Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 45
Duell der Giganten
von Ernst Vlcek
Seit der Stunde, da das Tor zwischen Dr...
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Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 45
Duell der Giganten
von Ernst Vlcek
Seit der Stunde, da das Tor zwischen Dragons und Danilas Welt für immer verschlossen wurde, sind der Atlanter und sein Gefährte Ubali zu Gefangenen einer wilden und bizarren Umgebung geworden. Um sich behaupten zu können, müssen sie um ihr Leben ringen – und zwar jeder für sich, denn sie sind getrennt worden. Während Ubali zusammen mit Thamai, seiner ebenholzfarbenen Geliebten, sich durch den Dschungel kämpft, den Weg der Prüfungen beschreitet und schließlich der Paladin Vitus, des Lebensgeistes, wird, hat Dragon, seit er Träger des einen Auges Vestas wurde, ein schweres Erbe übernommen, das ihn ruhelos von Ort zu Ort eilen läßt. Er erfüllt eine Mission, die Danilas Welt vor der drohenden Katastrophe retten soll, indem er die Elementargeister zu bewegen versucht, Vesta, dem ehemaligen Herrn der Elemente, wieder zu gehorchen. Zwei Erfolge hat der Atlanter bereits zu verzeichnen – ebenso wie Akkeron, Dragons Gegenspieler und Verfechter des Chaos, der Tyde, den Wassergeist, und Skortsch, den Geist des Feuers, in seine Gewalt gebracht hat. Doch nun geht es um alles! Der Tag der Entscheidung über das zukünftige Schicksal von Danilas Welt naht. Dragon und Vesta sowie Akkeron und seine Dalaugiri-Horden streben dem gleichen Ziel zu – Vitus »Innerem Reich«. Dort, im Garten des Lebens, wird die Entscheidung ausgetragen beim DUELL DER GIGANTEN …
Die Hauptpersonen des Romans:
Dragon - Der Atlanter entscheidet über das Schicksal von Danilas Welt.
Vesta - Der Herr der Elemente läßt einen anderen für sich kämpfen.
Akkeron - Himurs Sohn greift nach der Macht.
Genjau - Neuer Anführer der Dalaugiri.
Ubali - Vitus Paladin wird außer Gefecht gesetzt.
Aerula-thane - Dragons Wanderwolke.
1. Sie trieben wie kleine weiße Zelte hoch oben am Himmel, der mir freundlich zu leuchten schien, obwohl er auf Tod und Vernichtung hinunterblickte. Ich hörte ihre Rufe und ließ mich von Aufwinden zu ihnen hinauftragen. Als ich mich zu ihnen gesellt hatte, ließen wir uns von Aerulas Atem dahintragen. Wir waren ein schönes Wolkenmosaik in der Bläue des Himmels. Was war? fragen sie mich. Und sie wollten wissen: Warum und weshalb ist solches Unheil aus den Elementen über die Welt gekommen? Ich schwieg zuerst. Nicht um mich interessant zu machen und ihre quälende Neugier zu steigern. Es war mehr ein nachdenkliches Schweigen. Ich ging in mich und stellte mir die gleichen Fragen wie meine Schwestern, die Kinder Aerulas. Wer ist nun der Herr der Welt? Vesta! Ganz ohne Zweifel, Vesta, war meine ehrliche, spontane Antwort. Er war schon immer der Meister der Elemente – und so wird es bleiben. Auch wenn er zweitausend Jahre unfreiwillig in seinem Gefängnis auf der Insel des Namenlosen geruht hat, so wird er wieder zum unumschränkten Herrn der Elemente. Aber damit wollten sich die anderen Wanderwolken nicht zufriedengeben. Aerula-thane, sagte eine ganz Kluge. Was wäre Vesta schon ohne die Elemente? Nichts. Ein Niemand. Zugegeben.
Aber ohne die Elemente wären auch wir nicht. Es muß die Elemente geben. Und es muß einen Herrn geben, der sie bewacht. Denn denkt: Es gäbe kein Leben ohne Vitu. Was wäre das Leben ohne Wärme? Also gehört auch Skortsch, der Feuergeist, zu den Unentbehrlichen. Und wo soll das Leben sein, wo das Feuer brennen, wenn es die Erde nicht gäbe? Also ist auch Erthu, der Erdgeist, nicht wegzudenken. Und Wasser ist das Naß, das alles Leben trägt, die Erde sättigt und das Feuer dämmt, und deshalb ist Tyde ein Mächtiger. Ebenso ist Aerula, der Luftgeist, die Kraft, die alles bewegt. Diese fünf Elemente vereinigen sich in Vesta zum Gott der Welt. Und doch gibt es noch etwas, das über all den Elementen steht, außerhalb der Dinge, die man greifen und fühlen und mit seinen Gedanken fassen kann. Noch einen Gott? Ein Wesen, das als oberster Richter über den Göttern der Welten steht? fragten die anderen Wanderwolken. Ich meine das Schicksal, sagte ich. Jene Kraft, die die Wege der Elementargeister und des Herrn der Elemente ebnet, die Pfade des Lebens aus einem verwirrenden Irrgarten zu einem glorreichen Ziel führt. Das Schicksal ist etwas, das man nicht in wenigen Worten erklären kann. Das Schicksal läßt sich nicht in einen Körper eines Geistes oder eines Gottes zwängen. Es ist frei wie wir Wanderwolken. Und das Schicksal tritt in vielen Gestalten auf. Darum hatten wir bislang noch keinen Herrn über das Schicksal! Aber uns wurde ein Bote des Schicksals geschickt. Er ist kein Gott und kein Elementemeister, sondern ein gewöhnlicher Sterblicher. Gewöhnlich nicht in dem Sinn, daß er nicht mehr Fähigkeiten als andere Sterbliche besitzt. Die hat er, o ja! Aber beurteilt man ihn an seinen Äußerlichkeiten, unterscheidet er sich von keinem der anderen Sterblichen. Alles, was er besitzt, ist die Kraft, das Schicksal der anderen zu lenken. Und solch ein Begnadeter hat diese Welt in ihrer schwersten
Zeit nötig gehabt. Erstaunen und Verwirrung bei meinen Artgenossen. Von wem ich denn spreche, wollten sie wissen. Das Wirken einer solchen Schicksalskraft, von der ich rede, sei ihnen nicht aufgefallen. Ob ich Akkeron meinte, den Sohn Himurs, der mit List und Tücke Elementargeister übertölpelte und nach der Macht des Herrn der Elemente strebte? Nein, den meine ich nicht, sagte ich. Und wer ist dann dieser Mann Schicksal? Dragon. Da verstanden meine Schwestern überhaupt nicht mehr. Aeruvia, die Schöne mit den überreizten Innensinnen, die schon beim ersten Blitz am Horizont mit Aerulas Winden flieht, teilte vor Aufregung viel zu früh – ein Wolkenkind so schön wie sie. Freude unter uns allen. Aber selbst Aeruvia stand noch so sehr im Bann meiner Worte, als daß sie ihrem Neugeteilten ihre ganze Aufmerksamkeit hätte schenken können. Wie kannst du sagen, daß ein Mann des Schwertes, ein Kämpfer wie Dragon, das Schicksal unserer Welt in Händen hält? warfen sie mir vor. Und ich sagte mit viel Geduld: Dragon hat nicht die Macht der Götter, aber er hat die Kraft in sich, mit der man Götter lenken kann. Ohne sein Wirken würde diese unsere Welt nie zur Ruhe kommen. Und deshalb glaube ich, daß er vom Schicksal auserwählt wurde, die Elementargeister zu befreien und dem Herrn der Elemente die Freiheit zu geben. Seine Mission war vorbestimmt, ohne daß er es selbst wußte. Hört mir zu, was ich euch zu erzählen habe. Und paßt gut auf, denn dann werdet vielleicht auch ihr zu der Überzeugung kommen, daß Dragon das Schicksal unserer Welt ist …
2. Dragon flog auf mir zur Insel des Namenlosen, um Vesta aus seinem Gefängnis zu befreien. Das gelang ihm dann auch mit Hilfe von Erthus Hammer. Doch da war ich schon längst außer Gefecht gesetzt. Das wilde Land wurde mir zum Verhängnis. Der Boden tat sich unter mir auf und drohte, mich mitsamt Dragon zu verschlingen. Danach war ich halbtot, und Dragon zog allein weiter. Nachdem er Vesta befreit hatte, war ich wieder soweit genesen, daß ich den Herrn der Elemente und ihn in Richtung Osten fliegen konnte – nach Merlane, zu den Höhlen des Erdgeists. Als ich Vesta zum erstenmal sah, erschrak ich vor ihm. Das sollte der Herr der Elemente sein? Er wirkte schwach, war durchscheinend wie ein leuchtender Schatten. Könnt ihr euch einen leuchtenden Schatten vorstellen? Vesta war so körperlos wie ein Schatten, nur eben nicht düster wie ein solcher, sondern er leuchtete vor Lebensenergie. Aber weil er nicht viel davon hatte, und weil auch kaum Kraft und Macht in ihm war, so leuchtete er nur schwach. Erst als ihm dann Dragon Aerulas Inneres übergab und Vesta es sich einverleibte, da erstrahlte der Herr der Elemente in neuem Glanz. Und ich begann zu ahnen, welche überwältigende Erscheinung Vesta bieten würde, wenn er erst das Innere der anderen Elementargeister zurückbekäme. Es war für mich ein erhebender Anblick, als ich dabeisein durfte, wie Vesta das Innere Aerulas in seinen Körper einfügte. Dragon machte kein großes Ritual daraus. Die Übergabe von Aerulas Pfand wurde von ihm so schlicht vorgenommen, wie er alles tat; er reichte das ballähnliche Gebilde, bei dessen Anblick ich ehrfürchtig erschauerte, dem Herrn der Elemente wortlos. Und Vesta nahm es ohne Dank an sich. So handeln die Götter!
Aerula schickte uns überaus günstige Winde, so daß wir schnell über das von Tyde wildbewegte Meer hinwegkamen und das Festland erreichten. Hier machten wir einen Bogen um das Dschungelgebiet, in dem Vitu, der Lebensgeist regiert. Vitu wollte von Vesta noch nichts wissen. Ich hörte die Botschaft des Lebensgeistes nicht, aber aus der Unterhaltung zwischen Dragon und dem Herrn der Elemente erfuhr ich, daß es sicherer sei, dem Lebensgarten vorerst fernzubleiben. So wählte ich die Route über die Wüste und dann direkt auf die Ruinen von Merlane zu, unter denen die Höhlen des Erdgeistes lagen. Erthu erwartete uns bereits, das heißt, er hatte sich bereit erklärt, Vesta zu empfangen und sich in seine Obhut zu begeben. Die »Ritter der Wüste«, wie sich die Merlaner nannten, waren von unserem Kommen unterrichtet. Schon von hoch aus den Lüften sahen wir sie auf dem Hauptplatz stehen. Sie trugen ihre Festtagskleider, und ihre Reittiere waren ebenso prunkvoll geschmückt wie sie selbst. Ihre blankgeputzten Waffen blitzten in der Sonne. Sie hielten auf dem Hauptplatz eine große Fläche frei, auf der ich landen sollte. Doch hatten sie meine Größe unterschätzt, und es entstand ein Tumult, als die Menge zurückweichen mußte, um genügend Platz für mich zu schaffen. Ehrfürchtiges Raunen kam auf, als ich einen flaumigen Arm aus mir wachsen ließ, Vesta damit sanft ergriff und ihn auf den Boden setzte. Die Merlaner huldigten ihm. Scheu und Ehrfurcht sprachen aus ihrer Haltung. Sie waren sich dieses großen Momentes vollauf bewußt, und so gedachten sie Vestas nicht mit Pomp und Lärm, sondern mit stiller Andacht, wie es einem Gott zusteht. Sofort bildete sich eine Gasse, durch die Vesta schritt. Niemand wagte es, das Wort an ihn zu richten, oder sich ihm als Begleiter aufzudrängen. Niemand wagte es, ihm zu folgen, als er in einem der nächstliegenden Gebäude verschwand. Wie ganz anders verhielten sich die Merlaner, als ich in meiner Seite eine Treppe entstehen ließ, über die Dragon zum Boden
hinunterstieg. Fanfaren ertönten, die Menge brach in Jubelrufe aus. Die Frauen schwangen ihre Tücher, die Männer ihre Waffen. Es war der Empfang der Sterblichen für einen Sterblichen, der den Götterberg erstiegen hat. Kaum hatte Dragon mich verlassen, da stieg ich auf seine Bitte in die Höhe und dehnte mich zwanzig Mannslängen über den Ruinen zu meiner größten Weite aus. Auf diese Art und Weise spendete ich den Merlanern Schatten, die das Sonnenlicht scheuten wie kein anderes Volk. Von hier oben beobachtete ich die weiteren Geschehnisse. Und wenn ich folgendes, was ich berichte, auch nicht alles selbst miterlebt habe, so ist doch alles wahr. Ich habe aus Dragons Erzählungen und den Gesprächen der Merlaner untereinander sowie persönlichen Beobachtungen die Geschehnisse nachempfunden und kaum etwas hinzugefügt oder weggelassen. Ihr könnt mir höchstens vorwerfen, daß ich nicht alles richtig gesehen habe und dies oder das verzerrt wiedergebe. Aber werfe mir niemand vor, Dragon in einem falschen Licht erscheinen zu lassen. Denn ich bin seine Vertraute, und er teilt mir alles mit, was ihn bewegt. Herr Roter Bär selbst war es, der Dragon als erster begrüßte. Er preßte ihn zuerst wortlos an sich, als wollte er ihn erdrücken. Dann hielt er ihn von sich, um ihn schweigend zu betrachten. Entweder er war sprachlos vor Wiedersehensfreude, oder er sagte nur kein Wort, um die Feierlichkeit dieses Augenblicks gebührend zu unterstreichen. Und im Hintergrund schmetterten die Fanfaren, brach das Volk in Hochrufe aus. Dragon, der einst die Gesetze der Merlaner auf frevelhafte Weise gebrochen hatte und später dann die Gunst Erthus gewonnen hatte, kehrte nun als Begleiter des Herrn der Elemente zurück. »Deine Rückkehr, Dragon, soll für uns der Anlaß für ein viele Tage währendes Fest sein«, kam es endlich über die Lippen von Roter Bär. »Wir wurden von Erthu über dein Kommen unterrichtet, und
so war es uns möglich, alle Vorbereitungen zu treffen. Du hast die Wahl der Speisen und Getränke. Du bestimmst, welche Jungfrauen uns durch ihre Tänze erfreuen sollen, und du wählst die Waffen für die Turniere der nächsten Tage. Es wird mir eine besondere Ehre sein, mich mit dir zu messen und mit der ganzen Kraft eines Jahreskönigs zu versuchen, dir nicht zu unterliegen. Und Dragon …«, dabei senkte Roter Bär die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, »du hast die Wahl der ›Frau der Ersten Nacht‹. Aber – was sehe ich. Du siehst von der langen Luftreise recht mitgenommen aus. Dein Gewand ist verschmutzt, dein Gesicht von Staub und Schweiß bedeckt. Bevor wir das erste Tier schlachten, bevor mir noch einer ein Faß öffnet, werden wir für die Pflege deiner äußeren Erscheinung sorgen.« Hinter dem Jahreskönig von Merlane trat ein schlankes und liebreizendes Mädchens hervor. Sie trug einen Blumenkranz auf dem Kopf, der mit ihrem Haar zu einer kunstvollen Frisur verschlungen war. Ihr sonst so schlichtes, weißes Kleid zeigte auf der Brust einen farbenprächtigen Vogel, der seinen langen, gebogenen Schnabel in den ebenso farbenprächtigen Blütenkelch einer Blume tauchte. »Ich werde für Dragons Wohl sorgen«, sagte sie mit verschleiertem Blick. »Denn ich weiß als einziges Mädchen von Merlane, wie das Bad beschaffen sein muß, das Dragons Körper braucht. Nur ich weiß, welche Wärme das Wasser haben muß, welche Badesalze ihm guttun und mit welchem Druck man die Riechöle auf seiner Haut zu verreiben hat. Nicht wahr, Dragon, du könntest dir keine andere ›Frau der Ersten Nacht‹ vorstellen als mich!« »Meine liebliche Honigvogel«, rief Dragon lachend aus und schloß sie in die Arme. »Wie sehr ich deine fürsorgliche Hand, deinen hingebungsvollen Körper und den Duft deines Haares vermißt habe.« »Das alles hast du wieder. Für viele Tage – oder für länger.« Ihre Hand strich zärtlich über sein Gesicht, so als seien sie ganz
unter sich und nicht inmitten einer neugierigen Menge. Als ihre Finger seine Stirn berührten, zuckten sie zurück. »Was ist mit deinem Stein?« fragte sie. Dragon wurde sofort ernst. »Vesta hat sich zurückgenommen, was ihm gehört. Das erinnert mich an meine Pflichten.« Er löste sich aus Fräulein Honigvogels Umarmung und setzte sich zwischen ihr und Herrn Roter Bär in jene Richtung in Bewegung, in die auch Vesta gegangen war. »Ihr wißt, daß ich nicht zum Vergnügen hier bin. Deshalb fürchte ich, daß ich die Labung durch deine Hände für später aufschieben muß, liebreizende Honigvogel. Vesta erwartet von mir, daß ich ihn sofort in die Höhlen des Erdgeistes begleite.« Es schien mir ganz so, als drückte das Gesicht von Fräulein Honigvogel Unmut darüber aus, daß Dragon die Wünsche eines Gottes den ihren voranstellte. Ich sah, wie die drei durch die Gasse aus Menschen die Ruine erreichten, in der die schemenhafte Gestalt Vestas verschwunden war. Dragon gab Herrn Roter Bär und seiner Tochter durch ein Handzeichen zu verstehen, daß sie hier zurückzubleiben hatten. Dann wandte er sich um, und ich sah ihn in der Ruine verschwinden. * Dragon schilderte mir später den Weg in die Tiefe und zu den Höhlen Erthus nur in wenigen Worten. Das nicht etwa deshalb, weil er mich als unwürdig erachtete, mehr Wissen über diesen denkwürdigen Augenblick zu erhalten. Der Grund, warum er wortkarg war, lag woanders. Dragon sagte, daß für ihn alles wie in einem Traum gewesen sei. Er habe alles nur verschwommen wahrgenommen, ohne Einzelheiten erkennen zu können. Aber er wußte noch ganz genau, daß sich in den Höhlen des Erdgeists einiges verändert hatte. Die Gänge unter dem Stadtbereich von Merlane, die allgemein
zugänglich waren, hatten keine Veränderungen erfahren. Die Nutzpflanzen, die Getreidekorn und Wein spendeten, wurden wie ehedem angebaut. Hier grasten auch immer noch die Sarths, die Reittiere der Merlaner, und die Krutts und die Ganos, die den Ruinenbewohnern Milch und Wolle spendeten. Das Bild, das sich ihm hier im Schein der Leuchtpflanzen bot, hatte sich seit seinem letzten Besuch nicht gewandelt. Nur waren eben keine Hirten, Bauern und Wächter anzutreffen, weil sie sich alle zu Vestas Empfang eingefunden hatten. Möglicherweise waren sie auch von Erthu davongejagt worden, damit sie Vesta nicht behelligen konnten. Auch die steinefressenden Rattas und andere wilde Tiere waren anzutreffen. Doch Vestas Ausstrahlung schlug sie in den Bann – und wenn der Herr der Elemente in ihre Nähe kam, erstarrten sie zur Bewegungslosigkeit. Bis hierher war Dragon noch Herr seiner Sinne gewesen. Erst als sie ins Innere Reich Erthus kamen, wurde für ihn alles wie in einem Traum. Seine Augen vermittelten ihm nur noch verschwommene Bilder, manchmal fesselte ein einzelner Stein seinen Blick, dann wieder sah er nur andere unbedeutende Dinge, wie Ausschnitte des Bodens oder der Decke. Seine Ohren ließen ihn kein Geräusch hören, nicht einmal das seiner eigenen Schritte; seine Nase nahm keinerlei Gerüche auf. Von Vesta nahm er überhaupt nichts wahr. Erst als sie endlich vor Erthus Erscheinung standen, sah Dragon, wie Vesta sich in die Vision des Erdgeistes hineinbegab. Die Lichtwirbel, aus denen Erthu bestand, wurden chaotischer, als würde ein erbitterter Kampf stattfinden. Doch auch das trog, denn Vesta verließ die Erscheinung des Erdgeistes ruhigen Schritts. Dragon sah, daß zwischen seinen schemenhaften Händen ein seltsamer, faustgroßer Brocken schwebte, der gleichermaßen die Eigenschaften von Metall, Stein und Erde zu haben schien. Das war das »Innere Erthus«, das der Herr der Elemente in seinen Körper aufnahm.
Als Vesta später ins Freie trat, sah ich, daß die ihn umgebende Aura von Macht und Glorie sich noch weiter verstärkt hatte. Nun vereinte er bereits Aerula und Erthu in sich. Damit war Vestas Wiedergeburt weiter vorangeschritten.
3. Warum soll ich Dragon nicht als einen der ganz Mächtigen anerkennen, als einen Mann des Schicksals, da Vesta selbst ihn als Träger göttlicher Kraft bezeichnete? Er sagte es mit anderen Worten und nicht geradeheraus, sondern in geheimnisvoller Umschreibung. Aber er sagte es! Ich war noch immer der Schattenspender der sonnenscheuen Merlaner, als Dragon an der Seite des in neuer Macht erstrahlenden Vesta ins Freie kam. Wieder wurden sie von Meri-Meri Honigvogel und dem Jahreskönig Roter Bär erwartet. Hinter ihnen hatten Turnierreiter in voller Rüstung Aufstellung genommen. Vor ihnen waren Geschenke ausgebreitet, die aber meiner Meinung nicht von der Art waren, wie man sie einem Gott darbieten konnte. Es waren Gebrauchsgegenstände und keineswegs Opfergaben. »Dir, o Herr der Elemente, Beschützer unserer Welt, gehört unsere Stadt, und wir liegen dir zu Füßen«, empfing Herr Roter Bär Vesta, und es schien, als wolle er sich im voraus entschuldigen, daß er ihm keine Opfer dargebracht hatte. »Da dir alles gehört, was wir Sterbliche unser eigen nennen, haben wir es nicht gewagt, ein Geschenk für dich auszuwählen. Doch erlaube uns, zu deiner Huldigung und deiner Ehr, deinem treuen und mutigen Begleiter Dragon unsere Aufwartung zu machen.« »Es sei euch gestattet«, sagte Vesta mit einer Stimme, die von überall zu kommen schien. »Aber macht es kurz. Denn wir sind in Eile und müssen sofort wieder weiter.« Herr Roter Bär machte ein enttäuschtes Gesicht. »Ihr müßt sofort wieder weiter?« echote er. »Aber, so sage mir, Herr der Elemente, was wird aus dem rauschenden Fest, das wir dir zu Ehren vorbereitet haben?« Vesta fand es nicht der Mühe wert, ihm darauf zu antworten. Er nahm sofort wieder den Abstand eines Gottes zu seinen sterblichen
Untertanen ein. »Da ist nichts zu machen, Roter Bär«, wandte sich Dragon an den Jahreskönig. »Der Zeitpunkt für eine Freudenfeier ist noch nicht gekommen. Es gilt noch, Vitu, den Lebensgeist dazu zu überreden, sich wieder Vesta zu unterstellen. Und Akkeron, der Tyde und Skortsch bezwungen hat, muß erst besiegt werden, bevor wieder Friede auf dieser Welt herrscht.« »So ist es dir ernst damit, unsere Gastfreundschaft auszuschlagen?« fragte der Jahreskönig mit mehr Trauer als Ärger in der Stimme. Dragon klopfte ihm auf die Schulter. »Feiert ihr nur ruhig. Ich werde im Geiste bei euch sein.« Er drehte sich Fräulein Honigvogel zu. »Ich werde auch deiner gedenken, Meri-Meri, wenn die Nacht hereinbricht.« »Ich würde lieber deine Umarmung spüren, als davon zu träumen, Dragon«, erwiderte sie. »Ein andermal, Meri-Meri, wenn mich mein Weg wieder über Merlane führt«, tröstete Dragon sie. Ich habe einen scharfen Blick, und ich habe mich sicherlich nicht getäuscht, als ich es in Fräulein Honigvogels Gesicht zucken sah. Und ich bin auch sicher, daß Dragon schon in diesem Augenblick wußte, daß sie sich nie mehr wieder sehen würden. Ähnlich dachte auch Herr Roter Bär, denn sonst hätte er nicht so schwermütige Worte gebraucht – was gar nicht seiner Art entsprach. »Nun, wie dem auch sei, Dragon – wir wollten dir diese Geschenke zum Auftakt des Freudenfestes überreichen, so nimm sie nun denn als Abschiedsgeschenke.« Der Jahreskönig bückte sich und hielt Dragon einen kostbaren Schild hin. Er war achteckig und zeigte einen goldenen Drachen auf blauem Grund. »Nimm diese Wehr und trag sie in Andenken an die Ritter von Merlane bei dir, Dragon. Sie soll dir Schutz gegen alle deine Feinde und vor allem Bösen bieten.« »Das ist der prächtigste Schild, den ich je gesehen habe«, sagte
Dragon beeindruckt und schlüpfte mit der Linken durch die ledernen Haltschlaufen. Roter Bär überreichte ihm einen Langbogen, der fast so groß war wie Dragon selbst, mit den Worten: »Unsere besten Holzgerber haben ihre Künste an dem Bogen erprobt, und der vortrefflichste Waffenschmied hat die Sehne gespannt. Besiege damit deine Feinde der Lüfte und der Ferne.« Dragon nahm den Bogen ebenfalls in die Linke. Roter Bär hatte ein funkelndes Kurzschwert zur Hand genommen. Er zog es halb aus der kunstvoll verzierten Lederscheide, und ich ließ durch eine Öffnung in mir einige Sonnenstrahlen fallen, damit sie sich in dem glatten Metall der Klinge spiegeln konnten. Roter Bär hielt das Schwert so, daß der kostbar gearbeitete Knauf, der in einem Drachenflügel endete, sichtbar war. »Führe dieses tödliche Metall nicht nur mit starker Hand, sondern auch mit kühlem Verstand.« Dragon wußte, was er den Bewohnern von Merlane schuldig war, und so sagte er in der hier gewohnten feierlichen Art: »Möge es sein, daß Vesta einen schnellen Sieg erringt und Friede in diese Welt einkehrt, auf daß es mir erspart bleibt, diese Klinge in Blut zu tränken.« Jetzt trat wieder Fräulein Honigvogel zu ihm. Sie hielt einen Umhang aus blauem Tuch vor sich, auf dessen Rückenpartie das gleiche Motiv wie auf dem Schild prangte: ein goldener Drache. Sie kam an Dragons Seite, legte den Umhang um seine Schulter und befestigte ihn. »Daß du mich nicht ganz vergißt, Geliebter«, sagte sie dabei. »Wenn du eine andere Frau umarmst, dann nimm diesen Mantel bitte ab. Trage ihn in Gedanken an mich, denn ich habe viel Liebe für ihn aufgewandt.« »Danke dir, geliebte Honigvogel«, sagte Dragon. Er seufzte. »Dein Anblick läßt mir den Abschied nur noch schwerer fallen.« »Dann bleibe …« Fräulein Honigvogel erschrak selbst über ihre Kühnheit, den
Geliebten von seinem Feldzug gegen die Mächte des Bösen abzuhalten zu versuchen. Sie verstummte, und Dragon drückte sie kurz an sich. Dragon ließ sie wieder los, als Vesta, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, sich bemerkbar machte. Der Herr der Elemente tat nichts, um Aufmerksamkeit zu erregen, sondern er wollte ganz einfach, daß man seiner gewahr wurde – und es geschah. Ich vernahm den lautlosen Befehl Vestas, ihn zu mir zu nehmen. Und so senkte ich mich tiefer auf den Marktplatz von Merlane hinab und schickte einen wallenden Tragflügel aus, den Vesta besteigen sollte. »Es wird Zeit für mich …«, bedauerte Dragon und schenkte Fräulein Honigvogel einen letzten Blick. »Geh nicht mit leeren Händen aus Merlane fort, Herr der Elemente«, rief da der Jahreskönig plötzlich aus und trat vor Vesta hin. »Laß uns, die wir immer treue Diener Erthus waren, auch dir beweisen, daß wir dir ergebene Untertanen sind. Die Ritter aus Merlane sind kampferprobte Männer. Gewähre ihnen die Gunst, an deiner Seite in den kommenden Kampf gegen Akkeron zu ziehen.« Vesta hatte den Tragflügel, den ich vor ihm ausbreitete, bereits bestiegen, mir aber noch nicht aufgetragen, ihn zu mir heraufzuheben. So wartete ich noch. »Die Merlaner sind guten Willens, das sehe ich«, sprach Vesta mit göttlicher Stimme. »Wieviele Krieger könntest du aufbieten?« »Zwei Hundertschaften – bis an die Zähne bewaffneter Ritter«, antwortete Roter Bär. »Zwei Hundertschaften braver Ritter gegen Tausende wilder Dalaugiri«, meinte Vesta. »Das wäre ein zu ungleiches Kräfteverhältnis. Es bedarf schon ganz anderer Kräfte, um Akkeron Einhalt zu gebieten.« »Die Merlaner verstehen sich auf das Kämpfen«, schaltete sich Dragon ein. »Und wenn wir wenigstens zweihundert von ihnen zur Unterstützung hätten, könnte das entscheidend für den Endkampf
sein.« Von Vestas Schweigen ermutigt, fügte Dragon schnell hinzu: »Ob wir die Ritter mitsamt ihren Reittieren mit uns nehmen können, hängt natürlich ganz davon ab, ob Aerula-thane wieder so weit genesen ist, daß sie befördern kann.« Wärst du dazu in der Lage, Aerula-thane? wandte sich Dragon in Gedanken an mich. Ich fühlte mich stark genug, zwei Hundertschaften mitsamt ihren Reittieren zu jedem Ort der Welt zu fliegen. Und das ließ ich Dragon auch wissen. Doch da traf mich Vestas zurechtweisender Gedanke wie ein Blitz, so daß ich mich sofort wieder in mich kehrte. »Ich will glauben, daß die Merlaner tapfer sind und es im Kampf gegen Dalaugiri aufnehmen können«, sagte Vesta nun. »Aber wir können ihr Angebot aus einem ganz bestimmten Grund nicht annehmen. Und nun komm, Dragon. Wir können hier nicht länger verweilen, auf uns wartet eine schwere Prüfung.« Dragon machte eine Geste der Hilflosigkeit in Richtung von Herrn Roter Bär und stieg zum Herrn der Elemente auf meinen Tragflügel. Ich hob beide mühelos hoch und ließ sie sanft auf meinem Rücken nieder. Vesta wies mich an, Kurs in südliche Richtung zu nehmen, und ich schwang mich mit Unterstützung der Aufwinde in die Höhe. Die Ruinen von Merlane versanken unter uns. Dragon saß an meinem Rand, die Rechte, zum Gruß erhoben. Sein blauer Umhang wehte in Aerulas Hauch. »Warum hast du die Merlaner so vor den Kopf gestoßen, Vesta?« fragte er jetzt. »Sage nur nicht, es sei das Vorrecht der Götter, Sterbliche nach Belieben zu demütigen. Sie hätten im Kampf gegen Akkeron ihr Leben für dich hingegeben!« So konnte nur ein Mann wie Dragon ungestraft mit dem Herrn der Elemente reden. Und nur Dragon durfte sich auch eine Antwort erwarten. »Ich will keine sinnlosen Opfer«, sagte Vesta. Und dann sagte der Herr der Elemente das, was ich so auslegte, daß er Dragon als
Träger göttlicher Macht bezeichnete. »Die Merlaner wären von Anfang an zum Sterben verurteilt gewesen. Nur Wesen, denen die Kraft der Götter innewohnt dürfen hoffen, die kommende Auseinandersetzung zu überstehen. Sterbliche sind von vornherein verloren.« Dragon legte diese Worte des Herrn der Elemente aber ganz anders aus als ich. Er wurde sehr nachdenklich. Und nach einer Weile des Schweigens meint er: »Aus deinen Worten läßt sich für mich nur ein Schluß ziehen, Vesta. Ich selber, der ich doch auch ein Sterblicher bin, wäre demnach ebenfalls verloren.« Der Herr der Elemente war um eine Antwort nicht verlegen. Er entgegnete ausweichend: »Wenn du nicht siegst, bin ich ebenfalls verloren. Gewinnst du aber den Kampf, dann werde ich wieder über diese Welt herrschen und dich belohnen können, indem ich dir den Weg zum anderen Weltentor weise. Wärest du damit wohl zufrieden?« Was für eine Frage! Dragon war durch ein Weltentor nach hier verschlagen worden, ohne zu wissen, ob es für ihn jemals eine Rückkehr geben würde. Denn das eine Weltentor wurde zerstört, kaum daß er hindurchgegangen war. Und nun eröffnete ihm Vesta, daß es noch ein zweites Weltentor gab. Dragon hatte es geahnt, aber Vesta bestätigte es ihm erst jetzt und ließ ihn wissen, daß er ihn sogar an sein Ziel bringen würde. Und dafür würde Dragon alles tun.
4. Vitus Reich, der »Garten des Lebens«, lag einen Tag Luftreise südöstlich von Merlane. Der Flug ging reibungslos vor sich, es kam zu keinen Zwischenfällen, obwohl ich damit gerechnet hatte. Denn zweifellos war Himurs Sohn Akkeron davon unterrichtet, daß Vesta dem gleichen Ziel wie er zustrebte. Deshalb nahm ich an, daß Akkeron die beiden von ihm unterdrückten Elementargeister Tyde und Skortsch gegen uns einsetzen würde. Von Tyde hatte ich ja nicht viel zu befürchten, weil wir weitab vom Meer über das Festland dahinflogen. Aber Skortsch hätte zweifellos einige Möglichkeiten gehabt, mich anzugreifen; es gab unter der Wüste und selbst entlang des Dschungels von Vitu genug Feueradern, die Skortsch nach oben lenken, durch die Erdkruste brechen lassen und in den Himmel schleudern konnte. Doch offenbar war Akkeron mit den Vorbereitungen für die entscheidende Schlacht gegen Vitu zu stark beschäftigt, um sich um uns zu kümmern. Dragon und Vesta unterhielten sich lange über dieses Problem. Sie waren natürlich über jeden von Akkerons Schritten unterrichtet. Aerula war überall und beobachtete den Weg der Flotte der Wracks, mit der Akkerons Dalaugiri in der von Tyde errichteten Wasserstraße dem Lande Vitus zustrebten. Dragon und Vesta waren sicher, daß Akkeron zuerst Vitu in seine Gewalt bekommen wollte, bevor er sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Herrn der Elemente einließ. Mit drei Elementargeistern in seiner Gewalt, wäre Akkeron Vesta überlegen, der nur zwei Elementargeister seine Verbündeten nennen konnte. Das war auch der Grund, warum Vesta zuerst Vitu aufzusuchen gedachte. Er wollte nichts unversucht lassen, um den Lebensgeist zu überreden, sich wieder unter seine Herrschaft zu begeben. Bisher
waren jedoch alle Versuche Aerulas und Erthus, eine Verbindung zwischen Vitu und dem Herrn der Elemente herzustellen, vergebens gewesen. Vitu schwieg auf Vestas Anrufe. Das war mir nicht ganz verständlich, denn der Lebensgeist hatte den anderen Elementargeistern gegenüber versichert, sich nicht freiwillig in Akkerons Gewalt zu begeben. »Vitus Starrsinn kann ihr zum Verhängnis werden«, sagte Vesta bei Einbruch der Nacht. Wir hatten die Wüste längst hinter uns gelassen, und unter uns breitete sich der endlose Teppich des Dschungels aus. »Vitu hat kaum Möglichkeiten, sich Akkerons Attacken zu erwehren. Sie sollte erkennen, daß sie in der bevorstehenden Auseinandersetzung starke Verbündete benötigt, will sie nicht als Verlierer daraus hervorgehen.« »So hilflos, wie du sie darstellst, kann Vitu nicht sein«, erwiderte Dragon. »Als Lebensgeist steht ihr eine riesige Armee aus vielfältigen Geschöpfen zur Verfügung. Auf jeden von Akkerons Dalaugiri-Krieger kommen hundert oder tausend Geschöpfe Vitus. Auf diese Übermacht wird der Lebensgeist bauen.« Vesta machte eine Bewegung mit dem schemenhaften Kopf, die ich als Verneinung auffaßte. »Vitu ist in ihrer scheinbaren Allmächtigkeit dennoch unvollkommen«, erklärte Vesta; im Gespräch mit Dragon bemühte sich der Herr der Elemente nicht, seiner Stimme einen göttlichen Klang zu geben. »Sie ist Herr über das Leben, nicht aber auch über den Tod. Vitu kann Leben erschaffen, versteht aber nichts von Kämpfen oder gar Töten. Die anderen Elementargeister beherrschen den Tod in allen seinen Formen viel besser als Vitu.« »Du glaubst doch nicht, daß sich Vitu Akkeron kampflos ergeben wird?« sagte Dragon ungläubig. »Nicht, wenn wir rechtzeitig eintreffen und ich sie zur Vernunft bringen kann«, erklärte Vesta. »Ich muß Vitus Starrsinn brechen.« Dragon sprach weitere Gedanken und Überlegungen aus, die Vitus Verhalten betrafen, und er kam zu der Überzeugung, daß der Lebensgeist wahrscheinlich doch mehr vom Kämpfen verstand als
Vesta wahrhaben wollte. Die zweitausend Jahre der Freiheit konnten auch Vitus Verhalten verändert haben. Aerula hatte berichtet, daß Vitu der Flotte der Wracks auf der Fahrt vom Land der Feuerberge zu ihrem Hoheitsgebiet schon einigen Widerstand geboten hatte. Immer wieder war es dem Lebensgeist gelungen, die Meeresbewohner auf die Besatzung der Flotte zu hetzen. Dagegen hatte nicht einmal Tyde etwas tun können, so daß an die 2000 Dalaugiri in den Fluten des Südmeers den Tod gefunden hatten. Auch Aerlua hatte versucht, durch heftige Stürme die Wracks zum Kentern zu bringen. Doch hatte Tyde das – auf Akkerons Geheiß – zu verhindern gewußt. Der Wassergeist hatte das Meer geteilt, zu hohen Wänden aufgetürmt, in deren Schutz die Flotte der Toten in der von Tyde erzeugten Strömung gespenstisch dahinglitt. Auf diese Weise, den Stürmen Aerulas und den Attacken von Vitus Meeresgeschöpfen zum Trotz, strebten 15.000 Dalaugiri in unmittelbarer Nähe von Vitus Reich der Küste zu. Diese Nachricht übermittelte uns Aerula im Morgengrauen. Der Herr der Elemente war erschüttert. Er trug mir auf, eine der immer in meiner Nähe fliegenden Kleinwolken zu rufen und sie zur Küste zu schicken, um Akkerons Heer zu beobachten, während ich auf dem schnellsten Weg zum »Garten des Lebens« zu fliegen hatte. Ich hatte meine größten Segel gesetzt, die sich unter Aerulas mächtigem Atem bis zum Zerreißen spannten. Mir schmerzte unter dieser gewaltigen Anstrengung jede Faser meines Körpers, ich stand mehr Qualen aus, als ich sie unter den Wolkenstechern des Piraten Darraco jemals erdulden mußte. Aber ich ertrug sie um Vestas Willen. Denn die Zukunft unserer Welt hing davon ab, wie schnell wir Vitu erreichten. Vesta mußte noch vor Akkeron im »Garten des Lebens« eintreffen. Und während ich mit prallen Segeln in Windeseile dem Sitz des Lebensgeistes zustrebte, war ich mit meinen Gedanken bei der
Kleinwolke, die sich auf einem Erkundungsflug zur Küste befand. * Genjau griff seinem unruhig schnaubenden Girion in die Mähne und versuchte, es durch Druck auf die Nervenfasern zu beruhigen. Er teilte den Schmerz des Tieres, das schon eine endlos scheinende Zeit keinen festen Boden mehr unter den Hufen gehabt hatte. Nur die morschen, schwankenden Schiffsplanken. Und rundherum nichts als die steil aufragenden, schäumenden Wasserwände, durch die immer wieder die schrecklichen Geschöpfe Vitus hindurchstießen. Genjau starrte zu dem Leck hinüber, hinter dem es von glotzäugigen Fischen nur so wimmelte. Wie er diese Wasserteufel haßte! Sie ängstigten sein Girion. Wieder griff er seinem Reittier besänftigend in die Mähne. »Ruhig, meine Seele«, flüsterte er ihm zu. Wieder zog das große Leck seinen Blick magisch an. Wie durch ein Wunder wurde das Wasser davon abgehalten, durch diese Öffnung und die anderen, die dieses Totenschiff zu einem löcherigen Gebilde machten, einzudringen. Das war Tyde zu verdanken, dem Wassergeist, der ein Diener ihres göttlichen Heerführers Akkeron war. Plötzlich begann das Wasser im Leck zu schäumen. Eine Wasserschlange stürzte daraus hervor und schoß auf Genjaus Girion zu. Nach vorne zu springen, das Krummschwert zu zücken und dem Scheusal von einer Wasserschlange den Schädel abzuschlagen – das alles wirkte bei dem flinken, krummbeinigen Dalaugiri-Krieger wie eine einzige Bewegung. Und es lief alles so schnell ab, daß sein Girion den Vorfall überhaupt nicht mitbekam. Genjau versetzte dem noch zuckenden Kadaver der Wasserschlange einen Tritt und stapfte auf seinen krummen Beinen unsicher zum Vorschiff. Überall hockten Dalaugiri und machten
unglückliche Gesichter. Viele von ihnen hatten auf der langen Seereise ihre Girions verloren. Genjau hatte sie davon abgehalten, sich zu entseelen, bevor sie sich für das ihnen angetane Leid rächen konnten. Sie alle sehnten jetzt die Auseinandersetzung mit den Heerscharen Vitus herbei. »Nicht mehr lange, tapfere Dalaugiri, dann habt ihr eure Rache«, tröstete Genjau die Krieger. Er erreichte den Bug, wo Akkeron stand. Er wirkte neben einem Dalaugiri wie ein Riese; seine aufrechte Haltung, die geraden Beine und die jugendfrische, goldfarbene Haut waren weitere Merkmale, die ihn schon äußerlich von den wilden, zottigen Dalaugiri unterschieden. Und dann war da noch das dritte Auge auf seiner Stirn, das starr und blicklos war, aber bei dessen Anblick man fühlte, daß es in die Dinge hineinsehen und deren Natur ergründen konnte. »Bald sind wir an unserem Ziel angelangt, Genjau«, sagte Akkeron, ohne den Dalaugiri anzusehen. »Ist dir noch nicht aufgefallen, daß die Wasserwälle links und rechts von uns niedriger werden?« »Was hat das zu bedeuten?« fragte Genjau mißtrauisch. »Kannst du es dir nicht denken?« »Ich denke mir, daß wir nun den Stürmen Aerulas hilflos ausgeliefert sein werden.« »Du solltest meiner Macht mehr vertrauen.« »Ich vertraue deiner Macht, Zarath – aber letztlich verlasse ich mich nur auf mein Schwert.« Als sie vom Land der Feuerberge aus in See gestochen waren, war Genjau nur ein Dalaugiri unter Tausenden gewesen. Sein Schwert hatte ihm dazu verholfen, sich an die Seite Akkerons heranzukämpfen. »Paß jetzt gut auf, Genjau«, ertönte Akkerons Stimme in seine Gedanken hinein. Die Wasserwände wichen auf einmal gänzlich zur Seite. Eine Welle hob ihr wrackes Schiff zur Oberfläche hinauf – und Genjau
erblickte unweit vor sich goldgelben Sandstrand, und dahinter ein breites Band von Pflanzengrün. »Land!« Die Nachricht breitete sich unter den Dalaugiri wie ein Lauffeuer aus, Nun kam Leben in sie. Sie sprangen auf die Beine, liefen an die Bordwand – und wäre Tyde nicht dagewesen, um das Schiff zu stützen, es hätte auf der einen Seite Übergewicht bekommen und wäre gekentert. Land! Die Girions schnaubten, wieherten und scharrten mit den Hufen. Auch sie mußten wissen, daß sie bald wieder festen Boden unter sich spüren würden – sie rochen den Duft der Pflanzen, der vom Land zu ihnen herüberwehte. Genjau blickte sich um. Er entdeckte, daß sie an drei Seiten von Land umgeben waren. Überall stießen nun die Wracks aus der tiefer liegenden Wasserstraße empor und glitten auf dem glatten Wasserspiegel in die Bucht hinein. »Warum hast du uns ausgerechnet hierhergebracht?« sagte Genjau vorwurfsvoll, und seine umherwandernden Augen versuchten, den Dschungelrand zu durchdringen. »Diese Bucht wäre gut für einen Hinterhalt geeignet.« Akkeron lächelte. »Das hast du richtig erkannt, Genjau. Es ist auch ein Hinterhalt!« Genjaus muskulöser Arm, der von Stammesnarben übersät war, zuckte unwillkürlich zum Schwert. »Was treibst du mit uns für ein Spiel, Zarath?« fragte der Dalaugiri. »Wenn du wußtest, daß uns hier ein Hinterhalt erwartet, hättest du uns darauf vorbereiten sollen.« »Damit Vitu gewarnt worden wäre?« Akkeron schüttelte den Kopf. »Nein, Genjau, das durfte ich nicht wagen. In dieser Situation ist Überraschung unsere stärkste Waffe. Vitu denkt, daß er das Überraschungsmoment für sich hat. Aber ich wurde von Tyde gewarnt. Jetzt werden wir Vitu die erste große Niederlage zufügen – noch vor der ersten großen Schlacht.« Genjau sah seinen Herrscher verständnislos an. Doch dieser gab
ihm keine weiteren Erklärungen mehr. Er hatte die Augen leicht geschlossen und machte einen entrückten Eindruck. Genjau ahnte, daß er sich in Gedanken beim Wassergeist Tyde befand. Akkerons geistige Abwesenheit dauerte aber nicht lange. Dann sagte er wieder zu Genjau: »Vitu hat alle verfügbaren Lebewesen des Südmeers in diese Bucht gerufen. Sie sollen so lange hier warten, bis alle unsere Schiffe eingelaufen sind, um sie dann mit der Masse ihrer Körper zu zermalmen. Aber soweit wird es nicht …« Akkeron vollendete den Satz nicht mehr. Plötzlich geriet das Meer in Bewegung, es wich aus der Bucht zurück. Die Schiffe wurden aber seltsamerweise nicht von der Strömung erfaßt und ins offene Meer hinausgetragen. Sie blieben auf ihren Standorten und liefen auf Grund auf, als das Wasser unter ihnen fortfloß. Das heißt, kaum ein Kiel bekam wirklichen Meeresboden zu spüren. Denn die ausgetrocknete Bucht war mit unzähligen Körpern verschiedenartigster Meeresbewohner aller Größen bedeckt. Vitu hatte seine Geschöpfe hierhergerufen, damit sie die Schiffe der Dalaugiri zerstörten und sie selbst fraßen, zermalmten und ertränkten. Doch mit Hilfe Tydes drehte der kluge Akkeron den Spieß um. Er ließ den Meeresbewohnern vom Wassergeist das lebensnotwendige Naß entziehen, so daß sie plötzlich auf dem Trockenen lagen. Selbst einige riesige Therani lagen im schnell austrocknenden Meeresschlamm und gaben jämmerliche Klagelaute von sich, und zwischen ihnen peitschten Raubfische mit ihren Flossen die Luft, zuckten gallertartige Tiefseeungeheuer und schlängelten sich verzweifelte Schlangenfische. Die Dalaugiri hätten so lange an Bord der Totenschiffe bleiben können, bis die Meeresgeschöpfe verendet waren. Doch das widerstrebte einfach ihrer Natur – wo sie dem natürlichen Tod zuvorkommen und gewaltsamen Tod bringen konnten, da nützten sie ihre Gelegenheit.
Sie sprangen mit wildem Geheul von Bord der Schiffe, oder holten ihre Girions und preschten mit ihnen über das von Kadavern übersäte Meeresbett. Akkeron sah vom Bug seines Wracks dem Treiben der Dalaugiri lächelnd zu. Sollten sie sich ruhig austoben, das würde sie auf den Geschmack bringen. * Die Dalaugiri lagerten erschöpft, aber zufrieden entlang des breiten Strandes. Akkeron schritt mit Genjau an der Seite durch ihre Reihen hindurch. Der Sohn Himurs war nicht nur der Feldherr der DalaugiriKrieger, sondern auch ihr Zarath, was einem Halbgott mit der unumschränkten Macht über Leben und Tod gleichkam. Kein Dalaugiri würde zögern, sich auf seinen Befehl hin selbst zu entleiben oder sein eigenes Girion zu töten, was einem Dalaugiri sogar noch schwerer fiel. Akkeron hatte außer seiner weltlichen Waffe, einem Krummschwert noch das tönerne Behältnis mit der Ewigen Flamme Skortschs und das eiförmige Ewige Naß von Tyde bei sich – außerdem den Staev, den Herrscherstab Vestas, in dem ein kleiner Teil der Macht eines jeden Elementargeistes vereinigt war. Die Dalaugiri hatten die Wirkung dieser göttlichen Machtwerkezuge schon etliche Male zu sehen bekommen – und waren bei ihrem Anblick immer wieder aufs neue entsprechend beeindruckt. »In deine Krieger kommt endlich wieder Leben, Genjau«, sagte Akkeron zufrieden. »Es sind deine Krieger, Zarath«, erwiderte der Dalaugiri. »Du hast sie von Sieg zu Sieg geführt und sie sicher über das tückische Meer geleitet.« »Ich habe versprochen, daß sie eines Tages über die ganze Welt herrschen werden. Und dieses Versprechen gedenke ich zu halten.
Nicht mehr lange, dann werde ich dem besiegten Vitu die Wurzel des Lebens entreißen und danach auch die beiden letzten Elementargeister in meine Gewalt bringen.« Einige Dalaugiri hatten sich Fische aus dem ausgetrockneten Meeresbecken der Bucht mitgebracht und brieten sie über kleinen Feuern, die Akkeron aus Skortsch Innerem hatte entstehen lassen. Als die Krieger auch ihre Girions mit Fischfleisch füttern wollten, weigerten sich diese, es anzunehmen. »Das Leben des Meeres stinkt«, sagten die Dalaugiri. Und überall rotteten sie sich zusammen, um in den nahen Dschungel auf Jagd zu gehen. Aber viele von ihnen kamen nicht mehr zurück. Vitu, der die Vorkommnisse in der Bucht beobachtete, hatte ihnen Heerscharen seiner Geschöpfe entgegengeschickt, unter deren Attacken etliche Dalugiri fielen. Die anderen aber kamen mit reicher Jagdbeute zurück. Sie berichteten ihren Kameraden von einem wahren Tierparadies, in dem das eßbare Wild so dicht stand, daß man mit einem Schwertstreich manchmal zwei Tiere erlegen konnte. Man brauchte gar keinen Speer zu werfen und auch nicht zu Pfeil und Bogen zu greifen. Akkeron hatte den Dalaugiri untersagt, wie die Wilden in den Dschungel einzufallen, weil sie dann in von Vitu vorbereitete Hinterhalte laufen würden. Der Sohn Himurs und Zarath der Dalaugiri bestimmte gewisse Gebiete zum Jagdrevier, setzte dann Skortsch und Tyde ein, die durch Buschbrände und Überschwemmungen die Tiere zusammentrieben, so daß die Dalaugiri sie ungefährdet erlegen konnten. Jetzt war Fleisch genug für alle vorhanden. Auch für die Girions. Die Dalaugiri hatten Mühe genug gehabt, ihre Reittiere davon abzuhalten, in den Dschungel einzufallen und sich an dem frischen Grün der Pflanzen gütlich zu tun. Die Girions waren nun einmal hauptsächlich Pflanzenfresser, und da sie während der langen,
beschwerlichen Seereise nur die gleiche karge Kost wie ihre Reiter vorgesetzt bekommen hatten, wollten sie sich mit Heißhunger auf den Dschungel stürzen. Zu anderen Zeiten hätten die Dalaugiri sie gewähren lassen. Doch unter diesen besonderen Voraussetzungen nicht. Eine große, entscheidende Schlacht stand bevor! Und deshalb fütterten die Dalaugiri ihre Reittiere mit frischem, rohem Fleisch. Das machte sie wild und schärfte ihre Sinne. Man merkte es den Girions an, daß das rohe Fleisch bereits seine Wirkung tat. Sie waren unruhig, konnten nicht mehr stillstehen, wenn ihre Begleiter sie zwangen, sich hinzulegen, kamen sie sofort wieder auf die Beine, sträubten ihre Mähnen, scharrten mit den Hufen ungeduldig im Boden, stießen ihre Herren mit den Schnauzen an, schnaubten herausfordernd. Die Dalaugiri wußten die Unruhe ihrer Girions zu deuten und wurden selbst davon angesteckt. »Wann kämpfen wir endlich?« Und Akkeron wußte sie zu beruhigen. »Hört, tapfere Dalaugiri, was euer Zarath zu sagen hat!« dröhnte seine mächtige Stimme einem Donnergrollen gleich über den Stand vor Vitus Reich – dem Garten des Lebens. Die Hand mit dem unterarmlangen Staev, der dunkel und drohend von sich aus leuchtete, wies auf den Dschungel. »Hier beginnt das Reich unseres Feindes. Wir stehen an der Grenze zu Vitus Garten. Und hier beginnt auch das Schlachtfeld. Wir werden aus dem Garten des Lebens einen Todesacker machen, in dessen Boden die Gebeine von Vitus Geschöpfen modern sollen. Bereitet euch auf die Schlacht vor. Denn schon bald werde ich das Zeichen zum Angriff geben. Und nun nehmt noch den Segen Tydes auf, sein unversiegbarer Quell soll euren Durst stillen.« Akkeron hielt vor den ehrfürchtig staunenden Dalaugiri den faustgroßen Wassertropfen in die Höhe, der wie das dritte Auge in seiner Stirn funkelte. Die Dalaugiri verstummten, mit ihren geschlitzten Augen sahen sie, wie Akkeron das Ewige Naß Tydes in die Luft warf.
Sofort entsprangen dem geheimnisvollen Tropfen unzählige Wasserquellen, die sich in Fontänen über die Dalaugiri-Krieger ergossen. Jeder der Krieger wurde von Wasser besprüht, konnte es in seinen durstig geöffneten Mund fließen lassen, oder sich damit Abkühlung verschaffen. Akkeron holte den wie einen Edelstein funkelnden Wassertropfen mit einem Gedankenbefehl zurück. Während die Dalaugiri ihren Durst löschten, entdeckte der Sohn Himurs unter den unbeseelten Wolken am Himmel auch ein Luftgeschöpf Aerulas – eine kleine, unscheinbare Wanderwolke. »Sieh an, Aerula läßt uns immer noch beobachten«, murmelte Akkeron belustigt. »Wahrscheinlich wird diese Wanderwolke Vesta und dessen Kampfgefährten Dragon sofort Bericht erstatten, wenn ich meine Dalaugiri zum Angriff auf Vitus Lebensgarten führe.« Während der Fahrt über das Südmeer hatte Akkeron oft Wanderwolken über den Himmel treiben sehen. Da es sich nur um stille Beobachter handelte, hatte ihn ihre Anwesenheit nie gestört – obwohl er einige von ihnen aus purer Zerstörungswut mittels Skortschs Innerem vom Himmel hatte holen lassen. Die Wanderwolke störte ihn auch diesmal nicht besonders. Aber er fand, daß er vor den Augen der abergläubischen Dalaugiri den Feuergeist einsetzen sollte. Und so nahm er den Tonbehälter zur Hand, öffnete ihn. »Wie diese Wanderwolke sollen alle unsere Feinde in Skortsch eingehen!« rief er, während aus der Öffnung des Behälters eine kleine, kalte Flamme züngelte, rasend schnell größer und größer wurde und als sonnenheiße Waberlohe in den Himmel hinaufschoß … * Die kleine Wanderwolke übermittelte mir noch Akkerons letzte Worte. Dann verstummten ihre Gedanken plötzlich – und ich hörte nie mehr wieder von ihr.
5. »Akkeron hat also bereits das Festland erreicht«, sagte Vesta bedrückt, nachdem ich den Bericht der Wanderwolke an ihn weitergeleitet hatte. Wir flogen immer noch über den endlos scheinenden Dschungel dahin. Wir waren schon fast einen ganzen Tag unterwegs, ohne eine Rast eingelegt zu haben. Vesta und Dragon wurden von mir mit Wasser und Nahrung versorgt. Sie hatten einige Zeit geruht – das heißt, sie hatten still dagelegen und kein Wort miteinander gewechselt. Aber ich wußte, daß keiner von ihnen wirklich geschlafen hatte. Vesta nicht, weil er als Gottwesen keinen Schlaf benötigte. Und Dragon nicht, weil ihn seine quälenden Gedanken wachhielten. Er teilte sie mir einige Male mit, und so wußte ich, daß er sich mit dem zweiten Weltentor beschäftigte, dessen Vorhandensein der Herr der Elemente erwähnt hatte. Womit quälst du dich, Dragon, drang ich in seine Gedanken, als ich merkte, daß er keinen Schlaf finden konnte. Das Weltentor, Aerula-thane … Jetzt, da ich weiß, daß es einen Weg zurück in meine Welt gibt, kann ich den Augenblick kaum mehr erwarten, ihn zu gehen. Auf einmal tauchen in meinem Geist all jene Gesichter auf, die meinen Freunden gehören. Meine geliebte Amee – es hat im Grunde nie eine andere Frau als sie für mich gegeben … Parthos, mein treuester Freund … Nabib, der Händler, Agrion, Herrin der Amazonen – Kim, Kano und Yina. Was mag inzwischen aus ihnen geworden sein? Ich bin für sie tot, aber sie leben noch für mich, und ich sehne mich zu ihnen zurück. Du wirst das Tor zu deiner Welt finden, Dragon. Vesta hat es dir versprochen, versuchte ich ihn zu beruhigen. Vesta wird Wort halten, falls wir den alles entscheidenden Kampf gewinnen, kamen Dragons zweifelnde Gedanken. Aber plötzlich hat mich alle Hoffnung verlassen, als hätte mich eine alles verzehrende
Kraft meines Mutes beraubt. Ich fürchte plötzlich, mein Ziel nie zu erreichen … Danach verschloß Dragon seine Gedanken vor mir. Vesta warf ihm einen unergründlichen Blick zu – ja, obgleich der Herr der Elemente sein Gesicht nicht zeigte und auch nicht seine Augen zu erkennen waren, wußte ich, daß er Dragon und sein leicht pulsierendes Amulett ansah. Und Dragon merkte diesen Blick auch, wußte, daß Vesta unserer Unterhaltung gelauscht hatte. Vesta wollte es uns wissen lassen, daß ihm nichts entging … Jetzt waren wir Vitu bereits ganz nahe. Aerula und Erthu versicherten es. Aber obwohl Vesta immer wieder versuchte, den Geist Vitus mit seinen Gedanken zu erreichen, gelang ihm diese Verbindung nicht. »Vielleicht hat Akkeron Vitu bereits …« Dragon vollendete den Satz nicht. »Noch erfreut sich Vitu seiner Freiheit«, sagte Vesta dazu. »Aber wie wir von Aerula-thane wissen, formieren sich die Dalaugiri bereits zum Angriff. Wir müssen Vitu erreichen, bevor es zum Kampf kommt. Ohne unsere Hilfe wird sie auf jeden Fall unterliegen.« Ich erinnerte mich verschiedener Einzelheiten aus den Berichten von Aerula über die Geschehnisse in Vitus Reich. Darin war immer wieder die Rede von einem Schwarzen Panther gewesen, der in Vitus Nähe gesehen worden war. Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, auf dieses Geschöpf hinzuweisen. Villeicht vertraut Vitu auf die kriegerischen Fähigkeiten ihres Schwarzen Panthers, dachte ich. Dieses seltsame Tier scheint ihr Berater zu sein und wird ihr wohl auch im Kampf gegen Akkeron zur Seite stehen. »Aerula-thane könnte recht haben«, rief Dragon aus. »Wenn es zutrifft, daß Vitu sich auf die kriegerischen Fähigkeiten dieses Panthers verläßt, dann könnten wir versuchen, ihr Vertrauen in dieses Raubtier zu erschüttern. Ich könnte den Panther zum
Zweikampf fordern.« Dragon verstummte abrupt, so als hätte er sich dabei ertappt, wie er etwas Falsches sagte. Ich kannte den Grund dafür. Auf unserem ersten Flug nach Merlane hatte Dragon von meinem Rücken aus im Dschungel ein Mädchen mit einem Schwarzen Panther gesehen … Und er äußerte damals, daß er das Raubtier eigentlich kennen müßte, obwohl er es vorher noch nie gesehen hatte. Daran erinnerte sich Dragon jetzt, und eine seltsame Erregung überkam ihn. »Nein«, sagte Vesta entschieden. »Auf diese Weise können wir Vitu nicht zur Zusammenarbeit bewegen. Abgesehen davon, möchte ich erreichen, daß sie mir die Wurzel des Lebens freiwillig aushändigt.« * Es kam ziemlich überraschend für Dragon und Vesta, daß Vitu uns eine Schar bunter Vögel schickte, die uns den Weg zum Lebensgeist wiesen. Sie flogen in Keilform vor uns her und stießen auf eine Lichtung hinunter, in deren Mitte ein riesiger, knorriger Baum stand. Vitu! Das war uns allen sofort klar. Die Vögel ließen sich in den Kronen der umliegenden Bäume nieder und verschwanden im Laubwerk. Vesta stand hochaufgerichtet da, als ich mich zu meiner geringsten Ausdehnung zusammengeballt hatte und vor dem trutzigen Riesenbaum landete. Der Herr der Elemente dachte nicht daran, mich zu verlassen, sondern ging bloß bis zu meinem Rand vor, so daß er nahe des dicken Stammes mit der dicken riesigen Rinde stand. Dragon kam an seine Seite. Er blickte in das dichtbelaubte und verfilzte Geäst des Vitu-Baumes hoch, konnte jedoch keinerlei Getier darin erblicken. Nicht einmal Mücken umschwärmten ihn. Vitu hatte keines ihrer Geschöpfe zu sich gelassen. Dragon war aber
sicher, daß sie vom Waldrand aus unzähligen Augen beobachtet wurden. Plötzlich tauchte hinter dem mächtigen Baumstamm ein dunkler Schatten auf. Ein Schwarzer Panther, der sie aus gelben Augen anfunkelte. Dragon erwiderte den Blick der Raubtieraugen – und wieder war ihm, als ob darin ein vertrauter Ausdruck lag. Und glomm in diesen Augen nicht so etwas wie Erkennen auf? Der Panther duckte sich wie zum Sprung, den Kopf nach vorne gestreckt. Er öffnete das Maul halb, zeigte sein scharfes Raubtiergebiß und gab ein kehliges Knurren von sich. Sein Fell sträubte sich, so als widersetze er sich irgendeiner Bevormundung. Doch dann beruhigte sich das Raubtier sofort wieder. »Warum hast du die ganze Zeit über beharrlich geschwiegen, Vitu«, rief Vesta ärgerlich. »Ich habe auf alle meine Anrufe keine Antwort von dir erhalten.« »Du hast zweitausend Jahre geschwiegen«, erwiderte der Baum. »Und nun tauchst du ganz plötzlich und überraschend auf und glaubst, alle Elementargeister müßten dir zu Füßen liegen.« »Ich war gefangen und zum Schweigen verurteilt, das weißt du. Aber jetzt bin ich frei und will zurückhaben, was rechtens mein ist.« »Du meinst Macht! Macht mit Hilfe von uns Elementen!« »Mir geht es nicht um Macht allein. Du hast dich zweitausend Jahre ungestümer Freiheit erfreut, Vitu, und was hast du daraus gemacht? Einen wilden, gesetzlosen Dschungel, der voll von chaotischem Leben ist. Es wird Zeit, daß diese Welt wieder ihre frühere Ordnung erhält.« »Ordnung unter deiner Herrschaft, nicht wahr? Also geht es dir doch um die Macht.« »Du hast hier nicht Akkeron vor dir, Vitu! Wenn du so sprichst, dann kannst du nur ihn meinen. Er steht bereits an der Grenze deines Reiches. Und wenn du nicht endlich deinen Starrsinn aufgibst und dich unter mich stellst, dann wird er sich das von dir mit Gewalt holen, was ich von dir erbitte. Gib mir dein Inneres, Vitu! Überreiche mir die Wurzel des Lebens!«
»Und was wirst du damit tun? Ja, du sagtest es bereits – diese Welt wieder in Ordnung bringen. Du wirfst mir vor, daß ich mit meinen Fähigkeiten Chaos ins Leben gebracht habe. Doch auf seine Art ist der von mir erschaffene Lebenskreislauf viel vollkommener als deine Ordnung. Mein sogenanntes Chaos bedeutet Leben ohne Ende. Deine Ordnung heißt, zum Leben erwachen, um zu sterben. Meine Geschöpfe kennen den Tod nicht, Vesta!« »Sie werden ihn bald kennenlernen, in all seinen grausamsten Formen, wenn Akkeron seine Dalaugiri in deinen Garten des Lebens schickt.« »Ich weiß. Der Tod wird reiche Ernte halten. Aber danach …« »… wirst du dich in der Gewalt Akkerons befinden«, vollendete Vesta den Satz. »Und du kannst an Skortsch und Tyde ersehen, welches Schicksal auch dich erwartet. Sind Aerula und Erthu nicht um vieles besser dran, Vitu? Warum sträubst du dich, meine Herrschaft der Willkür Akkerons vorzuziehen?« Es entstand eine kurze Pause, dann antwortete Vitu. »Ich werde es dir sagen, Vesta. Wenn du wieder die Herrschaft über die Welt antrittst, würden die meisten meiner während der 2000 Jahre erschaffenen Geschöpfe wieder sterben müssen. Denn in deiner Welten-Ordnung hätten sie keine Lebensberechtigung. Oder kannst du mir versprechen, daß du den Garten des Lebens unberührt läßt?« »Nein, ein solches Versprechen kann ich nicht geben«, sagte Vesta. »Aber unter Akkerons Gewaltherrschaft wird es deinen Geschöpfen noch viel schlimmer ergehen.« »Ich werde Akkeron besiegen!« »Du, der du vom Töten keine Ahnung hast – ausgerechnet du willst Akkeron blutrünstige Dalaugiri besiegen?« »Ich bin nicht allein.« Dragon blickte zu dem Schwarzen Panther hinunter, der sich nun erhob und streckte. »Ist das dein Ratgeber, der dich in diesen aussichtslosen Krieg schickt?« fragte Dragon spöttisch. Für einen Moment entflammte wieder der Wunsch in ihm, seine Kräfte mit diesem geheimnisvollen
Raubtier zu messen. »Ja«, sagte Vitu würdevoll. »Das ist Ubali, mein Paladin.« »Ubali?« entfuhr es Dragon. Noch während er ungläubig auf den Schwarzen Panther starrte, ging mit diesem eine Verwandlung vor sich. Das Raubtier reckte sich empor, das schwarze Fell verschwand – und dann stand an seiner Stelle ein dunkelhäutiger Mann mit schwarzem, krausen Haar. »Ubali …«, entfuhr es Dragon. »Dragon, mein Freund!« rief Ubali. »Daß wir uns auf dieser Welt wiedergefunden haben!« Dragon hatte die Hand halb ausgestreckt, Ubali ebenfalls. Doch langsam ließen sie beide wieder sinken. Die Wiedersehensfreude verblendete sie nicht so sehr, als daß sie nicht erkannt hätten, daß es zwischen ihnen ein Hindernis gab. Dieses Hindernis ließ sich nicht einfach durch einen Händedruck, eine impulsive Umarmung überwinden. Sie waren durch dasselbe Tor in diese Welt gekommen, doch sie waren verschiedene Wege gegangen und standen nun in verschiedenen Lagern. Die Kluft zwischen ihnen war nicht unüberbrückbar, aber es würde seine Zeit dauern, um einander wieder näherzukommen. Dragon erkannte, daß Ubali längst nicht mehr der ergebene Sklave war, als den er ihn kennengelernt hatte. Als er den Hünen jetzt ansah, konnte er sich nicht vorstellen, daß er einmal sein Diener gewesen war. Ubali war eine Persönlichkeit geworden, strahlte Würde und Selbstsicherheit aus – und als Vitus Paladin war er Dragon unbedingt gleichgestellt. Wenn die Unterschiede zwischen ihnen noch nicht so groß waren, daß sie zu Feinden wurden, dann konnten sie Freunde werden. »Daß du lebst, Ubali …«, murmelte Dragon. »Das habe ich Vitu zu verdanken«, antwortete Ubali. »Und ich will es danken, indem ich für den Lebensgeist gegen Akkeron kämpfe. Wir sind auf seinen Angriff vorbereitet. Er soll nur kommen.« Ubali erwiderte Dragons Blick fest, er war entschlossen, den
Kampf gegen Akkerons wilde Horde allein mit den Geschöpfen Vitus und ohne Vestas Hilfe aufzunehmen. »Ich werde den Kampf um die Unabhängigkeit meiner Geschöpfe bis zum Ende durchstehen«, erklärte Vitu. »Ist das dein letztes Wort?« fragte Vesta. »Es ist mein unabänderlicher Entschluß!« Vesta wandte sich ab. »Fliege uns fort, Aerula-thane«, befahl er mir. »Wir werden uns Vitus Niederlage aus sicherer Entfernung ansehen.« Bevor ich von der Lichtung abhob, wechselten Dragon und Ubali noch einen letzten Blick. Dragon lächelte zaghaft. Ubalis Hand hob sich halb zum Abschied, doch führte er die Bewegung nicht mehr zu Ende. * Wir flogen in Richtung Süden, zur Bucht, in der Akkeron mit seinen Dalaugiri gelandet war. Von oben sah der Dschungel wie immer aus. Nichts deutete darauf hin, daß Vitus Geschöpfe sich auf den bevorstehenden Kampf vorbereiteten. »Sie werden sich blind den Angreifern entgegenwerfen und von den Dalaugiri niedergemetzelt werden«, prophezeite Vesta. »Nicht, wenn Vitu Ubalis Ratschläge angenommen hat«, widersprach Dragon. »Ich bin sicher, Ubali hat sich einiges einfallen lassen, um Akkerons Angriff zu entschärfen. Die Dalaugiri werden sich auf einige Überraschungen gefaßt machen müssen.« Vesta gab einen Laut von sich, der Mißmut ausdrücken sollte. Wir kamen rasch weiter, weil Aerula meinen Flug begünstigte. Doch in Küstennähe drehte sich der Wind, und ich mußte all mein Geschick aufwenden, um nicht abgetrieben zu werden. Dragon merkte sofort, welche Anstrengungen ich unternahm, um gegen den Gegenwind anzukommen und auf Kurs zu bleiben. »Was ist mit Aerula los?« wandte er sich verwundert an den Herrn
der Elemente. »Statt uns Winde zu schicken die unseren Flug begünstigen, arbeitet er gegen uns.« »Ich weiß«, sagte Vesta. »Wir haben es jetzt nicht eilig.« »Was bezweckt Aerula damit?« bohrte Dragon weiter. »Das wirst du gleich erfahren«, antwortete Vesta. »Riechst du es denn noch nicht?« Dragon zog die Luft durch die Nase ein. »Es stinkt erbärmlich nach faulem Fisch!« »Richtig.« Vesta blickte über meinen Rand in die Tiefe. Unter uns lag jetzt die ausgetrocknete Bucht, deren Boden mit Tausenden und aber Tausenden Kadavern von Meerestieren bedeckt war. Viele von ihnen begannen in der Sonnenhitze bereits zu verwesen. Schwärme von Aasvögeln hatten sich hier niedergelassen; sie waren von Vitu geschickt worden, um sich hier ihre Nahrung zu holen. »Aerula hat auf mein Geheiß die Winde so gedreht, daß der Aasgestank geradewegs auf die Dalaugiri geweht wird«, erklärte Vesta. »Wenn sie daran auch nicht sterben, so werden sie doch darunter leiden.« »Mehr willst du nicht zu Vitus Unterstützung tun?« fragte Dragon. »Erst wenn sie mich um Hilfe bittet und mir die Wurzel des Lebens aushändigt. Vorher kann ich nichts tun.« Dragon blickte auf das Heer der Dalaugiri hinunter, die den Strand bevölkerten. An vielen Stellen waren von Skortsch häßliche Wunden in das Pflanzengrün gebrannt worden. Dalaugiri hatten dort Aufstellung genommen, als wollten sie jeden Augenblick zum Sturm gegen den Dschungel ansetzen. »Es scheint, als würde Akkeron nicht alle seine Krieger gleichzeitig ins Feld werfen«, meinte Dragon. »Es können kaum mehr als zweitausend Dalaugiri sein, die Kampfbereitschaft eingenommen haben.« »Akkeron beabsichtigt zweifellos, eine Vorhut auszuschicken, mit der er Vitus Stärke prüfen will«, erklärte Vesta. »Es würde mich nicht wundern, wenn schon die Vorhut bis in Vitus Garten des
Lebens vordringt.« »Du vergißt Ubali, den Panther, Vesta«, sagte Dragon. Der Herr der Elemente gab wieder nur einen abfälligen Laut von sich. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Geschehnissen an der Küste zu. Von dort drang jetzt wüstes Geschrei bis zu uns herauf, als sich die Vorhut der zweitausend Dalaugiri-Krieger an fünf verschiedenen Stellen in Bewegung setzte und in den Dschungel stürmte. »Da ist Akkeron!« rief Vesta aus, und sein schemenhafter Arm wies in die Tiefe. »Ich kann ihn ganz deutlich an seinem Stirnstein erkennen – mein Auge! Und er hält meinen Staev wie ein Zepter in der Hand. Er fühlt sich wohl schon als Herr dieser Welt.« Mir war, als blicke der Sohn Himurs geradewegs zu uns herauf. Und während er noch mit erhobenem Kopf dastand, griff er an seinen Gürtel und nahm davon einen Behälter ab. Er öffnete ihn – und ein Flämmchen zuckte daraus hervor. Ich war zutiefst erschrocken, als sich die winzige Feuerzunge urplötzlich vergrößerte und als mächtige Lohe auf uns zuschoß. Ich wollte sofort abdrehen und mich von den Aufwinden davontragen lassen. Doch der Atem Aerulas regte sich überhaupt nicht – der Luftgeist hatte absolute Windstille verfügt. Es gab kein Entkommen für mich und meine beiden Reiter. Die Lohe kam immer näher, und ich fand mich schon damit ab, in Skortsch eingehen zu müssen. Doch da schaltete sich Vesta ein. Er holte den geheimnisvollen Ball aus seiner flimmernden Gestalt, der Aerulas Inneres war, und hielt ihn dem Flammenstrahl entgegen. Ein Sturm brauste plötzlich auf, der geradewegs aus Aerulas Innerem kam. Er brandete gegen das Feuer, ließ es auseinanderstieben und drängte es mit gewaltigem Druck zurück zur Oberfläche. Die Flamme, die Akkeron aus Skortsch entzündet hatte, fiel gegen ihn selbst zurück. Der Feuerregen prasselte auf die Dalaugiri nieder, tötete etliche von ihnen. Doch Akkeron konnte er nichts anhaben. Plötzlich ergoß
sich aus seiner Hand, in der er Tydes Ewiges Naß hielt, ein Wasserstrahl, der die Flammen innerhalb eines Atemzuges zum Verlöschen brachte. »Schade, daß Akkeron nicht in seinem ewigen Feuer schmorte«, sagte Vesta und verstaute Aerulas Inneres wieder in seiner Körperaura. »Aber er wird es sich das nächstemal besser überlegen, bevor er sich gegen mich wendet. Soll er sein Mütchen an Vitus Geschöpfen kühlen.« »Ich möchte dich noch einmal an Vitus Paladin erinnern«, sagte Dragon. Jetzt wurde es Vesta zuviel. »Wer, bei Erthus Hammer, ist dieser dunkelhäutige Mann und Panther eigentlich, daß du so große Stücke auf ihn hältst«, rief der Herr der Elemente ungehalten. »Woher kennst du ihn?« »Ubali kam mit mir durch das Weltentor«, antwortete Dragon. »Er hat sich in vielen Schlachten an meiner Seite bewährt. Er war einst mein Diener.« »Es ist die Tragik der Herrscher, daß sich ihre Diener einmal gegen sie wenden«, sagte Vesta mitfühlend. »Dir ist es wie mir ergangen. Aber unser Trost wird es sein, daß unsere abtrünnigen Diener mit ihrer Selbständigkeit nichts anzufangen wissen. Sehen wir uns die Niederlage von Vitu und seinem Paladin an.« Dragons Gesichtsausdruck verriet, daß er mit Vestas Worten nicht übereinstimmte, aber er sagte es nicht. Er starrte auf den Dschungel hinunter, als könnte er das Pflanzendach mit den Augen durchdringen und Ubali im Kampf gegen Akkerons Dalaugiri beobachten. Dragon erfuhr aber erst später von Ubali, wie die erste Schlacht abgelaufen war. Ich möchte jedoch gleich jetzt darauf eingehen, um den Ablauf der Ereignisse in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben.
6. Zweitausend Krieger, viele davon auf furchtbar aussehenden Reittieren, sind von fünf Seiten in mein Reich eingedrungen, wisperten Vitus Gedanken in Ubalis Geist. Und er erhielt auch gleichzeitig ein Bild des Dschungels aus der Vogelsicht, in dem die Marschrouten der Dalaugiri deutlich zu erkennen waren. Sie strebten alle einem einzigen Ziel entgegen, zum Sitz Vitus. Ubali, nun in der Gestalt des Panthers, hastete durch das Dickicht des Dschungels, dabei geschickt den Fallen ausweichend und verständigte seine einzelnen Einsatztruppen von dem bevorstehenden Kampf. Einheiten, die an Orten standen, wo keine Feindberührung zu erwarten war, wurden umgruppiert. Ubali hatte alle Tiere, die die Voraussetzungen zum Kämpfen mit sich brachten, vom Dschungelrand abgezogen. Die Angreifer sollten dadurch in Sicherheit gewiegt werden und glauben, daß alle Geschöpfe Vitus so leichte Beute bieten würden wie die friedlichen Tiere, die ihnen auf ihrem Vormarsch begegneten. Nur die Pflanzen hatte Ubali an ihren Plätzen gelassen, obwohl auch unter ihnen verschiedene Arten waren, die ihre Wurzeln dem Boden entziehen und auf Wanderschaft gehen konnten. Aber Ubali ließ die Pflanzen ganz bewußt, wo sie waren, denn sie sollten die erste Verteidigungslinie bilden. Und auch die Insekten blieben in den Dschungelausläufern. So klein sie waren, konnten sie für die Dalaugiri äußerst unangenehm werden. Das Gift ihrer Stacheln, die Bisse ihrer Mundzangen waren nicht immer tödlich, aber die nachhaltigen Schmerzen konnten auch den mutigsten Krieger zermürben. Und mehr wollte Ubali mit dem Einsatz der Insekten gar nicht erreichen. Sollten die Dalaugiri nur versuchen, diese kleinsten Geschöpfe Vitus mit ihren Krummschwertern zu bekämpfen! Der Panther erreichte eine Gruppe von Halblingen und nahm Menschengestalt an.
Die Halblinge waren menschenähnlich, aber nur armlang, besaßen eine Haut wie Baumrinde und Haare wie Pflanzenfasern. Wenn sie sprachen, dann klang es wie das Knarren von Ästen. Eigentlich waren sie die Gärtner im Lebensgarten, pflegten die Tiere und Pflanzen und dienten auch denen, die zu Vitu kamen, um Hilfe zu erbitten, als Führer. Doch Ubali hatte beim Lebensgeist erreicht, daß er sie im Kampf gegen die Dalaugiri einsetzen durfte. Seine einzige Sorge war dabei jedoch gewesen, daß Akkerons Krieger vielleicht in der Nacht angriffen. Denn die Halblinge sahen nicht nur wie kurzstämmige Bäume aus, sondern sie waren auch halb Pflanzen. In den Nächten erstarrten sie zur Bewegungslosigkeit und schlugen in dem von ihnen zuvor gelockerten Boden Wurzeln, mit denen sie Nahrung aufnahmen. Aber die Götter hatten Ubali erhört. Die Dalaugiri griffen am Tage an. Und die Halblinge standen bereit. Ihre Waffen bestanden jedoch nicht aus Schwert, Speer und Pfeil und Bogen, sondern waren der Natur von Vitus Garten des Lebens entnommen. Ebenso wie die Halblinge alle heilenden Pflanzen und Säfte des Dschungels kannten, so wußten sie auch über die giftigen Bescheid. Sie hatten Dornenstauden und Astgabeln mit Giften besprüht, die sie nun als Waffe benützten. Thamai, von Vitu anerkannte rechtmäßige Frau Ubalis, hatte vielen von ihnen auch zu Blasrohren verholfen und sie damit umzugehen gelehrt. Darüber hinaus waren die Halblinge bei den Vorbereitungsarbeiten Ubalis wichtigste Helfer gewesen. Sie hatten die Fallen gebaut, Gruben ausgehoben und die benötigten Tiere herbeigerufen und die tödlichen Planzen versetzt. Von all dem hatte Vitu keine Ahnung. Der Lebensgeist hatte sich nicht ein einziges Mal über Ubalis Verteidigungsmaßnahmen unterrichten lassen. Denn da Vitu ständig mit den anderen Elementargeistern in Gedankenverbindung stand, hätte Akkeron von Skortsch und Tyde erfahren, was ihn in Vitus Reich erwartete. So aber war er völlig unwissend, und seine Dalaugiri würden
blind in die Fallen rennen. »Laßt die Dalaugiri ganz nahe herankommen«, befahl Ubali den Halblingen. »Erst wenn ihr sie sicher im Hinterhalt habt, dürft ihr über sie herfallen. Und zeigt euch so wenig wie möglich. Diese Wilden sollen glauben, es mit Gespenstern zu tun zu haben.« Ubali wurde der Schwarze Panther und hastete weiter. Sie rücken näher, wisperte es aufgeregt. Sie zerstören alles, was ihnen unter die Waffen kommt – harmlose Tiere, die niemandem etwas tun, Pflanzen, die nur dazu da sind, das Auge zu erfreuen … Ubali wußte, wie Vitu zumute sein mußte. Mit jedem Schritt, den die Dalaugiri näherkamen, starb ein Teil des Lebensgeistes. Er kam an etlichen Lebensteichen vorbei. Ubali hoffte, daß nicht viele Geschöpfe Vitus hierherkommen mußten, Verwundete und Sterbende, um hier Genesung zu finden oder eine Wiedergeburt zu erfahren. Wenn alles so ablief, wie er es sich gedacht hatte, dann würde Vitu kaum Verluste erleiden, während ihre Feinde hier alle den Tod fanden. Ubali dachte an Dragon, der sein Lehrmeister war. Sollte ihre Freundschaft daran zerbrechen, daß jeder in einem anderen Lager stand? Im Grunde genommen kämpften sie beide für die gleiche Sache – dafür, daß das Gute auf Danilas Welt siegte. Er hatte auch bis zuletzt geglaubt, daß sich Vitu dem Herrn der Elemente unterwerfen würde, so wie er es ihr geraten hatte. Doch verstand er es auch, daß sich der Lebensgeist dann anders entschied. Wenn man die paradiesische Schönheit des Gartens des Lebens kennengelernt hatte, dann wünschte man, daß sie ewig erhalten bleiben möge. Aber das wollte Vesta nicht. Es hatte nicht besonders viel zu bedeuten, daß Dragon dem Herrn der Elemente diente und er, Ubali, Vitu. Sie waren nicht wirkliche Gegner – ihr gemeinsamer Feind hieß Akkeron. Ubali gelangte in einen Teil des Dschungels, der paradiesisch schön war; zauberhafte Blumen, blühende Staudengewächse, berauschende Düfte gaben ihm das Gepräge. Aber es war ein
trügerisches Paradies, in keiner Weise zu vergleichen mit dem Garten des Lebens. Hier würden viele Dalaugiri den Tod finden; ein Stoßtrupp von ihnen bewegte sich geradewegs darauf zu. Ubali, nun wieder Mensch, erkletterte einen Baum und bewegte sich vorsichtig durch das verfilzte Geäst, das einen Halbling mühelos tragen konnte, in dem ein Mann seines Gewichts aber leicht einbrechen und in den darunterliegenden Sumpf fallen konnte. Er hielt erst inne, als er zu einer Gruppe von Halblingen kam. Unter ihnen erblickte er Thamai. Sie hatte das Blasrohr vor sich liegen. Als er bei ihr war, drückte sie seine Hand. Da sie nicht sprach, sagte auch Ubali kein Wort. Und dann erkannte er schnell den Grund ihres Schweigens. Zuerst waren die Geräusche nur gelegentlich zu hören, nur das geschulte Ohr konnte sie von den Lauten des Dschungels unterscheiden. Aber sie kamen rasch näher, wurden immer lauter. Es war das Triumphgeheul einer wilden Horde. Es sind Hunderte, dachte Ubali. Und sie laufen geradewegs ins Verderben. Wer von ihnen nicht im Sumpf umkommt, wird den Pfeilen aus den Blasrohren der Halblinge und Thamais zum Opfer fallen – oder dem Schwarzen Panther. Als durch das Dickicht die ersten Angreifer zu sehen waren, verwandelte sich Ubali und wurde zu einem schlanken, langgestreckten Schatten, der ungeduldig auf seine Beute lauerte. * Das Unterholz lichtete sich, und nun kamen auch die Reiter mit ihren Girions rascher vorwärts. Hier gab es kaum Büsche, nur knorrige Bäume mit Luftwurzeln, die aus einem moosigen Boden herausragten. Die Wurzeln waren für die Dalaugiri-Reiter keine Hindernisse. Sie verschmolzen förmlich mit den Rücken ihrer Girions, die eine Hand
hielt die Waffe und den Zügel, der am Nasenring befestigt war, die andere Hand hatte sich in die Mähne des Reittiers gekrallt und drückte und massierte die Nervenfasern, die mit dem wallenden Mähnenhaar verwoben waren. Auf diese Weise, durch Druck auf die Nervenfasern, übermittelten die Dalaugiri den Girions ihre Befehle. Die Hufe der Reittiere donnerten dumpf. Der giftig grüne Moosboden machte einen festen Eindruck. Doch das schien zu täuschen, denn die Girions sanken immer tiefer darin ein. Das Girion des vordersten Reiters brach plötzlich mit einem Huf tief ein, kam zu Fall, der Dalaugiri wurde vom Rücken geschleudert. Als er auf das Moos fiel, spritzte Morast auf. Er wollte sich aufraffen, sank aber mit einem Arm und mit den Beinen bis zu den Knien ein. »Zurück!« schrie er seinen Artgenossen an. »Hier beginnt ein Sumpfgelände.« Aber seine Warnung kam zu spät. Weitere Reiter preschten an ihm vorbei, bis ihre Girions den festen Boden unter den Füßen verloren, durch das Moos brachen und schnell im Morast versanken. Das jämmerliche Geschrei der Girions vermischte sich mit dem Fluchen der Dalaugiri. Sie schlugen verzweifelt um sich, erreichten dadurch aber nur, daß sie noch rascher in den breiigen Untergrund einsanken. Durch das Gewicht der dichtgedrängten Reiter brach nun das Moos an Stellen ein, die die ersten Dalaugiri mühelos überbrückt hatten. Dalaugiri, die die Gefahr erkannten und wenden wollten, wurden von ihren nachkommenden Kameraden vorwärtsgedrängt. Auf einer fünf Mannslängen im Durchmesser betragenden Moosscholle trieben fünf Reiter und sechs Dalaugiri ohne Girions. Die Scholle hielt aber dem nervösen Hufgetrampel der Girions nicht lange stand. Plötzlich bekam sie einen Riß, wölbte sich an den Rändern hoch – und barst. Girions wie Dalaugiri versanken in dem brodelnden Sumpf. Die Dalaugiri erkannten bald, daß sie nur eine Chance hatten, dem
tödlichen Sumpf zu entkommen. Die Bäume! Wo immer sich ihnen diese Möglichkeit bot, erkletterten sie die Luftwurzeln und versuchten dann, die Stämme hochzuklettern. Aber dort erlebten sie eine böse Überraschung. Der erste Dalaugiri, der seinen Kopf durch das Geäst steckte, bekam einen Hieb mit einer Pranke, der ihn in den Sumpf hinunterwarf. Er war schon tot, als er unten mit dem Rücken aufprallte. Jene, die noch einen Blick auf ihn werfen konnten, bevor er untersank, sahen, daß sein Hals blutige Striemen wie von messerscharfen Krallen aufwies. Aber das war nicht die einzige Gefahr, die auf die Dalaugiri in den Bäumen des Sumpfes lauerte. Etliche von ihnen brachen schon tot zusammen, kaum daß sie sich an die rettenden Luftwurzeln geklammert hatten. Beim näheren Hinsehen erkannte man, daß irgendwo aus ihren mit Stammesnarben übersäten Körpern ein kleiner Giftpfeil ragte … Bald war der Kampf in diesem Abschnitt vorbei. Kein Dalaugiri hatte überlebt. Nur ein Dutzend Halblinge waren von Speeren durchbohrt worden. Ihre Artgenossen brachten sie zum nächsten Lebensteich Vitus. Die anderen jedoch eilten mit dem Mädchen Thamai und dem Schwarzen Panther zum nächsten Kampfgebiet. Hinter ihnen glättete sich die Oberfläche des Sumpfes, die Moosschollen trieben zusammen, verfilzten sich miteinander, schlossen die Lücken, bis es wieder ganz so aussah, als handle es sich hier um festen Boden. * Die lästigen Insekten verleiteten so manchen Dalaugiri dazu, mit dem Schwert nach ihnen zu schlagen. Andere schlugen mit den Händen wie verrückt um sich, als wollten sie sich selbst ohrfeigen. Der Erfolg war in jedem Fall gleich Null. Die Insekten umschwärmten weiterhin ihre Köpfe, drangen ihnen mit den Stacheln unter die Haut, spritzten ihr Gift und legten ihre Brut in die
Wunden. Die Dalaugiri ließen sich davon nicht beirren. Sie drangen weiter in den Dschungel ein, zu Fuß oder zu Girion. Ihre Krummsäbel teilten das Dickicht, ihre Pfeile ereilten flüchtende Tiere, ihre Lanzen bohrten sich in das Fruchtfleisch irgendwelcher Pflanzen, die ihnen im Wege standen. Sie rückten in breiter Front vor. In drei Reihen zu jeweils hundert Kriegern. Und dann änderte sich plötzlich das Bild des Dschungels. Das giftgrüne Blätterwerk lichtete sich, machte farbenprächtigen Blütenpflanzen Platz. »Ist das der Garten des Lebens?« wollte einer wissen. »Hat unser Zarath nicht so das Innere Reich Vitus beschrieben?« »Ja, als paradiesisch schönen Garten. Laßt ihn uns umackern!« »Das muß Vitus Garten des Lebens sein!« Aber es war der Garten des Todes. Die berauschenden Düfte waren im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Den Dalaugiri fiel das Atmen immer schwerer, sie bekamen kaum mehr Luft. Plötzlich schossen unter den großflächigen Blättern der größten Blumen Schlingarme hervor, packten die Dalaugiri und führten sie den gierig geöffneten Blütenkelchen zu … und in den letzten Augenblicken vor dem Tod sahen sie, daß die Blütenblätter Zähne wie Raubtiere hatten. Die Dalaugiri dachten nie daran, daß sie in eine sorgsam vorbereitete Falle geraten sein könnten. Die tödliche Gefahr, die ihnen von den mordenden Pflanzen drohte, steigerte nur ihren Haß und ihre Kampfeswut. Sie hieben blindlings mit ihren Waffen auf alle Pflanzen ein, ohne zu ahnen, daß sie dadurch alles nur noch schlimmer machen und ihren Untergang beschleunigten. Aus den abgeschlagenen Tentakeln der Fleischfresserpflanzen und aus den Stümpfen von Lianen spritzten gallige Flüssigkeiten den Dalaugiri ins Gesicht, ätzten ihre Augen und ließen sie
augenblicklich erblinden. Die Dalaugiri teilten mit ihren Klingen die Pollensäcke der Blüten, in dem Glauben, damit Vitus Saat zu zerstören. Doch heraus stieg Blütenstaub, der tödliches Gift enthielt. Und die Dalaugiri atmeten den Blutenstaub ein und gingen daran zugrunde. Es entkamen nicht viele Dalaugiri dem Todesgarten, aber auch jene, denen die Flucht gelang, kamen nicht weit. Die Raubtiere, die die zweite Verteidigungslinie bildeten, lauerten ihnen auf und rissen sie. * Von den ehemals siebenhundert berittenen Dalaugiri lebte nur noch die Hälfte – und von denen hatten zweihundert ihre Girions verloren. Viele waren ihren Reittieren in den Tod gefolgt. Der Rest der Krieger war erschöpft, doch ihr Kampfgeist war ungebrochen. Plötzlich war ein Summen wie von einem wütend angreifenden Insektenschwarm zu hören – und dann brachen Dutzende von Dalaugiri wie vom Blitz gefällt zusammen. Ihre Kameraden sahen aus ihren Körpern winzige Pfeile von Blasrohren ragen. Die Gegner waren jedoch nicht zu sehen. Sie tauchten nur kurz auf, um ihre tödlichen Pfeile abzuschießen, um dann sofort wieder im Dschungel zu verschwinden. Man konnte die Schützen nicht sehen und bekam sie erst recht nicht zu fassen. Zwischen den Büschen waren manchmal nur Baumstümpfe von graubrauner Farbe zu sehen, aus deren oberen Ende ein Wust von Pflanzenfasern sproß. Dalaugiri, die diese stummelartigen »Bäume« genauer untersuchen wollten, bekamen entweder einen giftigen Pfeil ins Gesicht geblasen, oder eine mit giftigen Dornen bewehrte Rute sauste auf sie herab. Was ebenfalls einen schnellen Tod bedeutete. Viele der Dalaugiri fanden auch durch die Prankenhiebe eines Schwarzen Panthers den Tod. Genjau, der eine Gruppe der Vorhut leitete und mit dem Gros im
Garten des Lebens zusammentreffen wollte, verlor seine gesamte Streitmacht von vierhundert Mann – und sein geliebtes Girion noch obendrein – in einem Lianenwald. Daß er selbst am Leben blieb, verdankte er einem Wunder, oder eigentlich Skortsch. Genjaus Schwert war bereits blutig, aber nicht das Blut eines einzigen ernsthaften Gegners klebte daran, sondern nur das von harmlosem Wild und einigen Schlangen, die geglaubt hatten, ihn überraschen zu können, wenn sie sich von Bäumen auf ihn herunterfallen ließen. Als sie jedoch in ein Gebiet kamen, wo sich über die Sträucher, die Blumen, die Baumstämme und deren Äste, ja selbst über den Boden ein Gespinst seltsamer Fäden zog, da schöpfte Genjau Verdacht. Er bestimmte zuerst einen einzelnen Krieger, der in diesen seltsamen Wald hineinreiten sollte. Sein Girion weigerte sich zwar zuerst, doch ein schmerzhafter Griff in die Mähne ließ das Tier seinem Reiter gehorchen. Der Krieger legte zwanzig Girionlängen zurück, ohne daß etwas passierte. Genjaus Mißtrauen war dadurch aber nicht beseitigt, deshalb ließ er eine Gruppe von zwanzig Mann folgen. Sie ritten nebeneinander, jeder vom anderen eine Girionlänge Abstand haltend. Danach kamen fünfzig Krieger zu Fuß an die Reihe, denen wieder dreißig Reiter folgten. Auf diese Weite gedachte Genjau seine gesamte Streitmacht durch den Lianenwald zu lotsen. Als letzter folgte er selbst mit zwanzig Mann. Sein Girion hatte kaum den Huf in das Gespinst gesetzt, als die Dalaugiri der vordersten Linie in ihr Kriegsgeheul ausbrachen. Genjau konnte zwar nicht sehen, was vorgefallen war, aber als der vielkehlige Ruf ertönte: »Auf sie!« da nahm er an, daß seine Leute auf Feinde gestoßen waren. Und er irrte nicht. Durch eine Lücke in der Reiterschar erblickte er in der Ferne ein Mädchen und einen Schwarzen Panther, die von einer Schar abstoßend häßlicher Lebewesen umgeben waren, die aussahen wie Baumstümpfe.
Doch kam es mit diesen überhaupt nicht erst zum Kampf. Das Gespinst, das diesen Teil des Dschungels beherrschte, begann sich plötzlich zu bewegen. Ob der Grund dafür die wirbelnden Girionhufe, also die beschleunigte Bewegung an sich, oder die dabei entstandenen Geräusche verantwortlich waren, konnte Genjau nicht herausfinden. Doch er wußte, daß eines von beidem der auslösende Moment gewesen sein mußte, denn solange sich seine Krieger vorsichtig bewegt hatten, blieb das Gespinst ruhig, wie mit Pflanzen verwachsen. Jetzt regten sich die geäderten Fäden allerdings. Das Gespinst begann zu wallen, es erhob sich vom Boden, spannte sich, die Hufe der Girions verstrickten sich darin, die Tiere kamen zu Fall. Von den Bäumen senkte sich das Netz auf sie herunter, blieb auf ihnen kleben, hüllte sie ein. Die Fäden spannten sich immer weiter an, zogen sich wie Henkerschlingen um die Leiber der Dalaugiri und der Girions zusammen … Die Todeschreie von überall verrieten Genjau, welches Schicksal seine Leute ereilte. Er versuchte, sein Girion zu wenden und sich mit ihm aus dem tödlichen Gespinst in Sicherheit zu bringen. Doch hatte sich sein Reittier bereits zu sehr in den klebrigen Fäden verstrickt. Es knickte mit einem Bein ein, und Genjau sah, wie ihm von einer Schlinge ein Huf abgetrennt wurde. Da zögerte er nicht länger, kletterte auf den Rücken seines Girions und brachte sich mit einem Sprung aus dem Bereich des Lianenwaldes in Sicherheit. Kaum war, er auf den Beinen, da tauchte vor ihm der Schwarze Panther auf, den er schon vorhin gesehen hatte. Genjau zückte in wilder Entschlossenheit sein Krummschwert. Das hier war wenigstens ein Gegner, gegen den man kämpfen konnte. Es war ein Geschöpf Vitus, das zu töten sich lohnen würde. Das Raubtier war keine drei Mannslängen mehr von ihm entfernt und setzte zum entscheidenden Sprung an. Da passierte etwas völlig Unerwartetes.
Im Boden tat sich ein breiter Spalt auf – und eine Feuersäule schoß daraus hervor. Der geschmeidige Körper des Raubtiers wurde davon erfaßt und fortgeschleudert. Genjau, für einen Moment starr vor Schreck, brachte sich durch einen Sprung aus der Reichweite der Flammen. Der Spalt wurde aber immer länger und breiter – und bald stieg eine Flammensäule bis hoch in den Himmel hinauf. Der Dalaugiri rannte, so schnell er konnte, zurück zur Küste. Als er endlich den Strand erreichte, brannte der Dschungel hinter ihm lichterloh. Und dort stand Akkeron, und aus dem tönernen Behältnis wälzte sich die Ewige Flamme fauchend auf den Dschungel zu. »Ich habe durch Skortsch von deiner vernichtenden Niederlage erfahren, Genjau«, sagte Akkeron, der kommende Herr der Elemente. »Vitu hat mir ihre Stärke gezeigt. Jetzt soll sie sehen, über welche Macht ich verfüge. Zuerst kommt das Feuer, mit dem ich Vitus Brut zu Asche verbrenne. Und die Überlebenden werde ich in Tydes Ewigem Naß ersäufen. Dann wird der Weg zu Vitus Innerem für mich frei sein, Genjau!«
7. »Ubali hat sehr tapfer und listenreich gekämpft«, sagte Vesta anerkennend zu Dragon, während unter uns die letzten der 2000 Dalaugiri von Vitus Geschöpfen getötet wurden. »Er ist durch meine Schule gegangen«, erklärte Dragon nicht ohne Stolz, wenngleich er vor mir zugab, daß der Erfolg Ubalis eigenes Verdienst war. Es kam nicht nur darauf an, was ein Krieger gelernt hatte, sondern wie er sein Können im entscheidenden Augenblick einsetzte. Und Ubali hatte sich bewährt. »Akkerons Vorhut wurde von ihm völlig aufgerieben«, fuhr Vesta fort, der sein Wissen von Erthu und Aerula bezog, die es ihrerseits von der triumphierenden Vitu hatten. »Doch das wird sich Akkeron nicht ohne weiteres bieten lassen. Er hat Tyde und Skortsch um Unterstützung angerufen – und jetzt wird es sich zeigen, ob ein einzelner Elementargeist, der sich nur auf die Hilfe eines Sterblichen stützten kann, gegen Feuer und Wasser besteht.« Unweit von uns schoß eine mächtige Feuersäule aus dem Dschungel, fraß sich nach allen Richtungen durch das Pflanzenwerk, breitete sich immer weiter aus. »Skortsch!« entfuhr es Dragon entsetzt. »Jawohl, Skortsch«, bestätigte Vesta ohne besondere Betonung. »Himurs Sohn wird sich der von ihm unterdrückten Elementargeister in noch viel stärkerem Maße bedienen. Er hat Skortsch zuerst nur eingesetzt, um sich seines gefährlichsten Widersachers zu entledigen – Ubali. Nun wird sich zeigen, wie Vitu ohne seinen Feldherrn den Kampf führt.« Dragon wandte sich ruckartig dem Herrn der Elemente zu. »Was ist mit Ubali?« »Er ist außer Gefecht«, antwortete Vesta ungerührt. »Gleich der erste Feueratem Skortschs hat ihm tödliche Verbrennungen zugefügt.« »Ist das wahr – Ubali tot?«
»Noch nicht ganz. Es ist noch etwas Leben in ihm.« Dragon atmete auf. »Dann wird Vitu in einem ihrer Lebensteiche ihm zu einer Wiedergeburt verhelfen.« »Glaubst du? Ich weiß nicht, ob Akkeron dem Lebensgeist überhaupt Gelegenheit dazu läßt. Sieh nur, welches Feuer Akkeron entzündet!« »Fast könnte man meinen, du freuest dich über Vitus Niederlage«, sagte Dragon. Der Herr der Elemente schwieg. Die Flammensäule hatte in den grünen Teppich des Dschungels ein häßliches schwarzes Loch gefressen und breitete sich immer weiter aus. Jetzt glomm auch am Dschungelrand ein Feuer auf. Zuerst dehnte es sich in die Breite aus, bis sich eine Flammenwand gebildet hatte, die so lang war wie eine Kette von zweitausend nebeneinanderstehenden Kriegern. Und so hoch wie drei der höchsten Bäume. Dann erst griffen die Flammen tiefer in den Dschungel hinein. Sie brannten alles nieder, was ihnen in den Weg kam. Hinter sich ließen sie verkohlte Bäume, verbrannten Boden und glosendes Unterholz zurück. Die Flammenwand bewegte sich rasend schnell geradewegs auf Vitus Garten des Lebens zu. »Warum kannst du nur so ruhig zusehen, wie Akkeron Tod und Vernichtung sät«, sagte Dragon erregt. »Akkeron vernichtet auch dein Land, Vesta. Wenn du der Herr der Elemente sein willst, dann mußt du die Geschöpfe, die dort unten elend verbrennen, als die deinen anerkennen »Meine Geschöpfe gehorchen mir«, erwiderte Vesta ruhig. »Was dort unten kreucht und fleucht, ist Vitus Untertan.« »Du willst es wirklich nicht anders?« »Es soll nach Vitus Willen geschehen.« Dragon atmete schwer. Es belastete ihn, daß er hilflos zusehen mußte, wie unter seinen Augen solch ungeheures Unrecht geschah.
Aber er hatte keine Möglichkeit zum Eingreifen, konnte den Ablauf der Dinge nicht beeinflussen. Vesta merkte ihm seine Gefühle an und schien sogar Verständnis dafür zu haben, denn er sagte: »Für jedes Lebewesen, das dort unten in Skortsch eingeht, gebiert Vitu zwei neue. Dafür wird schon der Herr über das Leben sorgen.« »Es fragt sich nur, wie lange Vitu das tun kann.« »Daran ist etwas Wahres. Wenn Skortsch weiterhin so wütet, werden Vitus Kräfte irgendwann zum Erlahmen kommen.« »Warum greifst du dann nicht ein, bevor es zu spät ist?« beschwor Dragon den Herrn der Elemente. »Du kennst meine Gründe, Dragon.« »Ja – dein Stolz verbietet es dir, Vitu zu helfen, ohne daß sie dich darum bittet. Du verlangst bedingungslosen Gehorsam ohne Gegenleistung. Aber warum versuchst du es nicht einmal damit, zuerst etwas zu geben, bevor du nimmst. Wenn du Vitu jetzt beistehst, dann wird sie sehen, daß du guten Willens bist, und dich bestimmt als Herrn der Elemente akzeptieren.« »So kann nur ein Sterblicher denken«, erwiderte Vesta. »Ich kann nicht so handeln. Vitu muß zu mir kommen und mir die Wurzel des Lebens zum Zeichen ihrer Übergabe aushändigen.« Dragon gab es auf. Er sah ein, daß es keinen Zweck hatte, Vesta umzustimmen zu versuchen. Sein Starrsinn übertraf den des Lebensgeistes noch bei weitem! Tief unter uns hatte inzwischen Akkeron Tyde eingesetzt. Er ließ aus dem Ewigen Naß einen Regenschauer über der Dschungelschneise niedergehen, um die Glut zum Verlöschen zu bringen, damit seine Dalaugiri ungefährdet mit dem Vormarsch beginnen konnten. »Was ist aus Ubali geworden?« fragte Dragon. »Sein Schicksal ist ungewiß«, antwortete Vesta. »Keiner meiner verbündeten Elementargeister kann etwas darüber sagen. Und von Vitu bekommen wir keine Nachrichten mehr. Der Lebensgeist ist zu sehr damit beschäftigt, die Gefallenen aus den Reihen seiner
Geschöpfe genesen zu lassen und ständig neues Leben zu erschaffen. Aber so wie Vitu neues Leben gebiert, wird es von Skortsch ausgetilgt.« Dragon war erschüttert. So sehr sich Ubalis Strategie, alle verfügbaren Geschöpfe Vitus zu sammeln und den Dalaugiri entgegenzuschicken, anfangs bewährt hatte – jetzt wurde dies dem Lebensgeist zum Verhängnis. Denn seine Heerscharen befanden sich in jenen Gebieten, in die Akkeron das alles vernichtende Feuer schickte. Dragon ahnte, daß es nur wenigen Geschöpfen Vitus gelang, sich aus diesem Feuerorkan zu retten. Wenn Ubali nicht schon bei Beginn der Kämpfe gefallen wäre, hätte er vielleicht das Chaos verhindern und Ordnung in die Verteidigung bringen können. Aber ohne die Hand des Feldherrn, die sie führte, griffen Vitus Geschöpfe kopflos und konfus an – und rannten geradewegs in die Flammen. Und Ubali? Er darf nicht sterben, dachte Dragon. * Ubali setzte gerade zum Sprung auf den Dalaugiri an – als sein Pantherkörper einen wuchtigen Schlag erhielt. Gleichzeitig hörte er ein Fauchen wie von einem feuerspeienden Drachen. Etwas Grelles ließ ihn die Augen schließen. Eine Hitzewoge erfaßte ihn, und er spürte, wie es ihm das Fell versengte und die Hitze tief in seinen Körper eindrang. Er rollte sich zusammen, um dem Feuer die kleinstmögliche Angriffsfläche zu bieten. Doch der Schmerz war ungeheuer, ließ seinen Körper sich finden und brachte die Glieder zum Zucken. »Ubali!« Das war Thamais Stimme. »Schnell, bringt ihn aus dem Bereich der Flammen.« Ubali schaffte es mit letzter Kraft, sich in einen Menschen zurückzuverwandeln. Er wollte nicht als Panther sterben, sondern
wollte Thamai noch einmal mit eigenen Augen sehen … Schwärze, aufgeregte Stimmen. Das Fauchen und Knistern der Flammen. »Seid vorsichtig beim tragen!« Das war Thamai. Die knarrenden Stimmen einiger Halblinge antworteten. »Ubali, kannst du mich hören?« Ja, Thamai. »Ubali, wenn du mich hören kannst, gib mir Antwort.« Ja, Thamai, ich höre dich. Jedes Wort von dir. »O Vitu, du darfst Ubali nicht sterben lassen!« Ich sterbe nicht, Thamai. Ich ruh' mich nur aus für den letzten entscheidenden Kampf. Ubali wurde sich plötzlich bewußt, daß er diese Worte nicht sprach, sondern nur dachte, und Thamai sie nicht hören konnte. Er nahm all seine Kraft zusammen, um zu ihr zu sprechen. »Ruhig, Ubali«, flüsterte sie dicht bei ihm. »Wir bringen dich zu einem Lebensteich.« Schnell, Thamai. Ich werde schwächer. Ihr müßt mich Vitu übergeben, bevor alles Leben aus mir ist. Das Feuer! Was ist mit dem Feuer? Brennt es noch? »Achtung!« ertönte Thamais Warnung. Ein Krachen, wie damals, als das Weltentor zerstört wurde. Schreie! Und dann das wütende Fauchen des Feuers. Ein Knistern und Knattern. Hitze. Ubali rollte sich zusammen. Die Dunkelheit umfaßte ihn. * »Achtung!« rief Thamai den Halblingen zu, als sie sah, wie sich ein brennender Baumriese zur Seite neigte. Vier der Halblinge hörten ihre Warnung zu spät. Die Schlange in ihrer Begleitung schlang ihren muskulösen Schwanz um den Halbling Unta und rettete ihm so das Leben. Der eine der beiden Halblinge, die die Bahre mit Ubali trugen, wurde
von einem brennenden Ast getroffen und fing sofort Feuer. Thamai nahm seine Stelle ein. Die Bahre bestand aus zwei jungen Baumstämmen, auf die mit Lianen das lederartige Blatt einer RiesenFleischfresserpflanze gebunden war. Darauf lag Ubali. Er hatte das Bewußtsein verloren. Aber seine Glieder zuckten ständig. Thamai konnte nicht hinsehen. Bei seinem Anblick krampfte es ihr das Herz zusammen. Auf der einen Körperseite hatte er furchtbare Verbrennungen. Blut sickerte aus den tiefen Wunden. Rings um sie waren Flammen. Feuer, wohin man sah. Es schien kein Entrinnen zu geben. Als die Flammen an einer Stelle für kurze Zeit in sich zusammenfielen, steuerte Thamai darauf zu. Die Schlange eilte ihnen voraus. Thamai sah sie zwischen den brennenden Büschen verschwinden und folgte ihr. Für einige Atemzüge verlor sie die Schlange aus den Augen. Dann sah sie plötzlich, wie sich diese aufbäumte, ihr zuckender Leib war in Flammen gehüllt. Und dann sank sie in sich zusammen. Thamai hoffte, daß es ihr doch noch gelungen war, sich zu retten. »Wir werden verbrennen!« kam es knarrend über Untas spröde Lippen. »Jammere nicht, sondern löse mich lieber ab«, befahl Thamai ihm. Sie drückte ihm die beiden Tragbalken der Bahre in die knorrigen Hände. »Sollen wir wirklich durch dieses Flammenmeer?« erkundigte sich Urka, der andere Bahrenträger. So klein die Halblinge waren, hatten sie doch die Kraft von ausgewachsenen Männern. Urko und Unta waren die einzigen Halblinge Thamais, die den ersten Feuersturm überlebt hatten. Thamai durfte sie nicht verlieren. Denn wie sollte sie sonst Ubali zum nächsten Lebensteich bringen? Sie konnte es nur mit Hilfe der beiden Halblinge schaffen – und wenn sie aus dem Flammenkreis ausbrechen konnten, in den sie eingeschlossen waren. Als Thamai links von sich einige mannsgroße Windblumen sah, kam ihr der rettende Gedanke. Die Blätter der Windblume, die ihren
Namen davon hatte, weil sie durch kreisende Bewegung ihrer armlangen Blütenblätter ständig für Luftzug sorgte, waren überaus wasserhaltig. Und ihr Saft hatte schon manchen geholfen, ihren Durst zu löschen. Thamai riß wahllos Blätter von den Windblumen und kam damit zu den Halblingen zurück. Sie breitete die Blätter zuerst über Ubali und umwickelte dann damit die beiden Halblinge und stülpte sich zuletzt selbst ein Doppelblatt über den Kopf. »Und jetzt lauft, so schnell ihr könnt!« befahl sie. Thamai hatte noch nie zuvor Halblinge so schnell laufen gesehen – und schon gar nicht mit so einer schweren Last wie Ubali. Sie sprangen mit Todesverachtung in die Flammen, Thamai immer neben ihnen. Sie verbrannte sich die Fußsohlen, sengende Hitze schlug gegen ihre Beine. Als die Flammen über ihren Kopfschutz loderten, hörte sie, wie die Feuchtigkeit der Blätter zischend verging. Und dann waren sie durch die Flammenwand. Die Halblinge rannten mit der Bahre noch ein gutes Stück weiter, bevor sie ihren Schritt verlangsamten. Aber Rast durften sie sich keine gönnen. Denn das Feuer folgte ihnen mit unheimlicher Geschwindigkeit. Der Feuergeist wollte sein Vernichtungswerk schnell vollziehen. Als sie in Sicherheit waren, räumte Thamai sofort die auf der Oberseite verkohlten Blätter von Ubali. Er war immer noch ohne Bewußtsein, aber er hatte wenigstens keine weiteren Verbrennungen mehr davongetragen. »Weiter! Weiter!« feuerte Thamai die beiden Halblinge an. »Der Lebensteich ist nicht mehr fern.« Thamai wollte schon aufatmen, als sie den Feuerherd hinter sich ließen und in einen Teil des Dschungels kamen, in dem Skortsch noch nicht gewütet hatte. Da hörte sie ein Prasseln wie von Regen. Und tatsächlich drangen bald die ersten Wassertropfen durch das dichte Blätterwerk des Dschungels zu ihnen herab.
»Der Regen wird das Feuer löschen«, meinte Unta zuversichtlich. Er hatte es kaum gesagt, als sich eine wahre Sturzflut über sie ergoß. Das Wasser kam in solchen Strömen, daß sie bald bis zu den Knöcheln darin wateten. Und die fallenden Wasser besaßen eine solche Wucht, daß sie Äste knickten, Sträucher zu Boden drückten, die Wurzeln junger Bäume unterschwemmten und sie so zum Stürzen brachten. »Das ist Tydes Werk«, stellte Thamai fest. Sie konnte sich noch nicht vorstellen, was der Wassergeist damit bezweckte. »Was immer das zu bedeuten haben mag – Wasser ist noch besser als Feuer.« Doch bald mußte sie erkennen, daß das ein Irrtum war. * Auf dem Weg zum Lebensteich schlossen sich ihnen unzählige verwundete Tiere und Halblinge an. Sie alle wollten durch Vitus Kraft geheilt werden und dann wieder in den Kampf gegen die Dalaugiri ziehen. Die Berichte, die Thamai von den Halblingen erhielt, waren erschütternd. Seit Ubalis Ausfall war die Verteidigung des Dschungels praktisch zusammengebrochen. Die Tiere kämpften zwar tapfer und unter Ausnutzung all ihrer Möglichkeiten, doch ihnen fehlte die führende Hand des Feldherrn. Die Halblinge besaßen wohl mehr Verstand als die Tiere, doch fehlte ihnen wiederum die Kampferfahrung. Ein guter Gärtner macht längst noch keinen guten Krieger. Und wenn es ihnen einmal gelang, einen einzigen Dalaugiri zu töten, so starben von ihnen dreißig. Aber die Verluste bei den Kämpfen wären für Vitu noch leichter zu verschmerzen gewesen, als jene, die das Feuer des Lebensgeistes verursachte. Thamai konnte sich durch die verschiedenen Berichte ein ungefähres Bild des Kampfgeschehens machen. Akkeron hatte Skortschs Ewige Flamme zuerst in den Gebieten
eingesetzt, in denen sich Vitus Heerscharen sammelten, um den Dalaugiri entgegenzutreten. Aber statt Akkerons Krieger kamen die Flammen. Skortsch brannte eine breite Schneise durch den Dschungel. Hinter den Flammen setzte Akkeron Tyde ein. Wasserfluten löschten die schwelenden Feuer, um den Dalaugiri den Vormarsch zu erleichtern. Vitus Tiere und die Halblinge fielen zwar immer von den Flanken in die Schneise ein. Aber gegen die kampferfahrenen Dalaugiri hatten sie im offenen Gelände nicht die geringste Chance. Ubali hätte an der Spitze von Vitus Geschöpfen sicherlich größere Erfolge erzielen können. »Hat Vitu euch in den Kampf geführt?« erkundigte sich Thamai bei einem Halbling. »Wir haben von Vitu nichts gehört und gesehen«, war die Antwort. Thamai wunderte sich, warum der Lebensgeist nicht wenigstens den Versuch unternahm, seine Geschöpfe anzuführen. Obwohl auch Vitu sich nicht auf das Kriegshandwerk verstand, wäre das immer noch besser gewesen, als die Tiere und Halblinge sich selbst zu überlassen. Warum schwieg Vitu? Warum griff sie in das Geschehen nicht ein? Thamai erhielt bald darauf die Antwort. Dem Zug der Verwundeten, die den Lebensteichen zustrebten, kamen frische, ausgeruhte Tiere und Halblinge entgegen. Sie marschierten entschlossen in Richtung der Kampfschauplätze. Zuerst dachte Thamai, daß sie ehemals Verwundete waren, die in den Lebensteichen neue Kraft geschöpft hatten. Doch das verneinten die Halblinge. Sie kämen direkt aus Vitu selbst, sagten sie, der Lebensgeist hätte sie gerade erst erschaffen, und Vitu gebiere ständig neue Geschöpfe aus sich, um sie in den Kampf gegen die bösen Mächte Akkerons zu werfen. Da verstand Thamai, warum Vitu sich um den Kampf selbst nicht kümmern konnte: Der Lebensgeist war zu sehr damit beschäftigt,
ständig neues Leben zu erschaffen. Thamai hoffte, daß, wenn sie Ubali dem Lebensteich übergeben hatte, dieser bald wieder genesen würde. Nur Ubali war in der Lage, Vitu vor der sich anbahnenden Niederlage zu bewahren. Endlich hatten sie den Lebensteich erreicht. Seine Ufer waren von Scharen von Vitus Geschöpfen bevölkert. Sie machten Thamai und den beiden Halblingen mit der Bahre Platz. »Du wirst leben, Ubali«, sagte Thamai und fuhr dem über alles geliebten Gefährten durch das Kraushaar. Doch als sie das Ufer des Teiches erreichte, erkannte sie, daß hier etwas nicht stimmte. Der Teich war viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte – er besaß nun die zwanzigfache Ausdehnung. Und auf seiner Oberfläche trieben unzählige tote Lebewesen. »Akkeron hat mit Tydes Ewigem Naß den Lebensteich so verdünnt, daß er überhaupt keine Heilkraft mehr besitzt«, erklärte ein Halbling, dessen baumrindenartige Haut an vielen Stellen durch Schwerthiebe gespalten war. Und aus den Wunden drang harziges Blut. Er hatte kaum ausgesprochen, da kippte er um und fiel in den Teich. Thamai starrte ihm verloren nach, der wie ein Baumstamm auf der Oberfläche des verwässerten Lebensteiches trieb. Keine einzige seiner Wunden schloß sich. Jetzt wußte Thamai, was Akkeron mit den Sturzfluten aus heiterem Himmel bezweckt hatte. * Thamai hatte keine andere Wahl, als Ubali in einen weit entfernten Lebensteich zu bringen, der sich in Vitus Innerem Lebensgarten befand. Bis dorthin war der Strom von Akkerons Ewigem Naß sicherlich noch nicht gedrungen. Sie mußte noch vor Himurs Sohn dort sein. Deshalb brach sie sofort wieder mit Unta und Urko auf – nicht ohne vorher wenigstens den Versuch gemacht zu haben, Ubali in dem verwässerten Lebensteich Genesung zu verschaffen. Doch sie
hatte damit nur erreicht, daß er das Bewußtsein erreichte – und unter den immer stärker werdenden Schmerzen zu stöhnen begann. Nun hatten sie den Lebensteich längst schon hinter sich gelassen und einen zweiten erreicht. Auch hier trieben tote Tiere und Halblinge wie Baumstämme auf der Oberfläche. An den Ufern legten sich Vitus Geschöpfe zum Sterben nieder. Thamai drängte die beiden Halblinge immer wieder zu größerer Eile an, obwohl sie wußte, daß sie ihr Bestes gaben. »Thamai …« Ubali blickte aus fiebrigen Augen zu ihr auf. Sie ging neben ihm, drückte seine Hand. »Ja, Ubali?« »Wie steht die Schlacht?« »Vitu schickt dem Feind immer mehr Truppen entgegen«, antwortete sie wahrheitsgetreu. »Wir sind in der Überzahl.« Aber wie lange noch? fragte sie sich. »Wohin bringst du mich?« »Zu einem Lebensteich, Ubali. Du bist bald wieder gesund und kannst die Führung von Vitus Heerscharen übernehmen.« Ubalis Augen wurden immer größer, dann blinzelte er und riß sie noch weiter auf. »Thamai, ich glaube, ich erblinde«, sagte Ubali. »Um mich wird es immer dunkler …« »Weil die Dämmerung hereinbricht«, sagte Thamai beruhigend. Sie blickte hinter sich, nach oben, wo durch eine Baumlücke ein Stück Himmel zu sehen war. Er war immer noch vom Feuerschein erhellt. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde Akkeron noch in dieser Nacht in den Garten des Lebens einmarschieren. »Schneller, Unta und Urko!« Thamai war einige Schritte vorausgegangen, um ihnen einen Weg zu bahnen. Als sie sich jetzt umblickte, waren die beiden Halblinge bereits zehn Mannlängen zurückgefallen – und sie kamen kaum von der Stelle. »Wollt ihr euch nicht beeilen …« Thamai brach ab und rannte zu den beiden Halblingen, die nun
endgültig zum Stillstand gekommen waren. Sie bewegten sich überhaupt nicht, standen steif da, hielten die Bahre in ihren erstarrten Händen. Als Thamai zu ihnen kam, erkannte sie, daß ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren. Die beiden Halblinge konnten nicht anders, als den ihnen von Vitu auferlegten Lebenskreislauf zu gehorchen. Bei Anbruch der Nacht wurden sie zu Pflanzen, die ihre Wurzeln in den Boden schlugen und an einen Ort gebunden waren. Thamai war der Verzweiflung nahe. Ubali stützte sich auf. Sein Geist war noch klar genug, um die Situation zu erfassen. »Dann werde ich eben hier sterben«, sagte er schwach. »Wenn du nur bei mir bist, Thamai …« »Wie kannst du so sprechen, Ubali«, sagte sie. »Du darfst nicht sterben, denn sonst ist Vitu verloren.« »Wieso? Sagtest du nicht …« »Ich habe dir die Wahrheit verschwiegen, um dich nicht aufzuregen. Was immer ich dir gesagt habe, die Wahrheit sieht anders aus. Wenn du nicht in den Kampf eingreifst, dann gibt es keine Hoffnung mehr. Du mußt alle deine Kräfte zusammennehmen und versuchen, mit mir einen Lebensteich zu erreichen.« Thamai stützte ihn, als er sich weiter aufrichtete und dann die Beine auf einer Seite der Bahre herunterbaumeln ließ. Er schloß kurz die Augen, nahm all seine Kräfte zusammen und stellte sich dann auf die Beine. Ubali wankte, als er den ersten Schritt machte. Er glaubte, daß ihn jeden Augenblick die Kräfte verlassen würden. Aber irgendwie gelang es ihm, den Arm um Thamais Schulter zu legen, immer wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und dann brach endgültig die Nacht herein. Der Himmel über ihnen war rot gefärbt. Thamai schleppte Ubali mehr, als daß er ging. Glühkäfer umschwärmten sie und leuchteten ihnen den Weg. Sie befanden sich bereits im Garten des Lebens. Hier schien alles
noch so wie früher zu sein. Thamai konnte keine Veränderungen bemerken – nur daß keine Halblinge mehr anzutreffen waren. Vitu hatte ihre »Gärtner« in den Krieg geschickt. Thamai dachte entsetzt daran, welches Schicksal diesen Wesen, die halb Mensch, halb Pflanze waren, von den Dalaugiri drohte, wenn sie sich mit ihren Wurzeln im Boden verankert hatten und sich nicht wehren konnten. Sie verscheuchte diese Gedanken. Den Halblingen war nicht zu helfen. Aber für Ubali gab es noch Hoffnung, obwohl er sich nun nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Thamai war nicht kräftig genug, ihn zu tragen. Doch an Aufgabe dachte sie nicht – nicht wo sie bereits in Vitus Innerem Reich und dem rettenden Lebensteich so nahe waren. Sie ließ Ubali wo er war und suchte die nähere Umgebung ab. Im Schein der Leuchtkäfer sah sie viele Tiere, die jedoch alle klein und schwach waren und sich für ihr Vorhaben nicht eigneten. Endlich stieß sie auf einen Mangwhoi. Die Mangwhois wurden von manchen Völkern gezähmt und als Lastentiere verwendet, weil sie ungeheuer kräftig waren. Man konnte Lasten nicht nur auf ihren Rücken befördern, sondern sie auch in ihren weitausladenden Geweihen unterbringen. Thamai nahm den Mangwhoi am Geweih und führte ihn zu Ubali. Das Tier ließ alles geduldig mit sich geschehen. Es kostete Thamai ungeheure Anstrengung, Ubali auf den Rücken des Tieres zu laden und ihn dann so zwischen dem Geweih einzubetten, daß er nicht herunterfallen konnte! »Und jetzt lauf zum nächsten Lebensteich«, sagte Thamai zu dem Tier. Doch das rührte sich nicht von der Stelle. Thamai versuchte noch einige Male, dem Tier begreiflich zu machen, was sie von ihm wollte. »O Vitu, hörst du mich denn nicht!« rief sie in ihrer Verzweiflung. »Du kannst doch nicht wollen, daß Ubali hier stirbt. Bring ihn zu einem deiner Lebensteiche.« Und Vitu erhörte sie.
Der Mangwhoi setzte sich in Bewegung und verschwand mit seiner menschlichen Last im Dickicht des Gartens des Lebens. Thamai konnte nur noch hoffen, daß das Tier ihn sicher zu einem unverwässerten Lebensteich brachte. Während sie noch zu der Stelle hinübersah, wo der Mangwhoi verschwunden war, hörte sie von Ferne fremdartige Geräusche, die sich rasch näherten. Sie wußte sofort, was die Geräusche zu bedeuten hatten. Die Dalaugiri kamen!
8. »Nehmt euch, was ihr wollt!« Für die Dalaugiri war es, als käme die Stimme ihres Zarath direkt aus dem Himmel – aus einem Himmel, der von den vielen Feuern immer noch rot gefärbt war. Akkeron, der Sohn Himurs und kommender Herr der Elemente hatte den Dschungelbrand eingedämmt. Tydes Wasser hatte sich auf das Feuer ergossen, um so zu verhindern, daß das ganze Land verbrannt wurde. Dafür entzündete Akkeron überall Freudenfeuer, in denen die vom Kampf hungrigen Dalaugiri Fleisch braten und Früchte schmoren konnten. In gewissen Abständen ließ Akkeron aus seinem tönernen Behältnis einen Flammenstrahl schießen, der einen einzelnen Busch oder Baum in Brand setzte – und die Dalaugiri legten eifrig Äste von Bäumen und Unterholz nach, um die Lagerfeuer zu unterhalten. »Das alles gehört euch. Das Fleisch der Tiere, die ihr hier aufstöbert, ist besonders zart und schmackhaft. Jede Frucht, die euch von den Bäumen und Sträuchern ins Auge sticht ist genießbar und von besonderer Köstlichkeit. Denn dies hier ist der Garten des Lebens. Nehmt ihn in Besitz, tapfere Dalaugiri.« »Es lebe unser Zarath!« Und ebenso wie die Dalaugiri ihren Zarath leben ließen, ließen sie die Geschöpfe des Lebensgartens sterben. Sie töteten wahllos alles, was ihnen vor die Waffen kam. Akkeron sah es mit Genugtuung. Nach der siegreichen Schlacht, bei der er insgesamt nur viertausend Dalaugiri verloren hatte, Vitu aber fast alle seine Geschöpfe eingebüßt hatte, bereitete es ihm besondere Befriedigung, den Lebensgeist noch mehr zu demütigen und zu schmähen. Und das tat er, indem er Vitus besiegte Geschöpfe der Willkür der grausamen Dalaugiri überließ. Hier, im Inneren Reich Vitus, gab es keine Wesen mehr, die in der Lage waren, den Dalaugiri Widerstand entgegenzusetzen. Die Tiere
fraßen den Eroberern sozusagen aus der Hand. Sie kamen ahnungslos heran, zutraulich, und den Dalaugiri machte es besonderen Spaß, sich ihnen zuerst freundlich zu zeigen, nur um ihnen dann den Todesstoß zu versetzen. Genjau, der an Akkerons Seite schritt, meinte mißtrauisch: »Ist es nicht möglich, daß uns Vitu bis hierher vordringen ließ, um uns hier einen Hinterhalt zu stellen?« Akkeron lachte nur. Das brachte Genjau in Wut, aber er wagte es nicht, gegen seinen Zarath aufzubegehren. Als einer der Krieger nach einer Frucht langte, sprang Genjau hinzu, packte ihn am Handgelenk und hinderte ihn so daran, die Frucht zu pflücken. Er drehte sich zu Akkeron herum und sagte: »Wäre es nicht möglich, daß diese Frucht vergiftet ist? Und daß unsere Krieger elend zugrunde gehen, wenn sie davon essen?« »Laß ihn, Genjau«, sagte Akkeron in scharfem Ton, und zu dem Krieger: »Beiße in die Frucht hinein und sage uns dann, wie sie dir bekommt.« Der Dalaugiri war verunsichert, aber er kam, wenn auch widerstrebend, dem Befehl seines Zarath nach. Er biß ein Stück von der Frucht ab, kaute – und dabei bekam sein Gesicht einen zufriedenen Ausdruck. »Es schmeckt«, sagte er. »Die Frucht ist fleischig, und ihr Saft berauscht wie schwerer Wein.« »Diese Frucht ist Wein und Brot zugleich«, erklärte Akkeron. »Greift bedenkenlos zu, tapfere Krieger, denn Vitu würde es nie wagen, in seinem Garten Früchte zu züchten, die etwas anderem als dem Leben dienen.« Die Dalaugiri brachen in ein Kriegsgeheul aus und stürzten sich von allen Seiten auf den Baum mit den Weinfrüchten. Akkeron ging mit Genjau weiter. Nach ein paar Schritten hörten sie hinter sich ein Krachen, und als sie sich umwandten, sahen sie, wie der Baum unter dem Gewicht der Dalaugiri geknickt wurde und umstürzte. Jetzt mußte selbst Genjau lachen. Einige Dalaugiri, die seltsame Geschöpfe vor sich hertrieben,
kamen ihnen entgegen. Genjau sah verwundert, daß einige halb Mensch, halb Tier waren, auch waren zwei vollwertige Tiere darunter und vier Menschen mit schuppenartigen Blättern statt einer Haut und Augen wie Blüten. »Sieh an«, sagte Akkeron spöttisch, »schon wieder solche unnütze Geschöpfe, die für nichts anderes gut sind, als das Auge durch ihren Anblick zu erfreuen. Gefallen sie euch, Dalaugiri?« »Sie sind durch und durch häßlich!« wurde ihm geantwortet, und die Dalaugiri traktierten ihre Gefangenen daraufhin mit Schlägen als könnten sie dadurch ihr Aussehen verändern. »Ich glaube, sie werden erst schön, wenn sie brennen«, meinte Akkeron, und die Krieger johlten begeistert, als ihr Zarath aus Skortschs Ewiger Flamme ein loderndes Feuer entstehen ließ. Akkeron ging mit Genjau weiter, während hinter ihnen die Vorbereitungen getroffen wurden, Vitus Geschöpfe dem Scheiterhaufen zu übergeben. Genjau köpfte im Vorübergehen einen Laufvogel mit fluoreszierendem Fell, der sich zutraulich an ihn schmiegen wollte. Einige Schritte weiter wurde ihm von einem der um ein Lagerfeuer sitzenden Krieger eine brutzelnde Tierkeule übergeben. Genjau biß herzhaft hinein, und das aromatische Fett troff ihm die Mundwinkel herab. »Was hältst du davon, wenn ich mit Vitus Hilfe die ganze Welt in einen solchen paradiesichen Garten verwandle, Genjau?« erkundigte sich Akkeron. Genjau spie den zerkauten Bissen aus. »Wenn du das tust, dann stürze ich mich ins Schwert!« rief er und verzog angewidert das Gesicht. »Willst du aus uns Hirten und Gärtner machen, Zarath? Wir Dalaugiri sind zum Kämpfen geboren. Eher würde ich sterben, als in einer Welt zu leben, in der es nur friedfertige Geschöpfe gibt. Erschaffe mit Vitus Hilfe lieber Ungeheuer, an denen wir Dalaugiri unseren Mut erproben können.« Akkeron lächelte weise. »Im Augenblick gibt es noch genug Gegner für euch, die ihr zu
bekämpfen habt. Wir haben Vitu noch nicht ganz bezwungen, obwohl es nicht mehr lange dauern wird, bis sie sich vor mir beugt.« Sie kamen zu einem Lebensteich. Akkeron schickte die Ewige Flamme von Skortsch hin und brachte sie erst zum Erlöschen, als der Teich ausgetrocknet war. Danach sprach Akkeron weiter, als hätte es überhaupt keinen Zwischenfall gegeben. »Auch wenn ich Vitu dazu gebracht habe, daß er mir die Wurzel des Lebens aushändigt, ist das noch nicht der Endsieg. Es gilt noch, Vesta und seine beiden verbündeten Elementargeister niederzuringen. Und dann ist da noch Dragon. Ihm gilt mein besonderer Haß, denn er war es, der Vesta aus seinem Gefängnis befreite und Aerula und Erthu dazu brachte, daß sie seine Verbündeten wurden.« »Ich werde Dragon für dich töten, Zarath.« »Nein!« Akkeron packte den Dalaugiri am Arm und drückte ihm den Staev gegen die Stirn. Genjau begann am ganzen Körper zu zittern, als seine Stirn plötzlich von einem eisigen Hauch getroffen wurde, der sich schnell über seinen ganzen Körper ausbreitete, daß er meinte, auf der Stelle erfrieren zu müssen. Akkeron nahm den Staev von ihm und sagte: »Dragon gehört mir – mir ganz allein. Kein Dalaugiri soll sich an ihm vergreifen. Er wird durch meine Hand sterben.« Akkeron beruhigte sich wieder. Er blickte sich zufrieden um. Was er sah, gefiel ihm. Die Dalaugiri hatten sich über den Garten des Lebens ausgebreitet und feierten ausgiebig den Sieg, wozu auch gehörte, daß sie an den Pflanzen Raubbau betrieben und schonungslos alles Lebende ausrotteten. Sie machten mit den gefangenen Menschen und mit den Tier- und Pflanzenmenschen ihre grausamen Spiele. Wie mußte Vitu beim Anblick ihrer gequälten Geschöpfe leiden! Aber noch hatte sie mit keinem Zeichen zu erkennen gegeben, daß sie zur Übergabe bereit war. Besonderen Spaß hatten die Dalaugiri daran, die über Nacht im Boden verwurzelten Halblinge für Zielübungen mit ihren Speeren
und Pfeilen zu verwenden. »Sammle eine Schar von Kriegern um dich, Genjau«, trug Akkeron seinem Feldherrn auf, »deren Sinne noch nicht vom Wein getrübt sind. Es soll sich um ausgesuchte Männer handeln, denn mit ihnen will ich Vitu selbst zu Leibe rücken.« * Genjau holte die Feiernden von den Lagerfeuern fort. Mit geübtem Auge erkannte er, welche noch nicht zu sehr berauscht waren und erwählte von ihnen die kräftigsten. Er packte sie einfach an den Haaren und hob sie daran hoch. Wenn der Auserwählte zur Waffe greifen wollte, wurde er von Genjau mit einem Fausthieb in die Schranken gewiesen. Dann brauchte er nur noch zu sagen: »Der Zarath hat dich für eine heilige Aufgabe auserkoren.« Als Genjau fünfzig Krieger beisammen hatte, wählte er von diesen wiederum jene aus, die noch ein Girion besaßen. Es verblieben dreiunddreißig Krieger. Genjau schritt sie ab und schenkte dabei den Girions seine besondere Aufmerksamkeit. Vor dem prächtigsten der Tiere blieb er stehen und betrachtete es eingehend. Der Reiter blickte reglos auf ihn hinunter. »Du besitzt das schönste Girion, das ich seit langem gesehen habe«, sagte Genjau anerkennend. »Es erinnert mich an mein eigenes, das ich im Kampf verloren habe.« Der Reiter zitterte vor mühsam unterdrückter Wut, als er sagte; »Ich lasse es nicht zu, daß man mein Girion mit irgendeinem anderen Tier vergleicht.« »Aus dir spricht Besitzerstolz«, sagte Genjau mit leichtem Spott. »Für dich mag dein Girion das wertvollste sein, aber sicherlich überschätzt du es. Mein Tier war besser.« »Es kann nichts wert gewesen sein, wenn es in den Tod rannte«, erwiderte der Reiter jetzt mit offenem Haß. »Oder aber sein Besitzer
war ein ganz erbärmlicher Versager.« Genjau war klar, daß diesen letzten Worten eine Attacke folgen würde. Etwas anderes war gar nicht denkbar. Der Reiter hatte ihn bewußt beleidigt, um einen Grund zu haben, die Waffen sprechen zu lassen. Und darauf war Genjau vorbereitet. Er sprang zur Seite, als sich das Girion plötzlich aufbäumte und mit den Vorderhufen nach ihm schlug. Genjau holte bereits mit dem Schwert aus, als das Tier wieder zu Boden kam und der Reiter das Schwert auf ihn niedersausen ließ. Die Klinge strich knapp an Genjau vorbei. Der Reiter hatte solche Wucht in den Schlag gelegt, daß das Schwert auf dem Boden aufschlug. Er war aber geschickt genug, sein Girion herumzureißen und es so zwischen seinen Gegner zu drängen, damit er ihm kein Angriffsziel bot. Genjau aber hatte dieses Manöver vorausgesehen und brachte sich mit einem Sprung auf die andere Seite, an der der Reiter ungeschützt war. Genjau nützte diese Blöße augenblicklich und stieß zu. Der Reiter wurde durch den furchtbaren Hieb vom Rücken seines Tieres geschleudert und fiel vor die Hufe eines anderen, das wie wild nach ihm trat. Damit war Genjaus Sieg aber noch nicht vollkommen, denn nun mußte er erst das verwaiste Girion bändigen. Es bot ihm einen erbitterten Kampf, bis es ihm schließlich gelang, es bei der Mähne zu fassen. Genjau schloß seine Hand so fest um die Nervenfasern, als wolle er sie zerquetschen. Das Girion gab klägliche Laute von sich, seine Flanken zitterten, und es wurde ganz weich in den Beinen. Das war der Zeitpunkt, wo sich Genjau auf seinen Rücken schwang. Während er dem Tier dicht an seinem Ohr beruhigend zusprach, lockerte er den Griff in seiner Mähne. Das Zittern des Tieres legte sich, und als es dann friedlich schnaubte, wußte Genjau, daß er es für sich gewonnen hatte. Genjau setzte sich an der Spitze der kleinen Reiterschar in
Bewegung. * Akkeron stand breitbeinig vor dem Riesenbaum, dessen Stamm so dick war, daß zehn Dalaugiri ihn nicht umfassen konnten und dessen Krone sich hoch in den Himmel wölbte. Als die dreiunddreißig Reiter herankamen und einen Kreis um den Baum bildeten, wandte sich Akkeron ihnen zu. »Das ist der Baum des Lebens«, sagte Akkeron zu ihnen, während er auf ihn deutete. »Vitu hat sich in ihn geflüchtet, um sich in ihm zu verstecken. Sie spricht nicht mit mir und glaubt, mich so täuschen zu können. Aber wir werden Vitu zum Sprechen bringen, tapfere Dalaugiri.« Die Dalaugiri stimmten ein Kriegsgeheul an. »Steigt ab«, wurden sie von Akkeron aufgefordert, »und sucht die Wurzel des Lebens. Sie muß irgendwo in diesem Baum versteckt sein. Ihr braucht bei eurer Suche nicht besonders behutsam zu Werke zu gehen, denn ihr könnt Vitu höchstens Schmerzen zufügen – töten könnt ihr sie nicht. Denn sie ist unsterblich.« Akkeron sah zu, wie die Dalaugiri, mit Streitäxten und breitschneidigen Dolchen, vom Rücken ihrer Girions stiegen und sich zum Baum begaben, der Vitu war. »Glaubst du noch immer nicht, daß ich die Wurzel des Lebens bekommen werde?« rief Akkeron. »Gib mir dein Inneres freiwillig, damit dir der Schmerz und die Schmach, wie ein morscher wurmstichiger Baum, gefällt zu werden, erspart bleiben.« Akkeron wartete auf eine Antwort, aber Vitu schwieg. Da gab der Zarath den Dalaugiri das Zeichen, mit der Suche zu beginnen. »Reißt die Rinde vom Stamm!« trug Akkeron ihnen auf. »Klettert hinauf und durchsucht das Geäst!« »Legt die Wurzeln frei und hackt sie ab, um zu sehen, ob in ihnen vielleicht die Wurzel des Lebens versteckt ist. Schlagt Kerben in den Stamm – vielleicht ist die Wurzel des Lebens in Vitus Harzblut
eingebettet.« Die Dalaugiri taten, wie ihnen Akkeron befohlen. Sie kletterten in die Baumkrone hinauf und suchten in dem Geäst und zwischen dem Blätterwerk nach der Wurzel des Lebens, deren Aussehen sie zwar nicht kannten, die sie aber nach Akkerons Aussage sofort erkennen würden, wenn sie ihnen in die Hände fiel. Sie schnitten mit ihren Dolchen die Rinde vom Stamm, bis das Harz hervorquoll, und sie traktierten auch den nackten Stamm noch mit ihren Streitäxten, schlugen tiefe Kerben hinein. Die Wurzel des Lebens aber fanden sie nicht. Sie begannen Löcher zu graben, legten mannsdicke Wurzeln frei, gruben immer tiefer, bis sie in den Löchern verschwanden. Töteten etliches Kleintier, das sich hierher verkrochen hatte, hieben Wurzeln ab und warfen sie in ein Lagerfeuer. »Wie gefällt dir das, Vitu?« rief Akkeron. Der Lebensgeist litt – und schwieg. Die Dalaugiri brachen Äste ab und warfen sie ebenfalls ins Feuer. »Hast du Angst vor Skortsch?« fragte Akkeron scheinheilig. »Du brauchst den Geist des Feuers nicht zu fürchten, wenn du mir die Wurzel des Lebens aushändigst.« Vitu schwieg beharrlich. »Ich will dich gar nicht leiden sehen, Vitu. Ich will nur deinen Gehorsam. Komm zu mir, und ich werde dich mit Skortsch und Tyde vereinigen!« Es half alles nichts, Vitu brach das Schweigen nicht. »Wenn du weiterhin so starrsinnig bleibst, werde ich dir Skortsch schicken!« drohte Akkeron schließlich. »Wollen wir doch sehen, ob du lieber in Skortsch eingehst, als dich mir zu unterwerfen. Willst du wirklich brennen, Vitu?« Auch Akkerons Drohungen fruchteten nicht. Er vermutete, daß Vitu sie nicht ernst nahm, deshalb fügte er hinzu: »Mir macht es nichts aus, dich Skortschs Flammen zu überantworten. Denn lieber vernichte ich dich, als dich Vesta zu überlassen. Ich werde nicht dulden, daß du dich mit Vesta verbündest, Vitu, hörst du? Ich bin der neue Herr der Elemente.
Und ich werde dich vernichten, wenn ich keine andere Wahl habe!« Es war ihm ernst damit. Und um Vitu zu zeigen, daß er nicht nur leere Drohungen aussprach, ließ er rund um den Baum des Lebens einen Feuerwall entstehen. »Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, dein Schicksal zu bestimmen. Entscheide dich also, Vitu.« Akkeron ballte die Hände zu Fäusten. Er hätte Vitu nur zu gerne in seine Gewalt bekommen, denn dann hätte er drei Elementargeister beherrscht und gegen Vesta eine Übermacht besessen, der nur die Unterstützung zweier Elementargeister besaß. Das wäre bereits eine Vorentscheidung im Kampf um die Herrschaft über die Welt gewesen. Aber da sich Vitu nicht freiwillig ergeben wollte, mußte er zu seinem Wort stehen und Gewalt anwenden. Er gab Skortsch den Befehl, sich Vitus anzunehmen … … und augenblicklich zog sich der Wall aus Feuer zusammen, bis er den Baumstamm in seinem Mittelpunkt erreicht hatte. Die Flammen rasten den Stamm hinauf, griffen auf die Äste und Blätter über – und wenige Atemzüge später stand der Lebensbaum lichterloh in Flammen. »Du hast es nicht anders gewollt, Vitu«, sagte Akkeron mit echtem Bedauern. * Obwohl Thamai von den vorangegangenen Anstrengungen völlig ermattet war, konnte sie keine Ruhe finden. Sie hatte einige Geschöpfe Vitus um sich geschart, die den Lebensteich gegen die wie die Wilden hausenden Dalaugiri verteidigen sollten – oder, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab, sie fortzulocken hatten. Thamais Helfer waren auf diese Weise nach und nach von den Dalaugiri niedergemetzelt worden, während sie am Rand des Lebensteiches saß, in dem der tödlich verwundete Ubali eine
Wiedergeburt erfahren sollte. Plötzlich hörte Thamai hinter sich Geräusche. Schritte – und das Grölen mehrerer betrunkener Dalaugiri. Thamai hob ihr Blasrohr. Da brachen sieben Dalaugiri aus dem Dickicht. Zuerst waren sie bei Thamais Anblick so überrascht, daß sie erstarrten, dann griffen sie augenblicklich zu den Waffen, um sie zu töten. Bevor sie zur Tat schritten, kamen sie jedoch überein, daß man mit dieser überaus anmutigen Beute noch einiges anfangen konnte, bevor man ihr die Kehle durchschnitt. Thamai zögerte keinen Augenblick, sondern setzte das Blasrohr an. Der erste Dalaugiri brach mit einem Pfeil in der Kehle zusammen, bevor er noch zwei Schritte getan hatte. Zwei weitere starben durch Pfeile aus Thamais Blasrohr, doch dann hatten die überlebenden Vier sie erreicht. Sie konnte einem von ihnen noch den Dolch zwischen die Rippen stoßen, bevor die anderen drei sie überwältigt hatten und zu Boden rangen. Sie wehrte sich verzweifelt, aber gegen die Kraft der Dalaugiri kam sie nicht an. Sie sah die fratzenhaften Gesichter sich dem ihren nähern, spürte den brutalen Druck ihrer Hände … Da wurde dem einen Dalaugiri plötzlich der Kopf zurückgerissen. Ein markerschütternder Schrei gellte durch den Dschungel. Ein Schatten fegte über die beiden letzten Dalaugiri hinweg und riß sie zu Boden. Thamai hörte Kampflärm, während sie sich benommen erhob. Als sie zur Seite blickte, war der Lärm verstummt. Sie sah einen Schwarzen Panther, der gerade von den übel zugerichteten Dalaugiri abließ. Sie rührten sich nicht mehr. »Ubali!« rief Thamai überglücklich und schmiegte sich an sein weiches Fell. Während sie ihn noch umarmte, verwandelte sich Ubali in einen Menschen zurück. »Was ist geschehen, Thamai?« fragte er. »Was hat es zu bedeuten, daß Dalaugiri im Garten des Lebens sind?« Thamai sagte es ihm. »Noch ist nichts verloren«, behauptete Ubali. »Ich werde alle
Geschöpfe Vitus um mich sammeln und Akkerons Heer überfallen, wenn man es am wenigsten erwartet.« Thamai schüttelte den Kopf. »Dafür ist es zu spät, Ubali. Es gibt keine Geschöpfe Vitus mehr. Akkeron hat sie alle ausgerottet. Die wenigen, die sich retten konnten, sind in alle Richtungen verstreut. Aber selbst wenn du sie findest, so werden es nicht mehr als eine Handvoll sein. Akkeron dagegen hat kaum Verluste erlitten.« »Aber irgend etwas müssen wir tun, bevor Vitu gänzlich in Akkerons Gewalt gerät, Thamai. Wir müssen eine Möglichkeit finden, ihr zu helfen.« »Auch dafür ist es bereits zu spät, Ubali«, sagte Thamai mit schwacher Stimme. Sie blickte an ihm vorbei. Als er der Richtung ihres Blickes folgte, sah er es nicht weit entfernt zwischen den Bäumen des Dschungels aufflammen. »Dort hat Vitus Baum gestanden«, sagte Thamai. Ubali stützte den Kopf in die Hände. Er konnte ganz einfach nicht glauben, daß Vitu nicht mehr war. Er konnte sich vorstellen, daß sie lieber in Skortsch einging, als sich Akkeron auszuliefern, aber er wollte einfach nicht wahrhaben, daß sie keine andere Möglichkeit mehr als den Tod gehabt hatte. Ubali straffte sich. »Dragon!« sagte er und wandte sich Thamai zu. »Dragon wird nicht untätig zugesehen haben, wie Akkeron den Lebensgeist unterjochte.« »Du meinst den Mann auf der Wolke? Ich weiß, wie sehr du ihm zugetan bist, weil er dein Freund war …« »Er ist es noch immer!« »Nein, Ubali. Er ist ein Diener Vestas. Und der Herr der Elemente hat nichts zu Vitus Rettung unternommen.« »O Vitu!« stieß Ubali mit geschlossenen Augen hervor und ballte die Hände zu Fäusten. »Ich werde dich rächen. Bei allem was mir heilig ist – Akkeron wird es büßen!«
9. Konnte ein Elementargeist eine größere Demütigung erfahren als die Vernichtung seines Lebenswerks? Welche Schmach war größer als die, daß ein Lebensgeist nicht mehr in der Lage war, Leben zu erschaffen? Ich bin nur eine Wanderwolke, aber dennoch glaube ich, Vitus Beweggründe erkannt zu haben. Sie hatte bis zuletzt geglaubt, Akkeron in die Schranken weisen zu können. Welche Waffen hatte Himurs Sohn schon ihren göttlichen Fähigkeiten entgegenzusetzen? Ihre Geschöpfe waren fast unsterblich, denn selbst Tote, wenn sie nicht gerade in Skortsch eingegangen waren, konnten in den Lebensteichen wiedererweckt werden. Und auf einen Dalaugiri kamen zehn und mehr von Vitus Geschöpfen. Diese zahlenmäßige Überlegenheit mußte die Kampferfahrung der Dalaugiri aufwiegen. Und doch ging diese Rechnung nicht auf, denn der brutalen Gewalt Akkerons hatte Vitu nichts entgegenzusetzen. Was nützte es, wenn sie ständig neues Leben erschuf – ihre Geschöpfe starben schneller, als sie sie entstehen lassen konnte. Sie wurde dadurch nur geschwächt und konnte in die Kampfhandlungen selbst nicht eingreifen. Sie hatte ihre Fehler erst erkannt, als Akkeron bereits vor ihr stand, der Garten des Lebens verwüstet war und seine Bewohner ausgerottet waren. Und Vitu war nicht mehr als ein hilfloser Baum, der Willkür des Eroberers ausgeliefert. Die Situation schien ausweglos, wenn sie nicht … Vitu hatte keine andere Wahl, als reuevoll zu Vesta zurückzukehren. Sie kämpfte lange gegen ihren Stolz. Doch als Akkeron Feuer an ihren Baum legte, da setzte sie sich endlich mit Vesta in Verbindung.
Ich wußte, daß du zu mir zurückfinden würdest, war der Einzige Gedanke, den Vesta dazu äußerte. Vitu war froh, daß der Herr der Elemente es ihr so leicht machte. Sie hätte es nicht ertragen, wenn sie für die Übergabe auch noch mit Spott belohnt worden wäre. Dabei stünde dem Herrn der Elemente ein solcher zu. Er hatte ihr die Niederlage von Anfang an prophezeit. Vitu rief eines ihrer Geschöpfe zu sich – eines von wenigen, das überlebt hatte. Es war ein mittelgroßer grauer Vogel, der im Dunkel der Nacht kaum zu sehen war. Dieser Vogel landete im Geäst von Vitus Baum – und der Lebensgeist übergab ihm die Wurzel des Lebens, sein Innerstes. Mit diesem unscheinbaren, knorrigen Gewächs im Schnabel flog der Vogel, von Akkeron unbemerkt, zu mir. Vesta verfolgte seinen Flug mit Spannung, denn wenn der Vogel zufällig entdeckt und von einem Dalaugiri abgeschossen worden wäre, dann hätte Akkeron die Wurzel des Lebens doch noch bekommen. Und dann wäre er selbst für den Herrn der Elemente ein übermächtiger Gegner geworden. Denn die Wurzel des Lebens besaß nicht weniger Macht als das Innere eines anderen Elementargeistes. Dieses Gewächs von der Größe einer Rübe konnte überall da, wo man mit ihm den Boden berührte, in großer Schnelle tierisches oder pflanzliches Leben hervorbringen. Vesta verstaute das Pfand Vitus in seinem nun noch heller erstrahlenden Körper, während ich in sicherer Entfernung des brennenden Baumes dahinschwebte, von dem Akkeron immer noch glaubte, er verkörpere den Lebensgeist. * Der neue Morgen graute. Der Herr der Elemente stand auf meiner höchsten Erhebung, und die Welt schien für ihn nicht zu existieren. So verharrte er nun schon
seit geraumer Zeit. Dragon blickte immer wieder zu ihm hinüber. Aber er wagte nicht, das Wort an ihn zu richten. Er merkte, daß Vesta mit den Gedanken ganz woanders weilte. Vielleicht war er einfach in sich gegangen, oder er hielt ein stummes Gespräch mit den Elementargeistern: Aerula, dem Luftgeist. Erthu, dem Erdgeist. Vitu, dem Lebensgeist. Das waren seine drei Verbündeten, die es vereint ganz leicht gegen Akkerons Verbündete aufnehmen konnten: Skortsch, dem Feuergeist. Tyde, dem Wassergeist. Worauf wartet er nur? dachte Dragon. Ich wußte, was er meinte. Er konnte nicht verstehen, warum Vesta nicht in die letzte, entscheidende Schlacht ging, nachdem seine Macht bereits gefestigt war. Nur Geduld, Dragon, versuchte ich meinen zweibeinigen Freund zu beruhigen. Der Herr der Elemente weiß schon, was er tut. Vergiß nicht, daß Vitu sehr geschwächt war, als Vesta sie in sich aufnahm. Was nützt ihm schon ein kraftloser Lebensgeist? Er wird warten, um Vitu Gelegenheit zu geben, sich wieder zu erholen. Dragon hatte sich selbst schon gedacht, daß dies der Grund für Vestas Zögern sein konnte. Aber trotz seiner Einsicht konnte er sich mit dieser Situation einfach nicht abfinden – das Warten zermürbte ihn. Er unterbrach seine ruhelose Wanderung, kam zu meinem Rand und setzte sich so, daß seine Beine herunterbaumelten. Er trug noch immer Fräulein Honigvogels Umhang, den Schild und die Waffen von Herrn Roter Bär. Die Waffen legte er jetzt beiseite, zog das Knie an und stützte sich darauf. So blickte er auf Vitus Reich hinunter. Der Pflanzenteppich des Dschungels wies unzählige Löcher auf. Es gab innerhalb von Vitus Garten des Lebens kaum mehr ein Fleckchen, an dem Skortsch nicht seine Spuren hinterlassen hatte.
Überall war verbrannte Erde – und darauf tummelten sich winzig anmutende Lebewesen. Dalaugiri! Die Sieger auf dem Schlachtfeld. Dragon wollte nicht daran denken, was für ein Gemetzel dort unten während der Nacht stattgefunden haben mußte. Er hatte die Freudenfeuer der Dalaugiri gesehen und den Lärm ihrer Siegesfeier gehört. Und einer der Besiegten war sein Freund Ubali. Der Gedanke an Rache erstand in ihm. Und dann dachte er an Vestas Versprechen, ihn nach gewonnener Schlacht zum Weltentor zu bringen. Er wog beides miteinander ab – und die Treue zu seinem Freund siegte. »Aerula-thane, bring mich hinunter«, verlangte er von mir. »Ich möchte, daß du mich direkt vor Akkeron absetzt.« Ich weigerte mich. Nicht weil mein Gehorsam zum Herrn der Elemente größer war als die Zuneigung, die ich für Dragon empfand. Aber ich dachte daran, daß er der Mann Schicksal sei – und er durfte die Welt nicht für ein Einzelschicksal aufs Spiel setzen. Du kannst beides miteinander vereinbaren, drang ich in seinen Geist. Du kannst für den Herrn der Elemente kämpfen und gleichzeitig deinen gefallenen Freund rächen. »Mir ist die Ruhe der Götter nicht gegeben, denen die Ewigkeit zur Verfügung steht«, sagte er laut. »Ich bin ein Mann der Tat. Ich muß handeln – und zwar sofort.« Er hatte seine Waffen wieder aufgenommen und stand in voller Kampfausrüstung da. Zügle deinen Tatendrang, Dragon! bat ich. »Bist du ganz von Sinnen, nur weil du meinst, einen Freund verloren zu haben?« Vesta war aus seiner Versunkenheit aufgewacht und richtete das Wort an Dragon. Als dieser sich mit entschlossenem Gesicht zu ihm umwandte, fügte Vesta hinzu: »Und wenn ich dir sage, daß Ubali lebt?« »Dir wird wohl jedes Mittel recht sein, um mich noch länger hinzuhalten«, erwiderte Dragon.
Vesta näherte sich ihm. Plötzlich nahm sein Kopf festere Konturen an, und es bildete sich kurz das Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes. Dragon glaubte Ubali zu erkennen und zuckte zusammen. Sofort verschwamm die Vision wieder, und nur noch Vestas überirdische Aura war da. »Manchmal benimmst du dich so töricht, daß ich glaube, du seist ein Sterblicher wie jeder andere«, sagte Vesta. »Erinnere dich meiner Worte, Dragon, die ich sprach, als wir von Merlane aufbrachen.« »Ich habe nicht über sie nachgedacht, weil ich nicht viel Sinn darin fand«, erwiderte Dragon. »Du verstehst es nur schlecht, zu lügen«, meinte Vesta. »Die Wahrheit ist, daß dir diese Worte nicht aus dem Sinn gegangen sind. Ich sagte, daß nur Wesen, denen die Kraft der Götter innewohnt, diese Auseinandersetzung bestehen könnten. Du legtest das so aus, daß du zwar nicht göttliche Kraft besitzt, von mir aber dennoch in den Kampf geschickt wirst. Doch so ist es nicht. Du wurdest von mir auserwählt, weil du sehr wohl göttliche Eigenschaften besitzt.« »Und wie äußert sich das bei mir?« fragte Dragon spöttisch. »Ganz bestimmt nicht dann, wenn du mit diesem zerbrechlichen Schwert und dem Schild gegen einen Akkeron vorgehen willst, dem zwei Elementargeister zur Seite stehen«, sagte Vesta spöttisch. »Ein einziger Gedanke von ihm, und Skortsch würde dich in seinem Feuerhauch vergehen lassen. Oder Tyde würde dich ertränken.« »Dieser ungleiche Kampf ist mir immer noch lieber als die Untätigkeit.« »Das Warten hat ein Ende«, sagte der Herr der Elemente. »Vitu hat sich soweit erholt, daß sie eine echte Verstärkung für uns darstellt.« »Heißt das, daß wir sofort in den Kampf gegen Akkeron gehen?« fragte Dragon hoffnungsvoll. »Werde ich an deiner Seite kämpfen?« »Du wirst allein kämpfen, Dragon!« Dragon machte ein verwirrtes Gesicht. Bevor er noch eine Frage stellen konnte, gab ihm Vesta die Erklärung von sich aus. »Du hast eine ähnliche Herkunft wie Akkeron. Der Sohn Himurs steht über den Sterblichen, ohne jedoch an die Götter
heranzureichen. Du, Dragon, der du aus einer anderen Welt kommst, stehst ebenfalls über den Sterblichen dieser Welt. Ihr seid euch wegen der in euch schlummernden Kräfte sehr ähnlich, wenn ihr auch nicht von gleicher Art seid. Das ist der Grund, warum du an meiner Statt in den Kampf gehen mußt.« »Einfach ausgedrückt heißt das, du schiebst mich vor, weil du es unter deiner Würde findest, gegen Akkeron zu kämpfen«, sagte Dragon ohne Groll. »Ich verstehe nur nicht, wo der Unterschied liegt, ob ich von mir aus gegen Akkeron ins Feld ziehe oder ob du mich gegen ihn schickst.« »Den Unterschied wirst du bald merken, Dragon.« * War es ein Sieg oder eine Niederlage? Die Sonne ging über dem verwüsteten Garten des Lebens auf. Verkohlte Baumstümpfe ragten als bizarre Gebilde aus dem verbrannten Boden, über den die Skelette und Kadaver von Vitus Geschöpfen verstreut lagen. Selbst die wenigen grünen Inseln, die von Skortsch verschont geblieben waren, konnten nicht mehr an das blühende Leben von früher erinnern. Denn die meisten der verbliebenen Pflanzen waren von den Girions kahlgefressen worden. In Vitus Garten regte sich kein Leben mehr. Die Dalaugiri hatten ganze Arbeit geleistet. Und Vitu selbst? Akkeron blickte zu dem schwarzen Loch im Boden. Nur Asche war vom Lebensgeist übriggeblieben. Skortsch war bis tief unter die Erde vorgedrungen und hatte selbst das weitverzweigte Wurzelsystem ausgetilgt. War es nun ein Sieg oder eine Niederlage? Es war vielleicht kein Sieg, weil es Akkeron nicht gelungen war, sich Vitus zu bemächtigen. Aber es war auch keine Niederlage, denn Vitu hatte nicht zu Vesta überlaufen können. So gesehen, war die Schlacht auf jeden Fall ein Erfolg für Akkeron. Seine Aussichten, der neue Herrscher dieser Welt zu werden, waren
so gut wie vorher. Und er hatte immer noch 11000 Krieger unter sich, denen Vesta nichts Gleichwertiges entgegenzustellen hatte. Mit diesen konnte er diesen Kontinent erobern und sein Einflußgebiet gewaltig zu vergrößern. Er blickte zu der Wanderwolke empor, die sich wegen der großen Entfernung winzig klein ausnahm. Auf jeden Fall befand sie sich weit genug weg, um von Skortsch nicht erreicht werden zu können. Dort war Vesta! Akkeron hatte ständig erwartet, daß der Herr der Elemente gegen ihn vorgehen würde. Er war auf Aerulas und Erthus Attacken gefaßt. Daß es nicht dazu kam, wertete Akkeron als Schwäche Vestas. Und er wurde zuversichtlicher. Er wäre einer Auseinandersetzung mit Vesta nicht aus dem Weg gegangen, aber so war es ihm lieber. Er konnte zum nächsten Schlag ausholen. Akkeron ließ seine göttliche Stimme über dem verwüsteten Land erschallen, so daß ihn alle seine Dalaugiri-Krieger hören konnten. »Wir haben Vitus Garten erobert, tapfere Krieger. Aber dies ist nur ein kleiner Teil in einem riesigen Land. Und ich habe euch versprochen, euch zu Beherrschern dieser Welt zu machen. Noch heute werden wir weiterziehen. Unser Eroberungsfeldzug soll uns über die Ruinenstadt Merlane bis nach Askaloth am Nordmeer führen. Und wir werden über das Land im Osten ausschwärmen und es erobern. Denn diese Welt gehört euch, tapfere Dalaugiri.« Ein unbeschreibliches Jubelgeschrei brach aus. Akkeron hatte die richtigen Worte gewählt, um seine Krieger anzufeuern. Was sollten sie hier in der Einöde des ehemaligen Lebensgartens, wo es nichts mehr zu jagen und zu plündern gab? Noch dazu, wenn im Norden reiche Völker darauf warteten, um ihrer Habe und ihr Leben erleichtert zu werden! Die Dalaugiri sollten nur in dem Glauben bleiben, daß Akkeron nichts anderes vorhatte, als sie auf erfolgreiche Raubzüge zu führen. Seine wirklichen Pläne verriet er nicht, damit Vesta sie nicht
durchkreuzen konnte. Akkeron wollte in Wirklichkeit vorerst nur bis Merlane vordringen – bis zu den Höhlen des Erdgeists. Erthu war der nächste Elementargeist, den zu besiegen es galt. Zwar besaß Vesta bereits Erthus Inneres, aber das schloß nicht aus, daß Akkeron den Erdgeist dazu zwingen konnte, es sich zurückzuholen und es ihm zu übergeben. Und wenn das nicht gelang, würde er Erthu vernichten. Dazu fühlte sich Akkeron stark genug, denn er war Herr über die beiden mächtigsten Elementargeister. Akkeron ließ die Krieger und ihre Reittiere sich an Tydes Ewigem Naß laben, bevor er sie zusammenrief. Viele von ihnen hatten noch schwere Köpfe oder waren berauscht. Aber die Aussicht auf einen neuen Kampf ermunterte sie. Als sie nun auf den Rücken ihrer Girions saßen, merkte man ihnen nicht an, daß sie nicht ausgeruht waren. Und wenn sie augenblicklich kämpfen mußten – sie würden ihren Mann stellen. Akkeron konnte sich keine schlagkräftigere Truppe als die Dalaugiri vorstellen. Sie waren die einzigen, die diese Welt erobern konnten. Genjau kam auf einem prachtvollen Girion zu Akkeron geritten, als dieser das tönerne Behältnis mit der Ewigen Flamme Skortschs hervorholte, um sich damit einen Weg nach Norden zu brennen. »Ein prachtvolles Tier«, sagte Akkeron anerkennend. »Mußtest du dafür deinen besten Freund töten, Genjau?« Der Dalaugiri war ob dieser Bemerkung keinesfalls beleidigt. Einen Freund im Zweikampf zu töten, war kein sträfliches Vergehen, eher eine Heldentat, denn man nahm sich nur die Besten zu Freunden, wie überhaupt der sportliche Zweikampf auf Leben und Tod unter den Dalaugiri eine beliebte Freizeitbeschäftigung war. Dieser gingen sie aber in der Regel nur in Friedenszeiten nach. Dadurch wurde eine Auslese geschaffen, denn nur die stärksten und listenreichsten Dalaugiri überlebten. Genjau antwortete abfällig: »Der andere war unwürdig, ein solch außergewöhnliches Girion zu
besitzen. Dieses Tier wäre es wert, daß man ihm in den Tod folgt.« Akkeron dachte daran, daß er eine solche Aktion zu verhindern wissen würde. Er brauchte Männer wie Genjau, die das ungestüme Temperament der Dalaugiri einigermaßen zügeln konnten. »Hier entlang führt die Straße des Sieges«, sagte Akkeron. »Bis zum Nordmeer – aber ich hoffe, nicht darüber hinaus«, erwiderte Genjau. »Deine Krieger haben es nicht verdient, noch einmal den Wellen des Meeres ausgesetzt zu werden, Zarath.« Akkeron dachte, daß dies wohl unvermeidlich sein würde, wenn er nach dem Sieg über Erthu auch Aerula ausschalten wollte. Aber er sagte es nicht, denn es lag noch in der Zukunft. Und warum sollte er schon jetzt die Angst der Dalaugiri vor Tydes nassem Element schüren? Akkeron wollte gerade damit beginnen, die Siegesstraße nach Norden in den Dschungel zu brennen, da ertönte aus allen Richtungen das wilde Geheul der Dalaugiri. Ein Tumult brach los, die Girions scheuten – und manche gingen sogar mit ihren Reitern durch. »Zarath, steh uns bei!« Die Dalaugiri, die weder Tod noch Dämonen fürchteten, waren vom nackten Entsetzen gepackt worden. Genjau zog sein Krummschwert und deutete in die Richtung, in die alle Dalaugiri starrten. »Was kommt da über uns, Zarath?« rief er. Akkeron wurde blaß, als er sah, was sich vom Westen näherte. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit, daß Vesta den Entscheidungskampf schon hier – auf einer höheren, übergeordneten Ebene austragen wollte. Himurs Sohn hatte keine andere Wahl, als die Herausforderung anzunehmen.
10.
Dragon erschrak wohl am stärksten darüber, was mit ihm geschah. »Du wirst für mich kämpfen!« hatte Vesta gesagt. Und von da an stand Dragon in einem unheimlichen Bann. Er atmete. Und das ging so vor sich, daß er zuerst die Luft tief in sich einholte. Ungeheure Luftmassen gingen durch seine Atemwege, ein Sog entstand, der Bäume hätte entwurzeln können. Die Luftmassen stauten sich in seinem Körper mit gewaltigem Druck. Ein Orkan kam aus einem halboffenen Mund, der die Wolken am Himmel durcheinanderwirbelte. Er atmete wieder ein. Und diesmal tat er es noch viel bewußter. Aufmerksam verfolgte er die einzelnen Phasen dieses Vorgangs, der ihn in einen seltsamen Zustand versetzte, schwankend zwischen Glückseligkeit und Panik. Er war wie berauscht, gleichzeitig überkam ihn Furcht. Er fühlte sich so leicht, als könne er schweben, als hätte sich sein Körper zu einer Wolke aufgebläht, die in den Strömungen der Lüfte trieb, Aerula auf Gedeih und Verderben ausgesetzt. Aerula! Die Erkenntnis kam blitzartig über ihn, daß Aerula, der Luftgeist selbst, in ihn geschlüpft war. Das enthob ihn zwar seiner Ungewißheit, aber der Schrecken über dieses ungeheuerliche Geschehnis wich deshalb nicht von ihm. Er hatte ganz klar und deutlich erkannt, was mit ihm geschah. Vesta wappnete ihn für den bevorstehenden Kampf und übergab ihm Aerulas Inneres. Dragon war jetzt die Luft der Welt, die Brise, die Segel bläht, der Abendwind, der in den Haaren verliebter Mädchen spielt – der Orkan, der die Heere der Feinde hinwegfegt. Seine Arme waren Schwingen, der Schild, den er wie ein Spielzeug hielt, war ein Luftschiff, sein Schwert ein Windlot.
Das Gefühl der Leichtigkeit verging. Dragon spürte, wie er immer schwerer wurde. Er sank, er fiel immer schneller, bis er wie ein mächtiger Fels in die Tiefe schoß. Das alles nahm er mit den Augen nicht wahr, aber er fühlte es mit jeder Faser seines Körpers, daß er von einem unheimlichen Gewicht in einen endlosen Abgrund gerissen wurde. Es war das Gewicht seines Körpers. Er war ein Fels. Sein Schild war die Erde der Welt. Sein Schwert das Metall schlechthin. Er konnte damit die härtesten Steine wie Wasser durchschneiden. Und dann war sein Fall zu Ende, und er wußte, daß er im Mittelpunkt der Welt war. Seine Schultern trugen die Erde, die Himmelsberge, die Wüsten und die Meere, die Menschen, die darauf lebten, die Tiere und die Pflanzen. Auf seinen Schultern ruhten die Elemente von Tyde, Skortsch und Vitu. Er war Erthu. Er hatte von Vesta das Innere des Erdgeistes bekommen, und es war in seinem Körper aufgegangen. Er war ein kleiner, unscheinbarer Klumpen mit dem Gewicht der Erde. Träger der Macht Erthus. Dragon versuchte, seine Last abzuwerfen. Wozu beseelte ihn das Innere Aerulas, wenn er sich der Winde nicht bedienen konnte? Atme, sagte er sich, atme tief ein, dann wirst du dich wieder leicht wie ein Vogel fühlen. Sprenge den Fels deines Körpers, dehne dich aus über den ganzen Himmel und verschmilz mit der Erde. Und Dragon schwebte wieder empor. Seine Augen zeigten ihm immer noch nicht das »Um-ihn«, sein Geist verriet ihm nur das »In ihm«. Doch sein Geist war noch verwirrt, klärte sich jedoch in dem Maße, in dem er sich selbst erkannte. »Ich bin Aerula-Erthu!« sagte er. Und ein Orkan trug sein Wort über die Welt. »Erkenne dich selbst – und du erkennst die Welt!« Erde und Luft, zwei Elemente, die seinen Körper machten.
Einen heißen Körper. Einen kalten Körper. Einmal so, einmal so. Es fand ein ständiger Wechsel statt. Wärme, Hitze, Feuer. Sein Körper aus Luft und Erde ertrug alles. Kühle, Kälte, Eis. Sein Körper war dagegen unempfindlich. Denn er war tot. Dragon erschauerte. Und diesmal schmerzte ihn die Kälte, denn sie kam aus ihm selbst. Aus Ich-Dragon, der noch nicht ganz mit Erthu und Aerula verschmolzen war. Er hoffte, er würde mit den Elementen Luft und Erde nie ganz eins werden. Die Kälte wich. Der tote und doch beseelte Körper bekam Wärme aus einer Quelle, die plötzlich aus dem Nichts entstand. Es war die Quelle des Lebens. Zuerst sprudelte sie nur zaghaft, um ihn nicht in einem Fluß überschäumenden Lebens zu ertränken. Aber die Quelle wuchs zu einem eindrucksvollen Brunnen und war auf einmal eine alles überflutende Kaskade. Dragon fühlte sich nicht mehr so hilflos-schwerelos. Er war auch nicht mehr so bedrückend gewichtig. Er hatte von beidem etwas und war darüber hinaus auch noch lebendig. Vitu war in ihn eingekehrt! Aus dem Lebensquell war ein Ding in ihn gespült worden, das sich ausnahm wie die Wurzel einer unscheinbaren Pflanze. Doch als sie in seinen Körper eindrang, da wuchs sie zu weltweiter Größe, erstrahlte in überirdischer Schönheit und zeigte ihre göttliche Vollkommenheit. Das war die Wurzel des Lebens. Dragon wurde zum Leben. Er spürte, wie sein Körper unter der geballten Macht dreier Elemente vibrierte. Sein Körper? Dragon wälzte sich herum und öffnete die Augen. Er konnte sehen. Über ihm spannte sich der blaue Himmel, am Horizont eingerahmt von Wolken.
Dragon drehte langsam den Kopf herum. Sein Arm mit dem achteckigen Schild hing über meinen Wolkenrand hinaus. Schien fast den verbrannten, zernarbten Dschungel zu berühren. Wie nah der Boden schien. Und doch mußte er viele Mannslängen entfernt sein, denn alles, die verkohlten Baumstümpfe und die Dalaugiri, die sich dazwischen tummelten, wirkten so winzig wie Insekten. Dragon schwindelte. Er schloß die Augen für kurze Zeit und drehte den Kopf dann auf die andere Seite. Sein Schwertarm war ausgestreckt, ein wenig angewinkelt. Die Hand, die den Griff umspannte, lag noch auf meinem flauschigen Rücken, die Klinge aber ragte weit über mich hinaus. Ich spürte, wie Dragon zusammenzuckte, und ich wurde durcheinandergeschüttelt. Dragon glaubte, daß seine Sinne ihn täuschten. Er kannte meine Ausmaße und wußte, daß es unmöglich war, daß er mit der linken und mit der rechten Hand auf beiden Seiten meine Ränder berühren konnte. Er dachte natürlich sofort, daß er auf eine Kleinwolke gebracht worden war. Doch wußte er andererseits, daß eine so winzige Wolke ihn kaum würde tragen können. »Was ist …?« Vor seinem Mund entstand ein fauchender Wirbelwind. Deshalb hielt Dragon erschrocken inne. Er atmete tief ein – und verursachte dadurch einen Sog, gegen den anzukämpfen ich Mühe hatte. Geh vorsichtiger mit Aerulas Atem um, Dragon! dachte ich ängstlich. »Aerulas …?« Wieder unterbrach sich Dragon selbst, als er sah, daß in seinem Hauch eine kleine Wanderwolke davongewirbelt wurde, die neugierig herangekommen war. Aerulas Atem? fragten Dragons Gedanken. Und Erthus Inneres und Vitus Wurzel des Lebens! antwortete ihm Vesta, den Dragon noch nicht sehen konnte, weil er hinter ihm stand. Du trägst diese drei Elemente in dir und deinen Waffen. Geh vorsichtig mit ihnen um. Setze sie sparsam ein, bis du dich an den
Umgang mit diesen göttlichen Kräften gewöhnt hast. Ich erinnere mich, dachte Dragon. Aber wo bin ich? Auf Aerula-thane. Ist sie geschrumpft? Nein, du bist gewachsen, Dragon, antwortete der Herr der Elemente. Erhebe dich jetzt. Auch wenn unsere tapfere Wanderwolke ins Schwanken gerät. Keine Sorge, sie ist stark genug, um selbst einen Giganten wie dich tragen zu können. Der Herr der Elemente hatte leicht reden. Ich bin eine außergewöhnliche Wanderwolke, aber auch mir sind Grenzen gesetzt. Wenn ich sage, daß schon jeder von Dragons Herzschlägen mich bis ins Innerste erschütterte, so kann man sich vorstellen, wie mir erst war, wenn er nur einen Arm – oder gar seinen ganzen Körper bewegte. Immerhin war er so groß wie drei der größten Bäume aus Vitus Garten zusammengenommen. Die Klinge seines Schwertes war so lang, daß er mich mit einem Hieb hätte durchschlagen können. Sein achteckiger Schild entsprach der Größe einer Wanderwolke, auf der eine Hundertschaft Platz hatte. Als er auf mir lag, da reichte seine Gestalt von meinem einen Ende zum anderen. Ich hatte mich sogar etwas in die Länge gedehnt – und trotzdem ragten seine Schuhe über mich hinaus. Jetzt stützte er sich auf und nahm Sitzstellung ein. Ich bekam sofort Schlagseite. Ich habe dir gesagt, daß du für mich gegen Akkeron kämpfen mußt, Dragon, meldete sich wieder Vesta. Aber ich wollte dich nicht wehrlos in die Entscheidung schicken. Jetzt bist du der Träger von Erthu, Aerula und Vitu – und meiner Macht. Die Kraft des Göttlichen wohnt auch deinen Waffen inne. Geh hin und kämpfe! Dragon drehte den Kopf in Vestas Richtung. Er sah den Herrn der Elemente als winzige, blasse Leuchterscheinung – nicht größer als ein Finger von ihm. Fliege tiefer, Aerula-thane, bat Dragon mich, obwohl er es mir auch hätte befehlen können.
Ich ließ mich nur allzu gerne in die Tiefe sinken, um meine Last endlich loszuwerden. Dabei war ich aber bedacht, Akkeron nicht zu nahe zu kommen, um nicht in den Bereich von Skortschs Ewiger Flamme zu geraten. Als ich eine halbe Wolkenlänge über dem Dschungel war, sprang Dragon hinunter. Die Erde erbebte beim Aufprall seines Körpers. Ich wurde von einem Luftwirbel erfaßt und weggeweht. * Dragon beherrschte seine neuen Kräfte immer besser. Dennoch spürte er, daß er die drei Elementargeister nie ganz in seine Gewalt bekommen würde. Sie waren zu eigensinnig und letztlich nicht gewillt, ihre Selbständigkeit ganz aufzugeben. Ihn kostete jede Bewegung seines Titanenkörpers große Mühe. Bei jedem Schritt war ihm, als wolle ihn Aerula mit den Winden davontragen. Sein ganzer Körper stand unter dem schier unerträglichen Druck Erthus, der aus ihm einen unbezwingbaren Berg machen wollte. Und Vitu wiederum wollte den Fels mit ihrer Lebensenergie sprengen. Dragons erster Schritt, nachdem er von mir heruntergestiegen war, war entsprechend unsicher. Er trat gegen einen jungen Baum, der entwurzelt und dann wie ein Grashalm geknickt wurde. Eine Erschütterung wie von einem Erdbeben ging durch den Boden, Dragon griff haltsuchend nach einem Baumriesen, und dessen Astwerk zersplitterte unter seinen Fingern. Beim nächsten Schritt war Dragon vorsichtiger, darum bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Was nicht leicht war, weil Aerula, Erthu und Vitu ihn zu ganz anderen Handlungen drängten als er beabsichtigte. Nach und nach bemühten sich die Elementargeister aber, nicht gegen ihn und gegeneinander zu arbeiten. Dragon suchte in dem Gewirr aus winzigen Menschenkörpern unter ihm nach Akkeron. Die Dalaugiri, die in wilder Panik in alle Richtungen davonstoben,
interessierten ihn überhaupt nicht. Wenn der Sohn Himurs erst ausgeschaltet war, würden die Krieger leicht zu bändigen sein. Aber Akkeron hatte sich verkrochen. Er zog sich hinter die Linien seiner Streitmacht zurück, um sich vor dem heranstampfenden Giganten in Sicherheit zu bringen. Es gelang Akkeron sogar, die abergläubischen Dalaugiri daran zu hindern, das Weite zu suchen. Seine vielfach verstärkte Stimme drang den Dalaugiri donnernd in die Ohren. Die Krieger formierten sich wieder und wandten sich dann Dragon zu. Die Girions scheuten beim Anblick des Riesen. Aber die Reiter griffen ihnen brutal in die Mähnen, verursachten ihnen dadurch Schmerzen, die größer waren als ihre Ängste – und riefen sie so zum Gehorsam. Eine Reitergruppe von zweihundert Dalaugiri eröffnete den Kampf gegen Dragon. Trotz der Winzigkeit seiner Gegner erkannte Dragon, daß die Gesichter der Dalaugiri zu haßerfüllten Fratzen verzerrt waren – aus ihnen sprach die Entschlossenheit, auch diesen übermächtig scheinenden Gegner zu bezwingen. Mit Akkerons übernatürlichen Kräften im Rücken fühlten sie sich auf einmal stark genug, selbst die Macht des Giganten zu brechen. Dragon ließ die Reiterschar nahe an sich herankommen. Als sie ihre Pfeile von den Sehnen schnellten und ihre Speere nach ihm warfen, stieß er ihnen den achteckigen Schild entgegen und fegte sie damit vom Boden. Schreiend wirbelten Dalaugiri und Girions durch die Luft. Da waren aber schon die nächsten Angreifer heran. Sie kamen nun von drei Seiten. Reiterei und Fußvolk bildete ein unentwirrbares Knäuel. Dragon fühlte sich an einen Angriff von Riesenameisen erinnert. Sie verbissen sich mit ihren Waffen in seinem Schuhwerk, winzige Krummsäbel kreuzten seine riesenhafte Schwertklinge, zerbrachen daran. Bei jedem von Dragons Schritten wurden Dutzende Dalaugiri und
Girions zermalmt. Selbst wenn er es hätte verhindern wollen, wäre ihm das nicht geglückt. Zwischen den Tausenden von Angreifern war kein freies Fleckchen Erde, auf das er seinen Fuß setzen konnte. Schwärme winziger Pfeile prasselten auf ihn nieder. Die meisten davon konnte er mit seinem Schild abwehren. Doch nicht wenige davon trafen ihn, und er spürte sie an seinem Körper wie Insektenstiche. Aus Dragons Kehle kam ein grollender Laut. Seine Schwertklinge senkte sich in das Gewirr der winzigen Körper und hinterließ große Lücken darin, die sich jedoch schnell wieder schlossen. Die Angreifer kletterten seine Beine hinauf. Dragon stampfte auf, und sie fielen wie reife Früchte von ihm ab. Die Dalaugiri verkrallten sich in seinem wehenden Umhang und kletterten mit wilder Entschlossenheit daran hoch. Dragon wirbelte herum, und die Dalaugiri wurden wie Sandkörner davongeschleudert. Wieder fegte Dragon die lästigen Angreifer mit dem Schild vom Boden, um sich freie Bahn zu verschaffen. Sein Ziel war es immer noch, Akkeron zum Kampf zu stellen. Aber obwohl ihn die Dalaugiri nicht ernsthaft gefährden konnten, gelang es ihnen, sein Vorhaben zumindest hinauszuzögern. Dragon spürte an seinen Beinen die wütenden Schwerthiebe der Angreifer, die es irgendwie geschafft hatten, sich so weit emporzuarbeiten. Und wieder stampfte er mit den Füßen so heftig auf, daß die Dalaugiri den Halt verloren und in die Tiefe stürzten. Schnell setzte er einen Fuß vor den anderen. Dabei führte er einen waagrechten Schwertstreich aus, der Dutzende von Bäumen fällte und Hunderte von Dalaugiri hinwegfegte. Langsam näherte sich Dragon seinem Feind, verfolgt von den Horden der todesmutigen Dalaugiri. Dragon sah die einsame Gestalt Akkerons ganz deutlich vor sich. Noch fünf Schritte, und er würde ihn erreicht haben. Doch wieder wurde Dragon von den lästigen Dalaugiri aufgehalten. Als er sie endlich abgeschüttelt hatte, da sah er, wie mit Akkeron eine Verwandlung vor sich ging. Und er durchschaute dessen Absichten
nun ganz klar. Akkeron hatte sich nie der Hoffnung hingegeben, daß die Dalaugiri gegen ihn, den Riesen Dragon, etwas ausrichten konnten. Er wollte nur Zeit gewinnen, um Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Und das hatte er erreicht. Er hatte Zeit genug gehabt, das Innere der beiden von ihm unterdrückten Elementargeister, dahingehend einzusetzen, daß auch er zu einem Giganten wuchs. Skortsch und Tydes Einfluß hätte wohl nicht ausgereicht, um Akkeron zu einer ähnlich gigantischen Erscheinung werden zu lassen, wie Dragon sie war. Aber Akkeron besaß auch noch den Staev, der von jedem der fünf Elementargeister etwas in sich hatte. Und dieser Stab der Macht verhalf Akkeron nun dazu, zu einem Giganten zu werden, der Dragon ein ebenbürtiger Gegner war. Der Sohn Himurs wurde innerhalb weniger Atemzüge zu einem Koloß von der Größe Dragons. Aber er erstrahlte nicht, wie Dragon in reinem Licht, sondern bekam eine dunkle Aura, seine Gestalt pulsierte in einem düsteren Glosen. Als seine Verwandlung abgeschlossen war, gab er ein schauriges Lachen von sich und streckte Dragon sein Krummschwert entgegen, das wie er ins Riesenhafte gewachsen war. Dragon nahm die Herausforderung an. Den achteckigen Schild vor das Gesicht haltend, so daß nur die Augen darüber zu sehen waren, ging er mit dem Kurzschwert auf Akkeron los. Dragon legte seine ganze Kraft – die Macht aller drei Elementargeister – in den Schlag, mit dem er Akkerons Klinge hinwegfegen wollte. Doch kaum waren die beiden Schwerter miteinander in Berührung gekommen, da geschah etwas, mit dem Dragon nicht gerechnet hatte. Als Metall auf Metall traf, schlug plötzlich ein Blitz heraus, der sich nicht in die Erde bohrte, sondern gen Himmel emporschoß. Als Dragon seinen ersten Schrecken überwunden hatte, da
verstand er alles. Dies hier war nicht ein Kampf zwischen ihm und Himurs Sohn, sondern der Krieg der Elemente. So wie in ihren, Akkerons und Dragons, Körpern, wohnten auch ihren Waffen die Elementargeister inne. Und als sie die Klingen kreuzten, da prallten Erthu-Aerula-Vitu und Skortsch-Tyde aufeinander. Mit dem Blitz war ein Sturm aufgekommen. Aus den zuckenden Leuchterscheinungen bildeten sich gigantische schwarze Wolkengebilde, die keine festen Formen annehmen konnten, weil sie von den Stürmen zerrissen wurden. Die Sonne verdunkelte sich, schien zu erlöschen. Dafür war auf einmal der ganze Himmel in Flammen getaucht. Dragon spürte, wie ihn ein Schwindel erfaßte. Er schrie unwillkürlich auf, als er merkte, wie sein Körper an Festigkeit verlor und er in dem Chaos der fünf Elemente unterzugehen drohte. Er sah nicht, wie Akkeron taumelte und fortgewirbelt zu werden schien, dann sank er zusammen wie eine Wanderwolke, deren Luftkammern man leckgeschlagen hatte. Ich verlor Dragon und Akkeron schnell aus den Augen. Die tobenden Elemente hatten sie verschluckt. Mir wurde erst viel später bewußt, was hier eigentlich vor sich ging. Dragon und Akkeron, als Träger der göttlichen Macht, hatten selbst keinen Einfluß auf den Kampf der Elemente. Dieser spielte sich auf übergeordneter Ebene ab. Die beiden Giganten waren nur der auslösende Funke für die Auseinandersetzung zwischen Vesta und seinen verbündeten Elementargeistern gegen die Abtrünnigen Skortsch und Tyde gewesen. Jetzt wurden Dragon und Akkeron nicht mehr als Träger der Macht gebraucht. Ihre Gigantenkörper fielen in sich zusammen, sie wurden, was ihre Körper betraf, wieder zu ganz normalen Sterblichen. Und ich fragte mich bange, ob sie nicht vielleicht schon längst ein Opfer der tobenden Elemente geworden waren.
11.
Ubali und Thamai hatten sich mit einer Handvoll von Vitus Geschöpfen, die nach und nach zu ihnen gestoßen waren, in eine Höhle zurückgezogen, wo sie vor den Dalaugiri sicher waren. Aus diesem Versteck beobachtete Ubali das Auftauchen des Riesen Dragon. »Ich wußte, daß Dragon nicht untätig zusehen würde, wie das Böse triumphiert!« rief er aus. »Er hat Vesta dazu gebracht, die Macht der Elementargeister auf ihn zu übertragen. Er wird Akkeron und seine Dalaugiri aus dem Garten des Lebens jagen.« »Seine Hilfe kommt zu spät«, sagte Thamai traurig. »Jetzt, da Vitu nicht mehr ist …« Ubali ergriff sie an den Schultern. »Nein, das darfst du nicht sagen, Thamai. Ich bin Vitu mit Geist und Körper so fest verbunden, daß ich ihren Tod gefühlt hätte. Mir wird erst jetzt klar, daß es auch für mich kein Weiterleben gegeben hätte, wenn sie gestorben wäre. Schau zu Dragon hinauf! Er ist eine so mächtige Erscheinung, daß ich sicher bin, er trägt auch Vitu in sich.« »Du meinst, Vitu habe sich Vesta unterworfen, bevor Akkeron sie vernichten konnte?« fragte Thamai hoffnungsvoll. »So muß es gewesen sein«, behauptete Ubali. »Vitu ist unvergänglich!« Doch Ubalis Zuversicht schwand, als er sah, wie vor Dragon die düstere Gestalt Akkerons zu gigantischer Größe wuchs. Die Tiere zogen sich tiefer in die Höhle zurück, die Halblinge schlugen vor Angst ihre Wurzeln in den Boden, obwohl es Tag war. »Ubali!« rief Thamai entsetzt aus, als die beiden Kolosse ihre Klingen kreuzten und ein Blitz wie am Tage der Schöpfung – oder zum Jüngsten Gericht – in den Himmel schoß und sich über dem Gewölbe der Welt verästelte. Ein Sturm kam auf, der ganze Bäume entwurzelte und in den
Himmel hinaufschleuderte. Zwei Halblinge wurden davongewirbelt, bevor Ubali oder Thamai es verhindern konnte. Überirdische Leuchtfeuer wanderten über den Himmel, prallten mit den Wolken, den Stürmen zusammen. Und dann fluteten über das Dach der Welt in solcher Menge Wasser, daß Ubali dachte, alle drei Weltenmeere hätten sich entleert und in das Reich der Götter ergossen. Das Wasser vermischte sich mit den anderen Elementen, und ein unheimliches Ringen begann. Ubali starrte wieder zu den beiden Giganten hinüber, deren Gestalten zu zerfließen schienen. Dragon wurde von den Luftströmen erfaßt und zu den entfesselten Elementen hinauf gezerrt. Er wurde immer dünner, dehnte sich dafür himmelhoch aus. Dragon war nur noch ein dünner Faden, der von einem Wirbelwind eingefangen wurde. Akkeron wurde vom Luftstau zu Boden gedrückt, dafür dehnte er sich in alle Himmelsrichtungen aus. Die Elemente zerrten an seiner Gestalt, rissen gewaltige Stücke von ihm ab, die davongeweht wurden. Im nächsten Augenblick rollte dieser Vorgang in umgekehrter Reihenfolge ab. Für kurze Zeit bekamen Dragon und Akkeron wieder ihre Riesenkörper zurück, doch diese konnten sich nicht mehr festigen – sie schrumpften zusammen, bis sie hinter den von Orkanen gepeitschten Bäumen verschwunden waren. Ubali wandte sich an Thamai und rief ihr über das Toben der Elemente hinweg zu: »Ich muß Dragon zu Hilfe eilen. Nachdem die Elementargeister aus ihm gewichen sind und er normale Körpergröße zurückbekommen hat, wird er zu schwach sein, um aus eigener Kraft diesen Gewalten widerstehen zu können. Warte hier auf mich, Thamai.« Sie packte seinen Arm. Als er sie anblickte, schüttelte sie den Kopf. »Wir gehen gemeinsam, Ubali.« Er widersprach ihr nicht. Verwandelte sich in einen Panther und
verließ mit geducktem Körper die Höhle. Thamai preßte sich eng an ihn und verkrallte sich in seinem gesträubten Fell. Unweit von ihnen wurde ein Baumstamm geknickt. Ein anderer wurde mitsamt dem Wurzelstock ausgerissen und davongewirbelt. Ubali und Thamai stemmten sich gegen die Elemente und setzten ihren Weg unverdrossen fort. Einmal wurde Ubali mitsamt Thamai von einem Sog erfaßt. Und hätten sie sich nicht Dutzend Mannslängen weiter in einem Dornenbusch verfangen, wären sie wohl am Stamm eines Riesenbaumes zerschellt. So kamen sie mit einigen Hautabschürfungen davon und konnten ihren Weg durch das Chaos der Elemente fortsetzen, nachdem sie sich befreit hatten. * Genjau kam zu sich, als unweit von ihm ein Baum mit lautem Krachen umstürzte. Er erinnerte sich, daß er von dem riesigen achteckigen Schild weggeschleudert worden war, dann hatte er das Bewußtsein verloren. Als er jetzt auf die Beine kam, war er sofort bereit, den Kampf gegen den Koloß wieder aufzunehmen. Doch die Situation hatte sich völlig gewandelt. Um ihn tobte ein Sturm, der Himmel stand in Flammen. Dalaugiri und ihre Girions trieben wie Blätter durch die Luft. Wo war der Gigant Dragon? Genjau drehte sich, während er gleichzeitig gegen die übernatürlichen Kräfte ankämpfte, die an ihm zerrten. Da sah er seinen Gegner. Aber Dragon war nicht mehr der kraftstrotzende Riese mit göttlicher Macht. Er war ein Spielball der Elemente, seine Riesengestalt wurde von ihnen verzerrt und zerrissen. Aber noch ein zweiter Riese erlitt das gleiche Schicksal. Akkeron! Genjau konnte sich denken, daß der Zarath seine beiden Elementargeister zu Hilfe genommen hatte, um sich Dragon ebenfalls als Gigant entgegenzustellen. Doch er hatte keinen Sieg
erringen können. Jetzt erging es dem Zarath wie Dragon. Beide wurden fast gleichzeitig aus dem Bann der Elemente entlassen und schrumpften zusammen, bis sie so klein waren, daß Genjau sie aus den Augen verlor. Der Dalaugiri stieß ein Kriegsgeheul aus. Nun durfte er doch noch hoffen, Dragon durch sein Schwert sterben zu lassen. Vielleicht war er der letzte überlebende Dalaugiri. Aber er würde alles daransetzen, seine toten Kameraden zu rächen. * Dragon stützte sich auf die Arme. Er kauerte auf dem Boden, und es kostete ihn Mühe, den Kopf zu heben. Die Linke war immer noch mit dem Schild bewehrt, mit der Rechten hielt er den Knauf des Schwertes umspannt. Aber er hatte kaum die Kraft, seine Waffen zu heben. Als er endlich auf die Beine kam, erfaßte ihn ein Schwindel. Das war die Nachwirkung des tiefen Falles, an den er sich erinnerte. Aber er war nicht wirklich aus der Höhe heruntergefallen. Da spielten ihm seine Sinne einen Streich. In Wirklichkeit war nur sein Körper mit unheimlicher Schnelligkeit geschrumpft, als die drei Elementargeister ihn endgültig verließen. Und deshalb fühlte er sich auch so schwach. Zuerst hatte er alle seine Kräfte aufbieten müssen, um die drei Elementargeister in sich zu bändigen. Und dann, als sie in Gedankenschnelle aus seinem Körper ausbrachen, hatten sie wohl einen Teil seiner Lebenskraft mit sich gerissen. Dragon blickte empor. Der Himmel brannte. Rings um ihn hatte sich eine Barriere errichtet, über die die wilde Jagd der Elementargeister zu gehen schien. Dort war die Hölle los, nur wo Dragon war, herrschte eine seltsame Ruhe – als befände er sich im Herzen eines Wirbelwindes, dessen ganze Kräfte nur nach außen wirkten. Er sah, wie Bäume und Körper mit schlenkernden
Gliedern, bei denen es sich wohl um Dalaugiri, deren Reittiere und Bewohner aus Vitus Lebensgarten handelte, von den tobenden Elementen umhergeschleudert und zwischen ihnen zermalmt wurden. Als Dragon den Blick wieder senkte, sah er sich plötzlich Akkeron gegenüber. Der Sohn Himurs stand zwischen zwei verkohlten Baumstümpfen, stützte sich mit einer Hand ab, während die zweite das Krummschwert abschätzend wog – und stierte haßerfüllt zu ihm herüber. »Haben die Götter meine Rufe doch erhört und dich am Leben gelassen«, sagte Akkeron, stieß sich von dem Baumstumpf ab und kam näher. Die Ausfahrt der Elementargeister aus seinem Körper schien ihn weniger geschwächt zu haben als Dragon, denn er kam leichtfüßig und geschmeidig wie eine Raubkatze näher. »Ich habe mir gewünscht, dich eigenhändig zu töten. Und das mache ich jetzt wahr!« Dragon sah, daß Akkeron nicht mehr im Besitz des Staev war, so daß er bei dem Zweikampf nur auf sein Schwert angewiesen war. Akkeron hatte zwar noch Vestas Auge in der Stirn, doch es leuchtete kaum. Jeder von ihnen war nur mit einem Schwert bewaffnet, und so gesehen waren sie ebenbürtige Gegner. Aber Akkeron hatte den Vorteil, Dragon an Körpergröße zu überragen und zudem noch bei Kräften zu sein. Deshalb mußte Dragon versuchen, die Nachteile dadurch aufzuwiegen, indem er den Gegner zu Unvorsichtigkeiten verleitete und ihn dazu brachte, ihn zu unterstützen. »Habe ich wirklich Akkeron vor mir?« sagte Dragon mit gespielter Ungläubigkeit. »Den Sohn Himurs, der sich von seinen barbarischen Dalaugiri schon als neuer Herr der Elemente feiern ließ?« Akkeron gab einen unterdrückten Wutschrei von sich und rannte mit erhobenem Schwert auf Dragon zu. Dragon sah, wie sich die Klinge auf ihn senkte, und es hätte ihm keine Mühe bereitet, den Streich mit dem Schwert zu parieren. Doch wäre das zu kräfteraubend gewesen. Deshalb begnügte er sich damit, sich durch
einen Sprung zur Seite zu retten. Dabei stolperte er jedoch und kam zu Fall. Als er sich aufraffen wollte, war Akkeron schon wieder über ihm. Diesmal führte er das Krummschwert seitlich, und Dragon hatte keine andere Wahl, als den Schlag mit dem Schild abzuwehren. Um sich Luft zu verschaffen, stieß er sein Schwert in Akkerons Richtung, doch dieser hatte keine Mühe, auszuweichen. Dragon gewann immerhin soviel Zeit, um auf die Beine zu kommen. Akkeron grinste hämisch. »Wie lange wirst du diesen Kampf noch durchstehen können, Dragon?« fragte er und machte eine Finte. Er deutete einen seitlichen Schlag an, so daß Dragon eine Abwehrbewegung mit dem Schild machte, ließ sein Krummschwert dann aber senkrecht niedersausen. Dragon hatte dies aber erwartet und konnte mit seinem Schwert parieren. Allerdings war Akkerons Schlag so wuchtig, daß Dragons Klinge hinuntergeschlagen wurde. Beinahe wäre ihm durch die Erschütterung die Waffe aus der Hand gerissen worden. Akkeron wurde immer siegessicherer. Er trieb Dragon mit einigen spielerischen Schlägen vor sich her und erlaubte es sich einmal sogar, als er Dragon ganz ohne Deckung vor sich hatte, sich damit zu begnügen, ihn nur mit der Breitseite des Schwertes gegen die linke Schulter zu schlagen. Ein heftiger Schmerz durchzuckte Dragon, und als er den Schild zur Abwehr heben wollte, stellte er verzweifelt fest, daß der Arm ihm nicht mehr gehorchte. Dragon wußte, daß er nicht mehr die Kraft hatte, Akkerons nächste Attacke abzuwehren. Er mußte nun aufs Ganze gehen, solange er wenigstens noch das Schwert halten konnte. »Für einen Herrn der Elemente kämpfst du miserabel«, spottete Dragon. »Jeder Dalaugiri würde seine Sache besser machen als du. Aber du bist wohl nur mit Skortsch und Tyde stark.« »So, meinst du?« rief Akkeron wütend. Er ließ sein Schwert einmal kreisen, dann stieß er es gegen
Dragons Klinge. Das Schwert wurde Dragon aus der Hand geschlagen, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Dragon packte nun den schlaffen Arm mit dem Schild am Gelenk, um so Akkerons Todesstoß abzuwehren. Akkeron hatte seine ganze Kraft in diesen Schlag gelegt, und Dragon wurde schwer erschüttert, als das Krummschwert auf seinen Schild prallte. Er nahm aber noch einmal seine Kräfte zusammen. Und während er Akkeron, mit dem Schild voran, ansprang, ihn so zurückdrängte und ihm gleichzeitig näher an den Leib rückte, zog er mit der anderen Hand den Dolch. Der siegessichere Akkeron merkte Dragons Absicht zu spät – erst als Dragon ihm die Klinge tief in den Leib bohrte. Akkeron fiel nach hinten, Dragon, der nicht mehr die Kraft hatte, sich auf den Beinen zu halten, stürzte mit ihm zu Boden. Dort blieben sie beide liegen. Akkeron mit weitaufgerissenen Augen, den Blick starr nach oben gerichtet, Dragon schwer atmend, den Dolch, mit dem er den tödlichen Stoß ausgeführt hatte, noch immer umklammernd. Langsam löste er den Griff, stützte sich mit der gesunden Hand auf Akkeron. Doch zu mehr war er nicht mehr fähig. Die Kräfte verließen ihn endgültig, und er fiel besinnungslos über den toten Akkeron. * Genjau kam aus dem Chaos ganz unerwartet in eine Zone der Stille – und er wußte sofort, daß dies die Kampfarena war, die die Elementargeister für Akkeron und Dragon freigehalten hatten. Der Dalaugiri, der beinahe von einem durch die Luft wirbelnden Baumstamm aufgespießt worden wäre, schleppte sich unter großen Anstrengungen durch die Arena. Kein Kampflärm war zu hören, an dem er sich hätte orientieren können. Und dann sah er, warum es so war. Der Kampf war beendet, die beiden Widersacher lagen übereinander am Boden. Dragon obenauf.
Genjau empfand keine Trauer um seinen Zarath. Der Tod war etwas, das keinem Dalaugiri Mitleid abringen konnte. Als er aber Dragon zur Seite drehte und sah, daß in Akkerons Brust ein Dolch steckte und daß Dragon noch am Leben war, da überkam ihn unbändiger Haß. Er zog den Dolch aus Akkerons Wunde und hob ihn, um Dragon damit zu durchbohren. Er sollte, als Schmähung besonderer Art, durch seine eigene Waffe sterben. Gerade als Genjau zustoßen wollte, erhielt er einen leichten Schlag gegen das Genick. Er hielt mitten in der Bewegung inne, dann durchlief seinen Körper ein Zittern wie bei einem Schüttelfrost. Der Dolch entglitt seiner erstarrenden Hand, und er kippte langsam zur Seite … Thamai, die an der Seite des Schwarzen Panthers auf die Lichtung kam, setzte das Blasrohr ab. Sie hatte den letzten Dalaugiri, der das Toben der Elemente überlebt hatte, getötet – und dadurch Ubalis Freund das Leben gerettet. Der Schwarze Panther war mit drei Sätzen bei den drei reglos daliegenden Körpern. Neben Dragon angekommen, verwandelte er sich zurück in einen Menschen. Ubali untersuchte den Freund kurz, dann wandte er sich seiner Gefährtin zu. »Dragon lebt«, sagte er überglücklich und zeigte seine makellosen Zähne. »Du hast ihm das Leben gerettet, Thamai, das wird er dir lohnen.« »Wie wird er es mir lohnen?« fragte Thamai, und ihre unausgesprochene Frage war: Indem er dich mit sich nimmt und von meiner Seite reißt? Ubali wollte etwas entgegnen, aber Thamai beachtete ihn nicht mehr. Sie blickte zum Himmel empor. Ubali folgte ihrem Beispiel und erhob sich langsam, ohne den Blick vom Himmelsgewölbe zu lassen. Es erstrahlte in tiefem Blau, und die Sonne schien. Ein leichter Wind vertrieb die letzten Gewitterwolken. Das Himmelsfeuer war
erloschen. Die Elemente hatten sich beruhigt. Thamai atmete die Luft tief ein – sie schien von wunderbaren Düften erfüllt zu sein. »Hörst du es, Ubali?« fragte sie verzückt. Er antwortete nicht, sondern lauschte den überirdischen Klängen, die die Luft durchdrangen. Thamai schmiegte sich an ihn. Sie schloß die Augen und sagte mit einem seligen Lächeln: »Der Schrecken hat ein Ende. Vesta hat gesiegt. Die Harmonie der Elemente ist wiederhergestellt!« * Und Thamai hatte recht damit. Vesta ist wieder der Herr der Elemente. Aber ich, Aerula-thane, frage euch, ob er es auch ohne Dragon geworden wäre. Ich sage nein, und Vesta möge mir verzeihen. Und wenn ich unrecht habe, soll er Skortsch dazu veranlassen, einen Blitz zu schicken, der mich verbrennt … Vesta tut es nicht, und bestätigt er dadurch nicht meine Behauptung? Ich bin nur eine Wanderwolke wie ihr, aber ich habe erkannt, daß Dragon mehr ist als nur ein gewöhnlicher Sterblicher. Er ist das Schicksal unserer Welt. ENDE Dragon, der »Mann Schicksal«, wie ihn die treue Aerula-thane bezeichnete, hat seine Mission auf der nun von Vesta wieder regierten Welt erfüllt. Jetzt geht es ihm um die Heimkehr in die eigene Welt. Sein Freund Ubali und die schöne Thamai begleiten den Atlanter zum zweiten Weltentor, wo Unheil und Tod auf jeden Unvorsichtigen warten … Mehr darüber berichtet H. G. Ewers im nächsten Dragon-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel: DAS AUGE DER GÖTTER