Nr. 156
Zonen des Schweigens Der Kristallprinz in der Zeitstation unter lebenden Toten von H. G. Ewers
Im Großen Im...
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Nr. 156
Zonen des Schweigens Der Kristallprinz in der Zeitstation unter lebenden Toten von H. G. Ewers
Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht. Arkon steht in voller Blüte. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III, ein brutaler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII töten ließ, um selbst die Herrschaft übernehmen zu können. Auch wenn Orbanaschol seine Herrschaft gefestigt hat – einen Gegner hat der Im perator von Arkon besonders zu fürchten: Atlan, den rechtmäßigen Thronerben und Kristallprinzen des Reiches, der nach der Aktivierung seines Extrahirns den Kampf gegen die Macht Orbanaschols aufgenommen hat und den Sturz des Usurpators an strebt. Im Zuge dieser gegen Orbanaschol gerichteten Unternehmungen gelang Atlan und seinen verschworenen Gefährten erst jüngst ein großer Coup. Sie kaperten die KAR RETON und befreiten Ra, den mysteriösen Barbaren vom grünen Planeten. Jetzt sind Atlan und seine Getreuen erneut im Weltraum unterwegs – auf der Jagd nach dem legendären Stein der Weisen, hinter dem auch Orbanaschols Leute her sind. Die Spur dieses Kleinods der Macht hat Atlan zum 30-Planeten-Wall geführt, zum »Ring des Schreckens«. Von Planet zu Planet und von Abenteuer zu Abenteuer het zend, gelangt der Kristallprinz schließlich in die Zeitstation – und in die ZONEN DES SCHWEIGENS …
Zonen des Schweigens
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Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Kristallprinz wagt sich in die Zonen des Schweigens.
Fartuloon und Ra - Atlans Begleiter.
Dovreen - Hüter des 30-Planeten-Walls.
Riik - Anführer der Arphas.
Torrelion - Beherrscher einer Zeitstation.
Vorry - Ein Eisenfresser.
1. Aus dem bleifarbenen Nebel hallten die Schreie Verzweifelter. Fartuloon, Ra und ich standen auf einem unsichtbaren Boden und verfolgten mit den Augen eine nur schemen haft erkennbare Gestalt, die durch die Ne belschwaden tappte. Die Gestalt hatte ungefähr das Aussehen eines Naats, aber der Schädel war, soweit wir das erkennen konnten, nicht der eines Zyklopen, sondern glich eher dem eines rie sigen Insektenabkömmlings. Außerdem be fanden sich nicht nur an der Stirnseite zwei Augen, sondern auch an der Rückseite des Kopfes. Bevor wir weitere Einzelheiten ausma chen konnten, war das seltsame Wesen wie der in den treibenden Nebelschwaden unter getaucht. Ich wandte mich an Fartuloon. Mein Pfle gevater war weit in der Galaxis herumge kommen, und hatte die Vertreter zahlloser intelligenter Völker kennengelernt. »Hast du erkannt, aus welchem Volk das Wesen stammt?« erkundigte ich mich. Fartuloon blickte mit gerunzelter Stirn in das bleigraue Wogen und Wallen, das das seltsame Wesen verschlungen hatte. Seine rechte Hand legte sich um den Griff des Skargs, während seine linke Hand ein mir unbekanntes Zeichen in die Luft schlug. »Nein, Atlan«, antwortete er zögernd. »Aber hast du bemerkt, daß seine Bewegun gen ungewöhnlich langsam waren und es of fenbar Schwierigkeiten hatte, sich zu orien tieren?« Das war mir ebenfalls aufgefallen, doch ich hatte es nur am Rande registriert, ohne
zu versuchen, daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen. »Hm!« machte ich deshalb nur. Mein Blick fiel auf Ra. Der Barbar von der dritten Welt einer gelbweißen Sonne stand leicht geduckt da und starrte mit verkniffe nem Gesicht in die Richtung, in der das selt same Wesen verschwunden war. Ich gewann den Eindruck, als hätte er so etwas nicht zum ersten Mal gesehen, doch als ich ihn danach fragte, schüttelte er nur stumm den Kopf. Das konnte bedeuten, daß mein Eindruck falsch gewesen war; es konn te aber auch bedeuten, daß Ra nicht über das Thema sprechen wollte. Er sprach überhaupt äußerst wenig, unser Steinzeitwilder. Da ich wußte, daß es keinen Sinn hatte, ihn zu einer Aussage zu drängen, ließ ich das Thema fallen. Wir hatten außerdem an dere Sorgen am Hals. Wieder einmal befan den wir uns im Innern jener geheimnisvollen Silberkugel, die sich im Besitz des Weisen Dovreen befand, und wie beim erstenmal, so wußten wir auch diesmal nicht, was diese Silberkugel eigentlich war, ein Raumschiff oder eine Energieblase, die außerhalb von Raum und Zeit existierte. Fartuloon seufzte, schlug Ra leicht auf den Rücken und öffnete den Mund, um et was zu sagen. Aber was immer er hatte sagen wollen, er sprach es nicht aus, denn in diesem Augen blick riß über uns der Nebel auf. Wieder ein mal bildete sich eine Art Fenster oder auch Bildschirm. Wir sahen Dunkelheit und darin eingebettet einige helle Lichtpunkte: Sterne. Aus dem Nebel ertönten Entsetzens schreie. Wir hatten das alles schon erlebt, deshalb wußten wir, daß das »Fenster« die baldige Ankunft auf einem weiteren Planeten des
4 Dreißig-Planeten-Walls ankündigte – auf ei ner weiteren Station der endlosen Reise durch den Ring der tausend Schrecken. Für kurze Zeit waren schemenhafte Ge stalten erkennbar, die durch den Nebel flüchteten. Fartuloon, Ra und ich wurden wieder von dem Hauch des Grauens angeweht, aber wir beherrschten uns und verzichteten auf eine kopflose Flucht. Sie wäre auch sinnlos ge wesen, da nach all unseren Erfahrungen nie mand, der sich in der Silberkugel befand, seinem Schicksal entgehen konnte, wenn es den unbekannten Mächten gefiel, ihn auf ei nem anderen Planeten auszusetzen. Wir beobachteten aufmerksam. Bald wanderte ein großer Sonnenball in das Fenster. Auch dieser Anblick war inzwi schen vertraut. Es handelte sich um das Zen tralgestirn des Dreißig-Planeten-Walls. Der Name »Muttergestirn« wäre nicht zutreffend gewesen, da dieses System zweifellos nach dem Plan intelligenter Lebewesen in seiner heutigen Art entstanden war. Wie erwartet, wanderte der Sonnenball schon nach wenigen Minuten wieder aus dem Fenster und wurde durch einen Plane ten ersetzt. Der Planet schwoll rasch an, was wiederum den Eindruck erweckte, als befän den wir uns an Bord eines schnellen Raum schiffs, das den Planeten anflog. Wir zogen unwillkürlich unsere Köpfe ein, als ein riesiges Flugtier mit heftig schla genden Hautflügeln dicht über uns hinweg flog und dabei schrille Schreie ausstieß. Ein starker Luftzug durchwühlte mein Haar. Der Planet im Fenster drehte sich wie in Zeitlupe, während er immer weiter an schwoll und bald das ganze Fenster ausfüll te. Plötzlich wanderte ein Streifen Dunkel heit von oben nach unten und verschlang die Seite des Planeten, die uns zugewandt war. Es wurde finster. Dort unten herrschte Nacht. Das bedeutete, daß wir diesmal auf einem Planeten landen würden, der sich zur Zeit auf der dem galaktischen Zentrumskern ab gewandten Seite seiner Sonne befand. An
H. G. Ewers dernfalls wäre die eine Hälfte von der Sonne und die andere vom Zentrumsleuchten er hellt worden. Die Nacht, auf die wir zurasten, verhin derte, daß wir die Entfernung abschätzten und damit die Zeit bis zur Landung, die er fahrungsgemäß mit einem heftigen Ruck er folgen würde. Als der Ruck kam, waren wir darauf vor bereitet. Keiner von uns fiel um. Sekunden später formte sich in dem blei grauen Nebel vor uns ein bläulich leuchten der Ring von etwa zehn Metern Durchmes ser. Der Nebel innerhalb des Ringes ver flüchtigte sich – dahinter loderten Feuer in einer nächtlichen Landschaft. Die Feuer waren stark genug, um uns er kennen zu lassen, daß wir abermals in einer Parklandschaft gelandet waren. Sogar der offenbar obligatorische Pavillon war zu se hen, und um die Feuer bewegten sich halb nackte, bronzehäutige Gestalten. Doch etwas war eigenartig daran. Die Flammen der Feuer bewegten sich nicht wie normale Flammen. Sie flackerten nicht, sondern stiegen unendlich langsam hoch – und auch die Lebewesen, die um die Feuer tanzten, bewegten sich so langsam, als wateten sie durch Sirup. »Eigenzeitverlangsamung!« entfuhr es mir. Fartuloon grunzte. »Ein Vorteil für uns«, kommentierte er. »Wesen mit verlangsamter Eigenzeit können uns nicht gefährlich werden. Gehen wir!«
* Niemand ist gegen einen Irrtum gefeit. Wir merkten es wenig später, nachdem wir das »Tor« durchschritten hatten und unsere Füße sich über das weiche Gras des Parks bewegten. Fartuloon stieß einen Fluch aus, der ge eignet gewesen wäre, unreife Paradiesfrüch te augenblicklich erröten zu lassen. Ich fluchte nicht, obwohl ich ebenfalls al les andere als erfreut war, als ich merkte,
Zonen des Schweigens daß die Flammen plötzlich ganz normal em porloderten und die Bewegungen der Einge borenen ebenfalls mit normaler Geschwin digkeit abliefen. Wie mein Pflegevater glaubte ich nämlich nicht daran, daß der Eigenzeitablauf vor uns sich plötzlich normalisiert hatte. Es war wahrscheinlicher, daß das, was bei den Ein geborenen eine Verlangsamung des Zeita blaufs bewirkte, auch unseren Zeitablauf verlangsamt hatte. Allerdings fehlte noch der Beweis dafür. Er ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Aus dem von den Flammen angestrahlten Pavillon eilten zwei Personen. Sie eilten, obwohl sie sich so bewegten, als gingen sie ganz normal. Aber ihre ganz normalen Schritte erfolgten mit mindestens doppelter Geschwindigkeit – relativ zu uns. Das war der Beweis dafür, daß wir drei dem langsamen Zeitablauf dieser Welt ange paßt worden waren, während die beiden Ge stalten aus dem Pavillon ihre normale Eigen zeit behalten hatten. Als die beiden Personen näher kamen, er kannte ich in einer von ihnen den Weisen Dovreen. Das Dunkeln in Fartuloons Augen verriet mir, daß der Bauchaufschneider ihn ebenfalls identifiziert hatte. Die zweite Person war eine Frau – eine sehr schöne Frau übrigens, die hochmütig über uns hinwegsah. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als Ra einen Schritt vortrat und schrie: »Ischtar!« Seine Augen hefteten sich auf die Frau neben Dovreen. Doch im nächsten Augen blick senkte er enttäuscht den Kopf. Es war wohl doch nicht Ischtar, die den Weisen begleitete. Aber Ras Aufschrei hatte auch auf Do vreen gewirkt. Der Weise stockte mitten in einem schnellen – für uns zu schnellen – Schritt, wandte den Kopf und blickte zu uns herüber. Ich sah, daß sich in dem Gesicht, das der Doppelgesichtige uns zuwandte, eine Verän derung vorging. Die überhebliche, ja ver
5 ächtliche Miene, mit der er uns bisher entge gengetreten war, bröckelte förmlich ab. Dar unter kam ein beinahe devoter Zug zum Vorschein. Als Dovreen sich uns näherte, bewegte er sich absichtlich langsam, so daß es den An schein erweckte, als hätte er sich unserem verlangsamten Zeitablauf angeglichen. Wenige Schritte vor dem Barbaren blieb Dovreen stehen und fragte: »Du kennst den Namen der letzten Köni gin der Varganen?« Ich musterte Ra eindringlich, hoffte, daß er antworten würde. Er kannte Ischtar ja tat sächlich, hatte sie geliebt, und sie hatte ihn zumindest sehr gern gehabt. Wenn er das aussagte, konnte das für uns nur zum Vorteil sein. Aber Ra hatte seinen Anflug von Bered samkeit schon wieder überwunden. Sein Ge sicht wirkte verschlossen, und er blickte stumm über den Weisen hinweg. »Er kannte Ischtar sehr gut«, sagte ich, bemüht, wenigstens etwas zu retten. Doch Dovreen beachtete mich überhaupt nicht. Lange blickte er den Wilden schwei gend an, als könnte er aus seinem verschlos senen Gesicht etwas herauslesen, dann wandte er sich wieder um, kehrte zu der Frau zurück, und beide verschwanden wie der im Pavillon. Fartuloon warf Ra einen finsteren Blick zu und sagte grillend: »Du hast wahrscheinlich eine gute Chan ce verspielt, Ra. Warum konntest du dem Doppelgesichtigen nicht antworten?« Ra erwiderte nichts darauf. Um seine Mundwinkel bildete sich ein versonnener Zug. Wahrscheinlich dachte er an seine schönen Stunden mit Ischtar zurück. Ich konnte es ihm in gewisser Weise nachfüh len, aber das hieß nicht, daß ich froh über seine Schweigsamkeit gewesen wäre. Erin nerungen mochten noch so schön sein, aber in erster Linie mußte man doch den Realitä ten gerecht werden. Ich musterte wieder die Gestalten, die um das nächste Feuer tanzten. Es handelte sich
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um Männer und Frauen, deren Körperbau absolut humanoid war, wenn auch gedrunge ner als der Körperbau von Arkoniden. Sie beachtete uns nicht, sondern schienen sich ganz ihrem Tanz hinzugeben. Mir war es nur recht. Ich war froh, wenn wir einmal nicht gegen andere intelligente Wesen kämpfen mußten. Meiner Meinung gab es nichts Sinnloseres als den Kampf intelligen ter Wesen gegen intelligente Wesen. Das Universum stellte eine so große und bedroh liche Herausforderung dar, daß sich eigent lich alle Intelligenzen verbrüdern sollten, um diese Herausforderung annehmen zu kön nen. Diese Einsicht mußte sich eines Tages durchsetzen, wenn der Sinn intelligenten Le bens nicht völlig verfehlt sein sollte. Meine Überlegungen wurden unterbro chen, als Dovreen abermals den Pavillon verließ. Wieder bewegte er sich normal – re lativ zu uns. Entweder war der Zeitablauf auf diesem Planeten allgemein wieder nor malisiert worden, oder der Weise hatte sich dem verlangsamten Ablauf vorübergehend angepaßt. Dovreen trug einen ovalen Behälter in den Händen, dessen Oberfläche aussah, als be stünde sie aus grauem Stahl. Doch das war nicht das Wesentliche daran. Wesentlich erschien mir die funkelnde Aura, die diesen Behälter umgab – und der feierliche Gang, mit dem Dovreen sich uns nahte. Ich ahnte, daß er uns etwas überrei chen wollte, das uns weiterhelfen konnte auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Und meine Ahnung betrog mich nicht. Drei Schritte vor mir blieb der Weise Do vreen stehen. Er blickte mich ernst an, dann klappte er den Deckel des Behälters zurück und hielt den Behälter schräg, so daß ich se hen konnte, was sich darin befand. Es war die Silberkugel, aus der Fartuloon, Ra und ich erst vor kurzem gekommen wa ren, jene nebelerfüllte Schreckenswelt, in der die verschiedenartigsten Lebewesen um herirrten.
*
Dovreen trat näher an mich heran. »Diese Kugel birgt Leben und Tod, Schrecken und Freude, Sieg und Niederla ge«, sagte er dumpf. »Dem Würdigen aber kann sie den Weg zum Stein der Weisen zei gen. Sie wird euch auf ihre besondere Art leiten, und der Stein der Weisen wird euch das ewige Leben schenken, wenn ihr alle eu re Handlungen von Weisheit lenken laßt. Aber der Weg zum Stein der Weisen ist noch lang und führt über einen schmalen Grat, neben dem die Abgründe der Finster nis lauern.« Er streckte mir den Behälter entgegen, und ich griff zu. Wie in Trance starrte ich auf die Silberkugel, die im Innern des Behäl ters frei schwebte. War was wirklich die Kugel, die uns mehr als einmal verschlungen hatte? Jenes rätsel hafte Transportmittel, das uns von Planet zu Planet getragen hatte? Ich wußte es nicht, und ich sah auch keine Möglichkeit, das herauszufinden. Aber ich erschauerte, wenn ich an die Möglichkeit dachte, daß in diesem Augenblick zahllose intelligente Wesen in dieser Kugel durch ei ne geheimnisvolle und bedrohliche Nebel welt irrten. Gleichzeitig aber durchströmte mich ein bisher nie gekanntes Gefühl von Stärke und Zuversicht. Es war eine Kraft, die von der Silberkugel ausging, und es war die Gewiß heit, daß ich auf der Suche nach dem Stein der Weisen einen unschätzbaren Vorteil ge genüber Orbanaschol III errungen hatte. Doch gleich darauf überfielen mich wie der bohrende Zweifel. Diese Silberkugel, konnte sie nicht in mehrfacher Ausfertigung existieren? Mußte es nicht sogar so sein, weil von zahllosen Suchern nur einer den Stein der Weisen finden und behalten konnte und weil demgemäß zu jeder Zeit mehrere Sucher unterwegs sein mußten? So betrachtet, erschien es mir nicht mehr unmöglich, daß auch Orbanaschol eine sol che Silberkugel in seinen Besitz gebracht hatte. Andererseits hatte bei uns Ra den Aus
Zonen des Schweigens schlag gegeben. Weil er Ischtar kannte, hatte sich Dovreens Einstellung zu uns grundle gend gewandelt. Orbanaschol aber verfügte nicht über diesen Trumpf, denn wir hatten ihm den Barbaren abgejagt. Ich reckte mich, schüttelte den quälenden Zweifel ab und besann mich auf meine Er ziehung. Ich mußte Dovreen danken. Aber der Doppelgesichtige war schon wieder gegangen. »Er ist wieder im Pavillon verschwun den«, erklärte Fartuloon, als hätte er meine Gedanken gelesen. Seine Augen funkelten unternehmungslustig. »Jetzt sind wir ein ganzes Stück weiter, Atlan«, sagte er frohlockend. Ich klappte den Deckel des Behälters zu. Erst jetzt merkte ich, daß der Kasten feder leicht war, obwohl das Material so aussah und sich auch so anfühlte, als wäre es bester Stahl. »Das denke ich auch«, erwiderte ich. »Unser Problem ist nur noch, wie wir auf die KARRETON zurückkehren können. Oder hast du etwas von unserem Beiboot ge sehen?« »Es kann nicht hier sein«, sagte der Bauchaufschneider. »Das ist nicht Frokan, auf dem wir landeten. Frokan steht zur Zeit auf der gegenüberliegenden Seite der gelben Sonne.« Wir blickten uns an. Beide dachten wir das gleiche. Was nützte uns die Silberkugel, wenn wir keine Möglichkeit besaßen, zu unserem Schiff zurückzukehren? Ra schien keine Gedanken daran zu ver schwenden. Er gab sich plötzlich einen Ruck und schritt auf eines der Feuer zu. Die Ein geborenen, die bisher um die Flammen ge tanzt hatten, hockten sich nieder und säbel ten mit blitzenden Messern große Stücke von einem Braten ab, der am Feuer geröstet worden war. Mein Pflegevater grinste. »Unser Wilder denkt praktisch, mein Jun ge. Folgen wir ihm. Vielleicht geben die Eingeborenen uns etwas von ihrem Braten
7 ab.« Ich dachte an den Planeten, auf dem wir von einem sturen Roboter und mordlüster nen Eingeborenen gejagt worden waren und hatte so meine Bedenken. Doch Ra scherte sich nicht darum. Er hockte sich einfach zwischen die Eingeborenen, nahm sein Mes ser und schnitt sich ein saftiges Bratenstück ab. Nun waren auch Fartuloon und ich nicht mehr zu halten. Wir hatten schon lange nichts Kräftiges mehr zwischen den Zähnen gehabt. Konzentrate enthalten zwar alle Nähr- und Vitalstoffe, die wir benötigten, aber auf die Dauer konnten sie das Verlan gen nach natürlicher Nahrung nicht befriedi gen. Wir folgten Ras Beispiel und ließen uns einfach zwischen den Eingeborenen nieder. Zwar wurden wir nicht gerade begeistert be grüßt, aber die Frauen und Männer legten auch keine ablehnende oder gar feindselige Haltung an den Tag. Sie akzeptierten uns stillschweigend. Fartuloon und ich warteten nicht erst eine Aufforderung ab, sondern wir zogen unsere Vibratormesser und säbelten uns große Stücke von dem Braten, der inzwischen schon viel Substanz verloren hatte. Das Fleisch schmeckte gut, war allerdings ungesalzen. Aber daran störten wir uns nicht. Wir aßen, bis wir satt waren. Als eini ge Mädchen später Kalebassen mit schweren Wein herumreichten, sprachen wir auch ihm herzhaft zu. Nach und nach zogen sich die Eingebore nen einzeln oder paarweise vom Feuer in die Schatten von Bäumen und Büschen zurück. Auch wir merkten bald, daß volle Bäuche müde machten. Fartuloon, Ra und ich erhoben uns, schlenderten zu einem riesigen Baum, bei dem wir ungestört waren, und streckten uns im kühlen Gras aus. Vielleicht hätten wir eine Wache aufstel len sollen, aber unsere Müdigkeit und das friedfertige Verhalten der Eingeborenen lie ßen den Gedanken daran gar nicht erst auf
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kommen. Ich umschlang den Behälter mit beiden Armen, preßte ihn gegen meine Brust – und folgte wenige Augenblicke später meinen beiden Gefährten ins Reich der Träume.
2. Im Traum erschien mir der blauhäutige Zwerg, der in der Nebelwelt aus einem win zigen Ei geschlüpft und später von der gi gantischen Hand seiner Mutter oder seines Vaters entführt worden war. Er stand auf einem Felsblock inmitten ei ner märchenhaften Landschaft, in der bunte Vögel durch die Luft flatterten oder auf Zweigen von bizarren Bäumen saßen. »Warum suchst du nach dem Stein der Weisen, Atlan?« fragte er mich mit dünner Stimme. »Er soll mir helfen, den Diktator und Mörder Orbanaschol zu stürzen und dem Volk von Arkon eine bessere Zukunft zu er möglichen«, antwortete ich. »Ich glaube nicht, daß das dein wahres Motiv ist«, erwiderte der Zwerg. »In Wirk lichkeit jagst du diesem Stein der Weisen nur so verbissen nach, damit Orbanaschol ihn nicht bekommt.« »Das ist einer meiner Gründe«, gab ich zu. »In der Hand eines Verbrechers würde dieses kosmische Kleinod zu verbrecheri schen Zwecken mißbraucht werden. Das darf ich nicht zulassen.« »Du jagst einem Phantom nach, Atlan«, erklärte der blauhäutige Zwerg. »Meinst du damit, es gäbe gar keinen Stein der Weisen?« erkundigte ich mich er schrocken. »Das habe ich nicht behauptet«, erwiderte der Zwerg. »Ich meine nur, daß es kein Wunderding gibt, das alle Probleme löst. Ich habe das Synthapar befragt, Atlan. Es konn te mir nicht sagen, ob du den Stein der Wei sen jemals finden und besitzen wirst, aber es verriet mir, daß dein Weg immer von Gefah ren umgeben sein wird und daß du mehr se hen wirst, als je das Auge eines Arkoniden
erblickte. Und deine Probleme werden sich nicht von selbst lösen.« »Wie meinst du das?« fragte ich. Aber der Zwerg kam nicht mehr dazu, mir zu antworten. Wie schon einmal, senkte sich eine riesige blaue Hand herab. Der Zwerg hüpfte darauf und wurde meinen Blicken entzogen. Ich wachte auf, blickte in helles Sonnen licht und erkannte erleichtert, daß ich den Behälter mit der Silberkugel noch immer fest an meine Brust preßte. Neben mir schliefen Fartuloon und Ra ziemlich geräuschvoll. Als ich meinen Blick schweifen ließ, erkannte ich, daß die Einge borenen verschwunden waren. An mehreren Stellen sah ich am niedergedrückten Gras, wo sie die Nacht verbracht hatten. Außer dem waren dort, wo die Feuer gebrannt hat ten, grauweiße Aschehaufen. Knochen lagen daneben. Ich setzte den Behälter neben mich und stieß Fartuloon an. »Aufwachen, alter Bauchaufschneider!« sagte ich. Mein Pflegevater brach mitten in einem Schnarchlaut ab, riß die Augen auf und starrte mich an. Ra hatte mich ebenfalls gehört, aber er reagierte anders als Fartuloon. Er sprang mit einem Satz auf die Füße, zückte sein Messer und blickte sich mit wild rollenden Augen um. Wahrscheinlich hatte er einen Überfall erwartet. Als er sah, daß wir allein waren, schob er sein Messer in den Gürtel zurück, lächelte flüchtig und marschierte hinter das nächste Gebüsch. »Alles klar, Atlan?« erkundigte sich Far tuloon. »Alles klar, Dicker«, gab ich zurück. »Bist du dir eigentlich klar darüber, daß wir durchaus als Leichen hätten erwachen kön nen?« Fartuloon verzog das Gesicht. »Leichen pflegen nur in den seltensten Fällen zu erwachen«, gab er zurück. Er rich tete sich auf. »Jetzt rede ich schon das glei
Zonen des Schweigens che unsinnige Zeug wie du. Deine makabren Scherze können einen alten Mann ganz schön durcheinanderbringen.« Ich sah, daß Ra zurückkehrte und im Ge hen seine Raumfahrerkombination wieder verschloß. Er war bester Laune. Ich übergab meinem Pflegevater den Behälter mit der Silberkugel zu treuen Händen und vertrat mir ein wenig die Füße, um es dezent auszu drücken. Später folgte Fartuloon unserem Beispiel, dann schlenderten wir zum nahen See, um uns zu waschen. Wir hatten das Ufer noch nicht erreicht, da sahen wir schon den raketenförmigen Flugkörper mit den Deltatragflächen, mit dem wir auf Frokan gelandet waren. Unser Beiboot …! Wir blieben stehen. »Aber das hier ist nicht Frokan I«, be merkte Fartuloon. »Vielleicht hat es jemand hierherge bracht«, meinte ich. »Es sei denn, auf den Planten des Dreißig-Planeten-Walls gibt es jetzt dreißig gleichartige Beiboote, wie es auch dreißig gleichartige Pavillons – und Dovreens – gibt.« Fartuloon machte eine Geste, die Ratlo sigkeit ausdrückte, dann hieb er mit der Faust durch die Luft. »Ganz egal«, erklärte er. »Wichtig ist nur, daß wir endlich wieder ein raumtüchtiges Fahrzeug haben.« Ra wandte sich uns zu und gab uns durch Zeichensprache zu verstehen, daß uns noch Schwierigkeiten erwarteten. Ich begriff, daß er mit den Schwierigkeiten die zirka fünfzig Eingeborenen meinte, die unser Beiboot um standen. »Sie waren gestern friedlich«, erwiderte ich. »Warum sollten sie heute plötzlich ag gressiv werden. Natürlich sind sie neugierig. Möglicherweise haben sie noch nie ein sol ches Fahrzeug gesehen.« Ich gab mir einen Ruck. Wir waren noch etwa hundert Meter von den Eingeborenen entfernt, als sie sich plötzlich zu einer geschlossenen Gruppe for mierten, die mit dem Rücken zum Beiboot
9 stand und mit den Gesichtern zu uns. Abermals blieb ich stehen. Mein Extrasinn sagte mir, daß die Hal tung der Eingeborenen sich geändert hatte. Sie war nicht ausgesprochen feindselig, aber doch irgendwie entschlossen. »Keine Unsicherheit zeigen«, sagte Fartu loon und ging an mir vorbei. Ich wollte ihm gerade folgen, da hob einer der Eingeborenen plötzlich etwas, das wie ein Handscheinwerfer aussah. Ein greller Lichtstrahl fuhr herüber und traf Fartuloons Oberarm. Mein Pflegevater taumelte, stieß eine Ver wünschung aus und warf sich zu Boden. Ich warf mich ebenfalls hin, zog im Fallen mei nen Handstrahler und richtete ihn auf die Eingeborenen. Sie standen jedoch wiederum nur passiv zwischen uns und dem Beiboot. »Bist du schwer verletzt?« fragte ich mei nen Pflegevater. »Nein«, antwortete Fartuloon zu meiner Erleichterung. Er hatte den Magnetverschluß des linken Ärmels geöffnet und betrachtete die Stelle seines Oberarms, die von dem Lichtstrahl getroffen worden war. »Die Haut wirkt wie ausgetrocknet«, er klärte er. »Eine Art kalter Verbrennung, würde ich sagen. Wahrscheinlich kann sie nicht mehr atmen. Wenn größere Teile der Haut von diesen Strahlen getroffen werden, dürfte es kritisch werden.« Ich spähte zu den Eingeborenen hinüber. Sie trugen alle diese scheinwerferähnli chen Waffen und schienen entschlossen, je de weitere Annäherung an das Beiboot zu verhindern. Warum sie das taten, war mir unerklärlich. Nachdenklich blickte ich meinen Hand strahler an. Ich hielt es für möglich, daß wir die Ein geborenen besiegen konnten, wenn wir sie aus größerer Distanz mit unseren Energie waffen beschossen. Aber dann würden wir mit stark gebündelten Strahlen und hoher Abgabeleistung schießen müssen, was be deutete, daß die Getroffenen ums Leben ka
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men. Es widerstrebte mir, intelligente Lebewe sen zu töten. Das wäre keine Notwehr gewe sen, denn die Eingeborenen wollten uns of fenbar nicht ans Leben, sondern nur verhin dern, daß wir unser Beiboot bestiegen. »Wir ziehen uns erst einmal zurück«, meinte ich. »Einverstanden«, erwiderte Fartuloon. Er stemmte sich hoch und ging langsam an mir vorbei. Ra blickte uns verwundert an. Er zog sich erst zurück, als ich mich eben falls erhob und meinem Pflegevater folgte.
* Wir zogen uns zirka fünfzig Meter zu rück, dann blieben wir stehen. Die Eingeborenen standen noch beisam men. Sie trafen keine Anstalten, uns zu ver folgen, aber sie schienen auch nicht gewillt zu sein, die Bewachung unseres Beiboots aufgeben zu wollen. Ich untersuchte Fartuloons Oberarm. Die getroffene Stelle wirkte wie abgestor ben. Die Haut war hart, spröde und leichen blaß. Allerdings betraf das nur die Haut. Ich sah, daß mein Pflegevater die Muskeln dar unter bewegen konnte, und bereitete ihm of fenbar keine Schmerzen. Energisch schloß Fartuloon seinen Ärmel und sagte: »Das kann mich nicht davon abhalten, un ser Boot zurückzuerobern, mein Junge.« »Wie willst du das anstellen, ohne einige Eingeborene zu töten?« fragte ich. Mein Pflegevater biß sich auf die Unter lippe. Er stand vor dem gleichen Dilemma wie ich. Mit unseren Strahlwaffen waren wir den Lichtwerfern der Eingeborenen überle gen, aber eben nur dann, wenn wir fest ent schlossen waren, so viele unserer Gegner zu töten, bis die anderen flohen. Eben dazu aber konnten wir uns nicht überwinden. Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Ich werde zu Dovreen gehen«, erklärte ich. »Er hat uns die Silberkugel gegeben, folglich sympathisiert er mit uns. Eigentlich
sollte es ihm möglich sein, zwischen uns und den Eingeborenen zu vermitteln. Er kennt sie, und sie kennen ihn.« Fartuloon wiegte nachdenklich den Kopf. »Meinetwegen«, sagte er dann. »Geh zu Dovreen, mein Junge. Ra und ich werden in zwischen die Eingeborenen im Auge behal ten. Falls sich eine Gelegenheit ergibt, unser Beiboot wieder in unseren Besitz zu brin gen, greifen wir natürlich zu.« Ich winkte ihm zu, dann ging ich zum Pa villon, der sich weiß und unschuldig von der Parklandschaft abhob. Unterwegs sah ich mich aufmerksam um, konnte jedoch keine Eingeborenen entdecken, die mich beobach teten. Vor dem Pavillon angekommen, rief ich nach Dovreen. Es dauerte eine Weile, bis der Weise sich zeigte. Fragend blickte er mir mit dem mir zugewandten Teil des Janus kopfes entgegen. »Was willst du?« fragte er. »Du hast uns die Silberkugel geschenkt«, erklärte ich. »Aber wir können nichts mit ihr anfangen, wenn wir diese Welt nicht verlas sen. Und gerade das ist uns unmöglich, denn die Eingeborenen lassen uns nicht an unser Beiboot heran. Wir könnten sie töten, doch das widerstrebt uns. Kannst du nicht zwi schen ihnen und uns vermitteln?« Dovreen hatte mir aufmerksam zugehört. Als ich geendet hatte, verzog sich das mit zugewandte Gesicht zu einem undurchsichti gen Lächeln. »Ich habe euch die Silberkugel gegeben, das stimmt«, sagte er bedächtig. »Was ihr damit anfangt, ist aber nicht mehr mein Pro blem, sondern ausschließlich eures. Ich kann dir nicht helfen, Atlan.« Er wandte sich um und verschwand wie der in seinem Pavillon. Am liebsten hätte ich ihn gewaltsam zurückgehalten, denn ich war davon überzeugt, daß er uns helfen konnte, wenn er nur wollte. Statt dessen überließ er uns einfach unserem Dilemma. Doch ich beherrschte mich. Es wäre sicher nicht nur zwecklos gewe sen, Gewalt gegen den Weisen Dovreen an
Zonen des Schweigens wenden zu wollen, sondern auch unklug. Ich nahm an, daß er über die Mittel verfügte, je den Feind zu verderben. Immerhin war er der Hüter des Dreißig-Planeten-Walls, und entsprechende Machtinstrumente mußten ihm einfach zur Verfügung stehen. Ich drehte mich um und kehrte zu meinen Gefährten zurück. Die Lage war unverän dert. Noch immer warteten die Eingebore nen mit schußbereiten Lichtwerfern darauf, daß wir uns unserm Beiboot zu nähern ver suchten. »Ich sehe deinem Gesicht an, daß du kei nen Erfolg bei Dovreen hattest«, sagte Far tuloon. »Ich hätte große Lust, seinen Pavil lon anzuzünden.« »Er besteht aus nicht entflammbarem Ma terial«, entgegnete ich. »Wir müssen eben versuchen, die Eingeborenen zu überlisten.« »Wie stellst du dir das vor, mein Junge?« erkundigte sich mein Pflegevater. »Wir könnten uns so weit zurückziehen, daß die Eingeborenen uns nicht mehr sehen können«, antwortete ich. »Danach trennen wir uns. Während du dich von rechts an das Beiboot anzuschleichen versuchst und dabei Lärm für drei machst, steigen Ra und ich links vom Ziel in den See und schwimmen zum Schiff.« Fartuloon schmunzelte. »Der Plan ist nicht schlecht, Atlan; er könnte direkt von mir stammen. Gut, einverstanden.« »Und du?« wandte ich mich an Ra. »Bist du ebenfalls einverstanden?« Der Barbar nickte eifrig. Einen Gegner zu überlisten, das schien nach seinem Ge schmack zu sein. Ich wünschte mir, das Volk kennenzulernen, das seinen Heimatpla neten bewohnte. Wir zogen uns so weit zurück, daß wir si cher sein durften, von den Eingeborenen am Seeufer nicht mehr gesehen zu werden. Wie es mit eventuellen verborgenen Spähern aus sah, das war allerdings eine andere Frage. Das Gelände war so unübersichtlich, daß sich im Umkreis von tausend Metern eine ganze Hundertschaft verbergen konnte. Da wir nicht das ganze Gelände durch
11 kämmen konnten, kletterten wir auf einen Baum mit weitausladenden Ästen und beob achteten von dort aus über eine Stunde lang unsere Umgebung. Wir hofften, daß eventu elle Späher ungeduldig werden würden und sich durch Bewegungen verrieten. Doch nichts dergleichen geschah. »Wahrscheinlich gibt es keine Beobach ter«, meinte Fartuloon. »Die Eingeborenen halten es offenbar für ausreichend, wenn sie beim Beiboot Wache halten.« Er blickte mich an. »Können wir?« »Wir können!« gab ich zurück. Ra und ich waren ungefähr siebenhundert Meter von unserem Beiboot entfernt, als wir das Ufer des Sees erreichten. Wir legten unsere Kleidung ab, da sie uns nur behindert hätte. Nur die Gürtel schnall ten wir wieder um. Ra, weil er sein Messer in die Gürtelscheide stecken wollte, und ich, weil der beste Platz für einen Handstrahler eben ein Gürtelhalter war. Den Behälter mit der Silberkugel hatte ich in Fartuloons Obhut zurückgelassen. Dort war er besser aufgehoben als irgendwo im Ufergebüsch. Unsere Kombinationen konn ten wir uns holen, sobald wir uns wieder im Besitz des Beiboots befanden. Notfalls konnten wir aber auch darauf verzichten. Als wir fertig waren, nickte ich dem Bar baren zu, dann stiegen wir durch die Schilf zone, erreichten das freie Wasser und schwammen mit kraftvollen Stößen voran. Wir hielten uns dicht am Schilfgürtel, da wir weiter draußen keine Sichtdeckung ge habt hätten und außerdem in die Strömung geraten wären, die uns abgetrieben hätte. Als wir nur noch ungefähr hundert Meter vom Beiboot entfernt waren, schwammen wir langsamer. Wir wollten uns nicht durch Geräusche verraten. Wieder verständigten wir uns durch Blicke. Sobald wir das Beiboot erreichten, mußte alles sehr schnell gehen. Ich mußte den klei nen Kodeimpulsgeber betätigen, den ich in einer Gürteltasche bei mir trug, und wenn
12 das Einstiegluk aufglitt, mußten wir inner halb weniger Sekunden eingestiegen sein. Danach konnten wir starten und Fartuloon und unsere Kleidung unterwegs mit einem Traktorstrahl aufnehmen. Noch zwanzig Meter …! Ich hob ganz kurz den Kopf aus dem Wasser, konnte aber die Eingeborenen nicht sehen, weil der Schilfgürtel zwischen ihnen und uns lag. Dafür entdeckte ich das Beiboot. Etwa ein Drittel mit dem Bug lag auf ei nem flachen Sandstrand; die restlichen bei den Drittel schwammen im Wasser. Es war genauso, wie wir es auf Frokan I zurückge lassen hatten, obwohl wir uns nicht mehr auf dem Planeten befanden. In dieser Beziehung funktionierten dem nach die robotischen Anlagen des Dreißig Planeten-Walls noch einwandfrei, während sie in anderer Hinsicht fehlerhaft arbeiteten. Einige Anzeichen deuteten sogar darauf hin, daß das gesamte phantastische System be reits dem Untergang geweiht war. Noch zehn Meter …! Ich nickte Ra zu, dann tauchten wir. Den Rest der Strecke wollten wir unter Wasser zurücklegen, um dann überraschend aufzut auchen. Leider waren es nicht die Eingeborenen, die eine Überraschung erlebten, sondern wir. Ich hatte etwa fünf Meter unter Wasser zurückgelegt, als sich meine Füße in etwas verfingen. Im ersten Moment dachte ich an Schling pflanzen, aber als sich dann auch mein rech ter Arm in etwas verfing, ahnte ich, daß wir in eine Falle geschwommen waren. Heftige Bewegungen links von mir bewiesen, daß auch Ra festsaß. Ich hütete mich vor heftigen Bewegun gen. Im Gegenteil, ich machte mich so schlaff wie möglich, während ich mit der freien linken Hand mein Vibratormesser zog und mit aktivierter Klinge einen Halbkreis um mich beschrieb. Plötzlich war mein linker Fuß frei. Dafür verfing sich die linke Hand in einer
H. G. Ewers Schlinge. Beinahe wäre mir das Vibrator messer entglitten. Ich krümmte mich zusammen, um das Messer mit dem Mund zu erreichen. Einmal surrte die Klinge so dicht an meinem Ge sicht vorbei, daß ich schon fürchtete, sie würde mir tief ins Fleisch fahren, doch dann bekam ich doch noch den Griff mit den Zäh nen zu fassen. Mit einer verzweifelten An strengung versuchte ich, die Schlingen zu durchtrennen, die meine Hände nahezu un beweglich machten. Aber ich schaffte es nicht mehr. Der Sauerstoffmangel ließ rote Kreise vor meinen Augen wirbeln und verwandelte das Schlagen meines Herzens in ein schmerzhaf tes Hämmern. Gib auf! raunte mir der Logiksektor mei nes Extrahirns zu. Du kannst bestenfalls eine Schlinge durchtrennen, dann wirst du nach Luft schnappen und Wasser schlucken. Die Folge wäre ein Stimmritzenkrampf und die Blockierung der Atemwege – und der Er stickungstod. Versuche, aufzutauchen! Wenn es geht! dachte ich zurück. Ich ruderte vorsichtig mit Händen und Fü ßen – und tatsächlich stieg ich höher. Die Wasseroberfläche über mir glich einem zit ternden Spiegel. Plötzlich wurde der Spiegel zerstört. Vier Arme erschienen, langten nach unten. Vier Hände packten mich und rissen mich aus dem nassen Element. Eine andere Hand zog mir das Vibratormesser aus dem Mund. Ich schnappte verzweifelt nach Luft und war dankbar, als ich kein Wasser einatmete. Als ich die Augen aufschlug, sah ich, daß ich von zwei Eingeborenen festgehalten wurde. Ihre Hände drückten mich auf den Boden eines Bootes. Plötzlich tauchte ein dritter Eingeborener auf. Er flog mit ausgestreckten Armen und Beinen über unser Boot hinweg und fiel klatschend ins Wasser. Das war offenbar die Arbeit von Ra, der sich mit Händen und Fü ßen gegen die Gefangennahme wehrte. Doch er hatte ebensowenig Chancen wie ich angesichts der großen Übermacht. Wir
Zonen des Schweigens waren den Eingeborenen in die Falle ge schwommen, die sie für uns aufgebaut hat ten. Das ärgerte mich am meisten, denn es bewies, daß sowohl Fartuloon als auch ich die Nachkommen der alten Varganen unter schätzt hatten. Aber noch war nichts verloren, denn Far tuloon befand sich in Freiheit. Er würde einen Weg finden, uns zu befreien. Jedenfalls dachte ich das, bis man uns an Land brachte und ich meinen Pflegevater sah, der gefesselt an einem Baum stand. Sein beinahe ganz zugeschwollenes Auge verriet mir, daß die Eingeborenen nicht ge rade sanft mir ihm umgegangen waren. Den noch verzog er das Gesicht zu einem Grin sen, als er mich sah und rief: »Bin ich froh, daß ich mich nicht allein so dumm angestellt habe, mein Junge!« »Schweigen Sie!« herrschte ihn einer der Eingeborenen in gebrochenem Arkonidisch an. Wahrscheinlich der Anführer. Vier Mann hoben Ra aus einem Boot und zogen und stießen ihn unsanft an Land. Die Gesichter der Eingeborenen sahen ziemlich zerschlagen aus, aber auch Ras Gesicht wies unverkennbare Spuren des Kampfes auf. Seine Augen funkelten zornig. Als Ra sich erneut gegen die Griffe seiner Bewacher aufbäumte, sagte ich: »Widerstand ist sinnlos, Ra – jedenfalls vorläufig.« Der Anführer der Eingeborenen wandte sich mir zu, musterte mich prüfend und sag te dann: »Ich bin froh, daß Sie das einsehen, Frem der.« »Ich heiße Atlan«, erklärte ich. »Und ich heiße Riik«, sagte der Eingebo rene. Ich lächelte ihn offen an. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Riik«, sagte ich. »Nur schade, daß wir uns nicht unter besseren Umständen kennenlernten. Was haben Sie eigentlich gegen uns?« Riik erwiderte das Lächeln. Doch das war wohl nur eine unbewußte Reaktion. Als er sich dessen bewußt wurde, verfinsterte sich sein
13 Gesicht. »Wir haben nichts gegen Sie«, erklärte er. »Aber wir brauchen Gefangene, wenn Tor relion nicht unsere eigenen Leute nehmen soll.« Er wandte sich ab und winkte seinen Männern. »Bringt sie in die Stadt!« befahl er.
3. Als die Eingeborenen uns forttrieben, warf ich noch einen Blick auf unser Beiboot, das für uns weiter denn je entfernt war, ob wohl es räumlich so nahe stand. Dennoch war mein Mut nicht gesunken. Die Antwort Riiks ließ mich hoffen, daß wir doch noch zu einer Verständigung mit den Eingeborenen kommen könnten. Sie hatten nichts gegen uns, das war schon viel wert. Ich mußte aber herausfinden, wer Torrelion war. Wahrscheinlich ein Sklavenhalter, der in regelmäßigen Abständen neue Sklaven von den Eingeborenen fordert! meldete sich mein Extrahirn. Das leuchtete mir ein, obwohl es nicht un bedingt stimmen mußte. Wenn die Eingebo renen einem Mächtigen Tribut in Form von Sklaven zahlen mußten, erschien es nur na türlich, daß sie versuchten, diesen Tribut nicht aus den eigenen Reihen zu entrichten, sondern statt dessen Fremde einzufangen und abzuliefern. Doch so verständlich mir dieses Verhalten auch war, so wenig war ich willens, in die Sklaverei zu gehen. Vorläufig konnten wir aber nichts dage gen unternehmen. Wir waren gefesselt, und die Eingeborenen besaßen unsere Waffen und den Behälter mit der Silberkugel. Wir mußten uns nicht nur befreien, sondern auch die Silberkugel mitnehmen. Ich war festent schlossen, diesen Planeten nicht ohne den Schlüssel zum Stein der Weisen zu verlas sen. Mehrmals versuchte ich, mit Riik wieder ins Gespräch zu kommen. Aber der Anfüh
14 rer der Eingeborenen hielt sich offensicht lich fern von mir, um nicht in ein neues Ge spräch verwickelt zu werden. Das sprach für ihn, denn es bedeutete, daß er einsah, welches Unrecht er uns zufügte, aber wegen der Zwangslage, in der er sich befand, nicht weich werden wollte. Wir mußten fast drei Stunden marschie ren, bevor wir in ein fruchtbares grünes Tal kamen, durch das ein glasklarer Bach floß. Zu beiden Seiten des Baches standen seltsa me Bauwerke, kleine Häuser, die gleich Edelsteinen funkelten und glitzerten. Beim Anblick der Häuser stieß Ra einen Ruf der Überraschung aus. Ich warf einen Blick auf Riiks Gesicht und bemerkte, daß es Zufriedenheit aus drückte. Wer empfände schon nicht Befrie digung darüber, daß Fremde seine Heimat stadt bewunderten! Ich musterte die Häuser genauer. Sie waren, wie schon gesagt, nicht sehr groß. Die durchschnittliche Grundfläche mochte neunzig Quadratmeter betragen, die durchschnittliche Höhe vier Meter. Am meisten aber faszinierte mich das Ma terial, aus dem die Häuser gebaut waren. Es schien sich um jeweils Tausende von unter schiedlich großen Glasbrocken zu handeln, aus denen sie zusammengefügt waren, und jeder Glasbrocken warf das Sonnenlicht vielfältig zurück, so daß der Eindruck ent stand, als hätte ein Riese einen Beutel voller Juwelen in diesem Tal verstreut. Als wir näher gekommen waren, entdeck te ich, daß die Oberfläche der Glasbrocken die Umgebung vielfältig widerspiegelten. Riik stieß einen Pfiff aus. Sekunden später füllten sich die Räume zwischen den Häusern mit Eingeborenen. Männern, Frauen und Kindern. Sie stießen Jubelrufe aus, als sie uns erblickten. Doch nicht alle jubelten. Manche erschienen ge drückter Stimmung zu sein, und in den Au gen mehrerer junger Frauen entdeckte ich sogar Bedauern und Mitgefühl. Riik bemerkte es wohl auch, denn plötz lich trieb er seine Männer zu größerer Eile
H. G. Ewers an. Wir wurden zum größten Haus der Stadt geführt und durch den Eingang geschoben, nachdem man uns die Fesseln abgenommen hatte. Wir mußten in eine weiträumige Halle ge kommen sein, obwohl ich davon nichts sah. Alles, was ich sah, waren Tausende von verkleinerten Abbildungen von mir, meinen Gefährten und den drei Eingeborenen, die uns ins Haus begleitet hatten. Diese nicht ständig bewegenden Abbil dungen versetzten mir einen regelrechten Schreck. Ich mußte mich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien. Von der Stelle, wo Fartuloon stand, kam eine Verwünschung. Ra! teilte mir mein Extrasinn mit. Er wird das nicht so schnell verkraften, denn er ist ein Wilder. Ich bemühte mich, den Schock zu über winden, um Ra beistehen zu können. Aber ich schaffte es nicht schnell genug. Plötzlich brüllte der Barbar gleich einem verwundeten Tier auf und stürzte sich auf die Eingeborenen. Im Handumdrehen hatte er sie niedergeschlagen. Doch dann stürzte er sich auf die Wände und schlug mit den Fäusten auf die Glasbrocken ein. Fartuloon und ich verständigten uns mit einem kurzen Blick, dann packten wir Ras Arme und versuchten, den Tobenden festzu halten. Ra gab jedoch erst Ruhe, nachdem mein Pflegevater ihm die Augen mit einem schwarzen Schal verbunden hatte, den er aus seiner Kombination holte. »Es ist alles in Ordnung, Ra«, redete ich dem Barbaren zu. »Du hast einen Spiegelschock erlitten. Fartuloon und ich übrigens auch, aber bei uns wirkte er nicht so stark wie bei dir. Behalt die Augenbinde auf, so lange du nicht sicher bist, den Anblick der Spiegelbilder zu ertragen.« Ra atmete schwer, dann sagte er rauh: »Es tut mir leid, Atlan.« »Es braucht dir nicht leid zu tun«, erwi derte ich. »Bei dieser Gelegenheit hast du unsere Bewacher überwältigt. Wir werden zusehen, daß wir diesen Vorteil nicht wieder
Zonen des Schweigens verlieren.« »Was wollen Sie schon unternehmen?« ertönte eine Stimme aus der Wand. »Sie sind unbewaffnet und können das Haus nicht ver lassen.« »Riik?« fragte ich. »Ich bin es, Atlan«, tönte es aus der Wand. »Warum verhandeln wir nicht, Riik?« fragte ich den Anführer der Eingeborenen. »Wir sind nicht verfeindet.« »Aber Sie sind auch nicht unsere Brüder«, erklärte Riik. »Wenn wir nicht Sie in eine der Schweigenden Zonen bringen, müssen wir drei unserer Brüder und Schwestern op fern.« »Wer ist Torrelion?« fragte ich. »Er wohnt in den Bergen«, antwortete Ri ik. »Wenn wir ihm nicht regelmäßig Opfer bringen, kann er uns schweren Schaden zu fügen. Er kann sich auch so viele Opfer ho len, wie er will, ohne daß wir etwas dagegen unternehmen können.« »Hat denn jemand von Ihnen Torrelion schon einmal gesehen?« forschte ich weiter. »Niemand, der ihn sieht, kann darüber be richten«, erklärte Riik. »Er muß für immer in einer der Schweigenden Zonen bleiben.« »Was ist das, eine Schweigende Zone?« erkundigte ich mich. »In ihr herrscht ewiges Schweigen«, ant wortete Riik. »Dort singt kein Vogel, nichts bewegt sich, nicht einmal der Wind weht dort.« Ein Stasisfeld! raunte mein Logiksektor mir zu. In den Schweigenden Zonen scheint der Zeitablauf zu stocken. Torrelion muß je mand sein, der über immense technische Mittel verfügt. »Ich verstehe«, sagte ich. »Riik, es wird Ihnen nicht viel helfen, wenn Sie uns Torre lion ausliefern. Er wird immer wieder Opfer verlangen, und nicht immer werden zufällig Fremde da sein, die Sie ihm ausliefern kön nen. Es wäre besser, seine Macht zu bre chen.« »Einige mutige Männer haben es vor lan ger Zeit versucht«, erwiderte Riik. »Sie
15 kehrten nicht zurück. Gegen Torrelion gibt es keine Gegenwehr.« »Meine Gefährten und ich haben schon schlimmere Gefahren überstanden«, gab ich zurück. »Ich bin sicher, daß wir auch Torre lion besiegen können, wenn Sie uns unsere Ausrüstung zurückgeben.« Eine ganze Weile blieb es still, dann sagte Riik leise: »Wenn Sie Torrelion besiegen, können Sie von uns alles fordern, was Sie nur wol len, Atlan. Aber darüber kann ich nicht al lein entscheiden. Ich muß eine Versamm lung einberufen.« »Wir werden warten«, erklärte ich.
* Während der Wartezeit unterhielten wir uns mit den drei Eingeborenen, die Ra nie dergeschlagen hatte. Sie waren nach zirka zehn Minuten wieder zu sich gekommen. Wir erfuhren bei dieser Gelegenheit, daß die Eingeborenen sich Arphas nannten, und daß sie Torrelion mehr als alles andere fürchteten. »Torrelion scheint jemand zu sein, der einen Teil des technischen Erbes der Varga nen entdeckte und für seine verbrecheri schen Zwecke mißbraucht«, erklärte Fartu loon grimmig. »Ich habe große Lust, ihn mein Schwert kosten zu lassen, Atlan.« »Es wird nicht leicht sein, an ihn heranzu kommen«, erwiderte ich. »Dennoch bleibt uns gar nichts anderes übrig, als ihn zu be siegen. Ich verspüre wenig Lust, für immer in einem Stasisfeld eingesperrt zu bleiben.« »Für immer wohl kaum«, meinte mein Pflegevater. »Auch Torrelion kann nicht ewig leben, und in einem Stasisfeld altert man nicht. Wir würden, wenn wir in tausend Jahren daraus befreit würden, biologisch nicht eine Sekunde gealtert sein.« Ich lachte grimmig. »In tausend Jahren …! Wir dürfen nicht ein einziges Jahr in einem Stasisfeld verbrin gen. Wenn ich mir vorzustellen versuche, was Orbanaschol in dieser Zeit aus dem
16 Großen Imperium machen würde …!« »Du hast recht, mein Junge«, sagte Fartu loon. »Wir müssen diesen Torrelion besie gen, und zwar um jeden Preis. Wie denkst du darüber, Ra?« Ra machte eine zustimmende Geste, dann nahm er vorsichtig die Augenbinde ab. Un ter gesenkten Lidern hervor blickte er auf die spiegelnden Glasbrocken, danach atmete er einmal tief durch und lächelte erleichtert. »Na also!« sagte ich. »Nur, wer nicht auf den Anblick gefaßt ist, erleidet einen Spie gelschock.« »Atlan?« meldete sich Riiks Stimme wie der aus der Wand. »Ja, Riik!« rief ich. »Wie haben Sie sich entschieden, Riik?« »Wir nehmen Ihr Angebot an, Atlan«, antwortete der Eingeborene. »Sie erhalten gleich Ihre Kleidung zurück, die von einigen unserer Leute am Ufer des Sees gefunden wurde. Die Waffen bekom men Sie allerdings erst morgen, wenn Sie aufbrechen. Bis dahin dürfen Sie unsere Stadt nicht verlassen.« »Einverstanden«, erwiderte ich. Ich sah ein, daß Riik nichts riskieren woll te. Schließlich hatte er keine Garantie dafür, daß wir tatsächlich gegen Torrelion kämpfen würden, wenn man uns schon jetzt unsere Waffen zurückgab. Etwas später öffnete sich die Tür. Zwei Arphas brachten Ras und meine Kleidung. Wir zogen sie an und durften danach das Haus verlassen. Unterdessen war es Nachmittag gewor den. Die westliche Hälfte des Tales lag im Schatten der hohen Felswände, die das ge samte Tal umgaben. Es gab nur den Zugang, durch den wir gekommen waren. Ich sah, daß dort dreißig Arphas standen. Sie trugen Lichtwerfer und sollten offenbar verhindern, daß wir das Tal verließen. Riik empfing uns freundlich, und auch die anderen Arphas sahen uns freundlicher an. Mancher hoffnungsvolle Blick wurde uns zugeworfen. Der Anführer brachte uns zu einem aus
H. G. Ewers Stein gehauenen Tisch, um den sich sechs Arphas versammelt hatten. Mein Herz schlug höher, als ich auf dem Tisch den stahlgrauen Behälter sah, den mir Dovreen überreicht hatte. Riik deutete auf den Behälter und sagte: »Wir haben versucht, ihn zu öffnen, aber es gelang uns nicht. Was birgt dieser Behäl ter, Atlan?« Ich sah keinen Grund, ihm die Wahrheit zu verschweigen. Die Arphas erweckten nicht den Eindruck, als würden sie ihren Pla neten verlassen und zahllose unbekannte Gefahren auf sich nehmen, um nach dem Stein der Weisen zu suchen. Folglich konn ten sie auch nicht an der Silberkugel interes siert sein. »Er enthält eine silberne Kugel«, antwor tete ich. »Dovreen schenkte sie mir. Sie soll mir helfen, den Stein der Weisen zu finden.« »Den Stein der Weisen«, wiederholte Ri ik. »Wir hörten schon davon. Viele Fremde, die nach dem Stein der Weisen suchten, wurden vom Ring des Wahnsinns ausge spien und gerieten in Schweigende Zonen. Was versprechen Sie sich vom Stein der Weisen, Atlan?« »In erster Linie die Kraft und die Macht, mein Volk von einem Mörder und Unter drücker zu befreien«, erwiderte ich wahr heitsgemäß. »Wenn ich durch ihn außerdem noch das ewige Leben erhalte, solle es mir nur recht sein.« Riik sah mich lange nachdenklich an, dann sagte er: »Das ewige Leben! Ich weiß nicht, ob das erstrebenswert ist. Sie sind Arkonide, At lan?« »Ja, und außerdem der Kristallprinz des Großen Imperiums«, antwortete ich nicht ohne Stolz. »Sobald ich den Mörder meines Vaters vom Thron gefegt habe, werde ich als Imperator das Große Imperium verwalten und dafür sorgen, daß der Methankrieg ein Ende findet.« »Ein rühmlicher Vorsatz«, meinte Riik. »Ich hoffe sehr, es gelingt Ihnen und Ihren Freunden, Torrelion zu besiegen und die Su
Zonen des Schweigens che nach dem Stein der Weisen fortzusetzen. Bitte, verstehen Sie, daß wir Sie nur dann gehen lassen, wenn Sie uns von Torrelion befreit haben. Es ist kein böser Wille von uns, daß wir Sie nur unter dieser Bedingung freilassen.« »Ich verstehe Sie vollkommen, Riik«, er widerte ich. »Und ich verrate Ihnen, daß ich auch dann Torrelion bekämpfen würde, wenn ich völlig frei wäre. Meine Freunde und ich haben uns dem Kampf gegen alles Böse verschrieben. Wir werden Ihnen hel fen.« Riik schien gerührt. »Danke, Atlan«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen Erfolg.« Er winkte einigen Mädchen, die in etwa fünfzig Metern Entfernung in respektvoller Haltung gewartet hatten. Die Mädchen trugen Speisen und Geträn ke auf. Die sechs Arphas, Riik, meine Ge fährten und ich setzten uns an den Steintisch und ließen es uns schmecken, so gut das beim Gedanken an die bevorstehende Aus einandersetzung ging. Anschließend bekamen wir ein Haus als Nachtquartier zugewiesen. Am nächsten Morgen sollten wir aufbrechen.
* Mitten in der Nacht weckten uns gellende Schreie. Ich fuhr hoch und tastete unwillkürlich nach meinen Waffen, bis ich mich daran er innerte, daß wir unsere Waffen noch nicht zurückerhalten hatten. »Was ist los?« fragte Fartuloon verschla fen. »Keine Ahnung!« sagte ich und schwang mich von der niedrigen Lagerstatt, die mir als Bett diente. Fartuloon und Ra standen ebenfalls auf. Wir liefen zur Tür, öffneten sie und späh ten hinaus, konnten aber nichts Auffälliges entdecken. Nur die Schreie waren noch zahl reicher geworden. Als ein Arpha dicht an uns vorbeilief, er
17 griff ich ihn am Arm, hielt ihn fest und frag te, was vorgefallen war. »Eine Zauberwolke!« flüsterte er, am gan zen Körper zitternd. Da aus ihm nicht mehr herauszubringen war, ließ ich ihn wieder laufen. Fartuloon, Ra und ich verließen unser Haus und sahen Arphas, die erregt und an scheinend ziellos umherliefen. Dann entdeckten wir die Wolke! Es war ein schwach gelblich leuchtendes Gebilde, das sich langsam über die Nordflanke des Talkessels herabsenkte. Die Rän der der Wolke befanden sich in ständiger Bewegung. Ra sank plötzlich in die Knie, berührte mit der Stirn den Boden und murmelte un verständliche Worte, wahrscheinlich eine Geisterbeschwörung. Als die Wolke sich über die ersten Häuser senkte und sie einhüllte, verstummte das Ge schrei der Eingeborenen. Sie standen wie er starrt. Ich erstarrte ebenfalls, als ich sah, wie das Glitzern der Glasbrocken, die bisher das Sternenlicht widergespielt hatten, dort er losch, wo die gelblich leuchtende Wolke ein Haus berührte. Es kehrte auch nicht zurück, als die Wolke die betreffenden Häuser wie der freigab. »Jetzt müßte ich mein Skarg haben!« preßte Fartuloon zwischen zusammengebis senen Zähnen hervor. »Ein Zauberschwert nützt nur etwas ge gen Zauberei«, entgegnete ich. »Diese Wol ke aber ist bestimmt nicht das Werk eines Zauberers. Wahrscheinlich enthält sie che mische Verbindungen, die das spiegelnde Glas beschlagen lassen.« Deine Argumentation ist unlogisch! raun te mein Extrahirn. Es gibt keine Zauberei. Als Zauberei werden lediglich von Primiti ven Phänomene bezeichnet, die sich rational noch nicht erklären lassen. Ich lächelte, denn ich war mir völlig klar darüber, daß mein Sprachschatz durch die Ausdrücke Primitiver infiltriert war. Aller dings glaubte ich nicht an Zauberei; wenn
18 ich diesen Begriff verwandte, dann wußte ich, daß ich damit lediglich Phänomene meinte, die sich vorerst noch wissenschaftli chen Deutungen entzogen. Mein Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Die Eingeborenen stießen einen gemein samen schrillen Schrei aus und hasteten auf den Talausgang zu, als die gelbe Wolke sich wabbernd ausbreitete und immer mehr Häu ser verschlang. Ra blickte mich fragend an. Er hatte auf gehört, Beschwörungen zu murmeln. »Wir gehen der Wolke ebenfalls besser aus dem Weg«, entschied ich. »Es könnte sein, daß sie nicht nur Glas angreift, sondern auch die Haut.« Wir wandten uns um und schritten dem Talausgang zu. Dabei achteten wir zwar dar auf, daß die Wolke uns nicht einholte, aber wir ließen uns nicht von der Panik an stecken, die die Eingeborenen ergriffen hat te. Als wir den Talausgang erreichten, waren die meisten Eingeborenen bereits auf der an deren Seite. Dicht zusammengedrängt blick ten sie zurück zu der Wolke. Riik trat auf mich zu. Er schien sich zwar zu fürchten, konnte aber offensichtlich noch klar denken. »Das ist das Werk Torrelions«, flüsterte er, als fürchtete er, die Wolke könnte ihn hö ren. »Er verfügt über einen starken Zauber, Atlan. Wollen Sie immer noch gegen ihn kämpfen?« Ich zwang mich zu einem zuversichtli chen Lächeln, obwohl das Erscheinen der Wolke mir bewiesen hatte, daß es nicht leicht sein würde, ein Wesen zu besiegen, das über ein vielfältiges technisches Reper toire verfügte. »Wir werden gegen ihm kämpfen und wir werden ihn besiegen!« erklärte ich mit fester Stimme. »Jemand, der Zauberei gegen ande re kämpfen läßt, ist im Grunde genommen schwach und furchtsam. Es kommt nur dar auf an, ihn daran zu hindern, sich seines Zaubers zu bedienen.«
H. G. Ewers »Sie sind sehr tapfer«, erwiderte Riik. »Auch die Varganen waren einst tapfer«, entgegnete ich. »Ihre Vorfahren haben wahr scheinlich einmal die Galaxis beherrscht. Von ihnen stammt das technische Erbe das von Torrelion mißbraucht wird und das wie Zauberei wirkt. Warum versucht Ihr Volk nicht, seinen Planeten zu verlassen und Kon takt mit den anderen Sternenvölkern aufzu nehmen, Riik?« Der Eingeborene lächelte verloren. »Die große Zeit unseres Volkes ist vorbei, Atlan«, antwortete er. »Mein Volk wird hier leben und sterben, weitab von den Kriegen der Sternenvölker. Unser Untergang würde sich nur beschleunigen, wenn wir Kontakt mit anderen Völkern aufnähmen.« Abermals schrien die Arphas laut. Ich widmete meine Aufmerksamkeit wie der voll der gelben Wolke und sah, daß sie den diesseitigen Rand des Ortes erreicht hat te. Hinter sich ließ sie Häuser aus erblinde ten Glasbrocken zurück. Langsam stieg sie empor. Ihre Ränder flatterten stärker und stärker – und plötzlich löste sich die Wolke auf. Wind kam auf, trug für kurze Zeit einen stechenden Geruch zu uns herüber und brachte Kühle hinter sich. Die Eingeborenen beruhigten sich etwas. Sie kehrten zögernd in ihre Stadt zurück. Ich fing Gesprächsfetzen auf, aus denen hervor ging, daß sie den Durchzug der Wolke als schlechtes Vorzeichen für unsere Expedition ansahen. »Vielleicht sollten Sie noch einen Tag warten, bevor Sie aufbrechen«, sagte Riik zu uns. Mein Pflegevater winkte ab. »Ganz im Gegenteil!« erklärte er. »Das Erscheinen der Wolke hat bewiesen, daß es höchste Zeit wird, Torrelion den Hals umzu drehen. Was meinst du, Atlan?« »Ich bin deiner Meinung, Dicker«, ant wortete ich.
* Am nächsten Morgen gaben uns die Ar
Zonen des Schweigens phas unsere Waffen zurück. Ich fühlte mich gleich viel wohler, als ich den Thermostrah ler wieder in meinem Gürtelhalfter trug. Zehn Eingeborene, von Riik angeführt, begleiteten uns ein Stück. Es ging einen schmalen Pfad entlang, der höher ins Gebir ge führte. Die fernen Gipfel waren eisfrei, ohne jede Vegetation und schroff. Dort ir gendwo sollte Torrelion leben. Nach ungefähr fünf Kilometern blieb Riik stehen und hob die Hand. Seine Begleiter hielten ebenfalls an. Ihre Gesichter verrie ten, daß sie froh darüber waren. »Von hier aus müssen Sie allein gehen, Atlan«, erklärte Riik. »Halten Sie sich nur immer in diese Richtung.« Er deutete nach Norden. »Möchten Sie uns nicht begleiten?« er kundigte sich Fartuloon. Riik erschrak. »Nein, niemals!« entfuhr es ihm. Er wurde verlegen. »Nach Ihrer Meinung bin ich vielleicht ein Feigling«, flüsterte er. »Aber ich kann nicht anders. Alles Gute für Sie. Besiegen Sie Torrelion, sonst sind wir alle verloren. Er würde sich grausam an uns rächen.« »Keine Sorge«, beruhigte ich ihn. »Wir sind zum Sieg verurteilt, Riik. Wir schulden das nicht nur Ihnen, sondern vor allem dem Großen Imperium, das bald von Orbana schol befreit werden muß, wenn es nicht zu grunde gehen soll.« In den Augen von Riik und seinen Beglei tern las ich aufkeimende Hoffnung, aber auch Furcht. Diese Leute hatten wohl schon oft die Grausamkeit Torrelions zu spüren be kommen. Ihnen war aller Mut genommen worden. Fartuloon schlug mit der flachen Hand ge gen den Griff seines Skargs und sagte fast fröhlich: »Wir sehen uns bald wieder, Riik. Dann werde ich Ihnen den Kopf Torrelions brin gen.« »Wenn er einen Kopf hat«, warf ich ein. Mein Pflegevater sah mich argwöhnisch an.
19 »Warum sollte Torrelion keinen Kopf ha ben? Willst du mich veralbern?« »Keineswegs«, erwiderte ich. »Aber bist du noch nicht auf den Gedanken gekommen, daß es sich bei Torrelion, den noch niemand gesehen hat, um ein absolut fremdartiges Wesen handeln könnte, das keinerlei Ähn lichkeit mit uns hat? Oder daß es sich um einen verrückt gewordenen Computer han deln könnte?« »Hm!« machte Fartuloon und kratzte sich hinter dem rechten Ohr. »Möglich ist natür lich alles, mein Junge.« »Es gibt nichts, was es nicht gibt«, erklär te ich. Fartuloon grinste. »Dein letzter Ausspruch dürfte in die Ge schichte eingehen, Atlan. Er klingt wirklich gut. Es gibt nichts, was es nicht gibt – außer dem Nichts selbst.« Riik hatte uns aufmerksam zugehört. Aber diese Aufmerksamkeit hielt nicht lange an. Unser Gespräch irritierte ihn offenbar. »Können wir uns jetzt entfernen?« fragte er. »Selbstverständlich«, antwortete ich. »Wir sehen uns hoffentlich bald wieder, Ri ik.« »Hoffentlich, Atlan«, sagte er, wandte sich seinen Begleitern zu und erteilte ihnen den Befehl zum Rückmarsch. Wir blickten den Arphas nach, bis sie hin ter einer Felsnase verschwunden waren, dann setzten wir unseren Weg fort. Plötzlich stieß Ra einen unartikulierten Ruf aus und deutete nach Osten, wo sich ein sanft abfallendes Geröllfeld erstreckte. Ich mußte erst genauer hinschauen, bevor meine Augen das sahen, was die scharfen Augen des Barbaren mühelos erspäht hatten; die Gestalt eines Mannes, der unbeweglich auf dem Geröllfeld stand und anscheinend zu uns herüberblickte. »Er sieht aus wie ein Arpha«, sagte Fartu loon. Er winkte, doch der Mann reagierte nicht. Ra lief plötzlich los, auf den Arpha zu, der immer noch unbeweglich verharrte.
20 Gefahr! signalisierte mir mein Extrasinn! Halte den Barbaren zurück, du Narr! Ra hatte inzwischen das Geröllfeld er reicht. Ich öffnete den Mund, um ihn zu rückzurufen, als der Barbar plötzlich langsa mer wurde. Im nächsten Augenblick erstarr te er, den Kopf halb zurückgewandt. »Er ist in eine Schweigende Zone gera ten«, sagte Fartuloon. »Wir müssen ihn herausholen«, erklärte ich. »Ich habe genau gesehen, an welcher Stelle sich seine Bewegungen verlangsam ten. Dort befindet sich die Streuzone des Stasisfeldes. Bis dorthin dürfen wir uns also wagen.« Schweigend kletterten wir zum Geröllfeld hinab. Vor der Stelle, an der Ra langsamer geworden war, hielten wir an. Wenn ihr weitergeht, seid ihr verloren! warnte mein Extrasinn. Mein Pflegevater hob einen Stein auf, holte aus und warf ihn. Der Stein hätte eigentlich mindestens vierzig Meter weit fliegen müssen. Aber sein Flug wurde schon nach wenigen Metern verlangsamt. Dicht vor Ra sank er weich zu Boden. Fartuloon stieß eine Verwünschung aus. »Wahrscheinlich klappt es nicht«, meinte er. »Wir werden es dennoch versuchen.« Er knüpfte das Seil, das uns die Arphas mitgegeben hatten, von seinem Gürtel. Es sollte uns beim Klettern helfen. Jetzt mußten wir versuchen, Ra damit aus seiner grauen haften Lage zu befreien. Der Barbar war sich seines Zustandes si cher nicht bewußt geworden. Wenn sich der individuelle Zeitablauf verlangsamt, braucht man einen Bezugspunkt, um das zu erken nen. Da Ra vor sich aber nur das Geröllfeld mit dem erstarrten Arpha sah – falls er über haupt noch einer Wahrnehmung fähig war –, mußte er seinen Zustand für völlig normal halten. Vielleicht schaffte er es in den nächsten tausend Jahren, seinen Kopf so weit zurück zudrehen, daß er die Welt außerhalb des Sta sisfeldes sah. Dann würde ihm bewußt wer
H. G. Ewers den, was mit ihm passiert war. Fartuloon legte das Seil in große Schlei fen, knotete an einem Ende eine Schlinge hinein und schwang es dann über seinem Kopf. Als er es losließ, flog es auf Ra zu. Aber einen halben Meter vor dem Barbaren sank es wie in Zeitlupe zu Boden. »So geht es also nicht«, stellte mein Pfle gevater fest. »Du solltest die Schlinge mit einem Stein beschweren«, sagte ich. »Daran habe ich auch schon gedacht«, gab Fartuloon zurück. »Aber dann wird sich die Schlinge zuziehen, bevor sie Ra er reicht.« »Versuchen solltest du es trotzdem«, er widerte ich. Fartuloon hob einen faustgroßen Stein auf und befestigte ihn nach mehreren fehlge schlagenen Versuchen an der Seilschlinge. Danach schwang er das Seil abermals über seinem Kopf. Als er es losließ, flog es im mer langsamer werdend, bis auf etwa zehn Zentimeter an Ra heran. Dann schwebte es sanft zu Boden. »Wenn Torrelion uns zusieht, lacht er sich schief und krumm!« schimpfte mein Pflege vater. Er warf mir einen giftigen Blick zu. »Ich weiß schon, was du sagen willst. Wir wissen nicht, ob Torrelion überhaupt Augen zum Sehen hat und ob er ein Organ besitzt, mit dem er lachen kann. Du brauchst mir gar nichts zu sagen, mein Junge.« »Du hast etwas vergessen«, entgegnete ich. »Wir wissen außerdem nicht, ob es Tor relion möglich ist, sich schief und krumm zu lachen.« Wütend warf mir Fartuloon das Seil vor die Füße, nachdem er es zurückgezogen hat te. »Wenn du so schlau bist, dann versuche du es doch einmal!« rief er mir zu.
* Ich rührte das Seil nicht an, sondern setzte mich auf einen großen Steinbrocken.
Zonen des Schweigens Fartuloon betrachtete mich eine Weile, dann runzelte er die Stirn und fragte: »Glaubst du, daß du durch Nichtstun et was erreichst?« »Nein«, erwiderte ich ruhig. »Dann tu endlich etwas!« schimpfte mein Pflegevater. »Ich tue ja schon etwas«, erklärte ich. »Ich denke nämlich nach. Aber wenn du mich störst, komme ich zu keinem brauch baren Ergebnis. Also sei bitte schön leise und strenge dein Zerebralsystem an.« Fartuloon zog ein Gesicht, als wollte er im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. Das Ganze war natürlich nur Theater. Unse re ganze Flachserei diente nur dazu, die nervliche Anspannung aufzulockern, in die wir geraten waren. Ich dachte allerdings wirklich nach. Fartu loons Versuche hatten mir bewiesen, daß wir mit direkten Methoden nichts erreichen würden. Folglich mußten wir uns etwas An deres einfallen lassen. Natürlich gab es noch die Möglichkeit, Ra einfach zurückzulassen und darauf zu hof fen, daß wir ihn befreien konnten, nachdem wir Torrelion besiegt hatten. Aber noch wollte ich nicht aufgeben. Vielleicht fehlte uns Ra während der entscheidenden Ausein andersetzung, dann waren wir alle drei ver loren. Ich zermarterte mir mein Gehirn, ohne ei ne Möglichkeit zu finden, an Ra heranzu kommen, geschweige denn, ihn aus dem Stasisfeld zu befreien. Als ich einen Blick auf Fartuloon warf, sah ich, daß mein Pflegevater sein Skarg ge zogen hatte und mit der Klinge im Geröll stocherte. Ab und zu löste sich ein Geröllbrocken und rollte den Hang hinab. Der Hang! signalisierte mein Extrahirn. Denke nach! Wenn hangabwärts Steine ent fernt werden, gerät das Geröll darüber in Bewegung. »Das könnte gehen«, sagte ich. »Wovon sprichst du?« erkundigte sich Fartuloon. »Hat sich dein siebter Sinn wie der einmal gemeldet?«
21 Ich lächelte flüchtig. »Ra steht auf einem Geröllhang«, erklärte ich. »Das ist keine Neuigkeit für mich«, mein te Fartuloon. »Wo hast du bisher nur deine Augen gehabt, daß dir das nicht früher auf gefallen ist?« Ich seufzte. »Leg mal eine Schweigeminute ein, alter Bauchaufschneider«, erklärte ich. »Ich den ke, ich habe die Lösung gefunden. Wenn wir unterhalb von Ra genug Geröll forträumen, wird sich der Hang mitsamt unserem Freund in Bewegung setzen und ihn aus dem Stasis feld spülen.« Fartuloon rieb sich den Nasenrücken. »Das kling nicht schlecht«, meinte er nachdenklich. »Die Frage ist nur, ob sich das Geröll im Stasisfeld tatsächlich bewegen kann.« »Die Frage ist, wie schnell es sich bewe gen kann«, entgegnete ich. »Bewegen muß es sich auf jeden Fall, dem entsprechenden physikalischen Gesetz gehorchend. Nur, ob es sich in wenigen Minuten oder erst in tau send Jahren so weit bewegt, daß Ra frei kommt, das ist die Frage.« Ich stand auf und hob einen Stein hoch. »Eine weitere Frage ist, wie weit wir den Hang hinabsteigen müssen, um außerhalb des Stasisfeldes zu bleiben.« Ich warf den Stein hangabwärts. Er flog nur wenige Meter, dann geriet er in den Wirkungsbereich des Stasisfeldes und schwebte sanft zu Boden. »Du mußt es von weiter unten versu chen«, sagte Fartuloon. Das war mir ebenfalls klar geworden. Ein Stein, der von hier oben geworfen wurde, mußte das Stasisfeld zwangsläufig durch queren und dabei aufgehalten werden. Ich kletterte tiefer und versuchte, es mit einem anderen Stein. Diesmal klappte es. Der Stein flog ungehindert etwa dreißig Me ter weit und bewies uns damit, daß wir uns hier unten außerhalb des Stasisfeldes bewe gen konnten. Wir zogen unsere Strahlwaffen und
22 schmolzen einen Graben in das Geröll. Die weiter oben liegenden Steine rollten sofort nach und füllten den Graben auf. Leider rollte das Geröll, auf dem Ra stand, nicht mit. Jedenfalls nicht erkennbar für unsere Sinne. »Schade!« sagte ich. »Da Ra sich schließ lich bis zu seinem jetzigen Standort aus ei gener Kraft bewegt hat, hatte ich gehofft, das Stasisfeld wäre doch nicht stark genug, um die gesamte überhängende Geröllmasse aufzuhalten.« »Vielleicht fehlt nur noch der Stein des Anstoßes«, erwiderte mein Pflegevater. Er hob einen Stein auf und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen den Überhang. Im nächsten Moment brach das überhän gende Geröll blitzartig zusammen. Ras Kör per knickte ein. Ich fürchtete schon das Schlimmste für unseren Freund, da handelte Fartuloon. Das Seil wirbelte durch die Luft. Die Schlinge glitt über Ras Kopf und Schultern – und straffte sich, als mein Pflegevater nach oben stürmte. Zwar stürzte Ra dennoch, aber er geriet wenigstens nicht unter die Geröllawine, die den Hang hinabschoß. Sein Körper wirbelte einige Male herum, dann hatte Fartuloon ihn aus der Gefahrenzone gezogen. »Bist du verletzt?« fragte ich. Ra blickte mich aus schreckgeweiteten Augen an. Er hatte offenbar noch immer nicht begriffen, daß er in ein Stasisfeld gera ten war. Ich erklärte es ihm. »Künftig läufst du nicht einfach los!« sag te Fartuloon. »Es war gar nicht leicht, dich wieder zurückzuholen.« Ra nickte. Der Barbar erholte sich relativ schnell von seinem Schreck. Bis auf ein paar Prellungen und Hautabschürfungen war er unverletzt geblieben. Und wir hatten die erste direkte Kostpro be von der Macht Torrelions erhalten. Dennoch zögerten wir nicht, den Aufstieg fortzusetzen. Im Gegenteil, wir brannten nun erst recht darauf, ihn unschädlich zu ma
H. G. Ewers chen.
* Etwa zwei Stunden später erreichten wir die nächste Schweigende Zone. Es handelte sich um ein Hochplateau, auf dem statuengleich vier Arphas und drei an dere Lebewesen standen. Eines der anderen Opfer Torrelions war ein Arkonide, die bei den anderen waren Maahks in ihren unför mig wirkenden Raumanzügen. »Maahks und Arkoniden friedlich ver eint«, sagte Fartuloon mit bitterer Ironie. »Ob der Arkonide ein Beauftragter Orba naschols ist?« überlegte ich laut. Fartuloon musterte ihn genauer, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Atlan«, erklärte er. »Der Mann trägt eine total veraltete Raumfahrerkombi nation. Wenn ich mich nicht irre, stellt das Symbol auf seinem Brustschild das Wappen der Camoth-Dynastie dar, die bis vor rund zweitausend Jahren das Imperium regierte.« Ich erschauderte. »Bis vor rund zweitausend Jahren?« sagte ich entsetzt. »Das bedeutet, daß der arme Kerl seit mindestens zweitausend Jahren hier steht.« »So muß es wohl sein«, meinte mein Pfle gevater. »Für ihn dürften allerdings höch stens einige Sekunden vergangen sein.« »Er kann die Maahks sehen«, sagte ich leise. »Was mag er wohl bei ihrem Anblick empfinden? Zu seiner Zeit wußte man auf Arkon bestimmt noch nichts davon, daß es die Wasserstoffatmer überhaupt gibt. Ob er erschrak, als sie auftauchten?« »Wahrscheinlich ist er noch dabei, zu er schrecken«, sagte Fartuloon. »Die Maahks sind jedenfalls mit schußbereiten Waffen in seine Richtung gestürmt. Sie kamen dem nach zu einer Zeit, als zwischen ihnen und dem großen Imperium bereits Krieg herrsch te.« Ich war erschüttert. Wieder einmal ging mir auf, wie unsinnig alle Kriege waren, auch der Krieg zwischen
Zonen des Schweigens den Maahks und dem Großen Imperium. Dort drüben stand ein Arkonide, der beim Anblick von Maahks noch keine Feindschaft und keinen Haß empfunden haben konnte. Die beiden Maahks dagegen stammten aus einer Zeit, die es ihnen zur Pflicht machte, jedes intelligente humanoide Lebewesen auf die eine oder andere Art und Weise un schädlich zu machen. Das Stasisfeld hatte ihre Absichten ad ab surdum geführt. Wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, dann hätte man das Bild als grotesk empfinden können. Mein Pflegevater legte mir seine derbe Hand auf die Schulter. »Ich weiß, was du denkst, mein Junge«, sagte er. »Man kann nie genug Abscheu vor Kriegen empfinden. Aber vergiß nicht, daß es die Maahks waren, die diesen Krieg an fingen.« »Weißt du das genau?« fragte ich. Er zuckte die Schultern. »Was heißt schon genau, Atlan! Vielleicht haben auch einige Arkoniden Fehler began gen, damals, als es zur bewaffneten Kon frontation kam. Das Große Imperium hat schließlich eine großangelegte Expansions politik betrieben und war niemals zimper lich, wenn es darauf ankam, einen Konkur renten in die Schranken zu weisen. Aber Tatsache ist, daß die Maahks den ursprüngli chen Schlagaustausch zwischen ihren und unseren Flotten zu einem mörderischen Ver nichtungskrieg gesteigert haben. Sie löschen alles humanoide Leben aus, das sie finden. Es ist verdammt bitter, aber einem solchen Vernichtungswillen kann man nur mit Haß begegnen.« Ich senkte den Kopf. Was Fartuloon mir erzählte, wußte ich al les selbst. Ich wußte, daß wir Arkoniden die Maahks hassen mußten. Und da der Krieg viele Opfer forderte, mußte der Haß so weit gehen, daß Arkoniden bereit waren zu ster ben, wenn sie dabei nur einige Wasserstof fatmer mitnehmen konnten. Das alles sah ich ein. Dennoch verab scheute ich diesen Krieg. Irgendwo mußte
23 ein Grund für den blindwütigen Vernich tungswillen der Maahks liegen. Vielleicht fanden wir ihn eines Tages heraus – wenn die Maahks uns Zeit genug ließen, um zwi schen den mörderischen Raumschlachten Atem zu holen und nachzudenken. Nur, solange Orbanaschol III. regierte, be stand keine Chance, die tieferen Ursachen des maahkschen Vernichtungswillen heraus zufinden. Der Diktator stellte seine persönli chen Interessen vor die des Imperiums und hatte bestimmt noch keinen Augenblick dar über verschwendet, sich Gedanken über den Irrsinn des gegenseitigen Abschlachtens zu machen. Ich seufzte. »Gehen wir weiter!« sagte ich. »Am lieb sten möchte ich alle großen Probleme gleichzeitig lösen, aber ich sehe ein, daß man den zweiten Schritt nicht vor dem er sten tun kann.« »So ist es«, erwiderte mein Pflegevater. Er schien erleichtert darüber zu sein, daß ich mich wieder gefangen hatte. Wir marschierten weiter. Teilweise mußten wir wahrhaft halsbre cherische Kletterstrecken überwinden. Es wurde Abend, bis wir den zerklüfteten Fels hang erreichten, über den etwa acht Gebäu de unterschiedlicher Größe verstreut waren. Wir blieben stehen. »Das Reich Torrelions!« sagte Fartuloon schwer. »Wahrscheinlich handelt es sich um ehemalige Experimentierstationen der Var ganen. Ich schlage vor, wir verstecken uns in der Nähe und beobachten.«
5. Wir hatten uns zwischen einigen großen Felsblöcken einigermaßen eingerichtet und warteten. Die Abendsonne warf ihren rötlichen Schein auf den Felshang und die Gebäude und vergoldete die höheren zinnenartigen Gipfel im Osten. Ich konnte mir keinen An blick vorstellen, der friedlicher war. Den noch fühlte ich mich nicht wohl. Tief in
24 meinem Innern lastete ein Gefühl dumpfer Drohung. Bis jetzt hatten wir noch kein lebendes Wesen gesehen. Nicht einmal ein Insekt. Die Gegend schien völlig ausgestorben zu sein. Vielleicht wurde die Rolle Torrelions tat sächlich nur von einem verrückt geworde nen Computer gespielt, von einer Positronik, die an Ausfallerscheinungen litt und deshalb irregulär arbeitete. »Ich denke, wir sollten nicht länger war ten, sondern das nächste Bauwerk aufsu chen«, sagte ich ungeduldig. »Ich weiß nicht …« erwiderte Fartuloon zögernd. »Vielleicht hat Torrelion uns noch nicht bemerkt. Wenn wir aber in ein Gebäu de eindringen …« Plötzlich packte Ra meinen Arm. Ich sah an seinem Gesicht, daß er aufgeregt war und folgte seinem ausgestreckten rechten Arm mit den Augen. Was ich sah, verschlug mir im ersten Mo ment die Sprache. Auf einem schmalen Pfad, der die näch sten beiden Gebäude miteinander verband, und der teilweise durch große Felsblöcke verborgen war, waren zwei humanoide Le bewesen aufgetaucht. Keine Männer, keine waffenstarrenden Kämpfer, sondern zwei Kinder. Sorglos schlenderten sie den Pfad entlang, hüpften ab und zu, wie es ausgelassene Kinder zu tun pflegen, und sangen. »Was ist das?« fragte Fartuloon verblüfft. »Es sind Kinder«, sagte ich. »Höchstens sechs Jahre alt, und sie sehen aus wie eineii ge Zwillinge.« »Ich will meine Stiefel essen!« entfuhr es Fartuloon. »Wie kommen Kinder hierher – ausgerechnet hierher?« Das fragte ich mich auch. Ich fragte mich außerdem, ob die Kinder eine Sinnestäu schung waren, eine Spiegelfeldprojektion et wa, die Torrelion erzeugt hatte, um uns zum Narren zu halten. Aber sie benahmen sich so natürlich, daß ich es einfach nicht glauben konnte. Wir hatten uns hinter unserer Deckung
H. G. Ewers aufgerichtet, deshalb war es unvermeidlich, daß auch die Kinder uns entdeckten. Sie blieben stehen, blickten zu uns herüber, dann kamen sie zutraulich auf uns zu. »Merkst du etwas, Atlan?« flüsterte Fartu loon, als die Kinder nur noch etwa zehn Schritt von uns entfernt waren. Erst jetzt fiel mir die Ähnlichkeit beider Kinder mit Dovreen und der Frau auf, die wir bei dem Weisen gesehen hatten. Jeden falls die Ähnlichkeit der Gesichtszüge. Al lerdings waren sie nicht doppelgesichtig wie Dovreen. »Ob sie die Kinder der beiden sind?« überlegte ich laut. »Aber wie kommen sie hierher?« »Vielleicht hat Torrelion sie in seine Ge walt gebracht und hält sie als Geiseln gefan gen, um Dovreen daran zu hindern, etwas gegen ihn zu unternehmen«, meinte mein Pflegevater. »Dann müssen wir sie befreien«, sagte ich eifrig. Ich winkte den Kindern. »Kommt hierher, schnell!« rief ich mit gedämpfter Stimme. »Wir werden euch zu euren Eltern zurückbringen.« Die Kinder blieben stehen. Sie waren nur noch fünf Schritt von uns entfernt. Plötzlich lächelten sie beide, und im nächsten Mo ment zogen sie metallisch schimmernde Stä be aus ihrer Kleidung hervor und richteten sie auf uns. Deckung! raunte mein Extrasinn mir zu. Zu spät. Ich spürte, wie sich die paralysierende Energie in meinem Körper ausbreitete und mich lähmte. Steif wie ein Stück Holz kippte ich um und fiel hart auf den Boden. Ich spürte den Aufprall nicht, denn auch meine Schmerzempfindung war ausgeschal tet. Ich konnte nur noch sehen, hören und riechen – und natürlich denken. Allerdings wußte ich nicht, was ich den ken sollte. Ich konnte mir einfach keinen Reim auf die ganze Geschichte machen. Es erschien mir undenklich, daß die beiden Kinder Torrelion freiwillig in diese Einöde
Zonen des Schweigens gefolgt sein sollten. Dennoch hatten sie uns paralysiert und damit verhindert, daß wir sie befreiten. Aber vielleicht standen sie unter einem hypnosuggestiven Bann und handelten des halb im Sinne Torrelions. Wenn es so war, dann hatte er unsere Ankunft längst bemerkt und uns die beiden Kinder entgegenge schickt, weil er als sicher annahm, daß wir sie als harmlos betrachten würden. Meine Überlegungen wurden unterbro chen, als ein Flugroboter in meinem Blick feld auftauchte, mich packte und in die Höhe zog. Sekunden später schwebte er mit mir auf das größte Gebäude zu, einen Kuppelbau, dessen oberes Drittel im Schein der un tergehenden Sonne wie flüssiges Kupfer leuchtete.
* Der Flugroboter brachte mich in einen großen Saal und verfrachtete mich dort in einen Sessel, der auf einem hohen Podest stand. Ich saß so, daß ich den größten Teil der Halle übersehen konnte. Deshalb konnte ich auch genau verfolgen, wie Ra und Fartuloon hereingebracht wurden. Sie waren genauso stocksteif wie ich. Ihre Flugroboter brachten sie irgendwo links und rechts neben mir un ter und damit aus meinem Blickfeld. Ich nahm aber an, daß sie ebenfalls in Sessel ge setzt wurden. Wenig später trafen die beiden Knaben ein. Sie hatten ihre Waffen wieder in den Falten ihrer Gewänder verschwinden lassen und wurden von vier Kampfrobotern beglei tet. Diese vier Roboter faszinierten mich. Sie waren zwar humanoid geformt, aber genau so breit wie lang, hatten kuppelförmige Or tungsköpfe und je sechs tentakelförmige Waffenarme sowie zusätzlich zwei Greifar me. Sicher stellten sie eine Hinterlassen schaft aus einem Waffenarsenal der Varga nen dar. In der Mitte des Saales blieben die beiden
25 Knaben stehen. Auch die vier Kampfroboter hielten an. »Willkommen im Reich Torrelions!« rief einer der Knaben. »Wir freuen uns über jeden Besucher«, sagte der andere. »Es ist sonst so langweilig hier«, meinte der erste. »Deshalb haben wir für ausreichend Ma terial zur Zerstreuung gesorgt«, warf der zweite ein. Ich wollte die Stirn runzeln und merkte, daß es nicht ging. Die Worte der Zwillinge gaben mir ein weiteres Rätsel auf. Ich tröstete mich damit, daß irgendwann und irgendwie Torrelion persönlich in Er scheinung treten mußte, ob es sich um eine Person oder um eine Maschine handelte. Zwar hatte ich mir die Konfrontation ganz anders ausgemalt, aber irgendwie hoffte ich immer noch, mit heiler Haut davonzukom men. Beide Knaben klatschten gleichzeitig in ihre Hände. Kurz darauf tauchten zwei Arphas in mei nem Blickfeld auf. Sie trugen außer kurzen Lendenschurzen je einen kleinen runden Buckelschild und eine lange dünne Lanze. Das Gesicht des einen war mit grüner Farbe bemalt, das des anderen mit roter. Wenig später sah ich, daß die Arphas nicht aus freien Stücken in die Halle gekom men waren. Zwei Flugroboter tauchten hin ter ihnen auf. »Ihr kennt die Spielregeln!« rief der erste Knabe. »Der Sieger wird freigelassen«, warf der Zweite ein. »Und nun – kämpft!« Die beiden Eingeborenen zögerten. Plötzlich ertönte ein sirrendes Geräusch. Im nächsten Augenblick schrien die Arphas laut. »Das war die Strafe für euren Ungehor sam!« rief der erste Knabe mit schriller Stimme. »Ihr habt zu gehorchen, wenn wir befehlen!« Sein letzter Satz machte mich stutzig. Wie hatte der Knabe gesagt: Ihr habt zu
26 gehorchen, wenn wir befehlen. Wäre er nur der Sprecher Torrelions gewesen, hätte er seinen Satz eigentlich anders formulieren müssen, etwa: Ihr habt Torrelion zu gehor chen. Oder so ähnlich. So aber hatte sich das Kind mit Torrelion identifiziert. Wie sollte ich das verstehen? Ein krankes Gehirn, das Fremde hypnosug gestiv beeinflußt, sorgt erfahrungsgemäß da für, daß seine Oberherrschaft nicht aus dem Gedächtnis der Beherrschten verschwindet. Im Gegenteil: es sorgt dafür, daß sie immer an es erinnert werden. Nichts aber ist dazu besser geeignet, als die Beeinflußten den Namen des Herrn so oft wie möglich im Munde führen zu lassen. Es gibt eine mögliche Erklärung! teilte mir der Logiksektor meines Extrahirns mit. Die beiden Kinder sind Torrelion. Unsinn! dachte ich im ersten Augenblick. Doch als ich gründlicher darüber nach dachte, erschien es mir nicht mehr so ab surd. Ich mußte nur voraussetzen, daß sie entweder früh gereifte Gehirne hatten – mit allen negativen Folgen, die sich daraus erga ben – oder daß sie viel älter waren als ihr Aussehen vermuten ließ. Vorerst aber wurde ich abgelenkt, als das grausame Schauspiel begann. Die beiden Arphas stellten sich gegenüber auf und kämpften. Sie gingen relativ unge schickt mit den Waffen um, aber das betraf nicht nur ihre Angriffsaktionen, sondern auch ihre Verteidigung. So blieb es nicht aus, daß beide Männer bald aus mehreren Wunden bluteten. Abermals blieben sie stehen, und aber mals ertönte das sirrende Geräusch. Diesmal hatte ich gesehen, daß bei den beiden Robo tern, die die Arphas bewachten, im Augen blick des Sirrens je ein schwaches Licht auf geleuchtet hatte. Wahrscheinlich arbeiteten die Maschinen mit Strahlen, die Schmerz empfindungen hervorriefen. Die Eingeborenen schrien erneut auf. Zit ternd stellten sie sich wieder zum Kampf. Der mit dem grünbemalten Gesicht war nicht so stark gebaut wie der Rote, dafür war
H. G. Ewers er gewandter. Er schien auch der Entschlos senere zu sein, denn in der zweiten Runde zögerte er nicht mehr. Der Rotgesichtige erhielt einen Lanzenstich in die linke Seite und taumelte. Der Grüngesichtige ließ sein Schild fallen, pack te seine Lanze mit beiden Händen und stieß sie dem anderen tief in die Brust. »Bravo!« rief der zweite Knabe, als der Rote zusammenbrach. Er deutete auf den Grünen. »Du bist der Sieger!« Der Eingeborene wandte sich an die Kna ben. »Ich bin frei?« fragte er ungläubig. Knabe Nummer eins lachte zynisch. »Du bist nicht nur frei, sondern du wirst auch bald das ewige Leben bekommen.« Ich ahnte, was der Knabe meinte. Wahr scheinlich würde der Sieger dieses grausa men Kampfes irgendwo von einem Stasis feld eingefangen werden, und solange er sich im Wirkungsbereich dieses Feldes be fand, würde er nur unmerklich altern. Theo retisch konnte er mehrere Millionen Jahre alt werden – aber auch nur für den außenste henden Beobachter, der dem normalen Zeitablauf unterlag. Als der Arpha gegangen war, wandten sich die Knaben wieder an uns. »Wie hat es euch gefallen?« fragte der Zweite. »Bald werdet ihr zeigen können, was ihr wert seid«, meinte der erste. »Es war wirklich nett von euch, uns zu besuchen«, erklärte der zweite höhnisch. »Dafür werden wir eine Überraschung für euch vorbereiten«, versprach der erste. Ich bedauerte, daß ich ihnen nicht sagen konnte, was ich von ihrem Treiben hielt, ob wohl das wohl wenig gefruchtet hätte. Diese beiden Knaben waren geistige Mißgeburten, Scheusale, die kein Mitgefühl kannten, au ßer vielleicht für sich selbst. »Wir lassen euch jetzt für eine Weile al lein«, sagte der zweite. »Ruht euch inzwischen aus«, erklärte der erste. »Wenn wir wiederkommen, werden wir ein Spielchen spielen, bei dem ihr alle
Zonen des Schweigens eure Kräfte brauchen werdet.« Damit verließen sie die Halle. Die vier varganischen Roboter folgten ih nen, furchterregend wirkende Kampfmaschi nen, die aber dennoch viel harmloser waren als die beiden schrecklichen Kinder.
* Da es in der Halle immer gleichmäßig hell blieb und nichts sich bewegte, verlor ich fast den Sinn für den Ablauf der Zeit. Ich wußte nicht einmal, ob unsere Eigenzeit überhaupt noch normal ablief oder ob die Knaben uns in ein Stasisfeld gehüllt hatten. Dennoch resignierte ich nicht. Verbissen kämpfte ich darum, die Herrschaft über mei nen paralysierten Körper zurückzuerlangen. Bald merkte ich, daß mir der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief, und auch unter den Achseln bildete sich Schweiß. Meine rechte Fußsohle juckte beinahe unerträglich. Doch ich versuchte es weiter. Als es mir gelang, die Lippen zu verzie hen, war dieser erste Erfolg mir nur Ansporn zu noch größerer Anstrengung. Wenig später konnte ich beide Daumen bewegen. Uner müdlich schickte mein Gehirn Befehle über die Nerven zu den anderen Muskelgruppen meines Körpers. Bald darauf konnte ich die Zehen bewegen. Von da an ging es schnell. Als ich glaubte, meinen Körper wieder ei nigermaßen zu beherrschen, schob ich mich aus dem Sessel, gab mir einen letzten Ruck – und stand plötzlich wieder auf eigenen Fü ßen. Ich schwankte ein wenig, und mir wurde schwarz vor Augen. Doch auch das ging schnell vorüber. Etwas unsicher noch, drehte ich mich nach rechts. Das Jucken meiner Fußsohle ignorierte ich. Ich sah Fartuloon vor mir. Mein Pflegevater saß noch immer unbe weglich in dem Sessel, in dem ihn die Flug roboter gesetzt hatten. »Fartuloon!« sagte ich mit schwerer Zun ge.
27 Ich konnte nicht erkennen, ob er mich ge hört hatte, denn er reagierte nicht. Langsam tappte ich zu ihm, etwas mühsam das Gleichgewicht haltend. Als ich vor seinem Sessel stand, blickte ich in seine geöffneten Augen. Ich glaubte ein Glitzern darin zu bemerken, aber das war auch die einzige Reaktion. Bei meinem Pflegevater wirkte die Para lyse noch voll. Ich drehte mich um und blickte zu Ra hin über. Auch der Barbar saß reglos in seinem Sessel. Allmählich dämmerte mir, daß ich von uns dreien der einzige war, der seine Läh mung überwunden hatte. Dabei kämpfte Far tuloon garantiert nicht weniger dagegen an, als ich es getan hatte. Folglich mußte die Dosis an Paralysestrahlung, die ich erhalten hatte, geringer gewesen sein als die, von der Fartuloon und Ra getroffen worden waren. Du mußt handeln! raunte mein Logiksek tor mir zu. Die Knaben können nicht ahnen, daß du vorzeitig die Paralyse abgeschüttelt hast. Das gibt dir einen unschätzbaren Vor teil. Ich räusperte mich und sagte eindringlich: »Hör zu, Fartuloon. Es hätte keinen Sinn, bei euch zu warten, bis auch eure Paralyse schwindet. Folglich werde ich allein etwas unternehmen. Ich hoffe, daß ich in dieser Station Schaltanlagen finde. Vielleicht ge lingt es mir, sie unbrauchbar zu machen und die Knaben damit ihrer technischen Überle genheit zu berauben.« Natürlich konnte mein Pflegevater mir nicht antworten. Aber ich wußte, daß er mich gehört hatte. Da Ra nicht weit entfernt saß, würde er meine Worte ebenfalls ver standen haben. Es wäre sinnlos gewesen, mich noch länger aufzuhalten. Ich sah mich genauer in der Halle um. Ein großes verschlossenes Tor führte nach draußen. Das wußte ich, denn von dort wa ren wir gekommen. Außerdem gab es noch zwei Türen, die ei ne links von mir, die andere rechts. Nach rechts waren die Zwillinge gegangen. Aber
28 auch die beiden Gefangenen waren von dort hereingebracht worden. Den Toten hatten Flugroboter weggeräumt und nach draußen gebracht. Ich entschloß mich, die rechte Tür zu neh men. Sie führte wahrscheinlich ins Herz der Anlage. Als ich vor ihr stand, zögerte ich et was. Man hatte uns alle Waffen genommen, folglich durfte ich mich auf keine offene Auseinandersetzung einlassen – jedenfalls vorläufig nicht. Wenn hinter der Tür Robo ter Wache hielten … Ich unterdrückte meine Bedenken und suchte nach dem Öffnungsmechanismus. Wie ich schnell herausfand, mußte man die Hand auf ein fremdartiges Muster aus Stri chen, Punkten und Kreisen legen, das sich in der Mitte der Tür befand. Die Tür glitt nach links weg. Dahinter lag ein in rötliches Licht gehüll ter Gang – und er war leer. Die erste Hürde war überwunden. Vorsichtig, damit ich kein Geräusch er zeugte, schlich ich durch den Gang, wobei ich aufmerksam die Wände betrachtete. Aber meine Hoffnung, darin eine Tür zu fin den, erfüllte sich nicht. Es gab nur eine weitere Tür: die am Ende des Ganges. Sie ließ sich auf die gleiche Weise öffnen wie die erste Tür. Meine Anspannung stieg, als sie zur Seite glitt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die beiden Knaben sich nicht vor unliebsamen Überraschungen geschützt hatten. Hinter der Tür lag ein kleiner dreieckiger Raum mit einem Loch im Fußboden: die Öffnung eines Antigravschachtes. Ich schob den Fuß ein Stück über die Öff nung und spürte sofort das vertraute Gefühl aufgehobener Schwerkraft. Der Antigrav schacht war also in Betrieb. Es hätte keinen Sinn gehabt, länger zu zö gern. Im Gegenteil, mit jeder Minute, die ungenutzt verstrich, verkürzte sich meine Frist. In absehbarer Zeit mußten sich die Zwillinge wieder um uns kümmern, da keine
H. G. Ewers Paralyse ewig anhielt. Da ich nicht wußte, wann dieser Zeitpunkt kommen würde, mußte ich mich beeilen. Ich vertraute mich dem Kraftfeld des Schachtes an. Auch er war in rötliches Licht getaucht. An seiner Wandung befanden sich fremdartige Markierungen, wohl noch die Zeichen der ursprünglichen Benutzer der Anlage. Etwa zehn Meter tiefer kam der erste Ausstieg. Ich ließ mich an ihm vorüberglei ten. Fünf Meter weiter unten befand sich die nächste Öffnung. Dahinter erspähte ich wie der einen Gang. Bevor ich mich entschieden hatte, ob ich dort aussteigen wollte, war ich tiefer ge schwebt. Ich beschloß, die nächste Öffnung zu benutzen. Als sie kam, ergriff ich die bei den Haltestangen und schwang mich hinaus. Auch hier lag ein Gang vor mir. Er war nur kurz, und an seinem Ende befand sich wiederum eine Tür. Ich blieb vor der Tür stehen und lauschte. Dahinter war es still. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Ri siko einzugehen, daß jemand hinter der Tür war, und sie ebenfalls zu öffnen. Als sie zur Seite glitt, erblickte ich vor mir einen halbrunden Raum, dessen Wände mit kleinen Bildschirmen versehen waren. Die Bildschirme waren schwarz, aber an den schmalen Konsolen darunter befanden sich fremdartige Schaltungen. Als die Tür sich hinter mir automatisch schloß, ging ich auf die nächste Schaltkon sole zu. Ich nahm an, daß es sich bei den Bildschirmen um Monitorschirme handelte. Wenn die Schaltungen noch funktionier ten, würde ich bald mehr über die alte Stati on der Varganen wissen.
6. Die Schaltungen funktionierten noch. Die erste Reihe der Monitorschirme wur de hell und zeigte nach kurzem Flimmern ein Abbild der Landschaft. Deutlich erkann te ich die übrigen Gebäude der Station.
Zonen des Schweigens Wahrscheinlich arbeiteten die Aufnahmege räte des Monitorsystems nach dem Bildta sterprinzip, denn meiner Schätzung nach mußte es draußen noch Nacht sein. Dennoch waren die Bilder so klar wie an einem wol kenlosen Tag. Ich fragte mich, ob die Zwillinge meine Flucht inzwischen entdeckt hatten und was sie unternehmen würden, um mich wieder einzufangen. Wahrscheinlich würden sie ih re Roboter losschicken. Eigentlich, sagte ich mir, war es verwun derlich, daß ich überhaupt so weit gekom men war, ohne entdeckt zu werden. Die Knaben schienen Sicherheitsmaßnahmen in nerhalb der Station für überflüssig zu halten. Sie waren bisher überflüssig! teilte mir der Logiksektor meines Extrahirns mit. Die Furcht vor Torrelion schützte die Knaben besser als alle Sicherheitssysteme. Ich betätigte die Schaltungen der nächsten Konsole. Es handelte sich um ganz normale Sensortasten, wie sie auch von der arkonidi schen Technik verwendet wurden. Das war verständlich, wenn man bedachte, daß die Varganen ebenfalls humanoid waren. Eine weitere Reihe von Monitorschirmen leuchteten auf. Diesmal erblickte ich auf den Bildschir men allerdings nicht die Umgebung der Sta tion, sondern mehrere Räume. Ich hielt unwillkürlich den Atem an, als ich in einem Raum die beiden Zwillinge sah. Sie standen, wieder begleitet von den vier Kampfrobotern, die offenbar ihre Leibwäch ter waren, vor einer Apparatur, deren Sinn ich nicht sofort begriff. Als ich ihn begriff, drehte sich mir beina he der Magen um. Eingespannt in eine komplizierte elektro nische Apparatur, entdeckte ich sechs glockenförmige transparente Behälter, in de nen grauweiße klumpige Gebilde in einer rötlichen Flüssigkeit schwammen. Die Gehirne intelligenter Lebewesen! Auf einem Bildschirm über der Apparatur sah ich ein undefinierbares gelbliches Wal len. Das änderte sich, nachdem die Zwillin
29 ge sich silbrig glänzende Helme, an denen zahlreiche bunte Kabel hingen, über die Köpfe gestülpt hatten. Das gelbliche Wallen wurde zu einem grünen Lichtermeer, aus dem sich allmäh lich das Gesicht eines alten Mannes formte. Eines Mannes? Einer Mumie! Das Gesicht war eingefallen, runzlig, braun. Die Augen waren geschlossen, die Lider so tief eingesunken, als befänden sich keine Augäpfel darunter. Der Mund wirkte wie eine dünne Wachsschicht, durch die gelbliche Zähne schimmerten. Das weiße Haar hing wirr über die Stirn, so dünn wie Spinnweben. Plötzlich wabberte bläuliches Licht auf, zuckte um die halbtransparenten Ohren des Gesichts. Blaue Flammenzungen zuckten aus den Nasenlöchern. Das weiße Haar stell te sich auf. Funken stoben heraus. Unendlich langsam hob sich ein Lid. Dar unter kam ein Auge zum Vorschein, mit nicht mehr Leben als die Linse einer defek ten Kamera. Das Lid des anderen Auges hob sich. Gleichzeitig zogen sich die wachsartigen Lippen zurück, entblößten ein schadhaftes Gebiß. Der Unterkiefer sank herab, und zwi schen den beiden Zahnreihen flatterten grau häutige kleine Tiere hervor, füllten den Bild schirm aus und verdeckten das Gesicht. Die beiden Knaben nahmen die Helme ab und lachten. Sofort zeigte der Bildschirm wieder nur das undefinierbare gelbliche Wallen. Ich ahnte, was das zu bedeuten hatte. Die Zwillinge hatten ihre krankhaft entar tete Phantasie spielen lassen und die dabei entstehenden grauenhaften Vorstellungen über die Transmitterhelme auf die sechs wehrlosen Gehirne überspielt. Die Gehirne mußten, von jeder anderen Wahrnehmung abgeschnitten, völlig in der krankhaften Vorstellungswelt der Knaben versunken sein. Die Qualen, die sie dabei er litten hatten, waren für mich als Außenste henden wahrscheinlich gar nicht vorstellbar.
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Und die beiden schrecklichen Kinder hat ten sich daran geweidet. Sie sahen zwar humanoid aus, aber in Wirklichkeit waren sie Ungeheuer. Ich ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Nein, ich durfte mich nicht zum Haß auf die Kinder hinreißen lassen. Ihre Gehirne waren krank und wahrscheinlich voller Qual, deshalb wurden sie immer wieder da zu getrieben, andere Lebewesen zu quälen. Rache war nicht die richtige Antwort dar auf. Ich mußte dafür sorgen, daß die Kinder ihre grausamen Spiele nicht länger treiben konnten, aber ich war nicht berechtigt, sie für die unverschuldete Monstrosität ihres Geistes zu bestrafen. Die Frage war nur, wie ich ihrem Treiben ein Ende setzen konnte. Ein direktes Vorge hen verbot sich angesichts der vier roboti schen Leibwächter von selbst. Du mußt Verwirrung stiften! teilte mir mein Extrasinn mit. Versuche, die Gefange nen der Kinder zu befreien. Danach hast du vielleicht eine Chance, an die wichtigen Schaltanlagen heranzukommen. Das war leichter gedacht als getan. Wie sollte ich die Gefangenen befreien, wenn ich nicht einmal wußte, wo sie unter gebracht waren? Mein Blick fiel auf die letzte Reihe der Monitorschirme, die noch nicht aktiviert war. Vielleicht half es mir weiter, wenn ich sie einschaltete. Ich trat vor die entsprechende Konsole und ließ meine Finger über die Sensortasten gleiten.
* Als sich die letzte Reihe der Bildschirme erhellte, erblickte ich Ausschnitte aus einem typischen Zellentrakt. Hinter einer Reihe von Gittertüren saßen und standen gefangene Arphas. Ihre Gesich ter zeugten von langer Haft und von Hoff nungslosigkeit und Furcht.
Ich hatte gefunden, was ich suchte. Das nützte mir allerdings noch nicht viel, denn bisher konnte ich die Zellen mit den Gefangenen nur auf Monitorschirmen sehen. Ich wußte nicht, wo sie sich befanden. Mir wurde klar, daß ich zu Fuß weitersu chen mußte – und ich durfte nicht länger zö gern, denn entdeckten die Zwillinge erst ein mal, daß ich mich von meinem Platz in der Halle entfernt hatte, ließen sie bestimmt von ihren Robotern auf mich Jagd machen. Ich schaltete die Monitoren aus, um keine Spuren zu hinterlassen, und verließ den Raum wieder auf dem gleichen Weg, auf dem ich gekommen war. Vor dem Einstieg zum Liftschacht zögerte ich, aber nur einen Herzschlag lang. Dann schwang ich mich in den Schacht und schwebte weiter nach unten. Ich kam noch an drei Öffnungen vorbei, bevor ich den Grund des Schachtes erreich te. Auf dem Boden schimmerte ein buntes Mosaik. Ich wunderte mich darüber, daß die Varganen in der nüchternen technischen An lage ein Mosaik installiert hatten, das doch nur der ästhetischen Befriedigung dienen konnte. Im nächsten Augenblick änderte ich mei ne Meinung. Das Mosaik leuchtete plötzlich stärker. Seine Strahlung hüllte mich ein – und gleich darauf fand ich mich auf einem ähnlichen Mosaik wieder, das sich jedoch auf dem Bo den eines dreieckigen Raumes befand. Das, was ich für ein Kunstwerk gehalten hatte, erfüllte demnach die Funktion eines Transmitters. Höchstwahrscheinlich war ich in ein anderes Gebäude der Station befördert worden. Mir konnte das nur recht sein, denn da durch dürfte es den Kindern schwerer fallen, meine Spur aufzunehmen, sobald sie meine Abwesenheit in der Halle des ersten Gebäu des entdeckt hatten. Ich trat schnell von dem Mosaik herunter, denn ich wollte nicht schon wieder abge strahlt werden. Erst gedachte ich, mich ge nau in diesem Gebäude umzusehen.
Zonen des Schweigens Der dreieckige Raum besaß nur eine Tür, so daß mir die Qual der Wahl erspart blieb. Als ich sie geöffnet hatte, atmete ich auf. Vor mir lag der Zellentrakt, den ich auf den Monitorschirmen gesehen hatte. Einige gefangene Arphas, die direkt an den Gitterstäben standen, wandten den Kopf, als ich den Gang vor ihren Zellen be trat. Ich sah, wie es in ihren Gesichtern ar beitete. Sie hatten mich noch nie zuvor gesehen, also mußten sie mich entweder für einen Freund der schrecklichen Zwillinge halten oder für einen Fremden, der heimlich in die Bergstation eingedrungen war. Letzteres konnte günstig für sie sein. Ich ging bis zur Mitte des Ganges, wobei ich die Gittertüren genau musterte und fest stellte, daß ich sie ohne Hilfsmittel nicht öff nen konnte. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich über haupt berechtigt war, die Gefangenen zu be freien und dadurch zu riskieren, daß einige von ihnen von den Zwillingen und ihren Ro botern getötet wurden, wenn sie zu fliehen versuchten. Ich sagte mir jedoch, daß jedes Lebewe sen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hatte, selbst um seine Freiheit zu kämpfen. In der Mitte des Ganges blieb ich stehen. »Freunde!« sagte ich und ließ das Wort eine Weile auf die Gefangenen einwirken, damit sie begriffen, daß ich nicht ihr Feind war. Ich wußte ja, daß die Arphas die arko nidische Sprache beherrschten. Alle Gefangenen traten an die Gittertüren. Ihre Augen richteten sich auf mich. »Freunde!« wiederholte ich. »Ich bin At lan, ein Freund Riiks, und ich will euch hel fen. Torrelion ist auch mein Feind. Aber wenn ich euch helfen soll, müßt ihr auch mir helfen. Es muß irgendwo einen Impuls schlüssel für die Zellentüren geben …« »Dort!« unterbrach mich einer der Gefan genen. Er streckte seinen Arm durch die Gitter stäbe und deutete auf einen gelben Kasten
31 neben der zweiten Tür des Zellentrakts. Es war ein kleiner Kunststoffkasten. Ich eilte hin und konnte den Kasten mü helos öffnen. Wie ich erwartet hatte, hing darin ein klo biger Impulskodeschlüssel, der wahrschein lich für alle Zellentüren paßte. Ohne zu zö gern, nahm ich ihn an mich und ging zur rechten Zellentür. Ich preßte das eine Ende des Impulskode schlüssels auf das runde elektronische Kode schloß und drückte gleichzeitig den Sensor knopf des Schlüssels nieder. Ein schwaches Summen ertönte, dann sprang die Gittertür auf. Die drei Arphas, die sich in dieser Zelle befanden, warfen sich vor mir auf den Boden und umklammerten meine Knie. »Dafür ist keine Zeit«, sagte ich absicht lich grob. »Ich muß auch die anderen Zellen öffnen. Danach müßt ihr das Gebäude ver lassen und versuchen, so schnell wie mög lich zu eurer Stadt zu kommen. Sagt Riik Bescheid, daß meine Freunde von Torrelion gefangengehalten werden. Ich werde versu chen, allein mit den Knaben fertig zu wer den, aber ich würde es begrüßen, wenn Riik mir einige bewaffnete Männer zu Hilfe schickte.« Schnell öffnete ich die übrigen Zellentü ren. Die Gefangenen strömten heraus. Eini ge hatten verkrustete und teilweise auch ei ternde Wunden. Alle aber waren unterer nährt. Die Kinder schienen sich nur unzurei chend um das leibliche Wohl ihrer Gefange nen gekümmert zu haben. Die ersten Gefangenen öffneten die Tür, die der gegenüber lag, durch die ich gekom men war. Sie drängten hinaus, gefolgt von ihren Leidensgefährten. Ich folgte ihnen ebenfalls und gelangte in einen kleinen runden Raum mit zwei weite ren Türen. Die eine Tür leuchtete bläulich, und als ich genauer hinsah, entdeckte ich, daß sie von einem Energieschirm wie von einem enganliegenden Film überzogen war. Die Schalttaste neben der Tür diente offen bar dazu, den Energieschirm an- und auszu
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schalten. Einige Gefangene schrien entsetzt auf, als ich meine Hand der Schalttaste näherte. Die anderen Arphas drängten sich vor der zwei ten Tür zusammen und öffneten sie. Kühle Nachtluft wehte herein. Innerhalb einer halben Minute waren die Gefangenen ins Freie gestürmt. Ich stand al lein da, ein wenig enttäuscht, denn insge heim hatte ich darauf gehofft, wenigstens ein paar der Eingeborenen würden mir ihre Hilfe anbieten. Doch ihre Furcht vor den schrecklichen Kindern schien stärker zu sein als ihre Dankbarkeit. Ich mußte eben allein sehen, wie ich zu rechtkam.
* Ein tiefes, drohendes Knurren unterbrach meine Überlegungen, welchen Schritt ich als nächstes tun sollte. Ich fuhr herum, vermochte aber kein Le bewesen zu entdecken, das dieses Knurren ausgestoßen haben konnte. Abermals erscholl das Knurren. Es klang gefährlich, wie von einem mord lüsternen wilden Tier, das dazu ansetzt, sich auf seine Beute zu stürzen. Unwillkürlich er schauderte ich. Dann fiel mein Blick auf die bläulich leuchtende Tür. Es mußte einen besonderen Grund haben, daß diese Tür durch einen Energieschirm ge sichert worden war. Die Tür selbst sah ei gentlich stabil genug aus, um sogar dem An sturm eines Kampfroboters standzuhalten. Ich musterte die Schalttaste neben der Tür. Einige der Gefangenen hatten entsetzt ge schrien, als ich meine Hand dieser Taste nä herte. Sie hatten sich also offensichtlich da vor gefürchtet, daß ich die Tür öffnen könn te. Ich sah mich noch genauer in dem Raum um und bald hatte ich die beiden kleinen Gitter entdeckt, die wahrscheinlich die Mün
dungen von Lüftungsrohren abdeckten. Als das Knurren zum drittenmal ertönte, war es mir, als käme es aus diesen Rohren. Gleichzeitig nahm ich einen schwachen Ozongeruch wahr. Mein Blick wanderte wieder zu der Tür mit dem bläulich leuchtenden Energieschirm. Ich wußte nicht, was sich dahinter befand. Aber das Knurren war offenbar aus einem Raum hinter dieser Tür gekommen – und die Eingeborenen hatten sich vor dem gefürch tet, was sich hinter der Tür befand. Langsam näherte ich wieder die Hand der Schalttaste. Halt! raunte mein Extrasinn mir zu. Was immer hinter dieser Tür lauert, es ist gefähr lich, sonst hätten die Kinder die Tür nicht zusätzlich durch einen Energieschirm abge sichert. Laß die Finger davon! Beinahe hätte ich dem Logiksektor mei nes Extrahirns gehorcht. Doch in diesem Moment dröhnten dumpfe Gongschläge durch das ganze Gebäude. Ihre Bedeutung konnte ich natürlich nur erraten, aber mir er schien die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um Alarmsignale handelte, sehr groß. Entweder hatten die Zwillinge die flüch tenden Arphas entdeckt – oder sie hatten be merkt, daß ich aus dem Saal verschwunden war. Es spielte kaum noch eine Rolle für mich, welche Möglichkeit zutraf. Auf jeden Fall würden die Zwillinge ihre robotischen Hel fer mobilisieren, und damit stieg auch die Gefahr für mich. Alles, was zur Verwirrung beitrug, konnte mir eigentlich nur helfen. Wenn hinter der Tür mit dem Energieschirm ein Ungeheuer gefangengehalten wurde, so bewies die zu sätzliche Absicherung, daß die Zwillinge es trotz ihrer robotischen Leibwächter fürchte ten. Ich entschloß mich, das Wagnis einzuge hen und den Energieschirm abzuschalten und die Tür zu öffnen. Das Risiko ist zu groß! warnte mein Ex trasinn eindringlich. Du bist unbewaffnet.
Zonen des Schweigens Mit bloßen Händen kannst du nicht einmal was gegen ein gewöhnliches Raubtier aus richten, geschweige denn gegen ein Untier, dessen Gefängnis zusätzlich durch einen Energieschirm abgesichert werden mußte, weil es zu gefährlich ist. Mein Daumen drückte die Schalttaste nie der. Lieber wollte ich es mit einem Untier auf nehmen, als mit den schrecklichen Zwillin gen. Der bläuliche Energieschirm flackerte, dann brach er zusammen. Erneut ertönte das tiefe Knurren. Diesmal glaubte ich, es durch die massive Tür aus Metallplastik zu hören. Ich legte die Hand auf das Muster, das auch diese Tür zierte. Zischend glitt die Tür nach links zurück. Im nächsten Augenblick flog etwas an mir vorbei, das einer schwarzen Tonne ähnelte. Es krachte an die gegenüberliegende Wand und drückte sie ein. Kreischend zerriß das Metall. Das schwarze Monstrum zerfetzte die Wandung mühelos mit den Krallen und stopfte handtellergroße Metallteile in sein riesiges Maul. Ich wich vorsichtshalber in die Türöff nung zurück, damit sich die Tür nicht schlie ßen konnte. Falls das Untier mich angriff, erhoffte ich mir eine kleine Chance, wenn ich hinter die Tür zurück floh, so daß sie sich zwischen mir und dem tobenden Wesen schloß. Beinahe wäre ich erschrocken und früh zeitig durch die Tür geprellt, als das Untier ein fürchterliches Gebrüll ausstieß. Ich be herrschte mich unter Aufbietung meiner ganzen Willenskraft und konzentrierte mich darauf, das Untier genau zu beobachten. Trotz seiner schnellen Bewegungen sah ich, daß die tonnenförmige schwarze Kör perfülle des Monstrums ein natürlicher Pan zer war. Vier Schuppenbeine und zwei kräf tige Arme ragten ebenso aus diesem Panzer wie ein breiter knochiger Schädel mit faust dicken Augenwülsten. Die Augen waren gelb und strahlten ein intensives Leuchten aus. Von einer Nase
33 konnte ich nichts entdecken, dafür aber eine handgroße Öffnung, durch die das Wesen die abgerissenen Metallfetzen schob und mit zwei Knochenplatten zermalmte. Das Wesen stand aufrecht auf seinen vier Beinen, die ebenso schwarz Waren wie der Panzer und die beiden Arme. Es mochte in dieser Stellung etwa einen dreiviertel Meter hoch sein und annähernd ebenso breit. Und von ihm ging der Ozongeruch aus, den ich vorher wahrgenommen hatte. Dieses Wesen besaß zweifellos einen Me tabolismus, der sich von meinem ebenso un terschied wie der Metabolismus einer Blume von der einer Sonne. Bisher hatte es mich allerdings kaum be achtet. Allmählich entspannte ich mich. Das Monstrum hatte mindestens fünfzig Kilogramm Stahl in sich hineingestopft. Demnach ernährte es sich nicht von protein haltigen Substanzen. Ich durfte also wenig stens sicher sein, daß es mich nicht als eßbar einstufte. Die Gongschläge hatten unterdessen auf gehört. Ich wandte mich um, als ich das Zi schen einer auf gleitenden Tür vernahm. Durch die noch offene Tür zum Zellentrakt sah ich, daß sich die Tür am jenseitigen En de geöffnet hatte. Und in der Öffnung erschienen die beiden Zwillinge. Sie entdeckten mich im gleichen Augen blick wie ich. Grinsend zogen sie ihre Para lysewaffen. Aber plötzlich erstarrten sie. Ihre Blicke gingen an mir vorbei. Offenbar hatten sie entdeckt, daß die Tür hinter mir geöffnet war. Bevor sie diese Entdeckung verdauen konnten, schnellte das Monstrum sich in den Gang des Zellentrakts. Es riß dabei die Hälf te der stählernen Türfüllung mit der rechten Schulter heraus. Die Münder der beiden Kinder öffneten sich weit. »Vorry!« schrien sie gleichzeitig in höch stem Entsetzen. Wie von Furien gejagt, warfen sie sich
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herum und verschwanden durch die Tür, die sich hinter ihnen automatisch schloß. Doch das war für Vorry, wie sie das Mon strum genannt hatten, kein Hindernis. Er warf sich gegen die Tür und drückte sie ein. Seine Füße zerstampften die Trümmer zu ei ner dünnen Blechplatte. Brüllend eilte er weiter, aus meinem Blickfeld hinaus. Die Anspannung der letzten Minuten löste sich bei mir. Ich lehnte mich an eine unver sehrte Wand und lachte. Dann folgte ich Vorry, dem Eisenfresser.
7. Das Monstrum hatte eine Spur der Ver wüstung hinter sich gelassen. Überall kenn zeichneten niedergetrampelte Stahlwände seinen Weg. Aber das, wonach ich halb unbewußt suchte, fand ich nicht. Nirgends lagen die Überreste humanoider Körper herum. Dem nach waren die Zwillinge dem Wesen ent kommen, wahrscheinlich mit Hilfe des Mo saiktransmitters, mit dem ich angekommen war. Ich wußte, was das bedeutete. Die Kinder würden alles unternehmen, um ihre Herrschaft über das technische Erbe der Varganen zu erhalten. Sie würden ihre Kampfroboter einsetzen und ihnen den Be fehl geben, jeden Gegner gnadenlos zu tö ten. Meine einzige Hoffnung war die, daß kein Kampfroboter dem Eisenfresser etwas anha ben konnte. Deshalb entschloß ich mich, ihm weiter zu folgen und in seiner Nähe zu bleiben. Vielleicht fand ich unterwegs eine Waffe, mit der ich mich notfalls verteidigen konnte. Die Spur des schwarzen Monstrums führ te quer durch das Gebäude. Da Vorry nicht auf Türen und Gänge angewiesen war, konnte er Sektionen betreten, die ihm und mir sonst wahrscheinlich verschlossen ge wesen wären. Ich war nicht überrascht, als ich durch ein weiteres Loch in einer weiteren Wand trat
und plötzlich im Freien stand. Die kalte Luft ließ mich frösteln. Aber der neue Tag war schon dabei, die Schatten der Nacht zu vertreiben. Die west lichen Berggipfel glühten in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Der Himmel war von einem dunklen Blau und völlig wolken los. In etwa hundert Metern Entfernung sah ich Vorry über den Hang jagen. Er lief auf recht auf seinen vier kurzen schuppenbe deckten Beinen, was ihm etwas Menschen ähnliches verlieh. Es gab viele Tiere, die zeitweilig aufrecht gingen, aber eben doch nur zeitweilig und dementsprechend unbeholfen. Vorry dage gen bewegte sich so sicher, als wäre bei ihm der aufrechte Gang die Regel. Ich bemühte mein Gedächtnis, um mich an eine Lektion in Evolutionstheorie zu erin nern, die Fartuloon mir einst erteilt hatte. Das fiel mir nicht schwer, denn durch die Aktivierung meines Extrahirns hatte ich ein photographisches Gedächtnis erhalten. Ich konnte nichts mehr vergessen, was ich ein mal optisch aufgenommen hatte – so bei spielsweise bei der Vorführung der Mikro filme über Evolutionstheorie. Der dominierende aufrechte Gang, so er innerte ich mich, stellte eines der äußeren Merkmale jener Intelligenz dar, die sich im bewußten Denken äußert. Es ist eines der Zeichen dafür, daß das betreffende Wesen sich aus seiner Umwelt gelöst, sich über sie erhoben und sich angeschickt hat, sie zu er obern und entsprechend seinen Bedürfnissen umzugestalten. Auf Vorry angewandt, bedeutete das nichts anderes, als daß ich dem Eisenfresser eine Intelligenz zubilligen mußte, die quali tativ über der Intelligenz von Tieren lag. Vorry – ein intelligentes, bewußt denken des Lebewesen …? Ich vermochte es mir nur schwer vorzu stellen. Vorurteile! teilte mir der Logiksektor meines Extrahirns mir. Niemand ist völlig frei von Vorurteilen, auch du bist es nicht.
Zonen des Schweigens Nur, weil Vorry Wände niedertrampelt und Eisen ißt, zweifelst du daran, daß er intelli gent sein könnte. Dabei richten die Zwillin ge erheblich größere Schäden an, und bei ihnen zweifelst du nicht an ihrer Zugehörig keit an einer intelligenten Art. Ich mußte unwillkürlich lächeln. Selbstverständlich hatte mein Logiksektor recht. Ich durfte die Möglichkeit nicht aus schließen, daß Vorry ein intelligentes Lebe wesen war. Immerhin hatte er mich nicht an gefallen. Wieder ertönte das Knirschen, Krachen und Kreischen von zerreißendem Metall. Ich sah, daß Vorry in das gegenüberliegende Gebäude eindrang, unbekümmert darum, ob es dort eine Tür gab oder nicht. Von den bei den Knaben und von Robotern war weit und breit nichts zu sehen. Langsam folgte ich dem Eisenfresser. Der Gang über den Hang war nicht unge fährlich. Überall gab es Spalten, die ich in der Dämmerung leicht übersehen und in de nen ich mit den Füßen hängenbleiben konn te. Außerdem mußte ich immer damit rech nen, im offenen Gelände von einem Ener giestrahl getroffen zu werden. Nach etwa zwanzig Schritten stolperte ich fast über eine reglose Gestalt, die ich zuerst für einen Schatten gehalten hatte. Ich bückte mich und sah, daß es sich um einen Arpha handelte, wahrscheinlich um einen der von mir befreiten Gefangenen. Ein Energiestrahl hatte seinen Körper zur Hälfte aufgelöst. Also lauerten doch irgendwo die Roboter der Knaben. Geduckt huschte ich weiter, suchte die Deckung vor Felsblöcken, verharrte jedesmal sichernd in ihrem fragwürdigen Schutz, bevor ich weiterlief. Aber keine Energiebahn zuckte über den Hang, kein Roboter eilte hinter mir her, kei ne Stimme forderte mich auf, mich zu erge ben. Die Stille wirkte unheimlich; sie wurde nur durchbrochen durch das Rumoren Vor rys, der sich inzwischen in das Bauwerk ge arbeitet hatte.
35 Ich atmete erst auf, als ich durch die Öff nung stieg, die der Eisenfresser in die Au ßenwand gerissen hatte. Dennoch wußte ich, daß der Kampf noch lange nicht entschieden war. Immer noch verfügten die Zwillinge über die besseren Mittel. Ich ahnte, daß sie nicht aus Furcht vor Vorry abwarteten, son dern, weil sie etwas Bestimmtes vorhatten. Irgendwann in der nächsten Zeit würden sie zuschlagen.
* Ich folgte der unverkennbaren Spur des Eisenfressers. Trotz der Verwüstungen funk tionierte aber die Beleuchtung noch, deshalb war ich sofort alarmiert, als sie plötzlich er losch. Meine erste Reaktion war, mich augen blicklich von dem Platz zu entfernen, an dem ich mich vor dem Erlöschen des Lichts befunden hatte. Ich tastete mich an zerknüll ten Stahlkonstruktionen entlang, bemüht, kein Geräusch zu verursachen, und stand plötzlich vor einer Öffnung aus der warme Luft blies. Ich ging auf ein Knie nieder und lauschte. Vorrys Rumoren war verstummt. Viel leicht hatte das Erlöschen des Lichts den Ei senfresser irritiert. Aber ich vernahm auch keine Geräusche von nahenden Gegnern. Natürlich würden Flugroboter sich nicht durch Geräusche verraten. Sie schwebten lautlos heran und wichen jedem Hindernis aus. Aber wenn sie nahe genug waren, konn te man, vor allem in dieser Stille, das schwa che Summen ihrer Antigravaggregate hören. Ich konnte nichts dergleichen feststellen. Dennoch fühlte ich mich nicht erleichtert. Ich tastete behutsam den Rand der Öff nung ab, aus der unvermindert warme Luft blies. Sie hatten einen Durchmesser von un gefähr einem Meter, was für den Teil eines Abluftsystems relativ groß war. Ich überlegte, ob ich durch die Öffnung kriechen sollte, verzichtete jedoch darauf. Ohne Licht konnte ich mich in einem Rohr system unter Umständen hoffnungslos verir
36 ren. Meine Gedanken schweiften zu Fartuloon und Ra ab. Sie mußten eigentlich inzwischen aus der Paralyse erwacht sein. »Erwacht« war natür lich nicht der richtige Ausdruck, denn ein Paralysierter ist ja bei vollem Bewußtsein, braucht also nicht erst zu erwachen. Aber die Lähmung mußte abgeklungen sein. Ob die Zwillinge sie erneut paralysiert hatten? Oder hatten sie sie woanders hinge bracht? Ich wagte nicht, an das Schlimmste zu denken, obwohl es im Bereich des Mögli chen lag. Erstmals wurde mir klar, daß ich mir ein Leben ohne Fartuloon nicht vorzu stellen vermochte. Ich mußte etwas unternehmen, mußte da für sorgen, daß die Zwillinge keine Zeit hat ten, sich um Fartuloon und Ra zu kümmern. Langsam schlich ich weiter, stolperte über einen Stahlträger und blieb lauschend ste hen. Aber nichts rührte sich. Ich fühlte mich versucht, laut zu schreien, um die unheimliche Stille zu durchbrechen, doch ich konnte diesem Drang widerstehen. Vielleicht wollten die Zwillinge gerade das provozieren, indem sie mich in Dunkelheit und Schweigen allein ließen. Nach einer Weile setzte ich meinen Weg fort. Als ich an eine Schachtöffnung kam, streckte ich die Hand aus und spürte die von einem Kraftfeld verursachte Schwerelosig keit. Ein Antigravschacht! Nach kurzem Überlegen entschloß ich mich dazu, mich nicht dem Kraftfeld anzu vertrauen. Ohne Flugaggregat wäre ich in dem Antigravschacht verloren, wenn die Zwillinge auf den Gedanken kamen, das Kraftfeld auszuschalten. Aber ich hielt es für sicher, daß auch die Varganen neben ihren Antigravschächten Nottreppen oder Notleitern angebracht hat ten. Die beste Technik konnte versagen, und wenn es nur durch das Ausfallen der Strom zufuhr war. Für solche Fälle pflegten intelli gente Wesen vorzusorgen.
H. G. Ewers Tatsächlich entdeckte ich den schmalen Einstieg zu einer stark gewendelten Treppe wenige Sekunden später neben der Öffnung des Antigravschachtes. Diesmal zögerte ich nicht, sondern stieg so schnell wie möglich die Stufen hinab. Da bei zählte ich die einzelnen Stufen, getreu dem Grundsatz, den Fartuloon mir immer wieder eingetrichtert hatte, nämlich, überall vorhandene Orientierungshilfen zu benut zen. Auf der hundertsiebzigsten Stufe legte ich eine Pause ein. Der Treppenschacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Wieder lauschte ich. Aber außer meinem eigenen Atmen konnte ich keinen Laut vernehmen. Nach einiger Zeit setzte ich meinen Weg fort, und nach der zweihundertachtundneun zigsten Stufe war die Treppe endlich zu En de. Ich blieb stehen und tastete die Wände ab. Plötzlich bewegte sich ein Stück Wand unter meinen Händen, glitt zischend zurück. Trübrote Helligkeit fiel durch eine recht eckige Öffnung in den Treppenschacht. Ich war einen Schritt zurückgetreten. Als das Zischen der Tür – oder des Schotts – verstummte, lag vor mir ein schmaler Gang, dessen Boden glitzerte, als hätte jemand Glasstaub auf ihn gestreut. Ich fühlte mich erleichtert. Bei Licht sah die Welt völlig anders aus. Arkoniden waren eben, wie die meisten Humanoiden, typische Taglebewesen, die sich in völliger Dunkelheit nur mangelhaft orientieren konnten. Hinzu kam, daß unsere fernen Vorfahren zweifellos Tiere zu Geg nern gehabt hatten, die nachts jagten. Das machte die Dunkelheit automatisch zu etwas Bedrohlichem, in dem Gefahren lauerten. Entschlossen und von neuer Zuversicht beseelt, trat ich in den Gang. Hinter mir schloß sich die Tür wieder. Das störte mich allerdings nicht, denn alle modernen Türen schlossen sich automatisch wieder. Meine Zuversicht schwand jedoch wieder, als ich etwa zehn Meter zurückgelegt hatte und die Wände des Ganges plötzlich halb
Zonen des Schweigens transparent wurden. Gleichzeitig flackerte die rötliche Beleuchtung, und von dem glit zernden Boden war nichts mehr zu sehen. Offenbar war ich in eine Falle gelaufen – ich wußte nur noch nicht, wie sie funktio nierte …
* Eine Weile verharrte ich unschlüssig auf einem Fleck. Noch wußte ich nicht, ob ich stehenbleiben, vorwärtsgehen oder umkeh ren sollte. Doch dann sagte ich mir, daß diese Falle – falls es sich tatsächlich um eine handelte – nicht von den Zwillingen konstruiert und er baut worden sein konnte. Das dazu erforder liche Spezialwissen vieler Fachgebiete traute ich ihnen denn doch nicht zu. Vielmehr mußte auch dieser Teil der Station aus der Zeit der alten Varganen stammen. Das gab mir neue Hoffnung, denn nir gends im Dreißig-Planeten-Wall hatten wir Anlagen entdeckt, die zur Abwehr von An griffen aus dem Weltraum nötig gewesen wären. Alles hatte darauf hingedeutet, daß der Dreißig-Planeten-Wall niemals in einen Krieg verwickelt worden war. Folglich hatte es für die Erbauer der Stati on keine Notwendigkeit gegeben, sich gegen Feinde zu schützen. Fartuloon und ich hatten denn auch die Gebäude gleich als Teile einer ehemaligen Experimentierstation der Varga nen angesehen. Wo mit dimensional übergeordneten Kräften experimentiert wurde, da gab es na türlich auch Sektionen, die man lieber nicht ohne Schutzmaßnahmen aufsuchte. In eine solche Sektion der Gesamtanlage schien ich hineingeraten zu sein. Ob die Zwillinge das beabsichtigt hatten oder nicht, war eine an dere Frage. Als sicher erschien mir, daß sie die grundlegenden Funktionen der Anlage nicht verändern konnten. Ich entschloß mich dazu, weiterzugehen. Der Boden des Ganges trug jedenfalls noch immer, obwohl er nicht mehr zu sehen war. Aufmerksam beobachtete ich die halb
37 transparenten Wände. Hinter ihnen glaubte ich schemenhaft Bewegungen zu erkennen. Aber das rötliche Licht flackerte inzwischen so stark, daß es sich durchaus um Sinnestäu schungen handeln konnte. Als ich ungefähr fünfzig Meter zurückge legt hatte, erklang ein dumpfer Heulton, der immer höher wurde, je weiter ich kam. Er fiel mir so auf die Nerven, daß ich noch schneller ausschritt, in der Hoffnung, er würde dann wieder aufhören. Ich hatte mich getäuscht. Das Heulen wurde immer schriller und verursachte mir starke Kopfschmerzen. Be nommen taumelte ich weiter. Schließlich blieb ich stehen und blickte zurück. Ich erschrak. Der Gang, durch den ich gekommen war, existierte nicht mehr. Hinter mir lag nacht schwarze Finsternis – und sonst nichts. Ich preßte die Lippen zusammen und ver suchte, sowohl gegen die rasenden Kopf schmerzen als auch gegen die aufkeimende Panik anzukämpfen. Wie sollte ich je den Rückweg wiederfin den, wenn er in Dunkelheit gehüllt war. Ich versuchte einen Schritt zurück und hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Ab grund zu stürzen. Ein Schrei löste sich von meinen Lippen. Ich taumelte vorwärts und atmete auf, als ich mich wieder in dem trüb roten Flackerlicht des Ganges befand. Doch ich wußte, daß ich nicht mehr lange durchhalten würde. Die Kopfschmerzen stei gerten sich von Sekunde zu Sekunde. Schon tanzten rote Kreise vor meinen Augen. Ich wankte weiter, entschlossen, das Ende des Ganges zu erreichen, ganz egal, was mich dort erwartete. Als ich mich nicht mehr halten konnte, stützte ich mich an der rech ten Seite des Korridors ab. Jedenfalls wollte ich mich abstützen, aber meine Hände fanden keinen Halt. Wieder hatte ich das Gefühl des Fallens. Die sche menhaften Bewegungen hinter der offenbar immateriellen halbtransparenten Wand nah men deutlichere Konturen an. Ich strauchelte und fiel. Feuchtigkeit
38 schlug über mir zusammen. Meine Finger suchten nach einem Halt und krallten sich in etwas Feuchtwarmes, von dem Modergeruch aufstieg. Schreiend sprang ich auf – und starrte fas sungslos auf eine Mauer aus trüber, vor Feuchtigkeit dampfender Vegetation, die mich von allen Seiten umgab. Zahlreiche undefinierbare Geräusche drangen an meine Ohren und verwirrten mich noch mehr. Wo war ich? Das ist ein anderer Planet oder eine an dere Zeit! raunte der Logiksektor meines Extrahirns mir zu. Ich schloß stöhnend die Augen, als die Er kenntnis der Wahrheit mich blitzartig er leuchtete. Die Schweigenden Zonen konnten nichts anderes bedeuten, als daß die alten Varga nen mit der Zeit experimentiert hatten. Wenn es ihnen aber gelungen war, Stasisfel der zu schaffen, in denen der Zeitablauf bis fast auf Null verlangsamt wurde, warum sollte es ihnen dann nicht auch möglich ge wesen sein, mit der Zeitreise zu experimen tieren. So, wie meine Umgebung jetzt aussah, so hatte möglicherweise früher ein großer Teil der Festlandfläche dieses Planeten ausgese hen. So sieht er jetzt aus, du Narr! gab mein Extrasinn durch. Du befindest dich weit in der Vergangenheit. Meine Knie drohten nachzugeben. Verzweifelt hielt ich Ausschau nach dem Korridor, durch den ich gekommen war. Du kannst ihn nicht sehen, denn er exi stiert nur in der Relativzukunft! erklärte mein Logiksektor. Es handelt sich bei dem Gang um eine Art Zeittunnel. Aber wenn der Tunnel hierher führt, dann muß er hier auch irgendwo existieren! dach te ich. Es muß doch eine Möglichkeit geben, durch ihn in meine eigene Zeit zurückzukeh ren. Nicht, wenn er einpolig geschaltet wurde! erwiderte mein Logiksektor. Ich unterdrückte eine Verwünschung.
H. G. Ewers Mit wurde klar, was geschehen war. Die Zwillinge hatten gewartet, bis ich den Zeittunnel betreten hatte, dann hatten sie ihn so gepolt, daß man in ihm zwar in die Ver gangenheit gehen konnte, aber nicht wieder zurück. Und ich konnte von hier überhaupt nichts tun. Ich war völlig machtlos, abgeschnitten von meiner eigenen Zeit, vielleicht eine Mil lion Jahre von ihr getrennt. Resigniert ließ ich die Arme sinken. Ich war zum Dreißig-Planeten-Wall ge kommen, um eine Spur zum Stein der Wei sen zu finden, damit ich Orbanaschol III. stürzen und das Erbe meines Vaters antreten konnte. Das Ergebnis all dieser Anstrengungen war, daß ich in einer Zeit strandete, in der es wahrscheinlich weder Arkoniden noch das Große Imperium gab – und das alles zweier Kinder wegen, die mit dem Erbe der varga nischen Übertechnik ihre unmenschlichen Spiele spielten. Ich lachte bitter, als mir ein Gedanke kam, der mir so wahnwitzig erschien, daß seine Durchführung schon wieder in den Be reich des Vorstellbaren rückte. Angenommen, auf dieser Urwelt lebten bereits die primitiven Vorfahren der späte ren Varganen und ich traf mit ihnen zusam men, dann konnte es durchaus sein, daß ich mit meinem umfangreichen Wissen der Be gründer der Urzivilisation der Varganen wurde, deren technische Hinterlassenschaft mich dann zum Dreißig-Planeten-Wall führ te, wo ich in den Zeittunnel meiner Nach kommen geriet und erst die Grundlagen für diesen teuflischen Zeitzirkel legte. Das ist nicht möglich, weil es ein echtes Paradoxon wäre! erklärte der Logiksektor meines Extrahirns. Es hieße, die Kausalbe ziehung umzukehren, die Wirkung vor die Ursache zu stellen. Das ernüchterte mich wieder. Erneut schwankte ich zwischen Hoffnung und Niedergeschlagenheit. Ich wußte, wenn ich auf dieser Urwelt Eingeborene traf, so würde ich versuchen,
Zonen des Schweigens mit ihnen zusammen die Grundlagen für ei ne erste varganische Zivilisation zu legen. Da das aber nicht möglich war, weil Para doxa sich selbst ausschlossen, hatte ich diese Zeit entweder wieder verlassen können oder ich war umgekommen, bevor ich die Grund lagen einer Zivilisation legen konnte. Ich seufzte. Welche von beiden Möglichkeiten sich auch immer erfüllte, ich würde es in abseh barer Zeit erfahren.
8. Zuerst hatte ich noch gehofft, das Tier be fände sich auf der Spur eines anderen Wil des, doch nach kurzer Zeit schon war mir klar geworden, daß ich das Wild war, an das es sich heranpirschte. Ich duckte mich hinter einen umgestürz ten, halbvermoderten Baumriesen und späh te zurück. Undeutlich nahm ich zwischen Farnwe deln eine Bewegung wahr, dann funkelten mich die glühenden Augen eines Tieres an. Vorhin, als ich es einmal voll zu Gesicht bekommen hatte, erkannte ich, daß es sich um eine große Raubkatze handelte. Sie war ungefähr drei Meter lang, anderthalb Meter hoch und bewegte sich mit der Geschmei digkeit eines Jägers, der im Dschungel zu Hause war. Ich sah keine Möglichkeit, das Tier mit bloßen Händen zu töten. Der unvermeidlich scheinende Kampf würde sehr kurz sein – und der Sieger stand schon jetzt fest. Wahrscheinlich würde ich mein Leben in dieser Zeit beenden. So sah es aus. Ich spähte an einem glatten Baumstamm empor. Vielleicht konnte ich mich retten, wenn ich den Stamm hinaufkletterte. Doch er war zu glatt, und seine Äste fingen erst in etwa acht Metern Höhe an. Dennoch würde ich es versuchen, denn so weit ich sehen konnte, boten auch andere Bäume keine günstigere Klettermöglichkeit. Ein dumpfes Grollen ertönte.
39 Wieder blickte ich mich nach dem Tier um. Es hatte sich weiter genähert, war nur noch ungefähr zehn Schritt von mir entfernt. Wenn ich aufsprang und losrannte, würde es mich mit zwei oder drei Sätzen erreichen. Ein Biß seiner starken Zähne in meinen Nacken – und es würde vorbei sein. Nein, das war nicht die Art und Weise, in der ich zu sterben wünschte. Mein Stolz reg te sich, obwohl das in dieser Lage ein irra tionales Gefühl war. Ich war meinen Geg nern stets Auge in Auge gegenübergetreten. Sollte ich nun, da ich sterben mußte, dem Gegner den Rücken wenden? Mein Blick fiel auf einen abgebrochenen Ast, der in Reichweite meiner Hände lag. Er war nur etwa zwei Finger dick und wahr scheinlich morsch. Er taugte ohnehin nicht als echte Waffe gegen einen Gegner wie die se Raubkatze. Ich konnte nur versuchen, durch ein Ver halten, wie es die Raubkatze von ihren frü heren Opfern gewohnt war, seinen Fluchtin stinkt zu wecken. Ich packte den Ast, sprang auf und schrie das Tier an, während ich den Ast wild über dem Kopf schwang. Die Raubkatze schnellte überrascht hoch, sprang zur Seite, duckte sich und fauchte. Ich wußte, daß ich ihr keine Zeit lassen durfte. Also sprang ich über den Baum stamm hinweg, schwang erneut den Ast und schrie aus vollen Lungen. Die Raubkatze riß ihren dampfenden Ra chen auf, brüllte laut und zog sich kriechend zurück. Plötzlich schnellte sie wieder einige Meter vor fauchte und duckte sich zum Sprung. Vorbei! dachte ich. Es hat nicht funktio niert! Meine Gedanken rasten durch die Erinne rungen weit in die Vergangenheit zurück, die, von hier und jetzt betrachtet, Zukunft gewesen war. Ich eilte über meine Kindheit, die Jugendzeit, die Zeit mit Fartuloon und Farnathia wieder zurück zum Jetzt, das en den würde, lange bevor ich geboren worden war.
40 Ein lautes Brüllen schreckte mich aus dem tranceartigen Zustand, der die kreatürli che Furcht vor dem Sterben verdrängt hatte. Ich kehrte in die Gegenwart zurück. Mein Blick erfaßte ein gedrungenes schwarzes Wesen, das pfeilschnell durch das Unterholz auf die Raubkatze zuschnellte. Das Raubtier hatte gerade noch Zeit, sich herumzuwerfen, und den neuen Gegner zu sehen, dann starb es. »Vorry!« sagte ich fassungslos und gleichzeitig unendlich erleichtert. »Vorry, wo kommst du her?« Dumme Frage! meldete sich der Logik sektor meines Extrahirns. Natürlich ist er ebenfalls durch den Zeittunnel gekommen. Vorry richtete sich über der toten Raub katze auf, blickte zu mir herüber. Seine Au gen funkelten tatsächlich wie brennende Kerzen. Langsam kam er auf seinen vier Beinen auf mich zu. Er ging aufrecht. Etwa zwei Meter vor mir blieb er stehen. Ich wagte einen Versuch, den ich vor we nigen Stunden vielleicht noch für lächerlich gehalten hätte. Ich legte meine Hände zusammen, drück te und schüttelte sie. Vorry gab einige Grunzlaute von sich, dann wiederholte er die Geste. Nun gab es für mich keinen Zweifel mehr daran, daß der Eisenfresser intelligent war. Er hatte sofort begriffen, daß ich mit meiner Geste eine Verständigung einleiten wollte, und wahrscheinlich wußte er auch, daß diese Geste Freundschaft ausdrücken sollte. Von Fartuloon hatte ich gelernt, zur Ver ständigung mit anderen Intelligenzen die Zeichensprache zu benutzen, wenn es keine gemeinsame akustische Verständigungsbasis gab. Dieses Wissen wandte ich an, um Vorry klarzumachen, daß wir zusammenbleiben sollten. Der Eisenfresser sah mir interessiert zu, dann hob er die rechte Hand – ich sah erst jetzt, daß sie achtfingrig war – und bildete aus dem gut ausgeprägten Daumen und dem ersten Finger einen Kreis.
H. G. Ewers Die Verständigung mit Vorry war wesent lich leichter, als ich mir vorzustellen gewagt hatte. Und er schien einverstanden zu sein, daß wir zusammenblieben, obwohl ich doch gegen ihn ein kraftloser Schwächling war. Aber vielleicht hielt er zu mir, weil ich ihn aus der Gefangenschaft der Zwillinge befreit hatte. Mit seiner Hilfe, so wußte ich, würde sich das Problem des Überlebens mühelos lösen lassen. Vielleicht wurde ich doch noch der Urvater der varganischen Zivilisation. Es ist unmöglich! teilte mir mein Logik sektor mit. Was nicht sein kann, wird nicht werden. »Es gibt nichts, was es nicht gibt«, sagte ich laut, dann wandte ich mich wieder Vorry zu. »Ich schlage vor, wir sehen uns ein we nig um«, sagte ich und ließ die entsprechen den Gesten folgen. Vorry tat – ebenfalls durch Gesten – sein Einverständnis kund und wandte sich um. Sein massiger, kraftstrotzender Körper walz te das Unterholz nieder wie ein Panzerwa gen.
* Während ich hinter dem Eisenfresser her ging, fragte ich mich, auf welchem Planeten Vorrys Art beheimatet war. Noch nie hatte ich von Wesen wie ihm gehört, und auch Fartuloon, der viel mehr wußte als ich, hatte noch nie von intelligenten Eisenfressern be richtet. Ich nahm mir vor, entweder Vorry meine Sprache beizubringen oder seine zu lernen, denn allein mit der Zeichensprache war kei ne differenzierte Kommunikation möglich. Eigentlich seltsam! dachte ich. Warum in teressiere ich mich für Dinge, die erst weit in der Zukunft existieren? Aber so war es nun einmal. Meine Wißbegierde erstreckte sich nicht auf Gebiete, die von unmittelbarem prakti schen Nutzen waren. Ich wollte alles wissen, oder doch soviel, wie ich in meinem Leben in mich aufnehmen konnte.
Zonen des Schweigens Nachdem wir ungefähr zwei Stunden durch den Dschungel marschiert waren, machte sich bei mir Hunger bemerkbar. Ich hatte seit mindestens fünfzehn Stunden nichts gegessen. Meinen Durst dagegen hat te ich mühelos an dem Wasser stillen kön nen, das sich in zahllosen großen Blättern angesammelt hatte. Vorry schien zu spüren, daß ich dringend Nahrung brauchte. Er gab mir durch Gesten zu verstehen, daß ich auf ihn warten sollte. Danach tauchte er im Unterholz unter. Aber schon wenige Minuten später kehrte er zu rück, eine Art Gürteltier unter den rechten Arm geklemmt. Ich bedauerte, daß ich nicht einmal mehr ein Messer besaß, um das Tier zu zerlegen. Vorry enthob mich dieses Problems. Er riß das Tier mühelos auseinander und schälte die besten Fleischstücke von den Knochen. Was hätte ich jetzt um ein Feuer gegeben! Aber wo sollte ich ein Feuer hernehmen? Ich wußte zwar, wie man aus einem Stück trockenem Holz und einem Holzstab Feuer erzeugte, doch in diesem Dschungel gab es nur feuchtes Holz. So nahm ich denn ein Stück rohes Fleisch und kaute daran. Es schmeckte keineswegs widerlich, sondern hatte einen süßlichen Nußgeschmack. Aber es war eben rohes Fleisch, für dessen Verzehr meine Kauwerk zeuge nur schlecht geeignet waren. Ich half mir, indem ich mit den Zähnen kleine Stücke abriß und sie ganz schluckte. Als ich gesättigt war, hob ich den Kopf und sagte: »Danke, Vorry!« Vorry sah mich nur an. Mir fiel auf, daß seine Augen schwächer leuchteten. Auch seine Haltung kam mir verändert vor. Kräfteschwund! kommentierte mein Lo giksektor. Vorry ernährt sich von Eisen. Das aber gibt es hier nicht. Da er außerdem einen sehr schnell ablaufenden Stoffwechsel haben dürfte, lassen seine Kräfte rapide nach. Ich erschrak.
41 Mir wurde klar, daß Vorry sterben würde, wenn er nicht bald eisenhaltige Nahrung fand. Dann würde ich wieder ganz auf mich allein gestellt sein. Ganz abgesehen davon, daß ich den Eisenfresser bereits ins Herz ge schlossen hatte. Ich erhob mich. »Wir werden schon etwas für dich fin den«, sagte ich und ließ die entsprechenden Gesten folgen. Vorry gab ein paar Laute von sich. Kein Knurren und Grunzen wie bisher, sondern Töne, die schon eher an eine differenzierte Sprache erinnerten. Leider beherrschte ich sie nicht – und vielleicht würde ich sie nie erlernen, wenn wir nicht bald brauchbare Nahrung für Vorry fanden. Ruhelos streiften wir durch den Dschun gel. Diesmal riß und trampelte Vorry nicht mehr jedes Hindernis nieder wie zuvor, son dern umging die dicken Baumstämme. Mei ne Sorge stieg. Manchmal blieb Vorry stehen und wühlte den Boden auf. Ich wußte, daß er nach Ei senerz suchte, nach einer erzhaltigen Ader zumindest. Doch die Chance, so etwas im Dschungelboden zu finden, war gering. Der Eisenfresser wurde zusehends schwä cher. Er mußte immer wieder Pausen einle gen. Ich verzweifelte fast, als ich sah, wie er sich nach jeder Pause immer mühsamer auf rappelte. Dann kam der Zeitpunkt, wo er nicht mehr weiterkonnte. Er lehnte sich an einen Baumstamm und blickte mich aus beinahe erloschenen Augen traurig an. »Du mußt durchhalten, Vorry«, sagte ich. »Warte hier. Ich werde allein suchen. Viel leicht finde ich etwas für dich.« Ich wußte, daß ich mir nur etwas vor machte. Wenn Vorry, der doch sicher einen ausgeprägten Spürsinn für Eisen hatte, keine Nahrung gefunden hatte, dann würde ich erst recht nichts finden. Aber mir widerstrebte es, aufzugeben. Vorry machte eine müde Geste des Ein verständnisses. Er hatte wohl alle Hoffnung aufgegeben.
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H. G. Ewers
Ich wandte mich ab und arbeitete mich durch den Dschungel. Die Sorge um den Freund spornte mich zu Leistungen an, die ich mir vorher selbst nicht zugetraut hätte. Aber auch für mich kam der Punkt, wo es nicht weiterging. Meine Knie gaben zitternd vor Erschöpfung nach. Ich brach zusammen, hielt mich an einem umgestürzten Baum stamm fest und versuchte gegen die Gewich te anzukämpfen, die scheinbar an meinen Lidern hingen und sie herabzuziehen droh ten. In diesem Augenblick sah ich es …!
* Vor mir lag eine helle Lichtung, in deren Mitte sich blühende Schlingpflanzen bis zur Höhe von zirka zehn Metern um etwas rank ten, das die ungefähre Form eines halbierten Eies haben mußte. Eigentlich verriet es sich nur durch die hohe schlanke Antenne, die rund fünf Meter hoch aus dem Wust von Schlingpflanzen ragte. Doch da niemand lediglich eine An tenne in den Dschungelboden stecken wür de, durfte ich annehmen, daß sich unter den Schlingpflanzen die dazugehörige Sendesta tion verbarg. Und wo eine Sendestation gab, gab es auch Metall und Metallplastik, jeden falls aber Material, das genügend Eisen ent hielt, um Vorry für einige Tage Nahrung zu spenden. Am liebsten wäre ich hinübergerannt, hät te mich durch die Schlingpflanzen gewühlt und versucht, einige Brocken Metallplastik zu bergen, um sie Vorry zu bringen. Ich wußte jedoch, daß ich damit nur Zeit vergeuden würde. Ich konnte weder Metall plastik zerreißen noch eine Last von viel leicht fünfzig Kilogramm durch den Dschungel zu Vorry schleppen. Die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen, war, schnellstens zu ihm zurückzukehren und ihn zu der Nahrungsquelle zu führen. Ich riß mich hoch. Die Freude über mei nen Fund verlieh mir neue Kräfte. So schnell ich konnte, arbeitete ich mich durch den
Dschungel zurück. Erst auf halbem Wege kam mir der Ge danke, wie gering eigentlich die Wahr scheinlichkeit gewesen war, ausgerechnet auf einer wilden Urweit die Sendestation in telligenter Wesen zu finden. Da ich nirgends sonst Anzeichen für eine funktionierende Zivilisation entdeckt hatte, mußte die Sendestation das Überbleibsel ei ner Expedition aus dem Weltraum sein, de ren Mitglieder es wohl für zu mühselig ge halten hatten, bei ihrem Abzug die Station zu demontieren und mitzunehmen. Folglich gab es schon zu dieser Zeit intel ligente raumfahrttreibende Völker. Ich blieb stehen. Vielleicht funktionierte der Sender noch oder ließ sich reparieren. Wenn es ein Hy persender war, konnte ich möglicherweise Verbindung zu den Wesen aufnehmen, die ihn auf diesem Planeten zurückgelassen hat ten. Dann brauchte ich nicht den Rest meines Lebens in einer wilden Umwelt und viel leicht unter Wilden zu verbringen. Ich schüttelte den Kopf. Nein, wichtiger war, daß Vorry erst ein mal ausreichend Nahrung bekam, damit er nicht verhungerte. Und wenn ich mir damit die einzige Möglichkeit nahm, jemals wie der in eine zivilisierte Umwelt zu gelangen, ich würde einen Freund nicht umkommen lassen. Ich ging weiter. Als ich Vorry erreichte, taumelte ich nur noch, und als ich sah, daß der Eisenfresser reglos auf dem Boden lag, war ich dem end gültigen Zusammenbruch nahe. War Vorry etwa während meiner Abwe senheit gestorben? Ich atmete auf, als das Wesen den Kopf hob. Seine Augen leuchteten nur noch trübe, und flackerten, als würden sie im nächsten Moment erlöschen. Ich hielt mich an einem Baumstamm fest. »Vorry, ich habe Eisen gefunden!« sagte ich und zeigte in die Richtung, aus der ich gekommen war.
Zonen des Schweigens Der Eisenfresser schien zu begreifen, was ich meinte. Seine Augen leuchteten heller. Langsam stand er auf, kam auf mich zu. Ich konnte mich nicht mehr halten. Meine letzten Kraftreserven waren verausgabt. Ich glitt langsam am Stamm herab. »Geh allein!« flüsterte ich. »Ich komme nach, sobald ich mich ausgeruht habe.« Vorry blickte mich lange an, dann packte er mich und hob mich trotz seiner eigenen Schwäche anscheinend mühelos hoch. Er legte mich über seine rechte Schulter – wenn man den Rand seines Tonnenpanzers als Schulter bezeichnen durfte – und tappte mit mir durch den Urwald. Ich verlor das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Lichtung. Ich hörte mahlende, krachende und berstende Geräusche und wandte den Kopf in die Richtung, aus der sie kamen. In der Wand der Schlingpflanzen klaffte ein kreisrundes Loch vom Durchmesser Vorrys. Offenbar hatte sich Vorry gleich nach seiner Ankunft durch die Pflanzen ge arbeitet und das Metall oder Metallplastik unter seine Zähne genommen. Ich setzte mich auf. Meine Erschöpfung war abgeklungen, aber auch ich würde bald wieder Nahrung zu mir nehmen müssen. Fürs erste war ich zu frieden damit, daß ich Vorry vor dem Hun gertod gerettet hatte. Das Material der Sen destation würde mindestens einige Tage rei chen. Inzwischen mußten wir versuchen, weitere Nahrungsquellen für ihn zu erschlie ßen. Als Vorry zurückkehrte, leuchteten seine Augen im alten Glanz. Er kam zu mir und bezeigte mir durch Gesten seine Dankbar keit. Ich stand auf. »Das war doch selbstverständlich, Vor ry«, wehrte ich ab. »Ich werde mir die Stati on einmal von innen ansehen.« Ich ging hinüber und spähte durch das Loch, das Vorry in die Schlingpflanzen ge rissen hatte. Dahinter entdeckte ich eine grau schimmernde Stahlplastikwand, aus der
43 große Teile herausgerissen waren. Aber ich entdeckte noch etwas – und das erregte mich aufs Höchste. Wenn ich durch das Loch in der Stahlpla stikwand blickte, sah ich weit hinten im Dunkeln einen trübrot schimmernden Punkt, ein Licht, das nicht auf natürliche Weise hierher gekommen sein konnte. Ohne zu zögern, arbeitete ich mich durch die Öffnung in der Wand, kam auf die Füße und ging langsam auf den trübrot schim mernden Punkt zu. Es war zu dunkel, um im Innern der Sen destation Genaueres zu sehen. Aber rings um den schimmernden Punkt erkannte ich doch etwas, nämlich das Metallplastikrelief eines Gesichts mit hoher Stirn, eine Art Maske, die wohl das Gesicht eines humanoi den Lebewesens darstellen sollte. Das Gesicht eines Varganen? Es wäre denkbar! teilte mir mein Logik sektor mit. Varganen errichteten den Zeit tunnel in die Vergangenheit. Warum sollten sie nicht ein Zeugnis ihrer Art zurückgelas sen haben? Erregt trat ich näher an das Gesicht heran. Der trübrot schimmernde Punkt befand sich in der Stirn. Behutsam strich ich mit den Fingerspitzen über das Relief. Plötzlich zuckte ich zurück. Unter meinen Fingerspitzen hatte das Ma terial deutlich vibriert! Wer bist du? Meine Haltung versteifte sich. Nicht, weil ich mich fürchtete, sondern weil meine Erre gung ihren Höhepunkt erreichte und sekun denlang meine Denkprozesse abschaltete. Wer bist du? Die Lähmung fiel von mir ab. Ich konnte plötzlich mit unwahrscheinlicher Klarheit denken. Und mir wurde klar, daß ich keine akustische Frage gehört hatte, sondern daß die Frage in meinem Bewußtsein entstanden war. »Ich bin Atlan, Kristallprinz von Arkon«, antwortete ich. »Und wer bist du?« Ich bin Ngulh, der überall ist und Unheil verhindert.
44 Ich runzelte die Stirn. Ein Zeitwächter! teilte mir mein Logik sektor mir. Wahrscheinlich eine Maschine, die Manipulationen in der Vergangenheit verhindern soll. »Bist du ein Vargane?« fragte ich trotz der Definition meines Logiksektors. Ja und Nein. Viele Varganen gaben ihre körperliche Existenz auf, um in Ngulh zu ei ner Einheit zu verschmelzen, die auf elektro nischer Basis arbeitet. Du gehörst nicht in diese Zeit, Atlan. Was suchst du hier? »Ich suche einen Weg zurück in meine Zeit«, antwortete ich. »Ich bin nicht freiwil lig hier. Aber der Rückweg ist mir versperrt. Zwei bösartige Kinder haben den Zeittunnel einpolig geschaltet.« Eine Weile vernahm ich nichts mehr, dann regte sich abermals die »Stimme« in meinem Bewußtsein. Atlan, Kristallprinz von Arkon, du wür dest dich auf dieser Zeitebene zu einem Stör faktor für die Evolution entwickeln. Es könn te zu einem Präparadoxon kommen. Das darf ich nicht zulassen. Ich biete dir an, ent weder mit uns zu verschmelzen oder in deine eigene Zeit zurückzukehren. Entscheide dich! »Kannst du mich denn in meine Zeit zu rückschicken?« fragte ich, denn die Ver schmelzung meines Bewußtseins mit denen der Varganen in einer Art elektronischem Gehirn erschien mir nicht erstrebenswert. Ich kann! Dazu bin ich da. Mein Herz schlug höher. »Dann schicke mich zurück!« forderte ich. »Aber schicke auch meinen Freund Vorry zurück!« Er stellt keinen Störfaktor dar. Folglich besteht keine Notwendigkeit, ihn aus dieser Zeitebene zu entfernen. »Und ob er einen Störfaktor darstellt!« gab ich zurück. »Vorry ist ein Eisenfresser. Er würde dich auffressen, wenn er hierblei ben müßte.« Es ist gut. Plötzlich vernahm ich ein hohles Brausen, das schnell anschwoll. Um mich herum wogten gelbliche Nebel, dann tat sich vor mir trichterförmig ein anscheinend rotieren
H. G. Ewers der, trübrot leuchtender Tunnel auf.! Ich spürte, wie ich mit rasender Ge schwindigkeit durch diesen Tunnel schwebte – und plötzlich war die Bewegung zu Ende. Ich stand auf dem glitzernden Boden ei nes von trübrotem Licht erfüllten Tunnels – und vor mir befand sich eine offene Tür. Ein Knurren ließ mich den Kopf wenden. Hinter mir stand Vorry. Ich zögerte nicht länger, sondern trat entschlossen durch die Türöff nung. Vorry folgte mir. Wir waren wieder in unserer Zeit und in dem Stützpunkt der bösartigen Zwillinge.
9. Wir eilten die Wendeltreppe hinauf, nach dem ich Vorry durch Zeichen gebeten hatte, sich unauffällig zu benehmen. Die Zwillinge schienen noch nicht be merkt zu haben, daß wir zurückgekehrt wa ren. Ich hoffte, sie überraschen und überwäl tigen zu können. Schließlich konnten sie nicht ahnen, daß es hinter dem Ende des Zeittunnels einen Wächter gab, der die Mög lichkeit besaß, unwillkommene Besucher aus der Zukunft in ihre Zeit zurückzu schicken. Oben angekommen, stellte ich fest, daß das Licht in diesem Gebäude der Station wieder brannte. Das war ein weiterer Beweis dafür, daß die Torrelions von unserer Rück kehr nichts ahnten. Ich war jedoch weit entfernt davon, zu frohlocken. Ich sorgte mich um Fartuloon und Ra. Am Beispiel der beiden Arphas, die gegeneinander hatten kämpfen müssen, hatte ich erkennt, wie grausam die Zwillinge mit ihren Gefangenen umzugehen pflegten. Da ich mir klar darüber war, daß ich ohne Waffen nicht viel gegen die Torrelions und ihre Roboter ausrichten konnte, durchsuchte ich das Gebäude. Ich fand tatsächlich zwei Waffen. Es handelte sich zwar nur um Licht werfer, wie sie auch von Riik und seinen Leuten verwendet wurden, aber das war im mer noch besser als gar nichts. Außerdem stellte der Eisenfresser eine
Zonen des Schweigens Waffe besonderer Art dar. Ich war überzeugt davon, daß er es mit jedem Kampfroboter aufnehmen konnte. Bevor ich das Gebäude verließ, spähte ich durch die Öffnung, die Vorry bei seinem Eindringen geschaffen hatte, ins Freie. Es war heller Tag, und im erbarmungslo sen Schein der Sonne sah ich außer dem einen toten Arpha noch drei andere auf dem Hang liegen. Waren sie vielleicht zurückgekehrt, um mich zu unterstützen? Ich blickte mich nach Vorry um. Die Augen des Eisenfressers leuchteten vor Erregung. Offensichtlich fieberte er dem bevorstehenden Kampf entgegen. Ich überlegte, ob ich mich von ihm über das freie Gelände tragen lassen sollte. Bei seiner Schnelligkeit würden wir gute Aus sichten haben, das nächste Gebäude zu errei chen, bevor die Zwillinge oder ihre Roboter uns entdeckten und reagieren konnten. Aber als ich mich wieder umwandte, sah ich zwei Gestalten aus dem kugelförmigen Bauwerk kommen: die eine untersetzt und mit einem Brustharnisch und einem zerbeul ten Helm … Fartuloon! Meine Gefährten hatten sich also selbst befreien können. Vielleicht waren die Zwil linge schon überwältigt. Ich sprang ins Freie und winkte mit bei den Armen. »Atlan!« Fartuloons Schrei gellte mir in den Ohren. Wir liefen aufeinander zu und umarmten uns. Plötzlich merkte ich, wie Fartuloons Haltung sich versteifte. Ich konnte mir den ken, weshalb, darum sagte ich: »Das schwarze Kraftbündel ist Vorry, mein Freund.« Wir lösten uns voneinander. Argwöhnisch musterte mein Pflegevater den Eisenfresser, dann breitete sich ein be freites Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Hallo, Vorry!« sagte er. Er wandte sich wieder an mich. »Vorry ist intelligent, nicht wahr?«
45 »Ja«, antwortete ich. »Wie hast du das so schnell bemerkt, alter Bauchaufschneider?« »Erfahrung«, gab Fartuloon zurück. »So, dann wollen wir uns mal um die beiden bö sen Buben kümmern.« »Einverstanden«, erwiderte ich. »Ihr habt sie also überwältigt?« Narr! gab mein Extrasinn zurück. Wenn sie die Torrelions überwältigt hätten, trügen sie wieder ihre Waffen. Die Gefahr ist noch nicht vorüber. Fartuloon sah mich erstaunt an. »Nein, ich dachte ihr …« Seine Augen weiteten sich schreckhaft. Ich erblickte im gleichen Augenblick das wirbelnde Etwas, das neben uns erschien. Es sah aus wie ein umherrasendes Energiewe sen – und es war nicht allein. Zwei Energiewesen bewegten sich so schnell um uns her um, daß sie beinahe unsichtbar waren. Bevor ich den Anblick geistig verarbeitet hatte, kamen die beiden rasenden Leuchtge bilde zum Stillstand. Das Leuchten erlosch, und ich erkannte, was sie darunter verborgen hatte. Die beiden Zwillinge! Ich wollte eine meiner beiden Waffen he ben – und ich merkte, daß ich keine Waffe mehr besaß. Ich konnte mich auch nicht bewegen, denn ich war gefesselt. Wie war das nur möglich? Zeitmanipulation! gab mein Logiksektor nüchtern durch. Die Zwillinge haben auf dem Gelände der Station eine Schweigende Zone geschaffen und sind im Schutz von Neutralisierungsfeldern hier eingedrungen. Ihr habt nicht sehen können, was sie taten, weil euer Zeitablauf stark verzögert worden war. Ich blickte mich nach Vorry um und ent deckte, daß er in ein energetisches Fessel feld gehüllt war. Fartuloon stieß eine Verwünschung aus. Die Zwillinge grinsten. »Wir sind eben besser als ihr«, sagte Nummer eins. »Aber für euren Ungehorsam werdet ihr
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bestraft«, erklärte Nummer zwei. »Für dich haben wir uns eine besondere Strafe ausgedacht«, sagte Nummer eins, an mich gewandt. »Wie heißt du?« Ich schwieg und blickte stolz über die Zwillinge hinweg. Wenn sie schon über mich triumphierten, sollten sie wenigstens nicht die Genugtuung haben, daß ich mich herabließ, mit ihnen auch nur ein Wort zu wechseln. »Er ist stumm wie ein Wurm«, sagte Nummer zwei zu Nummer eins. »Bald wird er wie ein Wurm vor uns krie chen«, erwiderte Nummer eins.
* Ich gab mich keinen Illusionen über unse re Lage hin. Es war alles aus. Wahrscheinlich hatten die Zwillinge mei ne Gefährten nur freikommen lassen, weil sie wußten, daß sie sie mit Hilfe eines Sta sisfeldes jederzeit wieder einfangen konn ten. Das hätte zu ihrem Charakter gepaßt. Und daß sie mich fassen konnten, nach dem ich aus ihrer Zeitfalle zurückgekehrt war, bedeutete für sie zweifellos einen be sonderen Triumph. Sie lockerten Fartuloons, Ras und meine Fußfesseln so weit, daß wir sehr kurze Schritte machen konnten. Danach trieben sie uns in das kuppelförmige Bauwerk zurück. Vorry ließen sie in seinem Fesselfeld ein fach auf dem Hang stehen. Diesmal wurden wir allerdings nicht in die große Halle gebracht, sondern in einen Raum, der mit fremdartigen Geräten ausge stattet war. In der Mitte stand oder lag eine zirka drei Meter große Metallkugel. Keine vollkommene Kugel allerdings, denn dieses Gebilde hatte Ein- und Aus buchtungen. Aber dominierend an ihr war eine ovale Riesenlinse, die auf einer Metall nase klebte und in allen Farben schillerte. Die Riesenlinse schien mich tückisch an zustarren. Unwillkürlich fröstelte ich, ob wohl es in dem Raum nicht kalt war. »Ja, sieh es dir nur genau an!« sagte Zwil
linge Nummer zwei höhnisch. »Bald wirst du nähere Bekanntschaft mit dem Zerebralmodulator machen«, verkünde te Nummer eins. »Er wurde zwar zu einem anderen Zweck konstruiert«, erklärte Nummer zwei, »aber als er defekt wurde, hat ihn ein Roboter re pariert und dabei verändert.« »Welchem Zweck diente er ursprüng lich?« fragte Fartuloon. Er wollte offenbar Zeit gewinnen. Die Kinder blickten sich bedeutungsvoll an. Sekundenlang glaubte ich, Furcht in ih ren Augen aufflackern zu sehen. Möglicher weise hatten sie eine böse Erfahrung mit dem Gerät hinter sich. »Wißt ihr es nicht?« bohrte mein Pflege vater weiter. Er wollte mich so lange wie möglich vor den Quälereien der Torrelions bewahren. Dankbar blickte ich ihn an. Aber mit Verzö gerungstaktik war nichts auszurichten. Ich konnte mir ungefähr vorstellen, was mit ei nem Zerebralmodulator gemeint war. Das Gerät würde Veränderungen in meinem Ge hirn hervorrufen, die unter Qualen zum To de führten. »Man konnte mit ihm reisen«, sagte Zwil ling Nummer eins mit flacher, tonloser Stimme. »In die Zukunft«, erläuterte Nummer zwei und erschauderte. Was mochten die beiden Knaben in der Zukunft gesehen haben? überlegte ich. Es mußte etwas Entsetzliches gewesen sein, wenn sie jetzt noch beim bloßen Gedanken daran Furcht und Grauen empfanden. »Wie weit in die Zukunft seid ihr gekom men?« fragte Fartuloon. Er gab also noch immer nicht auf. »Nicht sehr weit …« antwortete Nummer eins zögernd. »Wir sollten es vergessen«, sagte Num mer zwei. »Fangen wir endlich an.« »Ja, fangen wir an«, sagte Nummer eins. Plötzlich waren sie wieder die alten. Ihr sadistisches Grinsen ging mir unter die Haut.
Zonen des Schweigens Zwilling Nummer eins bewegte sich auf das Gerät zu. »Halt!« sagte eine Stimme. Ich kannte die Stimme, und noch bevor ich den Sprecher zu Gesicht bekam, wußte ich, wem sie gehörte. Dovreen, dem Weisen! Die Knaben drehten sich um. Dovreen war nicht allein gekommen. Bei ihm befand sich die Frau, die wir beim Pa villon an seiner Seite gesehen hatten. Ihr Ge sicht war tränenüberströmt. »Hört auf!« rief sie unter Schluchzen. »Es ist Unrecht, was ihr tut! Ihr seid doch meine Kinder!« Sie wollte auf die Zwillinge zueilen. »Bleib stehen, Mutter!« sagte Nummer zwei. »Verschwindet von hier!« sagte Nummer eins. »Nimm die Alte und bring sie fort, Va ter!« Dovreen ballte die Hände zu Fäusten. Er zitterte vor Erregung und setzte zum Spre chen an. Aber bevor er etwas sagen konnte, lief die Frau weiter auf die Kinder zu. Beide Zwillinge hielten plötzlich Waffen in den Händen. Es waren keine Paralysato ren, sondern tödliche Thermostrahler. Zwei Energiestrahlen zuckten auf, hüllten die Frau ein und verbrannten sie im Bruch teil einer Sekunde. Ich hörte einen unmenschlichen Schrei. Er kam von Dovreen. Der Weise riß ein eiförmiges Gerät aus ei ner Tasche seines Gewandes und richtete die bläulich leuchtende Spitze auf seine beiden Kinder. Ein dumpfes Grollen ertönte, dann bra chen die Zwillinge förmlich auseinander. Es war, als hätte ein schwerer Hammer zwei gläserne Statuen getroffen und zu Scherben geschlagen. Die Bruchstücke lösten sich in gelblich schimmernde Schwaden auf, als sie den Boden berührten. Dovreen ließ die Waffe fallen. Er weinte. Fartuloon, Ra und ich schwiegen ange sichts der Tragödie, die sich vor unseren Au
47 gen abgespielt hatte. Ich würde wohl nie mals vergessen, wie die Zwillinge kaltblütig ihre Mutter getötet hatten. Und ihr Vater hatte sie schließlich getötet. Dennoch mußte er sie geliebt haben, denn er hatte ihr grausames Treiben bis zuletzt gedeckt, hatte zugelassen, daß sie die Einge borenen terrorisierten – bis es ihm zuviel ge worden war. Doch auch da hatte er ihnen nichts tun wollen. Erst, als sie ihre Mutter umbrachten, hatte er sie im Affekt getötet.
* Nach einiger Zeit gewann Dovreen seine Fassung zurück. Er befreite uns von den Fesseln und sorgte auch dafür, daß das Fes selfeld, das Vorry zur Unbeweglichkeit ver urteilte, abgeschaltet wurde. Von den Robo tern ließ sich keiner sehen. »Ich wollte sie schützen«, erklärte Do vreen leise und meinte damit wohl seine Kinder. »Aber ich hätte wissen müssen, daß der, der Böses geschaffen hat, es auch wie der vernichten muß.« Er sah uns aus blicklosen Augen an. »Es war die gerechte Strafe«, sagte er ton los. »Die Bosheit der Kinder war meine Strafe dafür, daß ich mich mit einer Sterbli chen eingelassen hatte.« »Aber das ist doch kein Verbrechen«, meinte Fartuloon. »Wenn sich zwei Men schen lieben, ist es nur natürlich, wenn sie zusammenleben.« »Nicht in meinem Fall«, erwiderte Do vreen. Er warf einen Blick aus tränenver schleierten Augen auf Ra. »Ich war für eine Göttin bestimmt, aber ich verstieß sie, weil ich in fleischlicher Liebe einer Sterblichen zugetan war. Die Götter rächten sich dafür, indem sie die Kinder dieser illegalen Ver bindung mit Bosheit schlugen.« Dazu vermochte niemand von uns etwas zu sagen. Um Dovreen ein wenig abzulenken, und auf andere Gedanken zu bringen, fragte ich: »Die Zwillinge hielten ein Wesen gefan
48 gen, das sie Vorry nannten. Kannst du uns sagen, woher Vorry kommt?« Dovreen warf einen Blick auf den Eisen fresser. Plötzlich lächelte er wieder. Es war zwar nur die Andeutung eines Lächelns, aber ich war schon froh darüber. »Vorry ist ein Magnettier«, berichtete der Weise. »Er schlüpfte aus einem Ei, das auf unbekannten Wegen in diese Galaxis ge langte. Ein varganischer Wissenschaftler fand es. Nach eingehender Untersuchung stellte er fest, daß es ein sehr ungewöhnli ches Ei war, das sich nicht durch Wärmeein wirkung ausbrüten ließ. Er steckte es in einen Magnetbrüter, den er eigens dafür konstruiert und gebaut hatte. Vorry wurde von einem sehr starken Ma gnetfeld ausgebrütet und schlüpfte innerhalb des Magnetbrüters. Ich weiß nicht, ob seine ungeheuren Körperkräfte auf genetischer Veranlagung beruhen oder auf der Tatsache, daß er in einem starken Magnetfeld ausge brütet wurde.« So war das also! Vorry war ein Außergalaktischer. Er wur de dadurch nur noch faszinierender für mich. Schade war nur, daß Vorry keinerlei Erinnerungen an seine Heimat haben konnte. Oder doch? »Ich denke, wir kehren zur Stadt der Ar phas zurück«, sagte ich. »Nachdem die Ge fahr für sie beseitigt ist, werden sie uns wohl nicht mehr daran hindern, unser Beiboot zu besteigen und diesen Planeten zu verlassen.« Ich vermied absichtlich, die Torrelions di rekt zu erwähnen. »Ja«, erwiderte Dovreen. »Vorher aber werde ich dafür sorgen, daß das technische Erbe der Varganen nicht noch einmal miß braucht werden kann. Wartet bitte hier auf mich.« Er verließ den Raum durch eine Tür, die ich vorher nicht gesehen hatte. »Ich hätte große Lust, die Geheimnisse dieser Station zu erforschen«, meinte Fartu loon. »Aber es ist wohl besser, wenn sie für immer vergessen werden.« »Das denke ich auch«, sagte ich und
H. G. Ewers dachte an das Abenteuer in der Vergangen heit zurück. Mein Blick fiel wieder auf die schillernde Linse des kugelförmigen Geräts, und ich er schauderte, als ich daran dachte, daß die Zwillinge mit seiner Hilfe in die Zukunft ge reist waren. Was mochten sie dort wohl gesehen ha ben? Aber was immer es gewesen war, es hatte ihnen einen nachhaltigen Schock versetzt. Bisher hatte ich immer angenommen, es sei gänzlich unmöglich, in die Zukunft zu reisen. Diese Ansicht mußte ich wohl oder übel revidieren. Allerdings glaubte ich nicht, daß jemand weit in die Zukunft reisen konn te, ohne auf Hindernisse zu stoßen. Die Be wohner der Zukunft würden bestimmt Mög lichkeiten haben, sich gegen ungebetene Be sucher aus der Vergangenheit zu schützen. Vielleicht waren die Zwillinge von einer Art Schockfeld abgeschreckt worden. »Eigentlich müßten Dovreen zurück sein«, meinte Fartuloon nach einer Weile. »Ich werde mal nach ihm sehen. Kommst du mit, Atlan?« Ich nickte. Wir verließen den Raum durch die gleiche Tür, durch die der Weise gegangen war. Sy stematisch durchsuchten wir die dahinter lie genden Räume. Es dauerte nicht lange, dann hatten wir Dovreen gefunden. Aber der Weise war tot. Er lag schlaff in einem Sessel vor einer Schaltanlage. Fartuloon untersuchte ihn kurz. »Wahrscheinlich hat er Gift genommen«, meinte er. »In seiner rechten Hand liegt ein Spei chergerät«, sagte ich. Fartuloon nahm es und schaltete es ein. Es knackte, dann sagte Dovreens konser vierte Stimme: »Ich kann und will nicht mehr leben, denn alles, was ich liebte, befindet sich im Reich der Toten. Dorthin will auch ich gehen. At lan, verlasse mit deinen Gefährten die Stati on, denn sie wird noch vor Einbruch der
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Dunkelheit vergehen – vergehen wie der Ring des Wahnsinns, der durch meinen Tod zerbrechen wird. Viel Glück bei der Suche nach dem Stein der Weisen.« Das war alles. Uns hielt nun nichts mehr in dieser Stati on des Grauens. Schweigend kehrten wir in den Raum zurück, in dem Ra und Vorry warteten. Nachdem wir ihnen berichtet hat ten, daß Dovreen Selbstmord begangen hat te, verließen wir alle die Station. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit er reichten wir die Stadt der Arphas. Riik er wartete uns bereits zusammen mit allen Ein wohnern. Einige der befreiten Gefangenen waren zurückgekehrt und hatten berichtet, daß ich sie befreit hatte. In kurzen Worten teilte ich ihm mit, was mit den Torrelions und Dovreen geschehen war. Wie zur Bestätigung flammte es über den Bergen im Norden plötzlich grell auf. Die Glut hielt fast eine Minute an, dann erlosch sie wieder. Inzwischen war die Nacht her eingebrochen. Die eingeborenen veranstalteten uns zu Ehren ein Fest, das bis zum Morgen dauerte. Leicht benommen von den vielen Speisen und diversen alkoholischen Getränken bra chen wir zum Beiboot auf, begleitet von ei nigen Eingeborenen und Vorry. Riik ließ es sich nicht nehmen, den Behälter mit der Sil berkugel für mich zu tragen.
Als wir das Beiboote erreichten, legte mir Vorry eine Hand auf den linken Unterarm, deutete erst auf mich, dann auf sich und zu letzt auf das Beiboot. »Er möchte mitkommen«, sagte Fartuloon grinsend. »Ich hatte es gehofft«, erwiderte ich. »Obwohl ein Eisenfresser an Bord eines Raumschiffs zur Plage werden kann.« Ich machte Vorry durch Gesten klar, daß ich einverstanden war, dann verabschiedeten wir uns von Riik. Ich nahm den Behälter mit der Silberkugel entgegen. Der Einstieg in unser Beiboot zeigte, wel che Probleme wir mit Vorry eingehandelt hatten. Er verbeulte die Luke, so daß wir sie erst provisorisch abdichten mußten, bevor wir endlich starteten. »Er muß erst noch lernen, seine Kräfte zu kontrollieren«, sagte Fartuloon mit einem Blick auf den Eisenfresser. Vorry grunzte zustimmend, lehnte sich zur Seite – und riß den Sessel um, in dem Fartuloon saß. Ich lachte und schob den Beschleuni gungshebel bis zum Anschlag vor. Das Boot schoß in den Raum hinaus, der KARRE TON entgegen …
E N D E
ENDE