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Über dieses Buch Eines Tages besucht Martin Naumchik, Reporter des ›Paris Soir‹, den Berliner Zoo. Er steht vor dem Käfig, in dem der neuerworbene Zweifüßler Fritz, ein Wesen eines fremden Planeten, untergebracht ist. Plötzlich scheint die Welt aus den Fugen zu geraten … Statt in den Käfig hineinzublicken, schaut er seltsamerweise aus ihm heraus. Er ist nicht mehr Martin Naumchik. Er ist Fritz, der Zweifüßler, ein Wesen aus einem 18 Lichtjahre entfernten Sonnensystem. Mit Fritz, der sein bisheriges Leben im Hamburger Zoo verbracht hat, geschieht dasselbe Phänomen. Er findet sich außerhalb des Käfigs, im Körper von Martin Naumchik wieder und starrt ungläubig auf den Zweifüßler, der mit beiden Fäusten gegen die Glaswand trommelt. Über den Autor Damon Knight, hauptsächlich bekannt geworden durch seine Tätigkeit als erfolgreicher Anthologist – er stellte Originalstories zusammen, die unter dem Reihentitel ›Orbit‹ erscheinen (in Deutschland im Fischer Taschenbuch Verlag als ›Damon Knight’s Collection‹) – war lange Zeit Präsident des amerikanischen SF-Autorenverbandes ›Science Fiction Writers of America‹. ›Zweibeiner sehen dich an‹ ist sein erster Roman, der in deutscher Sprache erscheint.
Damon Knight
Zweibeiner sehen dich an Science Fiction Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe Fischer Taschenbuch Verlag Juli 1973 Umschlagillustration: Eddie Jones Umschlagtypographie: Jan Buchholz/Reni Hinsch Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Mind Switch« Erschienen bei Berkley Publishing Corporation, New York Deutsch von Ronald M. Hahn und Werner Fuchs nach der Übertragung von Hildegard Witzel Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © der deutschen Ausgabe 1973 by Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © 1965 by Damon Knight Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany Scan by Brrazo 12/2010 ISBN 3 436 01675 6
1 Als das Flugbahnauto langsam die Landebahn verließ, griff der Zweifüßler Fritz fest nach seinen Armlehnen und blickte nervös durch die transparente Wand nach unten. Reisen war für ihn etwas Ungewohntes, denn er hatte sein Leben, abgesehen von jenem Flug zur Erde, an den er sich aber nicht zu erinnern vermochte, im Hamburger Zoo verbracht; und obwohl er sicher war, daß das schwebende Auto nicht abstürzen konnte, er jedoch völlig von Glas umgeben war und sich außerdem in großer Höhe befand, wollte er irgendetwas anfassen, was ihm Sicherheit gab. Auf dem Sitz neben ihm saß Alex, sein Wärter, ein dümmlicher Mann, und schlug die steifen Pergamentseiten der Berliner Zeitung auf. Er atmete dabei laut durch seine haarigen Nasenlöcher, während seine Kuhaugen auf die Schlagzeilen blickten. Die anderen Passagiere auf dem Mittelgang starrten Fritz an. Der Zweifüßler nahm keine Notiz davon, denn er war daran gewöhnt. In der Morgensonne unter ihnen breitete sich Berlin wie eine stark verblaßte Steppdecke aus. Als sich der Wagen mit zunehmender Schnelligkeit der Erde näherte, blickte Fritz zurück auf die hohe Plattform, auf der der Raketencopter gelandet war, und die langen, spinnenartigen Kabel der anderen Flugbahnen, die zu den einzelnen Stadtvierteln ausstrahlten. Der Wagen senkte sich, stieg wieder an und hielt an einer Landeplattform. Türen öffneten und schlossen sich wieder, dann sanken sie weiter. An der zweiten Haltestelle faltete Alex seine Zeitung zusammen und stand auf. „Komm“, sagte er. 7
Fritz folgte ihm auf die Plattform hinaus, dann in einen Aufzug, der sich auf schwindelerregende Weise in einen transparenten, spiralförmigen Kanal senkte; tiefer und tiefer, während die sonnenüberfluteten Straßen sich aufwärts zu bewegen schienen. Als sie ausstiegen, verloren sie sich in einer wogenden Menschenmasse; ein scharfer, chemischer Geruch umgab sie. Alex hielt den Zweifüßler fest am Arm und trieb ihn über die Straße, durch ein hohes, geöffnetes Tor, dann in einen anderen Fahrstuhl und schließlich in ein Büro, das voller Menschen war. „Da ist ja unser lieber junger Herr“, sagte ein rotgesichtiger, fetter Mann, der sich ihm leutselig näherte. „Komm nur herein, komm nur herein. Erlaube mir, daß ich mich vorstelle. Ich bin Dr. Grück. – Und du bist unser neuer Zweifüßler? Willkommen, Willkommen!“ Er nahm die dreifingrige Hand des Zweifüßlers und schüttelte sie herzlich. Er zeigte keinen Widerwillen hinsichtlich der Tatsache, daß sie mit weichen Stacheln, die sich wie Federn anfühlten, versehen war. Leute umdrängten sie, Fotoapparate klickten. „Unterschreiben Sie“, sagte Alex und hielt dem Mann einen Notizblock voller Eselsohren entgegen. Dr. Grück ergriff ihn geistesabwesend, unterschrieb und gab ihn zurück. Alex wandte sich uninteressiert ab und ging. „Meine Damen und Herren,“ sagte Grück mit seiner Tenorstimme, „– ich habe die Ehre, Ihnen unseren neuesten Zugang vorzustellen – Fritz, unser zweiter Zweifüßler von Brechts Planet – und wie Sie sehen, ist er männlichen Geschlechts.“ Der Zweifüßler blickte nervös in dem eichengetäfelten Raum umher, in die surrenden Kameras, auf die 8
Bücherregale, den massiven Kronleuchter und auf die Leute mit den nackten, rosa Gesichtern. Sein Körper war schlank und geschmeidig wie der einer Katze. Graugrüne Stacheln bedeckten seinen ganzen Körper, außer den rosafarbenen Beuteln, die sich zwischen seinen Schenkeln befanden. Der merkwürdig geformte Kopf war weder menschlich, noch katzen- oder affenähnlich, sondern ein Mittelding aus allen drei Arten. Über den Augen, in der Mitte seiner breiten, herabfallenden Stirn, war ein rundes und faltiges Organ von verstaubt dunkelroter Farbe, die der eines Hahnenkammes ähnelte, aber noch mehr an eine gedörrte Frucht erinnerte. „Wir bitten um einen Pressekommentar!“ riefen einige kamerabeladene Männer. Gehorsam, so wie man es ihm beigebracht hatte, rezitierte der Zweifüßler: „Wie geht es Ihnen, meine Damen und Herren? – Fritz, der Zweifüßler, steht zu Ihren Diensten. – Ich bin sehr glücklich hier zu sein und hoffe, daß Sie recht oft kommen, um mich hier, im Berliner Zoo zu sehen.“ Er verbeugte sich leicht. Drei Männer in weißen Arbeitskitteln kamen auf ihn zu. Der erste verbeugte sich und nahm die Hand des Zweifüßlers. „Wenzel, Oberaufseher.“ Er war knochig und blaß, mit einem dünnen, geradlinigen Mund. Der nächste Mann trat vor, verbeugte sich und schüttelte ihm die Hand. „Rausch, Diätspezialist.“ Er war blond und sah gesünder aus als Grück. Seine Augenwimpern waren fast weiß. Der Dritte. „Prinz, unser Veterinärchirug.“ Er wirkte finster und hatte eingefallene Wangen. Grück strahlte. Sein rotes Gesicht glänzte, als wäre 9
es in Öl gekocht. Sein runder Schädel war fast kahl, aber seine Ohren wurden noch von einigen blonden Locken umsäumt. Grücks kleine blaue Augen glänzten hinter der randlosen Brille. Sein ganzer Körper wirkte wie ein runder Gummiball unter einer braunen Weste. Er strahlte Freude aus. „Welch ein Musterexemplar“, sagte er und öffnete mit einer Hand den Mund des Zweifüßlers. „Sehen Sie sich nur das Gebiß an!“ Die „Zähne“ des Zweifüßlers waren zwei feste, knorpelartige Stücke mit meißelförmigen Schneideecken. Einen Augenblick später brach er nervös aus Grücks Griff aus, klapperte mit seinen großen Backenknochen und schüttelte den Kopf. „Halt, Fritz“, sagte Grück und wollte ihn dazu bewegen, sich herumzudrehen. „Sehen Sie sich die Muskulatur an. – Perfekt! Die Haut! Die Farbe! – Nirgendwo, das kann ich Ihnen versichern, nicht einmal auf Brechts Planet werden Sie ein solches Prachtexemplar finden – und er ist sogar schon geschlechtsreif!“ Grück drang mit seiner fetten Hand zwischen Fritz’ Beine. „Vollkommen! – Würdest du gern einen weiblichen Zweifüßler kennenlernen, Fritz?“ Der Zweifüßler sah auf und erwiderte langsam: „Meine Mutter war ein weiblicher Zweifüßler, verehrter Herr.“ „Haha“, lachte Grück. „Du hast völlig recht.“ Rausch lächelte, Prinz lächelte, sogar Wenzel lächelte fast. „Dann komm, wir werden dir zuerst dein Quartier zeigen und danach – vielleicht eine Überraschung.“ Der Zweifüßler nahm seine neue, glänzende Reisetasche und folgte Grück und den anderen aus dem Büro, entlang einem hohen Korridor mit Glaswänden, von dem aus man das Gebiet des Zoos mit seinen verstreut daliegenden Käfigen überblicken konnte. Leute, die 10
auf den Kieswegen gingen, schauten herauf und begannen aufgeregt mit den Fingern auf ihn zu zeigen. Grück, der voranging, verbeugte sich und winkte ihnen freundlich zu. Sie betraten jetzt eine leere Halle. Wenzel holte einen Magnetschlüssel hervor, um eine schwere Tür, in der sich eine kleine Scheibe mit Drahtglas befand, zu öffnen. Drinnen fanden sie sich in einem kleinen, aber gemütlich hergerichteten Zimmer wieder, dessen Wände und Fußboden aus übermaltem Beton bestanden. Eine Couch, die zum Sitzen oder zum Schlafen benutzt werden konnte, ein Stuhl und ein Tisch, einige andere Utensilien, eine Waschschüssel und eine Toilette gehörten zur Einrichtung. „Hier ist das Schlafzimmer“, sagte Dr. Grück mit einer schwungvollen Geste. „Und hier“ – er wies auf eine türlose Öffnung – „dein persönliches Wohnzimmer.“ Durch die gläserne Außenwand und das sich davor befindende Eisengitter sahen sie auf eine Menschenmenge. Dieser Raum war größer und schöner eingerichtet als der andere. Der Fußboden war gefliest und glänzte, die Wände waren gestrichen. Es gab einen bequemen Sessel, einen Fernsehapparat, einen kleinen Tisch mit einigen Illustrierten und Zeitungen darauf, eine große, eingetopfte Pflanze und sogar ein gefülltes Bücherregal. „Und jetzt zu der Überraschung!“ rief Grück. Er schob die anderen zur Seite, ging wieder zurück in das Schlafzimmer und von dort aus durch eine andere türlose Öffnung in einen weiteren Raum, der noch größer war. Auch er besaß einen Betonboden, aber hier hatte man einige Gummimatten ausgelegt. Außerdem waren da noch zwei Schreibtische mit Maschinen, Aktenschränken, Drahtkörben, einem Telefon, einem Blei11
stiftspitzer, einem pneumatischen Förderband sowie Stapeln von Dokumenten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, neben einem der Aktenschränke, wandte sich jemand um und sah die Eintretenden überrascht an. Es war ein anderer Zweifüßler, kleiner und mit blasseren Farben als Fritz. Neben anderen Unterschieden war der hervorstechendste das Horn in der Mitte der Stirn, das sich nicht wie das von Fritz in einen großen, eiförmigen roten Knopf entwickelt hatte. „Jetzt die Überraschung!“ rief Dr. Grück. „Fritz – hier steht Emma, deine kleine Frau!“ Mit einem schwachen Schrei schlug der andere Zweifüßler die Hände über dem Kopf zusammen und huschte aus dem Zimmer, wobei er, einem Windstoß gleich, eine Menge Papier zu Boden fegte. Achthundert Kilometer östlich, in einem Kellerraum des Prager Instituts für Zukunftsforschung in Prásztó, gestikulierte Dr. Ralf Klement unwirsch mit seinem schwarzbehaarten Arm. „Ich war mit meinem Motorboot gerade hinter der Brandung“, sagte er. „Die Kabine war eben groß genug für mich, meinen polynesischen Führer und den Höllenhund meiner Schwester. Es war ein wunderschöner und sonniger Tag. Eine leichte Brise wehte von der Küste her. Herrlich. Hier sitzt der Polynesier, hier der Hund, hier ich. Der Polynesier lehnte sich hinaus – so“, Klement legte die Hand an die Stirn und schien auszuspähen, – „und sagt: ‚Hier Fische, Herr’. – Wie, um Himmels Willen, kann er sie sehen, wenn sie tief unten im Wasser sind, denke ich. Jedenfalls ist mittlerweile der Köder am Haken befestigt und ich schwinge die Angel zurück – so – ich mache einen Wurf und – Klatsch.“ 12
Er machte eine dramatische Pause. Der Däne Behrens lächelte zaghaft, lehnte sich gegen die Wand neben der Kontrollarmatur und sein Kinn deutete gegen seine Brust. Der kleine Lewine von Krupp kaute an den Enden seines buschigen, schwarzen Schnurrbarts. Heinz Eggert, der Beobachter von EURATOM hatte die Arme vor seiner schmalen Brust verschränkt und schien halb eingeschlafen. „Ein Fisch“, sagte Klement. „Nein, nicht im geringsten. Nichts dergleichen. Es war dieser verrückte Köter. Er war heraus aus dem Boot, sobald meine Schnur das Wasser berührt hatte, Sie können es mir glauben. – Ich mußte die Angel so schnell es ging einholen oder er hätte den Köder wie einen Hering gefressen.“ Klement schüttelte sich vor Lachen. „Hin war der Fischfang des Tages! Wir brachten ihn zu meiner Schwester zurück an Land und dann war es natürlich zu spät, um noch einmal hinauszufahren.“ Klement grinste, steckte sich eine lange schwarze Zigarre zwischen die Zähne und zündete sie an. „Sie haben wohl fürs Fischen nicht besonders viel übrig, Herr Eggert?“ „Ich?“ fragte der dünne, graugesichtige Mann und fegte die Rauchwolken von sich, die auf ihn zuwehten. „Nein, nicht besonders viel.“ „Sie sollten es mal versuchen, wirklich“, fuhr Klement fort. „Nichts kommt dem Fischen gleich. Die Sonne, die Luft …“ Einer der schwitzenden jungen Männer, die weiße Jacken trugen, schob sich an Klement vorbei. „Entschuldigen Sie, Herr Professor.“ Er schloß das Instrument, das er in den Kontrollraum gebracht hatte, weg, las die Skala ab und machte Notizen auf seinem Block. 13
„Sind sie bald fertig?“ fragt Lewine zum fünften Mal und schaute auf seine Armbanduhr. „Geduld, Geduld. – Nehmen Sie sich ein Beispiel an Behrens. Er ist der Ruhigste hier. – Sie sollten fischen gehen und dabei lernen, wie man Geduld entwickelt.“ Klement sog an seiner Zigarre. Trotz der Klimaanlage war der überfüllte Raum bereits rauchgeschwängert, aber Klement schien das nichts auszumachen. „Es ist ermüdend, jeden einzelnen Versuch immer und immer wieder zu kontrollieren, das kann ich nicht abstreiten. Aber als Wissenschaftler muß man sich an lange Wartezeiten gewöhnen. Besser das, als in die Luft zu fliegen.“ Lewine horchte auf. „In die Luft fliegen?“ echote er. Behrens erhob sich. „Es besteht keine Gefahr“, sagte er und klopfte Lewine beschwichtigend auf die Schulter. „Und Sie, Klement, hören besser auf unseren Freund zu beunruhigen. Regen Sie sich nicht auf, Herr Lewine. Es wird nichts in die Luft fliegen.“ „Natürlich nicht“, sagte Klement und kaute beleidigt an seiner Zigarre. „Der Umwandler ist ein Standardmodell, das man hier für Demonstrationen benutzt; tatsächlich enthält er nur ein Millionstel Gramm Sodium. – He, Rakosi!“ Er drehte sich um und winkte einen weißgekleideten Mann heran. „Herr Professor?“ „Haben Sie den Fehler im Mehrfachsicherungssystem gefunden?“ „Horvath legt eine neue Leitung. Wir sind gleich so weit, daß wir es einem Test unterziehen können.“ „In Ordnung. Gut.“ Klement ging zurück, nahm mit einer ausladenden Geste die Zigarre aus dem Mund und schien bereit zu sein, das unterbrochene Gespräch fortzusetzen. „Aber wenn es ein Standardmodell ist, warum be14
findet es sich dann in einem evakuierten Gebäude, – eine halbe Meile entfernt von hier?“ fragte Lewine. Seine Lippen waren plötzlich weiß geworden und auf seiner Stirn erschienen erste Schweißperlen. „Unsinn“, erwiderte Klement und schaute finster drein. „Ein Millionstel Gramm, sogar bei totaler Umwandlung, kann höchstens einen kleinen Knall verursachen. Auf keinen Fall wird es eine Explosion geben … Ich könnte jetzt einen Schnaps vertragen. Haben Sie keinen Schnaps, Behrens?“ Zwei der weißgekleideten jungen Männer prallten in der Mitte des Raumes zusammen und gingen leise fluchend in verschiedenen Richtungen weiter. Ein Monitor wurde über dem Kontrollpult in Betrieb gesetzt. Man sah das Innere eines anderen, ebenfalls mit Menschen überfüllten Raumes. Das Hervorstechendste an diesem anderen Raum war eine Maschine, die von einem Stahlgehäuse umgeben war, an dessen Außenwandung ein Wirrwarr von Kabeln und Instrumenten hing. „Tatsache ist“, sagte der große Däne und streckte sich, „daß ich wirklich ein Fläschchen beiseitegelegt habe. Ich habe sie eigentlich für eine kleine Festlichkeit zurückgelegt, aber …“ Er beugte sich über den kleinen Lewine und langte in ein Fach. „Nein, nein“, wehrte Lewine ab, „mir geht es gut. Trotzdem vielen Dank.“ „Sehen Sie, Herr Lewine“, sagte nun Klement und rückte näher an ihn heran. „Es ist im Grunde alles ganz einfach. Der Umwandler ist in einem Hirsch-RevereFeldgenerator eingeschlossen. Das ist eine Einrichtung, die ein sogenanntes Sperrfeld erzeugt …“ „Welches wiederum eine Explosion verhindert“, nickte Lewine müde. „Ich verstehe, aber …“ „Eben. Es kann nicht explodieren, wenn das Sperrfeld 15
angestellt ist“, bekräftigte Klement. „Wir beginnen mit dem Umwandlungsprozeß. Energie wird freigesetzt …“ „Explosion“, murmelte Lewine. „Nein. Keine Explosion. Bevor die Welle die Wand der Kammer erreicht, stellt fünfundachtzig Zentimeter davor ein Mikroschalter das Sperrfeld an. Diese Energie kann nicht in Form von Hitze oder Strahlung existieren. Richtig?“ „Richtig“, wiederholte Lewine gleichmütig und sah Klement an. „Wegen des Sperrfeldes. Aber die Energie existiert weiter, sie kann sich nicht verflüchtigen, stimmt das? Sie muß in irgendeiner Form zurückkommen!“ Eggert, der EURATOM-Mann, mischte sich ein. „Und Ihre Theorie besagt, Herr Professor, daß die einzige Form, die sie annehmen kann, die der Zeitenergie ist.“ „Genau“, sagte Klement. Er strahlte und steckte sich seine Zigarre wieder zwischen die Lippen. „Und Ihre Berechnungen unterstützen diese Theorie, Herr Behrens“, wandte sich Eggert an den Dänen. Behrens nickte und lächelte. „Ich sehe immer noch nicht ein, was das alles überhaupt soll“, murmelte Lewine mehr zu sich selbst. „Selbst wenn …“ Er schaute wieder auf seine Armbanduhr und dann auf den großen Chronometer auf dem Kontrollpult. „Ganz interessant“, ließ Eggert sich vernehmen. Klement hatte sich abrupt abgewandt und unterhielt sich flüsternd mit einem seiner Mitarbeiter. Eggert sagte zu Behrens: „Ich bin gewiß nicht der richtige Mann dafür, Ihre mathematischen Berechnungen zu verstehen, Herr Behrens. Deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, sie einem meiner Freunde, der 16
an der FU in Berlin lehrt, zu zeigen. – Klaus Ilgner – vielleicht haben Sie schon von ihm gehört?“ „Ilgner? Ja“, erwiderte der Däne und nickte schwerfällig, scheinbar interesselos. „Er ist der Ansicht, daß Sie die Einsteinsche FeldGleichheit übersehen haben“, fuhr Eggert fort, „so daß – selbst wenn es möglich wäre, die Form der Energie umzuwandeln – in ein zusätzliches Zeitquantum …“ „Ich weiß, was Sie sagen wollen“, unterbrach ihn der Däne kopfschüttelnd. „Es würden Verschiebungen im Kontinuum auftreten, weil die Relation zwischen der Raumzeit und der Masse des Universums umgestoßen würde und so weiter … Glauben Sie mir, Herr Eggert, das ist schon längst widerlegt. Niemand wendet die Einsteinsche Feld-Gleichheit noch an. Ilgner mag seine Qualitäten haben, aber seine Physik ist seit fünfzig Jahren überholt. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“ Er hob seine Hand zum Zeichen des Friedens, sie sah aus, als könne sie hundert Ilgners mit einer einzigen Bewegung hinwegwischen. „Kontrolle!“ rief einer der Assistenten. „Kontrolle! Kontrolle! Kontrolle!“ Auf dem Bildschirm des Monitors las ein anderer Mann die Check-List ab. Der Ton war nicht eingeschaltet, so daß die Männer nur sehen konnten, wie er die Lippen bewegte. „Kontrolle!“ rief der Assistent nochmals, hielt dann aber ein und wandte sich an Klement. „Fertig, Herr Professor!“ Auf dem Bildschirm begannen sich einen Moment später die Gesichter von Klements Mitarbeitern zusammenzufinden, dann verließen einige die technische Abteilung. „Behrens – ein Wort“, sagte Klement bittend. Der 17
Däne verschwand, Lewine noch ein freundliches Nicken zuwerfend. „Sind alle Ungarn verrückt?“ murmelte Lewine. Eggert lächelte schwach und zog die Augenbrauen hoch. „Meiner Meinung nach“, sagte Lewine, „ist das alles ein ganz verdammter Blödsinn.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Gesicht war wieder blaß geworden, seine Stirn mit Schweiß bedeckt. Wenige Minuten später war das Klappern von Fahrrädern draußen im Korridor zu hören. Das Personal der technischen Abteilung strömte durch den Eingang. Die Männer schienen zufrieden, ihre Augen strahlten; einige scherzten übermütig miteinander. Der Raum, der schon vor ihrer Anwesenheit überfüllt gewesen war, war jetzt bis zum Bersten gefüllt. „Meine Herren, bitte“, sagte Klement und hob die Arme. Seine Augen glitzerten und auf seinen Wangen zeigte sich eine leichte Röte. Sogar Behrens’ Gesicht trug einen Ausdruck von jungenhafter Aufregung. Der Lärm begann sich langsam zu legen; irgend jemand machte einen Witz, dem ein nervöses Gelächter der Männer folgte, dann war Ruhe. Klement und Behrens bewegten sich auf das Kontrollpult zu, obwohl es kaum genug Platz zum Stehen gab. „Es ist alles überprüft worden“, sagte Klement und wandte sich mit seinen Worten an Eggert und Lewine. „Die Apparatur ist fertig. Alles was nun für mich zu tun übrigbleibt, ist, zwei Knöpfe zu drücken und das Experiment wird beginnen. In einer vierhundertmillionstel Sekunde wird es abgeschlossen sein. – Bevor ich nun diese Knöpfe drücke, erlauben Sie mir, daß ich meinen Dank all jenen Leuten sage, die so bereitwillig mitgearbeitet haben – selbst wenn es manchmal nicht ohne Flüche ging.“ 18
Gelächter. „… und Ihnen, meine Herren von EURATOM und Krupp, danke ich für Ihre wertvolle Assistenz durch Ausrüstung und Hilfsmittel.“ Klement machte eine Pause, dann wurde es ruhig. Er wandte sich dem Kontrollpult zu, auf dem ein beleuchteter Knopf ‚Sicherungssystem eingeschaltet’ signalisierte. Drei junge Wissenschaftler drängten sich heran, Entschuldigungen murmelnd. Behrens machte ihnen gutmütig Platz, wobei er Lewine fast gegen die Wand drückte. Klement beugte sich vor und drückte den weißen Knopf mit dem Daumen ein. Der Knopf wechselte die Farbe und wurde dunkel. Klement sah auf den Chronometer. Es war genau 3:32:15 MEZ. Er drückte den zweiten Knopf. An Behrens vorbeiblickend sah Lewine die Nadeln der beiden Wiedergabegeräte einen Moment lang zittern. Andere schlugen weit aus und verharrten, wo sie sich gerade befanden. Auf dem Monitor gab es keine sichtbare Veränderung; zumindest war die Anlage bisher nicht explodiert … Lewine atmete langsam aus, ohne sich darüber bewußt zu werden, daß er vor Spannung die Luft angehalten hatte. Er verkrampfte sich, als ein Schauer durch die um ihn zusammengedrängten Körper ging. Es war seltsam: es schien sich überhaupt nichts bewegt zu haben, dennoch war da dieses Taumeln, das Gefühl des Herunterrutschens, begleitet von einer momentanen Übelkeit. „Output Null“, rief jemand. „Stecker negativ!“ „Innendruck – Komma drei sieben.“ Die Stille dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde an, dann brachen die Anwesenden in ein Freudengeschrei 19
aus, umarmten sich und klopften Professor Klement vor Begeisterung auf die Schultern. Klement drehte sich grinsend um und rief über das Durcheinander hinweg: „Der Druck in der Kammer ist geringer als eine halbe Atmosphäre. Ein partielles Vakuum – das bedeutet Erfolg!“ Seine Mitarbeiter strömten wieder hinaus. Lewine hörte ihre Rufe, die den ganzen Korridor entlangschallten. Einer der jungen Männer hatte ihn in seiner Begeisterung angerempelt und gegen die Wand gestoßen, aber Lewine fühlte sich seltsam erleichtert. Eggert, der neben ihm stand, schien das gleiche zu fühlen; sein sonst gelangweilter Gesichtsausdruck war einem überraschten Grinsen gewichen, welches seine langen, gelben Zähne und sein rosafarbenes Zahnfleisch enthüllte. „Aber … ich verstehe nicht …“ murmelte er. „Das Vakuum … was …“ „Wenn das Experiment mißlungen wäre“, erklärte Klement, „stünde die Kammer entweder unter Druck oder es hätte einen Energieausstoß gegeben. Nichts dergleichen geschah. Die Luft, die in der Kammer war, ist nicht mehr da – sie ist weg.“ Behrens tauchte auf. Er strahlte und in der Hand hielt er eine Flasche Aquavit. „Jetzt haben wir uns einen Schluck verdient“, verkündete er dröhnend. „Aber dann – meinen Sie wirklich …“ sagte Lewine unsicher und zupfte Klement am Ärmel, „… wo ist sie denn jetzt?“ „Sie hat sich zerstreut, irgendwo existiert sie jetzt zwischen vier- und fünfhundert Jahren in der Zukunft. Später werde ich Ihnen mehr sagen können.“ Auf dem Monitor erkannte man, wie Klements Assistenten den Umwandler umschwirrten wie weiße Ameisen einen Käfer. Klement, immer noch die Be20
friedigung in Person, hob sein Glas. „Auf das erste erfolgreiche Zeitreise-Experiment!“ verkündete Behrens. Alle, außer Lewine, der auf sein Glas starrte und es langsam hin und her schwenkte, tranken. Im Gegensatz zu den Gläsern der anderen, war sein Glas mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit gefüllt, die penetrant nach Petroleum roch. „Soll das ein Scherz sein?“ fragte er Behrens mit zitternden Lippen. Das deutete den Beginn seiner Empörung an. Fritz saß in seinem Sessel und starrte geistesabwesend durch die gläserne Wand auf das schattiger werdende Zoogelände hinaus. Es war später Nachmittag, der Zoo würde bald geschlossen werden, die Wege waren schon fast leer. „Freundschaft braucht seine Zeit“, hatte Dr. Grück zu ihm gesagt und ihm dabei herzlich auf die Schulter geklopft. „Ruh’ dich erst mal aus, werde mit deiner neuen Umgebung vertraut. Morgen sieht die Welt bereits anders aus, Fritz. Auf Wiedersehen.“ Alleine gelassen, neugierig und etwas erregt war er durch seinen Arbeitsraum gelaufen, hatte die Papiere geprüft, Schubladen geöffnet und war dann zu der Tür gegangen, durch die Emma verschwunden war. Aber kaum hatte er sich ihr genähert, als er schon ihre piepsende Stimme vernahm. „Geh weg! Geh weg! Geh weg!“ Seitdem hatte er aus dem Nachbarzimmer keinen Laut mehr vernommen. Zur Fütterungszeit war Wenzel mit einem Karren erschienen und hatte zwei Tabletts für ihn und Emma abgestellt. Aber obwohl Fritz aufmerksam lauschte, hatte er nicht einmal das Klappern von Messer und Gabel vernommen, geschweige denn, daß ein Glas abgesetzt 21
wurde. Es war aufregend für ihn, daran zu denken, daß da noch ein anderer Zweifüßler war, mit dem er sich unterhalten konnte. Es erschien ihm nicht richtig, daß sie ein Gespräch mit ihm zu vermeiden suchte. Weshalb legte Emma es darauf an, ihn mißmutig zu stimmen? Als er durch das Fenster starrte, traf sein Blick den eines dunkelhaarigen jungen Mannes. Der Mann trug eine Kamera und er kam ihm bekannt vor. Sicherlich war er einer der Reporter, die ihn kurz nach seiner Ankunft fotografiert hatten. Er war von schlankem Wuchs und seine Haltung war gebeugt. Der Mann war etwas blaß und besaß große, sanfte Augen. Als sie sich wortlos ansahen, fühlte Fritz, wie ein seltsames, gleitendes Gefühl sich seiner bemächtigte. Der Raum drehte sich um ihn. Er bemühte sich, wieder aufzustehen, nichtverstehend, was mit ihm geschehen war. Warum war es plötzlich so dunkel geworden, warum das Zimmer so groß? Er stützte sich auf Hände und Knie und entdeckte, daß er durch ein eisernes Gitter und ein dahinterliegendes Fenster in einen hellerleuchteten Raum starrte, in dem ein Zweifüßler halb auf ein Sofa niedergesunken war. Der Zweifüßler starrte ihn ebenfalls mit glänzenden Augen an und bewegte sich schwach. Die Nachmittagsbrise war frisch und wehte leicht über den Weg hinweg. Er roch die feuchte Erde und die Ausdünstungen von Tieren. Neben ihm im Kies knirschten Schritte und eine höfliche Stimme sagte: „Stimmt etwas nicht, mein Herr?“ Der Zweifüßler, der sich im Inneren des erleuchteten Raumes befand, taumelte von einer Ecke in die andere. Dann schlug er mit beiden Händen gegen das Glas des Fensters, während sein Mund sich verzweifelt öffnete und schloß. 22
„Sie haben Ihre Kamera fallen lassen“, sagte die Stimme jetzt. Er wandte sich um und sah in ein freundliches, bärtiges Gesicht. Etwas Glitzerndes wurde ihm übergeben, und es kam ihm wie ein unglaubliches Wunder vor, als seine Hände es automatisch umfaßten – seine rosigen, haarigen, fünffingrigen Hände mit den blassen Fingernägeln. II Die Turbulenzzone im Raumzeit-Kontinuum, die durch Professor Klements unglückliches Experiment hervorgerufen wurde, breitete sich von zwei Ausgangspunkten aus. Am 13. August 1970, etwa um sieben Uhr morgens, verschwand plötzlich ein ganzer Block von Appartementhäusern aus einer Stadt im Distrikt Omaha, Nebraska. Die Menschen in den angrenzenden Straßen wurden von der Implosion niedergestreckt, die zehn Häuserblocks weiter noch Fensterscheiben zum zerspringen brachte. Überfallkommandos rasten zum Schauplatz, aber es gab wenig für sie zu tun. Wider Erwarten fand man keinen Bombentrichter. Da war nur eine exakt quadratische Aushöhlung, die sich schnell mit Wasser aus den nun zerbrochenen unterirdischen Leitungen füllte. Als man das Wasser abgestellt und hinausgepumpt hatte, sah man, daß der verschwundene Häuserblock nichts als ein riesiges Loch hinterlassen hatte. Siebenhundert Menschen und dreißigtausend Tonnen Stahl und Mauerwerk waren verschwunden wie eine zerplatzte Seifenblase. Einige machten eine afrikanische Geheimwaffe dafür verantwortlich, und die Wall Street geriet in Panik; die Beziehungen zur Afrikanischen Union, die bereits 23
seit Wochen angespannt waren, verschärften sich, und ein schwarzer Geschäftsträger wurde in Chicago auf offener Straße angefallen. Aber bis zum folgenden April sollte nichts mehr geschehen. Am frühen Morgen des 3. April fuhr der Schlepper Mary G. Beyers, dessen Heimathafen Atlantic City, N. Y. war, siebzig Meilen von Cape Mary entfernt, durch die ruhige See. Plötzlich wurde das Schiff von heftigen Strömungen erfaßt und legte sich zur Seite. Die Mannschaft eilte zur Reling und sah eine riesige Luftblase, die sich aus den Tiefen des Atlantiks erhob, Teile von zerbrochenen Möbeln, Kleidern und ein halbes Dutzend Leichen mit sich bringend. Die Mary G. Beyers holte eine davon an Bord. Es war der Körper eines Mannes in Arbeitskleidung. Papiere in seiner Brieftasche identifizierten ihn als Irwin Vogt aus Omaha … Auf dem Mond blühte im Jahre 1950 am Südrand des Kraters Hermann eine Blume. Es war eine ganz gewöhnliche Geranie (Pelargonium domesticum), sie sproß aus einem kleinen Stückchen brauner Erde. Eine Dampfwolke umgab sie augenblicklich. Die Blume ließ den Kopf hängen, verwelkte, verlor an Farbe und wurde schließlich so grau wie die Asche, die sie umgab. Dreißig Jahre später bemerkte ein Mann in einer Mondraupe auf seinem Weg von Neu-Washington nach Grimaldi die grauen Überreste, die er für eine ungewöhnliche Mineralformation hielt. Er notierte sich die Koordinaten seines Standortes und nahm sich vor, die Selenologen auf der Grimaldi-Basis darüber zu informieren. Aber er vergaß es dann doch. Die Turbulenzwelle breitete sich noch weiter aus. Der Ärger, den Klement verursacht hatte, war noch immer nicht vorbei. 24
Dr. Grück war allein in seinem Büro. Einige Zettel, auf denen er sich seine vorläufigen Budgetzahlen notiert hatte, lagen auf seinem Schreibtisch. Auf einem kleinen Nebentisch lagen die fettigen Reste einer Mahlzeit. Grück trug eine Lesebrille, die ihm das Aussehen eines gutmütigen alten Onkels verlieh, der einem Buch von Charles Dickens entsprungen sein konnte. Seine kleinen blauen Augen blinzelten mild hinter den Brillengläsern, und wenn er mit dem Zählen begann, bewegten sich seine von der Mahlzeit noch fettigen Finger rhythmisch mit. Vor sich hinsummend wendete er ein Blatt. Die Melodie, die ihn derzeit beschäftigte, war ‚In Lauterbach hab ich mein’ Strumpf verlor’n.’ Der getäfelte Raum war warm, gemütlich und ruhig. Als Grück ‚Und ohne mein’ Strumpf geh’ ich nicht heim’ murmelte, flackerte sein Tischvisiphon. Ein Gesicht erschien auf dem kleinen Bildschirm Und eine Stimme sagte: „Herr Doktor, würden Sie bitte …“, was Grück die Stirn runzeln und auf einen Knopf drücken ließ. „Ja, Freda?“ „Herr Wenzel möchte Sie sprechen. Er sagt, es sei dringend.“ „Na gut, stellen Sie durch.“ Die Mattscheibe flackerte wieder, dann erschien Wenzels blasses Gesicht. „Wir haben bereits den ersten Ärger mit dem neuen Zweifüßler“, sagte er sofort. Grück ergriff mit zitternden Fingern seine Brille. Dieser Störenfried. Laut sagte er: „Was soll das heißen? Was ist los, Wenzel?“ „Vor zehn Minuten“, fuhr der Oberaufseher fort, „bemerkte ich, daß Fritz anfing verrückt zu spielen. Ich kam gerade noch zurecht, um ihn daran zu hindern, das Fenster mit einem Stuhl einzuschlagen.“ 25
„Was?“ schrie Grück aufgebracht. „Das ist ja furchtbar! Weshalb tat er das?“ „Ich versuchte, ihn zu beruhigen“, verteidigte sich Wenzel, „aber er sagte, daß ich ihm gar nichts zu befehlen hätte. Er sei nicht Fritz, sondern heiße Martin Naumchik.“ Grück biß sich auf die Unterlippe. „Hm“, meinte er. Er wühlte unbewußt in seinen Papieren, musterte sie dann erstaunt und wischte sie zur Seite. „Er sagte mir auch“, erzählte Wenzel, „daß der echte Fritz sich seines Körpers bemächtigt habe und verschwunden sei, mit seinen Kleidern und mit seiner Kamera.“ Grück stützte den Kopf in beide Hände und starrte Wenzel, der auf dem kleinen Bildschirm wie ein Foto seiner selbst aussah, an. Der Oberaufseher wirkte wie eine Puppe, die jemand mit einer häßlichen Phantasie konstruiert hatte. Demgegenüber sah er in voller Größe wirklich nicht so schlecht aus, wenn man mal von seinen haarigen Nasenlöchern und seinem hervorstechenden Adamsapfel absah – aber in seiner Puppengröße war er unausstehlich. „Was haben Sie bisher unternommen?“ fragte Grück. „Wir haben ihn festgesetzt“, erwiderte Wenzel. „Was halten Sie persönlich von der Sache?“ „Das Tier ist gemütskrank.“ Grück schloß die Augen für einen Moment und kniff sich in die Nasenwurzel. „Es muß nicht unbedingt ein Anzeichen einer schlechten Gemütsverfassung sein, Wenzel. Wir haben Emma jetzt seit zehn Jahren hier und während dieser Zeit überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt, nicht wahr? Vielleicht fürchtet Fritz sich nur, weil er seine gewohnte Umgebung verloren hat. Vielleicht sehnt er sich nach Sicherheit und 26
macht die Sache deshalb so übertrieben dramatisch. Können Sie mir in den Handbüchern Fälle zeigen, die belegen, daß es Zweifüßler gegeben hat, die gemütskrank wurden?“ Wenzel blieb ruhig, sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. „Nein.“ „Lassen Sie uns nicht überstürzt handeln. Immerhin ist Fritz unser derzeit wertvollstes Tier. Freundlichkeit kann manchmal bessere Auswirkungen nach sich ziehen als harte Worte oder Strafe. Zeigen Sie ihm ein wenig Sympathie.“ Er selbst lächelte und zeigte dabei seine kleinen, stumpfen Zähne. „Meinen Sie nicht auch, Wenzel?“ „Sicherlich haben Sie recht, Herr Doktor“, erwiderte Wenzel, aber sein Gesichtsausdruck zeigte keinerlei Begeisterung. „Wir werden sehen.“ „Gehen Sie zu ihm und reden Sie einmal vernünftig mit ihm, Wenzel. Wenn er sich beruhigt hat, bringen Sie ihn einmal zu mir.“ „Ich kann Ihnen fünf Beweise dafür liefern, daß ich Martin Naumchik bin“, sagte der Zweifüßler erregt und mit hoher Stimme. Sein nackter, mit grünen Stacheln bewachsener Körper sah schlank und zerbrechlich aus, wie er auf dem hölzernen Stuhl saß. Er beugte sich über den Tisch. „Erstens kenne ich Berlin“, sagte er zu Wenzel und Grück, „wohingegen Ihr Tier niemals vorher hier gewesen ist, und sicherlich bisher auch noch nicht die Freiheit hatte, sich hier umzusehen. Fragen Sie mich nach allem, was Sie wissen wollen! Zweitens kann ich Ihnen die Namen zahlreicher Autoren und Redakteure nennen, ebenso die Namen aller Angestellten von Paris Soir; ich kann Ihnen meinen letzten Artikel Wort für Wort wiederholen – oder beinahe 27
Wort für Wort … Wenn Sie mir eine Schreibmaschine überlassen, werde ich ihn noch einmal schreiben! Drittens …“ „Mein lieber Fritz“, sagte Grück, breitete seine fetten rosa Hände aus und lächelte einschmeichelnd. „Drittens“, wiederholte der Zweifüßler ärgerlich über die Unterbrechung, „wird meine Freundin Julia Schorr für mich bürgen. Sie wohnt in der Heinrichstraße 41, Appartement 17. Ihre Visi-Nummer lautet Unter den Linden 8–7403. Ich kann Ihnen auch sagen, daß sie eine Siamkatze hat und sehr gut Spaghetti kocht. – Mein Gott, wenn ich es mir überlege, kann ich Ihnen sogar sagen, welche Unterwäsche sie trägt. – Viertens können Sie mich selbst prüfen: Ich habe ein Examen an der Sorbonne im Jahre 1999 gemacht. Fragen Sie mich über Literatur, Mathematik, Geschichte – was immer Sie wollen … Fünftens und Letztens: Ich bin Martin Naumchik! Ich bin immer Martin Naumchik gewesen! – Ich habe Ihren lächerlichen Zweifüßler bis heute noch nicht einmal gesehen. – Wenn Sie mir nicht helfen, dann dürfen Sie sicher sein, daß ich einen solchen Stunk machen werde, daß …“ Er unterbrach seinen Redeschwall und fragte: „Nun?“ Wenzel und Grück sahen sich an. „Mein lieber junger Mann“, sagte Grück dann und fuhr durch sein schütteres, blondes Haar, während er die Augen zusammenkniff, „– du hast mich zumindest davon überzeugt, daß du selbst glaubst, mit Martin Naumchik, einem menschlichen Wesen, identisch zu sein, einem Korrespondenten von Paris Soir und so weiter und so fort.“ Der Zweifüßler sagte erregt: „Glauben? Aber ich habe Ihnen bereits gesagt, daß …“ „Bitte!“ Grück hob abwehrend die Hand. „Sei bitte 28
so freundlich und höre mir zu! – Ich sage, es gibt keinen Zweifel, daß du wirklich das glaubst, was du sagst. Nun erlaube mir, daß ich dir dazu einige Fragen stelle.“ Er faltete die Hände über seinem dicken Bauch und seine rosigen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Nehmen wir an, du seist Martin Naumchik.“ Er machte eine großartige Geste mit der Hand. „Weiter. Nehmen wir es halt an. Ich habe nichts dagegen. Du bist also Martin Naumchik. Und was soll das?“ Er beugte sich etwas vor und musterte den Zweifüßler eingehend. Wenzel verzog keine Miene und äußerte sich nicht. „Was das soll? Sie werden mich natürlich aus diesem Käfig herauslassen“, erwiderte der Zweifüßler verunsichert. „Sie werden mir helfen, dieses Tier zu finden, das sich meines Körpers bemächtigt hat und jetzt in Freiheit herumspaziert …“ „Glauben wird diese phantastische Geschichte kein Mensch auf der Welt“, sagte Grück und entmutigte den Zweifüßler sofort wieder. „Aber es muß einen Weg geben …“ Grück lehnte sich kopfschüttelnd zurück. „Um dich wieder auszutauschen? Mein lieber junger Freund, überlege bitte einen Augenblick lang was du sagst. Die Persönlichkeit eines Menschen seinem Körper zurückzugeben, nachdem sie im Körper eines Tieres steckt? Seien wir doch nicht kindisch. So etwas ist unmöglich, da brauchen wir überhaupt nicht zu diskutieren, das weißt du ebensogut wie ich. – Nehmen wir an, daß deine Geschichte wirklich stimmt, dann ist es immer noch völlig unmöglich, einen Rücktausch vorzunehmen. Wie stellst du dir das vor? Mit Hilfe eines Trichters?“ Der Zweifüßler stützte seinen Kopf auf seine grünbestachelten Hände. „Wenn wir nur herausfinden könnten, wieso das geschehen konnte“, murmelte er. 29
„Ein guter Vorschlag“, erwiderte Grück mit freundlicher Stimme. „Dies ist ein Punkt, den man untersuchen sollte, unter allen Umständen. – Nur Mut, Fritz – oder Martin, wie immer dein Name lauten mag. – Aber dies wird einige Zeit in Anspruch nehmen, das verstehst du doch, was, Fritz?“ Der Zweifüßler nickte erschöpft. „Dann sind wir uns ja wohl einig“, meinte Grück erleichtert und erhob sich. „Wir werden alles tun, was in unserer Kraft steht, darauf kannst du dich verlassen.“ Er ging auf Wenzel zu. „Und vorläufig“, setzte er hinzu, „kann ein bißchen Zusammenarbeit nicht schaden. Also mach’ dem armen Wenzel keinen Ärger. Abgemacht, Fritz?“ „Sie wollen mich als Schaustück in diesem Käfig lassen?“ schrie der Zweifüßler plötzlich starr vor Entrüstung. „Für’s erste schon“, erwiderte Grück beruhigend. „Haben wir denn eine andere Wahl? Wo wolltest du hingehen, von was willst du leben? Wir dürfen jetzt nichts überstürzen, Fritz. Höre auf den Rat eines alten Mannes. Blinder Aktionismus kann alles zerstören. Deshalb: Langsam, langsam, Fritz – habe Geduld und Mut.“ Wenzel nahm den Zweifüßler bei der Hand und führte ihn aus dem Raum. „Mein Name ist Martin Naumchik“, murmelte er schwach, als er verschwand. Das trübe, graue Licht des Morgens durchflutete die äußeren Räume, erleuchtete die Umgebung, aber hob nichts hervor. Aus irgendeinem Grund hatte der Zweifüßler schon vorher bemerkt, daß man durch dieses Licht die Schattenseiten der Dinge besser gewahr wurde als gewöhnlich: die losen, schmutzigen Kleider auf dem Stuhl, den Staub in den Ecken, die normalerweise 30
unsichtbaren Kratzer und Flecken auf allen möglichen Sachen. Ruhelos wanderte er den Korridor entlang, vorbei an der geschlossenen Tür, die in den nächsten Raum führte (der weibliche Zweifüßler hatte offensichtlich einen Tisch dagegengestellt), in den durchsichtigen Büroraum mit den verdeckten Maschinen – und dann wieder zurück. In seinem eigenen Zimmer erblickte er ein häßliches Gesicht in einem Spiegel, grün und flachschnäuzig, eine groteske Mischung aus Hund und Hahn – und für einen furchtbaren Augenblick war ihm nicht klar, daß es sein eigenes war. Er schlug gegen die Wand und begann zu weinen. Gequälte, unmenschliche Laute drangen aus seiner Kehle. Es mußte zehn Uhr oder noch später sein. Er lebte jetzt fast vierundzwanzig Stunden im Körper eines Tieres ohne sich daran gewöhnen zu können. Jetzt, wo es ihm bewußt wurde, war es noch schwerer zu ertragen als zuvor. Er mußte hier heraus! Die kleine Reisetasche des Zweifüßlers stand auf dem Boden in der unmittelbaren Nähe des Waschbeckens. Er trat dagegen, riß sie auf und warf ihren Inhalt auf den Boden: eine Zahnbürste, ein Schachspiel, etwas billiges Schreibpapier, ein Taschenbuch mit zahlreichen Eselsohren, das den Titel ‚Brechts Planet – ein Rätsel des Universums’ trug. Nichts Brauchbares. Weinend eilte er in das Büro und hob den Telefonhörer ab. Die Leitung war noch tot, wahrscheinlich war sie um diese Zeit noch nicht mit dem Schaltbrett verbunden. Sein Blick fiel auf die Schreibmaschinen. Er setzte sich und nahm eine Hülle ab. In der Schublade fand er Papier und legte ein Blatt ein. Als er die Maschine angestellt hatte, saß er einen Moment ruhig da und schloß 31
seine dreifingrigen Hände zusammen. In seinem Gehirn formten sich die Worte „Mein Name ist Martin Naumchik. Ich bin gefangen in …“ Seine Finger klopften auf die Tastatur und die Typen schlugen ratternd gegen die Walze. Die Maschine sprang auf die nächste Zeile über und der Schmerz der Wirklichkeit war so groß, daß er instinktiv versuchte, sich auf die Lippen zu beißen. Er fühlte, wie das steife, taube Fleisch sich bewegte und dann an seinen Zähnen rieb, aber er sah sofort ein, daß das auf-die-Lippen-beißen eines der Dinge war, die ihm fortan unmöglich sein würden. Schreibmaschineschreiben schien ebenfalls dazuzugehören. Es war zu schwer. Er würde sich sicherlich niemals daran gewöhnen. Er sprang hoch wie ein angekettetes Tier. Nach einigen Minuten, die er blind vor Tränen der Wut über seine Ungeschicklichkeit verbrachte, zog er an den durcheinandergeratenen Typen, bis sie sich entwirrten. Dann versuchte er verzweifelt, mit einem Finger zu schreiben. ‚Mein Name ist M …’ Eine halbe Stunde später hatte er aufgeschrieben, was geschehen war. Das Wichtigste war, daß es ihm gelang, seine tatsächliche Identität nachzuweisen. Dies müßte schon die Einleitung bilden, sonst würde sein Brief ungelesen in den Papierkorb wandern. Er nahm ein neues Stück Papier und schrieb: An Frederic Stein Paris Soir 98, rue de la Victoire Paris 9e (Seine)
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Lieber Frederic, du weißt, daß das, was ich dir schreibe, von mir ist. Folgendes wird es dir beweisen: Als ich zuletzt in Paris war und wir zusammen ins Rocking Horse gingen, tranken wir ein Pfefferminzgetränk. In der Karaffe waren drei Stück Grünzeug. Du hast mir von einigem Ärger mit deiner Frau erzählt, als wir darüber diskutierten, daß du einen Job als Provinzkorrespondent annehmen wolltest. Dies ist kein Witz. Ich brauche deine Hilfe – unternimm in Gottes Namen irgendetwas. Er machte eine kurze Pause. Trotz des Summens der angestellten Schreibmaschine hörte er Schritte auf dem Korridor. Er hatte kaum die Zeit, die Maschine abzustellen, zu verdecken und seine betippten Blätter in der Schublade zu verstecken, als ein junger Wärter mit einem pickligen Gesicht eintrat und auf einem Karren zwei dampfende Tabletts vor sich herschob. Es war Frühstückszeit. Sein erster Tag als Tier hinter Gittern begann. III Im Jahre 2369, zweihundert Jahre nach Klements mittlerweile in Vergessenheit geratenem Experiment, sah der Pilot eines Abfangjägers siebentausend Meter über Stuttgart ein Objekt auf seiner Radarortung. Wahrscheinlich war es nichts anderes als ein Vogel, aber man konnte nie sicher sein … Der Pilot betätigte den ‚Intercept’-Knopf und lauschte dem Dröhnen der Maschinen unter seinem Cockpit, als die wolkenbedeckte Erde sich unter ihm wie ein Globus drehte. Ein schwarzer Punkt erschien 33
direkt vor ihm und wuchs zu einer unregelmäßigen Form an. Der Bordcomputer identifizierte ihn als eine nicht eisenhaltige Masse mit einem Gewicht von 136,72 Kilogramm, die frei fiel. Mit dem Finger auf dem Feuerknopf starrte der Pilot hinunter, dann wischte er sich über die Augen und stutzte. Das Objekt vor ihm war ein antikes Sofa, so er noch Herr über seine Sinne war, mit einem Mann und einer Frau darauf, die sich eng umschlungen hielten. Sie waren leicht bekleidet … Hier, mitten über der Stadt, waren die Straßen so hell wie jeden Tag. Die Menschen wanderten über die mosaikartigen Gehsteige. Aus einem offenen Eingang ertönte verführerische Musik; die roten Blüten des ‚Antarischen Unkrauts’, das sich an den Außenwänden der Häuser hochrankte, verbreiteten einen frischen Duft. In einem der überladenen Schaufenster sah ein vorbeigehender junger Mann eine Anzahl grüner Kreaturen, die in Glaskäfigen hockten. Es waren trage, kugelförmige Tiere in der Größe einer Tomate, mit bindfadenähnlichen Auswüchsen und großen, dumpfgrünen Augen. Sie schwammen auf der schaumigen Oberfläche eines Bassins oder kletterten müde auf Brocken nasser Baumrinde. Auf einem Transparent war zu lesen: KAUFEN SIE EINEN WOG FÜR IHRE KINDER. Er ging weiter. Die Leute um ihn herum, meist Gruppen oder Paare, waren anders als die, die er bisher im Hamburger Zoo gesehen hatte. Sie waren besser gekleidet, schienen besser ernährt; ihre Haut war klarer und frischer und sie lachten mehr. Die Frauen wirkten wie Konfektionsware aus weißblondem Haar, roten Wangen, blitzenden weißen 34
Zähnen und glitzernden Nägeln. Sie trugen ihre Kleider mit Stolz und erschienen wie teure Geschenke in kostbarer Verpackung. Im Gegensatz dazu waren die Männer in strenges dunkel gekleidet, in mattes Rot oder Blautöne. Ihre Schuhe bestanden aus glänzendem Patentleder und ihre Haare waren pomadisiert. Viele unterhielten sich in dem ihm unbekannten Berliner Akzent. Das Sternenmosaik des Bürgersteigs bebte leicht unter seinen Füßen und zeigte an, daß ein Expreßauto unter ihm dahinraste. Hier oben war die Fußgängerzone, in der es weder Fahrzeuge auf Rädern, noch Luftkissenfahrzeuge gab. Die leuchtenden Streifen der Flugbahnen schimmerten in der Ferne. Als er um eine Ecke bog, entdeckte er die Statue eines Mannes in Raumfahrerkleidung, die, den Helm unter dem Arm, mit einem angeberischen Ausdruck im Gesicht auf ein großes, beleuchtetes Reklameschild auf einer Gebäudewand zu starren schien. Worte in Leuchtbuchstaben bewegten sich langsam darauf und erschienen Zeile für Zeile. Der junge Mann ging näher heran. Inmitten der Menge der Umherstehenden las er: INTERPLANETARISCHE LINIENMASCHINE AUF DEM MARS ZERSCHELLT! VERMUTLICH KEINE ÜBERLEBENDEN. Passagierliste folgt. DIEBE DER BEWEGUNGSMASCHINE BEGEHEN NEUES VERBRECHEN IN BERLIN! GROSSE STIMMENMEHRHEIT FÜR DIE ANGLIEDERUNG VON THIESSENS PLANET! 1150 Jastimmen, 139 Gegenstimmen.
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WELTRAUMBÖRSE SCHLIESST NEUE REKORDZIFFERN AB! Gesellschaft für Raumflug (I. C. S. S. A.) in Führung. LESEN SIE AUSFÜHRLICHE EINZELHEITEN IN DER BERLINER ZEITUNG! Die Buchstaben sausten weiter wie Zungen einer kalten Flamme. Anschließend folgte eine Werbung für Schultheiß-Bier. Der junge Mann wandte sich ab, nachdem er die Schlagzeilen eine Weile aufmerksam verfolgt hatte, ohne sich jedoch für ihren Inhalt großartig zu interessieren. Er ging weiter die Straße hinunter, schaute fasziniert auf die Anzeige eines Filmtheaters, in der durch irgendwelche technischen Manipulationen hellfarbige, zehn Fuß große Figuren von Männern und Frauen zu tanzen schienen, aber selbst hier konnte er sich nicht voll des Gebotenen erfreuen. Er fühlte eine merkwürdige Unruhe, die immer drängender von ihm Besitz ergriff. Er verspürte den unwiderstehlichen Drang, sich die muffigen, unbequemen Kleider vom Leib zu reißen. Er war sich darüber im klaren, daß das mit Sicherheit die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen würde – und außerdem würde sein nackter Körper mit großer Wahrscheinlichkeit frieren. Er hatte bis heute niemals daran gedacht, daß ein solch relativ einfaches Unterfangen derartige Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Im Zoo hatte er seine eigene Toilette besessen. Das war ein weiterer Punkt, der ihm Kopfzerbrechen verursachte. All diese Leute besaßen sicherlich ebenfalls eine. Aber wo? Wo gingen die Menschen hin, die in 36
Berlin fremd waren? Er sah sich um, fand aber keinen Polizisten, der ihm hätte Auskunft geben können. Eine Frau, die eben in Begleitung eines Mannes an ihm vorbeiging, blieb einen Moment stehen und sah ihn an. Er trat auf sie zu und fragte höflich: „Entschuldigen Sie, gnädige Frau, können Sie mir sagen, wo hier eine Toilette ist?“ Ihr Gesicht zeigte zuerst gelinde Überraschung, dann wandte sie sich schockiert an ihren Begleiter. „Komm weiter“, sagte sie ärgerlich, „der ist ja betrunken.“ Sie ließen ihn stehen und gingen eilig weiter. Das Gesicht des Mannes hatte sich verfinstert. „Entsetzlich“, sagte er. Überrascht und verletzt stand der junge Mann eine Zeitlang da und beobachtete die Umgebung. Dann wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung, ging über einen Platz bis zu einem Gebäude, auf dem „Café Kranzler“ stand. Der Anblick der Menschen, die er durch das große Fenster sehen konnte, erinnerte ihn daran, daß er hungrig und durstig war. Er zögerte zunächst, trat aber dann doch ein. Ein schlanker Kellner in einer roten Weste sprach ihn im Foyer unterwürfig an. „Bitte sehr, mein Herr? Wünschen Sie einen Tisch?“ „Ja, danke“, erwiderte der junge Mann. Der Kellner schien einen Moment lang zu überlegen, sah ihn mißtrauisch an und ging dann voraus. „Bitte hier entlang, mein Herr.“ Der junge Mann gab seinen Mantel und seine Kamera einem jungen Mädchen an der Garderobe. Im Innern des Cafés bewegten sich die rotbewesteten Kellner wie winzige Ameisen zwischen den weißen Tischen. Der Raum war angefüllt mit Samt und Seide in allen möglichen Farben, mit geschminkten Mündern und lachenden Gesichtern. Unbekannte Essensdüfte 37
lagen in der Luft. Der dicke Teppich verschluckte seine Schritte. Es gab laute Stimmen, rasselnde Bestecke und Musik aus einer unsichtbaren Quelle. Ein wenig eingeschüchtert von soviel angehäuftem Luxus, folgte der junge Mann dem Kellner an einen kleinen Tisch und ließ sich nieder. Der Kellner öffnete einen steifen Ordner und legte ihn ihm vor. Der junge Mann ergriff ihn automatisch und wußte sofort, daß dies die Speisekarte war. „Möchten Sie mit einem Aperitif beginnen, mein Herr?“ fragte der Kellner. „Hors d’oeuvre? Oder lieber Salat?“ Der junge Mann warf einen Blick auf die Karte, legte sie jedoch wieder hin. „Nein“, erwiderte er, „aber …“ „Dann nur das Abendessen“, unterbrach ihn der Kellner brüsk. „Wenn Sie erlauben: Ich kann Ihnen heute Truite oder Beurre canopéen sehr empfehlen, mein Herr. Mit einem ausgezeichneten Moselwein.“ „In Ordnung“, sagte der junge Mann zögernd. „Aber zuerst …“ „Sie haben sonst noch einen Wunsch? Vielleicht doch zuerst einen Aperitif?“ fragte der Kellner indigniert. „Oder ein Hors d’oeuvre?“ „Nein, ich möchte nichts von alldem, danke“, sagte der junge Mann mit einer wegwerfenden Handbewegung. Der Kellner wischte über das Tischtuch und sah ihn fragend an. „Bitte?“ „Seien Sie so freundlich und zeigen Sie mir den Weg zur Toilette“, sagte der junge Mann, langsam aufblickend. Er rechnete fest damit, daß der Kellner genauso reagieren würde wie die Frau auf der Straße, aber sein glattes Gesicht blieb völlig ausdruckslos, als er sich etwas herunterbeugte und murmelte „Die Tür befindet sich hinter dem Vorhang, mein Herr.“ 38
„Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.“ „Nichts zu danken, mein Herr.“ Der Kellner verschwand. Der junge Mann erhob sich und ging in die angezeigte Richtung, und obwohl er sich die allergrößte Mühe gab, sich elegant zu bewegen, erschien ihm sein Körper mehr als plump. Manchmal vergaß er sich, machte zwischen einzelnen Schritten eine Pause und versuchte, sich die Schuhe abzustreifen. Einige Gäste musterten ihn bereits mit seltsamen Blicken, und er zwang sich, diesen von innen kommenden Drang so bald wie möglich zu besiegen. Als er nach einigem Ärger mit der ihm unbekannten Wasserspülung an seinen Platz zurückkehrte, war der Kellner gerade dabei, eine gedeckte Platte zu servieren. Der junge Mann setzte sich wieder. Der Kellner entkorkte eine schlanke Flasche, schüttete eine durchsichtige Flüssigkeit in ein Glas und blieb abwartend stehen. Der junge Mann sah auf seinen Teller, auf dem das Essen dampfte. Es gab fünf oder sechs verschiedene Speisen, von denen jede ihre eigene Farbe besaß und die wunderschön auf dem Teller arrangiert worden waren. Er hatte so etwas bisher nie gesehen, abgesehen von den gelegentlichen Farbbildern in Illustrierten. Auch die Gerüche waren ihm unbekannt. Er ergriff eine Gabel und spießte das größte Stück auf, eine oval geformte, gebratene braune Masse, über die eine Flüssigkeit geträufelt worden war. Er führte die Gabel zum Mund, was erst beim zweiten Versuch klappte. Das Stück lag wie ein feuchter, scheußlicher Kloß auf seiner Zunge und sein Geschmack war derart erschreckend, daß er ihn augenblicklich wieder ausspuckte. Der Kellner starrte auf den Teppich, dann auf den jungen Mann und verschwand. Der junge Mann versuchte eifrig, sich die hellgrü39
nen Streifen in den Mund zu stopfen, als der Kellner zurückkam. „Der Geschäftsführer würde gerne mit Ihnen sprechen, mein Herr“, sagte er devot und begann sich nervös umzuschauen. Er deutete auf das Foyer. „Mit mir?“ Der junge Mann stand erfreut auf und warf dabei ein Glas um. Die helle Flüssigkeit lief über die Tischdecke und tropfte auf den Teppich. „Es tut mir leid“, sagte er und begann, die Flecken mit einer Serviette wegzuwischen. „Das macht doch nichts“, sagte der Kellner mit grimmiger Stimme und ergriff seinen Arm. Im Foyer trafen sie auf einen zweiten Kellner, der ihn am anderen Arm faßte. Irgendjemand brachte seinen Mantel und die Kamera. Gemeinsam schoben die beiden Kellner ihn zum Ausgang. „Und der Geschäftsführer?“ fragte der junge Mann naiv. „Der Geschäftsführer“, erwiderte der erste Kellner kalt, „ist der Meinung, daß es besser für unser Haus ist, wenn Sie es so schnell wie möglich verlassen.“ „Aber ich habe noch nicht bezahlt!“ rief der junge Mann, als die Kellner ihn auf die Straße hinausstießen. „Ihre Rechnung geht auf Kosten des Hauses.“ In der Herrentoilette einer Galerie prüfte der junge Mann den Inhalt seiner Taschen. Er entdeckte, daß er Martin Naumchik hieß, europäischer Bürger war und 1976 in Asnieres/Seine geboren wurde. Er gehörte der weißen Rasse an, besaß blaue Augen und braune Haare, keine Vorstrafen; seine bürgerlichen Ehrenrechte waren ihm nicht aberkannt worden. Er besaß keine unveränderlichen Kennzeichen, war beschäftigt als Journalist bei der Zeitung Paris Soir, 98 rue de la Victoire, Paris (9C). Er entdeckte einen Führerschein, eine 40
Scheckkarte, einen Presseausweis in fünf Sprachen und einen Notizblock, der mit unleserlichen Buchstaben bedeckt war. In seiner Geldbörse befanden sich vierzig Mark und in den Hosentaschen ebenfalls zwei oder drei Mark in Münzen. Das war alles. Außer einigen Fahrscheinen, einem Schlüsselring, Taschentüchern und einer noch halbvollen Zigarettenschachtel und einem zerknitterten Umschlag, der an Martin Naumchik, Berlin, Gastnerstraße 67 adressiert war, fand er sonst nichts. Nachdem der junge Mann seinen Hunger mit einem paar Würstchen und einem Brötchen gestillt hatte, die er in einer Imbißstube erstand, fühlte er sich müde, einsam und verwirrt. Jetzt sehnte er sich danach, wieder im Zoo zu sein, aber er hatte sich bereits derart verlaufen, daß er den Weg zurück nicht mehr zu finden vermochte. Er verließ die Galerie und ging die Straße hinunter. Das Kino lud ihn mit geöffneten Flügeltüren zu einem Besuch ein. Auf beiden Seiten des Eingangs hingen riesige Plakate, auf denen die Gestalten von Männern, Frauen, Pflanzen und Blättern vor einem lila-grauen Himmel abgebildet waren. Beleuchtete Reklametafeln verhießen: DER FILM DES JAHRES! Erleben Sie STELLA PAIN & WILLEM DeGROOT in „UNTER DEN SIEBEN MONDEN“. Der Eintritt kostete ihn zwei Mark zehn. Der junge Mann zahlte ihn anstandslos, nahm seine Karte entgegen und ging hinein. Einige Leute standen im Foyer herum, rauchten und unterhielten sich. Es gab an einem Schalter exotische Früchte und Konfekt zu kaufen. Eine 41
lange Reihe glitzernder Automaten versorgte die Besucher mit Getränken, Süßigkeiten und Taschentüchern. Der junge Mann ließ seine Eintrittskarte von einem Automaten am Eingang des Saales entwerten, erhielt seinen Kontrollabschnitt zurück und fand sich bald darauf in einem großen Raum mit dunklen Sitzen wieder, der nur durch das schwache Glimmen der Wände auszumachen war. Da und dort, um ein großes Becken herum, saßen einige Leute, aber drei Viertel der Sitzplätze waren leer. Es herrschte Stille. Niemand sprach oder bewegte sich, denn offensichtlich hatte die Vorführung bereits begonnen. Der junge Mann bahnte sich einen Weg durch den Gang, suchte sich einen Sitzplatz und klappte ihn herunter. Als seine Arme die Lehnen berührten, war um ihn herum plötzlich Geräusch und Bewegung. Er sprang erregt auf und sofort war wieder Dunkelheit und Stille. Der riesige, fast leere Saal des Theaters hatte sich nicht verändert. Die blitzenden Phantomgebilde, die er für eine Sekunde gesehen hatte, waren wieder verschwunden … Er setzte sich wieder und berührte die Armlehnen erneut; diesmal jedoch sehr vorsichtig und behutsam. Wieder das plötzliche Gemisch von Licht und Ton. Dieses Mal sah er Gestalten, hörte gesprochene Worte, bevor er wieder aufsprang. Um ihn herum saßen die Leute in geisterhafter Stille. Dies mußte die Art sein, in der man sich einen Film ansah, vermutete der junge Mann. Es wurde nicht an die Wand projiziert, wie er es sich bisher vorgestellt hatte, sondern in mysteriöser, aufregender Weise war der Film plötzlich da, wenn man sich auf den Stuhl setzte. Er war sehr nervös, aber er beschloß, kein Feigling zu sein. Wieder setzte er sich und tastete nach den Armlehnen. 42
Licht und Bewegung umgaben ihn. Er sah die oberen Hälften zweier gigantischer, menschlicher Wesen, die Gestalten eines Mannes und einer Frau, abgehoben von einem violetten Himmel, auf dem düster zwei Monde leuchteten. Der Wind wehte und die überlaute Stimme des Mannes schrie: „Gerda – du gehörst mir!“ Er sah ihr in die Augen und seine muskulösen Hände griffen nach ihren bloßen Armen, während sie erwiderte: „Ich weiß, Friedrich.“ Die Worte erklangen wie Bombendetonationen in den Ohren des jungen Mannes. Die gewaltigen Körper schienen in seiner absoluten Nähe zu agieren, nahe genug, um sie zu berühren. Sie leuchteten in einer unnatürlichen Farbe, diffus und klar zugleich. Glänzende Pastelltöne überstrahlten die Schatten der hereinbrechenden Dunkelheit, doch die schwarzen Konturen bildeten dazu einen eigenartigen Kontrast, der fast wie ein farbiger Holzschnitt wirkte. Die Bilder hatten Tiefe, aber keine Natürlichkeit und trotzdem waren sie unglaublicher als wirkliche Bilder. Der junge Mann bemerkte erschreckt, daß er die kalte Salzluft riechen konnte. Er kannte seltsamerweise auch die Beschaffenheit der Haut jener großen Frau: sie war weich und wächsern, wie eine weiche, künstliche Frucht. Und er war sich ihres langen, blonden Haares bewußt, das im Wind wehte. Und der glänzenden Steifheit der grünen Blätter im Hintergrund. „Gerda!“ brüllte der Mann. „Friedrich!“ trompetete sie traurig. Dann, ohne daß die beiden auch nur einen Muskel bewegten, verschwanden sie, als hätte sie ein unsichtbares Auto mit sich genommen. Und während sie, sich gegenseitig anstarrend, verschwanden, drängten sich die grünen Blätter in den Vordergrund, um ihren Platz 43
einzunehmen. Der Himmel erweiterte sich, dann waren bereits drei Monde zu erkennen, die mit wahrnehmbaren Bewegungen an ihm entlangwanderten. Gleichzeitig begann es donnernd, zu regnen. In der Trockenheit sitzend, konnte der junge Mann die herabströmende Nässe fühlen, die über die Blätter dahinfloß. Es war lauwarm, in wilden Dissonanzen brach Musik über ihn herein. Blitze rissen den Himmel auseinander und es begann zu donnern. Das war genug. Der junge Mann stand auf. Er zitterte am ganzen Körper. Das Bild und der Ton verschwanden augenblicklich. Er fühlte sich allein in dem großen Theater, allein mit der Stille und den Leuten, die bewegungslos in der Dunkelheit saßen. Zitternd schritt er durch den Gang, und dann hinaus. Er war dankbar dafür, allein und ungestört in seiner eigenen Haut stecken zu können. Andererseits tat es ihm leid, daß er so schnell aufgegeben hatte, aber er tröstete sich damit, daß dies immerhin sein erster Versuch gewesen war. Vielleicht würde er sich noch daran gewöhnen. An einem Kiosk, der mitten auf der Straße stand, wurden Zeitungen und Zeitschriften aus einem metallenen Behälter verkauft. Daneben stand ein schmutziger kleiner Junge mit einer alten Frau, die ein tragbares Fernsehgerät bei sich trug. Auf dem Bildschirm sang ein bekannter Interpret ein Lied und der Junge sang mit, mehr schlecht als recht, in einem angestrengten Sopran. Weiter unten auf der Straße taumelten zwei Betrunkene umher, die sich gegenseitig stützten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eine stark geschminkte Frau kicherte über das sich bietende Bild, aber die Männer nahmen keine Notiz von ihr. Drei finster blickende junge Männer kamen nebeneinander die Straße hinunter. Sie waren gleich 44
angezogen und trugen lange, schwarze Mäntel und ölige Stirnlocken. Große, beleuchtete Anzeigentafeln blinkten auf den Gebäuden: THYSSEN, KRUPP, TELEFUNKEN, HENKEL. Der junge Mann bewegte sich durch die Menge, lauschte den Stimmen und der Musik, die aus offenen Toreinfahrten kam, musterte Gesichter und blieb hin und wieder stehen, um die glitzernden Auslagen der Schaufenster zu bewundern. Nach einer gewissen Zeit stieß er auf ein riesiges Unternehmen, das einen großen Platz für sich allein in Anspruch nahm. Er sah die hellerleuchteten Schaufenster und starrte auf eine Unmenge von Eingängen, durch die die Menschen scharenweise aus- und einströmten. In gewaltigen Leuchtbuchstaben stand über jedem Eingang das Wort KAUFHOF. Nur um irgendwo hinzugehen, ließ der junge Mann sich mit der Menge hineintreiben. Von innen erschien das Geschäft wie ein einziger gigantischer Raum mit einer hohen Decke. Aus allen Ecken reflektierte glitzerndes Licht. Mengen von hellerleuchteten Schaukästen waren in parallelen Reihen aufgestellt, dazwischen befanden sich Gänge. Auf zentralen Plätzen standen Statuen, blühende Pflanzen und Konstruktionen aus goldenem und weißem Metall. Das Gemurmel der Menge hallte von der hohen Decke wider, an der feurige Lichtbahnen in roter, grüner und blauer Farbe angebracht waren. Sie pulsierten ständig und schienen die Decke entlangzulaufen wie die Feuerstrahlen von Raketen. Die Luft war schwer vom Parfüm der Frauen und anderen, nicht identifizierbaren Gerüchen. Musik spielte im Hintergrund, und von irgendwoher erklangen klickende Geräusche. Der junge Mann ging schüchtern weiter, lauschte und beobachtete. Eine Frau stand mit 45
einem älteren Mann am Anfang eines Ganges und sprach mit einer leisen, aber scharfen Stimme auf ihn ein. „Mindestens zwanzig Millionen“, fing der junge Mann auf. Ein Kind in rotem Mantel heulte und wurde von einer Frau ärgerlich weitergeschoben. Ein Mann in dunkler Uniform eilte vorbei, seine Hose schlotterte um seine Fußgelenke. Die pulsierenden Lichtbahnen an der Decke wiesen auf einzelne Abteilungen hin. ‚Herrenbekleidung’, ein roter Pfeil raste pulsierend in eine bestimmte Richtung. Ein blauer Pfeil deutete auf ‚Uhren und Juwelen’, ein grüner auf ‚Kameras’. Der junge Mann folgte dem grünen Pfeil. Er war fasziniert. Unmengen von Menschen, meist Frauen, bewegten sich langsam an den Reihen der Schaukästen entlang. Ab und zu warf jemand Geld hinein, öffnete einen gläsernen Deckel und entnahm eine Bluse, ein paar Strümpfe oder einen Schal. Er hatte solche herrlichen Gegenstände bisher nie gesehen. Bald war er in dem Gang, in dem die Kameras untergebracht waren. Es waren Hunderte, alle poliert und glänzend, so daß die Lichtreflexe, die sich auf ihnen brachen, ihm folgten, als er weiterging. Er sah, wie ein Mann eine Kamera kaufte, ein großes Ding in einer Lederhülle, das er ehrfurchtsvoll in den Händen hielt und es anstarrte, als sehe er in das Gesicht seiner Geliebten. Als die Glastüre sich wieder schloß, drehte sich der Mechanismus langsam weiter und eine andere Kamera, die genauso aussah, wie die erste, nahm den leeren Platz ein. Als der Käufer weiterging, blickte der junge Mann auf den Preis, der auf einer Chromleiste stand. Er lautete auf siebenhundert Mark. Er sah sich noch einmal die herrliche Kamera hinter der Glaswand an, und dabei fiel sein Blick auf 46
die, die er selbst besaß. Sie war kleiner als die im Verkaufsautomaten und ihr Metall glänzte auch nicht so. Sie war an einzigen Stellen bereits abgegriffen und sah nicht mehr schön aus. Der junge Mann ging weiter, sah dabei auf seine Kleider und wurde sich bewußt, daß auch sein dunkler Mantel etwas abgetragen wirkte. Seine Schuhe mußten geputzt werden und auf seiner Hose befanden sich Fusseln und Staub. So war es also. Es reichte nicht, das man ein menschliches Wesen war. Man mußte auch Geld besitzen. Der junge Mann gelangte zu der Ansicht, daß sein Kopf sicher weniger schmerzen und er sich weitaus besser fühlen würde, wenn er sich im Besitz von siebenhundert Mark befand. Sicher würde er dann nicht so müde und verwirrt sein. Aber wie gelangten die anderen Leute zu ihrem Geld? Um sich abzulenken, hielt er in der nächsten Abteilung an und kaufte eine Armbanduhr mit einem Platinband, indem er einen Zehn-Mark-Schein in den Schlitz steckte. Der Mechanismus surrte, ergriff den Schein und ließ ihn verschwinden. Dann klapperte es im Ausgabekasten und die Glastür öffnete sich. Der junge Mann nahm die Uhr heraus und bewunderte sie. Das wunderbare Ding funktionierte sogar und die Zeiger liefen um das kleine Zifferblatt. Er legte sie um sein Handgelenk, erst falsch herum, dann richtig. Im Geldrückgabekasten lagen siebenundzwanzig Pfennig in Messing und Kupfer, die er ebenfalls an sich nahm. Der Mechanismus drehte sich weiter und eine weitere Armbanduhr erschien. Der junge Mann konnte der Versuchung nicht widerstehen und opferte einen weiteren Schein. Er erhielt eine zweite Armbanduhr und wieder siebenundzwanzig Pfennig zurück. Als er die 47
Uhr um das Handgelenk der anderen Hand legte, fühlte er sich reich und gutaussehend. Stolz hielt er seine Arme hoch und bewunderte seine Neuerwerbungen. Beide Uhren zeigten die gleiche Zeit: 20:13 Uhr. Jetzt konnte er sicher sein, immer die richtige Zeit zu wissen. Wenn eine Uhr eine andere Zeit anzeigte, würde er wissen, daß eine nicht funktionierte, zeigten jedoch beide die gleiche Zeit an, bedeutete das, daß sie richtig gingen. Er freute sich darüber, diese Tatsache selbst herausgefunden zu haben und daß er einen guten Einkauf getätigt hatte. Dann entdeckte er an verschiedenen Plätzen sich rollende Treppen, die sich spiralförmig zur Decke hinzogen. Dahinter war eine Reihe von Fahrstühlen, deren Türen sich permanent öffneten und schlossen. Klick, eine Tür öffnete sich, irgendjemand stieg ein. Klick – und sie schloß sich wieder. Einen Moment später waren die Leute hinter der Fahrstuhltür verschwunden und sie öffnete sich wieder. Schräg gegenüber sah er eine weitere Anzahl beleuchteter Zeichen an der Decke. Als er ‚Lebensmittelabteilung’ las, ging er in die angezeigte Richtung, wobei er im Eifer des Gefechts einen barhäuptigen Mann in blauer Uniform anrempelte, der ihn mit finsterem Blick musterte und sagte: „Entschuldigen Sie bitte.“ „Nein – entschuldigen Sie bitte.“ „Es war halb so schlimm, mein Herr.“ „Sehr freundlich.“ „Es war mir eine Ehre.“ Beide verbeugten sich und gingen ihrer Wege. Der junge Mann fand ein Schild, das die Aufschrift ‚Lebensmittelabteilung’ trug, und folgte einem rosafarbenen Pfeil, der ihn in ein tiefergelegenes Stockwerk führte, in dem zahlreiche Kunden kleine metallene 48
Karren vor sich herschoben. Die Karren waren mit Päckchen beladen. Er ging fünf oder sechs Stufen hinunter, schnupperte und fand bald darauf andere Schilder, die die Lebensmittelabteilung in verschiedene Bereiche aufteilten. ‚Konserven’, las er, ‚Leicht verderbliche Waren’ und ‚Fleisch’. Er betrat die Konservenabteilung und sah, wie ein großer Mann, der mit einem Mantel bekleidet war, eine Büchse aus einem offenen Kasten hob und sie zu den drei anderen stellte, die er schon in seinem Karren aufgestapelt hatte. Der junge Mann legte eine Pause ein, um zu sehen was jetzt geschah. Der Mechanismus drehte sich langsam weiter und eine andere, seltsam geformte Büchse kam heraus, auf der ‚Kopenhagener Räucherschinken’ stand. Auf dem Etikett war das Bild einer großen rosa Fleischscheibe. Der Deckel des Kastens war immer noch geöffnet. Sobald der Mechanismus stoppte, griff der Mann wieder hinein, nahm die Büchse heraus und legte sie zu den anderen. Wieder drehte sich der Mechanismus. Der Kunde musterte den jungen Mann kurz über die Schulter, dann entnahm er dem Verkaufsautomaten die nächste Büchse. Der Mechanismus arbeitete weiter, und der junge Mann stellte fest, daß er das tat, ohne daß der Mann Geld eingeworfen hatte. Jedesmal, wenn der Mechanismus sich gedreht hatte und eine neue Büchse erschien, nahm der Mann sie an sich. Der Deckel schien sich zwar zwischen den einzelnen Entleerungen zu schließen, aber er klinkte nicht ein. Wieder ergriff der Mann eine Büchse. Als er sich ein zweitesmal umsah, murmelte er: „Gehen Sie weiter. Sehen Sie nicht, daß dieser Automat besetzt ist?“ Bei diesen Worten sah er sich unbehaglich um. „Tut mir leid“, erwiderte der junge Mann höflich, 49
„aber ich will ebenfalls Schinken kaufen.“ Der andere murmelte etwas und musterte den jungen Mann, ohne dabei den nächsten Schinken aus den Augen zu lassen. „Bitte“, sagte der junge Mann. „Geh’ zum Teufel“, knurrte der Kunde, jetzt etwas deutlicher. Der Mechanismus hielt wieder an. Er langte hinein und entnahm die siebte Büchse Schinken. Im gleichen Augenblick erschien am Ende des Ganges die Gestalt eines blauuniformierten Mannes, die sich auf sie zubewegte. Der Kunde preßte die entnommene Büchse dicht an seine Brust, drehte sich dann abrupt herum und sagte gereizt: „Da hast du ihn!“ Er warf dem jungen Mann den Schinken zu und ging schnell weiter. „Einen Augenblick bitte!“ rief der Uniformierte, der jetzt rasch näher kam. Doch der Mann rannte weiter und rief dem jungen Mann, ohne sich umzuwenden, „Hau ab, du Dummkopf!“ zu. Der Uniformierte griff in die Tasche und löste eine elektrische Klingel aus, die ausdauernd und laut zu schrillen begann, während der Verkaufsautomat eine neue Büchse Schinken hervorbrachte. Der junge Mann betrachtete sie, starrte dann auf die Büchse in seiner Hand und fühlte eine leise Erregung. Der Kunde ging nun noch schneller, während der Uniformierte winkte und rief. Nun begann auch der junge Mann zu laufen, ohne sich über seine Beweggründe im klaren zu sein. Am vorderen Ende der Lebensmittelabteilung kam ihm ein anderer uniformierter Mann von links entgegen. Der junge Mann lief fünf Stufen hinauf, wobei er unbewußt die ihm zugeworfene Büchse fest an sich gepreßt hielt. Der andere Mann war unterdessen in der Menschenmenge verschwunden und nicht mehr auszumachen. „Stehenbleiben!“ rief ein Uniformierter. Das Herz 50
des jungen Mannes schlug in verständlicher Panik. Er rannte quer über den großen Platz, wich den Einkaufswagen der Kunden aus, so gut er es vermochte, begleitet vom Schrillen der Klingel und den Rufen seiner Verfolger. Irgendwo begann eine andere Klingel zu ertönen, dann eine dritte. Der junge Mann wurde von einem plötzlichen Schreck erfaßt, warf die Büchse auf den Boden und kollidierte mit einer Frau, die einen Einkaufswagen vor sich herschob und laut aufkreischte. Beide verloren die Balance und die Orangen, die sich in dem Wagen befanden, purzelten über den Boden. Der junge Mann rannte weiter, sich aufrappelnd, und entkam eben noch zwei weiteren blauuniformierten Männern, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden. Vor ihm erhob sich ein zu dekorativen Zwecken aufgestelltes Metallgitter, das mit Goldfarbe bemalt war und bis zu einer Balustrade reichte, die eine zweite Einkaufsetage abgrenzte. Mit dem Mut der Verzweiflung begann der junge Mann daran hochzuklettern und war wenig später bereits, trotz der Schwerfälligkeit seines Körpers, hoch über den Köpfen seiner Verfolger, die stehenblieben und mit erhobenen Fäusten Schimpfworte zu ihm hinaufschrien. Der junge Mann kletterte weiter. Innerhalb kurzer Zeit waren die Leute unter ihm klein wie Puppen. Sie sahen zu ihm hinauf und einer versuchte sogar ihm zu folgen. Aber der junge Mann war bereits oben und stellte fest, daß er das Geländer des nächsten Balkons bequem ergreifen konnte. Er schwang sich hinüber. Zitternd vor Erregung stellte er fest, daß er sich in einem schmalen Korridor befand. An einer Seite entdeckte er offene Türen und aus den dahinterliegenden Räumen drangen Stimmen und Schreibmaschinengeklapper an seine Ohren. Ein Mann trat auf den Gang 51
hinaus und reckte seinen Hals um dem Schrillen der Klingeln zu lauschen. Als er den jungen Mann sah, stieß er einen überraschten Laut aus und kam auf ihn zu. Der junge Mann rannte weiter. Einige Leute sahen auf, als er an den Büros vorbeikam. Flüchtig nahm er wahr, daß hier Männer und Frauen mit Ärmelschonern an ihren Schreibtischen saßen. Er kam an eine verschlossene Tür, die die Aufschrift ‚Treppenhaus’ trug. Der junge Mann öffnete sie, nahm die Treppe, die nach oben führte in Augenschein und lief hinauf, wobei er jedesmal drei Stufen mit einem Schritt nahm. Er rannte über die Treppenabsätze hinweg bis ihm schwindlig wurde, aber unter ihm waren noch immer Stimmen zu hören. Weiter eilte er an verschlossenen Türen vorbei, überquerte Treppenabsätze, die immer enger wurden bis er eine letzte Tür erreichte. Sie wurde von trübem Licht beschienen. Der junge Mann blieb stehen und lauschte. Tief unter ihm erklangen dünne Stimmen wie das Zirpen von Insekten unter der Erde. Er öffnete die Tür und trat ein. Hier war ein Flur mit leeren Räumen, alles war finster und staubig und machte einen weitaus älteren Eindruck als die glitzernden Gänge, die unter ihm lagen. In dem schwachen Licht, das durch die kleinen Kristallglasfenster hereinleuchtete, sah er Waren, die in den Ecken aufgestapelt worden waren. In einem anderen Zimmer fand er Unmengen von vergessenen Ordnern. Hier war niemand. Diese Räume hatte seit langer Zeit kein Mensch mehr betreten. Am Ende der Halle, halb verdeckt von einer uralten Garderobe, war noch eine andere Tür. Und noch eine Treppe, die engste und finsterste von allen, die nur aus rohem Holz bestand, das unter seinen Fußtritten knarrte. Der Korridor war 52
kurz, an seinem Ende befand sich ein winziger Raum mit schrägen Wanden. Große Papierbündel lagen aufgestapelt auf dem Boden. Sie waren gelb und brüchig und wurden von einer dicken Staubschicht bedeckt. Dann war da noch ein langes Seil, eine alte Glühbirne und Papierstücke, die aussahen, als seien sie von kleinen Tieren angenagt worden. Er betrachtete all das in einem düsteren, kalten Licht, das durch ein dreieckiges Fenster hereinschien. Es war ein breites Fenster, das in einer Mulde angebracht war, die fast die gesamte Wand ausfüllte – und von hier aus konnte er, als er einen kleinen Fleck im Fenster vom Staub gesäubert hatte, auch sehen, wie sich die Stadt unter ihm ausbreitete. Ruhig und leer lag sie unter dem violetten Himmel. Alle Gebäude reihten sich friedlich aneinander, bis zum im Nebel liegenden Horizont. Die Vorderfronten einiger Gebäude wurden von den Straßenbeleuchtungen angestrahlt, aber kein Laut drang aus diesen Tiefen zu ihm hinauf. Es schien, als sei die Stadt ausgestorben und die ehemaligen Einwohner hätten lediglich die Lichter brennen lassen. Der farbige Streifen der Flugbahn hing leer gegen den Himmel. Im Zwielicht strahlten die Neonlichter Kälte aus: MOBIL, URANIA, IBM, EUROPA-CENTER. Der junge Mann sah sich mit sanfter Befriedigung um. Er war immer noch hungrig und in schlechter körperlicher Verfassung, aber hier war er erst einmal sicher und hatte zudem noch ein Dach über dem Kopf, Mit Hilfe des Papiers würde er sich ein Lager herrichten, in der Nähe des Fensters. Er würde den ganzen Tag lang auf die Welt hinuntersehen, so lange es ihm Spaß machte – und niemand wußte, daß er hier war. Er setzte sich und entspannte seine Muskeln. Nach 53
all dem bedeuteten frei sein und ein eigenes Plätzchen haben für ihn alles. Seine Nervosität legte sich, und er gelangte zu der Überzeugung, daß sich alles zum Guten wenden würde. Mit einem zufriedenen Blick auf die düsternen, schrägen Wände, die ihm jetzt schon etwas gemütlicher erschienen, legte er sich auf den Boden und schlief langsam ein. IV Im New York des Jahres 1948 hatte Mr. Robert M. Shoemaker eine unerfreuliche Morgenaufgabe: er mußte in das Büro seines Chefs gehen und sich hinauswerfen lassen. Shoemaker saß mit ausgestreckten Beinen ungewaschen in seiner Nische und war sich darüber im klaren, daß er in der Tat nicht eben ein Schmuckstück der Firma Detweller, Cleves & Osborne war. Auch hatte er in den letzten sechs Wochen nichts besonders Brauchbares zustandegebracht. Und drittens stimmte es, daß er während der täglichen Arbeitszeit mehr oder weniger ständig betrunken war. Shoemaker betrachtete sein Hemd, das schmutzig und unordentlich aus seinem Hosenbund lugte, dann die ungeputzten Schuhe mit den zerrissenen und wieder zusammengeknoteten Schnürriemen. Einer seiner Socken war blau, der andere braun. In allen beiden waren verdächtig große Löcher. Irgendwie fühlte sich Shoemaker wie Gummi, aber es schien ihm nichts auszumachen. Seine Absätze klapperten auf dem Linoleum. Miß McKenzie, kühl und schlank, in einem blaugepunkteten Kleid, stand in der offenen Tür und sah ihn ausdruckslos an. „Er wartet auf Sie“, sagte sie. Shoemaker sah auf und nickte. Nach einem Moment ging sie weg. Klick54
klack, klick-klack. Stimmen hallten auf dem Gang. Dann hörte er das Gerassel der Buchungsmaschinen aus der Rechnungsabteilung. Der ganze verdammte Raum war angefüllt mit seinem Echo. Shoemaker ließ seine Füße vom Schreibtisch herunterfallen; sie kamen mit einem lauten Krach unten an, was ihn irgendwie zufriedenstellte. Die Füße waren Wirklichkeit, der Fußboden war Wirklichkeit. Er dachte darüber nach, bis ihm bewußt wurde, daß er eine ganze Weile bewegungslos dagesessen hatte. Du darfst den alten Gordy nicht warten lassen, dachte er. Shoemaker seufzte, rieb mit seiner Hand über sein stoppelbärtiges Gesicht und blickte dann ratlos auf die beiden Schreibtische und die Ordner, die die Notizen für den EZ-Kredit und die Nuway-Konten enthielten. Dann der Eingangskorb mit dem zerknüllten Papier: er konnte das, was er dort suchte, nicht finden. Dann sah er in der untersten Schublade nach und siehe da: Da war noch ein Fläschchen, das einige Kubikzentimeter herrlich reinen Whiskys enthielt. Shoemaker drehte gewohnheitsmäßig seinen Stuhl so, daß er nicht auf den Türgang sehen mußte und dachte daran, daß es sicherlich nicht sein Vorteil war, noch einen zu trinken, bevor er den alten Gordy in seinem Büro aufsuchte. Ob er etwas Sen-Sen essen sollte? Das konnte natürlich seine Fahne verschwinden lassen, aber auf der anderen Seite wußte Gordy verdammt genau, daß er betrunken war, ob er nun nach Alkohol roch oder nicht. Und außerdem … aber er vergaß, was außerdem noch war. Jedenfalls bereitete es weniger Ärger, die Flasche auszutrinken, als sie in die Schublade zurückzulegen. Also trank er sie aus. Anschließend lehnte er sich zurück, wischte sich den Mund ab und warf die leere Pulle in den Papierkorb. Klack. 55
Als er sich aufrichtete, drehte sich plötzlich der Schreibtisch und Shoemaker sah sich gezwungen, sich mit der flachen Hand darauf zu stützen. Er drehte sich, atmete tief ein und aus und fühlte, wie sein Atem rasselte. Er war noch nicht zu betrunken, um nicht mehr gehen zu können, Gott sei Dank. Als er sich zur Tür wandte, stieß er sie nur kurz mit der Schulter an, bevor er ihre Schwelle überschritt. Im nächsten Büro saß der junge Rob Gilmore in einem sauberen weißen Hemd, mit einer vortrefflich sitzenden Krawatte und einer Pfeife im Mund. Gelegentlich stieß er blaue Rauchkringel von sich, wobei er gewissenhaft auf seine Schreibmaschine sah und so tat, als würde er Shoemaker nicht sehen. Shoemaker winkte ihm ironisch zu, ging weiter und steuerte sorgfältig einen Kurs in Richtung Korridormitte. Die Glastür zu Gordys Büro stand offen. R. Gordon Osborne, Vizepräsident. Shoemaker klopfte zweimal an, stand dann auf der Schwelle und fühlte, wie sich ein blödes Grinsen auf seine Züge legte. Gordy Osborne sah auf. Er hatte ein ordentlich rasiertes, bulliges Gesicht, sauber geschnittene Haare, trug einen Tweedanzug und hielt eine Pfeife zwischen den Zähnen. Gordy rauchte Pfeife, weil man Pfeife rauchte. Alle rauchten Pfeife. „He, Gordy“, sagte Shoemaker und rülpste. Osborne sah ihn unglücklich an. „Komm ’rein, Bob – und schließ’ die Tür.“ Shoemaker kämpfte mit der Tür, schlurfte mit den Füßen und schloß sie mit einem lauteren Knall, als er beabsichtigt hatte. (Verdammtes Ding!). Dann stakste er auf den grünen Ledersessel zu, der vor Osbornes Schreibtisch stand, stopfte die Hände in die Hosentaschen, setzte sich und streckte die Füße aus. 56
Osborne rieb an seiner Nase. Shoemaker fühlte sich ein wenig beschwipst. Zwischen ihm und Osborne bestand eine Glaswand – und es war ihm scheißegal, daß die Rotzlöffel, die man heutzutage zuhauf in den Agenturen fand, alle aussahen wie Büroangestellte in Anzeigen und Pfeife rauchten, ob er nun betrunken war oder nicht. Aber es tat ihm leid, daß Gordy sich schlecht zu fühlen schien. „Is was, Kumpel?“ fragte Shoemaker grinsend. Osborne seufzte. „Hier gibt es nicht mehr viel zu sagen.“ Seine Stimme senkte sich am Ende des Satzes. Er sah auf die grüne Mappe mit den Lederecken und dem bizarren Beschwerer darauf, dann auf den vergoldeten Kalender, der vor ihm auf dem polierten Schreibtisch stand. „Wir haben letzte Woche darüber gesprochen – und wir stimmten darüber ein – daß du versuchen solltest, über das Wochenende hinaus nüchtern zu bleiben …“ Er blickte Shoemaker an. „Ich denke, daß es zwecklos ist, dich danach zu fragen, warum du es nicht versucht hast …“ „Was soll’s“, sagte Shoemaker. Er rückte ein bißchen tiefer in den Sessel und betrachtete seine Fußspitzen. Er suchte nach Worten. „Ich meine: Was macht das schon aus?“ Osborne antwortete nicht. Shoemaker, der noch immer versuchte, eine Erklärung dafür zu finden, weshalb es egal war, ob er betrunken war oder nicht, fühlte, wie sich ein seltsames Gefühl in seinem Magen ausbreitete – so, als würde in Kürze etwas Schlimmes geschehen. Das Zimmer, das unter ihm schwankte, drehte sich plötzlich. Er hörte, wie Osborne sich räusperte. Shoemaker sah ihn an. Gordy hatte sich eine Art Karnevalsmaske aufgesetzt. 57
Große Nase, kleine glänzende Augen unter affenähnlichen Augenbrauen. Große gelbe Zähne, die knurrend gefletscht waren. Dürres Haar über seinem ganzen Kopf und seinem Gesicht, bis hinunter auf seine kräftigen Arme und seine Brust. Kein Tweedanzug mehr. Keine Pfeife. Kein Hals, der Kopf war nach vorne gebeugt. Er grinste und starrte ihn an. Shoemaker versuchte, sich taumelnd zu erheben und merkte, daß er fror. Das Seltsame war nicht nur, daß dieses Etwas nicht Gordy war – es machte auch noch einen tierischen Lärm, riß den grünen, aus Glas bestehenden Briefbeschwerer an sich, stand auf und kroch quer über den Schreibtisch. Das Letzte, was Shoemaker sah, war, wie der Briefbeschwerer gegen seinen Schädel knallte. Dann hatte er eben noch genügend Zeit, sich darüber klar zu werden, daß Todesfurcht ihn ergriff und daß manche Dinge sich trotzdem ereignen. Danach rannte der Neanderthaler hinaus auf den Korridor, ergriff Anthony Boletti und richtete ihn übel zu. Boletti war der Postbote, der zufällig des Weges kam. Anschließend drang er in das Schreibbüro ein, in dem sich die Mädchen schreiend unter den Schreibtischen zu verbergen versuchten. Er unternahm keinen Versuch, die Firma zu verlassen, sondern rannte hin und her und hielt das ganze Büro in Trab, bis zwanzig Minuten später die Polizei erschien und ihn zur Strecke brachte. In Zeitungsartikeln wurde die Kreatur als Affe beschrieben, der aus einem Zoo entlaufen war. Der Fall des verschwundenen R. Gordon Osborne wurde niemals aufgeklärt. Das Essen auf dem Tablett erwies sich als dampfendes Durcheinander aus etwas Dunkelgrünem und Duften58
dem, wie schmutzige Klumpen einer fremden Substanz. Der Zweifüßler war hungrig, aber die unappetitliche Wirkung und der Geruch des Essens stießen ihn ab. Aus dem Nebenzimmer erklang das Geräusch eines quietschenden Löffels auf einem Metallteller. Das weibliche Wesen schien also zu essen. Der Wärter hatte den Tisch hinter ihrer Tür weggerückt und schien ernstlich mit ihr zu schimpfen, aber der Zweifüßler hatte nichts von einer Antwort gehört; wenn sie überhaupt geantwortet hatte. Er versuchte, Wasser aus einer Schüssel zu trinken, und mußte feststellen, daß sein steifer Mund dazu wenig geeignet war. Ärgerlich warf er die Schüssel auf den Boden. Sofort nahm sein Durst überhand und er füllte sie ein zweites Mal mit dem Rest seiner Waschschüssel. Dann versuchte er, das Wasser mit der Zunge herauszuschlürfen, was auch nicht viel besser ging. Schließlich schüttete er sich die Flüssigkeit in den Mund und verschluckte sich fast dabei, bis er merkte, daß es besser ging, wenn er den Kopf beim Schlucken zurückwarf. Die federartigen Haare auf seiner Brust und seinen Beinen waren durchnäßt. Er fühlte sich unangenehm, bis er sich abgetrocknet hatte. Aus irgendeinem Grund stimmte ihn dieser kleine Zwischenfall sehr traurig. Er versuchte sich aufzuheitern, indem er an den halbfertigen Brief dachte, der in der Schreibtischschublade lag. Aber auch das half nichts. Er saß im Innern des Zimmers und starrte gedankenlos an die Wand. Schritte aus dem Büro rissen ihn aus seiner Geistesabwesenheit. Grücks Stimme rief: „Fritz! Emma!“ Der picklige junge Wärter kam herein, sah auf das unberührte Essen und nahm es kommentarlos mit hinaus. Der Zweifüßler stand auf. Er folgte dem Wärter zu 59
Grücks Büro, wo der Mann Grück und Wenzel das unberührte Tablett vorwies. Sie standen dicht beieinander, Grück trug einen teuren, braunen Anzug; Wenzel einen weißen Kittel. „Er hat nichts gegessen, meine Herren.“ Wenzel starrte vor sich hin und Grück sagte gedehnt: „Aber das macht doch nichts. Nehmen Sie das Tablett wieder mit, Rudi. Unser Gast ist heute morgen vielleicht nicht so hungrig – das ist doch nichts Ungewöhnliches.“ Er rieb seine fetten Hände aneinander und machte einen unbesorgten Eindruck. „Wo ist denn unsere hübsche Emma?“ Er wandte sich um und rief: „Emma?“ Der weibliche Zweifüßler erschien auf der Schwelle seines Büros und piepste. Zuerst war sie nur zur Hälfte sichtbar, aber auf Grücks Geheiß kam sie einige Schritte näher und blieb dann stehen. Sie hatte die Arme erhoben, hielt beide Hände fest um ihren Kopf gespannt, um den Knopf zu verbergen. „Aber Emma“, brummte Grück vorwurfsvoll. „Ist das etwa Gastfreundschaft? Sind wir etwa unhöflich zu dir gewesen? Heute verbringt unser neuer Freund doch seinen ersten Tag bei uns.“ Emma gab einen unwilligen Ton von sich und sah den Zweifüßler an. „Du bist ja aufgeregt, Emma. Fürchtest du dich etwa?“ Grück sah von einem zum andern. „Es gibt nichts, wovor du dich zu fürchten brauchst, Emma. Das wirst du bald sehen. Und außerdem – wie geht die Arbeit voran?“ Unerwartet sprach der weibliche Zweifüßler mit einer hohen, absurden menschenähnlichen Stimme. „Schicken Sie ihn weg, Herr Doktor. Ich werde alles alleine machen.“ Sie sah den Zweifüßler an und duckte sich ängstlich. „Aber Emma“, erwiderte Grück jovial, „du fürchtest dich ja wirklich! – Hör’ zu, Emma, wir möchten nicht, daß du dich fürchtest und deshalb wer60
den wir dafür sorgen, daß du wieder fröhlich wirst.“ Er berührte Wenzel am Arm und deutete auf ein Stück Kreide, während er beruhigend auf Emma einsprach. „Fritz soll bei dir bleiben und dir bei deiner Arbeit helfen …“ „Nein! Nein!“ „… doch, doch – und du wirst dich daran gewöhnen. Warte nur ab.“ (Wenzel, die Kreide!). Wenzel, der leise mit Rudi gesprochen hatte, suchte nervös nach einem Stück Kreide und gab es Grück. „Sieh her, Emma“, fuhr Grück besänftigend fort, „wir werden eine Linie über den Fußboden ziehen. Ich werde sie selbst ziehen, weil ich möchte, daß du glücklich bist. So …“ Er beugte sich mit einem Seufzer hinunter und begann, zwischen den beiden Schlafzimmertüren einen Kreidestrich quer durch den Raum zu ziehen, um ihn in zwei etwa gleich große Abschnitte aufzuteilen. „Siehst du, Emma?“ sagte er, als er fertig war, „Fritz bleibt auf dieser Seite und du auf jener. Einverstanden, Fritz?“ „Wie Sie wollen“, erwiderte der Zweifüßler unentschlossen. „Schau, er verspricht es dir“, meinte Grück zu Emma gewandt. „Mein Versprechen gilt. Solange er auf seiner Zimmerseite bleibt, wirst du auf deiner Seite arbeiten und nicht ängstlich sein. Wenn er die Linie trotzdem überschreiten sollte, dann hast du meine Genehmigung, dich wieder zu fürchten und dich in deinem Zimmer einzuschließen. Verstanden?“ Der weibliche Zweifüßler schien beeindruckt. „Ja, Herr Doktor.“ „Schon“, sagte Grück schnell. Er rieb seine Hände aneinander und machte einen zufriedenen Eindruck. „Was haben wir denn noch?“ fragte er nach einer Weile. „Wenzel, schieben Sie eine der Schreibmaschinen so hin, daß Fritz sie auch benutzen kann. Und geben Sie 61
ihm einen Teil der Arbeit, die hier auf Emmas Seite liegt – aber nicht zuviel. Ich bin sicher, daß Emma bereits mehr schafft als Fritz.“ Er schickte sich an, den Raum zu verlassen. Wenzel und der junge Wärter folgten ihm. „Bis zum nächsten Mal“, sagte er noch, dann schloß er die Tür. Als der Zweifüßler sich an seinen Schreibtisch setzen wollte, ging Emma schnell zurück. Ihre Backenknochen zitterten vor Furcht und ihre Hände bedeckten weiterhin ihren Knopf. Der Zweifüßler sagte irritiert: „Ich habe nicht vor, dir etwas zu tun.“ „Sprich mich nicht an“, sagte Emma leise. Sie schlug auf ihren Kopf und ihr Körper zitterte, leicht – aber doch deutlich sichtbar. Der Zweifüßler versuchte, ihre unkontrollierten Bewegungen und Quietscher zu ignorieren. Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm die Hülle von seiner Maschine, betrachtete den Stapel von Diktaphonspulen im Eingangskörbchen, öffnete dann die Schublade und vergewisserte sich, daß sein Brief noch da war. Während der ganzen Zeit stand der weibliche Zweifüßler an der Tür des gegenüberliegenden Zimmers, ständig bereit zur Flucht. Unter ihrem entsetzten Blick wagte der Zweifüßler nicht, den halbfertigen Brief an sich zu nehmen. Also ergriff er die erste Diktaphonspule, legte sie in das Wiedergabegerät und lauschte in den Kopfhörer. Ein plötzlicher Lärm erklang in seinen Ohren und ließ ihn aufspringen. Er riß sich den Kopfhörer von den Ohren. Dann regulierte er die Lautstärke und begann noch einmal von vorn. Eine Stimme sprach leise auf ihn ein. Es war Grücks Stimme, aber seine Worte waren unverständlich. Er ließ die Spule zurücklaufen. Dann kam der Ton wieder und er hörte, wie Grück sich räusperte. Er regulierte noch einmal die Lautstärke. 62
Grück sagte: „Achtung, Emma, dies ist Band zwei von Einige Aspekte extraterrestrischer Biologie, Fang’ an. Phylum und Genus im marsianischen Biota. Journal für vergleichende Physiologie, 1985, 50, 162 bis 167. Buley, M. I. Be-u-el-e-vau. Denk daran, nicht mit w, wie letztes Mal. Eine Vorstudie von natator veneris schultzii Dissertation abstractst 1990, 15, 1652 bis 1653, Cooper, J. G.“ Der Zweifüßler nahm irritiert seinen Kopfhörer ab und stellte die Maschine aus. Nicht, daß das Gerät einen zu starken Druck auf seine Ohren ausübte, aber es war ungewohnt und machte ihn nervös. Der weibliche Zweifüßler hatte sich einige Schritte vorgewagt. Als er nun aufsah, ging Emma schnell zurück. Der Zweifüßler fluchte. Einen Augenblick später drehte er die Diktaphonspule noch einmal zurück und begann von neuem. Er rollte Papier in die Schreibmaschine, drehte dann das Wiedergabegerät an und versuchte zu schreiben, was er hörte, aber schon bei den ersten Wörtern machte er soviel Fehler, daß er das Blatt wieder herausriß und in den Papierkorb warf. Emma gab einen unterdrückten Schrei von sich. Sie hatte ihre Hälfte des Raumes halb durchquert, schlug nun wieder die Hände über dem Kopf zusammen und ging zwei Schritte zurück. „Schau mich nicht an“, piepste sie. „Dann hör gefälligst auf, hier herumzuschreien“, sagte der Zweifüßler beleidigt und legte ein neues Blatt in die Maschine. „Ich würde nicht schreien, wenn du mich nicht dauernd ansehen würdest.“ Er sah auf. „Wie soll ich wegsehen, wenn du schreist?“ Außer einem schweren Ton, der mehr einem Keuchen als einem Schreien ähnelte, gab sie diesmal 63
keine Antwort. Der Zweifüßler machte sich wieder an die Arbeit und bemühte sich, die Tasten mit größter Sorgfalt zu berühren. Er schaffte es, fünf Abschnitte der Bibliographie zu schreiben, ohne daß er einen Fehler machte. Dann warf er die Seiten weg und begann noch einmal. Die Zeit verging. Es dauerte eine Weile, ehe er bemerkte, daß das weibliche Wesen das Zimmer durchquert und an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. Er konzentrierte sich auf seine Arbeit und sah nicht auf. Einige Minuten später hörte er das Geklapper ihrer Maschine. Sie tippte gewandt und schnell. Die Walze klickte gegen den Halt, fuhr zurück und war in einer neuen Zeile. Der Zweifüßler schlug verärgert härter als beabsichtigt auf eine der Tasten ein und der Buchstabe erschien doppelt. Er riß die Seite heraus. „Du verdirbst deine ganze Arbeit“, sagte Emma. Er sah auf. Augenblicklich suchten ihre Hände nach ihrem Knopf. Er senkte den Kopf wieder. „Ich kann nicht anders“, sagte er, „es klappt nicht.“ „Hast du nicht gelernt, wie man ordentlich schreibt?“ „Nein“, sagte er, „– ich meine – doch.“ Der Zweifüßler ballte seine dreifingrige Hand zur Faust. „Ich weiß, wie man eine Schreibmaschine bedient. Aber dieses Ding weiß es nicht. Wie kann ich seine Hände zum Arbeiten bringen?“ Sie starrte ihn mit halbgeöffnetem Mund an. Es war offensichtlich, daß sie nicht eines seiner Worte verstand. Der Zweifüßler grunzte unwillig und machte sich wieder an seine Arbeit. Nach einem Moment erklang das Geräusch von Emmas Maschine von neuem. Eine 64
ganze Zeit lang sprach keiner. Er versuchte grimmig zu arbeiten und brachte es auch während der nächsten Stunde fertig, eine Seite zu beenden. Als er sie aus der Maschine nahm, legte er sie mit einem Gefühl des Triumphes in den Ausgangskorb. Ein Blick auf den Schreibtisch des weiblichen Zweifüßlers brachte ihn leicht aus der Fassung, als er entdeckte, daß ihr Ausgangskorb angefüllt war mit beschriebenen Seiten und Diktaphonspulen. Ihr Eingangskorb war leer. Sein Rücken und seine Hände schmerzten von der ungewohnten Arbeit, er fühlte sich deprimiert und abgespannt. Wie sollte er seinen Brief, den für ihn so wichtigen Brief beenden, wenn sie dauernd anwesend war? Vielleicht sollte er noch einmal versuchen, sie in Angst zu versetzen wie vorher … Er dachte seinen Gedanken nicht zu Ende, denn die äußere Tür öffnete sich plötzlich, und Emma schaute erwartungsvoll hoch. Sie deckte die Maschine mit schnellen Bewegungen ab und stand auf. Grück erschien. Hinter ihm stand Wenzel, griesgrämig wie immer, und als letzter erschien der picklige Wärter mit seinem Karren. Grücks Gesichtsausdruck, der bisher freundlich gewesen war, veränderte sich ein wenig, als er den Zweifüßler ansah. „Bitte“, sagte er und deutete mit der Hand eine Aufwärtsbewegung an. Zu spät begriff der Zweifüßler, was er damit meinte. Er stand auf und stellte sich, wie Emma, neben seinen Schreibtisch. „Na bitte“, rief Grück fröhlich, „ausgezeichnet! Mit Höflichkeit geht alles besser.“ Er wandte sich Emma zu, prüfte den Inhalt ihres Ausgangskörbchens und strahlte Befriedigung aus. „Fein, Emma“, lobte er, „Gute Arbeit. Du erhältst zum Abendessen zusätzlich drei Bonbons. Hast du verstanden, Rudi?“ 65
„Jawohl, Herr Doktor“, erwiderte Rudi untertänig. Er legte drei Klumpen einer trockenaussehenden, blaßgrünen Substanz auf einen Teller, dessen Inhalt aus einer Art graubraunem Schmorgericht bestand. Er brachte den Teller in Emmas Zimmer und kehrte zurück. Grück blickte scheinbar verletzt und ungläubig in das Ausgangskörbchen des Zweifüßlers. „Soll das alles sein, Fritz?“ fragte er. „Die Arbeit eines ganzen Morgens? – Natürlich kannst du nicht derart faul gewesen sein!“ Der Zweifüßler murmelte: „Ich habe getan, was ich konnte.“ Grück schüttelte traurig den Kopf. „Keine Bonbons für Fritz heute, Rudi. – Das ist aber ärgerlich, nicht wahr, Wenzel? Der arme Fritz hat sich seine Bonbons heute nicht verdient. – Es tut uns leid, Fritz, aber wenn wir dir für diese Arbeit Bonbons geben würden, wäre das gegenüber Emma nicht fair. Nicht wahr, Wenzel?“ Wenzel, der den Zweifüßler mit einem kalten, unnachgiebigen Blick fixierte, antwortete nicht. Grück fuhr fort: „Wenn du dich bis heute nachmittag verbesserst, werden wir weitersehen. Bis dahin …“ Er nahm eine einzige Seite aus dem Körbchen des Zweifüßlers, überblickte sie kurz und schnalzte mit der Zunge. „Nicht in Ordnung, nicht in Ordnung“, sagte er dabei und stieß Fritz mit seinem wulstigen Finger in die Seite. „Hier sind Fehler, Fritz! Du hast wenig getan, und das auch noch schlecht. – Und wo sind die Durchschläge?“ „Von Durchschlägen wußte ich nichts“, erwiderte der Zweifüßler, langsam ärgerlich werdend. „– Und was das Schreiben anbetrifft, so habe ich Ihnen bereits erklärt, daß dieser Tierkörper für mich etwas Unbekanntes darstellt. Zeigen Sie mir doch, wie Sie mit den Fingern eines anderen schreiben können! Es würde 66
mich ebenfalls interessieren, was dabei herauskommt!“ Er fühlte sich ein wenig schwindlig, aber er schimpfte weiter, ohne daran zu denken, was er sich damit einbrocken konnte. „Sie können Ihren ganzen verdammten Zoo nehmen und …“ Er hielt Grück drohend die geballte Faust unter die Nase. „Ach, rutschen Sie mir doch den Buckel ’runter!“ Der ganze Raum neigte sich plötzlich nach links: die Wände, Grück, Wenzel, der Wärter, Emma und all das, was sonst noch da war. Er schlug auf das Pult, um es festzuhalten, aber es glitt unter seiner Hand weg und schlug ihm eine Beule mitten ins Gesicht. Er hörte, wie Grück und der Wärter aufschrien und Emma piepste irgendwo im Hintergrund. Dann erlosch sein Interesse an all diesen Dingen und er verlor sich hinter einer grauen Wand. „Ruhig liegen bleiben“, sagte eine verdrossene, aber beruhigende, Stimme. Der Zweifüßler blickte auf und erkannte das gigantisch wirkende Gesicht von Prinz, dem Chirurgen, dessen große braune Augen über ihm schwammen, während sein Mund nervös zuckte. „Schock und Überlastung“, sagte Prinz über seine Schulter hinweg. Der Zweifüßler sah, daß noch zwei oder drei andere Personen anwesend waren. Ihm wurde langsam bewußt, daß er lag, und zwar auf dem Feldbett, das im hinteren Zimmer des Käfigs stand. Er fühlte sich seltsam kraftlos und geschwächt. „Es ist alles in Ordnung“, sagte Prinz beruhigend. „Du hast einen Moment lang die Besinnung verloren, das ist alles. Das kann jeder hochentwickelten Kreatur passieren. Bleib’ ruhig liegen, Fritz, und ruhe dich etwas aus.“ Er verschwand aus dem Blickfeld. Grücks Stimme sagte etwas und Prinz antwortete „Nichts, er wird morgen wieder in Ordnung sein.“ Auf dem Beton67
boden erklangen Schritte, und der Zweifüßler hörte mehr im Unterbewußtsein die Worte: „Ein Glück, daß es keine organische Krankheit ist, Herr Doktor. Was wissen wir denn schon über die innere Konstitution dieser Viecher? Nichts, überhaupt nichts.“ Wenzel sagte kurzangebunden: „Wenn wir die Möglichkeit hätten, einen von ihnen zu sezieren …“ Dann gingen die Männer hinaus und der Zweifüßler lag da und starrte auf die farblose Decke. Die Türen schlossen sich, dann war Stille, bis auf die leise Musik, die von irgendwo an seine Ohren drang. Kein Laut drang aus dem Inneren des Büros oder aus Emmas Zimmer nebenan. Der Zweifüßler stand auf, trank einen Schluck Wasser und stellte fest, daß er hungrig war. Sein Tablett stand auf einem Klapptisch neben seinem Lager. Er setzte sich und aß das graubraune Schmorfleisch und nahm einen der runden Klumpen aus trockener, grüner Masse – das ‚Bonbon’, wegen dem Grück so viel Aufhebens gemacht hatte. Der Zweifüßler steckte das seltsame Ding vorsichtig in den Mund und wartete die Wirkung ab. Der Klumpen, der sich auf der Zunge fast so trocken anfühlte wie er aussah, hatte einen delikaten Geschmack, der sich stark von dem unterschied, was er bisher probiert hatte: er war nicht süß, nicht salzig, nicht sauer und auch nicht bitter. Die Augen des Zweifüßlers schlossen sich ungewollt, als er das Bonbon lutschte, es kleiner und feuchter wurde und sich schließlich auflöste. Er nahm das zweite. Anschließend lag er bewegungslos da, die Augen noch immer geschlossen, und dachte über dieses Ding nach. Tränen drangen in seine Augen. Wie war es möglich, daß er sogar in der Gefangenschaft, verzweifelt wie er war, plötzlich Freude empfand? 68
Das Zentralgebäude des Berliner Zoos, das im Jahre 1971 von einem Architekten namens Herbert Medius erbaut worden war, galt als vielbewunderte Kreation der Architektur des späten 20. Jahrhunderts. Aber es hatte Fehler, die nicht wiedergutzumachen waren: der Speiseraum auf dem Dach etwa, der bei offiziellen Anlässen von Grück und seinen Angestellten benutzt wurde, war von einer transparenten Kuppel bedeckt, in die Stücke bunten Glases eingesetzt waren, die die Eigenschaft hatten, das Sonnenlicht zu brechen und somit die Speisen auf den Tellern farbig zu verfremden. So hatte dann auch die Bauernwurst und der Kartoffelbrei auf Dr. Grücks Teller jene satte braune Farbe, die verdeckte, daß sie in der Küche noch anders ausgesehen hatten. Das Boeuf au jus von Prinz strahlte in einem dunklen Rubinrot, als sei es eben einem frisch geschlachteten, noch blutigen Rind herausgeschnitten worden. Während Rauschs Teller eine dunkelblaue Färbung hatte, erschien der von Wenzel giftiggrün. Die Besucher, Umrath von Europa News, Purser Bang vom Raumdienst und den Treuhänder Neumann hatte man natürlich in nichtfärbenden Ecken Platz nehmen lassen. Lediglich ein roter Lichtschein aus Prinzens Ecke schimmerte gelegentlich über Neumanns Ellenbogen, wenn er die Gabel hob. Wenzel saß – wie immer – steif und unbeweglich auf seinem Platz. Seinen zynisch blickenden Augen entging nichts; weder die unnatürliche Abneigung, mit der Rausch die blauen Fleischstücke zum Mund führte, noch die übertriebenen Armbewegungen Prinz’, der seinen Ellenbogen bei jeder Gabel einen Moment lang aus dem roten Licht heraushob, bevor er sie zum Munde führte. Wenzel sah auf sein eigenes Mittagessen und 69
fand, daß es grün aussah. Er schnitt es methodisch mit dem grünen Messer, das er in seiner grünen Hand hielt und aß es grün. Umrath, der Mann von Europa News hatte ein eckiges, rotes Gesicht mit zusammengekniffenen, kleinen Augen und blassen Wimpern. „Das Essen ist nicht von schlechten Eltern. Mein Kompliment für Ihre Küche, Herr Doktor. Wenn Sie Ihre Tiere ebenfalls so gut füttern, kann ich nur sagen, daß es denen bestimmt gut geht.“ „Unsere Tiere?“ gluckste Grück fröhlich. „Haha, mein Lieber! Wir haben wirklich unsere separate Küche, das kann ich Ihnen versichern. Wir müssen mehr als 500 Arten von Tieren mit Futter versorgen, mein lieber Umrath, einige von ihnen sind nicht einmal Irdische. – Nehmen Sie zum Beispiel die Zweifüßler von Brechts Planet. Ihr Essen muß reich an Schwefel und Beryllium-Salzen sein. Wenn wir das hier unseren Gästen vorsetzen würden, meine Herren, würde ihnen reichlich übel werden.“ „Wenzel würde es sicherlich vertragen können“, erwiderte der Treuhänder Neumann. Er war ruhig und wirkte düster, und er strahlte eine Aura von Geschäftlichkeit aus. „Das ist wahr“, rief Grück grinsend. „Unser Wenzel wurde aus Gußstahl hergestellt! – Aber die Zweifüßler, meine Herren, keineswegs. Sie sind sehr empfindlich und brauchen dauernde Pflege.“ „Und Geld“, warf Neumann trocken ein und spießte mit seiner Gabel das Fleisch von seinem Teller auf, das er bisher kaum berührt hatte. „Das stimmt“, erwiderte Grück ernüchtert. „Aber schließlich handelt es sich bei den Zweifüßlern um Raritäten. Sie leben 18 Lichtjahre von hier entfernt. Man legt nicht eine solche Strecke zurück, um zu picknicken, nicht wahr, Purser Bang?“ 70
Aus einer Ecke erklang plötzlich ein raschelndes Geräusch, das die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zog. Aus der Dunkelheit heraus kam ein kleines, vielbeiniges Wesen mit blaßblauer Haut. Es wandte ihnen seine juwelenartig strahlenden, roten Augen zu und verschwand in einer Öffnung in der Wand. Die Anwesenden sahen ihm kommentarlos nach. Der Raumfahrer nickte. Er war groß und schweigsam, und mit seinem hohlwangigen Gesicht glich er eigentlich mehr einem Portier als einem unerschrockenen Abenteurer. Er schnitt sein Fleisch in kleine Scheibchen, ehe er sie sorgfältig gekaut hinunterschluckte. „Warum geben Sie soviel Geld für die Zweifüßler aus?“ fragte Umrath. „Sie mögen ja auf ihre Art amüsant sein, aber sind sie diese Investitionen wert?“ „Mein lieber Umrath“, erwiderte Grück und ließ seine Gabel sinken. „Die Zweifüßler repräsentieren den Traum meines Lebens. Ja, ich gebe es zu, es ist wirklich ein Traum. Wir leben doch alle auf dieser Welt, um irgendetwas zu schaffen, um etwas zu erreichen. Das ist der Grund, mein lieber Umrath, weshalb ich fünf Jahre lang Briefe schrieb und außerdem noch zwei AltarVögel aus dem System Altair verkaufte. Wieviel Geld genau ich in diese Sache bisher investiert habe, möchte ich lieber nicht erwähnen …“ Er blickte Neumann an, der ein wenig lächelte. „Was unseren wunderschönen neuen Zweifüßler Fritz angeht: er ist hier, es geht ihm gut und er ist ein ausgewachsenes, männliches Wesen. Außerdem haben wir unseren weiblichen Zweifüßler Emma. Kein Zoo auf der ganzen Welt hat mehr Zweifüßler. – Lachen Sie mich ruhig aus, wenn Sie wollen, aber es wird Grück sein; Grück und der Berliner Zoo, an den man sich erinnert, wenn man davon spricht, wo sich die ersten Zweifüßler in Gefangenschaft vermehrten.“ 71
„Nach allem, was ich gehört habe, soll das unmöglich sein“, warf Umrath ein. „Das ist mir bekannt“, rief Grück erheitert. „Niemals haben sich Zweifüßler in der Gefangenschaft vermehrt, nicht einmal auf Brechts Planet! Und warum nicht? Weil bisher niemand die wichtigsten ihrer natürlichen Umweltbedingungen erfolgreich reproduziert hat.“ „Und um welche Bedingungen handelt es sich dabei?“ fragte Neumann höflich, seine Müdigkeit verbergend. „Das werden wir schon herausfinden“, antwortete Grück. „Vertrauen Sie mir, meine Herren. Ich habe eine Menge Schriften über Brechts Planet abgefaßt – und besonders über die Zweifüßler. Es gibt keine größere Sammlung im Galacticum. Nicht einmal im Berliner Archiv.“ Er strahlte. „Unter uns gesagt, meine Herren: Purser Bang hat Verbindungen zu einer Gruppe auf Brechts Planet, die imstande ist, physiologische Studien über unsere Zweifüßler zu betreiben. Sie können sich darauf verlassen, daß sie uns wertvolle Informationen beschaffen werden durch unseren Freund Bang!“ Er klopfte dem Raumfahrer freundschaftlich auf den Arm. Bang lächelte und aß weiter. „Na dann“, sagte Umrath, „trinken wir auf die Zweifüßler!“ Er hob sein Glas. Grück, Prinz, Rausch und Bang tranken; Neumann hob sein Glas nur etwas an und setzte es wieder ab. Wenzel saß hochgereckt da und schnippelte weiter an seinem grünen Fleisch. „Trotzdem“, meinte Neumann, „scheint mir, daß Fritz das letzte Wort noch nicht gesprochen hat.“ V Am Vormittag des vierten Tages, den er im Warenhaus verbracht hatte, kletterte der junge Mann – wie ge72
wöhnlich – sehr früh hinunter, weil um diese Zeit das Gebäude noch fast leer war. Gelegentlich hatte ihn irgendjemand komisch angesehen, als er durch die Gänge schritt, aber niemand hatte ihn bisher aufgehalten. Die Büroangestellten arbeiteten fleißig hinter ihren Glaswänden, registrierten neue Aufträge, öffneten und schlossen ihre Metalltüren; die Putzfrauen schoben ihre heulenden Maschinen die Korridore entlang und von weither erklangen Stimmen. Der junge Mann stillte seinen Durst an dem Springbrunnen zwischen der Gemüse- und der Kunstabteilung, ging dann hinunter in die Gemüseabteilung mit den Bergen von Früchten und stillte seinen Hunger. Um diese Zeit waren die Außentüren bereits geöffnet, die Musik spielte schon und die Menschen strömten die Gänge entlang. Der junge Mann gab siebzig Pfennig aus für einen durchsichtigen Beutel mit Orangen und eine Packung Bananen. Während er abwechselnd Bananen aß und Orangen aussaugte, wanderte er durch das Kaufhaus, wobei er die Schalen der aufgegessenen Früchte in die leere Tüte zurücksteckte, die er unter dem Arm trug. Einmal, am Abend seines zweiten Tages war er hinaus auf die Straße gegangen, aber die Menschenmenge, der Lärm und die Lichter hatten ihn gestört und in das Kaufhaus zurückgetrieben. Auch hatte er Angst davor, ausgeschlossen zu werden, wenn er zu spät zurückkehrte. Drinnen war alles viel besser. Hier gab es zwar auch Lärm, aber er war anders und nicht so nervtötend. Das Licht war gleichmäßig und kühl und verletzte nicht seine Augen. Außerdem fand er im Kaufhaus alles, was er brauchte: Essen, Trinken, Unterhaltung. Manchmal fühlte er sich auch verloren in der Riesigkeit der Hallen, aber irgendwie fand er immer seinen Weg anhand der gleitenden Farbpfeile an der Decke. 73
Immer wenn ein blauuniformierter Mann in der Nähe war, sah er starr geradeaus, bis er ihn passiert hatte. Er hatte gelernt, daß die Uniformierten ihn in Ruhe ließen, solange er nicht an dem Gitter hochkletterte oder irgendetwas aus einem Automaten nahm, ohne dafür zu bezahlen. Bezahlen tat er immer, und was das Gitter anging, so ließ es sich eben nicht vermeiden, jeden Abend hinaufzuklettern, denn es gab keinen anderen Weg nach oben. Zweimal war er bisher dabei erwischt worden und die Männer waren herbeigeströmt und hatten ihre Klingeln schrillen lassen, aber keiner von ihnen schaffte es, ihm nachzuklettern, was ihm seine Furcht nahm, wenngleich er es nicht allzusehr schätzte, wenn sich einer der Uniformierten in seiner Nähe aufhielt. Es gab immer noch einiges Unbehagen in seinem neuen Körper, was ihm ständige Sorgen bereitete und ihn gelegentlich intensiv in Angst versetzte. Da war irgend etwas, was seinem Mund oder seinem Hals fehlte. Er versuchte, das fehlende Element durch das Ausprobieren verschiedener Nahrungsmittel zu ersetzen, was ihm auch zeitweise gelang. Später jedoch kam das Gefühl wieder zurück. Dunkles, lockiges Haar wuchs auf seinen Wangen und seinem Kinn und verursachte ein juckendes Gefühl. Aber er kam jetzt besser zurecht als am Anfang. Er hatte herausgefunden, daß seine Kleider und Schuhe sich am nächsten Morgen viel besser ertragen ließen, wenn er sie vor dem Schlafengehen auszog. Als seine Unterwäsche schmutzig geworden war, hatte er sich aus einem Verkaufsautomaten neue zugelegt und dabei hatte er festgestellt, daß der weiche, saubere Stoff ein angenehmeres Gefühl auf seiner nackten Haut erzeugte. 74
Als er zu dem Gang zurückkehrte, in dem der Schinken lag, entdeckte er einen rotgesichtigen Mann, der ihn mißtrauisch ansah, sich dann umwandte und etwas in das Ohr eines schlanken, blassen Mannes flüsterte. Nervosität erfaßte den jungen Mann. Der Grobgesichtige kam ihm bekannt vor. War er vielleicht derselbe, der –? Er sah zurück. Beide, der grobgesichtige Mann und sein Begleiter, waren nun verschwunden. Erleichtert, aber sich immer noch nicht ganz wohlfühlend, versteckte sich der junge Mann in einer Ecke vor der Frischgemüseabteilung am Ende des Ganges. Als er um einen Winkel sah, stand der grobgesichtige Mann direkt vor ihm. „Hören Sie mal zu“, sagte er kalt. „Mein Freund hat Ihnen ein geschäftliches Angebot zu machen. Kommen Sie mit und sprechen Sie mit ihm darüber. Was halten Sie davon?“ Der junge Mann blickte sich um. Der Bleiche, über dessen Lippen und Kinn Haare wuchsen, hatte sich hinter ihn gestellt und grinste. „Sie brauchen keine Angst zu haben“, sagte der blasse Mann mit einem undefinierbaren Unterton in der Stimme. „Wir haben mit der Polizei nichts zu schaffen, kapiert? – Kommen Sie mit, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten. Sie möchten doch sicher etwas Geld verdienen, oder nicht?“ „Geld?“ fragte der junge Mann. „Gutes Geld“, erwiderte der grobgesichtige Mann und klimperte mit einigen Münzen, die er in der linken Hand hielt. „Ein gutaussehender junger Mann wie Sie kann sein Glück machen, daran gibt es nichts zu zweifeln.“ Er ergriff den linken Arm des jungen Mannes, der Bleiche nahm seinen rechten. Sie führten ihn in Richtung Ausgang, wo der junge Mann sich leicht zu sträuben begann, aber die Männer ließen nicht locker. 75
„Nicht das, was Sie denken“, murmelte der Grobgesichtige. „Wir gehören nicht zur Polizei. – Aber wenn Sie ungehorsam sind, können Sie sehr schnell dort landen, verstanden?“ Sie führten ihn zu einem kleinen Straßencafe und ließen sich an einem kleinen Tisch nieder, den jungen Mann zwischen sich plazierend. Der Bleiche, der sagte, daß sein Name Horst sei, hatte ein fuchsähnliches, schmales Gesicht und große, grünschimmernde Augen. Der andere Mann hieß Pullach. Als sie sich hingesetzt hatten, begann er nervös herumzurutschen. „Ich muß verduften“, sagte er, „Wenn du die Sache allein durchziehen kannst, Horst …“ „Bleib’ hier, bis Trudl kommt“, erwiderte der Bleiche. Er bediente einen Knopf auf dem Tisch, dann legte er seinen Arm um die Schulter des jungen Mannes. „Nun zu dir“, sagte er, „Wer hat dir beigebracht, so zu klettern … äh … wie war doch dein Name?“ „Martin Naumchik heiße ich“, erwiderte der junge Mann nervös. Er fühlte sich unbehaglich zwischen den Körpern der beiden Männer und mit Horsts Arm auf seiner Schulter. „Du kannst mich ruhig duzen“, sagte Horst und klopfte ihm auf den Arm. „Wir sind doch alle Freunde, oder nicht? – Sag’ mal, Martin: Wie würde es dir gefallen, jeden Abend fünfhundert Mark zu verdienen?“ „Das würde mir sehr gefallen.“ Horst musterte ihn starr und sagte dann, seinen Arm zurückziehend: „Einfach so? Ohne zu fragen, um was es geht? – Er scheint ein völlig eiskalter Bursche zu sein, was Pullach? – Aber gehen wir etwas langsamer vor. Was hast du gemacht, bevor du das Ding im Kaufhof gedreht hast?“ „Nur Büroarbeit, Herr Horst.“ „Büroarbeit? Wenn das stimmt, bist du wohl noch 76
ein Amateur, Martin. Fünfhundert Mark sind vielleicht zuviel für einen Amateur beim ersten Job.“ Er spitzte die Lippen. „Vielleicht … Na, warten wir erst einmal ab.“ Dann grinste er und schüttelte die Hand des jungen Mannes. „Von mir aus ist es abgemacht, meine Hand drauf!“ Die Klappe des Getränkeaufzugs sprang auf. Vor ihnen standen plötzlich drei kleine Gläser mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit, die Horst herumreichte. Pullach trank sein Glas in einem Zug aus, der junge Mann nippte vorsichtig daran und fand den Geschmack unnatürlich scharf. Seine Augen begannen zu tränen. „Da ist Trudl ja“, sagte Pullach plötzlich. „Ich muß jetzt abhauen, Horst. Wenn es dir nichts ausmacht, mir die Kleinigkeit zu geben, die wir ausgemacht haben …“ Sie flüsterten einen Moment lang zusammen, irgend etwas ging von Horsts in Pullachs Hand über; dann verschwand er, und eine schlanke junge Frau mit braunem Haar kam herein. Der junge Mann nippte wieder an seinem Glas. Nun kam ihm der Geschmack nicht mehr so übel vor. Die Flüssigkeit erzeugte ein warmes Gefühl in seinem Magen. „Das ist unser Kletterer, Trudl“, sagte Horst fröhlich. „Martin – das ist Trudl.“ „Sehr angenehm, Fräulein“, sagte der junge Mann höflich. Sie musterte ihn mit unbewegtem Gesicht und sah dann Horst an. „Bist du sicher, daß er der Richtige ist? – Pullach würde für zehn Mark seine eigene Großmutter verscherbeln!“ „Keine Sorge, er ist der Richtige.“ Horst sah etwas irritiert aus. „Wo wohnst du, Martin?“ fragte er dann. „Bitte?“ „Spiel ‚nicht den Narren. Wo du wohnst, habe ich gefragt!“ 77
„Oh“, machte der junge Mann und zögerte. Aus irgendeinem Grund weigerte sich sein Innerstes, Horst von seinem Dachzimmer im Warenhaus zu berichten. „Ich habe ein Zimmer“, sagte er dann, „aber ich konnte die Miete nicht mehr bezahlen.“ Der Mann und das Mädchen wechselten einen Blick. „Dann muß er eben mit uns kommen“, entschied Horst. „Er kann ja bei dir wohnen.“ Das Mädchen zuckte die Schultern, dann standen sie auf. Der junge Mann leerte sein Glas, weil er den Inhalt nicht verkommen lassen wollte. Als sie den Platz in Richtung auf das Schild ‚U-Bahn’ überquerten, empfand er das milde Morgenlicht als angenehm, und seine beiden neuen Freunde erweckten sein zunehmendes Interesse. Sie verließen die U-Bahn-Station und gingen eine schmale Straße hinunter, vorbei an Häuserreihen, deren Fronten aus leuchtenden Quadern in unterschiedlichen Farben bestanden: orange, schwarz, gelb, elfenbein und hellblau. Der junge Mann schüttelte nervös den Kopf. Die Fahrt in der Untergrundbahn hatte nicht eben dazu beigetragen, ihn ruhiger zu machen, denn er hatte sich an einer Plastikschlaufe festhalten müssen, und die anderen Passagiere hatten sie so aneinandergedrückt, daß sie kaum Luft zu atmen hatten. Auf der Straße war alles viel schöner. Die Luft war klar und rein, die hellen Farben erfreuten ihn. Er wäre gern einmal stehengeblieben um die Umgebung näher in Augenschein zu nehmen, aber Horst und das Mädchen hielten ihn zwischen sich und eilten weiter. Als sie die Straße überquerten, blieb Horst plötzlich stehen. „Sieh dir das an“, sagte er ärgerlich. Der junge Mann schaute sich um. Oberhalb der Kreuzung stand eine 78
gewaltige Maschine; ein Kran, genau vor der Vorderfront eines Gebäudes. Er hatte ein Teil der Gebäudewand herausgelöst und der junge Mann konnte in das Innere der Wohnung sehen, die vollgepackt war mit Möbeln, Teppichen und Bildern. Rufe erklangen von oben, und der Kranführer lehnte sich vor und hantierte an seinen Geräten. Die Maschine rollte langsam auf ihren Gummireifen von dem Gebäude weg. Drei Männer in weißen Kitteln erschienen in der Öffnung. „Kommt weiter“, sagte Horst. Während sie ihren unterbrochenen Weg fortsetzten, flüsterte er: „Sie sollen doch nicht in unmittelbarer Nähe deiner Wohnung arbeiten. Sie wissen doch verdammt genau, daß du in dieser Straße wohnst.“ „Wer war es? Stamms Bande?“ fragte Trudl und sah Horst über die Schulter des jungen Mannes hinweg an. „Ja. – Dieser verdammte Idiot!“ „Warum sagst du ihm das nicht?“ Horst gab einen ärgerlichen Ton von sich. „Das hat ja doch keinen Zweck … dieser Narr …“ Der Mann in der Kabine des Krans sah sie an, als sie vorübergingen und schob einen Zigarrenstummel von der einen Seite seines Mundes in die andere. Er sagte nichts. Der Kran schwang wieder in Richtung Hauswand und brachte das Mauerstück wieder an seinen Platz zurück. Der junge Mann wollte stehenbleiben und zusehen, aber Horst schüttelte rauh seinen Arm. „Weiter, weiter!“ Sie durchquerten einen Toreingang, der neben einem Tabakladen war. Am Ende einer düsteren Halle führte eine Treppe hinunter. Trudl schloß die knarrende Tür auf und schaltete das Licht an, als sie eintraten. Horst warf sich auf eine blaue Couch, auf der eine große Stoffpuppe mit schlaffen Gliedern lag. Das Zimmer 79
war klein, aber hübsch eingerichtet. Auf der Couch und dem Fußboden lagen runde Kissen und die Lampen besaßen kleine rosa Schirme. „Setz’ dich hin“, sagte Horst. „Trudl, bring’ uns ein Bier.“ Das Mädchen warf seine Handtasche auf einen Stuhl und eilte in eine Nische, in der eine winzige Kochstelle installiert war. Wenn sie nicht gebraucht wurde, konnte man sie hinter einer mit gelben Gänseblümchen bemalten, faltbaren Metallwand verschwinden lassen. „Du machst dir zuviel Gedanken“, sagte sie zu Horst, ohne sich umzuwenden. „Gedanken, Gedanken!“ äffte Horst nach. „Irgend jemand muß sich schließlich Gedanken machen! Wenn ich es nicht täte, säßt ihr alle längst im Knast.“ Er zupfte irritiert an seinem unordentlichen Bart. „Ihr habt alle gut reden.“ Der junge Mann setzte sich behutsam auf eine Ecke des Clubsessels und musterte die Puppe. Sie hatte Haare aus gelbem Garn und ihr Lächeln war aufgemalt. Bekleidet war sie mit einem Harlekinkostüm von grüner und roter Bonbonfarbe. Ihre schwarzen Augen entpuppten sich als aufgenähte Knöpfe. Auf ihren Wangen befanden sich rote Flecken und ihr Lächeln ließ sie weich und freundlich erscheinen. Der junge Mann verspürte das Verlangen, sie aufzuheben und an sich zu pressen, aber er war sich nicht sicher, ob das als Unhöflichkeit gewertet würde. „Das Spiel ist ausgespielt“, sagte Horst sinnierend und beugte sich vor. „Stamm sollte es eigentlich wissen. Es ist direkt ein Wunder, daß sie ihn noch nicht geschnappt haben.“ Trudl erschien mit Krügen auf einem Tablett, das sie vor Horst auf einen kleinen Tisch ablegte. „Hier – trink, und reg’ dich nicht so auf.“ Sie legte einen Arm auf die Sessellehne, nahm eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Sie hielt 80
dem Blick des jungen Mannes mit einem zweifelnden Ausdruck stand. „Sie sind eben nicht alle so clever wie du, Horst“, sagte sie. „Naja, das stimmt“, sagte Horst geschmeichelt, ergriff seinen Krug und trank in langen Zügen. Der junge Mann kostete das Getränk ebenfalls, aber es war kalt und bitter. Auf seiner Oberlippe war plötzlich Schaum; er stellte den Krug wieder hin. „Kommen wir zum Geschäft“, begann Horst und lehnte sich zurück. „Gib mir den Umschlag, Trudl.“ Das Mädchen langte in seine Handtasche, entnahm ihr einen Umschlag und gab ihn Horst. Dieser breitete einige Papiere auf dem Tisch aus, wählte eines davon aus und warf es quer über den Tisch dem jungen Mann zu. „Kannst du dort hinaufklettern?“ fragte er. Der junge Mann nahm das quadratische Stück Papier an sich, ohne zu verstehen, was man von ihm wollte. Es war die Fotografie eines grauen Steinhauses, drei Stockwerke hoch, mit niedrigem Dach und einigen Schornsteinen. Der Eingang lag unter einer niedrigen portecochere. Der oberste Stock besaß einen mit Ornamenten verzierten Elfenbeinbalkon mit französischen Türen dahinter. „Na? Kannst du das?“ „Auf das Haus klettern?“ fragte der junge Mann zweifelnd. „Auf den Balkon“, erwiderte Horst und beugte sich vor, um mit seinem schmutzigen Zeigefinger auf das Foto zu deuten. „Schaffst du das?“ Der junge Mann betrachtete das Bild ein zweites Mal. Er hatte noch nie versucht, an einem Haus hochzuklettern, aber es schien nicht besonders schwer zu sein. 81
„Ich glaube doch, daß ich das kann, Herr Horst.“ „In Ordnung. Schau dir mal den Lageplan an“, entgegnete Horst, ohne seine Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen, und öffnete den Umschlag, zog die anderen Papiere heraus und breitete sie auf dem Tisch aus. Eines der Papiere war mit einer gepunkteten Linie und kleinen Quadraten, die mit einem Bleistift gezeichnet worden waren, versehen. „Hier steht das Haus“, erklärte Horst und deutete auf eines der Quadrate. „Es gehört einem Herrn, dessen Name nichts zur Sache tut. Zufälligerweise kennt einer meiner Freunde ein Mädchen, das dort früher als Hausangestellte gearbeitet hat. Der springende Punkt ist der, daß der reiche Bonze, dem das Haus gehört, einige hübsche Sachen besitzt.“ Horsts Finger glitt über den Plan. „Hier befindet sich die Untergrund-Autobahn.“ Er deutete auf die gepunktete Linie. „Notausgänge sind hier und hier, aber alle haben sie Alarmsysteme – die Bullen würden über kurz oder lang über uns herfallen. Wir haben keine andere Möglichkeit, als während des hellichten Tages in das Gebiet einzudringen und uns dann dort zu verstecken … hier!“ Sein Zeigefinger blieb auf dem Punkt stehen, auf dem mit groben Strichen Bäume gezeichnet waren. Trudl hatte sich neben ihn auf die Couch gesetzt und hörte zu. Sie hatte das Kinn auf die Hand gestützt und ihr dunkles Haar fiel nach vorn in ihr Gesicht. Sie schien gelangweilt. „Du wirst den Kleinbus fahren“, sagte Horst zu ihr und sie nickte. Er deutete auf eine weitere gepunktete Linie. „Du wirst hier parken, auf dem halben Weg zum Tunnel, am Ipolitoff-Haus. Es ist leer. Niemand benutzt den Tunnel. Während wir hineingehen, wirst du hier herumfahren …“ Sein Finger glitt über die gepunktete Linie hinweg. „… bis zu der Kreuzung. Dann 82
den Oberkeller-Tunnel hoch. Du parkst rechts, außerhalb der Barriere. Das ist ganz einfach.“ „Klar“, erwiderte Trudl. Horst warf das Papierblatt zur Seite und drehte es um. „Hier ist das Innere des Hauses.“ Es waren drei mit Bleistift gezeichnete Kästchen, in denen sich wieder andere Kästchen befanden. Horst zeigte auf den obersten Kasten. „Das ist der zweite Stock. Du steigst hier hinauf, gehst durch diese beiden Räume und dann die Treppe hinunter ins Parterre.“ Er deutete kurz auf den zweiten Kasten und wandte sich dem dritten zu. „Hier ist das Erdgeschoß. Du kommst hierher, durch das Spielzimmer und den Salon, geradewegs zum Foyer. Dann öffnest du die Haustür, wir kommen rein und damit wäre deine Arbeit erledigt. Den Rest werden wir selbst erledigen.“ Er blickte auf. „Hast du das alles kapiert?“ „Ja, Herr Horst“, erwiderte der junge Mann ohne innerliche Überzeugung. Er hatte schon vorher Karten gesehen, aber solche von Häusern nicht. Die kleinen Kästen und Linien waren ihm unverständlich, aber es schien einfach genug; man. stieg hinein, ging hinunter und öffnete die Haustür. „Alles klar? Dann bist du also einverstanden?“ Horst schüttelte die Hand des jungen Mannes. „Gut.“ Dann sah er auf die Uhr und kaute an seinem Daumennagel. „Die Sache duldet keinen Aufschub“, murmelte er plötzlich und sprang auf. „Ich werde Georg und Otto holen.“ Er wandte sich an Trudl. „Du bleibst hier und paßt auf, daß er nicht abhaut, verstanden?“ „Willst du es heute abend durchziehen?“ fragte Trudl. „Ja, heute abend. Je länger wir warten, desto geringer werden unsere Chancen. Ich werde dafür sorgen, daß wir den Kleinbus bekommen.“ Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, als er ging. 83
VI Der junge Mann mußte niesen. „Sei ruhig!“ zischte Georg und sah sich in der Dunkelheit um. „Ich kann nichts dazu“, flüsterte der junge Mann, erstaunt über sich selbst. Er hatte das Gefühl des Niesens vorher nie gekannt, es erschien ihm als eine bemerkenswerte Erfahrung. Seine Brust zog sich von selbst zusammen, seine Augen schlossen sich tränend, der Kopf ging zurück und das unerfreuliche Kitzeln in der Nase verursachte eine Art Explosion. Der Krampf, der anschließend durch seinen ganzen Körper zog, verursachte eine wunderbare Erleichterung. Er dachte darüber nach, ob es nun angenehm oder unangenehm war, als er fühlte, wie es von neuem begann. Der Kopf ging zurück. „Haaa … haaa …“ Blätter raschelten, als er auf die anderen zukroch. „Halt’ ihm um Gottes Willen die Nase zu“, wisperte Horst ärgerlich. Der junge Mann fühlte, wie sich in seiner Nase erneut alles zusammenzog. Plötzlich war da eine schwitzende, klobige Hand und verschloß ihm Mund und Nase. Er rang nach Atem. Das Niesen kam und es war wie eine Explosion, die in seinem Kopf stattfand. „Laß das“, murmelte er unangenehm berührt und schob Georg zur Seite. Der Mann starrte ihn an und wischte seine Hand an der Hose ab. „Schwein“, erwiderte er. Horst und Otto starrten ihn ärgerlich an. „Pssst, verdammt noch mal! Stopf’ ihm seine verfluchte Nase mit Dreck zu, wenn er sich nicht beherrschen kann“, flüsterte Otto. Er war ein blasser, pferdegesichtiger Bursche mit gelben Zähnen und einer herunterlappenden Unterlippe. Die vier Männer lagen auf dem stacheligen Rasen 84
am Ende eines bewaldeten, kleinen Hügels. Vor ihnen breiteten sich die weiten Rasenflächen von Charlottenburg aus. Hinter ihnen lag düster im Sternenlicht die dunkle Masse des Grunewalds. Weiter weg, auf einer der kurvenreichen Straßen, die durch das Unterholz führten, konnte der junge Mann die gelben Zwillingslampen eines Pferdewagens ausmachen, der sich langsam fortbewegte. Der See war unsichtbar in der Finsternis, die Segler waren bereits vor Stunden heimgegangen. Der junge Mann langweilte sich, außerdem war ihm kalt. Sie lagen jetzt bereits seit Stunden hier, ohne etwas zu essen außer einigen hartgekochten Eiern aus Ottos Rucksack. Wieder erschien ein Wagen, dann noch einer. Dann gab es nichts mehr zu sehen. Jetzt war die Umgebung nicht mehr mit der der Tageszeit zu vergleichen, wenn die Leute hinter den vereinzelten Linden Tennis spielten, Stalljungen Pferde trainierten und die Pferdewagen hin- und herfuhren. Einmal hatte es für kurze Zeit Aufregung gegeben, als Horst plötzlich „Hinlegen!“ flüsterte und sich selbst in die Blatter duckte, genau wie die anderen. Dann war eine weiße Maschine aufgetaucht, mit einem Mann darin, der einen Helm auf dem Kopf trug. Der Mann hatte scharf das unter ihm liegende Gelände einer näheren Untersuchung unterzogen, während seine Maschine in einer Höhe von fünfzehn Metern über der Rasenfläche dahingeschwebt war. Er hatte eine weiße Uniform getragen und einmal geradewegs zu ihnen hingesehen, ohne sie aber zu bemerken. Dann war die Maschine aus ihrer Sichtweite verschwunden. Die Fahrt vom Zentrum bis hierhin mit dem Pferdewagen war für den jungen Mann ebenfalls interes85
sant gewesen, obwohl Horst ihm nicht erlaubt hatte, aus dem Fenster zu sehen. Das Pferd war nicht innerhalb des Wagens gewesen, wie es der junge Mann zunächst vermutet hatte, aber man konnte es riechen. Wie mutig mußten diese Leute sein, daß sie es wagten, derart nah an ein solch großes Tier heranzugehen. Warum hielten sie überhaupt Pferde, wenn sie Autos benutzen konnten? Der Pferdewagen hatte angehalten, und der Fahrer hatte irgend etwas gemurmelt, als sich die Türen öffneten und sie ausstiegen, um den Hügel hinaufzukrabbeln, um sich hinter den Bäumen zu verstecken, Staub und Sonnenlicht in den Nasen. Er wünschte daß Trudl hier wäre, um seine Fragen zu beantworten. Als Horst weggegangen war, hatten sie eine ganze Weile miteinander gesprochen, bis sie schließlich ärgerlich geworden war und ihn einen Dummkopf genannt hatte. Sie hatte ihm erzählt, daß Kiel ein mieser Ort sei, daß sie gerne tanzte und Bezique spielte und daß sie einmal einen Freund gehabt hatte, der einen Raubüberfall begangen hatte. Er überlegte sich diese Dinge sehr sorgfältig, denn man konnte schließlich nie wissen, wie sie ihm einmal nützlich sein konnten. Es war zu dumm; sie war sehr freundlich zu ihm gewesen, hatte ihn gebeten, nicht immer ‚Fräulein’ zu ihr zu sagen und hatte ganz nahe auf der Couch bei ihm gesessen, während sie mit der Puppe spielte. Später hatte sie ihm dann Dinge erzählt, die er nicht verstand. Zuerst schien seine Reaktion sie zu amüsieren, dann verlor sie die Geduld, was er nicht verstand. Es war wirklich zu dumm. Eine Anzahl von Lichtern flackerte am hinteren Teil des Hauses auf. Auf der Vorderseite erloschen sie. Der 86
junge Mann sah interessiert zu und wartete darauf, daß etwas geschehen würde, aber es geschah nichts. Dann mußte er wieder niesen. Im geräumigen Erdgeschoß auf der Rückseite der Villa Oberkeller saß Geheimrat Werner Oberkeller an seinem grünen Bezique-Tisch, wie fast jeden Abend, wenn er zuhause war. Es waren noch einige seiner Freunde anwesend. Im Schein des roten Lichts leuchteten die Rückseiten der Spielkarten wie Juwelen gegen den grünen Tischbezug. Oberkeller streckte seine fette Hand aus und zog sie, einen Kartenstoß darin, wieder zurück. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Es war ein merkwürdiges Gesicht: von den Backenknochen abwärts rosig, oberhalb von wächserner Blässe. In seinem grauen, langsam lichter werdenden Haar befanden sich gelbe und weiße Streifen. Seine geschwungenen Augenbrauen waren aber noch dunkel, seine bullige Nase rot. „Noch ein Spiel, meine Herren?“ „Der Teufel soll dich holen“, erwiderte Rene Capezius, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen und trug einige Zahlen in ein goldenes Notizbuch ein. Er war etwa siebzig Jahre alt, wie Oberkeller, aber er sah älter aus, während sein Gegenüber magerer und kräftiger wirkte. Seine wachsähnliche Haut war überzogen von sardonisch wirkenden Falten; seine müde blickenden blauen Augen leuchteten einen Moment freudig. „Ihr habt für diesen Abend sicherlich genug, was? – Aber wie ist es mit dir, Pohl?“ Joachim Pohl war der jüngste und kleinste Mann am Tisch. Er war untersetzt und sein Körper wirkte wie ein Pudding. In dem düsteren Licht sah man sein dunkles Haar, seinen schwarzen Schnurrbart und seine Brille. 87
Der Rest des Mannes schien nichts anderes als Fett zu sein. „Mist, wie immer“, knurrte er. „Ihr drei bringt mich eines Tages noch ins Armenhaus.“ Ruprecht, der vierte Mann, grinste und entblößte dabei seine perfekten Zähne. Sein Schädel war kahl wie der eines Geiers. „Als du heute morgen die Wirtschaftstendenz studiert hast, hast du dich nicht eben arm gefühlt, was, Pohl?“ Pohl lächelte tiefgründig. „Die ‚Raumgesellschaft’ stieg auf 108 Punkte“, erwiderte er. „Nicht, daß das schlecht wäre, aber es macht mich trotzdem nervös. Es geht mir zu schnell. Was meint ihr? Soll ich verkaufen?“ Die Stühle knirschten, als Oberkeller und Capezius sich zurücklehnten und nach ihren Gläsern griffen. „Auf keinen Fall“, erwiderte Ruprecht. „Wer jetzt Raumaktien abstößt, ist ein Trottel.“ „Das mag sein. – Aber was steckt hinter den Gerüchten, daß die Raumgesellschaft verstaatlicht werden soll? Mich macht das Gerede nervös!“ Oberkeller und Capezius, die beide Ratsmitglieder waren, grinsten müde. „Das hat nichts zu sagen, mein Bester“, sagte Capezius nach einer Weile. „Unsere liebe CDU schürt nur wieder einmal die Angst. Schließlich muß Echternach ein wenig Lärm machen, wenn er das nächste Mal wieder an die Regierung kommen will.“ „Trotzdem“, ließ Pohl nicht locker, „eine Seifenblase kann nur so groß werden, bis sie platzt. Wieviele dieser interstellaren Projekte bringen eigentlich Profit? Wenn die Gesellschaften verstaatlicht werden sollen …“ „Ach, Quatsch“, warf Oberkeller ein. Die Männer musterten ihn erwartungsvoll, aber er sagte nichts mehr. Oberkeller griff nach seinem Glas, verzog die Lippen und trank. Einen Augenblick später begann 88
Pohl zu nörgeln: „Ich frage euch: wo können wir denn noch Profite machen? Was bringt uns zum Beispiel Thiessens Planet ein? Ein paar wertvolle Steine, Kinderspielsachen …“ Ruprecht beugte sich vor. „Das ist ein Irrtum, mein Freund“, erwiderte er. „Thiessens hat ein enormes Potential. – Nein, nein, ich meine nicht den Wog-Handel –“ sein Mund verzog sich angeekelt, „– Wenn du es genau wissen willst: Tatsache ist, daß die Gesellschaft beim Wog-Handel Geld zuschießen muß. Das Geschäft ist lediglich in den Vordergrund geschoben worden, um die Öffentlichkeit bei der Stange zu halten. Schließlich sieht ja der kleine Mann, aus dessen Steuergeldern die Subventionen bezahlt werden, nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze. Es genügt völlig, wenn du ihm ein, zwei hübsche Spielsachen vor die Nase hältst und damit vor ihm herumfuchtelst, ist er schon zufrieden.“ Sein abstoßendes Gesicht verzog sich zu einem schmierigen Grinsen. „Aber die Importe werden sieh niemals für einen Planeten wie Thiessens auszahlen. Wenigstens ein Jahrhundert lang nicht.“ „Worin besteht denn in Wirklichkeit das große Geschäft?“ fragte Pohl interessiert. „Grundstücke“, antwortete Ruprecht und nahm eine Zigarre aus der neben ihm stehenden Schachtel. Er biß das Mundstück ab und spuckte es auf den Boden. „Thiessens hat Milliarden von Hektar an jungfräulichem Land.“ „Aber wem soll es Nutzen bringen, wenn es ein Vermögen kostet, dorthin zu reisen?“ Ruprecht deutete mit seinem feisten Zeigefinger auf Pohl. „In zwanzig Jahren kannst du mit deiner Familie nach Thiessens Planet fliegen, ohne daß es dich mehr kosten wird als eine Passage nach Panama.“ Capezius 89
und Oberkeller nickten zustimmend. „Denk an meine Worte, wenn du dann die Spielkasinos, Touristenzentren und Industriegebiete siehst.“ Er zündete die Zigarre mit einem protzigen goldenen Feuerzeug an. „Jaja, das mag ja stimmen. In zwanzig Jahren sicherlich, aber in der Zwischenzeit …“ Pohl beendete seinen Satz nicht, sondern fuhr fort: „Und was passiert, wenn in der Zwischenzeit etwas geschieht, von dem wir heute noch nichts ahnen? Oder nehmen wir einmal an, die Sowjets würden den Planeten ebenfalls beanspruchen. Dann streiten wir uns wie zwei Hunde um einen Knochen?“ Capezius’ Gesicht wurde ernst. „Das sind doch alles nur schmutzige Gerüchte, die ausgestreut worden sind, um uns einzuschüchtern!“ rief er wütend. „Die Pressefritzen, die einen solchen Humbug in die Welt setzen, sollten glatt an die Wand gestellt werden.“ „Und die Gerüchte über angebliche intelligente Eingeborene? Was ist, wenn wir auf einen solchen Planeten treffen?“ „Das ist völlig absurd“, erwiderte Ruprecht ärgerlich, „denn schließlich hat Professor Schlossmacher eindeutig bewiesen, daß die menschliche Rasse und die germanische Kultur ein einmaliges Ereignis war. Es kann keine gleichwertige Rasse im Universum geben. Das ist mathematisch unmöglich.“ „Da wir gerade beim Thema sind“, warf Oberkeller ein, „kann ich auch was dazu beitragen.“ Er musterte die Männer der Reihe nach und in der plötzlich eintretenden Stille konnte man das Ticken der großen Pendeluhr in der Ecke hören. Capezius lehnte sich bequem zurück und legte seine manikürten Finger auf den Tisch. Pohl faltete die Hände über seinem runden Bauch. 90
„Vor etwas weniger als sechs Monaten“, begann Oberkeller, „fand ein sowjetisches Forschungsschiff einen Planeten, der der Klasse Z angehört. So bezeichnet man Planeten mit einem Mond, die der Erde gleichen und deren Abstand von der Sonne ungefähr dieselbe Strecke beträgt. Da die Besatzung keinen Landebefehl hatte, ging sie in eine Umlaufbahn, machte Luftaufnahmen, spektrographische Untersuchungen und so weiter. Die Luftaufnahmen zeigten gemäßigt vereiste Oberflächen, drei kontinentale Landmassen mit Flüssen, Bergen und Vegetation.“ Oberkeller machte eine Pause. „Aber sie zeigten auch eine Anzahl von Formationen, die man als Städte interpretieren kann …“ Capezius setzte sich aufrecht hin. „Lächerlich“, brachte er hervor. „Soll das ein Witz sein? Das können ebensogut Kristall-Strukturen gewesen sein, natürliche Formationen irgendwelcher Art. Vielleicht einheimische Insektenschwärme.“ „Natürlich“, schränkte Oberkeller ein und schloß die Augen, „Denke einen Schritt weiter“, meinte Capezius. „Was, meinst du, geschieht, wenn diese Fotos jemals an die Öffentlichkeit dringen? Wir alle wissen, daß es sich nur um natürliche Formationen handeln kann, aber die Engländer und alle anderen würden rufen ‚intelligentes Leben’ – und dann wäre unsere Lage mehr als prekär!“ Er machte ein Gesicht, das nicht eben Begeisterung ausdrückte und sank in seinen Sessel zurück. Seine Finger umklammerten sein vorstehendes Kinn. Pohl warf ein: „Die Sowjets sind der Ansicht, daß sie keine Angst vor einer extraterrestrischen Rasse zu haben brauchen, weil diese notwendigerweise sozialistisch sein muß.“ Ruprechts Sessel krachte, als er sich über den Tisch 91
beugte. „Warum haben sie dann ihre Forschungsergebnisse nicht veröffentlicht?“ fragte er. „Sie haben die Aufzeichnungen nach der Rückkehr des Schiffes verfälscht und die Besatzung einer Gehirnwäsche unterzogen“, erklärte Oberkeller. „Darf man fragen“, erkundigte sich Ruprecht vorsichtig, „woher du diese Informationen hast?“ Oberkeller grinste schwach. „Schließlich sind die Sowjets keine Narren. Sie kamen zu uns mit den Aufnahmen, ihren Karten und allen sonstigen Unterlagen. Ihr Ministerium erklärte die ganze Raumregion für unter totale Quarantäne befindlich. Wir hätten genau dasselbe getan. Weder ihre, noch unsere Raumschiffe werden diesen Planeten je wieder besuchen.“ Die Männer schwiegen einen Augenblick und ihre Augen wurden nachdenklich. „Dennoch … früher oder später …“ murmelte Pohl, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Oberkeller zuckte die Achseln. „In zwanzig oder fünfzig Jahren kann die Zeit für eine Überprüfung reif sein. Vielleicht ergibt sich dann eine Lösung. Aber in der momentanen Situation ist nichts zu machen. Die Sowjets haben sich nicht zurückgehalten, uns über einige ihrer Planeten zu informieren, ebensowenig wie wir.“ „Sie sind wenigstens Realisten“, sagte Ruprecht mit zögernder Zustimmung. Er blickte auf seine Zigarrenasche, die jetzt zwei Zentimeter lang war und schnippte sie vorsichtig in den Aschenbecher. Die Flasche kreiste. Pohl nippte geistesabwesend an seinem Glas und putzte mit einem gefalteten Taschentuch sorgfältig seinen Schnurrbart. „Das war sicherlich richtig“, meinte er nach einer Weile, „aber trotzdem … nehmen wir nur einmal an, es handelte sich hier um keine natürlichen Formationen …“ 92
Capezius schnaufte, seine gute Laune schien wiederhergestellt. „Das ist Unsinn, mein Lieber. Andere Rassen sind uns untergeordnet. Das ist der einzige Kommentar, den ich dazu abgeben kann. Die weiterentwickeltste außerirdische Intelligenz, die wir bisher gefunden haben, besaß das geistige Niveau eines Kaninchens. Es gibt kein einziges Lebewesen, das auch nur entfernt einem menschlichen Wesen gleicht, ausgenommen natürlich die … die erfreulichen weiblichen Wesen von Aldore.“ Oberkeller leistete sich das zweite Lächeln des Abends. „Wo wir gerade davon sprechen“, sagte er, „Ich habe zufällig einige Fotos. Die Schublade dort, Ruprecht.“ Der Kahlköpfige öffnete sie und sofort steckten die vier Männer über einem Stapel von Fotografien die Köpfe zusammen. Sie gaben Ausrufe des Behagens von sich. Capezius schnalzte mit der Zunge. „Ausgezeichnet! Sehr geschmackvoll … ah, diese kleinen Lieblinge … sie haben Felle wie Kätzchen …“ Er grinste Oberkeller ironisch an. „Das darf deine Frau wohl nicht sehen, was?“ „Um Gottes Willen! Bei ihren Ansichten … sie würde das niemals verstehen!“ „Wie geht es übrigens der lieben Lorraine?“ fragte Capezius höflich interessiert. „Wir haben sie ja heute abend nur beim Essen kurz gesehen.“ „Oh, sehr gut“, erwiderte Oberkeller. „Sie geht sehr wenig aus. Sie hat halt eigene Interessen. Gartenarbeit und ähnliches.“ „Hee! Schau dir diese an“, rief Ruprecht aus und hielt eins der Fotos hoch. Die anderen Männer starrten es schweigend und mit glänzenden Augen an.
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Die Lichter auf der Rückseite des Hauses waren bereits vor Stunden erloschen. Der junge Mann hatte beobachtet, wie drei von Pferden gezogene Wagen aus den Stallungen geführt wurden und die Besucher das Haus verließen. Vor einiger Zeit war auch das Licht hinter der porte cochere ausgegangen. Dann wurde ein Fenster im ersten Stock erleuchtet, das aber bald auch wieder finster wurde wie der Rest des Hauses. Horst machte noch immer keine Anstalten, etwas zu unternehmen, obwohl mindestens eine Stunde vergangen war. Mißgelaunt und frierend bis aufs Mark schlang der junge Mann seine Arme um die Schultern. Horsts tiefe Stimme schreckte ihn hoch, so daß er zu ihm hinüberrollte. Horst sprach in ein kleines schwarzes Instrument, das er in der Hand hielt. Trudls Stimme, so schwach wie die einer Grille, antwortete. „Es ist alles klar. Warte. Wir kommen jetzt herunter“, sagte Horst und legte das Instrument beiseite. Er richtete sich auf. Die beiden anderen Männer erhoben sich ebenfalls, gingen den Hügel hinunter und bewegten sich auf die Straße zu. Der Rasen lag grau und düster vor ihnen im Licht der Sterne. Alles wirkte so anders in der Nacht. Die Bäume hatten sich in dunkle Silhouetten verwandelt und das Sternenlicht leuchtete schwach von den Giebeldächern und Schornsteinen des Hauses. Der Rest der Umgebung war eine nichtssagende, schwarze Masse. Die Geräusche, die ihre Schritte erzeugten, als sie über abgefallene Blätter und Zweige gingen, erschienen dem jungen Mann unglaublich laut. Am Ende des Hügels wurde der Fußweg weicher. Hier war gemähtes Gras, das unter den Schuhen des jungen Mannes kleben blieb. Die Bewegungen seiner Komplizen waren plötzlich nicht mehr zu hören, sie erschienen ihm wie graue Geister. Das Haus versank 94
hinter den Bäumen, die wie eine einzige Masse wirkten und verschwand. Sie umgingen die Bäume. Hier herrschte eine Stille, die dem jungen Mann nicht gefiel. Die Dunkelheit erschien ihm wie graue Spinnweben, in denen vielleicht etwas auf sie lauerte. Dann kam etwas großes Graues auf sie zu. Der junge Mann sah, daß Horst stehenblieb und die Arme hob. Das graue Ding blieb stehen, wo es war. Es hatte eine untersetzte Figur und sein Kopf war wachsam aufgerichtet. Der Kopf schien zu fallen. Horst und die anderen gingen weiter, vorbei an dem grauen Ding. Es wandte sich um, so, als wolle es sie beobachten, aber es rührte sich nicht. Der junge Mann folgte den anderen und machte einen Bogen um das Ding, um nicht mit ihm in Berührung zu kommen, dann sah er, daß das Ding ein Hund war – ein großes Tier mit spitzen, dreieckigen Ohren und einem abgeflachten Maul. Der junge Mann fröstelte, als er die Augen des Hundes in der Dunkelheit leuchten sah. Aber das Tier stand nur da, wedelte sanft mit dem Schwanz und beobachtete sie von weitem. Sie stießen noch auf zwei weitere dieser gigantischen Bestien. Einmal, als sie den Weg überschritten, ein anderes Mal im Schatten der Bäume in unmittelbarer Nähe des Hauses. Jedesmal hob Horst den Arm und schien etwas zu sagen, woraufhin das Tier reglos stehenblieb und sie beobachtete, während sie vorübergingen. Sie standen nun in einer Gruppe auf einem Rasenhügel, und Horst legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Dort drüben ist der Balkon. Siehst du?“ flüsterte er und deutete in die angegebene Richtung. Zuerst war es dem jungen Mann unmöglich, zu erkennen, wo der Balkon war. In dieser Dunkelheit sah alles ganz anders 95
aus als auf der Fotografie. Dann sah er die französischen Türen im zweiten Stock, etwas verschwommen zwar, aber unverkennbar. Die Fensterbänke und die Stuckarbeiten schienen von der Finsternis geglättet. „Ist alles klar? – Denk daran: die Treppe hinunter, durch die Eingangshalle, dann die Korridortür öffnen.“ Horst gab ihm einen leichten Schlag auf die Schulter. „Es ist zu dunkel, Herr Horst“, protestierte der junge Mann schwach. „Was hast du denn erwartet? Etwa, daß wir für dich das Ganze beleuchten wie einen Vergnügungspalast? Fang’ an!“ „Was ist denn los?“ fragte Otto und krabbelte näher. „Sei still!“ Horst hielt dem jungen Mann die geballte Faust unter die Nase. „Schau sie dir an“, knirschte er. „Du hast versprochen, das Ding mit uns zu drehen. Sieh’ jetzt zu, daß du da hinaufkommst und hör’ auf, Unsinn zu reden. Es wird dir sonst noch leid tun. Hast du mich verstanden?“ Unwillig stand der junge Mann auf und begann den Rasen zu überqueren. Als er zurückblickte, waren die drei anderen Männer zu winzigen Schatten in der Dunkelheit zusammengeschmolzen. Vor ihm ragte die düstere Steinwand empor. Es war ganz und gar nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Hätte er sich doch nur nicht wie ein Tölpel gleich mit allem einverstanden erklärt! Er versuchte, sich an die Fotografie zu erinnern. Ja, hier war das Fenster … darüber, auf der rechten Seite, mußte das Ornament sein, das mit den eingravierten Schnörkeln … Der junge Mann suchte nach einem Halt, zog sich hoch und begann zu klettern. „Liebling, bist du wach?“ In der Dunkelheit war sein dunkelhaariger Kopf auf dem Kissen kaum zu erkennen. 96
„Mhm“, er wandte ihr sein Gesicht zu und Öffnete die Augen, „Was ist denn, Schatz?“ „Ich glaube, ich habe etwas gehört.“ Das Bett knackte, als er sich auf einem Ellenbogen aufrichtete. „Oberkeller?“ „Ach was, Dummkopf, der kommt nie hierher. Es war irgendein Geräusch.“ Er setzte sich auf und lauschte. Die Räume waren ruhig. „Nichts. Das hast du dir sicher nur eingebildet. Du bist eben leicht zu verängstigen.“ Er streichelte beruhigend ihre Schultern. „Leg’ dich wieder hin und ruh’ dich aus. Sei ein braves Mädchen.“ Sie sank mit einem behaglichen Seufzer in das Bett zurück. „Na schön.“ Ihre Stimme klang schläfrig. „Ruh’ du dich auch aus.“ Der Mann legte sich zurück, gähnte noch einmal und drehte sich auf die Seite. „Ich liebe nur dich, Lorraine“, murmelte er, aber sie schlief bereits wieder und antwortete ihm nicht. Schweratmend zog der junge Mann sich über das Geländer des Balkons. Welch eine Menge Bäume man von hier aus sehen konnte! Der Rasen lag feucht und grau unter ihm im Sternenlicht. Hier waren die Türen. Er konnte durch das Glas nichts erkennen, innen war es schwarz wie Pech. Er griff in die Tasche und tastete nach dem Gegenstand, den Horst ihm gegeben hatte, öffnete eine der Klingen – die aussah wie ein kleiner Schraubenzieher – und versuchte, sie in den Spalt zwischen die beiden Türflügel zu schieben. Als er drückte, schwangen sie zurück. Sie waren nicht einmal verschlossen gewesen. Eine Sekunde lang blieb der junge Mann dort stehen, lehnte die Hand gegen den Türrahmen und lauschte intensiv. Außer seinem eigenen Herzschlag konnte er 97
nichts hören. Er nahm die Taschenlampe und die Schutzbrille, mit der man ihn ausgestattet hatte und setzte sie auf. Jetzt war es noch dunkler als vorher. Er schob die Brille nach oben, auf seine Stirn und erinnerte sich, daß Horst ihm gesagt hatte, daß die Brille ihm nur etwas nützen würde, wenn er die Taschenlampe anschaltete. Aber er durfte sie nicht benutzen, ehe er nicht innerhalb des Hauses war. Er hielt die Lampe bereit und ging hinein. Die Finsternis war erdrückend. Er aktivierte die Taschenlampe, aber nichts geschah. Die Brille, natürlich. Als er sie wieder über die Augen schob, erschien der Raum wie in violettes Licht getaucht: Tische, große geschnitzte Schränke, eine Wand, die mit massiven Bilderrahmen bedeckt war, große und kleine … es mußten Hunderte sein. Das seltsame Licht ließ die ganze Szenerie unwirklich erscheinen wie eine schlecht entwickelte Farbfotografie. Er war erleichtert, als er eine Tür sah. Dahinter lag ein anderer Raum, der noch größer und noch prächtiger ausgestattet war. Auch hier hingen unzählige Bilder. Große Statuen, die in ihren Händen Lampen hielten. Tische, ein großes, gestreiftes Sofa in violett und schwarz, Cocktailsessel, Schränke … Von der linken und rechten Wand des Raumes zweigten Türen ab. Die erste war verschlossen. Er blinkte mit der Lampe durch die zweite, geöffnete Tür und nahm erstaunt zur Kenntnis, daß dort zwei Menschen in einem Bett lagen. Das Bett hatte die Form eines Bootes, mit einem geschnitzten Vogelkopf am Bug und runden, gelben Schilden an den Seiten. Über dem Ganzen hing ein Baldachin, der ihn an ein Segel erinnerte. Die Person, die ihm am nächsten lag, schien die Frau zu sein, wie er an den Rundungen der Bettdecke sah. Als er sich den Mann besah, setzte sich dieser 98
zum Entsetzen des jungen Mannes plötzlich auf und starrte in seine Richtung. Instinktiv löschte der junge Mann das Licht seiner Lampe, aber nun stand er in völliger Dunkelheit. Als er sich zurückziehen wollte, stolperte er und fiel der Länge nach zu Boden. Schreie ertönten. Der junge Mann geriet in Panik und begann zu laufen. Er schlug mit den Hüften irgendwo an, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Er taumelte durch das Zimmer und fiel wieder über einen Gegenstand, was starken Lärm erzeugte. In der Dunkelheit des Nebenzimmers begann die Frau zu schreien. „Wer ist da?!“ schrie der Mann. Die Tür! Wo ist die Tür? In der Aufregung bemerkte der junge Mann nicht, daß er seine Lampe verloren hatte. Mit ausgestreckten Armen um sich tastend, machte er einen weiteren Schritt, trat auf etwas, was unter seinem Fuß wegrollte und stürzte wieder. Er landete auf etwas Hölzernem, das krachend unter ihm zusammenbrach. „Hilfe, Meuchelmörder! Hilfe!“ schrie die Frau. Den jungen Mann, der halbbetäubt auf dem Boden lag, unfähig, sich zu erheben, überkam Angst. Er begann ebenfalls, Hilferufe auszustoßen. Zwei gelbe Kreise erschienen in der Dunkelheit. Schritte bewegten sich auf ihn zu. Er rollte sich verzweifelt weiter, und es gelang ihm, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Er sprang auf, gerade noch rechtzeitig, um einem harten Faustschlag halbwegs zu entkommen, der ihn zurückwarf. Wieder krachte es. Der junge Mann merkte plötzlich, daß er wieder sehen konnte. Jemand hatte die Beleuchtung des Zimmers eingeschaltet und ihm die Brille vom Kopf gerissen. Neben ihm stand ein schwarzhaariger Mann im Nachthemd, vor den Trümmern eines zerschmetterten Tisches. Seine Augen funkelten wütend. 99
„Sie haben … Sie …“ keuchte er schwer. Dann warf er sich auf den jungen Mann. Nebenan kreischte die Frau weiter. Sie rang eine Weile nach Atem, um dann noch lauter zu schreien als zuvor. Als der junge Mann sich unter dem Schwarzhaarigen wegrollte, konnte er durch die geöffnete Tür in das Nebenzimmer sehen, in dem die Frau in ihrem Bett saß, die Decke bis an den Hals hochgezogen, die Augen weit aufgerissen und schrie, was ihre Stimmbänder hergaben. Der Raum drehte sich. Der junge Mann fand sich auf dem Rücken liegend wieder, über ihm kniete der Schwarzhaarige und schrie „Jetzt habe ich dich!“ Dann begann er den Kopf des jungen Mannes mit beiden Händen auf den Fußboden zu schlagen. Jemand donnerte gegen die Tür und eine Stimme brüllte: „Was ist los? Öffne die Tür!“ Der Mann im Nachthemd ließ den Kopf des jungen Mannes los. „Oh, mein Gott“, sagte er, sprang auf. Die Frau im Nebenzimmer stieß noch einen Schrei aus und verstummte dann. Das Hämmern an der Tür wurde fortgesetzt, unterbrochen von erregten Stimmen. Der Mann im Nachthemd machte einen Schritt auf die Tür zu, bevor sie krachend aufflog. Ein rotgesichtiger Mann, der ein Gewehr trug, stürmte herein. Sein Haar war unordentlich, seine Augen funkelten vor Wut. Sein roter Morgenmantel klaffte auseinander, so daß man seine mit grauen Haaren bedeckte Brust sehen konnte. Er starrte den Mann im Nachthemd an und schrie „Nadelbach – du?“. Hinter ihm erschienen mehrere Leute und reckten die Hälse. Der Schwarzhaarige blieb einen Moment wie erstarrt stehen, dann wandte er sich zur Flucht. Das Gewehr ging mit ohrenbetäubendem Lärm los und vor Angst zitternd, erkannte der junge Mann, daß sich der Schwarzhaarige hinter den Möbeln zu versteckten ver100
suchte – hinter dem Sofa, den Tischen, dem Schrank. Der Mann im roten Morgenmantel rannte hinter ihm her und feuerte seine Waffe ein zweitesmal ab, so daß der Putz von den Wänden flog. Halbbenommen rollte sich der junge Mann herum und kam auf die Knie. Dabei konnte er einen Blick in das Nebenzimmer werfen, in dem die Frau bewegungslos in ihrem bootähnlichen Bett lag, so, als hätte sie die Besinnung verloren. Hinter ihm erklangen Fußtritte. Er duckte sich hinter den zerbrochenen Tisch, als der Schwarzhaarige zur offenen Tür rannte, verfolgt von dem Bewaffneten. Zwei oder drei Männer, die Livr6es trugen, schrien um Hilfe. Ein dritter Knall ertönte, und ein Bild löste sich von der Wand. Der Schwarzhaarige in seinem Nachthemd war draußen im Korridor verschwunden, der Mann im Morgenmantel eilte ihm nach. In den Ohren des jungen Mannes klingelte es, als er sich aufrichtete und an den Nebenraum dachte, in dem sich die zum Balkon führende Flügeltür befand. Die Bediensteten standen ihm im Weg, verschlossen ihm den Weg zur Tür mit ihren Körpern, da in der Aufregung jemand gestolpert war und einige andere mit zu Boden gerissen hatte. Der junge Mann ergriff seine einzige Chance mit dem Mut der Verzweiflung und stürmte hinaus auf den Korridor. In der Ferne erklang ein weiterer Schuß. Am Ende des Ganges fand er eine schmale Treppe, rannte – jeweils zwei Stufen überspringend – hinunter, während ihm das Herz bis zum Halse schlug. Als er unten angekommen war, erklangen abermals Schreie, obwohl niemand zu sehen war. Er rannte die zweite Etage hinunter und fand sich in einem engen Hinterzimmer wieder. Eine Tür öffnete sich, und das Gesicht einer fetten Frau erschien. Als sie ihn sah, schrie sie auf und schlug die Tür wieder zu. Der junge Mann rannte geradewegs 101
in eine große Halle, in der sich eine Innentreppe befand. Oben, auf dem Treppenabsatz, erschien plötzlich der Schwarzhaarige. Er keuchte und schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Sein Nachthemd flatterte. Hinter ihm tauchte jetzt der Mann im roten Morgenmantel auf und schrie. Das Gewehr krachte erneut. Der Mann im Nachthemd verschwand aus dem Blickfeld, wurde aber weiterhin von dem anderen verfolgt. Die große, geflieste Halle war schwach erleuchtet und bis auf einige Topfpflanzen und einer Ritterrüstung leer. Der junge Mann wirbelte herum, entdeckte zwischen zwei Blumenständern eine Gittertür und rannte dorthin. Nervös hantierte er am Öffnungsmechanismus herum; die Tür schwang auf und dann war er in der Dunkelheit verschwunden. Fünf Stunden später brach der junge Mann erschöpft und mit Fetzen von Gras übersät aus dem Wald und geriet in ein kleines Einkaufszentrum. So gut es ging bürstete er seine Kleider und eilte auf eine Betonkuppel zu, auf der ein Schild mit der Aufschrift ‚U-Bahn’ stand. Der Weg zurück zur Innenstadt in der ruhigen, zylinderförmigen Transportbahn dauerte nur zwanzig Minuten. Als er sich wieder in seiner gewohnten Umgebung befand, machte er sich sofort auf den Weg zum Kaufhof. Es war neun Uhr morgens. Die Türen wurden soeben geöffnet. Er hatte sich über nichts in seinem Leben bisher so gefreut. VII An seinem elften Tag im Warenhaus geschahen seltsame Dinge. Wie gewöhnlich war er hinuntergestiegen, 102
bevor der Verkaufsbetrieb losging und hatte sich an einem Ort versteckt, den er in der Möbelabteilung ausfindig gemacht hatte, und an dem er sich aufhielt, bis sich die Türen öffneten und die Kunden das Geschäft füllten. Er hatte Orangen und frische Kekse gegessen, die ihm ausgezeichnet mundeten. Ohne darauf zu achten, wohin ihn seine Füße trugen, landete er in der Abteilung für Damenbekleidung. In der Mitte des Raumes hatte sich eine Menschenmenge um einen bestimmten Platz gebildet. Der junge Mann schlenderte darauf zu. Vor ihm hatte man eine Plattform errichtet, auf der ein schwitzender, dunkelhäutiger Mann ein weites, violettes Stoffband um eine junge blonde Frau wickelte, die regungslos dastand und, die Arme erhoben, in die Ferne starrte. Beide, der Mann und die Frau, leuchteten in unwirklichen Farben und besaßen die gleichen schwarzen Umrisse wie die Personen, die er im Kino gesehen hatte. Er begriff, daß dies hier eine andere Art von gesteuerter Illusion war, denn die beiden Personen waren nicht wirklich dort. Der Stoff nahm Formen an und wurde zu einem Kleid. Der dunkelhäutige Mann legte ein Metallstück an die Hüfte der Frau, hob damit das Kleid an und zog es enger um ihren Körper, anschließend wiederholte er dieselbe Prozedur an ihrer anderen Seite. Er strich vorsichtig mit der Hand über das Kleid, schnitt in der Höhe ihres Rückens einen Schlitz und zog das fertige Kleid über ihren Kopf. Der Körper der Frau war schön und lediglich in zwei winzige Teile aus dunkelblauer Spitze gehüllt. Als er sie ansah, fühlte sich der junge Mann ein wenig unbehaglich. Das gefiel ihm nicht. Als er sich umwandte und versuchte, aus der Menschenmenge her103
auszugelangen, tauchte eine dunkelhaarige, blasse Frau vor ihm auf, die ihn überrascht ansah, dann jedoch lächelte. „Martin“, sagte sie und ergriff seinen Arm. Der junge Mann entwand sich ihrem Griff. „Ich kenne Sie nicht, meine Dame“, erwiderte er nervös. „Bitte?“ Das Gesicht der Frau veränderte sich mit einem Schlag. Als er weiterging, kam sie hinter ihm her. „Martin Naumchik –“ Der junge Mann wandte sich verunsichert um, dann tauchte er in der nächsten Menschenansammlung unter. Er drängte sich mühsam zwischen den Leuten hindurch, um die Plattform herum, drehte sich jedoch des öfteren um, um nachzusehen, ob sie ihm immer noch folgte. Über ihm wendete der dunkelhäutige Mann das Kleid, streifte es der jungen Frau über die Schultern und zog es über ihren Körper herunter. Es war unmöglich, die beiden von hinten zu betrachten, denn sie drehten sich anscheinend ständig mit. Auf der gegenüberliegenden Seite scherte der junge Mann aus der Menge aus und sah sich um. Im Moment war die dunkelhaarige Frau nicht zu sehen, aber er suchte sich dennoch einen verworrenen Weg, um etwaige Verfolger abzuschütteln. Als er den freien Platz vor den Aufzügen überquerte, stellte er fest, daß die Leute ihn bereits neugierig musterten, anscheinend, weil ihnen sein ständiges Umdrehen merkwürdig vorkam und sie mißtrauisch machte. Er schüttelte den Kopf. Das Zusammentreffen mit der dunkelhaarigen Frau hatte ihn völlig aus dem Gleis geworfen, denn erst jetzt wurde ihm bewußt, daß zum Menschsein mehr gehörte als ein Name, Kleidung und persönlicher Besitz. Menschen hatten Freunde und Bekannte. Der Gedanke verursachte ihm Unbehagen. Wie 104
sollte er sich mit all diesen Leuten verständigen? Was erwarteten sie von ihm? Der Komfort und die Sicherheit seines Zufluchtsortes erschienen ihm als illusorisch. Einen Moment lang sehnte er sich nach dem sauberen kleinen Raum im Hamburger Zoo. Aber die Erinnerung daran begann bereits zu verblassen und entfernte sich mit solcher Schnelligkeit, daß sie ihn nicht lange beschäftigte. Seine Welt war dieser gigantische, glitzernde Raum mit dem ständigen Stimmengemurmel, den aufregenden Gerüchen, den klickenden Fahrstühlen, den roten, grünen und blauen Schriftzeichen, die unter der Decke pulsierten. Das beste wäre es wahrscheinlich, von hier fortzugehen, den Namen zu ändern und in eine Stadt zu gehen, in der ihn niemand kannte. Dort konnte er vielleicht unbehelligt leben. Aber er war sich nicht sicher, daß er einen solchen Ausbruch aus seiner Umgebung ungefährdet überstehen würde. Gab es anderswo auch Warenhäuser wie dieses? Er mußte zugeben, daß er darauf keine Antwort wußte. Er hatte zwölf Jahre in Hamburg gelebt, aber er hatte keine Ahnung, was hinter dem Zoogelände gewesen war. Andere Städte waren für ihn bloß Namen. Eine Stunde später dachte er im Erfrischungsraum des Warenhauses, über Kaffee und Brötchen gebeugt, noch immer darüber nach. Der Kaffee, den er trank, war sein erster. Der Geschmack war unerwartet angenehm, süß und warm. Es war sonderbar, daß er jetzt bereits ganz anders über das Essen der Menschen dachte als früher. Seit seiner ersten schlechten Erfahrung in dem Café war er mißtrauisch geworden, hatte nur Früchte und Brot gegessen, manchmal auch ein heißes Würstchen. Aber sicher war es so, daß er sich mit der Zeit an die Gerichte seiner Nachbarn gewöhnen würde. 105
Er hob die Tasse, bewegte die Lippenmuskeln wie er es gelernt hatte und trank. Er war stolz auf seinen Erfolg, er hatte ihn viel Mühe gekostet. Beim letzten Schluck gab es ein lautes Geräusch. Einige Leute sahen ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Anscheinend gefiel ihnen das Geräusch nicht, das er beim Trinken erzeugt hatte. Er setzte die Tasse aufgeregt ab und blickte auf seine Armbanduhr. Es war elf. Er unterdrückte das Verlangen, die zweite Armbanduhr ebenfalls zu betrachten, denn mittlerweile hatte er herausgefunden, daß man niemals zwei Uhren gleichzeitig trug. Vielleicht funktionierten die Uhren so exakt, daß man sie nicht zu vergleichen brauchte. Der Tisch, an dem er saß, wurde plötzlich von einem hellen Lichtschein überstrahlt. Automatisch sah er auf. Ein Automat glitt an den Tischen vorbei, bewegte sich von einem Platz zum anderen. An seiner Vorderseite klaffte ein großes Loch und eine Leuchtschrift signalisierte „Leere Teller bitte!“ Der junge Mann schob das benutzte Geschirr in die Maschine hinein und das Loch verschloß sich klickend. Die Leuchtschrift verschwand und eine andere blinkte „Dankeschön!“ Die Höflichkeit der Maschine erzeugte ein warmes Gefühl im Innern des jungen Mannes. Er stand auf und verließ den Erfrischungsraum. Als er den Ausgang passierte, vor dem eine Menschenschlange auf Einlaß wartete, stand er wieder der dunkelhaarigen jungen Frau gegenüber. Sie starrte ihn an. Offensichtlich war sie ebenso erschreckt wie er. Bewegungslos standen sie voreinander, dann hob die junge Frau wortlos die Hand und schlug ihm ins Gesicht. Der Schlag kam so unerwartet und schmerzhaft, daß der junge Mann unfähig war, sich zu bewegen. Die 106
junge Frau wandte sich um und ging weg. Die Umstehenden starrten ihn an und flüsterten miteinander. Noch nie zuvor hatte ihn jemand geschlagen. Der junge Mann betastete mit einer Hand seine sich plötzlich taub anfühlende Wange. Den Rest des Tages verbrachte er damit, daß er durch das Warenhaus ging, halbblind und ein wenig zitternd. Seine Freude an den hellen Farben und den verschiedenen Formen der ihn umgebenden Gegenstände begann zu erlöschen. Er wartete auf eine Gelegenheit, in seinen Turm zurückzukehren. Dieser Wunsch beherrschte seine Gedanken. Es mußte etwa 18.30 Uhr sein. Die Menschen bewegten sich auf die Ausgänge zu, als der junge Mann den Laden durchquerte, bis er den Vorplatz der Fahrstühle erreichte. Heute erschienen ihm die Menschen im Kaufhaus als viel zahlreicher und er war auch ängstlicher als sonst. Ein Mann mit einer Kamera kam an ihm vorbei, dann noch einer, dann zwei weitere. Der junge Mann hatte sich oft die Zeit damit vertrieben, kameratragende Männer, dicke Frauen oder schreiende Kinder zu zählen, aber heute machte das keinen Spaß. Dann kamen Scharen von Uniformierten: nicht nur die Männer in den blauen Kombinationen der WarenhausPrivatpolizei, sondern auch solche in weiß, rot, gold … Er kam an zwei Blauuniformierten vorbei, die sich aufmerksam umsahen. Einer kam auf den jungen Mann zu, als er ihn erblickte und schaute dabei auf einen Gegenstand in seiner Hand. „Einen Augenblick, mein Herr!“ Der junge Mann sprang zur Seite, denn er hatte Angst. „Halt!“ schrie der Warenhauspolizist plötzlich und griff nach ihm. Der junge Mann wandte sich um und rannte auf das Gitter zu. Aus allen Richtungen erscholl das Geklingel 107
der Alarmglocken. Fußtritte klapperten. Er sprang hoch, ergriff die Gitterstangen und begann zu klettern. Auf halbem Wege sah er sich um. Niemand folgte ihm, aber tief unter ihm entwickelte sich eine starke Aktivität. Die Uniformierten hatten sich gesammelt und falteten einen blauen Gegenstand auseinander. Er musterte die Männer in den weißen Uniformen, aber sie schienen nicht die Absicht zu haben, hier einzugreifen. Sie standen nur da mit gespreizten Beinen und starrten zu ihm herauf. Er kletterte weiter. Als er dem Ende des Gitters nahekam, erschienen über ihm plötzlich die Köpfe dreier Männer. Der junge Mann machte eine Pause. Die drei Männer über ihm trugen blaue Uniformmützen, mithin gehörten sie zur Warenhaus-Polizei und nicht zu den Angestellten, die hier oben arbeiteten. Die Köpfe verschwanden für einen Moment und tauchten wieder auf. Jetzt konnte er sie bis zum Gürtel sehen. Etwas Graues und Wolkiges fiel auf ihn herab. Der junge Mann duckte sich, aber es war zu spät. Das Ding legte sich mit sanfter Gewalt um seinen Körper und erwies sich als Netz. Es zog sich um ihn zusammen, so sehr er sich auch bemühte, es wieder abzustreifen. Im Gegenteil: je mehr er daran zerrte, desto enger und fester wurde es. An dem Netz waren Seile befestigt und die Männer hielten ihn daran fest. Von Panik erfaßt, versuchte der junge Mann hinunterzuklettern, aber die Seile hielten ihn fest. Sie gaben ein wenig nach, als er einen Moment mit seinen Bewegungen innehielt, aber als er Anstalten machte, sie von sich zu zerren, zogen sie sich wieder zusammen. Unter ihm schoben nun zwei Männer in graugestreiften Kitteln eine lange Leiter auf Rädern vor sich her. Der 108
Platz wimmelte nun von Schaulustigen. Als die Uniformierten die Leiter aufgestellt hatten, begann ein Mann in einer weißen Uniform, an ihr hinaufzuklettern. Der junge Mann erkannte, daß seine Chance in wenigen Augenblicken gleich Null sein würde und holte tief Luft. Dann stieß er sich wütend von der Wand ab und zerriß mit beiden Händen das Netz, das ihn umgab. Der große, graue Raum begann sich um ihn herum zu drehen. Sein Rücken knallte gegen das Gitter, dann blieb ihm die Luft weg. Er stieß sich ein zweitesmal ab und riß wild an den Maschen des Netzes. Der Mann auf der Leiter kam näher. Das Netz gab etwas nach, er hatte eine Lücke gefunden. Dann war sein Kopf draußen, bald auch seine Schultern. Wieder stieß er sich vom Gitter ab. Der Mann auf der Leiter versuchte ihn aufzufangen, aber der junge Mann fiel in die Leere. VIII Der Zweifüßler lag auf der Couch in seinem Zimmer und las: ‚Die Zweifüßler des Großen nördlichen Plateaus sind aussterbende Lebewesen, obwohl sie die interessanteste Lebensform auf Brechts Planet darstellen. Die ehemals zahlreichen Herden werden in der Nähe irdischer Ansiedlungen kaum mehr angetroffen. Lediglich vereinzelte Gruppen von drei bis fünf Exemplaren trifft man gelegentlich in den Hügeln des Nordens. Diese Rasse, die bereits vor der Entstehung des menschlichen Spezies Brechts Planeten bevölkerte, besaß eine komplexe Herdenorganisation, die auf der Basis akustischer Kommunikation aufgebaut war. Ihren Paarungszeremonien, die stets im Frühjahr abgehalten werden, sagt man nach, daß sie barbarische 109
Erniedrigungen für die weiblichen Wesen mit sich bringen.’ Nachdenklich schloß er das Buch. Das könnte ein Grund für Emmas seltsames Verhalten sein, überlegte er. Wenn sie etwas Ähnliches erlebt hatte, bevor man sie als Kind zur Erde transportiert hatte … Mit dem Daumen markierte er die Stelle und las anderswo weiter. ‚Der Knopf oder Kamm’, so las er, ‚ist bei den männlichen Tieren nur noch ein Überbleibsel, zeigt sich jedoch bei den weiblichen Tieren als auffälliger, purpurroter Fleck. Die Funktion des Knopfes ist unbekannt, aber es wurde bereits die Vermutung ausgesprochen, daß es sich dabei um ein sekundäres Geschlechtsmerkmal handelt. Erhardt (6) nahm an, daß es sich hierbei um ein Organ der Zurschaustellung handelt, aber Zimmer (7) vertritt die Ansicht, daß wir es hier mit einem degenerierten Auge zu tun haben. Daß dieses Organ einen Zweck hat und einen gewissen Wert darstellt, wurde anhand einiger älterer weiblicher Wesen, die es durch einen Unfall oder Zweikampf verloren hatten, angenommen.’ Der Zweifüßler schloß das Buch wieder und legte es irritiert auf den Boden. Er hatte es aus reiner Langeweile bereits zum zweiten Mal gelesen, weil es das einzige war, was er zur Verfügung hatte. Es war mit zahlreichen Fußnoten versehen, was ihn an die Arbeit erinnerte, die er jeden Tag für Grück und seine Mitarbeiter verrichtete. In etwa zwei Stunden würde der Zoo geschlossen werden und er konnte wieder in sein Wohnzimmer gehen, ohne sich von all diesen Gesichtern begaffen lassen zu müssen. Diesmal würde er daran denken, sich etwas zu lesen mit in das Hinterzimmer zu nehmen, genug, um die nächsten Tage beschäftigt zu sein. 110
Eigentlich gab es nichts, was ihn davon abhielt hinauszugehen. Draußen lagen die Magazine, erinnerte er sich, die mit den farbigen Titelbildern. Er konnte sie holen und sofort zurückkehren, aber er zögerte, auch nur eine Bewegung zu machen. Es war seltsam, wie häßlich menschliche Gesichter sein konnten, wenn sie einen durch ein eisernes Gitter hindurch anstarrten. Er dachte an feiste Backen, die sich beim Kauen bewegten. Ruhelos sprang er auf. Verdammtnochmal! Hier gab es nichts anderes zu tun, als das Buch über Brechts Planet ein drittes Mal zu lesen. Im Büro war auch keine Arbeit mehr. Er hatte alles fertiggestellt und es hatte auch keinen Zweck, noch einmal den Versuch zu unternehmen einen Brief hinauszuschmuggeln, bevor er wußte, was mit seinem ersten geschehen war. Die Angst überkam ihn wieder und er begann ruhelos herumzulaufen. Ob etwas schiefgegangen war? Als der erste Korrespondenzstapel heruntergekommen war, um gefaltet und in Briefbogen gesteckt zu werden, hatte er nichts anderes zu tun gehabt, als seinen Brief dazuzutun. Rudi, der picklige Wärter, hatte die Aufgabe, die Post wegzubringen. Es gab keinen Grund, daß Grück oder jemand anders die fertigen Briefe noch einmal nachsehen würde, Rudi brachte sie wahrscheinlich sofort zum Briefkasten. Aber er wartete jetzt schon eine Woche. Wenn Stein den Brief empfangen hatte, warum war dann immer noch nichts geschehen? Aus Emmas Wohnzimmer erklang ein leises Quieken. Wenig später ein zweites. Sicherlich war sie nur aufgestanden, um sich irgendetwas zu holen und hatte sich dann wieder hingesetzt … das war nur allzu natürlich angesichts der vielen Menschen. 111
Er raffte sich auf, sah auf die offene Tür, reckte sich dann, ging hinaus und schaute verbissen geradeaus. Der erste Augenblick war schlimmer, als er erwartet hatte. Vor den Fenstern waren die Gesichter. Er versuchte, sie aus seinem Bewußtsein zu entfernen, sie zu ignorieren und schaute stattdessen auf die Magazine, die ihm plötzlich weniger attraktiv erschienen, als er sie in Erinnerung hatte. Sein Mund war ausgetrocknet und sein Herz klopfte schmerzhaft, aber es war jetzt leichter weiterzugehen als umzukehren. Draußen war eine ständige Bewegung entlang dem Gitter. Die Leute, die bisher Emma gemustert hatten, wechselten die Plätze um nun ihn anzustarren. Der Zweifüßler ging mit steifen Gliedern weiter, erreichte den Sessel und lehnte sich zurück, um an die Magazine zu gelangen. Beweg’ dich natürlich, ermahnte er sich selbst. Nimm die Magazine und dreh’ dich um … Draußen winkten die Menschen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Rufe wie „Schau dir das an!“ und „Huhuu, Fritz!“ wurden laut. Ein blondes Kind wurde auf die Schultern des Vaters gehoben, damit es besser sehen konnte, aber es begann zu weinen. Verschiedene Leute zückten Fotoapparate. Trotz des plötzlichen Lärms vor dem Käfig hörte der Zweifüßler, wie jemand seinen richtigen Namen rief. Er war eben im Begriff gewesen zu gehen und drehte sich ungläubig wieder um. In der vordersten Reihe, eingezwängt zwischen zwei fetten Matronen, stand ein mittelgroßer Mann in grauem Mantel, der einen Stapel Papier in der Hand hielt. Seine Augen waren freundlich und fragend, sein Mund bewegte sich, und wieder vermeinte der Zweifüßler, seinen Namen gehört zu haben. Der Lärm war mittler112
weile so stark angeschwollen, daß er Mühe hatte, ihn zu verstehen. Der Mann im grauen Mantel lächelte, hob ein Blatt Papier hoch und schrieb mit sorgfältigen Bewegungen etwas darauf. „Sind Sie Naumchik?“ las er. Dankbarkeit und Freude stiegen in dem Zweifüßler auf; Freude, die ihn bald erstickte. Er taumelte gegen die Glasscheibe, nickte heftig und zeigte auf sich selbst. „Ich bin Naumchik!“ rief er aus. Der Mann im grauen Mantel nickte befriedigt, faltete das Blatt zusammen und steckte es weg. Er winkte noch einmal und schickte sich an, sich aus der Menge herauszudrängen. „Fritz! Fritz!“ schrien die geröteten Gesichter draußen. Der Zweifüßler wartete und ging auf und ab. Zwanzig Minuten vergingen, ohne daß etwas geschah. Er würde seine Ungeduld bezähmen müssen. Der Mann im grauen Mantel konnte jeden Augenblick heraufkommen und sich für seine Freilassung einsetzen. Aber was sollte es, wenn er hier den Ruhigen spielte, er mußte irgend etwas unternehmen oder er würde den Verstand verlieren. Er sah das Telefon. Es war verboten, es außerhalb der Arbeitszeit zu benutzen. Und auch dann durfte er nur Dienstgespräche führen. Zum Teufel damit! Er trottete zum Telefon und begann zu wählen. Das Wählerlicht pulsierte, dann fragte die Stimme der Telefonistin: „Bitte?“ „Naumchik“, sagte der Zweifüßler, aber als er seinen Namen ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, daß er bereits falsch begonnen hatte. „Ich möchte Dr. Grück sprechen. Bitte verbinden Sie mich mit ihm.“ „Was sagtest du, wer du bist?“ „Martin …“ begann der Zweifüßler und schluckte. 113
„Na gut“, verbesserte er sich. „Hier ist Fritz, der Zweifüßler. Ich möchte Herrn …“ „Warum nicht gleich so?“ fragte die Telefonistin. „Ist mit deiner Arbeit etwas nicht in Ordnung?“ „Meine Arbeit ist fertig. Es geht um etwas sehr Wichtiges. Würden Sie mich jetzt bitte mit …“ Sie unterbrach ihn erneut. „Ist etwas mit dem Käfig nicht in Ordnung?“ „Nein. – Ich muß Grück sprechen! Schauen Sie … wie immer Sie auch heißen mögen, Fräulein … reden Sie nicht so viel und verbinden Sie mich mit …“ „Ich bin Fräulein Müller“, sagte sie kalt, „und ich habe die Anweisung, Privatgespräche von Tieren nicht zu verbinden! Wenn es sich also nicht um einen Notfall handelt oder um die Arbeit …“ „Ich sagte, es ist dringend!“ brüllte der Zweifüßler mit anwachsendem Ärger. Er schrie in die Sprechmuschel: „Sie idiotisches Weib! Wenn Sie mich nicht sofort mit Grück verbinden, werde ich Ihnen die Polizei auf den Hals hetzen, verdammt noch mal! – Stellen Sie jetzt sofort eine Verbindung her, oder – Hallo, hören Sie noch? Hallo! Fräulein Müller!“ Die Leitung war tot. Mit zitternden Fingern begann der Zweifüßler, ein zweites Mal zu wählen. Das Licht auf der Wählscheibe pulsierte. Der grünliche Kopf Emmas tauchte im Türrahmen auf, als er sich umdrehte. „Was starrst du mich so an?“ fragte er und der Kopf verschwand wieder. Der Zweifüßler setzte sich an den Schreibtisch und ballte seine dreifingrigen Hände. Es war ihm nicht mehr zuzumuten, hier herumzusitzen, während die Freiheit immer näher rückte. Wenn sich seine Situation von Grund auf änderte, konnten sie ihm zumindest reinen Wein einschenken, anstatt ihn hier in der Ungewißheit schmo114
ren zu lassen. Wessen Leben war es schließlich, um das es hier ging? Aber was konnte man schon von diesen aufgeblasenen Bürokraten anderes erwarten. Sie waren ohnehin nicht in der Lage, weiter als bis zu ihren Nasenspitzen zu sehen. Laßt die Wartenden ruhig in ihrem eigenen Saft schmoren, was kümmert das uns? Wenn sie ihn doch nur hier herausließen! Ha, er würde ein Expose in der Redaktion abliefern, das sich gewaschen hatte! Welch eine Reportage! Schockierende Enthüllungen über die Unmenschlichkeit der Zoowärter! Seine Nervosität steigerte sich beträchtlich. Er sprang auf. Laßt mich hier heraus! Laßt mich hier heraus! Mehr will ich ja gar nicht! Der Rest wäre dann eine Kleinigkeit … Er blieb stehen und lauschte. Ja, da war das Geräusch wieder. Die Tür öffnete sich. Der Zweifüßler rannte hin, aber es war nicht der Mann im grauen Mantel, sondern Rudi, der Picklige, mit seinem Karren. „Ach, du bist es“, sagte der Zweifüßler und wandte sich enttäuscht ab. „Klar bin ich es“, erwiderte Rudi. „Wer sollte es auch sonst sein? Wer macht schließlich hier die ganze Drecksarbeit, ohne dafür ein Wort des Dankes zu ernten?“ Er schob den Karren in den Büroraum, murmelte vor sich hin, ohne den Zweifüßler anzusehen. „Füttert Dr. Grück etwa das Rhinozeros oder die Feuervögel? Wer schleppt das Futter herum? Wer füttert die Boa Constrictor? Wenzel etwa? Mistet Rausch die Eselställe aus oder ich? – Ihr Zweifüßler seid noch halb so schlimm, schließlich räumt ihr euren Kram selbst weg. Aber manche Tiere … du würdest nicht glauben, wie schmutzig sie sind. Sie scheißen auf den Boden, wie es ihnen gefällt. – Aber so ist das Leben nun mal. Die einen leben wie Gott in Frankreich, 115
die anderen müssen bis zu den Ellenbogen in der Scheiße wühlen.“ Mürrisch nahm er einen kleinen Gegenstand von seinem Karren und warf ihn auf den Schreibtisch, der ihm am nächsten war. „Hier hast du ein Stück Seife. Du sollst dich waschen, weil man dich interviewen will. Ich soll dafür sorgen, daß du dich beeilst. Mach schnell, sonst stecke ich wieder einen Rüffel ein.“ Das Herz des Zweifüßlers begann wild zu schlagen. „Hast du interviewen gesagt?“ stammelte er. „Wer … was …“ „Ja, interviewen. Das ist alles, was ich weiß. Irgendein Zeitungsmensch möchte was über dich schreiben. Soll er doch.“ Rudi wendete seinen Wagen und machte Anstalten zu gehen. Hinter dem Rücken des Zweifüßlers erklang ein Geräusch. Als er sich umwandte, sah er Emma, die nervös auf der Schwelle ihres Zimmers stand. „Rudi“, piepste sie, „Rudi, warte doch …“ Aber der Wärter war bereits verschwunden, ohne ihre Worte gehört zu haben; vielleicht hatte er auch keine Lust, sich umzudrehen. Er schloß die Außentür hinter sich. Emma verschwand wieder in ihrem Zimmer. Als der Zweifüßler sie ansah, zuckten ihre Hände in der gewohnten Geste zu ihrem Knopf. Aber sie hielt inne, als sie sah, daß er nach dem kleinen Paket auf dem Schreibtisch langte. „Ist das Seife?“ fragte sie schüchtern. „Ich hörte ihn sagen, daß das Seife sei.“ Der Zweifüßler nahm das kleine, in Papier gewickelte Päckchen an sich. Es hatte einen schwachen, aromatischen Geruch, der irgendwie ungewohnt war. „Ja, das ist Seife“, erwiderte er geistesabwesend. „Ich soll mich säubern, weil man mich interviewen will.“ „Ich hatte auch mal Seife“, sagte Emma und kam 116
etwas näher. „Es ist schon lange her, sie haben gesagt, es sei nicht gut für mich.“ „Das kann schon sein“, murmelte der Zweifüßler und zog mit seinem Finger an der Verpackung. Sie öffnete sich, die Seife flutschte in seine Hände und fiel auf den Boden, genau vor Emmas Füße. Sie bückte sich und hob sie auf. Der Geruch war jetzt noch stärker geworden. „Gib sie mir wieder“, sagte der Zweifüßler ungeduldig und kam näher. Er stand genau auf der Kreidelinie, die seine Zimmerhälfte von der ihren trennte. Aber Emma nahm diesmal keine Notiz davon; sie hielt die Seife in den Händen und roch glücklich daran. Ihr Mund war halb geöffnet und ihre Augen glänzten. Der Zweifüßler ging einen Schritt zur Seite. Emma antwortete nicht. Erschreckt blieb er vor ihr stehen und starrte sie an. „Emma“, sprach er sie an. „Ja“, erwiderte sie verträumt. „Was ist los mit dir, Emma?“ „Nichts ist los“, antwortete sie mit einem verzückten Lächeln. „Gib mir bitte die Seife zurück.“ „Gute Seife“, nickte sie. Aber sie machte keine Anstalten, sie ihm zurückzugeben. Sie schien überhaupt nicht zu merken, daß sie die Seife fest an ihr Gesicht preßte. Als der Zweifüßler die Linie überquerte, um ihr das Seifestück wegzunehmen, zögerte sie. Es kam ihm plötzlich seltsam vor, daß Rudi ihm die Seife überhaupt gegeben hatte. Er hatte, seit er eingesperrt war, überhaupt keine Seife mehr zu Gesicht bekommen – und sie auch bisher noch nicht vermißt. Würde Seife für diesen mit fedrigen Stacheln übersäten Körper gut sein? Wenn nicht, warum hatte man dann …? Er schüttelte irritiert den Kopf und ging ein Stück zurück, um 117
dem faszinierenden Duft zu entgehen. Es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, solange man den Geruch der Seife in der Nase hatte. „Wieso ist die Seife nicht gut für dich, Emma?“ fragte er. „Warum haben sie das gesagt?“ „Nicht gut für mich“, stimmte sie ihm zu. Ihre Worte klangen wie leise Musik. „Seife schlecht für Emma! Es gibt keine Seife mehr! Wunderbare Seife.“ Der Zweifüßler hörte, wie sich die Türe öffnete, während er Emma anstarrte. Sein betäubtes Hirn begann wieder zu arbeiten. „Hör’ zu, Emma“, flüsterte er, „nimm die Seife und geh’ in dein Zimmer. Geh’ in dein Zimmer und komm’ nicht raus, bevor ich es dir sage.“ „Emma, komm’ nicht heraus.“ Mit unwahrscheinlicher Langsamkeit bewegte sie sich zur Tür, als Rudi hereinkam. Diesmal war er ohne Karren. „Bist du fertig?“ fragte er, einen Seitenblick auf Emmas verschwindende Gestalt werfend. Der Zweifüßler wandte ihm das Gesicht zu und bemühte sich, genauso geistesabwesend und verträumt auszusehen wie Emma. „Fertig“, sagte er. „Du weißt, wer du bist?“ „Mein Name ist Naum …“ „Aber nicht doch“, unterbrach Rudi ihn. „Stell dich nicht so dumm an. Dein Name ist Fritz. Sag’ es mir nach. Mein Name ist Fritz.“ „Name ist Fritz“, wiederholte der Zweifüßler zustimmend und rollte mit den Augen. Er tänzelte hin und her. Sein Kopf war voll mit ärgerlichen Vermutungen, aber er verstellte seine Stimme, damit sie verschwommen und schwerfällig klang. „Dann ist ja alles in Ordnung“, meinte Rudi befriedigt. „Wieviel ist zwei und zwei, Fritz?“ 118
Er tat, als müsse er über die Frage lange nachdenken. „Vier?“ fragte er dann zögernd. „Guter Junge. – Und wieviel ist vier und vier und vier und vier?“ Der Zweifüßler blickte ihn schwerfällig an. „Vier und vier“, sagte er dann und Rudi lächelte. „Alles klar. Komm jetzt mit. Wir gehen jetzt hinauf und treffen dort zwei nette Herren. Wenn du dich gut beträgst – das verspreche ich dir – wird es etwas sehr Gutes für dich geben.“ Er nahm den Arm des Zweifüßlers und sie benutzten den Fahrstuhl. Als sie durch den langen Korridor gingen, konnten sie durch die gläsernen Wände auf den Zoo hinunterblicken, der sich unter ihnen ausbreitete. Es war ein sonniger Nachmittag und auf den Wegen befanden sich zahlreiche Spaziergänger. Es gab nichts Besonderes zu sehen. Sie kamen zum Hauptgebäude und Rudi öffnete eine Tür, hinter der sich ein eichengetäfeltes Zimmer befand. Es war der Raum, in dem man ihn am Tage seiner Ankunft empfangen hatte. Grück stand neben einem Schreibtisch. Wenzel und der Mann im grauen Mantel waren ebenfalls anwesend. „Hallooo“, sagte Grück leutselig. „Hier ist er ja endlich, unser Fritz. – Nun können Sie sich selbst davon überzeugen, lieber Tassen, wieviel Wahrheit in dieser phantastischen Geschichte steckt. – Wir hätten bereits etwas früher beginnen können, aber unser Fritz macht sich manchmal noch schmutzig, nicht wahr, Wenzel?“ Er knetete seine Hände. „Geht es dir gut, Fritz?“ „Sehr gut, Herr Doktor“, erwiderte der Zweifüßler. „Ausgezeichnet. – Und du hast gut zu Abend gegessen?“ 119
„Ja, Herr Doktor.“ Grück runzelte leicht die Stirn und sah Rudi an; aber er riß sich zusammen. „Das ist fein, Fritz. Sieh’ mal: dieser Mann ist Herr Tassen von der Freien Presse. Er wird dir jetzt einige Fragen stellen, die du richtig beantworten mußt. Verstehst du? – Bitteschön, Herr Tassen. Sie können beginnen.“ Der Mann im grauen Mantel sah den Zweifüßler mißtrauisch an. „Nun, Fritz …“ begann er, aber der Zweifüßler rückte von Rudi weg und sagte schnell: „Wie lange arbeiten Sie schon für die Freie Presse?“ Tassen zog die Augenbrauen hoch. „Etwas über ein Jahr. Warum willst du …?“ „Kennen Sie Zellini vom Lektorat?“ „Was soll das?!“ schrie Grück aufgebracht und drängte sich zwischen sie. Sein Gesicht war gerötet vor Erstaunen und Wut. „Fritz, deine Manieren, denke daran …“ „Ich kenne Zellini“, sagte der Zeitungsmann und schrieb etwas auf seinen Notizblock. „Ein kleiner, braungebrannter Mann, fast kahlköpfig. Ich saß beim letzten Europäischen Journalistenkongreß neben ihm. Er …“ „Wenzel!“ kreischte Grück. Der Zweifüßler spürte Rudis Hände an seinem Rücken, während Wenzel – sein Gesicht war weiß und maskenhaft – vom Schreibtisch her auf ihn zukam. „Man hält mich hier gegen meinen Willen fest!“ schrie der Zweifüßler, sich heftig zur Wehr setzend. „Mein Name ist Martin Naumchik! Sie haben versucht, mich mit Drogen gefügig zu machen, bevor sie mich heraufbrachten!“ Grück und Tassen stießen laute Rufe aus. Wenzel hatte den Arm des Zweifüßlers umklammert und hielt 120
mit der anderen Hand dessen Mund zu. Rudi riß den Zweifüßler von den Beinen und gemeinsam begannen sie ihn hinauszutragen. „Himmeldonnerwetter!“ schnaufte Grück. „Das ist doch alles Schwindel!“ Der Zeitungsmann, dessen Stimme sich fast überschlug, brüllte: „Bringen sie ihn zurück! Bringen sie ihn zurück!“ Die Tür schloß sich. Ohne ihn abzusetzen, trugen Wenzel und Rudi den wehrlosen Zweifüßler den Korridor entlang und brachten ihn zum Fahrstuhl. Es schien, daß Emma, während der Zweifüßler weggewesen war, nicht nur an der Seife gerochen, sondern auch etwas davon gegessen hatte. Man brachte sie zur Krankenstation, wo sie ohne Bewußtsein zwei Tage verbrachte. Die Arbeitszugänge wurden gestoppt. Rudi, der Wärter, wurde versetzt und an seine Stelle trat ein schwerer, langsamer Mann namens Otto, der der einzige war, der von nun an seine Zelle betrat. Erschöpft, aber triumphierend verbrachte der Zweifüßler den größten Teil seiner Zeit im Vorderraum des Käfigs. Dort las er, beobachtet von den Zoobesuchern, oder schaute dem Fernsehen zu. Er hoffte, Tassen wiederzusehen, aber er erschien nicht mehr. Einen Tag nach dem Interview erschien jedoch ein Mann an der Glasscheibe, faltete eine Zeitung auseinander und hielt sie dem Zweifüßler hin. Er konnte eben die Überschrift lesen. ZWEIFÜSSLER BEHAUPTET: ICH BIN EIN MENSCH! Ein Wärter erschien und schickte den Mann fort. Liebend gern hätte der Zweifüßler die Mahlzeiten eines ganzen Tages für die Zeitung hergegeben, aber auch wenn er sie nicht bekommen hatte: jetzt wußte er 121
zumindest, daß das Interview gedruckt worden war. Nun brauchte er nur noch abzuwarten. Jetzt, wo die Wahrheit allgemein bekannt war, würde man nichts mehr vertuschen können. Sie konnten tun, was sie wollten, er mußte nur Geduld haben. Eine Zeitlang hatte er mit dem Gedanken gespielt, irgendwelche Notizen auf ein Blatt Papier zu schreiben und sie der Menge draußen hinzuhalten, aber es war sicher, daß man ihn dann in einem anderen Raum unterbringen würde – und dann würde er nicht mehr beobachten können, ob Tassen sich in der Nahe aufhielt. Am dritten Tag – nach dem Frühstück – wurde Emma zurückgebracht. Sie sah blaß aus, und in ihren Augen war ein wilder Ausdruck. Ihre Federn waren unordentlich. Sie sah den Zweifüßler wortlos an, als sie an ihm vorüberging, aber ihr Blick war nicht zu deuten. War er sehnsüchtig, vorwurfsvoll oder was sonst? Er ertappte sich dabei, daß er sich Sorgen um sie machte. Er wollte mit ihr sprechen, aber sie verließ ihr Zimmer nicht. Später kam Otto. Er blieb im Türrahmen stehen und grollte: „Du sollst ’raufkommen zu ’nem Interview. Los, mach’ schon.“ Das Herz des Zweifüßlers schlug wild, als er aufsprang. „Diesmal ohne Seife?“ fragte er ironisch, aber der Wärter glotzte ihn nur verständnislos an. Sie gingen diesmal an Grücks Büro vorbei, den Gang entlang in ein kleines Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors. Das Zimmer war bis auf einen Tisch und zwei Stühle leer. Otto hielt ihm kommentarlos die Tür auf, wartete ab, bis der Zweifüßler das Zimmer betreten hatte und schloß sie hinter seinem Rücken. Der Zweifüßler sah sich aufgeregt um, aber es gab nichts zu sehen außer den drei Möbelstücken, den schwarzen Fliesen des 122
Fußbodens und den schmutzigbraunen Wänden, die unbedingt eines neuen Anstrichs bedurften. Es dauerte eine gewisse Zeit, dann öffnete sich die Tür wieder und ein großer Mann mit olivfarbener Haut und einem roten Mantel erschien. Hinter ihm erspähte der Zweifüßler das Ungeheuer Grück und hörte dessen unterwürfige Stimme. „Natürlich, lieber Herr Opatescu! Gewiß! Wir haben uns schon immer gewünscht …“ „Glauben Sie nur nicht, daß ich Ihnen das abnehme“, unterbrach ihn der Mann wütend. „Wenn ich nicht zum Rathaus gegangen wäre …“ „Sie irren sich, Herr Opatescu, ich versichere es Ihnen. Wir wünschten nur …“ „Was Sie wünschen“, knurrte Opatescu sarkastisch, „kann ich mir lebhaft vorstellen. Gehen Sie weiter, ich habe jetzt ein für allemal genug davon.“ Grück zog sich zurück. Er sah gedemütigt aus, als der Besucher die Tür hinter sich schloß. Der Mann trug eine schwere Aktentasche aus Schweinsleder, die er sorgfältig auf den Tisch stellte. Dann kam er mit einem Lächeln auf den Zweifüßler zu und schüttelte herzlich dessen Hand. „Wir Zeitungsmenschen müssen zusammenhalten, wenn es gilt, mit einem Schurken wie dem zu verhandeln. – Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle? Mein Name ist Opatescu. Sie haben ja keine Ahnung, welche Tricks und Vorwände man benutzt hat, um mich draußen zu halten. Aber nun bin ich hier. Also, Herr Naumchik …“ Er machte sich an seiner Aktentasche zu schaffen, holte ein flaches Tonbandgerät und ein Mikrofon heraus. „Hier, bitte, setzen Sie sich – so.“ Er baute das Mikrofon auf, steuerte das Gerät aus und wartete. Opatescu setzte sich hin, ohne seinen Mantel abzulegen. 123
„Diese Aufnahme wird am 17. Juni 2002 im Berliner Zoo gemacht. Anwesend sind Martin Naumchik, bekannt als Fritz, der Zweifüßler und der Reporter Opatescu.“ Er rutschte hin und her, bis er bequem genug saß und sprach weiter. „Zunächst möchte ich Ihnen versichern, daß ich glaube, daß Sie mit Martin Naumchik identisch sind. Ich möchte, daß Sie mir nun in Ihren eigenen Worten erzählen, welch unfaßbares Erlebnis Sie hatten. Bitte, beginnen Sie.“ Obwohl Opatescu ihm nicht sonderlich sympathisch erschien – er verkörperte genau jene Sorte von Journalisten, die gemeinhin für die zentraleuropäische Klatschpresse arbeiteten – mußte er mit ihm zusammenarbeiten, denn der Mann hatte Partei für ihn ergriffen und die Chance, daß sein Fall noch einmal aufgenommen wurde … Opatescu hörte ihm ruhig zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als der Zweifüßler seine Geschichte beendet hatte, ging der Reporter die ganze Angelegenheit mit einer Gründlichkeit, die den Zweifüßler zwang, sein vorgefaßtes Urteil über ihn zu revidieren, noch einmal durch. Er stellte Fragen, wollte Details wissen und gab einzelne Punkte mit eigenen Worten wieder. Er schien zufrieden zu sein und begann, den Zweifüßler nach seiner Vergangenheit auszufragen, wobei er sich besonders für jene Einzelheiten interessierte, die beweisen konnten, daß sein Gegenüber tatsächlich mit Naumchik identisch war. Mit der gleichen Gründlichkeit, mit der er das Gespräch geführt hatte, schloß er es ab. Als er das Aufnahmegerät abstellte und es einzupacken begann, beobachtete ihn der Zweifüßler mit wachsendem Respekt. „Ich bin Ihnen für Ihre Bemühungen sehr dankbar“, sagte er schließlich. „Ich vermute, daß Sie ein Freund 124
von Tassen sind, dem Mann, der die erste Geschichte über mich publizierte?“ „Tassen? Ja, ich kenne ihn“, erwiderte Opatescu und schloß eilig seine Aktentasche. „Er hat einige ganz ordentliche Sachen geschrieben. Sie werden es sehen, wenn Sie erst mal draußen sind.“ Der Zweifüßler befeuchtete seine steifen Lippen. „Ich nehme an, daß Sie selbst nicht wissen, wann …“ „Wann das sein wird? Es wird bestimmt nicht mehr lange dauern. Wir werden eine Pressekonferenz geben, eine große diesmal. Für die Zeitungen und das Fernsehen. Danach wird man Sie nicht mehr festhalten können, dafür sorgt schon die Öffentlichkeit. – Mein lieber Naumchik, es war mir eine Ehre.“ Er hielt ihm seine fleischige Hand entgegen. „Ganz meinerseits, Herr Opatescu. Nebenbei: für welche Zeitung arbeiten Sie?“ „Für die Prawda.“ Opatescu sah auf seine Uhr, nahm seine Aktentasche vom Tisch und wandte sich zum Gehen. „Kennen Sie zufällig Kyrill Reschewskij, den …“ „Sicher. – Aber lassen Sie uns darüber ein anderes Mal sprechen.“ Er grinste und entblößte strahlend weiße Zähne. „Ich muß bis zum Redaktionsschluß zurück sein, Sie verstehen? Auf Wiedersehen, Herr Naumchik. Haben Sie Geduld.“ Er ging, immer noch lächelnd, hinaus. Der Wärter Otto erschien sofort, um den Zweifüßler wegzubringen. Obwohl er normalerweise nicht mehr redete, als er mußte, sprach er auf dem Weg zum Käfig. „Nun werden sie dich bald ’rauslassen, was?“ „Es scheint so“, erwiderte der Zweifüßler freudig. „Tsk, tsk“, machte Otto kopfschüttelnd. „Was wird wohl als nächstes auf uns zukommen?“
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In den nächsten beiden Tagen war es dem Zweifüßler unmöglich, länger als fünf Minuten ruhig zu sitzen oder zu lesen. Er hatte den Fernsehapparat ständig eingeschaltet, um die stündlichen Nachrichten nicht zu verpassen. Einmal, ganz früh am Morgen, hatte der Sprecher ihn erwähnt. Er war auch kurz auf dem Bildschirm zu sehen gewesen. Offensichtlich hatte man das Bild an jenem Tag aufgenommen, an dem er in Berlin angekommen war. Aber danach kam nichts mehr über ihn. Zwischen den Nachrichten verbrachte er die Zeit damit, im Büro auf und ab zu gehen, was Emma derart verschreckte, daß sie es nicht mehr wagte, den Kopf aus ihrem Zimmer zu stecken. Sie hatte sich mehrmals gezeigt, aber jedesmal hatte sie eine Geste oder Ausruf seinerseits in ihren Raum zurückgetrieben. Auch der Telefonistin ließ er keine Ruhe. Er rief sie tagsüber alle paar Minuten an und verlangte Grück, Prinz oder jemand anders zu sprechen. Am Nachmittag des zweiten Tages hatte man seine Leitung unterbrochen. Kurz nachdem er das entdeckt hatte, trat Otto ein, der ein Bündel Zeitungen und Zeitschriften auf seinem Karren hereintransportierte. „Man hat dir diese Sachen geschickt“, sagte er, den Stapel auf den Schreibtisch legend. „Lies – und stör’ nicht immer Fräulein Müller.“ Dann ging er wieder. Der Zweifüßler vergaß ihn sofort. Er ergriff die oberste Zeitung – es war die Frankfurter Rundschau – und blätterte sie mit zitternden Fingern durch, bis er eine Spalte mit der Überschrift ‚SELTSAME AUSSAGEN EINES ZWEIFÜSSLERS’ fand. Er las die Geschichte begierig, obwohl sie offensichtlich nicht mehr beinhaltete als das, was er damals Tassen erzählt hatte. Er zügelte seine Ungeduld und begann, die Zei126
tungen nach ihrem Erscheinungsdatum zu sortieren. Als er sie auf den Boden stapelte, fand er zwischen zwei Zeitschriften einen Hefter und eine Schere. Nun saß er auf dem Fußboden – seine ehemaligen Beine waren niemals so gelenkig gewesen – und begann, sorgfaltig die Artikel, die ihn betrafen, herauszuschneiden und sie auf die gummierten Blätter des Notizblocks zu kleben. Die restlichen Zeitungen legte er beiseite, um sie später zu lesen. Bereits während der Arbeit stellte der Zweifüßler fest, daß man die erschienenen Artikel in drei Kategorien aufteilen konnte: in der ersten war alles recht kurz und sehr nüchtern gehalten wie in der Frankfurter Rundschau; in der zweiten leichtverdauliche Geschichtchen, wie sie normalerweise in den Sonntagsbeilagen erschienen (Ein Artikel hatte die Überschrift „Festgehalten im Körper eines Tieres“ und stammte aus der Feder von Carla Ernsting. Er war typisch für diese Kategorie.); und schließlich waren da die großangelegten Illustriertengeschichten, die er mit Überraschung und wachsender Furcht las. „Neurotische Humanitätsduselei“, las er in einem Leitartikel in der National-Zeitung, „ist es, die Menschheit auf das Niveau von Tieren zu degradieren. Diese Leute rütteln an den Grundpfeilern unserer Zivilisation! Lassen wir uns nicht übertölpeln: die Besitzer dieser kranken Gehirne würden jeden schleim triefenden Polypen als menschlich anerkennen, jede sauerstoffatmende Kröte, sobald sie nur ein paar Worte deutsch spricht. Dieser Martin Naumchik, ein Mitglied einer lasterhaften, dekadenten Rasse …“ Der Zweifüßler zerknüllte die Zeitung in einem Wutanfall. Dann stand er auf, umkreiste die Zeitungsstapel und starrte sie dabei an. Schließlich kauerte er sich nieder, glättete die beleidigende Seite und las den 127
Artikel zu Ende. Er war zu bewegt, um weiterarbeiten zu können, also schloß er den Notizblock und starrte durch die Glasscheibe hinaus auf den grauen Herbsttag. Draußen war es kalt und regnerisch geworden, und nur wenige Leute befanden sich noch auf den Wegen. Es war ihm unmöglich, die Tatsache, daß die Leute ihm keinen Glauben schenkten, noch länger zu ignorieren. Er konnte sie sogar verstehen. Aber sie mußten einfach einsehen, daß hier etwas Ungewöhnliches vor sich ging! Er preßte seine Schnauze gegen das kalte Glas, an dem die Regentropfen langsam herunterglitten. Was würde geschehen, wenn sie ihm nicht glauben würden? Er versuchte sich vorzustellen, wie er in Freiheit leben würde, anerkannt als Martin Naumchik, versehen mit seinen Rechten als Bürger … Und dann? Ihn überkam eine groteske Vision. Er sah einen nackten Zweifüßler im Stadtbüro von Paris Soir, mit Ehrichs sprechend, sich dann selbst eine Party gebend, zwischen vornehm gekleideten Leuten stehend. Das war absurd. Unmöglich. Wohin sollte er sich wenden? Wer würde ihn mit diesem Körper als den akzeptieren, der er war? Wer würde ihm Arbeit geben, wer Unterkunft? Stumpfsinnig saß er da, die dreifingrigen Hände ineinandergefaltet und murmelte „Ich bin Martin Naumchik.“ Aber selbst in seinen eigenen Ohren klangen diese Worte bereits wie eine Lüge. IX Der Zweifüßler erwachte von selbst, sich unruhig umherwälzend und vor sich hinmurmelnd. Er hatte einen sonderbaren Traum gehabt. Irgendetwas war mit seinem Körper geschehen. Sein Gesicht war weich und 128
nachgiebig geworden, seine Glieder steif … das Schreckliche an diesem Traum war, daß alle um ihn herum diese Verwandlung als normal anzusehen schienen. Und er war nicht in der Lage, ihnen zu sagen, was los war. Hellwach saß er aufrecht in seinem Bett. Er berührte seine Füße und stocherte in den federigen Haaren herum. Er hatte geträumt, dessen wurde er sich bewußt, von sich selbst geträumt, wie er es vor der Verwandlung oft getan hatte. Er blieb sitzen und dachte nach. Irgendwie fühlte er sich wie ein Betrüger, der insgeheim seinen menschlichen Körper verraten hatte; jenen Körper, der ihm einst so vertraut gewesen war und dessen Existenz ihm jetzt kaum noch real erschien. Es machte ihm zu schaffen, daß seine Gefühle sich so plötzlich gewandelt hatten innerhalb der letzten Wochen. Wenn es bereits so weit mit ihm war … war es dann auch möglich, daß er die Beziehungen zu seiner Vergangenheit ganz verlor? Er stand auf und fühlte, daß seine gute Laune mit den gesunden Reflexen seines Körpers zurückkehrte. Es gab keinen Grund, so schwarz zu sehen. Er war er selbst, das war so sicher wie immer. Wie sollte er das je vergessen können? Heute war der Tag seiner Abrechnung mit Grück. Er gähnte nervös, ging in das Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Es war noch etwas zu früh für die Nachrichten, also begnügte er sich damit, aus dem Fenster zu sehen, vorbei an dem Zaun, den die Arbeiter gestern in einer Entfernung von etwa zehn Metern aufgestellt hatten. Die Spazierwege, die zwischen den Wiesen hindurchführten, waren noch leer. Lediglich das Rauschen von Vogelschwingen erklang aus der Ferne, dann war es wieder still. Die Zeit verging ihm jetzt so schnell, 129
daß er ängstlich wurde. Zeitweise hatte er damit gerechnet, von Grück noch einmal unter Drogen gesetzt zu werden und hatte deshalb jede Nacht hinter verrammelter Tür geschlafen. Aber bis auf den Zaun, den man errichtet hatte, um zu verhindern, daß die Leute seinem Käfig zu nähe kamen, hatten sie nichts unternommen, was ihn störte. Er schob den Tisch und das Bücherregel zur Seite und ging in das Büro. Es war immer noch zu früh für die Nachrichten, aber er schaltete den Fernseher trotzdem an. Emmas Gesicht erschien in ihrer Tür. „Guten Morgen“, sagte sie schüchtern. „Guten Morgen, Emma“, antwortete er überrascht. Er beschloß, ihr keine große Aufmerksamkeit zu schenken, sondern sich auf die bevorstehende Pressekonferenz vorzubereiten. Das Zweifüßlerweibchen kam zwei Schritte auf ihn zu. „Heute ist Mittwoch“, sagte es. „Das ist richtig. Mittwoch.“ „Dies ist der Tag, an dem du beweisen mußt, daß du Herr Naumchik bist.“ „Ja“, erwiderte der Zweifüßler überrascht und erfreut. „Dann wirst du weggehen.“ „Sehr wahrscheinlich.“ Was wollte sie nur von ihm? „Dann werde ich allein sein“, fuhr Emma fort. „Nun“, erwiderte er stockend, „Ich nehme an, daß du dich daran gewöhnen wirst.“ „Ich werde dich vermissen. – Lebewohl, Fritz.“ „Lebewohl.“ Sie wandte sich um und ging zurück zu ihrem Zimmer. Der Zweifüßler sah ihr nach; er war verstört und gerührt. Aus dem Wohnzimmer erklang ein Glocken130
spiel, dann eine sympathische Stimme. „Guten Morgen, verehrte Fernsehzuschauer. Es ist acht Uhr. Sie sehen die erste Frühausgabe der Tagesschau. – Bei einem Erdbeben in Kalkutta kamen siebenhundert Menschen ums Leben. Zwei Abgeordnete des Bayrischen Landtages wurden wegen unkorrekter Amtsführung angeklagt. Diese und andere Anschuldigungen erhob …“ Der Zweifüßler eilte in das Wohnzimmer, ergriff die Fernbedienung, die neben seinem Sessel lag und wählte einen anderen Kanal. Der Ansager verschwand und wurde durch eine Herzlichkeit ausstrahlende ältere Dame ersetzt, die exzentrisch gekleidet an einem Flügel saß. „Als ärrstes heute Morrrgen“, sagte sie mit einem starken slawischen Akzent, „werde ich Morgensterns ‚Tagesanbruch’ spielän …“ Klick. Sie verschwand und an ihre Stelle trat ein junger Mann in einem cremefarbenen Trikot, der auf dem Boden saß und „Gaaanz leicht zurück“, dann „… uuund wieder vooor!“ sagte. Klick. „… jetzt die neuesten Nachrichten über den Fall, der ganz Berlin bewegt“, sagte die Stimme eines unsichtbaren Sprechers. Der Zweifüßler holte tief Luft. Auf der Mattscheibe erschien nun das Bild des Zoogeländes, das von den Gehwegen bis zum Hauptgebäude alles zeigte. Von einem plötzlichen Schock erfaßt sah er aus dem Fenster, vorbei an den vereinzelten, nicht einmal neugierigen Gesichtern, die am Gitter standen, und wurde sich plötzlich bewußt, was er sah. Draußen, im frühen Sonnenlicht, ging ein Mann langsam quer über den Rasen. Er trug eine drahtlose Fernsehkamera. „Wer nimmt für sich in Anspruch, Martin Naumchik, Reporter des Paris Soir zu sein?“ fragte eine Stimme. Im gleichen Augenblick hämmerte es an der 131
äußeren Tür. Der Zweifüßler wartete unentschlossen, dann eilte er in das Büro. Es war der Wärter mit seinem Karren. „Otto! Hast du eine Nachricht für mich?“ „Keine Nachricht. Iß!“ erwiderte Otto und lud seine Tabletts ab. „Wird die Pressekonferenz auch wirklich stattfinden? Sind schon Leute da?“ „Jede Menge“, erwiderte Otto. „Sie sind pünktlich.“ Er ging wieder. Zum Essen verspürte der Zweifüßler keine Lust; er stocherte in seinem Essen herum, nahm ein oder zwei Bissen und gab dann auf, um weiterhin rastlos hin- und herzulaufen. Nach einer gewissen Zeit, die ihm vorkam wie mehrere Stunden, erschien Otto wieder. Emma schaute aus ihrem Zimmer, aber er ignorierte sie und sagte stattdessen: „Sind sie jetzt bereit für mich?“ „Ja, du kannst kommen“, sagte Otto. Der Zweifüßler glättete sein Fell und folgte ihm. In der Galerie und auf dem Korridor standen die Menschen dichtgedrängt. Der Zweifüßler erspähte Prinz, der mit einem gequälten Gesichtsausdruck vorbeiging. Vor dem Speisezimmer sah er Männer mit Kopfhörern, die Tonbandgeräte umgehängt hatten. Ein weißuniformierter Berliner Polizist hielt am Eingang Wache. Otto ignorierte ihn, öffnete die Tür einen Spalt weit und blockierte den Eingang mit seinem Körper. Er sprach mit jemandem, dann schloß er die Tür wieder. „Warte“, erklärte er dem Zweifüßler. Wenige Augenblicke später wurde die Tür erneut geöffnet, und das Gesicht eines schwitzenden jungen Mannes erschien, den der Zweifüßler nicht kannte. „In Ordnung, bringen Sie ihn jetzt herein. Dalli, dalli!“ „Sie haben’s auch ewig eilig, was?“ grummelte Otto. 132
„Nun geh’ schon.“ Er gab dem Zweifüßler einen Schubs. Der schwitzende Mann nahm seinen Arm. „Geh’ schon. Laß sie nicht warten.“ Inmitten einer Gruppe erblickte der Zweifüßler die kräftige Gestalt Grücks, der hinter einem Tisch stand. „Und jetzt“, sagte er mit nervöser Stimme, „präsentiere ich Ihnen Fritz – den Zweifüßler!“ Der Zweifüßler stand steif in der einsetzenden Stille. Der große Raum war angefüllt mit Menschen. Einige trugen Fotoapparate, andere saßen an den Tischen, die kreisförmig angeordnet worden waren. Grück musterte den Zweifüßler mit einem unsicheren Blick. „Erzähle den Herrschaften deine Geschichte, Fritz. Oder soll ich lieber Herr Naumchik zu dir sagen?“ Er deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück. Als der Zweifüßler sich mit einem unbeabsichtigt lauten Ton räusperte, rief dies eine Welle des Gelächters hervor. Ängstlich und verärgert lehnte er sich nach vorn und griff nach der Tischkante. „Mein Name ist Martin Naumchik“, begann er mit lauter Stimme. Jedes Geräusch verstummte, so daß er die respektvolle Aufmerksamkeit des Publikums fühlen konnte. Er fühlte sich sofort sicherer und erklärte seine Geschichte genau und in allen Einzelheiten. Sie begann an jenem Tag, an dem er den jungen Mann mit der Kamera außerhalb des Käfigs gesehen hatte. Während des Erzählens versuchte er unter den Anwesenden bekannte Gesichter zu entdecken, aber man hatte die Scheinwerfer so aufgestellt, daß er nur die Konturen der ihn umgebenden Journalisten ausmachen konnte. Als er geendet hatte, war es einen Augenblick still. Dann wuchs raschelnd ein Wald von Händen vor ihm in die Höhe. „Sie dort“, sagte der Zweifüßler fest und sah hilflos 133
in den Raum. Eine Frau erhob sich. „Wer hat dir das alles beigebracht?“ Sie hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht und glitzernde Augen. Leises Protestgemurmel kam auf. „Niemand“, erwiderte der Zweifüßler standhaft. „Der Nächste! Ja, Sie, mein Herr!“ „Sie behaupten, im Jahre 1999 an der Sorbonne ein Examen gemacht zu haben. Können Sie mir sagen, wer seinerzeit der Leiter der Germanistischen Fakultät dort war?“ „Ein Herr Winkler.“ Die Antwort kam ohne Zögern. Er zeigte auf einen anderen Fragesteller. „Wer war Ihr Vorgesetzter, als Sie bei Paris Soir gearbeitet haben?“ „Claude Ehrichs.“ Die meisten der gestellten Fragen waren dieselben wie die, die er bereits bei vorhergehenden Interviews beantwortet hatte. Das Wiederholen der gleichen Antworten, immer und immer wieder, versetzten ihn in einen entmutigten Zustand. Wann würde das endlich ein Ende haben? Aber die Reaktion der Anwesenden gab ihm immer wieder neuen Mut. Sie lauschten respektvoll, aufmerksam, manche sogar freundlich. Ein großer, rotbärtiger Mann erhob sich. „Mich würde folgendes interessieren, Herr Naumchik: Wie erklären Sie sich selbst diese unglaubliche Geschichte?“ „Ich habe keine Erklärung“, erwiderte der Zweifüßler ernst, „aber ich spreche die Wahrheit.“ Es gab ein Gemurmel, das von Sympathie zeugte, als der Reporter sich wieder setzte. Der Zweifüßler setzte zum Weitersprechen an, aber er wurde von Grücks zuckersüßer Stimme unterbrochen, noch ehe er ein Wort gesagt hatte. „Unsere kleine Fragestunde ist nun beendet. Vielen Dank, meine Damen und Herren.“ Er drängte sich nach 134
vorne, gefolgt von zwei Wärtern, die die Arme des Zweifüßlers ergriffen und ihn hinauszuführen begannen. Nachdem die erste Überraschung verklungen war, begann er Widerstand zu leisten. „Ich bin noch nicht fertig!“ schrie er. „Ich appelliere an Sie: sorgen Sie dafür, daß ich freigelassen werde!“ Trotz seiner Bemühungen zerrten die Wärter ihn weiter. „Setzen Sie sich für mich ein! Holen Sie mich hier heraus! Ich bin Martin Naumchik!“ Jetzt waren sie an der Tür. Das Publikum murmelte ärgerlich. Es erklangen Rufe wie „So eine Schande!“ und „Bringen Sie ihn zurück!“. Über den wachsenden Aufruhr hinweg hörte man Grück rufen: „Einen Moment bitte, meine Damen und Herren! Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Einen Augenblick, bitte!“ Die Wärter brachten den Zweifüßler nach draußen und schlossen die Tür. Er hörte auf, sich zu wehren, als einer der Wärter sagte, er solle sich anständig benehmen. Otto erschien in der Menge, sein Gesicht war gleichmütig wie immer. „Haut ab“, grunzte er die Wärter an. „Wenn ich euch brauche, werde ich schon rufen. – Komm mit, Fritz!“ Der Zweifüßler folgte ihm gehorsam, aber sein Herz schlug wild vor Aufregung und Zorn. „Haben Sie das gehört?“ fragte er Otto, „wie er mich unterbrochen hat, gerade als ich …“ „Nein“, sagte Otto. „Ich hab’ keine Lust, mich auch noch damit zu belasten. Ich saß unten und hab eine geraucht.“ Er würdigte die Menschenmenge keines Blickes und schob den Zweifüßler bis zur hinteren Treppe. Sie gingen drei Stockwerke hinunter, dann durch die Buchausstellungshalle, zwischen den Tischreihen hindurch, vorbei an großen Plakaten, auf denen ‚Lies ein Buch über Tiere’ stand. Dieser Gebäudeteil 135
war fast ständig leer, ebenso wie die Galerie. Sobald Otto die Außentür aufgeschlossen hatte, drang Grücks Stimme an des Zweifüßlers Ohren. Seine Aufregung verstärkte sich, als er in das Wohnzimmer rannte und auf dem Bildschirm Grücks rotes, schwitzendes Gesicht erkannte, das ihn anzustarren schien. „Meine Damen und Herren! Ich bitte um Ihre freundliche Aufmerksamkeit! Meine Damen und Herren!“ Die Stimme eines unsichtbaren Kommentators überlagerte seine aufgeregten Worte. „Noch immer herrscht Aufruhr im Saal. Doktor Grück ist momentan nicht in der Lage, sich Gehör zu verschaffen.“ Der Zweifüßler ging erregt auf und ab. Draußen, außerhalb des Zoos, versammelte sich eine Menschenmenge, aber er ignorierte sie. Die Tonqualität des Fernsehgerätes verschlechterte sich, Emma mußte ihr Gerät ebenfalls eingeschaltet haben. Der Lärm ebbte langsam ab. „Meine Damen und Herren! Sie haben die Ausführungen des Zweifüßlers nun gehört. – Erlauben Sie nun auch dem Zoodirektor, einige Worte zu dieser Angelegenheit zu sagen!“ Vereinzelter Beifall erklang, dann trat allmählich Ruhe ein, und die Stille wurde nur noch dann und wann vom Husten einiger Anwesender unterbrochen. Als der Lärm sich ganz gelegt hatte, sprach Grück weiter. „Lassen Sie mich Ihnen nun den Anlaß für eine Frage geben“, sagte er. „Wo ist Martin Naumchik?“ Er sah von der einen Seite des Raumes zur anderen, es wurde noch stiller. „Wo ist Martin Naumchik, der Journalist, der einen solchen Wirbel um seine Person entfacht hat?“ Ein Raunen ging durch den Saal. Die Fernsehkameras machten einen Schwenk, um die Bewegung unter den Anwesenden aufzufangen. Ein, zwei Personen erhoben sich. „Läuft er in den Straßen Berlins umher?“ beharrte 136
Grück, „Mit der Seele eines Tieres in seinem Körper? – Aber weshalb sieht man ihn dann nicht? – Glauben Sie nicht, daß diese Fragen ihre Berechtigung haben, meine Damen und Herren? Haben Sie daran schon einmal gedacht? Ich frage noch einmal: Wo ist der berühmte Martin Naumchik? Versteckt er sich vielleicht?“ Grück starrte in die Kameras, seine Augen funkelten hinter den Gläsern seiner randlosen Brille. Die Hände des Zweifüßlers ballten sich instinktiv zu Fäusten. „Was würden Sie sagen, meine Damen und Herren, wenn ich Ihnen nun erzähle, daß wir alle Opfer eines raffinierten Schwindels sind?“ Zustimmung und Protest erklang aus den Reihen des Publikums. „Sie glauben es nicht? Sie sind voll und ganz vom Gegenteil meiner Behauptung überzeugt?“ Eine Stimme kam von irgendwoher aus dem Publikum. Sie gehörte dem Rotbart, der bereits vorher eine Frage an ihn gestellt hatte. „Was soll diese Farce? – Aus welchem Grund haben Sie den Zweifüßler so plötzlich entfernen lassen? Warum ist er nicht hier, um für sich selbst zu sprechen?“ Zurufe der Zustimmung. Der Rotbart machte einen zufriedenen Eindruck und verschränkte die Arme vor der Brust. Grück erschien wieder im Bild. „Mein lieber Herr Wilenski – dies ist doch Ihr Name, nicht wahr? – Sie dürfen davon ausgehen, daß ich es bin, der Ihnen hier die Wahrheit erzählt. – Dieser Zweifüßler ist ein sehr wertvolles Tier. Es ist hochentwickelt und nervös. Ich bin dazu da, es zu erhalten und für seine Gesundheit verantwortlich. Halten Sie mich für einen ausgemachten Narren, daß ich seine Gesundheit aufs Spiel setze?“ Gelächter erklang, auch vereinzelte Rufe der Zustimmung. Der Bärtige sagte, einen Finger erhoben: „Was ha137
ben Sie den Anschuldigungen des Zweifüßlers entgegenzusetzen? Haben Sie ihn unter Drogen setzen lassen? Was haben Sie dazu zu sagen?“ Grück druckste herum. Dann sagte er mit ernster Stimme: „Irgendwie kam das Tier zu einem Stück Seife. Der Wärter, der dafür verantwortlich war, wurde …“ „Seife?“ echote Wilenski. „Ja, Seife. Die Sodiumund Potassiumsalze in der Seife haben auf diese Zweifüßler eine toxische Wirkung. Sie müssen bedenken, daß wir es hier schließlich nicht mit menschlichen Wesen zu tun haben.“ Er hob seine plumpe Hand. „Lassen Sie mich nun aber fortfahren“, sagte er über das Gemurmel des Publikums hinweg. „Wir haben es hier mit einem ausgekochten Schwindel zu tun, einem schmutzigen Reklametrick! Wenn Sie nach Beendigung meiner Erklärung immer noch davon überzeugt sind, daß die Seele eines Menschen den Körper dieses Tiers bewohnt – dann verspreche ich Ihnen bei allem, was mir heilig ist, daß ich Martin Naumchik freilassen werde.“ Begeisterung in der Halle. Der Zweifüßler schloß die Augen und tastete nach seinem Stuhl. Seine Erleichterung war so groß, daß er die folgenden Worte kaum vernahm. „Wir hier im Zoo tappten zunächst ebenso im Dunklen wie Sie, das kann ich Ihnen versichern. Wie sollte so etwas auch möglich sein? Wir haben die Geschichte des Zweifüßlers natürlich nicht einen Augenblick lang geglaubt – aber wie sollten wir uns sein merkwürdiges Verhalten erklären? Wir waren am Ende unserer Weisheit, meine Damen und Herren – bis wir auf den Gedanken kamen, den Käfig des Zweifüßlers einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Dann … stellen Sie sich unseren Schreck vor, als wir dies hier fanden …“ 138
Die Kamera schwenkte zurück, Grück machte eine halbe Drehung und streckte seine Hand mit einer dramatischen Geste einem Instrument entgegen, das auf einem Tisch hinter ihm lag. Ein Assistent holte es näher heran und der Zweifüßler erkannte, daß es sich um ein kleines Tonbandgerät handelte, eins von der gleichen Art wie jenes, welches Opatescu benutzt hatte. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter. „Unter den Matratzen des Zweifüßlers“, fuhr Grück nun fort, „fanden wir dieses Tonbandgerät versteckt.“ „Wie konnte es dorthin gelangen?“ dröhnte Wilenski. Grück wandte sich mit einem unbewegten Ausdruck um. „Das untersuchen wir noch. Und ich kann Ihnen versichern, daß die Schuldigen, wenn sie gefaßt werden, mit der vollen Strenge des Gesetzes gestraft werden: Unser Hauptinteresse besteht momentan darin, den entlassenen Wärter ausfindig zu machen und zu verhören.“ Er ging einen Schritt an den Tisch heran und berührte das Tonbandgerät. „Ich möchte, daß Sie alle hören, was es mit diesem versteckten Gerät auf sich hat. Hören Sie gut zu!“ Er schaltete das Gerät ein und nach einem Augenblick sagte eine tiefe, männliche Stimme: „Hör’ zu und wiederhole: Mein Name ist Martin Naumchik … ich wurde 1976 in Asnieres geboren … ich bin Journalist und arbeite für Paris Soir … mein Vorgesetzter dort ist Monsieur Claude Ehrichs …“ Undeutliches Gemurmel durchdrang das Glas des Käfigs. Der Zweifüßler wandte unbewußt seinen Kopf und sah eine Gruppe von Menschen, die sich um ein tragbares Fernsehgerät geschart hatten. Er nahm wahr, daß sich ihre Fäuste ballten und hörte sie empört schreien. Es fielen Worte wie „Scharlatan!“ und „Lügner!“ Mit dem Gefühl, verloren zu haben, wandte er sich von dem Fernsehgerät ab, das nun die Gesichter 139
der Zuhörer zeigte. Er sah, daß die unerwartete Überraschung allmählich zynischem Verständnis und Ärger Platz machte. Die Anwesenden erhoben sich langsam, einige verließen die Pressekonferenz und der Zweifüßler sah den rotbärtigen Mann, der kopfschüttelnd hinaus auf den Gang marschierte. „Warten Sie!“ schrie er, aber der Mann auf dem Bildschirm konnte ihn nicht hören. Der Saal leerte sich langsam, die monotone Tonbandstimme hörte auf zu reden. Grück sah sich triumphierend und mit einem leisen Lächeln auf den Lippen um. Wenzel erschien, um mit ihm zu sprechen. Grück nickte geistesabwesend, seine Lippen schürzend. Er pfiff. „Und so“, sagte die Stimme des unsichtbaren Sprechers, „ist durch diese dramatische Enthüllung der Mythos um den menschlichen Zweifüßler geklärt. Dank gebührt vor allem Herrn Dr. Grück, dem Direktor des Berliner Zoos, wegen seiner lückenlosen Erklärung dieser schwierigen Situation. Wir schalten nun zurück in unser Studio.“ Der Bildschirm flackerte, dann verschwand das Bild und der Zweifüßler schlug blindlings mit der Faust auf einen Kontrollknopf, der das Bild völlig erlöschen ließ. „Ssssss! Fritz, der Lügner! Ssss!“ riefen Stimmen von draußen. Der Lärm im Vogelhaus verstärkte sich im gleichen Augenblick, in dem Wenzel es betrat. Die Tukane öffneten ihre gigantischen Schnäbel, flatterten und kreischten. Die Luft war voll mit flatternden Vögeln, vorbeihuschenden roten, blauen und gelben Schwanzfedern. Papageien stiegen rauschend auf, stießen gegen die Gitter ihrer hölzernen Käfige, schienen gegen unsichtbare Wände zu prallen und schrien, Waak! Waak!’ 140
Wenzel ging an ihnen vorbei. Sein Gesicht glich dem des Haifischs, der durch die grünen Korridore des Vogelhauses schwamm. Am anderen Ende des Gebäudes standen zwei Wärter. Hier war alles in Ordnung. Wenzel ging hinaus, bahnte sich einen Weg durch die Besucher und ging zum Affenhaus hinüber. Schreie und Gittergerassel begrüßte ihn, als er eintrat. Kapuzineraffen hüpften umher – einer auf dem Rücken des anderen – und kamen an die Gitter, um ihre scharfen, gelben Zähne zu zeigen, wobei sie kreischten, so laut es ihre kleinen Lungen vermochten. Esel kamen aus ihren blockhüttenähnlichen Ställen, glitzernd vor Schweiß. Hugo, der Pavian, rannte gegen ein Gitter, daß es krachte. Wenzel ging an einer Reihe von Käfigen vorbei, aufmerksam und ruhig. Im Reptilienhaus war ebenfalls alles ruhig. Die GalapagosSchildkröte, groß wie ein Wagenrad, zermahlte langsam einen Salatkopf mit ihren grausamen Backenknochen. Die Boa Constrictor hatte sich lässig um einen exotischen Stamm gerollt. In dem Flutlichtkäfig hing die Grasschlange wie eine Girlande. Ihr kleiner Kopf bewegte sich auf Wenzel zu und sie streckte ihre rosa Zunge heraus. Wenzel blieb stehen und freute sich. Dann eilte er weiter. In der Säugetierabteilung hatte sich eine Menschenmenge um ein Rhinozeros versammelt, dem Prinz eben eine Spritze verabreichte. Als er fertig war, kletterte er über das Gatter und wischte sich, auf Wenzel zukommend, mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Hatten Sie Erfolg?“ fragte Wenzel. „Ich glaube schon“, erwiderte Prinz mit seiner weichen, unverbindlich klingenden Stimme. „Es wird ihm bald besser gehen.“ Sie verließen gemeinsam das Gebäude, wandten sich dann nach rechts und gingen 141
durch eine Tür, auf deren Frontseite ‚Kein Eintritt’ stand. Ein schlanker Wärter mit blonden Haaren eilte ihnen entgegen. Er trug einen Eimer mit Fischen. „Warum sind Sie nicht beim Füttern der Seelöwen, Schild?“ fragte Wenzel. „Ich bin auf dem Weg, Herr Wenzel.“ „Worauf warten Sie dann noch? Gehen Sie schon!“ „Sofort, Herr Wenzel.“ Als Wenzel neben Prinz herging, entnahm er seiner Jackentasche ein Notizbuch und notierte sich die Unpünktlichkeit des Mannes. Prinz beobachtete ihn bei seiner Tätigkeit mit dem sanften Blick seiner braunen Augen, sagte aber nichts. „Haben Sie schon die Zeitung gesehen?“ fragte er Wenzel, als sie in den Aufzug stiegen. „Ja.“ Sie stiegen aus. Wenzel zögerte, dann folgte er Prinz in den Waschraum. „Welche meinten Sie denn?“ fragte er. Prinz sah überrascht auf und trat einen Schritt von dem Waschbecken zurück. „Dort auf dem Tisch liegt sie. Der „Express“. Auf der dritten Seite können Sie die Geschichte über ein Baby aus Buenos Aires lesen, das französisch, spanisch und deutsch versteht. Es ist drei Monate alt.“ „Hm.“ „Das Seltsamste aber – und das erregte erst meine Aufmerksamkeit – ist …“ „Handelt es sich um das Kind, dessen französisches Kindermädchen gleichzeitig einen Anfall von Gedächtnisschwund hatte?“ fragte Wenzel sarkastisch. „Sie versteht nicht mehr, was man ihr sagt, muß gefüttert werden und gibt nur mehr kindische Laute von sich, während das Kind französisch, deutsch und spanisch versteht.“ 142
„Sie haben die Zeitung schon gelesen?“ fragte Prinz erstaunt. „Und Sie? Haben Sie auch diesen Artikel im Tageblatt gelesen?“ entgegnete Wenzel fast widerwillig. Er zog eine zusammengefaltete Zeitung aus seiner Brusttasche. „Auf Tasmanien behaupten ein Mann und eine Frau jeweils der andere zu sein.“ „Im Fernsehen habe ich gehört, daß sich während einer Grundsteinlegung in Aberdeen der Bürgermeister angeblich in ein nacktes Mädchen verwandelt hat und weinend weglief“, fügte Prinz hinzu. „– Aber wer weiß schon, was diese Pressefritzen sich aus den Fingern saugen und was wirklich stimmt.“ „Nehmen wir mal an, die Geschehnisse haben sich wirklich so zugetragen“, sagte Wenzel. Er faltete seine Zeitung ordentlich zusammen und steckte sie wieder weg. „Das wäre sehr interessant.“ Prinz wandte seine Aufmerksamkeit jetzt ganz seinen weichen, behaarten Armen zu, die er jetzt mit Sorgfalt zu säubern begann. „Und?“ „Wir sind verpflichtet, der Direktion alles mitzuteilen, was für die Arbeit des Zoos von Bedeutung sein könnte“, dozierte Prinz. „Aber auf der anderen Seite“, fügte Wenzel unschlüssig hinzu, „wird es nicht eben Dr. Grücks Interesse erwecken, wenn wir seine Zeit für diese nebulösen Skandalgeschichten in Anspruch nehmen.“ Die beiden Männer sahen sich einen Moment lang in völligem Einverständnis an. „Schließlich“, bemerkte Prinz, während er seine Hände abtrocknete, „würde uns das nichts Gutes einbringen.“ 143
„Eben“, sagte Wenzel, faltete seine Zeitung exakt der Länge nach zusammen und warf sie in den Papierkorb. X Als der junge Mann erwachte, stellte er fest, daß er in einem schmalen Bett lag. Das Zimmer war mit weißen Kacheln ausgelegt. An seinem Kopf, seinen Armen und Beinen waren Kabel angeschlossen, die mit klebrigem Isolierband an ihm festgemacht waren und unter seinem Lager verschwanden. Aufgeregt zerrte er an ihnen, aber sie gaben nicht nach. Er blickte sich um. Die Tür war auf, aber der Raum war sonst fensterlos. In der Ecke, hinter einem Mauervorsprung verborgen, befand sich halbverdeckt eine Toilette. In der anderen Ecke des Raumes stand ein zerbrechlich wirkender Plastikstuhl und eine Leselampe, aber etwas zu lesen fehlte. Der junge Mann versuchte aufzustehen, zog an den Drähten und entdeckte, daß sie silberne Verbindungsstücke hatten, die zerbrechen würden. Mühsam richtete er sich auf, die Schnüre hinter sich herziehend. Eine stämmige Frau in Schwesterntracht trat plötzlich ein. „Sie sind auf? Wer hat Ihnen erlaubt, aufzustehen?“ „Ich wollte zur Toilette“, sagte er geradeheraus. „Na gut, gehen Sie. Aber anschließend sofort wieder zurück ins Bett! Dr. Hölderlin hat seine Visite noch nicht gemacht.“ Der junge Mann war nicht wenig erstaunt, als sie stehenblieb, die Arme verschränkte und ihn beobachtete, während er die Toilette benutzte. Anschließend wies sie ihn an, sich niederzulegen und verband die silbernen Verbindungsstücke der Kabel wieder miteinander. 144
„Bleiben Sie mir ja liegen. Und machen Sie keinen Unsinn. Hier ist die Klingel.“ Sie deutete auf einen Knopf in der Wand und ging hinaus. „Bin ich krank?“ rief er ihr nach. Aber sie kam nicht mehr zurück. Der junge Mann versuchte noch einmal, sich der elastischen Schnüre zu entledigen, aber sie gaben nicht nach. Er war nicht in der Lage, sich klar an das, was hinter ihm lag, zu erinnern, aber er wußte noch, daß er in ein Netz gefallen war und niedergehalten wurde, während er dagegen ankämpfte. Man hatte ihn weggetragen und er erinnerte sich an Geräusche von Schritten neben sich. Dann war nichts mehr, bis er sich in einem kleinen Raum mit weißen Wänden wiederfand, dessen Tür vergittert gewesen war. Seine Kleider waren verschwunden, jetzt trug er einen grauen Pyjama. Niemand war auf sein Rufen hin erschienen, bis er begonnen hatte, mit einer gefundenen Blechschüssel gegen das Gitter zu schlagen. Dann war ein Mann erschienen und hatte ihn von oben bis unten mit Wasser bespritzt, bis er dasaß und vor Kälte zitterte. Er erinnerte sich auch daran, geschlafen zu haben. Zweimal war er erwacht und einmal hatte man ihm zu essen gegeben. Dann waren zwei Männer erschienen, um ihn zu holen, die ihm außer seiner Kleidung auch Kaffee gegeben hatten. Sie hatten ihn einen langen Korridor entlanggeführt, hinein in einen überfüllten Raum und ihm gesagt, er solle hier warten. Am Ende des Raumes, hinter einem langen Tisch, hatte ein Mann in einer roten Robe und einem gleichfarbenen Schlapphut gesessen. Aus Fernsehsendungen wußte er, daß dieser Mann ein Richter war. Nun würde er verurteilt werden …
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Die Zeit verging. Der junge Mann wurde allmählich hungrig, aber er wagte nicht, die Klingel zu betätigen. Schließlich erschien ein Pfleger mit einem Karren, der ihm erlaubte, sich aufzusetzen und zu essen. Es war fast wie im Zoo. Als der Pfleger zurückkam, um die Teller mitzunehmen, schloß er ihn wieder an die Kabel an. Und danach geschah eine ganze Zeitlang nichts. Der junge Mann war verwirrt. Warum war er hier? Über was hatten der Richter und der andere Mann hinter dem langen Tisch sich flüsternd unterhalten? Und weshalb hatte ihn der Richter so verärgert angeschaut, als er in seine Richtung gesehen hatte? Sein derzeitiger Aufenthaltsort war besser als das Gefängnis. Er hatte keinen Grund, sich zu beklagen – aber, wenn er nicht krank war, warum war er dann hier? Draußen klingelte es. Ab und zu gingen Leute an seiner Tür vorbei. Sie gingen schnell und auf leisen Sohlen, die manchmal auf dem Boden quietschten. Die Schwester kam wieder herein. „Sie haben Glück“, sagte sie zu dem jungen Mann. „Dr. Hölderlin ist der Ansicht, daß Sie heute Dr. Böhmer vorgestellt werden können.“ Sie entfernte die Kabel mit schnellen Bewegungen und half ihm aufzustehen. „Lassen Sie den Doktor nicht warten.“ Sie faßte seinen Ellenbogen und führte ihn durch eine Halle, in der Mitteilungen mit farbiger Leuchtschrift an den Wänden erschienen, zu einem Büro, in dem ein Mann mit buschigem Schnauzbart auf ihn wartete. Das Namensschild auf seinem Schreibtisch wies ihn als ‚Dr. Böhmer’ aus. Böhmer musterte ihn prüfend, dann nahm er einen altmodischen Füllfederhalter. „Bitte, setzen Sie sich doch.“ Er machte Notizen auf einem Block. 146
„Na, dann wollen wir mal anfangen. Wie ist Ihr Name?“ Der junge Mann zögerte. Er war sicher, daß, wenn er nun Fritz sagte, man ihn mit Sicherheit in den Zoo zurückbringen würde. „Martin Naumchik, Herr Doktor“, antwortete er. „Beruf?“ „Journalist.“ Böhmer nickte langsam und schrieb weiter. „Ihre Adresse?“ „Gastnerstraße.“ „Und die Hausnummer?“ Der junge Mann versuchte, sich daran zu erinnern, aber es fiel ihm nicht ein. Böhmer verzog das Gesicht. „Sie sind ein wenig durcheinander. Wann waren Sie das letzte Mal in Ihrer Wohnung in der Gastnerstraße?“ Der junge Mann rutschte unruhig hin und her. „Vor drei oder vier Tagen, glaube ich.“ „Sie erinnern sich wirklich nicht daran.“ Böhmer begann seinen Block vollzukritzeln. Der junge Mann beobachtete seine Tätigkeit besorgt. „Naja“, machte Böhmer, „Können Sie mir vielleicht sagen, welches Datum wir heute schreiben?“ „Den 10. Juni haben wir, Herr Doktor … oder auch vielleicht den elften?“ Böhmer runzelte die Stirn. „Sehr schön. Und wer ist der augenblickliche Bundestagspräsident? Können Sie mir das sagen?“ „Dr. Wollschon … ist das richtig?“ „Nicht ganz. Er war es im letzten Jahr.“ Böhmer schrieb weiter. Dann räusperte er sich, verschränkte die Arme und stützte sich auf die Schreibtischplatte, wobei er den Federhalter wie eine Zigarre hielt. „Erinnern Sie sich daran, im Kaufhaus gewesen zu sein?“ „Natürlich!“ 147
„Sie haben sich auf dem Speicher versteckt und sind nur während des Tages heruntergekommen?“ „Ja, Herr Doktor.“ „Weshalb taten Sie das?“ Der junge Mann zögerte. Er setzte mehrmals zum Sprechen an, sagte aber nichts. „Erzählen Sie mir, Herr Naumchik. – Warum taten Sie das?“ „Ich wußte nicht, wo ich sonst hingehen sollte“, erwiderte der junge Mann hilflos. Böhmer machte weiterhin Notizen und drückte den Klingelknopf am Rande seines Tisches, ohne hinzusehen. „Ich verstehe“, sagte er dann. „Morgen kommen Sie um die gleiche Zeit wieder zu mir, Herr Naumchik. Einverstanden?“ „Einverstanden.“ Die Krankenschwester öffnete die Tür. Er ging folgsam hinaus. „Heute nacht brauchen wir die Kabel nicht“, erklärte sie ihm schroff, als sie wieder in seinem Zimmer waren. Sie fing an, die Bänder aufzuwickeln. „Legen Sie sich jetzt hin und ruhen Sie sich aus.“ „Warum bin ich hier, Schwester? Bin ich krank?“ fragte der junge Mann. Sie drehte sich um und sah ihn kurz an. „Natürlich sind Sie krank. Aber es geht Ihnen bereits besser. Ruhen Sie sich erst mal aus.“ Sie watschelte hinaus. Viel später gab es Abendbrot – und dann die Tabletten, die man schlucken mußte. Als er wieder aufwachte, war es Morgen. „Eine gute Nachricht für Sie!“ rief die Krankenschwester, als sie hereinkam, um seine Kissen aufzuschütteln. „Es ist Besuch für Sie da.“ „Für mich?“ Sein Herz begann schneller zu schlagen. Er konnte sich nicht vorstellen, wer das sein könnte. Vielleicht jemand vom Zoo? „Eine junge Dame“, erwiderte sie schelmisch. 148
„Wie heißt sie denn? – Ich kenne keine junge Dame.“ „Alles zu seiner Zeit“, sagte die Schwester. „Jetzt frühstücken Sie erst einmal. Danach kommt der Friseur, um Sie zu rasieren. Anschließend können Sie Ihre Freundin sehen.“ Sie ging hinaus. Der junge Mann rieb an seinen Bartstoppeln. Was rasieren war, wußte er, aber er hatte keine Ahnung, wie man so etwas machte. Es war gut, rasiert zu sein. Nach dem Frühstück kam der Friseur, ein kleiner, schwarzhaariger Mann in einem weißen Kittel. Mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck setzte er den Rasierapparat in Betrieb. Zuerst verursachte der Apparat ihm Schmerzen, er zog und zerrte, aber mit der Zeit wurde es erträglicher. Schließlich war er glattrasiert, seine Haut hatte aufgehört zu jucken und fühlte sich herrlich weich an. Er wartete ungeduldig, bis ein Pfleger erschien und ihm einen Kamm reichte. Vor dem Spiegel stehend, fuhr er durch sein Haar, bis er der Ansicht war, gut auszusehen. Er wartete weiterhin, bis die Krankenschwester kam, ihn begutachtete und ihn aufforderte mitzukommen. Sie brachte ihn in ein kahles Zimmer, das lediglich mit gepolsterten Stühlen und einem Zeitungsständer ausgestattet war. Mitten im Raum stand eine Frau in einem blauen Kleid, hinter ihr ein Mann in weißem Kittel. Der junge Mann musterte sie und erkannte sofort Dr. Böhmer in ihm, die Frau jedoch erst, als sie auf ihn zukam. Es war die Frau aus dem Warenhaus – die, die ihn geschlagen hatte. „Martin – was ist los mit dir?“ fragte sie erschüttert und streckte die Arme nach ihm aus. Verunsichert ging er einen Schritt zurück. „Angeblich bin ich krank“, erklärte er, indem er sie anstarrte. 149
„Identifizieren Sie Ihren jungen Freund, Frau Schorr?“ fragte Dr. Böhmer freundlich. „Er erinnert sich anscheinend nicht an mich“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Natürlich ist er es. Es ist Martin.“ „Und Sie sind seine …“ Sie biß sich auf die Lippen. „Ich bin seine Schwester. – Glauben Sie, daß man mir erlaubt, ihn mitzunehmen?“ „Das hängt von verschiedenen Dingen ab, Frau Schorr“, meinte Böhmer ernst. „Am besten kommen Sie mit in mein Büro. Dort können wir die Einzelheiten besprechen.“ Sie nickte und wandte sich wieder dem jungen Mann zu. „Willst du mit mir kommen, Martin?“ fragte sie. Der junge Mann zögerte. Sie schien bedeutend ruhiger als früher. Aber wußte er, wann sie die Nerven wieder verlieren würde? „Möchtest du fort von hier?“ Er zögerte noch. Dann entschloß er sich schnell. „Ich denke schon.“ Sie lächelte ihn an und wandte sich dann an den Arzt. „Ich stehe Ihnen jetzt zur Verfügung, Herr Doktor.“ „Auf bald, Martin …“ Sie gingen hinaus und die Krankenschwester kam, um den jungen Mann in seine Zelle zurückzubringen. Bis auf das Mittagessen wurde seine Ruhe durch nichts unterbrochen. Nachdem das Geschirr abgeräumt war, wuchs seine Ungeduld, aber wieder vergingen Stunden, ohne daß jemand eintrat. Als der Pfleger das Abendessen brachte, begann er allmählich ängstlich zu werden. Wenn nun irgend etwas schiefgegangen war und die Frau nicht zurückkam? Die Krankenschwester weigerte sich, ihm Rede und Antwort zu stehen. Statt dessen versuchte sie ihn mit Gemeinplätzen wie „Seien Sie nicht so ungedul150
dig“ und „Warten Sie doch“ und „Warum haben Sie es denn so eilig?“ abzuspeisen. Sie gab ihm Tabletten, die er einnehmen sollte und bestand darauf, ihm die seltsamen Kabel wieder anzulegen. Als er erneut aufwachte, war ein neuer Tag angebrochen. „Eine gute Nachricht!“ rief die Schwester fröhlich, als sie das Zimmer betrat. „Sie werden heute entlassen.“ „Tatsächlich?“ fragte der junge Mann neugierig. Als er aus dem Bett zu klettern versuchte, hielten ihn die Kabel zurück. „Zum Teufel damit!“ schrie er und zerriß sie. „Geben Sie mir meine Kleider.“ „Sachte, sachte“, Sie hielt die Hände in gespielter Bestürzung von sich. „Können Sie nicht wenigstens bis nach dem Frühstück warten? Mein Gott, sind Sie aber ungeduldig.“ Sie löste die Verbindungsstücke und legte die Kabel ordentlich zusammen. „Bei uns wird nichts überstürzt. Gehen Sie und waschen Sie sich – und lassen Sie sich ruhig Zeit.“ Der junge Mann wusch sich und kämmte sein Haar. Er war nicht in der Lage, stillzusitzen. Als das Frühstück gebracht wurde, aß er einen Happen und dachte, daß sie gleich hier sein würde. Aber die Stunden zogen wieder träge dahin. Was konnte geschehen sein? An der Tür wartete er auf die Schwester, bis sie vorbeikam. „Wann kann ich endlich gehen, Schwester?“ fragte er und hielt sie an. „Bald, bald“, erwiderte sie und schlüpfte an ihm vorbei. „Kämmen Sie Ihr Haar. Seien Sie unbesorgt, es wird nicht mehr lange dauern.“ „Das haben Sie heute morgen auch schon gesagt“, rief er ihr nach, aber sie war schon weg. Er blieb auf seinem Zimmer und starrte auf den Fußboden, bis ein 151
Pfleger hereinkam und sagte: „Ihr Haar sieht schrecklich aus.“ Sein eigenes war wellig und glänzte vor Pomade. „Nehmen Sie meinen Kamm.“ „Wann wird man mich endlich hier herauslassen?“ „Keine Ahnung“, meinte der Pfleger uninteressiert und verschwand. Es wurde Mittag und dem jungen Mann wurde allmählich klar, daß man ein grausames Spiel mit ihm zu spielen schien. Er warf sich auf sein Bett und rührte das Essen nicht an. Doch dann erklang das Geräusch einer sich öffnenden Tür und der Pfleger erschien wieder, ein Garderobengestell, an dem Kleider hingen, vor sich herschiebend. Der junge Mann betrachtete sie zunächst mit einigem Mißtrauen, erkannte aber bald, daß es die Hosen und der Mantel waren, die er vorher getragen hatte. Der Mantel war der Länge nach eingerissen, ein Ärmel durch eine klebrige, übelriechende Masse verschmutzt. „Anziehen!“ sagte der Pfleger mit befehlsgewohnter Stimme und verließ das Zimmer. Ungeschickt zog der junge Mann sich an. Sein Herz schlug schneller dabei und es war ihm nicht klar, wie die Sache sich nun weiterentwickeln würde. Dann fuhr er noch einmal durch sein Haar und wartete. Fußtritte erklangen auf dem Korridor und Gestalten in weißer Kleidung gingen hin und her. Eine Glocke bimmelte und ein Junge in rotem Umhang ging vorüber, eine Kerze in einer gläsernen Schüssel tragend, gefolgt von einem Mann, der eine schwarze Robe trug und mit gesenktem Kopf etwas vor sich hin murmelte. Das Gebimmel verschwand in der Ferne. Gelächter erscholl ganz in der Nähe. „Was glauben Sie, was ich ihm gesagt hätte!“ rief eine vitale Männerstimme. Zwei Leute unterhielten sich, aber jetzt waren sie so leise, daß der junge Mann kein Wort mehr verstehen konnte. Wieder 152
erklang das Geräusch von Schritten in der Nähe der Tür, dann erschien eine Frau auf der Schwelle. Zunächst erkannte er Frau Schorr nicht wieder, denn sie war förmlicher gekleidet als am Tag zuvor. Sie trug einen Rock und eine Bluse, unter der man die Formen ihres Körpers kaum erkennen konnte, und sie sah blaß und nervös aus. Sie sah ihm nicht in die Augen, als sie sagte: „Martin, sie versprachen mir, dich heute morgen um 9.30 Uhr zu entlassen. Und jetzt ist es fast …“ „Frau Schorr“, unterbrach sie der Pfleger, während er seinen Kopf durch die Tür steckte. „Sie werden noch einmal im Büro gewünscht.“ „Auch das noch!“ rief sie aus, wandte sich um und ging wieder hinaus. Die Wartezeit war noch immer nicht beendet. Als sie zurückkam, war ihr Gesicht gerötet, aber sie wirkte diesmal sehr energisch. „Schnell“, sagte sie und ergriff seinen Arm, „bevor sie es sich noch einmal überlegen.“ „Ich darf gehen?“ „Ja. Es ist alles arrangiert. Beeil’ dich.“ Sie führte ihn durch den weißen Korridor, vorbei an einer farbigen Leuchtschrift. Dort, wo die Korridore sich kreuzten, standen Topfpflanzen, alle von der gleichen Art, mit glänzenden, gezackten Blättern. Sie betraten einen Aufzug, der dem glich, den der junge Mann im Warenhaus kennengelernt hatte. Die Türe schloß sich hinter ihnen, dann raste die Kabine mit schwindelerregendem Tempo nach unten. Als sie unten waren und auf den braunen Fliesen eines gewaltigen Foyers standen, konnte der junge Mann durch die Fenster den Zentralturm der Flugbahn sehen, wie er sich, im Sonnenlicht funkelnd, vom tiefblauen Himmel abhob. „Komm, schneller“, sagte die Frau und führte ihn zu einem Spiralaufzug. Sie sanken durch einen Glas153
schacht, zuerst an dunklen Wänden vorbei und dann überraschend ins Tageslicht. Was war mit dem Gebäude geschehen? Der junge Mann reckte seinen Hals und sah den gigantischen Betonquader über seinem Kopf verschwinden. Sie waren unten aus dem Krankenhaus gekommen, das sich über ihnen, von Betonpfeilern getragen, in die Lüfte erhob. Sein Blick fiel auf zahlreiche Blumenbeete und grüne Rasenflächen. In der nächsten Umgebung stand nur ein anderes Gebäude, ein häßlicher Block aus rosa Steinen, ohne Fenster und ohne sichtbaren Eingang. In einiger Entfernung waren die Dächer anderer Häuser über den Wipfeln der Bäume zu erkennen. Der Aufzug raste weiter, ohne anzuhalten und wenige Augenblicke später wurden sie von dem matten, weißen Licht eines unterirdischen Tunnels angestrahlt. Sie verließen den Aufzug und ein ovaler Wagen bewegte sich auf großen Rädern auf sie zu. Er hielt an und das transparente Dach öffnete sich. Ein Fahrer war nicht zu sehen. Frau Schorr zog ihn hinein, als er zunächst zögernd stehenblieb, und sie setzten sich in die weichen Polster der Sitze. Das Dach senkte sich langsam und hakte klickend ein. Die Frau lehnte sich vor. „Bringen Sie uns zum Ausgang Fiedlerplatz, bitte“, sagte sie. Aus dem Gitter vor ihnen erklang eine mechanische Stimme. „Das macht zwei Mark zehn, bitte.“ Die Frau kramte in ihrer Geldbörse, entnahm ihr einen Schein und steckte ihn in den Schlitz, der sich neben dem Gitter befand. „Danke“, sagte die mechanische Stimme, dann klapperte das Wechselgeld in einen Metallteller. Die Frau nahm es sorgfältig heraus. Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Der junge Mann hatte nicht das Empfinden, daß sie sich sehr schnell fortbewegten, dennoch wurde er in die Polster zurückgepreßt. Die weißen Lichter innerhalb 154
des Tunnels flogen mit rasender Geschwindigkeit vorbei. Weit vor ihnen waren andere Wagen zu erkennen. Der Tunnel gabelte sich. Während die linke Spur nach unten wies, führte die rechte nach oben. Der Wagen schlug, ohne die Geschwindigkeit herabzusetzen, nach links ein. An einer zweiten Gabelung fuhr er nach rechts, dann wieder hoch. Die Haltestelle, auf die sich der Wagen zubewegte, befand sich neben einem Aufzug, der ihn an den im Krankenhaus erinnerte. Das Verdeck öffnete sich wieder. Dem jungen Mann war ein wenig schwindlig von der schnellen Art der Fortbewegung, aber er folgte der Frau in den Fahrstuhl. Als sie durch den Schacht nach oben rasten, schoß ein anderer Aufzug, der mit zwei Männern und einem Kind besetzt war, an ihnen vorbei in die Tiefe, Ihm wurde bei diesem Anblick fast übel, er schloß die Augen. Bald waren sie wieder auf ebener Erde. Die Straße lag bereits im Schatten, aber über ihren Köpfen waren die Häuserfassaden noch in warmes Sonnenlicht getaucht. Ihn unterfassend, führt die Frau den jungen Mann über den Bürgersteig zu einem Hauseingang, über dem mit silbernen Ziffern die Nummer ‚109’ stand. Im Korridor blieb sie stehen. „Hast du deinen Schlüssel?“ fragte sie. „Meinen Schlüssel?“ Der junge Mann durchsuchte seine Taschen und fand ihn. Er war an einem goldenen Ring befestigt. „Ist er das?“ Sie nahm ihn erleichtert an sich. „Ich glaube schon – komm’ jetzt.“ Sie betraten einen gewöhnlichen Lift und ließen sich in den dritten Stock tragen. Dann standen sie in einem mehrfarbig tapezierten Flur. Frau Schorr führte ihn an eine Tür, die die Nummer 3 C trug und öffnete sie. Sie fanden sich in grünem Dämmerlicht wieder. Das 155
Zimmer war klein, beinhaltete ein schmales Bett, einen Tisch, auf dem noch Kaffeegeschirr stand und einen Schreibtisch mit einer Schreibmaschine. Staub war nirgendwo zu sehen, aber die Luft roch abgestanden. Die Frau öffnete das Fenster, und frische Luft strömte hinein. „Jetzt bist du wieder daheim“, sagte sie glücklich. Sie sah ihn eine Weile an und meinte dann: „Oder erkennst du das auch nicht wieder?“ Der junge Mann hatte das Zimmer noch nie gesehen, und es war ihm völlig gleichgültig. Er sah sich um. „Gibt es hier keinen Fernseher?“ fragte er neugierig. Immer noch lag ihr Blick auf ihm. Dann betätigte sie den Knopf einer Kontrolltafel, worauf sich ein Wandbild öffnete und die Hälften sich zusammenfalteten. Ein Fernsehschirm erschien, der sofort zu leben begann. Das lächelnde Gesicht eines Mannes ragte gigantisch und allesverschluckend vor ihnen auf, während Gelächter auf sie niederbrandete. Der Ton brach ab, das Gesicht mit dem geöffneten Mund schrumpfte und verschwand, als die Frau wieder den Knopf betätigte. Halbe Bilder flackerten auf und ruckten stoßweise über den Bildschirm. „Was ist los?“ fragte die Frau. „Daß es wieder ausgehen würde, hätte ich nicht gedacht“, erwiderte der junge Mann zitternd. Sie sah ihn nachdenklich an. „Ich weiß.“ Sie tippte mit ihren behandschuhten Fingern an die Lippen. „Martin – du weißt jetzt, daß dies dein Zimmer ist. Erinnert dich das nicht an etwas? Ich dachte, wenn du mich sehen würdest … nein, es ist wohl besser, wenn du nicht hier bleibst, Martin. Komm’, hilf mir!“ Sie ging abrupt zur gegenüberliegenden Wand, schob eine Verkleidung zur Seite und zog zwei Koffer aus dem Schrank, die sie auf das Bett legte. Dann zog sie eine 156
Schublade heraus und stapelte eine Menge Kleidung auf. „Hier, nimm dies!“ Sie drückte ihm einige Sachen in den Arm. „Du legst alles auf das Bett. Ich werde packen.“ „Wohin gehen wir denn?“ fragte der junge Mann und trug die Last gehorsam zum Bett. „Wir gehen in meine Wohnung“, erwiderte sie, nahm die Kleidungsstücke, legte sie ordentlich zusammen und begann sie in den größeren der beiden Koffer zu legen. „Geh’ und hol’ noch mehr.“ Unter der ersten Schublade fand der junge Mann eine zweite. Er fand Socken und gab sie ihr. „Wenn es Frau Beifelder nicht paßt, kann sie meinetwegen an ihrer Wut ersticken“, murmelte sie und legte mit schnellen, ärgerlichen Bewegungen die Hemden in den Koffer. Der junge Mann verstand kein Wort von alldem, aber er tat, wie ihm geheißen. Sie packte die ganzen Kleider – einschließlich zweier Anzüge – in den größeren Koffer, den anderen, der kleiner und flacher war, füllte sie mit den Papieren, die auf dem Schreibtisch verstreut lagen. Dann nahm sie beide Koffer und der junge Mann die Schreibmaschine. Mit dem Lift fuhren sie wieder hinunter, überquerten die Straße, bis sie zu einem anderen Fahrstuhl kamen und stiegen in einen Mietwagen, der genauso aussah wie der, mit dem sie gekommen waren. Diesmal kamen sie an einer belebteren Straße an die Oberfläche zurück. Koffertragend liefen sie über einen Platz, vorbei an einer Horde herumschlendernder Mädchen, einem hochaufgeschossenen Jungen auf einem Einrad und einem Blumenverkäufer. Auf beiden Straßenseiten befanden sich Geschäfte mit interessanten Schaufensterauslagen. Der junge Mann hätte sie sich 157
gerne angesehen, aber Frau Schorr ließ ihm keine Zeit zum bummeln. An der nächsten Ecke wandten sie sich nach links und betraten ein Gebäude, dessen Vorderfront mit blauen Steinen besetzt war. Im Vorraum saß eine weißhaarige alte Dame mit runzligem Gesicht. „Guten Tag, Frau Beifelder“, sagte Frau Schorr steif, aber die Alte gab keine Antwort und starrte ihnen aus zusammengekniffenen, rotumrandeten Augen nach. „Es kann ihr nicht schaden, mal so schockiert zu werden“, murmelte Frau Schorr, als sie sich in den Lift zwängten, trotzdem schien sie verzweifelt. Der junge Mann hätte ihr gerne etwas Nettes gesagt, aber er hatte keine Ahnung, was hier eigentlich los war und sagte deshalb nichts. Sie kamen in einen Flur mit rotlackierten Türen. Ein sonniges, gemütlich wirkendes Zimmer mit hellen Polstermöbeln und Teppichen lag vor ihnen. Eine gelbbraune Katze sprang von ihrem Platz auf der Fensterbank herunter und kam auf sie zu. Hellblaue Augen starrten aus ihrem maskenhaften Gesicht. Der junge Mann nahm sie mit Überraschung wahr, denn er hatte Hauskatzen bisher nur auf Bildern gesehen. Ansonsten kannte er nur die Großkatzen aus dem Zoo – und die nur aus gebührender Entfernung. „Ist sie wild?“ fragte er. Sie sah ihn erstaunt an und antwortete: „Maggie? Wie meinst du das?“ Sie bückte sich, um die Katze aufzuheben, die den jungen Mann anstarrte, einen Buckel machte und leise, wimmernde Töne von sich gab. Die Katze lag wie ein Stück Pelz in ihrem Arm, dann krümmte sie sich und sprang auf den Fußboden. Das Wimmern wurde lauter. Ihr Fell begann sich zu sträuben. „Liebe Güte“, sagte die Frau. „Maggie, erinnerst du 158
dich denn nicht an Martin?“ Sie sah ihn verwundert an. „Sie ist wohl etwas durcheinander. – Leg dich hin, meine Kleine, es ist alles in Ordnung. – Zieh’ deinen Mantel aus, Martin, und ruh dich ein bißchen aus. Ich werde dir ein paar Brote und eine Tasse Kaffee machen.“ Die Katze kam steifbeinig näher; Frau Schorr schob sie mit dem Fuß zur Seite. Mit einem ärgerlichen Kreischen sprang die Katze zurück aufs Fensterbrett. Ihre blauen Augen wurden schmal, vergrößerten sich jedoch sofort wieder, wenn der junge Mann eine Bewegung machte, und ihr Mund öffnete sich wie zu einem Grinsen, wobei sie ihre spitzen Zähne entblößte. „Ich habe keine Ahnung, was mit ihr los ist“, sagte Frau Schorr aus dem Nebenraum, in dem sie mit den Töpfen klapperte. „Sie ist sonst ein liebenswertes Geschöpf. Und sie mochte dich immer, Martin.“ Der junge Mann wollte ein Bild an der gegenüberliegenden Wand genauer betrachten und ging ein paar Schritte darauf zu, die Katze aus den Augenwinkeln beobachtend. Das Tier starrte zurück und gab einen leisen, zischenden Laut von sich, ohne sich jedoch zu rühren. Ermutigt durchquerte der junge Mann den Raum und sah sich das Bild aus der Nähe an, aber es wurde ihm immer noch nicht klar, was es darstellen sollte. Verblüfft wandte er sich ab, als etwas großes Schmutzigweißes durch den Korridor hereingewatschelt kam. Es sah ihn mit kleinen roten Augen an und machte ein schnaufendes Geräusch. Speichel troff von den losen Lippen seines enorm breiten Mauls und zwei farblose Zähne reckten sich aus dem Unterkiefer. Einen Augenblick lang starrte es den jungen Mann erstaunt an, dann sträubte sich sein grauweißes Rückenfell und es begann, einen bedrohlichen Lärm zu machen. Der junge Mann hob die Hand. Das Tier begann 159
zu bellen und tanzte in der Tür herum, wobei seine Augen wie die eines Irren aus den Höhlen hervortraten, so daß nur noch das gelbliche, rotgeäderte Weiß zu sehen war. Der junge Mann wich zurück, so weit er konnte. „Churchill!“ rief die Frau aus der Küche. Der Hund drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der er die Stimme vernommen hatte, bellte aber weiter. „Churchill!“ sagte sie wieder und kam ins Zimmer, ihre Hände an der Schürze abtrocknend. „Pfui“, sagte sie und warf dem jungen Mann einen Blick zu. „Churchill, was ist los mit dir?“ Das Bellen hörte nicht auf. „Na gut“, sagte sie und schlug dem tobenden Tier mit der flachen Hand auf die Schnauze. Der Hund schluckte, schüttelte den Kopf und sah sie mit einem überraschten Ausdruck an. Dann bellte er noch einmal. Wieder traf ihn ein Schlag, aber diesmal weniger fest. „Schäm dich, Churchill“, sagte sie, „Pfui! Es ist doch Martin, kennst du ihn denn nicht mehr?“ Über die Schulter hinweg sagte sie entschuldigend: „Er hat dich vergessen.“ Sie brachte den Hund zur Tür. „Geh jetzt wieder in dein Körbchen zurück, Churchill. Böser Hund – geh!“ Der Hund wich langsam zurück, widerstrebend, verschwand aber dann knurrend und schnaufend. Aus dem Zimmer nebenan erklang noch ein letztes Bellen. „Es tut mir so leid, Martin“, sagte die Frau, „aber du mußt mich noch einen Augenblick entschuldigen – wegen des Kaffees.“ Sie ging in die Küche zurück und der junge Mann begann, innerlich leicht erregt, vor den Bücherregalen auf und ab zu gehen. Am anderen Ende des Raumes entdeckte er einen zierlichen Käfig, der an einem glänzenden Messingständer befestigt war. Er war mit einem beigefarbenen Tuch bedeckt. Seltsam, dachte er und zog ein Ende des 160
Tuches hoch. Dort, im Finstern, saß ein winziger grünund violettgefiedeter Vogel auf einem MiniaturTrapez. Ein stecknadelkopfgroßes Auge sah ihn an und der Vogel fiepte: „Wiiiiik?“ „Wie im Zoo“, murmelte er. Die Frau kam zurück, mit einem Tablett auf den Händen, auf dem sich belegte Brote und Kaffee befanden. Sie stellte es auf dem Tisch ab. „Iß jetzt etwas, Martin, bestimmt bist du hungrig.“ Er ließ sich auf dem Sofa nieder und während er gehorsam die Brote aß und den wohlschmeckenden Kaffee trank, saß sie ihm gegenüber, hatte die Hände in den Schoß gelegt und lächelte ihn an. Ihre Wangen schienen vor Erregung gerötet, eine Haarsträhne hing unordentlich über ihre Stirn. „Iß nur. Es wird dir gut tun“, sagte sie. „Möchtest du etwas Musik hören?“ Der junge Mann nickte und sie stand auf, um mehrere Knöpfe eines an der Wand stehenden Gerätes zu drücken. Musik erklang nach wenigen Augenblicken, es war etwas Langsames und Beruhigendes, gespielt von einem Orchester mit vielen Geigen. Es machte ihm Spaß, und vor Freude wedelte er sein Brot hin und her. Die junge Frau seufzte, dann lächelte sie. „Nein – du erinnerst dich nicht, oder?“ fragte sie. „Erinnern? An was denn?“ „An die Musik. Wir haben dieses Stück oft spielen lassen. Aber es ist ja nicht so schlimm.“ Sie stellte die Musik wieder ab. „Erinnerst du dich wirklich an überhaupt nichts?“ „Ich glaube doch“, log der junge Mann vorsichtig. „Du bist meine Schwester.“ „Nein“, erwiderte die junge Frau. „Das bin ich nicht. Ich bin es ganz und gar nicht. Du weißt es nicht mehr.“ 161
Sie preßte die Lippen fest aufeinander und schloß die Augen. „Warum hast du dann dem Arzt erzählt, daß du meine Schwester seist?“ fragte der junge Mann verwirrt. „Weil sie dich nur herausgelassen haben, weil ich mich als Mitglied deiner Familie ausgegeben habe.“ Der junge Mann schluckte und dachte über ihre Worte nach. Dann legte er sein Brot hin. „Aber … wenn du nicht meine Schwester bist …“ „Ja?“ „Wer bist du dann?“ Die junge Frau errötete und schaute zur Seite. „Mach dir nichts draus, Martin. Nur eine Freundin. Wir sind Freunde. – Gib mir bitte die Zigaretten.“ Er folgte ihrem Blick, aber auf dem Tisch waren nur ein Aschenbecher und eine emaillierte Schachtel. Er hob den Deckel, richtig, es waren Zigaretten darin. Sie nahm eine, zündete sie mit einem kleinen Feuerzeug an und begann den Qualm zu inhalieren. Mit der linken Hand rückte sie geistesabwesend die Tischdecke zurecht. „Möchtest du keine?“ fragte sie. Der junge Mann blickte zweifelnd auf die weißen Stäbchen. Er hatte bisher nie versucht, eine Zigarette zu rauchen, aber zweifellos gehörte das Rauchen zu den Dingen, die man beherrschen sollte. Er steckte eine Zigarette zwischen die Lippen, nahm sie wieder in die Hand und sah sie an; dann zündete er sie an und saugte vorsichtig. Die Zigarette glühte. Kalter, bitterschmeckender Rauch strömte in seinen Mund. Bevor er sich bewußt wurde, was er tat, war er bereits in seiner Lunge, was er zu seiner Überraschung als angenehm empfand. Er zog noch einmal an der Zigarette. Freudig stellte er fest, daß der Rauch irgendwie ein quälendes Unbehagen 162
befriedigte, das er verspürt hatte, seit er aus dem Zoo fort war. „Wie schön das ist“, sagte er und starrte auf das glimmende, zylinderförmige Stäbchen. Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen. Sie lehnte sich vor und legte ihre Wange an die seine. Ihre Arme legten sich krampfhaft um ihn. „Oh, Liebling – hast du auch das vergessen?“ sagte sie und begann zu weinen. XI Der Zweifüßler erwachte. Das Zimmer war von blassem, farblosem Morgenlicht überflutet. Er stieg langsam aus dem Bett und gähnte. Welcher Tag war heute? Er konnte sich nicht erinnern. Aber was tat es schon zur Sache? Es war ja sowieso egal. Er konnte Emma in ihrem Büro hören. Sie klapperte schon auf der Schreibmaschine herum. Der Zweifüßler trank einen Schluck Wasser und sah in das andere Zimmer. Bis jetzt war noch niemand am Zaun zu entdecken, denn um diese Zeit war der Zoo noch geschlossen. Dann ging er in sein Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Im Eingangskorb stapelten sich die Aufträge, die er gestern nicht mehr erledigt hatte. Aber es handelte sich ausschließlich um Formulare, sonst gab man ihm nichts mehr zu tun. Er nahm das oberste, legte es dann aber wieder weg, ohne den Versuch unternommen zu haben, es zu lesen. Es war ihm zuviel Arbeit. Das weibliche Wesen sagte mit leiser Stimme etwas. Er war so überrascht sie sprechen zu hören, daß er überhörte, was sie gesagt hatte. 163
„Was?“ Sie sagte, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen: „Glaubst du, daß du der einzige bist, der unglücklich ist? Ich nicht.“ Der Zweifüßler sah sie an. „Was meinst du damit?“ „Auch andere haben ein schweres Schicksal.“ Sie zog geschickt die Seite aus der Maschine und legte sie auf den Stapel. Dann nahm sie ein neues Blatt und tippte weiter. Der Zweifüßler reagierte beleidigt. „Was soll das heißen?“ sagte er wütend. „Was verstehst du überhaupt davon?“ Bevor sie eine Antwort geben konnte, öffnete sich die Tür. Emma hörte auf zu schreiben. Sie wandten sich beide um und beobachteten Otto, der, seinen Karren schiebend, hereinkam. „Frühstück“, sagte er mürrisch. „Eßt und vergeudet nicht meine Zeit.“ Er stellte seinen Korb auf den Tisch des Zweifüßlers, der Arbeit für ihn enthielt, einen anderen bekam Emma. Ärgerlich nahm der Zweifüßler seinen Teller und verschwand in seinem Zimmer. Was meinte sie mit ihren Worten? Wer war sie überhaupt, daß sie sich erdreistete, so mit ihm zu reden? Sein Ärger wuchs. Das Essen schmeckte ihm nicht und er stellte den noch halbvollen Teller beiseite, um in das Büro zurückzukehren. Aber Emma war nicht mehr da. Ziellos ging er eine Weile herum und betrachtete die grauen Fußbodenfliesen. Sein Blick fiel dabei auf die Markierung, jene Kreidelinie, die Grück quer durch den Raum gezogen hatte. Welche Ironie! Sie taten so, als müßten sie Emma vor ihm schützen, so, als sei er ein gewalttätiges ungeheuer. Er hörte ein Geräusch und als er sich umdrehte, sah er Emma aus ihrem Zimmer kommen. Als sie ihn sah, 164
blieb sie stehen und tastete mit ihren Händen zu ihrem Knopf. „Sieh mal, Emma“, sagte der Zweifüßler ein wenig unsicher. „Du bist auf meiner Zimmerhälfte!“ piepste sie. „Hör’ auf! Das tut doch jetzt nichts zur Sache!“ Er machte einen Schritt auf sie zu, während seine Aufregung wuchs. „Sieh mal – gerade weil du dein ganzes Leben in einem Zoo verbracht hast, vermute ich, daß du denkst …“ Sie nahm irgend etwas und ging an ihm vorbei zu ihrem Schreibtisch. „Was war das?“ fragte der Zweifüßler überrascht. „Erzähl’ schon!“ „Ich sagte, daß ich nicht mein ganzes Leben in einem Zoo verbracht habe.“ Sie setzte den Kopfhörer auf, legte ein Blatt Papier in die Maschine und begann zu schreiben. „Nun – vielleicht nicht in diesem Zoo. – Aber in einem Zoo bist du doch geboren, nicht wahr?“ Emma sah auf. „Ich wurde auf Brechts Planet geboren. Sie kamen eines Tages und nahmen mich mit, als ich noch ein Baby war.“ Sie hörte auf zu arbeiten. Der Zweifüßler hatte den Eindruck, etwas falsch gemacht zu haben. „Das ist natürlich sehr schlimm für dich. Aber siehst du denn den Unterschied nicht?“ Er begann jetzt lauter zu sprechen, denn das Thema begann ihn zu interessieren. „Mein Gott, ich bin der Ansicht, daß der Unterschied offensichtlich genug ist. Hier bist du, ein Tier, das den größten Teil seines Lebens in dem einen oder anderen Zoo verbracht hat. Du bist an dieses Leben gewöhnt, du kannst dich damit abfinden. – Und hier bin ich, ein Mensch, der in den Körper eines Tieres eingeschlossen ist und Tag für Tag gezwungen wird, in diesem stinkenden Käfig zu leben.“ Emma hatte, während er auf sie einsprach, mit der 165
Arbeit völlig aufgehört. Sie saß da und blickte ruhig auf ihre dreifingrige Hand, die auf den Tasten ruhte. Als er geendet hatte, stand sie auf und ging mit geschlossenen Augen an ihm vorbei. Sie zitterte. „Emma“, sagte er, plötzlich gerührt, „Warte einen Augenblick!“ Sie ging weiter. Mit den Händen tastete sie sich an dem ihr im Weg stehenden Schreibtisch vorbei. „Ich wollte deine Gefühle nicht verletzen, Emma“, entschuldigte sich der Zweifüßler. „Ich habe die Nerven verloren. Ich habe es nicht so gemeint, als ich sagte, daß der Käfig stinkt. Das ist nur so eine Redensart.“ Emma verschwand in ihrem Zimmer. Ergriffen folgte ihr der Zweifüßler bis zur Tür. „Komm wieder heraus, Emma“, bat er, „habe ich nicht gesagt, daß es mir leid tut?“ Aber Emma antwortete nicht und obwohl er stundenlang im Büro herumlief, ließ sie sich für den Rest des Tages nicht mehr blicken. „Sagen Sie mal, mein lieber Grück“, fragte Neumann am Nachmittag des gleichen Tages beim Mittagessen, „allen Ernstes: Was ist nun wirklich die Wahrheit? – Sie haben es so gut zu verschleiern vermocht, daß ich nicht mehr durchblicke. Ist der Zweifüßler nun der Zweifüßler oder Martin Naumchik?“ Dr. Grück legte Messer und Gabel nieder. Seine Augen nahmen hinter der randlosen Brille einen ernüchterten Ausdruck an. „Was macht das schon, mein lieber Neumann“, erwiderte er langsam, „In jedem Fall ist das Endergebnis das gleiche. Wir besitzen – wie früher – zwei Zweifüßler. Einer ist männlich, der andere weiblich.“ „Aber wenn nun der männliche wirklich früher einmal ein menschliches Wesen war?“ 166
„Dann ist er jetzt ein Zweifüßler.“ Grück stopfte einen Bissen Leberwurst in den Mund und begann energisch zu kauen. „Wenn die Angelegenheit reibungslos über die Bühne gegangen ist, meine Herren, dann kann ich nur sagen, daß ich das nur der ausgezeichneten Zusammenarbeit mit meinen Kollegen verdanke.“ „Sie sind zu bescheiden“, sagte Neumann. „Aber nicht doch!“ lachte Grück fröhlich, „Wenn unser Plan den gewünschten Erfolg zeigt, dann möchte ich natürlich darauf hinweisen, daß ich es war, der diesen Plan entwickelt hat. – Wer oder was unser Fritz vorher war, ist völlig unbedeutend. – Und wenn wir den Hindus Glauben schenken, ist es nicht unmöglich, daß unser lieber Wenzel in einem früheren Leben einmal ein Käfer war.“ Grück machte eine Kunstpause, um den Anwesenden Gelegenheit zum Lachen zu geben. „Deswegen bedeutet es nichts. Ob Käfer oder nicht: momentan ist er Wenzel, davon bin ich überzeugt. Fritz weigert sich, dies zu begreifen. Wenn er es erst verstanden hat, werden Sie in ihm bald ein völlig verändertes und zufriedenes Tier sehen können – das können Sie mir glauben.“ Ein schlacksiger Wärter erschien und brachte ein Paket. Ungehalten über die Störung drehte Grück sich um. „Was ist denn?“ fragte er. „Entschuldigen Sie, Herr Doktor“, meinte der Wärter und errötete, „aber Ihre Sekretärin bat mich, Ihnen dies heraufzubringen. Sie sagt, daß Sie es sicher schon erwarten.“ Belustigt nahm Grück das Paket entgegen und sah sich um, als wolle er damit zum Ausdruck bringen, welch gehetztes Leben er doch im Grunde führe. Er besah das Paket von allen Seiten, dann fiel sein Blick auf den Absender. Sofort wuchs sein Interesse. 167
„Ein Paket von Xi Bootes Alpha! Von Purser Bang! Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, aber das kann von Wichtigkeit sein.“ Ungeduldig riß er die Verpackung auf. In dem Paket befanden sich Papierrollen; Grück prüfte das oberste Blatt sehr sorgfältig. „Tatsächlich! Es ist der Bericht des Forschungsteams auf Brechts Planet. Das kann eine Überraschung mit sich bringen.“ Er blätterte eine Seite um, dann eine zweite. „Sie haben drei Zweifüßler seziert“, murmelte er vor sich hin, „einen männlichen und zwei weibliche …“ Er verstummte und las weiter, etwas später klappte seine Kinnlade herunter. Die Anwesenden machten neugierige Gesichter. „… aber … hier steht … daß die männlichen Zweifüßler in Wirklichkeit weibliche und die weiblichen männliche sind“, erklärte er stirnrunzelnd. „Aber das ist doch unmöglich!“ stieß er hervor. „Was haben Sie da gesagt?“ fragte Neumann verdutzt. „Die männlichen Tiere sind in Wirklichkeit weiblich und umgekehrt? Das ergibt doch gar keinen Sinn. Sind sie etwa Zwitter?“ „Warum sagt es der Bericht dann nicht klar und deutlich?“ „Nein, nein“, sagte Grück abwesend und las weiter. „Mein Gott, wir haben alle einen schwerwiegenden Fehler gemacht! – Sehen Sie nur, was hier steht!“ Er hielt eines der Blätter hoch, deutete mit seinem zitternden, dicken Finger auf einen Absatz. Neumann nahm das Blatt an sich, hielt es in das Licht und begann langsam vorzulesen: „Die Leistendrüsen, von denen man bisher annahm, daß sie männliche Geschlechtsdrüsen seien, stehen in keiner Verbindung mit dem Fortpflanzungssystem. Ihre Funktion bleibt weiter unbekannt. Es wird angenommen, daß 168
diese Körperteile lediglich der Zurschaustellung dienen, ähnlich dem Kamm eines irdischen Hahns. Außerdem hat sich herausgestellt, daß die Träger dieser Organe dem weiblichen Geschlecht angehören, nicht dem männlichen. Dieses Wesen ist es, das die Jungen in einem Gebärbeutel trägt und ihnen das Leben schenkt. Die Befruchtung wird durch eine äußerst ungewöhnliche Methode herbeigeführt, nämlich indem die männlichen Keimzellen, die in einem rötlichen, vorderen Organ untergebracht sind und die nur bei ausgewachsenen Tieren erscheinen … während der Brunst wird das weibliche Wesen. … lieber Gott! Grück, hören Sie sich das an …“ Fritz und Emma saßen nebeneinander in dem inneren Raum. Emma wirkte gespannt und hatte die Hände ganz fest über ihren Knopf gelegt. Der männliche Zweifüßler schmiegte sich an sie, hatte einen Arm um sie gelegt und sagte: „Du weißt doch, Emma, daß ich dich nicht verletzen wollte, nicht wahr? Du glaubst mir doch?“ „Das ist es nicht“, erwiderte sie mit belegter Stimme. „Es ist die Art, in der ich von allen hier behandelt werde – so, als wäre ich nur ein Tier. Sie sagen, daß ich nicht menschlich bin und halten es für gerechtfertigt, mich mein ganzes Leben lang in einem Käfig festzuhalten.“ Sie sah auf. „Wann ist man ein Mensch? Ich denke, ich habe Gefühle, ich kann sprechen, ich kann sogar Briefe schreiben. Aber das reicht immer noch nicht aus.“ Ihr schlanker Körper zitterte. „Es ist schlimm genug, wenn ich höre, daß sie über mich sprechen wie über irgendeine Kreatur, die weder sprechen noch lesen kann – aber wenn du …“ 169
„Emma, bitte …“ sagte der Zweifüßler, den plötzlich Reue und Zärtlichkeit überkam. „Natürlich hast du recht. In Wirklichkeit bist du ebenso menschlich wie jeder von denen da draußen. Was macht es schon aus, wenn du anders aussiehst. Nur das Innere, die Seele, ist es schließlich, die zählt, nicht wahr? Warum können sie das denn nicht einsehen?“ Sie blickte ihn wieder an. „Glaubst du wirklich …“ „Natürlich“, erwiderte der Zweifüßler und rückte noch etwas näher an sie heran. Völlig neue Gefühle ergriffen von ihm Besitz. „Eines Tages werden sie alle anfangen zu verstehen, Emma. Wir werden sie auf uns aufmerksam machen. Du wirst schon sehen. Es wird alles wieder in Ordnung kommen – und wir sind doch schon Freunde, nicht wahr?“ Sie blickte ihn schüchtern an. Sie zitterte nicht mehr, als sie sagte: „Ja, Fritz.“ Er schmiegte sich noch enger an sie. Die Rolle des Beschützers, die er jetzt innehatte, gab ihm ein freudiges Gefühl der Gerechtigkeit. Sie schwiegen und sagten nichts. „Sind wir jetzt wirkliche Freunde, Emma? Und du fürchtest dich auch nicht mehr vor mir?“ „Nein, Fritz –jetzt nicht mehr.“ „Weshalb legst du dann immer noch deine Hände auf den Knopf? Ist das nicht unbequem? Oder traust du mir nicht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß auch nicht, warum ich das tue. Es ist nur … ich traue dir, Fritz.“ „Also, dann …“ Nach einem Moment des Zögerns nahm sie gehorsam die Hände herunter und legte sie in ihren Schoß. Ihr Knopf war groß, dunkelrot und strömte einen feinen, würzigen Geruch aus. 170
„Ist es nicht besser so? Ist irgendetwas Schlimmes geschehen, seit du die Hände heruntergenommen hast?“ „Nein, Fritz“, entgegnete sie und legte ihren Mund gegen seine Schulter. „Ich fühle mich viel besser.“ „Ich auch, Emma. Ja, ich auch.“ Überschäumend vor Emotionen legte der Zweifüßler seinen Kopf an den ihren. Mit einer instinktiven Geschicklichkeit, die sie beide überraschte, biß er ihren Knopf ab. XII Der junge Mann wurde von einer Woge von Gefühlen dahingetrieben. Taft raschelte, nach Zimt duftend und entfaltete sich endlos. Knistern von Satin, als die beiden Körper zueinanderstrebten. Suchende Lippen. Ein Druck. Ein süßer Schmerz (Seufzer um ihn herum im Theater). Atemzüge. Schneeweiße Gesichter. Schultern. Satin. Ein Schönheitsfleck auf ihrer Wange. Eine hochtoupierte Perücke, weißer als ihre Haut, überschattete sein Gesicht. Eine Stimme. Traurig. „Für immer?“ „Für immer.“ Ein triumphierender Bariton. „Oh, Stephen …“ Die beiden Körper wandten sich voneinander ab, als würden sie auseinandergerissen. Ihr Gesicht, groß. „Was ist das?“ Er. Sie: „Schau!“ Ihre Körper verschwinden aus dem Blickfeld, um die weite blaue Perspektive eines gewaltigen Zimmers zu enthüllen. Dort unten, weit entfernt und dennoch riesig, steht der finstere Mann in verschwitztem Scharlachrot. Sein schwarzer Spitzbart schimmert. Funkelnde, schwarze Augen. Mit öliger Stimme fragt er: „So, meine jungen Liebenden, treffen wir uns wieder?“ Im Nichts treibend, seufzte der junge Mann auf und drehte sich herum. (Dort war er herein171
gekommen). Grobe Worte schallen durch das lange Zimmer. Sie sinkt zurück, schwer atmend. Dort: der finstere Mann packt sein Schwert am Griff. Jetzt gleitet der mörderische Stahl heraus. (Keuchen). Jetzt: Die Kämpfe der Titanen. Stahl schlägt auf Stahl. Funken und surrende Klingen in der Luft. Ein Tisch fällt krachend um. Eine Kerze fällt, in zwei Teile zertrennt, brennend zu Boden. Ein Krug zerfällt in tausend Scherben. „Ha!“ Die Hand des blassen Mannes an seiner Schulter. Blut quillt zwischen den Fingern hindurch. Das Geklirr der Klingen. Das Gesicht des blassen Mannes nimmt einen grimmigen Ausdruck an. Ein wirbelndes Klingendickicht: dann zuckt das Schwert vor, blitzschnell herumwirbelnd (Ein Lichtblitz zu seiner Linken warnte ihn davor, die Waffe zu senken; er tut es dennoch). Ah! Ein wahnsinniger Stich in seinem Herzen. Gott im Himmel … Haltlos, fast besinnungslos, hockt er auf einem Stuhl mit hämmerndem Herzen. Er war der sterbende Mann! Er sah, wie das Zimmer langsam dunkel wurde, sah, wie die Decke sich über ihm drehte, sah ganz schwach zwei riesige Gestalten, die einander in die Arme sanken. Dann nur noch Dunkelheit. Lichter flackerten auf und beschienen die beiden Liebenden, die einander in die Arme sanken. Heitere Musik erfüllte die Umgebung, als die beiden Gesichter größer werdend aus dem Brennpunkt verschwanden. Alles, was übrig blieb, war der schwindende Geist eines Lächelns. ENDE. Die Welt war verschwunden und hatte einen grünlichen Glanz hinterlassen. Der junge Mann wurde sich seines Körpers wieder bewußt und verkrampfte sich in 172
seinem weichen Sitz. Um ihn herum, im großen Rund, bewegten sich Gestalten. Seine Sitzfläche war gefühllos geworden und schmerzte. Er versuchte aufzustehen. Es war schwer, sich an die Stille zu gewöhnen und an die anderen unwichtigen Dinge. Schwindlig trat er in das heiße Nachmittagssonnenlicht hinaus. Er ging an der Bäckerei vorbei, über deren Eingang das Innungszeichen des Bäckereigewerbes – ein stilisierter Brotlaib – zu sehen war. Drei braungebrannte Männer mit kleinen weißen Mützen kamen auf ihn zu und unterhielten sich in einer fremden Sprache. Eine Katze lief über den Platz, verfolgt von einem undefinierbaren Wesen mit vielen Beinen. Die Sonne brannte auf den Asphalt. Die Luft flimmerte vor Hitze. An der nächsten Ecke hatte sich eine Menschenmenge um einen grüngekleideten Mann versammelt, der eine dem jungen Mann unbekannte Kreatur mit rosafarbenen Federn an der Leine hielt. Münzen wurden in einen Becher geworfen. Angestachelt von seinem Besitzer, vollführte die Kreatur einen plumpen Tanz. Sie besaß ein teils menschlich, teils quallenähnliches Gesicht, das idiotisch und ausdruckslos wirkte. „Danke, mein Herr! Besten Dank, gnädige Frau!“ sagte der kleine Mann und tippte an den Rand seiner Mütze. Münzengeklingel. „Vielen Dank, mein Herr!“ Der junge Mann ging weiter. Schließlich bekam man in einem Kino mehr geboten als hier. Am Ende des Platzes, an einem Zeitungsstand, blieb er stehen und kaufte ein Exemplar der Berliner Zeitung und die Hamburger Morgenpost, faltete die druckfrischen Blätter zusammen und klemmte sie unter den Arm. Am nächsten Stand wurde Obst verkauft. Er kam fast jeden Tag hier vorbei und kaufte Bananen und Orangen. Diesmal zog ihn jedoch etwas anderes an. In 173
der Mitte des Standes sah er einen Berg mit grüngelben, eiförmigen Früchten, die größer als Birnen waren. Er las: SONDERANGEBOT! VON BRECHTS PLANET FRISCH EINGETROFFEN! PROBIERPREIS 1,10! Die Aufregung des jungen Mannes nahm überhand, sein Mund wurde trocken. Brechts Planet! Er kramte in seiner Tasche. Das Geld reichte gerade noch aus. Der Verkäufer nahm die Münzen gelangweilt und gab ihm eine der grünlichen Früchte. Der junge Mann wog sie prüfend in der Hand. Sie war schwer und fühlte sich warm und wächsern an. Er erinnerte sich an einen Satz aus seinem verlorengegangenen Buch: „… grünliche Früchte, die die Zweifüßler begierig essen …“ Nie zuvor hatte er sich so eng seinem Geburtsplaneten verbunden gefühlt. Es war ihm immer ein wenig unwirklich erschienen, so, als würde er nur in Büchern existieren. Jetzt fühlte er zum ersten Mal, daß er real war, daß er aus echten Steinen und echter Erde bestand, daß auf ihm echte Bäume mit echten Früchten wuchsen. Als er in dem Gebäude, in dem er jetzt wohnte, Frau Beifelder erblickte, verbarg er instinktiv die schwere Frucht in seiner Tasche und hielt sie dort mit der Hand umklammert. „Guten Tag, Frau Beifelder“, grüßte er höflich, als er an ihr vorbei zum Lift ging. Die alte Frau erwiderte seinen Gruß nicht, sondern kniff die Augen noch enger zusammen. Der junge Mann hielt den Lift wie gewöhnlich auf jedem Stockwerk an und starrte neugierig auf die roten, geschlossenen Türen. Julias Tür war halbgeöffnet, aber anstatt anzuhalten, fuhr er weiter hinauf, zum vierten, fünften, sechsten Stock. Dort verließ er den Lift und kletterte über eine kleine Treppe auf das Dach. 174
Unter ihm breitete sich Berlin im heißen Sonnenlicht aus. Die kurvenreichen Linien der Flugbahn hoben sich vom Blau des Himmels ab. Darüber, herausragend aus einer Menge niedrigerer Dächer, war die goldene Kuppel des Konzertgebäudes zu erkennen. Eine kühle Brise wehte ständig über das Dach und ließ die Zeitungen gegen seinen Arm flattern. Der junge Mann griff ärgerlich danach, ohne die warme Frucht mit der anderen Hand loszulassen. Einige Meter weiter drehte sich ein Ventilator in seinem schwarzen Gehäuse. Der junge Mann blickte interessiert auf ein Flugzeug, das sich auf den blaugrauen Horizont zubewegte. Er schnupperte. Die Luft roch nach Dieselöl, Ozon und heißem Beton. Auf der Brüstung lag ein großer Schmetterling, der schwach seine purpurnen Flügel bewegte. Der junge Mann sah ihm neugierig zu. Der Falter schien nicht mehr in der Lage zu sein zu fliegen. Als er die Finger des jungen Mannes an seinem Körper spürte, bewegte er sich mit krampfhaften Flügelschlägen vorwärts. Ein zweiter Schmetterling, ähnlich dem ersten, setzte auf. Er klappte die Flügel zusammen und begann dann die gleichen Bewegungen auszuführen. Der junge Mann registrierte, daß plötzlich die ganze Luft voll von Schmetterlingen war. Kleine schwarze Schatten senkten sich hinab und landeten auf den Dächern. Ein halbes Dutzend befand sich schon zu seinen Füßen, kurz danach hatte sich die Zahl verdoppelt. Einer der Falter streifte weich seinen Nacken, bevor er sich niederließ. Verärgert wandte sich der junge Mann ab und ging. Aber obwohl er sich bemühte, konnte er nicht vermeiden, daß mehrere der winzigen Körper von seinen Sohlen zertreten wurden. In der dritten Etage verließ er den 175
Lift und öffnete vorsichtig Julias Tür. Sie hielt sie in letzter Zeit ständig unverschlossen, weil er sich mit den Schlüsseln nicht besonders zurechtfand. In der Wohnung herrschte Stille, nur Maggie, die Katze, kam heraus und maunzte mißmutig. Der junge Mann ließ sich auf die Knie nieder und kroch auf allen Vieren auf sie zu, bis er mit seiner Nase gegen die der Katze stieß. Sie war naß und kalt, und sie rieb ihre Schnauze an seinem Gesicht und machte einen Buckel. Aus dem Schlafzimmer erklang ein Geräusch. Es war Churchill, der hereinkam. Er sah gefährlich aus, aber als er erkannte, daß er den jungen Mann vor sich hatte, verschwand der gereizte Glanz aus seinen Augen. Er watschelte heran und beleckte die Wange des jungen Mannes. Er stand auf und wischte sein Gesicht mit einem Papiertaschentuch ab. „Martin?“ ertönte eine müde Stimme aus dem Schlafzimmer. Er sah durch die Tür in den angrenzenden Raum. Julia sah ihn schläfrig an. „Wie spät ist es denn?“ Der junge Mann sah auf seine Armbanduhr. „Fast drei Uhr. – Geht es dir besser, Julia?“ „Ich glaube schon. Würdest du mir bitte ein Glas Wasser bringen?“ „Aber sicher!“ Er ging in die Küche. Dann setzte er sich auf die Bettkante und schaute ihr beim Trinken zu. Ein sonderbares Gefühl ergriff von ihm Besitz. Es war das erste Mal, daß er in ihrem Schlafzimmer weilte. Er hatte bisher erst einmal hineingesehen. Sie hatte sich gerade ausgezogen und er hatte ihre nackten Brüste sehen können, die sein Interesse erweckt hatten. Aber ihr Anblick hatte ihn in einen unbekannten Zustand versetzt, der ihn dazu getrieben hatte, das Zimmer fluchtartig zu verlassen. 176
Jetzt betrachtete er ihre runden Formen unter dem dünnen weißen Nachthemd. Neugierig berührte er sie. Die Wölbung, die er betastete, war weich und beweglich, aber da war eine harte Spitze … „Oh“, machte sie überrascht. Dann legte sie eine Hand auf die seine. „Habe ich dir wehgetan?“ „Aber nein, Martin“, erwiderte sie. „Es ist alles in Ordnung. – Berühre mich nur, wenn du möchtest.“ Sie setzte das Glas ab, nahm seine Hände und legte sie auf ihre Brüste. Ihre Augen schimmerten feucht, als sie sagte: „Mein Liebling …“ „Julia …“ flüsterte er. Er lehnte sich über sie und küßte sie. Für das erste Mal war es nicht schlecht, ihre Nasen berührten sich nicht. Er hatte sich die Sache schwieriger vorgestellt. Der Atem der Frau ging schwer. Sie schlang ihre Arme um seinen Rücken und preßte ihn an sich. Ihre Küsse hielten an und nach einer Weile tat sie etwas mit ihm, was er bisher nicht gekannt hatte. Später lag der junge Mann erschöpft und verwirrt auf dem Rücken, während Julia sich aufsetzte und vor sich hinsummend ihr Haar bürstete. Das Türlicht flackerte. Sie sahen sich an. „Wer könnte das sein, Liebling?“ „Ich werde nachsehen.“ Halb weinend und halb lachend versuchte sie ihn zurückzuhalten. „Ziehe dir erst etwas über.“ Er küßte sie, weil ihre Zufriedenheit ihn freute und zog sich an. Wieder flackerte das Türlicht. „Ich komme schon, Ich komme schon“, murmelte er. Im Korridor stand ein mittelgroßer, zigarrenrauchender Mann in einem grauen Sommermantel. „Na, Herr Naumchik?“ sagte er und lächelte. 177
„Bitte?“ fragte der junge Mann unsicher. „Kennen Sie mich denn nicht mehr?“ fragte der Mann erstaunt. „Ich bin Tassen. Von der Freien Presse.“ „Nein … Herr Tassen? – Was führt Sie zu mir?“ „Ich kam gerade vorbei“, sagte Tassen, unbekümmert an ihm vorbeisehend, „So, hier wohnen Sie also. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich einen Augenblick ’reinkomme?“ „Aber natürlich nicht.“ Der junge Mann wandte sich unsicher um. Tassen folgte ihm in die Wohnung und musterte sie mit Interesse. Aus dem Schlafzimmer erklang ein Bellen, dann das kratzende Geräusch von Pfoten an der Tür. Dann sagte Julia mit gedämpft klingender Stimme: „Churchill – wirst du das wohl sein lassen? Böser Hund!“ Tassen zog eine Augenbraue hoch und sah in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren, aber er verlor kein Wort darüber. „Sie haben es gemütlich hier, Naumchik. – Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich mich setze, oder?“ „Aber bitte!“ „Haben Sie in letzter Zeit irgend etwas von Zellini gehört?“ „Von wem?“ Tassen runzelte die Stirn und legte seine Zigarre auf dem Rand des Aschenbechers ab. „Sind Sie überhaupt schon wieder in Paris gewesen seit damals?“ Er sah ihn fragend an. „In Paris?“ fragte der junge Mann verdutzt. „Nein.“ „Ich nehme an, daß Sie wissen, daß man Sie gefeuert hat.“ „Wie bitte?“ „Man hat Sie entlassen.“ 178
„Das wußte ich nicht.“ Tassen sog an seiner Zigarre und starrte sein Gegenüber an. Einen Augenblick später meinte er: „Soviel ich weiß, waren Sie vor kurzem noch ein aufstrebender, junger Journalist. Dann kam die Sache mit dem Zweifüßler dazwischen. Dann folgte die Kletterpartie im Kaufhaus. – Sie sind wohl jetzt fein raus, wie?“ „Natürlich.“ „Es geht Ihnen also gut?“ „Es geht mir gut.“ Tassen sah verblüfft und beleidigt zu gleicher Zeit aus. „Wenn Sie keine Lust haben, mit mir zu sprechen …“ meinte er nach einer Weile. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ Tassen blinzelte. „An was können Sie sich nicht erinnern?“ fragte er. „An nichts, was sich vor den Ereignissen im Kaufhaus abgespielt hat.“ „Ach, so ist das“, sagte Tassen, „Sie haben also keine Lust, mir zu erklären, was es mit dem Zweifüßler auf sich hat, nicht wahr?“ „Nein.“ „Hm. – Auf jeden Fall ist es gut zu wissen, daß Sie wieder auf eigenen Füßen stehen. Ich nehme an, Sie haben in letzter Zeit nichts Nennenswertes geschrieben?“ „Genau.“ „Haben Sie Lust, wieder etwas zu machen?“ „Ich habe darüber noch nicht nachgedacht“, erwiderte der junge Mann. „Es wird nicht leicht für Sie sein, einen Job bei einer der Berliner Zeitungen zu bekommen nach dieser ganzen Sache“, meinte Tassen. „Aber vielleicht könnten Sie freiberuflich arbeiten. Features oder einen Bericht 179
über Ihre Erfahrungen im Kaufhaus.“ Er erhob sich und nahm eine Karte aus seiner Manteltasche. „Hier haben Sie meine Adresse. Falls Ich Ihnen irgendwie helfen kann …“ Er winkte freundlich, als er ging. Am nächsten Tag erinnerte sich der junge Mann an die Frucht. Er gedachte sie zu öffnen, bevor sie schlecht wurde. Die grüngelbe Schale war recht dünn. Das Innere bestand aus ziemlich unappetitlich aussehendem gelbem Fruchtfleisch. Julia aß eine Scheibe davon und fand, daß sie schmeckte. Der junge Mann nahm lediglich einen Bissen, den er aber sofort wieder ausspuckte. Das Fruchtfleisch war weich und unschmackhaft, irgendwie wirkte es ranzig. Seine Enttäuschung war so groß, daß er ins Grübeln verfiel. Die Umwandlungswelle bewegte sich langsam von der Erde weg. Die letzten Transformationen traten auf; römische Priester aus der Epoche des Julius Cäsar untersuchten Eingeweide von Geflügel auf Vorzeichen hin, fanden stinkenden Asphalt und prophezeiten den Untergang. Ein Regen blutigen Strohs bot eine kurze Sensation, zur Freude der Vergnügungsstadt ‚Kikumeru’ in der Antarktis im Jahr 3019. Eine Schrift erschien an der Wand eines babylonischen Palastes, die niemand zu deuten vermochte. Ein plötzlicher Temperatursturz unter Null fror in einer sibirischen Ebene Mammuts ein. Die Umwandlung verlagerte sich in Richtung auf den Sektor Wega, wo sie die intelligenten Kopffüßler des dritten Planeten verwirrte – und dies Millionen Jahre in der Zukunft und in der Vergangenheit. Auf der Erde hatten die wenigen Menschen, die über diese ungewöhnlichen Dinge Bescheid wußten, seit langem beschlossen, ihre Augen vor der Realität zu verschließen. 180
Das schöne Wetter hielt bis Oktober an. Dann wurde es stürmisch und kalt, Schnee fiel und gelegentlich gab es auch Hagelschauer. An einem Abend im Spätnovember betrat der junge Mann die Bar des Presseclubs. Er stand einen Moment lang in der Tür und schüttelte den nassen Schnee von seinem Hut. Die Bar war nur halbgefüllt. Die kleinen grünen Telefonlichter glühten entlang der Theke und die Spiegel reflektierten das Licht vereinzelter Lampen. Emil, der Barkeeper, ein rotgesichtiger Sachse, nickte dem Ankömmling zu. „Guten Abend, Herr Naumchik. Wir haben Sie lange nicht mehr hier gesehen.“ „Ich war in Westfalen, Emil. Geben Sie mir einen Long John. Aber einen Doppelten.“ „Gerne.“ Emil langte nach einer Flasche und füllte ein Glas randvoll. Er stützte sich auf den Tresen und sagte „Jemand rief am Nachmittag für Sie an, Herr Naumchik. Es war eine Dame.“ „Hat sie ihren Namen genannt?“ „Nein, das nicht. – Wenn sie nochmal anrufen sollte – soll ich ihr dann sagen, daß Sie hier sind?“ Der junge Mann dachte nach. „Mich würde interessieren, wer es war. – Karin? Angelika? Wie sah sie denn aus?“ Der Barkeeper hörte seine letzte Frage nicht mehr. Er hatte den Platz gewechselt und sich anderen Kunden zugewandt. „Hallo, Naumchik, seit wann bist du denn hier?“ Ein großer Mann mit einem Tweedanzug stellte sich neben ihn an die Bar. Er trug einen Tirolerhut und sprach einen breiten englischen Akzent. An einer Leine hielt er einen schlanken Windhund mit seidigem Fell und traurig blickenden Augen. Der Hund drückte seine Nase in 181
die Hand des jungen Mannes. „Oh, hallo, Potter!“ Der junge Mann tätschelte liebevoll die Schnauze des Hundes. „Seit heute morgen. – Platz, Bruno! – Es ist letzte Nacht ziemlich spät geworden. Wir haben einen zweistündigen, unfreiwilligen Aufenthalt gehabt über Tempelhof.“ „Sauwetter“, stimmte ihm Potter zu. „Was ist mit der Regenerationsgeschichte?“ „Nichts. Sie liegt auf Eis. Aber ich habe trotzdem zwei Spalten daraus gemacht. – Ich habe gehört, du hättest dir in Riga den Arm gebrochen?“ „Das war Merle“, erwiderte Potter und wies mit dem Kinn auf eine blonde Frau, die an einem Ecktisch saß und einen Arm in einer Schlinge trug. Sie hob ihr Glas und lächelte. „Eine üble Sache“, sagte der junge Mann, ihren Gruß erwidernd. „Halb so schlimm. – So kann sie besser dirigieren. Manchmal wünschte ich, sie würde sich sämtliche Knochen im Leibe brechen.“ Ein schwitzender junger Mann kam auf sie zu und klopfte dem Engländer auf den Arm. „Sag’ mal, Potter, kannst du mir sagen, wo ich Johnny Ybarra finden kann?“ „Keine Ahnung. Hast du schon die Bordelle abgeklappert?“ „Alle?“ Der junge Mann schien verzweifelt. Dann rannte er wieder hinaus, nicht jedoch, ohne vorher kurz „Hallo, Naumchik“ gesagt zu haben. Emil, der gerade telefonierte, sah hoch und hob die Augenbrauen. Der junge Mann nickte. Emil drückte einen Knopf und der Handapparat des jungen Mannes leuchtete auf. „Entschuldige, Donald …“ sagte er. „– Oh, du bist 182
es, Julia!“ Das kleine Gesicht auf dem Bildschirm lächelte ihn an. „Ein Glück, daß ich dich erreicht habe, Martin. Ich habe auf gut Glück versucht, dich dort anzutreffen. Kommst du heute zum Abendessen?“ „Laß mich überlegen. Ja … nein, es klappt doch nicht. Ich muß heute abend mit Schenk zu Abend essen. Es tut mir leid, ich habe es vergessen, Julia.“ „Schade“, erwiderte sie. „Ich hätte dich so gern gesehen.“ Ihr Blick war wehmütig. „Ich dich auch. Vielleicht können wir uns morgen zu einem Cocktail treffen …“ Julia war zu alt für ihn. Obwohl er viele schöne Erinnerungen an ihre kleine Wohnung in der Heinrichstraße hatte, wo er seine ersten Zeitungsartikel produziert hatte („Ich war der rätselhafte KaufhofKlettermax“), verspürte er keine Lust, alles noch einmal von vorne zu beginnen. (Wie stolz sie beide gewesen waren, als der Artikel von Martin Naumchik in der Zeitung erschienen war.) Sein Erfolg hatte sich darauf aufgebaut. „Wie geht es Churchill?“ „Ich mußte ihn weggeben, Martin. Er biß einen guten Freund von mir.“ „Und Maggie? Hast du Maggie noch?“ „Maggie geht es gut.“ Unten an der Bar warfen drei Männer in Plastikmänteln abwechselnd Münzen in den Schlitz eines Spielautomaten, auf dessen Front das 3–D-Bild eines feisten Mädchens in einem bayrischen Dirndl zu sehen war. Sobald eine Münze durch den Schlitz fiel, drehte sich das Mädchen langsam um, hob seinen Rock und entblößte dabei sein blankes Hinterteil. Jedesmal, wenn das geschah, brachen die Männer in ein brüllendes Gelächter aus. 183
Potter schlug ihm auf die Schulter und verabschiedete sich. Der junge Mann winkte ihm nach. „Komm doch mal vorbei, wenn du Zeit hast.“ „Ja, das werde ich tun. Morgen, irgendwann im Laufe des Nachmittags. – Arbeitest du immer noch im Ministerium?“ „Ja, noch immer.“ „Gut. Ich werde vorher anrufen. Auf Wiedersehen.“ Ihr Gesicht wirkte betrübt, als es von der Sichtscheibe des Telefons verschwand. Bedauernd seufzend, aber sichtlich erleichtert stellte er das Handgerät weg. Ein korpulenter junger Mann in einer braunen Jacke nahm Potters Platz ein. Sein Schnauzbart war ungekämmt, seine Augen blau. Er wirkte wie eine Mischung aus Verworfenheit und Unschuld. „Hallo, Naumchik!“ „Hallo, Wallenstein.“ Der plumpe Mann winkte den Barkeeper heran. „Gib mir ’n Schwarzen Mittwoch, Emil. – Paß mal auf, Naumchik: Du bist genau der Mann, den ich suche. Kennst du Kohler, den Mann der die Provinz-Wochenblätter rausbringt?“ „Sicher. Was ist mit ihm?“ „Naja, eigentlich ist es lächerlich. Ich stehe in seiner Schuld. Ich hab’ ihm versprochen, die Zoogeschichte für seine Blätter zu schreiben. Aber jetzt ist mir was dazwischengekommen. UPI hat mir ’ne Stelle in Oslo angeboten. Ein Zwei-Monats-Job. Sie tragen alle Kosten, einschließlich die der besten Hotels. Da ich schon morgen abreisen muß, schaffe ich die Sache für Kohler nicht mehr. – Würde dir das was ausmachen, Naumchik? Mehr als ’ne halbe Stunde dauert das sowieso nicht. Ich würde sogar was aus meiner eigenen Tasche drauflegen.“ 184
„Moment, Moment – ich komme nicht ganz mit. – Welche Zoogeschichte? Um was geht’s denn da?“ „Einer der beiden Zweifüßler hat ein Junges geboren“, erklärte Wallenstein, „das ist natürlich ein gefundenes Fressen für Kohlers bäurische Leserschaft. – Was meinst du?“ „Nun … eigentlich wüßte ich nicht, was mich daran hindern sollte …“ begann der junge Mann. Er brach mitten im Satz ab. Welch eine Sache! Aus den Tiefen seiner Erinnerung tauchte das Bild einer zweibeinigen Kreatur, die mit beiden Fäusten gegen die Glaswand eines Käfigs trommelte, auf – während er selbst in der Kälte stand und erstaunt auf seine fünffingrigen, rosafarbenen Hände starrte. Seltsam, daß er nach all diesen Monaten zum erstenmal daran denken mußte. „Machst du’s?“ „Wenn ich es mir recht überlege … nein“, erwiderte der junge Mann. „Ich glaube nicht, daß es ratsam wäre …“ „Nicht ratsam?“ echote Wallenstein. „Was meinst du damit? Komm, Kumpel, ich leg’ noch einen Zehner auf die Zwanzig von Kohler – wie wäre es dann?“ Naumchik leerte sein Glas in einem Zug und setzte es ab. „Nein“, wiederholte er, „es tut mir leid, aber mir fällt gerade ein, daß ich morgen anderweitig zu tun habe.“ Er klopfte dem schwerfälligen Wallenstein auf den Rücken. „Du wirst schon einen finden, der dir die Sache abnimmt. Nur Mut. – Tschüß, Wallenstein.“ Wallenstein starrte ihn an. „Wenn du absolut nicht willst … Ich hätte nicht gedacht, daß du dich eines Tages als Bastard entpuppst …“ 185
Naumchik grinste. „Sind wir das nicht alle? – Machs gut, Mann.“ Er ging pfeifend hinaus. Auf der Schwelle blieb er stehen und sog tief die Luft ein. Es schneite nicht mehr. Die Sterne glänzten kristallklar über den Hausdächern.
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