu immer dann schreien, wenn das Kreuz des Südens seine größte Höhe erreicht, und tatsächlich – immer um vier Uhr morgens, ehe das Sternbild wieder sinkt, habe ich sie schreien hören!« »Höchst einfach«, sagte der Chef. »Schreien eben immer in aller Herrgottsfrühe, wenn es hell wird.« »Aber nun stellen Sie sich vor«, sagte GG, »es war der 4. April, da hatte der Anfang des Kreuzes nachts um 11 Uhr 25 eben den Meridian erreicht – und in demselben Augenblick habe ich sie schreien hören, mitten in der dunklen Nacht – was sagen Sie nun?« Der Chef kam nicht dazu, darauf zu antworten. »Jaguar!« sagte er. Ja, da stand er, der Herr des Dschungels, dicht am Wasser, am Ende eines schmalen Pfades, den er sich gebahnt hatte. Es war ein mächtiges Tier, fast so groß wie ein ausgewachsener Tiger, das rötlichgelbe Fell übersät mit schwarzen Flecken. Auch er rührte sich nicht vom Fleck, aber die Raubkatze ließ den Blick nicht von den langsam vorübergleitenden Menschen, und sein dicker Schwanz schlug hin und her. -424-
»Knips« machte der Verschluß, und Neunauge sagte befriedigt: »Den hätten wir!« Wie eine weiße Wolke ließen sich silbergraue Reiher nieder, und noch immer stand der Jaguar unbeweglich. »Es ist wie im Paradiese«, sagte Neunauge ganz hingerissen. Doch da rauschte hinter ihnen das Wasser auf, Wasserschweine mußten sich Hals über Kopf in das rettende Element gestürzt haben, aber nicht schnell genug, denn ein schrilles, an die Nerven gehendes Quieken durchschnitt die täuschende Stille – der Jaguar hatte eins gepackt. »Es ist nichts mit dem Paradies, Neunauge«, sagte der Graf. Jetzt klang sein dumpfes Gebrüll über das Wasser, danach war es wieder still. »Der Herr des Dschungels hat gesprochen«, sagten die Indianer. So unbekümmert und heiter die braunen Männer den ersten Tag gerudert hatten, so vorsichtig wurden sie am zweiten. Immer hielten sie genau in der Mitte des Flusses, und immer wieder hatten sie die Augen auf die Ufer gerichtet. Es war klar, sie fürchteten ihre wilden Brüder. Jetzt verengte sich der Fluß gefährlich; schon konnten sie auch in der Mitte des Wassers von Pfeilschüssen erreicht werden. Nun sahen sie die Flußsperre, und wie auf Kommando brachen die Indianer in ein lautes Geschrei aus. »Warum das?« fragte der Chef. »Sie zeigen an, daß wir Freunde sind«, sagte -425-
GG »Feinde kommen lautlos.« Es war unmöglich, die Baumsperre zu durchbrechen. Chico winkte, und die drei Kanus glitten dem rechten Ufer zu, wo eine etwas freie Stelle zum Landen verlockte. »Chico, da outra banda!« (»Das andere Ufer!«) flüsterte GG. Chico drehte sich um – jetzt sah er auch, was GG gesehen hatte: auf dem andern Ufer standen hinter einem heckenartigen Sausogebüsch Indianer. Deutlich sahen sie die nackten Oberkörper und die Papageifedern im Haar. »Wir sind Freunde! Freunde sind wir!« rief Chico hinüber. Die Männer drüben antworteten nicht. Rasch ließ sich Chico ein Beil, ein Säckchen mit Angelhaken und eins mit Glasperlen geben. Damit ruderte er hinüber. Er hatte den schmalen Flußarm noch nicht zur Hälfte durchquert, als die Männer schon verschwunden waren. Doch er ließ sich dadurch nicht beirren. Kurz bevor er das andere Ufer erreicht hatte, rief er noch einmal: »Freund! Freund!« Er sprang dann an Land, legte seine Gaben nieder und ruderte zurück. Die Männer rüsteten sich zum Bleiben. Sie machten ihre Hängematten an den Bäumen fest und zogen deren Seile durch die festanschließenden Gazeärmel des Moskitonetzes. Tapirhäute, die Chico mitgebracht hatte, legten sie darunter, damit die Insekten keinen -426-
Zugang vom Grase her hatten. Plötzlich schoß ein Pfeil fast senkrecht von oben herunter und fuhr dicht am Wasser in den Boden. Er war lang, sein Schaft bebte noch nach, und die roten Papageifedern, die an seinem Ende saßen, zitterten. Die Männer sprangen zurück. Sie griffen nach den Gewehren. Aber Chico rief: »Nicht! Nicht!« Wieder schoß ein Pfeil herab und fuhr drei Meter vor dem ersten in den Boden, gleich darauf ein dritter, der wieder haargenau denselben Abstand vom ersten hatte. »Geschenke!« sagte Chico. »Schenken euch Pfeile für Beil und Angelhaken und Glasperlen.« »Noble Leute«, sagte der Chef. »Wollen nichts umsonst.« Jetzt klang von drüben her Geschrei. »Táhaha, táhaha!« war deutlich zu hören. Aber das war eine Sprache, die selbst GG nicht verstand. »Táhaha bom amigo!« erklärte Chico. »Sie haben unser Freundschaftsangebot angenommen«, sagte GG, »ich glaube, wir können ruhig schlafen.« Die Dunkelheit brach herein, und sie hörten von den Indianern nichts weiter. Aber am andern Morgen hatte sich eben die erste Helle gezeigt und die Affen ihr wildes Geschrei erhoben, mit dem sie den Tagesanfang begrüßen, als von der andern Seite der Sperre, also weiter flußaufwärts, -427-
sieben Kanus heranschossen. Wieder schrien die Indianer ihr »Táhaha, táhaha«, und die Weißen antworteten dasselbe. Es waren fünfundzwanzig braune Männer, die bis auf ihren Lendenschurz nackt waren. An Armen und Beinen trugen sie Ringe aus Palmbast. Nur einer von ihnen hatte einen Kopfputz aus orangeroten und grünen Federn, offenbar der Tuschaua, der Häuptling. Alle waren mit Bogen und Pfeilen bewaffnet. Auf den Pfeilspitzen saßen Hütchen aus Palmblättern. Von Wuchs waren die Männer nicht groß. Sie drückten ihre Augen zusammen, als könnten sie helles Licht nicht vertragen. Sie setzten sich stumm auf die Erde, und die Weißen und Chico setzten sich ihnen gegenüber – aber ihre Ruderer blieben stehen, bereit, im nächsten Augenblick in die Kanus zu stürzen. Ihnen war anscheinend bei dieser Begegnung mit den Sertão-Indianern nicht wohl. Das Palaver konnte beginnen. Doch noch ehe ein Wort gefallen war, warf der Häuptling den Weißen das Säckchen mit den bunten Glasperlen vor die Füße. »Sage dem Häuptling«, beantwortete GG diese unfreundliche Geste, »die Perlen gehörten ihm. Er soll sie seinen Frauen geben!« Chico übersetzte das, und was er von den Indianern hörte, sagte er zu GG in der lingua geral, und GG übersetzte das wieder den Weißen. »Wir brauchen deine Perlen nicht«, antwor-428-
tete der Häuptling, »denn der Stamm der Vampir-Indianer hat keine Frauen mehr.« »Eine böse Krankheit ist über deinen Stamm gekommen«, sagte GG bedauernd. »Eine sehr böse Krankheit«, antwortete der Häuptling, »die weiße Pest!« Und in feierlicher Weise, welche die Zuhörer ergriff, auch wenn sie seine Worte nicht gleich verstanden, berichtete er eine Urwaldtragödie. Eine Bande von Seringueiros, von weißen Gummisuchern, hatte ihr Dorf überfallen, als alle Männer fort waren, um Schildkröteneier zu holen. Sie hatten die Alten und die Kinder in den Fluß geworfen, wo die Piranhas sie zerfleischt hatten, und die jungen Frauen hatten sie geraubt »Deshalb haben die Männer der VampirIndianer allen Weißen den Tod geschworen. Es soll keiner mehr seinen Fuß in ihr Gebiet setzen!« »Was soll man da antworten?« fragte GG empört. »Muß ich ihnen nicht sagen, daß sie recht haben?« »Sagen Sie ihnen«, bemerkte der Graf, »daß wir uns außerordentlich wundern, noch am Leben zu sein; wir hätten es von ihrem Standpunkt aus durchaus in der Ordnung gefunden, wenn sie uns in der Nacht die Kehlen durchgeschnitten hätten.« Der Chef gab einen zustimmenden Knurrlaut von sich und rauchte seine Pfeife stumm weiter. -429-
»Ihr habt uns Geschenke gegeben«, fuhr der Häuptling fort, »und wir haben sie genommen. Deshalb haben wir euch nicht getötet. Aber auch ihr dürft nicht im Gebiet unseres Stammes bleiben. Darum sage ich euch: Kehrt um, ehe wir euch eure Geschenke zurückgeben und euch töten, wie wir die Männer getötet haben, die vor euch gekommen sind!« Der Chef nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Sagen Sie ihnen, wir wollten nicht in ihr Gebiet. Wir gingen nicht an Land, sondern blieben auf dem Fluß. Sie sollen bis an die Grenze ihres Gebiets mit uns fahren, damit sie sehen, daß wir weiterfahren.« Als der Häuptling das vernommen hatte, sprach er mit seinen Männern. Aber dann sagte er sehr bestimmt: »Die Vampir-Indianer wollen nicht, daß die weißen Männer durch ihr Gebiet fahren. Sie wollen, daß ihr umkehrt.« Der Chef ergriff wieder das Wort. »Sagen Sie ihnen noch dies: wenn ihr uns bis an eure Grenze begleitet, dann sagen wir euch dort etwas, das rettet euer Leben. Sonst seid ihr alle tot, ehe der neue Mond kommt.« Die geheimnisvollen Worte machten die Männer bestürzt. Man sah es ihren Gesichtern an, und der Häuptling antwortete darauf nicht, als denke er über ihren Sinn nach. Der Graf hatte sich eine neue Zigarette genommen, aber als er nach seinen Streichhölzern faßte, war die Schachtel leer. Doch hatte er, als er in die Tasche griff, das Objektiv gefühlt, das er -430-
sich von Neunauges zerstörtem Apparat genommen hatte, und da die Morgensonne heraufgekommen war und gerade auf sie schien, nahm er das Objektiv heraus, benutzte es wie ein Brennglas und zündete so seine Zigarette an. Die Indianer wurden grau im Gesicht. Offenbar bezwangen sie nur mit äußerster Mühe ihren Schrecken vor diesem Weißen, der Feuer aus dem Licht der Sonne holte. Auch Chico und seine Leute waren sehr betroffen. Als der Graf das Objektiv wieder in die Tasche steckte, waren alle Braunen erleichtert: Wer konnte wissen, ob nicht plötzlich der ganze Wald um sie in Flammen stünde?! »Wir werden mit euch fahren«, sagte der Häuptling langsam. »Es ist besser, ihr geht dorthin, wohin ihr wollt, als daß ihr uns dient wie die Männer, die vor euch kamen.« GG stutzte, als er das hörte, und besprach sich erregt mit seinen Freunden. »Das klingt doch, als ob die Fallschirmjäger noch lebten!« sagte er. »Dann haben die Indianer sie nur verwundet und halten sie gefangen!« sagte der Graf. »Fragen Sie, GG, schnell!« sagte der Chef. »Leben die Männer noch, die vor uns kamen und auf die ihr geschossen habt?« »Sie müssen uns dienen«, sagte der Häuptling. »Chef«, sagte der Graf, »die Gefangenen -431-
kaufen wir ihnen ab.« »Ja«, sagte der Chef, »und wir bezahlen sie gut, damit sich die Indianer bei einem andern Stamm neue Frauen kaufen können!« »Großer Tuschaua«, sagte GG, »wir werden dir die Männer, die euch dienen, abkaufen – seht alle her, was wir euch bieten! Wieviele Männer waren es?« fragte er. »Sechs«, sagte Chico. Figur brachte die Kiste mit den Geschenken. GG nahm sechs Beile heraus und legte sie nebeneinander hin, aber mit Abständen. Dann tat er zu jedem Beil noch ein Messer. Die Augen der Vampir-Indianer wurden groß. Sie starrten begierig auf diese Schätze, und trotzdem schien es, als sei ihnen der Preis noch nicht hoch genug. Es mußte ihnen sehr viel an den sechs Gefangenen liegen. »Lassen Sie sich nicht lumpen, GG«, sagte der Chef. GG nahm aus der Kiste eine Blechbüchse, öffnete sie und schüttete dem Häuptling daraus etwas in dessen ausgestreckte Hand. Er kostete. Es war Salz. »Sul«, sagte der Häuptling, ein Wort, das sie sich aus dem portugiesischen sal zurechtgemacht hatten. Die Männer stöhnten vor Aufregung – das war die größte Kostbarkeit im Dschungel. Wenn sie Fleisch überm Feuer brieten, ließen sie es außen verbrennen, um mit dem Verbrannten wenigstens einen salzartigen Geschmack zu -432-
bekommen. GG stellte die Blechbüchse zu den andern Gaben. Die Indianer redeten heftig miteinander. Aber dann ebbte die Erregung ab. »Nein«, sagte der Häuptling fest. Aber in den Gesichtern der Männer lag schmerzliche Trauer. »Graf«, sagte der Chef, »nehmen Sie das Objektiv 'raus! Müssen den Männern Angst machen!« »Das tue ich sehr ungern«, sagte der Graf. »Aber wo kommen wir hin auf dieser Erde, wenn wir nur das tun wollen, was uns Freude macht?! Und vielleicht rette ich damit den armen Kerlen das Leben!« Er holte die Linse hervor. Von den Geschenken, die GG ausgepackt hatte, lag Papier auf der Erde. Der Graf richtete die geschliffenen Gläser darauf. Das Papier bräunte sich, fing an zu brennen und rollte sich zusammen, ein dünnes Blatt schwarze Asche. Die Indianer hatten sich entsetzt erhoben, auch der Häuptling. Der unheimliche Zauber hatte seine Wirkung getan. »Es ist gut«, sagte der Häuptling. Sie hoben die Beile und die Messer auf, die Büchse mit dem Salz nahm der Häuptling selbst. »Wir kommen nach dem Regen«, sagte er. Sie kamen pünktlich. Die Blätter waren von dem Guß noch nicht wieder trocken, als sich dem Lagerplatz ein Kanu näherte. Ein einzi-433-
ges. Die weißen Männer standen voller Erwartung am Ufer. »Das Kanu hat doch nicht für neun Männer Platz!« sagte Figur. »Es sind überhaupt nur drei Indianer drin«, sagte Plumpudding. »Häuptling dabei«, sagte Chico. Das Kanu lief in der Bucht ein. Die Indianer stiegen aus. Der Häuptling hatte ein Gefäß in der Hand. Es war aus Bambus, den sie ausgehöhlt und so abgeschnitten hatten, daß die Teilung eines Gelenks einen Boden ergab. Feierlich überreichte er es GG. Es war mit einem Palmblatt zugedeckt. GG nahm es fort und schaute hinein. Es war mit einem Mehl aus zerstoßenen Knochen gefüllt. Plötzlich begriff er. »Dies«, sagte er, und seine Stimme klang rauh, »dies ist alles, was von den sechs Gefangenen noch existiert. Sie haben nicht mehr gelebt. Die Indios haben die Toten wie ihre eigenen behandelt: erst in den Dschungel gelegt, bis das Getier die Knochen freigefressen hat, dann die Knochen zerstampft, und das Mehl rühren sie sich in ihr Schipäh, ihr Rauschgetränk. Sie glauben, daß sie sich damit die Kraft der Toten einverleiben.« Betroffen standen die Männer da. »Interessant«, sagte der Graf, »und erstaunlich, worauf die Menschen alles kommen.« -434-
»Nicht zu teuer bezahlt«, sagte der Chef. »Werden sie anständig begraben.« »Komm«, sagte Plumpudding zu Figur, »wir wollen Holz für ein Kreuz schneiden!«
Die Raketen Zwei Tage lang hatte der Häuptling der Vampir-Indianer mit seinen beiden Ruderern die Kanus der Weißen begleitet. Die undurchdringlichen Dschungelwälder auf beiden Ufern hatten sich in einer erhabenen Eintönigkeit nie gewandelt. Nur schmäler wurde der Fluß, und es sah aus, als würden die grünen Uferwände noch zu einem Tunnel zusammenrücken. Schon neigten hin und wieder Palmen von beiden Ufern einander zu und ließen dann nur noch einen schmalen Strich Himmel sehen. Dieselben Vögel waren immer wieder zu sehen, dieselben Laute unsichtbar bleibender Tiere immer wieder zu hören. Es war, als führen sie da jenseits aller Zeit, wo alles nur wucherte, faulte, und wieder wuchernd aufschoß. Schließlich schien der Wasserweg zu Ende. Jetzt stellte sich ihnen nämlich eine dritte Waldwand quer entgegen, die den Fluß abzuriegeln schien. Erst als sie näher kamen, sahen sie, daß es eine Insel war, die das Wasser in zwei schmalen Armen umschloß. Ihre hohen -435-
Palmen waren mit Mavacure-Lianen behangen, aus deren milchigem Saft die Indianer das Kuraregift kochen. Hier steuerte das Kanu des Häuptlings dicht an das, in dem GG und der Chef saßen, und als die beiden Einbaumboote nebeneinander lagen, sagte der Häuptling: »Fahrt weiter, weiße Männer! Von nun an werden euch andere töten!« Sie waren also an der Grenze des Gebiets angelangt, das die Vampir-Indianer als das ihre ansahen. »Machen Sie dem Häuptling klar«, sagte der Chef, »daß er mit seinen Leuten nicht an der Stromsperre bleiben kann, sondern ins Innere verschwinden muß, ehe die Strafexpedition kommt!« Aber in so wenigen Worten konnte GG das nicht verdeutlichen. »Häuptling«, sagte er, »höre mir gut zu und vergiß meine Worte nicht! Böse Männer sind über euch gekommen, Weiße wie wir, und wir schämen uns, daß wir dieselbe Hautfarbe haben wie sie. Würden wir ihnen begegnen, so würden wir sie fesseln und gebunden dem primeiro tuschaua, dem obersten Häuptling, dem Senhor Governador ausliefern, und er würde sie als Mörder und Räuber aufhängen lassen. Aber sie sind im Sertão verschwunden. Andere weiße Männer kamen in euer Gebiet. Auch sie hätten jene Mörder und Räuber gefesselt, wenn sie ihnen begegnet wären, denn sie waren soldados, die auf das Wort des Go-436-
vernadors hörten. Aber ihr habt sieben von ihnen getötet, sieben Männer, die euch nichts getan hatten und die keine Freunde der Mörder und Räuber waren, und einer von ihnen war ein großer Tuschaua. Blut habt ihr vergossen, und jetzt werden andere soldados kommen, um euer Blut zu vergießen. Sieben habt ihr getötet, und sie werden zehnmal sieben von euch töten. Wir aber sind eure Freunde, und hört auf das Wort, das euch Freunde sagen: Zieht fort von der Sperre im Fluß! Nehmt sie weg, daß niemand mehr weiß, wo sie war. Taucht unter im Sertão, und dann wird euch keiner finden. Vergrabt euern Namen im Dschungel, gebt euch einen anderen – und wenn es keine Vampir-Indianer mehr gibt, dann kehren die soldados um, und ihr lebt wie früher, ehe die Räuber und Mörder über euch kamen.« »Wir können die Mörder und Räuber nicht vergessen«, sagte der Häuptling, »aber wir werden auch euch nicht vergessen. Möge es euch nie geschehen, daß eure Hütten verbrannt werden, daß ihr eure Väter und Mütter und Kinder tot findet, wenn ihr von der Jagd in euer Dorf kommt, und daß Räuber eure Frauen fortschleppen!« Das Kanu mit den drei Indianern fuhr stromabwärts, und sie sahen ihm nach. »Was hat er noch gesagt?« fragte der Graf, und GG berichtete. »Ein frommer Wunsch«, sagte Figur. »Der -437-
gute Mann hat keine Vorstellung, daß wir in Europa geordnete Zustände haben!« »Und so überaus vortrefflich geordnete«, sagte der Graf, »daß sechs Männer es vorziehen, im Dschungel Brasiliens auf Abenteuer auszugehen!« Sie konnten nicht ahnen, daß in diesem Europa dann ein Krieg begann, in dem das geschah, von dem der Häuptling der VampirIndianer ihnen gewünscht hatte, daß sie es nie erleben möchten, und wo die Menschen von abenteuerlichen Schicksalen heimgesucht wurden, die wilder und schrecklicher waren, als es die Abenteuerlustigsten unter ihnen je geträumt hatten. Das Kanu des Häuptlings war nicht mehr zu sehen. »Chef«, sagte GG, »den Stamm haben Sie vor dem Untergang gerettet.« »Und einen andern dem Untergang ausgeliefert«, sagte der Chef. »Denn wenn die Strafexpedition die Vampir-Indianer nicht findet, fällt sie vermutlich über irgendeinen andern Stamm her, – der Major, der sie führen wird, kann doch nicht melden, er habe keine Indianer gefunden.« »Siehst du, Neunauge«, sagte der Graf, »es ist wirklich nicht wie im Paradiese.« Doch Neunauge war in Gedanken ganz woanders. »Ich hätte den Häuptling knipsen sollen«, sagte er. »Aber ich dachte, er nähme es mir übel, wie Chico. Und jetzt ist er fort!« -438-
»Wie groß ist eigentlich so ein Stamm?« fragte der Graf. »Das ist verschieden«, antwortete GG. »Aber die meisten Stämme sind klein, vielleicht zehn bis zwanzig Familien.« Sie waren an Land gegangen und hatten die Karte vor sich, die als Hinterlassenschaft des Majors in ihre Hände gelangt war. Die Insel war eingezeichnet. Danach wurde der Fluß bald wieder breiter. Zweimal mündeten in ihn von links kleinere Zuflüsse. An der Mündung des zweiten mußten sie die Kanus verlassen und sich quer durch den Dschungel in südöstlicher Richtung einen Weg bahnen, dann mußten sie auf die lichte Stelle kommen, wo die »Eldorado« lag. Wie weit das sein würde, konnten sie nicht wissen, denn die Kartenskizze gab ja keine genauen Entfernungen an, sondern nur die ungefähre Lage. »Aufbruch!« sagte der Chef, und wieder vergingen anderthalb Tage, bis sie die zweite Flußmündung erreicht hatten. Sie zogen die Kanus an Land und verbargen sie sorgfältig. Ebenso versteckten sie die Kiste mit den Geschenken, nahmen daraus aber so viel mit, wie sie in ihren Taschen unterbringen konnten. Moskitonetze, Hängematten, ihre Waffen und Figurs Taschenlampe, das war ihr Gepäck; daß Neunauge sich nicht von seiner Contessa trennen konnte und allem, was dazugehörte, versteht sich von selbst. »Raketen mitnehmen«, sagte der Chef. Figur -439-
holte die Blechröhre, die sie enthielt, und machte an ihr einen Strick fest, so daß einer der Indianer sie sich umhängen konnte. »Brauchen wir die wirklich?« fragte der Graf. »Wenn wir die Kinder haben«, sagte der Chef, »machen wir ein Freudenfeuerwerk.« Darauf sagte der Graf nichts weiter. Aber wer ihn kannte, merkte es ihm an, daß er mit irgend etwas nicht einverstanden war. Sie machten sich auf den Marsch durch den weglosen Dschungel. Als erster ging Chico, hinter ihm der Chef, den Kompaß griffbereit. Dann kamen die Indianer, die wie Chico den Weg durch das Unterholz mit den Facãos bahnten. Das waren große Messer, die der mexikanischen Machete ähnelten, nur waren sie nicht so schwer, was natürlich ein Nachteil war. Langsam ging es vorwärts, Schritt für Schritt. Der Boden war sehr uneben, und die Indianer, die barfuß waren, sahen immer erst vorsichtig nach Schlangen. Als sie abends am Feuer saßen, spürten sie, welche Strapaze sie hinter sich hatten. Trotzdem brachte es der Graf nicht fertig, sich schlafen zu legen, ohne das zu verhandeln, was ihn den ganzen Tag beunruhigt hatte. Aber höchst behutsam schlich er sich an die Sache heran, die ihm heikel vorkam. »Wie ist eigentlich Ihr Plan, Chef?« fragte er leichthin, als wolle er nur vor dem Schlafengehen ein bißchen Konversation machen. -440-
»Sache ist ganz einfach«, sagte der Chef. »Brauche gar keinen Plan. Nehme an, unsere Richtung stimmt. Marschieren so lange, bis wir auf die ›Eldorado‹ stoßen. Dann sofort zurück. Sind Passagiere dabei, die nicht gehen können, werden sie von unseren Ruderern in Hängematten getragen.« »Und die Kinder?« fragte GG. »Laufen mit oder werden getragen.« »Und wenn sie weder laufen noch getragen werden wollen?« »Werden mir hoffentlich zutrauen, GG, daß ich mit zwei dreizehnjährigen Kindern fertig werde«, sagte der Chef und lachte ein bißchen. »Wieviel Kinder haben sie schon großgezogen?« erkundigte sich der Graf interessiert. »Noch keins«, knurrte der Chef. »Bin aber selbst Kind gewesen.« »Ich habe nie daran gezweifelt, Chef«, sagte der Graf, immer in seinem liebenswürdigen Ton. »Aber nun stellen Sie sich doch einmal vor, Chef, Sie seien wieder dreizehn Jahre alt. Sie seien aus irgendwelchen Gründen von zu Hause ausgerückt. Mitten im Urwald treffen Sie auf sechs ausgezeichnete Männer, die Ihnen sagen: ›Mein lieber Junge, jetzt aber nichts wie nach Hause!‹ Was hätten Sie dann getan?« »Die sechs ausgezeichneten Männer hätten mich nie getroffen«, sagte der Chef. »Ehe sie -441-
mich gesehen hätten, wäre ich verduftet.« »Aha«, sagte der Graf. »Genau so habe ich Sie eingeschätzt – Sie waren auch als Dreizehnjähriger ein aufgeweckter Bursche. Aber nun sagen Sie mir, Chef – glauben Sie, daß diese beiden brasilianischen Kinder sich anders verhalten als ein drahtiger englischer Boy?« Ehe der Chef antworten konnte, nahm GG das Wort. »Ich meine«, sagte er, »wir sollten uns dem Flugzeug ungesehen nähern. Wenn wir da ganz plötzlich erscheinen, haben wir das Moment der Überraschung für uns – und wenn wir uns dann sofort mit den Kindern anfreunden, stecken wir sie in die Tasche.« »Viel Umstand«, sagte der Chef brummig. »Soldaten können Sie einfach befehlen, Chef«, sagte der Graf. »Aber ich glaube, das geht bei Kindern der Zivilisation so wenig wie bei den Naturkindern des Sertão. Wenn wir die Vampir-Leute nicht für uns gewonnen hätten, wären sie sicher schon dabei, uns zu Knochenmehl zu verarbeiten.« »Und noch eins, Chef«, sagte GG. »Wir wissen nicht, warum die beiden Kinder, die von ihrem Vater haben können, was sie nur wünschen, in die Wildnis fliehen wollen. Das muß doch einen Grund haben. Vielleicht haben sie gar nicht so unrecht mit ihrer Flucht?« »Sie finden es also richtig«, sagte der Chef mit überlegener Heiterkeit, »daß ein Junge -442-
und ein Mädchen in den Urwald ausreißen?« »Nicht ganz«, erwiderte GG. »Aber vielleicht ist diese Flucht nur der falsche Ausweg aus einer echten Not? Soll ich sie da etwa in diese Not zurückschleppen, damit sie dann wieder fliehen, und vielleicht geht diese zweite Flucht schlimmer aus als die erste?« »Sie wollen also den Kindern freistellen, ob sie mit uns zurückwollen oder nicht?« »Ich werde sie zu überzeugen suchen, daß es gut für sie ist, mit uns zu gehen.« »Sie behandeln Kinder demnach wie Erwachsene?« »Ich behandle auch Erwachsene unterschiedlich, aber Kinder jedenfalls mit demselben Respekt wie Erwachsene.« »Ich erinnere mich noch deutlich«, sagte der Graf, »wie sehr es mich als Kind kränkte, daß man mir diesen Respekt nicht zubilligte. Als ich dreizehn war, fand ich es zum Beispiel empörend, daß mein Vater Briefe aufmachte, die an mich gerichtet waren, und sie las, ehe ich sie zu Gesicht bekommen hatte.« »Meine Herren«, sagte der Chef, »habe im Urwald noch keinen Postboten gesehen. Sind hier im Dschungel und nicht in ‘ner Sonntagsschule. Hier muß zugepackt werden. Gute Lehren – sehr schön. Aber predigen – nicht unsere Sache. Müssen handeln.« »Meinen Sie nicht, Chef«, fragte GG, »daß Lehren dazu da sind, verwirklicht zu werden?« -443-
Der Chef lachte. »Wo kommen wir da hin?« sagte er. »Jetzt behaupten Sie nur noch, Sie würden auch Ihre linke Backe hinhalten, wenn sie eins auf die rechte bekommen hätten!« »Ich würde mich freuen, wenn ich das fertigbrächte«, sagte GG langsam. Einen Augenblick war Schweigen um sie, als ob der Gehalt des tiefen Worts, das hier genannt worden war, sich auswirke. Dann fuhr GG fort: »Sehen Sie, Chef, da war ein Landsmann von Ihnen, ein Kriegsdienstverweigerer, Gehilfe bei einer Quäker-Mission geworden. Die Station wurde von Kurden überfallen. Sie schlugen alles kurz und klein, nur mit einer Geldkassette wurden sie nicht fertig, denn soviel sie auch daran herumhämmerten, sie bekamen sie nicht auf. Da holte Ihr Landsmann den Schlüssel aus seiner Tasche, schloß die Kassette auf und sagte: ›Nehmt!‹« »Und da lachten die Kurden über den Idioten und steckten das gute Geld ein!« sagte der Chef. »Irrtum, Chef«, sagte GG. »Sie nahmen keinen Piaster, sie gaben heraus, was sie sich schon angeeignet hatten, und ritten ziemlich zerknittert davon.« »Ebensogut hätten sie auch noch die Piaster einsacken können«, sagte der Chef. »Haben Sie eine Garantie dafür, daß die Sache in Ihrem Sinne ausgeht?« »Eine Garantie? Nein. Das Wort Gottes muß -444-
gewagt werden. Er kommt uns nicht entgegen. Das müssen wir schon tun.« »Ich meine, es ist hohe Zeit, daß wir uns in die Hängematten legen«, bemerkte der Graf. Als sie am andern Tage wieder unterwegs waren, wurde das Thema nicht angeschnitten. Sie brauchten ihre Aufmerksamkeit auch für den Weg. Er war ebenso mühsam wie bisher. Das Unterholz bestand aus jungen Palmen, und zwölf Meter hohe Farne versperrten ihnen den Weg. Die Wälder, die unter gemäßigtem Himmel wachsen, bestehen meist aus Bäumen derselben Art – aber hier, in dieser tropischen Wildnis, trafen sie selten auf zwei gleichartige: unerschöpflich schien der wilde Reichtum dieser quellenden Üppigkeit. Das Sonnenlicht drang nicht bis zu ihnen hinab; sie quälten sich durch eine warme, feuchte Dämmerung wie auf dem Grunde eines Meeres, und wo die grünen Wogen über ihnen oben zusammenschlugen, dahin reichte ihr Blick nicht. Die Stämme und Äste der Bäume waren bedeckt von Orchideen, Farnen und Moosen. Blättermassen von hellgrünen, fast kellerfahlen Schlinggewächsen drängten zu den Kronen empor oder hingen wie mächtige Segel herab. Lange nackte graue Wurzeltaue, fingerdünn oder armdick, hingen wie das Takelwerk eines Gespensterschiffes von der höchsten Höhe bis auf den Boden. Oft waren sie aus den oberen Bereichen schief nach unten gespannt, wo sie im Gewirr der jungen Palmen verschwanden -445-
oder wie erstarrte Schlangen die Bäume umstrickten. Manchmal waren diese Kletterpflanzen dicker als die Stämme, die sie umklammerten, und immer wieder trafen sie auf große Bäume, die unter den tödlichen Umarmungen der Mörderlianen erstickt waren. Wahrhaftig, durch ein unwegsames Gewirr schlugen die Indianer den schmalen Pfad. Der Chef hatte sich ein Facão geben lassen, und gleich hinter Chico gehend, hieb auch er weg, was sich ihm noch entgegenstellte. Der Graf und GG staunten, wie er das einen ganzen Tag lang fertigbrachte. Sie spürten am Abend von dem bloßen Marsch durch den weglosen Dschungel alle ihre Knochen. Als sie mit letzter Kraft an der Stelle ankamen, die der Chef zum Lagerplatz bestimmt hatte, bewegte er sich so munter, als habe er nur einen kleinen Spaziergang hinter sich. Eben zog er aus dem Blechbehälter, den einer der Indianer getragen hatte, drei Raketen heraus. »Halte es für möglich«, sagte der Chef in seiner kurzen Art, »daß wir gar nicht mehr so weit von der ›Eldorado‹ sind. Werde drei Raketen abschießen. Vielleicht werden sie schon gesehen!« Der Graf sagte nichts, GG sagte nichts. »Leute werden sich freuen«, sagte der Chef. »Merken, daß sie nicht mehr verlassen sind. Können sich sagen: Rettung kommt.« -446-
Jetzt hatte er die drei Raketen aus der Hülle. Er blickte auf und sah den beiden ins Gesicht. Sie standen noch immer stumm. Was der Chef jetzt vorhatte, war genau das Gegenteil von dem, was sie für richtig hielten: die Raketen mußten die Kinder warnen… »Oder meinen Sie nicht?« fragte der Chef. »Sie sind der Führer der Expedition, Chef«, sagte GG. »Vielleicht jagen Sie damit die Kinder in die Flucht, Chef!« sagte der Graf. »Herrschaften«, knurrte der Chef, »bin keine gelernte Säuglingsschwester. Werde, wie Sie sehen, mit dem wildesten Dschungel fertig. Da werde ich ja wohl auch noch mit zwei dreizehnjährigen Gören fertig werden!« Als das Dunkel hereingebrochen war, zischten die drei Raketen nacheinander zum Nachthimmel auf und zerplatzten hoch über den höchsten Kronen der Urwaldbäume.
Die Kinder sind fort Schon die erste Rakete wurde gesehen. »Da!« rief der Diamantenhändler aus und zeigte begeistert in die Luft. Die zweite schoß auf und zerplatzte. »Ein Feuerwerk!« rief Senhora Menezes in ihrer -447-
entwaffnenden Torheit. Als die dritte ihren goldenen und silbernen Regen ausgestreut hatte, sagte Paula Pira: »Sie suchen uns, und sie sind nicht mehr weit!« »Heloisa!« schluchzte Frau Menezes auf und fiel ihrer Tochter um den Hals. »Heloisa, wir sind gerettet! Zieh morgen gleich ein anderes Kleid an – die Leute haben sicher jemand von der Presse mit, und wir werden alle geknipst!« »Ja, Mama«, sagte das Mädchen geduldig. Mario und Graziella sagten nichts. Sie waren auf den Ruf Senhor Nettos sofort aus dem Flugzeug geklettert, wo sich schon alles zum Schlafengehen gerüstet hatte. Sie standen auf dem dunklen Feld, vom Nachthimmel funkelten die Sterne, in den schwarzen Wäldern rührte sich nichts. Aber aus dem Flugzeug klang das aufgeregte Sprechen der andern. Senhora Menezes erwartete, daß die Retter schon morgen früh einträfen, während Herr Netto mit übermorgen als dem frühesten Termin rechnete. »Auch das wird noch zur Zeit sein«, sagte die Stewardeß befriedigt, »denn bis übermorgen reichen gerade noch meine Zwiebäcke!« Morgen – übermorgen… Kein Wort sagten die Kinder. Jetzt kam die Entscheidung. »Laß dir nur nichts merken«, flüsterte Graziella ihrem Bruder zu. Sie kletterten die Strickleiter wieder hinauf. -448-
»Kinder«, rief Frau Menezes, »ihr sagt ja gar nichts! Aber natürlich, ihr seid eben vor Freude ganz stumm! Wie wird eure arme Mama glücklich sein, wenn sie euch wieder hat!« Graziellas Gesicht war wie von Stein. Sie hielt es unter ihrer Würde, darauf zu antworten. Aber Mario sagte kurz: »Unsere Mutter ist schon drei Jahre tot.« »Aber euer Papa lebt doch noch! Der freut sich unendlich!« »Papa ist irgendwo in den USA«, sagte Graziella. »Der weiß überhaupt noch gar nicht, daß wir in Belém nicht angekommen sind. Für so was hat er seinen Anwalt in Rio!« Senhora Menezes warf Herrn Netto einen empörten Blick zu. Das ersetzte ihr den Aufschrei: »So sind die Kinder von heute!« »Na«, sagte sie, »auf jeden Fall ist es gut, daß ihr wieder in die Schule kommt. Es gehört sich überhaupt nicht, daß ihr jetzt so herumreist – es sind doch noch keine Ferien.« Sollten sie ihr antworten, sie gingen in gar keine Schule, sondern würden zu Haus unterrichtet? Nein, es lohnte nicht, an diese Gans ein Wort zu verlieren. Aber Senhor Netto war ein gerecht denkender Mann. »Senhora«, sagte er, »seien wir froh, daß Mario mit im Flugzeug war – er hat Sie vor der Schlange gerettet, und wenn er uns nicht diese Waldhasen geschossen hätte –« »Aguti sind das«, sagte Mario. -449-
»Waldhasen oder Aguti, jedenfalls schmeckten sie gut, und wenn wir die nicht gehabt hätten, wären wir schon übel drangewesen.« »Na ja«, sagte Senhora Menezes, »ein Junge, das mag hingehen, aber ein kleines Mädchen gehört nicht in den Urwald.« »Wenn Graziella nicht hier wäre«, sagte Mario trotzig, »dann wäre ich auch nicht hier!« Worauf Senhora Menezes bemerkte, als sie Kind gewesen sei, habe es das nicht gegeben, daß die Kinder immer Widerworte gehabt hätten. In der Nacht, als die andern schliefen, flüsterte Graziella ihrem Bruder zu: »Mario, jetzt brauchen sie uns nicht mehr! Wir verstecken uns, bis sie abgeholt sind. Dann kommen wir wieder hervor und wohnen hier ganz allein im Flugzeug, bis uns Indianer finden!« »Meinst du wirklich, Graziella?« »Hast du auf einmal Angst?« »Nein, ich habe keine Angst«, sagte Mario. »Aber ich denke, wir sollten erst einmal abwarten, was das für Leute sind, die da kommen. Vielleicht sind es wieder solche wie die, die mit den Diamanten abzogen!« »Aber sie haben doch Raketen!« »Die können sie auch geklaut haben«, sagte Mario. »Wenn sie da sind, ist es zu spät«, sagte sie. »Wir beschleichen sie«, sagte Mario. »Dann -450-
sehen wir, was mit ihnen los ist.« »Das ist gut«, sagte Graziella. »Das ist sehr gut. Du weißt immer, was zu machen ist. Und weißt du was? Auf alle Fälle richten wir uns eine Baumburg her!« Am andern Morgen bereitete sich jeder in seiner Art auf das vor, was da kommen sollte. Senhora Menezes schminkte sich sorgfältig. Da blühte sie in kürzester Zeit wieder auf. Aber als sie sich dann wieder im Spiegel betrachtete, jammerte sie ausführlich: Wo waren ihre Ohranhänger mit den Brillanten? Wo war ihre Perlenkette? Und wo ihre kostbaren Fingerringe und Armbänder? Senhor Netto rasierte sich sorgfältig, und das war eine Unternehmung, denn darauf hatte er die ganze Zeit über verzichtet, und es waren ihm starke blauschwarze Stoppeln gewachsen, wodurch er einem entsprungenen Verbrecher nicht unähnlich sah. Die Stewardeß freilich brauchte sich nicht zu verändern. Sie hatte sich ja immer schmuck, nett und adrett hergerichtet, und das hatte sie selbst in Form gehalten. Heloisa aber zog, ohne etwas zu sagen, das schöne Kleid an, das ihre Mutter für sie ausgesucht hatte, und dann begann sie, wie jeden Morgen, mit energischen Strichen Tonleitern, Läufe und Fingerübungen. »Ich sehe, daß ich noch ein Aguti schießen kann«, sagte Mario zu Senhor Netto. »Wer weiß, ob die Männer etwas zu essen mitbringen!« -451-
Der Diamantenhändler ächzte zustimmend, denn da er gerade das Messer an die Backe gesetzt hatte, war er zu mehr nicht imstande, und die beiden Kinder huschten aus dem Flugzeug. Mario hatte das Gewehr und Graziella die Pistole an sich genommen. Mario hatte sich gestern abend genau die Richtung gemerkt, in der die Raketen aufgestiegen waren; die mächtige MurumuruPalme, die linker Hand am Waldrand wuchs, gab ihm jetzt den Richtungspunkt. Aber sobald sie nur wenige Schritte in den Dschungel getan hatten, waren sie einer hoffnungslosen Wirrnis ausgeliefert. Es war unmöglich, hier mit einem bestimmten Ziel voranzukommen. Sie mußten umkehren, »Es war umsonst«, sagte Mario, als sie wieder beim Flugzeug waren. »Schade«, sagte Senhor Netto, und Mario stimmte zu – jedoch der Diamantenhändler bedauerte, daß es keinen Agutibraten gab, während Mario dabei an etwas anderes dachte. Am Abend schossen von neuem drei Raketen hoch – und Mario sah, daß sie wieder genau aus der Richtung kamen, welche die Murumurú-Palme angab. Wieder machten sich die beiden anderntags auf den Weg, und wieder umsonst. Doch als sie am dritten Tage sich weggeschlichen hatten, hörten sie deutlich Geräusche, die sie noch nie vernommen hatten: da schlugen sich Männer einen Weg, eine picada, durch den Dschungel. »Sie kommen«, sagte Mario. -452-
»Auf den Baum!« sagte Graziella und zeigte auf einen riesigen Ananibaum. Von seinen Ästen hingen Lianen bis auf den Boden, und sie waren so ineinander verflochten, daß die Kinder mühelos an ihnen wie an den Webeleinen der Schiffswanten hochklettern konnten. Als sie oben waren, verbargen die Blätter sie völlig, und wer etwa von unten Graziellas rote Hose hätte durchschimmern sehen, dem wäre die lebhafte Farbe nicht aufgefallen, denn der Riesenbaum war über und über mit scharlachroten Blüten bedeckt. Die Kinder hockten da oben aneinandergeschmiegt. Immer näher kam das fetzende Geräusch, mit dem stachelige Palmblätter abgeschlagen wurden, das Brechen von Zweigen, der Fluch eines Mannes, der gestolpert war. Jetzt sahen sie unten Chico auftauchen. »Ein Indianer!« flüsterte Mario. »Aber kein wilder«, antwortete Graziella verächtlich. Jetzt kam der Chef. Sie sagten nichts mehr. Mit dem war nicht zu spaßen… Der Mann hatte einen Kopf wie ein Eroberer – und wie er zuschlug, wenn sich ihm ein Ast entgegenstellte, den Chico vor ihm stehengelassen hatte… Nun wieder Indianer. Nach ihnen kam GG, der Graf, Neunauge, Plumpudding, und als Letzter kam Figur. »Das ist eine Expedition«, sagte Mario. »Sie wollen uns holen«, sagte Graziella. -453-
Sie warteten, bis von den Männern keiner mehr zu sehen war. Dann kletterten sie von ihrem Baum herunter. Ein Schrei, ein jubelnder Schrei: Chico hatte das Flugzeug entdeckt. Die Indianer, die Weißen liefen aus dem Dämmer des Dschungels auf die Lichtung. Dann blieb alles stehen – die Indianer, weil ihnen doch vor der abgestürzten Maschine, die da drüben lag, nicht ganz geheuer war, die Weißen, weil sie nicht wußten, was ihrer nun wartete. Lebten die Menschen noch, die sie suchten? Ja – einer wenigstens! In der Türöffnung stand ein Mann und winkte ihnen zu. Sie winkten wieder. Er kletterte an etwas Beweglichem herunter. Dann erschien wieder jemand an dem Ausstieg. »Eine Frau!« rief Figur. »Die Stewardeß«, sagte der Graf, und dachte: »Warum lassen sich die Kinder nicht sehen? Kinder sind doch immer die ersten –« »Ein Mädchen!« sagte GG, »ein junges Mädchen –« »Das ist keine Dreizehnjährige«, sagte der Graf. »Vorwärts«, sagte der Chef, und sie gingen auf das Flugzeug zu. Ein älterer Herr stapfte auf sie zu. Da kamen auch drei weibliche Wesen, unter ihnen die Stewardeß. Wo waren die Kinder? -454-
Der Diamantenhändler war sehr aufgeregt. Im Gehen winkte er mit beiden Armen. »Senhores! Senhores!« schrie er. »Gerettet! Wir sind gerettet!« »Wo sind die Kinder?« dachte der Chef. Jetzt hatte der Diamantenhändler sie erreicht. »Senhores«, keuchte er, »ein unvergeßlicher Tag! Ein ewig unvergeßlicher Tag!« Die Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Mein Name ist Pindaro Tasso Netto. Ich bin in Port of Spain wohnhaft. Es ist mir ein unendliches Vergnügen, Sie kennenzulernen!« Er sah an der Miene des Chefs, daß der kein Wort verstanden hatte, und so wiederholte er alle seine Worte auf Englisch. Er schüttelte jedem die Hand. »Wo bleiben die Kinder?« dachte der Chef. »Hätten Sie doch nur keine Raketen mitgebracht«, flüsterte der Graf GG zu. Wie eine Fregatte kam Senhora Menezes auf sie zugesteuert. »Es ist gut, daß Sie uns holen, Senhores«, sagte sie, »aber Sie hätten sich doch etwas mehr beeilen sollen! Und glauben Sie bitte nicht, daß ich sonst so herumlaufe, wie ich mich Ihnen leider zeigen muß – aber man hat mir alles gestohlen, meine Brillanten, meine Ringe, meine Perlenkette, meine Armbänder – alles. Die Flugzeuggesellschaft muß es mir natürlich ersetzen, und ich verlange, daß Sie darüber sofort ein Protokoll aufnehmen. Dies -455-
ist meine Tochter Heloisa. Sie wird eine berühmte Violinvirtuosin. Ist ein Herr von der Presse dabei? Ach, das sind sicher Sie?« Sie hatte sich auf Neunauge gestürzt, dessen Kamera sie erspäht hatte. »Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen«, sagte sie, »daß Sie meine Tochter natürlich photographieren dürfen, aber ein Recht, das Bild zu veröffentlichen, haben Sie nicht. Das Alleinvertriebsrecht für die ganze Welt liegt bei Morgenbesser & Co. in Rio.« »Madame«, sagte Neunauge verletzt, »ich tue einer Dame gern einen Gefallen, aber wenn Sie glauben, ich photographiere, um ein Geschäft damit zu machen, so irren Sie. Außerdem interessiere ich mich mehr für Krokodile und Riesenschlangen.« Sie waren im Sprechen an das Flugzeug herangekommen. Senhor Netto hatte im Gehen berichtet, wie es gekommen war, daß ihr Flug hier ein Ende gefunden hatte. Da fiel endlich die entscheidende Frage. Der Chef sprach sie aus: »Wo sind die Kinder?« Ja, wo waren denn die Kinder? Alles sah sich nach ihnen um. Die Auskünfte überstürzten sich: sie waren heute früh fortgegangen, um Waldhasen zu schießen – aber sie waren noch nicht zurück. Natürlich mußten sie jeden Augenblick kommen. »Schießen!« sagte der Chef. Plumpudding und Figur schossen ihre Ge-456-
wehre hoch in die Luft ab. Papageien flogen auf, Affen zeterten – dann war alles still. »Alle Stunden schießen!« sagte der Chef. Als sie am Nachmittag noch nicht da waren, sprach der Chef mit Paula Pira. Sie gingen zusammen in das Flugzeug, die Stewardeß sah das Gepäck der Kinder durch. Es fehlte nichts. Das heißt – wo waren denn die Decken, von denen jedes eine gehabt hatte? Die Decken waren fort… »Waffen?« Ja, natürlich, sie hatten eine Pistole und ein Gewehr, die nahmen sie immer mit, wenn sie in den Dschungel gingen. »Munition?« Von Munition wußte die Stewardeß nichts Genaues. Aber sie glaubte, die hätten sie wohl immer bei sich gehabt, denn sie habe nie etwas davon herumliegen sehen. Und dann fanden sie auf Heloisas Platz einen Briefumschlag mit der Aufschrift: »Bitte öffnen, wenn man uns sucht.« Sie rissen ihn auf, und GG, der gerufen wurde, übersetzte, was auf dem eingelegten Zettel stand: »Heloisa, leben Sie wohl. Sie gehen Ihren Weg, und wir den unsern. Wir wünschen Ihnen Glück. Graziella. Mario.« Und dann noch eine Nachschrift: »Bitte sagen Sie der Stewardeß, sie sei sehr in Ordnung.« »Sehr« war unterstrichen. Der Chef ging mit GG und dem Grafen etwas -457-
abseits. »Sind fort. Klarer Fall«, sagte er. »Sind in den Dschungel.« »Wir müssen sie suchen«, sagte der Graf entschlossen. »Ebensogut können Sie in der Nacht eine Nähnadel suchen«, sagte der Chef. »Wenn wir Hunde hätten.« »Und die Indianer?« fragte der Graf. Beide sahen GG an. »Selbst wenn die Indianer sie fänden«, sagte er – »wenn sie fortwollen, reißen sie bei der nächsten Gelegenheit wieder aus. Wir können sie doch nicht anbinden wie zwei Kälber.« »Sie geben auf?« fragte der Chef. »Keineswegs«, antwortete GG. »Aber sie müssen von selbst zu uns kommen.« »Wie wollen Sie das machen?« fragte der Chef. »Sie können ja noch nicht weit sein. Sie werden sich in der Nähe aufhalten. Sie sind geflohen, weil sie fürchten, daß wir sie nach Haus bringen wollen. Von dem Augenblick an, wo sie sehen, daß wir gar nicht zurückwollen, sondern hier bleiben, sind wir für sie wieder interessant.« »Ausgezeichnet«, sagte der Graf. »Wenn sie zum Beispiel denken könnten, wir wären auf einer wissenschaftlichen Expedition, so würden sie wahrscheinlich liebend gerne mit uns gehen!« -458-
»Was wird aus den andern?« »Die bringt Chico zurück. Wie Sie schon sagten, Chef: die Frauen werden in den Hängematten getragen. Die picada ist da – die Kanus werden also ohne Schwierigkeiten erreicht. Dann fahren die Indianer mit ihnen flußabwärts. Die Vampirindianer sind fort. Chico ist ein durch und durch zuverlässiger Mann. In zehn Tagen sind sie in Cupeja. Oder sie umgehen noch die Katarakte und fahren weiter flußabwärts bis zu der Plantage, an deren Besitzer Sie die Schulden der Indianer bezahlt haben.« »Wollen Sie das bitte veranlassen?« sagte der Chef. Stumm hatte er dabeigestanden, als GG entschieden hatte, was zu tun war. Jetzt räusperte er sich. »Meine Herren«, sagte er, »bin ein Mann der Tatsachen. Mache mir nichts vor. Bin mit dem Dschungel fertig geworden. Mit den Kindern nicht. Kinder sind mir über. Hätte die verdammten Raketen nicht abschießen sollen.« Stumm reichte ihm Plumpudding, der zu ihnen getreten war, eine frisch gestopfte Pfeife. Der Chef nahm sie, ohne ein Wort zu sagen. Plumpudding strich das Zündholz an, aber der Chef wehrte ab. Plumpudding war betrübt. Er wußte, was der Chef für Ärger hatte. Er dachte, die Pfeife würde ihn darüber hinwegbringen – aber wenn der Chef sie nicht einmal anstecken wollte, dann hatte er mehr als Ärger, dann -459-
hatte der Chef Kummer. Als Senhora Menezes vernahm, die Senhores brächten sie nicht in die Zivilisation zurück, geriet sie ganz außer sich. Waren das noch Gentlemen, die sie und ihre Tochter wilden Indianern überantworteten? Sie schwor, sie würde sie sämtlich vor Gericht bringen, und wenn diese merkwürdigen Gestalten je aus dem Zuchthaus herauskommen würden, so gäbe es überhaupt keine Gerechtigkeit mehr auf dieser Erde. Aber da geschah etwas völlig Unerwartetes. Heloisa sagte nicht: »Ja, Mama«, sondern ganz ruhig: »Wenn du lieber hier bleiben willst, Mama, dann tue es bitte. Aber ich gehe mit den Indianern!« Die Senhora rang nach Luft. Aber sie sagte kein Wort mehr. Ihr ganzes Leben bestand ihrer Meinung nach darin, daß sie sich für ihre Tochter aufopferte – nun mußte sie eben auch noch dies Opfer bringen, sich von Indianern in der Hängematte durch den Dschungel tragen und dann einen Fluß hinunterfahren zu lassen, wo sie jeden Augenblick von Krokodilen zerrissen werden konnte. Wie sie an die Krokodile dachte, kam ihr der Gedanke, daß sie sich an diesen Weißen, die keine Gentlemen waren, auf eine feine Art rächen konnte. Sie schritt auf GG und den Grafen zu. Namentlich diesen Deutschen hatte sie gefressen, denn der hatte ihr die neue Wendung als unumgänglich hingestellt. »Ach bitte, mein Herr«, sagte sie mit eisiger Höflichkeit, »da -460-
Sie sich von uns trennen wollen, darf ich wohl noch die kostbaren Augenblicke ausnutzen, wo wir Sie mit unserer Anwesenheit stören. Sie wissen sicher, daß in den Strömen Brasiliens die Anakonda lebt, eine Riesenschlange von mindestens zehn Metern. Bitte, wenn sich nun ein solches Untier auf das Boot stürzt, in dem ich sitze, was muß ich dann tun? Ein Gewehr haben ja die Indianer, denen Sie uns anvertrauen, nicht, wie ich sehe. Die Gewehre werden Sie natürlich für sich behalten.« »Senhora«, sagte GG, »von den erlegten Anakondas war noch keine länger als fünf Meter, und daß sie sich auf Menschen stürzt, ist ein Märchen.« Der Zorn der Dame steigerte sich ins Maßlose. »Halten Sie es vielleicht auch für ein Märchen, daß Krokodile sich auf Menschen stürzen?« »Gewiß nicht«, sagte GG »Ich habe selbst gesehen, wie ein Indianermädchen, das Wasser schöpfen wollte, von einem Krokodil gepackt wurde.« »Aha«, sagte die Senhora, »und wenn mir das nun geschieht, was empfehlen Sie mir dann zu tun?« »Genau dasselbe, gnädige Frau«, sagte GG »was das Indianermädchen tat: Stoßen Sie dem Tier beide Zeigefinger in die Augen, – da läßt es sofort los! Das Mädchen schwamm danach ruhig ans Ufer.« -461-
Wortlos wandte sich die Dame um. Mit diesen Männern war sie fertig. »Hören Sie«, sagte der Graf, »ich war wie Sie der Meinung, daß Chico wirklich der richtige Mann ist, diese bedauernswerten Vertreter der Zivilisation dem Urwald zu entreißen – aber fällt Ihnen nicht auf, daß sich sein Gesichtsausdruck ganz verändert hat? Was geht in ihm vor, daß er nicht mehr der Mann zu sein scheint, der er auf der Herfahrt war?« »Wir wollen mit ihm sprechen«, sagte GG, und sie setzten sich beide zu ihm, der tatsächlich abseits saß und wie verstört aussah. »Chico«, sagte GG, »wir sehen, daß dein Herz schwer ist. Wir sind Freunde geworden. Sage uns, was dich bedrückt.« Der Indianer schwieg. »Chico«, sagte GG, »ich habe dir gesagt, wenn du den Senhor und die drei Senhoras zurückbringst, wird dir der Governador viel, viel Geld geben.« »Senhor«, sagte Chico, »du hast auch gesagt, wenn ich den eisernen Vogel fände, würdest du mir geben, was ich wollte.« »Das will ich auch«, sagte GG, »aber du hast mir ja noch nicht gesagt, was du von mir haben willst!« »Großer Gott«, sagte der Graf, »das war das leichtsinnigste Versprechen, das Sie je geben konnten, GG. Ich bitte Sie, der Mann kann doch von Ihnen Unmögliches verlangen!« -462-
»Senhor«, sagte Chico wieder, und seine Miene war immer noch so düster wie bisher, »ich weiß jetzt, daß du mir nicht geben wirst, was ich haben möchte.« Nun wurde auch dem Deutschen schwül. »Ist es so viel, was du von mir verlangst, Chico?« »Ja, Senhor.« »Sage es, Chico.« »Mein Wunsch ist höher als der höchste Karnauba-Baum.« »Sage ihn trotzdem.« Der Indianer zögerte noch immer. Dann rang er sich seine Worte ab: »Ich möchte den Zauber haben, der das Feuer der Sonne auf die Erde holt.« Er sagte es im Ton völliger Hoffnungslosigkeit. Es war ja unmöglich, daß ihm dieser Wunsch erfüllt wurde. Der Graf hörte, was GG ihm übersetzte, und griff in die Tasche. »Voilá, amigo!« Chico starrte ihn an. Dann riß er ihm das Objektiv aus den Fingern. Er sah sich aufgeregt um. »S’il vous plaît, monsieur«, sagte der Graf und gab ihm auch noch eine Zigarette. Chico nahm sie in den Mund. Er hatte die scharfe Beobachtungsgabe des Naturkindes. Er machte alles genau so, wie er es einmal gesehen hatte – und seine Zigarette brannte! »Mir dient die Sonne«, sagte er. Er ging davon wie ein König. -463-
»Waren wir nicht leichtsinnig, Graf?« fragte GG. »Den Zauber hätten wir vielleicht noch brauchen können!« »Erstens«, antwortete der Graf, »hat auch die Contessa-Nettel ein Objektiv, und zweitens, mein Lieber: um neue Einfälle bin ich nicht verlegen. Das müssen Sie einem Mitglied des Magischen Zirkels schon glauben!« Als die andern aufbrachen, nahm Senhor Netto Telegramme an den Anwalt in Rio und die UT-Company in London mit.
Hartes Herz und Falkenauge Vorsichtig, nach jedem Schritt wieder haltend, schlichen Graziella und Mario näher. Sie hatten sich aus dem Dschungel gewagt, denn es war Nacht. Aus den Fenstern der Flugzeugkabine schimmerte mattes Licht von Kerzen. Am Waldrand gut versteckt, hatten die Kinder ungesehen beobachtet, wie sich die Caboclos mit den Fluggästen auf den Weg machten, aber die sechs Weißen zurückblieben. Jetzt mußten sie vermuten, daß diese sechs es sich in dem Flugzeug bequem gemacht hatten, in dem sie hatten leben wollen! »Was wollen die hier?« flüsterte Graziella ihrem Bruder zu. -464-
»Jedenfalls wollen sie nicht zurück«, antwortete Mario ebenso leise. »Vielleicht wollen sie das Flugzeug ausschlachten?« »Sie sind also gar nicht gekommen, um uns zu holen«, flüsterte sie. »Vielleicht sind es Diamantensucher«, sagte Mario. »Die nehmen uns am Ende mit!« »Mit Diamantensuchern können wir nie zu den Indianern gehen«, sagte Graziella. »Die sind bei den wilden Stämmen so verhaßt. Die schießen doch jeden Indianer tot, der ihnen vors Gewehr kommt.« »Wir wollen nicht eher fort«, sagte Mario, »bis wir herausbekommen haben, was mit ihnen los ist.« »Vielleicht bleiben sie gar nicht lange«, sagte Graziella. Sie schlichen auf ihr Baumnest zurück. Sie ahnten nicht, daß die Männer über nichts anderes als über sie redeten, und die Männer wieder wußten nicht, daß die beiden nur von ihnen gesprochen hatten. »Wir müssen so tun«, sagte GG, »als wüßten wir überhaupt von den Kindern nichts.« »Ich schlage vor«, sagte der Graf, »wir tun so, als ob wir Epiphyten sammeln –« »Orchideen«, erklärte GG. »Botaniker gehören«, fuhr der Graf fort, »meinen Erfahrungen nach zu den friedlichsten Menschen auf dieser Erde. Wenn uns die -465-
Kinder als solche ansehen, müssen sie doch unbedingt Zutrauen zu uns fassen!« »Standquartier ist hier die ›Eldorado‹«, sagte GG. »Ich schlage vor, drei bleiben immer hier, drei gehen auf Orchideensuche in den Dschungel, aber nicht zusammen, jeder für sich, damit ein möglichst großes Gebiet abgestreift wird – vielleicht finden wir dabei auch eine Spur der Kinder. Jedenfalls muß das jedem klar sein: wer sie trifft, darf nichts von ihnen wissen und muß den Glauben in ihnen wecken, wir wollten uns im Dschungel noch sehr lange aufhalten.« »Ich bäte darum, daß Plumpudding die Küche übernimmt, wenn ich unterwegs bin«, sagte Neunauge, »denn ich möchte mir natürlich diese Gelegenheit zu sensationellen Aufnahmen im Dschungel nicht entgehen lassen.« Der Chef nickte dazu, und am andern Morgen gingen er, der Graf und Figur scheinbar auf Orchideensuche. An drei verschiedenen Stellen verschwanden sie im Urwald. Figur aber hatte keine Lust, sich mühsam durch den Busch zu schlagen, und fand es höchst angenehm, daß er auf niedergetretenes Gras stieß. Das war kein richtiger Pfad, aber doch eine Spur, wo schon einmal jemand gegangen war, und der ging er nun behutsam nach. Lautlos trat er auf, und alle drei Schritt blieb er stehen, um zu lauschen. Gerade als er einmal so verhielt, hörte er einen dumpfen Laut, wie wenn ein Tier vom Baum gesprungen wäre. Er -466-
griff nach der Pistole. Dann bog er vorsichtig die Zweige eines mannshohen Busches auseinander. Er sah Graziella, die eben von ihrer Baumburg heruntergekommen war. »Hallo«, sagte Figur, »was machst du denn hier im Urwald?« Er trat auf sie zu. Graziella war sprachlos. Im ersten Schrecken dachte sie, der Mann hätte sie aufgespürt, um sie zu holen – und Mario war nicht da! Duck dich zusammen und weg ins Dickicht – das schoß ihr durch den Kopf. Doch bei ihrer ersten Bewegung würde der Kerl dann zufassen… Aber was denn? Der sprach ja Englisch, das war also ein estrangeiro – sie mußte den Stier einfach bei den Hörnern packen. »Was machen Sie denn hier?« fragte sie recht bestimmt. »Ich sammle Orchideen, wie du siehst«, sagte er. »Aber Sie haben ja gar keine gepflückt!« sagte sie. Verdammt, daran hatte er nicht gedacht. Diese kleine rothosige Kröte hatte scharfe Augen. »Erst sehe ich mich mal gründlich um«, sagte er. »Welche suchen Sie denn?« fragte sie. »Disa grandiflora oder Paphiopedilum barbatum? Suchen sie Diandren oder Monandren?« -467-
Verflucht noch mal, das Persönchen war aber im Bilde! Er wußte gar nicht, was er sagen sollte. »Wenn Sie vielleicht echte Vanille suchen«, fuhr Graziella fort, »dann sind Sie hier falsch. Hier gibt es nur Vanilla tomentosa.« Er stotterte etwas zusammen. Wenn es hier keine echte Vanille gäbe, dann wäre es allerdings am besten, sie kehrten gleich wieder um – es war ziemlich dummes Zeug, was er da vorbrachte. »Hören Sie mal«, sagte sie, »ich glaube, Sie verstehen von Orchideen überhaupt nichts!« Ihm wurde heiß und kalt. Diese fuchskluge kleine Person hatte ja Röntgenaugen! Und wenn sie den Schwindel mit den Orchideen erkannte, dann durchschaute sie auch noch, was hier gespielt wurde. Wenn er die jetzt nicht gründlich einwickelte, war alles verloren, dann verschwand sie auf Nimmerwiedersehen. »Fräulein Rotbein«, sagte er, »ich will dir was sagen: ich kann eine Orchidee von ‘ner Butterblume unterscheiden, aber das ist auch alles.« »Und weshalb geben Sie sich dann als Orchideensammler aus?« »Ja siehst du, wir haben uns zugeschworen – wenn euch wer fragt: Wer seid ihr? dann antworten wir: ›Orchideensammler.‹« »Und was sind Sie in Wirklichkeit?« »Nimm es, bitte, nicht für unhöflich, wenn -468-
ich dir darauf nicht antworte. Bitte begnüge dich mit der Auskunft: wir sind sechs Männer, die nicht mehr zurückkönnen.« »Sie können nicht mehr in die Städte zurück?« »Wir können nicht dahin zurück, wo es Polizei gibt.« »Sie sind Verbrecher?« »Das ist kein schönes Wort, kleines Fräulein. Sagen wir, wir sind Leute, die Pech gehabt hatten.« »Für Gesetzesverbrecher habe ich etwas übrig«, sagte Graziella. »Ich lehne mich auch gegen die Gesetze auf.« »Ach, und deshalb hast du dich in den Urwald begeben?« Die Sache geht ja vortrefflich, dachte er. Sie beantwortete seine Frage nicht. »Was haben Sie auf dem Gewissen?« fragte sie. Jetzt war er in Fahrt. Jetzt kam es ihm nicht mehr darauf an, tüchtig Gas zu geben. »Bankraub«, sagte er düster. »Wieviel Millionen haben Sie erwischt?« fragte sie. »Keinen einzigen Reis«, sagte er. »Das finde ich schlapp«, sagte sie verächtlich Er fluchte eindrucksvoll. »Nein, bei allen Höllenhunden, das sind wir nicht. Aber wir hatten eben Pech. Wir wurden überrascht! Mit zehn Millionen hatten wir gerechnet – und was -469-
gab es? Fünf Tote! Da mußten wir umkehren.« »Sind Sie einer von den Mördern?« Nun war von den sechs Männern Figur derjenige, dessen Leben wirklich einige recht dunkle Stationen aufzuweisen hatte, und wenn sein alter Schulfreund GG ihn nicht für die Expeditionen der UT-Company als Begleiter empfohlen hätte, so wäre er wohl nicht wieder hochgekommen. Aber es machte ihm einen diebischen Spaß, den andern noch schwärzere Flecken anzumalen, als er selbst aufzuweisen hatte. »Nein«, sagte er, »meine Hände sind rein. Ich bin ein Opfer meines Charakters, ich kann niemand im Stich lassen. Aber unser Chef –« »Der mit dem Cäsarenkopf?« fragte sie. Er stutzte. »Woher kennst du ihn?« »Ich habe euch alle beobachtet«, sagte sie überlegen. Ein verteufeltes Frauenzimmer! »Ja, also der«, sagte er, »der hat drei umgelegt, der Dicke, den wir Plumpudding nennen, hat einen umgebracht – aber der Wildeste ist der mit dem Photoapparat, Neunauge ist sein Deckname – der hat mit jeder Hand einen erwürgt.« »Das sind Männer«, sagte sie, »wie die Wildnis sie braucht! Aber wo wollen Sie nun hin?« »Das ist uns ganz gleich«, sagte er, »nur irgendwohin, wo uns keiner findet.« -470-
»Ich fürchte mich vor Ihnen nicht«, sagte sie. »Für mich gelten andere Gesetze als die verlogenen der Zivilisation. Vielleicht besuche ich Sie einmal im Flugzeug!« Die Blätter der jungen Palmen schlugen hinter ihr zusammen, und sie war verschwunden. Figur hütete sich, ihr nachzuspüren. Er kehrte um. Aber es dauerte länger als eine Stunde, bis er das Flugzeug wiedergefunden hatte. Sein Bericht erregte Aufsehen. »Figur«, sagte GG »das hast du großartig gemacht!« »Jeder tut, was er kann«, antwortete er. Indessen hatte er die malerischen Einzelheiten, die er Graziella erzählt hatte, lieber verschwiegen. Er hätte nur bemerkt, sie könnten nicht in die Städte zurück, weil sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen seien. »Lauter Lügen«, sagte der Chef. »Wenn Sie uns nicht so hereingeritten hätten, dann wären wir nicht zu ihnen gezwungen«, hätte der Graf sagen können, aber er sagte: »So ist die Welt, Chef!« Man schiebt ja gern anderen zu, woran man selbst schuld ist, und man macht die Welt schlecht, wenn man sich selbst nicht gut benimmt. Sie saßen wieder abends im Flugzeug beisammen, als es draußen »Hallo« rief. »Das sind sie«, flüsterte Figur. Er öffnete die Tür. »Wer da?« fragte er und zeigte drohend die gezückte Pistole. »Wir sind es!« riefen zwei junge Stimmen. -471-
»O Fräulein Rotbein«, rief Figur hinunter. »Komm doch zu uns herein, wenn du Lust hast!« Die beiden kletterten die Lianenleiter herauf. Und dann traten sie in den Passagierraum. Jetzt saßen die fremden Männer in den Sesseln, in denen die Fluggäste gesessen hatten. Sie sahen auf die beiden Kinder. Das Mädchen hatte die Smith-Wesson in der Hand, der Junge das Gewehr umhängen. Von dem ungepflegten Leben der letzten Tage sahen beide etwas verwahrlost aus. »Guten Abend, Senhores!« sagte Graziella. Die Männer fanden es stilecht, nicht zu antworten. Finsteres Schweigen hatte etwas angenehm Drohendes. »Senhores«, sagte Graziella, »Sie haben von uns nichts zu befürchten, mein Bruder und ich sind Outlaws wie Sie! Ich weiß, Blut klebt an Ihren Händen – aber wir scheuen uns nicht, sie zu drücken.« Sie ging auf den Chef zu. »Drei Menschen haben Sie auf dem Gewissen«, sagte sie zu ihm, »hier haben Sie meine Hand!« Sie streckte ihm die ihre entgegen. Er war ganz verblüfft. Was konnte er anderes tun, als die Kinderhand kräftig drücken? »Und Sie«, so wandte sie sich an Neunauge, »Sie haben zwei Menschen erdrosselt –« »Ich?!« schrie Neunauge auf. -472-
Hinter dem Rücken der Kinder winkte ihm Figur mit geballter Faust drohend zu. »Sie brauchen es vor uns nicht zu leugnen, wir wissen: wo gehobelt wird, da fallen Späne.« Er konnte nichts anderes tun, als auch die ausgestreckte Mädchenhand zu schütteln. »Sie haben nur einen getötet«, sagte sie jetzt zu Plumpudding, »aber schon ein Toter reicht aus, daß sich der Krieger eine Adlerfeder ins Haar stecken darf.« Sie gab ihm und dann den anderen ihre Hand. »Senhores«, sagte sie, »Sie wollten sich Millionen aneignen, die Ihnen nicht gehörten. Ich sehe darin nichts Schlimmes, denn wer weiß, wie die Millionen zusammengerafft waren, die in der Bank lagen? An jedem Geld klebt Blut. Wir aber wollen nicht von Geld leben, das so erworben wurde. Mein Bruder und ich sind deshalb auf dem Wege in eine Welt, wo das Menschengeld nicht gilt. Wir haben unsere Namen abgelegt. Ich heiße Hartes Herz und mein Bruder Falkenauge. Ich möchte lieber die Tochter eines indianischen Häuptlings sein, als die eines brasilianischen Kaffeekönigs. Deshalb sind wir auf dem Wege zu den Indianern. Wir wollen da leben, wo die Menschen noch nicht verdorben sind. Wir wollen da bleiben, wo das Leben noch natürlich und schön ist.« Die Männer hatten sie angehört, ohne sie zu unterbrechen. »Was für ein wilder Unsinn«, dachte der -473-
Chef. »Wie eine Flamme ist dieses Mädchen«, dachte der Graf. »Warum sagt der Bruder gar nichts?« dachte GG. Plumpudding war ungemütlich zumut, denn er sagte sich: dem, was diese drahtige junge Dame äußerte, konnte doch der Chef unmöglich zustimmen, und in Neunauge brodelte es immer noch, weil er über die beiden Erdrosselten nicht hinwegkam. Figur war aber höchst zufrieden. War ihm dieses schwierige Kind nicht großartig auf den Leim gekrochen? »Ich finde es nicht sehr interessant, was du da alles sagst«, bemerkte GG scheinbar gelangweilt. »Ihr geht eure Wege, wir gehen unsere Wege. Wir haben mit euch nichts zu tun, und reisende Leute soll man nicht aufhalten. Oder wollt ihr vielleicht von uns noch irgend etwas haben?« »Ich wäre gar nicht zu Ihnen gegangen«, sagte Graziella stolz, »aber mein Bruder meinte, vielleicht hätten Sie Lust, mit uns zu kommen. Denn wenn Sie bei einem Indianerstamm untertauchen, dann sind Sie völlig sicher.« »Aha«, dachte GG. »Also der Bruder…« Aber Figur riß die Steuerung an sich. »Was sollen wir bei den Indianern?« fragte er. »Wir können uns doch mit ihnen nicht verständigen.« »Wir sprechen Tupi und Guarani«, sagte Graziella-Hartherz. -474-
»Ich meine«, sagte der Graf langsam, »wir sollten uns den Vorschlag doch überlegen.« »Was denken Sie, Chef?« fragte GG. Der Chef kam hier nicht mehr mit. »Wollen drüber schlafen«, knurrte er. Wieder griff Figur ein. Er legte den Kindern nahe, ob sie nicht die Nacht im Flugzeug verbringen wollten. Es sei hier doch besser als im Dschungel. Graziella-Hartherz zögerte mit der Antwort. Jetzt ergriff der Bruder plötzlich das Wort. »Ja«, sagte er bestimmt, »wir bleiben gern hier. Wir haben hier nämlich noch unsere Sachen.« Sie quartierten sich da ein, wo sie bisher geschlafen hatten. Aber GG lag noch lange wach. Er durchdachte, was er gesehen und gehört hatte. Das Mädchen redete – der Junge schwieg. Doch wenn es darauf ankam, dann sprach der Junge. Und der Junge war es, der ihre Gesellschaft haben wollte. Der Junge hatte also begriffen, wovon das Mädchen anscheinend nichts wissen wollte: daß sie beide allein im Sertão einem schrecklichen Schicksal ausgeliefert wären. Aber auch der Junge war ja mit in den Urwald ausgerissen! War er am Ende nur mitgegangen, weil das Mädchen sonst allein davongelaufen wäre? War er nur mitgegangen, weil er dachte, vielleicht könne er so wenigstens das Schlimmste verhüten? Und noch etwas. Während das Mädchen re-475-
dete und der Junge stumm dabeisaß, hatte er die Männer genau betrachtet. »Er hat unsre Gesichter richtig abgetastet«, dachte GG. »Er hat gesucht, wem von uns er vielleicht vertrauen könnte, trotzdem wir für ihn Mörder und Verbrecher sind.« Und immer wieder hatte der Blick des Jungen an GGs Gesicht gehangen… Hochachtung hatte er vor diesem schweigsamen Burschen, der es auf sich nahm, einen Wagen zu steuern, der unversehens in rasender Fahrt bergab rollen konnte. Den Jungen galt es zuerst zu gewinnen, wenn GG ihn richtig beurteilte. Am andern Morgen öffnete Plumpudding die Tür. Die andern schliefen noch. Er wollte Wasser holen. Er sah hinaus und stand da wie angenagelt. »Chef!« rief er in das Flugzeug zurück, »Indianer!«
Im Dorf der Schakaräh Unter den Indianern waren die zwei, die Graziella und Mario einmal gesehen hatten. Mit einer großen Zahl waren sie wiedergekommen. Einer von ihnen trug eine Federkrone, alle waren bewaffnet, mit Speeren, Pfeilen und Kriegsbogen aus Mahagoniholz, die über -476-
zwei Meter lang waren. Auf sie gingen die sechs Männer und die Kinder langsam zu. In ihren Taschen hatten sie die Geschenke, aber ihre Gewehre hielten sie schußfertig. »Keiner schießt!« sagte Graziella. »Ich verhandle mit ihnen!« Der Graf blinzelte GG zu. »Ein erstaunliches Persönchen«, hieß das, und GG verstand ihn. Aber der Chef fand das unmöglich. »Ein dreizehnjähriger Grasaff«, dachte er. »Kommandiert hier herum!« Sie blieb stehen. Die Weißen und die Bronzefarbenen standen etwa dreißig Schritt auseinander. »Söhne des Sertão«, rief sie in der Guaranisprache, »legt eure Waffen nieder!« Die Indianer rührten sich nicht. Da rief sie dasselbe in der Sprache der Tupi, und jetzt war zu merken, daß die Indianer sie verstanden hatten. Aber sie legten ihre Waffen nicht auf den Boden. »Söhne des Sertão«, rief Graziella, »auch wir haben Waffen, auch wenn ihr in unsern Händen keine Bogen und Speere seht. Wir haben Stöcke, die sprechen. Schieß in die Luft, Mario!« Er tat es. Die Indianer erschraken sichtlich sehr. Aber sie zwangen sich, stehenzubleiben. »Söhne des Sertão«, rief Graziella, »wir legen unsre Waffen nieder – tut ihr es auch!« Mario legte sein Gewehr auf die Erde, Graziella ihre Smith-Wesson, und die weißen -477-
Männer folgten ihrem Beispiel. Die Indianer beobachteten alles angespannt. Als der Letzte ohne Waffen dastand, legten auch sie Bogen, Pfeile und Speere aus der Hand. »Jetzt müssen wir ihnen die Angelhaken und die Glasperlen geben«, sagte Graziella. »Die Kleine benimmt sich so sicher wie eine Urwaldkönigin«, sagte der Graf, aber auf französisch, damit Graziella es nicht verstehen sollte. »Naturellement, monsieur«, sagte sie, »la forêtvierge sera mon pays!« (Natürlich, mein Herr, der Urwald wird meine Heimat werden!) Der Graf sagte vorerst nichts mehr. Sie gingen mit ausgestreckten Händen auf die Indianer zu und hielten sie ihnen hin. Die Indianer starrten auf die Kostbarkeiten, die ihnen angeboten wurden. Ihre Augen leuchteten auf. Aber sie nahmen nichts, denn sie wagten nicht, die Hände der Weißen zu berühren. Graziella legte die Angelhaken, die sie in der Hand hatte, auf den Boden, die andern taten dasselbe, und dann traten sie etwas zurück;. Da hoben die Indianer die Geschenke auf. Aber sie nahmen sie ohne Hast und Gier. »Wie würdig sich die Krieger benehmen!« sagte Graziella entzückt. »Ich habe noch nie so blutunterlaufene Augen gesehen«, flüsterte der Graf GG zu. »Und was haben sie alle in der Brust eintätowiert?« -478-
»Ein Krokodil«, sagte GG leise. »Sehen Sie die durchstochenen Lippen?« »Was ist damit?« »Menschenfresser!« Dann trat er rasch zu Graziella, die mit dem Häuptling sprach, dem Mann mit der Federkrone. GG machte dabei ein gleichgültiges Gesicht, als ob er nicht verstünde, was die beiden miteinander redeten. Der Häuptling schien von dem Mädchen wie verzaubert zu sein. Sie fragte, und er antwortete ohne Zögern: sie waren von den zwei Spähern geholt worden. Sie waren in Kanus die Flüsse stromabwärts gefahren, ihre Kanus hatten sie auf das Ufer gezogen. Es war mehrere Tage weit bis zu dem Dorf, wo sie wohnten. Sie nannten sich Schakaräh, das hieß so viel wie Krokodil-Indianer, sie gehörten zum großen Stamm der Guaribos, der AffenIndianer. »Ich heiße Hartherz und mein Bruder Falkenauge«, sagte Graziella. »Wir sind mit dem großen Vogel gekommen. Wir sind Kinder der Weißen, aber wir wollen bei den braunen Söhnen des Sertão leben.« »Hat der große Vogel auch die weißen Männer gebracht?« fragte der Häuptling. »Nein«, sagte Graziella. »Sind die weißen Männer deine Sklaven?« fragte der Häuptling. GG war gespannt, was sie antworten würde. »Sie stehen unter meinem Schutz«, sagte -479-
sie nach einem Augenblick der Überlegung. »Das Mädchen Hartes Herz spricht die Sprache der Schakaräh«, sagte der Häuptling. »Deine Stimme ist schön wie der Gesang des Uirapuru. Schon unsere Späher sagten, sie hätten aus dem großen Vogel die Stimme des glückbringenden Vogels gehört.« Es war, als habe er einen heimlichen Wunsch, zugleich aber unüberwindliche Scheu, ihm nachzugeben. Doch dann war sein Verlangen stärker als seine geheime Furcht: ganz leicht, als rühre er etwas Zerbrechliches an, legte er seine Hand auf den Scheitel Graziellas. »Nimmst du uns mit in dein Dorf, Häuptling?« fragte Graziella. Er nahm seine Hand von ihrem Kopf. »Der Häuptling spricht mit dem Zauberer«, sagte er und ging zu einem alten Mann, der sich immer abseits von den übrigen gehalten hatte. Er trug keine Federkrone und war so spärlich gekleidet wie die andern auch. Aber er hatte eine Halskette von Krokodilund Menschenzähnen um. Graziella wandte sich an GG. »Ich habe dem Häuptling gesagt«, erklärte sie ihm, »daß mein Bruder und ich mit seinem Stamm leben wollen. Sie müssen sich jetzt entscheiden, ob Sie mitgehen oder nicht.« »Gut«, sagte GG. Er sah sich um. Seine Freunde standen mit einigen Indianern bei -480-
den Waffen, die noch auf der Erde lagen. Figur war auch von Indianern umgeben. Er bemühte sich, einen der Kriegsbogen zu spannen, aber es wurde ihm zu schwer. GG ging zu den andern. Da trat Mario auf ihn zu. Er hielt ihn auf. »Bitte«, sagte der Junge, »gehen Sie mit. Wenn Ihre – ich meine, wenn die andern nicht mitwollen, gehen Sie doch mit! Ich kann meine Schwester nicht so allein zu den Indianern lassen!« Er hatte das scheinbar ohne Aufregung gesagt – aber für GG war es, als hätte er aus diesen Worten einen heimlichen Aufschrei gehört. War das der Augenblick, in dem er die beiden aus ihrer Verstrickung reißen konnte? »Weshalb wollt ihr überhaupt zu den Indianern?« fragte GG und bemühte sich, recht gleichgültig zu sprechen. »Verdammt gefährliche Sache, will ich dir sagen! Bleibt doch bei uns – da seid ihr sicher.« »Dazu bekomme ich meine Schwester nicht herum«, sagte er hastig. »Sie wissen ja nicht –« »Nein«, lachte GG, »ich weiß nicht, weshalb ihr von zu Hause flieht – aber wenn du mir das jetzt sagst, kann ich euch vielleicht helfen –« Doch Mario sprach nicht weiter. So gern, so brennend gern hätte er mit einem Menschen vertrauensvoll über ihre geheime Not gesprochen – aber konnte er sich diesem Mann auch -481-
wirklich anvertrauen? Nein, er brachte es nicht übers Herz. »Sie muß zu den Indianern«, sagte er. »Sie kann nicht mehr anders denken. Aber wenn Ihre – ich meine, wenn die andern nicht mitwollen – können Sie denn nicht vielleicht mit uns gehen?« GG spürte deutlich, wie Mario um seine Hilfe warb, aber er sah auch, daß die Stunde noch nicht gekommen war, wo Mario bereit war, ihm rückhaltlos zu sagen, was sie erlebt hatten. Schade – aber dann mußte er eben warten, bis der Junge so weit war. »Wir gehen alle mit«, sagte er. Beinahe hätte er hinzugesetzt »mein Lieber« – aber er unterließ es. Es schien ihm für einen Bankräuber nicht zu passen. »Ich will nicht widersprechen«, sagte der Chef, als GG ihm berichtet hatte. »Aber nur unter einer Bedingung stimme ich zu. Es ist Ihr Vorschlag, GG – von jetzt an übernehmen Sie die Führung!« Alle waren bestürzt, nur Figur nicht. Nicht umsonst hatten sie ihrem Kameraden damals, als sie noch in ihrem Jugendbund waren, den Beinamen Großer Geist verliehen – er wußte alles, er kannte alles, er sprach alle Sprachen –, es hatte Figur schon manchmal geärgert, daß GG sich dem Chef so unterordnete. Endlich hatte der eingesehen, daß GG der bessere Mann von beiden war… -482-
Der Graf überlegte scharf. Er kannte die verschlossene Natur des Engländers. Er kannte den Motor, der ihn trieb. Man konnte ihn nicht etwa Ehrgeiz nennen; aber es war sein Stolz, der richtige Mann am richtigen Platz zu sein. Und jetzt dankte er sozusagen ab! War das denn in Ordnung? GG aber war am meisten betroffen. Er schätzte den Chef überaus, er hielt den tüchtigen, tatkräftigen Mann für den geborenen Menschenführer, er wußte, in wie vielem der Engländer ihm überlegen war – und jetzt wollte der Chef vor ihm zurücktreten? Mit einem Male sprach Plumpudding. »Worauf kommt es hier an?« fragte er. »Daß wir die Kinder nach Hause bringen.« »Genau das«, sagte der Chef. »Wer wirklich was kann, der weiß auch, was er nicht kann. Wenn er das nicht weiß, richtet er nur Unheil an. Kommandieren kann ich. Aber diese Gören sind nicht zu kommandieren. Hab’ ich eingesehen. Muß ein anderer an die Spitze.« »Gut, Chef«, sagte GG. »Ich übernehme die Verantwortung.« »Das Mädchen«, dachte er, »stürzt sich in heilloses Unglück, der Bruder allein kann ihr nicht helfen – und man darf auch diesen Jungen nicht im Stich lassen.« »Und ich«, sagte Neunauge, »werde in dem Indianerkaff tolle Aufnahmen machen.« Es dauerte nicht lange, und sie hockten alle -483-
in einem großen Kreis, die Weißen und die Indianer. Der Häuptling sprach langsam Satz für Satz. »Der Stamm der Schakaräh nimmt das Mädchen Hartherz und den Bruder Falkenauge bei sich auf. Der Stamm der Schakaräh wird ihnen eine Malocca zum Schlafen und zu essen geben. Der Stamm der Schakaräh wird vergessen, daß Hartherz und Falkenauge Weiße sind. Aber Hartherz und Falkenauge müssen es auch vergessen. Sie müssen sein, wie die Schakaräh sind.« »Was bei den Schakaräh Gesetz ist, soll auch unser Gesetz sein«, sagte Graziella. »Aber der Häuptling hat nichts von den weißen Männern gesagt.« »Die weißen Männer können mit dir gehen«, sagte der Häuptling. Er erhob sich, und alle standen auf. »Nun sind wir wirklich da, wohin wir wollten«, sagte Graziella zu ihrem Bruder. Sie war glücklich. Nichts nahm sie aus dem Flugzeug mit. Die Kleider in ihrem Koffer würde sie nie mehr tragen. Die gehörten in eine Welt, die sie endlich und endgültig verließ… Nur die Smith-Wesson und die Munition nahm sie mit wie Mario das Gewehr. Aber aus ihrem Baumnest hatte er noch die beiden Decken geholt. Auch die weißen Männer hatten wenig Gepäck, drei Hängematten, für jeden ein Moskitonetz, den Blechbehälter mit den wenigen Raketen, die noch da waren, ihre Waffen und jenen Sack mit dem eisernen Proviant für den Notfall -484-
– das war alles. Figur war es, der die Tür des Flugzeugs von außen zuwarf. Keiner der Indianer hatte gewagt, es zu betreten, und so stand es da, ein regungsloser Riesenkäfer, der bald eingesponnen sein würde von dem wuchernden, schleichenden Grün des Dschungels. Die Indianer gingen voran. Aber sie benutzten die picada nicht, die von ihnen nicht geschlagen worden war. Sie gingen Pfade, die nur sie erkannten. Zuweilen war es eine schmale Spur, die sich Tapire getreten hatten. Dann wieder richteten sie sich offenbar nach Zeichen, von denen indessen die Weißen nichts merkten. Zweimal übernachteten sie im Dschungel, und am dritten Tage hatten sie den Fluß erreicht. Ob es der Fluß war, auf dem die Weißen hergekommen waren, konnte niemand sagen. Im Dschungel unterscheidet sich kein Flußufer von einem anderen. Die Schakaräh, die bei den Booten gewacht hatten, staunten über die fremden Gäste, die mit den Männern ihres Stammes gekommen waren – aber sie hatten eine Nachricht, die auch wieder bei den anderen Aufsehen erregte. Sie zeigten mehrmals in eine bestimmte Richtung, und als der Häuptling mit dem Zauberer dorthin wollte, ging einer der Kanumänner als Führer mit. »Sie haben Tote gefunden«, sagte Graziella. »Kommen Sie, Chef«, sagte GG, und sie schlossen sich dem kleinen Trupp an. -485-
Hintereinander krochen sie durch das dichte Ufergebüsch, und es dauerte nicht lange, da standen sie an der Stelle, die ihnen gezeigt werden sollte. Skelette lagen im Gras, von Tieren abgenagt, von Ameisen glattgefressen. Manche Körperteile waren schon verschleppt, aber so viel war noch zu erkennen, daß hier drei Männer umgekommen sein mußten. »Dies ist ein Negerschädel«, sagte der Graf, »und dies auch – aber dies dürfte ein Weißer gewesen sein.« Er bückte sich und hob eine Blechbüchse auf, in der einmal Tabak gewesen war. Noch war sie verschlossen, aber sie mußte etwas anderes enthalten. Als der Graf sie schüttelte, klapperte es. Er machte sie auf, sah hinein und kippte den Inhalt auf seine flache Hand. Diamanten funkelten ihnen entgegen, Ringe, Armbänder, Ohrgehänge – »Das sind die Ohrringe der Senhora Menezes!« sagte Graziella, und Mario berichtete, wie der Mann mit dem Vollbart und die Neger mit den Kostbarkeiten abgezogen waren, ihnen aber das Gewehr und die Smith-Wesson dagelassen hatten. »Klarer Fall«, sagte der Chef. »Der Weiße hat nicht mit allen teilen wollen – ist mit zwei Negern abgerückt. Hier hat er die beiden Neger umbringen wollen oder die Neger ihn, und dabei sind sie alle drei drauf gegangen.« »Sie haben nicht lange etwas von ihrer gewaltsamen Enteignung gehabt«, sagte der -486-
Graf. »Sagen Sie dem Häuptling«, entschied der Chef, zu GG gewandt, »wir wollten die Sachen behalten. Bekommt ein Beil dafür.« Mario starrte den Chef an. Was hatte er da gesagt? Der Mann, den sie GG nannten, sollte mit dem Häuptling sprechen? Aber nur er und Graziella sprachen doch Tupi? Aber GG verzog keine Miene. »Wie kann ich das dem Häuptling sagen, Chef? Er versteht keine lingua geral, und ich kein Tupi.« Der Chef begriff. »Ich meine, das Mädchen soll es ihm sagen.« Graziella hatte auf diesen Zwischenfall nicht geachtet. Sie sah auf den Schädel des weißen Mannes. Das war also einmal der Mann mit dem Vollbart gewesen. Sie sah wieder, wie er ihr seine mächtige, schmutzige Pranke hingehalten, sie ihm ihre Hand fest gegeben hatte. Erst hatten die beiden Räuber den Piloten und den Funker ermordet und den Raub an sich gerissen. Dann waren sie erschossen worden, und der Weiße und die Neger waren mit dem Raube abgezogen – und nun lagen sie hier, voneinander gemordet… Aber sie schüttelte ihren Schauder ab. Das war eben das Gesetz des Dschungels – das war die Welt der Starken… Es war eine große Flottille von Kanus, die dann aufbrach. »Igarapé, Igarapé!« rief der Häuptling, ehe sie losfuhren. Igara war das Tupiwort für Kanu, und pé für Pfad – »Kanu-487-
pfad« also hieß Fluß. Tagelang dauerte die Fahrt. Zuweilen traten die Ufer dicht zusammen, zuweilen weiteten sie sich, und dann paddelten sie durch ganze Felder von riesigen Seerosen, welche die Europäer Victoria Regia nennen, die Indianer Wassermais und deren eigentliche Heimat das Stromgebiet des Amazonas ist. Gegen Abend, wenn sie an Land gingen, um zu übernachten, hatten sich die Blüten mit einem herrlichen Weiß geöffnet. Morgens, wenn sie weiterfuhren, waren die Blüten geschlossen. Erst am Abend öffneten sie sich wieder, aber nun war aus dem strahlenden Weiß ein leuchtendes Rosa geworden – und am dritten Tage war die ganze Herrlichkeit verwelkt. Immer aber erwachten neue Pflanzen zu dem Fest des Blühens, dem die verschwenderische Natur nur zwei Tage Zeit schenkte. Und ganze Wolken von Schmetterlingen sahen sie, die in allen Farben schimmernd auf und nieder schwebten; war die Stunde der Tagfalter vorbei, so erwachten die Falter der Dämmerung, deren Augen zu leuchten beginnen, sowie es dunkelt, und sie sahen den größten Schmetterling unserer Erde, die brasilianische Eule, die fast dreißig Zentimeter mißt. War es aber ganz Nacht, dann durchschwirrten die Luft die glühenden Punkte der Feuerfliegen. »Mario«, sagte Graziella auf portugiesisch, »es gibt kein schöneres Leben als hier!« Er nickte. Aber GG, der das hörte, dachte: »Nir-488-
gends ist eine solche Grabesluft wie hier im Dschungel.« Eines Morgens, die Sonne stand noch nicht hoch, sahen sie eine Unmenge von Krokodilen. Die gefährlichen Tiere drehten ab, als die Kanus sich näherten, und in dem Wasserschaum, den sie aufrührten, glänzte das goldene Licht der Frühe in allen Farben des Regenbogens. Plötzlich brachen die Indianer in ein wildes Geschrei aus – und am Ufer tauchten die ersten Hütten auf. Sie hatten das Dorf der Schakaräh erreicht. Alte Männer, Frauen und Kinder liefen zusammen. Als die Weißen an Land gingen, liefen die Kinder schreiend fort, und auch die Erwachsenen wichen zurück. Aber die Neugier war doch stärker als die Furcht. Die Frauen kamen näher, sie berührten die Kleider der Weißen, sie tasteten die Körper ab – »Alles geschehen lassen«, sagte GG scharf. »Ja keine falsche Bewegung!« Ein Mädchen, das etwa so alt war wie Graziella, trat auf sie zu. »Warum bist du so eingewickelt?« fragte sie. Sie wunderte sich nicht, daß Graziella in ihrer Sprache antwortete – für sie gab es nur diese eine. »In dem Lande, aus dem ich komme«, sagte Graziella, »gehen wir so eingewickelt!« »Oh«, sagte das Mädchen, »ist es dort so heiß, daß ihr euch einwickeln müßt, um nicht -489-
zu verbrennen?« Sie rollte einen Ärmel von Graziellas Buschhemd auf. Sie spuckte auf den weißen Arm und rieb und rieb – da sah sie, daß diese Fremde nicht weiß bemalt war, sondern eine andere Hautfarbe hatte als sie selbst. Die runden Maloccas des Dorfes waren groß, hatten ein abgesetztes Dach und glichen Bienenkörben. Der Häuptling schritt auf eine der Hütten zu, vor der eine alte Frau stand. Er fuhr sie an, und GG, Mario und Graziella verstanden, was er zu ihr sagte: »Geh fort, du wohnst nicht mehr hier!« Sie war so erschrocken, daß sie sich gar nicht rühren konnte. Aber nur einen Augenblick lang. Dann huschte sie in die Hütte und kam gleich wieder herausgeschossen, ein paar Kalebassen und eine Hängematte im Arm. Doch der Häuptling riß ihr alles fort und nahm die Sachen wieder mit in die Hütte. Sie war fast fünf Meter hoch und maß, wie die Männer jetzt sahen, etwa zwölf Meter im Durchmesser. Licht bekam sie aber nur vom Eingang her, so daß es in ihr dämmrig war. Vier Pfosten standen darin, die durch armdicke Baumstämme verbunden waren, an welchen die Hängematten festgemacht werden konnten. Als Figur seine Taschenlampe aufleuchten ließ, damit sie sich in der Hütte einrichten konnten, riß das aufgeregte Stimmengewirr, das ihre Malocca umbrodelt hatte, plötzlich ab. Die Frauen, die bis dahin den Eingang umla-490-
gert hatten, waren wie weggeblasen, und der Häuptling stand wie angewurzelt. Er hatte erwartet, daß die Hütte in Flammen aufgehen würde. »Kaltes Feuer, alter Junge«, sagte Figur. Der Häuptling ging, und Figur ließ den Lichtkegel spielen. Der Schein fiel auf einen Pfosten. Figur stutzte. Jetzt leuchtete er ein Pfostenende nach dem andern ab – und sich da, jeder trug dasselbe jedem war ein Menschenschädel aufgesetzt. Auch die andern hatten diese eigenartige Verzierung gesehen. »Ganz stimmungsvoll«, sagte der Graf. »Wahrscheinlich die vorigen Mieter«, knurrte der Chef. »Und was ist das?« fragte Plumpudding. Er hielt etwas in den bleichen Schein der Lampe – es war auch ein Menschenschädel, aber alle Öffnungen an ihm waren mit Lehm verschlossen. »Offenbar zum Wasserholen zu benützen«, sagte GG. »Neunauge, das ist etwas für dein Bistro«, sagte Plumpudding. »Für Gäste mit starken Nerven servierst du darin die Suppe! Wenn das nicht originell ist!« Graziella verließ die Hütte. Es war noch heller Tag. Die Schakaräh umstanden sie in einem dichten Halbkreis. Die weißen Männer und Mario traten zu ihr. Drei Frauen kamen, jede mit einem Tontopf. Die alte Frau, die aus -491-
der Hütte verjagt worden war, trug den größten und schwersten. Sie setzten die Töpfe vor den Weißen hin. »Madame est servie«, sagte der Graf mit einer höflichen Verbeugung zu Graziella. Sie mußte lachen, und dann kauerten sie sich alle acht um die drei Töpfe. Die umstehenden Schakaräh ließen keinen Blick von ihnen. In dem einen Topf war kleingeschnittenes Fleisch, in dem zweiten eine pfeffrige Brühe, in dem dritten Farinha, Mehl aus Tapioka. Graziella war in dem Paradies der Natur, in das sie sich gewünscht hatte. Endlich hatte sie all die überflüssigen Errungenschaften der Zivilisation hinter sich – aber wie sie nun vor sich die Töpfe hatte, jedoch keinen Löffel und keine Gabel, da war sie doch etwas hilflos. Aber GG griff als erster mit seinen Fingern in den einen Topf, holte ein Stück Fleisch heraus, tauchte es in den Mehltopf, danach in die Pfefferbrühe und aß. So ging es denn reihum, und auch die Kinder langten zu. »Nicht übel«, sagte Plumpudding. »Zart wie Kalbfleisch«, sagte Neunauge anerkennend. Jetzt war Graziella ganz bei der Sache. Sie entsann sich, was sie mit solcher Begeisterung von ihrem Lehrer in der Tupisprache gelernt hatte. »Wer satt ist«, erklärte sie, »der sagt: ›Ich bin fertig. Der Topf war groß.‹ Das gehört sich so.« Sie wiederholte die Wendung in Tupi. -492-
Die alte Frau kam wieder. Sie nahm den Topf mit Brühe weg und setzte dafür einen andern hin, der bis oben hin voll war. »Ist das nicht erstaunlich«, sagte der Graf, »daß diese alte Oma, die unsertwegen aus ihrem Einfamilienhaus mußte, aufs rührendste für uns sorgt? Will sie etwa feurige Kohlen auf unser Haupt sammeln?« »Dieses weniger«, antwortete GG. »Ich nehme an, sie will damit ihren Landsleuten nur zeigen, wie rüstig und tüchtig sie immer noch ist. Sie hat anscheinend gar keine Lust, den Krokodilen vorgeworfen zu werden.« Graziella hörte mit Essen auf. »Wer brächte das denn fertig?« fragte sie empört. »Oh«, sagte GG, »der Begriff der Altersversorgung ist den Indianern unbekannt. Wer von den Alten nicht mehr fischen kann oder sonst durch seine Gebrechlichkeit hinderlich wird, den wirft der Sohn, oder wer sonst an näherer Verwandtschaft vorhanden ist, der Einfachheit halber in den Fluß. In feineren Familien wird die Sache mit Gift erledigt.« Graziella schluckte, aber sagte nichts. Nein, sie hatte sich ihren neuen Namen nicht umsonst gewählt. Im Dschungel mußte man eben ein hartes Herz haben. Sie griff wieder in den Fleischtopf. Sie hatte ein größeres Stück gefaßt und hob es heraus. Im selben Augenblick erstarrte sie. Sie hatte eine Hand herausgeholt, eine blaßrote Hand wie von einem Kinde – -493-
»Affe«, sagte GG. Graziella stand auf. Sie ging in die Hütte. Sie war nicht imstande, noch zu sagen: »Ich bin fertig. Der Topf war groß.« »Wenn man Affen kocht«, sagte GG »dann wird die braune Haut so merkwürdig hellrot.« »Woher wissen Sie das alles?« fragte Mario. »Ich bin nicht als Bankräuber auf die Welt gekommen«, sagte GG.
Rätsel über Rätsel Melaka hieß die Dreizehnjährige, die so an Graziellas Arm gerieben hatte, ob die Farbe nicht abginge. Sie war die Tochter des Häuptlings, und die beiden Mädchen waren bald unzertrennlich. Mario aber freundete sich mit Danu an, einem Jungen in seinem Alter, der immer um Melaka war. »Ist Danu dein Bruder?« fragte Graziella, als sie zusammen am Fluß saßen, der Sandbank gegenüber, auf der die Krokodile in der Sonne lagen. »Danu nicht mein Bruder«, sagte Melaka. »Meinen Bruder hat der Häuptling in den Fluß geworfen.« Graziella glaubte, sie habe nicht recht ver-494-
standen. »Dein Vater kann doch sein Kind nicht in den Fluß geworfen haben!« »Das mußte der Häuptling tun«, sagte Melaka. »Er mußte ihn den Krokodilen zum Fressen geben. Mein Bruder und ich hatten die gleiche Stunde der Geburt. Aber SchakarähIndianer sagen: Nur Tiere haben mehrere Junge, und weil meine Mutter zwei Kinder bekam, mußte eins sterben.« Graziella sagte darauf nichts. Melaka war ein Zwillingskind wie sie – aber welch ein Unstern stand über den Zwillingen des Sertão! Sie machte sich stark. »Dein kleiner Bruder wird nicht haben leben können«, sagte sie. »Er war sicher schwach und ist gleich gestorben.« »Meine Mutter hat mir gesagt, er war gesund wie ich, und sie haben überlegt, wen sie den Krokodilen gehen sollen, ihn oder mich. Aber mein Vater hat mich behalten, weil er für mich einen hohen Preis von dem Manne fordern kann, der mich heiraten will. Weil ich so kostbar für sie bin, haben sie mir Danu gegeben. Danu muß sehen, daß ich auf keine Schlange trete und daß kein Skorpion mich sticht. Wenn ich sterbe oder krank werde, ehe ich geheiratet werde, werfen sie Danu in den Fluß.« »Sie renken mir die Arme in den Schultern aus den Gelenken«, sagte Danu, »damit ich nicht schwimmen kann, und werfen mich drüben den Krokodilen hin.« »Warum fliehst du nicht?« sagte Mario empört. -495-
»Wohin soll ich fliehen?« fragte Danu. »Ich bin nicht vom Stamme der Schakaräh-Männer. Ich weiß nicht, von welchem Stamm ich bin. Die Schakaräh haben meinen Stamm überfallen, als ich noch nicht sprechen konnte. Sie haben die Männer getötet, die Frauen verkauft und die Kinder, und mich hat der Häuptling genommen, weil ich Melakas Sklave werden sollte. Ich habe niemand, der nach mir fragt.« »Ich frage nach dir, Danu«, sagte Melaka. »Ja«, sagte Danu, »jetzt – aber Melaka wird heiraten. Es wird ein Tuschaua kommen von einem fremden Stamm und so viel bieten, daß der Häuptling dich ihm zur Frau gibt – und dann ist niemand mehr da, der nach mir fragt.« »Mach Feuer, Danu«, sagte Melaka, »wir wollen Wassermais rösten.« Danu nahm zwei lange dünne Stäbe von trockenem Holz, und mit einer Muschel schabte er in einen der beiden eine Kerbe. Den legte er auf den Boden, und Mario mußte ihn mit ganzer Kraft festhalten, daß sich der Stab nicht bewegen konnte. Jetzt setzte Danu den andern in die Kerbe und quirlte ihn darin mit größter Schnelligkeit. Schon begann der abgeschabte Holzstaub zu glimmen. Danu blies vorsichtig hinein, er legte trockenes Gras darüber, und da zuckte eine kleine Flamme auf. Sie legten nach, und es wurde ein großes Feuer. Als es nur noch Glut war, taten sie die schwarzen Samen, die sie aus den faustgro-496-
ßen, stacheligen Früchten der riesigen Seerosen gebrochen hatten, hinein und aßen sie, nachdem deren dünne Häutchen in der Hitze abgeplatzt waren. Plötzlich rauschte es vor ihnen im Wasser, und ein gewaltiges Haupt hob sich schnaufend aus dem Fluße. Es lief in eine kurze, stumpfe Schnauze aus. Von der bläulichgrauen Haut rannen die Wassertropfen ab, und unendlich friedliche Augen besahen sich das grasige Ufer. »Der Ochse des Flusses«, flüsterte Danu. Die Kinder rührten sich nicht. Der Koloß, der etwa fünf Meter lang war, bewegte seine Rückenflosse und kam dadurch näher. Jetzt hatte er das flache Wasser erreicht, und zwei kurze Vorderflossen wie Armstümpfe bewegend, schob sich der gewaltige Leib, dessen Gewicht mit drei Zentnern nicht zu gering geschätzt war, langsam an Land. Die Kinder sahen, wie das Tier, das so ungeheuerlich anmutete, harmlos das Ufergras abfraß: sie hörten es schnaufen und zufrieden grunzen. Danu klatschte in die Hände. Das Schnaufen brach ab, das Tier horchte. Aber da nichts weiter geschah, graste es grunzend weiter. »Ist das nicht wunderbar?« flüsterte Graziella ihrem Bruder zu. »Ja«, flüsterte er zurück. »Als ob gar keine Menschen auf der Erde wären.« -497-
Da sprang Melaka auf und schrie wild zu dem Tier hin: »Warum mußt du hier vor meine Augen kommen?! Danu, verjag es! Verjag es!« Danu sprang auf, faßte einen abgebrochenen großen Ast und schlug damit heftig ins Wasser. Das Tier gab keinen Laut mehr von sich. Es schob sich in den Fluß zurück, die Wasser rauschten auf, und es war verschwunden. »Warum hast du es verjagt?« fragte Graziella erregt. Sie begriff nicht, was hier geschehen sein konnte. »Aus seiner Haut wird die Peitsche gemacht«, sagte Melaka, »mit der mir der Zauberer die Haut zerfetzt, ehe mich der Häuptling dem Manne gibt, der den Preis für mich bezahlt hat.« Graziella verstand das nicht. Aber sie brachte es nicht über sich, Melaka weiterzufragen. Sie legte den Arm um das aufgeregte Kind; unheimlich waren die Geheimnisse des Sertão. »Kommt«, sagte sie, »wir wollen vom Fluß weg!« Sie gingen den schmalen Indianerpfad, der zum Wasser führte, durch den Dschungel zurück. Aber ein bezaubernder Anblick ließ sie bald wieder stehenbleiben: Kolibris hatten entdeckt, daß ein Jacarandabaum aufgeblüht war. Von überallher, wie aus dem Nichts geboren, kamen die winzigen Vögel wie fiebernd herangeschossen, hielten, sekundenlang vor den Blüten schwebend, und stießen die langen Dolchschnäbel bis auf den Grund, nach winzi-498-
gen Käfern, die in dem Blütenhonig saßen. Wie sie so daherschossen, schienen sie farblos. Aber wenn sie vor den Blüten schwirrten, tat sich die ganze Pracht ihres bunten Gefieders auf. Ihre Federkragen gingen durch Violett in Grün, Gelb, Orange und Rot über. Andere wieder waren grün wie Erz, aber ihre Schwingen purpurbraun, während von den äußersten Federn schwarze Flaggen herunterwehten, die einen smaragdgrünen Schimmer hatten. Auch wenn sich die Märchenvögel auf einem Zweige ausruhten, sahen die Kinder ihre leuchtenden Farben. Der Baum strotzte nicht nur von seinen tiefblauen Blüten, sondern war mit den Vögeln wie übersät mit blitzenden Rubinen, Topasen und Funken aus lauterem Gold. Hin und wieder hörten die Kinder ein ganz zartes Zwitschern. »Sie singen nicht?« fragte Graziella. »Sie singen mit ihren Farben«, sagte Mario. »Der Vogel, der am schönsten singt«, sagte Melaka, »ist der häßlichste von allen –«, und sie erzählte den beiden weißen Kindern von dem Gottvogel Uirapuru. »Über die Tiere des Waldes«, sagte sie, »herrscht der Waldgott Caapora. Über die Fische herrscht der Fischgott Uiara. Die Krieger im Kampf und die Jäger auf der Jagd beschützt der Gott Macachera. Über die Vögel aber herrscht Uirapuru, der Vogelgott. -499-
Er ist selbst ein Vogel. Wir wissen: er ist riesengroß und sehr häßlich. Aber seine Stimme ist so schön, daß sich ein Tier, das ihn singen hört, nicht mehr von der Stelle rühren kann. Sie stehen alle, als seien sie angewachsen, und lauschen dem Gesang Uirapurus. Erst wenn er aufhört zu singen, können sie sich wieder rühren.« Melaka zögerte, weiterzusprechen. Dann sagte sie, und ihre Stimme bebte: »Die Späher kamen wieder und sagten, sie hätten die Stimme Uirapurus gehört. Sie sagten auch, sie hätten den Vogel gesehen: er sei riesig und sehr häßlich.« Graziella sah Mario an – die Indianer hatten Heloisas Geigenspiel gehört… »Da brachen die Männer des Stammes auf«, sagte Melaka, »suchten den Vogel und brachten euch zu unsern Malokkas.« Sie zögerte wieder. Dann sprach sie leise: »Sprich, Hartes Herz, ihr seid die Kinder Uirapurus! Und die sechs Männer hat euch Uirapuru zum Schutz mitgegeben, wie mir Danu zum Schutz gegeben wurde!« Graziella war sprachlos. Alles in ihr drängte danach, dem braunen Mädchen zu sagen, sie seien nicht mehr als sie, sie wollten wie sie nichts anderes sein als Kinder des Sertão – zugleich aber scheute sie sich davor, diesen schönen Traum der Indianer wie ein Spinngewebe zu zerreißen. Und da sagte Mario heftig zu ihr: »Laß sie dabei!« Er hatte ihr die drei -500-
Worte auf portugiesisch zugeworfen, und jetzt redete er in der Indianersprache weiter: »Wir sind Kinder Gottes!« Mario sah hier eine Möglichkeit. Er mußte sie ohne Zögern ergreifen. Wenn ein solcher Zauber ihre Herkunft umgab, dann konnte er auch dazu benutzt werden, daß sie aus diesem Dschungelparadies, das eine Hölle war, wieder entrannen. Hatten sie beide Zaubermacht über die Söhne des Sertão, dann mußten die sie auch wieder ziehenlassen. Graziella sah nur das eine: sie wollte zu den Indianern. Aber Mario sorgte sich von Anfang an auch um das andere: Wie kommen wir fort, wenn sie wieder zu den Weißen will?! In dem Augenblick vollzog sich an dem prangenden Blütenbaum eine erschreckende Wendung. Eine Wolke von schönen, in zart violettem Email schimmernden Schmetterlingen näherte sich ihm, denn die Blüten zogen auch sie an. Sie hatten es nur auf den Honig in den Kelchen abgesehen, sie waren die wirklichen Blumenküsser, wie die Portugiesen die Kolibris nennen. Kaum aber hatten sie den Baum erreicht, da stürzten sich die bezaubernd schönen Vögel auf sie. Ihre spitzen langen Dolchschnäbel zerfetzten die zarten Schmetterlingsflügel, und die wehrlosen Sonnenfalter taumelten sterbend zu Boden: mit der erbarmungslosen Gewalttätigkeit des Stärkeren verwehrten ihnen die Vögel, sich aus denselben Blüten zu nähren, die ihnen die -501-
Lebensnahrung gaben. Dann aber, als sei nichts geschehen, schwebten die Kolibris wieder vor den Blüten, traumhaft schön, schuldig-unschuldig, Mörder alle und doch von Mord nichts wissend. »Nicht ins Dorf, jetzt nicht ins Dorf«, sagte Graziella. Sie gingen zu der Rodung, wo die Kassavebüsche angepflanzt waren, aus deren Wurzelknollen die Frauen des Stammes das Maniokamehl gewannen, und kamen an einen Pfad, den sie noch nie gegangen waren. Er führte wieder tief in den Dschungel hinein und teilte sich nach kurzer Zeit. Melaka wählte den linken Weg, aber sie blieb nach wenigen Schritten stehen. »Gehst du mit, wenn wir den andern Weg gehen?« fragte sie Danu. »Ich gehe, wo Melaka geht«, sagte er. Da kehrte sie um. und sie schlugen den Weg rechts ein. Sie kamen an Bäumen vorbei, an denen aus Bast geflochtene Tiergestalten hingen, die Vögel darstellten, wie deutlich zu erkennen war. Dann lag eine kleine Lichtung vor ihnen, die wie ein schmales Viereck aus dem Urwald herausgeschnitten war. Da der Pfad schmal war wie alle Indianerpfade, gingen sie hintereinander. Voran schritt Melaka, hinter ihr ging Graziella. Dann kam Mario, dem Danu folgte. So betrat Melaka als erste die freie Stelle. Da zuckte sie zurück, als hätte der Blitz sie getroffen. Sie bog sich zusammen, hielt -502-
sich den Arm vor die Augen, drehte sich um, flüsterte keuchend: »Mach die Augen zu, mach die Augen zu!« und riß Graziella mit sich fort, den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Schlangen?« fragte Mario hastig. »Keine Schlangen«, antwortete Danu und zeigte auf die Mitte des Platzes. Dort war von einer Längsseite des Vierecks zur andern ein Lianenseil gezogen, und an ihm schwebte eine große Krokodilgestalt, die wie die Vögel am Wege aus Bast geflochten war. Da in dem stickigen Dschungel kein Windhauch ging, bewegte sich das Gebilde nicht. »Männerzauber«, sagte Danu. »Mädchen und Frauen werden blind, wenn sie ihn ansehen. Komm!« Sie gingen den Mädchen rasch nach und kamen noch mit ihnen ins Dorf. In der Nacht wachten die Kinder und die sechs Männer plötzlich auf. Sie hörten ein dumpfes tomtomtom – »Baumtrommeln«, sagte GG. »Kleiner Überfall auf die Gäste?« fragte der Chef. »Vielleicht um etwas Abwechslung in die Speisekarte zu bringen«, meinte der Graf. Aber sie beunruhigten sich nicht weiter. Ihre Waffen hatten sie griffbereit. Es war kein Laufen im Dorf zu hören. Das Trommeln kam an-503-
scheinend gar nicht aus dem Dorf, sondern von weiter weg. »Heute ist Vollmond«, sagte Figur. »Wölfe heulen bei Vollmond, die Indios trommeln. Der Erfolg ist der gleiche: ruhestörender Lärm.« Er war der erste, der wieder eingeschlafen war. Graziella hatte lange nicht einschlafen können. Sie war mit dem Tag noch nicht fertig gewesen. So viel wühlte in ihr nach: die Ermordung von Zwillingskindern, die schreckliche Schmetterlingsschlacht, die angstvollen unverständlichen Aufschreie Melakas, das unheimlich Lauernde, das im Dschungel unsichtbar saß… und jetzt schreckte sie von diesem Trommeln aus dem ersten Schlaf. Unheimlich klangen die fremdartigen Töne durch die Nacht, dröhnend und drohend, ängstigend, wenn man nicht wußte, was sie bedeuteten. War es nicht, als gingen Mario und sie auf einem Boden, der ganz unterhöhlt war, daß er jeden Augenblick einbrechen konnte – stürzten sie dann nicht in Tiefen, von denen sie nichts geahnt hatte? In der Welt, aus der sie geflüchtet war, herrschte die Falschheit, wie sie dachte – aber in der Dschungelweit, in die sie geflüchtet war, herrschte das Grauen… Nein. Sie riß sich zusammen. Nein, nein, so war es nicht. So durfte es nicht sein! Sie waren im Sertão bruto, die Schrecken gehörten zu dieser Welt des wilden Urwalds, und mit Schrecken mußte sie eben fertig werden. Sie mußte stärker sein als die Schrecken. Sie hat-504-
te den richtigen Namen gewählt – Hartes Herz. Sie wußte, warum. Sie wußte ganz allein, warum sie den Namen angenommen hatte. Das heißt, Mario wußte es natürlich auch. Aber diese Namenswahl war ein kühner Vorgriff gewesen. Ihr Herz mußte erst noch hart werden, sie mußte es härten, damit sie wirklich stärker wurde als der Dschungel. »Mario«, flüsterte sie, »schläfst du?« »Nein.« »Mario, wir wollen sehen, weshalb sie trommeln. Kommst du mit?« »Wenn du gehst, gehe ich auch«, sagte er. Sie stiegen leise aus ihren Hängematten, und ebenso leise waren sie aus der Malokka. »GG«, sagte der Chef, »Kinder sind fort.« Er hatte es auch gehört. Aber er sagte: »Danke. Das hätte ich verpaßt. Ich gehe ihnen nach.« Er steckte sich die Pistole ein. Graziella und Mario hatten sich an die Hüttenwand gedrückt, um draußen ja nicht aufzufallen. Das Mondlicht lag weiß und leuchtend über dem Dorf. Aber zwischen den Hütten war alles wie ausgestorben, und auch in ihnen rührte sich nichts. Das Trommeln kam aus der Richtung des Kassavefeldes, wo sie heute morgen gewesen waren. Dorthin also mußten sie gehen. Aber als sie bis an das Feld geschlichen waren, hörten sie, daß das Trommeln von weit her kam. »Ich weiß«, sagte Mario. »Sie sind sicher bei dem Krokodil, das du -505-
nicht sehen solltest!« »Jetzt werde ich es sehen«, sagte Graziella. Sie gingen denselben Weg wie heute morgen. Aber in dem Mondlicht, das da und dort in den Dschungel fiel, sah alles verändert aus. Die Riesenstämme der Bäume glichen jetzt zahllosen Säulenpfeilern einer Kathedrale, die aus der Schwärze des Bodens auftauchten, ein Stück lang silbrig glänzten und dann oben wieder in Schwärze verschwanden. Das dumpfe Trommeln wurde immer lauter, und immer vorsichtiger ihr Schritt. Sie näherten sich der Lichtung und kauerten sich auf den Boden. Geduckt spähten sie hinaus. Sie konnten alles deutlich sehen. Die Schakaräh standen in einem Halbkreis, der zu ihnen hin offen war. Nur Männer. Die Trommler sahen sie nicht. Die mußten noch hinter den Männern sein. Aber den Zauberer sahen sie. An Armen und Beinen hatte er Dinge hängen, die rasselten, und rasselnd tanzte er vor den Männern und sang dazu ein eintöniges Lied. Die Männer aber hatten die Arme einander auf die Schultern gelegt und bewegten sich im Takt der Trommelschläge. Sie glichen einer sich hin und her wiegenden Menschenwand. Jetzt kamen aus dem Wald zwei Männer. Sie schleppten einen Knaben heran. Er hing wie tot in ihren Armen. In ihrer schreckensvollen Erregung hockten Graziella und Mario nicht mehr auf dem Boden. Im Bann des rätselhaften, unheimlichen -506-
Vorgangs hatten sie sich aufgerichtet. Zum Glück verbarg sie das Gewirr der jungen Palmen, und die Indianer waren so völlig in den Rhythmus ihres sonderbaren Tanzes auf der Stelle versunken, daß sie auf nichts anderes achteten. Jetzt konnten die beiden das Gesicht des Knaben sehen. Es war in Entsetzen verzerrt. Die Männer warfen ihn auf den Boden, daß er mit dem Rücken auf der Erde lag, und jeder hielt ihn an einem Arm fest. Zwei andere sprangen hinzu und packten ihn bei den Beinen. So hielten sie ihn, neben ihm hockend, zu viert auf den Boden gepreßt. Der Zauberer umtanzte die Gruppe, rasselnd und immer sein eintöniges Lied singend. Plötzlich stieß er einen Schrei aus, nein ein Geheul, als brülle ein Krokodil. Da steigerte sich das Getrommel, das bis dahin nur matt geklungen hatte, zu einem wilden Furioso. Der Zauberer kniete bei dem Jungen. Er schnitt mit einer scharfen Muschel in die Brust des Knaben Einkerbungen und Punkte. Jetzt goß der Zauberer eine Kalebasse über die Brust des Jungen, und was aus dem Gefäß floß, sah im Mondlicht aus wie Blut. Der Leib des Jungen bäumte sich immer wieder auf, in unsäglichem Schmerz, und die Männer konnten ihn nur mit Mühe halten. Aber kein einziger Klagelaut entrang sich seinem Munde. Gut eine Stunde hatte die Qual gedauert. Der Zauberer erhob sich. Die Männer ließen -507-
den Gemarterten los. Er lag am Boden, ohne sich zu rühren. Das Trommeln war verstummt, und im Nu waren alle aus der Lichtung verschwunden. Graziella und Mario rührten sich nicht. Sie warteten lange, bis sie sich sagen konnten, es sei niemand mehr im Walde. Dann wagten sie sich zu dem Knaben. Sie knieten sich zu ihm. Er war bewußtlos. Neben ihm lag ein großer Kriegsbogen und ein Bündel Pfeile. »Der Zauberer hat ihm das Krokodil auf die Brust tätowiert«, flüsterte Mario. »Jetzt ist er ein Mann. Jetzt hat er einen Bogen und Pfeile.« »So wie er muß man die Schrecken des Sertão bruto ertragen«, flüsterte Graziella. »So wird man noch härter, als die Schrecken sind.« Sie merkten nicht, daß GG ihnen wieder folgte. Mario war verstört. Nicht nur durch das, was dem Knaben begegnet war. Der hatte die Mannesprobe bestanden. Aber er fragte sich schweren Herzens: Wird Graziella je vor der Wildnis kapitulieren? Einen Augenblick stand er noch allein vor der Hütte. Kam da nicht ein Schritt? Er sah GG langsam heranschlendern. Jetzt hatte ihn der Mann erreicht. Die unheimliche Nacht, die beängstigende Stille, die Sorge um die Schwester – alles kam zusammen. »Ich bin froh«, sagte Mario, »daß Sie alle mit uns gekommen sind.« -508-
»Was sollten wir anderes machen?« fragte GG wie gelangweilt. »Wenn Sie nur nicht eines Tages abhauen«, sagte Mario hastig. GG beugte sich zu ihm. Er flüsterte ihm ins Ohr: »Ich verlasse dich nicht!« Dann war GG in der Hütte verschwunden. Mario stand betroffen. Er hatte das herrliche Gefühl: Der Mann ist mit dir verbündet – zugleich aber war er tief beunruhigt: Was war das denn nur für ein Mann?
Der Felsen der Mutter »Keine Frau der Schakaräh geht mit den Männern auf die Jagd«, sagte Melaka eindringlich, aber Graziella antwortete: »Ich werde mit ihnen gehen.« »Hartes Herz«, sagte Melaka voll Besorgnis, »ich habe dir gesagt, daß Macachera, der Waldgott, die Krieger und Jäger beschützt. Aber ich habe dir verschwiegen, was ich dir jetzt sage: er liebt die Frauen nicht. Wenn sie im Wald auf dem Feld der Kassavebüsche hacken, hängen sie eine Kalebasse mit Schipäh in einen Baum, damit er ihnen nicht zürnt, weil sie seinen Wald betreten.« Graziella war empört. Sie wollte keine -509-
schwache Frau werden. Sie wollte stärker werden als der Dschungel – und da erhob sich das Gesetz des Dschungels gegen sie? »Ich bin so stark wie Mario«, sagte sie heftig. »Aber du bist ein Mädchen«, sagte Melaka. »Geh ruhig mit, Graziella«, sagte Mario, »aber laß mich schießen. Seit wir vom Flugzeug weg sind, habe ich noch nichts geschossen.« Graziella mußte ihm schon den Gefallen tun. Immer trat er für sie ein. Aber sie brachte doch kein Wort über die Lippen. Sie nickte nur. »Danu«, sagte Melaka, »begleite Hartes Herz. Sei immer bei ihr und wache über sie, wie du über mich wachst.« »Aber niemand wacht über dich, wenn ich nicht bei dir bin«, sagte Danu. »Ich gehe in die Malokka und verlasse sie nicht, bis ihr zurück seid.« So gingen Danu, Mario und Graziella mit den Jägern der Schakaräh. Ein Jaguar hatte sich in der Nacht ein Pekari geholt, und die Frauen hatten gejammert, das nächste Mal würde er eins ihrer Kinder wegschleppen. Da brachen die Jäger auf. Sie gingen den Spuren nach, die in den Dschungel führten. Es war noch früh. Die Brüllaffen saßen nach ihrem ersten Frühstück zufrieden in den Baumwipfeln und gaben sich ganz der Lust ihres Morgengeheuls hin. Die Jäger störten sie nicht, denn flüchteten die -510-
Affenherden, dann warnten sie damit nur den Jaguar. Geräuschlos und unbemerkt bewegten sich die Gestalten der Jäger. Auf einmal standen die vordersten still. Sie waren alle hintereinander gegangen; nun verhielt der ganze Zug wie erstarrt. Aber dann näherte sich einer nach dem andern dem Mann an der Spitze. Jetzt sahen auch Mario und Graziella, was zu sehen war. Unten am Flußufer lag ein Jaguar, ein gewaltiges Tier. Er hatte einem Wasserschwein die Kehle durchgebissen. Das tote Tier lag vor ihm, und er hatte die Pranke auf seine Beute gelegt. Wenige Menschenschritte vor ihm hockten die widerwärtigen Urubù, die nackthalsigen schwarzen Geier. Sie lauerten auf das, was ihnen der große Mörder übriglassen würde. Aber die Freßgier übermannte sie, und sie rückten dem toten Tier immer näher. Der Herr des Waldes fauchte sie an – da wichen sie flatternd zurück, aber nicht bis an die Stelle, wo sie vorher gehockt hatten – der Beute eine Armlänge näher, blieben sie sitzen, lauernde Zuschauer. Dem Jaguar paßte die Gesellschaft nicht. Er erhob sich, sie flatterten auf, er packte das Wasserschwein, um mit ihm im Dschungel zu verschwinden, und langsam näherte er sich den wartenden Jägern. Sie faßten die Speere fester. Graziella hob das Gewehr. Sie hatte es den ganzen Morgen getragen. Aber Danu packte -511-
ihre Hand mit eisernem Griff und zog sie mit dem Gewehr herab. »Das erlaubt Macachera nicht«, flüsterte er aufgeregt. »Männer töten, Frauen pflanzen!« Im selben Augenblick stutzte der Jaguar. Hatte er das Flüstern gehört? Hatte ihn die fremde Witterung angeweht? Er ließ seine Beute fallen. Die Jäger schrien wild und stürzten auf ihn zu. Er sah sich umstellt, drehte sich blitzschnell um und war mit einem Satz im Wasser. Die Jäger rannten ans Ufer, um zu sehen, wo er wieder an Land wollte – aber er schwamm quer über den Fluß zum andern Ufer hin. Auf den Baumspitzen hockten die schwarzen Geier und warteten. Flußaufwärts kamen zwei Kanus. In dem ersten saß Neunauge, zwei Indianer paddelten. In dem zweiten, das auch zwei Indianer als Ruderer hatte und ein gutes Stück noch zurück war, saß der Chef, das Gewehr vor sich. Neunauge aber hatte nur seinen Photoapparat, und er war von dem, was er da erspähte, hellbegeistert: ein Jaguar durchschwimmt den Fluß! Das mußte er knipsen, das gab ein noch nie gesehenes Bild. »En avant! En avant! En avant!« feuerte er seine Paddler an. Aber in dem dunklen Gefühl, daß sie sein Französisch nicht verstünden, schrie er jetzt: »Avanti! Avanti!«, ohne sich darüber klar zu sein, daß Italienisch hier auch nicht das Richtige war. Doch die Indianer begriffen durchaus, was er wollte, und waren -512-
damit gar nicht einverstanden. Sie schrien ihm zu: »Ala táhaha! Ala táhaha!«, aber nun verstand er wieder nicht, daß das »nicht gut!« hieß. Jedoch war ihm das im Augenblick gleich, denn der Jaguar war jetzt auf zwei Meter herangekommen. Neunauge knipste – welch ein Bild! Über dem Wasser der böse Kopf mit den wilden Raubtieraugen! Da aber geschah das Unerwartete. Der Jaguar wandte sich gegen das Kanu. Die Indianer schrien etwas, das übersetzt etwa hieß: »Siehst du, das haben wir ja gewußt!« Sie hatten nur ihre Paddel und Neunauge nur seinen Photoapparat! »Schlagt zu, Kinder, schlagt zu!« schrie Neunauge, aber das taten sie auch so. Sie hieben dem Raubtier mit ihren Paddeln auf die Tatzen und den Kopf, aber das Tier schüttelte sich nur und stand naß und fauchend im Kanu, das ja nur handbreit über das Wasser ragte. Im selben Augenblick aber waren die beiden Indianer auch schon im Fluß. Das schmale Boot schaukelte entsetzlich. Mit automatischer Sicherheit hatte Neunauge den Apparat geschlossen. Dabei hörte er wieder Plumpuddings tröstende Versicherung: »Und absolut wasserdicht!« Der Apparat hing ihm an einem Riemen um den Hals – und so sprang auch er in den Fluß, jede Stunde segnend, die er als Junge im Marseiller Schwimmklub »Die Wasserratten von 1910« zugebracht hatte. Der Jaguar aber fuhr in dem menschenleeren -513-
Kanu flußabwärts, von der Strömung getrieben. Er duckte sich, als er Plätschern hörte – er wollte dem Kanu, das ihm jetzt entgegenkam, nicht begegnen. Er wollte wieder ins Wasser, aber ehe ihm das gelungen war, feuerte der Chef. Die Kugel traf das Tier mitten zwischen die Augen. Es sank im Kanu zusammen, und die Indianer packten es und banden es an das ihre an. Der Herr des Waldes war tot. Die Jäger am Ufer hatten alles genau verfolgt und kehrten ins Dorf zurück. Graziella aber war unzufrieden. Mit Danu oder mit der ganzen Welt oder – mit sich? Wozu hatte sie schießen gelernt, wenn sie nicht auch schießen sollte?! »Wir müssen etwas mitbringen«, sagte sie. »Ich weiß«, sagte Danu, »wo Piraracús sind, die kann ich Speeren.« Er schritt voran, als sie sich jetzt durch den Dschungel wanden. Da knackte es vor ihnen, es rauschte und kam ihnen schnell näher. »Tagnicati!« rief Danu, sprang zurück und zerrte Graziella hinter einen dicken Baum. »Versteck dich!« rief er Mario zu, »hinter einem Baum!« Mario tat es, und da rauschte es auch schon heran, ein grauschwarzes Rudel von Bisamschweinen, in mächtigem Gedränge. Voran die Eber, nach ihnen die Mutterschweine mit ihren Jungen. Sie stapften und grunzten vorüber, ohne sich um die Verborgenen zu kümmern. »Aber davon hätten wir doch eins schießen können«, sagte Mario. -514-
»Sie stürzen sich auf dich und werfen dich um«, sagte Danu. »Selbst der Herr des Waldes geht auf einen Baum, wenn sie kommen.« Jetzt ging über ihnen eine wilde Jagd los. Eine Horde Kapuzineraffen tobte schreiend und schnatternd durch das Gewirr der Äste. Mario hob das Gewehr. »Warum?« fragte Danu. »Nicht einmal die Hunde fressen sie!« »Schieß!« sagte Graziella. Der Schuß krachte. Ein Affe stürzte herab. Die Büsche, die er im Fallen gestreift hatte, bewegten sich einen Augenblick, danach war wieder alles still. Aber dann sahen sie, gerade als sie zu dem toten Tier gehen wollten, daß sich oben die Zweige bewegten. Sie blieben stehen. Mario war bereit zum zweiten Schuß. Es war ein Affe, der einen Zweig wegbog, um besser nach unten sehen zu können. Jetzt hatte er erblickt, was er suchte: da lag seine kleine Affenfrau im Gras. Er lockte sie mit zärtlichen Lauten. Sie antwortete nicht, sie rührte sich nicht. Jetzt kam er hervor und zeigte sich ganz. Es war kein Kapuzineraffe. Es war ein sehr schlankgebautes Tier mit einem goldgelben Pelz, und wie ein Kater wohl einen weißen Latz haben kann, so waren seine Augen mit weißen Härchen breit umrandet. »Saimiri«, dachte Danu. Graziella und Mario kannten diese Affenart nicht. Vorsichtig stieg er von Zweig zu Zweig, im-515-
mer wieder auf die regungslose Gefährtin schauend, immer wieder sie lockend. Jetzt hatte er die Tote erreicht. Die Lauschenden sahen ihn ganz von vorn. Graziella und Mario hatten noch nie einen Affen gesehen, dessen Gesicht dem eines Menschenkindes so ähnlich war. Er hob einen Arm des toten Tieres – und der Arm fiel wieder herab. Er beugte sich über die Äffin, er sah, daß ihr aus der tödlichen Wunde Blut floß, und preßte seine Hand darauf, als könne er so den Blutstrom stillen. Rührend waren diese vergeblichen Bemühungen. Dann aber geschah etwas, das die weißen Kinder überwältigte: die Augen des trauernden Tieres füllten sich mit Tränen… Hingerissen trat Graziella auf den Affen zu, sie lockte ihn, wie sie sonst ihre Hunde gelockt hatte. Er sah sie, und entsetzt kreischte er auf. Oben in den Bäumen schnatterte es wild heran, das Affenvolk kam wieder zurück in seiner Jagd durch die Baumwipfel, und mit mächtigen Sätzen war der Affe zu ihnen hinauf und hinter ihnen her. Vor Graziella lag nur noch das tote Tier. Sie kniete sich ins Gras. Sie wollte dem toten Tier mit der Hand zart über den Kopf fahren – da sah sie, daß sich in seinem Pelz etwas regte. Sie schrie leise auf. An den Leib der toten Mutter hatte sich ein winziges Affenkind geklammert. Vorsichtig löste sie es von dem erkaltenden -516-
Tier. Sie hielt es in ihren Händen. Es wimmerte vor sich hin. »Mach es tot«, sagte Danu. »Tot?!« »Wenn du es nicht totmachen kannst, gib es mir, damit ich es totmache.« »Es soll leben«, sagte Graziella, und noch einmal stieß sie hervor, inbrünstig: »Es soll am Leben bleiben.« »Wie sollen wir das Tierchen denn füttern?« fragte Mario. »Das stirbt dir unter den Händen weg.« »Die Männer haben Büchsenmilch«, sagte sie. »Davon werden sie dir nichts geben«, sagte Mario. »Die haben sie doch für den schlimmsten Notfall.« »Wenn ich sie darum bitte«, sagte Graziella. Sie kehrten um. Sie konnten mit dem kleinen Wesen nicht schnell genug wieder im Dorf sein. Sie stand vor den Männern. Nur Neunauge war nicht zu sehen. Schlimmer als der Jaguar waren die bösen Witze, mit denen ihn Plumpudding und Figur wegen seiner Wasserfahrt bedachten. »Sinnlos, von unserm eisernen Bestand Milch herzugeben«, sagte der Chef. »Wenn du einen Affen haben willst«, sagte Figur, »dann fangen wir dir einen, der schon -517-
ein bißchen weiter ist.« »Ich weiß«, sagte Graziella, »Ihnen kann auch ein Menschenleben nichts gelten. Aber ich möchte so gern, daß dieses Tierchen am Leben bleibt.« »Was liegt dir gerade an diesem Affchen?« fragte der Graf. Graziella sah auf das Tier, das sie in ihren Händen hielt wie in einem Becher. Sie brachte kein Wort über die Lippen. »Wir haben es im Dschungel gefunden«, sagte Mario rasch. Dabei sah er GG an, und GG spürte, hier war mehr im Spiel, als sie wußten. »Ich meine«, sagte GG, »wir versuchen einmal, ob Hartes Herz das Tier durchbringt.« »Bin dagegen«, knurrte der Chef. »Ich weiß gar nicht«, sagte der Graf, »ich habe ein so schlechtes Gedächtnis, – hatten Sie nicht die Führung an sich gerissen, GG?« Der Chef machte auf der Stelle kehrt und ging davon. »Ich werde mich des Falles mit wissenschaftlicher Gründlichkeit annehmen«, sagte der Graf. »Du mußt wissen, ich verstehe mich auf die Ernährung von Säuglingen!« »Haben Sie selbst ein Kind gehabt?« fragte Graziella. »Eins?« sagte der Graf wegwerfend, während er die Büchse mit der kondensierten -518-
Milch aufmachte, »hunderte!« Mario horchte auf. Dies war eine Spur, die er verfolgen mußte, um dahinterzukommen, was eigentlich mit den Männern los war. »Und was ist aus den Kindern geworden?« fragte er scheinbar leichthin. »Ich hoffe«, sagte der Graf, »brave Steuerzahler, gute Väter und liebevolle Mütter.« »Sie waren Kinderarzt?« fragte Mario. »Ja, ja«, sagte der Graf, »es wird einem nicht an der Wiege gesungen, daß man als Bankräuber endet. Ihr müßt wissen, ich habe noch in einer richtigen Wiege gelegen. In diesem durchaus ungesunden Möbel liegen die Kinder meiner Familie seit 1229, mithin seit 700 Jahren. Sie ist, was ihr in unsrer Familienchronik nachlesen könnt, aus dem Holz eines Ölbaums geschnitzt, unter dem der vorletzte König Jerusalems sein Mittagsschläfchen zu machen pflegte. In Wahrheit ist sie aus schwerem Veilchenholz, das aus Australien kommt und sohin frühestens um 1850 nach Frankreich gelangt sein dürfte.« Er hatte die richtige Mischung von Milch und Wasser fertig und schüttelte sie noch einmal in der Kalebasse, in der er sie angemengt hatte. »So, Senhorita«, sagte er, »hast du vielleicht ein tuchähnliches Gebilde bei dir?« Graziella zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, dessen Zustand und Farbe man die ungewöhnlichen Lebensbedingungen der Be-519-
sitzerin zugute rechnen mußte. »Nun«, sagte der Graf, »wir können nicht behaupten, daß wir damit die Forderungen der Hygiene hundertprozentig erfüllen – aber was auf dieser Erde ist schon hundertprozentig?« Graziella tat genau, was er ihr sagte. Sie tauchte den Lappen in die Milch, und dann hielt sie ihn dem Affenbaby an die Lippen. sich da, es machte erst b b b –, dann sog es die Milch. Der Graf sagte nichts, Mario sagte nichts, sie sahen stumm auf Graziella, die das Tierchen tränkte. Auch sie mochte nicht sprechen. Ein unnennbares Glücksgefühl erfüllte sie. Der Graf zündete sich eine Zigarette an. Er sah auf. Gewaltig wölbte sich über den riesigen Palmen der leuchtende Tropenhimmel. Ihm war, als wäre hier, wo das Mädchen auf einem Baumstumpf saß, das kleine, hilflose Wesen im Schoß, der Mittelpunkt der Welt. Sie nannte es Babu und hatte es Tag und Nacht bei sich. Es gedieh, aber Graziella hatte keine Zeit, an etwas anderes zu denken. Wo sie auch war, immer klammerte sich Babu an sie. Die vier gingen nicht mehr auf die Jagd. Sie saßen zusammen, da und dort, und jetzt saßen sie eine Stunde unterhalb des Dorfes an einem andern Fluß, als auf dem sie damals das Dorf erreicht hatten. Der Dschungel war wie mit einem Netz von Wasserläufen durch-520-
flochten, alle namenlos und sonst alle sich gleichend, doch hier umschäumte die reißende Strömung einen hohen Felsen. »Das ist der Felsen der Mutter«, sagte Melaka, und sie erzählte, wie der Felsen diesen Namen erhalten hatte. Kanus waren gekommen, Caboclos hatten sie gerudert, aber ein Weißer hatte sie geführt. Sie waren auf der Menschenjagd gewesen, sie hatten eine Guariba-Frau gefangen und zwei ihrer kleinen Kinder. Verkauft sollten sie werden, als Sklaven, deshalb lag die Frau gebunden im Kanu. Aber in der Nacht, als die Menschenräuber schliefen, biß sie ihre Fessel mit den Zähnen durch und verbarg sich mit ihren beiden Kleinen im Dschungel. Die Männer suchten sie, und sie hätten sie nicht gefunden, wenn nicht das eine der Kleinen geweint hätte. Da packten sie die Mutter wieder, und auf diesem Felsen hier peitschten sie die Ärmste mit Riemen, die sie aus der Haut des Flußochsen geschnitten hatten. Dann lag sie wieder gebunden im Kanu, nun aber blutüberströmt. Als sie an einer Siedlung vorüberfuhren, verkaufte der Weiße dort die Kinder. Mit der Mutter aber fuhren sie weiter flußabwärts, und er verkaufte sie dort, weit, weit von ihren Kindern. Ihre Arme waren noch blutig, deswegen war sie nur leicht gefesselt. In der Nacht aber biß sie wieder ihre Fesseln durch und machte sich auf den Weg zu ihren Kindern. Sie hatte kein Kanu, und so mußte sie zu Fuß gehen. Aber es -521-
war die Regenzeit, wo der Himmel immer mit Wolken bedeckt und die Sonne nur auf Augenblicke zu sehen ist. Weithin waren die Flußufer überschwemmt, sie mußte sich mitten in den Wäldern halten, wo die Lianen mit ihren Stacheln sie aufhielten, und immer wieder mußte sie über Bäche schwimmen. Sie nährte sich nur von den großen schwarzen Ameisen, die in langen Zügen die Bäume hinaufkriechen, um ihre harzigen Nester an die Äste zu hängen. Tage und Nächte war sie unterwegs, viele Tage und Nächte, aber schließlich stand sie des Abends in der Siedlung, wo ihre beiden Kinder waren. »Verkaufe mich«, sagte sie zu dem Mann, dem die Siedlung gehörte, »aber verkaufe mich zusammen mit meinen Kindern!« Er verkaufte sie nicht. Er ließ sie bei ihren Kindern wohnen. Seitdem das geschah, waren sieben Generationen von Menschen geboren worden, hatten ihr Leben gelebt und waren dahingegangen. Siedlungen am Fluß waren gebaut worden und wieder verfallen, vom Dschungel verschlungen, kein Name war geblieben – aber die Geschichte der Mutter hatte eine Generation der anderen weitergegeben, und nun steht sie hier, und die Heranwachsenden eines anderen Erdteils nehmen sie in ihr Gedächtnis auf. »Ich weiß nicht mehr, daß ich eine Mutter hatte«, sagte Danu. »Melaka«, sagte Graziella langsam, »ich habe dir einmal eine Frage nicht beantwortet. -522-
Jetzt will ich es tun. Mein Bruder hat dir gesagt, wir seien die Kinder Gottes. Das ist so. Wir glauben es. Wir glauben, daß auch ihr seine Kinder seid. Aber die Kinder des Vogelgottes sind wir nicht. Unsere Mutter war eine schöne weiße Frau. Sie ist gestorben. Wir haben lange ohne Mutter gelebt. Aber wir haben sie nicht vergessen. Wir haben immer an sie gedacht. Wenn wir sie am Tag vergessen hatten, so haben wir abends an sie gedacht, ehe wir einschliefen. Und in unsern Träumen besuchte sie uns. Aber unser Vater hat sie vergessen. Wir haben gehört, daß er eine andere Frau nehmen will. Aber wir haben auch gehört, was wir nicht hören sollten. Eine Magd sagte zu einer anderen: ›Wer eine Stiefmutter hat, hat auch einen Stiefvater.‹ Und wenn unser Vater unsre Mutter vergessen kann, dann wollten wir nicht länger mehr da leben, wo er lebt. Da wollten wir fort in den Sertão.« »Alle Schakaräh glauben«, sagte Melaka, »daß der Vogelgott euer Vater ist. Auch der Häuptling glaubt es.« »Sage dem Häuptling die Wahrheit«, sagte Graziella.
Gefahr! Mit einem Male war alles anders. Es geschah -523-
gar nichts Besonderes, und doch war nichts mehr wie sonst. Oder es war doch etwas geschehen, aber lautlos und unsichtbar, wie sich wohl über weiten Gebieten der Erde ein Wechsel des Klimas vollzieht. Noch scheint alles unverändert. Aber eines Tages sieht man die Vögel nicht mehr, die man immer sah; dann welken Blätter, Pflanzen gehen ein, und es kommen andere aus der Erde, nie gesehene, es kommen andere Vögel, und was einmal war, ist für immer dahin. Waren die Blicke, mit denen die Schakaräh die sechs weißen Männer ansahen, nicht anders als früher? Freilich, wenn der Chef oder GG sie scharf ins Auge faßten, starrten sie gleichmütig, wie abwesend, vor sich hin. Aber es war zu spüren, daß die Weißen umlauert wurden. Die Scheu war fort, die zwischen den Indianern und ihnen erst gestanden hatte wie eine gläserne Wand, und unverhohlen zeigte sich, was in den Söhnen des Sertão brannte: wilde Gier – nach dem Besitz der weißen Männer oder nach ihrem Blut? Aber die Indios mußten das Blut der Weißen vergießen, um an deren Besitz zu kommen – und konnten sie jetzt nicht jeden Augenblick mit ihren Speeren zustoßen, wo sie nun wußten, daß die Fremden nicht unter dem Schutz des Vogelgottes standen? Eine unsichtbare Schlinge war um die große Hütte geworfen worden, in der die fremden Männer mit Mario und Graziella hausten, und -524-
mal um mal wurde sie enger gezogen. Graziella war mit Melaka und Danu an den Fluß gegangen, als der Häuptling erschien, und Mario übersetzte, was er sagte: »Die Männer der Schakaräh wollen nicht mehr, daß die weißen Männer ihre Stöcke sprechen lassen. Der Lärm verscheucht das Wild. Die Pfeile der Schakaräh geben keinen Laut, und die Jäger der Schakaräh werden die Weißen mit Wild versorgen.« Gut. Die Weißen nahmen die Gewehre nicht mehr mit, wenn sie in den Dschungel gingen. Aber dann kam der Häuptling wieder und sagte: »Die Männer der Schakaräh wollen nicht mehr, daß die weißen Männer in den Wald gehen. Die Tiere des Waldes lieben den Geruch der Weißen nicht und ziehen fort! Die weißen Männer sollen im Dorf der Schakaräh bleiben, wo sie es gut haben.« Es dauerte nicht lange, da kam er zum drittenmal, aber mit zwei Speerträgern, die vor dem Eingang stehenblieben, und diesmal war Graziella in der Hütte. Er sagte: »Die Männer der Schakaräh wollen nicht mehr, daß die weißen Männer im Dorf herumgehen. Unsere Kinder erschrecken vor ihnen.« »Die unverschämteste Lüge, die ich je gehört habe«, sagte der Chef. Diesmal war es Graziella, welche die Worte des Häuptlings übersetzt hatte, und GG sagte zu ihr: »Bitte, übersetze: Die weißen Männer glauben, der Häuptling habe schlecht geschla-525-
fen. Nie haben sie gesehen, daß die Kinder der Schakaräh sich vor ihnen fürchten. Die Kinder laufen auf die Männer zu, lassen sich von ihnen auf dem Arm tragen und rufen: ›Kittamorori schambari táhaha‹ – ›Die weißen Männer sind gut!‹« Mit unbewegter Miene antwortete der Häuptling: »Die Männer der Schakaräh wollen nicht, daß die weißen Männer ihre Malokka verlassen. Die beiden Krieger vor dem Eingang werden ihre Speere gebrauchen, wenn die weißen Männer es versuchen!« »Übersetze, Mario«, knurrte der Chef: »Der weiße Mann wird seinen Fuß gebrauchen und die beiden Krieger in den Hintern treten, wenn er die Malokka zu verlassen wünscht!« »Laß, laß«, sagte GG schnell, und er ließ folgendes übersetzen: »Die Weißen sehen, daß sie den Schakaräh nicht mehr willkommen sind. Deshalb werden sie das Dorf verlassen.« »Ob die Männer das Dorf verlassen dürfen«, sagte der Häuptling, »das müssen die Männer der Schakaräh beraten. Aber Hartes Herz und Falkenauge werden nicht mehr in der Malokka der weißen Männer bleiben.« »Hartes Herz und Falkenauge werden immer da sein, wo die weißen Männer sind!« sagte Graziella hastig. »Der Häuptling hat es anders beschlossen«, sagte er. »Es wird nicht mehr lange sein, und Melaka verläßt die Hütte ihres Vaters. Sie wird -526-
die Frau des Häuptlings der Iguana. Dann wird der Häuptling Hartes Herz und Falkenauge als seine Kinder annehmen, und sie werden in den Stamm der Schakaräh aufgenommen, wie sie das haben wollten. Falkenauge wird das Zeichen des Krokodils auf der Brust tragen, und für Hartes Herz wird der Häuptling einen Mann suchen.« Graziella war bleich geworden. »Niemals«, stammelte sie, »niemals –« Sie drückte Babu an sich, und aus tiefster Herzensnot flehte sie GG an: »Ich bitte Sie, verlassen Sie uns jetzt nicht!« GG sah nicht, wie das mit den Indianern werden sollte. Er wußte nicht, wie sie aus dieser Schlinge herauskommen sollten – aber das war ihm ganz gleich. Marios war er ja schon lange sicher, doch jetzt hatte er auch Graziella gewonnen. Jetzt ging sie mit ihnen – jetzt war er da, wohin er hatte kommen wollen. Auch der Graf erkannte die Bedeutung dieses Augenblicks. »Sie haben es erreicht«, sagte er auf deutsch. »Gratuliere, Großer Geist«, sagte der Chef. »Hätte ich nie fertiggebracht.« »Aber jetzt müssen Sie aufs Seil, Chef«, sagte GG. »Jetzt muß kommandiert werden!« Der Chef stand auf. Er nahm seine Pistole in die Hand und sagte zu Mario klar und kalt: »Übersetze: Die weißen Männer sind nicht -527-
gewohnt, daß sie Befehle bekommen. Die weißen Männer sind nur gewohnt, daß sie befehlen. Sie werden mit dem Mädchen und dem Jungen das Dorf der Schakaräh verlassen, wann sie das wollen, und kein Schakaräh wird sie daran hindern. Der Häuptling verlasse die Malokka. Die weißen Männer haben genug von ihm!« Im Umsehen war der Häuptling draußen, aber im selben Augenblick hörten die Menschen in der Hütte auch schon seinen gellenden Schrei. »Alle Waffen nehmen«, sagte der Chef. Sie taten es. Die Gewehre und Pistolen waren immer geladen. »Entsichern«, sagte der Chef. Die kleinen Hebel knackten. »Fertig?« »Ja« »Also jetzt«, sagte der Chef und trat als erster hinaus. Die andern folgten rasch. Der Graf ging als Letzter. Er hatte merkwürdigerweise den Totenkopf mitgenommen, den sie nie zum Wasserholen benutzt hatten. Sie sahen sich den Schakaräh gegenüber. Die Männer, mit Speeren und Bogen bewaffnet, umgaben ihre Malokka, aber in einem Abstand von etwa zwanzig Metern. Sie hatten die Pfeile an die Bogen gelegt und die Speere wurfbereit. »Eine Salve, und wir sind durch!« sagte Figur. -528-
»Ohne Kanus kommen wir nicht fort«, sagte GG. »Bis wir an den Kanus sind, schießen sie uns ihre Pfeile in den Rücken!« sagte der Chef. »Erlauben Sie, Chef«, sagte der Graf, »daß ich mich mit meinen bescheidenen Kräften versuche?« »Was denn?« fragte der Chef. »Nur eine kleine Vorstellung«, sagte der Graf, und zu Mario: »Jetzt, mein Bester, übersetze einem hochverehrten Publikum dies: ,Männer der Schakaräh, wenn ihr einen von uns mit einem Speere oder einem Pfeile auch nur ritzt, so werden wir eure Flüsse verbrennen!‹« Die helle Stimme des Knaben rief diese Worte zu den Indianern hinüber. Sie brauchten eine Zeit, um sie aufzunehmen, aber dann brachen sie in ein Hohngeschrei aus. Gellend schrien sie ihre Antwort den Weißen zu. »Was sagen die Herrschaften?« fragte der Graf. »Wir wissen, daß Wasser nicht brennt«, sagte Mario. »Ruf ihnen zu: Wenn die Weißen es wollen, dann brennt auch Wasser!« Mario tat es, und dann trat der Graf vor. Er hob den Totenkopf hoch und schüttelte ihn. Alle hörten, wie es darin gluckerte. Dann setzte er das seltsame Gefäß auf den Boden, warf -529-
ein brennendes Streichholz hinein und trat zurück. Eine hellblaue Flamme schlug aus dem Schädel, zuckte hin und her, und der Spiritus verbrannte bis auf den Rest. Die Indianer standen starr. »Weingeist«, sagte der Graf. »Die Pharmazie liefert ihn als offizinellen Alkohol mit 91,29 bis 90,09 Volumprozent.« Der Häuptling trat hervor. Er hatte keine Waffe mehr in der Hand. »Hartes Herz«, rief er, »sage den weißen Männern, die Schakaräh wollten mit ihnen in Frieden leben!« »Antworte ihm«, sagte der Chef, »auch wir wollten nichts anderes!« Graziella tat es, und dann legte der Chef seine Pistole auf die Erde, trat auf den Häuptling zu und schüttelte ihm die Hand. Die Männer verliefen sich. Vor der Malokka der Weißen standen keine Speerträger mehr. Sie saßen zusammen, die weißen Männer, der Junge und das Mädchen, – und Babu nicht zu vergessen. Mario strahlte. Graziella war wie betäubt. Wäre sie nicht beinahe in einen Abgrund gestürzt? War sie nicht im letzten Augenblick zurückgerissen worden? Der Schrekken lag ihr noch in den Gliedern. Babu freilich war so ahnungslos glücklich wie immer; er rieb sein Köpfchen an ihrer Hand, was er so gern tat. -530-
Der Chef machte sein steinernes Gesicht. Aber daran, daß ihm Plumpudding rasch eine Pfeife nach der andern stopfen mußte, merkte er, daß der Chef sozusagen unter Volldampf wieder in Fahrt war. Der nahm jetzt auch noch das Wort zu einer längeren Rede. »Nachdem wir die Waffen niedergelegt, uns gegenseitig die Hände geschüttelt und versichert haben, wir wollten nichts als Frieden«, sagte er, »ist es klar, daß wir nunmehr in das gefährlichste Stadium des Krieges zwischen uns und den Indios getreten sind, in den erbarmungslosen Kampf, der unsichtbar geführt wird.« »Es scheint mir nicht uninteressant«, bemerkte der Graf, »daß sich Steinzeitmenschen, die etwas haben wollen, das anderen gehört, sich von Europäern, die dasselbe haben wollen, offenbar wenig unterscheiden.« »Die Schakaräh wollen unsre Gewehre und Pistolen haben«, fuhr der Chef fort. »Sie wollen unsere Köpfe haben – vermutlich versprechen sie sich davon eine wirkungsvolle Dekoration der Häuptlingshütte. Sie wollen Mario zu einem Schakaräh machen, denn sie brauchen jemand, der sie im Gebrauch unsrer Waffen unterrichtet. Der Häuptling will Hartes Herz als Tochter haben, damit der Adoptivvater sie meistbietend versteigern kann.« »Ach nennen Sie mich doch bitte Graziella«, sagte sie. »Hat er etwa einen dieser Wünsche aufgege-531-
ben, als wir uns die Hände schüttelten? Keineswegs. Er hat nur eingesehen, daß er das, was er haben möchte, auf dem Weg nicht bekommt, den er eingeschlagen hatte. Folglich muß er sich jetzt einen andern Weg ausdenken.« »Wenn ich mich in die Lage des ehrenwerten Mannes versetze«, sagte der Graf, »so muß ich ihm recht geben. An seiner Stelle würde ich das genau so machen. Die ganze Verwirrung in der Welt rührt überhaupt nur daher, daß keiner die Kunst versteht, sich an die Stelle des anderen zu denken.« »Den offenen Angriff haben wir abgeschlagen«, sagte der Chef. »Was haben wir jetzt zu erwarten, GG?« »Gift«, antwortete GG. »Wie schön«, sagte der Graf. »Das Dschungelklima erzeugt die heftigsten Gifte der Erde«, sagte GG. »Das Gift der Ticunas am Amazonenstrom und das Gift Kurare sind die tödlichsten Substanzen. Einige Hundertstel Gramm genügen.« »Werden vermutlich unser Abendessen entsprechend würzen«, sagte der Chef. »Kaum«, sagte der Graf. »Die Indianer essen Wild, das sie mit Pfeilgift erlegt haben, ohne Beschwerden. Wenn das Gift töten soll, muß es in die Blutbahn kommen, nicht in den Magen. Es enthält im wesentlichen Strychnin. Es lähmt die Atemmuskeln, und man er-532-
stickt.« »Sie streuen vergiftete Nadeln auf ihre Dschungelpfade«, sagte GG, »aber da wir Stiefel tragen, macht uns das nichts aus. Sie nehmen ein wenig von dem Gift unter den Daumennagel und kratzen den andern damit leicht – das kann schon genügen. Aber das Bedenklichste ist immer noch der lautlose Giftpfeil aus dem Hinterhalt.« »Aha«, sagte der Graf. »Deshalb die liebenswürdige Aufforderung, uns ruhig wieder in den Dschungel zu begeben.« »Nächste Gelegenheit abwarten«, sagte der Chef. »Bemächtigen uns der Kanus. Dann fort.« »Indianer paddeln schneller als wir, Chef«, sagte GG. »Haben genügend Vorsprung«, erwiderte der Chef. »Gut«, sagte GG. »Aber wenn wir den Fluß nicht kennen, rettet uns kein Vorsprung vor den Verfolgern.« »Raketen«, sagte der Chef. »Großartig!« rief Figur. »Nicht hoch in die Luft, sondern flach übers Wasser! Wie Flak im Erdbeschuß! Da kehren sie schleunigst um.« »Aber in jedem Strudel, den wir nicht kennen, kippen wir um. Diese Einbäume sind das Tückischste, was sich denken läßt.« »Und wenn wir fortkommen«, sagte Graziel-533-
la, »wohin geht es?« Alle sahen den Chef an. Aber der Chef sah auf GG. »Die erste Frage ist«, sagte GG, »wie kommen wir hier fort? Wohin wir gehen, wenn wir den Indianern entwischt sind, das können wir dann immer noch überlegen.« »Was sind das nur für Leute?« dachte sie. »Woher kennt sich der Deutsche mit den indianischen Giften aus? Sie sind wie Männer von Rang. Wieso können sie da Mörder und Bankräuber sein?« Aber dann hatte sie eine Idee. Als sie in den Hängematten lagen, flüsterte sie: »Mario, schläfst du schon?« »Nein«, sagte er. »Weißt du, was ich glaube?« fragte sie. »Das sind gar keine richtigen Verbrecher. Die haben die Millionen stehlen wollen, weil sie das Geld für eine Revolution haben mußten. Sie wollten sicher nur einen gemeinen Diktator stürzen!« »Kann sein«, flüsterte er. »Aber weißt du, daß Vater sich zum Präsidenten wählen lassen will, weil er damit Schluß machen will, daß die gemeinen Großgrundbesitzer die Beamten bestechen, damit alles zu ihrem Vorteil entschieden wird? ›Ich will nichts anderes als Gerechtigkeit‹, hat Vater erklärt – das habe ich in der Zeitung gelesen.« »Davon hast du mir nie etwas gesagt!« »Wenn ich es dir damals gesagt hätte«, flü-534-
sterte er, »dann hättest du es mir nicht geglaubt.«
Flucht? Am andern Morgen brauchte sie Plumpudding, der die letzte Wache hatte, nicht zu wecken. Von dem wilden Geschrei, das draußen erscholl, waren alle sofort wach. Sie traten bewaffnet aus der Hütte. Niemand beachtete sie. Alle Männer und Frauen waren zum Ufer gelaufen, und als sie auch hingingen, sahen sie, daß vom Oberlauf des Flusses her sich zehn, zwölf vollbesetzte Kanus näherten. Die ankommenden Indianer schrien heftig, und die auf dem Lande antworteten ebenso laut. Jedoch war ja gerade aus diesem Gebrüll zu entnehmen, daß es sich um keinen Überfall handelte, sondern um einen ausgesprochenen Freundschaftsbesuch. Kaum hatte Neunauge die Lage überblickt, als er wie ein Wiesel zurück in die Hütte schoß. Ausgerechnet in diesem Augenblick, wo sich ihm ein nie gesehener Anblick bot, hatte er seinen Apparat vergessen! Aber er kam mit ihm noch rechtzeitig zurück. Eben liefen die Kanus an Land, und die Gäste stiegen aus. Alle diese fremden Indianer trugen Kronen aus roten und grünen Papageifedern, ihre -535-
Speere waren mit Federn geschmückt, und der Häuptling, der ihnen voranschritt, trug noch einen Umhang aus bunten Vogelfedern. Wie diese Urwaldindianer überhaupt, war auch er nicht sehr groß. Er schien in der zweiten Hälfte seines Lebens zu stehen, und die Lebensstrecke, die er hinter sich hatte, mußte zuweilen recht schwierig gewesen sein, denn dem Manne fehlte die Nase. Offenbar war sie ihm in allernächstem Nahkampf von einem zwei- oder vierbeinigen Gegner abgebissen worden. Das verminderte aber die Großartigkeit seines Auftretens keineswegs. Neben dem Häuptling der Schakaräh stand Melaka, und Figur drückte die Gefühle aller Weißen aus, als ihm die Worte entfuhren: »Grüne Neune, das ist der Kerl, der Melaka heiraten will! Das arme Mädchen!« Nur Neunauge hatte keine Zeit, über das Schicksal eines Indianermädchens nachzudenken. Er fieberte: dies war eine Gelegenheit zu unerhörten Aufnahmen. Der fremde Häuptling stand stolz und beherrscht da und hob seinen Speer zum Gruß. Neunauge knipste. Niemand war auf ihn aufmerksam. Die Männer und Frauen waren von dem, was sich da vor ihnen abspielte, ganz in Anspruch genommen. Was kam jetzt? »Aha«, sagte der Graf, »der Handel um das Mädchen beginnt.« Der Häuptling der Iguana hatte mit einer Kopfbewegung ein Zeichen gegeben, und dar-536-
aufhin legte einer der Federkronen-Männer vor dem zukünftigen Schwiegervater zwei Hängematten nieder. Es waren kostbare Stükke. Die Schnüre waren aus der Oberhaut von jungen Palmblättern fein und fest gedrehte Fäden, und Federeinfassungen waren in sie hineingeflochten. Eine jede reichte bequem für einen Menschen aus, und doch hätte man die Hängematte in einer Rocktasche unterbringen können, so spinnwebzart war sie. Aber der Häuptling der Schakaräh sah über die kostbare Gabe hinweg, als seien ihm noch niemals erbärmlichere Erzeugnisse indianischer Kunstfertigkeit vor Augen gekommen. Neunauge knipste. Der Werber machte wieder die bewußte Kopfbewegung. Jetzt traten zwei Männer vor und legten drei große Bogen auf die Erde und dazu Bündel von Pfeilen. Die einen hatten stumpfe Enden, sie waren für die Vogeljagd, die andern breite, scharfe Holzklingen für Tapire, Jaguare und Wildschweine, und ein Bündel wurde sehr behutsam behandelt. Auf den Spitzen dieser Pfeile saßen Hütchen aus Palmblättern. Das waren die Giftpfeile. Aber Melakas Vater blieb ungerührt. Der fremde Häuptling winkte, und nun legte einer seiner Leute aus Jaguarknochen geschnitzte Löffel vor. Aber auch sie erweichten den harten Sinn des andern nicht. Er sah sie zwar an, aber sie erschütterten ihn nicht: Wozu braucht der Mensch Löffel, da er zehn Fin-537-
ger besitzt? Jetzt ging ein Raunen durch die Menge, doch auf einen kurzen Blick des SchakarähHäuptlings verstummte es sofort wieder: er war nicht gesonnen, sich die Preise verderben zu lassen! Was die Bewunderung der Zuschauer erregt hatte, waren sieben große Jaguarfelle, deren jedes von einem Manne getragen wurde. Neunauge knipste, knipste, knipste. »Keines dieser Felle«, sagte der Häuptling der Iguana, »ist durch einen Pfeil oder einen Speerstich verletzt. Die Männer der Iguana haben den Herrn des Waldes im Netz gefangen und mit ihren Händen erwürgt.« »Viele Jaguare gibt es in den Wäldern«, bemerkte der Häuptling der Schakaräh kühl. Der fremde Häuptling zögerte, als überlege er, ob er nun noch weitergehen könne. Dann aber winkte er wieder, und drei Männer kamen langsam heran, jeder eine Kalebasse in der Hand. Sie setzten die Gefäße nieder. »Kurare«, sagte GG. Melakas Vater hob eins nach dem andern auf und sah in jedes hinein. »Dies ist Urari aus Wurzeln«, sagte er dann in einem bewundernswert uninteressierten Ton. »Du irrst«, antwortete der Iguana. »Es ist Urari aus Lianen!« -538-
Der Schakaräh antwortete nicht. Aber er machte eine Miene, als wolle er bemerken: »Das kann jeder sagen.« Das war dem andern denn doch zuviel. Ein kurzes Wort von ihm, und im Nu hatten seine Männer Hängematten, Bogen, Pfeile, Löffel, Jaguarfelle und die Kalebassen wieder aufgenommen und rannten damit zu den Kanus. Es sah aus, als sollten hier die Felle im wahren Sinn des Wortes wegschwimmen, aber das war auch wieder nicht die Absicht des Brautvaters. »Höre, Häuptling der Iguanas«, sagte er, ehe der sich wieder den Kanus zugewandt hatte, »gib mir zu den drei Kalebassen mit Urari noch zwei, denn fünf Finger sind an jeder Hand!« Der Angeredete antwortete: »Häuptling der Schakaräh, ich habe vier Weiber, aber für keines habe ich so viel bezahlt, wie ich für deine Tochter geboten habe.« »Es wird der Tag kommen, Häuptling der Iguana, da wirst du für eine Tochter aus meiner Malokka noch viel mehr bezahlen, als ich heute fordere!« Der Angeredete stutzte. Er sah den Häuptling an, darauf Melaka. Dann lief sein Blick rundum. Jetzt erst sah er die Weißen. Er schien furchtbar zu erschrecken. Sofort aber riß er sich zusammen, um sich sein Erschrekken nicht merken zu lassen. Seine kleinen Augen schienen noch kleiner geworden zu sein. -539-
Jetzt tastete sein Blick die Weißen ab, langsam, lauernd, – und dann blieben seine Augen auf Graziella haften. Sie erschauerte. Der Häuptling, der wie versunken dagestanden hatte, löste sich wieder. Er rief seinen Leuten ein kurzes Wort zu, und sie legten alle die Gaben wieder hin. Aber es waren nicht mehr drei Kalebassen, sondern fünf. Melakas Vater schrie gellend: »Der Häuptling der Schakaräh hat keine Tochter mehr! Ein Leguan hat das Krokodilkind gefressen!« Im selben Augenblick stürzten sich die Frauen schreiend auf Melaka und schleppten sie weg. Die Männer zogen singend und schon in Tanzschritte fallend ins Dorf. Graziella war von Schrecken und Jammer ganz verwirrt. »Wo ist Melaka? Was machen sie mit ihr?« sagte sie, während ihr die Tränen in den Augen standen. »Sache der Indianer«, sagte der Chef. »Geht uns nichts an.« Dann entwickelte er den Plan, den er gefaßt hatte, während er der Versteigerung Melakas zusah. »Hochzeit der Häuptlingstochter kommt wie gerufen«, sagte er. »Singen, tanzen, saufen die ganze Nacht ihr verdammtes Gesöff – und brauchen einen ganzen Tag, ihren Rausch auszuschlafen. Merken gar nicht, daß wir in einem Kanu fort sind. Wenn sie’s merken, ist es zu spät.« -540-
»Ist es nicht merkwürdig«, überlegte der Graf laut, »daß es kein Volk auf der weiten Erde gibt, das nicht ein Rauschgetränk entwickelt hätte?« »Schwarz oder weiß oder braun oder gelb«, brummte Figur vor sich hin, »jeder möchte einmal von sich loskommen.« »Und jeder ist, wenn ihn danach das heulende Elend befällt, schlimmer dran als vorher«, sagte der Graf. GG schwieg. Es war ihm leid, daß das Mädchen von der raschen Entwicklung der Dinge geradezu überfahren wurde. »GG«, sagte der Chef, »muß genau wissen, wie der Film abläuft. Danach wird Aufbruch festgesetzt.« »Tut mir leid, Chef«, antwortete GG, »ich war noch nie zu einer Indianerhochzeit eingeladen.« Aber dann sagte er zu Mario: »Danu soll heute nacht in unsere Hütte kommen. Er soll sich dabei aber nicht sehen lassen.« »Frage ihn, was aus Melaka geworden ist«, flüsterte Graziella ihm zu, als er ging. Im Dorf waren die Frauen angespannt tätig. Sie zerkleinerten angebrannte Mandiokafladen und warfen sie in Holztröge, in die dann Wasser gegossen wurde. Andere machten Feuer an, durch deren Glut das Zeug vierundzwanzig Stunden gewärmt werden sollte. Um die Gärung dieser Bowle zu beschleunigen, zerkauten sie noch Mandiokafladen und spuckten sie -541-
dann in die Holztröge. Sie hatten aber auch noch ältere Bestände dieses himmlischen Getränks, dem sie jetzt Zuckerrohrsaft, süße Bataten und die goldgelben Früchte der Pupunha-Palme zusetzten. Dann machten sie sich daran, das Ganze durchzukneten. Heute abend würden sie dieses Gemengsel durchsieben und damit ein Getränk haben, dessen starker Alkoholgehalt von überwältigender Wirkung war. Aber wo Mario sich auch umsah, er konnte Melaka nicht erspähen. Die Männer saßen vor vollen Töpfen, lärmten und lachten, die Knaben hockten hinter ihnen auf der Erde und warteten darauf, daß sie sich auf das stürzten, was die Männer für sie übrigließen. Doch auch Danu sah Mario nicht. Schließlich wagte er sich in die Malokka des Häuptlings, die leer schien – und tatsächlich, in ihrem Dämmer hockte Danu traurig wie ein kranker Affe. »Ich komme«, sagte er, als Mario seine Botschaft ausgerichtet hatte. »Wo ist Melaka?« »In der Hütte der Erwartung«, sagte er. »Der Häuptling hat ihr selbst die Füße zusammengebunden, damit sie nicht fortlaufen kann. Kassava und Wasser haben sie ihr gegeben.« Mario trat wieder ins Freie, langsam, als gehe er nur aus bloßer Neugier eben einmal durch das Dorf. Als es dunkelte, huschte Danu -542-
lautlos in die Hütte der Weißen. Graziella und Mario waren die Dolmetscher in dem aufregenden Gespräch, das nun folgte. »Danu«, sagte GG »die weißen Männer wollen wissen, wie die Schakaräh die Hochzeit der Häuptlingstochter feiern.« »Die weißen Männer sprechen mit einem Toten«, sagte Danu. »Danus Herz ist tot. Aber Danus Mund wird euch antworten.« »Was geschieht heute?« fragte der Chef. »Heute geschieht nichts«, sagte Danu. »Die Frauen rühren Schipäh an für den Tag, wenn heute nicht mehr ist.« Er mußte sich so umständlich ausdrücken, denn seine Sprache hatte dieselben Wörter für »morgen« und »gestern«. »Die Männer essen und lachen. Sie essen Gepfeffertes, damit sie unter der nächsten Sonne viel Durst haben.« »Sehr verständlich«, sagte der Graf. »Pfeffer erregt zusammenziehende Empfindungen in der Kehle, der Speichelfluß versiegt, der Mund dörrt aus, die entscheidende Wirkung aber vollzieht sich im Durstzentrum des Zwischenhirns. Ein bewundernswert feinorganisierter Apparat. Unsere braunen Freunde wissen davon nichts, benehmen sich aber durchaus folgerichtig.« »Wenn die Sonne aufgegangen ist«, sagte Danu, »holen die Frauen Melaka aus der Hütte der Erwartung. Sie binden sie an einen Baum. Der Zauberer kommt mit der Peitsche aus der -543-
Haut des Flußochsen. In die Riemen hat er scharfe Steine geknotet. Damit peitscht er Melaka so lange, bis sie ist, als wäre sie tot.« »Sie muß also das Bewußtsein verlieren«, sagte der Graf. »Dann tragen die Frauen sie wieder in die Hütte, und da bleibt sie, bis ihre Haut geheilt ist.« »Wer sieht nach ihr?« fragte GG. »Keiner darf sie sehen«, sagte Danu. »Was tun die Männer, bis sie wieder gesund ist?« »Sie trinken Schipäh.« »Was tun die Frauen?« »Sie rühren immer wieder Schipäh an.« »Aber warum wird sie so schrecklich gepeitscht?« fragte Graziella aufgeregt. »Die Schakaräh sagen, in allen Mädchen ist ein böser Geist. Den peitscht der Zauberer fort. Wenn der böse Geist weg ist, gehorchen die Mädchen dem Mann. Wenn Melaka wie tot ist, dann hat der böse Geist sie verlassen.« »Das ist unmenschlich«, sagte Graziella verzweifelt. Sie weinte auf. »Das dürfen Sie doch nicht geschehen lassen!« Der Chef zuckte die Achseln. »Liebe Graziella«, sagte GG, »die Indianer leben anders als wir. Aber sie haben ein Recht auf ihr Leben.« Danu war den Worten in der fremden Spra-544-
che gefolgt, ohne sie zu verstehen. Aber er fühlte, worum es Graziella ging. »Melaka würde sich schlagen lassen, wenn ihr der Häuptling der Iguana gefiele«, sagte er, »ihre Mutter hat es sie so gelehrt. Aber sie will nicht mit dem Häuptling der Iguana gehen. Ich war in der Hütte der Erwartung bei ihr, als die Frauen fortgegangen waren. Sie hätten mir die Arme ausgerenkt und mich den Krokodilen hingeworfen, wenn sie mich gesehen hätten. Aber es hat mich niemand gesehen. ›Danu‹, sagte Melaka, ›heute nacht, wenn die Männer schlafen, bringst du mir einen Giftpfeil. Ich stoße ihn mir ins Herz. Wenn sie morgen kommen und mich holen wollen, bin ich weit fort, und keiner holt mich zurück. Danu wird ihr den Giftpfeil bringen.« Niemand sagte etwas. »Ich bin geflohen«, dachte Graziella, »vor dem, was ist, bin ich in den Sertão geflohen, in den Sertão bruto. Und Melaka flieht vor dem, was im Sertão bruto ist, in den Tod.« Ihr war kalt. »Danu«, sagte GG, »kennst du den Fluß, den die weißen Männer gekommen sind?« »Danu kennt ihn, aber nur eine Sonne lang.« Einen Tag weit – das war nicht genug… »Aber Melaka kennt ihn viele Sonnen lang«, fuhr er fort. »Der Häuptling nahm sie mit, wenn sie Schildkröteneier suchten.« »Höre genau zu«, sagte GG. »Du schleichst dich jetzt zu Melaka. Aber du bringst ihr kei-545-
nen Giftpfeil. Du bringst ihr diese Worte: Melaka, wenn du an den Baum gebunden bist und der Zauberer zum Schlage ausholt, fällst du zusammen, als ob du tot wärest. Dann binden sie dich los und tragen dich in die Hütte der Erwartung. Dabei machst du die Augen zu und hältst den Atem an, als wenn du tot wärest. In der Nacht, wenn alle trinken und tanzen und nicht mehr sehen können, kommen die weißen Männer und holen dich, und sie fahren mit dir und mit Danu fort, und sie verbergen dich, daß dich der Häuptling der Iguana nicht finden kann!« Danu sah den weißen Mann starr an. Er brauchte Zeit, bis er ganz erfaßt hatte, was er gehört hatte. Er mußte sich das, was da geschehen sollte, eins nach dem andern vorstellen. Aber dann war er davon so durchdrungen, daß er gewiß war, so würde auch alles geschehen. »Danu geht«, sagte er und verschwand. Graziella hockte stumm da, sie hatte den Arm auf die angezogenen Knie gelegt und den Kopf auf den Arm. Es ging zurück. Gott sei Dank, es ging zurück. Und sie ließen Melaka nicht in der Verzweiflung… War Melaka nicht ihre Schwester? War Melaka nicht sie selbst noch einmal? Mario war einfach begeistert. Ein großartiger Mann, dieser GG dachte er hingerissen. »Also morgen nacht«, sagte der Chef. »Okay.« -546-
»Ein großartiger Mann, dieser Chef«, dachte Mario. »Aber das Mädchen am Baum und den Zauberer mit der Peitsche – die nehm’ ich noch mit«, sagte Neunauge. »Das gibt ein Bildchen!«
Aufbruch – aber wohin? Schweigend standen die Männer der Schakaräh und der Iguana, als der Zug der Frauen aus dem Wald kam, wo die Hütte der Erwartung verborgen lag. Die Weißen sahen das Schauspiel mit an; sie umgaben Neunauge so, daß er unbemerkt photographieren konnte. Die Frauen sangen, immer wieder dieselben Worte, die unverständlich blieben. Wahrscheinlich verstanden die Frauen selbst nicht mehr, was sie sangen, so zersungen waren die von altersher überlieferten Lieder des Hochzeitsritus. Sechs der Singenden trugen Melaka, deren Füße noch immer zusammengebunden waren. Der Juviabaum, auf den die Frauen zuschritten, stand frei. Sein Stamm war nur meterdick, aber an die zwanzig Meter hoch. Seine sehr langen Äste standen weit auseinander, waren dem Stamm zu fast blätterlos, doch an der Spitze mit dicken Laubbüscheln besetzt. -547-
Die lederartigen und an der Unterseite silbrig glänzenden Blätter waren über einen halben Meter lang und zogen die Äste abwärts; so glichen sie Palmenwedeln. Die kinderkopfgroßen Früchte lagen ungenutzt am Boden; da sie von einem Zauberbaum kamen, mochte niemand sie anrühren. Jetzt hatten die Frauen ihn erreicht. Sie schnitten Melakas Fußfesseln durch, und so konnte sie die letzten Schritte selbst gehen. Sie umschlang den Stamm, als wollte sie ihn umarmen. Sofort banden die Frauen ihre Hände zusammen, aber die Füße ließen sie frei. Dann traten sie zurück, und aus der Menge der Männer löste sich der Zauberer. Wie bei der Knabenweihe hatte er Rasseln an Armen und Beinen hängen, und wieder tanzte er, eintönig singend. Dabei aber schwang er eine furchtbare Peitsche, und die Männer bliesen dumpfe und schrille Töne auf Muscheln. Neunauge hatte geknipst, als Melaka wehrlos am Baum hing, und er knipste den Zauberer bei jeder neuen Figur des Tanzes. In immer enger werdenden Kreisen tanzte er um den Baum, immer wilder wurde sein Gesang, immer lauter das Blasen der Muscheln. Es war, als packte ihn und die Zuschauer ein Rausch. Jetzt war der Zauberer der Gefesselten so nahe gekommen, daß sie in der Reichweite seiner Peitsche war, und mächtig holte er aus – doch ehe er zugeschlagen hatte, sank Melaka zusammen. Ihre gefesselten Ar-548-
me glitten den Stamm entlang – halb kniend lag sie wie leblos da, mit hängendem Kopf. Der Zauberer schlug nicht zu, die Muschelbläser verstummten, sie waren alle aus einer Verzückung gerissen. Aber der Zauberer faßte sich als erster. »Ihr Männer der Schakaräh und du, Häuptling der Iguana«, schrie er, »seht die Macht meines Zaubers: ich sang, und der böse Geist der Häuptlingstochter zuckte zusammen – ich hob die Peitsche, und schon flüchtete er aus ihr in den Wald zu den Affen!« Wild bliesen die Männer in ihre Muscheln, die Frauen stürzten sich auf Melaka und schafften sie schleunigst wieder in die einsame Hütte. Zum Dorf zogen die Männer, und es dauerte nicht lange, da begann das gewaltige Essen und das Gelage. Die Weißen hielten sich in ihrer Hütte. Der Chef fand es gut, daß die Indianer denken würden, sie wagten sich nicht mehr unter sie. Aber die Stunden vergingen ihnen nur langsam. Einmal kam Danu und berichtete: Der Häuptling der Iguana wollte bei Sonnenaufgang mit Melaka aufbrechen. Da sie keine Wunden hätte, die heilen müßten, könnte es schon so bald geschehen. »Werden noch rascher sein als er«, sagte der Chef. Danu bekam die Weisung, wieder in die Hütte zu kommen, sobald die Sonne untergegangen sei. »Danu«, sagte Graziella, »kannst du nicht -549-
noch einmal zu Melaka schleichen und ihr sagen, daß wir sie bestimmt holen, sobald es dunkelt?« »Ich gehe«, sagte Danu, und Graziella war wieder froher zumut. Es war ihr so schrecklich, Melaka in der einsamen Hütte wie verlassen zu wissen. Die Botschaft mußte für sie eine Stärkung sein. Ungesehen kam Danu an die Hütte, aber er wagte nicht, sie noch einmal zu betreten. Zu groß war die Furcht vor dem Zauberbann. Dreimal flötete er wie der Urutau-Vogel flötet, und dann flüsterte er, den Mund dicht an der dünnen Blätterwand: »Hörst du mich, Melaka?« »Ich höre dich, Danu«, antwortete ihre Stimme. »Hartes Herz sagt dir, du sollst dich nicht fürchten. Sowie es Nacht ist, kommen die weißen Männer und holen dich.« »Ich fürchte mich nicht«, sagte die Stimme. »Ich warte.« »O Melaka«, sagte er, »Danu wird mit dir im Kanu sein, das den Fluß hinabfährt. Danu und Melaka werden vorn sitzen, und Melaka wird den Weißen sagen, wie sie steuern müssen.« »So wird es sein, Danu.« »Danu weiß nicht, wo die Weißen an Land gehen und uns verlassen werden. Aber Danu wird immer bei Melaka sein.« »Melaka wird nicht allein sein, wenn Danu -550-
bei ihr ist«, sagte die Stimme. »Ich gehe«, sagte Danu. »Sei nicht traurig, Tochter des Häuptlings.« Er verschwand im Dschungel. Die Sonne stand hoch am Himmel. Im Dämmer ihrer Hütte saßen die Weißen und warteten. Sie hörten den Lärm der schmausenden und trinkenden Männer. Jeden Schritt, der zu tun war, hatte der Chef mit ihnen besprochen, das wenige Gepäck, das sie noch hatten, war genau verteilt. Figur nahm den Blechbehälter mit dem Rest an Raketen. Neunauge trug in die Hängematte gepackt, was noch an Vorrat für die Not vorhanden war, Plumpudding, was sie noch an Geschenken hatten: drei Beile, eine Blechbüchse mit Sicherheitsnadeln, eine zweite mit Angelhaken. Aber sie sahen, daß ihm das nicht recht war. »Jeder muß eben etwas nehmen«, sagte Neunauge ärgerlich, »und ich habe doch noch meinen Apparat und was dazu gehört.« »Ich meine«, sagte Plumpudding, »wir sollten das nicht mitnehmen. Ich meine, wir sollten das der armen Alten hier lassen.« Jeder sah sie vor sich, die aufgeschreckte alte Frau, die um ihr Leben zitterte. Sie sahen ihr entsetztes Gesicht wieder, als sie das Haus verlassen mußte und dachte, nun wäre es so weit, daß kein Dach mehr für sie nötig wäre; sie sahen ihren krampfigen Eifer, mit dem sie -551-
ihnen Tag für Tag Holz zum Feuern gebracht hatte, nur um zu zeigen, daß sie noch zu brauchen war – und der Chef sah wieder den Tag, an dem er den Jaguar geschossen hatte: da war die alte Frau mit an den Fluß gelaufen und hatte das Kanu, in dem er fahren wollte, mit ins Wasser geschoben. Jeder sollte sehen, wie tüchtig sie noch war und die Zeit noch lange nicht da, daß man sie als unnüzte Esserin in den Fluß werfen müsse… »Gute Idee«, sagte der Chef. »Wenn die Kerle die Sachen hier finden«, sagte Figur, »nimmt jeder, was er erwischen kann.« »Mario«, sagte der Chef, »hol die Alte her! Kriegt alles direkt in die Hand.« Der Junge kam mit ihr wieder. »Plumpudding«, sagte der Graf, »jetzt schenken Sie ihr die Sachen.« Plumpudding saß in tödlicher Verlegenheit da. »GG«, sagte er schließlich, »reden Sie doch mit ihr!« GG tat, als merke er den begangenen Fehler nicht. Gleichmütig sagte er zu Mario: »Übersetze bitte –« und fuhr dann fort: »Alte Mutter, deine Söhne sind tot. Sie jagen für dich nicht mehr, sie fischen für dich nicht mehr, und eine Mutter ohne Mann, ohne Söhne ist wie eine Kassawa-Pflanzung, in die Bisamschweine fallen: niemand ist da, der sie verjagt. Du hast den weißen Männern dein Haus -552-
gegeben, und die weißen Männer wollen dich dafür reicher machen, als dein Mann und deine Söhne es hätten tun können. Sieh hier – alles, was hier liegt, gehört dir.« Die alte Frau stand da, als hätte sie kein Wort begriffen. Sie starrte auf die Beile, auf die Blechschachteln – »Nimm alles«, sagte GG, »und weil du nun reich bist, werden dich die Männer der Schakaräh ehren und für dich fischen und für dich jagen, damit du ihnen ein Beil gibst – aber wenn die Sonne untergeht und sie aus dem Dschungel zurückkommen, müssen sie es dir wiedergeben, und so lebst du lange, lange -!« Plötzlich kam Leben in die Frau. Sie fuhr auf die Schätze zu, sie raffte alles auf, sie stürzte damit in die eine Ecke der Hütte, hieb mit einem der Beile die Erde auf, grub dann mit den Händen das Loch tiefer, verbarg darin ihren unerhörten Besitz, scharrte das Loch wieder zu und trat den Boden fest. Einen Augenblick stand sie noch da. Keuchend ging ihr Atem. Dann rannte sie wortlos aus der Hütte. »Sie hat nie in der Lotterie gespielt und doch das große Los gewonnen«, sagte der Graf. Schritte, Stimmen – die Alte war wieder da, mit drei anderen Frauen. Sie brachten Kalebassen voll Schipäh. »Singt, ihr weißen Männer«, sagte sie, »singt und seid fröhlich!« Ihre Augen funkelten. Sie glühte vor Freude darüber, daß sie mit den weißen Männern ein Geheimnis hatte, von dem niemand sonst wußte. -553-
»Hervorragender Einfall«, sagte der Chef. »Die Schakaräh grölen – die weißen Männer grölen. Die Schakaräh sind betrunken – und denken, soweit sie das noch können, die weißen Männer seien auch betrunken. Singen, Plumpudding!« »Ich kann das Zeug nicht trinken, das die Weiber zusammengespuckt haben«, sagte Plumpudding betrübt. »Singen, Plumpudding«, sagte der Chef. »Spuckbowle wird weggegossen.« Da ging ein Leuchten über Plumpuddings Gesicht. Er sang sein Lieblingslied, und die weißen Männer fielen schallend ein: »Ich fuhr mal auf ‘nem Segler, sagte Karlssen. Da starb der alte Vollmatrose Bill. Wir nähten ihn in ein zerfetztes Segel, Und kippten über Bord ihn still. Das Schönste war, daß jeder von der Bande Aus seinem Seesack sich das Beste nahm, Eh’ der verdammte kleine Trottel Von Käptn auch nur Wind davon bekam!« Und er sang weiter, wie der alte Bill eines Tages wieder an Bord steht – an den Luvbrassen auf dem Achterdeck, ganz mit Seegras überwachsen, und traurig, so traurig – er hat die kalten Seejungfern über, und überhaupt, auf dem Meeresgrunde, das ist nichts für einen Vollmatrosen der christlichen Seefahrt: »Da spielt man niemals zum Tanzen, -554-
Und keiner spinnt ein Garn, wie man’s gewohnt, Nur Seesterne gibt’s , keine Sterne, Und nirgends Sonne und Mond. Da hört’ ich euer Kielwasser rauschen Und hörte, wie die Brasse schlug, Und wie Villiam sagte: ›Klar Ruder! Wir gehn auf den anderen Bug!‹« So sangen die Männer, schallend und mit Hingabe, und Graziella begriff nicht, daß sie jetzt singen konnten, wo es um Tod und Leben gehen würde, sowie es dunkel wurde. »Verstehst du das, Mario?« fragte sie leise. »Großartig, die Männer«, sagte Mario. Mit einemmal fühlte sich Graziella allein. Auch Mario gehörte zu den Männern… Sie drückte Babu an sich, er rieb sich das Köpfchen an ihrer Hand, und schweigend hörte sie dem Singen zu. Aber einer der Männer sang nicht. Neunauge hatte keine Zeit dazu. Er arbeitete wie ein gehetzter Kuli, weil er alle seine Aufnahmen entwickelt haben wollte ehe es in die Boote ging. Plötzlich war die Dunkelheit da, wie sie in den Tropen kommt, mit einem Satz wie ein schwarzer Panther. Sie gingen nicht vorn aus dem Eingang. Sie hatten die Hinterwand aufgeschlitzt und traten -555-
einer nach dem andern hinaus in die Nacht. Danu war da. Die braunen Männer lärmten. Der Schein ihrer Feuer flackerte bis in die Baumwipfel. Danu führte. Hinter ihm schritten GG und Mario. Die andern gingen zu den Kanus, sie in den Wald. Ungesehen kamen sie an die verbotene Hütte. Auch jetzt wagte Danu nicht, die unsichtbare Umfriedung zu brechen, aber die beiden Weißen gingen hinein. GG sagte: »Melaka, die weißen Männer sind da. Komm!« »Ich komme«, sagte Melaka. Mario wußte nicht mehr, wo er war – jetzt sprach dieser Mann auf einmal Tupi?! Aber alles ging so rasch, daß er keine Zeit zum Überlegen hatte. Wie benommen schritt Mario hinter den andern her. Sie umgingen das Dorf. Dann waren sie am Fluß. Es ging am Ufer entlang, und mit einem Male waren sie da, wo die Kanus hochgezogen waren. Doch eins, ein großes, langes, schwamm schon im Wasser. Eben trugen die Männer das nächste zum Fluß. »Sämtliche Boote ins Wasser!« sagte der Chef. »Strömung treibt sie weg – dann haben die Kerle keins mehr, um uns nachzusetzen!« Schon trieb das zweite Kanu lautlos ab… Aber in dem Augenblick hörten die Männer Schritte. Wer kam? Sie konnten es nicht wagen, noch länger zu warten und damit alles -556-
aufs Spiel zu setzen! Sie gingen ins Wasser. Rasch, rasch ins Boot! Graziella saß schon darin. »Melaka, Melaka«, flüsterte sie. »Ich bin es, Hartes Herz«, sagte sie. Dann kauerte sie sich mit Danu in die Spitze des Einbaums. Behutsam stießen die Männer ab. Jetzt hatte die Strömung sie erreicht. Ohne ein Geräusch glitten sie dahin, schneller, immer schneller. Immer leiser wurde das wilde Singen in ihrem Rücken, dann war es ganz weg. Es war eine mondscheinlose Nacht. Wie schwarze Wände die Uferwälder, aber vom Himmel strahlten die Sterne mit unbeschreiblichem Glanz. Die große Schlange, das prächtigste Sternbild des Äquatorhimmels, beherrschte die Nacht, und die Milliarden Sterne der Milchstraße. Aber atemberaubend war, daß die Menschen in den Booten unmittelbar in die Sterne fuhren, denn das gewaltige Gewimmel spiegelte sich in dem schwarzen Wasser des Flusses. Sterne über ihnen, Sterne unter ihnen – so fuhren sie dahin, und zuweilen, aber nur für einen Augenblick, schoß das Sternenlicht im Fluß zu einem langen, schillernden Band zusammen. »Diese stummen Wälder«, dachte GG. »So wie sie hier stehen, stehen sie nun seit Jahrtausenden. Als der König der roten Krone am Nil regierte, 3000 Jahre vor Christus, sah es hier aus wie heute… Herrscher und Völker, -557-
Reiche und Kulturen wurden in Europa geschaffen und gingen wieder unter, und hier wuchs es nur immer üppig und faulend, in einem lautlosen Kampf um das Licht.« »Diese Milchstraße«, dachte der Graf, »eine Spirale von 200.000 Millionen Sonnen, und davon ist nur ein winziger Kreis, ein Kreis mit einem Radius von 5000 Lichtjahren, einigermaßen durchforscht, ein Zehntel des Weltalls, nicht mehr. Und die Erde fliegt mit einer Geschwindigkeit von 17,7 Kilometern in der Sekunde um das Zentrum des ganzen Systems, und das ganze Sonnensystem rast mit einer Geschwindigkeit von 160 Kilometern in der Sekunde durch den Weltraum…« »Ich hätte den Kerl, der da kam, niederschlagen sollen«, dachte der Chef. »Dann hätten wir alle ihre Kanus wegtreiben lassen. Jetzt hängt alles davon ab, wann die Brüder aus ihrem Rausch aufwachen.« »Der Chef ist wieder in Form«, dachte Plumpudding beglückt. »Soll ich Graziella sagen«, dachte Mario, »daß der Deutsche Tupi spricht?« Aber ein unerklärliches Gefühl hielt ihn davon ab. War das nicht wie ein Geheimnis zwischen ihm und dem Deutschen? »Nicht denken, nicht denken«, dachte Graziella. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Wie der Fluß uns trägt…« Melaka dachte nicht. Sie war eins mit Nacht -558-
und Fluß und schwarzem Wald. Sie lauschte auf die leisen Töne der Wasser. Sie war auch eins mit der Tiefe unter ihnen und ihrer Gefahr. »Schade, daß wir uns so drücken«, dachte Figur. »Hätte den Brüdern gern gezeigt, was eine Winchester leistet.« »Das nächste Mal«, dachte Neunauge, »nehm ich vor allem Blitzlicht mit.«
Auf der Zauberinsel Die schlimmen Stunden begannen am Nachmittag des zweiten Tages. Von der anstrengenden Nacht übermüdet, hatten sie die Mittagsglut nicht mehr ertragen können. Sie hatten das Kanu nahe ans Ufer gebracht, wo es unter den überhängenden Palmenzweigen im Schatten lag. Die Moskitonetze hatten sie über sich geworfen, und so hatten sie schlafen können. Der kurze Regen, der pünktlich um halb vier Uhr einsetzte, weckte sie. Als er vorübergerauscht war, stießen sie wieder ab zur Mitte des Flusses. Es war Danu, der die Gefahr erkannte. »Sie kommen!« sagte er. Wer sein Wort nicht verstanden hatte, folgte seinem ausgestreckten Arm: Kanus! Noch -559-
kleine schwarze Punkte, aber in stetiger, zügiger Bewegung… Figur, Plumpudding und Neunauge gaben her, was sie an Kräften hatten; sie paddelten wie Galeerensklaven. Aber es war keine Frage – den Indianern waren sie unterlegen. Die Kanus wuchsen. Der Chef kauerte im Heck, den Blick den Verfolgern zugewandt. Er hatte die Raketen neben sich. Die Ruderer nahmen sich nicht die Zeit, sich umzusehen. »Wie steht es, Chef?« rief Figur. »Kommen näher!« sagte der Chef. »Immer näher heran, meine Herrschaften!« schrie Figur. »Damit Sie die erste Rakete schön warm in die Schnauze kriegen!« Weiter ging die rasende Fahrt. Den Ruderern rann der Schweiß über den Leib. »Wie weit sind sie, Chef?« rief Figur. »Näher als vor einer Viertelstunde!« sagte der Chef. »Wenn sie nicht in Pfeilnähe kommen«, keuchte Figur, »sind sie harmlos wie die Fliegen!« Dann sagte niemand mehr ein Wort. Nur das gleichförmige Geräusch der Paddel war zu hören. Schon waren die Gesichter der Ruderer von der ungeheuren Anstrengung ganz verzerrt. Neunauges Stöße und auch die Plumpuddings wurden schwächer. »Chef –« keuchte Figur. »Können Sie nicht -560-
jetzt – die Raketen?« »Okay«, sagte der Chef. »Dafür sind sie jetzt nah genug.« »Haltet durch, Jungens!« keuchte Figur. »Ich sage euch – nur noch – bis die erste loszischt! – Dann – haben wir sofort Luft –« Neunauge und Plumpudding gaben ihr Letztes her. »Recht so, Jungens!« keuchte Figur. »Immer fest – immer fest –« Keiner von ihnen drehte sich um. Aber sie hörten, daß der Chef mit dem Blechbehälter hantierte, in dem die Raketen waren. Figur feuerte die Ruderer weiter an, konnte aber nur immer zwischen seinen Paddelstößen reden. »Wenn die erste losgeht, Jungens – dann versengen sich die braunen Kavaliere die Pfoten! – Dann drehen sie ab – zurück zu Muttern! Daß wir Sternschnuppen bei uns haben – damit haben sie nicht gerechnet!« »Wenn die Indianer Sternschnuppen sehen«, bemerkte GG, »sagen sie: ›Der Stern spuckt‹.« »Paßt auf, Jungens!« keuchte Figur. »Gleich spuckt ihnen der Chef in die Suppe!« »Nur gut, daß Sie die Raketen mitgebracht haben, GG«, sagte der Graf. »Das ist die Rettung – unsre Männer sind am Ende ihrer Kräfte.« »Chef«, schrie Figur, »schießen Sie los!« -561-
Aber der Chef schoß nicht los. »Chef«, schrie Figur, »wir können nicht mehr!« Aber der Chef schoß noch immer nicht los. »Chef«, schrie Figur, »warum schießen Sie die Dinger nicht ab?« »Weil ich nicht kann!« schrie der Chef wütend zurück »Sie sind pitschnaß!« Tatsächlich, die Raketen waren so durchnäßt, daß sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Wie die Männer in höchster Eile in das Kanu gestiegen waren und den Blechbehälter auf seinen Boden gelegt hatten, mußte sich der Deckel gelöst haben, und das Wasser, das etwa fingerbreit im Kanu stand, hatte die Raketen aufgeweicht. Für einen Augenblick verschlug das sogar Figur die Rede. Denn jetzt waren sie geliefert… Aber dann hatte er sich wieder in der Hand. »Wie ist es, Graf«, so kam es stoßweise aus seinem Munde, »wollen Sie nicht – als nächste Nummer – den Fluß in Brand setzen?« »Mit Rücksicht auf die unschuldigen Fische möchte ich das doch unterlassen«, sagte der Graf. »Nehmen Sie Ihr Gewehr, Chef!« schrie Figur. »Wenn ich nicht treffe«, sagte der Chef, »halte ich sie nicht auf und vergeude nur Munition.« -562-
»Sie treffen, Chef!« rief Figur. »Wenn ich einen töte«, antwortete der Chef, »ist nichts mehr zu reparieren!« »Beantrage die sofortige Anschaffung eines MGs!« schrie Figur. Woher nahm er nur seine Kräfte? Die andern beiden paddelten nur noch schwach, aber er war auf einmal wieder ganz frisch. In der Gefahr blühte er auf. »Auf dem Wasser sind wir ihnen unterlegen«, sagte der Chef. »Verbrauchen uns mit Paddeln. An Land sind wir sechs Gewehre.« »An Land?« dachte der Graf. »Hier ist kein Land. Hier ist nur Dschungel. Und im Dschungel sind sie uns so überlegen wie auf dem Wasser.« Aber er sagte nichts. Auch er paddelte fest und genau im Rhythmus. »Kanus kommen immer näher«, sagte der Chef. Er ließ sie nicht aus den Augen. »Figur«, rief er, ohne sich umzudrehen, »suchen Sie eine Stelle am Ufer, wo wir landen können! Wenn Sie die haben, drehen Sie drauf zu.« Sieben Paar Augen blickten auf die Ufer, und sieben Paar Augen sahen nichts als wirre grüne Wände, Sumpf und undurchdringliches Dämmer. »Netter, kleiner, befestigter Platz gesucht!« schrie Figur. »Auf Komfort wird kein Wert gelegt, aber auf freies Schußfeld!« In den unaufhaltsam sich nähernden Kanus sah der Chef jetzt deutlich die einzelnen Männer. Er zählte. Es waren sieben Kanus. Wenn -563-
er die Paddler abrechnete, waren das immerhin einundzwanzig Pfeilschützen… Und warum nur sieben Boote? Der Stamm hatte an die zwanzig, und dazu waren noch die der Iguana gekommen – Kein Schrei, kein Ruf, kein Laut kam von den Verfolgern. Sie paddelten wie besessen – und es sah aus, als könnten sie mit dieser verbissenen Kraft noch tagelang aushalten. Da schrie Danu auf. Der Chef verstand nicht, was er wollte. Für einen Augenblick sah er nach vorn. Kanus! Kanus kamen ihnen entgegen. Sie paddelten stromaufwärts. Sie kamen langsam vorwärts, aber auch sie kamen näher. »Stop!« rief der Chef. Die Paddler bremsten. Die Lage war klar. Die Indianer hatten auf seitlichen Wasserwegen den Bogen des Flusses abgeschnitten und kamen jetzt von zwei Seiten auf sie zu. Durchbruch? Zwecklos. Natürlich, er würde gelingen – aber was war damit gewonnen? Nichts. Denn eingeholt wurden sie danach doch. Nur ein Feuerüberfall konnte helfen, der die Indianer so dezimierte, daß sie die Verfolgung aufgaben. Sie hatten keine Wahl mehr. Sie konnten nicht warten, bis sie einen günstigen Platz fanden. Links vor ihnen lag eine kleine Insel im Fluß, baumlos, aber von mannshohen -564-
Farnkräutern überwuchert. Wenn sie in deren Schutz wendeten, waren sie wenigstens den entgegenkommenden Indianern aus dem Blickfeld. »Nach links halten!« rief der Chef. »Wenden!« Da geschah das Unglück. Beim Wenden packte die starke Strömung die Breitseite des Einbaums so, daß er umschlug. Alle stürzten ins Wasser. Es gab nur noch eins: Schwimmen. Links und rechts in der Stromrichtung war die Insel von Wirbeln umgurgelt, aber dazwischen war ruhigeres Wasser. Instinktiv schwammen sie alle in seinem Schutz der Insel zu. In die überhängenden starken Wedel sich klammernd, zogen sie sich an Land. Sie waren gerettet. Sie waren gerettet und waren verloren. Die Gewehre, die Pistolen – alles lag im Fluß, alles war für immer fort. Nur Neunauge war zufrieden. Seine Kamera hing ihm an einem Lederriemen um den Hals, seine Kassette mit den entwickelten Negativen hatte er in einem Gummibeutel umhängen – »absolut wasserdicht, absolut wasserdicht«. In dem Augenblick, als ihr Einbaum umschlug, brachen die Verfolger in ein wildes Geheul aus, und die Indianer, die flußaufwärts fuhren, antworteten mit demselben Geheul. Die Indianer, die von oben her kamen, hatten gesehen, wie ihre Opfer der Insel zuschwam-565-
men. Sie konnten ihnen nicht mehr entkommen. »Wehrlos in der Mausefalle«, sagte Figur. »Ich glaube, jetzt geht’s in den Tod«, sagte der Graf. »Da muß man den Kopf hochhalten.« Der Chef maß prüfend die Entfernung bis zum linken Ufer. »Es geht nicht, Chef«, sagte GG, »ehe Sie es erreicht haben, sitzt Ihnen ein Pfeil im Nakken.« »Legen Sie Wert darauf«, sagte der Chef, »daß Ihr Schädel zur Innendekoration oder zum Wasserholen verwendet wird?« Aber er versuchte es doch nicht, hinüberzuschwimmen. »Dir hilft es nicht«, sagte Figur zu GG »daß du genau so elend umkommen wirst wie ich, aber für mich ist es sozusagen ein Trost – in der Mausefalle hier schützt auch der größte Geist nicht gegen Kurare.« Plumpudding schwieg. Es gab hier nichts mehr zu tun, zu helfen, zu vermitteln. Es war auch nicht mehr Zeit, zu singen. Jetzt kam der große Augenblick, wo es ernst wurde. Graziella schlang einen Arm um den Hals des Bruders, mit dem andern drückte sie Babu an ihre Brust. »Mario«, sagte sie, »warum hast du mich nicht allein gehen lassen? Jetzt reiß’ ich dich mit in den Tod«. »Wir gehören zusammen, Graziella«, sagte -566-
er. »Komm, setz dich! Ich bin gleich wieder bei dir –«, und er ging zu GG, der mit dem Blick nach Westen für sich allein stand. Von da kamen die Kanus jetzt angeschwommen, aber dort wird auch die Sonne untergehen. Noch lohte ihr Schein wie flüssiges Erz. Scharf gezeichnete Schatten der Palmwipfel verdunkelten die Ufer des blanken Wassers. Einen Reiher, der weit über ihnen mit festen Flügelschlägen einem nur ihm vertrauten Ziele entgegenzog, traf goldener Glanz. GG sah ihm nach. Ein fliegender Reiher war einmal das Zeichen auf ihren Fahnen gewesen, unter dem sich Jugend mit Jugend verbündete. Abenteuer hatten sie gesucht und eine Welt, in der es mit rechten Dingen zuging. Dem Abenteuer war er treu geblieben, aber auch dem Verlangen, auf dieser Erde nach dem Rechten zu sehen – »Doktor«, sagte Mario, »erlauben Sie mir eine Frage.« »Was möchtest du wissen?« fragte GG, wieder ganz da, wo er war. »Sind Sie und Ihre Freunde Bankräuber und Mörder?« »Nein, mein Junge«, sagte GG »Wir mußten euch in dem Glauben lassen, damit ihr vor uns nicht weglieft.« »Sie haben uns gesucht?« »Wir hatten den Auftrag, euch zu suchen.« »Von wem?« -567-
»Das wissen wir nicht.« »Von meinem Vater?« »Ich glaube, dein Vater weiß gar nicht, was euch passiert ist.« »Aber wer hat Sie denn uns zu Hilfe geschickt?« »Deines Vaters Anwalt in Rio. Aber das sage ich alles nur dir, Mario. Es ist besser, wenn deine Schwester davon nichts erfährt. Sonst findet sie sich überhaupt nicht mehr zurecht.« Danu stand dicht neben Melaka. »Warum hast du mir keinen Giftpfeil gebracht, Danu?« fragte sie vorwurfsvoll. »Ihr alle dürft sterben, aber mich wollen sie lebend, und dann muß ich leben…« »Wenn kein Pfeil Melaka trifft«, sagte Danu, »dann muß Melaka ihn aus Danus Wunde ziehen!« Er lief von ihr fort an den Rand der kleinen Insel, wo jetzt die Kanus der Indianer durch die Strudel schnitten. »Stinkende Krokodile!« schrie er die Männer an. Wildheit brach aus ihm hervor wie ein Fluß, der, plötzlich alles überschwemmend, die Dämme zerreißt und sich gurgelnd und schäumend ins Land ergießt. »Kommt! Kommt! Steigt aus den Kanus, daß ich euch mit einem Stein die Köpfe zerschmettere! Und wenn ihr tot vor mir liegt, werde ich euch essen. Wie ihr meinen Vater und meine Mutter gegessen habt, so werde ich euch verzehren – noch ehe die Sonne wieder aufgegangen ist, -568-
werde ich mir euer Fleisch braten!« Vor Wut heulten sie auf, und immer wieder traf sie es wie ein Peitschenhieb: »Stinkende Krokodile!« Ein Pfeilregen war die Antwort. Danu wich den tödlichen Geschossen nicht aus, ja er warf sich ihnen entgegen. Zwei saßen ihm in der Brust, und im Oberschenkel stak der dritte. Danu wandte sich um. Er ging langsam. Er zuckte zusammen – jetzt hatte ihn ein Pfeil auch noch in die Schulter getroffen. Aber er schleppte sich weiter. Er kam bis an die Stelle, wo Melaka stand. »Vier Pfeile, Melaka«, sagte er. »Das sind genug.« Er brach zusammen und lag tot vor ihren Füßen. Sie stand starr. »Danu!« schrie Mario auf. »Er ist uns vorausgegangen«, sagte GG und legte Mario die Hand auf die Schulter. Graziella liefen die Tränen über das Gesicht. Sie drückte Babu an sich. »Warum landen die Kerle nicht?« fragte Figur. »Warten, bis es dunkel wird«, sagte der Chef. »Da – sie landen!« sagte der Graf. Ja – eins der Kanus legte an, – aber die andern folgten nicht. Sie hielten sich auf dem Fluß. Aus dem gelandeten Einbaum stiegen sechs -569-
Indianer. Melakas Vater war nicht dabei, wohl aber der Mann ohne Nase, der Häuptling der Iguana. Sie legten ihre Speere, Bogen und Pfeile in ihr Kanu. Der Häuptling riß einen großen Farnkrautwedel ab und schwenkte ihn hoch in der Luft. »Wollen Palaver«, sagte der Chef. »Warum nicht?« sagte der Graf. »Aber wir müssen uns über eins klar sein: Wir sind ausverkauft. Wir haben nichts mehr zu bieten. Wir müssen hinnehmen, was die Kerle fordern!« Der Chef brach auch einen Farnkrautzweig ab und winkte damit den Indianern zu. Dann gingen die Männer ihnen entgegen. Melaka blieb, wo sie war, bei dem toten Danu, und Graziella wollte nicht von ihrer Seite. Mario schwankte. Er wäre gern mit den Männern gegangen, meinte aber, er müsse wohl bei den Mädchen bleiben. Doch GG löste seinen Zweifel. »Komm, Mario!« sagte er, und so ging er mit den Männern zu den Indianern. Die Wilden hatten sich auf den Boden gesetzt, der Häuptling etwa einen halben Meter vor den anderen. »Chef«, sagte GG, »wir halten uns an das Hofzeremoniell. Sie sind unser Häuptling – Sie setzen sich genau dem Iguana gegenüber, und wir bauen uns in gehörigem Abstand hinter Ihnen auf.« »Kann doch mit dem Kerl nicht reden«, sag-570-
te der Chef. »Das ist auch unter Ihrer Würde«, sagte GG. »Dafür haben Sie meine Zunge und die Marios!« Er stellte sich mit Mario hinter den Chef, und hinter ihnen setzten sich die anderen auf die Erde. »Sagen Sie dem Kerl, ich sei wenig erfreut, ihn hier zu sehen«, sagte der Chef, »oder was Sie wollen – aber fangen Sie sofort zu reden an. Der Mann soll nicht denken, daß wir kleinlaut sind.« »Der Häuptling der Weißen«, so begann GG, »hat gesehen, daß der Häuptling der Iguana das Zeichen des Friedens schwang und damit um ein Palaver bat. Der Häuptling der Weißen hatte wenig Lust zu einem Palaver des Friedens, nachdem die Iguana mit den Waffen des Krieges Danu getötet haben, der uns begleitet hat. Aber der Häuptling der Weißen bezwang seinen Zorn. Er nimmt an, der Häuptling der Iguana ist gekommen, um zu sagen: ›Verzeiht uns, was geschehen ist.‹« Die kleinen Augen des Häuptlings schienen noch kleiner zu werden, als er diese Rede vernahm. Aber das war auch die einzige Wirkung, die an ihm zu bemerken war. »Der Häuptling der lguana«, sagte er langsam, »verschmäht es, über eine tote Ratte zu sprechen. Der Häuptling der lguana ist gekommen, um den Weißen zu sagen, was sie tun werden. Die weißen Männer haben keinen Speer, keinen -571-
Bogen, keinen Pfeil, keinen Stock, der spricht. Die weißen Männer haben nicht einmal mehr ein Kanu. Der Häuptling der lguana wird ihnen ein Kanu geben. Die weißen Männer werden bei dem Gott ihres Stammes schwören, daß sie nie wieder in das Gebiet der Schakaräh und der lguana kommen. Sie werden in das Kanu steigen und flußabwärts fahren. Aber sie werden Melaka an das Kanu des Häuptlings der lguana bringen, damit er sie dorthin bringt, wo sie leben wird.« »Das heißt«, sagte der Chef, als ihm das übersetzt worden war, »wir sollen unser Leben damit bezahlen, daß wir uns wie Schweinehunde benehmen. Sagen Sie diesem Kerl, Melaka wolle nicht mit ihm leben!« »Melaka hat keinen Willen«, antwortete der Häuptling gelassen. »Sie will das, was der Häuptling der lguana will.« »Immerhin«, sagte Figur, »wenn man ihr das vorstellt – vielleicht geht sie doch mit dem Häuptling, wenn sie uns dadurch retten kann? Sonst stehen unsre Aussichten auf ein fröhliches Weiterleben doch nur wie eins zu tausend!« »Wenn wir sie fragen«, sagte Mario hastig, »dann tut sie es sicher – aber wir dürfen sie nicht fragen!« »Herrschaften«, sagte der Graf, »wie kommt der Mann überhaupt dazu, uns dieses überraschende Angebot zu machen? Er hat uns sozusagen in der Tasche, wenn Sie mir dieses -572-
Bild bei einem Mann gestatten, der so gut wie unbekleidet ist. Die Indianer sind in der Übermacht, sie haben Waffen, wir nicht – warum fallen sie nicht einfach über uns her und nehmen sich das Mädchen?« »Der Häuptling ist ein vorsichtiger Mann«, sagte GG. »Er fürchtet, wenn sie uns erledigen, wie sie Danu erledigt haben, bekommt er Melaka auch nur als Leiche. Deshalb sollen wir sie ihm an sein Kanu bringen – und wenn er sie lebendig hat, dann fallen sie selbstverständlich über uns her und beseitigen uns.« »Halten sein Angebot für eine Finte?« fragte der Chef. »Versetzen Sie sich in seine Lage, Chef«, sagte GG. »Würden Sie dann anders handeln?« »Kaum«, sagte der Chef. »Herrschaften«, sagte der Graf, »kluge Leute behaupten – worauf ich schon einmal aufmerksam machte –, alle Schwierigkeiten im Zusammenleben der Menschen, sowohl der einzelnen wie der Staaten, kämen daher, daß der eine nicht imstande oder nicht willens sei, sich in die Lage des andern zu versetzen, sich selbst also mit den Augen des andern zu sehen, und ich stelle fest, daß wir es, im Gegensatz zur übrigen Menschheit, darin doch sehr weit gebracht haben. Ich jedenfalls kann mich, wie unser verehrter Chef, auch ganz in die Seele unsres Gegners versetzen. Neunauge, gib mir mal deine Negative her!« -573-
Neunauge sah den Zweck nicht ein, aber er tat es. Der Graf hielt sie gegen das Licht, suchte einige aus und trat dann auf den Häuptling zu. »Hier, mein reizender Menschenfresser«, sagte er, »sich dir das mal genau an!« Er hielt ihm eins der Negative so gegen das Licht, daß der Häuptling es genau sehen konnte. Die Wirkung war verblüffend. Der Häuptling sprang hoch und rief den Indianern aufgeregte Worte zu: er hatte sich selbst gesehen, wie er im Dorf der Schakaräh stand und einer seiner Leute vor ihm Hängematten niederlegte, die kostbaren Stücke, die er für seine Werbung um Melaka mitgebracht hatte. Auch die Indianer sprangen auf. Aber sie wagten sich nicht näher. »Und hier, mein Liebling!« sagte der Graf und hielt ihm jetzt eine andere Aufnahme hin. Der Häuptling war vor Entsetzen grau im Gesicht geworden. Er schauderte davor zurück, sich diesen zweiten Zauber auch noch anzusehen, aber trotz seinem Grauen wurde er unwiderstehlich angezogen, auch auf dieses Schattenbild einen angstvollen Blick zu werfen, und jetzt sah er sich dastehen, wie seine Leute die Kalebassen mit dem Urari-Gift vor ihm niedersetzten. Man merkte es ihm deutlich an – nur noch mit übermenschlicher Beherrschung zwang er sich, nicht davonzulaufen. Für ihn waren ein Mensch und sein Bild noch eins, für ihn war -574-
sein Bild so wirklich wie er selbst, und er sah sich in der Gewalt dieser weißen Männer. GG ergriff die tolle Möglichkeit, die sich ihnen hier bot. »Häuptling der Iguana«, sagte er, »du sagtest, die weißen Männer seien ohne Kanu und ohne Waffen. Ich sage dir: die weißen Männer brauchen weder ein Kanu noch Waffen, denn sie haben ihren Zauber. Mit diesem Zauber haben sie nicht nur dich eingefangen, sondern alle Schakaräh und alle Iguana, und dazu alle Bäume, unter denen ihr geht, alle Hütten, in denen ihr schlaft. Wenn ihr nicht tut, was wir euch sagen, werden wir eure Zauberschatten ins Feuer werfen, und ihr werdet alle sterben, wo ihr geht und steht, als hätte euch der Blitz getroffen!« »Sieh hier, mein Bester«, sagte der Graf weiter. Er hatte aus Neunauges Apparat das Objektiv geschraubt, fing damit das Sonnenlicht ein und zielte dann auf das Negativ, das er in der andern Hand hielt. Es begann, sich leicht zu krümmen. Da stieß der Häuptling einen Schrei aus, und GG riß dem Grafen die Hand mit der Linse weg, so daß das Negativ nicht Feuer fing. »Kehrt um und rudert in eure Dörfer!« rief GG. »Wenn die Sonne untergegangen und einer von euch noch hier ist, dann geschieht euch Schrecklicheres, als jemals einem Indianer geschah! Furchtbar ist der Zauber der weißen Männer!« -575-
Die Indianer stürzten davon. Sie schoben ihr Kanu ins Wasser, sie kletterten aufs eiligste hinein, sie ruderten wie gehetzt davon. Die andern Kanus schossen auf sie zu, es gab ein wildes Geschnatter – und dann ruderten alle stromaufwärts, so schnell sie nur konnten. »Wenn Sie mein kostbares Negativ verbrannt hätten, Herr Graf«, sagte Neunauge, »dann hätte ich mit Ihnen nie wieder ein Wort gesprochen.« »Graf«, sagte GG, »Sie haben uns gerettet.« »Ein großes Wort für einen geglückten kleinen Auftritt«, antwortete der Graf. »Reden wir von etwas anderem – zum Beispiel davon: Wie kommen wir jetzt von dieser doch etwas reizlosen Insel wieder weiter?« Da geschah etwas ganz Unfaßbares. Vom Wald des linken Ufers her, aber mehr wie über den Wald weg, drangen zauberhafte Töne, zart und süß. Den Weißen war, als ob sie träumten – aber es war doch Wirklichkeit! Es war eine Geige, die dort gespielt wurde, und Peter Geist kannte das Lied, dessen Melodie sie spielte, diese Melodie, die vor Jahrhunderten durch Europa gewandert war bis an die portugiesischen Ufer des Ozeans und dann über das Meer in die Neue Welt, welche die Portugiesen besiedelten, und die immer noch des Abends als Volkslied an den fremden Flüssen gesungen wird:
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Es träumet einer Frau Ein wunderschöner Traum, Es wuchs aus ihrem Herzen Ein wunderschöner Baum – »Uirapuru singt«, flüsterte Melaka verzückt. Jetzt hörten sie eine Menschenstimme genauer: die Stimme eines Mannes. Auch sie klang merkwürdig wie von weither und war doch deutlich zu vernehmen. Sie sprach indianisch. »Was wird da gerufen?« fragte der Chef. »Ihr braunen Söhne des Sertão«, übersetzte Mario, »hört die Stimme des großen Häuptlings, der die Kinder des Waldes liebt! Kommt zum Baum der Geschenke! Nehmt von dem Baum, was ihr wollt! Was ihr seht, gehört euch! Nehmt und kommt wieder!« Die Worte verhallten – und dann erklang wieder Geigenspiel. »Ihr weißen Männer«, sagte Melaka, »wir werden leben. Kein Schakaräh wagt zu töten, wo die Stimme Uirapurus erklingt.« Der Chef wußte nicht mehr, was er denken sollte. »Nun reden Sie doch, GG«, fauchte er, »was ist das für ein Spuk? Können Sie das erklären?« »Da gibt es nur eine Erklärung«, sagte GG »General Rondon muß einen Attraktionsposten bis hierher vorgeschoben haben.« -577-
»Erlauben Sie, GG«, sagte der Graf, »wenn ich Sie nicht als zuverlässigen Mann kennen würde, würde ich denken, Ihr Verstand habe leider etwas gelitten. Ich habe noch nie gehört, daß ein General im Urwald Geige spielt!« »Ich nehme auch nicht an«, erwiderte GG, »daß der General selber gespielt hat – aber wir haben es ja gehört: er läßt im Urwald Geige spielen.« Sie sitzen dicht beieinander, diese neun Menschen, um die Nacht ist und das Rauschen des Flusses, und in das Dunkel und das Rauschen erzählt Peter Geist, was sich da und dort in diesem Urwald für ein Wunder vollzogen hat, ein heilendes Wunder auf der wunden Erde, das noch so gut wie unbekannt ist in der großen Welt. Vierzig Jahre seines Lebens hat Candido Mariano da Silva Rondon im Sertão zugebracht. Quer durch Urwälder und Dschungel hat er Telegraphenlinien von fünftausend Kilometer Länge gebaut und damit die beiden Küsten Südamerikas miteinander verbunden; wie es heißt, wurde jede Telegraphenstange mit dem Leben eines Menschen bezahlt, so mörderisch war die Arbeit. Ehe die Stangen aufgestellt werden konnten, mußte eine picada quer durch die Urwälder des Kontinents geschlagen werden. »Was Sie hier geleistet haben«, sagte Theodor Roosevelt, als er den Dschungel durchreiste, »kann man nur mit dem Bau des Panamakanals vergleichen.« Dabei hat Ron-578-
don in einem unerforschten Gebiet fünfzigtausend Kilometer zurückgelegt, zu Fuß, auf dem Maulesel, im Kanu. Er hat in diesem Dschungelleben Gold entdeckt, Diamantenlager, Eisen- und Manganvorkommen, ohne einen Pfennig Nutzen davon zu haben, und er hat – die größte seiner Taten – immer wieder den Söhnen des Sertão den Weg in die Welt und in das Zeitalter des weißen Mannes gebahnt; denn der weißhaarige General Rondon hat nie vergessen, was der blutjunge Leutnant Rondon erlebt hat. Das war im Jahre 1890. Leutnant Rondon ist mit dabei, wie Major Carneiro eine picada durch die Urwälder des Mato Grosso schlagen läßt, um die Hauptstadt Cuyaba mit dem Tal des Araguaya-Flusses zu verbinden. Das heißt, sie müssen durch das Gebiet der gefürchteten Bororo, das sind wilde Jäger von auffallender Körpergröße und Kopfabschneider, die keinen Ackerbau kennen, keine Kanus und keine Hängematten, nur kunstvolle Waffen. Die Brasilianer beginnen, die Linie durch den Urwald zu schlagen. Sie sehen keine Indianer, aber sie spüren, daß sie umlauert werden, Tag für Tag, Nacht um Nacht. Der Major, der Leutnant und einige Soldaten bilden den Voraustrupp. Erschöpft kommen sie abends an eine Lichtung. Sie schlagen mit letzter Kraft die Zelte auf – da bricht ein Höllensabbat los, der ganze Urwald dröhnt von Gebrüll und Getrommel: die Bororo sind da! -579-
Unter den Soldaten sind alte »bandeirantes«, Kerle, die schon wüste Raubfahrten mitmachten, wo Frauen und Kinder aus dem Urwald geraubt und die Männer erschlagen wurden. Sie freuen sich darauf, es jetzt auch den Bororo zu zeigen, für sie ist jeder Indio ein wildes Tier, das abgeknallt werden muß. Da befiehlt der Major: »Feuer aus! Zelte abbrechen! Rückmarsch!« Leutnant Rondon gehorcht, wie die Soldaten dem Befehl gehorchen. Aber es gärt in ihm. Welch eine Schande, vor diesen Wilden auszureißen! Wie kann der Major so feige sein?! Sie gehen zurück, bis nichts mehr von den Bororo zu hören ist. Jetzt läßt der Major wieder die Zelte aufschlagen, Feuer machen – aber eisig schweigend sitzt sein Leutnant neben ihm. Plötzlich spricht der Major: »Das müssen Sie verstehen, Leutnant. Natürlich hätten wir ein paar Salven abgeben können. Oder wir hätten bis zum Morgen warten und sie dann alle abschlachten können. Aber was denn? Wir sind hier in ihrem Land, Leutnant. Wir kommen ungerufen, Leutnant. Wir sind Menschen des 19. Jahrhunderts, Leutnant. Wir müssen an den Indianern das Unrecht wieder gutmachen, das die Jahrhunderte vor uns an den Kindern des Sertão begangen haben. Man hat die Indianer wie Tiere gejagt. Man hat sie aus ihren Gebieten vertrieben. Man hat sie zu Sklaven auf den Plantagen gemacht. Man hat ihre -580-
Frauen und Kinder geraubt. Wir sind freie Menschen, Leutnant. Wir müssen Achtung vor der Freiheit haben, Leutnant. Wir müssen den Mut haben, uns für feige halten zu lassen. Wir müssen die Indianer für uns gewinnen, Leutnant. Wo Blut vergossen wird, kann man keine Menschen gewinnen. Wenn Sie Menschen fangen wollen, Leutnant, müssen Sie Ihr Herz an die Angel hängen! Vergessen Sie das nie, Leutnant.« Der Major fiel als tapferer Soldat in der Schlacht bei Lapa, als es galt, die Freiheit Brasiliens gegen Aufständische zu verteidigen. Rondon wurde sein Nachfolger, obwohl er immer noch nichts anderes war als nur ein junger Leutnant – und wofür ihm in jener Urwaldnacht am Lagerfeuer die Augen geöffnet worden waren, das vergaß er nie wieder. Er baute seine Telegraphenlinien, und er gab als unerbittliches Gesetz für diese entsagungsvolle Arbeit: »Sich töten lassen, wenn es sein muß – aber nie einen Indianer töten!« Als er die Linien gebaut hatte, gründete er 1910 den großartigen Indianerschutzdienst, für den er den Grundsatz formulierte: »Keine Arbeit, keine Mühe und kein Opfer darf gescheut werden, wenn es die Befriedung der wilden Indianer gilt und darum geht, ihnen zu helfen und sie gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu schützen.« »Kleine Posten schiebt er in den Urwald vor«, sagte GG. »Einen Administrador, einen -581-
Assistenten, ein paar Soldaten, zwei Dolmetscher, – das ist alles. Aber große Kisten mit Geschenken. Die hängen sie an einen Baum – und dann, wenn es nachts still geworden ist, klettern die Männer in ein Krähennest möglichst auf einem Baum, der den Urwald noch überragt. Da machen sie Musik, daß die Indianer aufhorchen – und durch ein Megaphon verkünden sie ihre Friedensbotschaft. Die Indios wachen auf, sie zittern vor der Stimme, vor der geheimnisvollen Musik – aber sie hören, daß ihre weißen Brüder ihnen Geschenke bringen. Sie suchen den Baum der Geschenke, sie finden ihn – und nach und nach freunden sie sich mit den Männern des Indianerschutzes an. Jetzt müssen sie eine Station hier ganz in der Nähe errichtet haben.« Der Tag brach an. Vorsichtig spähten sie durch die hohen Farnkräuter auf den Fluß – nirgends war ein Kanu zu sehen. Sie waren gerettet. »O Danu«, sagte Melaka zu dem Toten, »warum sang der Vogel Uirapuru nicht, ehe du dich von den Pfeilen treffen ließest?!« Und sie trauerte um den Toten, wie die Indianer trauern. Sie hockte neben ihm und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Schluchzen schüttelte sie, aber ihren Augen entrann keine Träne. Und dann, sang sie das Lied der Fotenklage um einen Krieger, der im Kampf gefallen war. »Komm«, sagte Plumpudding zu Mario, »wir wollen deinem Freunde das Grab graben!« -582-
Das war schwer, da sie keinerlei Werkzeug mehr hatten, aber sie brachten es fertig.
Nur ein alter Mann Sie waren von der Insel an das linke Ufer geschwommen und hatten dann die Richtung eingeschlagen, aus der die Musik und die Botschaft an die Indianer gekommen war. Ihre Kleider waren schon wieder trocken, als sie auf die ersten Spuren des Urwaldpostens stießen: an einem Sumauma-Baum hingen bunte Bänder, Säckchen mit Glasperlen, Messer, Sägen und Blechbüchsen, und wenige Schritte hinter dem Riesenbaum begann eine schmale picada. Sie schlugen den Pfad ein und waren ihn kaum zehn Minuten gegangen, als sie einen Hund bellen hörten. Dann sahen sie drei kleine Zelte. Davor saßen auf Klappstühlen ein paar Männer. Sie hatten Leinenhemden und Leinenhosen an. Einer von ihnen, ein alter, weißhaariger Mann, hielt den Hund am Halsband, der nicht mehr bellte, wohl aber knurrte; es war eine große Dogge. Der alte Mann erhob sich. Da standen auch die andern auf. Die Dogge an seiner Seite, schritt er ihnen langsam entgegen. Er war braungebrannt, schlank und sehnig, die Haut wie Leder, das Gesicht bartlos mit zwei schar-583-
fen Falten von den Nasenflügeln zum Mund. Die große Nase gab dem schmalen Kopf etwas Kühnes, aber die dunklen Augen hatten einen ruhigen Blick. Lag verhaltene Trauer darin oder war es mehr eine ganz tiefe Geduld, zu der sich ein leidenschaftlicher Mann gebändigt hatte? Und noch etwas war aus diesem Antlitz zu sehen: dieser Mann mußte Indianer unter seinen Vorfahren haben. Der Chef erreichte ihn als erster. »Slanton«, stellte er sich vor. Der alte Mann musterte ihn scharf. Dann sagte er: »Rondon.« Alle hatten es gehört. Das war General Rondon – In seinem strengen Gesicht verzog sich keine Miene, als er nun die weißen Männer genau so abschätzte wie eben den Chef. »Wo sind Ihre Waffen?« »Im Fluß, General«, sagte der Chef. Nicht mehr. General Rondon warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Was sind das für Kinder?« »Ich bin Mario Castaneda, und das ist meine Schwester Graziella, General«, sagte der Junge. General Rondon sah Mario an, dann Graziella. Um keinen Hauch wurde sein Gesicht dabei freundlicher. Im Gegenteil, es schien den Männern, als werde in dem Alten ein immer größeres Mißtrauen wach. -584-
»Was ist das für eine Indianerin?« fragte er. »Mit uns geflohen, General«, sagte der Chef. »Wollte keinen Mann ohne Nase heiraten.« Wieder warf General Rondon dem wortkargen Engländer einen Blick zu wie einen Blitz. Dann wandte er sich an Melaka. Aber da wandelte sich sein Gesicht wie eine Landschaft, die eben unter einem grauen Himmel noch freudlos aussah und nun, da plötzlich die Sonne hervorbricht, beglückend vor uns liegt. Auch seine Stimme klang anders, als er jetzt das Mädchen in der Tupi-Sprache anredete: »Fürchte dich nicht, Tochter«, sagte er. »Du bist bei dem Vater der braunen Kinder des Sertão. Die weißen Männer dürfen dir nichts tun. Ich werde dich in dein Dorf zurückbringen.« »Melaka will nicht in ihr Dorf zurück«, sagte sie voller Angst. »Die weißen Männer haben sie aus der Hütte der Erwartung geholt. Melaka wollte dort sterben. Die weißen Männer aber haben ihr die Botschaft geschickt: ›Du wirst leben!‹ Und sie sind gekommen und haben Melaka befreit.« Der General sah, wie echt die Erregung des Mädchens war. »Wenn du nicht in dein Dorf zurückwillst«, sagte er, »so bringe ich dich auch nicht wieder hin. Wir müssen deinem Vater eine Entschädigung zahlen, damit er dich nicht zurückverlangt.« »O weißer Mann«, rief Melaka verzweifelt aus, »mein Vater wird so viel verlangen, daß -585-
du mich nicht kaufen kannst, denn dem Häuptling der Iguana muß er für mich zwei Hängematten zurückgeben, drei Bogen und Pfeile, Löffel aus Jaguarknochen, sieben Jaguarfelle, die keinen Speerstich haben, und fünf Kalebassen mit Urari!« »Meine Tochter«, sagte der General freundlich, »ich sehe aus dem Preis, der für dich gezahlt wurde, daß du viel giltst bei deinen Leuten, aber mir giltst du noch mehr als dem Häuptling der Iguana. Ich werde deinem Vater so viel bieten, daß er dich zu mir gehen läßt.« »Muß ich dann mit dir in deiner Malokka leben, alter Mann?« fragte sie bedrückt. »Nein, meine Tochter. Ich kaufe dich nicht als meine Frau. Ich kaufe dich, damit du frei leben kannst, wo du willst.« »Melaka soll bei mir leben!« rief Graziella. »Willst du denn bei den Indianern bleiben?« fragte der General. Graziella zögerte. Was rührte diese Frage in ihr auf! »Ich glaube nicht«, sagte sie schließlich. »Aber ich kann doch Melaka mitnehmen.« »Wohin?« »Dahin, wo wir leben.« »In der Stadt?« »Ja.« »Nein«, sagte der General. »Die Tochter des Sertão muß im Walde bleiben, sonst siecht sie -586-
dahin wie eine Pflanze, die du in falsche Erde setzest. Ich habe Siedlungen für die Indianer, wo sie nach ihrem Gefallen leben und mit den Weißen Freunde werden. Sie sind dort glücklich, und auch Melaka wird dort glücklich sein.« Jetzt wandte er sich von neuem den Männern zu, und er sah wieder recht ungemütlich aus. »Herrschaften«, redete er sie an, »rund heraus: ich kann Ihnen nicht glauben, daß das die Castaneda-Kinder sind!« »Interessant, General«, sagte der Chef. »Allerdings, sehr interessant«, erwiderte Rondon scharf und rief einem seiner Leute zu, er möchte ihm seine Kartentasche bringen. Als er sie hatte, entnahm er ihr eine Zeitung, schlug sie auf, kniff sie zusammen und gab sie dem Chef, wobei er auf eine Stelle zeigte. »Da, lesen Sie!« Der Chef nahm das Blatt. Es war der DIARIO DE MANAOS, in portugiesischer Sprache. Etwas hilflos gab er es an GG weiter. »Vorlesen bitte«, sagte der Graf. »Wir wissen ja gar nicht mehr, was in der Welt vorgeht.« Langsam übersetzte GG. »Überschrift: ›Herunter mit der Maske!‹« »Hübscher Titel«, sagte der Graf. »Erweckt Erwartungen.« »Wie unsere Leser wissen, hat Anibal Castaneda, der sogenannte Kaffeekönig, die Absicht, sich bei der kommenden Präsidenten-587-
wahl als Kandidat aufstellen zu lassen. Weil es ihm gelungen ist, mit Handelsgeschäften, in deren Hintergründe wir heute noch nicht leuchten wollen, Millionen zu machen, glaubt er auch als Staatspräsident der richtige Mann zu sein. Wer aber einen Staat lenken will, der muß erst einmal zeigen, daß er imstande ist, sein eigenes Haus in Ordnung zu halten. Was hat da das brasilianische Volk von einem Manne zu erwarten, der schon seine eigene Familie als ein brutaler Tyrann behandelt, so daß er seine eigene Tochter zwang, aus ihrem Vaterhaus zu fliehen? Was in der Geschichte Brasiliens noch nie geschah, – jetzt wird es sich ereignen. Die eigene Tochter wird dem Vater in öffentlicher Versammlung die Maske vom Gesicht reißen und das brasilianische Volk darüber aufklären, was es von diesem Manne zu halten hat. Mitbürger, kommt in Massen! Hört, was Graziella Castaneda euch zu sagen hat! In brennender Sorge um das Vaterland wirft sie, eine zweite Jungfrau von Orleans, alle mädchenhafte Scheu beiseite, tritt in den Tageskampf und schwingt die Fahne mit der Losung: ›Freiheit und Fortschritt!‹« »Das ist eine gemeine Schwindlerin!« rief Graziella außer sich. »General, ich bin Graziella Castaneda!« »Wie willst du das beweisen?« fragte der Alte scheinbar erbarmungslos; aber um seine Augenwinkel zuckte es. Unwillkürlich sah sie an sich hinab. Ihre rote -588-
Seeräuberhose war zerfetzt, ihre Buschbluse in bejammernswertem Zustand. Und Himmel, wie mußte ihr Haar aussehen! Es grauste ihr beinahe vor sich selbst… Aber sie riß sich zusammen. »General«, sagte sie, »bringen Sie mich zu dieser bestochenen Person. Hören Sie das Frauenzimmer an und hören Sie dann mich an – danach entscheiden Sie bitte!« »General«, sagte der Chef, »diese beiden waren als Graziella und Mario für die ›Eldorado‹ gebucht, und wir haben sie aus dem Flugzeug herausgeholt.« »Mario«, rief Graziella, »wir müssen sofort nach Manaos!« »Das ist allerdings überzeugend«, sagte General Rondon und lachte über das ganze Gesicht. »Meine Herren, seien Sie willkommen!« Er gab einem jeden die Hand, und jeder verbeugte sich. Sie wußten: dies war ein großer Mann. Sie stellten sich seinen Begleitern vor und erfuhren, wie es möglich war, daß sie den General hier treffen konnten. Die Militärbehörde hatte wegen der Strafexpedition, die gegen die Vampir-Indianer geschickt werden sollte, erst beim Indianerschutzdienst angefragt. Der General hatte sofort eingegriffen. Die Strafexpedition unterblieb, und damit auch ja alles geschähe, was getan werden konnte, hatte er seinen Verbindungsposten selbst in das gefährdete Gebiet begleitet. Während sie das erfuhren und dem General -589-
und seinen Leuten belichteten, wie es ihnen ergangen war, hatte Graziella ihren Bruder beiseite gewinkt. Sie war sehr aufgeregt. »Mario«, sagte sie, »wie soll das nun werden? Wir müssen nach Manaos, wir müssen die Schwindlerin entlarven, aber wer hilft uns denn dabei?« »Die Männer«, sagte Mario. »Gerade das geht doch nicht«, sagte Graziella heftig. »Stell dir vor: die werden sicher steckbrieflich verfolgt! Wenn sie sich in Manaos sehen lassen, werden sie verhaftet! Wir verdanken ihnen alles, und wir bringen sie ins Unglück!« »Graziella«, sagte er, »wir müssen zum Vater zurück.« »Vor dieser Schwindlerin müssen wir ihn schützen«, sagte sie. Auf mehr wollte sie sich noch nicht einlassen. »Graziella«, sagte Mario, »wegen der Männer muß ich mit Vater sprechen. Das ist einfach zu schwer für uns. Vater wird wissen, was da zu tun ist. Wenn sie sich ihm anvertrauen, dann weiß er auch, wie ihnen zu helfen ist.« Da stand das Bild des Vaters wieder vor ihr, wie sie es lange nicht mehr gesehen hatte – der Vater, bei dem Geborgenheit war. Sie hatte vor ihm fliehen wollen, nun kam sie wieder auf ihn zu, und merkwürdig: anders kam sie zurück, als sie weggegangen war. Freiwillig kam sie, innerlich gewachsen, von Erfahrun-590-
gen bereichert, die sie ganz allein gemacht hatte, die ihr der Vater nicht geschenkt, die sie sich mit dem Einsatz ihres Lebens selbst erworben hatte… »Sprich mit den Männern«, sagte sie. »Sag ihnen, sie müßten sich an Vater wenden.« »Ich werde mit dem Deutschen reden«, sagte Mario, und als er GG für sich allein hatte, fragte er: »Doktor, helfen Sie uns auch noch in Manaos?« »Wird gemacht«, antwortete GG. »Der Deutsche hat es mir versprochen«, berichtete er Graziella. »Das ist gut. Weißt du, Mario, wir sind nicht umsonst im Dschungel gewesen: wir haben Melaka gerettet und die sechs Männer wieder auf die rechte Bahn gebracht.« Mario dachte an Danu. Aber er schwieg. Er wollte der Schwester keinen Stein auf den Rückweg werfen. Alles war verabredet. Die Männer der Station nahmen die Verbindung mit den Schakaräh auf, um Melaka loszukaufen. General Rondon brachte sie in die Siedlung A Paz (Der Friede), die er für Indianer geschaffen hatte, und ein Schnellboot, das er angefordert hatte, sollte die Männer und die Geschwister nach Manaos bringen. Als es gekommen war und sie Abschied voneinander nehmen mußten, sagte General Rondon zu Graziella: »Dein Affchen darfst du nicht -591-
mitnehmen, Kind!« »Warum nicht?« rief sie erschrocken. »Es würde ihm wie Melaka gehen«, sagte er. »Sobald es aus der Waldregion wäre, würde es todtraurig werden –« »Aber es ist doch auch bei uns so warm!« sagte Graziella erregt. »An der Temperatur kann es nicht liegen«, sagte der General. »Vielleicht braucht so ein Dschungeltier sehr feuchte Luft, vielleicht erträgt es die größere Helle nicht – aber glaube mir, sie gehen ein, wenn sie nicht mehr im Waldklima sind.« Graziella stand ratlos da. Das wollte sie nicht, daß das Tierchen starb – aber konnte sie sich denn von ihm trennen? »Schenke es Melaka«, sagte Mario. Sie hielt es dem Indianermädchen hin, Melaka nahm Babu, und das Affchen kuschelte sich an sie, wie es an Graziella gehangen hatte. Sie küßte Melaka – und dann fuhr das Schiff ab. Das war das Letzte, was sie von ihr sahen: sie stand am Ufer, den Blick zum Fluß, und General Rondon, der Vater der braunen Kinder des Sertão, hatte seinen Arm ihr auf die Schultern gelegt. »Gibt verdammt wenig Männer wie den Alten auf dieser Erde«, sagte der Chef. »Mit solchen Männern geht der liebe Gott -592-
eben sparsam um«, sagte der Graf.
In die Höhle des Löwen Vor ihnen tauchte die Stadt Manaos auf. Aus dem Grün der Palmen schimmerte das Weiß der Häuser. »Ich muß vor allem etwas Anständiges zum Anziehen haben«, sagte Graziella. »Das geht uns nicht anders«, sagte GG. Es war wie von selbst gekommen, daß Graziella und Mario sich in allem an ihn wandten. Ihr Schiff, das Regierungsschnellboot »Presidente Fonseca«, kreuzte die berühmte Stelle, wo die schwarzen Wasser des Rio Negro in den gelben Fluten des Amazonasstroms ihren weiten Bogen ziehen, und jetzt fuhr es in den Rio Negro ein, an dessen Ufer die Stadt liegt. Wie immer wimmelte es im Hafen von großen und kleinen Schiffen, Segelbooten und Barkassen. Mächtige Ozeanfrachter lagen an den Kais, denn Manaos ist ein wichtiger Verladeplatz der brasilianischen Ausfuhr, und der gewaltige Amazonas läßt die Meerriesen weit ins Land hinein. Sie waren eben ein paar Schritte den Kai entlanggegangen, als sie vor einer ganzen Wand von knallgelben Plakaten stehenblieben. Sie lasen in riesigen roten Buchstaben: -593-
»ICH REISSE MEINEM VATER DIE MASKE VOM GESICHT –« SAGT GRAZIELLA CASTANEDA!!
»Diese Betrüger!« sagte Graziella. »Diese gemeinen Betrüger!« Wahrhaftig, sie waren gerade noch zur rechten Zeit gekommen: Heute war Dienstag, und am Mittwoch sollte die Versammlung sein, zu der die Plakate aufriefen, um acht Uhr abends in der großen Halle der Liga de Atletismo. Schnell zur Banco do Brasil, wo der Chef auf seinen Kreditbrief abhob, was sie brauchten. Dann zur Post, wo der Chef dem Anwalt in Rio die Ankunft der Kinder telegraphisch mitteilte. Dann in ein großes Geschäft, wo sich die Männer und Mario ausstaffierten, daß sie sich sehen lassen konnten. Graziella aber verschwand in dem Schmuckkästchen, zu dem Senhora Carolina Albisetti ihr Geschäft ›A ULTIMA MODA‹ (,Nach der neuesten Mode‹) gemacht hatte. Als sie noch beim Friseur gewesen war, traf sie die Männer wieder. Sie sahen ein gut angezogenes junges Mädchen, das eben von zu Haus gekommen zu sein schien; daß sie aus dem Dschungel kam, aus der Verlassenheit eines Indianerdorfs, vom Rande des Abgrunds gerettet, das war auf einmal unwirklich wie ein wilder Traum von Sekunden, in denen der Schlafende ein ganzes Leben zu -594-
durchjagen scheint. Sie gingen nicht in das Hotel Grande, sie blieben nicht einmal in der Stadt, sondern ließen sich an der alten Kirche vom »Armen Teufel« vorbei nach der Siedlung Flores fahren, wo ihnen der Kapitän des Schnellbootes die Pension Lisboa empfohlen hatte. Hier führten sie Graziella und Mario als Elvira und Goncalo Alves ein. Die Kinder waren von diesem Quartier ganz entzückt: im Garten vor dem Haus lag, eng an zwei junge schwarze Neufundländer geschmiegt, eine Miriki-Äffin, ein großes, fast anderthalb Meter langes Tier. Als die Pensionsinhaberin das Entzücken der Kinder sah, rief sie es, und sofort kam Petronella, wie die kleine Urwaldfrau gerufen wurde. »Aber sie kennt den Urwald gar nicht«, sagte die Dame, »sie ist in der Gefangenschaft geboren und das manierlichste Geschöpf, das man sich denken kann: sie ißt mit uns bei Tisch, nimmt nur, was man ihr auf den Teller legt, und auch das erst, nachdem ich ihr sage: ›Petronella, iß schön!‹ Sie glauben gar nicht, wie klug so ein Tier ist! Was sie sieht, das kann sie gleich nachmachen!« »Ich werde einige Großaufnahmen von ihr herstellen«, sagte Neunauge gewichtig, und dann gingen sie zusammen ins Haus. Als das Negermädchen, das sie auf ihre Zimmer gebracht hatte, wieder verschwunden war, hielten sie in Nummer 3 beim Chef den großen Kriegsrat. Vorher schlossen sie die Tür ab, und -595-
dann sprachen sie nur flüsternd. »Das Wichtigste«, sagte der Chef, »müssen herausbekommen: Wer ist die Gesellschaft, gegen die wir spielen? Scheide dabei aus – kann mit den Leuten nicht reden.« »Ich leider auch nicht«, sagte der Graf. »Aber es ist doch das Einfachste, daß ich das übernehme«, sagte GG. »Irrtum, GG«, sagte der Chef. »Sie müssen den großen Schlag führen, wenn es so weit ist – deshalb darf Sie keiner von der Bande vorher erblicken. Auch Mario und Graziella darf niemand sehen, bis wir ihnen ins Gesicht springen – wissen ja gar nicht, ob sie die beiden genau kennen. Wissen überhaupt nichts, ehe die Bande nicht ausgekundschaftet ist.« »Mach’ ich, Chef«, sagte Figur. »Viel Portugiesisch kann ich nicht, aber ein paar malerische Flüche kenn’ ich, damit kommt man schon ganz schön weit, und ein bißchen Spanisch kann ich auch.« »Wär’ am besten«, sagte der Chef. »Könnten sich zwischen die Gauner mogeln, als gehörten Sie dazu.« »Danke ergebenst für das Vertrauen«, sagte Figur. »Sie sind offenbar der Meinung, ich fiele unter Gaunern nicht weiter auf!« Aber er war nicht etwa beleidigt. Lieber Himmel, er hatte einiges hinter sich, zu Zeiten hatte sein Leben starke Ähnlichkeit mit einer Rutschbahn gehabt, auf der es ziemlich rasch -596-
bergab gegangen war, aber jetzt hatte er sich wieder – das heißt, hatte er sich wirklich wieder? Jedenfalls glaubte er es in diesem Augenblick, und er fühlte sich eben überhaupt großartig, denn jetzt hing alles von ihm ab, und er würde den Kram schon schmeißen – »Wiedersehen, Senhores!« sagte er und ging zur Tür. »Wollen Sie sich nicht lieber erst eine Pistole kaufen, ehe Sie hingehen?« rief Mario. »Goncalo Alves«, rief Figur, sich an der Tür umdrehend, »ein Mann, der wie ich gebaut ist, der braucht keine Pistole!« »Dann nehmen Sie mich doch mit!« sagte Mario drängend. »Von mir aus«, sagte Figur, und Mario sprang auf. Der Chef wollte mit einem erbarmungslosen »No!« dazwischenfahren – aber er bezwang sich. Er sah nur GG an. »Wenn du mitgehst«, sagte GG, »kannst du erkannt werden, und dann gefährdest du die ganze Sache.« Mario blieb stehen. Es kam ihn hart an, zu verzichten. Da erhaschte er den finsteren Blick des Chefs, und in seinen Augen blitzte es auf. Er machte die abgehackte Redeweise des Engländers nach: »Sehe ein. Wäre Dummheit. Old England for ever!« Er setzte sich wieder. Alle lachten, und so hatte sich Mario einen guten Abgang gesichert. -597-
Das Taxi, in dem Figur zur Stadt fuhr, ließ er vor dem üppigen Opernhaus halten, das einmal in der Zeit eines gewaltigen GummiBooms errichtet worden ist, seitdem aber leersteht. Von da fragte er sich zu der Liga de Atletismo. Die Hände in den Taschen, die neugekaufte Sportmütze unternehmend schief aufgesetzt, schob er sich durch den Eingang zu der ansehnlichen Holzhalle, die für Ringund Boxkämpfe gebaut worden war. In ihrer Mitte erhob sich das große Podium, und an seinen vier Seiten zogen sich die Sitzreihen ansteigend zu den Wänden hin. An der einen Schmalseite war eine ziemlich hoch gelegene Balustrade für eine Musikkapelle. Die mächtigen Bogenlampen brannten natürlich jetzt am Tage nicht. Die Türen standen offen, ein paar Negerfrauen fegten die Holzbänke ab. Figur, der den Gang schon fast bis zum Podium hin gegangen war, blickte sich um. In der großen Doppeltür des Haupteingangs stand ein Mann, der einen Packen zusammengerollter Plakate unterm Arm hatte und sich suchend umsah. Sofort ging Figur auf ihn zu. Der andere hielt ihn für einen, der hier dazugehörte, und fragte: »War der ›Stier‹ noch nicht da?« Figur schüttelte den Kopf. »Dumm«, sagte der Mann, »ich soll ihm dieses Zeug hier bringen, aber ich hab’ keine Lust zu warten. Kleine Promenade mit meiner Marina.« -598-
»Laß das Mädel nicht warten«, sagte Figur, »das schätzen die Damen nicht. Leg dein Paket hier auf den Stuhl – ich geb’s ihm, wenn er kommt.« »Muito obrigado« (vielen Dank), sagte der Mann und verschwand eilig. Sobald er nicht mehr zu sehen war, klemmte sich Figur den Packen unter den Arm. Das ging ja vortrefflich! Mit den Plakaten wies er sich doch großartig aus, als gehöre er mit zum Bau, und es dauerte auch gar nicht lange, da erschien ein Riesenkerl, dem man den Boxer schon in einer Entfernung von einem halben Kilometer anmerkte. »Der bringt seine 200 Pfund auf die Waage«, dachte Figur. »Somente justo«, sagte er zu ihm, was soviel wie »Alles in Ordnung« heißen sollte, und hielt ihm das Paket hin. Der gewaltige Boxer, dessen kleine Augen tief hinter zwei Wülsten lagen, bot ihm eine Zigarette an. Er nahm sie und zündete sie an der brennenden des Boxers an. Aber der Boxer nahm ihm das Paket nicht ab. Das hatte er nicht nötig, so etwas in der Hand zu tragen. »Bring das zum Chef«, sagte er, »ich gehe mit!« »Adiante«, sagte Figur, und sie gingen zusammen. Er war sehr zufrieden: der Riesenkerl brachte ihn also jetzt unmittelbar in die -599-
Höhle des Löwen. Dabei war es Figur durchaus angenehm, daß der Goliath offenbar maulfaul war, denn er redete unterwegs kein Wort, und so brauchte Figur auch nichts zu sagen, wobei er sich vielleicht nur verraten hätte. »Der kann sich eben nur mit seinen Fäusten ausdrücken«, dachte er.
Graziella wird gesucht In dem Flugzeug, das sich von Rio de Janeiro mit rasender Geschwindigkeit der Stadt Manaos näherte, saßen als Passagiere nur ein Herr und eine Dame, denn es war für sie beide zu einem Sonderflug bestellt worden. Den Herrn kennen wir gut; es war der Anwalt, der Mario und Graziella seinerzeit an die »Eldorado« gebracht und der dann mit dem Chef und dem Grafen verhandelt hatte. Wir haben ihn als einen beweglichen, temperamentvollen Mann deutlich in Erinnerung – jetzt jedoch ist davon an ihm nichts zu bemerken. Bekümmert sitzt er der Dame gegenüber, schnappt öfters nach Luft wie ein zu seinem Unglück an Land geratener Karpfen, aber es gelingt ihm nicht, die Erklärungen, zu denen er immer wieder ansetzt, zu Ende zu bringen, denn die Dame deckt ihn einfach zu, wie man so sagt, und da sie eine Dame ist, kann er nicht grob werden. -600-
Überdies ist sie eine so reizende Dame Anfang der Dreißig, daß es ihm sehr schwer würde, ihr den Kopf zurechtzusetzen, selbst wenn sie im Unrecht wäre – und er muß bei sich auch noch zugeben, daß Senhora Imagina de Mattos Feijo mit ihren Vorwürfen recht hat. »Sie haben einen Fehler nach dem andern gemacht«, sagt sie, und ihre dunklen Augen blitzen. »Senhora –« »Es war eine Kateridee, die beiden Kinder zu ihrer Tante Carlota schicken zu wollen«, sagt sie, unerbittlich in ihrem Zorn. »Senhora Saraiva ist dafür bekannt, daß sie von jedem ihrer Hausbewohner annimmt, er wolle sie ermorden, und deshalb mit einer Machete unter dem Kopfkissen schläft. Die Kinder hätten es bei ihr keine drei Tage ausgehalten.« »Senhora –« »Es war völlig unsinnig, die beiden Kinder allein reisen zu lassen –« »Senhora – zwei so selbständige Kinder –« »Gerade deshalb, gerade deshalb!« Sie funkelt ihn an. »Gerade deshalb durften Sie die beiden nicht sich selbst überlassen. Sie sehen ja, wohin das geführt hat: jetzt macht dieses verstörte Kind mit den schlimmsten Feinden ihres Vaters gemeinsame Sache! Wenn Sie wenigstens mitgeflogen wären, dann hätte das nicht passieren können!« »Senhora – ich kann doch nicht ahnen –« -601-
»Als Sie hörten, daß die Kinder heimlich fortwollten – warum haben Sie mich da nicht sofort benachrichtigt?« Jetzt aber raffte sich Senhor Carzal auf. In diesem Punkt war er nun wirklich im Recht. »Senhora, erlauben Sie«, sagte er und hatte seine alte Energie wiedergewonnen, »Senhor Castaneda hat mir ausdrücklich aufgetragen, dafür zu sorgen, daß die Kinder von seiner beabsichtigten Eheschließung mit Ihnen nichts hörten, denn das wollte er ihnen unbedingt selbst sagen – von niemand anderem dürften sie das erfahren als von ihm. Wie hätte ich mich da an Sie wenden können? Die Kinder kennen Sie nicht, die Kinder wissen nichts von Ihnen – Sie wären zu keiner einzigen verantwortlichen Handlung berechtigt gewesen!« Die Dame schwieg. Dagegen war nichts zu sagen, das sah sie ein. Sie liebte die mutterlosen Kinder, die sie noch nie gesehen, die ihr aber Anibal Castaneda, dessen zweite Frau sie werden sollte, eingehend geschildert hatte. Sie wußte, wie sehr die Kinder an der verstorbenen Mutter hingen, sie verstand, daß es der Vater sein mußte, der die beiden auf die große Veränderung vorbereitete, daß er wieder heiraten und ihnen eine neue Mutter geben würde. Das hatte geschehen sollen, wenn Senhor Castaneda aus den Vereinigten Staaten zurückkam – und nun hatte sich das alles auf so unheilvolle Weise verwirrt. »Jedenfalls können wir jetzt nicht zusehen«, -602-
sagte sie, »daß Graziella sich gegen ihren Vater mißbrauchen läßt. Sie ist einer Bande von Gaunern in die Hände gefallen, und da hole ich sie heraus.« Der Anwalt seufzte tief. Er dachte daran, wie damals die »Eldorado« abflog – da hatte er gemeint, er hätte alle Verwicklungen vermieden, aber in Wirklichkeit hatten sie überhaupt erst richtig begonnen… Das Flugzeug landete in dem Augenblick, als Mario mit den sechs Männern das Herrenkleidergeschäft betrat und Graziella das Schmuckkästchen der Senhora Albisetti. Das erste, was die beiden Fluggäste erblickten, war dasselbe Plakat, das Graziella so empört hatte. »Unerhört, unerhört!« sagte Senhora Imagina. »Diese infamen Kerle müssen das arme Mädchen ganz verrückt gemacht haben!« Der aufreizende Text in den flammendroten Buchstaben beflügelte ihre Entschlossenheit. Sie fuhren sofort zum Chefe de policia, dem Polizeipräsidenten. Der hohe Herr betrachtete die Visitenkarte, die ihm hereingebracht worden war: Imagina de Mattos Feijo. Ein leiser Pfiff – die Mattos Feijo besaßen eins der größten Exportgeschäfte – mit eingesalzenen Rinderhäuten hatten sie begonnen, jetzt hatten sie dazu noch Pinienholz und Karnaubawachs und zogen nach und nach das ganze Zuckergeschäft an sich. Sie hatten nur eine einzige Tochter, entsann -603-
er sich – eine Millionenerbin, – das mußte also diese Imagina sein. »Ich lasse bitten.« Er empfing die Dame und ihren Anwalt mit der ganzen bestrickenden Liebenswürdigkeit, die den Brasilianern eigen ist. »Herr Präsident«, sagte sie, »ich bitte Sie, die für morgen abend angesetzte Versammlung, in der Graziella Castaneda sprechen soll, sofort zu verbieten.« »Ich vertrete«, bemerkte der Anwalt, »auch die Interessen Senhor Castanedas.« »Unverantwortliche Elemente«, sagte Imagina, »haben sich des armen Kindes bemächtigt und nutzen es schamlos aus. Das kann nicht geduldet werden!« Die liebenswürdige Miene des Polizeipräsidenten hatte sich nicht geändert, aber er sah klar, daß er hier in eine ganz fatale Sache rutschen konnte. Siegte bei der kommenden Präsidentenwahl Castaneda, dann hatte er mit dem Verbot der Versammlung auf das richtige Pferd gesetzt – unterlag Castaneda aber, dann war er bei dem Sieger unten durch. Er mußte also sehen, eine Lösung zu finden, die ihn nicht bloßstellte und bei der er es mit keiner der beiden Parteien verdarb… »Senhora«, sagte er mit seinem verbindlichsten Lächeln, »selbstverständlich können Sie jederzeit voll und ganz auf mich rechnen, aber nicht wahr: Brasilien ist ein freies Land, wir Brasilianer lieben die Freiheit über alles, und -604-
ich glaube, ein brutales Polizeiverbot wäre hier keinesfalls das Richtige. Denn ein Brasilianer muß jederzeit und überall öffentlich sagen können, was er denkt. Erlasse ich das Verbot, an das Sie dachten, so wird es sofort heißen, Senhor Castaneda suche mit diktatorischen Mitteln die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken, und Sie wollen doch in seinem Interesse, nicht aber gegen ihn handeln!« »Ich will verhindern«, sagte Imagina, »daß dieses Kind von einer Bande zu Äußerungen und Handlungen genötigt wird, die es sein Leben lang bereut.« »Genau meine Meinung«, sagte der Polizeipräsident, »und deshalb schlage ich Ihnen vor: Veranlassen Sie die Gegenpartei, selbst diese Versammlung abzusagen! Ich bin überzeugt«, setzte er mit einer Wärme hinzu, die seinen Worten den Charakter einer Huldigung verlieh, »Sie brauchen Ihren Wunsch nur auszusprechen. Kein Mann von Ehre wird Ihnen widerstehen können, Senhora!« Der Anwalt zitterte. Er hatte schreckliche Angst, Imagina würde dem Polizeipräsidenten antworten, er sei der feigste Halunke, der ihr je begegnet sei. Deshalb fragte er rasch, ehe sie zu Wort kommen konnte: »Wo finden wir die Gegenpartei?« »Senhor Juan de Ugarte y la Concha ist im Hotel Grande abgestiegen«, sagte der Polizeipräsident und erhob sich. »Ich bin entzückt, Senhora, Sie kennengelernt zu haben.« -605-
»O bitte sehr«, antwortete Imagina, »das Entzücken ist ganz auf Ihrer Seite!« Ehe er sich von diesem Hieb erholt hatte, war sie mit dem Anwalt schon aus dem Zimmer. »Ein cobarde«, sagte sie, als sie zum Hotel Grande fuhren, »ein elender cobarde!« »Senhora, ich bitte Sie«, sagte der Anwalt besorgt, »wie können Sie ihn einen Feigling nennen! Der Mann muß um seine Stellung besorgt sein, er hat sicher eine vielköpfige Familie, er darf es mit niemand verderben –« »Mit mir hat er es verdorben«, sagte sie heftig. »Für mich ist er nichts als ein schäbiger cobarde!« Senhor Juan de Ugarte y la Concha, der seinem Namen nach von spanischer Abstammung sein mußte, hatte im Hotel Grande kein Zimmer genommen, sondern eine Suite, das heißt eine ganze Folge von Zimmern, zu denen auch ein Salon gehörte, und dahin brachte ein Page die Dame und den Herrn, nachdem der Portier die Besucher telephonisch angemeldet hatte. Als sie den Salon betraten, sahen sie, daß der Mann, den sie suchten, nicht allein war. Aber sie sahen sofort, wer von den Anwesenden hier der Chefe war – er saß in einem Sessel, die anderen auf Stühlen. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt, nahm sie aber herunter, als er Imagina erblickte. Er war ein Mann zwischen vierzig und fünfzig, sehr elegant angezogen. Seine dunklen Augen hatten einen etwas lauernden Blick – er mute-606-
te dadurch wie ein vielgejagtes Tier an, das dauernd sichern muß. Am auffallendsten war sein Schädel. Er trug ihn nämlich völlig glattrasiert. Was ihn dazu veranlaßte, war nicht ersichtlich, aber man hatte unwillkürlich den Gedanken, er müsse dafür einen recht aparten Grund haben. Pflegte er etwa zu Zeiten eine Perücke aufzusetzen, weil er Wert darauf legte, nicht ohne weiteres erkannt zu werden? Die vier, fünf Leute, die bei ihm saßen und die Imagina gar nicht beachtete, machten auf den Anwalt den Eindruck, als hätten sie sich die seltenste Zeit ihres Lebens in einem Salon aufgehalten; ihre Hosentaschen waren merkwürdig geschwollen – sie mußten darin ganz erhebliche Schießeisen aufbewahren. »Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte Juan de Ugarte, nachdem sich seine beiden Besucher gesetzt hatten. »Ich möchte Senhorita Castaneda sprechen«, sagte Imagina. »Die Senhorita empfängt nicht«, bemerkte der Spanier. »Sie hat auch jeden Presseempfang abgelehnt. Wenn Sie Senhorita Castaneda sehen und hören wollen, kommen Sie, bitte, morgen abend zu unserer Versammlung. Vielleicht haben Sie die Plakate in der Stadt gesehen.« In diesem Augenblick ging die Tür auf, und ohne vorher angeklopft zu haben, was übrigens keinen der Anwesenden zu überraschen schien, traten der Boxer und Figur ein. Die -607-
Männer nahmen an, Figur sei ein Bekannter des Boxers, den er für ihr Unternehmen gewonnen habe, während der Boxer ja dachte, er habe es bei ihm mit einem Menschen zu tun, der zum Chef gehörte. »Graziella wird mit mir eine Ausnahme machen«, sagte Imagina leichthin. »Ich kenne sie von kleinauf, und sie wird sicher sehr erfreut sein, wenn sie hört, daß ich da bin.« »Jetzt hat sie einen Fehler gemacht!« Das durchzuckte den Anwalt wie ein elektrischer Schlag. Das hätte sie nicht sagen dürfen, daß sie das Mädchen kennt. Allerdings hatte sich nichts geändert – der Mann im Sessel, die andern auf den Stühlen saßen genau so da wie vorher. Aber der Anwalt hatte die beängstigende Vorstellung, das seien auf einmal gar keine Menschen mehr, die da saßen, sondern Raubtiere unmittelbar vor dem Sprung. »Vielleicht kommen wir hier lebendig nicht wieder heraus«, schoß es ihm durch den Kopf. Aber zweibeinige Raubtiere treibt ja kein Blutdurst – »Meine Herren«, sagte er, »die Dame würde sich das Wiedersehen mit Graziella Castaneda etwas kosten lassen.« »Für ein Geschäft sind wir natürlich jederzeit zu haben«, sagte der Spanier. »Aber die Butter ist schon verkauft. Wenn ich gewußt hätte, daß noch Interessenten da sind, hatte ich mit Vergnügen erst Ihr Angebot abgewartet. Doch Sie verstehen: ein Mann, ein Wort. Ich kann -608-
nicht zurück.« »Das ist das Loch, durch das wir entwischen«, dachte der Anwalt entzückt und erhob sich. »Wir wußten, Senhor«, sagte er, »daß wir es mit Ehrenmännern zu tun hatten. Ich wünsche Ihnen vollen Erfolg, meine Herren!« »Danke verbindlichst«, sagte der Spanier, und ehe Imagina noch etwas hätte sagen können, hatte der Anwalt sie aus dem Salon hinausbugsiert. »Beschatten«, sagte der Spanier, als sich die Tür geschlossen hatte. Sofort erhob sich Figur. Er wußte nicht, was das Wort bedeutete, das eben gefallen war. Aber er hatte den sicheren Instinkt für einen guten Abgang; und als er nun den Salon verließ, dachte jeder der Bande, er gehe, um den Auftrag des Chefs auszuführen. Imagina stand mit dem Anwalt noch auf dem Korridor. »Aber ich bitte Sie«, flüsterte sie erregt, »wie konnten Sie gehen? Wir haben doch noch gar nichts erreicht!« »Wir haben alles erreicht, was möglich war«, sagte der Anwalt, »denn wir sind am Leben geblieben!« Jetzt hatte Figur sie eingeholt. »Graziella Castaneda«, sagte er im Vorbeigehen. »Nachkommen! Unauffällig!« »Eine Falle!« sagte der Anwalt. »Großer Gott, eine Falle! Lassen Sie den Menschen laufen!« -609-
»Wenn Sie Angst haben«, antwortete Imagina, »dann machen Sie sich davon. Ich gehe dem Mann nach.« »Angst – Angst!« keuchte der Anwalt, denn Imagina, das sportlich geschulte junge Geschöpf, ging rasch durch die Straßen, um Figur ja nicht aus dem Auge zu verlieren. »Ich habe keine Angst, aber gesunden Menschenverstand –« Er lief neben ihr her. »Hätten Sie ihn nur damals schon gehabt«, sagte sie, »als Sie hörten, die Kinder wollten in den Urwald fliehen –« Figur winkte einem Taxi zu, das dicht am Rande des Bürgersteigs entlangfuhr, da der Fahrer auf der Suche nach Kunden war. Der Wagen war, um ja recht aufzufallen, auf der Rückseite mit einem großen roten Panther bemalt. Der Fahrer hielt, Figur verhandelte mit ihm. Aber er stieg nicht eher ein, als bis er sich vergewissert hatte, daß Imagina einen andern Taxichauffeur anhielt. »Pension Lisboa in Flores. Fahren Sie hübsch langsam, damit ich was von der schönen Gegend habe!« »Senhora«, sagte der Anwalt sehr aufgeregt und hielt Imaginas Hand fest, die schon die Taxitür geöffnet hatte, »ich beschwöre Sie -!« »Schwören Sie, soviel Sie wollen!« sagte Imagina, machte sich los, stieg ein, warf die Tür zu und rief dem Chauffeur zu: »Fahren Sie dem Taxi mit dem Panther nach!« -610-
Der Wagen brauste ab, und der Anwalt stand verzweifelt am Bordstein. Einen Wagen! Einen Wagen! Er mußte doch sofort hinterher! Aber es kam kein Wagen mehr. Figur blickte durch das Rückfensterchen seines gemächlich fahrenden Autos. Er war befriedigt: das andere folgte.
»Ich bin es ja!« In der Pension Lisboa konnten die Männer nichts anderes tun, als auf die Rückkehr Figurs warten, und diese Pause benutzte Neunauge dazu, einmal in Ruhe mit dem Grafen zu reden. »Herr Graf«, sagte er, als sie beide allein waren, »Sie wissen, daß ich Sie hochschätze, und ich weiß auch, daß ich Ihnen mein Leben verdanke.« »Neunauge«, sagte der Graf, »lassen wir die alten Kriegsgeschichten. Sie sind zu lange her.« »Das können Sie sagen, Herr Graf, aber ich kann das nicht. Wenn Sie mich nicht aus meinem verschütteten Meldegängerloch herausgebuddelt hätten, läge ich unter einem der… zigtausend weißen Kreuze von Verdun. Ich weiß, was ich Ihnen schuldig bin. Deshalb habe ich auch sofort ja gesagt, als Sie mich ba-611-
ten, ich sollte Sie auf die Expeditionen begleiten. Aber Sie wissen, als wir nach der Sache in Kafiristan in Peschawar saßen, habe ich Sie gebeten: ›Verzichten Sie auf meine Dienste. Ich bin nicht mehr der Mann für so ein Abenteuerleben.‹ Aber Sie haben mich wieder herumgekriegt, und ich bin noch einmal mit in den Dschungel gegangen –« Der Graf wußte genau, daß es anders gewesen war. Neunauge hatte wohl nach Paris zurückgewollt, es jedoch im entscheidenden Augenblick nicht übers Herz gebracht, sich von den Männern zu trennen. Jedoch widersprach der Graf nicht. »Wozu?« fragte er sich. »Den meisten Menschen ist bei ihren Irrtümern am wohlsten.« »Herr Graf«, fuhr Neunauge fort, »ich muß Sie jetzt um eins bitten: Verlangen Sie nicht wieder von mir, daß ich Sie noch länger begleite. Meine Lebensaufgabe liegt auf einem anderen Gebiet. Sie wissen, ich bringe eine Sammlung der großartigsten Photos mit. Ich will nach Paris und will in Paris bleiben. Ich will endlich mein Bistro aufmachen. Sie wissen ja, ›Zum vergnügten Neunauge‹. Das ist eben der Traum meines Lebens. Und dann, Herr Graf – ich will endlich heiraten. Eines Tages muß man mit dem Abenteuerleben Schluß machen!« »Neunauge«, sagte der Graf, »selbstverständlich halte ich dich nicht. Ich werde immer bedauern, daß du nicht mehr bei mir bist, -612-
aber ich werde mich auch immer freuen, wenn du in deinem Pariser Bistro glücklich bist. Also abgemacht – wenn wir das hier alles hinter uns haben, geht Cyprian Bombardon nach Paris, und die Weltstadt wird um eine Sehenswürdigkeit reicher!« »Herr Graf«, sagte Neunauge, »Sie werden immer mein hochgeschätzter Gast sein.« »Aber hör mal«, sagte der Graf, »damals sagtest du doch, daß du gar nicht wüßtest, wen du heiraten solltest – waren nicht gleich drei Schwestern hinter dir her? Ich hatte damals den Eindruck, daß du durch unsere Abreise nach Afghanistan ganz gern der Notwendigkeit enthoben wurdest, dich für eine von ihnen zu entscheiden?« »Tja, Herr Graf«, sagte Neunauge, »das ist auch recht schwierig. Sehen Sie, Odette, die älteste von den dreien, ist ein wahres Finanzgenie. Der heckt das Geld unter der Hand. Manon, die mittlere, ist eine fabelhafte Köchin. Im allgemeinen halte ich nichts von Köchinnen – alle großen Gerichte der Kochkunst haben Männer erfunden. Aber Manon ist wirklich eine Ausnahme, sie ist ein Kochgenie. Und Angélique, die jüngste – ach, Herr Graf, so ein bezaubernd anmutiges Geschöpf gibt es nur einmal auf der Erde. Da wird einem natürlich die Wahl schwer, – aber wenn ich auch noch nicht ganz entschieden bin, wen ich nehme (haben wollen sie mich alle drei) – einmal fällt meine Entscheidung, so oder so. Ich bin ja -613-
doch schließlich ein Mann.« »Nun«, sagte der Graf, »dann heirate also, aber nicht zwischen Ostern und Pfingsten oder zwischen Pfingsten und Ostern, das soll Unglück bringen.« Er hörte, daß ein Auto vor dem Hause hielt und trat ans Fenster. Er sah Figur aussteigen. »Ich gehe zum Chef«, sagte er und ging rasch in das Zimmer Nummer drei. Figur blieb unten vor dem Haus, bis das zweite Taxi herangekommen war. Er öffnete Imagina die Tür, und sie sagte zu dem Chauffeur: »Bitte, warten Sie.« Dann trat sie in das Haus, und Figur folgte ihr. Auch GG hatte die Wagen kommen hören. Er sah hinunter. »Figur bringt eine Dame her!« sagte er rasch zum Chef. Der Graf trat ein: »Figur ist zurück!« »Kinder müssen fort«, sagte der Chef. Mario und Graziella waren mit im Zimmer. Sie sprangen auf. Aber sie konnten es nicht mehr verlassen, denn schon hörten sie draußen auf dem Korridor Schritte. »Hinter den Vorhang!« sagte der Chef, und sie liefen rasch hinter den schweren Plüschvorhang, mit welchem der Alkoven, in dem das Bett stand, von dem Wohnzimmer abgetrennt war. Es klopfte. »Come in!« Imagina trat ein, nach ihr Figur, und er sagte auf englisch: »Die Dame möchte Senhorita Castaneda sprechen!« -614-
Keiner von den drei Männern erwiderte etwas. Jeder überlegte angestrengt: »Kommt sie von der Gegenpartei? Oder ist sie auf unsrer Seite?« Imagina hatte einen raschen Blick auf die drei Schweiger geworfen. Für sie war die Lage klar: der vierte Mann hatte sie zu den Männern gebracht, die Graziella bewachten, und sie war entschlossen, aufs Ganze zu gehen. Sie würde nicht, wie der Anwalt es versucht hatte, ihnen Geld anbieten – nein, mit der ganzen Kraft ihres Herzens wollte sie um das Mädchen kämpfen. »Meine Herren«, sagte sie, »Sie haben in den Kampf um die Präsidentschaftswahl eingegriffen, und das ist Ihr gutes Recht. Im Wahlkampf, so heißt es, gilt jedes Mittel, und Sie sind entschlossen, Senhor Castaneda dadurch unmöglich zu machen, daß Sie seine Tochter in einer öffentlichen Versammlung gegen ihren eigenen Vater sprechen lassen. Ich weiß nicht, was das Mädchen gegen ihn vorbringen will – aber ich weiß, daß Sie damit Graziella Castaneda für ihr ganzes Leben unglücklich machen.« Es war der Graf, der sprechen wollte, denn es war ihm unerträglich, daß diese bezaubernde junge Frau von ihm denken sollte, er stecke mit den schmutzigen Kerlen, die hier ein übles Spiel ausgeheckt hatten, unter einer Decke. Aber GG sagte rasch: »Lassen Sie die Dame reden« – denn er dachte an die beiden -615-
Kinder, die ja hinter dem Plüschvorhang jedes Wort hören mußten, das sie sprach. »Meine Herren«, sagte sie, »wenn Senhor Castaneda wüßte, was sich hier ereignet hat, dann wäre er sofort selbst gekommen. Aber er darf jetzt nicht gestört werden. Er hat wichtige Verhandlungen mit dem State Department in Washington, bei denen es, wie Sie sich denken können, um Weltpolitik geht. Ich konnte verhindern, daß er etwas von dem Schicksal seiner Kinder erfuhr, ich habe sie suchen lassen –« Der Graf und der Chef tauschten einen Blick aus. Das also war es, was ihnen der Anwalt damals verschwiegen hatte… »Und als ich jetzt zu meinem Entsetzen hörte, daß Graziella in Manaos auftauchte, bin ich sofort hergekommen. Ich habe den Polizeipräsidenten gebeten, die Versammlung zu verbieten. Dazu hat er nicht den Mut. Ich bin zu Ihrem Boss ins Hotel Grande gegangen und habe ihn gebeten, mit Graziella sprechen zu können – er hat es abgelehnt. Ich weiß nicht, wieso dieser Herr – sie wies auf Figur – dazu kam, mich zu Ihnen zu bringen. Aber ich bin ihm dankbar, daß er es getan hat – nun kann ich Sie um etwas bitten. Meine Herren, lassen Sie mich mit Graziella reden! Begreifen Sie doch, meine Herren: Graziella hat die Mutter früh verloren. Ihr Vater liebt sie und ihren Bruder aufs zärtlichste. Er hat ihnen alles gegeben, was sie nur haben wollten – nur eins -616-
konnte er ihnen nicht geben: seine Zeit. Er steht vor den größten Aufgaben… Es war ihm schrecklich, daß er seine Kinder anderen überlassen mußte, aber er war bereit, das in gewisser Weise zu ändern. Er wollte den Kindern eine zweite Mutter geben, sowie er jetzt die Wahl hinter sich hatte – und nun, bitte, vergegenwärtigen Sie sich, was das heißt, wenn seine Tochter sich in dem Augenblick öffentlich gegen ihn wendet! Sie hat nichts, das sie gegen ihn vorbringen könnte, und wenn sie glaubt, doch etwas zu haben, dann kann es nur ein Mißverständnis sein – und dieses Mißverständnis wird ihr Leben zerstören und das ihres Vaters. Vielleicht interessiert Sie das Schicksal des Vaters nicht, weil Sie zu seinen politischen Gegnern gehören. Aber das Schicksal des Kindes muß Sie erschüttern. Helfen Sie mir, das Kind zu retten!« »Senhora –«, sagte GG, aber er sprach nicht weiter. Alle hörten ein Schluchzen. Es kam aus dem Alkoven. GG trat auf den Vorhang zu. Er schob ihn auf. »Kommt, Kinder«, sagte er. Graziella und Mario traten in das Zimmer. Dem Mädchen liefen die Tränen über das Gesicht. »Ich bin Graziella«, sagte sie. »Mario«, sagte der Junge. Es klang etwas heiser. »Ich denke nicht daran«, sagte Graziella -617-
schluchzend, »etwas gegen Vater zu tun –« »Haben die beiden aus dem Dschungel geholt«, sagte der Chef. »Kerle im Hotel Grande sind Gauner.« Imagina stand wie in einem Traum. »Dann ist das ja ein ungeheuerlicher Betrug!« rief sie aus, »sie müssen irgendein Mädchen aufgegabelt haben, das sie für Graziella ausgeben« – aber dann kam ein ganz anderer Schrecken über sie. »Kinder«, rief sie aus, »was müßt ihr durchgemacht haben!« Sie trat auf die beiden zu. Es drängte sie, die Kinder zu umarmen. Aber sie bezwang sich und unterließ es. »Oh«, sagte Mario, »es war recht interessant.« »Wer sind Sie denn?« fragte Graziella. »Ich heiße Imagina«, sagte sie. »Sie haben gesagt«, brachte Graziella jetzt stockend hervor, »mein Vater wollte – mein Vater wollte uns eine zweite Mutter geben. Kennen Sie die Frau?« »Ja«, sagte Imagina. »Ist sie gut?« fragte Graziella. »Ich glaube, sie bemüht sich, gut zu sein«, sagte Imagina. »Ist sie alt oder jung?« fragte Mario. »So alt wie ich«, sagte Imagina. »Also ist sie jung«, sagte Mario. Vor dem Haus fuhr ein Auto vor, aber das -618-
beachtete keiner. »Ach«, rief Graziella aus, »warum sind Sie es denn nicht?« »Kind«, sagte Imagina, »ich bin es ja!« Einen Augenblick lang hatte Graziella das Gefühl, als drehten sich die Wände des Zimmers um sie. »Vor Ihnen sind wir weggelaufen!« schluchzte sie auf. »Wir wollten keine Stiefmutter!« Imagina schloß die Weinende in ihre Arme. »Kind«, sagte sie, »mein Kind – nur im Märchen sind die Stiefmütter böse. Und man muß nicht auf das hören, was die Leute schwatzen… Ich bin so glücklich, daß ich zwei Kinder wie euch habe!« »Aber ich kann nicht mamã zu dir sagen«, schluchzte Graziella und machte sich wieder los, »das habe ich immer zu meiner toten Mutter gesagt!« »Dann sag doch mãizinha (Mütterchen) zu mir«, sagte Imagina und zog sie von neuem an sich. Da legte ihr Graziella die Arme um den Hals und küßte sie zärtlich. »Mãizinha«, flüsterte Graziella, »mãizinha!« Imagina hielt Mario ihre Hand hin. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, als er sie kräftig schüttelte. Es drängte ihn, etwas zu sagen. Aber mit »Sie« mochte er Imagina nicht anreden, und das Du, das er gern gesagt hätte, brachte er noch nicht über die Lippen. Er fand einen Ausweg. »Könnte man nicht Senhora Delgado -619-
behalten?« fragte er. »Sie war so anständig zu uns. Ich glaube, mit ihr käme man tadellos aus.« »Das wird deinem Vater sehr recht sein«, sagte Imagina, »und ich finde es auch gut. Aber daß du jetzt an sie denkst, das finde ich großartig.« »Kommen Sie sich nicht auch völlig überflüssig vor?« flüsterte der Graf dem Chef und GG zu. Da ging die Tür auf, und der Anwalt sauste wie eine Brandbombe ins Zimmer. Er war auf das zurückgekehrte Taxi mit dem roten Panther gestoßen und hatte sich dahin fahren lassen, wohin der Wagen seinen vorigen Benutzer gebracht hatte. Der Anwalt war auf das Schlimmste gefaßt gewesen. Aber daß er hier die Männer der UTCompany und Imagina mit den beiden Kindern traf, das machte ihn ganz sprachlos. »Telegramm bekommen?« fragte der Chef. »Was für ein Telegramm?« »Habe Ihnen telegraphiert: ›Mit Mario und Graziella in Manaos eingetroffen stop Adresse Pension Lisboa in Flores bei Manaos.‹« »Wann haben Sie das abgeschickt?« »Heute morgen«, sagte der Chef. »Heute früh sind wir von Rio abgeflogen«, sagte der Anwalt. »Hätten Ausgabe für das Telegramm sparen -620-
können«, sagte der Chef. Der Anwalt war in einen Sessel gesunken, als wären ihm die Aufregungen schrecklich in die Glieder gefahren. Aber dann sprang er wieder auf: »Meine Herren«, rief er aus, »wie entlarven wir die Bande morgen abend?«
Der Eiserne Stier von Manaos Auf acht Uhr war die Versammlung angesetzt, sie würde also vor neun nicht beginnen. Trotzdem machten sich die Verschworenen früh auf den Weg, denn es gehörte zu ihrem Plan, unbedingt Plätze in der ersten Reihe unmittelbar vor dem Podium zu bekommen. Schon von weitem war schmetternde Musik zu hören, in der Halle konzertierte also ein Orchester. Aus dem weitgeöffneten Eingang fiel das weiße Licht der Bogenlampen auf die Straße. Sie kamen nicht etwa alle zusammen; das war wohlüberlegt. Zuerst erschien GG mit Mario. Sie schlenderten vorbei, als seien sie auf einem abendlichen Spaziergang, und warfen wie verloren einen Blick in die noch recht leere Halle. Obwohl kein Eintrittsgeld erhoben wurde, standen an dem Haupteingang zwei Männer, und nach der Beschreibung, die der Anwalt gegeben hatte, war unschwer zu erken-621-
nen, daß sie zu den Kerlen gehören mußten, die mit im Salon des Hotels Grande gesessen hatten. Sie hatten offenbar die Aufgabe, die Besucher genau zu mustern, und immer noch waren ihre Hosentaschen auffällig voluminös ausgefüllt. »Sie suchen Imagina«, flüsterte Mario aufgeregt, als sie, am Eingang vorüber, die Straße weitergegangen waren. »Sie hat ihnen gesagt, daß sie Graziella von früher her kennt – wenn sie also eine Schwindlerin bei der Hand haben, die sie als Graziella ausgeben, dann müssen sie fürchten, daß Imagina den Schwindel aufdeckt!« »Ja«, sagte GG, »aber vielleicht warten sie auch auf Figur, denn da sie von ihm nichts weder gesehen noch gehört haben, müssen sie ja im Bilde sein, daß mit ihm irgend etwas nicht stimmt!« Sie kehrten um, als sei ihnen eben eingefallen, es wäre doch ganz lustig, diese Versammlung anzuhören. Sie gingen an den beiden Kerlen vorüber in die Halle. Es waren inzwischen schon mehr Leute gekommen, aber sie fanden eine der ersten Reihen noch frei. Die Musik spielte heftig, und die Scheinwerfer warfen bereits ihr grelles Licht auf das Podium. Als nächster erschien der Chef und setzte sich neben Mario. Er verstand es ausgezeichnet, sich den Anschein zu geben, als kenne er keinen der beiden, ja als sei ihm deren Gegenwart irgendwie lästig. Das brauchte er -622-
noch dazu gar nicht besonders zu spielen, sondern er behielt nur den deutlich abweisenden Gesichtsausdruck des zugeknöpften Engländers, der auch ihm eigen war. Der Graf kam mit Plumpudding, der nach ihrer Verabredung einen riesigen Blumenstrauß trug, der ganz in Seidenpapier eingeschlagen war. Neunauge war noch nicht da. Er hatte den Nachmittag über unendlich viele Aufnahmen von Petronella gemacht, wollte die Negative sofort entwickeln und dann nachkommen. Jetzt strömten die Besucher unaufhörlich und in dichten Massen in die Halle. In dem Gewühl achteten auch die beiden Beobachter nicht auf eine gebückt gehende alte Frau, von deren Gesicht man kaum etwas sah, weil sie ihren Kopf fast ganz in einen schwarzen Spitzenschal gewickelt hatte. Neben ihr ging ein junges Mädchen, das um die Alte sichtlich besorgt war, und mehr als einer der Besucher dachte, die Großmutter hätte auch lieber zu Haus bleiben sollen. Die zwei steuerten auf die beiden Plätze zu, die neben Mario noch frei waren, und so waren sieben der Verschworenen glücklich beisammen, denn daß die angebliche Alte niemand anders war als Imagina, braucht wohl nicht ausdrücklich bemerkt zu werden. Es fehlte der Anwalt. Aber da er nicht zu bewegen gewesen war, sich unkenntlich zu machen, hatten sie es ihm verwehrt, in die Halle zu gehen. Doch Figur hatte ihm zugezwinkert und ihn unter seine Fittiche ge-623-
nommen. Er hatte nämlich bei seinem Erkundigungsgang gestern wohl gesehen, daß in den Raum unter dem zweimannshohen Podium für das Orchester von der Halle aus eine Tür führte und daß dieser unbenutzte Verschlag auch von außen durch eine Tür zugänglich war. Durch die lotste er den Anwalt unter das Podium. Über ihnen dröhnte die Musik. Sie tasteten sich durch das Dunkel bis an die Bretterwand, die den Raum zur Halle hin abschloß, und wenn sie auch nichts weiter sehen konnten, denn an der Wand vor ihnen stiegen ja die Sitzreihen auf, so konnten sie doch alles hören, was sich dort zutrug. Figur fühlte sich in einer großartigen Verfassung: jeder mußte zugeben, daß ohne ihn die ganze Unternehmung elend steckengeblieben wäre. Wenn er damals nicht Graziella und Mario durch seine geschickte, geistesgegenwärtige Erfindung angelockt hätte, dann wären die beiden spurlos im Dschungel verschwunden – und jetzt hatte er auch noch mit der größten Kaltblütigkeit die fremde Dame von diesen Verbrechern weg zu ihnen dirigiert… Die brasilianische Nationalhymne, welche die Kapelle angestimmt hatte, verklang, und einer der Trompeter blies einen schmetternden Tusch. Auf dem Podium erschien Senhor Juan de Ugarte y la Concha. Er hatte einen ausgezeichnet geschnittenen Cutaway an, eine weiße Nelke im Knopfloch, und im selben Augenblick, als er die Mitte des Podiums erreicht -624-
hatte, erloschen die Bogenlampen, welche die Halle erhellten, und nur das Podium lag in dem blendenden Licht der Scheinwerfer. »Brasilianer und Brasilianerinnen«, so begann er seine Rede, und schon die ersten Sätze bewiesen, daß der Mann reden konnte. Es hatten sich gut und gern fünftausend Zuhörer eingefunden, und alle schienen von seinen dahinrollenden Worten gefesselt. Auch der Chef sah zu dem Manne empor. »Kein Wort verstehe ich von dem, was der Kerl redet«, dachte er. »Und wenn GG nicht hier säße, wären wir geliefert. Und wenn GG nicht Figur mitgebracht hätte, dann wären wir auch nicht weitergekommen. Aber wir sind ja noch nicht am Ende. GG muß noch auf das Podium da und den Kerl mattsetzen. Selbstverständlich bringt er auch das noch hin – er bringt eben alles fertig –, ein wahres Glück, daß ich ihn in meinem Team habe…« Das dachte er ohne alle Bitterkeit. Er war innerlich gelöst und fühlte sich wohl. Wie sehr er mit seinem Gedanken recht hatte, daß sie wirklich noch nicht am Ende waren, konnte er nicht ahnen. Jetzt kam der Mann oben auf dem Podium nach einer leidenschaftlichen Verherrlichung des gegenwärtig amtierenden Präsidenten auf Senhor Castaneda zu sprechen. »Senhor Castaneda«, so schmetterte er in die Halle, »will sich um das hohe Amt des Präsidenten bewerben. Das ist sein gutes Recht, das steht jedem Brasilianer frei. Erwarten Sie von mir nicht, -625-
meine Damen und Herren, daß ich hier ein einziges Wort gegen Senhor Castaneda sage. Aber jeder Brasilianer hat die Pflicht, sich den Mann genau anzusehen, der die Geschicke des Landes lenken will – und was über Senhor Castaneda zu sagen ist, das, meine Damen und Herren, werden Sie jetzt von seiner eigenen Tochter hören!« Jäh schwenkten die Scheinwerfer vom Podium weg zu der Tür, von welcher der große Mittelgang auf das Podium führte. Sie ging auf, und während die Musik in einem zarten Piano das eben vielgesungene Lied anstimmte: »Auf den Wassern unsrer Ströme blühen weiße, weiße Rosen«, schritt eine junge Dame den Mittelgang herauf. Die Scheinwerfer begleiteten ihren Weg. Die Zuschauer waren wie in einem Bann. Aller Augen sahen auf die langsam schreitende Gestalt. Graziella hatte sich unwillkürlich erhoben. Mario zog sie wieder auf den Sitz. »Gut gemacht«, dachte der Graf. »Wirklich gekonnt!« Imagina preßte ihre Hände aneinander, um vor hellem Zorn nicht aufzuschreien. »Wenn es schief geht«, dachte der Chef, »wird es schwer sein, Graziella und unsere Dame durch die tobende Menge zu bringen – aber es geht nicht schief.« »Sie ist mindestens vierundzwanzig«, dachte -626-
GG. »Damit ist sie erledigt.« »Sie hat kein gemeines Gesicht«, dachte Graziella. »Ich glaube, sie ist schön. Aber so schön wie Imagina ist sie nicht.« Jetzt stieg das junge Mädchen die Stufen zum Podium empor, – und nun stand sie in dessen Mitte, von den Lichtkegeln umspielt. Sie lächelte etwas, aber nur scheu, und rasendes Händeklatschen, ein wildes Begeisterungsgetrampel und jauchzende Zurufe waren die Antwort. Wie ein Sieger winkte Senhor de Ugarte der Musik zu. Sie spielte einen Tusch, und danach ebbte der Jubel allmählich ab. Der Senhor lauschte ihm wie verzückt nach, und dann, als es wieder ganz still geworden war, sagte er mit einer Stimme, die vor Ergriffenheit fast schmolz: »Senhorita Graziella Castaneda hat das Wort!« In dem Augenblick eilte GG die Stufen zum Podium hinauf. Senhor de Ugarte stutzte: Was war das?! Aber er sah, daß der Herr, der da heraufstürzte, einen riesigen Rosenstrauß in der Hand hielt. Das war zwar im Programm nicht vorgesehen, doch höchst willkommen! Eine plötzliche Huldigung aus dem Publikum, das mußte die Menge zum Kochen bringen! Und schon klatschten die Tausende, als sie die Rosen sahen, und Senhor de Ugarte, oben auf dem Podium, klatschte mit. GG machte vor der jungen Dame eine Verbeugung, und dann überreichte er ihr das ge-627-
waltige Rosenbukett. Sie lächelte ihn an und nahm es. Die Halle dröhnte von donnerndem Beifall. Senhor de Ugarte trat auf GG zu und schüttelte ihm die Hand – wieder tosender Beifall. Aber dann winkte Senhor de Ugarte dem tausendköpfigen Ungeheuer Publikum zu, damit um Stille bittend, und schließlich wurde es auch wieder so ruhig, daß er reden konnte. »Diese Rosen«, rief er in den Saal, »hat Brasilien überreicht, und ich danke dafür im Namen einer Tochter Brasiliens!« »Senhor«, sagte GG sehr laut, »erlauben Sie, daß ich an diese Tochter Brasiliens eine Frage richte?« »Aber selbstverständlich, Senhor«, erwiderte der Spanier. »Senhorita«, sagte GG wieder laut und deutlich, daß jeder ihn verstehen konnte. »Sie sind Graziella Castaneda?« »Gewiß, Senhor«, erwiderte sie fest. »Und Sie sind eine Tochter Senhor Anibal Castanedas und seiner verstorbenen Gattin Isabella Fontes-Lima?« »Ja, Senhor.« »Darf ich Sie fragen, Senhorita, wie alt Sie sind?« Jetzt hatte sich Senhor Ugarte gefaßt. »Kein Gentleman«, schrie er, »fragt eine Dame nach ihrem Alter!« Klatschen, lautes Klatschen. »Den hab’ ich«, dachte Senhor de Ugarte. -628-
»Darf ich die Senhorita auch nicht fragen, wie jung sie ist?« sagte GG heiter, und jetzt erntete er Gelächter und Klatschen. Das junge Mädchen wußte offenbar nicht mehr, was hier eigentlich gespielt wurde. »Ich bin zweiundzwanzig«, rief sie, und ihrer Stimme war anzuhören, daß sie den Tränen nahe war. »Meine Damen und Herren«, rief GG in die Halle, »wie kann diese Dame die Tochter Senhor Anibal Castanedas und seiner Frau Isabella, geborenen Fontes-Lima, sein, wenn die beiden erst vor 14 Jahren geheiratet haben?« »Das ist nicht wahr!« schrie Senhor de Ugarte. »Bitte!« rief GG, zog den dicken Band »Who is who in South-America?« hervor und rief zum Publikum hinab: »Wollen Sie sich überzeugen?« Wildes Geschrei, Gelächter war die Antwort. Das Podium wurde gestürmt, GG hatte das Buch längst nicht mehr in der Hand, es war ihm fortgerissen und die rot angestrichene Stelle von wer weiß wie vielen Leuten gelesen worden. Der Tumult war unbeschreiblich. GG winkte der Kapelle zu und schrie hinauf: »Sinai! Sinai!« Der Kapellmeister begriff, und gleich blies ein Trompeter wie vorhin ein Signal, und es wurde wieder stiller. Aber keiner von den Besuchern saß mehr. Alle standen sie, viele wa-629-
ren bis dicht an das Podium vorgedrungen. »Meine Herrschaften«, rief GG, »diese reizende junge Dame ist leider eine Schwindlerin –« Plötzlich stand die echte Graziella oben neben ihm. »Ich bin Graziella Castaneda«, rief sie, »und ich bitte Sie alle: Glauben Sie mir, mein Vater ist der beste Mann von der Welt!« Dieser echte Aufschrei war so überzeugend, daß ein Beifallklatschen losbrach, gegen welches das erste gar nichts war. In das Gewühl schrie ein Reporter empört: »Deshalb wollte uns die Person kein Interview geben!« Das hörte Imagina, und die Lage völlig beherrschend, rief sie dem Manne zu: »Sofort Presseempfang im Hotel Grande!« Das schwarze Spitzentuch hatte sie abgeworfen. Wie eine Königin stand sie da. Der Reporter stürzte auf sie zu, er nahm ihren Arm, mit der andern Hand faßte er Graziellas Hand, und so zog er die beiden durch das Gewühl der zum Ausgang strömenden aufgeregten Menge. Seine Kollegen sahen das und machten sich hinterher, die Menschen beiseite schiebend, wie sich Schneepflüge ihren Weg bahnen, denn dieses Interview mußten sie alle haben. Der Anwalt, der sich aus seinem Versteck mit Figur bis zu den Verschworenen durchgearbeitet hatte, bohrte sich auch zum Ausgang, denn was der Presse zu sagen war, das war seine Sache. »Los, hinterher!« sagte der Chef. Aber da -630-
sahen sie, daß sie von den merkwürdigen Herren mit den dicken Hosentaschen umstellt waren. Jetzt hatten die Kerle auch noch die Hände in den Taschen, und es war klar, was das bedeutete: sie hatten die Finger am Abzug ihrer Schießeisen. Sie waren bereit, durch die Hosen zu schießen. Damit darüber kein Zweifel entstand, sagte Senhor Juan de Ugarte y la Concha halblaut, aber sehr bestimmt: »Wer sich vorn Fleck rührt, hat freien Eintritt in die Hölle!« »Aber vielleicht dürfen wir uns setzen«, sagte der Graf und tat es. Auch der Chef setzte sich. Sonst bewegte sich in der Gruppe nichts. Die Musiker hatten ihr Podium verlassen, das schöne Mädchen war verschwunden, die letzten Besucher verließen die Halle, und dann schlossen sich die Türen. Einer der beiden Männer, die GG und Mario vorhin am Eingang gesehen hatten, hielt an der Tür Wache. Offenbar war jetzt seine Aufgabe, niemand hereinzulassen. »Meine Herren«, sagte Senhor de Ugarte, »jetzt sind wir unter uns. Jetzt können wir die kleine Angelegenheit zwanglos erledigen.« Er wandte sich an GG. »Ich bin ein man of facts«, sagte er. »Mein Geschäft ist hin. Es war ein sehr gutes Geschäft. Dafür, daß ich unsere hübsche Kleine den Leuten als Graziella Castaneda verkaufte und sie ihre eingelernte Rede abschnurrte, bekam ich eine runde -631-
Summe. Jetzt bekomme ich nichts und sitze auf den Spesen. Aber hin ist hin. Sie haben mir das Geschäft ruiniert – mit wem habe ich übrigens das Vergnügen?« »Peter Geist.« »Angenehm. Meinen Namen kennen Sie. Wie gesagt, ich bin ein man of facts. Sie haben gewonnen, ich habe verloren. Gut. Aber Sie werden verstehen: mein guter Ruf leidet durch eine solche Pleite. Sie darf sich nicht wiederholen. Und sie wird sich nicht wiederholen, wenn allen Leuten klar wird, was es heißt, mit Juan de Ugarte y la Concha anzubinden. Sie sind mir eine Revanche schuldig, Mr. Geist!« »Wollen Sie als Revanche mich und meine Freunde hier umlegen lassen?« fragte GG. Der Herr mit dem kahlen Schädel und dem spanischen Namen lächelte milde. »Ungern, sehr ungern«, sagte er. »Nur, wenn Sie mich durch unzweckmäßiges Verhalten dazu nötigen würden. Ich arbeite fair, Mr. Geist. Ich fordere Sie zu einem Boxkampf auf, Mr. Geist.« »Ich soll mit Ihnen boxen?« »Nicht mit mir, Mr. Geist. Ich bin kein Mann der Faust. Ich bin ein geistiger Arbeiter. Für die grobe Arbeit habe ich meine Leute –« Bewegung an der großen Eingangstür. Sie wurde geöffnet, und der Riesenkerl, den Figur auf zwei Zentner Lebendgewicht geschätzt -632-
hatte, trat ein. Langsam schob er sich durch den Mittelgang zum Podium hin. »Das ist mein Boxer«, sagte der geistige Arbeiter. »Er wird Sie in meinem Auftrag fertigmachen.« Der Koloß war angelangt. »Darf ich die Herren miteinander bekannt machen?« fragte Senhor de Ugarte. »Peter Geist – Ildefonso Chamuscado, besser bekannt als der ›Eiserne Stier von Manaos‹.« Der Eiserne Stier hielt dem Deutschen das hin, was man gemeinhin als Hand bezeichnet, was hier indessen ein unzureichender Ausdruck gewesen wäre. Denn es war eine Pranke von den Ausmaßen einer mittleren Kohlenschaufel. Als GG ihm seine Hand gab, war von ihr nichts mehr zu sehen. Sie war verschwunden wie ein zartes Kaninchen im Rachen eines Tigers. »Wollen sich die Herren, bitte, auf das Podium begeben«, sagte Senhor de Ugarte. »Es ist, Mr. Geist, die Stätte Ihres Triumphes über mich – Sie werden mir nachfühlen können, daß es mir wohltut, wenn es nun der Platz Ihrer Niederlage sein wird und ich Sie auszählen werde. Denn ich werde den Schiedsrichter abgeben. Ich schlage vor: neun Runden. Also bitte!« Der Eiserne Stier von Manaos schritt die Treppe zum Podium hinauf. Die Stufen krachten unter seinen Tritten. GG konnte sich nicht aufraffen, ihm zu folgen. Der Koloß würde ihn -633-
niederschlagen, ohne daß er sich überhaupt nur wehren konnte… Aber GG riß sich zusammen. Er ging zur Treppe. »Um Gottes willen«, dachte der Chef, »wenn ihm der Kerl den rechten Kinnbacken zerschlagen hat, dann wird ihm GG noch seinen linken hinhalten!« »Nein!« schrie Mario außer sich. »Sie dürfen sich nicht abschlachten lassen!« GG ging die Stufen hinauf. »Einen Augenblick, bitte«, rief der Graf. Er war aufgesprungen. »Sie sagten, Sie seien fair«, rief er zu dem glattrasierten Schädel hinauf. »Ich sage es nicht nur, ich bin es!« »Dann müssen Sie auch Dr. Geist das Recht zubilligen, sich in diesem Kampf durch einen andern vertreten zu lassen!« »Selbstverständlich«, antwortete Senhor de Ugarte und grinste zu ihnen herab. »Wenn einer von Ihnen Lust verspürt, an seiner Statt hier oben auf dem Podium zu verröcheln – bitte sehr!« Der Graf sah auf Figur. Auch Plumpudding sah Figur an. Marios Verzweiflung schien zu schwinden – wenn einer von den Männern jetzt den armen Doktor erlösen konnte, dann war es Figur: denn er mit seinen mächtigen Körpermaßen, mit seinen schweren, harten Händen war der einzige, der dem Koloß we-634-
nigstens einigermaßen gewachsen schien. Der Chef blickte nicht auf Figur. Er tastete mit seinen Blicken den Eisernen Stier von Manaos ab. Figurs Kindergesicht war dunkelrot, sein Mund ganz trocken. Er fühlte, wie ihn der Graf und Plumpudding ansahen. Aber er rührte sich nicht. Mit diesem eisernen Bullen da oben – das war sinnlos. Das war gegen den gesunden Menschenverstand. »Der Kerl ist einen halben Zentner schwerer als du«, dachte der Chef…Aber er ist nicht mehr der Jüngste. »Wenn man ihn sich abhetzen läßt, geht ihm vielleicht die Luft aus.« »Da muß GG nun selber sehen, wie er fertig wird«, dachte Figur. »Er heißt ja nicht umsonst Großer Geist. Es wird ihm schon einfallen, wie er sich aus der Schlinge zieht.« »Ich glaube«, dachte der Chef, »der Kerl ist überhaupt nicht in Form. Wie er vorhin den Gang heraufkam, sah es aus, als ob er schnaufen müßte. Und seine Arme sind kürzer als meine.« »Nein, das geht mich nichts an«, dachte Figur. »Es gibt Fälle, da muß jeder sehen, wo er bleibt!« Der Chef zog seinen Rock aus. Er ging auf das Podium. »Fort, Doktor«, sagte er. »Nichts für Sie hier oben!« »Vorwärts, meine Herren«, rief Senhor de Ugarte und begrüßte den hageren Engländer -635-
mit einer verbindlichen Handbewegung, »wir haben schon genug Zeit verloren!« Der Boxkampf zwischen dem Eisernen Stier von Manaos und dem Engländer Stephen Slanton ist nicht in die Geschichte des südamerikanischen Sports eingegangen. Er wäre sechzigtausend Zuschauer wert gewesen, aber nur die wenigen Männer sahen ihn mit an. Er hätte mit Balkenüberschrift auf die erste Seite der Zeitungen gehört, die großen Rundfunkstationen der Erde hätten ihn übertragen müssen, für die sensationshungrigen Besitzer von Fernsehapparaten wäre er ein wahres Fressen gewesen – aber wir wissen ja, daß sich die wirklich bemerkenswerten Vorgänge gewöhnlich ganz unbeachtet abspielen. Der Veranstalter hatte zwar zwei Paar Handschuhe, aber keinen Gong besorgt. So schrie Senhor de Ugarte als Schiedsrichter: »Los!« und klatschte dabei in die Hände. Sofort stürmte der Eiserne Stier gegen den Chef an. Der Engländer schob seine Linke heraus, aber nicht sehr nachdrücklich – da riß der andere die erste Rechte hoch und traf den Chef schwer über dem rechten Auge. Der ging zurück, der Stier war mit zwei schnellen Schritten wieder an ihm, und von neuem traf ihn die Rechte und an derselben Stelle. Der Chef gab zurück, er brachte auch einige harte Treffer an, und jetzt einen schweren Hieb auf die Leber – aber es war, als ob er auf einen Zementblock schlug: an dem Eisernen Stier von -636-
Manaos war keinerlei Wirkung zu sehen. Der Koloß landete eine ganze Serie von Schlägen – bis Senhor de Ugarte halt schrie: die erste Runde war zu Ende. Wie der Blitz war Plumpudding oben auf dem Podium, und der Chef sank auf den Stuhl, den Plumpudding heraufgebracht hatte. Plumpudding trocknete ihm das Blut ab, das ihm von dem zweiten Schlag her am rechten Auge vorbei über, die Backe entlangsickerte. »Es steht gut«, flüsterte Plumpudding ihm zu. »Seine Schläge sind schlimm – aber er keucht dabei.« GG saß unten in der ersten Reihe, leicht vornübergebeugt, die Hände ineinander verflochten. Jeder Schlag, der den Chef traf, war auf ihn gezielt – und wenn sie der Chef ihm nicht abgenommen hätte, läge er jetzt da oben auf den Brettern, zusammengeschlagen und fertig… Der Graf, der sonst immer so heiter seine Spaße anzubringen liebte, sagte nichts. Mario war ganz bleich. »Und wie ist Ihnen zumute, Figur?« – »Der Chef muß schwer einstecken«, sagte er halblaut. »Das kann keiner auf die Dauer aushalten.« Die Herren, die immer noch die Schießeisen parat hielten für den Fall, daß etwa jemand fortrennen sollte, um die Polizei zu holen, waren recht gelassen. Sie hatten schon mehrmals mit angesehen, wie der Eiserne Stier seinen Gegner als elendes Exemplar der Gat-637-
tung Homo sapiens auf den Brettern zurückließ, und so hatte der Verlauf für sie nichts besonders Aufregendes. »Los!« schrie der Schiedsrichter mit dem spiegelblanken Schädel, und wieder preschte der Eiserne Stier gegen den Engländer. Der wich diesmal gleich aus, stellte sich ganz auf Verteidigung ein, und die langen rechten Haken des Angreifers hatten keinen rechten Erfolg, denn seine Reichweite genügte nicht. So hetzte der Chef den Stier herum, immer ausweichend – und plötzlich zog der Chef gewaltige Linkshänder durch, aber der Eiserne Stier duckte sie millimeterscharf nach vorwärts ab, und so kamen die Schläge nicht genau an. »Aus!« schrie der Schiedsrichter, und das Ende der zweiten Runde trennte die beiden, als der Stier gerade alles zu einem neuen Angriff einsetzte. »Chef, es steht nicht schlecht«, flüsterte Plumpudding und fächelte dem Chef mit seinem Taschentuch Luft zu. »Haben Sie gehört: es rasselt, wenn er Luft holt!« – »Verdammt hart im Nehmen«, sagte der Chef. »Sie halten durch, Chef«, sagte Plumpudding. Aber in der dritten Runde geschieht es: Mario sinkt zusammen, beide Hände vor dem Gesicht, der Graf springt auf – der Chef muß auf die Bretter! Der Schiedsrichter ist begeistert. Er zählt geradezu jubelnd: »Eins – zwei –« »Was hab’ ich gesagt?« denkt Figur. »Das -638-
mußte ja kommen!« »Drei – vier – fünf – sechs –« Da steht der Engländer wieder. Er hätte schon bei »zwei« hochkommen können, aber er hat auf den Brettern ganz ruhig gewartet, tiefatmend – und nun stellt er sich dem Eisernen Stier mit herunterhängenden Armen, ohne alle Deckung. Aber im Augenblick, wo der Koloß kommt, reißt der Chef blitzschnell seine Fäuste hoch und schlägt zu – nicht mehr auf den Leib des Gegners, nur immer wieder gegen den Schädel. »Aus!« Jetzt hat einer von den Herren mit den Schießeisen auch für den Stier einen Stuhl auf die Ecke des Podiums gestellt, und etwas wankend geht der Riese darauf zu. »Chef, es steht großartig«, flüstert Plumpudding. »Sie sind noch nicht durch, aber Sie haben ihn, sowahr Sie der einzige Engländer sind, den ich als Ire leiden kann.« Drüben in der andern Ecke redeten zwei Männer heftig auf den angeschlagenen Kämpfer ein. Die Wirkung war unverkennbar, denn als die vierte Runde begann, ging der Stier wie zu Anfang wild los. Aber plötzlich bleibt er in der Mitte des Podiums stehen. Er will sich von dem leichtfüßigeren Engländer nicht wieder in eine Verfolgung locken lassen, die ihm Luft wegnimmt. Der Chef umkreist ihn. Schlagwechsel – aber der Eiserne Stier wehrt nur ab, jedoch der Engländer weiß, weshalb der andere verhält: der Eiserne Stier lauert -639-
nur auf den Augenblick, wo er den vernichtenden Knockout schlagen kann. Er vermag also nicht mehr anzugreifen, er muß Kraft sammeln, – da setzt der Chef eine Finte an, der Eiserne Stier deckt sich rechts unten ab, und im selben Augenblick trifft ihn die gefürchtete Linke des Chefs am Kinn. Der Eiserne Stier bricht zusammen. Er kniet auf dem Podium, sein Kopf hängt nach unten. Senhor de Ugarte erlebt die zweite Enttäuschung dieses Abends. Aber er weiß, daß er hier nicht mehr Partei, sondern Schiedsrichter ist, und mit unbewegter Miene zählt er: »Eins – zwei – drei – vier –« Plumpudding verläßt das Podium. Für ihn ist diese Sache erledigt. Ordentlich und genau, wie er ist, nimmt er den Stuhl mit, auf dem der Chef sich ausgeruht hat. »Fünf – sechs – sieben –« Der Chef steht ruhig da. Er hofft, daß er durch ist – aber er weiß es noch nicht. Er wartet ab. »Acht – neun – zehn – aus!« Der Eiserne Stier von Manaos fällt zur Seite und liegt flach auf dem Rücken. Der Kampf war zu Ende. Senhor Juan de Ugarte y la Concha verneigte sich höflich, aber nur ein wenig vor dem Sieger. »Ein Zufall«, sagte er, »ein Sonntagstreffer, Senhor. Ein Punch, wie er alle zehn Jahre nur einmal vorkommt.« -640-
Aber das ärgerte Plumpudding. »Sie irren, Sir!« rief er zum Podium hinauf. »Ich habe schon hundertmal gesehen, daß Mr. Slanton mit einem linken Haken reinen Tisch macht!« Der Chef kam die Stufen herunter. GG konnte nichts zu ihm sagen. Er hielt ihm stumm die Hand hin. Der Chef drückte sie. »War nicht mehr in Form, der Kerl«, sagte er wie entschuldigend und nahm die Pfeife, die ihm Plumpudding mit Dunhilltabak gestopft hatte. »Außerdem, GG, – Sie haben recht: zuschlagen ist leicht. Nicht zuschlagen, das ist schwer. Ich hätte den armen Hund nicht zertrümmern sollen. Unentschieden – das hätte genügt.« »Chef«, sagte der Graf, »was hätten wir nur ohne Sie gemacht?« Soll man es glauben? Der Chef lächelte. Er lächelte allerdings nur ein ganz klein bißchen – aber er lächelte, denn er hatte das Schönste gehört, das ihm gesagt werden konnte. »Mr. Slanton«, sagte Mario, »Mr. Slanton –« Aber er brachte kein Wort weiter über die Lippen. Der Chef fuhr ihm mit der Hand über das Haar. »Prachtjunge, Mario«, sagte er. »Wirklich – Prachtjunge!« Da rührte sich etwas auf dem Podium. Der Eiserne Stier von Manaos richtete sich mühsam auf. Jetzt stand er auf zwei Beinen, schwankte wohl noch ein wenig, aber er hielt -641-
sich. Er sah stumpf in die leere Halle. Sein Blick suchte nach seinen Leuten – aber sie waren fort. Keiner hatte sich nach ihm auch nur umgesehen. Er zählte nicht mehr. Er stöhnte auf. Dann setzte er sich ächzend auf den einen Stuhl, der noch immer in einer Ecke des Podiums stand. »Ein gestürzter Riese«, sagte der Graf. Die Doppeltür des Haupteingangs flog auf, ein Schwarm Menschen in Zivil und in Uniformen drang herein, an ihrer Spitze der Polizeipräsident. »Was muß ich hören, Senhores!« rief er in die Halle. »Ein unerhörter Betrug! Selbstverständlich habe ich sofort Haftbefehle ergehen lassen!« Jetzt nämlich, nachdem sich herausgestellt hatte, für wen die Sache gut ausgegangen war, hatte er es eilig, sich auf die siegreiche Seite zu schlagen. »Senhores, was kann ich noch für Sie tun?« Sie stellten einander vor. »Herr Präsident«, sagte der Chef, »können Sie nicht für den Mann da oben etwas tun?« Er wies auf das Podium. »Aber das ist doch – der Eiserne Stier von Manaos!« rief der Polizeipräsident aus. »Er ist nicht mehr ganz von Eisen«, sagte der Graf, »er wurde ausgezählt, und Sie wissen, Herr Präsident, ein Boxer, der einmal auf den Brettern gelegen hat, kommt schwer wieder hoch. Aber ich meine, wenn er dem Namen der Stadt so lange so viel Ehre gemacht -642-
hat, dann sollte die Stadt doch auch –« »Aber selbstverständlich«, sagte der geschmeidige Herr, »das verlangt die Ehre der Stadt, und ich versichere Ihnen, meine Herren – um Ihnen zu Diensten zu sein, tue ich alles, was in meinen Kräften steht. Ich hoffe, Sie werden Senhor Castaneda über Ihre Eindrücke in Manaos nur Positives berichten können! Wir werden für den hochverdienten Boxer bestimmt einen Posten finden! Ich meine, in der Uniform eines Kinoportiers machte er sich großartig!« Damit verabschiedete er sich eilig, und im Schwarm seiner Begleiter verschwand auch der einsame Mann, der wieder Anschluß gefunden hatte. »Jetzt können wir wohl endlich nach Hause gehen«, sagte Plumpudding. Aber die Ereignisse des ereignisreichen Abends waren noch nicht am Ende. Als sie nämlich aus der Halle traten, stießen sie auf Neunauge, der gerade zu ihnen wollte. Der helle Schein der Bogenlampen fiel auf ihn, und sie sahen zu ihrem Schrecken, daß er völlig verstört war. »Neunauge, was ist denn?« rief der Graf. »Hast du dir Sorge um uns gemacht? Aber alles ist ausgezeichnet gegangen!« Neunauge machte nur eine unbestimmte Handbewegung. Sie hatten Mühe, ihn zum Reden zu bringen. Doch es dauerte eine Wei-643-
le, bis sie erfuhren, was geschehen war. Er hatte die Aufnahmen Petronellas entwikkelt. Sie waren sehr gut geworden. Die Äffin hatte interessiert zugesehen, wie er die Negative wässerte. Zwischendurch hatte er im Zimmer Ordnung gemacht und überflüssiges Papier zerrissen. Die Äffin hatte wieder interessiert zugesehen, wie er das Papier zerrissen hatte. Dann hatte Neunauge einmal das Zimmer verlassen, und als er wiederkam, da war es geschehen: die Äffin hatte alles Zerreißbare zerrissen, was sie in die Finger hatte bekommen können – alle Negative – »Die Filme mit der Äffin?!« Nein – die nicht. Aber die anderen. Alle die kostbaren Negative und dazu die Filme, die er zum Einpacken geordnet und auf dem Tisch liegen hatte. Alle seine herrlichen Aufnahmen waren unwiederbringlich zerstört… Der Graf nahm als erster das Wort: »Immerhin, Neunauge«, sagte er, »hast du dann wenigstens noch die Aufnahmen von Petronella! Wenn du sie auf ganz großes Format bringen läßt, werden das einzigartige Bilder!« »Herr Graf«, sagte Neunauge erbittert, »diese Negative habe ich selbst zerrissen, die Filme vernichtet. Von diesem Vieh will ich nie wieder etwas sehen. Es wäre besser gewesen, wenn ich überhaupt von ganz Brasilien nie etwas gesehen hätte. Aber Sie, Herr Graf, haben mich leider überredet. Es war das letztemal, Herr Graf. Ich habe schon nach Paris te-644-
legraphiert, Herr Graf, daß ich umgehend zurückkomme. Ich hätte Paris nie verlassen sollen!«
Figurs böse Stunde Figur bummelte durch die lauten Straßen von Rio de Janeiro. Die Geschichte hier war zu Ende. Mario und Graziella waren mit der Dame nach São Paulo geflogen, wo die Kinder zu Hause waren. Morgen würden sie alle nach London fliegen, das heißt Neunauge nur bis Paris, er hatte schon den drei Schwestern samt ihrer Mama telegraphiert, daß sie ihn erwarten sollten. Schluß mit Rio. Figur war allein. Er war nicht in der Stimmung, mit irgendeinem Menschen zu reden. Er hatte seine böse Stunde. Er kannte das. Plötzlich war sie da, und dann faßte er irgendeinen Entschluß, der nicht gut war, mit dem etwas gründlich schief ging. Angefangen hatte das bei ihm damals, als er zwölf Jahre alt war und sein Vater, der ein kleines Geschäft mit Eisen- und Haushaltungswaren hatte, ihn mit einem Hundertmarkschein zum Wechseln wegschickte. Wie er den Schein in der Hand hatte, kam es, wie gesagt, zum ersten Male über ihn. Er ging zum Bahnhof, löste eine Karte nach Hamburg und fuhr los, so wie er ging -645-
und stand, ohne Nachthemd und Zahnbürste. Er wollte mit den hundert Mark nach Amerika. Im Hamburger Hafen schnappten sie ihn. Er war noch im Besitz von 73 Pfennigen. Er hatte eben ausgemachtes Pech. Er kam auf keinen grünen Zweig. Ein unsichtbarer Schuft stellte ihm immer wieder ein Bein, daß er stolpern mußte. Hätte sein Vater nicht den Lehrling mit dem Hundertmarkschein wegschicken können? Dann wäre wahrscheinlich sein ganzes Leben anders geworden. Aber damals fing es an, daß ihm keiner mehr traute… Figur war die Rua Buenos Aires entlanggegangen und auf den Sankt-Anna-Hügel gekommen. Jetzt ging er die Rua General Camara wieder zurück in der Richtung zum Meer. Da sah er mächtige Schaufenster mit Bildplakaten aus aller Welt und dem Modell eines Luxusdampfers. Darüber groß: »Thomas Cook & Son.« Er mußte lachen. »Hier also?« dachte er. Er ging weiter, und in seinem kalten Ärger über sich selbst wärmte er sich an der Vorstellung, wie er mit diesem Reisebüro Cook damals den geheimnisvollen Amerikaner hereingelegt hatte. Das war in Peschawar gewesen, gerade als sie die Abenteuer in Kafiristan hinter sich hatten. Da hatte dieser Amerikaner, von dem niemand wußte, was er eigentlich wollte, ihm ein ganzes Bündel Dollarnoten dafür geboten, -646-
daß er ihm sagte, weshalb sie jetzt nach Rio flögen. Richtig, damals hatte er auch so eine schwarze Stunde gehabt, weil er wieder einmal nachgerechnet hatte, wieviel im Leben ihm schon danebengegangen war… Also da hatte er das Geld genommen, den andern aber schön angeschmiert! Er hatte ihm eingeredet, sie müßten ein Flugzeug im Brasilianischen Dschungel suchen, weil da in der Maschine jemand mit ganz verdammt wichtigen Plänen verschwunden war. Wie der Amerikaner da aufgehorcht hatte! »Wo kann ich Sie in Rio erreichen?« hatte der lange Kerl gefragt. »Durch Cook natürlich«, hatte er geantwortet. »Fragen Sie nach Henry Potter!« Zum Totlachen, nicht wahr? Der hat da vielleicht schon fünfhundertmal vergeblich nach Henry Potter gefragt… Mit einemmal kehrte er um. Es juckte ihn, selbst nach Henry Potter zu fragen. War doch ein Witz, was? Wenn man nicht dann und wann ein ordentliches Glas trank oder einen zünftigen Witz machte, war am Leben überhaupt nichts dran. Er trat in das Reisebüro. Es war ziemlich besucht, lauter Herren übrigens. Er ging an den entsprechenden Schalter. »Nachrichten für Henry Potter?« fragte er. Der Angestellte, den er angeredet hatte, war seinem Aussehen nach ein Brasilianer, aber er sprach natürlich englisch. »Einen Augenblick, bitte«, sagte er und verschwand. -647-
»Nanu –« dachte Figur. Schon war der andere wieder da und übergab ihm einen länglichen, versiegelten Briefumschlag. Darauf stand: »Mr. Henry Potter.« Weiter nichts. Figur nahm ihn. »Danke«, sagte er. »Noch einen Augenblick, bitte«, sagte der Angestellte. »Wollen Sie, bitte, quittieren.« »Schön«, sagte Figur, war aber so verblüfft, daß er nicht »Henry Potter« schrieb, sondern seinen richtigen Namen, Bertram Kunke. »Danke sehr«, sagte der Angestellte, blickte in die rechte Ecke des Raumes vor ihm und zog sich dreimal am rechten Ohrläppchen. Darauf erhob sich von der Lederbank, die dort stand, ein unauffällig gekleideter Mann, der eine Sportmütze trug. Den Briefumschlag in der Hand, verließ Figur das Reisebüro. Eine merkwürdige Sache, nicht wahr? Er hatte Lust, den Brief einfach wegzuwerfen. Was sollte denn das überhaupt? Aber dann blieb er doch stehen und riß ihn auf. Dollarscheine. Donnerwetter! Er sah nach ein paar erklärenden Zeilen. Aber kein Zettel mit irgendeinem Wort. Nur Dollarscheine. Er zählte. Dreihundert Dollar. »Ist es genug?« fragte eine Stimme. Figur sah auf. Ein unauffällig gekleideter Mann mit einer Sportmütze auf dem Kopf stand neben ihm. -648-
»Genug hat man selten«, sagte Figur. Er hatte diesen Menschen noch nie gesehen und wollte weitergehen. Da faßte ihn der Mann unter den Arm, und im selben Augenblick spürte Figur, wie ihn auch am andern Arm jemand einhakte. Wütend wollte er sich losmachen. Aber er fühlte sich wie in einen Schraubstock gezwängt. »Kein Aufsehen«, sagte der mit der Sportmütze. »Das bekommt dir nicht«, sagte der andere. Dessen leichter Hut hatte sich etwas verschoben, und Figur sah auf der Stirn dieses Mannes eine Narbe, deren weiteren Verlauf das Haar bedeckte. Auch diesem Kerl war er noch nie begegnet. So gingen sie zusammen weiter, untergehakt wie die drei besten Freunde der Millionenstadt. »Hör mal gut zu«, sagte der Mann mit der Narbe. »Du hast ganz hübsch gekohlt. Keine Pläne habt ihr in dem Flugzeug gesucht, sondern die Castaneda-Kinder. Wenn das noch einmal vorkommt, dann bist du dran.« Figur war sprachlos. »Hör weiter zu, mein Goldjunge«, sagte der Mann mit der Mütze. »Morgen fliegt ihr ab nach Los Angeles –« »Quatsch«, sagte Figur. »Wir fliegen nach London.« »Du irrst, Liebling«, sagte der Mann mit der Narbe. »Du bist nicht so im Bilde wie unsereins.« »Von Los Angeles geht ihr weiter«, sagte der -649-
Mann mit der Mütze. »Davon weiß ich nichts«, sagte Figur mit verhaltener Wut. »Deshalb wirst du dich danach erkundigen«, sagte der andere, »und paß nun gut auf, mein Herzblatt. Wenn ihr morgen die Flughafensperre passiert, dann stehe ich da und besehe mir die Startbahn, und wenn du an mir vorübergehst, dann sagst du einen schönen Satz. Wenn ihr zum Beispiel von Los Angeles nach Hermosilla wollt, sagst du: ›In Hermosilla wird der Himmel hoffentlich so blau sein wie hier‹, oder wenn ihr nach Diego wolltet, sagst du meinetwegen: ›In Diego hat es sicher lange nicht geregnet.‹« »Vielleicht spucke ich dir statt dessen einfach in die Visage«, sagte Figur. »Warum nicht?« fragte der Mann. »Aber dann werden deine Männer ein Briefchen bekommen. Sie werden erfahren, daß du sie für Geld verpfiffen hast.« »Hier habt ihr euer verdammtes Geld«, sagte Figur. »Ich hab’s gar nicht haben wollen!« »In Peschawar hast du es genommen!« »Das bestreite ich«, sagte Figur heftig. »Das hat keiner gesehen!« »Aber für dieses Geld hier hast du quittiert«, sagte der Mann mit der Narbe. Er hielt ihm die Quittung hin, die er im Reisebüro unterschrieben hatte. Figur mußte schlucken. -650-
»Junge«, sagte der mit der Mütze, »zappeln hilft nichts, du bist im Netz. Das hättest du früher überlegen müssen. Jetzt bist du drin. Also morgen am Flughafen. Wiedersehen!« Sie ließen ihn los und verschwanden. Ganz mechanisch ging Figur weiter. Er war so niedergeschlagen, daß er nicht einmal darauf kam, sich mit einem Fluch Luft zu machen. Aber dieses Netz mußte doch zu durchhauen sein! Er brauchte ja nur GG zu sagen, daß er sich damals in Peschawar mit dem Amerikaner vergaloppiert hatte – nein, das konnte er nicht sagen. Wie stand er denn da? Vor dem Boxer hatte er gekniffen und außerdem noch Informationen über ihre Expedition verkauft? Als Lump stand er da, als Lump… Da war es wieder, sein Pech, sein elendes Pech. Aus einer schiefen Lage kam er in eine andere. Wie machen es nur die anderen Leute, daß sie aus so etwas glatt herauskommen? Er ging und ging durch die Riesenstadt und fand keinen Ausweg. Als er abends in das Hotel kam, lief er gerade GG in den Weg. »Wo steckst du denn, Figur?« fragte er. »Alles hat sich geändert. Die Rückkehr nach London ist abgesagt. Neuer Auftrag – wir fliegen nach Los Angeles.« »So«, sagte Figur. »Aber da bleiben wir nicht, wir müssen nach –« »Ach, das will ich gar nicht wissen«, sagte -651-
Figur. »Du mußt es aber wissen, denn du sollst dann mit Plumpudding als Quartiermacher vorausgehen und auch gleich Burros besorgen. Es geht nach Tombstone.«
Ein Telegramm Als sie am andern Morgen zum Flughafen Santos-Dumont aufbrachen, hatte Figur eine schlimme Nacht hinter sich. Mehr als einmal war er nahe darangewesen, es so zu machen, wie er es in seinem Leben schon mehr als einmal gemacht hatte: alles liegen- und stehenlassen und einfach davongehen, irgendwohin! Man brauchte kein Bett – man konnte auch auf einer Bank schlafen, in einem Schupppen. Er hatte schon in großen Kanalisationsröhren kampiert, die wochenlang dalagen, ehe sie eingebaut wurden. So viel war immer zu verdienen, daß man von heute auf morgen das Essen hatte, und dreihundert Dollar hatte er ja überhaupt in der Tasche! Aber er wußte, daß er sich mit diesen Ausflüchten selbst betrog. Ja, er hatte immer wieder so in den Tag hineingelebt, wenn ihm etwas schief gegangen war, wenn er einen schweren Fehler gemacht oder, wie er sagte, Pech gehabt hatte. Aus einem herumlungern-652-
den Handlanger in den Docks, aus einem Aushelfer in der Hafenkneipe wurde sehr rasch ein verbitterter Mann, der sich mit einem großen Schlag wieder hochbringen wollte – aber wenn man einmal einen krummen Weg gegangen war, mit Kokain in der Tasche oder mit Marihuana, dann war es sehr schwer, je wieder auf eine gerade Straße zu kommen, und alle krummen Wege nehmen eines Tages ein schlimmes Ende. Nach Tombstone. Er war einmal dort gewesen und wußte also, wo die alte Abenteurerstadt lag – in Arizona, nicht weit von der mexikanischen Grenze. Da waren früher ungeheure Vermögen gemacht worden, als es sich noch lohnte, nach Silber zu graben. Aber das Schmuggelgeschäft war immer noch gut. Er kannte auch den berüchtigten Skeleton Canon, die Skelettschlucht, die der hartgesottenste Wildwester nicht bei Dunkelheit passierte. Hier hatte es mehr als eine wilde Schießerei gegeben, deren Tote nicht begraben worden waren. Ihre Gebeine lagen dort noch immer herum, und in der Erde irgendwo sollte ein alter Schatz vergraben sein – Mit einemmal waren alle seine Fluchtgedanken fort. Was, sich so ins Bockshorn jagen zu lassen! »Tombstone« – das hieß »Grabstein«! Der verdammte Kerl sollte nur ruhig an der Sperre stehen – den würde er so hineinlegen, daß ihm keiner etwas anhaben konnte. Er würde ihr eigentliches Reiseziel schon nennen, -653-
aber so, daß es überhaupt nicht zu erkennen war… Als er mit den andern an die Sperre kam, sah er den Mann tatsächlich dort stehen. Aber der hatte jetzt keine Sportmütze auf, sondern eine Kappe wie ein Hoteldiener. Er stand da, als erwarte er Passagiere. Die Maschine, die Neunauge über Dakar – Madrid nach Paris bringen sollte, ging eine Stunde später ab, als die über Port of Spain – Balboa – Mexiko nach Los Angeles. Für sie wurde jetzt abgerufen, und jeder der Scheidenden gab Neunauge noch einmal stumm die Hand. Er blieb an der Sperre stehen, und die andern gingen durch die geöffnete Eisentür. »Also fort mit Schaden«, sagte Figur laut, »in Rio brauchen sie uns keinen Grabstein zu setzen!« Der Mann mit der Hoteldienerkappe verzog keine Miene. Neunauge stand an dem niedrigen Gitter und sah ihnen nach. Sie hatten ein gutes Stück bis zu ihrer Maschine zu gehen. Der Graf drehte sich noch einmal um und winkte ihm zu. Neunauge grüßte nicht ohne Feierlichkeit zurück. Jetzt hatten die Männer schon die fahrbare Treppe erreicht, die zur Tür der Maschine hinaufführte. Offen gestanden: dem armen Neunauge war elend zumut. Da hörte er seinen Namen rufen. Erst glaub-654-
te er, eine Halluzination gehabt zu haben – aber nein, da kam es wieder, und zwar aus dem Lautsprecher des Flughafengebäudes: »Für Senhor Bombardon ist ein Telegramm abgegeben worden! Bitte bemühen Sie sich zum Schalter sieben!« Das wurde immer wieder durchgegeben in Portugiesisch, Englisch und Französisch. Neunauge ging eilig zum Schalter sieben. Er zeigte seinen Flugschein vor, der ja auf seinen Namen ausgestellt war, und erhielt das Telegramm ausgehändigt. Der Hotelboy hatte es gebracht. Neunauge riß es auf. »Herzlich willkommen!« las er. »Wir können es gar nicht mehr erwarten, bis du kommst. Odette. Manon. Angélique. Mama.« Er ließ das Telegramm sinken. Ihm war, als habe er einen heftigen Schlag gegen den Magen bekommen. Odette, das war das Finanzgenie – die würde auf dem Gelde sitzen und ihm sicher das Rauchen abgewöhnen! Manon, das war das Kochgenie – die würde ihn in der Küche überhaupt nichts sagen lassen! Angélique – ja, die war reizend, aber die würde andauernd ins Kino wollen oder in die Operette! Und die Alte hatte auch noch mittelegraphiert! »Mama« – was heißt hier Mama? Sie war seine Mama nicht, aber sie verfügte schon über ihn, als wäre er bereits ihr Schwiegersohn – Er knüllte das Telegramm zusammen und rannte zum Flugzeug. Die Männer vom Bodenpersonal waren dabei, -655-
die Fahrtreppe zurückzuschieben. Die Maschine war schon geschlossen. »Halt! Halt!« schrie Neunauge. Sie hielten inne und sahen ihn heranpreschen. Sie schoben die Treppe wieder an die Maschine, einer stieg rasch hinauf und klopfte heftig an das Glasfenster. Die Tür der Maschine ging noch einmal auf. Neunauge keuchte die Fahrtreppe hinauf. Er stürzte in das Flugzeug. Die Tür flog zu, die Treppe wurde weggerissen, und die Maschine rollte los. »Senhor«, sagte der Chefsteward entgeistert, dem Neunauge seinen Flugschein hinhielt, »Sie wollen nach Paris, aber wir fliegen nach Los Angeles!« »Ich will nicht nach Paris«, sagte Neunauge, »ich will nach Los Angeles.« »Neunauge«, sagte Figur, »dein ganzes Gepäck ist in der Pariser Maschine!« »Meinetwegen«, sagte Neunauge, »jedenfalls bin ich hier richtig.« Er setzte sich in den Sessel neben den Grafen. »Es geht nicht anders, Herr Graf«, sagte er. »Ich kann Sie nicht allein reisen lassen!« »Du hättest mir auch immer gefehlt«, sagte der Graf. »Schön, daß Sie wieder da sind«, sagte GG. »Well«, sagte der Chef. »Alle beisammen.« Plumpudding sagte nichts. Aber aus einer -656-
Aluminiumflasche goß er einen Curacao ein und bot ihn Neunauge an. Das sagte genug. »Tja«, sagte der Graf, »wenn GG nicht nach Cupeja gekommen wäre, dann säßen wir jetzt nicht hier!« »Sie meinen«, sagte GG, »wenn Sie nicht den rettenden Einfall mit den Zauberbildern der Negative gehabt hätten!« »Wenn der Chef nicht den Goliath zusammengeschlagen hätte, dann wären wir auch nicht mehr vollzählig«, sagte Plumpudding. »Wenn Figur nicht die Idee gehabt hätte, uns bei Graziella als Mörder und Diebe auszugeben, wäre alles umsonst gewesen!« sagte GG. »Und was wäre gewesen, wenn Neunauge nicht die Idee gehabt hätte, die Wilden zu photographieren?« fragte der Graf. »Hätte auch nicht geholfen, wenn Plumpudding nicht den richtigen Tropenapparat besorgt hätte«, sagte der Chef. »Ja«, sagte GG, »einer allein wird nicht fertig auf dieser Erde.« »Zusammenhalten«, sagte der Chef. »Zusammen überlegen. Zupacken.« Er sah sich um. Außer ihnen waren keine Fluggäste da, und die Stewards nicht im Passagier-Raum. »Herrschaften«, sagte der Chef, »in Tombstone haben wir folgendes zu erledigen –« -657-
Er entwickelte ihnen den neuen Auftrag und seinen Plan, wie sie ihn bewältigen sollten. Sie legten fest, was als erstes zu geschehen hatte und was danach zu tun war – aber keiner von ihnen konnte voraussehen, daß sie sich dort einer Aufgabe gegenübersehen würden, von der in der Weisung aus London kein einziges Wort stand.
Wort- und Sacherklärungen Adiante, portugiesisch, vorwärts. Aguti ist ein hasen- oder meerschweinähnliches Nagetier Südamerikas. Im Amazonasgebiet kommt vor allem der dunkelgoldfarbige Goldhase vor. Es gibt aber auch einen grünlichschwarzen Azara-Aguti. Alkoven ist eins der vielen Wörter unserer Sprache, die auf das Arabische zurückgehen (wie etwa Admiral, Algebra, Alkohol). Aus dem arabischen al kobba »Gewölbe«, »Nebengemach« wurde das spanische alkoba, daraus französisch alcôve, und aus dem Französischen haben wir es dann übernommen, aber erst im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts. Man versteht darunter eine Bettnische ohne Fenster, die an ein größeres Zimmer angeschlossen ist. In Frankreich ist sie noch heute gebräuchlicher als bei uns. In Schlössern wur-658-
de sie prunkvoll ausgebaut. Amazonas heißt der größte Strom Südamerikas, der auch das größte Stromgebiet der Erde umfaßt. Sein Name geht vielleicht auf das indianische Wort amacunu zurück, das soviel wie »Wasserwolkenlärm« bedeutet und womit die Indianer folgenden Vorgang bezeichnen: besonders zur Zeit der Springflut tritt eine gewaltige Welle auf, die in wenigen Minuten den Fluß zur Fluthöhe aufstaut. In einer Entfernung von 800 km von der Mündung machen sich noch Ebbe und Flut des Meeres bemerkbar. Der gewaltige Strom ist sehr breit, auf lange Strecken nicht weniger als 5 km. Die Mündung hat eine Breite von 250 km; sie ist ein gelbes Süßwassermeer, das während der Ebbe das Meerwasser bis über 200 km weit von der Küste abdrängt. Der Fluß bildet nicht wie sonst die großen Ströme (Nil, Indus, Ganges) eine Deltamündung. Die Gewalt seiner Strömung ist nämlich so stark, daß sie die riesigen Erdmassen, die der Strom mit sich reißt, weit hinausträgt. Die Meeresströmung schafft sie dann nach der Küste von Guayana. Der Fluß ist sehr fischreich. Hier wird auch der riesige Pirarucú-Fisch gefangen (sich diesen). Im amazonischen Tiefland herrscht die üppigste Pflanzenwelt der Erde. Seine Tropenwälder bergen unzählige Kautschuk- und Paranußbäume. Analphabet ist jemand, der weder lesen -659-
noch schreiben kann. Analphabeten sind uns an Beobachtungsgabe, Gedächtnis, innerer Sammlung und oft auch in der Kraft sprachlichen Ausdrucks überlegen. Jeder Fortschritt in der zivilisatorischen und technischen Entwicklung wird durch irgendeinen Nachteil bezahlt. Attraktions-Posten ist ein ungewöhnlicher Ausdruck für eine ungewöhnliche Sache, aber besser ist wohl das englische attraction post nicht wiederzugeben. »Attraktion« heißt Anziehung, und diese vorgeschobenen Posten des brasilianischen Indianerschutzdienstes haben die Aufgabe, die wilden Indianer zu gewinnen, sie an sich zu ziehen. Belém, Hauptstadt und Seehafen des brasilianischen Staates Pará, ist Haupthandelsplatz des Amazonasgebiets. Boom (sprich buhm) ist die englische Bezeichnung für einen plötzlichen Auftrieb im Wirtschaftsleben, wenn etwa durch einen Kriegsausbruch auf einmal die Nachfrage nach Gummi steigt und dadurch im Gummigeschäft sehr hohe Preise zu erzielen sind. Dem Boom haftet etwas Unsolides an – so schnell, wie er gekommen ist, kann er auch wieder verschwinden und den ruinieren, der sein ganzes Geld in ein Boom-Geschäft gesteckt hat. Daher kann Boom auch »Reklame« und »Schwindel« bedeuten. Brasilien hat die Größe von Europa und ist nach Rußland und Britisch-Nordamerika unter den räumlich zusammenhängenden Staaten-660-
gebilden das drittgrößte der Erde und umfaßt beinahe die Hälfte (47,3 %) der Oberfläche Südamerikas: Ursprünglich hieß es Terra de Santa Cruz, Land des Heiligen Kreuzes. Den Namen Brasil verdankt das Land einem Farbholz mit rötlichem Glanz, der einer Feuerglut gleicht. Heute ist Brasilien ein Bund von zwanzig Staaten, fünf Territorien und einem Bundesdistrikt. Erst war es eine portugiesische Kolonie, seit 1822 ein unabhängiges Kaiserreich, und seit dem 15. November 1889 ist es eine Republik. Der Reichtum des Landes an Bodenschätzen, Erzeugnissen der Landwirtschaft und der ungeheuren Wälder ist unvorstellbar groß. Es gehört zu den herrlichsten Ländern unserer Erde. Berühmt ist sein Kaffee und sein Tabak. Da es von Portugal aus besiedelt wurde und lange zu ihm gehörte, ist die Landessprache Portugiesisch. Burro (spanisch), Esel. Ohne den geduldigen, zähen, anspruchslosen Packesel hätten die Gold- und Silbersucher Arizonas gar nicht leben können. Er war ihr treuester Kamerad. Cafard (sprich kaffahr), französisch, »Tropenkoller«, ein Zustand von Niedergeschlagenheit, von Verzweiflung, die sich bis zu Anfällen von Tobsucht steigern kann. Er kann eintreten, wenn der Europäer den Anforderungen des tropischen Klimas nicht mehr gewachsen ist. Catete-Palast, an der Ecke der Rua do Ca-661-
tete und der Rua Silveira Martins, ursprünglich der Palast des Barons von Novo Friburgo, gehört heute der Regierung. Hier tagt das Kabinett der Minister. Auch festliche Empfänge werden hier abgehalten. Chaconne ist ein alter feierlicher Tanz, der früher in Frankreich, Italien und Spanien viel getanzt wurde. Die d-moll-Sonate von Johann Sebastian Bach (1685-1750) enthält eine berühmte Chaconne für eine Geige allein. Sie ist für einen musikalisch geschulten Hörer ein großer Genuß; andere können mit dieser schweren Musik nicht viel anfangen. Chinin wird aus der Rinde der Fieberrindenbäume gewonnen, die im tropischen Südamerika wachsen. Es wirkt hemmend auf die Entwicklung und Vermehrung der Krankheitserreger. Bei Fieberanfällen läßt es das Fieber rasch sinken. Lange Zeit war es für den Europäer in den Tropen unentbehrlich. Heute gibt es auch andere Mittel gegen das gefürchtete Fieber. Cook, Thomas, gründete in London das erste Reisebüro und war der erste, der Gesellschaftsreisen veranstaltete. Das Unternehmen ist sehr groß geworden, und heute findet man seine Geschäftsstellen in allen Erdteilen. Die Firma Cook macht für Reisende, die Geld haben, sozusagen alles: sie besorgt Dolmetscher, Transportmittel, Fahrkarten, wechselt Geld in die Landesmünze um und übernimmt kleine Aufträge. Während des Burenkrieges -662-
(1899-1902) übertrug die britische Regierung dieser Firma sogar den Transport ihrer Truppen nach Südafrika. Curacao ist ein Likör, der aus den entfleischten Schalen von unreifen Pomeranzen hergestellt wird, die von der Insel Curacao stammen. Diacho, portugiesisch, verflucht! Diamant (von dem griech. Wort adamas = unbezwingbar) ist einer der wertvollsten Edelsteine. Vor Millionen von Jahren entstand er unter hohem Druck im flüssigen Gesteinsbrei des Magma, der wahrscheinlich den inneren Kern unserer Erde ausfüllt. Wird der Diamant geschliffen, so wird aus ihm der Brillant. Sein Wert hängt von Farbe, Reinheit, Schnitt und Gewicht ab. Je farbloser er ist, desto wertvoller ist er. Völlig wasserhelle Diamanten heißen »Diamanten vom ersten Wasser«. Wer einmal gesehen hat, wie in einem solchen Diamanten feines Kerzenlicht funkelt und blitzend sich bricht, wird es nie wieder vergessen. Man wiegt den Diamanten nach Karat. Dieses Wort kommt von dem arabischen kirat, das »Samenkorn des Johannisbrotbaums« bedeutet. Ein Gramm ist gleich fünf Karat. Der Kohinoor (persisch, »Berg des Lichts«), heute im britischen Kronschatz, wiegt 106 Karat, der größte brasilianische Diamant, der Südstern, 125. Ihr Wert geht in die Millionen. Diamanten werden entweder in bergbaumäßigen Betrieben gewonnen (z. B. in Kimberley, Südafrika) oder, -663-
wie in Brasilien, aus Flußsand gewaschen oder aus dem Flußgrund gegraben. Es ist eine mühselige, den Menschen zerstörende Arbeit. Für den brasilianischen Diamantensucher gibt es ungeschriebene Gesetze: hat jemand mit Graben begonnen, so darf in einem Umkreis von drei Metern im Halbmesser kein anderer graben; hat er Geröll aus dem Fluß geschafft und es fällt Regen, so darf sich keiner an dem Geröllhaufen zu schaffen machen, denn der Regen könnte einen Diamanten freiwaschen. Eine angefangene Fundstelle verfällt erst drei Monate, nachdem der Diamantensucher sie verlassen hat. Wer gegen diese Regeln verstößt, muß damit rechnen, daß er niedergeschossen wird. »Durchschnittlich«, so sagt der Fachmann, »bringt das Diamantsuchen kaum mehr als irgendein fleißig betriebenes Handwerk oder Geschäft«. Aber jeder Diamantsucher rechnet mit einem besonderen Glücksfund, der ihn zum reichen Mann macht, wie jeder Lotteriespieler auf das große Los wartet. Der größte Diamant, der bisher auf den Markt kam, der 700 karätige Hoey-RiverStein, wurde im Dezember 1952 für etwa 1,8 Millionen Mark in London verkauft. Gern hätten die Menschen den wertvollen Edelstein künstlich hergestellt, aber das mißlang immer wieder. Im Jahre 1952 lockte ein Deutscher verschiedenen angesehenen Herrschaften insgesamt eine Million Mark aus der -664-
Tasche, da er behauptete, künstliche Diamanten herstellen zu können. Die Geldgeber mußten aber erfahren, daß er zu geschickt, nämlich ein Schwindler war, der sie um das Geld betrogen hatte. Im Jahre 1955 stand in den Zeitungen, das größte Unternehmen der amerikanischen Elektroindustrie, die General Electric Company (sprich dschénerel ilektrik kámpni) habe aus Kohlenstoff Diamantsplitterchen hergestellt. Dazu sollen ein Druck von 100 Atmosphären und eine Temperatur von 1900 Grad nötig gewesen sein. Diese Splitterchen könnten wegen ihrer Härte für Werkzeuge gebraucht werden. Reine, große Diamanten zu gewinnen, wie sie für Schmuckstücke geschätzt sind, dürfte auf künstlichem Wege nach wie vor kaum möglich sein. Dublin (altirisches Wort, das »Schwarzes Wasser« bedeutet) ist der Name der Hauptstadt von Irland. Die Iren haben lange um ihre Unabhängigkeit von England kämpfen müssen; noch in den Jahren 1922/23 fand ein erbitterter Bürgerkrieg statt. Eldorado ist spanisch und heißt wörtlich »Der Vergoldete«. Als die europäischen Entdecker nach Südamerika kamen, hörten sie von einem Lande, in dem der König jeden Morgen gesalbt und dann aus langen Blasrohren mit Goldstaub beblasen würde. Das Gerücht geht auf einen Brauch der ChibchaIndianer zurück, die in Kolumbien wohnten und deren Häuptling, am ganzen Körper mit -665-
Goldstaub bestreut, an einem Tag des Jahres auf einen heiligen See hinausfuhr, dort opferte und dann den Goldstaub im Wasser des Sees abwusch. Die Legende veranlaßte jahrhundertelang immer wieder Abenteurer, das märchenhafte Goldland zu suchen, und noch heute bezeichnet Dorado einen ersehnten, glücklichen Aufenthalt. Epiphyten, aus griechisch epi = »auf« und phyton = »Pflanze«, sind Pflanzen, die nicht im Boden wurzeln, sondern auf anderen Pflanzen keimen. Sie bewohnen diese anderen Pflanzen aber nur oberflächlich; sie dringen mit ihren Wurzeln nicht in deren Gewebe ein und entziehen ihnen keine Nahrungssäfte. Sie sind also keine Schmarotzer. Ihre Samen verbreiten sich durch Tiere oder Wind. Zu ihnen rechnen Farne und Orchideen. Sie brauchen zum Gedeihen die von Wasserdampf erfüllte Luft der Dschungel. Estrangeiro, portugiesisch, Fremder. Facao, portugiesisch, Buschmesser. Fair (sprich fär), ein fast unübersetzbares englisches Wort für einen der wichtigsten Begriffe im Zusammenleben von Menschen. Man könnte es mit »angemessen« wiedergeben, mit »ehrlich«, »anständig«, »ritterlich«, »unparteiisch«. »Fair play« heißt »ehrliches Spiel«, »unparteiische Behandlung«. Wer fair handelt, hält sich an die Spielregeln, auch wenn er selbst dadurch in Nachteile kommt. Im Grunde ist damit die Haltung eines Men-666-
schen gemeint, der im Wettkampf des Lebens zwar gewinnen will, aber nicht durch Rücksichtslosigkeit oder faule Kniffe, und der den Sieg neidlos dem Tüchtigeren zufallen sieht. Flußochse oder Ochsenfisch ist die brasilianische Bezeichnung für den Lamantin, der in die größere Gruppe der »Sirenen« gehört und dessen Kusinen die Seekühe sind. Sein wissenschaftlicher Name ist Manatus australis. Den ersten genaueren Bericht über das ebenso gewaltige wie harmlose Tier gab der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt. Die Heimat der Tiere ist das Meer, aber sie steigen in Flüssen aufwärts, und bei Überschwemmungen wandern sie auch in Seen und Sümpfe. Heute sind sie im Meer ausgerottet, wohl aber finden sie sich noch im Amazonasstrom, im Orinoko und in deren Zuflüssen. Großgrundbesitzer. In den Staaten Südamerikas ist der Gegensatz zwischen Reich und Arm sehr schroff. Der Boden ist oft im Besitz von Großgrundbesitzern, die ihre Machtstellung dazu auszunutzen suchen, sich auch im Staatsleben Vorteile zu verschaffen. Dadurch kommt es dort häufig zu Revolutionen, bei denen es vor allem um die Besetzung der einträglichen und einflußreichen Stellen im Staat geht. Guarani heißt ein südamerikanischer Indianerstamm aus der Gruppe der Tupi. Halluzinationen (lateinisch hallucinatio = »Träumerei«) sind Sinnestäuschungen. Man -667-
glaubt etwas zu sehen, zu hören oder zu riechen, das tatsächlich nicht vorhanden ist. Wie diese Täuschungen zustande kommen, ist noch nicht geklärt. Jacaranda heißt der Baum, der das prachtvollste aller brasilianischen Hölzer liefert (Palisander). Es gibt mehrere Arten: das rosa Jacaranda, rosenfarbig und sehr widerstandsfähig gegen Feuchtigkeit, und das »lebhaft rosenfarbige«, das dunkle Adern hat. Brasiliens Reichtum an diesen kostbaren Bäumen ist unvorstellbar groß. Ironisch ist es, wenn ich einen notorischen Faulpelz fleißig wie eine Ameise nenne oder wenn ich jemand, der mir grob gekommen ist, für seine Liebenswürdigkeit danke. Ironie ist ein durchsichtiger Spott, der scheinbar zustimmt, in Wirklichkeit aber den andern kritisiert. Sie setzt geistige Überlegenheit voraus und Freude am spielerischen Wort. Sie nimmt nicht den Holzhammer, sondern das elegante, spitze Florett. Es gibt auch Selbstironie, bei der jemand sich selbst zu verspotten versteht. Das griechische Wort, auf das »Ironie« zurückgeht, bedeutet »Verstellung«. Juvia oder Almendron, brasilianische Kastanie, heißt einer der großartigsten Bäume der Neuen Welt. Sein wissenschaftlicher Name ist Bertholletia excelsa und Bertholletia nobilis. Die Bäume werden bis zu fünfzig Meter hoch, ihre Früchte sind kinderkopfgroß und liefern die Paranuß oder Brasilnuß. Vom achten Le-668-
bensjahr an trägt der Baum, aber erst vom zwölften an wird er ertragreich. Die einzelne Frucht enthält fünfzehn bis zwanzig Nüsse, ein Arbeiter kann täglich bis zu zwei Hektoliter sammeln, da er die Früchte nur vom Boden aufliest. Es gibt Bäume, die pro Tag etwa fünfhundert Liter Nüsse liefern. Diese geben fünfzig bis sechzig Prozent Öl. Es wird als Ersatz für Olivenöl verwandt, für Seifensiederei, zur Herstellung von Arzneimitteln, in der Beleuchtungsindustrie und zur Herstellung von Schmiermitteln für empfindliche Maschinen. Paranüsse sind sehr gesund: vierzehn Gramm enthalten so viel Kalorien wie 104 Gramm europäischer Nüsse, 159 Gramm Äpfel, 205 Gramm Apfelsinen, 232 Gramm Ananas oder 294 Gramm Bananen. Kalebasse, von dem spanischen Wort calabaza, bezeichnet die Frucht des Flaschenkürbisses (Lagenaria vulgaris). Sie hat bei der Entwicklung der Töpferkunst eine besondere Rolle gespielt: vorgeschichtliche Gefäße, zum Beispiel aus der Jungsteinzeit, sind offenbar nach ihrem Vorbild geformt worden. Die Naturvölker benutzen noch heute die hohlen Kürbisse als Gefäße und formen nach deren Muster ihre Krüge. Karnauba ist der indianische Name für die brasilianische Wachspalme, die als die schönste Palme der Welt gilt. Der majestätische Baum bedeckt große Flächen in den Niederungen der Flußufer. Die Palme liefert eine vor-669-
zügliche Faser, aber ihr eigentlicher Wert liegt in dem Wachsstaub, der sich auf der Rückseite ihrer Palmenblätter als feines Pulver befindet. Man schätzt die Zahl der Karnauba-Palmen in Brasilien auf etwa achtzig Millionen. Das Wachs wird vielfach verwendet: es wird dem Paraffin und dem Stearin zugesetzt, es wird bei der Herstellung von Fußböden, Möbeln, Leder und Autos gebraucht, von Farben und Tinten, Firnissen und Lacken, von Grammophonplatten und für Explosivstoffe, auch zur Herstellung von elektrischem Isoliermaterial. Kassave oder Araruta, Manihot (indianisch), Pfeilwurzel, ist der Name des Maniokastrauchs, dessen Knollenwurzeln in Afrika, im tropischen Amerika, aber auch auf Java zu Mehl verarbeitet werden. Die Wurzeln enthalten Blausäure, ein Gift. Deshalb müssen sie erst gekocht oder geröstet werden. Katarakt, aus dem Griechischen = Wasserfall, Stromschnelle. Diese Katarakte erschweren die Schiffahrt auf den Flüssen Amerikas und Afrikas außerordentlich. Berühmt sind die sechs Katarakte des Nils, deren jeder eine Schnellenstrecke von 10 bis 75 km bildet. Die Kirche des Armen Teufels, Igreja do Pobre Diabo, liegt zwischen Manaos und Flores und gehört zu den vielbesuchten Sehenswürdigkeiten. Kokain ist ein Rauschgift, das aus den Blättern der Kokapflanze gewonnen wird, die in -670-
Südamerika angebaut wird, neuerdings auch in Java, in Britisch-Indien, Sumatra und Madura. Die Eingeborenen kauen die Blätter, deren Gehalt Ermüdung nimmt. Kokain, ein weißes Pulver, gibt ein Gefühl von Leichtigkeit und steigert die Funktionen des Gehirns. Deshalb verwendet es der Arzt in ganz geringen Mengen bei manchen Krankheiten. Wer es aber als Rauschgift gebraucht, der erlebt in kurzer Zeit einen schrecklichen Verfall: er kann nicht mehr schlafen, er verliert sein Gedächtnis und alle Willenskraft, sein Geist verwirrt sich, er leidet schließlich an Verfolgungswahn. Deshalb ist der freie Verkauf von Kokain verboten; nur gegen ein ärztliches Rezept ist es in Apotheken zu bekommen. Verbrecher aber handeln heimlich mit dem »weißen Gift« und werden dafür, wenn sie ertappt werden, mit Recht schwer bestraft. Kreditbrief ist eine Anweisung an eine Bank, dem Inhaber dieses Ausweises eine bestimmte Geldsumme ganz oder in Teilbeträgen auszuzahlen. Kreisler, Fritz, Geigenvirtuose und Komponist, geb. 1875. Er war der Sohn eines jüdischen Armenarztes, der mit seiner Familie aus Galizien in Wien eingewandert war. Fritz Kreisler wurde katholisch getauft und von Jesuiten erzogen. Seit 1915 lebte er in Amerika und wurde dort als Geiger sehr gefeiert. Für seine Konzerte nahm er an dreihundert Tagen im Jahr durchschnittlich 2000 Dollar ein, hatte -671-
selbst aber gar kein Verständnis für Geldfragen, die er seiner Frau überließ. Er hatte ein unfehlbares Gehör: bei Autofahrten hörte er die Geschwindigkeit des Wagens aus der Tonhöhe des Motors. Als in einem Laboratorium Moskitos, die mit Malariagift angesteckt worden waren, aus Versehen mit anderen Mücken vermischt worden waren, konnte Kreisler sie nach der Tonhöhe ihres Summens scheiden. Kurare, das Pfeilgift der südamerikanischen Indianer, das sie selbst Urari nennen, enthält vor allem Strychnin, und dieses Gift hat die Eigenschaft, daß es die Nervenenden in den Muskeln lähmt. Dadurch kann sich das getroffene Wild nicht mehr bewegen; ergreift das Gift die Atemmuskeln, so werden auch sie gelähmt und führen den Tod herbei. Alle Gifte aber sind auch zugleich Heilmittel. Die Medizin lehrt: »Dosis facit venenum«, das heißt: »Nur die Menge macht das Gift aus.« In der Hand des Arztes, der es behutsam verwendet, kann es zur Wohltat werden. So kann man lähmende Gifte verwenden, um Krämpfe zu lindern. Neuerdings wird versucht, das Kurare-Gift vorbeugend gegen Kinderlähmung zu gebrauchen; ob sich das bewährt, muß noch abgewartet werden. Lefaucheux ist ein französischer Büchsenmacher, der um 1833 ein Jagdgewehr konstruierte, das in Frankreich immer noch gebraucht wird. Das Lancastergewehr, das später entwickelt wurde, ist ein sogenanntes Zen-672-
tralfeuergewehr, bei dem eine zentrale Zündung stattfindet, da das Zündhütchen in der Mitte des Patronenbodens angebracht ist. Ein Repetiergewehr gibt so viele Schüsse her, wie sein Magazin faßt. Mauser ist ein deutscher Gewehrtechniker (gest. 1914), dessen Gewehre und Pistolen überall in der Welt benutzt wurden. Lichtjahr bezeichnet ein astronomisches Längenmaß für eine Strecke, die das Licht, das in einer Sekunde rund 300.000 km zurücklegt, während eines Jahres durchläuft. Madame est servie (sprich madam ä ßerwih) heißt: »Gnädige Frau [… hier fehlen fünf Seiten des Originalbuchs] Santos-Dumont, nach dem der Landflughafen von Rio de Janeiro heißt, war ein brasilianischer Luftschiffer. Er lebte von 1873 bis 1932. Er umflog als erster in einem Luftschiff am 21. Oktober 1901 den Eiffelturm. Später widmete er sich der Entwicklung der Flugzeuge. Am 23. Oktober 1906 vollbrachte er den ersten Flug von 50 Meter Länge, der von einer Sportbehörde beglaubigt wurde. Sao Paulo ist die Hauptstadt des gleichnamigen brasilianischen Staates und die zweitgrößte Stadt Brasiliens. Sie wurde 15 54 als Jesuitenmission gegründet. Düster ist ihre Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert – da gingen von ihr die schrecklichen Streifzüge der brasilianischen Waldläufer aus, der sogenannten Bandeirantes, die in die Urwälder zogen, -673-
um Indianer zu fangen, die dann als Sklaven verkauft wurden. An diesen grausamen Unternehmungen waren vor allem die Mamelucos beteiligt, Mischlinge zwischen Indianern und Weißen. Heute ist die Stadt ein Mittelpunkt wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, der Hauptsitz des brasilianischen Kaffeehandels, und Zentrum der Industrie. Sauso ist ein heckenartiger Busch, dessen wissenschaftlicher Name Hermesia castaneifolia ist. Sertão, portugiesisch, Wald, Wildnis, unerforschtes Inneres. Zum Sertão gehören die Cerradas des Südwestens Brasiliens, die grasbewachsenen Hochebenen, aber auch die ungeheuren Palmenwälder, die Öl und Kautschuk liefern, und dann gibt es noch den Sertão bruto – den unbetretenen Urwald. Sim, portugiesisch, ja. Smith-Wesson ist eine amerikanische Waffenfabrik, die vor allem durch ihre Pistolen bekannt wurde. Fachleute versichern, die deutsche Mauser-Pistole sei noch besser als eine Smith-Wesson. State Department (sprich steht dipartment) ist der Name des Auswärtigen Amtes der Vereinigten Staaten von Amerika. Das Auswärtige Amt eines Landes führt die Verhandlungen mit den fremden Staaten. Stewardeß (sprich stjuardeß) ist heute ein begehrter Beruf bei den Fluggesellschaften. -674-
Sie hat für das Wohl der Fluggäste zu sorgen. Ursprünglich ist der Steward (sprich stjuart) der Kellner auf einem Seedampfer, der Personen befördert. Sumauma. Seilbaum, einer der größten Riesen des brasilianischen Urwaldes, wird von den Indianern »Mutter der Bäume« genannt. Höhe über sechzig Meter, Umfang über dreißig Meter, Durchmesser etwa acht Meter. Er hat haushohe Nischenwurzeln und sehr leichtes weißliches Holz. Aus ihm macht man Flöße und Kugeln und Zellulose. Seine Samen sind von einer vorzüglichen Wolle umgeben, die wir mit einem sudanesischen Wort »Kapok« nennen, die Brasilianer aber »Paina«. Es ist das Wertvollste, das man aus dem Baum gewinnt. Teakholz (sprich tihk), englisches Wort aus dem Malabarischen, bezeichnet Holz eines asiatischen Baumes Tectona grandis, das sehr fest und dem Insektenfraß kaum ausgesetzt ist. The Times (sprich taims), englisch »Die Zeiten«, heißt eine sehr angesehene englische Zeitung. Unter ihrem heutigen Namen erscheint sie seit 1788. Sie tritt energisch für die Interessen Großbritanniens ein, ist aber von der Regierung unabhängig und verschmäht die Sensationsmeldung. Daher ist ihre Auflage nicht so groß wie die der Millionenblätter, aber was sie sagt, hat Gewicht und wird in der ganzen Welt beachtet. Die Zeitung ist stolz darauf, noch nie eine Nachricht ge-675-
bracht zu haben, die auf einem Gerücht beruhte. Sie ändert auch die feststehende Einteilung ihrer Seiten Tagesereignissen zuliebe nicht: als Stalin starb, brachten das alle anderen Zeitungen der Erde auf der ersten Seite – die Times aber auf Seite 8. Tupi ist eine sprachverwandte Gruppe südamerikanischer Indianerstämme. Die Träger dieser Sprachen waren den ihnen benachbarten Völkern kulturell überlegen, und so dehnte sich die Tupi-Sprache auch über Gebiete aus, in denen keine Tupi wohnten. Die Tupisprache lieferte den Hauptbestandteil der allgemeinen Verkehrssprache lingua geral, welche die katholischen Missionare schufen. Wanten heißen bei einem Segelschiff die Taue, welche die Masten nach den Seiten hin versteifen. Je zwei Wanten sind durch sogenannte Webeleinen quer miteinander verbunden, so daß eine Art Strickleiter entsteht, auf der die Matrosen nach oben klettern. Who is who (sprich hu is hu), englisch, »Wer ist wer?« ist der Titel von Nachschlagewerken, aus denen man näheres über die Zeitgenossen erfährt, die in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen.
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