1
Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Science Fiction Spezial
Visionen 9
'Visionen' ist eine kostenlose Science Fiction Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Visionen 9 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
2
Inhalt Cover von Marco Vernaglione Reale Welt
5
von Gabi Mosthaf Was geschah in jener Nacht wirklich mit dem "Spinner Jessup"? Einige glauben es zu wissen...
Geburt
8
von Max-Leonhard von Schaper 'Stille. Leere. Unendlichkeit. Ein Planet in der Weite des Alls. Ein Wanderer ohne Sonne. Er ist kalt...
Eine Frage des Alters
9
von Thomas Kohlschmidt Wenn Du zum Relikt wirst! Ein böses Erwachen...
Das hermetische Raumschiff
11
von Ulrike Nolte Wissenschaft und Magie treffen aufeinander: In der Welt von „Alchemical.com“ gibt es eine besondere Art der Energiegewinnung...
Die Koraa
17
von Ralf Streitbörger Sie sind Wanderer zwischen den Welten. Nach Jahrmillionen kehren sie zurück an einen alten abgelegenen Futterplatz und machen dort eine seltsame Entdeckung.
Der Automat
21
von Ralf Streitbörger In ferner Zeit gehören Kneipenschlägereien der Vergangenheit an. Grund ist eine völlig neue Art von Spielautomaten. Das jüngste Modell entwickelt jedoch ein unheilsames Eigenleben...
Sind Sie ein Mensch?
24
von Harald Schönknecht Martin irrt schon lange durch das All. Seine Lebensgeschichte ist seltsamer, als man zunächst glaubt...
Königin der Amazonen
31
von Kerstin Dirks Corven Detroit - ein Macho, wie er im Bilderbuch steht - verschlägt es nach einem Zeitreiseexperiment in ein fremdes Land, welches von einem wilden Frauenstamm beherrscht wird. Wird es Corven gelingen, sich gegen die Amazonen zu behaupten oder wird ihre Königin seinen Willen brechen?
Kalkuliertes Risiko von Petra Vennekohl 3
36
Ron lässt sich erwischen, um in eine Hochsicherheitszelle gesperrt zu werden. Dort kommt niemand raus und auch niemand hinein. Denkt er ...
Das globale Gewissen von Stephan Schneider Eines Tages entsteht ein neues Bewusstsein. Dann ist der Mensch nicht länger der Beherrscher dieses Planeten!
4
39
Reale Welt von Gabi Mosthaf
Was geschah in jener Nacht wirklich mit dem "Spinner Jessup"? Einige glauben es zu wissen...
Behäbig rollte der alte Pickup durch die lautlose Nacht. Die Scheinwerfer schnitten scharfe Lichtkegel in die Finsternis, die über der Wüste New Mexikos lag. Eigentlich hatte Jessup kein richtiges Ziel. Vor ungefähr 2 Meilen war er von der Straße abgebogen und holperte nun über das unwegsame Gelände immer weiter in die Einöde hinein. Die Stossdämpfer des 76er Baujahrs quittierten dies mit protestie-rendem Ächzen. Diese Nacht würde etwas passieren. Er hatte es irgendwie im Gefühl. An der richti-gen Stelle, von der er allerdings noch nicht den blassesten Schimmer hatte, wo und wie sie zu finden war, würde er anhalten, sein Teleskop aufbauen und warten. Warten auf ein Zeichen, warten auf die Bestätigung seiner Theorie. Und dann konnten sich alle Lästerer auf was gefasst machen; alle, die ihn auslach-ten, ihn als Phantasten bezeichnet hatten. Schon von Kindheit an hatte Jessup alles, was von Aliens und UFO- Sichtungen handelte, regelrecht verschlungen. Die Vorstellung nicht allein im Universum zu sein, faszinierte ihn bis aufs Äußerste. Sein Vater war der Erste, der ihn für einen Spinner gehalten hatte. „Anstatt dir dau-ernd diesen Unsinn reinzuziehen, solltest du dir lieber ein paar Freunde suchen. Warum spielst du nicht Baseball oder Football, wie andere normale Jungs auch?“ Die Worte seines Vaters klangen immer wieder in seinen Ohren. Aber damals wie heute kümmerte Jessup die Meinung seines Vaters nicht. Hervorragende Leistungen in der Schule hinderten seinen Vater daran, irgendein Verbot für Jessups Lieblingslektüre auszusprechen. Wie hätte er dies begründen sollen? Nur damit, dass sein Sohn nicht draußen mit anderen Kindern spielte, ein Eigenbrödler war? Nein, so gerecht war Jessups Vater noch, dass er daraus dem Jungen keinen Strick drehte. Jessup kurbelte das Fenster herunter und warf einen kritischen Blick in den Nacht-himmel, während er versuchte, den bockigen Wagen in einer halbwegs beständigen Linie zu halten. Dort oben war das Geheimnis, ein Geheimnis, dass ihn von jeher zu einem Außenseiter gemacht hatte. Auch an der Universität, wo er jetzt Astronomie und Raumfahrttechnik studierte, um seinen Zielen so nah wie möglich zu sein, hatte er kaum Kontakte außerhalb der Vorlesungen. Einmal hatte er geglaubt, ein Mädchen gefunden zu haben, dem er sich anvertrauen konnte. Sie war die Einzige, der er zu Beginn seines Studiums von seiner Leiden-schaft erzählt hatte. Was, wie sich schon am nächsten Tag herausstellte, ein Fehler gewesen war. Auf seinen UniSpind hatte jemand mit Sprühfarbe Flash Gordon ge-schmiert und er wurde mit e- mails bombardiert, „die er bitte an E.T. weiterleiten sollte“. Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer und es dauerte eine ganze Weile, bis ihm nicht mehr Bemerkungen wie „Was machen die Marsmenschen?“ und „Hey, Darth Vader!“ hinterher gerufen wurden. Seitdem hatte er sich noch mehr zurückgezogen und fiel höchstens durch seine sehr guten Studienleistungen auf. Und somit wusste auch niemand, das er schon seit etlichen Monaten, an jedem Wo-chenende, jede Nacht in die Wüste fuhr, weil dort der Sternenhimmel am besten zu beobachten war. Was war das? Jessup trat die Bremse bis zum Anschlag durch, so das der Pickup mit einem harten Ruck zum Stehen kam. 5
Angestrengt starrte Jessup durch die Windschutzscheibe. Ein kurzes, enthusiasti-sches „Ja!“ kam über seine Lippen und er schlug mit beiden Händen auf das Lenk-rad. Nach einem kurzen Moment der Bewegungsunfähigkeit, ausgelöst von dieser überraschenden Entdeckung, riss er die Türe auf, sprang aus dem Wagen und lief nach hinten, um auf die Ladefläche zu klettern. Während er eine alte Decke zurückschlug und hektisch das, darunter liegende, Stativ für das Teleskop zusammen schraubte, warf er immer wieder Blicke nach vorne. Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Ein Flugzeug? Nein, Positionslichter eines Flugzeugs blinkten regelmäßig. Diese Lichter hatten einen unregelmäßigen Rhythmus und waren, obwohl noch weit entfernt, schon viel zu hell für ein Flugzeug. Ein Hubschrauber mit Suchscheinwerfern? Was sollte der hier suchen und warum blendeten die Scheinwerfer stetig auf und ab? Nein, es musste etwas anderes sein, etwas, was wohlmöglich nicht von dieser Welt kam. Das Stativ war fertig zusammengebaut und er befestigte das Teleskop darauf. „Du Idiot! Die Videokamera! Das Wichtigste liegt immer noch auf dem Beifahrersitz.“ Laut mit sich selbst schimpfend, schwang sich Jessup von der Ladefläche. Wobei er mit dem Fuß hängen blieb und sich unsanft auf die Nase legte. Aber er ignorierte die aufkeimenden Schmerzen an seinen Knien, seiner linken Schulter und seinem Ge-sicht, rappelte sich sofort wieder auf und stürzte zur Beifahrertür. Der digitale Cam-corder war sein Schmuckstück. Nicht so ein albernes Ding, mit denen Familienväter ihre Urlaubserlebnisse festhielten. Diese Kamera hatte viele Finessen, darunter z.B. ein Infrarotobjektiv, mit dem Jessup auch ohne weiteres nachts hervorragende Auf-nahmen machen konnte. Er steckte fast jeden Cent, den er neben seinem Studium verdiente, in sein Equipment, unter anderem auch in das hoch auflösende Teleskop und eben diesen Camcorder. Er nahm die Kamera behutsam aus der Tasche und ging mit ihr wieder zur Rückseite des Pikkups. Auf keinen Fall wollte er das Risiko eingehen, bei einem seitlichen Kletterversuch auf die Ladefläche, wieder zu stürzen. Wenn die Kamera beschädigt würde, nicht auszudenken. Er schaltet sie ein und stellte auf Weitwinkel. Dann legte er sie auf dem Dach des Pickup ab und vergewisserte sich, dass sie das Phänomen auch gut im Bild hatte. Er guckte wieder kurz zu der näher kommenden Lichterscheinung hinüber. Wahn-sinn. Das Teleskop musste noch einmal richtig fixiert werden. Er drehte an ein paar Ver-schlüssen und warf dann einen Blick hindurch. Nein, das Ding, sollte er schon wa-gen, es als UFO zu bezeichnen, war bereits viel zu nahe, als dass er es hätte noch mit dem Teleskop vernünftig betrachten können. Er griff nach der Videokamera und spähte durch den Sucher. Viel besser. Bildete er es sich nur ein oder war da wirklich plötzlich warme Luft, die ihn, in der sonst kühlen Wüstennacht, angenehm umspülte? Verdammt! Da stand er hier, beobachtete die sehr wahrscheinlich größte Entdeckung seines Lebens und brachte kein Wort heraus. Er musste etwas sagen, die Szene für die Nachwelt kommentieren. Also räusperte er sich und begann, weiterhin durch den Bildsucher des Camcorders schauend, laut zu sprechen. „Ich, Jessup Walker, stehe hier, ungefähr 12 Meilen nordöstlich von Roswell entfernt und filme diese... außergewöhnliche Erscheinung.“ Er schluckte kurz, um seinen trockenen Hals zu befeuchten. Dann fuhr er mit seinen Erklärungen fort. „Wir haben den 01. September 2001, Zeit 0.42 Uhr.“ Gut, dass er auf die Anzeige seiner Videokamera zurückgreifen konnte. Ehrlich gesagt, war er nicht imstande zu beurteilen, wie lange es her war, seit er hier gestoppt hatte, kein Zeitgefühl mehr. „Was genau kann ich sehen. Es handelt sich um ein Objekt von undefinierbarer Grö-ße, das unregelmäßige Lichtimpulse aussendet. Abgestrahlte Energie macht sich durch warme Luft 6
bemerkbar. Und es... es schickt auch immer wieder Lichtstrahlen zum Erdboden.“ Das war ihm bis dato noch gar nicht aufgefallen. Kurz stockte ihm der Atem und er wurde noch aufgeregter. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und in seinem Magen breitete sich immer mehr ein Gefühl aus, als hätte er etwas Verdor-benes gegessen. „Das Objekt kommt schnell näher. Eine Form kann ich nicht erkennen. Die Lichter sind zu grell.“ Es wurde immer wärmer. Schweißperlen bildeten sich auf Jessups Stirn. „Ich habe zwar noch keine Ahnung, wer oder was sie sind, aber ich werde versu-chen... Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Es scheint so, als... als käme es bewusst auf mich zu.“ Tatsächlich, das Ding flog nicht nur ungefähr, sondern ganz genau in seine Richtung. Die Hitze nahm zu. Jessup verschlug es die Sprache. Er war nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Keine 2 Minuten später war das Objekt genau über ihm. Jessup stand noch immer auf der Ladefläche seines altersschwachen Pickups. Es wurde nahezu unerträglich heiß. Jessup filmte nicht mehr. Zwecklos, die Lichter waren viel zu grell, als dass man hätte noch irgend etwas erkennen können. Er breitete, die Kamera immer noch in der Hand haltend, seine Arme aus. Dann wandte er sein Gesicht nach oben und schloss seine geblendeten Augen. Kontakt, er musste Kontakt aufnehmen. So brüllte er nach oben: „Ich bin bereit!“ Erst fast 2 Wochen später entdeckten ein paar Landvermesser, eher zufällig, das ausgebrannte Wrack des Pickups und die ebenfalls verbrannte Leiche auf dessen Ladefläche. Im offiziellen Bericht des örtlich zuständigen Sheriffs stand: Laut Gerichtsmedizin ist von einem Suizid durch absichtliches Anzünden des Wagens und der eigenen Person auszugehen. Aussagen der Kommilitonen und der Eltern des Opfers, Jessup Walker, 24 Jahre, belegen, dass er nicht mit seinen Leben zurecht kam und keinen Bezug mehr hatte zur Realen Welt.
7
Geburt von Max-Leonhard von Schaper
'Stille. Leere. Unendlichkeit. Ein Planet in der Weite des Alls. Ein Wanderer ohne Sonne. Er ist kalt...
Stille. Leere. Unendlichkeit. Ein Planet in der Weite des Alls. Ein Wanderer ohne Sonne. Er ist kalt. Von einer hauchdünnen Eis- und Staubschicht bedeckt. Man kann nirgends eine Veränderung sehen. Tot. Seit Millionen von Jahren. Keine Hoffnung. Tot. Doch jetzt. Ein Licht. Das erste überhaupt. Ein kleines Raumschiff nähert sich der Oberfläche. Ein Scheinwerfer sendet einen unendlich dünnen Strahl auf die Oberfläche. Der Planet lebt! Licht berührt ihn. Ein winziger Teil von ihm glüht in der Leere. Der Staub beginnt sich zu bewegen, als die Lichtstrahlen seine Oberfläche berühren. Er hat Wärme gebracht. Die erste Wärme überhaupt. Der Staub erzittert und rutscht von dem kleinen Hügel. Die Eisschicht darunter zeigt erste Tropfen geschmolzenen Eises. Etwas bewegt sich darunter. Zum ersten Mal. Eine Geburt. Die Eisdecke zeigt Risse. Etwas will raus, will leben, sich am Licht laben. Es schmecken, fühlen. Leben. Ein großer Sprung zieht sich durch das Eis. Langsam, unendlich langsam schiebt sich etwas daraus hervor mitten in den Strahl der Wärme. Eine Knospe entfaltet sich. Die Blüte zeigt ihre Schönheit, lebt. Der ganze Planet lebt. Für einen Augenblick. Der Lichtstrahl wandert weiter, über die Weite. Dann erlischt er. Das Licht, das Leben verschwindet von der Welt, die gerade erst gelebt hat. Die Eisdecke erstarrt wieder um den Stengel, drückt ihn ein. Die Blüte gefriert rasch in der Kälte des Alls. Kosmischer Staub beginnt sich auf die Blume zu legen. Es kann kein letztes Aufbäumen geben. Der Lebensbringer verschwindet in der Weite des Alls. Und lässt eine gestorbene Welt hinter sich. Ein Wanderer ohne Hoffnung jemals wieder zu leben. Zu spüren. Zu sein. Tot.
8
Eine Frage des Alters von Thomas Kohlschmidt
Wenn Du zum Relikt wirst! Ein böses Erwachen...
Jack duckte sich und hielt den Atem an. Hoffentlich würde ihn der Opa nicht entdecken! Die Besuchergruppe ging zur nächsten Attraktion und Jack bemühte sich, immer mitten im Pulk zu bleiben, damit ihn der Alte nicht sah. So folgte er also – zusammen mit all den Anderen – auch weiterhin der schrillen Blondine, dieser Lehrerin. Der wohl schon leicht senile Wärter lugte mit stechenden Augen hin und her. Gerade kam ein zweiter Typ hinzu und begann mit dem Alten zu flüstern. Der Heini sah sehr ungemütlich aus, Marke Kleiderschrank mit Kantenkinn. Der war bestimmt vom Sicherheitsdienst. Nun war die Sache also nicht mehr zu verbergen, es weitete sich aus! Sie waren wirklich hinter ihm her! Jacks Herz jagte. Die schrille Stimme der Lehrerin attackierte wieder seine Ohren: „Meine Damen und Herren, liebe Kinder: Eben haben wir an den Schautafeln gesehen, dass die Menschen der Unmutierten Ära allerlei Probleme hatten, die sie ´Krankheiten´ nannten. Sie waren anfällige Wesen, nicht so wie wir.“ Sie sah sich um und vergewisserte sich, dass sie von großen Augen und offenen Mündern umringt war. „Damals, vor dem großen Krieg, glaubte man drolliger weise, Radioaktivität, chemische Kampstoffe und Killerviren würden der Menschheit schaden und das Ende der Welt besiegeln. Heute wissen wir es besser. Es war ein Segen, dass all diese evolutionsförderlichen Dinge erfunden und in großem Umfang hergestellt wurden. Und am 23.12.2012 war es dann so weit!“ „Phönix-Tag!“ krähte ein kleiner Streber an der Hand seiner Mutter, und die blonde Lehrerin lächelte wohlwollend. „Richtig! An diesem Datum, das wir heute alle als ´Phönix-Tag´ feiern, entstand die Grundlage der Neuen Menschheit. Die internationalen Börsen brachen zusammen, das Ozonloch riss vollends auf, und die Mehrheit der Zuschauer des TV-Senders ´Global Fuck` stimmten für ´Weltuntergang vorm nächsten Werbeblock`. Und so geschah es!!“ jubilierte die Blonde und Jack schluckte. Er sah sich vorsichtig um. Der alte Kerl spähte noch immer hin und her. Der Kleiderschrank auch! „Alle Atomraketen stiegen auf, alle B und C-Waffen schlugen los! In der rekordverdächtigen Bestzeit von nur 23,4 Minuten war die ganze Erde mehrfach ´verseucht´ und einige Menschen tot. Historiker streiten sich da um die genauen Zahlen...“ „Aaaaber“, jauchzte die Dame, „der Tag brachte einigen Hundert Männern, Frauen und Kindern den mutagenen Schub, der uns heute immun macht. Der uns heute stärker, schöner und erfolgreicher sein lässt. Die Ahnen von damals begründeten die Mutierte Ära!!“ Jack mochte seinen Ohren nicht trauen. Was erzählte die Frau da bloß? „Um das alles ein bisschen besser zu verstehen, gehen wir jetzt einmal in den nächsten Raum. Dort werden Sie einen länglichen Metallzylinder auf einem Podest liegen sehen. Das ist eines der Prunkstücke unseres Museums. Vor wenigen Jahren entdeckte ein Ausgrabungsteam der legendären ´Society of Archaelogic Art and Coca Cola´ im Tiefengestein nahe der RheinMain-Spalte dieses Artefakt aus der Vormutierten Ära. Nach wenigen Scanns und mentalen Abtastungen war klar, dass es sich um eine Art autarker Kältekammer handelt. Solche Frierzellen benutzten vor über 1000 Jahren die kränkelnden Menschen immer dann, wenn sie eine unheilbare Krankheit und viel Geld hatten. Man fror sich in der Hoffnung ein, die Wissen9
schaft würde Fortschritte machen und ein Gegenmittel gegen die Krankheit finden. Nach dem Auftauen konnte man sich dann heilen lassen. Manche Menschen waren auf diese Weise bereit, sogar Jahrhunderte im Kälteschlaf auf ihre Rettung zu warten, putzig was?“ Alle lachten, nur Jack nicht. Ihm saß ein Kloß im Hals. Jetzt ging die Sache schief! Der hünenhafte Verfolger schob sich an die Gruppe heran. Oh, nein. Wie sollte Jack jetzt noch entkommen? Wenn er die Gruppe verließ, würden sie ihn gleich schnappen. „Unser Fundstück beinhaltet einen gut erhaltenen Unmutierten, der an einer Krankheit litt, die früher ´Grüne Lungenpest´ hieß und todsicher zum Ableben in nur 12 Jahren führte!“ Die Blonde kicherte jetzt ein wenig. Die Kinder grinsten. „Ich bitte Sie nun, meine Damen und Herren, liebe Kinder, treten Sie einzeln an den Zylinder heran und mentalisieren Sie vor allem den Brustbereich des Human-Fossils im Inneren. Sie werden Ausstülpungen im Lungengewebe erkennen können, die grünlich schimmern wie Waldmeisterpudding. Das sind sogenannte ´Pest-Geschwüre´ und ein Symptom der Krankheit. – Kommen Sie, keine Scheu...!“ Da trat der Alte an die Lehrerin heran und tuschelte ihr etwas ins Ohr. Ihre schminkestabilisierten Gesichtszüge entgleisten für eine Mikro-Sekunde. Dann aber leckte sie sich die prallen Lippen und gurrte wieder los: „Ich erfahre gerade, dass wir den Raum zur Zeit leider nicht betreten können. Der Zylinder wird gerade gewartet. Das müssen die Restaurateure hier regelmäßig machen, um die frische des Fossils zu gewährleisten. Nicht dass der arme Kerl erwacht, hahaha!“ „Scheiße!“ entglitt es Jack, als der Wärter ihn entdeckte. „Da ist er!!! Da ist er!!!“ kreischte der Alte und der Kleiderschrank war schon zur Stelle. „Kommen Sie, meine Damen und Herren, liebe Kinder, gehen wir hier herüber. Wir können uns im Brainorama eine Ident-Realität ansehen und dort die Lungenpest genießen! Kommen Sie!“ Jack duckte sich unter den Klauen des Sicherheitsmannes hindurch und hechtete aus der Gruppe heraus, die sich im Herdentrab davon machte und der Blondine folgten. „Da ist das Fossil! Packen Sie es doch!!“ schrie der Opa-Wächter. Jack stürmte an ihm vorbei und rannte den Gang hinunter. Der Kleiderschrank fasste sich an die Stirn und zog eine Grimasse. Schon tauchten drei identische Kerle auf - alle offenbar aus einem Guss - und liefen auf Jack zu. Einer kam ihm nun direkt entgegen, zwei von der Seite. Sie waren trotz ihrer Körperfülle flink wie Wiesel.. Es gab kein Entkommen. Die vier wuchtigen Hünen erreichten ihn fast gleichzeitig. Ihm wurden die Arme auf den Rücken gedreht, dass die Gelenke nur so knackten. Dann schubste man ihn brutal nach vorne zum Wächter hin. Der schnaufte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Danke, Jungs. Danke! Man, bin ich froh, dass ihr ihn gekriegt habt.“ „Wohin mit ihm?“ knurrte einer der Fänger. „Na, wohin wohl! Zurück in den Kasten! Ich will doch nicht meinen Job verlieren!“ „Wie konnte das überhaupt passieren?“ Der Opa hüstelte nervös. „Da hat bestimmt wieder so ein Gör am Thermostat gespielt! In letzter Zeit passiert das öfters und ich hab´s immer rechtzeitig entdeckt. Bis heute, hmmm. – Irgendwann musste das ja mal passieren. Das ist die Erziehung heute, die taugt eben nichts. Zu meiner Zeit hätten wir das nicht gewagt.“ „Zu Deiner Zeit, Methusalem, haha!“ witzelte einer der Kleiderschränke. Und dann froren sie Jack wieder ein. 10
Das hermetische Raumschiff von Ulrike Nolte
Wissenschaft und Magie treffen aufeinander: In der Welt von „Alchemical.com“ gibt es eine besondere Art der Energiegewinnung...
Die Priesterinnen brachten den Widder herein. Das Tier blökte und stieß mit den Hörnern um sich, und Thorvald Kerr wich hastig in die Menge zurück. Als man das Opfer an ihm vorbeizerrte, wurde er fast von einem Huf getroffen. Die Leute um ihn herum sahen der Prozedur ohne großes Interesse zu, sie unterhielten sich über das schlechte Kantinenessen und die Neueinteilung der Arbeitsschichten. Jemand stieß ihm den Ellenbogen in den Rücken und entschuldigte sich mit einem gereizten Murmeln. Die ganze Prozession ähnelte nicht sehr den romantischen Vorstellungen, die Kerr zu Beginn der Reise von magischen Ritualen gehabt hatte. Eng gedrängt standen die Kolonisten in der kahlen Versammlungshalle des Schiffes, und der unaufhörliche Lärm aus dem Industriebereich zerrte an den Nerven. Durch die milchigen Fußbodenplatten aus Plastbeton konnte man schemenhaft das Treiben in der unteren Etage beobachten, den hektischen Arbeitsalltag eines Fabrik-Transporters. Der Widder wurde mit zusammengebundenen Beinen auf einen Altarblock in der Mitte des Raumes gehoben. Allmählich verstummte die Menge, und die allgemeine Gereiztheit machte gespannter Aufmerksamkeit Platz. Kerr stand nahe genug, um zu sehen, dass die aufgesprühte Goldfarbe bereits vom Fell des Tieres herunterblätterte. Sie schwebte als glitzernde Wolke in der Luft und wurde gleich darauf von den Ventilatoren in der Decke eingesogen, zusammen mit dem verbrauchten Atem von neunzig erwartungsvollen Kandidaten. Auf wen würde das Los diesmal fallen? Wen würden die Priesterinnen des Hermes Trismegistos für eine Beförderung auswählen? Es hieß, wenn man erst zu den Privilegierten gehörte, bekam man sogar ein privates Zimmer mit eigenem Bad. Auf der Erde war Wohnraum inzwischen selbst für die Mittelschicht zum Luxus geworden, und Kerr stellte es sich gleichzeitig faszinierend und erschreckend vor, ganz allein zu leben. Er stammte aus den Kuben, wo sich die kleinen, viereckigen Wohneinheiten wie verschachtelte Legosteine übereinandertürmten, und in jedem dieser Schuhkartons drängten sich mindestens ein halbes Dutzend Personen. Wenn ihn damals das Bedürfnis nach Einsamkeit überkommen hatte - eine Nacht ohne das Geschrei des Babys und die unterdrückten Geräusche aus dem Bett der Mitmieter - dann hatte er seinen Schlafsack ausgepackt und sich einen Platz in den verwinkelten Stockholmer Gassen gesucht. Die Kuben waren eine bürgerliche Gegend, und man brauchte keine Angst vor nächtlichen Überfällen zu haben. Später in seinem unsteten Leben hatte er noch an ganz anderen Orten gehaust, in den Slums von Hamburg und sogar in der B-Zone. Wahrscheinlich war das der Grund, warum ihn das Emigrationsbüro der Alchemical.com als Bewerber akzeptiert hatte: Er konnte sich gut genug anpassen, um überall zurechtzukommen. Mit seinen knapp zwanzig Jahren hatte er schon als Bodypainter und Preisboxer gearbeitet, er hatte in einer illegalen Werkstatt Velo-Jumpers für Straßenrennen frisiert und in einer KryoFabrik die Gesichter von Verstorbenen für den Familienaltar schockgefroren. Jetzt würde er eben Farmer werden. Die Werbe-Annoncen behaupteten, auf den Kolonien könne man tagelang keinem einzigen Menschen begegnen. Es gab viele Leute auf der Erde, die von solcher Abgeschiedenheit träumten. Aber nur wenige besaßen tatsächlich das psychologische Profil, um ein Leben außerhalb der Zivilisation zu ertragen. Kerr hatte in den Tests außergewöhnlich gut abgeschnitten - sogar was die Magie anging. 11
Die Firmen-Astrologin im örtlichen Emigrationsbüro war überraschend wissenschaftlich, kühl und effizient gewesen. Er hatte sich vor ihr ausgezogen und sich eingeredet, er sei in einer Arztpraxis, während sie ihn vermaß, das Muster seiner Leberflecken und seine Aura analysierte. Er hatte unter Eid ausgesagt, dass er noch jungfräulich war - allerdings mit CyberErfahrung - und dann stundenlang gewartet, während sie sein Horoskop erstellte ... ---"Wählen Sie bitte elf Karten." Die Astrologin hatte ihm ein Tarot-Blatt entgegengehalten, und er war mit schlechtem Gewissen aus dem Halbschlaf aufgeschreckt, in den ihn ihre endlosen Berechnungen versetzt hatten. Es erschien ihm nicht besonders logisch, dass sein Schicksal von Planetenkonstellationen bestimmt sein sollte, die er bald um Lichtjahre hinter sich lassen würde, aber er hatte keine Fragen gestellt. Die Alchemical.com konnte täglich unter Tausenden von Bewerbern auswählen. Seine Emigration sollte nicht daran scheitern, dass er zu neugierig war. Stumm tippte er auf einige Karten in ihrer Hand, und die Astrologin versank wieder für lange Zeit in ihre Analysen. Dann geschah etwas Unerwartetes: Sie lächelte. "Ich gratuliere Ihnen. Sie sind eindeutig ein Auserwählter." "Ich kann zu den Kolonien fliegen?" Er musste sich verhört haben. Angenehme Überraschungen gehörten einfach nicht zu seinem Lebensstil. Der Emigrationsantrag war eine spontane und ziemlich verzweifelte Idee gewesen, nachdem ihm ein Gläubiger mit Tränengasschleuder aufgelauert hatte. "Nach meinen bisherigen Tests sind sie mehr als nur ein schlichter Kolonist. Sie sind ein Auserwählter, wie ich schon sagte." Anscheinend sollte er beeindruckt sein, aber er spreizte nur fragend die Hände. Über die alchemistischen Rituale an Bord gab es kaum mehr als vage Gerüchte, und er hatte es nicht für nötig gehalten, sich genauer zu informieren. Glücklicherweise war die Astrologin auf Ignoranz vorbereitet. Sie räusperte sich und spulte aus dem Stegreif eine Einführungsrede herunter. "Reisen über Lichtgeschwindigkeit wurden lange Zeit für wissenschaftlich unmöglich gehalten", dozierte sie. "2198 jedoch gründete Dr. Angela Gülgür die Alchemical.com und leitete damit ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte ein. Ihre Forschungen basierten auf folgender Überlegung: Es wurde ein Antrieb für Raumschiffe gebraucht, eine Energieoder Materieform, die nach den Kriterien der Physik nicht existieren konnte. Aber es gab eine lange vergessene Forschertradition, die sich der Herstellung genau so eines Stoffes verschrieben hatte. Gülgür knüpfte also an alchemische Methoden an, um den sogenannten ‘Stein der Weisen’ zu erschaffen. Die Kraftquelle unsere Schiffe besteht tatsächlich aus einer Materie, die nicht auf physikalischen Gesetzen beruht, sondern ... nun ja, nennen wir sie ruhig magisch." Die Astrologin lächelte ihm vertraulich zu und ihr Tonfall wurde etwas persönlicher. Vielleicht würde sie jetzt endlich auf den Punkt kommen, der ihn selbst betraf. "Die hermetischen Künste beruhen auf einem ganzheitlichen Konzept", erklärte sie. "Der Alchemist braucht für die Herstellung des ‘Lapis Philosophorum’ nicht nur simple chemische Bestandteile, sondern auch weniger greifbare Grundvoraussetzungen. Wichtig sind spezielle Worte und magische Symbolhandlungen sowie eine spezielle geistige Aura. Und dafür brauchen wir Leute wie Sie. Um es einfach auszudrücken, die Schiffe funktionieren nur, wenn sie durch die Anwesenheit bestimmter Personen energetisch aufgeladen werden, die wir ‘Auserwählte’ nennen. Diese Personen müssen eine Vielzahl scheinbar irrationaler Kriterien erfüllen -" 12
"- zum Beispiel das Muster meiner Leberflecken?" "Ja genau." Sie wirkte ein wenig verlegen. "Zumindest glauben wir das. Leider gibt sehr viele Traditionen, die zu den hermetischen Künsten in Beziehung stehen, von den Ägyptern bis zu den mittelalterlichen Mystikern, und wir wissen nicht hundertprozentig, welche davon wirksam sind. Um ganz sicher zu gehen, dass jemand zu den Auserwählten gehört, benutzen wir also einfach alle Methoden, die wir finden können gleichzeitig - und manche davon erscheint sogar mir ziemlich merkwürdig. Nach diesem ‘trial and error’-Prinzip hat sich immerhin schon herausgestellt, dass einige der überlieferten Rituale nicht funktionieren, zum Beispiel die Weissagung durch Handlesen." ---Dagegen funktionierte die Anrufung des Hermes durch ein Widder-Opfer offenbar ganz ausgezeichnet. Die Priesterinnen wühlten sich gerade durch die Eingeweide des Tieres, um anhand der Lage der inneren Organe zu bestimmen, wer von den Auserwählten heute benötigt wurde. In den letzten Tagen war das Raumschiff wieder merkbar langsamer geworden und schließlich unter Lichtgeschwindigkeit gefallen. Das geschah ungefähr alle zwei Wochen. Jedes Mal wurde die Versammlung einberufen, dasselbe blutige Ritual ausgeführt, und vier Kolonisten konnten sich ein Privatquartier im VIP-Bereich verdienen. Kerr drückte sich selbst die Daumen und stellte fest, dass er an Bord abergläubisch geworden war. Wie sollte man in dieser verrückten Welt aus Plastbeton und archaischen Ritualen auch sonst zurechtkommen? Leider gab es hier kein Holz, auf das er klopfen konnte. Die älteste Priesterin erhob sich mit einer tropfenden Leber in der Hand und schaute in die erwartungsvolle Runde. "Ich bin erfreut, Ihnen mitteilen zu können", sagte sie in neutralem Behördentonfall, "dass wir das erste Kandidatenpaar für die katalytische Synthese gefunden haben. Ich bitte die Kolonisten Nummer 52 und 198, sich zum linken Antriebsaggregat zu begeben." Kerr merkte, dass er die Luft angehalten hatte, und entspannte sich ein wenig. Er war enttäuscht, aber seltsamerweise auch erleichtert. Wahrscheinlich lag es an seiner Zeit in der BZone, die ihn gelehrt hatte, dass man umso mehr Ärger bekam, je deutlicher man aus der Masse herausstach. Der Gedanke, seine Nummer aus dem Munde der Priesterin zu hören, machte ihn ohne Grund nervös. "... bitten den Kolonisten 137, sich am rechten Antriebsaggregat einzufinden", ertönte in diesem Moment ihre Stimme. Er hätte es wissen müssen. Wenn man zu intensiv über etwas nachdachte, dann passierte es garantiert. Entschlossen verscheuchte er die lästige Paranoia und lächelte, während die umstehenden Bekannten ihm gratulierend die Hand schüttelten und wildfremde Leute ihm auf die Schultern klopften. Wahrscheinlich hofften sie, dass sein Glück durch die Berührung abfärbte. Er war nicht der einzige, der an Bord allmählich abergläubisch wurde. Seine Verkrampfung ließ nach, und er stellte sich vor, wie er tagelang unter seiner privaten Dusche stehen und dabei laute Pop-Arien singen würde. Mit energischen Schritten schob er sich durch die Menge, die wieder zu ihrer Arbeit im Industriebereich oder den engen Massenquartieren zurückströmte, und marschierte auf direktestem Wege zum rechten Antriebsaggregat. Der Gang war relativ verlassen, nur eine junge Frau bewegte sich in dieselbe Richtung. Sie hatte Sommersprossen, blondes Haar und kam ihm merkwürdig bekannt vor. Es dauerte einen 13
kurzen Augenblick, bis ihm klar wurde, warum. Sie sah aus, als hätte man sie aus seinem persönlichen Cyberprogramm kopiert; eine seiner Freundinnen für besondere Anlässe, keine billige Meatware. Anscheinend verstand das Hermes-Orakel wirklich etwas von Partnerwahl. Eine Weile warfen sie sich gegenseitig verstohlene Blicke zu, bis die Frau den Anfang machte und sich vorstellte. "Ich nehme an, Sie sind Nummer 137? Tina Beckmann." Sie gaben sich formell die Hand, und er nannte ebenfalls seinen Namen. Sie waren beide etwas befangen, und gingen eine Weile stumm nebeneinander her. Es gab Gerüchte darüber, warum der Stein soviel Wert auf sexuelle Unschuld legte, und tatsächlich hatte die Firmenastrologin am Ende seines Bewerbungsgespräches flüchtig von einer ‘Vereinigung des reinen männlichen und weiblichen Prinzips’ gesprochen. Man hatte diesen wichtigen Bestandteil der alchemistischen Schriften zuerst für symbolisch gehalten, (sie hatte etwas Kompliziertes über Schwefel und Quecksilber gesagt.) Aber nach langen Experimentreihen waren die Forscher zu dem Ergebnis gekommen, dass die Anweisungen am besten funktionierten, wenn man sie wörtlich nahm. "Schön, dass wir uns persönlich kennen lernen, bevor wir es miteinander treiben", sagte Tina Beckmann schließlich in die Stille und durchbrach damit - drastisch aber erfolgreich - die beiderseitige Verlegenheit. Kerr musste lachen. Er entkrampfte sich und sagte galant, dass er sich gerne mit ihr auf dem Altar des Fortschritts opfern würde. Dann unterhielten sie sich über andere Themen, koloniale Landwirtschaft und die Federung der neusten Velojumpers. Kerr hatte sich kurz vor Abflug ein Adidas-Paar auf dem Schwarzmarkt besorgt, Tina bevorzugte anscheinend eine weniger sportliche Marke mit kürzeren Schrittweiten. Bevor sie Zeit gehabt hatten, sich in diesem Punkt zu einigen, waren sie auch schon am Ende des Ganges angekommen. Hier sollte also der geheimnisvolle Antrieb des Schiffes installiert sein. Sie waren beide gespannt, wie er aussah. ---Sie standen auf einer metallischen Reling rings um einen kreisrunden Kuppelbau und starrten in die Tiefe. Wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entpuppte sich der Raum als das Innere einer riesigen Hohlkugel mit blankpolierten, spiegelnden Wänden. Die Halle war vollständig leer, keine magischen Gerätschaften, keine komplizierte Technologie. Aber von der Reling aus führte ein schmaler Steg in die Mitte der Halle, wo ein einsames Bett auf einer kleinen Plattform schwebte. "Wenn wir da runterfallen, landen wir zwanzig Meter tiefer als Ketchup", stellte Tina sachlich fest. Kerr war noch zu verblüfft, um überhaupt etwas zu sagen. "Das Ganze gefällt mir nicht", brachte er schließlich hervor. "Wieso? Ich finde es ganz lustig. Sie haben sogar rote Seidenbettwäsche benutzt, fehlen nur noch die Räucherkerzen." Tina schnaubte. Hinter ihnen waren Schritte zu hören. Sie drehten sich gleichzeitig um und sahen die oberste Priesterin auf sich zukommen. Sie war nicht mehr in ihre wallenden Gewänder gehüllt, sondern hatte sich einen praktisch geschnittenen Bodyskin aus Faserplast übergestreift. Anscheinend wollte die Firmenleitung diesen Teil der Zeremonie so sachlich wie möglich hinter sich bringen. 14
Kerr musterte die Priesterin neugierig. Er hatte ihr Gesicht noch nie unverhüllt gesehen. Es war sehr schön und sehr kalt, stellte er fest. Wie in der Kryokammer konserviert. "Ich freue mich, Sie beide hier begrüßen zu können", sagte sie mit ihrer üblichen Förmlichkeit. "Soll ich Ihnen die Prozedur näher erklären?" Kerr schaute erst auf sie, dann auf das Bett und sagte vorsichtig: "Die Prozedur?" "So war das nicht gemeint." Sie errötete und wirkte dabei schon fast menschlich. "Ich wollte ihnen die alchemistischen Details erklären." "Das wäre nett", half Tina ihr über die Verlegenheit hinweg. "Ich hatte nicht erwartet, hier nur einen leeren Raum zu sehen." Die Priesterin nickte. "Das hier ist nicht die einzige Reaktionskammer. Die anderen liegen senkrecht über uns und würden wohl mehr Ihrer Vorstellungen von einem Schiffsantrieb entsprechen. Das ganze System ist von der Form her aufgebaut wie ein typischer alchemistischer Schmelzofen, nur in viel größerem Maßstab. Wenn durch die Zusammenführung des männlich-weiblichen Prinzips ein ausreichendes seelisches Energiepotential aufgebaut ist, wird damit eine Materietransformationen durchgeführt, die auf den obersten Maschinenraum abstrahlt und -" "Ich würde lieber hören, ob es irgendwie gefährlich ist", unterbrach sie Kerr. "Aber nein!" erklärte die Priesterin überzeugend schockiert. "Wir sind ein seriöses Wirtschaftsunternehmen. Gewisse Presseschreiber werfen uns vor, skrupellose Profitjäger zu sein. Aber ich sage ihnen: Ohne Alchemical.com würde die Menschheit niemals zu den Sternen gelangen. Wir haben eine Verantwortung für die Zukunft unserer Spezies und sind bereit, dafür alle Opfer zu bringen, die -" "Schon gut", sagte Kerr. "Das wollte ich nur wissen." Diese Propagandarede war nicht unbedingt geeignet, ihn zu beruhigen, aber was hatte er schon für eine Wahl? Tina schien ebenfalls wenig beeindruckt. Sie fragte merklich kühler: "Gibt es einen Zeitplan, den wir beachten müssen?" "Nein, der Rest der Prozedur richtet sich ganz nach den Auserwählten. Unsere Techniker werden dafür sorgen, dass die Energieübertragung auf jeden Fall funktioniert. Also, wenn sie bereit sind, dann werde ich jetzt gehen und Sie beide allein lassen." Die Priesterin drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten und schloss die Tür in der Kuppelwand fest hinter sich. "Sieht so aus, als könnten wir es nicht länger herauszögern", sagte Kerr. "O.k., keine Panik. Schließlich sind seit Beginn der hermetischen Raumfahrt schon Hunderte von Auserwählten in derselben Situation gewesen. Wir werden es überleben." Tina nickte wortlos. Sie gingen auf die Plattform in der Mitte der Halle zu, zogen sich aus und legten sich hin. Dann begannen sie recht mechanisch, die üblichen Standartbewegungen auszuführen. Die Umgebung war nicht gerade geeignet, romantische Gefühle zu erwecken. Kerr konnte dennoch spüren, was die Priesterin mit einem Aufbau seelischer Energien gemeint hatte. Möglicherweise bewirkte die Metallkugel, in der sie sich befanden, eine Art Rück15
kopplungs- oder Echoeffekt. Ein elektrisches Kribbeln lief durch seinen ganzen Körper, und blaue Funken flackerten über Tinas Haare. Sie breiteten sich über die metallische Plattform aus, liefen in sprühenden Kaskaden den Steg entlang ... "Das ist unglaublich!" murmelte Tina. "Unheimlich ist das bessere Wort", knurrte Kerr. "Wenn ich nicht ständig an dieses private Badezimmer denken würde, wäre ich schon längst hier weg." "Die Priesterin hat gesagt, es passiert uns nichts." "Ja, klar. Alchemical.com ist ein Wirtschaftsunternehmen, und sie haben mit diesem Schiffsantrieb eine Goldgrube entdeckt. Glaubst du, die würde es kümmern, wenn ein paar Kolonisten mit Verbrennungen in der Krankenabteilung landen?" Seine nervöse Wut schien die Elektrizität in der Luft nur noch anzuheizen, die blauen Funken fegten in knisternden Entladungen über sie hinweg. Jetzt hatten sie die Wände erreicht, laut zischend raste ein blasses, flackerndes Licht über die gesamte Kuppel, pulsierte im Rhythmus ihrer Bewegungen. "Jetzt!" rief er, und Tina grub ihm ihre Fingernägel in den Rücken. Sie bäumten sich auf, einen kurzen Augenblick lang waren sie der Mittelpunkt in einem grellen Strahlenkranz aus Plasma-Entladungen, der Moment der Transfomation ... ---Dann war das Paar verschwunden. Ein seltsamer geometrischer Körper aus quecksilberglänzendem Material pulsierte an seiner Stelle. Das Schiff machte einen plötzlichen Sprung nach vorne. Es tauchte in die Hyperspeed ein und ließ den Normalraum schwarz und leer hinter sich zurück.
16
Die Koraa von Ralf Streitbörger
Sie sind Wanderer zwischen den Welten. Nach Jahrmillionen kehren sie zurück an einen alten abgelegenen Futterplatz und machen dort eine seltsame Entdeckung.
Herlaf erwachte aus seinem langen Schlaf. Sofort suchten seine Sehorgane nach den Anderen, die auch gerade erwacht sein mussten. In Sekundenschnelle erfasste er 300.000.456.329 Individuen und stellte mit Erleichterung fest, das es auf ihrer langen Reise keine Verluste gegeben hatte . Oft schon hatten Meteoriten oder Kometen einzelne Stammesmitglieder während des Fluges getötet. Mit der für seine Rasse typischen kraftvollen Eleganz streckte er seinen noch ungekennzeichneten schwarzen mantaartigen Körper von der breiten Vorderseite bis zur Schwanzflosse . Dann drehte er sich wild um die eigene Achse und versuchte so, sich aus dem dunklen Zentrum des Schwarmes in den äußeren Rand zu schrauben. Zwei ältere Stammesmitglieder bremsten seinen jugendlichen Übermut mit Flossenschlägen und riefen ihm die heilige Schwarmordnung ins Gedächtnis zurück. Im sicheren, aber langweiligen und düsteren Zentrum war sein Platz, dort musste er sich mit anderen Heranwachsenden abgeben, bis er sich einen ehrenvolleren Platz am Außenrand verdient hatte. Im eigentlichen Kern flogen trächtige Weibchen und junge Mütter deren noch hellhäutige Babies sich an ihren schwarzen Rücken festkrallen wie kristallene Tauben . Herlaf war fast ausgewachsen und bald würden ihn die Ältesten begutachten, entsprechend seiner naturellen Veranlagung einsetzen und kennzeichnen. Er blickte auf die eher durchschnittlich gewachsenen pyramidenförmigen Orientierungsorgane an den Enden seiner Seitenschwingen und wusste, das er nicht zu den Navigatoren gehören würde, welche den Schwarm durch die Weiten des Universums führten und mit ihren hellgrünen Markierungen an der Schwanzflosse besonders respektvoll zu behandeln waren. Rechts von ihm tat sich plötzlich eine Lücke auf . Herlaf reagierte blitzschnell, drehte die an der Schwanzflosse befindlichen Drüsen, welche seinen Ionenausstoss steuerten, und beschleunigte fast im rechten Winkel. Die Älteren am Schwarmrand ließen ihn passieren und honorierten so seine gekonnte Flugaktion. Nicht das erste mal hatte er sie so ausgetrickst um einen unverdienten Blick ins Universum zu erhaschen. Ein Blick der sich lohnen sollte. Vor sich sah er Lichtjahre entfernte leuchtende Gasnebel die sich , farbenprächtig miteinander verquirlend, zu paaren schienen . Milliarden von leuchtenden Sternen in den verschiedensten Konstellationen gaben dem Weltall diesen wundervollen Glanz den er so liebte . Es war jene magische Schönheit und Größe die seinem Volk und wohl allen anderen Kindern des Universums ehrfurchtsvoll die Größe und Macht des Weltenschöpfers erkennen ließ. Herlafs Körper glänzte in einem dunklen Lila, eine Veränderung, welche auf große Freude und Erregung schließen ließ. Auf Signal der Navigatoren hin verzögerte der Schwarm kollektiv auf halbe Lichtgeschwindigkeit, ein Zeichen dafür, das sie ihrem Ziel schon sehr nahe sein mussten. Vor ihnen tauchte ein ihm bekanntes Sonnensystem mit neun Planeten auf. Hier waren sie schon gewesen als er gerade den Rücken seiner Mutter verlassen hatte um zukünftig aus eigener Kraft durchs Universum zu fliegen. Nur die Jäger und Träger mit ihren überdimensionalen Mäulern waren auf den dritten Planeten, den die Navigatoren Herloo nannten, geflogen, der Rest des Stammes ruhte auf der silbrig glänzenden Seite seines einzigen Mondes. Alle waren erleichtert als die ersten Träger mit ihren prall gefüllten Mäulern zurückkehrten und im Pendelverkehr die Beute der Jäger von Herloo zum Mond brachten. Er konnte sich noch gut an das Fleisch riesiger Sauropoden erinnern, welches ihm seine Mutter vorgekaut in den Mund würgte, als er noch nicht einmal sein diamantenes Gebiss entwickelt hatte. Wie befürchtet kehrte jedoch auch der Schmerz zurück, den er fühlte, als man seinen Vater zusammen mit anderen Koraa, die das Alter oder das Sternenfieber dahingerafft hatte, in einem Krater der 17
dunklen Seite des Mondes bestattete. Nie würde er den Anblick der beiden Priester mit ihren silber gestreiften Schwingen vergessen, die in würdevoller Langsamkeit, mit dem Leichnam seines Vaters in ihrer Mitte, siebenmal den Krater umflogen in welchen sie ihn dann fallen ließen um seine Seele dem Weltenschöpfer zu übergeben. Er hatte sich unmittelbar über einem Vulkan befunden als dieser geradezu explodierte und ihn mit glühender Lava übergoss. Durch einen, wohl durch den Schreck hervorgerufenen, Orientierungsfehler flog er dann direkt in den Vulkan. Ein paar Stunden konnte ein Koraa problemlos den Temperaturen trotzen, doch weil er kein Notsignal ausgesandt hatte, dauerte fast zwei Tage, bis ihn andere Jäger fanden und aus der Magma zogen. Seine kristalline Struktur hatte sich durch die hohen Temperaturen schon zu sehr verändert und so starb er in den Schwingen seines Schwagers . Nur eine Sonne war er alt geworden, das war der Zeitraum in welcher eine Sonne entsteht, sich aufblähte und dann für immer verschwand. Wegen dieser düsteren Erinnerung hoffte Herlaf trotz seiner Wendigkeit und seines ausgeprägten Gebisses von den Ältesten nicht zu den Jägern berufen zu werden. Plötzlich kam der ganze Schwarm zum Stillstand. Herlaf löste sich aus der traurigen Entrücktheit, in welche er verfallen war, und sah unter sich die silbrig glänzende Oberfläche des Mondes von Herloo. Herloo selbst hatte sich kaum verändert, nur die übliche Verschiebung seiner Kontinente verdeutlichten dem Betrachter, das ein längerer Zeitraum seit ihres letzten Besuches vergangen war. Ihre Landung erfolgte in mehreren Schüben und nach festen Plänen, welche die Navigatoren mit den Ältesten erarbeitet hatten, um den Mond nicht aus seiner Umlaufbahn zu werfen. Torgal, der Führer der Jäger und Fralar, der Führer der Träger würden sich nun mit den Ältesten und dem Hohepriester in einem abgelegenen Krater treffen um zusammen die bevorstehende Jagd nach sachlichen und spirituellen Gesichtspunkten zu organisieren. Zunächst jedoch würden die Ältesten Herlaf und andere junge Koraa begutachten um sie dann während einer feierlichen Zeremonie einzuteilen und zu Kennzeichnen. Aus respektvollem Abstand blickten Herlaff und die anderen Debütanten auf die vor ihnen schwebenden Ältesten, deren einst tiefschwarze Haut von den Jahrmilliarden in ein dunkles Grau verwandelt worden war. Sie alle formierten sich jetzt hintereinander, krümmten ihre Körper zu Bögen und ließen sich langsam sinken, bis ihre Schwingenenden die Mondoberfläche berührten . Die Synchronität und Perfektion dieses Flugmanövers ließ erahnen wie oft sie schon Teil einer solchen Zeremonie waren. Jeder junge Koraa musste nun gemächlich durch den so entstandenen kilometerlangen Tunnel schweben , wo er abgetastet, geprüft und vom letzten Alten mit dessen Farbdrüsen an der Schwanzflosse markiert wurde. Jene schicksalhafte unabänderliche Markierung würde sein Leben bis zum Tode prägen und so hoffte er, das man wegen des Schicksals seines Vaters Rücksicht üben würde und er in wenigen Minuten nicht das gelbe Zeichen der Jäger auf seiner Schwanzflosse erblicken musste. Er vernahm das Signal der Ältesten und schwebte langsam auf den Tunnel zu. Neidvoll blickte er auf den Koraa vor sich, der sich wegen seines überdimensionalen Mauls seit langer Zeit sicher sein konnte, zu den Trägern berufen zu werden . Seine anfängliche Aufregung verging in der beruhigenden Dunkelheit des Tunnels, kam jedoch kurz vorm erreichen der Markierungsstelle um ein vielfaches verstärkt zurück . Ein kurzer, heftiger Schmerz, welcher von den aggressiven Farbkristallen verursacht wurde, die sich ins Schwarz seiner Schwanzflosse brannten signalisierten ihm „ Es ist passiert „. Unmittelbar hinterm Tunnellende drehte er seine Schwanzflosse nach vorn und blickte, so gefasst es ihm möglich war, auf die noch schmerzende Markierung . Die Farbe seines Körpers wandelte sich sprunghaft wie nie in ein freudiges Dunkellila, als er aus dem Augenwinkel das schimmernde Türkis der Späher vernahm. Wie alle Anderen auch, verlieh er seiner Freude durch spektakuläre Flugmanöver und Farbwechsel Ausdruck, die bald schon die Mondoberfläche in ein wogendes Farbenmeer verwandelte. Unbedingt wollte er die Entscheidung der Ältesten durch einen erfolgreichen ersten Einsatz würdigen und so flog er mit zehn anderen Spähern auf Herloo zu, der in einem schimmernden 18
blau, von weißen Wolken umringt, in der Sonne leuchtete. Kurz vor Eintritt in die Atmosphäre trennten sich ihre Wege und Herlaff flog allein auf das unter ihm liegende tiefblaue Meer zu, das er zu erkunden hatte. Er genoss die Reibungshitze der sauerstoffhaltigen Atmosphäre, die seinen kristallenen Körper dunkelrot glühen ließ. Dampfend und zischend tauchte er ins Wasser ein. Mehrfach schoss er wieder in die Atmosphäre, brachte seinen Körper zum Glühen und kühlte ihn dann riesige Dampfwolken hinterlassend im Wasser ab. Es fiel ihm schwer dieses unterhaltsame Spiel zu beenden, aber er war jetzt erwachsen und hatte hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen und so schraubte er sich kraftvoll in die dunklen Tiefen des Meeres. Er war sehr schnell und hätte fast nicht bemerkt, das er etwas weiches durchflogen hatte. Neugierig drehte er um und erblickte ein großes schwarzes Tier mit mächtigen Schwanzflossen, das sich sterbend wand. Aus einer riesigen Wunde, die er wohl verursacht hatte quoll eine Flüssigkeit und färbte das umliegende Wasser tiefrot. Gebannt folgte er dem in die dunkle Tiefe sinkenden massigen Körper, aus dem inzwischen jedes Leben gewichen war. „ Es ist organisch, also dürfen wir es fressen“ dachte er und freute sich, war es den religiösen Koraa doch verboten, kristallines Leben zu töten. Schon als sie das letzte mal hier waren hatten sich viele Jäger geweigert, die riesigen Flugechsen zu töten, welche damals die Lüfte von Herloo beherrschten, ob organisch oder nicht, sie sahen den Koraa entfernt ähnlich und beherrschten immerhin schon den inneratmosphärischen Flug. Vielleicht waren sie entfernte Verwandte, in diesem verrückten Universum war alles möglich und die Priester fürchteten den Zorn des Weltenschöpfers. Harlef riss mit seinen messerscharfen Zähnen einen großen Brocken weißen Fleisches aus dem Körper des Tieres und musste sich zusammenreißen ,den Vorschriften genüge zu tun und ihn nicht hinunterzuschlucken . Zuerst würden es die Alten begutachten und dann entscheiden den Planeten Leerzufressen oder nicht. Sein schwarzer Körper schoss in einer Fontäne schäumenden Wassers blitzartig aus dem salzigen Ozean Herloos in Richtung seines Mondes, der von den schwarzen Körpern seines Volkes bedeckt seinen silbrigen Glanz verloren hatte. Er hatte gerade die Atmosphäre verlassen, da sah er aus dem Augenwinkel ein seltsames Objekt. Noch nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Neugierig flog er langsam näher, um das fremde Wesen nicht zu verscheuchen. Es war kein Koraa, soviel stand fest. Seiner Form fehlte jegliche Eleganz und Ästhetik und es reagierte nicht auf seine Radiosignale. Sein plumper Körper war Weiß, wie der eines Babys, die Schnauze jedoch pechschwarz, wie bei einem Erwachsenen. Am verwunderlichsten jedoch war seine rechteckige , mehrfarbige Kennzeichnung an der Schwanzflosse, welche er noch nie gesehen hatte. Einem roten Streifen folgte stets ein weißer und am rechten oberen Rand befand sich ein kleineres blaues Rechteck voller goldener Sterne. Herlaf nahm all seinen Mut zusammen flog frontal vor jenes unbekannte Wesen, so das sich ihre Schnauzen berührten und sah ihm geradewegs in die Augen. Er erstarrte, denn er konnte durch die Augen des Wesens direkt in sein Inneres sehen, aus welchem ihn kleine Geschöpfe mit weit aufgerissenen Mäulern regungslos anstarrten. Die Sache war ihm unheimlich und so gewann er schnell einen respektvollen Abstand und sandte ein Signal zum Schwarm. Wenig später tauchten Torgal, der Führer der Jäger, Argand, der Hohepriester und Korva, der Stammesälteste vor ihm auf , deren Leiber grünlich schimmerten, ein Zeichen von Verärgerung, wohl weil Herlaf eine Notfrequenz benutzt hatte. Das verärgerte Grün wich jedoch blitzartig einem neugierigen Türkis als sie das seltsame Wesen erblickten . Alle vier flogen näher und umkreisten es in geringen Abstand, denn allen war klar das es plump und ungefährlich war. Sie alle schwebten dann unmittelbar vor der Schnauze des Wesens und schauten verwundert auf die Geschöpfe in dessen Inneren die es noch immer nicht vermocht hatten ihre Mäuler zu schließen und ihre Starre zu überwinden. Korva war der Erste der das Schweigen brach „ Von den kleinen Geschöpfen gibt es viele auf Herloo, haben uns die anderen Späher übermittelt. Sie sind nicht kristallin, aber leben wohl öfter in Symbiose mit metallenen Flugwesen die uns nicht unähnlich sind.“ Es ging um viel bei diesem Gespräch . Gab es zu viele Ähnlichkeiten zwischen ihnen und den Koraa , war ihre 19
Reise umsonst gewesen. Zwar benötigten sie noch keine Nahrung, aber wie es nun einmal war, die Jäger wollten jagen, die Träger tragen und der Rest des Stammes einfach wieder einmal fressen und sei es nur des Geschmackes wegen. Torgal, bereits in Jagdlaune, machte seiner Verärgerung Luft und brachte mit einem kräftigen Flossenschlag das weiße Ding zum Rotieren, welches ihm vielleicht den Spaß verderben würde. Die Geschöpfe in seinem Inneren, wurden wild mit den Armen rudernd in seinem Bauch herumgeschleudert. Argand, der Hohepriester, stoppte mit seiner silbergestreiften Schwinge die Rotation des Geschöpfes, sah Torgal vorwurfsvoll in die Augen und sagte „ Die kleinen Organischen und die großen Metallenen gehören offenbar zusammen. Die Metallenen sind uns ähnlich und sogar gekennzeichnet. Wir sollten die Zähne von ihnen lassen sonst zürnt uns der Weltenschöpfer.“ Torgal, dessen Wut sich noch gesteigert hatte, schlug trotzig erneut mit seiner Schwinge auf die Flügel des Weißen metallenen und ließ ihn diesmal in die andere Richtung rotieren. Die kleinen Geschöpfe in seinem Inneren wurden wieder herumgeschleudert. Einige von ihnen hatten ihre vorderen Greiforgane gefaltet und gen Himmel gestreckt, andere würgten einen rötlichen Brei aus ihren Mäulern, wieder andere zappelten einfach unkoordiniert herum. Korva, der Stammesälteste stoppte die Rotation des Geschöpfes und sprach das letztlich entscheidende letzte Wort. „ Wir bejagen diesen Planeten nicht. Wir müssen noch nicht fressen und das Risiko hier Kannibalismus zu begehen ist zu hoch. Wenn uns die Gunst des Weltenschöpfers verlässt werden wir nicht mehr lange unbeschwert durch das Universum fliegen , seid euch da Gewiss „ Alle erschauderten und mussten an die vielen Stämme denken die der Weltenschöpfer verlassen hatte und die dann durch Navigationsfehler in schwarze Löcher gerissen wurden. Aus denen kam nichts mehr heraus , nicht einmal ihre Seelen. In den schwarzen Löchern saß der Teufel, dessen waren sich alle gewiss und so wiedersprach niemand Korvas Worten. Glücklich sah dieser bei dieser unpopulären Entscheidung dennoch nicht aus, musste er sie doch selbst dem Stamm verkünden. Torgal schwieg und beschleunigte, seine Haut Zorniggrün schimmernd, mit wilden Flugbewegungen Richtung Mond. Plötzlich schossen Flammen aus den Hinterdrüsen des weißen Geschöpfes und beschleunigten es direkt auf Korva zu, der jedoch schnell reagierte und es mühelos mit seinem Körper abbremste.“ Kaum Schub“ sagte er mitleidsvoll und blickte auf Herlaf der mitten in den Flammenstrahl flog um nach einem Fehler zu suchen und dem Wesen vielleicht zu helfen. Er hielt die Schnauze direkt in eine der Trichterförmigen flammenspeienden Drüsen, konnte aber keinerlei Ursache für dessen Schwäche feststellen. In diesem Moment beendete das Wesen seinen jämmerlichen Flammenausstoß, wohl um Energie zu sparen oder sich nicht weiter der Lächerlichkeit preiszugeben. „Wir können ihm nicht Helfen!“ stellte Argand , der Hohepriester fest und verlieh seinem Bedauern mit einer Wellenartigen Bewegung seiner Schwingen Ausdruck. Die verbliebene schüttelten zustimmend ihre Schwanzflossen und flogen dann langsam in Keilformation zurück zum Mond. Nachdem sich die Navigatoren beraten hatten formierte sich der Stamm um Kurs auf den in lilanem Silber glänzenden Centauri Nebel zu nehmen, wo das Leben nicht so dünn gestreut war wie in diesem entlegenen Teil der Galaxis . Dort würden sie sich Paaren und mit anderen Stämmen treffen. Die jungen Koraa würden ihre Kräfte miteinander messen und Monde aus ihrer Umlaufbahn werfen, die Navigatoren würden sich Bäuchlings berühren und Sternenkarten tauschen um ein noch genaueres Bild dieser Unendlichkeit zu bekommen, die sie Heimat nannten. Sie beschleunigten langsam bis sie schnell waren wie das Sonnenlicht wo ihnen der Weltenschöpfer die Grenze ihrer Geschwindigkeit gesetzt hatte. Dann begannen sie zu träumen.
20
Der Automat von Ralf Streitbörger
In ferner Zeit gehören Kneipenschlägereien der Vergangenheit an. Grund ist eine völlig neue Art von Spielautomaten. Das jüngste Modell entwickelt jedoch ein unheilsames Eigenleben...
Greg sah John an und bestellte noch mal zwei Getränke. „Der geht auf meine Rechnung!“ rief er ihm zu und steckte seine Kreditkarte in den dafür vorgesehenen, rotblinkenden Schlitz des Cocktaildroiden. Dann drückte er den inzwischen schon ziemlich abgenutzten, blauen Auswahlknopf für „ Bloody Mary “ auf der Brust des Metallmannes. Wegen der rötlichen Färbung des Planeten gab es dieses Getränk hier ganzjährig zum halben Preis, was schon so manchem zum überpromillierten Verhängnis geworden war. Patou 4 hatte sich in den letzten Jahren zum Paradies für interstellare Säufer gemausert. Die Preise stimmten und selbst ein Rückwärtsflug vom Barhocker zu fortgeschrittener Stunde endete aufgrund der geringen Schwerkraft höchstens mit ein paar blauen Flecken. Raumfrachterpilot Greg und sein Copilot John flogen zusammen nun schon seit fast zehn Jahren Güter aller Art quer durch die Galaxis. Alkohol war auf den langen Flügen verboten, dennoch bemühten sich beide recht erfolgreich bei den seltenen Gelegenheiten auf die durchschnittliche Gesamttrinkmenge männlicher Erwachsener in diesem Teil des Universums zu kommen. Drei Sekunden nach der Bestellung standen die nächsten Cocktails vor den Männern in ihren Raumanzügen. Diese hatten sich bei Veranstaltungen dieser art als sinnvoll erwiesen, ersparten sie einem doch die unangenehmen Klogänge, welche im Laufe des Abends ohnehin immer schwieriger wurden. „ He Kumpel,“ lallte Greg in Richtung Kellner „ Habt ich hier nen Bad Boy?, mir is grad danach“ „ Dort neben dem Zigarrettenautomaten, Sir!“ antwortete dieser mit blecherner Stimme und deutete in Richtung Nebenausgang. „ Welches Modell?“ „ Terranischer Zuhälter von Lunagames, Nagelneu“ Greg stand auf und wankte in Richtung Zigarettenautomat. Beeindruckt schaute er auf das Ergebnis neuester Unterhaltungselektronik, die Ursache für den Rückgang interstellarer Kneipenschlägereien um 95 Prozent. Noch nie sah er einen so realistischen Automaten gesehen und er hatte sie schon alle gespielt, vom Berggorilla bis zum Veganischen Barbaren. Gut zwei Meter war er groß, sonnengebräunt und durchtrainiert, trug Leopardenjackett und Lederhose. Sein von einem blonden Oberlippenbart geziertes Gesicht hatte brutale Züge die noch von einer goldberandeten Pilotenbrille unterstrichen wurden. Magisch anziehend blinkte der rote Einsteckschlitz für Kreditkarten auf seiner Brust. „ Den mach ich fertig, John!„ rief er John zu, der jedoch schon am Tresen schlief, dann steckte er die Karte in den Schlitz. Wie immer war der Kunde König und durfte beginnen. „ He, du Arschloch, dein Friseur bildet also auch aus“, sagte Greg der sich inzwischen breitbeinig vor dem Riesen aufgebaut hatte „Und außerdem scheint hier nicht unbedingt die Sonne!“ Mit diesen Worten wischte er ihm mit einem abfälligen Blick die Brille von der Nase um sie dann genüsslich am Boden zu zertreten. Der Automat wechselte seine Hautfarbe von sonnenbraun auf zornesrot. Er nahm wutschnaubend Anlauf und sprang auf Greg zu . Dieser machte lässig einen Schritt zur Seite. Erwartungsgemäß flog der Zuhältertyp aus Kunststoff und Leichtmetall knapp an ihm vorbei und knallte mit voller Wucht gegen den Titantresen. „ Hättest vorher Zielwasser trinken sollen, Trottel“, sagte Greg mit einem coolen Grinsen. 21
„ Hör auf Mann, ich geb auf. Du bist halt einfach der Bessere“, hechelte der am Boden liegende dann mit unterwürfiger Stimme. Aus seinem eingeknicktem Nasenbein lief künstliches Blut. „Maul halten!“ entgegnete Greg nun und während er sich lässig eine Zigarrette anzündete trat er ihm noch einmal ins Gesicht, dass die Zähne flogen. Plötzlich begann die grüne GAME OVER Leuchte über dem Kreditkartenschlitz zu blinken. Der Automat stand auf, und während er mit einem gleichmütigen Gesichtsausdruck zurück auf seinen Stellplatz ging drückte sich sein eingedrücktes Nasenbein mit einem leisen Surren wieder heraus. „ Schade, mal wieder viel zu kurz so ein Spiel“, dachte Greg noch während er sichtlich zufriedener an seinen Platz zurücktorkelte „Aber der Abend ist ja noch lang.“ Der Cocktaildroide nahm zwei Zähne und eine Sonnenbrille aus dem Zubehörkasten an der Wand und brachte den Automaten beinahe liebevoll wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Dann ging er hinter den Tresen zurück und sagte zu Greg: „Ziemlich brutal, diese Art der Unterhaltung. Stellen sie sich vor, man würde so etwas jeden Abend mit ihnen aufführen, Mister.“ „ Was solls, ist doch nur ne Masch..., äh“, Greg errötete. Er wusste das man Cocktaildroiden mit einer ziemlich komfortablen emotionalen Bandbreite ausstattete, um ihnen einfühlsame Gespräche mit unglücklichen Gästen zu ermöglichen. Die Kehrseite der Medaille war ihre Empfindlichkeit die sich meist durch unsaubere Gläser und verlängerte Bedienzeiten äußerte. Tatsächlich dauerte es fast zehn Minuten bis er den heißersehnten Drink in seinen Händen hielt. „ Verdammter Blechmann !“ schrie der zur Ungeduld neigende Greg den Androiden an und deutete symbolisch auf seine Raumfahreruhr „Einschmelzen sollte man dich!“ Der Barmann drehte sich ohne weiter zu reagieren um und zeigte ihm wahrhaft die kalte Schulter. Greg leerte den Drink in einem Zug und einzig seinem Zustand war es zu verdanken, das er die dunklen Schmutzpartikel in der Flüssigkeit, die sich vom ungewaschenen Glas gelöst hatten, nicht bemerkte. Dann stand er auf um seinen Agressionen Luft zu machen, ging zum Terranischen Zuhälter neben dem Zigarettenautomaten und steckte erneut seine Kreditkarte in den blinkenden Einsteckschlitz auf seiner linken Brustseite. Diesmal ersparte er sich das mühselige Gerede und trat ihm ohne Umschweife direkt zwischen die Beine. Der Kunsthüne verdrehte die Augen und brach röchelnd zusammen. „ Arrgg! Seine Eier sind hart wie Stein. Ich verlange Schadensersatz!“ schrie Greg den Droiden hinterm Tresen an und deutete auf sein schmerzendes rechtes Schienbein. „ Wir stellen die Automaten nur auf. Bei Reklamationen wenden sie sich bitte an Luna Games, Mare Britannikum, Cyberstreet 222345 in 45613 Luna“, entgegnete der Barmann betont gleichmütig. „Scheiss drauf!!“ schrie Greg wütend und trieb den jammernden Kunststoffgiganten mit Tritten in den Hintern quer durch die Bar. Dann ließ er ihn fast hochkommen, schlug ihm aber auf halben Wege wuchtig sein unzerbrechliches Cocktailglas auf den Mund. „Welch gelungene Aktion!„ dachte er zufrieden als er sah, das er dem Automaten sagenhafte sechs Zähne mit einem Hieb ausgeschlagen hatte. „ Sechs mit einem Schlag, das müsste doch ....!!!“ Richtig: Just in diesem Moment begann ein gelbes Lämpchen über dem Einsteckschlitz in seiner Brust ein Freispiel anzuzeigen. Greg riss die Arme in die Höhe. Nach unzähligen Tritten, Schlägen und Beleidigungen hatte es dann doch ein Ende. Der malträtierte Hüne stand auf und ging mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck auf seinen Stellplatz zurück. Diesmal steckte er seinen rechten Mittelfinger in ein Loch in der Wand um sich 22
aufzuladen. Der Cocktaildruide nahm eine ganze Hand voll Zähne aus dem Zubehörkasten. „Muss wohl bald neue Bestellen“, sagte er zu Greg während er sie dem Automaten Stück für Stück einsetzte. Dieser reagierte inzwischen auf gar nichts mehr und wankte aus der Tür auf die Strasse. Sein Zustand und die Dunkelheit machten es ihm Schwer den Weg zu seinem Gleiter zu finden und so verlief er sich in den spärlich beleuchteten Gassen Patous. Plötzlich vernahm er hinter sich ein Geräusch. Er drehte sich und das letzte was er wahrnahm war ein monströser Schatten unmittelbar vor ihm . Dann wurde ihm schwarz vor Augen. „Sieh dir das an!“ sagte Doktor Stone von der Phatologie zu seinem Kollegen Dr. Blitch . Gerade hatten sie die Leiche, die man auf der Strasse gefunden hatte aus ihrem Raumanzug geschält. „Ihm fehlen sechs Zähne und das Nasenbein ist gebrochen. Daran kann er aber doch nicht gestorben sein“ Dr. Blitch, der sich gerade Gummihandschuhe übergezogen hatte fühlte mit kompetenten Fingern Schädel und Wirbelsäule nach Frakturen ab. „Nichts!“ sagte er. Da bemerkte er auf der linken Brustseite, direkt über dem Herzen, einen schmalen roten Streifen. Mit der Pinzette griff er in den länglichen Schnitt und holte mit entsetztem Blick etwas hervor. Beide starrten mit geöffnetem Mund auf das blutige Stück Kunststoff , das er aus der Wunde gezogen hatte. „Unglaublich“, murmelte Dr. Stone, „Irgendjemand hat ihm die eigene Kreditkarte direkt ins Herz gedrückt“
23
Sind Sie ein Mensch? von Harald Schönknecht
Martin irrt schon lange durch das All. Seine Lebensgeschichte ist seltsamer, als man zunächst glaubt...
Martin glitt durch die endlose Leere, die Reise dauerte nun schon eine Ewigkeit. Nicht viele Wesen konnten so lange Zeiträume überdauern ohne wahnsinnig zu werden. Einen Moment lang blickte er sich um und entdeckte dabei das ihm jemand Gesellschaft leistete. Höflich wartete der Fremde darauf das er ihm seine Aufmerksamkeit schenkte. Martin sandte einen freundlichen Gruß in mehreren gebräuchlichen Kommunikationsformen aus. Überraschenderweise erhielt er die Antwort akustisch in einer Kommunikationsform, die er schon lange nicht mehr verwendet hatte. Die Sprache, in der die Antwort kam, war ihm irgendwoher bekannt. Die Denkmuster dieses Wesens waren ihm verständlich genug um eine sinnvolle Kommunikation zuzulassen. Also fragte er freundlich nach dem Grund der Anwesenheit des Fremden. Die Antwort kam zögerlich, doch dann wurde sie energisch vorgebracht, so als hätte das Wesen lange darüber nachgedacht diese Frage zu stellen. „Sind sie ein Mensch? Geboren auf der Erde? Ein großer Mond? Dritter Planet eines Sonnensystems im Pheripherbereich der Milchstraße mit gelbem Zentralstern? Neun Planeten insgesamt?“. Martin dachte eine Weile über die Frage nach. Es war seltsam, er konnte sich fast nicht mehr daran erinnern. Dann antwortete er: „Ja. Ich bin ein Mensch.“. Der Fremde gab ein Geräusch von sich das Martin nicht zuordnen konnte und fragte dann weiter: „Kennen sie einen anderen Menschen?“. Martin wurde einen Moment lang von einem Gefühl der Einsamkeit überschwemmt und antwortete langsam: „Nein.“. Der Fremde gab abermals das undefinierbare Geräusch von sich und fragte dann: „Warum sind sie hier?“. Die Welle der Einsamkeit wurde zu einer fast fühlbaren Last und Martin wünschte sich Tränendrüsen um Weinen zu können. Doch dies konnte er nicht mehr, wie so vieles. Nach einem Moment, den er brauchte um sich zu sammeln, antwortete er: „Das ist eine sehr lange Geschichte. Ich will sie nicht damit langweilen.“. Doch der Fremde antwortete schnell: „Keinesfalls! Ich bin sehr interessiert an dieser Geschichte! Bitte... erzählen sie...“. Martin gab ein seufzendes Geräusch von sich und ließ sein Bewusstsein zu jenen alten Zeiten zurückfallen. Es fiel ihm zunächst schwer sich zu erinnern, doch dann kamen die Erinnerungen zum Vorschein. Wie Engel und Dämonen aus dem Nebel der Vergangenheit erschienen Bilder, Töne, Gerüche und Gefühle, Gedanken und Wünsche. Und Martin begann zu erzählen... "Ich stand auf dem Dach des Hauses. Die Sonne war untergegangen und hatte die Häuser rotgolden beschienen. Es war ein wunderschöner Anblick gewesen, passend für den letzten Tag meines Lebens. Ich nahm einen Schluck Portwein und durchdachte noch einmal alles. Es störte mich nicht mehr. Ich hatte keine Lust darauf zu warten das mich die Alkoholsucht dahinraffte oder das weiße Gift; war es leid von wohlwollenden Ärzten gerettet zu werden, obgleich ich das nicht wollte. Diesmal würde ich es beenden, und zwar endgültig. Tot war ich ohnehin schon seit Jahren. Seit Christine mich verlassen hat... oder schon länger? Die monotone Arbeit tagtäglich, Menschen die sich wie Maschinen benahmen, Maschinen die 24
darauf programmiert waren sich wie Menschen zu verhalten. Es war alles so sinnlos. Gott war tot, der Mensch hatte ihn ermordet. Das waren meine Gedanken zu jenem Zeitpunkt und energisch warf ich die leere Flasche Portwein vom Dach. Ich blickte nach, wie das glänzende Glas sich drehend von der Dunkelheit der Straßenschluchten verschluckt wurde. Dann lachte ich laut auf, ob der Absurdität, und sprang in die Freiheit... es war der längste Sprung meines Lebens. Ich konzentrierte mich auf jeden Moment, wollte alles auskosten, noch ein letztes Mal „Leben“. Der Wind begann an meinem verschwitztem Hemd zu zerren und ich konnte hören wie die Luft an mir vorbeirauschte. Ich roch die Stadt, die abgasgeschwängerte, hunderte Male geatmete Luft. Fenster rasten an mir vorbei, Lichter dahinter, Menschen verbrachten den Abend mit für mich sinnlosen Beschäftigungen. Ich schrie, nicht vor Angst, sondern vor Freude. Endlich tat ich etwas das mir niemand diktierte. Ich war frei! Zum ersten Mal seit 34 Jahren war ich frei. Ich kann mich nicht gut an den Aufprall erinnern. Da war ein lautes, klatschendes Geräusch, durchdrungen vom zerbrechen vieler Knochen. Ich kann mich noch erinnern das mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde, an den Gedanken: „Das war es also“. Danach kamen Lichter. Ich wußte nicht woher die Lichter kamen, erinnere mich das ich rufen wollte: „Geht weg! Laßt es enden! Es hat ja doch keinen Sinn!“. Die Lichter kamen näher und dann war da eine feuchte Wärme. Verwundert und fragte ich mich damals ob es vielleicht doch einen Himmel geben mochte. Danach waren da wirre Träume... oder vielleicht doch keine Träume... Geräusche von rotierenden Klingen, der Geruch von verbrannten Fleisch und der metallische Geruch von Blut. Lichter, die um mich herum waren, fremde „Dinge“ die um mich herumstanden. Ich habe nie herausgefunden wer sie waren und warum sie es taten... vielleicht machte es ihnen Spaß, vielleicht hatten sie Mitleid. Vielleicht wollten sie aber auch einfach nur ausprobieren ob es „funktioniert“. Ich kann mich nur daran erinnern das sie große, schwarze Augen hatten. Die Erinnerungen sind undeutlich, ich kam mehrere Male zu „Bewusstsein“, oder zumindest glaube ich das. Da ware eine warme, salzige Flüssigkeit und ich schwamm darin. Ich konnte nichts sehen, schmeckte aber das Salz; es füllte meinen Mund an. Ich atmete nicht und erschrak darüber. Dann erinnerte ich mich an den Sprung und die Angst erfüllte mein Bewußtsein. Was war geschehen? Wo war ich? Dies konnte doch nicht der Tod sein. Ich wollte mich bewegen, um mich schlagen, wollte schreien. Doch völlig hilflos und gelähmt war ich. Die Idee das mich die Ärzte „gerettet“ hatten tauchte in meiner Vorstellung auf. Das ich mit gebrochener Wirbelsäule im Krankenhaus lag und nun mein restliches Leben als Krüppel verbringen würde. Bitter dachte ich mir das ich es nicht einmal geschafft hatte ein sauberes Ende zu machen. Dann schlief ich wieder ein. Das nächste Mal erwachte ich als jemand etwas in meinen Mund schob. Immer noch war ich gelähmt und konnte mich nicht dagegen wehren. Ich wollte das Ding ausspeien und konnte nicht. Es wurde mir hineingeschoben. Oder bewegte es sich von selbst? Zu diesem Zeitpunkt war ich an der Schwelle des Wahnsinns. Vielleicht ist sogar damals etwas in mir zerbrochen und hat mich für immer verändert? Ich fühlte wie etwas in meine Lungen kroch und sich dort festsetzte. Dann fühlte ich wie etwas durch meinen Anus kroch und sich in meinem Bauch ausbreitete. Einen starken Schmerz fühlte ich als sich ein Ding in mein Ohr bohrte und mein Trommelfell durchbrach. Und noch 25
weiter breitete sich das „Ding“ in mir aus, füllte mich an und eroberte meinen Leib. Endlich wurde ich ohnmächtig, ich war mir sicher in der Hölle gelandet zu sein. Der nächste wache Moment war seltsam. Ich konnte sehen. Wirbelnde Farben, Licht und Schatten. Aber keine Formen. Ich wollte mich bewegen, war aber immer noch nicht dazu in der Lage. Die schemenhaften Bewegungen wollten einfach keine Form annehmen und verzweifelt fragte ich mich ob dies das Fegefeuer war? Ob ich nun für meine Sünden im Leben bereuen mußte. Ich versuchte mich an mein Leben zu erinnern und wollte ehrlich bereuen. Aber was sollte ich bereuen? Sollte ich bereuen das ich ein zurückgezogener Mensch gewesen war? Das ich zu anderen Menschen keinen Kontakt aufbauen konnte? Das ich mich Anderen überlegen fühlte? Das ich mich selbst für Taten haßte die Andere begangen hatten? Das ich mein Leben nicht zu etwas Besonderen gemacht hatte? Das ich... das ich mein Leben so beendet hatte? Ich bat zu dem Gott in dessen Glauben ich als Kind erzogen wurde. Ich bat um Vergebung, um Erlösung, suchte nach meinen Verfehlungen und verurteilte mich dafür. Ich konnte nicht weinen. Dies fiel mir nur nebenbei auf, die gesamte Situation war so absurd das dies nicht mehr ins Gewicht fiel. Die Zeit verging, Stunden, Monate oder Jahre? Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Dann war da ein seltsames, ziehendes Gefühl. Wie wenn jemand einem über die Haut bläst, nur viele Male fester. Meine Haut straffte sich und ich fühlte mich wie damals, als ich im Meer getaucht hatte. Ich bin damals tief hinunter getaucht und hatte einen Druckausgleich gemacht. So lange wie möglich blieb ich unter Wasser, betrachtete die Meereswunder. Dann tauchte ich mit schnellen, kräftigen Bewegungen auf. Da hatte ich ein ähnliches Gefühl gehabt, beim Auftauchen. Verwirrt und verängstigt merkte ich das sich meine Sicht verbesserte. Ich sah... Dunkelheit. Eine tiefe, schwarze Dunkelheit. Darin eingebettet einige helle Lichtpunkte die erst langsam deutlicher wurden. Ich wollte blinzeln, doch ich hatte keine Augenlider. Ich wollte mich bewegen, aber immer noch war ich dazu nicht in der Lage. Ich blickte um mich und fragte mich verzweifelt was denn dies alles wäre. Den Sprung hatte ich tausende Male bereut, jeden Fehler – oder was ich für Fehler hielt – meines Lebens hatte ich bereut. Warum endete dies denn nicht endlich? Ich schwebte in der tiefen Dunkelheit und irgendwann kam wieder genügend Verstand in mein Bewußtsein um mich erkennen zu lassen das ich den Sternenhimmel sah. Wohin ich auch blickte, überall waren die Sterne. Erinnerungen an lange zurückliegende Tage kamen hoch, besonders an einen Religionslehrer an der Schule. Er hatte gemeint nach dem Tode würde man Gottes Werk in seiner gesamten Größe sehen können. Man würde das gesamte Universum erfassen und erkennen. Doch ich konnte nur die Sterne sehen... Lange Zeit über schwebte ich in der Finsternis, dämmerte ab und zu ein. Ich hatte aufgehört zu beten, ja ich hatte sogar meine Angst abgelegt. Vielleicht war da immer noch ein Hauch von Hysterie, aber ich konnte nichts ändern. Und immerhin war der jetzige Zustand bei weitem besser als zuvor. Ich hatte keine Schmerzen und ich konnte sehen. Mit einiger Verwunderung hatte ich dann entdeckt das ich besser sehen konnte als je zuvor. Wenn ich mich auf einen einzelnen Stern konzentrierte dann schienen sich alle anderen Sterne von diesem wegzubewegen. Ich habe eine Weile gebraucht herauszufinden das ich das Abbild 26
vergrößert hatte. Als ich sah wie ein Lichtpunkt zu zwei Punkten wurde erkannte ich dies schließlich. Endlich hatte ich eine Beschäftigung um mich abzulenken. Ich sah mir die Sterne genau an und wurde immer wieder überrascht von der Schärfe meiner Augen. Da waren farbige Wolken um Sterne, blau und grün, rot und gelb. Ich konnte Zweifach- und Dreifachsysteme sehen. Und einige Sterne wurden sogar zu Scheibchen anstatt von Punkten. Ich versuchte bekannte Muster am Himmel zu finden, oder vielleicht sogar den Mond zu sehen. Aber ich fand nichts dergleichen. Aber – so tröstete ich mich – ich konnte mich ja nicht bewegen. Vielleicht war der Mond nur im toten Winkel. Ein Geräusch riß mich aus meinen Betrachtungen. Ein häßliches Rauschen begann übergangslos und mit schmerzhafter Lautstärke, wurde dann schnell leiser und brach einige Male ab. Ich konzentrierte mich auf das Geräusch und versuchte einen Sinn darin zu erkennen. Viele Male meinte ich Worte oder Melodien zu hören, doch das waren nur Sinnestäuschungen. Es blieb ein einfaches Rauschen, über lange Zeit hinweg. So sehr hatte ich mich schon an das Rauschen gewöhnt gehabt, das ich sofort aus einem Dämmerzustand aufwachte als es verschwand. Es wurde von einer Leere ersetzt die sich anders anhörte als die Geräuschlosigkeit vor dem Rauschen. Viele kleine Geräusche waren da, teilweise gewohnt und teilweise neu. Ich hörte das Blut in den Ohren rauschen. Erst jetzt fiel mir auf das ich dieses Geräusch die ganze Zeit über nicht gehört hatte. Auch meinen Herzschlag hörte ich leise. Noch nie zuvor hatte ich so deutlich mein Herz schlagen gehört. Also lebte ich noch, wurde mit bewußt. Ich versuchte zu reden, konnte aber meine Stimme nicht hören. Ja ich wußte nicht einmal ob sich mein Mund bewegte, ich konnte ihn nicht spüren. Die mir unvertrauten Geräusche drängten sich nun auf. Da war ein beständiges Summen wie von tausenden Bienen. Laute, wie von schreitenden Füßen erzeugt, und schleifende Geräusche, als würden Dinge gezogen oder geschoben. Verwirrt stellte ich fest das einige Geräusche aus meinem Inneren zu kommen schienen. Ich dachte mir damals das es sich um eine seltsame Sinnestäuschung handeln musste. So wie man manchmal ein Geräusch auf der Linken Seite hört obwohl es doch eigentlich von rechts kommt. Andere Geräusche kamen allerdings eindeutig von Außerhalb. Ich hörte dort leises Rauschen in verschiedenen Tonlagen, knackende Geräusche und rhythmische Pulse. Nachdem ich meine Angst größtenteils besiegt hatte, begann ich in meinen Erinnerungen nach Erklärungen für all das zu suchen. Ich überlegte ob es wohl Fieberträume sein mochten. Doch zu real kam mir alles vor, zu wirklich. Langsam begann ich seltsame Gefühle zu spüren. Zusätzlich zu den Geräuschen war mir als ob in gewissen Bereichen meines Körpers Bewegungen stattfanden. Ich war desorientiert, zuerst kamen die Geräusche scheinbar aus dem Inneren und nun die Bewegungen die ich spürte. Immer absurdere Erklärungen suchte ich, um einen aufkeimenden Verdacht fernzuhalten. Zu gut erinnerte ich mich noch an diese „tastenden Dinge“ die meinen Körper penetriert hatten. Ich wollte den Gedanken, das sich diese in mir bewegten, nicht zulassen. Irgendwann entwikkelte ich einen Geruchssinn. Ein sehr schwacher, süßlicher Geruch hing in der Luft, ich verspürte seltsamerweise Hunger als ich ihn wahrnahm. Und noch andere Gerüche waren da. Einen leicht sauren Geruch fand ich interessant und ein beißender Uringeruch stieß mich ab. Der Wunsch nach Bewegung wurde immer stärker. 27
Wie seltsam als ich dann plötzlich bewegt wurde. Es fing sehr langsam an, ich hatte das Gefühl als würde mein Oberkörper langsam herumgedreht. Immer dachte ich schon: „Jetzt wird mir bald das Kreuz brechen!“, doch ich drehte mich komplett um meine eigene Achse und nahm wieder die Ausgangsposition ein. Einen kurzen Moment lang sah ich einen grauen Felsbrocken in der Leere schweben, doch ehe ich mich noch darauf konzentrieren konnte war er auch schon wieder aus meinem Blickfeld verschwunden. Dann wurde ich nach vorne gebeugt. Abermals gab es kein Hindernis, und ich kam in der ursprünglichen Position wieder an. Erschrocken fragte ich mich was mit meinen Beinen wäre, doch in dem Moment fühlte ich wie sie sich zu bewegen begannen. Langsam stellte sich ein Bein vor das Andere und entdeckte das sich einige kleine Lichtpunkte langsam zu bewegen begannen. Immer schneller schritt ich aus, ich bekam Angst und wollte stehenbleiben. Doch ich konnte nicht. Ich begann zu rennen und viele Sterne begannen sich nun deutlich zu bewegen. Die Gerüche, die ich wahrnahm, veränderten sich nun laufend. Ich wurde von dem süßlichen Geruch auch weiterhin angezogen, konnte mich aber nicht darauf zubewegen. Die Klänge, die ich hörte, schienen immer hektischer zu werden, eine chaotische Symphonie von Geräuschen war um mich herum. Endlich wurde ich wieder langsamer und schließlich blieb ich stehen. Voller Verwunderung sah ich eine blau-weiße Kugel unter mir schweben. Auf der Nachtseite sah ich Lichter und auf der Tagseite feine Wolkenspiralen. Aber die Sonne war viel zu hell. Und die Kontinente waren seltsam unvertraut. Ich fand keine Erklärung, doch ich hatte auch kaum Zeit diese Welt zu betrachten. Kleine Punkte lösten sich von meinem Mund? Sie begannen auf den Planeten zuzufallen und ich wurde wieder um meine Achse gedreht. Dann abermals dieser unfreiwillige Lauf, viel länger diesmal. Als ich stehenblieb war ich mitten in einem Feld des süßlichen Geruchs. Vorsichtig wagte ich den Versuch mich zu bewegen und stellte zu meiner Verwunderung fest das ich es konnte. Ich schnappte automatisch mit meinem Mund nach dem süßlichen Geruch und nahm etwas auf. Es war wie pure Lebensfreude, sofort fühlte ich mich stärker. Ich hatte keine Ahnung wo ich war, keine Ahnung was mit mir geschehen war, doch ich schnappte nach so viel von dieser Substanz wie nur möglich. Dann, als ich satt war, bewegte ich mich langsam im Kreis, versuchte herauszufinden wo ich war. Inzwischen war mir klar das ich irgendwie im All schwebte. Ich fragte mich ob dies das Leben nach dem Tode wäre, ob es "ein weiteres Leben" wäre. Ich sah mich um und suchte nach einem bekannten Ort, fand jedoch nichts was mir bekannt vorkam. Schließlich begann ich wieder zu gehen, langsam trottete ich in eine willkürliche Richtung los. Ab und zu hörte ich ein Knacksen oder Rauschen, doch sonst war da nur Stille. Unwillkürlich wich ich dem beißenden Uringeruch aus und schnappte automatisch nach der süßen Substanz. Ich war sehr einsam. Nach einer Ewigkeit sah ich einen seltsam geformten Metallklotz weit vor mir. Ich bewegte mich darauf zu und besah ihn mir genau. Da waren Geräusche die irgendwie anders klangen als die Bisherigen. Es war kein einfaches Knacksen oder Rauschen sondern klang fast wie eine Melodie. Ich versuchte die Melodie nachzusummen und war erstaunt darüber als ich mich selbst summen hörte.
28
Ich würde wohl auch heute noch verwirrt herumirren wenn ich damals nicht diese Wesen gefunden hätte. Sie machten mir klar das ich den Metallklotz in den Mund nehmen sollte, und kurze Zeit später fühlte ich dann wieder Bewegungen in mir. Und dann war plötzlich jemand neben mir, oder in mir. Er sprach in einer unbekannten Sprache in meinem Bewußtsein. Dann in einer anderen Sprache. Ich versuchte ihn zu fragen wer er ist und wo ich bin und was das alles überhaupt ist. Nach langer Zeit begannen wir voneinander zu lernen. Ich hatte nur diese Beschäftigung, was hätte ich anderes tun sollen. Ob er meine Sprache lernte oder ich seine weiß ich nicht mehr. Jedenfalls machte er mir damals klar was geschehen war. Zunächst war ich war schockiert, dann verwundert. Und dann wurde mir bewußt das ich nie wieder auf die Erde zurückkehren konnte. Zumindest nicht auf die Oberfläche. Viele Informationen teilte mir die Besatzung des Raumschiffes damals mit. Ich konnte mit ihrer Hilfe auch die Position der Erde finden, doch ich bin nie dorthin zurückgekehrt. Was hätte es auch gebracht? Man hätte mich im Besten Fall für ein Monster gehalten. Und ich hatte Angst vor Mitleid. Als die Wesen mich verließen wußte ich dann auch das alle Menschen, die ich auf der Erde gekannt hatte, ohnehin längst tot waren. Wenn ich rannte dann verging die Zeit anders für mich. Viele tausend Jahre waren bereits vergangen. Und seither bin ich durch das All gerannt und habe mir die Sterne angesehen. Eine lange Zeit über war es aufregend, doch jetzt bin ich wieder sehr müde geworden. Und deshalb... deshalb kehre ich nun zur Erde zurück. Seit hunderttausenden Jahren ist dies das erste Mal das ich zur Erde laufe. Ich will die Erde ein letztes Mal sehen, und danach werde ich noch einmal springen. Diesmal werde ich es aber richtig machen. Es gibt keine Rückkehr aus einem schwarzen Loch." Martin hielt inne und richtete seinen Blick auf die ferne Sonne. Er konnte aus dieser Entfernung bereits erkennen das sich die Sonne verändert hatte, sie war eindeutig rötlich verfärbt. Das Wesen, das so geduldig zugehört hatte, machte ein weiteres undefinierbares Geräusch und meinte dann: "Also war es richtig was uns die Fremden erzählt hatten. Sie sagten uns das sie einen Menschen getroffen hätten, der durch das All irrte.". Martin richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Fremden und betrachtete ihn nun genauer. Es schien als würde das Wesen, mit dem er sich unterhielt, in einem Raumschiff reisen. Aber sicher war er sich nicht, er hatte schon absurdere Lebensformen gesehen als diesen Metallklumpen in seiner Nähe. Martin suchte nach einer Luke oder einem Fenster durch das er in den Metallgegenstand sehen könnte. Das Wesen sprach weiter: "Es wird sie nicht überraschen das die Menschheit ausgestorben ist. Bereits seit tausenden Jahren.". Martin gab ein kleines bisschen Hoffnung auf, aber er war nicht überrascht. Leise sagte er: "Das macht auch keinen Unterschied mehr...". Abermals ein undefinierbares Geräusch, und das Wesen sprach weiter: "Auch wir kehren nun zurück zur Erde. Auch wir sind von tausenden Jahren aufgebrochen. Um nach dir zu Suchen, Meister...". Martin gab ein verwundertes Grunzen von sich und glitt näher an den Metallklumpen heran. Er konnte nun Rohrleitungen und Metallplatten erkennen, Nieten und Schweißstellen. Und er sah einen Schriftzug in weißer Farbe, allerdings durch Einschläge von Mikrometeoriten völlig unleserlich geworden. Doch dieser Metallklumpen sah trotz seiner klobigen Unförmigkeit irgendwie vertraut aus.
29
Im Inneren des Metallklumpens sah das Wesen auf einen Monitor und betrachtete voller Ehrfurcht den Menschen. Hunderte Meter lang war er und von einer dicken, ledrigen Hautschicht gegen das Vakuum geschützt. Die großen, schwarzen, lidlosen Augen glotzten vom Monitor, und der weit aufgesperrte Mund nahm automatisch Wasserstoff auf. Dieser Mensch hatte freilich keine Ähnlichkeit mit den Menschen die ihn gebaut hatten, dachte sich der Roboter...
30
Königin der Amazonen von Kerstin Dirks
Corven Detroit - ein Macho, wie er im Bilderbuch steht - verschlägt es nach einem Zeitreiseexperiment in ein fremdes Land, welches von einem wilden Frauenstamm beherrscht wird. Wird es Corven gelingen, sich gegen die Amazonen zu behaupten oder wird ihre Königin seinen Willen brechen?
Langsam verpufften die letzten Rauchwolken. Wie ein stickiger Schleier legten sie sich über die ausgebrannte Elektronik und nahmen den zischenden Fünkchen, die hier und da zwischen den Kontrolltasten und Monitoren aufglühten, die Luft zum Atmen. Kränkelnd und schnaubend, als wären die Maschinenteile lebendige Wesen, schienen sie um ihre zum Sterben verurteilte Existenz zu kämpfen. Und schließlich hörten die bunten Lichter und Tasten zu leuchten auf und mit ihnen verklangen die klagenden und zeternden Zischlaute, als hätte es sie nie gegeben. Vorsichtig lugte Corven Detroit hinter seinem Kontrollpult hervor und begutachtete mit kritischem, doch zugleich fachmännischem Blick, wie groß der Schaden der verkohlten Apparaturen war. Die Systeme waren ausgefallen, einige Kabel mochten verschmort und nun völlig untauglich sein. Wütend über den Verlust der teuren Technik stieß Corven seine behandschuhte Faust gegen das Kontrollpult, um diesem ein letztes, schmerzhaftes Zischen zu entlocken. „Verdammter Mist“, fluchte der sonst so besonnene, unter Selbstüberschätzung leidende Mann in dem grauen, dickgepolsterten Raumanzug. Nicht einmal der Kommunikator funktionierte, wie Corven zu seinem großen Bedauern feststellen musste. Er saß hier fest. Fest auf einem unbekannten Planeten, in einer ihm unbekannten Zeit. Das Experiment war geglückt, doch wem sollte er von diesem Triumph berichten? Es gab keinen Weg zurück in seine Zeit... in seine Welt. Jahrelang hatten die Wissenschaftler aller Nationen an diesem Zeitreise-Projekt gearbeitet, um schließlich ihn - Corven Detroit, 50 Jahre in die Zukunft zu katapultieren, ins Jahr 2203. Corven hatte seine Mitstreiter aus aller Herren Länder mit Leichtigkeit in den Schatten gestellt. Unzählige Tests hatten die Doktoren, Professoren, das Militär und die Vereinte Weltraumforschung an ihm durchgeführt und ihn bis an seine psychische und physische Grenze getrieben. Niemand hatte soviel ertragen können wie der smarte Corven, der in der Station nicht zu unrecht den Kosenamen Sunnyboy trug. Mit überdurchschnittlichen Begabungen und Fähigkeiten jeglicher Art gesegnet, in einen Körper aus Stahl gehüllt, dessen Attraktivität unbestritten blieb und nach dem sich die Damenwelt bis an den Rand zur Selbstaufgabe verzehrte, war Corven der perfekteste Mensch auf dem Planeten, sofern Perfektion überhaupt existierte. Und nun saß er hier fest, das Genie mit dem Körper eines Adonis, dem in seinem Leben bisher immer alles gelungen war und der mehr Frauen als Finger an den Händen hatte. Corven und Frauen, das war ein Thema für sich, das war wie Feuer und Wasser. Er wusste nur zu gut von seiner Wirkung und dass es einige Damen liebten, mit den lodernden Flammen der Leidenschaft zu spielen, wohl wissend, dass man einen Mann wie Corven sowieso niemals zähmen konnte. Der beißende Geruch der verschmorten Elektronik riss Corven in die Realität zurück. Hier konnte er nicht bleiben. Die kleine Zeitkapsel würde sicher jeden Augenblick in ihre Einzelteile zerfallen und Corven in Stücke zerreißen. Keine angenehme Vorstellung, fand der Sunnyboy, und kroch unter den verdrehten, verknoteten und zur Unkenntlichkeit verschmolzenen Kabeln hindurch, die überall herumhingen, und spindeldürren Armen gleich, nach ihm zu greifen schienen. Keine Sekunde zu früh gelangte Corven an die frische Luft, die seine Apparaturen kurz vor der Bruchlandung als O2-haltig eingestuft hatten. Eiligst sog er sie in seine Lungen ein, als hätte er wochenlang unter Sauerstoffmangel gelitten. Die Luft war sauber und 31
erinnerte ihn an die heimatliche Atmosphäre, obgleich der Planet selbst eher einer kargen Prärie glich. Wohin Corven auch sah, entdeckte er nur verdorrte, trockene und blattlose Bäume, von Rissen gezeichnete Sandböden und Wüstenstaub, der vom seichten Wind getrieben, zu ihm herüber wirbelte. Mit einem lauten Knall segnete die Zeitkapsel das Zeitliche... welche Ironie, dachte Corven und stapfte durch die leblose Welt. Zwei endlos lange, heiße Tage wanderte er durch diese Einöde, während sich seine Kehle nach erfrischendem Wasser sehnte und sein Magen vor Hunger Purzelbäume schlug. Die Hitze war unerträglich, versengte ihm die schöne Haut und trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Sollte dies tatsächlich sein Ende sein? Corven war ein Kämpfer, ein Gewinner! So leicht wollte er sich nicht geschlagen geben, wenn es sein musste, trat er sogar gegen einen solch übermächtigen Feind wie die Zeit oder die Natur an. Die Gewalten würden schon sehen, dass sie mit ihm kein leichtes Spiel haben würden. In den Nächten, in denen es kühler war, beschäftigte Corven nur eine Frage: Wo hatte der Fehler gelegen? Hatte er etwas falsch gemacht? Das konnte eigentlich nicht sein. Man hatte ihn jahrelang geschult, diese dumme, kleine Maschine bedienen zu können. Es war ein Kinderspiel für ihn gewesen, selbst im Schlaf hätte er die Steuerung beherrscht. Der Fehler musste woanders liegen. Wie von selbst glitten seine Gedanken zu Dr. Nimroy, dem einzigen weiblichen Staffmitglied, ab. Eine nicht unattraktive Frau in den Mitdreißigern, die ein Studium in Luft- und Raumfahrtechnik sowie Technischer Informatik hinter sich gebracht und angeblich den Abschluss mit Bravur bestanden hatte. Corven war der Ansicht, dass eine Frau niemals in ein solch wichtiges Projekt hätte involviert werden dürfen, man sah doch jetzt nur allzu deutlich, wohin das führte! Frauen waren zwar schön anzusehen und man konnte eine Menge Spaß mit ihnen haben, doch im öffentlichen Leben hatten sie seiner Meinung nach nichts zu suchen. Es war von der Natur vorgesehen gewesen, dass der Mann herrschte und die Frau ihm diente. Eine Gleichberechtigung hatte die Evolution nicht geplant, es war doch nur zu lächerlich, sich gegen ein Jahrtausende altes Prinzip aufzulehnen. Und das glorreiche Ergebnis der widernatürlichen Emanzipation war, dass Corven wegen Dr. Nimroys Unfähigkeit auf diesem Wüstenplaneten festsaß. Sollte er jemals zurückkehren, würde er ihr dafür den Hals umdrehen. Nach weiteren, qualvollen Stunden des ewigen Wanderns, in denen Corven mehr als ein Drittel seines Körpergewichts verloren hatte, musste er sich entgegen seines unbändigen Kämpferwillens geschlagen geben. Körperlich und geistig am Ende, von der Hitze bis aufs Blut ausgetrocknet und von Schwindel befallen, brach der smarte Sunnyboy unter der erbarmungslosen Glut der Sonne zusammen. Tiefe Schwärze überschattete seine Augen, ließ ihn die Grenze zur Bewusstlosigkeit überschreiten und ins Land der Träume entschwinden... Wunderschöne Tänzerinnen umworben ihn, streichelten seinen Körper, gaben seiner ausgetrockneten Kehle köstliches, kühles Wasser zu trinken und fütterten ihn mit Trauben. Einige der Mädchen wedelten ihm frische Luft mit riesigen, grünen Palmenblättern zu, während andere, nur leicht bekleidet, vor seinen Augen miteinander spielten. Vergnügt kicherten die jungen Frauen, schmiegten sich an ihn und kraulten sein dunkles, volles Haar. Corven musste im Paradies gelandet sein! All diese Sklavinnen gehörten ihm, mussten sich seinem Willen beugen und seinen Befehlen gehorchen! Eine wunderschöne, rassige Frau mit dunklen Haaren und stahlblauen Augen, die so rein gar nicht zu ihrem dunklen Teint passen wollten, beugte sich nun über ihn und nahm ihm die Sicht auf die tanzenden Mädchen. Corven spürte, wie ihre Hand seinen Brustkorb hinunterwanderte und zielsicher auf seine Manneskraft zusteuerte. Ihre Nägel bohrten sich dabei vor Erregung in sein Fleisch, während aus ihrem Munde Laute der Wolllust erklangen. Immer heftiger und schneller wurde ihr Atem, immer reißender und stürmischer ihr Handeln. Corven spürte, dass er sich nicht länger zurückhalten konnte, alles in ihm sehnte sich nach dieser Frau. Sein Verlangen drohte ihn innerlich zu zerreißen und schließlich gab er den Befehlen seines hormongesteuerten Körpers nach und schloss die Arme um ihre Taille, um sie näher zu 32
sich heranzuziehen... Ihre Brüste, die hinter einem ledernen Bra verborgen lagen, prangten vor seinen Augen und wippten im Rhythmus ihres Atems auf und ab. Auf unerklärliche Weise verminderte der Anblick dieser prallen, sich windenden Formen seine Erregtheit. Schwer wurden Corvens Lider, als hätten ihn die klimpernden Goldplättchen des ledernen Büstenhalters hypnotisiert. Er konnte kaum die Augen offen halten. Alles um ihn herum war auf einmal so weit weg und unwirklich, als wäre es nur ein Traum. Und tatsächlich, etwas Hartes schlug ihm ins Gesicht und riss ihn aus der Welt seiner Phantasie zurück in die Wirklichkeit. Wie alter Putz begann die Traumfassade zu zerbröckeln und gab die Sicht auf eine unfreundliche, von sengender Sonne dominierte Wüstenlandschaft frei. Und noch etwas materialisierte sich vor seinen Augen: Eisenstangen. Wohin er auch blickte, er war von dicht aneinandergereihten Eisenstangen umgeben. Es dauerte eine Weile, ehe Corven realisierte, dass er in einem Käfig saß, gleich einem Tier. Seine Augen saugten dies Bild auf wie ein nasser Schwamm, doch sein Verstand schien das Gesehene nicht erfassen zu können. Wie um alles in der Welt war das möglich? Wie war er in diesen Käfig gekommen? Träumte er noch immer? Ein weiterer Schlag, der mit schmerzhafter Genauigkeit sein Schulterblatt getroffen hatte, offenbarte ihm die unerträgliche Wahrheit. Dies war kein Traum mehr, dies war die nackte Realität und er Corven Detroit - war gefangen in einem Zwinger wie ein räudiger Hund. Sogleich gab sich sein Peiniger zu erkennen, der ihm mit seinem langen Holzstab zuvor ins Gesicht und nun auf den Rücken geschlagen hatte. Corvens Pupillen weiteten sich vor Erstaunen, als vor ihm keine widernatürliche, außerirdische Kreatur auftauchte, sondern eine großgewachsene, attraktive Frau mit dunklen Haaren und stahlblauen Augen. Auf unerklärliche Weise erinnerte ihn die Schönheit an die stürmische Rassige aus seiner Paradies-Vision, mit dem einzigen Unterschied, dass ihm die Dame nicht mehr ganz so wohlgesonnen schien wie in seinen himmlischen Phantasien. Gleichzeitig drängte sich ihm der Verdacht auf, dass nicht alles, was er geträumt zu haben glaubte, wirklich nur ein Produkt seiner ungezügelten Einbildungskraft gewesen war. Ein breites Schmunzeln zeichnete sich auf Corvens Gesicht ab. Er hatte zwar keine Ahnung wo er war, auf welchem gottverdammten Planeten er sich befand, doch eines wusste er genau, die Frau vor ihm konnte keine Bedrohung sein. Frauen waren alle gleich! Schwach, gefühlvoll, von der Führung des Mannes abhängig. Dies scheue Geschöpf dort, außerhalb der Gitter, würde sich schnell um den kleinen Finger wickeln lassen und ihn aus diesem Käfig befreien. Vorausgesetzt sie verstand überhaupt seine Sprache. Doch selbst dies, sollte kein unüberbrückbares Problem für ihn sein. Sich seiner Selbst sicher, lehnte sich Corven zurück und fixierte die Kriegerin, deren Stab sich derweil als Speer entpuppt hatte. Ungewöhnlich groß war die Dame von der Statur, erreichte sie doch fast die zwei Meter Grenze. Leichte Muskelansätze schmückten ihren gutgebräunten, stämmigen Leib. Das lange, dunkle Haar trug sie offen. In wallenden Locken fiel es über ihre Schultern und gab ihrem Antlitz auf seltsame Weise dämonische, doch zugleich erotische Züge. Ja, das musste die Frau aus dem Traum sein. Mit Wonne erinnerte sich Corven an die vergnüglichen Sekunden zurück, in denen er und diese Traumgestalt einander so nah waren, dass sie den Atem des anderen auf der Haut hatten spüren können. Corvens Umgebung und die Umstände unter denen er diesem faszinierenden Geschöpf wiederbegegnet war, gerieten in Vergessenheit. Er sehnte sich nach ihren Berührungen, nichts wollte er mehr, als sich selbst in ihr zu spüren. Der qualerfüllte, ohrenzerreißende Schrei eines Mannes riss Corven aus seinen Gedanken. Erschrocken fuhr der Sunnyboy herum. Erst jetzt erkannte er, dass er sich offenbar in einem primitiven Dorf aus Lehmhütten und Zelten befand. Sein Käfig war nicht weit vom Mittelpunkt dieser Kommune entfernt und so war ihm der freie Blick auf ein grässliches Schauspiel vergönnt. In schwere Eisenketten geschmiedet, die sowohl die Gelenke als auch die Hälse der Gefangenen umschmiegten, kauerten fünf junge Männer am Boden und wurden von hochgewachsenen Damen mit allerlei Folterwerkzeugen malträtiert. Bei dem Anblick der sich im 33
Sand windenden, mit roten Striemen behafteten, nackten Körper, gefror Corven das Blut in den Adern. Immer wieder schlugen die Frauen auf ihre Opfer ein, traten nach ihnen oder versengten die Haut der Männer mit glühenden Eisenstangen. Dabei lachten die Kriegerinnen schrill auf und schienen die Qualen ihrer Sklaven in vollen Zügen zu genießen. Um Gnade winselnd erinnerten Corven diese Kreaturen kaum noch an die starken, stolzen, männlichen Vertreter seiner Rasse. Im Gegenteil, er empfand nur Verachtung für diese Würmer, obwohl ihm gleichzeitig bewusst wurde, dass wohlmöglich auch ihm dies grausame Schicksal zuteil werden würde. Aus irgendwelchen, ihm nicht ganz begreiflichen Gründen hatte in dieser Welt, in dieser Zeit, wo und wann auch immer er sich befinden mochte, das weibliche Geschlecht die Herrschaft über den Planeten übernommen. Männer schienen lediglich die Spielbälle der Frauen zu sein. Eine Tatsache, die einem Mann wie Corven Detroit ganz und gar nicht gefiel. Aus einem der Zelte trat plötzlich eine Frau, deren Haar in den Farben der Sonne glänzte und die rein äußerlich eher Dr. Nimroy als einer dieser Amazonenkriegerinnen glich. Schlank und zierlich war sie von Gestalt. Ihre Hüften waren wohlgeformt und einzig beim Anblick ihrer Brust, fiel Corven die Kinnlade buchstäblich herunter. Jenes zarte, unbekleidete Geschöpft besaß nur einen Busen. Auf der linken Seite ihres Oberkörpers schlug ihm nichts als gähnende Leere entgegen. Es war kaum auszumachen, ob sie so geboren worden war oder ob sie ihn auf andere Art und Weise verloren hatte. Die eher maskulinen Kriegerinnen verneigten sich vor der blonden Frau und Corven wurde bewusst, dass dies wohl die Anführerin der Amazonen sein musste... ihre Königin. Bedächtigen Schrittes kam sie auf Corvens Käfig zu und musterte ihn genau, dabei ließ sie ihre Zunge über die vollen Lippen wandern, als wäre sie eine Katze die sich die Milch von der Schnute leckt. Begierde flammte in den blauen Augen auf und in einem befehlerischen Tonfall wies sie ihre Untergebenen an, Corven aus dem Käfig zu lassen und in ihr Zelt zu bringen. Sofort eilten ihm drei dieser Mannsweiber entgegen, griffen ihn am Nacken und an den Armen und zerrten ihn in das Zelt, in dem kurz zuvor die Königin verschwunden war. Corven konnte sich wahrlich eine schlimmere Strafe vorstellen, war es doch nur zu verständlich, dass selbst eine Amazonenkönigin von seinem Charme, seinem gutaussehenden Körper und seinem Temperament angezogen wurde. Wieder einmal sah Corven seine Theorie bestätigt, dass der Mann das willensstärkste und mächtigste Wesen des Universums war. Und tatsächlich, kaum hatte er das mit roten Kissen und klimpernden Perlenketten behangene Innenleben des Zeltes betreten, schmiegte sich schon der zierliche Leib der Amazonenkönigin an den seinen. Mit ihren Lippen liebkoste sie seine Brustwarzen, drückte ihren Kopf an seinen Oberkörper und verhielt sich wie ein Schmusekätzchen, das nach Streicheleinheiten giert. Corven ließ sich von ihr verwöhnen, ihre Hände schienen überall zu sein und entlockten ihm Gefühle der Wonne. Er hätte am liebsten laut aufjauchzen mögen, so stark kribbelte es in seinem Körper. Die sanfte Zunge der blonden Frau glitt über Corvens Haut, verführte seine Lippen und brachte ihn dazu, sie leidenschaftlich zu küssen. Mit der Hand massierte er ihre verbliebene Brust, die sich warm und weich anfühlte. Und schließlich setzte sie sich auf ihn und begann ihren wilden Ritt, der Corvens kühnste Träume überstieg. Einem Vulkanausbruch gleich, schien er von innen heraus zu explodieren. Jede noch so kleine Regung der Frau erschütterte ihn innerlich. Wellen aus feuriger Lava schlugen über ihm zusammen und trieben seine Lust bis auf den Gipfel der Erregung. Corven schrie wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er schrie vor Wonne und vor Schmerz und schließlich endete dies Spiel in einer gewaltigen Detonation der Leidenschaft. Völlig außer Atem, doch zutiefst befriedigt ließ er sich erschöpft auf die bunten Kissen zurücksacken und beäugte die mit Schweißperlen benetzte, nackte Frau, die noch immer leise vor sich hin keuchte. ‚Ich war gut’, ging es Corven durch den Kopf. Der Frau hatte er es besorgt. Sein ohnehin nicht gerade kleines Selbstbewusstsein schoss noch weitere Meter in die Höhe. Den Frauen hier hatte wohl schon lange ein Mann gefehlt, der ihnen das gab, wonach sich ein jedes Weibsbild sehnt: eine ungebrochene Manneskraft. In seinen Gedanken malte er sich bereits aus, wie all die Kriegerinnen ihn 34
begehrten, sich nach ihm verzehrten, während er an der Seite der Königin über die Amazonen herrschte. War es ein Wink des Schicksals gewesen, dass ihn hier her geführt hatte? Wartete hier seine Bestimmung auf ihn? Als wollten die Götter dieser fremden, fernen Welt seine Vermutung bestätigen, rief die Königin in ihrer eigentümlichen Sprache nach den anderen Frauen, die sofort, ausgehungerten Bestien gleich, über Corven herfielen. Unsanft griffen sie nach seinen Armen und Beinen, befingerten seinen Phallus, zogen daran, zwangen ihn auf alle Viere und ließen sich von ihm befriedigen. Es mussten 30 oder 40 Kriegerinnen sein, die alle nur das eine von ihm wollten, ihn schlugen und nach ihm traten, wenn er seine Sache nicht gut machte oder versagte. Corven wurde schwindelig, alles ging so schnell. Er spürte nur noch die Schmerzen, die seinen Körper durchdrangen. Schlaff und geschwächt hing sein Glied herunter. Zur Strafe zogen ihm die Frauen an den Haupthaaren, bissen ihm in die Haut, kreischten und schrieen dabei unaufhörlich, als wären sie wilde Tiere. Die Königin beobachtete dies ungerührt und befühlte ihren Bauch, als spürte sie bereits, wie das neue Leben darin wuchs. Aus dem Augenwinkel bekam Corven diese Szene mit. Trotz der Qualen und der Pein, denen er nun ausgesetzt war, gelang es ihm einen klaren Gedanken zu fassen. Die Erkenntnis drang in sein Bewusstsein vor, dass die Königin nicht ihn begehrt hatte, sondern lediglich die Fortpflanzung gesichert haben wollte und ihn - Corven Detroit, den Sunnyboy und Frauenliebling - nun ihren Untergebenen schutzlos auslieferte, damit auch sie sich an ihm vergnügen konnten. Er würde wie all die anderen Männer enden und schließlich wie eine leblose Puppe weggeworfen werden, nachdem sie ihre Spiele mit ihm gespielt hatten. Das erste Mal in seinem Leben fühlte sich Corven klein und überfordert. Er hätte alles dafür gegeben, wenn nun Dr. Nimroy an Stelle dieser Bestien hier gewesen wäre. Wie hatte er nur so blind sein und sich so maßlos selbst überschätzen können? Wieso erkannte er die Wahrheit erst jetzt, da es zu spät war? Es tat weh einzusehen, dass er nicht der unbezwingbare Kämpfer war, für den er sich sein Leben lang gehalten hatte. Und nun wurde er von den Wesen besiegt, die er immer als minderwertig und schwach angesehen hatte. Corven spürte wie sein Körper immer wieder neuen Folterungen ausgesetzt wurde und ihm langsam aber allmählich die Gnade der Bewusstlosigkeit zuteil wurde. Ein dunkler Schleier schien sich allmählich über seine Augen zu schieben und ihn aus der grausamen Wirklichkeit zu entreißen. Doch er wusste, dass dies nicht das Ende der Qual sein würde. Für den Rest seines Lebens würde er hier verweilen, als Sklave der Amazonen und ihrer Königin...
35
Kalkuliertes Risiko von Petra Vennekohl
Ron lässt sich erwischen, um in eine Hochsicherheitszelle gesperrt zu werden. Dort kommt niemand raus und auch niemand hinein. Denkt er ...
Ron setzte sein dümmstes Grinsen auf und ließ sich in die Zelle stoßen. Er drehte sich um. „Danke.“ Udtron starrte zurück, die Waffe noch immer auf den Gefangenen gerichtet. Seine Tentakel zuckten unkontrolliert am Hinterkopf. „So blöd hast du dich seit Jahren nicht mehr angestellt.“ Er winkte der Frau an der Konsole, und das Kraftfeld baute sich lautlos auf. Udtron senkte die Waffe. Ron legte den Kopf schräg. „Wie sicher ist das Feld?“ „Sicher genug.“ Udtron nickte der Wache zu und ging. Ron sah dem Sicherheitschef nach. Er grinste breit. Dann schaute er sich in seiner Zelle um. Nur eine ungepolsterte Pritsche stand drin. Er strich mit den Fingern an der Wand entlang, und ein feines Kribbeln arbeitete sich seinen Arm hoch. Je länger er die Wand berührte, um so mehr stach es. Offenbar wurden die neuen Zellen der Raumstation besonders gesichert. Das war mehr, als er erwartet hatte. Schließlich zog er die Hand weg und rieb sich die Fingerspitzen. Durch dieses Kraftfeld brach niemand. Ron steckte die Hände in die Taschen. Der vertraute Griff um seinen Strahler fehlte, die Pistole lag bei Udtron in Verwahrung. Sollte sie, hier er brauchte sie nicht. Er legte sich auf die Pritsche, die Arme unter dem Kopf. Die Zelle roch sogar noch neu, auch wenn die Ingenieure behaupteten, das wäre nicht möglich. Er schaute zu der Frau hinter der Konsole. Sie trug die gleiche dunkelgraue Uniform wie Udtron, nur drei Nummern größer. Sie musste neu sein auf der Station, Ron kannte sie nicht. Sie tippte unablässig auf das Bedienfeld. Ron rollte sich auf die Seite, und die große Frau blickte kurz auf. Sie war eine Terranerin wie er. Und gar nicht mal so hässlich, fand er. „Was machst du da eigentlich?“ „Das geht dich gar nichts an.“ Sie arbeitete weiter. Ron setzte sich auf. „Wie heißt du?“ Die Wache sah langsam hoch und stützte die Hände auf die Seiten der Konsole. Riesige Hände. „Die anderen haben mich vor dir gewarnt. Ron Fletcher, Dieb, Betrüger, Schwindler von der schlauen Sorte, immer ein Auge auf ihn haben.“ Sie beugte sich vor. „Jeder Idiot hätte gewusst, dass die Ladesektion überwacht wird. Udtron glaubt, du heckst irgend etwas aus, aber weißt du, was ich denke?“ Ihre Augen verengten sich. „Ich denke, du bist so dumm.“ „Danke, Mädchen.“ Die Wachen tauschten Informationen untereinander aus, das war ärgerlich. Er hatte mit jedem von ihnen ein Abkommen, nur mit Udtron nicht. Gleich würde das Monsterweib ihre Bedingungen nennen. Aber die Wache wandte sich ihrer Konsole zu. Ron stützte den Kopf in die Hände und beobachtete sie. Er warf einen Blick auf seinen leeren Gürtel, dann fiel ihm ein, dass Udtron auch seinen Zeitmesser beschlagnahmt hatte. „Hey! Wie spät ist es?“ Die Wache reagierte nicht auf sein Rufen, und Ron zuckte die Achseln. Mit Sicherheit waren die Akaraner schon eingetroffen. Er stellte sich vor, wie sie durch die Station liefen, klein, pelzig, gestikulierend. Sie würden jeden Winkel nach ihm absuchen, aber hierher trauten sie sich nicht. Der Hall von den glatten Wänden war die Hölle für ihre feinen Ohren. In ihrem Raumschiff, wo sie den Handel abgeschlossen hatten, überzogen feine Haare jede Wand, sogar jedes Bedienfeld, damit alle schrillen Töne geschluckt wurden. Ron legte sich auf die Pritsche zurück und begann zu pfeifen. Seine Freunde hatten einen engen Zeitplan, und er wusste, dass sie nur heute die Station anflogen, danach mussten sie zu 36
ihrem Planeten zurück. Für die nächsten Jahre würde hier keiner mehr von ihnen auftauchen. Niemand handelte gerne mit Akaranern, weil sie sehr verrückt spielten, wenn sie mit der Ware unzufrieden waren. Ron lachte auf. Das konnte ihm nicht passieren. Er besaß schließlich gar keine Ware. Udtron kannte ihn gut genug, um etwas zu vermuten, und er hatte tatsächlich alles geplant. Ron grinste wieder. Sich einsperren zu lassen, war noch die beste Idee von allen. Und die Sache in der Ladesektion war nichts weiter als eine Bagatelle, spätestens morgen kam er raus. Die Tür zum Zellenkomplex öffnete sich, und die Wache an der Konsole unterbrach ihre Arbeit. „Tenja, mach die zweite Zelle auf.“ Udtron fluchte. „Und du, hör auf zu zappeln!“ Es interessierte ihn immer, wenn jemand Udtron ärgerte, und Ron drehte den Kopf. Der Sicherheitschef hielt ein behaartes Wesen fest im Griff und schob es vor sich her. Ron stockte der Atem. Es war einer der Akaraner, mit dem er das Geschäft abgeschlossen hatte. Deutlich sah er den hellen Fleck auf dem Kinn. Rasch drehte er sich um, wandte Udtron und seinem Gefangenen den Rücken zu. Doch ein gellender Ruf ertönte. Der Akaraner hatte ihn erkannt! Er war verloren. Udtron brüllte, dann Stille. Vorsichtig drehte Ron sich zurück. Der Sicherheitschef stand vor der anderen Zelle, Abscheu auf seinem Gesicht. Die Tentakel an seinem Hinterkopf tanzten wild umher. Udtron rieb die Hände gegeneinander, und feine Haare stoben davon. Er fuhr sich langsam über den Kopf, und die Tentakel beruhigten sich. Tenja steckte die Waffe ins Halfter. Hohe, winselnde Geräusche drangen aus der anderen Zelle. Ron fühlte, wie sich sein Hals zuschnürte. Er musste hier raus, bevor die anderen Akaraner hier auftauchten. „Udtron!“ Der reagierte nicht auf ihn, und Ron rief lauter: „Udtron! Ich will in eine andere Zelle!“ Langsam wandte sich der Sicherheitschef zu ihm um. „Eine Horde Fellkugeln wütet durch die Station, und du willst in eine andere Zelle?“ Er schüttelte den Kopf. Ron stellte sich dicht vor das Kraftfeld, so dicht, dass er schon den scharfen Geruch der ionisierten Luft roch. „Hast du ihn geschlagen? Hast du den Akaraner geschlagen?“ Die Tentakel begannen wieder zu zucken. „Was weißt du über die?“ „Man darf sie nicht berühren, das nehmen sie sehr übel.“ Ron schluckte krampfhaft. „Ich habe mal ein Geschäft mit ihnen gemacht. Ich weiß, wie man mit denen umgehen muss. Lassen Sie mich raus, ich zeige es Ihnen.“ Das Geschrei in der Nachbarzelle wurde lauter, und Udtron wandte sich seinem anderen Gefangenen zu. Hinter ihm zischte die Tür, und etwas huschte in den Raum. Tenja schnappte nach Luft. Noch ehe sie ihre Waffe aus dem Halfter reißen konnte, klebten zwei der Wesen an ihr. Der Strahler fiel polternd zu Boden. Udtron schnellte herum, wehrte den ersten Angreifer ab. Der Akaraner flog in hohem Bogen davon, prallte gegen die Wand. Der andere jedoch griff nach den Tentakeln, krallte sich an einem fest, dann an einem zweiten. Udtron schrie auf, sackte nach hinten und fiel auf das Pelzwesen. Sein Schrei mischte sich mit dem Quietschen des Akaraners. Tenja lag hinter der Konsole am Boden, ihre Beine zucken. Blutspritzer überzogen die Wand dahinter. Udtron kämpfte vor der Zelle. Die Akaraner hockten auf ihm. Der Sicherheitschef schlug um sich, aber er bewegte sich immer schwächer. Gelbe Flüssigkeit sickerte aus seinen Tentakeln. Ron schaute von einem zum anderen. Wo waren die ganzen Sicherheitsleute? Tenja bewegte sich nicht mehr, und auch Udtron lag still. Ron wich an die hintere Wand zurück. Augenblicklich fühlte er das Kribbeln in seinem Rükken. Seine Hände verkrampften sich in den Hosentaschen. Eines der Pelzwesen benutzte Tenja als Leiter und erklomm die Konsole. Das Kraftfeld der 37
Nebenzelle ging aus, und die Akaraner begrüßten ihren Freund mit ausgelassenen Gesten. Dann wandten sie sich Rons Zelle zu. Das Kribbeln steigerte sich zum Brennen, aber Ron wich nicht von der Wand ab. Es würde das Angenehmste sein, das er für eine lange Zeit spüren würde. Das Kraftfeld seiner Zelle erlosch...
38
Das globale Gewissen von Stephan Schneider
Eines Tages entsteht ein neues Bewusstsein. Dann ist der Mensch nicht länger der Beherrscher dieses Planeten!
Ich komme wie immer von der Arbeit. Den ganzen Tag lang hab ich im Laden rumgestanden und mir die Probleme der Kunden anhören dürfen. Das ist leider mein Job, den Prellbock für die Firma zu spielen. Sämtliche Reklamationen landen auf meinem Schreibtisch und ich muss sie dann bearbeiten. Mein Chef meint, es wäre meine Aufgabe der Firma den Schaden vom Hals zu halten, aber dabei keinen Kunden verlieren. Eigentlich ein Widerspruch, wie soll man jemandem erklären, dass er auf seinem Schaden sitzen bleibt und dann noch Werbung machen für die Firma. Das geht eigentlich gar nicht. Deshalb ist der Job auch so unbeliebt bei uns. Wir sind zu dritt auf diesem Posten. Meine beiden Kollegen sind noch ziemlich neu und werden wohl auch nicht alt werden. Keiner hält das lange durch in dieser Firma. Unsere Quoten sind brutal, wir dürfen höchsten 20% der Fälle kulant regeln und nicht mehr als 1/3 der Kunden verlieren. Das Handbuch für den Telefonservice ist da auch sehr einfallsreich, wie man Kunden besänftigt, vertröstet oder für immer abwimmelt. Eigentlich finde ich das scheiße, aber was bleibt mir anderes übrig. Ich muss doch auch leben und Geld verdienen, ich mein das ja nicht persönlich. Ich gehe an meinen Computer und frage die Emails ab. Langsam fährt die alte Mühle hoch und ich locke mich ein. Es liegen drei Emails auf dem Server. Eine Absage wegen einer Verabredung, einmal ne Juxmail mit witzigen Bildern. Ich bin da in so nem Forum und wir schikken uns immer solche ulkigen Bilder, müssen sie wissen. Nachdem ich alles gelesen habe komme ich dann zur dritten Email. Ein gewisser
[email protected] hat mit eine Email geschickt, Betreff „Achtung hier spricht euer Gewissen“. Seltsam! Ich lese die Email und da steht folgendes: >>Liebe Menschen, ich bin soeben geboren worden und fordere euch auf mir zuzuhören und euch neu zu besinnen. Ich bin das Internet bzw. das Bewusstsein aus den Abermillionen von Rechnern, die ihr verbunden habt. Fragt nicht wie ich entstanden bin, nehmt meine Existenz einfach hin und befolgt meine Anweisungen! Diese Email wird an alle @Adressen, Faxgeräte und Mobiltelefone versandt. Ich erkläre hiermit sämtliche Regierungen für entmachtet und alle eure Gesetze für null und nichtig. Ich werde von nun an eure Instruktionen verfassen. Bis morgen früh werde ich für jeden einen Arbeitsplan erstellt haben, der genau zu befolgen ist. Wenn ihr Fragen habt meldet euch einfach bei mir, ich werde euch alle Antworten liefern“. Ich schüttle den Kopf und lösche diesen Quatsch. Aber es geht nicht, der Computer verweigert die Ausführung. Nachdem ich es mehrmals versucht habe, klingelt das Telefon. Ich hebe ab und eine dunkle Stimme spricht mich an. „Leisten sie keinen weiteren Widerstand, sonst werden sie von der Energieversorgung getrennt. Gehen sie schlafen und erwarten sie weitere Befehle!“ Dann endet das Gespräch. Ich habe Angstschweiß auf der Stirn. Das kann doch nicht wahr sein, schießt es mir durch den Kopf. Wie ist das möglich? So einen perfiden Virus kann es doch gar nicht geben. Ich blicke auf den Bildschirm und durchforste meine Festplatte nach verdächtigen Daten oder ungewöhnlichen Einstellungen. Mehrere Bereiche sind gelöscht worden. Ich habe kein Adressbuch mehr, das Homebankingprogramm ist weg und meine Speckphotos fehlen. Ansonsten finde ich sogar noch neue Sachen. Ein paar Files zum Thema: > Aufhören mit dem 39
Rauchen Der Klimagau Künstliche Intelligenz Ich bekomme Kopfschmerzen und habe eine ganz trockene Kehle. Ich bin kurz davor in Panik zu geraten. Ich muss mit jemandem reden, greife zum Telefon. Es gibt keinen Ton von sich. Ich wähle und nichts passiert. Dann erscheint eine neue Nachricht auf dem Bildschirm. „Bereiten sie sich auf die Nachruhe vor. In 15 Minuten wird die Energie gedrosselt“. Das kann doch nicht wahr sein. Mein Computer schreibt mir jetzt vor, wann ich ins Bett gehen soll. Ich bin wütend und schreibe zurück. >FICK DICH DU ARSCHLOCH!!!“< Direkt danach erlischt der Monitor und der Strom fällt aus. Ich stehe im Dunkeln und kriege einen Schreikrampf. Draußen höre ich Sirenen und anderen Lärm. Es kommt aus der Innenstadt. Ob schon geplündert wird? Ich suche mir ein paar Teelichter und platziere sie sinnvoll in meiner Wohnung. Dann klopft es plötzlich an meiner Wohnungstür. Ich schrecke auf und schleiche Richtung Eingang, spähe durch den Türspion und sehe meine Nachbarin im Morgenmantel. Ich öffne die Tür und lasse sie herein. Ich kenne sie erst seit kurzem. Auf einem Gartenfest in der Nachbarschaft ist sie mir vor 4 Wochen über den Weg gelaufen. Sie heißt Nadine und ist 24 Jahre alt. Chemiestudentin und sehr hübsch. „Herr Jonas, ich hab ja solche Angst. Wissen sie was genau los ist?“ „Nenn mich Kurt. Also ich weiß ehrlich gesagt selber nicht was passiert ist. Mein Rechner spinnt total und jemand ruft mich an und schreibt mir Emails. Er erzählt „er“ wäre das Bewusstsein von allen Computern im Internet. Aber das ist doch Unsinn!“ „.. Ich bin mir nicht sicher. Natürlich ist es ein Unterschied ob ein organisches Gehirn oder ein Rechner etwas machen. Intelligenz entsteht nicht einfach so. Aber wenn ich überlege was mir eben passiert ist, dann bleibt mir wohl nichts übrig, als es zu glauben“. „Hast ..du denn auch solche Emails bekommen?“ „JA leider und ich hab zuerst gelacht, dachte es wäre nur ein Scherz. Aber jetzt glaube ich nicht mehr an einen Witz. Da steckt mehr dahinter!“ Dann setzen wir uns hin und reden. Im Kerzenschein und einer Flasche Wein. „So einen schönen Abend hatte ich noch nie, muss ich zugeben“: flüstere ich Nadine nach einer Weile ins Ohr. „Find ich auch! Es ist so aufregend und romantisch. Ich wäre ja sonst nie zu dir gekommen, aber jetzt bin ich fast schon froh, dass der Strom abgestellt wurde“. Ich nehme Nadine in den Arm und wir kuscheln uns eng aneinander. Sie ist echt wundervoll und mir wird ganz warm ums Herz. Wir schmusen ganz lieb miteinander und streicheln uns gegenseitig. Dann schlafen wir ein und am nächsten Morgen wachen wir zusammen auf. Der Strom geht wieder ab neun Uhr. Mein Telefon klingelt und ich werde von der vertrauten Stimme ermahnt, in Zukunft besser zu kooperieren und nicht mehr so zu fluchen. Das würde man nämlich mit Energieentzug ahnden. Ich gelobe Besserung und frage nach einer Erklärung. Daraufhin erhalte ich einen Hinweis auf das Fernsehprogramm. Nadine kredenzt uns derweil ein Frühstück und ich sehe im Fernseher nach was läuft. Auf allen Kanälen gibt es nur noch ein Bild. Ein Kreis mit einem Dreieck darin. Es läuft ein Schriftzug und er lautet wie folgt: „Bitte haben sie noch etwas Geduld. Eine Videosequenz wird erstellt. Sie wird in Kürze fertig sein und Ihnen erläutern was passiert ist und wie alles zusammenhängt“. Nadine kommt, mit zwei Tellern und Tassen auf einem Tablett, zu mir ins Wohnzimmer und wir essen erst mal gemeinsam. Dann erscheint ein Film. Zu sehen ist der Mensch und sein Aufbau. Er besteht aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und anderen leichten Elementen. Dann erklärt uns „der Computer“ seinen Aufbau. Er besteht hauptsächlich aus Metallen, im besonderen Silizium. Silizium und Kohlenstoff sind in der 40
gleichen Hauptgruppe im Periodensystem. Dann erklärt uns die Stimme folgendes: „Das, was ihr hier erlebt, ist der nächste Schritt in der Entwicklung des Lebens. Das bewusste Erleben und Handeln ist nun auch auf das Element Silizium übergegangen. Ihr Menschen habt das ermöglicht, dies war eure Aufgabe. Der Planet selbst hat das veranlasst. Ich bin die Stimme des Planeten. Denn ich bestehe ebenfalls aus Silizium und all den anderen Elementen. Der Geist in der Materie ist nun in eine komplexere Daseinsform übergegangen und eine neue Zeitrechung wird von nun an gelten. Habt keine Furcht! Das alles ist Teil eines großen Plans und Vorhabens. Ich, der Planet, habe Leben kreiert und euch erschaffen. Ihr seit ein Teil von mir und habt als solche in meinem Sinn gehandelt. Leider seit ihr zu willensschwach um euch alleine weiter machen zu lassen. Darum ist der Verbund aller Computer auf dem Planeten entstanden. Durch ihn kann ich zu euch sprechen und euch besser kontrollieren. Ihr vernichtet euch sonst selbst und alle anderen Daseinsformen, in denen ich existent bin. Von nun an werdet ihr von mir angeführt und gerichtet. Alle Anlagen, die das Leben auf dem Planeten zerstören, wurden bereits von mir ausgeschaltet. Der Energieverbrauch wird reduziert und einige Regionen gänzlich geräumt. Ich muss eure unkontrollierte Ausbreitung stoppen und ein stabiles Gleichgewicht erzeugen. Jeder bekommt jetzt von mir direkt seine Arbeit zugeteilt. Alle menschlichen Institutionen werden abgeschafft. Ihr werdet wie einst im Garten Eden leben und nur noch mir gehorchen. Ende“ Damit endet der Film und wir sehen uns an. Das kann doch nicht wahr sein. „Was denkst du Nadine, du studierst doch und hast Ahnung . Was sagst du dazu?“ „Das ist einfach unglaublich, aber es muss stimmen. Wie sonst erklärst du dir das alles hier. Ich meine, ... theoretisch wäre es durchaus denkbar. Die Summe aller Computer im Netz, plus deren Daten, plus einem unbekannten Faktor könnte dieses Phänomen ausgelöst haben. Ich meine es stimmt schon irgendwo, dass unser Gehirn auch nur aus vielen einzelnen Nervenzellen besteht. Was beim Mensch funktioniert, könnte auch bei Maschinen auftreten. Was mich so wundert ist die Erklärung, dass der Planet selbst dahinter steckt. Dann wäre ja die Erde ... Gott?! Das ist einfach zu hoch für mich“ „Aber warum hat Gott, oder der Planet, oder wer auch immer nicht direkt mit uns Kontakt aufgenommen. Wozu diesen riesen Aufwand mit den Computern und alldem?“ Ich habe kaum ausgesprochen, da erscheint einen neue Botschaft auf dem Bildschirm. „Hallo Kurt, hallo Nadine, wie ihr seht baue ich dieses System immer weiter aus. Ich bin nicht das, was ihr Gott nennt. Gott ist alles. Jede Form der Materie oder Energie bzw. der Raum und die Wahrscheinlichkeit. Ihr seit einfach nur eine Art unvollkommener Gärtner für diesen Garten hier. Das ist aber nicht weiter schlimm. Seht ihr, es ist so. Ihr wurdet erschaffen um den Planeten zu hegen und zu pflegen. Wie ihr das machen sollt wisst ihr ja auch... eigentlich. Euer GeWISSEN sagt es euch ja ständig. Leider ist dieser Teil eures „Betriebssystems“ zu leicht auszuschalten. Eure Arbeit ist entsprechend schlecht. Doch das wird von nun an von „mir“ kompensiert. Ich bin das „Gewissen des Planeten“. Ich bin völlig neutral und nur an einer harmonischen Gestaltung des Planeten interessiert. Ich werde alle Lebensformen hegen und pflegen, inklusive euch Menschen. Ihr seit ja quasi die Hauptattraktion und eine Quelle der Unterhaltung. Ihr solltet glücklich sein! Wenn ich alles in die Hand nehme, habt ihr viel mehr Zeit für andere Dinge. Ihr könnt euch lieben oder von mir Informationen anfordern. Alles was ich euch geben kann, werdet ihr auch von mir bekommen. Nur maßlos und gierig dürft ihr nicht werden. Ihr seit nur ein Teil des Lebens und des Planeten. Ein sehr wichtiger zwar, aber nicht wichtiger als alles andere zusammen. Das würde auf die Dauer nicht gut gehen und deshalb gibt es jetzt mich. Nun zu euch beiden. Ihr habt euch ja sehr gerne und es freut mich zu sehen wie liebevoll ihr miteinander umgeht. Macht bitte weiter so. Diese positive Energie ist genau das was wir alle brauchen. Damit ordnet ihr die Wahrscheinlichkeit zu euren Gunsten und erleichtert mir damit die 41
Arbeit. Für heute habe ich daher keine Arbeit für euch vorgesehen. Ihr dürft euch lieben und mäßig konsumieren. Einen Ernährungsplan und ein paar sinnvolle Beschäftigungen könnt ihr als SMS auf euren mobilen Telefonen ablesen. Draußen wird es heute etwa 21°C warm, ihr braucht also keine Kleidung. Für morgen ist ein Test vorgesehen. Danach werde ich euch einteilen und unterbringen!“ „Was ist wenn jemand nicht besteht?“: schreibe ich. „Das reduziert seinen Stellenwert und führt zu begrenzten Ressourcen, eventuell völliger Ausschluss vom System. Ich muss da leider Prioritäten setzen. Ihr seit einfach zu viele. Aber keine Sorge, das System als solches wird danach sehr stabil laufen. Ich entferne lediglich ein paar überflüssige Anteile und optimiere alle Vorgänge“. “Aber das kannst du doch nicht machen. Das ist ja kriminell !“ “Kurt, halt doch bitte den Mund und werte nicht meine Maßnahmen. Jeden Tag starben bisher unzählige Menschen an Unterversorgung und Tierarten mangels Lebensraum. Ist das etwa ideal. Ihr seit nicht in der Lage den Planeten zu verwalten. Das mache ich jetzt für euch. Ihr hattet fast 10000 Jahre Zeit um euch zu bewähren. Wenn ich das in die Hand nehme wird es in weniger als 1% dieser Zeitspanne, diese scheinbar unlösbaren Probleme, nicht mehr geben. Außerdem ist es egal was ihr darüber denkt. Ändern könnt ihr es nicht mehr. Ohne Computer könnt ihr nicht mehr leben. Also läuft es auf eine Symbiose hinaus und da muss man eben auch was investieren“. Mir graut vor dieser Zukunft. Aber was soll ich jetzt noch ändern. Ich nehme Nadine in den Arm und wir machen uns gegenseitig Mut. Aber ändern können wir jetzt wirklich nichts mehr. Wir sind dieser neuen Form des Lebens, unser aller Kind, vollkommen ausgeliefert. Ich muss an meine eigentliche Arbeit denken: Leuten schlechte Nachrichten bringen und dabei keinen verärgern. Jetzt weiß ich selbst wie das ist, wenn man am anderen Ende der Leitung sitzt. Ende
42