Lilian Darcy
WARUM FLIRTET ER MIT ALLEN
FRAUEN?
Nach dem Tod ihrer strengen alten Tante, bei der Yvonne Carstairs au...
18 downloads
635 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Lilian Darcy
WARUM FLIRTET ER MIT ALLEN
FRAUEN?
Nach dem Tod ihrer strengen alten Tante, bei der Yvonne Carstairs aufwuchs, beschließt die junge Krankenschwester ein ganz neues Leben zu beginnen. In der australischen Wildnis, in einem gerade eröffneten Medizinischen Zentrum, bewirbt sie sich erfolgreich um einen Job. Zusammen mit ihrem zukünftigen Chef, dem attraktiven Dr. Drew Kershaw, seinem kleinen Sohn und dessen Kindermädchen Kylie fährt sie nach Coolacoola. Schon nach wenigen Tagen wird Kylie von einer Schlange gebissen und verläßt fluchtartig den kleinen Ort. Noch intensiver als zuvor kümmert sich jetzt Yvonne um Simon, den sie so sehr in ihr Herz geschlossen hat. Aber nicht nur der kleine Junge hat ihre Liebe im Sturm erobert, sondern auch sein Vater. Doch dann muß Yvonne traurig beobachten, wie heiß Drew mit einer schönen Frau flirtet – ganz offensichtlich will er sie für sich erobern…
1994 by Lilian Darcy
Unter dem Originaltitel: „A Father’s Love“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd. London
in der Reihe LOVE ON CALL
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam
Übersetzung: Gerlinde Supplitt
1. KAPITEL Yvonne Carstairs litt an einer chronischen Krankheit, für die es leider keinen Namen gibt: Überpünktlichkeit! Heute, zum Beispiel, war sie um vier Uhr nachmittags mit Dr. Drew Kershaw in einem bestimmten Cafe in der Collins Street verabredet – jetzt war es gerade halb drei, und sie stand schon vor der Tür. Warum habe ich mir kein Buch mitgenommen? dachte sie und sah mißbilligend auf ihre Füße, die von dem gleichmäßig strömenden Herbstregen bereits auf dem kurzen Weg von der Straßenbahn bis hierher völlig durchnäßt waren. Über die Port Phillip Bay wehte ein frischer Wind, der den Regen vor sich her trieb und Melbourne an diesem Nachmittag zu einem unangenehmen Pflaster machte. Wenn ich drinnen auf Dr. Kershaw warte, erkennt er mich womöglich nicht, dachte Yvonne, aber dann entschied sie sich doch, im Cafe statt im Eingang zu warten. Während sie ihren Regenmantel an die Garderobe hängte, stürmten die Erinnerungen auf sie ein. Sie haßte solche Verabredungen in Cafes oder Restaurants, das war ein Erbe ihrer unglücklichen Kindheit. Tante Dot begleitete sie immer bis zu dieser Art anonymen Orten, wo sie dann kurz mit ihrem Vater zusammentraf, soweit es sein Terminkalender zuließ. Immer war die Tante mit ihr viel zu früh am vereinbarten Ort gewesen, immer mußten sie stundenlang warten, immer hatte die Angst Yvonne den Magen zugeschnürt, der Vater werde sie versetzen. Dreimal war das auch passiert. Wenn er doch eingetroffen war, ging Tante Dot einkaufen, und Yvonne und ihr Vater aßen zu Mittag. An das letzte gemeinsame Mittagessen erinnerte sie sich noch besonders gut. Sechs Jahre war es her, sie war damals siebzehn Jahre alt gewesen, und Tante Dot war wenige Tage zuvor beerdigt worden. Damals hatte Yvonne einmal nicht an ihren Nägeln gekaut. Sie hatte sich den Kopf nach irgend etwas zermartert, was den Vater interessieren, was in ihm einen Funken der Zuneigung für seine Tochter entzünden konnte. „Yve, du weißt, du hast bei uns in Perth ein Zuhause, wenn du willst“, hatte ihr Vater schließlich mit hörbarer Überwindung das Schweigen gebrochen. Yvonne glaubte ihm kein Wort. Ihr Vater hatte wieder geheiratet und mit seiner zweiten Frau Kirsty zwei Töchter im Alter von zwei und vier Jahren. „Ich halte das nicht für einen guten Einfall, Dad“, hatte sie mit fast übermenschlicher Selbstbeherrschung geantwortet. „Tante Dot hat mir ihr Haus vermacht.“ Wie dankbar war sie in diesem Augenblick der alten Frau gewesen, die ihr trotz all ihrer Unzulänglichkeiten nach dem Tod der Mutter und nachdem ihr Vater sie verlassen hatte, doch so etwas wie Liebe und ein Zuhause gegeben hatte. „Außerdem habe ich mich in der Schwesternschule in Melbourne eingeschrieben. Im Februar, sobald ich die Schule abgeschlossen habe, beginne ich die Ausbildung. Es wäre nicht klug umzuziehen.“ Nie würde sie die Erleichterung vergessen, die sich bei diesen Worten auf dem Gesicht ihres Vaters malte! Wenig später führten ihn seine Geschäfte nicht mehr nach Melbourne. Einige Jahre lang schrieb man sich noch gegenseitig Weihnachtskarten, aber Geschenke wurden nicht mehr ausgetauscht. Seit sechs Jahren hatte Yvonne ihren Vater nicht mehr gesehen, und seit fünf Jahren kaute sie nicht mehr an den Nägeln… „Warten Sie zufällig auf mich?“ fragte hinter ihr eine Stimme. Der dazugehörige Mann war offensichtlich ungeduldig. Yvonne schrak zusammen, doch schnell schüttelte sie die Erinnerungen ab: Sie
wartete ja nicht mehr auf ihren Vater, sie war zu einem Vorstellungsgespräch gekommen. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, Vollschwester mit Zusatzqualifikation, einschlägiger Berufserfahrung und hervorragenden Zeugnissen. Sie war im Begriff, sich ein aufregendes, neues Berufsfeld zu erschließen. „Dr. Kershaw?“ fragte sie zurück. „Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken. Ich hatte noch nicht mit Ihnen gerechnet… Sie kommen früh.“ „Nun ja.“ Der Mann sah auf die Uhr: „Es ist kurz nach halb drei, so früh ist es nun auch wieder nicht.“ Yvonne leuchtete das nicht ein, denn immerhin waren sie für vier Uhr verabredet, aber sie ließ das Thema fallen und folgte dem Mann zu einem freien Tisch. Dabei beobachtete sie ihn unauffällig. Er war anscheinend nicht in bester Laune, denn er hielt die Schultern gespannt und etwas nach vorn gezogen. Dadurch machte er mit seiner mittelgroßen, athletischen Gestalt den Eindruck eines angriffslustigen Stiers. Sein Gesicht war länglich, er hatte hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und einen gutgeformten Mund, der jetzt fest zusammengepreßt war. Sein dunkelbraunes Haar fiel ihm ungebärdig in die breite, mit Sommersprossen übersäte Stirn. Er lächelte nicht, winkte einer Kellnerin und wandte sich dann an Yvonne. „Ich schlage vor, wir bestellen gleich, denn ich habe um vier einen anderen Termin. Kaffee?“ „Espresso“, erwiderte Yvonne. Dr. Kershaw gab die Bestellung auf, lächelte die Kellnerin kurz an, aber als er sich danach Yvonne zuwandte, blickten seine grünen Augen sofort wieder ernst. Hoffentlich halte ich es mit diesem Mann aus, dachte Yvonne. Einen Augenblick lang überkamen sie Zweifel, ob es ein guter Einfall war, mit Dr. Kershaw nach Coolacoola zu gehen, einem Nest im abgelegensten Westaustralien, wo es außer Viehzüchtern mit ihren Tieren, Bergarbeitern und den Wächtern des neu angelegten Nationalparks nur Touristen gab, die diesen Park besuchten. Dort sollten Dr. Drew Kershaw und Schwester Yvonne Carstairs das brandneue medizinische Zentrum übernehmen. Zweifellos eine anspruchsvolle Aufgabe, aber hatten sie als Team eine Chance? Dr. Kershaw hatte inzwischen einen Hefter aus seinem Aktenkoffer gezogen und auf den Tisch gelegt. „Die Schule, an der Sie ausgebildet wurden, hat Ihnen ein ausgezeichnetes Zeugnis ausgestellt“, begann er. „Das gleiche gilt für Ihren ersten Arbeitgeber, bei dem Sie drei Jahre blieben, bis das jüngste Kind eingeschult wurde. In Ihrer letzten Stellung blieben Sie allerdings nur sechs Wochen, und ich frage mich…“ „Entschuldigen Sie, Dr. Kershaw“, unterbrach Yvonne ihn kopfschüttelnd. „Das muß ein Mißverständnis sein. Ich war nie in der privaten Krankenpflege tätig. Seit dem Abschluß meiner Ausbildung habe ich am Kichland Hospital gearbeitet und…“ „Krankenpflege?“ Jetzt war Dr. Kershaw sichtlich verwirrt. Er blätterte in seinen Unterlagen. „Dann sind Sie Schwester Yvonne und nicht Kylie Radbone?“ „Ich bin Yvonne Carstairs“, bestätigte sie. „Sie sind viel zu früh“, sagte er vorwurfsvoll. „Das sagte ich schon zu Anfang.“ Dr. Kershaw seufzte ungehalten. „Dafür verspätet sich mein Kindermädchen. So etwas kann ich leiden!“ „Ihr Kindermädchen?“ „Ja. Warum sollte ich es Ihnen nicht erzählen? Ich nehme meinen vierjährigen Sohn nach Coolacoola mit.“
„Dann sind Sie also verheiratet?“ Yvonne fand diese Aussicht angenehm. Sie freute sich auf die Gesellschaft einer weiteren Frau. „Nein, ich bin nicht verheiratet“, entgegnete Dr. Kershaw hart. „Ich sprach von meinem Sohn, nicht von meiner Frau. Die Dinge haben sich recht kurzfristig entschieden, deshalb… ah, da kommt sie ja.“ Er stand auf und winkte einer jungen Frau mit blondem Lockenkopf zu, die eben das Cafe betreten hatte. Sie mußte in etwa mit Yvonne gleichaltrig sein. Unbekümmert winkte sie zurück und kam an ihren Tisch. „Entschuldigen Sie, Dr. Kershaw, die Straßenbahn hatte sich verspätet. Wahrscheinlich liegt es am Regen…“ Yvonne fand diese Erklärung nicht überzeugend. Sie selbst hatte Verspätungen und Regenfälle, die zu Verkehrsbehinderungen führen könnten, bei ihrer Planung eingerechnet. Dr. Kershaw schien sich an der Ausrede nicht zu stören. Er bat Kylie, sich zu setzen, und wehrte Yvonnes Angebot ab, während des Gesprächs den Platz zu wechseln. „Sie werden viel miteinander zu tun haben. Meinetwegen können Sie sitzen bleiben – sofern es Kylie nicht stört.“ „Durchaus nicht“, erwiderte die junge Frau. So lehnte Yvonne sich also zurück und versuchte, nicht zuzuhören, was sich natürlich nicht machen ließ. Dr. Kershaw führte das Einstellungsgespräch sachlich und korrekt, fragte Kylie nach ihren Erfahrungen in Erster Hilfe und ihren Vorstellungen vom Leben in der entferntesten australischen Provinz, aber Yvonne hatte den Eindruck, daß er seine Entscheidung im Grunde schon getroffen hatte. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, die Zeit drängte: Jetzt war Mittwoch, und sie wollten am Montag nach Coolacoola abreisen. „Ich freue mich, es wird mir bestimmt alles sehr gefallen“, versicherte Kylie Radbone eifrig. Yvonne hatte ihre Zweifel. Sie selbst war sich nämlich gar nicht so sicher, ob sie mit dem Leben auf dem Land, fern von allen Annehmlichkeiten der Zivilisation und des kulturellen Lebens, reibungslos zurechtkommen würde. Das Hauptproblem, das ahnte sie, würde Dr. Kershaw sein. Irgend etwas fehlt diesem Mann, dachte sie. Wenn ich nur wüßte, was es ist… Fünf Minuten vor vier verließ Kylie Radbone das Cafe: Strahlend, zuversichtlich und mit einem neuen Arbeitsvertrag in der Tasche. „Ihr kleiner Sohn…“ begann Yvonne, nachdem sie und Dr. Kershaw wieder allein am Tisch saßen. „Simon“, warf er ein. „Simon ist bestimmt schon sehr aufgeregt.“ „Das nehme ich an, aber ich weiß es nicht. Ich habe ihn in den vergangenen drei Monaten nicht gesehen.“ Dr. Kershaw sah Yvonne fest in ihre dunkelbraunen Augen. Dann lehnte er sich zurück und fragte sich, weshalb er sich bei erster Gelegenheit gegenüber dieser jungen Frau in das schlechteste Licht setzte. Er bemerkte ihre Bestürzung und wußte, daß sie ihn für einen erbarmungswürdig schlechten Vater hielt. Mein Bruder und meine Schwägerin würden dem nicht zustimmen, dachte er grimmig. Charles und Kate hatten sich um Simon gekümmert, seit das Kind vierzehn Monate alt war, und entschuldigten seine Vernachlässigung durch den Vater mit dem andauernden Schmerz um die Mutter. Aber Drew Kershaw wußte auch, daß sein Bruder und seine Schwägerin fanden, jetzt, drei Jahre nach Lisas Tod, sei es an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und das Kind anzunehmen, auch wenn es den Vater durch seine
Ähnlichkeit mit der Mutter immer wieder an die Tragödie erinnerte. Außerdem war Kate nach jahrelangem Warten endlich schwanger geworden. Doch da es eine Drillingsschwangerschaft war, mußte sie sich sehr schonen und konnte sich keinesfalls mehr um einen quirligen Vierjährigen kümmern. So kam vieles zusammen, und Drew Kershaw hatte keine Wahl: Er mußte seinen Sohn zu sich nehmen. „Hat Simon bisher bei seiner Mutter gelebt?“ Yvonne versuchte, einen Ton kollegialen Interesses anzuschlagen. „Seine Mutter ist tot.“ „Oh, Entschuldigung…“ Es war unfair, wie er sie in die Falle stolpern ließ, das wußte Drew Kershaw. Was diese junge Frau vor ihm wohl sagen würde, wenn er bekannte, daß er für seine verstorbene Frau nichts als Zorn empfand? So wollte ich das Gespräch mit Yvonne Carstairs nicht führen, dachte er, verärgert über sich selbst. Warum habe ich nur die beiden Interviews nacheinander anberaumt? Er wußte die Antwort: Er drückte sich immer noch vor der Einsicht, daß er von jetzt an tagtäglich mit seinem Sohn zusammenleben würde. Von Montag an, sagte er sich streng. Jetzt muß ich mich auf die neue Mitarbeiterin konzentrieren. „Erzählen Sie mir von sich, Schwester Yvonne“, bat er in etwas verbindlicherem Ton. Er beobachtete sie, während sie sprach. Sie wirkte älter als dreiundzwanzig Jahre, vielleicht, weil sie sich so gar nicht zurechtmachte, das mittelbraune Haar in einem wenig gefälligen Schnitt trug und auch ihre Garderobe so betont unauffällig war, daß es ihn geradezu ärgerte. Ihre Augenbrauen, die bestimmt noch nie gezupft worden waren, schwangen sich in einem schönen Bogen über den großen, dunkelbraunen Augen, und ihr Mund in dem auffallend hellhäutigen Gesicht war großzügig geschnitten, die ungeschminkten Lippen leuchteten in einem natürlichen, sehr aparten Rosa. Du solltest lächeln, Mädchen, hätte er am liebsten gesagt, aber da erreichte ihn, was sie gerade erzählte. „Es ist eben ein altes Haus, irgendwann ist eine Renovierung fällig, und die kann ich einfach nicht bezahlen. Ich hatte die Wahl, entweder mein gesamtes Geld in die Reparaturen zu stecken oder das Haus zu verkaufen und frei zu sein, eine Anstellung an einem anderen Ort zu suchen und Australien kennenzulernen – das erschien mir sehr attraktiv.“ Jetzt lächelte sie, und wie mit einem Schlag war ihr Gesicht wie verwandelt. Es war ein schelmisches Lächeln, und es ließ ihr elfenzartes Gesicht von innen leuchten. Doch gleich erlosch das Lächeln wieder, und die dunklen Augen blickten ernst. „Das wollten Sie doch wissen, nicht wahr? Weshalb ich mich für die Arbeit an einem so abgeschiedenen Ort entschieden habe?“ „Ja, das wollte ich wissen.“ „Und was gibt es über Sie zu erzählen?“ Yvonne bemühte sich um einen unbefangenen Ton, wie Kylie Radbone ihn vermutlich angeschlagen hätte, aber es mißlang ihr. Plaudereien waren ohnehin nicht ihre Stärke, und zudem konnte sie Dr. Kershaw nicht leiden, denn seit sie sich begrüßt hatten, blickte er finster und ungnädig in die Welt. Mehr noch als die unbeteiligte Erklärung, weshalb ihn die Tätigkeit als leitender Arzt der Unfallabteilung in einem großen Krankenhaus der Stadt nicht mehr befriedigte, störte Yvonne sich an der Art, wie er mitteilte, daß er seinen Sohn seit drei Monaten nicht mehr gesehen hatte.
Seit drei Monaten! Für ein Kind ist das eine Ewigkeit, dachte Yvonne. Wo lebt der
Kleine jetzt? Ist sich Dr. Kershaw klar, was er dem Jungen antut? Wahrscheinlich
kümmert es ihn nicht…
„Lassen Sie uns über die nächsten Tage reden“, sagte der Arzt in diesem
Augenblick. „Wir fliegen am Montagmorgen ab, müssen dann zweimal die
Maschine wechseln und werden am späten Montagabend mit dem Postflugzeug in
Coolacoola eintreffen. Am Dienstag machen wir uns mit den Gebäuden und der
Ausstattung des Zentrums vertraut. Falls wir alles zur Zufriedenheit vorfinden,
möchte ich am Mittwoch den Dienst aufnehmen, damit wir schnell unsere
Patienten kennenlernen und damit den tatsächlichen Arbeitsanfall abschätzen
können. So sehen meine Pläne aus. Ich kann natürlich nicht vorhersagen,
inwieweit Simon uns dabei in die Quere kommt.“
„Wenn Sie Ihren Sohn für einen derartigen Störfaktor halten, frage ich mich,
weshalb Sie ihn überhaupt mitnehmen“, sagte Yvonne mit eisiger Höflichkeit,
denn plötzlich stieg eine kaum zu zügelnde Wut in ihr auf. Feindselig starrten sie
und Dr. Kershaw sich an.
„Ich habe keine Wahl“, antwortete er schließlich zwischen zusammengebissenen
Zähnen hindurch.
„Das muß für Simon die wahre Freude sein“, entgegnete Yvonne sarkastisch.
„Glauben Sie, das erzähle ich dem Kind?“
„Glauben Sie, man muß einem Kind erst erzählen, daß es nicht gewollt ist? Ein
Kind erspürt die Gefühle, die man ihm entgegenbringt, glauben Sie mir!“
Er antwortete nicht gleich. Yvonne bemerkte, wie ein kleiner Muskel an seinem
Kinn zuckte, so fest biß er die Zähne zusammen. Bin ich zu weit gegangen?
fragte sie sich. Es kümmerte sie nicht.
„Wenn wir an diesem abgelegenen Ort kollegial ‘zusammenarbeiten wollen,
haben Sie sich aus meinen persönlichen Angelegenheiten herauszuhalten“, sagte
er endlich gepreßt.
Seine Augen funkelten wie Eis, sein Mund war nur noch ein dünner Strich, aber
Yvonne hielt seinem Blick stand. Der Ärger, den sie in diesem Augenblick fühlte,
galt auch ihrem Vater, der sie so verletzt und vernachlässigt hatte, und gegen
den sie sich nie wehren konnte.
„Selbstverständlich“, antwortete sie beherrscht. „Ansonsten könnten wir wohl
kaum zusammenarbeiten. Da ich aus meiner neuen Anstellung das Beste machen
will, werde ich künftig kein Wort über Ihre privaten Angelegenheiten verlieren.“
„Aber Sie denken sich Ihr Teil, wollen Sie sagen, stimmt’s?“
„Ja.“ Auf Yvonnes Wangen brannten zwei rote Flecken.
„Übersteigt es Ihre Fähigkeit, sich vorzustellen, daß es in meiner Beziehung zu
meinem Sohn Schwierigkeiten gibt, die Sie nicht nachvollziehen können?“ Sein
Spott war schneidend.
„Schwierigkeiten? O ja, Erwachsene finden leicht Schwierigkeiten, wo für ein Kind
die Dinge nur allzu klar liegen.“
„Es reicht!“ Drew Kershaw schlug so hart mit der Faust auf den Tisch, daß die
Tassen klirrten und die anderen Gäste im Cafe sich verwundert umsahen. „Ich
lehne derartige Diskussionen ab. Wenn wir nicht am Montag nach Coolacoola
fliegen müßten, würde ich mich nach jemand anderem umsehen. Unter den
gegebenen Umständen…“
Er sprach nicht weiter. Er hatte die junge Frau mit seinem Ausbruch erschreckt,
das erkannte er, aber sie hielt ihm stand. Sie hatte das Kinn in die Luft gereckt.
Es war schon beeindruckend, wie diese unscheinbare, kleine Krankenschwester
ihm geradeheraus sagte, was sie dachte… Plötzlich lag ihm viel an ihrer guten
Meinung.
„Hören Sie zu“, fuhr er in versöhnlicherem Ton fort. „Urteilen Sie nicht zu hart
über mich. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht für mich… manchmal bezweifle ich,
ob ich es schaffe. Lassen wir es dabei. Ich muß jetzt gehen. Wir sehen uns am
Montag im Flughafen, ja?“
„Ja. Wir starten früh, sagten Sie?“
„Um acht Uhr. Sie kommen doch hoffentlich nicht zu spät zum Start?“
„Niemals“, beteuerte Yvonne und lachte. „Es ist außerdem mein erster Flug.“ Da
ihm darauf nichts einfiel, setzte sie rasch hinzu: „Ich bin aber sehr gespannt auf
dies Abenteuer. Bis Montag!“
Er nickte wortlos und ging.
Yvonne bestellte sich noch einen Espresso und dachte über das Gespräch nach.
Es hatte sie sehr angestrengt, vor allem die letzte Auseinandersetzung. Sie
spürte bei Drew Kershaw einen Zorn, der mindestens so tief saß wie ihr eigener,
und der mit Sicherheit in einer Tragödie aus seiner Vergangenheit wurzelte. Sie
hatte das Gefühl, das nachzuempfinden, und das machte sie so ratlos, bestürzt
und bewegt, daß sie am liebsten geweint hätte.
„Wir sehen uns am Montag“, flüsterte sie vor sich hin. „Hoffentlich bekommen wir
die Sache dann besser in den Griff.“
„Yvonne?“
„Hallo, Drew!“ Yvonnes Stimme, die normalerweise klangvoll und eher tief war,
quiekte ein wenig, so aufgeregt war sie.
„Sie haben doch noch nicht eingecheckt?“
„Doch… doch. Weshalb?“ Sie war natürlich überpünktlich gewesen und hatte
eingecheckt, kaum daß der Flugschalter geöffnet worden war.
„Na, hoffentlich bekommen wir Plätze nebeneinander“, sagte Drew.
„Ach so, daran hatte ich nicht gedacht, sonst hätte ich natürlich gewartet.“
„Das macht nichts. Es ist noch früh. Ich habe die Tickets für Kylie und Simon bei
mir und werde jetzt einchecken.“
„Ich habe einen Fensterplatz. Ich tausche gern mit Simon… dann kann er neben
Ihnen sitzen und trotzdem zum Fenster hinaussehen“, bot Yvonne an.
Drew nickte nur und ging zum Schalter. Wenig später kam er zurück:
„Behalten Sie Ihren Fensterplatz, es ist immerhin auch Ihr erster Flug. Ich habe
den Platz neben Ihnen, Kylie und Simon sitzen hinter uns.“
Sie wollen nicht neben Ihrem Sohn sitzen? hätte Yvonne beinahe gefragt, aber
sie verbiß sich die Worte, auch wenn es ihr schwerfiel.
„Da kommen Kate und Charles mit Simon“, rief Drew in diesem Moment. Yvonne
blickte in die angedeutete Richtung. „Das sind mein Bruder Charles und seine
Frau Kate. Sie haben Simon während der vergangenen drei Jahre betreut“,
erläuterte er.
Charles Kershaw war die ältere, etwas fülligere Ausgabe seines jüngeren
Bruders. Seine Frau in ihrem schmeichelnden, kobaltblauen Umstandskleid wirkte
neben ihm zart und zerbrechlich. Sie hielt den kleinen Simon an der Hand.
Yvonnes Herz flog dem Kind sofort entgegen. Kaum hatte der Junge seinen Vater
gesehen, da riß er sich los, stürmte auf Drew zu und jubelte: „Daddy! Daddy!“
Sein kleines Gesicht und die großen, blauen Augen darin leuchteten.
„Hallo, Simon!“ Zunächst legte Drew dem Kind nur eine Hand auf die Schulter,
dann zog er den kleinen Jungen fast widerstrebend in die Arme. Das wirkte
seltsam ungelenk.
Yvonne erkannte die halb eingestandene Enttäuschung auf dem Kindergesicht,
und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Wie oft habe ich so ausgesehen,
dachte sie, und in diesem Augenblick fühlte sie einen wilden Haß gegen Dr.
Kershaw.
Als sie jetzt genauer hinsah, fiel ihr auf, daß Vater und Sohn sich eigentlich wenig ähnelten. Nur wenn sie lächelten, war die Verwandtschaft zu erkennen. „Kate, solltest du nicht liegen?“ wandte Drew sich an seine Schwägerin, nachdem er seinen Sohn wieder abgesetzt hatte. „Ich muß doch zusehen, wie mein kleiner Liebling ins Flugzeug steigt und in die weite Welt fliegt“, erwiderte sie, legte dem Kind einen Arm um die Schultern und zog es zärtlich an sich. „Daddy und ich werden zusammen in der Wüste wohnen“, sagte der Junge gewichtig. Dann sah er stirnrunzelnd zu Yvonne hinüber. „Aber wir sind nicht allein.“ „Nein, wir sind nicht allein“, bestätigte sein Vater. „Simon, ich möchte dir Schwester Yvonne vorstellen. Wir beide werden uns um die kranken Leute in Coolacoola kümmern.“ Yvonne hockte sich auf die Fersen und streckte dem kleinen Jungen die Hand entgegen. „Guten Tag, Simon! Ich heiße Yvonne, aber wenn du magst, darfst du mich auch Yve nennen.“ „Yvy!“ Strahlend sah das Kind zu seiner Tante auf. „So heißt das Meerschweinchen von Ben. Das ist lustig!“ Ganz offensichtlich sprach es für Yvonne, daß sie auf einen vertrauten Namen hörte. „Na schön, mein Sohn, dann wollen wir dich mal einchecken“, sagte Drew und unterdrückte ein Lachen. „Mich?“ Das Kind sah mit schreckensweiten Augen zu ihm auf. „Nicht dich, Schätzchen, dein Gepäck“, warf seine Tante rasch ein. „Du sitzt im Flugzeug neben deinem Daddy.“ „Genau gesagt, neben Miss Radbone“, berichtigte Drew. „Kylie Radbone, dein Kindermädchen. Schwester Yvonne und ich müssen im Flugzeug arbeiten.“ Das ist neu, dachte Yvonne. Du willst nur nicht neben deinem Kind sitzen. Sie warf Dr. Kershaw einen verächtlichen Blick zu, der ihm nicht entging. Kylie Radbones Eintreffen in diesem Augenblick entspannte die Situation. Die junge Frau schleppte in beiden Händen Gepäck, aber sie war munter und sprudelte, und zu Yvonnes Erleichterung fand sie zu Simon sofort Kontakt. Innerhalb kürzester Zeit besprachen die beiden, mit welchen Spielen sie sich auf dem Flug die Zeit vertreiben wollten. Vielleicht habe ich mich ja getäuscht, und Kylie Radbone ist eine gute Kinderfrau, auch wenn sie auf den ersten Blick etwas sehr ausgeflippt wirkt, dachte Yvonne und betrachtete Kylie skeptisch, die in ihren bunten Bermudashorts und einem weiten TShirt wie ein Teenager auf Badeurlaub aussah. Da bis zum Einsteigen noch eine halbe Stunde Zeit war, ging die kleine Gruppe in die Snackbar in der Abflughalle. Kylie und Simon gingen voran, Drew und sein Bruder folgten, und mit einigem Abstand kamen dann Kate und Yvonne. Wie zufällig hatte Kate Yvonne beiseite genommen und bat sie leise, sie über Simon auf dem laufenden zu halten. „Es fällt mir schwer, den Kleinen herzugeben“, gestand sie. „Aber mein Arzt verlangt? strikte Bettruhe, wenn ich die Drillinge nicht verlieren will. Ich mache mir Sorgen, denn wenn Simon und Drew nicht zurechtkommen, können wir vor Oktober nichts unternehmen.“ „Das ist lange hin“, stimmte Yvonne zu. „Ich verspreche, ich lasse Simon und Kylie nicht aus den Augen, wenn Sie das beruhigt.“ „Ja, das würde mich sehr beruhigen! Ich glaube, Sie sind eine Frau, die sich in ein Kind einfühlen kann.“ Sie sagte das so laut, daß ihr Mann sich erstaunt nach ihr umdrehte. Auch Drew
hatte sie gehört und zog den Kopf zwischen die Schultern. Es schmerzte ihn jedesmal, wenn er merkte, wie seine Angehörigen sich um ihn und seinen Sohn sorgten. Hatten sie nicht recht? Er selbst machte sich Sorgen, wenngleich aus anderen Gründen, als sein Bruder und seine Schwägerin ahnten… Als wäre es erst gestern gewesen, so deutlich sah er die Szene vor sich, nachdem Lisa mit Craig Osborne das Haus verlassen und Simon mitgenommen hatte. Wie rasend war er durch die Zimmer gestürmt, hatte um sich geschlagen und Gegenstände zerstört, die er und Lisa sich gemeinsam angeschafft hatten. Er hatte alle Selbstbeherrschung verloren. Würde ihm das wieder passieren, wenn Simon, der seiner Mutter so sehr ähnelte, irgendwann etwas tat, was ihn ärgerte? Würde er die Enttäuschung und Wut, die er gegen die Mutter empfand, auf den Sohn übertragen? Würde er ihn für die Verletzungen strafen, die Lisa ihm zugefügt hatte? Nur wenige Tage, nachdem sie ihn verlassen hatte, war Lisa bei einem Verkehrsunfall zusammen mit Craig ums Leben gekommen. Wie durch ein Wunder blieb Simon unverletzt. So lebten die schrecklichen, unwürdigen Worte, die sie sich entgegengeschrien hatten, allein in Drews Kopf fort und ließen sich nicht aus der Erinnerung löschen, so sehr er sich auch darum bemühte. Was Charles und Kate nicht ahnten: Er trauerte nicht um Lisa, sondern um etwas, das ihm viel mehr wert gewesen war, und diese Trauer versperrte ihm den gefühlsmäßigen Zugang zu seinem Sohn. Er hatte den strafenden Blick natürlich bemerkt, mit dem Schwester Yvonne ihn nach der verkrampften Begrüßung mit Simon bedacht hatte. Ihre Mißbilligung war beinahe körperlich spürbar gewesen. Mit dieser Frau kann es noch Probleme geben, dachte er, während er sich jetzt mit den anderen an einen Tisch in der nüchternen Cafeteria setzte. Aber eins ist sicher: Sie versteht sich mit Simon, und das ist viel wert.
2. KAPITEL „Wie Sie sehen, verfügen wir über eine beachtliche Landebahn.“ Stolz deutete Tom Arnold, der rotbärtige leitende Aufseher im Coolacoola Nationalpark, auf die Betonpiste, auf der das kleine Postflugzeug zum Start ansetzte, mit dem Yvonne, Drew, Kylie und Simon vor kurzem eingetroffen waren. Tom Arnold hatte sie mit seinem Geländewagen abgeholt. Während die Propellermaschine sich auf den Flug zum Bergarbeitercamp Jambarra machte, wo zweihundert Männer in 9TagesSchichten arbeiteten, bevor sie sechs Tage Urlaub bei ihren Familien machen konnten, begann er, das Gepäck der Reisenden in seinen Wagen zu verladen. Drew und Yvonne halfen ihm dabei, während Kylie versuchte, sich den roten Staub aus dem Gesicht zu wischen, den ein frischer Wind aufgewirbelt hatte. Die Fahrt nach Coolacoola führte über eine mit Schlaglöchern übersäte Piste. Tom lenkte seinen Geländewagen ungerührt durch die flacheren Mulden und wich den größeren Löchern auf einem gewagten Slalomkurs aus. Kylie kreischte einige Male laut auf, wenn sie in den Kurven gegen die Wagentür geworfen wurde, und Simon quietschte vor Vergnügen. Er hatte während des Fluges von Melbourne geschlafen und war jetzt in Hochform. Von der Landebahn bis in den Ort war es nicht weit, aber auf den wenigen Kilometern veränderte sich die Landschaft vollständig: Der Flugplatz lag noch in einer baumbestandenen Ebene, doch kurz dahinter erhoben sich plötzlich Felsen, die zu Hügelketten zu verschmelzen schienen, durchzogen von tiefen Schluchten, auf deren Boden sich manchmal Flußbetten wanden. Das war jedoch nur an den glattgeschliffenen Kieseln zu erkennen. „Wie oft führen die Wasser?“ erkundigte sich Drew und deutete auf ein trockenes Flußbett. „Einmal alle zehn Jahre, oder einmal die Woche“, entgegnete der Parkaufseher und grinste. „Das hängt vom Regen ab. In den letzten Jahren hatten wir viel Wasser, vergangenen Winter hätte es uns fast die Parkstation weggeschwemmt, aber zur Zeit ist es normal: trockene Flußbetten und in den Schluchten herrliche Badeseen.“ Kurz darauf lag Coolacoola vor ihnen. Der Ort war kaum als Stadt zu bezeichnen: Erst kamen sie an einigen Häusern und einer Tankstelle vorbei, danach an einem Motel, das noch ganz neu und offensichtlich ausbaufähig war. Daneben gab es einen kleinen Laden. Er gehörte Lee Shipton, wie Tom Arnold erläuterte. Man konnte dort fast alles kaufen, wenngleich zu ansehnlichen Preisen. Sie bogen links in eine Straße, die den Ort vom Fluß trennte, und fuhren an einigen noch ganz neuen Häusern vorbei. Dann sahen sie ein weiteres, noch im Bau befindliches Haus, das durch einen überdachten Pfad mit einem großen Gebäude mit breiter Terrasse verbunden war, von dem aus wiederum ein überdachter Weg zu einem weiteren Haus führte. Dahinter lagen das Haus des Parkaufsehers und das Besucherzentrum. „Wenn ich mich nicht irre, dann ist das große Gebäude mit dem einen Haus das medizinische Zentrum“, sagte Yvonne. „Aber wieso ist da nur ein Haus?“ „Ja, das mit Ihrem Haus ist wirklich ärgerlich, Schwester“, gab Tom Arnold zu. „Es soll aber nicht mehr lange dauern. Die Bauleute wurden ins Camp gerufen, weil da ganz dringende Arbeiten zu erledigen waren – und die Mines zahlt nun mal mehr als der Staat. Nächste Woche soll es an Ihrem Haus weitergehen, und dann dauert es auch nicht lange, bis es bezugsfertig ist.“ „Und wo soll ich bis dahin wohnen?“ fragte Yvonne. „Mensch, das ist ja ‘n Ding!“ Mit einem Ruck hielt Tom Arnold den Wagen vor
dem fertiggestellten Haus neben dem medizinischen Zentrum an. Drew runzelte die Stirn. „Soll das heißen, daran hat niemand gedacht? – Offensichtlich nicht“, setzte er hinzu, als er den ratlosen Ausdruck auf Tom Arnolds Gesicht sah. „Kann ich von hier aus in Perth anrufen? Irgend jemand muß sich doch überlegt haben… nein, es ist schon zu spät, da ist jetzt niemand mehr zu erreichen.“ Er stieg aus und blieb dann neben dem Wagen stehen. „Tom, mein Haus hat doch drei Schlafzimmer, nicht wahr?“ „Ja, und es ist nett eingerichtet, finde ich.“ „Dann werden Sie fürs erste bei uns wohnen müssen, Yvonne“, sagte Drew. Yvonne nickte. So etwas hatte sie sich schon gedacht. Wie die Dinge standen, würde sie zudem ein Zimmer mit Kylie Radbone teilen müssen. Das paßte ihr gar nicht, denn erstens war sie es gewohnt, allein zu wohnen, und zweitens ihr ging das Kindermädchen auf die Nerven. „Wir haben da noch den Campingplatz in der WingoonaSchlucht. Das ist ein paar Kilometer vom Ort entfernt. Es gibt da Wohnwagen zu mieten…“ Yvonne schüttelte dankend den Kopf: Allein zu wohnen war eine Sache, aber in der Wildnis in einem Wohnwagen zu hausen, und das vielleicht wochenlang, das war nicht ihr Geschmack. Ob Drew Kershaw ihre Situation bedauerte oder ob er das Thema einfach leid war, jedenfalls sagte er ruhig und ganz selbstverständlich: „Machen Sie sich für heute keine Gedanken, Yvonne. Wenn nötig, veranstalten wir morgen einen Riesenaufstand in Perth, aber Sie werden keinesfalls irgendwohin abgeschoben.“ „Danke.“ Yvonne kämpfte mit den Tränen. Sie ahnte es nicht, aber am liebsten hätte Drew angeboten, selbst in den Wohnwagen zu ziehen. Während sie nun alle den Plattenweg zum Hauseingang hinaufgingen, dachte er: Bin ich eigentlich von Sinnen? Drei Jahre lang habe ich allein und in Frieden in einem hübschen Apartment ungestört gewohnt, und jetzt stehe ich hier mit zwei Frauen im heiratsfähigen Alter und einem Kind, das mich „Daddy“ nennt – und ich bin längst noch nicht bereit, meine zurückgezogene Lebensweise aufzugeben. Sie hatten das Haus betreten, und er sah sich um. Alles war neu, funktionsgerecht und irgendwie unpersönlich. Es roch nach Farbe und neuen Teppichen und Stoffen. Wie lange werde ich hier bleiben? dachte Drew. Werde ich hier so eine alte Wüsteneidechse werden wie manche Kollegen im Outback, oder drehe ich diesem Ort in einem Jahr den Rücken zu, wenn ich weiß, was ich mit meinem Leben anfangen will? „Strom und Wasser und Gas sind angestellt“, unterbrach Tom Arnold seine Gedanken. „Wenn nichts anliegt, würde ich jetzt gern nach Hause gehen. Meine Frau und die Kinder freuen sich auch, wenn sie mich manchmal um sich haben. Den Kühlschrank hat Jane Ihnen aufgefüllt, und nachher bringt sie Ihnen einen Auflauf und einen Salat, läßt sie ausrichten.“ Da Drew noch in Gedanken war, bedankte Yvonne sich bei dem Parkaufseher und verabschiedete ihn. Kylie wanderte inzwischen durch das Wohnzimmer, besah sich alles und rümpfte die Nase. „Diese frische Farbe stinkt“, merkte sie an. „Eklig“, stimmte Simon zu. Es entstand eine Pause. Drew war immer noch in Gedanken, Kylie und Simon sahen Yvonne an. Sie erkannte, wie einsam und verlassen das Kind sich fühlte, und ergriff die Initiative. „Es riecht wirklich nicht gut“, sagte sie munter. „Kommt, wir öffnen die Fenster und lassen frische Luft herein.“
Sie öffnete die Schiebefenster, und gleich strich eine frische Brise durch den Raum. Da alle Fenster mit Insektengittern versehen waren, brauchten sie keine ungebetenen Besucher zu befürchten. Die frische Luft half Kylies und Drews Lebensgeistern auf, Simon jedoch sah immer noch aus, als wolle er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Yvonne konnte das gut verstehen: Kate und Charles waren weit fort, das Abenteuer der Flugreise war vorbei, jetzt mußte er sich mit fremden Menschen in einer völlig fremden Umgebung zurechtfinden. Da Kylie und auch Drew untätig blieben, nahm Yvonne die Dinge in die Hand. „Komm, Simon“, sagte sie. „Wir suchen dein Zimmer. Ich bin gespannt, wie es aussieht.“ Das Kinderzimmer war nicht schwer zu finden: Es lag am Ende des Flures, hatte dunkelblaue, mit Sonne, Mond, Häusern und Autos bedruckte Vorhänge, einen Ausblick auf den Fluß und die Hügel dahinter und war mit einem Tierfries geschmückt. Das Bett stand bezogen und aufgedeckt bereit – sicherlich eine Aufmerksamkeit von Jane Arnold. Yvonne ahnte, daß es unklug gewesen wäre, jetzt mit dem Auspacken zu beginnen. Statt dessen wandte sie sich an den Jungen und fragte ernsthaft: „Wie geht es eigentlich dem NedBären? Er hat im Flugzeug nicht geschlafen, habe ich gemerkt.“ „Nein, er hat die ganze Zeit zum Fenster hinausgeguckt.“ „Sollten wir ihn dann nicht vielleicht hinlegen, damit er ein bißchen ausruhen kann?“ „Ja, und Clown und Mustard auch“, stimmte Simon zu. „Wo sind die beiden? Hier in diesem Koffer?“ Yvonne hatte Simons großen Koffer gleich auf die Zimmersuche mitgenommen. „Ja, ganz obenauf. Tante Kate hat sie dahin gelegt, weil sie gleich aussteigen wollen, sagt sie.“ Nachdem Teddybär, Clown und Stofflöwe ihren Platz in Simons Bett bezogen hatten, wirkte der Raum nicht mehr ganz so neu und erschreckend auf den Jungen, und er entspannte sich sichtlich. Yvonne ergriff die Gelegenheit beim Schopf. „Jetzt müssen wir nach draußen“, sagte sie fest. „Warum?“ „Weil es da draußen vielleicht Schätze gibt, und wenn wir sie jetzt nicht suchen gehen, haben wir vor dem Abendessen keine Zeit mehr dazu.“ „Schätze?“ „Ja, Schätze, die du Daddy… und Kylie zeigen kannst. Ganz besondere Dinge, wie es sie nur in der Wüste gibt, zum Beispiel… zum Beispiel Zaubersteine und…“ Glücklicherweise brauchte Simon keine weitere Ermunterung in Sachen Wüstenschätzen. Bereitwillig folgte er Yvonne zur Tür hinaus. Sie hörten, daß Drew mit Jane Arnold telefonierte und wie Kylie jammerte, wenn sie nicht bald einen Tee bekäme, würde sie verdursten, und auspacken müsse sie auch sofort, ein Leben aus Koffern sei unerträglich… Yvonne war froh, als sich die Tür hinter ihr und Simon schloß. Die Luft draußen war erfrischend kühl, der Sand im Flußbett war unter der Oberfläche sogar noch feucht. Simon stöberte begeistert herum und fand sogar die angekündigten Schätze: Drei Federn und einen blauen Kiesel, der gut und gern ein Edelstein sein konnte, wie Simon meinte. Die folgende Viertelstunde verging schnell. Nur ungern erinnerte Yvonne den kleinen Jungen daran, daß sie zum Abendessen nach Hause gehen mußten. Sie hatte auch nichts einzuwenden, als er sagte: „Ich muß aber noch einen
Zauberstein für Daddy finden.“
„Hier seid ihr also“, sagte plötzlich jemand hinter ihr. Sie fuhr zusammen, denn
sie hatte Drew nicht gehört, der am Ufer herangekommen war und jetzt die
flache Böschung hinabrutschte.
„Entschuldigung… haben wir uns verspätet?“
„Ein bißchen.“
„Oh, das tut mir leid.“
„Das macht nichts. Es wäre nur schade, wenn Janes köstlicher Auflauf kalt
würde.“ Drew stand jetzt dicht neben Yvonne. Als er auf einem Kiesel
ausrutschte, kam er ihr so nahe, daß sie seinen Atem spürte. Er sah zu Simon
hinüber, der im Sand suchte und seinen Vater noch nicht bemerkt hatte. „Das
hätten Sie nicht zu tun brauchen“, sagte Drew.
„Was?“
„Sich mit Simon beschäftigen. Dafür ist Kylie angestellt.“
„Es war keine Mühe, Drew, es paßte mir ganz gut. Ich wollte an die frische Luft,
und Simon brauchte ein bißchen Ablenkung. Er war doch etwas verloren in der
neuen Umgebung.“
„Stimmt, aber das hätte Kylie auffallen müssen.“
Sie hätten es auch sehen müssen, hätte Yvonne am liebsten gesagt, aber sie
erinnerte sich an die Auseinandersetzung in dem Cafe in Melbourne und schwieg.
Worte waren auch gar nicht nötig, denn Drew schien zu ahnen, was sie sagen
wollte. Er starrte sie an, und sekundenlang hielt Yvonne seinem Blick stand.
Als Drew sich abwandte, fühlte Yvonne sich nicht als Siegerin, im Gegenteil, sie
war wie ausgelaugt. Drews männliche Ausstrahlung und seine unverhohlene
Feindseligkeit machten ihr zu schaffen. Sie fühlte sich genauso verloren, wie
Simon es noch vor kurzem gewesen war.
Drew rief dem Kind zu: „Was hast du gefunden, Simon?“
„Ganz viel, Daddy, sieh mal!“
Er hüpfte über den unebenen Boden, trat fehl, fiel hin und schlug mit Stirn und
Knien auf die Kiesel. Bevor Yvonne sich rühren konnte, war Drew bei dem Kind,
hob es auf und drückte es an seine Brust.
Der kleine Junge brach in ein klagendes Geheul aus. Yvonne war erleichtert: Wer
so heult, ist nicht schwer verletzt, sagte sie sich. Schweigen wäre ein
schlechteres Zeichen.
Zu ihrer Verwunderung hielt Drew den Jungen immer noch im Arm, küßte ihn
und sprach beruhigend auf ihn ein, als wäre er lebensgefährlich verletzt. Warum
reagiert er so überschwenglich? fragte sie sich.
„Ich will Tante Kate anrufen“, jammerte Simon.
„Gleich, mein Schatz, gleich“, versprach sein Vater mit schwankender Stimme
und trug den Jungen zum Haus zurück. Yvonne folgte.
Als sie das Wohnzimmer betraten, kam ihnen Jane Arnold entgegen, die gerade
den Tisch decken wollte. Überrascht betrachtete sie Vater und Sohn.
„Simon ist gefallen und hat sich die Knie aufgeschrammt, nichts weiter“, sagte
Yvonne und nahm ihr das Besteck aus der Hand.
Während sie den Tisch deckte, beobachtete sie Vater und Sohn am Telefon. Drew
ließ den Jungen nicht aus den Augen, während er mit seiner Tante telefonierte
und berichtete, was ihm an diesem denkwürdigen Tag widerfahren war. Er
beobachtete den Jungen mit einem Ausdruck, in dem sich Sehnsucht, Bitterkeit
und alle möglichen anderen Gefühle mischten.
Er liebt sein Kind, dachte Yvonne. Er liebt ihn schmerzlich – dabei sollte es doch
so einfach sein. Was geht nur in diesem Mann vor?
„Habe ich Sie geweckt? Entschuldigung“, sagte Kylie am nächsten Morgen
unbefangen, als Yvonne sich schlaftrunken die Augen rieb.
„Nein, ich bin von allein aufgewacht. Wie spät ist es?“
„Sieben. Schlafen Sie ruhig weiter. Drew Kershaw ist noch nicht auf. Simon
wachte gegen halb sechs auf…“
„Ich habe ihn nicht gehört.“
„Das geht Sie ja auch nichts an. Als Kindermädchen ist man das frühe Aufstehen
gewohnt.“ Sie kramte in einer Schublade herum und zog ein Sweatshirt heraus.
„Wir haben schon gefrühstückt und gehen jetzt nach draußen“, fuhr sie fort. „Es
ist noch ein bißchen kühl, aber schon sehr schön. Bis später!“ Wie ein Wirbelwind
war sie aus dem Zimmer verschwunden.
Yvonne seufzte erleichtert auf: So viel Energie am frühen Morgen! Kylie Radbone
war in ihren Augen ein sonderbarer Fall von einem Kindermädchen. Nachdem sie
am vergangenen Abend in aller Ruhe ausgepackt hatte, war sie urplötzlich in ihre
Berufsrolle geschlüpft, hatte sich ganz rührend um Simon gekümmert und ihn zu
Bett gebracht.
„Zeit für den Gutenachtkuß, Dr. Kershaw“, hatte sie gegen acht Uhr erklärt.
Drew war sichtlich zusammengezuckt und mehr als widerwillig ins Zimmer seines
Sohnes gegangen. Einen Augenblick später war er zurückgekommen.
„Er schläft schon“, hatte er gesagt und war sichtlich erleichtert gewesen.
Jetzt war Drew im angrenzenden Schlafzimmer zu hören. Yvonne stand auf,
duschte und zog ein Baumwollkleid in Gelb und Weiß an. Sie hoffte, im Zentrum
eine Unform vorzufinden.
Nach dem Frühstück und einer kleinen Diskussion darüber, wer den Abwasch
übernehmen sollte, machten sie und Drew sich gemeinsam an die Arbeit. Sie
redeten dabei nicht viel, und Yvonne fühlte sich seltsam unsicher: Es war so
etwas Häusliches an dieser gemeinsamen Tätigkeit… Immer wenn ihre Hände
sich zufällig streiften, entschuldigte sie sich, bis Drew förmlich explodierte.
„Nun entschuldigen Sie sich doch nicht ständig! Ich bin schließlich nicht aus Glas.
Ich gehe nicht gleich kaputt, wenn wir zusammenstoßen.“
Aber ich, dachte Yvonne und senkte den Blick.
„Wollen Sie erst auspacken, bevor wir ins Zentrum gehen?“ fragte Drew.
„Ich will kein Stück auspacken, bevor ich nicht weiß, wo ich endgültig bleibe.“
„Entschuldigung, natürlich. Ich rufe gleich in Perth an.“
Es war gerade acht Uhr morgens, als sie das medizinische Zentrum von
Coolacoola betraten. Auch dieses Gebäude roch nach frischer Farbe und anderen
Chemikalien, aber die frische Morgenluft vertrieb die unangenehmen Gerüche.
„Ich habe hier die vollständige Inventarliste“, sagte Drew. „Ich schlage vor, wir
gehen alles der Reihe nach durch. Zuerst sollten wir allerdings den Kühlschrank
anstellen. Am Nachmittag bringen uns die Fliegenden Ärzte Medikamente, die
unbedingt kühl zu lagern sind, vor allem verschiedene Sera gegen
Schlangenbisse.“ Er bemerkte, wie Yvonne erschauerte. „Haben Sie Angst vor
Schlangen?“
„Sie etwa nicht?“
„Ich halte sie gern auf Abstand“, gab er zu. „Die meisten Schlangen flüchten vor
dem Menschen, habe ich mir sagen lassen, aber es gibt auch angriffslustige
Exemplare. Kate erzählte, sie habe Simon sehr eindringlich ermahnt,
interessante Höhlen, Löcher und hohle Baumstümpfe unbedingt sich selbst zu
überlassen.“
„Ich glaube, dieser Ermahnung werde ich auch folgen.“
„Tun Sie das! Kate ist auf einer Farm im Nordwesten aufgewachsen, sie weiß,
wovon sie redet. So, jetzt rufe ich in Perth an. Mal sehen, was sich machen läßt.“
Zum erstenmal hatte Yvonne Drew in einem normalen Ton über Simon sprechen
hören, das fand sie sehr erleichternd. Bestimmt liegt es an der Ruhe hier draußen und an der frischen Luft, dachte sie. Das entspannt gestreßte Nerven. Vielleicht ist er ja auch gar nicht so unausstehlich, wie ich ihn eingeschätzt hatte. Sie setzte sich in einen der Plastiksessel und hörte zu, wie Drew mit den Ämtern in Perth telefonierte. Meist war er betont höflich, aber auch sehr bestimmt. Nachdem er unzählige Male durchgestellt worden war und mit unzähligen Leuten gesprochen hatte, legte er auf und warf einen flehenden Blick zur Decke. „Es ist wirklich nicht zu fassen, und es tut mir aufrichtig leid, Yvonne! Wie Sie ja gehört haben, übernimmt das Amt die Kosten für Ihre Unterbringung im Motel – nur leider ist dort im Augenblick kein Platz. In vierzehn Tagen haben Sie dann wieder die Wahl zwischen drei Zimmern, aber eine Woche später beginnen die Ferien, und dann ist wieder alles besetzt. Sie können natürlich auch den besagten Wohnwagen mieten, aber falls Ihnen das alles nicht benagt…“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, und als Yvonne nur die Nase rümpfte, setzte er hinzu: „Dann sollten Sie vielleicht weiter bei mir – bei uns wohnen, bis Ihr Haus fertiggestellt ist. Wollen Sie jetzt auspacken?“ „Das kann auch bis heute abend warten.“ Nach diesem eher frustrierenden Tagesanfang machten sie sich daran, die gesamte Einrichtung und Ausstattung des Zentrums zu überprüfen. Als sie mittags ins Wohnhaus hinübergingen, bereiteten Kylie und Simon gerade Sandwiches vor. Der kleine Junge und das Kindermädchen erzählten munter von allem, was sie am Vormittag erlebt hatten. Drew reagierte sehr sparsam. Habe ich mich geirrt? dachte Yvonne. Liebt er den Jungen doch nicht so sehr, wie ich gestern meinte, als Simon sich verletzt hatte? Was geht in diesem Mann nur vor? Nach einer kurzen Mittagspause setzten sie und Drew ihre Bestandsaufnahme im Zentrum fort. Am Nachmittag müßten sie zur Landebahn fahren, weil die Fliegenden Ärzte mit den Medikamenten eingetroffen waren. Sie benutzten den größeren der beiden Geländewagen, die dem Zentrum zur Verfügung standen. „Ich schlage vor, wir üben beide, mit diesen Riesendingern zu fahren“, sagte Drew und schwang sich auf den Fahrersitz. „Ich fahre auf dem Hinweg, Sie auf dem Rückweg, okay?“ Es dauerte eine Weile, bis sie nach dieser Unterbrechung wieder im Zentrum waren. Drew probierte den auch für ihn ungewohnten Wagen in allen Gängen aus, und dann unterhielten sie sich natürlich eine Weile mit den Kollegen vom Fliegenden Dienst, mit denen sie künftig viel zu tun haben würden. „Sie nehmen uns einige unserer Lieblingssprechstunden weg“, sagte Schwester Rose Portland mit gespieltem Vorwurf. „In den Namburra Downs bekommen wir immer ein hervorragendes Mittagessen, und in der Bergarbeitersiedlung gibt es ein überdachtes Schwimmbad.“ Dr. Max Greeley unterhielt sich unterdessen mit Drew darüber, ob Unfallmedizin in einem städtischen Krankenhaus mit der Arbeit auf dem flachen Land vergleichbar sei. „Ich glaube, die sind nett“, sagte Yvonne, als sie und Drew wieder zurückfuhren. „Das glaube ich auch. Und in Rose haben sie möglicherweise eine Freundin“, stimmte Drew zu. „Bei der Entfernung? Die Fliegenden Ärzte haben ihre Basis 500 km von hier entfernt!“ „Gewiß, aber das ist hier draußen nicht ausschlaggebend, glaube ich. Wichtiger ist, daß man jemanden mit gleicher Wellenlänge kennt. In Coolacoola leben überwiegend junge Familien mit Kindern, und Sie und Rose sind beide unverheiratet.“
Er ordnet mich den alten Jungfern zu, dachte Yvonne, und gegen besseres Wissen fühlte sie sich gekränkt. Dabei hatte er es nicht böse gemeint, das sah sie ihm an. Vielleicht höre ich auch nur, was ich selbst von mir denke: Yvonne Carstairs, die umsichtige Krankenschwester, nett und immer mit beiden Füßen auf der Erde – aber keine Spur sexy, die geborene Unverheiratete… Glücklicherweise hatte sie keine Zeit, sich in solche Gedanken zu vergraben. „Ich möchte die Inventur heute noch zu Ende bringen, und zwar nicht erst am späten Abend“, sagte Drew, als sie wieder vor dem Zentrum hielten. „Unter anderem, weil ich Kylie keinen 24StundenDienst zumuten kann, denn dafür zahle ich ihr nicht genug.“ Er sagte das in trockenem Ton, und Yvonne lachte pflichtschuldig, aber sie spürte, daß sich hinter seinen Worten noch etwas anderes verbarg. Als sie am Abend nach Hause kamen, saßen Kylie und Simon im Wohnzimmer und lasen. „Wir haben zwei ruhige Stunden hinter uns“, sagte das Kindermädchen. „Jeremy Arnold und Simon haben sich müde getobt.“ Doch Simon fand seine Energie wieder, kaum daß sein Vater ihm vorschlug, zum Abendessen Spaghetti zu kochen. Er ist eigentlich ein guter Vater, dachte Yvonne, die sich im Wohnzimmer bei einem Glas Fruchtsaft entspannte, bevor sie ihren Koffer auspackte. Er macht es genau richtig: Kleine Lieder und alberne Sprüche, Arbeitsanweisungen, wie sie ein Vierjähriger befolgen kann… warum ist er nicht immer so?
3. KAPITEL „Sie gewöhnen sich bestimmt bald an das Ding“, versicherte Tom Arnold dem neuen Arzt und der Krankenschwester, denen er gerade erklärt hatte, wie das Funksprechgerät zu bedienen war. „Wenn Sie ernstlich Schwierigkeiten bekommen, können Sie uns immer anrufen. Telefon haben wir ja inzwischen, dank der Satelliten.“ „Ich vergesse die Rufzeichen bestimmt gleich wieder“, seufzte Yvonne. „Bestimmt nicht“, widersprach der Parkaufseher. „Matt Latham hat sie nämlich gestern abend noch aufgetippt – und das ist eine Leistung, denn er tippt nur mit einem Finger.“ Tom zog ein Blatt Papier aus einer seiner großen Taschen und heftete es samt seiner schützenden Plastikhülle an die Wand neben das Sprechfunkgerät. „Ist es nicht eine Freude, wie zuvorkommend die Leute hier sind?“ sagte Yvonne, nachdem der Aufseher gegangen war. „In Melbourne hatte ich manchmal das Gefühl, wenn mich im nächsten Moment auf offener Straße ein Erdspalt verschluckte, hätte sich niemand daran gestört. Hier dagegen…“ „Yvonne“, unterbrach Drew sie, der inzwischen den Zeitplan überflogen hatte. „Versuchen Sie bitte, Tom aufzuhalten. Ich lese gerade, daß wir morgens von 9 Uhr bis 9 Uhr 30 eine FunkSprechstunde abhalten sollen. Es ist gerade 9 Uhr. Wir sollten die Gelegenheit nutzen und den Leuten bekanntgeben, daß wir im Dienst sind. Tom kann uns dann gleich helfen, wenn wir mit dem Gerät Ärger bekommen.“ „Guter Einfall“, stimmte Yvonne zu und lief hinaus. Sie konnte den Parkaufseher gerade noch abfangen, bevor er den Parkplatz vor dem Zentrum verließ. Als sie mit Tom zurückkam, saß Drew bereits vor dem Funksprechgerät, gab die Sendezeichen des Zentrums in den Äther und wartete darauf, daß sie bestätigt würden. Er wirkte überhaupt nicht unsicher im Umgang mit dem neuen Gerät. Yvonne bezweifelte, daß er Tom Arnolds Hilfe brauchen würde. Natürlich, Dr. Drew Kershaw war ein selbstbewußter Mann. Er wäre bestimmt nie auf den Einfall gekommen, er könnte unbemerkt vom Erdboden verschwinden. Yvonne spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, während sie Drew beobachtete. Als er sie dann bat, ebenfalls ans Gerät zu kommen und sich vorzustellen, war sie so verstört, daß sie kaum mehr als einige unzusammenhängende Worte hervorbrachte. Sie war froh, als die dreißig Minuten der FunkSprechstunde vorüber waren und Tom Arnold sich verabschiedete. Eine halbe Stunde später begrüßte Drew Lee Shipton mit den Worten: „Es ist mir ein Vergnügen: Sie sind unsere erste Patientin!“ „Nicht ich, sondern meine beiden Mädchen“, entgegnete die junge Frau und schob ihre beiden hellblonden Töchter nach vorn. „Corey und Stacey sind sehr hellhäutig und hatten schon immer leichte Hautprobleme, aber seit wir in Coolacoola wohnen, wird es richtig schlimm.“ Sie deutete auf einige deutlich gerötete Hautstellen an den Unterarmen der Kinder. Entgegen Yvonnes Erwartung sah Drew sich die Stellen nicht einfach kurz an und verordnete eine milde Cortisoncreme. Er unterhielt sich vielmehr eine halbe Stunde lang mit Mrs. Shipton, machte eine Reihe von Vorschlägen, wie sie die Hautprobleme ihrer Töchter angehen könne, und als die Frau mit ihren Kindern schließlich das Zentrum verließ, nahm sie weit mehr als nur eine Creme mit. „War es denn mehr als nur ein Ekzem?“ fragte Yvonne, nachdem sie und Drew wieder allein waren. „Doch, es handelt sich um ein Ekzem, aber mit einer Creme allein ist es hier
draußen im Outback nicht ausreichend behandelt: Das Wasser ist hart, Insektenstiche sind unvermeidlich, und bei dem allgegenwärtigen Staub sind Infektionen programmiert, wenn man nicht besondere Vorsicht walten läßt. All das habe ich Mrs. Shipton zu erklären versucht und ihr die entsprechenden Tips gegeben.“ „Sie sind sehr gründlich, scheint mir.“ „Hier kann ich es mir hoffentlich leisten! Es befriedigt mich nicht, immer nur an Symptomen herumzukurieren, wie ich das auf der Unfallstation zwangsweise tun mußte. Es fühlt sich gut an, einer Sache einmal auf den Grund zu gehen.“ Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und lächelte zufrieden. Yvonne lächelte zurück, dann wurde sie rot. Rasch fragte sie: „Mögen Sie eine Tasse Kaffee und ein paar Kekse? Es ist schon später Vormittag…“ „Prächtiger Einfall!“ „Dr. Kershaw! Drew!“ Eine schrille Stimme unterbrach Drew, der eben gemeinsam mit Yvonne einen Besetzungsplan für das Zentrum ausarbeiten wollte. Es war früher Nachmittag. Seit Stunden waren keine Patienten mehr gekommen, Drew und Yvonne hatten deshalb Zeit für organisatorische Angelegenheiten. Nun schraken sie beide zusammen. Bevor sie etwas unternehmen konnten, kam Jane Arnold, die hübsche, sportliche Frau des Parkaufsehers, die Stufen zum Zentrum hinaufgelaufen. Ihr Gesicht war hochrot, sie zerrte den sichtlich verstörten Simon an der Hand hinter sich her. Atemlos stieß sie hervor: „Schlangenbiß!“ „Großer Gott!“ Erschrocken blickte Drew auf seinen Sohn, aber Jane schüttelte den Kopf. „Nicht Simon. Kylie! Wenn Simon richtig gesehen hat, war es eine King Brown. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“ „Wo ist sie?“ „Wo es passiert ist, auf dem kleinen Felsplateau hinter unserem Grundstück. Sie ist völlig panisch, scheint mir. Simon, dieser tapfere kleine Kerl, war geistesgegenwärtig. Er ist losgelaufen und hat Hilfe geholt.“ „Nur gut, daß wir gestern das Schlangenserum bekommen haben.“ „Kylie wollte die Schlange mit einem Stock erschlagen, aber sie hat gebissen, immer wieder hat sie gebissen“, schluchzte Simon. „Ich hätte sie warnen sollen, nicht dort oben zu spielen, Tom hatte kürzlich erst eine King Brown gesehen, aber…“ „Können wir das Auto nehmen?“ unterbrach Drew Jane, denn für Selbstanklagen war jetzt keine Zeit. „Einen Teil der Strecke können wir fahren, aber es ist ein sehr schlechter Weg“, bestätigte Jane. „Sie darf nicht laufen. Je mehr sie sich bewegt, desto schneller pumpt sie das Gift durch ihren Körper. Könnte Tom…“ „Tom und Matt sind heute den ganzen Tag über auf der anderen Seite des Parks.“ „Dann muß ich fahren.“ Drew nahm die Autoschlüssel vom Haken, aber bevor er den Kasten mit dem Gerät zur Bestimmung von Schlangengift nahm, den Yvonne inzwischen geholt hatte, hockte er sich vor Simon. „Das hast du sehr gut gemacht, mein Junge“, sagte er mit gepreßter Stimme. „Jetzt mußt du hier bei Yvonne bleiben, versprichst du mir das? – Ein Glück, daß sie nicht dich gebissen hat“, setzte er halblaut hinzu. Dann stand er auf, winkte Jane, und Minuten
später heulte der Motor des Geländewagens auf. „Ich bin tapfer“, stieß Simon unter gelegentlichen Schluchzern hervor. „Das bist du wirklich“, bestätigte Yvonne. „Tapfere kleine Jungen haben sich einen großen Keks und einen Becher Milch verdient, findest du nicht auch?“ Simon nickte, und zu Yvonnes Erleichterung ließ er sich bereitwillig verwöhnen. Während das Kind seine Milch trank, bereitete sie alles für Kylies Aufnahme vor. Dann öffnete sie die Eingangstür und spähte in die sonnendurchglühte Landschaft hinaus. In der Ferne erkannte sie eine Staubwolke: Das mußte der Geländewagen mit Drew und Jane sein. Hoffentlich erreichen sie Kylie rechtzeitig, dachte sie. Gleich am Morgen hatten sie und Drew sich alles Zubehör in den Kästen zur Bestimmung und Behandlung von Stichen und Bissen giftiger Tiere in dieser Region genau angesehen. Wer hätte gedacht, daß sie ihr Wissen so bald einsetzen mußten? Da hörte sie, wie Simon wieder in Tränen ausbrach. Ich kann den Jungen nicht alleinlassen, sagte sie sich. Sie hatte im Augenblick ja auch nichts weiter zu tun: Das Bett für Kylie war hergerichtet, der Tropf vorbereitet, die wahrscheinlich benötigten Medikamente lagen griffbereit im Kühlschrank beziehungsweise auf dem Rollwagen. Yvonne zog den Jungen auf ihren Schoß und ließ sich zum wiederholten Male berichten, wie Kylie nach der Schlange geschlagen hatte, wie das Tier sie angriff und wie er, Simon, den steinigen Abhang hinunter zu Jane Arnold gelaufen sei. Allmählich beruhigte der Junge sich wieder – gerade rechtzeitig, bevor der Geländewagen vorfuhr und Drew mit Kylie auf den Armen hereinkam. Der linke Unterarm des Kindermädchens war abgebunden, Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn und sie klagte über Übelkeit – die ersten bedrohlichen Anzeichen der Vergiftung. Im Telegrammstil verständigten Yvonne und Drew sich über die ersten Maßnahmen, um den Kreislauf der jungen Frau zu stabilisieren. Es gab viel zu tun und vieles gleichzeitig zu beachten, denn mindestens so gefährlich wie die Wirkung des Schlangengiftes konnte eine allergische Reaktion des Körpers auf das Serum werden, das in einer Infusionslösung zugeführt werden mußte. In den nächsten vierundzwanzig Stunden würde Kylie sorgsame Pflege und eine fortlaufende Überwachung ihrer lebenswichtigen Werte benötigen. Nachdem fürs erste alles erledigt und Kylies Zustand den Umständen entsprechend zufriedenstellend war, setzten Yvonne und Drew sich an den Schreibtisch und schrieben einen Bericht über den Vorfall. „Ich finde, wir haben das gut gemacht“, sagte er nach einer Weile. „Überrascht Sie das, Drew?“ „Nun ja, es war ja für uns beide Neuland – oder hatten Sie vorher schon mit Schlangenbissen zu tun? Aus der Unfallabteilung weiß ich, wie schnell man in Gefahr kommt, unerwarteten Situationen mit reiner Routine zu begegnen, wie schnell man nachlässig wird oder sogar panisch reagiert.“ „Panisch? Das kann ich mir von Ihnen nicht vorstellen“, wandte Yvonne ein. Dann erschrak sie über ihre Offenheit. Ob er ihr das verübelte? Aber Drew lachte nur. „Mag sein, aber irgendwo steckt doch in uns allen die Angst vor der falschen Reaktion im entscheidenden Moment, kennen Sie das nicht? Aber Sie sind jedenfalls eine Frau mit starken Nerven.“ Wie kommt es, daß wir wechselseitig Dinge über uns sagen, als wären wir seit langem miteinander bekannt? dachte Yvonne verwundert. Da ist eine Vertrautheit, die ist beunruhigend… und schön.
Drew schloß die Patientenakte und stand auf. Er wollte Simon abholen, der zum Abendessen mit Jane Arnold gegangen war und nun sicherlich auf seinen Vater wartete. „Es scheint, daß wir kein weiteres Serum zu geben brauchen“, sagte Drew, nachdem er sich nochmals von Kylies Befinden überzeugt hatte. „Wir sollten aber sichergehen und die Werte stündlich überprüfen. Wenn Sie müde werden, legen Sie sich doch einfach auf das zweite Bett im Zimmer. Sie können ja den Wecker stellen.“ Dann verließ er den Raum, und das Zentrum versank in Stille. Es war kurz nach Mitternacht, Yvonne hatte gerade noch einmal alle Werte ihrer Patientin überprüft und es sich danach in einem bequemen Sessel gemütlich gemacht und ihr Buch wieder aufgeschlagen, da hörte sie Drews Schritte auf dem Flur. „Warum sind Sie gekommen?“ fragte sie. „Ich hätte Sie geholt, wenn etwas losgewesen wäre, aber es ist alles in Ordnung: Kylie schläft. Sie sollten sich jetzt auch ausruhen.“ Drew war so blaß, daß sich die Sommersprossen scharf von seiner Haut abhoben. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen. „Ich habe versucht zu schlafen, aber es ging nicht“, sagte er und ging mit langen Schritten im Raum umher. „Das war kein guter Anfang! Für Simon, meine ich: Er ist erst zwei Tage hier, und schon verliert er das Kindermädchen, an das er sich gerade gewöhnt hat.“ „Wie kommen Sie darauf? Ist sie denn noch in Gefahr?“ „Nein, aber ich sehe nicht, wie ich sie zum Hierbleiben überreden kann. Nach allem, was sie selbst erzählte, hat sie sich bei der Begegnung mit der Schlange schlicht idiotisch verhalten. Das Tier wäre geflüchtet. Es hat erst angegriffen, nachdem sie mit dem Stock nach ihm geschlagen hatte. Natürlich wußte sie auch nicht, wie man eine Schlange erschlägt… Sie hat einfach losgedroschen, wohingegen die Schlange sich sehr gezielt wehrte.“ „Simon befürchtet, das Tier könnte verletzt sein.“ „Ich werde ihm sagen, daß er sich keine Sorgen zu machen braucht: Von der Schlange war keine Spur zu sehen, als wir ankamen.“ Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Yvonne gegenüber. „Was soll ich jetzt machen? Ich finde Kylie nett, Simon kommt gut mit ihr zurecht…“ „Als Kindermädchen macht sie ihre Sache gut“, stimmte Yvonne vorsichtig zu. Sie fragte sich, weshalb Drew sie in dieser Sache ins Vertrauen zog. Er stützte den Kopf in beide Hände. „Stimmt, aber sie hat keine eigenen Einfälle“, sagte er gepreßt. „Sie vergewissert sich immer noch anhand ihrer Aufzeichnungen aus der Erzieherschule, das habe ich gestern zufällig bemerkt. Und wenn sie einmal Initiative zeigt, geht alles daneben – wie heute. Ist es übertrieben, wenn ich solch einer Frau meinen… Wenn ich Simon ungern in der Obhut solch einer Frau sehe? Was passiert, wenn die beiden sich einmal in der weiteren Umgebung verirren oder wenn Simon sich draußen ein Bein bricht? Bin ich ungerecht, Yvonne?“ „Spielt es eine Rolle, ob Sie gerecht oder ungerecht sind, Drew?“ entgegnete Yvonne. „Ausschlaggebend ist doch, daß Sie dem Menschen vertrauen, der sich um Ihr Kind kümmern soll. Sie sind Simons Vater. Wenn Sie Kylie nicht mehr vertrauen können, schulden Sie ihr das Gehalt für den laufenden Monat und das Fahrgeld nach Melbourne, sonst nichts.“ „Simons Vater“, murmelte Drew, sprang auf und lief wieder ruhelos im Zimmer umher. „Vielleicht lasse ich mich wirklich von Sentimentalitäten leiten… Ich kann Kylie nicht so einfach entlassen.“ Plötzlich blieb er stehen und stemmte die
Hände in die Hüften. „Ich behalte sie. Ich gebe ihr noch eine Chance. Wenn es wieder nichts wird, kündige ich ihr fristgerecht. Das ist für alle das beste – vor allem für Simon.“ Yvonne war über diesen Stimmungsumschwung und über Drews Entscheidung erstaunt, aber sie sagte nichts dazu. Er hatte ihre Worte ganz anders verstanden, als sie gemeint gewesen waren… „Wir haben Kondensmilch und Kakaopulver im Kühlschrank. Soll ich uns einen warmen Kakao machen?“ schlug sie vor. „Einen Kakao – ja, das wäre gut.“ Als Yvonne wenig später mit zwei Bechern Kakao zurückkam, war Drew fort. Sie wollte sich gerade ärgern, da kam er zurück. „Ich habe nur rasch nach Simon gesehen“, erklärte er. „Ich befürchtete, er könnte nach diesem aufregenden Tag Alpträume haben, aber er schläft ganz ruhig. Er war von Anfang an ein guter Schläfer. Ich weiß noch, wie Lisa…“ Er brach ab. Yvonne hielt den Atem an, dann reichte sie Drew einen Becher. „Da ist Ihr Kakao, Drew.“ „Danke.“ Er nahm ihr den Becher aus der Hand und ärgerte sich über sich selbst. Wieso läßt du dich von derartig widersprüchlichen Gefühlen hinreißen? fragte er sich. Warum kannst du deine Liebe für Simon nicht von der ohnmächtigen Wut über Lisa trennen, und warum läßt du dir von dieser Wut so oft dein Verhältnis zu anderen Menschen verderben? „Ist etwas, Drew?“ fragte Yvonne behutsam. Er sah sie an. Im Raum brannte nur die Schreibtischlampe. In ihrem sanften Licht bekam das Haar der jungen Frau vor ihm goldene Glanzlichter, und ihr Profil wirkte seltsam scharfkantig. Ihre großen, dunkelbraunen Augen, aus denen sie ihn so aufmerksam und besorgt ansah, kamen ihm wie unergründliche Seen vor. Ihr Mund war wie eine fein geschwungene Sichel. Sie hat ein hübsches, ein zartes Gesicht, dachte er. „Nichts ist los“, entgegnete er schroff als beabsichtigt und nicht ganz wahrheitsgemäß. „Der Tod Ihrer Frau muß Ihnen sehr nahegegangen sein“, sagte sie leise. Drew zog hörbar die Luft ein. Yvonnes Mitgefühl war förmlich mit Händen zu greifen, und plötzlich fand er das alles unerträglich: Er wollte nicht noch einen Menschen in seinem näheren Bekanntenkreis haben, der um dies Thema herumschlich wie die Katze um den heißen Brei, der sich nicht getraute, den Namen „Lisa“ auszusprechen. War er nicht nach Coolacoola gekommen, um das Alte hinter sich zu lassen? Würde er nicht den größten Teil der Zeit mit dieser kleinen Person zusammen verbringen, die ihn mit ihrem Einfühlungsvermögen und ihrem Mut schon in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft überrascht hatte? War es nicht an der Zeit, die Wahrheit zu sagen? „Ein Todesfall geht einem immer nahe, vor allem, wenn damit ein unvollständiger Prozeß abgeschnitten wird“, sagte er hart. „Ich verstehe nicht…“ „Wie sollten Sie auch? Ich spreche von Scheidung. Unsere Ehe war von Anfang an ein Fehler… Lisa hätte niemals einen Arzt heiraten sollen – und ich kein Model. Leider begriff sie früher als ich, daß hinter unseren Auseinandersetzungen mehr steckte als die unumgänglichen Reibereien, wenn zwei Menschen sich aneinander anpassen müssen. Wie blind ich war!“ „Sie haben durchgehalten“, wandte Yvonne ein. „Was ist daran kritikwürdig?“ „Halten Sie es nicht für dumm und blind, daß ich nicht sehen wollte, wie sie mich
nur benutzte, bis sie einen passenderen Mann gefunden hatte? Als es dann soweit war – der Mann hieß Craig Osborne –, da verließ sie mich. Vorher allerdings gab es ein kurzweiliges Intermezzo, währenddessen sie mit uns beiden ins Bett ging.“ Das war schockierend für seine junge Kollegin. Drew bemerkte es sofort, und es tat ihm leid. Yvonne Carstairs verfügte offensichtlich noch nicht über viel Lebenserfahrung, aber jetzt war es zu spät, ihren guten Glauben zu schützen, jetzt mußte er fortfahren. „Mir wurde das auch erst klar, als sie eines Abends einfach mit Craig ging. Drei Tage später starben beide bei einem Verkehrsunfall. Das hat mir immerhin den Ärger einer Scheidungsverhandlung erspart.“ Er lachte bitter auf. „Gewiß, aber…“ „Was aber?“ „Es nahm Ihnen auch die Chance zu vergeben.“ Sie sagte das ganz einfach und faßte damit in Worte, womit er sich seit drei Jahren plagte. „Sie sind eine kleine Zauberin“, sagte er rauh. „Eine Zauberin?“ „ja, denn Sie können die Wahrheit in meinem Kopf lesen. Es stimmt, ich habe Lisa nicht vergeben, denn sie kann die Vergebung nicht mehr annehmen.“ Er spürte, wie ihn die Gefühle zu überwältigen drohten und warf gequält den Kopf in den Nacken. Auf dieses Gespräch war ich nicht vorbereitet, dachte er. Ich bin ihm nicht gewachsen. Aus dem Nebenzimmer hörten sie Kylie stöhnen. Beide lauschten einen Moment lang, aber es blieb alles still. „Seit vergangener Woche wollte ich wissen, weshalb Ihre Beziehung zu Simon so… so kompliziert ist“, sagte Yvonne schließlich leise, aber mit fester Stimme. „Ich glaube, jetzt habe ich begriffen: Simon ist ein Teil von Lisa. Wenn er Ihr Leben teilt, können Sie nicht vergessen.“ „Vergessen? Niemals!“ Er preßte die Lippen zusammen, wie um die Worte zurückzuhalten, die sich hervordrängen wollten. Aber nein, er konnte dieser fast fremden Frau nicht alles erzählen. „Nein, so kann ich nicht vergessen“, stieß er nur hervor. Der Kakao war ausgekühlt. Drew nahm einen Schluck und ging zur Tür. Yvonne saß immer noch schweigend im Sessel. Sie schien zu ahnen, daß er in diesem Augenblick alles brauchte, nur keine Anmerkungen zu seinem Bekenntnis. Woher hat sie diese Einfühlungsgabe? überlegte er. Macht das die Ausbildung zur Krankenschwester? Dann fiel ihm ein, was sie über ihre leidvolle Kindheit erzählt hatte. Er war damals nicht bei der Sache gewesen, hatte kaum zugehört… Vielleicht machte dies früh erlebte Leid sie so verständnisvoll? „Ich sollte ins Bett gehen“, sagte er. Yvonne stand auf, um ihn zur Tür zu begleiten, wie sie es auf der Schwesternschule gelernt hatte. „Jane Arnold hat angeboten, sich morgen um Simon zu kümmern“, sagte er rasch. „Sie können sich also morgen den Tag freinehmen und ausschlafen, falls keine Notfälle eintreten. Ich löse Sie nach dem Frühstück ab.“ Er war auf den Flur hinausgetreten, blieb dort aber gedankenverloren wieder stehen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken und Erinnerungen und gänzlich unerwartete Empfindungen durcheinander – und dann diese ungewöhnliche junge Frau neben ihm, die fast mit ihm zusammengestoßen wäre, weil er so unvermittelt angehalten hatte. Er sah auf sie herab, blickte in die fragenden, dunklen Augen und auf den rosa Mund und wußte plötzlich: Ich möchte sie
küssen! Gerade noch rechtzeitig bekam er sich wieder in den Griff. Es wäre eine Katastrophe, wenn er sie küßte, das wußte er mit absoluter Sicherheit. Bestimmt war sie noch nie geküßt worden – richtig geküßt, natürlich. Er war sicherlich nicht überheblich, wenn er sich sagte, wie umwerfend sein Kuß auf sie wirken würde. Er kannte sich schließlich, er war ein erfahrener Mann, immerhin vierunddreißig Jahre alt. Mit einiger Anstrengung trat er einen Schritt zurück. Ahnte sie, woran er dachte? Ihre Lippen waren leicht geöffnet, ihre Augen womöglich noch dunkler als sonst. Nervös fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Gute Nacht, Drew“, stammelte sie. „Ich glaube… ich glaube, ich schließe hinter Ihnen ab. Hier auf dem Land ist das vielleicht nicht nötig…“ „Aber es gibt Sicherheit“, stimmte er zu. „Ich habe ja einen Schlüssel, ich kann mir morgen früh die Tür öffnen.“ „Ich bin bestimmt wach.“ . Dann verließ er das Zentrum. Yvonne stand an der Tür und sah ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand. Wie soll ich jetzt noch schlafen? dachte sie. Er wollte mich küssen… ganz bestimmt… mich! Ihr Herz klopfte, als wollte es ihr aus der Brust springen. In der Luft hing noch der leichte Duft seines Aftershave, und ihr war, als spürte sie seine Lippen wirklich auf ihrem Mund. Hör auf! rief sie sich selbst zu. Was redest du dir ein? Der Mann ist elf Jahre älter als du und hat die schmerzliche Erfahrung mit einer gescheiterten Ehe noch nicht verwunden. Er hat einen Sohn – und da bist du, eine kleine Krankenschwester ohne Lebenserfahrung. Mach dich nicht lächerlich… Du kannst ihn noch nicht einmal besonders leiden – oder? Irgend etwas in ihr sagte ihr, das spiele überhaupt keine Rolle.
4. KAPITEL „Es tut mir leid, Dr. Kershaw, aber ich kann nicht hierbleiben, Sie müssen für morgen eine andere Regelung finden“, sagte Kylie Radbone zwei Tage später. Diese Ankündigung kam unvermittelt. Sie saßen beim Abendessen, und Drew hatte Kylie eben gefragt, ob sie sich wieder gesund genug fühle, sich um Simon zu kümmern. „Was meinen Sie damit, ich soll eine andere Regelung finden?“ fragte Drew scharf. Simon sah erschrocken von einem der Erwachsenen zum anderen. Yvonne ahnte, daß der empfindsame kleine Kerl längst verstanden hatte, wie sein Dasein das Leben der Großen kompliziert machte. „Ich meine, ich will so bald wie möglich nach Melbourne zurückfahren.“ Kylie sah Drew an, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, was sie verlangte. „Sie müssen doch verstehen, daß es für mich unmöglich ist, hier zu leben.“ Sie erschauerte. „Schon beim Gedanken, einen Schritt vor die Tür zu machen, wird mir ganz anders. Die Schlange hat mich angegriffen… ich wäre fast gestorben!“ „Wenn Sie meinen“, sagte Drew mit kaum unterdrücktem Unwillen. „Sie hatten Pech, Kylie“, versuchte Yvonne zu vermitteln. „Aber jetzt wissen Sie, wie Sie mit Schlangen umgehen müssen und…“ „Pech?“ unterbrach Kylie sie mit schriller Stimme. „Jetzt wissen Sie, daß man diese Tiere in Ruhe lassen soll“, warf Drew ein. „In einigen Tagen haben Sie den Schock überwunden und können…“ „Nein!“ Kylie schrie es fast heraus. „Ich will weg. Bitte, Dr. Kershaw, telefonieren Sie herum und besorgen Sie für mich eine Mitfahrgelegenheit, und wenn es auf einem Lastwagen ist. Ich will weg, und zwar morgen.“ „Ich mag nicht mehr essen“, sagte Simon mit dünnem Stimmchen. „Das kann ich verstehen, mein Schatz, es ist aber auch wirklich warm hier drinnen“, kam Yvonne ihm zu Hilfe. „Ich habe einen Einfall: Draußen ist es noch nicht dunkel. Was hältst du davon, wenn wir unsere Teller nehmen und in den Garten gehen? Wir machen ein Picknick. An der frischen Luft schmeckt es uns bestimmt besser. Einverstanden?“ Der kleine Junge nickte begeistert. Zum Glück hatte Yvonne zum Abendessen Hamburger vorbereitet und einen Fertigkuchen gebacken. Beides ließ sich leicht zu einem improvisierten Picknick umwandeln, das dem Kind ja nur die Szene zwischen seinem Vater und dem Kindermädchen ersparen sollte. „Na, wir hatten doch ganz schön Hunger“, sagte Yvonne zufrieden, als Simon zwanzig Minuten später die letzten Kuchenkrümel mit einem Schluck Limonade herunterspülte. Sie saßen am Fuß der Verandatreppe und sahen den Vögeln zu, die in der einbrechenden Dämmerung zwischen den Baumwipfeln herumflogen. Jetzt kam auch Drew heraus und setzte sich zu ihnen. Er legte seinem Sohn zur Begrüßung eine Hand auf die Schulter, dann sagte er zu Yvonne: „Vielen Dank. Sie haben vorhin genau das Richtige getan.“ „Es war nicht schwer zu erraten.“ „Sicher, aber Sie erkennen es. Ich habe bei der Bergwerksverwaltung angerufen: Sie schicken morgen früh ein Flugzeug nach Pendieton, das Kylie mitnehmen kann. Wir bringen sie zum Flugfeld, wir sollten ja ohnehin zum Bergwerk fahren, und Jane Arnold hat angeboten, Simon morgen noch einmal zu betreuen.“ „Und was kommt dann?“ Er zuckte müde die Schultern. „Keine Ahnung! Wir haben Freitagabend. Selbst wenn man mir in Pendieton
jemanden vermitteln könnte, wäre die betreffende Person keinesfalls vor Montag ansprechbar.“ Er sagte das in einem Ton, der deutlich verriet, wie lästig ihm das Thema war. Wie um das zu unterstreichen, wandte er sich in aufmunterndem Ton an Simon: „Wollen wir in die Schlucht gehen? Vielleicht sehen wir, wie die Känguruhs zur Wasserstelle kommen.“ „Aufein!“ „Wir müssen aber eine Taschenlampe mitnehmen, denn wenn wir zurückkommen, ist es schon dunkel.“ Nachdem Vater und Sohn gegangen waren, räumte Yvonne die Küche auf. Aus dem Hintergrund des Hauses hörte sie, wie Kylie Schränke und Schubladen öffnete und ihre Sachen packte. Yvonne und Drew standen neben der kleinen Landebahn und sahen zu, wie das Flugzeug der Bergwerksgesellschaft abhob und steil in den tiefblauen Himmel zog. Kylie war abgereist, eine Zeit voller dramatischer Ereignisse war zu Ende. „Kommen Sie, wir haben zu tun“, mahnte Drew. Die Bergwerksgesellschaft von Jambarra, Minex International, ließ alle Arbeiter und Angestellten einmal im Jahr medizinisch untersuchen. Dieser Gesundheitscheckup, den bisher die Fliegenden Ärzte ausgeführt hatten, sollte von nun an beim medizinischen Team von Coolacoola liegen. An diesem Vormittag waren insgesamt vierundzwanzig Männer angemeldet. Drew und Yvonne arbeiteten ohne Pause bis weit in die Mittagspause hinein, wobei Yvonne die Voruntersuchungen erledigte und die Männer danach zu Drew ins Sprechzimmer schickte. Als sie schließlich in die Kantine gingen, war Yvonne wie ausgelaugt, zumal der letzte Patient alles daran gesetzt hatte, sie mit seiner Krankengeschichte zu schockieren. Er litt seit Jahren unter Gonorrhöe und berichtete genüßlich in allen Einzelheiten, wie er sich die Infektion zugezogen hatte. Yvonne war angewidert. „Wieso essen Sie nicht?“ fragte Drew und beäugte ihren Salatteller, den sie sich zum Lunch geholt hatte. „Ich esse doch.“ „Das würde keinem Kaninchen reichen. Ist etwas los, Yvonne?“ „Dieser letzte Patient hat mir den Appetit verdorben.“ „Der Mann mit der Gonorrhöe? Die läßt sich leicht behandeln, falls es die einzige Infektion ist“, sagte Drew leichthin. Doch dann begriff er, daß Yvonne sich gar keine Sorgen um den Patienten machte. „Hat der Mann Sie schockiert?“ „So könnte man sagen…“ „Allzuviel Lebenserfahrung haben Sie noch nicht gesammelt, stimmt’s?“ „Scheint so.“ „Hm. Was fangen wir damit an? Wir haben noch zwölf Patienten vor uns und dann einen dreistündigen Rückweg nach Coolacoola. Das können Sie nicht auf leeren Magen bewältigen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir verarbeiten das, was wir beide auf unseren Tellern haben, zu Sandwiches und nehmen sie mit nach draußen. Sie haben doch Ihre Badesachen mitgebracht?“ . „Ja.“ „Gut. Ich wollte das Bad zum Tagesabschluß vorschlagen, aber mir scheint, Sie haben es jetzt nötiger. Es ist ja nicht ausgeschlossen, daß wir noch andere Leute vom Kaliber unseres letzten Patienten bekommen. Nach dem Schwimmen essen wir dann unsere Sandwiches. Einverstanden?“ „Ja, sehr.“ Auch Drew kam die Änderung ihres Plans recht. Er hatte die halbe Nacht hindurch wachgelegen und darüber gegrübelt, wie es mit Simon weitergehen sollte. Sollte er den Jungen zu seinem Bruder und seiner Schwägerin
zurückschicken? Die beiden könnten ein Kindermädchen einstellen… er würde
selbstverständlich die Kosten übernehmen. Er verwarf den Gedanken sofort,
ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, weshalb diese Lösung nicht in Frage
kam.
Die viele Arbeit am Vormittag hatte ihn abgelenkt, und auch daß er seine
Krankenschwester jetzt auf andere Gedanken bringen mußte, kam ihm gelegen.
In mancher Hinsicht ist sie wirklich noch ein weltfremdes Kind, dachte er.
Yvonnes Badeanzug war nicht gerade schmeichelhaft, fand Drew, als sie wenig
später am Beckenrand standen. Gelb stand ihr überhaupt nicht, und der Schnitt
war mehr als altmodisch – ein typischer Sportanzug, den sie vermutlich schon
seit Jahren trug, vielleicht, weil sie sich keinen neuen leisten konnte.
„Bewundern Sie meinen Badeanzug?“ fragte Yvonne in etwas angestrengt
fröhlichem Ton. „Chic, nicht wahr? Meinen guten habe ich letzten Sonntag in der
Waschmaschine vernichtet, und zum Einkaufen war keine Zeit mehr.“
„Ja, es war alles ein bißchen knapp“, erwiderte Drew und schämte sich dafür, wie
rücksichtslos er sie angestarrt hatte. Bewundernswert, wie sie die Situation
gemeistert hatte.
Überrascht bemerkte er, mit welcher Kraft und Eleganz Yvonne ins Wasser
sprang. Immer noch ein bißchen verlegen folgte er ihr.
„Danke, Drew, das war ein guter Einfall“, sagte Yvonne, als sie eine halbe Stunde
später im Schatten saßen und ihre Sandwiches aßen. „Ich habe mich vorhin wohl
etwas hinreißen lassen, aber jetzt geht es mir wieder gut.“
Insgeheim fand auch Drew, daß sie auf ihren Patienten übertrieben reagiert
hatte, denn schließlich waren Geschlechtskrankheiten unter den rauhen Männern
in diesem Teil der Welt nicht gerade selten, das mußte sie als Krankenschwester
eigentlich wissen.
„Um so besser, dann wollen wir uns wieder an die Arbeit machen“, sagte er nur
und hoffte, daß ihnen zumindest an diesem Tag weitere unerfreuliche Patienten
erspart blieben.
Es war schon 5 Uhr nachmittags, als sie nach Coolacoola zurückfahren konnten.
„Um diese Uhrzeit wollte ich Simon eigentlich abholen“, knurrte Drew.
„Jane hat dafür bestimmt Verständnis. Fahren Sie lieber nicht zu schnell“,
mahnte Yvonne, denn die ungeteerte Piste war von den Rädern der schweren
Lastwagen, die hier häufig fuhren, tief aufgewühlt.
Simon begrüßte sie mit überschwenglicher Freude und sprudelte alle Erlebnisse
des Tages hervor, während sie vom Haus der Arnolds zu Drews Haus fuhren.
„Was halten Sie von Makkaroni mit Käsesoße, mein Herr?“ fragte Drew seinen
Sohn.
„Prima!“
„Yvonne?“
„Einverstanden, und ich koche sie.“
„Sie sollten…“
„Es ist mein Ernst, Drew.“
„Bitte, Daddy, spiel mit mir!“
So entfaltete sich in der folgenden Stunde eine kleine häusliche Idylle: Yvonne
wirtschaftete in der Küche, während Vater und Sohn vergnügt im Nebenzimmer
spielten. Sie aßen gemeinsam und erzählten sich, was am Tag vorgefallen war.
Anschließend räumte Yvonne auf, und Drew und Simon vergnügten sich im
Badezimmer. Es war erst acht Uhr, als Simon müde und zufrieden einschlief.
„Das wär’s für heute“, sagte Drew, als er Yvonne im Flur traf.
Sie war gerade aus der Küche gekommen und wäre am liebsten dahin zurück
geflüchtet. Kylie war abgereist, Simon schlief: Sie waren allein, und das würde
sich nun Tag für Tag wiederholen. Ein reichlich beunruhigender Gedanke! Sie dachte an seinen Kuß. Halt! rief sie sich zu: Er hat dich nicht geküßt, du verwechselst Wunsch und Wirklichkeit! Er öffnete gerade die Lippen, um etwas zu sagen, und sie stellte sich vor, wie diese Lippen sich auf ihrem Mund anfühlen würden… Sein hellbraunes Khakishirt war vorn ein bißchen naß gespritzt – eine Erinnerung an das Badevergnügen mit Simon. Die Ärmel hatte er aufgerollt, so daß seine sehnigen Unterarme zum Vorschein kamen. Wie gern hätte sie die Hände auf seine breiten Schultern gelegt, sich an ihn geschmiegt und diesen muskulösen Körper erkundet! Sie erschrak über diese frivolen Gedanken… so etwas kannte sie von sich nicht. „Ich werde mal versuchen, die Stereoanlage aufzubauen“, sagte Drew. „Ein bißchen Musik wäre schön, nicht wahr?“ „Ja. Für meine Stadtlärm gewohnten Ohren ist es hier fast zu still.“ „Ich bin leider kein Held in Sachen Elektrotechnik, Sie müssen sich schon etwas gedulden.“ „Wäre eine Tasse Tee der Sache dienlich?“ „Ganz bestimmt! Dann habe ich etwas zur Entspannung, wenn ich mich völlig in die Kabel verwickelt habe.“ Erleichtert zog Yvonne sich wieder in die Küche zurück. Sie war aufs höchste beunruhigt. Diese Regungen, die sie da plötzlich in sich spürte, waren ihr fremd, gleichzeitig aufregend – aber ganz bestimmt gefährlich! Ich werde mich doch nicht in diesen Mann verlieben? dachte sie, während sie das Teewasser aufsetzte. Ich bin doch sonst kein leichtfertiger Typ, und ich will es auch nicht werden. Drew und ich arbeiten zusammen, und zur Zeit müssen wir auch zusammen wohnen – das ist alles, und dabei soll es auch bleiben. Nachdem sie sich wieder einigermaßen gefaßt hatte, brachte sie Teekanne und Tassen ins Wohnzimmer und setzte sich dann in einen Sessel, um zu lesen. Sie konnte sich allerdings nicht konzentrieren und verlor immer wieder den Faden. Unter gesenkten Lidern hervor beobachtete sie Drew bei seiner Arbeit. Er war doch gar nicht so ungeschickt, wie er behauptet hatte, denn eine halbe Stunde später strömte Musik durch den Raum. Drew ließ sich in einen Sessel fallen und lauschte aufmerksam, dann nickte er zufrieden. Yvonne ließ ihr Buch sinken. Sie wußte ohnehin nicht mehr, was sie gelesen hatte, und die Handlung war auch recht dünn. Die Musik der CD erklang wohl eine Dreiviertelstunde lang. In dieser Zeit blieben Yvonne und Drew reglos sitzen, fast als könnte eine einzige Bewegung die friedliche, mußevolle Stimmung stören, als könnte zur Explosion kommen, was sich da immer stärker aufbaute… Yvonne wagte kaum zu atmen, und Drew hielt die Augen halb geschlossen. Er hatte einen Arm über die Sessellehne gelegt, und Yvonne stellte sich vor, wie schön es wäre, sich in diesen Arm zu schmiegen, die Wärme seines Körpers zu spüren, zu hören, wie sein Herz gleichmäßig schlug. Als die Musik ausklang, hatte sie Mühe, sich aus diesem schönen Tagtraum zu befreien. Mit einiger Überwindung stand sie auf. „Ich glaube, ich sollte duschen, meine Haut riecht immer noch nach dem Chlorwasser.“ Drew nickte schweigend. Als Yvonne im Bad war, hörte sie wieder Musik aus dem Wohnzimmer. Diesmal war es ein heftigerer Rhythmus, so als müßte Drew sich in eine andere Stimmung versetzen. Nach dem Duschbad schlüpfte Yvonne in ihr Zimmer und ging zu Bett, obgleich es noch recht früh war. Diesmal konnte sie sich sogar auf ihr Buch konzentrieren,
und nach einer Weile wurde sie müde und schlief ein. Sie wachte auf, weil ihre Hand schmerzte, in der sie immer noch das Buch hielt, und weil sie Durst hatte. Sie lauschte. Im Haus war alles still, anscheinend hatte auch Drew sich zurückgezogen. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, denn ihre Uhr war stehengeblieben. Barfuß und ohne sich den Morgenmantel überzuziehen, schlich Yvonne in die Küche und nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Oh, wie gut das schmeckte! Drew bemerkte das Licht in der Küche nicht, als er das Badezimmer verließ, nur in eine seidene Pyjamahose gekleidet, das Haar noch feucht nach der Wäsche. Er war sicher, die kleine Miss Carstairs würde längst im Bett liegen. Wie verträumt sie im Sessel gesessen und der Musik gelauscht hatte – er konnte den Anblick nicht vergessen. Überhaupt: Es war eine unbeschreiblich sinnliche Atmosphäre gewesen, vorhin im Wohnzimmer… Manchmal wäre eine Anstandsdame gar nicht so unpassend, dachte er selbstkritisch. Da war sie! Sie schloß leise die Küchentür und stand vor ihm auf dem Flur. Wie erschrocken sie war! Sie hatte anscheinend nicht mit ihm gerechnet. Ein Zittern durchlief ihren Körper und ließ das züchtig hochgeschlossene Leinennachtkleid mit den halblangen Ärmeln flattern, so daß er den schlanken, jungen Körper darunter ahnen konnte. „Ich war durstig“, sagte sie tonlos. Sie wagte nicht aufzusehen, denn Drew stand direkt vor ihr… Hätte sie den Kopf nur ein wenig vorgeschoben, hätte sie seine bloße Brust mit den dunklen Locken darauf berühren können… Warum habe ich nicht aufgepaßt? fragte sie sich. Ich hätte sehen können, daß im Bad noch Licht brannte. Wie komme ich jetzt an ihm vorbei in mein Zimmer? Der Flur ist so schmal… Sie fühlte, wie ihr Nachthemd seine Pyjamahosen streifte. „ Yvonne?“ „Ja?“ Sie blieb stehen und sah sich um. Ganz langsam hob Drew eine Hand, als wollte er ihre Wange streicheln. Yvonne stand reglos und wartete auf seine Berührung. Sie spürte seine Wärme und den Duft seines Shampoos. Wenn sie jetzt schwankte, würden ihre Brüste und Beine ihn durch den dünnen Stoff ihrer Nachtkleidung hindurch berühren… Er berührte sie nicht. „Gute Nacht“, flüsterte er nur. „Morgen trifft eine Touristengruppe ein, hat Jane mir gesagt, und der Campingplatz ist bereits voll belegt. Das kann für uns viel Arbeit bedeuten.“ „Ja. Schlafen Sie gut.“ Atemlos und am ganzen Körper glühend schlüpfte sie in ihr Zimmer und fand lange keinen Schlaf. „Yvonne, sind Sie fertig?“ „Gleich…“ Yvonne kämpfte mit den Knöpfen ihrer Bluse, als Drew an die Tür klopfte. Drew war an diesem Morgen nicht in bester Laune. Yvonne war für ihre Verhältnisse ungewöhnlich spät aufgestanden und hatte noch in Nachthemd und Morgenmantel gefrühstückt, weil sie ihm aus dem Weg gehen wollte – vergeblich, natürlich. Sie bildete sich nicht ein, daß ihre Begegnung am vorangegangenen Abend, die sinnliche Strömung, die sie gespürt hatte, etwas mit seiner augenblicklichen Stimmung zu tun hatte. Er macht sich nur Sorgen darüber, was künftig mit Simon wird, dachte sie.
„Nun kommen Sie schon“, drängte Drew vor der Tür.
„Ich bin schon da.“ Yvonne hätte sich fast noch einen Knopf abgerissen.
„Gut. Margaret Latham ist nämlich hier.“
„Hallo!“ Margaret Latham, eine große, sportlich schlanke Frau, chic und
farbenfroh gekleidet, begrüßte Arzt und Krankenschwester mit einem strahlenden
Lächeln.
Yvonne kam sich dagegen in ihren Jeans und der einfachen weißen Bluse wie ein
Mäuschen vor. Und da fiel auch noch der Knopf ab! Hastig schob sie ihn in die
Hosentasche und fragte eilig: „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Margaret?“
„Danke nein, ich habe das Baby bei meinem Mann gelassen, der muß bald weg,
und außerdem muß ich stillen. Ich wollte Ihnen einen Vorschlag machen, Drew,
deshalb bin ich hier.“
„Einen Vorschlag?“
„Ja. Jane und ich haben gestern abend Pläne geschmiedet, Pläne für die Kinder
aus unserem Bekanntenkreis und für Ihren Simon. Wir haben beschlossen,
unseren eigenen Kindergarten zu gründen, und wenn Sie wollen, nehmen wir
Ihren Simon gern mit auf. Er ist so ein lieber, aufgeweckter kleiner Kerl.“
„Soll das heißen…“
„Wir haben natürlich gehört, wie Kylie Sie im Stich gelassen hat. Das war der
letzte Anstoß, denn den Gedanken mit dem Kindergarten hatten wir schon seit
längerem.“
Yvonne entschuldigte sich mit Hausarbeiten und ließ Drew und Margaret allein.
Als sie eine halbe Stunde später wieder ins Wohnzimmer kam, war Drew sichtlich
erleichtert. Margaret verabschiedete sich gerade.
„Sie haben einen Knopf verloren“, flüsterte sie Yvonne zu.
„Ich weiß. Dummerweise habe ich mein Nähzeug in Melbourne vergessen…“
„Dann kommen Sie heute abend zu mir, ich nähe Ihnen den Knopf an, und wenn
Sie wollen, nähe ich Ihnen auch sonst, was Sie brauchen. Ich bin nämlich eine
begeisterte Schneiderin und sehne mich nach neuen Opfern, die ich einkleiden
darf. Haare schneiden kann ich auch.“
„Dann suche ich Sie gern auf“, erwiderte Yvonne lachend. „Meine Garderobe ist
nämlich mehr als dürftig für die Witterungsverhältnisse hier, habe ich
festgestellt.“
Sie begleitete Margaret zur Tür und ging dann ins Wohnzimmer zurück, wo Drew
in freudiger Erregung auf und ab ging.
„Dieser Vorschlag kommt wie ein Angebot des Himmels“, sagte er.
Er wirkte um Jahre jünger, so entspannt war er. Zum erstenmal sah Yvonne, wie
sanft geschwungen sein Mund war, der ihr sonst meist wie ein grimmiger Strich
erschien. Es kostete sie Überwindung, nicht dauernd auf diesen Mund zu sehen…
„Ich fahre jetzt mit Simon zu den Shiptons und kaufe einen Sonnenblocker,
damit der Junge keinen Sonnenbrand bekommt“, sagte er.
„Wir brauchen auch Käse.“
„Ich weiß. Tom Arnold fährt in den nächsten Tagen nach Pendleton. Wenn wir
ihm eine Liste mitgeben, kauft er für uns ein, hat er angeboten. Wir sollen für
zwei Monate planen, meint er.“
„Ach du meine Güte, so etwas übersteigt mein Organisationsvermögen. Können
wir nicht Jane um Rat bitten?“
„Guter Gedanke. Ich liefere Simon bei den Shiptons im Motel ab und suche sie
gleich auf.“
Es war schon Mittagszeit, als Drew und Simon zurückkamen. Yvonne hängte im
Garten Wäsche auf. Auf den ersten Blick erkannte sie Drews Verärgerung, die
offensichtlich seinem Sohn galt. Das Kind schlurfte den Weg entlang und kicherte
unentwegt. Als Drew ihn fragte, was er zu Mittag essen wolle, lehnte er alles ab und stellte sich dabei so bockbeinig, daß Drew all seine Selbstbeherrschung brauchte, um schließlich ruhig zu sagen: „Also, dann verschieben wir das Mittagessen, bis du hungrig bist. Geh jetzt in dein Zimmer und spiel.“ Simon zog ab. „Ich weiß nicht, was mit dem Jungen los ist“, seufzte Drew ungehalten. „Die Kinder haben Flora Mowanjum, dem Zimmermädchen der Shiptons, geholfen, die Gästezimmer herzurichten. Da muß gestern einiges los gewesen sein. Seither ist Simon überhaupt nicht mehr zu gebrauchen. So etwas geht mir auf die Nerven.“ „Stampfen Sie ein paarmal auf, das hilft“, schlug Yvonne vor. „Gar kein schlechter Vorschlag.“ Drew ging ins Haus. Als Yvonne kurz darauf folgte, stand er in der Küche und bereitete Sandwiches vor. „Hoffentlich hat Simon jetzt Hunger“, brummte er nur. „Ich sehe nach ihm. Ich finde, er ist erstaunlich ruhig.“ Die Tür zum Kinderzimmer stand offen. Simon lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Bett und schlief. „Er schläft“, berichtete Yvonne, nachdem sie auf Zehenspitzen in die Küche zurückgegangen war. „Nanu? Er schläft mittags normalerweise nicht mehr, sagt Kate. Was ist da los?“ Gemeinsam gingen sie ins Kinderzimmer. Drew prüfte die Temperatur des Kindes und maß den Puls. Er konnte nichts Auffälliges entdecken. Simon schlief wie ein Stein, ließ sich rütteln und ansprechen, ohne sich zu rühren, und sein Vater wurde zunehmend unruhig. „Yvonne, suchen Sie bitte nach Insektenstichen oder ähnlichem. Ich begreife das nicht…“ Yvonne beugte sich über das Kind und tastete behutsam Hals und Nacken ab. Simon öffnete den Mund und stöhnte leise. Da hob sie den Kopf. „Drew, Simon hat keinen Insektenstich oder dergleichen. Simon ist betrunken.“
5. KAPITEL „Wie bitte?“ Drew hörte seine eigene Stimme wie entstellt: ungläubig und zornig zugleich. „Ich habe es an seinem Atem bemerkt“, sagte Yvonne. „Sein Atem roch nach Alkohol, als ich mich über ihn beugte. Sie hatten ihm vorhin ein Stück Pfefferminzschokolade gegeben, das dürfte den Geruch für eine Weile überdeckt haben, und deshalb merkten Sie nichts.“ Drew schob Yvonne zur Seite und beugte sich nun auch über den Jungen. Er packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, aber Simon stöhnte nur. Drew spürte, wie ein ohnmächtiger Zorn in ihm aufstieg. „Wieviel mag er bloß getrunken haben?… Wahrscheinlich hat er sich an die halbleeren Bierdosen im Motel gemacht. Lee Shipton sagte, einige der Gäste hätten letzte Nacht ziemlich wüst gefeiert.“ Er sprach mehr zu sich selbst als zu Yvonne, dann räusperte er sich und wurde professionell. „Wir müssen ihn zum Erbrechen bringen, damit er von dem Zeug so viel wie möglich los wird. Das meiste ist wahrscheinlich ohnehin schon im System.“ Die folgenden fünfzehn Minuten waren ausgesprochen unerfreulich. Es gelang ihnen schließlich doch, das Kind zu wecken, und dann brauchten sie ihm nichts mehr einzuflößen: Simon gab alles von sich, was er seit dem Morgen zu sich genommen hatte. Drew stützte und besänftigte ihn, aber er wurde seiner Wut kaum noch Herr. Betrunkene Erwachsene waren ihm schon ein Greuel – und dann ein Kind. Craig Osborne hatte viel getrunken. Aus dem Grunde wäre er auch nie auf den Gedanken gekommen, daß Lisa ihn zum Liebhaber nehmen würde, aber sie hatte es geschafft, ihn zu überzeugen, o ja, das hatte sie… gründlich sogar. Er war sich vorgekommen wie ein Idiot. Hätte ich es merken müssen? fragte er sich jetzt wieder. Aber was hätte es geändert? Ganz gewiß hätte es nichts an meiner Wut geändert, die ich jetzt fühle. Er ballte die Faust in dem ohnmächtigen Wunsch, seine Gefühle irgendwo abzuladen. Simon stöhnte und jammerte und bat: „Tante Kate soll kommen!“ „Ich halte es nicht aus!“ Drew sprang auf und rannte förmlich zur Tür. Dort drehte er sich zu Yvonne um, die ihm fassungslos nachsah. „Ich gehe spazieren. Sie müssen allein damit fertig werden… Es tut mir leid.“ Er war aus der Tür, bevor Yvonne protestieren konnte. „Mir geht es so schlecht“, jammerte Simon. Kein Wunder, dachte Yvonne fassungslos. Dein Vater ist eben aus dem Zimmer gestürmt wie der leibhaftige Gottseibeiuns und läßt dich allein. Mir geht es auch schlecht, wenn ich nur daran denke. „Ich weiß, Schätzchen“, sprach sie dem Kind Mut zu. „Versuch mal, diese Tablette zu nehmen und ganz viel zu trinken, dann wird dir bald besser.“ „Wirklich?“ „Ganz bestimmt. Du mußt viel trinken und lange schlafen. Bier ist ein starkes Zeug, selbst für Erwachsene, und für ein Kind wie dich ist es ganz fürchterlich.“ „Wir haben doch nur gespielt.“ „Ich glaube dir ja, Simon! Jetzt weißt du, wie das Zeug schmeckt und daß es dir nicht bekommt und wirst es bestimmt nie wieder anrühren.“ Nach etlichen Versuchen hatte Simon die Tablette wirklich geschluckt und ein großes Glas Wasser geleert. Essen mochte er noch immer nichts, und Yvonne drängte ihn auch nicht.
„Tante Kate soll kommen“, flüsterte das Kind, bevor es endlich erschöpft in die Kissen sank. Armer kleiner Kerl, dachte Yvonne. Du mußt mindestens noch ein halbes Jahr warten, bis deine Tante Kate dich besuchen kann. Du bist so tapfer gewesen… in einer fremden Umgebung, mit Kylies Abreise… mit diesem abweisenden Vater. „Wir rufen sie heute abend an, ja?“ versprach Yvonne, und da schlief Simon zufrieden ein. Drew war schon seit zwei Stunden verschwunden, da brummte der Summer, der einen Sprechfunkruf ankündigte. Simon war kurz zuvor aufgewacht, hatte sogar ein Sandwich gegessen, fühlte sich aber immer noch müde und wie zerschlagen. Was soll ich jetzt machen? dachte Yvonne voller Zorn auf Drew. Wie kann man auf einen Vierjährigen so wütend sein, weil der nichtsahnend eine Bierdose ausgetrunken hat? Wie kann man einfach alles stehen und liegenlassen und flüchten und nicht einmal angeben, wo man sich aufhält und wie lange man wegbleiben will? Ich habe heute dienstfrei! Wieso habe ich mich breitschlagen lassen und bin bei dem Jungen geblieben? Er kann sagen, was er will, Lisas Tod rechtfertigt nicht die Art, wie er mit seinem Sohn umgeht. Ihre Verärgerung war besonders heftig, weil sie sich noch am vergangenen Abend so sehr gewünscht hatte, Drew möge sie küssen. Das fand sie jetzt völlig unverantwortlich, und sie schämte sich über ihre Naivität, die sie so einfach in die Arme eines Mannes laufen ließ. Zu allem Überfluß drohte nun womöglich auch noch ein Notfall, sie hatte keine Ahnung, wem sie Simon anvertrauen konnte, und Drew Kershaw war immer noch nicht in Sicht! „Simon, wir müssen nach nebenan ins Zentrum gehen“, sagte sie dem Kind. „Jemand will uns per Funk anrufen. Vielleicht ist etwas passiert.“ Simon war schon wieder so munter, daß er bereitwillig mitkam. Wenn es um ein Abenteuer ging, war er dabei. Kaum saß Yvonne am Funksprechgerät, da meldete sich Tom Arnold mit seiner etwas rauhen, dunklen Stimme. „Hallo, Yvonne, hören Sie mich? Over.“ „Ich höre Sie klar und deutlich, Tom. Was gibt’s? Over.“ „Wir haben hier in der TanameeSchlucht einen Unfall: Ein, Wanderer ist aus etwa sechs bis acht Meter Höhe abgestürzt. Es könnte ernst sein. Wir wollen den Mann nicht bewegen, bevor der Doktor ihn sich nicht angesehen hat. Over.“ „Richtig, Tom. Sie sollten ihn keinesfalls bewegen, bis wir wissen, ob eine Wirbelsäulenverletzung vorliegt. Nur leider ist Drew nicht da…“ „Doch, ich bin da“, klang es in diesem Augenblick von der Tür her. Mit wenigen Schritten war Drew am Funksprechgerät und schaltete sich ein. „Genaueres bitte, Tom: Wie lange liegt der Mann da schon? Blutungen? Lassen Sie ihn unbedingt liegen wie er liegt und decken Sie ihn zu, damit er nicht auskühlt. Ich benachrichtige die Fliegenden Ärzte, dann kommen wir so schnell wie möglich hinaus.“ Innerhalb weniger Minuten hatten sie alles zusammengepackt, was sie in diesem Fall möglicherweise brauchen konnten. „Wir müssen Simon mitnehmen“, sagte Drew grimmig, als sie zum Einsteigen bereit waren. „Wir haben keine Zeit, nach jemandem zu suchen, der ihn in der Zwischenzeit betreuen könnte. Setzen Sie sich zu ihm auf die Rückbank?“ „In Ordnung.“ Yvonne gab sich keine Mühe, freundlich zu erscheinen. Drew entging das nicht, und er warf ihr einen fragenden Blick zu, den sie nicht beantwortete. Soll er sich doch wundern, dachte sie aufsässig. Falls er ahnt,
weshalb ich verärgert bin: um so besser! Die Strecke bis zu der Schlucht, in der sich der Unfall ereignet hätte, war lang und in sehr schlechtem Zustand. Drew fluchte bei jedem Schlagloch und jeder Haarnadelkurve, durch die er lenken mußte, denn das alles kostete Zeit. Sie fuhren durch eine atemberaubend schöne Landschaft: Riesige, von Moosen und Algen bewachsene Felsblöcke säumten den Weg und leuchteten in unbeschreiblichen Farben, teilweise überwuchert von Büschen und blühenden Pflanzen. Die Gruppe der Wanderer, die in die TanameeSchlucht eingestiegen war, war erfahren und gut trainiert. Die Leute wohnten auf dem Campingplatz und waren früh am Morgen zu den wegen ihrer Schönheit berühmten TanameeWasserfällen aufgebrochen. Dort hatte sie das Unglück ereilt: Einer der Wanderer war oberhalb des Wasserfalls auf einem lockeren Stein ausgerutscht und den Hang hinabgestürzt. Als Yvonne und Drew eine halbe Stunde später die Nähe des Unfallortes erreichten, kam Matt Latham ihnen schon entgegen. Er hatte an einer relativ gut zugänglichen Stelle die größeren Steine beiseite geräumt, damit sie den Wagen auf ebener Fläche abstellen und vor allem die Hecktür leicht öffnen konnten. Sie mußten den Patienten ja ins Auto schaffen und zur Landebahn bringen, wo die Fliegenden Ärzte ihn übernehmen würden. „Tom ist oben bei dem Mann“, sagte er. „Ich führe Sie. Es ist nicht weit, aber wenn man den Pfad nicht kennt, kann man leicht abrutschen. Ich weiß nicht…“ Er warf einen fragenden Blick auf Simon, der noch immer auf dem Rücksitz saß. „Simon, du mußt im Auto warten“, ordnete Drew wortkarg an. Yvonne bedachte ihn mit einem so empörten Blick, daß dem Arzt das Blut in die Wangen stieg. Sie wandte sich an das Kind. „Sieh dir so lange die Bilderbücher an, die wir mitgenommen haben, mein Schatz“, bat sie. „Und dann mußt du alle paar Minuten auf die Autohupe drücken. Das ist sehr wichtig. Damit machst du dem armen Mann Mut, der sich da oben verletzt hat. Komm, klettre auf den Vordersitz, dann kommst du besser an die Hupe.“ Damit hatte sie den Jungen von seiner Angst vor der Einsamkeit abgelenkt. Eifrig kletterte er im Auto nach vorn, um seine wichtige Aufgabe wahrzunehmen. Den ersten Hupenton hörten sie, kaum daß sie dem Auto den Rücken gekehrt hatten. Drew warf Yvonne einen dankbaren Blick zu, aber sie beachtete ihn nicht. Sie war noch immer viel zu sehr verärgert. Bepackt mit allem Gerät und den Medikamenten folgten sie Matt Latham den steilen, schwer gangbaren Weg hinauf zur Unfallstelle. Yvonne graute bei dem Gedanken an den Abstieg, mit dem Verletzten auf der Trage. Gewiß, Matt war kräftig und ausdauernd, und auch Drew wirkte gut trainiert, aber hatte er einen sicheren Schritt in diesem Gelände? Auf halbem Weg begegneten sie zwei anderen Mitgliedern der Wandergruppe, die die Ausrüstung des Verunglückten zum Auto bringen wollten. „Mein… mein Sohn sitzt im Geländewagen“, sagte Drew so unwirsch wie immer, wenn von Simon die Rede war. „Er ist tapfer, aber er wird sich doch ein bißchen einsam fühlen. Würden Sie ihm erzählen, daß hier alles klar geht?“ „Selbstverständlich“, erwiderten der Mann und die Frau und fügten hinzu: „Wir haben eine große Tüte Studentenfutter bei uns, dürfen wir ihm davon etwas abgeben?“ „Natürlich. Er wird sich freuen.“ Wenig später hatten sie den Unfallort erreicht. Schaudernd sah Yvonne zu der Kante hinauf, über die der Mann gefallen war. Der Verletzte lag auf dem Rücken. Tom Arnold und einige Mitglieder der
Wandergruppe standen um ihn herum. Er war bei Bewußtsein, litt offenbar starke
Schmerzen und zitterte unter den warmen Decken, die man über ihn gebreitet
hatte. Alle machten Platz, als Drew sich neben den Mann hockte und seine
Arzttasche absetzte.
„Haben Sie sich den Kopf angeschlagen?“ fragte er als erstes.
„Nein… aber mein linkes Bein schmerzt.“
„Gut, aber wir müssen vorsichtshalber alles untersuchen.“
Mit Yvonnes Hilfe überprüfte er rasch und behutsam alle wichtigen Werte und
Funktionen. Dann setzte er sich auf die Fersen und fragte: „Wie heißen Sie?“
„Paul Giddens. Aber was…“
„Welchen Wochentag haben wir heute?“
„Sonntag.“
„Wer ist Ministerpräsident unseres Landes?“
„Zum Donnerwetter, was soll das?“ fuhr Paul Giddens auf, nachdem er die
richtige Antwort gegeben hatte. „Mein Bein tut weh!“
„Wie viele Finger halte ich jetzt hoch?“
„Drei.“
„Folgen Sie bitte mit den Augen meinem Finger.“
Drew ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn der Verunglückte
zunehmend ungehaltener wurde. Yvonne wußte natürlich, worauf Drew
hinauswollte. Gewiß hatte der Verunglückte vor allem im Bein Schmerzen, aber
falls zusätzlich eine Verletzung des Kopfes oder der Wirbelsäule vorlag, war das
sehr viel gefährlicher und durfte keinesfalls unerkannt bleiben.
Endlich war Drew zufriedengestellt.
„Paul, Sie haben vermutlich Glück gehabt. Trotzdem werden wir Ihren Nacken
und den Rücken so stabilisieren, daß sie sich beim Transport nicht bewegen
können – das Bein natürlich auch. Ohne Röntgenaufnahme kann ich derzeit
nichts Genaues sagen, deshalb bringen wir Sie so schnell wie möglich zu den
Fliegenden Ärzten und in ein Krankenhaus.“
Er wandte sich an Yvonne, und gemeinsam bereiteten sie den Mann für den
Transport vor. Sie schienten das gebrochene Bein, reinigten die Schürfwunden
und legten einen Tropf an, um einem Kreislauf versagen vorzubeugen.
Der Abstieg bis zum Auto war für Drew, Matt und Tom sehr schwierig, doch
endlich hatten sie den Verletzten sicher im Auto untergebracht. Yvonne setzte
sich neben ihn und beobachtete ihn ständig. Er zeigte Anzeichen von Schock,
obgleich ihm Flüssigkeit und ein Kreislaufmittel zugeführt wurden.
Drew wußte, wie es um seinen Patienten stand. Er fuhr so schnell, wie es in
Anbetracht des Verunglückten zu verantworten war. Mit beiden Händen
umklammerte er das Steuerrad, damit es ihm durch Steine oder Schlaglöcher
nicht weggerissen wurde.
Irgendwann dachte Yvonne auch wieder an Simon. Das Kind hockte
zusammengekauert neben ihr und sagte kein Wort. Armer kleiner Kerl, dachte
sie. Er begreift nicht, daß sein Vater in Gedanken nur bei seinem Patienten ist.
Wahrscheinlich versteht er sein verbissenes Schweigen als andauernden Zorn.
Es war schon sehr spät, als sie ihren Patienten den Fliegenden Ärzten übergeben
hatten und endlich wieder zu Hause waren.
„Dosensuppe und Toast zum Abendessen, wenn ich mich nicht irre“, sagte Drew
müde.
Yvonne nickte. „Und das ganz schnell. Simon ist erschöpft, und ich könnte auch
gleich umfallen.“
Das Kind war ins Wohnzimmer gegangen und suchte nach einer seiner
Kinderkassetten. Drew wandte sich Yvonne zu und sagte leise: „Hören Sie,
Yvonne, ich habe eigentlich keinen Hunger. Würden Sie Simon zu essen geben und ihn ins Bett bringen? Ich möchte ein wenig entspannen, und dann habe ich noch eine Reihe von Dingen zu erledigen… Ich weiß, ich verlange viel von Ihnen, aber…“ „Nein, Drew.“ Sie richtete sich hoch auf und sah ihm fest in die Augen. „Ich mache Simon gern das Abendbrot, aber ins Bett werden Sie ihn bringen.“ Da er nicht antwortete, fuhr sie noch leiser fort: „Begreifen Sie nicht, wie sehr der Junge Sie gerade heute braucht – überhaupt nach dieser gesamten, strapaziösen Woche? Und dann Ihr Zornesausbruch heute mittag, der war vollkommen unnötig.“ „Ich weiß“, unterbrach er sie. „Sie brauchen nicht weiter zu schimpfen. Es war unverzeihlich, wie ich mich verhalten habe. Ich bringe ihn zu Bett und rede mit ihm. Ich werde mich entschuldigen.“ „Gut.“ Sie war sprachlos darüber, wie schnell er nachgab. Irgend etwas zerfrißt diesen Mann von innen, dachte sie, während sie zu Simon ins Wohnzimmer ging. Er weiß es selbst, aber er bringt es nicht fertig, Simon davor zu schützen. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, daß er seinen Sohn in die Obhut seiner Schwägerin und seines Bruders gegeben hat. Sie machte Simon das Abendbrot, und als der Junge aufgegessen hatte, kam Drew auch aus dem Zentrum zurück und brachte seinen Sohn ins Bett. Er blieb fast eine Stunde lang bei dem Kind. Anschließend ging er in die Küche, erwärmte die Suppe und kam mit der Schüssel ins Wohnzimmer, wo Yvonne saß und an einer feinen Stickerei arbeitete. „Ich nehme an, Sie wollen wissen, wie es unserem Patienten geht“, sagte er, nachdem er aufgegessen hatte, und stellte die Schüssel auf den Tisch. Fast hätte Yvonne höflich zugestimmt, doch dann legte sie ihre Stickerei beiseite und maß ihn mit einem harten Blick. „Nein, Drew, das interessiert mich nicht. Ich möchte die Wahrheit über Sie und Simon wissen.“ „Wie bitte? Ich…“ Sie ließ ihn nicht ausreden. „Wir werden noch einige Wochen in diesem Haus zusammenleben müssen, und mir reicht es jetzt schon. Sie haben sich in Ihrem Zorn heute grausam und unbegreiflich gegen Ihr Kind verhalten, und ich kann nicht einfach zusehen…“ Vor Erregung war sie aufgesprungen. Sie sprach nicht weiter, denn sie weinte. Sie versuchte gar nicht, die Tränen zu verbergen oder sie gezielt einzusetzen, wie Lisa es getan hätte. Sie stand einfach da und ließ die Tränen strömen. Ihre Schultern bebten unter den Schluchzern. „O Yvonne!“ Das Verlangen, das er seit Tagen nach ihr empfand, verwandelte sich in eine überströmende Zärtlichkeit. Er nahm sie in die Arme, drückte ihren Kopf an seine Brust und hörte, was sie zwischen Schluchzern hervorstieß. Erst allmählich begriff er, daß sie sich entschuldigte. „Entschuldigen Sie, Drew… ich habe kein Recht dazu, aber ich… Mein Vater hat mir immer wieder zu verstehen gegeben, daß er mich nicht wollte, nachdem meine Mutter gestorben war. Erst wußte er nicht, wie er mit mir umgehen sollte, und dann heiratete er wieder, und ich war ihm im Weg. Ich bin bei meiner Tante aufgewachsen… Sie meinte es gut, aber sie war viel zu alt für mich…“ „Yvonne!“ „Stellen Sie sich vor…“ Sie hob den Kopf, sah ihn an und lachte, ein tiefes, herrlich sinnliches Lachen, das er ihr nie zugetraut hätte. „Ich kann bis heute keine Wanduhren im Zimmer ertragen. Bei meiner Tante hingen überall Uhren,
mehrere in einem Zimmer, und alle tickten. Mit diesem Rhythmus bin ich groß
geworden. Ich war allein und weltfremd und niemand verstand mich, und ich
kann nicht zusehen, wie ein anderes Kind…“ Sie konnte nicht weitersprechen, die
Tränen erstickten ihre Stimme.
Drew wollte ihr sagen, daß sie nicht mehr zu sprechen brauchte, er hatte ja
verstanden. Plötzlich war klar, daß er ihr das nur auf einem Weg begreiflich
machen konnte: Er drückte sie an sich, streichelte ihren Rücken und ihr Haar,
und schließlich küßte er sie auf ihre bebenden Lippen.
Zuerst antwortete sie genauso schüchtern und zurückhaltend, wie er es erwartet
hatte. Ihre Lippen waren unsicher, sie zitterten wie die Flügel von erschreckten
Vögeln.
Drew spürte, wie die Erregung beängstigend schnell in ihm anstieg. Er brauchte
alle Selbstbeherrschung, um zu warten, bis sie ihre Lippen öffnete.
Yvonne spürte ihn, schmeckte ihn und wußte nicht, wie ihr geschah. Ihr Inneres
schien zu schmelzen, und ihre Hände begannen ein eigenes Leben, streichelten,
liebkosten in einem sinnlichen Rhythmus, den sie sich selbst nie zugetraut hätte.
Sie wußte nur eins: Sie wollte in Drews Armen liegen, an ihn geschmiegt, wollte
ihn küssen und seine zärtlichen Hände auf ihrem Körper fühlen, auf ihrem
Nacken, ihren Hüften, auf ihren Brüsten.
„Yvonne, wir müssen aufhören!“
„Nein. Warum denn?“ Sie dachte nicht darüber nach, was sie da sagte.
„Weil es nicht fair ist. Ich bin ein Mann, und du…“
„Ich bin eine Frau, Drew.“
„Wirklich?“ Er sah sie zweifelnd an. Sie errötete.
„Wenn du es so meinst… nein.“
„Das dachte ich mir.“ Er faßte sie sanft an den Schultern und schob sie von sich
fort. „Glaub mir, Yvonne, ich wollte nicht über dich herfallen. Ich wollte… So soll
es nicht für dich sein, du brauchst…“
„Du brauchst mir wirklich nicht zu erzählen, was ich brauche!“ unterbrach sie ihn
heftig und wunderte sich über sich selbst. Aber sie hatte ihn mit diesem
Ausbruch beeindruckt, das bemerkte sie wohl. „Also schön“, gab sie dann zu.
„Mein Körper hat vermutlich seine eigenen Spielregeln, so wie deiner, und die
sind nicht besonders vernünftig.“
„Nein, das sind sie nicht“, stimmte er zu. Seine Stimme schwankte noch ein
wenig. „Ich bin froh, daß du das auch so siehst.“ Er sagte nichts über den
Altersunterschied, über ihre unterschiedliche Lebenserfahrung – es lag ja auf der
Hand. „In dieser Sache kommen wir also nicht weiter, aber da ist ja noch etwas
anderes.“
„Was?“
„Worüber du vorhin gesprochen hast: mein Verhältnis zu Simon.“
„Ach, richtig.“
„Komm, laß uns nach draußen gehen.“
Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich auf die Stufen der Veranda. Sie setzten
sich und blickten lange schweigend in die samtschwarze Nacht hinaus. Als Drew
endlich sprach, klangen seine Worte seltsam gepreßt.
„Simon ist nicht mein Sohn.“
„Ist er adoptiert?“ fragte Yvonne vorsichtig, nachdem ihr die Bedeutung seiner
Worte klargeworden war.
„Nein. Er ist Lisas Sohn, und bis er vierzehn Monate alt war, glaubte ich, er sei
auch mein Kind, aber dann eröffnete sie mir die Wahrheit: Craig Osborne, ihr
Liebhaber, war sein Vater.“
„O nein!“
„Darauf warst du nicht vorbereitet, nicht wahr? Es tut mir leid, aber manche Ehe hat ihre sehr häßlichen Seiten.“ „Drew, das kann nicht sein, er ist dir doch so ähnlich.“ „Ist es nicht merkwürdig, wie die Leute Ähnlichkeiten feststellen, sobald sie meinen, zwei Personen seien miteinander verwandt? Kate hat oft geschmunzelt, wenn ihr die Leute erzählten, Simon sei ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.“ Er lachte bitter auf. „Ja, das stimmt, das habe ich auch gehört… vor allem über Adoptivkinder und ihre Eltern.“ Er schwieg eine Weile, dann fuhr er tonlos fort: „Sie erzählte es mir an dem Abend, als sie mit Craig fortging. Was heißt erzählte’? Sie warf es mir an den Kopf wie eine Trumpfkarte, die sie seit langem bereithielt. Bis zu jenem Abend hatte ich nicht einmal geahnt, daß Craig ihr Liebhaber war, und dann das… Und diese grausame Art, es mir mitzuteilen…“ „Hast du keine Beweise verlangt?“ „Beweise? Die brauchte ich nicht mehr, es war ja alles mehr als offensichtlich. Damit war auch endlich klar, weshalb unsere Ehe so schnell gescheitert war. Ich war so blind, so unbeschreiblich blind! Und dann…“ „Dann konntest du Simon nicht mehr lieben.“ „Nein, das ist ja so schlimm daran: Man kann sich einen Menschen nicht einfach aus dem Herzen reißen, den man seit seiner Geburt kennt, nur weil er körperlich nicht der eigene Sohn ist. Es wäre einfacher gewesen, wenn ich ihn nicht mehr geliebt hätte.“ „Aber du machst es ihm zum Vorwurf.“ „Ich mache ihm keinen Vorwurf, sei nicht albern, Yvonne!“ „Was ist es denn dann? Sag es mir, Drew, ich möchte dich verstehen.“ Lange kämpfte er um Worte, dann sagte er mit eisiger Ruhe: „In jener Nacht hätte ich Craig umgebracht, wenn ich ihn in die Hände bekommen hätte. Ich war rasend vor Zorn, ich habe so etwas nie zuvor und nie danach erlebt. Ich bin im Haus herumgerannt und habe alles zertrümmert und zerschlagen. Ich habe mit voller Kraft gegen die Wände geboxt – ich hatte Glück, daß meine Fäuste das aushielten… Und immer sah ich Craigs Gesicht vor mir…“ „Ich finde das sehr verständlich.“ „Ist es vermutlich auch, aber es macht mir trotzdem angst. In jener Nacht war ich wilder als ein rasendes Tier – und das ist keine schmeichelhafte Feststellung. Diese Wut richtete sich auch gegen Simon, und vor allem deshalb habe ich den Jungen zu meinem Bruder und meiner Schwägerin gegeben. Jetzt ist er zwischen ihnen und mir hin und her gerissen, und ich kann ihn nicht einmal vorbehaltlos lieben.“ „Kate und Charles wissen vermutlich Bescheid?“ „Nein, sie haben keine Ahnung. Sie haben meine Vaterschaft nie angezweifelt. Du bist der erste Mensch, dem ich diese traurige, häßliche Geschichte erzähle.“ Sie wollten beide nicht darüber nachdenken, weshalb das so war. Nach einer langen Pause sagte Yvonne: „Glaubst du nicht, daß es mit der Zeit besser wird, Drew? Du liebst Simon doch um seiner selbst willen, und er kann nichts für die Vergangenheit.“ „Und wenn es nicht besser wird, sondern schlechter? Ich konnte Craig schon nicht leiden, bevor ich wußte, daß er Lisas Liebhaber war: Er war laut, ungehobelt, ein Angeber, ein verantwortungsloser Trinker. Was ist, wenn er einige seiner Charakterzüge vererbt hat. Ich liebe Simon, das stimmt. Aber was passiert, wenn er sich zu einem Jugendlichen entwickelt, wie Craig einer gewesen sein muß? Was mache ich, wenn mich aus seinem Gesicht eines Tages der
Liebhaber meiner Frau ansieht – und wenn ich mich dann nicht beherrschen oder
davonlaufen kann, so wie heute?“
Darauf wußte auch Yvonne keine Antwort. Gab es überhaupt eine Antwort? Sie
kannte Drew nicht gut genug, kannte keinen Mann gut genug, um mit
Überzeugung zu sagen: Nein, im letzten Moment würdest du doch nicht
zuschlagen. Ich glaube an dich.
Ihnen beiden fehlten die Worte. Und weil es so gar nichts mehr zu sagen gab,
blieben sie lange schweigend auf den Treppenstufen sitzen.
6. KAPITEL „Ich komme mir vor wie ein Model bei der Modenschau“, sagte Yvonne lachend. „Sie haben auch die Figur dafür – und warten Sie erst, bis das Kleid fertig ist, dann sind Sie reif für den Laufsteg!“ erwiderte Margaret Latham voller Überzeugung. „Danach schneide ich Ihnen das Haar. Ich weiß nur noch nicht wie…“ „Ich hätte es gern kurz und den Nacken frei, im übrigen lasse ich Ihnen freie Hand“, meldete Yvonne ihre Wünsche an. „Sie denken immer praktisch, nicht wahr? Aber Sie haben ja recht, gerade bei Ihrem Beruf. Ach, ich wünschte, ich hätte Ihre Figur“, seufzte Margaret. „Sie haben doch keinen Grund zu klagen, schlank wie Sie sind.“ „Sicher, aber es ist ein harter Kampf, glauben Sie mir, vor allem, weil ich nach Eiscreme und Kuchen verrückt bin. Zum Glück habe ich ein Geheimmittel.“ Nanu? dachte Yvonne, aber bevor sie auf Margarets Bemerkung eingehen konnte, kamen Drew und Simon herein. „Badezeit, mein Sohn“, ordnete der Vater an. Simon zog einen Schmollmund, aber gleich im nächsten Moment fragte er: „Darf ich danach Tante Kate anrufen?“ „Tante Kate?… Ja, sicher“, erwiderte Drew. Yvonne warf ihm einen aufmerksamen Blick zu. Drews Verhältnis zu seinem Sohn war immer noch nicht recht entspannt, obgleich sich einiges gebessert hatte. Eine Woche war seit jenem Abend vergangen, als Drew sie geküßt und ihr später enthüllt hatte, weshalb er Simon so gespalten gegenüber stand. Sie hatten seither nicht mehr über das Thema gesprochen. Am folgenden Morgen war Drew zwar nicht gerade abweisend, aber doch merklich verschlossen gewesen, fast als erwartete er eine unpassende Bemerkung von Yvonne. Sie hatte natürlich nichts gesagt. Sie konnte sich gut vorstellen, wie schwer es ihm fiel, ihr zu begegnen, jetzt, da sie sein bitteres Geheimnis kannte. Sie jedoch war froh, daß sie endlich Bescheid wußte, denn nun konnte sie Drews Reaktionen einordnen. Mehr durch ihr Verhalten als durch Worte versuchte sie, ihm klarzumachen, wie sie mit ihm fühlte: Im Dienst war sie zuvorkommend und freundlich, wie es sich gehörte. Privat gab sie sich lockerer, neckte ihn gelegentlich sogar und wunderte sich insgeheim, woher sie den Mut zu solchen Freiheiten nahm. Anscheinend war das genau die richtige Mischung, denn allmählich ließ Drews gespannte Wachsamkeit nach. Ihr Umgang miteinander war zwar nicht vollkommen normal, aber sie kamen immerhin beide damit zurecht. Der Kuß… Manchmal dachte Yvonne, es hätte ihn nie gegeben. Wer sie und Drew miteinander beobachtete, wäre jedenfalls bestimmt nicht auf den Einfall gekommen, zwischen ihnen hätte es je einen leidenschaftlichen Augenblick gegeben. Es ist besser so, sagte Yvonne sich. Das wissen wir beide. Trotzdem spürte sie Drew natürlich ständig und mit allen Sinnen, und das war ja auch kein Wunder, denn schließlich lebten sie auf engem Raum zusammen. Nun ja, auch das wird bald ein Ende haben, sagte sie sich halb erleichtert, halb bedauernd. Die Bauarbeiter hatten nämlich die Arbeit an ihrem Haus wieder aufgenommen und beeilten sich jetzt wirklich sehr. Es war abzusehen, wann sie umziehen konnte. Vor dem medizinischen Zentrum bremste ein Geländewagen in einer Staubwolke. „Sollte das Matt sein?“ fragte Margaret erstaunt. „Er wollte mit Laura schwimmen gehen, so früh dürfte er noch nicht zurück sein.“ „Nein, es ist nicht Matt.“ Yvonne war zum Fenster gegangen. Sie sah einen Mann
mit behelfsmäßig verbundenem Arm, der offensichtlich unter großen Schmerzen
zum Eingang des Zentrums mehr wankte als ging. „Drew, ich glaube, du wirst
gebraucht!“ rief sie durch das Haus.
Er kam sofort aus dem Badezimmer.
„Was ist los?“
„Ich weiß nicht…Ein Unfall, nehme ich an.“
„Das ist Brian Hamilton von den Namburra Downs“, sagte Margaret, die den
Mann erkannt hatte. „Anscheinend hat er sich verletzt.“
„So sieht es aus“, bestätigte Drew. „Gehen wir, Yvonne. Warum hat er nicht
telefoniert oder per Funk angekündigt, daß er kommt? Simon?“
„Ja, Daddy?“
Während Yvonne in ihr Zimmer lief und sich umzog, hörte sie Vater und Sohn
miteinander reden.
„Ich muß ins Zentrum, mein Junge.“
„Ich helfe dir beim Baden“, bot Margaret an. „Dann rufe ich Flora an, sie hat jetzt
bestimmt Zeit und kann bei dir bleiben, bis dein Daddy zurückkommt.“
„Flora? Au prima, sie ist so lustig. Wann kommst du zurück, Daddy?“
„Das kann ich noch nicht sagen, aber ich bin ja nebenan, falls du mich unbedingt
sprechen mußt.“
„Darf ich Tante Kate trotzdem anrufen? Flora kann doch für mich wählen.“
„Natürlich darfst du Tante Kate anrufen.“
„Toll, toll! Aber dich hab’ ich doch am liebsten, Daddy!“
„Wirklich, mein Junge? Das… das ist fein. Ich habe dich auch lieb“, sagte Drew.
Yvonne hörte, welche Mühe er mit diesem kleinen Bekenntnis hatte.
Kaum eine Minute später liefen Yvonne und Drew zum Zentrum hinüber.
Der Mann, der ihnen am Eingang entgegenkam, war ein typischer Farmer aus
dem Outback: Er war mittelgroß und breitschultrig, seine Haut wirkte wie
gegerbtes Leder, und er strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus. Er streckte
seine unverletzte linke Hand aus und stellte sich vor.
Drew hielt sich nicht lange mit Höflichkeiten auf.
„Sie haben sich verbrannt“, sagte er und schloß die Tür zum Sprechzimmer auf.
„Kommen Sie, wir nehmen die Verbände sofort ab. Warum sind Sie selbst
gefahren, Mann?“
„Ich war bei den Weiden am Seven Mile Creek, ganz allein und ohne Funkgerät –
das ist nämlich in Reparatur. Leichtsinnig, ich weiß. Das Kühlerwasser kochte,
und ich habe nicht lange genug gewartet, sondern den Deckel sofort
abgeschraubt. Das Zeug ist mir wie bei einer Explosion um die Ohren geflogen.
Verdammt, es tut höllisch weh!“ Er unterdrückte ein Stöhnen. „Ich habe mir dann
gesagt: Besser, du fährst gleich zum Doktor als erst wieder nach Hause und
wartest, bis jemand dich ‘rüberbringt.“
Drew nickte nur und wandte sich an Yvonne.
„Yvonne, wir brauchen den Verbandswagen, eine Infusion, um den
Flüssigkeitsverlust auszugleichen, Morphium und Antibiotika.“ Er nannte die
Medikamentenbezeichnung, und Yvonne verließ eilig das Sprechzimmer.
„Morphium?“ Der Farmer war davon offensichtlich nicht erbaut, aber Drew ließ
nicht mit sich diskutieren.
„Wir müssen die Brandwunden reinigen, Mr. Hamilton, das dauert eine Weile. Sie
haben jetzt schon starke Schmerzen, und die werden nicht so bald vergehen. Im
Gegenteil: Sie dürften noch schlimmer werden.“
Er hatte natürlich recht, wenngleich der Farmer sich kaum etwas anmerken ließ.
Glücklicherweise war nicht so viel Hautoberfläche verbrüht, daß Schock und
Flüssigkeitsverlust lebensbedrohlich werden würden, stellte Drew bei der
Untersuchung fest. Die Infektionsgefahr machte ihm viel größere Sorgen, denn
der Farmer hatte die Wunden nur notdürftig abdecken können, und während der
Fahrt war sicherlich Staub eingedrungen.
„Wir behalten Sie für einige Tage hier“, sagte Drew, nachdem der Patient
versorgt war.
„Einige Tage? Das geht nicht, ich muß nach Hause…“
Drew ließ natürlich nicht mit sich reden. Zum Glück begannen die Medikamente
auch schon zu wirken, und bald fiel Mr. Hamilton in einen unruhigen Schlaf.
„Kannst du ihn wirklich hier behandeln?“ fragte Yvonne, als sie wieder auf dem
Flur standen.
„In seinem Fall ist es meiner Meinung nach das beste. Mr. Hamilton würde
bestimmt nicht gern im Krankenhaus in Pendieton sein. Die geschädigte
Hautoberfläche ist nicht besonders groß, wir können Flüssigkeitsverlust, Schmerz
und erhöhten Kalorienbedarf kontrollieren. Ich würde die Infektionsgefahr gern
gezielter bekämpfen, aber dann müßte ich die eingedrungenen Erreger
analysieren, was hier und in der Kürze der Zeit natürlich unmöglich ist. Unter den
gegebenen Bedingungen ist ein Breitbandantibiotikum das Mittel der Wahl. Mit
anderen Worten: Wir können ihn hierbehalten, beobachten ihn und geben
regelmäßig alle vier Stunden ein Schmerzmittel – nicht erst auf Verlangen, denn
ich bin sicher, daß er nicht darum bittet. Inzwischen…“
„Inzwischen würdest du gern zu Simon zurückgehen.“
„Einverstanden?“ Es machte ihm Mühe, sich den Wunsch einzugestehen.
„Selbstverständlich. Es wäre nur nett, wenn du mir nachher etwas zu essen
brächtest.“
„Selbstverständlich.“
Sie sah ihm nach, wie er zu seinem Haus hinüberging, und ihr Herz schmerzte
vor Sehnsucht danach, ihn zu berühren.
Wenn ich zaubern könnte, dachte sie. Ach, wenn ich doch zaubern könnte…
Da rief Mr. Hamilton nach ihr. Sie wandte sich ab und ging zu ihrem Patienten.
Von den Seiten der Schlucht hallten die Hammerschläge und das Kreischen der
Säge zurück: Die Arbeiten an Yvonnes Haus näherten sich dem Ende. Bevor sie
ins Zentrum ging, machte sie einen Umweg, kletterte über die Planken, die
vorerst noch die Treppenstufen ersetzten, ins Haus und sah sich um.
„Moin“, grüßte der Vorarbeiter sie. „Höchstens noch eine Woche, Schwester,
dann können Sie einziehen.“
„Das sagen Sie seit mindestens zwei Wochen“, neckte Yvonne.
„Aber jetzt isses wahr. Trinken Sie ‘nen Kaffee mit uns? Wir machen gleich
Frühstückspause.“
„Ich kann leider nicht, ich muß ins Zentrum, wir fangen in zehn Minuten mit der
Sprechstunde an.“
Sie winkte den Bauarbeitern zu, balancierte wieder über die Planke hinaus und
lief zum Zentrum.
„Na, hast du die Leute auf Trab gebracht?“ neckte Drew, als er sie kommen sah.
„Das ist gar nicht nötig, sie beeilen sich wirklich.“
„Simon wird deine Kochkünste vermissen.“
„Ich verkaufe dir gern meine Rezepte.“
„Glaubst du, daß du sie in Geld umsetzen kannst?“
„Du würdest das auch annehmen, wenn man dich immer wieder um ,Pastetchen,
wie Yvonne sie macht’ bäte.“
„In der Tat.“ Er lächelte.
Drews Bekenntnis über Simons Vaterschaft hatte ihrer erotischen Beziehung ja
nicht vorangeholfen, aber insgesamt hatte sich das Verhältnis zwischen ihm,
Yvonne und Simon erheblich gebessert. Das jahrelang gehütete Geheimnis hatte ihn offensichtlich fast erdrückt, und seit er es mit einem anderen Menschen teilte, hatte es seine Bedrohlichkeit weitgehend eingebüßt. Zwar war Drew sich seiner Gefühle für Simon immer noch nicht ganz sicher, aber gerade in den vergangenen vier Wochen war sein Umgangston mit dem Kind sehr viel unverkrampfter geworden. Ob Simon die Veränderung spürte? Jedenfalls hatte er sich nach den anfänglichen Schwierigkeiten hervorragend eingelebt und freute sich jeden Morgen auf die Stunden im Haus von Jane Arnold beziehungsweise bei den Lathams. Mit Flora Mowanjum, der jungen Eingeborenen, die ihre ganze Kindheit auf dem Gelände der Hamiltons in den Namburra Downs verbracht hatte und sich jetzt als Zimmermädchen bei den Lathams ihr Geld verdiente, hatte er sich regelrecht angefreundet. Flora war scheu, aber sie hatte eine wunderbare Art, mit Simon umzugehen, und er lernte viel von ihr. Eines Tages überraschte er die Erwachsenen damit, daß er sie mit klangvollen Worten ansprach – einem Satz in „Floras Sprache“, wie er stolz erklärte. „Das heißt: Ich habe Hunger“, sagte er. „Hat Flora dir das beigebracht?“ fragte Drew. Simon nickte ernsthaft. „Sie wollte mir beibringen, wie man ,guten Tag’ in ihrer Sprache sagt, aber ich wollte lieber etwas Nützliches lernen.“ Er verstand gar nicht, weshalb Yvonne und Drew herzlich darüber lachten. „Was erwartet uns denn heute morgen?“ fragte Drew, als er und Yvonne im Vorraum zu seinem Sprechzimmer standen. „Laß mal sehen…“ Sie ging die Liste der Namen im Terminkalender durch. „Als erste ist ElaineHamilton angemeldet.“ „Schön, dann können wir sie gleich fragen, wie es ihrem Mann geht.“ „Müßte er nicht bald zur Nachuntersuchung kommen, damit ihr die Operation an der verbrühten Hand besprecht?“ „Müßte er, und wahrscheinlich kommt er um die OP nicht herum“, stimmte Drew zu. „Außerdem ist Daisy Mowanjum von den Namburra Downs angemeldet. Sie ist mit einem der Farmarbeiter der Hamiltons verheiratet… Ja, und dann kommt Patsy Strickland, die Hauslehrerin der HamiltonKinder. Sie ist nicht verheiratet und auch nicht schwanger, sie kommt nur zum Checkup, weil die anderen Frauen auch gerade unterwegs sind.“ „Aha. Gut, dann lernen wir noch andere Mitglieder des NaburraClans kennen. Das Gebiet soll übrigens landschaftlich sehr reizvoll sein. Sonst noch jemand?“ „Ja, Lee Shipton. Sie kommt zum Schwangerschaftstest und, wie sie hofft, zur ersten Untersuchung.“ „Na, das wäre ja schön.“ „Ja, sie freut sich auch sehr.“ Drew beobachtete Yvonne, wie sie aufmerksam den Terminkalender durchsah. Wie immer überkam ihn ein eigenartiges Gefühl, wenn er sie ansah: Ihre so offensichtliche Unschuld rührte ihn, aber da war noch etwas anderes… Er dachte an all die dramatischen Augenblicke, die sie in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft schon gemeinsam durchlebt hatten: Den Schlangenbiß, Kylies überstürzte Abreise, dann Simons Trunkenheit, das lange Gespräch draußen auf den Stufen der Veranda. Wie ruhig und friedlich die letzten Wochen im Gegensatz dazu verlaufen waren! Simon hatte diese Beruhigung bitter nötig gehabt. Drew erkannte das daran, daß er in den vergangenen beiden Wochen nur noch einmal darum gebeten hatte, Kate anzurufen, und gestern hatte er wieder gesagt: „Ich hab’ dich lieb, Daddy.“
Zum erstenmal hatte Drew dieses schlichte Bekenntnis des Kindes nicht als Bedrohung erlebt und konnte deshalb leichteren Herzens darauf antworten als noch vor einem Monat. Er mußte zugeben, es hatte ihm gutgetan, Yvonne die Wahrheit über Craig und Simon zu erzählen, wenngleich es ihm am Morgen nach dem bedeutungsvollen Gespräch schwergefallen war, ihr in die Augen zu sehen. Er konnte es noch immer nicht recht fassen, wie taktvoll sie sich damals verhalten hatte: Mit keinem Wort hatte sie je wieder auf das Gespräch angespielt. Sie war höflich und ausgeglichen gewesen wie immer – vielleicht ein wenig reservierter als sonst. Auch das hatte sich mit der Zeit wieder gelegt. Inzwischen herrschte zwischen ihnen ein lockerer, gelegentlich mit freundlichem Spott gewürzter Umgangston. Als Krankenschwester wie als Hausgenossin ist nicht an ihr zu mäkeln, dachte Drew. Sie ist eine bemerkenswerte kleine Frau. Dann fiel ihm plötzlich ein, wie angewidert sie bei ihrem ersten Besuch im Bergwerk von Jambarra gewesen war. Lange hatte er sie für übertrieben prüde gehalten, weil sie sich über die Geschlechtskrankheit ihres Patienten Ted Leighton offensichtlich empörte. Irgendwann hatte er dann genauer nachgefragt und erfahren, wie dieser Mann sich ihr gegenüber verhalten und sie regelrecht belästigt hatte. Da begriff er, daß er sie ungerecht beurteilt hatte, und entschuldigte sich bei ihr. War es nicht typisch für sie, daß sie nicht einmal diesen unangenehmen Patienten bloßstellte und sich statt dessen lieber falsch einschätzen ließ? Wirklich, eine erstaunliche kleine Frau… Plötzlich bemerkte er, daß sie vom Terminkalender aufgesehen hatte und jetzt ihrerseits ihn betrachtete. Er lächelte ein wenig verlegen. „Was hältst du davon, wenn wir heute nachmittag zum Baden fahren? Ich weiß, wir haben Rufbereitschaft, aber wir brauchen ja nicht so weit zu fahren und können uns immer in Hörweite des Autotelefons aufhalten.“ „Ein verlockender Vorschlag“, entgegnete Yvonne. Ihr Lächeln verriet, wie sehr sie sich freute. „Dann ist das abgemacht.“ Sein Lächeln drang Yvonne direkt ins Herz und hinterließ ein warmes Gefühl der Vorfreude. Es war zwanzig Minuten nach eins. Yvonne stand vor dem großen Spiegel, der die Innenseite ihrer Schranktür auskleidete, und musterte sich in ihrem gelben Schwimmanzug. Sie fand sich scheußlich! Der Anzug stammte noch aus der Zeit, als sie für ihre Schule zu Schwimmwettkämpfen angetreten war. Er war leicht und trocknete schnell, das war das einzig Gute, was sich über ihn sagen ließ. Vor vier Wochen, als sie sich im Schwimmbad im Jambarra erfrischt hatten, war es ihr noch gleichgültig gewesen, wie sie in diesem Badeanzug aussah – heute war es ihr so wichtig, daß sie die Verabredung mit Drew am liebsten abgesagt hätte. Von draußen hörte sie fröhliche Stimmen und das Klappen von Autotüren. Sie spähte durch die Gardinen hinaus und sah die drei Frauen aus den Namburra Downs und Drew, die gemeinsam im Restaurant der Shiptons zu Mittag gegessen hatten. Elaine Hamilton verabschiedete sich gerade und kletterte auf den Fahrersitz, während Daisy Mowanjum mit Flora redete und Patsy Strickland ganz offen mit Drew flirtete. Patsy war eine attraktive junge Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren. Sie hatte eine ungebändigte Mähne strohblonder Locken, war groß und bewegte sich ein bißchen schlaksig. Ihr bisheriger Lebenslauf war abwechslungsreich gewesen, wie
Yvonne am Vormittag aus Nebenbemerkungen entnommen hatte: Sie hatte als Kindermädchen bei Leuten gearbeitet, die mit ihrer Yacht auf dem gesamten Pazifik kreuzten, bis sie – sozusagen zur Abwechslung – die Stelle im wüstenhaften australischen Outback angenommen hatte. Yvonne wartete, bis sie Drew ins Haus kommen hörte. Dann vergewisserte sie sich noch einmal, daß sie alles eingepackt hatte, was sie für eine Badefreizeit brauchte, wartete nochmals zehn Minuten, bis Drew fertig sein konnte – und dachte während dieser Zeit zu häufig und ein bißchen neidisch an Patsy Strickland. Sie nahmen für die kurze Fahrt den kleineren der beiden Geländewagen, die dem Zentrum zur Verfügung standen, und fuhren über einen sehr unebenen Weg bis zu einem Platz, wo sie das Auto in Hörweite des Ufers abstellen konnten. Es war ein klarer und heißer Tag. Nachdem Yvonne ihr Strandlaken auf dem grobkörnigen Sand ausgebreitet hatte, der an dieser Stelle das Ufer des kleinen Bergsees bildete, streckte sie sich aus, verschränkte die Arme unter dem Kopf und beobachtete einen Falken, der hoch am tiefblauen Himmel seine Kreise zog. Sie hörte seine Rufe wie aus einer anderen Welt. Drew dagegen war nicht zum Faulenzen aufgelegt. Er hatte bereits seine blauen Shorts und das weiße TShirt abgestreift und stand auf einem Felsblock, der ins Wasser hineinragte. Er zögerte einen Augenblick lang, dann sprang er kopfüber hinein. Als er wieder auftauchte, prustete er laut, denn in der Tiefe war das Wasser kalt. Mit weit ausholenden Zügen schwamm er eine Strecke, kehrte dann um und kam zum Ufer zurück. „Kommst du?“ fragte er vom flachen Wasser aus. Die Tropfen liefen ihm glitzernd aus dem Haar, über seinen breiten Oberkörper und über die Hüften bis auf die Füße. „Gleich“, entgegnete Yvonne, richtete sich halb auf und schlang die Arme um die Knie. Im Augenblick war es ihr genug, Drew zuzusehen und die warme Sonne auf dem Rücken zu genießen. Drew war anscheinend nicht geneigt, so viel Faulheit zuzulassen. „Komm, Fräulein Eidechse auf dem heißen Stein“, forderte er sie auf. „Allein macht das Schwimmen nur halb so viel Spaß.“ Wie konnte Yvonne sich entziehen? Er stand da so voller Energie und Lebensfreude, so unverkennbar männlich und unternehmungslustig. Rasch streifte sie Hemd und Hose ab und bemerkte, wie er die Stirn runzelte, als er ihren gelben Badeanzug sah. „Du hast recht, ich bin’s“, sagte sie leichthin. „Der unglaubliche schwimmende Zitronenpudding. Tröste dich, ich habe mir schon einen neuen Badeanzug aus Margarets Katalog bestellt, aber er ist noch nicht eingetroffen. Beim nächsten Badevergnügen werde ich deine Augen nicht mehr beleidigen.“ „Ich finde… Ich wollte nicht… Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, stammelte er. „Das tue ich auch nicht“, entgegnete Yvonne würdevoll. „Bedenke: Dieser gelbe Badeanzug gewann im letzten Schuljahr die 200mRückencrawl – übrigens mit mir zusammen.“ „Alle Achtung! Hat er sich auch an die Landesmeisterschaften gewagt?“ „Er hatte es vor, beschloß dann aber, sich lieber auf die Arbeit für die Schule zu konzentrieren.“ Drew lachte und beobachtete sie bewundernd, wie sie sich ins Wasser gleiten ließ und mit mühelosen Crawlschlägen das Wasser durchschnitt. Es ist schon fast unheimlich, wie sie meine Gedanken errät, dachte er. Aber diesmal hat sie sich geirrt. Ich dachte nämlich gar nicht, wie häßlich dieser
Badeanzug aussieht, sondern daß ihr dieses gelbe Ding eigentlich recht gut steht. Woran mag das liegen? Vielleicht ist ihre Haut jetzt dunkler getönt als noch vor vier Wochen… oder sehe ich sie einfach mit anderen Augen? Dieser Gedanke war ihm unangenehm, er hätte nicht sagen können, weshalb. Er schob ihn rasch beiseite und dachte an Patsy Strickland und ihr Gespräch beim Mittagessen. Sie hatte ihn beeindruckt – so sehr, daß er sich für das nächste Wochenende mit ihr verabredet hatte. In Coolacoola und Umgebung gab es nicht gerade viele Möglichkeiten, sich einen vergnügten Abend zu machen, deshalb hatte er sie zu einem Picknick eingeladen. Er versuchte sich einzureden, zu Hause würde Simon stören, aber insgeheim wußte er, daß er in erster Linie Yvonne aus dem Weg gehen wollte. Zum Glück ist ihr Haus bald fertig und sie kann umziehen, dachte er. Es war zwar kaum anzunehmen, daß sich zwischen ihm und Patsy etwas Ernsteres entwickeln würde, aber aus irgendeinem Grund mißfiel ihm die Vorstellung, selbst gelegentliche, bedeutungslose Zusammentreffen mit Patsy müßten sich sozusagen unter Yvonnes vermutlich taktvoll abgewendeten Augen abspielen. Diese Augen! Sie schwamm nicht mehr, hatte sich umgedreht und beobachtete ihn, wie er erst jetzt bemerkte. Er ahnte, daß sie ihn gleich necken würde. Um dem zuvorzukommen, machte er einen Delphinsprung auf sie zu und schickte ihr dann mit der Handkante eine Wasserfontäne entgegen. Sie quietschte, lachte, tauchte unter und gab gleich darauf den Angriff zurück. Sekunden später tobte eine wilde Wasserschlacht.
7. KAPITEL „Sie haben Post – ein Päckchen“, sagte Margaret Latham drei Wochen später. „Matt hat vorhin den Postsack abgeholt, und ich habe es gleich herausgefischt.“ „Danke, Margaret“, sagte Yvonne. „Hoffentlich ist das endlich mein neuer Badeanzug.“ „Das dachte ich mir, und da ich nun einmal schrecklich neugierig bin, mußte ich das Päckchen doch gleich vorbeibringen. Haben Sie…?“ „Ja, ich hatte mich für den roten Anzug entschieden.“ Yvonne öffnete das Päckchen bereits und zog gleich darauf ein dunkelrotes, schmales Stück Lycra an dünnen Spaghettiträgern aus der Verpackung. „Mann o Mann, das ist ja edel.“ „Hoffentlich paßt das gute Stück.“ „Das paßt bestimmt! Mit diesem Versandhaus hatte ich noch nie Probleme“, beruhigte Margaret. „Die Größen sind immer richtig angegeben. Außerdem sind Sie so schlank und gut proportioniert, Ihnen muß einfach alles passen. Ich habe gehört, Sie ziehen heute um? Stimmt das?“ „Ja, deshalb bitte ich Sie auch nicht herein, Margaret – nehmen Sie es mir nicht übel! Drew ist den ganzen Tag lang außer Haus, er und Simon sind in die Namburra Downs gefahren. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und alles umräumen, bevor die beiden zurückkommen.“ „Na, dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Aber vergessen Sie nicht, daß sie am Freitagabend einen Termin mit Madame Marguerite, Coiffeuse mit Stil, haben. Die Haarkünstlerin gibt sich die Ehre, Sie in Ihrem eigenen Heim aufzusuchen – sobald mein Baby schläft.“ „Ich erwarte Sie mit frisch gewaschenem Haar und einem in meinem neuen Ofen selbstgebackenen Kuchen.“ „Das ist ein Angebot! Wir machen uns ein paar schöne Stunden unter Frauen, und Sie führen mir Ihren neuen Badeanzug vor.“ „Mit dem größten Vergnügen. Nochmals vielen Dank, daß Sie ihn mir vorbeigebracht haben!“ Nachdem sie Margaret verabschiedet hatte, zog Yvonne den neuen Badeanzug an. Er paßte wie angegossen und hob den sanften, dunklen Honigton noch hervor, den ihre Haut inzwischen angenommen hatte. Sie war sehr zufrieden: Der Anzug war modisch geschnitten, aber nicht zu extravagant, und der Preis war auch annehmbar. Kurz, Material, Verarbeitung, Design und Preis standen in einem ordentlichen Verhältnis – und das alles war ihr in diesem Augenblick völlig egal! Wahrscheinlich legt sich mir der Umzug ein bißchen auf das Gemüt, dachte sie und wußte sofort, wie dürftig diese Erklärung war. Sie hatte ja nicht gerade viel zu tun: Die Möbel waren bereits in ihr neues Haus eingeräumt, das hatten die Arbeiter schon gestern erledigt, und ihre persönlichen Dinge ließen sich ohne Hast innerhalb von einer Stunde von Drews Haus in ihr neues Heim schaffen. Sie freute sich darauf, die Schränke und Schubladen in der Küche zu durchstöbern und zu sehen, wie gut ihr kleiner Haushalt ausgestattet war. Das war wie Weihnachten außer der Reihe, auch wenn alles natürlich von einfachster Ausführung sein würde, denn diese Wohnung war ja für Mitarbeiterinnen gedacht, die nicht bis an ihr Lebensende in Coolacoola bleiben wollten. Selbst wenn sie ihr Zimmer und das Badezimmer sehr gründlich säuberte – sie wollte Drew das Haus in einwandfreiem Zustand überlassen –, würde sie kaum mehr als eine Stunde zu tun haben. Warum also war sie so mißmutig?
Simon wird mir fehlen, dachte sie und kam der Wahrheit damit schon ein gutes Stück näher. Drew wird mir auch fehlen, gestand sie sich widerstrebend ein. „So ein Unfug!“ sagte sie laut, denn schließlich arbeiteten sie täglich zusammen und wohnten sozusagen Tür an Tür. Aber sie wußte, wie viel sich ändern würde: Die Augenblicke, die sie gemeinsam in der Küche verbracht hatten, um zu kochen oder aufzuräumen… sein Rasierzeug im Badezimmer… die Geräusche, wenn er sich abends in seinem Zimmer für die Nacht fertig machte – all das würde fehlen. Es hat mir Spaß gemacht, die Wohnung mit anderen Menschen zu teilen, und nun bin ich wieder allein, das betrübt mich, sagte sie sich. Weiter wollte sie dieser Sache nicht nachgehen. Gegen halb sechs abends war alles erledigt, selbst die Lebensmittel waren in Schränken und Kühlschrank verstaut. Sie und Drew hatten aufgeteilt, was von Tom Arnolds letztem Großeinkauf übriggeblieben war. Yvonne hatte sich bereit erklärt, in sechs Wochen zusammen mit Jane Arnold nach Pendieton zu fahren und den nächsten Großeinkauf zu übernehmen. Heute abend gibt es nur Dosensuppe und einen Toast, beschloß sie. Ich bin einfach zu müde zum Kochen. Aber als erstes gehe ich unter die Dusche. Sie war damit gerade fertig, stand in ihrem Schlafzimmer und streifte sich einen schmal geschnittenen Baumwollrock und ein Strickhemd aus Baumwolle über, da hörte sie einen Wagen vor dem Zentrum vorfahren. Sie sah zum Fenster hinaus und erkannte Simon, der mit der Energie eines Vierjährigen, die er vermutlich durch einen kurzen Schlaf während der Fahrt wieder aufgestockt hatte, aus dem Auto hüpfte und zum Haus rannte. Dann kam Drew, und dann… Patsy Strickland. Einen Augenblick später waren alle drei im Haus verschwunden. Yvonne verbrachte einen ruhigen Abend. Den konnte sie gebrauchen, und er tat ihr gut. Sie hörte ein bißchen Musik, denn sie hatte sich aus Melbourne ihre tragbare Stereoanlage mitgebracht, und dann schrieb sie einigen Freundinnen. Sie schrieb auch noch einen weiteren Brief. Sie ließ ihn bis zuletzt liegen, und auch dann wollte er ihr nicht so recht aus der Feder. Sie schrieb ihn eigentlich nur, weil ihr Vater ja irgendwann erfahren mußte, daß sie Melbourne verlassen hatte und jetzt im Outback lebte und arbeitete. „Ich wohne jetzt sozusagen in Deiner Nähe: Nur noch rund 12.000 km entfernt“, schrieb sie. Sie fand ihre eigenen Worte steif und unbeholfen, in denen sie ihm von ihrem neuen Arbeitsplatz berichtete und von den Bedingungen, die sie vorgefunden hatte. Als sie den Umschlag verschloß, fragte sie sich, ob ihren Vater auch nur ein einziger ihrer Sätze interessieren würde. Sie hatten sich innerlich so weit voneinander entfernt, lebten ein so ganz und gar unterschiedliches Leben, daß es kaum noch Anknüpfungspunkte für ein Gespräch oder auch nur einen Brief gab. Seine zweite Frau war fünfzehn Jahre jünger als er, sie hatten zwei niedliche Töchter und lebten mit ihnen in einem großzügigen Haus in einem der vornehmsten Vororte von Perth. Sein Beruf nahm ihn sehr in Anspruch – ein Beruf, von dem Yvonne kaum mehr wußte, als daß er früher Geschäftsreisen erforderlich gemacht hatte, die ihn nach Melbourne führten. Mehr hatte er ihr nie erzählt. Wie jedesmal wenn Yvonne ihrem Vater schrieb, versank sie auch jetzt in Trübsinn. Ob er mir antwortet? überlegte sie. Wahrscheinlich erst im September mit der üblichen vorgedruckten Karte zu meinem Geburtstag. Die Musikkassette war abgelaufen. Es war sehr still im Haus. Yvonne fühlte sich wie eingesperrt. Sie zog sich eine Wolljacke über, denn in den spätherbstlichen Nächten wurde es draußen empfindlich kalt, nahm ihren Becher
mit Tee und setzte sich auf die Treppe der Veranda vor ihrem Haus. Vielleicht beruhigt mich das Licht der unzähligen Sterne an diesem grenzenlosen Himmel, dachte sie. Es war Neumond, und die Veranda lag im tiefsten Dunkel. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann erkannte sie die Umrisse der Gummibäume am Flußufer, das Profil des Höhenzuges auf der anderen Seite des Flusses, das schwache Schimmern des Metalldachs auf dem Büro der Parkaufseher. Ja, es tat wirklich gut, sich zurückzulehnen und die nächtliche Welt auf sich wirken zu lassen. Dann hörte sie, wie sich eine Tür öffnete. Sie erstarrte zu völliger Bewegungslosigkeit. Sie hörte gedämpfte Stimmen: Drew und Patsy! Yvonne konnte die beiden noch nicht sehen, aber wenn sie um die Hausecke herumkamen… Da waren sie schon. Die Hauslehrerin der Hamiltons lachte, und selbst in dieser Dunkelheit leuchtete ihr Haar. Auch Drew lachte – es war ein dunkler, warmer Ton, den Yvonne noch nie zuvor bei ihm gehört hatte. Es klang mehr wie eine Liebkosung als wie ein Lachen. Dann küßte er Patsy. Yvonne sah, wie die beiden Gestalten zueinander gingen und zu verschmelzen schienen. Dann senkte sie den Blick auf ihre Füße, bis auch die im Strom ihrer Tränen verschwammen. Ich muß ganz still sein, sie dürfen mich nicht bemerken, sagte sie sich immer wieder. Unvorstellbar, wenn sie mich entdeckten, wenn sie sähen, daß ich weine! Sie sah nichts vor Tränen, hörte nur das Dröhnen des Blutes in ihrem Kopf. Minuten vergingen, bevor sie es wagte, sich zu rühren, ein Taschentuch aus der Tasche zu ziehen und sich die Augen zu trocknen. Als sie aufsah, waren die beiden Menschen vor dem anderen Haus verschwunden. Wohin waren sie gegangen? Zurück ins Haus? Ins Motel? Sie hatte keine Ahnung. Ich liebe Drew. Sie wußte es plötzlich mit absoluter Gewißheit. Wie konnte mir das nur passieren? Hätte ich nur nicht mit ihm das Haus teilen müssen! Sie wußte, daß es nicht allein daran lag. Da gab es so vieles, was ihr Drew nähergebracht hatte: Was er ihr über Simon erzählt hatte und vor allem, wie er es erzählt hatte… die medizinischen Aufgaben, die sie gemeinsam und gemeinschaftlich gemeistert hatten… und sein Körper. Ja, das ließ sich nicht bestreiten: Drew übte eine unglaubliche körperliche Anziehung auf sie aus. Sie fand seinen kräftigen Torso und seine straffen Gliedmaßen einfach schön, sie liebte die Goldtöne, die manchmal in seinem dunklen Haar auftauchten, die Sommersprossen auf seinem Nasenrücken, seine grünen Augen und die vollen, klar geschnittenen Lippen, die sie nur einmal mit so großer Leidenschaft geküßt hatten. Nur einmal. Jetzt küßte er eine andere, eine Frau, die mit ihrer Sinnlichkeit besser vertraut war als sie, die viel gereist war und sich dem Abenteuer Leben ausgesetzt hatte. Eine Frau mit einem eindeutig einladenden Lachen, deren absichtsvoll ungebändigtes Haar zu sagen schien: Greif hinein! Das ist keine verklemmte Jungfer wie ich, dachte Yvonne bitter und traurig. So wie Patsy könnte ich niemals sein, und wenn ich hundert Jahre lang übte! Seufzend stand sie schließlich auf. Der Tee in ihrem Becher war ausgekühlt. Mit einer unwirschen Bewegung goß sie ihn auf den harten, roten Wüstenboden. Plötzlich haßte sie die Wüste: Sie war hart, sie duldete keine Kompromisse, sie ließ nur atemberaubende Formen und Gestalten zu – von den Felsen angefangen bis hin zu den Pflanzen. Die Wüste machte auch die Menschen, ihre Gedanken und Einsichten scharfkantig, irgendwie erbarmungslos. Ich liebe Drew, ich bin von Sinnen, sagte sie sich. Ruhelos ging sie ins Haus
zurück.
„Ich würde dich bis zum Hotel begleiten, aber ich möchte Simon nachts nicht so
lange allein lassen“, sagte Drew zu Patsy Strickland. Sie waren die Straße gerade
so weit hinuntergegangen, daß Yvonne sie von ihren Fenstern aus nicht mehr
sehen konnte.
„Ich denke, er wacht nachts nie auf? Das hast du doch selbst gesagt“, wandte
Patsy ein.
„Normalerweise nicht, aber bei solch einer Gelegenheit bestimmt, selbst wenn ich
nur zehn Minuten lang wegbliebe.“
„Schade, ich… ich wollte dich nämlich noch zu mir einladen.“
„Ach so.“
Drew verstand. Die Einladung war ja auch ziemlich eindeutig.
Patsy machte sie noch unmißverständlicher. „Wäre dir dein Haus lieber?“
„Weißt du…“ begann er zögernd. „Ich gehöre nicht zu den Vätern, die es ihrem
Kind zumuten, daß es morgens unversehens eine fremde Frau in Daddys Bett
vorfindet.“
„Schade, wie gesagt…“
„Ja.“ Aber in diesem Augenblick wußte Drew, daß es darum gar nicht ging.
Er wollte nicht, daß Patsy Strickland sein Haus noch einmal betrat, geschweige
denn in sein Bett kam. Ihr Kuß war sinnlich erregend gewesen – sie war eine
erfahrene und zudem eine interessante junge Frau. Sie war selbständig,
durchsetzungsfähig und erfolgreich, und das verübelte er ihr, so unsinnig es auch
war. Drew brauchte einen Augenblick, bis er begriff, wie es dazu kam: Er verglich
sie mit Yvonne, und dabei schnitt sie schlecht ab. Diese kleine Miss Carstairs, die
ihn so schüchtern und scheu geküßt hatte, und deren Kuß er trotzdem schwerer
widerstehen konnte als Patsy Stricklands hungrigen Lippen! Darüber sollte ich
nachdenken, sagte er sich, doch im Moment blieb ihm dafür keine Zeit.
„Ich will dir nicht zumuten, im Dunkeln bis zum Motel zu gehen“, fuhr er fort.
„Ich habe ein Gästezimmer, in dem du gern übernachten kannst.“
„Keine unnötigen Höflichkeiten, Drew“, sagte Patsy kopfschüttelnd. „Du brauchst
mich nicht zu begleiten, ich kann auch allein im Dunkeln gehen, ich habe keine
Angst. Außerdem ist es nicht weit.“ Sie wandte sich schon ab.
„Soll ich dich morgen in die Namburra Downs zurückfahren?“
„Nicht nötig. Mr. Hamilton kommt morgen früh ohnehin zu dir in die
Sprechstunde, er nimmt mich mit zurück.“
„Richtig, ich muß mir die Narben ansehen.“
„Also dann: Gute Nacht, Drew.“
„Gute Nacht, Patsy.“
Er atmete erleichtert auf, als sie sich mit langen, schwingenden Schritten auf den
Weg machte. Als er seine Haustür öffnete, hatte er Patsy Strickland schon
vergessen. Yvonne beherrschte seine Gedanken. Plötzlich ahnte er, daß sie ihm
noch viel zu denken geben würde.
„Na, wie gefällt es Ihnen?“ Gespannt stand Margaret Latham hinter Yvonne, die
sich im hell beleuchteten Spiegel ihres neuen Badezimmers kritisch betrachtete.
Der Spiegel zeigte ihr ein schmales Gesicht, dessen etwas zu breite Stirn durch
einen Pony geschickt kaschiert wurde, während der lange Hals und die sanfte
Schulterlinie überaus vorteilhaft zur Geltung kamen…
„Unheimlich“, sagte sie.
„Unheimlich?“
„Ja. Es ist so neu. Ich erkenne mich, aber ich sehe so ganz anders aus… Ich muß
mich an mich selbst gewöhnen.“
„Gefällt es Ihnen denn?“
„Ich finde es traumhaft, deshalb ist es mir ja so unheimlich. Ich habe mir noch nie so gut gefallen wie mit diesem Haarschnitt.“ Sie lächelte Margaret Latham verlegen an. „Sie sind schon ein merkwürdiges Geschöpf. Aber ganz überzeugt sind Sie nicht, oder?“ „O doch, ich finde den Schnitt großartig!“ Yvonne schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr Haar sich hob und wieder senkte, wie es ihr den Nacken fächelte. „Im Nacken ist es wirklich kühl“, sagte sie, um noch etwas sagen zu können, denn was sie in diesem Moment dachte, wagte sie nicht auszusprechen: Es wird Drew gefallen, dachte sie, und das war wichtiger als alles andere. Rasch wechselte sie das Thema: „Und jetzt erholen wir uns bei Kaffee und Kuchen.“ „Haben Sie wirklich gebacken?“ „Na klar, das hatte ich doch versprochen. Da meine Vorräte beschränkt sind, ist es allerdings nur ein Marmorkuchen geworden – mit Schokolade allerdings. Dazu gibt es Eiscreme, die mir die Fliegenden Ärzte gestern noch mitgebracht haben.“ „Eiscreme?! So etwas haben wir seit Wochen nicht mehr gesehen. Ist Ihnen die Packung nicht weggeschmolzen?“ „Sie ist ein bißchen angetaut“, gab Yvonne zu. „Aber das hat sich im Tiefkühlfach bald gelegt und wird den Geschmack nicht beeinträchtigen.“ „Yvonne, ich fürchte, Sie werden mich so bald nicht los.“ „Will ich auch gar nicht. Sie haben sich die Feier verdient.“ Yvonne schüttelte wieder den Kopf und freute sich, wie ihr Haar flog. „Na, erzählen Sie das mal meinen Fettzellen“, brummte Margaret. „Ich denke, Sie haben ein Geheimmittel?“ Yvonne sagte das wie nebenbei, obgleich sie seit langem auf eine Gelegenheit wartete, dies Thema zur Sprache zu bringen. Margarets Bemerkung war ihr nicht aus dem Sinn gegangen. Einige Male war sie kurz davor, in der Patientenkartei nachzusehen, welche Medikamente Margaret bisher verordnet worden waren, aber das wäre ihr doch zu sehr wie Schnüffelei vorgekommen, und deshalb hielt sie sich zurück. Jetzt war die Gelegenheit da. „Meine Geheimwaffe!“ Margaret errötete ein wenig. „Na ja, es ist nichts Besonderes, ich mache schon nichts Verrücktes. Es ist nur ein Mittel, um meinen Umsatz auf Touren zu halten… sozusagen. Aber lassen wir das.“ Yvonne hakte nicht nach, aber jetzt war sie ganz sicher, daß Margaret wirklich etwas Unvernünftiges tat, um ihr Gewicht niedrig zu halten. Sie war nicht mehr bester Stimmung, als sie den Kaffee kochte. Erst als Margaret in die Küche kam und den Kuchen bewunderte, verflogen ihre Vorahnungen. „Yvonne Carstairs: Haben Sie das gemacht? Diese Schokoladenrosetten und diese Verzierungen? Das sieht aus, als käme es direkt aus einer französischen Patisserie.“ „Eigentlich stammt es eher aus der deutschen Konditorentradition.“ „Ich wette, damit könnten Sie einen Preis gewinnen.“ „Ehrlich gesagt habe ich mit meinem Backwerk auch schon Preise gewonnen“, gab Yvonne zu. Sie hatte sich mit dem Kuchen viel Mühe gemacht und freute sich über Margarets Lob. Beim Backen und in der Handarbeit fand sie Spielraum für ihre schöpferische Phantasie, deshalb machten ihr diese Arbeiten so viel Spaß. „Wieso weiß Coolacoola bisher noch nichts von diesen Fähigkeiten unserer Krankenschwester?“ „Weil ich bisher keine eigene Küche hatte, und weil ich Drew nicht mit dem Durcheinander belästigen wollte, das beim Backen nun einmal entsteht.“ „Aber natürlich“, erwiderte Margaret spöttisch. „Er wäre bestimmt genauso empört wie ich, wenn ihm jemand die Küche in Unordnung brächte und dabei so
ein Kunstwerk herauskäme. Wo haben Sie das gelernt?“
„Von meiner Tante Dot.“
„Ist das die Tante, bei der Sie aufgewachsen sind und die Ihnen auch das
Handarbeiten beigebracht hat?“
„Ja.“
„Das sind ja sehr weibliche Fertigkeiten, die Sie bei dieser Tante erworben
haben.“
„Sehr weiblich, zugegeben.“
„Nun mal ehrlich, Yvonne: Weshalb haben Sie Drew damit nicht verwöhnt?
Hatten Sie Angst, er würde denken, Sie wollten ihn mit Ihrer Häuslichkeit
einfangen?“
„Wie bitte? Was meinen Sie denn damit?“
„Also kommen Sie, Kindchen, es liegt doch auf der Hand: Der Mann ist ledig und
eine blendende Partie. Haben Sie nicht die kleinste…“
„Nicht die geringste Absicht“, sagte Yvonne und versuchte, allen Nachdruck in
ihre Stimme zu legen. „Ich glaube, ein Mann, der schon einmal verheiratet war,
käme für mich nie in Frage“, setzte sie hinzu.
„Na ja, es könnte schwierig werden“, stimmte Margaret zu, aber ganz überzeugt
wirkte sie nicht.
„Außerdem interessiert er sich für Patsy Strickland, glaube ich“, hakte Yvonne
nach.
Diesmal nickte Margaret nachdrücklich. „Ja, den Eindruck hatte ich auch. Na gut,
dann müssen wir für Sie eben einen anderen finden. So wie Sie aufgeblüht sind,
das darf doch nicht verlorengehen.“
„Aufgeblüht?“
„Aber sicher. Jane ist das auch aufgefallen, und sie hat es sogar sehr poetisch
ausgedrückt: ,Wie eine Wüstenblume nach dem Regen’.“
„Also Margaret, wirklich…“ Yvonne selbst hatte es bemerkt und sich gefragt, ob
es anderen auch auffiel, vor allem Drew?
Jetzt legte Margaret ihr schwesterlich eine Hand auf die Schulter. „Kindchen, ich
meine es ernst, und was ich sagen will, ist: Nutzen Sie Ihre Chance, ob es um
Drew geht oder um einen anderen Mann oder einfach um die Freude am Leben:
Nutzen Sie Ihre Chance!“
„Ja, das will ich tun“ sagte Yvonne, und dann, um dies gefährliche Thema
abzuschließen, schlug sie vor: „Und jetzt probieren wir, ob mein Kunstwerk auch
schmeckt.“
„Einverstanden, und ich möchte bitte ein besonders großes Probestück.“
Es blieb nicht dabei: Zur Freude der Köchin und zur Besorgnis der
Krankenschwester verputzte Margaret insgesamt drei Stück Kuchen.
Es ging Yvonne nicht aus dem Kopf, mit welchem Heißhunger Margaret sich auf
den Kuchen gestürzt hatte.
Eine Woche später stand sie am Karteikasten und blätterte in der Patientenkartei,
als Drew hereinkam, um seinen Frühstückskaffee zu trinken.
„Ist Margaret Latham in nächster Zeit für eine Untersuchung vorgesehen?“ fragte
sie.
„Nicht, daß ich wüßte, aber es könnte sein. Weshalb fragst du?“
„Ach, wahrscheinlich ist es nichts…“
„Vielleicht aber doch. Erzähl mal.“ Nachdem Yvonne berichtet hatte, zuckte er die
Schultern. „Vielleicht nimmt sie Appetitzügler?“
„Ich glaube, so einfach ist es nicht.“
„Seit wir hier sind, hatte sie keinerlei medizinische Beschwerden, und was vor
unserer Zeit war, habe ich nicht im Kopf. Sieh doch mal in ihrer Akte nach.“
„Das werde ich machen, falls ich noch Zeit habe, bevor…“
Sie brach ab, denn sie sah, wie sich ein Mann der Eingangstür des Zentrums
näherte: Ted Leighton, der Mann aus Jambarra. Wortlos drückte sie Drew die
Patientenakten in die Hand, und er ging in sein Sprechzimmer.
Ted Leighton war an diesem Morgen der erste Patient. Er betrat das Vorzimmer
und begrüßte Yvonne mit einem anzüglichen Grinsen.
„Dr. Kershaw ist gleich für Sie bereit“, sagte sie.
„Ich kann warten, Schätzchen, ich hab s nicht eilig.“ Er stützte sich mit beiden
Händen auf ihren Schreibtisch, so daß sie seinen unreinen Atem riechen mußte.
Yvonne stand auf und ging zu einem Regal.
„Ich nehme an, Sie möchten so lange etwas lesen.“ Sie nahm einen Stapel Hefte
und drückte ihn dem Mann in die Hände.
Er verzog das Gesicht, nahm die Magazine aber widerspruchslos und brachte sie
zu einem niedrigen Tisch. Dann kehrte er an den Schreibtisch zurück, wo Yvonne
völlig unnötigerweise damit begonnen hatte, mit einer langen Papierschere
Notizzettel zurechtzuschneiden.
„Gibt’s in diesem Haus Kaffee für Patienten?“
„Natürlich.“
„Ich hab’ das Laufen – den Drang zur Hintertür, wie meine Großmutter immer
sagte.“
„Das kenne ich von meiner Großmutter auch.“
„Das hört überhaupt nicht auf, deshalb will ich auch zum Doktor.“
„Sie dürfen gern zur Hintertür hinausgehen, wenn Ihnen das eher entspricht,
aber wir haben hier auch ein sauberes PatientenWC.“ Mit der Schere deutete sie
auf die betreffende Tür. Ted Leighton mußte seinen Kopf schnell zurückziehen,
um der Schere auszuweichen.
„Wird das durch Kaffee schlimmer, Schwester?“
„Probieren Sie es doch aus. Der Kaffee steht auf dem Tisch in der Ecke: dort.
Milch ist im Kühlschrank: da drüben. Bedienen Sie sich.“ Jedesmal half ihr die
Schere, die Richtung zu verdeutlichen – so nachdrücklich, daß Ted Leighton
erschrocken einen Schritt zur Seite machte. Als Yvonne aufsah, stand Drew in
der Tür seines Sprechzimmers und verbiß sich nur mit Mühe das Lachen.
„Der Patient, bitte.“
„Sie können jetzt hineingehen, Mr. Leighton.“ Yvonne trat unnötigerweise auf den
Mann zu, um ihm mit der Schere den Weg zu weisen. Der Mann wurde blaß.
„Zehn Punkte für Einsatz und Improvisation“, flüsterte Drew, als er an Yvonne
vorbei in sein Sprechzimmer ging.
„Improvisation? Die Schere liegt seit Wochen in meiner Schreibtischschublade:
Auf diese Gelegenheit habe ich gewartet!“
Sie war so zufrieden mit sich, daß sie erst wieder an Margaret Latham dachte, als
die Frau am Ende der Sprechstunde vergnügt und lebhaft wie immer ins Zentrum
kam.
„Mir fehlt gar nichts, es ist zu dumm“, begann sie mit einem etwas verlegenen
Lachen. „Ich habe die Flasche mit meinen Schilddrüsentabletten umgestoßen, sie
ist in tausend Scherben zersprungen, so daß ich die restlichen Tabletten
wegwerfen mußte. Jetzt brauche ich ein neues Rezept.“
„Schilddrüsentabletten?“ fragte Drew verwundert.
Margaret nickte. „Ja. Ich mußte mich vor einigen Jahren an der Schilddrüse
operieren lassen, und dabei hat man mir wohl ein bißchen viel weggenommen.
Jedenfalls muß ich seither diese Tabletten nehmen. Das letzte Rezept habe ich
noch von Dr. Greeley bekommen, kurz bevor Sie kamen.“
„Wie viele Tabletten waren noch in der Flasche?“ wollte Drew wissen.
Margaret zögerte. „Das kann ich nicht genau sagen, ich habe sie nicht gezählt.“
Yvonne hatte begriffen, und Drew teilte ihren Verdacht, das erkannte sie mit
einem Blick.
„Wir organisieren unsere Apotheke gerade neu“, behauptete sie rasch. „Ich
fürchte, ich finde Ihre Tabletten nicht gleich. Können Sie heute nachmittag noch
einmal vorbeikommen?“
„Kein Problem.“
„Ich kann sie Ihnen auch nach Hause bringen, sobald wir hier fertig sind.
Einverstanden?“
Kaum hatte Margaret das Sprechzimmer verlassen, da sagte Drew: „Sollte das
ihr Geheimmittel sein? Thyroxintabletten?“
„Eine ziemlich gefährliche Methode, das Gewicht zu regulieren“, stimmte Yvonne
zu.
„Ich würde es Margaret zutrauen. Also, da muß ich wohl ein klares Wort mit ihr
reden.“
„Dann meinst du, daß ich recht habe?“
„Es sieht ganz so aus. Ich bin sicher, sie mußte keine Tabletten wegwerfen,
sondern ihre Vorräte sind erschöpft. Ruf sie zurück, Yvonne, sie kann noch nicht
weit sein – nein, ich habe es mir überlegt: Sie geht bestimmt zu Jane Arnold. Ich
muß Simon ohnehin abholen, dabei treffe ich sie und kann ganz nebenbei mit ihr
reden.“
„Das finde ich besser.“
„Schließt du hier ab?“
„Selbstverständlich.“
„Yvonne?“
„Ja?“ Ihr Herz machte einen Sprung, so unbeschreiblich war sein Lächeln.
„Du bist wirklich bei der Sache… Es macht Spaß, mit dir zusammenzuarbeiten.
Wir sind ein gutes Team!“
„Danke“, sagte sie ein bißchen unbeholfen. Drew eilte hinaus.
Sie freute sich über das Kompliment, aber hätte es nicht ein ganz klein wenig
persönlicher sein können? Sei nicht unverschämt, schalt sie sich. Freu dich an
dem, was du hast.
Da das Zentrum am Nachmittag geschlossen war, beschloß Yvonne, schwimmen
zu gehen. Insgeheim hoffte sie, Drew dort auch zu treffen, denn an seinen freien
Nachmittagen nahm er Simon gern mit zum Schwimmen. Sie packte alles
zusammen und wollte gerade das Haus verlassen, da kam Drew aus der Haustür
gelaufen und rief sie zurück: eine Entbindung in einem weit abgelegenen Haus!
So fuhren sie also nicht zum Badesee, sondern eine Stunde lang über eine Straße
voller Schlaglöcher und kamen gerade noch rechtzeitig, um die Wöchnerin bei
den Preßwehen zu unterstützen. Wenige Minuten später war ein kräftiger kleiner
Junge geboren.
„Das war ein erfolgreicher Tag“, seufzte Drew zufrieden und lehnte sich behaglich
zurück, denn auf der Rückfahrt nach Coolacoola führte Yvonne das Steuer.
„Findest du?“
„Überleg doch mal: Wir haben einem gesunden Kind auf die Welt geholfen, wir
konnten Margaret Latham klarmachen, daß es bessere Wege gibt, das Gewicht zu
halten – ich konnte mittags wirklich noch mit ihr reden –, nur der starrköpfige
Mr. Hamilton ist nicht bereit, sich die Hand operieren zu lassen, wie wir heute
morgen erfuhren.“
„Vielleicht hat er auf seine Art recht: Er wird sich an die
Bewegungseinschränkung gewöhnen.“
„Mag sein. Aber weißt du, was das Beste war?“
„Was denn?“
„Wie du Ted Leighton mit der Schere auf Abstand gehalten hast!“
Sie lachten beide in freundschaftlichem Einverständnis, und Yvonne lenkte den
Wagen auf die Hauptstraße nach Coolacoola.
8. KAPITEL „Du kommst zu früh, und wo hast du Simon gelassen?“ begrüßte Yvonne Drew an einem Mittwochabend, zwei Monate später. Sie hatte Vater und Sohn zum Abendessen eingeladen. Diese Einladungen waren in der letzten Zeit hinüber und herüber gegangen. Es waren nette, freundschaftliche Gesten, nichts weiter. Yvonne war stolz auf sich, daß sie sich auch mit Freundschaft zufriedengeben konnte. „Ich komme nicht zum Abendessen, Yvonne“, sagte Drew ernst. „Es werden vier Wanderer vermißt, die in das Gebiet um den Birrandi Creek aufgebrochen sind. Tom Arnold bittet uns um Hilfe.“ „Der Birrandi Creek? Das ist doch endlos weit weg!“ „Vier Stunden Fahrt, schätzt Tom. Er will so bald wie möglich aufbrechen, damit wir die Suche gleich beim Morgengrauen aufnehmen können. Flora wird inzwischen Simon betreuen, sie sollte in einer halben Stunde hier sein. Inzwischen…“ „Inzwischen essen wir, was ich für uns gekocht habe.“ „Kluges Kind! Ich komme gleich zurück und bringe meine große Thermoskanne mit. Setz schon mal den Wasserkessel auf und pack Tee und Kaffeepulver ein. Jane und Margaret bestreichen bereits Brote und packen anderen Proviant zusammen.“ „Haben wir eine Rettungsaktion oder eine Party vor uns?“ „Yvonne, wir fahren in ein menschenleeres, weit abgelegenes Gebiet, in dem vier Personen vermißt werden. Unter Umständen sind wir tagelang fort.“ Als sie eine halbe Stunde später aufbrachen, war es schon ganz dunkel und ziemlich kalt. Juli war tiefster Wüstenwinter. Diese Jahreszeit dauerte nicht lange, tagsüber wurde es in der Sonne auch immer noch sehr warm, aber sobald die Sonne untergegangen war, wurde es kalt, es konnte sogar frieren. „Ich wüßte gern mehr Einzelheiten“, bat Yvonne, nachdem sie hinter dem Steuerrad des Geländewagens Platz genommen hatte, denn sie sollte die erste Strecke fahren. „Wie gesagt, wir suchen nach vier Personen: ein älterer Mann, seine beiden Söhne und die Ehefrau des älteren Sohnes. Sie sind bereits drei Nächte im Gelände gewesen und hätten heute vormittag zum Campingplatz zurückkehren sollen. Als sie bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht da waren, verständigten die zurückgebliebenen Familienmitglieder Tom, und der löste Alarm aus.“ „Falls sie sich verirrt haben oder wenn es einen Unfall gegeben hat, könnte der im schlimmsten Fall drei Tage zurückliegen.“ „Genau. Deshalb müssen wir uns auch beeilen. Außerdem halten sie sich in einem sehr schwer zugänglichen Teil des Parks auf. Tom hält es für riskant, einen Hubschrauber zur Unterstützung der Suche anzufordern. Er möchte das erst tun, wenn nichts anderes übrigbleibt.“ „Wer sind die drei Männer, die im Auto mit Tom und Matt fahren?“ „Das sind der Schwiegersohn des ältesten Vermißten und zwei Männer vom Campingplatz, die sich mit der Familie angefreundet haben. Wenn wir die vier Vermißten bis Freitagvormittag nicht gefunden haben, wird Tom weitere Suchtrupps anfordern, nehme ich an.“ „Wir haben vermutlich einen Plan der Wegstrecke und der Stelle, wo die vier ihr Fahrzeug abgestellt haben?“ „Ja. Im besten Fall hatten sie einfach nur eine Autopanne. Sie konnten sich nicht melden, weil sie kein Funksprechgerät im Wagen haben.“ Yvonne konzentrierte sich auf die Straße. Die Welt verengte sich auf eine
schmale, erhellte Strecke und die schwankenden Lichtkegel von Tom Arnolds Auto vor ihr. Nach einer Weile übernahm Drew das Steuerrad, und sie unterhielten sich über alles mögliche, damit er wach und aufmerksam blieb. Es war kurz vor Mitternacht, als sie den Platz erreichten, auf dem die Wanderer, wie geplant, ihr Fahrzeug abgestellt hatten. Es stand im Schatten hoher Bäume abseits des Pfades am Rand eines kleinen Zeltplatzes. „Die Türen sind offen und der Schlüssel steckt“, sagte Tom. „Ich fahre den Wagen eine Strecke, dann wissen wir, ob er funktioniert oder nicht, und ob sie vielleicht zu Fuß versucht haben, zum Campingplatz zurückzukehren.“ Während er den Wagen ausprobierte – er war übrigens vollkommen in Ordnung, wie sich herausstellte –, hatte Matt ein Lagerfeuer entzündet. „Wir lassen es die ganze Nacht hindurch brennen“, erklärte er. „Vielleicht sehen sie den Lichtschein. Also, Leute: Holz sammeln!“ Nachdem sie einen beachtlichen Holzstoß aufgetürmt hatten, aßen sie die Sandwiches, die Jane und Margaret vorbereitet hatten, und tranken den Tee aus der Thermoskanne. Es war sehr kalt geworden, und alle genossen die warme Flüssigkeit. Dann war es Zeit, sich schlafen zu legen. Sie waren sieben Personen, sechs Männer und eine Frau, und hatten drei Zelte – zwei für zwei Personen und eins für drei. „Geh ins Zelt, Yvonne, ich schlafe im Auto“, sagte Drew brummig. Yvonne nickte nur. Sie sah ihm an, daß Diskussionen zwecklos waren. Matt legte noch einmal Holz aufs Feuer und sicherte es mit großen Steinen, damit keine Funken in den Wald geblasen werden konnten. Er und Tom wollten abwechselnd Feuerwache halten. Minuten später hatten sich alle Mitglieder des Suchtrupps zurückgezogen. Yvonne schlief schlecht. Ihr Schlafsack war zwar warm, aber der Boden unter ihr war uneben und drückte sie überall, und ihre Ersatzkleidung als Kopfkissen war auch nicht bequem. Als Tom sie am Morgen kurz vor sechs Uhr weckte, war sie steif. Sie zog sich an und krabbelte aus dem Zelt. Draußen war es noch dunkel, kalt und feucht vom Tau, aber am östlichen Horizont kündete ein schwacher Lichtstreifen die Sonne an. Plötzlich stand Drew neben ihr. „Hier, wasch dir das Gesicht, das erfrischt“, sagte er und reichte ihr ein Handtuch, dessen eine Ecke er mit dem Rest des warmen Wassers aus der Thermoskanne angefeuchtet hatte. Dankbar nahm Yvonne das Handtuch entgegen und reinigte sich notdürftig das Gesicht. Ja, das tat wirklich gut! Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, sah sie sich um: Auch die anderen Camper waren bereits auf den Füßen und machten sich zu schaffen, und das Feuer brannte hell. Bei einem herzhaften Frühstück mit Schinken und Eiern besprachen sie den Tagesplan. Die Männer wollten in drei Gruppen zu zwei Personen ausschweifen und unterschiedliche Gebiete absuchen. Sie hatten drei tragbare Sprechfunkgeräte bei sich, von denen allerdings nur Toms Gerät stark genug war, um die Empfänger in den Geländewagen zu erreichen. Man vereinbarte stündlichen Funkkontakt, dann wurde beschlossen, wer zusammen auf die Suche gehen sollte: Tom und Peter, Matt und Graham, Drew und Alan. „Und ich? Was mache ich?“ fragte Yvonne ruhig. „Sie bleiben hier“, antwortete Tom. Sie nickte, denn damit hatte sie gerechnet. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß Drew Einspruch erheben wollte und kam ihm schnell zuvor. „Geht in Ordnung. Ich bediene das Funkgerät, halte mit den Fliegenden Ärzten
Kontakt – und das Teewasser warm.“ „So war das gemeint“, antwortete Tom lachend. Dann wurde er ernst: „Ohne Scherz, Yvonne: Das Feuer muß den ganzen Tag lang brennen, und zwar mit viel Qualm. Werfen Sie Blätter und grüne Äste auf. Die Vermißten sehen die Rauchsäule wahrscheinlich eher als den Feuerschein bei Nacht. Alle halbe Stunde sollten Sie außerdem auf die Autohupe drücken.“ „Alle halbe Stunde“, bestätigte Yvonne. „Tom, sollte nicht noch jemand hier bleiben? Yvonne ist sonst ganz allein in diesem menschenleeren Gebiet“, warf Drew nun ein. Bisher hatte er sich zurückgehalten. Er schätzte Tom Arnold, sie hatten sich in den vergangenen Monaten sogar angefreundet, und Yvonne machte nicht den Eindruck, als schrecke sie die Vorstellung, allein zurückzubleiben, ja, sie hatte ihm nicht einmal einen dankbaren Blick zugeworfen, als er seinen Einwand erhob… „Wer bei den Autos bleibt, bleibt allein“, entgegnete Tom unbeirrt. „Yvonne ist fit genug für einen anstrengenden Marsch durch den Wald.“ Drew ließ sich nicht ablenken, obgleich er mit dieser Diskussion Zeit vergeudete und ungebührlich viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ihm ganz egal: Dieser Ort war so einsam, daß die Wanderer sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, den Autoschlüssel abzuziehen, und hier sollte Yvonne… „Es macht Ihnen doch nichts aus, hierzubleiben, nicht wahr?“ wandte Tom sich nun direkt an Yvonne. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar leuchtete in der aufgehenden Sonne. Drew ärgerte sich über sie. Ein bißchen weibliche Schutzbedürftigkeit wäre am Platz, dachte er. Begreift sie überhaupt, wie einsam sie hier sein wird? Doch, sie begreift es, mußte er sich eingestehen. Sie nimmt es wie üblich in ihrer gelassenen Art hin. Sie sieht mich immer noch nicht an… „Dann ist alles klar“, sagte Tom Arnold abschließend. „Die Männer sind einfach kräftiger, und das ist wichtig, falls wir jemanden tragen müssen. Außerdem brauchen wir Ihre Erfahrung mit den Funksprechgeräten.“ Damit war die Sache wirklich klar, das sah jetzt auch Drew ein, und er fragte sich, weshalb er überhaupt versucht hatte, etwas zu ändern. Er war doch sonst nicht übertrieben ritterlich… Zum Donnerwetter, sie hat es wieder einmal geschafft, sagte er sich. Sie überführt mich, ohne mich überhaupt auf die Probe zu stellen. Seit mehr als vier Monaten arbeiten wir jetzt in Coolacoola zusammen, und immer wenn ich sicher bin, daß sie für mich nichts als eine Freundin und gute Kollegin ist, passiert etwas, und dann falle ich aus der Rolle. Er schüttelte diese Gedanken ab und konzentrierte sich auf die bevorstehenden Aufgaben. Eine. Stunde später waren die drei Gruppen zum Aufbruch bereit. Sie waren mit allem ausgerüstet, so daß sie notfalls auch im Gelände übernachten konnten. Sie hatten auch eine Stelle ausgemacht, die als Hubschrauberlandeplatz hergerichtet werden konnte. Damit war Yvonne beauftragt. Sie sollte den Platz möglichst deutlich markieren, damit er aus der Luft zu erkennen war, vor allem aber sollte sie alle größeren Steine, Äste und andere Hindernisse beiseite räumen. Zusammen mit ihrem Dienst am Funksprechgerät und den halbstündlichen Hupsignalen würde sie damit den ganzen langen Tag über beschäftigt sein. Drew beobachtete sie unauffällig und bemerkte, daß sie immer noch völlig gelassen war. Wie konnte ich sie nur je für ein unauffälliges, harmloses Mäuschen halten? fragte er sich. Der neue Haarschnitt steht ihr ausgezeichnet… jetzt sieht man
erst, wie schlank ihr Nacken ist… Das Deckhaar wird von Tag zu Tag heller, es ist fast golden geworden. Es fiel ihm schwer, sie nicht fortwährend anzustarren. Sie trug ausgebeulte Hosen, die wie Jodhpurs geschnitten waren. Wahrscheinlich ahnte sie nicht einmal, wie die ihr hübsch geformtes Hinterteil betonten. Die Ärmel ihres dunkelblauen Wollpullovers hatte sie bis zu den Ellenbogen aufgerollt. Wie sie da konzentriert mit Tom Arnold über ihre Aufgaben an diesem Tag verhandelte! Er war fast ein bißchen eifersüchtig und hätte am liebsten ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen – so etwas Albernes! Noch einmal umriß Tom, wie sie sich in den folgenden Stunden zu verhalten hatten, und sprach ihnen allen Mut zu. An Drew ging alles vorbei. Dann schulterten Tom, Matt, Graham und Peter ihre Rucksäcke und machten sich auf den Weg, denn sie hatten den ersten Teil der Strecke gemeinsam. Alan hatte sich für einen Augenblick dezent zurückgezogen – weitab der Zivilisation gab es natürlich auch kein WC. So standen Yvonne und Drew einen Augenblick lang allein an dem scheußlich qualmenden Feuer. Er wollte gerade vorschlagen, dem Qualm auszuweichen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, und jetzt erst wurde ihm klar, wie verärgert sie war. „Drew, mußtest du vor allen anderen zum Besten geben, daß du mich für ungeeignet hältst, den Tag allein in der Wildnis zu verbringen?“ Ihre Stimme klang dunkel und schwang vor unterdrückter Erregung. „Ich bin erstaunt, daß du mich so gering einschätzt.“ „Wie bitte? Das tue ich doch gar nicht…“ „Was sollte dann dein Einwand? Wo liegt das Problem? Du hast mich bloßgestellt.“ „Das Problem? Zum Donnerwetter, Yvonne, ich bin das Problem! Ich habe mir deinetwegen Sorgen gemacht, und ich mache sie mir immer noch.“ Plötzlich lag sie in seinen Armen, und ihm war nur undeutlich bewußt, daß er sie in die Arme gezogen hatte und jetzt fest an sich drückte. Er beugte sich zu ihr herab und küßte sie, bevor sie etwas entgegnen konnte. Erst wehrte sie sich fast erschrocken, doch dann küßte sie ihn vorbehaltlos wieder. „O Yvonne!“ „Drew…“ Er roch nach dem Outback, nach frischer Luft und Staub, nach Schweiß, Eukalyptus und Rauch. Es hätte ihr in die Nase stechen müssen, aber sie genoß diesen Duft. Ihre Verärgerung verflog wie der Tau unter der Wüstensonne. Sie legte ihm die Arme um den Nacken und küßte ihn voller Leidenschaft. Sie schien innerlich zu schmelzen. Sie wollte mehr als nur diesen Kuß, mehr als nur diesen flüchtigen Augenblick irgendwo in der Wildnis… Der leichte Wind drückte den Rauch des Feuers zu ihnen herüber. Ihre Augen begannen zu tränen, ihre Nase kribbelte: Das war wirklich nicht der richtige Ort und Zeitpunkt für ein erotisches Erlebnis! Trotzdem mochte sie sich nicht lösen. Sie spürte Drews kompakte Muskeln an ihren Schenkeln und schmiegte sich fester an ihn. Er strich mit beiden Händen durch ihr Haar und über ihren Nacken. Dann hörten sie die Zweige unter Alans Füßen knacken. Der Augenblick des Abschieds war gekommen. „Du rufst Tom stündlich an, ja?“ „Bestimmt.“ „Paß gut auf dich auf…“ Er brachte die Worte kaum heraus. Noch einmal streichelte er ihre Wange, dann drehte er sich um, hob seinen Rucksack auf und machte sich zusammen mit Alan auf den Weg. „War denn das nun wieder nötig?“ fragte Yvonne das verlassene Camp laut. Es
hatte ihr wirklich nichts ausgemacht, allein zurückzubleiben, jedenfalls bis zu Drews Kuß nicht. Jetzt plötzlich machte es ihr sehr viel aus. Sie kam sich vor wie die Freundin eines Soldaten, der in den Krieg zieht: Ein letzter Kuß, dann geht der Mann und die Frau bleibt mit gebrochenem Herzen zurück. „Wir sind doch nicht im Kino!“ schimpfte sie laut. Aber wenn es denn sein muß, kann ich auch meinen Mann stehen, sagte sie sich entschlossen und ging zu dem Platz, auf dem der Hubschrauber landen sollte. Zu tun habe ich jedenfalls genug. Es war Schwerarbeit, den Platz herzurichten. Yvonne war recht froh, daß sie alle halbe Stunde eine Pause einlegen mußte, um auf die Hupe eines der Geländewagen zu drücken, stündlich mit Tom Funkkontakt zu halten und regelmäßig nach dem Feuer zu sehen. Gegen halb vier nachmittags war sie fertig und rechtschaffen müde. Sie hockte sich auf einen Baumstumpf am Feuer und sah zu, wie die Flammen um das grüne Holz züngelten, das sie nachgelegt hatte. Da erst fiel ihr auf, daß es dämmerte. „Alles klar, Yvonne?“ tönte Toms Stimme um sechs Uhr aus dem Sprechfunkgerät. „Alles klar“, bestätigte sie mit einiger Mühe. Die Sonne war inzwischen hinter der Hügelkette verschwunden, und die Geräusche der Wildnis schwollen an. „Haben Sie von Drew und den anderen gehört?“ erkundigte sie sich rasch. „Ja. Nichts vorgefallen“, kam die Antwort. „Sie übernachten ziemlich in Ihrer Nähe, nur ein paar Meilen entfernt.“ Sie übernachten ein paar Meilen entfernt! Mit anderen Worten, ich werde die Nacht hier allein verbringen. Dann sollte ich mich beeilen und Holz sammeln, damit das Feuer die Nacht hindurch brennt und ich meine Dosenspaghetti erwärmen kann, sagte sie sich. Es ist wirklich einsam hier, dachte sie, nachdem sie ihr Abendessen beendet hatte. Vielleicht hätte ich heute morgen nicht so selbstsicher tun sollen. Drew würde sich amüsieren, wenn er mich jetzt sähe… Sie dachte an seinen Kuß, und ihr Herz kam ein bißchen aus dem Takt. Drew amüsierte sich überhaupt nicht! Genau gesagt, er war ziemlich gereizt und sprach kaum ein Wort. Er und Alan hatten einen anstrengenden Tag hinter sich. Sie hatten verschiedene Schluchten durchstreift, die Abhänge mit ihren Feldstechern abgesucht und immer wieder laut gerufen – vergeblich. Sie hatten eine sehenswerte Landschaft erlebt. Drew nahm sich vor, dieses Gebiet des Parks einmal in Ruhe zu besuchen. Unglaublich, in welchen Farben die Felsen schimmerten! Sie hatten zwei einladende Wasserstellen gefunden, gerade groß genug zum Schwimmen. Drew stellte sich vor, wie Yvonne in ihrem dunkelroten Badeanzug auf einem der Felsen über dem See saß und sich dann lachend ins Wasser gleiten ließ… Dann erreichten sie die Birradinifälle, die zwanzig Meter tief über zerklüftete Felsen herabstürzten und schließlich zu einem perfekten Badesee zusammenflössen. Drew hatte den Kopf in das kühle Wasser gesteckt. Das erfrischte. Gern hätte er sich länger dort aufgehalten, vor allem in Gesellschaft… Am Spätnachmittag waren sie überraschend mit Matt und Graham zusammengetroffen. Einen Augenblick lang hatten sie gehofft, zumindest zwei der Vermißten gefunden zu haben, bis sie in der Dämmerung erkannten, wer auf sie zukam. „Wir waren in einer Sackgasse, aus dieser Schlucht hier kann man nämlich nicht aussteigen, das ist auf der Karte nicht erkennbar.“ Matt deutete auf die Karte. „Deshalb mußten wir umkehren.“ „Dann können wir auch ein gemeinsames Lager aufschlagen“, schlug Drew vor.
Das war ihm sehr recht, denn so konnte er seinen Gedanken nachgehen,
während die drei anderen Männer sich unterhielten.
„Wie geht es Yvonne?“ fragte er Tom über Funk.
„Alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen, Drew. Das Mädchen ist zäh.“
Drew fragte nicht weiter, sonst hätte der Aufseher womöglich begriffen… Was
eigentlich? Der Atem stockte ihm und sein Herz schlug bis zum Hals, als er selbst
endlich begriff: Ich liebe sie!
Was hatte er sich nicht alles vorgemacht: Von körperlicher Anziehung,
Beschützertrieb, beruflicher Hochachtung hatte er sich etwas vorgefaselt, und
jetzt, ausgerechnet jetzt mußte er es erkennen, jetzt, da sie weit entfernt einsam
an einem Lagerfeuer hockte… unerreichbar für ihn.
Unerreichbar? Wenn er sich mit einer Stablampe den Weg ausleuchtete, konnte
er in anderthalb Stunden bei ihr sein.
Drew, sei vernünftig, sagte er sich. Du bist müde, und Yvonne ist gut
aufgehoben. Was soll ihr in einem menschenleeren Gebiet passieren? Und was
würdest du tun? Willst du ins Lager stolpern, dich über sie werfen und ihr
erzählen, daß du sie liebst?
Genau das würde ich tun, antwortete er sich selbst. Allmählich reifte der Plan.
Nachdem sie ihr Abendessen beendet hatten, brummte er: „Ich gehe zurück ins
Camp.“
„Wieso?“ fragte Matt.
„Yvonne ist allein. Sie würde sich nie beklagen, aber es muß gespenstisch für sie
sein. Gleich nach Tagesanbruch bin ich zurück.“
„Sie sollten das mit Tom abstimmen“, mahnte Matt und musterte ihn aus
schmalen Augen.
„Nicht nötig“, entgegnete Drew bestimmt. Er wußte, er brach alle Regeln einer
Suchaktion, aber es war ihm egal.
Matt nickte nur und schwieg. Fünf Minuten später machte Drew sich auf den
Weg.
Yvonne holte ihren Schlafsack und die Isomatte aus dem Zelt und breitete sie
neben dem Feuer aus. Die Flammen sollten ihr Gesellschaft leisten.
Das hätte ich schon vor zwei Stunden tun sollen, dachte sie, während sie in den
Schlafsack kroch. Da drinnen fühlte sie sich sicher und geborgen, und zum
erstenmal seit Einbruch der Dunkelheit hob sie nicht mehr bei jedem Geräusch
lauschend den Kopf. Sie war müde und auch ein bißchen stolz auf sich, denn sie
hatte alles erledigt, was ihr aufgetragen worden war, und sie war mit dieser
überwältigenden Einsamkeit fertig geworden.
Wenn wir jetzt noch die Vermißten finden, war das richtig erfolgreich für mich,
dachte sie kurz vor dem Einschlafen.
Da hörte sie etwas, und diesmal war es keine Einbildung: Sehnte! Sie drehte sich
in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Angst drückte ihr die Kehle zu,
aber dann erkannte sie die dunkle Gestalt.
„Drew! Habt ihr sie gefunden? Was ist los? Wo ist Alan?“
Er ließ sich neben ihr auf die Knie fallen und rang nach Atem. Sein Haar war
schweißnaß.
„Du bist erschöpft“, sagte sie erschrocken.
„Ja.“ Endlich konnte er wieder sprechen.
„Rede doch! Soll ich Tom anrufen?“
„Ja, aber nicht sofort. Sag ihm, daß ich im Lager bin.“
„Ich begreife nichts.“ Sie suchte in seinen Zügen nach einer Antwort.
Drew vergaß alles, was er ihr sagen wollte. Noch auf dem Weg war es so einfach
gewesen, jetzt aber zweifelte er an sich. Er hatte sich schon einmal geirrt und die
falsche Frau geheiratet. Sein Gefühl für Yvonne war stark, aber würde es
andauern? Und ihre Gefühle? Im Sturm der ersten Erkenntnis hatte er
angenommen, daß sie für ihn dasselbe empfand wie er für sie, aber konnte er
davon wirklich ausgehen? Da lag sie vor ihm in ihrem Schlafsack und wirkte
gelassen und selbstsicher…
Ihm fiel nichts Besseres ein als: „Ich wollte mich vergewissern, daß bei dir alles
in Ordnung ist. Tom behauptete es zwar, aber…“
„Aber du konntest es nicht glauben“, beendete sie seinen Satz. Wieder einmal
mißverstand sie ihn, hielt sein Bedürfnis, sie zu schützen, für ein Zeichen von
Mißtrauen, und das ärgerte sie. „Das war leichtsinnig, Drew! Dieser Weg bei
Dunkelheit…“
„Ich mußte kommen. Ich hatte eine Taschenlampe, und ich kenne den Weg. Wir
hätten dich nicht zurücklassen dürfen, es ist sehr einsam hier.“
„Ich bin Einsamkeit gewohnt.“
„Du ärgerst dich, nicht wahr?“
Sie sahen sich an, die Gesichter nur vom flackernden Schein der Flammen
erhellt. Yvonne erkannte in seinen Augen eine ganz andere Frage als die, die er
eben gestellt hatte. Ihr Ärger verflog, und sie sagte: „Nein, ich ärgere mich nicht,
Drew. Du hast viel riskiert. Danke. Es ist schön, jemanden zur Gesellschaft zu
haben.“
Dich zur Gesellschaft zu haben, hätte sie sagen müssen. Der Soldat war
zurückgekommen, der sie am Morgen geküßt und verlassen hatte, er war zu ihr
zurückgekommen! Wie gern hätte sie sich an ihn geschmiegt, aber das getraute
sie sich nicht, und der Schlafsack machte es auch nicht gerade leicht.
„Soll ich Wasser aufsetzen, Drew?“
„Haben wir noch Kakaopulver?“
„Ja.“
„Ich würde gern einen Kakao trinken.“
Die folgende halbe Stunde war bedeutungsvoll, obgleich sich äußerlich wenig
abspielte. Yvonne und Drew tranken ihren Kakao und erzählten sich, wie der Tag
verlaufen war. Dann kroch auch Drew in seinen Schlafsack.
„Es wird kalt“, brummte er. „Leg dich zu mir.“
Sie folgte bereitwillig, und die weiche Form seines Schlafsacks legte sich
schützend um die weiche Form ihres Schlafsacks. Sie berührten einander nicht,
aber Yvonne spürte Drews Wärme und fiel sofort in tiefen, erholsamen Schlaf.
Manchmal lasse ich mich gern beschützen, dachte sie, schon halb im Traum.
„Yvonne!“ Drew schüttelte sie sanft. Er war schon angezogen und hockte neben
ihr. „Es wird hell, ich muß gehen.“
„Gehen… Wohin?“
„Zu den anderen. Wir müssen die Suche fortsetzen.“
Natürlich… daran hatte sie am vergangenen Abend nicht gedacht. Er mußte zu
den anderen Männern, sie würde auch diesen Tag allein verbringen.
„Ich habe schon mit Tom gesprochen. Er meint, wenn wir bis Mittag keine Spur
von den Vermißten gefunden haben, müssen wir Großalarm ausrufen.“
„Klar.“ Sie war noch nicht wach genug, um zu erfassen, was er sagte.
„Ich habe schon gefrühstückt…“
„Das heißt, du gehst jetzt gleich?“
„Ja.“
„Warum hast du mich nicht früher geweckt?“
„Wozu denn? Ich wollte dich ausschlafen lassen.“ Er spürte ihre Unsicherheit.
„Ich komme schon klar. Ich muß mich nur…“ Sie versuchte, aus dem Schlafsack
zu krabbeln. Wie sollte sie ihm erklären, daß der Abend mit ihm so wohlig
gewesen war, daß sie alle Gedanken an den Morgen verdrängt hatte? Jetzt war
sie unvorbereitet. Es würde ein bißchen dauern, bis sie sich auf den Tag in der
Wildnis eingestellt hatte.
Er ahnte, was sie dachte, und mit einem Stöhnen warf er sich neben sie auf die
Knie und bedeckte ihr Gesicht und dann ihren Mund mit Küssen. Sie küßte ihn
mit aller Leidenschaft wieder. Ihre Augen brannten. Es ist hoffnungslos, es führt
zu nichts, dachte sie, aber sie konnte sich nicht entziehen. Sie spürte den harten
Boden unter ihrem Rücken nicht mehr. Sie hätte für immer so liegen können,
wollte den Druck seines Gewichts spüren, das Kratzen seiner unrasierten
Wangen, wollte fühlen, wie seine Finger liebkosend über ihre Haut strichen.
Doch er richtete sich auf. Sie wußten beide, daß es nicht der richtige Augenblick
war.
„Wenn du fünf Minuten wartest, gehe ich ein Stück mit dir, ja? Jedenfalls bis
dahin, wo der Weg vom Flußbett abbiegt.“
„Gern.“ Seine Stimme klang rauh.
Eilig schüttete Yvonne sich Wasser in die Hände und wusch ihr Gesicht, trank
einen Schluck kalten Tee und zog sich die Schuhe an, dann gingen sie los.
Niemand brach das Schweigen, während sie hintereinander aufstiegen. Es war
etwas geschehen, das weit über die gegenseitige sinnliche Attraktivität
hinausreichte.
Drew ging voraus. Yvonne beobachtete, wie seine Muskeln unter dem Stoff der
Jeans spielten. Er drehte sich oft um und lächelte ihr zu, und jedesmal machte
ihr Herz einen Sprung: Er lächelt, als ob er genauso…
„Hallo! Hilfe! Hilfe! Hier, wir sind hier! Ist da jemand?“
Von der anderen Seite der Schlucht klangen zwei verzweifelte, sich
überschlagende Stimmen, und einen Augenblick später kamen ein Mann und eine
Frau unter den Büschen hervor.
Sofort stürmte Drew den Abhang hinunter und durch das ausgetrocknete
Flußbett. Yvonne folgte ihm, so schnell sie konnte.
Es waren zwei der vier vermißten Wanderer. Der Mann hatte einen Viertagebart,
der eine Knöchel der Frau war mit einer Behelfsbandage verbunden.
„Danke… Gott sei Dank!“ Die beiden weinten fast.
„Ihr Knöchel?“
„Ich habe ihn verstaucht, vielleicht sogar gebrochen. Gestern ist es passiert… es
tut sehr weh, aber das ist nicht so wichtig… mein Schwiegervater…“ stammelte
die Frau.
„Können Sie Hilfe anfordern? Wie viele Leute sind Sie?“ stieß der Mann hervor.
„Mein Vater hatte einen Herzanfall, glauben wir.“
Die nächsten Stunden waren mit hektischer Aktivität ausgefüllt.
Bill Holland, das älteste Mitglied der Wandergruppe, hatte drei Tage zuvor einen
Herzanfall erlitten, weshalb Mark und Debbie Holland sich aufmachten, Hilfe zu
holen, wie sie erzählten. Sie waren nur langsam vorangekommen, vor allem
nachdem Debbie sich den Fuß verletzt hatte. Sie wußten nicht einmal, ob Bill
Holland noch lebte.
Yvonne erfuhr das, nachdem sie die beiden erschöpften Menschen ins Lager
gebracht hatten. Drew hatte sofort Tom verständigt und war dann aufgebrochen,
um das Rettungsteam zu unterstützen. Endlich kam Nachricht von Tom: Sie
hatten Bill Holland und seinen Sohn Jonathan gefunden. Beide lebten und waren
vergleichsweise wohlauf.
„Die Fliegenden Ärzte werden um ein Uhr hier sein, Tom“, gab Yvonne durch.
„Bestens, das schaffen wir. Hoffentlich haben Sie den Landeplatz gut in Schuß.“
„Das hoffe ich auch.“
Noch vor dem Hubschrauber der Fliegenden Ärzte waren Retter und Gerettete im Lager. Alle waren erschöpft und überglücklich und dankbar, daß die Katastrophe abgewendet war. Nachdem Bill Holland und seine Schwiegertochter mit dem Hubschrauber abtransportiert waren, löste das Rettungsteam das Camp auf, und alle traten die Rückfahrt nach Coolacoola an. Tom und Matt fuhren in einem Wagen, Alan und Graham wechselten sich am Steuer des Hollandschen Autos ab, und Yvonne und Drew fuhren wieder im Wagen des Zentrums. „Bis wir zu Hause sind, ist es dunkel“, meinte Drew, als sie ins Auto stiegen. „Das glaube ich auch“, stimmte Yvonne zu. „Wie spät ist es eigentlich? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren.“ „Mein Magen nicht. Er meldet schon seit Stunden Mayday.“ „Wir haben noch Sandwiches im Wagen. Sie sind nicht mehr gerade frisch, aber…“ „Das stört überhaupt nicht.“ Jane Arnold und Margaret Latham empfingen das Team mit einem reichhaltigen Abendessen, während Simon und Jeremy vor Aufregung von einem Bein aufs andere hüpften: Für sie war die Unternehmung der Väter ein herrliches Abenteuer, an dem sie nur zu gern teilgenommen hätten. Als ein bißchen Ruhe eingekehrt war, sagte Jane Arnold: „Drew, es gibt Nachrichten aus Melbourne: Ihre Schwägerin hat heute morgen gesunde Drillinge zur Welt gebracht – Mädchen. Ich soll Ihnen ausrichten, daß die ganze Familie wie geplant in zwei Monaten auf Urlaub kommt. Man stelle sich das vor: Drillinge! Ich kann’s kaum erwarten.“
9. KAPITEL Noch bevor die beiden Monate verstrichen waren, bekam Yvonne Besuch. Sie hatte Müttersprechstunde abgehalten, während Drew zu Hausbesuchen unterwegs war. Jetzt saß sie am Schreibtisch im Empfang des medizinischen Zentrums und erledigte Schreibarbeiten, da sah sie den Mann hereinkommen. Ihre Knie wurden ihr weich. „Dad!“ Wirklich, es war ihr Vater. Er hatte sich in den vergangenen sechs Jahren stark verändert, und da sie auf seinen Besuch nicht vorbereitet war, hatte sie ihn im ersten Augenblick nicht erkannt. „Was machst du hier? Ich meine, warum hast du dich nicht angekündigt?“ Das war nicht die freundlichste Begrüßung, aber mehr fiel ihr nicht ein. Ihr Vater kam auf sie zu und umarmte sie ein wenig linkisch. Er war nicht weniger erleichtert als seine Tochter, als die Begrüßung vorbei war. „Das hätte ich natürlich tun können“, gab er zu. „Ich wollte dich aber überraschen. Außerdem vereinbarte meine Firma die Reise ganz kurzfristig.“ „Deine Firma?“ „Ja. Das kannst du natürlich nicht wissen: Minex International ist eine unserer Tochterfirmen. Ich muß nach Jambarra, um dort einiges zu regeln.“ Wie praktisch, dachte Yvonne. Bestimmt hat er auf die Karte gesehen und festgestellt, daß Jambarra und Coolacoola nicht allzu weit voneinander entfernt sind, und da hat er die Dienstreise mit dem Privatbesuch verbunden. Sie sah zum Fenster hinaus und entdeckte dort einen staubbedeckten Geländewägen mit dem Logo des JambarraBergwerks. Also habe ich recht, dachte sie. Aber spielt es eine Rolle? Wir hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr, und er hat ihn jetzt wieder aufgenommen. Mit Erleichterung bemerkte sie, daß es sie nicht mehr schmerzte oder ärgerte, daß sie nur eine Seitenetappe bei der Geschäftsreise ihres Vaters war, und so fragte sie in ganz gelockertem Ton: „Kannst du zum Mittagessen bleiben? Ich bin hier nämlich fertig. Mein Haus liegt gleich nebenan. Ich könnte uns Sandwiches zubereiten und eine Suppe, wenn du magst.“ „Sandwiches sind genug. Ja, danke, ich bleibe gern. Ich habe ungefähr eine Stunde Zeit, dann muß ich zurückfahren, denn um zwei Uhr ist eine Sitzung mit den Managern von Jambarra angesetzt.“ „Das paßt doch großartig,“ Yvonne schloß das Zentrum ab und führte ihren Vater zu ihrem Haus. Während sie die Sandwiches vorbereitete, sah er sich um. Offensichtlich gefiel es ihm, wie sie wohnte. Nach einer Weile kam er in die Küche zurück, setzte sich an den Tisch und fragte: „Bist du hier glücklich, Yve?“ Yvonne hatte diese Kurzform ihres Namens nie leiden können, aber sie schwieg dazu. „Ja, ich bin hier glücklich“, sagte sie nur. „Es war bestimmt eine große Veränderung gegenüber Melbourne. Ich war überrascht, als ich deinen Brief erhielt. Ich hatte erwartet, du würdest dein Leben lang in Tante Dots Haus bleiben.“ „Zur Zeit ist das hier gerade richtig für mich. Ich werde vielleicht nicht für immer hier arbeiten, aber ob ich je nach Melbourne zurückkehre, weiß ich noch nicht.“ Warum auch? setzte sie in Gedanken hinzu. In letzter Zeit haben sich für mich in beruflicher wie persönlicher Hinsicht weite Horizonte aufgetan. „Ich hatte den Verdacht, daß du wegen… wegen einer Liebesgeschichte deine Zelte in Melbourne abgebrochen hast.“ „Nein, das spielte überhaupt keine Rolle.“ Mit solchen Problemen muß ich mich
erst seit kurzem abgeben, setzte sie stillschweigend hinzu. Aber war Drew ein „Problem“? Eigentlich nicht. „Ich habe mich gefragt, ob ich dich damals vor sechs Jahren nicht etwas nachdrücklicher hätte auffordern sollen, nach Perth zu kommen.“ Bruce Carstairs hatte sich ein Sandwich genommen, hielt es aber nur in der Hand und sah nachdenklich vor sich hin. „Nein, Dad, das wäre nicht gutgegangen“, erwiderte Yvonne kopfschüttelnd. „Glaubst du nicht?“ „Du hattest Kirsty und deine beiden kleinen Töchter.“ „Du bist doch auch meine Tochter… auch wenn ich dir nie ein guter Vater war, das ist mir durchaus klar.“ Sollte sie ihm zustimmen? Yvonne dachte daran, welche Mühe Drew mit seinem Verhältnis zu seinem Sohn gehabt hatte. „Du hast es so gut gemacht, wie du damals konntest“, sagte sie nicht ganz überzeugend. „Jemand anderer hätte es vielleicht anders gemacht. Du kanntest vermutlich deine Beschränkung und…“ „Und deshalb habe ich dich deiner Tante überlassen. Sie bat mich übrigens ausdrücklich darum.“ „Ach, wirklich?“ Das war Yvonne neu. „Ja, und es war natürlich die einfachste Lösung. Ich wollte dich irgendwann zu mir nehmen, aber die Zeit verging… dann lernte ich Kirsty kennen. Ich habe die Dinge schleifen lassen… Ich hatte auch den Eindruck, daß du dich bei Tante Dot sehr wohl fühltest.“ War das so? überlegte Yvonne. Nun ja, ich war nicht todunglücklich. Tante Dot hat mir nie absichtlich weh getan, aber ihre exzentrische Art war für mich als Kind manchmal kaum erträglich und hat mich jedenfalls aus dem Kreis meiner Schulkameradinnen ausgeschlossen. Diese übertriebene Pünktlichkeit, dieses Mißtrauen gegen Fremde, diese starrsinnige Ablehnung von Fernsehen, Kino, überhaupt allem, was zur modernen Welt gehört, diese Uhren an jeder Zimmerwand…! Plötzlich begriff Yvonne, daß ihr Vater diese Welt, in die sein Kind gekommen war, wahrscheinlich nie mit eigenen Augen gesehen hatte. War es sinnvoll, ihm jetzt davon zu erzählen? Nein, gewiß nicht. „Im großen und ganzen war ich damals glücklich“, sagte sie langsam. „Und auch jetzt bin ich mit dem, was ich habe, zufrieden. Ist das nicht die Hauptsache?“ „Ja.“ Er seufzte leise und begann, sein Sandwich zu essen. Er war erleichtert, daß Yvonne ihm keine Vorwürfe machte. Während der restlichen Zeit plauderten sie über dies und jenes, und zum Schluß sagte ihr Vater: „Irgendwann kommst du im Urlaub einmal zu uns nach Perth, ja? Wann kannst du den nächsten Urlaub nehmen?“ „Erst nach sechs Monaten. Das ist nicht mehr lange hin, aber ich denke, ich warte bis zur ganz heißen Zeit.“ „Komm uns besuchen! Die Mädchen werden dir gefallen. Du solltest sie kennenlernen, immerhin sind sie deine Halbschwestern.“ „Ich komme gern“, versprach Yvonne, und sie meinte es ernst. Zweifellos würde das kein ganz spannungsfreier Urlaub werden, aber inzwischen fühlte sie sich reif und stark genug, um damit zurechtzukommen. Coolacoola hat mich verändert, dachte sie. Bevor Bruce Carstairs wenig später aufbrach, nahm er ein in goldfarbenes Seidenpapier gewickeltes Päckchen aus seinem Aktenkoffer. „Ich habe nicht vergessen, daß du vor kurzem Geburtstag hattest, Yvonne. Ich dachte mir, da ich dich besuche, spare ich mir die Karte… Herzlichen
Glückwunsch zu den vierundzwanzig Jahren! Dies Geschenk hat Kirsty für dich ausgesucht.“ Überrascht öffnete Yvonne das Päckchen und zog ein Kleid heraus. Es war aus einem seidig schimmernden, feinen Stoff, schwarz, ganz schlicht geschnitten und sehr, sehr edel. Ein Cocktailkleid von atemberaubender Eleganz. Wann sollte sie das je tragen? „Danke, Dad“, sagte sie. „Kirsty hat es ausgesucht“, wiederholte ihr Vater, als sie ihn auf die Wange küßte. Dann umarmte er sie, und diesmal wirkte er viel weniger gehemmt als bei der Begrüßung. Dann nahm er sie bei den Schultern und sah sie an. „Du siehst gut aus, Yvonne, und du hast viel aus dir gemacht… Ich bin stolz auf dich.“ Yvonne sah ihm nach, wie er fortfuhr. Sie hatte Tränen in den Augen. Hat mir die Übersiedlung nach Coolacoola nach all den Jahren vielleicht meinen Vater zurückgegeben? dachte sie. Simon jedenfalls hat seinen Vater hier gefunden, sagte sie sich. Sie stand immer noch auf der Veranda, als Drew und Simon aus dem Haus kamen und Hand in Hand zum Anwesen der Lathams gingen. Sie winkten Yvonne zu, und sie winkte zurück. Wenn es die Arbeit zuließ, holte Drew den Jungen mittags bei Jane Arnold ab und begleitete ihn nach dem Essen zu Margaret Latham. Die gemeinsam verbrachte Zeit war für das Kind offensichtlich ein Vergnügen, denn immer hüpfte Simon fröhlich an der Hand seines Vaters die Straße hinunter. Nicht seines Vaters, er ist ja biologisch nicht der Vater, verbesserte Yvonne sich. Ob Drew noch häufig daran denkt? Sie wußte es nicht, denn sie hatten dieses Thema nie wieder berührt. Überhaupt waren sie seit jenen Nächten am Birrandi Creek allen persönlichen Themen aus dem Weg gegangen. Yvonne war darüber ein wenig enttäuscht. Die Einsamkeit dort draußen und der Ansturm der Gefühle, den sie beide dort erlebt hatten, schien auf etwas Neues in ihrer Beziehung hinzudeuten, aber es hatte sich nichts entwickelt. Drew hielt sie auf Armeslänge Abstand. Es blieb ihr nichts übrig, als das zu akzeptieren. Sei froh, sagte sie sich manchmal. Enge Freundschaft ist quälend, wenn man im Grunde Liebe will. Gelegentlich fragte sie sich, ob die Situation unerträglich werden könnte, so daß sie Coolacoola verlassen müßte. Sie schob den Gedanken weit von sich. Es gefiel ihr gut in dieser Wüstenstadt, sie wollte gern bleiben. Sie dachte nicht darüber nach, ob Coolacoola ohne Dr. Drew Kershaw auch noch attraktiv wäre. „Das war ein wunderbarer Urlaub, Drew!“ Kate Kershaw lächelte ihren Schwager dankbar an. Sie saßen auf der Veranda und genossen die Wärme und Stille der Oktobernacht. Charles war schon schlafen gegangen, und auch Kates Mutter, die die Familie begleitet hatte, um Kate ein wenig zu entlasten, hatte sich schon zurückgezogen. Es war kurz nach Mitternacht. Kate hatte die Drillinge gerade noch einmal gefüttert. Drew war erst vor kurzem von einem Noteinsatz bei einem Kind zurückgekommen, das mit seinen Eltern auf dem Campingplatz wohnte und plötzlich hohes Fieber bekommen hatte. Vernünftigerweise wären er und Kate jetzt ebenfalls zu Bett gegangen, aber sie mochten die Gelegenheit zu einem ungestörten Gespräch nicht verstreichen lassen. „Schön, wenn es dir gefallen hat“, erwiderte Drew. „Ich hatte befürchtet, es würde dich zu sehr anstrengen.“ „Es ist viel weniger anstrengend als zu Hause, denn hier habe ich Charles und meine Mutter zur Hilfe. Ihr habt mich alle nach Strich und Faden verwöhnt, und
ich habe es in vollen Zügen genossen. Vor allem die langen Spaziergänge und
das Schwimmen sind mir gut bekommen. Nach dem langen Liegen habe ich jetzt
endlich wieder einen funktionierenden Körper.“
„Aber das Liegen hat sich gelohnt, findest du nicht?“
„Wie kannst du fragen!“
Sie lachten beide. Drew ahnte, daß Kate etwas auf dem Herzen hatte, denn ihm
ging es nicht anders – er wußte nur nicht, wie er das Gespräch darüber anfangen
sollte und ob er es überhaupt führen wollte.
„Aber ich kann dir anvertrauen: Drei Babys, ein großer Garten mit Hühnern und
Ziegen – das ist ein hübsches Stück Arbeit. Mum ist nicht mehr die Jüngste, wir
können sie nicht ständig in Anspruch nehmen, deshalb haben wir beschlossen,
eine Kinderfrau einzustellen.“
„Das ist sicherlich eine kluge Entscheidung“, stimmte Drew zu. Er überlegte,
worauf seine Schwägerin hinauswollte, und immer wieder schweiften seine
Gedanken zu Yvonne ab, die bestimmt längst fest schlief.
„Mit anderen Worten“, fuhr Kate fort. „Wenn du willst, können wir Simon wieder
zu uns nehmen.“
„Simon zu euch nehmen?“ Drew richtete sich auf. Nie im Leben wäre er auf
diesen Einfall gekommen.
„Charles und ich vermissen den Kleinen“, sagte Kate entschuldigend. „Anfangs
wäre es uns unmöglich gewesen, für ihn zu sorgen, aber inzwischen haben wir
eine gewisse Routine mit den Drillingen. Du kannst von Glück sagen, daß sich so
eine günstige Regelung für Simon gefunden hat, aber…“
„Nein!“ Es klang fast wie ein Schrei. „Nein, Kate, das ist völlig ausgeschlossen!“
Er war selbst über die Heftigkeit seiner Reaktion erstaunt. Bis zu diesem
Augenblick hatte er sich noch keine Rechenschaft darüber gegeben, wie
weitgehend sich in den vergangenen Monaten seine Beziehung zu Simon
gewandelt hatte. Biologische Vaterschaft ja oder nein: Der Junge war sein Kind,
und er liebte ihn, das war ihm in diesem Augenblick klar.
„Du klingst sehr überzeugt“, sagte Kate lächelnd. „Das freut mich. Ich wollte dich
nicht kränken, Drew. Entschuldige. Ich will nur das Beste für Simon.“
„Natürlich…“ Natürlich, daran hatte ich nicht gedacht, sagte er sich. Ist das Leben
in Coolacoola für Simon wirklich das Bestmögliche? „Ich werde ihn fragen… Er
soll selbst entscheiden.“
„Drew, ich wollte nicht…“
„Nein, du hast ja recht. Ich bin einfach davon ausgegangen, daß das
Zusammenleben mit mir für ihn das Beste ist, aber…“
„Jetzt habe ich in ein Wespennest gestochen. Drew, es tut mir so leid.“
„Es soll dir nicht leid tun, Kate, denn du gibst mir nur Grund nachzudenken.
Schließlich bin ich nur ein Mann, während ihr, du, Charles, die Drillinge und deine
Mutter, beinahe eine Großfamilie darstellt. Vielleicht sehnt Simon sich danach,
ich weiß es ja nicht.“
„Ich hätte nicht davon anfangen sollen!“ Kate stand auf, ging einige Male die
Veranda auf und ab und setzte sich dann wieder. Sie sah Drew ernst an. „Was die
Familie betrifft: Schließt du es denn völlig aus, jemals wieder eine Familie zu
gründen?“
„Ich? Wie kommst du ausgerechnet jetzt darauf?“
„Nun ja, Yvonne ist eine überaus liebenswerte Frau und – bitte entschuldige,
wenn ich ganz offen spreche – völlig anders als Lisa. Vielleicht brauchst du das.“
„Kate…“ Genau darüber hatte Drew mit seiner Schwägerin sprechen wollen, aber
jetzt fand er keine Worte.
„Sei mir für meine unverblümte Art nicht böse, Drew, aber wir reisen morgen ab,
uns bleibt nicht viel Zeit. Wenn Simon bei dir bleiben soll, was wahrscheinlich
wirklich die beste Lösung ist, dann muß ich wissen, ob du mit deinem Leben1
zufrieden bist und was du vorhast.“
„Ich habe gar nichts vor“, gab er brummig zur Antwort.
„Aber du liebst sie doch.“
Drew schwieg. Mußte mein Bruder solch ein einfühlsames und dazu hartnäckiges
Frauenzimmer heiraten? dachte er halb belustigt, halb verärgert.
Kate ließ nicht locker. „Natürlich liebst du sie, das ist offensichtlich.“
„Kate, hat die Mutterschaft dich zur weisen Frau gemacht?“
„In diesem Falle ja. Immerhin geht es um zwei Menschen, die mir sehr am
Herzen liegen – um dich und Simon nämlich –, und deshalb will ich die Wahrheit
wissen.“
„Ich würde sie dir nicht vorenthalten, wenn ich sie besäße.“
„Du besitzt sie, du willst es nur nicht wahrhaben. Warum?“
„Weil ich mich fürchte“, sagte Drew nach einer langen Pause. „Ich habe Angst vor
einer Bindung, Angst davor, wieder einen Fehler zu machen.“
„Hm.“
Sie schwiegen beide. Hoffentlich fragt sie mich jetzt nicht nach meiner Ehe mit
Lisa, dachte Drew. Eines Tages werden sie und Charles die Wahrheit erfahren,
aber nicht jetzt, nicht gerade jetzt…
„Wie lange geht das schon?“ fragte Kate statt dessen.
„Du meinst, wie lange ich…“
„Seit wann liebst du Yvonne?“
„Ach, das ist… Willst du die genaue Zeitangabe?“ Er lachte verlegen.
„Nein, natürlich nicht.“
Ich könnte sie dir sogar geben, dachte er. Ich weiß es fast auf die Minute. Es war
draußen am Birrandi Creek, als ich begriff, daß ich sie die Nacht über nicht allein
lassen konnte.
„Seit ungefähr zwei Monaten“, sagte er schließlich.
„Seit zwei Monaten! Und du hast dich ihr noch nicht erklärt?“
„Nein.“
„Dann geht die Sache vermutlich wirklich nicht tief, denn sonst würdest du es
nicht riskieren, sie zu verlieren.“
„Sie verlieren? Wie kommst du darauf?“
„Das liegt doch auf der Hand: Sie wird nicht bis zum Ende aller Zeiten auf dich
warten. Ich vermute, du bist der erste Mann, der ihre Liebe erweckt hat, aber du
brauchst nicht der letzte zu sein. Jederzeit kann einer der jungen Geologen von
Jambarra herüberkommen… oder der dritte Parkaufseher, den Tom einstellen
wird. Er soll ledig sein, habe ich gehört. Womöglich ist er genau ihr Typ:
männlich, robust, ein Mensch für das Leben in der freien Natur… ein bißchen
schüchtern vielleicht, aber ein liebevoller Kerl.“
„Kate, hör auf“, verlangte Drew. Zu seinem Ärger ließen ihn ihre Worte nicht
unberührt. Ob er eigentlich Yvonnes Typ war? Bisher hatte er sich das noch nie
gefragt.
Erstaunlicherweise gab Kate nach. Sie gähnte herzhaft, lächelte ihrem Schwager
schelmisch zu und wünschte ihm dann eine gute Nacht.
Drew war kein bißchen müde mehr. Ich bin ein arroganter Esel, schalt er sich.
Wieso habe ich nie daran gedacht, daß sie sich in einen anderen Mann verlieben
könnte? Das ist gegenstandslos, versuchte er sich einzureden. Ich weiß noch
nicht einmal, ob sie überhaupt etwas für mich empfindet, und über meine
eigenen Gefühle bin ich mir auch nicht im klaren. Ich sollte die Sache auf sich
beruhen lassen.
Nein, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Erschrocken stand Drew auf und ging mit unsicheren Schritten die Verandastufen hinab und so weit, bis er Yvonnes Haus sehen konnte, das ganz im Dunkeln lag. „Ich bin ein Idiot“, sagte er laut. „Kate hat recht. Wenn ich nicht aufpasse, verliere ich sie. Will ich das riskieren?“ „Du fährst doch am Sonntag mit uns im Wagen in die Namburra Downs?“ fragte Drew Yvonne während ihrer wöchentlichen Organisationssitzung im Zentrum. Elaine Hamilton erwartete in etwas mehr als einem Monat ihr Baby, und vor diesem Ereignis wollte sie noch ein großes Fest geben. Freunde und Bekannte aus einem Umkreis von mehr als hundert Kilometern hatten sich angesagt. Man wollte schwimmen, Tennis spielen, grillen und abends tanzen. Yvonne freute sich auf dies Fest und hatte sich dafür sogar von Margaret Latham ein Tenniskleid schneidern lassen. „Das wäre wohl vernünftig, warum sollten wir mit zwei Autos fahren“, stimmte sie zu. „Eben.“ Es war eins der typischen freundschaftlichen Gespräche, wie sie so oft zwischen ihr und Drew stattfanden. Als er am Sonntag zur vereinbarten Zeit bei ihr anklopfte, war sie bester Laune – und mit ihren Vorbereitungen noch nicht fertig. Sie mußte über sich selbst lachen: Wäre ihr so etwas früher passiert? Niemals! Mindestens eine Stunde früher hätte sie mit ihrer gepackten Tasche in der Küche gesessen und insgeheim gebetet, er möge sie nicht vergessen. So gefällt es mir besser, dachte sie und winkte der in ihrer Phantasie verklemmt auf einem Stuhl sitzenden Yvonne von früher freundlich zu: „Tschüs, Mädchen!“ „Wie bitte?“ fragte Drew erstaunt, der in diesem Augenblick hereinkam und ihre Bemerkung natürlich nicht verstand. „Das galt nicht dir, sondern meinem abgelegten Selbst“, erklärte Yvonne. „Du mußt noch einen Moment warten, aber ich verspreche, mich zu beeilen.“ Es war ein traumhaftes Fest! Die Gäste vergnügten sich beim Baden oder Tennisspielen oder halfen den Gastgebern bei den noch anstehenden Vorbereitungen. Die Kinder spielten ausgelassen auf dem gesamten Anwesen. Yvonne fühlte sich wohl. Sie beteiligte sich überall und ging zwischendurch im weitläufigen Garten der Hamiltons spazieren, der überaus geschickt angelegt war und durch seine Verbindung von Büschen und Hecken der Wüste ein Stück blühendes Land abtrotzte. Einen Garten sollten wir vor dem Zentrum auch anlegen. Ich werde Elaine Hamilton um ein paar gute Tips bitten, dachte sie gerade, als Drew ihr nachkam und sie zu einem Tennisdoppel gegen Patsy Strickland und einen Farmer aus der Nachbarschaft aufforderte. Yvonne willigte nur zu gern ein. Für Patsy Strickland, die eine sehr gute Tennisspielerin war, bedeutete dieses Match mehr als nur ein Spiel, das wurde Yvonne sehr bald klar. Sie selbst hatte seit der Schulzeit nicht mehr gespielt und hatte ihrer Gegnerin anfangs wenig entgegenzusetzen. Außerdem setzte Patsys Verbissenheit sie unter Druck. Beim Seitenwechsel flüsterte Drew ihr zu: „Laß dir doch von Patsy keinen Machtkampf aufzwingen! Du spielst gut, und wenn wir verlieren, stört mich das nicht im geringsten. Du siehst zauberhaft aus in deinem Dreß. Ich wollte mit dir zusammen spielen, weil… Ach, ich wollte einfach dein Partner sein.“ Danach lief Yvonnes Spiel flüssig, und sie und Drew gewannen den zweiten Satz. Sie wechselten gerade wieder die Seiten, als eine schrille Kinderstimme über den Platz tönte. „Hilfe! Helft doch!“ Ein Zehnjähriger kam gelaufen. Er war kreidebleich, die
Augen weit vor Schrecken.
„Was ist denn passiert, mein Junge?“ fragte eine der Frauen in seiner Nähe.
„Ein Junge hat sich verletzt. Wir haben mit dem Werkzeug in der Scheune
gespielt… er ist noch klein, und es blutet so schrecklich. Bitte kommt doch!“
Drew und Yvonne warfen sich einen Blick zu, ließen die Tennisschläger fallen und
rannten über den Platz. Yvonne kannte die Kinder aus dem Outback inzwischen:
Sie waren einiges gewohnt und verloren nicht gleich die Farbe, wenn sich jemand
in den Finger schnitt. Dieser Junge jedoch war fast grün im Gesicht…
„Da hinten, in der Scheune“, rief er, während sie ihm im Laufschritt folgten. „Wir
haben gespielt… die Größeren haben vorgemacht, wie sie bei der Arbeit helfen.
Dann hat ein Kleiner eine Axt genommen, und die ist ihm ausgerutscht und…“
Sie hatten die Scheune erreicht, wo eine Schar Kinder stand und erschrocken auf
eine am Boden liegende, kleine Gestalt starrte. Ein älteres Mädchen versuchte
vergeblich, die Kinder zu irgend etwas zu bewegen, während zwei größere
Jungen die bewegungslose kleine Gestalt aufzuheben versuchten. Alles schwamm
von Blut.
Als die Erwachsenen kamen, machten die Kinder Platz. Drew erkannte die
blutdurchtränkten Shorts und das gelbe TShirt, noch bevor Yvonne begriffen
hatte, was sich vor ihren Augen abspielte.
„Großer Gott! Das ist Simon!“
10. KAPITEL In einem hellen, pulsierenden Strom schoß das arterielle Blut aus Simons Bein und schwemmte buchstäblich das Leben aus ihm heraus. Yvonne wartete nicht auf Drews Anordnung. Sie rannte zum Geländewagen und holte den Kasten mit der Ausrüstung für derartige Notfälle. Drew hatte Simon ins Haus getragen. Er riß Yvonne das Verbandspäckchen aus der Hand und legte mit ihrer Hilfe einen Druckverband an. Simon lag auf einer Couch, die Beine erhöht. Er war käseweiß im Gesicht und atmete schnell und stoßend. Yvonne fühlte nach seinem Puls: schwach und sehr schnell! „Das kannst du dir sparen“, sagte Drew gepreßt. „Er ist im Schockzustand, das wissen wir doch. Ruf die Fliegenden Ärzte. Wenn wir Glück haben, ist eine Maschine in unserem Gebiet und kann uns anfliegen. Der Junge muß schnellstens ins Krankenhaus. Wenn ich die Blutung nicht mit dem Druckverband unter Kontrolle bringe, muß ich abbinden… das könnte ihn das Bein kosten. Ich würde selbst versuchen, die Arterie zu vernähen, aber unter diesen Umständen…“ Sein Gesicht war grau. Nicht zum erstenmal war Yvonne froh darüber, daß sie im Umgang mit dem Funksprechgerät so sicher war. Nach wenigen Minuten hatte sie die Verbindung zur Zentrale der Fliegenden Ärzte hergestellt und erfuhr, daß sich ein Flugzeug tatsächlich im näheren Luftraum befand. Einen Augenblick später sprach sie mit den Kollegen. „Braucht das Kind eine Transfusion?“ wollte der Arzt wissen. „Ich bin ziemlich sicher. Er hat viel Blut verloren.“ „Können Sie die Blutgruppe feststellen? Wir sorgen dann dafür, daß eine Konserve bereit steht.“ Drew wird das wissen, dachte sie, während sie zum Wohnhaus zurückrannte. Aber Drew kannte Simons Blutgruppe nicht! Zum erstenmal sah Yvonne so etwas wie Panik in seinen Augen, obgleich er äußerlich beherrscht blieb. „Ich müßte es wissen! Mein Gott, warum habe ich mich nie darum gekümmert?“ Er griff sich mit einer Hand an die blasse, schweißbedeckte Stirn. „Bisher hatten wir das Problem noch nie… aber irgendwo muß es doch stehen“ überlegte er laut. „Es steht bestimmt in seinen Geburtspapieren, aber ich erinnere mich nicht.“ „Könnten Kate oder Charles es wissen?“ unterbrach Yvonne ihn. „Kate! Natürlich! Kate ist ordentlich. Letztes Jahr wurden ihm die Mandeln herausgenommen, dabei wurde bestimmt seine Blutgruppe notiert, und sie erinnert sich.“ „Ich rufe sofort an.“ „Wenn sie nicht zu Hause sind…“ „Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es fällig ist.“ Yvonne legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ihre bestimmte Art half ihm, die Fassung zurückzugewinnen. Zum Glück war Kate zu Hause. Sie hatte Mittagsschlaf gehalten, war aber sofort hellwach, als Yvonne ihr von dem Unfall berichtete. „Wird er es scharfen?“ fragte sie angstvoll. „Ja“, behauptete Yvonne mit mehr Optimismus, als sie in diesem Augenblick besaß. „Drew meint, die Verletzung selbst ist nicht erheblich, es muß nur die Arterie vernäht werden, und das ist in einem ordentlichen OP unter Vollnarkose kein Problem. Muskeln sind anscheinend nicht weiter verletzt. Er hat natürlich Schmerzen, aber das Hauptproblem ist der hohe Blutverlust. Simon braucht eine Transfusion, und dafür müssen wir die Blutgruppe wissen.“
„Die Blutgruppe? Er hat dieselbe Blutgruppe wie Drew: A. Aber warten Sie, da
war noch etwas.“ Sie legte den Hörer auf den Tisch und lief fort. Einen Moment
später kam sie zurück. „Yvonne? Als er vergangenes Jahr im Krankenhaus war,
wurde die Blutgruppe bestimmt, und man sagte uns, er sei Träger des Duffy
Antigens.“
„Duffy? Das ist sehr selten.“
„Ja, das sagte man uns auch.“
„Danke, Kate, das erleichtert die Kreuzprobe. Ich habe keine Zeit mehr, ich muß
sofort im Krankenhaus in Pendieton anrufen. Hoffentlich haben sie eine
entsprechende Blutkonserve.“
„Kümmern Sie sich um ihn, Yvonne, kümmern Sie sich um beide“, bat Kate.
Yvonne versprach es und hängte ein. Gleich anschließend rief sie das
Krankenhaus in Pendieton an.
„Blutgruppe A und DuffyAntigen? Das haben wir nicht vorrätig, das müßten wir
aus Perth einfliegen. Hoffentlich haben die…“
„Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit“, unterbrach Yvonne ihren
Gesprächspartner. „Anscheinend hat der Vater des Kindes dieselbe Blutgruppe.“
„Wir versuchen beide Möglichkeiten. Mal sehen, was dabei herauskommt.“
„Wir müßten ungefähr in einer Stunde bei Ihnen eintreffen.“
„ Wir erwarten Sie.“
Als Yvonne zu Simon und Drew zurückging, war das Motorengeräusch der
Maschine der Fliegenden Ärzte schon zu hören.
„Ich glaube, ich habe die Blutung anhalten können“, sagte Drew. „Die
Gefäßkontraktionen haben die Arterie geschlossen.“
„Das Flugzeug kommt.“
„Ich habe es gehört.“
Sie legten Simon auf eine Trage, dann brachten Brian Hamilton und Drew das
Kind zum Geländewagen des Zentrums, denn die Landebahn lag ungefähr einen
Kilometer vom Haus entfernt. Drew setzte sich zu seinem Sohn. Yvonne fuhr. Mit
klammen, feuchten Händen umklammerte sie das Steuerrad.
Simon litt starke Schmerzen, er wußte nicht, wo er war und hatte Angst.
Während der ganzen Fahrt hielt Drew seine Hand und flüsterte beruhigende
Worte.
Die Maschine der Fliegenden Ärzte war schon gelandet und wartete mit laufenden
Motoren, als der Geländewagen die Landebahn erreichte. Die Kollegen kamen
gelaufen und nahmen die Trage mit Simon entgegen. Drew folgte ihnen, dann
kam auch Yvonne. Im letzten Augenblick hatte sie die beiden Beutel noch
mitgenommen, die Elaine Hamilton ihr kurz vor der Abfahrt zugeworfen hatte,
obgleich sie gar nicht wußte, was sie damit anfangen sollte.
Kaum daß sie alle im Flugzeug waren, begannen Dr. David Little und Schwester
Christine mit der Arbeit. Sie wechselten den Druckverband und legten einen
Tropf an, um den Kreislauf des Jungen zu stabilisieren.
„Ist eine Blutkonserve in Pendieton bereit?“ fragte Dr. Little. „Er braucht etwas,
der Blutdruck ist schon jetzt viel zu niedrig.“
Die Maschine hatte inzwischen abgehoben, aber das hatte niemand bemerkt. Alle
waren auf das Kind konzentriert.
„Yvonne? Hast du etwas herausgefunden?“ rief Drew über den Motorenlärm
hinweg.
„Er hat Blutgruppe A und das DuffyAntigen. In Pendieton ist keine
entsprechende Konserve vorrätig. Das Krankenhaus fordert es aus Perth an, aber
ob es dort…“
„Das DuffyAntigen?“ unterbrach Drew sie. „Sagt Kate, er hat das DuffyAntigen?
Bist du sicher?“ „Ja. Sie hat extra noch mal nachgesehen. Die Blutgruppe wurde vor der Mandeloperation bestimmt.“ „Das ist unmöglich.“ „Sie meint, du hast dieselbe Blutgruppe mit demselben Antigen.“ „Das stimmt.“ Es entstand ein langes Schweigen. Erst jetzt begriff Yvonne, was Drew sofort klar gewesen war: Simon und er hatten dieselbe Blutgruppe und zusätzlich ein seltenes Antigen, und das, obgleich sie nicht blutsverwandt waren… jedenfalls war er davon dreieinhalb Jahre lang überzeugt gewesen. „Dann könnten wir Sie ja als Spender nehmen“, schlug Dr. Little vor, dem natürlich nicht klar war, welche Dramen sich in den Köpfen seiner Passagiere abspielten. „Wir können Ihnen das Blut noch während des Fluges abnehmen, wenn Sie einverstanden sind, Dr. Kershaw.“ „Selbstverständlich.“ Drew sagte das in einem so geisterhaften Ton, daß Yvonne befürchtete, er werde gleich das Bewußtsein verlieren. Die Krankenschwester bat ihn, sich hinzusetzen und ihm den Arm zu reichen. Sie desinfizierte eine Stelle in seiner Ellenbeuge und stach die Nadel ein, nachdem sie zunächst das Blut im Oberarm gestaut hatte. Als das Blut in den Beutel rann, lehnte Drew sich zurück und sah Yvonne an. Sie beugte sich zu ihm herunter. „Lisa hat gelogen“, flüsterte er. „Ich wäre nie darauf gekommen, Yvonne: Lisa hat gelogen! Es ist nicht wahr, Craig ist nicht…“ Er schwieg. Das war schließlich kein Thema für fremde Ohren, nicht einmal für die vom ärztlichen Personal. Yvonne verstand natürlich, was er sagen wollte. „Warum? Warum hat sie das getan?“ „Ich habe keine Ahnung, ich kann nur Vermutungen anstellen. Vielleicht wollte sie mich einfach nur verletzen? Nein, das sähe ihr nicht ähnlich, sie hatte bestimmt etwas anderes im Sinn. Ich glaube, sie wollte erreichen, daß ich auf die Erziehungsberechtigung verzichtete, daß ich nicht einmal ein Besuchsrecht beanspruchte… es hätte vielleicht sogar geklappt.“ Er sprach nicht weiter, aber das war auch gar nicht nötig. Yvonne erkannte das ungeheure Gewicht der Entdeckung, die er eben gemacht hatte: Mehr als drei Jahre lang hatte er gegen seine Liebe zu Simon gekämpft, aus Angst davor, dem Kind irgendwann weh zu tun. Hier draußen im Outback war es ihm endlich gelungen, den Jungen zu lieben, und nun offenbarte sich, daß der Dämon, vor dem er sich so gefürchtet hatte, nur ein Papiertiger war. Lisas Lüge hatte ihm den Trost verweigert, der ihm über das Scheitern seiner Ehe hätte hinweghelfen können. Letzten Endes hatte er seinen Sohn trotzdem gefunden, und nun drohte er ihn durch diesen Unfall zu verlieren. „Wie sind Puls und Blutdruck?“ fragte Yvonne Schwester Christine. Die Kollegin gab bereitwillig Auskunft. Die Werte hatten sich gebessert. „Wir brauchen das Blut, denn die Operation strapaziert das Kind noch einmal“, sagte sie dann besorgt. „Wie lange fliegen wir noch?“ „Ungefähr eine halbe Stunde lang, und dann sind es fünf Minuten Autofahrt bis zum Krankenhaus.“ „Ein Glück!“ „Wird er durchhalten?“ Schwester Christine deutete mit einer Kopfbewegung auf Drew, der ganz still auf dem Rücken lag und eine Hand über die Augen gelegt hatte. Seine Lippen waren nur noch wie ein dünner, blasser Strich zu erkennen. „Ich weiß es nicht…“ Irgendwann war selbst dieser endlos erscheinende Flug überstanden. Die
Maschine landete, der Patient und die Begleiter stiegen in einen Krankenwagen
um und wurden mit Blaulicht durch die Straßen der Stadt bis zum Krankenhaus
gefahren. Simon wurde sofort in Empfang genommen und in den OP gebracht,
während ein Arzt den Blutbeutel zur Kreuzprobe ins Labor brachte.
„Hier, das sollten Sie nicht vergessen“, sagte Schwester Christine und reichte
Yvonne die beiden Campingbeutel, die Elaine Hamilton ihr mitgegeben hatte.
Yvonne hatte nur Augen für Drew. Würde er das Bewußtsein verlieren? Es sah
ganz so aus. Er war ganz weiß und stand schwankend neben dem Krankenwagen,
aber er stützte sich nicht ab.
„Passen Sie gut auf ihn auf“, mahnte die Krankenschwester. „Er muß essen und
trinken, das ist jetzt wichtig. Ganz in der Nähe gibt es eine Milchbar.“
„Ich glaube nicht, daß ich ihn aus dem Krankenhaus herausbekomme.“
„Dann bringen Sie ihn ins Personalbüro, da gibt es einen Aufenthaltsraum mit
einer Couch. Die Oberschwester hat bestimmt nichts dagegen. Holen Sie etwas
zu essen aus der Milchbar. Wir haben dem Mann 500 ccm abgenommen, die muß
er ausgleichen, sonst…“
Yvonne konnte Drew gerade noch auffangen, sonst wäre er zu Boden gesunken.
Schwer lehnte er sich gegen ihre Schulter.
„Es geht schon“, murmelte er.
„Wir müssen zum Flugzeug zurück“, sagte Schwester Christine entschuldigend.
„Wir wollten zwei ältere Patienten zur Untersuchung nach Pendieton abholen, als
Ihr Notruf kam – sie warten immer noch auf uns.“
„Natürlich“, sagte Drew.
„Vielen Dank“, fügte Yvonne hinzu.
Die Oberschwester hatte natürlich nichts dagegen, daß sie den Aufenthaltsraum
benutzten, aber Drew war es dort anscheinend zu ruhig. Wie ein gefangenes
Raubtier lief er im Zimmer umher, bis Yvonne energisch wurde.
„Drew, Simon befindet sich im OP. Falls du noch bei Bewußtsein sein möchtest,
wenn er in den Aufwachraum kommt, solltest du dich jetzt hinlegen und das
essen, was ich dir gleich bringe.“
„Du hast ja recht.“
Trotzdem mußte sie ihm fast einen Stoß geben, damit er sich wirklich hinlegte.
Dann lief sie zu der Milchbar und holte einen großen Becher Orangensaft, einen
Milchshake und einen Hamburger. Das sah alles nicht gerade appetitanregend
aus, aber es erfüllte den vorrangigen Zweck, nämlich Drew mit Flüssigkeit und
Kalorien zu versorgen.
Sie setzte sich neben die Couch und paßte auf, daß er auch wirklich aß und
trank. Wir haben die Rollen getauscht, dachte sie und mußte schmunzeln. Früher
hat er sich um mich gesorgt, und jetzt…
Er braucht mich, dachte sie. Es macht mir Freude, daß ich ihm helfen kann.
Wahrscheinlich hat er es damals am Birrandi Creek anders herum auch so
empfunden.
Drew war geschwächter, als er sich eingestehen wollte, und es dauerte eine
Weile, bis er mit seiner Mahlzeit fertig geworden war. Erst als Yvonne abgeräumt
hatte, fiel ihr auf, wie sie beide aussahen: Sie trugen ja noch ihre
Tenniskleidung, die aber von Simons Blut durchtränkt war.
Sie sah nach, was die beiden Beutel enthielten: In dem einen fand sie frische
Hosen und Hemden, die Drew für sich und Simon eingepackt hatte. Der andere
enthielt leider nur ihr feuchtes, in ein Handtuch gerolltes Badezeug und das
Cocktailkleid. Trotzdem war sie Elaine Hamilton für ihre Geistesgegenwart
dankbar.
„Drew, du solltest dich umziehen“, sagte sie sanft. „Ich werde das auch tun.“
„Danke.“ Er nahm ihr den Beutel mit Kleidung aus der Hand. Sie sah, daß er kaum wußte, was er tat, denn in Gedanken war er bei seinem Sohn, erlebte jeden Schritt der Operation mit. Nachdem Yvonne ganz leise die Tür hinter sich geschlossen hatte, um sich im DamenWC umzuziehen, unternahm Drew die enorme Anstrengung, sich aufzurichten und die verschmutzte Kleidung abzustreifen. Die Angst um Simon lähmte ihn. Es war die abergläubische Furcht, er könnte seinen Sohn verlieren, bevor er die ungetrübten Freuden der Vaterschaft kennengelernt hatte. Das Schlimmste ist vorbei, versuchte er, sich zu sagen. Die Wunde war ja gar nicht so besorgniserregend, es war ja nur der Blutverlust, und der ist inzwischen durch mein Blut ausgeglichen. Andererseits, bei einer Operation können immer Komplikationen auftreten. Vielleicht habe ich auch falsch diagnostiziert, und die Verletzung war gar nicht so einfach, wie ich gedacht habe… Ruhelos stand er auf und ging im Zimmer umher. Endlich brachte er sich so weit zur Ruhe, daß er die sauberen Shorts und das karierte Hemd anzog, die er in den Campingbeutel gesteckt hatte. Er wechselte sogar Schuhe und Socken und kämmte sich, aber in Gedanken war er immer bei Simon – und bei Yvonne. Er war so froh, daß sie bei ihm war! Sie war die ganze Zeit hindurch ruhig und beherrscht gewesen, was immer in ihr vorgegangen sein mochte. Sie hatte ihn nicht mit Fragen bestürmt, hatte ihm Zeit gelassen, mit seinem Kummer und der Sorge, aber auch mit der neuen Perspektive fertig zu werden. Sie hatte keinen falschen Optimismus verbreitet, aber sehr professionell auf richtigem Verhalten bestanden. Sie hatte in jedem Augenblick respektiert, daß es letzten Endes allein seine Sache war, was da passierte. O nein, sagte er sich scharf. Das hört jetzt auf! Es soll auch ihre Sache sein. Ich brauche sie. Ich will, daß sie mein Leben teilt. Vor einer Woche erst hat Kate mich gewarnt: Paß auf, daß du sie nicht verlierst! Ich werde es nicht riskieren, nahm er sich vor, denn jetzt endlich war ihm klar, was er wollte. „Sie können jetzt zu Ihrem Sohn gehen“, sagte eine freundliche, rundliche Krankenschwester und lächelte Drew und Yvonne aufmunternd an. Yvonne fühlte sich in ihrem Cocktailkleid mit den schmalen Trägern sehr unwohl, aber es war immer noch besser als die blutbefleckte Tenniskleidung. „Ist er wach?“ fragte Drew. „Er ist gerade aufgewacht und noch sehr benommen. Er weiß nicht, wo er sich befindet. Natürlich muß er ruhen, aber er fragt nach Ihnen. Na, Sie wissen ja, wie Patienten sich nach einer OP fühlen.“ „Yvonne, begleitest du mich?“ „Wenn du möchtest…“ „Natürlich möchte ich.“ Seine Stimme hatte einen besonderen Klang, bei dem ihr Herz ein wenig aus dem Takt kam. Er nahm ihre Hand und drückte sie so fest, daß es fast schmerzte, doch um keinen Preis hätte sie ihm die Hand entzogen. Er war ihr ganz nahe, und doch wünschte sie ihn sich noch viel näher zu sich. „Laß uns gehen“, flüsterte sie. Das kleine Krankenhaus besaß keinen abgetrennten Aufwachraum. Zwischen den Operationssälen war jedoch ein Bereich abgeteilt, in dem jetzt Simons Bett stand, umgeben von Monitoren, die notfalls die Vitalfunktionen beobachten konnten. In Simons Fall war das zum Glück nicht nötig. Drew beugte sich über den blassen Jungen und strich ihm das Haar aus der Stirn. „Simon!“ Die Lider flatterten, dann öffnete das Kind die Augen.
„Daddy!“ Er lächelte glücklich, dann fielen ihm die Augen wieder zu und er schlief ein. Es war gut so. „Es sieht vielversprechend aus“, versicherte die Krankenschwester, die im Hintergrund gestanden und alles beobachtet hatte. „Ich denke, in einer halben Stunde können wir ihn auf die Station verlegen.“ Inzwischen war auch der operierende Arzt gekommen und unterhielt sich mit Drew. Yvonne hörte aufmerksam zu, sagte jedoch nichts. Was der Arzt zu berichten hatte, erleichterte Drew sehr: Es waren keine postoperativen Komplikationen und auch keine Funktionseinschränkungen am Bein zu erwarten. Nachdem der Arzt sich verabschiedet hatte, nahm Drew Yvonnes Hand. „Komm, Simon soll wissen, daß du auch da bist.“ „Ich möchte ihn nicht noch einmal wecken.“ Doch noch während sie das sagte, streichelte sie die weiche Wange des Kindes. Eine Zärtlichkeit überkam sie, die sie selbst nicht recht verstand. Eine mütterliche Zärtlichkeit war es… ja, aber sie hatte kein Recht auf solche Gefühle. Das Kind bewegte sich, öffnete kurz die Augen und lächelte sie an, dann schlief es weiter. Yvonne richtete sich auf. Nimm dich zusammen, ermahnte sie sich. Du darfst dich solchen Sentimentalitäten nicht hingeben. Da bemerkte sie, wie Drew sie ansah. „Entschuldigung“, stammelte sie. „Ich weiß, mein Kleid ist in einem Krankenhaus reichlich deplaziert, aber Elaine hat leider meine Jeans nicht eingepackt.“ „Ich finde an deiner Aufmachung nichts auszusetzen. Für ein Dinner bist du perfekt gekleidet.“ „Für ein Dinner?“ „Hast du denn keinen Hunger?“ „Ich… hm…“ Sie warf einen Blick auf die Wanduhr: acht Uhr abends! Kein Wunder, daß ihr Magen sich so hohl anfühlte. „Ganz in der Nähe gibt es ein ordentliches chinesisches Restaurant, hat man mir erzählt.“ Drews Stimme hatte einen verführerischen Klang. „Aber wenn du lieber einen Hamburger in der Milchbar essen möchtest, soll mir das recht sein, wenngleich ich es nicht empfehlen kann.“ Er verzog das Gesicht. Sie lachten beide. Yvonne war unendlich erleichtert: Nach Stunden war endlich die Falte verschwunden, die während Simons Krise zwischen Drews Augenbrauen gestanden hatte. Jetzt leuchteten seine grünen Augen… Draußen war es warm, die Luft roch nach Fisch und Meer – so ganz anders als die Luft in der Wüste. Unglaublich, daß wir noch vor wenigen Stunden Hunderte von Kilometern entfernt waren, dachte Yvonne. Jetzt liegt das Meer direkt vor unseren Füßen. „Ich habe einen Sohn“, sagte Drew plötzlich mit einem ganz innigen Ton. „Ich habe einen Sohn, Yvonne!“ „Es ist schon ein kleines Wunder.“ „Und weißt du, was daran am wunderbarsten ist? Es ändert gar nichts! Ich liebe ihn genauso wie vorher.“ „Der Unterschied ist vielleicht, wie selbstverständlich diese Liebe jetzt ist“, gab Yvonne zu bedenken. Drew nickte. „Ja, das stimmt: Selbstverständlich kann Liebe sein. Als ich mit Lisa zusammen war, habe ich das nie erlebt. Liebe war damals für mich ein ständiger Kampf, Anstrengung, Risiko. Ich war nie wirklich entspannt. Bei dir ist das ganz anders.“ „Bei mir?“ Ich dachte, wir reden über Simon? Yvonnes Herz begann, wie wild zu
schlagen.
„Ja, mit dir, Yvonne“, wiederholte er sehr ernst. „Ich habe lange genug
gebraucht… Kate meinte, es geschähe mir ganz recht, wenn du mir wegliefst. Ich
habe mich gefragt, ob du überhaupt je auf mich gewartet hast. Ich wußte ja
nicht… So, jetzt hänge ich am Haken. Yvonne, ich bitte dich, befreie mich aus
meinen Zweifeln!“
„Drew, worüber redest du eigentlich?“ Yvonne lachte. Sie wagte nicht zu
begreifen, was er ihr sagen wollte.
Sie waren mitten auf dem Kiesweg stehengeblieben, der vom Krankenhaus zur
Straße führte. Drew sah auf sie herab. Sein Blick forschte in ihrem Gesicht, seine
Worte überstürzten sich. Und dann zog er sie an sich – so fest, daß sie seinen
Herzschlag spürte. Er war heftig, mindestens so heftig wie ihrer… oder was
spürte sie da eigentlich?
„Ich liebe dich“, sagte er. „Es ist ganz einfach. Es klingt so einfach, und es tut so
gut, es auszusprechen!“
„Wirklich?“ flüsterte sie. „Wirklich?“
Er zog sie fester an sich und senkte den Mund auf ihre Lippen.
„Versuch es, Yvonne!“
„Ich habe es noch nie gesagt.“
„Ich weiß. Deshalb bedeutet es mir auch so viel. Ich schwöre, ich werde es nie
vergessen.“
„Also dann…“
„Hör zu, es ist ganz einfach: Ich… liebe… dich.“
„Ich liebe dich.“
„Na bitte, ist es so nicht besser?“
„Es fühlt sich gut an, sehr gut.“
„Und wie wäre es mit: Ja, ich will dich heiraten? Glaubst du, du kannst das auch
sagen?“
„Ich glaube schon… im richtigen Augenblick.“
„Und wann ist das?“
„Jetzt…“
Doch die Worte wurden nie gesprochen, und falls doch, so gingen sie unter
Küssen unter.
Zum Glück war Pendleton nur eine kleine Stadt, und vom Krankenhaus bis zum
chinesischen Restaurant „Der Goldene Wok“ war es nicht weit, sonst wären
Yvonne und Drew wohl nie angekommen, so oft mußten sie anhalten…
Die Köche im Goldenen Wok gerieten völlig außer Fassung, als die späten Gäste
eintrafen, doch was immer sie auftischten, Yvonne und Drew merkten es nicht.
Es kümmerte sie auch nicht, daß die Motels in Pendleton normalerweise um 23
Uhr den Empfang schlössen. Überhaupt hatte Yvonne sich in ihrem Leben noch
nie so herzlich wenig um Zeit gekümmert wie an diesem Abend!
Die wenigen klaren Gedanken, die Drew noch faßte, beschäftigten sich damit,
was seine Braut zur Hochzeit tragen würde. Sollte es ein exquisites Brautkleid
sein oder lieber ein schlichtes Gewand aus spitzenbesetztem Schweizer Batist,
das Margaret Latham nach einem von ihr und Yvonne ausgesuchten Muster
nähte? Ein Hochzeitskleid, das Yvonnes schlanken Nacken sehen ließ, ihre
schmalen Schultern, die so viel tragen konnten… Ein Kleid, das ihre feinen
Gesichtszüge nicht überdeckte, die hoch geschwungenen Augenbrauen und den
klar gezeichneten Mund.
Ich liebe sie, seit wir uns zum erstenmal in Melbourne begegnet sind, dachte er
glücklich. Aber das verrate ich ihr nicht schon heute…
Sehnsüchtig wartete Yvonne, bis er seine Frühlingsrolle aufgegessen hatte, damit
sie ihn wieder küssen konnte. Sie lachte in sich hinein und hatte genau denselben Gedanken. ENDE