Heute leben 6,6 Milliarden Menschen auf unserem Planeten. 2050 werden es 9 Milliarden sein. Das Wachstum der Weltbevölk...
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Heute leben 6,6 Milliarden Menschen auf unserem Planeten. 2050 werden es 9 Milliarden sein. Das Wachstum der Weltbevölkerung findet vor allem in den Schwellen- und Entwicklungsländern statt. Wie wird die Erde diesen Zuwachs verkraften? Wie werden sich die Gewichte verschieben? Dieser Band gibt einen Ausblick auf Ursachen und Folgen des Bevölkerungswachstums und der Alterung unserer Gesellschaften. Rainer Münz, Bevölkerungswissenschaftler, leitet die Forschung und Entwicklung der ERSTE Bank und ist Senior Fellow am Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv. Albert F. Reiterer, Sozialwissenschaftler, lehrt an den Instituten für Soziologie sowie Volkskunde der Universität Wien, am Institut für Soziologie der Universität Graz und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Unsere Adressen im Internet: www.fischerverlage.de www.hochschule.fischerverlage.de www.forum-fuer-verantwortung.de
Rainer Münz / Albert F. Reiterer
WIE SCHNELL WÄCHST DIE ZAHL DER MENSCHEN? Weltbevölkerung und weltweite Migration Herausgegeben von Klaus Wiegandt
Fischer Taschenbuch Verlag
2. Auflage: September 2007 Originalausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Juli 2007 © 2007 Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-596-17271-9
Inhalt Vorwort des Herausgebers Handeln – aus Einsicht und Verantwortung
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Vorwort der Autoren
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1 Einleitung: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Bevölkerung
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Bevölkerung: Was ist das? Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungsgeographie Von »Adam und Eva« auf 9 Milliarden Probleme der reichen und der armen Gesellschaften unserer Welt Wachsende Ungleichgewichte
2 Weltbevölkerung von der Urgeschichte bis zur frühen Neuzeit: Zwischen »Natur« und »Kultur« Vorgeschichte der Menschheit Entwicklung und Ausbreitung der Menschheit in den letzten 130000 Jahren Die Neolithische Revolution Entstehung der ersten Hochkulturen Erste Volkszählungen Entwicklung der Weltbevölkerung in der Antike Entwicklung im Mittelalter Europa Deutschland und Österreich
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40 40 45 54 57 61 63 68 72 78
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Inhalt
3 Der Neuaufbau der Welt: Die Zeit zwischen 1800 und 1950 Wachstum und Verteilung der Bevölkerung Gesellschaftliche Modernisierung und Veränderung der Sterblichkeit Entwicklungen in Asien und Afrika Demographischer Übergang: Europäische Innovation und weltweite Verbreitung Von überzähligen Neugeborenen zu »quality kids«
4 1950 bis 2050: Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevölkerungswachstums Dynamik des Wachstums Geburtenrate und Kinderzahl sind weltweit rückläufig Deutlich gesunkene Fruchtbarkeit in Asien und Lateinamerika Hohe Fruchtbarkeit in Afrika Hoch entwickelte Regionen – niedrige Kinderzahl Extremfall Europa Verzögerte Bremsung des Wachstums Höheres Gebäralter – niedrigere Kinderzahl Fast überall sinkt die Sterblichkeit Verringerte Säuglings- und Kindersterblichkeit Steigende Lebenserwartung Von Geburten und Sterbefällen zum Bevölkerungswachstum Nord und Süd: Unterschiedliches Bevölkerungswachstum Verschiebung der Gewichte Erhebliche Unterschiede zwischen den Kontinenten
80 81 89 98 100 107
112 114 115 117 119 119 121 123 125 126 128 131 138 140 143 145
Inhalt
Von der wachsenden zur schrumpfenden Bevölkerung Zum Schluss: Wie viele Menschen?
5 Räumliche Mobilität und internationale Wanderungen Kolonisation und Völkerwanderungen in der Antike Völkerwanderungen germanischer, slawischer und asiatischer »Stämme« Was wurde aus Eroberern und Eroberten? Neuzeit: Koloniale und demographische Expansion Europas Innereuropäische Wanderungen zwischen Industrieller Revolution und Weltwirtschaftskrise Deportation, Flucht und »ethnische Säuberung« Entkolonialisierung und postkoloniale Wanderung Arbeitsmigration Politische Flüchtlinge und ethnisch privilegierte Migranten Irreguläre Zuwanderung nach Europa Migration von Eliten und von Menschen im Ruhestand Weltweite Migration im 20. und frühen 21. Jahrhundert Zuwanderer in »klassischen« Einwanderungsländern Einwanderungskontinent Europa Europa und Amerika im Vergleich Ausblick ins 21. Jahrhundert
6 Urbanisierung und die Wanderung vom Land in die Stadt Stadt und Entwicklung Drei Phasen der Stadtentwicklung Großstädte sind auf Zuwanderung angewiesen
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149 153 156 156 158 161 162 166 167 170 172 176 177 179 180 187 189 191 194 198 200 200 204
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Inhalt
Verstädterung in Entwicklungs- und Schwellenländern Zuwanderung vom Land in die urbane Welt der Slums Weltweite Verstädterung Megastädte und Global Cities Warum in die Stadt?
7 Bevölkerungspolitik, Familienplanung, reproduktive Gesundheit Sexualaufklärung als politischer Zankapfel Pronatalistische und antinatalistische Politik Gründe für und gegen zusätzliche Kinder Weltweiter Trend zu weniger Kindern – weiterhin große Unterschiede Nebenwirkungen gesellschaftlicher Modernisierung Familienplanung: Bedarf und verwendete Methoden Bedarf an Familienplanung Verhütung und Schwangerschaftsabbruch Schwangerschaftsabbruch und Geschlecht des Kindes Programme zur Förderung der Familienplanung Zusätzlicher Bedarf an Familienplanung Was bewirkt Familienplanung?
8 Gesundheit, Krankheit und Tod Die häufigsten Krankheiten und Todesursachen Veränderung der Todesursachen Vom »Sterben vor der Zeit« zum Pflegerisiko Infektionskrankheiten Die HIV /AIDS-Epidemie Müttersterblichkeit Was können wir tun?
209 211 214 215 217 220 221 223 224 227 229 230 234 236 238 240 244 246 248 250 253 255 257 259 263 265
Inhalt
9 Von der wachsenden zur alternden Bevölkerung Demographische und biologische Alterung Weltweit steigt das Durchschnittsalter Altersaufbau der Regionen und Kontinente – eine zeitverschobene Entwicklung Kindheit und frühe Jugend: Eine »Erfindung« der Moderne Menschen im Haupterwerbsalter Immer mehr ältere Menschen Die Hochbetagten »Alterslast«, »Kinderlast«, demographische Gesamtbelastung
10 Zu viele Menschen? Bevölkerung und Entwicklung Stärkung der Rechte von Frauen Armut und Hunger Unterentwicklung, fehlende Bildungschancen, Unterbeschäftigung Globale Alterung Auswirkungen auf die soziale Sicherung Dilemma des 21. Jahrhunderts
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268 269 271 273 275 278 281 284 286 289 290 292 293 296 298 299 301
Glossar
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Tabelle: Weltbevölkerung 2005– 2006
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Literaturhinweise
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Vorwort des Herausgebers
Handeln – aus Einsicht und Verantwortung »Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte.« Dieser mahnende Satz des Psychoanalytikers und Sozialphilosophen Erich Fromm findet sich in Haben oder Sein – die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (1976). Das Zitat drückt treffend aus, in welches Dilemma wir durch unsere wissenschaftlich-technische Orientierung geraten sind. Aus dem ursprünglichen Vorhaben, sich der Natur zu unterwerfen, um sie nutzen zu können (»Wissen ist Macht«), erwuchs die Möglichkeit, die Natur zu unterwerfen, um sie auszubeuten. Wir sind vom frühen Weg des Erfolges mit vielen Fortschritten abgekommen und befinden uns auf einem Irrweg der Gefährdung mit unübersehbaren Risiken. Die größte Gefahr geht dabei von dem unerschütterlichen Glauben der überwiegenden Mehrheit der Politiker und Wirtschaftsführer an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum aus, das im Zusammenspiel mit grenzenlosen technologischen Innovationen Antworten auf alle Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft geben werde. Schon seit Jahrzehnten werden die Menschen aus Kreisen der Wissenschaft vor diesem Kollisionskurs mit der Natur gewarnt. Bereits 1983 gründeten die Vereinten Nationen eine Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, die sich 1987
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Vorwort des Herausgebers
mit dem sogenannten Brundtland-Bericht zu Wort meldete. Unter dem Titel »Our Common Future« wurde ein Konzept vorgestellt, das die Menschen vor Katastrophen bewahren will und zu einem verantwortbaren Leben zurückfinden lassen soll. Gemeint ist das Konzept einer »langfristig umweltverträglichen Ressourcennutzung« – in der deutschen Sprache als Nachhaltigkeit bezeichnet. Nachhaltigkeit meint – im Sinne des Brundtland-Berichts – »eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstandard zu wählen«. Leider ist dieses Leitbild für ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltiges Handeln trotz zahlreicher Bemühungen noch nicht zu der Realität geworden, zu der es werden kann, ja werden muss. Dies liegt meines Erachtens darin begründet, dass die Zivilgesellschaften bisher nicht ausreichend informiert und mobilisiert wurden.
Forum für Verantwortung Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf zunehmend warnende Stimmen und wissenschaftliche Ergebnisse habe ich mich entschlossen, mit meiner Stiftung gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Ich möchte zur Verbreitung und Vertiefung des öffentlichen Diskurses über die unabdingbar notwendige nachhaltige Entwicklung beitragen. Mein Anliegen ist es, mit dieser Initiative einer großen Zahl von Menschen Sach- und Orientierungswissen zum Thema Nachhaltigkeit zu vermitteln sowie alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Handeln – aus Einsicht und Verantwortung
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Denn das Leitbild »nachhaltige Entwicklung« allein reicht nicht aus, um die derzeitigen Lebens- und Wirtschaftsweisen zu verändern. Es bietet zwar eine Orientierungshilfe, muss jedoch in der Gesellschaft konkret ausgehandelt und dann in Handlungsmuster umgesetzt werden. Eine demokratische Gesellschaft, die sich ernsthaft in Richtung Zukunftsfähigkeit umorientieren will, ist auf kritische, kreative, diskussionsund handlungsfähige Individuen als gesellschaftliche Akteure angewiesen. Daher ist lebenslanges Lernen, vom Kindesalter bis ins hohe Alter, an unterschiedlichen Lernorten und unter Einbezug verschiedener Lernformen (formelles und informelles Lernen), eine unerlässliche Voraussetzung für die Realisierung einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung. Die praktische Umsetzung ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele einer wirtschaftspolitischen Nachhaltigkeitsstrategie verlangt nach reflexions- und innovationsfähigen Menschen, die in der Lage sind, im Strukturwandel Potenziale zu erkennen und diese für die Gesellschaft nutzen zu lernen. Es reicht für den Einzelnen nicht aus, lediglich »betroffen« zu sein. Vielmehr ist es notwendig, die wissenschaftlichen Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen, um sie für sich verfügbar zu machen und mit anderen in einer zielführenden Diskussion vertiefen zu können. Nur so entsteht Urteilsfähigkeit, und Urteilsfähigkeit ist die Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln. Die unablässige Bedingung hierfür ist eine zugleich sachgerechte und verständliche Aufbereitung sowohl der Fakten als auch der Denkmodelle, in deren Rahmen sich mögliche Handlungsalternativen aufzeigen lassen und an denen sich jeder orientieren und sein persönliches Verhalten ausrichten kann. Um diesem Ziel näher zu kommen, habe ich ausgewiesene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebeten, in der
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Vorwort des Herausgebers
Reihe »Forum für Verantwortung« zu zwölf wichtigen Themen aus dem Bereich der nachhaltigen Entwicklung den Stand der Forschung und die möglichen Optionen allgemeinverständlich darzustellen. Die ersten acht Bände zu folgenden Themen sind erschienen: – Was verträgt unsere Erde noch? Wege in die Nachhaltigkeit (Jill Jäger) – Kann unsere Erde die Menschen noch ernähren? Bevölkerungsexplosion – Umwelt – Gentechnik (Klaus Hahlbrock) – Nutzen wir die Erde richtig? Die Leistungen der Natur und die Arbeit des Menschen (Friedrich Schmidt-Bleek) – Bringen wir das Klima aus dem Takt? Hintergründe und Prognosen (Mojib Latif) – Wie schnell wächst die Zahl der Menschen? Weltbevölkerung und weltweite Migration (Rainer Münz /Albert F. Reiterer) – Wie lange reicht die Ressource Wasser? Der Umgang mit dem blauen Gold (Wolfram Mauser) – Was sind die Energien des 21. Jahrhunderts? Der Wettlauf um die Lagerstätten (Hermann-Josef Wagner) – Wie bedroht sind die Ozeane? Biologische und physikalische Aspekte (Stefan Rahmstorf/ Katherine Richardson) Die letzten vier Bände der Reihe werden Ende 2007 erscheinen. Sie stellen Fragen nach dem möglichen Umbau der Wirtschaft (Bernd Meyer), nach der Bedrohung durch Infektionskrankheiten (Stefan H. E. Kaufmann), nach der Gefährdung der Artenvielfalt (Josef H. Reichholf) und nach einem möglichen Weg zu einer neuen Weltordnung im Zeichen der Nachhaltigkeit (Harald Müller). Zwölf Bände – es wird niemanden überraschen, wenn im
Handeln – aus Einsicht und Verantwortung
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Hinblick auf die Bedeutung von wissenschaftlichen Methoden oder die Interpretationsbreite aktueller Messdaten unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Unabhängig davon sind sich aber alle an diesem Projekt Beteiligten darüber einig, dass es keine Alternative zu einem Weg aller Gesellschaften in die Nachhaltigkeit gibt.
Öffentlicher Diskurs Was verleiht mir den Mut zu diesem Projekt und was die Zuversicht, mit ihm die deutschsprachigen Zivilgesellschaften zu erreichen und vielleicht einen Anstoß zu bewirken? Zum einen sehe ich, dass die Menschen durch die Häufung und das Ausmaß der Naturkatastrophen der letzten Jahre sensibler für Fragen unseres Umgangs mit der Erde geworden sind. Zum anderen gibt es im deutschsprachigen Raum bisher nur wenige allgemeinverständliche Veröffentlichungen wie Die neuen Grenzen des Wachstums (Donella und Dennis Meadows), Erdpolitik (Ernst-Ulrich von Weizsäcker), Balance oder Zerstörung (Franz Josef Radermacher), Fair Future (Wuppertal Institut) und Kollaps (Jared Diamond). Insbesondere liegen keine Schriften vor, die zusammenhängend das breite Spektrum einer umfassend nachhaltigen Entwicklung abdecken. Das vierte Kolloquium meiner Stiftung, das im März 2005 in der Europäischen Akademie Otzenhausen (Saarland) zu dem Thema »Die Zukunft der Erde – was verträgt unser Planet noch?« stattfand, zeigte deutlich, wie nachdenklich eine sachgerechte und allgemeinverständliche Darstellung der Thematik die große Mehrheit der Teilnehmer machte. Darüber hinaus stimmt mich persönlich zuversichtlich,
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Vorwort des Herausgebers
dass die mir eng verbundene ASKO EUROPA-STIFTUNG alle zwölf Bände vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie didaktisieren lässt, um qualifizierten Lehrstoff für langfristige Bildungsprogramme zum Thema Nachhaltigkeit sowohl im Rahmen der Stiftungsarbeit als auch im Rahmen der Bildungsangebote der Europäischen Akademie Otzenhausen zu erhalten. Das Thema Nachhaltigkeit wird in den nächsten Jahren zu dem zentralen Thema der ASKO EUROPASTIFTUNG und der Europäischen Akademie Otzenhausen. Schließlich gibt es ermutigende Zeichen in unserer Zivilgesellschaft, dass die Bedeutung der Nachhaltigkeit erkannt und auf breiter Basis diskutiert wird. So zum Beispiel auf dem 96. Deutschen Katholikentag 2006 in Saarbrücken unter dem Motto »Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht«. Die Bedeutung einer zukunftsfähigen Entwicklung wird inzwischen durch mehrere Institutionen der Wirtschaft und der Politik auch in Deutschland anerkannt und gefordert, beispielsweise durch den Rat für Nachhaltige Entwicklung, die Bund-LänderKommission, durch Stiftungen, Nicht-Regierungs-Organisationen und Kirchen. Auf globaler Ebene mehren sich die Aktivitäten, die den Menschen die Bedeutung und die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung ins Bewusstsein rufen wollen: Ich möchte an dieser Stelle unter anderem auf den »MarrakeschProzess« (eine Initiative der UN zur Förderung nachhaltigen Produzierens und Konsumierens), auf die UN-Weltdekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung« 2005–2014 sowie auf den Film des ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore An Inconvenient Truth (2006) verweisen.
Handeln – aus Einsicht und Verantwortung
Wege in die Nachhaltigkeit Eine wesentliche Aufgabe unserer auf zwölf Bände angelegten Reihe bestand für die Autorinnen und Autoren darin, in dem jeweils beschriebenen Bereich die geeigneten Schritte zu benennen, die in eine nachhaltige Entwicklung führen können. Dabei müssen wir uns immer vergegenwärtigen, dass der erfolgreiche Übergang zu einer derartigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Entwicklung auf unserem Planeten nicht sofort gelingen kann, sondern viele Jahrzehnte dauern wird. Es gibt heute noch keine Patentrezepte für den langfristig erfolgreichsten Weg. Sehr viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und noch mehr innovationsfreudige Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Managerinnen und Manager werden weltweit ihre Kreativität und Dynamik zur Lösung der großen Herausforderungen aufbieten müssen. Dennoch sind bereits heute erste klare Ziele erkennbar, die wir erreichen müssen, um eine sich abzeichnende Katastrophe abzuwenden. Dabei können weltweit Milliarden Konsumenten mit ihren täglichen Entscheidungen beim Einkauf helfen, der Wirtschaft den Übergang in eine nachhaltige Entwicklung zu erleichtern und ganz erheblich zu beschleunigen – wenn die politischen Rahmenbedingungen dafür geschaffen sind. Global gesehen haben zudem Milliarden von Bürgern die Möglichkeit, in demokratischer Art und Weise über ihre Parlamente die politischen »Leitplanken« zu setzen. Die wichtigste Erkenntnis, die von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gegenwärtig geteilt wird, lautet, dass unser ressourcenschweres westliches Wohlstandsmodell (heute gültig für eine Milliarde Menschen) nicht auf weitere fünf oder bis zum Jahr 2050 sogar auf acht Milliarden Menschen übertragbar ist. Das würde alle biophysikalischen Grenzen unseres
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Vorwort des Herausgebers
Systems Erde sprengen. Diese Erkenntnis ist unbestritten. Strittig sind jedoch die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Wenn wir ernsthafte Konflikte zwischen den Völkern vermeiden wollen, müssen die Industrieländer ihren Ressourcenverbrauch stärker reduzieren als die Entwicklungs- und Schwellenländer ihren Verbrauch erhöhen. In Zukunft müssen sich alle Länder auf gleichem Ressourcenverbrauchsniveau treffen. Nur so lässt sich der notwendige ökologische Spielraum schaffen, um den Entwicklungs- und Schwellenländern einen angemessenen Wohlstand zu sichern. Um in diesem langfristigen Anpassungsprozess einen dramatischen Wohlstandsverlust des Westens zu vermeiden, muss der Übergang von einer ressourcenschweren zu einer ressourcenleichten und ökologischen Marktwirtschaft zügig in Angriff genommen werden. Die Europäische Union als stärkste Wirtschaftskraft der Welt bringt alle Voraussetzungen mit, in diesem Innovationsprozess die Führungsrolle zu übernehmen. Sie kann einen entscheidenden Beitrag leisten, Entwicklungsspielräume für die Schwellen- und Entwicklungsländer im Sinn der Nachhaltigkeit zu schaffen. Gleichzeitig bieten sich der europäischen Wirtschaft auf lahrzehnte Felder für qualitatives Wachstum mit zusätzlichen Arbeitsplätzen. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang auch die Rückgewinnung von Tausenden von begabten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Europa nicht nur aus materiellen Gründen, sondern oft auch wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten oder unsicheren -bedingungen verlassen haben. Auf der anderen Seite müssen die Schwellen- und Entwicklungsländer sich verpflichten, ihre Bevölkerungsentwicklung in überschaubarer Zeit in den Griff zu bekommen. Mit stär-
Handeln – aus Einsicht und Verantwortung
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kerer Unterstützung der Industrienationen muss das von der Weltbevölkerungskonferenz der UNO 1994 in Kairo verabschiedete 20-Jahres-Aktionsprogramm umgesetzt werden. Wenn es der Menschheit nicht gelingt, die Ressourcen- und Energieeffizienz drastisch zu steigern und die Bevölkerungsentwicklung nachhaltig einzudämmen – man denke nur an die Prognose der UNO, nach der die Bevölkerungsentwicklung erst bei elf bis zwölf Milliarden Menschen am Ende dieses Jahrhunderts zum Stillstand kommt –, dann laufen wir ganz konkret Gefahr, Ökodiktaturen auszubilden. In den Worten von Ernst Ulrich von Weizsäcker: »Die Versuchung für den Staat wird groß sein, die begrenzten Ressourcen zu rationieren, das Wirtschaftsgeschehen im Detail zu lenken und von oben festzulegen, was Bürger um der Umwelt willen tun und lassen müssen. Experten für ›Lebensqualität‹ könnten von oben definieren, was für Bedürfnisse befriedigt werden dürften« (Erdpolitik, 1989).
Es ist an der Zeit Es ist an der Zeit, dass wir zu einer grundsätzlichen, kritischen Bestandsaufnahme in unseren Köpfen bereit sind. Wir – die Zivilgesellschaften – müssen entscheiden, welche Zukunft wir wollen. Fortschritt und Lebensqualität sind nicht allein abhängig vom jährlichen Zuwachs des Prokopf einkommens. Zur Befriedigung unserer Bedürfnisse brauchen wir auch keineswegs unaufhaltsam wachsende Gütermengen. Die kurzfristigen Zielsetzungen in unserer Wirtschaft wie Gewinnmaximierung und Kapitalakkumulierung sind eines der Haupthindernisse für eine nachhaltige Entwicklung. Wir sollten unsere Wirtschaft wieder stärker dezentralisieren und den Welthan-
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Vorwort des Herausgebers
del im Hinblick auf die mit ihm verbundene Energieverschwendung gezielt zurückfahren. Wenn Ressourcen und Energie die »wahren« Preise widerspiegeln, wird der weltweite Prozess der Rationalisierung und Freisetzung von Arbeitskräften sich umkehren, weil der Kostendruck sich auf die Bereiche Material und Energie verlagert. Der Weg in die Nachhaltigkeit erfordert gewaltige technologische Innovationen. Aber nicht alles, was technologisch machbar ist, muss auch verwirklicht werden. Die totale Ökonomisierung unserer gesamten Lebensbereiche ist nicht erstrebenswert. Die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Fairness für alle Menschen auf unserer Erde ist nicht nur aus moralisch-ethischen Prinzipien erforderlich, sondern auch der wichtigste Beitrag zur langfristigen Friedenssicherung. Daher ist es auch unvermeidlich, das politische Verhältnis zwischen Staaten und Völkern der Erde auf eine neue Basis zu stellen, in der sich alle, nicht nur die Mächtigsten, wiederfinden können. Ohne einvernehmliche Grundsätze »globalen Regierens« lässt sich Nachhaltigkeit in keinem einzigen der in dieser Reihe diskutierten Themenbereiche verwirklichen. Und letztendlich müssen wir die Frage stellen, ob wir Menschen das Recht haben, uns so stark zu vermehren, dass wir zum Ende dieses Jahrhunderts womöglich eine Bevölkerung von 11 bis 12 Milliarden Menschen erreichen, jeden Quadratzentimeter unserer Erde in Beschlag nehmen und den Lebensraum und die Lebensmöglichkeiten aller übrigen Arten immer mehr einengen und zerstören. Unsere Zukunft ist nicht determiniert. Wir selbst gestalten sie durch unser Handeln und Tun: Wir können so weitermachen wie bisher, doch dann begeben wir uns schon Mitte dieses Jahrhunderts in die biophysikalische Zwangsjacke der Natur mit möglicherweise katastrophalen politischen Ver-
Handeln – aus Einsicht und Verantwortung
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wicklungen. Wir haben aber auch die Chance, eine gerechtere und lebenswerte Zukunft für uns und die zukünftigen Generationen zu gestalten. Dies erfordert das Engagement aller Menschen auf unserem Planeten.
Danksagung Mein ganz besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren dieser zwölfbändigen Reihe, die sich neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit der Mühe unterzogen haben, nicht für wissenschaftliche Kreise, sondern für eine interessierte Zivilgesellschaft das Thema Nachhaltigkeit allgemeinverständlich aufzubereiten. Für meine Hartnäckigkeit, an dieser Vorgabe weitestgehend festzuhalten, bitte ich an dieser Stelle nochmals um Nachsicht. Dankbar bin ich für die vielfältigen und anregenden Diskussionen über Wege in die Nachhaltigkeit. Bei der umfangreichen Koordinationsarbeit hat mich von Anfang an ganz maßgeblich Ernst Peter Fischer unterstützt – dafür meinen ganz herzlichen Dank, ebenso Wolfram Huncke, der mich in Sachen Öffentlichkeitsarbeit beraten hat. Für die umfangreichen organisatorischen Arbeiten möchte ich mich ganz herzlich bei Annette Maas bedanken, ebenso bei Ulrike Holler vom S. Fischer Verlag für die nicht einfache Lektoratsarbeit. Auch den finanziellen Förderern dieses Großprojektes gebührt mein Dank: allen voran der ASKO EUROPA-STIFTUNG (Saarbrücken) und meiner Familie sowie der Stiftung Europrofession (Saarbrücken), Erwin V. Conradi, Wolfgang Hirsch, Wolf-Dietrich und Sabine Loose. Seeheim-Jugenheim Sommer 2006
Stiftung Forum für Verantwortung Klaus Wiegandt
Vorwort der Autoren Der Anstoß zu diesem Buch kam von Klaus Wiegend. Er überzeugte die Autoren dieses Bandes, dass die Buchreihe zu nachhaltiger Entwicklung ohne Blick auf die Weltbevölkerung nicht vollständig wäre. Zugleich verdankt sich unser Buch der mehrjährigen Zusammenarbeit mit anderen Forscherinnen und Forschern. Dabei entstanden Analysen, Überlegungen und Publikationen, auf die wir uns nun stützen konnten. Nennen möchten wir in diesem Zusammenhang vor allem David Bloom (Harvard Univ.), David Canning (Harvard Univ.), Josef Ehmer (Univ. Wien), Heinz Fassmann (Univ. Wien), Robert Holzmann (World Bank, Washington DC), Martin Kohli (European University Institute, Florenz), Bo Malmberg (Univ. Stockholm), Kristof Tamas (Institute for Futures Studies, Stockholm) und Ralf Ulrich (Univ. Bielefeld). Von großer Hilfe waren die Vorarbeiten zum Kapitel »Bevölkerung« (gemeinsam mit Ralf Ulrich) in dem von Hans Joas herausgegebenen Soziologie-Lehrbuch (http.://www.campus.de/ isbn/3593379201); sowie die Arbeit am elektronischen Handbuch zum Thema »Bevölkerung«, das am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung von Hans Fleisch (Bundesverband Deutscher Stiftungen) auf den Weg gebracht wurde und derzeit von Christian Kutzner redaktionell betreut wird (http://www.berlin-institut.org). Überhaupt erst ermöglicht wurden unsere Analysen durch die Vorarbeiten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
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Vorwort der Autoren
lern, die in der UN-Population Division (New York; http:// www.un.org/esa/population/unpop.htm), im Population Reference Bureau (PRB, Washington DC; http://www.prb.org) und in der Welt-Gesundheitsorganisation (WHO, Genf; http://www.who.int) seit Jahrzehnten weltweite Daten zu Bevölkerung und Entwicklung in mehr als 200 Staaten und Territorien sammeln, auswerten, veröffentlichen und in Prognosen fortschreiben. Unterstützung erhielten wir beim Schreiben dieses Buches von Erna Appelt, Heidi Kaiser-Mühlecker, Valerie MauritzDulot und Andrea Sutter. Sie halfen uns bei Recherchen, der Erstellung tabellarischer Übersichten und der kritischen Lektüre des entstehenden Manuskripts. Von Seiten des S. Fischer Verlages betreute Ulrike Holler unser Buch. In der ASKO Europa-Stiftung wurde das Projekt von Annette Maas betreut. Allen Genannten gilt unser Dank!
1 Einleitung: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Bevölkerung In diesem Buch geht es um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Bevölkerung unserer Erde – also um unsere Herkunft und unsere Zukunft. Das Buch orientiert sich an verfügbaren Zahlen, Daten und Fakten. Es schildert, wie aus 10000 Vorfahren der modernen Menschen eine Weltbevölkerung von derzeit 6,6 Milliarden Menschen entstand. Im Mittelpunkt steht die Analyse jener revolutionären Veränderungen in Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Ökosystem, welche diese »Explosion« der Einwohnerzahl unseres Planeten bewirkten. Zugleich wirft das Buch einen Blick in die Zukunft. Denn die Einwohnerzahl unserer Erde wird noch mehrere Jahrzehnte lang weiterwachsen: mit geringerem Tempo, aber voraussichtlich auf mehr als 9 Milliarden Menschen. Angesichts bestehender und absehbarer Defizite skizziert das Buch jene Herausforderungen, mit denen die heutige und zukünftige Menschheit konfrontiert ist. Dem liegt unsere Vorstellung zugrunde, dass die bereits geborenen und zukünftigen Erdenbürger alle das Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben.
Bevölkerung: Was ist das? Wir alle sind Teil der Bevölkerung einer Kommune, eines Landes, aber auch eines Erdteils. Schließlich gehört jeder bzw. jede von uns zu den rund 6,6 Milliarden Menschen, die heute
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1 Einleitung
unseren Planeten bevölkern. Die meisten von uns dürften auch zu den 8 Milliarden Menschen des Jahres 2025 gehören. Und die Kinder und Jugendlichen von heute werden 2050 Teil einer Weltbevölkerung sein, die bis dahin voraussichtlich auf 9 Milliarden Mitglieder anwächst. Im Deutschen kommt der Begriff »Bevölkerung« zum ersten Mal im Jahr 1691 beim Sprachforscher und Dichter Caspar Stieler (1632– 1707) vor. Damals hatte er allerdings noch nicht seine heutige Bedeutung, sondern diente als Bezeichnung eines Vorganges. »Bevölkern« war die deutsche Übersetzung des französischen Wortes »Peuplieren«. Dies bedeutete damals: ein Gebiet systematisch mit Menschen besiedeln. »Bevölkerung« bezeichnete damals – im Gegensatz zu »Volk« – das Ergebnis einer staatlich geplanten Ansiedlung von Menschen. Dies geschah zu einer Zeit, in welcher Menschen der begrenzende Faktor des gesellschaftlichen und staatlichen Reichtums waren. Boden gab es genug. Er musste bloß bearbeitet werden. Von »Überbevölkerung« war damals noch keine Rede. Dies änderte sich jedoch mit Beginn der Industriellen Revolution. Der Begründer des modernen bevölkerungswissenschaftlichen Denkens, Thomas Robert Malthus (1766–1834) nahm an, dass die Zahl der Menschen jedenfalls schneller steigt als die Produktion an Nahrungsmitteln (Kapitel 2). Heute verstehen wir im alltäglichen Sprachgebrauch unter »Bevölkerung« die Einwohner eines Staates, eines Bundeslandes oder einer Region. Dabei ist die Bevölkerung keine fixe Größe. Denn die Zahl der Bewohner unseres Planeten, eines Landes oder einer Region ändert sich genauso wie die Zusammensetzung und die räumliche Verteilung dieser Bewohner. Ursachen dieser Veränderung des Bevölkerungsstandes sind die »natürliche« Bevölkerungsbewegung – also Geburten und
Bevölkerung: Was ist das?
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Sterbefälle – sowie die räumliche Bewegung bzw. Migration – also Zuzüge und Fortzüge. Demographische Grundgleichung Anfangsbestand + Zuwachs – Abgang = Endbestand der Bevölkerung Geburten Sterbefälle (»natürliche« Bevölkerungsbewegung) Zuzüge Wegzüge (Migration)
Unterschiede in Größe und Verteilung der Bevölkerung haben Konsequenzen für die demographische, aber auch für die wirtschaftliche und soziale Situation eines Landes. Sie wirken aufgrund der »Trägheit« demographischer Prozesse weit in die Zukunft: Eine Generation von Menschen wird geboren und bleibt anschließend – je nach Lebenserwartung – für 60 bis 80 Jahre auf der Welt. Daher bestimmen die Geburten von heute den Altersaufbau von morgen. Damit legt die heutige Geburtenzahl auch fest, wie viele Schüler, wie viele potenzielle Eltern und wie viele Menschen im Erwerbsalter es zukünftig geben wird. Demographische Prozesse haben erheblichen Einfluss auf unser Leben. Dies gilt im Weltmaßstab, aber auch in Europa. Auf der einen Seite wächst die Weltbevölkerung weiterhin um mehr als 200000 Menschen pro Tag, ohne dass derzeit für die neu hinzukommenden Erdenbürger ausreichend Nahrung, sauberes Trinkwasser, medizinische Versorgung, Bildungseinrichtungen und Arbeitsplätze bereitstünden. Auf der anderen Seite sind wir als Bewohner entwickelter Industriestaaten mit rasch alternden und tendenziell schrumpfenden Bevölkerungen konfrontiert, ohne die Konsequenzen dieser demographischen Veränderung für unser Leben heute schon vollends absehen zu können.
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1 Einleitung
Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungsgeographie Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungsgeographie (sowie Teilbereiche der Wirtschaftswissenschaft und der Geschichtswissenschaft) befassen sich mit demographischen Ereignissen, Strukturen und Prozessen. In der Analyse geht es zum Ersten um den Bevölkerungsstand zu einem bestimmten Zeitpunkt, also um Größe und Struktur einer Bevölkerung. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Frage: Wie viele Menschen leben in der Stadt Berlin, im Land Hessen, in Deutschland, in der EU, in der Welt? Darüber hinaus interessiert vor allem die Verteilung dieser Einwohner nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Staatsbürgerschaft und Kinderzahl. Der Bevölkerungsstand verändert sich ständig: Menschen werden geboren, andere sterben, Personen wandern in ein bestimmtes Gebiet ein, andere verlassen es. In der Analyse geht es daher zum Zweiten um demographisch, räumlich und sozial relevante Ereignisse wie Geburten, Sterbefälle, Heiraten, Scheidungen, Ein- und Auswanderungen sowie Einbürgerungen. Von Interesse ist nicht nur deren absolute Häufigkeit während eines bestimmten Zeitraums, sondern auch die relative Häufigkeit und der Vergleich über die Zeit sowie der Vergleich zwischen einzelnen Ländern und Regionen. Dazu werden rohe Raten (z. B. Geburtenrate, Sterberate), spezifische Kennziffern (z. B. die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau = TFR) und andere Verhältniszahlen (z. B. Sexualproportion, Bevölkerungsdichte) berechnet. Ein wichtiges Ziel der Analyse ist es, die Größe dieser Kennziffern, ihre räumliche Differenzierung und ihre Veränderung über die Zeit zu interpretieren. Zu unterscheiden ist dabei zweierlei: Veränderungen – beispielsweise steigende oder sinkende Geburtenzahlen – können sich aus einem geän-
Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungsgeographie
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derten Verhalten, z. B. aus steigenden oder sinkenden Kinderzahlen pro Familie ergeben. Oder sie können das Resultat sich ändernder Strukturen sein, also sich z. B. aus einer altersbedingt wachsenden oder sinkenden Zahl potenzieller Eltern ergeben. Beim Vergleich über die Zeit oder zwischen mehreren Ländern geht es also um die Frage: Was erklärt sich aus verändertem Verhalten? Was erklärt sich aus den sich ändernden Strukturen? Und was ist Resultat der inneren Dynamik demographischer Prozesse? Wichtigste Informationsquelle der Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungsgeographie ist die amtliche Statistik. Diese organisiert und veröffentlicht die Ergebnisse von allgemeinen Volkszählungen oder Registerzählungen. Aber die amtliche Statistik sammelt und interpretiert auch Informationen über Geburten und Sterbefälle, Krankheits- und Todesursachen, sowie Ein- und Auswanderungen. Einzelne Länder verfügen dabei über unterschiedliche Erhebungstraditionen. Dennoch ist es gelungen, die Klassifikationen von Lebend- und Totgeburten sowie von Krankheiten und Todesursachen international zu vereinheitlichen. Bei der Definition und Klassifikation von Migranten hat sich hingegen bislang keine einheitliche Definition durchgesetzt. Bedeutsam für die demographische Analyse sind auch Stichprobenerhebungen, bei denen nur eine repräsentative Auswahl der Bevölkerung befragt wird. Besondere Bedeutung gewinnen solche Stichprobenerhebungen in Ländern, wo es keine Volkszählungen oder keine amtliche Geburtenstatistik gibt. Zu den Ländern, in denen schon lange keine Volkszählung mehr stattfand, gehören nicht nur viele arme Länder Afrikas und Asiens, sondern auch Deutschland. In Westdeutschland wurden die Einwohner zuletzt 1986, in Ostdeutschland zuletzt 1981 gezählt. Danach konnten sich Bund und Länder
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nicht mehr darüber einigen, wer für die Kosten einer Zählung aufkommen soll. Allerdings ist für 2011 in Deutschland neuerlich eine Zählung geplant. In den meisten anderen Ländern Europas – darunter auch in Österreich und der Schweiz – finden regelmäßig alle zehn Jahre Volkszählungen statt.
Von »Adam und Eva« auf 9 Milliarden Vor 160000 Jahren lebten in Ostafrika höchstens 10000 Vorfahren der modernen Menschen. Wir stammen vermutlich alle von ihnen ab. Vor etwa 12000 Jahren lag die Zahl der Menschen auf unserem Planeten bei 4 Millionen. Um Christi Geburt waren es bereits rund 250 Millionen: also rund 60-mal mehr als zu Beginn der Jungsteinzeit. Aus Jägern und Sammlern waren sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter geworden. Doch die Menschen waren nicht nur an Zahl gewachsen. Sie produzierten auch deutlich mehr Nahrungsmittel als ihre nomadischen Vorfahren. Das war die Grundlage für die erste Phase starken Bevölkerungswachstums in der Geschichte der Menschheit (Kapitel 2). Danach gab es weitere Zuwächse. Aber es gab zeitweise auch erhebliche Bevölkerungsrückgänge. Krankheiten wie Pestepidemien, Hungerkatastrophen, Klimaschwankungen und Verwüstungen infolge von politischen Katastrophen und Kriegen führten zumindest regional oft zu drastischen Bevölkerungsverlusten. Erst ab dem späten 18. Jahrhundert beschleunigte sich das Wachstum wieder deutlich. Seither gab es weniger kontinuierliches Wachstum (Kapitel 3). Im Jahr 1800 lebten auf unserer Erde bereits etwa 1 Milliarde Menschen. 125 Jahre später hatte sich die Weltbevölkerung auf 2 Milliarden (1926) verdoppelt. Wichtigste Ursachen
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für dieses raschere Wachstum waren die Industrielle Revolution sowie beträchtliche Steigerungen der Agrarproduktion vor allem in Westeuropa und Nordamerika (Kapitel 3). Für die dritte Milliarde Menschen brauchte die Weltbevölkerung 34 Jahre (1960), für die vierte Milliarde (1974) und fünfte Milliarde (1987) bloß noch 14 bzw. 13 Jahre. 1999 überschritt die Zahl der Menschen 6 Milliarden. Heute (2007) gibt es etwa 6,6 Milliarden Erdenbürger (Kapitel 4). Auf unserem Planeten leben somit 20-mal so viele Menschen wie zur Zeit des Römischen Kaisers Augustus und immerhin viermal so viele Menschen wie im Jahr 1900. Das 20. Jahrhundert war somit das Jahrhundert mit dem bislang stärksten Wachstum der Weltbevölkerung. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatte es einen solchen Zuwachs gegeben. Und auch zukünftig wird es nie wieder eine
Abb. 1 Wachstum der Weltbevölkerung seit der Jungsteinzeit. Quelle: McEvedy/Jones 1978; Kremer 1993; UN Population Division 2005
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Vervierfachung der Einwohnerzahl unseres Planeten geben. Schon aus ökologischen Gründen wäre die Fortsetzung des Wachstums in so einem Tempo nicht möglich. Es spricht aber auch aus demographischer Sicht nichts dafür. Mittelfristige Prognosen rechnen bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts mit »nur« 9 Milliarden Erdenbürgern (Kapitel 4). Am Ende des 21. Jahrhunderts ist mit mindestens 9,5 Milliarden zu rechnen. Danach wird die Einwohnerzahl unseres Planeten wahrscheinlich wieder abnehmen, falls der globale Trend zu weniger Kindern anhält und Frauen zukünftig im Schnitt weniger als zwei Kinder zur Welt bringen. Dass die Einwohnerzahl der Erde nicht weiter »explodiert« – wie noch vor 15 Jahren angenommen – ist kein Grund zur Entwarnung. Denn auch bei »nur« 9 Milliarden Erdenbürgern stellt sich die Frage, wie wir der nächsten und übernächsten Generation ein menschenwürdiges Leben bieten können, ohne die Ökobilanz völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass eine globale Schrumpfung der Weltbevölkerung vielen Menschen zukünftig Sorge machen könnte. In Deutschland und in anderen Ländern Europas ist dies heute schon ein Thema. Derzeit nimmt die Zahl der Erdenbürger um rund 78 Millionen pro Jahr zu. Das Wachstum erklärt sich durch das große Ungleichgewicht zwischen Geburten und Sterbefällen. Im Jahr 2006 kamen 136 Millionen Kinder zur Welt. Aber nur 58 Millionen Menschen verstarben (Kapitel 4). Das bedeutete einen Zuwachs von +215000 pro Tag und +8945 pro Stunde (Tab. 1). Selbst wenn wir das Wachstum der Weltbevölkerung bremsen wollten, geht dies nicht »von heute auf morgen«. Denn die Bevölkerung hat eine Eigendynamik. Die Geburtenzahlen der letzten Jahrzehnte waren hoch: nicht in Deutschland, aber
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Tab. 1 Geburten, Sterbefälle und Wachstum der Weltbevölkerung, 2006 – im Überblick. Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Daten der UN Population Division
in weiten Teilen der Welt. Und immer mehr Kinder überleben dank sinkender Säuglings- und Kindersterblichkeit (Kapitel 8). Es gibt daher in der Gegenwart und der näheren Zukunft – vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern der sogenannten Dritten Welt – die größte je da gewesene Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Damit gibt es heute und morgen auch die größte Elterngeneration aller Zeiten. Das bremst den Rückgang der Geburten, obwohl die Kinderzahlen pro Familie deutlich zurückgehen.
Probleme der reichen und der armen Gesellschaften unserer Welt Unsere Situation ist paradox: In Europa sorgen sich viele Menschen um die Zukunft unserer schrumpfenden Gesellschaft. Denn bei uns sind die Kinderzahlen so niedrig wie noch nie (Kapitel 4). Und zugleich steigt die Lebenserwartung. Daher fürchten wir uns vor der »Last« der Alten (Kapitel 9). Manche befürchten sogar, dass wir aussterben könnten. Auf der anderen Seite machen sich viele angesichts einer rasch wachsenden Menschenzahl zu Recht Sorgen um das »Raum-
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schiff Erde« und um unseren Platz in diesem »Raumschiff« mit seinen begrenzten Ressourcen. Drei große Herausforderungen bestimmen aus demographischer Perspektive die aktuelle Debatte: • erstens das weiterhin starke Bevölkerungswachstum in vielen Entwicklungsländern, sowie die Frage, wovon und wie die Bewohnerinnen und Bewohner der ärmsten Regionen der Welt zukünftig ein menschenwürdiges Leben führen könnten • zweitens der fehlende Nachwuchs in hoch entwickelten Ländern, die Auswirkung auf die Altersstruktur und die Frage nach einem abgesicherten Leben im Alter • drittens die zunehmende Mobilität aus ärmeren Ländern des »Südens« in die reicheren Länder des »Nordens« und die Frage, welche Möglichkeit zur Schließung unserer »Geburtenlücke« es gibt, aber auch welche Konflikte daraus entstehen. Hinzu kommt die generelle Frage: • Wie können Lebensformen aussehen, mit der alle Bewohner unseres Planeten auf Dauer ihr Auskommen finden können? Mit dem Thema »Wanderungen« (Kapitel 5) verbindet sich ganz klar die Frage nach der Nachhaltigkeit unserer eigenen, hoch individualisierten und auf erheblichem Ressourcenverbrauch beruhenden Lebensweise. Viele Bewohner des reichen Nordens halten den Ansturm von Menschen aus ärmeren Ländern für eine Bedrohung dieser Lebensform. Denn viele Zuwanderer verkörpern eine uns mittlerweile fremde Lebensform. Und sie erinnern uns an eine bloß ein bis zwei Generationen zurückliegende Zeit, in der Millionen von Europäern
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ebenfalls auf der Suche nach einem besseren Leben in benachbarte Länder und nach Übersee emigrierten. Zugleich begreifen immer mehr Bewohner der hoch entwickelten Welt: Kinderarme und alternde Gesellschaften sind auf Zuwanderung angewiesen. Ohne Zuwanderung lassen sich unser Bevölkerungsstand und wahrscheinlich auch unser Wohlstand nicht aufrechterhalten. Das hätte Auswirkungen auf unsere Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, auf unsere Altersversorgung und schließlich auf den wachsenden Bedarf an Altenpflege. Die Wirtschaft hoch entwickelter Länder des Nordens produziert heute nicht in erster Linie Investitions- und Konsumgüter, sondern Dienstleistungen. Diese machen in Europa, Nordamerika und Japan mehr als drei Viertel der gesamtwirtschaftlichen Leistung (BIP) aus. Darunter fallen nicht nur hoch spezialisierte produktionsbezogene Dienstleistungen, sondern in großem Umfang auch persönliche Dienstleistungen. Die lassen sich in der Regel weder einfach auslagern noch auf dem Weltmarkt zukaufen. Genau dies ist derzeit der wichtigste »Motor«, der weltweit für zusätzliche 3–4 Millionen Migranten pro Jahr sorgt. Sie kommen überwiegend aus ärmeren Ländern und wandern in reichere Länder (Kapitel 5). Wie also lassen sich Ängste vor dem Verlust der eigenen Lebensform und Identität mit der Notwendigkeit einer Rekrutierung neuer Arbeitskräfte und zukünftiger Mitbürger vereinbaren? Das Problem ungleich großer Altersgruppen existiert in vielen Teilen der Welt (Kapitel 9). Gegenwärtig denken wir beim Stichwort »demographische Alterung« hauptsächlich an kinderarme und alternde Gesellschaften des Nordens. Das Problem des Südens besteht eher im Übergewicht der Jungen.
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Für sie gibt es vor allem in armen Ländern nicht genug Schulen, Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze. Doch das ändert sich schnell. Denn der demographische Übergang (siehe Kapitel 3) vollzieht sich überall auf der Welt. Er transformiert Gesellschaften, in denen die Jungen an Zahl dominieren, in Gesellschaften, in denen die Älteren in der Überzahl sind. Die demographische Alterung kommt auch auf die heutigen Schwellenländer zu; am stärksten auf China, das in den kommenden 40 Jahren unter allen Ländern den größten Zuwachs an alten Menschen haben wird. Zugleich reduzierte die chinesische Ein-Kind-Politik (Kapitel 7) die Zahl der »Schultern«, auf welche die Last der demographischen Alterung verteilt werden kann. Damit stellt sich nicht nur für Europa und Japan, sondern auch für China die Frage: Wie lassen sich die Wünsche nach einem abgesicherten Leben im Alter, nach Altersvorsorge und Altenpflege mit den Notwendigkeiten steigender Produktivität und der Tatsache einer rapide alternden Gesellschaft vereinbaren? Schließlich stellen sich auf globaler Ebene folgende zentrale Fragen: Was bedeutet der völlig legitime Wunsch nach Wohlstand und einem menschenwürdigen Leben für alle Bewohner unseres Planeten angesichts der Tatsache, dass die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert um weitere 2 1/2 bis 3 Milliarden Menschen wachsen wird? Und: Wie lässt sich ein solcher Wunsch angesichts begrenzter Ressourcen der Erde und eines heute bereits überstrapazierten Ökosystems befriedigen?
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Wachsende Ungleichgewichte Die demographische Entwicklung verstärkt derzeit die bestehenden Ungleichgewichte. Ein Blick auf die letzten 30 Jahre zeigt uns allerdings: In den Entwicklungs- und Schwellenländern wächst die Bevölkerung heute wesentlich langsamer als noch in den 1980er und frühen 1990er Jahren. Wichtigste Ursache dafür sind die weltweit sinkenden Kinderzahlen sowie der bessere Zugang zu modernen Mitteln und Methoden der Geburtenkontrolle (Kapitel 7). Zugleich gibt es Jahr für Jahr eine große Zahl an ungeplanten Schwangerschaften. Dies verweist auf einen nach wie vor ungedeckten Bedarf an Familienplanung. Und es verweist darauf, dass ein Teil der Frauen weiterhin nicht über ihr Leben und ihren Körper bestimmen können (Kapitel 7). Rund 95 % des weltweiten Zuwachses an Menschen finden in Entwicklungs- und Schwellenländern statt. Am raschesten wachsen die Bevölkerungen der ärmsten Länder. Damit stellt sich unmittelbar die Frage nach den Lebenschancen der heute dort geborenen Kinder und der Heranwachsenden von morgen. Diese sind vielfach dramatisch schlecht (Kapitel 10). Viele Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika, aber auch etliche Menschen in Osteuropa leben heute in großer Armut und leiden an Hunger, haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, sind unterbeschäftigt oder arbeitslos und können weder lesen noch schreiben. In dieser Situation erschwert rasches Bevölkerungswachstum die Suche nach Lösungen. Denn es überfordert sowohl die Aufnahmefähigkeit lokaler Arbeitsmärkte als auch die Kapazitäten der bestehenden Infrastruktur. Damit vergrößert sich trotz vieler lokaler Fortschritte die Zahl jener Erdenbürger, die in Armut und
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Elend leben, die nicht zur Schule gehen können oder für die es im Krankheitsfall bzw. während einer Schwangerschaft und Geburt keinerlei medizinische Betreuung gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass bisheriger ökonomischer und sozialer Fortschritt fast zwangsläufig mit einem beträchtlichen Zuwachs beim Ressourcenverbrauch verbunden war. Dies bewirkt, dass die reichsten 20 % der Weltbevölkerung heute 85 % der im Lauf eines Jahres geförderten Rohstoffe und der erzeugten Energie in Anspruch nehmen. Verallgemeinerbar ist dieser Lebensstil des reichen Nordens nicht. Denn in globaler Hinsicht wäre ein ähnlich hoher Energieund Ressourcenverbrauch durch alle 6,6 und zukünftig 9 Milliarden Menschen schwer vorstellbar. Auf dem gegenwärtigen Niveau von Verbrauch und Emissionen würde dies rasch die Grenzen unseres Ökosystems sprengen. Das bedeutet: Ohne Änderung unseres Lebensstils und unserer Ressourcennutzung im reichen Norden ist ein menschenwürdiges Leben für alle kaum vorstellbar! Unser Buch liefert Zahlen, Daten und Fakten zur Bevölkerungsentwicklung, zu ihren Ursachen und zu möglichen Konsequenzen. Zugleich verweist das Buch auf eine Reihe ungelöster Probleme und Herausforderungen. Wie wir sie gemeinsam bewältigen könnten, lässt sich mit Blick auf die bisherige und zukünftige Entwicklung der Weltbevölkerung nur in Umrissen skizzieren. Zu spezifisch demographischen Themen – von der Familienplanung über die reproduktive Gesundheit und die HIV/AIDS-Prävention, die Stellung von Frauen und die internationale Migration bis hin zur demographischen Alterung – enthält dieses Buch konkrete Hinweise. In diesen Bereichen glauben wir zu wissen, was heute und in Zukunft zu tun wäre. Über weitere Themen, welche die Zukunft der Menschen auf unserer Erde erheblich beeinflussen – von Ernäh-
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rung und Bodennutzung über den Klimawandel und die Zukunft der Ozeane bis hin zur Gefahr neuer Seuchen informieren andere Bände dieser Reihe.
2 Weltbevölkerung von der Urgeschichte bis zur frühen Neuzeit: Zwischen »Natur« und »Kultur« Vorgeschichte der Menschheit Im Jahr 1735 konzipierte der schwedische Gelehrte Carl von Linné (1707–1778) eines der folgenreichsten Bücher der Wissenschaftsgeschichte. Er nannte es Systema Naturae. Darin schlug er eine umfassende Systematik aller Tiere und Pflanzen vor. Linnés Systematik unterscheidet zwischen Stamm, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung und Art. Die Benennung erfolgt nach Gattung und Art. Anfangs klassifizierte er nur Pflanzen. Ab der 10. Auflage von 1758 wurden tierische Lebewesen ebenfalls nach dem linneschen System klassifiziert. Unter der Bezeichnung homo sapiens nahm er auch den Menschen in sein System auf. In wesentlichen Punkten verwenden wir diese Einteilung bis heute. Für die Menschen gilt dabei: Sie gehören zur Klasse der Säugetiere und zur Ordnung der Primaten (Menschen, Affen). Die Unterordnung der menschenähnlichen Wesen enthält neben der Familie der Menschenartigen (Hominiden) noch andere Primaten-Familien. Insbesondere mit den Menschenaffen (Pongiden) sind wir biologisch nahe verwandt. Unser Erbgut ist nur in verhältnismäßig wenigen Abschnitten von ihrem verschieden. In dieser Familie bilden die Menschen eine Gattung (Homo). Und die modernen Menschen (homo sapiens) sind seit etwa 25000 Jahren die einzigen verbliebenen Vertreter (Art) dieser Gattung.
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Linné war kein Theoretiker oder Erforscher der Evolution. Doch seine Systematik und seine Begriffe luden dazu ein, sich über die Abstammung des Menschen und über unsere biologische »Verwandtschaft« mit anderen Arten Gedanken zu machen. Im 19. Jahrhundert nahm zuerst der französische Biologe und Botaniker Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) diesen Gedanke auf. Er glaubte, dass die Organismen in der Entwicklungsgeschichte selbst eine aktive Rolle spielen. Im klaren Gegensatz zu den Ideen Lamarcks entwickelten die britischen Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) und Alfred R. Wallace (1823– 1913) unabhängig voneinander die Grundlagen der modernen Evolutionstheorie. Diese Theorie beruht auf der Annahme eines natürlichen Prinzips der Evolution von Pflanzen und Tieren (und schließlich auch des Menschen) durch graduelle Variation und natürliche Selektion. Auf der Grundlage von Kenntnissen der modernen Biologie und Genetik erklärt uns die Evolutionstheorie heute die langsame Aufspaltung der Organismen in viele verschiedene Arten als Folge von zufälligen genetischen Veränderungen (Mutationen) und deren Auswirkung auf die Angepasstheit an natürliche Lebensräume. Bessere Anpassung verschafft dabei einen evolutionären Vorteil. Die Abspaltung der Hominiden-Familie von der anderer Primaten erfolgte in mehreren Schritten: Eine frühe Menschenaffenart trennte sich bereits vor etwa 15 Millionen Jahren von der Gruppe der gemeinsamen Vorfahren. Von den übrigen Vertretern dieser Menschenaffen ist in der Gegenwart nur noch der Orang-Utan vorhanden. Mehrere Millionen Jahre später gab es wieder eine Gabelung: Nun trennten unsere Vorfahren sich von jenen des Gorillas. Schließlich gab es vor etwa 7 Millionen Jahren eine weitere Gabelung, als die Vorfahren von Schimpansen und Menschen getrennte Wege
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gingen – auch wenn von »Gehen« im Lebensraum des Regenwaldes noch keine Rede sein konnte. Vor etwa 4 1/2 Millionen Jahren entstanden in Afrika die sogenannten »Südaffen« (Australopithecinen). 1924 wurde erstmals ein Australopithecus in Taung gefunden. Der guterhaltene Schädel dieses mit ungefähr drei Jahren verstorbenen Hominiden aus dem heutigen Südafrika ist als »Kind von Taung« bekannt. 1974 wurde in Hadar bei anthropologischen Grabungen erstmals ein fast vollständiges Skelett dieses Wesens entdeckt. Bei diesem Fund handelt es sich um die gut erhaltenen Überreste einer Frau, die vor 3,2 Millionen Jahren im Osten des heutigen Äthiopien lebte. Der Entdecker, Don Johanson, gab ihr den Namen »Lucy«; angeblich weil der Beatles-Song »Lucy in the Sky with Diamonds« gerade aus dem Transistorradio des Camps tönte. Lucy bewegte sich bereits aufrecht auf ihren zwei Beinen. Ansonsten war der Unterschied zu heutigen Menschenaffen gering. Insbesondere das Gehirnvolumen lag nur minimal über jenem von Schimpansen (im Schnitt 390 cm3). Beim heutigen Menschen sind es im Schnitt 1400 cm3. Auch die in der Olduvai-Schlucht, einem Teil des Rift Valleys in Tansania, entdeckten Fußabdrücke anderer Australopithecinen belegen den aufrechten Gang dieser Gattung. Wahrscheinlich entwickelten sich vor mehr als zwei Millionen Jahren aus den Australopithecinen die ersten Vertreter der Gattung Mensch (homo). Funde belegen den Lebensraum von Hominiden am Turkana-See im heutigen Kenia sowie im anschließenden Gebiet Äthiopiens und in Tansania. Kennzeichen dieser Vorläufer des Menschen ist, dass einige Gruppen bereits einfache Werkzeuge (»Geröllgeräte«) benutzten. Ihre Vertreter werden von einigen Anthropologen daher bereits als »geschickte« Vorfahren (homo habilis) bezeichnet. Vor
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fast zwei Millionen Jahren trennte sich schließlich die Gattung der ersten in der Biologie allgemein als »Menschen« bezeichneten Hominiden (homo ergaster und erectus) von anderen Hominiden. Schnell breiteten sich Gruppen des homo erectus nicht nur in anderen Teilen Afrikas aus, sondern stießen über den Vorderen Orient auch in Teile Asiens und Europas vor. Vor wenigen Jahren fanden Anthropologen in Dmanisi bei Tiflis (Georgien) Überreste von Vertretern dieser Art, die dort vor 1,8 Millionen Jahren lebten. Die Hominiden waren somit ursprünglich Afrikaner; die Wiege der heutigen Menschheit lag in Ostafrika. Dort entstanden durch zufällige Veränderungen – also durch Mutationen – unseres Erbguts, durch Re-Kombination der genetischen Information bei der Fortpflanzung und durch natürliche Prozesse der Selektion aus unseren schimpansenähnlichen Vorfahren in mehreren Etappen und teilweise parallel neue Zweige einer Gattung, aus denen schließlich der Homo sapiens hervorging. Auch diese neue Menschenart entstand in Afrika. Vor etwa 160000 Jahren lebten in den Savannen Ostafrikas nicht mehr als 10000 Angehörige der Art Homo sapiens. Diese ersten Menschen bildeten eine Reproduktionsgemeinschaft. Obwohl sie in kleinen Gruppen getrennt umherstreiften, hatten sie doch miteinander Kinder – sie bildeten eine »Population«, eine Bevölkerung. Diese afrikanischen Wildbeuter wurden zu Vorfahren aller heute lebenden Menschen. »Erste« Stammeltern der Menschheit, also gewissermaßen Adam und Eva, gab es nicht. Aus biologischer Sicht ist dies eine metaphorische Redensart. Wenn man also von der »mitochondrialen Eva« spricht, meint man eine Gruppe von Wesen, auf die unser gesamtes Erbgut zurückgeht. Denn wir alle stammen von einer vergleichsweise kleinen Zahl »erster Menschen« ab.
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Die molekulare Uhr Molekularbiologische Untersuchungen über die Herkunft des Menschen analysieren das menschliche Erbgut (DNA im Zellkern und in den Mitochondrien). Ein Teil der Untersuchungen bemüht sich um die Entschlüsselung der sogenannten »molekularen Uhr«: Dabei wird der Verlauf der Evolution mit Hilfe von genetischen Mutationen, die sich regelmäßig in besonderen »Schlüsselsequenzen« des Erbguts abspielen dürften, quasi im »Rückwärtsgang« berechnet. Dies ermöglichte eine recht präzise Datierung und Bestimmung der Auseinanderentwicklung von »anatomisch modernen Menschen« – wie man sagt – und anderen Hominiden. Die unterschiedlichen Populationen der späteren Menschen vereinigten sich jedoch offenbar immer wieder für einige Zehntausende von Jahren. Dadurch entstanden gemischte Populationen, die aus Individuen mit Vorfahren aus genetisch verschiedenen Gruppen bestanden. Es gab also einen komplizierten und lange währenden Prozess der Vermischung und Trennung sich auseinanderentwickelnder Gruppen. Ein Verfahren, mit dem auch der geographische Raum bestimmt werden kann, in dem sich die Evolution der Primaten hin zum Menschen abspielt, ist die Untersuchung der DNA in den Mitochondrien der Zellen. Da diese DNA nur von der Mutter vererbt wird, treten hier weit weniger Unterschiede auf als im Erbgut des Zellkerns. Denn diese DNA kann zwar mutieren, wird aber bei der Fortpflanzung nicht rekombiniert, weil bei der Befruchtung eben nur die Zellkerne von Ei und Samen verschmelzen.
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Ergebnis solcher Untersuchungen ist jedenfalls: Die ersten Menschen lebten in kleinen Gruppen in Ostafrika. Der genetische Pool der Nachfolger dieser »Auswanderer« aus dem ostafrikanischen Entstehungsgebiet ist kleiner als der Pool der Nachfolger derer, die in Afrika zurückblieben, weil die diversifizierende Mutation in dieser nun isolierten Gruppe später einsetzte. Die akkumulierte Verschiedenheit im Erbgut bei den afrikanischen Frühmenschen ist größer, weil sie mehr Zeit hatten als jene in Asien und Europa. Da nun die heutigen Afrikaner die stärksten Diversifizierungen der DNA in den Mitochondrien aufweisen, lässt sich die Herkunft der Menschheit aus Afrika nicht bloß anhand von fossilen Funden gut belegen, sondern vor allem genetisch untermauern. Bislang nicht restlos geklärt ist allerdings, in welchem Umfang sich die Vertreter des Homo Sapiens auch mit anderen Hominiden (z. B. mit Neandertalern) vermischt haben.
Entwicklung und Ausbreitung der Menschheit in den letzten 130000 Jahren Der Mensch ist Teil der Natur. Doch er hat eine ganz spezifische Natur: Sein Verhalten ist nicht bloß durch angeborene Muster, sondern in hohem Maß durch Symbole, also kulturell gesteuert. Menschen können lernen. Das gilt auch für ihr Reproduktionsverhalten. Nur deswegen sind wir überhaupt in der Lage, unsere individuelle Fortpflanzung und die Bevölkerungsentwicklung insgesamt nicht bloß zu analysieren, sondern auch steuernd in sie einzugreifen. Wie und wo entwickelte sich dieses Natur- und Kulturwesen? Von Ostafrika aus dehnten die Wildbeuter ihren Lebensraum auf andere Teile Afrikas aus. Offenbar wurde dabei als
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Nächstes der Süden jenes Kontinents und erst später der Westen Afrikas besiedelt. Schließlich erweiterten die frühen Menschen ihren Lebensraum auch in den Norden Afrikas. Dieser war während der letzten Eiszeiten nicht durch Wüsten, sondern zeitweise durch ein mediterranes Klima geprägt. Dabei erreichten unsere Vorfahren auch das Niltal im heutigen Sudan und Ägypten. Von dort aus begannen Menschen vor etwa 110000 Jahren aus Afrika auszuwandern. Ihr Weg führte sie entweder über das »Horn von Afrika« im Nordosten des heutigen Somalia und die Meerenge zwischen Dschibuti und Aden (Bab el Mandeb), oder über den Sinai nach Kleinasien. Die ältesten erhaltenen Knochenfunde von »anatomisch modernen« Menschen außerhalb Afrikas, also von unseren unmittelbaren Vorfahren, wurden in Palästina gefunden. Sie sind rund 100000 Jahre alt. Der Nahe Osten wurde somit zur Drehscheibe für die spätere Besiedelung angrenzender Regionen Asiens und Südeuropas durch anatomisch moderne Menschen. Hier stießen sie auf andere Menschengruppen – zum Beispiel auf die nach einer Fundstelle in Deutschland benannten Neandertaler. Deren Vorfahren hatten sich schon früher aus Afrika auf den Weg nach Europa und Asien gemacht. Im Werkzeuggebrauch unterschieden sich die möglicherweise verschiedenen Menschenarten damals überhaupt nicht voneinander. Man kann bei einer Fundstelle also nur anhand der Fossilien unterscheiden, um welche Menschen es sich handelt. Noch vor 80 000 Jahren dürfte es kaum mehr als 40 000 Vertreter des homo sapiens gegeben haben. Vor rund 74000 Jahren, ging ihre Zahl offenbar auf rund 15000 zurück. In diesem Zusammenhang spricht man von einem genetischen Flaschenhals. Manche Forscher führen dies auf die Explosion des Vulkans Toba auf der indonesischen Insel Sumatra zurück.
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Massenhaft in die Atmosphäre geschleuderte Partikel bewirkten danach eine langanhaltende Verfinsterung der Atmosphäre und dadurch eine extreme Kälteperiode. Diesem sogenannten vulkanischen Winter, der wahrscheinlich über etliche Jahre anhielt, dürften viele Erdbewohner zum Opfer gefallen sein. In Afrika überlebte eine größere Population. Überall sonst verblieben nur kleine Gruppen. Nachfahren dieser Menschen dehnten in der Folge ihren Lebensraum erneut in den Nahen Osten sowie nach Asien und Europa aus. Hier vermischten sie sich genetisch mit den verbliebenen Resten jener Gruppen, deren Vorfahren schon 40000 Jahre früher aus Afrika weggewandert waren und die Kälteperiode überlebt hatten. Durch diese Überlagerung sind die genetischen Unterschiede zwischen allen heute lebenden Menschen allgemein sehr gering. Zugleich bestehen augenfällige äußerliche Unterschiede zwischen den Menschen Europas, des Vorderen Orients, Süd- und Ostasiens (z. B. Haut- und Haarfarbe sowie charakteristische Gesichtszüge): Für deren Ausbildung auf Basis stabiler Gene wäre der Zeitraum der letzten 70000 Jahre zu kurz gewesen. Trotz des Massensterbens vor 74000 Jahren breitete sich also homo sapiens in den folgenden Zehntausenden von Jahren nicht nur über große Teile Asiens und Europa, sondern auch im Pazifikraum sowie nach Nord- und Südamerika aus. Mit dieser Ausbreitung über alle Kontinente verschaffte sich die Menschheit einen erheblich größeren Spielraum an Nahrungsmitteln. Damit war die Grundlage für ein erstes starkes Wachstum der Weltbevölkerung geschaffen – eine Entwicklung, die vor etwa 60000 Jahren begann. Schon vor 40000–35000 Jahren könnte die Weltbevölkerung eine halbe Million Menschen umfasst haben. Bis heute ist ungeklärt, ob sich die noch existenten unterschiedlichen Menschengruppen
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als Konkurrenten ausnahmslos bekämpft und durch Verdrängung aus ihrem Lebensraum auslöschten, oder ob es zu Vermischungen zwischen anatomisch modernen Menschen und anderen archaischen Menschen kam. Jedenfalls sind die heutigen Menschen – von manchen als homo sapiens sapiens bezeichnet – seit rund 25000 Jahren die einzige überlebende Menschenart. Von Südostasien aus breitet sich die Menschheit über die Inseln des heutigen Indonesien bis nach Australien, Neuseeland und die Inselwelt des westlichen Pazifiks aus. Die Besiedlung erfolgte auf dem Seeweg über die sogenannte »Wallace-Linie« hinweg – eine deutliche Trennlinie zwischen unterschiedlichen Welten in Fauna und Flora quer durch die Inselwelt Indonesiens – über Sumatra, Java, Bali und Timor. Die Ureinwohner Australiens und Neuguineas kamen möglicherweise schon vor 60000 bis 50000 Jahren aus dem Gebiet des heutigen Indonesiens: Jedenfalls gibt es Fundstätten (Lake Mungo, Devil’s Lair), welche ein solches Alter haben sollen. Polynesien und Melanesien wurden vor etwa 30 000 Jahren besiedelt. Dabei ist strittig, ob die ersten Siedler Polynesiens auch über das heutige Indonesien oder direkt aus Ostasien – dem heutigen Südchina bzw. aus Taiwan – kamen. Bis Neuseeland stießen Siedler aus Polynesien hingegen erst nach Beginn unserer Zeitrechnung vor. Klar ist die Herkunft der ersten Bewohner Amerikas. Sie kamen aus dem Nordosten Asiens über eine in der letzten Eiszeit bestehende Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska (»Beringia«). Unklar ist allerdings der Zeitpunkt der Wanderung nach Nord- und Südamerika. Es gibt Fundstellen in Südamerika, die auf eine Besiedlung bereits vor 30000 Jahren hinweisen. Ungewiss ist jedoch, ob die damals dort lebenden Menschen tatsächlich Vorfahren der indigenen Völker Ame-
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rikas sind. Eine erkennbare Kontinuität von Kultur und Besiedlung lässt sich (beginnend vom sogenannten Clovis-Stil im Südwesten der heutigen USA) nur für die letzten 12000–11000 Jahre nachweisen. Es dürfte also mehrere Wellen der Besiedlung des amerikanischen Doppelkontinents über die Landbrücke zwischen Asien und Alaska gegeben haben. Erst nach Ende der letzten Eiszeit wurde diese Landbrücke durch den Anstieg des Meeresspiegels überflutet. Die Zuwanderung aus Asien brach weitgehend, aber nicht vollständig ab: Die Vorfahren der heutigen Inuit kamen wahrscheinlich erst vor wenig mehr als 2000 Jahren nach Nordamerika und Grönland. Noch waren nicht alle Gebiete der Erde für Menschen bewohnbar. In West- und Südasien sowie in Europa erfolgte die Besiedlung von Süden her bis etwa 50° nördlicher Breite. Lichtenberg, ein Fundort in Deutschland mit mehr als 30000 Jahre alten Spuren menschlicher Besiedlung, liegt bei 53° nördlicher Breite. Nördlich davon lagen weite Teile Europas und Asiens damals unter dauerndem Eis oder waren wegen des gefrorenen Bodens (Permafrost) kaum bewohnbar. Aus heutiger Sicht ist klar, dass die wachsenden Bevölkerungszahlen ab der mittleren Altsteinzeit (vor 40000 Jahren) erst der Beginn einer rasanten Entwicklung sind. Für die Zeitgenossen selbst erfolgte der Zuwachs unmerklich langsam. Doch gegen Ende der Altsteinzeit (Paläolithikum), vor etwa 12 000 Jahren, erreichte die Weltbevölkerung nach einer mittleren Schätzung bereits einen Stand von etwa vier bis fünf Millionen Menschen. Die Menschen der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum) lebten in kleineren lokalen Verwandtschaftsgruppen, man könnte sagen in Großfamilien von 20 bis 50 Personen. Der räumliche Abstand zu den jeweiligen Nachbargruppen
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war relativ groß. Angehörige verschiedener solcher Gruppen trafen einander jedoch regelmäßig – wahrscheinlich an gemeinsamen Kultstätten. Heute wiederentdeckte Höhlen mit üppigen Wandmalereien (Altamira, Cap Blanc, Lascaux, Niaux u. a.) könnten solche Treffpunkte von Verwandtschaftsnetzen und damit von überregionalen Gemeinschaften gewesen sein. Wie die Ausgrabungen unter Leitung des deutschen Archäologen Klaus Schmidt am Göbekli Tepe in Ostanatolien zeigen, wurden große Tempelanlagen aus Stein offenbar schon vor 11000 Jahren von Menschen angelegt, die selbst noch nicht sesshaft waren. »Zuerst kam der Tempel, dann die Stadt«, so die These von Klaus Schmidt. Kontakte zu Angehörigen anderer Gruppen waren für das Überleben wichtig. Die Menschen jener Epoche waren für ihre Familienbildung und Fortpflanzung auf Partner angewiesen, die nicht aus der eigenen Gruppe kamen. Denn zu kleine Gruppen können keine stabile Fortpflanzungsgemeinschaft bilden, dafür braucht es mehrere hundert oder sogar tausend Menschen. Es gab daher jedenfalls seit der späteren Altsteinzeit, möglicherweise schon früher, überlokale Verwandtschaftsnetze und damit neben klarerweise bestehenden Rivalitäten wohl auch Vorstellungen von gemeinsamer Herkunft, Loyalität und Zusammengehörigkeit. Die genannten Zahlen zur Größe der Weltbevölkerung basieren für die Frühzeit auf Rückrechnungen aus der genetischen Variabilität der heutigen Menschheit. Schätzungen für spätere Perioden stützen sich auf Erfahrungswerte und Berechnungen, wie viele Menschen sich in den besiedelten Regionen der Erde bei der damaligen Lebensweise als Wildbeuter ernährt haben könnten. Dabei spielt die vermutete Bevölkerungsdichte eine zentrale Rolle. Annahmen und Überlegungen zum Landbedarf von Wild-
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beutern in prähistorischer Zeit dienen dazu, die ökologisch mögliche Gesamtbevölkerung einer Region abzuschätzen. Ergebnisse der ethnologischen Forschung besagen, dass Wildbeuter-Kulturen – je nach Umweltbedingungen – zwischen 1 und 10 km2 Fläche für jedes erwachsene Mitglied einer Wildbeuter-Gruppe benötigen. Zum Vergleich: Die Niederlande hatten 2005 eine Bevölkerungsdichte von 388, Deutschland eine Dichte von 232 Einwohnern pro km2. In Österreich lag die Bevölkerungsdichte bei 97 Einwohnern pro km2. In Finnland, wo ein erheblicher Teil des Landes zur subarktischen Klimazone gehört, leben aber nur rund 17 Einwohner pro km2. Heutige Bevölkerungsdichten sind also um bis zu 4000 Mal höher als in der Steinzeit. Doch noch immer haben sich Menschen nicht ganz von natürlichen Gegebenheiten unabhängig gemacht. Von der Anthropologie bis zur heutigen ökologischen Forschung sprechen wir dabei von der sogenannten Tragfähigkeit der Erde. Die Tragfähigkeit der Erde Die Tragfähigkeit der Erde ist ein Begriff aus der malthusianischen Tradition. Diese Denklinie sieht die Bevölkerungsentwicklung durch die äußere Natur und somit von externen Faktoren bestimmt, die von menschlichem Verhalten weitgehend unabhängig sind. • Die agrarische Tragfähigkeit gibt an, ob bzw. wie gut sich eine Bevölkerung mit der eigenen Agrarproduktion auf gleichbleibendem Entwicklungsstand versorgen kann. • Bei der potenziellen Tragfähigkeit wird der Fall angenommen, dass eine Bevölkerung über bestmögliche Werkzeuge und Methoden verfügt, um Güter zu produzieren.
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• Die maximale Tragfähigkeit begnügt sich mit der Befriedigung ausschließlich des Existenzminimums der Bevölkerung. Die Abhängigkeit der Bevölkerungsgröße von der Tragfähigkeit eines bestimmten Gebiets ist aber keine Naturgegebenheit und kein bewusstloser Automatismus. Für eine bestimmte Entwicklungsphase gilt natürlich, dass es eine obere Grenze für die jeweilige Nahrungsmittelproduktion gibt. Die würde somit die maximale Bevölkerungszahl bestimmen. Aber wo diese Grenze liegt, ist weniger klar. Denn man kann sich gut ernähren oder eben dürftig überleben. Es gibt klare Hinweise darauf, dass Menschen ihre eigene Fortpflanzung schon früh selbst beeinflussten. Auch Wildbeuter hatten ihre Fortpflanzung und somit ihr generatives Verhalten bis zu einem gewissen Grad auf ihre eigenen Lebensumstände abgestimmt. Beobachtungen bei australischen Ureinwohnern – den Aborigines – belegen, dass sie sich dabei nicht an den äußersten, gerade noch beherrschbaren Grenzen maximaler Tragfähigkeit orientierten, sondern an den aus ihrer Sicht optimalen Lösungen. Man nennt die Beschränkung der Bevölkerung und ihres Wachstums durch ihre Umwelt bisweilen eine Malthus’sche Situation. Die gab oder gibt es allenfalls in dem Sinn, dass Menschen ihr Verhalten weitgehend bewusst nach den jeweils vorgefundenen ökologischen Gegebenheiten und den ihnen offenstehenden technologischen Möglichkeiten ausrichten. Das ist das Gegenteil dessen, wovon der Begründer des modernen bevölkerungswissenschaftlichen Denkens, Thomas Robert Malthus (1766 bis 1834) ausging: Er nahm ursprünglich an, dass die Zahl der Menschen aufgrund exponentieller Zuwächse jedenfalls
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schneller steigt als der Bodenertrag. Letzterer ließe bloß einen linearen Zuwachs an Nahrungsmitteln zu. Ins Gleichgewicht kämen Menschenzahl und verfügbare Nahrungsmittel erst durch nicht antizipierte Krisen und Katastrophen (positive checks). Vorausschauende Beschränkungen der Kinderzahl und damit des Bevölkerungswachstums (preventive checks) konnte er sich nur unter äußerem Zwang – also durch soziale Kontrolle und politische Zwangsmittel – vorstellen. Tatsächlich gilt für einen größeren Teil der Menschheitsgeschichte: Fruchtbarkeit und Geburtenzahl haben zwar in Sexualität und Fortpflanzungsfähigkeit eine biologische Grundlage. Wie viele Kinder tatsächlich zur Welt kommen, wird aber von kulturell und religiös geprägten Verhaltensnormen bestimmt. Dies gilt auch dann, wenn der die Kinderzahl regulierende Effekt bestimmter Regeln den Individuen, die diese Regeln befolgen, nicht immer bewusst ist. Die Sterblichkeit ist hingegen im Wesentlichen entwicklungs- und strukturbedingt, d. h. viel weniger durch individuelles Verhalten und die Einhaltung »kulturell ererbter« Normen beeinflussbar. Daher ist die Lebenserwartung stärker entwicklungsabhängig.
Während der älteren und mittleren Altsteinzeit war die Lebenserwartung nicht sehr hoch gewesen. Auch die Fruchtbarkeit war vergleichsweise niedrig. Wir wissen aus ethnologischen Untersuchungen: Schon Wildbeuter konnten vorausschauende Familienplanung betreiben. Sie stützten sich dabei auf eine Reihe von Verhaltensnormen und Tabus, welche die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft verringern. Langes Stillen zögert die Möglichkeit einer neuerlichen Befruch-
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tung hinaus, weil sie tendenziell den Eisprung verhindert. Sexuelle Tabus und Perioden der Enthaltsamkeit verringern die Zeiten, in denen eine Empfängnis stattfinden könnte. Mindestens ebenso wirksam war jedoch die nachgeburtliche Familienplanung: Die Frauen der San in der Kalahari ließen bei der Geburt keine Männer in ihre Nähe. Waren Neugeborene schwächlich oder sonst irgendwie unerwünscht, dann wurden sie getötet. Den Männern wurde später erzählt, das Kind sei tot zur Welt gekommen. Die geschilderten Praktiken hielten die Kinderzahl in nomadischen Wildbeuter-Gesellschaften eher gering. Trotzdem gab es in dieser Periode der Menschheitsgeschichte ein langfristiges Bevölkerungswachstum. Zwischen dem altsteinzeitlichen Minimum von 15000 Menschen vor 74000 Jahren und dem Beginn der Jungsteinzeit vor 12 000 oder 10000 Jahren stieg die Zahl der Menschen etwa auf das 250fache. Wesentliche Voraussetzung dafür war die stete geographische Ausdehnung des Siedlungsgebiets der Menschheit von Afrika und dem Nahen Osten auf alle Kontinente. Die Besiedlung war enorm dünn. Sie erstreckte sich aber bereits fast über die ganze Erde.
Die Neolithische Revolution Während der Jungsteinzeit (Neolithikum) kam es zu einer der tiefgreifendsten kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Geschichte der Menschheit. Einige der nomadisierenden Gruppen wurden sesshaft, begannen Früchte zu kultivieren, Gärten oder Felder zu bestellen und Haustiere zu halten. Historiker und Anthropologen sprechen in diesem Zusammenhang von der »neolithischen Revolution«. Diese
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begann im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds: So nennt man das Gebiet vom Unterlauf des Nil-Flusses über die Levante, das Jordan-Tal und den Süden und Osten Anatoliens bis nach Mesopotamien und ins Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris. In dieser Region siedelten die ersten Ackerbauern und später auch Viehhirten der Menschheitsgeschichte. Genetische Untersuchungen zeigen, dass unser Getreide offenbar in Südost-Anatolien erstmals als Kulturpflanze angebaut wurde. Schon davor waren in dieser Region die ersten befestigten Tempelanlagen der Menschheitsgeschichte entstanden. Somit befand sich die Wiege unserer Zivilisation im Gebiet der heutigen Türkei. Erst später entstanden befestigte Dörfer teilweise erstaunlichen Umfangs. Jerf al-Ahmar, eine Grabungsstätte am Mittellauf des Euphrat im heutigen Syrien birgt offenbar die Ruinen einer der ältesten Siedlungen der Menschheit. Sie sind nur unwesentlich jünger als die Tempelanlage am Göbekli Tepe. Aus einigen solcher Großdörfer entstanden später erste städtische Hochkulturen. Eine bei Catal Hüyük im Süden Anatoliens ausgegrabene Siedlung hatte vor 8000 Jahren bereits mehrere Tausend Einwohner. Die älteste bisher entdeckte größere Stadt ist Hamoukar im Nordosten des heutigen Syrien. Dort wurde im 6. und 5. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung Obsidian verarbeitet. Dieses Vulkangestein verwendeten die Menschen vor Beginn der Metallzeit als Rohstoff für Waffen und andere Klingen. Die Stadt Hamoukar hatte damals schon eine Grundfläche von 32 Hektar. Der Übergang von nomadischer Wildbeuter-Kultur zu Ackerbau und Viehzucht ermöglichte eine erheblich verlässlichere Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln. Die Qualität der Ernährung stieg dabei nicht unbedingt. Wahrscheinlich sank sie anfangs sogar. Das viel engere Zusammen-
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leben sesshafter Menschen sowie die Nähe zu Haustieren vergrößerte auch die Gefahr von Infektionen und deren rascher Übertragung. Die Lebenserwartung war in der Altsteinzeit (Paläolithikum) schon nicht hoch gewesen. Aber sie sank anscheinend nach Ende der mittleren Steinzeit (Mesolithikum) nochmals ab. Manche Forscher sprachen sogar von einer »Sterblichkeitskrise der Jungsteinzeit«. Untersuchungen in Gräberfeldern von Mergahr (Pakistan) und anderswo zeigen jedenfalls: Die Lebenserwartung der Wildbeuter kurz vor dem Übergang zur Jungsteinzeit dürfte deutlich höher gewesen sein, als jene der Ackerbauern zwei Jahrtausende später. Die Sterblichkeit, insbesondere die Kindersterblichkeit der jungsteinzeitlichen Bauern stieg also im Vergleich zu früher deutlich an. Und nicht nur das: Auch die erwachsenen Ackerbauern und Viehzüchter hatten in der Jungsteinzeit eine höhere Sterblichkeit als ihre nomadisierenden Vorfahren im ausgehenden Mesolithikum. Trotzdem begann die Bevölkerung deutlich zu wachsen. Was waren die Ursachen dafür? Die Fruchtbarkeit stieg in der Jungsteinzeit offenbar noch stärker an als die Sterblichkeit. Denn Ackerbauern mussten sich weniger Sorgen über ihre zukünftige Versorgung mit Nahrungsmitteln machen. Kleine Kinder stellten sie vor geringere »logistische Probleme«, weil sie nicht beim Umherziehen getragen werden mussten. Dagegen konnten heranwachsende Kinder vor allem beim Hüten von Vieh schon recht früh zum Unterhalt ihrer Familie beitragen. Deshalb waren die Kinderzahlen (Fruchtbarkeit) bei Ackerbauern und Viehzüchtern offenbar deutlich höher als bei nomadischen Wildbeutern. Nicht eine Veränderung der Lebenserwartung oder eine allgemeine Verbesserung der Lebensumstände, sondern die ge-
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stiegene Kinderzahl führte somit am Ende der Jungsteinzeit zu stärkerem Bevölkerungswachstum. In der ausgehenden Jungsteinzeit (Neolithikum), die im Vorderen Orient bereits um 4000 vor unserer Zeitrechnung – also vor etwa 6000 Jahren – von der Metallzeit abgelöst wurde, dürften auf unserer Erde um die 7 Millionen Menschen gelebt haben. Bis zum Jahr 3000 vor unserer Zeitrechnung, nach dem Entstehen früher Hochkulturen in Mesopotamien und im Niltal, verdoppelte sich die Weltbevölkerung auf 14 Millionen Menschen. Um das Jahr 2000 vor unserer Zeitrechnung gab es auf unserer Erde bereits 27 Millionen und 1000 Jahre später – also zu der Zeit, als nach jüdisch-christlicher Tradition Moses lebte – rund 50 Millionen Menschen. Danach beschleunigte sich der Zuwachs beträchtlich. Zu Beginn unserer Zeitrechnung kurz vor dem Höhepunkt der Römischen Antike zählte die Weltbevölkerung bereits mehr als das Vierfache. Die Schätzungen reichen von 170 bis 400 Millionen. Realistisch ist wohl ein mittlerer Wert um die 250 Millionen. Gegenüber dem Beginn der Jungsteinzeit bedeutet dies binnen 10000 Jahren einen Anstieg der Weltbevölkerung auf etwa das 70fache.
Entstehung der ersten Hochkulturen Am Beginn des 4. vorchristlichen Jahrtausends wurde Mesopotamien zum Schauplatz gewaltiger Fortschritte von Landwirtschaft und Technik: Das Rad und die Töpferscheibe wurden erfunden, Ackerbau und Viehzucht erstmals im großen Stil betrieben. In der Folge entstanden urbane Zentren: zuerst Eridu und Uruk im Zweistromland, dem heutigen Irak. Uruk wurde in den folgenden Jahrhunderten zur ersten Metropole
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Abb. 2 Entwicklung der Weltbevölkerung: von der Steinzeit bis in die Metallzeit. Quelle: McEvedy/Jones 1978; Kremer 1993
der Welt. Während ihrer Blütezeit lebten in dieser Stadt 40000 Einwohner. Hier entstand erstmals eine differenzierte Gesellschaft aus Händlern, Beamten, Soldaten, Priestern, Bauarbeitern und Handwerkern. Uruk etablierte sich als Machtzentrum und schuf die erste Großmacht in der Geschichte der Menschheit. Dies hatte erhebliche kulturelle Auswirkungen. An die Stelle archaischer Kulte traten Gottheiten mit persönlichem »Profil«: Uruks Hauptgott Marduk, der Wettergott Adad, der Mondgott Sin sowie die Liebes- und Kriegsgöttin Ishtar. Schon kurz nach Erfindung der Schrift baute man in Uruk die erste mehrstöckige Tempelanlage; ein Zikkurat, das dem Himmelsgott Anu geweiht war. Die neue Kultur breitete sich im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung über das Zweistromland und seine Nachbargegenden in der Levante aus.
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Die schmale Schicht der herrschenden bürokratischen, militärischen und religiösen Eliten verband damals ein gemeinsames Interesse, die Produktion zu steigern. Erhöhte landwirtschaftliche Produktivität war einerseits über technologische Neuerungen erreichbar: Dazu gehörte zum Beispiel das Pflügen mit Hilfe von Zugtieren, aber auch die systematische Bewässerung fruchtbarer Böden. Bewässerungsanlagen in Gebieten mit saisonal ausgeprägten Schwankungen im Regenfall setzten zugleich den Aufbau von Regelwerken und bürokratischen Organisationen voraus. Nur sie konnten garantieren, dass in der Regenzeit tatsächlich Wasser gesammelt wurde und in der Trockenzeit allen etwa gleich viel Wasser zur Verfügung stand. Die Herausforderung, die periodisch wiederkehrenden Fluten zu bändigen und nutzbar zu machen, formte zugleich eine neue Gesellschaft. Neben den Bauern und Kriegern entstand als neuer Beruf der Wassermeister. Die Flüsse Mesopotamiens bewässerten nicht nur die Felder Uruks. Sie dienten auch als Fischgrund und Handelsweg. Handwerker und Techniker wurden gebraucht, es bildete sich eine öffentliche Verwaltung heraus. Uruk und Eridu wurden zu Zentren der ersten Hochkultur. Schließlich – so vermuten Kulturforscher – nahm die Verwaltung derart komplexe Formen an, dass sie ohne Aufzeichnungen nicht mehr zu bewältigen waren. Offenbar wurde daher in Uruk die Schrift erfunden. Neben den Verwaltungszentren entstanden Städte damals auch rund um Produktionsstandorte und Handelswege. Auf Hamoukar und die dortige Obsidian-Produktion wurde bereits hingewiesen. Ein weiteres Beispiel wurde am Stadtrand von Akaba am Roten Meer ausgegraben. Jordanische und deutsche Archäologen fanden dort eine der wohl ältesten In-
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dustriestädte. Hier gibt es Spuren früher Metallurgie. In den Werkstätten wurde schon vor mehr als 5500 Jahren Kupfer geschmolzen und in Formen gegossen. Die Archäologen entdeckten mehrgeschossige Lagerhallen sowie Werkzeuge zur Textilherstellung. Frühe agrarische Hochkulturen erzeugten deutlich mehr Lebensmittel als ihre Vorläufer. Nicht das gesamte Mehrprodukt wurde dabei von den herrschenden Eliten abgeschöpft. Die Bauern konnten somit tendenziell mehr eigene Kinder ernähren und aufziehen. Dies bewirkte ein gewisses Wachstum der Bevölkerung. Damit kam ein sich selbst verstärkender demographischer Prozess in Gang. Wenn wir dies aus ökonomischer Sicht analysieren: Der die Produktion von Nahrungsmitteln beschränkende Faktor war damals keineswegs der Boden. Denn Böden minderer Qualität standen der damals noch recht kleinen Menschheit nahezu unbegrenzt zur Verfügung. Anders verhielt es sich allerdings mit Böden erster Qualität, die durch Menschen schon von Steinen oder Buschwerk befreit, bebaut, und eventuell bewässert worden waren. Agronomen sprechen dabei von Ameliorationen. Solche Böden waren knapp. Doch der eigentlich beschränkende Faktor war damals und bis in eine verhältnismäßig kurz zurückliegende Vergangenheit der Mensch. Es gab vielfach nicht genug Jugendliche und Erwachsene, um das theoretisch verfügbare und verbesserbare Agrarland voll zu nutzen.
Erste Volkszählungen
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Erste Volkszählungen In frühen agrarischen Hochkulturen versuchten herrschende Eliten – teils in Konkurrenz zueinander –, ihr jeweiliges Territorium auszudehnen. Dieses Interesse sowohl an Eroberung von Land als auch an der Erzeugung eines Mehrprodukts lenkte den Blick auf die verfügbaren Ressourcen. Dazu gehörten sowohl arbeitsfähige Menschen als auch Viehherden und besonders fruchtbare Böden. Erste Volkszählungen und Steuereinschätzungen (nach dem lateinischen Begriff auch Zensen genannt) wurden durchgeführt. Vorläufer solcher Zählungen gab es bereits im alten Ägypten. Berichte über frühe Volkszählungen sind schon aus dem Alten Reich, also aus dem 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung überliefert. Doch deren Aussagekraft über die Gesamtbevölkerung ist umstritten. Dies gilt allerdings auch für spätere Zeiten. Zahlen hatten zum Teil nur metaphorische Bedeutung: »600000« konnte einfach »sehr viele« heißen; egal, ob dies nun 25000 oder 500000 waren. Auch in den frühen, bürokratisch organisierten Hochkulturen im heutigen China spielten Regelwerke und Kontrollmechanismen für das Entstehen komplexer Bewässerungssysteme im Reisanbau eine beträchtliche Rolle. Spätere chinesische Historiker versuchten, die Geschichte Chinas als von Anfang an einheitliche und zielgerichtete staatliche Entwicklung darzustellen, die von wenigen Perioden des Verfalls unterbrochen war. Sie verlegten deshalb alle wichtigen zivilisatorischen Innovationen in eine graue Vorzeit und schrieben sie einigen »Urkaisern« oder »Kulturheroen« zu, wie die Ethnologen sagen. China blickt somit auf eine lange Tradition von Volkszählungen zurück, die bis in mythische Zeiten reicht. Nach diesen Überlieferungen wäre also die erste Volks-
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zählung vom Großen Yu, einem sagenhaften Kaiser im 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, durchgeführt worden. Ähnliche Berichte gibt es aus anderen Kulturkreisen. Die Bibel berichtet von einer israelitischen Volkszählung durch Moses (Numeri 1, 1–46). In der römischen Antike fand tatsächlich eine ganze Serie von Volkszählungen statt. Bis heute am bekanntesten ist jene unter Kaiser Augustus, von der das christliche Weihnachtsevangelium berichtet. Tatsächlich dürften in China die ersten Zählungen in der Chou-Periode im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stattgefunden haben. Die überlieferten Zahlen sind allerdings schwer interpretierbar. Gezählt wurden »Tore« (Haushalte) und »Münder« (Personen). Dieselbe Zahl von knapp 12 Millionen im Jahr 680 vor unserer Zeitrechnung wurde einmal für die »Tore«, dann für die »Münder« angegeben. Realistische Ergebnisse dürfte erst die chinesische Volkszählung aus dem Jahr 2 unserer Zeitrechnung enthalten. Als Ergebnis dieses Zensus sind 12,2 Millionen Haushalte mit insgesamt 60 Millionen Personen überliefert. Bei dieser Einwohnerzahl scheint es, mit einem gewissen Auf und Ab, für ein Jahrtausend geblieben zu sein. Südasien, also das heutige Indien, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka, ist weniger gut dokumentiert. Zwar entstand im Indus-Tal, also im Nordwesten des indischen Subkontinents, viel früher eine Hochkultur als dies in China der Fall war. Doch »Indien« blieb im Wesentlichen ein geographischkultureller Begriff und wurde eigentlich erst unter der britischen Kolonialherrschaft, dem British raj ab Mitte des 19. Jahrhunderts stärker zu einer politischen Kategorie. Davor hatte der Subkontinent – von kurzen Perioden abgesehen – nie eine politische Einheit gebildet.
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Allerdings finden sich in einem klassischen Werk indischer politischer Literatur, im Artaqastra aus dem 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, detaillierte Anweisungen darüber, was der Fürst wissen müsse. Doch der Verfasser, in der Überlieferung Kautilya genannt, angeblich Minister im ersten indischen Großreich des Chandragupta Maurya, der in den griechischen Quellen zum Alexanderzug Sandrakottos genannt wird und etwa von 320 bis 293 vor unserer Zeitrechnung herrschte, hielt Vieh und Güter offensichtlich für interessanter als Menschen. Vor allem aber blieb das Artaqastra weitgehend Theorie. Es war kein praktisches Handbuch für Herrscher und ihre Verwaltung. Vormoderne Zensen dürfte es in Indien kaum gegeben haben.
Entwicklung der Weltbevölkerung in der Antike Für die letzten 2000 Jahre sind wir bezüglich der Bevölkerungsentwicklung nicht mehr nur auf grobe Schätzungen und Rückrechnungen angewiesen. Es gibt auch historische Informationen über die Zahl der jeweils in einer Stadt oder einer Region lebenden Menschen. Deshalb können wir uns einen ersten systematischen räumlichen Überblick verschaffen. Zu Beginn unserer Zeitrechnung gab es auf unserer Erde etwa 250 Millionen Menschen. Zwei Drittel der Weltbevölkerung lebten in Asien, davon ein größerer Teil in Indien: Es könnten etwas über 60 Millionen gewesen sein. Ebenfalls 60 Millionen lebten in China. Etwa zur selben Zeit hatte im Westen der römische Imperator Augustus – er lebte von 63 vor bis 14 nach unserer Zeitrechnung- das Bedürfnis nach einer heroischeren Darstellung seiner Epoche: Im Monumentum Ancyranum aus der letzten
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Phase seiner Regierungszeit (wahrscheinlich 13 u. Z.) gibt es eine Fülle von Angaben, aufgrund derer Historiker (z. B. Julius Beloch 1886) die Bevölkerung des gesamten Römischen Reichs auf insgesamt 54 Millionen Menschen schätzten. Ein weiteres starkes Viertel der in Summe knapp 250 Millionen Menschen verteilte sich auf den besiedelten Rest der Welt. Diese vielleicht 70 Millionen lebten vor allem im heutigen Südostasien, aber nur in geringer Anzahl im außerrömischen nördlichen Europa, auf dem Doppelkontinent Amerika sowie im subsaharischen Afrika. Afrikas stärker besiedelter Norden ist bereits in der Bevölkerung des Römischen Reichs mitberücksichtigt. Gleiches gilt für den Nahen Osten, für die heutigen Länder Irak, Israel, Palästina, Syrien und den in Kleinasien liegenden Teil der Türkei. In Afrika gab es zu Beginn unserer Zeitrechnung außerhalb des römischen Herrschaftsbereichs weite, nahezu menschenleere Regionen. Einerseits waren dies die Wüsten im Norden (Sahara) und im Süden (Kalahari) des Kontinents. Andererseits waren die tropischen Regenwälder im Kongobecken damals weitgehend unbewohnt. Ackerbaugesellschaften gab es jedoch im subsaharischen Westafrika, in Ostafrika sowie im südlichen Afrika. Etliche dieser Kulturen verwendeten bereits Werkzeuge aus Metall. Wie viele Menschen insgesamt im subsaharischen Afrika lebten, ist allerdings nur schwer abzuschätzen. Es waren jedenfalls nur wenige Millionen. In Amerika hatten sich vor 2000 Jahren im Andengebiet im heutigen Peru und Ecuador sowie am Golf von Mexiko Gesellschaften entwickelt, die an der Schwelle zu archaischen Hochkulturen standen. Einige hatten wohl diese Schwelle bereits überschritten. Die Olmeken am Golf von Mexiko verwendeten möglicherweise schon eine Bilderschrift. Die Mayas errichteten etwas später ebenfalls am Golf von Mexiko und wei-
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ter südlich mehrere Stadtstaaten. Sie verfügten jedenfalls über eine eigene Schriftkultur. Im Südwesten der heutigen USA, im Mississippi-Tal sowie im Südosten, im heutigen Florida, Georgia und Alabama, gab es ebenfalls besserentwickelte Ackerbaugesellschaften. Der Regenwald am Amazonas und am Orinoco war hingegen nur dünn besiedelt. Die Wildbeuter Australiens lebten hingegen bis in die frühe Neuzeit – nach unseren Begriffen – in der »Altsteinzeit«. Sie waren Nomaden, kannten noch kein Metall und zählten nur wenige Zehntausend Menschen. Gebietseinheiten Wir brauchen Gebietseinheiten, um die historische Entwicklung von Bevölkerungen abschätzen zu können. Aber welche Regionen sind sinnvoll? Manche Autoren greifen auf die heutigen und in manchen Fällen auf früher existente Staaten zurück. Wir finden in der Literatur daher beispielsweise die Einheit »Frühere UdSSR«. Im späten Mittelalter umfasst diese Region aber vergleichsweise hoch entwickelte Khanate in Mittelasien sowie völlig rückständige Regionen. Kontinente wären eine andere Möglichkeit des Bezugs. Wo aber endet »Europa«, was gehört zu »Nordamerika«? War Spanien im 11. Jahrhundert Teil »Europas« oder gehörte es eher zu »Nordafrika«? Kleinregionen, z. B. Städte mit ihrem Hinterland, lassen sich leichter abgrenzen. Doch auch hier besteht keineswegs immer historische Kontinuität: Köln und sein Hinterland um 1300 waren etwas anderes als das Rheinland Ende des 19. Jahrhunderts oder jener Teil Westdeutschlands am Ende des 20. Jahrhunderts. Demographie als System bzw. Prozess des sozialen Le-
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bens ist Teil der Gesamtgesellschaft. Deren Grenzen aber ändern sich im Lauf der Geschichte von Formation zu Formation. Eine politische Einheit kann ein solches System umfassen, sie kann aber auch eine ganze Reihe davon beinhalten; oder aber demographische Prozesse überschreiten, wie in der Gegenwart, politische und sogar kontinentalkulturelle Grenzen.
Hinter diesen Zahlen für die Bevölkerung laufen Prozesse ab, die für unser Verständnis der Entwicklung ebenso wichtig oder noch wichtiger sind als die puren Zahlen selbst. Die Menschen arbeiteten miteinander, wanderten und pflanzten sich fort. Das aber geschah und geschieht in einer für die jeweiligen Gesellschaften spezifischen Weise. So bildet selbst »die Antike« keine einheitliche Gesellschaft, sondern umfasste einen langen Zeitraum mit mehreren prägenden Kulturen und Machtzentren. Gesellschaftliche Probleme im antiken Griechenland mit seinen jeweils kleinräumigen – polis genannten – politischen Einheiten, waren ganz andere als im Römischen Imperium. Letzteres umfasste seit dem 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung den gesamten Mittelmeerraum und hatte immerhin eine zentrale Verwaltung, eine gemeinsame Währung und ein Rechtssystem. Doch beide Formationen, die Ansammlung einander historisch und kulturell verbundener Stadtstaaten ebenso wie das Großreich, waren letztlich von der Landwirtschaft und ihrer damals sehr geringen Produktivität abhängig. Das war auch danach noch sehr lange der Fall. Es bedurfte, je nach Gegend und Anbaumethode, der Arbeit von zehn bis zwanzig Bauern, um ein einziges nichtbäuerliches Gesellschaftsmitglied – zum Beispiel einen städtischen
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Handwerker, einen Beamten oder einen Soldaten – zu erhalten. Die griechische und die römische Antike waren überdies historische Epochen, die – ähnlich wie später in China und Indien – technologische Neuerungen nicht sonderlich begünstigten. Deshalb stieg die Produktivität in der Landwirtschaft nicht stark an. Die Bevölkerung wuchs, aber der Boden blieb derselbe, und die Produktivität hielt mit dem Wachstum kaum Schritt. In frühen Phasen der Antike »lösten« die erfolgreicheren Stadtstaaten des Mittelmeerraums das Problem wachsender, aber lokal nicht mehr zu ernährender Einwohnerzahlen durch die Gründung von Kolonien an dünner besiedelten Küstenregionen oder an Küstenstrichen, an denen einheimische Bewohner sich gegen die Landnahme nicht zur Wehr setzen konnten. Das machten schon die Phöniker so und gründeten z. B. Karthago oder das heutige Cadiz. Vor allem machten es die Griechen, für die es die klassische Form der Expansion und damit zur Lebensform wurde. Nach den Worten Platons in seinem Dialog Phaidon saßen sie schließlich rund um das Mittelmeer wie Frösche um einen Teich. Das extensive Wachstum der griechischen Stadtstaaten und ihrer kolonialen Diaspora fand mit der Etablierung der Römischen Herrschaft im gesamten Mittelmeerraum sein Ende. Offensichtlich stagniert die Bevölkerung des Mittelmeerraums ab dem Beginn unserer Zeitrechnung. In der Spätzeit des (West-)Römischen Reichs dürfte sie sogar abgenommen haben. Wie aber lebten und starben die Menschen damals? Die Sterblichkeit war in der römischen Antike hoch. Die damalige Lebenserwartung bei der Geburt wird auf etwa 25 Jahre oder noch niedriger geschätzt. Jene, die das erste Lebensjahr überlebten, konnten mit einer Lebensspanne von
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durchschnittlich 33 Jahren rechnen. In den wenigen Städten – insbesondere in Rom – war die Fruchtbarkeit niedrig. Das galt insbesondere für den Adel und die römische Oberschicht. Wir wissen, dass sich schon Kaiser Augustus darüber Sorgen machte. Er versuchte, die Römischen Bürger mit einer pronatalistischen Politik zu mehr eigenen Kindern anzuhalten. Die Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung hatte dagegen sehr wohl etliche Kinder. Doch von ihnen überlebte ein beträchtlicher Teil die ersten Lebensjahre nicht. Die Säuglingsund Kindersterblichkeit bis zum fünften Lebensjahr dürfte fast ein Drittel der Neugeborenen betroffen haben.
Entwicklung im Mittelalter Im europäischen Mittelalter, um das Jahr 1000 u. Z. lebten auf der Erde 250 bis 350 Millionen Menschen. Die Weltbevölkerung war somit nur wenig zahlreicher als zu Beginn unserer Zeitrechnung. China und Indien hatten etwa denselben Bevölkerungsstand wie 1000 Jahre davor. Europa dürfte etwas an Bevölkerung gewonnen haben. In Amerika war im Gebiet der heutigen Stadt Mexiko ein hochkulturell entwickeltes Gemeinwesen der Tolteken entstanden. Auch an der Pazifikküste hatte sich eine Hochkultur entwickelt – jene der Zapoteken. Die Maya-Gesellschaften an der Küste des Golfs von Mexiko waren dagegen bereits weitgehend verschwunden, möglicherweise an einem zu schnellen Bevölkerungswachstum unter den kurzfristig besonders guten Bedingungen bzw. nach einer Klimaverschlechterung. Im Andengebiet dürfte die demographische Entwicklung hingegen an Dynamik gewonnen haben. Dort deutet sich in mehreren Vorläufergemeinwesen die Entwicklung der Inkas an. Für Nord- und Südamerika zusammen
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hat man 13 Millionen Einwohner geschätzt, also mehr als doppelt so viele wie zu Beginn unserer Zeitrechnung. In den folgenden fünf Jahrhunderten hielt diese Dynamik in beiden Teilkontinenten Amerikas an. Deutliche Bevölkerungszuwächse gab es auch in Afrika. Der Norden – also Ägypten, das heutige Tunesien, Algerien sowie das heutige Marokko – erlebte nach der Ausbreitung des Islam vor der Jahrtausendwende eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte. Kulturell und politisch müsste man auch den Großteil der Iberischen Halbinsel zu dieser Region dazuzählen. Man kann sie als die islamische Welt des südlichen und westlichen Mittelmeerraums charakterisieren. Wie stark sich diese Blütezeit des Islam auf die Bevölkerungsentwicklung auswirkte, ist umstritten. Um das Jahr 1000 war der politische Höhepunkt des klassischen Islam bereits überschritten. Manche Historiker gehen von einem Bevölkerungsverlust gegenüber der römisch-byzantinischen Zeit aus. Für Kairo und Cordoba werden Zahlen bis zu 60000 Einwohnern genannt. Das ist mehr als europäische Städte zur selben Zeit hatten. Wesentlich größer war damals hingegen die byzantinische Hauptstadt Konstantinopel, das heutige Istanbul: Um die Jahrtausendwende erreichte das Byzantinische Reich seine letzte Glanzzeit und dürfte ökonomisch das Lebensniveau des Augusteischen Roms erreicht haben. Von den 12 bis 18 Millionen Menschen, die damals unter oströmisch-byzantinischer Herrschaft lebten, siedelten bis zu einer halben Million in der Hauptstadt und in ihrer näheren Umgebung. Insgesamt dürften damals weniger als 10 % der Bevölkerung in Städten gelebt haben. Der Westen, das Heilige Römische Reich der Ottonen und Salier im heutigen Deutschland, hinkte ökonomisch und damit im Lebensniveau zweifellos weit nach.
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Abb. 3 Entwicklung der Weltbevölkerung: Von der Entstehung staatlicher Gesellschaften bis 1800. Quelle: McEvedy/Jones 1978; Kremer 1993
Westafrika erlebt im Nigergebiet den Aufstieg archaischer Hochkulturen – insbesondere jenen der Songhai, Gana, nach denen der damalige ghanesische Staatspräsident Kwame Nkrumah 1957 seinen neuen Staat an der »Goldküste« benannte, und Mali –, die sich allerdings erst in den folgenden Jahrhunderten voll entfaltete. Auch im südlichen Afrika – vor allem im heutigen Zimbabwe – gab es vergleichbare Entwicklungen. Ostafrika befand sich bereits unter arabischem Einfluss. Dort begann die Versklavung und Verschiffung junger Erwachsener – damals allerdings noch in kleinerem Umfang. Dezimierend auf die Bevölkerungszahl wirkten sich auch die vielen Menschenopfer bei der »Jagd« nach potenziellen Sklaven aus. An den Verhältnissen bei der Fruchtbarkeit, der Sterblich-
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keit und sonstigen demographischen Einflussgrößen dürfte sich gegenüber einem Jahrtausend früher nur wenig geändert haben. Nach einer langen Phase stagnierender Bevölkerungszahlen kam es in der Zeit des europäischen Hochmittelalters zu einem Wachstum der Weltbevölkerung. Es war nicht zuletzt bereits ein Wachstum Europas. Doch Seuchen führten im Spätmittelalter in Teilen Europas und Asiens zu rückläufigen Einwohnerzahlen. Um das Jahr 1500 lag die Einwohnerzahl unseres Planeten zwischen 425 und 540 Millionen. Die Experten der Vereinten Nationen gehen von 500 Millionen aus. In den folgenden Jahrhunderten begann aber eine völlig neue Dynamik. Es kam vor allem in Europa zu einem deutlichen Bevölkerungswachstum. China hatte in der frühen Neuzeit, vor allem im 17. Jahrhundert, erhebliche Bevölkerungsverluste zu verzeichnen. Die Einwohnerzahl stieg danach jedoch wieder stark an. Nicht überall auf der Welt stieg zwischen 1500 und 1750 die Bevölkerung. Die indigene Bevölkerung Nord- und Südamerikas sowie der Karibik sank deutlich unter jene Größe von 50–60 Millionen, die sie zum Zeitpunkt des ersten Kontakts mit den Europäern um 1500 erreicht hatte. Die massive Entvölkerung erklärt sich durch diverse aus Europa eingeschleppte Infektionskrankheiten, aber auch durch eine massive Verschlechterung der Lebensbedingungen nach Beginn europäischer Kolonialherrschaft. Damals kompensierte die europäische Einwanderung diesen Rückgang der einheimischen Bevölkerung nicht. Zum einen war die Transportkapazität der Schiffe zu klein. Zum anderen wollten die meisten Europäer nicht auf Dauer auswandern, sondern hofften auf schnellen Reichtum und Rückkehr aus Übersee. Als Reaktion auf das Wegsterben des elend behandelten
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einheimischen Arbeitskräftepotenzials begannen die europäischen Kolonialmächte mit dem Import afrikanischer Arbeitssklaven. In der Folge dezimierte der transatlantische Sklavenhandel des 17 und 18. Jahrhunderts vor allem in Westafrika die Bevölkerung. Die Bevölkerungsarmut Amerikas hatte also unmittelbare Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung Afrikas – die Welt begann zusammenzuwachsen. Erst ab 1750 begann eine verstärkte Einwanderung aus Europa nach Nord- und Südamerika. Dies war nicht zuletzt eine Folge des einsetzenden starken Bevölkerungswachstums auf unserem eigenen Kontinent. Das weltweite Bevölkerungswachstum stieg im 18. Jahrhundert erstmals dauerhaft auf mehr als 0,5 % pro Jahr. Um das Jahr 1800 erreichte die Gesamtbevölkerung unserer Erde eine Milliarde Menschen. Von ihnen lebten rund 200 Millionen in Europa, rund 650 Millionen in Asien und etwas über 100 Millionen in Afrika. China stand an der Schwelle eines beträchtlichen demographischen Wachstumsschubs. Nordund Südamerika sowie die Karibik hatten um 1800 etwas über 30 Millionen Einwohner.
Europa Werfen wir einen genaueren Blick auf unseren eigenen Kontinent. Von Europa in seinem heutigen Umriss lässt sich sinnvoll erst ab dem Ende der weströmischen Herrschaft im Mittelmeerraum und ab den ersten Ansätzen einer dauerhafteren politischen Ordnung nördlich der Alpen sprechen. Dies gilt also etwa ab dem Jahr 500. Schätzungen nehmen für diesen Zeitpunkt eine Bevölkerung von rund 28 Millionen Men-
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schen an. Davon lebte etwa die Hälfte – also 14 Millionen – im Süden, also in Italien und Spanien sowie auf dem Balkan einschließlich Griechenlands und des europäischen Teils der heutigen Türkei. West- und Mitteleuropa hatten rund neun Millionen, Osteuropa etwa fünf Millionen Einwohner. Die darauf folgende Zeit brachte Europa offenbar einen deutlichen Bevölkerungsrückgang. Dies war die unmittelbare Folge von Seuchen: Die »justinianische« Pest, die 542 in Konstantinopel ausbrach, leitete diese Zyklen ein. Sie zeigte vor allem die Grenzen jener vom oströmischen Kaiser Justinian angestrebten Reichserneuerung (renovatio imperii). Dies war ein ambitioniertes Projekt, dem allerdings keine höhere wirtschaftliche oder militärische Leistungsfähigkeit zugrunde lag. Der Bevölkerungsrückgang war aber auch Folge der germanischen Völkerwanderung sowie der ähnlich verlaufenden Eroberungszüge von Hunnen und Awaren. Sie hatten am Ende nicht nur den Zusammenbruch der historischen Ordnung im Weströmischen Reich beschleunigt, sondern einen tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Umbruch in diesem Teil der Welt bewirkt (Kapitel 5). Gut 300 Jahre dauerte die Übergangszeit. Erst die Konsolidierung Westeuropas unter fränkisch-karolingischer Herrschaft führte zu einem neuerlichen Bevölkerungswachstum. Um das Jahr 1000 hatte unser Kontinent eine Einwohnerzahl von möglicherweise 40 Millionen. Trotzdem waren sowohl West- und Mitteleuropa als auch Italien zur Zeit der ersten Jahrtausendwende unserer Zeitrechnung politisch und wirtschaftlich eher rückständige Gebiete. Dies galt im Vergleich sowohl mit Byzanz als auch mit dem islamisch-arabischen Herrschaftsbereich in Spanien, Nordafrika und Vorderasien. Die wenig ausgebildete politische und mili-
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tärische Zentralisierung hatte allerdings auch ihre Meriten: Nicht alle Entwicklungsimpulse von unten konnten unterdrückt werden. Es gab auf verschiedenen Ebenen historische Versuche – diverse Irrtümer mit eingeschlossen. Später entwickelte sich daraus Vielfalt und damit eine Stärke Europas. Ein wichtiges Element der stärkeren Besiedelung unseres Kontinents bildete die bäuerliche Kolonisationsbewegung aus dem Westen Europas in die Mitte des Kontinents und weiter nach Osten. In diesem Gebiet entstanden Territorialstaaten später als im staatlich besser organisierten Westen und Süden unseres Kontinents. Mit der Christianisierung Europas, die schon in römischer Zeit begann, ab dem frühen Mittelalter jedoch stark vom Westen und Südosten des Kontinents in Richtung Mittel- und Osteuropa erfolgte, entstand eine potenziell vereinheitlichende kulturelle Klammer. Aus kleinräumig orientierten Stammeshäuptlingen wurden großzügiger planende »Könige«. Sie begannen durch Privilegien für zukünftige Zuwanderer den Zuzug zu fördern. Hauptsächlich wünschten sie Bauern, vereinzelt auch Kaufleute und Handwerker. Das geschah aus mehreren Gründen: Zum einen sollte dadurch die Bevölkerung und damit die Zahl der Untertanen und Steuerzahler wachsen. Zum anderen wollten sie die agrarische Produktion steigern. Die Neu-Siedler rodeten Urwälder, erschlossen brachliegende Flächen und brachten fortgeschrittenere Anbaumethoden nach Mittel- und Osteuropa. Die Zuwanderer und ihre Produktion stärkten die Stellung der zu Königen gewordenen Häuptlinge gegenüber dem alten Stammesadel in Ländern wie Böhmen, Ungarn und Polen, aber auch im Gebiet des heutigen Rumänien. In anderen Regionen – etwa in Preußen, im Baltikum und in Finnland – mündete die Zuwanderung in eine Siedlungskolonisation, bei der die
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Zuwanderer bald eine führende Stellung einnahmen. Nationalistische Historiker des 19. Jahrhunderts bezeichneten dies später als »deutsche Ostkolonisation«. Doch diese Bauern kamen aus dem gesamten Norden und Westen unseres Kontinents. Zahlen und Fakten Wir sehen in der Darstellung von Bevölkerung in Geschichte und Gegenwart bei etlichen Autoren: Bevölkerungszahlen, Herkunft der Bevölkerungen und Siedlungsgeschichte sind nicht einfach neutrale Zahlen und Fakten. Sie sind häufig ideologisch beladen. Das gilt noch mehr für die Interpretation der Daten. Die Präsentation der »Fakten« dient bisweilen bestimmten weltanschaulichen oder politischen Interessen. Eine hohe Bevölkerungszahl gilt als Beleg für heutige oder frühere Größe. Das Gegenteil signalisiert offenbar eine gewisse Bedeutungslosigkeit. Das ist keine europäische Erscheinung, sondern ist auf der ganzen Welt zu finden. Gleiches gilt für die Herleitung des eigenen Staates aus der Landnahme durch »große« mythische Vorfahren.
Eine andere Kolonisation mit geringeren demographischen Auswirkungen erfolgte schon im Hochmittelalter in den Wikingerzügen nach Nordwesten über den Atlantik. Von Dänemark und Norwegen aus erfolgte eine Besiedelung der Orkney und Färöer Inseln sowie Islands. Sogar Grönland und das heute kanadische Labrador wurden erreicht und teilweise auch besiedelt. Als die Temperatur im Nordatlantik ab dem 14. Jahrhundert sank, wurden dort Ackerbau und Viehzucht
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unmöglich, und die Bevölkerung europäischer Herkunft verschwand aus Grönland. Etliche dürften abgezogen, viele auch verhungert sein. Im Gegensatz dazu überlebten die einheimischen Inuit, die bis weit ins 20. Jahrhundert die Lebensform halbnomadischer Jäger und Fischer beibehielten. Die Zeit des Hochmittelalters bis Mitte des 14. Jahrhunderts erscheint als Blütezeit und brachte gegenüber dem Jahr 1000 nahezu eine Verdoppelung der europäischen Bevölkerung auf annähernd 80 Millionen. Das große europäische Pestjahr 1348 und die Folgezeit setzten dem vorerst ein dramatisches Ende. Die mittelalterliche Wohlstands- und Bevölkerungsdynamik kam zu einem Stillstand. Dies dürfte auch mit jener Klimaveränderung zu tun haben, welche vor allem dem Norden und Westen Europas eine deutliche Abkühlung brachte. Die Abkühlung hatte bereits ein halbes Jahrhundert früher eingesetzt und reduzierte die Erträge der bäuerlichen Landwirtschaft. Dies bewirkte, dass die schon erreichte Einwohnerzahl nicht mehr ausreichend ernährt werden konnte. Möglicherweise waren die Seuchen entsprechend folgenreich, weil sie in einer unterernährten und geschwächten Bevölkerung eine umso größere Zahl von Opfern forderten. Die Bevölkerungszahl reduzierte sich deutlich; in manchen Gebieten binnen kurzer Zeit auf die Hälfte. Für die Zeit zwischen 1450 und 1500 gehen die Schätzungen davon aus, dass sich die europäische Bevölkerung mit 50 Millionen noch keineswegs von diesem Einbruch erholt hatte und unter dem Höchststand von 1348 lag. Aber die sozioökonomische Entwicklung gewann an Dynamik. Ab dem 13. Jahrhundert begann Europa wirtschaftlich und in seinem technischen Entwicklungsstand gegenüber anderen, bis dahin besser entwickelten Regionen aufzuholen. Ende des 15. Jahrhunderts war der Westen – man kann diesen Ausdruck erstmals ver-
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wenden – fraglos jene Region mit der fortgeschrittensten Technologie. Der Vorsprung vergrößerte sich in den folgenden Jahrhunderten. Damals setzte eine Dynamik ein, die, mit gewissen Unterbrechungen, bis ins 20. Jahrhundert andauerte und zu erheblichen Unterschieden im Entwicklungsniveau führte. In der Neuzeit bildete sich ein »Europa der zwei Geschwindigkeiten« heraus. Der Süden Europas, der Balkan, Italien und die Länder der Iberischen Halbinsel, blieben zurück. Der Westen, insbesondere Frankreich, bald aber auch Großbritannien und die Niederlande machten im Gefolge der »kommerziellen Revolution« sowie der kolonialen Eroberungen des 16. bis 18. Jahrhunderts einen deutlichen Sprung nach vorn. Die Bevölkerungszahl begann auf diese Prozesse zu reagieren. Frankreich könnte im Jahr 1500 auf seinem heutigen Staatsgebiet etwa 16 Millionen Einwohner gehabt haben; im Jahr 1600 waren es wohl bereits 19 Millionen. Dabei lag in Frankreich dazwischen ein Jahrhundert blutiger Religionskriege. Der europäische Norden (Skandinavien) blieb zunächst demographisch noch ohne großes Gewicht, der Osten wuchs vergleichsweise stark, und die Mitte Europas durchlief eine wechselhaftere Entwicklung. Der moderne Staatsaufbau hatte eingesetzt. Die Staatsführungen wollten nun konsequenter über Ressourcen auf dem eigenen Territorium Bescheid wissen: Dazu gehörten Vieh und Zugtiere genauso wie Untertanen. Für einzelne Länder Europas verfügen wir daher seit Mitte des 18. Jahrhunderts über sehr gute Daten, z. B. für Schweden und Finnland. Für andere Staaten sind verlässliche Bevölkerungsdaten jedenfalls ab dem 19. Jahrhundert verfügbar. Regelmäßig wurden ab dieser Zeit Volkszählungen durchgeführt. Trotz des schnellen Wachstums kann man im Großen und
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Ganzen sagen: Die traditionellen Muster in der Fortpflanzung, der Sterblichkeit und im Altersaufbau hatten sich erstaunlich wenig geändert. Noch immer war die Kindersterblichkeit enorm hoch, und auch die Sterblichkeit in höheren Altersgruppen blieb beträchtlich. Entsprechend niedrig war die Lebenserwartung bei der Geburt. Die beträchtliche Kindersterblichkeit drückte rechnerisch den Durchschnitt. Aber auch nach den ersten risikoreichen Monaten war die Lebenserwartung nicht besonders hoch. Der Altersaufbau der Bevölkerung hatte damals tatsächlich die Form einer Pyramide mit breiter Basis: Diese Form der Altersverteilung wird erstaunlicherweise bis heute von manchen als ideal betrachtet. Sie bedeutet nichts anderes, als dass die Menschen im jungen Alter und auch danach über alle Altersgruppen hinweg verteilt schnell sterben.
Deutschland und Österreich Deutschland und Österreich bilden in Europa keine Extremfälle, folgen also der allgemeinen Entwicklung, haben aber ihre historischen Besonderheiten. Die Einwohnerzahl Deutschlands, d. h. etwa jenes Gebiet, über das sich später das wilhelminische Deutschland und die Weimarer Republik erstreckten, wuchs im Spätmittelalter mit ähnlichem Tempo wie der Westen Europas. Im 16. Jahrhundert lebten auf diesem Gebiet etwa 12 Millionen Menschen. Die Bevölkerung wuchs bis 1620 möglicherweise auf 15 Millionen an. Dann begann im 17. Jahrhundert eine Stagnationsphase. In weiten Teilen – vor allem im Norden, Osten und Süden Deutschlands – beeinträchtigten die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges die Entwicklung erheblich. Dies gilt für
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die sozioökonomische Entwicklung mindestens ebenso wie für die von den Kriegsfolgen schwer in Mitleidenschaft gezogene Bevölkerung. Auch im 18. Jahrhundert war das Wachstum auf dem Gebiet Deutschland bescheiden. Die Existenz vieler konkurrierender Duodez-Staaten, reichsunmittelbarer Territorien und Städte mit Zollgrenzen, unterschiedlichen Währungen, Rechtsordnungen und zum Teil luxuriöser Hofhaltung der Fürsten bremste die Entwicklung. Erst nach der Neuordnung Deutschlands im Jahr 1806 und dem Ende der Napoleonischen Kriege setzte auf dem Gebiet Deutschlands ein starkes Wachstum ein. Bis 1914 wuchs die Einwohnerzahl des 1871 gegründeten Deutschen Reichs von damals 41 auf 62 Millionen Menschen an. Auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich lebten 1526 etwa 1,5 Millionen Menschen. Die Bevölkerung wuchs von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17 Jahrhunderts schnell. Die Kriege dieser Zeit hatten wenig Einfluss auf diese Entwicklung. Danach stagnierte der Prozess ein halbes Jahrhundert. Anschließend begann die Bevölkerung wieder zu wachsen. Um 1800 herum lebten auf dem Gebiet des heutigen Österreich bereits mehr als 3 Millionen Menschen. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs verdoppelte sich diese Zahl auf etwa 6 Millionen Einwohner.
3 Der Neuaufbau der Weit: Die Zeit zwischen 1800 und 1950 An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beginnt mit der US-amerikanischen und der Französischen Revolution nicht bloß politisch eine neue Epoche. Die Gründung moderner Nationalstaaten lässt erstmals Bevölkerungen größeren Umfangs und auch eine Weltbevölkerung entstehen. Davor hatte es bloß eine Ansammlung vieler regionaler Bevölkerungen gegeben. Wanderungen hatten stattgefunden, die politisch unter Umständen enorm folgenreich waren. Aber sie hatten demographisch gewöhnlich neue regionale Gesellschaften begründet und nicht zum Netzwerk einer Weltgesellschaft geführt. Das änderte sich nun nachhaltig. Aus vielen kleinen regionalen Gesellschaften entstanden »Nationen«. Diese wurden von Großgruppen gebildet, die sich politisch und emotional zusammengehörig fühlten und somit Bevölkerungen bildeten, die sich als Reproduktionsgemeinschaft jeweils über ein gesamtes Staatsgebiet erstreckten. Gleichzeitig gewann Europas koloniale Expansion an Dynamik. Begonnen hatte sie bereits um 1500. Nun wurde sie durch Massenauswanderung auch demographisch folgenreich. Denn dadurch entstanden neue Gesellschaften europäischen Typs in Nord- und Südamerika, in Sibirien und dem russischen Fernen Osten, in Algerien sowie in Australien und Neuseeland. Zugleich gerieten bestehende Gesellschaften in Afrika, Süd- und Südostasien stärker unter europäische Kon-
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trolle. Die Folge war und ist eine weltweite Verbreitung europäischer Sprachen, christlicher Religionen und die Aufteilung der Welt in politische Einflusssphären. Diese Globalisierung Europas war Wegbereiter der entstehenden Weltgesellschaft: nicht als einheitliches soziales System, aber als zusammenhängendes Netz. Nur deshalb können wir berechtigterweise heute auch von einer Weltbevölkerung sprechen.
Wachstum und Verteilung der Bevölkerung Um 1800 lebten auf unserem Planeten knapp eine Milliarde Menschen. 150 Jahre später waren es bereits gut 2 1/2 Milliarden. Über die gesamte Periode gerechnet betrug die jährliche Wachstumsrate 0,6 %. Dies klingt nicht dramatisch. Aber dieses – auf den ersten Blick recht kleine – Wachstum bewirkte, dass sich die Weltbevölkerung zwischen 1850 und 1950 verdoppelte. Die Wachstumsraten seit Beginn der Industrialisierung waren um ein Vielfaches größer als in allen historischen Perioden davor. Zugleich gab es allerdings beträchtliche Unterschiede zwischen Kontinenten bzw. Regionen mit rascherer Modernisierung und solchen, in denen die agrarische Subsistenzwirtschaft länger dominant blieb. Die 200 Jahre zwischen 1750 und 1950 können wir nach Einschätzung vieler Historiker als die »große Zeit« Europas bezeichnen. Militärisch, politisch und ökonomisch ist dies durchaus zutreffend. In demographischer Hinsicht gilt dies nur bedingt. Am besten lässt sich das am Anteil unseres Kontinents an der Weltbevölkerung und an den Zuwachsraten ablesen: Im Jahr 1800 lebten 21 % aller Menschen auf unserem Erdteil. Bis ins Jahr 1900 stieg der Anteil auf 25 %. Danach begann der europäische Anteil wieder zu sinken. 1950 war er
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mit 22 % nur unwesentlich größer als zur Zeit Napoleons. In absoluten Zahlen ist der Anstieg der europäischen Bevölkerung etwas eindrucksvoller. Um 1800 lebten in Europa einschließlich Russlands rund 203 Millionen Menschen, 1950 waren es 547 Millionen. Das Bevölkerungswachstum Europas lag während dieser eineinhalb Jahrhunderte knapp über dem Schnitt aller Kontinente, aber um die Hälfte unter den jährlichen Wachstumsraten Lateinamerikas (+1,3 %) und Ozeaniens (+1,3 %). Dreimal so hoch wie in Europa – und damit weltweit am größten – war in dieser Periode das Bevölkerungswachstum in Nordamerika (+2,2 % pro Jahr). Bis zum Ersten Weltkrieg verdankte sich dieses hohe Wachstum hauptsächlich der Massenzuwanderung aus Europa. Es ist somit nicht nur Europa im engeren Sinn, welches nach 1800 deutlich an Einwohnerzahl gewann. Es sind vor allem jene Regionen in Übersee, die zum größeren Teil von europäischen Zuwanderern und deren Kindern besiedelt wurden. »European Offspring« nannte sie der britische Historiker Angus Maddison, als er versuchte, Wirtschaftsgeschichte auch über lange Zeiträume in Zahlen darzustellen. Für Lateinamerika gilt diese Bezeichnung allerdings nur eingeschränkt: Dort gibt es neben den Nachkommen europäischer Einwanderer einen beträchtlichen Anteil von Menschen indianischer und – als Folge des Sklavenhandels – auch westafrikanischer Herkunft. Der Sklavenhandel ging in Amerika jedoch um 1800 zu Ende. Danach erklärt sich der Wanderungsgewinn in Nord- und Südamerika sowie in Ozeanien nur noch durch die Zuwanderung aus Europa. Ohne diese Massenwanderung wäre folglich der Bevölkerungsanstieg in Europa um einiges größer ausgefallen. Zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem
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Ausbruch des Ersten Weltkriegs erreichte das Wachstum der europäischen Bevölkerung im Schnitt +0,8 % pro Jahr. 1913, am Vorabend des Ersten Weltkriegs erreichte der Anteil unseres Kontinents (einschließlich Russlands) an der Weltbevölkerung mehr als ein Viertel. Relativ zum Rest der Welt war dies der höchste Anteil, den Europa jemals erreichte. Bezieht man Auswanderer und deren Kinder mit ein, dann betrug der Anteil der Menschen europäischer Herkunft an der Weltbevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund ein Drittel. Danach wurde Europa zum Schauplatz zweier Weltkriege sowie blutiger Terrorregime nationalsozialistischer bzw. faschistischer und stalinistischer Ausrichtung. Für all dies zahlte unser Kontinent nicht nur politisch, sondern auch demographisch einen hohen Preis. Verlustreich war allerdings auch die Grippe-Epidemie der Jahre 1918– 1921. Der Spanischen Grippe fielen damals erheblich mehr Menschen zum Opfer als allen Schlachten der Weltkriegsjahre 1914–1918 zusammen. Im gesamten Zeitraum 1800 bis 1950 stieg die Einwohnerzahl Nordamerikas, also der USA und Kanadas, auf das 25fache: von nur 7 Millionen im Jahr 1800 auf 172 Millionen im Jahr 1950. Der Anteil der Region an der Weltbevölkerung verzehnfachte sich von 0,7 % (1800) auf 7 % (1950). Nicht ganz so stark war das Wachstum in Lateinamerika und der Karibik. Die Zahl der dort lebenden Menschen stieg von 24 Millionen auf 167 Millionen, ihr Anteil von 2,5 % auf 7 % der Weltbevölkerung. In jener Zeit überholte der Norden den Süden des Doppelkontinents an Einwohnerzahl. Dieses Wachstum ging nicht gleichmäßig über die ganze Periode vor sich. Hoch waren die Wachstumsraten in Lateinamerika vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nachdem die USA ihre Grenzen für europäische Einwanderer
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1921 erheblich und 1924 fast vollständig geschlossen hatten, verlagerte sich die Überseewanderung in Richtung Südamerika. Europäische Einwanderer trugen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa in gleichem Umfang zum Bevölkerungswachstum Lateinamerikas bei wie der Geburtenüberschuss. Im Gegensatz dazu verringerte sich das Wachstum in Nordamerika, da die USA nach massiven Zuströmen zwischen 1880 und 1910 versuchten, weitere Zuwanderung massiv zu beschränken. Starke Vorbehalte gab es vor allem gegen Migranten aus Ost- und Südeuropa sowie aus Asien. Hinzu kamen ab den späten 1920er Jahren die Folgen der Weltwirtschaftskrise. Sie bewirkte – völlig untypisch für die jüngere Geschichte Nordamerikas – eine Aus- und Rückwanderungswelle in Richtung Europa und Lateinamerika. Während des Zweiten Weltkriegs kam die transatlantische Überseewanderung als Folge der Kriegshandlungen schließlich völlig zum Erliegen. Zwischen 1800 und 1950 wuchs auch die Einwohnerzahl Ozeaniens, d. h. Australiens, Neuseelands und der pazifischen Inselwelt von 2 auf 13 Millionen. Ihr Anteil an der Menschheit erhöhte sich damit von 0,2 % auf 0,5 %. Nach Australien und Neuseeland setzte der große Wanderungsstrom erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Davor diente Australien vor allem als Sträflingskolonie, in die Großbritannien seine Kriminellen und Außenseiter verschiffte. Daher gab es dort in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum Bevölkerungswachstum. In anderen Regionen mit heute höherem Einkommen – insbesondere in Japan, Singapur und Südkorea – gibt es keine Bevölkerungen europäischer Herkunft, auch wenn Wirtschaft und politische Systeme mittlerweile stark westlich geprägt sind. Insgesamt stieg die Zahl der Einwohner Asiens zwischen
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1800 und 1950 auf etwas mehr als das Doppelte: von 648 Millionen auf 1,4 Milliarden. Ihr Anteil an der Weltbevölkerung sank in diesem Zeitraum deutlich von 65 % auf 55 %. Asiens Einwohnerzahl wuchs damit zwar, aber nicht in derselben Geschwindigkeit, wie dies in Europa und der westlichen Hemisphäre der Fall war. Dies gilt insbesondere für China, wo politische Wirren, Aufstände und Rebellionen sowie ausländische Interventionen und die Opiumkriege das Wachstum der Einwohnerzahl begrenzten. China wurde allerdings nie kolonialisiert, wenn man von den Hafenstädten Macao, Hongkong und Tsingtao sowie von der vorübergehenden Okkupation der Mandschurei durch Russland und Japan absieht. Die potenziellen Kolonialmächte konnten sich über die Aufteilung des Landes nicht einigen – und hielten einander daher in Schach. Auch in Asien setzte nach dem Ersten Weltkrieg ein stärkeres Bevölkerungswachstum ein, obwohl politische Verhältnisse und Hungersnöte in China kaum Wachstum zuließen. Im Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten der Kuomintang sowie unter dem Terror der japanischen Besatzung starben Millionen von Menschen. In Südasien forderte dagegen die Teilung des indischen Subkontinents zwischen Indien und Pakistan in den Jahren 1947–1949 eine beträchtliche Zahl von Opfern. Manche Schätzungen gehen von mehreren Millionen Toten aus. Trotzdem wuchsen die Einwohnerzahlen auf dem Gebiet der heutigen Staaten Bangladesh, Indien und Pakistan mit beträchtlichen Zuwachsraten: mit über 2 % jährlich bereits kurz nach der Unabhängigkeit. Afrikas Bevölkerung verdoppelte sich im Zeitraum unseres Interesses von 109 Millionen (1800) auf 221 Millionen (1950). Trotzdem sank auch der Anteil dieses Kontinents an der Weltbevölkerung von 11 % auf 9 %. Das geringe Bevölkerungs-
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wachstum im Afrika des 19. Jahrhunderts hatte auch mit der gewaltsamen Vorgeschichte zu tun. Bevölkerungen und Gesellschaften des subsaharischen Afrikas hatten sich noch nicht von den großen Sklavenjagden des 17. und 18. Jahrhunderts erholt. An ihnen hatten sich Araber, Berber und die europäischen Kolonialmächte beteiligt. Im Nordosten des Kontinents, vor allem im heutigen Sudan, gingen die Sklavenjagden noch im 19. Jahrhundert weiter. Berichte darüber finden sich etwa bei Gustav Nachtigal sowie bei Alfred Brehm, dem Autor von Brehms Tierleben, der in jüngeren Jahren in Ägypten und im Sudan unterwegs war. Auch Karl May hat das Thema »Sklaverei« in mehreren seiner vielgelesenen Romane – er nannte sie »Reiseerzählungen« – verarbeitet. Man wusste also in Europa Bescheid. Erst im 20. Jahrhundert setzte in Afrika stärkeres Bevölkerungswachstum ein. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das Wachstum in Afrika auf 1 % pro Jahr beschleunigt. Lebensraum, Bevölkerungsdichte, lokale Ressourcen Was bedeutet Bevölkerungswachstum für Lebensraum und Ressourcenverbrauch? Die wachsende Bevölkerungsdichte gibt uns darüber Auskunft. Die Landfläche der Erde beträgt etwas weniger als 150 Millionen km2. Dazu gehören allerdings auch weitgehend unbewohnbare Gebiete: allen voran die Antarktis mit 14 Millionen km2; ferner die großen Wüsten unserer Erde – darunter die Sahara mit einer Fläche von rund 9 Mill. km2, die inneraustralische Wüste, die arabische Wüste, die Gobi, die Kalahari, usw., schließlich die nur sehr dünn besiedelten Regenwälder Amazoniens und Zentralafrikas. Um 1800 lebten auf dieser Fläche im Schnitt etwa 7 Men-
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schen pro km2. Um 1950 waren es bereits 17, und heute sind es 45 Menschen pro km2. Um 1800 war Europa mit 21 Menschen pro km2 mit Abstand der am dichtesten besiedelte Erdteil. Danach folgten Asien (14 pro km2), Afrika (3,7 pro km2), Südamerika (1,2 pro km2) sowie Nordamerika (0,4 pro km2). Heute ist Asien mit 89 Menschen pro km2 der am dichtesten besiedelte Kontinent, knapp gefolgt von Europa mit 75 Menschen pro km2. In Europa hat sich die Bevölkerungsdichte binnen 200 Jahren nahezu vervierfacht, in Asien sogar mehr als versechsfacht. Im Vergleich dazu sind Afrika und Lateinamerika mit 30 bzw. 33 Einwohnern pro km2 nur etwas dichter besiedelt als Europa zur Zeit Napoleons. Noch viel dünner ist im Schnitt die Besiedelung Nordamerikas. Dort leben derzeit lediglich 14 Menschen pro km2. Wir sehen also: Die Dichte entscheidet zwar theoretisch darüber, wie viele lokale Ressourcen pro Person zur Verfügung stehen. Aber bestehende Unterschiede zwischen armen und reichen Regionen vermag sie nicht zu erklären. Nicht allein die Zahl der Menschen und das Tempo des Zuwachses entscheiden über Nutzung und mögliche Übernutzung natürlicher Ressourcen. Entscheidend sind selbstverständlich auch die vorherrschenden Produktionsformen und der jeweilige Lebensstil. Es ist zwar nicht zulässig, das Pro-Kopf-Produkt unmittelbar als Maß der RessourcenBelastung aufzufassen. Gerade nachindustrielles Wachstum – von vielen auch als »intelligentes« Wachstum bezeichnet – lässt sich keineswegs eins zu eins als Belastung von Erde, Umwelt und Ressourcen auffassen. Aber es gibt keine vollständige Entkoppelung zwischen Wohlstand und Umweltbelastung. Solange wir Wohlstand in Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf messen und dabei nur ganz
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Abb. 4 Bevölkerungsdichte nach Regionen der Welt (in Menschen pro km2), 1750–2050. Quelle: UN Population Division
bestimmte Markt-Transaktionen erfassen, nicht aber z. B. die Produktion im Haushalt oder unbezahlte Leistungen wie Pflege und Ähnliches, kann eine solche Entkoppelung auch in Zukunft nicht erfolgen, da materieller Wohlstand stets auch materiellen Input erfordert und somit den Einsatz von Ressourcen unserer Erde voraussetzt. Um einen tatsächlichen Eindruck von der Zunahme der Ressourcenbelastung während der vergangenen zwei Jahrhunderte zu bekommen, müssen wir daher die Zunahme von Bevölkerungszahl und Bevölkerungsdichte mit dem (fast) überall wachsenden Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verknüpfen und auf die jeweilige Weltregion umlegen. Bezüglich der Lokalisierung des Wachstums in einem bestimmten Erdteil muss schließlich bedacht werden: Es
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gibt natürlich auch grenzüberschreitenden Ressourcenverbrauch. Der für unsere Lebensform derzeit notwendige massive Import von Erdöl und Erdgas führt uns dies täglich vor Augen. Und es gibt grenzüberschreitende Umweltbelastung: Bekanntestes Beispiel ist die globale Erwärmung durch steigende CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Betrachtet man den materiellen Wohlstand pro Kopf, so zeigt sich: Die Auseinanderentwicklung von Wohlstandsniveau und Ressourcenverbrauch begann erst vor etwas mehr als drei Jahrhunderten. Seriöse Untersuchungen und vor Ort gesammelte Daten (z. B. Robert C. Allen) zeigen: Um 1600 unterschied sich der Lebensstandard in Städten Südchinas und auch in Westbengalen (im heutigen Indien) nicht vom Lebensstandard in England oder in Oberitalien. Erst danach begann, zuerst langsam, ab 1800 in immer rascherem Tempo, die Teilung der Welt in Räume drastisch unterschiedlichen materiellen Wohlstands.
Gesellschaftliche Modernisierung und Veränderung der Sterblichkeit Im Rückblick zeigt sich: Bereits im 18. Jahrhundert begannen sich die Lebens- und Sterbeverhältnisse in einzelnen Weltregionen ganz unterschiedlich zu entwickeln. Vor allem in Europa setzte ein großer Modernisierungsprozess ein. Mit gewisser Verzögerung hatte dies erhebliche Auswirkungen auch für Gesellschaften und Bevölkerungen in anderen Teilen der Welt. Das damals einsetzende Wachstum der Weltbevölkerung nahm also seinen Ausgang von Europa. Es ist trotz intensiver Forschung bis heute nicht völlig klar, was diese Entwicklung letztlich auslöste. Denn die Lebensbedingungen der
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breiten Masse änderten sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert kaum. In Teilen Europas kam es sogar zu einer Verschlechterung. Dennoch begann die Sterblichkeit in den meisten Regionen West- und Mitteleuropas zu sinken. In einigen Regionen setzte dieser langfristige Rückgang der Sterblichkeit bereits um 1770 ein. Damit ging das demographische Ancien Regime mit seinen periodischen Sterblichkeitskrisen langsam zu Ende. Frankreich hatte in diesem Transformationsprozess ganz offensichtlich eine Vorreiterfunktion. Erstes Ergebnis dieser Transformation war eine gewisse »Verstetigung« der Sterbeverhältnisse. Der bis dahin wirksame Zyklus von Perioden mit sehr hoher Sterblichkeit und nachfolgender Auffüllung des Lebensraums durch höhere Geburtenzahlen und Zuwanderer schwächte sich ab. Bis dahin war auf Missernten oder auf Plünderungen durch feindliche oder »eigene« Soldaten – was meist keinen Unterschied ausmachte – regelmäßig eine regionale Krise gefolgt. Denn Transportmöglichkeiten für Nahrungsmittel aus Gebieten mit entsprechenden Überschüssen fehlten damals weitgehend. Mit Beginn der Industriellen Revolution, der Verbesserung europäischer Transportwege und der Entstehung leistungsfähigerer Staatsapparate wurden die früher insbesondere in harten Wintern auftretenden Hungerkrisen seltener, bei denen Teile der geschwächten Bevölkerung auch diversen Krankheiten zum Opfer fielen. Mit den neu geschaffenen Transportkapazitäten von Dampfschiffen und Eisenbahnen stellten lokale Missernten etwa ab den 1830er Jahren nicht mehr automatisch ein »Todesurteil« für die Bewohner betroffener Regionen dar. Die letzte gesamteuropäische Hungersnot gab es 1816–1817. Auf sie folgten damals eine Typhus-Epidemie und – für Europa eine neue Erscheinung – auch eine Cholera-Epidemie.
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Hinzu kamen Investitionen in allgemeine Hygiene: insbesondere die Trennung von Trinkwasser- und Abwasserleitungen durch öffentliche Kanalisation sowie die kommunale Müllbeseitigung. Dies trug wesentlich dazu bei, Infektionskreisläufe zu unterbrechen. Auch Massenimpfungen und verbesserte Wohnstandards leisteten einen Beitrag zur Senkung der Sterblichkeit. Die Transformation der Sterbeverhältnisse war allerdings kein linearer Prozess. Denn es war ja nicht die technische Infrastruktur allein, die zählte. Die Sterblichkeit begann schon zu sinken, als die Verkehrswege und -mittel noch kaum ausgebaut waren. Da sich die Ernährungslage für die breite Masse nach Belegen der historischen Forschung zwischen 1750 und 1850 nicht deutlich verbesserte, stellt sich die Frage nach Ursachen und Auslösern der Transformation. Offensichtlich handelte es sich um einen sich selbst verstärkenden Prozess der Zivilisierung. In ihm änderte sich sowohl die Art, wie man Kinder behandelte und betrachtete, als auch die eigene Einstellung zur Umwelt. Das Verschwinden der Mortalitätskrisen Die Entwicklung erfolgte in mehreren Etappen. Ab 1770 war die Sterblichkeit gesunken. Von 1820 bis 1870 stieg sie wieder etwas, weil die Säuglings- und Kindersterblichkeit in den damals rapide anwachsenden Städten Europas (vgl. auch Kapitel 8) zunahm. Das wiederum hatte soziale Ursachen. Denn Europas Großstädte wuchsen vor allem durch den Zuzug ländlicher Unterschichten; auch wenn vielfach nicht die am schlechtesten gestellten Bewohner agrarischer Peripherien in die urbanen Zentren zogen. Dennoch war die allgemeine Sterblichkeit dieser Zuwanderer bisweilen doppelt so hoch wie jene des bürgerlichen Mittelstands.
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Das Verschwinden der Mortalitätskrisen in der europäischen Entwicklung lässt sich an der Lebenserwartung bei der Geburt ablesen: In einigen Ländern (z. B. Dänemark, Schweden, England), für die es demographische Daten aus den letzten 250 Jahren gibt, zeigte sich ein erster Anstieg der Lebenserwartung schon Mitte des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich war in Schweden die Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr – nach Auskunft früher schwedischer Sterbetafeln – schon im Zeitraum 1816– 1840 deutlich niedriger als ein halbes Jahrhundert später im Deutschen Reich. Dies zeigt ein Vergleich mit den deutschen Sterbetafeln für 1870– 1881. Entsprechend niedriger war die Lebenserwartung der Deutschen im Biedermeier. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts betrug sie etwa 40 Jahre für Deutschland in den Grenzen von 1937. Ein halbes Jahrhundert später war sie auf 36 Jahre gesunken (Sterbetafeln für 1870–1881). Dann allerdings begann sie rapide zu steigen. Auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder den allgemeinen Wohlstand lassen sich diese Unterschiede nicht zurückführen. Denn beides war seinerzeit in Schweden nicht höher als im Deutschen Reich. Erhebliche regionale Unterschiede bestanden auch innerhalb von Staaten und Regionen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Säuglingssterblichkeit. Sie machte um 1850 in Württemberg 348 Todesfälle von Neugeborenen auf 1000 Lebendgeburten aus, in Bayern 311, in Sachsen 255 und in Preußen – bei ausgeprägtem Ost-West-Gefälle – 211 auf 1000 Lebendgeburten. Im Norden war die Säuglingssterblichkeit niedrig und erreichte in Schleswig-Holstein den für damalige Verhältnisse sensationell niedrigen Wert von 124 Todesfällen von Neugeborenen auf 1000 Lebendgeburten. Sieht man sich die Entwicklung der Lebenserwartung im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, so zeigen sich
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jedoch dramatische Veränderungen binnen kurzer Zeit. Ähnliches gab es zuletzt beim Übergang von den Gemeinschaften nomadischer Wildbeuter zu den Gesellschaften sesshafter Ackerbauern (siehe Kapitel 2). Die Lebenserwartung zeigte nach 1800 kurzfristig einen ähnlichen Verlauf wie damals – sie sank vorübergehend, obwohl die Ressourcenausstattung der Gesellschaften insgesamt stieg. Ökonomen sprechen in solchen Zusammenhängen von einer Kuznets-Kurve, wenn sie folgenden Tatbestand beschreiben wollen: Im Verlauf der Wohlstandserhöhung verschlechtert sich in der ersten Phase eine wesentliche Bestimmungsgröße des Wohlstands, bevor dieser für fast alle Schichten merklich zu steigen beginnt. Der Strukturwandel der Industriellen Revolution und die begleitende sozioökonomische Umschichtung bewirkten derart in West- und Mitteleuropa für einige Schichten bis zum Ersten Weltkrieg vorerst keinen steigenden und bisweilen sogar einen sinkenden Lebensstandard. Somit vergrößerte sich die Einkommensungleichheit. Erst danach sank das Ausmaß an wirtschaftlicher Ungleichheit wieder auf ein niedrigeres Niveau. (Seit den 1980er Jahren steigt die Ungleichheit in Westeuropa allerdings wieder an; in den USA sogar schon seit 1968; seit 1990 auch in Ostmittel- und Osteuropa.) Gewinne aus den Entwicklungsschüben der industriellen und der politischen Revolution jener Epoche kamen ganz offensichtlich zuerst den Oberschichten zugute. In ähnlicher Weise spricht man heute von Kuznets-Kurven der Umweltverschmutzung, der Ressourcen-Übernutzung, usw.: Zuerst steigt also der unerwünschte Effekt dramatisch an, dann erst lässt sich politisch und sozial eine Gegentendenz durchsetzen. Die allgemeine Verbreitung materiellen Wohlstands, besserer Lebensbedingungen und damit auch höherer Überlebens-
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chancen erforderte im 19. und 20. Jahrhundert Zeit. Sie ging nicht automatisch vonstatten. Die Verbreitung materiellen Wohlstands auch innerhalb bis dahin benachteiligter Schichten musste politisch durchgesetzt werden. Erst dann profitierte tatsächlich ein größerer Teil der Bevölkerung davon. Zwischen 1870 und 1930 sank die allgemeine Sterblichkeit – von den Zeiten des Ersten Weltkriegs einmal abgesehen – recht deutlich. Im Deutschen Reich reduzierte sich die Kindersterblichkeit in den drei Jahrzehnten nach der Reichsgründung bei Knaben um ein Fünftel: von 25 % (1871) auf 20 % (1901). Doch auch die allgemeine Sterblichkeit sank deutlich. Dies lässt sich an der ferneren Lebenserwartung der Bevölkerung im Alter von einem Jahr sowie im Alter von fünf Jahren ablesen. Die Werte stiegen für einjährige Knaben von 46 (1871) auf 55 Jahre (1901) und für fünfjährige Knaben von 49 (1871) auf 55 Jahre (1901). Für die weibliche Bevölkerung gab es auf höherem Niveau ähnliche Zuwächse. Bei einjährigen Mädchen stieg die fernere Lebenserwartung von 48 (1871) auf 57 Jahre (1901) und für fünfjährige Mädchen von 51 (1871) auf 57 Jahre (1901). Bezeichnend für die Änderung der Verhältnisse war, dass die Lebenserwartung in den Altersgruppen über fünf Jahren noch stieg, aber keineswegs im selben Umfang wie bei den Kleinkindern. Somit erklärte sich der Zugewinn an Lebensjahren im 19. Jahrhundert überwiegend aus der sinkenden Kindersterblichkeit. Dabei nahmen die regionalen Unterschiede, und später auch die sozialen Differenzen, etwas ab. Die Analyse längerer Zeiträume zeigt: Die jeweiligen Höchstwerte der Sterblichkeit während einzelner Perioden sanken erheblich ab. Vor allem aber reduzierte sich die Differenz zwischen Jahren mit hoher und solchen mit niedriger Sterblichkeit.
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Kinderzahlen passen sich an Sinkende Säuglings- und Kindersterblichkeit bedeutete, dass viel mehr Geborene überlebten. Eltern mussten oder konnten bei gleicher Geburtenzahl mit wesentlich mehr überlebenden Kindern rechnen. Damit ergab sich eine wirksame Motivation, die Zahl eigener Geburten zu beschränken: Wer sich fast sicher sein konnte, dass die eigenen Kinder überleben, brauchte nicht sechs in die Welt zu setzen, damit wenigstens drei das Erwachsenenalter erreichten. Die verzögerte Anpassung der Kinderzahlen (Fruchtbarkeit) an die sinkende Sterblichkeit bewirkt im demographischen Übergang eine Phase starken Bevölkerungswachstums. Auch der Rückgang der Fruchtbarkeit setzte in Frankreich deutlich früher ein als in den anderen Ländern Europas. Schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gibt es Anzeichen für sinkende Kinderzahlen. Sie waren bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern recht niedrig. Frankreich war im sozialen Modernisierungsprozess offensichtlich weiter vorangekommen als die mit ihm konkurrierenden Großmächte. Frankreichs Frauen bekamen im Juste Milieu nach Ende der napoleonischen Zeit (ab 1815) bis zur bürgerlichen Revolution von 1848 etwa 3,4 Kinder. In anderen wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern waren es damals noch deutlich mehr: Für England und Wales wird für das Jahr 1800 eine durchschnittliche Zahl von 5,5 Kindern angenommen. Allerdings sank die Kinderzahl englischer Frauen danach recht deutlich. 1850 lag sie bei 4,6, um 1875 Jahre nur mehr bei 3,4 Kindern pro Frau. In Frankreich sanken die Geburtenzahlen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert
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weiter ab. Vor dem Ersten Weltkrieg erreichte die Fruchtbarkeit schließlich mit 2,1 Kindern jenes Niveau, auf dem die einheimische Bevölkerung langfristig nicht mehr wächst (Ersatzniveau). Etliche Politiker machten in der Folge den Geburtenrückgang und die niedrigen Kinderzahlen für die Niederlage Frankreichs gegen Deutschland im Krieg von 1871 und für die anfangs schlechte Stellung Frankreichs im Ersten Weltkrieg verantwortlich. Man dachte in Begriffen politischer, militärischer und demographischer Konkurrenz. Selbst nach der Niederlage Deutschlands, die im Friedensvertrag von Versailles zur Abtretung von Gebieten und Einwohnern auch an Frankreich führte, seufzte der spätere französische Staatspräsident George Clemenceau resigniert: »Noch immer 20 Millionen Deutsche zu viel ...«. Tatsächlich waren die durchschnittlichen Kinderzahlen in Deutschland bis in die 1860er Jahre hinein deutlich höher als in Frankreich. Doch dann begann der Rückgang auch im Deutschen Reich. Eine Kinderzahl von 2 wurde um 1913 erstmals erreicht. Noch niedriger war die Fruchtbarkeit in Teilen Skandinaviens. Schweden hatte damals mit 1,9 wahrscheinlich die niedrigste Kinderzahl in Europa. Auch in England und in Schweden dürfte die Fruchtbarkeit bereits vor dem Ersten Weltkrieg zeitweise unter das Reproduktionsniveau abgesunken sein. In Südeuropa waren die durchschnittlichen Kinderzahlen zu dieser Zeit fast doppelt so hoch. Auch in den Alpenländern der Habsburgermonarchie, also auf dem Gebiet des heutigen Österreich, lagen sie deutlich über dem westeuropäischen Niveau. In außereuropäischen Einwanderungsländern mit Bevölkerungen überwiegend europäischer Herkunft – insbesondere in den USA, Kanada und Australien – lagen die Kinderzahlen
Gesellschaftliche Modernisierung und Veränderung der Sterblichkeit
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im 19. Jahrhundert ebenfalls und oft deutlich über dem westeuropäischen Niveau. Doch bis 1910 waren sie auch da stark gesunken und lagen in Australien bei 2,4 und in den USA bei 2,5 Kindern pro Frau. Dies war freilich immer noch mehr als in Europa und trug – gemeinsam mit der Zuwanderung – zum starken Bevölkerungswachstum dieser Länder bei. Insgesamt zeigt sich, dass die zwei Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Europa und in den hauptsächlich von Nachfahren europäischer Migranten besiedelten Regionen in Übersee eine Zeit rascher demographischer Modernisierung waren. Während des Ersten Weltkriegs kam es in etlichen daran beteiligten Ländern zu einem deutlichen Geburteneinbruch. Dafür war nicht bloß die kriegsbedingte monatelange Abwesenheit junger Männer verantwortlich. In den sehr geringen Geburtenzahlen drückte sich wohl ganz allgemein eine kollektive pessimistische Stimmung aus. Umgekehrt gab es nach dem Ersten Weltkrieg ganz offensichtlich die Tendenz, aufgeschobene Geburten »nachzuholen«. Unter den Bevölkerungen der Siegermächte war diese Tendenz allerdings stärker ausgeprägt als in Deutschland und der 1918 neu gegründeten Republik Österreich. In Südeuropa war die Transformation in diesem Zeitraum keineswegs zu Ende. Somit überdeckte dort der allgemeine Geburtenrückgang die gewissermaßen konjunkturelle Zunahme. In Italien sank die durchschnittliche Kinderzahl in jener Zeit von 3,1 (1900) auf 2,3 (1925); in Spanien von 3,4 (1900) auf 2,3 (1925).
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Entwicklungen in Asien und Afrika Außerhalb Europas und Nordamerikas war die Situation komplexer. Unsere unvollständigen Daten lassen sich zu einem fragmentarischen Bild zusammenfügen. Immerhin hatte der Völkerbund während der Zwischenkriegszeit versucht, systematisch internationale demographische Daten zu sammeln. Dabei lieferten die Mitgliedsstaaten auch Daten über einige ihrer Kolonialgebiete. Sie sind nicht unmittelbar auf andere Gebiete zu übertragen. In Indien hatte sich die Bevölkerung im 18. Jahrhundert verdoppelt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm sie noch etwas zu. Doch in der Mitte jenes Jahrhunderts gab es massive Rückgänge. Die Briten trugen mit ihrer brutalen Politik in der Folge der »Großen Meuterei«, des sogenannten Sepoy-Aufstands der 1850er Jahre, erheblich dazu bei. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann dann die Sterblichkeit etwas zu sinken. Da die Fruchtbarkeit gegenüber früher etwa gleich hoch blieb, stiegen die Geburtenüberschüsse. In China setzte Anfang des 18. Jahrhunderts ein ansehnliches Bevölkerungswachstum ein, das bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts andauerte. Dann aber kam es auch hier zu einem Einschnitt in der Entwicklung. Hauptursache dafür waren die Opiumkriege, der enorme Aderlass während des Taipei-Aufstandes, als es südchinesischen Bauernheeren gelang, für eineinhalb Jahrzehnte einen Parallelstaat aufzubauen, schließlich der niedergeschlagene Boxeraufstand gegen die europäischen Mächte. Insgesamt verhinderten die häufigen Rebellionen unterdrückter Bauern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärkeres Bevölkerungswachstum. Erstaunlich ist, dass es jedoch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Entwicklungen in Asien und Afrika
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trotz Anarchie, Bürgerkrieg und blutigem japanischen Besatzungsregime zu einem beträchtlichen Wachstum kam. Für die beiden bevölkerungsreichsten Länder Indien und China sowie für Asien insgesamt gilt: Die in vormodernen Perioden typischen Krisen prägten bis ins 20. Jahrhundert hinein das Bild. Es gab ein Auf und Ab der Sterberaten. Dennoch erfolgte der Übergang von langsamem zu kräftigem Bevölkerungswachstum. In China verdoppelte sich die Einwohnerzahl zwischen 1800 und 1950. In Indien stieg sie immerhin um rund 40 %. In Lateinamerika war die Fruchtbarkeit Anfang des 20. Jahrhunderts hoch. Sie sank zumindest in den stärker europäisch geprägten Staaten, in Argentinien, Chile, aber auch in Venezuela. Ebenso sank auch die Sterblichkeit. Über Afrika wissen wir in diesem Zeitraum wenig. Vergleichsweise gut sind die Daten für Ägypten. Das Land stand damals unter britischem Einfluss. Die Fruchtbarkeit war – wie in den meisten Teilen des Kontinents – hoch. Auch die Sterblichkeit war hoch, doch ab Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich niedriger als die Fruchtbarkeit. Dadurch gab es beträchtliche Geburtenüberschüsse und ein entsprechend hohes Bevölkerungswachstum. Daten gibt es auch für die weiße Bevölkerung Südafrikas. Deren Sterblichkeit lag nahe am niedrigen Niveau Westeuropas. Doch ihre Fruchtbarkeit war nahezu so hoch wie in heutigen Entwicklungsländern. Dadurch nahm die weiße Bevölkerung deutlich zu. Überdies wuchs die Zahl der Menschen europäischer Abstammung durch Zuwanderung. Über die anderen dünn besiedelten Länder des sub-saharischen Afrikas können wir für diese Phase nur spekulieren.
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Demographischer Übergang: Europäische Innovation und weltweite Verbreitung In der Frühzeit der Industriellen Revolution setzte in den inzwischen hoch entwickelten Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas die zweite Phase des Demographischen Übergangs ein. Historisch am frühesten begann dieser Übergang in Frankreich; nämlich bereits im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. In Schweden setzte er mit Beginn des 19. Jahrhunderts – somit ebenfalls recht früh – ein. In beiden Gesellschaften dauerte er sehr lang. Für beide Gesellschaften können wir davon ausgehen, dass Geburten- und Sterberaten erst Mitte des 20. Jahrhunderts wieder ins Gleichgewicht kamen (Ende der vierten Phase). Somit dauerte der Übergang in beiden Ländern eine Zeit, die fünf bis sechs Generationen umfasste. Der demographische Übergang: Konzept und Realität Veränderungen von Sterblichkeit und Kinderzahl (Fruchtbarkeit) vollziehen sich in verschiedenen Regionen der Welt, ja sogar innerhalb einzelner Länder durchaus nicht synchron. Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten und Trends in der demographischen Vielfalt entwickelten Kingsley Davis und Frank Notestein vom Office for Population Research der Universität Princeton im Jahr 1945 das Konzept der »demographischen Transition« oder des »Demographischen Übergangs«. Dieses Konzept beschreibt Gemeinsamkeiten in der Abfolge demographischer Veränderungen. Solche Gemeinsamkeiten ließen sich in fast allen Ländern der Welt, sowohl im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts wie auch in Kolonialgebieten und Entwicklungsländern des 20. Jahrhunderts beobachten.
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Der Übergang zu modernen demographischen Verhältnissen begann jeweils mit einem deutlichen Rückgang der Sterblichkeit. Davor gab es allenfalls starke Schwankungen durch Seuchen, Kriege und Naturkatastrophen. Doch ab einem bestimmten Zeitpunkt sank die jährliche Zahl der Verstorbenen pro 1000 Einwohner (= rohe Sterberate). Später folgte ein Rückgang der Kinderzahlen (Fruchtbarkeit). Damit reduzierte sich die jährliche Zahl der Geburten pro 1000 Einwohner (= rohe Geburtenrate). Auf diese Weise entsteht starkes Bevölkerungswachstum. Denn solange die Sterblichkeit bereits sinkt, die Geburtenraten aber noch hoch sind, wächst die Bevölkerung auch ohne Zuwanderung deutlich. Aus heutiger Sicht hat die demographische Transition fünf Phasen (vgl. Abb. 6). Der demographische Übergang im engeren Sinn umfasst die Phasen 2, 3 und 4: • Phase 1: In vorindustriellen Agrargesellschaften von der Jungsteinzeit bis ins 18. Jahrhundert waren Geburtenund Sterberaten hoch. Die Sterblichkeit schwankte stark, mitunter von einem Jahr zum nächsten. Die durchschnittliche Lebenserwartung war gering. Die Bevölkerung wuchs – wenn überhaupt – nur sehr langsam. • Phase 2: Mit Einsetzen verschiedener gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse sank zuerst die Sterblichkeit. Die Lebenserwartung begann zu steigen. Damit begann der demographische Übergang. Da die durchschnittlichen Kinderzahlen anfänglich hoch blieben, begann die Bevölkerung in dieser Phase beträchtlich zu wachsen. • Phase 3: Mit der Zeit, jedoch etwas verzögert, reagierten die Familien auf die veränderten Lebensbedingungen sowie auf die sinkende Säuglings- und Kindersterblichkeit mit einer stärkeren Beschränkung ihrer Kinderzahl. Die
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Geburtenrate begann zu sinken. Das Bevölkerungswachstum ging wieder zurück. • Phase 4: Geburten- und Sterberate pendelten sich in etlichen Ländern inzwischen auf niedrigem Niveau ein. Damit endet der Übergang. Notestein, Davis und andere Wissenschaftler hatten bei der Formulierung des Konzepts der demographischen Transition am Ende wieder ein demographisches Gleichgewicht zwischen Fruchtbarkeit und Sterblichkeit vor Augen. Dieses hätte in der vierten Phase erreicht werden sollen. • Phase 5: Die Erfahrungen der letzten 40 Jahre in Europa und in anderen entwickelten Industriegesellschaften – darunter Japan, Kanada, Singapur und Südkorea – zeigen jedoch, dass die demographische Transition nicht notwendigerweise auf ein Gleichgewicht zwischen Geburten und Sterbefällen zusteuert. In einer Reihe von Ländern sank die rohe Geburtenrate in der Folge unter das Niveau der rohen Sterberate. In anderen Industrieländern steht diese Entwicklung noch bevor. Ursache ist die anhaltend niedrige Fertilität. Für eine Trendwende gibt es keine Anhaltspunkte. Tatsächlich liegen die durchschnittlichen Kinderzahlen pro Familie in den meisten Industriestaaten sowie in einigen Schwellenländern (zum Teil deutlich) unter zwei. In der Folge werden die einheimischen Bevölkerungen längerfristig schrumpfen. Bislang wurde die demographische Schrumpfung in etlichen Ländern – darunter auch in Deutschland – durch stärkere Zuwanderungen ausgeglichen. Einige Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer fünften Phase des demographischen Übergangs. Als analytisches Konzept hat sich der demographische
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Abb. 5 Demographischer Übergang (idealtypischer Verlauf) in Westeuropa.
Übergang bewährt. Er ist von großem Nutzen für das Verständnis des Ablaufs in den letzten eineinhalb Jahrhunderte. Zu fragen ist allerdings, ob sich in der Phase 5 ein zweiter demographischer Übergang vollzieht. Die manchmal vorgebrachte Kritik, das Modell sei zu abstrakt, schematisch und ungenau, ist im Wesen des Modells als solchem enthalten. Es gibt allerdings Schwächen, welche in einigen unreflektierten Grundannahmen liegen. Allein die Bezeichnung zeugt davon: Ein Übergang impliziert den Ausgang von einem »Gleichgewicht« und das Münden in ein anderes »Gleichgewicht«. Die Debatte über einen zweiten Übergang belegt jedoch, dass von solchen »Gleichgewichten« keine Rede sein kann. Zuerst gingen die Bevölkerungswissenschaftler davon
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aus, dass der Übergang in etlichen entwickelten Ländern in den 1920er Jahren abgeschlossen war. Damals lag die Kinderzahl bereits in vielen europäischen Ländern in der Nähe des Ersatzniveaus (ca. 2,1 Kinder). Danach folgte die Weltwirtschaftskrise. Sie brachte eine noch niedrigere Fruchtbarkeit. Ein kurzer Babyboom zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und ein regelrechter Babyboom in den 1950er und 1960er Jahren bewirkten keine echte Trendwende. Eher wurden zuvor aufgeschobene Kinderwünsche zu vermeintlich bzw. tatsächlich besseren Zeiten nachgeholt. Gesellschaftliche Modernisierungen, insbesondere der Übergang zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft und die Urbanisierung setzten sich fort. Individualisierung und Säkularisierung waren die Folge. Damit veränderte sich auch der Stellenwert von Kindern in der Lebensplanung. Neue Mittel der Empfängnisverhütung wurden entwickelt und erleichterten die Begrenzung der Kinderzahl (»Pillenknick«). Man kann den ersten Übergang als Anpassung der Kinderzahl begreifen, die den Eltern und den in der Mehrzahl nun überlebenden Kindern durch Beschränkung der Kinderzahl bessere Lebenschancen bieten sollte. Der zweite Übergang ist dann eine eigene Entwicklung. Er erklärt sich nun nicht mehr dadurch, dass die Kinderzahl der gesunkenen Kindersterblichkeit angepasst werden muss, sondern Kinder zunehmend der Selbstverwirklichung (potenzieller) Eltern im Wege stehen. Dies aber führt zu einem Geburtendefizit. Ein neues »Gleichgewicht« lässt sich nur noch durch Zuwanderung herstellen. Das Konzept des demographischen Übergangs liefert keine Erklärung für die Ursachen des Wandels von Kinderzahl und Sterblichkeit. Aber es beschreibt die Entstehung eines Ungleichgewichts zwischen Geburten und Sterbefäl-
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len – den beiden wichtigsten Bestimmungsgrößen der Bevölkerungsentwicklung. Und es beschreibt die spätere Überwindung dieses Ungleichgewichts. Beides ließ oder lässt sich in einer großen Zahl von Ländern beobachten. Zum Teil weichen die realen Verläufe jedoch in einzelnen Ländern von diesem Schema erheblich ab. Dies gilt vor allem für Unterschiede zwischen reicheren und ärmeren Ländern. Entscheidend ist dabei Folgendes: In Europa und Nordamerika kam der Übergang zu niedriger Sterblichkeit und geringerer Geburtenzahl durch die Entstehung moderner, städtischer Industriegesellschaften quasi »von selbst« in Gang. In vielen Entwicklungsländern war und ist dies nicht der Fall. Die Sterblichkeit sank dort durch bessere Ernährung infolge des massiven Einsatzes wesentlich ertragreicherer Nutzpflanzen (»grüne Revolution«), chemischer Schädlingsbekämpfungsmittel und durch wirksame Arzneimittel aus den Industriestaaten. Auch ein Großteil der in Entwicklungsländern verwendeten Verhütungsmittel stammt aus Westeuropa und Nordamerika. Sie werden zum Teil aus Mitteln der Entwicklungshilfe finanziert. Durch diesen »importierten« Fortschritt vollzieht sich der demographische Übergang heute in vielen Entwicklungsländern erheblich rascher, als dies seinerzeit in Europa der Fall war. Diese Einflüsse und Eingriffe von außen sind im Modell des demographischen Übergangs nicht berücksichtigt. Aber sie haben deutlich erkennbare Folgen. Die Einwohnerzahlen der europäischen Länder erhöhten sich im Verlauf des demographischen Übergangs zwischen 1800 und heute auf das Doppelte bis Vierfache. In den meisten Entwicklungsländern rechnet man hingegen mit einem Anstieg auf das Sieben- bis Zehnfache, bis es zu einer Stabi-
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lisierung der Bevölkerungszahl kommt. Die Bevölkerung wächst dort in etlichen Ländern um 1,5 % bis 3 % pro Jahr. Das ist ein Tempo, das Europa und Nordamerika im 19. und 20. Jahrhundert nie erreichten.
Im Deutschen Reich, in Italien und auch in Österreich setzte der demographische Übergang erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein: Er dauerte aber nur etwa drei Generationen. In einigen Regionen Ostmittel- und Osteuropas begann der Transformationsprozess erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, dauerte aber bloß zwei Generationen. Eine ähnliche Verkürzung lässt sich zeitversetzt auch für etliche Entwicklungs- und Schwellenländer feststellen. Die Vorreiter brauchten länger als die späteren Gesellschaften, um zu niedrigen Sterbe- und Geburtenraten zu kommen. Dazu mussten sie entsprechende Reaktionen und Verhaltensmuster erst entwickeln oder »erfinden«. Die späterkommenden Gesellschaften konnten gesellschaftlichen Fortschritt und das Wissen um sinnvolle Reaktionen auf sich ändernde Bedingungen zum Teil »importieren« oder kopieren. Das gilt nicht nur für Techniken der Hygiene, der Gesundheitsvorsorge und der Lebensverlängerung, sondern auch für bestimmte Wertvorstellungen, etwa die gesellschaftliche Einstellung zu moderner Familienplanung und Geburtenkontrolle. Der demographische Übergang geht in seiner Bedeutung weit über einen Anpassungsmechanismus mit demographischen Auswirkungen hinaus. Er bewirkt zugleich einen fundamentalen Wandel der Mentalitäten und der Einstellung zum Wert menschlichen Lebens. Bezogen auf die Welt als Ganzes kann man durchaus von einem globalen Übergang sprechen, der als solcher drei Jahr-
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hunderte in Anspruch nimmt und erst in etwa 60–80 Jahren abgeschlossen sein dürfte. Für die Einwohnerzahl einzelner Regionen und der Erde insgesamt bewirkte dieser Übergang eine Phase historisch einmalig starken Bevölkerungswachstums.
Von überzähligen Neugeborenen zu »quality kids« Das demographische Ancien Regime prägte das Leben der Menschen, seitdem sie sesshaft wurden. Seine Kennzeichen waren: eine enorme »Verschwendung« von Lebenskraft und eine hohe Gleichgültigkeit gegenüber dem Wert individuellen menschlichen Lebens. Aus heutiger Sicht war dies zugleich ineffizient und indolent. Im Schnitt waren sieben oder acht für die betroffenen Mütter risikoreiche Schwangerschaften und Geburten vonnöten, um ein höchst bescheidenes Bevölkerungswachstum zu erreichen. Unter Abrechnung der Totgeburten mussten somit für die Erhaltung des Bevölkerungsstands fünf bis sechs Kinder in die Welt gesetzt werden. Von ihnen überlebte fast die Hälfte ihre Kindheit nicht, vom Erreichen des Reproduktionsalters ganz zu schweigen. Viele Kinder verstarben an Infektionskrankheiten, etliche verhungerten. In einem Teil der Fälle wurden Kinder bewusst oder unbewusst vernachlässigt, weil die Eltern bereits mehr von ihnen in die Welt gesetzt hatten, als sie ernähren konnten; oder weil der Vater nach dem frühen Tod der Mutter wieder geheiratet hatte und die Kinder aus dieser neuen Verbindung bevorzugt wurden. Aus dieser Konstellation entstand das Bild der »bösen Stiefmutter«, das viele europäische Märchen prägt. Um 1800 herum verbrachten Frauen rund drei Viertel
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ihres Lebens als Erwachsene damit, Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen, von denen fast die Hälfte nie das Erwachsenenalter erreichte. Die andere Hälfte war angesichts von Nahrungsmittelkrisen periodisch schlecht ernährt und blieb in der Regel ungebildet. Aus heutiger Sicht wäre es ein Zeichen grausamer Gleichgültigkeit, wenn wir unsere Kinder – Träger individueller Menschenrechte – in Überzahl in die Welt setzten und ihren Tod vorweg in Kauf nähmen. An dieser Überlegung können wir ermessen, was sich während der letzten 200 Jahren in unserer Vorstellung von Familie und Fortpflanzung sowie in unsere Einstellung zu eigenen Kindern veränderte. Heute widmen Frauen in hoch entwickelten Gesellschaften bestenfalls ein Siebtel ihrer Lebenszeit der Kinderaufzucht. Gemessen an der Zahl der überlebenden Kinder ist das Ergebnis quantitativ nicht um so viel geringer, als es der bloße Vergleich der Geburtenzahl vermuten ließe. Doch der Unterschied in der Wirkung auf die Entwicklung dürfte gewaltig sein: Junge Menschen treten heute ganz anders ausgestattet ins Leben als seinerzeit. Denn qualitativ bedeutet die geringe Zahl eigener Kinder, dass in jedes von ihnen ungleich mehr Aufmerksamkeit, Fürsorge und Erziehung investiert werden kann. Das erhöht nicht bloß die Lebenserwartung dieser Kinder, sondern zugleich ihre Lebenschancen und ihre zukünftige Produktivität. Als Erwachsene können diese Kinder später wesentlich produktiver sein, weil sie erheblich besser auf ihr Leben vorbereitet sind. Zugleich steht Müttern und kinderlosen Frauen mehr Zeit für Erwerbsarbeit außerhalb des eigenen Haushalts zur Verfügung. All dies sind demographische Grundlagen des Wohlstandes moderner Gesellschaften. In hoch entwickelten modernen Gesellschaften geht es heute nicht mehr um die Zahl bzw. Quantität. Die eben be-
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sprochene »Qualität« von Kindern steht im Vordergrund. Einen solchen Sprachgebrauch mögen manche als störend empfinden. Der US-amerikanische Ökonom Gary S. Becker sprach als Erster von »Qualitäts-Kindern«. Er versuchte damit, folgende Frage zu beantworten: Warum bekommen Unterschichtfamilien im Schnitt mehr Kinder als Mittelschichtfamilien, obwohl Letztere über mehr Geld verfügen? Wenn Kinder ein wichtiges Lebensziel darstellen, sollte eigentlich die Zahl der Kinder höher sein, wenn das Einkommen steigt. Tatsächlich geht die Kinderzahl bei Familien mit steigendem Einkommen zurück. Zumindest nach der Logik der neoklassischen Wirtschaftslehre sind nur »inferiore Güter« bei steigendem Einkommen immer weniger gefragt. Aber gegen die Vorstellung, das dies auch auf unsere Kinder zutreffen könnte, wehrt sich zu Recht unser Alltagsempfinden. Also kam Becker zu dem Schluss: Kinder sind nicht gleich Kinder. Zumindest ein Teil der Eltern versucht, ihnen durch Ausbildung und sorgfältige Erziehung entsprechend gute Startchancen zu geben. Vor allem der Mittelschicht geht es daher nicht um viele Kinder, sondern um »qualitativ hochwertige« Kinder. In sie wird Zeit und Geld investiert, was aber nur bei einer Beschränkung der Kinderzahl zu leisten ist. In der Folge verkleinern sich mit der weiten Verbreitung bürgerlicher Lebensformen die Familien und Haushalte. Die Konsequenz für die Bevölkerungsdynamik liegt auf der Hand. Doch mindestens ebenso wichtig ist die Verbreitung einer neuen Lebenseinstellung. Damit kommen wir in der Gegenwart an.
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Haushaltsgröße Hohe Kinderzahlen in der Vergangenheit verleiten zu einem Fehlschluss: die Familienhaushalte wären früher viel größer gewesen als heute. Vermeintliche Belege dafür liefern Romane und Lebenserinnerungen aus dem 19. Jahrhundert. Doch handeln diese meist von Oberschichtfamilien. Diese umfassten tatsächlich oft eine erhebliche Zahl von Personen, die im gemeinsamen Haushalt lebten. In den Unterschichten und großen Teilen der Mittelschichten waren die Haushalte erheblich kleiner. Auch gab es gerade in Westeuropa eine größere Zahl von Einpersonen-Haushalten. Komplexe Haushaltsformen mit vielen Personen gab es vor allem bei Adligen und größeren Bauern. Alle anderen Haushalte beherbergten in der Regel nur wenige Personen. Durch die hohe Sterblichkeit waren Familienhaushalte auch viel instabiler als heute. Dies gilt sowohl für das Mittelalter als auch für einen Großteil der Neuzeit. Für die Zeit um das Jahr 1000 wird die Haushaltsgröße im Oströmischen Reich (Byzanz) auf 4,3 Personen geschätzt. Eine andere Schätzung für die Zeit um 1300 nimmt für das zusammengeschrumpfte byzantinische Restimperium eine Größe von 4,8 Personen pro Haushalt an. Für Italien errechnete die amtliche Statistik im Jahr 1880 eine Haushaltsgröße von 4,5 Personen. Hundert Jahre später (1980) lag der Durchschnitt in Italien bei 3 Personen pro Haushalt. In Österreich lebten 1951 in einem durchschnittlichen Haushalt ebenfalls nur 3,1 Personen. Zwar waren die Haushalte in vorindustrieller Zeit etwas größer als dies in entwickelten Ländern nach 1950 der Fall war. Doch sie waren keineswegs überragend groß. Überdies gilt, ganz im Gegensatz zu einem von manchen Kommen-
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tatoren geäußerten Kulturpessimismus: Der Zusammenhalt und die Haushaltskonstellationen dürften heute in mancher Hinsicht stabiler sein als zu früheren Zeiten. Zu behaupten, dass die durchschnittliche Kinderzahl die Familienstabilität messe, ist unrichtig. Zwar leben heute weniger Menschen zusammen. Doch diese Menschen leben im Schnitt wesentlich länger miteinander als jemals zuvor. Das ergibt sich schon aus der wesentlich höheren Lebenserwartung. Die Folgen für unser Familienleben und unsere Lebenseinstellung sind beträchtlich.
4 1950 bis 2050: Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevölkerungswachstums Die Kategorisierung nach Entwicklungsniveau, welche die UNO und alle ihr angeschlossenen Organisationen verwenden, unterscheiden generell zwischen hoch entwickelten Ländern (developed countries; high income countries) und weniger entwickelten Ländern (developing countries). Letztere untergliedern sich in Schwellenländer (middle income countries) und Entwicklungsländer (less developed countries; low-income countries); darunter insbesondere die Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder (least developed countries). Für eine Reihe von Fragestellungen ist diese Unterscheidung für das 20. und frühe 21. Jahrhundert sehr nützlich. Denn sie fasst das Gefälle zwischen den in der Neuzeit entstandenen wirtschaftlichen bzw. politischen Zentren und den Peripherien in Kategorien von Ländern zusammen. Diese Struktur war auch prägend für demographische Veränderungen. Darin zeigt sich eine starke – aber keineswegs vollständige – Abhängigkeit der demographisch relevanten Verhaltensweisen vom Stand der sozioökonomischen Entwicklung. Die Analyse von Ländergruppen erlaubt die Zusammenschau ähnlicher Länder. Genauere Resultate liefert die Betrachtung einzelner Länder, wenn man einzelne Entwicklungen in ihrer Dynamik verstehen will. Einige Länder haben aufgrund ihrer großen Bevölkerungszahlen derart viel Gewicht, dass sie ohnehin die Entwicklung ihrer Weltregion quantitativ bestimmen (China, Indien, USA). Immerhin leben
4 Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevölkerungswachstums
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in den elf Ländern mit einer Bevölkerung von jeweils über 100 Millionen Einwohnern zusammen 61 % der Weltbevölkerung. Hoch entwickelte Länder / Regionen: Europa, Nordamerika, Japan, Australien und Neuseeland. In dieser Gruppe von Ländern und Regionen (high-income countries) lebten am Beginn des 21. Jahrhunderts insgesamt 1,2 Milliarden Menschen mit einer Wirtschaftsleistung (BIP 2003) von US-$ 28550,– pro Kopf und Jahr. Entwicklungs- und Schwellenländer: Afrika, Asien (außer Japan), Lateinamerika und die Karibik, Melanesien, Mikronesien und Polynesien. In den Entwicklungs- und Schwellenländern (less developed countries) leben derzeit etwas über 5,3 Milliarden Menschen mit einer Wirtschaftsleistung (BIP pro Kopf) von US-$ 1920,– pro Jahr. Am wenigsten entwickelte 51 Länder: Äquatorial-Guinea, Äthiopien, Afghanistan, Angola, Bangladesch, Benin, Bhutan, Burkina Faso, Burundi, Cap Verde, Dschibuti, Eritrea, Gambia, Guinea, Guinea-Bissau, Haiti, Jemen, Kambodscha, Kiribati, Komoren, Kongo (DR), Kongo (R), Laos, Lesotho, Liberia, Madagaskar, Malawi, Malediven, Mali, Mauretanien, Mozambique, Myanmar (Burma), Nepal, Niger, Osttimor, Ruanda, Sambia, Samoa, São Tomé and Príncipe, Senegal, Sierra Leone, Salomon-Inseln, Somalia, Sudan, Togo, Tschad, Tuvalu, Uganda, Tansania, Vanuatu und Zentralafrikanische Republik. In den ärmsten Ländern der Welt (LLDCS – least developed countries; low-income countries) leben derzeit rund 800 Millionen Menschen mit einer Wirtschaftsleistung (BIP pro Kopf) von US-$ 450,– (2003) pro Jahr.
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4 Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevölkerungswachstums
Dynamik des Wachstums 1950 lebten auf unserer Erde rund 2,5 Milliarden Menschen. Anfang 2007 waren es mehr als 6,6 Milliarden. Bis 2050 wird die Einwohnerzahl unseres Planeten voraussichtlich auf über 9 Milliarden steigen. Dazwischen liegt die Periode des größten Bevölkerungswachstums in der Geschichte der Menschheit. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts (1950–1951) war der jährliche Zuwachs mit 1,9 % beträchtlich. In den frühen 1960er Jahren erreichte diese Wachstumsrate mit 2,2 % (1963–64) ihren historischen Höchststand. Der absolute Zuwachs war hingegen erst 1989– 90 mit +87 Millionen am höchsten. Im Zeitraum zwischen 1950 und 2050 verteilt sich der weltweite Bevölkerungszuwachs ganz unterschiedlich auf die ein-
Abb. 6 Weltbevölkerung 1950–2050: jährliche relative Zuwächse (in %) und absolute Zuwächse (in Millionen).
Geburtenrate und Kinderzahl sind weltweit rückläufig
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zelnen Länder und Kontinente. In den beiden Jahrzehnten nach 1950 wiesen auch hoch entwickelte Regionen noch deutliches Bevölkerungswachstum auf. Heute entfällt fast der gesamte Zuwachs auf die Entwicklungs- und Schwellenländer. Relativ am stärksten ist er in den am wenigsten entwickelten Ländern. Deshalb wird sich bis 2050 die Einwohnerzahl der 51 ärmsten Länder der Welt nochmals verdoppeln, in einigen sehr armen Ländern sogar verdreifachen. Wichtigster Grund für die Gewichtsverschiebung zwischen reicheren und ärmeren Regionen ist die unterschiedliche Entwicklung von Kinderzahlen und Sterblichkeit. Denn aus der Differenz von Geburten- und Sterbefällen ergibt sich das natürliche Bevölkerungswachstum.
Geburtenrate und Kinderzahl sind weltweit rückläufig Während der letzten fünf bis sechs Jahrzehnte halbierte sich die Geburtenrate (= Geburten pro 1000 Einwohner) sowohl in den entwickelten Regionen der Welt als auch in den heutigen Schwellen- und Entwicklungsländern. Aufgrund des höheren Ausgangsniveaus bewirkte dies in Summe einen stärkeren Geburtenrückgang in weniger entwickelten Regionen. Im Ergebnis sind die Geburtenraten in weniger entwickelten Regionen heute im Schnitt bloß noch so hoch wie die Geburtenraten der Industriestaaten vor 60 Jahren. Bis 2050 werden die Geburtenraten weniger entwickelter Regionen gegenüber heute voraussichtlich nochmals um ein Drittel sinken. Hinter den sinkenden Geburtenraten standen und stehen die langfristig rückläufigen Kinderzahlen pro Frau bzw. pro Familie. Um 1950 lagen sie im Weltdurchschnitt bei fünf Kindern. Etwa 20 Jahre lang blieben sie auf diesem Niveau. Ab
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4 Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevölkerungswachstums
Abb. 7 Geburtenrate (pro 1000 Einwohner), 1950–2050. Quelle: UN Population Division
1970 begannen sie ziemlich rasch zu sinken: bis 2006 auf 2,6 Kinder pro Frau. Das ist nur noch die Hälfte des Ausgangsniveaus von 1950. Hält die Entwicklung an, dann ist 2050 im Schnitt nur noch mit etwas mehr als zwei Kindern pro Frau zu rechnen. In der Hauptvariante der UN-Prognose flacht die Kurve ab, denn diese Prognose rechnet damit, dass die weltweiten Unterschiede kleiner werden. Unbestritten ist jedenfalls, dass die durchschnittlichen Kinderzahlen weiter zurückgehen werden. Der Rückgang erklärt sich vor allem durch rückläufige Kinderzahlen in Entwicklungs- und Schwellenländern. In jenen
Deutlich gesunkene Kinderzahlen in Asien und Lateinamerika
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Regionen haben sie sich während der letzten 55 Jahre von 6,1 (1950) auf 2,9 Kinder pro Frau (2006) mehr als halbiert. Dies war allerdings keine stetige Entwicklung. Nach 1950 gab es in einigen Ländern sogar noch steigende Kinderzahlen. Auch Indien und China – die beiden an Einwohnerzahl größten Länder der Welt – verzeichneten zu Beginn der 1950er Jahre eine so hohe Fruchtbarkeit. In China war sie mit 6,2 Kindern sogar noch etwas höher als Indien, das kurz nach seiner Unabhängigkeit im Schnitt 6,0 Kinder pro Frau zählte.
Deutlich gesunkene Kinderzahlen in Asien und Lateinamerika In Summe verblieb die Fruchtbarkeit in China bis Anfang der 1970er Jahre auf hohem Niveau. Dann aber begann sie stark zu sinken. Wichtige Ursachen dafür waren und sind die gesunkene Säuglingssterblichkeit sowie gestiegene Bildung und bessere Arbeitsmarktchancen von Frauen. Zugang zu Familienplanung und die mit Propaganda, materiellen Anreizen und massiven repressiven Mitteln durchgesetzte Ein-Kind-Politik spielten bei diesem Rückgang jedoch eine wesentliche Rolle. Gegenwärtig deutet sich eine vorsichtige Umorientierung an, weil diese Politik höchst unerwünschte Nebenfolgen hat (Abtreibung weiblicher Föten und dadurch ein Übergewicht an Knabengeburten). In Indien wurde hingegen eine Regierung unter Indira Gandhi, welche die Geburtenzahl ebenfalls mit Zwangsmaßnahmen verringern wollte, in den 1970er Jahren abgewählt. Dies illustriert den ganz unterschiedlichen bevölkerungspolitischen Handlungsspielraum autoritärer Regime und demokratisch legitimierter Regierungen. In China sank die Fruchtbarkeit bis 2005 auf 1,6 Kinder pro Frau; in den übrigen weni-
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ger entwickelten Ländern ohne China hingegen nur auf 3,4 Kinder pro Frau (2006). Insgesamt sank die Fruchtbarkeit in Asien von 5,9 (1950) auf 2,4 Kinder pro Frau (2005). Ohne China und Japan liegt das Niveau allerdings noch bei 2,9 Kindern. Indien liegt mit inzwischen 2,9 Kindern genau im Schnitt. Allerdings gibt es dort etliche Bundesstaaten von Westbengalen bis Kerala – die Regierungen dort setzen mehr auf umfassende Entwicklung als auf rein wirtschaftliche Wachstumsraten –, wo die Fruchtbarkeit bereits unter 2 Kindern pro Frau liegt.
Auch in anderen Teilen Asiens, darunter in einigen Entwicklungs- und Schwellenländern, bei denen dies eigentlich überrascht, liegt die Kinderzahl bereits unter dem Ersatzniveau: nämlich in Iran (2,0), in der Mongolei (1,9), in Sri Lanka (2,0) und in Thailand (1,7). In ähnlichem Ausmaß wie in Asien sanken die Kinderzahlen in Lateinamerika und der Karibik. Dort bekamen Frauen um 1950 5,9 Kinder; 2005 nur noch 2,5 Kinder. Weit über dem Durchschnitt dieser Weltregion liegt die Kinderzahl in dieser Region nur noch in Haiti (4,7), Guatemala (4,4), Französisch – Guyana (3,9) und Honduras (3,9). Bereits unter dem Ersatzniveau liegt sie in Kuba (1,5), Costa Rica (1,9) und Chile (2,0) sowie in etlichen kleinen Territorien und Staaten der Karibik wie Barbados, Dominica, Martinique, den Niederländischen Antillen, Puerto Rico und Trinidad.
Hohe Fruchtbarkeit in Afrika
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Hohe Fruchtbarkeit in Afrika Wesentlich geringer war der Rückgang während des letzten halben Jahrhunderts in Afrika. Um 1950 hatten die Frauen dieses Kontinents im Schnitt 6,7 Kinder. 2005 lag die Kinderzahl im Schnitt immer noch bei 5,1. Einige Gesellschaften Afrikas sind bis heute weitgehend unbeeinflusst vom globalen Rückgang der Fruchtbarkeit. Alle diese Länder gehören zu den ärmsten der Welt. Selbst in der Republik Südafrika, dem reichsten Land des subsaharischen Afrikas, gleichzeitig dem Land mit der stärksten Ungleichheit in der Einkommensverteilung, lag die Fruchtbarkeit 2005 immer noch bei 2,8 Kindern. Auf oder unter dem Ersatzniveau liegt die Fruchtbarkeit dagegen nur auf der Insel Mauritius (1,8), den Seychellen (2,1) und in Tunesien (2,0), etwas darüber in Marokko (2,5).
Hoch entwickelte Regionen – niedrige Kinderzahl In den hoch entwickelten Regionen der Welt lag die Kinderzahl schon zwischen 1950 und 1955 nur noch bei 2,8 pro Frau. Dies war bereits damals bloß die Hälfte des Weltdurchschnitts. Um 1975 unterschritt die Fruchtbarkeit das einfache
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Reproduktionsniveau von 2,1 Kindern pro Frau. Bis 2006 sank sie im Durchschnitt aller hoch entwickelten Regionen auf etwa 1,6 Kinder ab. Vergleichsweise hoch war die Fruchtbarkeit mit 3,9 Kindern um 1950 in Australien und Ozeanien. Heute liegt sie bei 2,1, wobei dieses niedrige Niveau weitgehend von Australien (1,8) und Neuseeland (2,0) bestimmt wird. Zwischen 4 und 5 Kinder pro Frau gab es hingegen bis heute in einer Reihe pazifischer Inselstaaten mit überwiegend sehr kleiner Bevölkerung; in Kiribati, Mikronesien, den zu den USA gehörenden
Abb. 8 Durchschnittliche Kinderzahl pro Frau (TFR), 1950–2050. Anm.: Die UN prognostiziert für hoch entwickelte Regionen bis 2050 leicht steigende Kinderzahlen. Für diese Hypothese gibt es allerdings wenig empirische Anhaltspunkte. Quelle: UN Population Division (2005)
Extremfall Europa
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Marshall-Inseln, den Salomonen und Vanuatu. Das einzige größere Land in dieser Gruppe ist Papua-Neu Guinea (2005: 4,1 Kinder). Von diesen Ländern und Territorien gehören fast alle zu den ärmsten der Welt. Insofern zählt Ozeanien nur zu drei Vierteln zur hoch entwickelten Welt. In Nordamerika lag die Fruchtbarkeit um 1950 noch bei 3,5 Kindern. Danach gab es auf dem Höhepunkt des amerikanischen Babybooms einen Anstieg auf 3,6 (1961). Bis 2005 sank die Fruchtbarkeit auf 2,0 Kinder. Dieses Niveau wird vom Gewicht der USA (2,0) bestimmt. Mit einer solchen Kinderzahl sind die USA heute die einzige größere Industriegesellschaft, deren Fruchtbarkeit nahe am Ersatzniveau liegt. Die Einwohnerzahl der USA würde daher auch ohne Zuwanderung stabil bleiben oder sogar leicht wachsen. Darunter liegt die Kinderzahl in Kanada (1,5 Kinder). Dies ist bemerkenswert. Denn im 18. und 19. Jahrhundert hatte diese Region eine einmalig hohe Fruchtbarkeit und dadurch enorm hohe »natürliche« Zuwachsraten gehabt.
Extremfall Europa In Europa lag die durchschnittliche Kinderzahl in den 1950er Jahren noch bei 2,6 und stieg während des nachfolgenden Babybooms leicht an. Nach dem Höhepunkt des Babybooms setzte ab Mitte der 1960er Jahre ein kontinuierlicher Rückgang ein. Heute rangiert Europa mit 1,4 Kindern pro Frau nicht nur historisch, sondern auch im Vergleich der Kontinente untereinander am unteren Ende. Neben Ostasien hat Europa die Gesellschaften mit der weltweit niedrigsten Kinderzahl pro Frau. Unter dem Schnitt unseres Kontinents liegen Südeuropa sowie große Teile Ostmittel- und Osteuropas.
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4 Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevölkerungswachstums
Am niedrigsten ist die Fertilität sowohl im vergleichsweise hoch entwickelten Slowenien (1,2), als auch in der sehr armen Ukraine (1,2) und in Weißrussland (1,2). Knapp darüber liegen Russland (1,3) und Deutschland (1,3). Gerade in Ostmitteleuropa erklären sich die niedrigen Kinderzahlen aus raschem Wertewandel, Transformationskrise während der 1990er Jahre und beginnendem Wirtschaftsaufschwung. Zu Zeiten des Staatssozialismus bekamen Frauen in jener Region ihre Kinder meist schon kurz nach dem 20. Geburtstag. Da sowohl Arbeitsplätze als auch Kindergartenplätze garantiert waren, mussten sich Frauen jedenfalls nicht zwischen Kindern und Beruf entscheiden. Viele junge Erwachsene wurden selber Eltern, bevor sie sich noch beruflich etabliert hatten. In etlichen Fällen motivierte auch die Aussicht auf eine eigene Wohnung dazu, Kinder schon kurz nach Ende der Schulzeit zu bekommen. Denn Wohnungen wurden bevorzugt Jungfamilien zugeteilt. Nach dem Wegfall dieser Konstellation verschoben viele junge Frauen die Geburt eines Kindes auf einen biographisch späteren Zeitpunkt. Dies bewirkte einen deutlichen Geburtenrückgang. Zugleich stieg das Alter bei der ersten Geburt innerhalb weniger Jahre drastisch an. Eine ähnliche Entwicklung war und ist ja in westlichen Gesellschaften bereits seit den 1970er Jahren zu beobachten. Der Prozess der Individualisierung setzte somit nach westlichem Vorbild ein. Die Gründung einer eigenen Familie folgt nun in einer anderen Lebensphase – falls sie überhaupt erfolgt. Man könnte sagen: »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« Allerdings stimmt dies nur zum Teil. Die Erfahrung aus westlichen Ländern zeigt: Etliche »aufgeschobene Kinder« werden schließlich doch nicht zur Welt gebracht. Mit Ausnahme Estlands haben alle EU-Staaten Ostmittel-
Verzögerte Bremsung des Wachstums
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europas ähnlich niedrige Kinderzahlen (1,3). Gleiches gilt jedoch auch für große Länder Süd- und Westeuropas; etwa für Deutschland, Italien und Spanien. Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung dieser Länder bereits seit etlichen Jahren schrumpfen.
Tab. 2 Durchschnittliche Kinderzahlen pro Frau nach Weltregionen, 1950–2005. Quelle: UN Population Division (2005)
Deutlich über dem europäischen Schnitt liegen die durchschnittlichen Kinderzahlen etlicher Länder im Nordwesten Europas. Dazu gehören Frankreich (1,9), Irland (1,9), Norwegen (1,8), Schweden (1,8) und Großbritannien (1,8). Europäischer »Spitzenreiter« ist der kleine Inselstaat Island (2,1). Es gibt offenbar eine westeuropäische »Wachstumszone«, auch wenn die bloß bedeutet, dass es hier noch für ein paar Jahrzehnte kein Geburtendefizit gibt.
Verzögerte Bremsung des Wachstums Zwischen 1950 und 1955 führte eine durchschnittliche Zahl von 5 Kindern pro Frau weltweit zu nur 99 Millionen Geburten pro Jahr. 2006 bedeutete die nun fast halbierte Zahl von 2,6 Kindern immerhin 134 Millionen Geburten. Und obwohl die durchschnittliche Kinderzahl weiter zurückgehen dürfte,
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werden Mitte des 21. Jahrhunderts jährlich immer noch mehr als 120 Millionen Kinder zur Welt kommen. Entscheidend für die Reproduktion der Bevölkerung ist nicht allein die durchschnittliche Kinderzahl, sondern zugleich die Zahl potenzieller Eltern. Diese wird maßgeblich von den Geburtenzahlen der zurückliegenden Jahrzehnte bestimmt. Umgekehrt haben die heutigen Geburtenzahlen einen bis weit ins 21. Jahrhundert wirkenden Einfluss auf die Altersstruktur. Man nennt dies auch demographisches Momentum. Derzeit bewirken die hohen Geburtenzahlen der 1980er Jahre eine sehr große Zahl an potenziellen Eltern. Bei sinkender Kinderzahl pro Frau werden jedoch zukünftig schwächere Jahrgänge ins Elternalter kommen. Wir dürfen daher annehmen, dass das Wachstum der Weltbevölkerung in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts zum Stillstand kommen wird.
Tab. 3 Verteilung von Ländern und Weltbevölkerung nach Höhe der Fertilität, 2003. Quelle: PRB (2004)
Weltweit liegt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau heute noch in 70 Ländern über 4. In diesen Ländern leben 16 % der Menschheit. Aber bereits in 71 Ländern der Erde, in denen insgesamt 43 % der Weltbevölkerung leben, liegt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau unter 2. Zukünftig wird sich die Gruppe dieser Länder zweifellos noch vergrößern.
Höheres Gebäralter – niedrigere Kinderzahl
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Höheres Gebäralter – niedrigere Kinderzahl Für den Rückgang der Fruchtbarkeit spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Der Wertewandel ließ zuerst in der hoch entwickelten Welt, später auch anderswo den Wert und die Kosten jedes einzelnen Kindes steigen. Dies reduzierte den Wunsch nach vielen Kindern erheblich. Zugleich führte die bessere Ausbildung von Frauen zu längeren Ausbildungszeiten und einem späteren Berufseintritt. In der Folge erhöhte sich das Alter, in dem Frauen ihr erstes Kind zur Welt bringen. In Europa durften bis ca. 1860 überhaupt nur Männer mit einer vollen Erwerbsstelle oder mit ausreichendem Vermögen heiraten. Bis sie eines von beiden erlangt hatten, befanden sie sich meist schon im mittleren Alter. Sie suchten sich dann Frauen möglichst aus ihrer eigenen Schicht. Ein ziemlich großer Teil der männlichen und weiblichen Bevölkerung war zu einem wirtschaftlich begründeten Zölibat gezwungen. Mit der Industrialisierung der westeuropäischen Gesellschaften verschwand dieses Muster, obwohl Heiratsverbote in einzelnen Gebieten erstaunlich lange wirksam blieben. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts bekamen Frauen in Europa ihr erstes Kind relativ spät. Dafür sorgten Bestimmungen, die eine frühe Heirat erschwerten. Danach sank das Gebäralter. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das Gebäralter fast zwei Jahrzehnte auf niedrigem Niveau. Etwa ab 1965 begann es zumindest in Westeuropa wieder zu steigen. Im Gegensatz dazu setzte die Phase der Familienbildung in Ostmittel- und Osteuropa weiterhin bei den 20-Jährigen ein. Erst nach 1989 änderte sich dies schlagartig. Inzwischen bekommen Frauen in ganz Europa ihr erstes Kind im Schnitt etwa acht Jahre später als um 1960.
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4 Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevölkerungswachstums
In ärmeren Ländern steigt das Gebäralter auch etwas an, aber nicht im selben Tempo wie in Europa, Japan und Nordamerika. Ursachen dafür sind der im Vergleich zur hoch entwickelten Welt kürzere Schulbesuch von Mädchen, ihr geringeres Bildungsniveau und – daraus folgend – die schlechteren Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Damit gibt es in vielen Entwicklungsländern weniger junge Frauen, die ihre Familiengründung hinausschieben und wirkungsvoll Geburten verhüten. Dies gilt nicht generell, wie die niedrigen Kinderzahlen im Iran, in Thailand und in Tunesien zeigen. Der Vergleich mit reicheren Industriestaaten zeigt: In Entwicklungsländern gibt es nicht nur deutlich mehr junge Mütter, die bereits im Alter von 15 bis 19 ein Kind zur Welt bringen. Es gibt auch mehr ältere Mütter, die im Alter von über 45 Jahren noch Mutter werden – in der Regel nicht zum ersten Mal. Somit kann eine beträchtliche Zahl älterer Mütter ein Hinweis auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse sein. Sehr alte Mütter sind aber oft auch ein Hinweis darauf, dass es in der betreffenden Gesellschaft viele Frauen mit vier, fünf oder noch mehr Kindern gibt.
Fast überall sinkt die Sterblichkeit Während der letzten 5 –6 Jahrzehnte verringerte sich die Sterberate in den heutigen Schwellen- und Entwicklungsländern um zwei Drittel. 1950–1955 ereigneten sich jährlich 24 Todesfälle auf 1000 Einwohner. Im frühen 21. Jahrhundert betrug die Rate weniger als 9 Todesfälle auf 1000 Einwohner. Dieser Rückgang erfolgte vor allem zwischen 1950 und 1980. Seither sinken die Sterberaten in Asien, Afrika und Lateinamerika nur noch geringfügig.
Fast überall sinkt die Sterblichkeit
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Das Sinken der rohen Sterberate nach 1950 hatte zwei Gründe: Zum einen sank in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern die Sterblichkeit. Es gab somit weniger Todesfälle. Ausnahmen bilden allerdings seit den 1990er Jahren die stark von HIV /AIDS betroffenen Länder im südlichen Afrika. Zum anderen kam es durch hohe Geburtenzahlen und eine wachsende Zahl überlebender Kinder zu einer Strukturverschiebung im Altersaufbau. In jüngeren Gesellschaften leben weniger Menschen im Hauptsterbealter. Solche Gesellschaften haben daher unter sonst gleichen Umständen eine geringere Sterberate pro 1000 Einwohner. Im Gegensatz dazu steigt die Sterberate in entwickelten Regionen der Welt bereits seit Anfang der 1960er Jahre leicht an. Um 1960 gab es bei uns 9 Sterbefälle auf 1000 Einwohner. Derzeit liegt die jährliche Sterberate in hoch entwickelten Ländern bei 10 und wird bis 2050 wahrscheinlich auf 13 pro 1000 Einwohner steigen. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit spielt hier keine Rolle mehr. Die Zahl der Sterbefälle wird jetzt durch die Zahl der über 60-Jährigen, also von der Altersstruktur, bestimmt. Deshalb ist die Sterberate heute in reichen Ländern mit alternder Bevölkerung in der Regel höher als in ärmeren Ländern mit junger Bevölkerung. Und die Sterberate wird mit zunehmender Entwicklung und mit zunehmendem Durchschnittsalter der Bevölkerung in reicheren Ländern weiter steigen. Anders als in den hoch entwickelten Ländern hat eine sinkende Sterblichkeit in Entwicklungs- und Schwellenländern einen gewichtigen Einfluss auf die Gesamtgröße der Bevölkerung. Da die Menschen in diesen Gesellschaften im Schnitt kürzer leben, gibt es weniger alte Menschen. Dies wird sich in den kommenden Jahrzehnten jedoch deutlich ändern. Nach 2020 werden daher die Sterberaten in den Entwick-
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lungs- und Schwellenländern voraussichtlich wieder ansteigen. Denn ab dann kommen in den meisten Ländern Asiens und Afrikas stark besetzte Geburtenjahrgänge ins Hauptsterbealter. Am besten lässt sich der Unterschied zeigen, wenn wir die Hauptvariante der UN-Bevölkerungsprojektion mit einer alternativen Modellrechnung vergleichen. Bliebe die Sterblichkeit so, wie sie derzeit ist, würde die Weltbevölkerung im Jahr 2050 nicht 9 Milliarden, sondern rund eine Milliarde weniger Menschen zählen.
Verringerte Säuglings- und Kindersterblichkeit Entscheidend für den starken Rückgang der Sterberaten war bis in die jüngste Vergangenheit die sinkende Säuglings- und Kindersterblichkeit. In Europa und Nordamerika ging sie schon im 19. Jahrhundert deutlich zurück. In den weniger entwickelten Regionen und Ländern kam es erst seit 1950 zu einem ähnlichen Rückgang. Die Ursachen dafür waren sowohl eine bessere Ernährung als auch verbesserte hygienische Bedingungen, Massenimpfungen und die Möglichkeit zur Behandlung von Magen-Darm-Infektionen. Hinzu kommt, dass das Stillen wieder stärker propagiert wurde. Auch dadurch haben Neugeborene und Kleinkinder höhere Überlebenschancen. 1950–1955 starben von 1000 Neugeborenen weltweit noch 157 vor dem ersten Geburtstag und weitere 80 vor ihrem fünften Geburtstag. Heute (2005) liegt die Säuglingssterblichkeit weltweit nur noch bei 52 von 1000 Neugeborenen und die Kindersterblichkeit zwischen 1. und 5. Geburtstag bei 29 von 1000 Kindern.
Verringerte Säuglings- und Kindersterblichkeit
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Abb. 9 Sterberate (pro 1000 Einwohner), 1950 – 2050. Quelle: UN Population Division (2005)
In wenig entwickelten Regionen verstarben Mitte des 20. Jahrhunderts von 1000 Neugeborenen 180 bereits im ersten Lebensjahr. Heute liegt dort die Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr bei 57 Verstorbenen auf 1000 Neugeborene. Bei Fortschreibung des Trends werden um 2050 in Entwicklungs- und Schwellenländern nur noch 30 von 1000 Neugeborenen ihr erstes Lebensjahr nicht überleben. Am höchsten ist die Säuglings- und Kindersterblichkeit nach wie vor in Afrika. Im Zeitraum von 2000 bis 2005 starben dort 94 von 1000 Kindern im ersten Lebensjahr, und 55 von 1000 in der Zeit vom zweiten bis zum fünften Lebensjahr.
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4 Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevölkerungswachstums
Auch in Asien ist die Kindersterblichkeit noch hoch, wenn auch fast um die Hälfte niedriger als in Afrika (1. Lebensjahr: 54 von 1000, 2.– 5. Lebensjahr: 11 von 1000). Noch einmal um die Hälfte darunter liegt sie in Lateinamerika (1. Lebensjahr: 26 von 1000, 2.–5. Lebensjahr: 9 von 1000). In entwickelten Regionen der Welt lag die Säuglingssterblichkeit 1950 mit 59 Sterbefällen auf 1000 Geburten etwa auf dem heutigen Niveau Asiens. Heute liegt diese Sterblichkeit in reichen Ländern nur noch bei 7 auf 1000 Geburten. In den wirklich wohlhabenden Ländern wie Deutschland, der Schweiz und Österreich hat die Säuglingssterblichkeit mit etwa 4 auf 1000 Geburten und in Skandinavien und Japan mit 3 auf 1000 bereits ein Niveau erreicht, das sich kaum noch senken lässt. Auch Sterbefälle von Kindern zwischen 2 und 5 Jahren gibt es hier kaum noch.
Tab. 4 Säuglingssterblichkeit (pro 1000 Lebendgeburten) und Kindersterblichkeit (pro 1000 Kinder im Alter von 2 bis 5 Jahren) in Hauptregionen der Erde, 1950, 2005. Quelle: UN Population Division (2005); PRB (2006)
Steigende Lebenserwartung
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Steigende Lebenserwartung Die Lebenserwartung fasst die Entwicklung der Sterblichkeit am anschaulichsten zusammen: Sie beantwortet dabei eine Frage, die fast alle Individuen interessiert: Welche Chance habe ich, ein bestimmtes Alter zu erreichen? Sinkende Sterblichkeit bedeutet einen Gewinn an Lebensjahren. Diese Chance ist über die Welt und innerhalb einzelner Gesellschaften höchst ungleich verteilt. Von wesentlichem Einfluss auf die Lebenserwartung ist einerseits in fast allen Teilen der Welt das Geschlecht. Zum anderen hat – aus einleuchtenden Gründen – das materielle Lebensniveau erheblichen Einfluss darauf, wie lange Menschen im Schnitt leben. Eine höhere Lebenserwartung haben daher in der Regel Personen mit besserem Einkommen und privilegierter beruflicher Stellung. Der Zugang zu Dienstleistungen des Gesundheitswesens spielt dabei zwar eine gewisse Rolle. Aber ganz offensichtlich sind Unterschiede im Lebensstil, bei der Ernährung, im Beruf und im Freizeitverhalten mindestens ebenso entscheidend. Dieser Zusammenhang gilt nicht bloß individuell, sondern auch für Gesellschaften als ganze. Schließlich gibt es Einflüsse, die zwar die Sterberate erhöhen, aber in den allgemeinen Sterbetafeln und bei der Berechnung der Lebenserwartung normalerweise nicht berücksichtigt werden: Kriege, Naturkatastrophen und andere Ereignisse, die innerhalb kurzer Zeit eine große Zahl von Opfern fordern. Mitte des 20. Jahrhunderts betrug die Lebenserwartung im Weltdurchschnitt nur 46 Jahre. Im Jahr 2006 lag sie bereits bei 67 Jahren. In den kommenden 40 Jahren dürfte sie auf 75 Jahre steigen. Besonders eindrucksvoll war der Zuwachs in wenig entwickelten Ländern und Regionen (1950–1954: 41 Jahre, 2006: 65 Jahre). Ohne die weltweite HIV/AIDS-Epide-
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Abb. 10 Lebenserwartung und BIP pro Kopf, 2002–2003. Quelle: UN Population Division für die Lebenserwartung sowie Weltbank (World Development Report)
mie wäre dieser Zugewinn an Jahren noch deutlicher ausgefallen. Beim Zugewinn gab es deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Heute leben Frauen im Schnitt vier bis sechs Jahre länger als Männer. Doch auch das ist ganz unterschiedlich, wenn man in einer hoch oder in einer schlecht entwickelten Gesellschaft lebt. Der Unterschied ist in 28 Ländern geringen Wohlstands mit bloß 0–2 Jahren zugunsten der Frauen recht klein; und in fünf Ländern haben weiterhin Männer eine längere Lebenserwartung. Ganz genau erforscht sind die Gründe für diese Unterschiede nicht. Doch die historischen Daten zur Sterblichkeit in Asien, Afrika und Lateinamerika enthalten einen klaren Hin-
Steigende Lebenserwartung
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weis: Wahrscheinlich hat die rascher steigende Lebenserwartung von Frauen mit der sinkenden Zahl von Schwangerschaften und Geburten pro Frau zu tun. Denn die damit verbundenen Risiken für das Leben der Mütter waren in der Vergangenheit beträchtlich und sind es heute in einigen armen Ländern noch immer. Auffällig ist zum Beispiel, dass die Lebenserwartung indischer Frauen erst seit etwa zwei Jahrzehnten größer ist als jene der indischen Männer. Solange dort die Fruchtbarkeit nach 1950 auf hohem Niveau stagnierte oder sogar noch etwas stieg, profitierten eher die Männer vom Zugewinn an Lebenszeit. Seitdem die durchschnittlichen Kinderzahlen abnehmen, erhöhte sich die Lebenserwartung der Frauen stärker als jene der Männer. Diese Differenz zeigte sich sowohl bei den heute wohlhabenderen Schwellenländern als auch in der Gruppe der ärmsten Länder. Einfluss auf die Lebensspanne hat aber nicht nur das Risiko, das für Frauen mit Schwangerschaften und Geburten verbunden ist. Auch der jeweilige Lebensstil ist von erheblicher Bedeutung. Der aber unterscheidet sich deutlich zwischen Männern und Frauen. Dazu gehören neben Ernährung und Körperbewusstsein auch der Konsum von Alkohol und das Rauchen. Beides ist unter Männern weiter verbreitet als unter Frauen. Gerade in Ländern wie Russland und der Ukraine dürfte der starke Alkoholkonsum vieler Männer erklären, warum deren Lebenserwartung seit den 1980er Jahren nicht mehr stieg bzw. sogar sank. In den kommenden Dekaden müsste sich dieser Effekt sinkender Kinderzahlen eigentlich weiter zugunsten der Frauen auswirken. Die Prognose der UN geht allerdings nicht davon aus. Im Jahr 2050 rechnet diese Prognose für Männer mit einer Lebensspanne von 79 Jahren (also mit einem Gewinn von +7 Jahren) und für Frauen mit einer Lebensspanne von
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85 Jahren (also mit einem Gewinn von weniger als +6 Jahren). Der Vorsprung der Frauen würde sich in diesem Zeitraum um 1,5 Jahre verkleinern. Dahinter steht die Annahme, dass bestehende Unterschiede mit der Zeit generell kleiner werden. Dies ist eine Annahme, die sich nur zum Teil auf »Beobachtungen« stützen kann. Zum anderen verdankt sich die erwartete Konvergenz zwischen den Geschlechtern wie auch zwischen den Entwicklungsregionen in manchen wichtigen Kennzahlen dem politischen Wunsch beteiligter Regierungen. Sie sind daher mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten. In der hoch entwickelten Welt hatten bereits Neugeborene des Jahres 1950 eine Lebenserwartung, die so hoch lag wie der heutige Weltdurchschnitt. Die durchschnittliche Lebensspanne stieg seither weltweit um +21 Jahre. Die Entwicklungsländer holten seit dem Zweiten Weltkrieg durch einen raschen Rückgang der Sterblichkeit stark gegenüber den entwickelten Ländern auf. In den 1950er Jahren war die Lebenserwartung in entwickelten Ländern (1950–1955: 66 Jahre) im Schnitt noch um 25 Jahre höher als in Entwicklungsländern (1950–1955: 41 Jahre). Heute beträgt der Unterschied nur noch 12 Jahre (entwickelte Länder 2005: 77 Jahre; weniger entwickelte Länder: 65 Jahre). Somit war das Tempo des Sterblichkeitsrückganges in den Entwicklungsländern wesentlich größer als im Europa des 19. Jahrhunderts. Die Europäer benötigten 70 Jahre, um ihre durchschnittliche Lebenserwartung von 40 auf 60 Jahre zu erhöhen. Die Einwohner aller Entwicklungsländer zusammen benötigten dafür nur die Hälfte der Zeit: nämlich von 1950 bis 1985. Von den Bewohnern entwickelter Länder haben die Einwohner Russlands (2005: 65 Jahre; Männer 59, Frauen 72)
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Abb. 11 Lebenserwartung bei der Geburt (in Jahren), 2002. Quelle: World Bank 2006
und der Ukraine (68; Männer 63, Frauen 74) bei weitem die kürzeste und seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sogar sinkende Lebensspanne, falls man diese zwei Gesellschaften, entsprechend der UN-Klassifizierung, überhaupt zu den hoch entwickelten Ländern zählt. Weltweit mit Abstand am geringsten ist die Lebenserwartung in den von HIV/AIDS und anderen epidemischen Krankheiten am stärksten betroffenen Ländern des südlichen Afrikas. Dahinter folgen mit An-
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gola, Sierra Leone, Mozambique, Liberia (41–44 Jahre) weitere afrikanische Staaten. In Asien liegt die Lebenserwartung in Afghanistan (45 Jahre) am niedrigsten. In der westlichen Hemisphäre leben Menschen im Armenhaus Haiti deutlich am kürzesten (52 Jahre).
Insgesamt stieg die Lebenserwartung in heutigen Schwellenländern zwischen 1950 und 2005 für beide Geschlechter zusammen von knapp 42 auf gut 66 Jahre. Dies war ein Gewinn an Lebenszeit von +24 Jahren. Im Vergleich dazu fiel der Anstieg von 36 auf 51 Jahre, also ein Zugewinn von bloß +15 Jahren in der Gruppe der ärmsten Länder bescheidener aus. Auch hier war jedoch der Zuwachs bei Frauen etwas größer als bei Männern. Neben dem Geschlecht spielt das Wohlstandsniveau eine wichtige Rolle. Vor allem in der Gruppe der ärmeren Länder erklärt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen einen hohen Teil der Unterschiede in der Lebenserwartung (siehe Abb. 10). Ab einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von US-$ 15000 verschwindet der Zusammenhang weitgehend. Unter den hoch entwickelten Industrieländern bewirken selbst größere Wohlstandsunterschiede (wenn überhaupt) nur sehr kleine Zugewinne an Lebenszeit. Hier zählen andere Faktoren – vom vorherrschenden Lebensstil über die Ernährungsweise bis zur Qualität des öffentlichen Gesundheitswesens – offenbar mehr. Amartya K. Sen (1996) – der Wirt-
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schaftsnobelpreisträger des Jahres 1998 – verwies in diesem Zusammenhang besonders auf die Qualität der Befriedigung von Grundbedürfnissen. Diese hängt nicht nur von der Höhe des Pro-Kopf-Einkommens, sondern auch von dessen Verteilung ab. Das gilt auch für die industrialisierten Länder. Ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) merkte, wie in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. Juni 2000 nachzulesen ist, dazu an: »Dass die [US-]Amerikaner im Durchschnitt 4,5 Jahre weniger bei guter Gesundheit leben können als die Japaner, sei angesichts des in den USA verbreiteten Wohlstands keine Selbstverständlichkeit. Die geringere Lebenserwartung ist nach Angaben der WHO vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Lebensbedingungen der Angehörigen von Minderheiten in den Vereinigten Staaten oft eher den Bedin-
Abb. 12 Lebenserwartung bei Geburt (in Jahren), 1950–2050. Quelle: UN Population Division (2005)
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gungen in einem Entwicklungsland als jenen in einem Industrieland entsprechen. Das Leben dieser Personen sei vor allem durch Armut und den Mangel an medizinischer Versorgung geprägt.« Starke Ungleichheit senkt also die nationale Lebenserwartung.
Von Geburten und Sterbefällen zum Bevölkerungswachstum Kurzfristig entscheidet die hier analysierte Entwicklung von Geburten und Sterbefällen über das Ausmaß des »natürlichen« Wachstums; also über die Zu- oder Abnahme der »einheimischen« Bevölkerung. Die Gesamtveränderung wird darüber hinaus von den Wanderungen beeinflusst. Im Weltmaßstab sind Geburten und Sterbefälle die einzigen Bestimmungsgrößen. Denn die Summe aus allen internationalen Zu- und Abwanderungen ist selbstverständlich Null. Betrachten wir einzelne Länder und Regionen, dann können Ein- und Auswanderer freilich zur Bevölkerungsbilanz und damit zum Wachstum beitragen (Kapitel 5). Dabei sind Wanderungen eher ein Faktor des Ausgleichs: Entwicklungsländer mit wachsender Bevölkerung weisen mehr Auswanderungen als Einwanderungen auf. Hoch entwickelte Länder mit stagnierender Einwohnerzahl gehören dagegen fast durchwegs zu den »Gewinnern« internationaler Wanderung. Insgesamt ist dieser Ausgleich jedoch erstaunlich gering. Weltweit leben nur 3 von 100 Erdenbürger in einem anderen Land. Das heißt: In ihrer überwiegenden Mehrzahl leben die Menschen nach wie vor im Land, in dem sie zur Welt kamen; allerdings vielfach nicht mehr an ihrem Geburtsort. Bezogen auf die jeweilige Bevölkerung lässt sich aus Ge-
Von Geburten und Sterbefällen zum Bevölkerungswachstum
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Tab. 5 Lebenserwartung bei Geburt in Hauptregionen der Erde (in Jahren), 1950–2005. Quelle: UN Population Division (2005)
burten und Sterbefällen (natürliche Bevölkerungsbilanz) sowie aus Zu- und Abwanderungen (Wanderungsbilanz) eine Wachstumsrate errechnen. Diese kann positiv (Zuwachs) oder negativ (Abnahme) ausfallen. Ob eine Bevölkerung langfristig wächst oder schrumpft und wie schnell sie wächst oder schrumpft, hängt wesentlich davon ab, wie weit die durchschnittliche Kinderzahl vom Ersatzniveau entfernt ist. Damit sich eine Generation vollständig reproduziert, muss die durchschnittliche Kinderzahl etwas größer sein als zwei, weil jeweils etwas mehr Jungen als Mädchen geboren werden und einige Mädchen sterben, bevor sie ins gebärfähige Alter kommen. In westlichen Industriegesellschaften, wo die Kindersterblichkeit sehr klein ist, genügen im Schnitt 2,1 Kinder pro Frau, um eine Elterngeneration vollständig zu ersetzen. In vielen Entwicklungsländern liegt dieses Ersatzniveau aufgrund einer höheren Säuglings- und Kindersterblichkeit bei 2,2 bis 2,3 Kindern pro Frau.
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Nord und Süd: Unterschiedliches Bevölkerungswachstum Von den 2,5 Milliarden Erdenbürgern des Jahres 1950 hatten rund ein Drittel – genau 813 Millionen – das Privileg, nach dem Zweiten Weltkrieg und während der Phase des Wiederaufbaus in einem der heute hoch entwickelten Länder zu leben. Die übrigen zwei Drittel – etwa 1,7 Milliarden – waren Bewohner europäischer Kolonien und bereits unabhängiger Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Nicht alle Länder der sogenannten »Dritten Welt« waren damals arme Länder. In Argentinien und Chile war der Lebensstandard in der Zwischenkriegszeit und um 1950 höher als in weiten Teilen Europas. Allerdings lebten damals 201 Millionen bzw. 8,0 % der Weltbevölkerung in den am wenigsten entwickelten Ländern. Die hoch entwickelten Länder wiesen zur Mitte des 20. Jahrhunderts (1950) mit 1,2 % pro Jahr ein beträchtliches Bevölkerungswachstum auf. Doch seither sank ihre jährliche Wachstumsrate. Bis Mitte der 1960er Jahre reduzierte sie sich auf 1 %; und bis 1990 auf +0,5 %. Seither halbierte sich das jährliche Wachstum nochmals. 2004/05 wuchs die Bevölkerung aller hoch entwickelten Länder bloß um +0,28 %. Selbst dieses geringe Wachstum war zu einem beträchtlichen Teil auf Zuwanderer zurückzuführen. Zum einen erhöhen Einwanderer direkt die Bevölkerungszahl des Ziellandes. Zum anderen wandern vor allem jüngere Menschen, die im Reproduktionsalter stehen, in die reicheren Länder ein. Damit erhöhen sie kurz- und mittelfristig auch die Geburtenzahlen jener Länder, in die sie einwandern. Längerfristig passen Einwanderer jedoch ihre Kinderzahlen an das (meist niedrigere) Niveau der Einheimischen an. Laut Hauptvariante der UN-Bevölkerungsprognose wird
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das Bevölkerungswachstum in den heute hoch entwickelten Ländern kurz nach 2030 zum Stillstand kommen. In den Folgejahren würde die Einwohnerzahl der reichsten Länder unserer Welt wieder etwas abnehmen. Die UN-Prognose rechnet bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts (2050) mit einer Abnahme von –0,1 % pro Jahr. Ob es tatsächlich dazu kommt, wird allerdings vom Ausmaß der Zuwanderung aus weniger entwickelten Regionen abhängen. Aus heutiger Perspektive sieht es eher nach weiterer starker Zuwanderung in reiche Länder mit schrumpfender einheimischer Bevölkerung und weniger nach tatsächlicher Schrumpfung der Einwohnerzahl aus. Deutlich anders verlief die Entwicklung seit Ende des Zweiten Weltkriegs in den weniger entwickelten Ländern und Regionen der Welt. Mitte des 20. Jahrhunderts wuchsen die Einwohnerzahlen in Asien (Japan ausgenommen), Afrika und Lateinamerika um +2,2 % pro Jahr. Damit war die Zuwachsrate fast doppelt so groß wie in Europa und Nordamerika. Ende der 1950er Jahre begann sich dieses Wachstum zu beschleunigen. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erreichte der Zuwachs in jener Gruppe von Ländern – damals auch »Dritte Welt« genannt – mit +2,6 % (1967/68) seinen historischen Höhepunkt. Längerfristig hätte dies bedeutet, dass sich die Einwohnerzahl aller Schwellen- und Entwicklungsländer binnen 27 Jahren verdoppelt hätte. Seitdem gehen die Zuwachsraten stetig zurück. Gegenwärtig beträgt das jährliche Wachstum in dieser inzwischen sehr heterogenen Ländergruppe nur noch +1,4 % (2004/05). In absoluten Zahlen beträgt dieser Zuwachs allerdings rund +72 Millionen Menschen pro Jahr. Im Vergleich dazu stieg die Einwohnerzahl der sogenannten »Dritten Welt« 1966–1967 bei einer doppelt so hohen Zuwachsrate absolut nur um +64 Millionen Menschen. Dies hat damit zu tun, dass die Länder
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mit hoher Zuwachsrate damals kleinere Einwohnerzahlen hatten. In der Zukunft wird sich die Zuwachsrate weiter abschwächen. Für 2049–50 rechnet die UN-Prognose mit +0,4 %. In absoluten Zahlen würde dies bedeuten, dass die Zahl der Menschen in ärmeren Ländern pro Jahr immer noch um +32 Millionen Menschen wächst. Das Wachstum der ärmsten Länder der Welt war Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund höherer Sterblichkeit etwas schwächer als jenes der heutigen Schwellenländer (1950/ 51: +1,9 %). Doch auch hier erhöhte sich danach das Tempo des Zuwachses. In dieser Gruppe von Ländern erreichte der Zu-
Abb. 13 Wachstumsraten der Bevölkerung, 1951 bis 2050. Quelle: UN Population Division (2005)
Verschiebung der Gewichte
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wachs 1991–92 mit +2,8 % sein historisches Maximum. Das hätte Verdoppelung der Einwohner binnen 25 Jahren bedeutet. Gegenwärtig wächst die Bevölkerung der ärmsten Länder immer noch um +2,4 % pro Jahr (2004 /5). In absoluten Zahlen bedeutet dies ein jährliches Plus von 16 Millionen Menschen in den von Armut und Elend am stärksten geprägten Gesellschaften unserer Erde und eine Verdoppelungszeit von 30 Jahren. Auch in den kommenden Jahrzehnten dürften die Zuwachsraten in den ärmsten Ländern nur langsam sinken. Die UN-Prognose nimmt an, dass sie 2025 bei 2 % pro Jahr liegen werden. Für die Mitte des 21. Jahrhunderts wird dort immer noch ein jährlicher Zuwachs von +1,2 % erwartet. Trotz Halbierung der Zuwachsrate gegenüber 2004/ 5 würde dies in absoluten Zahlen einen jährlichen Zuwachs von +22 Millionen Menschen bedeuten. Das ist mehr als heute. Zwei Drittel des globalen Bevölkerungswachstums werden dann auf die 51 ärmsten Gesellschaften der Welt entfallen.
Verschiebung der Gewichte Aufgrund unterschiedlich hoher Zuwachsraten verschieben sich die demographischen Gewichte. Mitte des 20. Jahrhunderts lebte ein Drittel der Menschheit in hoch entwickelten Ländern. Heute macht der Anteil der hoch entwickelten Welt an der Weltbevölkerung insgesamt weniger als 19 % (2006) aus. Der relative Anteil Europas, Nordamerikas, Japans und Australiens an der Weltbevölkerung hat sich somit halbiert. Im Jahr 2050 wird die Einwohnerzahl der hoch entwickelten Länder bloß noch ein Siebtel (14 %) der Weltbevölkerung ausmachen. Der Anteil der Kolonien und Entwicklungsländer lag Mitte
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4 Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevdlkerungswachstums
des 20. Jahrhunderts bei zwei Dritteln der Weltbevölkerung. Bis heute ist der Anteil dieser Weltregionen auf 82 % (2006) gestiegen. Um 2050 werden in den heutigen Entwicklungsund Schwellenländern laut Hauptvariante der UN-Prognose 86 % aller Menschen leben. 12 % der Weltbevölkerung entfallen heute auf die ärmsten Länder der Welt. Ihr Anteil an der Weltbevölkerung stieg gegenüber 1950 um rund 50 % an. In der Zukunft wird sich der überproportionale Zuwachs der Länder mit dem geringsten Wohlstand weiter fortsetzen. Mitte des 21. Jahrhunderts wird in diesen Ländern bereits fast ein Fünftel der Weltbevölkerung leben (2050: 19 %). In vielen dieser Länder wird sich das Bevölkerungswachstum auch in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts fortsetzen.
Tab. 6 Bevölkerung (in Millionen) und deren Verteilung (in %) nach Weltregionen, 1900–2050. Quelle: UN Population Division (2005); PRB (2006). Daten für 2050 beruhen auf der mittleren Variante; die obere Variante rechnete mit 10,6 Mrd., die untere Variante mit 7,4 Mrd.
Erhebliche Unterschiede zwischen den Kontinenten
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Tab. 7 Durchschnittliche Rate des Bevölkerungswachstums (in %) nach Weltregionen, 1950–2005. Quelle: UN Population Division (2005)
Erhebliche Unterschiede zwischen den Kontinenten Wenn wir die skizzierte Entwicklung stärker regional differenzieren, zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Kontinenten. 1950 hatte Europa (einschließlich Russlands und anderer europäischer Republiken der damaligen Sowjetunion) 547 Millionen Einwohner. Die Bevölkerung unseres Kontinents wuchs in den 1950er und frühen 1960er Jahren im Schnitt um +1,1 % pro Jahr. Nach heutigen Maßstäben war dies ein respektabler Zuwachs – zumal wenn man bedenkt, dass von Europa bis Mitte der 1960er Jahre mehr Menschen auswanderten als zu uns einwanderten. Danach reduzierte sich das jährliche Wachstum bis 1985 auf +0,4 %. Schließlich brachte die politische Wende in Mittel- und Osteuropa auch demographisch einen starken Einschnitt. Geburtenraten und Kinderzahlen gingen massiv zurück und liegen in diesem Teil unseres Kontinents seither unter dem europäischen Schnitt. Trotz erhöhter Zuwanderung aus anderen Teilen der Welt ergibt sich im letzten Jahrfünft von 2000 bis 2005 nur eine stagnierende Bevölkerung für unseren Kontinent. Diese Ein-
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4 Höhepunkt und Verlangsamung des weltweiten Bevölkerungswachstums
wohnerzahlverluste konzentrieren sich fast vollständig auf die Länder Ostmittel- und Osteuropas. In den Jahren seit 2004 schrumpfte allerdings auch die Einwohnerzahl Deutschlands. Insgesamt verzeichneten die heutigen 27 EU-Staaten auch in jüngerer Zeit einen Zuwachs an Einwohnern. Die Zuwächse lagen seit dem Jahr 2000 etwa bei +2 Millionen pro Jahr. Zum größten Teil (85 %) erklärt sich die weiterhin steigende Einwohnerzahl der EU durch Zuwanderung aus umliegenden Regionen. Heute hat unser Kontinent (einschließlich Russlands und der europäischen GUS-Staaten) 732 Millionen Einwohner. Bis 2050 rechnet die UN-Prognose mit einem Rückgang auf 653 Millionen. Da die Demographen der UN bei der Vorhersage zukünftiger Zuwanderung eher zurückhaltend sind, könnte die Einwohnerzahl unseres Kontinents im Jahr 2050 auch größer sein. Afrika bildet einen starken Kontrast zu Europa. Am Anfang der 1950er Jahre lebten hier 221 Millionen Menschen. Die jährlichen Zuwachsraten waren hoch (1950–55: +2,2 %); sie stiegen danach auf den Höchstwert von +2,9% pro Jahr (1980–85). Damit ist Afrika die Region mit dem höchsten Bevölkerungswachstum, welches in der Geschichte der Menschheit jemals über längere Zeit erreicht wurde. Dieses Tempo verringerte sich erst während der 1990er Jahre; zuerst nur langsam, über die Jahre hinweg jedoch erkennbar. 2000 bis 2005 betrug das jährliche Wachstum aber immer noch +2,2 %; genauso viel wie zu Beginn der 1950er Jahre. Im nächsten halben Jahrhundert dürfte es auf rund 1 % pro Jahr absinken. Die HIV /AIDS-Epidemie trägt zu diesem Rückgang bei, verursacht allerdings selbst in den am stärksten betroffenen Ländern Afrikas noch keine rückläufigen Einwohnerzahlen.
Erhebliche Unterschiede zwischen den Kontinenten
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Hier zeigt sich einer der Schwachpunkte malthusianischen Denkens: Selbst Epidemien endemischen Ausmaßes, die sozial wie menschlich als Katastrophe gesehen werden müssen, beeinflussen die Bevölkerungsentwicklung langfristig viel weniger als von Malthus angenommen. Dies gilt jedenfalls für die Zeit nach der großen Pest des Spätmittelalters (siehe Kapitel 2). Keine der danach häufigen, bis Anfang oder Mitte des 19. Jahrhunderts zyklisch auftretenden Sterblichkeitskrisen hat die Bevölkerung langfristig gebremst. Einzige Ausnahme könnte die Hungersnot in Irland Ende der 1840er Jahre sein, als die Briten rund eine Million Menschen auf der Grünen Insel verhungern ließen. Doch auch in Irland war es nicht so sehr diese Katastrophe, welche die Bevölkerungszunahme für eineinhalb Jahrhunderte verhinderte. Es war eher die Stärke der Auswanderung nach Übersee, vor allem in die USA, die damals einsetzte und (mit einer längeren Unterbrechung nach 1924) bis in die 1980er Jahre andauerte. In Asien (einschließlich Japans) lebten 1950 rund 1,4 Milliarden Menschen. Die jährliche Bevölkerungszunahme war mit 2,0 % hoch, erreichte jedoch nie das Rekordniveau Afrikas. Seinen Höhepunkt erreichte das asiatische Bevölkerungswachstum bereits zwischen 1965 und 1970 (2,4 %). Die Trendwende zu kleineren Wachstumsraten erfolgte in den frühen 1970er Jahren. Seit damals sank der jährliche Zuwachs auf +1,3 % (2000–2005). Dies ist nur noch die Hälfte des historischen Maximums. Klammert man den Sonderfall China mit seiner sehr restriktiven Bevölkerungs- und Familienpolitik aus, dann betrug das jährliche Wachstum in Asien 2000–2005 immer noch + 1,6 %. So betrug der Zuwachs zu Beginn des 21. Jahrhunderts in absoluten Zahlen fast +48 Millionen Menschen pro Jahr. Zum Vergleich: Afrika hatte zur gleichen Zeit eine fast
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doppelt so hohe Zuwachsrate, steuerte aber nur rund +18 Millionen zum jährlichen Wachstum der Weltbevölkerung bei. 2005 hatte Asien rund 3,9 Milliarden Einwohner. Im Jahr 2050 ist in Asien mit einer Einwohnerzahl von etwa 5,3 Milliarden zu rechnen. In Ostasien wird das Bevölkerungswachstum danach zum Stillstand kommen. In Süd- und Westasien ist mit weiteren Zuwächsen zu rechnen. Indien wird dann das bevölkerungsreichste Land der Erde sein. Nordamerika hatte infolge der starken Zuwanderung schon seit 1750 hohe Zuwächse. Nach 1924 kam der Zustrom in die USA vorübergehend zum Stillstand. Nach 1945 kam die massive Zuwanderung wieder in Gang. 1950 lebten in Nordamerika 172 Millionen Menschen. Die jährliche Wachstumsrate betrug immerhin 1,7 %. 2005 hatte Nordamerika 331 Millionen Einwohner und ein jährliches Bevölkerungswachstum von 1,0 %. Von diesem Wachstum erklären sich etwa 40 % durch Zuwanderung. 2050 wird Nordamerika voraussichtlich 462 Millionen Einwohner haben. Zuwanderung und eine leicht positive Geburtenbilanz werden auch in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts für wachsende Einwohnerzahlen sorgen. Lateinamerika war bis Mitte des 20. Jahrhunderts eines der Hauptziele internationaler Migration. Danach kehrten sich die Vorzeichen um. Um sich greifende Armut und das in etlichen Ländern starke Bevölkerungswachstum führten zu erheblicher Auswanderung. 1950 hatten Lateinamerika und die Karibik 167 Millionen Einwohner und eine jährliche Zuwachsrate von +2,7 %. Danach verlangsamte sich das Wachstum bereits Ende der 1960er Jahre. 2005 lebten in dieser Weltregion 566 Millionen Menschen. Die Wachstumsrate betrug 1,4 %. 2050 werden Lateinamerika und die Karibik 783 Mil-
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lionen Einwohner haben. Danach dürfte das Bevölkerungswachstum in diesem Teil der Welt zum Stillstand kommen. 1950 hatten Australien, Neuseeland und die Inselstaaten des Pazifikraumes (Ozeanien) insgesamt nur 13 Millionen Einwohner. Die jährliche Zuwachsrate betrug + 2,2 %. Sie erklärte sich auch durch Zuwanderung nach Australien und Neuseeland. 2005 war die Einwohnerzahl der Region mit 33 Millionen mehr als doppelt so groß. Der jährliche Zuwachs lag bei +1,3 %. Für das Jahr 2050 erwartet die UN-Prognose 46 Millionen Einwohner. Zumindest durch Zuwanderung dürfte die Einwohnerzahl auch danach weiter wachsen.
Von der wachsenden zur schrumpfenden Bevölkerung Zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2015 wächst die Einwohnerzahl unserer Erde um etwa 1 Milliarde. Mehr als die Hälfte des Zuwachses entfällt auf Asien: vor allem auf Südasien (+330 Millionen) und auf Ostasien (+227 Millionen). Die Einwohnerzahl des sub-saharischen Afrikas erhöht sich im selben Zeitraum um +227 Millionen. Kleiner sind die Zuwächse in Lateinamerika und der Karibik (+108 Millionen) sowie in Nordafrika und dem Nahen Osten (+88 Millionen). Das Wachstum erfolgt überwiegend in weniger entwickelten Regionen. Insgesamt wächst die Einwohnerzahl zwischen 2000 und 2015 in Entwicklungsländern um +642 Millionen und in Schwellenländern um +347 Millionen. Hoch entwickelte Länder und Regionen tragen zu diesem weltweiten Wachstum mit +52 Millionen bei. In einigen Ländern und Regionen nimmt die Einwohnerzahl schon heute ab. In etlichen Ländern ist ein solcher Rückgang während der kommenden Jahrzehnte zu erwarten. Dabei
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gibt es für die Möglichkeit einer Bevölkerungsabnahme in naher Zukunft zwei völlig unterschiedliche Szenarien. Einerseits wirkt sich im postmodernen Selbstverwirklichungsprozess der Wertewandel hin zum Individualismus als Lebensform aus. Das Streben nach persönlichem Glück kann sich in hoch entwickelten Ländern durchaus mit einer verantwortungsbetonten Haltung gegenüber (potenziellen) eigenen Nachkommen verbinden. Wir wollen nicht einfach Kinder in die Welt setzen, sondern ihnen zugleich eine gewisse Sicherheit bieten, selber auch ein lebenswertes Leben führen zu können. Das ist vor allem eine Frage des Zugangs zu Bildung und guten Lebensbedingungen während des Heranwachsens. Gary Becker (1986) sprach in diesem Zusammenhang von quality kids (vgl. Kapitel 3). Zugleich möchten wir wegen eigener Kinder nicht auf Einkommen, Lebensstandard und Selbstverwirklichung verzichten. Die Folge ist ein starker Rückgang der Kinderzahlen unter das Reproduktionsniveau. Die entstehende »Lücke« wird in etlichen Ländern auf Dauer nicht vollständig durch Zuwanderung geschlossen werden. Ein Bevölkerungsrückgang in Teilen Europas und Ostasiens ist daher absehbar. Wie der Prozess insgesamt ausgehen dürfte, ist am besten beim Vergleich heutiger hoch entwickelter mit gering entwickelten Ländern zu sehen. »De te fabula naratur« (Die Geschichte handelt von dir) hieß die Pointe einer Satire des Horaz: Das dürfte mit ziemlicher Sicherheit auch für die Bevölkerungsentwicklung gelten (Abb. 14). Andererseits lässt sich der Bevölkerungsrückgang als Krisenszenario beschreiben. Das gilt jedenfalls für die »afrikanische Bevölkerungskrise« im südlichen Afrika. In Ländern wie Botswana, Malawi, Mozambique und Lesotho betrifft HIV/AIDS einen erheblichen Teil der Bevölkerung und führt
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zu einer für unsere Welt außerordentlich hohen Sterblichkeit. Die Lebenserwartung sinkt dramatisch. Das führt mittelfristig auch zu Bevölkerungsrückgängen, weil diese Epidemie vor allem junge Erwachsene trifft. Ein zweites Krisenszenario betrifft mehrere osteuropäische Gesellschaften. Russland, die Ukraine, Georgien, andere Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und einige andere postsozialistische Länder kämpfen mit demographischen Folgen des wirtschaftlichen und politischen Transformationsprozesses nach 1989. Zum einen stagniert oder sinkt in diesen Ländern die Lebenserwartung, vor allem die der Männer. Zum anderen liegt die durchschnittliche Kinderzahl bei etwa 1,2 und damit weit unter dem Ersatzniveau. Letzteres hat nicht allein mit ökonomischer Unsicherheit, sondern auch mit einer außerordentlich schnellen Übernahme westlicher Wertvorstellungen und Lebensmuster zu tun. Das bewirkte fast automatisch, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene weniger eigene Kinder wünschten. Zugleich wurde die Verwirklichung dieses Wunsches auf eine spätere Lebensphase verschoben. Dies verstärkte den Rückgang der Geburtenzahlen. Auch wenn die Verschiebung der Geburten in eine spätere biographische Phase in Summe wieder zu höheren Kinderzahlen führen dürfte, wird das zukünftige Niveau auf Dauer unter jenem der 1980er Jahre bleiben. Die Folge ist ein drastischer Schwund der einheimischen Bevölkerung. Wahrscheinlich werden Teile Europas, insbesondere der Balkan, Ostmittel- und Osteuropa, aber vielleicht auch Deutschland, Italien und Spanien im Jahr 2050 weniger dicht besiedelt sein, als sie es heute sind. Klarerweise beruht diese Prognose auf einer Fortschreibung aktueller Trends. Doch aufgrund der Trägheit des Systems würde selbst ein deutlicher Anstieg der heute sehr niedrigen Kinderzahlen die Be-
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Abb. 14 Entwicklung der Einwohnerzahlen ausgewählter Länder (in Mio.)
völkerungsgröße nur auf lange Sicht beeinflussen. In diesem Sinn können uns langfristige Prognosen klarmachen, »wohin die Reise geht«. Damit stellt sich die Frage: Ist dieser Prozess der Bevölkerungsentwicklung zu beeinflussen? Wir haben am Vergleich zwischen Indien und China schon gesehen: 1. Politik zählt. Auch in einer so entscheidenden sozialen und persönlichen Frage, wie es die Bestimmung der Zahl der eigenen Nachkommenschaft ist, kann mittels des Einsatzes von Politik ein Entwicklungsziel deutlich schneller erreicht werden (Kapitel 7). 2. Dies ist allerdings auch eine Frage des Einsatzes weicherer oder härterer Mittel und Methoden. Eine autoritäre Ent-
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wicklungsstrategie – man könnte die derzeitige chinesische Politik so bezeichnen – ist eine Kommando-Politik. Dabei wird ein an der Spitze definierter Entwurf mit den Instrumenten politischer Macht nach unten hin durchgesetzt. Wir tendieren dazu, diese Art von Politik als nicht sehr erfolgversprechend zu betrachten. Doch dies ist eine Frage der Perspektive. Was ist die Führung bereit dafür einzusetzen? 3. Damit kommen wir zur Frage nach den »Kosten«, nach dem trade off zwischen miteinander zumindest kurzfristig konkurrierenden Zielen. Wir gehen davon aus, dass in unserer Kultur der Wert der Demokratie über jenem eines, wenn auch wichtigen, politischen Einzelziels der Regierungen steht. Chinas Regierung rechnet uns dagegen vor, dass ihre Politik dem Land bislang 400 Millionen Geburten und damit jede Menge Elend »ersparte«. Nur so sei es gelungen, den Lebensstandard der übrigen 1,3 Milliarden Chinesen zu heben.
Zum Schluss: Wie viele Menschen? Die letzten drei Kapitel beleuchteten die gesamte Natur- und Kulturgeschichte der Menschheit. Danach lässt sich fragen: Wie viele Menschen haben in diesem Zeitraum jemals gelebt? Der US-amerikanische Demograph Carl Haub berechnete für den Zeitraum von 50 000 v. u. Z. bis 2002 eine Weltbevölkerungszahl von 106,5 Milliarden. Er legte dabei eine bis in die Gegenwart wachsende Lebenserwartung zugrunde. Sein Kollege Nathan Keyfitz errechnete für den Zeitraum von 1000000 v. u. Z. bis zum Jahr 2000 insgesamt 96,1 Milliarden Menschen. Dabei legte er eine konstante durchschnittliche
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Lebenserwartung von 25 Jahren zugrunde. Im Modell von Nathan Keyfitz steckt eine weitere mathematische Vereinfachung. Seine Rechnung beginnt mit zwei Menschen, die sich dann weiter fortpflanzen. Damit ging er von zwei »Ur-Eltern« – nach der biblischen Vorstellung von Adam und Eva – aus. Wovon hängt nun die Gesamtzahl aller Menschen ab? Zum einen muss man einen Zeitpunkt in ferner Vergangenheit festlegen, ab dem unsere Vorfahren zur Menschheit zählen. Der jeweilige Bevölkerungsstand zu früheren Zeitpunkten lässt sich mehr oder weniger sicher angeben. Schließlich brauchen wir eine plausible Annahme für die »Verweildauer« aller bislang geborenen Menschen auf der Erde. Auskunft darüber gibt die Lebenserwartung. Unserer eigenen Berechnung liegt von Anbeginn der Menschheit bis zur Zeitenwende eine durchschnittliche Lebenserwartung von 20 Jahren zugrunde; von 0 bis 1600 eine Lebenserwartung von 25 Jahren; danach bis 1850 eine Lebenserwartung von 30 Jahren. Ab da verfügen wir bis in die Gegenwart über Daten zur realen Lebenserwartung. Unsere eigenen Berechnungen ergeben für die letzten 160000 Jahre, für die wir die Entwicklungsgeschichte des homo sapiens analysierten, eine Zahl von rund 50 Milliarden Menschen. Wenn wir weitere rund 2 Millionen Jahre unserer menschlichen Existenz neben anderen Arten der Gattung Homo einbeziehen, dann kommen zu den bereits genannten 50 Milliarden weitere knapp 5 Milliarden hinzu. Dabei fällt allerdings auch die Bevölkerungszahl der Neandertaler und anderer inzwischen ausgestorbener Menschenarten ins Gewicht. Dieser Wert ergibt sich nämlich, wenn man für diese Zeit eine mittlere Menschenzahl von 50000 zugrunde legt. Bei einer mittleren Zahl von 100 000 Men-
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schen ergeben sich für diese Zeit vor dem homo sapiens knapp 10 Milliarden. Heute (2007) leben auf unserer Erde rund 6,6 Milliarden Menschen. Nach unserer eigenen Rechnung sind dies 11 % aller Menschen der Art homo sapiens, die jemals gelebt haben. Falls N. Keyfitz recht hat, dann macht die derzeitige Weltbevölkerung rund 7 % der gesamten Menschheit aus.
5 Räumliche Mobilität und internationale Wanderungen Räumliche Bewegungen von Menschen gab es zu allen Zeiten. Während des größten Teils ihrer Vor- und Frühgeschichte waren die Menschen Nomaden. Daher wurde der Wechsel des Wohnsitzes erst mit dem Sesshaftwerden von Menschen ab der Jungsteinzeit zu etwas Besonderem.
Kolonisation und Völkerwanderungen in der Antike Von der Antike bis zur frühen Neuzeit war Migration häufig gleichbedeutend mit Eroberung, »Landnahme« oder Ausdehnung des Einflussbereichs einer bestehenden Kultur. Ein frühes Beispiel in Europa sind die Kelten. Sie dehnten ihren Lebensraum und damit auch Sprache, Kultur und Religion von West- und Mitteleuropa bis auf die Britischen Inseln, Spanien, Oberitalien, den Donau- und Karpatenraum und das Gebiet des Schwarzen Meeres aus. Heutige Großstädte wie Paris, Turin, Budapest und Ankara sind alle keltischen Ursprungs. Antike Stadtstaaten des Mittelmeerraums expandierten auf andere Weise. Sie kanalisierten ihr Bevölkerungswachstum durch Neugründung von Städten entlang der Küsten des Mittelmeerraums. Phönizische Auswanderer begründeten Karthago, heute ein Vorort von Tunis. Griechische Siedler begründeten Städte wie Syrakus auf Sizilien, Marseille, Barcelona
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und Lissabon (siehe Kapitel 2). Im römischen Imperium war die Produktion und Verschiffung von Lebensmitteln bereits so gut organisiert, dass in Rom und anderen größeren Städten auch wachsende Bevölkerungen ernährt werden konnten und daher niemand auswandern musste. Den Römern dienten Stadt- und Garnisonsgründungen indes als Instrument der Herrschaftssicherung. Die Verteilung von Land und die Ansiedlung ehemaliger Legionäre waren zugleich eine Form der Altersversorgung. Trotz allem erfolgten Wanderungen auch in der Antike oft nicht freiwillig. Immer wieder flohen Einheimische vor eindringenden fremden Heeren und vor nomadischen Völkern. Es gab auch Deportationen: Sargon von Akkad begründete im 23. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung den ersten mesopotamischen Flächenstaat. Chroniken berichten, dass er ganze Beduinenstämme von der Nordgrenze seines Reichs absiedelte und ihnen im Süden des Zweistromlands neue Weidegründe zuwies. Im neuassyrischen Reich gab es vom 9. Jahrhundert v. u. Z. an Massendeportationen, die Zehntausende Menschen betrafen. Von einer lesen wir im Alten Testament. Das »Zweite Buch der Chroniken« berichtet von der »babylonischen Gefangenschaft der Juden«. Sie begann 586 v. u. Z. mit der Einnahme Jerusalems durch Truppen des babylonischen Königs Nebukadnezar II. Im 19. Jahrhundert verarbeitete Giuseppe Verdi den Stoff in seiner Oper »Nabucco«. Damals war vom Babylonischen Exil nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe betroffen, nämlich die jüdische Oberschicht. Unter den Verschleppten befanden sich auch die Propheten Daniel und Ezechiel sowie König Jojakim selbst. Gerade im babylonischen Exil betonten jüdische Priester und Gelehrte die Besonderheit des jüdischen Glaubens. Die Thorah wurde erst hier völlig in den Mittelpunkt gerückt und der
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5 Räumliche Mobilität und internationale Wanderungen
monotheistische Jahwe-Glaube endgültig durchgesetzt. So wurde das babylonische Exil zu einer Zeit, welche die jüdische Religion entscheidend prägte. Mehrere Jahrhunderte später entstand in Mesopotamien mit dem Babylonischen Talmud die – nach der Bibel – zweitwichtigste Quelle jüdischer Theologie.
Völkerwanderungen germanischer, slawischer und asiatischer »Stämme« In der Spätantike wanderten germanische Stämme in den Mittelmeerraum, die Schwarzmeerregion und Westeuropa ein. Teils waren sie Gegner und Konkurrenten Roms, teils integrierten sie sich als besoldete Kämpfer, geduldete Siedler und als Verbündete in das Römische Reich. Dabei zwang der Verlust an militärischer Stärke das Römische Reich, sich immer stärker auf solche Verbündete zu stützen. Ganze Stämme wurden als Bundesgenossen gezielt an den Grenzen des römischen Reiches angesiedelt und sollten einen »Puffer« gegen äußere Feinde bilden. Mit dem Niedergang der weströmischen Militär- und Verwaltungsstrukturen etablierten die germanischen Stämme eigene Herrschaftsgebiete von der Krim (Ostgoten) über Oberitalien (Ostgoten, Langobarden) und Gallien (Franken) bis Großbritannien (Angeln, Sachsen, Juten, Dänen), Spanien (Vandalen, Westgoten) und Nordafrika (Vandalen). Man darf sich unter diesen »Stämmen« allerdings keine Abstammungsgemeinschaften oder gar homogene ethnische Gruppen vorstellen. Die sogenannten Stämme waren viel eher Gruppen mit gemeinsamer Loyalität, militärischer Organisation und sozialer Ordnung. Sie konnten in Größe und Zusammensetzung stark fluktuieren und aus ganz unterschiedlichen ethni-
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schen Gruppen und Sprachgemeinschaften bestehen. Die umherziehenden »Ostgoten« waren tatsächlich eine Gemeinschaft aus »echten« Goten, Hunnen, Gepiden und persischsprechenden Alanen. Ähnliches gilt für andere »Stämme« der Völkerwanderungszeit. Slawische Stämme besiedelten ab dem 6. Jahrhundert nicht nur Osteuropa. Sie wanderten auch in die byzantinisch beherrschten Regionen des Balkans, des heutigen Griechenlands sowie in weite, von Germanen und Römern weitgehend verlassene Teile Mitteleuropas ein. Die slawische Besiedlung
Abb. 15 Die Völkerwanderung im 4. und 5. Jahrhundert n. u. Z.
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reichte damit von Elbe und Ostsee über die Zentral- und Ostalpen bis an die Adria und das Schwarze Meer. Aus Zentralasien drangen Reiternomaden bis nach Europa vor: im 5. Jahrhundert die Hunnen und Awaren. Im 7. Jahrhundert stießen die turkstämmigen Bulgaren von der Wolga nach Westen, im 8. bis 10. Jahrhundert die Ungarn vom mittleren Ural zuerst in den Süden und dann ins Karpatenbecken. Schon im 8. Jahrhundert hatten Araber bei ihrer Expansion in den westlichen Mittelmeerraum die Straße von Gibraltar überschritten und die maurische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel ausgedehnt. In allen diesen Fällen – vom Vordringen germanischer Stämme und asiatischer Reiternomaden in die antike Zivilisation bis zur Ausbreitung der Araber in den Mittelmeerraum und nach Mesopotamien – handelte es sich um eine Mischung aus Eroberungs- und Siedlungsmigration. Aktiv waren daran allerdings im Höchstfall nur wenige 10000 Personen beteiligt. Die letzten Einwanderer in das mittelalterliche Europa waren im 14. Jahrhundert die osmanischen Türken. Ihre Vorfahren stammten ursprünglich ebenfalls aus Zentralasien. Sie selbst dehnten ihr Herrschaftsgebiet von Anatolien auf den Balkan aus. Von dort eroberten sie 1453 Konstantinopel und größere Teile Südosteuropas und etablierten sich als europäische Großmacht. Bosnien und Bulgarien standen von da an bis 1878 unter türkischer Verwaltung. Der gesamte Balkan begann seine nationalen Entwicklung somit nicht nur unter, sondern meist gegen die Osmanen. Bis heute sind dort antitürkische Feindbilder lebendig.
Was wurde aus Eroberern und Eroberten?
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Was wurde aus Eroberern und Eroberten? In vielen Fällen bewirkten Eroberung und Kolonisation, dass Sprache und Kultur der Zuwanderer dominant wurden. So führten die Eingliederung Iberiens, Galliens und Dakiens in das Römische Imperium sowie die Ansiedlung römischer Kolonisten zu einer Romanisierung der ansässigen Mehrheitsbevölkerung. Deshalb sprechen Spanier und Portugiesen, Franzosen und Belgier sowie Rumänen und Moldawier heute romanische Sprachen. Bisweilen verdrängten die Neuankömmlinge einen größeren Teil der Einheimischen. So flohen viele britische Kelten nach der Einwanderung von Angeln und Sachsen aus England nach Wales, Cornwall, Schottland und über den Ärmelkanal in die Bretagne, die erst dadurch ihren heutigen Namen erhielt. Später wurden die auf den britischen Inseln verbliebenen Kelten zum Großteil anglisiert. Heute beherrscht nur noch eine kleine Minderheit der Bewohner von Wales, Schottland und Irland die einst in Europa vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer weitverbreitete keltische Sprache: das Gaelische. In anderen Fällen etablierten sich die Eroberer zwar als politische und militärische Eliten, assimilierten sich aber in Sprache und Kultur an die Mehrheit der Eroberten. Die Herrschaft der Franken in Gallien führte zu einer Romanisierung der fränkischen Oberschicht. Ähnliches widerfuhr später den skandinavischen Normannen, die den Nordwesten Frankreichs eroberten. Die ursprünglich turksprachigen Bulgaren wurden von ihren eigenen Herrschern sogar gezwungen, sich an die slawische Mehrheit ihres Herrschaftsgebiets zu assimilieren, als die Khane dort eine feudale Ordnung einführten. Nur selten etablierten sich die Eroberer der Spätantike und
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des Mittelalters als schmale herrschende Elite, die sich nicht assimilierte und als tonangebende Minderheit an ihrer Kultur festhalten konnte. Wichtigstes Beispiel dafür sind die Schweden in Finnland. Auch die romanisierten Normannen, die England 1066 eroberten, hielten während des Mittelalters an der französischen Sprache fest.
Neuzeit: Koloniale und demographische Expansion Europas Seit Beginn der Neuzeit wurde das Wanderungsgeschehen von der militärischen und wirtschaftlichen Expansion der europäischen Seemächte nach Übersee geprägt. Auslösend dafür war zum einen die Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Bartolomeu Diaz, der 1488 das Kap der Guten Hoffnung umsegelte, und durch Vasco da Gama, der 1497 tatsächlich die indische Küste erreichte. Zum anderen aber war die Fahrt des Christoph Kolumbus im Jahr 1492 nach Amerika entscheidend. Dieser wollte eigentlich nach China und Indien und glaubte anfangs auch, in Indien gelandet zu sein. (Aufgrund dieses Irrtums – den Kolumbus noch vor Ende seines Lebens als solchen erkannte – werden die indigenen Völker Nord- und Südamerikas bis heute auch »Indianer« genannt.) Spanien und Portugal beschlossen daraufhin mit dem Segen Papst Alexanders VI. in den Verträgen von Tordesillas (1494), die Welt unter sich aufzuteilen. In Konkurrenz dazu errichteten die Niederlande, England und Frankreich eigene Kolonien in Nordamerika, Afrika, Asien und Ozeanien. In der frühen Neuzeit handelte es sich primär um eine militärische und ökonomische Expansion. Unter dem Schutz der Flotten ihrer Heimatländer errichteten einige wenige europäische Pionierwanderer »Brückenköpfe«, Handelsniederlas-
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sungen, befestigte Häfen, Garnisonen und Plantagen. Viele von ihnen hofften auf raschen Reichtum und eine Rückkehr nach Europa. Im Nordosten der heutigen USA entstanden allerdings schon im frühen 17. Jahrhundert Gesellschaften von Siedlern, die dort auf Dauer ein Leben als freie Bürger führen wollten. Sie waren Vorreiter der späteren europäischen Auswanderungsbewegung. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde aus der Expansion Europas in größerem Umfang eine Siedlungskolonisation, die auch die Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerungen veränderte. Davor hatten die Kolonialmächte Europas allerdings bereits Sklaven aus Westafrika nach Nord- und Südamerika sowie in die Karibik »verfrachtet«. Sie sollten die rasch schwindende Zahl indigener Arbeitskräfte ersetzen. Dadurch kamen zwischen dem 17. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts rund 11–12 Millionen Menschen als Sklaven nach Amerika. Sie bilden den Ursprung jener afroamerikanischen Bevölkerungen, die es heute von Brasilien über die Karibik bis in die USA gibt. Weitere zwei Millionen Afrikaner wurden damals als Sklaven in arabische Länder verkauft. Nach 1750 begann in Europa eine Phase stärkeren Bevölkerungswachstums. Sie bildete zugleich die demographische Grundlage der damals einsetzenden Massenauswanderung. Wesentlich verbesserte Transportbedingungen – vor allem die Etablierung von leistungsfähigen Schiffs- und Eisenbahnlinien – bildeten die andere Voraussetzung. Schließlich veränderte die Industrielle Revolution auch die Natur der Wanderungen. Gefragt waren zunehmend nicht mehr agrarische Siedler, sondern Arbeitskräfte für die in Übersee entstehenden Manufakturen. Im Gegensatz zur Spätantike und dem frühen Mittelalter handelte es sich bei der europäischen Migration nach Übersee
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nicht mehr um eine »Völkerwanderung«, sondern um die Wanderung von Individuen und Familien. Etliche Europäer emigrierten aus religiösen oder politischen Gründen. Dies galt insbesondere für Reformierte und Anhänger protestantischer Freikirchen, ab dem späten 19. Jahrhundert auch für europäische Juden, die in einer Reihe von Staaten diskriminiert oder verfolgt wurden. Es galt für Liberale und Republikaner, in kleinerem Umfang auch für Exponenten der europäischen Linken; darunter viele Prominente, die nach dem Revolutionsjahr 1848 emigrieren mussten. Manche machten später in den USA große Karriere. Einer von ihnen war Carl Schurz aus dem Rheinland, der sich den Badischen Revolutionären angeschlossen hatte. Er wurde später Truppenkommandeur im amerikanischen Bürgerkrieg, Senator und schließlich Minister (Homeland Secretary) in der Regierung des US-Präsidenten R. B. Hayes. Für die Mehrzahl der Auswanderer standen jedoch wirtschaftliche Motive im Vordergrund. Emigration war für viele Europäer die einzige Chance, der eigenen Armut, der Knappheit an Boden oder den Beschränkungen der Zünfte zu entkommen. Durch Intoleranz und Verfolgung erzwungene Wanderungen spielten allerdings auch im innereuropäischen Wanderungsgeschehen eine Rolle. Seit Beginn der Neuzeit gab es Hunderttausende, die als Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten verfolgt wurden und schließlich ins Ausland flohen: So mussten zum Beispiel im 16. Jahrhundert Juden aus Spanien und Portugal in die Niederlande und in die Türkei fliehen. Im 17. Jahrhundert wurden Hugenotten aus Frankreich nach Preußen vertrieben, im 18. und sogar noch Mitte des 19. Jahrhunderts Protestanten aus Salzburg und dem Tiroler Zillertal sowie aus anderen Habsburgischen Ländern. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert betraf die Flucht vor
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allem osteuropäische Juden aus Russland, der heutigen Ukraine, dem heutigen Polen und dem Baltikum. Unabhängig vom jeweils dominanten Motiv hatten die hier analysierten Wanderungen erhebliche demographische Auswirkungen. In Nordamerika und der Karibik, in Teilen Südamerikas und in Australien wurden die indigenen Bewohner entweder ausgerottet, durch den Kontakt mit Kolonisatoren von Infektionskrankheiten dahingerafft oder von europäischen Siedlern weitgehend aus ihrem ursprünglichen Lebensraum verdrängt. Deshalb denken wir beim Stichwort »Indianer« heute vor allem an Bewohner unwirtlicher Regionen im Südwesten der USA oder an Wildbeuter im brasilianischen Regenwald. Dass es indianische Hochkulturen (z. B. Azteken, Inka, Maya, Olmeken) gab, ist in unserem kulturellen Gedächtnis wenig verankert. In Nord- und Südamerika sowie in der Karibik bilden die Nachfahren europäischer Einwanderer und afrikanischer Arbeitssklaven heute fast überall die Mehrheit. Auch Australien und Neuseeland haben Gesellschaften, in denen Einwohner ursprünglich europäischer Herkunft dominieren. Ähnliches gilt für Sibirien, den Norden Kasachstans und den Nordteil des Fernen Ostens, wo seit dem späten 18. Jahrhundert Russen und Auswanderer aus anderen Teilen Europas angesiedelt wurden. Einige Europäer gelangten auf diesem Weg sogar bis nach Alaska, das erst 1865 von Russland an die USA verkauft wurde. Siedlungskolonisation gab es auch im südlichen Afrika, im Maghreb und seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Palästina. Im früheren Rhodesien (heute Sambia und Zimbabwe) sowie in Südafrika, Angola und Mozambique waren die europäischen Siedler und ihre Nachfahren zwar politisch und wirtschaftlich tonangebend. Doch demographisch blieben sie in der Minder-
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heit. In Algerien mussten fast alle französischen Siedler und ihre Nachfahren am Ende eines blutigen Kolonialkrieges das Land verlassen, als dieses 1961 unabhängig wurde. Im Gegensatz zu Amerika, Australien und dem südlichen Afrika spielten europäische Siedler in anderen Kolonialgebieten europäischer Mächte zahlenmäßig keine Rolle. In Westund Zentralafrika, Ostafrika, Süd- und Südostasien sowie im Pazifik und in Teilen der Karibik beschränkte sich die Präsenz der Kolonialmächte auf Soldaten, Verwaltungsbeamte sowie eine schmale Schicht von Unternehmern, Plantagenbesitzern und Abenteurern.
Innereuropäische Wanderungen zwischen Industrieller Revolution und Weltwirtschaftskrise Mit der Industrialisierung entstanden moderne Formen der Arbeitskräftewanderung. Migrantinnen und Migranten fanden Arbeit in Gewerbe und Industrie. Einige gründeten früher oder später eigene Betriebe. Nach 1850 gewannen die – in Summe beträchtlichen – innereuropäischen Migrationsbewegungen an Bedeutung. Im 19. Jahrhundert setzte eine massive Zuwanderung in die neuen Zentren der Eisen- und Stahlindustrie ein. Dazu gehörten vor allem die britischen Midlands, Lothringen und das Ruhrgebiet, aber auch einige Industriegebiete der Schweiz. Zugleich wurden einige europäische Metropolen damals durch Zuwanderung binnen weniger Jahrzehnte zu Millionenstädten – darunter London, Paris, Berlin, Wien und Budapest. Die Möglichkeit, in eine dieser wirtschaftlich und kulturell prosperierenden Metropolen zu ziehen, erschien vielen als Alternative zur Auswanderung nach Übersee.
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Nach dem Ersten Weltkrieg verringerte sich in Europa die Arbeitskräftewanderung und in den USA die Einwanderung generell. Ursache dafür war, dass die meisten Nationalstaaten – auch klassische Einwanderungsländer wie die USA – seit Beginn des 20. Jahrhunderts schrittweise die Zuwanderung ausländischer Staatsbürger einschränkten. In Mitteleuropa sowie auf dem Balkan reduzierte zudem die Gründung neuer Nationalstaaten jene Mobilität, die zuvor innerhalb des Deutschen Reichs, Österreich-Ungarns und der Osmanischen Türkei möglich gewesen war. Am Ende der 1920er Jahre kam es mit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise schließlich zur völligen Abschottung nationaler Arbeitsmärkte in Europa.
Deportation, Flucht und »ethnische Säuberung« Im 20. Jahrhundert wanderte weltweit die bislang größte Zahl von Menschen. Zu einem beträchtlichen Teil handelte es sich dabei um unfreiwillige Wanderungen: also um Flucht, Vertreibung oder staatlich erzwungenen Austausch von Bevölkerungen. Allein in Europa waren im 20. Jahrhundert über 60 Millionen Menschen von Flucht, Deportation und »ethnischer Säuberung« über Landesgrenzen betroffen. Auslöser von Massenflucht und Vertreibung waren zum Beispiel der Erste Weltkrieg (die Armenier-Massaker in der osmanischen Türkei); die russische Oktoberrevolution von 1917 (1,5 Millionen Flüchtlinge) und der türkisch-griechische Krieg von 1922. Im anschließenden Frieden von Lausanne (1923) beschlossen Sieger und Besiegte die wechselseitige Aussiedlung von 1,5 Millionen griechisch-orthodoxen Christen aus der Türkei und von rund 500000 Muslimen aus Griechenland. Großbritannien und Frankreich gaben dazu ihren Segen.
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Auch während der Zeit des Nationalsozialismus, des Stalinismus und des Zweiten Weltkriegs dominierten in Europa Flucht und Vertreibung, kollektive Umsiedlung, Deportation und Zwangsarbeit. In Summe dürfte das NS-Regime rund 8,5 Millionen Zwangsarbeiter zur Aufrechterhaltung von Landund Kriegswirtschaft in Deutschland und Österreich) genötigt haben. In einem Teil der Fälle verbanden sich Deportationen und Genozid. Dies betraf vor allem Juden sowie Sinti und Roma in Mittel- und Osteuropa (6 Millionen KZ- und Genozid-Opfer). Es betraf aber auch eine große Zahl von Opfern stalinistischer Deportationen in der Sowjetunion, durch die rund 20 Millionen Menschen zu Binnenvertriebenen im eigenen Land wurden. Durch die politische Neuordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieben Flucht und Vertreibung während der unmittelbaren Nachkriegszeit an der Tagesordnung. In Europa waren davon in erster Linie 12 Millionen Ost- und die Volksdeutschen betroffen. Opfer staatlich verordneter Zwangsumsiedlung wurden zur gleichen Zeit 1,5 Millionen Polen sowie Hunderttausende Ukrainer, Italiener und Ungarn. Auch diese Zwangsmaßnahmen erfolgten überwiegend mit Zustimmung oder sogar im Auftrag der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Außerhalb Europas führten die Gründung Indiens und Pakistans 1947 in beträchtlichem Umfang zu unfreiwilliger Migration. Schätzungen gehen von 11 Millionen vertriebenen Muslimen, Hindus und Sikhs aus. Gleiches gilt für die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Sie führte zur Flucht und Vertreibung von 0,8 Millionen Palästinensern sowie von mehreren Millionen Juden aus arabischen Ländern und dem Iran. Zwischen 1950 und 1990 kam es zum Massenexodus aus kommunistisch regierten Ländern; insbesondere aus der
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DDR, Ungarn, Kuba, Polen, der Tschechoslowakei und Vietnam. Nachdem Tschiang Kai-schek mit seiner Armee den chinesischen Bürgerkrieg verloren hatte und nach Taiwan floh, folgte ihm 1949–50 eine größere Zahl von Militärs und Zivilisten. Bulgarien setzte mit seinen Zwangsmaßnahmen zur Assimilation ethnischer Türken und anderer Moslems zweimal – nämlich um 1950 und ab Mitte der 1980er Jahre – eine halb freiwillige, halb erzwungene Massenauswanderung Richtung Türkei in Gang. Das Ceaufeş cu-Regime »verkaufte« in den 1970er und 1980er-Jahren Zehntausende seiner deutschsprachigen Bürger an die Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Zusammenbruch kommunistischer Regime auf dem Balkan kam es zu Massenauswanderungen in den Westen: aus Bulgarien (1989– 1990), Rumänien (1990–1991) und aus Albanien (ab 1990). In der Zeit des Kalten Kriegs wurden diese Migranten im Westen als politische Flüchtlinge anerkannt, obwohl bei vielen wirtschaftliche Motive im Vordergrund standen. Im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert führten Bürgerkriege und gewaltsame politische Konflikte unter anderem in Afghanistan, Bosnien, dem Kosovo, dem Irak, Ruanda, dem Sudan und in Tschetschenien zu erheblichen Flüchtlingsströmen. Von den Flüchtlingen und Vertriebenen des 20. Jahrhunderts konnte später nur eine kleine Minderheit wieder in die alte Heimat zurückkehren. Der größere Teil blieb auf Dauer im Ausland; viele lebten über Jahre und manche sogar über Jahrzehnte in Flüchtlingslagern. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) schätzte, dass es im Jahr 2005 rund 9,6 Millionen internationale Flüchtlinge gab. Die überwiegende Mehrzahl der anerkannten Flüchtlinge hatte in einem ärmeren Land der Welt Aufnahme gefunden. Hinzu kommt
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die inzwischen auf mehrere Millionen Menschen angewachsene palästinensische Flüchtlingsbevölkerung, die nicht unter das Mandat des UNHCR fällt. Wichtigste Aufnahmeländer waren in den vergangenen Jahren: der Iran, Pakistan, Deutschland, die USA sowie einige zentral- und ostafrikanische Länder. Insgesamt wurden in West- und Mitteleuropa zwischen 1989 und 2006 rund 7,5 Millionen Asylanträge gestellt. Hier gibt es seit Ende des Kalten Kriegs allerdings eine klare Tendenz, Asylbewerber und Bürgerkriegsopfer nicht mehr automatisch als politische Flüchtlinge anzuerkennen, sondern allenfalls befristet zu dulden. Im Gegensatz dazu hat sich die Zahl der in ärmeren Ländern Asiens und Afrikas aufgenommenen Flüchtlinge nach 1980 deutlich erhöht. Ärmere Länder in der Nachbarschaft von Krisenregionen tragen somit heute die Hauptlast bei der Bewältigung von Flüchtlingsproblemen. Zu den unfreiwilligen Migranten gehören auch die Binnenvertriebenen. Von ihnen gab es im frühen 21. Jahrhundert weltweit rund 24 Millionen (2006). Die meisten waren und sind Opfer von zurückliegenden oder noch andauernden Bürgerkriegen. Vielfach handelt es sich um Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten sowie um Sympathisanten unterlegener Fraktionen, oft um Teile der von einer oder mehreren Kriegsparteien terrorisierten Zivilbevölkerung.
Entkolonialisierung und postkoloniale Wanderung Erst seit den späten 1950er und 1960er Jahren gibt es eine nennenswerte Zuwanderung aus anderen Regionen der Welt nach Europa. In Ländern wie Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und später auch Portugal hatte dies mit dem
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Rückzug dieser Länder aus ihren Kolonien zu tun. Am Ende europäischer Kolonialherrschaft in Afrika, im Nahen Osten, in Süd- und Südostasien sowie in der Karibik wanderten in Summe mehrere Millionen zuvor für die Kolonialverwaltung tätige Beamte und Soldaten sowie Siedler europäischer Herkunft in ihre jeweiligen Mutterländer. In einigen Fällen war die Auswanderung »weißer« Siedler explizit oder implizit Teil der Vereinbarungen zwischen ehemaliger Kolonialmacht und neu entstehenden Nationalstaaten. So sah etwa der Vertrag von Evian zwischen Frankreich und der algerischen Befreiungsbewegung FLN die vollständige Absiedlung von rund 1 Million Algerienfranzosen – sogenannten Pieds noirs – ins französische »Mutterland« vor. Auch die in den 1990er Jahren erfolgte Rückwanderung von rund 5 Millionen ethnischen Russen aus Zentralasien, dem Kaukasus und dem Baltikum nach Russland kann man letztlich als Spätfolge eines Prozesses der Entkolonialisierung interpretieren. Den »Kolonialrückkehrern«, von denen viele zuvor nie in den jeweiligen europäischen Mutterländern gelebt hatten, folgten in großer Zahl auch Einheimische aus ehemaligen Kolonien. Nach Großbritannien kamen vor allem Inder, Pakistanis und Anglo-Karibier, nach Frankreich vor allem Algerier, Tunesier und Marokkaner sowie Vietnamesen und Westafrikaner. In die Niederlande kamen sowohl christliche und moslemische Bürger Indonesiens als auch Surinamer und Bewohner der Niederländischen Antillen. In den 1970er Jahren migrierten schließlich Bewohner Angolas, Moçambiques und der Kapverden in größerer Zahl nach Portugal. Sie alle kamen auf der Suche nach Arbeit und besseren Bildungschancen nach Europa. Manche wollten auch nach der Entkolonialisierung ausgebrochenen Bürgerkriegen und politischer Repression im jeweiligen Herkunftsland entfliehen. Gefördert
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wurde diese Migration von der zunehmenden Nachfrage nach billigen, weniger qualifizierten Arbeitskräften in Europa. Die postkolonialen Wanderungen wurden anfangs dadurch erleichtert, dass die Mutterländer Bewohnern ihrer ehemaligen Überseegebiete die Staatsbürgerschaft zuerkannten oder sie zumindest als bevorzugte Einwanderer behandelten und diese meist schon Englisch, Französisch, Niederländisch oder Portugiesisch sprachen. Gerade in den ehemaligen Kolonialmächten entstanden dadurch neue ethnische Minderheiten, die heute vor allem das Bild der großen städtischen Metropolen Westeuropas prägen. Bis heute stößt die ökonomische und soziale Integration dieser Minderheiten auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Zuwanderer aus ehemaligen Kolonialgebieten und inzwischen unabhängigen Staaten der »Dritten Welt« bilden heute an vielen Orten neue Unterschichten der »Ersten Welt«.
Arbeitsmigration Die Rekrutierung von Arbeitskräften fand schon unter kolonialen Vorzeichen statt. Innerhalb des britischen Empire wurden Inder seit dem 19. Jahrhundert als Arbeitskräfte nach Mauritius, Ost- und Südafrika, in die Karibik, Guyana und auf die Fidschi-Inseln gebracht. In Südostasien rekrutierten Briten und Niederländer in größerer Zahl chinesische Arbeitskräfte für die rasch wachsende Plantagenwirtschaft. In Nordamerika begann die gezielte Rekrutierung von Arbeitsmigranten bereits im späten 19. Jahrhundert, als man Chinesen in den Westen der USA und Kanadas holte. Sie wurden beim Bau der transkontinentalen Eisenbahnen sowie als Holzarbeiter eingesetzt. Später kamen temporäre Arbeits-
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kräfte vor allem aus Mexiko. Zwischen 1942 und 1964 erfolgte die Rekrutierung von Mexikanern auf Basis des sogenannten Bracero-Programms. Im Gegensatz zu regulären Immigranten war bei diesen Arbeitskräften keine dauerhafte Niederlassung in den USA vorgesehen. Nach 1964 kamen in größerer Zahl irreguläre Migranten vor allem aus Mexiko und Südamerika in die USA. Von ihnen konnten über 8 Millionen ihren Status 1986–1989 legalisieren. Im Jahr 2006 ergab eine Schätzung, dass erneut 10–13 Millionen irreguläre Arbeitsmigranten in den USA lebten; unter ihnen vor allem Arbeitskräfte aus Mexiko und anderen Staaten Lateinamerikas, aber auch eine wachsende Zahl von Asiaten. In Europa verfügen Frankreich und die Schweiz über eine
Abb. 16 Einwanderungs- und Auswanderungsländer der Welt (Saldo aus Zu- und Abwanderung der Wohnbevölkerung), 2000–2005. Quelle: UN Population Division (2006)
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bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. In den späten 1950er und in den 1960er Jahren begannen auch andere Länder Westeuropas – darunter Belgien, Deutschland und Österreich –, wenig qualifizierte Arbeitskräfte im Ausland zu rekrutieren. Wichtigste Herkunftsländer waren Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, die Türkei sowie Marokko und Tunesien, später auch Jugoslawien. Darüber hinaus spielte in Schweden die Zuwanderung aus Finnland, in Großbritannien jene aus Irland, in Deutschland und der Schweiz auch jene aus Österreich eine Rolle. In ihrer Mehrzahl kehrten die Arbeitsmigranten jener Zeit wieder in ihr Herkunftsland zurück. Eine ansehnliche Minderheit blieb jedoch und wurde in Westeuropa sesshaft. Sie und ihre Kinder bildeten den Kern neuer, durch Arbeitskräftewanderung entstandener Minderheiten, mit denen Europa heute konfrontiert ist. Auslöser war der Anwerbestopp zu Beginn der 1970er Jahre. Den Anfang machte 1972 die Schweiz; Deutschland und Österreich folgten 1973–1974. Damit wollten die reicheren Länder Westeuropas signalisieren: Wir benötigen euch nicht mehr; kehrt bitte wieder heim. Viele Betroffene verstanden dieses Signal jedoch als gegenteilige Botschaft: Anders als bis dahin solle man nun auch bei schlechter Arbeitsmarktlage nicht ins Herkunftsland zurückkehren, weil eine spätere Wiederkehr kaum noch möglich schien. Durch den Anwerbestopp verlagerte sich das Wanderungsgeschehen von der Arbeitsmigration zum Familiennachzug. Jene, die zum Bleiben entschlossen waren, holten nun ihre Ehepartner und Kinder nach. Man hielt dies anfangs für einen Prozess, der bald abgeschlossen sein würde. Doch davon kann keine Rede sein. Denn viele Zugewanderte gründen erst im
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Zielland eine Familie – allerdings häufig mit einer Partnerin oder einem Partner aus der eigenen Herkunftsregion, oft sogar aus der eigenen Verwandtschaft. Gleiches gilt für in Westeuropa geborene Kinder von Zuwanderern. Auch von ihnen holen sich etliche die Partnerin oder den Partner aus dem Herkunftsland und der Herkunftsgruppe der Eltern. Deshalb dauern diese Formen der Familienwanderung bis heute an. In vielen Ländern Europas bilden sie inzwischen die wichtigste Möglichkeit legaler Zuwanderung. Man könnte auch sagen: Mangels anderer legaler Optionen nützen etliche die Möglichkeit der Heiratsmigration. Erst mit dem Familiennachzug und der Gründung neuer Familien im Zielland stellte sich für viele Länder Europas das Problem der sozialen und politischen Integration von Zuwanderern. Damit wurden Spracherwerb und Vermittlung demokratischer Werte, Schulbesuch ausländischer Kinder und Erwerb der Staatsbürgerschaft zu Themen innenpolitischer Auseinandersetzung. Mehrere EU-Staaten – darunter Dänemark, Deutschland, die Niederlande und Österreich – führten verpflichtende Sprach- und Integrationskurse für Neuzuwanderer aus Drittstaaten ein. Außerhalb Europas und Nordamerikas findet Arbeitsmigration derzeit vor allem aus dem Nahen Osten, Süd- und Südostasien in die arabischen Golfstaaten, aus angrenzenden Staaten des südlichen Afrikas nach Südafrika, innerhalb Südostasiens nach Malaysia und Singapur sowie innerhalb Südamerikas aus ärmeren Andenstaaten nach Brasilien und Argentinien statt.
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Politische Flüchtlinge und ethnisch privilegierte Migranten Mit der Spaltung Europas und dem Kalten Krieg entstand eine neue Form der Ost-West-Wanderung. In beträchtlicher Zahl versuchten Bürger kommunistisch regierter Länder in den Westen zu gelangen. Am größten war dieser Wanderungsstrom zwischen Ost- und Westdeutschland, bis die DDR mit dem Bau der Berliner Mauer die letzte Lücke im Eisernen Vorhang schloss. In anderen Ländern Ostmitteleuropas kam es jeweils in Krisenjahren des kommunistischen Herrschaftssystems zu spontaner Massenauswanderung: 1956 aus Ungarn, 1968 aus der Tschechoslowakei, 1980 aus Polen, und 1989 aus der DDR. In Westeuropa wurden jene, die aus einem Land »hinter« dem Eisernen Vorhang emigrierten, bis 1990 in der Regel als politische Flüchtlinge anerkannt. Dass bei vielen auch wirtschaftliche Motive eine Rolle spielten, war damals kein Thema. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Zuwanderung von Asylbewerbern zu einem Problem. Denn ihre Zahl nahm nach dem Ende der politischen Spaltung Europas nicht ab, sondern zu. Dies hatte mit dem Wegfall der Reisebeschränkungen, aber auch mit wirtschaftlichen Transformationskrisen und dem Ausbruch gewaltsamer ethnischer Konflikte nach 1989 zu tun. Dies gilt insbesondere für Bosnien, den Kosovo und Tschetschenien. Darüber hinaus stammte nach 1992 der Großteil der Asylbewerber aus Afghanistan, dem Irak, dem Iran und der Türkei. Die Länder Westeuropas reagierten darauf mit der Wiedereinführung der Visumpflicht für etliche benachbarte Länder sowie mit einer Verschärfung ihrer Asylgesetze. Zudem entstand zwischen den EU- und Schengen-Mitgliedsstaaten eine enge Kooperation in Asyl- und Visumfragen.
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Etliche Staaten haben spezielle Einwanderungs- oder jedenfalls Begünstigungsprogramme für Angehörige ihrer »eigenen« ethnischen oder religiösen Diaspora. Bekanntestes Beispiel ist Israel, wo alle Personen jüdischer Abstammung bzw. jüdischen Glaubens einwandern dürfen (1948–2006: 3,0 Millionen). Auch in Europa gibt es zahlreiche Migranten, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit das Recht auf Zuwanderung in einen der europäischen Nationalstaaten hatten bzw. noch haben. Größte Gruppe sind ethnische Deutsche, die nach 1945 in Polen, Rumänien und der Sowjetunion verblieben waren. Sie und ihre Familienangehörigen fanden in großer Zahl Aufnahme in Deutschland (1950–2005: 4,5 Millionen). Allerdings versucht die Bundesrepublik seit den 1990er Jahren, diesen Zuzug zu bremsen. Privilegierten Zugang gab es darüber hinaus in Griechenland für Pontus-Griechen aus Ostmitteleuropa und dem Schwarzmeerraum, in Ungarn für ethnische Ungarn aus Siebenbürgen, der serbischen Vojvodina und der Westukraine, in Polen für ethnische Polen aus Litauen, der Ukraine und Weißrussland, schließlich auf dem Balkan für ethnische Serben in Serbien, ethnische Kroaten in Kroatien sowie ethnische Türken und andere Moslems in der Türkei. Auch Russland akzeptierte während der 1990er Jahre die Zuwanderung von Bürgern anderer Nachfolgestaaten der UdSSR (1990–2000: rund 5 Millionen), darunter mehrheitlich ethnische Russen.
Irreguläre Zuwanderung nach Europa Seit den späten 1980er Jahren gewann die irreguläre Zuwanderung in Europa quantitativ an Bedeutung. Wichtigste Herkunftsländer waren zum einen Polen, Rumänien, Moldawien,
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die Ukraine und Albanien, zum anderen Marokko und Tunesien sowie einige Staaten Westafrikas und Lateinamerikas. Auslöser dieser Zuwanderung waren einerseits der Fall des Eisernen Vorhangs und die erleichterten Reisemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger Ostmittel- und Osteuropas. Andererseits spielten die Entstehung und Ausweitung informeller Arbeitsmärkte in Westeuropa sowie der ökonomische Aufschwung in Südeuropa eine entscheidende Rolle. Beschäftigung fanden und finden irreguläre Migrantinnen und Migranten in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, als Haushaltshilfen und Pflegekräfte sowie im Gastgewerbe. Zu den in diesen Bereichen gezahlten Stundenlöhnen stehen Einheimische in vielen Regionen nicht mehr zur Verfügung; oder es mangelt an einheimischen Arbeitskräften. Mehrere Länder Europas – insbesondere Belgien, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien – reagierten auf diesen Zustrom an Arbeitskräften in Mehrjahresabständen mit großangelegten »Amnestie«-Programmen. Insgesamt erhielten zwischen 1995 und 2006 im Rahmen solcher Programme in der EU und in der Schweiz mehr als 3,2 Millionen irreguläre Zuwanderer eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Zugleich bewirkten die EU-Osterweiterungen der Jahre 2004 und 2007 eine Legalisierung des Aufenthalts hunderttausender Bürgerinnen und Bürger Ostmitteleuropas, die schon davor in einem der »alten« EU-Staaten vorübergehend oder auf Dauer gelebt hatten. Länder wie Großbritannien, Irland und Schweden öffneten für neue EU-Bürger gleich ihren Arbeitsmarkt; Finnland, Griechenland, Italien und Spanien folgten 2006 diesem Beispiel. Im Gegensatz dazu haben Zuwanderer aus neuen EU-Mitgliedsstaaten in Deutschland oder Österreich zwar nun prinzipielles Aufenthaltsrecht, aber keinen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt.
Migration von Eliten und von Menschen im Ruhestand
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Migration von Eliten und von Menschen im Ruhestand Durch die Globalisierung von Ökonomie und Bildungssystemen vergrößerte sich in den letzten Jahrzehnten auch die Zahl von Managern, Spezialisten, Forschern und Studierenden, die innerhalb Europas und der Welt in ein anderes Land wechselten oder von ihren Firmen dorthin geschickt werden. Hauptziel von Forschern und Studierenden waren und sind die USA. Gleichzeitig wächst die Zahl ausländischer Studierender an europäischen Hochschulen. Schließlich erhöhte sich die Zahl europäischer, amerikanischer und nun auch asiatischer Firmen, die in mehr als einem Land tätig sind – und damit auch die Zahl jener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die innerhalb derselben Firma im Lauf ihrer Karriere in unterschiedlichen Ländern arbeiten. Zum Teil umfasst die Elitenwanderung auch Steuerflüchtlinge, die sich bevorzugt an Orten niederlassen, wo der Steuersatz niedrig ist oder ein Teil der jeweiligen Einkünfte bzw. Vermögenswerte nicht deklariert werden muss. Von wachsender Bedeutung für Europa ist schließlich die Migration von Personen ab 50 Jahren, die ihren Lebensabend in einem anderen Land zubringen wollen. Hauptziel waren und sind bisher die Küstenregionen des westlichen Mittelmeers und der Iberischen Halbinsel. Hier siedeln sich vor allem Briten, Deutsche und Skandinavier im Ruhestand an. Wesentlich kleiner war bisher der Zuzug von Ruheständlern nach Griechenland. Im Anstieg begriffen ist dagegen ihre Zahl an der türkischen Südküste. Mittlerweile hat sich die Reichweite dieser Art von »Ruhestandswanderung« deutlich erhöht, sie reicht schon bis nach Sri Lanka und sogar bis auf indonesische Inseln. Es ist nicht selten eine Art saisonaler Wanderung, welche an die seinerzeitige Pendelwanderung mancher Bevölke-
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rungsgruppen zwischen niedriggelegenem Winter- und höhergelegenem Sommerwohnsitz erinnert. Bis vor wenigen Jahren war dieses Phänomen vor allem aus den USA bekannt. Dort sind Florida und der Südwesten bevorzugte Ziele von älteren Menschen im Ruhestand. Im Gegensatz zur Situation in Europa sind die ausgewanderten Rentnerinnen und Rentner der USA jedoch Binnenmigranten im eigenen viel größeren Land. Parallel dazu gibt es eine Rückkehr ehemaliger Arbeitsmigranten in ihre Herkunftsländer. Dies betrifft Personen im Ruhestand, in wachsender Zahl aber auch Personen, die in ihrem Herkunftsland bzw. in dem ihrer Eltern beruflich tätig werden.
Weltweite Migration im 20. und frühen 21. Jahrhundert Siedlungskolonisation – also Landnahme zur Errichtung von Dörfern und der landwirtschaftlichen Nutzung vorhandenen Bodens – war für internationale Wanderungen nur bis ins 19. Jahrhundert typisch. In der Gegenwart spielt politisch motivierte und oft gewaltsame Siedlungskolonisation eine untergeordnete Rolle. Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Landnahme durch jüdische Siedler auf dem Golan und im Westjordanland sowie die Massenansiedlung von Bewohnern Javas auf anderen Inseln Indonesiens. Stattdessen dominierten im 20. und frühen 21. Jahrhundert die klassische Arbeitsmigration, der Nachzug zu bereits ausgewanderten Familienmitgliedern, ethnische und – in abnehmendem Maß – postkoloniale (Rück-)Wanderung, Wanderung zu Studien- und Ausbildungszwecken, durch Not, politische Verfolgung oder ökologische Katastrophen ausgelöste Flucht, schließlich in
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nicht geringem Umfang: staatlich angeordnete Aussiedlung in ein anderes Land, gewaltsame Vertreibungen und sogenannte »ethnische Säuberungen«. In den 1960er Jahren gab es – nach Schätzungen der UNBevölkerungsforscher – weltweit etwa 75 Millionen internationale Migranten. Sie machten damals 2,5 % der Weltbevölkerung aus. In den Industrieländern lag der Zuwandereranteil damals bei 3,4 %; in weniger entwickelten Ländern bei 2,1 % der Bevölkerung. Die Mehrzahl der internationalen Migranten und Flüchtlinge lebte damals in der Dritten Welt; weniger als die Hälfte in einem der reicheren Industriestaaten. Letzteres hatte vor allem damit zu tun, dass Europa bis in die 1960er Jahre selbst eher eine Auswanderungsregion war, während die USA zwischen 1921 und 1965 – im Vergleich zu den Perioden davor und danach – nur wenige Zuwanderer ins Land ließen. Bis Mitte der 1970er Jahre wuchs die Weltbevölkerung schneller als die Zahl der Migranten. 1970 gab es weltweit 82 Millionen Migranten. Das waren bloß 2,2 % der Weltbevölkerung. Ihr Anteil blieb eine Zeit lang stabil (1990: 120 Millionen Migranten bzw. 2,3 %). Allerdings erhöhte sich der Anteil der zugewanderten Bevölkerung in reicheren Ländern und Regionen (1990: 4,3 %). Nach 1990 wuchs die Zahl internationaler Migranten schlagartig. Dies hatte zwei ganz verschiedene Ursachen: Zum einen wechselten wesentlich mehr Menschen freiwillig oder gezwungen ihren Wohnort. Dies hatte mit ethno-politischen Konflikten und Bürgerkriegen (z. B. in Afghanistan, Bosnien, dem Kosovo, Ruanda und Tschetschenien), mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und mit einer gewachsenen Nachfrage nach qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften zu tun. Hauptziele der internationalen Migration waren Westeuropa, Nordamerika (USA, Kanada), die Golfstaaten und Russ-
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land, aber auch die unmittelbaren Nachbarregionen der Konfliktzonen. Zum anderen handelte es sich beim Anstieg der Zahlen um einen statistisch-administrativen Effekt. Denn durch den Zerfall der ehemaligen Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei erhöhte sich 1991– 1993 »auf dem Papier« die Zahl der internationalen Migranten. Binnenwanderer aus der Zeit davor wurden nun nachträglich zu internationalen Wanderern. Dabei dürfen wir allerdings eines nicht übersehen: Für die Betroffenen hatte dieser »statistische Effekt« oft ganz handfeste Auswirkungen. Viele Menschen wurden über Nacht staatenlos, weil sie der »falschen« ethnischen Gruppe angehörten: darunter Hunderttausende ethnische Russen, die zu sowjetischer Zeit nach Estland und Lettland gekommen waren, aber auch Zehntausende slowakische Roma, die schon länger im tschechischen Landesteil lebten. Sie verloren damit ihre bürgerlichen und politischen Rechte. Gleiches galt vielfach auch für ihre bereits im Land geborenen Kinder. Andere ehemalige Binnenwanderer mit »falscher« ethnischer Herkunft blieben zwar auf dem Papier Staatsbürger der neugegründeten Nationalstaaten, aber sie wurden zu Minderheiten im eigenen Land und galten häufig als »unerwünscht«. Dazu gesellten sich ein massiver Assimilationsdruck, aber auch die mehr oder weniger nachdrückliche Aufforderung zur »Auswanderung«. 2005 gab es weltweit rund 191 Millionen Menschen, die nicht mehr in ihrem Geburtsland lebten. Sie machten knapp 3 % der Weltbevölkerung aus. Von ihnen lebten 116 Millionen in Industrieländern. Hier machen sie im Schnitt bereits ein Zehntel der Bevölkerung aus (2005: 9,5 %). Immerhin 75 Millionen internationale Migranten lebten in einem weniger entwickelten Land (Anteil: 1,4 %). Gerade unter ihnen sind viele Vertriebene und Flüchtlinge.
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Internationale Migration Internationale Migration ist eine spezifische Form räumlicher Mobilität. Herkunft und Ziel liegen bei dieser Wanderung in verschiedenen Ländern. Das unterscheidet internationale Migranten von Binnenwanderern. Dabei gelten nur jene Personen als Migranten, die ihren Wohnsitz für eine bestimmte Mindestdauer oder auf unbestimmte Zeit – eventuell für immer – ins Ausland verlegen. Die UNO schlägt dabei eine Mindestdauer von 12 Monaten vor. Daher sind Touristen, Tages- oder Wochenpendler mit Arbeitsplatz im benachbarten Ausland sowie kurzfristig in einem anderen Land beschäftigte Personen nach dieser UN-Definition keine internationalen Migranten. Tatsächlich ist die Aufenthaltsdauer, ab der jemand als Migrant gilt, von Land zu Land verschieden. In Deutschland erfassen offizielle Migrationsstatistiken auch Ausländer mit lediglich dreimonatigem Aufenthalt. In der Schweiz gelten nur Personen mit mindestens zwölfmonatigem Aufenthalt als Zuwanderer. In den USA können sich Studierende und temporäre Arbeitskräfte über mehrere Jahre im Land aufhalten, ohne offiziell als Einwanderer gezählt zu werden. Im Gegensatz zu europäischen Volkszählungen erfasst der US-amerikanische Zensus auch irregulär anwesende Personen ohne Aufenthaltsrecht. In etlichen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas werden Ausoder Einwanderer in der amtlichen Statistik nicht eigens ausgewiesen. Manche Länder der »Dritten Welt« verfügen über gar keine amtliche Statistik, die Wanderungen registriert. Deshalb lässt sich schon aufgrund der mangelnden Definitionsschärfe nicht genau angeben, wie viele internationale Migranten es derzeit weltweit gibt. Die Bevölke-
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rungsexperten der UN geben für das Jahr 2005 eine Zahl von 191 Millionen internationalen Migranten an. Dies ist natürlich eine Schätzung. Migration hängt nicht von der Entfernung ab. Einerseits zählt man auch Wohnsitzverlegungen auf kurze Entfernungen, z. B. zwischen zwei benachbarten Gemeinden, als Wanderungen (Binnenwanderung). Andererseits werden Wanderungen über Tausende von Kilometern nicht als internationale Wanderungen gezählt, wenn sie z. B. von der US-amerikanischen Ostküste zur Westküste oder zwischen Wladiwostok und Moskau stattfinden. Tatsächlich ist das Überschreiten einer Staatsgrenze allerdings für die meisten Menschen schon deshalb von Bedeutung, weil sie im Zielland in der Regel Ausländer sind und damit über weniger Rechte verfügen. Eng verknüpft mit internationaler Migration ist daher immer auch die Frage der Staatsbürgerschaft. Schließlich gilt: Migration ist vielfach keine einmalige Lebensentscheidung. Jene, die in der alten Heimat endgültig ihre Zelte abbrechen, sind heute unter den Migranten in der Minderheit. Dies gilt nicht bloß für Saisonarbeiter und andere Arbeitsmigranten, die regelmäßig ins Herkunftsland zurückkehren. Auch von jenen, die mit einer längeren Perspektive migrieren, kehren viele ins Herkunftsland zurück.
Über ein Drittel aller internationalen Migranten leben in Europa (34 %). Hier gibt es zwei Zentren der Zuwanderung: Mehr als ein Fünftel aller Migranten lebt in einem der 27 EUMitgliedsstaaten (21 %), insbesondere in den EU-Staaten im Nordwesten und Süden Europas. Zweiter großer Pol der Zu-
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Tab. 8 Zahl und Verteilung internationaler Zuwanderer, 1960–2005. Quelle: United Nations/Population Division (2006): International Migration Data Base
Tab. 9 Anteil internationaler Zuwanderer an der Gesamtbevölkerung, 1960–2000. Quelle: United Nations/Population Division (2006): International Migration Data Base
Wanderung in Europa ist Russland, wo derzeit etwa 8 % aller Migranten der Welt ihren Wohnsitz haben. In den frühen 1990er Jahren kamen vor allem ethnische Russen aus anderen
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Tab. 10 Zahl, Anteil und regionale Verteilung internationaler Migranten, 2005.
Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion. Seit 1998 dominiert die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Nachbarländern. Mehr als ein Viertel aller internationalen Zuwanderer (28 %) leben in Asien; vor allem in den Golfstaaten, in Indien sowie in ost- und südostasiatischen »Tigerstaaten« – das sind: Südkorea, Hongkong, Taiwan, Malaysia, Singapur. Dies sind die wichtigsten Zielländer von Arbeitsmigranten, die aus ärmeren Ländern Asiens stammen. In Israel dominiert die jüdische Zuwanderung. Groß ist die Zahl der Migranten schließlich in Pakistan, im Iran und in Usbekistan, wo sich insgesamt 6– 7 Millionen afghanische Flüchtlinge aufhalten. Fast ein Viertel aller Migranten (23 %) lebt in Nordamerika. Hier sind die USA (20 %) das weltweit mit Abstand wichtigste Ziel internationaler Wanderer. Kanada (3 %) spielt eine geringere Rolle. Wichtige Ziele von Zuwanderern waren und sind darüber hinaus Australien und Neuseeland, die Republik Südafrika, Libyen sowie einige westafrikanische Staaten. Bürgerkriege und »ethnische Säuberungen« bescherten
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darüber hinaus mehreren Staaten in Zentral- und Ostafrika große Flüchtlingspopulationen. Etwas mehr als die Hälfte aller internationalen Migranten sind nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation erwerbstätig.
Zuwanderer in »klassischen« Einwanderungsländern In den USA, Kanada und Australien geben Volkszählungen schon seit über 150 Jahren regelmäßig Auskunft über die zugewanderte Bevölkerung. Deshalb lassen sich Veränderungen über einen längeren Zeitraum verfolgen. USA Nordamerika war im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Hauptziel europäischer Auswanderung. Zwischen 1820 und 1920 betrug die Zahl der Einwanderer insgesamt 31 Millionen. Aufgrund einer längeren Periode mit restriktiver Migrationspolitik sanken Zahl und Anteil der zugewanderten Bevölkerung in den USA während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei spielte auch die Rückwanderung nach Europa eine Rolle. 1950 lebten in den USA nur 10,1 Millionen im Ausland geborene Personen (6,9 % der Bevölkerung). Von ihnen stammten fast alle aus Europa. Bis 1970 fiel die Zahl der Zugewanderten weiter auf 9,6 Millionen und ihr Anteil sank auf unter 5 %. Danach wirkte sich immer stärker eine Gesetzesreform aus dem Jahr 1965 aus, welche die Einwanderung aus nichteuropäischen Ländern erleichterte. Seither erfolgt Zuwanderung in die USA vor allem aus Lateinamerika und zunehmend auch aus Asien. Und die Zahl der Zuwanderer stieg beträcht-
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lich. 2005 lebten in den USA bereits über 38 Millionen legale und irreguläre Migranten. Dies waren fast 13 % der US-amerikanischen Bevölkerung. Absolut stieg die eingewanderte Bevölkerung zwischen 1965 und 2005 auf das Vierfache. Kanada Nach Kanada waren zwischen 1820 und den 1920er Jahren rund 7 Millionen Menschen eingewandert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Zugewanderten in Kanada kontinuierlich: von 2,1 Millionen (= 15 % der Bevölkerung) im Jahr 1951 auf 6,1 Millionen (19 %) im Jahr 2005. Absolut stieg die eingewanderte Bevölkerung zwischen 1951 und 2005 auf das Dreifache. Zugleich veränderte sich ihre Zusammensetzung. An die Stelle europäischer Auswanderer traten auch hier zunehmend Migranten aus Asien, Nordafrika und Lateinamerika. Kanada rekrutiert einen Teil seiner Zuwanderer über ein Punktesystem. Australien In Australien erreichte der Anteil der zugewanderten Bevölkerung Ende des Zweiten Weltkriegs mit ca. 9 % ihren niedrigsten Wert. Danach stiegen Zahl und Anteil wieder an: von 1,0 Millionen (12 %) im Jahr 1951 auf 4,0 Millionen (24 %) im Jahr 1991. Seither ist die zugewanderte Bevölkerung in Summe stabil, während ihr Anteil sinkt, weil die Gesamtbevölkerung weiter wächst (2005: 4,1 Millionen; 21 %). Bis in die frühen 1970er Jahre durften fast nur Personen »europäischer Herkunft« nach Australien einwandern. Nach der Abschaffung dieser Beschränkungen im Jahr 1973 setzte eine stärkere Zuwanderung aus Asien ein. Auch Australien rekrutiert einen Teil seiner Zuwanderer über ein Punktesystem.
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Einwanderungskontinent Europa Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten Kriegsflüchtlinge und Vertriebene in Europa unfreiwillig die größte Gruppe internationaler Wanderer. Arbeitsmigranten gab es anfänglich nur in Frankreich und der Schweiz. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass 1950 in der westlichen Hälfte Europas nur 3,8 Millionen Ausländer lebten. Die Mehrheit dieser Ausländer waren Arbeitsmigranten. Stationierte ausländische Truppen sind in dieser Zahl allerdings nicht enthalten. Erst seit Mitte der 1960er Jahre gibt es in den heutigen 27 EU-Staaten insgesamt mehr Zu- als Auswanderung. Seither stiegen auch in Europa Zahl und Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung: zuerst in Westeuropa, später in Südeuropa, in jüngerer Zeit auch in Teilen Ostmitteleuropas. Seit den 1990er Jahren wurde darüber hinaus Russland zu einem bedeutenden Ziel internationaler Zuwanderung vor allem aus anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Heute leben in der EU-27, Norwegen und der Schweiz zusammen etwas über 500 Millionen Menschen. Von ihnen sind rund 42 Millionen Zuwanderer, haben also ihren Geburtsort in einem anderen europäischen oder in einem außereuropäischen Land. Die Zahl beruht zum Teil auf Schätzungen, denn einige Länder Europas unterscheiden in ihrer Statistik nicht detailliert zwischen den im eigenen Land und den anderswo Geborenen, sondern nur zwischen In- und Ausländern. Trotzdem ist klar: Heute leben in West- und Mitteleuropa in Summe mehr Zuwanderer als in den USA. Zieht man allerdings die Wanderungsbewegungen zwischen den EU-Staaten ab, liegen die USA weiterhin vor West- und Mitteleuropa. Denn eine derartige Wanderung zwischen EU-Staaten entspräche in den USA der dortigen Binnenwanderung. Dennoch
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gibt es einen entscheidenden Unterschied: Wer von New York nach Kalifornien übersiedelt, bleibt Bürger im eigenen Land. Wer hingegen von Italien oder Bulgarien nach Deutschland übersiedelt, ist hierzulande zwar EU-Bürger, aber Ausländer mit eingeschränkten Rechten. Noch weniger Rechte haben all jene, die aus einem Drittstaat in die EU einwandern. Wichtigstes Zielland der Zuwanderung nach West- und Mitteleuropa war in den letzten Jahrzehnten die Bundesrepublik Deutschland. Heute leben hier etwa 10,1 Millionen Zuwanderer. Dies ist – nach den USA und Russland – die drittgrößte zugewanderte Bevölkerung der Welt. Danach folgen in Europa: Frankreich (6,5 Millionen), Großbritannien (5,4 Millionen), Spanien (4,8 Millionen) und Italien (2,5 Millionen). Auch in der Schweiz (1,7 Millionen), den Niederlanden (1,6 Millionen), Österreich (1,2 Millionen), Schweden (1,1 Millionen) und in Griechenland (1,0 Millionen) ist ein beträchtlicher Teil der Einwohner im Ausland geboren. Der Anteil der Zuwanderer liegt im europäischen Durchschnitt bei etwa 8,5 %. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist dieser Anteil der Zuwanderer in Kleinstaaten wie Luxemburg (37 %) und Liechtenstein (34 %) am größten. Unter den Flächenstaaten Europas hat die Schweiz mit rund 23 % den größten Zuwandereranteil. Deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegen auch Österreich (15%), Irland (14%), Schweden (12 %), Deutschland (12 %) und Spanien (11 %). Ein Sonderfall ist Zypern. Der Nord- und Ostteil der Insel ist seit 1974 von türkischen Truppen besetzt. Zuwanderer aus Anatolien machen dort zusammen mit den türkischen Truppen mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus. Bei jeder politischen Lösung stellt sich die Frage, was aus diesen Siedlern werden soll. Zugleich gibt es seit Jahren eine ganz beträchtliche Zuwanderung in den griechischen Südteil der Insel.
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Untypisch ist die Situation auch in den Baltischen Staaten. Lettland (20 %) und Estland (15 %) haben einen sehr großen Anteil an Zuwanderern. Doch der größte Teil dieser im heutigen Ausland geborenen Bevölkerung kam zu sowjetischer Zeit als Binnenwanderer ins Land. Diese Menschen wurden erst durch den Zerfall der Sowjetunion und die Wiedergründung unabhängiger Staaten im Baltikum zu internationalen Migranten – und viele von ihnen auch zu Ausländern im eigenen Land.
Europa und Amerika im Vergleich »Klassische« Einwanderungsländer, zu denen wir heute die USA, Kanada, Australien und Neuseeland zählen, zu denen historisch aber auch Länder wie Argentinien, Chile oder Brasilien gehörten, unterscheiden sich von europäischen Nationalstaaten in einem wesentlichen Punkt: Schon seit dem 19. Jahrhundert besteht die Mehrheit der Bevölkerung aus Zuwanderern und deren Nachfahren. Es gibt so etwas wie einen nationalen Gründungsmythos, der auf die Zuwanderung des 17. bis 19. Jahrhunderts verweist. Sieht man sich bloß die Zahl der im Ausland zur Welt gekommenen Einwohnerinnen und Einwohner an, dann bestehen etwa zwischen Deutschland und den USA keine großen Unterschiede. Die zehn Millionen Einwohner Deutschlands mit Geburtsort im Ausland machen etwa 12 % der Bevölkerung aus. Rund 38 Millionen Zuwanderer in den USA stellen einen ähnlich großen Prozentsatz der amerikanischen Bevölkerung dar. In absoluten Zahlen hat Deutschland sogar wesentlich mehr Zuwanderer als Kanada oder Australien. Trotzdem versteht sich Deutschland nicht als Einwanderungsland.
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Nicht so sehr die Zahl der Zuwanderer ist also für das Selbstverständnis entscheidend, sondern der Gründungsmythos oder das Grundverständnis der jeweiligen Gesellschaft. Dabei spielt Sesshaftigkeit in der Vorstellung der Deutschen eine wichtigere Rolle als in den USA oder in Kanada. Dort haben die meisten Einwohner – auch jene, die selbst nicht zugewandert sind – die Herkunft ihrer Vorfahren aus einer europäischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Gesellschaft im Bewusstsein und leiten daraus einen Teil ihrer Identität ab. Dagegen verstehen sich Deutschland und viele andere Länder Europas in erster Linie als Nationen derer, die »ursprünglich schon da« waren. Ganz offensichtlich ist es für Zuwanderer schwieriger, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, die sich selbst als kompakte Abstammungsnation versteht. Etwas leichter ist dies in Gesellschaften, in denen die Differenz der Herkünfte in höherem Maße akzeptiert wird. Dies ist einer der Gründe dafür, dass Zuwanderer in vielen Ländern Europas überdurchschnittlich häufig arbeitslos sind, weniger attraktive Positionen bekleiden, schlechter bezahlt werden und sich mit schlechteren Wohnungen zufriedengeben müssen als die Mehrzahl der Einheimischen. Dies setzt sich häufig in der nächsten Generation fort. Kinder von Zuwanderern besuchen seltener eine weiterführende Schule, brechen ihre Ausbildung häufiger ab, haben schlechte Aufstiegschancen und sind ebenfalls überdurchschnittlich häufig arbeitslos. Deutlichster Hinweis für die mangelnde Integration vieler Zuwanderer ist, dass es in Europa 50 Jahre nach Beginn der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte weiterhin eine beträchtliche Zahl von Zuwanderern gibt, die bereits lange hier leben, aber nicht eingebürgert wurden. In Summe besitzen in Europa mehr als die Hälfte aller Zugewanderten – insgesamt
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rund 24 Millionen – nur die Staatsbürgerschaft ihres jeweiligen Herkunftslandes. Damit sind Migrantinnen und Migranten zwar den Gesetzen des Landes unterworfen, in dem sie leben. Sie sind als fremde Staatsangehörige jedoch im Prozess der politischen Willensbildung und der Gesetzgebung nicht repräsentiert. Dies führt dazu, dass in Europa – je nach Land – zwischen 3 % und 20 % der Bevölkerung von der politischen Willensbildung von vornherein ausgeschlossen sind. Auf kommunaler Ebene ist der Anteil der nicht stimmberechtigten erwachsenen Bevölkerung oft noch deutlich höher. Umgekehrt räumen jedoch viele Staaten ihren im Ausland lebenden Staatsbürgern das Recht auf Beteiligung an Wahlen im Heimatland ein, selbst wenn diese Wählerinnen und Wähler, solange sie im Ausland bleiben, von den Folgen der Gesetzgebung des Herkunftslandes nur marginal betroffen sind. Anders ist die Situation in den USA, Kanada und Australien. Dort ist die soziale Durchlässigkeit der jeweiligen Gesellschaft für Migranten größer. Zuwanderer sind im Schnitt wirtschaftlich erfolgreicher als in Europa, schaffen eher den sozialen Aufstieg und sind nach einer gewissen Zeit besser integriert. Bereits nach 3 –5 Jahren können Zuwanderer die Staatsbürgerschaft dieser klassischen Einwanderungsländer beantragen. Zweifellos sind die klassischen Einwanderungsländer für viele potenzielle Migranten als Ziel attraktiver als die reichen Länder Europas. Dies gilt insbesondere für hoch qualifizierte, aufstiegsorientierte und stark motivierte Migranten. Dadurch haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten in der weltweiten Konkurrenz um qualifizierte Zuwanderer die schlechteren Karten. Und damit bekommt Europa auch weniger qualifizierte Zuwanderer als die USA, Kanada und Australien. Somit
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sind bei uns auch die Voraussetzungen für eine spätere Integration dieser Zuwanderer schlechter. Denn sie bringen in Europa im Schnitt weniger »Humankapital« mit als in Nordamerika.
Ausblick ins 21. Jahrhundert Die demographische Entwicklung der letzten Jahre macht zweierlei klar: Zum einen wächst in Europa die Zahl der Staaten, in denen mehr Menschen sterben als Kinder zur Welt kommen. Dadurch schrumpft zumindest die einheimische Bevölkerung. Ob die Einwohnerzahl zukünftig insgesamt schrumpft, hängt somit sehr wesentlich vom Ausmaß der Zuwanderung ab. Zum anderen weisen inzwischen fast alle Länder West- und Mitteleuropas mehr Zuwanderung auf als Abwanderung. Dadurch wachsen Zahl und Anteil der zugewanderten Bevölkerung. Beide Entwicklungen zusammen führen dazu, dass die Bevölkerungen in vielen Ländern Europas nicht bloß durch die demographische Alterung »ergrauen«. Durch Zuwanderung werden sie zugleich ethnisch, kulturell und religiös immer »bunter«. Dadurch stellen sich Fragen der Zugehörigkeit neu. Es entstehen auch neue Konfliktlinien. Es geht aus dieser Perspektive unterschiedlicher Herkünfte einerseits um Staatsbürgerschaft im engeren Sinne, also staatsrechtliche Zugehörigkeit und politische Rechte. Zum anderen geht es ganz konkret um die Frage, auf welche gemeinsamen Regeln und Wertvorstellungen sich Zuwanderer unterschiedlichster Herkunft und Einheimische zukünftig verständigen können. Mit Blick auf die Religion vieler Zuwanderer ist jedenfalls klar, dass es zukünftig in West- und Mitteleuropa auf Dauer größere muslimische und christlich-
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orthodoxe Minderheiten geben wird. Was Zuwanderung für unser kulturelles Selbstverständnis als Europäer und für die zivilgesellschaftliche Zugehörigkeit von Einheimischen und Zuwanderern bedeutet, ist weniger klar. Denn anders als die USA und Kanada besitzen die meisten Gesellschaften Europas kein übergreifendes Selbstverständnis, das Zugewanderte und hier Geborene gleichermaßen mit einschließt. Damit wird unsere historische Identität durch »Fremde«, die zu uns kommen, eher infrage gestellt. Zugleich sind damit die Grenzen der Integration bei uns enger definiert als in Nordamerika. Amerikaner kann man als Zuwanderer im Lauf eines Lebens leicht werden, Europäer hingegen nicht ohne weiteres. Die terroristischen Anschläge muslimischer Extremisten in New York, London und Madrid sowie gelegentliche Aufrufe zum Dschihad gegen alle Ungläubigen haben die Skepsis gegen außereuropäische Zuwanderer in West- und Mitteleuropa noch vergrößert. Trotz einer skeptischen bis ablehnenden öffentlichen Meinung spricht aus heutiger Sicht fast alles für mehr Zuwanderung während der kommenden Jahrzehnte. Dafür gibt es mindestens drei handfeste Gründe: Zum Ersten werden die einheimischen Bevölkerungen fast überall in Europa altern und schrumpfen. In mehreren Ländern – darunter in Deutschland – hat diese Schrumpfung schon begonnen. Andere Länder werden folgen. Insgesamt würde sich die Zahl der Menschen zwischen 15 und 65 Jahren in der EU ohne Zuwanderung bis 2050 um 88 Millionen verringern, während die Zahl der Menschen im Alter über 65 Jahren jedenfalls noch um 54 Millionen wachsen wird. Sinkende Geburtenzahlen führen dazu, dass zukünftig weniger junge Menschen mit frischem Wissen auf den Arbeitsmarkt kommen werden. Damit entsteht früher oder später ein Man-
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gel an jüngeren, qualifizierten Arbeitskräften. In manchen Regionen und Branchen macht sich dies heute schon bemerkbar. Gleichzeitig wird die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften und nach persönlichen Dienstleistungen – insbesondere für ältere Menschen – automatisch wachsen. Mit anderen Worten: Alternde und schrumpfende Gesellschaften in reichen Ländern Europas sind auf ein gewisses Maß an Zuwanderung angewiesen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Länder West- und Mitteleuropas eher früher als später von einer defensiven zu einer proaktiven Migrationspolitik übergehen werden. Zum Zweiten gibt es in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas Regionen mit niedrigem Einkommen, aber junger und rasch wachsender Bevölkerung. In Nordafrika und dem Nahen Osten wird die Zahl der 15- bis 65-Jährigen von heute 195 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 365 Millionen anwachsen und sich damit beinahe verdoppeln. Ähnliche Zuwächse sind in den angrenzenden Ländern des sub-saharischen Afrikas zu erwarten. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Europa dem in diesen Regionen vorhandenen Wunsch nach Auswanderung und besserem Leben ausschließlich durch technische und personelle Aufrüstung an seinen Grenzen begegnen kann. Zum Dritten wird es zukünftig neben politisch Verfolgten und Vertriebenen wahrscheinlich eine wachsende Zahl sogenannter »Umweltflüchtlinge« geben. Wichtigste Ursache dafür dürften die globale Erderwärmung und der damit verbundene Anstieg des Meeresspiegels sein. Beides zusammen führt zur Ausbreitung von Wüsten, zur Versalzung bisher fruchtbaren Bodens und zur Überschwemmung bestehender Siedlungsgebiete. Zweifellos wird dies die Wanderungsströme nach Europa vergrößern – auch wenn es für die Aufnahme
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von Personen, deren Siedlungsraum durch Umwelteinflüsse zerstört wird, derzeit keinen geeigneten rechtlichen Rahmen und daher auch keine Entscheidungskriterien gibt. Migration wird aus diesen Gründen zum Schicksal für einen wesentlich größeren Teil der Menschheit als bisher.
6 Urbanisierung und die Wanderung vom Land in die Stadt »Ein sonniger Mittsommertag. So was gab es mitunter sogar in Coketown. Bei solchem Wetter lag Coketown, aus der Ferne gesehen, in den eigenfabrizierten Nebel gehüllt, der für die Sonnenstrahlen undurchdringlich schien. Man wusste nur, dass die Stadt da war, weil man wusste, dass nur eine Stadt einen so ärgerlichen Dreckfleck in die Aussicht machen konnte. Ein verschwommener Klecks Ruß und Rauch, der sich, je nachdem ob Wind aufkam oder sich legte oder seine Richtung änderte, unschlüssig mal dahin, mal dorthin wandte, zum Himmelsgewölbe emporstrebte oder düster über die Erde kroch, ein dichtes formloses Gemengsei mit schrägen Lichtstreifen darin, die nichts als massige Klumpen Dunkelheit zeigten ... Die ganze Stadt schien in Öl zu schmoren. Überall war ein erstickender Geruch von heißem Öl.« So beschreibt Charles Dickens die britische Industriestadt des 19. Jahrhunderts in Harte Zeiten. In Europa gehören solche Städte der Vergangenheit an, in China und Indien keineswegs. Im Jahr 2007 leben zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in Städten als in ländlichen Gebieten. Vor einem halben Jahrhundert lag der Anteil der Städter knapp unter 30 %. Noch eindrucksvoller ist die Entwicklung in absoluten Zahlen. Mitte des 20. Jahrhunderts gab es 732 Millionen Städter. Heute sind es mehr als viermal so viele: insgesamt 3,4 Milliarden.
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Von den Städtern des Jahres 1950 lebten drei Fünftel in den besser entwickelten Ländern. Heute sind fast drei Viertel aller Städter in der Dritten Welt zu Hause; darunter ein wachsender Teil in Großstädten. Insgesamt gab es 2004 bereits 411 Städte mit über 1 Million Einwohner. Die Unterscheidung ist wichtig. Denn Stadt ist nicht gleich Stadt. Wer einmal das Pech hatte, in einer Motorrikscha im Hauptverkehr von Mumbay (Bombay) oder Kalkutta steckenzubleiben und als Europäer einen regelrechten Erstickungsanfall bekam, versteht einerseits Charles Dickens besser – und erlebte andererseits hautnah den Unterschied zwischen den Metropolen der »Ersten« und den Großstädten der »Dritten Welt«. Im Jahr 1950 waren die größeren Städte in entwickelteren Ländern noch eine Mischung aus Industriestandorten und Service-Zentren, die eine Fülle von sozialen, administrativen und kulturellen Diensten anboten. Einer Mehrzahl ihrer Bewohner boten diese Städte pro Kopf nicht viel Wohnfläche. Doch wenig Platz hatten damals auch Menschen außerhalb der Städte. Viele wuchsen in oft überfüllten ländlichen Behausungen heran. Wenn in einer Bauernfamilie fünf Kinder lebten, dazu vielleicht auch noch ein Knecht und ein Magd, dann war selbst ein etwas größeres Haus für jeden Einzelnen nicht mehr sehr geräumig. Heute verfügen die Bewohner europäischer Städte über doppelt so viel Wohnraum wie 1950; und die Wohnflächen außerhalb der Städte sind selbst für untere Mittelschichten – historisch betrachtet – beinahe luxuriös.
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Stadt und Entwicklung Die ersten Städte der Geschichte entstanden vor rund 7000–7500 Jahren im Nahen Osten: Eridu, Jericho, Hamoukar, Mari, Uruk (siehe Kapitel 2). Sie waren Zentren der politischen Macht, Knotenpunkte eines frühen Fernhandels und dadurch auch Stätten sozialer, politischer und ökonomischer Innovation. Im Vergleich zu heute waren ihre Einwohnerzahl und die bebaute Fläche gering. Gemessen an der gesamten Bevölkerung des Nahen Ostens lebte damals nur ein kleiner Teil der Menschen in Städten. Dennoch hatte die Gründung von Städten erhebliche Auswirkungen: Sie spielten bei der Entstehung leistungsfähigerer Gesellschaften eine entscheidende Rolle, ohne die es in den letzten Jahrtausenden kein stärkeres Bevölkerungswachstum gegeben hätte.
Drei Phasen der Stadtentwicklung Besondere Bedeutung kommt der europäischen Stadtentwicklung zu. Sie erfolgte in mehreren Etappen. Erste Phase war die primäre Urbanisierung im Hoch- und Spätmittelalter. Die ersten mittelalterlichen Städte entstanden als relativ kleine befestigte Orte, deren Bewohner vor allem Händler und Gewerbetreibende waren. Damals wurden diese Städte zu strategischen Kommunikationszentren in Gesellschaften, in denen ganz andere Schichten politisch das Sagen hatten als auf dem sie umgebenden Land. Städte wurden zu Knotenpunkten innerhalb größerer Gesellschaften und entwickelten eine eigene Sozialstruktur. Haupt- und Residenzstädte dienten darüber hinaus als politische Steuerungszentren. In der primären Urbanisierung blieben die Einwohnerzahlen europäischer Städte
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beschränkt. Das hatte auch damit zu tun, dass die damaligen Agrargesellschaften wenig Überschüsse produzierten. Überdies fehlte es im Mittelalter an Verkehrsmitteln und Verkehrswegen, um Lebensmittel in größerer Menge sicher in die jeweiligen Städte zu bringen. Gegen Ende des Mittelalters lebte höchstens ein Zehntel der europäischen Bevölkerung in Städten. Höher war dieser Anteil in Nord- und Mittelitalien. Ab dem Hochmittelalter war dies die wohlhabendste Region Europas und der Welt. Hier machte der Anteil der städtischen Bevölkerung damals bereits rund 18 % aus. In England lebten im Spätmittelalter erst 4 % der Bevölkerung in Städten. Zum Vergleich: Mitte des 19. Jahrhunderts überwogen in Italien die ärmeren Regionen. Schon vor dem Einsetzen der Industriellen Revolution hatte sich das wirtschaftliche Zentrum in den Nordwesten Europas verlagert. In Italien machte der Anteil der städtischen Bevölkerung um 1850 nur rund 13 % aus. Im Gegensatz dazu lebten damals in Großbritannien und in den Niederlanden bereits 40 % der Bevölkerung in Städten. In der sekundären Urbanisierung entstanden die großen Industriestädte Europas. Der Charakter dieser Städte veränderte sich sehr deutlich. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstanden Großstädte mit mehreren hunderttausend Einwohnern. Die Hauptstädte der europäischen Großmächte – London, Paris, Berlin, Wien, Budapest und St. Petersburg – wuchsen im Lauf des 19. Jahrhunderts zu Millionenstädten heran. Im 20. Jahrhundert überschritten die Metropolitan-Regionen von Paris und Moskau die 10-Millionen-Grenze. London hatte als Region etwa dieselbe Größenordnung. Verantwortlich dafür war jeweils ein starker Zustrom aus dem Umland dieser Metropolen, aber auch aus weiter entfernten Regionen. Bestandteil dieses Stadtwachstums war schließlich die Eingemeindung
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der wachsenden Vorstädte. Viele Städte wurden damals zu Metropolitanregionen. In der sekundären Urbanisierung explodierten Städte, weil sie und ihr unmittelbares Umland plötzlich zu Zentren der modernen industriellen Produktion wurden. Und industrielle Zentren verstädterten. Bestes Beispiel dafür ist das Ruhrgebiet. Die Bewohner der rasch wachsenden Ballungsräume konnten nunmehr ausreichend mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs versorgt werden. Voraussetzung dafür war: Die landwirtschaftliche Produktion konnte deutlich gesteigert werden. Anders als im Hochmittelalter waren nun nicht mehr acht bis neun agrarische Produzenten nötig, um zusätzlich einen Städter zu ernähren. Im Jahr 1800 produzierten Englands Landwirte bereits Lebensmittel für sich selbst und eine weitere Person außerhalb der Landwirtschaft. Heute sind in hoch entwickelten Ländern nur noch 3–5 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Dies schuf zusätzlichen »Spielraum« für die Migration aus ländlichen Peripherien in die Städte. In ihnen entstand ein gemeinsamer Lebensraum von Bürgertum und Industrieproletariat. Europas Metropolen wurden folglich auch zu Zentren des politischen Konflikts. Im Gegenzug entstand eine Bewegung der Stadtkritiker, welche die Stadtgesellschaften mit allen vermeintlichen und tatsächlichen Defiziten modernen Lebens in Verbindung brachte: von der Anonymität des Großstadtlebens über Entwurzelung bis hin zu Kriminalität und Alkoholismus. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es dazu das Gegenbild des »idyllischen Landlebens«. Postindustrielle Urbanisierung ist sowohl von der primären Urbanisierung als auch von der sekundären Urbanisierung fundamental verschieden. Ihr wichtigstes Kennzeichen ist die
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Suburbanisierung. Darunter versteht man jene Entwicklung, bei der größere Städte trotz hoher Attraktivität Einwohner an ihr Umland verlieren. Dieses wird zum Siedlungsgebiet junger Familien und wohlhabender urbaner Schichten. Ursachen dafür waren und sind zum einen die Suche nach kostengünstigem Wohnraum, andererseits der Wunsch nach Wohnen im Grünen. Die Bewohner der Suburbia leben zwar von der Stadt, aber nicht mehr direkt in der Stadt. Die Lebensformen der Städter sind in hoch entwickelten Gesellschaften zur Lebensform der Gesellschaft schlechthin geworden. Das beginnt bei der Lebensplanung, geht über Bildungsbeteiligung bis hin zur Familienstruktur. Die Moderne organisierte sich vorrangig als städtische Gesellschaft, die von mehreren urbanen Polen ausgehend langsam ein wirtschaftliches und soziales Netz bildete. Die Stadt ist somit »verdichtete Gesellschaft«. In spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten war die Bevölkerungsdichte sehr hoch; vor allem wenn man bedenkt, dass Wohnhäuser damals im Schnitt wesentlich weniger Stockwerke hatten. In etlichen europäischen Städten lebten innerhalb des ummauerten Gebiets 35000 Personen pro km2. In einigen Städten war die Bevölkerungsdichte noch höher. Für die Lebensbedingungen der Städter bedeutete dies vor allem: wenig hygienische Verhältnisse, Infektionsrisiko und Seuchengefahr. Um 1740 starben mehr als ein Drittel der Londoner Kinder im ersten Lebensjahr. In Wien verstarben um 1790 die Hälfte und um 1800 sogar 62 % aller Neugeborenen und Säuglinge. Deshalb lag die Lebenserwartung in größeren Städten noch unter der ebenfalls nicht sehr hohen Lebenserwartung des jeweiligen Umlandes. Man könnte für die damalige Zeit bei der Lebenserwartung von einem »StadtMalus« sprechen.
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Im Lauf der Industriellen Revolution wurden diese Verhältnisse durch starke Zuwanderung kurzfristig noch schlimmer. Die Zuwanderer ließen sich zwar vorrangig nicht in traditionell dichtverbauten Bezirken nieder. Doch die damaligen Umlandgemeinden waren massiv betroffen. Zu dieser Zeit bildeten sich durch soziale Schichten besonders geprägte städtische Quartiere heraus.
Großstädte sind auf Zuwanderung angewiesen Städte lebten und leben von ihrer Attraktivität. Ohne Zuwanderung wäre keine heutige Millionenstadt großgeworden. Und ohne weitere Zuwanderung würden die meisten Metropolen wieder schrumpfen. Denn in den meisten Städten Europas, Nordamerikas und Ostasiens gibt es mehr Sterbefälle als Geburten. Gleiches gilt mittlerweile für einige Länder Europas – darunter für Deutschland – insgesamt. Dies hat ganz klar damit zu tun, dass sich urbane Verhaltensmuster und Familienformen auch außerhalb der größeren Städte verbreiteten. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren es vor allem Binnenwanderer aus den Peripherien der großen europäischen Länder, die in die Hauptstädte strömten. Und jene, die nach Übersee auswanderten, bevölkerten die entstehenden Metropolen Nord- und Südamerikas. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind die Großstädte Europas und Nordamerikas vor allem Ziel von Zuwanderern aus ökonomisch weniger entwickelten Ländern. Die Folgen lassen sich an der Zusammensetzung heutiger Stadtbevölkerungen ablesen. In den wichtigsten urbanen Ballungszentren Westeuropas und Nordamerikas machen internationale Zuwanderer und deren Kinder inzwischen 25–50 % der Bevölkerung aus.
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Man könnte von einem demographischen Paradoxon der Städte sprechen. Trotz widriger Lebensumstände wurden die Städte der nördlichen Hemisphäre ab dem 19. Jahrhundert zum Anziehungspunkt für eine wachsende Zahl von Menschen. Die moderne, die bessere Gesellschaft mit ihren Erwerbschancen, ihrer dichten Kommunikationsstruktur, politischer Teilhabe und differenzierten sozialen Beziehungen gab es anfangs nur in Städten. Deshalb wurde die civitas in den modernen Sprachen eben zur cite, zur città, zur city. Mit citoyen, cittadino, Citizen sind heute allerdings nicht nur die Stadtbürger, sondern vor allem die Staatsbürger gemeint. Dies erinnert uns daran, dass es die mit Rechten ausgestatteten Bürger anfangs vor allem in Städten gab, während in den meisten Regionen Europas ein Großteil der Landbewohner bis ins 19. Jahrhundert Untertanen ihrer Grundherren waren. Gartenstadt Stadt- und Raumplanung verstehen wir heute vor allem als technische Angelegenheit. Sie sind in der öffentlichen Verwaltung sowie als akademische Disziplinen verankert. Das lässt ihre Ursprünge vergessen. Raumplanung war als »Politik des Raumes« in ihren Anfängen als Beitrag zur Gesellschaftsreform gedacht. Sie beruhte auf allgemeinen, räumlich konzipierten Gesellschaftstheorien. Manche dieser Theorien beruhten auf reformerischen oder revolutionären Konzepten. Deutlich belegt ist dies in den klassischen Utopien der frühen Neuzeit. Thomas Morus (1478–1535) in seiner Idealgesellschaft »Utopia« und Tommaso Campanella (1568–1639) entwarfen ihre Idealgesellschaften als Stadtgesellschaften. Sie waren von Piatons Polis und den Stadtgesellschaften der Antike inspi-
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riert. Zugleich trugen die Utopie von Morus und noch stärker Campanellas »Sonnenstadt« totalitäre Züge. Im Jahr 1898 veröffentlichte der englische Parlamentsstenograph Ebenezer Howard eine Programmschrift über die »Gartenstädte von morgen«. Seine Diagnose lautete: »Der Umstand, dass das Volk dauernd in die schon übervölkerten Städte strömt und so die ländlichen Distrikte mehr und mehr entvölkert, wird allgemein aufs tiefste von allen Parteien beklagt, nicht allein in England, sondern in ganz Europa, in Amerika und in unseren Kolonien.« Er hielt eine Analyse dieser Entwicklung für »nicht erforderlich« und begnügte sich mit der Metapher von drei Magneten, welche die Leute anzogen. Der starke Stadt-Magnet war evident. Ihm müsste man – so Howard – einen noch stärkeren Magneten gegenüberstellen, um den Zustand zu beenden, dass »diese unheilige, unnatürliche Trennung zwischen Gesellschaftsleben und Natur andauert. Stadt und Land müssen sich vermählen, und aus dieser erfreulichen Vereinigung werden neue Hoffnung, neues Leben und eine neue Kultur entstehen.« In der Folge formulierte er das Projekt der »Gartenstadt«, die er in ihrer ganzen Anlage als reformierte Gesellschaft im Kleinen entwarf. Denn es ging ihm nicht nur um Stadtplanung. Er wollte eine Gesellschaft, die »das lange zurückgedämmte Streben nach einem schöneren und edlerem Leben, nicht im Himmel, sondern hier auf Erden« erfüllte. »Das Mittel für diesen Zweck ist eine gesunde, natürliche und wirtschaftliche Vereinigung von Stadt- und Landleben, und zwar auf Grund und Boden, der sich in Gemeindeeigentum befindet.« Die Lösung dieser Probleme war für ihn die Auflösung der Großstadt. Er sah die Obergrenze für eine lebenswerte Stadt bei 250000 Einwohnern.
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Zugleich sollte Howards Gartenstadt wirtschaftlich autark sein. Keine drei Jahrzehnte später plante der französische Architekt, Stadtplaner und Theoretiker Le Corbusier bereits Städte für 3 Millionen Menschen. Bezeichnend ist das Schicksal von Howards Projekten. Wenn man von London mit der Bahn eine halbe Stunde ab der Victoria Station fährt, erreicht man die Stadt – man müsste heute sagen: die Vorstadt – Welwyn. Fährt man noch etwas weiter auf derselben Linie und in dieselbe Richtung, so kommt man nach Letchworth. Beide Städte tragen für den Unvoreingenommenen keine Charakteristiken, welche sie heute grundlegend von anderen Satellitenstädten Londons unterscheiden würden. Sie sind allenfalls etwas großzügiger mit Grünanlagen ausgestattet. Und doch sind diese zwei Städte die realen Ergebnisse eines großangelegten gesellschaftlichen Reformentwurfes, der Gartenstadtbewegung. Mit dem Bau von Letchworth wurde 1903 begonnen, mit Welwyn 1918. Bald zeigten sich die Grenzen einer reinen Basisbewegung. Nach Ende des Ersten Weltkriegs versprach die britische Regierung im Programm »Homes for Heroes« Wohnungen für demobilisierte Soldaten. Die auf Howard zurückgehende Bewegung der »New Townsmen« bat daraufhin um finanzielle Unterstützung für die Gründung von 100 Gartenstädten. Die neuen Wohnungen wurden allerdings nicht in neuangelegten Gartenstädten gebaut, sondern am Rande Londons. Dort gehörten sie nach Ansicht der Gartenstadtbewegung jedoch am wenigsten hin. So entwickelten sich auch die beiden Musterstädte keineswegs zu jenen Kernen einer zukünftigen Gesellschaft, sondern zu schlichten grünen Vorstädten Londons.
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In der heute hoch entwickelten Welt lief die Entwicklung von relativ kleinen, engen und enorm überfüllten mittelalterlichen Städten über verhältnismäßig große, aber fast ebenso überfüllte Industriestädte zu den Metropolen von heute, in denen vor allem zentrale Dienstleistungen erbracht werden. Ein Urbanisierungsgrad von 70 %, der in vielen hoch entwickelten Ländern erreicht oder überschritten ist, bildet den Endpunkt dieser Entwicklung. In solchen Ländern lebt inzwischen fast die ganze Gesellschaft in Städten oder in deren Umland. In Europa und Nordamerika erklärt sich der demographische Übergang somit aus der Verbreitung der Lebensmuster städtischer Mittelschichten. Auch die letzte Phase des demographischen Übergangs lässt sich in den Städten Europas, Nordamerikas und Ostasiens am deutlichsten ablesen. Fast überall gibt es mehr Sterbefälle als Geburten. Damit verlieren die Städte, insbesondere die alten Stadtkerne an Einwohnern. Verstärkt wird dies durch die
Abb. 17 Einwohnerzahl von Paris (in Millionen), 1500–2000.
Verstädterung in Entwicklungs- und Schwellenländern
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Suburbanisierung, also durch den Umzug jüngerer Einheimischer ins jeweilige Umland der Städte. Analysiert man die weitere Stadtregion, so ändert sich das Bild. Denn in Europa und Nordamerika gewinnen die meisten Agglomerationen an Einwohnerzahl. Inzwischen ist insbesondere entlang der US-amerikanischen Ost- und Westküste, aber auch in dichtbesiedelten Teilen Deutschlands, der Niederlande und der Schweiz eine geographische »Verbreiterung« der Stadt zu beobachten, die über Suburbanisierung hinausgeht. Es entstehen verstädterte Großregionen mit mehreren Zentren.
Verstädterung in Entwicklungs- und Schwellenländern Anders verlief die urbane Entwicklung in der Dritten Welt. Da befinden sich die Großstädte heute in einer Situation, die zwar teilweise an jene Europas während der Industriellen Revolution erinnert. Allerdings lassen sich in Asien, Afrika und Lateinamerika seit Mitte des 20. Jahrhunderts primäre und sekundäre Urbanisation gleichzeitig beobachten. Die unaufhaltsame Verbreitung des Wirtschafts- und Kulturmodells der westlichen Welt läuft über diese Städte. In ihnen findet eine Übernahme urbaner Lebensmuster des reichen »Nordens« durch die lokalen Eliten und Mittelschichten statt. Gebremst wird das Wachstum der Städte des »Südens« allerdings durch die niedrigere Produktivität der Landwirtschaft. Chinas Arbeitskräfte sind noch zu etwa zwei Dritteln als Bauern und Landarbeiter tätig. In Indien ist ihr Anteil etwas kleiner; in Äthiopien, Bangladesch und Uganda hingegen deutlich größer. Aber auch dort findet die eigentliche Dynamik der Gesellschaften in den Metropolen statt.
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Tab. 11 Megastädte 1975, 2003 (jeweils gesamte Agglomeration). Quelle: United Nations (2003)
Und die Verstädterung der Schwellen- und Entwicklungsländer nimmt zu. Im Jahr 1950 machte dort der Anteil der städtischen Bevölkerung 18 % aus. 2005 waren es bereits 43 %; in Summe 2,3 Milliarden Menschen. Selbst in der Gruppe der ärmsten Länder stieg der Anteil der Stadtbewohner zwischen 1950 und 2005 von 15 auf über 200 Millionen Menschen bzw. 27 % der Gesamtbevölkerung. Umgekehrt heißt dies allerdings, dass in den ärmsten Ländern der Welt weiterhin drei Viertel der Einwohner auf dem Land, zum Teil in Isolation und unter drückenden Umständen leben. Isolierte bäuerliche Subsistenzwirtschaft ist daher für den größeren Teil der Bewohner armer Länder noch immer die einzige reale Lebenserfahrung. Viele wollen fort aus diesem Leben. Die Folgen tragen die Städte. Denn im Gegensatz zu Europa, Nordamerika und Ostasien lebt fast die Hälfte der Bewohner von Großstädten der Dritten Welt in Slums. Ganz offensichtlich geben diese Slums
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mehr Grund zur Hoffnung auf ein besseres Leben als die ländlichen Peripherien. Viele Menschen hoffen, in der Stadt ein höheres Einkommen zu erzielen. Die durchschnittlichen Einkommen der Städter sind in Asien, Afrika und Lateinamerika oft deutlich höher als jene der Landbevölkerung. Nur wenige Binnenzuwanderer aus der agrarischen Peripherie finden jedoch sofort ausreichend bezahlte Arbeit im modernen Industrie- oder Dienstleistungssektor. Viele bleiben zunächst arbeitslos oder müssen sich mit sehr gering bezahlten Beschäftigungen im sogenannten informellen Sektor begnügen. Das zwingt die Neuzuwanderer in die Slums am Rande der Städte. Einigen Zugewanderten gelingt mit der Zeit der Sprung in eine besser bezahlte Position im modernen Sektor. Ihr sozialer Aufstieg und der damit verbundene Einkommenssprung dienen dann in den jeweiligen Herkunftsregionen als Vorbild und Anreiz für weitere Zuwanderer.
Zuwanderung vom Land in die urbane Welt der Slums In Afrika leben fast zwei Drittel der städtischen Bevölkerung in Slums. Ihr Anteil steigt weiter an. In Asien wohnen hingegen nur 40 % der Städter in Slums. Da diese rasch wachsen, nimmt auch da der Anteil der Slumbewohner zu. Lateinamerika ist stärker verstädtert. Dort müssen mehr als 30 % der städtischen Bevölkerung in Slums hausen. Insgesamt leben derzeit mehr als eine Milliarde Menschen in Slums. Dies ist fast ein Sechstel der Weltbevölkerung. Man schätzt, dass Anfang des 21. Jahrhunderts 72 von 100 neugegründeten Haushalten der sogenannten Dritten Welt in Slums, Favelas oder Bidonvilles entstanden. In Kinshasa,
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Kairo, Ankara oder Bogota liegt der Anteil der Slumbewohner heute bei 60 %. Noch höher ist er in Addis Abeba, Casablanca und Kalkutta. Im Gegensatz zu Europa und Nordamerika bedeutet »Slum« in der Dritten Welt nicht etwa: eine billige Wohnung in einem wenig attraktiven Quartier oder Wohnblock. Leben im echten Slum – auch Favela, Bidonville, Shanty Town oder Gecekondu genannt – bedeutet in der Regel: eine Hütte aus Pappkarton, Wellblech oder Sperrholz mit wenigen Quadratmetern Fläche, an deren Außenseite beispielsweise Kuhfladen trocknen, weil die Bewohner keine anderen Materialien zum Heizen haben. Die Unterkünfte sind meist in Eigenregie zusammengebaut. Wenig Erfolg hatten bisher städtische Erneuerungsprogramme. Wenn es ihnen gelang, die Lebensbedingungen in den Slums durch den Ausbau der Infrastruktur zu verbessern, wurden dadurch meist neue Zuwanderer zur Ansiedlung motiviert. Damit entsteht ein Teufelskreis. Der fortgesetzte Zustrom überforderte sehr schnell auch die nachträglich geschaffene Infrastruktur. Raumordnungs- und Entwicklungspolitik griff daher oft zu administrativen Mitteln, um den Zustrom in die Städte zu bremsen. Um dauerhaft wirkungsvoll zu sein, müsste sie auch andere Wege beschreiten. Sie müsste die ländlichen Regionen wieder attraktiver machen, gerade dort neue Einkommenschancen schaffen, in Infrastruktur investieren und damit zentrale Ursachen der Land-Stadt-Wanderung beseitigen. Die rasche Verstädterung hat in vielen Entwicklungsländern die Lebensbedingungen von Millionen von Slumbewohnern nur wenig verbessert. Sie hat kurzfristig zu vielen neuen Problemen geführt. Anders als im Europa des 19. Jahrhunderts verlief der Urbanisierungsprozess in den meisten Entwick-
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lungsländern in einem Tempo, mit dem die lokale Industrieproduktion, der Arbeitsmarkt und die städtische Infrastruktur nicht mithalten konnten. Damit wuchs in den Stadt-Agglomerationen vor allem die marginalisierte Bevölkerung beträchtlich. An der raschen Ausdehnung der Slums wird die skizzierte Entwicklung besonders augenfällig. Diese meist ungeplant entstandenen Ansiedlungen bieten ihren Bewohnern in der Regel keine öffentliche Infrastruktur. Es gibt häufig kein fließendes Wasser, keine Abwasserbeseitigung, keine Müllabfuhr, keine Schulen oder Krankenhäuser. Es gibt in vielen Fällen auch keine Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel. Die schlechten Lebensbedingungen belasten die Gesundheit der Bewohner, und fehlende Arbeitsplätze fördern Kriminalität, Alkoholismus und Prostitution. Städte wie Lagos gehören zu den unsichersten Plätzen der Welt. Auch Johannesburg im wohlhabenderen Südafrika ist in dieser Hinsicht berüchtigt – mehr noch als das angrenzende Soweto. Das »Township« Soweto entstand ursprünglich als Elendsquartier für schwarze Einheimische und Zuwanderer, die zur Zeit der Apartheid zwar als Arbeitskräfte benötigt wurden, sich aber nachts nicht in der Stadt Johannesburg aufhalten durften. Selbst unter sehr restriktiven Bedingungen bildeten sich in den Städten der »Dritten Welt« neue Identitäten. Als die britische Kolonialmacht und private Investoren während der Zwischenkriegszeit im südlichen Afrika den Bergbau ankurbelten, entstanden im damaligen Rhodesien – heute Sambia und Zimbabwe – neue Städte. Hierher kamen schwarze Arbeitskräfte aus allen Teilen der Region. Die Lebensumstände waren vielfach menschenunwürdig. Neben den üblichen Erscheinungen von Kriminalität und Alkoholismus zeigte sich bald ein neues Phänomen. Es entstanden neue Riten, darunter
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der »Kalela-Tanz«. Um den Tanz bildeten sich Gruppierungen. Diese verhielten sich teilweise wie ethnische Gruppen. Sie wurden daher anfangs von Ethnologen für Angehörige alter »Stämme« gehalten. Erst später wurde klar, dass die Mitglieder dieser Gruppen aus ganz unterschiedlichen Gegenden kamen. Es bildeten sich also spontan neue Identitätsgruppen. In einer Situation des Verlusts der alten Wertsysteme entstanden somit neue Strukturen, Solidaritäten und Selbsthilfe-Aktivitäten. Die weißen Herren sahen dies allerdings nicht gerne.
Weltweite Verstädterung In einigen Regionen ergibt sich die hohe Verstädterung aus den geographischen Bedingungen. Das gilt klarerweise für Stadtstaaten wie Hongkong, Singapur und Djibouti. Es gilt auch dort, wo das Land von Wüsten dominiert wird: zum Beispiel in Libyen, in Saudi-Arabien oder im Irak. Es gibt jedoch Länder, die einen hohen Urbanisierungsgrad erreicht haben, der sich nicht aus solchen geographischen Bedingungen erklärt. Argentinien (90%), Venezuela (87%) und Südkorea (80 %) haben heute einen ähnlich hohen Verstädterungsgrad wie Deutschland (88 %). Lateinamerika erreichte als Weltregion fast denselben Urbanisierungsgrad wie Europa und Nordamerika. Knapp drei Viertel (73 %) der Einwohner lebten dort im Jahr 2005 in Städten. Im Gegensatz dazu haben die meisten Länder Afrikas, Südasiens und Südostasiens noch einen stark ländlichen Charakter. Dort lebt heute nur jeder dritte Mensch in einer Stadt. In Südasien sind es 30 %, im subsaharischen Afrika 35 % und in Südostasien 38 %. Nach Prognosen der UN dürfte sich dies je-
Megastädte und Global Cities
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Tab. 12 Grad der Urbanisierung in ausgewählten Weltregionen (in %), 2004. Quelle: PRB (2006)
doch bereits in den nächsten Dekaden ändern. Voraussichtlich schon im Jahr 2025 werden mehr als die Hälfte aller Einwohner Asiens und Afrikas Stadtbewohner sein.
Megastädte und Global Cities Eine spezifische Form der Urbanisierung des 20. und 21. Jahrhunderts ist die Entstehung von Megastädten mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Insgesamt lebten zu Beginn des 21. Jahrhunderts 283 Millionen Menschen in Städten mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. 1950 war New York die einzige Megastadt der Welt. Im frühen 21. Jahrhundert gab es bereits 20 solcher großen Agglomerationen, von denen 15 in Entwicklungsländern lagen. Im Jahr 2015 wird es bereits 26 Megastädte geben. Vor allem die Megastädte Asiens und Afrikas wuchsen in den vergangenen Jahrzehnten überdurchschnittlich schnell. Die Einwohnerzahl von Lagos erhöhte sich von weniger als 300 000 im Jahr 1950 auf über 10 Millionen Einwohner im Jahr 2005, also um das 34fache. Dazu trug sicherlich auch der
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Ölboom in Nigeria bei. Dhaka, die Hauptstadt von Bangladesch, wuchs im selben Zeitraum um das 28fache. Andere Millionenstädte von heute – zum Beispiel das südchinesische Shenzen – gab es 1950 noch gar nicht auf der Landkarte. Die größte europäische Metropolitan-Region Westeuropas ist der Großraum von Paris mit 11,4 Millionen Einwohnern (Abb. 17). Metro-Paris lag jedoch im Jahr 2004 nur auf Platz 19 der Städte-Rangliste. Mehr Einwohner hat der Großraum von Moskau, wo 2004 bereits mehr als 12 Millionen Menschen lebten. Inzwischen vermuten manche Experten sogar, dass Moskau aufgrund der starken illegalen Zuwanderung aus benachbarten Ländern bereits 14 Millionen Einwohner hat. Die heutigen Megastädte in Industrie- wie auch in Entwicklungsländern sind nicht auf ihr unmittelbares Hinterland ausgerichtet. Dies unterscheidet sie von Städten des mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Europas. Sie sind arbeitsteilig miteinander verbunden und stehen zueinander in globalem Wettbewerb. Diese Arbeitsteilung wurde durch weltweiten Transport, raschen Informationsaustausch und einen höheren Energieverbrauch möglich. Metropolen sind in diesem Sinn nicht bloß Zentren der regionalen oder nationalen Integration, sondern Knotenpunkte einer Globalisierung, die über solche Funktionen hinweggeht. Im Gegensatz zu Europa und Ostasien entsteht städtisches Wachstum in den meisten Schwellen- und Entwicklungsländern sowohl durch Zuwanderung vom Land als auch durch den Geburtenüberschuss der Stadtbevölkerung. Letzteres trägt zu 20 % bis 50 % zum Wachstum der Stadtbevölkerung bei. Europas größere Städte wachsen hingegen fast ausschließlich durch Zuwanderung. Auch in den Megastädten der Entwicklungsländer ist die Land-Stadt-Wanderung meist
Warum in die Stadt?
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Abb. 18 Die 20 einwohnerstärksten urbanen Agglomerationen der Welt, 2004. Quelle: World Gazetteer; Illustration Mike Shibao
die wichtigere Ursache des raschen Bevölkerungswachstums. Sie erklärt 50 % bis 80 % der Zuwächse. Größte Wanderungsbewegung vom Land in die Städte war während der letzten Dekaden die Binnenmigration von 150–200 Millionen Chinesen, die sich seit 1990 aus dem Hinterland in die Küstenstädte aufmachten.
Warum in die Stadt? Neben den erhofften Einkommenschancen gibt es andere Gründe, in die Städte zu ziehen. So sind die medizinische Versorgung und das Bildungswesen in den Städten meist besser
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als auf dem Land. Die Chancen, eigene Kinder auf eine gute Schule schicken zu können, sind in der Stadt erheblich größer als in entlegenen Regionen. Gerade junge Migranten haben aber auch andere Motive. Sie verlassen das Land nicht zuletzt auch aus sozialen Gründen. Sie wollen Bindungen und Verpflichtungen der Großfamilie entkommen. Viele genießen daher die Anonymität urbaner Lebensverhältnisse. Modernisierungsprozesse, medial verbreitete Leitbilder und das Bildungssystem tragen dazu bei, dass familiäre Bindungen zunehmend als eine Einengung erlebt werden. Das »Versprechen« der Städte beinhaltet die Hoffnung auf sozialen Aufstieg, weniger soziale Kontrolle und den Anschluss an die moderne Zivilisation. Das starke Gefälle zwischen den Lebensbedingungen in Stadt und Land wurde in vielen Ländern durch die staatliche Politik gefördert oder zumindest verstärkt. Zweifellos hatte und hat diese entwicklungspolitische Bevorzugung der Städte damit zu tun, dass hier die politischen und wirtschaftlichen Eliten leben. Denen lag und liegt zuerst einmal an der Verbesserung ihrer eigenen Lebensbedingungen. Zudem waren und sind Städte Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Modernisierung. Schließlich hängt die politische Stabilität vieler Entwicklungsländer und das Überleben der an der Macht befindlichen Eliten wesentlich mehr von den Bevölkerungen der großen Städte, insbesondere von den Bewohnern der jeweiligen Hauptstadt ab. Die Landbevölkerung ist schwächer organisiert und engagiert sich seltener politisch. Wenn aber städtische Massen in Manila, Dhaka oder Kiew demonstrieren, dann stürzt bisweilen auch die Regierung. Die Weltbevölkerung der nahen Zukunft wird vor allem eine städtische Bevölkerung sein, was dann aber möglicherweise nicht mehr ganz dieselbe Bedeutung haben wird wie in
Warum in die Stadt?
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Vergangenheit und Gegenwart. Doch es wird in Entwicklungs- und Schwellenländern auch zukünftig einen Unterschied machen, ob jemand in einer Großstadt oder auf dem Land lebt.
7 Bevölkerungspolitik, Familienplanung, reproduktive Gesundheit Die eigenverantwortliche Entscheidung über die Zahl der eigenen Kinder und den Zeitpunkt ihrer Geburten ist ein Grundrecht. Erstmals formuliert wurde es 1968 auf der UNMenschenrechtskonferenz in Teheran. Im Schlussdokument steht: »Eltern haben das Recht, frei und verantwortlich die Zahl ihrer Kinder und den Zeitpunkt ihrer Geburt selbst zu bestimmen.« Dieses Recht wurde auf der Internationalen UN-Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) 1994 in Kairo erneut bekräftigt. 2005 bilanzierten 150 Staats- und Regierungschefs auf einem Gipfeltreffen die Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele (Kapitel 10). Dabei wurde ausdrücklich die Förderung der »reproduktiven Gesundheit« als zusätzliches Ziel genannt. Nach der Definition des Aktionsprogramms der UN-Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994 bedeutet reproduktive Gesundheit, • dass »Menschen ein befriedigendes und ungefährliches Sexualleben haben können, • dass sie die Fähigkeit zur Fortpflanzung und • die freie Entscheidung darüber haben, ob, wann und wie oft sie hiervon Gebrauch machen wollen«. Die Durchsetzung des Menschenrechtes auf reproduktive Gesundheit und selbstbestimmte Elternschaft ist an Vorausset-
Sexualaufklärung als politischer Zankapfel
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zungen gebunden. Zum einen geht es um Aufklärung, also um ausreichende Information. Zum anderen geht es um den Zugang zu wirkungsvollen Mitteln und Methoden der Empfängnisverhütung, um Hilfe während der Schwangerschaft und bei der Entbindung sowie um medizinische Betreuung von Müttern und ihren Kindern. All dies zu ermöglichen, ist eine zentrale Aufgabe staatlicher Familien- und Gesundheitspolitik.
Sexualaufklärung als politischer Zankapfel Für Bevölkerungs- und Familienpolitik gibt es klare ethische Grenzen: Sie darf gesellschaftliche Zielvorstellungen – etwa die Zwei-Kinder-Familie oder die Vermeidung von Schwangerschaften vor dem 18. Lebensjahr – fördern. Aber sie muss die freie Entscheidung der Paare und Individuen ermöglichen und respektieren. Dies gilt zumindest für die Gruppe der Erwachsenen. Bei Jugendlichen geht staatliche Politik in der Regel einen Schritt weiter. Eine große Zahl von Ländern kennt gesetzlich fixierte Mindestalter für die Aufnahme sexueller Beziehungen sowie für die Eheschließung. Heranwachsende Jugendliche, vor allem heranwachsende Mädchen sollen dabei vor Sex mit Erwachsenen, vor einer ungewollten Schwangerschaft und vor der allzu frühen Gründung einer Familie geschützt werden. Verschiedene Ziele der Familienpolitik stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Denn nach traditioneller Auffassung wäre sexuelle Enthaltsamkeit bis zur Eheschließung der beste Schutz vor einer ungewollten Schwangerschaft. Diese Position wird nicht nur von streng islamischen Regimes, sondern auch von der katholischen Kir-
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7 Bevölkerungspolitik, Familienplanung, reproduktive Gesundheit
che, ihr nahestehenden politischen Parteien und Regierungen sowie von konservativen protestantischen und freikirchlichen Gruppen propagiert. Letztere sind vor allem in Nordamerika aktiv und verfügen innerhalb des rechten politischen Spektrums der USA über beträchtlichen Einfluss. Daraus folgt eine starke Opposition gegen Aufklärungsunterricht in der Schule sowie gegen die Verteilung von Verhütungsmitteln an Jugendliche. All dies wird als »Einladung« oder »Verführung« zu vorehelichen sexuellen Kontakten gesehen. Darüber hinaus ist die katholische Kirche generell gegen die Verwendung sogenannter »moderner« Verhütungsmittel, egal ob es sich dabei um die Pille, die Spirale oder ein Kondom handelt. Einig sind sich die genannten religiös-politischen Akteure auch in ihrer Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs. Ausschlaggebend für diese Positionen sind nicht bloß theologische Argumente. Dahinter steht generell die Befürchtung der islamischen und christlichen Verfechter solcher Positionen, dass Sexualaufklärung und die Möglichkeit zur Geburtenkontrolle einem »moralischen Verfall« Vorschub leisten. Indirekt geht es klarerweise auch darum, dass religiöse und zivilgesellschaftliche Autoritäten damit ein Stück Kontrolle über das Leben der Menschen verlieren. Die Gegenposition setzt auf Sexualaufklärung für Jugendliche und Erwachsene, auf Familienplanung und auf eine Stärkung von Frauen innerhalb wie außerhalb der Familie. Verhütung spielt dabei eine dreifache Rolle. Sie dient der Vermeidung vorehelicher Schwangerschaften, der Begrenzung der Kinderzahl innerhalb der Ehe sowie der Gesundheitsförderung. Letztere reicht vom Schutz vor Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten bis zur Verringerung des Risikos, das mit Schwangerschaft, Geburt oder Abtreibung verbunden ist.
Pronatalistische und antinatalistische Politik
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Pronatalistische und antinatalistische Politik Staatliche Bevölkerungspolitik versucht in der Regel, die Geburtenzahlen zu beeinflussen und dadurch bestimmte demographische Ziele zu erreichen. In Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum geht es in der Regel um weniger Kinder pro Frau. Man spricht dann von einer antinatalistischen Bevölkerungs- und Familienpolitik. Hoch entwickelte Länder mit alternder Bevölkerung verfolgen hingegen meist das Ziel, Geburten zu fördern und potenzielle Eltern zur Elternschaft zu ermutigen, also eine pronatalistische Bevölkerungs- und Familienpolitik. Über generelle Einschätzungen und getroffene Maßnahmen informiert eine Umfrage der UN. Darin befragt die Weltorganisation ihre Mitgliedsstaaten in regelmäßigen Abständen zu Fragen der Bevölkerungs- und Familienpolitik. Zuletzt geschah dies im Jahr 2005. In Europa ist Geburtenförderung in den meisten Ländern ein wesentliches Ziel von Familienpolitik. Es geht also um mehr Kinder pro Familie. Die UN-Umfrage von 2005 zeigt: In 34 europäischen Ländern sind die Geburtenzahlen nach Einschätzung der jeweiligen Regierungen eigentlich zu niedrig. In 27 der 34 Länder gibt es geburten- und familienfördernde Maßnahmen. Im Vordergrund stehen Direktzahlungen, steuerliche Vergünstigungen, öffentlich geförderte Einrichtungen der Kinderbetreuung sowie arbeits- und sozialrechtliche Leistungen für Schwangere und für Eltern mit minderjährigen Kindern. Direkte staatliche Unterstützung für Familienplanung und Verhütung wird dagegen seltener. 1976 unterstützten noch zwei Drittel aller entwickelten Länder Maßnahmen zur Propagierung und Verbreitung von Verhütungsmitteln. 2005 stellten laut Regierungsumfrage nur noch etwas über
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7 Bevölkerungspolitik, Familienplanung, reproduktive Gesundheit
ein Drittel der hoch entwickelten Länder öffentliche Mittel dafür bereit. In vielen Schwellen- und Entwicklungsländern geht es dagegen um eine Verringerung des Bevölkerungswachstums, also um weniger Kinder pro Familie. Staatliche Politik hat dabei zwei Möglichkeiten: Sie kann versuchen, den Wunsch nach Kindern zu verringern. Sie kann auch Maßnahmen ergreifen, die einen bereits bestehenden, aber ungedeckten Bedarf an Familienplanung besser befriedigen. Wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Frauen in ihren Rechten, aber auch in ihrer wirtschaftlichen und familiären Position gestärkt werden.
Gründe für und gegen zusätzliche Kinder In traditionellen Gesellschaften waren und sind Kinder ebenso eine ökonomische Ressource wie auch ein wenig reflektiertes Lebensziel. Eltern erwarteten von ihren Kindern, dass sie im bäuerlichen oder kleingewerblichen Familienbetrieb mitarbeiten. Oder es wurde und wird erwartet, dass die Kinder später einen Arbeitsplatz finden und Geld nach Hause schicken. In etwas abgewandelter Form gilt dies bis heute: Erfolgreiche Zuwanderer unterstützen in der Regel ihre nächsten Angehörigen und andere Verwandte in ärmeren Herkunftsländern. Das zu diesem Zweck überwiesene Geld ist in Summe (2005: US-$ 145 Milliarden) wesentlich höher als die gesamte Entwicklungshilfe aller reichen Länder. Überdies waren und sind Kinder in traditionellen Gesellschaften, aber auch in heutigen Schwellenländern noch am ehesten Garanten für die familiäre Versorgung von Alten, Kranken und Hinterbliebenen.
Gründe für und gegen zusätzliche Kinder
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Alle diese Gründe sprachen in der Vergangenheit und sprechen zum Teil noch heute für eigene Kinder. Sie sprachen bei hoher Sterblichkeit sogar dafür, Kinder in Überzahl in die Welt zu setzen. Neben den ökonomischen Erwägungen sind es in vielen Kulturen allerdings auch religiöse und soziale Wertvorstellungen, die eine große Nachkommenschaft begünstigen. Beides ist ohnehin kaum auseinanderzuhalten. Die erwarteten Effekte gehen in dieselbe Richtung. Erst wenn es den Eltern selbst keine Vorteile mehr bringt, möglichst viele Kinder zu haben, entsteht ein individuelles Motiv zur Geburtenbeschränkung. Sinkende Säuglings- und Kindersterblichkeit kann dazu den Anstoß geben. Dies geht allerdings nur, wenn sich potenzielle Eltern von der traditionellen Vorstellung eines gottgewollten oder schicksalhaften Kindersegens lösen. Erst dann werden Familienplanung und Geburtenkontrolle vorstellbar. Voraussetzung ist also ein gewisses Maß an Rationalität und die Bereitschaft zu vorausschauender Lebensplanung. Nur dann kann sich jemand eine Begrenzung der Kinderzahl wünschen – und sich auch entsprechend verhalten, um diese Zahl nicht zu überschreiten. Der bloße Wunsch nach weniger Kindern reicht freilich nicht aus. Vorstellungen über die richtige Familiengröße lassen sich erst verwirklichen, wenn potenzielle Eltern tatsächlich Zugang zu Mitteln und Methoden der Geburtenkontrolle haben. Mit der Einschränkung der Geburten begannen in Europa zuerst die Oberschichten. Sie hatten an einer Zersplitterung des jeweiligen Familienerbes kein Interesse. Im 19. Jahrhundert folgten in Europa die städtischen Mittelschichten, vor allem gewerbliche Kleinproduzenten, Angestellte und Beamte, für die eine große Kinderzahl keinerlei ökonomischen Vorteil, sondern zusätzliche Belastungen brachte. Hinzu kam die
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Gründung gesetzlicher Renten- und Krankenkassen für Angestellte und Beamte. Die soziale Absicherung im Alter und bei längerer Krankheit hing nun nicht mehr ausschließlich an der eigenen Familie. Allerdings war die Rente anfangs eher ein Zuschuss zur familiären Versorgung und kein eigenständiger Einkommensersatz im Alter. Mit einer gewissen Verzögerung begannen im 20. Jahrhundert auch Arbeiter ihre Geburten einzuschränken, zuerst die Arbeiteraristokratie – also die besser gebildeten und ausgebildeten Facharbeiter und ihre Familien. Als letzte große soziale Gruppe verringerten in Europa und Nordamerika die Bauern ihre Kinderzahlen. Auch sie wurden schließlich vom allgemeinen Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozess erfasst. Ihr Interesse an weniger Kindern wurde zweifellos durch die Vollmechanisierung weiter Bereiche der Landwirtschaft gefördert. Auch ihre Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung spielte eine Rolle. Inzwischen bringen in Europa, Nordamerika und Japan Kinder ihren Eltern kaum noch ökonomische Vorteile. Aber sie erzeugen für die Eltern erhebliche direkte und indirekte Kosten. Zu den indirekten Kosten gehört vor allem der Einkommensverzicht von Eltern – meist von Müttern – die daheim bleiben oder in Teilzeit arbeiten, solange die eigenen Kinder klein sind. Ökonomen sprechen dabei von Opportunitätskosten. Zugleich wird immer mehr Zeit für die Kindererziehung nötig. Hinzu kommen Rentensysteme, bei denen sich die Höhe der Altersrenten primär am früheren Einkommen und den damit verbundenen Beiträgen orientiert, während Zeiten der Kinderbetreuung in viel geringerem Umfang berücksichtigt werden. Mütter, die eine Zeit lang daheim bleiben oder in Teilzeit arbeiten, müssen daher mit einer niedrigeren Rente
Weltweiter Trend zu weniger Kindern – weiterhin große Unterschiede
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rechnen. Dadurch verstärkt sich gerade für Frauen der Anreiz, eher auf Kinder als auf die Ausübung eines Berufs zu verzichten. Dieser Charakter der Pensionssysteme verstärkt sich derzeit noch, weil in vielen Staaten kapitalgedeckte Betriebsrenten und privat angesparte Zusatzrenten – z. B. »RiesterRente« – eine immer größere Rolle spielen. Dabei kommt es fast ausschließlich auf die eingezahlten Beiträge und nicht auf die eigene Kinderzahl an. Vom derzeitigen Umbau der Renten- und Pensionssysteme in Richtung individueller Pensionskonten mit Ansparphase wird daher ein zusätzlicher Impuls zu weniger Kindern ausgehen.
Weltweiter Trend zu weniger Kindern – weiterhin große Unterschiede Vorreiter der Entwicklung zu weniger Kindern war Frankreich, wo dieser Trend schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – und in einzelnen sozialen Schichten sogar noch früher – einsetzte (siehe Kapitel 3). Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts folgten Großbritannien, Belgien und Schweden, ab 1900 Deutschland und Österreich. In Russland und in vielen Ländern des Balkans begannen die Kinderzahlen erst in den 1920er Jahren zu sinken. In etlichen Gesellschaften Lateinamerikas, Ost- und Südostasiens geht die Entwicklung in eine Richtung, die mit Europa durchaus vergleichbar ist. Einige Länder – allen voran die Volksrepublik China – betreiben eine sehr restriktive Bevölkerungspolitik, damit junge Erwachsene möglichst nur ein Kind zur Welt bringen. In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern gehen Wirtschaftswachstum, mehr Rechte für Frauen und sinkende Geburtenraten Hand in Hand. Wesentlich ist vor allem, dass Mädchen und Frauen Zugang zu Schul-
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bildung, zu beruflicher Ausbildung und zum Arbeitsmarkt bekommen. Denn Berufstätigkeit außer Haus und ein eigenes Einkommen stärken die Position von Frauen in der Gesellschaft und auch ihre Stellung innerhalb der Familie. Ermöglicht wird dieser Rückgang der Kinderzahlen durch einen verbesserten Zugang zu modernen Methoden der Geburtenkontrolle. Heute liegt die Kinderzahl in der EU im Schnitt bei 1,5. Allerdings gibt es innerhalb Europas beträchtliche Unterschiede. Höhere Kinderzahlen pro Frau gibt es vor allem in Frankreich und in Skandinavien. In diesen Ländern ist die institutionelle Kinderbetreuung (Tagesmütter, Krippen, Kindergärten) ab dem Säuglingsalter hoch entwickelt. Ganztägige Schulformen sind die Regel. Dadurch ist es für Frauen in diesen Ländern leichter, Beruf und Kinder zu vereinbaren. In Skandinavien spielt zweifellos auch das stärkere Engagement von Vätern bei der Kinderbetreuung eine Rolle. In Ländern wie Deutschland, Österreich und Italien sind ganztägige Kindergärten und Schulen nach wie vor die Ausnahme. Daher verzichten berufstätige Frauen mit zunehmender Qualifikation eher auf Kinder als auf eine Karriere. Ähnliche Zusammenhänge bestehen in Entwicklungs- und Schwellenländern. Auch dort lassen sich Beruf, eigenes Einkommen und mehr Selbstbestimmung mit häufiger Schwangerschaft und einer größeren Kinderzahl schlecht vereinbaren. Deshalb bekommen gut gebildete und erwerbstätige Frauen ihre Kinder meist zu einem späteren Zeitpunkt im Leben als schlecht oder gar nicht ausgebildete Frauen. Besser Qualifizierte bekommen im Schnitt auch weniger Kinder. Dies wiederum schafft in Entwicklungs- und Schwellenländern bessere Voraussetzungen für diese Kinder. In fast allen Entwicklungsländern entstanden und entste-
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hen soziale Gruppen, die Interesse an der Beschränkung ihrer Kinderzahl haben. Dies gilt insbesondere für die städtischen Mittelschichten, aber auch für Bewohner von Slums. Das soziale Vorbild dieser Gruppen vermag andere Teile der Bevölkerung zu beeinflussen. In solchen Fällen helfen geeignete Familienplanungsprogramme, den Geburtenrückgang zu beschleunigen. Aber auch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die Erhebung von Schulgeld und ein generelles Verbot der Kinderarbeit haben entsprechende Auswirkungen. Kinder werden dadurch auch in Schwellen- und Entwicklungsländern von einer potenziellen Einkommensquelle zu einem Kostenfaktor.
Nebenwirkungen gesellschaftlicher Modernisierung Nicht alle Auswirkungen gesellschaftlicher Modernisierung führen automatisch zu weniger Kindern. Modernisierung kann unter Umständen auch eine höhere Fruchtbarkeit zur Folge haben. Unstrittig ist jedenfalls der Einfluss von Ernährung und medizinischer Versorgung. Verbessert sich beides, dann tritt in der Regel die Geschlechtsreife früher ein und unfreiwillige Sterilität wird seltener. Zugleich hat die Auflösung traditioneller sozialer Normen und Tabus einen Einfluss. Beispiele dafür gibt es nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch bei uns. Das traditionelle Heiratsmuster in West- und Mitteleuropa war ein solcher Regelmechanismus. Es reduzierte die Kinderzahl durch ein Heiratsalter, das in der Regel weit jenseits des 20. Geburtstags lag. Wirksam waren Eheverbote für Personen ohne gesicherten Lebensunterhalt, für Hauspersonal, für einfache Soldaten, aber auch für Lehrerinnen. In manchen Teilen
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Europas gab es sogar ein Verbot der Wiederverheiratung von Witwen. Gleiche Auswirkungen hatten Gebote zur sexuellen Enthaltsamkeit während religiöser Fastenzeiten oder nach Geburten und Abtreibungen. Diese Regeln und Tabus beschränkten die Geburtenzahl, ohne dass dies all jenen, die sich daran hielten, immer bewusst war. Gesellschaftliche Modernisierung beseitigte jeweils einen Teil dieser Beschränkungen. In ähnlicher Weise wirkten sich kürzere Stillzeiten in wenig entwickelten Gesellschaften aus. Denn während der Stillperiode ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Mutter wieder schwanger wird, sehr gering. Sobald Frauen ihre Neugeborenen nicht mehr zwei bis drei Jahre lang, sondern nur noch wenige Wochen oder Monate stillen und dann auf künstliche Babynahrung umsteigen, verkürzt sich der natürliche Empfängnisschutz während der Stillzeit beträchtlich.
Familienplanung: Bedarf und verwendete Methoden Weltweit gab es zu Beginn des 21. Jahrhunderts etwa 1,1 Milliarden Ehepaare und Lebensgemeinschaften, für die Familienplanung ein Thema ist oder sein könnte. Dies waren alle Paare, bei denen die Frau unter 50 Jahre alt ist. 950 Millionen dieser Paare lebten in Entwicklungs- und Schwellenländern, weitere 150 Millionen in entwickelten Industriestaaten. Über Kinderwunsch, Kinderzahlen, Familienplanung und die hauptsächlich verwendeten Verhütungsmethoden wurden in den letzten Jahren weltweit Untersuchungen durchgeführt. Aus diesen Untersuchungen wissen wir: sechs von zehn Paaren (bei denen die Frau unter 50 Jahre alt war) betrieben Ende der 1990er Jahre und zu Beginn des 21. Jahrhunderts ir-
Familienplanung: Bedarf und verwendete Methoden
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gendeine Form der Familienplanung (Abb. 19, Tab. 13). Bei fast einem Viertel der Paare war einer der Partner – häufiger die Frau, seltener der Mann – sterilisiert. Bei 10 % der Paare verwendete die Frau die Pille oder ein Hormonimplantat, bei weiteren 14 % verwendete die Frau eine Spirale. Bei nur 5 % verwendete der Mann ein Kondom. Weltweit wendeten etwas mehr als die Hälfte aller Paare eine sichere Methode der Verhütung an. Rund 7 % aller Paare verließen sich auf traditionelle, aber wesentlich weniger wirkungsvolle Methoden – vor allem auf die Berechnung der fruchtbaren Tage sowie auf unterbrochenen Geschlechtsverkehr. Vier von zehn Paaren verhüteten nicht.
Tab. 13 Von Frauen der Altersgruppen 15–49 und von ihren (Ehe-)Partnern vorwiegend benutzte Methoden der Empfängnisverhütung (in %), Erhebungszeitraum 1995–2004. (Nur Frauen und Männer, die verheiratet sind oder in Lebensgemeinschaft leben.) Quelle: Diverse nationale Erhebungen, Demographic and Health Surveys, UN Population Division (2005): World Contraceptive Use
Weit verbreitet war Kontrazeption unter verheirateten und unverheirateten Paaren an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert in Ostasien, Australien, Nordamerika, Südamerika
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7 Bevölkerungspolitik, Familienplanung, reproduktive Gesundheit
und Europa. Zwischen zwei Drittel und drei Viertel aller Paare verhüteten in diesen Regionen der Welt ungewollte Schwangerschaften. Am Weltdurchschnitt von 60 % oder knapp darüber lagen die Paare in Mittelamerika, die Karibik und Südostasien. Etwas niedriger ist das Niveau im südlichen Afrika, in Nordafrika sowie in Südasien und Westasien, wo etwa die Hälfte aller Paare Verhütungsmethoden anwenden. Nach wie vor die Ausnahme ist Verhütung in weiten Teilen Afrikas. Im Ostteil jenes Kontinents und in Zentralafrika verhütete nur eines von vier Paaren, in Westafrika sogar nur eines von acht Paaren. Moderne und sichere Verhütungsmethoden waren vor allem in Ostasien, Australien, Nordamerika sowie im Nordwesten Europas stärker verbreitet. Dagegen spielten traditionelle und weniger zuverlässige Methoden in mehreren Ländern Ostmittel- und Osteuropas sowie Westasien eine größere Rolle. Auch bei den sicheren Methoden zeigten sich erhebliche regionale Unterschiede. In reicheren Ländern waren Pille und Kondom am weitesten verbreitet. Dahinter folgte die Sterilisation von Frauen und Männern. In Entwicklungs- und Schwellenländern ist die Sterilisation von Frauen die weitaus häufigste sichere Verhütungsmethode, gefolgt von der Spirale. Kondome waren an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert mit bloß 3 % weit abgeschlagen. Dies ist auch eine Erklärung dafür, dass sich HIV/AIDS in einer Reihe ärmerer Länder weiterhin stark ausbreitet. Für einige Länder und Regionen gibt es schon seit längerer Zeit Informationen, wie viele Paare Verhütungsmethoden anwenden. Dabei zeigt sich, dass in den 1960er Jahren weltweit nur etwa 10– 15 % aller Paare versuchten, unerwünschte Schwangerschaften zu verhüten. Heute tun dies mehr als
Familienplanung: Bedarf und verwendete Methodeh
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Abb. 19 Von Frauen der Altersgruppen 15–49 und von ihren (Ehe-)Partnern vorwiegend benutzte Methoden der Empfängnisverhütung; hoch entwickelte Länder und Entwicklungsländer im Vergleich (in %), Erhebungszeitraum 1995–2004.
60 % aller Paare. Diese Angaben beziehen sich jeweils auf Ehepaare und Lebensgemeinschaften, bei denen die Frau unter 50 Jahre alt war.
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7 Bevölkerungspolitik, Familienplanung, reproduktive Gesundheit
Bedarf an Familienplanung An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert taten immerhin vier von zehn Paaren (39 %) nichts, um Schwangerschaften zu verhüten. In Süd- und Westasien sowie in weiten Teilen Afrikas waren diese Paare sogar in der Mehrheit. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen: • Ganz traditionellen Familien erscheint eine hohe Kinderzahl weiterhin ökonomisch vorteilhaft, oder die eigene Kinderzahl ist für sie noch immer gottgewolltes Schicksal. Verhütung innerhalb der Ehe spielt daher kaum eine Rolle. Voreheliche Sexualkontakte sind hingegen verpönt. In den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern schrumpft diese Gruppe der Traditionalisten durch steigendes Bildungsniveau und wachsenden Wohlstand. • Dadurch entsteht eine zweite Gruppe von Frauen und Männern. Sie halten eine hohe Kinderzahl zwar nicht für erstrebenswert, aber sie verfügen nicht über wirksame Mittel und Methoden zur Verhütung von Empfängnissen und Geburten. Diese zweite Gruppe hat einen ungedeckten Bedarf an Familienplanung. Sie wird kleiner, wenn sich der Zugang zu Methoden der Empfängnisverhütung schneller verbessert, als der zusätzliche Bedarf danach wächst. Die Größe der zweiten Gruppe ist eine wichtige Planungsgrundlage für zusätzliche Anstrengungen auf dem Gebiet der präventiven Familienplanung. • Eine dritte Gruppe praktiziert bereits Empfängnisverhütung und Geburtenkontrolle; entweder um eine weitere Geburt aufzuschieben, oder um keine weiteren Kinder mehr zu bekommen. Zur dritten Gruppe gehören all jene Frauen, die aktuell Empfängnisverhütung betreiben; aber auch Frauen, die mangels Zugang zu wirksamer Verhü-
Bedarf an Familienplanung
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tung, Schwangerschaften unterbrechen lassen. Schwangerschaftsabbrüche sind ebenfalls ein Hinweis auf einen ungedeckten Bedarf an Familienplanung. • Schließlich gibt es Frauen und Männer, die an Verhütung derzeit nicht interessiert sind, weil sie sich ein Kind wünschen. Bei ihnen ist es allerdings meist nur eine Frage der Zeit, bis die gewünschte Kinderzahl erreicht – oder sogar überschritten – ist. In Summe ergibt sich ein beträchtlicher ungedeckter Bedarf an Familienplanung. Experten gehen davon aus, dass bei etwa 200 Millionen Paaren zumindest die Frau entweder gar kein Kind mehr bekommen möchte oder in den kommenden ein bis zwei Jahren nicht schwanger werden will. Neben verheirateten und unverheirateten Paaren gibt es auch unverheiratete Jugendliche und Erwachsene mit gelegentlichen oder regelmäßigen Sexualkontakten. Hinzu kommen Verheiratete mit außerehelichen Beziehungen. Über alle diese Gruppen gibt es kaum international vergleichende Untersuchungen. Aber gerade sie müssten eigentlich ein Interesse an der Vermeidung von Schwangerschaften haben. Und auch bei ihnen besteht ein beträchtlicher ungedeckter Bedarf an Aufklärung, Information und Familienplanung. Untersuchungen zeigen einen klaren Zusammenhang zwischen wirksamer Empfängnisverhütung und Kinderzahl. Deutlich ist auch, dass Frauen wesentlich weniger ungewollte Kinder zur Welt bringen, wenn sie Zugang zu modernen Verhütungsmethoden haben (Tab. 15). Dabei wird es mit steigender Zahl bereits geborener Kinder umso wahrscheinlicher, dass das nächste Kind ungewollt ist (Abb. 20). Aber auch bei sehr kurzem Abstand zwischen den Geburten kommt das nachfolgende Kind für die Mutter oft ungelegen.
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7 Bevölkerungspolitik. Familienplanung, reproduktive Gesundheit
Durch die HIV/AIDS-Epidemie gewannen einige Verhütungsmittel seit Beginn der 1990er Jahre zusätzlich an Bedeutung. Denn die Verwendung von Kondomen bietet weitgehenden Schutz vor einer Ansteckung. Selbstverständlich gilt dies auch für andere sexuell übertragbare Krankheiten (z. B. Syphilis, Tripper, Herpes).
Verhütung und Schwangerschaftsabbruch Mangelnde Sexualaufklärung und der Verzicht auf sichere Verhütungsmethoden führen vielfach zu ungewollten Schwangerschaften. Experten schätzen, dass Jahr für Jahr weltweit 80 bis 100 Millionen Frauen ungewollt schwanger werden. In weniger als der Hälfte der Fälle führen diese ungewollten Schwangerschaften zu einer Geburt. In mehr als der Hälfte der Fälle kommt es zu einem Schwangerschaftsabbruch. Genaue Zahlen sind nicht verfügbar. Die letzte weltweite Untersuchung dazu wurde in den 1990er Jahren durchgeführt. Damals untersuchten Forscher des Alan Guttmacher-Instituts (New York) Daten aus 57 Ländern. Daraus errechneten sie für das Jahr 1995 etwa 26 Millionen legale und 20 Millionen illegale Schwangerschaftsabbrüche. Zum Vergleich: Im selben Jahr gab es rund 128 Millionen Geburten. Besonders häufig waren Schwangerschaftsabbrüche Mitte der 1990er Jahre in Ostmittel- und Osteuropa sowie in Ostund Südostasien. Gemessen an der Zahl der Frauen gab es damals in Vietnam die meisten Abtreibungen. Auch in China war dies eine weitverbreitete Methode der Geburtenkontrolle. Über dem Durchschnitt der reicheren Länder lag auch Japan. Denn dort war die Pille als Verhütungsmittel bis 2004 legal nicht erhältlich.
Verhütung und Schwangerschaftsahbruch
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Umgekehrt zeigte sich damals zumindest für hoch entwickelte Industriestaaten und Schwellenländer ganz klar: Je weiter verbreitet wirksame Verhütungsmethoden sind, umso weniger Schwangerschaftsabbrüche gibt es.
Tab. 14 Legale Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs in Mitgliedsstaaten der UN (Stand 2005). Quelle: UN Population Division 2005
Legal sind Abtreibungen fast überall, wenn eine unmittelbare Gefahr für das Leben der Schwangeren besteht. Wenn sich damit erhebliche körperliche oder seelische Probleme abwenden lassen, erlauben mehr als 80 % aller hoch entwickelten Länder, aber nur etwa 60 % der Entwicklungs- und Schwellenländer einen Abbruch. Den Abbruch einer Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung, aber auch bei Missbildung des Fötus erlauben fast alle hoch entwickelten Länder, aber nur ein Drittel der Entwicklungs- und Schwellenländer. Zwei von drei reicheren Ländern, aber kaum ein Entwicklungs- und Schwel-
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lenland stellt der Schwangeren die Entscheidung frei (Tab. 14). Die Folge davon ist, dass nach Schätzungen fast die Hälfte aller Schwangerschaftsabbrüche illegal und damit auch unter unsicheren Bedingungen durchgeführt werden.
Schwangerschaftsabbruch und Geschlecht des Kindes Abtreibungen spielen vor allem in Asien noch aus einem anderen Grund eine Rolle. Durch eine Untersuchung des Fruchtwassers ist es seit einiger Zeit möglich, das Geschlecht eines Kindes schon vor der Geburt herauszufinden. Dies führt in einer Reihe von Ländern – insbesondere in China und Indien, aber auch in Südkorea, Japan, Pakistan und Singapur zur systematischen Abtreibung weiblicher Föten. In China wollen Eltern angesichts der verordneten EinKind-Politik auf diese Weise sicherstellen, auf jeden Fall einen Sohn zu bekommen. Dies ist nicht bloß eine Frage des Sozialprestiges, sondern auch der Altersversorgung. Denn dafür sind in China bis heute überwiegend die eigenen Kinder zuständig. Und von einem Sohn erwarten sich Eltern – nicht ganz zu Unrecht – mehr finanzielle Unterstützung als von einer Tochter. Auch in Indien und Pakistan stehen materielle Überlegungen im Vordergrund. Töchter können in der Regel nur heiraten, wenn sie von ihren Eltern eine stattliche Mitgift erhalten. Selbst Mittelschichtfamilien können sich die standesgemäße Verheiratung mehrere Töchter ohne Verschuldung kaum leisten. Daraus erklärt sich, warum viele Paare versuchen, erst gar keine Töchter in die Welt zu setzen. Die Folge dieser Abtreibungen nach erfolgter Geschlechtsbestimmung des Fötus ist: In mehreren Ländern werden seit
Schwangerschaftsabbruch und Geschlecht des Kindes
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den 1990er Jahren deutlich mehr Knaben als Mädchen zur Welt gebracht. Normalerweise kommen pro 1000 Knaben etwa 945– 950 Mädchen zur Welt. 1991 war dies auch in Indien und China noch der Fall. 2001 waren es nur noch 927 Mädchen. Bei Inderinnen, die schon ein Mädchen zur Welt gebracht hatten, war das Geschlechterverhältnis beim zweiten Kind sogar nur 759 Mädchen auf 1000 Knaben. Auch in China kamen im Jahr 2005 je 1000 Knaben bloß noch 850 Mädchen zur Welt. In der Provinz Guangdong lag das Geschlechterverhältnis bei 770 Mädchen auf 1000 Knaben. Längerfristig führt die selektive Abtreibung in Süd- und Ostasien zu einem großen Frauenmangel. Dies bedeutet, dass eine wachsende Zahl junger Männer zukünftig keine Partnerin finden und keine Familie gründen kann. 2020 wird es allein in China bereits 40 Millionen junge Männer geben, die im Inland mit Sicherheit keine Frau im heiratsfähigen Alter finden können.
Tab 15. Verhütung und Kinderzahlen in ausgewählten Entwicklungsländern. Quelle: Diverse nationale Erhebungen, Demographic and Health Surveys (DHS) 1997–2001, DSW (2004)
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Programme zur Förderung der Familienplanung Eine beträchtliche Zahl von Entwicklungs- und Schwellenländern versuchten während der letzten Jahrzehnte, den Kinderwunsch und die Kinderzahl von Familien durch Anreize oder Sanktionen zu beeinflussen. China ist das Land, welches solche Anreize und Sanktionen bisher am stärksten einsetzte. Etliche europäische und US-amerikanische Kritiker der chinesischen Ein-Kind-Politik sind der Meinung, dass dabei durch die repressiven Maßnahmen grundsätzliche ethische Grenzen überschritten wurden und werden. Umstritten ist überdies der langfristige Erfolg einer Geburtenbeschränkung, die vor allem unter Zwang zustande kommt. Sicher käme es bei einer stärkeren Demokratisierung Chinas oder einer Lockerung der Kontrollen zu einer »Welle« nachgeholter Geburten. Noch umstrittener als die chinesische Bevölkerungspolitik waren die eine Zeit lang in Indien praktizierten Sterilisierungsprogramme, die sich auf Zwang oder höchst unvollständige Information stützten. Sie brachten die staatliche Familienplanung dort und in benachbarten Ländern erheblich in Misskredit. Chinesische Ein-Kind-Politik Chinesische Bevölkerungs- und Familienpolitik setzt seit den 1980er Jahren auf Geburtenbeschränkung. Nach offiziellen Statistiken gilt dabei nur für 36 % der Bevölkerung eine strikte Ein-Kind-Verordnung. Dies gilt insbesondere für Metropolen wie Bejing, Shanghai und Tianjin, aber auch für reiche Provinzen wie Jiangsu. Für mehr als die Hälfte der Bevölkerung (53 %) gilt, dass sie nach der Geburt eines Mädchens noch ein Kind bekommen dürfen.
Programme zur Förderung der Familienplanung
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Mehr als 9 % der Bevölkerung dürfen offiziell zwei Kinder haben. Für die wenigen Angehörigen ethnischer Minderheiten (unter 2 %) – insbesondere für Mongolen und Tibeter – gibt es keine offiziellen Beschränkungen. In der Praxis haben Wanderarbeiter, Bauern und Parteifunktionäre mehr Kinder als Angehörige städtischer Mittelschichten.
In den meisten Entwicklungsländern geht es heute nicht um Zwangsmaßnahmen, sondern um besseren Zugang zu Familienplanung und Verhütungsmitteln. Denn viele Frauen wünschen sich schon in der Gegenwart kein weiteres Kind mehr, oder sie möchten ihr nächstes Kind frühestens in zwei bis drei Jahren bekommen. Viele verhüten mehr oder weniger wirkungsvoll. Bester Beweis dafür sind die weltweit sinkenden Kinderzahlen pro Familie. Allerdings gibt es immer noch viele Frauen, die sich zwar derzeit kein Kind wünschen, aber auch keine wirksame Empfängnisverhütung betreiben. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Oft fehlen verständliche, ausführliche und glaubwürdige Informationen über die vorhandenen Methoden, ihre Besonderheiten und Nebenwirkungen. Bei ihnen könnten Aufklärungs- und Informationskampagnen die Akzeptanz moderner Verhütungsmittel erhöhen und den Zugang erleichtern. Zumeist ist jedoch eine qualifizierte, individuelle Beratung der Paare und insbesondere der betroffenen Frauen erforderlich. Ein Teil der armen Landbevölkerung, aber auch viele, die in den Slums der Großstädte leben, haben keinen ausreichenden Zugang zu modernen Verhütungsmitteln. Hinzu kommt ein finanzielles Problem. In den meisten Entwicklungsländern müssten Individuen oder Paare für die Pille, das Einsetzen einer Spirale oder für Kondome auf dem freien Markt 5–10 %
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ihres Familieneinkommens aufwenden. Viele können oder wollen sich dies nicht leisten. Bei Paaren, die bei der Entscheidung für Geburtenkontrolle noch schwanken oder sich über die Zahl eigener Kinder nicht einig sind – häufig weil der Mann noch ein weiteres Kind möchte, die Frau aber nicht –, ist der einfache Zugang zu wirkungsvollen Verhütungsmethoden besonders wichtig. Familienplanungsprogramme können diesen Zugang durch Information, Beratung und kostenlose Verteilung oder subventionierten Verkauf von Verhütungsmitteln erheblich erleichtern. Da in fast allen Entwicklungsländern ein ungedeckter Bedarf an Familienplanung besteht, ließe sich das Bevölkerungswachstum auf diesem Weg bereits kurz- und mittelfristig verringern. Viele Entwicklungsländer insbesondere in Afrika sind dabei auf finanzielle Unterstützung der reichen Industriestaaten angewiesen. Seit Jahrzehnten bewährt es sich, die medizinische Betreuung für Mutter und Kind mit der Beratung zu Fragen und Möglichkeiten der Familienplanung zu verknüpfen. Entsprechende Betreuungseinrichtungen bestehen inzwischen in vielen Entwicklungsländern. Es zeigte sich jedoch, dass sowohl junge Frauen ohne Kinder als auch Männer solche Einrichtungen generell viel seltener aufsuchen als Schwangere und Mütter. Hinzu kommt ein zweites Problem. In Gesellschaften mit rasch wachsender Bevölkerung kann der Ausbau von Gesundheitseinrichtungen für Mutter und Kind oft mit den – dort noch ansteigenden Geburtenzahlen – nicht Schritt halten. Verständlicherweise konzentrieren sich Ärzte, Hebammen und Krankenschwestern in Ländern mit rasch wachsender Bevölkerung auf die jeweils dringendere Betreuung von werdenden Müttern, Neugeborenen und kranken Kin-
Programme zur Förderung der Familienplanung
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dern. Das Familienplanungsangebot dieser Einrichtungen kommt dadurch zu kurz. Weitere ungewünschte Schwangerschaften sind die Folge. Deutlichster Hinweis auf den ungedeckten Bedarf an Familienplanung sind zwischen 100 und 120 Millionen unerwünschte Schwangerschaften pro Jahr sowie die geschätzte Zahl von deutlich mehr als 50 Millionen Schwangerschaftsabbrüchen weltweit. Um den genannten Problemen zu begegnen, werden verstärkt nichtklinische Formen der Familienplanung angeboten. Gemeindezentrierte Angebote gibt es heute in über 50 Entwicklungsländern. Sie stützen sich auf freiwillige Helferinnen und Helfer, in der Mehrzahl auf Frauen, die für ihr Dorf ein Depot von hormonellen Verhütungsmitteln (Pille) und Kondomen verwalten und diese meist kostenlos verteilen. Zugleich beraten und informieren die Helferinnen und Helfer über Familienplanung: auf Gemeindeversammlungen, von Tür zu Tür sowie im Freundes- und Bekanntenkreis. Sie werden in der Regel von ihren Gemeinden für diese Aufgabe ausgewählt und erhalten eine Schulung. Bisherige Erfahrungen bestätigen die Wirksamkeit dieser Form des Angebots von Familienplanungsleistungen. Ein anderer Ansatz setzt auf den subventionierten Verkauf von Pille und Kondom über kommerzielle Kanäle, d. h. in Drogerien, an Kiosken, in Lebensmittelgeschäften und in Restaurants. Dabei werden Mittel und Methoden der kommerziellen Werbung eingesetzt, um über diese Produkte zu informieren und sie zu vermarkten. Dieser Weg bewährt sich vor allem bei der Propagierung von Kondomen zur Verhütung von HIV /AIDS.
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7 Bevölkerungspolitik, Familienplanung, reproduktive Gesundheit
Zusätzlicher Bedarf an Familienplanung Der Bedarf an Serviceleistungen im Bereich der Familienplanung wird in den nächsten Jahrzehnten stark wachsen – sowohl quantitativ als auch qualitativ. Quantitativ wächst der Bedarf an Familienplanung zumindest im Tempo des Bevölkerungswachstums der jüngeren Vergangenheit. Die vor 15 Jahren geborenen Kinder kommen heute in das Alter, in dem sie selber Kinder zeugen bzw. gebären könnten und ungewollte Schwangerschaften verhüten sollten. Auch in jenen Schwellen- und Entwicklungsländern, die den Höhepunkt ihres Bevölkerungswachstums bereits überschritten haben, wird die Zahl der Individuen und Paare im reproduktionsfähigen Alter noch eine Weile ansteigen. Gerade in den ärmsten Ländern der Welt wird sich ein weiterer Rückgang der Fruchtbarkeit – wie von den meisten Bevölkerungsprognosen angenommen – jedenfalls nicht von allein einstellen. Dieses Ziel erfordert eine stärkere Verbreitung moderner Empfängnisverhütung gerade in jenen Ländern, in denen bisher nur zwischen 10 und 25 % aller Paare überhaupt verhüten. An Familienplanung in Entwicklungsländern werden in den nächsten Jahren auch qualitativ neue Anforderungen gestellt. Nur eine qualitativ bessere Beratung über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Verhütungsmethoden und über ihre Nebenwirkungen wird jene Personen erreichen, die bisher die Leistungen bestehender Programme nicht nutzten, obwohl sie im Prinzip Zugang dazu gehabt hätten. Eine verbesserte Beratung wird auch die Häufigkeit verringern, mit der die Verwendung bestimmter Methoden abgebrochen wird. Die weite Verbreitung von HIV/ AIDS zwingt schließlich
Zusätzlicher Bedarf an Familienplanung
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dazu, die traditionellen Aufgaben von Familienplanungsprogrammen um AIDS-Prävention zu erweitern. Derzeit sind rund 40 Millionen Personen mit HIV infiziert. Allein im Jahr 2006 gab es 4,3 Millionen Neuinfektionen. Dadurch ergeben sich neue Anforderungen an die Schulung des Personals und auch an die Propagierung sicherer Methoden der AIDS-Verhütung. Die Eindämmung von HIV /AIDS erfordert vor allem einen gravierenden Verhaltenswandel, den universellen Zugang zu Kondomen sowie die Behandlung anderer sexuell übertragbarer Krankheiten, durch die das Infektionsrisiko erheblich steigt. Lokal operierende Familienplanungsprogramme haben oft
Abb. 20 Anteil völlig unerwünschter Geburten nach bisheriger Kinderzahl (in %) (Nur Frauen, die nach dem Kind, das sie davor zur Welt brachten, gar keine Kinder mehr bekommen wollten.) Quelle: DHS
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gute Voraussetzungen, um einen Beitrag in dieser Richtung zu leisten. Sie können dies jedoch nicht ohne zusätzliche Ressourcen tun. Eine weitere qualitative Herausforderung ist die stärkere Einbeziehung von Jugendlichen und von Männern in bestehende Familienplanungsprogramme.
Was bewirkt Familienplanung? Führt die Förderung von Familienplanung direkt zu weniger Geburten? Oder wirken Investitionen in Familienplanung erst, wenn der Kinderwunsch aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung bereits sinkt? Internationale Experten sind sich darüber nicht einig. Am deutlichsten vertrat bisher der in den USA tätige niederländische Demograph John Bongaarts die These, dass ein direkter Zusammenhang besteht. Er stützte sich dabei auf detaillierte Studien über ausgewählte Regionen in China und Bangladesch. In beiden Ländern – so Bongaarts – war die staatliche Förderung von Familienplanung und Geburtenkontrolle die Hauptursache für sinkende Kinderzahlen pro Frau. Denn durch bessere Aufklärung und bessere Versorgung mit Verhütungsmitteln sank in den Familien die Zahl ungeplanter und ungewollter Kinder. Und zugleich sank die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche. Nach Ansicht von Bongaarts sind in beiden Ländern über 40 % des Rückgangs der Kinderzahl pro Frau direkt auf effizientere Familienplanung und Geburtenkontrolle zurückzuführen. Auch die Entwicklung in Irland scheint für die These zu sprechen. Dieses Land registrierte nach 1945 bei weitem die höchsten Kinderzahlen aller heutigen EU-Staaten. Erst in den 1970er und 1980er Jahren wurde der Verkauf von Verhü-
Was bewirkt Familienplanung?
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tungsmitteln legalisiert. Heute liegt die Fruchtbarkeit selbst in Irland unter zwei Kindern pro Frau. Prominentester Kritiker dieser Sichtweise ist der US-Entwicklungsökonom Lant Pritchett. Er verweist darauf, dass es auch in Entwicklungsländern mit sinkender Kinderzahl einen beträchtlichen Anteil ungeplanter Geburten gibt. Seine Analyse lautet: Auf den Kinderwunsch kommt es an. Dieser von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägte Wunsch erklärt laut Pritchett bis zu 90 % der Unterschiede in der Kinderzahl. Unabhängig davon wie diese Kontroverse ausgeht, können wir sagen: Alle Maßnahmen zur Förderung reproduktiver Gesundheit schaffen nicht nur die Voraussetzungen für die Durchsetzung eines elementaren Menschenrechts, das da lautet: die Zahl und den Zeitpunkt der Geburt eigener Kinder selbst bestimmen zu können. Sie haben auch eine wichtige demographische Konsequenz. Wenn der ungedeckte Bedarf an Familienplanung in Entwicklungsländern in absehbarer Zeit befriedigt würde, dann könnte die Weltbevölkerung zukünftig langsamer wachsen.
8 Gesundheit, Krankheit und Tod Derzeit sterben pro Jahr etwa 58 Millionen Menschen. Fast ein Fünftel aller Todesfälle – insgesamt 10 Millionen pro Jahr – betreffen Säuglinge und Kleinkinder unter zehn Jahren. In Entwicklungs- und Schwellenländern machen verstorbene Säuglinge und Kinder sogar rund ein Viertel aller Sterbefälle aus. Dies hat allerdings nicht bloß mit der höheren Kindersterblichkeit in ärmeren Ländern zu tun. Es hängt auch mit der Altersstruktur jener Länder zusammen, die durch viele Kinder und bislang wenig ältere Menschen geprägt ist. Hinzu kommt: Die meisten Todesfälle von Kindern wären vermeidbar. Denn zu den wichtigsten Todesursachen gehören Geburtskomplikationen, Durchfall und Lungenentzündungen. Die Überlebenschancen von Säuglingen und Kleinkindern hängen vor allem davon ab, wo sie geboren werden. Zwischen reicheren und ärmeren Ländern ist dieser Unterschied klar. Er gilt allerdings auch innerhalb der jeweiligen Gesellschaften. Für rund 30 Entwicklungs- und Schwellenländer gibt es dazu genauere Daten. Sie zeigen: In ländlichen Gegenden Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist die Kindersterblichkeit um 50 % größer als in den Städten. Kinder ärmerer Frauen ohne Schulabschluss sterben dort mehr als doppelt so häufig wie Kinder, deren Mütter selbst eine Schule besucht haben. Bei diesen Unterschieden gab es in den letzter. 15 Jahren kaum Veränderungen, obwohl die Kindersterblichkeit insgesamt rückläufig war.
8 Gesundheit, Krankheit und Tod
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Wesentlich für die Senkung der Kindersterblichkeit sind nicht nur sauberes Trinkwasser und eine bessere Ernährung. Lebensrettend sind auch weltweite Impfkampagnen. Weltweit wurden 2004 fast 80 % aller Kinder im ersten Lebensjahr gegen Diphtherie, Keuchhusten und Starrkrampf (Tetanus) geimpft. In 102 Ländern der Welt lag die Impfrate gegen diese drei Krankheiten bei über 90 %, in 50 Ländern noch unter 80 % und immerhin in 10 Ländern unter 50 %. Zu dieser Gruppe mit besonders niedriger Impfrate gehören sehr arme Länder wie Haiti, Laos, Liberia und Zentralafrika, aber auch Ölstaaten wie Gabun und Nigeria. In Indien und Pakistan liegt die Impfrate bei 65 %, in Indonesien bei 70 % und in China bereits über 90 %. Ungleiche Überlebenschancen erklären sich auch aus der völlig unterschiedlichen Qualität des jeweiligen Gesundheitssystems. Dies zeigt ein Vergleich zwischen Afrika und Nordamerika: In den USA und Kanada leben 5 % der Weltbevölkerung. Dort arbeiten mehr als ein Drittel aller Ärzte und Krankenschwestern. Und auf beide Länder entfallen 50 % aller weltweiten Ausgaben im Gesundheitswesen. In Afrika leben heute fast 15 % aller Menschen. In diesem Teil der Welt sind aber nur 3,5 % aller Ärzte und Krankenschwestern tätig. Und von den Gesundheitsausgaben der Welt entfallen gerade 1 % auf Afrika. Erschwerend kommt hinzu, dass viele reiche Länder gezielt Krankenschwestern, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegerinnen aus ärmeren Ländern anwerben. Dadurch vergrößert sich dort die Notlage des Gesundheitssystems.
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8 Gesundheit, Krankheit und Tod
Die häufigsten Krankheiten und Todesursachen Weltweit gibt es zwei wichtige Gruppen von Todesursachen: einerseits Infektionskrankheiten und andere parasitäre Erkrankungen; andererseits Herz-Kreislauf-Erkrankungen. An übertragbaren und parasitären Krankheiten versterben derzeit etwa 18 Millionen Menschen pro Jahr. Das sind etwa 30 % aller Todesfälle. Infektionskrankheiten mit Todesfolge sind heute vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern weit verbreitet. In reicheren Ländern hingegen spielen sie für das Sterbegeschehen kaum eine Rolle. Zweite Haupttodesursache sind die Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dazu gehören Herzinfarkt, Gehirnschlag und andere Gefäßerkrankungen. Ihnen fallen fast die Hälfte aller Bewohner von Industriestaaten zum Opfer, in Entwicklungs- und Schwellenländern hingegen nur ein Viertel bis ein Fünftel aller Einwohner. Aber auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern steigen diese Erkrankungen an. In Summe sind dies rund 18 Millionen pro Jahr und damit ebenfalls 30 % aller Todesfälle. An dritter Stelle stehen die »bösartigen Neubildungen« – also diverse Formen von Krebs. Sie machen in Industrieländern etwa ein Fünftel aller Todesfälle aus (21 %), in Asien, Afrika und Lateinamerika hingegen nur ein Zehntel aller Sterbefälle. Weltweit versterben derzeit etwa 7,5 Millionen Menschen an Krebs. Das sind 13 % aller Todesfälle. Etwa halb so häufig führen Erkrankungen der Lunge und der Atemwege zum Tod (4 Millionen bzw. 7 % aller Todesfälle). Diabetes und alle anderen chronisch-degenerativen Erkrankungen sind für weitere 11 % der Sterbefälle verantwortlich. Immerhin fast ein Zehntel aller Sterbefälle geht auf das Konto von Unfällen und tödlichen Verletzungen.
Die häufigsten Krankheiten und Todesursachen
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Abb. 21 Wichtigste Todesursachen und Beeinträchtigungen des Lebens (DALY) in %, 2005. Quelle: WHO, 2005
Todesfälle sind nur der sichtbarste Hinweis auf das Krankheitsspektrum und die jeweiligen Gesundheitsverhältnisse. Aber in den meisten Fällen führen Unfälle und Erkrankungen nicht zum Tod. Selbst Krankheiten, an denen Menschen schließlich versterben, können sich über Jahre hinziehen. Welche Rolle Krankheiten und von ihnen verursachte körperliche Beeinträchtigungen insgesamt spielen, lässt sich noch anders bemessen: nämlich an der durch sie im Lauf des Lebens
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8 Gesundheit, Krankheit und Tod
»verlorenen« Zeit (DALY). Dabei ergibt sich ein etwas anderes Bild. Auf ein ganzes Leben gerechnet, dominieren Infektionen sowie chronisch-degenerative Erkrankungen aller Art. An dritter Stelle stehen Verletzungen. Ursachen sinkender Sterberaten In keiner Phase der Menschheitsgeschichte sank die Sterblichkeit rascher als während der letzten 150 Jahre. Das Zusammenwirken verschiedener Faktoren führte zu einer starken Verringerung der Sterblichkeit. Wesentlich waren: • die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion in der Landwirtschaft und die Verbesserung der Ernährungssituation breiter Schichten der Bevölkerung • die Revolutionierung des Transportwesens, wodurch eine schnellere Verteilung von Nahrungsmitteln und die Überbrückung lokaler Engpässe möglich wurde (= Vermeidung von Hungersnöten) • die Verbesserung der öffentlichen Hygiene (Trinkwasserversorgung, Abwasserentsorgung und Müllbeseitigung) und der privaten Hygiene (fließendes Wasser, regelmäßige Kleiderreinigung, eiserne Bettgestelle, Seife als Massenkonsumgut, Wohnungen in Steinhäusern) • medizinischer und pharmazeutischer Fortschritt (Aseptik, Antiseptik, Impfungen auf breiter Basis, Zurückdrängung von Infektionskrankheiten) • die Erhöhung des Bildungsniveaus und die veränderte Stellung der Kinder (Verbot der Kinderarbeit, Durchsetzung der Schulpflicht, Ausdifferenzierung der Kindheit als eigene Lebensphase).
Veränderung der Todesursachen
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Veränderung der Todesursachen Bis vor 150 Jahren waren tödliche Infektionskrankheiten und parasitäre Erkrankungen überall in der Welt – also auch in Europa und Nordamerika – der Normalfall. Eine englische Statistik aus den Jahren 1848 bis 1854 belegt das damalige Übergewicht tödlicher Infektionskrankheiten. Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie die Ursache für rund 60 % aller Sterbefälle. Diese Krankheiten wurden auf verschiedenen Wegen übertragen, vor allem durch unsauberes Trinkwasser, Unrat und direkte Ansteckung von Mensch zu Mensch. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Tuberkulose noch die häufigste Todesursache in Europa. Zwischen 1918 und 1924 fielen hingegen mehrere Millionen Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Sterblichkeit in Europa und Nordamerika zu sinken, weil tödliche Infektionskrankheiten – insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern, aber auch bei Erwachsenen – seltener wurden. Dies war vor allem das Resultat besserer Lebensverhältnisse. Durch sie wurden Infektionswege unterbrochen, denn es wurden moderne Wohnungen, Wasserleitungen sowie Abwasserkanäle gebaut. Es wurde vor allem in den größeren Städten eine kommunale Müllentsorgung eingerichtet. Bessere Ernährung führte überdies dazu, dass Infektionskrankheiten seltener tödlich verliefen. Dagegen ging in dieser Periode nur ein kleinerer Teil des Sterblichkeitsrückgangs in Europa und Nordamerika auf das Konto des medizinischen und pharmazeutischen Fortschritts. Wichtigster Beitrag der Medizin des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren die Schutzimpfungen. Antibiotika, die heute bei der Behandlung von bakteriellen Infektionen eine große Rolle spielen, kamen
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hingegen erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum Einsatz. In reicheren Gesellschaften lassen sich die meisten Infektionskrankheiten heute entweder unterbinden oder heilen. An ihre Stelle traten in den letzten Jahrzehnten Krebs und HerzKreislauf-Erkrankungen. Nachdem diese beiden Gruppen von Erkrankungen erst ab einem bestimmten Wohlstandsniveau überhand nehmen, nennt man sie auch »Zivilisationskrankheiten«. An ihnen versterben heute in Europa, Nordamerika und Japan die meisten Menschen. Die geschilderten Veränderungen des Spektrums an Krankheiten und Todesursachen bezeichnet man im Anschluss an das Konzept des Demographischen Übergangs als »epidemiologischen Übergang«. Er hat mit der Möglichkeit zu tun, Krankheiten zu heilen oder ihren Ausbruch zu verhüten. Beides gilt in allen Gesellschaften als Fortschritt. Diese Veränderungen waren eng mit der Industrialisierung verbunden. Sie wurden in Europa, Nordamerika und Japan ganz wesentlich durch wirtschaftliche und soziale Fortschritte getragen. In den kommenden Jahrzehnten wird sich der epidemiologische Übergang verstärkt in Entwicklungs- und Schwellenländern fortsetzen. Dort werden Krebs und Herz-KreislaufErkrankungen an Bedeutung gewinnen. Bei den Infektionskrankheiten ist dagegen mit Fortschritten bei der Behandlung und Bekämpfung zu rechnen. Heute sind sie für 30 % aller Sterbefälle verantwortlich. Im Jahr 2030 werden sie nach einer Prognose der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hingegen nur noch etwas über ein Fünftel aller Fälle ausmachen. Damit wird sich auch das Alter, in dem Menschen versterben, nach oben verschieben. Im Gegensatz zu Europa und Nordamerika beruht der epidemiologische Übergang in Entwicklungs- und Schwellenlän-
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dern nicht bloß auf besseren Lebensverhältnissen, sondern auch auf »importiertem« Fortschritt. Ein Beispiel dafür sind Impfkampagnen, die zum Teil aus Mitteln der Entwicklungshilfe gesponsert werden. Einen wichtigen Beitrag leistet beispielsweise auch der Software-Pionier Bill Gates. Er hat einen Großteil seines Privatvermögens in eine Stiftung eingebracht, die u. a. Gesundheitsförderung und Impfschutz in armen Ländern finanziert. 2005 waren 19 % aller Verstorbenen Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren. Weitere 29 % aller Verstorbenen waren jüngere Erwachsene zwischen 20 und 60 Jahren. Nur knapp über die Hälfte aller Todesfälle betrafen Menschen im Alter von über 60 Jahren. Für das Jahr 2030 rechnen Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) damit, dass verstorbene Kinder und Jugendliche dann nur noch ein Zehntel aller Todesfälle ausmachen; verstorbene ältere Menschen (über 60 Jahre) hingegen werden etwa zwei Drittel aller Todesfälle ausmachen. Ursache dafür ist freilich nicht nur die Veränderung des Krankheitsspektrums. Mehr Todesfälle älterer Menschen sind schlicht auch deshalb zu erwarten, weil die Zahl älterer Menschen in den kommenden Jahrzehnten stark steigen wird.
Vom »Sterben vor der Zeit« zum Pflegerisiko Im EU-Europa sowie in Nordamerika, Japan und Australien ist der Tod vor dem 60. Lebensjahr sehr selten geworden. So haben Männer wie Frauen im Deutschland der Gegenwart am 59. Geburtstag eine Chance von ziemlich genau 99 %, den 60. Geburtstag zu erleben. Die Hälfte aller Verstorbenen ist in Deutschland über 75 Jahre alt. Für die Bewohner reicher Länder war und ist es ganz entscheidend, dass sie nicht mehr täg-
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lich mit dem Tod rechnen müssen. Dies veränderte ihre Einstellung zum Leben. Ja, es machte Lebensplanung, wie wir sie heute verstehen, überhaupt erst möglich. Wenn daher heute jemand in Deutschland oder in den USA im Alter von 40 Jahren an Krebs, bei einem Verkehrsunfall oder durch Freitod stirbt, erscheint uns dies inzwischen als Sterben »vor der Zeit«. Das ist ein historisch sehr junges Phänomen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein gab es kein »Sterben vor der Zeit«. Denn Sterben war in jedem Lebensalter an der Tagesordnung. Um 1870 starben ein Drittel aller Neugeborenen im ersten Lebensjahr und ein weiteres Zehntel in den darauf folgenden vier Jahren, also vor dem 5. Geburtstag. Nur wer seinen zehnten Geburtstag überlebte, hatte eine gute Chance, später alt zu werden. Der Tod gehörte somit zum Alltag, weil bis ins frühe 20. Jahrhundert viele Infektionskrankheiten tödlich verliefen. In weniger entwickelten Teilen der Welt spielen solche Krankheiten bis heute eine wesentliche Rolle. In Europa, Japan und Nordamerika, aber auch in vielen Schwellenländern hat die Gesellschaft infektiöse Erkrankungen inzwischen weitgehend »im Griff«. In den reichen Ländern ist es in den letzten 20 Jahren auch gelungen, die Zivilisationskrankheiten etwas zurückzudrängen. Ein Herzinfarkt bedeutet heute nicht mehr das Lebensende. Deutlich mehr als die Hälfte aller Betroffenen überleben ihren ersten Herzinfarkt. Auch bei Krebs gibt es bessere Früherkennung und erfolgversprechende Therapien. Weil wir auf dem Gebiet von Früherkennung und Behandlung von Zivilisationskrankheiten erfolgreich sind, gehen wir in eine Zukunft, in der andere Krankheiten dominieren werden: z. B. Altersdemenz, Parkinson, Alzheimer oder Altersdiabetes. All das sind Erkrankungen, die unsere Lebensqualität beeinträchtigen, an denen man aber nicht stirbt – zumin-
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dest nicht sofort. Die durch die steigende Lebenserwartung gewonnenen Jahre bringen uns somit nicht bloß mehr Lebenszeit. Sie haben auch ihren Preis: eine längere Dauer chronisch degenerativer Prozesse, durch die wir früher oder später zu Pflegefällen werden.
Infektionskrankheiten Heute führen Infektionskrankheiten und parasitäre Erkrankungen vor allem in Afrika, Süd- und Westasien sowie in Teilen Lateinamerikas zum Tod von Neugeborenen, Kindern und Erwachsenen. Im subsaharischen Afrika gehen über 60 % aller Todesfälle auf das Konto solcher Krankheiten. In Asien sind sie immerhin für ein Drittel aller Todesfälle verantwortlich. Auswirkungen auf die hohe Sterblichkeit nach Infektionen hat in der Dritten Welt nicht nur die weitere Verbreitung tropischer Krankheiten. Auch die Mangelernährung – vor allem von Kindern und Jugendlichen – ist wesentlich, sowie die oft katastrophal schlechten Bedingungen, unter denen viele Frauen in ärmeren Ländern bis heute ihre Kinder zur Welt bringen müssen. Im Gegensatz dazu gehen derzeit in den Industrieländern – darunter in Deutschland und Österreich – nur 1 % bis 2 % aller Todesfälle auf das Konto diverser Infektionskrankheiten (Lungenentzündungen ausgenommen). Von allen Infektionskrankheiten fordern derzeit Entzündungen der Lunge und andere Atemwegserkrankungen (3,9 Millionen) sowie HIV / AIDS (2,9 Millionen) jährlich die größte Zahl an Todesopfern. Dahinter folgen Magen- und Darminfektionen. Zu den Infektionskrankheiten mit mehr als 1 Million Todesopfern pro Jahr gehören auch Malaria und Tuberkulose. Zum Tod mehrerer 100000 Menschen führen jedes
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Jahr weiterhin die Masern, die Schlafkrankheit, der Wundstarrkrampf (Tetanus), die Geschlechtskrankheit Syphilis und Hepatitis. Zum Teil verstärken diese Krankheiten einander. Geschlechtskrankheiten vergrößern die Chance, dass sich jemand mit HIV/AIDS ansteckt. Fieberschübe während einer Malaria-Erkrankung beschleunigen die Vermehrung des HIVVirus und machen den Kontakt mit Betroffenen noch ansteckender. Sie begünstigen auch andere Erkrankungen. Hepatitis führt häufig zur Entstehung von Leberzirrhose und Leberkrebs.
Quelle: WHO
Wie bereits erläutert, ist HIV /AIDS keineswegs die einzige tödlich verlaufende Infektionskrankheit mit großer Verbreitung. Wesentlich mehr Menschen fallen jedes Jahr anderen
Die HIV / AIDS-Epidemie
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übertragbaren Krankheiten zum Opfer. Diese Krankheiten sind allerdings weniger spektakulär als HIV /AIDS; sie erscheinen den Menschen in Europa und Nordamerika weniger bedrohlich. Geringer sind daher auch die weltweiten Anstrengungen der Prävention und Bekämpfung jener Krankheiten. Hinzu kommt, dass sich die medizinische und pharmazeutische Forschung vor allem auf Krankheiten in reicheren Ländern konzentriert. Denn nur hier gibt es öffentliche Gesundheitssysteme, Krankenversicherungen und Privatpersonen, die für Medikamente und Therapien bezahlen können. Einige Seuchen und Infektionskrankheiten glaubten wir schon unter Kontrolle zu haben. Doch sie werden gegenwärtig wieder häufiger. Vor allem in Teilen Osteuropas hat dies mit dem Zusammenbruch eines flächendeckenden Gesundheitssystems zu tun. So werden zum Beispiel die Ausbreitung von Diphtherie, HIV /AIDS, Hepatitis und andere übertragbaren Krankheiten begünstigt, weil infizierte Personen weder behandelt noch über ihren Zustand aufgeklärt werden. Auch die Malaria nimmt außerhalb Europas wieder zu. Ein Grund dafür sind Bewässerungsmaßnahmen und der Bau von Staudämmen. Beides bietet den Überträgern – der AnophelesMücke – neuen Lebensraum.
Die HIV/AIDS-Epidemie Von allen tödlichen Infektionskrankheiten breitet sich HIV /AIDS am raschesten aus. Ende 2006 waren rund 40 Millionen Menschen mit dem HI-Virus infiziert. Mehr als 85 % von ihnen lebten in Schwellen- und Entwicklungsländern, davon fast 25 Millionen im subsaharischen Afrika sowie fast 8 Millionen in Südasien und Südostasien. Im Gegensatz dazu
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lebten 2006 in West- und Mitteleuropa nur 740 000 HIV-positive Menschen. Weltweit tragen rund 1 % aller Erwachsenen das HI-Virus in sich. Im subsaharischen Afrika sind es bereits 6 %. Und in den am stärksten betroffenen Ländern sind heute in den großen Städten und an Verkehrsknotenpunkten schon mehr als 30 % der jungen Erwachsenen mit dem Virus infiziert. Bei Risikogruppen – zum Beispiel Prostituierten, Nutzern injizierbarer Drogen, Personen mit häufig wechselnden Sexualpartnern – übersteigt der Anteil der Infizierten in einigen Ländern bisweilen 50 %. 2006 gab es etwa 4,3 Millionen Neuansteckungen; im Schnitt 11800 pro Tag. Mehr als 90 % der Neuansteckungen betrafen Bewohner von Entwicklungs- und Schwellenländern. Den schnellsten Anstieg bei Neuinfektionen gab es in jüngerer Zeit allerdings in Osteuropa und Zentralasien, vor allem in Russland und der Ukraine. Als Folge davon stieg die Zahl der HIV-Infizierten in dieser uns benachbarten Weltregion von 1,2 Millionen im Jahr 2003 auf 1,7 Millionen im Jahr 2006. Im Gegensatz dazu stecken sich in EU-Europa und Nordamerika derzeit vergleichsweise wenige Menschen neu mit dem HI-Virus an. Allerdings gibt es EU-Länder, in denen die Infektion wieder stärkere Verbreitung findet: darunter in Teilen Skandinaviens sowie in Großbritannien und Irland. Wichtigste Ursache dafür ist, dass ungeschützter Geschlechtsverkehr und der »Import« der Krankheit durch Sextouristen in diesen Ländern häufiger wird. In vielen anderen EU-Ländern breitet sich das HI-Virus vor allem unter Homosexuellen mit wechselnden Partnern sowie unter Drogenabhängigen aus. Letztere stecken sich vor allem durch den gemeinsamen Gebrauch nichtsterilisierter Injektionsnadeln an.
Die HIV / AIDS-Epidemie
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In Osteuropa verbreitete sich das HI-Virus zuerst unter Drogenabhängigen und Prostituierten, aber seit den späten 1990er Jahren auch in weiteren Teilen der Bevölkerung. 1996 gab es in Russland nur etwa 10000 HIV-Infizierte. 2006 waren es bereits rund 450000. Vom Beginn der HIV/ AIDS-Epidemie in den 1970er Jahren bis Ende 2006 starben rund 39 Millionen Menschen an dieser Krankheit, davon allein 2,9 Millionen Menschen im Jahre 2006. Eine Zeit lang wurde der demographische Einfluss dieser Krankheit unterschätzt. Anfang der 1990er Jahre gab es erst 10 Millionen Infizierte. Und damals war AIDS nur für 2 % der Todesfälle in Entwicklungs- und Schwellenländern verantwortlich. Inzwischen hat AIDS sowohl Tuberkulose und Malaria als Todesursache quantitativ überholt. Betrachtet man die heute bereits hohe Zahl infizierter Menschen und das rasche Tempo der Verbreitung dieser Immunschwächekrankheit, dann ist klar, dass AIDS zukünftig als Krankheit und Todesursache in Entwicklungs- und Schwellenländern, aber auch in Osteuropa noch weiter an Bedeutung gewinnen wird. Eine Immunisierung gegen das HI-Virus gibt es bis heute nicht. Allerdings wurden seit den 1990er Jahren wirksame Medikamente entwickelt, welche die Vermehrung des Virus im Körper der infizierten Person unterdrücken. Medikamente, die AIDS-Kranken in westlichen Industriestaaten das Leben verlängern, sind allerdings für infizierte Personen in Entwicklungsländern meist zu teuer oder gar nicht erhältlich. 2006 erhielten in allen Entwicklungs- und Schwellenländern nur 1,7 Millionen HIV-infizierte Personen eine antiretrovirale Therapie. Zugleich zeigt sich, dass die Dauer vom Beginn der Infektion bis zum Ausbruch der Krankheit und zum Tod in vielen Ländern der Dritten Welt erheblich kürzer ist als in Westeu-
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ropa und Nordamerika. Ursache dafür sind nicht nur mangelnde medizinische Betreuung, sondern auch geringere hygienische Standards und die höhere Virulenz von Krankheitserregern in tropischen Ländern. Durch AIDS verringerte sich die Lebenserwartung vor allem im südlichen Afrika – je nach Land – um 20 bis 30 Jahre. Den negativen Rekord halten Botswana, Lesotho und Zimbabwe, wo sich die durchschnittliche Lebensspanne durch HIV /AIDS seit Mitte der 1980er Jahre beinahe halbierte. Dies betraf nicht nur die Überlebenschancen von Erwachsenen. Auch die Kindersterblichkeit stieg in diesen Ländern seit Beginn der 1990er Jahre durch AIDS auf mehr als das Doppelte. Viele Kinder, deren Mütter HIV-positiv sind, infizieren sich während der Geburt durch Blutkontakt oder beim Stillen über die Muttermilch mit der Krankheit. Noch viel mehr Kinder werden durch die AIDS-Erkrankung zu Vollwaisen. Für Botswana schätzten US-amerikanische Statistiker 2005 eine Lebenserwartung von 34 Jahren. Dabei gehört Botswana mit einem BIP pro Kopf und Jahr von mehr als 10000 US-$ keineswegs zu den armen Ländern der Welt. Ohne AIDS läge die Lebenserwartung in diesem Land bei rund 70 Jahren. Der starke Anstieg der Sterblichkeit war bislang auf jene knapp 30 Länder begrenzt, in denen sich die AIDS-Epidemie bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befindet. In diesen Ländern verringert AIDS das Bevölkerungswachstum deutlich, z. B. in Botswana von hypothetischen 2,6 % jährlich (ohne AIDS) auf –0,1 % (real 2005) oder in Swasiland von 1,6 % (ohne AIDS) auf +0,1 % (real 2005). Damit ist das Bevölkerungswachstum in diesen Ländern zum Stillstand gekommen. Da die Gruppe der heute stark von HIV /AIDS betroffenen
Müttersterblichkeit
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Länder insgesamt keinen großen Anteil an der Weltbevölkerung hat, wirkt sich diese dramatische Entwicklung bisher trotzdem nur wenig auf die globale Bevölkerungsdynamik aus. Das könnte sich ändern, falls sich die Krankheit zukünftig in bevölkerungsreichen Ländern wie China oder Indien stärker verbreitet. Das stark verringerte Bevölkerungswachstum bedeutet für die heute besonders von HIV/ AIDS betroffenen Staaten keinerlei Vorteil. Die Epidemie selbst bringt hingegen massive Nachteile mit sich. Denn die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Krankheit sind erheblich. Betroffen sind insbesondere die städtischen und die besser qualifizierten Teile der Bevölkerung: in der Regel Personen am Beginn oder in der Mitte ihres Erwerbslebens. Ihr Wissen und ihre Arbeitskraft fehlen in der Folge. Zugleich sind derzeit rund 14 Millionen AIDS-Waisen auf Unterstützung durch nahe Verwandte oder durch Hilfseinrichtungen angewiesen. Wo diese Unterstützung fehlt, leben die Kinder auf der Straße. In den am stärksten betroffenen Ländern absorbiert AIDS schon heute einen beträchtlichen Anteil der Gesundheitsleistungen. In einigen Ländern sind mehr als 60 Prozent der Krankenhausbetten mit AIDS-Patienten belegt.
Müttersterblichkeit Weltweit sterben jedes Jahr rund 600 000 Frauen an den Komplikationen einer Schwangerschaft, während oder nach der Geburt eines Kindes. Darunter finden sich 70000 bis 100000 Mädchen und Frauen, die infolge illegal und unhygienisch durchgeführter Abtreibungen ums Leben kommen. 98 % der Sterbefälle von Schwangeren und Müttern be-
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treffen Frauen in Schwellen- und Entwicklungsländern. Damit gehören Schwangerschaftsrisiken neben HIV /AIDS für die Bewohnerinnen armer Länder im Alter zwischen 15 und 40 Jahren weiterhin zu den Haupttodesursachen. Im Schnitt ist das Risiko, während einer Schwangerschaft oder an Geburtskomplikationen zu sterben, für Frauen in Schwellenund Entwicklungsländern 40-mal höher als für Frauen in reichen Ländern. Am schlechtesten ist die Situation schwangerer Frauen und Mütter im subsaharischen Afrika. Im frühen 21. Jahrhundert verstarben pro 100000 Geburten im subsaharischen Afrika 910 Mütter, in Nordafrika, dem Mittleren Osten sowie in Süd- und Ostasien 460 Mütter und in Lateinamerika etwa 190 Mütter. 80 % aller Fälle von Müttersterblichkeit lassen sich auf nur fünf Ursachen zurückführen: Blutungen, Infektionen, erhöhter Blutdruck, Überarbeitung und unsachgemäß durchgeführte Abtreibungen. Zusätzlich leiden weltweit jährlich über 50 Millionen Frauen nach einer Schwangerschaft oder Geburt unter Komplikationen und körperlichen Beschwerden. Bei etwa 20 Millionen Frauen entstehen daraus später chronische Leiden. Zu frühe und zu späte Geburten erhöhen erheblich das Gesundheitsrisiko für Mütter und Kinder. Gleiches gilt bei zu rasch aufeinanderfolgenden Schwangerschaften. Zudem lässt sich zeigen: Häufige Schwangerschaften zehren nicht nur an den Kräften der werdenden Mutter. Bei wachsender Kinderzahl verschlechtert sich häufig der Gesundheitszustand aller Kinder, weil sich die Eltern um jedes von ihnen weniger kümmern können. Schließlich zeigt die Statistik: Wenn eine Mutter bei der Geburt stirbt, ist das Sterblichkeitsrisiko für ihre überlebenden Kinder zehnmal höher als bei Kindern, die mit ihrer Mutter aufwachsen.
Was können wir tun?
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Komplikationen während Schwangerschaften und Geburten gibt es in reichen wie in armen Ländern. Ob Mutter und Kind dabei Schaden nehmen, hängt ganz wesentlich von der Betreuung während der Schwangerschaft und vor allem während der Geburt ab. Die meisten Frauen, die bei einer Geburt sterben, erhielten keinerlei medizinische Betreuung. Oft sind Gesundheitsdienste zu teuer oder nicht erreichbar. In Entwicklungs- und Schwellenländern sind nur bei der Hälfte aller Entbindungen ausgebildete Geburtshelferinnen anwesend. In einigen besonders armen Ländern Asiens und Afrikas gibt es nur eine Hebamme auf 300 000 Einwohner. Im Schnitt kommt in solchen Ländern auf 15000 Geburten pro Jahr eine Hebamme. Insgesamt erhalten in Entwicklungs- und Schwellenländern nur zwei Drittel aller Mütter eine Geburtsvorsorge, weniger als ein Drittel eine Geburtsnachsorge.
Was können wir tun? Sterben müssen wir alle. Die Frage ist bloß: Wann und woran? Der Blick über unsere Grenzen zeigt eines ganz klar: In den westlichen Industriestaaten leben die Menschen am längsten. Außerhalb EU-Europas, Nordamerikas und Japans sterben viele Menschen vor der Zeit. Sie sterben häufig an Infektionen und Krankheiten, die sich vermeiden oder heilen ließen, oder die sich bei Verbesserung der Lebensumstände gar nicht erst ausbreiten würden. Entscheidend für die Senkung der Sterblichkeit ist Folgendes: Erstens geht es um bessere Lebensbedingungen. Wer gut ernährt ist, Zugang zu frischem Trinkwasser hat und in einer
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trockenen Unterkunft lebt, erkrankt erheblich seltener. Auch wer in einer Gegend lebt, wo Abwässer kanalisiert sind und gereinigt werden, steckt sich weniger leicht an. Zugleich haben gut ernährte und mit sauberem Trinkwasser versorgte Menschen im Falle einer Krankheit deutlich höhere Überlebenschancen. Zu besseren Lebensbedingungen gehört zweitens eine intakte Umwelt. In den Industriestaaten geht es dabei um weniger Luftverschmutzung durch Verkehr (vor allem durch Autos und LKWs) und Industrie sowie um weniger Bodenbelastung durch die Landwirtschaft. In Schwellen- und Entwicklungsländern geht die Hauptgefahr hingegen von ungereinigten Abgasen und Abwässern der lokalen Bergwerke und Industriebetriebe, von importiertem Giftmüll aus reichen Ländern und von der unkontrollierten Anwendung giftiger Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft aus. Drittens geht es um medizinische Prävention (z. B. durch Impfungen), um bessere medizinische und paramedizinische Versorgung von Kranken, Schwangeren, Müttern und Kleinkindern sowie um den Zugang zu Medikamenten. Dazu benötigen die ärmeren Länder der Welt nicht nur funktionierende Gesundheitseinrichtungen. Die Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika müssen sich Gesundheitsbetreuung und Medikamente auch leisten können. Viertens geht es um Information. Wer über Infektionswege, Risiken und Möglichkeiten zur Verhütung von Krankheiten Bescheid weiß, steckt sich im Prinzip weniger leicht an. Gleiches gilt für die Verhütung von Schwangerschaften. Bildung und die Fähigkeit zu lesen, sind dabei ein entscheidender Vorteil. Eine bessere Ausbildung von Mädchen hat dabei besonders positive Auswirkungen. Fünftens schließlich geht es um Verhaltensänderungen. Bei
Was können wir tun?
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der Prävention von HIV /AIDS ist dies unmittelbar einsichtig. Hier steht die Änderung des Sexualverhaltens im Vordergrund: Am wirkungsvollsten ist die konsequente Nutzung von Kondomen. Aber auch in den Industriestaaten könnten Menschen länger und besser leben, wenn sie ihre Essgewohnheiten ändern, auf den Konsum von Alkohol bzw. Nikotin verzichten und gesundheitsbewusster leben. Zweifellos wirken sich auch die geringer gewordene Wochenarbeitszeit und das niedrigere Pensionsalter verlängernd auf unser Leben aus.
9 Von der wachsenden zur alternden Bevölkerung Das 19. Jahrhundert wurde durch starkes Bevölkerungswachstum in Europa und Nordamerika geprägt. Das 20. Jahrhundert war die Periode mit dem stärksten Bevölkerungswachstum in der Geschichte der Menschheit. Es gab und gibt beträchtlich mehr Geburten als Sterbefälle. Allein zwischen 1900 und 2000 vervierfachte sich die Einwohnerzahl unseres Planeten. Dies gab es in keinem Jahrhundert zuvor und wird es auch in Zukunft nie wieder geben. Im 21. Jahrhundert wird etwas ganz anderes die Entwicklung der Menschheit prägen: Wir werden mit einer noch nie da gewesenen Alterung der Bevölkerung konfrontiert sein. Zugleich reduziert sich das Bevölkerungswachstum. Ursache dafür sind nicht so sehr sinkende Geburtenzahlen, sondern eine wachsende Zahl von Todesfällen. Trotz steigender Lebenserwartung werden zukünftig immer mehr Menschen ins Sterbealter kommen. Als Folge davon wird die Zahl der Sterbefälle von derzeit 58 Millionen (2006) voraussichtlich auf 91 Millionen (2050) pro Jahr steigen. Die Lebenserwartung der Weltbevölkerung stieg schon während der letzten 150 Jahre. Trotzdem ist die nun absehbare Alterung ein historisch neues Phänomen. Denn über viele Jahrzehnte erhöhten sich vor allem die Überlebenschancen von Säuglingen und Kleinkindern. Damit führte die steigende Lebenserwartung anfangs zu einer »Verjüngung« der Bevölkerung. Hohe Geburtenzahlen verstärkten diesen Effekt. Diese Epoche ging nach 1970 zu Ende.
Oemographische und biologische Alterung
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Erst seit den 1970er Jahren steigt das Durchschnittsalter der Weltbevölkerung. Denn nun sinken in den meisten Ländern vor allem die Sterberaten der Älteren. Damit verschieben sich auch die Gewichte zunehmend von den Jungen zu den Älteren. Nichts anderes meint der Begriff der demographischen Alterung. Sie ist kein biologischer Prozess, sondern ein Veränderungsprozess unserer Gesellschaft.
Demographische und biologische Alterung Im Gegensatz zur demographischen Alterung ist die Alterung des Organismus ein biologischer Prozess mit sozialen Folgen. Dieser Prozess bestimmt die Reifung und den Verfall unserer Körper sowie unserer Geisteskraft. Aus Neugeborenen werden Kinder, dann Jugendliche und schließlich Erwachsene. Im Laufe unseres Lebens als Erwachsene verlieren wir an Vitalität. Nicht nur unsere Muskelkraft wird schwächer, sondern auch unsere Fähigkeit zur Fortpflanzung und unsere Lernfähigkeit. Verantwortlich dafür ist zweierlei: zum einen unser genetisches Programm; zum anderen unsere Lebensbedingungen. Schließlich hat das Lebensalter eine soziale Bedeutung. Dies erkennt man am deutlichsten an bestehenden Altersgrenzen. Kindergärten gibt es nur für ganz junge Altersgruppen. Für etwas ältere Kinder besteht Schulpflicht. Zugleich kennen wir in unserer Gesellschaft das Verbot der Kinderarbeit. Fürs Heiraten, für das Wahlrecht und für die Wehrpflicht gibt es ein gesetzliches Mindestalter. Schließlich existieren gesetzlich festgelegte Altersgrenzen, ab denen wir in Rente gehen können oder auch müssen.
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Demographische Alterung Demographische Alterung bedeutet einfach: mehr Alte und weniger Junge. Dadurch steigt das Durchschnittsalter einer Gesellschaft. Dies hat zwei Ursachen, die nichts miteinander zu tun haben. Die erste Ursache ist für uns sehr positiv: Wir gehören zur langlebigsten Generation in der Geschichte der Menschheit. Noch keine Generation vor uns hatte eine so hohe Lebenserwartung. Ein Ende dieser Entwicklung ist heute nicht in Sicht. Die Lebenserwartung in West- und Mitteleuropa steigt derzeit statistisch weiterhin um etwa zwei bis drei Monate pro Jahr. Nachdem die Säuglings- und Kindersterblichkeit inzwischen sehr gering ist, handelt es sich dabei im Wesentlichen um einen Gewinn an Lebenserwartung jenseits des 50. Lebensjahres. Deshalb führt die steigende Lebenserwartung nun und in Zukunft zu mehr älteren Menschen. Demographische Alterung hat noch eine zweite Ursache. Diese wirkt sich vor allem in Europa und Ostasien aus: Wir sind nicht nur die langlebigste Generation, welche die Menschheit bislang hervorgebracht hat, sondern leben in Europa, Japan und China auch in der bei weitem kinderärmsten Gesellschaft. Noch nie zuvor gab es in diesen Regionen der Welt eine Generation, die so wenige Kinder hatte wie die jüngeren Erwachsenen von heute. Und wenige Kinder vergrößern automatisch das Gewicht der älteren Generation.
Demographische und biologische Alterung sind zwei gänzlich voneinander zu trennende Prozesse. Denn »alt« wird man als einzelner Mensch sowohl in einer »jungen« als auch in einer
Weltweit steigt das Durchschnittsalter
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»alternden Gesellschaft«. Es macht allerdings einen Unterschied für die eigenen Lebenschancen, welche Altersstruktur die Gesellschaft prägt. 1965 wurden mehr als 120 Millionen Kinder geboren, die meisten schon damals in der Dritten Welt. Sie sind heute Menschen mittleren Alters. Während ihrer Lebenszeit vollzieht sich der Übergang von einer verjüngten zur rasch alternden Weltbevölkerung. Sie sind die Generation des Übergangs.
Weltweit steigt das Durchschnittsalter Die demographische Alterung ist ein globales Phänomen: Auch in einer Mehrzahl ärmerer Länder steigt die Lebenserwartung. Eine Ausnahme bilden nur die von HIV /AIDS am stärksten betroffenen Regionen Afrikas. Mitte des 20. Jahrhunderts war die Hälfte aller Menschen jünger als 24 Jahre. Danach sank das Durchschnittsalter noch etwas ab. 1970 war die Hälfte der damaligen Menschheit unter 22 Jahre alt. Erst danach kam es zur globalen Alterung. 2005 lag die Grenze zwischen der jüngeren und der älteren Hälfte der Weltbevölkerung bereits bei 28 Jahren. In den kommenden Jahrzehnten wird die Alterung weiter an Dynamik gewinnen. Um 2050 wird das Durchschnittsalter weltweit bei 38 Jahren liegen. Europa hat im Schnitt die älteste Bevölkerung aller Kontinente. Hier setzte die Alterung bereits Mitte des 20. Jahrhunderts ein. Neben Japan werden um 2050 die Länder West- und Mitteleuropas die ältesten Bevölkerungen haben. Ihr Durchschnittsalter wird auf rund 48 Jahre steigen. In der EU wird fast die Hälfte aller Bürger über 50 Jahre alt sein. Bei uns in
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der hoch entwickelten Welt wird sich die Alterung im Lauf des 21. Jahrhunderts wiederum abschwächen, sobald die Angehörigen der Babyboom-Generation verstorben sind. Wie sich die Gewichte verschieben, zeigt eine einfache Rechnung. Weltweit kommen heute 26 ältere Menschen über 65 auf 100 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren. Mitte des 21. Jahrhunderts werden es bereits 91 Ältere auf 100 Kinder und Jugendliche sein. In Asien, Nord- und Südamerika altert die Gesellschaft seit den frühen 1970er Jahren. Um 1970 waren in Südamerika und kurzfristig auch in Asien mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Mitte des 21. Jahrhunderts wird dort bereits
Abb. 22 Das mittlere Alter (Medianalter) in einzelnen Regionen und in der Welt insgesamt (in Jahren), 1950–2050. Quelle: UN Population Division
Altersaufbau der Regionen und Kontinente
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die Hälfte der Bevölkerung über 40 Jahre alt sein. Gemessen am Ausgangsniveau altern die Bevölkerungen Asiens und Lateinamerikas am schnellsten. Afrika hat weltweit die jüngste Bevölkerung. Auf diesem Kontinent ist auch heute noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Einen leichten Anstieg des Durchschnittsalters verzeichnet dieser Kontinent erst seit den 1990er Jahren.
Altersaufbau der Regionen und Kontinente – eine zeitverschobene Entwicklung Im Jahre 1950 hatte der Altersaufbau in hoch entwickelten Ländern beinahe noch die Gestalt einer »klassischen« Bevölkerungspyramide. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts glich er mehr einer Zwiebel. Mit leicht polemischem Unterton sprechen manche Kommentatoren auch von einer Urnenform. Die Assoziation mit Tod und Untergang ist dabei durchaus beabsichtigt. In Zukunft wird die Altersverteilung noch mehr die Form einer Glocke annehmen: Das wäre dann die typische Form einer quasi-stationären Bevölkerung in den hoch entwickelten Ländern der Welt. In einigen Ländern wird es allerdings ein deutliches Übergewicht der Älteren bei schrumpfender Zahl der Jüngeren geben. Dies wird die Altersverteilung in europäischen und ostasiatischen Gesellschaften mit schrumpfender Bevölkerung sein. Die Bevölkerung aller Schwellen- und Entwicklungsländer zusammen ergab 1950 tatsächlich eine in jüngeren Altersgruppen immer breiter werdende Pyramide. Manche halten dies bis heute für Ausdruck und Ergebnis einer »gesunden« Bevölkerung. Doch die schmale Spitze und die breite Basis
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Abb. 23 Alterspyramide der hoch entwickelten Welt. Quelle: UN Population Division
waren vor allem das Resultat hoher Sterblichkeit in allen Altersgruppen. Viele verstarben schon in den ersten Lebensjahren. Deshalb war damals in der Pyramide die Gruppe der 0- bis 5-Jährigen deutlich stärker besetzt als jene der 5- bis 10-Jährigen. Nur wenige Bewohner damaliger Kolonien und Entwicklungsländer erreichten ein höheres Alter. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte die Bevölkerung aller Schwellen- und Entwicklungsländer zusammen immer noch die Form einer Pyramide; nun allerdings mit etwas geringerer Breite an der Basis. Laut Hauptvariante der UN-Bevölke-
Abb. 24 Alterspyramide der Entwicklungsländer. Quelle: UN Population Division
Kindheit und frühe lugend: Eine »Erfindung« der Moderne
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Abb. 25 Alterspyramide Afrikas. Quelle: UN Population Division
rungsprojektion wird sich die Altersverteilung jener Länder bis Mitte des 21. Jahrhunderts der Glockenform nähern. Schließlich stellt sich die Frage nach der Altersverteilung in den ärmsten und am wenigsten entwickelten Regionen der Welt. Gut zu erkennen ist dies am Beispiel Afrikas, wo sich die meisten der ärmsten Länder befinden. Auf diesem Kontinent unterschied sich die Altersverteilung des Jahres 1950 kaum von jener des Jahres 2000. Bis 2050 rechnet die Hauptvariante auch in Afrika mit einer Entwicklung hin zur Glockenform. Voraussetzung dafür wäre allerdings ein weiterer Rückgang der Kinderzahl pro Frau.
Kindheit und frühe Jugend: Eine »Erfindung« der Moderne Das Alter von 0 bis 15 Jahren bezeichnen wir heute als Kindheit und frühe Jugend. Kindheit ist nicht bloß jene biologische Periode, in der wir heranwachsen. Erst seit etwa 150 Jahren ist dies in den heute reichen Ländern eine eigene Lebensphase. Hier haben das Spielen, das Lernen und die Ausbildung Vorrang vor der Sicherung des Lebensunterhalts. Denn für den
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Lebensunterhalt sind nun vorrangig die Eltern zuständig. Die allgemeine Schulpflicht und ein Verbot der Kinderarbeit bekräftigen dies. Notfalls sorgen bei uns Polizei und Verwaltung für deren Einhaltung. Historisch ist dies keineswegs selbstverständlich. Denn in allen vormodernen Agrargesellschaften mussten auch Kinder und Jugendliche einen Beitrag zum Lebensunterhalt leisten; zum Beispiel, indem sie Vieh hüteten, bei der Ernte halfen und Aufgaben im bäuerlichen Haushalt übernahmen. Mit der Industriellen Revolution verlagerte sich Kinderarbeit auch in Manufakturen, Fabriken und Bergwerke. In ärmeren Ländern der Welt ist dies bis heute der Fall. Durch die Kindheit als eigene Lebensphase veränderten sich auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Der französische Historiker Philippe Ariès formulierte etwas zugespitzt, aber im Grunde zu Recht: Erst mit der »Erfindung« der Kindheit sei die moderne Familie entstanden. Durch die gesunkene Säuglings- und Kindersterblichkeit »investieren« Eltern seit dem 19. Jahrhundert auch emotional mehr in die Beziehung zu ihren Kindern. Dies wiederum erhöhte deren Lebenschancen. Zugleich bedeutet die höhere Lebenserwartung, dass Kinder heute im Schnitt mit ihren Eltern eine viel längere gemeinsame Lebensspanne haben. Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren machten 1950 in hoch entwickelten Ländern mehr als ein Viertel (28 %) aller Einwohner aus. Aufgrund des Babybooms in den USA und Europa stieg dieser Anteil danach noch leicht an. Seither bewirkt der Geburtenrückgang das Gegenteil. 2005 lag der Anteil von Kindern und Jugendlichen bis 15 Jahren nur noch bei 17 %. In Summe bedeutete dies knapp 206 Millionen Kinder und Jugendliche. Ihre Zahl und ihr Anteil werden weiter leicht zurückgehen. Denn in den meisten reichen Ländern der
Kindheit und frühe Jugend: Eine »Erfindung« der Moderne
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Welt stagnieren oder schrumpfen die Geburtenzahlen. Das bedeutet, dass es in den kommenden Jahrzehnten automatisch etwas weniger Kinder und Jugendliche geben wird. Die UNBevölkerungsprognose nimmt allerdings ab 2035 wieder eine leichte Zunahme an. In den heutigen Schwellenländern stellten Kinder und Jugendliche 1950 mit 37 % mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Danach stieg ihr Anteil durch hohe Geburtenzahlen und sinkende Kindersterblichkeit auf 42 % (1965). Seither verringert sich dieser Anteil wieder. 2005 lag er bei nur 29 %. Mitte des 21. Jahrhunderts werden Kinder und Jugendliche in Schwellenländern nur weniger als ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen. Trotzdem wird ihre Zahl von derzeit (2005) 1615 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 1639 Millionen ansteigen, wobei die höchste Zahl allerdings schon um 2020 erreicht sein wird. Am größten war bislang das Gewicht der Kinder und Jugendlichen in den ärmsten Ländern der Welt. 1950 lag es bei 41 % und erreichte 1975 seinen höchsten Wert mit 45 %. Anhaltend hohe Geburtenzahlen in jener Gruppe von Ländern bewirkten bis 2005 nur einen geringen Rückgang auf 41 %. Wie es weitergeht, hängt nun vor allem von zweierlei ab: vom Wunsch nach weniger Kindern auch in den ärmsten Gesellschaften der Welt und von einem besseren Zugang zu Familienplanung. Ein rascher Rückgang der Geburtenzahlen ist jedenfalls nicht zu erwarten. Denn hohe Kinderzahlen in der jüngeren Vergangenheit bewirken, dass es gerade in den ärmsten Gesellschaften noch nie so viele potenzielle Eltern gab wie heute. Die UN-Prognose rechnet jedenfalls damit, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen von derzeit (2005) 317 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 502 Millionen ansteigen wird. Gerade in den ärmsten Regionen der Welt werden im nächsten halben Jahrhundert Hunderttausende zusätzliche
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Schulen, Gesundheitseinrichtungen, Lehrer und Ärzte für zusätzliche 200 Millionen junge Menschen benötigt. Damit ließe sich bloß das derzeit schon schlechte Niveau halten. Von einer dringend nötigen Verbesserung ginge natürlich ein noch höherer Bedarf aus.
Menschen im Haupterwerbsalter Im Europa des 19. Jahrhunderts gab es für den Beginn und das Ende des Erwerbslebens keine Altersgrenzen. In vielen Regionen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist dies heute noch so. Dort gibt es nach wie vor Kinderarbeit. Es gibt in der Mehrzahl jener Länder keinerlei Rentenversicherung. Trotzdem bezeichnet man die Altersgruppe zwischen 15 und 65 Jahren als Menschen im Haupterwerbsalter. Dies bedeutet freilich nicht, dass alle älteren Jugendlichen und Erwachsenen im Alter bis 65 Jahre erwerbstätig sind. Die Quote der tatsächlich Erwerbstätigen liegt – je nach Land – zwischen 60 % und 75 %. Die anderen gehen noch zur Schule, studieren, kümmern sich vorrangig um ihre Kinder, sind arbeitslos oder bereits im Vorruhestand. Mit Blick auf die Lebenswelt sind die Grenzen fließend. Vor allem in den reichen Ländern endet die Jugend für den größeren Teil der jungen Menschen längst nicht mehr mit 15 Jahren – das ist allerdings schichtabhängig. Viele machen Abitur oder eine praktische Berufsausbildung. Etliche studieren und beginnen ihr Berufsleben erst im Alter von 25 Jahren. In der Folge werden auch Familien deutlich später gegründet. Am oberen Ende des Haupterwerbsalters gibt es heute auf der ganzen Welt eine ähnliche Entwicklung. Selbst in ärmeren Ländern scheiden Menschen früher aus dem Berufsleben aus.
Menschen im Haupterwerbsalter
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In den hoch entwickelten Ländern, insbesondere in Europa, ist diese Tendenz besonders stark ausgeprägt. Eine halbwegs gesicherte Altersversorgung und der Wunsch, das Leben im »Dritten Alter« noch voll zu genießen, lassen uns zu einer Gesellschaft von Frührentnern werden. Kaum jemand arbeitet derzeit bis zum Erreichen des gesetzlichen Rentenalters. In der EU-25 des Jahres 2006 waren nur noch 8 % der Bevölkerung im Alter von 65 bis 69 Jahren am Arbeitsmarkt aktiv. Auch in der Altersgruppe von 60 bis 64 Jahren lag der Anteil der Berufstätigen bei einem Viertel (27 %). Seit rund 30 Jahren versprechen sich viele davon eine »Entlastung« des Arbeitsmarktes, d. h. eine Senkung der Arbeitslosigkeit. In Europa, Nordamerika und Japan machten die Gruppe der 15- bis 65-Jährigen schon 1950 fast zwei Drittel (65 %) der Bevölkerung aus. 2005 war ihre Anteil nur unwesentlich größer (68 %). Erstmalig in der Geschichte der Menschheit entstanden damit im 20. Jahrhundert Gesellschaften, in denen die im Schnitt produktivsten Gruppen von älteren Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen deutlich in der Überzahl sind. Größte Altersgruppe sind dabei die Jahrgänge des Babybooms der 1950er und 1960er Jahre. In den kommenden Jahren wird der Anteil der Menschen im Haupterwerbsalter in allen reichen Gesellschaften wieder schrumpfen, bis 2050 voraussichtlich auf 58 %. In absoluten Zahlen rechnet die UN-Prognose für alle hoch entwickelten Länder in Summe mit einem Rückgang: von 820 Millionen im Jahr 2005 auf 722 Millionen im Jahr 2050. Vorhergesagt wird der Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung vor allem für Europa, Russland und Japan. Unter heutigen Umständen bedeutet dies auch: weniger Erwerbstätige. Für unsere Wirtschaft und unsere sozialen Sicherungssysteme könnte dies erhebliche Konsequenzen haben. Ob es
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tatsächlich dazu kommt, hängt allerdings von politischen Entscheidungsprozessen ab. Denn für die betroffenen Länder – darunter Deutschland – und ihre Bürgerinnen und Bürger gibt es jedenfalls zwei weitere Alternativen. Erstens: Wir können im Alter länger erwerbstätig bleiben. Die Anhebung des Rentenalters in Deutschland ist ein erster Schritt in diese Richtung. Zweitens: Wir können uns um mehr qualifizierte Zuwanderer bemühen, um jene Kinder zu ersetzen, die wir selbst nicht in die Welt gesetzt haben (replacement migration). Größer wurde der Anteil der Bevölkerung im Haupterwerbsalter in den heutigen Entwicklungs- und Schwellenländern. Er stieg von 59 % im Jahr 1950 auf 64 % im Jahr 2005. Bis 2050 erwartet die UN-Prognose einen weiteren leichten Anstieg auf 65 %. In absoluten Zahlen ist dieser Anstieg wesentlich größer. Heute (2005) leben in allen Schwellenländern zusammen rund 3,4 Milliarden Menschen im Haupterwerbsalter. 2050 werden es voraussichtlich 5,1 Milliarden sein. In China – dem heute bevölkerungsreichsten Land der Welt – wird sich die Zahl der Menschen zwischen 15 und 65 Jahren allerdings bereits verringern, von heute 934 Millionen auf 845 Millionen. In den ärmsten Ländern der Welt schrumpfte der Anteil der Menschen zwischen 15 und 65 Jahren nach 1950 geringfügig wegen der wachsenden Zahlen überlebender Kinder. Erst seit den 1980er Jahren nimmt er wieder zu (2005: 55 %) und wird in Zukunft stark steigen (2050: 65 %). In absoluten Zahlen war und ist der Zuwachs beträchtlich. 1950 waren es erst 112 Millionen Menschen. 2005 waren in den ärmsten Ländern der Welt bereits 418 Millionen Menschen zwischen 15 und 65 Jahre alt; 2050 werden es über 1,1 Milliarden sein. Starke Zuwächse in dieser Altersgruppe stellen Schwellen-
Immer mehr ältere Menschen
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und Entwicklungsländer vor erhebliche Herausforderungen und schaffen zusätzliche Probleme. Denn eine rasch wachsende Zahl junger Erwachsener bedeutet fast automatisch mehr Jobsuchende. Dies erhöht den Druck auf den Arbeitsmarkt. Bietet die Wirtschaft nicht im selben Umfang zusätzliche Beschäftigung, dann vergrößert sich das Potenzial der Unzufriedenen, die sich nach politischen und religiösen Alternativen umsehen; oder die versuchen, in die reichen Länder der Welt einzuwandern. Der Ansturm westafrikanischer Arbeitsuchender auf die Kanarischen Inseln in den letzten Jahren gibt uns einen Vorgeschmack auf kommende Wanderungsbewegungen.
Immer mehr ältere Menschen Die Alten waren in vielen früheren Gesellschaften geachtet. Aber sie waren in der gesamten Geschichte der Menschheit deutlich in der Minderzahl. Im 21. Jahrhundert wird sich dies entschieden ändern. Zugleich gab es bis zur Einführung des gesetzlichen Rentenalters keine verbindliche Grenze, ab wann jemand zu den Älteren gehörte. Heute können wir diese Grenze bei 65 Jahren festlegen. Allerdings dürfen wir dabei nicht übersehen, dass ein Großteil der heute jüngeren Erwachsenen in Asien, Afrika und Lateinamerika nicht sozialversichert ist, auch keine private Vorsorge treffen und daher in Zukunft wahrscheinlich auch keine Rente beziehen kann. In ärmeren Ländern sind die Älteren von heute und wohl auch die von morgen buchstäblich auf eigene Kinder angewiesen. Die Älteren sind heute die am schnellsten wachsende Gruppe. Dadurch vergrößert sich ihr Gewicht überproportional. 1950 waren auf der Welt nur 131 Millionen Menschen
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Abb. 26 Anteile der Älteren (65+; in % der Gesamtbevölkerung), 2006. Quelle: UN Population Division
über 65 Jahre alt. 2005 gab es weltweit bereits 475 Millionen ältere Menschen. Somit gehörten mehr als 5 % der Weltbevölkerung zur Gruppe 65+. In den kommenden vier bis fünf Jahrzehnten ist mit einem weiteren Anstieg um rund eine Milliarde Ältere zu rechnen. 2050 dürfte es bereits 1,5 Milliarden ältere Menschen geben. Sie werden dann bereits 16 % der Weltbevölkerung ausmachen. Während das Wachstum der Bevölkerung im Lauf des 21. Jahrhunderts insgesamt kleiner wird, beschleunigt sich das Wachstum der älteren Bevölkerung erst so richtig. Mit einem Zuwachs älterer Menschen ist in allen Weltregionen zu rechnen. In absoluten Zahlen wird dieser Zuwachs in Asien, allen voran in China, am stärksten ausfallen. Europa spielt bei der demographischen Alterung jedoch eine gewisse
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Vorreiterrolle. Auch das hoch entwickelte Japan hat schon jetzt eine sehr »alte« Bevölkerung, noch etwas ausgeprägter als Europa. Nur in Europa und Japan nimmt gleichzeitig die Zahl der jüngeren (einheimischen) Erwachsenen ab, während die Zahl der Älteren noch etwa 40 Jahre lang wachsen wird. In einigen Ländern Europas macht sich die schrumpfende Zahl jüngerer Erwachsener bereits bemerkbar. In vielen anderen Ländern ist damit ab der kommenden Dekade zu rechnen. Dies wiederum verringert die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Voraussichtlich wird dies zu mehr Zuwanderung nach Europa führen. 1950 machten die Älteren in den reichen Ländern der Welt nur knapp 8 % der Bevölkerung aus. 2005 lag ihr Anteil bereits bei 15 %. Mitte des 21. Jahrhunderts wird er bereits etwa 26 % erreichen. In Europa, Nordamerika und Japan wird es somit auf Dauer erheblich mehr Ältere als Kinder und Jugendliche geben. Aus historischer Sicht ist dies etwas absolut Neues. In den Entwicklungs- und Schwellenländern liegt der Altenanteil gegenwärtig bei nur 5,5 %. Das wird sich allerdings in den kommenden Jahrzehnten dramatisch ändern. Laut Hauptvariante der UN-Bevölkerungsprognose wird der Altenanteil in dieser Ländergruppe bis 2050 auf knapp 15 % steigen – und sich damit binnen 45 Jahren fast verdreifachen. In absoluten Zahlen ist der Zuwachs noch dramatischer: 67 Millionen älter Menschen gab es im Jahr 1950; derzeit (2005) sind es 291 Millionen; im Jahr 2050 werden sie 1,1 Milliarden ausmachen. In den ärmsten Ländern der Welt wird es Zuwächse geben, die noch eindrucksvoller sind: 6,6 Millionen gab es dort im Jahr 1950; nun sind es 24 Millionen. Im Jahr 2050 werden es 114 Millionen sein.
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Tab. 16 Zahl und Anteil älterer Menschen (65+) nach Weltregionen, 1950–2050. Werte für 2050: mittlere Prognosevariante. Quelle: UN Population Division (2005)
Damit wird klar: Europa mag uns als »alter« Kontinent erscheinen. Wir werden 2050 – gemeinsam mit Japan – immer noch das höchste Durchschnittsalter haben. Doch die eigentliche Alterung wird im 21. Jahrhundert in Asien stattfinden – insbesondere in China, wo heute 100 Millionen über 65 Jahre alt sind und 2050 329 Millionen über 65 Jahre alt sein werden. Die Alterung wird dort erheblich mehr Konsequenzen haben als bei uns. Denn die Mehrzahl der erwachsenen Chinesen ist nicht rentenversichert. Und durch die chinesische Bevölkerungspolitik werden die Alten von morgen auch nicht mit der Unterstützung durch eine größere Schar eigener Kinder rechnen können.
Die Hochbetagten Die Älteren bilden keine einheitliche Gruppe. Wir unterscheiden heute die »jungen Alten«, von denen die meisten in Europa nicht mehr berufstätig sind, von den »alten Alten«. Jedenfalls bewirkt die Verlängerung unserer Lebenserwartung, dass der Anteil der Hochbetagten besonders rasch wächst.
Die Nochbetagten
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Meist rechnet man Menschen im Alter von 85 und mehr Jahren zu dieser Gruppe. Im Jahr 1950 gab es kaum Hochbetagte. Weltweit waren nur 0,3 % der Männer und 0,5 % der Frauen über 85. Anders gesagt: Auf 1000 Erdenbürger kamen gerade einmal vier Hochbetagte. 2005 waren bereits 0,9 % der Männer und 2,2 % der Frauen über 85 Jahre alt. Geht die Entwicklung so weiter, dann wird sich der Anteil der Hochbetagten zumindest in der entwickelten Welt bis 2050 auf 5 % mehr als verdreifachen. Aus Sicht der Alterssoziologie kommt es in dieser Lebensphase zu einem langsamen Sich-Herauslösen (»Desozialisierung«) der Menschen aus ihren jeweiligen Lebenswelten. Das spielt sich geschlechtsspezifisch höchst unterschiedlich ab, und auch sehr unterschiedlich nach Entwicklungsstand. Der Anteil der Frauen an der Weltbevölkerung macht im Schnitt 49,7 % aus. In den höheren Altersgruppen steigt er allerdings stark an: Er macht bei den Alten (65+) 56,4 % aus, bei den Hochbetagten allerdings 68,4 %. In der hoch entwickelten Welt macht der Frauenanteil insgesamt 51,5 % aus, also wenig mehr als im Durchschnitt; bei den schon Alten (65+) kommt er allerdings auf 59,8 % und bei den Hochbetagten sogar auf 72,3 %, liegt also deutlich höher. Die Lebensverhältnisse im hohen Alter ändern sich massiv, und zwar unterschiedlich für Männer und Frauen. Während Männer selbst im hohen Alter überwiegend noch in der Familie verbleiben, verbringen hochbetagte Frauen die letzten Jahre mittlerweile überwiegend in institutioneller Betreuung, in einem Altenwohnheim etwa. Ihre Partner waren meist um einige Jahre älter und sind daher im Regelfall bereits gestorben. Großfamilienverbände mit drei Generationen, wo sie eventuell von der nächsten Generation gepflegt werden könnten, gibt es in den Industriestaaten kaum.
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»Alterslast«, »Kinderlast«, demographische Gesamtbelastung Zu jeder Altersverteilung lässt sich fragen: Wie viele Menschen im noch nicht oder nicht mehr aktiven Alter müssen vom erwerbsfähigen Teil der Bevölkerung erhalten werden? Antwort darauf gibt die sogenannte Gesamtbelastung. Dabei unterscheidet man: erstens die »Belastung« durch Kinder; sie ergibt sich aus den Unter-15-Jährigen pro 100 Menschen im Alter von 15 bis 65 Jahren. Und zweitens die »Belastung« durch Ältere; sie ergibt sie sich aus den Über-65-Jährigen pro 100 Menschen im Alter von 15 bis 65 Jahren. Die Gesamtbelastung gibt das Verhältnis beider Altersgruppen (0–14 und 65+) zu den potenziell Aktiven an. Betrachtet man die demographische Gesamtbelastung der Aktivgeneration (15–65 Jahre), dann zeigt sich: In den 1970er Jahren mussten 100 Angehörige der Aktivgeneration für 75 Jüngere und Ältere aufkommen; gegenwärtig nur mehr für 55. Erst nach 2030 wird diese Gesamtbelastung wieder etwas zunehmen. Der Anstieg der demographischen Gesamtbelastung bis 1970 und das Absinken seither sind ausschließlich das Ergebnis zuerst steigender und seither sinkender »Kinderlasten«. In entwickelten Ländern entfielen 1960 rund 43 und derzeit nur etwa 25 Kinder auf 100 Angehörige der Aktivgeneration. In Entwicklungs- und Schwellenländern fiel dieser Wert von 77 Kindern (1965) auf 47 Kinder (2005) und dürfte weiter sinken (2050: 32 Kinder pro 100 Angehörige der Aktivgeneration). Im Vergleich dazu war die »Last« der Älteren auf Weltebene bisher gering (2005: 11 auf 100 Angehörige der Aktivgeneration). In den kommenden 40 Jahren wird sie aber bis 24 Ältere auf 100 Angehörige der Aktivgeneration steigen und sich damit mehr als verdoppeln. In reicheren Ländern liegt der
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Abb. 27 Kinder (0–14 Jahre) und Ältere (65+) pro 100 Personen im Haupterwerbsalter (15–64) Jahre), 1950–2050. Quelle: UN Population Division (2005)
Wert heute schon bei 24 auf 100. Im Jahr 2050 wird er voraussichtlich bei 43 Älteren auf 100 Angehörige der Aktivgeneration liegen. In Entwicklungs- und Schwellenländern wird dieser Wert von 9 (2005) auf 23 Ältere pro 100 Angehörige der Aktivgeneration steigen. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind dies Näherungswerte. Denn in vielen ärmeren Ländern gehen Kinder gar nicht oder nicht bis zum 15. Geburtstag zur Schule. Viele tragen schon vorher zum Lebensunterhalt ihrer Eltern bei. Im Gegensatz dazu sind in reicheren Gesellschaften viele Jugend-
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liche und junge Erwachsene in der Ausbildung und leisten noch keinen wirtschaftlichen Beitrag. Umgekehrt ist auch das Alter von 65 Jahren keine verbindliche Grenze. In Europa geht eine Mehrheit von Erwerbspersonen schon früher in Rente. In anderen Teilen der Welt arbeiten viele auch jenseits ihres 65. Geburtstags.
10 Zu viele Menschen? Derzeit wächst die Zahl der Menschen um etwa 76 Millionen pro Jahr. Rund 95 % des weltweiten Zuwachses an Menschen entfallen auf Entwicklungs- und Schwellenländer. Am raschesten wachsen die Bevölkerungen der ärmsten Länder Afrikas, Asiens und Ozeaniens. Damit stellt sich unmittelbar die Frage nach den Lebenschancen der heute dort und überhaupt in den Entwicklungs- und Schwellenländern geborenen Kinder und der Heranwachsenden von morgen. Zugleich stellt sich aber auch die Frage nach den Lebensbedingungen aller derzeit 6,6 und zukünftig 9 Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Diese Lebenschancen sind vielfach dramatisch schlecht. Aus einer größeren Zahl von Herausforderungen an die Menschheit des 21. Jahrhunderts lassen sich aus heutiger Sicht vier Bereiche nennen, die mit der Bevölkerungsentwicklung eng zusammenhängen: • Armut, Unterentwicklung und Unterbeschäftigung • eine wachsende Zahl internationaler Migranten • die globale Alterung • die Schaffung menschenwürdiger Lebensverhältnisse, die mit nachhaltiger Entwicklung vereinbar sind. Mit diesen Herausforderungen müssen wir uns in den kommenden Jahrzehnten jedenfalls auseinandersetzen.
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Bevölkerung und Entwicklung Hunger und Mangel an Trinkwasser sind in der Regel keine unmittelbaren Folgen großer Einwohnerzahlen oder wachsender Bevölkerungen. Sie erklären sich auch nicht aus einem weltweiten Mangel an Nahrungsmitteln. Im Gegenteil: Derzeit produzieren wir global mehr Lebensmittel, als wir in Summe konsumieren. In Teilen der Welt – vor allem in Europa, Nordamerika und Japan – haben wir eine hoch produktive und meist auch hoch subventionierte Landwirtschaft. Deren Überschüsse stehen derzeit einer weiteren Liberalisierung des Welthandels (Doha-Runde) im Wege. Hunger und Mangel an sauberem Trinkwasser haben ganz andere Ursachen. Simon Kuznets, der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1971 stellte zu Recht die Frage, warum Bevölkerungswachstum das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen müsse. Eine wachsende Einwohnerzahl automatisch mit ökonomischen Problemen gleichzusetzen, entspringt vor allem jener Sichtweise, die auf Th. R. Malthus zurückgeht. Ein zwangsläufiger Zusammenhang besteht nicht. Dies hat Amartya Sen, der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1998, am Beispiel Indiens nachgewiesen. Primär verantwortlich für Elend und Unterentwicklung sind dort nämlich die große soziale Ungleichheit sowie schlecht funktionierende öffentliche Institutionen und Infrastrukturen. Es sind also nicht zuletzt politische Defizite, die Bevölkerungswachstum zu einem Entwicklungsproblem machen. Eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen kam somit zu dem Ergebnis: Bevölkerungswachstum ist zwar in der Regel nicht die Ursache von Armut und Unterentwicklung. Aber: Rasches Bevölkerungswachstum erschwert die Suche nach Lösungen. Denn es überfordert sowohl die Aufnahme-
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fähigkeit lokaler Arbeitsmärkte als auch die Kapazitäten der bestehenden Infrastruktur. Damit vergrößert sich in vielen rasch wachsenden Gesellschaften die Zahl jener Menschen, die nicht zur Schule gehen können oder für die es im Krankheitsfall bzw. während einer Schwangerschaft keinerlei medizinische Betreuung gibt. Rasches Bevölkerungswachstum in wenig entwickelten Ländern und Gesellschaften erschwert auch deshalb die wirtschaftliche Entwicklung, weil der Zuwachs vor allem eine große Zahl an Kindern und Jugendlichen bedeutet. Erst wenn die Kinderzahlen zurückgehen, steigt der Anteil der jungen Erwachsenen im Erwerbsalter. Erst dann könnten Länder von ihrer Altersstruktur profitieren. Dies setzt voraus, dass das Potenzial dieser jungen Erwachsenen im produktivsten Alter auch genutzt werden kann. Somit besteht zweifellos ein Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Entwicklungschancen. »Entwicklung ist die beste Geburtenregelung.« Auf diese Formel einigten sich 1974 die Teilnehmer der UN-Weltbevölkerungskonferenz, die damals in Bukarest stattfand. Das ist nicht ganz falsch, wohl aber ergänzungsbedürftig. Denn steigender Wohlstand und sinkende Sterblichkeit führten in reicheren Ländern der Welt tatsächlich zu sinkenden Kinderzahlen. Doch Anstrengungen im Bereich der Familienplanung und der reproduktiven Gesundheit sind auch in ärmeren Ländern sinnvoll und notwendig. Und diese weltweiten Anstrengungen zeigen Erfolge. Bester Beweis dafür sind die seit 25–30 Jahren sinkenden Kinderzahlen in Schwellen- und Entwicklungsländern. Voraussetzung für diesen weltweiten Rückgang der Kinderzahlen war, dass immer mehr Menschen in ihrer Fortpflanzung bewusste Entscheidungen treffen. Das Recht auf
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diese Entscheidung verstehen wir heute als grundlegendes Menschenrecht. Weitere Voraussetzung ist die Erfahrung, dass wenige, aber besser ausgebildete Kinder auch ökonomisch von Vorteil sind. Damit ist eine größere Zahl eigener Kinder keine Selbstverständlichkeit mehr, aber auch keine Pflicht gegenüber dem eigenen Familienclan oder der Nation. Stattdessen zählt der eigene Lebensplan. Damit geht es schließlich um Aufklärung und den Zugang zu Mitteln und Methoden der Familienplanung. Das Recht, die eigene Kinderzahl selbst zu bestimmen, ist auf der Welt keineswegs überall durchgesetzt. Vor allem in armen Ländern haben Frauen und Männer weniger Zugang zu Familienplanung. Das gilt insbesondere für das subsaharische Afrika, aber auch für mehrere Gesellschaften Süd- und Westasiens.
Stärkung der Rechte von Frauen Wesentlich für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie speziell für die Bevölkerungsentwicklung ist die gesellschaftliche Stellung von Frauen. Sie haben im Schnitt weniger Lebenschancen als Männer. Deshalb geht es vorrangig um eine Stärkung der Selbstbestimmung (empowerment) von Frauen. Dies bedeutet nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche Chancen und eine materielle Besserstellung. Ohne deren Verwirklichung sind Grundziele der Bevölkerungs-, Familien- und Gesundheitspolitik nicht erreichbar. Diese reichen von der Verringerung der Zahl ungeplanter Schwangerschaften über die Senkung der Kindersterblichkeit bis hin zur Erhöhung des Lebensstandards durch eine stärkere Erwerbsbeteilung von Frauen.
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Armut und Hunger Viele Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika, aber auch in Osteuropa können heute selbst elementare Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Fast die Hälfte der Menschheit lebt in drückender Armut. Rund eine Milliarde Menschen müssen – gemessen in Kaufkraft-Paritäten – mit weniger als 1 Dollar pro Tag auskommen. Das ist deutlich weniger als 1 Euro pro Tag. Weitere zwei Milliarden haben zwischen 1 und 2 Dollar pro Tag zur Verfügung. In den ärmsten Ländern der Welt betrifft dies fast alle Einwohner. Aber auch in Schwellenländern mit etwas größerer Wirtschaftsleistung lebt in der Regel mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Armut. In Osteuropa ist es eine wachsende Minderheit. Auf der anderen Seite der Welteinkommenspyramide gibt es eine beträchtliche und ständig wachsende Konzentration von Reichtum. Das Vermögen der drei reichsten Personen der Welt entspricht heute dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt aller 51 ärmsten Staaten der Welt. Der Anteil jener 51 Länder am Welthandel beträgt gerade einmal 0,4 %. Pro Jahr verdienen derzeit die wohlhabendsten 20 % der Weltbevölkerung etwa 100-mal so viel wie die ärmsten 20 %. Und die wohlhabendsten 20 % konsumieren 85 % aller Güter, die weltweit für den privaten Konsum produziert werden. Armut bedeutet in vielen Fällen, dass sich Menschen nicht während des gesamten Jahres ausreichend mit Lebensmitteln und Trinkwasser versorgen können. 800 Millionen Menschen leiden ständig unter Hunger; weitere 400 Millionen erhalten periodisch nicht genug zu essen. 1,1 Milliarden haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 2,6 Milliarden leben in Kommunen, in denen es keine Abwasserentsorgung oder Abwasserreinigung gibt.
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Für die Betroffenen hat dies gravierende Konsequenzen. Unterernährung kann bei Kindern und Jugendlichen zu Entwicklungsstörungen führen. Hunger schwächt die Menschen, reduziert ihre Leistungsfähigkeit und macht sie anfälliger für Infektionskrankheiten. Zugleich vergrößert ein Mangel an sauberem Trinkwasser und fehlende Abwasser-Entsorgung die Gefahr, dass sich Magen-Darm-Krankheiten verbreiten. Vor allem Kinder versterben in Entwicklungs- und Schwellenländern nach wie vor an solchen Krankheiten. Jährlich verhungern im frühen 21. Jahrhundert etwa 9 Millionen Menschen – darunter 5 Millionen Kinder. Weitere 2 Millionen Kinder versterben jährlich an Darminfektionen, mit denen sie sich ansteckten, weil sie unsauberes Wasser trinken müssen. Noch größer ist die Zahl der Kinder, die durch Mangelernährung entkräftet sind und deshalb an Krankheiten sterben, die keinen tödlichen Verlauf nehmen müssten. Hunger und Not haben ganz unterschiedliche Gründe. Am deutlichsten ist dies, wenn die Ursachen einen politischen Hintergrund haben. Immer wieder sind Menschen durch politisches Chaos, Bürgerkriege und andere gewaltsame Konflikte von der Versorgung abgeschnitten und können sich in dieser Situation auch selbst nicht versorgen. Die Not der Zivilbevölkerung gehört inzwischen zu den »Waffen«, mit denen Kriegsparteien ihre Gegner unter Druck setzen oder die eigene Bevölkerung als Geisel nehmen. Jüngste Beispiele dafür sind der Konflikt in der westsudanesischen Region Dharfur und die Situation in Nordkorea. Ähnliche Auswirkungen haben große Naturkatastrophen, Überschwemmungen, lang anhaltende Dürreperioden. Allerdings ist da die Katastrophenhilfe in der Regel leichter zu leisten als im Kriegsfall. Hunger und Armut sind auch das Ergebnis ökonomischer
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und sozialer Marginalisierung. Sie sind der deutlichste Ausdruck dafür, dass vor allem die ärmsten 20 % der Weltbevölkerung weder selber ausreichend Nahrungsmittel produzieren noch etwas anderes herstellen können, was sich verkaufen oder gegen Lebensmittel tauschen ließe. Dies kann mit einer extrem ungleichen Verteilung von Grund und Boden zu tun haben, oder mit Agrarpreisen, die keinen Anreiz für die Produktion von Überschüssen bieten. In etlichen Ländern gibt es staatlich festgelegte Preisobergrenzen. Sie sollen städtischen Unterschichten den Einkauf von Grundnahrungsmitteln erleichtern, weil Stadtbewohner leichter mobilisierbar und daher für die jeweiligen Regierungen politisch »gefährlicher« sind als die arme Landbevölkerung. Festgesetzte Höchstpreise reduzieren aber in jenen Ländern im Endeffekt das Angebot an Nahrungsmitteln. In Einzelfällen ist dafür auch die »Hungerhilfe« reicher Länder und internationaler Organisationen mit verantwortlich – insbesondere dann, wenn agro-industriell erzeugte Überschüsse aus Europa und Nordamerika gratis oder zu Dumpingpreisen in Ländern der Dritten Welt verteilt werden. Damit verlieren lokale Bauern und Agrarproduzenten ihre heimischen Absatzmärkte – und zugleich jeden Anreiz, über den Eigenbedarf hinaus Lebensmittel zu produzieren. In manchen Gegenden wird das fruchtbarste Land für Plantagen genutzt. Diese produzieren Nahrungs- und Genussmittel oder Futtermittel für den Export in reichere Länder, während die lokale Bevölkerung unterversorgt ist. Auch von der ansteigenden Bio-Sprit-Produktion kann sich die lokale Bevölkerung nicht ernähren. Ähnliches gilt für Wasser, das zur Bewässerung in der Landwirtschaft, zur Industrieproduktion oder zur Gewinnung von Energie verwendet wird. Dies kann einen Mangel an Trinkwasser bewirken.
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In einer Reihe von Ländern führen Urbanisierung, Raubbau an natürlichen Ressourcen oder Klimawandel zum Verlust an landwirtschaftlich nutzbaren Böden. Diese werden mit Häusern und Verkehrsflächen verbaut, Staudamm-Projekten geopfert oder gehen durch Bodenerosion, Wüstenbildung und Versalzung verloren. Schließlich kann Armut einfach damit zu tun haben, dass Menschen über keinerlei Kapital verfügen, um sich Saatgut, Betriebs- oder Produktionsmittel zu kaufen. Sie können so keine Lebensmittel, Waren oder Dienstleistungen herstellen, selbst wenn es dafür eine Nachfrage gäbe.
Unterentwicklung, fehlende Bildungschancen, Unterbeschäftigung Armut und Unterentwicklung gehen oft mit fehlender Schulbildung einher. Die Zahl der Analphabeten nimmt zwar ab. Doch gerade in den am wenigsten entwickelten Ländern ist ihr Anteil noch immer beträchtlich hoch. Derzeit sind etwa 770 Millionen Erwachsene – 13 % aller Männer und 23 % aller Frauen dieser Welt – Analphabeten. Mädchen und Frauen erhalten noch immer weniger Bildungschancen als Männer. In den am wenigsten entwickelten Staaten mit den geringsten Einkommen – und in der Regel mit den höchsten Geburtenraten – ist die Bildungsbeteiligung von Männern und Frauen drastisch verschieden. Mädchen haben weniger Gelegenheit, die Schule zu besuchen bzw. besuchen sie viel kürzer. Es lässt sich aber klar zeigen, dass besonders hohe Fruchtbarkeit und für Frauen schlechter Bildungszugang Hand in Hand gehen. Die zukünftige Entwicklung der Kinderzahlen hängt somit ganz zentral auch mit vorhandenen oder fehlenden Bildungschancen für Frauen zusammen.
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120 Millionen Kinder und Jugendliche im Schulalter erhalten keinerlei Unterricht. Auch sie lernen somit weder lesen noch schreiben. Damit ist heute schon klar, dass ein Großteil dieser Kinder und Jugendlichen später – wenn überhaupt – nur unqualifizierte und schlecht bezahlte Jobs übernehmen können. Menschen ohne Schulbildung gibt es am häufigsten im subsaharischen Afrika – dort, wo die Fruchtbarkeit besonders hoch und die Chancen auf einen Arbeitsplatz besonders gering sind. Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang das rasche Wachstum des Arbeitskräftepotenzials und damit auch der Arbeitslosigkeit. Gesellschaften der Dritten Welt mit einem hohen Landwirtschaftsanteil und einer geringen Sparquote haben auf alle Fälle Probleme mit der Vollbeschäftigung, wenn der Strukturwandel so schnell vor sich geht wie gegenwärtig. Die Bevölkerung und damit das Arbeitskräftepotenzial wachsen. Menschen wandern aus der Landwirtschaft ab. Auch Frauen, die bisher entweder ebenfalls landwirtschaftlich tätig, oder aber besonders stark im Haushalt aktiv waren, begeben sich nun viel häufiger auf die Suche nach bezahlter Arbeit. Bei den Erwachsenen gibt es folglich in den Entwicklungs- und Schwellenländern höhere Erwerbsbeteiligungen als in der hoch entwickelten Welt. In den weniger entwickelten Ländern wuchs die Zahl der Beschäftigten und Arbeitsuchenden zwischen 1980 und 2000 jährlich um rund 2%. Derzeit beträgt dieser Zuwachs immer noch + 1,6 % pro Jahr. Wo finden diese Menschen ihren Lebensunterhalt? In einem Großteil der weniger entwickelten Länder konnte und kann das Wachstum der Arbeitsplätze mit dem Zuwachs an Arbeitsuchenden nicht Schritt halten. Weltweit sind 185 Millionen ältere Jugendliche und Erwachsene arbeitslos. Fast die Hälfte von ihnen ist zwischen 15 und 25
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Jahre alt. Weitere 400 Millionen Menschen sind unterbeschäftigt.
Globale Alterung Das 20. Jahrhundert war die Periode mit dem stärksten Wachstum der Weltbevölkerung. Nie zuvor in der Geschichte hatte es in so kurzer Zeit eine Vervierfachung der Einwohnerzahl unseres Planeten gegeben. Auch zukünftig wird es ein solches Wachstum nie wieder geben. Im 21. Jahrhundert wird die Menschheit dagegen mit einer noch nie da gewesenen Alterung konfrontiert sein. Die Zahl der Menschen über 65 wird von derzeit rund 500 Millionen auf 1,5 Milliarden anwachsen. Heute ist die Lebenserwartung in Europa, Japan und Nordamerika am höchsten. Und diese Regionen der Welt werden auch Mitte des 21. Jahrhunderts die ältesten Bevölkerungen haben. In Europa wird das Durchschnittsalter von derzeit 38 Jahren bis 2050 auf 48 Jahre ansteigen. Dann wird also fast die Hälfte aller Bürgerinnen und Bürger der EU über 50 Jahre alt sein. Zugleich wird die heimische europäische Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter bestenfalls stagnieren. In etlichen Ländern wird sie sogar abnehmen. Das dürfte Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung und die Produktivität haben. Denn die Alterung bewirkt, dass sich die Erneuerung unseres Wissens verlangsamt. Das gilt zumindest für jenes Wissen, das innerhalb unseres staatlich finanzierten Bildungssystems entsteht und weitergegeben wird. Denn es wird aufgrund schwacher Geburtenjahrgänge in den kommenden Jahrzehnten permanent weniger junge Menschen geben, die aus dem Bildungssystem mit frischem Wissen in das Erwerbsleben
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übertreten. Es gibt auch Hinweise darauf, dass demographische Alterung zu einem Sinken der Innovationsbereitschaft oder zumindest des Innovationspotenzials in einer Gesellschaft führt. Zugleich wächst fast unausweichlich die Gruppe der Älteren, die das Erwerbssystem verlassen und in Rente gehen. Das wird in vielen Staaten Europas mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften führen. Zu erwarten ist auch, dass eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung mehr Staatsschulden pro Kopf bedeutet. Weniger erwerbstätige Erwachsene müssen dieselbe oder eine wachsende Staatsschuld »bedienen« – das heißt: Zinsen zahlen und später tilgen, also die Rückzahlung der aufgenommenen Mittel finanzieren.
Auswirkungen auf die soziale Sicherung Erhebliche Auswirkungen hat die demographische Alterung auf unsere sozialen Sicherungssysteme. Die skizzierte Entwicklung stellt jedenfalls die Rentenversicherung kurzfristig vor große Finanzierungsprobleme. Denn tendenziell müssen bei unserer im Umlageverfahren finanzierten Rente immer weniger jüngere Beitragszahler für immer mehr ältere Rentnerinnen und Rentner aufkommen. Aber dies gilt natürlich für jedes System, wenn der Lebensstandard im Alter erhalten bleiben soll. Eine rasch wachsende Zahl alter, insbesondere hochbetagter Menschen stellt auch das Gesundheitssystem vor enorme Herausforderungen. Die demographische Alterung bewirkt fast automatisch höhere Gesundheitsausgaben, da die Anfälligkeit für fast alle Beschwerden im Alter zunimmt – selbst
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wenn die Alten von morgen gesünder sein sollten als die Alten von heute. Insbesondere die Zurückdrängung sogenannter Zivilisationskrankheiten – der Krebs- und Herz-KreislaufErkrankungen – bewirkt, dass Menschen nicht nur älter werden, sondern im Alter auch eine längere Zeit an den bereits aufgelisteten chronisch-degenerativen Erkrankungen leiden. Dadurch werden wir mehr Pflegeleistungen benötigen. Niedrige Kinderzahlen, weniger Heiraten und steigende Scheidungsraten dünnen in Europa jene familiären Netzwerke aus, die bislang unentgeltlich Pflegeleistungen erbrachten. Wenn dies in keinen Pflegenotstand münden soll, muss an ihre Stelle professionelle Pflege treten. Damit verteuert sich jedenfalls die Langzeitpflege von chronisch Kranken. Es fragt sich, wie diese Pflege für die Alten von morgen finanziert werden soll: vor allem durch staatliches Pflegegeld – also im Umlageverfahren – oder durch stärkere Beteiligung der Pflegebedürftigen und ihrer Familien. Letzteres setzt ein ausreichendes (Renten-)Einkommen im Alter oder eine individuelle Absicherung voraus. Die demographische Alterung wird also zuerst die hoch entwickelten Länder vor gewaltige Probleme stellen, auch wenn wir uns weder vor dem Aussterben noch vor einem Kulturverfall fürchten müssen. Doch Probleme der Alterung werden bald die Schwellenländer, dann die besser gestellten Entwicklungsländer und irgendwann auch die schlecht entwickelten Länder erreichen. Schwellenländer wie China stehen im Grunde vor einer noch viel größeren Herausforderung als wir. Dort wird die Zahl der Älteren (65+) von derzeit 100 Millionen bis 2050 auf 329 Millionen anschwellen. Ähnliches wird zeitversetzt auch Indien und andere Länder mit derzeit noch junger Bevölkerung treffen. Für diese Menschen gibt es keine Alterssiche-
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rung. Und es ist heute nicht absehbar, wann und wie Rentenversicherungen für eine Mehrzahl der Alten in Entwicklungsund Schwellenländern eingeführt werden könnten. Altersarmut zeichnet sich in diesen Ländern heute schon ab. Sie wird durch den demographischen Wandel verstärkt, weil die Jüngeren von heute auch in vielen Ländern der Dritten Welt weniger Kinder haben. Damit müssen die Alten von morgen auch mit weniger familiärer Unterstützung auskommen als die Alten von heute.
Dilemma des 21. Jahrhunderts Ganz und gar ungelöst ist ein zentrales Dilemma. Entwicklung bedeutet nach der Vorstellung fast aller Menschen eine Verbesserung des Lebensstandards. In den heute reichen Ländern war und ist dies mit industrieller Produktion, Marktwirtschaft und Individualisierung der Lebensformen verbunden. Die Sorge nicht nur um die Zukunftschancen der Kinder, sondern auch um das eigene Glück führte zu sinkenden Geburtenzahlen. Denn dieses Glück bemisst sich heute nicht an der Zahl eigener Kinder, sondern an Karriere- und Konsumchancen, an einer größeren Wohnfläche, eigenen Autos, Fernreisen, einem Zweitwohnsitz. Damit verbindet sich ein wesentlich höherer Energie- und Ressourcenverbrauch, aber auch eine stärkere Belastung der Umwelt durch CO2, andere Abgase, Abwässer und festen Abfall. Die ökologischen Kosten unserer westlichmodernen Lebensform, die nachhaltig und ohne staatliche Eingriffe zur Eingrenzung des Bevölkerungswachstums führte, sind hoch. Am deutlichsten zeigt sich dies bei der globalen Erwärmung, zu der wir durch unsere Emissionen erheblich beitragen. Durch neue Dürregebiete und den Anstieg des
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Meeresspiegels wird diese Erwärmung für viele Menschen zum Verlust ihres bisherigen Lebensraumes führen. Große zusätzliche Wanderungsströme werden die Folge sein. Somit stellt sich ganz zentral die Frage nach der Wahl des Entwicklungsmodells: Wie kann der ganz und gar legitime Wunsch aller Menschen nach Teilhabe am allgemeinen Wohlstand erfüllt werden ? In der vordergründig plausibelsten Antwort steckt das Dilemma: Jenseits der Sorge um das tägliche Überleben verbinden Menschen mit Entwicklung vor allem das Erreichen westlicher Lebensstandards. In Entwicklungsund Schwellenländern dient dabei auch das Lebensniveau der Eliten sowie der wachsenden Mittelschichten als Vorbild. Das westliche Entwicklungs- und Wohlstandsmodell ist jedoch derart ressourcenaufwendig, dass eine Durchsetzung für alle Bürger unserer Welt derzeit kaum vorstellbar ist. Denn wie kann z. B. der Wunsch von zukünftig 1 Vi Milliarden Chinesen und bald ebenso vielen Indern nach ein bis zwei Autos pro Familie, Wohn- und Verkehrsfläche, Energieverbrauch und Mobilität erfüllt werden? Verallgemeinerbar ist der Lebensstil des reichen Nordens nicht. Dies betrifft das Ausmaß an Verbrauch und Emissionen, das derzeit in den USA, in Japan und in Westeuropa beinahe selbstverständlich ist. In globaler Hinsicht wäre ein vergleichbar hoher Energie- und Ressourcenverbrauch durch alle 6,6 und zukünftig 9 Milliarden Menschen nicht möglich. Dies würde rasch die Grenzen unseres Ökosystems sprengen und damit die Lebensqualität, aber auch das Überleben vieler Menschen infrage stellen. Selbst für wesentlich näher liegende Wünsche fehlen uns derzeit die nötigen Ressourcen: Würden alle Menschen den Fleischkonsum pro Kopf der hoch entwickelten Welt für sich beanspruchen, müssten wir weltweit die ziemlich aufwendige Produktion tierischer Kalorien vervierfachen.
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In Summe bedeutet dies: Ohne Änderung unseres Lebensstils und unserer Ressourcennutzung im reichen Norden ist ein menschenwürdiges Leben für alle kaum vorstellbar! Unter jenen, die bisher über Bevölkerung und Entwicklung nachdachten, gab es stets zwei Hauptströmungen: Bevölkerungsoptimisten und -pessimisten. Vertreter der optimistischen Variante hielten alle skizzierten Probleme nicht nur für lösbar. Das Bevölkerungswachstum der Neuzeit war für sie der beste Beweis für einen positiven Zusammenhang zwischen Menschenzahl und wirtschaftlicher Entfaltung. Im Gegensatz dazu sahen die Vertreter der pessimistischen Variante in einer wachsenden Zahl von Menschen vor allem das Potenzial für Bedrohungen: von allgemeiner Verarmung über Hungerkatastrophen bis hin zu einer generellen Destabilisierung der Gesellschaft. Wir wollen uns hier keiner dieser beiden »Denkschulen« anschließen. Denn unser Buch zeigt: Bevölkerungsentwicklung und menschliche Entwicklung sind eng miteinander verbunden. Aber zwischen der Zahl der Menschen einer Region und dem Lebensstandard dieser Region gibt es keinen linearen Zusammenhang. Ungelöst bleibt damit allerdings das in diesem Buch zuletzt angesprochene Dilemma: dass unsere Anstrengungen um Entwicklung auf einen Lebensstandard abzielen, der aus ökologischer Perspektive nicht verallgemeinerbar ist. Themen für das 21. Jahrhundert – die Millenniumsziele Einen Weg zur Veränderung der Lage weisen die Millenniumsziele. 2000 kamen Staats- und Regierungschefs aus 189 Ländern zu einem Gipfeltreffen am Sitz der UN in New
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York zusammen. Dort verabschiedeten sie eine Millenniumserklärung zu den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Sie definiert vier große Handlungsfelder nationaler und internationaler Politik: • Frieden, Sicherheit und Abrüstung • Entwicklung und Armutsbekämpfung • Schutz der gemeinsamen Umwelt • Menschenrechte, Demokratie und gute Regierungsführung Aus der Erklärung wurden später acht internationale Entwicklungsziele abgeleitet, die Millenniums-Entwicklungsziele (millennium development goals). Sie sollen bis 2015 verwirklicht werden. Diese Ziele enthalten konkrete Vorgaben, an denen sich ihre Verwirklichung -jenseits politischer Rhetorik – messen lässt. Im Einzelnen sind dies: Ziel 1: Extreme Armut und Hunger beseitigen Ziel 2: Grundschulausbildung für alle Kinder gewährleisten Ziel 3: Gleichstellung und größeren Einfluss der Frauen fördern Ziel 4: Die Kindersterblichkeit senken Ziel 6: HIV/AIDS, Malaria und andere Krankheiten bekämpfen Ziel 7: Eine nachhaltige Umwelt gewährleisten Ziel 8: Eine weltweite Entwicklungspartnerschaft aufbauen Alle diese Ziele hängen in der einen oder anderen Weise mit der Entwicklung der Bevölkerung sowie mit aktuellen demographischen Problemen und Herausforderungen zusammen. Sie berühren aber auch Fragen des Handels- und Finanzsystems, der sauberen und effektiven Regierungs-
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führung (good governance), der Schuldenpolitik, der Arbeitsplatzschaffung sowie des Patentschutzes bei Medikamenten und entwicklungspolitisch relevanten Technologien. Die UN überwachen und dokumentieren die Verwirklichung der Millenniumsziele. 2005 bilanzierten 150 Staats- und Regierungschefs auf dem Millennium+5-Gipfel die Umsetzung der Ziele. Dabei wurde die Förderung der »reproduktiven Gesundheit« als zusätzliches Ziel genannt. Darauf hatten sich im Prinzip bereits die teilnehmenden Staaten auf der UN-Weltbevölkerungskonferenz von Kairo (ICPD) 1994 geeinigt.
Glossar Abhängigkeitsquotient auch: Belastungsquotient – Der Abhängigkeitsquotient bezeichnet das Verhältnis der wirtschaftlich abhängigen Altersgruppen (Personen, die noch nicht bzw. nicht mehr im erwerbsfähigen Alter sind) zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. In den Industriestaaten geht man aufgrund der meist längeren Ausbildungszeiten und des häufig frühen Rentenalters meist von einem produktiven Alter zwischen 20 und 60 Jahren aus, in weniger entwickelten Ländern ist eher ein produktives Alter von 15 bis 65 Jahren anzunehmen. Die Gruppen der Jugendlichen bzw. der Senioren können auch einzeln zur produktiven Altersgruppe ins Verhältnis gesetzt werden. Man spricht dann vom Jugend- bzw. Altersabhängigkeitsquotienten. In Deutschland hatten im Jahr 2000 100 Personen im erwerbsfähigen Alter ca. 47 Rentner und Kinder finanziert. In Brasilien entfielen im gleichen Jahr 51 Kinder und Rentner auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter. Abwanderung auch: Emigration – Abwanderung bezeichnet das Verlassen einer bestimmten geographischen Einheit (Land, Region, Gemeinde) um in einer anderen geographischen Einheit einen dauerhaften oder temporären Wohnsitz zu nehmen. Alters- und Geschlechterstruktur – Die Alters- oder Geschlechterstruktur einer Population gibt Auskunft über die Anzahl oder den Anteil der männlichen und weiblichen Personen in den Altersgruppen sowie den Anteil einzelner Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung. Sie ergibt sich aus der Summe der demographischen Ereignisse wie Geburten, Sterbefälle und Wanderungen in den vorange-
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gangenen Jahren. Kenntnis der Alters- und Geschlechterstruktur einer Gesellschaft ist wichtig für die Beschreibung und Prognose demographischer Entwicklungen. Siehe auch Bevölkerungspyramide. Alterspyramide siehe Bevölkerungspyramide altersspezifische Rate – Eine altersspezifische Rate gibt die Häufigkeit von demographischen Ereignissen oder Merkmalen nicht für die Gesamtpopulation, sondern für eine bestimmte Altersgruppe an. (z.B. Sterberate der Frauen in der Altersgruppe zwischen dem 75. und 80. Lebensjahr). Alterung, demographische – Demographische Alterung tritt bei einem steigenden Anteil der älteren und sinkenden Anteil der jüngeren Bevölkerung auf. Das Medianalter der Population steigt. Ursache dieser Entwicklung können sinkende Geburtenzahl, steigende Lebenserwartung oder auch die Abwanderung jüngerer Bevölkerungsgruppen sein. Asylberechtigte / r – Ein / e Asylberechtigte / r ist eine Person, die ein nach der geltenden staatlichen Gesetzgebung geregeltes Asylverfahren durchlaufen hat und als asylberechtigt anerkannt wurde. Anspruch auf Asyl hat in Deutschland jede Person, die in ihrer Heimat politisch verfolgt wird und aus diesem Grund schwerwiegende Angriffe auf sein Leben, seine Gesundheit oder seine Freiheit zu befürchten hat. Dabei muss die Verfolgung über das Maß hinausgehen, das die Bewohner des Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben. Asylsuchende aus Bürgerkriegsgebieten erhalten deshalb in der Regel kein Asyl, da sich die Verfolgung nicht gezielt gegen sie richtet. Solche Flüchtlinge können lediglich Schutz als Konventionsflüchtling erhalten.
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Babyboom – Der »Babyboom« bezeichnet einen starken Anstieg der Fertilitätsraten und der absoluten Zahl der Geburten in zahlreichen Ländern unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Er trat zuerst in den USA, Kanada, Australien und Neuseeland auf (1947 – 1961). Mit Verzögerung fand ein Babyboom auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz statt (1957 – 69). Die Ursache des Babybooms wird vor allem im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung nach Ende des Weltkrieges gesehen. Bevölkerungsbewegung – Die Bevölkerungsbewegung bezeichnet die Gesamtheit der demographischen Ereignisse (Geburten und Sterbefälle, Zu- und Fortzüge) einer Population in einem Zeitintervall. Dabei werden natürliche Bevölkerungsbewegung sowie räumliche Bevölkerungsbewegung unterschieden. Während die natürliche Bevölkerungsbewegung Geburten und Sterbefälle betrachtet, umfasst die räumlich Bevölkerungsbewegung Zu- und Abwanderungen (siehe auch Migration). Die Bevölkerungsbewegung wird mathematisch mit Hilfe der Bilanzgleichung ausgedrückt. Bevölkerungsbewegung, natürliche – Die natürliche Bevölkerungsbewegung bezeichnet Anzahl und Verhältnis von Geburten und Sterbefällen in einer Population. Bevölkerungsbewegung, räumliche – Die räumliche Bevölkerungsbewegung bezeichnet Anzahl und Verhältnis von Zu- und Abwanderungen in einer Population. Bevölkerungsdichte – Die Bevölkerungsdichte gibt die Zahl der Bewohner pro Flächeneinheit an, in der Regel die Zahl der Einwohner pro Quadratkilometer. Für spezielle Berechnungen können bestimmte Teile der Bodenfläche aus der Berechnung ausgeschlossen werden. So werden bei der »physiologischen Bevölkerungsdichte« eines Staats nur die tatsächlich besiedelten und genutzten Gebiete (Dauersiedlungsraum) berücksichtigt.
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Bevölkerungsexplosion – Der Begriff Bevölkerungsexplosion beschreibt ein sehr rasches Bevölkerungswachstum. Der Begriff wird insbesondere im Zusammenhang mit der starken Bevölkerungszunahme in Entwicklungsländern verwendet. Bevölkerungspolitik – Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen zur Beeinflussung von Größe, Wachstum und räumlicher Verteilung einer Bevölkerung. Hinsichtlich politischer Maßnahmen, mit denen die natürliche Bevölkerungsbewegung beeinflusst werden soll, unterscheidet man pronatalistische und antinatalistische Bevölkerungspolitik. Bevölkerungspolitik, antinatalistische – Antinatalistische Politik bezeichnet die Gesamtheit der Maßnahmen einer Regierung, über eine Begrenzung der Geburtenzahlen das Bevölkerungswachstum zu verlangsamen. Viele Staaten der Dritten Welt, die in den vergangenen Jahrzehnten eine Bevölkerungsexplosion erlebt haben, betreiben heute eine antinatalistische Politik. Etwa 60 % aller Entwicklungsländer verfügten im frühen 21. Jahrhundert über politische Programme, um die Fertilität zu reduzieren. Dies erfolgt im Wesentlichen durch Aufklärung der Bevölkerung über Schwangerschaftsverhütung und Bereitstellung von Kontrazeptiva, aber auch durch materielle Anreize zur Geburtenbeschränkung. Zum Teil versuchen Regierungen auch Geburtenzahlen zu reduzieren. So wurden in Indien (1970er Jahre) oder China (1980er Jahre) auch Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen durchgeführt. Bevölkerungspolitik, pronatalistische – Pronatalistische Bevölkerungspolitik bezeichnet politische Maßnahmen einer Regierung, die auf eine Erhöhung der Geburtenzahl und damit auf Bevölkerungswachstum bzw. auf die Verhinderung von Bevölkerungsrückgang ausgerichtet sind. Dies erfolgt meist mit Hilfe von familienpolitischen Maßnahmen wie finanzielle Anreize oder materielle Vergünstigungen, die im Zusammenhang mit der Geburt von Kindern ge-
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währt werden (z. B. in Frankreich). Gelegentlich haben Regierungen auch versucht, mit Hilfe repressiver Maßnahmen einen Geburtenzuwachs zu erreichen, etwa durch das Verbot von Verhütungsmitteln oder von Schwangerschaftsabbrüchen (z. B. in Rumänien in den 1970er Jahren). Die langfristige Wirksamkeit politischer Maßnahmen zur Geburtenförderung ist begrenzt. Nachgewiesene langfristige Wirkungen zeigen heute vor allem Maßnahmen, die auf eine bessere Vereinbarkeit von Frauenerwerbstätigkeit und Kindererziehung abzielen. Bevölkerungsprojektionen – Bevölkerungsprojektionen sind demographische Methoden, bei denen, auf Grundlage einer bekannten Alters- und Geschlechterstruktur, mit Hilfe von Annahmen über die zukünftige Entwicklung von Fertilität, Mortalität oder Migration Aussagen über die zukünftige Entwicklung einer Population getroffen werden sollen. Die Berechnungen erfolgen meist mittels einer Kohorten-Komponenten-Methode, wobei die Berechnungen in der Regel für verschieden Szenarien erfolgen, je nachdem ob ein hoher, mittlerer oder niedriger Wert für die betrachteten demographischen Kennziffern angenommen wird. Bevölkerungspyramide – Die Bevölkerungspyramide ist die graphische Darstellung der Alters- und Geschlechterstruktur einer Bevölkerung. Dabei werden in einem Koordinatensystem Altersgruppen als Anzahl oder Anteil in Form eines liegenden Balkens abgebildet und übereinandergestapelt. Von der Mittelachse des Koordinatensystems aus wird dabei links die Anzahl der männlichen und rechts die Anzahl der weiblichen Personen abgetragen. Daraus ergibt sich, zumindest für traditionelle Gesellschaften mit dauerhaft über der Fertilität liegender Sterblichkeit, eine pyramidenförmige Gestalt: eben die Bevölkerungspyramide. Bei zurückgehender Fertilität kann sich eine »Bevölkerungspyramide« auch umkehren. Bei einer Überzahl an Personen in älteren Jahrgängen nimmt sie dann eine Urnenform an. Die Bevölkerungspyramide stellt stets eine Momentauf-
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nahme der Alters- und Geschlechterstruktur dar und bezieht sich auf einen Stichtag. Bevölkerungsstand – Zahl und Zusammensetzung einer Bevölkerung nach Geschlecht, Alter, Familienstand und anderen Merkmalen (z. B. Staatsbürgerschaft, Erwerbsstatus, ethnische Zugehörigkeit) an einem bestimmten Stichtag; siehe Alters- und Geschlechterstruktur, vgl. Bevölkerungsbewegung. Bevölkerungsstruktur – Mit dem Begriff Bevölkerungsstruktur bezeichnet man Anteile oder Verteilung von Bevölkerungsgruppen mit bestimmten Merkmalen innerhalb einer Gesamtpopulation. In der Demographie sind dies am häufigsten die Merkmale Alter und Geschlecht (siehe Alters- und Geschlechterstruktur). Es kann jedoch auch von einer Bevölkerungsstruktur nach Berufen, Bildungsstand, Einkommen o. Ä. gesprochen werden. Bevölkerungsverteilung – Streuung der Bevölkerung im Raum nach ihrer absoluten Zahl oder nach ihren Siedlungsplätzen. Während die Bevölkerungsdichte als Relativzahl die »Belastung« der Fläche durch die auf ihr wohnenden Menschen angibt, steht bei der Bevölkerungsverteilung das Distanzmoment im Mittelpunkt der Betrachtung. Neben einer mehr oder weniger gleichmäßigen Streuung der Bevölkerung in der Fläche (Dispersion) treten verschiedene Formen der Bevölkerungskonzentration auf. Hierbei kommt es zu einer Ballung von Menschen an einem Ort (zentralisiert) oder mehreren Orten (dezentralisiert) der betrachteten Fläche. Bevölkerungswachstum, Bevölkerungsrückgang – Veränderung der Bevölkerungsgröße zwischen zwei Stichtagen als Ergebnis der Geburten- und Sterbefälle sowie der Zu- und Abwanderungen (Migration); vgl. Bevölkerungsbewegung.
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Bevölkerungswachstum, natürliches – Von natürlichem Bevölkerungswachstum spricht man, wenn eine Population einen Überschuss der Geburten über die Sterbefälle aufweist. Binnenwanderung – Allgemein sind Binnenwanderungen solche Wanderungsbewegungen, die innerhalb einer betrachteten geographischen (oder politischen) Einheit stattfinden. Häufig versteht man darunter Wanderungen innerhalb eines Staates (im Gegensatz zu internationalen Wanderungen). Wichtige historische Binnenwanderungsvorgänge sind z.B. die Land-Stadt-Wanderung oder die Suburbanisierung. DALY – DALY ist die Abkürzung für Disease-Adjusted Life Years. Mit DALY soll nicht nur die Sterblichkeit sondern auch die Beeinträchtigung des normalen, beschwerdefreien Lebens durch eine Krankheit erfasst werden. Die Zahl der verlorenen Lebensjahre durch vorzeitigen Tod (siehe: verlorene Lebensjahre) wird mit dem Verlust an Lebenszeit durch Behinderung bzw. Erkrankung kombiniert. Dabei gehen Erkrankungs- bzw. Behinderungsjahre als »verlorene Lebensjahre« prozentual je nach Grad der Beeinträchtigung in die Berechnung ein. Demographie – Die Demographie, auch Bevölkerungswissenschaft, vereinigt Elemente von Soziologie, Geographie, Medizin und Ökonomie. Sie beinhaltet die wissenschaftliche Untersuchung menschlicher Populationen, analysiert Größe, Zusammensetzung, Verteilungen, Dichte, Wachstum und andere Eigenschaften von Populationen sowie ihre Veränderungen und betrachtet deren Ursachen und Folgen. Demographischer Übergang, Demographische Transition – Die Demographische Transition bezeichnet – den historischen Prozess des Übergangs von hohen zu niedrigen Geburten- und Sterberaten.
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Demographisches Momentum – Der Begriff demographisches Momentum oder auch Trägheitseffekt bezeichnet die Eigenschaft von Populationen, die Tendenz von Bevölkerungswachstum oder -rückgang auch noch nach Eintritt des Ersatzniveaus beizubehalten. Eine Bevölkerung, deren Fertilität auf das Ersatzniveau oder bereits darunter gesunken ist, kann noch mehrere Jahrzehnte weiter wachsen, da hohe Fertilitätsraten in der Vergangenheit zu einer starken Besetzung der jungen Altersgruppen geführt haben, die nun ins fertile Alter eintreten (Beispiel: China). Ebenso ist ein negatives Momentum denkbar: Würde Deutschland im Jahr 2010 das Ersatzniveau der Fertilität erreichen und weitere 100 Jahre halten können, so nähme die Bevölkerungszahl trotzdem weitere 70 Jahre lang ab. Dies liegt an der geringen Besetzung derjenigen Altersklassen, welche die zukünftige Elterngeneration darstellen. Durchschnittsalter – Das Durchschnittsalter einer Population zu einem bestimmten Zeitpunkt ist das arithmetische Mittel des Alters aller Personen dieser Bevölkerung. Emigration siehe Abwanderung Epidemiologie – Die Epidemiologie ist eine Wissenschaftsdisziplin, die sich mit der Verbreitung und dem Verlauf von Krankheiten und deren verursachenden Faktoren in der Bevölkerung befasst. Während sie ursprünglich ihren Schwerpunkt in der Untersuchung der Ausbreitung infektiöser Erkrankungen und deren Bekämpfung hatte, hat sich heute, zumindest in den Industriestaaten, eine Verlagerung hin zur Verursachung (Ätiologie) chronischer Erkrankungen ergeben. Epidemiologischer Übergang – Der Begriff des epidemiologischen Übergangs bezeichnet die Veränderung der menschlichen Todesursachenstruktur im historischen Verlauf. Herrschten in der vorindustriellen Bevölkerung parasitäre und infektiöse Erkrankungen
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als Todesursachen vor, konnten solche Erkrankungen durch Verbesserung der Ernährungs- und Lebensbedingungen sowie durch medizinischen Fortschritt immer mehr zurückgedrängt werden. Haupttodesursachen sind nun vor allem Herzkrankheiten und Krebs. In Zukunft werden degenerative Erkrankungen eine größere Rolle spielen. Viele Entwicklungsländer haben den Prozess des epidemiologischen Übergangs noch nicht vollzogen. Ersatzniveau – Das Ersatzniveau bezeichnet die durchschnittlich notwendige Kinderzahl pro Paar bzw. pro Frau in einer Population, die zum Ersatz der gesamten Elterngeneration führt und damit dafür sorgt, dass die Populationsgröße dauerhaft stabil bleibt. In entwickelten Gesellschaften mit niedriger Kindersterblichkeit müssen dazu durchschnittlich 2,1 Kinder je Frau geboren werden. Familienplanung – Bewusste Maßnahmen von Paaren, um die Zahl und den zeitlichen Abstand ihrer Kinder durch künstliche oder natürliche Empfängnisverhütung zu beeinflussen. Familienplanung beinhaltet nicht nur die Kontrolle der Empfängnis, um Schwangerschaften zu verhindern, sondern auch bewusste Maßnahmen, um eine Schwangerschaft herbeizuführen; vgl. antinatalistische Politik, pronatalistische Politik. Fertilität, Fruchtbarkeit – Im biologischen Sinn wird bereits die potenzielle Fähigkeit, sich fortzupflanzen, als Fertilität aufgefasst (auch Fortpflanzungsfähigkeit genannt). Demgegenüber bezeichnet der Begriff Fruchtbarkeit in der Demographie nur die tatsächlich realisierten Geburten (Geburtenhäufigkeit) einer Einzelperson, eines Paares, einer Gruppe oder einer gesamten Bevölkerung. Als demographische Maße für Fertilität werden allgemeine und altersspezifische Fertilitätsraten sowie die Gesamtfertilitätsrate (Kinderzahl pro Frau) berechnet.
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Flüchtling – Ein Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist eine Person, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer ethnischen Gruppe, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will. gebärfähiges Alter- Für demographische Berechnungen wird als gebärfähiges Alter i. d. R. die Zeit zwischen dem 15. und 49. Lebensjahr einer Frau angenommen. Geburtenrate, rohe – auch Geburtenziffer, rohe – Die rohe Geburtenrate bezeichnet die Zahl der lebendgeborenen Kinder pro Jahr je 1000 Einwohner eines Gebietes. Altersstruktureffekte können sich so in rohen Geburtenraten deutlich bemerkbar machen. Generatives Verhalten – Als generatives Verhalten bzw. Handeln wird der die Fortpflanzung betreffende Teil demographisch relevanten menschlichen Verhaltens aufgefasst, so z. B. Zeitpunkt und Häufigkeit sexueller Kontakte, Eheschließungen, Empfängnisverhütung, Geburten, Scheidungen, Schwangerschaftsabbrüche. Die Zahl der Kinder eines Paares ist auf dessen generatives Verhalten zurückzuführen. Geburtenziffer, zusammengefasste durchschnittliche Kinderzahl pro Frau (TFR) – Die zusammengefasste Geburtenziffer gibt an, wie viele Kinder eine Frau im Lauf ihres Lebens durchschnittlich bekommen würde, wenn die für den gegebenen Zeitpunkt maßgeblichen altersspezifischen Fruchtbarkeitsverhältnisse der betrachteten Population als konstant angenommen werden.
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Großstadt – Als Großstädte werden Städte ab einer Einwohnerzahl von 100 000 Einwohnern bezeichnet. Da die Abgrenzung einer Großstadt zu ihrem Umland oft schwierig ist und die administrativen Stadtgrenzen keineswegs eine Siedlungsgrenze darstellen, spricht die Bevölkerungsgeographie auch von städtischen Agglomerations- oder Verdichtungsräumen. Haushalt – Einen Privathaushalt stellt jede zusammen wohnende und wirtschaftende Personengemeinschaft (Mehrpersonen-Haushalte) dar, sowie Personen, die allein wohnen und wirtschaften (Single-Haushalte). Zum Haushalt können verwandte und familienfremde Personen gehören (z. B. Hauspersonal). Familien mit mehreren Wohnsitzen werden in der Statistik unter Umständen mehrfach als Haushalte gezählt. Daneben gibt es Gemeinschafts- und Anstaltsunterkünfte, z. B. Internate, Kasernen, Asylbewerberwohnheime, Durchgangslager für Migranten und Gefängnisse. Immigration siehe Zuwanderung Kinderzahl, endgültige – Die endgültige Kinderzahl gibt die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau an, die bis zum Ende des gebärfähigen Alters einer Kohorte tatsächlich geboren wurden. Im Gegensatz zur Gesamtfertilitätsrate, in der die durchschnittliche Kinderzahl je Frau aufgrund der gegenwärtigen altersspezifischen Geburtenraten ermittelt wird, kann die endgültige Kinderzahl erst nach Ablauf der fertilen Lebensphase einer Frauenkohorte ermittelt werden. Kohorte – Unter einer Kohorte versteht man demographisch eine Personengruppe mit einem gemeinsamen zeitbezogenen Charakteristikum, am häufigsten das Geburtsjahr. Beispielweise bilden alle Personen, die im gleichen Jahr geboren wurden, eine Geburts- oder Alterskohorte. Man kann jedoch auch andere zeitliche Gemeinsamkeiten, wie das Jahr der Heirat oder das Jahr des Berufseinstiegs für
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die Kohortendefinition zugrunde legen. Man spricht dann entsprechend von Heirats- bzw. Berufseintrittskohorten. Lebenserwartung – Die Lebenserwartung bezeichnet die durchschnittliche Zahl der zu erwartenden Lebensjahre einer Person unter der Annahme, dass die gegenwärtigen altersspezifischen Sterbeziffern konstant bleiben. Die Lebenserwartung wird entweder für die Neugeborenen (Lebenserwartung bei Geburt) oder für ein bestimmtes Alter (fernere Lebenserwartung, die Zahl noch zu erwartender Lebensjahre) angegeben. Medianalter – Das Medianalter ist jenes Lebensalter, das eine Population statistisch in zwei gleich große Gruppen teilt: 50 % der Bevölkerung sind jünger, und 50 % sind älter als dieser Wert. Migrant – Im Gegensatz zu Flüchtlingen oder Vertriebenen versteht man unter einem Migranten in der Regel eine Person, die aus freiem Willen die Option zur Wanderung ergriffen hat, also nicht unter politischem Zwang handelte. Migration siehe Wanderung Mikrozensus – Befragung einer repräsentativen Auswahl von Einzelpersonen oder Haushalten durch die amtliche Statistik z.B. zur Feststellung demographischer Eigenschaften oder zu Entwicklungstendenzen in Teilen der Bevölkerung oder der Gesamtbevölkerung. Morbidität – Häufigkeit und Verteilung von Krankheiten, Verletzungen und Behinderungen in einer Bevölkerung. Mortalität – Sterbefälle pro Alterseinheit und Jahr; siehe Sterbetafel.
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Müttersterblichkeit, Müttersterberate – Die Müttersterberate bezeichnet die jährliche Zahl der Sterbefälle von Frauen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt je 100 000 Lebendgeborene. Als Müttersterbefall gilt dabei der Tod jeder Frau während oder innerhalb von 42 Tagen nach Beendigung der Schwangerschaft, wenn die Todesursache damit in Verbindung steht, nicht jedoch aufgrund von Unfällen. Nettoreproduktionsrate – Die Nettoreproduktionsrate ist die zentrale Maßzahl für die Reproduktionskraft einer Bevölkerung. Die Nettoreproduktionsrate gibt an, wie viele Töchter eine Frau (oder eine Gruppe von Frauen) im Durchschnitt entsprechend der gegenwärtigen altersspezifischen Fertilitäts- und Sterbeziffern in ihrem Leben bekommen würde. Im Gegensatz zur Bruttoreproduktionsrate berücksichtigt die Nettoreproduktionsrate, dass ein Teil der Frauen bereits vor dem Ende ihres gebärfähigen Alters versterben. Bei einer Nettoreproduktionsrate von 1 spricht man vom Erreichen des Ersatzniveaus der Fertilität, d. h. eine Müttergeneration wird quantitativ vollständig durch eine Töchtergeneration ersetzt. Population – Als Population bezeichnet man in der Regel die Gesamtheit aller Personen innerhalb eines bestimmten Territoriums. Jedoch können auch durch andere gemeinsame Merkmale verbundene Personengruppen als Populationen aufgefasst werden. Rate, Ziffer, Quote – Raten, Ziffern und Quoten sind relative Struktur- oder Ereignismaße. Trotz unterschiedlicher, teilweise verwirrender Verwendung in der Literatur drücken alle drei Begriffe im Prinzip das Gleiche aus: Raten, Ziffern und Quoten sind das Ergebnis einer Division und beziehen Gruppen von Ereignissen oder Merkmalsträgern auf eine größere Bezugsgruppe. So ist etwa die (rohe) Geburtenrate eine Angabe über die Anzahl der Geburten innerhalb eines Jahres je 1000 Personen der Gesamtbevölkerung. Die Arbeitslosenquote ist dagegen eine Angabe über die Anzahl von Erwerbs-
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losen je 100 Erwerbsfähige zu einem Zeitpunkt. Die Berechnung erfolgt immer in der Form: Anzahl der Ereignisse oder Personen dividiert durch die Bezugspopulation (multipliziert mit einem Standardwert: meist 100 oder 1000). Rohe Raten beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung, spezifische Raten nur auf eine Teilgruppe (z. B. auf eine bestimmte Altersgruppe), auf die ein spezifisches Ereignis bezogen werden soll. Reproduktive Gesundheit – Als Maximaldefinition bedeutet reproduktive Gesundheit ein vollständiges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden (nicht bloß die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechlichkeit) im Hinblick auf die Fortpflanzung. Nach der Definition des Aktionsprogramms der UN-Weltbevölkerungskonferenz von Kairo (ICPD 1994) bedeutet reproduktive Gesundheit, dass Menschen ein befriedigendes und ungefährliches Sexualleben haben können und dass sie die Fähigkeit zur Fortpflanzung und die freie Entscheidung darüber haben, ob, wann und wie oft sie hiervon Gebrauch machen wollen. Säuglingssterblichkeit, Säuglingssterberate – Die jährliche Anzahl der vor Vollendung des 1. Lebensjahres gestorbenen Säuglinge bezogen auf 1000 Lebendgeborene im Kalenderjahr. Sexualproportion – Die Sexualproportion bezeichnet die Zahl der männlichen Personen je 100 weibliche Personen in einer Bevölkerung. Die Sexualproportion der Geborenen gibt das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Geborenen an. Die Proportion wird durch direkte Division ermittelt oder erfolgt als Angabe der männlichen je 100 weibliche Geborenen. Die Sexualproportion der Geborenen ist, biologisch bedingt, nicht ausgeglichen. Normalerweise werden mehr Jungen als Mädchen geboren, und zwar entfallen im langjährigen statistischen Durchschnitt 105 bis 106 Jungengeburten auf 100 Mädchengeburten. In Ländern, die traditionell eine starke Präferenz für Söhne aufweisen, kann es im Zusammenhang mit moderner Präna-
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taldiagnostik zu selektiven Abtreibungen und damit zu einem noch stärkeren Jungenüberschuss bei den Geborenen kommen. Sterberate, rohe – Die rohe Sterberate gibt die Zahl der Gestorbenen pro Jahr je 1000 Personen einer Population an. Sterbetafel – Sterbetafeln bringen zahlenmäßig zum Ausdruck, in welcher Weise eine Grundgesamtheit (im Allgemeinen 100 000 männliche und weibliche, zum gleichen Zeitpunkt geborene Personen) im Lauf ihres Lebens versterben würde. Dabei werden die Sterblichkeitsverhältnisse zum Zeitpunkt des Aufsteilens der Tafel in allen Altersjahren als konstant angenommen. Die durch eine Querschnittsbetrachtung gewonnenen Kennziffern werden also als Längsschnitt-Kennziffern aufgefasst. Aus Sterbetafeln kann die Lebenserwartung bei Geburt, die fernere Lebenserwartung in einem bestimmten Lebensalter, die Wahrscheinlichkeit einer x-jährigen Person, innerhalb des nächsten Altersjahres zu sterben wie auch die Wahrscheinlichkeit, ausgehend von irgendeinem Alter ein bestimmtes höheres Alter zu erreichen, geschätzt werden. TFR – Total Fertility Rate, Gesamtfruchtbarkeitsrate. Tragfähigkeit – Größte, unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit dauerhaft mögliche Bevölkerung mit festem Wohnsitz in einem gegebenen Ökosystem. Begrenzungen sind z. B. die Nahrungsmittelproduktion und die Entsorgungskapazität. Überlebenswahrscheinlichkeit, Überlebensziffer – Die Überlebensziffer benennt den Anteil derer an einer bestimmten Personengruppe (z. B. mit gleichem Alter, Geschlecht oder Gesundheitszustand), die sowohl zu Beginn eines Betrachtungszeitraums als auch an dessen Ende noch leben; vgl. Sterbetafel.
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Urbanisierung, Verstädterung – Unter Urbanisierung wird im demographischen Sinn die Zunahme des Anteils der städtischen (urbanen) Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Landes bzw. einer Region verstanden. Urbanisierung kann prinzipiell auf drei Weisen erfolgen: durch Bevölkerungszunahme in den Städten, durch Entstehen neuer Städte aus bisher nichtstädtischen Ansiedlungen sowie durch Eingemeindung von vorher nichtstädtischen Gebieten in bestehende Städte. Der Urbanisierungsgrad bezeichnet den Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Landes oder einer Region. Volkszählung – Eine Volkszählung (auch Zensus) ist die statistische Erfassung (Zählung, Befragung) der gesamten Bevölkerung eines Landes zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sie liefert, je nach Anlage der Befragung, umfassende Daten über die Zahl, die Alters-, Geschlechts- und Berufsstruktur, die Ausbildung und die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung sowie die Formen des Zusammenlebens der Personen in Haushalten. Wachstumsrate, allgemeine – Die Wachstumsrate ist ein Maß für die Bevölkerungsbewegung einer Population. Sie bezeichnet die Veränderung der Bevölkerungszahl zwischen zwei Zeitpunkten, gemessen als Prozentsatz der Bevölkerungsgröße zu Beginn des Beobachtungszeitraumes. Bei Bevölkerungsrückgang (durch Sterbefall- oder Abwanderungsüberschuss) kann die Wachstumsrate einen negativen Wert annehmen. Wachstumsrate, natürliche – Die natürliche Wachstumsrate ist ein Maß für die natürliche → Bevölkerungsbewegung. Sie bezeichnet die Veränderung der Bevölkerungszahl zwischen zwei Zeitpunkten, gemessen als Prozentsatz der Bevölkerungsgröße zu Beginn des Beobachtungszeitraumes, wobei nur Geburten- und Sterbefälle, nicht jedoch Zu- oder Abwanderung berücksichtigt werden.
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Wanderung, Migration, räumliche Bevölkerungsbewegung – Räumliche Mobilität bzw. geographische Ortsveränderung von Menschen über eine bestimmte Mindestdistanz und für einen bestimmten Mindestzeitraum hinweg zur Errichtung eines neuen dauerhaften oder vorübergehenden Wohnsitzes. In Abhängigkeit von der betrachteten räumlichen Einheit (Stadt, Region, Staat) unterscheidet man zwischen Binnen- und Außenwanderung. Während Binnenwanderung innerhalb der betrachteten Einheit stattfindet (z. B. Umzüge innerhalb einer Stadt, innerhalb eines Bundeslandes) erfolgt Außenwanderung über die Grenzen der betrachteten Einheit (Umzug in eine andere Stadt, in ein anderes Bundesland). Werden Staaten als räumliche Einheit zugrunde gelegt, wird die Außenwanderung auch als internationale Wanderung bezeichnet. Wanderungsbilanz, Wanderungssaldo, Nettowanderung – Die Wanderungsbilanz bzw. der Wanderungssaldo ist die Differenz aus der Zahl der Zuzüge und der Fortzüge in bzw. aus einer Raumeinheit innerhalb eines Zeitraumes (i. d. R. innerhalb eines Kalenderjahres). Wohnbevölkerung – Die Wohnbevölkerung eines Landes stellen alle Einwohner dar, die – ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit – in einer bestimmten territorialen Einheit (Gemeinde, Kreis, Land) ihren ständigen Wohnsitz haben. Als ständiger bzw. ordentlicher Wohnsitz gilt in Deutschland die im Personalausweis eingetragene bzw. dem Landeseinwohneramt gemeldete Hauptwohnung. Zuwanderung, auch Immigration – Als Zuwanderung betrachtet man den Zuzug aus einer anderen territorialen Einheit (Gemeinde, Kreis, Bundesland) oder aus dem Ausland, um am Zuzugsort einen festen oder vorübergehenden Wohnsitz zu nehmen.
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Die Langfassung dieses Glossars ist Teil des elektronischen Handbuchs zum Thema Bevölkerung des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung (http://www.berlin-institut.org). An der Erstellung jener Langfassung auf der Grundlage des Handbuchs Weltbevölkerung von Arthur Haupt und Thomas Kane haben auch RoseElisabeth Herden und Steffen Kröhnert mitgewirkt.
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Quelle: UN Population Division (2006); PRB (2006). Die Tabelle enthält keine Länder und Territorien mit weniger als 20000 Einwohnern.
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Wichtige Online-Ressourcen und Links Die Website der UN Population Division mit Einwohnerzahlen, Altersstruktur, Zahlen zu Urbanisierung, Verwendung von Verhütungsmitteln und internationaler Migration sowie der Prognose World Population Prospects von 2004: http://esa.un.org/unpp/ http://www.un.org/esa/population/unpop.htm (UN, New York) Internationale Daten sind auch zu finden auf: http://www.prb.org (Population Reference Bureau, Washington DC) http://www.census.gov/ (US Census Bureau, Washington DC)
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http://www.worldbank.org/ (Weltbank, Washington DC) http://www.oecd.org/ (OECD, Paris) http://www.unece.org/stats/ (UN Economic Commission für Europe, Genf) http://portal.unesco.org/ (UNESCO, Paris) http://www.ilo.org/ (Internationale Arbeitsorganisation, Genf) http://www.who.int/ (Weltgesundheitsorganisation, Genf) http://www.fao.org/ (Welternährungorganisation, Rom) Die Website von EUROSTAT mit Daten und Prognosen für alle 27 EU-Mitgliedsstaaten und einige andere Länder Europas: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/ (Statistikamt der EU, Luxemburg) Statistische Daten zu Deutschland, Österreich und der Schweiz http://www.destatis.de/ (Statistisches Bundesamt) http://www.berlin-institut.org (Berlin-Institut für Bevölkerung und Enwicklung) http://www.statistik.at/ (Statistik Austria) http://www.bfs.ch/ (Bundesamt für Statistik)