Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Václav Erben Ein Denar in Mädchenhand
Kriminalroman
D...
9 downloads
383 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Václav Erben Ein Denar in Mädchenhand
Kriminalroman
Das kleine Städtchen Libín, unweit von Prag in der Elbniederung gelegen, ist die Domäne der Archäologin Doktor Janovská. Gerade hat sie ein Forschungsobjekt abgeschlossen, als der Baggerfahrer auf ein Tongefäß stößt, das, wie sich herausstellt, den Schatz des Jahrhunderts enthält – zwei- bis dreitausend Denare aus dem 10. Jahrhundert. Kurz vor Eintreffen einer Archäologen-Kommission aus Prag wird der Schatz gestohlen und ein Mädchen, das einen Denar in der Hand hält, tot am Flußufer aufgefunden. Hier nun tritt Kapitän Exner mit altbewährtem Team auf den Plan. Es gilt, eine harte Nuß zu knacken, denn allzu viele – Numismatiker, Wissenschaftler, Kurgäste und andere Neugierige – hatten ihr Interesse an den Denaren bekundet. Ein Motiv hätten viele, doch Spuren gibt es wenige.
Václav Erben
Ein Denar in Mädchenhand
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Denár v dívčí dlani © Václav Erben 1980 Aus dem Tschechischen von Gustav Just Der Autor möchte darauf hinweisen, daß sowohl Handlung als auch alle handelnden Personen frei erfunden sind. Soweit sie jemandem bekannt erscheinen sollten, versichert der Autor, daß es sich um rein zufällige Ähnlichkeit handelt, einschließlich der Namen, die in der Geschichte vorkommen. Besonders möchte ich meinen Freunden Archäologen und weiteren Forschern für viele Anregungen danken.
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1983 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/164/83 • LSV 7234 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 576 6 00300
1 Geschehnisse, die des Erzählens wert sind, beginnen gewöhnlich mit Zufällen oder Nebensächlichkeiten. Einer der bemerkenswertesten archäologischen Artefakten und numismatischen Funde des Jahrhunderts – wie man jetzt mit Vorliebe sagt – wurde dazu einfach dadurch vorbestimmt, daß sein Besitzer – und das war fast vor eintausend Jahren – Zeit und Kraft genug hatte, den Topf mit den Denaren mehr als einen Meter tief zu vergraben. Präzise: der Boden der Grube, in der das Gefäß gefunden wurde, lag 172 cm unter dem gegenwärtigen Niveau, 58 cm unter der Grundmauer der Westwand einer Scheune aus den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, 90 cm unter dem vermuteten Niveau einer Burgstätte aus dem 10. Jahrhundert. Der Rand der Grube war 532 cm von einer Mauer aus dem 10. Jahrhundert und 687 cm von den Fundamenten dieser Mauer entfernt, und zwar östlich von ihr; man darf annehmen (die archäologische Begründung ist zu umfangreich), daß das Objekt G 25 der archäologischen Forschung auf Libín ein Gehöft war, in dem der Tontopf vergraben wurde. Ein typisches Gefäß aus der Spätphase der Jüngeren Burgstättenzeit, bedeckt mit einem unregelmäßig geformten, annähernd ovalen Deckel von der Größe eines Tellers. Das ganze Depot war mit Flußkies zugeschüttet und mit einer fast quadratisch zugehauenen Schieferplatte abgedeckt worden. Diese Platte war 6
10 bis 15 cm stark, und ihre Seiten maßen 70, 76, 92 und 88 cm. Über der Platte befand sich bis zur Höhe der Grundmauern der Scheune Erdreich mit Abfällen, Putzbrocken und Bruchstücken von Keramik, fraglos aus dem 10. Jahrhundert. Diese Steinplatte war schräg in die Grube eingelassen, da sie sonst nicht hineingepaßt hätte; derjenige, der die Grube ausgehoben hatte, hatte wohl weder Zeit noch Lust gehabt, sie so zu erweitern, daß er die Deckplatte waagerecht einlegen konnte, denn eine Ecke ragte nach oben. Und das genau fünf Zentimeter über das gewachsene Terrain, an dessen Horizont Frau Doktor Olga Janovská die Forschung abgeschlossen hatte. Nur fünf Zentimeter ragte die Platte hervor. Und nur zehn Zentimeter vom Profil einer der Sonden entfernt, die Doktor Janovská von der Destruktion der Mauer aus dem 10. Jahrhundert bis zur Wand der heutigen Scheune angelegt hatte, um Gewißheit zu erlangen, daß es sich um einen archäologisch sterilen Boden handelte. Sie hatte diese Gewißheit, bis auf dieses Stück Stein. Über den Kopf von Doktor Olga Janovská, die nach Doktor Sultán die Forschung auf Libín leitete, ragte bis in die Höhe des Scheunendaches der Halbkubiklöffel eines Autobaggers. Und er schwankte noch ein bißchen, weil der Fahrer soeben in eine Senke zwischen den Häusern am Libíner Anger zurücksetzte und scharf bremste. Die Frau Doktor, in Shorts, Tennisschuhen und einem Strohhut auf dem Kopf, beugte sich soeben über das Ende der Sonde und hatte dem Bagger den Rücken zugekehrt. Erst als der Fahrer den Motor abstellte, richtete sich die Frau Doktor auf. „Also, Frau Doktor“, rief der Fahrer, „kann ich anfangen? Hören Sie, es ist Freitag. Wenn ich das bis abends ausbaggern soll, muß ich mich sputen. Ich kann’s doch 7
einstweilen hierher werfen“, und er zeigte mit dem Daumen auf die Stellen des Objekts G 25, deren Erforschung abgeschlossen war. „Franta konnte heute nicht mit dem Tatra, also müssen wir das hier bis morgen liegenlassen. Sie haben das mit dem Mischer vereinbart, wollen morgen die Grundplatte betonieren.“ Doktor Janovská, in der einen Hand den Bleistift, in der anderen den Block, den Strohhut leicht seitwärts geschoben, blickte ziemlich geistesabwesend drein. „Ja. Gewiß. Ist der Genosse Vorsitzende mit dabei?“ „Der Hálek? Nein. Was sollte der hier. Er ist auf der Gemeinde. Hat gesagt, das ist mit Ihnen abgemacht.“ „Ja, das wäre … Nur …“ Frau Janovská nagte auf der Unterlippe. Der Fahrer zog sich die Hosen hoch und trat an sie heran. „Sie haben, hör ich, die Arbeit schon vor einem Monat abgeschlossen. Also was nun? Packen wir’s an. Damit der Vorsitzende zum Kulturhaus ’ne ordentliche Senkgrube kriegt, nicht wahr?“ „Gewiß, Herr Chvalina, nur …“ Sie schaute sich auf dem Gelände um, ungefähr zwanzig mal fünfundzwanzig Meter groß, wo sie zwei Jahre verbracht hatte. Alles war schon wieder aufgeräumt, die Grabungen vom Vorjahr und dem Jahr davor waren bereits mit Gras bewachsen, frisch waren nur die drei Sonden auf diesem Stückchen zwischen dem Objekt G 25 und der westlichen Scheunenwand. Der Platzmeister Břetislav Urban, Eisenbahnbeamter im Ruhestand, hatte bereits den Sonnenschirm und das Tischchen zusammengeklappt. „Es ist nur, Herr Chvalina … wir sind vorgestern hier an der Mauer auf einen Stein gestoßen …“ „Wann?“ „Vorgestern. Tag und Nacht denken wir daran.“ Der Fahrer zuckte die Achseln und stieg in die Sonde, um nachzusehen. „Ja, Frau Doktor, der wird von der Mauer da sein.“ 8
„Ich will mich nicht mit Ihnen streiten, Herr Chvalina, aber ich glaube, Sie irren sich.“ Doktor Janovská sprang hinab in die Sonde. Leicht, gewandt, so daß der Herr Chvalina nur zufrieden blinzelte. „Schauen Sie!“ Sie zeigte mit dem Bleistift. „Ja“, sagte er und sah gar nichts. „Hier ist der Stein, darunter wieder eine Aufschüttung, aber von anderer Farbe, es dürfte Sand sein.“ „Dann hauen Sie doch mit der Spitzhacke ’rein. Hören Sie, ich hol’ mir die Hacke aus’m Auto und wuchte den Stein ’raus.“ „Aber das darf man nicht, Herr Chvalina.“ „Keine Angst, die Scheune fallt nicht um.“ „Darum geht es nicht. Wissen Sie, ich glaube, hier fängt ein weiteres Objekt an.“ „Und das reicht unter die Scheune, ja? Also dann läßt sich nichts machen, Frau Doktor.“ Er winkte ab. „Das werden die Fundamente eines alten Brunnens sein. Wie drüben bei den Mareks. Und in dem Brunnen liegt allerlei Kram. Einfach zugeschüttet. Tag, Herr Urban. Also gehen wir ’ran. Der Vorsitzende hat gesagt, ich kann heute anfangen. So ist’s mit der Frau Doktor abgemacht, hat er gesagt.“ „Gewiß, Herr Chvalina, das ist es.“ Břetislav Urban sah unsicher zu Doktor Janovská. „Aber da ist noch der Stein, Herr Chvalina.“ „Ich hab’s doch der Frau Doktor gesagt, ich wuchte ihn mit der Hacke ’raus.“ Břetislav Urban, beide Hände voll, balancierte durchs Unkraut und näherte sich ihnen über Schutthaufen hinweg. „Das Objekt wird unter der Scheune sein, Frau Doktor …“, sagte er versöhnlich. „Da wird wohl nichts zu machen sein.“ „Aber ich bin mir dessen überhaupt nicht sicher, Herr Urban. Wir schneiden doch hier mit der Sonde eine Grube an. Und diese Grube kann sich in der Tiefe 9
fortsetzen. Unter diesem Stein. Unter diesem Horizont.“ „Niemals sind wir tiefer gegangen. Nur wenn …“ Herr Urban stockte. Er schüttelte den Kopf und schaute sich den Stein näher an. Schon zum zehnten Mal in dieser Woche. Und dann blickte er Frau Janovská an und sah unter ihren grauen Augen dunkle Ringe. „Gehen Sie baden. Das Zeug bring’ ich in die Bude und komme gleich wieder. Ich bleibe mit Herrn Chvalina hier. Wie lange wird es dauern, Herr Chvalina?“ „Lange nicht. Paar Stunden. Dieses Stück mach’ ich am Ende. Es sollen fünfmal sechs Meter werden. Ich nehm’ das an der Mauer lang, dann können Sie sich’s bequemer angucken. Und den Stein hol’ ich per Hand ’raus.“ „Das nicht, Herr Chvalina“, sagte Doktor Janovská. „Seien Sie so nett und lassen Sie ihn in der Wand dieses Profils.“ „Gut“, stimmte der Baggerfahrer zu, „ich probier’s.“
2 Die Gemeinde Libín liegt in der Elbniederung. Mit dem östlichen Rand berührt sie den Fluß Surina an den Stellen, wo unter der Brücke der Straße Libín-Osek das Schäumen des Wassers von der Schleuse an der Elbe im Kurort Brody aufhört. Das westliche Ende der Gemeinde läuft in einen Hügel aus, der sich etwa fünf Meter über die Umgebung erhebt. Und hier entdeckte Doktor Sultán die Überreste einer alten Burgstätte, eine Kirche aus dem 10. und einen Palast aus dem 11. Jahrhundert. Genauer gesagt, ihre Grundmauern oder die negativen Umrisse der Grundmauern. Der Weg zu dem flachen Terrain des Hügels ist tausend Jahre alt, und dort, wo er das Dorf verläßt, steht ein Denkmal, das an die traurige Geschichte der Burg erinnert. 10
Von dem Denkmal zweigt ein anderer Weg zur Einmündung der Surina in die Elbe ab. Er windet sich durch Wiesen und Felder, berührt eine Allee alter Linden und wird berührt von Haselsträuchern und Feldunkräutern bis hin zu den Schneebeersträuchern am Ufer der Surina, und dann führt er an ihr entlang weiter bis zum Haus des Fährmanns, zur Flußeinmündung, zu einem Sommerrestaurant aus Holz. Zum Anlegesteg der Ausflugsdampfer, welche die Kurgäste zwischen Resten von Auenwald von Brody nach Osek befördern. Diesen einen Kilometer zwischen dem Dorf und den Schneebeerbüschen legte Frau Doktor Janovská im Badeanzug auf einem alten Damenfahrrad zurück. Sie begegnete nur einem alten Herrn, offenbar einem Kurgast. Sie beachtete ihn nicht, hatte andere Sorgen. Aber der alte Mann, eine Brille mit schwarzem Rand auf der Nase, ein bißchen gebückt vom Sitzen am Schreibtisch, folgte ihr sehr aufmerksam mit den Blicken. Als sie an ihm vorbeifuhr, blieb er sogar stehen, drehte sich um und sah ihr bis zur Brücke über den Bewässerungskanal nach. Er lächelte maliziös, tastete die Taschen seines Leinensakkos ab. Dann zog er das Sakko aus und legte es achtsam über den Unterarm. Gebeugt, ein bißchen schlurfend, so setzte er seinen Weg zum Dorf fort. Den Nordrand von Libín streift die Eisenbahnstrecke, und noch weiter nördlich führt die alte kaiserliche Straße vorbei. Heute die überfüllte E 12, von der die Landstraße Nummer 34 nach Norden zu den Bergen und Erholungsgebieten abzweigt. Freitag abend – und das war gerade der Augenblick, von dem wir erzählen – ist es auf der E 12 zum Irrsinnigwerden. Lastwagen nach Lastwagen, Schwerlaster, die Dienstautos jener, die in die Hauptstadt eilen oder aus ihr, und schließlich der beginnende und lange in die Abendstunde andauernde 11
Strom der Wagen, die die Bewohner der Hauptstadt an die frische Luft und in die Berge bringen. An der Kreuzung bei Libín steht an der E 12 ein kleines Haus, das einst eine Fuhrmannskneipe war. Gäbe es jetzt noch Fuhrleute, würden sie hier zuerst verrückt und dann am Gestank eingehen. Aus dem bläulichen Dunst, der über der E 12 schwebte, bog nach Libín ein weißer Wagen ab. Allein in dem kurzen Augenblick, da er vor der Abzweigung hatte bremsen müssen, hatte sich hinter ihm eine Kolonne von fünfzehn Autos gebildet. Der Mann am Lenkrad atmete auf und drehte die Scheibe ganz herunter. Viele hätten ihn augenblicklich erkannt. Sein Gesicht starrte von den Umschlägen vieler Bücher auf die Bürger des Landes. Und auch vom Bildschirm. Das allerdings selten, denn das Fernsehen ist knausrig in bezug auf Publizität auf dem Gebiet des kulturellen Lebens. Der Mann in dem weißen Wagen war der Schriftsteller Doktor Boleslav Johan, Verfasser von Sachliteratur auf dem Gebiet der Geschichte.
3 Der gebückte alte Mann mit dem Leinenrock überm Arm blieb am Rande von Libín an einer Schautafel stehen, auf der aus Glasmosaik ein Text zusammengesetzt war, der die Passanten knapp über die Geschichte der Burg Libín informierte. Zum Schluß stand die Jahreszahl des Massenmordes an der herrschenden Sippe. Neunhundertfünfundneunzig. Die Jahreszahl war aus roten Steinchen zusammengesetzt. Es sah aus, als spielte der alte Herr zerstreut mit dem Rand seines Sakkos. Dem war aber nicht so. Er kramte in der Tasche, zog ein kleines Fläschchen mit Nagellack 12
hervor und verbarg es in der hohlen Hand. Er schraubte den Stöpsel mit Pinselchen ab. Achtsam schaute er sich um und beugte sich dann zur Schautafel, wie einer, der die Technik der Arbeit dessen, der die Schautafel angefertigt hat, begutachten will. Dann trat er zurück, schneuzte sich und blinzelte zufrieden hinter den dicken Brillengläsern. Seine Hände waren leer, das Sakko baumelte ruhig am Arm im sanften Abendwind. Er hängte sich das Jackett um die Schultern. Auf der Schautafel war jedoch die Jahreszahl der Ausrottung der herrschenden Sippe verändert – neunhundertsechsundneunzig! Der Mann nickte zufrieden, machte beschwingt auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück ins Dorf. Der weiße Wagen mit dem Schriftsteller Johan hielt an dem mit Stockrosen bewachsenen hölzernen Tor. Johan stieg aus und streckte sich. Der alte Herr stutzte. Er drehte sich um zu dem Zaun auf der anderen Straßenseite, stellte einen Fuß auf das gemauerte Fundament und tat, als binde er sich den Schnürsenkel zu. Verstohlen beobachtete er Doktor Johan, der auf den Klingelknopf am Torpfeiler drückte. Ein Hund bellte. Und eine Frau fragte, wer da läute. „Ich suche die Frau Doktor! Ist sie zu Hause?“ „Sie ist baden gefahren!“ „Zum Fluß?“ „Wohin sonst?“ Der Schriftsteller Johan dankte mit einer höflichen Kopfneigung für die Information, obwohl niemand zu sehen war, der diese höfliche Geste entgegennehmen konnte. Die Hausfrau blieb hinterm Zaun verborgen, und der Hund, von dem man nur den unterm Tor durchgesteckten Kopf sehen konnte, der Hund, der wütend Johans Füße ankläffte, legte offensichtlich keinen Wert auf solche Ehrenbezeigungen. 13
Johan stieg ein und fuhr los, der alte Mann, der ihn bis zu diesem Augenblick verstohlen beobachtet hatte, richtete sich auf und ging weiter ins Dorf. Dort, wo am Anger das Pfarrhaus stand, umgeben von alten Bäumen und einer so hohen und festen Gartenmauer, daß sie selbst der Artillerie des preußischen Königs standhalten könnte, erregte der Autobagger das Interesse des alten Herrn. Vielleicht nicht so sehr dadurch, daß er arbeitete, sondern durch das Gegenteil. Der Motor tuckerte vor sich hin, der Baggerlöffel lag am Boden und ruhte sich auf einem frischen Haufen Erde aus. Der Mann ging um die Tafel herum, die bekanntgab, daß es sich um eine Arbeitsstätte des Archäologischen Instituts der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften handelte, und er schritt an einer anderen vorbei, die den Zutritt zu der Arbeitsstätte strengstens verbot. Zweifellos war der alte Herr ein neugieriger Großvater Allwissend. Er balancierte über das unebene Terrain, bis er über den Resten der Sonde stand, die Frau Doktor Janovská vor einer knappen Stunde mit einem Seufzer verlassen hatte. Hinter der Sonde war jetzt eine Grube, die Sonde selbst existierte nicht mehr, besser gesagt, von ihr war nur die senkrechte Südwand übriggeblieben, über welcher der Bagger stand, und die Ostwand, über der die steinerne Mauer der Scheune aufragte. Die Schieferplatte, von der bereits die Rede war, ragte aus der Grubenwand unter dem Fundament der Scheune. Jetzt war offensichtlich, daß es sich um eine massive Platte handelte. Der ehemalige Oberinspektor der Staatsbahnen und nunmehrige Platzmeister Urban und der Baggerfahrer Chvalina standen auf dem Boden der Grube. „Na ja“, sagte Chvalina und langte nach einer Zigaret14
te, „wie ich die Frau Doktor kenne, kann ich nach Hause fahren …“ Urban blickte auf den Kies unter der Schieferplatte wie ein Schaffner auf die offene Tür eines Waggons mit einer Ladung Eiern, aus denen eines nach dem andern Küken schlüpfen. „Sie müssen sie holen.“ Der alte Herr suchte nach einem gangbaren Weg in die Grube. Es gelang ihm durch den Graben des alten Forschungsobjekts. „Sie holen? Mit der Maschine? Da soll ich wohl an der Fähre auf sie warten?“ „Es ist wichtig, Herr Chvalina, das sehen Sie doch!“ Der alte Mann hinter ihnen hockte sich nieder und spähte unter die Steinplatte. „Oh, oh“, entfuhr es ihm. Der Baggerlöffel hatte die Schieferplatte gepackt, sie ein bißchen angehoben und war auf ihr ausgeglitten. Ein Teil des Erdreichs unter der Platte war auf den Boden der Grube gerutscht. Damit war die Seite eines Tongefäßes entblößt worden. Das Gefäß war entweder schon vorher beschädigt, oder es war gesprungen, als der Bagger die Platte bewegt hatte. Aus der Wand des Gefäßes war ein Stück herausgebrochen und daraus ein Teil des Inhalts herausgerollt. Es waren dunkelgraue bis schwarze, grünliche runde Plättchen. Der alte Herr steckte den Arm zwischen den Beinen des Platzmeisters und des Fahrers hindurch, um ein solches Plättchen aufzuheben. „Sie haben recht“, sagte er, „mir scheint das auch sehr interessant.“ Und er hielt das Plättchen an die Augen. „Mein Gott“, sagte er mit einem lauten Ausatmen. Herr Chvalina sprang vor Schreck zurück. Er spuckte aus. „Pfui Teufel, Menschenskind!“ „Legen Sie das augenblicklich hin! Wer sind Sie, Herr?“ fragte streng Břetislav Urban. Der Mann gehorchte und legte das Plättchen vorsich15
tig wieder auf seinen Platz zurück. Mühsam richtete er sich auf. „Mhm“, machte er. „Da gratuliere ich Ihnen, meine Herren.“ Er drehte sich um, krabbelte hoch zum Autobagger. „Auf Wiedersehen die Herren!“ grüßte er und setzte seinen Weg durchs Dorf fort. Einige Male schüttelte er nachdenklich den Kopf. Auf der Brücke, wo die Gemeinde endete, blieb er stehen. Er blickte zu den blühenden Seerosen auf dem Fluß, sah auch die schwarzen Schatten der Forellen, aber man hätte kaum beschwören können, daß er die Natur beobachtete und wahrnahm. Dann ging er zu Fuß bis nach Osek. Dort bestieg er den nächsten Zug und fuhr nach Brody zurück.
4 Die Wasserfläche des Flusses Surina oberhalb der Einmündung in die Elbe, eingebettet in die Grashänge der Regulierungswälle, war ruhiger als der Wasserspiegel eines Teiches und in den dunkelgrünen bis schwarzen Schatten der Tiefe und in der Spiegelung der gelben Teichrosen geheimnisvoller als der See aus der Oper Rusalka. Vom Süden beschattete der Fluß die Eichen und Espen eines Auenwaldes. Gegen den Strom, der hier schon am Ende seiner Kräfte war, schwamm ein Mädchen. Mit den langen und energischen Tempi eines erfahrenen Dauerschwimmers. Die Badekappe, deren Gelb mit der Farbe der Teichrosen wetteiferte und dabei verlor, tauchte immer wieder mit ruhiger und ermüdender Regelmäßigkeit auf. Im letzten Viertel der annähernd zwei Kilometer langen Strecke begann sie zu kraulen. Die Teichrosen hüpften hoch, die Forellen flüchteten, und die Frösche klet16
terten hastig mit hervorquellenden Augen zwischen die Graswurzeln an den Ufern. Dort, wo der Weg vom Libíner Denkmal den Wall erreichte, an einer Gruppe von Schneebeersträuchern, zufällig oder absichtlich so ausgepflanzt, daß sie eine kleine, grasbewachsene Lichtung auf dem Wall freiließen, die einen idyllischen Winkel für ein Liebespaar oder zwei Autos bildete, an dieser Stelle also stand auf dem Regulierungsstein ein Meter vom Ufer entfernt und zwanzig Zentimeter ins Wasser eingetaucht Doktor Johan. Er hatte nur Badehosen an, stemmte beide Arme in die Hüften und betrachtete zufrieden die Natur. „Frau Doktor!“ rief er fröhlich und winkte. Sie tauchte für einen Augenblick auf, holte Luft und verschwand unter dem Wasserspiegel. Vielleicht überlegte sie wirklich für einen Augenblick, ob es nicht besser wäre, unter Wasser zu bleiben. Dann kam sie offenbar zu dem Schluß, daß sie ja doch nicht entrinnen konnte, tauchte wieder auf und näherte sich langsam dem Ufer. „Guten Tag, Herr Doktor. Sind Sie schon geschwommen?“ „Noch nicht. Übrigens bade ich lieber abends“, log Boleslav Johan, der überhaupt keine Lust zum Baden hatte. Weder am Morgen noch in warmen Nächten. „Ich würde gern mit Ihnen sprechen …“ „Ich weiß“, sagte sie rasch. Sie stieg ans Ufer und hielt sich an dem Stein fest, setzte sich darauf, nahm die Kappe ab und schüttelte ihr Haar. „Ich dachte, Sie würden erst morgen kommen.“ „Ich habe morgen was auf der Datsche zu tun. Aber nächste Woche würde ich mich hier einquartieren und Sie nicht früher als in vierzehn Tagen verlassen“, teilte er freudig mit. „Sie haben ein bißchen Pech“, bemerkte sie kühler als nötig. „Die eine Forschungsaufgabe ist beendet, und eine neue dürfte kaum beginnen …“ 17
„Mir geht es hauptsächlich darum, mit Ihnen über einige Probleme zu sprechen. Herr Doktor Sultán hat Sie sehr gelobt.“ Sie seufzte. „Ich weiß.“
5 „So“, sagte Václav Chvalina, als er das Gemeindebüro betrat, „wir sind im Eimer, Vorsitzender. Im Eimer.“ Und er ließ sich in einen Sessel fallen. „Wir können uns einen Kaffee gönnen.“ Der Vorsitzende kramte in einem Aktenordner und blickte über die Brille hinweg Chvalina an wie ein Lehrer einen ungezogenen Schüler. Übrigens war Josef Hálek Lehrer gewesen, so daß er das konnte. „Na, na, Václav. Und qualme mir nicht die Bude voll.“ „Hast doch das Fenster auf. Wenn ich zu reden anfange, zündest du dir auch eine an.“ „Was ist los?“ „Ich hab’ einen Schatz gefunden“, erklärte Chvalina trocken. Und er beobachtete, wie das auf den Herrn Lehrer Hálek wirkte. Es wirkte gar nicht auf ihn. Er blätterte weiter in dem Ordner. „Warm ist es“, sagte er nach einer Weile vorsichtig, „ein Bierchen hast du dir verdient. Aber ’n Schnaps hättest du dir nicht einverleiben sollen. Das nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Das nicht. Wie ist es gegangen?“ Mit einem Male stutzte er. Er blickte auf, und die Hände sanken auf den Tisch. „Ach ja, verdammt. Du sollst doch die Senkgrube ausheben. Hast du sie ausgehoben?“ „Ja.“ „Aber Václav. Die Frau Doktor hat doch alles um und um gebuddelt. Jedes Steinchen durchgesiebt und um und um gewendet Du kannst eben nicht baggern, wenn 18
du Bier trinkst. Auch hier auf dem Dorf nicht.“ Er sprach wie mit einem Kind, aber ganz sicher war er sich nicht. „Möchtest einen Kaffee, stimmt’s?“ „Nein. Umgewendet hat sie alles, die Frau Doktor. Bis auf einen Stein. Genau unter der Mauer von Svobodas Scheune. Und unter diesem Stein war es. Der alte Urban wartet dort. Er wird von dir einen Revolver verlangen. Schlottert am ganzen Leibe und behauptet, das ist ungeheuer wertvoll. Er zittert wie ein Weichensteller, der für den D-Zug die falsche Weiche gestellt hat.“ Der Gemeindevorsitzende wurde ernst. „Was habt ihr gefunden?“ Václav Chvalina zuckte die Achseln. „Einen Topf mit runden, schmutzigen Plättchen. Groß wie meine Fingerkuppe. Ein alter Opa ist uns in die Grube nachgekrochen und hat sie sich angeschaut.“ „Kennst du ihn?“ „Ja, ich glaube, ich hab’ ihn ein paarmal hier gesehen. Der kommt wohl aus Brody herspaziert.“ „Gehört der auch dazu?“ Der Vorsitzende klappte den Ordner zu, verstaute ihn im Schrank, legte die Papiere auf dem Tisch zusammen und schloß die Schublade ab. „Nein. Nur neugierig. Eigentlich hat ihn der alte Urban weggejagt.“ Josef Hálek wurde schwarz vor Augen. Es stand fest, daß das Harmonogramm für den Aufbau des Kulturhauses nicht eingehalten würde. Am Montag sollte die mühsam besorgte Firma für den Bau der Klärgrube antreten. Die Wahlversprechungen stürzten unter Schicksalsschlägen zusammen. Andererseits bestand jedoch die Hoffnung, daß der Ruf von Libín mit diesem Fund wachsen und damit die kleinen Mißerfolge in der Tätigkeit der Volksvertretung in den Hintergrund drängen könnte. Zum Beispiel den verzögerten Aufbau des Kulturhauses. „Um Himmels willen“, seufzte Hálek. 19
„Was ist denn?“ „Nichts.“ Der Vorsitzende winkte ab. „Gehen wir.“ Václav Chvalina stand auf und erklärte zufrieden: „Da siehst du, Vorsitzender. Schon hat’s auch dich gepackt.“
6 Es ist unerläßlich zu konstatieren, daß Václav Chvalina sich als wahrer Mann erwies, indem er vor keinen Schwierigkeiten zurückschreckte. Er borgte sich vom Vorsitzenden das Fahrrad und fuhr los, um Frau Doktor Janovská zu melden, daß er nicht nur etwas gefunden, sondern zugleich mit dem Bagger beschädigt hatte. In Libín währte die archäologische Erkundung schon mehr als zehn Jahre, und jeder Bürger war über die Grundprinzipien der Arbeit im Terrain informiert, schon deshalb, weil jeder, der eine Garage, einen Schuppen oder das Fundament für einen Zaun errichten wollte, Frau Doktor Janovská um die Genehmigung und eine Präventivuntersuchung bitten mußte, so daß es ratsam war, im allerbesten sozialistischen Einvernehmen mit ihr auszukommen. Václav Chvalina seufzte unterwegs einige Male. Sieh mal an, sagte er zu sich, als er in den stillen Winkel im Schneebeergebüsch bog. Denn er sah, wie ein magerer Kerl der Frau Doktor ans Ufer half. Er konnte nicht entscheiden, ob das für die Angelegenheit von Nutzen oder Schaden war. „Pardon“, sagte er. Sie schaute auf. Und erbleichte. „Ist die Scheune eingestürzt?“ „Nein. Frau Doktor, der Stein …“ „Sind Sie hineingefallen? Mit dem Bagger?“ „Nein. Unter dem Stein … Sie sollten sich’s lieber selber anschauen.“ 20
„Was denn, Herr Chvalina? Was ist passiert?“ „Ich bin ein bißchen gegen einen Schatz gerammelt, Frau Doktor. Der Topf ist gesprungen …“ Doktor Janovská war, wie das übrigens bei guten Schwimmerinnen natürlich ist, keine zarte und zerbrechliche Frau. Jetzt aber mußte der Schriftsteller Bohuslav Johan sie auffangen, so daß er selber leicht in die Knie ging.
7 Der weiße Wagen des Schriftstellers schwankte über die Schlaglöcher des staubigen Weges gegen Libín. Am Rande des Dorfes warf Frau Doktor Janovská wie jedesmal einen Blick auf die Schautafel. „Halten Sie an“, stieß sie hervor. Er gehorchte, und Herr Chvalina, der hinter ihnen auf dem Fahrrad einherfuhr und das andere am Lenker neben sich führte, prallte fast gegen die hintere Stoßstange. Sie sprang aus dem Wagen, rannte zu der Schautafel und überzeugte sich, daß sie ihr Auge nicht getrogen hatte. Mit dem Fingernagel berührte sie die rote Farbe auf dem weißen Mosaik. Sie stieg wieder ein und knallte die Tür hinter sich zu. „Ist was passiert, Frau Doktor?“ interessierte sich Doktor Johan. „Ja. Eigentlich nein.“ Herr Chvalina war inzwischen vorausgefahren, sie holten ihn vor dem Dorfanger ein. Gemeinsam stiegen sie in die vom Bagger ausgehobene Grube hinab. Herr Urban brauchte nichts zu zeigen. Alles lag auf den ersten Blick zutage. Frau Janovská lief vor Erregung puterrot an. Václav Chvalina ließ schuldbewußt den Kopf hängen. 21
Der Schriftsteller Johan ging in die Hocke, um eines der Plättchen aufzunehmen. „Nicht anfassen“, ermahnte ihn Herr Urban streng. „Absolut nichts anfassen.“ „Tut mir leid, Frau Doktor“, sagte Chvalina. „Aber das ist nicht unter der alten Mauer, diese Grube mit dem Schatz meine ich. Als hätten die eine Tasche gegraben, nicht wahr? Sie haben’s schräg gegraben, nicht?“ Die Wahrnehmung des Baggerführers war im wesentlichen richtig. „Was werden wir tun?“ fragte Herr Urban. „Wir lassen alles, wie es ist. Ich muß eine Kommission zusammenrufen. Das da kann ich nicht allein machen.“ Sie fühlte, daß sich ihr alles im Kopf drehte. Die Anzahl der Denare abzuschätzen, wagte sie nicht. Noch nie hatte sie ein solches Depot gesehen, und sie wußte, auch keiner von ihrer und der vorigen Generation. „Hören Sie“, ließ sich Doktor Johan vernehmen. „Das ist offenbar ein bedeutsamer Fund.“ „Offenbar ja“, erwiderte sie. „Herr Urban, wir müssen alles lassen, wie es ist. Der Herr Chvalina wird so nett sein und die Sohle dieser Grube ebnen. Ich zeichne Ihnen auf, bis wohin. Damit Sie hier nichts beschädigen. Herr Urban, holen Sie unser Zelt. Wir stellen es hier auf der Sohle auf. Und Laternen. Zwei, drei. Vielleicht vier. Mehr haben wir sowieso nicht mit. Das Zelt stellen wir unten auf, die Grube werden wir beleuchten. Wir werden sie über Nacht bewachen müssen. Wir zwei werden uns ablösen. Vielleicht könnte uns der Herr Hájek helfen. Und der Herr Hlavatý. Montag können doch schon die freiwilligen Helfer hier sein. Herr Chvalina! Sie sind bitte so freundlich und helfen dem Herrn Urban, wenn Sie das geebnet haben. Jetzt am Freitagabend krieg’ ich ja keinen mehr. Und Herr Urban, Sie beaufsichtigen die Einebnung. Herr Doktor, geben Sie mir doch mal den Pflock dort, ja, den. Ich danke.“ 22
Sie machte einen weiten Schritt und zeichnete mit einem energischen Zug die Grenze an, bis zu der es Herrn Chvalina erlaubt war, das Terrain auszugleichen. „Kommen Sie, Herr Doktor. Ich muß telefonieren. Augenblick“, unterbrach sie sich mit einem Blick auf den Baggerarm. „Werden Sie nicht herunterrutschen? Wird das nicht nachgeben? Sollte man das Profil nicht mit Bohlen abstützen?“ „Keine Sorge, Frau Doktor.“
8 Das Kleinseitner Palais schaute gleichgültig durch die geschlossenen Fenster auf den abendlichen Verkehrsirrsinn an seinen Mauern. Es hatte in den paar Jahrhunderten schon mancherlei gesehen, und wenn es nicht dereinst seitwärts losläuft, wie Doktor Soudek prophezeit hat, denn das Palais hat keine Fundamente, wird es noch mancherlei sehen. Das Haus war leer, wie es im Sommer selbstverständlich ist. Die Mehrzahl der Mitarbeiter weilte auf ihren Forschungsstätten. Und für die Verwaltung und die Leute aus den Labors war die Arbeitszeit bereits vorbei. Nur zwei Wissenschaftler verbrachten hier noch wie einsame Mönche ihre Zeit. In einem vollgestellten Arbeitszimmer, das drei mal drei Meter maß und mit dem Fenster auf einen leeren Hof blickte, hockte Doktor Reiner über dem Korrekturbogen seines grundsätzlichen Werkes über die urzeitliche Eisenherstellung. Im ersten Stock des Palais, in einem repräsentativen Raum mit einer vier Meter hohen Deckenwölbung, unter einem vergoldeten Barocklüster, stand inmitten von Kisten und Koffern der Forscher Václav Slánský, der sich anschickte, seinen Arbeitsplatz, den eines wissenschaftlichen Sekretärs, zu verlassen und sich mindestens einen Mo23
nat einer kleinen Lokalität des Volkes der Bronzebecher nahe seiner Heimatstadt zu widmen. Er hatte zu diesem Volk offenbar deshalb ein enges Verhältnis, weil er vom gleichen anthropologischen Typ war. Auf dem Tisch klingelte das Telefon. „Ich weiß, Herr Doktor“, sagte die Pförtnerin, der es oblag, nach der Arbeitszeit die Gespräche durchzustellen, „ich soll Sie nicht stören, aber die Frau Doktor behauptet schon volle fünf Minuten, daß es furchtbar wichtig ist. Und es ist ein Blitzgespräch.“ „Welche Frau Doktor? Slánská?“ „Nein. Janovská. Aus Libín. Sie will mit Ihnen sprechen.“ „Gewiß. Danke. Hallo, Doktor Slánský am Apparat. Mein Gott, wo brennt’s denn, Frau Kollegin?“ Er setzte sich auf den Tisch und baumelte mit den langen Beinen. Nach einer Weile hörte er zu baumeln auf. Nach einem weiteren Augenblick begann er sich in den lockigen Haaren zu kratzen. „Ja, gewiß. Ich versuch’s, meine Liebe. Natürlich, unserem hochverehrten Doktor Sultán solltest du das selber mitteilen. Wo er ist? Zu Hause oder im Museum. Aber laß ihn zuvor ein bißchen schmoren. Ja, hast leicht reden, Kollegin, aber wenn du glaubst, ich krieg’ die Kommission bis Montag zusammen, dann ist das eine Illusion. Rechne mit Mittwoch. Wir haben doch Freitag abend. Nicht wahr? Also gut.“ Er seufzte. „Ich komme. Selbstverständlich. Der Herr Professor wird informiert. Bis dann.“ Sonderbar. Selbst der mit allen Wassern gewaschene Mann und Forscher Václav Slánský war erbleicht. Auf der Stirn perlten Schweißtropfen. Er tippte mit dem Hörer auf die Gabel des Apparats und rief die Pförtnerin an. „Frau Hladká … Ich bin’s, Slánský. Ja, es war wichtig, Frau Hladká … Bitte geben Sie mir das Objekt Hrádek, Blitzgespräch. Ja, den Kollegen Melíšek. Und 24
dann Bylaves. Auch Blitz. Heute ist Freitag, sonst kommen wir nicht durch. Danke.“ Wieder tippte er mit dem Hörer auf die Gabel und rief Doktor Reiner an. „Grüß dich, hier Slánský. Was machst du?“ „Korrekturen.“ „Was wirst du nächste Woche Mittwoch machen?“ „Korrekturen.“ „Wirst du nicht. Du fährst mit mir nach Libín. Die Kollegin Janovská hat dort ein Depot entdeckt. Eine Kommission.“ „Kann ich nicht, ich würde die Korrekturen nicht schaffen.“ „Kommt Kateřina übern Sonntag nach Hause?“ „Nein. Ich lese Korrekturen. Und was wirst du tun?“ „Ich fahre nach Libín.“ „Aber du solltest doch …“ „Sollte und wollte, aber ich muß nach Libín.“ Doktor Reiner erbarmte sich offenbar des Kollegen. „Was ist es?“ „Denare. Nach dem, was die Janovská sagte, der Schatz des Jahrhunderts.“ „Übertreibt sie nicht?“ „Das ist bei ihr nicht üblich.“ „Kateřina kann nicht. Montag kriegt sie einen Bulldozer vom Straßenbau. Der wird drei Tage dort bleiben. Ich würde sie Sonntag holen, und wir könnten uns wenigstens sehen, so wie es ausschaut.“ „Da helft ihr mir aber großartig.“ „Ich weiß, Václav, es ist traurig.“ „Ja“, sagte Václav Slánský ergeben. „Mach’s gut.“ Er langte nach dem Telefonverzeichnis. Da klingelte der Apparat. „Ja?“ „Hrádek für Sie. Hrádek, bitte sprechen!“ „Bitte Doktor Melíšek.“ 25
„Am Apparat. Grüß dich, Václav.“ „Halt dich am Tisch fest, Kollege.“ „Was gibt’s denn?“ „Mittwoch schick’ ich dir ein Auto. Du fährst nach Libín. Eine Kommission. Was dort passiert ist? Eine Kleinigkeit. Ein Depot Denare. Die Kollegin Janovská schätzt vorsichtig, einige hundert. Sie hat sie nicht gezählt. Hallo! Hallo! Bist du noch da? Lebst du? Dann ist es ja gut … Nein, ruf sie nicht an. Ich fahr’ auch hin. Wir treffen uns an Ort und Stelle. Ja … Gewiß … Ich wollte Montag auf Erkundung. Aber wie du siehst. Arbeit für das Wohl des Ganzen.“ „Beenden Sie das Gespräch“, mischte sich die Pförtnerin ein, „hier ist Bylaves für Sie.“ „Auf Wiedersehen, ich rufe Soudek an.“ Er legte den Hörer auf, und gleich darauf klingelte der Apparat erneut. „Bylaves? Suchen Sie bitte Doktor Soudek. Hier ist die Zentrale der gesamten archäologischen Forschung, am Apparat Slánský. Ich warte. Habe die Ehre, Herr Doktor!“ „Ich hab’ zu tun, Herr Kollege“, entgegnete Doktor Soudek eisig. „Und Sie telefonieren ’rum.“ „Ich telefoniere nicht ’rum, Herr Doktor, ich telefoniere.“ „Und warum Blitzgespräch? Brennt das Institut? Ich bin hier, soll es brennen.“ „Ich hätte eine Bitte an Sie, Herr Doktor.“ „Ach?“ „Eine kleine.“ „Ach?“ „Ich möchte gern, daß Sie sich Mittwoch frei machen.“ „Möchten Sie das als Václav Slánský oder als wissenschaftlicher Sekretär des Instituts?“ „Als Sekretär des Instituts, Herr Doktor, aber ich habe auch ein persönliches Interesse daran.“ 26
„Ich arbeite, fleißig. Hab’ keine Zeit.“ „Es ist doch nur ein Stückchen.“ „Wohin?“ „Ich brauche Sie als Kommissionsvorsitzenden.“ „Ach? Wohin? Nach Australien? Fahr ich.“ „Nach Libín.“ „Fahr ich nicht.“ „Mein Gott, Herr Doktor, ist doch nur ein Katzensprung. Fünfzig Kilometer.“ „Achtundfünfzig. Was ist passiert?“ „Die Frau Kollegin hat ein Depot entdeckt. Eigentlich der Bagger am Rande des Objekts.“ „Die Frau Kollegin hat’s vermasselt, was?“ „Ich glaube nicht, Herr Doktor“, sagte Václav Slánský vorsichtig. „Sie wissen doch, wie bedachtsam sie ist.“ „Ja, das ist sie. Was haben sie dort gefunden?“ „Sie sprach von Hunderten Denaren in einem Topf.“ „Was?“ brüllte Doktor Soudek dem wissenschaftlichen Sekretär seines Instituts ins Ohr. „Wieviel?“ „Einige hundert.“ „Quatsch.“ „Aber Herr Doktor“, sagte Václav Slánský versöhnlich, „die Frau Kollegin quatscht doch nicht.“ Es blieb lange still. So lange, daß Slánský schon dachte, es handle sich um eine Störung. Er wollte sich schon melden, als Doktor Soudek wieder zu sprechen begann. „Ich fahr’ nicht hin. Und den Kommissionsvorsitzenden mach’ ich schon gar nicht. Hören Sie, dort muß der Kollege Sultán hin. Das können wir ihm nicht wegnehmen.“ „Ich hab’ auch schon dran gedacht, Herr Kollege. Aber ich fürchte, der Herr Doktor ist schon ein bißchen zu alt. Und ihn bei dieser Hitze nach Libín schicken …“ „Reden Sie keinen Unsinn, Herr Kollege. Wenn das Depot wirklich so riesig ist, wie die Frau Kollegin behauptet, und Sie sagen zu Recht, daß Frau Doktor Janovská nicht quatscht, dann würde der Kollege Sultán 27
den Verstand verlieren, wenn er nicht dabei wäre, und er wäre auf den Tod beleidigt, wenn er nicht den Kommissionsvorsitzenden machen könnte.“ „Aber ich kann ihn nicht darum bitten. Einerseits fällt das nicht in meine Kompetenz, weil er am Museum ist und nicht bei uns, und andererseits …“ „Sagen Sie nur Pieps, und schon kommt er zu Fuß gelaufen. Ich forsche hier über meinem Neolithikum, soll er dort an seinem zehnten Jahrhundert forschen. Machen Sie ihm die Freude, Menschenskind. Auf die alten Tage. Sie sehen, ich bin ein notorischer Menschenfreund.“ „Gewiß, Herr Doktor. Aber froh wäre ich doch, wenn Sie mit dabei wären.“ „Sie vielleicht, aber der Kollege Sultán mitnichten. Hören Sie, ich guck mal hin, morgen oder Sonntag. Aus Neugier. Sowas sieht man selten, nicht wahr? Aber … wann wird die Kommission dort sein? Am Mittwoch? Am Mittwoch nicht. Verderben wir dem Kollegen Sultán die Freude nicht durch meine Anwesenheit. Wenn Sie zurückfahren, kommen Sie bei mir vorbei.“ „Haben Sie dort was Interessantes?“ „Was Interessantes? Eine Flasche Kognak.“ „Dann komm’ ich mit Melíšek.“ „Prima, Herr Sekretär“, sagte Doktor Soudek und legte auf. Der Sekretär Slánský tat das gleiche und kratzte sich im Genick. Er griff wieder nach dem Verzeichnis. Er fand die Nummer und wählte. „Doktor Radimský? Hab’ ich heute ein Glück. Grüß’ dich, Stanislav. Ich möchte … Was? Herr Doktor Sultán hat schon mit dir gesprochen? So daß du alles weißt. Wir werden dort selbstverständlich einen Numismatiker brauchen. Am Mittwoch. Du fährst mit dem eigenen Wagen. Ist das ein Glück, daß ich dich zu Hause erwischt habe. Ja, ich bin auch dort. Also dann bis Mittwoch!“ Und da Václav Slánský einmal im Schwunge war, rief 28
er in der Wohnung von Doktor Sultán an. „Pardon, gnädige Frau, hier Doktor Slánský … Ja, der … Der Herr Doktor ist noch im Museum? Ja, ich rufe dort an.“ Er tat es. Im Hörer erschallte eine jubelnde Stimme. „Das hab’ ich erwartet! Diese Nachricht hab’ ich erwartet, Herr Kollege. Kollegin Janovská war immer meine beste Schülerin.“ Václav Slánský behielt den Gedanken für sich, daß der Bagger das Depot aufgedeckt hätte, selbst wenn die Kollegin Janovská debil wäre, aber das behielt er, wie gesagt, für sich, statt dessen sagte er respektvoll: „Wir hätten eine Bitte an Sie, Herr Doktor, ich persönlich und selbstverständlich auch das Institut. Ob Sie wohl so freundlich wären und die Leitung der Kommission übernähmen, die am Mittwoch der Bergung des Depots beiwohnt.“ „Der Herr Professor ist informiert?“ fragte Doktor Sultán. „Gewiß“, log kaltblütig Doktor Slánský. „Er würde sich freuen. Selbstverständlich würden wir Ihnen die Reisekosten ersetzen, wir bitten Sie nur, im Museum einen Wagen anzufordern. Wir haben nämlich keinen frei. Oder wenn Sie vielleicht mit dem Kollegen Radimský mitführen, der seinen eigenen Wagen hat?“ „Ich fordere einen im Museum an. Selbstverständlich. Hat Ihnen die Kollegin gesagt, was sie dort gefunden hat?“ „Gewiß, Herr Doktor. Sie hat mich eingehend informiert. Wir freuen uns schon. Ich danke Ihnen, und auf Wiedersehen am Mittwoch, Herr Doktor.“ Und Václav Slánský legte den Hörer auf die Gabel und die Hände in den Schoß.
29
9 Herr Klouda trug einen Arbeitskittel und in der Hand eine Stange zum Herunterziehen der Rolladen. Er trat aus dem Laden hinaus in die Gasse der Altstadt, grüßte den Kollegen von gegenüber (Verkauf von gebrauchten optischen Geräten und Fotoapparaten) und drehte sich herum zum Schaufenster seines Ladens, hinter dessen Scheibe auf staubigen Samtpölsterchen und in Etuis matt verschiedene Münzen glänzten. Energisch zog er den eisernen Rolladen herunter und sicherte ihn mit dem Schloß. Den Rolladen an der Tür zog er zu zwei Dritteln herunter und schlüpfte drunter durch zurück in den Laden. In dem Kabuff hinten stellte er die Stange ab, machte die Kasse auf und verstaute die Ware darin. Dann wischte er das runde Tischchen ab, schob zu den zwei Sesseln noch drei Stühle und stellte fünf Weingläser bereit. Jedes reinigte er sorgfältig mit einer Papierserviette. Das waren die Vorbereitungen für die regelmäßige Zusammenkunft des inoffiziellen, aber dafür allmächtigen numismatischen Rates des Staates. Die größten und gelehrtesten Sammler, Eigentümer von Unikaten und ihre Kenner. Die Machthaber über Taler, Groschen und Denare, die Bewahrer von Gulden, Kronen und Dukaten. Die Inhaber von Stahlschränken voller Schubfächer, in denen sich auch solche Kostbarkeiten fanden wie das Falschgeld Rostislavs oder der Kleine Groschen Rudolfs II. Unter dem Rolladen hindurch kroch der Magister der Pharmazie Arnošt Maizl. Er gehörte in diesen Zirkel, wurde aber etwas geringer geschätzt. Einerseits wegen seiner Jugend, denn er war erst vierzig, und dann deshalb, weil er seinen Ruf als Numismatiker nicht durch eigenen dilettantischen Fleiß errungen, sondern ihn gemeinsam mit einer umfangreichen Sammlung von seinem Vater geerbt hatte, dem Professor Vítězslav Maizl (um bei der Wahrheit zu bleiben: dieser wiederum von 30
seinem Vater, dem Herrn Rat Otto Maizl, und es war bekannt, daß schon der Kaufmann Rudolf Maizl, Ottos Großvater, eine ungeordnete Kollektion von Münzen von seinem Vater, dem Kaufmann Hugo Maizl, geerbt hatte). „Guten Tag, Herr Magister.“ Der Rolladen klapperte, als sich unter ihm der Archivar Svatopluk Sadílek durchdrängte. Er faltete die Hände, wie das die Inder bei der Begrüßung tun, verbeugte sich und sagte mild wie ein Pfarrer zu den sündigen Pfarrkindern: „Die freudigsten Stunden sind diese Freitagabende. Salvete, die Herren!“ In seinem Sakko mit den ausgebeulten Taschen, in den schwarzen, leicht bestaubten Schuhen und mit den demütig abstehenden Kragenecken des weichen Hemdes konnte der Herr Sadílek nichts anderes sein als ein Archivar. „Servus“, antwortete der Magister Maizl. Und er zog den Rolladen hoch, an den Dr. Karel Železný klopfte, Mitarbeiter des Museums, der einzige Profi unter diesen Dilettanten. Wegen seines Alters konnte er sich schwer bücken, so daß er als einziger beim Eintritt das Privileg des hochgezogenen Rolladens genoß. Er grüßte, strich die grauen Haare glatt, legte sehr vorsichtig seine abgeschabte Aktentasche auf den Tisch und entnahm ihr eine Flasche. Er riß das Einwickelpapier auf. „Aber, aber!“ rief der Archivar Sadílek. „Sonne von der Rhône! Was ist passiert, Herr Doktor?“ Karel Železný schaute sich um. „Wer von den Herren besitzt die größte Sammlung von Denaren aus dem zehnten Jahrhundert?“ Der Magister lachte. Sadílek faltete die Hände, streckte die Finger und schnalzte mit ihnen: „Wer sonst als Sie, Herr Magister?“ „Also dann, meine Herren!“ Železný hob die Flasche. 31
„Haben Sie genug Denare in Ihrer Sammlung, Herr Magister?“ fragte er dann den Apotheker. „Genug“, gab Maizl zu. „Da und dort ließe sich noch einer finden.“ „Sie haben eine der größten Denar-Sammlungen. Eine der wertvollsten.“ „So sagt man, Herr Doktor.“ Maizl zeigte auf die Flasche. „Warum so feierlich?“ „Weil Ihre Sammlung“, sagte gewichtig Doktor Železný, „mit dem heutigen Tage in peinlicher Weise unvollständig ist.“ „Aber, aber“, wunderte sich Arnošt Maizl. „Haben Sie einen Schatz gefunden, Herr Doktor?“ „Ich nicht. Aber Frau Doktor Janovská auf Libín. Bitte den Korken ziehen, Herr Klouda!“ „Einen Schatz? Wieviel Stücke?“ Doktor Železný bohrte aufmerksam den Korkenzieher in den Korken. Vorsichtig preßte er die Flasche zwischen seine Knie, zog, die Luft fluppte. Železný stellte zeremoniell die Flasche auf den Tisch, schaute den Magister Maizl an und bemerkte gleichgültig: „Die Frau Doktor hat dem Kollegen Sultán gemeldet, es handle sich zweifellos um Hunderte Exemplare.“ Arnošt Maizl zuckte die Achseln. Der Archivar lachte leise. Und Václav Klouda stieß einen erheiterten Pfiff aus. Dann leckte er sich die Lippen.
10 Sie war so schön, daß es jedermann den Atem verschlagen mußte. Sie trat vor das Wohnhaus in Pankrác, hinaus in die untergehende Sonne, und aus dem strohblonden Haar wurde flüssiges Gold, aus den großen Lippen eine Rose, und überhaupt: sie war 32
schlank und schwankte nicht auf den hohen Absätzen, sondern schwebte; auch wenn sie nur zwei Schritte bis zum Rand des Gehsteigs machte. Sie schaute sich um, ihre Brauen zitterten, und sie war eine Königin, die sich verwundert fragte, wo das Sechsergespann ist. Statt einer Kutsche löste sich vom Gehsteig gegenüber ein junger Mann in abgewetzten Jeans. Sie sah ihn nicht. Übrigens, wen sahen diese tiefen Augen von der Farbe der Suchard-Schokolade überhaupt? „Verzeihen Sie“, sagte der junge Mann ehrerbietig. „Fräulein Lautererová?“ Sie schaute sich weiter um, aber das Sechsergespann kam und kam nicht. „Und was soll sein?“ „Ich … ich arbeite mit Zdeněk … Mit Zdeněk Linhart …“ „Na und?“ „Er hat mich angerufen. Mit der Elektrik am Auto klappt was nicht. Er hat mich gebeten … Ich soll Sie ins Theater fahren. Weil er nicht kann …“ Er blinzelte mit den kleinen Augen, und auf dem runden Gesicht standen Schweißtröpfchen. Es war immer noch heiß. Vielleicht zog ein Gewitter herauf. Sie zeichnete ihn aus, indem sie ihn mit einem Blick streifte. Sie waren beide gleich groß, aber neben ihr sah er aus wie ein Wichtelmännchen. „Warum hat er nicht ein Taxi bestellt?“ „Weiß ich nicht, er hat mir nichts gesagt. Nur daß ich Sie hinbringen soll.“ Sie hob die Wimpern, und über ihren Schwanenhals lief ein Zittern. Er trabte davon, um das Auto zu holen. Es war ein ziemlich vergammelter Škoda. Er stieg rasch aus und riß für sie die Tür auf. Sie zögerte. „Werde ich mich nicht schmutzig machen?“ 33
„Es ist sauber. Im Ernst“, sagte er und klappte behutsam die Tür zu. Als er sich ans Lenkrad setzte und startete, wurde ihm sichtlich leichter. „Ich hab’ Sie gleich erkannt“, sagte er. „Sie sind sehr schön. Zdeněk hat eben Glück.“ Sie hob die Brauen: „Meinen Sie?“ „Naja.“ Er lachte breit. „Keiner von uns wollte es ihm doch glauben.“ „Und was wolltet ihr ihm nicht glauben?“ „Daß … daß er Sie kennt!“ Ihre Lippen verbreiterten sich zu einem Lächeln. Die Zähne leuchteten, daß sie ihn, hätte er sie nicht nur aus einem Augenwinkel sehen können, so geblendet und verwirrt hätten, daß er bestimmt zehn Verkehrsverstöße begangen hätte. Und er hätte völlig übersehen, daß das überhaupt kein heiteres Lächeln war.
11 In der Pause eilte sie zum Pförtner ans Telefon. Es war ein kleines Theater, die Rückwand des Kabäuschens für den Pförtner war die ins Foyer gerichtete Kasse. Hier war es halbdunkel, draußen hell, die Rollen waren vertauscht, sie sah die Besucher wie auf der Bühne. „Bitte Herrn Linhart! Er repariert? Rufen Sie ihn bitte, ich warte.“ Sie schaute auf die Uhr und wartete mehr als drei Minuten. Inzwischen hielt sie den Hörer mit der Schulter und steckte sich eine Zigarette an. Und als er sich meldete, sagte sie: „Das haben wir nicht vereinbart, Herr Linhart. Das kaputte Auto interessiert mich nicht. Sie hätten ein Taxi bestellen oder einen anderen Wagen chartern sollen, aber nicht einen Jungen mit einer zerfallenen Blechkarre schicken. Weil 34
heute die letzte Vorstellung ist und wir noch ein bißchen beisammensitzen, genügt es, wenn Sie um elf kommen.“ Renata Lautererová legte den Hörer auf und erblickte unwillkürlich ihr Bild im Spiegel an der Wand der Pförtnerstube. Der Spiegel war schlecht geschliffen, sie sah in der rostroten Perücke aus wie eine deformierte Elfe. Sie mußte sich durch einen Blick in den Ausschnitt des Kostüms überzeugen, ob alles in Ordnung und Form war, und das war es absolut.
12 Der Stahlschrank wirkte in dem soliden bürgerlichen Zimmer, eingerichtet zu Beginn des Jahrhunderts, wie ein Grundig unter Lauten und Violen da gamba. Svatopluk Sadílek holte aus einer Schublade eine silberne Münze und wandte sich zum Fenster. Dort saß vor dem Fernseher ein junger Bursche mit einem Gesicht wie ein gut durchgebackener Kartoffelpuffer und trank ehrerbietig Kaffee. Es war der Junge, der vor dem Abendessen Renata Lautererová gefahren hatte. „Schau her, mein lieber Vlastík“, begann Sadílek, und er sprach so, wie Franz von Assisi mit den Vögeln geplaudert hatte, „das ist ein echter Denar aus dem zehnten Jahrhundert.“ Das weiße Scheibchen lag teilnahmslos auf der weichen Hand. Der junge Mann nahm die Münze in die Hand und drehte sie um, vielleicht um die Prägung zu betrachten. Der Archivar Sadílek reichte ihm eine Lupe. „Dort steht: Boleslav dux. Fürst Boleslav. Und diese Kleinigkeit hat heute den Wert von fünfzehnhundert Kronen. Einer.“ „Was Sie nicht sagen, Herr Archivar.“ Vlastimil Brožek staunte. „Und nur so ’n Plättchen, nicht wahr?“ 35
Er zeigte auf den Bildschirm. „Schauen Sie, das Bild ist in Ordnung.“ „Was bin ich dir schuldig, mein Junge?“ „Nichts, Herr Archivar. Nicht der Rede wert. Eine Elektrode.“ Der Archivar trat an den Schrank und schenkte sich und seinem Gast einen Kognak ein. „Und du hättest Zeit?“ „Freilich. Das ist eine Kleinigkeit. Mutter sagt, Sie sind ein netter Mensch, und für Sie muß man alles tun.“ „Gewiß, gewiß“, stimmte Sadílek verlegen zu. „Also auf morgen, auf unseren Ausflug!“ Sie tranken, und der Archivar nahm aus dem Stahlschrank eine ganze Schublade. Er legte sie unter den Kronleuchter auf den Eßtisch und knipste das Licht an. „Komm, schau dir’s an. Das hab’ ich dir noch nicht gezeigt. Meine Denar-Sammlung!“ Es schien, als lockte das weiche Blau des Samtes und der Glanz des Silbers den Jungen weniger als die Fortsetzung der Fernsehserie.
13 Der Baggerfahrer Václav Chvalina kam Schlag elf. „Da bin ich“, grölte er, „ich melde mich zum Dienst, Herr Vorsteher.“ Statt des Rentners Urban blickte Doktor Janovská aus dem Zelt. „Ich weiß nicht“, sagte sie, „ob ich nicht selber über Nacht hierbleiben sollte.“ Chvalina lachte: „Haben Sie kein Vertrauen zu den Freiwilligen?“ „Das nicht, Herr Chvalina. Ich könnte ein bißchen lesen. Ich hab’ die Polizei in Brody angerufen. Dann und wann werden sie nachts nach dem Rechten sehen.“ „Dann gehen Sie schlafen“, entschied er. „Ich hab’ mir 36
statt eines Buches das Kofferradio mitgebracht, und sowieso“, fügte er hinzu, als er hinunterkletterte, „würde sich jeder Dieb die Haxen brechen.“ Sie verabschiedete sich von ihm. Im Gasthaus gegenüber brannte noch Licht. Durchs offene Fenster hörte man Stimmen. Die Alten aus dem Dorf spielten Karten. Die Nacht war warm und voller Wohlgerüche. Ihr kam das Hündchen der Frau entgegengelaufen, in deren Haus sie wohnte. Der Hund schwänzelte demütig. Er war ulkig und an ihm war nichts mehr von der wahnsinnigen Wut, mit der er sich unterm Tor auf die Füße des Doktor Johan gestürzt hatte. Das Licht im Giebelzimmer des Wirtshauses strahlte in die Nacht. Der Schriftsteller Johan arbeitete offenbar. Er hatte seine Abreise verschoben. Hatte Telegramme geschickt. Er hatte sich entschlossen, in Libín zu bleiben, bis die Kommission ihre Arbeit beendet hätte und das Depot geborgen und abtransportiert sein würde. Sie seufzte und ging nach Hause, der Hund mit ihr. Er verkroch sich in seiner Bude und sie sich in ihrem Stübchen. Im Dunkeln ertastete sie den Sessel am offenen Fenster und schloß die Augen. Dann fiel ihr etwas ein. Sie stand, auf, machte Licht, suchte auf dem Wandbrett den Nagellackentferner, zupfte ein Stückchen Watte ab und nahm, die Taschenlampe aus der Schublade. Sie trat vors Haus und rief leise nach dem Hund. Bereitwillig trabte er heran. Seite an Seite schritten sie zu der Schautafel, auf der, mit Mosaik ausgelegt, die Information über die grundlegenden historischen Daten der ehemaligen slawischen Burgstätte standen. Sie richtete die Taschenlampe auf die Jahreszahl, tränkte die Watte mit Azeton und rieb die Mosaikplättchen ab, so daß sich die Jahreszahl abermals veränderte: neunhundertfünfundneunzig. 37
14 Das Theater war klein, es fand kaum Platz in dem alten Haus. Der weiße Mercedes wand sich durch das Gewirr der Gäßchen. Am Theater fuhr er aufs Trottoir und hielt. Der Mann am Lenkrad zündete sich eine Zigarette an. Der Wagen hatte die besten Jahre hinter sich. Die blankpolierte Karosserie näherte sich dem unaufhaltsamen Zerfall durch Rost. Ein paar Leute traten aus dem Theater und verabschiedeten sich. Sie gingen aufgekratzt auseinander. Ein Mädchen mit zierlicher Figur tanzte ein Solo auf den Pflastersteinen und verschwand hinter der Ecke. Die Sterne, bislang sichtbar zwischen den Häusern und über den Dächern, verdunkelten sich. Denn jetzt trat sie heraus. In einem weißen wehenden Gewand. Wie das strahlende Symbol ewiger Frauenschönheit. Er warf die Zigarette weg und sprang aus dem Wagen, um ihr den Schlag zu öffnen. „Guten Abend.“ Sie nickte, ja, so ist es in Ordnung. Im Schatten des Theatereingangs hockte jemand. Ein Mann. Gleich darauf erschallte auch ein kurzes Frauenlachen. Er setzte sich ans Lenkrad, startete, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr langsam an. „Ich bin neugierig“, bemerkte er, „wann ich dreihundert bezahlen werde.“ Sie schwieg. „Dich inter…“ Sie unterbrach ihn: „Sie inter…“ Er nickte. „Verzeihung. Sie interessiert das nicht?“ „Warum? Dreihundert wofür?“ „Ich hab’ keine Parkkarte. Darf überhaupt nicht hier reinfahren.“ Sie schüttelte verwundert den Kopf. „Aber das ist doch wohl Ihr Problem, nicht? Meins auf keinen Fall.“ 38
Er nickte. „Nach Hause?“ „Heute ja. Und ich werde Sie erst Sonntag abend brauchen. Um sechs Uhr. Die Wohnung wäre aufzuräumen.“ Er nickte. „Bringen Sie ein paar Blumen mit. Ich möchte, daß es dort Montag früh freundlich aussieht. Meine Ferien fangen an. Am besten Rosen. Und bringen Sie mir Diasepam mit. Fünf.“ „Drogen …“ „Diasepam fünf ist keine Droge. Opiate, Fenmetrazin, ja. Aber das nicht. Freitag starten wir zu einem Gastspiel. Nach draußen, und da schlaf ich oft schlecht ein.“ „Jawohl.“ „Und was heute war, das bitte niemals mehr. Ich denke, zwischen uns ist alles klar, nicht?“ Er hielt vor dem Eingang eines langen Hauses. Der wahnsinnige Investor von Spareinlagen hätte diesen Block bis ins unendliche vorangetrieben, wenn ihn daran nicht der abschüssige Hang über Podolí gehindert hätte. Er beugte sich zu ihr. Sie hob die Handtasche und machte daraus einen Paravent zwischen ihrem und seinem Gesicht. „Ist Ihnen etwas unklar?“ fragte sie. „Verzeihung, nein. Wann?“ „Sie merken sich wohl gar nichts?“ „Ich hab’s mir gemerkt“, sagte er trocken und stieg aus, um ihr wieder den Schlag zu öffnen. „Warten Sie noch, bis ich die Haustür hinter mir geschlossen habe“, sagte sie. „Ich habe immer Angst vor den Schatten dort. Auch wenn ich weiß, daß es nur Sträucher und Mülltonnen sind.“ „Gute Nacht.“ Sie gab ihm die Hand. Eine sanfte und offenbar zarte Hand.
39
15 Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht. Das abendliche Lüftchen fächelte die dünnen, schon ziemlich graudurchwebten Haare des Schriftstellers. Der Schriftsteller schrieb. Wie es sich für einen solchen geziemt, mit der Hand und der Feder. Selbstverständlich ist nichts Sonderbares daran, wenn ein Schriftsteller schreibt. Eigentlich würde eher das Gegenteil erstaunen. Und es ist auch nichts Besonderes, wenn er nach Mitternacht schreibt. Ein Schriftsteller kann nicht nur so dasitzen und Wort für Wort und Fabel für Fabel aus dem Ärmel schütteln (das gelang wohl nur einem Shakespeare). Ein Schriftsteller muß aufmerksam der Stimme der Intuition und Inspiration lauschen, muß die Augen offenhalten, um zu sehen, wie das Leben wirbelt, und wenn es ihn überkommt, dann muß er schreiben, auf Biegen oder Brechen, ob nun vor oder nach Mitternacht, und sei es in einem traurigen Gasthauszimmer an einem wackligen Tisch. Und er muß auch nach Brody fahren, um sich ein liniertes Heft und einen neuen Füller zu kaufen, wie das Doktor Boleslav Johan getan hatte. An jenem Spätnachmittag hatte er begriffen, daß ihm die Chance seines Lebens begegnet war. Es ist ganz und gar unwahrscheinlich, daß in den nächsten Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten, einem Menschen seines Fachs das unendliche Glück begegnete, mit eigenen Augen zu sehen, wie ein Schatz gefunden wurde. Weil allgemein bekannt ist, daß das menschliche Gedächtnis unzuverlässig ist, entschloß er sich, an Ort und Stelle zu bleiben und dokumentarisch alles festzuhalten, was ihm auf seinem Ausflug hier in diesem Dorf widerfahren war und wird. An diesem Freitag war es drückend heiß. (So begann er das Schulheft mit seiner kleinen Schrift zu füllen.) Es war windstill. Und dennoch wogten die Baumkronen längs der Landstraße unter dem Anprall von Windstö40
ßen. Es waren Dutzende und aber Dutzende von Autos, die die Luft aufwirbelten. Die Menschen flohen aus der stickigen Stadt in die Natur. Verschwitzte Lastwagenfahrer sehnten sich nach ihren kühlen Häusern. Das Gras im Straßengraben welkte unter der sengenden Sonne. Aber es war nicht schwül wie vor einem Gewitter. Ich fahre über die alte Kaiserstraße und werde mir bewußt, daß ein paar Kilometer zu meiner Rechten, vielleicht nur zwei oder noch weniger, dort zwischen den Feldern, wo schon längst die Raine und Wege zwischen ihnen umgepflügt sind, aus der Hauptstadt der historische Weg in den Osten des Königreichs führte … Und so weiter. Ankunft, Suche nach Frau Doktor Janovská, wie er sie dann fand, und schließlich: die Archäologin ist erregt über die Nachricht, die unsinnig, phantastisch, ja fast lachhaft zu sein scheint. Sie erstarrt, zögert. Vielleicht ist es nur ein unpassender Scherz. Aber würde ein Baggerfahrer auf diese Art mit ihr scherzen? Ausgeschlossen. Ich biete ihr an, sie ins Dorf zu fahren, und habe nicht einmal Zeit, mich umzuziehen. Immer noch habe ich den Eindruck, daß sie die Wahrheit der Entdeckung bezweifelt. Die Verantwortung des Forschers ist zu groß. Und auf ihren fast noch mädchenhaften Schultern … Kurz vor dem Dorf bittet sie mich anzuhalten. Vielleicht um tief durchzuatmen und ihr Gleichgewicht wiederfinden zu können, das sie nach alldem, was ihr durch den Kopf ging, vielleicht zu verlieren begonnen hat. Ich gehorche, und einige Sekunden, vielleicht eine Minute, sitzen wir regungslos in dem aufgeheizten Wagen, dann steigt sie kurz aus und geht zu dem Gedenkstein, den Doktor Sultán für die berühmte slawische Burg und ihre herrschende Sippe errichten ließ, die so tragisch und grausam und dennoch der geschichtlichen Gerechtigkeit entsprechend ausgerottet worden war. Das ist das Paradoxon der Geschichte … 41
Der Schriftsteller Johan arbeitete fast fünf Stunden. Das erste Heft war vollgeschrieben. Darin war wirklich alles enthalten, Geschehnisse und Betrachtungen, wie aus den beigefügten Ausschnitten offensichtlich wird. Vor einer Stunde hatte er die letzten Sätze geschrieben: Schon lange hat es Mitternacht geschlagen. Beuge ich mich aus dem Fenster, sehe ich jenseits des stillen Dorfangers den schwachen Widerschein des Lichtes an einer steinernen Mauer. Der Wächter wacht über den Schatz unserer Urväter. Vielleicht ist er ihr direkter Nachfahre. So. Und er setzte das neue Datum als Überschrift darüber. Er streckte sich, und ihm fiel ein, er könnte ein bißchen Spazierengehen. Nach dem Wächter schauen, die nächtliche Atmosphäre des Dorfes und des Fundorts in sich einsaugen. Er hörte eine Eule rufen und schrieb dazu: Ein Käuzchen ruft. Sein Liebeslied hat eine gespenstisch-tragische Note. Wundern wir uns nicht über unsere Vorfahren, die aus diesem Käuzchenruf dunkle Schicksale prophezeiten. Er verließ das Gasthaus durch die Hintertür und schob den durchdringend knirschenden Riegel am Tor zurück. In der Nachbarschaft kläffte ein Hund. Ihm folgten immer weitere. Er schloß das Tor und blieb reglos in seinem Schatten stehen. Das Hundegebell verstummte. Er trat hinaus auf den Anger, lenkte seine Schritte aber nicht schnurstracks zum Forschungsobjekt, sondern ging um die Gartenmauer des alten Pfarrhauses herum. Unter den Kronen der Linden herrschte schwärzestes Dunkel. Die Käuzchen schwiegen, sie hatten es wohl mit der Angst bekommen. Er näherte sich langsam dem Fundort und blieb am Grubenrand stehen. Im Zelt spielte leise ein Kofferradio, 42
aus dem offenen Eingang ragten Füße in Socken und wackelten im Rhythmus der Musik. „Guten Abend“, sagte Boleslav Johan. Das Zelt erzitterte, und etwas fiel darin um. „Verdammt! Welcher Blödmann …“ Chvalina steckte den Kopf heraus. „Ach, Sie sind das. Was …“ Er wollte sagen: Was latschen Sie denn hier herum? Aber er hielt inne und sagte: „Was machen Sie denn hier?“ Zur Sicherheit langte er hinter sich, wo ein Knüppel bereitlag. Er wußte, daß dieser Besucher der Gemeinde ein Schriftsteller war, aber das erweckte in ihm keinerlei Vertrauen. Sein Instinkt flüsterte ihm ein, daß so ein herumstreunender Intellektueller auch ein ganz schöner Lump sein konnte. „Ich bin mächtig erschrocken“, fügte er hinzu. „Macht nichts“, sagte Doktor Johan. „Ich geh’ ein bißchen spazieren.“ „Daß Sie zu so was Lust haben!“ wunderte sich Václav Chvalina. „Ja, mit ’nem Mädchen, das würde heute passen.“ Der Schriftsteller stimmte kollegial zu. „Darf ich einmal runterschauen?“ fragte er. Der Baggerführer zuckte die Achseln. Er wußte, daß er diesem Burschen jederzeit gewachsen war. Und er langweilte sich, so daß ihm selbst die Gesellschaft eines Schriftstellers annehmbar schien. Boleslav Johan warf einen Blick auf den Schatz unter dem kleinen Schutzdach. Im flackernden Licht der Laterne verloren sich die verstreuten Scheibchen fast. „Das ist ein Theater“, sagte Herr Chvalina aufrichtig, „wegen einem zersprungenen Topf. Wenn’s wenigstens Gold wäre. Spielen Sie Mariage?“ „Nein. Aber das geht wohl auch nicht zu zweit.“ Der Baggerführer holte Spielkarten aus der Aktentasche. Er schraubte die Thermoskanne auf und goß Kaffee in den Deckel. „Da haben Sie.“ „Danke. Der Kaffee ist gut.“ 43
„Ja, den Kaffee koch’ ich mir selber. Also dann Siebzehn-und-vier! Um Streichhölzer. Los geht’s!“ Als die Uhr auf dem Kirchturm zwei schlug, hatte Doktor Johan 480 Streichhölzer verloren, und dabei hielt er die Bank. Insgesamt verspielte er 1960 Streichhölzer.
16 Es war kurz nach Tagesanbruch. Die Sonne warf lange Schatten in die verschwenderischen Farben des Sommermorgens. Der Wagen konnte auf den engen und gewundenen Kreisstraßen zeigen, was er konnte. Aber er behielt annähernd die westliche Richtung bei. Vom Hügelland fuhr er hinab in die ausgedehnte Ebene des alten Flusses. In dieser Ebene, im Dunst, der bis jetzt noch blau war, schimmerten fast am Horizont die roten Lichter an den Sendemasten, wo, wie jedermann weiß, am Ufer des Flusses die Stadt Brody liegt. Und an der Zufahrtsstraße verkündet der alte Slogan:
Fürs Herz ist Brody da Der Fahrer kannte die Gegend, er fuhr sicher, wählte Abkürzungen und Nebenstraßen. Seine Haare starrten nach allen Seiten vom Kopf. Und der Bart, der von einem Ohr zum andern reichte, so wie ihn Kapitäne tragen, verlieh diesem einsamen Mann auf den menschenleeren Straßen den Ausdruck eines entsetzten Märtyrers auf einem gotischen Bild. Das Autoradio schwieg. Wer hätte auch Lust, um diese Stunde Musik zu machen oder etwas zu erzählen. In der ehrwürdigen alten Stadt, die jetzt nach den Öl44
raffinerien stank, überquerte er den Fluß, der sich an diesen Stellen in eine Kloake verwandelt hatte. Und er war in der glatten, ausgedehnten Ebene, in den Wiesen, wo sich vielleicht noch zwischen den Resten der Auenwälder Elfen versteckt hielten. Am Bahnübergang klingelte das Warnsignal, und die roten Lichter blinkten unermüdlich. Der Mann verlangsamte das Tempo, schaute sich um und gelangte zu dem Schluß, daß der Zug noch genügend weit weg war. Er fuhr hinüber. Der Lokführer warf entsetzt die Hände zum Himmel empor. Der Mann warf einen Blick in den Rückspiegel. Er schien ungemein zufrieden zu sein und bog nach links ab. Nach Libín. Der Mann hielt auf dem Dorfanger an der Mauer des Pfarrgartens. Er streckte sich und rieb sich die Augen. Dann kletterte er heraus und machte ein paar Kniebeugen. Um die Beine hingen ihm weiße Jeans. An den nackten Füßen trug er Sandalen wie ein Mönch, überhaupt erinnerte er an einen Mönch, nur fehlte ihm dazu die Kutte. Er faltete die Hände auf dem Rücken, ließ einen zufriedenen Blick über die Linden und Häuser wandern. Dann ging er auf das Forschungsobjekt zu. Schon von weitem hörte er Musik. Das Zeitzeichen. Er blickte auf die Uhr, es war wirklich vier. Er beschaute sich die Reste der beendeten und wieder zugeschütteten Ausgrabung, besichtigte die Destruktion der Mauer, klopfte mit einem Pflock den Staub vom Profil des Grabens, der an die Grenze des Grundstücks am Rande des Gehsteigs führte. Und so, eigentlich mit Arbeit beschäftigt, gelangte er bis an den Grubenrand. Aus dem Zelt konnte er nicht gesehen werden, denn er stand über ihm; das Zelt war mit seiner Längsachse in 45
Richtung Nordwest-Südost aufgestellt, in der nordöstlichen Ecke befand sich unter einem Schutzdach ein flacher Stein und darunter der Schatz. Der bärtige Mann setzte sich auf einen Kieshaufen und betrachtete lange die Wand unter der Scheunenmauer. Im Kofferradio sang Václav Neckář, und der Mann bewegte im Rhythmus des Schlagers beide großen Zehen. Dann stand er auf und stieg in die Grube hinab, um unter das Schutzdach zu blicken. Er bückte sich und wollte sich auf die Fersen hocken; aber da erstarrte er. „Keine Bewegung, mein Junge“, sagte hinter ihm ruhig und mit der Besonnenheit eines kühlen Desperados Václav Chvalina. „Und hau bloß ab.“ Der Mann war sich nicht sicher, ob hinter ihm nicht jemand mit einem Knüppel ausholte oder mit einem Revolver beliebigen Kalibers auf ihn zielte. Deshalb rührte er sich nicht, sondern bemerkte nur: „In Ihren Worten liegt ein gewisser Widerspruch, mein Herr.“ „Was für ein Widerspruch, du bärtiger Regenwurm?“ „Ich kann nicht abhauen, wenn ich mich nicht bewegen darf.“ „Du bist mir ja ’n Schlaumeier“, konstatierte ruhig Václav Chvalina. Und er sprach wie der Zauberer im Märchen die Formel aus: „Dann beweg dich und verschwinde.“ Der Mann streckte die Linke hinter den Rücken. „Was turnst du da?“ „Haben Sie nicht eine Unterlage da?“ „Eine Unterlage? Wozu brauchst du ’ne Unterlage? Was für eine? Mein Gott, er will eine Unterlage. Der ist ja besoffen!“ rief Herr Chvalina nichtexistierenden Zeugen zu. „Eine Zeitung oder so was“, sagte der Mann ziemlich ungeduldig. „Ich will mich knien. Will nachsehen, wie 46
der Topf eigentlich vergraben war.“ Er hockte sich nieder. „Dort muß eine Art Tasche gewesen sein. Oder die Grube unter der Scheune hat eine Neigung. Wissen Sie nicht, ob hier drüber mal eine Mauer gewesen ist? Dann wäre das erklärbar. Sie haben es schräg unter dem Haus vergraben.“ „Die Frau Doktor hat nichts von einer Mauer gesagt.“ „Wissen Sie zufällig, ob diese Platte bewegt wurde?“ „Das weiß ich zufällig. Ein bißchen hab’ ich sie bewegt. Denn ich hab’ hier gebaggert. Und eine Mauer war nicht drüber, das hätte ich gemerkt.“ „Die Zeitung!“ „Was für eine?“ „Unter die Knie“, sagte der Mann ungeduldig. Václav Chvalina hatte sich während des Zwiegesprächs gesetzt. Er streckte die Hand nach hinten, ertastete die alte Zeitschrift, die sich Herr Urban zur Wache mitgebracht hatte, und steckte sie dem Burschen in die Hand. „Wenn ich wohin komme“, bemerkte er, „besonders nachts, dann grüße ich und stelle mich vor.“ „Es ist Morgen.“ „Also am Morgen“, korrigierte sich versöhnlich Václav Chvalina. „Ich grüße anständig und stelle mich vor. Das ist so ein Grundsatz unter den Menschen. Andernfalls können die Leute von mir denken, ich sei ein Blödmann oder ein verdächtiger Häuslscheißer.“ „Pardon“, sprach der Bärtige. Er nahm die Zeitung, kniete sich drauf und beschaute sich den Fund. „Ich hab’s vergessen, Herr. Guten Morgen. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin Doktor Soudek. Von Beruf Archäologe. Und mein Objekt liegt im Kreis Hory.“ „Sie sind zweifellos verdächtig, Herr.“ „Das passiert mir öfter“, erwiderte Doktor Soudek zerstreut, „daß ich fortwährend jemandem verdächtig bin. Damit werde ich wohl sterben. Und warum bin ich Ihnen verdächtig, mein Herr?“ 47
„Ich bin aus dem Dorf hier. Doktor Sultán kommt schon gute zwanzig Jahre her und auch andere Archäologen, Dutzende.“ „Na und?“ „Noch keinen hab’ ich um diese Stunde bei der Arbeit gesehen. Oder ja, manchmal. Ein paarmal. Aber da gingen sie schlafen. Und sangen Lieder und weckten die Leute.“ „Ich leide zuweilen an Schlaflosigkeit“, bemerkte Soudek trocken. Er stand auf, gab die Zeitung zurück und klopfte sich die Hände ab. „Nanu, macht es Ihnen keinen Spaß mehr?“ fragte hämisch Václav Chvalina, der ganz und gar nicht von der Wahrheitsliebe dieses Kerls überzeugt war. Aber solange er nichts anrührte, hatte er als Wächter keine Ursache zu einem energischen Einschreiten. „Ich habe anderes zu tun, lieber Herr. Der Frau Doktor richten Sie einen schönen Gruß von mir aus. Manche Leute haben einfach Glück.“
17 Ein Fiat, metallic / silber, wartete geduldig vor der Bahnschranke. Der Fahrer hatte den Ellbogen ins offene Fenster gelegt. Mit einem Finger stützte er seine Schläfe, und seine goldgerandete Brille, der Ring, die Uhr und die Manschettenknöpfe an der cremefarbenen, vorbildlich gebügelten Manschette funkelten in der Sonne. „Ich bewundere dich, Arnošt. Wahrhaftig, ich bewundere dich“, sagte die junge Frau auf dem Sitz neben ihm und zündete sich eine Zigarette an. Magister Maizl nickte und beobachtete den vorbeifahrenden Zug. „Tja …“ „Hörst du?“ fragte sie mit Nachdruck. 48
Er zuckte zusammen. „Ja, gewiß.“ „Ich habe gesagt, ich bewundere dich.“ Er nickte. „Das freut mich.“ Sie seufzte und warf die Zigarette aus dem Fenster. Sie bemerkte, daß er ihr auf die Knie schaute, und da sie sich nicht sicher war, ob diese ihn wirklich interessierten oder ob er sie nur betrachtete wie vorhin den Zug, zog sie sich den Rock darüber. Er blickte weiter auf diese Stelle. Wie auf nichts. Wie auf Luft. „Schläfst du?“ „Aber nein, Liebste.“ „Dann fahr doch.“ „Aha … Danke. Ja, um was ich dich bitten möchte … es wäre vielleicht gut … du würdest irgendwo auf mich warten.“ „Aber?“ „Dich interessieren doch solche Sachen nicht.“ „Wenn ein Bekannter dort wäre, dann wäre jedes Wort umsonst. Das höre ich schon zwei Jahre. Ich hatte gehofft, daß heute, da du dich entschlossen hast, schon am Morgen zu kommen, früh am Morgen, und da du den Mut in dir gefunden hast, mit mir einen Tag und eine Nacht und noch einen weiteren Tag beisammen zu sein …“ Sie stockte. „Halt an.“ „Wir sind noch nicht dort, Liebste.“ „Ich möchte dich gern etwas fragen.“ „Später, ja?“ „Nein, gleich.“ Folgsam hielt er an. „Ja?“ „Ich hab’s begriffen. Jetzt endlich hab’ ich dummes Ding begriffen. Und ich war beim Friseur, hab’ mir gestern das Kleid da gekauft. Weil mir nicht aufging … Ich dachte …“ Sie schüttelte den Kopf und verzog den Mund. Auch so sah sie nicht übel aus. Braungebrannt, grünäugig mit gelben Pünktchen in der Iris. Mit einem golde49
nen Reifen um den Hals und kleineren ähnlichen Reifen in den Ohrläppchen. „Ich dummes Ding schirre mich an, weil ich dachte, daß vielleicht endlich …“ Sie ballte die Faust und schlug sich auf die Schenkel. „Und du erlaubst dir, mich nur deshalb zum Weekend einzuladen, weil du endlich eine plausible Ausrede hast. Ein Schatz! Alle werden es wissen, werden davon sprechen, du wirst weise mit dem Kopf nicken, und deine Frau wird dir keine Szene machen, weil sie, wenn schon nicht die Gewißheit, so doch die Entschuldigung hat: zu einem Münzenfund darfst du selbstverständlich fahren. Mit mir, einem Flittchen, nicht, aber sag mir: wer hat mich zum Flittchen gemacht? Ich bin eine blöde Gans …“ „Es versteht sich, Liebste, daß …“ „Wann wirst du mit deiner Frau sprechen?“ „Worüber?“ „Über uns zwei.“ „Aber du weißt doch, daß sie von uns weiß.“ „Ja, aber das interessiert mich nicht. Wann läßt du dich scheiden?“ „Selbstverständlich, eine rein formale Sache …“ „Das sagst du schon ein Jahr lang, Magister.“ „Begreif doch. Da ist noch die Mutter.“ „Dein Gerede könnte ich auswendig wiederholen.“ Ihre Augen weiteten sich. „Weine nicht. Ich schau’ mir’s nur mal kurz an, das ist im Nu erledigt. Du kannst Spazierengehen, in Richtung Restaurant. Zur Flußmündung. Ein wunderschönes Plätzchen.“ „Heulen wie ein Backfisch werde ich nicht.“ „Was?“ „Heulen werde ich nicht, Herr Magister.“ „Das Restaurant, verstehst du, steht am Zusammenfluß der Surina mit der Elbe. Dort gibt es vorzügliche Forellen. Ich hab’ für uns Übernachtung bestellt. Wir werden hier zwei angenehme Tage verbringen.“ 50
„Du kennst das hier?“ „Ich war schon mal da.“ „Wegen des Schatzes?“ „Nein. Bei Doktor Sultán. Da lebte mein Vater noch.“ „Als Kind! Na klar. Wie geht man zu der Kneipe?“ „Dort an den Bäumen nach links. Ich komme nach. Inzwischen kannst du dir einen Wein bestellen. Ich pflücke für dich einen Blumenstrauß …“ „Hanswurst.“ Unter den besagten Bäumen setzte er sie ab.
18 Lange konnte sie nicht einschlafen, und dann übermannte es sie doch. Sie erschrak, als sie die Augen aufschlug und sah, wie hoch die Sonne schon stand. Im Badeanzug lief sie auf den Hof, wusch sich an der Pumpe, nahm von der Leine die Jeans herunter, zog sie an und eilte barfuß zum Forschungsobjekt. Als sie an ihrem Wagen vorbeiging, der vor dem Tor parkte, stieß sie beinahe gegen eine Frau. Sie hatte nicht die Zeit, sie sich näher anzuschauen. Nur der Abglanz von goldenem Metall blitzte Frau Doktor Janovská in die Augen. Auf dem Dorfanger blickte sie hoch zu dem Zimmerfenster im Dachgeschoß des Gasthauses. Es stand offen. Die Gardine war zugezogen. Sie empfand Erleichterung, Doktor Johan schlief offenbar noch. Herr Urban war an seinem Platz und unterhielt sich mit einem Mann, der schmuck und sauber aussah. Er gehörte wohl zu dem silbernen Fiat, der am Gehsteig stand. „Frau Doktor“, rief ihr Herr Urban fröhlich aus der Grube zu, „stellen Sie sich vor, wer hier war!“ 51
Zerstreut grüßte sie. „Wer?“ „Der Herr Doktor Soudek.“ „Um Himmels willen! Wann?“ „Um vier Uhr früh.“ „Was?“ „Ja, um vier Uhr. Herr Chvalina hat zuerst gedacht, es sei ein Besoffener. Aber dann hat er begriffen, daß das ein Fachmann ist. Er hat beschworen, daß er ihm nicht erlaubt hat, auch nur einen Klumpen Erde anzufassen. Aber der Herr Doktor hat von sich aus nichts angerührt. Hat sich nur gewundert, genauso wie wir alle, daß die Grube schräg ist. Er läßt Sie grüßen, der Herr Doktor Soudek, und läßt Ihnen ausrichten, daß er Ihnen das gönnt.“ „Und einen Brief hat er nicht dagelassen oder …“ „Nein. Und das ist, Frau Doktor, erlauben Sie, daß ich Ihnen vorstelle, der Herr Magister Maizl.“ Sie sagte, es freue sie. „Ja, und dann hat mir der Herr Chvalina gesagt“, fuhr Herr Urban fort, „daß in der Nacht der Herr Doktor Johan bei ihm war. Bis halb drei sind sie hier zusammengesessen.“ „Hatten sie sich so viel zu erzählen?“ „Nein, Karten haben sie gespielt. Siebzehn-und-vier. Der Herr Schriftsteller hat um die zweitausend Streichhölzer verspielt.“ Der Magister lächelte. „Es tut mir sehr leid, daß ich Sie belästige. Ich bin nämlich Numismatiker. Sammler … nach meinem Vater.“ „Aber hier gibt es nichts zu verkaufen.“ „Natürlich.“ Sie stutzte. „Ach so … Verzeihung.“ Sie lief rot an. „Ich bin ein bißchen zerstreut. Also Sie sind der Besitzer dieser berühmten Sammlung der Familie Maizl. Selbstverständlich kann ich Ihnen alles zeigen und erklären. Aber wie haben Sie davon erfahren?“ 52
Er stieg, ihr folgend, vorsichtig in die Grube hinab. „Mich hat gestern abend der Doktor Železný informiert. Und dem hat es zweifellos der Herr Doktor Sultán mitgeteilt …“
19 Als sich das grünäugige Mädchen überzeugt hatte, daß der Magister Maizl mit dem Wagen im Dorf verschwunden war, verlangsamte sie ihren Gang, ließ die Schultern hängen und schlenderte gemächlich weiter. Dabei blickte sie auf die Schuhspitzen, auf ihre Zehen, an denen sie gestern so sorgfältig die Nägel lackiert hatte. Auf ihre braunen Beine. Die Frau Doktor Janovská nahm sie eigentlich gar nicht wahr. Sie hatte genug eigene Sorgen. Sie gelangte auf eine Wegkreuzung und sah sich um. Der Weg, den sie einschlagen sollte, führte nach links. Geradeaus ging es in einen Hohlweg. Und selbst wenn sie gewußt hätte, daß dieser Hohlweg tausend Jahre alt war und auf die Akropolis der berühmten Burgstätte führte, hätte sie das nicht interessiert. Sie blieb stehen, und ihre Augen weiteten sich überrascht. Blind kramte sie in der Handtasche und setzte sich die Brille auf, um sich zu vergewissern, daß sie sich nicht irrte. An der Schautafel aus Mosaik, auf dem eine Aufschrift zu sehen war, stand ein alter Herr, zwischen den Knien hielt er sein Sakko, in der Linken hielt er ein Fläschchen mit Nagellack, in der Rechten die weiße Schraubkappe mit dem Pinselchen, und damit veränderte er die Zahl Fünf in eine Sechs. Er war fertig, schraubte das Fläschchen zu, trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten, und war 53
sichtlich zufrieden, steckte das Fläschchen in die Tasche des Sakkos, warf sich dieses über die Schulter und hielt es mit dem Zeigefinger am Aufhänger fest. Er schritt aus, und als er sie erblickte, stutzte er. Er grinste, zwinkerte, und das war die schönste Grimasse von Schalkhaftigkeit. Sie begriff, nahm die Brille ab und kniff verschwörerisch ein Auge zu. Zufrieden nickte er. Er verbeugte sich altmodisch und ging an ihr vorbei ins Dorf. Diese Verschwörung – obzwar sie nicht wußte, warum, und nicht ahnte, um was für eine Verschwörung es sich eigentlich handelte – verwirrte ihren Sinneszustand. In die Nase drang ihr Lindenduft. Sie suchte den Baum, er stand ein paar Schritte von ihr entfernt. Die Sonne hörte auf zu blenden, sie wärmte. Sie ging weiter auf die Flußmündung zu. Düstere Gedanken stiegen auf und umkreisten den im Dorf parkenden silbernen Fiat Mirafiori.
20 Magister Maizl zog sich die Hosenbeine hoch und hockte sich hin. „Unglaublich, Frau Doktor. Unglaublich! Darf ich mir einen anschauen?“ Sie griff in die Tasche. „Die nicht. Ich möchte gern, daß alles so bleibt, auch in dieser Unordnung. Ich hab’ hier drei, die der Herr Chvalina aufgehoben hat. Habe sie grob gesäubert.“ Sie legte ihm die Denare auf die flache Hand. Dunkelgraue Plättchen. Er versuchte, die Prägung zu entziffern. „Erlauben Sie, Herr Magister“, erschallte es über ihnen, „hier ist eine Lupe.“ 54
Sie blickte auf. Der Archivar Sadílek stieg in die Grube. Vlastimil Brožek, der junge Mann, dessen Gesicht an einen durchgebackenen Kartoffelpuffer erinnerte, folgte ihm. Er musterte ungeniert Frau Janovská. Sie interessierte ihn mehr als die Denare. „Doktor Železný“, flüsterte der Archivar beim Anblick des Depots, „hat nicht gelogen. Das ist enorm. Schauen Sie, Vlastík. Wirklich Hunderte. Tausende. Zweitausend. Was meinen Sie, Herr Magister? Sie haben von Ihren Sammlungen die Übersicht.“ Der Magister zuckte die Achseln. „Kommen Sie, wollen wir wetten“, schlug der Archivar Sadílek vor. „Wessen Schätzung der wirklichen Zahl am nächsten kommt, der kriegt von den übrigen eine Flasche Kognak. Also wieviel schätzen Sie?“ wandte er sich an Herrn Urban. Dieser zuckte die Achseln. „Wer kann das wissen? Sechzehnhundert.“ „Sechzehn. Gut. Frau Doktor?“ „Achtzehnhundert.“ „Gut. Herr Magister?“ „Zweitausendfünfhundert.“ Sadílek wandte sich an Vlastimil Brožek. „Und Sie, Vlastík? Wieviel?“ „Zweitausendsiebenhundert“, sagte Vlastimil Brožek. Der Archivar faltete die Hände. „Wenn Sie recht hätten, bei den heutigen Preisen … Das ist in der Tat ein gewaltiger Reichtum. Ein realer Reichtum.“ Im Geiste rechnete er: „Zwei-, dreihunderttausend. Was meinen Sie, Herr Magister?“ „Das ist allerdings ein theoretischer Preis, Herr Archivar. Sie gehen von dem üblichen Preis für einen Denar aus, und den multiplizieren Sie. Sie lassen außer acht, daß es sich hier um eine komplette Sammlung aus einer bestimmten Zeit handelt, die noch genauer be55
stimmt werden wird, und daß darunter Unikate sein können. Dadurch erhöht sich der Preis beträchtlich.“ Herr Urban blickte fragend Frau Doktor Janovská an. „Das ist mir klar, Herr Urban“, sagte sie. „Deshalb wachen wir ja. Es wäre schön, wenn Sie und Herr Chvalina bis Montag durchhalten würden. Vormittag wird dann immer jemand von der Forschung hier sein und nachmittags eine von den freiwilligen Helferinnen und abends möglicherweise noch der Herr Nosek oder Švehla.“ „Ich habe mit ihm gesprochen. Er hat sich für morgen ab Mitternacht angemeldet.“ „Wann werden wir den ganzen Schatz sehen können?“ fragte der Archivar Sadílek. „Ich meine, wenn er gehoben ist.“ „Das weiß ich leider nicht, meine Herren. Am Mittwoch früh wird das Depot in Gegenwart der Kommission gehoben. Dann fahre ich damit ins Institut. In einem Monat vielleicht.“ Svatopluk Sadílek faltete die Hände und neigte den Kopf. „Werden wir uns anmelden dürfen?“ „Das werden Sie müssen“, sagte sie lächelnd, und das Lächeln stand ihr, „um den Sieger zu feiern. Den Sieger in dem Wettbewerb um die Menge und den Preis.“
21 Der Weg zur Flußeinmündung, auf dem sie dahinschritt, war ungepflastert, aber der Sand und die Erde waren fest, nirgends eine Pfütze. Aus der Ferne hörte man einen Zug, während der Lärm von der Straße E 12 nicht bis hierher drang. Vielleicht deshalb, weil zwischen diesem Weg und jener Straße dieser kleine Hügel aufragte, von so gewaltigem historischem Wert, daß es Doktor Sultán gelungen war, ihn als Nationales Kulturdenkmal durchzusetzen. 56
Wovon sie allerdings keine Ahnung hatte. Ihr fiel eher ein, wie dumm sie doch gewesen war, daß sie sich nicht den Badeanzug mitgenommen hatte. Das Häuschen des Fährmanns an der Flußeinmündung hätte mit Fug und Recht Bruchbude genannt werden können. Aber es war von alten Pflaumenbäumen umgeben, von krummen Apfelbäumen und Aprikosen; das verlieh ihm einen gewissen Reiz, und das den Schornstein verlängernde und mit Draht wie ein Sendemast festgezurrte Blechrohr hätte anderswo fürchterlich ausgesehen; hier jedoch wirkte es malerisch. Der Fährmann fuhr mit seiner Fähre nicht über die Elbe, sondern über die Surina an der Stelle, wo sie in die Elbe mündete. Von Ufer zu Ufer war ein Drahtseil gespannt. Es waren übrigens nur ein paar Meter. Ihr kam der Gedanke, daß der Fährmann überflüssig war. Man hätte ein paar Bohlen auslegen und zu einem Steg verbinden können. Hier endeten die Felder und Wiesen. Am anderen Ufer der Surina und auf der anderen Elbseite erstreckte sich ein Auenwald, ein Naturschutzgebiet. Hinter der Flußeinmündung war ein kleiner schwimmender Anlegesteg. Am Ufer standen alte Kastanien, unter ihnen Tische und Stühle. Dahinter ein mit lustigen Farben gestrichener Holzbau:
Restaurant zur Mündung Der Weg führte sowohl um den Sitzplatz unter den Kastanien als auch um das Restaurant herum. Hier war er asphaltiert. Dahinter, hinter Büschen, sah man die Blockhütten des Campingplatzes. Und die Wiese, um die herum sie aufgestellt waren. Was sie da sah, erinnerte sie einerseits an den Magister Arnošt Maizl, den sie auf dem Weg hierher fast vergessen hatte, und andererseits bestätigte es sie bestimmt 57
und mit definitiver Gültigkeit darin, daß sie ein Narr war und ist, wenn sie sich einbildet, er würde sie jemals heiraten, nur weil sie sich mit Sonnenöl einschmiert, um braungebrannt auszusehen, und sich schmückt. Die Leute, die draußen saßen, bedienten sich selbst. Sie stiegen eine kleine Treppe zum Fensterchen des Ausschanks hoch. Sie erhielt ihr Tonic und fragte, ob Zimmer auf den Namen Čtvrtečková bestellt seien. „Wir haben keine Zimmer“, erwiderte die pausbäckige Frau in dem punktierten Kleid, „nur Blockhütten, aber ich schau nach.“ Sie blätterte in einem Buch. „Ja, Čtvrtečková. Aber nur bis morgen.“ Sie bedankte sich und setzte sich auf eine Bank am Fluß. Soeben fuhr ein sandbeladener Elbkahn vorbei. Und hinter ihm ein Ausflugsdampfer. Der Kahn tuckerte den Fluß entlang, und der Dampfer legte an. Er war halbleer. Er fuhr nach Brody zurück. Nur einige ältere Leute stiegen ein. Offenbar Kurgäste, die ihren Nachmittagsspaziergang gemacht hatten und nun in ihre Heime zurückkehrten. Auf dem Heck saßen zwei recht zerlumpt, aber sauber gekleidete junge Burschen. Die Schönheit der Natur, die von beiden Ufern auf sie eindrang, interessierte sie nicht. Schamlos starrten sie sie an. Und einer rief: „Kommen Sie mit zum Mittagessen!“ Sie stellte den Becher mit dem Tonic hin, stand auf, nahm den Hut ab und schüttelte den Kopf, damit die Haare frei fielen. „Warum nicht“, sagte sie und trat auf den Bootssteg.
58
22 Da er sich durch das ewige Sitzen über seinem Werk das Rückgrat ruiniert hatte, kroch er sehr vorsichtig aus dem Bett. Diesmal ging es noch mühsamer als sonst. Er hatte sich wohl beim Kartenspiel erkältet. Er vollführte die üblichen Morgenzeremonien einschließlich einer fünfzehnminütigen Gymnastik. Dann setzte er sich an den Tisch, um nichts zu vergessen, und damit nichts durch die Eindrücke verwischt würde, die ihn noch erwarteten, schrieb er auf, was er nachts erlebt hatte. Er äußerte sich nur nicht über die Art des Spiels und darüber, wieviel er verloren hatte. Letzteres schien ihm unwesentlich, und das erste fügte sich nicht ganz in die Gesamtatmosphäre des epochalen Fundes ein, dessen Zeuge er geworden war. Und dann lief er behende die Treppe hinunter in die Toreinfahrt des Gasthauses. Auf der vierten Stufe gab die Sehne im Knie nach, das Knie bog sich von selbst, der Schriftsteller Johan hielt sich mit leisem Fluchen am Geländer fest und ging in die Knie. Nun schritt er würdevoll auf den Anger. An der Parzelle, wo das Forschungsobjekt lag, hatte sich eine kleine Menschenansammlung gebildet. In ihr entdeckte er Frau Doktor Janovská und strebte also auf sie zu. Und so beachtete er den alten Herrn nicht, der sein Sakko mit dem Zeigefinger am Aufhänger über der Schulter trug. Übrigens sah der alte Herr den Schriftsteller Johan früher und trat hinter den Stamm einer Linde und dann an eine noch sicherere Stelle, hinter den Pfeiler eines alten Tores. (Übrigens wäre es angebracht, hier darauf hinzuweisen, daß dieser alte Herr, der das Gesicht von der Menschengruppe am Forschungsobjekt abwandte, über den Anger hinter die Mauer des Pfarrhausgartens schlüpfte und das Dorf Libín verließ. In der nächsten Gemeinde ging er auf den Bahnhof, kaufte sich eine Fahrkarte und fuhr davon.) 59
Frau Doktor Janovská hatte eigentlich einen wertvollen Charakter, denn sie gehörte zu den wenigen, die nicht nur rein in ihren Worten, sondern auch in den Gedanken sind. Dennoch konnte sie, als sie den Schriftsteller erblickte, den Gedanken nicht unterdrücken: Jesusmaria, du hast mir gerade noch gefehlt! Aber sie sagte: „Guten Morgen, Herr Doktor. Erlauben Sie mir, Sie den Herren vorzustellen.“ Sie überlegte, was sie mit ihnen anfangen sollte. Davonjagen konnte sie sie nicht, sie befanden sich auf öffentlichem Terrain. Der Magister Maizl entschuldigte sich, verabschiedete sich und fuhr. Sie atmete auf, einen vom Halse. Die verbliebenen Herren lärmten weiter. Mit Ausnahme des Burschen, der den Archivar Sadílek hergebracht hatte. Dieser schlenderte schweigend über den Anger. Zur Sache hatte er nichts zu sagen. Viele Male im Leben hatte ihr Doktor Sultán, ihr Lehrer und Vorgänger an diesem Objekt, geholfen. Durch eine besondere Gunst des Schicksals geschah dies auch heute. Vor einigen Minuten hatte in Libín der Personenzug aus Prag gehalten. Doktor Sultán war ausgestiegen und traf soeben am Forschungsobjekt ein. Doktor Sultán bewegte sich trotz seines gesegneten Alters erstaunlich rasch und mit kleinen Schritten. Er eilte zu Doktor Janovská, die ihm gegenüber tiefe Dankbarkeit empfand.
23 Er parkte den silbernen Wagen hinter dem Häuschen des Fährmanns. Ihn beunruhigte, daß er sie unterwegs nicht eingeholt hatte. Sie war weit und breit nicht zu sehen. Der Fährmann 60
band soeben das Boot fest. Und auf der anderen Seite verlor sich der Fußpfad auf dem Regulierungsdamm im Auenwald. „Haben Sie vielleicht vor einer Weile eine junge Dame hinübergebracht?“ „Was? Vor einer Weile? Vor ’ner Stunde etwa“, sagte der Fährmann. Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Zwei Schwestern. Meine Urenkelinnen. Was wollen Sie von ihnen?“ „Nichts.“ Der Magister Maizl winkte ab. „Gar nichts, Herr, danke schön.“ Er ging zwischen den Tischen hindurch, spazierte eine Weile am Elbufer auf und ab, fünfzig Schritte hin, fünfzig Schritte her. Dann trat er an das Fensterchen des Ausschanks. „Die Hütte Nummer fünf ist vergeben, mein Herr“, sagte freundlich die lockige, pausbäckige Frau, und ihre weißen Zähne strahlten. „Auf den Namen Čtvrtečková. Die Dame hat schon danach gefragt.“ „Wie lange ist das her?“ „Etwa zwanzig Minuten. Und dann ist sie gefahren.“ „Was? Gefahren? Wohin, womit?“ „Mit dem Schiff. Sie ist aufs Schiff gestiegen. Jemand hat nach ihr gerufen, und sie ist eingestiegen.“ „Ja …“ Er rückte sich die Brille zurecht. „Das geht in Ordnung. Ich ziehe dann allein ein.“ Er reichte ihr den Personalausweis. „Das ist Ihr Wagen, mein Herr?“ „Ja.“ „Sie müssen auf die Wiese fahren, dort ist der Parkplatz. An den Toiletten vorbei nach rechts. Aber Sie sind nicht der Herr Čtvrtečka?“ „Nein, der bin ich nicht.“ „Aber woher soll ich wissen, daß wir die Hütte für Sie reserviert haben? Wenn nun der wirkliche Herr Čtvrtečka kommt?“ 61
„Die Dame hat die Hütte auf ihren Namen bestellt.“ „Die Bestellung habe ich entgegengenommen. Gestern nacht. Und der Besteller war ein Herr.“ Sie wußte und merkte sich alles, dieser verdammte Pausback. „Das war dann wohl ihr Vater.“ „Bitte sehr. Kommt die Dame wieder?“ „Ob sie wiederkommt?“ Er stockte. „Offenbar nicht, wenn sie weggefahren ist.“ Sie zuckte lächelnd die Achseln. „Es ist von heute auf morgen. Ich bekomme zweiunddreißig Kronen. Hier ist der Schlüssel. Sie können gleich einziehen, morgen bitte bis zwei Uhr Nachmittag den Schlüssel abgeben. Wenn es Vormittag wäre, würden wir uns freuen.“ Mechanisch ging er zum Wagen. Nicht zum ersten Mal im Leben war er in eine Falle getappt. Aber das hatte sie noch nie getan. Das pausbäckige Luder hatte ihm ins Gesicht gelacht. Er hatte schon mehrere derartige peinliche Szenen erlebt, immer hatte ihn seine Nilpferdhaut geschützt. Wenigstens hatte er sich das gesagt. Aber jetzt hatte er ein komisches Gefühl im Nacken. Der Schlag war treffsicher und genau plaziert. Ihm kam gar nicht der Gedanke, nach Hause zu fahren. Er quartierte sich wie ein verblödeter Trottel in der Hütte Nummer fünf ein.
24 Es muß gesagt werden, daß Doktor Sultán zu Tränen gerührt war. „Das ist ein immenser Erfolg, Frau Kollegin“, sagte er, als er sie in ihre Unterkunft begleitete. „Jetzt werden erst Leute herkommen!“ Er rieb sich die Hände. „Sie sollten bleiben, Herr Doktor.“ „Ja, das sollte ich. Ich hab’ mein Gepäck noch auf 62
dem Bahnhof. Falls natürlich im Gasthaus ein Zimmer frei ist.“ „Ich fürchte, im Gasthaus wird kein Zimmer frei sein. Das einzige hat der Schriftsteller Johan gemietet, er will bis Mittwoch bleiben.“ „Aber, aber. Ich mag den Mann sehr. Wirklich. Könnte man ihn nicht irgendwie hinausgraulen?“ „Ich wüßte nicht, wie. Aber ich meine, es ist doch selbstverständlich, daß Sie hier wohnen werden, bei Frau Hálová, an meiner Stelle. In Ihrem alten Bett.“ „Das gehört jetzt Ihnen, Kollegin. Und mit Recht.“ Inzwischen waren sie am Ende des Dorfes angelangt. „Das hier“, und er streckte die Hand zum Burghügel aus, „wird vor allem Ihr Werk sein.“ „Ich ziehe zu Frau Marková, sie wird sich freuen.“ Sie blickte auf die Schautafel am Denkmal und lief rot an. Dort prangte wieder das Datum neunhundertsechsundneunzig. „Was haben Sie?“ Sie antwortete stockend: „Hier geistert jemand, Herr Doktor. Schauen Sie.“ Eine Weile begriff er nichts. Dann trippelte er zu der Tafel, nahm die Brille ab und setzte sie sich wieder auf. „Ein Vandale, mein Gott!“ stieß er hervor. „Ein Vandale vielleicht nicht“, sagte sie verzweifelt. „Das ist mit Nagellack gemacht. Zweimal am Tage wische ich es mit Azeton weg …“ Doktor Sultán richtete sich auf und schüttelte den Kopf.
25 Der Schriftsteller Johan langweilte sich. Er hatte nicht vermutet, daß es dazu kommen könnte, aber es war so, er fühlte sich verlassen. 63
Er hatte mit dem Archivar Sadílek und dem Burschen, der ihn hergefahren hatte, im Gasthaus gefrühstückt. Dann waren die beiden abgefahren, und er blieb allein. Gern hätte er mit jemandem gesprochen, aber es war niemand da. Als er dem Gaststättenleiter gegenüber die Rede auf den Schatz brachte, bemerkte dieser nachdenklich, aus dem Fenster auf den Dorfanger blickend: „Alles schön und gut, mein Herr, aber wir werden hier wer weiß wie lange eine Baustelle haben, und das Kino kommt nicht mehr her. Und so ist es hier mit allem, Meister. Mit diesen Ausgrabungen.“ So daß sich Boleslav Johan zu einem Spaziergang entschloß. Er strebte zuerst zur Burgstätte, ging um den Hügel herum, betrachtete das reifende Getreide darauf und lenkte dann seine Schritte zur Flußeinmündung. Er hatte gestern das Häuschen des Fährmanns und das Restaurant entdeckt. Übrigens wäre es interessant, das ehemalige Flußbett kennenzulernen. Er sehnte sich danach, eines zu entdecken. Statt der ehemaligen Flußläufe traf er an einem Tisch im Garten des Restaurants den ihm bekannten Magister Arnošt Maizl. Dieser nährte sich von einer Forelle und winkte ihm von weitem zu. „Gönnen Sie sich auch eine, Herr Doktor“, ermunterte er ihn. „Und dazu den Rulander Weißen, den sie hier ausschenken. Also trinken wir auf unsere Bekanntschaft und die schönen Entdeckungen, deren Zeugen wir waren.“ Wer den Magister nur kurze Zeit kannte, konnte nicht erraten, daß die Flasche auf seinem Tisch bereits die zweite war. Die freundliche Heiterkeit und Geselligkeit schrieb Johan dem angenehmen Charakter des Magisters zu. Und er holte sich eine Forelle und eine Flasche Rulander Weißen. 64
26 „Ja, ja“, sagte Herr Chvalina am Sonntagvormittag im Zelt in der Grube, „es wird schon verhandelt.“ „Worüber bitte?“ fragte oben Václav Klouda, der Leiter eines Antiquitätengeschäfts. „Über ein paar Tretminen für den Rand dieses Grundstücks. Weil alle Zettel, daß der Zutritt verboten ist, nutzlos sind.“ Der Baggerführer kroch aus dem Zelt. „Können Sie nicht lesen?“ „Doch, das kann ich. Aber ich bin Numismatiker“, entgegnete Herr Klouda, gekleidet in einen hellgrauen Freizeitanzug, der, obzwar gut erhalten, an so manches erinnerte. Er nahm den Hut ab und stellte sich vor. „Freut mich“, erwiderte Václav Chvalina. „Aber da sind Sie nichts völlig Neues. Wir stellen einen Extraführer für Numismatiker an. Davon waren schon Massen hier, mein Herr.“ „Wirklich?“ „Gewiß. Was wünschen Sie?“ „Wohl dasselbe wie die anderen.“ Herr Chvalina schaute nach der Sonne und zog sich das gestreifte Trikot aus. „Es wird wohl ein Gewitter geben“, bemerkte er. „Sie wollen es sich also anschauen. Ja. Und wie soll ich erkennen, daß Sie nicht nur neugierig sind?“ „Ich bin neugierig, Herr“, erklärte Herr Klouda, „und außerdem bin ich Leiter eines Geschäfts mit alten Münzen.“ „Schauen können Sie“, sagte Herr Chvalina versöhnlich. „Aber nur einen Blick. Und auf eigene Gefahr. Darauf mache ich Sie extra aufmerksam, falls Sie sich beim Runtersteigen ein Bein brechen sollten.“
65
27 Die langhaarige, schlanke Frau mit der großen Brille steuerte den Sportwagen schon mehr als hundert Kilometer. Der Mann, den es neben ihr zerrüttelte, war zwischen Lehne und Tür eingeklemmt. Mit den Füßen stemmte er sich gegen den Fußboden, und mit der rechten Hand hielt er sich am Türgriff fest. „Gut so, Viki“, sagte er und leckte sich die Lippen, als sie durch Sadská rasten und sich auf dem Bahnübergang ein bißchen vom Erdboden abhoben. „Jetzt gib Gas.“ Das Tachometer zeigte hundertzwanzig. Am Ende der Ebene hundertsechzig. Hinter ihnen lagen die Straße aus dem Böhmischen Mittelgebirge, Prag und eine riesige schwarze Wolke. Die Sonne brannte auf den Asphalt hernieder, und dieser zischte unter den Rädern. Außerdem hatte die Frau mindestens zwölf Verkehrsverstöße hinter sich. „Das ist prima“, sagte sie, als sie im Dorf auf läppische einhundertzehn Stundenkilometer herunterging, „daß wir vormittags losgefahren sind. Wie stehen wir mit der Zeit, Viki?“ Er schaute auf die Uhr: „Durchschnitt einhundertzehn, Viki.“ Entweder hatten sie den gleichen Vornamen, oder, was bei so hervorragenden Forschern, wie es Herr Doktor Reiner und Frau Doktor Reinerová waren, eher begreiflich ist, sie hatten ihre Marotten. „Aber regnen wird’s.“ „Ach wo“, sagte er zufrieden. „Ein Gewitter wird’s geben, und gießen wird’s, wie aus Kannen.“ Sie rasten an der Tafel mit der Aufschrift vorbei:
Fürs Herz ist Brody da Vor ihnen lag die Ebene, dahinter, hinter einer Kastanienallee und einem Eichenhain, mehr geahnt als gesehen, die Stadt. 66
Der rote Sportwagen machte einen freudigen Satz nach vorn. Die Verkehrspolizisten auf ihrer gesamten Fahrstrecke hatten Glück, daß sie zu Hause saßen, ihr Mittagessen verzehrten und sich erst für ihren Dienst vorbereiteten. Von der Fahrweise der Frau Doktor Kateřina Reinerová wären sie zweifellos verrückt geworden.
28 Herr Klouda stand über dem Depot und erbleichte. „Bitte geben Sie mir einen Stuhl …“ Er tastete nach dem Gartenstuhl, fiel darauf und wischte sich das Gesicht mit dem Taschentuch. „Ist Ihnen schlecht von der Hitze?“ fragte besorgt der Herr Chvalina. „Ich hab’s Ihnen doch gesagt“, erinnerte er ihn, „Sie klettern auf eigene Gefahr ’runter.“ „Mir ist ansonsten ganz gut“, hauchte Herr Klouda. Er zog aus der Tasche eine andere Brille und eine Lupe. „Ich hätte eine Bitte an Sie.“ „Die Kneipe ist gegenüber.“ „Nein, das nicht. Sehen Sie den Denar dort?“ „Gewiß. Der letzte.“ „Ich schätze sehr die Arbeit der Archäologen, Herr …“ „Ich auch. Wenn nur die Frau Doktor nicht so streng wäre. Was wollen Sie mit diesem Geldstück?“ „Daß Sie es mir mal borgen. Ich weiß, daß die Frau Doktor streng ist, aber wenn Sie mir einen dieser auf der Erde verstreuten Denare geben und ihn dann wieder zurücklegen, wird wohl nichts passieren. Da kann nichts passieren.“ Václav Chvalina zuckte die Achseln. „Das darf ich nicht.“ „Gewiß. Aber nur einen und für einen Augenblick“, 67
bettelte Herr Klouda. „Ich möchte nämlich … Das können Sie nicht verstehen.“ „Das kann ich“, entgegnete Václav Chvalina trocken. „Sie sind ein bißchen außer sich. Trocknen Sie sich die Augen, und flennen Sie nicht wie ein kleines Kind.“ Er bückte sich und reichte ihm den Denar. „Also, draufgucken und zurückgeben.“ Herr Klouda wischte mit zitternden Fingern die Münze ab. Er wechselte die Brille auf der Nase, legte den Denar aufs Knie, um ihn unter der Lupe betrachten zu können. Auf dem Marktplatz pfiffen Autoreifen, und dann verstummte der Motor. Zwei Wagentüren knallten. Man hörte, wie jemand durch das alte Forschungsobjekt kroch. „Weitere Numismatiker“, bemerkte Herr Chvalina. „Ich sollte vielleicht der Frau Doktor sagen, sie soll das hier selber bewachen.“ Václav Klouda blickte über die Schulter nach hinten. „Ich kann Ihnen versichern, daß diese zwei jungen Leute keine Numismatiker sind. Ich kenne sie alle.“ Die Reiners hielten einander noch an der Hand, so wie sie sich gegenseitig geholfen hatten, die Gräben zu überwinden. „Was meinst du, Viki“, fragte sie, „sind wir Numismatiker?“ „Ich kann dir versichern, Viki, wir sind keine.“ Herr Chvalina wußte genau, daß er gut hörte. Das waren zwei ulkige Vögel. Frau Doktor Reinerová schlug die Hände zusammen: „Um Himmels willen! Hat das Doktor Soudek gesehen?“ „Das hat er“, erwiderte Václav Chvalina. „Er war früh am Morgen hier.“ „Sehr früh?“ „Um vier.“ Reiner ging in die Hocke. „Das Gerücht hat nicht ge68
logen. Das ist ein Depot! So was werde ich nie im Leben mehr sehen.“ „Ich auch nicht, lieber Herr“, seufzte Václav Klouda. In aller Form gab er Chvalina den Denar zurück. „Legen Sie ihn bitte auf die alte Stelle. Ich danke Ihnen.“ Über ihnen dröhnte eine kräftige Stimme: „Herr Chvalina! Was habe ich Ihnen angeordnet!“ Alle schauten auf. Am Grubenrand stand Doktor Sultán.
29 Der Schriftsteller Johan verbrachte mit dem Magister Maizl einen angenehmen Samstagnachmittag und -abend. Bei Einbruch der Nacht gingen sie auf ein Gläschen nach Libín und überzeugten sich, daß der kostbare Fund gut bewacht wurde, wechselten ein paar Worte mit Herrn Urban, und Doktor Johan begleitete dann den Magister Maizl bis vor dessen Hütte auf dem Campingplatz. Er war mehr als müde, mußte sich ausschlafen, versuchte gar nicht, seine Aufzeichnungen fortzusetzen. Er war nicht allzu zufrieden. Hatte Gewissensbisse, aber zugleich neigte er dazu, die Dinge der Welt und des Lebens nicht zu ernst zu nehmen, so daß er augenblicklich einschlief. Tags darauf traf er sich mit dem Magister vor dem Mittagessen, sie speisten und entschlossen sich dann, dem Vorschlag von Doktor Johan folgend, das Terrain um Libín eingehend zu besichtigen. Sie schritten von der Flußeinmündung zum Dorf, vertieft in ein ernsthaftes Gespräch über die Probleme von Münzen, slawischen Burgstätten und Währungspolitik der ersten Přemysliden. So daß sie dem alten Herrn keinerlei Aufmerksamkeit 69
widmeten, der ihnen folgte, das Sakko über die Schulter geworfen und es mit dem Zeigefinger am Aufhänger festhaltend. Dann und wann neigte er den Kopf. Dies dann, wenn das Gespräch der beiden vor ihm nur schwach an sein Ohr drang. Vor der Schautafel am Denkmal blieben sie stehen. Vom Westen näherte sich ein Gewitter. Nichtsdestoweniger beschlossen sie, noch am Rande des Walles die Burgstätte zu umrunden. Sie schlugen den Feldweg ein. Der alte Mann stand vor der Schautafel, als studierte er sie. Hätten sich die beiden zufällig umgedreht, dann hätten sie ihn nicht sehen können, weil ihn die Tafel verdeckte. Der alte Herr schaute sich vorsichtig um. Vor dem Mittag und dem Gewitter herrschte ringsum Ruhe. Er holte das Fläschchen mit dem Nagellack hervor. Er hatte schon Praxis, so daß das Umändern der Fünf in eine Sechs nur ein paar Sekunden dauerte. An diesem Tag jedoch setzte er seinen Weg ins Dorf nicht fort. Vielleicht wegen des nahenden Gewitters, vielleicht aus anderen Gründen, jedenfalls strebte er zurück zur Flußeinmündung. Entweder hatte er Glück, oder es war sein Plan gewesen: Als er nämlich am Restaurant eintraf, mußte er nur wenige Minuten auf dem Anlegesteg warten, und schon kam das Ausflugsschiff, das nach Brody zurückfuhr. Er stieg ein, und erst als das Schiff in Brody angelegt hatte und er auf dem Marktplatz an der Statue des allbekannten böhmischen Königs angelangt war, kam ein Wind auf, und über den Himmel zuckte der erste Blitz. Zwischen dem alten Herrn und den Elementen existierte offenbar ein gewisses Abkommen.
70
30 Doktor Sultán hängte sich den Spazierstock über den Unterarm und schlug die Hände zusammen. „Der Kollege Reiner mit Gattin! Das ist ja eine freudige Überraschung! Und wer sind Sie, mein Herr? Sprechen Sie deutsch?“ „Ich bin Václav Klouda“, antwortete würdevoll der Leiter der Münzenhandlung. „Selbstverständlich spreche ich deutsch. Brauchen Sie einen Dolmetscher?“ „Nein.“ Doktor Sultán lachte. „Das ist mir nur so eingefallen. Was da jetzt für Leute herkommen! Was sagen Sie dazu, nun?“ Er beugte sich über den Grubenrand und zeigte auf das Schutzdach. Chvalina trat näher, um notfalls Doktor Sultán aufzufangen. „Vorsicht!“ Herr Klouda knöpfte sich den Hemdkragen auf und lockerte die Krawatte. „Ich arbeite schon gut vierzig Jahre in meinem Fach, Herr Doktor. Das ist der größte Fund in den letzten zweihundert Jahren. Zweifellos zehntes Jahrhundert. Ich habe mir erlaubt, einen Denar näher zu betrachten. Er scheint Malíner Prägung zu sein. Verzeihen Sie, ich muß etwas trinken.“ „Das Restaurant ist gegenüber, Herr Klouda. Und Sie, Herr Kollege? Frau Kollegin? Man hat mir gesagt, Sie können die Mitgliedschaft in der Kommission nicht übernehmen. Und jetzt sind Sie hier!“ „Nur auf einen Sprung, Herr Doktor“, erwiderte respektvoll Doktor Reiner, denn er hatte gemeinsam mit seiner Frau Sultáns Vorlesungen an der Universität gehört. „Ich lese Korrekturen, und meine Frau kriegt morgen auf dem Forschungsobjekt einen Greifbagger. Aber anschauen wollten wir’s uns. Wo ist Olga?“ „Die Kollegin Janovská“, erwiderte geheimnisvoll Doktor Sultán, „ist endlich schlafen gegangen.“ „Von wegen schlafen gegangen“, widersprach Kateřina Reinerová, „dort kommt sie doch.“ Und sie lief ihr entgegen. 71
„Es hat sie ganz schön mitgenommen“, teilte Doktor Sultán den Anwesenden halblaut mit. „Die Nerven. Wundert Sie das? Mich nicht. Ich hab’ auch die ganze Nacht nicht geschlafen.“ Und er wandte sich Doktor Janovská zu: „Liebe Kollegin, auf die Art werden Sie bis Mittwoch zusammenbrechen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Gleich gibt’s ein Gewitter, und da könnte uns hier alles einstürzen. Wenn es einen tüchtigen Guß gibt und die Grabenwand wegrutscht …“ „Die rutscht nicht weg“, versicherte aus der Grube Herr Chvalina. „Dort hab’ ich eine Rinne gegraben, und hier in das Loch neben dem Zelt geht ein ganzes Meer ’rein. Schlimmstenfalls wird das Zelt überschwemmt. Die Stelle aber bleibt trocken“, und er zeigte auf das Depot. Sie gingen ins Gasthaus, die Wolken im Westen türmten sich zu schwarzen Ballen, und Doktor Sultán, der mit Frau Janovská als letzter ging, flüsterte: „Ist was passiert, Kollegin?“ Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen waren gerötet, und sie zwinkerte mühsam einige Male. „Nichts“, sagte sie und schluckte. „Nichts, Herr Doktor. Nur die Jahreszahl hat wieder jemand verändert …“
31 Von Blitzen und Wasserströmen begleitet, mit eingeschalteten Scheinwerfern, so jagte das Sportauto über die Europastraße E 12 nach Westen in die Hauptstadt. Es ließ eine Wolke aufgewirbelter Tropfen zurück. Der Regen peitschte die Felder und den Asphalt. Alles Lebendige hatte sich versteckt. Herr Klouda, der auf dem Rücksitz schwitzte, war überzeugt, daß das nicht nur wegen des Regens und der Blitze so war. Alles Lebendige, so fiel ihm ein, ahnte offenbar, wer da vorüberfuhr. 72
Sie setzten den verschwitzten Herrn Klouda in Dejvice ab, lösten sich am Lenkrad ab und rasten aus Prag weiter, Richtung Nordwesten. „Hör mal“, bemerkte Kateřina Reinerová, als sie auf der Fernstraße am Flugplatz vorbeifuhren, „diese Olga hat geheult.“ „Sie braucht Schlaf.“ „Nein. Geheult hat sie.“ „Und warum?“ „Sie hat mir nichts gesagt. Eigentlich hab’ ich sie ja auch nicht gefragt.“ „Das ist der von ihrem Lehrer geerbte Romantismus. Der Herr Kollege Sultán hat bestimmt gestern abend auch Tränen vergossen.“ Sie lachte. „Zweifellos. Aber ein Schatz ist das, was?“ „Der Fund nicht nur des Jahrhunderts, sondern des Jahrtausends“, sagte er trocken. „Da wird Melíšek gucken.“ „Daß der Radimský dort noch nicht aufgetaucht ist.“ „Der glaubt es nicht.“ Auch Reiner lachte jetzt. „Halt dich fest, wir rutschen.“ Der Wagen schlitterte über den nassen Asphalt und schwankte hin und her. „Du hast recht. Der glaubt es nicht, der würde doch sonst stante pede angesaust kommen. So wie wir.“ „Ja. Nur kennt Radimský die Olga sehr wenig, aber den Herrn Doktor sehr gut. In seiner heiligen Begeisterung für die herrschende Sippe wäre er imstande, auf dem Vyšehrad die Bastschuhe Přemysls des Pflügers zu finden.“
32 Das ausgedehnte Gewitter, das über die Länder der böhmischen Krone hinwegbrauste, rückte an der Spitze einer Kaltfront vor. Nach dem Wolkenbruch 73
regnete es noch stellenweise schwach, aber schon in den Vormittagsstunden des nächsten Tages löste sich die Front auf, die Sonne begann zu wärmen, und im Restaurant Zur Mündung kam der Betrieb nach zwölf Uhr voll in Gang. Der Ausflugsdampfer, der hier nach drei Uhr anlegte, war halbleer. Etwa zehn Leute stiegen aus, zumeist Kurgäste. Unter ihnen auch der alte Herr mit der schwarzgerandeten Brille. Diesmal hatte er das Sakko an, und in der Hand hielt er einen Regenschirm. Am Anlegesteg standen jene bereit, die sich entschlossen hatten, stromaufwärts zu fahren. Es waren nur zwei. Aber sie lohnten den Anblick. Der ältere, ein Fünfziger, maß gut zweihundertzehn Zentimeter, und sein Gewicht mochte sich um die einhundertdreißig Kilo bewegen. Und als er sich am Stahlrohr des Geländers festhielt, schien es, als stütze er sich leicht auf einen Grashalm. Auf seiner flachen Hand hätte eine Gazelle stehen können. Verglichen mit ihm, war der andere ein Zwerg. Bei seinen nicht ganz zwei Metern wog der junge Mann nicht mehr als neunzig Kilo. Beide Riesen traten zurück, um dem alten Herrn den Weg freizugeben. Erstaunt schaute er sie an. Nach einigen Schritten blieb er stehen und drehte sich um. Sie schritten über den Steg, und die ganze Mole schwankte. Der Matrose, das einzige Besatzungsmitglied, dessen Aufgabe es war, das Schiff beim Anlegen festzubinden und nachher wieder loszubinden, richtete sich auf, in der Rechten hielt er das Seil wie ein Soldat das Gewehr beim Präsentieren. Sein Kommandant, der Kapitän und Steuermann oben im Ruderhaus, schob sich mit einem Finger das Mützenschild zurück. „Vorsicht, Herr Doktor“, sagte der junge Mann. „Daß Sie nicht ausrutschen.“ 74
„Gewiß, Tomášek“, erwiderte wohlwollend sein Begleiter. „Das erinnert mich an die Dschunke, mit der ich über den Gelben Fluß gefahren bin.“ Das Schiff schwankte. Der alte Herr am Ufer lächelte und ging zum Ausschank, um sich dort einen Schoppen Rotwein zu kaufen. Er kehrte ans Ufer zurück. Das Schiff fuhr bereits hinaus auf den Fluß. Er hielt das Glas in der Hand und schaute dem Dampfer nach. Die zwei standen auf dem Heck, aufs Geländer gestützt. Sie unterhielten sich, und die Leinwand über ihren Köpfen zitterte.
33 An der Wendestelle des Ausflugsschiffes, etwa drei Kilometer stromaufwärts, stand ein paar Schritte vom Ufer entfernt auf einer Kiesaufschüttung eine Holzbude aus geschwärzten Brettern. Davor Tische und Stühle. Auf den Brettern der Bude prangte eine offenbar alljährlich erneuerte Aufschrift:
Zum Hafen AUSFLUGSRESTAURANT Und darunter mit kleinerer Schrift: Bier — Wein — Limonaden — Grog Salami — Rollmöpse — Fischsalate Und darunter mit Kreide dazugeschrieben: Wasserleichen! Das Schiff legte an der Mole an, und der ältere Herr streckte den Arm aus, wie die Rahe eines Mastes: „Was meinst du, Tomášek, steigen wir aus?“ 75
„Ich denke, ja, Herr Doktor.“ „Gut, mein Junge. Wir schauen uns mal die gute Frau oder den Mann an, die hier auf dieser Landzunge die Wanderer beglücken.“ Sie stiegen aus. Der Anlegesteg aus zusammengeschweißten Stahlrohren hielt das aus. Sie suchten sich einen freien Tisch, auf den der Schatten eines Kirschbaums fiel. Aus der Bude kam ein Mann in einem Matrosenleibchen, mit einer Serviette über dem Arm. Er blieb stehen und trat dann unwillkürlich einen halben Schritt zurück. „Guten Tag, lieber Herr“, grüßte ihn freundlich der Herr Doktor. „Hätten Sie eine Flasche Rotwein da? Ich werde hier mit meinem jungen Freund eine leeren, vielleicht auch zwei. Und wenn’s etwas zum Knabbern dazu gäbe.“ „Wurst wäre da. Touristensalami, bitte sehr. Oder heiße Knacker.“ „Haben Sie einen Kühlschrank?“ „Selbstverständlich.“ „Dann bringen Sie uns Rollmöpse. In dieser Hitze, die schon einige Tag herrscht, ist jede Räucherware – soweit ich sie nicht selbst gepökelt habe – in gesundheitlicher Beziehung verdächtig. Und ein bißchen Brot, mein Herr.“ „Hörnchen wären da.“ „Also dann Hörnchen. Wir freuen uns darauf.“ Der Wirt wich in die Bude zurück, und der Herr Doktor schaute sich um. „Wir müssen uns stärken, Tomášek“, sagte er. „Vormittags eine Lesung, abends eine Lesung und …“ Er seufzte. Sein Begleiter hatte wie alle jungen Leute törichte Einfälle. „Wollen wir nicht zu Fuß zur Flußeinmündung zurückkehren, lieber Doktor? Ein Spaziergang könnte uns nicht schaden. Ich habe einen Fährmann gesehen und einen Fußpfad, der am Ufer entlangführt.“ 76
„Du hast recht, ein kurzer Spaziergang kann nicht schaden. Auch wenn ein Auenwald von Mücken wimmelt. Übrigens“, fügte er hinzu, „wurde der letzte Fall von Malaria in unseren Breitengraden, soweit mir bekannt ist, zwischen den beiden Kriegen registriert. Die letzten Fälle von Malaria. Man vermutete, daß sie durch Soldaten von den Südfronten des ersten Weltkrieges bei uns eingeschleppt wurde. Das Auftreten der Malaria ging dann bald zurück, weil die Malariamücke bekanntlich unsere Fröste nicht überlebt. Im Mittelalter war die Malaria in unseren Breitengraden selten. Nicht aber die Lepra.“ Der Mann im Matrosenleibchen brachte ihnen die Teller mit den Rollmöpsen. Er hatte die letzten Worte mitgehört. „Ich habe nicht verstanden, bitte. Noch ein Wunsch?“ „Wir haben von der Lepra gesprochen, lieber Freund“, teilte ihm freundlich Herr Doktor Bouček mit. „Ihr Auftreten bei uns wurde offensichtlich durch die strengen Quarantänemaßnahmen völlig eingedämmt, wie sie übrigens schon seit alters bekannt sind und im Mittelalter in unseren Ländern durchgängig appliziert wurden.“ Der Mann leckte sich die Lippen. „Jawohl, bitte. Gleich bringe ich den Wein.“ „Das wäre gut“, sagte zufrieden der Herr Doktor.
34 Der alte Herr trank im Garten des Restaurants Zur Mündung in Ruhe und Wohlbehagen seinen Schoppen Wein. Er griff an die Tasche, um sich zu überzeugen, daß das Fläschchen mit dem Nagellack an Ort und Stelle war. Langsam schritt er aus. Vorbei am Haus des Fährmanns, auf dem vertrauten Weg längs der leicht 77
erhöhten Regulierung, an den Schneebeerbüschen vorbei und weiter zu dem Hügel, auf dem einst die Burg gestanden hatte, nach Libín zu seiner Schautafel. Junge Leute auf Fahrrädern überholten ihn, dann ein Personenauto, ein anderes fuhr ihm entgegen, es hüpfte über die Schlaglöcher, und aus den Pfützen, die nach dem Gewitter zurückgeblieben waren, spritzte der Schlamm. Der Fahrer fuhr etwas zu schnell, und deshalb trat der alte Herr bis hinter den flachen Straßengraben zurück. Nach fünfundzwanzig Minuten gemächlichen Ganges gelangte er an das Denkmal. Er verwandelte, wie eine geduldige Ameise, die Zahl Fünf in eine Sechs. Er trat zurück, beschaute sich sein Werk, machte munter auf dem Absatz kehrt und marschierte los, diesmal wieder durch das Dorf Libín.
35 Die Mädchen sprachen sich beim Mittagessen untereinander ab. Sie waren fünf, von einer Oberschule aus Pilsen. Sie waren am Morgen gekommen, sollten bis drei Uhr an der Schutzuntersuchung im Garten der Mareks mithelfen. Herr Marek wollte sich eine Garage und eine Terrasse bauen. Sie verabredeten, daß von drei bis fünf im Zelt am Schatz Iveta wachen sollte, von fünf bis sieben Mirka, von sieben bis neun, das heißt nach dem Abendessen, alle, um auf den Herrn Urban zu warten. Eigentlich verabredeten sie das nicht, sondern auf Iveta und Mirka fiel das Los, Streichhölzer ohne Köpfe. Und die übrigen gingen baden, Mirka nur bis halb fünf. Ein paar Minuten vor fünf war sie schon an Ort und Stelle. Mit einer Decke und einem Buch unterm Arm. Sie 78
stieg hinab in die Grube. Das gestrige Gewitter war heftig gewesen, aber zum Glück war im Gebiet von Libín nicht viel Wasser vom Himmel gefallen. Das meiste war schon eingetrocknet. In den Löchern des alten Forschungsobjekts waren kleine Pfützen, eine auf dem Grubenboden neben dem Zelt. Mirka zuckte die Achseln, als sie Iveta nicht im Zelt vorfand. Sie rief, aber niemand meldete sich. Das umgekippte Tischchen stellte sie wieder auf. Sie rief abermals. Niemand meldete sich. „Iveta, mach keinen Quatsch! Versteck dich nicht!“ Nichts. Sie legte die Decke und das Buch auf das Tischchen. Dann kehrte sie zu dem alten Forschungsobjekt zurück und guckte in alle Vertiefungen, auch in das Loch unter der Destruktion der Mauer aus dem zehnten Jahrhundert. Von Iveta keine Spur. Sie setzte sich auf den Klappstuhl, schüttelte den Kopf, um die nassen Haare zu lockern, kämmte sie mit den Fingern durch und langte nach dem Buch. Damit gerieten die Schieferplatte und der Tonkrug darunter in ihren Blickwinkel. Sie stutzte. Ihre Hand blieb auf dem Buch liegen. Sie beugte sich vor. Sprang auf und kniete sich in den Schlamm am Rande des Schutzdaches. Sie schlug die Hand vor den halboffenen Mund, aus dem gegen ihren Willen ein Stöhnen drang. Sie achtete überhaupt nicht darauf, daß sich ihre Knie in den Schlamm bohrten. Denn jetzt sah sie bereits deutlich, daß das Gefäß unter der Schieferplatte, dieser alte, gesprungene Topf, leer war. Ausgeraubt. Ein paar schmutzige Münzen lagen im Schlamm ringsherum.
79
36 Zwei Männer schritten durch den Auenwald. Der Fußpfad wand sich ein paar Meter vom Flußufer entfernt dahin. Immer wieder mußten sie eine Pfütze oder eine schlammige Stelle umgehen oder drüberspringen. Das Ungeziefer war wieder getrocknet und hatte seinen Reigen eröffnet. Der Abend nahte, und die Mücken machten sich ans Werk. Der Pfad führte über ebenes Gelände, und darauf zu gehen war gewiß nicht anstrengend. Nichtsdestoweniger zeigten beide eine mehr als gesunde Röte. Teils von der Sonne, die, als sie auf dem Heck des Schiffes standen, ihre wenig vom Wetter gegerbten Gesichter verbrannt hatte, zum Teil von den Mühsalen des Marsches, und das Getränk, das sie genossen hatten, hatte dieser Röte zusätzliche Stärke verliehen. Der junge Mann zerklatschte auf der Stirn eine Bremse, beschaute sie sich angeekelt und warf sie weg. „Der Weg ist anstrengend für Sie, lieber Bartoloměj“, sagte er. „Wir hätten lieber mit dem Schiff fahren sollen.“ „Abenteuer findest du nicht in Büchern, sondern im Leben, lieber Tomášek“, erwiderte sein älterer Gefährte, der schnaufend den beschwerlichen Marsch meisterte. „Wer zu Hause sitzt und nicht die Nase aus dem warmen Stübchen steckt, der darf nicht erwarten, einen Stern fallen zu sehen.“ „Oder ein UFO. Wieder haben sie eins über Neuseeland gejagt.“ „Woher weißt du das?“ „Es stand gestern in der Zeitung, Herr Doktor. Und auch in Mailand haben sie was Ähnliches gesehen. Wie bei uns in Hulina vor zwei Jahren. Es hatte eine grüne Fluoreszenz, wahrscheinlich die Venus, sagen die Gelehrten.“ „Grün also“, bemerkte der ältere Herr und klatschte sich auf den Nacken, wo ihn irgendein Biest gestochen 80
hatte. „Damals in Hulina sagten die Leute, das Objekt habe eine Farbe gehabt wie Glühwürmchen. Ich meine nicht den Käfer, sondern den Likör dieses Namens. Dieser Vergleich ist um so interessanter, als im ganzen Umkreis jenes Städtchens die Leute fast nur Sliwowitz kennen. Sliwowitz ist in der Regel wasserklar. Und Glühwürmchenlikör ist in dieser Gegend mehr vom Hörensagen bekannt. Dadurch wird die Glaubwürdigkeit der Beobachtung verstärkt. Verdammt!“ „Was ist?“ „Eine Pfütze!“ Auf Zehenspitzen balancierend, überwand Doktor Bouček das Hindernis. „Ich wollte noch bemerken …“ „Ich weiß. Die grünen Männlein des Herrn Balcar.“ „Du unterschätzt das Zeugnis des Herrn Balcar!“ „Das ist doch eine Geistersehergegend. Ganz Nordböhmen!“ „Der Herr Balcar“, belehrte ihn der Doktor, „ist nicht aus Nordböhmen, sondern aus Nordostböhmen, konkret aus Starkov, was ein entzückendes Städtchen am Rande des Habichtsgebirges ist. Dort existierte niemals die Tradition der Schwarmgeister unserer Berge. Übrigens hat Alois Jirásek in seiner Chronik ‚Bei uns …‘ “ „Hab’ ich gehört, Herr Doktor. Lieber Bartoloměj, dieser Balcar gehört in eine Heilanstalt.“ „Mitnichten. Ich habe mit ihm gesprochen. Ich bin zwar kein Psychiater, aber einen Irren würde ich erkennen. Verdammt! Das war eine blöde Idee, zu Fuß zu gehen. Wer hat sich diesen Blödsinn ausgedacht?“ „Ich, Herr Doktor.“ „Und abends soll ich mit meinen Lesern plaudern! Ich werde müde und erschöpft sein. Du wirst für mich reden, mein Junge.“ „Die Leute kommen, um vor allem Sie zu hören.“ „Nicht so bescheiden, mein Junge. Du erzählst von deinen Kosmonauten und all den Narreteien drum herum.“ 81
„Das sind keine Narreteien.“ „Sind es“, unterbrach der Doktor. „Einfälle! Prognosen! Konzeptionen! Darin sehe ich den Sinn eines Querschnitts durch die Wissenschaft und Geschichte. Herrgott noch mal!“ schrie er. „Ja, Herr Doktor?“ „Eine Mücke. Sieh da, ein Wirtshaus. Zur Mündung. Aber überm Wasser. Wir sind schon da. Werden wir schwimmen müssen?“ fragte er und zeigte auf die Surina, die von Libín her in die Elbe einmündete. „Nein“, antwortete er sich selber mit einem Seufzer der Erleichterung, „ich sehe das Haus und den Nachen des Fährmanns.“ Der Doktor gebrauchte unwillkürlich, vielleicht auch aus Gewohnheit, dichterische Übertreibungen. Das Vehikel des Fährmanns, gezeichnet von vielen Unwettern, einen Nachen zu nennen, das war zweifellos übertrieben. „Ich bin naß wie eine gebadete Katze“, erklärte der Doktor. „He! Fährmann!“ rief er wie der Ritter Bajaja am Schwarzen See. Der alte Fährmann kroch aus der Glasveranda seiner Bruchbude und schlurfte herunter zu dem Steg, der eine Anlegemole ersetzte. Erst dort blickte er auf und spähte herüber ans andere Ufer. Er runzelte die Stirn und schärfte seinen Blick. „Euch setz’ ich nicht über!“ schrie er über die paar Meter Wasser. „Wir würden absaufen!“ Er winkte ab. „In Libín ist eine Brücke!“ „Wie weit ist es bis dahin, guter Mann?“ fragte Doktor Bouček. „Einen Katzensprung. Zwei Kilometer. Für Kerle, wie ihr es seid, ein Garnichts. Mein Boot würde untergehen.“ „Das ist kein Boot“, flüchtete sich Doktor Bouček zur Realität, „sondern ein zerfallener Seelenverkäufer. Wozu sind Sie eigentlich da, Alter?“ 82
„Um Leute überzusetzen“, erwiderte der Fährmann. „Aber normale Leute.“ „Was denn?“ Tomáš Coufal breitete die Arme aus. „Sind wir denn nicht normal?“ „Natürlich nicht“, sagte der Alte voller Abscheu, „ihr seid Artisten aus einem Zirkus. Riesenmenschen.“ „Mann!“ brüllte Bartoloměj Bouček, daß die Bäume zu seinen Häupten aufrauschten. „Vorsicht! Wir können schwimmen!“ Der Fährmann hustete sich aus und warf die Zigarettenkippe ins Wasser. „Höchstens einzeln! Aber sehr vorsichtig einsteigen! Ich will nicht dieses Boot verlieren. Ich bin Rentner“, fügte er versöhnlicher hinzu. „Das ist meine einzige Aufbesserung der Rente, meine Herren. Für ein neues Boot hab’ ich das Geld nicht.“ Und er hopste auf die Fähre.
37 Der alte Herr, in dessen Tasche das Fläschchen mit dem Rest Nagellack steckte, schob sich hinter dem Stamm der Linde hervor. Hinter ihm ragte die Mauer des Pfarrgartens auf, vor ihr stand eine einfache Holzbank auf zwei in die Erde gerammten Pfählen. Auf diese Bank setzte er sich. Zwischen ihm und dem Dorfanger, der für ihn zur Bühne geworden war, stand außer einer weiteren Linde der Wagen des Schriftstellers Johan. Frau Doktor Janovská hastete ins Gasthaus. Sie rief Doktor Sultán zu: „Man hat’s gestohlen!“ Und sie zeigte zum Forschungsobjekt. „Ich lauf telefonieren!“ „Wohin?“ rief er verzweifelt. Der alte Herr auf der Bank schüttelte den Kopf. „Zur Polizei!“ „Jesus Christus!“ stöhnte Doktor Sultán und rannte 83
los zum Fundort. Er sprang über die Schlaglöcher und verschwand hinter einem Haufen ausgehobener Erde in der Grube. Aus dem Wirtshaus kam im Trainingsanzug Boleslav Johan gelaufen, er trabte zu seinem Wagen. Der alte Herr duckte sich. Aber der Schriftsteller war viel zu beschäftigt, als daß er ihn bemerkt hätte. Nervös schloß er die Wagentür auf, es ging nicht gleich, der Schlüssel klemmte, leise fluchte er. Als es ihm endlich gelang, den Wagen zu öffnen, streckte er sich über den Vordersitz und kramte im Handschuhfach. Hätte er aufgesehen, dann hätte er jenem alten Herrn auf der Bank direkt ins Gesicht geblickt. Der Schriftsteller Johan hatte keinen Sinn dafür, den Blick zu heben. Er fand den Fotoapparat, schlug die Tür zu und rannte los zum Forschungsobjekt. „Wer hat das getan?“ fragte er das Mädchen, das den Diebstahl entdeckt hatte und nun auf dem Gehsteig vor der Tafel ACHTUNG FORSCHUNG stand und schniefte. Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht … Iveta ist verschwunden.“ „Wer ist Iveta?“ „Iveta … Wir gehen zusammen zur Schule. Sie hatte hier Wache, vor mir.“ „Ob sie das genommen hat?“ „Nein. Ich weiß es nicht“, erklärte sie verzweifelt. Selbst auf die Entfernung war zu sehen, wie dem Schriftsteller Johan die Hände zitterten, als er den Fotoapparat zum Knipsen fertigmachte. Aus der Grube kroch taumelnd Doktor Sultán. Seine Schultern hingen herab, und er war totenbleich. Johan richtete unbarmherzig das Objektiv seines Apparates auf ihn. Der Verschluß klickte. „Es ist weg …“, stöhnte Doktor Sultán. „Weg! Das ist Vandalismus! Kirchendiebstahl! Eine entsetzliche Besti84
alität!“ Er schwankte, und mit einem Male richtete er sich auf, streckte sich, man sah, wie er die Fäuste ballte und schwer auf den Sandhaufen niedersank. „Herr Doktor“, rief Johan, „ist Ihnen nicht gut?“ Der alte Herr hob sich von der Bank, vielleicht um zu dem unglücklichen Archäologen zu eilen. Aber ihn stoppte die energische Stimme von Boleslav Johan. „Ich bitte Sie – ja Sie!“ wandte er sich an das Mädchen und zeigte mit dem Finger auf sie (der Schriftsteller Johan mußte in seiner Jugend Pädagoge gewesen sein). „Wie heißen Sie?“ „Mirka“, antwortete sie unglücklich. „Man soll einen Arzt rufen! Laufen Sie! Und kommen Sie wieder! Gleich!“ Statt zum Gasthaus rannte sie ins Dorf. „Wo wollen Sie hin?“ rief er ihr nach. „Ins Ambulatorium! Es ist gleich um die Ecke! Ich bring’ die Frau Doktor mit!“ Der alte Herr auf der Bank begriff, daß seine Hilfe nicht benötigt wurde. Langsam setzte er sich in Bewegung. Doktor Johan hatte die Situation fest im Griff. Der Gaststättenleiter stand vor dem Restaurant und winkte jemandem zu. Dabei öffnete er das Tor, eine Frau im Kopftuch fuhr mit dem Wagen heraus, ohne nach rechts oder links zu blicken. Vielleicht aus Aufregung, vielleicht aus anderen Gründen dauerte es lange, bis sie den höheren Gang einlegte. Sie raste durchs Dorf auf die Landstraße, die nach Brody führte, und der Motor heulte wütend auf. Der Gaststättenleiter faßte sich an den Kopf. Der alte Herr machte langsam kehrt und schritt aus in östlicher Richtung. Er ging in Gedanken versunken und wirkte ein bißchen traurig. Auf der Brücke, die über den Fluß führte, blieb er stehen und beobachtete, wie das Wasser unter ihm gemächlich vorbeiströmte. Dann 85
nickte er wie ein Mensch, der sich mit dem Schicksal und dem Lauf der Dinge abgefunden hat und wünscht, daß zu dieser Resignation auch andere gelangen; und er schritt weiter auf dem Weg zum Bahnhof, wo er wie gewöhnlich den Zug bestieg, und kehrte nach Brody zurück.
38 „Fahr du als erster, mein Junge“, ermunterte an der Fähre Doktor Bouček seinen jungen Freund. „Ich bin ein alter Mann, habe schon manches erlebt, ich hab’s nicht mehr eilig“, sprach er gutmütig. „Herr“, sagte der Fährmann, „sobald Sie das Boot besteigen, setzen Sie sich augenblicklich hin. Sonst garantiere ich für nichts.“ „Gewiß“, stimmte Tomáš Coufal zu und wischte sich die Stirn. Er stieg ins Boot. Am anderen Ufer stellte er sich neben den Steg zum Wäscheschweifen (ihm schien, daß er baufällig war, die Pfähle, die ihn stützten, hatte die Fäulnis offenbar schon vorvoriges Jahr gefährlich zersetzt), verschränkte die Arme auf der Brust und beobachtete den Prozeß des Übersetzens seines älteren Freundes. Die Sonne brannte. Er spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken rann. „Binden Sie Ihr Vehikel ordentlich fest, lieber Mann“, ermahnte Doktor Bouček den Fährmann. „Auch hier am Heck. Falls man dieses Brett Heck nennen kann.“ „Ich halt’s doch mit der Hand. Hier an der Pausche. Nur nicht springen, schön langsam. Und setzen Sie sich gleich auf die Bank.“ Das Boot schwankte. „Den Schwerpunkt so tief wie möglich“, befahl sich Doktor Bouček selber. Schwer ließ er sich auf das Brettchen in der Mitte des Bootes plumpsen. 86
Eigentlich brach es nicht, sondern riß sich nur auf beiden Seiten los. Die Nägel, mit denen die zwei Leisten befestigt waren, die das Sitzbrett trugen, wurden einfach aus den Planken des Bootes gezogen, und der Passagier setzte sich auf den Boden. „Jesusmaria!“ stöhnte der Fährmann. „Ich hab’s ja gewußt, daß es mit Ihnen nicht leicht wird. Sie haben meine Fähre kaputtgemacht, Herr!“ Der Doktor hielt sich am Bootsrand fest und schaute sich sehr ruhig um. „Sie irren sich. Das Floß, das Sie Fähre nennen, hält zusammen. Nun denn, rudern Sie ans andere Ufer. Solange Zeit ist Übrigens ist der Boden hier nicht gerade trocken.“ „Es sickert ein bißchen durch“, gab der Fährmann zu. „Das wird aber gleich wieder trocken.“ Am Steg streckte er die Stange, mit der er das Boot vorwärts gestakt hatte, dem jungen Mann am Ufer entgegen. „Bleiben Sie, wo Sie sind!“ warnte er ihn. „Hier haben Sie die Stange. Treten Sie nicht auf den Steg. Ich warte auf dem Boot. Bis die Stange einen Halt hat.“ „Ich glaube, Herr Doktor“, sagte der junge Mann ermunternd, „der Steg wird unter Ihnen zusammenbrechen.“ „Leg eine Bohle drauf, Tomášek“, erwiderte Doktor Bouček ruhig. „In der Mongolei ist unter mir ein Pferd zusammengebrochen. Aber sie haben kleine Pferde. Da sollte mich so ein Steg nicht tragen?“ Glücklich stand er am Ufer. „Ich bin recht müde, habe Durst, und ich glaube, ich muß mich trocknen lassen, lieber Junge.“ „Gehen Sie da in das Restaurant, Herr Doktor“, sagte der liebe Junge. „Aber ich geh’ baden. Bin ganz durchgeschwitzt. Hier hänge ich meine Siebensachen an den Strauch, und dann komm’ ich zu Ihnen.“ „Auf dem Wasser“, sagte der Doktor, „sehe ich viele Teichrosen.“ „Dann gibt es hier bestimmt auch Wassermänner.“ 87
„Zweifellos“, sagte sein älterer Gefährte und begab sich schwerfällig zu der Erfrischung, die in Reichweite lag.
39 Sie saß am Grubenrand auf einem Stuhl, den jemand aus dem Gasthaus gebracht hatte. Es war warm, aber sie schlotterte in einem Schüttelfrost. Die Feuerwehr hatte Doktor Sultán ins Ambulatorium gebracht. Die Ärztin behauptete einstweilen, es sei nur ein Schock. Sie hatte in Brody wegen des Krankenwagens angerufen. Doktor Janovská hatte bis zum heutigen Tage gedacht, daß die Polizei mit einigen Wagen heranrast, auf deren Dach blaue Lichter blinken und die mit kreischenden Bremsen stoppen. Statt dessen kamen in aller Seelenruhe zwei sehr junge Männer in Uniform. Sie stiegen in die Grube und begutachteten den Tatort. „Und wer, meinen Sie, Frau Doktor, hat das genommen?“ „Das weiß ich nicht“, sagte sie mit schwacher Stimme, und ihr kam gar nicht der Gedanke, hinzuzufügen, was sie in einer anderen Situation und unter anderen Umständen sicherlich getan hätte: Deshalb habe ich Sie doch hergebeten, meinen Sie nicht? Die beiden schauten einander ziemlich ratlos an. „Und mehr ist nicht verlorengegangen?“ „Was mehr?“ „Eine Decke, ein Fotoapparat, ein größerer Geldbetrag …“ „Nein.“ Der eine hielt einen Denar in der Hand. „Also daraus hat der Schatz bestanden?“ „Ja.“ 88
„Und wieviel Stück waren es?“ „Weiß ich nicht. Die Kommission sollte am Mittwoch kommen.“ Der zweite nickte beschwichtigend. „Gewiß. Und können Sie uns sagen, was für einen Wert ein solches Plättchen hat?“ „Das weiß ich nicht. In Kronen?“ „Natürlich in Kronen.“ „Aber der historische Wert …“ „Ja, Frau Doktor. Aber in Kronen.“ „Genau weiß ich es nicht. Gestern war ein Numismatiker hier, eigentlich waren es mehrere. Sie sprachen von achtzehnhundert.“ „Aha“, sagte der erste. „So daß der materielle Schaden achtzehnhundert Kronen betragen würde.“ „Für einen Denar.“ „Was?“ „Ja, für einen Denar achtzehnhundert. Den Sie in der Hand halten, der hat diesen Wert.“ „Und wieviel dürften es gewesen sein?“ „Viele hundert.“ „Wieviel?“ „Mehr als zweitausend. Nach unserer Schätzung.“ Die jungen Männer schauten einander an, und der die Münze in der Hand hielt, legte sie respektvoll an ihren Platz zurück. „Du mußt den Kreis anrufen“, sagte er. „Das muß Hejna übernehmen.“
40 Der Fluß war ruhig und dunkel. Die schwarzen Rücken der Forellen verschwanden an den Ufern zwischen den Seerosenstengeln. Er atmete glückselig ein, tauchte und schwamm eine Weile unter Wasser. 89
Wasserläufer schaukelten auf den Wellen. Er drehte sich auf den Rücken und machte einige Schwimmzüge. Aufmerksam ließ er seinen Blick über die Ufer schweifen: Nein, nirgends ein Angler. Er sah weit stromaufwärts, und so weit er blickte, war alles menschenleer. Auf dem linken Ufer, unter Ahornbäumen, wo am Ufer Schneebeersträucher wuchsen, lag ein Mädchen. Er begann zu kraulen, so wie es ihm einst der Schwimmlehrer als einer Hoffnung des Schwimmsports eingetrichtert hatte. Er hatte es bald satt, ihm fehlten die Übung und Kondition. Er legte sich wieder auf den Rücken. Gegen den Himmel zeichnete sich über der Wasserfläche ein Schwarm Mücken ab. Auf dem Ufer lag immer noch das Mädchen. Auf dem Rücken, regungslos, das Gesicht mit einer Decke verhüllt. Damit ihr die Sonne nicht in die Augen schien. Aber sie kann sich doch nicht mehr sonnen, fiel ihm ein. Sie liegt im Schatten eines Ahorns. Er rieb sich die Augen. Dann drehte er sich um und spähte wieder zum Ufer. Sie schläft offenbar, und nach einer Weile wird ihr kalt sein. Er lächelte und drehte sich wieder auf den Rücken. Aber der eine Arm liegt so komisch unter ihr. Er begann zu schwimmen, entfernte sich von dem Schneebeergebüsch und dem liegenden Mädchen. Er überlegte: Das ist aber blöd, daß sie so unbequem schläft. Er hörte auf zu schwimmen. Jetzt sah er das Mädchen nicht. Aber er war sich fast sicher, daß sie nur an einem Fuß eine Socke trug. Und gleich fiel ihm ein, daß das doch Unsinn ist. Er kehrte ein paar Meter stromaufwärts zurück, um sich zu überzeugen. 90
Es war so. Auf dem Weg oben auf dem Damm flitzten auf Fahrrädern einige Jungen vorbei und schrien einander etwas zu. Sie lag am Ufer unterhalb des Weges, wo die Jungen vorbeifuhren. Und sie rührte sich nicht einmal. Er schwamm ans Ufer. Sie sah nicht gerade sonnengebräunt aus. Mit den Füßen suchte er Grund. Er stieß gegen einen Stein, der vielleicht einmal vom Ufer in den Fluß gerollt und dort liegengeblieben war. Er setzte sich darauf. „He, Mädchen“, rief er, „Sie werden sich erkälten.“ Ein paar Meter weiter links führte der Weg von der Flußeinmündung nach Libín vorbei, hinter dem Mädchen war das Rund der Schneebeersträucher, davor die kleine Wiese, ein gutes Versteck für zwei Autos. Und dann das Ufer, darauf das Mädchen, und ein Stückchen weiter links, dort wo der Weg vom Damm zum Dorf abzweigte, der Ahornbaum, der diesem Plätzchen Schatten spendete. Er mußte schlucken und wußte nicht, warum. „So stehen Sie doch auf, Mädchen …“ Er hatte es heiter und locker sagen wollen, aber es kam heiser aus seiner weiß Gott warum zugeschnürten Kehle. Er wußte, warum. Als wehte plötzlich über den Fluß ein eisiger Wind. Er hatte zwei Semester Medizin und einen freiwilligen Einsatz beim Krankentransport hinter sich. Ihr Körper war weder weiß noch gebräunt. Ihre Brust hob sich nicht unter Atemzügen. Tastend kroch er ans Ufer. Er hielt sich an einem Dornenstrauch fest, um sich hochzuziehen, rutschte aus und fiel aufs Knie. „Verdammt …“ Er stand in der Sonne, sie lag im Schatten. Und der eisige Wind fegte immer noch über den Fluß. Ihm zitterte das Kinn, er preßte die Lippen aufeinander. Bis zu dem liegenden Mädchen waren es vier Schritte, 91
und er benötigte dazu ein Menschenleben. Er brauchte gar nicht die Decke von ihrem Kopf zu nehmen. Er schaute sich um. Nichts. Stromaufwärts an den Ufern weit und breit nichts. Die grüne Wand des Auenwaldes hinter dem Fluß ragte still und ruhig auf, wie ein Zeuge, der während vieler Jahre allzuviel gesehen hat. Er wußte, daß er es tun mußte. Beugte sich vor, ließ sich auf die Knie nieder, um nicht auszurutschen und vor ihr hinzufallen. Sie hatte schwarzes Haar und mochte etwa siebzehn sein. Die Augen deutlich graugrün. Man sah, daß sie erstickt war. Etwas scheuchte einen Sperling im Gebüsch auf, er flog auf den Ahorn und tschilpte. Der junge, große Mann streckte behutsam die Hand über das tote Mädchen aus und deckte es zu. Ganz.
41 „Junge“, sagte Doktor Bartoloměj Bouček, „hat dir denn jemand die Hose und das Trikot gestohlen?“ Er saß am äußersten Tisch im Schatten und trank Wein und Mineralwasser. „Aus den Baumkronen fällt die abgekühlte Luft direkt auf uns.“ „Bartoloměj, kommen Sie mit.“ „Du bist recht blaß, Tomášek“, sagte Bouček bedächtig. „Stellen Sie das Glas hin, Bartoloměj, und kommen Sie mit.“ „Nehmen wir an“, sinnierte der Doktor, „es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit eines sogenannten doppelten Lebens. Denn vorläufig kann man die Möglichkeit einer Projektion der vierten Dimension in die unsere nicht ausschließen. Es ist überhaupt eine Frage, ob wir 92
in diesem dreidimensionalen Leben nicht ein Ableger von uns selbst und anderen im vierdimensionalen Raum sind. Der mathematische Beweis ist leicht. Übrigens ist die Existenz der schwarzen Löcher keine bloße Theorie mehr. Aber bedenke, mein Junge, daß noch niemand, obzwar es diesbezügliche Versuche gegeben hat, den ausschließlichen Beweis geliefert hat, daß man real Wesen ins Bedenken ziehen kann, wie es Wassermänner, Nixen, Elfen und dergleichen sind …“ „Herr Doktor …“ „Vergiß den Wassermann, der dich erschreckt hat, und zieh dich an.“ „Bartoloměj, stehen Sie auf und kommen Sie mit.“ Doktor Bouček zuckte die Achseln und stellte das Glas übervorsichtig auf den Tisch. „Gut, ich bin mir bewußt, daß ich dich so entsetzt noch nie gesehen habe …“
42 Er stieg über das grasbewachsene Ufer zu der Decke hinab, unter der sich die Mädchengestalt abzeichnete. Er fand eine Stelle in Höhe ihrer Hüften, um fest stehen zu können. „Das Gesicht!“ sagte er trocken. „Was?“ „Schieb die Decke vom Gesicht.“ Der junge Mann tat es zögernd. „Das genügt.“ Er sah sich um. Auf dem Weg ins Dorf fuhr ein Auto. „Deck sie ganz auf.“ Er bückte sich, stützte sich mit der Hand auf das mächtige Knie. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand, stark wie der Arm eines gesunden Säuglings, tippte er gegen die halbgeschlossene Hand des Mädchens. Die Hand drehte sich um. Unter ihr waren ein bißchen Erde und ein rundes Plättchen. 93
Der Doktor sah auf die Uhr. „Sie wurde erstickt, oder sie ist erstickt. Das ist erst ein paar Minuten her. Zehn, zwanzig, maximal eine halbe Stunde.“ Der junge Mann bückte sich, um das Plättchen aufzuheben. „Was ist das?“ „Faß es nicht an. Ich nehme an, es handelt sich um eine alte Münze. Nach Größe und Patina ein Denar. Denare begann man bei uns im zehnten Jahrhundert zu prägen, und ihr Gebrauch überdauerte zweihundert Jahre. Sie hielt ihn in der Hand.“ Er schaute sich um. „Siehst du das Brett dort? Es gehört, schätze ich, einem Angler. Bring es mir. Und das Mädchen kannst du wieder zudecken.“ Er legte das Brett ins Gras neben die Leiche und setzte sich schwerfällig darauf. „Lieber Tomášek. Lauf los und zieh dich an. Dann lauf wieder los und hol mir die Flasche und das Glas. Dann läufst du wieder zurück ins Restaurant, bittest im Ausschank die blondierte Dame, sie solle dir irgendein Destillat verkaufen. Hundert Gramm. Diese Menge kippst du in dich hinein. Auf einen Zug. Dann wirst du telefonieren. Wohin und was du sagen wirst, weißt du besser als ich.“
43 Das Büro des Restaurants war in einem Anbau hinter der Küche untergebracht und reich ausgestattet: mit einem Stuhl und einem Tisch. Mehr paßte nicht hinein. Die Frau Leiterin drängte den Schriftsteller Coufal in die Ecke an der Tür. Es gelang ihr, diese abzuschließen, sie stand in der anderen Ecke und bewachte ihn. Erstaunlicherweise konnte sie die Arme auf der Brust verschränken. Sie lächelte weniger als vorhin im Aus94
schank, wo sie ihm mit mütterlicher Freundlichkeit mitgeteilt hatte, das Telefon stehe den Gästen nur in dringenden Fällen zur Disposition. Hätte er nicht den Doppelstöckigen gekippt, würde sie ihm mehr glauben. Er hielt den Hörer ans Ohr, und zwischen seinem Kopf und der Decke hätten höchstens drei übereinandergelegte Koteletts Platz gefunden. „Polizei? Bitte, Genosse, notieren Sie … Ich rufe von der Nummer …“ Er blickte sie fragend an. „Zwanzig-sechs-fünfzehn …“ „Von der Nummer zwanzig-sechs-fünfzehn. Das ist das Restaurant Zur Mündung. Kennen Sie? Ich heiße Tomáš Coufal. Vor fünfzehn Minuten hab’ ich am Weg Richtung Libín am Flußufer die Leiche eines erstickten Mädchens gefunden. Alter etwa siebzehn Jahre. Ich erwarte Sie im Restaurant Zur Mündung.“ „Ich hab’s mir notiert“, sagte die Stimme im Hörer. „Irren Sie sich auch nicht? Aus Libín wurde uns der Diebstahl eines Schatzes gemeldet.“ „Das ist kein Irrtum, Genosse.“ „Sie sind Arzt?“ „Nein, Jurist. Haben Sie von einem Schatz von Denaren gesprochen?“ „Nein, habe ich nicht. Woher wissen Sie, daß es Denare sind?“ „Das werde ich dem Untersuchungsführenden erklären. Überprüfen Sie die Nummer!“ Er legte auf und schaute die Leiterin an. Sie hielt beide Hände vor den Mund. „Jesus“, sagte sie. „Jetzt ist es mir klar.“ „Was ist Ihnen klar?“ „Warum Sie den Doppelstöckigen auf einmal runtergekippt haben.“
95
44 Die Zeit schleppte sich dahin, aber sie hatten genug davon. Frau Doktor Janovská konnte sich die Bescherung in der Grube nicht ansehen. Sie saß oben, die beiden Polizisten unten, sie sprachen miteinander, rauchten, fragten niemanden nach etwas und warteten geduldig, als wäre überhaupt nichts geschehen. Sie hatte alle weggeschickt. Auch den Herrn Chvalina, der sich ins Wirtshaus gegenüber begeben hatte. Bei ihr war nur der Herr Urban geblieben. Er stand am Rande des Grundstücks wie der Fahrdienstleiter an Gleis drei, wo er die Durchfahrt eines internationalen Expreßzuges erwartet. Aus dem Gasthaus rief jemand, der Oberwachtmeister Šibink solle ans Telefon kommen. Herr Urban drehte den Kopf herum: „Oberwachtmeister Šibink!“ rief er. „Telefon!“ Šibink beeilte sich nicht. Unterwegs rückte er sich die Mütze gerade und knöpfte den Rock zu. Aber auf den Anger herausgelaufen kam er mit offenem Hemdkragen. Er machte einige Schritte, als wollte er zu einem Hundertmeterlauf starten, blieb jedoch stehen, zögerte kurz und kehrte um. Er erschien ein zweites Mal, in der Hand ein Glas mit einer bräunlichen Flüssigkeit. Langsam, vorsichtig, um nichts zu verschütten, bewegte er sich über den Anger. Herr Urban folgte ihm mit strengem Blick wie einem undisziplinierten Rangierer. Der junge Oberwachtmeister trat fast schüchtern an Frau Janovská heran. „Verzeihung, Frau Doktor. Ich würde mich freuen, wenn Sie mit mir zur Flußmündung fahren könnten.“ Sie hob den Blick. „Hat man’s gefunden?“ „Weiß ich nicht. Sie haben was anderes gefunden. Man wird Sie dort für eine Weile brauchen, Herr Urban wird so freundlich sein und hier auf uns warten.“ Sie stand auf. 96
„Moment, Frau Doktor …“ „Was gibt’s noch?“ Er schaute das Glas in seiner Hand an. „Ich würde mich freuen. Nämlich … Ich glaube, es wird für Sie unerläßlich sein …“ „Was?“ „Wenn Sie das trinken, bevor wir fahren.“ „Sie sind wohl nicht bei Troste, Genosse!“ Er lächelte traurig. „Ach wo. Man darf es eigentlich nicht … Aber Sie haben sich immer noch nicht ganz gefaßt, und ich fürchte …“ „Was fürchten Sie, reden Sie schon!“ „Ich gebe Ihnen den guten Rat, kippen Sie das hinunter.“ Sie nahm das Glas. „Und was ist das eigentlich?“ „Rum, Frau Doktor.“
45 Der Oberwachtmeister bog vom Weg ins Gras ab und blieb zwischen den Schneebeersträuchern stehen. Aus der hinteren Tür zwängte sich Tomáš Coufal und half Frau Doktor Janovská beim Aussteigen. „Was ist denn passiert?“ fragte sie verwirrt. Coufal zuckte die Achseln. Mit einem Glas Rotwein in der Hand richtete sich am Ufer die riesige Gestalt des Doktor Bouček auf. „Es handelt sich nur um eine Identifizierung, Frau Doktor“, sagte der Oberwachtmeister. Sie zeigte auf Bartoloměj Bouček. „Aber diesen Herren kenne ich nicht.“ „Ich bin Arzt“, sagte er. „Bartoloměj Bouček. Sie haben sie gekannt?“ „Wen?“ 97
Sie stiegen zu ihm hinab. Bartoloměj Bouček gab seinem jungen Freund mit dem Zeigefinger einen Wink, er solle die Decke zurückschieben. Tomáš Coufal zögerte erst, zuckte die Achseln, aber dann tat er es. Sie schrie nicht auf, sie fragte nur: „Lebt sie, Herr Doktor?“ „Mitnichten, Madame.“ „Ist sie das?“ fragte der Oberwachtmeister. „Iveta Svitáková?“ Sie nickte. „Ja, sie ist es.“ Doktor Bartoloměj Bouček bedeutete Coufal durch einen Wink, der Toten wieder das Gesicht zuzudecken. „Ich glaube, wir können gehen, Tomášek“, sagte er ruhig. „Mir scheint, wir werden uns betreffs der heutigen Veranstaltung entschuldigen müssen. Wann, glauben Sie, kommt der Untersuchungsführende?“ fragte er den Oberwachtmeister. „Das weiß ich nicht, Herr Doktor. Wir warten in Libín auf ihn.“ Frau Doktor Janovská atmete tief durch. „Ich muß telefonieren, muß jemanden anrufen. Ich bin allein hiergeblieben. Auf dem Forschungsobjekt und in dem allen.“ „Ich begleite Sie, Frau Doktor“, erbot sich Bartoloměj Bouček galant. „Pardon, der Herr“, stoppte ihn der Oberwachtmeister. „Ich möchte …“ „Bleiben Sie nur hier, mein Junge“, sagte Bouček und nickte ihm wohlwollend zu. „Wir haben die Angelegenheit gemeldet, und wir werden weder Ihnen noch Ihrem Untersuchungsführenden ausreißen. Wir werden im Gasthaus Zur Mündung sitzen.“
98
46 Die Decke dieses Eckzimmers der Finnenhütte war seltsam ausgeschmückt. Grundfarbe war ein helles Ocker. Fast in der Mitte war ein schräges, hellblaues Rechteck aufgemalt. Unregelmäßig rings herum waren blaßblaue Scheiben und darüber, auch in dem hellblauen Rechteck, andere unregelmäßige Scheiben in den Farben Rosa, Violett, Rot und Gelb. Drei nicht ganz komplette am Rande der Decke waren lila. Unter diesem Farbenirrsinn saß beziehungsweise fläzte sich, die Füße auf dem Tisch, Doktor Soudek. Er las in der Zeitschrift La Nuove Archeologie, rauchte, trank Tee und kraulte von Zeit zu Zeit den Schäferhund am Kopf, der neben dem Sessel schlief. „Herr Doktor!“ rief es von draußen. „Telefon!“ „Welcher Idiot …“ „Telefon!“ „Ich frage, wer dran ist!“ „Frau Doktor Janovská!“ Doktor Soudek legte die Zeitschrift weg, nahm die Füße vom Tisch, schlüpfte in die Sandalen und sagte zu seinem Hund: „Da siehst du, Antioch, schon haben wir’s. Der Herr Kollege Sultán ist vor Freude verrückt geworden. In welche Anstalt haben sie ihn wohl gebracht, den Ärmsten …“ Er ging über den Hof, der die Form eines Atriums hatte, und trat in die verglaste Halle, in der sich der Speisesaal und ein Zeichenraum für die gelegentliche Anfertigung von Plänen befanden. Jetzt lagen die Räume verlassen da, nur die Assistentin las in einem Buch und zeigte schweigend auf den Hörer. Antioch nutzte die Sitzenden und Lebenden aus. Er legte sich also zu ihr und erwartete ein Kraulen zwischen den Ohren und erreichte sein Ziel. Doktor Soudek deckte den Hörer mit der Hand zu. „Sie hätten sagen sollen, ich bin nicht hier …“
99
47 Die Gaststättenleiterin in dem gepunkteten Kleid bewachte wieder das Inventar des Büros. Doktor Janovská stand in der gleichen Ecke wie vor einigen Minuten Doktor Coufal. „Ich brauche Sie hier, Herr Doktor“, wiederholte sie eindringlich. „Ich brauche Sie sehr.“ „Gut“, sagte Doktor Soudek am anderen Ende der Leitung, die in diesem Fall sechzig bis siebzig Kilometer lang war, „aber warum, liebe Kollegin? Gut, der Herr Kollege Sultán ist im Krankenhaus. Das hatte ich vermutet. Ich habe schon vorige Woche dem Kollegen Slánský angeraten, ihm nicht alles auf einmal zu sagen. Das haben Sie freilich nicht gewußt, und auch wenn Sie es gewußt hätten, hätten Sie dennoch nicht auf mich gehört und hätten …“ Sie unterbrach ihn: „Es geht nicht um den Herrn Doktor Sultán. Ich brauche Sie hier. Sie oder einen anderen.“ „Und wen, teure Kollegin?“ „Ihren Freund.“ „Ich habe keine Freunde. Leider.“ „Also dann Ihren Feind, Herr Doktor.“ „Aber? Und welchen?“ „Sie kennen doch gut diesen …“ Sie stockte. „Also wen nun, Frau Kollegin?“ fragte Soudek mit hämischer Freundlichkeit. „Das Depot ist ausgeraubt worden. Die Münzen gestohlen. Fast alle.“ „Was? Sieh mal an! Von wem?“ „Und nicht nur das. Eine der freiwilligen Helferinnen wurde dabei ermordet, Herr Doktor …“ Frau Janovská streckte sich plötzlich sonderbar und sank zu Boden. Der Leiterin gelang es gerade noch, wenigstens den Hörer aufzufangen. Und aus dem rief es ungeduldig: „Hallo! Hallo! Verdammt …“ 100
„Verzeihen Sie, Herr“, sagte die Frau Leiterin ins Telefon, „die Dame ist ohnmächtig geworden.“ „Und wer sind Sie?“ „Hier ist das Restaurant Zur Mündung. Am Telefon die Frau des Leiters.“ „Hier Doktor Soudek. Kriegen Sie sie wieder wach? Sie schaffen es. Lassen Sie sie an was schnuppern. Aber jetzt bitte nur einen Satz, liebe Frau: Ist das, was ich soeben gehört habe, wahr?“ „Ja, Herr Doktor. Die Polizei ist schon da.“ „Na, prost Mahlzeit“, sagte Doktor Soudek und legte auf.
48 Die Assistentin unterbrach ihre Lektüre und kraulte Antioch. „Das ist sonderbar“, sagte sie. „Was?“ fragte er zerstreut. „Daß Sie’s erraten haben.“ „Was habe ich erraten, um Himmels willen?“ „Daß der Kollege Sultán vor Freude verrückt wird. Er ist doch im Krankenhaus?“ Er winkte ab und wählte eine Nummer, bestellte ein Gespräch nach Prag. „Sicher, Blitz. Sonst warte ich bis morgen früh. Meldet sich nicht? Also dann folgende Nummer“, und er diktierte: „Bitte Hausanschluß zweifünf-acht.“ Er wartete. „Hallo? Bitte, wo finde ich Kapitän Exner, hier ist Doktor Soudek, von der Arbeitsstätte des Archäologischen Instituts in Bylaves. In Opolná? In welchem? Kreis Meziboří, aha. Ich fahre hin. Wo finde ich ihn dort? Ja, das hätte mir gleich einfallen können. Danke, Genosse.“ Er legte auf. „Ich muß nach Opolná“, sagte er und ging zur Tür, die auf den freien Platz vor den Garagen führte. „Wenn mich jemand suchen sollte, dann wissen 101
Sie nicht, wann ich wiederkomme. Ich weiß es auch nicht.“ „Da wollen Sie so fahren?“ Sie zeigte auf das rohleinene Hemd, die weißen Jeans und die Sandalen an den nackten Füßen. „Ich bin doch angezogen, oder?“ „Die Frau Kollegin hat Schwierigkeiten?“ fragte die Assistentin sanft. „Ihr ist doch wohl nichts verlorengegangen?“ „Ist es. Ein Schatz.“ „Kapitän Exner“, sagte sie provokatorisch, „hat einmal erklärt, und ich war dabei, daß er keine Diebstähle bearbeitet.“ „Das hab’ ich mir auch gemerkt, liebe Kollegin. Aber in diesem Libín … wurde auch gemordet.“ Antioch jaulte kurz auf, denn die Assistentin hatte ihn unwillkürlich ins Ohr gekniffen.
49 Das blaue Licht an den Schranken blinkte geduldig. Der Wagen fuhr daran vorbei, schwankte auf den Geleisen und fuhr den sanft ansteigenden Hügel hoch. Die Sonne ging unter und hörte auf, Nacken und Kopf des Doktor Soudek zu beleuchten. Von hinten angestrahlt, ähnelte er mehr als sonst einem aufgeregten gotischen Heiligen. Die Berge am Horizont waren in Dämmerlicht getaucht. Auf einer sanften Anhöhe lag das Städtchen Opolná mit der Molkerei und dem Krankenhaus im Vordergrund und dahinter und weiter oben mit den roten Dächern der Häuser und Villen im Grün, und über ihnen, als Krone der Schönheit und Unberührbarkeit, das Schieferdach des Schlosses, gesäumt vom Grün des Kupfers; die Zierde der zisalpinen Architektur der zweiten 102
Hälfte des 16. Jahrhunderts. Der Stolz der Stadt. Staatliches Denkmal der ersten Kategorie. Doktor Soudek interessierte dieses Kleinod am Horizont nicht. Offenbar kannte er es. Er langte auf dem Marktplatz an, fuhr um ihn herum, wobei er sich umschaute, ob er nicht den bekannten Wagen von düsterer, schwarzer Farbe entdeckte. Dieses Schmuckstück – ein Erzeugnis der Autofirma Daimler-Benz vom Beginn der vierziger Jahre, ein Mercedes Cabriolet, stand jedoch nicht da. Zur Sicherheit fuhr er noch einmal um den Platz herum, dabei auch in die Seitenstraßen spähend. Statt des gesuchten Autos fand er das örtliche Polizeirevier. Er hielt davor. Es war ein warmer Abend, und die Polizeiangehörigen hatten die Fenster geöffnet. Ein Oberleutnant stand an einem Fenster, sich mit den Ellbogen auf den Rahmen lümmelnd, und bewachte zweifellos den ordnungsgemäßen Gang des spärlichen Verkehrs auf dem Platz. „Ich sehe“, sagte der Oberleutnant ungeschminkt, „daß Sie hier im Kreise rumsausen wie ein verletzter Nachtfalter. Was suchen Sie denn?“ „Einen schwarzen Mercedes. Ein Museumsstück, Herr Oberleutnant.“ „Der steht dort auf dem Hof des Hotels. Unterm Schuppendach.“ „Und wo ist der, dem er gehört?“ „Und wer sind Sie, Herr Schofför?“ „Ein Freund von ihm.“ „Und wessen Freund?“ erkundigte sich der Oberleutnant. Er hatte an dem Gespräch Gefallen gefunden. „Eines gewissen Doktors beider Rechte und Kapitäns Michal Exner.“ „Privat oder dienstlich?“ „Privat. Ich bin kein Spitzel, Herr, Pardon“, entschuldigte sich Doktor Soudek, „ich bin Archäologe.“ 103
„Lieber Herr Schofför“, entgegnete der Oberleutnant bedächtig, „ich hab’ schon paar Jahre auf dem Buckel und bin mancherlei gewohnt. Den Kapitän Exner werden Sie wohl im Schloß finden. Aber das wird bereits geschlossen sein, niemand wird Sie reinlassen.“ „Mit Fleiß und Hartnäckigkeit kann man alles erreichen“, bemerkte weise Doktor Soudek. „Kann ich den Wagen hier stehenlassen?“ „Ohne weiteres.“ Er schloß das Auto ab und lenkte seine Schritte durch ein schmales Gäßchen bergab, dorthin, woher der feuchte Geruch nach Wasser, Sumpf und Entengrütze wehte.
50 Leutnant Žák vom Kreispolizeiamt stand am Rande der Wiese, wo das Flußufer begann. Hinter ihm ragte das Schneebeergebüsch auf, ein Stückchen unter ihm lag auf der Decke das tote Mädchen, sonderbar weiß im grellen Licht der Scheinwerfer. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Nur im Westen war der Himmel noch dunkelblau. Der Techniker machte Aufnahmen. „Zerstampft das hier nicht wie die Elefanten.“ Er blickte zum Himmel und seufzte. „Am Morgen. Nicht vor dem Morgen. Jetzt würden wir alles nur versauen.“ Er wandte sich zum Hundeführer: „Also was ist?“ Der Wachtmeister zuckte die Schultern. Er zeigte auf Bartoloměj Bouček und Tomáš Coufal, die im Dunkel am Ahornstamm lehnten: „Das war die frischeste Spur. Er hat sie im Nu gefunden.“ „Die zwei Herren würde auch ich im Nu finden“, sagte Leutnant Žák bekümmert. „Versuch’s mit ihm im Dorf. Ich vermute, er wird dich in die Kneipe führen.“ „Sie müssen ein Auto gehabt haben“, verteidigte sich 104
der Hundeführer. „Sonst ist das nicht möglich.“ „Das ist fast sicher“, stimmte sanft Leutnant Žák zu. „Herr Doktor“, wandte er sich an Bartoloměj Bouček, „sagten Sie, eine Stunde?“ „Maximal eine halbe Stunde, selbstverständlich nur annähernd. Eher zehn, fünfzehn Minuten. Ich hab’ schon paar Leichen im Leben gesehen, Genosse Leutnant.“ „Sie waren Militärarzt?“ „Ich bin Oberst der Reserve.“ Es schien, als würde Leutnant Žák noch bekümmerter. „Wie geht es der Frau Doktor?“ „Ich bin nicht verheiratet“, entgegnete würdevoll Doktor Bouček. Der Leutnant schüttelte ergeben den Kopf. „Ich meinte Frau Doktor Janovská.“ „Sie wird schlafen. Der Herr Gaststättenleiter war so freundlich und hat mir aus dem Ambulatorium eine Beruhigungsspritze geholt. Und hat sie nach Libín gebracht. Sie wird schlafen.“ „Und meinen Sie, die Tote hatte das bißchen Erde und die Münze in der Hand?“ Er zeigte auf das Mädchen. „Zweifellos, Genosse Leutnant.“ „Wenn ihr fertig seid“, befahl der Leutnant seinen Untergebenen, „bringt sie weg. Die Decke laßt an Ort und Stelle. Bis zum Morgen werden wir das hier bewachen. In Libín auch. Und Sie, meine Herren“, wandte er sich an Bouček und Coufal, „halten sich bitte zur Verfügung. Bis die Genossen aus Prag kommen.“
51 Der Teich war still, glatt und dunkel wie das Schicksal. Die Wassermänner zählten die Seelen und warteten auf den Mondschein für ihren Reigen. 105
An der Mühle rauschte leise das Wehr. Doktor Soudek schritt, die Hände auf dem Rücken, durch die alte Kastanienallee, die Richtung wies ihm der helle Sandstreifen des Weges. Am Ende der Allee, dort wo sie in Schilf überging, ragte gegen den offenen Himmel das dunkle Schloß auf. Nur drei Fenster im obersten Stock des Ostflügels waren erleuchtet. Das Parktor stand offen wie immer. Er trat ein. Der Sand knirschte unter seinen Füßen. Langsam schritt er an der, den Tänzen der Elfen überlassenen, Wiese entlang zum Schloß zur weißen Treppe mit den Kegeln der Balustrade. Er blickte auf, und ihn durchzuckte es. Oben am Geländer, hoch über dem Park, an der Stelle, wohin er seine Schritte zu lenken gedachte, stand regungslos die Weiße Frau. In langem Gewand, mit lose fallendem Haar. Die Weiße Frau war eine Blondine. Sein Bart sträubte sich leicht. Ihr Haar wehte im Abendwind. Er stieg die Treppe hoch, und ohne den Kopf zu heben, sagte er: „Pardon, Madame, ich hoffe, Sie sind keine Geistererscheinung?“ „Was suchen Sie hier?“ fragte sie streng. „Man hat mir mitgeteilt, daß ich hier einen gewissen jungen Mann finden kann, der eine sonderbare Tätigkeit ausübt. Doktor Exner.“ Er stieg unbeirrt weiter hoch, bis er vor ihr stand. Sie legte sich die Hand auf den tiefen Ausschnitt – eine symbolische Geste der Schamhaftigkeit. Im Hof ging eine Tür auf. In ihrem Licht der Schatten eines Mannes. „Vera!“ „Dieser Herr …“ Der Mann trat an sie heran. „Dieser Herr“, sprach er hart, „hat hier nichts zu suchen. Das Schloß ist zu. Geh ins Haus, wirst dich noch erkälten!“ Sie drehte den Kopf herum, um den Hals für den 106
Faustschlag dieses Rohlings zu entblößen. Zu dem Schlag kam es nicht. Mit einem Kopfnicken grüßte sie Doktor Soudek, der jetzt mehr als zuvor an einen aufgeschreckten Heiligen erinnerte. Erhaben schwebte sie von dannen. Hinter ihr wehten Meter weißen Frotteestoffes einher. Doktor Soudek räusperte sich. „Was ist?“ fragte der Kerl drohend. „Das Rauchen“, erklärte Doktor Soudek trocken. „Warum sind Sie durch den Park gekommen?“ „Es ist ein schöner Spaziergang. Jetzt, in dieser linden Nacht. Ein unvergeßlicher Anblick. Der Park und das graue Bergland im Hintergrund.“ Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter. „Ich bin der Schloßverwalter und wiederhole …“ „Freut mich. Ich bin Doktor Soudek.“ „Der Archäologe?“ „Ja.“ „Sie schwatzen, Herr. Doktor Soudek ist ein hervorragender Archäologe … und …“ „Ich bin ein hervorragender Archäologe. Kenne sogar so halbwegs auch diese Lokalität, obwohl mein Fachgebiet das Neolithikum ist. Die ersten Funde hier stammen aus dem Eneolith. Hier war eine Höhensiedlung. Die meisten Funde, allerdings zerstreut, ungeordnet und lagemäßig nicht erfaßt, leider, weil die Örtlichkeit oftmals durch spätere Anbauten gestört wurde, stammen aus der mittleren und jüngeren Burgstättenzeit. Die slawische Burgstätte, die offenbar hier in der Mitte des Hofes begann und in dem natürlichen Abhang endete, der vom Rande des Glashauses in dem französischen Park zur Katasternummer einundzwanzig führte. Drei erhaltene Gefäße Prager Typs, Spindeln …“ „Verzeihen Sie, Herr Doktor“, sagte der Mann sanfter, und seine Bartenden sanken herab. „Meine Frau hat zuweilen sonderbare Einfälle.“ 107
„Jede Frau, mein Herr. Wo ist der Bursche?“ „Er wird oben bei Erich Murš sein. Er hat mir von Ihnen erzählt.“ „Wer? Dieser Gendarm? Der hat sich das getraut?“ „Nein, Erich Murš. Ein Student. Er besucht Ihre Vorlesungen. Kommen Sie bitte, ich mache Ihnen Licht auf der Treppe. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock Achtung, da steht ein ausgestopfter Bär.“ „Beißt er?“ „Die Glühbirne brennt nicht. Hier lang.“ Doktor Soudek stieg in den zweiten Stock, und unterwegs tätschelte er dem Bären den Rücken. Er strebte zur Tür des Depositoriums, woher ein lautes Gespräch zu hören war. Energisch öffnete er die Tür. Es war ein geräumiges Zimmer, fast ein Saal, mit Balkendecke. An drei Seiten Fenster, in der Mitte Regale mit den Schloßsammlungen. Am anderen Ende des Saales stand ein Schreibtisch, und um ihn, bei Gläsern und einer Flasche Wein, saßen: ein kahlköpfiger Mann in mittleren Jahren, der eine Brille mit dickem schwarzem Rand trug, offenbar ein Intellektueller; ein schlanker, junger Mann, augenscheinlich ein Student, der, als Doktor Soudek eintrat, die Augen aufriß und langsam aufstand, verblüfft, als träte ein Gespenst ein; ferner ein junger Mann in blauen Hosen, die Beine hatte er übereinandergeschlagen. An den Manschetten seines dunkelblauen Hemdes glänzten goldene Manschettenknöpfe, auf der Hemdtasche war eine goldene Krone eingestickt. Und schließlich noch ein Mädchen, langhaarig und unbestreitbar schön. Sie glich der Jungfrau Maria von den Heiligenbildchen, die auf Jahrmärkten verkauft werden, denn sie hatte fast schwarzes Haar und blaue Augen mit einem heiligen Glanz. Aber allzuviel Heiliges war, wie Doktor Soudek sogleich bemerkte, nicht an ihr. Es ging nicht um die Bekleidung, die bei weitem nicht lose und fallend war. 108
Es ging auch nicht darum, daß sie barfuß war (ihre Schuhe standen unterm Tisch), sondern mehr um die Tatsache, daß sie den einen nackten Fuß gegen die Wade des Mannes in der hellblauen Hose stemmte, und das offensichtlich und schamlos. Soudek trat schweigend an den Tisch heran. Er griff nach der Weinflasche und schnupperte daran. Zufrieden nickte er. Er suchte und fand ein leeres Glas. Der junge Mann stand bereits, und sein offener Mund stieß einen undeutlichen Seufzer aus. Doktor Soudek schenkte sich ein. Er goß noch ein bißchen dazu und nahm einen bedächtigen Schluck. Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Um Himmels willen: Das ist eine Sinnestäuschung! Seht ihr die Erscheinung? Siehst du sie, Lída?“ „Ich sehe sie“, sagte das Mädchen, und ihre weißen Zähne strahlten. „Aber ich kenne sie nicht.“ „Ich bin Doktor Soudek, mein Fräulein. Erich“, befahl er dem entsetzten Jüngling, „begrüß deinen Lehrer!“ Erich Murš gehorchte. „Aber wie kommen Sie hierher, Herr Doktor?“ „In meiner Freizeit, deren ich nur wenig habe, kann ich Ausflüge auch zu anderen Lokalitäten machen, oder etwa nicht“, wandte er sich an den Stutzer in Blau, „Herr Doktor beider Rechte, Kapitän Michal Exner?“ „Gewiß“, antwortete der Angesprochene lächelnd. „Aber mein Erschrecken wird Sie noch viele durchwachte Nächte kosten.“ „Leider, zweifellos.“ Doktor Soudek blickte versonnen auf den Rotwein in seinem Glas. „Ich bin ziemlich beunruhigt, Herr Kapitän. Die Kollegin Janovská ist allerdings noch schlimmer dran.“ „Und worum geht es?“ interessierte sich Kapitän Exner. „Jetzt schläft sie, weil man ihr eine Spritze verpaßt hat. Ein sonderbarer Fund. Und Verlust, Herr Kapitän. 109
Man hat mich in Bylaves angerufen. Dann habe ich ein bißchen telefoniert, und man sagte mir, Sie seien hier …“ „Ich hatte Urlaub. Hier hat man mich darum gebracht. Und …“ „Sie wollten ihn erneut antreten, und …“ Doktor Soudek schaute keineswegs flüchtig und keineswegs unwillkürlich das Mädchen an. „Und in Lustbarkeiten ausruhen. Das werden Sie nicht.“ „Und ob ich das werde!“ verkündete Kapitän Exner verzweifelt. „Das werden Sie nicht“, sagte Doktor Soudek lächelnd. „Weil Sie neugierig sind. Wie ich. Und ich kenne mich und damit Sie.“ Michal Exner schüttelte den Kopf. „Ich habe schon wieder frei, verstehen Sie, Herr Doktor.“ „Mein Kapitän“, sprach Doktor Soudek und legte ihm die Hand auf den Unterarm, um ihn am Trinken zu hindern. „Genug getrunken, mein Kapitän. In Libín hat man vergangene Woche den Schatz des Jahrhunderts gehoben. Hunderte Denare. Am Freitag. Heute hat man am Ufer der Elbe bei Libín ein totes Mädchen gefunden. Sie lag auf dem Gemeindegebiet statt der Denare. So“, sagte Doktor Soudek, nahm Exner das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch, „jetzt stehen Sie auf, Herr Doktor, Sie werden mir auf den Marktplatz dieses Städtchens folgen müssen. Dort steigen Sie in meinen Wagen und fahren mit mir an den Ort jenes Verbrechens.“ „Um Himmels willen!“ rief der bebrillte Intellektuelle, während sich Kapitän Exner folgsam erhob, „ein Verbrechen jagt das andere!“ Kapitän Exner sah traurig das Mädchen an und lächelte fast scheu: „Das ist Schicksal“, sagte er ergeben. Er richtete sich den Hemdkragen und die Manschetten und zeigte auf Doktor Soudek: „Und er ist mein Schicksal“, fügte er hinzu und setzte sich in Bewegung. 110
52 „Mhm …“, machte Kapitän Exner, als sie Opolná verließen und die Bahnstrecke überquerten. „Was ist“, fragte Doktor Soudek, „habe ich richtig gehört?“ „Haben Sie“, versicherte ihm Exner. „Was haben Sie damit gemeint, Herr Doktor?“ „Sie fahren mich durch die dunkle Nacht, und in mir ist so viel Disziplin und Blödheit, daß ich schweige, ich lasse mich sonstwohin an unbekannte Orte schleppen und wage gar nicht zu fragen.“ „Wonach?“ „Nach der Situation, die mich erwartet.“ „Ich war zum letzten Mal am Samstag beim ersten Hahnenschrei in Libín.“ „Das ist um wieviel Uhr?“ „Sieh mal an“, freute sich Doktor Soudek. „Schon erwacht der Gendarm. Um vier.“ „Schlaflosigkeit?“ „Genau.“ Kapitän Exner seufzte traurig. „Mein Gott, Herr Doktor! Als würden wir uns erst eine Woche kennen. Das können Sie mir doch nicht antun, das doch nicht.“ „Ja, was denn?“ wunderte sich Doktor Soudek mit Unschuldsmiene. „Sie reißen sechzig, siebzig Kilometer in der Nacht und am frühen Morgen runter, um einen Schatz zu sehen. Auch wenn vielleicht den Schatz des Jahrhunderts, wie Sie sagen.“ „Na ja“, sagte Doktor Soudek lässig, „ich sollte endlich gestehen, was?“ „Es wäre an der Zeit, Herr Doktor.“ „Slánský hat mich angerufen. Sie kennen ihn? Die Kollegin Janovská sei auf ein Depot gestoßen. Eigentlich nicht sie, versteht sich. Ein Baggerführer. Zufall und Glück. Das kommt vor.“ „Übrigens“, unterbrach ihn Kapitän Exner barsch. 111
„Und Sie? Sind Sie in Bylaves schon auf eine Begräbnisstätte gestoßen?“ „Sie sind der tausendfünfhundertdreiundachtzigste, der mich danach fragt.“ „Schon?“ „Erst. Ich habe einen Wünschelrutengänger bestellt. Nichts.“ „Sieh da. Und wie ging es weiter?“ „Wie soll es gegangen sein? Er hat nichts gefunden, obwohl er zwei Quadratkilometer abgelatscht hat.“ „Ich meine in Libín.“ „Ach so. Die Janovská wollte selbstverständlich, daß eine Kommission bei der Bergung des Depots zugegen sei. Slánský wollte, daß ich den Vorsitzenden mache, ich habe abgelehnt.“ „Warum?“ „Ich hab’ viel zu tun, keine Zeit, in der Gegend herumzukutschieren.“ „Sie lügen, Herr Doktor. Warum lügen Sie mich an?“ Kapitän Exner rang die Hände. „So’n billiger Trick, verzeihen Sie …“ „Ich prüfe Sie“, sagte Doktor Soudek streng. „Ob Sie nicht schon verblödet sind. Das passiert Berühmteren, als Sie es sind. Auch Forschern und Schriftstellern. Ja, selbst Dichtern, wie man hört. Nun ja, alles dummes Zeug, Zeit würde ich mir schon nehmen, aber Doktor Sultán liebt mich nicht. Er mag mich einfach nicht.“ „Warum das?“ „Der Herr Kollege ist echt konservativ, seine Interpretation einiger archäologischer Quellen ist zu bestechlich für schriftliche Quellen des frühen Mittelalters, obgleich es doch bekannt ist, daß diese Quellen für die Epoche, mit der sich der Herr Kollege beschäftigt, recht zweifelhaften Charakters sind.“ Kapitän Exner dachte kurz nach. „Und Sie provozieren“, sagte er hart. 112
„Ein wenig“, gab Soudek zu. „Ein bißchen. Aber weil ich ein im Kern gutmütiger Mensch bin, wollte ich ihn nicht durch meine Mitwirkung in der Kommission in Libín beunruhigen. Das werden Sie wohl würdigen. Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin.“ Kapitän Exner schüttelte verzweifelt den Kopf. „Werde ich nun endlich erfahren, warum Sie beim ersten Hahnenschrei nach Libín rasten?“ „Ich bin neugierig, selbstverständlich. Als der Kollege Slánský sagte, der Schatz des Jahrhunderts, hat er nicht übertrieben. Das hatte er von der Janovská. Und die Kollegin Janovská ist eine sehr solide Forscherin. Mir kam zwar der Gedanke, daß sie vielleicht einer Sinnestäuschung erlegen sein könnte.“ „Einer was?“ „Einer Sinnestäuschung. So was kann doch jedem passieren. Aber angesichts ihrer Jugend und ihrer gesunden Natur kam mir das unwahrscheinlich vor. So daß ich es sehen wollte. Nachschauen, ob nicht vielleicht alles fehlerhaft in den Profilen und dem Horizont ist.“ „War es das?“ „Mir scheint, nein. Eine besondere Lage, das werden Sie ja selber sehen, aber auf den ersten Blick zehntes Jahrhundert. Ich habe noch nicht die Gesamtdokumentation gesehen, aber sie konnte wirklich nicht vermuten, daß unter dieser sterilen Sonde …“ „Moment! Sterile Sonde, was ist das?“ „Das hätten Sie auch schon mitkriegen können, Doktor“, sagte Soudek streng. „Eine sterile Sonde ist eine Sonde, in der nichts ist.“ „Aber hier war doch was.“ „Ja, aber drunter. Und dann noch schräg von der Seite. Unter den Fundamenten einer Scheune aus dem vorigen Jahrhundert. Das Depot war da, das Gerücht hat nicht gelogen.“ „Und wieviel?“ fragte Kapitän Exner. 113
„Ich habe nur einen Teil gesehen, der aus dem gesprungenen Gefäß herausgekollert ist. Ich schätze, es handelt sich unter Brüdern um mehr als zweieinhalbtausend Denare. Welche, damit kann ich nicht dienen. Ein paar lagen verstreut herum. Die, hoffe ich, sind dageblieben.“ „Und weiter?“ „Ich fuhr dann zurück nach Bylaves. Und heute ruft mich die Kollegin Janovská an, aber davon habe ich Ihnen schon berichtet.“ Sie fuhren durch Hradec und gelangten auf die E 12. Nach einer Weile bemerkte Kapitän Exner mehr für sich: „Was mag in diesem Libín am Samstag und Sonntag geschehen sein …“ „Das kann ich Ihnen sagen“, erwiderte Doktor Soudek. „Ach ja? Dann schießen Sie los.“ „Alle Welt war dort“, erklärte Soudek. „Dutzende von Menschen lösten einander ab. Es hatte sich herumgesprochen, als Slánský am Freitag die Kommission zusammenzustellen versuchte, Telefone rasselten, und die Leute eilten an jenen Ort. Unter den ersten selbstverständlich der Kollege Sultán. Denn die Kollegin Janovská ist eine Schülerin von ihm. Und sie hat das Forschungsobjekt von ihm übernommen, gewissermaßen geerbt.“ „Und was meinen Sie“, fragte, Exner und kratzte sich hinterm Ohr, „wie sieht es jetzt dort aus?“ „Die Kollegin schläft vielleicht, oder sie ist noch ohnmächtig, Doktor Sultán liegt im Krankenhaus. Im Spital in Brody. Der Baggerführer Chvalina wird besoffen im Gasthaus sitzen, der Platzmeister, Herr Urban, steht Wache an dem leeren Topf und hat einen strengen und traurigen Blick. Und die Polizei forscht.“ „Moment. Polizei, meinen Sie die Kripo?“ „Gewiß. Die Kollegin Janovská hat das begreiflicherweise gemeldet.“ 114
„… So daß Sie mich nur auf einen Ausflug fahren, Herr Doktor. Das ist nett von Ihnen, die laue Nacht …“ „Ich nehme an …“ „Augenblick“, unterbrach ihn Exner. „Der Schatz ist verschwunden?“ „Das ist er.“ „Gut. Diebstähle bearbeite ich nicht.“ „Eine Frau wurde ermordet, Herr!“ sagte Doktor Soudek mit Nachdruck. „Eine Frau!“ „Die Polizei ist schon längst am Tatort“, sagte Kapitän Exner hart. „Ich habe Urlaub und will mich in nichts einmischen.“ „Wirklich?“ fragte der Archäologe süffisant. „Wirklich nicht? Sie werden doch mein Vertrauen nicht enttäuschen“, fügte er heuchlerisch hinzu. „Das mach’ ich ohne Gewissensbisse“, entgegnete trocken Kapitän Exner. „Ach wo, Sie sind ein sehr anständiger und verantwortungsvoller Mann“, sagte Doktor Soudek im Brustton der Überzeugung.
53 Doktor Soudek irrte sich. Am Forschungsobjekt in Libín hielt nicht der Herr Urban Wache – der Oberinspektor der Staatsbahnen im Ruhestand –, sondern der Oberwachtmeister Šibink. Unten in der Grube saß an einem Tischchen auf einem Klappstuhl Leutnant Beránek, auf dem Schoß hatte er ein Blatt Papier ausgebreitet und darauf belegte Brötchen. „Das erklär mir mal“, sagte oben Kapitän Exner, „woher du zu dieser Stunde soviel Proviant bekommst.“ Der Leutnant verschluckte sich fast. „Pfui, hast du mich erschreckt! Hättest wenigstens grüßen können. Im Restaurant Zur Mündung ist eine sehr nette und gefälli115
ge Wirtin, und dort findest du übrigens auch Leutnant Žák vom Kreis. Er erwartet dich bereits.“ „Das kann er nicht“, widersprach Exner. „Er weiß überhaupt nicht, daß es mich gibt.“ „Das weiß er“, erwiderte Beránek knapp. „Der Schinken ist frisch. Willst du kosten?“ Kapitän Exner wandte sich an Doktor Soudek: „Sagen Sie mir, daß das kein Traum ist, Herr Doktor“, bat er. „Ich kann Ihnen nicht willfahren“, sagte der Archäologe. „Den Herrn unten in der Grube kenne ich, aber seine Existenz an diesem Ort – ob nun wirklich oder scheinbar – ist mir genauso unerklärlich wie Ihnen.“ „Um Himmels willen“, rief Kapitän Exner verzweifelt, „wie kommst du eigentlich hierher?“ Leutnant Beránek aß ungerührt das angebissene Brötchen zu Ende, den Rest der Verpflegung wickelte er sorgfältig in das Papier und steckte es in die Sakkotasche. Er teilte einem Unsichtbaren im Zelt mit, daß er jetzt gehe. Dann klomm er hoch. „Guten Tag, Herr Doktor“, grüßte er Soudek. „Was macht Bylaves? Wie geht es dem Antioch?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Gehen wir ein bißchen spazieren, was meinst du? Hier ist es hübsch besonders nachts.“ Doktor Soudek schaute Kapitän Exner an. Dieser zuckte die Achseln. „Er hat gegessen und will jetzt Spazierengehen, weil das gesund ist.“ Leutnant Beránek schritt aus. Sie folgten ihm. „Fassen wir’s zusammen?“ fragte der Kapitän. „Wenn du errätst, wie wir hergekommen sind.“ „Manchmal ist er wie ein Kind“, sagte Exner zu Soudek. „In Prag haben sie die Meldung bekommen, haben in Opolná angerufen, weil sie wußten, daß ich dort bin, dort sagte ihnen Oberleutnant Šajner, daß ich mit Ihnen weggefahren bin, also haben sie uns hier erwartet. Wenn es anders war, dann nur in Kleinigkeiten, also halt uns nicht länger auf und red schon.“ 116
„Ich weiß nichts“, erklärte Beránek. „Und der Leutnant Žák vom Kreis weiß auch nichts. Die Fakten kennst du offenbar.“ „Was ist mit dieser Prozession am Samstag und Sonntag?“ „Ich weiß von nichts“, sagte Leutnant Beránek schlicht. Sie schritten auf die alte Burgstätte, auf das Denkmal zu. Beránek schlug den Feldweg ein, der zum Restaurant Zur Mündung führte. Er zeigte auf eines der Häuser: „Hier schläft die Frau Doktor …“ Mit der Taschenlampe beleuchtete er die Mosaiktafel. „Hier steht die Kurzfassung der Ortsgeschichte. Unter Denkmalschutz.“ Er ging weiter, aber Doktor Soudek stoppte ihn. „Moment, Herr Leutnant. Könnten Sie freundlicherweise noch einmal die Schautafel beleuchten?“ Beranek entsprach seinem Wunsch. Doktor Soudek las das Ende des Textes, wo die Jahreszahl der Ausrottung der herrschenden Sippe stand. Er schüttelte den Kopf. „Sie erlauben?“ Er nahm dem Leutnant die Taschenlampe aus der Hand, um sich das näher anzusehen. Dort stand noch die Sechs. Niemand war da, der den Nagellack hätte mit Azeton entfernen können. Soudek schabte mit dem Nagel im Lack. Er lachte. „Was gibt’s?“ interessierte sich Exner. Doktor Soudek gab die Lampe zurück. „Ach, überhaupt nichts. Das hängt mit dem Streit um die Jahreszahl zusammen.“
54 Er leuchtete Exner mit der Taschenlampe, als dieser zum Ufer unter den Schneebeersträuchern hinunterstieg. 117
Was konnte er dort schon sehen – nichts. Und er sah auch nichts. Das Flußufer der Surina und zertretenes Gras. „Wann kommt Vlček?“ fragte er den Leutnant. „Gegen Morgen. Die Hunde waren schon da und haben nichts gefunden. Eigentlich ein Hund. Der Hundeführer behauptet, sie müssen ein Auto gehabt haben.“ „Wer?“ fragte Exner. „Die Täter selbstverständlich“, antwortete Beránek. Sie schritten am Ufer entlang zum Restaurant Zur Mündung, dessen Lichter die Kronen der alten Bäume anstrahlten, gedämpftes Stimmengewirr und Radioklänge drangen aus der Gaststätte. „Wer hat dir gesagt“, fragte Exner, „daß es mehrere waren?“ „Niemand“, gab Beránek zu. „Aber für einen allein scheint mir das zu schwierig. Er klaut den Schatz, dabei beseitigt er mit großem Risiko das Mädchen, das den Schatz bewacht …“ „Oder“, meinte Exner lächelnd, „sie entwendet den Schatz und eilt damit hierher, an den vereinbarten Treffpunkt.“ „Dann sind es auch wieder zwei“, bemerkte Beránek ruhig. „Sie und vielleicht noch jemand hier. Einer allein schafft das nicht. Was meinen Sie, Herr Doktor?“ wandte er sich an Doktor Soudek. „Ich bin Fachmann für Neolithikum, die Jungsteinzeit, Herr Leutnant. Ich wage zu behaupten, ein hervorragender Fachmann. Aber ich verstehe auch was von anderen Dingen. Ich schätze“, fuhr er giftig fort, „der Fall ist nicht so kompliziert. Ich habe oft gelesen, wie sich Berufsdetektive bei Morden den Kopf über die Identität des Opfers, Tatmotiv und darüber zerbrechen, wer der Täter ist. Dieser Fall ist eigentlich zu zwei Dritteln gelöst. Das Motiv ist klar. Jeder klaut gern Hunderttausende in unserer Währung in Form von Gegenständen, 118
die man eins, zwei, drei über die Grenze schaffen kann, so unauffällig und klein, wie sie sind. Der Name des armen Opfers ist bekannt. So daß“, schloß er zufrieden, „für Sie, Herr Doktor Exner, nur noch eine Kleinigkeit bleibt: Den Mörder zu finden.“
55 „Wachen Sie auf, Herr Doktor, wachen Sie auf!“ Leutnant Žák rüttelte Tomáš Coufal. „Wir brauchen Ihre Aussage.“ Er stand in dem schmalen Gang des Campinghäuschens. Leutnant Beránek richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf Coufals Gesicht, hinter Beránek stand Kapitän Exner. Auf dem anderen Bett atmete tief Doktor Bouček. „Wer ist das?“ „Der Herr Doktor Bouček“, antwortete Leutnant Žák. „Doktor Bartoloměj Bouček, Schriftsteller. Und Herr Coufal ist Jurist. Auch Schriftsteller. Sie hatten am Vormittag eine Diskussion mit ihren Lesern im Kurort. Und abends sollten sie auch eine haben.“ „Sie haben sie die Veranstaltung nicht durchführen lassen?“ „Ich hätte sie gelassen“, sagte Leutnant Žák. „Aber sie versuchten, die Aufregung im Alkohol zu ertränken. Und mich wundert das nicht.“ „So daß“, sagte Michal Exner hart, „unsere zwei Hauptzeugen sich vor Aufregung völlig besoffen haben.“ „So ungefähr“, meinte Leutnant Žák unglücklich. „Ich habe bei ihnen gesessen. Die Zeche betrug zweihundertachtzehn Kronen.“ Beránek pfiff leise durch die Zähne. „Na ja“, sagte er einsichtig, „da konnten sie wirklich nicht mit den Lesern plaudern.“ 119
„Genosse Leutnant“, fragte Exner verzweifelt, „ist im Umkreis dieser Gemeinde wenigstens ein Mensch vorhanden, der mir etwas über diesen Fall berichten könnte und nicht im Krankenhaus ist, nicht nach einer Injektion oder einer Überdosis Alkohol schläft?“ „Vielleicht der Schriftsteller Johan.“ „Schriftsteller! Der dritte? Wo?“ „In Libín. Im Gasthaus. Er hat dort ein Zimmer gemietet, als er am Freitag erfuhr, daß hier ein Schatz gefunden wurde.“ Sie ließen die beiden schlafen und kehrten von der Wiese, wo die Campinghäuschen standen, zum Restaurant zurück. „Wer noch?“ „Das Mädchen, das den Diebstahl entdeckt hat, ferner ein gewisser Urban, Rentner, Frau Doktor Janovská nennt ihn Platzmeister, ich weiß nicht, was das ist.“ Exner nickte. „Darüber zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, weiter …“ Er stockte. „Lieber nicht. Das reicht. Der Genosse Leutnant wird sich das notieren, wenn er anfängt zu arbeiten. Er wird bald anfangen.“ Vor dem Fenster des Ausschanks stand die Gaststättenleiterin und blickte in die Runde. Als sie bemerkte, daß die Herren sich ihr näherten, eilte sie ihnen entgegen. „Das ist sonderbar“, bemerkte Beránek halblaut und beobachtete sie interessiert, „wie flink eine Frau fast meines Umfangs sein kann.“ „Herr Doktor Exner!“ rief sie außer Atem und mit gerötetem Gesicht. „Herr Doktor!“ „Bitte sehr“, sagte der Kapitän. „Der bin ich.“ „Ein Herr mit Bart hat Ihnen etwas bestellen lassen, bevor er vor einer Weile abgefahren ist.“ „Wie haben Sie mich erkannt?“ „Er hat Sie mir beschrieben.“ „Ach, und wie?“ 120
Sie strahlte. „Sehr gut, Herr Doktor. Er läßt Ihnen bestellen, daß er nach Hause fährt und daß er schlafen will.“
56 Der Schriftsteller Johan war verschwunden. Einige Sachen waren im Zimmer zurückgeblieben, aber nur sehr wenige. Eine Igelittasche, ein Überzieher, im Waschbecken das Rasierwasser, Seife, ein Bleistift. Michal Exner schaute sich in dem armseligen Gasthauszimmer um. „Das sind Freuden“, bemerkte er. „Wo hat er sein Auto?“ Leutnant Žák beugte sich aus dem Fenster. „Das ist auch weg“, sagte er bekümmert. „Dabei habe ich ihm ausdrücklich gesagt, daß er uns zur Verfügung stehen muß. Ausdrücklich, Genosse Kapitän.“ Im Hintergrund an der Tür stand der Gaststättenleiter. Leutnant Beránek inspizierte den Schrankinhalt und fuhr mit dem Zeigefinger über die Fächer. „Er hat es mir versprochen.“ „Das kann ich bezeugen, Herr Kapitän.“ Der Herr Leiter hob die Hand zum Schwur. „Ich hab’s gehört.“ „Das Gästebuch, Herr Leiter“, sagte Michal Exner knapp. „Aber schnell.“ „Mein Gott …“ Der Leiter erbleichte. „Das ist ein Malheur, Genosse.“ Leutnant Beránek drehte sich rasch um: „Ach ja?“ „Doch“, sagte der Leiter. „Ich hab’ ihn nämlich nicht eingetragen.“
121
57 Bei Herrn Václav Klouda klingelte an diesem Abend das Telefon. Das war sehr unangenehm. Er schlief schlecht ein, hatte eine genaue Methode ausgearbeitet, wie er sich selbst ins Bett beförderte. Im Halbschlaf hörte er, daß seine Tochter mit jemandem sprach. Und dann machte sie die Tür auf und rief: „Vati, Telefon für dich, angeblich sehr wichtig.“ Er fand nicht die Zeit, zu fragen, was eigentlich so wichtig sei. Er erkannte die Stimme des Magisters Maizl. „Ist das Ende der Welt gekommen, Magister?“ fragte er verdrießlich. „Noch nicht. Einstweilen hat man in Libín das ganze Depot mit den Denaren gestohlen. Heute.“ „Das ganze?“ „Ja. Mir ist der Gedanke gekommen, daß sicherlich jemand morgen bei Ihnen erscheinen wird. Ob nun mit den Denaren oder anders. Gute Nacht.“ Er legte auf. Herr Klouda tat das gleiche. Der Neureiche Maizl hatte ihm den Schlaf verpatzt. Mit schlurfenden Schritten begab er sich in die Küche. Er seufzte und nahm zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. Er begab sich ins Zimmer, ließ die kleine Lampe am Bett brennen, setzte sich in den Sessel am Fenster und hüllte die Beine in die alte Kamelhaardecke, die er hier immer zur Hand hatte. Langsam trank er das Bier und dachte nach.
58 Kann sein, auch am Tage. Aber jetzt, in der Nacht, war das zweifellos ein fragwürdiger Ort. Vielleicht deshalb, weil über dem Auenwald der Mond aufging und seine gelbliche Kugel wie in einem Märchen gespenstisch leuchtete. 122
Es war hinter der Libíner Kirche, dort, wo der um die ehemalige Friedhofsmauer führende Weg nach links abbog, offenbar der Umgebung der alten Vorburg folgend. Der zweite Weg, der geradeaus führte, senkte sich nach ein paar Metern zu kleinen Birken, einem Spielplatz, zu Parkbänken und zum Fluß. Hier überquerte die Bahnstrecke den Fluß. Der an der ehemaligen Vorburg gelegene Weg wand sich zwischen kleinen Häusern hindurch und endete als Sackgasse am Bahndamm, wo die Geleise mit den Masten, Pfeilern und Lichtern begannen. Gegen den Horizont zeichnete sich der verglaste Block eines Stellwerks ab. Leise rauschte der Fluß. An der Friedhofsmauer, die von der Kirche unterbrochen wurde, stand ein Laternenmast, der über der alten Kirche, dem Dorf und der von Geleisen durchschnittenen Landschaft aufragte. Kapitän Exner schlenderte an der Friedhofsmauer entlang in diese Sackgasse. Die Häuser waren dunkel, das Fernsehprogramm war beendet, die Helden der Kitschserien hatten auf den Bildschirmen ihr Werk vollbracht. An einem Haus auf der rechten Seite, das dem Bahndamm am nächsten stand – von den Geleisen wurde es nur durch einen verwilderten Obstgarten und einen Streifen niedergetretenen Grases getrennt –, blieb Exner stehen. Er tastete nach der Klingel am Torpfeiler, und vielleicht hätte er aus dem Hause das Klingeln gehört, wenn nicht gerade ein Zug vorbeigerattert wäre. „Wer ist da?“ rief streng ein Mann aus einem unbeleuchteten Fenster. „Herr Urban?“ „Der bin ich. Und Sie?“ „Kriminalpolizei. Kapitän Exner.“ Den Mantel um die Schultern gelegt, kam er ihm öff123
nen. Der Mantel stammte von seiner alten Uniform: eine Pelerine mit abgetrennten Kragenspiegeln. Herr Urban griff an den Riegel. Der Mond schien jetzt voll. Die Nacht war hell und klar, und außerdem streifte das frontale Scheinwerferlicht eines weiteren Zuges für einen Augenblick Exners Gesicht. „Hoppla“, sagte Herr Urban und nahm die Hand vom Türchen. Exner langte in die Hemdtasche. Schweigend reichte er seinen Dienstausweis übers Türchen. Herr Urban knipste das Licht auf der Veranda an, las sich den Ausweis gründlich durch und gab ihn zurück. „Ich zieh mich sofort an, und wir können gehen, Herr Kapitän.“ „Brauchen Sie nicht, wenn wir uns hier setzen können.“ Er zeigte auf die Veranda. „Gewiß. Bitte kommen Sie weiter.“ Sie nahmen auf der Bank in der Ecke Platz, Herr Urban legte die knochigen Hände auf seine übereinandergeschlagenen Beine und sah Exner streng und aufmerksam an. „Ich bin bereit, Ihre Fragen zu beantworten, Herr Kapitän.“ Michal Exner kratzte sich verlegen am Kopf. „Das ist schwer, Herr Urban, sehr schwer. War sie hineinverwickelt oder nicht …“ „Sie meinen Iveta?“ „Ja. Übrigens, man sagte mir im Gasthaus, Sie hätten die Geschichte ihren Eltern mitgeteilt. In Vertretung der Frau Doktor.“ „Ja“, antwortete Herr Urban und fügte hinzu: „Ich kenn’ mich in den jungen Dingern nicht aus, Herr Kapitän. Sie war paar Tage hier. Eine schreckliche Sache, Herr Kapitän.“ „Den Schatz haben sich doch am Samstag und Sonntag Krethi und Plethi angeschaut, nicht wahr?“ 124
„Das würde ich nicht sagen. Herr Chvalina hat mir mitgeteilt, daß am Samstag in den frühen Morgenstunden der Herr Doktor Soudek aus Bylaves den Schatz besichtigt hat. Herr Doktor Soudek ist ein Archäologe, der …“ „Ich kenne den Herrn Doktor Soudek sehr gut.“ Exner nickte. „Weiter waren zwei Herren hier, die erklärten, sie seien Numismatiker. Ihre Namen habe ich leider vergessen. Die Frau Doktor hat selbst mit ihnen gesprochen. Am Sonntag war der dritte hier. Und gegen Mittag kam dann noch der Herr Doktor Reiner mit Gattin‚ um es sich anzuschauen. Sie haben einen Numismatiker nach Prag mitgenommen.“ „Wo waren Sie am Montagnachmittag?“ „Zum Mittagessen zu Hause, etwa bis zwei Uhr im Garten bei den Mareks, wo wir an einer Schutzuntersuchung arbeiten. Beim Mittagessen haben die Mädchen angeblich ausgelost, wie sie nacheinander bis abends Dienst haben. Um sieben sollte ich antreten und nach mir ein weiterer Freiwilliger.“ „Der Herr Chvalina?“ „Nein, der Herr Novák. Herr Chvalina war seit halb sechs auf den Beinen und mußte sich ausschlafen.“ „Wann haben Sie das Grundstück der Mareks verlassen?“ „Kurz nach drei. Ich habe die Bude abgeschlossen und den Schlüssel wie gewöhnlich der Frau Doktor übergeben. Ich traf sie am Objekt. Sie war gerade im Begriff, es zusammen mit Herrn Doktor Sultán zu verlassen.“ „Und wohin sind sie gegangen?“ „Nach Hause. Das heißt zur Frau Doktor. Also in diese Richtung. Und ich bin auch nach Hause gegangen. Und habe in meinem Garten gearbeitet, bis jemand kam, um mir mitzuteilen, was passiert war.“ „Wer kam?“ 125
„Die Jungs von Zavadil. Sie waren wohl gerade mit den Rädern über den Anger gefahren, da schickte sie jemand zu mir. Nach sechs bin ich dann nach Pilsen gefahren, etwa vor einer Stunde bin ich wiedergekommen.“ „Allein?“ „Ja. Mit dem eigenen Wagen.“ „Herr Urban“, sagte Kapitän Exner aufrichtig, „das Ganze ist sehr unangenehm.“ „Ich beneide Sie wirklich nicht, Herr Kapitän. Das ist eine schreckliche Geschichte“, meinte der ehemalige Inspektor der Staatsbahnen, als spräche er über einen Zugzusammenstoß bei Temesvar. „Es ist furchtbar.“ „Schicksal“, sprach Kapitän Exner. „Morgen wird Sie Leutnant Beránek aufsuchen und Ihre Aussage niederschreiben.“ „Wenn meine Aussage der Gerechtigkeit dient …“
59 Er sah eine blaugetünchte Decke. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder. Wirklich: über ihm war eine Decke, und die war blau. Erst dann wurde sich Kapitän Exner bewußt, daß er sich in einer kleinen Blockhütte bei dem Restaurant Zur Mündung befand und in der Unterwäsche schlief, die ihm die Gattin des Herrn Leiters geborgt hatte. Es mußte noch früh am Morgen sein, denn es war still. Durch das halboffene Fensterchen, das an den Einstieg zu einem Hühnerstall erinnerte, spürte man die feuchte Kühle, wie sie sich am frühen Morgen an Flußufern ausbreitet. Er schloß die Augen, um im Geiste die Geschehnisse zu rekapitulieren, die ihn aus dem Vorgebirge des Adlergebirges in diese Elbniederung geführt hatten. 126
Er zog sich an und ging hinaus zu der Hütte, in der die zwei Schriftsteller übernachteten. Das Ohr an der Wand, stellte er fest, daß sie noch schliefen. Er schaute sich nach der Feuerstelle um, in deren Mitte die Reste eines Lagerfeuers zurückgeblieben waren. Er kam sich vor wie ein Wüstling und Nachtschwärmer, der sich durch einen wunderlichen Zufall unter die Scouts verirrt hat. Es fehlte nur noch die Zeltwache, die ihn angehalten hätte. Er verspürte Hunger und begab sich zum Restaurant. Es war hoffnungslos geschlossen, ringsum standen ein paar verlassene Autos. Der Köter des Fährmanns, der wie er nicht mehr schlafen konnte, beschnupperte die Zaunlatten um das Gärtchen. Kapitän Exner war ihm kein Gebell wert. Und zu dieser traurigen, hungrigen Morgenstunde fiel Kapitän Exner ein, daß Doktor Soudek ein Verbrecher sein mußte. Vom Fluß wehte Kühle. Er schüttelte sich und schaute zum Osthimmel, über die Kronen des Auenwaldes. Die Sonne war noch verborgen. An den Schneebeersträuchern gewahrte er Autos. Und in dem Mann, der an den Stamm eines Ahorns gelehnt dastand, an seiner Pfeife mümmelte und aufs Wasser starrte, erkannte er Oberleutnant Vlček. Energisch schritt er aus, und der Köter erschrak. Er bellte ein-, zweimal.
60 „Das ist sehr traurig“, konstatierte Oberleutnant Vlček, am Ahornstamm hockend, „nachts hab’ ich in Brody mit unserem Arzt gesprochen. Er hat uns erwartet. Tod durch Ersticken. Zwischen vier und fünf Uhr nachmittags.“ 127
Die Mitarbeiter hatten die Decke ausgebreitet und untersuchten sie sorgfältig. Das kleine Häuflein Erde, das gerade in eine Hand paßte, lag zusammen mit der Münze an der gleichen Stelle wie tags zuvor. „Über die Erde“, sagte Kapitän Exner, „zerbrecht euch nicht den Kopf. Tut sie in ein Glas. Sie wird aus Libín aus der Grube sein. Genauso wie der Denar.“ „Der Denar?“ Der Oberleutnant zeigte mit dem Finger auf das schmutzige Plättchen. „Das ist ein Denar?“ „Ja. Ein paar Leute werden denken, daß sie das gestohlen haben kann und es jemandem übergeben wollte.“ Er seufzte. „Du meinst“, fragte Oberleutnant Vlček, „sie wurde ausgebootet? Aber das ist doch Wahnsinn: mitten im Dorf jemanden totzuschlagen, am hellichten Tage! Auf dem Dorfanger!“ „Na ja“, meinte Kapitän Exner. „Das wird’s wohl sein. Totschlag, nicht Mord.“ „Hast du ’ne Zigarette?“ fragte der Oberleutnant. „Mir schmeckt die Pfeife nicht.“ „Hab’ keine. Aber Hunger hab’ ich. Übrigens, ein Wahnsinniger klaut nicht den Schatz des Jahrhunderts. Denn so ein Wahnsinniger weiß nicht, daß diese Plättchen einen immensen Wert besitzen.“ „Sieh an“, staunte der Oberleutnant. „Und du weißt, was für einen?“ „Weiß ich. Das hängt natürlich von der Seltenheit dieser oder jener Münze ab. Aber ein Denar wird für fünfzehnhundert verkauft, ein Unikat bis zu zehntausend.“ Einer der Mitarbeiter hob das Plättchen auf. „Das Ding da, Genosse Kapitän?“ „Genau.“ „Und wieviel waren es?“ „Ich schätze, zweieinhalbtausend.“ Vlček stieß einen leisen Pfiff aus. „Übrigens“, fragte Kapitän Exner, „wo ist Beránek?“ 128
„Er wartet auf einen Schriftsteller. Im Gasthaus in Libín.“ „Ich fahre zu ihm. Gib mir dein Auto. Wo ist Bohouš?“ „Nach Prag gefahren, mit dem Doktor. Er kommt wieder.“ Kapitän Exner stieg ins Auto und kuschelte sich auf dem Vordersitz zusammen. „Um Himmels willen, mein Junge“, sagte er zum Fahrer, „stell die Heizung an.“ „Geht nicht, Genosse Kapitän“, erwiderte der Fahrer und startete in Richtung Libín. „Einerseits ist Sommer, und andererseits ist die Heizung kaputt.“ Kapitän Exner seufzte und dachte an seinen Pullover.
61 Es war eine unangenehme Feststellung. Aber Leutnant Beránek schlief im Dienst. Er lag völlig angekleidet und mit Schuhen auf dem Bett des Doktor Johan und hatte die Hände auf dem Bauch gefaltet. Das Fenster hatte er geschlossen und die Deckenlampe brennen lassen. Sie leuchtete wirkungslos in den anbrechenden Tag. Den Kampf ums Licht hatte sie schon vor einer Stunde verloren. Kapitän Exner schloß hinter sich leise die Tür, schlich auf Zehenspitzen an das Bett heran und setzte sich darauf. Leutnant Beránek begann zu sprechen, ohne die Augen zu öffnen. „Ich weiß alles über Sie, Doktor Johan. Bewegen Sie sich nicht.“ „Das tu’ ich gern“, sagte Kapitän Exner folgsam. „Ich vermute, Ihnen würde ich nicht entkommen, Leutnant.“ „Halunke“, stieß Beránek mit einem Seufzer hervor und öffnete die Augen. „Hättest mich beinahe erschreckt. Zum Glück hab’ ich einen leichten Schlaf. Und 129
du saust, wie ich sehe, am frühen Morgen fröhlich durch die Gegend.“ „Wie ein Fink“, stimmte Exner zu. „Es ist kalt, und ich habe Hunger.“ „Ich kann dir“, meinte Beránek und langte in die Brusttasche, „eine Semmel von gestern anbieten, wenn du dich nicht ekelst. Es ist Butter drauf.“ Er reichte ihm ein zerdrücktes Päckchen. „Gestern“, bemerkte Kapitän Exner, als er das Papier aufgewickelt hatte, „war noch Schinken drauf.“ „Den mußte ich ’runteressen, damit er nicht verdirbt. Du weißt doch, wie heikel Schinken ist, und dann ist er gesundheitsgefährdend. Der Schriftsteller Johan ist verschwunden.“ Michal Exner schüttelte den Kopf. „Was es hier an Schriftstellern gibt. Wie auf Schloß Dobříš. Die zwei, die sich auf dem Campingplatz einquartiert haben, ruhen noch. Wohin ist der Doktor Johan verschwunden?“ „Ich hab’ einen Schnitzer gemacht“, gab Leutnant Beránek zu. „Hab’ gestern bei ihm in der Wohnung angerufen. Seine Frau hat abgehoben und behauptet, er sei nicht zu Hause. So hab’ ich bei uns angerufen, sie sollen jemanden hinschicken. Er war wirklich nicht zu Hause. Sie haben versprochen, das Haus, wo er wohnt, zu überwachen. Es liegt in Vinohrady. Und bis jetzt“, fügte Leutnant Beránek hinzu, ohne seine bequeme Lage auf dem Bett zu verändern, „keine Nachricht, mein Kapitän.“ „Wenn das Telefon unten ist und du hier …“ „Das Telefon hat der Herr Wirt am Ohr. Er würde mir Bescheid sagen.“ Exner aß die Semmel auf und ging sich die Hände abspülen, Auf halbem Weg zum Waschbecken hielt er inne. „Hörst du was?“ „Was? Mir hat’s irgendwie die Ohren verlegt. Und 130
hier rumpeln dauernd Züge durch. Das ist kein Dorf, sondern ein Bahnhof.“ Exner trat ans Fenster und öffnete es. Von unten drangen das Geräusch eines Motors und gedämpfte Schläge herauf. „Was ist da los?“ interessierte sich Beránek auf dem Bett. „Der Milchwagen?“ „Ein weißer Wartburg. Steht vor dem Tor. Der Fahrer macht das Tor auf.“ „Wie sieht der Fahrer aus?“ fragte Beránek. „Ein schlanker Herr, leicht ergraut, über dem Anzug einen beigefarbenen Mantel, ihm war offenbar kalt wie mir.“ „Dann trifft soeben“, erklärte Leutnant Beránek unbewegt, „der Schriftsteller Johan ein. Die Beschreibung paßt auf ihn. Und einen weißen Wartburg hat er auch. Da bin ich aber neugierig, wo sich der Herr Doktor nachtsüber herumgetrieben hat.“
62 Doktor Johan – aber das konnte Exner vom Fenster aus nicht merken – sah keineswegs frisch, sondern ziemlich heruntergekommen aus. Der Anzug zerknittert, das Hemd zerknautscht und nicht ganz sauber, aus der Tasche hing ein Ende der Krawatte. Unter den Augen dunkle Ringe, und die Haut hatte die Farbe von Asche und Kreide. Er blinzelte in der Sonne. Es war offensichtlich, daß Doktor Johan jetzt schlafen würde wie ein Ratz. Schlapp nahm er vom Rücksitz die Aktentasche, wunderte sich nicht, daß die Tür des Gasthauses offenstand, und stieg bedächtig die Treppe hoch. Er machte die Tür seines Zimmers auf, blickte zur 131
Decke, schüttelte den Kopf und langte nach dem Lichtschalter, um auszuknipsen. Er ließ die Aktentasche fallen, denn statt auf den Schalter hatte er die Hand auf Kapitän Exner gelegt, der zwar auch nicht von Frische strahlte, aber im Vergleich zu Johan immer noch wie ein Playboy aus Mallorca neben einem abgehetzten Museumsdirektor aus Pirna aussah. Doktor Johan hielt immer noch die Hand auf Exners Brust und drückte unwillkürlich auf das Schlüsselbein, als erwartete er ein Wunder: daß nämlich das Phantom verschwände und an seiner Stelle wieder die normale Wand mit dem Lichtschalter erschiene. „Pardon“, sagte an der halboffenen Tür Beránek und bückte sich nach der Aktentasche. „Das hat ja mächtig gekracht. Hoffentlich ist nichts darin kaputtgegangen.“ Der Schriftsteller Johan stieß nicht einmal einen Schrei aus. Er öffnete leicht die Lippen, und der gelbliche Mond, der bislang scheinbar sein Gesicht beleuchtet hatte, erlosch. So daß nur die Farbe von Asche blieb. Beránek legte behutsam die Aktentasche auf das Tischchen in der Ecke am Fenster. Er nahm einen Stuhl mit halbhoher Lehne, wie sie in den zwanziger Jahren fabriziert wurden, und stellte ihn nahe an die Tür. Vorsichtig schloß er die Tür in Johans Rücken. „Immer mit der Ruhe“, sagte er, „bitte, sich zu setzen. Sie sind müde, die ganze Nacht auf den Beinen.“ Doktor Johan folgte der Aufforderung nicht. Irgendwo begann wieder der Mond aufzugehen, und sein Gesicht nahm eine gesündere Farbe an. „Was haben Sie in meinem Zimmer zu suchen, meine Herren?“ fragte er, und er meinte es streng. Der richtige Ton gelang ihm nicht, die Anstrengung der Nacht tat das Ihre. Heraus kam etwas zwischen dem leisen Aufschrei eines Oberschülers und dem Protest eines Ästhetikdozenten, wenn er betrunken aus der Bar hinausgeworfen wird. „Wir warten auf Sie“, sagte Michal Exner und nahm 132
sachte Johans Hand von seiner Brust. „Und wir warten schon lange, aber endlich sind Sie da, das sind Freuden. Wir sind von der Kripo, Herr Doktor. Sie haben dem Leutnant Žák versprochen, uns zur Verfügung zu stehen, aber das haben Sie nicht getan. So setzen Sie sich also ruhig hin, und haben Sie wenigstens jetzt etwas Zeit für uns.“ Doktor Johan schluckte. „Sehr gern …“
63 Der weiße Mercedes stand in einem der Gäßchen auf der Kleinseite, die sich um die obere Hälfte der Vlašská-Gasse winden. Am Lenkrad saß ein junger Mann und schlief. Sein Kopf war nach hinten auf die Lehne gesunken, er atmete mit offenem Munde. Der Polizeiangehörige, der hier den Streifendienst versah, ging zweimal an ihm vorbei. Aber er fand keinen Grund zum Einschreiten. Letzten Endes kann jeder in seinem Auto schlafen, wenn selbiges ordnungsgemäß geparkt ist. Er kann sogar im Auto schlafen, wenn er betrunken ist. Vielleicht war der junge Mann betrunken, aber es gab keinen Anlaß, warum er das feststellen sollte. Der Motor des Wagens befand sich im Ruhezustand. Aus dem Tor des Hauses, das nahe an der NerudaGasse steht, trat die Morgenkönigin der Stadt. Wäre der Polizeiangehörige noch hiergeblieben und hätte sie erblickt, wäre er bestimmt aufs Revier gelaufen, um dort zu fragen, ob er die Dinge richtig sieht. Denn über die Straße schritt ein Phantom in einem weißen, offenen Sommermantel, gefüllt mit vielen Metern eines plissierten, rosafarbenen Stoffes, der kunstvoll angeordnet war. Die Stöckelabsätze der rosafarbenen Schuhe klopften aufs Pflaster. 133
Aus der Nähe wurden zwei Dinge sichtbar: erstens – das gerötete Weiße der Augen, die blinzelten, weil sie aus dem besten Schlaf gerissen worden waren, und zweitens, das Gesicht war von unsicherer Hand, nicht wie bei Renata Lautererová üblich, geschminkt und wirkte wie das einer Frühaufsteherin. Sie hielt sich jedoch aufrecht und schwebte. Die Gewohnheit ist ein eisernes Hemd. Renata Lautererová klopfte an die Scheibe des weißen Mercedes. Der Fahrer schrak zusammen und erwachte. Er steckte den Kopf aus dem Dämmer des Wagens, und es war Zdeněk Linhart. Er stieg aus, um ihr die hintere Tür zu öffnen. Sie stieg ein, er knallte die Tür zu. Stieg ebenfalls ein, knallte seine Tür zu und fuhr los. Er schonte die Batterie und startete durch Anfahren am Hang. Sie fuhren durch die halbe Stadt zu ihrer Wohnung. Vor dem endlosen Block brauchte er ihr die Tür nicht aufzumachen. Sie sehnte sich bereits so nach Schlaf in ihrem Bett, daß sie trotz der Stoffe, die sie auf sich trug, gewandt und rasch aus dem Auto schlüpfte. „Rufen Sie nachmittags um drei an“, sagte sie. „Gute Nacht.“ Sogar gegrüßt hatte sie! Er nickte, blickte ihr nach, bis ihre Waden im Haus verschwanden, träumte vielleicht kurz von etwas, warf einen Blick auf die Uhr und startete, wendete am Ende der Straße und fuhr nach Žižkov. Die Stadt erwachte, die Leute eilten zur Metro, standen in Scharen und warteten auf Straßenbahnen und Autobusse. Die letzten Taxifahrer strebten nach den letzten nächtlichen Fuhren heimwärts. Auf dem Bahnhof trafen die ersten Frühzüge ein, und die Passagiere stürzten heraus, um sich über die Stadt zu verteilen. 134
In dem alten Žižkov fuhr er in das offene Tor eines Hauses, neben dem an der Wand ein Schild angebracht war:
MOTES PGH Heizungstechnik Er parkte neben zwei vergammelten Autos und winkte freundschaftlich seinem Freund Vlastimil Brožek zu, dem Jungen mit dem Gesicht eines gut durchgebackenen Kartoffelpuffers. „Ahoi, Vlastik …“ Brožek kam gerade aus dem Lager, eine Kiste mit Ersatzteilen auf der Schulter. „Du sollst dich sputen, es ist gleich sechs!“ „Na und?“ „Tu nicht so, wir haben doch gestern dem Alten versprochen, um halb sechs loszufahren. Hast du das vergessen?“ „Völlig. Mein Gott!“ Er schüttelte über sich selber den Kopf. „Warst wieder bei ihr, nicht wahr?“ Zdeněk Linhart winkte nur ab. Zum Zeichen, daß er nicht bei ihr war. Aber zugleich so, daß die ganze Welt begriff, er war bei ihr. Und er gähnte. Vlastimil Brožek schien es wonnevoll. Er lief rot an. Vor Scham oder Neid oder bei einer gewissen Vorstellung.
64 Der Schriftsteller Johan ließ sich schwer in den Sessel fallen, seine Augen irrten durchs Zimmer. Er bemerkte das zerwühlte Bett. Kapitän Exner ging zum Fenster und setzte sich aufs Fensterbrett. Leutnant Beránek benutzte den zweiten 135
Sessel, in den er mit Müh und Not paßte, legte auf dem Tisch sein berühmtes schwarzes Notizbuch bereit. Langsam blätterte er darin, als suchte er längst vergangene Gedanken. „Ich glaube, meine Herren“, begann der Schriftsteller, dem sie Zeit genug gelassen hatten, sich zu fassen, „ich sollte meine Abwesenheit erklären.“ Er erhielt keine Antwort. Der Leutnant beschäftigte sich weiterhin mit seinen alten Notizen, und Kapitän Exner musterte Doktor Johan wie ein Modellbauer den ungewöhnlichen Typ eines Segelflugzeugs. „Ich habe mir nämlich mein Teleobjektiv geholt“, sagte Johan schlicht. Und er schwieg. Sie auch. „Damit Sie mich recht verstehen“, fuhr Doktor Johan sanft fort, „das ist alles.“ „Zu Hause?“ fragte Leutnant Beránek. „Nein. Bei einem Freund.“ „Adresse?“ „Bohuslav Kalous. Hinter dem Bahnhof fünfunddreißig, Prag drei.“ „Telefon?“ „Hat er nicht.“ „Beschäftigt wo?“ „Freiberuflich.“ „Wie Sie?“ „Wie ich.“ Leutnant Beránek blickte auf die Uhr. Dann auf Exner. „Ja“, sagte der Kapitän, „das könntest du schaffen. Von wann bis wann waren Sie bei dem Herrn Kalous?“ „Von gestern abend bis zum frühen Morgen.“ „Uns geht das ja nichts an.“ Michal Exner lächelte, und es war ein schlichtes und leicht einfältiges Lächeln. „Da haben Sie sich die ganze Nacht unterhalten?“ „Ja, Herr … Herr …“ 136
„Kapitän Exner.“ „Ja, Genosse Kapitän.“ Exner schaute Beránek an. „Da müßtest du aber gleich fahren. In einer Stunde, maximal zwei, bist du dort, da wird dieser Kalous noch schlafen. Die Freiberuflichen …“ Beránek erhob sich. „Ich fahre.“ Es erhob sich auch Doktor Johan. „Ich möchte noch ergänzend hinzufügen …“ „Aber, Herr Doktor!“ Kapitän Exner seufzte und sprach wie zu einem Kind: „Sie müssen alles sagen. Sie kennen das doch aus den Krimis …“ „Krimis lese ich nicht, Herr Kapitän.“ „Das merkt man“, antwortete Exner trocken. „Also jetzt der Reihe nach, Herr Doktor: Wann sind Sie aus Libín weggefahren?“ „Das weiß ich nicht genau. Nach dem Abendessen.“ „Um wieviel Uhr?“ „Etwa um acht, neun Uhr.“ „Wie sind Sie gefahren?“ Doktor Johan schilderte den Weg nach Prag und auch Einzelheiten von der Fahrt durch die Stadt. Ihm behagte es, eine überflüssige Einzelheit an die andere zu reihen: „… und dann, als ich einem LKW die Vorfahrt gab, fuhr ich auf die Kolíner Landstraße, an der Tankstelle vorbei, die links liegenbleibt, bis zur Kreuzung in Hrdlořezy. Dort bog ich nach Malešice ab, dahinter nach rechts in die Siedlung und durch die Siedlung zum Krematorium, eigentlich oberhalb von ihm, und weiter bis zu der Kreuzung, wo es zum jüdischen Friedhof geht, dort bog ich wieder links ab, und dann auf dem äußeren Ring …“ „Da bin ich aber gespannt“, unterbrach ihn Exner, „wie Sie sich jetzt zur Straße Hinter dem Bahnhof in Žižkov durchfitzen werden.“ Johan hatte endlich wieder eine gesunde Farbe im Gesicht. Er lief rot an. 137
„Gut“, sagte Exner sanft, „ich entschuldige mich bei Ihnen. Sie sind nach links auf den Außenring abgebogen und hinunter nach Eden gefahren.“ „Dorthin nicht mehr …“, sagte Doktor Johan. „Kommen Sie, Genosse Leutnant“, forderte Exner seinen Mitarbeiter auf, „wir werden raten, und wer die nähere Straße trifft, hat gewonnen. Jeder setzt einen Zehner.“ „Prima“, stimmte Beránek zu. „Er ist in die Ruská eingebogen.“ „Ach wo“, sagte Exner. „In die Ruská nicht, in eine kleinere … die der Gebrüder Čapek.“ „Dort sind keine Häuser. Eher …“ „Verzeihen die Herren“, unterbrach sie Doktor Johan, dem die Sache geschmacklos zu werden begann. „Ich bin zum Wasserwerk Vinohrady gefahren. Um vorher den Herrn Magister Maizl zu besuchen, der dort wohnt.“ Leutnant Beránek rieb sich die Hände. „Und schon haben wir’s. Das fängt gut an. Was wollten Sie dort?“ „Das ist doch einfach. Ich wollte dem Magister Maizl mitteilen, daß die Denare entwendet wurden.“ „Handelt es sich um den Numismatiker Maizl?“ fragte Michal Exner. Boleslav Johan neigte erstaunt den Kopf seitwärts, wodurch er an ein Huhn erinnerte, das auf ein Korn starrt. Das Korn war Kapitän Exner. „Sie kennen ihn?“ „Nein“, erklärte Exner leichthin. „Ich habe nur von ihm gehört.“ Und er erklärte dreist: „In Numismatikerkreisen.“ „Das ist allerdings interessant“, sagte Doktor Johan, den sichtlich wieder Müdigkeit überfiel. „Ich habe den Magister erst hier kennengelernt.“ „Wann?“ fragte Beránek trocken. „Am Samstag, als er sich den Schatz anschauen kam.“ „Sie haben ihn nie zuvor gesehen?“ „Nein, auch gehört habe ich nicht von ihm.“ 138
„Das ist interessant“, ließ Beránek fallen. „Was meinen Sie, Genosse Kapitän?“ Michal Exner nickte ernst. „Sie wollen sagen, Genosse Leutnant, daß der Numismatiker Maizl sich den kostbaren Fund anschauen kommt, hier am Samstag zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Herrn Doktor Johan zusammentrifft, und schon am Montag ist der Herr Doktor so freundlich, daß er die Fahrt nach Prag wagt, um seinem neuen Freund mitzuteilen, daß der Schatz entwendet wurde.“ „Das meinte ich“, stimmte Beránek zu. „So ungefähr ging mir das durch den Kopf.“ „Wir sind uns nähergekommen“, sagte Doktor Johan schroff. „Maizl kam hier an, war allein, hatte sich vorher ein Zimmer im Gasthaus bestellt. Und wir haben schlicht und einfach den Samstagnachmittag und einen Teil des Sonntags zusammen verbracht …“ Exner sah Beránek schweigend an. „Ja“, sagte der Leutnant, „ich habe von einem Bioklima gehört. Einige Menschen sind einander von Natur aus nahe.“
65 Das Forschungsobjekt, die Stelle, wo ein großes Depot Denare aus dem 10. Jahrhundert gefunden und gleich darauf entwendet wurde, war jetzt weit umsichtiger bewacht als in den Stunden, da die verstreuten Münzen erstaunt auf den blauen und schwarzen Himmel und die Sterne an ihm starrten, ohne zu ahnen, daß das alles um tausend Jahre älter war als damals, da sie in einem Topf mit einer Schieferplatte abgedeckt und mit Erde zugeschüttet wurden. Oberleutnant Vlček hatte am Flußufer nichts festgestellt, so schickte er den Wagen mit zwei Mitarbeitern ins Dorf. 139
Kurz darauf folgte er ihnen. Am Fluß ließ er nur zwei Mann zurück, die auf Knien herumkriechen und jeden Grashalm und jede Blume auf der Wiese absuchen sollten. Er setzte sich auf den Klappstuhl vor dem Zelt, lutschte an der erloschenen Pfeife und betrachtete den gesprungenen Topf unter dem Schutzdach. Vielleicht dachte er über die schlechten Taten der Menschheit nach. „Sollen wir anfangen?“ fragte einer seiner Mitarbeiter. Der Oberleutnant ließ seinen Blick über den Himmel schweifen, der jetzt am Morgen noch wolkenlos war, über die Dächer und Schornsteine, auf denen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne erschienen. „Ich glaube“, meinte er, „hier kann uns nichts mehr entwischen. Wohin auch! Wir werden auf die ArchäologenKommission warten. Die buddeln ja dauernd. Vielleicht wissen sie einen Rat. Sie, Genosse“, wandte er sich an den Mitarbeiter von Leutnant Žák, der bei dem Schatz saß, „halten weiter Wache. Die übrigen haben frei. Es kann auf leicht zugänglichen, erreichbaren Plätzen geschlafen werden. Nachher wird’s mehr Arbeit geben. Sieh da“, sagte er erfreut, als über ihm das Bäuchlein des Leutnants Beránek auftauchte, „wo steckt ihr?“ „Wir haben uns in einem Gasthauszimmer unterhalten. Der Kapitän setzt das freundschaftliche Gespräch mit Doktor Johan fort. Und ihr?“ „Wir werden auf die Archäologen-Kommission warten.“ Beránek schaute sich fast zufrieden um. „Hör mal …“ „Ja?“ „Leutnant Žák hat mir gesagt, daß das Mädchen nur an einem Fuß eine Socke trug.“ „Das stimmt. Ich habe sie in Brody gesehen.“ „Wenn ich mich so umschaue, jetzt, da mehr Licht 140
ist … Dort“, und er zeigte mit dem Finger, „hinter dem Erdhaufen. Siehst du’s. Nein, das kannst du vom Zelt aus nicht sehen. Dort ragt ein Stückchen Stoff ’raus.“ Einer der Mitarbeiter ging hin, um nachzusehen. Es war die zweite Socke von Iveta Svitáková. Niemand hatte sie versteckt, sie war überhaupt nicht absichtlich versteckt worden. Sie lag an der Stelle, wo der gangbarste Weg aus der Grube über das alte Forschungsobjekt nach oben führte.
66 „Ich begreife Ihre Ironie nicht“, sagte Doktor Johan konsterniert, als er mit Exner allein geblieben war. Er setzte sich aufs Bett, dessen Polster und Deckbett noch deutlich die Gestalt Leutnant Beráneks bewahrten. Er strich Polster und Deckbett glatt. „Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen und habe wie jeder unbescholtene Bürger das Recht …“ Exner trat ans Fenster. Er stützte sich auf den Rahmen, um bis auf den Anger sehen zu können. „Rechte“, erklärte er, „haben wir alle in Hülle und Fülle. Das Problem besteht darin, daß wir Sie gestern anzurufen versucht haben. Leutnant Beránek hat mit Ihrer Frau gesprochen.“ Doktor Johan hatte wieder Farbe bekommen. „Das war doch blanker Unsinn“, sagte er aufgebracht. „Allerdings“, räumte Kapitän Exner ein. „Mir bleibt nichts übrig, als mich bei Ihnen zu entschuldigen. Wir hätten es nicht tun müssen, aber das ist eben die Routine. Sie dürfen sich nicht wundern, daß wir ein bißchen beunruhigt sind, wenn Sie anfangen, uns anzuschwindeln … Verzeihen Sie, ich wollte sagen: wenn Sie uns davon überzeugen wollen, daß Sie zu Hause waren. Na ja“, sagte er zufrieden und rieb sich die Hände. „So haben wir die Standpunkte unter vier Augen geklärt. Und 141
jetzt wollen wir uns, gleichfalls unter vier Augen, erzählen, wo Sie waren, nachdem Sie sich von der Familie des Magister Maizl verabschiedet haben. Und bevor Sie anfangen, damit alles klar ist, Herr Doktor: eheliche Untreue bearbeite ich nicht, das bleibt unter uns. Soweit es so war und nicht anders.“ „Wie anders zum Beispiel?“ „Soweit Sie zum Beispiel statt dessen nicht eine Bank ausgeraubt haben. Diebstähle bearbeite ich gleichfalls nicht, aber in einem solchen Falle wäre es meine Pflicht, die Sache weiterzumelden.“ „Eine Bank habe ich nicht ausgeraubt.“ „Das dachte ich mir gleich, daß es keine Bank war. Was also dann?“ „Nichts“, antwortete Johan und schwieg. „Jetzt scherzen zur Abwechslung Sie“, sagte Kapitän Exner sanft. „Spannen Sie mich nicht auf die Folter. Von wann bis wann bei dem Magister Maizl, von wann bis wann mit welcher Dame und so weiter.“ „Aber nein“, sagte Johan müde. „Das ist doch alles Unsinn. Ich kann nicht alles beurteilen, nicht wahr, aber ich begreife nicht recht, warum Sie sich gerade auf mich versteift haben.“ „Das ist ganz einfach“, gab Kapitän Exner zu. „Sie habe ich gerade bei der Hand.“ Doktor Johan kramte in seiner Aktentasche, holte ein Teleobjektiv hervor, nahm aus dem Schrank seinen Fotoapparat und probierte, ob das Teleobjektiv paßte. „Ich wüßte einen Krimiautor, dem ich diese Situation gönnen würde.“ „Nur war der nicht hier. Oder doch?“ „Ich habe ihn nicht gesehen. Aber es gibt sonderbare Zufalle.“ „Um nicht vom Gegenstand unseres Gesprächs abzuschweifen“, sagte Exner. „Also Sie waren bei dem Herrn Klouda?“ 142
„Ach wo. Kalous. Fotograf.“ „Von zehn Uhr abends bis drei Uhr früh?“ „Ja. Es war ein interessantes Gespräch.“ Kapitän Exner nickte und schritt zur Tür. „Prima“, sagte er. „Ich brauche das also nur bei dem Herrn Kalous zu überprüfen, und die Sache ist in Ordnung.“ Er griff nach der Klinke. „Warten Sie“, rief der Schriftsteller mit schwacher Stimme. „Was gibt’s noch?“ fragte Michal Exner, ohne sich umzudrehen. „Ich habe nicht viel Zeit, Herr Doktor. Ihren Fotoapparat mit dem Teleobjektiv werde ich ein anderes Mal besichtigen.“ „Warten Sie“, wiederholte Johan, diesmal am Rande völliger Erschöpfung. „Kalous war nicht zu Hause.“ „Da sind Sie in seine Wohnung eingebrochen?“ „Nein“, antwortete Doktor Johan bekümmert. „Nirgends bin ich eingebrochen. Frau Kalous war zu Hause.“ „Aha“, sagte Kapitän Exner leichthin. „Wir werden das bei Herrn Kalous und bei ihr überprüfen.“ „Das brauchen Sie nicht. Kalous ist im Ausland. Vielleicht brauchen Sie das überhaupt nicht zu überprüfen, Genosse Kapitän.“ „Raub ist Raub und Mord ist Mord“, sagte Exner eigensinnig. „Und das ist auch Schicksal, Herr Johan.“
67 Die Sonne begann zu wärmen. Der Dienstwagen rollte träge über den Asphalt. Ein Bussard kreiste über dem Auenwald. In den leisen Gang des dahintrödelnden Wagens schallte ein zorniges und nervöses Brummen. „Halt an“, rief Oberwachtmeister Šibink. Oberwachtmeister Hašák trat auf die Bremse. „Was 143
gibt’s?“ fragte er und kratzte sich den kurzen Bart. Dank seiner erinnerte er in der Mütze und der Uniform mit den roten Aufschlägen an den Kapitän Anton Timofejewitsch bei der Verteidigung von Port Arthur. „Haben wir Zeit?“ „Na ja, hasten müssen wir nicht.“ „Kommt’s dir nicht auch komisch vor“, bemerkte Oberwachtmeister Šibink, „daß Kutásek zu dieser frühen Morgenstunde seine Flugzeuge fliegen läßt?“ „Er ist meschugge“, konstatierte Hašák. „Aber ich schätze, uns geht das nichts an, soweit sich nicht jemand beschwert, daß er die Nachtruhe stört. Und Nacht ist nicht mehr. Es ist Morgen, mein Dichter.“ „Red keinen Stuß“, sagte Šibink freundschaftlich. „Vielleicht solltest du ihn fragen, ob er nicht gestern nachmittag hier jemanden hat herumgeistern sehen. Am anderen Flußufer.“ „Du meinst also, der eine hat dort das Mädchen hingelegt und ist im Auto davon, und der andere ist über den Fluß geschwommen und am andern Ufer zurückgelaufen, hierher zur Brücke, um die Spuren zu verwischen?“ Šibink stöhnte. Er langte sich vom Rücksitz eine Margarineschachtel und legte sie sich auf den Schoß. Und vom Haken an der Tür nahm er den Fotoapparat. „Willst du Molche fangen?“ „Ja.“ Hašák stieg mit einem Seufzer aus dem Wagen und richtete sich Mütze und Rock. Er überquerte die Straße und gelangte über den flachen Hang zwischen den Bäumen und Sträuchern zur Wiese am Flußufer. Vor ihm, im Süden, wurde sie vom Auenwald begrenzt. Über der Wiese kreiste mit irrsinnigem Gebrüll ein Miniaturflugzeug. Mitten in dem Kreis, den es in der Luft beschrieb, stand auf der Erde ein Mann mit einem Funkgerät und lenkte das Flugzeug. 144
Als der Mann Oberwachtmeister Hašák bemerkte, ließ er das Flugzeug vor seinen Füßen landen. „Gut“, konstatierte Hašák. „Das kann es. Und wie ist’s mit der Nachtruhe, Herr Kutásek?“ „Es ist schon lange Tag“, entgegnete der Angesprochene und schritt über die Wiese zu dem Oberwachtmeister. „Hat sich jemand beschwert?“ „Bis jetzt nicht.“ Kutásek betrachtete das Modellflugzeug, als interessierten ihn außerordentlich Landestelle und Zustand des Apparates. Und wie im Vorbeigehen sagte er: „Ich bereite mich für die Wettkämpfe vor. Was wird nun mit dem Raubmord?“ „Sie wissen etwas davon?“ „Jedermann weiß davon.“ Kutásek kniete sich hin und tippte mit dem Finger an die Antenne, als prüfte er, ob sie sich beim Flug gelockert hatte. „Und Sie?“ „Mancherlei“, gab Hašák zu. „So um fünf Uhr gestern nachmittag oder ein bißchen früher, ist Ihnen da etwas aufgefallen?“ „Ach wo. Ich war hier.“ „Das ist gut, daß Sie hier waren. Gar nichts?“ „Ach wo.“ Der Oberwachtmeister beobachtete gespannt, wie Kutásek dem Modellflugzeug mit einer Injektionsspritze Brennstoff einflößte. „Hier oder am anderen Ufer, ist da jemand vorbeigegangen?“ „Ich gucke auf meinen Aero und habe alle Hände voll zu tun.“ „Na ja“, sagte Hašák und tippte an seinen Mützenschirm. „Nur eine Kleinigkeit“, sagte Kutásek, ohne den Kopf zu heben. „Schon ein paar Tage, zumeist gegen Abend oder am Nachmittag, spaziert über die Brücke und dort weiter“, und er zeigte mit dem Kopf in die Richtung, aus der Šibink und Hašák gekommen waren, „ein alter Herr. 145
Mit Brille. Mein Leben lang hab’ ich ihn hier nicht gesehen.“ „Könnten Sie ihn beschreiben?“ „Oberflächlich. Ein bißchen gebeugt, grauhaarig, die Brille hat einen dunklen Rand. Den Kopf hält er vorgestreckt. Schwarzer oder dunkler Anzug. Der Anzug ist nicht gerade neu.“ Hašák nickte. „Und warum ist er Ihnen aufgefallen?“ „Wochentags läuft doch hier niemand im dunklen Anzug ’rum. Nicht mal der Pfarrer. Einmal bin ich aus Osek gekommen, und da bin ich ihm auf der Straße begegnet, wie er von Libín herwanderte.“ „Alles?“ „Alles, Genosse“, sagte Kutásek und startete seine Maschine. Der winzige Motor des Modellflugzeugs kreischte auf. Es glitt durchs Gras und hob sich in die Lüfte. Hašák kehrte auf die Straße zurück. Šibink stand unter einem dürren Apfelbaum, der schon ein paar Jahre ohne Leben war. Er fotografierte seine kahlen Zweige. „Hör mal“, sagte er sanft, „geh ein bißchen weiter weg von dem Baum. Sie ist zwar am Morgen steif, aber man kann nie wissen. Du könntest dich auf den Tod erschrecken.“ „Wovor?“ fragte Hašák zerstreut, „Kutásek hat hier einen Mann rumgeistern sehen.“ „Eine Klapperschlange.“ „Was?“ „Eine Klapperschlange.“ „Was für eine Klapperschlange, um Gottes willen?“ Hašák stieg hoch auf die Straße. „Ich hab’ gesagt, einen Mann. In schwarzem Anzug, Brille …“ Er stockte und starrte in die Krone des dürren Baumes. „Jesus Maria“, seufzte er. Šibink lief mit dem Apparat an eine andere, wie ihm schien, geeignetere Stelle. „Ja?“ 146
„Auf dem Baum ist eine Natter!“ schrie Hašák gedämpft. „Das hat uns gerade noch gefehlt! Zuerst ein Mord, jetzt eine Natter! Du hast sie gesehen?“ Šibink drückte ungerührt den Auslöser. „Was heißt hier Natter? Eine Klapperschlange. Atme tief durch und beruhige dich. Das ist meine Schlange. Kennst sie doch. Ich hab’ sie mitgenommen, weil ich mir sagte, dieser Apfelbaum wird am Morgen um diese Jahreszeit das richtige Licht haben. Schon lange hab’ ich ihn mir ausgeguckt“, fuhr er fort, wechselte auf eine andere Stelle und stellte die Schärfe nach. „Schon lange will ich sie auf diesem Baum knipsen. In Farbe.“ Hašák starrte gleich einem bärtigen Meerschweinchen auf die Schlange. „Und wenn sie ausreißt, du Narr?“ „Die reißt nicht aus. Ich sag’s dir doch, am Morgen, wenn’s so kalt ist, ist sie steif.“ „Und die hattest du in der Schachtel auf dem Rücksitz?“ stöhnte der Oberwachtmeister. „In der Margarineschachtel?“ „Sie ist doch ganz ruhig und noch klein“, sagte Oberwachtmeister Šibink, und das klang, als spräche er zu einem Kleinkind. „Und vollgefressen. Die würde selbst einem Baby nichts tun.“ Hašák spuckte aus. „Das werden sensationelle Fotos“, versicherte ihm Šibink. „Mein Gott, du bist ja ganz blaß. Keine Angst, ich steck’ sie dann in den Kofferraum.“
68 „Gewiß“, wiederholte Václav Slánský vielleicht zum fünfzigsten Male. „Trotz aller Ungunst des Schicksals tritt die Kommission in Libín zusammen. Herr Doktor Sultán ist einstweilen noch im Kranken147
haus, aber wir glauben alle, daß er sich einfinden wird oder zumindest im Geiste anwesend sein wird.“ Er legte den Hörer auf. Vor seinem Tisch saß Kateřina Reinerová, ein schönes Bein übers andere geschlagen. Ihr gegenüber Doktor Melíšek. Mit seiner schmalen Hand strich er sich den Bart und rückte sich die Brille zurecht. Er sah nicht so aus, als wäre seine Seele mit Frieden gefüllt. „Ich weiß nicht“, sagte dieser Fachmann für slawische Archäologie, insbesondere der jüngeren Burgstättenzeit, „ob ich es mit der Angst kriegen soll, Kateřina, wenn ich deine Ruhe sehe, oder ob ich dich bewundern soll.“ „Bewundern natürlich“, belehrte ihn Doktor Reinerová. „Was sonst?“ Václav Slánský, der wissenschaftliche Sekretär des Instituts, lächelte amüsiert, und Doktor Melíšek nickte fast verzweifelt. Doktor Reinerová fuhr fort: „Ich habe keinerlei Befürchtungen, meine Herren. Nach den Berichten, die wir haben, stehen wir in einem größeren Verdacht als vor einiger Zeit. Nämlich ich und Viki. Wir haben uns den Schatz angeschaut, und dann haben wir ihn geschickt gemaust. Nebenbei und im Vorbeigehen haben wir die Zeugin und das Hindernis unseres Verbrechens beseitigt. Das machen wir immer so. Ich warte jetzt auf den Arm des Gesetzes. Deshalb bin ich nicht zu meiner Arbeit gefahren. Übrigens, falls Sie es nicht wissen: Diesen Arm kennen wir.“ „Kapitän Exner“, stieß Melíšek hervor. Slánský nickte. „Genau der. Ich hab’ mit Bylaves gesprochen. Der Kollege Soudek hat es mir bestätigt.“ „Mir auch“, sagte die Reinerová. „Deshalb bin ich hier.“ In diesem Moment öffnete sich die Tür, und die Sekretärin blickte in den Raum. „Herr Doktor, der Herr Doktor Radimský vom Museum ist da.“ 148
„Ich lasse bitten“, sagte Václav Slánský und sah sich zufrieden um. „So daß also die Kommission bis auf den Herrn Doktor Sultán schon jetzt hier komplett versammelt ist. Uns fehlt nur der Arm des Gesetzes …“
69 Die Last der Jahre schien die alte Hütte zu erdrücken. Wettergegerbt, bescheiden und unauffällig stand diese Trampunterkunft am Rande eines Fichtenwaldes. Auf dem Rasen vor der Hütte stand ein Lieferwagen. Aus seinem offenen Fenster hing ein Sack und deckte schamhaft den Firmennamen auf der Tür zu. Es war ein Lieferwagen von MOTES. Vor dem Eingang und unter der Veranda standen ein paar Möbelstücke. Zdeněk Linhart beendete das Scheuern des Fußbodens. Aus dem Wald kam langsamen Schrittes Vlastimil Brožek. Auf jeder Schulter trug er einen Teppich. Linhart goß den Rest des Wassers auf die Veranda und verteilte es mit dem Besen. „Das reicht“, sagte er. „Ich hab’ versprochen, daß wir bis zehn weg sind.“ „Ich konnte nicht gleich einen passenden Ast finden. Je mehr ich mir das hier ansehe“, meinte Brožek „um so mehr wundere ich mich. Das ist wirklich ihr Bungalow?“ „Ja, sie hat ihn geerbt.“ „Ich hab’ nicht so sehr an die Bude gedacht, sondern an dich.“ Er ging um den Eimer herum, warf die Teppiche auf den Fußboden, rollte sie aus. „Noch recht feucht hier …“ „In der Sonne trocknet’s binnen einer Stunde …“ „Ob sich das für dich auszahlt, mit ihr zu gehen?“ „Meine Sache, meinst du nicht?“ „Klar.“ Brožek seufzte, und sein flaches Gesicht verdüsterte sich. „Aber du machst aus mir so eine Art Mädchen für alles.“ 149
„Was ich dir an den Augen ablese, erfülle ich. Das Auto borge ich dir, Werkzeuge besorge ich, manchmal auch …“ Brožek begann die Möbel einzuräumen. Ächzend schleppte er sich mit einer Truhe ab. „Bevor wir in die Garage zurückfahren, brauche ich dich mit dem Lieferwagen.“ „Wozu denn?“ „Mein Nachbar will zwei Blechschränke transportieren. Der Herr Sadílek.“ „Was sind das für Schränke?“ „Größere. Mit Schubläden. Der Herr Sadílek ist Archivar und sammelt Münzen.“ „Das macht heute jedermann“, ächzte Linhart und zerrte aus dem Lieferwagen einen weiteren Zwanzigliterkanister mit Wasser. „Alte Münzen, verstehst du. Einen Teil der Sammlung hat er jemandem verkauft. Mitsamt den Schränken.“ Aus der Ferne hörte man ein zweimaliges kurzes Hupen. Linhart ließ den Kanister fallen und sprang zum Lieferwagen. Er drückte etwas länger auf die Hupe. „Verdammt!“ „Was ist?“ „Mach hin! In einer halben Stunde ist sie hier!“ Die Person, von der die Rede war, nämlich Renata Lautererová, war vor einer Weile einige Dutzend Meter weiter, hinter dem Waldstreifen, aus einem zimtfarbenen Simca ausgestiegen und hatte dabei zweimal ungeschickt gegen das Lenkrad gestoßen und die Hupe betätigt. Sie lachte. „Verzeih, ich bin ein Tölpel. Komm, ich zeige dir den schönsten Blick ins Land!“ Sie ging diesmal als ländliche Elfe. Die Haare zu beiden Seiten des Kopfes in zwei Gummiringe gezwängt. Ein Leinenrock und eine Baumwollbluse. Sie trug zwar keinen Büstenhalter, aber das sah dennoch züchtig aus, denn um den Hals hing ein schlichter Rosenkranz, den 150
ihr auf ihren Wunsch Zdeněk Linhart in einer Wallfahrtskirche gekauft hatte. Sie ging barfuß und ohne Make-up. Mutig lief sie um den Wagen herum, wie Mädchen, die professionell tanzen, und reichte dem Mann die Hand, der sich, bevor er ausstieg, unauffällig den Schweiß von der Stirn wischte und den steifen Rücken streckte. Er lächelte, aber die blauen Augen unter dem ergrauten Haar erinnerten an den Blick eines in seinem Bau hockenden Kaninchens, über dem ein mordgieriger Hund mit hängender Zunge steht. „Du fährst fabelhaft“, sagte er begeistert. Er mußte sich erleichtert fühlen, weil sie an Ort und Stelle waren. Unauffällig ließ er den Blick über die Flanke des Wagens gleiten. Vor einer Weile war sie dicht am Wegrand langgefahren, an der Karosserie hatten sich die Zweige von Sträuchern und jungen Fichten gerieben. Der Lack war in Ordnung, und ihm wurde ein zweites Mal leichter ums Herz. „Hier“, sprach sie, „findet uns niemand, und du wirst endlich mal ein paar Tage ausspannen.“ Sie zog ihn eine Lichtung hoch zu einer Birkengruppe auf einem flachen Hügel. „Dort ist ein wunderschönes Plätzchen …“ „Da können aber Kreuzottern sein …“ „Möglich.“ Sie zuckte gleichgültig die Achseln. „Aber die machen sich davon, wenn man aufstampft. Ich zeige dir mein Lieblingsplätzchen“, jubelte sie. Er streckte seine langen Beine und folgte ihr. Er trug nagelneue Tennisschuhe, um die mageren Waden schlotterten Leinenhosen, und das karierte Hemd hatte noch Knitterfalten. Der Mittfünfziger hatte sich für den Ausflug neu und sportlich eingekleidet. Schwierigkeiten bereitete ihm die Brille. Er war nicht gewohnt, mit einer Bifokalbrille durch die Natur zu laufen. Und so verdrehte er den Kopf und taumelte manchmal leicht. Als sie an dem verheißenen Plätzchen anlangten, konstatierten sie, daß es mit seinem Blasebalg nicht so 151
schlimm stand. Seine Konstitution war relativ gut. Zur Belohnung ließ sie ihn mehr als eine halbe Stunde ausruhen und sich in die Landschaft vertiefen. Dann gingen sie zu der Hütte. Der Lieferwagen mit Linhart und Brožek war im Erdboden versunken. „Meiner Seel“, sagte der grauhaarige Herr lachend, „eine Tramphütte. Und beinahe hätte ich dir nicht geglaubt, Renata.“ Sie streichelte seinen Unterarm und sagte heiter mit einem leisen Ton von Nostalgie in der Stimme: „Na siehst du, Liebling.“ Sie schloß die Hütte auf, und der grauhaarige Herr, die Hände in den Taschen, betrachtete das gewellte Moldauland vor sich.
70 Die Hühner gackerten, als wäre nichts geschehen. Den Libíner Dorfanger überquerten Autos, und auf der Bahnstrecke, die am Dorf entlangführte, raste ein Zug nach dem anderen vorbei. Unter einer Linde saßen auf einer Bank drei Herren. Und der mittlere, Kapitän Exner, rauchte erstaunlicherweise. Oberleutnant Vlček mümmelte an der leeren Pfeife, und Leutnant Beránek kritzelte auf zwei Blätter in dem aufgeklappten Notizbuch einen mehr als einfachen Plan des Dorfes. Eine primitive Lageskizze der weiteren Umgebung in südwestlicher Richtung, zur Flußeinmündung, hatte er bereits fertig. Sie lag auf der Bank neben ihm, mit einem Stein beschwert. Er war so mit seiner Arbeit beschäftigt, daß er nicht einmal den Kopf hob, als ihnen gegenüber vor dem so unglücklich beendeten archäologischen Forschungsobjekt ein weißgelber Polizeiwagen hielt. Einer von Vlček Mitarbeitern, die noch in der Grube 152
herumwimmelten, zeigte den Oberwachtmeistern Hašák und Šibink, wo die Chefs saßen. Und die Oberwachtmeister rückten die Mützen gerade und traten an die Linde heran. Šibink meldete sich, ohne einen der drei anzuschauen. Übrigens kam ihm der mittlere verdächtig vor. Merkwürdigerweise stand gerade er auf. Er schnippte die Zigarettenasche von der Hemdtasche, trat die Kippe aus und sagte: „Die Herren Oberwachtmeister Šibink und Hašák. Leutnant Žák schickt Sie. Das sind Freuden …“ „Was?“ fragte Šibink. „Freuden“, wiederholte Kapitän Exner. „Hör nur“, wandte er sich an Leutnant Beránek. „Ist er nicht frech?“ Der Leutnant studierte konzentriert seinen Plan. „Wer?“ „Der Oberwachtmeister Šibink.“ „Kenn’ ich nicht.“ „Das ist der da“, und Exner deutete auf Oberwachtmeister Šibink. Beránek hob den Kopf. „Ein bißchen. Aber er ist noch jung. Fassen wir zusammen?“ „Im großen und ganzen können wir das“, stimmte Exner zu. Und Oberleutnant Vlček sagte: „Wir ziehen sie mit hinzu, nicht?“ Und er zeigte mit der Pfeife auf die zwei. „Sie kennen das hier?“ „Ein bißchen“, räumte Hašák ein. „Ein paarmal fahren wir hier durch“, schloß sich Šibink an und fügte hinzu: „Etwa dreimal am Tag hin und her.“ Exner schaute sich um: „Aber dieser Ort ist nicht besonders geeignet …“ „Wir können zum Fluß gehen“, schlug Šibink vor, „dort sind Bänke und Birken.“ „Und wie wär’s damit“, meinte Exner und zeigte mit dem Daumen. „Dorthin …“ 153
„Das ginge“, stimmte Leutnant Beránek zu. „Auch in die Kneipe ist es nicht weit.“
71 Zuerst sah Frau Doktor Janovská eine Zimmerdecke. Die bekannte weiße Decke mit dem Muster der geplatzten Tünche und dem zuckenden Widerschein der grünlichen Schatten der Pflaumenbäume vor dem Fenster. Und sie vernahm vertraute Geräusche. Das Brausen von Zügen, das Gegacker von Hühnern und Stimmen von der Straße, die zwischen den Häusern hierherführte, und dann weiter zu dem Denkmal, das an die Glorie und den Niedergang von Libín erinnerte. Ihr Hals war trocken, sie hatte Durst. Sie langte nach dem Glas Wasser auf dem Nachttisch. Es war warm, weil die Sonne es beschienen hatte. Und sie verspritzte es auf die Brust und den Fußboden, so zitterten ihr die Hände. Erst in diesem Augenblick wurde sie sich der Gegenwart und ihrer Lage in ihr bewußt. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtröpfchen. Sie wischte sie mit dem Handrücken ab und sehnte sich danach, weiterzuschlafen. Alles zu verschlafen und zu einer besseren Stunde aufzuwachen. Aber das ging nicht, und Frau Doktor Janovská wußte das. Sie wußte, daß sie nie wieder ein solches Depot von Denaren finden würde und nie wieder ein solches Glück haben würde, und sie erbleichte, als sie sich an das Ende von allem am Flußufer erinnerte. Und an das reglose Gesicht des Mädchens. Sie mußte aufstehen und ins Leben treten, das fortan von dieser Katastrophe gezeichnet sein würde. Abermals wischte sie sich die Stirn ab. Sie schob das Federbett von dem altväterlichen Bett zurück, streifte 154
das Hemd ab, zog sich den Badeanzug an und trat auf den Hof. Die Sonne blendete sie. Es mochte um die zehnte Vormittagsstunde sein. Sie fühlte einen leichten Schwindel und ging zum Wasserhahn. Sie ließ das Wasser laufen und bespritzte sich. Das Wasser war eiskalt. Sie biß die klappernden Zähne aufeinander. Unwillkürlich schaute sie zum Tor und stieß einen leisen Schrei aus. Am Tor zog sich mühsam ein Mann hoch, dessen Brillengläser aufblitzten. „Was wollen Sie?“ rief sie. „Ich suche Sie“, sagte der Mann. „Schon eine Stunde warte ich hier, daß Sie endlich erwachen.“ Es war Doktor Johan. „Ist was passiert?“ Sie wußte, wie reizlos sie aussah. Im Geiste leistete sie bei Doktor Soudek Abbitte. Nie wieder wird sie seine Vorträge über die Eingebung und Intuition im Leben der unvollkommenen Primaten des Homo sapiens belächeln. Als Doktor Johan vor einigen Tagen hier aufgetaucht war, hatte sie Unannehmlichkeiten geahnt. Sie hätte Tag und Nacht am Depot wachen sollen. Sie seufzte. „Nichts“, teilte er ihr aufgeregt mit. Und er hielt sich geradezu verzweifelt am Tor fest. Sie hatte größte Lust, ihm mit einem Knüppel auf die Finger zu hauen. „Ich suche Sie nur, um Sie zu fotografieren. Unten in der Grube. Aus diesem Fall wird ein tolles Buch, das garantiere ich Ihnen.“ „Ich zieh’ mich nur an.“ Sie nahm das Fahrrad, fürchtete sich aber aufzusteigen. Sie wäre vielleicht umgekippt und hätte sich den Kopf aufgeschlagen. Was wohl das beste wäre. Doktor Johan hatte zwei Fotoapparate um den Hals hängen. 155
„Sie sind zum Fluß gefahren“, meldete er ihr. Er gebärdete sich wie ein Verschwörer. Schweigend ging sie auf das Denkmal zu. Die Fünf war selbstverständlich in eine Sechs verwandelt. Sie sollte umkehren und den Nagellackentferner holen. Erstaunlicherweise war ihr jedoch alles egal. Vielleicht wurden sie wirklich im Jahre 996 ausgerottet. Wer wird in tausend Jahren der kleinen Iveta gedenken … Ihr war, als überfiele sie immer neue Müdigkeit. „Gehen wir?“ „Wohin?“ fragte sie. „Zum Forschungsobjekt.“ „Ist der Herr Urban dort?“ „Nein, nur Kriminalisten. Die Chefs sind zum Fluß gefahren.“ Er zeigte auf den gelbweißen Wagen bei den Schneebeersträuchern. Aus Abneigung gegen Johan überwand sie die Angst vor dem Radfahren, sie stieg auf. „Wo wollen Sie hin“, stieß er hervor. „Ich muß mit denen reden.“ Sie hörte, wie in ihrem Rücken der Auslöser klickte.
72 Exner saß auf einer alten Decke, die Oberwachtmeister Šibink aus seinem Kofferraum geholt hatte. Vorher hatte sie der Klapperschlange als Lager gedient, aber das wußte der Kapitän nicht. Die übrigen hatten es sich in seiner Nähe und zu seinen Füßen im Gras bequem gemacht. Stromaufwärts sah man einen Kilometer weit, fast bis zur Brücke, stromabwärts zur Einmündung der Surina, zur Anlegestelle und den Wäldern hinter der Elbe. Oberleutnant Vlček schaute sich um: „Gibt mir jemand eine Zigarette?“ Er empfing sie von Oberwacht156
meister Hašák. „Also, womit fangen wir an, mein Kapitän?“ Exner legte die Ellbogen auf die Knie und blickte auf den Fluß, der regungslos zu sein schien. Dann und wann huschte unter dem Wasserspiegel der dunkle Rücken einer Forelle vorbei. „Womit würdest du anfangen?“ „Eine Stunde nach dem Mord, der am hellichten Tag geschah, da der größte Verkehr herrscht, bleibt die vorläufige Untersuchung des Leutnants Žák ergebnislos, und die Hunde raffen sich zu nichts anderem auf, als die umstehenden Bäume anzupinkeln.“ Kapitän Exner seufzte. „Das ist zwar wesentlich, Genosse Oberleutnant, aber man müßte es ein bißchen ausführen, und da und dort eine Zeitangabe. Der Übersicht halber.“ „Na ja …“ Leutnant Beránek klappte das Notizbuch auf. „Im groben. Der Übersicht halber. Am Freitag buddelte der Baggerführer den Schatz aus.“ „Er beschädigte das Depot“, berichtigte ihn Exner. „Gut, wie du meinst. Das geschah am Nachmittag, Frau Doktor Janovská sicherte die Bewachung, meldete die Sache nach Prag, schon deshalb, wie ich aus unseren Erfahrungen mit Archäologen schließe, weil sie betreffs dieser Dinge ungeheuer ordentlich und genau sind. Sie sprach mit Doktor Slánský, den du kennst. Wie jeden“, fügte Beránek hinzu und fuhr trocken fort: „Ferner rief die Frau Doktor ihren ehemaligen Lehrer an, den Museumsmitarbeiter im Ruhestand Doktor Sultán. Das ist der, der jetzt im Spital liegt. In Brody. Dadurch geschah es, daß von der erwähnten Kleinigkeit alle möglichen Leute erfuhren.“ „Das dürfte übertrieben sein“, meinte Oberleutnant Vlček. „Nehmen wir an, ein paar Leute im Dorf …“ Er sah die beiden Oberwachtmeister an. Šibink hielt das für eine Aufforderung und sagte: „Wenn Sie erlauben, Genosse Oberleutnant …“ 157
Vlček nickte wohlwollend. „Gewiß.“ „Sehr hat es sich nicht herumgesprochen. Wir saßen Samstagnachmittag im Bahnhofsrestaurant, dort ist kein Wort darüber gefallen. Und in einer Kneipe wird furchtbar viel gequatscht.“ „Besonders in der auf dem Bahnhof“, ergänzte Hašák seinen Kollegen. „Dort ist Freitag und Sonntag viel Betrieb. Einschließlich von Bürgern Zigeunern.“ „Alles gut und schön, Jungs“, räumte Exner ein. „Aber das beweist gar nichts. Und dann hat sich hier der Schriftsteller Johan herumgetrieben und …“ Er stockte, bevor er hinzufügte: „Und der Mann im dunklen Anzug, über den ihr Meldung erstattet habt. Fahr fort.“ Er nickte Beránek zu. „Also am Samstag und Sonntag kamen ziemlich viele, um sich das Depot anzuschauen. Ich werde sie einstweilen nicht namentlich anführen, weil es durchaus möglich ist, daß unsere Aufstellung mehr als unvollständig ist. Denn wir haben noch nicht mit Frau Doktor Janovská und Herrn Doktor Sultán gesprochen, die, wie ich annehme, am meisten über die Besucher aus Fachkreisen wissen werden. Ich bitte die Genossen Oberwachtmeister, ein gleiches Verzeichnis der hiesigen Bewohner aufzustellen, falls das überhaupt möglich ist. Ja, um es nicht zu vergessen: Die Kommission der Archäologen ist für Mittwoch früh einberufen worden. Das hat mir der Herr Urban gesagt. Wir müssen fragen, warum so spät. Am Montag, da der Fund ständig bewacht wurde, wurde sein Diebstahl und zugleich das Verschwinden der Schülerin Iveta Svitáková gemeldet. Und Sie waren als erste am Tatort, Genossen Oberwachtmeister. Was haben Sie festgestellt?“ Hašák und Šibink sahen einander an. „Na ja“, sagte Šibink, „daß es weg ist Und so haben wir Meldung gemacht. Wir haben gewartet, was wird, und inzwischen …“ 158
„Inzwischen oder eigentlich gleich darauf … Wann sind Sie denn hier eingetroffen? Im Dorf meine ich.“ „Achtzehn Uhr zehn“, sagte Hašák. „Ich hab’ auf die Uhr geguckt.“ „Laut Leutnant Žák wurde die Betroffene um achtzehn Uhr fünfzehn gefunden. Nach Aussagen derer, die sie gefunden haben. Übrigens sind das schrecklich große Menschen, diese Zeugen.“ „So daß also“, bemerkte Exner, „eine Meldung die andere jagte. Nur ist es niemandem eingefallen“, fuhr er bekümmert fort, „mitzuteilen, wie sie hierhergeraten ist, an diese Stelle, und ob sie da noch lebte oder schon tot war …“ Oberleutnant Vlček hatte sich unterdessen die Pfeife gestopft und suchte die Taschen nach Streichhölzern ab. Šibink reichte ihm sein Feuerzeug, Vlček schüttelte traurig den Kopf. „Das stinkt. Nach Benzin …“ Er zündete sein eigenes, extra großes Streichholz an und bemerkte, den Kopf in Richtung des sanften Abendwindes abwendend: „Weißt du, was das schlimmste ist, Michal?“ Und da Kapitän Exner nicht antwortete, fuhr er fort: „Eine Minute jagte die andere. Achtzehn Uhr zehn, achtzehn Uhr fünfzehn. Und die vielen Menschen.“ „Wie auf dem Rummel“, stimmte Leutnant Beránek zu, der schon mancherlei gewohnt war, aber diesmal zitterte seine Stimme. „Und der Täter flüchtet offenbar, verwischt die Spuren, und wir sitzen hier wie an einem Lagerfeuer.“ Exner klatschte auf der Hand eine Mücke tot, dicht an der Manschette. „Sakra, die stechen, als sollte es gleich gewittern.“ „Es wird nicht gewittern“, verkündete Beránek mit der Sicherheit eines Gehilfen Gottes und zeigte auf den Rauch aus Vlčeks Pfeife. „Der Rauch steigt senkrecht hoch …“ Und plötzlich verstummte er, den Mund halb offen, und zeigte mit dem Finger nach rechts, wo das 159
Schneebeergebüsch aufhörte und der sich dahinter verbergende Weg aus Libín längs des Flusses zum Haus des Fährmanns und zum Restaurant abbog. „Schau mal, Kapitän …“ Das Mädchen auf dem Fahrrad, in Shorts und Tennisschuhen, fuhr vom Weg hinunter auf den Rasen, direkt zu ihnen. „Frau Doktor Janovská“, stieß halblaut Oberwachtmeister Šibink hervor.
73 Sie stoppte ihr Rad auf dem kleinen Platz zwischen den Schneebeersträuchern neben Hašáks und Šibinks Wagen. Die Herren erhoben sich, und Exner schaffte es gerade noch, Šibink zuzuflüstern: „Der alte Herr in Schwarz … Von dem gesprochen wurde …“ „Ja, Genosse Kapitän?“ „Versuchen Sie, ihn zu finden. Sie können fahren …“ Šibink stieß Hašák mit dem Ellenbogen an, sie zwinkerten einander zu und gingen. Wie immer, Handlanger zum Suchen der Stecknadel im Heuhaufen. Frau Doktor Janovská zeigte eine gesunde Röte und war ein bißchen außer Atem, weil sie sich so beeilt hatte. Vielleicht auch von der Erregung. Die Geschehnisse, die sie überrollt hatten, hatten sich in ihren Augen festgesetzt. Sie waren eingefallen, und es schien, als blickten sie außerhalb dieser Welt. Hašák und Šibink machten einen Bogen um sie und strebten zu ihrem Wagen. Kapitän Exner stieg ihr das Ufer hinauf entgegen. Sie stellte sich vor und streckte ihm die Hand hin, als wollte sie ihm zu sich heraufhelfen. Er ergriff ihre Hand wie einen Rettungsanker. 160
„Kapitän Exner?“ „Ja, Frau Doktor.“ „Wir haben uns, glaube ich, noch nie gesehen.“ „Das nicht. Herr Doktor Soudek hat mich gebeten …“ Sie musterte ihn, und es sah nicht so aus, als freute sie sich über seinen Anblick. Seine Schuhe glänzten wohl im Gras zu sehr. „Es war nicht mein Einfall, Sie zu belästigen, Herr Kapitän.“ Er zuckte die Achseln. „Nun bin ich schon mal hier und fast unter meinen Freunden. Die Gemeinde der Archäologen …“ „Weder die Kollegen noch das Institut haben damit etwas zu tun. Es ist meine Schuld. Einzig und allein meine Schuld.“ „Wirklich?“ fragte er, und ihr schien es zu Recht, ganz ernst. „Ich verlange, daß ich wegen Vertrauensbruchs aus dem Institut entlassen werde.“ „Lassen Sie sich damit noch Zeit. Hier geht es nicht darum, ob Sie es geschafft haben, sich seit gestern bewußt zu werden, um welche grobe Vernachlässigung der Arbeitsmethoden oder der materiellen Verantwortung für das Depot von Denaren es sich handelt. Das natürlich auch“, fügte er seufzend hinzu, „aber nicht in erster Linie.“ Ihre Lippen zitterten. „Ich weiß“, sagte sie leise … Und preßte die Lippen zusammen, daß sie weiß wurden. Es gelang ihr, vor diesem selbstsicheren Polizeioffizier keine Träne zu vergießen. Die Oberwachtmeister starteten und fuhren weg. Der Wagen schaukelte in dem weichen Gras und bog an den Schneebeersträuchern vorbei nach Libín ab. „Wir sollten uns unterhalten“, sagte der Kapitän sanft. „Nur wir zwei und ganz in Ruhe.“ Er zeigte auf den Flußpfad, der stromaufwärts am Ufer entlangführte. An ihm stand eine schüttere Kirschallee und in der Fer161
ne im Grün anderer Bäume und Sträucher, mehr geahnt als gesehen, jene steinerne Brücke, an der die Gemeinde Libín endete. Er schritt aus, und sie folgte ihm schweigend. „Mich interessieren die Umstände des Fundes“, begann er. Sie schilderte sie ihm. Wie der Herr Chvalina baggerte, auch das Problem der schrägen Grube, in die das Depot gebettet war. „Sie machen eigentlich nichts anderes als Schutzuntersuchungen vor Neubauten.“ „Leider. Nicht einmal das schaffen wir.“ „Konnten Sie den Wert des Fundes schätzen?“ „Natürlich, deshalb habe ich gleich im Institut angerufen und eine Kommission angefordert, die …“ „Ich meine nicht den wissenschaftlichen Wert. Den faktischen.“ „Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.“ „Gut. Vielleicht im ersten Augenblick. Aber später.“ „Auch nicht.“ Kapitän Exner schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie haben doch das Depot sorgsam bewachen lassen. Das heißt, von Ihrem Standpunkt aus sorgsam.“ „Mir ging es darum, daß keine der gefundenen Münzen verschwindet, daß das Depot komplett bleibt und so nichts von seinem wissenschaftlichen Wert verliert, der freilich ungemein höher liegt …“ Frau Doktor Janovská stockte. Und sie verbesserte sich: „Ungemein höher lag als der Sammlerpreis.“ „Eher der Marktwert, nicht?“ „Wie Sie meinen. Ja, der Marktwert.“ „Nehmen wir an …“ Kapitän Exner sprach mehr zu sich, „drei Millionen Kronen, in Valuta noch mehr, das genügt, gemordet wird schon für weniger.“ Und er fügte hinzu: „Nur nicht mit einem solchen Risiko. Übrigens, über die Situation und den Zustand des Fundes, über die 162
Menge der Münzen und so weiter hat mich bereits Herr Doktor Soudek informiert. Aber er war nicht dabei. Gut, ich habe mit Herrn Urban gesprochen, vielleicht werde ich mich noch mit Herrn Chvalina unterhalten. Hat er nicht übertrieben?“ „Wer?“ „Doktor Soudek. Waren wirklich alle Denare aus dem zehnten Jahrhundert, und waren es wirklich so viele?“ „Natürlich“, antwortete sie trocken. „Dann meine ich, daß Ihre Sicherheitsvorkehrungen primitiv waren.“ „Das weiß ich bereits, Genosse Kapitän. Und deshalb möchte ich …“ „Das hab’ ich schon gehört … Der Fund hat sich rasch herumgesprochen. Vor allem in Numismatikerkreisen. Hier waren viele Leute. Mit allen haben Sie nicht gesprochen. Aber nichtsdestoweniger: Wer kann das Ihrer Meinung nach getan haben?“ „Wen ich in Verdacht habe?“ „Ich wollte es nicht so prägnant formulieren. Aber wenn Sie wollen, bitte sehr.“ „Ich weiß es nicht.“ Kapitän Exner blieb stehen und rieb sich, tiefes Nachdenken vortäuschend, die Nase. „War das Ihre Idee, das Depot nachmittags von den Mädchen bewachen zu lassen?“ „Ja, ich bin mir der Verantwortung bewußt …“ Er winkte ab. „Wer hat sie ausgesucht und bestimmt, wann welche wachen soll?“ „Niemand. Sie haben den Dienst untereinander aufgeteilt. Soweit ich weiß, durch das Los. Mit Streichhölzern.“ „So daß der Dienst um diesen sonderbaren und entscheidenden Augenblick durch Zufall auf die Svitáková fiel.“ „Soweit ich weiß, ja.“ „Was heißt das – soweit ich weiß?“ 163
„Ich hab’ mit ihnen nicht darüber gesprochen. Weder vorher …“, es war, als wehte Kälte vom Fluß, „noch nachher.“ „Hatten die Mädchen Jungen bei sich?“ „Kaum. Sie sind vor einigen Tagen gekommen.“ „Ausschließen kann man es nicht.“ „Allerdings.“ „Sie ist tot“, sagte Kapitän Exner leise, „und das ist eine Katastrophe. Aber ich glaube nicht, daß der Dieb morden wollte.“ „Das ist doch egal, meinen Sie nicht?“ „Ist es. Soweit es um die Trauer und das Unglück und den Tod geht. Ein Dieb denkt sich doch nicht einen Mord aus, mitten im Dorf und am hellichten Tag. Ein Mörder auch nicht. Es ist nämlich möglich, daß es sich um Mord handeln könnte. Und dem Mörder ging es um das Mädchen und nicht um Ihren unersetzbaren Schatz.“ Sie zuckte die Achseln. „Mir wäre wohler, wenn nicht …“ Ihre Stimme zitterte, wie der Zweig eines Strauches wippt, auf den sich ein Vogel setzt. Er schwieg. „Verzeihen Sie“, sagte sie und atmete tief ein, um die Schwäche niederzukämpfen. „Hier sind in den letzten vierzehn Tagen einige rätselhafte Dinge geschehen, die mich beunruhigen. Ich möchte zu keiner Ausrede Zuflucht nehmen …“ „Aber“, wunderte sich Kapitän Exner, „Dinge? Darf ich wissen, was für Dinge?“ Und langsam machte er kehrt, um den Rückweg zum Schneebeergebüsch einzuschlagen. „Solche Kindereien mit dem Datum auf der Schautafel. Nichts weiter. Jemand korrigiert auf der Mosaikschautafel, die Sie bestimmt unterhalb der Akropolis der Burgstätte gesehen haben, das Datum der Ausrottung des herrschenden Geschlechts. Dies geschah …“ 164
„Weiß ich. Neunhundertsechsundneunzig.“ „Nein“, sagte sie, „fünfundneunzig!“ Sie blieb stehen und schlug die Hand vor den Mund. „Um Gottes willen! Das wissen Sie schon?“ „Das weiß ich längst“, sagte er leichthin. „Irgendwo hab’ ich es gelesen. Oder jemand hat es mir gesagt.“ „Es geschah neunhundertfünfundneunzig. Und seit einigen Tagen verändert jemand unablässig das Datum.“ „Und womit macht er das? Auf einem Steinmosaik?“ „Mit Nagellack.“ „Aber, aber“, wunderte sich Kapitän Exner.
74 Die geschwärzten Kiefernbretter der Bank bogen sich durch und ächzten. Auf ihnen hatten etwa zweihundertdreißig Kilogramm Lebendgewicht Platz genommen, und diese bewegten sich von Zeit zu Zeit, wenn auch nicht sehr lebhaft. Die Bank stand ein paar Meter von der Anlegestelle entfernt, unter Kastanienzweigen, die ein Dach für das Gartenrestaurant Zur Mündung bildeten. Der breite Weg auf dem Damm trennte den Hafen vom Restaurant und die Bank von den Tischen und Stühlen. Wer dort saß, hatte einen poetischen Ausblick stromaufwärts. Die Ufer waren beiderseits mit Auenwald bestanden, man sah auch ein Stück stromabwärts bis zur nahen Flußbiegung, dort versteckte sich hinter Baumkronen der alte Turm der ehemaligen königlichen Burg an der Furt über den Fluß, der Turm, der immer noch und überflüssigerweise die Stadt Brody bewachte. Neben den beiden Beinpaaren der auf der Bank sitzenden Herren sah die Literflasche Wein winzig aus. „Sieh mal“, sagte der ältere, „ein Schwimmfahrzeug.“ 165
Er meinte damit das Aussichtsschiff „König Georg“, das in der Biegung auftauchte. Die Worte Bartoloměj Bouček wurden von seinem jüngeren Kollegen nicht kommentiert. Der Verfasser populärwissenschaftlicher Bücher Tomáš Coufal hatte gewisse Sorgen, so daß er das Nahen des Schiffes, sein Landemanöver und die vier Ausflügler, die ausstiegen, mit nur geringem Interesse beachtete. Das Schiff löste sich vom Steg und dampfte weiter. Die Schraube wirbelte das Wasser auf, es schäumte und färbte sich rosig. Doktor Bartoloměj Bouček registrierte das voller Kummer. „Phenole“, sagte er. „Tomáš, das ist kein Fluß mehr. Das ist ein Strom von Phenolen. Die Forellen, die wir gestern gegessen haben, stinken danach, obwohl“, und er zeigte mit dem Daumen auf das Flüßchen, das sich hier in den Hauptfluß des Landes ergoß, „sie offenbar von jenem guten Mann dort, dem Fährmann, gefangen wurden. Es genügt, wenn die Forellen einen Schluck genommen haben. Offenbar haben sie hier einen eigenen Brunnen“, setzte er seine düsteren Betrachtungen fort. „Nun denn, dieses Glas wurde mit Wasser voller Phenole ausgewaschen. Und der Wein, den wir trinken und der uns gut zu sein scheint – falls er irgendwo an einer Landstraße gereift ist, nehmen wir an auf dem Hang bei Pavlov, unter dem die Straße nach Mikulov vorbeiführt –, dieser Wein ist voller Blei. Wenn es außerirdische Zivilisationen gibt, dann betrachten sie voller Freude unseren Selbstmord. Und jetzt noch obendrein“, und Bartoloměj Bouček seufzte, „der Mord gestern …“ Er trank. Sein Begleiter und Freund folgte seinem Beispiel. Er bückte sich, ergriff die Flasche, das alte Kiefernholz ächzte. Er schenkte die Gläser erneut voll. „Um eins soll ich auf dem Flugplatz sein“, sagte er respektlos und ganz außerhalb des Problems, mit dem sich sein Lehrer be166
schäftigte. „Da bin ich aber neugierig, ob ich das schaffe.“ Jemand stützte sich mit dem Ellbogen auf die Banklehne und hielt dreist seine Unterarme und gefalteten Hände zwischen die beiden. Golden blitzten die Manschettenknöpfe und die Armbanduhr. „Verzeihung“, sagte dieser Mensch, und es war unüberhörbar, daß er seine Entschuldigung formal meinte. „Worauf warten die Herren?“ Sie drehten sich um. Seine Kleidung war zu vollkommen, so daß das erste, was Tomáš Coufal einfiel, der Gedanke war: dich möchte ich mit Rotwein begießen, du Pinkel. „Junger Mann“, sagte Doktor Bartoloměj Bouček ruhig, „ich könnte Ihnen sagen, daß Sie das nichts angeht. Ich kenne Sie nicht, und Sie haben sich nicht vorgestellt. Ihrem Aussehen nach würde ich vermuten, Sie seien ein angetrunkener Vagabund. Im Hinblick darauf, daß wir warten, bis uns die Kripo verhört, ferner im Hinblick auf Ihr ungehemmtes Benehmen uns gegenüber, schätze ich, daß Sie offenbar die besagte Kripo sind. So habe ich mir zwar einen Mitarbeiter der Kripo nie vorgestellt, habe auch noch keinen dieser Art gesehen, aber ich bin bereit, mich mit Ihrem Benehmen abzufinden, Ihnen allerlei nachzusehen, wenn Sie mit der Vernehmung nicht länger säumen.“ „Das werde ich nicht“, versprach Kapitän Exner und stellte sich vor. Tomáš Coufal machte Anstalten aufzustehen. „Bleiben Sie nur sitzen, Herr Doktor.“ Exner legte ihm die Hand auf die Schulter. „Bleiben Sie sitzen und betrachten Sie weiter den Fluß. Wo sollen wir schon hin. Das Flugzeug um eins schaffen Sie so oder so nicht mehr, und das hier ist ein ganz angenehmer Ort.“ Er blickte stromaufwärts, und weil dort Südosten war, glitzerte die Wasserfläche und blendete ein bißchen. Er 167
kniff die Augen zusammen. „Sie sind also am rechten Ufer entlanggegangen, hierher zur Fähre.“ „Richtig“, sagte Doktor Bouček. „Vom geographischen Gesichtspunkt am rechten, von unserem am linken. Stimmt.“ „Und dann haben wir uns übersetzen lassen“, fuhr Doktor Coufal fort, „und dann …“ „Moment, erlauben Sie eine Frage, meine Herren?“ „Aber sicher, Genosse Kapitän“, stimmte Bartoloměj Bouček zu und nahm zufrieden einen Schluck. „Gewiß.“ „Das Motiv Ihres Ausfluges.“ Doktor Bouček dachte nach und sah fragend seinen Schüler und Begleiter an. „Das Motiv …“, überlegte er laut, „was meinst du, Tomášek, was hatten wir für ein Motiv?“ „Wir wollten uns von der anstrengenden Lesung erholen.“ Doktor Bouček schüttelte den Kopf. „Ach was. Keinerlei Anstrengung hätte mich zu einem so unsinnigen und verderblichen Tun bewogen. Drei Kilometer zu Fuß auf einem Weg, den man kaum sehen kann, am Rande eines Auenwaldes voller Mücken entlang, ach wo, das war nicht die Sehnsucht nach Erholung.“ Doktor Bouček schüttelte wieder den Kopf. „In keinem Fall.“ „Und es war recht heiß“, überlegte Doktor Coufal langsam. „Ich habe fast den Eindruck, daß die Sonne mehr als heute brannte.“ „Stimmt genau“, schloß sich Doktor Bouček an. „Wir hatten hier im Restaurant nur leichte Kost, diese nach Phenol stinkenden Forellen. Die Forellen waren ziemlich gesalzen. Das ist völlig in Ordnung“, betonte Doktor Bouček. „Ein Fisch soll gesalzen sein, selbst wenn er mit Phenol gewürzt ist. So daß wir begreiflicherweise Durst bekamen. Und etwas hatten wir auch schon bei der Lesung getrunken …“ Er verstummte. „Also wieviel Fläschchen?“ fragte Michal Exner. „Aber aufrichtig.“ 168
„Zwei, drei“, gab Tomáš Coufal zu. „Drei“, konkretisierte Bartoloměj Bouček bestimmt. „Drei hier und eine im nächsten Hafen stromaufwärts. Dort ist eine Bude, da schenkt ein guter Mann aus. Also vier. Insgesamt. Dann drei Kilometer zu Fuß, wir gingen ziemlich schnell, und deshalb mußten wir tief atmen – so daß ein beträchtlicher Teil des Alkohols eliminiert wurde. Soll ich es Ihnen eingehender erklären? Man könnte es genau in Promille ausrechnen …“ „Danke, nicht nötig, Herr Doktor.“ „Ich will damit sagen, daß wir an der Fähre fast nüchtern anlangten. Fast.“ Michal Exner erwiderte nichts. Es schien sogar, als dächte er nach. Und er blickte stromaufwärts, wo das Ausflugsschiff soeben in der Biegung hinter dem Auenwald verschwand. „Wir ließen uns normal übersetzen …“, wollte Tomáš Coufal in seinem Bericht fortfahren, aber Exner stoppte ihn mit der Frage: „Wieviel, meinen Sie, kostet so ein Denar aus dem zehnten Jahrhundert?“ Überrascht sahen sie ihn an. „So einer, den das Mädchen in der Hand hatte. Den sie mit der Hand umschloß.“ „Ziemlich viel“, meinte Doktor Coufal. „Wir sind allerdings keine Fachleute …“ „Um die tausend“, sagte Doktor Bouček. „Vielleicht mehr. Das hängt davon ab, wie selten die betreffende Münze ist. Sicherlich mehr, viel mehr.“ „Genau“, stimmte Kapitän Exner zu. „Ich denke nämlich über ein Problem nach.“ „Machen Sie uns mit ihm vertraut“, forderte ihn väterlich der Arzt und Schriftsteller Bouček auf. „Wir werden Ihnen gern bei der Lösung helfen.“ „Es geht um eine gewisse Zusammendrängung in den Zeitangaben“, vertraute sich ihnen Kapitän Exner an. „Zwischen dem Zeitpunkt, da man das Verschwinden 169
des Depots und des Mädchens entdeckte, die es um diese Zeit bewachte, und Ihrer Meldung über das Auffinden der Ermordeten sind nur ein paar Minuten vergangen. Und Sie als Arzt können sicherlich bestätigen, daß zwischen dem Zeitpunkt, da Sie die Betroffene gefunden haben, und dem Zeitpunkt, da sie starb, gleichfalls eine sehr kurze Zeit verstrichen war.“ Bartoloměj Bouček nickte ernst. „Genau so. Ich würde zu sagen wagen, nur Minuten.“ „Und jetzt stellen Sie sich vor“, fuhr Kapitän Exner fort, „daß sich zwei Männer, von denen einer seinem Alter nach sich als Liebhaber oder Freund eines siebzehnjährigen Mädchens eignet, mit jenem Mädchen verabreden. Er fordert sie auf, den Schatz zu entwenden, vereinbart mit ihr einen Treffpunkt, zum Beispiel an einem Schneebeergebüsch. Als sich das Mädchen dort einfindet, übernimmt er von ihr die Münzen, und unter Mithilfe seines älteren Freundes …“ Doktor Coufal erbleichte sichtlich. „Sie vergessen, daß ich Jurist bin.“ „Ich auch“, sagte Exner trocken. „Ich habe eine Geschichte erzählt, deren Wahrscheinlichkeit Sie nicht abstreiten können.“ „Die Wahrscheinlichkeit sicher nicht“, und Doktor Bouček blickte auf seine riesigen Hände. Er seufzte: „Ich vermute, Tomášek, die Zeit der Beweise und Überprüfungen ist gekommen. So bald werden wir wohl diesen angenehmen Ort nicht verlassen. Das Flugzeug, so vermute ich, wirst du auch morgen nicht schaffen.“
75 Es gibt auf der Welt Menschen, denen das Glück in den Schoß fällt, und zu ihnen gehörten auch die Oberwachtmeister Šibink und Hašák. 170
Während sie auf dem staubigen Weg voller Schlaglöcher gegen Libín fuhren, sannen sie schweigend über ihr Schicksal nach. Šibink obendrein über die Bequemlichkeit der Schlange im Kofferraum. Am Rande des Dorfes hielten sie an der Schautafel an, die den Ruhm der bedeutsamen slawischen Burgstätte vom Ende des neunten und aus dem zehnten Jahrhundert verkündete. Ohne auszusteigen, lasen sie geduldig den Text, überrascht von der Bedeutung der Örtlichkeit, für deren Sicherheit sie sorgten. Sie bemerkten die mit rotem Lack durchgeführte Korrektur des Datums. Sie schauten einander an. Hašák kratzte sich im Bart. „Ein Narr?“ fragte er, ohne den Adressaten zu nennen. „Wer? Doktor Janovská?“ Hašák zeigte mit dem Daumen auf die Tafel. „Der Täter.“ Šibink nickte. „Eigentlich ist das systematische Beschädigung von Volkseigentum.“ Er dachte angestrengt nach, weil er im Gedächtnis nach dem ungefähren Text des entsprechenden Gesetzes suchte. Er konnte sich nicht erinnern. So daß er klügelte: „Eigentlich ist es ja keine Beschädigung. Auch keine Zerstörung. Es ist nur sonderbar. Ein Mensch, der so was macht, muß doch ein Motiv haben. Eigentlich ist das doch völlig schnuppe“, erklärte er vernünftig, „ob die damals fünfundneunzig oder sechsundneunzig hingeschlachtet wurden. Um Himmels willen, das ist ja bald tausend Jahre her! Wie doch die Zeit vergeht!“ Hašák startete den Wagen. „Los, suchen wir den schwarzen Onkel. Diesen Quatsch sollen die Genossen aus Prag aufklären.“ Oberwachtmeister Šibink lockte es zwar eher, diesen Quatsch aufzuklären, als einen durch die Gegend stromernden unbekannten alten Herrn zu suchen, aber er schwieg. Sie fuhren nach Libín, fragten in der Gastwirtschaft 171
nach. Der Leiter hatte merkwürdigerweise den Eindruck, als hätte er einen solchen Mann vorbeigehen sehen. Kann sein, mehrmals. Šibink ging noch gegenüber in die Verkaufsstelle von Textil- und Galanteriewaren. Die drei Schürzen und zwei Pullover im Schaufenster lagen dort vielleicht seit Menschengedenken. Wenigstens konnte er sich eine andere Dekoration nicht vorstellen. Höchstens, daß die Frau Leiterin gelegentlich das entsprechende Plakat zu staatlichen Feiertagen hineinhängte. Sie saß hinterm Ladenpult. Als er sich umdrehte, um aus dem gleichen Blickwinkel wie sie auf den Dorfanger zu schauen, stellte er fest, daß die Ware im Schaufenster sehr geschickt arrangiert war: wer hinterm Pult saß, hatte eine ungehinderte Sicht auf die Straße. Die Leiterin, eine werktätige Rentnerin, begriff, daß der Oberwachtmeister ihren Laden nicht betreten hatte, um Stopfseide zu kaufen. „Na so was“, sagte sie statt eines Grußes und schob sich die Brille auf die Stirn, weil sie gerade in einem Buch gelesen hatte. „Du bist das, Karlchen?“ sagte sie heuchlerisch, als würde sie ihn erst jetzt erkennen. „Was möchtest du denn gern wissen?“ „Folgendes, Frau Vomáčková. Sie bemerken so manches, wenn Sie auf die Straße sehen …“, begann er unsicher, denn er fühlte sich überfahren. Die Fragen sollte schließlich er stellen. „Was fällt dir ein, Junge. Manchmal schau’ ich nicht ’raus, so lang der liebe Tag dauert. Du weißt ja, alte Weiber sind nicht neugierig. Und hier gibt’s Arbeit, mein Junge …“ „Haben Sie nicht zufällig gesehen, daß in den letzten Tagen öfter ein alter Herr am Laden vorbeigegangen ist? Ein fremder alter Herr. Im schwarzen oder sehr dunklen Anzug.“ „Hier gehen viele Leute“, sprach Frau Vomáčková fast melancholisch. „Viele. Aber gesehen hab’ ich ihn. Ein 172
alter Herr. Er hatte ein weißes Hemd an. Eine altmodische Krawatte. Das Hemd war auch älter, weil es noch einen weichen Kragen hatte, verstehst du? Der Anzug abgetragen. Fast so, als würde er ihn nur zum Spazieren anziehen.“ Sie stockte. „Warte mal. Kennst du den Doktor Sultán?“ „Ein bißchen“, räumte Oberwachtmeister Šibink ein. „Da siehst du. So angezogen läuft auch der Doktor Sultán herum. Er trägt eine Weste, und die Taschen sind ausgebeult von den Schlüsseln. Und das gleiche Alter. Nur trägt der Doktor Sultán keine Brille. Aber der ja. Mit schwarzem Rand. Und er geht ein bißchen gebeugt. Der Doktor Sultán nicht. Der hält sich immer schön gerade. Wohl deshalb“, fügte sie schlicht hinzu, „weil er kleiner ist. Kleine Leute strecken sich gern.“ „Moment, Frau Vomáčková“, stoppte Šibink ihren Redefluß. „Sie haben gesagt – falls ich mich nicht verhört habe –, daß dieser Herr hier gegangen ist. Das heißt, hin und her?“ „Aber ich bitte dich, Karlchen!“ Frau Vomáčková schüttelte den Kopf, vielleicht darüber, daß ein Gendarm so schwer von Begriff sein kann. „Nein, nicht hin und her. Selbstverständlich nicht. Aber etwas Besonderes war doch daran. Immer dorthin.“ Sie zeigte zur Brücke. „Als wollte er nach Lany oder Osov.“ „Und zurück?“ „Nie. Oder ich hab’ es nicht bemerkt. Aber ich glaube“, fügte sie nachdenklich hinzu, „er ist eher nach Lany gegangen. Das ist ein schönerer Weg.“ „Aber nach Osov ist es näher“, wandte Šibink ein, den die Erwägungen der Frau Vomáčková ziemlich verwirrten. „Und überhaupt, warum sollte er gerade dorthin gegangen sein?“ „Weil die Kurgäste aus Brody“, belehrte ihn die Leiterin, „meistens nach Lany gehen. Dorthin ist der Weg schöner, wie ich schon sagte. Am Wasser lang und im 173
Schatten. Das tut den Herzkranken gut. Du suchst ihn, mein Junge, stimmt’s? Einen Fremden bemerken die Leute. Das arme Mädchen“, und Frau Vomáčková seufzte aufrichtig, „so ein hübsches Mädel. Und weißt du, was an ihm sonderbar war?“ „Nein.“ Den Oberwachtmeister riß es wie aus einem Traum. „An wem?“ „Na, an dem Herrn, von dem wir reden.“ „Nein.“ „Manchmal hat er sich hinter den Linden dort versteckt und beobachtet, was auf der Forschung passiert. Als wollte er sich vor jemandem verbergen. Und dann ging er hinten ’rum, am Garten lang. Genauso wie heute.“ „Wann?“ „Heute früh. Auf die Uhr hab’ ich nicht geschaut. Hab’ ja auch gar keine da. Das weiß ich in den vielen Jahren schon aus dem Kopf, wann ich zumachen muß. Wenn ihr ein Auto habt“, fügte sie hinzu, „dann holt ihr ihn in Lany auf dem Bahnhof ein. Der Zug nach Brody über Lany fährt in einer halben Stunde.“ Er fragte gar nicht, woher die Frau Vomáčková diese Zeit wußte, und stürzte aus dem Laden. Er rannte zum Wagen. „Fahr los!“ Hašák startete schweigend und fuhr los. Auf der Kreuzung hinter der Brücke befahl Šibink: „Nach links!“ Hašák gehorchte ohne überflüssiges Überlegen. Sie fuhren durchs Dorf und am Fluß entlang, der hier noch in seinem natürlichen Bett floß, in Mäandern und mit Erlen und Weiden an den Ufern, so ein Flußlauf, wie ihn die Wassermänner mögen; sie gelangten in ein weiteres Dorf, wo Šibink nach links befahl, und hinter einer Allee, die sich gemeinsam mit der Landstraße zwischen den Feldern hindurchwand, erblickten sie den Kirchturm von Lany. Gleich hinter den ersten Häusern kreuzte die Eisenbahnstrecke die Straße. 174
Šibink befahl anzuhalten. Links begann der Bahnsteig der kleinen Haltestelle. Er war aus Kies aufgeschüttet, im Schatten standen rote Bänke. Hinter den Zweigen der Linden versteckte sich ein Häuschen, das hier die Rolle eines Bahnhofsgebäudes spielte. Darauf die Aufschrift KASSE und davor ein Rad mit Klinke zum Hochziehen der Schranken. Ein paar Leute warteten auf den Zug. „Hier kann er nicht stehen“, bemerkte Hašák ruhig. „Vor den Schranken.“ Šibink konnte nicht sprechen, so hatte sich ihm die Kehle zugeschnürt. Jenes sagenhafte Glück, von dem zu Beginn des Kapitels die Rede war, fiel ihnen nämlich soeben in den Schoß. Auf dem Bahnsteig spazierte ein alter Herr im dunklen Anzug auf und ab, er hatte ein weißes Hemd an, eine altmodische Krawatte und eine Weste und trug eine schwarzgerandete Brille. „Guck mal an“, sprach Hašák ungerührt. „Ich setz’ mal ein Stückchen zurück, dort zu dem Haus.“ Er war wohl mehr an Himmelsgaben gewöhnt als der Oberwachtmeister Šibink, so daß seine Hände nicht zitterten.
76 Kapitän Exner betrachtete seine gefalteten Hände, und man konnte meinen, er dächte nach. Die Herren Bouček und Coufal tranken langsam, aber ausdauernd, Wein. Stromaufwärts tauchte ein Lastkahn auf und schwamm auf sie zu wie ein bauchiges Ungetüm. „Ein schöner Tag heute“, bemerkte Doktor Bouček. Vielleicht bedrückte ihn das Schweigen. „Ist es“, stimmte Kapitän Exner zu. „Gestern ging es 175
auch. Hören Sie, Herr Doktor“, wandte er sich an den Schriftsteller Coufal, „bemühen Sie sich bitte, sich an einen bestimmten Eindruck zu erinnern.“ „Und an welchen bitte?“ „Hatten Sie den Eindruck, daß das Mädchen ruht und sich sonnt oder daß sie merkwürdig daliegt.“ „Zuerst das und dann das andere.“ „Ich habe wohl meine Frage schlecht gestellt“, gab Kapitän Exner zu. „Meinen Sie, daß sie sorgsam, hingelegt wurde?“ Doktor Coufal überlegte eine Weile. „Ich würde sagen, ziemlich sorgsam. Aber nicht so, daß es völlig natürlich aussah. Sie haben die Fotos noch nicht gesehen?“ fragte er dreist. „Nein.“ Kapitän Exner schüttelte den Kopf. „Nicht alles geht so schnell wie morden, ein Depot für Zehntausende stehlen und binnen weniger Minuten verschwinden.“ Er seufzte. „Das ist Schicksal.“ Er richtete sich auf. „Leutnant Beránek wird Sie aufsuchen, Sie werden ihn leicht erkennen. Ein typischer Pykniker. Er wird das Protokoll aufnehmen.“ „Noch einmal?“ wunderte sich Doktor Coufal. „Genosse Kapitän …“ „Bis jetzt, meine Herren“, entgegnete Michal Exner, „haben Sie ausgesagt, wie Sie die Ermordete gefunden haben. Jetzt werden Sie erzählen, wann und wie Sie hierhergekommen sind, wem Sie begegnet sind, ein bißchen ausführlicher über Ihre Wege durch den Wald und über den Fluß …“ Er drehte sich um, denn es kam ein Auto gefahren, er erkannte es, und es war uninteressant. Aber in der Tür des Restaurants erblickte er die ganz blonde und ganz pausbäckige Frau Leiterin. Weil sie zu ihm herschaute, nickte er artig zum Gruß, lächelte, wie man es tun soll, und sie zögerte nicht, das gleiche zu tun, heiter, selbstbewußt und professionell, denn dieser Gast schien ihr vielversprechend zu sein … „Und zurück“, 176
fuhr Kapitän Exner zerstreut fort, „und so weiter. Auf Wiedersehen, die Herren“, sagte er und schritt aus, hin zur Vortreppe und der hoffnungsvoll geöffneten Tür.
77 Die Oberwachtmeister kamen schnurstracks auf ihn zu. Er schien in Gedanken versunken, so daß er sie nicht gleich bemerkte. Und als das geschah, musterte er sie mit Interesse, sogar einem größeren, als ein Durchschnittsbürger für zwei Polizeiangehörige auf dem Bahnsteig einer kleinen Haltestelle aufzubringen pflegt. Er blickte, den Kopf ein bißchen vorgestreckt, nach vorn, und als sie vor ihm stehenblieben, leuchteten seine braunen Augen zufrieden auf, wie bei einem einsamen Menschen, der unverhofft angenehme Gesellschaft erhält. „Verzeihen Sie bitte“, sagte Oberwachtmeister Šibink und bemühte sich, eher leicht humorig zu wirken als dienstlich zugeknöpft. „Ihren Personalausweis, wenn Sie so freundlich wären.“ Der alte Herr schüttelte den Kopf. „Da muß ich euch enttäuschen, Jungs“, sagte er mit deutlicher Anteilnahme, als täte es ihm wirklich leid, daß er durch dieses Versäumnis dem jungen Mann Unannehmlichkeiten bereitet. „Den habe ich nicht bei mir. Ich nehme meistens nur einen Bleistift und ein Blatt Papier mit“, und er langte bereitwillig in die Tasche und zeigte beides vor. „Und fünf Kronen für die Bahnfahrt. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich heiße Malík. Ondřej Malík.“ Und er streckte ihnen die Hand entgegen. Die freundliche Geste wurde weder akzeptiert noch erwidert. Dienst ist Dienst. Der Herr Malík schaute sich seine plötzlich vereinsamte Hand an und ließ sie zögernd fallen. 177
„Ihre Tätigkeit?“ „Ich bin Professor an einer Provinzuniversität, meine Herren. Mein Fach ist die Literaturwissenschaft, speziell der Komparativismus, obwohl ich ursprünglich klassischer Philologe bin. In Brody weile ich zur Kur.“ „Gehen Sie oft über Libín?“ „Fast täglich.“ Die Oberwachtmeister schauten einander an, und einer las in den Augen des anderen: Das wird eine harte Nuß, wir rasen ins Malheur. Professor Malík hatte Verständnis für ihre Verlegenheit. „Ist etwas passiert, meine Herren, dessen Zeuge ich sein könnte? Ich kann mich nicht erinnern.“ „Sie sind gestern nachmittag durch Libín gegangen?“ „Gewiß, meine Herren.“ „Dann muß ich Sie bitten, Herr Professor“, und Šibink ließ sich einen respektvollen, nachdrücklichen Ton angelegen sein, „mit uns zu fahren. Außerdem möchte ich Sie darauf hinweisen, daß es Ihre Pflicht ist, den Personalausweis bei sich zu tragen …“ „Gut und schön, aber“, unterbrach ihn der Professor, „ich habe mir die Fahrkarte schon gekauft, sie hat drei Kronen gekostet.“ Er griff in die Tasche und zeigte sie. „Das werden Sie mit Kapitän Exner abmachen müssen, Herr Professor.“ Professor Ondřej Malík dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. „Exner … Sie sagen Kapitän? Soldat? Oder Seemann? Kenne ich nicht.“
78 Fünf Holzstufen trennten ihn von ihr. Ihr Lächeln war immer noch strahlend. Er setzte einen Fuß auf die erste Stufe. „Verzeihen der Herr, aber es ist besetzt.“ Die Teil178
nahme in ihrer Stimme war genauso tief wie ihre blauen Augen. Männer, die solche Frauen lieben, wie zum Beispiel der Maler und Grafiker Švabinský, wären außer sich gewesen. Sie hätten angefangen zu schwanken und sich an dem lockeren Geländer festgehalten. Ohne weiteres hätten sie ihre Seelen verkauft. „Aber“, widersprach Kapitän Exner und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser in das Sommerlokal zu sehen, „da ist doch keine Menschenseele.“ „Reserviert für die Campinggäste. Wenn Sie einen Wunsch haben“, und sie zeigte auf die Holztreppe daneben, die zu dem Fensterchen des Ausschanks führte, „dort, bitte sehr.“ Solche Treppen führten einst zur Kasse eines Zirkuswagens. Fünf Stufen hinauf, eine kleine Plattform, fünf Stufen hinunter. Obwohl er eigentlich Campinggast war, hatten sie sich gestern nicht gesehen, und ihm war einstweilen nicht danach, sich als solchen vorzustellen. Er schlug die Augen nieder wie in leichter Verlegenheit. „Ja, gewiß. Aber könnten Sie mir wenigstens einen bescheidenen Wunsch erfüllen?“ „Das weiß ich nicht“, sagte sie freundlich. „Vielleicht, wenn Sie schön bitten.“ Er faltete die Hände, dieser Nichtsnutz, hob die Augen zu ihr empor und neigte den Kopf seitwärts. „Ich bitte Sie sehr, Madame …“ Sie nickte ernst. Obwohl sie an Fußfälle gewöhnt war, erfreute sie doch jeder neue. Sie war flink. Bevor er um zwei Tische herumgegangen und zum Ausschank hochgestiegen war, wartete sie schon am Fensterchen. „Etwas Besseres? Whisky? Martell, grusinischen Kognak?“ „Mineralwasser, wenn ich bitten darf.“ „Haben wir leider nicht. Coca-Cola, Tonic, Juice …“ 179
Er kratzte sich verlegen hinterm Ohr. „Das nicht … Eher etwas von dem ersten. So ein Whisky mit Soda?“ „Bitte sehr.“ Sie langte ins Regal nach dem richtigen Glas. „Mit Eis?“ „Ohne.“ Sie holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Sodawasser. „Wenn ich bitten dürfte, etwas mehr von diesem Prickelwasser. Ja, etwa so. Nein! Nach dem Whisky langen Sie nicht mehr!“ Er streckte die Hand frech zum Schankpult aus und ergriff das Glas. „Wenn es kein Mineralwasser gibt, dann wenigstens das. Danke.“ Ihre Züge verhärteten sich. Er legte fünfzig Heller auf den Tisch. „Ich habe mich nicht vorgestellt. Kapitän Exner.“ Er nahm den Ausweis aus der Hemdtasche. „Kriminalpolizei. Heute nacht habe ich hier geschlafen. In einer Campinghütte. Hier ist so mancherlei passiert, Sie haben Überblick über Menschen, Dinge, übers Leben. Wie wär’s, wenn wir paar Worte wechselten, bevor die Gäste zum Mittagessen kommen?“ „Ich weiß nichts und …“ „Hier ist nicht der passende Ort.“ Sie zeigte mit dem Damen. „Um die Ecke ist die Tür.“ Er hielt sein Glas fest und lief die Stufen hinab. Um die Ecke führte eine weitere Treppe zu den Wirtschaftsräumen. Eine Weile blieb er darauf stehen. Rechts fing der Wald an, gleich hinter dem Gebäude und zwischen den Bäumen parkten einige Autos. Wohl die des Personals. Hier führte auch der Weg nach Brody vorbei. Eine schmale Waldstraße mit Asphaltdecke, die gerade hier endete, an dieser Treppe. In seinem Rücken waren die Toiletten und der Campingplatz. Die Straße setzte sich in einem Bogen um die Kastanien und die Tische darunter fort. Am Haus des Fährmanns bog sie dann ge180
gen Libín ab, immer stromaufwärts die Surina entlang. Der kleine Parkplatz war an einem Gebüsch angelegt, das zwischen dem Weg und Garten des Fährmanns wuchs. Von Libín her kamen Oberleutnant Vlček und Leutnant Beránek. Sie sahen ihn. Er zeigte auf die Tische und deutete ihnen durch eine Geste an, sie sollten dort auf ihn warten. Die Leiterin öffnete die Tür und zeigte ihm schweigend, wo das Büro war. Er trat in das Kabäuschen, und der Fußboden knarrte unter seinen Sohlen.
79 Die Erde hatte sich um paar Grad gedreht, die Fenster des Arbeitszimmers von Doktor Soudek in Bylaves lagen im Schatten, der Durchzug begann zu kühlen, und Doktor Slánský zog sich die Schuhe aus, fläzte sich bequem in den Rohrsessel und legte die Füße auf die Couch. „Wie wär’s mit einem Schnäpschen vorm Mittagessen?“ fragte Doktor Soudek, aber das nur rhetorisch, denn bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, schob er bereits ein volles Glas über den Schreibtisch. Der wissenschaftliche Sekretär schnupperte: „Martell?“ „Genau.“ „Worauf trinken wir?“ „Auf nichts.“ Sie tranken, und erst jetzt stieß Doktor Slánský einen Seufzer aus. „Ich fahre nicht“, sagte der Forschungsleiter in Bylaves, der hervorragende Fachmann für das Neolithikum, also die ersten Ackerbauer. „Ich fahre nicht nach Libín, 181
um nichts auf der Welt. In der Kommission bin ich nicht, also was soll ich dort?“ „Doktor Sultán ist im Krankenhaus, so daß Sie sich überhaupt nicht aufregen werden müssen.“ „Das werde ich eben doch“, beharrte Doktor Soudek eigensinnig. „Die Kollegin Janovská ist eine redliche und gründliche Forscherin, aber ihre geistige Unterordnung …“ „Aber“, unterbrach ihn Václav Slánský tadelnd, „da sind wir ja wieder dort, wo wir waren.“ „Ich entschuldige mich, Herr Kollege. Also fahren Sie fort.“ Der wissenschaftliche Sekretär streckte die Hand mit dem leeren Glas aus, sicherlich nicht aus Gier nach Alkohol, sondern zwecks einer kurzen Meditation. „Nun …“, sprach er weise und verstummte wieder. „Nun“, wiederholte er nach einer Weile, „wenn ich aufrichtig sein soll, befinden wir uns in einer Situation …“ „Gewiß. Wie schon viele Male. Der Ruf der Archäologengemeinde ist bedroht, das kenne ich. Und dadurch, daß ich den Kapitän nicht leiden kann und er mich nicht, mache ich das noch schlimmer.“ „Aber das ist doch Unsinn. Auch wenn“, räumte Doktor Slánský ein, „vielleicht manche im Institut glauben, daß es an dem ist.“ „Der Direktor zum Beispiel.“ Doktor Slánský nickte bekümmert. „Aber wenn Sie so freundlich wären, werter Kollege, und ließen mich eine Weile reden. Ein paar zusammenhängende Sätze vortragen. Damit ich Ihnen erkläre, warum ich hergekommen bin.“ „Das weiß ich doch, Herr Kollege. In die Kommission für Libín gehe ich nicht. Mit Diebstählen und Morden will ich nichts zu tun haben. Jeder haben wir unseren Beruf. Die einen fahnden, die anderen arbeiten und forschen.“ 182
„Jesusmaria!“ rief Slánský verzweifelt. „So lassen Sie mich doch ausreden!“ Doktor Soudeks Gesicht verdüsterte sich. Er lehnte sich hinter seinem Schreibtisch in den Sessel zurück, legte die Füße auf den Tisch und ließ das Kinn auf die Brust fallen. Er schloß die Augen. „Ich schlafe nicht. Von mir ist allgemein bekannt, daß ich einen schlechten Schlaf habe. Ich höre zu.“ „Von Bylaves ist es nicht weit bis Libín.“ „Genauso wie aus Prag. Ich höre zu.“ „Hier ist genug Platz und Komfort, wie in einem Hotel.“ „Wo? Ich höre zu.“ „Hier!“ Doktor Slánský zeigte nach oben. „In diesen Objekten.“ „Ich höre.“ „Herr Doktor Radimský vom Museum, der Kollege Melíšek, die beiden Reiners und ich. Und Sie. Sehr gut können wir uns hier am Abend beraten, uns dann ausschlafen und gemeinsam mit Ihnen nach Libín fahren.“ „Worüber beraten?“ „Auf welche Art wir bei der Einschätzung des Objekts und des Depots vorgehen sollen.“ „Ich höre zu.“ „Das ist alles.“ „Gut“, sprach Doktor Soudek, ohne die Augen zu öffnen, „gut, lieber Kollege. Ein wissenschaftlicher Sekretär kann, wie es scheint, alles. Er kann aus meinem Forschungsobjekt ein Hotel und ein Verschwörernest machen.“ „Mein Gott, was heißt Verschwörer! Der Institutsdirektor meint, daß die Situation delikat ist.“ „Das ist sie“, stimmte Soudek zu. „Und warum kommt der Herr Institutsdirektor nicht selbst?“ „Er ist nicht in der Kommission.“ „Wenn die Situation so delikat ist?“ 183
„Aber lieber Herr Kollege“, sagte Doktor Slánský und sah seinen ehemaligen Lehrer traurig und mit hängenden Schultern an. „Es steht uns nicht zu …“ Doktor Soudek machte die Augen auf und erhob sich resolut. „Gut, ich fahre hin. Der wissenschaftliche Sekretär kann mit. Und dann fahre ich nach Hory. Ohne Sie, Kollege. Ich darf ja auch mal ein Privatleben haben.“
80 Sie schloß die Tür und lehnte sich an sie. Kreuzte die Arme unter der Brust, einem anderen hätte es vor den Augen geflimmert. „Also fragen Sie, Genosse Kapitän. Aber gerade jetzt ist die Stunde, da ich viel Arbeit habe.“ Ihm war es peinlich, in diesem Kämmerlein den einzigen Stuhl in Anspruch zu nehmen, so setzte er sich wenigstens auf die Tischkante. „Das ist Schicksal.“ Er schaute auf seine Schuhspitzen. Sie waren schon recht staubig, weil er in der Nacht, am Morgen und am Tage hin und her auf staubigen Wegen und durch feuchtes Gras gegangen war. „Alles ist Schicksal“, erwiderte sie ergeben. Überrascht blickte er zu ihr auf. „Aber ich weiß nichts. Zu mir sind sie bloß telefonieren gekommen.“ „Aber die zwei großen Herren, an die erinnern Sie sich doch? Die waren doch schon vorher bei Ihnen, oder?“ „Das waren sie. Zu Mittag. Und dann fuhren sie mit dem Schiff stromaufwärts.“ „Bei dem Betrieb hier bemerken Sie eben doch alles“, freute er sich heuchlerisch. „Sie hätten die beiden nicht bemerkt?“ „Aber gewiß“, antwortete er leichthin. „Und vielleicht 184
noch etwas anderes? Zum Beispiel einen älteren Herren im dunklen Anzug?“ „Solche gibt es viele, Kurgäste. Die Herren sind meistens älter und tragen dunkle Anzüge.“ Er wandte ihr den Rücken zu. Durchs Fenster sah er auf die schmale Straße nach Brody, auf den kleinen Parkplatz zwischen den Bäumen. „Wenige Meter von diesem Restaurant entfernt wurde ein Mädchen ermordet“, sagte er. „Rasch und riskant. Der sie umgebracht hat, kam aus Libín hierher zum Fluß, zu den Schneebeersträuchern, und dann konnte er nirgends hin als an Ihnen vorbei nach Brody.“ „Oder mit dem Schiff“, sagte sie, und vielleicht meinte sie das nicht einmal ironisch. „Allerdings. Oder sich in den Auenwald übersetzen lassen, die zwei, drei Kilometer stromaufwärts gehen und dann erst den eigenen Wagen oder den Zug besteigen. Oder er konnte auch über die Regulation zurück nach Libín. Zur Brücke und so weiter, aber der kürzeste Weg ist der an diesem Restaurant vorbei, auf diesem Weg nach Brody und auf die Staatsstraße.“ „Ich weiß nichts.“ Von Brody her kam ein Polizeiauto gefahren. Michal Exner wandte sich vom Fenster ab und sagte trocken: „Ist hier seit dem Freitag etwas geschehen, was sich von den üblichen Vorfällen, die Sie hier erleben, irgendwie abhebt, sagen wir mit Betrunkenen?“ „Nichts.“ „Sie strengen sich mit dem Nachdenken nicht sonderlich an.“ Sie schwieg und dachte vielleicht wirklich nach. „Ich weiß es nicht. So sehr schaue ich mich nicht um. Besonders am Samstag und Sonntag nicht. Auf dem Campingplatz sind zumeist ausländische Touristen. Die zwei großen Herren, das ist vielleicht eine außergewöhnliche Sache …“ 185
„Ihr Gatte … hat er nichts erwähnt? Das Personal?“ „Mein Mann ist meistens in der Küche, er steckt die Nase kaum heraus. Das Personal sollten Sie vielleicht selber fragen.“ „Und überhaupt“, fuhr er lachend fort, „wo waren eigentlich Sie und Ihr Herr Gemahl gestern um die fünfte Nachmittagsstunde?“ „Ich hier. Selbstverständlich. Mein Mann …“ Sie stockte. Das Lächeln des Kapitäns Exner war voller Verständnis. „Mein Mann war im Schlachthof. Wegen Fleisch.“ „In Brody?“ „Nein, dort ist kein Schlachthof. In Kolín. Er hat Bekannte dort.“ Das Lächeln des Kapitäns Exner wurde noch liebenswürdiger. „Wiedergekommen ist er …?“ „Gegen halb sechs.“ „Wie ist er gefahren?“ „Da müßten Sie ihn selbst fragen.“ „Das werde ich bestimmt tun. Wie fährt er gewöhnlich?“ „Über Osov.“ Sie stockte und fuhr langsam fort: „Libín und dann hierher.“ „An der Burgstätte vorbei?“ „Was für eine Burgstätte?“ „Ich meine die Tafel mit dem Mosaik hinterm Dorf und den Fahrweg von dort zum Fluß.“ „Wahrscheinlich“, sagte sie unsicher und ließ die Arme hängen. „Aber … Ich bitte Sie, das ist doch Unsinn, Genosse Kapitän.“ „Das kommt mir nicht so vor“, sagte er fast ehrerbietig. „Vielleicht ist er gestern anders gefahren.“ „Aber das ist bestimmt Unsinn, nicht? Und Ihre Bereitschaft war zwar ehrenwert, aber recht formal. Das Gästebuch werden wir selbstverständlich kontrollieren.“ 186
„Es ist völlig in Ordnung, bis …“ „Ja“, sagte er schnell, „bis auf was?“ „Ach, nur so eine Dummheit.“ „Eine Dummheit ist nur für einen Dummkopf wertlos“, entgegnete nonchalant Kapitän Exner. „Um welche Dummheit handelt es sich?“ „Von Samstag auf Sonntag hatten wir eine Zweibetthütte reserviert auf den Namen einer gewissen Helga Čtvrtečková. Ich habe die Bestellung entgegengenommen. Diese Čtvrtečková ist hier erschienen, aber geschlafen hat sie nicht hier. Statt ihrer sind zwei Herren in einem Fiat Mirafiori gekommen. Der eine hat die Reservierung beansprucht, und er sagte, die Frau wird nicht mehr kommen. Die beiden haben dann hier geschlafen.“ „Wann sind sie gekommen?“ „Gegen Mittag.“ „Die Namen?“ „Stehen im Gästebuch, und das liegt hinter Ihnen.“ Er blätterte den Samstag auf. Auf der vorgedruckten Seite war in der Rubrik „Namen“ mit Bleistift geschrieben: Čtvrtečková 2. Und auf der gleichen Zeile und der darunter zwei Namen: Arnošt Maizl. Boleslav Johan. „Das sind Freuden“, sagte Kapitän Exner leise.
81 Die Zeit des Mittagessens nahte. Die prominenten Gäste des Sommerrestaurants trudelten nach und nach im Lokal ein und nahmen an den weißgedeckten Tischen Platz. Die Herren Schriftsteller saßen immer noch auf der Bank und betrachteten den Fluß, auf dem stromaufwärts in der Biegung das Ausflugsschiff auftauchte. 187
Oberleutnant Vlček und Leutnant Beránek saßen wenige Meter von ihnen entfernt am Tisch unter der Kastanie. Beránek blätterte in seinem schwarzen Block, und Vlček starrte auf die Rücken der beiden Riesen auf der Bank. Frau Doktor Janovská lehnte das Rad an eine Kastanie und ging auf dem Fußweg zwischen Restaurant und Ufer weiter. Hašák und Šibink saßen mit dem alten Herrn, den sie hatten finden sollen, an einem Tischchen unter dem Küchenfenster. Die Oberwachtmeister standen auf, denn an der Ecke des Restaurants erschien Kapitän Exner. „Angeblich“, meldete ihm Šibink, „Professor an einer Provinzuniversität, Personalausweis hat er nicht.“ Doktor Ondřej Malík blieb demütig sitzen, und dem Kapitän schien es, als beobachtete er ihn amüsiert. Auf jeden Fall war der alte Herr sehr neugierig. „Sollten wir die Identität überprüfen?“ fragte Šibink. „Vorläufig nicht“, meinte Exner lächelnd. „Vorläufig werde ich mit dem Herrn Professor ein bißchen Spazierengehen. Falls er Lust hat, sich mit mir zu unterhalten.“ „Lust habe ich“, sprach Ondřej Malík. „Lust schon. Aber …“ Er zog aus der Westentasche eine silberne Uhr mit Deckel. „Es ist gleich Mittagszeit. Nach Brody ist es weit. Die Kurordnung ist streng … Herr … Herr …“ „Exner, Kapitän.“ „Mhm“, machte Professor Malík nachdenklich. „In Česká Skalice gibt es ein Hotel Exner, haben Sie damit etwas zu tun?“ Michal Exner lächelte flüchtig. „Nur daß ich den gleichen Namen habe, Herr Professor. Gehen wir?“ „Wissen Sie was?“ Der Professor zeigte auf das Schiff, das soeben angelegt hatte. „Warum sollen wir gehen, fahren wir doch. In zwanzig Minuten sind wir in Brody.“ Er stand auf und schritt aus. Kapitän Exner blieb nichts anderes übrig, als ihm zu 188
folgen. Er bemerkte noch, daß Leutnant Beránek ihm zuwinkte. Und dann trat er auf den schwankenden Bootssteg.
82 Sie stützten sich auf das Geländer am Heck. Vom Ufer starrten ihnen sowohl Doktor Janovská als auch Oberleutnant Vlček und Leutnant Beránek nach. Beránek winkte, Exner möge zurückkehren. Schließlich erhob er sich und lief zum Bootssteg, aber da war es schon zu spät. Die Taue waren gelöst, und die Schraube wirbelte rosiges Wasser auf. „Also was wollten Sie von mir, junger Mann?“ „Ich bin in einer gewissen Verlegenheit“, gestand Exner. „Sieh an. So sehen Sie gar nicht aus.“ „Vielleicht. Von welcher Provinzuniversität?“ Professor Malík nannte die mährische Kirchenmetropole. „Fachgebiet?“ „Literarischer Komparativismus.“ „Und was vergleichen Sie jetzt gerade?“ „Die Legenden.“ „Welche?“ „Die bis hin zu Kosmas.“ „Ja, aber, wer wird Ihnen sagen, was wirklich vor Kosmas geschrieben wurde. Nehmen Sie zum Beispiel den Christian. Der Streit schleppt sich schon Jahrzehnte hin.“ „Und wie ist Ihre Meinung dazu, Herr Kollege?“ „Ich bin nur ein Dilettant“, sagte bescheiden Kapitän Exner. „Ich habe lediglich ein paar Freunde unter den Archäologen. Geschrieben hat er seine Chronik vor Kosmas, das bestreitet wohl niemand mehr.“ 189
„Es gibt solche Stimmen.“ „Nun ja.“ Exner winkte ab und beobachtete, wie das Ufer sich langsam entfernte und die zwei auf der Bank mit einem Male winzig aussahen. „Das ist heute vielleicht nur noch Altertumsliebhaberei. Aber sagen Sie: Wer war Christian, Herr Professor?“ „Radim. Erzbischof Radim.“ Exner wiegte den Kopf. „Und nicht Radla? Der wortgewandte Radla, der Bruder …“ „Radla ist Radim. Sie haben meine Arbeit gelesen?“ „Nein, Herr Professor“, antwortete Exner. „Das habe ich nicht. Aber ich hole es nach. Jetzt habe ich andere Sorgen.“ „Sie sind wirklich Kriminalist?“ „Wirklich.“ „Da haben Sie also Sorgen wegen dieses Mordes. Dort am Ufer.“ „Wer hat Ihnen davon erzählt?“ „Beim Frühstück im Kurhaus. Die Patienten meinen, daß sich ein Sexualmörder in der Gegend herumtreibt, und die Damen verzichten auf ihre üblichen Vormittagsspaziergänge. Obwohl die meisten von ihnen …“ „Die meisten von ihnen?“ spornte Exner den Professor an. „Die meisten von ihnen stehen außer Gefahr jeglicher sexueller Vergewaltigung. Jemand hat mich gesehen.“ „Beim Morden?“ „Nein. Als ich gestern gegen Abend durch Libín ging.“ „Erraten.“ „Also fragen Sie.“ „Wie sind Sie gegangen?“ „Hier am Ufer entlang zum Restaurant. Wo ich einen Kaffee getrunken und dann meinen Weg nach Libín fortgesetzt habe.“ „Auf welchem Weg?“ „Soweit ich weiß, führt vom Restaurant nur einer da190
hin. Schauen Sie“, und Professor Malík zeigte auf die sich lang hinziehende Allee. „Und dann biegt er an einem Gebüsch nach links ab, zur Akropolis der Burgstätte.“ „Man kann allerdings auch am Fluß entlang zum anderen Ende des Dorfes gehen, zur Brücke.“ „Diesen Weg habe ich nie genommen.“ „Und jetzt die Zeit. Um wieviel Uhr haben Sie Brody verlassen?“ Professor Malík schüttelte den Kopf. „Mit Zeitangaben wird es schon schwieriger, Herr Kollege. Ich konnte nicht gleich nach dem Mittagessen aufbrechen, weil ich ein Bad hatte. Meistens gehe ich nach Lany. Wohlverstanden, meistens. Wenn ich nämlich gleich nach dem Mittagessen losziehen kann. Sonst, wie es zeitlich möglich ist. Ich glaube, von Brody bin ich nach drei losgegangen. Das Kaffeetrinken hat eine Viertelstunde gedauert, vielleicht etwas länger. Das Ausflugsschiff legte ab, auf dem Fluß schwammen zwei Lastkähne, paar junge Leute schubsten sich am Ufer, bis ein Mädchen ins Wasser fiel. Es geschah im Scherz, nichts Ernstes, aber eine Freude zuzuschauen. Gegangen bin ich wohl gegen fünf. Der Zug aus Libín fährt sieben Minuten vor sechs. Ich wußte, daß ich eine Menge Zeit habe. Sind Sie die Strecke schon zu Fuß gegangen?“ „Bis jetzt noch nicht.“ „Fünfunddreißig Minuten bequemes Gehen.“ „Also“, wiederholte Exner nachdenklich, „nach fünf vom Restaurant, vor halb sechs bei Libín.“ „So ungefähr.“ Kapitän Exner richtete seinen Blick auf das sich entfernende Restaurant. Es verschwand langsam hinter der Flußbiegung. Auf einmal war die Zivilisation zu Ende. Zu beiden Seiten des Flusses badete der alte Auenwald seine Wurzeln und Zweige in der Strömung. 191
„Kennen Sie Frau Doktor Janovská?“ „Nein, aber ich habe von ihr gehört.“ „Den Doktor Sultán?“ „Sehr gut. Ein alter Freund von mir. Er ist angeblich im Krankenhaus. Das sagten mir Ihre Mitarbeiter, die mich hergebracht haben.“ Er nickte anerkennend. „Gefunden haben sie mich schnell. Ich werde ihn besuchen müssen. Übrigens war ich unwillkürlich Zeuge dessen, was auf dem Libíner Dorfanger nach dem Diebstahl des Schatzes geschah. Mir tat Sultán leid.“ „Ein Herzanfall von einer starken Gemütsbewegung.“ Professor Malík schaute Exner über den oberen Brillenrand an. Klug und vertrauensvoll. „Oft haben wir unsere Gemüter bewegt, aber niemals bekam er davon einen Herzanfall.“ „Das Alter, Herr Professor, Doktor Sultán ist nicht mehr der Jüngste.“ „Sie schwatzen, Herr, Herr … Kapitän. Man hat ein Depot gestohlen und ein Mädchen ermordet.“ „Stimmt, ich schwatze“, gab Exner zu. „Gestohlen und ermordet. Wieviel waren es?“ „Wer weiß. Meinen Sie, das würde ein Mensch allein schaffen? Schwer. Sagen Sie mir, was dem Kollegen Sultán zugestoßen ist, und ich werde Ihnen dafür …“ „Im großen und ganzen ist mit ihm Gott sei Dank nichts passiert. Wirklich nur ein Herzanfall. Also, was werden Sie mir anvertrauen?“ „Sie haben vergessen zu fragen …“, und Professor Malík lächelte jungenhaft. „Wonach?“ „Wieviel Denare es waren. Ich habe mir den Schatz angeschaut.“ „Ach. Und wieviel?“ „Dreitausend, vielleicht sogar mehr“, sagte Professor Malík und fügte wie nebenbei trocken hinzu: „Und ich bin dem Dieb und Mörder begegnet.“ 192
83 Das Telefon im Büro des Restaurants Zur Mündung klingelte endlos lange, bis die Frau aus der Küche kam und den Hörer abhob. „Restaurant Zur Mündung.“ Sie hörte zu. Die Tür zu dem Kabäuschen stand offen, ebenso wie die Tür zur Küche, in der sich am Ausgabepult der Herr Leiter zu schaffen machte. „Warten Sie …“ Sie legte den Hörer auf den Tisch, lugte in die Küche, niemand schaute her, sie schloß die Tür und warf einen Blick in den Ausschank. Die Frau Leiterin eilte aus dem Lokal herbei, die Hände voll mit schmutzigem Geschirr. Die Frau winkte ihr zu und zwinkerte: „Telefon. Ein Herr“, sagte sie geheimnisvoll und verschwand in der Küche. „Ja“, sprach die Frau Leiterin ins Telefon. „Das bin ich. Er war hier. Ich weiß nicht, wann er wiederkommt. Aber seine Kollegen sitzen im Garten. Möchten Sie mit ihnen sprechen? Was ausrichten? Ich weiß nicht, ob er wiederkommt. Ja, das kann ich tun. Ich notiere mir’s. Wie bitte? Ja …“ Sie zog eine Zeitung und einen Bleistift heran. Sie schrieb und diktierte sich dabei selber: „Kapitän Exner, Doppelpunkt. Wenn Sie etwas erleben wollen, kommen Sie heute abend zu mir. Abend, ich wiederhole: Abend. Unterstreichen dieses Abend, nicht in der Nacht, Sie wissen, ich habe einen schlechten Schlaf. Ja, geschrieben hab’ ich’s natürlich. Ich richte es aus. Wer hat angerufen? Darauf kommt es nicht an, gut, ich sag’s so.“ Und sie legte auf.
84 „Der literarische Komparativismus“, sagte Kapitän Exner, „ist eine interessante Wissenschaft. Ich habe allerdings nicht geahnt, daß aus dieser Wissenschaft zuweilen Detektive hervorgehen.“ 193
„Sie sind noch jung“, sagte tröstend Doktor Malík. „Also wem ich begegnet bin, nicht wahr?“ „Gewiß“, stimmte Kapitän Exner zu. Professor Ondřej Malík kniff zufrieden die Augen zusammen. Er streichelte das Geländer mit seinen breiten, kräftigen Händen und bemerkte: „In meiner Jugend bin ich gerudert, junger Mann. Wir haben Sport zur Freude getrieben. Jetzt ist das eine Schinderei um der Rekorde willen.“ „Allerdings“, sagte Exner höflich. „Sie stimmen mir nicht zu?“ „Mich interessiert das nicht“, entgegnete Exner mit verzweifelter Aufrichtigkeit. „Nicht nur jetzt, sondern überhaupt. Niemals.“ Malík nahm für einen Augenblick Exners Hand in seine. Er betrachtete den Handrücken und die Handflächen. „Ein Intellektueller“, erklärte er trocken. „Wie Doktor Kadlec.“ „Wer?“ „Ein Kollege an der Universität.“ Professor Malík winkte ab. „Ein Zitterling. Im Leben und in der Wissenschaft.“ „Das Schiff, Herr Professor“, stöhnte Kapitän Exner. „Es steuert eilends seinen Hafen an. Der Verbrecher entflieht mir, und die Spuren hinter ihm trocknen aus und verwischen sich. Er hat in einem Beutel oder in der Aktentasche zwei-, dreitausend Denare bei sich. Für einen Denar konnte man im zehnten Jahrhundert, wie der berühmte semitische Kaufmann Jakub schreibt, einen Monat lang leben.“ „Ja“, sagte freundlich Ondřej Malík. „Der Unterschied zwischen dem Komparativismus und der Arbeit eines Detektivs besteht gerade in den unterschiedlichen Proportionen der Zeitnot. Und in den zeitlichen Entfernungen von den Augenblicken der Taten. Gestern: Im Restaurant war es wie sonst immer. Ich erinnere mich an 194
nichts Außergewöhnliches. Das Besondere war nur, daß sich der Hund des Fährmanns nicht auf dem Weg herumtrieb und bellte. Gewöhnlich tut er das. Die Fähre war leer. Ein Stückchen die Surina flußaufwärts, hinter der Stelle, wo die Seerosen anfangen, plätscherte jemand im Wasser herum. Vielleicht wusch er sich dort. Auf dem Abschnitt zwischen der Fähre und der Stelle, wo der Weg nach links abbiegt, habe ich am Ufer niemanden gesehen. Ich behaupte nicht, daß niemand dort war. Ich mußte ihn ja nicht wahrnehmen, denn dort sind auch Büsche. Der Weg ist miserabel. Mir entgegen kamen auf Rädern Jungs. Drei Jungs, zehn, zwölf Jahre. Sie jagten einander. Von den Schneebeersträuchern sind es etwa einhundertfünfzig Meter zu dem alten Wassergraben oder was das ist. Dort stehen Linden. Von dort aus sieht man gut die Burgstätte und den Dorfrand. Ein Radfahrer fuhr vor mir her, aber er war schon fast im Dorf. Und mir entgegen kam ein Auto gefahren, so daß ich zur Seite treten mußte.“ „Was für ein Auto?“ unterbrach ihn Exner. „Wenn Sie es beschreiben könnten.“ „Ein Škoda. S 100. Grün. Ein bißchen vergammelt. Darin saßen ein Junge und ein Mädchen. Sehr jung. Und in Badesachen. Obwohl er den Wagen steuerte, hielt er sie um die Schulter gefaßt. Eine Weile schaute ich ihnen nach.“ „Fuhren sie zum Restaurant?“ „Das weiß ich nicht. Ich schaute nur eine Weile hin.“ „Darf ich Sie fragen, Herr Professor, warum Sie ihnen überhaupt nachschauten?“ „Ganz einfach. Mir schien, das Mädchen war sehr hübsch. Und es hatte langes, sehr langes dunkles Haar.“ „Und der Radfahrer?“ „Den hab’ ich nicht mehr gesehen. Er war schon zu weit weg. Dann bin ich noch zwei jungen Leuten begegnet. Sie gingen Hand in Hand. Genau hab’ ich sie nicht 195
betrachtet. So um die Zwanzig. Und als ich mich vor Libín anschickte, auf die andere Straßenseite zu wechseln, fuhr ein Trabant Kombi an mir vorbei. Grau. Genau solch einen fährt meine Tochter.“ „Wer lenkte ihn?“ „Das weiß ich nicht. Damit Sie mich recht verstehen: Ich ging auf der rechten Straßenseite und wollte gerade auf die linke überwechseln. Da hörte ich ihn. Wie Sie wissen, ist vor der Gemeinde eine Kreuzung, geradeaus führt der Weg aus dem Dorf auf die Akropolis der alten Burg. Übrigens ein Weg, der älter ist als tausend Jahre, und an den schließt sich der Weg von der Flußeinmündung an.“ „Und Sie sind zu dem Denkmal gegangen?“ „Ja.“ „Da sind Sie aber sehr oft dran vorbeigegangen. Was hat Sie daran so interessiert?“ „Das weiß ich nicht. Ich stehe dort gerne herum und denke nach“, antwortete Professor Malík. „Der Trabant fuhr vorbei, und ich ging zum Denkmal, so daß ich den Fahrer unwillkürlich wahrnahm. Oder warten Sie“, korrigierte er sich. „Kann sein, es war eine Fahrerin. Ein kleinerer Mensch. Aber allein. Ob noch jemand drin saß, davon hab’ ich nichts bemerkt.“ „Also ein grauer Trabant …“, wiederholte Kapitän Exner in Gedanken. „Ein Kombi …“ Professor Malík las perfekt seine Gedanken. „Von denen fährt eine Menge herum“, sagte er. Kapitän Exner schürzte die Lippen und rieb sich die Nase. „Ich möchte nicht Ihr Schüler sein“, sagte er, und man sah ihm an, daß er an etwas ganz anderes dachte. Weder an Ondřej Malík noch an die Schönheiten des Auenwaldes und den Flußlauf, dessen linkes Ufer er soeben betrachtete. An ihnen vorbei schob sich eine weitere Anlegestelle. Exner zeigte auf den wippenden Ponton. „Hier legt das Schiff nicht an?“ 196
„Auf Zuwinken.“ „Verzeihen Sie, Herr Professor.“ Exner rannte zu der Treppe, die in die Kabine des Käptens und Steuermanns führte, in diesem Fall ein und dieselbe Person. Der Professor sah nur noch die vorbildlich gebügelten Hosenbeine und die gewienerten Schuhe. Das Schiff bog zum Ufer ab und begann sich jäh zu drehen. Dabei neigte es sich seitwärts, die Schraube wirbelte das Wasser auf, die Wellen spritzten hoch auf, die ruhige und langweilige Schaluppe neigte sich wie eine Jacht, so daß ihre alten Planken knarrten. Die Reisenden schauten sich erstaunt um. Kapitän Exner stieg langsam von der Treppe herab und schritt zu Malík. „Sie haben es recht eilig, Herr Kollege“, sagte Malík. „So plötzlich und auf einmal.“ Das Schiff beschrieb einen Kreis, und der Matrose war zum Anlegen bereit. „Mir ist was eingefallen“, sagte Kapitän Exner aufrichtig. „So daß ich Sie verlasse. Aber wir sehen uns noch. Ganz bestimmt. Vorher wird Sie ein Mitarbeiter von mir aufsuchen. Ein Pedant. Der wird Ihre Aussage aufschreiben.“ „Ich werde gern diesen Pedanten kennenlernen. Und auf Wiedersehen, Herr Kapitän“, rief Ondřej Malík, so daß sich einige Leute umdrehten und überrascht Exner anstarrten. Das Schiff stieß leicht gegen den Ponton. „Danke“, sagte Exner zum Matrosen und sprang auf die Plattform. Er winkte dem Kapitän zu, dieser salutierte ernst, der Matrose warf das Tau zurück aufs Schiff, und auf dem Heck stand Professor Ondřej Malík, winkte dem Kapitän Exner nach, und dieser hatte den deutlichen Eindruck, daß sich in diesem Augenblick das Mitglied des gelehrten Kollegiums der Pro197
vinzuniversität in einen alten, hämischen Teufel verwandelt. Er lief über den schwankenden Steg ans Ufer.
85 Er stand da. Es war einer der Wagen, die hinter dem Restaurant zwischen den Bäumen parkten. Kapitän Exner sah ihn an. Ein Trabant Kombi. Ein grauer, gewöhnlicher Trabant, schmuddlig, mit staubigen Scheiben, wie es Hunderte gibt. Man sieht sie kaum. Graue Mäuse. Er sah auf die Uhr. Von der Anlegestelle bis hierher war er fast eine halbe Stunde gegangen und getrabt. Er war außer Atem, das Hemd war am Rücken durchgeschwitzt, ein unangenehmes Gefühl. Er umging das hohe Gras und Unkraut, das ihn von den Autos trennte. Das Fensterchen am Fahrersitz stand halb offen. Er schaute hinein. Die übliche Unordnung. Eine Aktentasche, ein Lappen, eine kleine Kiste, offenbar mit Werkzeug. „Genosse Kapitän …“ Er erkannte sie an der Stimme. Sie stand im offenen Fenster des Bürokabäuschens. Die Frau Leiterin. „Ich habe Sie gesehen, als Sie von Ihrem Spaziergang zurückkehrten.“ „Das ist Ihr Auto?“ „Nein.“ „Gehört es jemandem vom Personal?“ „Ach wo. Das hat jemand gestern abend abgestellt.“ „Abend?“ „Ich hab’ es erst abends bemerkt. Es hat eine hiesige Nummer. Gehört jemandem aus der Umgebung. Vielleicht ist was kaputtgegangen.“ „Vielleicht“, stimmte Kapitän Exner zu und griff wie 198
unwillkürlich an die Türklinke. Der Wagen war unverschlossen. Er ließ die Hand dort, wo sie war, machte aber nicht auf. Der Schlüssel steckte nicht im Zündschloß. „Wünschten Sie etwas?“ fragte er. „Man hat eine ulkige Nachricht für Sie durchgegeben.“ „Ulkig? Für mich?“ „Ich hab’ mir’s aufgeschrieben.“ Sie griff nach der Zeitung und las vom Rand ab: „Für Doktor Exner … Ich hab’ gar nicht gewußt, daß Sie Arzt sind.“ „Kein Arzt.“ Er lächelte und behielt die Hand auf dem Türgriff. Er fürchtete, daß die Tür aufgehen würde, wenn er losließe. „Doktor der Rechte.“ „Ach so, verstehe. Also hier ist die Nachricht, Herr Doktor.“ Und sie las sie ihm vor. „Unterschrift keine. Ich wollte den Herrn fragen, wer er eigentlich sei, aber …“ „Er hat Ihnen gesagt, das würde ich auch so wissen.“ „Sie haben recht. Ist das Auto zugeschlossen?“ Er seufzte. „Ist es nicht, Frau Leiterin. Das irritiert mich ein bißchen. Sie nicht?“ Sie stutzte. Zauberte ein Lächeln hervor. „Nein. Mich geht es ja eigentlich nichts an“, sagte sie, denn sie begriff, daß sie es mit einem Flegel zu tun hatte. Sie schloß das Fenster, und man hörte, wie sie die Tür des Büros hinter sich zuknallte. Exner schaute sich um. Da und dort bummelte jemand herum, die meisten bei den Toiletten. Er versuchte es an der Klapptür hinten. Vorsichtig faßte er die Klinke an und drehte sie. Es ging. Einfach und glatt. Auf der roten Gummimatte lag ein bißchen Erde, Sandkörnchen, wie das meistens der Fall ist. Die Decke hatte zweifellos schon lange nicht zum Zudecken gedient, sondern als Unterlage, wenn man unter den Wagen kriecht und für ähnliche grobe Arbeiten. 199
Mit zwei Fingern hob er sie behutsam an. Nichts. Ein bißchen Erde und Sand. Ölflecke und ein Plättchen. Ein kleines, rundes schwarzes Plättchen. Er streckte die Hand danach aus. Das Plättchen war schwerer, als er gedacht hatte. Seine Ränder waren ungleichmäßig. Auf beiden Seiten ragte reliefartig ein Kreis hervor. Inmitten des Kreises konnte man auf beiden Seiten eine undeutliche Zeichnung erkennen, kleine Unebenheiten umgaben ihn. Er rieb das Plättchen zwischen den Fingern sauber. Ein Denar. Was ihm als undeutliche Buckelchen um die Kreise erschienen war, ergab eine Inschrift. Einem Fachmann wäre das Herz stehengeblieben. Denn die Prägung war fast unversehrt, und die Buchstaben waren folgendermaßen aneinandergereiht: HIC DENARIVS EST EPIS.
86 Es ist recht traurig, aber unabänderlich. Die jahrtausendalte Zivilisation hat daran nichts geändert. Wenn die Menschen Kummer haben oder in Streßsituationen geraten, erwacht ihre Genußsucht. Oder einfacher gesagt: um den Seelenkummer zu vertreiben oder zu betäuben, gewähren sie dem Leib mehr Genüsse. Frau Doktor Janovská verspeiste eine Forelle, die Herren Bouček und Coufal einen pikanten Rindergulasch mit Brot, vor Leutnant Beránek, der für persönlichen Kummer keinen Grund hatte, lagen zwei Forellen auf dem Teller. Oberleutnant Vlček verdrückte leicht angebrannte Buletten mit Kartoffelsalat, und als Michal Exner dies alles sah, knurrte ihm der Magen. Die Tische waren klein, die Frau Doktor saß allein an einem. Er setzte sich also zu ihr. 200
„Wenn du Hunger hast“, bemerkte vom Nebentisch Beránek, „dann mußt du dir das Essen holen. Hier bringt es dir keiner, mein Kapitän.“ „Wie ist die Forelle?“ „Es geht.“ „Der Herr Doktor Bouček hat vormittags behauptet, sie stinke nach Phenol.“ „Ich rieche nichts.“ Exner nickte, und sein Gesicht drückte deutlich aus: du verschlingst ja auch alles … Er stand auf und sah sich die Speisen aus der Nähe an. Leutnant Beránek bot ihm auf der Gabel einen Happen an. Exner schnupperte vorsichtig daran und wälzte dann langsam den Bissen im Munde hin und her. „Hm … Na hör mal, die schmeckt doch …“ Er wandte sich ab und sagte halblaut: „Hinter der Kneipe steht ein Trabant Kombi. Er ist offen. Sichern, aufladen, wegfahren.“ Er richtete sich auf und nickte. „Das nehm’ ich wohl auch“, sagte er. Er stieg die wenigen Stufen zum Ausschank hoch. Über das Pult hinweg blickte er in die Küche. In Anbetracht der fast feldmäßigen Bedingungen, unter denen das Personal hier arbeitete, schienen ihm Sauberkeit und Organisation annehmbar. Er stellte sich auf Zehenspitzen, um bis zum Küchentisch zu blicken. Aus dem Augenwinkel gewahrte er Vlček, der mit langen Schritten hinters Restaurant strebte. Unterwegs winkte er die Oberwachtmeister Šibink und Hašák zu sich, die schon längst gegessen hatten und denen man ansah, daß sie begierig auf neue Aktionen warteten. „Sie wünschen?“ fragte ihn die Leiterin. Sie sah wieder aus wie eine Rosenblüte. Er seufzte. „Ich würde was essen“, erklärte er unbestimmt. „Aber der Herr Doktor Bouček behauptet, daß Ihre Forellen nach Phenol riechen.“ „Der Herr Doktor scherzt zweifellos.“ Sie ahnte nicht, um welchen Doktor Bouček es sich handelte. 201
„Er ist Arzt.“ Exner wiegte den Kopf, als Zeichen, daß dies doch zu bedenken sei. „Aber ich habe ein Häppchen gekostet. Nur eine Bitte, wenn Sie so freundlich wären … Manch einer mag Forellen mit knuspriger Mehlkruste. Ich nicht. Und dann möchte ich lieber warten, bis Sie mir eine von denen geben können, die Sie soeben in der Röhre backen. Und falls ich bitten darf: auf Butter, Öl ist auch nicht schlecht, selbstverständlich …“ Unwillkürlich duckte er sich, sie hielt nämlich ein großes Tablett in der Hand. Aber sie beherrschte sich. Vielleicht stammte sie aus einer alten Familie von Gewerbetreibenden und war im Geiste einer Zeit erzogen, da der Kunde König war. „Wie Sie wünschen, Herr Kapitän. Sie haben Koch gelernt, wenn ich fragen darf?“ „Keineswegs“, sprach er, bescheiden lächelnd. „Ich bin nur ein Dilettant.“ Er lehnte sich an die Holzwand des Hauses neben dem Fensterchen und beobachtete geduldig, wie man ihm die Forelle zubereitete. Dann setzte er sich mit seinem Teller zu Frau Doktor Janovská. Am Nebentisch trank Leutnant Beránek sein Bier aus und wischte sich den Mund ab. „Die kochen relativ gut hier“, sagte sie. Dabei stand ihr der Sinn nach allem anderen als nach Essen. „Wie geht es Herrn Doktor Sultán?“ „Ich möchte ihn am Nachmittag mal besuchen.“ „Da tun Sie recht“, meinte Exner väterlich. „Er wird sich bestimmt freuen.“ Leutnant Beránek stand auf. Er winkte den Herren Schriftstellern zu und führte sie in sein Campinghäuschen. Er ging ihnen voran, wie ein Zwerg vor zwei Riesen. Exner kostete. „Pardon. Ich hol’ mir nur eine Scheibe Zitrone und etwas Salz.“ Als er zurückkehrte, beträufelte er sorgfältig die Fo202
relle. „Das ginge“, bemerkte er nachdenklich, „Nur wird sie mir jetzt zu sehr auskühlen. Sie hätten die Teller vorwärmen sollen. Wissen Sie, Frau Doktor, daß dieser gute Brauch fast überall verschwunden ist?“ „Nein, das weiß ich nicht“, erwiderte sie, und es gelang ihr kaum, den Ton gesellschaftlicher Konvention beizubehalten. Und dann schwiegen sie, Kapitän Exner widmete sich seiner Forelle. Sie konnte nicht umhin, ihn zu beobachten, und mußte anerkennen, daß sie noch niemanden so perfekt eine Forelle hatte entgräten sehen. Er legte das ganze Rückgrat mitsamt den Gräten auf den Tellerrand. „Ich sollte heimfahren und mich umziehen“, sagte sie. „Ich nehme Sie mit dem Auto mit.“ „Ich würde lieber allein. Falls Sie mich nicht mehr brauchen. Wozu auch“, stieß sie mit einem Seufzer hervor. „Ich hätte da ein Problem“, meinte Exner. „Ich hab’ was gefunden, dort hinter dem Restaurant, und kann damit nichts anfangen. Vielleicht wissen Sie einen Rat.“ „Gern, falls ich es kann.“ Er nickte und ließ sich beim Essen nicht stören. Erst als er den Teller weggeschoben und sich den Stuhl zurückgerückt hatte, damit ihm die Sonne nicht ins Gesicht schien, langte er in die Hemdtasche, legte den Dienstausweis auf den Tisch und ein zusammengefaltetes Taschentuch. Er klappte das Taschentuch auseinander wie einen Aktendeckel und legte es vorsichtig auf den Tisch vor Doktor Janovská. „Sie können das Plättchen in die Hand nehmen. Offenbar ist das eine wertlose Sache.“ Sie erbleichte, bevor sie noch die Hand nach dem Denar ausstreckte. „Möchten Sie was trinken?“ Er goß Wasser in ihr Glas. „Wir sitzen zwar im Kühlen, aber es ist eben doch ein heißer Tag.“ 203
„Das ist ein Denar“, sagte sie langsam. „Gewiß“, stimmte er zu. „Ich bin froh, daß ich mich nicht geirrt habe. In dieser Gegend liegen sie offenbar zu Tausenden herum.“ „Wo haben Sie ihn gefunden?“ „Wie ich sagte: hinter dem Restaurant hier. Ich lüge nicht.“ „Auf der Erde? Nur so?“ „In einem Auto.“ „Nur den einen?“ „Sie können nicht wissen, daß gerade dieser Denar zu dem gestohlenen Depot gehört.“ Sie stutzte. „Denare liegen nicht nur so in Autos herum.“ „Das hab’ ich mir auch gedacht.“ Er nahm ihr die Münze aus der Hand und wickelte sie behutsam wieder ins Taschentuch. „Wissen Sie was? Wir schauen uns gemeinsam den Wagen an.“
87 Oberwachtmeister Šibink hielt treu und brav Wache. Er saß auf einem Baumstumpf und beobachtete das zu bewachende Objekt. Es stand ihm direkt vor der Nase. Hašák lehnte sich elegant an die Holzwand des Restaurants und unterhielt sich mit der Frau Leiterin, die wieder hinterm Fenster stand. Offenbar verhörte er sie. Denn das zu bewachende Objekt beobachtete er überhaupt nicht. Er gewahrte Exner, rückte sich die Mütze gerade und schritt energisch auf ihn zu. „Genosse Kapitän …“ „Was gibt’s?“ unterbrach ihn Exner. Und er hob den Blick zur Leiterin. „Nichts“, sprach der Oberwachtmeister undienstlich dreist. „Alles in Ordnung.“ 204
„Das seh’ ich. Machen Sie weiter, Genosse Oberwachtmeister.“ Und Exner zeigte zum Fenster. Dann wandte er sich an Doktor Janovská: „Dieser Trabant.“ Hinter dem Auto ragten Kopf und Schulter des Oberwachtmeisters Šibink hervor. „Allerdings“, sagte sie unsicher. „So ein Auto hab’ ich gesehen. Aber solche Autos fahren in Massen herum. Ich kann Ihnen nicht mit Bestimmtheit sagen, daß ich gerade das da gesehen habe.“ „Schauen Sie es sich gut an. Vielleicht fällt Ihnen etwas auf. Kein Wagen ist dem anderen völlig gleich. Der eine hat am Spiegel einen Hampelmann, der andere einen Aufkleber an der Heckscheibe, wieder ein anderer hat ein nacktes Fräulein über dem Armaturenbrett …“ Sie ging lieber nachschauen. Wenn dieser Kapitän ins Schwatzen geriet, fühlte sie, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Sie schritt um das Auto herum. Oberwachtmeister Šibink trat galant zurück. Sie griff an die Klinke, um ins Innere zu schauen. „Nicht anfassen, bitte“, ermahnte er sie. „Aber ja doch“, ermunterte sie Kapitän Exner. „Schauen Sie sich nur gründlich um.“ Es sah nicht so aus, als erregte etwas in dem Wagen ihre Aufmerksamkeit. Sie blickte zu Exner auf und schüttelte den Kopf. Die Oberwachtmeister hatten den Dienstwolga gleich daneben geparkt, und aus den offenen Fenstern klang heitere Musik. Hašák schlug unwillkürlich mit dem Fuß den Takt. Sie bemerkte es und runzelte die Stirn. „Ich fahr’ mich umziehen“, entschloß sie sich. Vom Campingplatz schallte ein lautes Rufen: „He, Herr Kapitän!“ Auf sie zu kamen die Herren Doktoren Bouček und Coufal. Diesmal folgte Leutnant Beránek ihnen. 205
„Dank Ihnen“, fuhr Doktor Bouček im Gespräch fort und näherte sich langsam, aber stetig auf seinen riesigen Füßen, „sitzen wir in der Klemme.“ „In was für einer Klemme, Herr Doktor?“ „In einer großen“, fuhr Doktor Bouček mit einer weder seiner Bildung noch gesellschaftlichen Stellung angemessenen Burschikosität fort. „Wir sind hier angeschmiert, sitzen in der Tinte, können nicht weg.“ „So ist es.“ Tomáš Coufal nickte. Nicht nur, weil sein Lehrer gesprochen hatte. Es war offensichtlich, daß er in diesem Augenblick mit allem einverstanden gewesen wäre. „Wir können uns nicht wegrühren. Jetzt hätte ich auf dem Flugplatz sein sollen.“ Er schüttelte den Kopf, als wunderte er sich selber über den unglaublichen Umstand, daß er noch nicht dort war. „Das schaffe ich nicht“, fügte er bekümmert hinzu. Und halblaut ergänzte er: „Diese Hühner warten doch auf mich …“ „Was für Hühner?“ interessierte sich Beránek. „Auf dem Flugplatz? In Růzyně?“ Coufal zuckte zusammen, als erwachte er aus einem Traum. Er winkte ab. „Sollen sie warten.“ Leutnant Beránek sah Exner fast vorwurfsvoll an, als wäre sein Chef verantwortlich für den physischen und seelischen Zustand der Zeugen. Frau Doktor Janovská erbleichte bereits zum zweiten Mal. „Sie müssen sich entscheiden, meine Herren“, sagte Exner rasch. „Entweder Sie bleiben bis morgen hier, oder wir nehmen Sie mit nach Prag, und dann wird der Herr Doktor Coufal bei nächster Gelegenheit zurückkehren, um das Auto zu holen.“ Die Herren schauten einander an. „Was meinst du, Tomášek?“ fragte Bartoloměj Bouček. „Wir könnten doch auch hierbleiben.“ „Gewiß“, erklärte Tomáš Coufal entschieden. „Ich werde wegen des Wagens nicht noch einmal herkommen!“ 206
„Und die Hühner“, fügte Exner hinzu, „kann man schließlich anrufen.“ „Was?“ fragte Coufal fast drohend. Kapitän Exner zwinkerte Leutnant Beránek zu, und dieser sprach kulant: „Also gehen wir, meine Herren. Wie wär’s mit einer Jause? Ich hatte nur eine Forelle, Sie werden den Gulasch auch bald …“ „Ja, ja“, stimmte Doktor Bouček mit einem eifrigen Kopfnicken zu. „Er hat recht, dieser Leutnant.“ „Frau Doktor“, sagte Exner, „Oberwachtmeister Hašák wird Sie nach Hause fahren und auf Sie warten, bis Sie sich umgezogen haben, und Sie dann nach Brody zu Herrn Doktor Sultán fahren. Das Fahrrad paßt in den Kofferraum“, und weil er am Kofferraum das Dienstwolgas stand, drückte er auf den Knopf des Schlosses, um zu demonstrieren, daß der Gepäckraum ausreichend war. Oberwachtmeister Šibink stürzte herbei. Zu spät. Der Deckel hob sich, und die erwärmte Schlange kreiste mit dem Kopf und schickte sich an, in die Welt hinauszukriechen. Schon wand sie sich über den hinteren Teil des Kofferraumes. „Aaaa“, brüllte Exner, „pfui Teufel! Wo kommt die denn her?“ Doktor Bouček trat erstaunlich flink näher. „Pardon, Genosse Kapitän, ich habe einige Zeit in den Tropen gelebt. Aber das ist ja eine Klapperschlange!“ rief er erfreut. „Schau her, Tomášek, eine Klapperschlange! Eine lebende!“ Da war auch schon Šibink zur Stelle. Er zog die Schlange vom Rand des Kofferraumes herunter und knallte die Klappe zu. Im Hinblick auf sein bisheriges Verhalten handelte er plötzlich rasch und entschlossen. „Pfui Teufel!“ wiederholte Exner leise, als er seine Fassung wiedergewonnen hatte. „Welcher Lümmel hat die da reingetan?“ 207
Leutnant Beránek lächelte still, denn selten geschah es, daß sein Kapitän allen Glanz verlor. Exner, der gerade ausspucken wollte, sah dieses stille Lächeln und schluckte rasch den Speichel hinunter. Šibink stand in Habtachtstellung, und man konnte meinen, er erwarte Belobigung für seine energische und heldische Tat. „Warum haben Sie den Kofferraum nicht verschlossen?“ fragte ihn Exner. „Einmal wird man Ihnen statt einer Klapperschlange Mistjauche hineingießen. Ich wäre der erste, der das täte. Fahren Sie die Frau Doktor nach Hause, ins Wageninnere kann die Schlange nicht kriechen, bringen Sie sie dann nach Brody, und anschließend fahren Sie nach Prag in den Zoo. Wenden Sie sich an den Direktor Velenínský, das ist ein Bekannter von mir. Die sollen was damit tun. Wenn sie Sie unterwegs beißt, ist das Ihre Sache.“ „Genosse Kapitän …“, piepste Oberwachtmeister Šibink. „Was ist? Haben Sie Angst?“ „Nein. Das ist meine Schlange.“ „Ihre?“ Exner tastete die Taschen ab, die er nicht hatte. „Gebt mir einer eine Zigarette.“ Mit einer Schachtel Sparta sprang dienstwillig Hašák herbei. Er knipste das Feuerzeug an. „Warum fahren Sie solche Ungeheuer herum?“ „Ich halte sie, Genosse Kapitän.“ „Warum fahren Sie sie in einem Dienstwagen herum? Das ist mir egal, daß uns Leute zuhören“, fertigte er Beránek ab, der ihm mit den Augen ein Zeichen gab, daß im Fenster des Büros das gesamte Personal des Restaurants versammelt war. „Das ist kein Dienstgeheimnis. Sie halten sich eine Klapperschlange, aber warum fahren Sie sie in einem Dienstwagen herum?“ „Heute früh hab’ ich sie auf einem Baum fotografiert. Jetzt sind die Morgen kühler, und auch das Licht ist gut.“ 208
Er öffnete die Wagentür, zog aus dem Handschuhfach den Fotoapparat hervor und zeigte ihn Exner zur Bestätigung dessen, was er sagte. „Ich habe nämlich Farbmaterial …“ Kapitän Exner wandte sich an Frau Janovská: „Frau Doktor, werden Sie nicht Angst haben, in einen Wagen voller Giftschlangen zu steigen?“ „Warum? Überhaupt nicht.“ „Also fahren Sie, und schaffen Sie die Schlange nach Hause, und holen Sie das Fahrrad der Frau Doktor. Die Herren“, wandte er sich an die anwesenden Schriftsteller, „werden sicher so freundlich sein und ein Weilchen das Fahrrad bewachen.“ Er streckte Beránek zwei Finger entgegen. „Und du hol mir ein Auto. Ich fahre nach Prag.“ „Allein?“ fragte Beránek. „Keiner der Fahrer ist mehr …“ „Allein“, erklärte Kapitän Exner und faltete die Hände. „Allein. Allein. In einem stillen Auto.“
88 Es war eine alte Apotheke, und so duftete sie auch. Auf den Holzregalen längs der Wände waren Porzellandosen aufgestellt. Seit Jahren gewiß leer. Die Regale waren von den Kunden durch eine Kordel getrennt, an das Marmorpult war ein verglaster Paravent mit zwei Fensterchen angeschraubt. Ausgabe von Medikamenten gegen bar. Ausgabe von Medikamenten auf Rezept. Die Apotheke lag in der Altstadt, und an diesem Nachmittag hatte sie nur zwei Kunden. Der dritte parkte sein Auto direkt vor dem Eingang, obwohl ein paar Meter davor ein deutliches Parkverbotsschild stand. Der Kunde, der aus dem Wagen stieg, sah nicht krank aus, und er schien auch kein Rezept mitgebracht zu ha209
ben. Er trat ein, über ihm bimmelte die Glocke, und der junge Mann blieb stehen, ließ erfreut seine Blicke über die Wände und Regale wandern, trat weder an das eine noch an das andere Fensterchen, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete die weißen Dosen. Dabei bewegte er leicht die Lippen. Offenbar entzifferte er die lateinischen Aufschriften. Als die Kunden gegangen waren, fragte ihn die Frau Magistra, was er wünsche. Der Kunde dachte nach und musterte sie länger, als es jeder andere gewöhnliche Kunde getan hätte, und auf eine Art und Weise, die die Dame bestimmt beleidigt hätte. Aber die Magistra war jung, unter dem weißen Kittel war unübersehbar, daß sie schlank war, jedoch nicht überall, sie hatte braungebrannte Arme und auf der Nase unter der Brille ein paar Sommersprossen. So daß der Kunde etwas zum Betrachten vor sich hatte, und im Hinblick darauf, daß der Kunde sauber gekleidet war und anständig grüßte, schien es der Magistra nicht, daß er frech dreinschaute. Sie lächelte also, um ihm zu zeigen, daß ihre Zähne in Ordnung waren und eigentlich kein Grund bestand, warum sich der Kunde genieren sollte, seinen Wunsch auszusprechen. „Verzeihen Sie“, sagte der Bursche fast zaghaft, „in dieser Apotheke arbeitet doch der Herr Magister Maizl?“ „Der Herr Leiter ist im Magazin.“ Das Lächeln verschwand, und die grauen Augen vereisten. „Aha …“, sagte der Kunde nachdenklich. „Er hat leider keine Zeit.“ „Aha“, wiederholte der Kunde und beobachtete interessiert, wie er sich in ihren Augen in einen Tölpel verwandelte. Er versuchte also, diese Entwicklung zu stoppen: „Verzeihen Sie … Und Fräulein oder Frau Čtvrtečková kennen Sie nicht?“ 210
„Das bin ich“, sagte sie. „Was wünschen Sie?“ „Mich mit Ihnen unterhalten“, sagte der Mensch einfach. Und er lächelte wieder ein bißchen verschämt oder bemühte sich wenigstens darum. Ein neuer Kunde störte sie. Er bekam seinen Kamillentee und ging. Dann erschien eine Frau mit einem Rezept für eine Salbe. Die Magistra bediente flink, und als sie sich nach der Salbentube auf dem Regal streckte, das sie kaum erreichte, trat der Kunde sogar näher. Vielleicht geschah es, um ihr galant beizuspringen. Das ging zwar nicht über das Pult hinweg, aber wenigstens, und das unwillkürlich, hatte er ihre Beine bis zu den weißen Fersen über den lächerlichen Holzschuhen gesehen. Er schaffte es nicht mehr, den Blick abzuwenden, als sie sich mit der Salbe in der Hand umdrehte. Sie reichte der Kundin die Tube, empfing eine Krone für das Rezept und hatte rote Ohren und einen roten Hals. Wohl von der Anstrengung, als sie sich so hatte strecken müssen. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie die Kasse geschlossen und das Rezept verstaut hatte. Hinter der Frau mit der Salbe bimmelte die Türglocke, und Fräulein Magistra Čtvrtečková sagte: „Wie Sie sehen, habe ich keine Zeit.“ Trocken, aber nicht schroff. „Da sind Sie in dem ganzen schönen Laden allein?“ „Der Kollege frühstückt.“ „Nur ein paar Worte“, sagte der Kunde bittend. „Auf Ehre und Gewissen. Sehen Sie“, er zeigte auf die Straße, „das Auto da ist meins. Sie wissen, hier darf man nicht mal halten.“ „Dann fahren Sie doch weiter“, schlug sie liebenswürdig vor. „Und wenn ich achthundert zahlen müßte – ich warte.“ Sie lachte, jetzt glaubte sie, das Spiel gewonnen zu haben. 211
Wieder erschienen zwei Kunden. „František“, rief sie nach hinten, „könntest du für ein Weilchen …“ Sie entschuldigte sich bei dem Kunden und ging zum Schaufenster. Ein bißchen gespannt, mit kurzen Schritten, einen Fuß vor dem anderen, wie auf einem Seil. Sie wartete, bis er bei ihr war, hob die Augen. Die Straße konnte man nicht sehen, denn im Schaufenster hing eine große Reklame. „Ich würde Sie gern zum Abendessen einladen …“, begann er. Er verstummte für ein Weilchen, vielleicht hoffte er, sie würde ablehnen. Als dies nicht geschah, fuhr er fort: „Nur, es ist peinlich, habe ich heute keine Zeit, und ich weiß nicht, ob ich morgen Zeit haben werde. Kann ich Sie irgendwo anrufen?“ „Warum sollten Sie das tun? Sie sind unverschämt und haben sich nicht vorgestellt. Übrigens: gesucht haben Sie den Herrn Leiter.“ „Das muß ich wieder ausbügeln“, sprach der junge Mann, und er schien leicht verwirrt zu sein. „Es stimmt, vorgestellt habe ich mich nicht. Mein Name ist Michal Exner, Doktor Exner. Unverschämt? Eher töricht, meinen Sie nicht? Mit dem Herrn Leiter möchte ich auch gern sprechen.“ „Der Herr Leiter ist nicht im Magazin“, sagte sie hart. „Er ist schon nach dem Mittagessen verschwunden. Ich kann mit Ihnen einen Kaffee trinken gehen. Warten Sie ein Weilchen.“ Sie ging zu dem Magister František, um ihm etwas zuzuflüstern. Dann zog sie sich um und kehrte im weißen wehenden Kleid mit einem fast endlosen Ausschnitt zurück. Galant öffnete er ihr die Tür. Er dankte Gott, daß man ihm zufällig einen neuen und recht sauberen Wagen geschickt hatte. Sie schlüpfte auf den Sitz. Sie konnte nicht merken, daß die Nummer des Autos mit den Buchstaben VP begann. 212
89
„Also wohin?“ fragte er. „Nur ein Katzensprung, die zweite Straße rechts. Ich muß wieder zurück, František ist sehr nett, aber er würde verrückt, wenn er zu lange allein im Laden bliebe.“ „Wie wär’s bei den Kreuzherren?“ schlug er vor. „Um diese Stunde dürfte es dort leer und ziemlich sauber sein. Ich fahr Sie dann wieder zurück.“ „Von mir aus.“ Er parkte am Klementinum. Jetzt mußte sie um den Wagen herumgehen, und sie war nicht achtlos. Sie blieb vor der Kühlerhaube stehen und zeigte auf die Wagennummer. Er tat, als hätte er Schwierigkeiten mit dem Türschloß, aber das rettete ihn nicht. „Herr Exner“, sagte sie, „kommen Sie her.“ Er gehorchte und trat fast demütig an sie heran, was ihm nicht besonders gelang. „Das war Betrug, Herr.“ „Ein wenig“, gab er zu, „ein ganz kleines bißchen. Beim lieben Gott und dem heiligen Wenzel, ich wollte Sie nicht belügen. Ich habe wirklich auch Sie gesucht. Nur war es mir plötzlich angenehmer, mit Ihnen einen Kaffee zu trinken als …“ Er stockte. „Wissen Sie was? Ich habe eine Idee.“ „Ja?“ fragte sie erstaunt. „Wirklich? Eine Idee?“ „Wir trinken einen Kaffee, und ich erkläre Ihnen alles, und Sie erklären mir einiges.“ „Eine schwachsinnige Idee“, sagte sie aufrichtig, und hierin irrte sie nicht sehr. „Also nicht den Herrn Leiter, also kein Doktor …“ „Aber ja doch“, stöhnte er, „allerdings kein Arzt.“ „Ein geriebener Jurist“, schloß sie und musterte ihn. „Sind Sie gekommen, um mich zu verhören?“ „Ja“, gestand er demütig.
213
90 „Nirgends wird mehr saubergemacht“, sagte Exner verdrießlich und wischte mit dem Taschentuch die Bank ab. Sie setzte sich, stützte sich mit dem Ellbogen auf die Tischplatte, legte ihre braungebrannten Unterarme darauf, faltete die schlanken, kräftigen Finger und sagte fast zufrieden: „Also verhören Sie mich, Herr … Verzeihung, Genosse. Wohl Offizier, nicht?“ Er bestellte Kaffee und Mineralwasser. „Sie haben den Herrn Leiter nicht allzugern, nicht wahr, Helga …“ Er stockte. „Verzeihen Sie, Frau Čtvrtečková. Oder Fräulein?“ „Augenblick, mein Herr“, sagte sie. „Falls Sie erlauben, möchte ich das alles mal ein bißchen zurechtrücken.“ Mit gewohnter Bewegung schob sie sich die Brille hoch. „Gut“, sagte er ergeben. „Fragen Sie.“ „Geht es um den Herrn Leiter oder um mich?“ „Um beide.“ Sie pfiff leise zwischen den Zähnen. „Ach … Ein Anonymus?“ „Nein. Anonymusse bearbeite ich nicht. Mord.“ Sie lachte. „Prima. Hören Sie“, sagte sie schmeichlerisch und zog die Hände zurück, damit der Herr Ober die Tasse Kaffee vor sie stellen konnte. „Ich wollte die Dinge zurechtrücken, und Sie bringen alles wieder durcheinander. Gestehen Sie – Sie sind kein Doktor und auch kein Polizist, das Auto haben Sie gestohlen, oder ich habe schlecht hingesehen.“ „Ihrer Meinung nach bin ich ein Betrüger, Frau … das heißt Fräulein Magistra.“ Sie nickte fast traurig. „Aber der Kaffee ist hier nicht übel.“ „Sie hegen Ihrem Leiter gegenüber keine allzu große Liebe. Nicht so sehr als Leiter, sondern eher anders, stimmt’s?“ 214
Heftig drehte sie den Kopf zu ihm herum. „Und was geht das Sie an?“ „Nichts“, räumte er ein. „Ich hab’ mir nur darüber Gedanken gemacht, weil Sie eine Campinghütte beim Restaurant Zur Mündung bestellt hatten und er dann dort mit jemand anderem übernachtet hat.“ „Dann wissen Sie wohl auch, was für eine Dame das war, wenn Sie schon alles wissen.“ „Es war ein Schriftsteller, sie haben sich ein bißchen gemeinsam betrunken. Mit dem Schriftsteller habe ich gesprochen.“ „Jetzt bin ich ganz durcheinander“, erklärte sie aufrichtig. „Ich auch“, gestand Kapitän Exner. „Noch ein Mineralwasser, Herr Ober.“ Er bekam es und leerte es fast in einem Zug. „Sie sind mit dem Herrn Maizl nach Libín gekommen, aber nicht mit ihm weggefahren. Sie haben das reservierte Nachtquartier nicht abgesagt, Sie sind einfach verduftet. Ich möchte gern wissen, warum.“ „Das ist es ja gerade, was Sie nichts angeht.“ „Schade“, seufzte er. „Was?“ „Ich habe gesagt, schade.“ Er seufzte noch einmal. Langte in die Brusttasche und zog bereits zum zweiten Mal an diesem Tage sowohl den Dienstausweis als auch das zusammengefaltete Taschentuch hervor. „Schauen Sie“, sagte er und klappte den Ausweis auf. „Vergleichen Sie das Foto mit meinem Gesicht und lesen Sie.“ Sie gehorchte, verglich und las. „Meiner Seel. Sie sind Kapitän und heißen Michal Exner. Dr. jur. Sieh da. Aber mit dem Mord …“ Er faltete das Taschentuch auseinander. „Mit was für einem Mord?“ „Arnošt, also der Herr Leiter, hat mir heute morgen gesagt, daß man in Libín jemanden ermordet und den 215
Schatz gestohlen hat.“ Sie langte nach der Münze. Mit der uralten Geste weiblicher Neugier. „Was ist das?“ „Ein Denar. Angeblich zehntes Jahrhundert. Ich hab’s noch nicht überprüfen lassen. Aber die Fundsituation entspricht dem zehnten Jahrhundert. Am Freitag wurden etliche davon in Libín gefunden. Wie Sie wissen, hat sie jemand am Montagnachmittag gestohlen und wie im Vorbeigehen dabei ein achtzehnjähriges Mädchen erstickt. Die Münze aus dem Schatz hielt sie in der Hand, genauso wie jetzt Sie. Am Samstag hat sich das Depot Ihr Leiter Arnošt Maizl angeschaut, ein bekannter Numismatiken Mit ihm sind Sie nach Libín gefahren. Weil das Nachtquartier auf Ihren Namen bestellt war. In Libín sind Sie verduftet. Ich wollte mit dem Herrn Magister sprechen und habe Sie gefunden.“ Er rieb sich die Hände. „Das sind aber Freuden.“ Nachdenklich betrachtete sie den Denar. Sie drehte ihn um. „Daß Sie mich gefunden haben?“ „Aber nein. Daß ich Sie früher als den Herrn Magister gefunden habe.“ „Ich bin mit ihm hingefahren und allein zurückgekehrt. Mit dem Dampfer vom Restaurant und dann mit dem Bus aus Brody. Montag war ich wieder auf der Arbeit. Den ganzen Tag.“ „Danke. Geht es mich etwas an, warum Sie weggefahren sind?“ „Nein, aber ich sag’s Ihnen. Er ist verheiratet. Ich bin mit ihm gegangen. Ganze zwei Jahre. Mir schlug’s schon aufs Gehirn. Ihm auch.“ „Aha“, sagte er trocken. „Streit?“ „Nein. Eine Entscheidung.“ „Sammler sind töricht“, überlegte Exner laut. „Einer mehr, andere weniger. Sie sind wohl sehr gierig, unter ihnen können richtige Raffkes sein.“ „Arnošt ist kein Sammler.“ „Wie das? Alle sagen, er ist einer.“ 216
„Er hat eine Sammlung, die er von seinem Vater geerbt hat. Er verkehrt unter Numismatikern, sie halten ihn in Ehren. Wegen der Sammlung. Und letzten Endes versteht er auch was davon. Aber ein Sammler ist er nicht. Das heißt, er kauft Münzen, tauscht sie, verkauft sie, aber nur, weil er eine Sammlung besitzt und eine geachtete Stellung in den Numismatikerkreisen einnimmt. Wovon hat er wohl das Auto gekauft, was meinen Sie? Wovon hat er sich den Bungalow gebaut?“ „Aber da müssen doch die anderen Numismatiker wissen, daß er seine Sammlung verkauft.“ „Vielleicht verkauft er’s über den staatlichen Handel. Ich weiß es nicht.“ „Werden Sie heute mit ihm sprechen?“ „Werde ich nicht.“ „Wieso, kommt er denn nicht zurück in die Apotheke?“ „Doch.“ Sie blickte auf die Uhr. „Er wird bald wiederkommen, und ich muß mich beeilen. Aber sprechen werde ich nicht mit ihm.“ Er zahlte, und als sie sich mit dem Wagen durch die engen Gäßchen der Altstadt schlängelten, fragte er: „Er kommt zurück, und Sie werden nicht mit ihm sprechen?“ „Ich spreche überhaupt nicht mehr mit ihm, Herr Kapitän. Oder nennt man Sie Herr Doktor?“ Er hielt vor der Apotheke. „Und wie nennt man Sie, Frau Magistra oder Helga?“ „Sie werden noch Strafe zahlen.“ „Ich bin im Dienst und kläre einen Fall. Kann ich Sie anrufen?“ „In der Apotheke.“ „Zu Hause nicht?“ „Ich hab’ kein Telefon. Und ich wohne nicht in Prag.“ „Wo dann?“ „Auf dem Bahnhof.“ 217
„Was?“ „Auf dem Bahnhof“, sagte sie ruhig. „In Čelakovice. Mein Vater ist dort Fahrdienstleiter.“
91 Die Sonne stand am westlichen Horizont, ihre Scheibe war groß und begann sich zu röten. Er hatte sie im Rücken. Wenn sich Wagen, Straße und Sonne in einer günstigen Position zueinander befanden, blendete sie ihn im Rückspiegel. Kapitän Exner fuhr die bekannte Straße entlang, die von Prag in die altehrwürdige Stadt Hory führt. Leise und ein wenig falsch pfiff er vor sich hin. Er schien zufrieden zu sein. Offenbar deshalb, weil er Zeit gefunden hatte, kurz nach Hause zu fahren, in diese Garçonnière im sechsten Stock, sich ein kleines Abendessen zuzubereiten, sich zu duschen, zu rasieren und umzuziehen. Es ging auf den Abend zu, er brauchte nur um den Kragen des hellblauen Hemdes mit Schulterklappen eine dunkelblaue Krawatte zu binden und sich eine Hose von gleicher Farbe wie die Krawatte anzuziehen, dazu blaue Socken und schwarze Schuhe, so daß er aussah wie ein Flugkapitän der Aerolinie, der in den Dienst fährt. Das Sakko hatte er auf den Rücksitz geworfen. Die Mütze und die goldenen Streifen darauf fehlten freilich. Es fuhr sich gut, der Verkehr war gegen Abend schwächer geworden. Die Landschaft war ihm vertraut, die Dörfer waren freundlich, der Wind sanft, und die Wälder am Horizont verschwanden in grauem Dunst, der gutes Wetter ankündigte. Hinter einem weiteren Hügel tauchten Kirchtürme und das spitze Dach eines gotischen Domes auf, denn diese Stadt war vor Jahrhunderten steinreich gewesen. 218
Ein paar Kilometer davor bog er auf eine schmale, von verkümmerten Pflaumenbäumen gesäumte Landstraße ab. Als er vor einiger Zeit zum ersten Mal hier langgefahren war, war sie noch ockerfarben gewesen. Jetzt schimmerte sie schwarz von Asphalt. Er gelangte auf den Dorfanger, bog von der Hauptstraße ab, überquerte den Anger, und dort endete das Dorf. Früher führte von hier ein Hohlweg in die Felder. Seitdem die hiesige archäologische Forschung in ganz Europa berühmt geworden war, hatte man auch in diesen Hohlweg einen Asphaltteppich gelegt. Er führte bis zu recht bizarr gebauten Holzhäuschen, weil Doktor Soudek zwischen ihnen eine Halle, einen Speisesaal und einen Versammlungsraum eingeplant hatte. Die Häuser umgab ein gestrichener Zaun, rechts vom Tor standen zwei alte Bäume, unter ihnen ein Kruzifix, und dort, wie sich Kapitän Exner erinnerte, hatten sie vor Jahren, als sie einen Graben aushoben, zufällig das Grab eines Soldaten gefunden. Nach den Knöpfen und Uniformresten zu urteilen, stammte es aus dem 18. Jahrhundert. Wer weiß, wie der Soldat dahin geraten war und welche Ruhe hier seine Seele und sein Leib gefunden hatten. Er knallte die Wagentür zu und trat an das Türchen neben dem Tor. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Aber hinter einem entfernter liegenden Häuschen stürzten zwei Hunde hervor. Ein schwarzer und ein grauer. Wolfshunde. Der graue war kleiner, aber offenbar die gleiche Bestie wie der schwarze. Kapitän Exner lachte leise. Er bückte sich und hob einen Stein auf. „Minda?“ rief er der schwarzen Bestie zu, ja, nur ein Halbverrückter konnte diesem Ungetüm mit den gelben Augen einen solchen Namen geben. „Minda“, wiederholte Kapitän Exner, spuckte auf den Stein und warf ihn. Der Hund heulte erfreut auf und sauste dem Stein hin219
terher. Der andere ließ sich nicht überlisten, er stand und lauerte. Kapitän Exner faßte die Türklinke an. Die Tür war offen. Warum auch nicht, zwei solche Hunde hätten den staatlichen Goldschatz bewacht. Minda war mit dem Stein zurück. Sie legte ihn Exner zu Füßen und bemühte sich, ihm die Nase zu lecken. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Wurf zu wiederholen. „Antioch“, sagte er zu dem anderen Hund, „kennst du mich nicht mehr, du Esel?“ Er kannte ihn. Oder tat wenigstens so. Er ließ sich am Hals kraulen und folgte ihm auf den Fersen. Aus der verglasten Halle hörte man ein lautes Gespräch. Und auf einmal ein Aufschrei: „Wer wagt es, für Minda Steine zu werfen? Ich habe verboten, die Wachhunde zu korrumpieren.“ Die Wachhunde sprangen fröhlich um Kapitän Exner herum. Die Tür der Halle flog jäh auf, und über die zwei Stufen fiel mehr, als er lief, ein kleiner Mann mit Bürstenschnitt und einem Seemannsbart. „Ich habe verboten …“ Sein Gesicht sah wütend und gefährlich aus. Kapitän Exner zuckte mit den Achseln. „Andernfalls hätten sie mich aufgefressen, Herr Doktor. Also“, sprach er zufrieden und ließ seinen Blick über die Häuschen, Garagen und Schuppen schweifen, in denen die Depositarien waren, über die wellige vorabendliche Landschaft, über das Beet, das einst das Versuchsfeld des Doktor Soudek war, wo der Forscher ausprobiert hatte, wie schnell es mit Unkraut überwuchert wird, und tätschelte dabei die Hunde. „Also bin ich mal wieder hier, Herr Doktor.“ „Sieh da“, sagte Doktor Soudek. Streckte die Arme zum Himmel mit der Geste eines Beters und richtete seine blauen Augen auf den abendlichen Himmel. „Sieh, 220
o Gott, du hast mir eine Strafe zugedacht, und ihre Vollstreckung hast du diesem Menschen anvertraut. Es ist dein Wille, und mir bleibt nichts als demütige Ergebenheit.“ Er drehte sich zur offenen Hallentür um und rief: „Aus ist’s mit uns. Herr Doktor Radimský, nichts wird Sie retten, ich werde bezeugen, daß Sie alles gestanden haben.“ „Was denn, Herr Kollege? Was ist los?“ Den Mann, der hinter der Glaswand hervortrat, kannte Exner nicht. „Was habe ich gestanden?“ „Den Mord in Libín“, sagte Doktor Soudek trocken. „Und das ist ein Gendarm, Herr Kollege, er will Sie abholen. Kapitän Doktor Exner“, stellte er ihn vor, „heute fast wie der Pilot eines Jumbo-Jet. Doktor Radimský vom Museum, Numismatiker von Beruf, einer der Verdächtigsten. Das da, Herr Kollege“, und er zeigte zur Tür, „ist der Schlupfwinkel der verdächtigen, Ihnen in der Mehrzahl bereits bekannten Verbrecher. Geruhen Sie einzutreten. Sie sind nicht allzusehr willkommen, aber wenn schon meine scharfen Hunde Sie nicht gefressen haben, bleibt mir nichts übrig, als mich mit Ihrer Anwesenheit abzufinden.“ Auch in der Halle war die Decke ähnlich bemalt wie im Arbeitszimmer von Doktor Soudek. Die rechte Wand bedeckten angeheftete Pläne des Forschungsobjektes, von der linken Wand strahlte eine Tafel voller farbiger Reißzwecken. Das grafische Hilfsmittel des Doktor Soudek für die Orientierung in den Phasen der Besiedlung durch die ersten Ackerbauern sah aus wie ein von acht Mitspielern gespieltes „Mensch ärgere dich nicht“. Und ringsum nach allen Seiten Türen. Es gibt neuerlich Untersuchungsführende, die – wenn sie in eine Gesellschaft von mehr oder weniger Verdächtigen kommen – mit wachsamer Stille begrüßt werden, in einer Atmosphäre gespannten Mißtrauens und verlegenen Lächelns. Das war auch schon dem Kapitän Exner 221
widerfahren, aber eben doch nicht so oft, wie es der Ernst seiner Stellung und die Aufgaben erfordert hätten, die ihm zu erfüllen oblagen. In der Halle der archäologischen Forschungsgruppe in Bylaves begrüßte ihn das freudige Rufen von Frau Doktor Kateřina Reinerová: „Unter uns sitzt ein Verräter! Wie könnte der die Untersuchung führende Polizist sonst vom Treff der verdächtigen Verschwörer erfahren haben?“ „Ich bin zufällig vorbeigefahren“, entgegnete Exner bescheiden. „Und da kam mir der Gedanke, mal bei Ihnen einzukehren. Ihr Verdacht ist irrig, Frau Doktor. Guten Abend.“ „Er lügt“, sagte Doktor Reinerová ruhig und reichte ihm die Hand. „Sie lügen, Herr Doktor.“ Sie wandte sich an ihren Mann: „Viki, lügt er oder nicht?“ Doktor Reiner richtete sich im Sessel auf. Ein bißchen durch Joga und ein bißchen durch Body-Building trainiert, wäre er gewiß für niemanden ein schwacher Gegner gewesen. „Ein wehrloses Mädchen“, sagte Kapitän Exner, ihm die Hand reichend, dabei darauf gefaßt, daß sie zerdrückt würde, „könnte mancher von Ihnen, Sie, Herr Doktor, an erster Stelle, leicht unschädlich machen. Guten Abend. Nur“, fuhr er fort, näher an einen bebrillten schlanken Mann herantretend, den Fachmann für das frühe Mittelalter, Doktor Melíšek, „besteht das Problem darin, daß ich mir im Verlaufe meines Lebens darüber klargeworden bin, daß dunkle Geschehnisse“, und er schüttelte Melíšek die Hand, „sich auf anderen Ebenen des Geistes und der Stimmung abspielen. Was meinen Sie dazu, Herr Doktor?“ fragte er Václav Slánský. „War das Ihre Idee, diese – wie sollen wir sie nennen – also diese Libíner Kommission um einen Tag früher einzuberufen?“ Doktor Reiner hob einen Finger. „Schon haben wir’s. Das Verhör beginnt.“ 222
„Gewiß“, erwiderte Kapitän Exner. „So ist es. Aber bevor ich einen nach dem anderen in einen gesonderten Raum führen und in weiteren gesonderten Räumen einsperren werde, damit Sie sich nicht untereinander absprechen und, wie Frau Doktor Reinerová richtig bemerkt hat, Ränke spinnen können: Es ist nicht so lange her, da mich im fernen Ausland der hier anwesende Doktor Soudek als erfolgreichen Archäologen vorgestellt hat …“ Exner trat an Radimský heran, der ziemlich verblüfft war über die Begrüßung, die Kapitän Exner von der hier versammelten Gesellschaft zuteil geworden war. „Falls Sie erlauben, Herr Doktor, einen Augenblick …“ „Natürlich. Wohin soll ich Ihnen folgen?“ „Hierher an den Tisch.“ Exner schob eine Kaffeetasse und zwei Gläser mit Rotwein beiseite. „Wenn Sie so freundlich wären, Herr Doktor“, bat er Melíšek, „Licht zu machen.“ Der Angesprochene drehte am Schalter, und die unter weißem Glas an der Decke verborgenen Leuchtröhren flackerten auf, Exner wartete, bis sich das Licht beruhigt hatte, griff in die Hemdtasche und holte sehr vorsichtig den Dienstausweis hervor und dann das zusammengefaltete Taschentuch. Er klappte es auf, und auf dem Tuch lag der kleine Denar. „Sieh an“, bemerkte Václav Slánský, „der Libíner Fund am hellen Tageslicht?“ „Zum Teil, offenbar, ich weiß es nicht. Ich würde mich freuen, wenn mir Herr Doktor Radimský sagen könnte, was das für eine Münze ist. Und welchen Wert sie hat. Unter Brüdern. Ein Hunderter ein Tausender mehr oder weniger, das spielt keine Rolle.“ „Mein Gott“, stöhnte Frau Doktor Reinerová auf. „Er hat das vielleicht wirklich gefunden …“ Doktor Radimský erbleichte. „Darf ich sie in die Hand nehmen?“ 223
„Natürlich. Vielleicht läßt sie sich auch ein bißchen säubern.“ In dem Augenblick, da die Münze das Licht der Leuchtröhre erblickte, ging Doktor Soudek in den Nebenraum. Durch die offene Tür sah man Wasserhähne, Bottiche, Tische ähnlich denen, die man in Laboratorien verwendet. Jetzt kam er wieder. Schweigend reichte er Radimský ein Fläschchen und etwas Watte. „Ich möchte mich setzen“, sagte Radimský und zündete sich eine Zigarette an. Die Hände zitterten ihm. „Warum nicht.“ „Ich weiß schon, was das ist.“ Seine Lippen waren blaß. „Wo haben Sie das, um Gottes willen, her? Allein die Inschrift …“ Er feuchtete die Watte an und säuberte die Münze. Sie war mattgrau. Die Anwesenden schauten ihm zu, traten aber nicht näher. Sie waren alle möglichen Funde gewohnt. „Sie steigern sich“, bemerkte Doktor Soudek. „Ihr Dilettantismus ist qualitätsvoller geworden, Ihre Entdeckungen gewinnen an Wert.“ „Eine Lupe würde ich brauchen“, bat Radimský. Doktor Soudek sah erstaunt Exner an. „Also, Herr Kollege, geben Sie dem Herrn Doktor eine Lupe. Ach, Sie haben keine dabei?“ Er schüttelte den Kopf über die Unvollkommenheit des Kapitäns. „Moment.“ Eine Lupe war gleichfalls im Laboratorium. Radimský schob die Brille auf die Stirn und beschaute sich das Scheibchen. „Ist es leserlich, um Himmels willen?“ fragte Doktor Melíšek. Er hatte die schwächsten Nerven. „Ja“, sagte Radimský. „Eine frische Prägung. War offenbar nicht in Umlauf.“ „Und der Text?“ Doktor Melíšek streckte sich, er stand beinahe auf Zehenspitzen. Doktor Radimský legte die Lupe weg, und blickte auf. „Wieviel waren dort?“ 224
Exner zuckte mit den Achseln. Sein Blick wanderte über die Anwesenden. „Das, Herr Doktor, könnten Ihnen eher jene sagen“, meinte er, „die zu der Zeit dort waren, als das Depot vollständig war. Herr Doktor Soudek, das Ehepaar Reiner zum Beispiel.“ „Um die zweitausend“, sagte Doktor Soudek. „Zweieinhalb“, ergänzte Reiner. „Zwei“, widersprach seine Frau. „Ein Mensch, der so etwas zum ersten Mal im Leben sieht, hat große Augen. Aber es können auch dreitausend gewesen sein. Mit einem Wort: ein Topf voll.“ „Der Text!“ stöhnte Doktor Melíšek, der es nicht wagte, sich auf den Denar zu stürzen. „Ich habe nicht alle Buchstaben entziffert. Aber eines steht fest: das ist ein bischöflicher Denar.“ Melíšek stieß einen leisen Pfiff aus. „Wieviel haben Sie gesagt? Zweitausend?“ „Der Wert?“ fragte Exner trocken. „Das ist kompliziert“, antwortete Doktor Radimský. „Ich kenne zum Beispiel diesen Typus nicht. Damit Sie mich recht verstehen: er wurde mit anderen Stempeln geprägt als die Denare, die wir kennen. Ich weiß auch nicht, wieviel es genau waren.“ „Wenn es nur dieser Einzige wäre?“ „Dann ist das ein Unikat.“ „Der Wert?“ „Zehn-, fünfzehntausend Kronen. Das ist natürlich sehr relativ. Es geht darum, wem Sie ihn verkaufen, und falls es mehrere waren, sinkt der Preis automatisch …“ „Nehmen wir an, in Dollars auf dem Weltmarkt der Sammler?“ „Viel. In jedem Fall würde er sehr anständig bezahlt.“ „So“, sagte Exner zufrieden und schaute wieder die Anwesenden reihum an, „und jetzt sagen Sie mir, wo Sie sie versteckt haben.“
225
92 „Da haben wir’s“, sagte Doktor Reinerová. „Hab’ ich’s nicht gleich gesagt? Wieder stecken wir drin. Was meinst du, Viki?“ fragte sie ihren Gatten. Der Dozent Doktor Reiner nahm einen bedächtigen Schluck. „Wo du sie versteckt hast, weiß ich nicht. Wir hatten nur Zeit, uns den Schatz flüchtig anzuschauen, weil uns der Herr Doktor Sultán dabei störte, der sich dort einfand, um vor Freude zu zittern. Die wollten wir ihm vermasseln. Und uns bereichern. Als Fachleute – zwar ohne numismatische Ausbildung, wir wissen nur dies und jenes über Münzen – haben wir den Wert des Fundes als beträchtlich eingeschätzt. Über den wissenschaftlichen Wert haben wir uns keine Gedanken gemacht, da wir geldgierig sind und uns der Unterhalt eines Autos ausländischer Produktion eine Menge Geld kostet. So daß wir also rangegangen sind. Wann war das, Viki?“ „Ich kann mich nicht genau erinnern. Ich glaube …“ Sie blickte Exner an. „In den Nachmittagsstunden des Montags“, half er ihr. „Kurz nach drei. Sagen wir, zwischen drei und fünf.“ „Na ja“, stimmte sie zu. „Da haben wir grade kein Alibi. Weil wir um diese Zeit unser Kind zur Großmutter nach Hradec gebracht haben. Und da fährt man unweit vorbei.“ Kapitän Exner seufzte. „Verehrte Frau Doktor, lieber Herr Dozent. Dieses Spiel haben Sie mit mir schon einmal getrieben, falls Sie sich erinnern.“ „Damals war es ein Spiel“, sagte Frau Reinerová. „Aber jetzt …“ „Einmal“, fuhr Exner fort, „wird Sie die rächende Hand des Herrn bestrafen; oder die Gerechtigkeit. Wer war außer Doktor Sultán noch dort?“ „Das Verhör hat wieder angefangen“, sagte Reiner. „Antworte du, Viki.“ „Viele Menschen waren dort“, sagte Frau Doktor Reinerová obenhin. „Aber am meisten ist mir der hagere 226
Herr aufgefallen, den wir dann durch Regen und Gewitter nach Prag mitgenommen haben.“ „Was hatte der dort zu suchen?“ „Er wollte sich den Schatz ansehen“, sagte Frau Reinerová einfach. „So wie wir und viele aus dem Dorf.“ „Wer – viele?“ „Eben viele. Wenn sich so was in Karlín gefunden hätte, wäre ich auch hingegangen, um mir’s anzuschauen. Besonders am Samstagnachmittag, wo ich mehr freie Zeit hätte.“ „Und was war das für ein Herr?“ „Als wir uns mit ihm unterhielten, nicht wahr, Viki“, antwortete sie, „kam heraus, daß er der Leiter einer Münzverkaufsstelle ist.“ „Münzverkaufsstelle? Was ist das?“ „Pardon“, mischte sich Doktor Radimský ein. „Die Frau Kollegin meint offenbar die Verkaufsstelle für Münzen und Medaillen in der Skořepka.“ „Das heißt also: Antiquitäten, Juwelen, Prag.“ Radimský nickte. „Der Herr heißt Klouda. Ich kenne ihn seit Jahren. Es ist selber Sammler und ein hervorragender Spezialist.“ „So daß er auf den ersten Blick erkannt hat, worum es in Libín ging.“ „Zweifellos.“ „Was meinen Sie, Herr Doktor, wie hat er von dem Fund erfahren?“ „Aber das ist doch ganz einfach“, antwortete an Radimskýs Stelle Doktor Slánský. „Der Herr Kollege Sultán hat das aus lauter Freude aller Welt telefonisch mitgeteilt.“ „Kann sein“, stimmte Radimský vorsichtig zu. „Der Kollege Sultán hat sich wirklich sehr gefreut. Als er mir das gleich am Freitag mitgeteilt hat …“ „Der Herr Klouda kennt den Herrn Doktor Sultán?“ „Das weiß ich nicht.“ 227
„Wie hat es also der Herr Klouda erfahren?“ „Wenn Sie vielleicht, Herr Doktor“, wies Doktor Soudek den Kapitän Exner zurecht, „den Herrn Kollegen zusammenhängend erzählen ließen, würden Sie es schneller und möglicherweise mit Einzelheiten erfahren, von denen Sie nicht zu träumen wagen. Sie müssen bedenken, daß er nicht so an Sie gewöhnt ist wie wir. Er läßt sich verwirren und hat größeres Lampenfieber.“ „Sie haben geringeres Lampenfieber?“ fragte Exner dreist. Doktor Soudek öffnete statt einer Antwort die Tür, die von der Halle ins Freie führte. „Antioch!“ rief er. Der Hund lief schwanzwedelnd herbei. Doktor Soudek zeigte auf Exner: „Los, friß ihn auf!“ Der Hund sprang an Exner hoch und leckte ihn am Hals. Er wurde dafür hinausgejagt. Kapitän Exner klopfte sich die Hundehaare von der Hose und betrachtete mit Mißfallen seinen rechten schwarzen Schuh, auf den ihm der Hund aus lauter Liebe getreten war. „Wenn Sie so nett wären“, sagte er zu Radimský, „und zu Ende erzählen würden.“ „Es ist ganz einfach. Also, wie es der Herr Klouda erfahren hat: Doktor Sultán hat es zweifellos dem Kollegen Železný erzählt, der gleichfalls im Museum arbeitet. Dieser sucht oft den Laden des Herrn Klouda auf. Einige Sammler treffen sich dort. Regelmäßig jede Woche. Hier und da gehe auch ich hin.“ „Worüber wird dort beraten?“ „Es sind mehr Unterhaltungen von Freunden mit einem gemeinsamen Steckenpferd.“ „Hm …“ Kapitän Exner hatte seine Kleidung gesäubert und überlegte offenbar, womit er sich den Schuh putzen könnte. Niemand half ihm, so mußte er ihn so lassen, wie er war. „Ich habe von einem hervorragenden Sammler gehört“, sagte er langsam. „Vielleicht kennen Sie ihn. Magister Arnošt Maizl.“ 228
„Ich kenne mehr seine Sammlung als ihn“, antwortete Doktor Radimský. „Sie ist hervorragend.“ „Und wie ist der Magister Maizl?“ „Wir kennen uns nur flüchtig.“ „Seine Sammlung ist hervorragend, oder war sie es?“ „Ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor.“ „Mir wurde zugetragen“, sagte Kapitän Exner gelassen, „daß er die Sammlung von seinem Vater geerbt hat und daß sie dem Herrn Magister seit dem Tod des alten Herrn nach und nach zwischen den Fingern zerrinnt. Ferner habe ich erfahren, daß der Herr Magister mehr ein Erbe als ein engagierter Sammler ist.“ „Sakra!“ bemerkte der Dozent Reiner. „Hörst du das, Viki? Das sind Informationen. In den paar Stunden.“ Er schaute aufs Handgelenk. „Annähernd achtundzwanzig Stunden nach einem Raubmord ist dem Untersuchungsführenden eine Menge Tratsch und Klatsch bekannt.“ „Sie wissen doch, Herr Doktor“, bemerkte Kapitän Exner lächelnd, „daß ich gerade auf solchen Tratsch und Klatsch scharf bin.“ Und er fügte hinzu: „Einen Kaffee würde ich nicht verschmähen.“ Er wandte sich an Doktor Soudek: „Geben Sie mir einen?“ „Ungern. Wie wär’s mit einem Gläschen?“ „Der Dienst“, entschuldigte sich Exner. „Lieber den Kaffee.“ „Ich koche ihn persönlich“, sprach Doktor Soudek und ging in die anliegende kleine Küche. Exner wandte sich wieder Radimský zu: „Was sagen Sie zu diesem Tratsch und Klatsch?“ Kateřina Reinerová ermunterte ihren Kollegen Radimský: „Nur keine Angst! Wir sind in der Überzahl!“ „Die Informationen, die Sie erhalten haben, Herr Kapitän“, sagte der Aufgeforderte zurückhaltend, „entsprechen, so glaube ich, der Wahrheit.“
229
93 Am Himmel standen zwar Sterne, aber der Mond war noch nicht aufgegangen, so daß die Nacht pechrabenschwarz war. Die dunklen Schatten zweier Männergestalten schritten über den betonierten Gehsteig zum Tor der archäologischen Expedition, es folgten die schwarzen Schatten der beiden Hunde. Hinter ihnen leuchteten die Hallenfenster ins Dunkel. „Also, was ist?“ fragte der kleinere Schatten, der mit Bart. „Kann die Kollegin Janovská dafür oder nicht?“ „Vielleicht kann sie nicht dafür“, räumte der andere Schatten ein. „Vielleicht?“ „Sie wußte von dem realen, nicht nur wissenschaftlichen Wert des Fundes. Sie hätte ihn nicht von halbwüchsigen Mädchen bewachen lassen dürfen.“ „Sie meinen, sie hat sich über den Wert Gedanken gemacht?“ „Ich meine, Herr Doktor, ein Gedanke darüber ist ihr gar nicht gekommen. Ich habe sie im Verdacht, daß sie das Depot deshalb bewachen ließ, damit der Fund nicht vor Eintreffen der Kommission verändert würde, die der Doktor Slánský so schön zusammengestellt hat. Daß jemand das Depot stehlen und dabei noch morden könnte, das kam ihr gar nicht in den Sinn.“ „Wenn Sie das glauben, ist es ja gut, Herr Kapitän.“ Sie traten vors Tor, und Exner öffnete den Wagenschlag. „Ich glaube es nicht, Herr Doktor. Aber ich denke es. Steig du nicht in mein Auto, Antioch“, ermahnte er den Hund. „Glauben darf ich niemandem. Das ist Schicksal, Herr Doktor.“ Er stieg ein. Bevor er die Tür zuknallen konnte, sagte Soudek: „Mich erwischen Sie nicht so schnell. Ich gehe Ihnen durch die Lappen, Kapitän.“ „Dessen bin ich mir sicher“, sagte Exner und startete. 230
94 In die Hauptstadt führen vom Osten viele Straßen und Wege. Einer der am wenigsten direkten ist jedoch jener, der über Brody nach Čelakovice führt. Und gerade diesen wählte Kapitän Exner. Vielleicht verlangte es ihn danach, auf dem Zickzackkurs über das verworrene Verbrechen nachzudenken, das aufzuklären ihm oblag. Übrigens fuhr er gern durch Sommernächte. Libín passierte er – in der Luftlinie – in einer Entfernung von wenigen Kilometern. Er führ durch das Gebiet der ehemaligen Auenwälder, benutzte eine Weile die E 12, von der er sodann wieder nach rechts abbog, wo hinter einem flachen Hügel die Lichter eines Städtchens auftauchten. Nirgends war ein Mensch zu sehen, den er nach dem Weg fragen konnte. Langsam schlenderte er durch die Straßen, bis es ihm gelang, sich zum Bahnhof durchzufinden, was letztlich nicht ganz so kompliziert war. Die allgemeine Richtung wurde von der Hauptstreckenführung angegeben. Über die Geleise donnerten die Züge. Auch jetzt, da die Geisterstunde angebrochen war. Ihm fiel ein, daß dies die gleiche Strecke war, die über Libín führte. Und daß es von hier bis Libín ungefähr vierzig Kilometer sein mochten. Er hielt vor dem Bahnhof und schaltete die Scheinwerfer aus. Über der Tür an dem geschwärzten Gebäude blinkte ein gelbes Licht. Die Fenster waren dunkel. Er stieg aus und ging durch das Seitentor, über dem die Aufschrift AUSGANG stand, auf den Bahnsteig. Der Bahnsteig war leer. Das Restaurant geschlossen, auf den Bänken saß niemand. Nur der Fahrdienstleiter stand vor dem Dienstraum. Ein weiterer Zug nahte. Exner warf einen Blick in den Wartesaal. Kein Penner schlief auf einer Bank. An den Schalterfenstern in der 231
Halle waren die Vorhänge herabgezogen. Dafür wurde, wie er durchs offene Fenster sah, im Dienstraum fleißig gearbeitet. Der Fahrdienstleiter kam eilig zurück. Exner war für ihn Luft. „Verzeihen Sie …“, stoppte ihn diese Luft namens Exner. „Ich suche den Herrn Čtvrtečka.“ „Jetzt? In der Nacht? Was wollen Sie von ihm?“ „Es ist noch nicht Nacht“, schwatzte Michal Exner drauflos. „Eher später Abend.“ „Er hat dienstfrei.“ „Aber er wohnt doch hier, so daß er vielleicht zu Hause sein wird.“ „Das wird er nicht. Er hat ein Gärtchen und eine Laube an der Elbe. Das finden Sie jetzt in der Nacht nicht.“ „Es ist nicht Nacht, sondern später Abend“, korrigierte ihn Exner geduldig. „Ist denn sonst niemand zu Hause?“ „Versuchen Sie es. Ist was passiert?“ „Das ist es.“ „Und was?“ Der Fahrdienstleiter war neugierig und hatte es nicht mehr so eilig. Dabei langweilte er sich im Dienst sicherlich. Er war ein geradliniges Kerlchen, das gern Klarheit um sich hatte, und Exner begann ihm verdächtig zu werden. „Sie sind ein Verwandter?“ fragte Kapitän Exner. „Das nicht. Etwas in der Familie?“ „Gewissermaßen“, gab Exner zu. „Wie komme ich zu der Wohnung? Oder zur Wohnungsklingel?“ „Von der anderen Seite die dritte Tür. Und was denn in der Familie?“ „Nun nicht direkt in der Familie … Eine Kleinigkeit. Mord.“ Der Fahrdienstleiter erstarrte. Er streckte sich. Er maß keine eins achtzig wie der Kapitän, aber er war sehr stämmig. In Aktion trat er nicht, er war im Dienst. Er 232
sagte nur deutlich: „Hau ab, Blödian, sonst hau’ ich dir eins in deine besoffene, glatte Fresse!“ Und er eilte davon zu seiner verantwortungsvollen Tätigkeit. Kapitän Exner gehorchte und verließ den Bahnsteig. Er ging um das Gebäude herum, zählte die Türen und stellte fest, daß an der angegebenen zwei Klingeln waren. So daß er zum Auto zurückkehrte und die Scheinwerfer einschalten mußte. Er klingelte und schaltete die Scheinwerfer wieder aus. Er blickte hinauf zu den Fenstern. Etwas Helles tauchte im tiefen Dunkel hinter einem Fenster auf, das halb geöffnet war. Er stand im gelben Schein des Lämpchens, das eine Straßenbeleuchtung darstellen sollte. „Ich kann Sie nicht sehen“, sagte er. „Ich suche eine gewisse Helga Čtvrtečková.“ „Und das in der Nacht?“ fragte die Weiße Frau des Bahnhofs Čelakovice. „Der Dienst“, rief er. „Und außerdem hab’ ich erfahren, daß der Vati und die Mutti den Sommer in einem Gartenhaus am Fluß verbringen.“ „In einer Laube“, berichtigte sie ihn. Dann sagte sie noch etwas, aber er verstand sie nicht, weil gerade ein weiterer Zug durchfuhr, offenbar ein Schwerlastzug. Er wartete, bis er vorbei war, aber das dauerte lange. Inzwischen beugte sie sich aus dem Fenster. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. „Ich verstehe nicht, hier ist so ein Krach. So werden wir uns nicht verständigen.“ „Worüber?“ Wieder donnerte ein Zug vorbei. Um Himmels willen, dachte Kapitän Exner, wie kann dabei jemand schlafen. „Sie werden es schon sehen.“ „Ich will schlafen.“ 233
„Ich auch“, sagte er ergeben, und das gerade rührte sie vielleicht, sie deutete mit beiden Händen an, sie werde hinunterkommen. Er setzte sich ins Auto, um zu rauchen. Er wußte, daß man die meisten Frauen nicht so rasch erwarten kann. Sie erschien in einem dunklen Mantel in der Tür. Als er zu ihr trat, sah er, daß sie völlig perfekt war: die Haare frisiert, die Brille geputzt, er roch den Zerstäuberstoff, den man Haarlack nannte. Und Dior. Auf diesem schwarzen Bahnhof, der offenbar von Staubschleiern bedeckt war, von Ruß und allem anderen trockenen Niederschlag, schien sie eine bebrillte Prinzessin zu sein, die den goldenen Stern von der Stirn verloren hatte und ihn jetzt in der rüden Welt der unvollkommenen zivilisierten Wirklichkeit sucht. „Ich hätte angerufen, aber Sie haben kein Telefon“, sagte er und bemühte sich, es zerknirscht klingen zu lassen. „Fragen Sie“, sagte sie und hob den Kopf. Und neigte ihn ein bißchen zurück. Niemand hätte bezweifeln können, daß das unwillkürlich geschah. Er nützte es aus. Ihr Mund war nämlich leicht geöffnet. Sicher vor Begierde auf die erste Frage. „Oj“, sagte sie nach einer Weile, und es hörte sich nicht unzufrieden an. „Das tut man nicht, Herr Kapitän.“ Das sah er ein. „Das ist Schicksal. Machst du uns einen Kaffee?“ „Ich habe keinen im Hause.“ „Ich nehm’ dich mit zur Vernehmung.“ „Jetzt gleich?“ „Wann sonst?“ „Aber …“ „Na, was schon“, sagte er, als handelte es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt. „Du nimmst dir ein Nachthemd mit, eigentlich nicht, das hast du ja an. Die Zahnbürste in die Tasche, Handtuch und Seife habe ich, soweit ich mich erinnere, selber.“ 234
95 Es war kurz nach zwölf. Vor der verchromten, aber schon matt gewordenen Haustür aus den dreißiger Jahren bemerkte sie: „Es scheint, Michal, du hast mich getäuscht. Hier ist doch keine Dienststelle der Polizei.“ „Das habe ich“, gestand er. „Eine Dienststelle ist hier nicht. Wenn eine hier wäre“, fügte er hinzu und öffnete die Aufzugstür, „dann gäbe es kein enttäuschteres Mädchen als dich.“ Sie seufzte, sich in die weibliche Schwachheit und die männliche Brutalität fügend. Der Aufzug fuhr in den sechsten Stock. Bis unters Dach. Sie stand ihm gegenüber, in Jeans, bloßfüßig in Sandalen und einem verwaschenen Nicki. Über die Schultern hatte sie einen Pulli geworfen. Vor dem Bahnhof hatte er ihr gesagt, sie solle das Nachthemd in eine Tasche stecken. Er trug jetzt das gestrickte Gepäckstück von beachtlicher Größe, so wie sie zu Jules Vernes Zeiten in Mode waren. Er schickte sich an, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. In seinem Blickfeld blitzte die kleine Öffnung des Spions auf. „Sakra“, fluchte er leise und wich zurück. „Was ist?“ fragte sie. „Die Falle eines Verbrechers?“ „Pst. Ja“, flüsterte er. „Selbstverständlich.“ „Er hat die Wohnungsschlüssel?“ „Der kommt überall ’rein, hat seine Methode. Ich mache leise auf, er dürfte im Zimmer sein.“ „Und wenn er im Korridor ist? Wie wär’s, wenn du mich nach Čelakovice auf den Bahnhof zurückbringst?“ „Er ist im Zimmer. Links ist eine Glastür zur Küche. Da schlüpfst du ’rein. Tisch und Stuhl sind dort. Du wartest ein Weilchen. Ich erledige ihn im Handumdrehen.“ „Ihn?“ „Ja, ihn.“ „Oder sie?“ 235
Er winkte ab. Sie konstatierte, daß Kapitän Exner geräuschlos eine Tür öffnen konnte. Sie beobachtete seine Methode. Den Türknauf heranziehen, drehen, wieder heranziehen, langsam den Schlüssel im Schloß herumdrehen, nachlassen, wieder anziehen, probieren, ob die Tür offen ist, mit einem Finger dagegen drücken und sie langsam, unendlich langsam öffnen. Er wies mit den Augen zur Küche. Sie schwankte, weil sie mit dem Beutel am Türfutter hängenblieb, dann stieß sie gegen die Scheibe der Tür, sie fiel hinein, und Weil sie noch nicht die Balance gefunden hatte, knallte sie die Tür zu, als sie sie leise schließen wollte. Aber das verschleierte Michal Exner. Er knallte selber die Wohnungstür zu, stieß mit dem Fuß dagegen, hustete und zog sich geräuschvoll die Schuhe aus. „Werde ich denn niemals Ruhe finden?“ begann er angewidert, als er ins Zimmer trat. „Ihr geht bei mir ein und aus, als wärt ihr hier zu Hause, meine Herren Offiziere.“ Beránek saß in einem Sessel und blätterte in seinem Notizbuch. Oberleutnant Vlček rekelte sich auf der Couch und mümmelte an seiner Pfeife. „Wir hatten schon nicht mehr gehofft, dich wiederzusehen. Wir wollten grade ein kleines Schläfchen machen. Allein?“ „Natürlich“, log er dreist. „Warum?“ „Ach, nur so. Ich könnte einen Kaffee gebrauchen“, meinte Vlček. „Von selber würde ich hier nichts anrühren.“ Auf dem Tisch standen vier ungewaschene Tassen und zwei Teller mit Essenresten. „Was im Kühlschrank war“, sagte Exner hart, „ist gewiß in euren Bäuchen. Kaffee hattet ihr jeder zwei, das muß euch genügen. Worum es sich handelt, können wir morgen zusammenfassen, ich möchte jetzt schlafen.“ „Kleinigkeiten“, meinte Beránek und blätterte in sei236
nem Notizblock. „Falls dich Einzelheiten über die verschiedenen Alibis interessieren. Oder …“ „Mich interessiert das Auto.“ „Es wurde gestohlen“, meldete Vlček. „In Brody. Am Montagabend hat der Besitzer den Verlust gemeldet.“ „Wer ist es?“ „Ein Kurarzt“, sagte Beránek und blätterte in seinem Notizbuch. „Gleich sag’ ich dir, wie er heißt.“ Exner unterbrach ihn: „Was hat er Montag nachmittag getan?“ „Er war in der Praxis. Und weiter …“ „Genug. Ich will schlafen. Ich hab’ mit den Archäologen gesprochen. Morgen Mittag sind sie in Libín. Ihr könnt nicht Tag und Nacht arbeiten.“ „Sieh da“, sagte langsam Vlček und erhob sich. „Wie fürsorglich.“ Der Leutnant klappte das schwarze Heft zu. „Und wohltätig. Er führt etwas im Schilde.“ „In keinem Schilde“, stöhnte Exner. „Ich bin auch nur ein Mensch, Genossen!“ „Das sehen wir“, erklärte Vlček hart. „Wir beobachten dich schon geraume Zeit, und du ähnelst sehr einem Menschen.“ Er nickte Beránek zu: „Gehen wir.“ „Du bist beleidigt?“ fragte Leutnant Beránek den Oberleutnant bieder. „Ich nicht. Hör zu“, begann er Exner zu agitieren, „wir mühen uns hier ab, warten auf dich, bis du von deiner Lustreise zurückkehrst …“ „Was war in dem Auto?“ fragte Exner. „Na ja …“ Vlček mümmelte an seiner Pfeife, „noch eine Münze.“ „Hast du sie mit?“ „Hier ist sie.“ Exner beschaute sich flüchtig den Denar, zog das Taschentuch heraus und legte die Münze zu der anderen. „Weiter?“ „Ihre Haare. Eine Menge Fingerabdrücke. Zumeist 237
nicht identifizierbar. Ihre Haare, dann noch andere Haare, aber die einen sind positiv ihre, ein paar winzige Scherben, wohl von dem Topf, in dem der Schatz deponiert war, das lassen wir überprüfen. Alles Weitere, wenn wir mit dem Besitzer gesprochen haben.“ „Macht das gleich morgen früh“, sagte Exner. „Und zu Mittag in Libín.“ Er erhob sich und band sich die Krawatte auf. „Und jetzt will ich in Ruhe gelassen werden.“ Beránek nickte. „Er ist wirklich müde. Wir dürfen ihn nicht stören. Dürfen wir noch fragen, Kapitän, was du morgen tun wirst?“ Er zeigte auf die Denare. „Ich geh’ sie verkaufen.“ Vlček stand auf und winkte mit der Pfeife Beránek zu. „Dräng dich nicht auf.“ Sie lenkten ihre Schritte auf den Korridor, Exner folgte ihnen und machte ihnen sogar zuvorkommend die Tür auf. „Nett“, kommentierte das Vlček. „Und anständig erzogen.“ Er schaute sich um. „Habe ich, verdammt noch mal, nichts in der Küche liegengelassen?“ Beránek sog die Luft ein. „He, Vlček, du riechst das wohl gar nicht“, sagte er, „aber hier riecht’s nach einer Droge. Oder ist es Gas?“ „Was für Gas?“ „Giftgas“, belehrte ihn Beránek. „Aromatisiert durch Parfüm.“ „Na ja, ich hab’ also doch was in der Küche vergessen.“ Kapitän Exner zeigte energisch in den Hausflur. „Der Aufzug steht bereit, meine Herren. Raus!“
96 Die Rollos waren hochgezogen. Das Fenster stand halb offen, denn es war ein linder Morgen. „Weißt du“, sagte Helga Cvrtečková und saß dabei mit 238
gekreuzten Beinen auf der aufgebetteten Couch, „ich habe nachgedacht, und ich glaube, ich hab’ dir was zu sagen.“ Sie beobachtete dabei Michal Exner, der ein Tablett mit dem Frühstück auf den Tisch stellte. „Und da hast du gesagt, sie hätten alles weggegessen …“ „Wann hast du nachgedacht?“ fragte er. „Ich konnte nicht einschlafen.“ Er goß Wasser ins Glas und näherte sich ihr. „Also du konntest nicht einschlafen und hast nachgedacht.“ „Nicht gestern! Jetzt! Jetzt hab’ ich nachgedacht. Als du das Frühstück zubereitet hast!“ schrie sie verzweifelt. Er ließ die Hand mit dem Glas sinken und kehrte an den Tisch zurück. „Nun?“ „Als ich dem Maizl in Libín ausgebüxst bin, wollte ich zuerst nur so gehen. Irgendwohin. Weg. Und da fiel mir ein, daß er mir folgen, mich suchen könnte. Ich bin einfach gegangen, wohin mich die Beine trugen und die Augen führten. Am Ende des Dorfes hab’ ich was gesehen.“ Sie verließ die Couch und näherte sich dem Frühstück. „Warum schmierst du nicht auch für mich ein Brot?“ „Ich schmiere dir eins.“ „Und du bist nicht neugierig, was ich gesehen habe?“ „Das bin ich, Magistra.“ „Warum forderst du mich nicht auf weiterzuerzählen?“ „Weil du das sowieso tun wirst.“ Sie biß in das Brot und nahm sich mit dem Löffelchen von dem Ei im Glas. „Mein Gott“, seufzte sie, „das ist ja mit Schinken und Champignons …“ „Und ein bißchen Pfeffer und Curry. Und ohne Zwiebel. Und die Eier sind nicht hart wie Holz. Sie sind weich gekocht.“ Sie verspeiste sie mit riesigem Appetit. „Es ist mir peinlich. Ich hab’ die Nacht mit einem unbekannten Mann verbracht. Ein hilfloses Mädchen“, sinnierte sie. 239
„Was läßt sich da machen“, tröstete er sie. Sie nickte. „Dort ist eine Schautafel, am Ende von Libín, und darauf steht geschrieben, daß das historischer Boden ist und daß dort eine Familie ausgerottet wurde.“ „Stimmt.“ „Bei der Schautafel stand ein alter Herr und änderte das Datum um. Er war fertig, als ich vorbeikam. Er lächelte mir zu, zwinkerte verschwörerisch und ging ins Dorf.“ „Und er hatte einen dunklen, fast schwarzen Anzug an, trug eine Brille mit schwarzem Rand, eine Krawatte und ein weißes Hemd.“ „Du weißt das? Wie ist das möglich?“ „Ich arbeite rasch und operativ“, antwortete er leichthin. „Der Herr heißt Professor Doktor Ondřej Malík und lehrt an einer Provinzuniversität.“ „Möglicherweise“, überlegte sie laut, „fange ich an, mich vor dir zu fürchten.“ „Mich würde eher interessieren, wo der Herr Magister Maizl am Montagnachmittag und gegen Abend war.“ „In der Apotheke“, sagte sie. „Wo sonst?“ Sie stutzte. „Warte mal. Er war im Magazin. Wir haben nämlich Ware bekommen.“ „Hast du ihn im Magazin gesehen?“ „Nein, ich war im Laden. Was sollte ich im Magazin, es ist hinten auf dem Hof.“ „Und mit wem war er dort?“ „Allein.“ „Aus dem Magazin kann man ungesehen durchs Haus auf die Straße gehen und genauso wieder zurück?“ „Gewiß. Und in diesem Fall fällt mir ein“, überlegte sie, „daß er eigentlich kein Alibi hat.“ „Du bist, teure Helga“, konstatierte er, „ein lebendiger Computer.“
240
97 Es war ein paar Minuten nach neun, als Herr Klouda das alte Schloß in dem eisernen Rolladen aufsperrte und ihn mühsam hochschob. Das System der Hilfsfedern war mehr als altersschwach, und der Herr Klouda war bei Gott kein junger Mann mehr. Hinter der staubigen Schaufensterscheibe schimmerten matt die Medaillen. Einige lagen in offenen, samtgepolsterten Etuis. Herr Klouda schloß die Tür auf und mit einem weiteren Schlüssel die solide Bohle darüber. Er trat in den Laden, und die Türglocke bimmelte schwach. Auf dem Gehsteig gegenüber langweilte sich ein junger Mann. Er starrte den Leuten nach, betrachtete die verkommenen Fassaden der alten Häuser, den Streifen blauen Himmels über den Dächern. Mehr als ein Streifen war nicht zu sehen. Die Straße war schmal, und die Häuser waren hoch. Die Ankunft des Herrn Klouda quittierte er offensichtlich dankbar. Als Herr Klouda im Laden verschwunden war, ließ sich der junge Mann im beigefarbenen Anzug und mit einer dunkelbraunen Krawatte, in beinahe peinlich glänzenden Schuhen, vom Inhalt des Schaufensters dieses Ladens fesseln. Die Hände auf dem Rücken, so schlenderte er langsam über die Straße. Er betrachtete die ausgestellte Ware, die zum Kommissionsverkauf angeboten wurde. Die Preise der einzelnen Stücke waren nicht niedrig, aber erschwinglich. Durch das Schaufenster hindurch sah man undeutlich das Ladenpult, die Stahlschränke mit schmalen Schubladen, durch die dieser Laden karg und kühl wie eine Bank wirkte, ferner einen zweitürigen Stahltresor. Ihm entnahm der Herr Leiter zwei Kassetten und legte sie zu der Ware im Schaufenster. Die Münzen darin schimmerten im strahlenden Glanz 241
von Gold und Silber. Die den Preis anzeigenden Zahlen kletterten in schwindelerregende Höhe. Der junge Mann stand vor dem Schaufenster und betrachtete die Münzen und Medaillen. Dann und wann warf er einen Blick in den Laden. Vielleicht wartete er, ob der Herr Leiter nicht noch etwas ins Schaufenster legen würde. Aber der machte keine Anstalten dazu. Statt dessen füllte er mit dem Inhalt der Schubladen und des Tresors die Fächer unter der Scheibe des Pults. Er war damit fertig und ging nach hinten, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Das war deutlich zu sehen. Hinten im Laden war eine Nische, offenbar eine zugemauerte Tür. Sie wurde durch einen Vorhang verdeckt, den der Leiter beiseite zog, und in jener Nische machte er Licht. In ihr befand sich ein Regal mit Tassen, ein paar Flaschen Wein, eine Kochplatte und eine Kanne. Der junge Mann wartete, bis die Kochplatte eingeschaltet und die Kanne mit Wasser gefüllt und auf die Kochplatte gestellt war, dann trat er ein. Václav Klouda zog den Vorhang zu und trat ans Pult. „Sie wünschen, bitte?“ Der Besucher zögerte eine Weile. „Mein Onkel ist gestorben“, sagte er, aber in seiner Stimme schwang nicht viel echtes Leid. „Ein alter Onkel, der eine Menge Kram im Hause hatte, auch in Kisten auf dem Boden und im Keller. Und da hab’ ich bei ihm“, fuhr der Besucher fort, „während ich das Durcheinander nach und nach liquidierte, das können Sie sich vorstellen …“ (Herr Klouda konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie dieser Mensch über staubige Dachböden und durch modrige Keller kroch und Lumpen und Gerümpel in die Mülltonne schaffte, aber er schwieg; die Leute bieten ihre Ware zum Kommissionsverkauf mit allem möglichen Salbadern an.) „Da hab’ ich das da gefunden. Hat das überhaupt einen Wert?“ Er langte in die Sakkotasche und holte ein kleines 242
Damenportemonnaie hervor, wie man es zusammen mit einem Taschenspiegel in die Handtasche steckt. Er öffnete den Patentverschluß und schüttete vorsichtig zwei graue Plättchen aufs Pult. Herr Klouda zuckte mit keiner Wimper. „Ich schau mir’s an“, sagte er trocken. Er nahm achtlos die Münzen und ging mit ihnen zu dem Tischchen am Fenster. Dort knipste er die Arbeitslampe an. Zuerst beschaute er sich die Plättchen noch einmal flüchtig, dann griff er zur Lupe. „Darf ich die eine säubern?“ fragte er. „Ich hätte es selber getan, wenn ich gewußt hätte, womit. Das sind Münzen, nicht wahr?“ „Ja.“ „Das hab’ ich mir gedacht“, sagte der Besucher voller Genugtuung, weil er es erkannt hatte. „Alte Münzen.“ „Ziemlich alt“, gab Herr Klouda zu. „Wieviel möchten Sie dafür?“ „Ich habe keine Ahnung“, bekannte der Besucher. „Davon verstehe ich überhaupt nichts.“ „Ich müßte in den Katalog schauen …“, sagte Herr Klouda ausweichend nach der Art von Gewerbetreibenden. „Sind sie denn so wertvoll?“ stieß der Besucher erfreut hervor. „Selten kauft jemand so etwas“, erwiderte Václav Klouda. „Besonders bei uns. Private Sammler gibt es nicht viele.“ „Ihr Kaffeewasser kocht“, machte ihn höflich der Kunde aufmerksam. Herr Klouda nickte zerstreut und ging zu der Nische, um den Kaffee aufzubrühen. Dabei ließ er den Kunden nicht aus den Augen. „Wieviel haben Sie davon?“ fragte er wie im Vorbeigehen, als er die Tasse zum Tisch am Fenster trug. „Nur diese zwei“, sagte der junge Mann. „Aber vielleicht finde ich noch mehr!“ 243
„Ich würde beide für fünfhundert in Kommission nehmen“, sagte Herr Klouda vorsichtig. „Solche unansehnlichen Münzen verkaufen sich schlecht.“ Er rührte den Kaffee um und nippte schlürfend davon. „Haben Sie sich nicht die Zunge verbrannt?“ fragte der Besucher voller Anteilnahme. „Der muß doch sehr heiß sein.“ „Ach was. Wenn Sie sie hierlassen wollen“, sagte er, ging zum Regal und nahm von dort den Block mit Blaupapier, „bitte ich um Ihren Personalausweis.“ „Aber“, sagte der Kunde, „Herr Leiter, Sie sind doch der Herr Leiter, wenn ich mich nicht irre, einen Denar für zweihundertfünfzig Kronen …“ „Denar?“ stutzte Herr Klouda. „Ein Denar. Selbstverständlich. Das hängt davon ab, um was für einen Denar es sich handelt.“ „Gewiß“, stimmte der Besucher zu. „Das hängt davon ab, um was für einen Denar es sich handelt. Von manchen gibt es viele, von manchen wenige. Das kann ich mir vorstellen“, schwatzte er, „das ist wie mit Briefmarken. Je seltener eine Marke ist, um so teurer, und umgekehrt.“ „Selbstverständlich. Also – wollen Sie sie hierlassen?“ „Aber nicht für fünfhundert zusammen, Herr Leiter.“ Herr Klouda legte den Block weg. Er hatte gute Nerven. „Wie Sie wünschen.“ Und er trank seinen Kaffee. So hatte er schon Hunderte als Kommission herausgeschunden. Er hatte richtig getippt, die Rechnung ging auch diesmal auf. Der Besucher rührte sich nicht vom Fleck. Er guckte sich im Laden um, zum Schluß blickte er wieder auf die zwei grauen Plättchen in seiner Hand. „Soběslav-Prägung aus dem zehnten Jahrhundert“, sagte er langsam und wiegte den Kopf. „Für fünfhundert zwei Stück …“ Leise fügte er hinzu, als läse er den Text von der Münze ab, die der Herr Leiter gesäubert hatte: „Dieser Denar ist ein bischöflicher …“ 244
Dem Herrn Klouda zitterten die Hände, so daß der Löffel an die Tasse klirrte. „Wer hat Ihnen das gesagt?“ fragte er. Im Rücken spürte er die nahende Niederlage. „Ein Fachmann“, sagte der Besucher leichthin und steckte die Münze wieder in das Damenportemonnaie. „Er hat sich wohl geirrt.“ „Kann sein“, stimmte Herr Klouda zu. „Auf Wiedersehen, der Herr.“ „Einer – unter Brüdern – für zehntausend. Der zweite ist Ethelred-Prägung des gleichen Fürsten.“ „Bitte, wie Sie meinen. Auf Wiedersehen, der Herr.“ Aber der Besucher rührte sich nicht. „Belästigen Sie mich nicht. Ich kann die Polizei rufen, weil Sie in verdächtiger Weise im Laden herumlungern.“ „Rufen Sie sie“, forderte ihn der Besucher auf. „Während Sie anrufen, bin ich dreimal weg.“ Das mußte der Herr Klouda schweigend anerkennen. „Ich gebe Ihnen dafür eintausendfünfhundert.“ Er langte wieder nach dem Block. „Bitte Ihren Personalausweis.“ „Wissen Sie, was mir durch den Kopf geht, Herr Leiter?“ „Ich weiß es nicht, und es geht mich auch nichts an, Herr, wie oft soll ich Ihnen noch …“ „Ich denke darüber nach, ob Sie meinen Personalausweis wollen, um diese Münzen billig kaufen zu können oder um meinen Namen und die Adresse der Polizei mitteilen zu können.“ „Warum sollte ich das tun?“ „Weil Sie, Herr Klouda, wissen müssen, warum so seltene Prägungen gerade heute auftauchen könnten. So plötzlich. Sie haben sich in Libín den Schatz angesehen. Einen Denar aus dem zehnten Jahrhundert erkennen Sie auf den ersten Blick. Ich bin Kapitän Exner, hier ist mein Dienstausweis. Trinken Sie Ihren Kaffee, und erzählen Sie mir von was anderem …“, er dachte eine Weile nach, „… als mit mir Kommissionsverkauf zu spielen. 245
Zuerst sagen Sie mir, warum Sie überhaupt nach Libín gefahren sind.“ „Es ist eben doch, Herr, Verzeihung, Genosse Kapitän“, und dem Herrn Klouda zitterte ein wenig die Stimme, „ein großer Fund. Einmal in sechs Generationen.“ „Das hab’ ich schon ein paarmal gehört. Sie sind Sammler?“ „Gewiß. Sonst könnte ich nicht mit Liebe diese schlechtbezahlte Tätigkeit ausüben.“ „Das ist wahr“, stimmte Exner zu. „Wo sind Sie vorgestern nachmittag und abends gewesen?“ „Bis halb sieben hier im Laden.“ „Wer kann das bezeugen?“ „Jeder der Kunden. Sie stehen in meinem Buch.“ „Aber Sie haben nur bis halb sechs geöffnet.“ „Für die verbleibende Stunde habe ich leider kein Alibi.“ „Hören Sie, Herr Klouda“, sagte Kapitän Exner. „Diese Einzelheiten interessieren mich zwar, aber jetzt habe ich leider keine Zeit. Einer meiner freundlichen Mitarbeiter wird zu Ihnen kommen und mit Ihnen den Montagnachmittag eingehender durchnehmen. Sie wissen sicher, warum.“ „Allerdings.“ „Wer hat Sie informiert?“ „Herr Doktor Maizl.“ „Wann haben Sie von dem Fund erfahren?“ „Wie alle anderen am Freitagabend.“ „Wer sind alle anderen?“ „Wir treffen uns hier. Jeden Freitagabend. Eine Gesellschaft von Sammlern. Bei einem bißchen Wein und Kaffee.“ „Wer war am Freitag hier?“ „Herr Doktor Železný vom Museum, der diese Nachricht mitbrachte. Er hatte sie offenbar von Herrn Doktor Sultán gehört. Herr Doktor Sultán hat wohl …“ 246
„Was wohl?“ „Er hat nämlich vorher die Forschung auf Libín geleitet.“ „Das weiß ich. Wer war noch hier?“ „Der Herr Magister Maizl von der Apo…“ „Weiter!“ „Herr Svatopluk Sadílek, Stadtarchivar.“ „Wo arbeitet er?“ „Im Städtischen Archiv. Ein paar Schritte von hier.“ „Weiter!“ „Mehr waren wir nicht.“ Kapitän Exner nahm die Münzen, steckte das Damenportemonnaie mit den Münzen darin wieder ein. „Aus dem Geschäft wird nichts.“ „Verzeihen Sie bitte“, meldete sich Klouda noch einmal, als Exner sich zur Tür wandte. „Bitte nur eine bescheidene Frage, falls Sie erlauben …“ „Warum nicht.“ „Diese zwei Münzen … Wie ich verstanden habe und auch …“ Der Herr Klouda zögerte, aber dann sagte er tapfer: „Und wie ich durch die Schätzung auch erkannt habe – stammen sie wirklich aus jenem Depot?“ „Ja.“ „Also ist das Depot gerettet?“ „Gerettet?“ „Ich meine wiedergefunden.“ „Leider nicht, Herr Klouda.“ Exner schüttelte bedauernd den Kopf. „Von ihm ist nur übriggeblieben, was Sie vor einer Weile in der Hand gehalten haben. Und was Sie, wie Sie genau wissen, um das Zehnfache geringer geschätzt haben.“ Und der Herr Klouda erbleichte.
247
98 Das Archiv war in einem Haus auf einer romanischen Parzelle untergebracht, mit romanischen Kellern, gotischem Mauerwerk und mit vielen im Verlaufe der Jahrhunderte hinzugebauten und angebauten Wänden, Treppenhäusern, Erkern, Fenstern und Umgängen. Die von Generationen ausgetretene Holztreppe wand sich zwischen buckligen Wänden nach oben. Vom Platz her war die neue geputzte Empirefassade zu sehen. Innen drin irrte Kapitän Exner zwischen Ziegel- und Putzbrocken und Kabeln durch düstere Flure. Zweimal fragte er besorgt dreinschauend Männer und ein Mädchen, deren Jugend hier offenbar unbemerkt dahinwelkte, wo er den Herrn Archivar Svatopluk Sadílek finden könne. Und er mußte über weitere andere Treppen und über hölzerne Umgänge irren, bis er in einem zum größten Teil mit schwarzen Ordnern und Faszikeln ausgefüllten Kämmerchen landete, in dem aber auch noch ein Tisch, zwei Stühle und nackte gehobelte Regale Platz fanden. Die Decke war dem Dach entsprechend gebrochen. Der Tür gegenüber blickte ein Fenster nach Norden. Und es rahmte das Bild einer wunderlichen, traumhaften Schönheit ein: die Türme, Dächer und Häuser, den Fluß und die alte Brücke und dahinter weiter nach oben über die Stufen des Kleinseitner Barocks die Türme des Veitsdoms. Svatopluk Sadílek mußte es bei dieser Aussicht täglich den Atem verschlagen. Es war unglaublich. Der Archivar hatte wirklich einen schwarzen Kittel an, wie man das über Archivare liest. Kapitän Exner sah in seinem hellen, leuchtenden Anzug hier nicht nur fehl am Platze aus; er kam sich selber vor wie ein blöder Traum, und als solcher mußte er auch dem Archivar Sadílek erscheinen, der den Kopf vom Tisch hob und über die Stuhllehne hinweg dem Eintretenden sein rundes Gesicht mit den Brillengläsern zu248
wandte, die noch runder waren. „Mein Herr“, sagte er, „Sie haben die Tür verwechselt. Ich meine die Haustür. Hier ist ein Archiv.“ „Falls Sie Herr Sadílek sind …“ „Das steht ja an der Tür.“ „Dann suche ich Sie.“ Der Archivar zeigte auf den zwischen Tisch und Regal gezwängten Stuhl. „Setzen Sie sich, und sagen Sie mir, was Sie wünschen.“ Exner gehorchte vorsichtig, und da er sich scheute, den Ellenbogen auf den Tisch zu legen, schlug er ein Bein übers andere und schlang die gefalteten Hände um die Knie. „Danke. Also – warum ich gekommen bin. Ich habe erfahren, daß Sie Sammler sind. Daß Sie alte Münzen sammeln und davon was verstehen.“ „Und wer hat Ihnen das gesagt, junger Mann?“ fragte Svatopluk Sadílek freundlich. „Ich bin nicht so berühmt und bekannt, daß das jeder weiß.“ „Der Herr Klouda. Aus dem Laden nebenan.“ „Aha. Also was kann ich für Sie tun? Ich verkaufe selten. Ich habe fast gar nichts anzubieten. Sie sind auch Sammler? Aus dem Ausland?“ „Ich bin kein Sammler. Hat Sie Herr Klouda nicht angerufen?“ Der Archivar breitete die Arme aus. „Kein Telefon da. Es wird umgebaut, überhaupt alles. Allerdings, wenn Sie gestern mit ihm gesprochen haben …“ „Nein, ich war vor einer Weile bei ihm“, sagte Exner und erzählte Sadílek die läppische Geschichte von dem verstorbenen Onkel, der Erbschaft, dem Gerümpel, das zurückgeblieben war, und so weiter. Herr Sadílek kniff die Augen hinter der Brille zusammen und nickte. Er hatte offenbar für alle Schwierigkeiten dieser Welt Verständnis. Er war bereit, für jedermann den Vertrauten und Freund zu spielen. Er drückte Exner sein aufrichtiges Beileid zum Tod seines Ver249
wandten aus und fragte: „Aber was hat das mit mir zu tun? Ich kaufe auch nicht mehr viel, wissen Sie. Es sei denn, es bietet sich die Gelegenheit zu einem vorteilhaften Tausch. Also zeigen Sie, was Sie haben. Wenn er Sie schon einmal zu mir geschickt hat.“ Aus dem Damenportemonnaie fielen die zwei Denare vor Sadílek auf den Tisch. „Mein Gott“, sagte dieser, „was ist denn das? Das sind ja Denare. Zehntes Jahrhundert. Oder irre ich mich?“ Kapitän Exner zuckte die Achseln. Bescheiden lächelte er: „Wie ich bereits sagte, viel verstehe ich nicht davon. Herr Klouda hat auch gesagt, daß es sich um Denare handelt.“ „Hat er sie gesäubert?“ „Ja, Herr Sadílek.“ Der Archivar nickte zufrieden. „Hm, hm“, machte er und benutzte die eigene Brille als Lupe. „Das ist eine recht interessante Sache, Herr … Darf ich den anderen ein bißchen reinigen?“ „Selbstverständlich.“ Sadílek langte in die Schublade, wo in einer Schachtel säuberlich geordnet Werkzeug lag. Eine Weile fummelte er fleißig an der Münze herum. „Es ist zwar Ihr Eigentum“, sagte er, „aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich werde nichts beschädigen. Ich mache das wirklich fachgerecht. In den langen Jahren, da ich dieses schöne und harmlose Steckenpferd reite, eigentlich seit meiner Studentenzeit, habe ich einiges gelernt. Sie wissen, diese Münzen sind nur solche Plättchen. Sie scheinen kostbar zu sein, einige sind es wirklich, aber letzten Endes ist es nur Silber, so daß der Wert nur der Sammlerwert ist, kein wirklicher. Sieh an, sieh an“, fuhr er fort und beschaute sich den zweiten Denar, „wie schön er wieder glänzt.“ „Wirklich“, stimmte Exner zu, und er mußte anerkennen, daß der Archivar Sadílek Nerven aus Eisen hatte. 250
„Also Sie wollen sie verkaufen …“ „Ich weiß nicht recht … Ich wollte nur wissen, ob sie überhaupt was wert sind.“ „Das sind sie, junger Mann, das sind sie. Jede solche alte Arbeit ist etwas wert. Aber nur für den Sammler. Der reale Wert ist geringfügig.“ „Wie der jüdische Kaufmann Ibrahim Jakub schreibt“, bemerkte Exner einfältig, „konnte man für so einen Denar im zehnten Jahrhundert in Prag einen ganzen Monat leben.“ Der Archivar hob erstaunt den Kopf. „Wirklich?“ Seine Brille widerspiegelte das Licht vom Fenster. „Wer hätte das gedacht!“ „Also was machen wir damit, Herr Archivar?“ Sadílek schob ihm die Münzen über die Tischplatte zu. „Sie haben ein schönes Andenken von dem Onkel. Lassen Sie sich dafür ein Etui anfertigen, und freuen Sie sich am Anblick der zwei schönen, alten Münzen. Dabei können Sie träumen, wie ich das gern tue, durch wie viele und welche Hände sie wohl gegangen sind. Wen sie erfreut, wen sie enttäuscht haben, wem sie Glück, wem Unglück und wem den Tod gebracht haben.“ „Sie waren nie in Umlauf“, sagte Exner leichthin. „Ihr Schicksal war eindeutig. Sie wurden vergraben und seitdem nicht gehoben und gebraucht. Sie sagten, den Tod. Da haben Sie richtig geraten, Herr Archivar. Oder vielleicht nicht?“ Svatopluk Sadílek nahm die Brille ab und putzte mit einem Zipfel des schwarzen Kittels die Gläser. „Ich bitte Sie“, sagte er ungläubig, „sagen Sie so etwas nicht!“ „Es ist aber so.“ Kapitän Exner steckte die Münzen weg. „Das ist Schicksal.“ „Ja, ja“, stimmte der Archivar Sadílek aufrichtig zu. „Also haben wir, junger Mann, schön miteinander geplaudert und gehen jetzt wieder auseinander. Sie wissen“, und er faltete die Hände, „wir müssen alle arbei251
ten. Sicher haben Sie auch bis über beide Ohren zu tun, nicht wahr?“ Er setzte die Brille auf, nickte. „Alsdann, auf Wiedersehen. Wenn Sie wieder was vom Onkel finden, zeigen Sie’s mir wenigstens, ich mache es Ihnen dann ordnungsgemäß sauber. Im Handumdrehen haben Sie vielleicht eine ganz hübsche Sammlung beisammen. Und so eine Sache freut einen. Es hat mich auch gefreut.“ Er stand auf – „Und auf Wiedersehen“ – und streckte ihm die Hand hin. Michal Exner blieb sitzen. Svatopluk Sadílek stutzte und neigte den Kopf seitwärts. So glich er ein wenig einem Karpfen mit Brille. „Auf Wiedersehen“, wiederholte er. „Zu tun“, meinte Exner und nickte, „zu tun haben wir alle bis über beide Ohren und Zeit wenig, so hastet sie vorbei“, sprach er in einem gleichförmigen Tonfall. „Dagegen ist nichts zu machen. Das Leben rinnt dahin wie der Fluß dort, wie die Wolken, die Zeit eilt ins Unendliche.“ Er verstummte. Der Archivar starrte ihn nach wie vor an, den Kopf zur Seite geneigt. „Wir wimmeln, Herr Sadílek“, fuhr Exner fort, „wie die Ameisen durch diese Welt, die wir so überfüllt haben, daß sie ins Weltall überläuft.“ Sadílek schüttelte den Kopf. „Ich verstehe kein Wort. Ich verstehe wirklich nicht, was Sie mir damit sagen wollen, Herr …“ „Nichts“, sagte Exner kurz. „Und warum also dieses Nichts?“ „Ich bin ins Schwatzen geraten“, sagte Exner hart. „Genauso wie vor einer Weile Sie.“ Er stand auf. „Kapitän Exner, hier mein Dienstausweis, Kriminalpolizei!“ Er setzte sich. „Und Sie setzen sich auch, Herr Sadílek.“
252
99 „Nun ja“, erklärte der Archivar und betrachtete durchs Fenster die Schönheit der historischen Stadt. „Da hab’ ich also danebengetippt. Ich dachte nämlich, Genosse Kapitän, Sie hätten, das gestohlen und wollten es jetzt versilbern. Sie dürfen mir nicht böse sein. Wer hätte vermutet, daß Sie … also ein Angehöriger der Polizei sind. Bitte fragen Sie, ich werde antworten.“ Er fragte also und vernahm wiederholt die Geschichte von den freitäglichen Zusammenkünften der Numismatiker. „Und so kam mir der Gedanke“, schloß Sadílek, „daß ich mich ebenfalls nach Libín begeben könnte. Sie wissen, Genosse Kapitän, ich sammle von Kindesbeinen auf Münzen, aber niemals habe ich eine wirklich auf der Erde oder in der Erde gefunden, und noch niemals habe ich einen so riesigen Schatz gesehen und werde ihn auch nicht mehr sehen.“ „So haben Sie sich also am Samstag nach Libín begeben.“ „Ja, aber so einfach war das nicht. Ursprünglich wollte ich die Eisenbahn benutzen. Aber da half mir ein anderer glücklicher Zufall.“ „Ein anderer? Sie haben keinen ersten erwähnt.“ „Der erste, das war und ist der Fund selber. Jeder Numismatiker muß sich darüber freuen.“ „Aber der ist in der Hölle.“ „Sie werden ihn wiederfinden“, sagte Sadílek mit entwaffnendem Vertrauen. „Ich bin mir sicher, Sie sind ein fähiger Kriminalbeamter.“ „Ich bin kein Beamter“, entgegnete Exner mit einer gewissen Trauer in der Stimme. „Eher ein verzweifelter Pilger, Herr Sadílek. Wie wär’s, wenn wir nun zu dem anderen Zufall zurückkehren?“ „Gewiß.“ Er hob den Zeigefinger. „In dem Haus, in dem ich wohne, wohnt eine Familie Brožek. Um die Leute im Hause kümmere ich mich nicht, von einigen weiß ich gar nicht, wie sie heißen. Das ist kein Vorzug, aber 253
vielleicht auch kein Fehler. Sie haben einen Sohn namens Vlastimil. Ich weiß gar nicht mehr, wie es vor Jahren geschah, daß ich mich mit diesem Jungen ein bißchen angefreundet habe. Da war er noch jung, zehn, zwölf. Vielleicht brachte er mir mal die Post oder etwas zum Unterschreiben, ihn interessierte meine Sammlung, der Junge sah die glänzenden Geldstücke, ich lebe allein, so hab’ ich mich ein bißchen mit ihm unterhalten, und so geht das bis heute. Ich gebe zu, das ist für mich, einen älteren Menschen, heute schon eine sehr vorteilhafte Freundschaft. Er hilft mir. Repariert dies und jenes, ich koche ihm dafür einen Kaffee, unterhalte mich mit ihm über alles mögliche, lese seine Gedichte …“ „Gedichte?“ unterbrach ihn Exner. „Schlechte natürlich. Aber schließlich ist er erst zwanzig.“ „Herr Sadílek“, Exner faltete die Hände, „Sie haben versprochen, mir von einem gewissen Zufall zu erzählen.“ „Ich komme schon zur Sache, Genosse Kapitän. Dieser Junge hat einen Wagen. Einen älteren, schäbigen Wagen, so ein kleines Lastauto, sieht aber aus wie ein Personenwagen.“ „Ein Jeep?“ „Ja, so nennt man das wohl. Kurzum: Vlastimil war am Freitag bei mir, am Freitagabend, ich hab’ ihm anvertraut, daß ich nach Libín fahren möchte, und weil ich keine Lust hatte, mit der Bahn zu fahren, habe ich sein Angebot angenommen, mich hinzufahren. So daß wir zusammen hingefahren sind.“ „Und Sie haben es sich zusammen dort angeschaut.“ „Eher ich allein, Genosse Kapitän, Vlastimil hat die Grube gar nicht interessiert. Die Zeiten, da ihn glänzende Münzen interessierten, sind längst dahin. Er hat erkannt, daß das nur ein leerer Glanz ist, aber kein solider Besitz. Schließlich verdient er heute, nachdem er ausgelernt hat, mehr als ich. So daß ich trotz all meinem glänzenden und 254
kreuz und quer durcheinanderliegenden Reichtum für ihn nur ein armer Schlucker bin. Mir scheint sogar, ich habe ihn einmal ertappt, wie er mich mitleidig musterte. Die heutige Jugend ist anders, als wir es waren.“ „Aber sie schreibt Gedichte“, bemerkte Exner. Da der Archivar jedoch bereits Luft holte zu weiteren Erwägungen, fragte er rasch: „Wem sind Sie dort begegnet? Oder sind Sie allein dort gewesen?“ „Ach wo! Dort kam was zusammen! Vor allem“, zählte Sadílek an den dicken Fingern ab, „der Herr Schriftsteller Johan, den ich bis dahin nicht gekannt hatte, ferner der Herr Magister Maizl – kennen Sie ihn?“ „Noch nicht.“ „Er besitzt eine hervorragende Sammlung, und sein Vater …“ „Wer war noch dort?“ „Selbstverständlich Frau Doktor Janovská, der Herr, der dort mit ihr arbeitet, ein Rentner, und dann kam noch der Herr Doktor Sultán. Der Herr Magister schlug uns vor, die Anzahl der Münzen zu schätzen, denn die war in der Tat beachtlich, wir haben alle mitgemacht. Aber was nützt das, wir werden nie erfahren, wer der Wahrheit am nächsten gekommen ist. Oder werden wir es erfahren?“ „Das wissen nur der liebe Gott und der heilige Wenzel“, meinte Kapitän Exner weise. „Übrigens: wo arbeitet dieser Vlastimil?“ „Irgendwo in Žižkov. Nicht weit von unserem Haus. Ich wohne in der Husitská Nummer zwölf.“ „Und was hat er gelernt?“ fragte Exner geduldig. „Ich glaube so etwas wie Elektriker und Heizungsmonteur zusammen. Er ist in einer Genossenschaft solcher Handwerker.“ „Und nun, Herr Archivar“, fragte Michal Exner mit neugierigem Interesse, „wo sind Sie am Montag gewesen. Gegen Abend? Erinnern Sie sich?“ 255
„Gewiß. Bis vier Uhr hier. Dann bin ich nach Hause gegangen.“ „Wer kann bezeugen, daß Sie bis vier Uhr hier waren?“ „Leider niemand“, sagte Svatopluk Sadílek traurig. „Mich sieht hier nämlich selten einer, und ich habe auch den Schlüssel zur hiesigen Haustür.“ „Und hat Sie jemand heimkommen sehen?“ „Ich erinnere mich nicht, daß ich jemandem begegnet wäre. So daß ich kein Alibi habe, stimmt’s?“ Er interessierte sich fast begierig dafür. „Wie es scheint, überhaupt nicht“, sagte Exner und stand auf. „Also dann auf Wiedersehen, Herr Sadílek.“
100 Sein Weg führte am Rande von Žižkov entlang, und so fiel ihm ein, in der Husitská-Straße nachzuschauen, ob er dort nicht zufällig das Firmenschild des Betriebes entdeckte, wo Vlastimil Brožek beschäftigt war. Er fuhr um den Block herum, schlenderte durch die düstere Straße und hatte Glück, er fand nicht nur das Haus Nummer zwölf, ein recht anständiges Mietshaus aus den dreißiger Jahren, sondern um die Ecke in der Chodovská stieß er auch auf die Genossenschaft, von der Svatopluk Sadílek gesprochen hatte. Da er schon einmal hier war, fuhr er mit seinem Wagen auf den Gehsteig, weil die Straße schmal war und sie obendrein von der anderen Seite ein Baugerüst einengte, schritt durch die Toreinfahrt in den Hof, wobei er sich von Hinweisschildern mit Pfeil führen ließ, und dann in das Büro dieser Genossenschaft von Heizungsbauern und Elektrikern, die den rätselhaften Namen MOTES trug. Auf dem Hof lagen angerostete Rohre herum, 256
Bruchstücke von gußeisernen Teilen und anderer Metallschrott. Im Büro erstarrte er, denn statt dort einen mürrischen Meister mit Tellermütze vorzufinden, wie man nach dieser Wanderschaft durch die schmuddlige Toreinfahrt und über den Hof hätte vermuten können, saß hinter dem Tisch eine schwarzhaarige Dame in mittleren Jahren, in einer vorbildlichen weißen Bluse und mit vorbildlich gepflegten Händen, an denen reichlich Gold und Edelsteine blitzten. „Mein Gott. Pardon“, sagte er und wich ein bißchen zurück. „Ich hab’ mich wohl verlaufen …“ Sie blickte hart und verdrießlich auf. Aber sobald sie ihn sah, entspannten sich ihre Züge. Auf den Lippen erschien die Andeutung eines Lächelns. „Ich suche“, stammelte Exner, „die Heizungsmonteure, verzeihen Sie …“ Sie widmete ihm ein strahlendes Lächeln. „Da sind Sie richtig.“ „Das ist doch nicht möglich!“ Kapitän Exner atmete erleichtert auf und trat ein. Sie besichtigte ihn gründlich und war offenbar zufrieden. „Bestellungen neuer Anlagen für das nächste Jahr im vierten Quartal. Kleinreparaturen führen wir binnen zwei, drei Monaten durch.“ „Aber“, wunderte er sich, „das ist ein Tempo. Aber ich brauche nicht zu bestellen. Das ist ein Glück, ich weiß. Ich suche den Herrn Brožek. Bringe ihm eine Nachricht von einem seiner Freunde.“ „Ich suche ihn mal“, sagte sie und stand langsam auf. Nach einer Weile war sie wieder da. „Verzeihung.“ Es sah aus, als wäre sie wirklich unglücklich. „Sie sind weggefahren. Auf Montage. Kann ich ihm was ausrichten?“ „Ich weiß nicht recht …“, meinte Kapitän Exner unschlüssig. „Wenn sie nicht weit sind … Oder sollte ich lieber morgen kommen?“ 257
„Sie sind weit. In Běchovice. Im Metallhüttenwerk montieren sie einen neuen Kessel und die Brenner. Aber morgen früh um sechs sind sie bestimmt da.“ „Das ist prima“, sagte er. „Ich werde Schlag sechs hier sein.“
101 Gewiß gibt es Orte, die selbst an klaren Tagen düster und voller Trauer sind. Es gibt aber nur wenige Winkel stiller Hoffnungslosigkeit, wie es jene Stätte in Běchovice nahe dem Bahndamm war. Einst, vielleicht vor einem Jahrhundert, war dort ein kleiner Hüttenbetrieb entstanden, der sich dann ausbreitete und im Verlauf der Jahre von Zäunen, Einfriedungen, Lagern, Holzbuden und Baracken bewachsen wurde. Zwischen dem geschwärzten Holz windschiefer Zäune, auf allerlei Gäßchen, die auf alle mögliche Weise ausgebessert waren und einen Durchblick auf den Wald und den Bahndamm gestatteten, unter dem eine niedrige, als Wasserlauf dienende Unterführung hindurchführte, irrte am Lenkrad seines Wagens Kapitän Exner und betrachtete die Pappdächer, ausgebessert mit Welleternit oder rostigem Blech. Hier gab es unendlich viele geeignete Plätze für gefährliche Spiele und unabsehbares Material für die Jungenträume von Räuber und Gendarm. Das Tor war neu, aus Eisengitter, so wie es sich für eine metallverarbeitende Firma gehört. Es war schwarz gestrichen und erinnerte an den Eingang zur Hölle oder in eine Besserungsanstalt. Der Zaun, der das vergammelte Fabrikobjekt umgab, ein Zaun aus alten, wackligen Planken, milderte den düsteren Eindruck. Genauso wie das Pförtnerhäuschen, von dem der Putz abblätterte. 258
In der strahlenden Vormittagssonne erschien alles wie ein surrealistischer Traum. Der Pförtner trug vorschriftsmäßig eine rote Armbinde und eine Pistole. „Wir haben Betriebsurlaub“, rief er Exner durch das Gittertor zu. „Hier ist keiner.“ Exner bemerkte, vielleicht die Heizungsmonteure im Kesselhaus. Das räumte der Pförtner ein, und er war bereit, im Kesselhaus anzurufen. Er versuchte es, aber niemand hob ab. „Die Jungs müssen dort sein“, sagte er. „Ich hab’ sie reingelassen. Dort steht ihr Auto. Sie werden wohl weiter hinten sein.“ Exner wollte also hingehen, aber der Pförtner mußte das Tor bewachen, begleiten konnte er ihn nicht, und allein ins Objekt lassen durfte er ihn nicht. „Das wäre ja dann der reinste Taubenschlag, mein Herr. Das werden Sie bestimmt einsehen.“ „Natürlich“, stimmte Exner zu, und ihm blieb nichts übrig, als den Dienstausweis zu zücken. Der Pförtner führte ihn zu dem Gebäude und zeigte ihm die Treppe ins Kesselhaus, von gelben Glühbirnen beleuchtet. „Es ist ein bißchen kompliziert, aber Sie werden’s schon finden“, sagte er voller Vertrauen. Und ging in sein Häuschen zurück. Damit begann der Eintritt in die muffige, nach Metall riechende und kalte Unterwelt. Überall war es still. Weder das Zischen von Autogen noch das Klirren von Werkzeug. Auf den Fußböden lag eine so dicke Schicht von ölgetränktem Schmutz, daß die Schritte nicht zu hören waren. Er irrte hin und her, geriet an ein Kokslager und von dort über eine Eisentreppe zu den Kesseln. Er gelangte auf die Schüttfläche, die von einem Geländer umschlossen war. Nach unten führte eine Eisentreppe. Seitwärts von den Kesseln stand eine Werkbank, darüber ein schmales Fenster, daneben an der Wand eine 259
Arbeitsbeleuchtung. Dort standen Kleiderspinde und hingen Bilder von Mädchen. Am Pult saß ein Mann und schrieb. Dann und wann starrte er auf die Wand vor sich und kaute am Bleistift. Und dann neigte er wieder den Kopf übers Papier. Auf einem Plastbeutel zu seiner Linken lag sein Frühstück. Abwechselnd biß er in die Wurst und die Semmel. Vor ihm stand eine offene Flasche Bier. Jeder Bissen wurde hinuntergespült. Kapitän Exner räusperte sich, und der junge Mann drehte sich um. Er stieß einen leisen Schrei aus, und der Bleistift fiel ihm aus der Hand. Was bewies, daß er trotz seiner Jugend in keiner guten psychischen Verfassung war, und das kommt bei Dichtern allerdings vor; auch wenn vielleicht der Anblick des Kapitäns Exner in seinem Gewand und den gewienerten Schuhen auf der Treppe zwischen Rohren und Kesseln und in diesen staubigen Räumen selbst eine stärkere Natur überwältigt hätte. „Pardon“, entschuldigte sich Kapitän Exner. „Ich suche Herrn Brožek.“ Der junge Mann in Monteurkluft stand auf. „Der bin ich. Was gibt’s?“ „Eine Kleinigkeit. Mich schickt der Herr Sadílek zu Ihnen.“ „Aha“, sagte der junge Mann und packte die Papiere auf dem Tisch zusammen. Ein bißchen zitterten ihm dabei eben doch die Hände. „Und was wünschen Sie?“ Exner stieg vorsichtig hinab. „Eine Kleinigkeit“, sagte er leichthin und trat an den Tisch. „Mein Name ist Exner, Kriminalpolizei. Was schreiben Sie denn da? Sieh an, Verse.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist ja fast ein Wunder.“ „Mein Kumpel ist essen gegangen. Ich hab’ mir mein Essen mitgebracht.“ Er blinzelte. „Ist dem Herrn Sadílek etwas zugestoßen?“ 260
„Nein, ach wo.“ Exner winkte ab. „In Libín ist etwas passiert.“ „Wo sie den Schatz gefunden haben?“ „Genau. Der Herr Sadílek hat Ihnen nichts gesagt?“ „Nein.“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Wir haben eigentlich seit Samstag nicht mehr miteinander gesprochen.“ „Jemand hat die Münzen gestohlen.“ „Was? Gestohlen? Und wann?“ „Montag nachmittag.“ „Am Tage?“ „Am hellichten Tage“, bestätigte Exner fast bekümmert. „Mut und Talent. Und dabei hat dieser Jemand ein Mädchen umgebracht. Sie ist tot, Mord.“ Der junge Mann schüttelte verwundert den Kopf. „Ja, ja“, nickte Exner. „Es ist Mord. Hören Sie, Herr Brožek, Sie sind mit Herrn Sadílek am Samstag dort gewesen. Stimmt das?“ „Ja.“ „Haben Sie sich erboten, ihn zu fahren, oder hat er Sie darum gebeten?“ Der junge Mann dachte kurz nach. „Ich weiß es nicht“, antwortete er verlegen. „Er hat mir von dem Schatz erzählt …“ „Wann?“ „Am Freitagabend. Er sagte, er möchte sich das gern mal anschauen. Ich glaube, ich hab’ mich dann selber angeboten. Ich hab’ so eine alte Karre.“ „Und wie sah es dort aus?“ „Wo? Jetzt hab’ ich Sie nicht verstanden, Genosse …“ „Kapitän. In Libín. Erzählen Sie mir davon. Sie sind angekommen, haben gehalten, wer war dort, was haben Sie gesehen und so weiter.“ „Ich war zum ersten Mal dort. Beinahe hätte ich die Abzweigung ins Dorf verpaßt. Dann haben wir Leute gefragt. Gehalten hab’ ich ein Stück von der Grube ent261
fernt. Das war so was wie ein Dorfanger, einfach eine sehr breite Straße. Unweit stand ein weißer Fiat Mirafiori. Mit dem ist so ’n feiner Pinkel mit Brille gekommen. Herr Sadílek nannte ihn Herr Magister. Dann war ein älterer Herr dort, dann eine Frau Doktor, alle nannten sie Frau Doktor, und dann noch ein Herr, zu dem sagten sie auch Herr Doktor. Und sie kletterten in die Grube und sahen sich den Schatz an.“ „Und was haben Sie gemacht?“ „Ich stand oben.“ „Unten waren Sie nicht, um es sich anzuschauen?“ „Nein.“ „Hat Sie das nicht interessiert?“ „Das ja“, räumte Vlastimil Brožek ein, „aber von oben war es genausogut zu sehen wie von unten. Vielleicht noch besser. Ich dachte nur …“ Er stockte. „Was dachten Sie?“ „Als mir der Herr Sadílek erzählte, was für ein Schatz das ist, da dachte ich, das wird wirklich ein großer Schatz sein, Silber und Gold und viel Geld. Aber es waren nur solche schwarzen Plättchen.“ „Damit wollen Sie sagen, daß Sie enttäuscht waren.“ „Ziemlich“, gab Brožek zu. „Ich bedauerte fast, daß ich mit dem Herrn Sadílek hergefahren war. Ich dachte, ich werde wirklich was sehen.“ Im Verlauf des Gesprächs war Kapitän Exner an die Werkbank getreten und hatte die Papiere in die Hand genommen. Er las diesen und jenen Vers, aber ihm stand nicht der Sinn danach, darüber nachzudenken. „Sie schreiben also Gedichte …“ „Ein bißchen“, sagte Brožek, er war offensichtlich über das Interesse erfreut. „Und warum?“ fragte Kapitän Exner. „Ich habe selbstverständlich nichts gegen Dichter, aber ich wundere mich immer wieder, wie das überhaupt geht, und manchmal auch ein bißchen, warum sie so etwas schreiben.“ 262
„Mir macht es Spaß“, sagte Vlastimil Brožek aufrichtig. „Tatsache. Ich lese sie dem Herrn Sadílek vor. Er sagt, das Beste ist es nicht, aber andererseits lobt er dann und wann einen Einfall. Ich möchte einmal Schlagertexte schreiben!“ „Ja, wenn Sie fleißig arbeiten“, sagte Michal Exner im Ton eines vertrottelten Pädagogen, „dann wird Ihnen das vielleicht gelingen. Übrigens – wo waren Sie am Montagnachmittag?“ „Hier.“ „Hier im Kesselhaus?“ „Ja.“ „Von wann bis wann?“ „Von zehn Uhr morgens bis abends.“ „Ununterbrochen?“ „Ununterbrochen nicht. Gegen Mittag hab’ ich mir im Laden ein Frühstück geholt, Mittag essen geh’ ich nicht.“ „Waren Sie allein hier?“ „Nein. Mit Zdeněk.“ „Wer ist das?“ „Der Brigadier. Er ist älter.“ „Wie heißt er?“ „Zdeněk Linhart.“ „Waren Sie beide die ganze Zeit hier?“ Der junge Mann zögerte. „Die ganze Zeit“, sagte er unsicher. „Der Pförtner schreibt auf, wann wir kommen und gehen.“ „Gut“, sagte Exner und lächelte. „Gut, die ganze Zeit, Herr Brožek. Keinen Schritt haben Sie hinausgetan …“ „Ich nicht. Ich wirklich nicht“, sagte er rasch. „Und Linhart?“ „Der …“ „Also war er immer hier oder nicht? Ich bitte Sie, er hatte eine Schwarzarbeit, ist übern Zaun verschwunden, mich geht das nichts an. Für Schwarzarbeit bin ich nicht zuständig. Ich muß nur wissen, ob er hier war oder nicht.“ 263
„Er war nicht immer hier“, sagte Vlastimil Brožek leise. „Aber auf einer Schwarzarbeit war er bestimmt nicht.“ „Ach nein“, wunderte sich Exner. „Und wo dann?“ „Er ist wohl aufräumen gegangen. Oder was besorgen.“ „Für wen, was, wer? Mein Gott“, stöhnte Exner, „Ihnen muß man auch jedes Wort aus der Nase ziehen. Und ich hab’ so wenig Zeit.“ „Zdeněk“, und Brožek seufzte, „ich würde es Ihnen gern erklären, Genosse Kapitän, aber mir kommt es selber so komisch vor …“ „Erklären Sie’s mir.“ „Zdeněk dient.“ „Was?“ „Er dient dem Fräulein Lautererová.“ „Was ist daran komisch, wenn er einer älteren Dame aushilft.“ „Aber sie ist keine ältere Dame. Sie ist Tänzerin. An der Operette. Um die fünfundzwanzig. Aber das weiß ich nicht genau. Ich hab’ sie mal selber an seiner Stelle gefahren. Dann hat sie ihn ausgeschimpft, weil er einen weißen Mercedes hat und ich nur so eine schäbige Karre.“ „Das macht er wegen des Geldes?“ „Weiß ich nicht …“, sprach Brožek unschlüssig und rieb sich verlegen die Finger. „Ich glaube nicht. Sie ist nämlich schön.“ Kapitän Exner schürzte die Lippen. Es schien sogar, als dächte er nach. Aber das dauerte nicht lange. „Und wo wohnt dieser Zdeněk?“ „In Holešovice. In der Hafengasse.“ „Und das Fräulein Lautererová?“ „In Pankrác. In der Siedlung hinter den Garagen. Gleich im ersten Block. Dort hab’ ich auf sie gewartet.“ „Und sie tanzt am Operettentheater?“ „Ja. Aber nur extern, hat Zdeněk gesagt.“ „Danke.“ Exner nickte. Er reichte dem jungen Mann die Hand. Dieser zögerte eine Sekunde, aber dann 264
drückte er Exners Hand fest, und sein Blick war fast dankbar. „Es wäre mir unangenehm, wenn jemand davon erführe, daß Zdeněk weg war. Oder wenn er deswegen Scherereien kriegt. Das ist doch keine Schwarzarbeit, was er macht.“ „Wie man’s nimmt“, sagte Kapitän Exner leichthin. „Ich sehe es zwar als solche, aber Schwarzarbeit interessiert mich nicht.“
102 Er stieg die Eisentreppe hoch, sehr vorsichtig, um sich nicht die Hände und die Hose zu beschmutzen. Der Dichter und Heizungsinstallateur Vlastimil Brožek stand an der Werkbank, beobachtete anscheinend respektvoll, wie der Kapitän hochstieg. Exner irrte dann eine Weile durch den Keller. Er fand zwei weitere Ausgänge. Er trat durch den hinaus, der nicht dem Tor und dem Pförtner gegenüberlag. Außer zwei sicher schon während des Krieges erbauten Holzbaracken und einem Schrottberg waren dort noch ein paar Lastwagen abgestellt. Das Gelände schloß der Bahndamm ab. Der Weg zwischen den Baracken bestand aus alten Pflastersteinen. Auf den Geleisen donnerte ein internationaler D-Zug vorbei. Und dann Güterzüge. In der Nähe war wohl ein Güterbahnhof: der Damm war breit und die Gleisführung weit gefächert. Das der Fabrik am nächsten liegende Gleis diente als Anschlußgleis, denn an den Damm war eine schräge Rampe aus starken Bohlen gebaut. Der Schrott wurde auf dieser Rampe entladen und rollte hinunter auf den Haufen hinter dem Zaun. Der Traktor, der hier die Arbeit eines Krans und eines kleinen Bulldozers verrichtete, stand am Rande des Zufahrtsweges zur Rampe. 265
Der Zaun am Bahndamm war baufällig mit mindestens fünf Löchern darin. Auch ohne diese hätte jedermann vom Bahndamm aus über die Rampe das Fabrikgelände betreten können. Exner kroch durch den Zaun und geriet auf einen Pfad, der dicht am Fuße des Bahndamms entlangführte. Links waren eine Brücke und Unterführung. Die Straße, die alle hiesigen Bewohner benutzten, verlief in einem Bogen unter der Bahnstrecke hindurch, soeben fuhr ein Personenauto vorbei und wirbelte eine Staubwolke auf. Exner wartete eine Weile, bis sich der Staub gesetzt hatte. Er ging durch die Unterführung. Über seinem Kopf dröhnten die Züge. Dann hatte er vor sich eine leicht wellige Landschaft, besät mit Hochspannungsmasten, einzelnen Häusern und drei Dörfern. Rechter Hand, ein paar Dutzend Meter von der Bahnstrecke entfernt, war ein Teich, über ihm am Wald parkten einige Autos, im Teich und im Gras ringsherum etwa zwei Dutzend Menschen in Badeanzügen, die mit dieser bescheidenen Naherholung vorliebnahmen. Auf dem gleichen Weg kehrte er ins Fabrikgelände zurück, um es ordnungsgemäß durchs Tor am Pförtnerhaus zu verlassen. Der Pförtner salutierte. „Ich grüße Sie, Genosse Kapitän.“ „Ich grüße Sie“, erwiderte er. „Übrigens: Sie schreiben hier ein, wann die Handwerker kommen und gehen?“ „Das ist Vorschrift, Genosse Kapitän.“ „Und Ihr Buch ist in Ordnung?“ „Gewiß.“ „Hatten Sie zufällig am Montag Dienst? Nachmittags?“ „Ich hab’ die Tagschicht, Nachtschicht darf ich nicht. Wegen der Gesundheit.“ „Könnten Sie mir das Buch mal geben?“ Der Pförtner brachte es ihm ans Fenster. Bereitwillig blätterte er den Montag auf. „Hier der Montag.“ 266
Er sah mit eigenen Augen: Brožek, Linhart, MOTES. Ankunft 9.55, Abgang 19.35 Uhr. Und Kapitän Exner seufzte leise. „Ich danke Ihnen, Genosse. Es ist völlig in Ordnung.“
103 So wie man auf allen Wegen in die Metropole Prag fahren kann, erreicht man auch die alte Metropole Libín auf verschiedenen Pfaden. Er versuchte es, schlängelte sich mit seinem Wagen zwischen Zäunen durch, fand einen Weg zur Bahnstrecke, fuhr unter einem Viadukt hindurch und lenkte den Wagen an einem Teich vorbei aufs Geratewohl in eines der Dörfer, und zum Schluß landete er wirklich in Libín und war sogar früher dort, als wenn er in die Hauptstadt zurückgekehrt wäre und die richtige Ausfallstraße benutzt hätte. Und während er so fuhr, überdachte er alles noch einmal. In Libín hielt er an der Post und rief das Große Operettenhaus in Prag an. Man versicherte ihm, daß Fräulein Lautererová heute tanze. Dann rief er wieder Prag an, und zwar die bekannte altertümliche Apotheke, und unterhielt sich mit Fräulein Čtvrtečková. „Na siehst du“, sagte er, „ich bin schon wieder da.“ Sie lachte. „Wo?“ Sie war in dieser Langeweile zwischen den Porzellandosen für jede kleine Abwechslung dankbar. „In Libín. Ich wollte nur fragen, wie du heute geschlafen hast.“ „Mäßig“, antwortete sie zurückhaltend. „Ganz gut. Ich hab’ auch mit Appetit gefrühstückt.“ „Das freut mich. Übrigens – ist dein Chef da?“ „Ja. Soll ich ihn ans Telefon holen?“ „Gott bewahre. Und wird er gegen sechs dasein?“ „Das sollte er. Soll ich ihn fragen?“ 267
„Nein. Ich komme vielleicht vorbei. Wenn ich die Zeit finde. Ich hab’ ein bißchen den Kopf voll.“ „Fall nur nicht in den Fluß.“ „Warum sollte ich reinfallen?“ „Du trittst daneben, und schon liegst du drin“, sagte sie und legte auf. Er blickte einigermaßen erstaunt auf das stumme Ding in seiner Hand. Dann zuckte er mit den Achseln und ging los, um sich auf dem Anger umzusehen. Die kleinen Zäune und Warntafeln um das Forschungsobjekt waren schon beseitigt. In der Grube war kein Zelt mehr, auch kein Stühlchen, kein Tisch. Die Stelle, wo das Depot gefunden worden war, war vertieft und erweitert worden, aber – und das war interessant – sie war bereits in den paar Stunden verödet und schien in keiner Weise hergerichtet zu sein. Als ahnten die Dinge selbst ihre Überflüssigkeit. Er warf einen Blick ins Gasthaus. „Wann haben unsere Leute Schluß gemacht?“ fragte er den Gaststättenleiter und zeigte mit dem Daumen zum Forschungsobjekt. „Nach zehn. Dann haben sie eine Kuttelflecksuppe gegessen und sind in die Bude in Mareks Garten gegangen. Aber dort dürften sie auch nicht mehr sein. Vor einer Stunde hab’ ich sie vorbeifahren sehen. In drei Autos. Wohl zur Flußeinmündung. Ja“, erinnerte sich der Leiter, „der Herr Doktor war bei ihnen. Heute morgen haben sie ihn aus dem Krankenhaus gebracht. Er hat sich wieder erholt. Die Suppe hat ihm geschmeckt.“ „Ist nichts übriggeblieben?“ „Doch, ist noch was da.“ „Dann würde ich auch eine essen. Und ein Salzbrötchen dazu. Schön durchgebacken. Oder in der Röhre oder auf der Platte ein bißchen aufgebacken, damit es nicht zäh ist.“ 268
„Selbstverständlich, Genosse Kapitän.“ Michal Exner rieb sich die Hände.
104 Die Sonne hatte den Zenit überschritten. Die Gartentische vor dem Restaurant Zur Mündung waren alle besetzt. Im Schatten der Kastanien tranken und speisten die Gäste. Von den übrigen Ausflüglern, Touristen und der herumflanierenden Jugend unterschied sich deutlich die Gesellschaft, die an den drei äußersten Tischen saß. Am nächsten zum Fluß und zum Haus des Fährmanns. Obwohl sie ebenfalls etwas tranken, waren sie schweigsam. Am äußersten Tisch saßen in absolutem Stillschweigen Oberleutnant Vlček und Leutnant Beránek. Ab und zu schaute einer von ihnen auf die Uhr, warf einen Blick auf seinen Gefährten, und beide zuckten einträchtig mit den Achseln. Daneben verspeiste Doktor Sultán, noch ein bißchen blaß, eine Forelle. Dann und wann hob er den Blick zum dritten Tisch, wo ihm direkt gegenüber Doktor Soudek saß. Doktor Sultán stieß bei jedem Blick auf den jüngeren bärtigen Kollegen einen Seufzer aus. „Ich weiß“, sagte er halblaut zu der neben ihm sitzenden Frau Doktor Janovská, „der Kollege Soudek kann nichts dafür, im Gegenteil, er hat in diesem Fall Entschlossenheit und operatives Denken bewiesen, aber leider …“ Die Frau Doktor schaute sorgenvoll auf das Glas Wein, das Doktor Sultán erhob. „Herr Doktor …“, bemerkte sie leise und tadelnd. Er legte ihr väterlich die Hand auf den Unterarm. „Das geht in Ordnung, Kollegin, das Trinken haben sie mir nicht verboten.“ 269
Der Wissenschaftliche Sekretär des Instituts, Václav Slánský, las ungehörigerweise beim Essen. Vielleicht, um sich keiner üblen Gewohnheit hingeben zu können, hatte er sich keine Forelle geholt, sondern nährte sich von dem hiesigen üblichen Gulasch, las den maschinegeschriebenen Entwurf des Kommissionsberichtes und korrigierte ihn beim Essen. Er setzte die Lektüre fort, auch als er den Teller weggeschoben hatte. Doktor Radimský hielt ein Glas Wein in der Hand und blickte betrübt auf den Lastkahn, der die Wasserfläche furchte. „Ich bete nur darum“, bemerkte er mehr für sich, „daß sie diesen Burschen schnappen.“ Frau Doktor Janovská zuckte mit den Achseln. Sie sah nicht so aus, als wäre ihr Vertrauen zur Polizei, die in diesem Fall der Kapitän Exner vertrat, unerschütterlich. Die beiden Reiners tranken mit finsteren Gesichtern Mineralwasser. „Mein Gott“, erklärte Kateřina Reinerová flüsternd, „das ist aber auch ein Malheur.“ „Schweig“, ermahnte sie ihr Mann. Doktor Melíšek nickte. „Irgendwie hat es Sie alle wieder gepackt“, bemerkte Doktor Soudek. „Und ich hatte schon gedacht, Sie hätten sich vom ersten Schock erholt.“ „Wenn ich mir vorstelle, was das für eine Sensation gewesen wäre. Allein nach den zwei Exemplaren …“ Radimský seufzte. „Leider ist zuweilen die Frau Justitia wirklich blind.“ „Die Archäologie, Herr Kollege“, belehrte ihn Soudek, „ist keine Jagd nach Schätzen. Ob nun Artefakten oder Architektur. Ein einzigartiger Fund.“ Er winkte ab. „Das wissen Sie ja selber. Aber daß sich der Kollege Sultán so rasch erholt hat, das freut mich. Ein guter Kern. Die Familie. Die Natur.“ Melíšek schaute sich vorsichtig um, ob das Doktor Sultán nicht gehört hatte. Das schien nicht der Fall zu sein, er unterhielt sich mit der Kollegin Janovská. 270
Frau Doktor Reinerová sah sich um und zeigte auf den nach Libín führenden Weg. Dort kam soeben, in Hemdsärmeln, mit wehender Krawatte, die Hände auf dem Rücken, Kapitän Exner. „Und schon ist er da“, sagte sie. Die Kriminalbeamten blickten auf die Uhren, dann schauten sie einander an und zuckten mit den Achseln. „Eine Stunde“, sagte Leutnant Beránek. „Eine Stunde und acht Minuten“, präzisierte Oberleutnant Vlček. Kapitän Exner schien voller Wohlbehagen zu sein. Doktor Soudek, der dem Ankommenden den Rücken zuwandte, drehte sich mit dem ganzen Stuhl herum. „Die Verbrecher sind auf der Flucht“, erklärte er, „und die Gendarmen gehen spazieren. Die Spuren erkalten, und der Gerechtigkeit sind vor lauter Weinen die Augen verbunden. Wo kommen Sie denn so plötzlich her, Herr Kollege?“
105 „Ich bin geradewegs nach Libín gefahren“, sagte Kapitän Exner. „Habe im Restaurant am Anger eine Suppe gegessen und wollte mir ein bißchen die Beine vertreten. Vom Dorf bis hierher ist es eine knappe halbe Stunde. Guten Tag, guten Tag allerseits, wünsche guten Appetit … Frau Doktor … Pardon. Herr Doktor Sultán? Freut mich, Herr Doktor. Kapitän Exner. Frau Doktor …“ „Bitte?“ „Das Datum ist nicht mehr verändert worden, wie ich bemerkt habe.“ „Der Narr, der das getan hat, wird es wohl aufgegeben haben.“ „Sie sind überzeugt, daß es sich um einen Narren handelt?“ 271
„Zweifellos“, sprach Doktor Sultán streng. „Ein Dummerjungenstreich.“ „Natürlich“, stimmte Exner zu und bemerkte, daß dem Archäologen die Hände zitterten. „Ein gewöhnlicher Jungenstreich. Aber Jungen verfügen in der Regel über keine historischen Kenntnisse. Es ist kein Zufall, daß die Fünf in eine Sechs verwandelt wird, und zwar fortwährend. Dumme Jungen würden dort eher ordinäre Bildchen malen. Und warum zittern Ihre Hände so?“ Exner langte nach dem Kommissionsbericht. „Sie erlauben, Herr Doktor“, bat er Václav Slánský. „Bitte, aber ich bin mit Korrigieren noch nicht fertig.“ „Macht nichts. Ich geb’s Ihnen gleich wieder.“ Er wandte sich abermals an Doktor Sultán: „Ich kann Ihnen nachfühlen, welche Freude Sie über die Entdeckung empfunden haben, Herr Doktor. Ich fürchte nur, Sie haben die Kunde davon zu schnell in den Kreisen verbreitet, die sich nicht nur für einen solchen Fund interessieren, sondern auch den Wert eines solchen Haufens von Denaren einschätzen können …“ „Sie wollen damit sagen, daß es vielleicht meine Schuld war, wenn …“ „Schuld! Wer ist ohne Schuld, Herr Doktor?“ Frau Doktor Janovská sagte streng: „Sie wollen doch nicht vielleicht einen Forscher verdächtigen?“ „Jedermann.“ Und er vertiefte sich in den Bericht. Darin wurde festgestellt, daß das Depot zum Zeitpunkt des Eintreffens der Kommission entwendet war, er konstatierte die Maßnahmen, die die Expedition in Libín getroffen hatte, und beschrieb weiterhin die Art der Aufbewahrung und die Umstände des Fundes, und zwar nicht nur nach dem tatsächlichen Zustand, sondern auch nach den Aussagen der Zeugen, die das Glück hatten, das Depot mit eigenen Augen zu sehen, und die zufällig Mitglieder der Kommission waren. Die Schätzung der Zahl der Münzen be272
wegte sich zwischen zweitausendfünfhundert und dreitausend. Zum Schluß sprach die Kommission die Hoffnung aus, daß die Organe der Kriminalpolizei das Depot auffinden und den berufenen Händen übergeben würden. „Ja“, bemerkte Kapitän Exner trocken. „Die Organe hoffen das auch. Hör mal, Beránek …“ „Ja?“ Der Leutnant erhob sich Und holte sich das Aktenstück, das Exner ihm reichte. „Das wird zu den Protokollen geheftet. Ich möchte dich bitten, mit dieser netten Gesellschaft abzufahren und alles mit den verehrten Zeugen niederzuschreiben. Wie, wann, wo, wer gewesen ist und was er wem gesagt hat. Wie gewöhnlich. Pardon“, entschuldigte er sich bei den Archäologen und setzte sich zu Vlček. „Gibt’s hier was Neues? Oder mit dem Auto?“ „Dem es gestohlen wurde, der hat sich gefreut. Sonst nichts, absolut nichts. Der Ordnung halber hab’ ich mir noch einmal die Stelle angesehen. Nichts, Gras und Staub.“ „Ich war auch vor einer Weile dort“, gestand Exner. „Nur so.“ „Im Dorf auch nichts. Die Leute haben nichts bemerkt.“ „Dann fahr auch nach Prag.“ Die Gesellschaft zahlte, stand auf und folgte dem Leutnant Beránek zu den Dienst- und Privatwagen, unter denen wie ein Edelstein der Straßenkreuzer der Reiners glänzte. Exner nickte Doktor Soudek zu. „Wie wär’s, wenn Sie noch ein Weilchen bei mir blieben, Herr Doktor?“ „Auf einen Schoppen? Gern.“ „Das nicht“, überlegte Exner. „Es ist zu heiß und zu laut hier.“ „Ich hab’s bemerkt. Bißchen unruhig, der Herr Kapitän?“ „Ein bißchen“, gab Exner zu. 273
„Worum geht es also, teurer Freund?“ „Um einen Spaziergang. Wir gehen Richtung Libín.“
106 Die Hände auf dem Rücken, so schritten sie Seite an Seite auf dem Weg dahin, auf dem sich vor einigen Tagen Doktor Bouček zu dem ermordeten Mädchen begeben hatte, dem so oft schon begangenen Weg von der Flußeinmündung gegen Libín. Die Blätter der alten Espen zitterten über ihren Köpfen. „Nun?“ fragte Kapitän Exner. „Nun ja“, antwortete Doktor Soudek. Sie schwiegen weiter bis zu den Schneebeersträuchern. Dort stellten sie sich ans Ufer und blickten auf jene Stelle, auf das bißchen Erde, wo das Mädchen gelegen hatte. „Nun?“ fragte Doktor Soudek. „Nun ja“, antwortete Michal Exner. Er rieb sich die Nasenspitze. „Was meinen Sie also jetzt dazu, Herr Doktor?“ „Ich habe keine Information. Die haben Sie. Ich forsche übers Neolithikum. Morde untersuchen Sie. Versuchen Sie nicht, mich da hineinzuziehen.“ „Erzählen Sie.“ „Um Himmels willen, was?“ „Ihre Version.“ „Blödsinn“, erklärte Doktor Soudek. „Es ist Blödsinn, wenn einer glaubt, das sei vorbereitet gewesen. Am hellichten Tage, Herr Kollege, mitten im Dorf, auf dem Anger, wenn auch in einer Grube, da mordet man nicht mit Vorbedacht. Und man stiehlt auch nicht mit Vorbedacht. Ein Zufall.“ „Jemand ist vorbeigegangen, und da ist es ihm eingefallen.“ 274
„Ja. Um den Kollegen Sultán zu ärgern.“ „Den Kollegen Sultán durch einen Mord zu ärgern?“ „Würde ich ruhig tun“, erklärte Doktor Soudek zynisch. „Ich ärgere ihn gern mit sonstwas.“ „Auch mit dem Umschreiben des Datums auf der Schautafel.“ „Das war nicht ich. Ich kann nicht täglich den Weg aus Bylaves wagen. Übrigens ist das frühe Mittelalter nicht mein Fachgebiet. Das betreut eher der Kollege Melíšek.“ „Der hat nicht so einen Charakter, um den Herrn Doktor zu ärgern.“ „Genau. Dann würde der Kollege Dřeštík in Betracht kommen.“ „Kenne ich nicht.“ „Werden Sie kennenlernen. Mit der Zeit. Historiker. Eben das frühe Mittelalter. Ich weiß nur nicht, welche Ansicht der Kollege Dřeštík betreffs des Datums der Ausrottung des herrschenden Geschlechts vertritt. Ich glaube, er neigt gleichfalls dem Kosmas zu.“ „Und das heißt?“ „Neunhundertfünfundneunzig. Sie rechnen das nach der Legende des Bruno von Querfurt aus.“ „Aha“, sagte weise Kapitän Exner. „Es ist nur so“, fuhr er fort und ging langsam zurück auf den Weg, um den Spaziergang nach Libín fortzusetzen, „daß diese Alberei mit den Daten nichts mit unserem Fall zu tun hat. Das hat schon eine Woche vorher begonnen, als noch niemand ahnen konnte, daß der Baggerführer einen Schatz ausbuddeln wird.“ „Einverstanden. Ausnahmsweise.“ Vor ihnen ragte der flache Hügel der alten Burgstätte auf, rechts lag das Dorf. „Civitas Liubus“, bemerkte Soudek mehr für sich. „Hier muß in diesen tausend Jahren schon was gemordet worden sein …“ 275
„Ich glaube nicht, daß es völlig ein Zufall war. Jemand, der den Wert kannte, wollte das einfach klauen. Bestimmt, Herr Doktor. Versuchen Sie nicht, mir einzureden, daß es nicht so war. Er war bestimmt auf die Denare scharf. Er wußte, was für einen Wert sie haben. Das Mädchen ist ihm zufällig unter die Hände geraten.“ „Und wenn ich nun“, wandte Doktor Soudek ein, blieb stehen und sah spöttisch seinen Mitwanderer an, „das Ganze umdrehe, mein Lieber. Jemand wollte das Mädchen ermorden, vielleicht ein Triebtäter, und bei der Gelegenheit geriet ihm der Schatz in die Hände. So nahm er ihn mit, um die Spuren zu verwischen.“ „Das ist zwar auch eine Version“, erkannte Kapitän Exner an, „bis auf eine Kleinigkeit.“ „Und welche?“ „Würden Sie einen Sexualmord an einem Sommerabend auf dem Dorfanger in Libín begehen?“ „Wenn ich ein Triebtäter wäre und eine Grube da wäre – vielleicht.“ „Das sind typisch Sie“, seufzte Exner. „In nichts helfen Sie einem.“ Sie gelangten an den Dorfrand. „Sieh mal einer an!“ Doktor Soudek zeigte auf die Schautafel. „Schon wieder. Ohne Rücksicht auf den Diebstahl.“ „Ohne Rücksicht auf den Mord“, flüsterte Michal Exner. Er trat näher, um das Datum zu kontrollieren. Es bestand kein Zweifel: mit Nagellack hatte ein Unsichtbarer und Ungreifbarer die Jahreszahl geändert. „Die hätten sicher ihre Freude“, meinte er, „wenn sie wüßten, daß das noch nach tausend Jahren jemanden interessieren wird.“ „Das bezweifle ich.“ Doktor Soudek schüttelte den Kopf. „Die hatten andere Sorgen. Der arme Kollege Sultán. Ein Glück, daß er das noch nicht gesehen hat.“ Sie verabschiedeten sich voneinander vor dem Garten 276
der Mareks. Doktor Soudek trat in die Bude, um sich von Leutnant Beránek vernehmen zu lassen, es blieb ihm ja nichts anderes übrig. Kapitän Exner stieg ins Auto, wendete in Richtung Hauptstraße; aber dann, am Ende des Dorfangers, fiel ihm etwas ein, er lächelte und fuhr um die Linden herum, die am Kruzifix standen. Und er fuhr in die Gegenrichtung. Zu der steinernen Brücke über den Fluß Surina und weiter nach Netvor und Lany.
107 Der alte Herr in dem schwarzen Anzug schritt an der linken Seite der Landstraße dahin. Das Sakko trug er über der Schulter, am Mittelfinger der linken Hand eingehängt. Er ging schwer, aber schnell, nach vorn geneigt und leicht gebeugt. Es war hinter Netvor, und Exner sah ihn von weitem. Der Kapitän stieß einen leisen Pfiff aus und fuhr ganz langsam. Er überholte Professor Malík und hielt. Er blickte aus dem Fenster. „Kann ich Sie mitnehmen?“ „Na so ein Zufall“, freute sich Ondřej Malík. „Wohin fahren Sie, junger Mann?“ „Auf einen Ausflug“, sagte Exner leichthin. „Steigen Sie ein!“ „Sehr gern“, stimmte Professor Malík zu und zwängte sich ins Auto. Er machte es sich zufrieden auf dem Sitz bequem, schaute Exner forschend an, mit vorgeneigtem Kopf und ein bißchen über die Brille hinweg, und dann fragte er ihn wie einen Studenten, der bei der Prüfung Unsinn geredet hat: „Einen Ausflug?“ „Allerdings“, antwortete Exner. „Es ist schön, die Sonne scheint …“ „Da können wir ja gleich weiterfahren bis Kolín. Wissen Sie“, vertraute sich der Professor ihm an, „dort bin 277
ich noch nie gewesen. So weit gehe ich nicht zu Fuß. Und dann könnten wir über Salská nach Brody zurückkehren. Wir machen“, sagte er, sich zufrieden zurücklehnend, „eine kleine Rundfahrt. Wenn Sie Zeit haben“, fügte er heuchlerisch hinzu. Kapitän Exner nickte. Lange fuhren sie schweigend. Die Kreisstraße wand sich in Alleen zwischen leichtgewellten Feldern dahin, zwischen Lößhügeln nahe am Fluß, zwischen den Resten von Auenwäldern und ein Stück höher, wo Sandboden war, zwischen sonnigen Kiefernwäldern. „Warum tun Sie das, Herr Professor?“ fragte Exner endlich. „Was denn?“ „Mit dieser Jahreszahl“, sagte er tadelnd. „Der Herr Doktor Sultán hat gesagt, das sei ein Dummerjungenstreich.“ „Mit welcher Jahreszahl, junger Mann?“ fragte Malík. „Sie müssen sich irren.“ „Sie haben mir geholfen. Mit dem Trabant. Dem Sie begegnet sind, als Sie unterwegs nach Libín waren.“ „Wirklich? Das freut mich aufrichtig. Haben Sie ihn gefunden?“ „Das Auto ja, selbstverständlich. Ihn nicht. Aber bestimmt hatte er hinten das tote Mädchen geladen und das da.“ Er langte in die Tasche nach dem Damenportemonnaie und reichte es Malík. „Schauen Sie.“ „Sieh mal an.“ Professor Malík betrachtete die Denare und bemühte sich, die Inschrift zu entziffern. „Das haben Sie also gefunden … Da tut mir aber der Kollege Sultán leid. Falls Sie den Schatz nicht wiederfinden.“ „Eben. Leid tut Ihnen der Herr Doktor, Sultán. Und dennoch schreiben Sie dauernd die Jahreszahl um. Streiten Sie es nicht ab, ich habe Zeugen.“ „Einen Augenblick.“ Der Professor dachte kurz nach. „Zeugen, sagen Sie? Das ist eine ernste Sache. Augen278
blick, lassen Sie mich nachdenken. Nein, aus den Fenstern ist es nicht zu sehen, höchstens mit einem Fernglas vom Fluß, aber auf diese Entfernung ist auch ein Fernglas nichts nütze … Na ja“, überlegte er weiter, „da gäbe es noch eine Möglichkeit. Am Samstag. Ein Mädchen mit Brille. Ein interessantes Mädchen mit Brille. Ich meine, ein ganz hübsches Mädchen. Und die Brille hatte bläuliche Gläser. Sie tauchte ganz unverhofft hinter mir auf. Die also vielleicht. Sie haben sie gefunden?“ „Hab’ ich.“ „Um mich zu überführen?“ „Genau.“ „Hat es viel Mühe gemacht, sie zu finden?“ „Ziemlich viel.“ „Aber ich habe Ihnen die Arbeit erleichtert.“ „Das stimmt zwar, aber ich begreife dennoch nicht, warum Sie den Doktor Sultán ärgern.“ „Weil er blind ist, junger Mann. Er steht, wie so viele Archäologen und Historiker, im Banne des Wortlauts der Quellen. Wenn Sie die Geschichte unserer Zeit schreiben wollten und hätten nur eine einzige Zeitung oder Zeitschrift zur Verfügung und also keine größere Vergleichsmöglichkeit, dann können Sie sich leicht vorstellen, wie das ausfallen würde.“ „Das ist doch eine recht alte Geschichte. Tausend Jahre, Herr Professor.“ „Jede Erklärung der Geschichte ist zugleich eine Anhäufung von Legenden. Jede Zeit paßt die Geschichte ihrem Bild an. Auch die Legenden. Ich bin nicht gegen die Hagiographie als eine historische Quelle. Aber ich bin dagegen, daß man sie wörtlich als historische Quelle akzeptiert. Daß man den Verfassern der Legenden aufs Wort glaubt.“ Er winkte ab. „Und wie ist es mit dieser Jahreszahl? Wann wurden sie ermordet?“ „Neunhundertsechsundneunzig.“ 279
„Das behaupten Sie.“ „Nicht nur ich. Kennen Sie ein bißchen die, mit den Schicksalen des zweiten Prager Bischofs verbundene Hagiographie? Er war es offenbar seit dem Jahre neunhundertzweiundachtzig.“ „Das kenne ich nicht“, gestand Exner zerknirscht. „Ich arbeite auf einem anderen Gebiet. Aber wenn Sie es mir erklären würden …“ „Das wird nicht leicht sein, junger Mann, wenn Sie darüber gar nichts wissen. Das ist Material für viele Studien.“ „Also dann nur knapp. Damit ich’s beurteilen kann.“ „Was beurteilen?“ „Ob Herr Doktor Sultán recht hat oder nicht.“ „Hat er nicht. Die Jahreszahl des Doktor Sultán stammt nicht von ihm. Nicht er hat sie sich ausgedacht. Festgelegt haben sie die Positivisten, und die Hauptstütze für ihre Auffassung ist die Legende des Bruno von Querfurt, die diesen Massenmord erwähnt und sagt, die Vigilien des heiligen Wenzel seien auf einen Freitag gefallen, an diesem Tage also geschah es, und wenn man das auf die Art der Positivisten ausrechnet, kommt als Datum der achtundzwanzigste Neunte neunhundertfünfundneunzig heraus.“ „Dann ist es doch in Ordnung, oder nicht?“ „Bruno von Querfurt war Missionar, Legendenschreiber, Schriftsteller. Sie würden einem Schriftsteller etwas glauben?“ „Möglicherweise.“ „Soweit es konkrete Angaben betrifft, ganz wenig. Der Schriftsteller dokumentiert die Welt anders als der Forscher. Die Jahreszahl neunhundertsechsundneunzig ergibt sich aus dem Kontext aller Legenden, die diese Ereignisse berühren. Es handelt sich also im wesentlichen um den Konflikt zwischen dem Andeutungsdatum – der Erwähnung in der Brunolegende – und dem Kontextdatum. Welchem würden Sie sich zuneigen?“ 280
Exner zuckte mit den Schultern. „Mehr dem Kontext. Falls allerdings …“ „Was?“ „Falls es einen gibt.“ „Natürlich gibt es ihn. Die Kontextjahreszahl neunhundertsechsundneunzig ergibt sich aus der objektiven Folge der Ereignisse. Wäre die Brunolegende verlorengegangen, dann hätte niemand das Datum neunhundertfünfundneunzig ins Spiel gebracht. Stellen Sie sich die Situation vor – der Bischof ist im Ausland, seine Brüder sind hier. Sie werden ermordet. Laut Bruno neunhundertfünfundneunzig. Aber das ist unmöglich. Wegen der Fakten, die wir aus anderen Legenden kennen, ja sogar von Bruno selber.“ „Gewiß“, stimmte Kapitän Exner zu. „Heute ist ein schöner Tag. Das ist alles ein bißchen zuviel für mich“, beklagte er sich. „Was?“ „Diese Probleme, Herr Professor. Und Sie komplizieren sie noch mehr.“ „Durch meine Erläuterung?“ „Nein.“ Exner schüttelte den Kopf. „Durch Ihr Geschreibsel auf der Schautafel.“ Eine Weile fuhren sie schweigend. Sie näherten sich dem Auenwald vor Brody, aus dem zwei schlanke Sendemasten aufragten. „Biegen wir jetzt nach rechts ab?“ brach Exner das Schweigen. „Ja. Mein Kurheim liegt in dieser Richtung.“ „Es ist so, Herr Professor: vorläufig untersuche ich nicht die Ermordung der herrschenden Sippe auf Libín. Wer weiß, ob ich noch dazu komme, die Sache ist ja verjährt. Tausend Jahre. Und, wie ich bemerke, sehr verwickelt.“ „Und dunkel“, stimmte Professor Malík zu. „Lieber Freund, das ganze zehnte Jahrhundert ist – und das 281
merken Sie sich – ein dunkles Jahrhundert. Hier können Sie halten. Ich danke Ihnen.“
108 Kapitän Exner war am frühen Vormittag nicht nur ein verzweifelter Wanderer, sondern, als er nach Prag zurückkehrte und die Türklinke der Apotheke anfaßte, auch ein hungriger Wanderer, staubig und leicht schwankend vor Müdigkeit und Hitze. „O je“, begrüßte ihn die Magistra Helga Čtvrtečková, „was für Gäste! Was wünschen Sie denn, Herr Doktor? Hier haben Sie die Salbe, meine Dame. Ich bekomme eine Krone. Danke. Auf Wiedersehen. Also was gibt’s, Herr Doktor?“ „Warst du schon Mittag essen?“ „Ich esse nie zu Mittag.“ „Ich hab’ Hunger. Ich würde dich einladen. Der Herr Leiter ist im Magazin?“ „Nein, er ist hinten. Wohin würdest du mich einladen?“ „Mir“, meinte er ergeben, „ist das fast egal. Vielleicht auf eine Bockwurst am Strand? Hauptsache, ich bekomme sie auf einem sauberen Teller.“ Sie überlegte. „Vielleicht könnte ich mitgehen. Ich bin seit dem ersten Hahnenschrei im Dienst. Aber nicht auf eine Wurst am Strand.“ „Wohin du willst“, stöhnte er. „Mein Gott, hab’ ich Hunger und Durst!“ „Und auch“, ergänzte sie mit einem liebreizenden Lächeln, „staubige Schuhe und die Haare an den Schläfen leicht verschwitzt. Aber insgesamt wirkt das recht rührend.“ Sie drehte sich um und schob den Vorhang in ihrem Rücken zur Seite. „Chef, ich würde jetzt Mittag essen gehen.“ 282
„Gewiß, Helga, gewiß“, erwiderte der Magister Arnošt Maizl und trat ein. Er erblickte Exner und zuckte leicht zusammen. „Gewiß“, sagte er um ein Merkliches freundlicher, und von seinen Lippen troff Gift. „Solange du willst, Helga.“ Kapitän Exner lächelte bescheiden: „Verzeihung, Herr Magister Maizl?“ „Ja, der bin ich.“ „Der bekannte Münzensammler und Numismatiker?“ „Eine Sammlung besitze ich, und mit Münzen beschäftige ich mich zuweilen.“ „Das ist prima“, erklärte Exner und rieb sich die Hände. „Das ist ein äußerst günstiger Zufall. Ich gehe jetzt mit Helga zum Mittagessen, und dann komme ich mit ihr wieder her, und wir plaudern ein bißchen miteinander.“ „Wir zwei?“ „Gewiß, Herr Magister.“ „Und worüber, mein Herr … Ich glaube, ich habe nachmittags keine Zeit.“ „Über Münzen.“ „Mit meinem Steckenpferd“, bemerkte Arnošt Maizl kühl, „beschäftige ich mich außerhalb der Arbeitszeit, Herr … Herr?“ „Das ist etwas anderes“, sagte Exner fast erfreut. „Sie waren am Samstag in Libín. Um sich das Depot von Denaren anzuschauen. Und am Montag wurde dort gemordet. Und das Depot ist verschwunden. Ich bin Kapitän Exner. Kriminalpolizei, Herr Magister. Wir werden also miteinander plaudern, ich freue mich schon darauf. Helga“, rief er, „beeil dich, Mädchen. Du siehst, ich hab’ wenig Zeit. Auf Wiedersehen, Herr Magister.“
283
109 „Seit Samstag“, sagte Magister Maizl bedächtig, „ist eine lange Zeit vergangen. Ich nehme an, Genosse Kapitän, Sie rechnen bei mir mit einem normalen menschlichen Gedächtnis. Möchten Sie einen Kaffee?“ „Nein, danke“, sagte Michal Exner knapp. Sie saßen in einer Ecke des pharmazeutischen Magazins, das hinter der Apotheke auf dem Hof stand. Es war etwa so groß wie drei Garagen zusammen, Regale bis hoch zur Decke, ein bißchen Kellerkühle, aber der Winkel, den sich der Herr Leiter hier eingerichtet hatte, war gemütlich, ein Tisch mit zwei Sesseln und einem Sofa, offenbar zum Ruhen beim Nachtdienst. Denn über dem Sofa glänzte eine Klingel. Eine Tischlampe verbreitete gedämpftes Licht. Magister Maizl nickte, als hätte er das vorausgesetzt. „Gewiß, im Dienst trinken Sie nicht.“ Exner lehnte sich im Sessel zurück und faltete die Hände auf dem Bauch. „Ein bißchen werden Sie sich schon erinnern. Moment“, stoppte er den Apotheker, „bevor Sie beginnen: Wann haben Sie die Übernachtung im Restaurant Zur Mündung auf den Namen Čtvrtečková bestellt?“ „Freitag abend“, antwortete Arnošt Maizl. „Übrigens glaube ich, daß Sie über viele Dinge bereits umfassend informiert sind.“ „Gewiß“, bestätigte Exner. „Wenn Sie erlauben: Ich kläre den Mord an einem jungen Mädchen auf. Ich habe sonderbare Passionen, aber Sie sicherlich auch. In die werden wir uns gegenseitig nicht einmischen. Was meinen Sie dazu, Herr Magister?“ Arnošt Maizl schluckte und griff nach einer Zigarette. „Bitte sehr“, sagte er trocken. „Also das Zimmer auf den Namen Čtvrtečková habe ich am Freitagabend bestellt. Ich habe nämlich die Nachricht von dem Fund des Depots als Vorwand ausgenutzt, um ein angenehmes Week284
end mit meiner Geliebten Helga Čtvrtečková zu verbringen, die identisch ist mit der Magistra Čtvrtečková, die in dieser Apotheke beschäftigt ist. Ihren Namen habe ich deshalb verwendet, weil ich eine eifersüchtige Frau habe, die nichts von unserem Verhältnis weiß.“ Er verstummte. „Sie weiß nichts?“ „Nein. Zumindest hat sie nie angedeutet, daß sie etwas wüßte.“ „Fahren Sie fort“, forderte ihn Exner sanft auf. „Worüber?“ „Na, von dem Samstag“, sagte Exner noch sanfter. „Was am Morgen, wie, wohin, woher, um wieviel Uhr. Das müssen Sie doch aus Krimis kennen.“ „Ich lese keine.“ „Schade“, bemerkte Exner. „Ich kann mich nicht erinnern, um wieviel Uhr ich aus dem Haus gegangen bin und wann ich bei Fräulein Čtvrtečková geklingelt habe. Gegen acht, glaube ich. Dann fuhren wir geradewegs nach Libín. Unterwegs waren wir uns ein bißchen uneins. Offenbar wissen Sie schon, warum.“ „Aber nein“, erklärte Exner einfältig, „ach wo, überhaupt nichts weiß ich.“ „Ist es unerläßlich, darüber zu sprechen?“ „Kurz und knapp, wenn Sie so freundlich wären.“ „Schon längere Zeit ist Fräulein Čtvrtečková, wie ich bereits gesagt habe, meine Geliebte. Mit Rücksicht auf meine Familie konnte ich mich ihr nicht voll widmen, was Sie sicherlich begreifen werden.“ „Begreife ich. Die Schürzenjäger, die vorbildliche Familienväter und Ehegatten sind, sind mir die sympathischsten.“ Maizl preßte die Lippen aufeinander, daß das Blut aus ihnen wich. Aber er beherrschte sich. „Unterwegs kam es zu einem zwischen uns nicht ungewöhnlichen Streit. In Libín erreichte er seinen Höhe285
punkt, Fräulein Čtvrtečková fühlte sich beleidigt und verschwand. Sie nutzte mein Interesse an dem Münzendepot aus und verschwand – wie Sie vielleicht sagen würden – spurlos.“ „Besonders intensiv haben Sie nicht nach ihr gesucht?“ „Nein.“ „Der Grund?“ „Ich war mir sicher, daß sie nicht für immer verschwunden war. Ich kenne sie einige Jahre, genauer gesagt, seit der Zeit, da sie nach Beendigung ihres Studiums die Arbeit in dieser Apotheke aufnahm.“ „So daß“, schloß Kapitän Exner, weiterhin ruhig dasitzend, die Hände auf dem Bauch gefaltet, „wir hier die erste Geschichte hätten. Und jetzt, wenn Sie erlauben, Herr Magister, gehen wir zu der zweiten Geschichte über. Erzählen Sie mir von Ihren Erlebnissen von dem Augenblick an, da Fräulein Čtvrtečková Sie in Libín verließ. Was haben Sie getan, gesehen, wahrgenommen“, fuhr Exner mit aufmunternder Didaktik fort. Magister Maizl wurde leicht blaß vor Wut und tastete unwillkürlich mit den Händen um sich. Offenbar suchte er eine Eisenkeule. Eine solche war nicht in Reichweite, so gab er es auf und sagte: „Ich begab mich an den Fundort, wo einige Leute versammelt waren. Persönlich kannte ich nur den Herr Sadílek. Herr Sadílek ist …“ „Das weiß ich, weiter!“ „Ferner war dort ein älterer Herr, wie ich heraushörte, ein Gehilfe der Frau Doktor Janovská, dann selbstverständlich die Frau Doktor. Ferner ein Herr, der mir später als Doktor Johan, Schriftsteller, vorgestellt wurde.“ „Sonst niemand?“ „Es ist durchaus möglich, daß noch mehr Menschen dort waren. Nein, ganz bestimmt. Sicherlich Leute aus dem Ort, sie blieben stehen, dann gingen sie weiter. Der 286
Herr Sadílek war mit einem jungen Mann gekommen. Das ist alles.“ „Und worüber haben Sie sich unterhalten?“ „Über den Fund selbstverständlich. Der Fund des Jahrhunderts. Wir versuchten zum Beispiel, die Anzahl der Münzen zu schätzen.“ „Wem war dieser Gedanke gekommen?“ „Daran erinnere ich mich nicht mehr.“ Der Magister überlegte eine Weile. „Vielleicht dem Herrn Sadílek. Nein, dem nicht, der versuchte dann den Wert des Depots in Kronen zu beziffern. Ich bin mir fast sicher, daß es mein Einfall war. Die Schätzungen aller bewegten sich um die zweitausend Münzen.“ „Und der Wert?“ Maizl zuckte mit den Schultern. „Das ist natürlich relativ, Genosse Kapitän. Wissen wir doch nicht im Detail, um welche Münzen es sich handelte. Ziehen wir die üblichen Denare in Betracht, dann bewegt sich ihr durchschnittlicher Wert auf unserem Sammlermarkt um eintausend Kronen pro Stück, meistens mehr. Wenn also zweitausend Stück dort waren …“ Arnošt Maizl verstummte. „Und weiter?“ fragte Exner. „Weiter nichts mehr. Ich wüßte nicht, was Sie noch interessieren könnte.“ „Sie sind doch aus Libín nicht gleich nach Hause gefahren. Mir geht es um Ihre dritte Geschichte.“ „Ich habe mich ein bißchen mit dem Schriftsteller Doktor Johan angefreundet. Da auf dem Campingplatz eine Hütte reserviert war, habe ich dort übernachtet. Aber das wissen Sie sicherlich schon. Ich war nicht in der besten seelischen Verfassung, das werden Sie wohl begreifen, nach diesem Streit mit Fräulein Čtvrtečková, und ich bemühte mich, ein bißchen zu vergessen.“ „Ich habe gehört“, bemerkte Exner, „daß Ihnen das recht gut gelungen ist.“ 287
„Ich habe nicht vermutet, daß die Kriminalpolizei Klatsch und Tratsch sammelt.“ „Ich in der Hauptsache“, gestand Exner schuldbewußt. „Einerseits hilft das einem manchmal, und andererseits habe ich dafür eine angeborene Vorliebe.“ „Ist das alles, was Sie hören wollen?“ fragte der Magister trocken. „Ich habe nämlich noch zu tun.“ „Ich auch“, sagte Exner. „Bis über beide Ohren.“ Er seufzte. „Die vierte Geschichte, Herr Magister: der Montagnachmittag.“ „Etwa von halb drei an, also seit der Zeit, da ich vom Mittagessen wiederkam, bis drei Viertel sechs – also bis zu der Zeit, da der Herr Magister Janda mir sagte, es sei Zeit, die Apotheke zu schließen – war ich hier in diesem Magazin. Leider kann das niemand bezeugen, weil ich jederzeit gehen und kommen konnte, ohne daß es jemand in der Apotheke bemerkte. Über den Hof und durch die Toreinfahrt. Ich habe also, wie Sie vermutlich sagen werden, kein Alibi. Aber ich war hier, und zwar den ganzen Nachmittag. Das Klosett“, er zeigte mit dem Daumen hinter die Regale in eine Ecke des Raumes, „ist dort. Wollen Sie es kontrollieren?“ „Das will ich nicht“, sagte Exner und stand auf. „Das genügt mir, Herr Magister.“ Er strebte zur Tür. „Übrigens“, sagte er schon beim Gehen, während Arnošt Maizl ihm folgte, „habe ich gehört, daß Sie einige Münzen aus Ihrer Sammlung verkauft haben.“ „Sie haben richtig gehört. Ich habe Duplikate verkauft. Und dann einiges, was ich nicht für besonders vorteilhaft gehalten habe. Mein Vater war zwar ein hervorragender Sammler, aber er hat auch viel Überflüssiges und Unwesentliches angekauft, das nur Platz in der Wohnung wegnimmt. Die Ansichten über das Sammeln von Münzen haben sich nämlich seit den Zeiten, da er anfing oder, besser gesagt, da mein Großvater zu sam288
meln anfing, wesentlich gewandelt. Die Sammlung entsprach nicht mehr der modernen Auffassung.“ Und Kapitän Exner nickte, denn ihm blieb nichts anderes mehr übrig.
110 „Hm“, machte der kleine Mann, sich mit seinen kurzen Fingern an der Sessellehne festhaltend. „Hm, Sie wurden offenbar falsch informiert, Genosse Kapitän. Die Kollegin Lautererová, also Renata Lautererová, arbeitet an unserem Theater nur auf Honorarbasis. Sie ist eigentlich bei der Agentur Prager Estradenkünstler beschäftigt. Bei uns ist sie nur für einige Vorstellungen vertraglich gebunden. Falls Sie die Verträge sehen wollen, die ich mit ihr abgeschlossen habe, würde ich den Ökonomischen Direktor rufen, und mit ihm …“ Exner schüttelte den Kopf. Er saß an einem runden Tischchen neben einem Pianino in einem Raum, dessen zwei Fenster größer waren als die Gesamtfläche dieses Kämmerleins, der Residenz des Künstlerischen Chefs des Großen Operettentheaters. Das war jener Mann, der sich in dem riesigen Renaissancesessel an dem ebenso riesigen Tisch fast verlor. Was die ganze Einrichtung des Zimmers war. Außer einem kleinen Fernsehapparat. Die Mattscheibe flimmerte. Die Fernsehkamera glotzte stumpf auf den zugezogenen Vorhang, und aus dem Lautsprecher drang das Pausengesumm. Der Künstlerische Chef Arno Borovička zeigte würdevolle Bereitschaft. Den Kapitän hatte er mit professionell zusammengekniffenen Augen besichtigt, als hätte er zu entscheiden, ob er ihn für My Fair Lady engagieren sollte oder nicht. „Die Kollegin Lautererová erfüllt ihre Pflichten, wie sie sich aus dem Vertrag mit unserem Theater 289
ergeben, ordnungsgemäß. Sie arbeitet diszipliniert, zu den Proben erscheint sie rechtzeitig und regelmäßig. Sie arbeitet willig und mit Initiative. Die künstlerische Leitung des Theaters hatte mit ihr bislang keinerlei Probleme. Wie Sie sicherlich wissen, wirkt sie auch in der heutigen Vorstellung mit“, und sein Zeigefinger wies auf das Fernsehbild, „so daß Sie sie in einer Weile sehen können. Aber Sie kennen sie offenbar.“ Michal Exner schüttelte den Kopf. „Ich besuche das Theater nicht so häufig“, gestand er schuldbewußt. „Ich meine von Reklamefotos, besonders der Firma Dermacol. Sie war nämlich gelegentlich auch als Fotomodell tätig.“ „Ein tüchtiges Mädchen“, bemerkte Exner. „Ja“, stimmte der Künstlerische Chef des Großen Operettentheaters zu, „sie ist fleißig. Auch hier an unserem Theater.“ Er war ein vollendeter Gentleman. Verstand sich zu beherrschen und nach nichts zu fragen. Das Klingelzeichen ertönte, das Stimmengesumm im Lautsprecher verstummte, man hörte, wie die Instrumente gestimmt wurden. Arno Borovička musterte Exner abermals. Er war offenbar zufrieden mit dessen dunkelblauem Anzug, dem hellblauen Hemd und den schwarzen Schuhen. „Darf ich Sie in die Direktionsloge einladen?“
111 Sie gingen über einen Flur, der akustisch so gut abgedämpft war, daß sich selbst das Heulen der armen Seelen im Fegefeuer zwischen den perforierten Wänden und auf den Teppichen in ein bedeutungsloses Flüstern verwandelt hätte. Am Ende öffnete Arno Borovička lautlos eine Tür, 290
flüsterte eine Entschuldigung, er werde vorausgehen, und führte Exner durch einen dunklen Gang zu einer weiteren Tür, die in einen ebenso dunklen Kotier führte, die Direktionsloge. Das Orchester drunten toste, daß Michal Exner erschrak, die Scheinwerfer beleuchteten den Vorhang, dann knackte es in ihnen, und der Vorhang flog auf. Nach der Dekoration zu schließen, spielte sich der letzte Akt des Musicals in einem besseren Lokal westlicher Provenienz ab, an der Küste eines Meeres, vielleicht des Mittelmeeres. Dort war eine Bar mit Hockern, ein Tanzparkett, ein Stück weiter ein Bassin, aus der Loge sah man die Latten, die den kaschierten Rand stützten, auf den Hockern an den Tischchen saßen frohgestimmte Gäste, sie begannen zu singen. Dann hörten sie für eine Weile auf, ein paar Leute auf den Barhockern sagten einander etwas Wesentliches zur Handlung – was man allerdings ohne Kenntnis der vorherigen Zusammenhänge nicht verstehen konnte –, und die Gäste des Lokals fingen wieder zu singen an. Die Handlung bewegte sich schwindelerregend vorwärts, denn aus den Seitenkulissen tanzten Mädchen heraus, die gesonnen waren, ihr ausgelassenes Gehopse auf der Bühne fortzusetzen. Aber auch das reichte noch nicht. Weitere Mädchen, noch spärlicher bekleidet als die vorherigen, kletterten plötzlich auf Leitern, die von den Zuschauern im Parkett allerdings nicht gesehen werden konnten, auf den Rand des Bassins und schlossen sich denen auf dem Tanzparkett in fröhlichem Reigen an. Zuletzt stieg aus dem Bassin die Anmutigste aller Anmutigen, die Schönheit aller Schönheiten. Sie brauchte sich gar nicht in den Hüften zu wiegen, es genügte, wenn sie ging. Der Künstlerische Direktor stieß Exner mit dem Ellbogen an. „Die Lautererová“, flüsterte er. Exner nickte. 291
Die Schönheit aller Schönheiten, mit langen Schenkeln und flachem Bauch, gesellte sich den herumtollenden Mädchen zu. Sie umringten sie fröhlich hüpfend in verschiedenen Gruppierungen. „Sie sieht aus, was?“ bemerkte Arno Borovička. „Hm“, stimmte Exner zu. „Aber ist sie nicht ein bißchen steif? Hat sie überhaupt die Tanzfachschule oder einen Kursus absolviert?“ „Gesellschaftstanz“, sagte der Künstlerische Chef. „Aber die braucht das nicht. Sie ist, wie Sie selbst sehen, auf der Bühne ohnehin nur zum Anschauen da.“ „Na ja“, stimmte Exner zu. Die Mädchen zerstreuten sich, das Orchester spielte ein kleines Finale. Renata Lautererová ging an allen Tischen vorbei, blieb eine Weile an der Bar stehen, um sowohl die Gäste als auch den Barkeeper zu begrüßen, und trug ihre Schönheit davon in die Kulissen. „Das ist alles?“ fragte Exner. „Werde ich mit ihr sprechen können?“ „Falls Sie erlauben, noch nicht. Sie hat noch einen Auftritt in einem anderen Kostüm im Finale. Selbstverständlich könnte ich es Ihnen schon jetzt ermöglichen, aber Sie werden verstehen, diese Vorstellung ist teuer, das Theater fast ausverkauft, und wenn zufällig Fräulein Lautererová nach dem Gespräch mit Ihnen indisponiert wäre, könnten unvorhergesehene Probleme entstehen. Sie werden mich gewiß verstehen.“ „Aber ja doch“, stimmte Exner zu. Unten erzählte man sich wieder was auf der Bühne, man scherzte über etwas, was sich offenbar in den vorhergehenden zwei Akten abgespielt hatte, das Publikum lachte. Exner rieb sich die Nase. „Ich werde unten warten“, sagte er. „Ich habe bemerkt, daß der Pförtnerloge gegenüber ein Rauchsalon ist. Richten Sie dem Fräulein Lautererová bitte aus, daß ich sie dort erwarte.“ „Natürlich, sehr gern, Genosse Kapitän.“ 292
112 Die Türen zum Klub für die Mitwirkenden und zum Rauchsalon lagen der Portierloge gegenüber. Der Künstlerische Chef entschuldigte sich bei Exner und eilte seinen Pflichten nach. Kapitän Exner kaufte sich an der Bar einen Juice, setzte sich in einen Sessel der Tür gegenüber und wartete geduldig. Aus dem Lautsprecher über seinem Kopf klang die Musik des Musicals, unterbrochen von Hinweisen und Aufforderungen des Inspizienten. Die Vorstellung endete in einem fröhlichen Finale des Orchesters und dem Beifall im Zuschauerraum. Als erste flüchteten die Orchestermusiker aus dem Theater. Sie banden sich die Fliegen ab, und die über die Fräcke geworfenen Mäntel wehten hinter ihnen her. Dann trudelten weitere Mitwirkende ein, zuerst der männliche Teil des Ensembles (einige gönnten sich einen Drink an der Bar), dann der weibliche, die Tänzerinnen, Sängerinnen, viele noch mit der notdürftig beseitigten Schminke. Niemand beachtete Exner, In diesem Milieu und in dem Anzug, den er trug, glich er einem übriggebliebenen Operettentenor aus den dreißiger Jahren. Eigentlich schien er hierherzugehören. Das alles war in Ordnung, bis auf die Kleinigkeit, daß es mit Renata Lautererová irgendwie lange dauerte. Er trank seinen Juice aus, ging zur Pförtnerloge. Er bat die mürrische Frau darin, sie möge so freundlich sein und in der Garderobe anrufen. Er erfuhr, daß das Fräulein Lautererová längst gegangen sei. Er ersuchte die Frau, Arno Borovička anzurufen. Dort hob keiner ab. Er forderte sie als letztes auf, obwohl sie schon zu schnauben begann, sie solle die Kolleginnen des Fräulein Lautererová, soweit sie noch in den Garderoben seien, fragen, ob sie wirklich das Theater verlassen habe. Eine Kollegin fand sich. Sie ging gerade an der Pfört293
nerloge vorbei, und als sie hörte, wovon die Rede war, blieb sie stehen. Sie schob mit einem Lächeln die blonden Haare zurück, winkte Exner mit überaus langen Wimpern zu: „Aber Renata“, sprach sie, „ist doch schon längst weg. Sie haben sie nicht gesehen?“ wunderte sie sich und verließ mit kleinen, gleitenden Schritten ihre Arbeitsstätte. Er wartete ein Weilchen, damit es nicht aussah, als verfolge er sie. Er trat auf das Trottoir vor dem Gebäude. Unter dem kleinen Vordach blieb er stehen und schaute sich um. Das Mädchen, das ihn informiert hatte, schritt langsam zur Metrostation. Die Parkplätze längs des Trottoirs waren fast leer. Sein Wagen stand verlassen, weit weg an der Kreuzung. Der Widerschein einer Lampe auf der Kühlermaske war matt und glich einem Grinsen. Am Straßenrand gegenüber parkte ein weißer Mercedes, älteres Baujahr, aber anscheinend noch gut erhalten. Am Lenkrad saß ein junger Mann, er hatte die Scheibe heruntergedreht und rauchte. Immer wieder blickte er zum Bühnenausgang, danach auf die Uhr. Exner strebte zu ihm. Als er an den Wagen trat, schaute ihn der junge Mann an und schüttelte den Kopf. „No Taxi.“ „Das seh’ ich“, sagte Kapitän Exner, „Herr Linhart. Ich glaube, Herr Zdeněk Linhart.“ „Ja, der bin ich. Was gibt’s?“ „Sie warten offenbar auf Fräulein Lautererová.“ „Kann sein“, räumte Zdeněk Linhart ein. „Ich auch“, gestand Exner. „Ich fürchte nur, sie kommt nicht.“ „Läßt sie mir was ausrichten?“ „Ja“, sagte Exner dreist. „Sie ist mit einem Taxi heimgefahren. Sie sollen mich zu ihr bringen.“ „Zu ihr?“ „Allerdings.“ 294
„Nicht schlecht ausgedacht.“ Linhart ließ sich nicht hinters Licht führen. „So’ne gab’s in Massen, Herr!“ „So’ne wie mich“, sagte Kapitän Exner und zückte den Dienstausweis, „gibt’s nur einen. Lesen Sie! Haben Sie? Fahren wir!“
113 „Die Asche!“ Michal Exner zeigte auf die Zigarette in Linharts Hand. „Passen Sie auf, daß sie Ihnen nicht auf die Hose fällt.“ Linhart streckte die Hand aus dem Fenster, und die Zigarette fiel auf den Asphalt. Sie fuhren los, und der alte Motor klingelte mit seinen ausgeleierten Ventilen. „Sie brauchen sich nicht zu beeilen“, sagte Exner und rückte sich bequem zurecht. „Wir werden ein bißchen plaudern.“ Zdeněk Linhart hätte gern gewußt, worüber, aber er fragte lieber nicht. „Wir werden uns unterhalten“, fuhr Kapitän Exner fort, „und zwar zuerst darüber, was Sie am Montagnachmittag getan haben.“ „Da war ich bis sieben auf Arbeit.“ „Und wo?“ „Im Betrieb Metallschrott in Běchovice.“ „Und da haben Sie den ganzen Nachmittag Ihren Arbeitsplatz nicht verlassen.“ „Genau. Der Pförtner ist wie ein Wachhund.“ „Das ist er“, bestätigte Exner. „Aber um nicht überflüssig herumzuschwatzen, ich habe bereits mit dem Herrn Brožek gesprochen. Dies zum ersten. Und zweitens hab’ ich mir ein bißchen die Fabrik angesehen und den Pförtnerwachhund kennengelernt. Hab’ auch den Zaun beschnuppert. Hauptsächlich in Richtung zur Bahnstrecke.“ 295
„Na und?“ „Das ist es ja gerade. Damit wir nicht nur überflüssig schwatzen. Falls Sie begriffen haben – wen und was ich suche.“ „Na, vielleicht …“ „Es wäre für Sie und unser gegenseitiges Verhältnis von Vorteil, wenn Sie wüßten, was …“ „Das würde ich gern wissen, Herr … Genosse …“ „Ich suche einen Raubmörder, Herr Linhart“, sagte Kapitän Exner schlicht. „Das ist mein Beruf. Achtung! Gleich ist grün, fahren wir?“ Als sie über die Kreuzung gefahren waren, sagte Zdeněk Linhart: „Gut. Ich war nicht den ganzen Nachmittag dort. Bin vor sieben wiedergekommen. Etwa um halb sieben.“ „Und wann sind Sie gefahren?“ „Nach zwei. Genau weiß ich es nicht.“ „Und wo sind Sie gewesen?“ „Eingekauft habe ich, Lebensmittel. Und dann …“ „Und dann?“ „Ich kenne eine Schwester im Krankenhaus. Ich war bei ihr wegen Diasepam.“ „Für Sie?“ „Für Fräulein Lautererová. Sie kann schlecht schlafen.“ „Weiter?“ „Dann bin ich zu Fräulein Lautererová gefahren, und dort war ich bis fünf. Etwa bis fünf.“ „Mit ihr?“ „Allein.“ „Da haben Sie nur so rumgesessen, was gelesen, oder?“ „Saubergemacht hab’ ich.“ „Was?“ „Saubergemacht. Ich helfe nämlich Fräulein Lautererová. Kaufe für sie ein, mache sauber, und wenn sie wohin muß, fahre ich sie ins Theater und bringe sie von dort heim.“ 296
„Gegen Entgelt?“ „Ja.“ „Und wieviel zahlt sie Ihnen?“ „Je nachdem. Vlasta Brožek hilft mir manchmal.“ „Als Freund umsonst?“ „Ja.“ „Wenig Lohn?“ „Meiner?“ „Ja, Ihrer.“ „Es geht. Aber jeder verdient sich gern was dazu. Von der Heizungsbauerei hab’ ich in der Arbeitszeit genug. Und das andere macht mir Spaß.“ „Na ja, na ja“, stimmte Exner dümmlich zu. „Das würde mir auch Spaß machen, mit Fräulein Lautererová.“ Er legte Linhart die Hand auf die Schulter. „Nur, mein lieber Freund, ist das alles Geschwätz. Daß Sie für sie den Schlappenschammes machen, das würde ich glauben. Aber die Form des Entgelts kommt mir seltsam vor. Seien Sie sich endlich im klaren, mein lieber, schlauer, geriebener Handwerker, hinter was ich her bin. Oder soll ich es wiederholen?“ „Ich hab’ nirgends die Finger drin.“ „Das habe ich auch nicht behauptet. Mit keinem Wort. Aber ein bißchen mehr Wahrheit, das möchte ich. Ich krieg’ sie ja doch heraus, das ist mein trauriges Schicksal.“ „Hören Sie, Genosse Kapitän … Sie wissen doch selber, was für hübsche Mädels auf der Welt rumlaufen.“ „Dann und wann bemerke ich’s“, gab Kapitän Exner zu. „Ein Bursche wie ich hat bei einer schönen Frau, die ihm gefällt, keine Hoffnung, da kann er sich zerreißen.“ „Das doch wohl nicht.“ „Doch“, sagte Zdeněk Linhart im Brustton der Überzeugung. „Bei einer wirklich schönen Frau nicht, das sage ich geradeheraus. Jungs wie mich sehen die nicht. 297
Das sage ich nicht mit Trauer, das konstatiere ich nur. Na gut, ich erniedrige mich. Ich habe es schon dreimal ausprobiert. Jedesmal hat es geklappt. Auf Ehre und Gewissen, jedesmal.“ „Und was?“ „Dienste.“ „Versteh’ ich nicht.“ „Ich verrichte Dienste. Dienste aller Art. Ich seh’ so eine Frau, die nicht zu übersehen ist. Ich kann nicht zu ihr gehen und sie zu einem Kaffee einladen. Die könnte über mich stolpern, da würde sie mich nicht sehen. Und die Einladung hätte sie in drei Sekunden vergessen. So einer Frau biete ich meine Dienste an. Sie ist vielleicht ein Flittchen, aber darauf kommt’s nicht an. Sie sind schön, sage ich geradeheraus, Sie verdienen es, daß man Ihnen dient. Ich werde alles für Sie tun, was Sie brauchen. Ich repariere den Fernseher, mache die Wohnung sauber, fahre Sie umsonst, wohin Sie nur wollen. Besorge jeden Handwerker. Wasche Ihre Wäsche. Kaufe für Sie ein. Alles umsonst. Nur deshalb, weil Sie schön sind und das verdienen.“ „Eine andere Bedingung stellen Sie nicht?“ „Nein.“ Kapitän Exner versank ins Grübeln. Und dann sagte er: „Diese andere Bedingung – mit der rücken Sie später heraus?“ „Ja. Ich hab’s schon dreimal probiert. Nur beim letzten Mal mußte ich es von mir aus verlangen. Eine war verheiratet. Für die habe ich’s zwei Jahre gemacht. Dann hat sie sich scheiden lassen und hat nach Deutschland geheiratet.“ „Sieh da.“ „Schöne Mädchen haben es im Leben leicht“, philosophierte Zdeněk Linhart, „besonders wenn sie kalt sind. Und das sind sie immer, Genosse Kapitän.“ Exner nickte. „Wie ich bereits sagte, habe ich nicht so 298
viel Erfahrungen. Und mit dem Dienst bei Fräulein Lautererová sind Sie zufrieden?“ „Im großen und ganzen ja.“ „Und hat es geklappt?“ „Na ja … geklappt schon, nur …“ „Nur?“ „Sie hat viel zu tun. Dadurch auch ich. Und fest steht, daß ich auf dem letzten Platz rangiere. Hat sie sich in was verwickelt?“ „Vielleicht nicht“, erwiderte Michal Exner unbestimmt. „Bis jetzt nicht, so scheint es mir. Aber ich würde mich gern mit ihr unterhalten.“ „Sie ist Ihnen aus dem Theater entwischt …“ Er stockte und korrigierte sich: „Sie ist Ihnen im Theater ausgewichen?“ „Ungefähr so.“ Sie hielten vor einem langen Haus. „Dort ist es“, sagte Linhart und zeigte auf ein erleuchtetes Fenster. „Sie ist zu Hause. Aber Sie müssen um den Block herumgehen. Ich bin hintenrum gefahren, um zu sehen, ob bei ihr Licht brennt.“ „Ich danke Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit, aber seien Sie so nett, und fahren Sie noch mit mir um den Block herum.“ „Bitte sehr.“ Sie hielten vor dem Eingang. Linhart schaltete auf Standlicht um, den Motor ließ er laufen. „Hier ist es. Fünfter Stock.“ Exner hielt die offene Hand hin. „Die Schlüssel.“ „Wo soll ich die hernehmen?“ „Aus der Tasche“, belehrte ihn Exner. „Oder im Handschuhfach. Wo sonst?“ „Fräulein Lautererová …“ „… hat Ihnen verboten, den Schlüssel ohne ihre Erlaubnis zu gebrauchen. Aber haben tun Sie einen. Sie vergessen immer, um was für einen Fall es geht. Übri299
gens – was haben Sie am Montagabend und Dienstag früh getan?“ „Montag war ich zu Hause, Dienstag auf Arbeit.“ „Nur auf Arbeit?“ „Ich habe im Wochenendhaus von Fräulein Lautererová aufgeräumt.“ „Ach“, wunderte sich Exner, „sie hat ein Wochenendhaus?“ „Ja, in Klinec. Das ist hinter dem Cukrák, wenn Sie …“ „Kenne ich. Ist es ihr Haus? Wirklich ihres?“ „Sie sagt es. Ich bin einige Male dort gewesen. Aufräumen, paar Kleinigkeiten hinbringen, Holz hacken.“ „Fährt sie oft hin?“ „Nein.“ „Waren Sie allein?“ „Vlasta hat mir geholfen. Vlasta Brožek.“ „Warum zu zweit?“ „Er hilft mir, ich ihm. Er hat ein Schränkchen für den Herrn Sadílek weggebracht. Das ist ein alter Herr aus ihrem Haus. Ich habe ihm mit dem Schränkchen geholfen, er mir mit dem Aufräumen.“ Exner machte die Tür auf. „Prima. Warten Sie bitte hier“, sagte er, richtete sich die Krawatte und stieg aus.
114 Um diese Stunde war es zwischen den Blocks der neuen Siedlung menschenleer, die Fenster waren dunkel. Nur da und dort schlug sich ein törichter Dichter die Nacht um die Ohren oder ein Betrunkener, ein einsamer Leser oder Liebesleute, die vergessen hatten, daß sie Werktätige waren und früh um fünf auf den Beinen sein mußten. An den Mülltonnen huschte eine Katze vorbei. Es 300
konnte auch eine Ratte sein. Den Ratten bekommt, wie es scheint, eine Zivilisation voller Kanäle. Nur wenige Straßenlaternen brannten. Der verglaste Hauseingang war schwarz wie der schimmernde Rachen des ewigen Verschwindens. Der von einer schwachen Glühbirne beleuchtete Aufzug stieg langsam hoch und stieß in jeder Etage einen Seufzer aus. Seine Wände waren mit kaltem Sprelacart getäfelt, nichtsdestoweniger hatte die Sehnsucht nach schöpferischem Tun und künstlerischer Äußerung derer, die sich darin fahren ließen, auch dieses schwierige Material bezwungen. Es waren vor allem, wie das die Regel ist, Aufschreie der Einsamkeit und sexuellen Unsicherheit. Im fünften Stock seufzte der Aufzug ein letztes Mal und blieb stehen. Das Blinklicht am Schalter blinzelte rot, aber vergeblich, denn die Lampe in dieser Etage brannte nicht. Exner ging von Tür zu Tür und leuchtete mit seinem Feuerzeug. Sie legte keinen Wert auf Förmlichkeit. In den Rahmen für das Namensschild war nachlässig ein Papier gesteckt, und darauf stand mit Druckbuchstaben:
LAUTEREROVÁ Er klingelte. Das heißt: Er drückte auf den Klingelknopf. Es erschallte ein leises Knacken und sonst nichts. Die Klingel war abgestellt oder funktionierte nicht. Kapitän Exner kratzte sich nachdenklich im Nacken. Schon bog er den Zeigefinger, um anzuklopfen. Leises Wasserrauschen drang an sein Ohr. Er stutzte. Eine Weile spielte er mit dem Schlüsselbund, bis er den richtigen fand. Leise sperrte er auf. Im Korridor brannte Licht. Licht brannte auch hinter der verglasten Zimmertür. Das Wasserrauschen kam aus der offenen Tür des Badezimmers. 301
Vorsichtig zog er den Schlüssel aus dem Schloß, trat in die Wohnung und schloß behutsam hinter sich die Tür. Die weiße Schranktür im Korridor stand gleichfalls offen, an ihr hing ein Kleid. Er rieb sich die Nase. Denn das Rauschen war eine Dusche. Er zuckte unwillkürlich mit den Schultern wie ein Mensch, der sich entschlossen hat, daß er, soweit es um die Pflicht ging, vor nichts zurückschrecken durfte. Er machte die zwei Schritte zur Badezimmertür und warf einen Blick hinein. Sie stand ihm gegenüber in der Wanne. Die Haare in einem Turban aus einem weißen Handtuch gebunden. Das war – abgesehen von einer kleinen goldenen Halskette – ihre einzige Bekleidung. Selbstverständlich hatte Arno Borovička recht gehabt. Ihr Exterieur war einschließlich des Muttermals rechts unter dem Nabel makellos, vielleicht sogar zu vollkommen. Von dem Muttermal, fiel Exner ein, kann das Publikum leider nichts haben. Nachdem sie sich das Gesicht abgespült hatte, öffnete sie die schokoladenbraunen Augen. Die Brause fiel ihr aus der Hand, und sie kreischte auf. Die Brause hüpfte durch die Wanne und spritze nach allen Seiten. Er trat einen Schritt zurück und suchte Deckung hinter der Tür, um nicht besprengt zu werden. „Verzeihen Sie“, sagte er, „ich habe nicht geahnt, Sie gerade so anzutreffen. Aber mich freut es. Meine Rache für Ihre Flucht aus dem Theater.“ Er streckte die Hand aus seinem Versteck hervor und zeigte auf die Brause. „Sie können weitermachen. Im Nacken haben Sie noch Seife. Und auch auf der Hüfte. Vielleicht auch am Rücken, aber das hab’ ich nicht gesehen. Ich gehe jetzt ins Zimmer und warte dort auf Sie.“ Er beugte sich zurück, machte die Wohnzimmertür 302
auf und sog die Luft ein. „Ausgezeichnet“, sagte er, „das ist die Wohnung eines Rauchers. Pardon.“ Er drehte sich um und mußte unwillkürlich lachen, denn sie grapschte gerade auf dem Boden der Wanne nach dem hüpfenden Brauseschlauch und warf einen erbosten Blick auf ihn. Ihre himmlische Schönheit blieb im Hintergrund. Auf dem Boden der Wanne in der Hocke, mit den Händen um sich tastend, war sie ein wütendes Mädchen. „Ich hab’ mich noch nicht vorgestellt: Kapitän Exner. Kriminalpolizei.“
115 Bevor er ins Zimmer trat, warf er einen Blick ins Schlafzimmer. Er knipste das Licht an. Außer einer aufgebetteten Spielwiese, einem weißen Toilettentischchen und einem blauen zottigen Teppich, auf dem man nicht geht, sondern in dem man bis zu den Knöcheln versinkt, war dort nichts. Das heißt: An der Wand drei Reklameplakate von Dermacol. Mit dezenten Porträts von Renata Lautererová. Im Wohnzimmer strahlte ein Kristallüster. Er hing über einem Perserteppich und ausgesuchten Möbelstücken, Antiquitäten. Und er leuchtete über ein paar Bilder, die keinesfalls Schmierereien waren. Er betrachtete eines nach dem andern. Anerkennend nickte er. Der künstlerische Berater des Fräulein Lautererová war kein Stümper. Er setzte sich in den Sessel im Winkel. Auf dem Tisch lag eine offene Schachtel Zigaretten, er nahm sie in die Hand, beschaute sich die Marke, und wieder war er zufrieden und legte die Schachtel zurück. Aus der Tasche holte er seine Schachtel der gleichen Marke und zündete sich eine mit einem Streichholz an, auch wenn er nicht daran zweifelte, daß das auf dem Tischchen liegende 303
Feuerzeug nicht nur funktionierte, sondern wirklich aus Gold war. Sie tauchte zuerst hinter der verglasten Tür auf. Immer noch nackt, man sah, wie sie den Schrank öffnete und etwas Rotes hervorholte. Dann warf sie den weißen Turban ab und verschwand für längere Zeit in jenem Teil des Korridors, den er vom Sessel aus nicht sehen konnte. Sie trat ein wie der Satan selber, bereit, ihn zu verführen und dann in die tiefste Hölle zu stürzen. Ihre Haare strahlten im Widerschein des Lüsters, der lange rote Morgenrock war selbstverständlich mit einem Gürtel zugebunden, aber ziemlich nachlässig. Sie strebte geradewegs zum Telefon. „Wen wollen Sie anrufen?“ fragte er. Das Telefonbuch interessierte sie dreimal mehr als Kapitän Exner. „Die Polizei“, sagte sie. „Das darf man doch nicht, ohne Erlaubnis in eine Wohnung eindringen. Womöglich noch eine Vergewaltigung versuchen.“ Sie hob den Hörer ab. Streckte die andere Hand zur Wählscheibe. Einen Augenblick zögerte sie. „Wählen Sie schon“, ermunterte er sie. Er diktierte die Nummer. „Das ist die beste, da kriegen Sie gleich Verbindung. In zehn Minuten sind sie hier, wie von Furien gehetzt.“ „Warum haben Sie mir Ihren Dienstausweis nicht gezeigt?“ Immer noch interessierte sie die Wählerscheibe des Telefons, die sie nicht aus den Augen ließ. „Weil ich Angst hatte.“ „Angst?“ „Ja, daß Sie ihn mir naß machen.“ Er griff in die Tasche. „Sehen Sie, das ist er.“ Er klappte das Büchlein auf. „Legen Sie einstweilen den Hörer auf, treten Sie näher, und schauen Sie sich ihn an.“ Den Hörer legte sie auf, aber ansonsten gehorchte sie 304
nicht. Sie nagte eine Weile auf der Unterlippe, zweifellos dachte sie nach. Und mit diesem Ausdruck begab sie sich zu dem Sessel, der Exner gegenüberstand. „Gut“, sagte sie. „Worum geht’s, Herr … Herr …“ „Kapitän Exner.“ „Was wollen Sie von mir, Herr Kapitän?“ fragte sie und beugte sich zu ihm. „Würden Sie mir eine Zigarette reichen?“ „Gern. Eine oder die ganze Schachtel?“ „Wie es sich gehört, Herr Kapitän.“ Er bot ihr also aus der offenen Schachtel an und gab ihr Feuer mit ihrem eigenen Feuerzeug. „Ein Kaffee wäre nicht schlecht“, sagte er dreist. „Was?“ „Ich habe gesagt“, wiederholte Kapitän Exner sanft, „ein Kaffee wäre nicht schlecht. Ich bin seit dem Morgen auf den Beinen und habe letzte Nacht wenig geschlafen. In den Händen und den Augen habe ich Hunderte Kilometer, und mein Kopf ist wie ein Wasserfaß, das überläuft. Ein paar Dinge habe ich mir angehört, und von ein paar Dingen bin ich ganz durcheinander.“ „Wirklich?“ „Ja. Und dann passiert es mir obendrein, daß die Leute mir einen Lausbubenstreich spielen. Wie der Herr Arno Borovička und das Fräulein Lautererová.“ „Ich weiß von nichts. Von keinem Lausbubenstreich.“ „Sie halten es vielleicht für keinen Lausbubenstreich, aus dem Theater durch einen anderen Ausgang zu verduften, wenn Sie wissen, daß an dem, durch den Sie sonst das Theater verlassen, ein schon leicht erschöpfter Doktor beider Rechte wartet.“ „Ich verstehe Sie nicht, Herr Kapitän.“ „Manch einer hat eben ein schwaches Köpfchen“, erklärte Exner voller Verständnis. „Also ein Kaffee wäre nicht schlecht.“ „Und wenn er mir ausgegangen ist?“ 305
„Dann einen starken Tee.“ „Und wenn ich auch den nicht im Hause habe?“ „Dann Wasser aus der Leitung. Oder fließt das auch nicht? Eine Störung im Rohr? Oder die Nachtlieferung eingeschränkt?“ Sie stieß einen leisen Seufzer aus wie jemand, der gezwungen ist, sein ganzes Leben Roheiten nicht nur ohne die Chance einer Vergeltung zu erdulden, sondern auch ohne die geringste subjektive Möglichkeit, sich zu rächen. Sie neigte den Kopf und ähnelte in diesem Augenblick der schmerzensreichen Gottesmutter. Sie stand auf, als trüge sie auf den Schultern die Last des Großen Operettentheaters, obendrein noch beschwert durch die Sorgen des Künstlerischen Chefs. Und mit langen Schritten schwebte sie in die anliegende Kochnische. Das Gas knallte leise und zischte dann. „Nes? Gewöhnlich? Espresso?“ „Wenn ich die Wahl habe: ein starker Espresso.“ Er erhielt ihn in Karlsbader Porzellan mit Goldrand. „Er ist gesüßt“, bemerkte sie. Er kostete, lächelte zufrieden, nahm noch einen Schluck. „Prima“, sagte er. „Darf ich rauchen?“ „Wie Sie wollen. Und wenn Arsen im Kaffee ist?“ „Im Kaffee erkenne ich es mit Sicherheit“, versicherte er ihr. Bequem lehnte er sich im Sessel zurück und sah sich im Zimmer um. „Schlecht leben Sie nicht, Mädchen.“ „Verzeihen Sie, Herr Kapitän“, sagte sie und spielte das stille Lämmchen, „hat Ihnen schon jemand gesagt, daß Sie … daß Sie ein bißchen übertreiben …“ „Aber ja, viele Leute. Das ist Schicksal. Ihnen hingegen hat noch niemand gesagt, daß Sie, was das Tanzen betrifft …, ein bißchen … unbeholfen sind?“ „Das hat noch niemand gewagt.“ „Zweifellos auch nicht gedacht.“ „Auch nicht gedacht.“ 306
„Das ist gut“, sagte Michal Exner lächelnd. „So ist es mir also doch einmal gelungen, der erste und einzige zu sein. Das widerfährt mir nicht oft.“ Ihr Nacken wurde steif. „Sind Sie uneingeladen eingebrochen, um mir Liebenswürdigkeiten zu sagen?“ „Da irren Sie. Ich bin gekommen, um einen Raubmord aufzuklären“, sagte er trocken und griff nach der Kaffeetasse.
116 Es stand fest, daß sie sichtlich erbleichte. Und der Rauch aus der Zigarette, die sie in der Hand hielt, erzitterte. „Ich verstehe Sie nicht“, sagte sie. „Sie verstehen mich genau“, versicherte er ihr. „Nur denken; Sie jetzt angestrengt nach, um welchen Mord es sich handelt und welches die Wege sind, die von ihm zu Ihnen führen.“ „Sie haben recht“, sagte sie nach einer Weile. „Es ist so. Wenn Sie mir andeuten könnten …“ „Was zum Beispiel?“ „Zumindest, worum es geht, wann es passiert ist und wen Sie verdächtigen …“ „Das kann ich“, sagte er naiv. „Ich weiß schon eine ganzem Menge. Nur über Sie fast gar nichts, absolut nichts. Absolut“, wiederholte er, weil er an diesem Wort offenbar Wohlgefallen gefunden hatte. „Absolut nichts.“ „Und was möchten Sie wissen?“ „Was Sie zum Beispiel am Montagnachmittag und Montagabend getan haben. Wo Sie waren und wer das bezeugen kann.“ Sie klapperte mit den langen Wimpern. Schloß die Augen. „Am Montagnachmittag …“ Sie wollte sich und 307
die Welt überzeugen, daß sie nachdachte. Er ließ sie dabei und schwieg, um sie nicht zu stören. „Zu Hause war ich, hier. Allein, sicher. Dann auf der Probe im Kabarett, dort haben mich eine Menge Leute gesehen.“ „Von wann bis wann?“ „Die Probe fing um drei an, dort gewesen bin ich bis sechs. Dann zum Abendessen.“ „Allein?“ „Nein. Mit einem Freund. Nachher hab’ ich kein Alibi. Bis zum Morgen hab’ ich kein Alibi.“ „Allein?“ „Ja.“ „Sie lügen.“ „Erlauben Sie, Herr Kapitän!“ „Wer ist der Herr?“ „Eine Zufallsbekanntschaft, er hat sich mir nicht vorgestellt.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Sie schwatzen, Fräulein Lautererová. Kaffee kochen können Sie prima, aber Ihr Geschwätz ist fürchterlich. Ihnen ist wohl noch nicht aufgegangen, warum ich hier sitze.“ „Gegen Ihre Frechheiten kann ich mich nicht wehren“, erklärte sie schroff, „aber ich versichere Ihnen, daß ich mit einem Raubmord nicht das geringste zu tun habe. Daß ich auch von keinem gehört habe, das heißt in den letzten Tagen, auch nichts in den Zeitungen gelesen habe. Ihr Verhalten ist den Umständen unangemessen, und ich kann einen Weg finden, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, Herr Kapitän.“ „An Ihren Wegen zweifle ich nicht“, sagte er aufrichtig. „Nicht eine Sekunde, Teuerste. Also wer war der Mann?“ „Welcher?“ „Montag abend und die Nacht.“ „Ich war allein.“ „Na gut. Und am Dienstag? Morgens, vormittags?“ 308
„War ich selbstverständlich zu Hause bis …“ „Wieder schwatzen Sie. Vormittags waren Sie bereits in Ihrem Wochenendhaus in Klinec.“ Sie biß die Zähne zusammen. „Dieser Scheißkerl Linhart!“ entfuhr es ihren halbgeöffneten Lippen. „Genau.“ Sie drückte die Zigarette aus, stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Diesmal war er überzeugt, daß sie dies nicht tat, um ihm ihre Schenkel zu zeigen. „Das war ein blöder Einfall.“ „Welcher Einfall war blöd?“ „Sein Angebot anzunehmen.“ „Welches?“ „Er bot sich mir als Diener an. Als Mädchen für alles. Er müsse sich was dazuverdienen. Ich benutzte seinen Wagen als Taxi, er machte sauber, hier und im Wochenendhaus. Die Sachen in die Reinigung und so.“ „Was kriegte er dafür?“ „Geld selbstverständlich.“ Er nickte ernst. „Sie waren also allein im Wochenendhaus?“ „Gewiß.“ „Blödsinn. Ich hab’ noch anderes zu tun, also halten Sie mich nicht auf.“ „Beschuldigungen müssen doch bewiesen werden, Herr Kapitän. Durch Zeugen. Ich kann mich schließlich verteidigen, dazu hab’ ich ein Recht.“ „Niemand beschuldigt Sie“, sagte er müde. „Auch mir ist das nicht in den Sinn gekommen. Um so weniger nach diesem Abend mit Ihnen. Sie sind durchtrieben und zu schön, als daß Sie sich durch Diebstähle was dazuverdienen müßten. Oder sogar durch Raubmord. Durch die Ermordung eines siebzehnjährigen Mädchens. Das ist mir bereits klar, liebe Renata, worum es sich bei Ihnen handelt. Also jetzt, Teuerste: Ein bißchen sollten Sie mir helfen. Ich sammle Tratsch, aber ich verbreite ihn nicht. 309
Ehebrüche interessieren mich nicht, ich muß manchmal davon wissen, aber ich schwatze darüber niemals und nirgendwo. Tratsch sammle ich nur, damit er mir hilft, nicht um ihn zu verbreiten. Noch nie ist Tratsch ins Protokoll gekommen. Ich hab’ auch kein Tonbandgerät.“ Er knöpfte das Jackett auf. „Auch keine Pistole. Sie können mich durchsuchen. Ich will nur ein paar Informationen. Übrigens: dem Herrn Linhart sind Sie im Wochenendhaus begegnet?“ „Nein. Ich hab’ ihm aufgetragen zu verschwinden, bevor ich komme.“ „Und das hat er getan?“ „Gewiß.“ „Hat Ihnen nur der Herr Linhart gedient?“ „Natürlich. Ich weiß nicht, wie Sie sich das vorstellen.“ „Natürlich. Genauso stelle ich es mir vor“, versicherte er ihr. „Genauso, wie Sie sagen. Also nur er?“ Sie dachte kurz nach. „Ja. Allerdings … manchmal … manchmal hat ihn sein Freund vertreten. Wenigstens hat er von ihm als von einem Freund gesprochen. Ich weiß nicht, wie er heißt, er ist jünger als Linhart. Noch in der Pubertät, mit einem plattgedrückten Gesicht. Und hervorquellenden wasserblauen Augen.“ Sie erschauerte. „Wenn Linhart nicht konnte oder sein Wagen nicht in Ordnung war, schickte er ihn. Zwei- oder dreimal.“ „War dieser andere auch manchmal in Ihrer Wohnung?“ „Nein. Obwohl … Ganz sicher kann ich es nicht behaupten. Ich habe Linhart zwar verboten, jemanden mitzubringen, aber ob er mir da wirklich gehorcht hat, dessen bin ich mir nicht sicher.“ „Wessen sind wir uns schon sicher“, bemerkte Kapitän Exner abgeklärt. „Ja, ja“, sagte er und trank den Kaffee aus. Sie hörte auf herumzumarschieren und nahm wieder im Sessel Platz. „Es ist schon recht spät“, bemerkte sie. 310
„Stimmt.“ Er nickte. „Ja, ich sollte gehen“, überlegte er laut, „ich müßte nur noch mal telefonieren.“ „Sie haben bestimmt zu Hause ein Telefon“, sagte sie und stand auf. „Hinausbegleiten muß ich Sie wohl nicht, Sie finden den Weg allein.“ „Ja, aber“, überlegte er weiter laut, „es ist eilig. Mit Verlaub“, sagte er, ging ans Telefon und wählte eine Nummer. „Oberleutnant Vlček“, sagte er. „Grüß’ dich, ich hatte fast gedacht, ich erwisch’ dich nicht mehr. Aha. Schon fällt es mir wieder ein, du solltest warten. Schlafen möchtest du? Ich auch. Ich bin zu Besuch“, sagte er ins Telefon. „Plaudere über alles mögliche. Stell dir vor, es gibt Menschen, die haben noch Geheimnisse.“ Für eine Weile verstummte er. Er blickte Renata Lautererová an, die vor dem Vorhang am Fenster stand, der rote Morgenrock wallte bis zu den Zehen. Die Hände hatte sie in die tiefen Taschen gebohrt, und das lange Haar fiel ihr auf die Schultern und weiter. „Aber“, fuhr er fort, „man hat gar nicht die Zeit, lange nachzudenken. Warte … nein, ich will dir noch was …“ Und Michal Exner lächelte mit einem Male, hielt mit der Hand die Sprechmuschel zu und fragte Renata Lautererová: „Wir machen einen heimlichen Ausflug, ja?“ Ohne die Antwort abzuwarten, nahm er die Hand von der Sprechmuschel. „Ich bin schon draufgekommen, was ich will. Nimm ein Auto, paar Jungs, das heißt mehrere Autos, das gibt mehr Licht, weil immer noch Nacht ist. Was? Daß sie grad angefangen hat?“ Er blickte auf die Uhr. „Stimmt, die Geisterstunde ist zu Ende, also hat die Nacht angefangen. Wir fahren paar Kilometer aus Prag hinaus, Richtung Zbraslav. Mein Auto steht vor dem Großen Operettenhaus, holt es mir ab. Dann kommt ihr her, Siedlung Pankrác. Der dritte Block von der Metro bergab. Wenn ich aus dem Fenster gucke, seh’ ich das Dach einer Kaufhalle. Vor dem Block steht ein weißer Mercedes. Alt, aber gut erhalten. Darin sitzt ein gewisser Herr Linhart. Während ich hier oben im 311
fünften Stock mit Fräulein Lautererová plaudere – hast du’s notiert? Ja, Lautererová, L wie Lukas, gut. Laßt mir ein Auto unten und fahrt mit diesem Linhart voraus. Nach Klinec. Er weiß, wohin. Ich muß hier noch was erledigen. Aber nein, ach wo, das ist eine sehr schöne, junge Dame.“ Und Michal Exner nickte: „Sündhaft schön. Und kalt und schlau. Also ich folge euch schnellstens.“ Er sah auf die Uhr. „In zwanzig Minuten könntet ihr von hier aufbrechen. Moment, vergiß nicht: den Detektor. Ende.“ Er legte auf und schaute sich zerstreut um. „Eine Kleinigkeit habe ich noch vergessen …“, sagte er in Gedanken. „Ich auch“, sagte Renata Lautererová. „Während Sie, Herr Kapitän, wie Sie sagten, keine Zeit hatten, nachzudenken, habe ich ein bißchen nachgedacht. Sova.“ „Und wer ist das?“ „Der Architekt Sova. Mit ihm war ich Montag abend und Dienstag früh beisammen. Und auch noch am Mittwochmorgen. Immerfort.“ Er nickte. „Der bekannte Architekt Sova?“ „Ja.“ „Lauter Funktionen, Ehrungen, Preise und so.“ „Und so.“ „Er ist geschieden?“ „Noch nicht. Aber er hat es vor.“ Sie trat ein bißchen zurück und zeigte auf den Sessel. „Setzen Sie sich noch mal.“ Er gehorchte, unwillkürlich blickte er in die Kaffeetasse. Sie war leer. „Noch einen Kaffee?“ „Ja, bitte einen gewöhnlichen. Hat er vor, Sie zu heiraten?“ „Das hoffe ich“, sagte sie trocken und ging den Kaffee kochen. Als sie ihn brachte, überdeckte der Kaffeeduft für einen Augenblick den Duft des teuren Parfüms. Wieder 312
nahm sie ihm gegenüber Platz, jetzt fast züchtig. Es gelang ihr ganz gut. Wiederum bot er ihr eine Zigarette an und gab ihr Feuer. „Das wäre ein Sprung nach vorn, was?“ „Wär’s“, gab sie zu. „Nichts dagegen. In ein paar Minuten sind meine Leute da, und wir fahren. Wir haben keine richterliche Genehmigung zur Durchsuchung Ihres Wochenendhauses. Erlauben Sie es? Bis ich mir eine Genehmigung besorge …“ „Ich bin einverstanden, ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Falls Sie natürlich erlauben, daß ich dabei bin.“ „Wenn Sie nicht vor Müdigkeit umfallen …“ „Ich falle nicht um“, erklärte sie ruhig. „Vielleicht sind Sie ein Betrüger. So wie Sie aussehen, bestimmt. Aber ich bin in Ihrer Hand.“ Er streckte die Hände vor, die Handflächen nach oben, und blickte darauf. „Das würde ich nicht sagen“, meinte er lächelnd und fügte hinzu: „Ich werde Sie festhalten und nicht loslassen. Wenn Sie nicht von selber fallen.“ Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte sie. Sie entblößte strahlendweiße Zähne, und der Kristallüster flackerte traurig wie die Kerze in der Hand eines Franziskaners.
117 Sie hatten aus dem lichten Waldrand und der Wiese davor einen Lunapark gemacht. Scheinwerfer beleuchteten das Wochenendhaus und seine Umgebung, die scharfen Schatten, die die Bäume warfen, schienen für alle Ewigkeit rabenschwarz zu sein. Auf der Terrasse stand, sich mit der linken Hand am Geländer und mit der anderen an seiner diesmal bren313
nenden Pfeife festhaltend, Oberleutnant Vlček, und seine hohe Stirn leuchtete wie der Vollmond. Eigentlich sah es aus, als strahlte dieser Glanz um den ganzen Kopf. Dann und wann blickte er ins offene Fenster. „Vorsichtig, Jungs“, mahnte er. „Und alles wieder schön auf seinen Platz. Damit die Besitzerin sieht, daß wir keine Vandalen sind, sondern anständige Leute. Wie die Gentlemen, Genossen.“ Die Besitzerin stand am Rande des beleuchteten Geländes, über das zwei Hunde mit ihren Hundeführern irrten (Vlček vertraute den Detektoren, aber im stillen dachte er eben doch, ein Hund sei besser) sowie ein Mann mit Kopfhörern und einem Kästchen auf dem Bauch, in der Hand einen Stock, ähnlich dem Saugrohr eines Staubsaugers. Die Augen der Besitzerin waren dunkler als die Schatten der Bäume. Der nächtliche Wind zerzauste ihr Haar. In Manchesterhosen, Halbschuhen und einer alten Wildlederjacke, in deren Taschen sie die Hände gebohrt hatte, sah sie kleiner aus. Um so mehr wirkte sie wie ein Phantom, wie der Satan, der sich in eine weibliche Schönheit verwandelt hatte, damit die Verführung zur Sünde gesichert sei. Zumindest fiel das dem Kapitän ein, der neben ihr stand, ebenfalls die Hände in den Taschen, und der sie immer wieder anschaute. In seinem dunkelblauen Anzug mit den glänzenden schwarzen Schuhen erschien er hier wie eine Vision aus den Mädchenträumen jener bewegten Nächte, in denen sich Schlaf mit Wachen und Träumen ablöst. In ihrem Rücken schimmerte matt der weiße Mercedes. In kurzen Intervallen leuchtete hinter der Frontscheibe das rote Pünktchen einer Zigarette auf. Es beleuchtete stets für einen Augenblick das Gesicht des Fahrers. Und obwohl es ein rotes Pünktchen war, schien das Gesicht dieses Mannes bleicher zu sein als der Mond im Zenit. 314
Aus dem Häuschen watschelte Leutnant Beránek heraus. Er kniff die Augen vor dem Licht der Scheinwerfer zu. „Sagt dem Franta, er soll herkommen.“ Franta war der Mann mit den Kopfhörern. Er tastete mit seinem Saugrohr die Veranda ab und trat dann in die Hütte, Leutnant Beránek folgte ihm. „Wie lange haben Sie das Häuschen?“ fragte Exner die Lautererová. „Vier Jahre.“ „Geerbt?“ „Nein, gekauft.“ „Geschenkt bekommen oder gekauft?“ „Müssen Sie alles wissen, Herr Kapitän?“ „Nein, aber ich bin neugierig.“ „Müssen Sie alles ganz genau wissen?“ „Nein, manches kann ich mir dazudenken. Soll ich in diesem Fall beim Dazudenken bleiben?“ Sie nickte. Leutnant Beránek tauchte wieder aus der Hütte auf. „He, Michal“, rief er, „etwas ist in der Decke. Meinst du, wir sollen ein Brett lösen?“ „Ist denn dort kein Dachboden?“ Er wandte sich an die Lautererová: „Ist einer da?“ Sie zuckte die Achseln. „Weiß ich nicht. Wohl kaum.“ Die Hütte hatte ein Pultdach, fast waagerecht, an den Rändern mit Blech beschlagen. Hinten war eine Rinne, und das Regenwasser wurde durch ein kurzes Rohr in eine Blechtonne abgeleitet. Vlček besah sich den Sims. „Dort ist so was wie ein Einstieg. Gibt’s hier eine Leiter?“ Sie fanden eine unter der Veranda, und Oberleutnant Vlček, die Pfeife im Mund, stieg hoch zu der Klappe. „Das ist mit zwei gebogenen Nägeln verschlossen. Werft mir ’nen Hammer ’rauf. Mit den Fingern krieg’ ich die nicht herum.“ Eine Weile bastelte er oben auf der Leiter herum, dann 315
reichte er eine Holzplatte hinunter, fünfzig mal sechzig Zentimeter. Unter dem Sims blieb ein schwarzes Loch zurück. „Dazu brauch’ ich ’ne Taschenlampe“, meinte Vlček und stieg herunter. Er gab einem der Mitarbeiter einen Wink. Dieser kletterte mit einem Scheinwerfer hoch. Das Kabel baumelte um seine Beine. „Wo soll das sein?“ rief er. „Rechts von dir“, schallte es aus der Hütte. „Anderthalb Meter nach hinten.“ „Dort reich’ ich nicht hin. Hier liegt Glaswolle. Gebt mir ’n Handschuh. Und eine Stange oder einen Stock.“ Renata Lautererová sah sich, wie es schien, ohne jedes Interesse das Schauspiel an. „Was ist Glaswolle?“ fragte sie. „Eine Wärmeisolierung“, belehrte Exner sie. Der Mann auf der Leiter zwängte sich bis zur Taille in das niedrige Dachgestühl. Den Scheinwerfer schob er vor sich her. Er glich einer schwarzen zappelnden Spinne. „Pfui Teufel“, fluchte er. „Anderthalb Meter, sagst du?“ rief er. „Ungefähr“, antwortete Franta von unten. „Nachgemessen hab’ ich’s nicht.“ „Hab’s schon“, ächzte die schwarze Spinne und schob sich aus dem Loch zurück. Für eine Weile hielt der Mann inne, er konnte wohl nicht umhin, sich anzuschauen, was er gefunden hatte. „Ist es nicht mehr dort?“ fragte er. „Nein“, rief Franta. „Jetzt ist es genau bei dir.“ „Ja“, sagte der Mitarbeiter und reichte dem Oberleutnant Vlček ein Päckchen herunter. „Gebt mir die Klappe ’rauf, ich mach’s wieder zu. Was es ist? Ein Kilo Nägel. Das haben die Zimmerleute liegenlassen.“ „Was suchen Sie eigentlich?“ fragte Renata Lautererová. „Nägel?“ „Einen Schatz“, erwiderte Exner trocken. Der Mitarbeiter mit dem Detektor trat aus der Hütte. „Das hätten wir“, sagte er. „Was bleibt noch übrig?“ 316
„Der Schuppen und der Abort“, sagte Oberleutnant Vlček. „Und dann offenbar der Wald in der weiteren Umgebung. Hat jemand eine Zigarette für mich?“ Von irgendwoher bekam er sie. Renata Lautererová lächelte, zum dritten Mal an diesem Tag. „Im Ernst“, sagte sie leise, „was suchen Sie, Herr Kapitän?“ „Im Ernst, einen Schatz“, erwiderte er.
118 „He“, rief Franta mit dem Detektor vom Aborthäuschen, „hier ist die zweite liegengelassene Tüte mit Nägeln.“ Oberleutnant Vlček stieg von der Veranda herab und ging hin, um es sich anzuschauen. Beránek stand in der Tür und rief nach drinnen: „Aufräumen, Jungs, damit das Fräulein Lautererová zufrieden ist.“ Vlček setzte sich die Kopfhörer auf und probierte selber. Er nickte. „Schieb den Teppich weg. Ein Luxus ist das, Teppich auf dem Scheißhaus. Drunter sind Bretter, stimmt’s? Licht!“ Er kniete sich hin und ließ das Licht in die Ritzen zwischen den Brettern fallen. „Nichts zu sehen.“ Er streckte die Hände nach den Kopfhörern aus. „Gib sie mir noch einmal.“ Wieder lauschte er. „Na ja. Beránek!“ „Was ist?“ „Komm, horch auch mal!“ Beránek hielt sich die Hörer ans Ohr. Franta fuhr mit dem Saugrohr hin und her, auf dem Fußboden und um die Schwelle des Aborthäuschens. „Na ja“, sagte Beránek. „Da ist was. Das muß man aufbrechen. Wir sollten fragen …“ Exner sah die Lautererová an. Sie nickte. 317
„Aufbrechen“, sagte er und trat zu ihnen. Sie folgte ihm. Die Mitarbeiter holten eine Brechstange und weiteres Licht. „Guck mal“, sagte einer, „die Nägel sind frisch eingeschlagen. Der Rost von den Köpfen ist abgeklopft.“ Kapitän Exner ließ sich auf ein Knie nieder. „Du hast recht. Also mach hin.“ Das Brettchen gab nach, und die Nägel ächzten. Beránek scharrte mit einem Pflöckchen die Erde weg, die mit Moos zusammen dort aufgehäuft war, das noch nicht Zeit zum Welken gefunden hatte. Darunter schimmerte Igelit. „Hier ist ein Beutel“, sagte Beránek. „Dann zieh ihn ’raus“, befahl Exner. Im Licht der Scheinwerfer hob Beránek die Hand mit einem Igelitbeutel, von dem Tannennadeln, Erde und Moos abfielen. Dann erhob er sich selber. „Da sind Plättchen drin“, sagte er. „Runde Plättchen.“ Und er reichte den Beutel Exner. Dieser wog ihn in den Händen. „Vorsicht“, sagte er, „daß er nicht aufreißt. Hat jemand eine Aktentasche da? Stochert noch ein bißchen drin ’rum.“ Sie stand hinter ihm. „Gott“, sagte sie leise, „was ist das?“ „Ich hab’s doch gesagt“, antwortete Exner. „Ein Schatz. Bischöfliche und andere Münzen. Civitas Libín.“ „Ich verstehe Sie nicht.“ Er beachtete sie nicht. „Nichts? Schaut unter dem ganzen Fußboden nach. Vlček, du bleibst hier, ihr setzt das dann wieder zusammen, räumt auf und so, Beránek, du kommst mit. Den Linhart nimmst du mit und schreibst seine Aussage nieder. Und das Fräulein Lautererová bringst du nach Hause. Mit ihr kannst du das Protokoll morgen schreiben.“ „Moment“, stoppte ihn Beránek. „Was wird aus der Schachtel?“ 318
„Aus welcher Schachtel.“ „Ich hab’ dir nichts von ihr gesagt?“ wunderte sich Leutnant Beránek, „hatte wohl keine Zeit. Also in der Hütte hab’ ich eine große Schachtel gefunden, von Damenstiefeln wohl. Die ist voller Medikamente.“ „Drogen?“ „Soviel versteh’ ich nicht davon“, gestand Beránek. „Das wird dir eher Doktor Buble sagen. Wie ich es sehe, sind es hauptsächlich Sedativa unterschiedlicher Sorten und Grade.“ Exner wandte sich an die Lautererová: „Die benutzen Sie?“ „Nein, nur selten.“ „Wozu denn die Vorräte?“ „Für meine Freunde.“ „Freunde“, flüsterte Exner, „oder Freundinnen?“ „Freunde, selbstverständlich“, erwiderte sie ebenso leise. „Falls Sie es nicht wissen, Herr Kapitän: Die Männer sind oft weniger widerstandsfähig als die Frauen.“ „Ihre Freunde“, fuhr er ebenso leise fort, „brauchen zweifellos Sedativa.“ Und laut fügte er hinzu: „Die Schachtel nimm mit, nachher geben wir sie Fräulein Lautererová zurück. Ja: Linhart soll morgen früh den Brožek anrufen. Vlastimil Brožek. Er wohnt im gleichen Haus wie der Herr Sadílek. Oder er soll im Betrieb anrufen, daß er was zu erledigen hat, er muß zum Arzt oder so was. Der Brožek soll allein auf die Arbeitsstelle nach Běchovice, Metallschrott. Damit du’s nicht verwechselst.“ „Alles, mein Kapitän?“ „Nein.“ Exner nahm von einem der Mitarbeiter ein schwarzes Aktenköfferchen entgegen und legte es auf die Veranda. Er klappte es auf und verstaute langsam den Igelitbeutel mit den Denaren darin. Er klopfte ihn ein bißchen platt, damit das Köfferchen zuging. „Wenn du Fräulein Lautererová heimgebracht hast, klapperst du 319
die Mitglieder der archäologischen Kommission ab, die bei der Hebung des Depots in Libín zugegen sein sollten. Slánský, Melíšek, Radimský und so weiter. Du schickst sie nach Bylaves.“ „Jetzt in der Nacht?“ „Da wird der Morgen schon grauen. Wenn sie neugierig sein sollten, dann sollen sie es weiter sein.“ „In der Kommission waren auch Doktor Sultán und Frau Doktor Janovská.“ „Die Frau Doktor laßt schlafen, ich hoffe, sie schläft ruhig. Den Herrn Doktor such auch auf und schick ihn nach Libín. Falls er in Prag ist. Wenn er schon oder noch in Libín ist, soll er dort bleiben. Und auf mich warten. Nach Bylaves werden wir ihn nicht hetzen.“ „Was soll ich ihm ausrichten?“ „Nichts. Sonst finden wir ihn im Spital wieder.“ Er nahm die Aktentasche auf und wog sie in den Händen. „Wiedersehen!“ Er schritt zum Wagen. Renata Lautererová folgte ihm, obwohl sie das nicht mußte. Er machte sie darauf aufmerksam. „Nehmen wir an, ich möchte mich von Ihnen verabschieden, Herr Kapitän.“ Er verlangsamte seinen Schritt. „Und außerdem bin ich auch neugierig“, sprach sie nach einer Weile. „Auch wenn Sie tun, was Sie können, um nicht den Glanz kalter Schönheit zu verlieren?“ „Sie sind“, sagte sie halblaut und schaute sich vorsichtig um, ob niemand sie hörte, „wohl wirklich ein Betrüger. Worum ging es hier um Himmels willen?“ „Sie haben es doch gesehen. Um einen Schatz.“ „Aber warum hier? Bei mir?“ „Das wissen nur der liebe Gott und der heilige Wenzel“, erklärte er. Er blieb am Wagen stehen und machte die Tür auf. Legte die Aktentasche auf den Boden vor dem Rücksitz. „Noch etwas, Renata?“ 320
„Eine Kleinigkeit, vielleicht. Wenn Sie mir wenigstens ein Geheimnis verraten würden. Ich versichere Ihnen dafür …“ „Was?“ „Daß ich von diesem Schatz wirklich nichts geahnt habe.“ „Das weiß ich“, sagte er, „Sie haben andere Schätze.“ „Das da ist Ihre Arbeit“, sagte sie und zeigte mit dem Kopf auf den Lunapark rings um ihr Wochenendhaus. „Ich weiß nicht, ob Sie sie gut oder schlecht machen. Aber erklären Sie mir: Warum so leicht, mit solch einer Sicherheit?“ „Sie brauchen Ratschläge fürs Leben?“ Er lachte leise. „Vielleicht, Herr Kapitän.“ „Wer sein Handwerk beherrscht, arbeitet – vom Blickpunkt der anderen – leicht und irgendwie unwillkürlich. Pfuscher und ungeschickte Stümper rackern sich im Schweiße ihres Angesichts ab. Aber das kennen Sie doch. Viel Glück bei dem großen Sprung.“ „Danke, Herr Kapitän.“ Sie hob das Gesicht zu ihm auf. Und so blieb ihm nichts übrig, als diese Schönheit zu küssen, einzusteigen, den Motor zu starten, auf den Feldweg zurückzusetzen. Ihm blieb nichts übrig, als der Schönheit zuzuwinken und loszufahren, hinein in die Nacht, die noch dunkel war, hinunter gegen Klinec und dann weiter über Prag nach Osten. Der Duft des Parfüms haftete um Lippen und Nase länger als fünfzig Kilometer.
119 Der Tag graute. Vor ihm, über dem Tor in dem Zaun, der die Häuser der archäologischen Expedition in Bylaves umschloß, erblaßte der Himmel. Als 321
kehrte für einige Augenblicke die verronnene Zeit wieder, die alte oder neue, wie man es nimmt. Als er den Motor abgestellt hatte und auf die Stille lauschte, blieb er eine Weile im Wagen sitzen. Dann langte er nach der Aktentasche, schloß leise die Wagentür und ging zum Tor. Warnend leuchtete vor ihm die weiße Tafel mit der Aufschrift:
ACHTUNG!
Bissiger Hund Er faßte die Klinke an. Das Tor war zugesperrt. Eine Weile überlegte er. Er hängte die Aktentasche an den Torpfosten, musterte seinen dunkelblauen Anzug, seufzte und kletterte übers Tor. Das tat er rasch und gewandt, schließlich kannte er das Hindernis. Er nahm die Aktentasche vom Pfosten und schritt aus. An der fernen Wand eines Hauses huschte ein schwarzer Schatten vorbei, und er, dieser unheilverkündende Schatten, jagte auf ihn zu. „Minda“, flüsterte Exner. Der Hund sprang an ihm hoch und leckte ihm das Kinn. Kapitän Exner bückte sich rasch nach einem Stein. Der Hund schnüffelte eine Weile herum, aber den Stein fand er nicht. Und so folgte er Exner dicht auf den Fersen. Hinter der Ecke blieb der Kapitän am letzten Fenster des Hauses stehen und klopfte. Drinnen erschallte ein Fluchen. Der Vorhang wurde beiseite geschoben, und im Dunkel tauchte ein Gesicht auf, mehr das eines Affen als eines Menschen, ein drohendes, von zerzausten Haaren und einem gesträubten Bart umrahmtes Gesicht. Eine Hand streckte sich aus und machte die Lüftungsklappe auf. „Wen suchen Sie?“ „Herrn Doktor Soudek“, sagte servil Kapitän Exner. „Verreist.“ 322
„Wohin?“ fragte Exner. „Nach Kurdistan“, knurrte der Bartmensch und knallte die Fensterklappe zu. „Ich werde auf ihn warten“, sagte Kapitän Exner ruhig und setzte sich auf die Bank, die dort immer noch stand. Im Haus wurde Licht in dem Raum, an dessen Fenster er angeklopft hatte, dann noch in einem Korridor, und das Licht erhellte schließlich eine verglaste Veranda, über deren Fenster eine Schilfmatte hing, wie das in den Bungalows in den Tropen üblich ist. Doktor Soudek kam im Pyjama heraus. „Die Hunde“, sagte er, „haben Sie mir völlig verdorben. Den einen wie den anderen. Antioch!“ rief er gedämpft. Aus dem Haus kam der Hund geschritten und setzte sich ihm bei Fuß. Soudek zeigte auf Exner: „Los! Friß ihn auf! Nie läßt er mich ausschlafen!“ Der Hund lief gehorsam auf Exner zu. Er ließ sich am Hals kraulen und tätscheln. Doktor Soudek trat von der Tür zurück. „Kommen Sie.“ Kapitän Exner schritt aus, aber sobald er in den Lichtstreifen geriet, den die Lampe von der Veranda auf den Gehweg warf, streckte ihm Doktor Soudek die Hand entgegen: „Halt!“ befahl er. Exner gehorchte. Doktor Soudek musterte ihn lange. „Was ist“, interessierte sich Exner und schaute sich seinen Anzug an. „Ich bin voller Haare. Was läßt sich machen, wenn Sie lauter bissige Hunde hier haben, Herr Doktor.“ „Also, so was“, sprach Doktor Soudek, „hab’ ich hier noch nie gesehen.“ Kapitän Exner drehte sich verständnislos um. Aber hinter ihm war niemand und nichts. Er schüttelte den Kopf. „Nein.“ Doktor Soudek hob den Zeigefinger. „Nein! Ich hab’s doch gewußt, daß hier etwas fehlt.“ 323
„Ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor.“ „Verehrter Kollege“, sagte Doktor Soudek, „als ich aus diesem Hause trat, dachte ich zuerst, ich sei das Opfer eines blöden Traums. Mir schien nämlich, ich sei ganz verrückt geworden, denn mitten in der Nacht hier einen Beamten aus der Londoner City zur Arbeit gehen zu sehen, ist eine unbeschreibliche Albernheit. Aber es ist alles in Ordnung. Ihnen fehlt die Melone und der Regenschirm. Kommen Sie weiter, Sie verstehen es stets, einen zu überraschen. Wollen Sie einen Kaffee?“ „Wenn ich darum bitten darf“, sagte Michal Exner würdevoll und trat ein.
120 Er legte die Aktentasche neben den Sessel und setzte sich. Dann kostete er den Kaffee. „Er ist prima“, sagte er. „Ich warte“, sagte Doktor Soudek, in einen Bademantel gehüllt. „Worauf?“ fragte Michal Exner einfältig. „Gut. Sie haben sich angewöhnt, uns zu den unmöglichsten Zeiten Besuche abzustatten. Besonders wenn ich schlafe. Aber ich habe, bei Gott, vielleicht das Recht zu wissen, warum Sie das tun.“ „Sie sollten sich anziehen“, sagte Michal Exner ruhig. „Sie werden“, und er schaute auf die Uhr, „schätze ich, in einer knappen Stunde kommen.“ „Wer? Ich schmeiße jeden ’raus! Hetze die Hunde auf sie!“ „Herr Doktor Slánský mit der für Libín bestimmten Kommission.“ „Was sollen die hier in der Nacht tun?“ „Da geht doch schon die Sonne auf“, hielt ihm Michal Exner entgegen. 324
Doktor Soudek seufzte. „Sie reden einen fürchterlichen Stuß zusammen. Und was ist das?“ Er zeigte auf die Aktentasche. „Na ja“, meinte Michal Exner, „eine Aktentasche.“ „Einmal haben Sie behauptet, Sie seien nur ein Beamter. Das war selbstverständlich Blödsinn. Aber mit einer Aktentasche habe ich Sie noch nie gesehen. Was haben Sie drin?“ „Haben Sie eine Schüssel da, einen Korb oder eine kleinere Waschschüssel …“ „Einen Topf?“ „Eine Waschschüssel wäre besser.“ Soudek ging. Man hörte zwei-, dreimal eine Tür klappen, ein leises Fluchen, dann kam er wieder. Er brachte eine weiß und blau emaillierte Blechschüssel mit, so eine, in der man Knödelteig anrührt. „Das hab’ ich in der Küche gefunden, reicht’s? Ins Depot werde ich nicht extra gehen. Einerseits müßte ich mir dazu eine Taschenlampe holen, und andererseits werde ich Ihnen keinen zusammengeklebten Tontopf aus dem Neolithikum anvertrauen.“ „Natürlich“, stimmte Exner zu, „das reicht völlig.“ Er stellte die Schüssel vor sich auf den runden Konferenztisch, nahm die Aktentasche auf den Schoß. Er öffnete sie so, daß Doktor Soudek nichts sehen konnte. Der Igelitbeutel war mit einem Gummiring verschlossen, er streifte ihn ab. Dann faßte er den Igelitbeutel mit beiden Händen an den Enden und schüttete den Inhalt in die Schüssel. Doktor Soudek schrie auf: „Jesusmaria! Der hat’s gefunden! Er hat es wirklich gefunden! Endlich ist ein Wunder geschehen, und ich bin, Gott sei es gedankt, dabei! Endlich ein Schatz! Wo war er?“ „In Klinec auf einem Aborthäuschen“, erwiderte Michal Exner bescheiden. „Unter den Fußbodendielen.“ „Und ist es alles?“ 325
„Dafür kann ich nicht garantieren. Dafür kann niemand garantieren. Ja“, fiel ihm ein, „die zwei hätte ich fast vergessen.“ Er langte in die Tasche, holte das Damenportemonnaie hervor und warf die zwei Denare zu den anderen in die Schüssel. „So“, atmete er auf. Er klappte die Aktentasche zu, warf sie hinter sich zur Wand. Er stand auf, zog sich das Sakko aus und hängte es über die Sessellehne. Dann lockerte er die Krawatte und legte sie über das Sakko. Zog sich die Schuhe aus, begann sich die Hose aufzuknöpfen. „Was tun Sie da?“ stieß Doktor Soudek entsetzt hervor. „Nicht ich, Sie sind ein Narr.“ „Bin ich nicht“, versicherte ihm Michal Exner. „Aber während Sie sich anziehen und dann mit Herrn Doktor Radimský und den anderen die Münzen zählen und sortieren“, sagte er, zog sich die Hose aus und legte sie sorgfältig über das Sakko, dann knöpfte er sich das Hemd auf und fuhr fort: „… nun, während Sie die Münzen zählen und sortieren …“, er zog das Hemd aus und fing die Pyjamajacke auf, die Doktor Soudek aus dem Schrank gezogen hatte und ihm zuwarf, „werde ich hier ein bißchen schlafen. Und wenn Sie fertig sind und alles gezählt und sortiert haben …“, er legte sich auf die blanke Couch und zog sich die Decke des Doktor Soudek über den Körper, „dann wecken Sie mich, und ich fahre mit Ihnen nach Libín, und dort übergeben wir es feierlich. Das heißt …“, murmelte er, „zuvor …“ „Was zuvor?“ Soudek rüttelte ihn an der Schulter. „Was zuvor, Herr Kollege?“ „Zuvor verhafte ich den Mörder“, brabbelte Michal Exner schon halb im Schlaf.
326
121 Doktor Radimský zitterten die Hände, obwohl er sie auf den Tisch gelegt hatte. Vor ihm lagen kleine Häuflein schwärzlicher Plättchen. Dann und wann nahm er ein Plättchen von einem Häuflein, beschaute es sich genau und legte es wieder zurück. Václav Slánský fuhr sich immer wieder mit der Hand um den Hals, als drückte ihn der Hemdkragen. Aber das war unmöglich, weil er nur ein blaues Unterhemd anhatte. „Also wieviel?“ flüsterte Doktor Melíšek. „Wieviel, um Gottes willen?“ Schon zum sechsten Mal nahm er die Brille ab und putzte sie an einem heraushängenden Hemdzipfel. Er war bleich, auf der Stirn standen Schweißtropfen. „Macht doch jemand die Tür auf. Hier ist eine Hitze …“ Die Morgensonne knallte durch die Glaswand in die Halle. Kateřina Reinerová, die der Tür am nächsten saß, drehte sich um, streckte den langen Arm aus und entsprach Melíšeks Wunsch. Ihr Mann hatte soeben die Häuflein durchgezählt und zählte nun den Rest der Plättchen vor sich ab. Die Bewegungen seiner Finger erinnerten Doktor Soudek an die geübten Bewegungen eines Mariagespielers. Er schaute neugierig zu, offenbar wartete er darauf, wann nun Doktor Reiner den Rest der Münzen zusammenscharren und in die Tasche stecken würde. Er tat es nicht. Er schob das letzte Häuflein von sich weg und schrieb eine Zahl aufs Papier. Dann sah er Radimský an. Dieser nickte. „Dreitausendeinhunderteinundfünfzig“, verkündete Reiner. Doktor Radimský blickte in seine Aufzeichnungen. „Stimmt“, sagte er mit gepreßter Stimme. „Dreitausendeinhunderteinundfünfzig Denare. Wie es nach der vorläufigen und oberflächlichen Betrachtung im Verlauf des 327
Zählens scheint, überwiegend lokaler Libíner und Malíner Prägung, ferner andere Denare Boleslaver, aber auch Mělníker Prägung, dann solche der Königin Emma, nicht identifizierte Denare vom Ethelreder Typ, vorhanden ist auch Regensburg und Sachsen.“ Er wischte sich die Stirn. „Und das ist“, wandte er sich an Doktor Soudek, „der Fund des Jahrhunderts, Herr Kollege, es ist vielleicht ganz gut, daß Sie Doktor Sultán nicht mit eingeladen haben. Könnte ich einen Schluck Wasser haben?“ „Oder Bier?“ fragte Frau Doktor Reinerová. „Bier wäre nicht schlecht“, sagte Václav Slánský mit einem Seufzer. „Könnte der Herr Karlík nicht mal schnell ins Wirtshaus gehen?“ fragte er Doktor Soudek. Doktor Soudek nickte und holte aus der Küche einen alten, ziemlich angeschlagenen Steinkrug, schätzungsweise von sieben bis zehn Liter Fassungsvermögen. Er ging auf den Hof und kam gleich darauf wieder. In der Halle herrschte Stille. Zum siebenten Mal putzte sich Doktor Melíšek die Brille. „Herr Kollege“, sagte er zu Soudek, „wir müssen Ihnen danken. Wir, die Erforscher der slawischen Frühzeit, für Ihre Hilfe.“ „Ich schließe mich an“, fiel ihm Doktor Radimský ins Wort. „Herr Kollege! Das ist ein Wunder!“ schrie er, und in dieser Euphorie war die mährische Intonation in seiner Sprache unverkennbar. „Das ist ein Wunder!“ Doktor Soudek kratzte sich nachdenklich in seinem Seemannsbart. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, wodurch er sie, ohnehin schon struppig und zerzaust, noch mehr zerzauste. „Wie Sie wissen, verehrte Kollegen“, sagte er, „bin ich nicht übermäßig bescheiden, und die Verdienste, die ich habe, leugne ich nicht und bekenne mich laut zu ihnen. Die Lüge hassend und von Grund auf gerecht, muß ich jedoch bekennen, daß mein Verdienst an der Wiederentdeckung des Depots geringfügig ist.“ 328
„Wo ist Kapitän. Exner?“ rief Kateřina Reinerová. „Her mit ihm!“ „Er liegt in meinem Bett“, sprach Doktor Soudek fast traurig. Und dann sagte er genüßlich: „Ich weck’ ihn auf! Endlich einmal die Gelegenheit, ihn aus dem besten Schlaf zu rütteln!“
122 Kapitän Exner taumelte barfuß in den Waschraum. Er stieß gegen zwei Türfutter und einen Wasserhahn. Aus dem Waschraum vernahm man zuerst Wasserrauschen und dann einen Aufschrei. Doktor Soudek saß an seinem Schreibtisch unter den bunten Deckenmalereien, die einen Teil seiner Forschung darstellten, und lächelte zufrieden. Nach einer Weile kam Exner taumelnd zurück. Er war völlig nackt, um den Hals hatte er das Handtuch hängen, „Um Himmels willen“, stöhnte er, „fließt denn bei Ihnen kein warmes Wasser?“ „Doch“, sagte Doktor Soudek, „freilich fließt warmes Wasser. Aber bevor ich Sie aufgeweckt habe, habe ich den Hahn am Boiler zugedreht. Damit Sie schneller zu sich kommen. Wo ist mein Pyjama?“ „Wie ich in dieser Eisdusche erschrocken bin“, sagte Exner und tastete auf Stühlen und Fußboden nach seinen Siebensachen, „ist mir vom Kleiderhaken alles runtergefallen, so ist er ein bißchen naß geworden. Wenn ich angezogen bin“, tröstete er Doktor Soudek, „wringe ich ihn aus und hänge ihn zum Trocknen auf die Stange. Also wie viele sind es?“ fragte er. „Dreitausendeinhunderteinundfünfzig. Der Kollege Radimský durchlebt die größte Stunde seines Lebens, und der Kollege Melíšek wird gleich ohnmächtig.“ Exner fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln. 329
Doktor Soudek zog schweigend eine Schublade auf und reichte ihm einen elektrischen Rasierapparat. „Ich dachte, Sie tragen immer alles bei sich“, konstatierte er trocken. „Meistens“, sprach Exner. „Nur dann und wann vergesse ich etwas.“ Er rasierte sich. „Ist Leutnant Beránek nicht da?“ „Nein. Eine halbe Stunde lang hat er mir den Hund verdorben, und dann ist er gefahren. Er läßt Ihnen bestellen, er fährt nach Běchovice. Zum Betrieb Metallschrott.“ Kapitän Exner war mit Rasieren fertig, machte das Fenster auf und pustete den Apparat sauber. Er gab ihn zurück. „Dann fahre ich auch“, sagte er. „Gehaben Sie sich hier wohl.“ Soudek knallte die Schublade zu. „Der Pyjama“, sagte er trocken. „Was ist damit?“ „Auswringen und auf die Leine hängen.“
123 Doktor Soudek trat in die Halle. „Kommen Sie“, forderte er die anwesende Kommission auf. „Kapitän Exner ist in Eile und möchte sich von Ihnen verabschieden.“ Sie traten auf den Hof, und Soudek führte sie um die Ecke, wo ein Rasen angelegt war und eine Bank stand. Kapitän Exner hängte soeben die Pyjamahose auf die Leine und wrang dann die Jacke aus. Er stand breitbeinig, weit vorgeneigt, um sich nicht die Schuhe zu bespritzen. Sie ließen ihn in Ruhe sein Werk vollenden. Sie ließen ihn auch noch das weiße Taschentuch aus der Brusttasche ziehen und sich die Hände abtrocknen. 330
Erst als er sich zu ihnen umdrehte, schritt ihm Doktor Radimský mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Lieber Freund“, sagte er mit bebender Stimme, „die Numismatiker und die Archäologengemeinde, unsere gesamte Wissenschaft, sind Ihnen für die phantastische Wiederfindung des Fundes des Jahrhunderts verbunden!“ Exner wollte ihm die Hand reichen, aber er hielt inne. „Obacht“, sagte er leise. „Herr Doktor Reiner: der Kollege Melíšek!“ Sie drehten sich um. Reiner stand Melíšek am nächsten. So daß es ihm gelang, ihn aufzufangen, bevor er zu Boden sank. Nur die Brille rutschte von dem gesenkten Kopf des Doktor Melíšek und kollerte ins Gras. Kateřina Reinerová hob sie auf. „Ganz“, sagte sie. „Sie ist ganz.“ Und mit dem Rocksaum putzte sie sie zum achten Mal. Doktor Soudek lachte leise und boshaft auf. „Da seht ihr“, sagte er zufrieden. „Ich hatte recht.“ Und an Exner gewandt: „Sie wollen offenbar fahren. Wann sehen wir uns wieder, Herr Kollege?“ „Ich komme am Nachmittag nach Libín“, versprach Exner. „Auf Wiedersehen die Herren!“
124 Er schritt vom Pförtnerhaus über den staubigen Hof zu dem alten Fabrikgebäude. Über die Plankenzäune hinweg sah er den Bahndamm, das Gewirr der Drähte zwischen den Masten der elektrischen Leitung, einen Teil der Rampe, wo der Schrott aus den Waggons entladen wurde. Dort saß auf einem Faß ein dicklicher Faulenzer. Der Faulenzer hatte sein Sakko an eine Schiene gehängt, die aus dem Bahndamm starrte. Wie es schien, sonnte sich der Faulenzer. 331
Exner widmete er nur einen flüchtigen Blick. Er übersah ihn nicht, denn er nickte zufrieden. Schließlich war Kapitän Exner auf diesem leeren, schmutzigen Hof nicht zu übersehen. Er war zu Hause eingekehrt, hatte sich gründlich gewaschen, noch einmal rasiert und umgezogen. Unter den beigefarbenen Hosen leuchteten rote Schuhe. Die Ärmel des Hemdes von schokoladebrauner Farbe hatte er bis zum halben Unterarm hochgekrempelt. Er trat in den Schatten der Fabrik und verschwand in dem schwarzen Loch eines halboffenen Eisentores. In der Stille der Fabrik hörte man, wie im Staub der Flure und Hallen die Geister von vier Generationen von Schlossern und Drehern umhertappten. Nur aus dem Keller schallte ein unregelmäßiges Pochen, das die Rohre weiterleiteten. Er wählte den gleichen Weg wie neulich über die schmutzige Eisentreppe zwischen ebenso schmutzigen Wänden in die Unterwelt hinab. Von der Tür ins Kesselhaus sah er auf die Werkbank unterm Fenster. Darauf waren Papiere ausgebreitet, ein Schreibheft und ein Frühstück. Der Stuhl war leer. Kapitän Exner stieg nicht weiter die Eisentreppe hinab, sondern schritt, behutsam auftretend, über das dicke Blech, das den Fußboden über den Kesseln an den Stellen bildete, woher das Pochen erschallte. Unten stand Vlastimil Brožek und zog die Muttern an zwei großen Rohren fest. Er hatte kein Hemd an, hielt mit der Hüfte den riesigen Schlüssel fest, mit dem er die Kontermutter arretierte, und mit beiden Händen zog er mit einem anderen Schlüssel die Schraube an. Exner hielt sich am Eisengeländer fest und beugte sich vor. „Guten Tag“, sagte er freundlich. „Warum schreiben Sie heute keine Verse?“ „Ich habe noch nicht gefrühstückt“, erwiderte Vlastimil Brožek, ohne aufzublicken. Erst dann stutzte er und 332
drehte sich langsam herum. „Sie sind das …“, sagte er. Er richtete sich auf. „Was wollen Sie von mir?“ Und er wandte Exner das Gesicht zu, das Renata Lautererová so gar nicht gefiel. „Ich hab’ die Denare gefunden“, sagte Exner. „Das war kein schlechter Gedanke, Herr Brožek, mich ein bißchen zu verwirren. Mich Linhart auf die Spur zu setzen.“ „Ich versteh’ Sie überhaupt nicht.“ „Ich hab’ einen Beutel voller Denare gefunden, einen Igelitbeutel, unter den Fußbodendielen des Aborts beim Wochenendhaus des Fräulein Lautererová. Mehr als dreitausend Denare. Das ist mehr, als man in Libín geschätzt hatte. Sie, der Herr Sadílek und der Herr Maizl. Ich hab’ auch das Auto gefunden. Einen Trabant. Hinter dem Gasthaus Zur Mündung. Wir haben ihn genau untersucht. Ich glaube nicht, daß Sie Handschuhe anhatten. Sie wollten ja schließlich das Mädchen nicht umbringen. Dreitausend Denare. Das ist viel. Viel Geld, wenn Sie zwei- bis zehntausend Kronen für einen rechnen.“ „Und da sind Sie allein gekommen …“ „Ja“, sagte Exner, ließ das Geländer los und drehte sich halb um, vielleicht wollte er über die Eisentreppe hinabsteigen. In diesem Augenblick warf Vlastimil Brožek den Schraubenschlüssel nach ihm. Dieses dreißig bis vierzig Zentimeter lange Stück Eisen flog mit bewundernswerter Präzision durch die Luft. Und rotierte wie ein Propeller. Exner sah es aus dem Augenwinkel. Er konnte gerade noch mit dem Kopf zurückzucken. Aber er bekam einen Schlag auf die Schultern, daß er aufschrie. Er biß die Zähne zusammen und krümmte sich. Vlastimil Brožek rannte los, quer durchs Kesselhaus zu der anderen Treppe. Kapitän Exner drehte sich um, und über die Eisen333
platten stampfend, hastete er zwischen den schmutzigen Wänden zurück in die Halle. Ihm war klar – falls er sich die Situation recht gemerkt hatte, als er das letzte Mal hier herumgeschlendert war –, wo Brožek herauslaufen mußte. Er hatte sogar noch Zeit, für einen Augenblick am Hinterausgang der Halle stehenzubleiben, um sich wenigstens die getroffene Schulter zu reiben. Brožek kam in sein Blickfeld gelaufen. Der kurze Augenblick, da er sich an die Schulter gegriffen hatte, hatte genügt, daß der Bursche einen Vorsprung bekam. Und laufen konnte er. Exner spurtete ihm nach. Hätte er ihn längere Zeit verfolgen sollen, in seinen unpassenden Schuhen und der ebenso unpassenden Kleidung, dann hätte sich dieses Handicap bald bemerkbar gemacht, denn Brožek trug einen losen Monteuranzug und an den Füßen Tennisschuhe. Kapitän Exner blieb nichts übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und auf einen Sprint zu setzen. Und es blieb ihm, sobald er Brožek näher war, nichts anderes übrig, als das Bein so lang wie möglich auszustrecken und ihn mit der Fußspitze in den Hacken zu treten. Brožek stolperte über die eigenen Beine, fluchte, schwankte, fiel aber noch nicht. Nichtsdestoweniger hatte er an Tempo verloren. Und dann schlug ihm Exner genauso leicht, jetzt aber schon durchdachter, ein Bein weg. Vlastimil Brožek stürzte in den Staub. Vom Bahndamm kam der Faulenzer von vorhin gelaufen, es war Leutnant Beránek, und erstaunlicherweise hielt er eine Pistole in der Hand. Brožek rappelte sich auf, und da sah er vor sich den Leutnant Beránek. Das Ding in seiner Hand sah fast wirklich aus. Und die runde Öffnung darin war wirklich rund. 334
Exner schaute sich um, weil er hinter sich ein Keuchen hörte. Zwei Mitarbeiter von Beránek eilten herbei. Brožeks Muskeln erschlafften. Er sank zu Boden und blieb sitzen, den Kopf auf der Brust. Exner rieb sich die Schulter. „Das war aber ein Blödsinn mit dem Schlüssel“, sagte er. „Du hättest mich doch töten können. Wie das Mädchen.“ „Ich wollte sie nicht töten“, sagte Brožek, immer noch auf der Erde sitzend, als scheute er sich aufzublicken, um nicht wieder die Pistole zu sehen. „Ich habe ihr nur ein Kissen aufs Gesicht gelegt oder ein Stück Decke, weiß nicht mehr, was es war. Und ich hab’ gedacht, sie ist ohnmächtig. Ich wollte nur, daß sie ohnmächtig wird.“ „Wozu hast du den Schatz gebraucht?“ „Der Herr Sadílek.“ „Hat er dich angestiftet?“ „Nein. Er hat mir nur gesagt, was man dafür kriegen könnte. Tausende.“ „Wozu hast du Tausende gebraucht?“ fragte Kapitän Exner. „Für ein Auto? Ein Auto hast du. Und ein ganz anständiges. Übrigens Auto: deins hast du in Brody stehenlassen und hast den grauen Trabant gestohlen. Hast ihn hinterm Gasthaus Zur Mündung stehenlassen und bist mit dem Schiff nach Brody zurück …“ Vlastimil Brožek begann mit dem Finger in den Staub zwischen seinen Beinen allerlei Krickelkrakel zu schreiben und beobachtete, wie der Staub unter seinem Finger zurückwich und wie die sich über die Erde schiebende Fingerkuppe zwei regelmäßige Wälle bildete. „Ich hab’ kein Mädchen.“ „Na und? Konntest dir doch eins suchen. So wie jeder.“ „Aber ich wollte ein schönes Mädchen. Wie Zdeněk.“ „Welcher Zdeněk?“ „Na, Linhart. Der hat ein schönes Mädchen. Mich würde keine wollen, weil ich ein Tollpatsch bin und eine 335
blöde Fresse habe. Eine völlig blöde Fresse. Aber ganz so blöd bin ich auch wieder nicht, wenn ich Gedichte schreibe. Und Zdeněk sagte …“ „Was hat er gesagt?“ half Exner nach. „Keinen Blödsinn“, und Vlastimil Brožek schüttelte den Kopf. „Das war kein Blödsinn. Er hat gesagt, für Geld kann man das schönste Mädchen kriegen. Und das ist wahr. Ich hab’ ihn gesehen.“ „Wen nun wieder?“ Exner rieb sich die Schulter. Beránek und seine Leute standen still dabei. Beránek ließ die Pistole sinken und steckte sie wieder in den Halfter unterm Jackett. „Den alten Kerl, den sich die Lautererová mit auf die Hütte brachte. Hätte er nicht Geld wie Heu, dann hätte sie ihn nicht mitgebracht. Ist es so?“ Und Michal Exner blieb nichts übrig, als zustimmend zu nicken. „Ja, das ist so.“
125 Vlastimil Brožek ging zwischen zwei Polizeiangehörigen ab. An den einen war er am Handgelenk gefesselt. Sein Rücken krümmte sich zu einem Bogen. Exner knöpfte sich das Hemd auf und besichtigte den Bluterguß an der rechten Schulter. „Schau her, dieses Rindvieh hat einen Schraubenschlüssel nach mir geworfen.“ „Mhm“, machte Beránek und berührte die Stelle mit den Fingern. „Das wird schön violett anlaufen.“ „Au“, stöhnte Exner. „Sakra, mußt du das so quetschen?“ „Ich bin doch zart wie eine Elfe. Erklär mir nur, mein Kapitän, wie konnte der Bursche das unbeobachtet klauen?“ Er schüttelte den Kopf und gab sich selber die Antwort: „Ein Zufall. Ich wette mit dir: selbst wenn ihn je336
mand gesehen hätte, wie er das Mädchen trug, hätte er gedacht, die albern miteinander. Vielleicht hat ihn auch jemand gesehen. So was. Haut der Kerl von seiner Arbeit ab, stiehlt in Brody ein Auto, in seinem eigenen fährt er wieder zurück.“ Er blickte wieder auf Exners Schulter. „Na, das wird hübsch. Solltest dir eine Salbe oder ein Pflaster kaufen.“ Kapitän Exner knöpfte das Hemd zu. „Das sollte ich. Im Keller sind seine Sachen, vergeßt sie nicht. Auch Papiere mit seinen Gedichten. Die werden die Psychiatrie interessieren. Ich muß noch auf einen Ausflug.“ „Ach ja?“ wunderte sich Beránek. „Und wohin, wenn ich fragen darf?“ „Wohin schon. Nach Libín.“
126 Es war kurz nach Mittag, die Sonne knallte auf die Türme des Schlosses von Brody, die Dächer der Stadt Brody, auf den sich kräuselnden Fluß, die Baumkronen der Allee, aus der Kapitän Exner auf die Brücke über den Fluß gefahren kam. Er lenkte den Wagen mit der linken Hand, die rechte lag im Schoß. Er fuhr langsam. Fuhr über die Brücke, den Marktplatz, über den ein patinagrünes Pferd schritt, das den bekannten König auf seinem Rücken trug. Er fuhr weiter durch eine schmale Gasse und an einem Park vorbei, hinaus aus der Stadt, bremste, bog in einen schmalen Weg ab, der am Park begann und, sich durch den Auenwald schlängelnd, am Restaurant Zur Mündung endete. Er parkte dort, wo der Trabant gestanden hatte. Beim Aussteigen stöhnte er vor Schmerz, weil er sich unwillkürlich mit der rechten Hand aufs Lenkrad gestützt hatte. Er rieb sich die Augen und schritt aus, um sich eine 337
Forelle zu gönnen, bevor es ihm oblag, mit der Kommission des Archäologischen Instituts zusammenzutreffen sowie mit dem Doktor Sultán und Frau Janovská. Auf dem Platz unter den Kastanien hatten die Genannten drei Tische aneinandergestellt, und es war offensichtlich, daß sie nicht nur alle Verhandlungen beendet hatten, sondern auch bereits mit dem Mittagessen fertig waren. Am Stamm der äußersten Kastanie parkte ein Dienstwagen der Polizei. Die Oberwachtmeister Hašák und Šibink unterhielten sich mit den Wissenschaftlern. Frau Doktor Janovská eilte auf Exner zu, um ihm die Hand zu drücken. Wieder stöhnte Exner vor Schmerz. Sie stutzte: „Ist was?“ „Ich bin gestürzt“, erklärte er. „Hauptsache, Sie haben den Schatz wieder. Schade, daß es Ihnen nicht gelungen ist, ihn in situ zu heben.“ Doktor Sultán speiste an der Stirnseite der Tafel. Er war ganz rot im Gesicht. Man konnte Angst bekommen, er werde wieder ins Krankenhaus gebracht werden müssen. „Mein wackerer Freund“, sagte er. „Was verlangen Sie für Ihre große Tat?“ „Eine Forelle, Herr Doktor“, sagte Kapitän Exner. Er wandte das Gesicht zum Ausschankfenster. Dort stand die Frau Leiterin, mit den Ellbogen aufs Pult gestützt. Ihr Ausschnitt war wieder ein bißchen tief. „Gleich“, rief sie. „Einen Augenblick“, stoppte er sie. „Können Sie mir garantieren, daß die Forelle vom Oberlauf stammt, etwa von der Brücke aufwärts?“ „Gewiß, Genosse Kapitän.“ Er nickte und nahm neben Doktor Sultán Platz. Doktor Sultán beugte sich zu Exner: „Es ist alles in Ordnung, selbstverständlich. Sie sind mein hervorragender Freund, falls Sie erlauben, aber wenn Sie so freundlich wären, Herr … Herr … Kollege …“ 338
„Bitte, Herr Doktor.“ „Können wir sicher sein, daß der Täter gefaßt wurde und das Depot komplett ist?“ „Des ersteren ja, Herr Doktor, aber mit dem anderen …“ Er verstummte für ein Weilchen. „Dessen kann sich niemand mehr sicher sein.“ Es schien, daß Doktor Sultán Trauer befiel. Er trank von seinem Wein und seufzte. „Und dann stellen Sie sich vor, dieser Taugenichts hat schon wieder angefangen.“ „Wer und womit?“ interessierte sich Exner. „Der Taugenichts, der unser Denkmal beschädigt. Die Frau Doktor mußte heute morgen ein ganzes Fläschchen Azeton kaufen.“ „Nun, ich glaube, der Täter wird ohnehin bald aufhören. Er kann sich doch nicht ewig in dieser Gegend aufhalten.“ „Wie meinen Sie das?“ „Verbrecher wandern von einem Ort zum andern“, dichtete Exner und beobachtete die Frau Leiterin. Sie servierte ihm persönlich das Essen, eine große Forelle, leicht gebogen, damit sie auf dem Teller Platz fand, mit einem Stück Zitrone im gebratenen Maul. „Nur selten halten sie es an einem Ort aus. Danke, Frau Leiterin. Das Besteck? Aha, hier. Wein? Nein, danke, ich muß nachmittags nach Prag zurück. Leider.“
339