James Orbinski Ein unvollkommenes Angebot Humanitäre Hilfe im
Aus dem Englischen von Irmengard Gabler
S.
Fischer
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James Orbinski Ein unvollkommenes Angebot Humanitäre Hilfe im
Aus dem Englischen von Irmengard Gabler
S.
Fischer
21.
Jahrhundert
Die kanadische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel
An Imperfect Offering. Humanitarian Action in the Twenty-first Century im Verlag Doubleday Canada.
© 2oo8 James Orbinski Für die deutsche Ausgabe:
©
2010
S, Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
ISBN 978-3-10-057605-7
Für meinen Vater, Stan Für meine Mutter, Madge Für Vedanand und Uma Für Benedict Für Michael Für meine Kinder Und für Rolie
Inhalt
Wir haben noch nicht begriffen, was es bedeutet, Mensch zu
Anmerkung des Autors
9
sein. Diese gewöhnliche Entdeckung ist wahrscheinlich die göttlich erleuchtetste, die gemacht werden kann - denn wenn
TeilI
wir verinnerlicht haben, was es bedeutet, Mensch zu sein,
Geschichten sind alles, was bleibt
wenn wir es erlitten und erliebt haben, dann werden wir unse
Seine schönen Augen und meine neuen Schuhe
ren wahren Rang erkennen, wir werden wissen, welche Kluft
In Ruanda haben wir getanzt
13 27
42
uns von den Göttern trennt, wir werden wissen, was es heißt,
Auf der Suche nach humanitärem Raum: Ärzte ohne Grenzen
frei zu sein, und wir werden wissen, dass Freiheit erst der
in Somalia
Anfang unserer wechselseitigen Bestimmung ist.
Afghanistan: Keine Narben, keine Geschichte, kein
Vögel des Himmels- Wege Kappa, 2ooo)
Ben Okri, (edition
zur Freiheit
Leben
68
13 2
Teilli Die Zerreißprobe
159
Teillll Flüchtlinge in Zaire: Angst vor dem, was sie wissen, Angst vor dem, was wir nicht sehen
257
Unpolitisch bleiben: Humanitärer Einsatz in Nordkorea, im Kosovo und im Sudan
301
Eine Welt der Möglichkeiten schaffen: Der Kampf für lebens notwendige Medikamente
351
Ummera: Wir stehen immer wieder EPILOG: Was wir tun können
413
Anfang
397
Anmerkungen und Quellenangaben Dank
arn
400
381
Anmerkung des Autors
Die Geschichten in diesem Buch setzen sich aus unvollständigen Tagebucheinträgen, gescheiterten Schreibversuchen, diversen Aufzeichnungen und Veröffentlichungen und persönlichen Ein drücken zusammen. Obwohl ich mich bemüht habe, sämtliche Daten und Datenfolgen sorgfältig zu überprüfen, könnten eini ge falsch sein. Ich entschuldige mich daher für etwaige Fehler oder Auslassungen. Sollten welche auftauchen, stiften sie hof fentlich nicht allzu viel Verwirrung. Weil ich beschlossen habe, das Buch als eine Abfolge von Geschichten zu schreiben, habe ich in einigen Fällen, dem Erzählfluss zuliebe, Dialoge nachge stellt. Zuweilen musste ich die Namen von Personen ändern, um ihre Identität und Privatsphäre zu schützen. Sämtliche in diesem Buch geäußerten Ansichten und Meinungen sind meine eigenen, nicht die offiziellen Ansichten der Organisationen, Universitäten oder Kliniken, mit denen ich in Verbindung stand oder stehe. James Orbinski Toronto 2oo8
Teil I
Geschichten sind alles, was bleibt
Ich war in Amsterdam und trank zusammen mit Austen Davis, dem eleganten Generaldirektor der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen I Merleeins Sans Frontieres ( MSF), eine Tasse Kaffee. Es war im Jahr 2ooo, und ich war eben aus dem Sudan zurückge kehrt. Ich hatte mich mit dem Außenminister des Landes getrof fen, um dagegen zu protestieren, dass Regierungstruppen die MSF-Ernährungszentren im Süden des Landes bombardierten. Austen und ich saßen in einem Straßencafe neben dem Haupt eingang des Büros von MSF Holland. Es befindet sich in einem ehemaligen Gefängnisgebäude, dessen früherer Innenhof zu ei nem Aufenthaltsbereich mit Cafes, Zeitungsständen und zahlrei chen Kunstinstallationen umgestaltet worden war. Man betritt ihn über einen neoklassizistischen Bogengang, in dem eine Ge denktafel mit einer gläsernen Träne an die Opfer des Holocaust erinnert. Über dem Haupteingang findet sich der Satz ))Homo sapiens non urinat in ventum« in den Stein gemeißelt - Der vernunft begabte Mensch pisst nicht in den Wind-. ein passendes Motto für unsere Organisation. »Weinen und pissen. Mehr können wir nicht tun?«, fragte ich Austen. »Mag sein. Aber wir können uns weigern, nur zu weinen. Ich sage, schreit so laut ihr könnt und pisst in den Wind, sooft ihr könnt. Wer weiß, vielleicht dreht er sich ja!« Der Mann gef
wir erzählen, sollten wir sie sorgsam auswählen. Dieses Buch
Typ Hercules C- 130 auf dem Rollfeld vor der Stadt. Eine Stunde
setzt sich aus einzelnen Geschichten zusammen. Ich stelle mir
später erreichte ich ein Ernährungszentrum, wo mir der An
immer wieder die Frage: »Wie soll ich mich, wie sollen wir uns
blick von etwa dreitausend Menschen, eine Insel des menschli
verhalten angesichts fremden Leids?« Die Frage beschäftigt mich
chen Hungers in der Wüste, die Sprache verschlug.
schon mein ganzes Leben. Dieses Buch erzählt von der politi
Sie saßen ausgemergelt, in Reihen, auf dem harten Erdboden
schen Reise, die ich in den vergangeneu zwanzig Jahren als Arzt
und warteten. Die meisten von ihnen waren stumm, die meis
im humanitären Einsatz, als Bürger und als Mensch unternom
ten zu Tode erschöpft. Der Wind wehte mir heiß ins Gesicht.
men habe. Ich wurde Zeuge von Hungersnöten, von Epidemien,
Der feine Staub, den er mit sich führte, geriet unweigerlich in
von Krieg und Kriegsverbrechen, und von Völkermord. Und ich
die Atemwege. Ich beobachtete eine Frau, die ein kleines Kind
wurde Zeuge vom Scheitern der Politik und von der Schwierig
im Schoß hielt und mit einem Stöckchen Zeichen in den Staub
keit der Menschen in Krisensituationen, sich die eigene Mensch
ritzte. Nach einer Weile ließ sie den Stock fallen und stupste
lichkeit zu bewahren. Es ist keine aus der Distanz erzählte Ge
ihr Kind an. Das Kleine weinte nicht, wachte auch nicht auf
schichte. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als stünde ich
Vielleicht schlief es oder lag im Koma - ich vermochte es nicht
außerhalb der Ereignisse und Umstände, die ich beschreibe. Im
zu sagen. Die Frau nahm das Stöckchen wieder auf und zeich
Gegenteil, ich lebe mit ihnen, in ihnen, durch sie. Es sind per
nete weiter. Ich bekam weiche Knie und musste mich auf eine
sönliche Momente, die ich beschreibe, politische Momente und
Kiste setzen.
auch Momente, in denen es diese Unterscheidung nicht mehr
In einer Ecke des Ernährungszentrums stand ein weißes Zelt,
gibt. Es ist auch keine sentimentale Geschichte, in der den Op
die Klinik. Daneben waren drei weitere Zelte errichtet worden,
fern mit gönnerhaftem Mitleid begegnet wird oder in der nur
in denen man die Leichen aufeinandergeschichtet hatte, jeder
diejenigen der Hilfe für würdig erachtet werden, die nieman
Stapel mindestens einen Meter hoch. Aus dem Augenwinkel
dem Angst machen. Meine Sichtweise erfordert eine gewisse
heraus nahm ich plötzlich eine Bewegung wahr und blickte
Bescheidenheit, ein Sich-Wiedererkennen im anderen. Es geht
instinktiv beiseite, wollte gar nicht wissen, was sie möglicher
um die Gemeinsamkeit, die zwischen uns existieren kann, wenn
weise bedeutete. Schließlich wandte ich doch den Blick. Ich
wir es zulassen.
hatte mich nicht getäuscht. Eine der Leichen auf dem Stapel, ein Mann, hatte sich bewegt.
Es war mein erster humanitärer Einsatz. Und er hatte nicht das
Ich sah seine Lider flattern. Der Wind fuhr ihm unter das
Geringste mit Medizin zu tun. Es war im Oktober 1992. Ich war
lange Hemd und bauschte es über seinem Körper. Er lag zwi
von
MSF
als medizinischer Koordinator nach Baidoa in Somalia
schen den Toten, war selbst nur noch Haut und Knochen. Seine
berufen worden, einer Stadt, die überall auf der Welt als »Stadt
Hand griff nach etwas, erkundete tastend die Umgebung. Ohne
des Todes« bekannt geworden war. Auch hier hatte
MSF
Ernäh
nachzudenken, trug ich ihn ins Klinikzelt Er wog weniger als
rungszentren, Kliniken und Krankenhäuser errichtet, um der
fünfunddreißig Kilo; ich hielt seinen Arm, damit er nicht hin
hungernden Bevölkerung zu helfen, die in einem immer grau
unterbaumelte.
samer wütenden Bürgerkrieg gefangen war. Als die Vereinten
Da in der Klinik kein Bett mehr frei war, legte ich ihn auf den
Nationen und diverse nichtstaatliche Organisationen endlich
Boden. Eine Krankenschwester breitete eine Decke über ihn. Sie
ins Land strömten, waren bereits Hunderttausende gestorben.
war ärgerlich und erklärte unwirsch, man habe den Mann ins
Ich landete in einem amerikanischen Transportflugzeug vom
Leichenzelt geschafft, weil nicht genügend Pflegepersonal für
14
15
die vielen Kranken zur Verfügung stehe und dieser Patient ohne hin sterben werde. Da überkam mich eine hilflose, verzweifelte Wut- seinetwegen, meinetwegen, weil ebenso gut ich an seiner Stelle hätte sein können, auf Gedeih und Verderb einer Fremden ausgeliefert, die mir, dem Sterbenden, die W ürde nahm.
wurden laut nach einem Einschreiten der Vereinten Nationen, damit die Ordnung im Land wiederhergestellt werde, und sei es nur, um humanitäre Initiativen am Laufen zu halten. Kurz nach meiner Ankunft erlebte Somalia eine von den USA geleitete und den Vereinten Nationen autorisierte militärische Intervention
Er öffnete und schloss die Augen, und ein Zittern erfasste
unter humanitärer Flagge. Bereits nach wenigen Monaten wür
seinen Körper unter der Decke. Gleich darauf war er tot. Es war
den die Friedensstifter in einem unbeholfenen Versuch, Ord
der geschändete Rest eines erfüllteren Lebens. Ich kannte nicht
nung zu schaffen, selbst Gewalt anwenden. Sechs- bis zehntau
einmal seinen Namen, aber ich wusste, dass er jemandes Sohn
send Somalier wurden damals von italienischen, belgischen,
gewesen war, jemandes Freund und möglicherweise jemandes
kanadischen und amerikanischen »Friedenstruppen« geschla
Ehemann und jemandes Vater. Welche Entscheidungen führten
gen, gefoltert und getötet. Soldaten der Vereinten Nationen
noch im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts zu Bür
bombardierten wissentlich Krankenhäuser, und die öffentliche
gerkrieg und Hungersnot, zu Situationen, in denen Hundert
Meinung in Somalia wandte sich gegen die Mission der Verein
tausenden ein solches Leid widerfuhr wie diesem Mann? Als ich mich bei der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen
ten Nationen. Am
5· Oktober
1993 kamen in Mogadischu bei
blutigen Auseinandersetzungen über tausend Somalier und acht
bewarb, akzeptierte ich naiv den Mantel des unpolitischen Arz
zehn U. S. Ranger ums Leben. Das Foto, auf dem ein toter Ranger
tes. Ich war der festen Überzeugung, humanitäres Handeln -
zu sehen ist, der nackt durch die Straßen der Hauptstadt ge
mit seinen Grundsätzen Neutralität, Unparteilichkeit und Un
schleift wird, veränderte die Außenpolitik der einzigen noch
abhängigkeit - müsse über jede Politik erhaben sein, biete ge
verbliebenen Supermacht der Welt und somit auch die Politik
wissermaßen eine Möglichkeit, ihrer unschönen Kehrseite aus
der Vereinten Nationen. Das Schicksal Somalias war besiegelt.
dem Weg zu gehen. Doch schon bald wurde mir klar, dass eine
Die Menschen dort wurden wieder in die politische Anarchie
humanitäre Gesinnung keineswegs von der Politik zu trennen,
zurückgestoßen, und T heorie und Praxis einer humanitären Ge
sondern im Gegenteil eng damit verwoben war, und dass, wer
sinnung lagen in Trümmern. Und ich erfuhr, dass auch für den
im humanitären Einsatz tätig war, unweigerlich jene politi
neutralen, unparteiischen humanitären Helfer die Politik wich
schen Entscheidungen in Frage stellen musste, die ohne weite
tig ist.
res den Tod von Menschen in Kauf nehmen. In Somalia wurde ich während der anarchischen Zustände
In Somalia war vor allem mein theoretisches medizinisches
nach dem Ende des Kalten Kriegs Zeuge des Bürgerkriegs. Hier
Wissen gefragt, zumal es galt, Kliniken, Krankenhäuser und
waren die Hilfspakete aus dem Ausland nicht nur ein Rettungs
Ernährungszentren einzurichten. Doch humanitäres Engage
anker für die Leidenden. Für Warlords und Kriegsprofiteure wa
ment besteht nicht nur in medizinischer Tüchtigkeit oder tech
ren sie die wertvollste Handelsware im Land. Hilfslieferungen
nischem Können. Als Erstes sucht humanitäres Handeln das un
wurden geplündert, Wucher und Erpressung zum Bestandteil
mittelbare, vor allem das einsame Leid zu lindern.
ihrer Herausgabe. Humanitäre Helfer wurden entführt, verprü
Wenn wir uns entscheiden, den Leidenden beizustehen, ist
gelt und manchmal sogar getötet. Doch selbst als unsere Nieder
unser Mitgefühl weit mehr als nur Bedauern: W ir erweisen uns
lassungen von Warlords und Plünderern angegriffen wurden,
als solidarisch. Wer andere nur bedauert, der betrachtet sie
setzten wir, wenn irgend möglich, unsere Arbeit fort. Stimmen
gleichsam von außen; auf diese Weise kann er eine Art apoliti-
16
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gen an sehe Haltung einnehmen, was Ursachen und Bedingun b jeder außerhal sie lägen als so , geht, die solch ein Leid schaffen des Seite die auf jedoch politischen Verantwortlichkeit. Wer sich die das ren, Opfers stellt, der weigert sich, etwas zu akzeptie inak auf Würde des anderen und somit auch die eigene W ürde
ng zeptable Weise in Zweifel zieht. Eine humanitäre Gesinnu t wird, setzt voraus, dass internationales Menschenrecht gewahr rn, aufforde ngen Regieru ihre und werden und dass Bürger aktiv tät Solidari achten. zu en Mensch die grundlegende Würde des Hinter und n Ursache impliziert die Bereitschaft, sich mit den en in gründen auseinanderzusetzen, die die W ürde der Mensch
vor dem Frage stellen, und fordert ein Minimum an Achtung W ür menschlichen Leben. Solidarität heißt auch, dass man die Recht das ihnen und nt anerken anderer de und Selbständigkeit
itäres einräumt, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen. Human dem in , schaffen zu Handeln heißt in erster Linie, einen Raum Mitmenschlichkeit möglich ist. e Im W inter 1993 I 94, während die Taliban die politisch stan im Macht im Land zu erlangen suchten, war ich in Afghani dem aus kurzem vor sich hatten CIA Einsatz. Sowjetunion und von waren Städte andere Land zurückgezogen, und Kabul und
den Taliban belagert. Im Januar legten hundertzwanzigtausend von der Menschen zu Fuß etwa zweihundertfünfzig Kilometer Hauptstadt bis zur Grenze nach Pakistan zurück . Sie wurden
Bergen jedoch zur Umkehr gezwungen und mussten in den meiner nach Morgen Am . des Chaiber-Passes Zuflucht nehmen lungs Ankunft beobachtete ich eine Frau, die vor einem Behand Baby zelt von Ärzte ohne Grenzen auf einem Stein saß, ihr totes Kälte der in sich ten schmieg Kinder weitere Drei in den Armen. Ob weinend an sie. Ihre Lippen zitterten, als sie mich ansah. scher Dolmet Mein nicht. vor Kälte oder aus Angst, wusste ich lauschte Abdullah sagte zu mir: »Hör mal. Hörst du das?« Ich »Ich höre angestrengt, doch nach einer Weile antwortete ich: er sagte: nichts. Hier ist alles still.« Es dauerte eine Weile, bis »Genau.«
Die Menschen kommen nicht in die Kliniken und Kranken
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häuser, um zu reden, sondern weil sie Hilfe brauchen. Und oft genug warten sie schweigend. Und das liegt nicht nur an der fremden Sprache der Leute oder an der Tatsache, dass wir die Ärzte und sie die Patienten sind. Ihr Schweigen ist eine anerzo gene Gewohnheit, erlernt durch den Schmerz, den sie erlitten haben. Einige ertragen ein solches Leid schon seit Jahren; für andere ist es auf die letzten Wochen eines Krieges beschränkt, wenn die Familie gezwungen ist, die Heimat zu verlassen und fortzugehen - irgendwohin, wo es eventuell sicherer für sie ist. Und doch ist für die meisten
genau wie fiir diese Mutter in
Afghanistan mit ihren Kindern, die sich an sie schmiegen-der Gedanke aufzugeben, unvorstellbar. Sirnone Weil bemerkte in ihrem Kommentar zu Homers
Ilias
sie hatte ihn im Sommer
1940
geschrieben, nachdem die
Nazis in Frankreich einmarschiert waren-, dass ein »Zittern« all jene kennzeichne, die »eine Leere in der eigenen Gegen wart empfinden«. Ein solches Schaudern befällt Menschen, die auf ihr nacktes Leben reduziert sind, ein Leben, das nicht mehr von Natur aus unantastbar ist. In diesen Ort des Schwei gens hinein agiert der humanitäre Helfer, von diesem Ort aus erhebt sich die Stimme der Entrüstung. Es ist eine Stimme , die Zeugnis ablegt von der Not der Opfer, die Hilfe und Schutz fordert für die Opfer, damit ihr Schweigen nicht ungehört verhallt. Sprechen ist der erste politische Akt, der erste Akt der Befreiung, der stets einen weiteren nach sich zieht. Wer die Stimme erhebt, der erkennt: »Ich bin, und ich bin nicht al lein.« Politik ist bestenfalls ein unvollkommenes menschliches Pro jekt. Und sie ist auf dem T iefpunkt, wenn wir uns einbilden, sie könne vollkommen sein.
1994
war ich MSF-Einsatzleiter in
Kigali, der Hauptstadt Ruandas. Hier herrschte die kriminelle Politik des V ölkermords. Es war eine grausame Schreckenszeit, in der das rationale, systematische und staatlich geplante Böse regierte. In einer Zeitspanne von nur vierzehn Wochen wurden über eine
�illion
Menschen - praktisch alle Tutsi - abge
schlachtet. Uberall lagen Leichen in den Straßen der Haupt-
stadt, und vor einem Krankenhaus, das dank unseres Einsatzes den Betrieb fortsetzte, färbte das viele Blut die Rinnsteine rot. Eines Nachts erzählte mir ein etwa neunjähriges Mädchen, wie es der Ermordung durch ein T ötungskommando entkom men war. Diese Kommandos gehörten zu einem perfiden Re gierungsplan, der darauf abzielte, das Volk der Tutsi in Ruanda auszurotten. Mit Hilfe eines Dolmetschers erzählte mir das Mädchen, wie ihre Mutter es in der Latrine versteckt hatte, von
forderungen für humanitäres Handeln in der Tatsache, dass die Grenze zwischen den Hilfeleistungen aus Mitmenschlichkeit und den Machtinteressen einer militärischen Intervention im mer blasser wird. Seit dem Ende des Kalten Kriegs haben wir militärische Interventionen in Somalia, in Osttimor, im Kosovo, in Haiti und Sierra Leone erlebt. In Angola, T schetschenien, Nepal oder Nordkorea dagegen hat nichts dergleichen stattge funden. In diesen und vielen anderen Ländern kam und kommt
wo aus es mit ansehen musste, wie die Mörder beide Eltern
es zu ungeheuren Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das
mit Macheten auf grausamste Weise töteten.
Leid, das sie schaffen, ist unvorstellbar.
Die französische Regierung hatte die Soldaten in Ruanda über Jahre hinweg ausgebildet und bewaffnet. Während des V ölker mords versorgte sie sie weiterhin mit Waffen, Söldnern und NachrichtenmateriaL Ärzte ohne Grenzen und andere Nichtre
Ich flog am frühen Morgen des 1 1. September 2001 nach New York City. Auf dem Weg zu einer Besprechung im Gebäu de der Vereinten Nationen sah ich vom Taxi aus die Zwillings türme des World Irade Center brennen. Als ich mich als frei
gierungsorganisationen forderten wiederholt ein Einschreiten
williger Helfer bei einer Triage-Site für Opfer meldete, wusste
durch die Vereinten Nationen, aber Belgien, Frankreich und die
ich, dass die Welt sich verändert hatte. Der Terrorismus und die
USA
machten von ihrem Vetorecht Gebrauch und setzten ihre
Außenpolitik, wider besseres Wissen, auch während des V ölker mords fort. Die Militärintervention durch die Vereinten Natio nen unter französischer Führung kam zu zaghaft und zu spät, und war kaum mehr als ein T äuschungsmanöver, das es den T ätern gestattete, sich nach Zaire abzusetzen. Für viele Menschen sind V ölkermorde und ähnliche Verbre chen gegen die Menschlichkeit etwas Undenkbares. Und den noch gibt es sie. Dass Menschen andere Menschen ermorden, können Ärzte nicht verhindern. Doch das kleine Mädchen in
weltweite Terrorbekämpfung unter us-amerikanischer Führung haben den Kalten Krieg als vorrangigen geopolitischen Hinter grund für humanitäre Aktionen abgelöst. Die Selektivität der Interventionen geht weiter. In der Provinz Darfur, im Sudan, kommt es regelmäßig zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn nicht gar ein Genozid in Zeitlupe stattfindet. Und doch wurde den Menschen in Darfur, wo seit 2003 über vierhun derttausend Personen ihr Leben ließen, kaum mehr geboten als politische Rhetorik. Angriffe gegen die Westmächte in Afgha nistan und im Irak erschweren den humanitären Helfern die
seinem Versteck in der Latrine hatte keine Stimme, und so lag
Arbeit. In beiden Ländern, in denen ein enormer Bedarf an
es an uns Ärzten, die Stimmen zu erheben gegen das Unrecht,
Versorgungsgütern besteht, ist die humanitäre Gesinnung we
dessen Zeugen wir wurden. Und unser Protest war nicht in den Wind gesprochen. Wir appellierten an das Gewissen der gesamten Weltöffentlichkeit und forderten das Einschreiten der Vereinten Nationen, damit dieser verbrecherischen Politik ein Ende gesetzt werde. In diesem Buch geht es mir darum, einen Weg zu finden, wie man mit dem sinnlosen menschlichen Leid in dieser Welt umgehen kann. Heutzutage besteht eine der größten Heraus20
nig mehr als ein Wolf im Schafspelz, da die
USA
und ihre Ver
bündeten die humanitäre Hilfe als politisches Werkzeug miss brauchen,
um bei ihren Militäreinsätzen die Herzen der
Menschen zu gewinnen. Im Juni 2004 wurden in Afghanistan fünf Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen ermordet. So unsicher sind die Bedingungen in beiden Ländern, dass Ärzte ohne Grenzen und viele andere Organisationen gezwungen waren, entweder das Handtuch zu werfen oder als Zaungäste zuzuse21
hen, wie Millionen Menschen leiden. Seit dem I I. September sind die moralischen Gewässer für eine humanitäre Gesinnung, die fest in der Menschenwürde verwurzelt ist, von den West mächten selbst noch mehr getrübt worden, indem sie Folter und sogenannte »Sonderregelungen« zur Anwendung bringen, gegen geltendes Kriegsrecht verstoßen und eine wachsende Anzahl bürgerlicher Freiheiten im eigenen Land zeitweilig au ßer Kraft setzen - und all dies im vielbeschworenen »Age of Liberty « eines George Bush, einem vermeintlichen Zeitalter der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte. Wir müssen uns dem Unrecht stellen und unsere eigenen Regierungen für das, was in unserem Namen geschieht, zur Rechenschaft ziehen. Catherine Lu, eine politische Philosophin an der McGill University, hat einmal geschrieben, die Gerech tigkeit sei das Gütesiegel der menschlichen Gesellschaft. W ie alle Tugenden und Laster sei sie der Menschheit eigen. W äh rend wir uns metaphorisch der Sprache der Gerechtigkeit be dienten, um ein W irken der Götter, des Schicksals oder der Natur zu definieren, seien es am Ende doch nur die Menschen, die gerecht oder ungerecht sein können. Gerechtigkeit sei ein Ideal, das keiner überirdischen Macht bedürfe, um erreicht zu werden, sondern nur des guten Willens der Menschen. Und an ihm mangele es am meisten, wenn Unrecht geschehe. Der erste Akt der Gerechtigkeit ist die Anerkennung der Opfer. Im Januar 2ooo war ich in Südafrika in einer Aids-Klinik von Ärzte ohne Grenzen. In einem öffentlichen Akt zivilen Unge horsams stand unsere Organisation kurz davor, illegal Medika mente gegen HIV I Aids nach Südafrika zu importieren. War um? Aids ist eine durchaus behandelbare Krankheit- ähnlich wie Diabetes. Und doch sind ihr weltweit dreißig Millionen Menschen erlegen, leben dreiunddreißig Millionen mit der Hiv-Infektion, werden bis zum Jahr 2o2o mehr als einhundert Millionen infiziert sein. Und der Großteil aller Infizierten lebt in Entwicklungsländern. 1996 waren in der westlichen Welt patentierte Medikamente erhältlich. Doch bei einem Kostenauf22
wand von jährlich über 15 ooo Dollar für eine Person bestand keinerlei Hoffnung, dass irgendjemand in der Dritten Welt sich je ein so teures Medikament würde leisten können. In der Klinik untersuchte ich einen zwanzigjährigen Mann. W äre er in jedem beliebigen westlichen Land geboren, hätte er noch sein ganzes Leben vor sich. In Südafrika war es fast zu Ende. Er wog kaum noch fünfzig Kilo und war so schwach, dass seine Mutter und seine Großmutter ihn auf den Untersuchungs tisch heben mussten. Als er da saß und nach Luft schnappte, meinte er: »Warum sind Sie hier? Ihre schönen Worte helfen mir nicht, ich brauche Medizin. Mit Freundlichkeit allein lässt sich Aids nicht bekämpfen. In Ihren Ländern gibt es längst Me dikamente dagegen, warum nicht auch hier in Südafrika, für Leute wie mich?« Es waren Fragen wie diese, die Ärzte ohne Grenzen dazu bewogen, eine Medikamentenkampagne zu starten. W ir sam melten zunächst Informationen und mobilisierten dann Bürger gruppen auf der ganzen Welt, die Pharmakonzerne und Regie rungen an den Pranger stellten, wenn sie das Vorrecht auf Profit über das Recht auf Leben stellten. Dann kauften wir gemeinsam preisgünstige Generika, Nachahmerprodukte der betreffenden Medikamente. Auf diese Weise drückten wir den Preis für die Behandlung von Aids von über fünfzehntausend Dollar für pa tentierte Medikamente auf unter zweihundert Dollar für Nach ahmerprodukte. Von Seattle bis nach Doha appellierten wir an die Welthandelsorganisation, die Weltgesundheitsorganisation, an die Vereinten Nationen und nationalen Regierungen, be drängten und beschwatzten sie. W ir haben viele Siege errun gen, aber auch Niederlagen einstecken müssen. Und wir haben unbefriedigende Ergebnisse erzielt, wie durch Kanadas Bill C-9 ersichtlich wird, ein Gesetz, das theoretisch den Export von Generika in die Dritte Welt erlaubt, in Wirklichkeit aber ein bürokratischer Sumpf ist. Aids war nur der Anfang. Eine Viel zahl anderer Krankheiten sind dank einer Politik, die viel zu lange Millionen von Menschen vernachlässigt hat, noch gänz lich unerforscht. Wie man heute gegen Leiden vorgeht wie bei-
spielsweise die afrikanische Schlafkrankheit, Malaria oder Tu
nach Malawi. Malawi ist ein Land, das von Aids heimgesucht
berkulose, hat sich durch unsere Medikamenten-Kampagne
wird, aber außerstande ist, die vierzehn Prozent der Menschen
radikal geändert.
im Land, die Hiv-positiv sind, zu behandeln; trotz der Medika
2oo1, als meine Amtsperiode als Präsident von Ärzte ohne
mente, die mittlerweile zu erschwinglichen Preisen erhältlich
Grenzen zu Ende ging, übernahm ich die Leitung der Arbeits
sind, ist sein Gesundheitssystem eher ein Phantasiekonstrukt
gruppe für vernachlässigte Krankheiten. Wir konzentrierten uns
als funktionierende Realität. Ich besuchte das Krankenhaus in
auf die Frage, warum kaum Medikamentenforschung betrieben
Zomba, wo zwanzig Prozent der Menschen im Bezirk HIV-posi
wurde für Krankheiten, die in erster Linie arme Menschen in
tiv sind. Es war eine lebende Hölle, und genau wie 1992 in
Entwicklungsländern betreffen. Ergebnis war, dass die Renditen
Somalia bekam ich erst einmal weiche Knie, als ich mich dort
nicht groß genug sind für eine globalisierte Pharmaindustrie,
umsah. Das Krankenhaus war voller verzweifelter Patienten.
die gänzlich von Habgier und Profitstreben getrieben ist, und
Hundertundfünfzig Kranke waren in eine Station gepfercht, die
Regierungen haben es versäumt sicherzustellen, dass der Ge
nur über dreißig Betten verfügte. Die Kranken lagen zum Teil
winn, der durch Patentmonopole erzielt wird, für vorrangige
unter Bäumen im Freien. Neunzig Prozent der Kranken waren
globale Gesundheitsprojekte verwendet wird. Statt darauf zu
mv-positiv. Es war kein Krankenhaus, sondern eine Leichenhal
warten, bis andere tätig werden, gründete Ärzte ohne Grenzen
le. Es gab eine einzige Schwester, Alice, und keinen Arzt. Ich
die gemeinnützige Forschungsinitiative Drugs for Neglected Di
unterhielt mich mit Alice, und sie weinte, als ich sie fragte,
seases initiative (DNDiiinitiative für Medikamente gegen ver
wie sich die Krankheit so rasant verbreitet hatte. In einem
nachlässigte Krankheiten). Im Juli 2003 lanciert, hat die Initiati
schwachen Versuch, sie zu trösten, meinte ich: »Es gibt immer
ve mittlerweile über siebzehn Medikamente in der Entwicklung,
Hoffnung.« Sie wischte sich die Tränen fort und sagte: »Ja,
und im März 2007 gab sie ihren ersten eigenen Wirkstoff frei,
Dr.James, die gibt es wirklich, aber weit fort von hier.«
ein Malariamittel, das auf die spezifischen Bedürfnisse von Men
In diesem Augenblick beschlossen Jarnes Fraser und ich, Ärzte
schen in Entwicklungsländern abzielt. Wir wurden nicht etwa
ohne Grenzen zu verlassen und eine neue Organisation zu grün
aktiv, weil wir die Verantwortung für das Problem an uns reißen
den, die den einzelnen Gemeinden aktiv dabei helfen sollte, die
wollten, sondern um auf praktische Weise zu demonstrieren,
Krise eigenständig zu bewältigen. Auf diese Weise entstand Di
dass durchgreifende Veränderungen und gerechte Alternativen
gnitas International, eine Initiative, die sich der gemeinschafts
möglich sind.
basierten Pflege mv-infizierter Menschen in Entwicklungslän
Die Kampagne tat, was soziale Bewegungen seit Jahrhunder
dern widmet. In Zusammenarbeit mit Dorfhelfern, Ärzten,
ten tun - die Frauenbewegung, die Arbeiterbewegung, der
Krankenschwestern und Beamten am Gesundheitsministerium
Kampf gegen die Sklaverei, die Umweltbewegung: Sie alle ha
in Malawi und in Verbindung mit einem internationalen For
ben sich geweigert, das Inakzeptable zu akzeptieren, und sich
schungsteam entwickelten wir im Krankenhaus und in den Dör
bemüht, die menschliche Würde ins Zentrum ihres politischen
fern rings um Zomba ein Präventions- und Behandlungspro
Engagements zu rücken. V isionen können viel bewirken, sind
gramm. Wir kümmern uns mittlerweile um zehntausend HIV
nicht selten mächtiger als Armeen oder Wirtschaftssysteme. Ih
positive Patienten und bringen die besten Instrumente und Be
re Macht basiert nicht auf Waffen oder Geld, sondern auf Men
handlungsmethoden zu ihnen, die die medizinische Forschung
schen, die im gemeinsamen Einvernehmen agieren.
zu bieten hat. Und da das Gesundheitsministerium von Malawi
2004 reiste ich mit James Fraser von Ärzte ohne Grenzen
unsere T ätigkeit unterstützt, werden künftig mehr Menschen ei-
ne Behandlung erhalten. Zigtausend brauchen sie -und werden sie auch bekommen. Wenn wir eine Welt der praktischen Mög lichkeiten schaffen, gibt es Hoffnung.
Seine schönen Augen und meine neuen Schuhe
Heute bin ich siebenundvierzig Jahre alt, verheiratet, Vater zweier kleiner Jungen, Arzt, Bürger, manchmal im humanitä ren Einsatz tätig, und letztlich immer ein Mensch. In den ver gangeneu zwanzig Jahren habe ich mich darum bemüht zu
Ein Mann sagte einmal in Afghanistan zu mir: »Keine Narben,
begreifen, wie man auf das Leiden anderer reagieren soll. Lei
keine Geschichte, kein Leben.<< Manchmal enahrt man das We
der weiß ich mittlerweile nur zu gut, dass einzig wir Menschen
sentliche zwischen den Zeilen
bewusst grausam sein können. Nur Menschen können die Ent
schenraum ein Fenster in eine andere Sicht der Dinge. Und
scheidung treffen. fiir irgendein politisches Ziel das Leben an
wenn es keine einfachen Antworten gibt, sind Geschichten al
derer zu opfern, und nur Menschen können solche Opfer in
les, was wir haben.
Zweifel ziehen. Als Arzt habe ich praktisch ungehinderten Zu gang zu einigen sehr persönlichen, meist sehr leidvollen Erfah
Ich kam
1960
als öffne sich in diesem Zwi
in England zur Welt und weiß noch, wie ich
als Junge in den zerbombten Ruinen der Reihenhäuser unweit
rungen im Leben der Menschen. Ich kann zusehen, wie eine
der Kathedrale spielte, außerhalb von London. Der Krieg war
Einzelperson, eine Familie oder Gemeinschaft gesund wird. Ich
längst vorbei, aber einige der beschossenen Überreste der Häu
erlebe das Gute, zu dem wir als Menschen fähig sind: eine
ser waren noch nicht beseitigt worden. Ich weiß noch, wie ich
Mutter, die trotz Hunger und Schmerzen ihrem Kind die Brust
mit Feuereifer Porzellan -in einer anderen Zeit irgendjemandes
gibt; eine Großmutter in Südafrika, die ihren kranken Enkel in
Essgeschirr
eine weit entfernte Klinik trägt. Menschen, die nicht stumm
te, an dem ein einzelner kreuzförrniger Wasserhahngriff ver
gegen ein zerbrochenes Waschbecken schmetter
mit ansehen wollen, wie ein anderer geschändet wird, die agie
blieben war. Ich weiß noch, wie ich von einem Schutthaufen
ren, um ein Unrecht wiedergutzumachen. Ich sehe das Gute,
auf den nächsten gesprungen bin und mit meinem kleinen Bru
das wir bewirken können, wenn wir es nur wollen.
der Kevin zusammen in einen verwitterten Stiefel ohne Schnür senkel gepinkelt habe. Ich weiß noch, wie ich die zerbombte Hauptmauer der Kathedrale hinaufblickte zu einem kreisrunden Fenster, in dem noch ein paar Scherbenzacken vom einstigen Glasmosaik verblieben waren. Aufgewachsen bin ich in Montreal. Ich war zehn Jahre alt, als während der Oktoberkrise von 1970 unter Berufung auf den
War Measures Act in der Provinz Quebec der Ausnahmezustand verhängt wurde. Grund dafür war die Terrorzelle Front de Libe ration du Quebec, die seit fast zehn Jahren Bombenangriffe auf Gebäude und Symbole der britischen Monarchie im Land verübt hatte, und nun den britischen Handelskommissar James Cross und den Arbeitsminister von Quebec, Pierre Laporte, entführt
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hatte. Die Armee in Quebec rückte aus und erhielt Verstärkung aus der Provinz Ontario. Die Amerikaner mobilisierten ihre Truppen entlang der Grenze nach Quebec. Viele tausend kanadi sche Soldaten sicherten Flughäfen und staatliche Einrichtungen. Soldaten in grünen Uniformen eskortierten Schulbusse- vor allem jene, die Kinder in englische Schulen brachten - und gingen Bombendrohungen nach. Soldaten kamen auch in un sere Wohnung, nachdem ihnen meine fünfjährige Schwester die T ür geöffnet hatte. Wir waren Einwanderer und somit ver dächtig. Bis zum heutigen Tag schildert meine Mutter diesen Besuch mit Befremden und schilt meine Schwester, weil sie »die Soldaten hereingelassen« hat. Wir waren 1967 von England nach Kanada ausgewandert. Ich war sieben Jahre alt, als wir an Bord des Ozeandampfers gingen. Ich weiß noch, wie ich vor der kanadischen Küste, im St. Lawrence Seaway, Wale entdeckte. Mein Vater und meine Mutter waren beide in Irland geboren und aufgewachsen, ihre vier Kinder dagegen allesamt in England geboren. In Kanada erhofften sich meine Eltern für uns ein besseres Leben, ohne die Ressentiments, die man uns Iren damals in England entge genbrachte. Wir ließen uns in Montreal nieder, im V iertel Notre Dame de Grace, wo damals viele Engländer lebten. Dort wimmelte es von fremdartigen Gerüchen und Geräuschen. Einer unserer Nachbarn- ein pensionierter Polizist- trug stets einen schwar zen Hut und einen langen schwarzen Wintermantel, und wenn er seinen kleinen Hund in unserer Straße Gassi führte und da bei eine dicke Zigarre rauchte, erinnerte er an eine schnaufen de Dampflok, die in einem fort blauen Rauch in die Luft blies. Er hatte sein Leben in dieser Straße verbracht und machte kei nen Hehl aus seinen Präferenzen: »French pea soup and johnnycake makes the French man's belly ache I Erbsensupp und Knäckebrot, die sind der Franzosen Tod.« Mein italienischer Freund Frankie wohnte auf der anderen Straßenseite, und seine Familie er schien uns sagenhaft reich, weil sie ein altes Klavier besaß. Im Sommer spielten wir Baseball im Park und im Winter Hockey 28
in unserer Straße. Der Mann, der in unserem Haus im Souter rain wohnte und am Tourette-Syndrom litt, begrüßte meinen Vater jeden Morgen mit einer Grimasse und einem »Verfluchte Scheiße-Scheiße-Scheiße ... Morgen, Stan.« Mein Vater nickte nur und warf dann einen prüfenden Blick die schmiedeeiserne Wendeltreppe hinauf zu unserer Wohnung, ob nicht versehent lich eines der Kinder das Fluchen gehört hatte. Die meisten Menschen in der Nachbarschaft waren Immi granten, gehörten zur armen Arbeiterschicht und träumten von einem besseren Leben. Die radikale Welle, die in den 196oer Jahren die USA und einen Großteil Europas erfasst hatte, war auch in Montreal zu spüren. In einem Hotel hier veranstalteten John Lennon und Yoko Ono ihr berühmtes »Bed-in« gegen den Vietnamkrieg, und Studenten der Sir George Williams Uni versity - nur ein paar Straßen von uns entfernt - rebellierten, indem sie Computer im Wert von mehreren Millionen Dollar aus den Fenstern der Fakultät auf die Straße warfen. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Zu Beginn der 196oer Jahre hatte Tommy Douglas, Kopf der ersten sozialdemokratischen Regierung Nordamerikas, in seiner Provinz Saskatchewan das erste öffentliche Gesundheitssystem des Kontinents begründet und auf ganz Kanada ausgeweitet. Natürlich war mir damals noch nicht klar gewesen .. welch große Bedeutung ein Zugang der Allgemeinheit zu gesundheitlicher Versorgung hatte und wie wichtig es war, dafür zu kämpfen. Eines Nachts weckten die Schreie meines Bruders Kevin mich auf, der im Stockbett über mir schlief. Wir waren erst wenige Monate in Kanada. Meine Eltern hatten sehr wenig Geld und kein Auto, konnten sich keinen Krankenwagen leisten und hatten Angst, ins Krankenhaus zu gehen. Meine Mutter lief des halb zu einem Nachbarn, einem angehenden Kinderarzt. Er kam zu uns ins Kinderzimmer. Mein Bruder litt an Masern und Lungenentzündung und hatte hohes Fieber. Der junge Medizi ner öffnete das Fenster, und ich erinnere mich noch an die Gänsehaut, die mir die kühle Nachtluft bereitete. Während er meinen Bruder mit einem Schwamm abrieb, um das Fieber zu
senken, starrte die große Plastikkuh, die sich über dem Eingang
Brillen, Schuhen und Koffern; ich sah Lampenschirme aus
zur Sealtest-Eiskrem-Fabrik gegenüber befand, zu mir herüber.
Menschenhaut, in Massengräbern liegende Leichen, von wei
Meine Mutter weinte, und auch mein Vater kämpfte mit den
ßem Kalk bedeckt wie von einem Laken, und wandelnde Ge
Tränen. Und ich weiß noch, wie ich dachte, dass Kevin be
rippe hinter Stacheldraht: Es war der Tag, an dem britische und
stimmt in den Himmel käme, weil der Pfarrer in der Schule zu
kanadische Einheiten Bergen-Belsen befreiten.
uns gesagt hatte, dass das meistens so ist. Trotzdem betete ich vorsichtshalber zu Jesus. Man weiß ja nie. Der junge Arzt fuhr in sein Krankenhaus und kam ein paar Stunden später mit Me dikamenten zurück. Er rief alle paar Stunden bei uns an und
Mein Vater wollte umschalten, aber ich wollte die Sendung sehen. »Ist das wirklich passiert?«, fragte ich. Nach längerer Pause sagte er bedächtig: »Ja schon, aber vor sehr, sehr langer Zeit, James.«
besuchte meinen Bruder etwa eine Woche lang täglich. Bei
»Wann?«
jedem Besuch bot meine Mutter ihm Kuchen und Tee an -
»Im Krieg, James, im Krieg.«
mehr hatte sie nicht, um ihm ihre Dankbarkeit zu zeigen. Mein
»Wer sind diese Menschen?«
Bruder erholte sich zusehends, und als er meine begehrteste
»Es sind Juden, James. Juden.« Wie in Irland üblich, pflegte
Hockey-Karte stibitzte, wusste ich, dass er wieder vollständig
mein Vater Dinge zu wiederholen, die ihm schwer von der
gesund war.
Zunge gingen.
Jedes Jahr im August fuhren wir im Bus ins jüdische V iertel
den Ärmel zurück und legte eine Nummer bloß, die man ihr
von Montreal, um für uns Kinder neue Schuhe zu kaufen. Es
in den Unterarm tätowiert hatte. Sie war sehr mager und hatte
war die letzte Woche im August 1969, ich war neun Jahre alt,
tiefe Augenhöhlen.
Die Kamera richtete sich auf den Arm einer Frau. Sie schob
und die Nacht davor hatten meine Eltern sich gestritten, wie
»Was hat diese Nummer zu bedeuten?«, fragte ich.
in jedem Jahr, wegen der Ausgaben für vier Paar neue Schuhe,
W ieder machte mein Vater eine Pause und sagte: »Die Nazis
für mich und meinen Bruder und unsere zwei Schwestern.
haben sie ihr eintätowiert.«
W ürden die alten nicht noch ein Jahr halten?, hatte mein Vater
»Warum?«
gefragt. »Sie wachsen doch unentwegt, Stan«, sagte meine
»Jetzt ist es genug. Zeit fürs Bett.«
Mutter, und mein Vater entgegnete: »Aber das Geld wächst nun
Vor diesem Tag hatte ich eine andere Vorstellung vom Tod
mal nicht auf den Bäumen!« Ich wusste, dass wir unsere neuen
gehabt. Ich erinnere mich an den Park unweit unseres Hauses
Schuhe bekommen würden, und freute mich schon darauf, mit
in England, in dem wir jeden Tag spielten. Einige Wochen,
meiner Mutter in den 69er Bus zu steigen, der uns in die Stadt
bevor wir das Schiff nach Kanada bestiegen hatten, war dort
bringen würde.
einer meiner Freunde von einem Betrunkenen überfahren wor
Am Abend vor unserem Ausflug hatte ich eine Fernsehsen
den. Meine Mutter versuchte, die Unfallszene zu meiden, we
dung über den Holocaust gesehen. Obwohl ich damals noch
nigstens bis der Regen das Blut von der Straße gespült hätte,
nicht recht begriff, was ich da sah, war ich doch von der Stim
überschätzte aber dessen reinigende W irkung. Mein Bruder
me des Erzählers und den Fernsehbildern fasziniert: Menschen,
und ich wussten, dass etwas nicht stimmte, weil sie uns noch
die gelbe Sternabzeichen trugen, wurden auf V iehwaggons ver
festhielt, als wir die Straße längst überquert hatten und schon
laden; auch Kinder waren darunter. Vor den Krematorien lagen,
ein Stück we;t im Park waren. Wir sahen die Unglücksstelle -
fein säuberlich voneinander getrennt, Haufen von Zahngold, 30
eine etwa dreizehn Meter lange blutige Spur - jeden Sonntag 31
auf dem Weg zur Kirche. Dieser Blutfleck faszinierte mich. Er
»Nur dass sie Juden waren? Warum?<<, fragte ich.
riss plötzlich ab, als hätte ein riesiger Filzstift aufgehört zu
»Sie hassten Juden.«
schreiben, und ich weiß noch, dass ich mich fragte, ob mein
»Warum? Weil sie Jesus ans Kreuz geschlagen haben?«
Freund sich an der Stelle, wo der Streifen abgerissen war, viel
»Das ist eine komplizierte Geschichte«, sagte mein Vater.
leicht unter dem Asphalt versteckt hielt. Seit ich jedoch die
»Wie kompliziert?«
Dokumentation über die Judenvernichtung im Fernsehen gese
»Schwer zu sagen.« Ich wartete geduldig auf seine Erklä
hen hatte, war der Tod etwas, das die Menschen sich gegensei
rung. »Manchmal können wir Menschen entsetzlich gernein
tig antun konnten. In dieser Nacht träumte ich von den hervor
sein«, sagte er schließlich, sah meine Mutter an und dann aus
quellenden Augen wandelnder Toter.
dem Fenster. Das Zimmer war still.
Tags darauf stand ich mit meiner Mutter vor dem Schuh laden. »Das Schaufenster müsste dringend geputzt werden«,
Nach einer langen Pause sagte meine Mutter: »Iss deine Kar toffeln.«
stellte sie fest und stieß die T ür auf, die ein wenig klemmte,
In jener Nacht fuhr ich tränenüberströmt aus dem Schlaf.
weil sich ihr Holz in vielen langen kanadischen Wintern verzo
Meine Mutter drückte mich an sich, streichelte mir den Rücken
gen hatte. Meine Mutter verkündete dem Alten am Tresen, wir
und sagte: »Schsch, was ist denn, mein Kleiner, hast du schlecht
seien gekommen, um ein Paar ordentliche Schuhe für die
geträumt?« Ich konnte nicht sagen, was mit mir los war. Ich
Schule zu erstehen. An den W änden stapelten sich die Schuh
bezog den Holocaust nun auf den Mann, der uns meine neuen
schachteln fast bis zur Decke. Der Ladeninhaber zog eine
Schuhe verkauft hatte. Für eine Welt, in der man Menschen zu
Schachtel heraus und brachte die Schuhe zu uns herüber. Der Alte strich mir sanft über den Scheitel, und ich weiß noch, dass ich ein wenig verlegen wurde, weil jemand außer halb der Familie so freundlich
zu
mir war. »Hier, ein gutes Paar
Lampenschirmen verarbeitete, hatte ich keine Worte. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Meine Eltern erinnerten sich zwar in Liebe, aber zunächst immer etwas widerstrebend an ihre eigene Kindheit
meine
Schuhe für einen guten Jungen«, sagte er. Als er die Schuhe aus
Mutter war in Dublin, mein Vater in T ipperary aufgewachsen.
der Schachtel holte, rutschte sein Ärmel zurück, und ich sah
Ihre Familien waren sehr arm gewesen, und Armut galt ilmen
die eintätowierte blaue Nummer auf seinem Unterarm. Die Zif
als Makel. Sie erzählten vom Schwarzmarkt während des Krie
fern waren ein wenig krumm und wurden nach oben hin klei
ges, von deutschen Bomben, vom Feuerholz, das mein Vater
ner. Ich versuchte sie zu addieren, während er mir einen Schuh
und sein Bruder im nahen Wald hatten sammeln müssen, da
anprobierte. Meine Mutter sah mich an und schüttelte den
mit die Mutter kochen konnte, von einem OnkeL der die
Kopf »Nicht fragen«, bedeutete sie mir stumm.
Schwindsucht hatte, von Hunger und schlechter Ernährung,
Am Abend trug ich die neuen Schuhe beim Essen . Ich spürte
von der Zeit, als mein Vater sanntags zweimal als Ministrant
Blasen an den Fersen. »Ist der alte Mann im Laden ein Jude?«,
gedient hatte, um hinterher mit dem Pfarrer Eier essen zu kön
fragte ich.
nen, von einer Tante, die an Meningitis gestorben war.
»Ja«, sagte mein Vater. »Er ist vor langer Zeit nach Kanada gekommen, gleich nach dem Krieg.« »Was hatten die Nazis gegen die Juden?«, fragte ich. »Hm.« Mein Vater hielt inne und schaute auf seinen Teller. »Nur, dass sie Juden waren.«
Gelegentlich war bei solchen Anlässen auch von der Großen Hungersnot in Irland die Rede, die in den Jahren 1846 bis
1849
iiber eine Million Menschen dahinraffte. Natürlich stellten wir Fragen und erhielten als Antwort meist nur Schweigen, voller Groll. Vollständige Geschichten wurden nie erzählt, nur Frag-
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mente, die man sich über die Jahre zusammensetzte. Zwischen
die das Haus neben dem Tierheim bevölkerten. Oft kamen
den Worten war die Entrüstung zu spüren angesichts des Leids
schwule und lesbische Pärchen zu Besuch und schliefen vorgeb
der Menschen damals und angesichts dessen, was aus einigen
lich »in getrennten Zimmern«. Im ersten Stock wohnte ein jun
geworden war. Man erzählte uns von den sogenannten »Soupers«,
ger Amerikaner mit einer Vorliebe für Hasch. Er arbeitete im
die sich vor lauter Hunger zum Protestantismus bekehrt hatten,
Tierheim und beklagte sich in einem fort über Mrs Black, »das
damit ihre Kinder in gemeinnützigen Suppenküchen essen
alte Miststück«, war aber gleichzeitig von ihr abhängig, weil sie
durften. Es gab verbitterte Andeutungen zum sogenannten
seine Einwanderungspapiere unterschreiben musste. Mrs Black
»Gregory Clause« von 1847, einem Gesetz, demzufolge Famili
litt an einer Schuppenflechte und musste sich unentwegt krat
en, die mehr Land besaßen als einen V iertel Acre, also etwa
zen. Ihre Allergie gegen Hundehaare machte die Angelegenheit
tausend Quadratmeter, keine Hilfe erwarten durften, es sei
nicht besser. Sie bunkerte ihr Bares an so vielen verschiedenen
denn, sie traten ihr Land an britische Großgrundbesitzer ab.
Stellen und vergaß es wieder, dass sich nicht selten zwischen
»Was hättest du getan, Daddy?«, fragte mein Bruder mehr als
einem Sack Hundefutter und einem Beutel W äsche ein Bündel
einmal. W ir lauschten bedächtig, wenn mein Vater leise ant
Hundertdollarscheine fand. Es war ein schlampiger Haushalt, in
wortete.
dem es nach Hundekacke und Bleiche stank. Die Hundehaare
W ir waren eine zutiefst katholische Familie. W ir besuchten
waren überall, sogar in der Marmelade, die ich mir widerstre
katholische Schulen, aßen freitags Fisch, hatten eine Fotografie
bend auf die verbrannte Scheibe Toast schmierte, die mir
vom Papst und Heiligenbilder in jedem Zimmer und empfin
Mrs Black am Sonntagmorgen zusteckte. Zwei Jahre arbeitete ich
gen die Sakramente. Wir beteten jeden Abend den Rosenkranz,
fiir die verschrobene Dame, und irgendwie mochte ich sie lei
als Buße für begangene Sünden und als Vorbereitung auf kom
den.
mende. Als Junge verstand ich nicht viel von der Bedeutung
Dann fand ich einen anderen Job als Aushilfskoch und Kell
dieses Rituals, und ich weiß noch gut, dass es regelmäßig Ohr
ner in einem kleinen, familienbetriebenen Hotel in Flughafen
feigen setzte, wenn wir Kinder, auf Knien, bei der schier end
nähe, nicht weit von zu Hause. Die kleine Bar im Keller war
losen Litanei von Gegrüßet-seist-du-Marias über irgendeinen
der Treffpunkt für alle, die am Flughafen Nachtschicht hatten
Scherz zu lachen wagten.
und kamen, sobald ich am Wochenende um sieben Uhr mor
Ich weiß auch noch, wie ich als etwa dreizehnjähriger Junge
gens zu arbeiten begann. Steve war einer von vielen Alkoholi
1974 im Fernsehen Berichte über die Hungersnot in Äthiopien
kern an der Bar, und wenn er das Glas mit dem dreifachen Gin
sah. Ich erinnere mich noch immer an den apathischen Ge
Tonic an die Lippen führte, zitterten seine Hände. Eines Mor
sichtsausdruck eines kleinen Mädchens, das auf spindeldürren
gens, während ich ihm wie jeden Tag sein Spiegeleisandwich
Beinehen auf seine Mutter zu gestakst war. Ich hatte geweint.
mit Mayonnaise vorsetzte, sagte er: »Du bist ein guter Junge.
Diesmal ahnte meine Mutter, warum ich weinte. »Wir werden
Was zum Teufel suchst du hier in diesem Drecksloch?« Gegen
für sie beten«, tröstete sie mich.
neun kam Lee, der Chefkoch, und machte sich sofort an Carrie
Mit dreizehri besorgte ich mir Arbeit in einem Tierheim, das
heran. Bis um zwei war er dann meistens so angetrunken, dass
Mrs Black betrieb, eine reichlich verbitterte alte Frau. Ihr Ehe
Carrie, das Schönste und Älteste der Barmädchen, ihm einen
mann hatte sich umgebracht, und ihr einziger Sohn schickte ihr
Shrimpcocktail und ein Steak abluchsen konnte.
zwar regelmäßig Geld, ließ sich aber kaum einmal bei ihr bli
Das Hotel war laut Vertrag mit der Einwanderungsbehörde
cken. Die Welt von Mrs Black war voller kurioser Charaktere,
gezwungen, Immigranten und Asylsuchende aufzunehmen, die
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am Flughafen festgehalten wurden oder denen ein Auswei sungsverfahren drohte. Mehrere Stockwerke des kleinen Hotels und ein Rückgebäude waren in ein Gef"angnis umgebaut worden mit Wärtern, die dafür sorgten, dass die Häftlinge drinnen und alle anderen draußen blieben. Ich kochte an den Wochenenden und brachte den Häftlingen das Essen. Ich erinnere mich an eine junge Frau aus Salvador, die meh rere Monate inhaftiert worden war. Ich beschaffte ihr Bücher. Ihr Mann sei vom Regime ihres Landes getötet worden, erzähl te sie mir, sie fürchte um ihr Leben, wenn man sie zur Heim kehr zwinge. Menschen wie sie waren in Haft, weil Beamte an ihren Ge schichten zweifelten; ich hatte keinen Grund, daran zu zwei fein. Die Frau aus Salvador schenkte mir in der Nacht vor ihrer letzten Anhörung eine goldene Halskette. Ihrem Antrag wurde stattgegeben, und ich besitze die Kette noch immer. Mein Bruder und ich waren bis ins Teenageralter Ministran ten gewesen. Wie viele katholische Jungen wollte auch ich zu nächst Priester werden, verwarf den Gedanken j edoch, als ich zwei Priester in der Sakristei beim Austausch von Zärtlichkeiten erwischte. Ich entschied mich daraufhin für ein Leben als Mönch. Michael Leiberman, mein Ueblingslehrer an der High school,
war
seit langem mit einem Mönch befreundet, Bruder
Benedict, der im Kloster Oka, am Stadtrand von Montreal, lebte und mit dem mein Lehrer mich bekannt machte. Benedict war ein großer, hagerer Mann mit kurzgeschnitte nem, graumeliertem Haar. Den imposanten Eindruck, den die schwarzweiße Benediktinerkutte auf mich machte, verscheuch te sein warmer Händedruck. Als wir gemeinsam durch den Wald schlenderten, der das Kloster umgab, hörte Benedict mir aufmerksam zu. Vor allem das Unausgesprochene schien ihn zu interessieren. Er versuchte zu ergründen, was mich zu dem Entschluss gebracht hatte, meine Tage im Kloster zu verbrin gen. Zuerst sprach ich nur zögernd, darm aber fasste ich Mut. Mich beschäftigten Fragen um das Leid und wie man ihm ent kommen konnte, sagte ich und versuchte in Worte
zu
fassen,
wie verwirrt ich war von den Gräueltaten, die Menschen be gingen, von den Schmerzen, die sie einander zufügten. Ich sah das Sonnenlicht durch die Blätter fallen und weiß noch, vvie sicher und geborgen ich mich in Benedicts Gegenwart fühlte. »Man karm sich vor dem Leid nicht verstecken, James. Man karm nur versuchen, aktiv etwas dagegen zu tun.« Der kurze 'fraum von einem Dasein als Mönch war damit ausgeträumt, jetzt galt es zu ergründen, wo dann mein Platz in dieser Welt zu finden wäre. Noch hatte ich keine Ahnung , und doch war mir, als hätte sich endlich ein Knoten aus unbeantworteten Fra gen gelöst; endlich konnte ich durchatmen. Einige Tage später schenkte mir mein Lehrer Michael, der Jude ist, eine Mesusa, zur steten Erinnerung, dass Gott immer bei uns ist. Ich machte meinen Schulabschluss und reiste ein Jahr lang durch Kanada, bevor ich an die Universität ging. Ich studierte Arts and Sdence an der Trent University in Ontario und finanzierte mir das Studium durch mehrere Teil zeitjobs. Nach meinem Abschluss nahm ich eine Stellung als Sozialarbeiter in einem Gefangnis für jugendliche Straftäter in Calgary an. Der Umgangston war rau, aber hin und wieder sahen wir uns abends Filme an, und die Jugendlichen machten es sich im Gemeinschaftsraum auf den Sofas oder dem Boden bequem und aßen Popcorn. Viele der Jugendlichen verließen den Knast, nur um bald darauf wieder hier zu landen. Dass sie rückf'allig wurden, schien fast so etwas wie ein unausweichliches Schicksal zu sein, und dennoch blieb die schwache Hoffnung, dass sie sich ir gendwann eines Besseren besannen. Ich hatte einigen andere Wege aufgezeigt, doch die Entscheidung mussten sie selber treffen. Ein Jahr später besuchte ich erneut Benedict im Kloster Oka. Während wir durch den Wald schlenderten, zeigte er mir die Fährte eines Hasen. Die Luft am Morgen war noch kühl, würde sich erst am Mittag erwärmen. Ich genoss die Frische des Wal des, seine Gerüche, das Rauschen der Blätter im Wind, das Knistern aneinanderreibender Zweige. Ich fragte Benedict, wie
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er seinen Lebensweg gefunden habe. Lachend meinte er: »Nun ja, ein gutes Leben bedeutet wohl hauptsächlich ein Leben in Liebe. Man weiß oft erst im Nachhinein, ob unser Leben richtig war. Deshalb kommt es wohl eher darauf an, die richtigen Fra gen zu stellen.« Ich beschloss daraufhin, etwas zu tun, um das Leid anderer zu lindern, und die Hintergründe ihres Leids zu begreifen. Und so bewarb ich mich an der McMaster University School of Medicine in Ontario und wurde angenommen. Bereits nach wenigen Tagen an der Universität wusste ich, dass es kein Zurück mehr für mich gab. Ich war fasziniert vom Fachbereich Immunologie. Mein Tor in diese Welt war ein Fünfj ähriger mit Meningitis, der einige Tage zuvor, einer ver meintlichen Ohrenentzündung wegen, zum Arzt gebracht wor den war. Der Junge - präsentiert als ein hypothetisches Beispiel aus der realen Erfahrung - war gestorben. Mitte der achtziger Jahre stellte die Immunologie noch ein relativ neues For schungsfeld dar, und ich sah darin eine Möglichkeit, um rele vante Fragen zu stellen und vielleicht einige Antworten zu fin den. Indem ich Medizin studierte, wurden mir zugleich ihre Grenzen bewusst. Mein erster Tutor, der Immunologe Jack Ro senfeld, bestand darauf, dass wissenschaftliche Entdeckungen nicht verherrlicht oder als unumstößliche Wahrheiten betrach tet werden sollten. Ein zweiter Tutor, der britische Kardiologe Brian Sealy, erzählte einmal, wie er mit traditionellen Heilern in Afrika und Indien zusammengearbeitet hatte. »Solange es dem Patienten hilft, soll es mir recht sein«, lautete seine Devise. Thomas Muckle, ein bärtiger schottischer Farmer und Patholo ge, unterstrich die Grenzen der wissenschaftlichen Beweisfüh rung, indem er eines Morgens, als ich mit der Bedeutung des negativen Testergebnisses eines sehr kranken Patienten kämpfte, zu mir sagte, dass die Abwesenheit von Beweisen nicht immer ein Beweis für Abwesenheit sein müsse. In anderen Worten: Nur weil man etwas nicht nachweisen könne, müsse es nicht heißen, dass es nicht da sei. Mein Doktorvater V ic Neufeld lehrte mich, was es heißt,
Arzt zu sein. In meinem ersten Studienjahr - ich hatte als Wahl fach Infektionskrankheiten belegt - wurde ein sechzehnjähri ger Schüler in die Notaufnahme gebracht, weil er beim Basket ball nach dem Unterricht kollabiert war. Er hatte über Kopfschmerzen und Ausschlag geklagt, der sich bis zum frühen Nachmittag weiter ausgebreitet hatte. Seine Eltern und der Leh rer, der ihn begleitete, waren in heller Aufregung. Ohne es zu wollen, wurde ich ihr Bindeglied zu dem Ärzteteam, das sich auf der Intensivstation um den Jungen bemühte. Ich wusste mehr über das Leben außerhalb des Krankenhauses als über Medizin. Während ich mit den Eltern im Wartezimmer der Intensivstation saß, erzählten sie mir von ihm. Er wollte Inge nieur werden, hatte eine Freundin, war das einzige Kind älterer Leute und sehr fröhlich. Ich kannte ihn nur aus der Intensivsta tion: komatös, die muskulösen Arme schlaff, das Gesicht ruhig, nass von Schweiß. Über ein Gewirr von Schläuchen betraten und verließen Flüssigkeiten seinen Körper. Als ich am Morgen darauf ins Krankenhaus kam, lag er bereits in der Pathologie. Er war binnen zwölf Stunden nach seiner Einlieferung an Me ningitis, Hirnhautentzündung, gestorben. Ich ging zu ihm. Der Pathologe hatte den Schädel des Ver storbenen geöffnet, um die genaue Todesursache zu bestim men. Der Junge, den ich mir hatte beschreiben lassen, war zum Forschungsgegenstand geworden. Sein Schicksal wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wochenlang nahm ich nur noch schweigend an den Visiten teil. Vic fragte mich, was mit mir los sei. Ich brach in Tränen aus, als ich es ihm erzählte. Schweigend hörte er mir zu und erzählte mir dann von seiner ersten Patientin, die gestorben war. Er erinnerte sich noch ge nau an sie und riet mir, ich solle mir den Jungen ins Gedächt nis rufen, sobald ich Zweifel hätte, warum ich Arzt geworden war. Im Dezember 1 9 86 unternahm ich die weite Reise nach Oka. Benedict und ich stapften über die harte Schneekruste, die un ter unseren schweren Stiefeln krachte. Eine durchdringende Kälte, die den Unterkiefer binnen Minuten einfrieren lässt, er39
schwerte das Sprechen. Benedicts Stimme tönte gedämpft aus
dunkelbraunen Augen, als er mit Nachdruck sagte : »Wir kön
der tunnelartigen Kapuze seines Daunenparkas. Er bemerkte,
nen auf diese Weise miteinander umgehen oder uns dagegen
wie das Eis sich um die Zweige und kleinen Äste an Bäumen
entscheiden. Wir haben die Wahl. «
und Büschen gelegt hatte, wie Isolierung um Draht. Wir spra chen über mein Studium, und ich erzählte ihm von dem ver storbenen Jungen. Benedict hörte bedächtig zu. Als wir tags darauf durch einen anderen Teil des Waldes schritten und unser Gespräch fortsetzten, warnte er mich, einfach nur mein Wissen anzuwenden. »Wissen ist das eine. Wer du bist und was du damit tust, etwas ganz anderes«, sagte er. »Mag sein, dass du mit der Entscheidung, der Welt mit deiner ganzen Persönlich keit zu begegnen, zu kämpfen hast. Doch sie ist richtig - und sie ist gut.« Als ich meine Ausbildung fortsetzte, stand ich vor dem Pro blem, »wie man als Arzt zu sein hatte«. Viele meiner Professo ren hatten sich bereits mit diesem Problem beschäftigt. Einer von ihnen widmete sich in einer Reihe von Vorlesungen der Frage, ob die Daten aus den medizinischen Experimenten der Nazis in den Konzentrationslagern als objektive Beiträge zur Wissenschaft zugänglich gemacht werden sollten. Seine Ant wort war ein unzweideutiges Nein. Jose Venturelli war ebenfalls Professor, ein stämmiger, geselliger, warmherziger Mensch mit einer hohen Berufsauffassung. Er stammte aus Chile und war vor der Folter nach Kanada geflüchtet, wo er eine Zusatzausbil dung in Kinderheilkunde absolviert hatte. Von den vielen Unter richtseinheiten bei ihm ist mir vor allem die folgende im Ge dächtnis geblieben:
Er zeigte uns Dias von Blutergüssen,
gebrochenen Knochen, zerschmetterten Füßen, versengten Ge nitalien - Verletzungen, die man Menschen in der Folter beige bracht hatte. Bei solchen Gelegenheiten waren meistens Ärzte zugegen, deren Aufgabe darin bestand festzustellen, ob ein Op fer noch größere Qualen ertragen konnte. Jose nannte nüch tern - mit klinischer Distanz - die medizinischen Details, auf die es zu achten galt, und beschrieb anschließend, welch einen Verrat an der Menschlichkeit die Folter darstellte. Ich erinnere mich an sein sorgfaltig gekämmtes Haar und an den Blick seiner
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In Ruanda haben wir getanzt
derte also durch die Straßen und spürte meine Andersartigkeit in einem Meer aus schwarzen Gesichtern. Das Gehupe und die Benzin- und Dieseldämpfe der Motoren mischten sich mit dem Gestank ungeklärten Abwassers zu einem Miasma aus Gerüchen und Geräuschen. Die Menschen waren freundlich, begegneten mir mit einem breiten Grinsen. Jungen besserten mit Steinen die Schlaglöcher in den Straßen aus und erbettelten sich den
Die Immunologie brachte mich zu Aids, das Mitte der 198oer
Lohn dafür von den Autofahrern. Mädchen verkauften Zeitun
Jahre eine neue Krankheit war und dessen Erforschung noch
gen, riesige Tomaten und kleine Bananenbüschel an Autofahrer,
in den Kinderschuhen steckte. Ich wurde für eine einjährige
die vor roten Ampeln standen. Einige Ampeln funktionierten,
Fellowship am kanadischen Medical Research Council ange
die meisten nicht. In der Innenstadt wimmelte es von Straßen
nommen, wo man Aidsforschung an Kindern in Ruanda be
kindern, und fast an j eder Straßenecke saßen verkrüppelte Men
trieb, und reiste 1 987 nach Afrika. Vor meiner Abreise hatte ich
schen und bettelten. Ladenbetreiber scheuchten sie fort, aber
so ziemlich alles gelesen, was es über Aids bei Kindern zu
solange die Bettler den Eindruck erweckten, weiterzugehen,
lesen gab, fand aber so gut wie nichts über Ruanda und seine
wurden sie geduldet. Die meisten Bettler schliefen in den Sei
Geschichte. Die Organisationen, die ich um Informationen bat,
tengässchen unter Pappkartons und Plastikbeuteln. Der Rauch
boten mir Variationen der beiläufigen Antwort: »Entspanne n
von Kochfeuern, die in großen LIDO-Milchdosen brannten, er
Sie sich. Sie werden vor Ort alles erfahren, was Sie wissen müs
regte meine Aufmerksamkeit, als ich in eines der Seitengässchen
sen. Genießen Sie den Aufenthalt.«
spähte, doch ein Mann in einem gutgebügelten kurzärmeligen
Ich landete in Nairobi, der Hauptstadt Kenias, nachdem ich
Hemd und einer Hose, die ihm um einiges zu groß war, hatte
am Moskauer Flughafen mit einem gnadenlos freundlichen
mich beobachtet und gleich erkannt, dass ich neu war in der
Mann, der »alles« über den Westen erfahren wollte, zu viel
Stadt. Er hielt mich sanft an und sagte: »Nein, tu das lieber
Wodka getrunken hatte. Am Flughafen Kenyatta zahlte ich mein
nicht, Bwana. Es ist sehr gefährlich. Danke, Bwana.« Warum be
erstes Schmiergeld - eine Sondergebühr in us-Dollar -, weil
dankt er sich?, dachte ich.
meine Immunisierungspapiere nicht ordentlich in meinen Rei
Ich aß in einem Straßencafe des Colonia Hotel zu Mittag,
sepass geheftet waren. An jenem ersten Tag döste ich zu den
einem alten, aber frisch getünchten Treffpunkt für reiche weiße
Stimmen von Menschen ein, die sich vor meinem Hotelfenster
Städter, ausländische Journalisten und neugierige Rucksacktou
im Erdgeschoss in einer fremden Sprache unterhielten. Es war
risten, die von hier aus ihre Ansichtskarten nach Hause schrie
heiß und trocken. Ich erwachte in regelmäßigen Abständen zu
ben. Auch hier hielten Sicherheitsleute in blauen Hemden, die
den langsamen Bewegungen eines Geckos an der Zimmerdecke
ich überall in der Stadt gesehen hatte, Bettler und Straßenhänd
und sah die Silhouetten von Sicherheitsleuten in blauen Hem
ler von dem Stacheldrahtzaun fern, der die Terrasse vom Geh
den, die, mit langen Knüppeln bewehrt, lustlos an meinem
steig trennte.
Fenster vorübergingen und zu mir hereinspähten.
Von Nairobi aus flog ich nach Ruanda, wo Dr. ]ean-Marc Mi
Tag s darauf sollte ich eine Konferenz zum Thema Gesund
chel mich am Flughafen abholte. Er und seine Familie waren
heitsversorgung im ländlichen Ostafrika aufsuchen, aber die
Siebenten-Tags-Adventisten und gehörten zu einem großen Ka
Stadt war viel zu interessant, um ignoriert zu werden. Ich schien-
der christlicher Missionare in Ruanda. Ich hatte mit Dr. Michel 43
korrespondiert, um meine Forschungsarbeit in Ruanda zu ar rangieren. Er war mit Brian Lynne befreundet, einem Studien kommilitonen, der Jean-Marc einige Jahre zuvor in Uganda ge troffen hatte. »Er ist ein großartiger Arzt« , hatte Brian zu mir gesagt. Ich bezog ein freies Zimmer im Haus der Familie im Kirnihurura-Bezirk von Kigali. In meiner ersten Nacht in Ruanda aß ich rasch zu Abend
und schlief zu fremdartigen Vogelrufen und zu den Stimmen der Sicherheitsleute ein, die auf dem Kiesweg miteinander re deten und dabei eine seltsame Abfolge von Klicklauten ausstie ßen. Früh am nächsten Morgen krähte direkt unter meinem offenen Fenster in gellendem Staccato ein Hahn. Ich stand vor allen anderen auf und schlenderte hinaus auf die Straße. Die Morgenluft war kühl. Der makellos blaue Himmel ver hieß eine heiße Mittagssonne. Es war die trockene Jahreszeit , u n d die Sandstraße war hart wie Stein. Die oberste Schicht der dicht gepressten Gelberde war zu einem feinen Sand geworden,
Ich stieg einen Hügel hinauf und sah, wie die Stadt allmäh lich erwachte, wobei blaue Rauchschwaden von den Kochfeu ern wie eine Decke über den Tälern der hügeligen Stadt lagen. Kimihurura war nicht der reichste Bezirk von Kigali, aber einer, in dem Weiße - Ärzte, Geschäftsleute, Missionare und Ange stellte der Botschaften - neben wohlhabenden Ruandern wohn ten, die meisten in den unteren bis mittleren Rängen der Re gierung
und
des
Militärs
beschäftigt
oder
aufstrebende
Geschäftsleute. Ich begann meine Forschung noch in derselben Woche, in der ich die aus Belgien stammenden Ärzte Philippe van de Perre und Philippe Lepage kennengelernt hatte. Ersterer ein früherer Kinderarzt, Letzterer ein Immunologe in Kigalis größtem Kran kenhaus, dem Centre Hospitalier de Kigali, im ganzen Land als das
CHK
bekannt. Die meisten ausländischen Ärzte in Ruanda
waren entweder Franzosen oder Belgier und nur für zwei Jahre dort, als Wehrdienstersatz. Mit Lepage und van de Perre verhielt
und mit jedem Schritt wirbelte ich Staub auf. Barfüßige Jungen
es sich anders: Sie lebten seit vielen Jahren in Ruanda und wür
trieben in kleinen Herden Kühe und Schafe vorbei. Andere Kin
den wohl noch länger bleiben. Ich sollte klinische Fallstudien
der balancierten riesige Krüge auf dem Kopf, und in den La
zu Aids bei Kindern betreiben, mich dabei besonders der Frage
gern der Ärmeren stiegen Rauchschwaden von den Kochfeuern
widmen, ob bei Kindern, die sich bereits im Mutterleib mit
auf. Die Mauern, hinter denen sich die Anwesen der Reichen
dem HI-Virus infiziert hatten, gehäuft eine Gesichtsschädel
verbargen, waren oben mit Glasscherben gespickt worden, und
Dysmorphie auftrat. Fehlbildungen dieser Art waren Anfang der
gelegentlich fuhr ein Wagen durch die schweren Tore aus Me tallblech, die von Wachmännern, den Zamus, geöffnet und gleich wieder geschlossen wurden. Dienstboten gingen zum nahe gelegenen Markt, um frische Vorräte für den Tag einzu kaufen, und Mädchen in blauen Tuniken und Jungen in beigen Schulhemden und
-shorts spazierten grüppchenweise zur
Schule. Sie schienen überrascht, einen Muzungu - einen Wei ßen - zu Fuß gehen zu sehen. Normalerweise fuhr man im Auto. Die Kinder lachten und kicherten, als eines mich grüßte
>>Miriway; amakuru« -, und starrten mir mit scheuem Lächeln hin terher, als ich antwortete. Einige Männer, die vorübergingen und sich dabei nach mandiseher Sitte an den Händen hielten, ermahnten die Kinder und lächelten mir höflich zu. 44
198oer Jahre an hispanischen, afroamerikanischen, weißen und gemischtrassigen Säuglingen von mv-infizierten Drogensüchti gen festgestellt worden. Die Vermischung der Rassen und ande re Gegebenheiten wie die Alkoholembryopathie, die häufig mit einer Gesichtsschädel-Dysmorphie einhergeht, erschwerten in New York die Entscheidung, ob eine HIV-lnfektion im Mutter leib ein solches Erscheinungsbild verursachen konnte. Die Lö sung dieser Frage war von essentieller Bedeutung, denn selbst ohne ein Heilmittel gegen Aids konnte die Früherkennung einer HIV-Infektion bei Säuglingen zu einer rechtzeitigen speziellen Behandlung und Pflege führen. Ruanda bot fiir eine solche Studie die idealen Voraussetzun gen: Es gab hier keine Drogenabhängigen, und Alkoholmiss-
brauch unter jungen Frauen war selten. Die Ruander teilten
die Eugenikbewegung im Westen hervorgebracht. Als Belgien
sich hauptsächlich in zwei ethnische Gruppen auf: eine Hutu
nach dem Ersten Weltkrieg die Kontrolle über Ruanda erhielt,
Mehrheit und eine Tutsi-Minderheit. Ehen zwischen Angehöri
zentralisierte es die Macht auf einen einzigen Häuptling und
gen der Hutu und der Tutsi waren seit Generationen an der
übertrug den Tutsi die Verantwortung für das Rechtssystem. Die
Tagesordnung gewesen, und so gab es keinen sichtbaren Unter
Belgier betonten außerdem vermeintlich objektive ethnische
schied im Erscheinungsbild der beiden Gruppen. Die »Wald
Unterschiede, indem sie 1933 eine Volkszählung vornahmen und
menschen« - oder Twa-Pygmäen - stellten eine kleinere Min
die Ruander mittels staatlicher Personalausweise unauslöschlich
derheit (ein Prozent) dar; sie hatten eine eigene Sprache, waren
den Hutu beziehungsweise Tutsi zuwiesen.
Anhänger des Animismus und galten im Allgemeinen als abnor me Unterklasse.
Ich arbeitete ein Jahr lang an meiner Studie, indem ich HIV positive Kinder in Krankenstationen und Kliniken untersuchte.
Ruandas König Rwabugiri, der das Land im ausgehenden
Tag für Tag studierte ich die Gesichter der Kinder, suchte nach
neunzehnten Jahrhundert regierte, schuf ein ethnisches Klassen
Merkmalen, die sie von gesunden Kindern unterschieden. Ich
system, das zwischen den Landwirtschaft betreibenden Hutu
führte sorgfaltige Messungen durch, ohne zu ahnen, was weiße
und den Viehwirtschaft betreibenden Tutsi unterschied, und er
Männer vor mir in ähnlicher Weise, wenn auch aus anderen
hob die Tutsi zur herrschenden Klasse des Königreichs. Beide
Motiven getan hatten. Die ethnischen Unterschiede zwischen
hatten dieselbe Sprache
Ruandern wurden selten, wenn überhaupt, öffentlich bespro
Kinyarwanda - und Kultur, und ein
Hutu konnte, wenn auch selten, genügend Reichtum erwerben,
chen, schon gar nicht mit Muzungus, Weißen. Und doch hat
um sich Vieh zu kaufen und damit Hirte und Tutsi zu werden.
ten Muzungus einen schuldhaften, wenn nicht gar fatalen An
Die deutschen Kolonialherren profitierten von dieser Untertei
teil an ihrem Entstehen. Die Einwohner Ruandas waren damals
lung in verschiedene Klassen, indem sie die Tutsi in einem oft
genauso vermessen �urden wie jetzt von mir.
mals grausam aufgezwungenen System kolonialer Kontrolle zu den Herren des Landes erklärten. Gemäß ihrer »Hamitentheo
Die Immunschwächekrankheit Aids
-
Slims disease, Abmage
rungskrankheit, wie sie damals in Afrika genannt wurde - griff
rie« behaupteten deutsche Ärzte und Anthropologen, die Tutsi
in Schwarzafrika mit rasender Geschwindigkeit um sich. Das
ließen sich von den Hutu mittels wissenschaftlich gemessener
Virus hatte sich lange Jahre im Verborgenen verbreitet. Dann
Unterschiede in der Schädelform und anderer körperlicher Ei
folgte die Erkrankung. Bei Erwachsenen begann sie mit einem
genschaften wie der Größe unterscheiden. Außerdem galten die
zähen Husten oder einer Infektion des Mundraums, gefolgt von
Tutsi als stolz, die Hutu dagegen als unterwürfig. Die Hamiten
unablässigem Durchfall und schließlich einer Vielzahl von Infek
theorie besagte, dass die Tutsi einer kaukasischen Rasse aus dem
tionen und Tumoren. Die Folge war ein Siechtum, das sich über
Niltal entstammten und vermutlich christliche Wurzeln hätten;
ein, zwei Jahre zog, in denen das Immunsystem der Kranken
auf diese Weise rückte man die Tutsi den vermeintlich zivilisier
nach und nach versagte. Im benachbarten Uganda waren angeb
ten Europäern näher und entfernte sie ostentativ von den ver
lich ganze Dörfer der Krankheit erlegen, und wie die überfüllten
meintlich barbarischen Afrikanern. Die kulturellen, politischen
Krankenstationen in Kigali und anderswo in Zentralafrika zeig
und wirtschaftlichen Faktoren, die die Trennlinie zwischen Hutu
ten, musste man solche Gerüchte äußerst ernst nehmen.
und Tutsi kennzeichneten, erhielten nun eine wissenschaftliche
Das HI-Virus wurde von Männern verbreitet, die entlang den
Prägung - dieselbe trügerische Wissenschaft hatte im ausgehen
großen Handelsrouten in Stadt und Land zu Prostituierten gin
den neunzehnten und begirtnenden zwanzigsten Jahrhundert
gen. Auch Soldaten, ständig unterwegs, trugen die Krankheit 47
weiter. Sie wanderte in die Offizierskorps und erfasste von hier aus die urbanen Eliten - Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, Be amte und andere. Kaum hatte die Krankheit Fuß gefasst, wurde sie auch auf Ungeborene im Mutterleib übertragen. 1987 waren in einigen Regionen Ruandas schon über zwanzig Prozent der Bevölkerung infiziert. Unter den in Kigali getesteten Erwachse nen trugen vierzehn Prozent das Virus in sich, unter den Kin dern vier Prozent. Oberflächlich betrachtet war Ruanda mit seinen sanften Hügeln und den höflichen Menschen ein idyllischer Ort und wurde in Reisebroschüren oftmals als die »afrikanische Schweiz« geprie sen. Mir fiel auf, dass die Menschen dort sich nur flüsternd unterhielten. Ruander hielten sich oft bei den Händen, wenn sie redeten: Ein vorsichtiges, fast atemloses »nnn« oder »ehhh« bedeutete Zustimmung, wogegen Schweigen zu weiterer Dis kussion aufzufordern schien. »Yego« - ja - bedeutete, dass das Gespräch allmählich dem Ende zuging. Und dennoch, unter dieser angenehmen Ruhe und außerhalb der wenigen Bezirke wie Kimihurura herrschte bitterste Armut. Die von ihr betroffe nen Menschen bestritten den täglichen Lebenskampf und hoff ten auf bessere Zeiten mit Hilfe der vielen Entwicklungshilfe projekte, die das Land überzogen. Mitte der 198oer Jahre, noch vor der Verbreitung von Aids, lag die durchschnittliche Lebens erwartung in Ruanda bei vierundvierzig Jahren - weit entfernt von den zweiundsiebzig Jahren, die Menschen im Westen er warten durften -, und fast drei von fünf Kindern starben noch vor dem fünften Lebensjahr. Die Armut raubte vielen Gesund heit und Lebensmut. Sie erhofften sich Linderung oder Heilung von den ambulanten Kliniken und Krankenhäusern, die größ tenteils mit fremden Mitteln der »Entwicklungshilfe« finanziert wurden. Abgesehen von wenigen Privatärzten wurde die Ge sundheitsversorgung von unzähligen Nichtregierungsorganisa tionen und christlichen Wohlfahrtsverbänden übernommen, obwohl das Gesundheitswesen dem Namen nach unter staatli cher Kontrolle blieb.
Mit sieben Millionen Menschen auf einem Gebiet in der Größe Marylands war Ruanda der am dichtesten bevölkerte Staat auf der ganzen Welt, wobei achtzig Prozent der Menschen in den ländlichen Gebieten lebten. Ich kaufte mir ein altes weißes Moped, um in Kigali herum zufahren. Jeden Morgen, wenn ich von Kimihurura zum
CHK
fuhr, feuerten ein paar Männer, die an einem Getränkestand am Straßenrand lehnten, mich an, wenn der Motor versagte und ich für die letzten vierzig Meter hügelaufwärts in die Pedale treten musste. »Urnva, rnuzungu!«, riefen sie. »Urnva!« (Na los, wei ßer Mann! Na los!) Es war zum täglichen Ritual geworden, und wir kannten uns schon. Wenn ich dann den Hügelkamm er reicht hatte, riss ich in Siegerpose die Arme in die Höhe, und sie prosteten mir mit erhobenen Fantaflaschen zu. Ich kam jeden Morgen kurz vor sieben im
CHK
an. Wie in
jedem Krankenhaus versammelten sich auch hier die Kranken und Verkrüppelten. In den Eingängen scharten sich die Bettler. Damals wütete in ganz Afrika, wie in einem Großteil der Dritten Welt, die Kinderlähmung. Dörfer, kleine und große Städte wim melten von Bettlern, deren Gliedmaßen durch die Krankheit gelähmt waren, die sie sich im Kindesalter zugezogen hatten. Die Glücklichen unter ihnen hatten Familien, die sich soge nannte »Fahrradstühle« leisten konnten, umgebaute Fahrräder, deren Pedale mit den Händen, nicht mit den Füßen angetrieben wurden; die schlaffen, nutzlosen Beine wurden dabei irgendwie an den Rahmen geschnallt. Andere schleppten sich mit Hilfe der Krücken voran, die sie von einer der Hilfsorganisationen erhalten hatten, aber viel zu viele hatten gar nichts, um sich darauf zu stützen, und überlebten nur durch Betteln. Die sehr Reichen und sehr Kranken wurden in einem der wenigen Kran kenwagen des Landes zum
CHK gefahren,
aber die meisten Pati
c:nten wurden von ihren Nachbarn auf Behelfstragen gebracht. Ublicherweise begleiteten ungefahr acht Männer einen Kran
ken. Vier oder fünf trugen ihn auf den Schultern, während die übrigen neben ihnen her gingen, um ihnen gegebenenfalls die Last abzunehmen. Jeder Kranke wurde üblicherweise auch von 49
zwei oder drei Frauen begleitet, Nachbarinnen, die die Ver
gekommen, mitten in der Nacht, nachdem sie nicht selten
pflegung bei sich hatten, Laken für das Krankenhausbett und
mehr als hundert Kilometer zu Fuß zurückgelegt hatten. Sie
Töpfe zum Kochen. Die Frauen blieben bei den Kranken und
hoff�:n auf eine eindeutigere Diagnose und Behandlung seitens der Arzte im Krankenhaus. Einige der Mediziner waren weiß,
gaben ihnen zu essen. Andere Patienten, die beispielsweise an Elephantiasis litten
und von den einheimischen Ärzten waren etliche in Europa
sogar in Ruanda verhältnismäßig selten -, schleppten sich Zoll
oder den Vereinigten Staaten ausgebildet worden. Die Mütter
für Zoll voran, wobei sie die überdimensional aufgedunsenen
warteten gehorsam vor der Klinik. Die Kinder, die zum CHK
Beine oder Füße hinter sich her schleiften. Ein kleiner alter
gebracht wurden, waren meist sehr krank, hatten oft schon die
Mann, der von der Krankheit befallen war und im Busch lebte,
ambulante Klinik in ihrem Dorf oder in einem regionalen Kran
dem Krankenhaus gegenüber, wurde bald zum freiwilligen Be
kenhaus hinter sich gebracht. Oft hatten sie Lungenentzündung
wacher meines Mopeds. Sein Fuß war kübelgroß, eine schwä
oder starken Durchfall, der nicht weichen wollte, oder andere
rende Last, die mit jedem Jahr größer wurde. Die Zehen saßen
chronische Krankheiten wie Kinderlähmung oder Tuberkulose.
an der Vorderseite wie Kletten an einem gestrandeten Boot. Je
Einige Kinder litten auch an der neuen Seuche, Aids.
den Morgen schleifte er seinen bandagierten Fuß hinter sich
Wir begannen jeden Tag mit einer Visite in der Kinderstati
her, das Gewicht auf dem gesunden Bein, wobei er sich auf
on. Das Gelb der frisch getünchten Wände sollte den spärlich
einen Gehstock stützte, der ihn mindestens einen halben Meter
beleuchteten Raum aufhellen, verlieh ihm aber stattdessen ein
überragte. Die Spur, die sein kranker Fuß hinterließ, war dreißig
fahles, deprimierendes Aussehen. Kinder lagen auf Pritschen
Zentimeter breit und grub sich etwa eineinhalb Zentimeter tief
oder Betten aus den 1 9 40er Jahren oder auf billigen Schaurn
in den roten Boden. Ich fragte ihn einmal, warum sein Geh
stoffrnatratzen, die man von Importeuren im kleinen rnuslirni
stock größer war als er. »Um Diebe fernzuhalten«, sagte er. Er
schen Viertel Kigalis erstanden hatte. Die Matratzen stanken
würde sich den Fuß demnächst »richten« - also amputieren
nach altern Urin und nach Dettol.
lassen, sagte er mehr als einmaL »Aber noch nicht gleich«, sagte er. »Noch kann ich gehen.« Vorn Haupteingang des Krankenhauses aus pflegte ich zur
Es war ein unglücklicher Ort, von Regeln beherrscht, die sich unmöglich einhalten ließen. Mütter blieben bei ihren kranken Kindern. Die gesunden, die die Reise ebenfalls hatten
Kinderstation zu gehen. Straßenhändler boten den wartenden
unternehmen müssen, schliefen entweder bei ihren kranken
Müttern Eier, Bananen und Sorghumhirse an, und kurz ange
Geschwistern im Bett, darunter oder irgendwo außerhalb des
bundene Beamte vorn Gesundheitsministerium kamen in kli
Krankenhauses. Manchmal ließ sich kaum unterscheiden, wer
matisierten Fahrzeugen an, um ihrer bedeutsamen Tätigkeit
der Patient und wer sein Geschwisterchen war. Ärzte und
nachzugehen. Die kühle Morgenluft roch nach dem Desinfek
Schwestern sahen es deshalb nicht gern, wenn die Mütter auch
tionsmittel Dettol, mit dem die Gemeinschaftslatrinen hinter
ihre gesunden Kinder mitbrachten. Krankenschwestern und
dem Krankenhauseingang gereinigt wurden. Der Rauch von
Pfleger bewegten sich bedächtig, aber effizient auf den Fluren,
den kleinen Kochfeuern, die die Zufahrt zum Krankenhaus
um Laborergebnisse und Diagramme zu holen, während wir
säumten, duftete nach Holzkohle und hinterließ eine leichte,
auf der Station die Runde machten und von einem Bett zum
aber weithin sichtbare graue Wolke in der windstillen Morgen
anderen gingen. Laborberichte fehlten oft ganz oder waren un
luft. Kinder drängten sich mit ihren Müttern um die Feuerstel
auffindbar, und so behielten Eltern die Röntgenaufnahmen ih
len, um sich zu wärmen. Die meisten V.'aren schon vor Stunden
rer Kinder bei sich, damit sie nicht verlorengingen. Manchmal
so
waren die Aufnahmen mehrere Jahre alt, dienten allenfalls zum Vergleich, aber meist waren sie so nützlich wie ein altes Lotte rielos. Nach der Visite im Krankenhaus suchten wir die ambulante Kinderpflegestation auf, in der wir ebenfalls Patienten für unse re Forschung rekrutierten. Viele hundert Mütter standen gedul
von Ruandern. Wir tanzten, tranken und lachten zusammen bis spät in die Nacht. Ich fand einige Freunde, darunter Therese Bizimanna, eine Hutu-Krankenschwester und Sozialarbeiterin, die mit einem Tutsi verheiratet war. Therese war eine nachdenkliche, freundli che Frau, die ihre Arbeit sehr ernst nahm. Ich setzte mich ein
dig Schlange, bis sie an der Reihe waren. Ich untersuchte ein
mal zu ihr, als sie sich mit mehreren Krankenschwestern unter
kleines Mädchen, etwa fünf Jahre alt, dessen Symptome an eine
hielt. Einige von ihnen lästerten über eine der Tutsi-Schwestern
Meningitis erinnerten. Die Mutter hatte ihre Tochter am Abend
am Krankenhaus, die mit einem weißen belgiseben Arzt verhei
zuvor hergebracht und die ganze Nacht mit ihr gewartet. Die
ratet war. Nachdem die anderen gegangen waren, bemerkte
Kleine klagte über einen steifen Nacken und Kopfschmerzen,
Therese: »Wer will, findet immer einen Grund, um auf andere
war stark untergewichtig und hatte Husten und Fieber. Ihr Vater
neidisch zu sein. Das sind nur kleinliche Reibereien, wie über
war wenige Monate zuvor an Aids verstorben, und neuerdings
all. Sie haben nichts zu bedeuten .« Ich fragte sie, ob es schwie rig für sie sei, dass ihr Mann ein Tutsi war. Ihr Schweigen sagte
litt auch die Mutter regelmäßig unter Fieberschüben. Die exakte Diagnose für das Mädchen ließ sich nur anband einer Lumbal
mir, dass ich die falsche Frage gestellt hatte. In Ruanda, meinte
punktion erstellen. Über den Untersuchungstisch gebeugt, ge
sie schließlich, könnten Hutu und Tutsi tun, was immer sie
riet ich ins Schwitzen angesichts der entsetzten Schreie des
wollten. »Natürlich gibt es ein paar Probleme, aber nichts Erns
Mädchens und hielt es fest, während Dr. Lepage ihm vorsichtig
tes«, beteuerte sie. Ihr Mann stand in der Nähe und hörte unser
die Nadel zwischen zwei Wirbel im unteren Rücken schob. Als
Gespräch. Lächelnd zog er mich aus meinem Stuhl, damit wir
die Kleine mich beißen wollte, packte die Schwester ihre Arme
beide uns den Männern zugesellten, die einen traditionellen
und sagte streng : »Ummera!« Nachdem Dr. Lepage ihr eine eiter
Kriegertanz tanzten. »Siehst du, James, in Ruanda, da tanzen
farbene Flüssigkeit entnommen hatte, wehrte sich die Kranke,
wir alle gemeinsam - Hutu und Tutsi und Muzungus! Umva!«
die sich j etzt in die Arme der Mutter schmiegte, beharrlich,
Mitte des Jahres erhielt Jean-Marc eine Stellung an der neuen
wollte sich nicht auch noch den Infusionsschlauch für ein Anti
Adventistenuniversität in Mundende, im Norden des Landes. Er
biotikum setzen lassen.
verließ daher mit seiner Familie Kigali, doch mein Projekt am
»Ummera, was heißt das?«, fragte ich die Schwester.
CHK war noch nicht abgeschlossen, also musste ich bleiben.
»Es bedeutet Mut«, antwortete sie.
Eine Unterkunft war teuer und nicht leicht zu finden in der Stadt, und so arrangierte Jean-Marc fiir mich eine Unterkunft
Während der Arbeit an meinem Projekt freundete ich mich mit
im Gästehaus der Adventisten in Kigali. Die Vorstellung, unter
Susan Allen an, einer Professorin der University of San Francis
Kirchenleuten und Pastoren zu leben, die zu Besuch kamen,
co, die ein Forschungsprojekt über Aids in Ruanda leitete. Sie
begeisterte mich nicht sonderlich. Jean-Marc und seine Familie
hatte Wohnung und Büro in einem Haus hinter dem CHK, und
drängten mir ihren Glauben zwar nicht auf, doch mittlerweile
ich war oft zu Besprechungen oder zum Essen bei ihr. Susan
kannt e ich ihre Gemeinschaft gut genug, um zu wissen, dass
war ein Party-Fan, und ihre Räumlichkeiten waren fast jedes
ich nicht hineingezogen werden wollte.
Wochenende ein Treffpunkt für Krankenhausmitarbeiter, aus
In meiner zweiten Nacht im Gästehaus war der Vorsitzende
ländische Botschaftsangestellte und Susans umfassendes Team
des Adventistenverlags in Schwarzafrika bei mir zu Gast. Er 53
stammte aus Kenia und fragte mich, was mich nach Ruanda
drei Prozent der Belegschaft eines einheimischen Unterneh
geführt habe. Ich sagte es ihm, und er antwortete mit einer
mens oder der Regierung ausmachen, eine Regelung, die für
Miene stiller Vergebung: »Ja, Aids ist ein schrecklicher Fluch.
die vierzehn Prozent Tutsi im Land ein Problem darstellte. Viele
Es ist Gottes Geißel für all jene, die in Unzucht schwelgen.«
Tutsi suchten sich Arbeit in einer der Nichtregierungsorganisa
Daraufhin legte er sich eine volle Stunde ins Zeug und erging
tionen, einer Botschaft oder bei anderen ausländischen Arbeit
sich in einem Monolog, gespickt mit Bibelzitaten, um seine
gebern. Solche Jobs waren schwer zu ergattern, weshalb die
Meinung zu unterstreichen. Seine Argumente waren nicht rein
meisten Tutsi ihre eigenen Unternehmen gründeten und mit
religiöser Natur. »Aids ist eine Krankheit der Weißen. Ihr ver
Ausländern Handel trieben. Wann immer ich ihm zu diesem
sucht, eure sexuellen Ausschweifungen den Afrikanern anzu
Thema Fragen stellte, wollte Emile nicht mehr sagen und ver
lasten. An Durchfall und Masern sterben deutlich mehr Kinder
suchte mich zu beruhigen: »Es geht uns gut, mach dir keine
als an Aids, warum also sollten wir uns wegen Aids Sorgen
Sorgen.«
machen? Die Russen kannten Aids schon vor 19 7 0 - wie könnt
Am Heiligen Abend fuhren Emile und ich mit Susan und
ihr also behaupten, es sei eine neue Krankheit? Eure Homose
anderen Freunden zur Nyanza-Kathedrale, die in der Provinz
xuellen haben sie nach Afrika gebracht.« Und in diesem Stil
Butare auf einem Hügel thronte, die erste und größte christli
ging es weiter. Er hatte zwar kein gottgefälliges Argument, um
che Mission in Ruanda, erbaut von den katholischen Weißen
zu rechtfertigen, dass sich auch Kinder mit Aids infizierten,
Vätern, die 1900 ins Land gekommen waren. Neunzig Prozent
Frauen von ihren Männern angesteckt wurden oder dass sich
der Ruander waren Christen, davon sechzig Prozent Katholiken.
Abertausende die Krankheit über Bluttransfusionen und infi
Das Land war das christlichste in ganz Afrika. In dieser Nacht
zierte Spritzen zugezogen hatten. Anstatt meine Fragen zu be
gingen wir den steilen Hügel hinauf, gesellten uns dem steten
antworten, beendete er die Diskussion mit den Worten: »Got
Strom der vielen tausend Gläubigen zu, die aus dem Umland
tes Wege - und Strafen - sind unergründlich ! «
hergekommen waren. Die Kirchenglocken mengten sich in das
Tags darauf erzählte ich Susan Allen von diesem Sermon,
traditionelle Trommeln vor den Kirchentüren und in den Dör
und sie bot mir das Gästezimmer ihres Bürohauses an. Es war
fern auf den Hügeln ringsum. Trommeln waren einmal das
ideal gelegen, direkt hinter dem Krankenhaus, und solange ich
Kommunikationsmittel zwischen den Dörfern gewesen, hatten
nichts dagegen hatte, das Zimmer gelegentlich mit einem Gast
Neuigkeiten aus dem Dorfleben erzählt oder vor Gefahren ge
zu teilen, konnte ich darin wohnen. Auch Emile Fundira, Su
warnt. Mittlerweile wurde nur noch zu festlichen Anlässen ge
sans Projektmanager, hatte ein Zimmer in Susans Haus. Ich
trommelt. Die Menschen hatten ihre schönsten Gewänder an
packte die Gelegenheit beim Schopf und zog noch in derselben
gelegt und trugen Fackeln zu Ehren der Heiligen Nacht. Sie
Nacht um.
waren überrascht, eine kleine Gruppe Muzungus in der Kirche
Emile war ein Tutsi, und wir hatten uns bereits angefreun det. Da wir uns nun ein Haus teilten, wurden wir noch bessere
zu sehen, doch die meisten hießen uns willkommen und ent
boten uns warmherzig den Weihnachtsgruß: »Noeli Niza.«
Freunde, tranken abends ein Bier zusammen und besuchten
Der mächtige Rhythmus, den die hundert trommelnden
am Wochenende seine Verwandten und Freunde. Emile betonte
Männer und Burschen vorgaben, die sich um den Kirchenein
nicht nur einmal, was für ein Glück es für ihn war, für Susan
gang versammelt hatten, erfasste meinen ganzen Körper. Wir
zu arbeiten. Dem Gesetz nach durften Tutsi, in deren Personal
schoben uns ins Innere, und die Leute machten auf den hinte
ausweisen ihre ethnische Zugehörigkeit eingetragen war, nur
ren Bänken für uns Platz. Die Menschen beteten still, während
54
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draußen die Trommeln tosten. Die Soldaten blieben die gesamte
Es lag nicht etwa daran, dass die Kinder nicht genügend aßen,
Messe über stehen, da man die Ankunft des Präsidenten erwar
sondern dass sie nicht die richtige Nahrung in ausreichenden
tete. Als Vorbild für die Frömmigkeit des Landes sollte der Präsi
Mengen bekamen. Die Dorfklinik verfügte über einen »Modell
dent mit seiner Familie im Helikopter zur Kirche kommen. Die
garten«, angelegt von einer Nichtregierungsorganisation, die
vorderste Kirchenbank war für ihn freigehalten worden. End
von der französischen Regierung unterstützt wurde. Dort wur
lich zogen die Geistlichen ein, das Trommeln hörte auf, und
den Knollengewächse, Getreide, Soja, Mais und diverse Gemü
der Gottesdienst begann. Es war eine kurze, ehrerbietige Messe,
sesorten angebaut, Erzeugnisse, die in der richtigen Kombinati
und wieder gaben die Trommeln den Rhythmus vor. Der Präsi
on eine ausgewogene Diät liefern würden. Offenbar ging man
dent kam nicht, warum auch immer. Nach dem Gottesdienst
davon aus, dass die Leute nicht wussten, wie man das Land
gesellten wir uns der Menge zu, die hügelabwärts strebte, und
ausgewogen bebaute; wenn man es ihnen beibringen könnte,
gönnten uns dann in einer Kneipe eine Kalebasse Gwa-Gwa,
so dachte man, wäre das Kwashiorkor-Problem gelöst. Einige
Bananenbier.
junge, wohlmeinende und ein wenig anmaßende ausländische Entwicklungshelfer pflegten den Garten und boten Müttern
Zwei Tage in der Woche arbeitete ich in einer Klinik unweit
und V ätern, die ihre Kinder in die Klinik brachten, Schulungen
der Stadt Mundende, einige Kilometer von der Grenze nach
an. Fast jeder dieser Entwicklungshelfer hatte einen Sony Walk
Zaire entfernt, dem früheren Belgisch-Kongo und der heutigen
man bei sich und zumeist auch eingeschaltet, so dass ich sie
Demokratischen Republik Kongo. Für die meisten Kinder war
insgeheim als die »Walkman Crew« bezeichnete. Von den El
ich der erste Weiße, den sie je berührt hatten. Einige schrien
tern wurde erwartet, dass sie diese Schulungen besuchten; ihre
vor Angst, wegen der alten Geschichten - leider allzu wahr -,
Kinder wurden daraufhin regelmäßigen Untersuchungen un
denen zufolge belgisehe Kolonialherren Kindern die Hände ab
terzogen, aber die Walkman Crew klagte häufig über mangeln
hackten, wenn ihre Eltern nicht ausreichend Gummi oder an
des Interesse an ihrem Garten.
dere Güter für sie produzierten. Der belgisehe König Leopold
Ich versuchte es mit einem einfacheren Weg, um das Wachs
hatte den Kongo unter eine »humanitäre Mission« gestellt, die
tum der Kinder in den Krankenakten zu verzeichnen. Die Klinik
dem Land Zivilisation und Wohlstand bringen sollte. Dem Kö
verfügte über ein T herapeutisches Ernährungszentrum, in dem
nig war die Kolonie Kongo auf der Berlinkonferenz von 1 884 -
Kinder mit Mangelerscheinungen eine spezielle Diät erhielten.
1885 zugesichert worden, in deren Verlauf die Mächte Portu
An einem Tag waren etwa dreißig Kinder zum Ernährungszen
gal, Frankreich, Großbritannien, Italien, Deutschland und Bel
trum gekommen. Sie alle hatten entzündete Stellen auf der
gien einen Großteil Afrikas unter sich aufgeteilt hatten. Von
Haut, besonders im Bereich der Münder, Augen und Ohren. Die
1 895 bis 1930 wurde viel Gummi und Teakholz aus dem Kongo
Schwester bepinselte die Stellen großzügig mit Kristallviolett
exportiert, und über zehn Millionen Menschen - die Hälfte der
zur Desinfektion, wodurch die Kinder aussahen wie kleine, un
Bevölkerung - wurden entweder getötet oder starben unter der
glückliche Clowns. Die meisten litten an chronischem Husten,
»humanitären« Herrschaft Leopolds. Die Landschaft rings um die Dörfer war wunderschön - üp
und es war nicht klar, ob einige nicht auch an Lungentuberku lose erkrankt waren. Die meisten entstammten den ärmsten Fa
piges, fruchtbares Grün. Und doch war in dieser Region eine
milien in den entlegenen Dörfern. Fünf von ihnen, allesamt
unter Kindern weit verbreitete Krankheit Kwashiorkor, ein Pro
noch sehr klein, hatten stark aufgeschwollene Bäuche, Füße und
teinmangel, der zu Symptomen von Mangelernährung führte.
Hände und zudem sehr feines, leicht rötliches Haar; all diese 57
Symptome ließen auf einen schwerwiegenden Protein-Energie
nur, was auch Geld einbrachte. Natürlich wissen sie, wie man
Mangel schließen. Ihre Gelenke waren so heftig angeschwollen,
sich gesund ernährt, dachte ich. Ich ging zu dem kleinen Mäd
dass jede Bewegung schmerzte. Sie weinten daher bei jeder Re
chen zurück, ignorierte ihr Weinen und platzierte den Schlauch
gung, saßen die meiste Zeit nur teilnahmslos da, bewegten sich
wieder. Diesmal befestigte ich ihn ordentlich.
nur, um zu essen. Abgesehen von den Medikamenten, die sie brauchten, erhiel
Alle paar Wochen arbeitete ich im Krankenhauskomplex der
ten sie alle paar Stunden eine sorgfältig ausgewogene Flüssig
Siebenten-Tags-Adventisten in Mugonero bei Kikuyu. Ich half
nahrung, die man ihnen durch einen nasagastrischen Schlauch
bei der medizinischen Versorgung psychisch kranker Menschen
verabreichte. Nach einer Woche hatten sie dann bereits genü
oder assistierte dem portugiesischen Gynäkologen, einem Mis
gend Kraft, um selbst zu essen. Ich hatte schon vier der Kinder
sionar der Adventisten, bei operativen Eingriffen. Zablon war
intubiert und war eben im Begriff, den letzten Schlauch einzu
der Leiter des Krankenhauses. Er war selbst Adventist und wur
führen, als eines der Mädchen sich den Schlauch aus der Nase
de teils vom Gesundheitsministerium, teils von seiner Kirche
zog, würgte und erbrach. Ich hatte den Schlauch nicht richtig
bezahlt. Zablon hegte eine mehr als leise Verachtung gegen
befestigt, und so musste er noch einmal eingeführt werden. Sie
Ruandas frühere Kolonialherren. Seine Ablehnung galt aber
sah mich an, als ich näherkam. Sie weinte nicht, gab nur jenes
nicht nur den Belgiern, sondern ausnalunslos allen Weißen.
hohle, nasale Wimmern von sich, das typisch ist für hungernde
Eines Nachts, während des Abendessens in Zablons Haus, er
Menschen.
zählte der portugiesische Arzt, er habe eben Ersatzteile für ein
Ich setzte mich neben sie und streichelte ihr über das dünne
kaputtes Ultraschallgerät aus Portugal bestellt. Das Gerät sei
rote Haar. Sie begann nach ihrer Mutter zu weinen, »Mama-we,
monatelang sinnlos herumgestanden, man habe vergeblich auf
Mama-we!« (Mama, wo bist du?) Ich berührte ihre geschwolle
Ersatzteile gewartet. In wenigen Wochen wäre es endlich repa
ne Hand. Sie entzog sie mir und schrie, jetzt aus vollem Hals,
riert. Es sei von großem Nutzen, meinte der Arzt, besonders
»Mama-we!« Ich kann nicht zuerst ihr Vertrauen gewinnen,
bei schwierigen Geburten. Zablon dagegen beklagte wieder
dachte ich mir, und ihr dann wieder weh tun. Ich entfernte
einmal, dass das Krankenhaus, um zu funktionieren, auf die
mich also und setzte mich ihr gegenüber, von wo aus ich aus
»Almosen der Weißen« angewiesen sei. Der portugiesische
dem einzigen Fenster im Raum blickte. Es war dunkel im Inne
Arzt reagierte gekränkt. Die Ersatzteile kämen nicht von irgend
ren und kühl. Es war besser so für die Kinder, die stundenlang
welchen Weißen, sondern von einem Adventistenfreund in
stillsitzen oder schlafen mussten, um sich möglichst wenig zu
Portugal. »Die Weißen sind doch alle gleich«, erwiderte Zablon
bewegen. Das Land jenseits des Fensters war schön, bot dem
lachend. »Die ändern sich nie. Ein Leopard kann seine Flecken
Blick jede nur erdenkliche Schattierung von Grün. Das Mädchen
nicht ablegen, Adventist hin oder her. Nur Gott kann das Beste
beruhigte sich, und ich härte draußen die Vögel singen. Bis auf
hende verändern, und Er wird uns den Weg weisen. Wir müs
den seltsamen Bananenbaum war die Welt um die geschäftige
sen Vertrauen zu Ihm haben.« Zablon aß lächelnd sein Ziegen
Klinik ein endloses Meer aus sorgfaltig angelegten Tee- und Kaf
fleisch und sah sich unter seinen weißen Gästen um. »Ja«, sagte
feeplantagen, die die Hügel, Täler und terrassierten Berge über
er. »Und Gott liebt sogar die Leoparden.«
zogen. Es war Erntezeit, und so waren nur wenige Mütter in
Eines Tages war ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von
der Klinik. Die Menschen lebten seit vielen Jahrhunderten hier,
Mugonero, um bei einer Polioschutzimpfung zu helfen. Die
dem fruchtbarsten Land in ganz Afrika. Und jetzt pflanzten sie
Klinik befand sich mitten im Dorf, und weil unser Jeep unter-
s8
59
wegs den Geist aufgegeben hatte, kamen wir eine Stunde zu spät. Wir härten Babys schreien. Die Luft war schwülheiß. Dennoch waren Mütter aus allen umliegenden Dörfern gekom men und standen zu Hunderten mit ihren kleinen Kindern Schlange, um sie impfen zu lassen. Wir hatten etwa eine Stunde gearbeitet, als eine der Mütter mir ihren kleinen Jungen sanft an die Brust drückte. Sie zeigte mir sein steifes Bein. Ich nahm den Jungen in den Arm, und er lächelte mir zu. Er war ein feistes, frohes Baby, das nach Seife duftete. Seine Mutter sagte etwas zu mir, und die Krankenschwester übersetzte für mich. Ich sollte das Bein des Jungen heil machen. Er könne nicht krabbeln wie die anderen Kinder, sagte die Mutter, und schlep pe das Bein schon seit mehreren Wochen nach. Ich sah mir die Krankenakte des Kleinen an, während er mit meinem Stetho skop spielte. Er hatte schon zwei Dosen des Impfstoffs erhalten. Dies wäre die letzte Wiederholungsimpfung. Zweimal hatte sei ne Mutter ihn am Morgen gebadet, war meilenweit gelaufen, um ihn impfen zu lassen, und zweimal hatte der Impfstoff versagt. Das Problem war wohl eine unterbrochene Kühlungs kette - der Impfstoff musste bis zu seiner Benutzung gekühlt werden, ansonsten wurde er schlecht. Der Junge fing an zu weinen, wollte wieder zu seiner Mutter. »Sie hat drei Töchter. Er ist ihr einziger Sohn«, sagte die Krankenschwester. Ich er klärte ihr so sanft ich es nur konnte, dass sein Bein gelähmt bleiben würde. Die Mutter wich zurück und drückte das nun wieder fröhliche Baby an ihre Brust. Ruander weinen selten in der Öffentlichkeit. Einen kurzen Moment lang liefen ihr Tränen über die Wangen. Mit Hilfe der Krankenschwester schlug ich ihr vor, dass sie den Jungen, sobald er ein wenig älter wäre, zum Mugonero-Krankenhaus bringen könne, um ihm Bein schienen anpassen zu lassen. Sie hörte sorgraltig zu, während die Krankenschwester sprach. Diese erklärte mir, dass die Mut ter geweint habe, weil sie wisse, dass ihr Sohn ein Fahrradstuhl Junge sein würde. »Aber er kann doch auch in die Schule ge hen«, sagte ich. »Nein«, widersprach die Schwester. »Für bei des reicht das Geld nicht aus.« Die Tränen der Mutter waren 6o
mittlerweile wieder versiegt und hatten schwache weiße Salz spuren auf ihrer dunklen Haut hinterlassen. Sie nickte mir zu und ging zu ihren wartenden Freundinnen. Ich machte kurz Pause, um mir
am
Kiosk um die Ecke eine Fanta zu kaufen, als
es zu regnen begann. Das Getränk war frisch gekühlt, und ich
setzte mich damit auf einen großen Stein. Die Kinder lachten über den Muzungu, der da im Regen saß, während aus einem batteriebetriebenen
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plärrte. Und die Klinik schafft es nicht, den verdammten Impf stoff kühl zu halten! , dachte ich und hoffte, der Regen werde meine Tränen vertuschen. Für Nichtregierungsorganisationen und die Regierungen, die sie unterstützten, war Ruanda ein verwaltungstechnischer Traum: Es war in zehn Prefectures, diese jeweils in I 4 S
Communes und die
wiederum in einzelne Collines unterteilt, Hügel, von denen ein jeder etwa tausend Menschen umfasste. Präsident Habyarimana hatte 1973 , im Zuge eines Militärputsches, die Macht ergriffen. Die gestürzte Kayibanda-Regierung hatte sich nur so lange ge halten, weil sie Tutsi-feindliche Gefühle geschürt und Folter zugelassen hatte, eine weitverbreitete Strategie der Herrschen den, die einer bröckelnden Wirtschaft zum Trotz an der Macht festhielten. I9S9 , drei Jahre, bevor Ruanda in die Unabhängig keit entlassen worden war, hatte die Hutu-Mehrheit den regie renden Tutsi-König gestürzt. ZV\-ischen 19S9 und 1967 waren mindestens zwanzigtausend Tutsi in Ruanda ermordet worden, und über dreihunderttausend Tutsi waren in die Nachbarländer Zaire und Uganda geflüchtet. Als Vertriebene lernten sie dort die englische Sprache, betrachteten sich aber weiterhin als Ru ander. 1987 endlich, am Höhepunkt des Kalten Kriegs, standen die reichen Westnationen regelrecht Schlange, um der winzi
gen Republik Entwicklungshilfe zu leisten. Das Land galt als Ueblingskind der postkolonialen »Entwicklungshilfe«, als ein nahezu perfektes Beispiel dafür, was sich durch die richtige Art von Zuwendung erreichen ließ. Sowohl die
USA,
mit ihrem
USAID-Programm, Franzosen und Belgier mit vereinten Kräften,
die Kanadier mit der Canadian International Development
einem vorbildlichen »Entwicklungsstaat« gemausert hatte. Die
Agency, ja selbst die Chinesen und der Aga Khan unterstützten
ohnehin bereits sehr spärlichen Sozialinvestitionen wurden
die Regierung in Ruanda und waren vorübergehend bereit, die
noch weiter beschnitten. Unter der neuen Politik wurden für
Diktatur dort zu tolerieren, als ein notwendiges Heilmittel
Kliniken und Ernährungszentren Gebühren eingeführt, sie soll
gleichsam für die postkoloniale Instabilität des Landes. Die Pro
ten »autonom und effizient«, dazu ökonomisch »nachhaltig«
bleme der Vergangenheit waren, nun ja, vergangen - und ein
werden. 1988 , zwei Wochen, nachdem ich in Mundende den
jeder war gewillt, dem Land die kollektive Absolution zu ertei
nasagastrischen Schlauch des kleinen Mädchens neu befestigt
len. Von einer Demokratisierung war kaum noch die Rede. »Sie
hatte, verkündete die Regierung von Ruanda, dass Ernährungs
sind noch nicht so weit. Demokratie will gelernt sein, sie lässt
zentren fortan nicht mehr kostenlos Lebensmittel verteilen
sich nicht erzwingen«, erklärte mir ein höherer USAID-Funk
dürften. Die meisten Mütter, vor allem die ärmsten, brachten
tionär.
ihre hungernden Kinder von nun an nicht mehr hin. Ich muss
An den Wochenenden fuhr ich des öfteren mit Emile, Susan
te mein Forschungsprojekt abbrechen.
und anderen Freunden aus Kigali nach Goma in Zaire. Es war nicht weit, und im Calabash Night Club gab's immer Musik und
Für meine letzte Fahrt von Mundende nach Kigali war ich spät
Tanz. Emiles Tante lebte in Goma. Wie Emile war auch sie eine
dran und konnte gerade noch durch ein Fenster in den Bus
Tutsi und 19 7 2 , aufgrund der Pogrome, aus Ruanda geflüchtet.
steigen. Für einen war noch Platz im Bus, und so wurde nach
Sie hatte ein kleines Geschäft in Goma aufgebaut und es ge
mir noch ein etwa zwölfj ähriger Junge durchs Fenster gescho
schafft, ihre Kinder großzuziehen. Im letzten Jahr jedoch hatte
ben. Er saß zwischen mir und drei Müttern mit ihren kleinen
sie alles verloren. Jetzt unterstützte ihr Bruder Suki sie finanziell,
Kindern. Als alle Passagiere im Bus waren, dauerte es eine halbe
der ebenfalls 19 7 2 geflüchtet war. Ich lernte Sukis Sohn kennen,
Stunde, bis sämtliche Hühner, Ziegen, Getreidesäcke, Einkaufs
Jimmy Carter. Suki arbeitete für die Regierung von Zaire, als
taschen und Fahrräder in jedem verfügbaren Winkel im Bus
Beauftragter für öffentliche Arbeiten, und war während der Car
verstaut waren. Allzu sperrige Gegenstände wurden auf dem
ter-Ära in die USA gereist, auf der Suche nach ausländischen
Dach und an den Seiten des Busses festgezurrt Das Fahrzeug
Investoren. Anschließend hatte er seiner Begeisterung für Ame
ächzte, und bald darauf ging die Reise los.
rika Ausdruck verliehen, indem er seinen ersten Sohn nach des
Der Junge sprach kaum französisch, aber ich erfuhr, dass er
sen Präsidenten benannt hatte. Suki legte großen Wert auf den
Uwimana hieß. Wir kamen ein wenig ins Gespräch. Er fuhr zu
schulischen Werdegang seines Sohnes. »Deine Bildung«, pflegte
seinem Onkel in Kigali, der es sich leisten konnte, ihn zu er
Suki zu Jimmy Carter zu sagen, »ist ein Schatz, der dich überall
nähren und seine Schulgebühren zu bezahlen. Als Gegenleis
hin begleitet, den dir keiner wegnehmen kann.« Seit dem Staatsstreich von 19 7 3 hatte sich die politische At
tung würde Uwimana nach der Schule seinem Onkel im Laden helfen. Bei einem Zwischenaufenthalt, drei Stunden nach Be
mosphäre in Ruanda beruhigt, herrschte eine trügerische Ruhe
ginn der achtstündigen Fahrt, kaufte ich für Uwimana und
in dem zentralafrikanischen Paradies. Präsident Habyarimana
mich je ein gekochtes Ei und eine Fanta. Er trank die Fanta und
war weiter an der Macht geblieben, unterstützt durch die Welt
hob sich das Ei für später auf.
bank und den Internationalen Währungsfonds, deren Program
Eine Stunde später blieb der Bus auf der löchrigen, unbefes
me für den Strukturausgleich der späten 198oer Jahre zu drasti
tigten Straße am Rand einer kleinen Ortschaft stehen. Ich über
schen Veränderungen in Ruanda geführt hatten, das sich zu
ließ Uwimana meinen Rucksack und stieg mit ein paar Män-
62
zu
derne, einer gutbesuchten Kneipe jenseits der Touristenmeile.
wechseln, ein willkommenes Schauspiel für all jene, die im Bus
Wir hatten beide schon unser drittes Bier vor uns stehen, als ich
geblieben waren. Zwei Stunden später stieg ich wieder ein und
Paul von einem Gespräch erzählte, das ich am Nachmittag mit
nern aus, um ilmen dabei zu helfen, den platten Reifen
stellte fest, dass Uwimana mitsamt meinem Rucksack fort war.
einem Beamten des Gesundheitsministeriums geführt hatte. Ich
Einige Passagiere beobachteten gespannt, wie ich reagieren
hatte den Mann schon mehrmals aufgesucht, in der Hoffnung,
würde. Ein Mann deutete auf die Ortschaft hinter mir. Ich
ilm für meine Forschungsarbeit zu interessieren und eine offi
kroch aus dem Fenster und lief die Straße hinunter, um nach
zielle Erlaubnis der Regierung zu erhalten, leider nur mit mäßi gem Erfolg. Während unserer Gespräche hatte mich der Beamte
dem kleinen Dieb Ausschau zu halten. Schließlich entdeckte ich ihn hinter einer der Hütten. Er saß
immer wieder an mein Visum erinnert, ein leiser Hinweis dar
mit dem Rücken zur Straße. Ich rannte auf ihn los und packte
auf, dass mein Aufenthalt in Ruanda von begrenzter Dauer war
ilm grob am Hemd. »Uwimana, du Dieb!«, rief ich und drehte
und von ihm abrupt beendet werden konnte. Ich lachte mit Paul
ihn zu mir herum. Er weinte. Mittlerweile hatte sich eine kleine
über die Tatsache, dass die Regierung mir am selben Tag , an dem
Menschenmenge versammelt, und ich erzählte, was passiert
ich meine Studie abgeschlossen hatte, grünes licht erteilte.
war. Ein Mann versetzte dem Jungen eine Ohrfeige, und andere
Paul kannte den Beamten vom Hörensagen. »Jeder Tutsi
schlugen ebenfalls auf ihn ein. Da trat ein älterer Mann hinzu
kennt ilm«, sagte er, und fügte nach kurzer Pause hinzu: »Und
und nahm ilm in Schutz. Die Übrigen fügten sich, und der Alte
alle Tutsi hassen ihn.«
fragte den Jungen, was denn passiert sei. Ein anderer habe den Rucksack gestohlen, beteuerte dieser.
Uwimana, sei ihm
Ich fragte ihn nach dem Grund. Er nahm eirren Schluck Bier, stellte das Glas zurück und betrachtete eine rote Riesenameise,
hinterhergerannt, aber der Mann sei zu schnell gewesen. Uwi
die über unseren Tisch krabbelte. »Was ist das für eirr Gefühl,
mana habe mit leeren Händen nicht wieder in den Bus steigen
einem Mann g egenüberzusitzen, der 1973 die Ermordung vie
wollen. Ich schämte mich. Ich legte ihm die Hand auf die
ler tausend Tutsi angeordnet hat?«, fragte er leise. Ich rutschte
Schulter. Er schüttelte sie ab und holte sein Ei aus der Tasche.
unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her. Jetzt erhielt die
Es war kaputt. Ich wollte es nicht zurücknehmen, also legte er
rote Ameise auch meine ganze Aufmerksamkeit. Ich hatte noch
es auf einen Stein. Uwimana wollte nicht mehr mit mir im Bus
nie jemanden über diesen Beamten sprechen hören, nicht ein
fahren. Er blieb bei dem alten Mann, dem ich Geld gab, um
mal beiläufig. Ich sah zu, wie die Ameise unter unser Tischtuch
wenigstens sicherzugehen, dass der Junge den nächsten Bus
krabbelte.
nahm. Ich wollte mich in seiner Sprache bei ihm entschuldi
»Dann fliegst du also schon in einer Woche wieder nach
gen, aber ich beherrschte kein Kinyarwanda. Ich kletterte in
Kanada zurück«, sagte Paul, abrupt das Thema wechselnd.
den Bus zurück und sah, wie der Junge dem Bus hinterherstarr
»Was ist fiir das kommende Jahr geplant? Ihr Muzungus plant
te, als wir davonfuhren.
doch immer irgendetwas.« »Paul«, sagte ich und versuchte, eine Frage zu formulieren.
Jahr in Ruanda zu Errde
»Sieh zu, dass du mir deine Adresse in Kanada gibst, bevor
war, aß ich mit Paul, einem Ruander Arzt am CHK, zu Abend.
du fahrst«, kam er mir zuvor. »Man weiß nie, >vann ein Freund
Aus dem Hierarchieverhältnis war mittlerweile Freundschaft ge
vor der Tür steht.«
Im Mai 1988, eine Woche, bevor mein
worden. Und so nutzten wir die Gelegenheit für einige letzte
Nachdem ich ein ganzes Jahr im Land verbracht, hier gear
gemeinsame Bierchen. Wir trafen uns in der Bar de Progres Mo-
beitet und Freundschaften geschlossen hatte, war es das erste
Mal, dass mir jemand reale Details aus Ruandas Geschichte an
eines Dolmetschers darüber zu belehren, wie wichtig es sei,
vertraut hatte. Er hatte sich auf ein Massaker bezogen, das nicht
der Natur und den Alten Ehrerbietung entgegenzubringen. Sie
etwa von anonymen Personen in Geschichtsbüchern organisiert
seien schließlich unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, er
worden war, sondern von Menschen, die ich kannte, die nicht
klärte sie. Ich schilderte, wie ich in einem entlegenen Dorf
unwichtig waren für meine Arbeit. Dank Pauls Bemerkung war
zwei Stunden damit zugebracht hatte, einer Mutter zu erklären,
Ruandas Vergangenheit plötzlich in die Gegenwart gerückt.
wie man Durchfall behandelt: Am Ende wusste ich, dass sie
Nachdem Paul sich verabschiedet hatte, wechselte ich zu Scotch
mich verstanden hatte und dass ihr Kind die richtige Behand
und betrank mich. Eine Woche später reiste ich ab, um meine
lung erhalten würde. Ich stellte die rhetorische Frage: Warum
medizinische Ausbildung in Hamitton abzuschließen.
stirbt ein Kind in Afrika an Durchfall, während ein anderes in
Ich schrieb Paul mehrere Briefe in den kommenden zwei Jahren. Er schrieb nie zurück.
Kanada diese scheinbar harmlose Erkrankung überlebt? Ich strich den Ausdruck »Dritte-Welt-Länder« mitsamt dem gön nerhaften Beigeschmack. Er impliziert, dass wir eine Art utopi
Ich kehrte mit einigen Forschungsfragen, die der Antwort be
sches Ideal erreicht haben, wo wir die Ersten sind und der Rest
durften, im Zusammenhang mit Aids und anderen Krankheiten
der Welt sich abmüht, unseren Stand zu erreichen. Sind wir so
an die McMaster University zurück. Doch was ich in Ruanda
egozentrisch, dass wir nicht einmal die Möglichkeit in Betracht
gesehen hatte, hatte nicht nur die Frage nach den Gründen für
ziehen, die Zukunft anderer sei nicht notgedrungen die unsere?
gescheiterte Impfstrategien und unzureichende klinische Fall
Entwicklungshilfe ist nicht apolitisch. Wer dies nicht begreift,
studien aufgeworfen. Meine neuen Fragen waren in erster Unie
läuft Gefahr, der eigenen Verantwortung als Arzt, im Inland
moralischer, in zweiter Linie politischer Natur, Fragen, wer
wie im Ausland, mit einer gela.hrlichen Gleichgültigkeit nach
wann welche Medikamente bekam, warum einige mehr beka
zukommen.
men als andere, und die wichtigste Frage, wer darüber zu be stimmen hatte.
Ich schloss mit der Bemerkung, dass mich die Zeit in Ruanda sehr verändert habe. Es mag naiv und übertrieben idealistisch
Ich präsentierte das Forschungsprojekt, an dem ich ein Jahr
klingen, aber ich weiß, dass wir auf ein besseres Morgen hinar
lang mitgewirkt hatte, dem Medical Research Council, wo man
beiten können, wenn wir imstande sind, uns ein besseres Mor
über meine Produktivität hocherfreut war. Mit meiner For
gen vorzustellen. Ein Idealismus wie dieser hat schon immer
schungsarbeit zum Thema der Gesichtsschädeldysmorphie hat
Großes in der Welt bewirkt. Ich kann mein Leben und meine
te ich gute Ergebnisse erzielt. Aber irgendetwas daran störte
Gewohnheiten ändern, um diese Ideale in die Tat umzusetzen.
mich. Ich stellte meine Ergebnisse bei einigen Medizinertagun gen vor, doch obwohl die Ärzte Lepage und van de Perre und meine Fakultät mich sehr ermutigten, veröffentlichte ich sie nie. Zu den geforderten Berichten reichte ich auch eine Reihe von Überlegungen ein, von denen ich hoffte, jemand möge sie lesen. Ich erzählte die Geschichte einer alten Frau, mit der ich im Bus ins Gespräch gekommen war. Sie war wütend auf die Weißen und hatte die Gelegenheit ergriffen, mich mit Hilfe 66
Auf der Suche nach humanitärem Raum : Ärzte ohne Grenzen in Somalia
nach dem Zyklon Bhola, der 1970 einer halben Million Men schen das Leben gekostet hatte, für die Hilfsorganisation Secours Medical Franfaise im östlichen Pakistan gearbeitet (dem jetzigen Bangladesch) . Borel und sein Team hatten auf die Erlaubnis warten müssen, in das Land einreisen zu dürfen, und verloren allmählich die Geduld mit Hilfsorganisationen, die ihrer An sicht nach Prinzipien wie Nichteinmischung und Staatshoheit
Was ich in Ruanda gesehen hatte, ließ mich zu der Überzeu
viel zu hoch hielten. »Angesichts der vielen Menschen, die
gung gelangen, dass ich in einem Entwicklungsland arbeiten
jenseits der Grenze im Sterben lagen, fragten wir uns: >Was ist
wollte. Ich glaubte damals fest, ein Arzt müsse, um auf das Leid
das, eine Grenze? Sie bedeutet uns nichts<«, erzählte Borel.
der anderen adäquat zu reagieren, apolitisch sein. Am 9 · No
Kouchner hatte für das Französische Rote Kreuz gearbeitet,
vember 1989 saß ich in der Chirurgen-Lounge des McMaster
das 1968 von der nigerianischen Regierung in die Region Bia
Krankenhauses vor dem Fernseher und sah, wie ein junger
fra geholt worden war, und gemäß der traditionellen Neutrali
Mann aus Ostdeutschland sich mit einem Presslufthammer an
tätshaltung des Roten Kreuzes hatte Kouchner ein Schweigege
der Berliner Mauer zu schaffen machte. Die Welt hatte sich ver
lübde abgelegt. Nach einem Staatsstreich in dem seit 1 960
ändert.
unabhängigen Nigeria wurden im ganzen Land die Angehöri
Ich hatte bereits während der Ausbildung von der Hilfsorga
gen des Ibo-Volkes niedergemetzelt. Die Ibo riefen daraufhin
nisation Ärzte ohne Grenzen gehört. Richard Heinzl, ein Me
die unabhängige Republik Biafra aus. Ein grausamer Bürger
dizinstudent, der mir ein Jahr voraus war, hatte eine Gruppe
krieg war die Folge. Nigerianische Streitkräfte umzingelten die
Freiwilliger zusammengetrommelt, die gemeinsam mit der
abtrünnige Region, errichteten eine Blockade und überließen
niederländischen MSF-Sektion eine Niederlassung in Kanada
achteinhalb Millionen Menschen in Biafra dem Hungertod. Ei
aufbauten. Ich wusste nicht viel über Ärzte ohne Grenzen, aber
nes Tages kamen verwundete Dorfleute, auf der Flucht vor ni
ich wusste, dass die Organisation aus den Unruhen hervorge
gerianischen Soldaten, in die Klinik, in der Kouchner und seine
gangen war, die in den späten Sechzigern Europa und Nord
französischen Kollegen tätig waren. Die Ärzte informierten den
amerika erfasst hatten. Nachdem der Verband 19 7 1 in Paris ge
Hauptsitz des
IKRK
und erhielten die Anordnung, die Stellung
gründet worden war, verfügte Ärzte ohne Grenzen bereits 1990
zu räumen. Als sie sich weigerten, mussten sie voller Entsetzen
über nationale Niederlassungen in Belgien, Holland, Spanien,
mit ansehen, wie nigerianische Soldaten unbewaffnete Männer,
in Luxemburg und der Schweiz. Damals entstanden zudem Sek
Frauen und Kinder abschlachteten. Die Ärzte waren empört,
tionen in Skandinavien, Nordamerika, den Arabischen Emiraten,
dass die strikte Einhaltung des Neutralitätsgebotes seitens des
in Japan und China.
Roten Kreuzes sie daran hinderte, öffentlich über die Gräuel zu
Die Geschichte von Ärzte ohne Grenzen bastelte ich mir aus
sprechen. Wieder in Frankreich, brachen sie ihr Schweigege
offiziellen Berichten zusammen, persönlichen Geschichten und
lübde, um der Welt mitzuteilen, was sie in Biafra erlebt hatten.
den unvermeidlichen Hagiographien, die über zu vielen Drinks
Die unbedingte Neutralität des Roten Kreuzes hatte das Komi
erzählt werden. Ich erfuhr, dass MSF von zwei Gruppen franzö
tee bereits im Zweiten Weltkrieg dazu bewogen, sein Wissen
sischer Ärzte gegründet worden war, die eine angeführt von
über die Vernichtungslager zu verschweigen. Die Verantwortli
Raymond Borel, die andere von Bernard Kouchner. Borel hatte
chen hatten befürchtet, dass die Nazis, sobald die Wahrheit ans
68
Licht käme, die Mitarbeiter des Roten Kreuzes daran hindern
gekentert, oder verhungert und verdurstet, während sie in den
könnten, den Kriegsgefangenen beizustehen. Für Millionen be
Nachbarländern Thailand, Malaysia und Indonesien Zuflucht
deutete diese Entscheidung den Tod.
gesucht hatten. Im November 1978 hatte Malaysia die Grenzen
Am 10. Dezember 1971 gründeten Borel und Kouchner ge
für Flüchtlinge dichtgemacht. Bernard Kouchner, der damalige
meinsam die HUfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die ihrem
Leiter von Ärzte ohne Grenzen, wollte gemeinsam mit einer
Konzept gemäß Landesgrenzen nicht grundsätzlich als sakro
Gruppe französischer Intellektueller, zu der auch Jean-Paul Sar
sankt oder als Hindernisse betrachtete. Obwohl Ärzte ohne
tre gehörte, ein Frachtschiff ins chinesische Meer schicken, um
Grenzen das Schweigen des Roten Kreuzes ablehnte, übernahm
Schillbrüchige zu retten. Viele Mitglieder von
es dennoch dessen Prinzipien humanitären Handelns, wie sie
Zweifel, dass ein einziges Schiff genügen würde, um alle Men
1864 bei seiner Gründung festgelegt worden waren : das Prinzip
schen in den kleinen Fischerbooten zu retten. Sie stellten außer
der Gleichheit, durch welches gewährleistet wird, dass aus
dem die Qualität der geplanten medizinischen Versorgung in
MSF
hatten ihre
nahmslos alle Menschen der Hilfe und des Schutzes würdig
Frage. Und vor allem hatten sie Zweifel, ob die Gegenwart des
sind; das Prinzip der Neutralität, welches verlangt, dass allen
Schiffs nicht noch mehr Menschen dazu ermutigen würde, inl
Opfern in einem Konflikt Hilfe und Schutz gewährt werden
chinesischen Meer ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Kritiker an
müssen, ganz gleich, auf welcher Seite sie stehen, welcher Rasse,
Kouchners Vorhaben hielten die Idee mit dem Schiff für wenig
Religion oder politischen Partei sie angehören; und schließlich
mehr als eine medienwirksame Inszenierung, und die Mei
das Prinzip der Unabhängigkeit, das den humanitären Helfer
nungsverschiedenheiten führten schließlich zu Kouchners Aus
dazu verpflichtet, sich aus politischen, wirtschaftlichen, religiö
tritt aus der Organisation. Er charterte ein Schiff
sen und anderen Konflikten herauszuhalten. Ärzte ohne Grenzen
Lumiere -, auf dem Flüchtlinge medizinisch versorgt werden
sollte neutral bleiben, was die Ursachen der Konflikte betraf,
konnten.
die Ile de
dabei aber nicht schweigen, wenn es um das Leid der Opfer
Je mehr ich über die Organisation Ärzte ohne Grenzen erfuhr,
ging: Die Öffentlichkeit musste über Kriegsverbrechen, Völker
vor allem über ihre Bereitschaft, die eigenen Mythen zu hinter
mord und massive Menschenrechtsverstöße informiert werden.
fragen, desto größer wurde mein Wunsch, ihr beizutreten. Sie
Ärzte ohne Grenzen entstand aus der Einsicht, dass humanitäre
hatte erkannt - wenn auch inl Stillen -, dass sie ihre Gründung
Helfer durchaus Einflu ss nehmen konnten auf die öffentliche
einer Fehleinschätzung der Lage in Biafra verdankte. Wie Oxfam
Meinung. Die Mitglieder der Organisation sahen sich in der
und die christlichen Missionare in Biafra handelten die ehemali
Pflicht, nicht nur zu helfen, sondern auch solidarisch die Stim
gen Ärzte des Roten Kreuzes um Kouchner herum in der festen
me zu erheben gegen Menschenrechtsverstöße und Verstöße ge
Überzeugung, auf der Seite der Opfer zu stehen, als sie die An
gen international geltendes humanitäres Recht, die Regierungen
gelegenheit der Abtrünnigen in Biafra zu der ihren machten. In
allzu oft zu vertuschen suchten.
Wirklichkeit hatte General Ojukwu, ihr Anführer, sich gewei
1 97 9 machte Ärzte ohne Grenzen die Welt auf die Not Tau
gert, Hilfsgüter auf dem Landweg nach Biafra transportieren zu
sender von Vietnamesen aufmerksam, die in kleinen Fischer
lassen; in seinem Streben nach einem unabhängigen Biafra hatte
booten aus ihrem Land flüchteten. Seit 1975 waren mindestens
er seine hungernden Landsleute als Propagandamittel benutzt. Er
vierhunderttausend Menschen in Booten aus dem kommunisti
ließ nur die telegenen Luftbrücken zu, die ihm in der westlichen
schen Vietnam geflüchtet. Die Hälfte war von Piraten vergewal
Öffentlichkeit Sympathie und Unterstützung einbrachten. Ver
tigt, ausgeplündert oder ermordet worden, bei stürmischer See
sorgungsgüter, die auf dem Landweg nach Biafra transportiert
70
71
würden, so seine Überlegung, könnten auf ein humanes nige
Dörfern an der Küste über zweitausend Menschen dahingerafft.
rianisches Regime schließen lassen, obwohl es mit militäri
Dann verkauften Fischer ihren Fang iris Binnenland, und so
sehen Mitteln versuchte, eine Spaltung des Landes zu verhin
hatte sich die Seuche, wie es abzusehen war, nur wenige Mona
dern. Ojukwus Unnachgiebigkeit untermauerte wiederum die
te später entlang der Handelswege über die Berge bis nach Ca
nigerianische Blockade und verschlimmerte die Hungersnot.
rabamba und Caramarcos verbreitet. Die Sterberate bei Cholera
Ärzte ohne Grenzen würde später zugeben, einer Fehleinschät
beträgt bis zu fünfzig Prozent, wenn sie nicht ordentlich be
zung aufgesessen zu sein. Trotzdem würde die Organisation
handelt wird. Heftige Durchfalle und Erbrechen können die
ihrer Verpflichtung, sich
äußern, treu bleiben. Sie scheute
Betroffenen gänzlich dehydrieren und binnen Stunden töten.
sich weder vor Dilemmata noch hatte sie Angst, eigene Ent
Die Behandlung ist mit Hilfe einer oralen, notfalls auch intrave
scheidungen gegebenenfalls einer kritischen Analyse zu unter
nösen Rehydrierung verhältnismäßig eirifach und kann die
ziehen.
Sterberate auf unter ein bis zwei Prozent senken. Als typische
zu
Ich meldete mich freiwillig als Gründungsmitglied von MSF
Armenkrankheit erscheint die Cholera dort, wo es an sauberem
Kanada, zusammen mit einer wachsenden Anzahl von Kollegen
Trinkwasser und gesundheitlicher Versorgung fehlt. Ursache
im ganzen Land. Da ich gleichzeitig meinen Studienkredit zu
für dergleichen Mängel ist oft ein Krieg.
rückzahlen musste, übernahm ich einige Praxisvertretungen
Präsident Fujimori versuchte, die Guerillabewegung Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) niederzuschlagen. Die Guerilla
und gelangte schließlich nach Orangeville, um die Praxis von übernehmen, der schwer erkrankt war. Ich
kämpfer widersetzten sich den politischen und wirtschaftli
liebte meinen Beruf: das Assistieren in Operationssälen, die
chen Plänen des Präsidenten. Fujimoris Versuche, die Rebellen
Schichten in der Notfallstation. Am besten aber gefiel mir der
davon abzuhalten, einen zunehmend krimiriellen Handel mit
Umgang mit den Menschen.
Kokablättern an sich zu reißen, wurden von den USA unter
Dr. John Turner
zu
Nachdem Dr. Turner verstorben war, übernahm ich seine
stützt. Drogenbarone, Regierungskräfte und Guerilleros hatten
Praxis, aber der Gedanke an Ruanda und an Ärzte ohne Grenzen
allesarm brutale Methoden, unter denen die Zivilbevölkerung
ließ mich nicht los. Da ich meinen Beruf als Arzt so sinnvoll
zu leiden hatte. Anfang 1 99 1 hatten Guerilleros im Süden des
wie möglich ausüben wollte, fasste ich den Entschluss, mir
Landes zwei Entwicklungshelfer und mehrere Nonnen getötet.
eine Vertretung für die Praxis zu suchen.
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen erhielt von den Guerille ros keine Garantie, dass man ihren humanitären Auftrag respek
Mein erster Einsatz für MSF führte mich 1991 nach Peru. Obwohl
tieren würde, und war gezwungen, ihre Mitarbeiter, die den
ich dort nicht einen Patienten zu Gesicht bekam, wurde mir
Quechua-Indianern helfen wollten, aus der Region abzuziehen.
doch zum ersten Mal bewusst, wie gerahrdet das Leben in
Der Norden, in den ich reiste, wurde von Streitkräften der Re
Kriegszeiten wird. Ich war nach Carabamba und Caramarcos
gierung kontrolliert.
gefahren, zwei Städte im Norden, in denen die Cholera ausge
Es war mitten am Nachmittag, und ich war gerade in den
brochen war. Es war das erste Mal im zwanzigsten Jahrhundert,
Bus gestiegen, um in die Berge
dass in Südamerika Fälle von Cholera auftraten, und die Seuche
mindestens acht Stunden dauern, und als ich in dem überfüll
verbreitete sich rasch. Sie war über iridische Frachtschiffe, die
ten Fahrzeug saß, erinnerte ich mich an ähnliche Reisen in
vor der Küste ihr kontaminiertes Ballastwasser abließen, nach
Ruanda. Die Leute waren farbenfroh gekleidet - manche in
Peru gelangt. Ende des Jahres 1 9 9 1 hatte die Cholera allein in den
traditioneller peruaniseher Tracht -, und sie redeten und lach-
zu
fahren. Die Fahrt würde
73
ten laut und freimütig. Ich setzte mich neben eine alte Frau
ich wartete wieder drei Stunden. Zum ersten Mal verstand ich,
und ihren Sohn, der Mitte zwanzig war. Etwa eine Stunde au
wie leicht man in diesem Land verschwinden konnte. Schließ
ßerhalb von Lima teilten wir uns Sandwiches und etwas zu
lich ließen sie mich gehen, und ich wartete am Straßenrand
trinken in einem Straßencafe. Wieder im Bus, versuchten die
auf den Bus nach Lima.
alte Frau und ihr Sohn trotz des immer noch lebhaften, wenn
In dieser Nacht betrank ich mich mit den Leuten aus dem
auch allmählich leiser werdenden Geplauders ringsum ein we
MSF-Team in Lima.
nig zu schlafen. Etwa eine Stunde später wurde der Bus von
gewesen. Wahrscheinlich plane die Armee für die kommenden
einer Militärpatrouille angehalten. Alle Insassen verstummten.
Tage in Lima eine Razzia. Nach mehreren Wochen in Lima kehr
Sie versicherten mir, es sei keine große Sache
Ein Soldat Anfang dreißig stieg in den Bus, und nachdem er
te ich schließlich nach Toronto zurück. In der nächsten Zeit
mit dem Fahrer gesprochen hatte, ging er geradewegs auf mich
konnte ich nicht mehr verreisen, da ich meine Studienschulden
zu. Wortlos bedeutete er mir mit seinem Gewehr, ich solle
abzahlen musste.
aufstehen. Ich schaute hilfesuchend die alte Frau und ihren
ganzen Welt; am dringendsten wurden damals Helfer im Nord
Sohn an, die beide zu Boden blickten.
irak gebraucht. Mein Freund Ian Small beschrieb die Situation
MSF rekrutierte Mitarbeiter für Projekte in der
Niemand sah mich an, als der Soldat mich aus dem Bus
dort infolge des Golfkriegs von 1 991 als eine »gottverdammte
führte. Trotzdem bekam ich es erst mit der Angst, als ich mich
Hölle für die Kurden. Bush hat sie angeschmiert, und jetzt hat
noch einmal umblickte. Niemand schaute mir nach. Ich härte,
Saddam sie drangekriegt.« Saddam Hussein war in Kuwait ein
USA
wie der Busfahrer den Motor abschaltete, während der Soldat
gefallen, und die
mich immer weiter weg führte. Als wir die Straße verließen
Streitkräften weiterer Staaten eine Koalition gebildet, um die
unter George H. W Bush hatten mit den
und ins Gebüsch eintauchten, fing ich an zu schwitzen. Nach
irakisehe Armee aus dem Land zu vertreiben. Es war, um es mit
etwa dreißig Metern erreichten wir eine Hütte aus Holz und
den Worten von Präsident Bush zu sagen, die erste gemeinsame
Lehm. In einem fensterlosen Raum wies man mir einen Stuhl
Aktion in einer »Neuen Weltordnung«. Bush beschwor die drei
vor einem hölzernen Tisch, und eine Reihe höherer Offiziere
einhalb Millionen Kurden im Nordirak und die Schiiten im Sü
stellte mir Fragen. »Warum sind Sie hier? Wohin fahren Sie?
den, sich gegen Saddarn Hussein aufzulehnen, doch der Militär
Warum interessiert sich ein Kanadier für Peru? Waren Sie schon
einsatz ging für die Koalitionsstreitkräfte relativ schmerzlos
einmal hier?« Ich spürte, wie mir das Herz klopfte bis zum
vonstatten und war einfacher als erwartet.
Hals, als ich den Motor anspringen und den Bus davonfahren
Bush brauchte den Irak nicht zu erobern, befürchtete je
härte. Ich war nun mutterseelenallein. Und im selben Moment
doch, ein Bürgerkrieg zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden
stieg eine Angst in mir auf, wie ich sie noch nie zuvor verspürt
könnte den gesamten Nahen Osten destabilisieren. Nachdem
hatte.
Schiiten und Kurden Bushs Aufforderung zur Revolte befolgt
Nach etwa drei Stunden musste ich pinkeln. Der Soldat starr
hatten, wurden sie von ihm daher regelrecht im Stich gelassen,
te mich an, reagierte aber nicht, schüttelte nur den Kopf und
und Saddam Hussein konnte ihre Rebellion ungehindert nie
wollte mich nicht austreten lassen. Eine halbe Stunde später
derschlagen. Über zwei Millionen irakisehe Kurden flüchteten
wurde er von einem anderen Soldaten abgelöst, der mitfühlend
daraufhin über die Berge in die Türkei und den Iran, um sich
lachte, als ich ihm von meinem Bedürfnis erzählte, und mich
den kurdischen Gemeinschaften dort anzuschließen, und ge
mit ins Gebüsch nahm. Danach wurde ich in die fensterlose
rieten zwischen die vorrückenden irakischeu Truppen und die
Hütte zurückgeführt. Der andere Wachmann kam zurück, und
irakiseh-türkische Grenze, die die Türkei zu schließen versuch-
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te, aus Angst, die ins Land strömenden Flüchtlinge könnten die langjährigen nationalistischen Sehnsüchte der türkischen Kur den befeuern. Unter den harten Bedingungen im Gebirge, oh ne Nahrung und ohne Unterkunft, erlagen viele Männer, Frau en und Kinder der Ruhr. In weniger als achtundvierzig Stunden flog Ärzte ohne Grenzen zweitausendftinfhundert Tonnen Not fallkoffer und andere Versorgungsgüter ins Land, dazu einige hundert Personen Pflegepersonal. Auf Betreiben der Koalitions staaten sowie der türkischen und iranischen Regierungen er klärten die Vereinten Nationen den Nordirak zur humanitären Zone. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen appellierte an den Irak, die Unterdrückung der Kurden und Schiiten zu unter lassen und humanitäre Hilfe im Norden zu erlauben. Er autori sierte die USA und Großbritannien zudem, den Luftraum über dem Gebiet zu sperren. Der Militäreinsatz der Amerikaner, den sie
Opemtion Provide Cc)mfort
nannten,
diente vorgeblich dem
Schutz der Kurden, behinderte jedoch vor allem deren Flucht über die Grenzen und leistete der Destabilisierung der Region Vorschub. Der Einsatz von Ärzte ohne Grenzen im nördlichen Irak rettete vielen tausend Menschen das Leben, und ich war
santen Mann, der Zigarillos rauchte und für die Einsätze von MSF Holland in Krisengebieten verantwortlich war. Sein trocke
ner Humor gefiel mir, und wir verstanden uns glänzend. Jules hatte Notfall-Teams in den Sudan, nach Afghanistan, Ex-Jugo slawien und in den Nordirak entsandt. Doch die heftigste Krise durchlebte Somalia, und Jules' zwanzigköpfiges Team in der Stadt Baidoa brauchte dringend Ärzte zur Verstärkung. Er bat mich, dorthin zu gehen. »Leicht ist es nicht, aber auch nicht unmöglich«, sagte er. Der Bürgerkrieg in Somalia hatte 1990 mit einem Aufstand der Bevölkerung gegen Präsident Siad Barre begonnen, und seitdem war Ärzte ohne Grenzen im Land. Barre vv-urde im Januar 1991 gestürzt, woraufhin rivalisierende Stämme um die politische Kontrolle des Landes kämpften. In den sechs Mona ten vor meiner Ankunft in Somalia waren vierhunderttausend Menschen infolge des Krieges verhungert. Unsere Organisation hatte ihre Einsatz-Teams im ganzen Land verteilt. Und das Rote Kreuz verwendete die Hälfte seines Gesamtbudgets auf Somalia. Die Plünderung von Lebensmittelzuwendungen war an der Ta gesordnung, und immer wieder wurden Entwicklungshelfer
bitter enttäuscht, dass ich nicht daran teilhaben konnte.
durch rivalisierende Clans bedroht. Das Elend war überwälti
Im Sommer 1992 hatte ich eine Vertretung für meine Praxis
manitären Regeln von Neutralität und Unabhängigkeit schie
gefunden und beschloss, meine Schuldenlast noch ein wenig länger mit mir herumzuschleppen. Ich reiste nach Amsterdam, um bei MSF ein Fortbildungsseminar in medizinischer Nothilfe zu besuchen. Ich hatte davor einen Kurs an der London School of Hygiene and Tropical Medicine absolviert und war gespannt, das Wissen, das ich mir dort angeeignet hatte, in den Kontext der medizinischen Nothilfe zu setzen, wie Ärzte ohne Grenzen sie definierte. Während des MSF-Kurses war immer wieder von Somalia, dem Sudan und Ex-Jugoslawien die Rede, weil unsere Instruktoren beständig auf diese Länder zu sprechen kamen, als versuchten sie, sich etwas zu erklären, was schon längst keinen Sinn mehr ergab. In Amsterdam lernte ich Jules Pieters kennen, einen impo-
gend, es fehlte an allen Ecken und Enden. Einige der alten hu nen zu bröckeln, und es war nicht klar, welche neuen Regeln an ihre Stelle treten sollten. Zum ersten Mal heuerten das Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen und andere Hilfsorganisationen be waffnete Sicherheitsleute aus einheimischen Clans an, um die humanitären Helfer und die Lebensmittellager zu beschützen.
Im September 1992 waren bereits viereinhalb der knapp acht Millionen Menschen im Land von Hunger bedroht, und von diesen viereinhalb Millionen, so die Prognose des Roten Kreu zes, konnten über eineinhalb Millionen binnen sechs Monaten
sterben. Jules erklärte mir, das MSF- Team habe Kliniken errichtet, in denen täglich mehrere hundert Patienten untersucht würden. Das Team erlebte zeitweilig schwierige, aber insgesamt doch
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gute Arbeitsbeziehungen mit den Clans und Stammesältesten. Die Risiken für unsere Mitarbeiter ergaben sich meist aus zufäl
ihn wartete, erzählte er mir, wie auf ein paar amerikanische Soldaten geschossen worden war, während sie Lebensmittel für
liger Gewalt, aber die Vereinten Nationen wollten, falls nötig,
Somalia aus einem Flugzeug luden. Da er Befehl hatte, das Aus
mit Hilfe der amerikanischen Luftwaffe sämtliche Mitarbeiter
laden der Fracht zu überwachen, hatte er seine kugelsichere
nichtstaatlicher Organisationen außer Landes bringen. Sooft ich
Weste angezogen und wurde allmählich nervös. »Sie müssen
mit Jules sprach, erfuhr ich neue Einzelheiten über die Lage in
warten, bis die Maschine leer ist. Erst dann dürfen Sie ausstei
Baidoa und war von Mal zu Mal mehr beeindruckt von Jules.
gen. Verstanden?«, sagte er plötzlich im Befehlston. Schweiß
ihm. Joni Guptill war bereits in Baidoa,
tröpfchen bildeten sich an seinem Hals. Entweder weiß er, was
und ich sprach über Satellitentelefon mit ihr. »Ja«, sagte sie,
da draußen wirklich los ist, dachte ich, oder er hat zu viele
»hier herrscht das reinste Chaos, aber wir leisten trotzdem gute
Gruselgeschichten gehört.
Ich hatte Vertrauen
zu
Arbeit, nur brauchen wir mehr Ärzte. Ich muss in zwei Wo
Als sich die hintere Ladeklappe öffnete, kletterten etwa drei
chen abreisen, die Sache ist also dringend.« Ich fragte sie, ob
ßig Somalier in den Bauch des Flugzeugs, während es noch
sie noch etwas brauche. »Bringen Sie Schokolade mit - ich
rollte. Als es endlich stillstand, deutete Hank auf die verschnür
vermisse Schokolade. Und eine Flasche guten Whisky.« In der
ten Lebensmittelpakete. Binnen zehn Minuten war das Flugzeug
ersten Oktoberwoche war ich schon auf dem Weg nach Soma
leer und die Ladung zu bereitstehenden Lastwagen des Roten
lia. Ich kam in Mombasa, Kenia, an und besorgte mir einen
Kreuzes transportiert. »Viel Glück!«, rief Hank mir hinterher,
Platz in einem Flugzeug der amerikanischen Air Force, einer
als ich aus der Hercules stieg und gegen eine Hitzemauer prallte.
Hercules C- 1 3 0, nach Baidoa.
Auf dem Lkw saßen bewaffnete Männer. Um uns herum ragten
Das Rote Kreuz flog seit fast einem Jahr Lebensmittel nach
die zerbombten Trümmer von Flughafengebäuden und Lager
Somalia, die amerikanische Luftwaffe seit sechs Wochen. Wäh
häusern in den Himmel. Ein Land Cruiser kam auf der zerschos
rend des Landeanflugs schaute ich aus dem Fenster auf den
senen Landebahn mit gnadenlos überhöhter Geschwindigkeit
sonnenversengten braunen Savannenboden. Ich sah die Stadt
auf mich zugeschossen. Obenauf saßen zwei bewaffnete Män
Baidoa in der Ferne, und eine Kamelherde, die langsam größer
ner an einem . so-kalibrigen Maschinengewehr, das auf das
wurde, je mehr wir an Höhe verloren. Der Pilot ließ mich über
Fahrzeugdach geschweißt war. Im Innern saßen ein Fahrer, zwei
Funk wissen, dass wir in fünf Minuten landen würden. Ich
weitere bewaffnete Männer und eine etwa dreißigjährige Blon
erhob mich von einer vierzig Tonnen schweren Schiffsladung
dine in einem MSF- T-Shirt. Es war Joni. »Ich rede andauernd
Getreide - mehr Gewicht konnte das Flugzeug nicht transpor
auf Hurzi ein, er soll langsamer fahren, aber jetzt, nach dem
tieren wegen des Treibstoffs für den vierstündigen Rückflug
Mittagessen, hat er schon seinen Khat intus. Wie geht's?«, be
nach Kenia. Ich hatte mir einige der Zwanzig-Kilo-Essenspakete
grüßte sie mich. Joni war Allgemeinärztin aus Nova Scotia, eine
als Schlafunterlage zurechtgerückt, aber wegen Hank nicht
schöne, selbstbewusste Frau. Khat ist ein traditionelles Kraut,
schlafen können. Hank war Militärtechniker, ein Bauernjunge
das hauptsächlich von Männern in Somalia gekaut wird, am
aus Illinois, der sich freiwillig gemeldet hatte für einen Einsatz
frühen Nachmittag oder nachts. Es enthält Amphetamine, »alles
der us-amerikanischen Operation Lifeline in Somalia. Er hatte
wird schneller, ob man will oder nicht«, erklärte Joni.
gerade einen Einsatz im Irak hinter sich und dort Kurden mit
Ich lächelte Hurzi zu, einem großen, dünnen, etwa fünfund
Hilfsgütern versorgt. Nachdem er mir etwa eine Stunde lang
zwanzigjährigen Mann. Er hatte die Befehlsgewalt über die an
von seiner Freundin vorgeschwärmt hatte, die zu Hause auf
deren Wachsoldaten, drei davon älter als er, der vierte ein sech79
zehnjähriger Junge namens Abdul. Abdul gab sich große Mühe,
uns an, als wir vorüberfuhren. Viele waren noch am Leben;
möglichst tough zu wirken, hielt seine AK-47 lässig in der ei
einige schon tot. In den vergangeneu Wochen waren sie aus den
nen Hand und eine Zigarette in der anderen. Er inhalierte den
umliegenden Städten und Dörfern zu Tausenden nach Baidoa
Rauch nicht, und die anderen Männer lachten ihn aus, als er
gewandert. Die Stadtbevölkerung,
hustete. Hurzi hatte wilde Augen und zupfte sich während der
zwanzigtausend Einwohnern bestanden hatte, wurde mittler
die schätzungsweise aus
Fahrt mit den Zähnen Khat-Blätter ab. Er lächelte, bot mir ein
weile auf neunzigtausend geschätzt. Noch viele mehr waren in
paar Blätter an. Ich lehnte ab, und wieder lächelte er.
ihren Dörfern oder auf dem Weg nach Baidoa gestorben. In den
Joni sagte: »Ich muss vor Einbruch der Dunkelheit im Ernäh
vergangeneu achtzehn Monaten war das Land von wetteifern
rungszentrum Hawina sein, also fahren wir gleich dorthin. Die
den Clanmilizen und Banden verwüstet worden, die plünder
Stadt kannst du dir morgen ansehen. « Die vielen Gewehre um
ten, vergewaltigten und töteten. Ernten waren gestohlen oder
mich herum machten mich nervös, besonders die zwei AK-47.
zerstört worden, die Felder lagen brach. In den Kleinstädten
»Es ist fast wie im Wilden Westen hier. Reine Gewöhnungssa
und Dörfern um die Stadt herum hungerten dreihundertfünf
che«, sagte Joni. »Das Ernährungszentrum Hawina ist ein einzi
zigtausend Menschen. Als Ärzte ohne Grenzen Anfang Septem
ges Chaos - völlig unorganisiert. Die anderen sind gar nicht mal
ber nach Baidoa kam, starben pro Tag dreihundertfünfzig
so übel, und wir errichten zusätzlich ein paar Kliniken in der
Menschen. Jetzt starben nur noch eintausendsiebenhundert wö
Stadt. Ich muss heute noch ein paar Vorräte dort hinausschaffen.
chentlich, noch immer fünfzigmal mehr als sonst.
Mach dich auf etwas gefasst. So was hast du noch nicht gese hen.«
Plötzlich glaubte ich Maschinengewehrfeuer zu hören. Ich fragte Joni, ob ich richtig gehört hätte. »Ja. Aber auf uns feuern
Wir rasten von der Landebahn, durch Baidoa, nach Hawina.
sie nie. « Warum nicht?, fragte ich. »Wenn wir erschossen wer
Die meisten Hauptgebäude in der Innenstadt waren komplett
den, verlassen sämtliche Hilfsorganisationen das Land, und dann
zerstört worden. Andere wiesen klaffende Löcher auf von mo
ist keiner mehr übrig, um ihnen Schutzgeld oder Löhne zu zah
natelangem Artilleriebeschuss und Granatfeuer. Die meisten
len. Sei also unbesorgt, sie wollen uns nur einschüchtern.«
Häuser waren geplündert oder niedergebrannt worden, und
Als wir uns Hawina näherten, etwa dreißig Kilometer von
dazwischen oder darin hatten Menschen mit Hilfe von Stöcken,
Baidoa entfernt, fielen erneut Schüsse. Aus der Wüste strömten
über die sie Stofffetzen oder Mülltüten geworfen hatten, provi
Menschen in Gruppen, die aus zehn bis dreißig Leuten bestan
sorische Unterkünfte errichtet.
den, der kleinen Stadt zu. Sie waren aus den umliegenden Dör
Der rotbraune Staub von der ausgetrockneten Straße hinter
fern geflüchtet. Viele krochen am Straßenrand entlang, unter
ließ einen hüfthohen Belag, wo die Menschen entlanggingen
der Last ihrer letzten Kleiderreste, zu schwach zum Laufen. Vie
und die Fahrzeuge der bewaffneten Clan- und Bandenmitglie
le hatten aufgegeben und lagen erschöpft im Staub. Als wir uns
der hindurchfuhren. Klapperdürre Gestalten in Lumpen gingen
dem Ernährungszentrum näherten, sah ich in die Gesichter der
durch den Staub, ihre Kinder an den Händen haltend; einige
Menschen. Sie waren verhärmt, ausgezehrt und vom tagelan
trugen leere Kochtöpfe und andere kleine Habseligkeiten. Die
gen Laufen im Wüstenwind von einer feinen Schicht Staub
Alten gingen an Stöcken. Junge Männer spreizten die Arme ab,
überzogen. Tausende saßen innerhalb der Grenzen des Ernäh
um die Hitze zu vertreiben. Einige der Frauen trugen Säuglinge.
rungszentrums, und Tausende warteten davor. Joni riss sich zu
Manche Menschen konnten nur noch kriechen, waren zu
sammen und sagte: »Schön, gehen wir hinein. «
schwach zum Gehen. Andere lagen am Straßenrand und starrten 8o
Ich solle mit den Patienten beginnen, die laufen konnten, 8r
meinte sie. In den folgenden zwei Stunden untersuchte ich nacheinander dreißig Menschen - Mütter mit ihren Kindern, Väter mit ihren betagten Eltern sowie Einwohner aus Hawina, die im Ernährungszentrum arbeiteten. Die 32-Grad-Hitze war erbarmungslos, und viele der Menschen waren dehydriert, von der Sonne wie vom Durchfall. Während ich einen Kranken un tersuchte, warteten die anderen geduldig. In der Ferne fielen Schüsse, und Hurzi wurde nervös, drängte darauf, nach Baidoa zurückzufahren. Als wir im Aufbruch begriffen waren, löste sich die aus etwa siebzig Menschen bestehende Schlange ein fach auf, verschmolz mit den vielen tausend, die schon auf dem ausgedörrten Boden saßen. Der Häuptling des Dorfes Hawina kam auf unseren Wagen zugerannt Er hatte sein Dorf dazu gebracht, das Ernährungs zentrum zu errichten und alle verfügbaren Nahrungs- und Was servorräte herbeizuschaffen. In den vergangeneu Wochen war es dem Roten Kreuz und CARE in einer großen Luftbrücken Operation gelungen, Lebensmittel und Wasserpumpen nach Baidoa und die umliegenden Dörfer zu schaffen. Der Strom von Menschen aus den Dörfern war dünner geworden, trotzdem reichten die verfügbaren Lebensmittel nicht aus. Das Rote Kreuz und CARE zahlten zehntausend Dollar am Tag an die Warlords, um auf dem Flugplatz von Baidoa landen zu dürfen. Einige Le bensmittel wurden von den Clans abgezweigt, als Schutzgeld zahlung, weitere zwanzig Prozent aus den Lagerhäusern oder auf dem Weg zu den Ernährungszentren gestohlen. Der Häupt ling hatte einen kleinen Jungen bei sich. Ali war der vierjährige Sohn eines Freundes aus einem anderen Dorf. Zehn Tage zuvor hatte Alis Vater, dem Tode nah, den Jungen nach Hawina getra gen und war einen Tag nach der Ankunft gestorben. Alis gesamte Familie war tot. Jetzt lächelte er, hielt das Notebock des Häupt lings in der einen und Jonis Hand in der anderen. »Ali hat Glück, dass der Häuptling sich um ihn kümmert«, sagte Joni. �>Wer jetzt keine Familie hat, der stirbt.« Der Häuptling wusste, dass Joni am folgenden Morgen abreisen würde, und hatte ihr einige Ge schenke aus dem Dorf mitgebracht, um ihr zu danken. Nachdem 82
er ihr die Geschenke überreicht hatte, bat er Joni, Ali nach Kana da mitzunehmen. Sie senkte den Blick und kämpfte mit den Tränen, als sie mich ersuchte, ein Auge auf den Kleinen zu ha ben .
Die Hitze des Tages ließ allmählich nach, und wir fuhren nach Baidoa zurück. Hurzi und die Wachmänner waren aufge regt. Die Nacht brach herein, nun drohten Überfälle durch Gangs oder rivalisierende Clanmilizen. Nicht weit von uns fie len Schüsse, und Hurzi raste in vollem Tempo durch die Nacht und zur MSF-Niederlassung. Die Sicherheitsleute hlelten die Waffen im Anschlag, und einer der Männer saß auf dem Wagen dach, am Maschinengewehr, bereit zum Feuern. Das Fahrzeug war ein klassischer somalischer Kampfwagen, ))Technkal« oder »Mad Max« genannt. Neben Panzern, Jeeps und fahrbaren Artille riegeschützen beherrschten solche Technicals - Zivilfahrzeuge, Pick-ups oder Land Cruiser, für unwegsames Gelände entworfen und zu wendigen, gefürchteten Tötungsmaschlnen umstruktu riert - mittlerweile das Straßenbild im Land. Die Waffen, mit denen die Fahrzeuge ausgestattet waren, hatte Siad Barre wäh rend des Kalten Kriegs teils von den Sowjets, teils von den Ame rikanern erhalten. Einige größere Kampfwagen waren mit so wjetischen Raketenwerfern ausgerüstet. 19 77 hatten die Sowjets ihre Unterstützung ins benachbarte marxistische Äthiopien ver lagert, das gegen Somalia Krieg führte. Sofort hatten die Ameri kaner eine Bresche geschlagen. In den 198oer Jahren hatten Co noco und andere amerikanische Unternehmen in Somalia nach Öl gebohrt und auch einige signifikante Vorräte gefunden. Sie blieben ungefördert, aber die USA errichteten einen Marine und Militärstützpunkt im Land, um von dort aus ihre Interessen im Persischen Golf und dem Roten Meer wahrzunehmen. Ame rikanische Waffen und HUfsgüter unterstützten das Barre-Re gime. Die letzte amerikanische Waffenlieferung - im Wert von fünfzig Millionen Dollar - kam 1990, nur Monate, bevor Barre den Rebellen in die Hände fiel. Bald darauf zogen sich die Ame rikaner in ihre Botschaft in Nairobi zurück. Innerhalb des MSF-Geländes arbeitete ein zwanzigköpfiges
Team bis spät in die Nacht, um Vorbereitungen für den kom menden Tag z.u treffen. Einige standen vor der Dusche Schlan
Dieses Lager war ein früheres Gästehaus, aus Stein und Ze ment gebaut, mit acht Räumen und zwei Toiletten
mit Hock
ge, um sich abzukühlen. Ich lernte Willern Oderwald ke:men, einen holländischen Krankenpfleger, der insgeheim das Arzte
klosetts im östlichen Stil. In der einen hatte Wayne Ulrich, der
team leitete. Er begrüßte mich herzlich und erklärte, dass Bai
sche installiert. Eines der Zimmer fungierte als Büro und Funk
bei MSF für die Logistik zuständig war, eine provisorische Du
doa das Epizentrum der Hungersnot sei und von den interna
raum, ein zweites war die Küche, ein drittes Speise- und Konfe
tionalen Medien als »Stadt des Todes« bezeichnet werde. In der
renzzimmer; die ausländischen Ärzte schliefen zu dritt oder
Region Baidoa waren vierzig Prozent aller Kinder unter fünf Jahren und vierzig Prozent der Menschen über fünfundsechzig
viert in den verbleibenden Gästezimmern. Eine neue Steinmau er um das Gelände erhielt gerade den letzten Schliff Zwei be
in den vergangenen Monaten gestorben. Von den Kindern, die
waffnete Wachmänner saßen in einem improvisierten Turm,
noch am Leben waren, litten fünfundneunzig Prozent unter
der das Haupttor überblickte, und vier weitere schliefen auf
Symptomen schwerer Mangelernä.h.rung. Den meisten Erwach senen erging es nicht viel besser. »Sie haben einen Schulbus, der durch die Stadt r ahrt, um die Toten von den Straßen
Matratzen unter freiem Himmel. Der Lebensraum wurde noch von einigen knochendürren Hennen geteilt, die Tag und Nacht
zu
um das Haus herumgackerten. Das MSF-Lagerhaus auf der ande
klauben«, erklärte Willem. »Leider gibt es nur einen Bus für
ren Straßenseite war mit medizinischen Versorgungsgütern an
all die Toten«, meinte er sarkastisch. »Wir brauchen entweder einen zweiten Bus oder weniger Tote. Darum sind wir froh, dass Sie hier sind«, sagte er lächelnd. Ärzte ohne Grenzen hatte in Baidoa bereits fünf Kliniken er
gefüllt; außerdem beherbergte es zwölf gemietete Fahrzeuge und nachts etwa achtzig bewaffnete Leibwächter und Fahrer. Wir zahlten pro Fahrzeug hundertzwanzig Dollar am Tag. Au ßerdem mussten wir die Kosten für den Treibstoff. für Repara
richtet, und weitere waren geplant. Die Organisation bot in den
turen und für die Bezahlung der Wachleute und Fahrer aufbrin
zweiunddreißig Ernährungszentren der Stadt und den umliegen
gen. Und die Preise stiegen, je weiter sich die Lage zuspitzte.
den Dörfern medizinische Versorgung an, während das Rote Kreuz und
CARE versuchten,
Lebensmittel zu liefern. Einheimi
Dana van Alphen, die Leiterin dieser MSF-Niederlassung, war eine rumänische Neurologin um die dreißig, die eine Zigarette
sche wurden in einem provisorischen Feldlazarett, das noch im
nach der anderen rauchte. »Zwei Schachteln am Tag , aber nie
Bau war, als Pfleger ausgebildet, aber die prekäre Sicherheitslage
mehr als drei. Es ist das Einzige, was mich ruhig hält«, sagte sie.
verzögerte das Vorankommen. Während des Essens erzählte mir Willem, dass das Team erschöpft sei von der vielen Arbeit, dazu ängstlich und eingeschüchtert, und deshalb zu viel trinke. In
»Hier können überall Wirbelstürme losbrechen. Irgendjemand muss Ruhe bewahren.« Dana redete in einem fort - manchmal führte sie drei Gespräche zugleich -, bellte Befehle ins Telefon,
Mogadischu, zweihundert Kilometer von Baidoa entfernt, waren
beschwichtigte Sorgen oder handelte Deals aus. Alle vertrauten
Hilfskräfte entführt worden, und die Anzahl bewaffneter Banden
ihr. Ihr Wort war Gold wert. Die Wachleute und Stammesführer kuschten vor ihr, was dazu führte, dass die somalischen Frauen
stieg dort kontinuierlich; zudem kursierten Gerüchte, dass sol che Gangs auch nach Baidoa kommen würden. Die Sicherheits
sie abgöttisch liebten. Ein Häuptling sagte später zu mir: »Der
vorschriften waren streng. Man trug grundsätzlich ein Walkie
einzige Grund, warum Dana keine Waffe bei sich hat, ist die
Talkie bei sich, durfte ohne bewaffneten Leibwächter das Lager nicht verlassen, nicht einmal um die Straße zu überqueren, wo Ärzte ohne Grenzen Versorgungsgüter lagerte.
Sorge, sie könnte Gebrauch davon machen.« »Du bist also James. Herrgott! « , sagte sie, »das wurde aber auch Zeit. Wo bist du denn abgeblieben, verdammt? Jules hat
mir seit Wochen versprochen, dass du kommst. Die Koordinati on hier ist das reinste Chaos«, sagte sie. »Koordination? Ich bin Arzt«, sagte ich. »Ich habe keine Erfahrung als Koordinator.« »Hat Jules dir nichts gesagt? Na ja, dann weißt du es jetzt. Du bist unser Med-co, unser Koordinator«, sagte Dana. »Keine Sorge, ich helfe dir. Schau nicht so entsetzt drein. Du bist doch erst gekommen.« In dieser Nacht galt Danas Hauptsorge einem Gerücht, dem zufolge General Morgan vom benachbarten Bardera plane, die Streitkräfte von General Mohamed Aidid anzugreifen, die in Baidoa das Sagen hatten. Ich ging mit ihr ins CARE-Büro, um Merv kennenzulernen, einen ehemaligen Offizier für Sonder einsätze der australischen Armee und jetzt CARE-Koordinator in Baidoa. Er beruhigte uns. Es gebe keinerlei Hinweise auf Trup penbewegungen, außerdem, so sein Argument, sei Morgan nicht stark genug, um Bardera und Baidoa zu halten, falls Aidid zum Gegenangriff bliese, was er mit Sicherheit tun würde. »Nichts passiert. Entspannt euch«, sagte Merv. »Na los, trinken wir einen W hisky, bevor ihr geht.« Als wir wieder im Lager waren, sagte mir Dana, sie mache sich Sorgen um das Team. »Die Leute haben Angst und sind völlig konfus«, sagte sie. »Höchste Zeit, dass ein bisscheu Ord nung einkehrt.« Sechs Personen im Team litten an Durchfall, Malaria, Dengue-Fieber oder anderen Krankheiten. Vorige Wo che waren zwei Mitarbeiter mit Hepatitis nach Nairobi geflo gen worden. Ich erkannte den Krankheitsherd, als ich in die gelben Augen des Kochs blickte. Er wurde sofort weggeschickt und ersetzt. Am Abend hatte ich das Gefühl, als hätte ich schon ein ganzes Leben in der Fremde zugebracht. Tags darauf flog Joni früh am Morgen nach Kenia und von dort aus weiter nach Kanada. Hurzi wurde mein Fahrer, seine Mannschaft meine Leibwache. Hurzi machte mich darauf auf merksam, dass der sechzehnjährige Sicherheitsmann humpelte, und bat mich, seinen Fuß zu untersuchen. Abdul litt an einem 86
tropischen Geschwür. Ich würde mich später darum kümmern, versprach ich. Auf dem Weg zu einer MSF-Klinik in der Innen stadt, am Flussufer gelegen, überquerten wir den Marktplatz. Dicke Frauen saßen wie unverrückbare Felsbrocken da und ver suchten Käufer zu ihren Ständen zu locken, wo sie Kleidung, säckeweise geplünderte Lebensmittel, T öpfe und andere Waren verkauften. Männer hockten grüppchenweise beisammen und kauten Khat, während sie potentielle Käufer auf billige Matrat zen aufmerksam machten, auf Generatoren, Benzin oder Khat. Aus den umliegenden Straßen waren immer wieder Schüsse zu hören. Die Reichen, Mobilen hatten die Gegend längst verlas sen. Nur wer keine andere Wahl hatte, war geblieben. Ich stieg aus dem Geländewagen und ging zum Fluss hinun ter, wo mindestens fünftausend Menschen zwischen ausge bombten, italienisch anmutenden Häusern am Ufer lebten. Die Büsche und Bäume um die Stadt herum waren ohne Blätter und ohne Rinde. Die Menschen aßen alles, dessen sie habhaft werden konnten, und grünbrauner Schaum befleckte die Lip pen vieler, die am Fluss lagerten. Ich blieb vor einer alten Frau stehen. Auf der Rückseite ihrer Beine sah ich verkrustete Durchfallspuren. Sie bemerkte meinen Blick und bedeckte sich rasch mit ihrem Schal. Andere hockten oder lagen teilnahmslos in der Morgensonne. Schwärme von Fliegen waren überall, er nährten sich von grünem Speichel, an eitrigem Nasen- und Augenschleim, an Hautwunden und an den stinkenden Wasser pfützen am Flussufer, aus denen die Menschen tranken. Ein etwa fünfJähriger Junge ging auf mich zu, wobei er mir bettelnd die Hände entgegenstreckte. Mir wurde übel, als ich sein entstelltes Gesicht sah. »Er ist verflucht«, warnte mich Hurzi. »Solche wie er kommen in Scharen aus den Dörfern.« Anfangs dachte ich, jemand habe dem Jungen ins Gesicht ge schossen. Unmittelbar unter dem rechten Wangenknochen klaffte ein riesiges Loch. Der Knochen lag bloß, und das Fleisch rings um die Öffnung war schwarz und faulig. Durch das Loch hindurch sah ich die Zunge des Jungen sich bewegen, als er einen Versuch unternahm, mit mir zu sprechen. Er litt an ei-
nem Mundhöhlenkarzinom, eine sehr seltene Folge chroni
fuhr zurück zum MSF-Komplex, um im Funkraum mit Dana zu
schen Hungers, bei dem die körpereigene Abwehr gleich null
sprechen. »Die einzigen Schätze in Somalia sind Lebensmittel,
ist und die normalen Mundbakterien sich ungebremst vermeh
Treibstoff und jetzt die us-Dollars der Nichtregierungsorganisa
ren und schließlich das umliegende Fleisch befallen. Ich kannte
tionen und des Roten Kreuzes«, erklärte sie. »Es gibt keine Re
die Krankheit nur von den Fotos alter Lehrbücher über Tropen
gierung, und die Clans streiten sich um die Reichtümer.« Soma
medizin. Dies war die Wirklichkeit, und ich musste mich kurz
lia war ein islamisches Land sunnitischer Prägung, unterteilt in
abwenden. Hunger macht krank, und diese Krankheit tötet den
dans und Subclans. Der Norden war 1886 von Großbritannien,
Körper, ehe er am Hunger zugrunde geht. Wie die alte Frau
der Süden 1889 von Italien kolonialisiert worden. 1960 erhielten
brauchte auch der Junge dringend Medikamente, und sie beide
beide Teile ihre Unabhängigkeit, und Somalia war geboren.
mussten essen, damit die Medikamente wirken konnten.
Mittlerweile galt Somalia als sogenannter »gescheiterter Staat«.
Hunderte warteten bereits vor der Klinik. Im Inneren teilte
Als das Land 1988 in den Bürgerkrieg abzugleiten drohte, nach
Katrina, eine holländische MSF-Krankenschwester, das Team für
dem sich mehrere Rebellengruppen in den nördlichen Regionen
den Tag ein. Durchfall tötete am schnellsten, also verwendeten
Somalias gegen den Diktator Siad Barre aufgelehnt hatten, war
wir mehrere Zimmer, um den Betroffenen auf oralem und in
es von den Vereinten Nationen und der internationalen Gemein
travenösem Wege Rehydrierungssalze zu verabreichen. Saube
schaft schmählich im Stich gelassen worden. Nachdem Siad
res Wasser wurde mit Hilfe zweier Eselskarren, von denen ein
Barre die Städte Bargeisa und Burao unter Beschuss genommen
jeder ein 2oo-Liter-Fass beförderte, zu den Kliniken geschafft.
und dabei zigtausend Menschen getötet hatte, gab es wenig Pro
Atemwegserkrankungen, Darminfektionen und Malaria waren
test seitens der internationalen Gemeinschaft.
die zweitaggressivsten Killer, also lehrten wir Einheimische,
Ende 1 990 weitete der Konflikt sich aus, und ausländische
wie man die Krankheiten diagnostiziert und adäquat behandelt.
Diplomaten flüchteten ins benachbarte Kenia. Im Januar 1991
Wir richteten einen Verbandsraum ein, in dem wir die vielen
fielen Barres Streitkräfte in Mogadischu den Rebellen zum
Menschen versorgten, die mit Unfallverletzungen oder mit
Opfer, und er flüchtete ins Exil. Während seiner einundzwan
Wunden zu uns kamen, wie sie bei Hunger weitverbreitet sind.
zigjährigen Diktatur hatte Barre Spannungen zwischen ver
Viele litten an Abszessen, die von unbehandelten Schusswun
schiedenen Clans geschürt, um an der Macht zu bleiben. Diese
den herrührten. Ich versorgte eine Reihe von Patienten, zeigte
Spannungen entluden sich j etzt in einem offenen Stammes
den Mitarbeitern, wie man einen Abszess öffnet und reinigt,
krieg. Die meisten urbanen Zentren wurden zerstört, und poli
und säuberte und verband das tropische Geschwür an Abduls
tische Institutionen kollabierten. Massaker, Plünderungen und
Fuß. Ernstere Fälle wurden zum einzigen Krankenhaus der
die systematische Vernichtung im ganzen Land zwangen Mil
Stadt transportiert, wo das International Medical Cooperation
lionen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Über eine halbe Million
Committee, eine Nichtregierungsorganisation, einen Kinder
der knapp acht Millionen Einwohner des Landes flüchteten mit
arzt und einen angehenden Allgemeinarzt zur Verfügung hatte,
Booten in den Yemen oder zu Fuß nach Kenia und Äthiopien.
um Hunderte von verwundeten Erwachsenen und Kindern zu
Das Internationale Rote Kreuz und eine Handvoll Nichtregie
versorgen.
rungsorganisationen arbeiteten mit vielen hundert somalischen
Ich ließ mich von Hurzi und in Begleitung der Sicherheitsleu
Medizinern und Freiwilligen zusammen, die im Land geblie
te zu jeder unserer fünf Kliniken und zu edichen Ernährungs
ben waren. Gemeinsam konnten sie wenig mehr bewirken als
zentren fahren. Am späten Nachmittag war die Hitze groß. Ich
der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.
88
Ohne die Hungertoten mitzuzählen, waren bis zum März
tärbeobachter und fünfhundert Blauhelme. Vom Herbst 1990
1 992 allein in Mogadischu mindestens einundvierzigtausend
bis zum Juni 1992 hatten UN-Menschenrechtsorganisationen
Menschen - fast ausnahmslos Zivilisten - bei den Auseinander
ihre Bemühungen auf kleinere Beurteilungsausflüge von Nairo
setzungen getötet oder verwundet worden. Während der Si
bi aus beschränkt. Jetzt kehrten sie in eine Hauptstadt zurück,
cherheitsrat der Vereinten Nationen Friedenstruppen ins ehe
die fast nur noch aus Trümmern bestand. Sie wurde von einer
malige Jugoslawien entsandte, beschloss er im März
heftig umkämpften »grünen Linie« durchschnitten, die die
1992,
lediglich einen humanitären Koordinator und ein Techniker
Streitkräfte General Aidids von denjenigen Ali Mahdis trennte,
team nach Somalia zu schicken. In den vorangegangenen Mo
die beide demselben Clan angehörten und einen Machtkampf
naten hatten die USA große Anstrengungen unternommen, um
ausfochten.
den Sicherheitsrat daran zu hindern, das Blutbad mit politi
Die erste UN-Koordinationskonferenz in Mogadischu fand in
schen Mitteln zu beenden. Afrikanische Mitglieder der Verein
der letzten Juniwoche statt. Humanitäre Verbände der Verein
ten Nationen beschuldigten die USA öffentlich, bei Afrika und
ten Nationen, darunter die Weltgesundheitsorganisation, das
Jugoslawien mit zweierlei Maß zu messen. Die Märzresolution
Welternährungsprogramm, das Kinderhilfswerk UNICEF, das
war zum humanitären Einsatz verwässert worden, weil die USA
Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCR, das
nur fünfundzwanzig Prozent der Kosten zu übernehmen ge
Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen und die neu
dachten, wogegen sie bei einer weitaus kostspieligeren politi
entstandene Abteilung für humanitäre Angelegenheiten wettei
schen Mission wie die UN-Einsätze in Kambodscha, El Salvador,
ferten miteinander um die Koordinationskontrolle. Am Ende
Jugoslawien, der afrikanischen Sahara und so weiter, dreißig
beschloss jede Behörde, sich selbst zu koordinieren. Anfang
Prozent der Kosten trugen.
Juli waren erst vier der in Aussicht gestellten unbewaffneten
Seit Beginn des Bürgerkriegs arbeitete das Internationale Ko
Militärbeobachter eingetroffen. Ende Juli erklärte das Rote
mitee vom Roten Kreuz mit dem somalischen Roten Halbmond
Kreuz, dass viereinhalb Millionen Menschen in Somalia vom
zusammen, um monatlich bis zu siebzehntausend Tonnen Le
Hungertod bedroht waren. Der UN-Sicherheitsrat ließ darauf
bensmittel auf dem Luft-, Land- oder Seeweg einzuschleusen.
hin Nahrungsmittel über eine Luftbrücke einfliegen und er
Diese Menge war nur ein Bruchteil dessen, was gebraucht wur
mächtigte weitere Friedenstruppen, die die Häfen sichern und
de. Nahrung war nicht nur überlebensnotwendig, sondern,
Lebensmittellager bewachen sollten. Im August hatte er insge
wie Dana sagte, zum wertvollen Handelsgut geworden. Das Ro
samt fünftausend Blauhelme ermächtigt, dennoch trudelten die
te Kreuz und die nichtstaatlichen Organisationen mussten an
im April zugesicherten fünfhundert erst Mitte September nach
die kriegführenden Stämme Schutzgelder zahlen. Die bewaff
und nach ein. Im Oktober endlich hatten die Vereinten Natio
neten Clanmitglieder ließen sich »anheuern«, um die humani
nen, ohne sich mit den NGOs
tären Helfer vor gegnerischen Clans »ZU beschützen«.
Tage-Plan« aufgestellt, der bestimmte, wie das Rote Kreuz und
Im April 1992 hatte sich die Krise noch weiter zugespitzt.
zu
beraten , einen »Hundert
die NGos das gesamte Land mit Nahrung versorgen sollten.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gründete die Frie
»Dieser Plan führt doch zu nichts« , meinte Dana. »Wenn jeder
densmission UNOSOM - United Nations Operation in Somalia
das Sagen hat, hat keiner das Sagen, und am Ende siegt der mit der größten Knarre. Wir sind die lieben kleinen Helferlein und
-
und
bevollmächtigte einen Sonderbeauftragten, Mohammed Sah norm, ein dürftiges Waffenstillstandsabkommen zu erwirken.
stecken zwischen den Fronten fest, und es sieht nicht danach
Die Vereinten Nationen entsandten fünfzig unbewaffnete Mili-
aus, als würden wir bald freikommen. « 9I
Ich fragte sie, wie es ihr trotz alledem gelungen war, so viele Kliniken und Ernährungszentren zu errichten.
ter und zwei Söhne der alten Frau und deren Familien waren bis auf den dreijährigen Enkel
in den vergangeneu Monaten
»Man redet und redet. Irgendwie findet sich immer ein Weg«,
gestorben. Die somatischen Klinikmitarbeiter waren noch neu
meinte sie. »Aber wohin das alles führt, weiß im Augenblick
und ungeübt. Ich zeigte ihnen also, an der alten Frau, wie man
keiner.« Ein Mann trat in den Funkraum. »Ah, Lesto!«, begrüßte
eine Spritze gegen Lungenentzündung verabreicht. Hurzi und
ihn Dana. Lesto war ein Stammesältester und als zweiter Vorsit
ich fuhren die Frau zurück zu ihrer Unterkunft. Ich behandelte
zender einer danallianz in der Region Baidoa auch der wichtigs
den Dreijährigen. Es war im Grunde unvernünftig, angesichts
te Ansprechpartner für unser Projekt Er war groß , eine vorneh
der vielen Hilfsbedürftigen, so viel Zeit auf einen einzigen Pati
me Erscheinung, tadellos gekleidet und ein Kettenraucher wie
enten zu verwenden. Ich weiß nicht, warum ich es dennoch
Dana. Lesto und Dana kamen ohne Umschweife auf die Notwen
tat. Ich konnte einfach nicht anders.
digkeit zu sprechen, mehr Leute aus einem bestimmten Clan einzustellen und den Leibwächtern mehr Lohn zu zahlen.
Als ich in dieser Nacht zum MSF-Komplex zurückkehrte, kam Hurzi mit acht Wachleuten zu mir, von denen jeder ein medizi
Während Dana und Lesto redeten, fuhr ich mit Hurzi und
nisches Problem hatte. Und so hielt ich in einer Ecke des
unseren Sicherheitsleuten zum Bay Camp, nur einen Kilometer
Grundstücks eine kleine Stegreif-Sprechstunde ab. Es sollte zum
von der MSF-Niederlassung entfernt. Wir hatten hier eine Wo
allnächtlichen Ritual werden.
che zuvor eine Klinik errichtet, und die Neuigkeit hatte sich herumgesprochen. Etwa achttausend Menschen aus entlegenen
Über die kommenden Wochen organisierten und schulten wir
Dörfern lagerten auf einer Wiese. Von fern sahen ihre proviso
Fflegepersonal, um elf Kliniken zu betreiben, den Bau des Feld
rischen Zelte aus Stöcken und Mülltüten aus wie umgedrehte
lazaretts abzuschließen und zu versuchen, die Menschen in den
Vogelnester, die Schutz boten vor der: sengenden Hitze. Ich un
Ernährungszentren in und um Baidoa medizinisch zu betreuen.
tersuchte eine alte Frau, die mir über einen Dolmetscher erklär
Ich koordinierte das Ganze und behandelte gemeinsam mit
te, sie sei sechsundachtzig Jahre alt. Sie war zwei Kilometer zu
Rick Price - einem ausgezeichneten, hochangesehenen briti
Fuß zur Klinik gelaufen und dafür fast sieben Stunden in der
schen Arzt und dem einzigen Mediziner im Team neben Dana
sengenden Hitze von zweiunddreißig Grad unterwegs gewesen.
und mir - die komplizierteren Fälle in den Kliniken und Ernäh
Sie war nach einem Kilometer am Straßenrand zusammenge
rungszentren und bildete Personal aus für das Feldlazarett.
brochen, und jemand hatte sie den Rest der Strecke im Schub
Die Tage waren lang für das Team, besonders für Dana. Sie
karren zur Klinik geschoben. Sie litt an hohem Fieber und an
verhandelte mit Stammesältesten, Stammesführern und einer
Lungenentzündung. Sie war jedoch nicht ihretwegen in die Kli
wachsenden Anzahl von Bandenchefs. Sie sprach mit Lesto und
nik gekommen, sondern um Medizin für ihren dreijährigen
anderen über lokale und nationale Militärbewegungen, politi
Enkelsohn zu holen, der an Ruhr erkrankt war. Sie hatte ihn in
sche Entwicklungen, Löhne und Sicherheit. Sie telefonierte mit
ihrer Unterkunft zurückgelassen, weil sie gehört hatte, dass im
den MSF-Büros in Mogadischu, Nairobi und Europa, mit weite
Lager die Masern ausgebrochen seien. (So war es auch, viele
ren MSF-Teams im Land und mit anderen Nichtregierungsorga
Kinder waren bereits gestorben. Unter solchen Lebensumstän
nisationen in Baidoa. Sie sprach auch mit den Medien und ver
den können Masern fast die Hälfte der infizierten Kinder töten.
suchte, die Weltöffentlichkeit aufzurütteln. Doch am meisten
Aufgrund der prekären Sicherheitslage waren wir außerstande
beschäftigte sie die Frage der Sicherheit, und so versuchte sie
gewesen, eine Impfkampagne zu organisieren.) Die drei Töch-
stets auf dem Laufenden zu bleiben, welcher Clan welches Ter93
ritorium in und
um
Baidoa kontrollierte und welcher davon
uns gerahrlich werden konnte. Mit ihrem unermüdlichen Ein satz war es Dana gelungen, unsere Organisation in Baidoa eini
ehe sie nach New York reiste, um die Vereinten Nationen zum schnellen politischen und humanitären Handeln zu drängen. In Baidoa behandelten wir Ende Oktober in den Kliniken be reits tausend Patienten täglich und tausend weitere in den Er
germaßen zu etablieren. General Aidid kontrollierte mit bewaffneten Clans und Sub
nährungszentren; das Feldlazarett zu eröffnen, war jedoch zu
clans, die sich ihm gegenüber loyal verhielten, einen Großteil
gerahrlich. Das Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen und weitere
Mogadischus und ganz Baidoa. In seinem Territorium stand es
Nichtregierungsorganisationen lenkten mit Hilfe der Medien
ihnen frei, die Bewohner dort vor Plünderungen durch andere
die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Krise in So
Clans »zu beschützen«. Ali Mahdi hatte die Gefolgschaft der
malia, riefen die Vereinten Nationen zu einem intensiveren En
gegnerischen Clans in Mogadischu und Umgebung. In Baidoa
gagement auf und forderten eine bessere Koordination der
und den umliegenden Dörfern liefen Clans und Subclans unent
Hilfsaktionen. Ähnliche Appelle sprachen World Vision, CARE,
wegt von Mahdi zu Aidid über und umgekehrt. Zudem fielen
das IMC und andere amerikanische Nichtregierungsorganisatio
jetzt unabhängige Banden in Baidoa ein, doch da Ärzte ohne
nen aus und forderten zudem die us-Regierung, angesichts der
Grenzen nicht unmittelbar für die Verteilung von Lebensmitteln
prekären Sicherheitslage, zu einer Militärintervention auf Auch
zuständig war, wurden wir nicht im selben Maße zu Zielschei
ohne die Koordination durch die Vereinten Nationen transpor
ben wie das Rote Kreuz und CARE. Täglich wurden deren Teams
tierten das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen sowie
gezwungen, noch höhere Beträge für den »Schutz« ihrer Le
das amerikanische Militär auf dem Luftweg mehr Lebensmittel
bensmittelvorräte zu entrichten.
nach Baidoa, und auch die Versorgung der umliegenden Dörfer verbesserte sich. Dies bedeutete zwar einerseits , dass auch mehr
Im Herbst 1 99 2 zog es etliche Medienstars und Berühmtheiten
Nahrungsmittel abgezweigt oder geplündert wurden, anderer
nach Somalia. David Bowies Ehefrau Iman, Audrey Hepburn
seits kamen mittlerweile weniger Menschen nach Baidoa. Tau
und Sophia Loren besuchten das Land, brachten scharenweise
sende waren in der Stadt gestorben, und die Anzahl der Einwoh
Journalisten mit und lenkten dadurch die Aufmerksamkeit der
ner belief sich nun auf etwa achtzigtausend. Die Sterberate war
ganzen Welt auf das Land. Sophia Loren besuchte das Kranken haus des International Medical Corps
(rMc)
auf das Fünfundzwanzigfache des Normalwerts gesunken. Es
im Stadtzentrum
lagen weniger Leichen am Straßenrand, aber der eine Bus war
Baidoas. Es war ein MedienspektakeL Einer der Logistiker von
noch immer außerstande, all die Toten aufzulesen. Sicherheit
Ärzte ohne Grenzen griff sich einen der Fotografen, der bei
blieb Hauptgesprächsthema, aber insgesamt entspannte sich die
dem Versuch, den besten Schnappschuss von Sophia Loren mit
Stimmung im Team ein wenig, weil wir, ungeachtet der Schwie
hungerndem Kind auf dem Arm zu bekommen, einem kranken
rigkeiten, doch arbeiten konnten. Wir setzten uns abends zu
Kind aufs Bein getreten war, und schubste ihn wütend gegen
sammen, um Organisatorisches zu besprechen und uns über
die Wand. Mehr Respekt zeigte beispielsweise Irlands Präsiden
spezielle Themen auszutauschen wie die Vorgehensweise gegen
tin Mary Robinson. Sie besuchte Ernährungszentren, die von
Concrum oris, das Mundhöhlenkarzinom. Hurzi organisierte wei
den irischen Hilfsorganisationen GOAL und Concern geleitet
ter meine allabendliche Sprechstunde für die Sicherheitsleute;
wurden, und sprach dort mit mehreren Frauen, die ihre Kinder
einige von ihnen brachten nun auch ihre Familienangehörigen
mitgebracht hatten. Anschließend fuhr sie weiter nach Mogadi
zu mir. Weil wir täglich seinen Verband wechselten, heilte auch
schu und zu einem Flüchtlingslager an der Grenze zu Kenia,
Abduls tropisches Geschwür allmählich ab.
94
95
Wir versuchten, einheimische Hilfskomitees zu unterstüt
entlegenen Dörfern und Städten wie Hawina zu uns und baten
zen, indem wir sie mit medizinischen Gerätschaften, Decken,
uns, ihnen zu helfen. Eine Gruppe überreichte uns einen Brief
Plastikplanen, Kochtöpfen und Chlor versorgten. Ein Komitee
des Ältestenrats in Buurhakaba, ungefahr fünfzig Kilometer von
aus Stammesältesten, angeführt von Abdulahi Hussein, hatte es
Baidoa entfernt, an der Straße nach Mogadischu gelegen. Mit
sich zur Aufgabe gemacht, kriegsversehrten und behinderten
arbeiter der französischen Nichtregierungsorganisation AICF
Menschen zu helfen, die nicht zu den Ernährungszentren kom
(Action Internationale Contre Je Faim) halfen bereits im Ernährungs
men konnten. Ein weiteres Komitee, geleitet von Adan Hussein,
zentrum aus, aber es fehlte an der medizinischen Versorgung.
hatte in einer ausgebombten Bibliothek im Zentrum der Stadt
In den darauffolgenden zwei Tagen überprüften Lesto und ich
ein Waisenhaus eingerichtet. Die Mitglieder von Adans Hilfsko
daher mehrmals die Sicherheitslage in und um Buurhakaba und
mitee gingen zu den einzelnen Ernährungszentren in der Stadt
auf dem Weg in die Stadt. Dann unternahm ich gemeinsam
und lasen die verwaisten Kinder auf, die ohne die Hilfe von
mit Hurzi und unseren Leibwächtern die eineinhalbstündige
Erwachsenen wenig Überlebenschancen hatten. Ich bat Adan,
Fahrt auf der zerschossenen Straße. Obwohl rivalisierende Clans
nach Hawina zu fahren und Ali und andere Waisen zu holen.
uns freies Geleit versprochen hatten, fuhren wir in geradezu
Im Gegensatz
halsbrecherischem Tempo, bis zu 1 50 km / h schnell, um mög
zu
uns konnte Adans Komitee sich keine Leib
wächter leisten. Viele seiner Mitglieder wurden daher von Ban
lichen Wegelagerern, die eventuell im Busch auf uns lauerten,
den und Milizen erschossen, verprügelt oder ausgeraubt. Den
keine Chance zu geben.
noch sammelte Adans Gruppe so viele Waisen wie möglich
Einige tausend Menschen saßen vor dem Ernährungszen
ein. Ende Oktober hatten sie bereits über dreihundertfünfzig
trum, das die Dorlaltesten in einer ehemaligen Schule errichtet
Kinder aufgelesen. Ich fragte Adan nach den Gründen für sein
hatten. In den dunklen Räumen im Inneren lagen dicht ge
Engagement. Nach langer Pause antwortete er: »Diese Kinder
drängt Männer, Frauen und Kinder auf dem nackten Zement
sind die Saat für das Somalia der Zukunft, ein besseres Somalia.
boden, weil sie zu schwach waren, um aufrecht zu sitzen, ge
Wenn wir möchten, dass sie sich umeinander kümmern, müs
schweige denn zu stehen. Schwärme von Fliegen umgaben sie.
sen wir uns heute um sie kümmern. «
Ich untersuchte einen nach dem anderen. Ein Mann namens
Jules - er war eben aus dem ehemaligen Jugoslawien zurück
Isaq war erst am Morgen angekommen, nachdem er seinen
gekehrt, wo General Milosevic seine serbischen Truppen aufge
dreizehnjährigen Sohn in fünf Tagen 1 20 Kilometer weit von
fordert hatte, bosnische Muslime zu töten - sah sich die Lage
seinem Dorf hierhergeschleppt hatte. Sie waren außer Haus ge
in Baidoa mit eigenen Augen an. Er verbrachte zwar die meiste
wesen, auf der Suche nach Nahrung, und als sie zurückgekom
Zeit mit Dana, arbeitete mit ihr an neuen Sicherheitskonzepten,
men waren, hatte eine bewaffnete Gang Isaqs Frau zunächst
beschwor mich aber, die informellen Hilfsorganisationen vor
vergewaltigt, dann erschossen und mit Isaqs übrigen vier Kin
Ort noch intensiver zu unterstützen. Eine Frauengruppe beglei
dern in einen Brunnen gestoßen. Isaq und sein Sohn waren
tete ihn zu einem Kinderhort in einer verlassenen Schule. Die
halb verhungert, und die Augen des Jungen traten aus den
meisten der hier betreuten dreißig Kleinkinder wären ohne me
Höhlen und starrten ins Leere. Seine Gelenke wiesen offene
dizinische Versorgung binnen einer Woche gestorben. Die Frau
Wunden auf. Er holte keuchend Atem, und ich horchte sein
en wollten die Kinder in Adans Waisenhaus bringen, wo sie von
Herz ab. Es war so schwach, dass sich schon Flüssigkeit in
uns wenigstens notdürftig verarztet werden konnten.
seiner Lunge gesammelt hatte. Drei Stunden später starb Isaqs
Unentwegt kamen Delegationen von Stammesältesten aus
Sohn. Er war der Fünfte, der seit meiner Ankunft gestorben 97
war. In anderen Ernährungszentren rings um Baidoa waren am selben Tag Hunderte gestorben.
te Gebrüll, dann Stille. Bald darauf kam Hurzi zurück und rief uns zu, wir könnten uns wieder ins Auto setzen. Die Männer
Der Geruch, die vielen Toten und die Dunkelheit überwältig
lachten, als wir weiterfuhren. Auf meine Frage, wie er sich
ten mich. Ich musste vor die Tür gehen und im Geländewagen
durchgesetzt habe, antwortete Hurzi: >»Wenn hier einer stirbt,
ein wenig verschnaufen. Hurzi brachte mir eine Cola und gab
dann ihr! < , hab ich zu denen gesagt. >Ich sterbe nicht!<« Ich
mir ein Taschentuch, damit ich mir die Tränen fortwischen
war kurz verwirrt, doch dann hatte ich begriffen.
konnte. Ich rauchte eine Zigarette zur Beruhigung, während
In dieser Nacht spürte ich Schmerzen in der Brust. Zuerst
Hurzi die Menschen vom Geländewagen wegscheuchte. Dann
dachte ich, ich hätte mir einen Muskel gezerrt, als ich in Buur
öffnete er die Wagentür, wartete noch einige Augenblicke und
hakaba eine Wasserpumpe betätigt hatte, doch dann bekam ich
bedeutete mir mit einem Kopfnicken, es sei an der Zeit wieder
Fieber und bat Dana, mich zu untersuchen. Ich hätte mir eine
hineinzugehen. Ich nickte zurück. Einige Stunden später dankte
Lungenentzündung geholt, lautete ihre Diagnose. Von da an
mir Isaq, weil ich versucht hatte, seinem Sohn zu helfen. Ich
weiß ich nichts mehr. Dana erzählte mir später, ich hätte nach
fragte ihn, was er jetzt tun wolle. Er werde zunächst einmal
Luft geschnappt und phantasiert. Da am Morgen eine amerika
wieder zu Kräften kommen, sagte er; dann werde er im Ernäh
nische C- 1 30 Hercules unter Beschuss geraten war, weigerte
rungszentrum helfen und schließlich wieder in sein Dorf zu
sich die amerikanische Luftwaffe, nach Baidoa zu fliegen. Über
rückkehren. Die Stammesältesten, das Team von AICF und ich
Satellitentelefon rief Merv deshalb einen Freund an, der in Nai
einigten uns auf ein medizinisches Versorgungsprogramm, ich
robi ein Lufttransport-Unternehmen leitete. Er erklärte sich be
versprach, wiederzukommen, und überließ ihnen einstweilen
reit, herzufliegen, falls Merv die Clanmilizen dazu bewegen
einige Vorräte.
konnte, das Flugzeug nicht zu beschießen. Nachdem ihm dies
Wir fuhren in demselben halsbrecherischen Tempo, mit
gelungen war, sorgten Dana und er dafUr, dass Fahrzeuge von
dem wir gekommen waren, wieder zurück. Als Hurzi doch
CARE und Ärzte ohne Grenzen das nötige Licht für die Lande
einmal den Fuß vom Gas nahm, um ein paar Schlaglöchern
bahn beschafften. Ich wurde nach Nairobi geflogen und ins
auszuweichen, trat er unversehens auf die Bremse und brachte
Aga Khan University Hospital gebracht.
den Geländewagen zum Stehen, wobei er seitwärts deutete.
Nach drei Tagen wurde ich endassen, nur um einen Tag spä
»Hinterhalt!«, schrie er. Ich entdeckte die Schnauze eines Pick
ter aufgrund einer viralen Meningitis erneut für drei Tage einge
ups, die etwa hundert Meter vor uns aus dem Busch ragte.
liefert zu werden. Ich erholte mich im MSF-Gebäude in Nairobi
Hurzi sagte mir, ich solle mich unter dem Wagen verstecken.
bei Arjan Hehenkamp, dem vierundzwanzigjährigen Verwalter.
Zwei Sicherheitsleute gingen nach hinten und holten zwei Pan
Nach einigen Tagen war ich um etliche Pfunde leichter, fühlte
zerfauste oder
die sie in Decken gewickelt hatten. Hurzi
mich aber dennoch gestärkt. Jules war angereist, um uns zum
schickte drei der Wachmänner in die Büsche auf jeder Straßen
Baidoa-Projekt zu beraten. Er habe mir zum Wochenende ein
seite und einen auf das Dach des Geländewagens, um das Ma
Flugticket nach Kanada besorgt, sagte er. In dieser Nacht konnte
RPG,
schinengewehr zu laden und zu entsichern. Keiner sagte ein
ich nicht schlafen. Es gab in der gesamten Region Baidoa nur
Wort. Einer der Wachleute zwinkerte mir zur Beruhigung zu.
drei Ärzte, und noch immer lagen viele tausend Menschen im
»Keine Sorge«, sagte Hurzi zu mir. »Wir haben Panzerfauste.
Sterben. Die Situation war denkbar schwierig, aber noch konn
Bevor du stirbst, sterbe ich. Und ich sterbe nicht.« Er rannte
ten wir arbeiten. Ich stand auf, ging ins Badezimmer, warf einen
auf den Pick-up zu, die Maschinenpistole im Anschlag. Ich hör-
forschenden Blick in den Spiegel und wusste, dass ich mir nicht 99
mehr ins Gesicht sehen konnte, wenn ich jetzt abreiste. Tags
Tags darauf evakuierten wir achtzehn unserer ausländischen
darauf kamen Jules und ich überein, dass ich nach Baidoa zu
Team-Mitglieder, so dass Hans, Wayne Ulrich und unser Ver
rückkehren würde.
walter Dirk Matthysen das Hilfsprogramm überwachten, bis Stammesälteste und Clanchefs ein Abkommen getroffen hatten,
Ich kam am 7 . November 1992 dort an, gemeinsam mit Hans
um mehr Sicherheit zu gewährleisten. Trotz der wachsenden
Everts, der vorübergehend die Leitung übernehmen würde,
Gefahr hörte nicht ein einziger unserer einhundertundzwanzig
während Dana sich eine wohlverdiente Pause gönnte. Der UNO
somalischen Mitarbeiter auf zu arbeiten. Ich versuchte ihnen
Botschafter Sahnorm war einige Tage zuvor zurückgetreten.
klarzumachen, dass wir nur bleiben konnten, wenn man uns
Monatelang hatte er sich um den Respekt der verschiedenen
bessere Sicherheitsbedingungen bot. Alle stimmten dem Ent
Clans bemüht und mehrere Abkommen ausgehandelt, die ein
schluss zu, das ausländische Team zu reduzieren, bis die Situati
gehalten wurden. Vielleicht war er zum Rücktritt gezwungen,
on sich wieder gebessert hätte. In den kommenden Tagen zahl
nachdem er öffentlich Kritik an den UNO-Agenturen geübt hat
te Dirk den somalischen Mitarbeitern im Büro ihre Löhne und
te, weil sie die Vereinbarungen brachen und es an der nötigen
organisierte noch einen Lastesel für die Kliniken. Hans traf sich
Koordination fehlen ließen. Die UNO in New York hatte den
mit Stammesführern auf dem Gelände, Wayne sorgte für eine
sofortigen Einsatz von zweitausendfünfhundert Friedenssolda
regelmäßige Belieferung der Kliniken und des Krankenhauses
ten angeordnet, was Sahnorm erst über die BBC erfahren hatte.
mit medizinischen Gütern, und ich trug die Verantwortung
Es gab Gerüchte, denen zufolge die Vereinten Nationen mehr
für die Kliniken und einige Ernährungszentren. Lesto begleitete
als die bereits bewilligten fünftausend Blauhelme mobilisier
mich auf Schritt und Tritt.
ten. Schon Tage nach Sahneuns Rücktritt verschlimmerte sich
Der Mitarbeiter einer Klinik hatte große Mengen an Medika
die Lage. Frachtschiffe, die Lebensmittel geladen hatten, wur
menten gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Er
den beschossen, damit sie den Häfen fernblieben, die von riva
musste gefeuert werden. Als Lesto und ich dort ankamen, hat
lisierenden Clans kontrolliert wurden; Plünderungen nahmen
ten sich Clanchefs und Stammesälteste aus den betroffenen
überhand; Bündnisse zwischen Clans und Subclans formierten
Dörfern vor dem von einer Mauer umgebenen Gelände versam
sich immer wieder neu.
melt. Lesto redete mit ihnen und ging dann mit mir in die
Am 14. November versuchten die Milizionäre eines abtrün
Klinik. Dort knöpfte er sich den Mann vor, der angeblich die
nigen Clans aus Mogadischu, vor dem MSF-Gelände unseren
Arzneien gestohlen hatte, und stellte ihn zur Rede. Der Mann
britischen Arzt Rick Price zu entführen. Unsere Wachleute
winkte ab. Lesto packte ihn an den Haaren und drückte sein
konnten ihn zurückholen. Es war das erste Mal, dass man in
Gesicht auf den Tisch, an dem er saß. Er zerrte den Mann zu
Baidoa versucht hatte, jemanden zu entführen. Am selben Tag
Boden und prügelte wie von Sinnen auf ihn ein. Doch als er
wurde CARE geplündert, und ein ausländisches Mitglied der
eine Pistole zückte und den Mann damit weiter traktierte, der
Hilfsorganisation Irish Cancern sowie ein Mitglied des Interna
bereits blutverschmiert auf dem Boden lag, warfen sich drei
tional Medical Corps wurden von neuen Gangs in der Stadt
Wachleute dazwischen. Lesto war schweißgebadet, sein Hemd
unter Beschuss genommen. Hans und ich sprachen mit Lesto.
vom Blut des Diebs besudelt. Seine Pistole zitterte, als er sie
Wenn es nicht einmal dem Ältestenrat gelang, der eskalieren
dem Mann an den Kopf drückte: »Wir sind keine Tiere, ver
den Gewalt Herr zu werden, dann schafften wir das erst recht
flucht noch eins! « , brüllte Lesto dabei auf Somali, Italienisch
nicht.
und Englisch. Mit vereinten Kräften hielten wir Lesto zurück.
100
101
Der Dieb verkroch sich in eine Ecke des Zimmers, und Lesto
Schlampe ist beschäftigt«, blaffte einer der Stammesführer. »Sie
ließ sich erschöpft zu Boden sinken. Schwitzend starrte er auf
will dich jetzt nicht sehen. Geh. Geh wieder zu deinen MSF.«
das Blut an der weißen Wand. »Es sind doch nur Tabletten. Warum diese Wut?«, fragte ich. »Warum?« Die Stammesführer draußen hatten Lesto erzählt, der Mann habe Frauen, die in die Klinik gekommen waren, vergewaltigt.
Die Delegierte des Roten Kreuzes war umstellt von Khat kau enden jungen Männern mit Sonnenbrillen und AK-47· »Wir führen eine kleine Diskussion mit unseren Sicherheitsleuten, die sich anscheinend nicht einig werden können, wer das Sa gen hat«, sagte sie auf Französisch.
Nachdem er aufgestanden war und sein zerrissenes Hemd zu
»Kein Französisch, du blöde Fotze ! « , brüllte derselbe Anfüh
rechtgerückt hatte, sagte Lesto mit einer Handbewegung zu den
rer und rammte dabei den Schaft seiner Maschinenpistole vor
Wachleuten: »Übergebt ihn den Häuptlingen! «
ihr auf den Tisch.
Tags darauf hatte jemand unseren Safe aus dem MSF-Büro ent wendet. Ein interner Diebstahl. Hans fühlte sich überfordert, war zu wenig mit den Gegebenheiten im Land vertraut, um eine
»Überlassen Sie das mir und gehen Sie, solange Sie noch können«, riet mir die Delegierte auf Englisch. Als ich sie später am Abend wieder traf, meinte sie, sie habe
Entscheidung zu treffen. Auch Dirk, obschon er seit Jahren in
den Streit mit einer kleinen »Lohn«-Erhöhung binnen einer
Somalia arbeitete, gab auf. Jules und Dana kamen am selben Tag
Stunde schlichten können.
aus Nairobi zurück, und die Wachleute, die für den Diebstahl
Am Abend trank ich Tee mit Hurzi. Ich war nicht sicher, ob
verantwortlich waren, wurden gefeuert. In der kommenden
ich noch bleiben wollte. Er sagte mir, er könne zwar verstehen,
Woche berieten sich Jules und Dana immer wieder mit den
wenn ich abreiste, würde mich aber ungern gehen lassen. Und
Stammesältesten, den Clanchefs und den anderen Nichtregie
er schwor bei Allah, dass er vor mir sterben würde, wenn ich
rungsorganisationen.
bliebe. Um zehn Uhr abends ließ ich Jules wissen, dass ich
In dieser Woche ließ ich mich zum Büro des Roten Kreuzes
abreisen würde. Jules erklärte mir, welche Maßnahmen er ge
fahren, um dafür zu sorgen, dass einige der Ernährungszentren
troffen hatte, um den Safe-Dieb zu identifizieren. Unser Risiko,
mehr Lebensmittel erhielten. Auf dem Weg zum Gebäude ka
versicherte er mir, sei nicht so hoch wie dasjenige der Rot
men von hinten zwei Kampfwagen angefahren und versperrten
kreuz-Mitarbeiter, die direkt mit den Lebensmitteln hantierten;
uns den Weg zurück. Mindestens sechzig schwerbewaffnete
wir würden unsere Zelte abbrechen, sobald die Stammesältes
Männer und einige Kampfwagen waren um den Gebäudekom
ten vor Ort die Kontrolle verloren. Ich vertraute Jules, und ich
plex des Roten Kreuzes postiert. Sie hielten mich zunächst für
vertraute Dana. Und wenn Hurzi durchhielt, dann konnte ich
einen Abgesandten des IKRK und winkten mich durch das Tor.
es auch. Um halb zwei Uhr früh machte ich meine Kündigung
Ich sei ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, sagte ich, doch
rückgängig.
obwohl ich ein MSF- T-Shirt trug, wollten sie von ihrem Kom
Am nächsten Morgen kam der Vorsitzende des Ältestenrats
mandanten im Innern die Bestätigung haben. Ich ging also hin
von Baidoa aus Mogadischu zurück. Er hatte von Aidid die
ein. Hurzi und ich kamen überein, dass er mit unseren Wach
Zusage erhalten, dass dieser seine Truppen zurückhalten werde,
leuten im Wagen warten würde, bis ich wieder herauskäme, es
die weitgehend für die eskalierende Gewalt in den vergangeneu
sei denn, jemand würde ihn provozieren.
Wochen verantwortlich gewesen waren. Die nächsten Tage ver
Im Innern verlangte ich unterdessen, mit der für die Logistik zuständigen Delegierten des Roten Kreuzes zu sprechen. »Die 102
liefen ruhig. Jules kehrte daher ins ehemalige Jugoslawien und
dann nach Amsterdam zurück.
Zwei Tage später fuhr ich gemeinsam mit Katherine, einer MSF
len oder geplündert wurden. »Unsinn«, meinte Dana. »Man
Krankenschwester aus Australien, mit einem Nachschub an me
cherorts sind es vielleicht siebzig Prozent, aber insgesamt liegt
dizinischen Versorgungsgütern erneut nach Buurhakaba. Wir
die Diebstahlsrate wohl eher bei zwanzig oder dreißig Prozent.
verbrachten den Tag am Ernährungszentrum. Es waren noch
Sie führen doch irgendetwas im Schilde mit ihren hohen Zah
mehr halbverhungerte Menschen gekommen und wie in Baidoa
len.«
auch mehr Schussverletzungen zu versorgen. Katherine suchte
Die Vereinten Nationen waren mittlerweile zu der Überzeu
sich ein paar Leute und zeigte ihnen, wie man Wundverbände
gung gelangt, dass die Verteilung der HUfsgüter in Somalia nur
anlegt. Als wir im Gehen begriffen waren, kamen mehrere be
unter militärischem Schutz vonstatten gehen konnte. Am
waffnete Männer in Kampfwagen angefahren und forderten uns
25. November 1992 erklärten die USA sich bereit, zu diesem
auf, für MSF »Schutzsteuern« zu zahlen. Während ich mit den
Zweck Truppen nach Somalia zu entsenden. Über Nacht wur
Männern verhandelte, bildete sich um uns herum eine Men
den die Kämpfe in Mogadischu heftiger. Schwere Artillerie
schentraube. Wir hatten eben geklärt, dass MSF noch nicht hier
wurde aus der Stadt in die Region Baidoa verlegt, damit sie
arbeitete, als in der Menge Schüsse fielen. Hurzi schob Kathe
nicht von den Amerikanern zerstört oder beschlagnahmt wer
rme sofort in unseren Wagen. Eine Frau war angeschossen wor
den konnte. Sofort eskalierten die Stammesfehden in Baidoa
den. Wir hoben sie in unseren Wagen und legten bei ihr eine
und im ganzen Land. Dana musste aus familiären Gründen ab
Infusion an, während wir durch die Menschenmenge zurück
reisen. An ihrer Stelle kam Wouter van Empelen. Es war sein
auf die Straße nach Baidoa fuhren. Am selben Tag hatte man in
erster Einsatz.
Baidoa auf zwei MSF-Krankenschwestern geschossen und zwei
Stammesälteste und Clanchefs beschworen uns und andere
weitere mit der Waffe bedroht. CARE war wieder geplündert
Nichtregierungsorganisationen, die Hilfsaktionen fortzusetzen,
worden, das Rote Kreuz ebenso.
da ohne fremde Hilfe viele tausend Menschen sterben würden.
Der Hundert-Tage-Plan der Vereinten Nationen blieb weit
Wir reduzierten unsere Belegschaften, um möglichst wenig aus
hinter den gesteckten Zielen zurück. Nicht zu glauben, aber
ländische Einsatzkräfte zu gefihrden, während die Stammesäl
die ersten fünfhundert Friedenssoldaten in Mogadischu muss
testen und Clanchefs bis zur Ankunft der Amerikaner eine vor
ten den Schutz einheimischer Sicherheitsleute suchen. Ali Mah
übergehende politische Einigung erzielten. Am 29. November
di und Aidid verstärkten ihren Kampf um die Stadt. Sowohl
verkündeten die Amerikaner endlich, sie würden Truppen nach
Aidid wie auch Mahdi versuchten durch Sabotageakte den aus
Baidoa entsenden. Daraufhin erklärte Ali Mahdi in Mogadischu:
ländischen HUfsorganisationen das Leben so schwer wie mög
»Wir werden gegen die christlichen Eindringlinge kämpfen.«
lich zu machen, wie ein Clanchef mir berichtete. Jeder wollte
Am späten Nachmittag konterte sein Gegner Aidid: »Wir wer
möglichst viel Land und Nahrung an sich bringen, bevor neue
den die Amerikaner willkommen heißen.«
UNo-Streitkräfte ins Land kamen. Am 24. November wurde vor
In dieser Nacht sprach ich mit Jules in Amsterdam über die
der Küste Mogadischus ein Frachtschiff der Vereinten Natio
amerikanischen Interventionspläne. Nach dem, was ich mitt
nen, das zehntausend Tonnen Lebensmittel geladen hatte, von
lerweile über die Politik der Supermächte in Somalia wusste,
einer Granate getroffen, und sowohl Aidid wie auch Mahdi
verstand ich das Motiv der Amerikaner nicht. War es das Öl?,
attackierten die UN-Friedenstruppen, die in der Stadt im Einsatz
wollte ich wissen. »Die Sache ist schon ein wenig komplizier
waren. Andrew Ignatios von USAID verkündete öffentlich, dass
ter«, lachte }ules. »Die Bemühungen der amerikanischen Hilfs
achtzig Prozent der Lebensmittelspenden abgezweigt, gesteh-
organisationen haben offenbar gefruchtet, aber die USA sind 1 05
mittlerweile die einzige Supermacht, sie brauchen sich um sol
einmal die Köpfe nach den schreienden Frauen und Kindern,
che Kleinigkeiten keine Gedanken zu machen. In Jugoslawien
die sie überfahren hatten. An diesem Nachmittag wurde der
läuft es derzeit nicht so gut, weder für die
USA
noch für die
Großteil unseres zwanzigköpfigen Teams ausgeflogen.
Europäer. Offenbar haben sie sich im Wesentlichen auf die Seite
Am 3 · Dezember autorisierte der UN-Sicherheitsrat die Uni
der Serben gestellt. Aber die Ermordung bosnischer Muslime
ted International Task Force unter amerikanischer Führung, hu
geht weiter, und langsam kehrt sich die öffentliche Meinung
manitäre Hilfe zu leisten. Die humanitäre Intervention sollte
gegen den Westen .« George Bush hatte eben die Präsident
jedoch keine Mission der Vereinten Nationen sein, sondern eine
schaftswahl gegen Bill Clinton verloren, und keiner von beiden
von den Vereinten Nationen sanktionierte amerikanische Missi
wollte sich militärisch im ehemaligen Jugoslawien engagieren.
on. Deren Verhältnis zur bereits etablierten UNOSOM blieb unge
Die Westmächte rechtfertigten ihr Zögern mit dem Argument,
klärt. Die Amerikaner nannten sie Operation Restore Hope
ein militärisches Eingreifen ihrerseits könne die im Land statio
(Operation Wiederherstellung der Hoffnung) . Wieder nahmen
nierten UN-Friedenstruppen in Gefahr bringen. Jules erklärte,
Stammesfehden und Plünderungen überhand. Am 5. Dezember
dass Colin Powell, der Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff, des
waren nur noch Wouter van Empelen, unser neuer Projektleiter,
Vereinigten Generalstabs, erpicht sei auf eine Militärinterventi
Arjan Hehenkamp und ich für MSF in Baidoa. Andere Nichtre
on im muslimischen Somalia, weil es bedeute, dass sich die
gierungsorganisationen hatten ihre Teams in ähnlicher Weise
us-Streitkräfte aus Bosnien fernhielten. »Amerikanische Trup
reduziert. Adan Hussein, Leiterinnen von Frauengruppen und
pen in Somalia würden dem Vorwurf, dass dem Westen die
viele mehr kamen zu unserer Niederlassung, um zu prüfen, wie
Notlage von Muslimen gleichgültig sei, den Stachel nehmen«,
es um unsere Sicherheit bestellt war, und uns, wenn möglich,
erklärte Jules.
zum Bleiben zu bewegen. Die Stammesführer versuchten uns zu beschwichtigen, warnten uns vor bevorstehenden Gefechten
Am darauffolgenden Morgen, während wir im Begriff waren,
in der Stadt und rieten uns, wohin wir gehen beziehungsweise
das Team zu verkleinern, kämpften Stammesmilizen, die Aidid
nicht gehen sollten. Von nun an wurden wir von Lesto und
beziehungsweise Mahdi die Treue hielten, offen um die Kon
seinen Sicherheitsleuten zu den Kliniken und Ernährungszen
troll e über Baidoa. Das Rote Kreuz, CARE und World Vision
tren eskortiert. Unsere Kliniken versorgten immer noch täglich
wurden geplündert. Eine zweistündige Schießerei fand vor dem
an die tausend Patienten. Wir konnten am Tag nur drei oder vier
CARE-Büro statt, und einer unserer Logistiker geriet zwischen
Kliniken und dieselbe Anzahl von Ernährungszentren erreichen.
die Fronten und wurde getroffen. Auf dem Markt kamen sechs
Doch auf diese Weise blieben sie mit Vorräten ausgestattet, und
Umstehende und zahlreiche Bewaffnete ums Leben, als rivali
unsere Mitarbeiter erkannten, dass wir noch in Baidoa waren.
sierende Milizen aneinandergerieten. Lkws, die Lebensmittel
Nicht einer der Mitarbeiter ließ uns im Stich.
transportierten, wurden geplündert, als sie sich den Ernäh
Arjan zahlte weiter Löhne. Mit Hilfe von Stammesältesten
rungszentren näherten. Kampfwagen durchbrachen die Mau
und anderen Personen, die den Mut hatten, über Land zu fah
ern der Ernährungszentren, um an Lebensmittel heranzukom
ren, sandte er medizinische Versorgungsgüter nach Buurhaka
men. In einem der Ernährungszentren gerieten Menschen
ba, Hawina und einige andere Dörfer. Einige Vorräte wurden
unter die Reifen eines Militärfahrzeugs, das die Mauer durch
geplündert, einige gelangten ans Ziel. Wouter sprach - wie
brach. Die Männer darin - sie trugen Mickey-Mouse-T-Shirts,
Dana vor
Vuarnet-Sonnenbrillen und Sony Walkmans
Europa, weiteren Nichtregierungsorganisationen und der Pres-
1 06
wandten nicht
ihm - mit Ärzte olme Grenzen in Mogadischu und
107
se, wobei sein Augenmerk besonders den politischen und mili
paar Stichen die Wunde des verletzten Mannes nähte. Das IMC
tärischen Entwicklungen galt. Mitderweile hatte die winterliche
Team gesellte sich zu uns, und wir kehrten gemeinsam zur MSF
Regenzeit begonnen,
Niederlassung zurück.
und Hurzi hatte meine regelmäßige
Abendsprechstunde in eines der leeren Gästezimmer verlegt.
Zwei Mitarbeiter eines MSF-Teams im nahe gelegenen Kan
Eines Morgens kam es zwischen einigen Milizionären vor der
desere wurden als Geiseln gehalten. Die Belegschaft in Kismayo
Steinmauer unseres Grundstücks zu einem SchusswechseL Wir
war vollständig aufgelöst worden. CARE war wieder geplündert
duckten uns hinter eine schwere Betonmauer. Nach etwa zehn
worden, ebenso zwei unserer Kliniken. In Baidoa hatte man
Minuten hörte die Schießerei auf Fünf Männer und eine Frau
überall Straßenblockaden errichtet. Die Nichtregierungsorgani
waren angeschossen worden, und man trug sie zu uns herein,
sationen versammelten sich im Gebäude des Roten Kreuzes.
wo ich sie versorgen konnte. Einige Minuten später fiel noch ein
Stammesführer hatten uns dazu geraten, möglichst viele aus
Schuss. Eine Frau kam schreiend hereingerannt, ein vierjähriges
ländische Mitarbeiter, besonders die Frauen, aus dem Land zu
Mädchen an die Brust gedrückt, das blutete. Ich legte die Kleine
schaffen. Wir kamen überein, die achtzigtausend Menschen,
auf einen weißen Klapptisch im Gebäude. Das viel zu weite
die noch in Baidoa lebten, und eventuell auch die dreihundert
Kleid rutschte ihr von selbst von den Schultern. Ihr rechter obe
tausend Menschen in den umliegenden Dörfern weiter mit Le
rer Brustbereich wies eine Schussverletzung auf, und sie
bensmitteln zu versorgen und unsere Programme am Laufen
brauchte dringend eine Thoraxdrainage, aber ich hatte keinen
zu halten. Die Amerikaner erklärten sich bereit, die Mitarbeiter
Schlauch zur Verfügung, fand nichts, womit ich hätte improvi
der HUfsorganisationen im Notfall per Hubschrauber auszu
sieren können. Lesto und Hurzi eskortierten mich, das Mäd
fliegen. Am späten Nachmittag wurden die beiden MSF-Mitar
chen und die übrigen Verletzten zum IMC-Team im Kranken
beiter in Kandesere freigelassen. Sie verließen das Land auf der
haus. Die Belegschaft war nicht im Haus, sondern gefangen in
letzten C- 130 , die an diesem Tag Hilfsgüter nach Baidoa trans
ihrer Unterkunft gegenüber. Eine Gang drohte damit, das Ge
portiert hatte.
bäude zu plündern. Ich fand eine Drainage und machte mich
Ich fuhr weiter mit Lesto und Hurzi in unserem Konvoi zu
daran, die Brust des Kindes aufzuschneiden, während eine so
den Kliniken. Vor den Kliniken schliefen etliche Waisenkinder,
malische Krankenschwester das keuchende Mädchen festhielt.
und Lesto gab einigen Erwachsenen Geld, damit sie sie in
Da hörte ich Schreie vor der Tür. Zwei bewaffnete Männer mit
Adans Waisenhaus brachten oder ihnen auf dem Schwarzmarkt
Sonnenbrillen kamen ins Krankenhaus. Sie trugen einen Ver
etwas zu essen kauften. Außerdem warteten viele Menschen
wundeten. »Mach ihn heil !«, brüllten sie mich an. Die Kran
mit Schussverletzungen. Ich untersuchte einen Jungen mit ei
kenschwester wich zurück und drückte sich gegen die Wand.
nem Hüftschuss. Seine Mutter war einen Monat zuvor mit ih
Ich sah, wie ihr ein blutgetränktes Stück Gaze aus der Hand
ren sechs Kindern von ihrem Dorf nach Baidoa gekommen.
glitt. Ich fing an zu schwitzen. »Eure Gewehre machen mich
Jetzt waren bis auf diesen zwölfJ ährigen Sohn alle tot. Ich öff
nervös«, sagte ich zu den Bewaffneten. Ich setzte der Kleinen
nete einen gewaltigen Abszess, der sich um die Wunde gebildet
die Drainage, woraufhin puffend der Druck entwich, der sich
hatte. Weil wir so wenig Personal hatten, assistierte mir Lesto,
in ihrer Brust aufgebaut hatte. Das Mädchen schrie, und ich
aber er hatte keinerlei Erfahrung, fummelte ungeschickt mit
spürte salzigen Schweiß in den Augen. »Jetzt mach ihn heil!«,
der Gaze herum und bekam Blut auf die Kleider. Da gab er es
brüllte der Bewaffnete erneut. Lesto beruhigte die Männer. Die
auf und ging aus der Klinik.
Schwester kümmerte sich um das Kind, während ich mit ein 108
Ich verband die Wunde des Jungen und ging dann ebenfalls 109
hinaus. Lesto saß im Geländewagen und rauchte eine Zigarette.
Baidoa, wo eine C- 1 3 0 mit medizinischen Hilfsgütern für unse
Seine Augen waren gerötet und geschwollen. »Ich kann das
re Kliniken landen sollte. Die Schießerei begann unweit der
nicht, James. Ich kann es nicht ertragen, die Menschen so leiden
Landebahn, und das Flugzeug blieb nach dem Touchdown
zu sehen. Es ist zu viel, zu viel.« Wir fuhren zu ihm nach Hause,
nicht einmal stehen. Man stieß die Kisten kurzerhand auf das
damit er die blutigen Kleider wechseln konnte. Er zog das Hemd
Rollfeld, ehe der Pilot durchstartete. Ich sammelte die Vorräte
aus und setzte sich aufs Bett. »Ich muss nach Mogadischu«,
ein und fuhr zurück zur MSF-Niederlassung.
sagte er, »ZU meinem Imam. Ich brauche Allahs Schutz in die sem Wahnsinn. « »Nimm einstweilen das hier«, sagte ich und gab ihm das
Sobald ich dort eintraf, wurde ein Clanchef zu mir gebracht. Hussein Mohamed Derir hatte Lungenentzündung und hohes Fieber. Ich legte ihn in eines der leeren Zimmer und verab
Medaillon mit dem Bild des heiligen Christophorus, das mein
reichte ihm intravenös ein Antibiotikum, das eben angekom
Freund Ian Small mir im September in Amsterdam geschenkt
men war. Ich hatte Sorge, er könne sterben, und fürchtete die
hatte. Lesto weinte wieder und steckte den Talisman in seine
Folgen für uns. Ich schlief bei ihm im Zimmer, zusammen mit
Brieftasche. Er fuhr sofort los. Tags darauf kam er wieder, ein
seinen fünf Leibwächtern. Als ich am Morgen erwachte, waren
ledernes Amulett um den Hals. Er deutete auf den Boden und
der Clanchef und seine Leibwächter gegangen. Eine Stunde
sagte: »Ich sage es vor Allah, James, ich bin stark. Das hier ist
später betrat Derir die Niederlassung mit zwanzig bis an die
mein verfluchtes Land.«
Zähne bewaffneten Männern. Er fiel vor mir auf die Knie und
In der darauffolgenden Woche, während Gerüchte kursier
küsste mir hundertmal die Füße. Ich versuchte ihn davon abzu
ten von einer bevorstehenden Invasion der Amerikaner, kam es
halten, aber er bestand darauf. »Mein ganzer Stamm wird in
in Mogadischu und Baidoa immer wieder zu Auseinanderset
deinem Bett schlafen, um dich zu beschützen, das schwöre ich
zungen zwischen Aidid- und Mahdi-Milizen. Und zwischen
bei Allah!«, sagte er.
verfeindeten Fraktionen innerhalb der Gruppierungen. Die Le
Ich verbrachte den Tag mit Lesto und Hurzi in den Kliniken,
bensmittellager des Roten Kreuzes und der Hilfsorganisation
wobei ich die Stadtteile mied, vor denen die Stammesältesten
CARE blieben die bevorzugten Ziele für Plünderungen, aber an
uns gewarnt hatten. Am späten Nachmittag flogen us-amerika
dere Nichtregierungsorganisationen und UNICEF waren eben
nische Kampfjets über Baidoa, und unsere Wachleute und die
falls betroffen. In Baidoa kamen jeden Tag zwischen zehn und
Menschen in der Umgebung atmeten auf. In dieser Nacht blie
fünfzig Milizionäre ums Leben und noch weitaus mehr Zivilis
ben Clanchef Derir und seine Leute bei unseren Wachleuten in
ten, die zwischen die Fronten gerieten. Wir holten uns nachts
der Niederlassung, um Plünderer abzuwehren.
zwei mit Maschinengewehren bestückte Geländewagen auf das
Seit George Bush senior angekündigt hatte, er werde Solda
Grundstück, für zusätzlichen Schutz. Ich versteckte einen Kof
ten nach Somalia schicken, war das Land von heftigen Kämpfen
fer mit medizinischen Versorgungsgütern und ein Funkgerät
und Plünderungen heimgesucht worden. In derselben Nacht,
auf dem Dach hinter dem Kamin. Neben fünfzehn bewaffneten
arn 9· Dezember, über 250 Kilometer entfernt, landeten die
Wachmännern blieb Lesto mit uns im Gebäude. Wouter, Arjan
Amerikaner an den Küsten Mogadischus. Die Nachricht von
und ich schliefen im Zimmer mit den dicksten Betonmauern.
diesem Vorhaben sickerte schon einige Stunden zuvor durch
Weitere siebzig Bewaffnete bewachten das Lagerhaus auf der
und sorgte in den USA zur Hauptsendezeit für Schlagzeilen.
anderen Straßenseite.
Tausende jubelnder Somalier winkten mit grünen Zweigen, um
Am Morgen des 8. Dezember fuhr ich zum Flugplatz von ! !0
die us-amerikanischen Marines, Army Rangers, SEALs und DelIII
ta-Force-Soldaten willkommen zu heißen, während Dutzende Helikopter und Kampfjets über sie hinwegflogen und Hover crafts weitere Truppen an Land brachten. Binnen Wochen wür de das Interventionsheer 3 7 ooo Mann zählen. Die amerikani schen Soldaten wurden von etwa sechshundert Kameraleuten und Journalisten aus aller Welt begrüßt, die darauf warteten, ihre Ankunft einzufangen. Medienteams filmten,
wie eine
Gruppe amerikanischer Marinesoldaten zwei bewaffnete soma lische Wachmänner verhafteten, weil sie in einem Lebensmit tellager geschlafen
hatten.
Bernard Kouchner,
inzwischen
Frankreichs Minister für Gesundheit und humanitäre Angele genheiten, wurde am Morgen des 10. Dezember dabei fotogra fiert, wie er einen Sack Getreide auf der Schulter durch den von Amerikanern besetzten Sand nach Mogadischu trug. Es war ein Medienerfolg. Die Operation Wiederherstellung der Hoff nung hatte begonnen. Am darauffolgenden Morgen war ich mit Lesto und Hurzi in der Flussklinik im Stadtzentrum beschäftigt, als Wouter mich über Walkie-Talkie zum MSF-Gebäude rief; bei einem heftigen Feuergefecht in Baidoa habe es etliche Verletzte gegeben. Die Kämpfe waren eskaliert, als viele hundert Kampfwagen durch die Stadt fuhren, auf dem Weg von Mogadischu nach Äthiopi en. Um uns her wurde gekämpft und geplündert, als Aidid über Funk aus Mogadischu verkündete, dass Mahdi Baidoa kontrollieren wolle. Aidids Gouverneur in Baidoa weigerte sich, seinen Amtssitz zu verlassen, einige hundert Meter von unserer Niederlassung entfernt. Aidid hatte seinen Staatssekre tär mit schwerer Artillerie ausgeschickt, um ihn zu vertreiben. Unser Konvoi kam in die Niederlassung zurück und fand sie von unseren Wachleuten und sämtlichen Fahrzeugen umringt. Im Innern weinten und beteten die somalischen Kranken schwestern. Ich behandelte fünf schwer verletzte Männer; ei nem von ihnen fehlte das halbe Gesicht. Wouter und Arjan waren schockiert. Sie hatten noch nie zuvor offene Wunden gesehen. 112
In Kismayo, etwa dreihundert Kilometer von uns entfernt, waren somalische MSF-Mitarbeiter von Plünderern getötet wor den. Die Milizen von Oberst Omar }esse, einem Verbündeten Aidids, ermordeten ein- bis zweihundert Menschen, die angeb lich General Morgan, Siad Barres Schwiegersohn, die Treue hielten. Das ausländische MSF-Team wie auch die Mitarbeiter anderer Nichtregierungsorganisationen hatten nach Mogadi schu fliehen können. Die Straßen aus Baidoa waren nun alle samt zu unsicher, um befahren zu werden. Clanchef Derir park te seinen Lkw, auf den ein Flakgeschütz montiert war, vor unserer Toreinfahrt und kam zum Tee. »Du wirst nicht sterben, das schwöre ich bei Allah!«, sagte er zu mir. Er kam in Beglei tung einiger kranker Clanmitglieder, die ich behandelte. In die ser Nacht wurde vor den Mauern unserer Niederlassung heftig gekämpft. Derirs Clan wehrte - gemeinsam mit Hurzi, der un sere Wachleute kontrollierte - Plünderer ab und gegnerische Milizen mit schweren Maschinengewehren, RPGs und Flakge schützen. Hurzi kam alle fünfzehn Minuten in unser Zimmer, um
uns zu beruhigen. Wouter, Arjan und ich saßen auf dem
Boden und aßen Zimtröllchen, die unser Koch Mohamed für uns gebacken hatte, damit wir uns » wie zu Hause« fühlten. Die Hilfsorganisationen World V ision, IMC und CARE standen in direktem Kontakt zu den Marinesoldaten. Ihre Angaben dar über, wann die Amerikaner in Baidoa ankommen würden, wi dersprachen den Informationen, die Jules von amerikanischen Offizieren in Amsterdam und von MSF-Mitarbeitern in Mogadi schu erhalten hatte. Wir hatten nicht um eine militärische In tervention gebeten, im Gegensatz zu vielen anderen Nichtre gierungsorganisationen, und sie lieferten den amerikanischen Streitkräften jetzt strategische Informationen, um ihnen den
Einfall im Land zu erleichtern. Jedes Gerücht, jeder BBC-Bericht entfachte die Stammesfehden erneut. Gemeinsam mit unseren somalischen Mitarbeitern setzte ich meine Tätigkeit in den Kli niken fort und ließ mich in sämtliche Ernährungszentren es kortieren, die wir mit unserem Konvoi sicher erreichen konn ten. Zudem kümmerte ich mich weiter Nacht für Nacht um 1 13
mehr als dreißig Wachleute und ihre Familienangehörigen. Die
mittag erneut Schusswechsd vor unserem Gebäude. Haben Hinweise erhalten,
Plünderungen gingen weiter, und Mohamed servierte Gin und
dass heute Nacht bei uns geplündert werden soll. Habe heute über Satelliten
Cola
Tdefon mit Medien in Amsterdam und Toronto gesprochen. BBC meldet, die
zu
unseren allabendlichen Zimtröllchen.
Überall in der Stadt kam es zu Spannungen. Einige unserer
amerikanischen Marines in Mogadischu hätten Schwierigkeiten bei dem Ver
Wachmänner waren wütend, weil wir mehrere ihrer Kamera
such, Clans zu entwcJffnen. Außerdem war ein Fahrzeug der os-amerikanischen
den gefeuert hatten, nachdem unser Safe ausgeraubt worden
Botschaft geplündert worden. NGO sprechen neuerdings von >Mogo-Disney<. Laut
war. Sie wussten, dass Lesto die Entscheidung, wer gefeuert
BBC dauert es noch mindestens fünf Tage bis zur Ankunft der Marines in Baidoa.
werden sollte, mitgetragen hatte. Eines Nachts wurde ich von
Unmittelbar nach dieser Mddung Schüsse vor dem MSF-Gebiiude.
Geräuschen im Gebäude wach. Hurzi kam mich holen. Ich
Tags darauf übte Ärzte ohne Grenzen offen Kritik an der
ging hinaus und sah Lesto auf einem weißen Plastikstuhl sitzen.
Vorgehensweise der Amerikaner. Die Lage außerhalb von Mo
Ein Wachmann hielt ihm eine Maschinenpistole an den Kopf,
gadischu hatte sich mit der Ankündigung der ausländischen
während weitere Wachleute auf ihn ein brüllten. Die Wachleute
Truppen eher verschlimmert. In dieser Nacht luden wir Vertre
dachten, Lesto habe Ärzte ohne Grenzen für ein paar neue Ma
ter von Nichtregierungsorganisationen, Stammesälteste und
tratzen, die Wouter ihn fiir die Wachen hatte kaufen lassen,
Clanchefs in unsere Niederlassung ein, um mit ihnen gemein
pro Stück zweihundertsechzig Dollar berechnet. Sie hatten die
sam nach Lösungen zu suchen, mit der Gewalt umzugehen.
Währungen durcheinandergebracht. Lesto hatte zweihundert
Während wir uns trafen, wurde draußen heftig geschossen.
sechzigtausend somalische Schillinge zig Dollar
beziehungsweise sech
Nach einem ausführlichen Gespräch er.k:lärten Älteste und Clan
für alle neuen Matratzen berechnet. Ich klärte das
chefs : »Wir haben die Pflicht, euch zu beschützen«, und be
Missverständnis auf und sagte, wir würden zwei Matratzen fUr
schlossen, eine Polizeitruppe zu stellen, während wir auf das
die Bequemlichkeit eines jeden Wachmanns kaufen. Daraufhin
Kommen der Amerikaner warteten. Einige Nichtregierungsor
ließen sie Lesto los.
ganisationen waren skeptisch, doch weil es keine Alternative
Am 1 1 . Dezember, um 2 3 . 30 Uhr, notierte ich das Folgende
gab, wollten wir die Probe aufs Exempel machen. In den dar
in meinem Tagebuch: MSF-Mitarbeiter haben 86o Patienten in den Klini
auffolgenden Tagen kamen weniger KampfWagen aus Mogadi
ken, Tausende in den Ernährungszentren behandelt. Anzahl ist heute gesunken,
schu, während nahezu stündlich ein Flugzeug landete. »Was
weil am Nachmittag in Klinik 2 eine Fmu vergewaltigt wurde. Klinik
am
soll das werden? Wollen sie uns bombardieren?«, fragte Lesto.
Vormittag wegen Schießerei geschlossen, erst am Nochmittag wieder geöffnet.
»Wie viele Unschuldige werden sie töten? Damit ändern sie gar
Mitarbeiter arbeiten schwer, sind müde und befürchten Ausbrüche von Gewalt,
nichts!« Die Polizei holte ein gestohlenes Fahrzeug des Roten
1
weil Banditen vor Amerikanern aus Mogadischu fliehen. In und um Boidoo
Kreuzes zurück: »Ein kleiner Stein des Triumphes für das neue
verhungern noch immer täglich Hunderte von Menschen. Amerikanische Kampf
Haus, das wir bauen«, sagte ein Stammesältester zu mir. Der
j ets
fliegen mittlerweile fast im Stundentakt über die Stadt. Trotzdem hat sich
Vorsitzende des Ältestenrats ging in das Gebäude von CARE, um
nichts geändert. Das Rote Kreuz wurde gestern Nacht geplündert und CARE
einen schwerbewaffneten Heckenschützen auf dem Dach zu
International angegriffen
sechs Wachleute kamen ums Leben, als Kampfwagen
Mauer durchbrach. CARE lässt Schützenlöcher um ihre Niederlassung gmben.
überreden, herunterzukommen. Der Mann galt als »Rambo«
und schoss von seiner Position aus auf Passanten.
Falmeug der irischen Hilfsorgonisation GOAL auf dem Markt beschossen und
Dennoch kam es weiterhin zu Plünderungen und Schuss
geplündert. Tmnsportfahrzeug in Menschenmenge gerast, als Banden aneinander
wechseln, vor allem nachts, wenn wir hinter unserer schwer
gerieten. Sechs Milizionäre getötet, fünfzig Umstehende erschossen. Am Nach-
hewachten Betonmauer Zimtröllchen aßen. Tagsüber setzten
1 14
1 15
wir unsere Fahrten im Konvoi zu den Kliniken fort, allerdings ohne Lesto. Noch immer drängten sich Patienten zu Hunderten in den Ernährungszentren, und Dutzende standen vor den Kli niken Schlange, viele von ihnen halb verhungert. In einer Kli
nik bat mich Laughi, ein Mitarbeiter, nach einer alten Frau zu sehen, die in der Ecke des Untersuchungszimmers lag. Ihre Tochter zog die Decke zurecht, die Laughi ihr fiir die Mutter gegeben hatte. Ich härte den letzten Herzschlag der alten Frau. Die Augen weit aufgerissen, holte sie noch ein paarmal Luft. was durch mein Stethoskop klang wie Flügelfiattern. Die Toch ter bedeckte das Gesicht ihrer Mutter und ging hinaus. Auf dem Rückweg von der Bay Camp Klinik hielt Hurzi den Wagen an. Vor dem Friedhof, auf dem mitderweile zigtausend Tote in seichten Gräbern verscharrt lagen, spielten einige Kin der mit einem toten Vogel, und Hurzi schenkte ihnen einen Fußball. Die Kinder lachten, und ich schwitzte in der heißen Sonne. Während meiner allabendlichen Sprechstunde kam Adan Hussein vom Waisenhaus kurz mit ein paar Süßigkeiten vorbei, um sicherzugehen, dass wir uns »trotz der vielen Probleme in Baidoa« willkommen fühlten. Ein Stammesältester sagte mir, auf einem verlassenen Flugplatz vor Buurhakaba seien arnerikani sche Soldaten gesichtet worden. In dieser Nacht berichtete Voice of America von einem »militärischen Erfolg«; nicht weit von Baidoa sei ein Rollfeld erobert worden. Amerikanische Flugzeu ge warfen Millionen von Flugblättern ab, die wie ein Heuschre ckenschwarm vom Himmel schwebten. Auf diesen Flugblättern waren ein amerikaDiseher Soldat und ein Somalier gezeichnet, die einander die Hand schüttelten. Unter der Zeichnung stand auf Somali die Botschaft: »Wir kommen in Frieden«. Ein Stam mesältester sagte mir, der Satz enthalte Rechtschreibfehler. Plötz lich tauchten überall Journalisten auf, und mit ihrer Ankunft schnellten die Preise für Treibstoff und Sicherheit sprunghaft in die Höhe. Einige Medienleute blieben in unserer Niederlassung, die als die sicherste in der ganzen Stadt galt. Am 1 5 . Dezember traf ein amerikanischer Gesandter in Bain6
doa ein und teilte uns mit, dass bald Truppen hier sein würden. Den Stammesältesten wurde versichert, dass die Marinesolda ten die Clans entwaffnen und ihre Kampfwagen beschlagnah men würden. Clanchef Derir wollte seinen Lkw mit dem auf montierten Flakgeschütz nicht hergeben, weil er befürchtete,
ihn erneut zu brauchen, sobald die Amerikaner abgezogen wä ren. Er beschloss daher, ihn zu verstecken, wollte aber auf kei nen Fall den Eindruck erwecken, dass er sein Versprechen, für unsere Sicherheit zu sorgen, nicht einhalten werde. Wir einig ten uns deshalb darauf, dass er uns mit Bazookas und RPGS von den benachbarten Dächern aus beschützen würde, bis die Amerikaner kamen. Arjan, Wouter und ich waren erschöpft, und ich war nicht sicher, wie lange ich noch durchhalten konnte. Am 1 6 . Dezember schreckte ich um fünf Uhr früh aus dem Schlaf, weil mein Bett wackelte. Das Moskitonetz über mir flat terte wie ein Vorhang im Sturm. Ich sah aus dem Fenster. Ein schwarzer Kampfhubschrauber schwebte über dem Gebäude und wirbelte den Staub auf. Er flog ohne Scheinwerfer, und ich
sah nur seine Silhouette im Nachthimmel, an dem die letzten Sterne funkelten. Ich sprang in meine Hose und ging vor die
Tür. Kinder tanzten vor Freude. Erwachsene klatschten in die Hände und fielen einander in die Arme. Hunderte säumten die Straßen, als mindestens zwanzig F- 14-Kampfjets über der Stadt in Formation Achter flogen. Unter ihnen flogen Cobras und andere Hubschrauber Zickzackmuster und schwebten über den Niederlassungen des Roten Kreuzes und anderer Hilfsorganisa tionen. Die Kraft der Rotoren durchbebte meinen Körper; den Jubel der Menschen konnte ich mehr sehen als hören. Draußen
auf der Straße fuhren amerikanische Panzer, APC-Truppentrans porter und geländegängige Mehrzweckfahrzeuge, sogenannte Humvees, in Richtung Innenstadt. Marinesoldaten mit Oakley Sonnenbrillen und festgezurrten Helmen, Panzerwesten, Split terschutzwesten und kriegsbemalten Gesichtern bewegten sich
im Jubel der Menschen von Gebäude zu Gebäude. Einige Solda1 17
ten lächelten und winkten den Leuten zu. Es war wie ein
antwortete der Colonel : »Seien Sie unbesorgt. Wir begleiten die
Schauspiel. Die letzten amerikanischen Fahrzeuge, die uns pas
humanitären Helfer zu den Einsatzorten, und wenn die bösen Jungs aus den Büschen kommen, müssen sie sich auf etwas
sierten, wurden von einigen Jeeps der französischen Fremden legion flankiert, mit aufmontierten Maschinengewehren. Die
gefasst machen. « Nach der Konferenz wurden die Amerikaner
Fremdenlegionäre trugen leichte Uniformen, Halstücher und
in einem ihrer Lastwagen gefilmt, wie sie Lebensmittel zu ei
Vuarnet-Sonnenbrillen. Von diesen Soldaten lächelte keiner,
nem Waisenhaus transportierten. Etwa hundert bis an die Zähne
und einige hatten die Ärmel von den Uniformen gerissen. Ich
bewaffnete Marinesoldaten in einem Militärkonvoi begleiteten
wandte mich zu Lesto um und sagte: »Endlich sind sie da. Ob
sie.
sie es wohl schaffen?« »Die Amerikaner?«, erwiderte er. »Wir werden sehen. Sie
Bei einer zweiten Besprechung später am Tag lachte Hellmer über die »nervtötenden« Medien und entschuldigte sich, als
mögen keine Leichensäcke. Aber die Fremdenlegionäre? Die
ein Mitarbeiter des Waisenhauses ihn darauf aufmerksam
verarscht keiner. «
machte, dass seine Soldaten vergessen hätten, die Lebensmittel
An diesem Morgen berieten sich die Amerikaner mit den
auszuladen, nachdem die Fotografen und Filmleute ihre Auf
Nichtregierungsorganisationen im Gebäude des International
nahmen im Kasten hatten. Während dieses Treffens kam es vor
Medical Corps. Es war ein MedienspektakeL ABC, CNN, NBC und
unserem Lagerhaus zu einer Schießerei. Arjan funkte Wouter
weitere amerikanische und europäische Nachrichtenübermitt
an, der wiederum Hellmer Bescheid gab. Binnen fünf Minuten
ler und Presseleute waren zugegen. Einer der Entwicklungshel
schwebte ein Cobra-Kampfhubschrauber über uns, und drei
fer meinte zu mir, auf jeden Marinesoldat in Baidoa komme
schwerbewaffnete amerikanische Humvees hielten vor unserer
mindestens ein Journalist. Oberst Werner Hellmer von den Ma
Niederlassung. Die Stammesältesten, unsere Wachleute und die
rines leitete die Konferenz. Er war ein untersetzter Mann Mitte
Nachbarn waren beeindruckt. Ich fuhr mit Hurzi zu sämtlichen
vierzig mit festem Kinn, hochgekrempelten Ärmeln und gewal
Kliniken. Die Banditen mit ihren Kampfwagen waren in entle
tigen Muskeln. Er ließ uns wissen, dass unsere Wachleute vor
gene Dörfer verschwunden. Niemand trug mehr offen eine
läufig ihre Waffen behalten dürften, aber nur innerhalb der
Waffe. Unsere Mitarbeiter und Patienten waren begeistert.
Fahrzeuge. Aufmontierte Maschinengewehre, RPGS und sonstige
»Jetzt haben wir eine Chance, ein neues Somalia aufzubauen«,
Waffen wären verboten und würden als »feindselig« angesehen
sagte Laughi.
werden. Ob man sämtliche Waffen beschlagnahmen würde,
Tags darauf begab ich mich zu dem provisorischen Kranken
blieb unklar. Hellmer sagte uns, seine Streitkräfte würden zu
haus, das wir errichtet hatten und das nie geplündert worden
nächst Baidoa absichern und dann australischen Soldaten das
war, obwohl nun statt der Patienten Vorräte darin lagerten.
Feld räumen, die einer aus achtundzwanzig Nationalitäten be
Nicht eine Decke oder Tablette fehlte. Unsere Wachleute hatten
stehenden UN-Friedenstruppe in Somalia angehörten. Sobald
gute Arbeit geleistet. Es kam zwar noch immer gelegentlich zu
die Hilfsorganisationen gesichert wären, wollten die Amerika
Schießereien in der Stadt, aber die Amerikaner reagierten
ner wieder abrücken. »Spätestens Mitte Januar« , sagte er.
schnell, ohne auch nur einen Schuss abzugeben. Fast stündlich
Hellmer fragte uns, was uns in puncto Sicherheit am meisten
landeten C- 1 3 0 Hercules auf der mittlerweile schwerbewachten
beschäftige. Einige nannten gewisse Gegenden in der Stadt, die
Rollbahn Baidoa. Sie brachten Lebensmittel und militärische
besonders getahrlich waren, und Wouter erzählte ihm von den
Ausrüstung.
Banden an der Straße nach Buurhakaba. Nach kurzem Zögern 118
In dieser Nacht, während Cobra-Kampfhubschrauber über 119
unserem Gelände schwebten, beendeten Hurzi und ich die abendliche Sprechstunde, weil unsere Wachleute mit den Män nern von Clanchef Derir tanzen wollten. Wouter, Arjan und ich betranken uns mächtig. Tags darauf, noch vor dem Frühstück, kam eine Delegation von Stammesältesten aus Buurhakaba mit Geschenken, um uns für die Versorgungsgüter zu danken, die wir in den vergangeneu Wochen an sie verteilt hatten. Wir soll ten so bald wie möglich wiederkommen, »weil noch immer viele Menschen hungerten«. Vor den Toren zu unserer Nieder lassung hatten zwei fünf- oder sechsjährige Mädchen einen Stand aufgestellt und verkauften lächelnd einzelne Zigaretten, Tee, Süßigkeiten, gekochte Eier und rote Plastiktassen aus den Versorgungszentren. An diesem Morgen fuhren einige von uns zum Flugplatz, um unsere ausländischen Mitarbeiter zu begrü ßen, die zurückkamen. Als wir den Flugplatz erreichten, waren unsere Fahrzeuge vollbesetzt mit Leuten, die wir unterwegs aufgelesen hatten. Binnen Stunden waren sämtliche Kliniken und Ernährungszentren wieder betriebsfähig. Schon am darauf folgenden Morgen konnten wir das Behelfskrankenhaus eröff nen. Am Nachmittag nahm ich an einer Besprechung mit den Nichtregierungsorganisationen, mehreren Vertretern der Ver einten Nationen, Colonel Hellmer und Donald Teitelbaum teil, einem Verbindungsoffizier des Außenministeriums, der für kulturelle Angelegenheiten zuständig war und angeblich auch für die CIA arbeitete. Teitelbaum sagte, die USA wünschten sich ein Verhältniswahlsystem für die Clans in einem politischen Komitee Baidoa. Ein Vertreter von UNICEF, der seit vielen Jahren in Somalia gearbeitet hatte, sagte, ein solches System werde der Clanstruktur und den komplexen Bündnissen nicht gerecht, die seit Jahrhunderten in diversen Regionen des Landes existierten. Die Bemerkung schien die Amerikaner aus dem Konzept ge worfen zu haben, und John Marks, ein Vertreter der Operation der Vereinten Nationen in Somalia UNOSOM, schlug vor, die Diskussion zu vertagen. Am Ende waren sich alle Gesprächsteil nehmer einig, dass die Situation kompliziert war und sorgfcilti1 20
ger Überlegungen bedurfte. Die Stammesältesten und Clan chefs waren nicht eingeladen worden. Im Hotel Bakiin am Stadtrand, wo die vielen Journalisten
übernachteten, die vom Einmarsch der Amerikaner berichtet hatten, besuchte ich einen italienischen Reporter, der an Mala ria erkrankt war und den ich tags zuvor behandelt hatte. Die Techniker des NBC-Teams packten ihre Satellitenausrüstung zu sammen, um zum nächsten Einsatzort nach Kismayo zu fahren. Nur der kranke Italiener blieb zurück. In Baidoa war das Medi enspektakel vorbei. Später am Nachmittag ließen Lesto und die Stammesältesten drei Kamele und mehrere Ziegen schlachten, um den »neuen Frieden«
zu
feiern. John Marks, Vorsitzender der Somali Natio
nal Association, Wouter und die Leiter anderer Hilfsorganisa tionen hielten allesamt Reden vor den vielen hundert Men schen, die sich versammelt hatten, um Reis und Fleisch zu essen. Ich bekam frische Kamelmilch zu trinken und erhielt das erste Stück von der besten Ziegenleber. Die Ziege war wohl schon ein wenig altersschwach gewesen. Ich aß sie trotzdem. Die Milch schmeckte mir besser. Während wir feierten, wurde auf der anderen Straßenseite Clanchef Derirs Lkw samt Flakge schütz von den Amerikanern beschlagnahmt. In der Nacht feierten Clanchefs und Stammesälteste in unse rer Straße ihr Befreiungsfest, wie sie es nannten. Es war grandi os. Viele hundert Menschen waren gekommen, um traditionel le somalische Gesänge und Kriegstänze vorzuführen; Frauen
und Kinder gaben zudem spannende Skits zum Besten. Lieder und Gedichte sind fester Bestandteil von Somalias mündlich überlieferter Kultur, ihre Sänger und Poeten genießen ein hohes Ansehen. Die besten Poeten traten auf und trugen vor einer hingerissenen Menge ihre Gedichte vor, die von Siad Barre handelten, den Kämpfen der vergangeneu drei Jahre, von Ärzte ohne Grenzen in Baidoa, von Plünderern und von Würde und
Mut; und stets priesen sie Allah und den »Neuen Frieden«. Am darauffolgenden Morgen bestieg ich eine C- 1 3 0 und flog zu einem Hotel in Mombasa. Drei Tage lang schlief ich tief und
121
fest und bestellte mir die Mahlzeiten auf mein Zimmer, das ich nur zweimal verließ, um mir Zeitungen und Zigaretten zu ho len. Die Amerikaner und andere Friedenstruppen waren mitt lerweile in acht größeren Städten im Land zugegen, und ihre Anwesenheit allein war so ehrfurchteinflößend, dass sie nur zweimal das Feuer eröffuet hatten. Weitere sechs Kampfwagen, die die Milizen in Baidoa versteckt hatten, waren beschlag nahmt worden. Mitarbeiter vom Roten Kreuz und von UNICEF
waren e s keine fünfzig mehr. Wir konnten eine Impfkampagne gegen Masern durchführen. Die Kliniken waren allesamt be triebsbereit, während das Rote Kreuz und CARE die Ernährungs zentren in den umliegenden Dörfern mit Nahrungsmitteln versorgten. Rick Price hatte zwischen den Mitarbeitern der Nichtregierungsorganisationen und mehreren Teams vor Ort eine Fußballmeisterschaft organisiert. Die australische Friedens truppe hatte ihren ersten Aufklärungstrupp nach Baidoa ge
beschworen die Amerikaner, auch ins Landesinnere vorzudrin
schickt, um allmählich die Aufgaben der Amerikaner zu über
gen, wo die Warlords weitere Kampfwagen versteckt hätten.
nehmen. In Mogadischu und den übrigen Landesteilen traten
Sean Devereux von UNICEF drängte die Soldaten, in Kismayo
Truppen aus vierundzwanzig Ländern an die Stelle der Ameri
auszuschwärmen, das einmal der Warlord Colonel Jess mit sei
kaner. UNOSOM verteilte Saatgut. Die Organisation hatte Schulen
nen fünftausend Mann unter Kontrolle hatte. Jess' Miliz zog
in Mogadischu eröffnet und plante weitere Schulen im ganzen
mittlerweile plündernd durch die Dörfer.
Land. Es war noch immer nicht klar, wer die politische Zukunft
Ich kehrte an Heiligabend wieder nach Baidoa zurück und hielt die Stellung, während Wouter und Arjan für eine Woche
Somalias bestimmen würde
die Amerikaner oder
UNOSOM.
Irgendjemand musste jedenfalls das Ruder übernehmen.
Urlaub machten. Die Arbeit ging weiter, mit einem Tag Pause
Wouter kam aus den Weihnachtsferien zurück. Für mich war
zu Weihnachten, während Marinesoldaten in der Stadt auf Pa
es an der Zeit, nach Hause zu fliegen. In den folgenden Tagen
trouille gingen und über uns Kampfhubschrauber schwebten.
bereitete ich mich auf den Rückflug nach Amsterdam vor. Von
Am Neuj ahrstag besuchte George Bush senior Baidoa. Ich war
dort aus würde ich nach Toronto weiterreisen. Ich verabschie
einer der Entwicklungshelfer, die ihn unter strengen Sicher
dete mich von Adan Hussein, den Clanchefs und Stammesältes
heitsvorkehrungen in einer Schule im Stadtzentrum trafen. Er
ten, die ich kannte, von unseren einheimischen Mitarbeitern,
fragte mich, ob sich die Sicherheitslage verbessert habe, seit
den Wachleuten und den Kollegen aus dem Ausland und fuhr
die amerikanischen Soldaten im Land seien. Ich bejahte. Später,
ein letztes Mal nach Buurhakaba. Isaq besuchte an diesem Tag
auf einer Pressekonferenz, sagte Bush: »Wir dürfen das somali
mit einer Gruppe von Männern sein Dorf. Als wir aus der Stadt
sche Volk nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Wir wer
fuhren, sah ich eine Schar Kinder vergnügt in der Sonne in
den unsere Mission erfüllen und für Frieden im Land sorgen.
einem Wasserloch planschen. Wir machten kurz Halt, um ein
Die Hoffnung kehrt zurück.« Einen Tag, nachdem Bush Baidoa verlassen hatte, feierten wir auf dem Gelände der Hilfsorganisa tion Irish Cancern einen Gedenkgottesdienst zu Ehren des Ent wicklungshelfers Sean Devereux von UNICEF, der am Morgen vor seinem Büro in Kismayo von den eigenen Sicherheitsleuten
paar Kamele zu fotografieren. Auf den Feldern sangen Bauern. Es sei das erste Mal in drei Jahren, meinte Hurzi, dass er seine Landsleute wieder auf den Feldern singen höre. Ich musste mich von Lesto und Hurzi verabschieden. Was soll man zu den Menschen sagen, die einem das Leben gerettet haben? Man
erschossen worden war; angeblich waren sie Anhänger der Mi
kann sich nur aufrichtig bedanken. Ich verließ Baidoa am ? . Ja
liz von Oberst Jess.
nuar.
Im September 1992 waren in Baidoa noch tausendsiebenhun
Ich verbrachte eine Woche bei Jules in Amsterdam, um ihm
dert Tote pro Woche zu beklagen gewesen. Anfang Januar 1 993
Ineine Eindrücke aus Baidoa zu schildern. Bevor ich nach To-
122
ronto weiterreiste, traf ich Michel Lotrowska, einen Logistik
Der drei Jahre währende Bürgerkrieg in Somalia war von Ope
Experten von Ärzte ohne Grenzen, der eben aus Monrovia zu
ration Restore Hope zwar eingedämmt worden, aber keines
rückgekehrt war. Der Bürgerkrieg in Liberia war brutal; es
wegs ausgestanden. Als die Amerikaner dort ankamen, wurde
herrschten Hunger und Krankheit. Tausende Zivilisten waren
nie endgültig geklärt, ob sie die Warlords nur einschüchtern
ums Leben gekommen, Hunderttausende auf der Flucht. Im
oder auch wirklich entwaffnen würden. Zu Beginn funktionier
Gegensatz zu Somalia erhielt Liberia wenig Medienaufmerk im Land.
te die Einschüchterungstaktik, und in Baidoa und anderswo wurden auch Waffen beschlagnahmt. Ende Januar 1993 verhin
>>Weil ich etwas tun konnte, um den Menschen zu helfen«,
derten die Amerikaner einen Angriff auf amerikanische und belgisehe Streitkräfte in Kismayo. Belgisehe Truppen blieben im
antwortete Michel, ohne zu zögern. Nach kurzer Pause fuhr er
Land und erlaubten es den Streitkräften von Siad Barres Schwie
sarnkeit, außerdem waren keine
UN-Friedenstruppen
»Warum bist du geblieben ?«, fragte ich.
fort: »Und ist man erst einmal dort, hat man keine andere
gersohn, die Stadt zu besetzen. Einen Monat später kam es in
Wahl.«
Mogadischu zu einer Rebellion gegen die Friedenstruppen und
»Ich weiß, was du meinst«, antwortete ich.
gegen sämtliche Hilfsorganisationen, die wie CARE die Interven tion gewollt hatten. Bei erbitterten Kämpfen zwischen us-Streit
Ich kehrte in meine Praxis nördlich von Toronto zurück. Eine
kräften und einigen tausend Aufständischen kamen binnen vier
meiner Patientinnen kam mit ihrem Baby zu mir, das erst eine
Tagen mehrere Somalier ums Leben, nahezu neunzig wurden
Woche alt war. Ich kannte sie und ihre beiden älteren Kinder
verletzt. Jetzt behaupteten die Amerikaner mit einem Mal, es
gut. Ihr Kleines litt an Milchschorf, weit verbreitet bei Säuglin
sei niemals ihre Absicht gewesen, die Warlords ohne deren Zu
gen und nicht weiter schlimm; außerdem tat sich das Kleine
stimmung zu entwaffnen. Sie wollten ihre Truppen aus Somalia
schwer, an der Brust zu trinken. Als ich den Säugling unter
abziehen.
suchte, musste ich unwillkürlich an die somalischen Kinder
Jede der an der Intervention beteiligten vierundzwanzig Na
denken, die ich vor wenigen Wochen in den Ernährungszen
tionen verfolgte eine eigene Strategie der Entwaffnung, und die
tren behandelt hatte. Weil die Mutter meine Distanziertheit
Durchführung war willkürlich. In Kismayo wurden Ernährungs
spürte, nahm sie mir weinend das Baby weg und drückte es an
zentren geplündert, nachdem die somatischen Wachmänner von
ihre Brust. Ich solle mich gefilligst entscheiden, wo ich sein
belgischen Truppen entwaffnet worden waren. In Baidoa wur
wolle, meinte sie, in Somalia oder in Kanada, und verließ die
den Marinesoldaten zu Zielscheiben somalischer Wegelagerer
Praxis. Ich blieb nachdenklich zurück.
und Heckenschützen. Ein Marinesoldat wurde Mitte Januar ge
Noch am selben Wochenende fuhr ich nach Oka zu Bruder
tötet, ein zweiter bei einem anderen Zwischenfall verwundet.
Benedict. Mich beschäftigte die Frage, inwieweit humanitäre
Im Gegenzug attackierten die Amerikaner mehrere Städte und
Hilfe von Politik zu trennen war, und ich hatte Zweifel, ob ich
Dörfer um Baidoa. Als sie sich Mitte Januar aus Baidoa zurückzo
meine Tätigkeit bei MSF fortsetzen sollte.
gen, wurden patrouillierende Marines von zornigen Jugendli chen mit Steinen beworfen. Ein Mitarbeiter der HUfsorganisati
»Nun, wie es aussieht, solltest du den Sprung wagen«, sagte Benedict. »Vielleicht hast du dich ja schon entschieden. Aber
on Cancern wurde bei einem Raubüberfall auf der Straße von
sieh zu, dass du hin und wieder Luft holen kommst.«
Mogadischu nach Baidoa ermordet, und in Bardera wurde das B.otkreuz-Gebäude ausgeraubt und ein Delegierter ermordet. Insgesamt gelang es den australischen Truppen weitaus bes-
1 24
ser, die Sicherheit in Baidoa zu gewährleisten. Doch selbst in
die ein Kind über einem Feuer hin und her schwangen und
dieser Zeitspanne wurden zwei MSF-Wachleute bei einem
rösteten. In Kismayo erschossen Belgier einen bewaffneten So
Raubüberfall getötet. Bei einer Gelegenheit wurde der Wach
malier, banden seine Leiche an ihren Panzer und schleiften ihn
mann einer MSF-Klinik von einem australischen Soldaten er
durch die Straßen. Ein belgiseher Kampfhubschrauber beschoss
schossen, ein anderes Mal ein australischer Soldat ermordet.
Bauern auf einem Feld. Der Hubschrauber landete, und die Sol
Der Safe in der MSF-Niederlassung wurde erneut von unseren
daten stahlen den Bauern die Wassermelonen. Wenn ein Bauer
eigenen Wachleuten geplündert, nachdem sie den Einsatzleiter
protestierte, wurde er verprügelt. »Du und das Feld, ihr gehört
mit vorgehaltener Waffe gezwungen hatten, ihn zu öffnen. Bis
uns«, hieß es dann. Kinder, die beim Stehlen erwischt wurden,
Anfang März war Baidoa so gefährlich geworden, dass zehn
wurden nicht selten gefesselt und ohne Nahrung und Wasser in
australische Soldaten die Nächte lieber im MSF-Gebäude ver
der sengenden Hitze festgehalten. Ein Kind war in einen Metall
brachten. Eine somalische MSF-Krankenschwester wurde er
container gesperrt worden; nach zwei Tagen wurde es tot ge
mordet. Todesdrohungen, Entführungen ausländischer Helfer
borgen. Immer wieder rasten Blauhelme mit hoher Geschwin
und der Überfall auf die Niederlassung bewirkten, dass Ärzte
digkeit in Menschenansammlungen, töteten dabei mehrere
ohne Grenzen keine andere Wahl hatte als sein Projekt in Bai
Kinder und Erwachsene und verletzten viele. Sie kamen meist
doa aufzugeben. Das Rote Kreuz, das mit ähnlichen Schwierig
ungeschoren davon und brauchten bei den Opfern weder Abbit
keiten zu kämpfen hatte, zog sich vollständig aus Baidoa zu
te noch Schadenersatz zu leisten.
rück.
Am 4· März erschossen kanadische Soldaten im Zuge der so
Im Mai hatte es überall im Land Verbesserungen gegeben,
genannten »Operation Nig-Nog«, wie sie sie scherzhaft nann
was die Lieferung von Lebensmitteln anbelangt, aber viele, be
ten, in der Ortschaft Belet Wayne zwei mutmaßliche Diebe, bei
sonders die Anfälligsten, waren noch immer ohne Nahrung. In
de von hinten: Einem von ihnen hatten sie wie bei einer
Mogadischu hatte die Hälfte der unterernährten Kinder noch
Hinrichtung einen Genickschuss verpasst. Am 1 6 . März wurde
immer keine Nahrung erhalten. Die Sicherheitsbedingungen
ein sechzehnjähriger somalischer Junge, Shidane Omar Arone,
waren schlechter denn je, und die Glaubwürdigkeit der UN
von Soldaten der kanadischen Luftwaffe vor den Augen anderer,
Friedenstruppen unwiderruflich verloren. Die Regeln bezüglich
die tatenlos zusahen, totgeprügelt Am 1 9 . Mai mussten sich
des Einsatzes von Gewalt wurden außerordentlich flexibel ge
zwei Kanadier wegen Mordes verantworten, später wurde ihr
handhabt. In vielen Fällen galten überhaupt keine Regeln. Ame
gesamtes Regiment von der kanadischen Regierung unehren
rikanische Soldaten verprügelten und demütigten die Menschen
haft entlassen. Als die Italiener die Kanadier ablösten, säuberten
an Kontrollpunkten des Militärs und wenn sie ihre Häuser
sie die Umgebung ihres Stützpunkts, indem sie die Obdachlo
durchsuchten. Ein Marinesoldat wurde nach Hause geschickt
sen fortprügelten, die sich dort aufhielten. Mitgliedstaaten der
und auf einen Monatssold verklagt, weil er seinen Raketenwer
Vereinten Nationen trugen die Verantwortung für das Betragen
fer abgefeuert und zwei Jungen verletzt hatte; einer von ihnen
ihrer Soldaten, und die Vereinten Nationen verfügten nicht über
hatte ihm angeblich die Sonnenbrille geklaut.
die nötigen Strukturen, um die Übeltäter nach Hause zu schi
Bei einigen Soldaten lösten rassistische Anwandlungen bruta
cken oder zur Rechenschaft zu ziehen. Es überraschte nicht,
le Verhaltensweisen aus, die dann in einem Klima fast vollständi
dass die fortwährenden Demütigungen und Entgleisungen sei
ger Straffreiheit gediehen. In einem belgischen Camp bei Moga
tens der »Friedensstifter« unter den Somaliern allmählich eine
dischu entstanden »Trophäenfotos« zweier belgiseher Soldaten,
sengende Wut gegen die Blauhelme nährten.
1 26
Der Medienrummel war vorbei, und die Amerikaner standen
nicht i n den Kram passte. Die humanitäre Intervention wurde
kurz davor, ihre Zelte abzubrechen, doch die schwierigen poli
ihm noch mehr verleidet, als der Prozess ohne ihn weiterging. Aidid unternahm vermehrt aggressive Militäraktionen und ließ
tischen Verhältnisse im Land blieben bestehen. Ursprünglich sollte die Verantwortung für die Operation Restore Hope schon Mitte Januar einer starken UNOSOM-Truppe übertragen werden. Doch die Ablösung kam erst Anfang Mai zustande: Die Unified
in Radiosendungen gegen die Vereinten Nationen hetzen, und UNOSOM verlor an Boden. Obwohl der amerikanische Sonder
beauftragte in Somalia, Robert Oakley, immer wieder behaupte
Task Force, kurz UNITAF, eine siebenunddreißigtausend Mann
te, dass »das Problern der Stammesfehden praktisch bewältigt«
starke internationale Einsatztruppe unter us-arnerikanischer
sei, waren die Spannungen in Mogadischu längst auf verbünde
Führung, wurde von einer kleineren Streitmacht abgelöst, be
te dans und Subdans in anderen Gegenden des Landes überge
stehend aus sechzehntausend Friedenssoldaten, die das Land zu
gangen. Als Oakley Somalia verließ, stellte er abschließend fest,
neunzig Prozent abdecken sollten, was zuvor selbst UNITAF
dass »Gewalt ein somatischer Wesenszug« sei. Er gab zu, dass
nicht gelungen war. Aus diesem Grund ließen die USA eine
»man in Mogadischu nicht im Auto herumfahren kann, ohne
viertausend Mann starke schnelle Eingreiftruppe unter eigenem
Gefahr zu l aufen, überfallen zu werden«, behauptete aber
Kommando im Land, um UNOSOM zu unterstützen. Wie mir
gleichzeitig, dass das Unternehmen Restore Hope ein Erfolg
mein Freund Jonathan Brack von Ärzte ohne Grenzen aus So
gewesen sei, weil man sich jetzt wenigstens mit Lebensmitteln
malia berichtete: »Offenbar besteht Clintons Strategie darin,
auf die Straße wagen könne.
mit möglichst wenig Einsatz aus der Sache herauszukommen. Sämtliche
Nichtregierungsorganisationen
überdenken
ihre
Strategie und erstellen ernsthafte Kosten-Nutzen-Analysen.« Im Frühjahr 1 993 hieß es in der britischen Wochenzeitschrift
The Economist, dass den Amerikanern die »verhältnismäßig be
Admiral Howe versuchte, Aidid zu entwaffnen, offenbar in einem vorher vereinbarten Waffentransfer. Am s . Juni, im Zuge eines sorgfaltig geplanten Hinterhalts durch Aidids Anhänger in Mogadischu, kamen vierundzwanzig pakistanische UN-Frie
denssoldaten ums Leben. Binnen zwei Tagen hatte der UN-Si
scheidene Aufgabe«, die Versorgung der Menschen mit HUfsgü
cherheitsrat allen erforderlichen Maßnahmen zugestimmt, um
tern sicherzustellen, gelungen sei; danach hätten sie UNOSOM
Aidid gefangen zu nehmen. Mit Hilfe von Kampfhubschrau
einen »Vergifteten Kelch« gereicht. Die erklärte Absicht von
bern der amerikanischen Rapid Reaction Force und Bodentrup
UNOSOM bestand darin, Somalia, das nach dem Bürgerkrieg in
pen anderer Streitkräfte stürmte UNOSOM arn 1 2 . Juni Aidids
Trümmern lag, beim Wiederaufbau seines wirtschaftlichen, po
mutmaßliches Hauptquartier. Sie hatten jedoch die falsche Ad
litischen und gesellschaftlichen Lebens zu helfen. Zu diesem
resse erwischt und versehendich das Nachbarhaus ins Visier
Zweck fanden Versöhnungsgespräche zwischen Warlords und
genommen. Die Lage in Mogadischu spitzte sich zu, und immer
Stammesältesten statt. Außerdem wurden Anstrengungen un
mehr Menschen demonstrierten gegen die UNOSOM-Streitkräf
ternommen, ein funktionierendes Polizei-und Rechtssystem zu
te, die sich in ihre Stützpunkte zurückzogen und sich auf Hub
errichten und die nötige Versorgungs- und Entwicklungshilfe
schrauberpatrouillen beschränkten. In den darauffolgenden
zu leisten, um einen neuerlichen Kriegsausbruch zu verhin
lagen wurden zwanzig Somalier getötet, als pakistanische Sol
dern. Die Vereinten Nationen hatten den amerikanischen Admi
daten auf Demonstranten feuerten. Am Morgen des 1 7 . Juni lie ferten sich marokkanische Soldaten einen Schusswechsel mit
ral Jonathan Howe zu ihrem Sonderbeauftragten bestimmt. Howe intensivierte die Bemühungen von UNOSOM, die Milizen
Kämpfern Aidids, dessen Scharfschützen sich in einem Kran
vor Ort zu entwaffnen, was Aidid in Mogadischu ganz und gar
kenhaus und den umliegenden Gebäuden verschanzt hatten.
128
1 29
Die marokkanischen Streitkräfte schreckten anfangs davor zu
Länder reduzierten daraufhin ihre Truppenstärke. Ende 1 993
rück, das Krankenhaus zu betreten, in dem sich abgesehen vom
gab es bereits einige positive Signale, zum Beispiel die Grün
Pflegepersonal auch 380 Patienten befanden. Doch dann stürm
dung von Bezirksämtern in einigen Gebieten oder die Wieder
ten nach heftigem Artilleriefeuer und Raketenbeschuss franzö
errichtung von Rechts- und Polizeistrukturen in Mogadischu
sische Soldaten ohne Vorwarnung das Gebäude. Vier marokka
(auch wenn die Stadt durch seine grüne Linie in eine Nord
nische Soldaten und mindestens neun Patienten und andere
und eine Südhälfte geteilt blieb) .
Zivilisten starben. Am 1 2 . Juli initiierte UNOSOM einen Hub
In Kanada hatte ich unterdessen beschlossen, den Sprung zu
schrauberangriff auf das Haus eines hochrangigen Beraters Ai
wagen. Ich war so oft in An1sterdam, dass der Empfangschef
dids, in dem ein vermeintlich konspiratives Treffen stattfand.
im Hotel Srnit bereits meinen Namen kannte und wusste, dass
Es war Vormittag, die Straße entsprechend belebt. Mindestens
ich abends gern ein paar Bierehen trank. Das Büro in Amster
vierundfünfzig Somalier kamen ums Leben, darunter religiöse
darn war der Treffpunkt von MSF-Mitarbeitern aus der ganzen
Führer und Stammesälteste, Frauen und Kinder. Im Haus wur
Welt. Die Projekte der Organisation in Einsatzländern wie An
den keine Waffen gefunden. Eine wütende Menge ermordete
gola, Kolumbien und natürlich auch Somalia boten regelmäßig
vier internationale Journalisten.
Anlass zu Diskussionen. Mein Freund Chris Cushing war in
Ende Juli behauptete Aidid, er vertrete die somalische Nation
Sarajewo angeschossen worden und stellte sich nun die Frage,
gegen den »imperialistischen Aggressor«. Im Gegenzug nannte
ob der Preis für den Einsatz nicht zu hoch war. Jos Nolle, der
der amerikanische Fernsehsender CNN Aidid einen »wahnsinni
in Mosambik tätig gewesen war, vertrat die Ansicht, dass hu
gen Mullah« und somalischen Rebell. Im Laufe des Sommers
manitäres Handeln nur innerhalb eines von allen Seiten respek
kam es zu weiteren Zusammenstößen zwischen Aidid und UNO
tierten unangetasteten Raums möglich sei.
SOM. Am 3. Oktober 1993 , nach einem missglückten Angriff auf
In Baidoa hatten wir fast einhunderttausend Menschenleben
einen politischen Berater Aidids, wurden bei blutigen Straßen
gerettet. Dass die Situation in Somalia sich in den vergangenen
kämpfen achtzehn arnerikanische Militärangehörige und etwa
Monaten so drastisch zugespitzt hatte, schmälerte diese Tatsa
tausend Somalier getötet. Ein amerikanischer Ranger wurde von
che nicht. Der Einsatz lohnte sich auf jeden Fall. und ich wollte
einer wütenden Menge tot durch die Straßen Mogadischus ge
der Organisation Ärzte ohne Grenzen auch in Zukunft meine
schleift. Bis Mitte Oktober hatte UNOSOM vierundsiebzig Män
ganze Kraft zur Verfügung stellen.
ner verloren; die sogenannten »Kollateralschäden« - somalische Zivilisten, die bei den Kämpfen ums Leben gekommen waren beliefen sich auf fünf- bis zehntausend Tote. Nach den Ereignissen des 3. Oktober, die als Schlacht von Mogadischu in die Annalen der Geschichte eingehen sollten, einigte sich UNOSOM mit Aidid auf eine Waffenruhe, und arn 16. November hob der UN-Sicherheitsrat den Befehl auf, Aidid festnehmen zu lassen. Mitte Dezember nahm Aidid an einer Versöhnungskonferenz teil, die in Äthiopien stattfand. Die Re gierung Clinton beschloss, bis zum März 1994 sämtliche ame rikanischen Streitkräfte abzuziehen, und auch einige andere 1 30
131
Afghanistan: Keine Narben, keine Geschichte, kein Leben
vorherzusehen war, verschoben die Nichtregierungsorganisa tionen, die zuvor auf langfristige Entwicklungsarbeit gesetzt hatten, ihren Schwerpunkt.
In einer Konferenz, an der ich Ende des Jahres
1993 teil
nahm , erklärte Barbara McDougall, damals Kanadas Außenmi
nisterin, dass unsere Welt alles andere als perfekt sei, vielmehr geprägt von gefährlichen nationalistischen Bestrebungen, von
Ärzte ohne Grenzen war mittlerweile in zwanzig Kriegsgebieten und in vierzig weiteren Ländern der Dritten Welt im Einsatz. Die Organisation kümmerte sich um Straßenkinder in Brasilien und anderen Ländern Südarnerikas, leistete therapiebegleitende psychologische Betreuung in Asien, betrieb den Aufbau medizi nischer Fachlabors in Kambodscha und sorgte fl.ir die Ausbil dung von deren Personal. Die Notwendigkeit, auf eine steigende Anzahl von Notsituationen zu reagieren, bedeutete 199 3 , dass MSF allmählich an seine Kapazitätsgrenze stieß.
Auch die Vereinten Nationen dehnten ihren Wirkungskreis aus. Nach ihrer Gründung im Jahre 1 945 hatten sie in fiinfund vierzig Jahren, bis zum Ende des Kalten Kriegs, insgesamt vier zehn Friedensmissionen ins Leben gerufen, und in den knapp vier Jahren seitdem schon dreizehn weitere. Jetzt kümmerten sie sich um alles, von der Einhaltung des Waffenstillstandsab kommens in Zypern über die Organisation freier Wahlen in Karnhodscha und EI Salvador bis hin zur Unterstützung der Hilfsaktionen in Bosnien. Nicht nur die UNO veränderte sich. Da wesdiche Regierungen ihre außenpolitischen Ziele von den Entwicklungshilfeprogrammen trennten, schlossen sie einige Botschaften in den Entwicklungsländern und stuften andere zu regionalen Konsulaten herunter. Die Nichtregierungsorganisa tionen, die während des Kalten Kriegs entstanden waren, um auf die Bedürfnisse der Dritten Welt zu reagieren, sahen sich nun mit dem Problem konfrontiert, dass ein Großteil ihrer staatlichen Zuschüsse gekürzt wurde. Der Westen stützte sich in zunehmendem Maße auf humanitäre Nothilfe als Antwort auf eine wachsende Anzahl von Bürgerkriegen in der Welt, und so wurden immer mehr Nothilfeorganisationen finanziert. Wie
Hungersnöten und Menschenrechtsverletzungen. Der Wissen schafder Andre Legault, ebenfalls Teilnehmer der Konferenz, bemerkte, dass das Ende des Kalten Kriegs nicht etwa den Frie den, sondern noch mehr Krieg gebracht habe. Es gebe keine neue Weltordnung, sagte er, sondern lediglich ein wüstes Durcheinander chaotischer Zustände. Ich sprach über die Mili tärintervention und die humanitäre Hilfe in Somalia, kritisierte Schwachpunkte und Missstände, bestand auf der Notwendig keit, militärische und humanitäre Aktionen voneinander zu trennen, und betonte, wie wichtig es sei, dass Hilfsorganisatio nen Zeugnis ablegten von dem, was tatsächlich vor Ort ge schah. Da schlug ein rumänischer General auf den Tisch und schrie: »So etwas ist doch gefährlich! Man muss Teil der inter nationalen Gemeinschaft sein, darf nicht Kritik an ihr üben! «
Ein anderer Wissenschafder stieß sich an meiner scheinbaren Naivität und belehrte mich: »Es gibt immer ein paar faule Äp
fel. Schließlich ist Geld im Spiel. Regierungen engagieren sich nur darm, wenn es ihren eigenen Zwecken dienlich ist. Nur dann sind sie auch bereit, Geld auszugeben.« Am Ende des Jahres hatte ich meine Praxis einem anderen Arzt überlassen. Eine Woche später war ich in Amsterdarn und be reitete mich darauf vor, nach Tibet zu gehen. Ich sollte ein Jahr dort bleiben und für Nomaden in einer entlegenen Gegend
der tibetischen Hochebene ein Programm zur Bekämpfung von Tuberkulose ausarbeiten. Die chinesische Regierung hatte noch keine offizielle Zusage für das Projekt erteilt, und solange sie kein Reisevisum ausstellte, vertrieb ich mir die Wartezeit, in
dem ich für die medizinische Abteilung von Ärzte ohne Gren133
zen einige Forschungen anstellte. Mitte Januar traf ich mich abends mit Jules auf ein paar Bier im Smit Hotel. »Die Sache
sel der Bündnispartner wie Geld oder Waffen. Und beides gab es im Überfluss.
mit Tibet dauert länger als erwartet. Wie wär's, wenn du mir
Kaum hatten Russland und die USA sich aus Afghanistan zu
in Afghanistan aushelfen würdest?«, fragte er. »Wayne Ulrich
rückgezogen, lag das Schicksal des Landes in den Händen derer,
kam vor zwei Tagen dort an und koordiniert nun die Logistik.
die dort bestimmte Interessen verfolgten: Pakistan, Indien,
Er hat alles gut im Griff. Ich brauche noch einen medizinischen
Russland, Iran und China. Offiziell forderte jedes Land die Be
Koordinator. Willst du? Abflug ist morgen.« Ich wusste, dass
endigung des Bürgerkriegs. Inoffiziell packte sich ein jedes
Kabul unter Beschuss stand und dass einhundertfünfzigtausend
Waffen und politische Unterstützung aufs Pferd. Der Bürger
Menschen aus der Hauptstadt geflüchtet waren. Jules meinte:
krieg verschlimmerte sich im Januar 1994, als der Warlord Dos
»Ich schicke dich nicht nach Kabul, sondern nach Dschalala
turn, ein alter Kommunist, sich mit seinem Erzrivalen, dem
bad. Die meisten Zivilisten sind dorthin unterwegs, wie es aus
Theokraten Hekmatyar, zusammentat, um die Warlords Rahba
sieht.« Dschalalabad war über zweihundert Kilometer von Ka
ni und Masud in Kabul zu stürzen. Die Stadt wurde gnadenlos
bul entfernt, und es war mitten im Winter. »Mal sehen, was
bombardiert, auch Krankenhäuser blieben nicht verschont.
wir für die Leute tun können«, sagte Jules.
Ärzte ohne Grenzen verurteilte öffentlich den wahllosen Be
Ich verbrachte den darauffolgenden Morgen in Jules' Büro und las jede Information, die ich kriegen konnte. Der Krieg in
schuss und behandelte weiter die vielen hundert Verletzten in der Stadt.
Afghanistan war ein vergessener Krieg. Die Sowjets waren 1 9 7 9
Jules gab zu, dass der Einsatz in Afghanistan für ausländische
dort einmarschiert und hatten einen kommunistischen Minis
Helfer den Tod bedeuten konnte. Über fünfhundertfünfzig
terpräsidenten eingesetzt. Jimmy Carter benutzte die CIA, um
MSF-Krankenschwestern und Ärzte hatten seit 1 980 in Afghanis
den Dschihad der aufständischen Mudschaheddin zu unterstüt
tan gearbeitet. Ärzte ohne Grenzen war eine der wenigen
zen, der binnen zehn Jahren den Kommunismus besiegte. Ne
Nichtregierungsorganisationen, oftmals sogar die einzige, die
ben den USA unterstützten auch China, Saudi-Arabien und Pa
dort während der sowjetischen Besatzung medizinische Hilfe
kistan die Mudschaheddin. Die Sowjets zogen sich im Februar
geleistet hatte. Trotz dieses soliden humanitären Engagements
1989 aus Afghanistan zurück, wobei sie eineinhalb Millionen
war 1990 ein MSF-Logistiker ermordet worden, woraufhin der
Tote und ein in Schutt und Asche liegendes Land hinterließen.
Verband sich bis zum April 1992 aus dem Land zurückgezogen
Die Regierung von Ministerpräsident Nadschibullah hatte noch
hatte. Die französischen und belgischen MSF-Sektionen hatten
immer die Unterstützung der Russen und hielt an der Macht
seit Jahren in Kabul und Kundus gearbeitet, doch zu Beginn
fest, indem sie sich innerhalb der nunmehr gespaltenen Mud
des Jahres 1994, als die Kämpfe immer erbitterter wurden,
schaheddin Verbündete suchte. Die CIA führte ihren Stellvertre
mussten sie den Großteil des Teams aus Mazar-e-Sharif im Nor
terkrieg über die Mudschaheddin bis zum Dezember 199 1 . Ap
den abziehen. Zwölf Millionen Menschen lebten in Afghanis
ril 1 992 kennzeichnete den Kampfbeginn zwischen den neun
tan, weitere vier Millionen waren nach Pakistan geflüchtet. Das
Fraktionen der Mudschaheddin. Nadschibullah nahm Zuflucht
Niemandsland zwischen den beiden Ländern war zum Zu
im Gebäude der Vereinten Nationen in Kabul. Die Kämpfe ent
fluchtsort für Waffenhändler und Warlords geworden, die den
zündeten sich an ethnischen und sprachlichen Differenzen, die
florierenden Opiumhandel kontrollierten.
die Grundlage bildeten für ein höchst unstetes Flickwerk von
jetzt Hekmatyar und Dosturn vor Ministerpräsident Rabbani in
Bündnissen. Und kaum etwas sorgte so schnell für einen Wech-
Kabul. Es bestand nur eine geringe Gefahr, dass die Kämpfe
134
Pakistan schützte
1 35
sich auf Dschalalabad ausweiten würden, aber, so Jules, »in
»Dann ist e s also ein Flüchtlingslager mit einem Minenfeld
Afghanistan weiß man das nie. Die Sicherheitsregeln dort sind
drurnherum, das die Menschen davon abhält zu fliehen«, sagte
streng und dürfen nicht gebrochen werden.«
ich.
Erst im Jahr davor waren vier Leute, die im Flüchtlingskom missariat der Vereinten Nationen - UNHCR - arbeiteten, in
»Ja, das trifft es wohl eher«, sagte Jules. An diesem Nachmittag rief mich Olivier Barthes, ein franzö
Dschalalabad getötet worden, und man wusste noch immer
sischer MSF-Arzt, über Satellitentelefon an, um mir die medizi
nicht, von wem. Einige verdächtigten arabische Geheimagenten,
nischen Bedürfnisse in den Lagern zu erläutern. Olivier hatte in
die sich gegen jegliche UNO-Präsenz im Land verwehrten, ande
Kabul gearbeitet und war den Flüchtlingen aus der Stadt gefolgt.
re kommunistische Verbündete des früheren Präsidenten. Seit
Ihre Lage war katastrophal. Viele waren auf dem zehntägigen
die Kämpfe in Kabul erneut aufgeflammt waren, waren die Ver
Fußmarsch durch die Berge und wieder zurück erfroren. Die
einten Nationen verständlicherweise nervös und hatten, um ihre
Gruppe hatte keine Fahrzeuge, kein Benzin, kein Vieh und keine
Mitarbeiter aus der Stadt abziehen zu können, eine sechsund
Lebensmittel mehr. »Sie sitzen in der Ödnis vor Dschalalabad
dreißigstündige Waffenruhe ausgehandelt, die am Morgen des
fest, eingeschlossen von Bergen«, sagte Olivier in gebrochenem
8 . Januar begann. Einhundertfünfzigtausend Afghanen nutzten
Englisch. Es seien die Ärmsten der Armen, und außerdem Stadt
diese Waffenruhe zur Flucht. Fünfzigtausend waren in den Nor
menschen, keine Bauern. Sie hätten nur, was sie bei sich trugen.
den geflohen, in die Stadt Charikar, und der Rest hatte sich von
»Im Augenblick benötigen wir Zelte, Decken, Nahrung und
Kabul aus zu Fuß aufgemacht. Die Leute wanderten zweihundert
Benzin. Wayne verhandelt mit den entsprechenden Gremien der
Kilometer durch den Chaiber-Pass nach Peschawar in Pakistan,
UNO«, sagte er mir. Die Vereinten Nationen bemühten sich,
aber zum ersten Mal in der Geschichte des Landes schloss die
mehr Gelder für Dschalalabad zusammenzubekommen, und
pakistanische Regierung die Grenze in Torkham für all jene, die
Ärzte ohne Grenzen sei bereits im Begriff, Decken und Zelte aus
vor dem Krieg Zuflucht suchten.
Depots in Pakistan herüberzuschaffen. Wir einigten uns auf die
Und so mussten hunderttausend Menschen umkehren und
dringlichsten medizinischen Notwendigkeiten: sauberes Wasser
nach Dschalalabad zurückgehen: Auf diese Weise hatten sie in
und Medikamente, um Durchfall und andere Krankheiten zu
zehn Tagen einen dreihundert Kilometer langen Fußmarsch zu
bekämpfen. Wir müssten zudem eine Impfkampagne gegen
rückgelegt. Dschalalabads Schura oder Ältestenrat verweigerte
Masern in die Wege leiten und Vorkehrungen gegen Cholera
ihnen die Rückkehr in die Stadt und verteilte sie auf drei Flücht
treffen. Bevor ich mich zum Flughafen aufmachte, hatte ich eine
lingslager, die sich auf einer kahlen Ebene am Eingang zum
Ladung medizinischer Notfallkoffer nach Peschawar in Pakistan
Chaiber-Pass befanden, zwanzig Kilometer von der Stadt ent
fliegen lassen.
fernt. Die Russen hatten hier einst ihre Panzer stationiert, und
Am späten Nachmittag traf ich mich am Schiphol Airport
so war die Umgebung voller Panzerabwehrminen, die von den
mit Dixon Chanda, einem fünfundvierzigjährigen Wasserver
Mudschaheddin verteilt worden waren.
sorgungstechniker, der seit zwei Jahren für MSF tätig war. Wir
»Das Flüchtlingslager befindet sich in einem Minenfeld?«, fragte ich. »Nicht ganz«, sagte Jules. »Die Lager selbst sind weitgehend
reisten über Zürich nach Karachi und von dort aus weiter nach Peschawar und brachten die zweiundzwanzigstündige Reise ohne Schlaf hinter uns. Wayne holte uns vom Flughafen ab,
geräumt, aber niemand darf die Lagergrenzen überschreiten.
und wir dösten beide auf der Fahrt zum MSF-Gebäude. Annie,
Sie sind nicht zu übersehen. «
eine Logistikerin Mitte vierzig, die seit zwei Jahren das Büro in 137
Peschawar geleitet hatte, führte uns in ein Restaurant. Dr. Kalid,
Steinmauern Wache. Wir befander1 uns auf jahrhundertealtem
ein afghanischer Flüchtling, der für MSF in Peschawar tätig war,
Stammesgebiet, vor Ort als Niemandsland bekannt und, wie
setzte sich zu uns und klärte uns ein wenig über Kultur und
der Fahrer uns wissen ließ, »von keinem Staat regierbar: Hier
Geschichte Afghanistans auf. »In Dschalalabad entscheidet die
herrscht nur das Gesetz der Scharia und der Blutfehden.«
Schura, der Rat der Mudschaheddin, die die Provinz Nangarhar
Die Menschen hier waren stolz, unabhängig und zäh und
kontrollieren. Dieser Ältestenrat besteht erst seit wenigen Mo
wie in Somalia in Clans und Stämme organisiert. Die Männer
naten, und seine Mitglieder sind im Augenblick noch ziemlich
waren wilde Krieger; die Stammesehre galt ihnen mehr als ein
nervös. Als Ärzte aus dem Westen müssen Sie wissen, dass nur
einzelnes Leben; Loyalität und Gastfreundschaft waren ebenso
Ärztinnen gynäkologische Krebsvorsorgeuntersuchungen vor
heilig wie die Blutrache, wenn auch keine Garantie, am Leben
nehmen oder Schwangere untersuchen dürfen.«
zu bleiben. Niemand, nicht einmal die pakistanische Polizei,
Früh am darauffolgenden Morgen brachen wir im Lkw nach
würde sich von dieser Straße wagen, die sich die felsigen Berge
Afghanistan auf. da keine Flugzeuge flogen. Das Gebiet war mit
hinaufwand. Niemand schlief, während wir schwankenden,
Boden-Luft-Raketen der Marke Stinger übersät. Die CIA hatte
vollbesetzten Lastwagen auswichen, die sich mit melodischem
sie vor fast zehn Jahren zum Einsatz gegen russische Kampf
Gehupe bemerkbar machten, ehe sie mit Karacho um die Kur
hubschrauber und Militärtransportflugzeuge ins Land gebracht,
ven preschten.
und sie hatten den Krieg zugunsren der Mudschaheddin ge
Noch immer im Niemandsland, etwa eine Stunde vom
wendet. Jetzt versuchte die CIA, sie für 150 ooo Dollar pro Stück
Grenzübergang bei Torkham entfernt, hielten wir an einem
zurückzukaufen, hatte aber nicht viel Glück. 1994 gab die us
Straßenmarkt Wayne wollte ein paar Vorräte einkaufen, die in
amerikanische Regierung mehr Geld für den Versuch aus, die
Afghanistan nicht erhältlich waren. Tauser�de afghanischer
Stinger-Raketen zurückzukaufen, als für die Finanzierung hu
Flüchtlinge, dazu Einheimische - die Männer bärtig und in
manitärer Maßnahmen in Afghanistan. Im seihen Jahr beer�dete
traditioneller Kleidung, die Frauen im Hidschab oder in der
die amerikanische Behörde USAID ihr humanitäres Hilfspro
Burka -, Ziegen, Falkner und Händler mit ihren vollbeladenen
gramm für Afghanistan.
Karren drängten sich zwischen den gemauerten Ständen mit
Wir begannen unsere sechsstündige Fahrt durch den Nord
ihren Abdeckungen aus Wellblech. Die Sonne stach grell auf
westen Pakistans bis hin zur Grenze auf einer einspurigen Land
der1 spröden Fels und auf uns herunter. Es gab keinerlei Vegeta
straße, auf der jedoch der Verkehr in beide Richtunger1 lief. Die
tion, stattdessen war der Boden von einer hellen Staubschicht
Straße war in schlechtem Zustand, abgesehen von den Schüt
überzogen. Hier konnte man alles kaufen:
AK-4-7,
Raketenwer
zen-Unterständen und Leitplanken, die die Briten zu Beginn
fer,
des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut hatten. Ein gefleckter
Wayne suchte nach Zisternen für die Behandlungszentren, die
Opium,
Wasserpfeifen,
Pumpen
und
Haushaltswaren.
grauer Pilz hatte sich in den dicken Zement gefressen; ansons
wir errichten wollten, nach Stiften, Papier, Regalen und Dosen
ten waren sie in erstklassigem Zustand. Die braunen Berge wa
nahrung. Ein Mann bot mir ein Kilo Haschisch an: »Afghani
ren zerklüftet und bis hinauf zu den schneebedeckten Spitzen
sches Gold - das Beste! Ich mache dir einen guten Preis!«
so kahl wie eine Mondlandschaft Die Abhänge wiesen einige
In Torkham überquerten wir die Grenze in die afghanisehe
Höhler1 auf, und vereinzelt standen Häuser auf der1 Klippen,
Provinz Nangarhar, nachdem nervöse Grenzposten auf pakista
üblicherweise drei- oder vierhundert Meter von der Straße ent
nische r Seite eilfertig unseren Lkw durchsucht hatten. Wayne
fernt. Bewaffnete Männer mit Turbanen hielten auf den dicken
blieb freundlich und zuvorkommend und stempelte unsere 1 39
Pässe selbst ab, während einer der Grenzposten Kerosin für die Lampe holen ging. Kaum waren wir in Afghanistan, wand die Straße sich wie ein Bach, der den Weg des geringsten Wider stands nimmt, den Berg hinunter. Und es war eine überra schend gute Straße, trotz der vielen Jahre Bürgerkrieg. Die Ber ge rings um den Chaiber-Pass waren grandios und unheimlich zugleich. Ich hatte meine Sonnenbrille vergessen und blinzelte in die gleißende Sonne, die von der cremefarbenen Erde re flektiert wurde. In den Hügeln oberhalb der Straße sah ich einzelne Bewaffnete mit Turbanen und in Decken gehüllt über rauchenden Feuerstellen kauern. Sie galten als Meisterschützen, imstande, ein bewegliches Ziel aus über einem halben Kilome ter Entfernung mit einem einzigen Schuss zu treffen. Ich brauchte nur gute zwei Stunden, um die hundert Kilo meter von der Grenze bis zum Stadtrand von Dschalalabad zu rückzulegen, eine kahle Ebene innerhalb verschlungener Ge birgsketten. Etwa fünfunddreißigtausend Menschen saßen in der kalten Wüste. Viele tausend waren in bereits bestehende Flüchtlingslager aufgenommen worden. Die Vereinten Natio nen waren gerade im Begriff, dieses neue Lager auszustatten, das schon als Sarshahi bekannt war. Es war später Nachmittag, und die kalte Nachtluft brach herein. Achtzig schnurgerade Reihen aus je fünfundzwanzig Zelten waren errichtet worden, von denen ein jedes etwa sieben bis acht Menschen fasste. Tau senden standen keine Zelte zur Verfügung, und Männer und Burschen hoben Gruben aus und häuften die steinige Erde auf, Schutzwälle gegen den eisigen Wind. In der Nacht davor waren zwanzig Menschen erfroren. Die Frauen trugen zwei oder drei Wintermäntel übereinander und schleppten Töpfe, Taschen und Kinder zu nummerierten Parzellen, die durch Pflöcke im Boden gekennzeichnet waren.
Bärtige Mä.nner trugen die
schwereren Gegenstände, die in Tischtücher, Laken und Schals gewickelt waren. Die Kinder hatten drei oder vier Schichten Kleidung übereinander an und schoben Schubkarren und Fahr räder, die mit Matratzen und kleineren Haushaltswaren beladen waren. Einige litten bereits an Durchfall, weil sie unterwegs
kontaminiertes Wasser getrunken hatten; alle waren mager, fro ren und fiihlten sich elend, und die meisten, sogar die Kinder, h atten einen harten Gesichtsausdruck. Einige hatten grünblaue Augen und waren mit die schönsten Menschen, die ich jemals gesehen hatte. Auf einem Erdhügel saß eine Frau. Die Erschöp fung war ihr ins Gesicht geschrieben, und sie drückte ein leb loses Kind an die Brust. Drei weitere Kinder kauerten weinend um sie herum. Eines der Kinder hatte tränende Augen und auf Gesicht und Armen die roten Pusteln der Masern. Ich traf Olivier. Er war um die dreißig, trug eine Nickelbrille im ernsten Gesicht und zeigte sich besorgt wegen der Aussicht, dass sich im Lager Masern und Cholera ausbreiten konnten. In einer dermaßen ausgezehrten, exponierten und gestressten Ansammlung von Menschen konnten diese beiden Krankheiten binnen Wochen Tausende töten. Schon jetzt waren mehrere Gruppen von Kindern an Masern erkrankt. Im vorigen Jahr hat te
UNICEF
in Kabul Impfungen gegen Masern durchgeführt,
wegen des Bürgerkriegs aber nur ein Viertel der Kinder er reicht, also nicht einmal annähernd die neunzig Prozent, die nötig waren, um einen Ausbruch zu verhindern. Es gab keiner lei Möglichkeit, festzustellen, wie viele Kinder im Lager ge impft worden waren. Wir brauchten eine volle Stunde, um die verbleibenden zwan zig Kilometer nach Dschalalabad zurückzulegen. Unterwegs ka men wir an weiteren Menschen vorbei, die aus Kabul geflüchtet waren , an Jungen, die Brot und Früchte verkauften, an vor sich hin rostenden Wracks russischer Panzer und Transportfahrzeu ge, und an den zerstörten Überresten eines Bewässerungssys tems, das von dem Fluss in zwei Kilometern Entfernung gespeist worden war. Die aus etwa vierzigtausend Einwohnern bestehen
de Stadt wimmelte von Autos, Eselskarren und Fußgängern, die sich langsam über die baumlosen, von hohen Mauern gesäum ten Straßen und Gassen bewegten. Frauen, die Schals und Kopf tueber trugen
einige auch Burkas mit groben Gittern vor den
Augen, die ihnen den Ausblick, aber niemandem Einblick ge währten -, gingen mit ihren Kindern hinter bärtigen Männern 141
her. Krüppel und Bettler mengten sich unter die Menschen oder
das UNHCR geschickt hatten. Das Welternährungsprogramm der
hockten am Straßenrand, um nach Geld und Essen Ausschau zu
Vereinten Nationen hatte Probleme mit den Transportwegen
halten. Kleine Kolonnen von Geländewagen und Pick-ups mit
durch Pakistan, war aber zuversichtlich, in den folgenden Ta
bewaffneten Männern darauf mischten sich zwischen die Last
gen ausreichend Lebensmittel ins Land schaffen zu können. Ei
wagen der Händler, die langsam zwischen den bevölkerten
ne norwegische Nichtregierungsorganisation brachte Kerosin
Marktständen hindurchfuhren, welche die Straßen im Stadtzen
und Öfen für die Lager ins Land. Wayne und Dixon konzen
trum säumten. Wir fuhren geradewegs zum UNo-Gelände. Der schroffe Be
trierten sich auf die Wasserversorgung und die Sanitäranlagen, indem sie auf der Kopie einer von Hand gezeichneten Karte
amte, der für die Weltgesundheitsorganisation verantwortlich
des Lagers Sarshahi Stellen für das Ausheben von Latrinen kenn
war, schien regelrecht erpicht darauf zu sein, dass ich mich
zeichneten. Olivier und ich verschafften uns einen Überblick
schriftlich bereit erklärte, die medizinischen Bedürfnisse in den
über die medizinischen Prioritäten. Olivier hatte eine Liste
Lagern abzudecken. Ich begriff sofort, warum die Weltgesund
sämtlicher Personen erstellt, die sich in Sarshahi und in Dscha
heitsorganisation in Afghanistan im Ruf stand, bürokratisch und
lalabad für die Mitarbeit in unseren Kliniken eignen konnten.
ineffektiv zu sein. Ich traf Jeremy, den praktisch veranlagten,
In dieser Nacht schliefen wir im Hotel. Es war so kalt am
freundlichen Mann, der für das Flüchtlingskommissariat der
darauffolgenden Morgen,
Vereinten Nationen (uNHCR) in Dschalalabad verantwortlich
Sprung bekam, als ich heißes Wasser für den Tee hineingoss.
dass meine Porzellantasse
einen
war. »Die Schura will die Leute aus Kabul nicht in die Stadt
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl sein mochte, drei
lassen. Sie fürchten sich vor Guerilla-Angriffen«, sagte er. »Wir
hundert Kilometer in dieser Eiseskälte zu Fuß zurückzulegen.
bemühen uns, das Lager von Minen zu befreien und genügend
Es gelang mir nicht.
Zelte herzukriegen. Wir brauchen euch für das Wasser und die
Bis zum frühen Morgen hatte sich herumgesprochen, dass
Hygiene und die medizinische Versorgung in Sarshahi und den
wir angekommen waren, und so standen schon etwa fünfzig
anderen Lagern.« Das UNHCR sei hier nicht offiziell engagiert,
Menschen vor dem Hotel Pinnar, die Arbeit suchten. Da wir
erklärte Jeremy, da es sich um Binnenvertriebene, nicht um
dringend Dolmetscher benötigten, interviewte ich etwa zwan
Flüchtlinge auf fremdem Boden handelte. Er versicherte mir au
zig junge Männer. Einige sprachen zwar englisch, wenn auch
genzwinkernd, dass das UNHCR Zelte und Ausrüstung in Dscha
eher schlecht als recht, konnten es aber weder lesen noch
lalabad »gelagert« habe und er natürlich machtlos sei, wenn
schreiben. Von denjenigen, die über bessere Sprachkenntnisse
Ärzte ohne Grenzen seine Bestände plündere. »Aber hütet euch
verfügten, waren die meisten noch zu jung, um von der Schura
vor der Schura«, warnte er uns. »Die Burschen stehlen alles.« Wayne versprach uns für den kommenden Tag ein Haus. In
oder bei anderen Treffen ernst genommen zu werden, oder zu eifrig, um von mir ernst genommen zu werden. Wir stellten
der Zwischenzeit gingen wir zum Restaurant des Pinnar Hotel,
dennoch viele dieser jüngeren Männer ein, damit sie uns in
wo uns ein paar schwerbewaffnete Männer argwöhnisch be
den Kliniken zur Hand gingen, die wir demnächst eröffnen
äugten, vor allem den dunkelhäutigen Dixon. »Keine Sorge«,
wollten, aber ich brauchte nach wie vor einen Dolmetscher.
sagte Wayne. »Wir hätten niemals so weit kommen können
Abdul Aziz war ein fünfundsechzigjähriger, kettenrauchender
ohne die Erlaubnis der Schura. Das wissen diese Männer genau
Afghane, der vor der Besatzung durch die Sowjets als Dolmet
so gut wie wir.« Wayne führte die Vorräte auf, die Ärzte ohne Grenzen und
scher an der britischen Botschaft in Kabul gearbeitet hatte. Abdul hinkte und ging an einem Gehstock mit stahlverstärkter Spitze. 1 43
»Ich habe drei Ehefrauen und drei Herzinfarkte hinter mir«.
Krankenhaus in Dschalalabad, hauptsächlich für Opfer von
erzählte er, »und ich habe neun Töchter und zwei tote Söhne.«
Landminen. »Es gibt ungefahr zehn Millionen Landrninen, die
Er hatte einen kurzgeschorenen weißen Bart, hellgrüne Augen
meisten davon aus russischer Fabrikation<<, sagte er, »also
und steile Falten in den Wangen von viel zu vielen Zigaretten.
kommt fast auf jeden Einwohner eine Mine. Meistens trifft es
Er kam in einen Schal g ehüllt und mit der traditionellen Kopfbe
Kinder, wenn sie in den Feldern die Ziegen hüten oder spielen«,
deckung. dem Pakul. Obwohl Arbeit Mangelware war, erkun
erklärte er. »Die Panzerabwehrminen sind tief im Boden einge
digte sich Abdul nach der Bezahlung und ob sie aus Afghani
graben, und reagieren normalerweise nur auf das Gewicht eines
oder Dollar bestehe. »Ein Afghani ist nicht ganz dasselbe wie
schweren Fahrzeugs; ist der Untergrund allerdings sandig, kann
ein Dollar. Für Ersteren bekommst du eine ausgetrocknete Feige,
so gut wie alles sie zum Detonieren bringen. Die Streubomben
für Letzteren ein fettes Kamel, wenn Sie wissen, was ich meine«,
sind in grünes Plastik gehüllt und sehen für die Kinder aus wie
erklärte er lächelnd. Ich versprach ihm pakistanische Rupien.
Schmetterlinge, also greifen sie danach, und dann, nun ja, den
;>Dürre Kamele und fette Feigen sind auch nicht zu verachten«,
Rest können Sie sich ja denken.« Eine britische Nichtregie
erwiderte er. Er redete in einem fort. Er sprach französisch, rus
rungsorganisation arrangierte gemeinsam mit den Vereinten
sisch und Paschtu, und sein Englisch war tadellos. Der Job ge
Nationen eine staatliche Minenräumaktion, aber mit dem ge
hörte ihm, nachdem ich ihm einen Brief diktiert hatte. >;Ich
genwärtigen Tempo würde man zweihundert Jahre brauchen,
werde ihn hundertmal schreiben«, sagte er. »Mit meinem eige
um das Land von Minen zu befreien. Sarshahi wurde gerade
nen Blut, lieber Doktor. Dann haben Sie gleich etwas zum Zu
nach Minen abgesucht, in den vergangenen drei Tagen hatte
sammenflicken.« Als ich ihm sagte, er sei eingestellt, antwortete
man bereits fünfzig Panzerminen gezündet. Er führte uns in den
er: »Ah, zuf'allig stehe ich gerade zur Verfügung.«
Luftschutzbunker. »Jedes Haus hat einen. Ohne kann man hier
Abdul und ich trafen uns mit Dr. Wakali in dessen Büro im
nicht leben«, sagte er. Wir wurden aufgefordert, ihn zu benut
Gesundheitsministerium auf dem dritten Stock der Schwestern
zen, falls es nötig sein sollte, »aber möglichst, bevor die ersten
schule. Der Campus der Universität war in den Kriegsjahren
Schüsse fallen!«
übel beschossen worden, und die Universität selbst war seit
Die Wasserversorgung war ein Problem im Lager Sarshahi.
langem geschlossen. Dr. Wakali stellte uns bereitwillig einen
Wayne hatte zwei Öltanker aufgetrieben und gründlich säubern
Teil seiner Belegschaft zur Verfügung, zumal er wusste, dass
lassen. Nun fuhren sie viermal täglich nach Sarshahi und belie
wir ihnen Löhne bezahlen konnten, die sie normalerweise
ferten das Camp mit siebentausend Iitem gechlorten Flusswas
nicht bekamen. Er gab uns zu verstehen, dass die Hilfsorganisa
sers, die natürlich längst nicht reichten, aber zumindest ein An
tion lslamic Relief Agency Mitarbeiter schicken wolle und die
fang waren. Das Wasser abzuladen, war das nächste Problem. Es
Schura in Dschalalabad es gerne sähe, wenn diese Leute im
gab keine Behälter dafür. Die Menschen füllten Tassen, Eimer
Flüchtlingslager Sarshahi arbeiteten.
und Töpfe an den Tankern, und es entstand ein heilloses Durch
Wir fuhren zum Gebäude des Roten Kreuzes. Der Leiter dort
einander, da zu viele Menschen zu lange miteinander rauften,
misstraute einer Abhängigkeit von den Vereinten Nationen, was
um dann doch nicht genügend Wasser zum Trinken, Kochen
die Koordination der Hilfsleistungen anging, da »sie womög
und Baden zu bekommen. Bis Brunnen gebohrt werden konn
lich das Land verließen«. Er warnte uns auch vor der Schura
ten, würden wir das Wasser in sogenannten Bladder Tanks spei
und riet uns: ;>Es ist besser, der Schura etwas zu zahlen, als
chern, die tags darauf aus Pakistan ankommen sollten.
alles zu verlieren. « Das Rote Kreuz betrieb ein chirurgisches 144
Es gab noch immer nicht genügend Zelte. Einige der fünf-
zigtausend Menschen, die aus Kabul nach Charikar geflüchtet
mit uns zu sprechen. Geoff, Anfang dreißig, machte mit seiner
waren, wanderten jetzt nach Dschalalahad wegen der extremen
warmherzigen, direkten und gründlichen Art großen Eindruck
Kälte im Norden. Die Schura in Dschalalabad hatte beschlossen,
auf Abdul und die übrigen Afghanen, die normalerweise nicht
dass nur Zeltbewohner Lebensmittelrationen erhalten sollten.
leicht zu beeindrucken waren. Geoff erklärte, dass in der Haupt
Jene, die leer ausgingen, konfrontierten die humanitären Hel
stadt noch immer heftig gekämpft werde und es Hunderte von
fer, denen es verboten war, Lebensmittel an sie auszugeben,
Opfern zu beklagen gebe. Ärzte ohne Grenzen ließ per Flugzeug
mit ihrer Wut. Ich traf mich mit der Schura, einer Gruppe von
medizinische Versorgungsgüter und chirurgische Gerätschaften
etwa zwölf älteren Männern, in Sarshahi. Mit Abdul. der als
nach Peschawar schaffen, von wo aus sie auf dem Landweg über
Dolmetscher fungierte, saßen wir im Kreis auf den Decken,
Dschalalabad unsere Teams in Kabul, Kundus und Mazar-e-Sha
die auf den nackten Zeltboden ausgebreitet waren. Alle dreißig
rif erreichten. Sämtliche verfügbaren Ressourcen und Helfer
Minuten etwa detonierten in der Nähe Panzerminen, und der
wurden in Kabul und Mazar-e-Sharif gebraucht, und so vergrö
Luftstoß brachte die Zeltwände zum Flattern. Wir erarbeiteten
ßerte Geoff das Team in Dschalalabad nur ungern. Überdies
eine Möglichkeit, Menschen im Lager zur Mitarbeit zu ver
konnte hier die Sicherheit der Mitarbeiter nicht gewährleistet
pflichten, einschließlich der drei Ärzte dort, einigten uns auf
werden, und die Schura in Dschalalabad war noch nicht stabil.
Verfahren, wie sich Neuerkrankungen überwachen und die To
Geoff erklärte uns die drei wahrscheinlichsten Risiken, die wir
ten zählen ließen. Wir setzten auch klare Prioritäten: Latrinen
eingingen: Die Kämpfe konnten auf Dschalalabad übergreifen;
mussten ausgehoben, Stellen für Wassertanks und Kliniken be
Flüchtlinge aus Kabul konnten gewalttätig werden, wenn die
stimmt und außerdem Kinder davon abgehalten werden, in ein
Verteilung der Lebensmittel nicht verbessert wurde; und Gueril
Minenfeld zu laufen. Mit Hilfe der Versorgungsgüter, die uns
la-Kämpfer aus gegnerischen Fraktionen konnten Dschalalabad
zur Verfügung standen, richteten wir die erste von drei Zeltkli
oder die Lager infiltrieren und die Schura spalten oder entehren.
niken ein. In der vergangeneu Nacht waren erneut zehn Men
Wir sollten während unserer Fahrten sämtliche Scheinwerfer
schen gestorben, außerdem waren weitere sechs Kinder an Ma
einschalten und uns stets von den bewaffneten Männern eskor
sern erkrankt. Aus Kabul waren mehrere tausend Flüchtlinge
tieren lassen, die die Schura uns zur Verfügung stellte. Zwischen
angekommen. Männer suchten nach Unterkünften oder nach
sechs Uhr abends und sechs Uhr morgens hatten wir in unserer
Jobs; Frauen kamen, um ihre Kinder behandeln zu lassen.
Unterkunft zu bleiben, die wir nur verlassen sollten, wenn sie
Wayne hatte unweit des Stadtzentrums ein Haus für uns ge
unter heftigem Beschuss stünde. Er betonte das Wort »heftig«
funden, dessen Eigentümer, ein Mitglied der Schura, uns Leib
und erinnerte uns an die Landrouten nach Pakistan. In dieser
wächter und einen Koch besorgte. Das erste Gericht des Kochs
Nacht erfroren im Lager erneut Menschen.
waren frittierte Erbsen. Ich hielt mich lieber an die gebackenen
Am darauffolgenden Tag hatten wir zwei Kliniken errichtet
Bohnen der Firma Heinz und an die Marsriegel, die wir in Pe
und begannen, eine Belegschaft von vierundzwanzig Personen
schawar gekauft hatten. In der Nacht riefJules mich über Satelli
anzulernen. Mit wenigstens drei weiteren Masernfallen blieb
tentelefon an, weil er Informationen für einen Finanzierungs
die Gefahr einer Epidemie bestehen. Cholera war eine ständige
vorschlag sammelte, den er für die kanadische Regierung vor
Bedrohung. Durchfall, Erschöpfung, Hunger, Atemwegserkran
bereitete. Ärzte ohne Grenzen hatte aus privaten Fonds ge
kungen, Hautentzündungen, geschwollene Knöchel sowie Bla
schöpft, die jedoch allmählich knapp wurden. Geoff Prescott,
sen an den Füßen waren die häufigsten Beschwerden. Bei eini
der MSF-Projektleiter in Afghanistan, kam auch aus Kabul, um
gen Patienten sonderten riesige Blasen Flüssigkeit und Blut ab,
1 47
und die Haut oberhalb der Knöchel war vom Gehen nahezu aufgeweicht. Die meisten schlotterten vor Kälte und saßen schweigend da, während wir ihre Wunden säuberten und ver banden. Nur selten schrie ein Kind auf, wenn ihre Eltern es im Schoß hielten. Zwei Frauen lagen in den Wehen, aber unsere Krankenschwestern waren noch nicht angekommen, und im Camp befanden sich weder Hebammen noch Ärztinnen. Wir ließen die Frauen daher ins Krankenhaus für Frauenheilkunde in Dschalalabad transportieren.
dul meinte, die beiden würden gut unter ein paar Decken auf der Ladefläche passen. Weil der Lkw Teil eines Konvois war, würde er am Grenzübergang nicht durchsucht werden. Am späten Nachmittag trafen Abdul und ich uns mit der Schura in Dschalalabad bei Gouverneur Hadschi Kadir. Das Bü ro wurde streng bewacht. Abdul wurde durchsucht, ich nicht »Du bist hier Gast«, erklärte er mir. Im Inneren saßen etwa fünfzehn ältere Männer in dick gepolsterten Lehnsesseln, tran ken Tee und unterhielten sich flüsternd. Ein imposanter Pfau
Weitere Zelte waren angeliefert worden, aber sie reichten
starrte uns von einer gefliesten, fensterlosen Wand entgegen.
noch immer nicht aus. In der vergangeneu Nacht waren an ei
Kadir war mit Hezb-e-Islami verbündet und somit auch mit
nem militärischen Kontrollpunkt sieben Männer aus dem Lager
Hekmatyar und Dostum. Einige der anwesenden Kommandan
getötet und drei verwundet worden. Sie hatten versucht, sich nach Dschalalabad durchzuschlagen, um sich bei der Schura über die ungerechte Nahrungsverteilung zu beschweren. Jetzt versammelten sich Männer um das Zelt der Vereinten Nationen, und ein britischer UN-Angestellter machte seinem Unmut durch minutenlanges Gebrüll Luft, bis sein Gesicht dunkelrot angelau
ten waren streng islamische Theokraten, die meisten von ihnen mit Kadir verbündet. Andere waren versuchsweise mit Kadir verbündet, konnten aber ohne weiteres zu Rabbani in Kabul überlaufen, wenn sich dies als vorteilhafter erweisen sollte. Kadir hieß mich willkommen, stellte mich den anderen vor und saß dann die restliche Zeit, in der ich anwesend war,
fen war. Sein Dolmetscher war ein kleiner, fröhlicher Mann und
schweigend da. Ich dankte der Schura, dass sie unserer Organi
zufillig Abduls Bruder. Er bewahrte sich sein Lächeln, während
sation erlaubte, in Dschalalabad zu arbeiten, und erklärte den
er zu Boden blickte und das Gebrüll des Briten mit weniger als
Anwesenden unsere Tätigkeit im Camp. Ich äußerte meine Be
fünf Worten übersetzte. Danach herrschte betretenes Schwei
sorgnis, dass Masern und Cholera ausbrechen und auf Dschala
gen, und Abdul flüsterte mir zu: »Der Brite hat sich gründlich
labad übergreifen konnten. Einer der Kommandanten wollte
blamiert und weiß es nicht. Mein Bruder würde am liebsten im
etwas erwidern, und Abdul beugte sich zu mir herüber und
Erdboden versinken.« Lastwagen aus Pakistan, vollbeladen mit
flüsterte: »James, hör mir gut zu. Du musst lächeln, während
Wassertanks, Zelten, Decken und Benzinkanistern, entschärften
ich spreche. Lasse dich zu nichts hinreißen, sag einfach nur,
die Situation. Wir organisierten weiter und engagierten Mitar
dass wir zu einer Einigung kommen müssen. Dieser Mann ist
beiter für die Trinkwasserversorgung, für das Ausheben der La
der größte Mörder und Dieb in ganz Dschalalabad. Siehst du,
trinen und für unsere Kliniken.
wie fett er ist?« Ich lächelte und nickte dem Kommandanten
Als Abdul und ich in unseren Wagen stiegen, bat mich einer
freundlich zu. Er strich sich über den Bart und nickte lächelnd
der Flüchtlinge, ihn und seine neunjährige Tochter in einen
zurück. Ich brachte das Problem zur Sprache, dass all jene, die
der Lastwagen zu schmuggeln, die nach Peschawar zurückfuh
kein Zelt zur Verfügung hatten, nichts zu essen erhalten sollten.
ren. Sein wettergegerbtes Gesicht verlieh ihm das Aussehen ei
Abdul flüsterte mir sofort ins Ohr: »Du wirst nur etwas errei
nes Fünfzigjährigen, obwohl er nach eigener Aussage erst fünf
chen, wenn du ihnen etwas zu bieten hast.« Während unsere
unddreißig war. Seine Tochter war an Krebs erkrankt, und sein
unmittelbarste Sorge der Nahrungsverteilung gelte, sagte ich
Bruder in Pakistan versuchte, eine Therapie zu arrangieren. Ab-
deshalb, müssten wir auch Lagerräume mieten, in denen unse1 49
re medizinische Ausrüstung vor Zugriffen sicher sei. Der Fett wanst erwiderte: »Wir können unsere Brüder und Schwestern aus Kabul nicht hungern lassen. Die Lebensmittel müssen sofort verteilt werden, noch bevor die Zelte kommen. Wir stellen euch gern Lagerräume und Sicherheit zur Verfügung. Aller dings werden wir Kosten haben.« Der Gouverneur nickte bei fällig, und Abdul und ich verabschiedeten uns. In den darauffolgenden vier Wochen stand Kabul weiter unter Beschuss, und in Sarshahi drängten sich bald fünfzigtausend Menschen. Während Bündnisse und politische Unterstützung aus dem Ausland sich ständig neu formierten, gingen wir wei ter unserer Arbeit nach. Mitte Februar schloss Pakistan sein Konsulat in Dschalalabad, wenn auch nicht ersichtlich war, aus welchem Grund. Einige Tage später entführten drei Afghanen einen Schulbus aus Peschawar und fuhren zur afghanischeu Botschaft in Islamabad. Die Entführer wurden von den pakista nischen Behörden durch ein Überfallkommando getötet. Af ghanische Demonstranten plünderten daraufhin die pakistani sche Botschaft in Kabul, und Pakistan zog seine Diplomaten aus der Hauptstadt ab. Die Schura in Dschalalabad verstärkte ihre Sicherheitskräfte um die Lager, und unsere Fahrzeuge wurden von nervösen Männern an neuen Kontrollpunkten entlang der Straße gründlich durchsucht. Geoff beschränkte unser Team auf sieben ausländische Helfer, während unsere einheimische Be legschaft auf fast neunzig Mitarbeiter anschwoll und Fahrer, Klinikrnitarbeiter, Lageristen, Logistik-Experten sowie Verant wortliche für die Wasserversorgung und die Sanitäranlagen umfasste. Viele hundert weitere Helfer arbeiteten halbtags oder nach dem Schema der Vereinten Nationen »Essen für Arbeit« und kümmerten sich um Wassertanks, hoben Latrinen aus, zählten die Toten und verteilten Lebensmittel. Mehrere Male am Tag legte ich die einstündige Fahrt in die Lager zurück. Ich untersuchte Patienten, bildete Helfer aus und traf mich mit Mitgliedern der Schura, der UNO und anderer Nichtregierungsorganisationen und mit einem nervösen Dr. Wa-
kali vom Gesundheitsministerium. Typischerweise wurde das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen unzurei chend mit Spendengeldern unterstützt. Die Organisation hatte Mühe, genügend Lebensmittel in die Lager zu schaffen, lieferte täglich etwa zweitausend Kalorien pro Person, obwohl in der Kälte zweitausendachthundert Kalorien benötigt wurden. Mitt lerweile hatten wir ein volles Cholera-Programm ausgearbeitet, hatten die erforderliche Ausrüstung bei der Hand und Mitarbei ter geschult für den Fall einer Epidemie. Mitarbeiter der Hilfsor ganisation Islamic Relief waren angekommen, und gemeinsam hatten wir in den Flüchtlingslagern die erforderlichen Kliniken errichtet, nach Männern und Frauen getrennt. Die Räumung der Minenfelder wurde fortgesetzt. Wir hatten genügend Was sertanks, und fünf Tanklastwagen fuhren insgesamt vierzigmal am Tag, während in der Wüste nach Wasser gebohrt wurde. Gemeinsam mit den Vereinten Nationen planten wir eine Impf kampagne gegen Masern und bildeten zu diesem Zweck siebzig weitere medizinische Mitarbeiter aus. Außerdem bereiteten wir eine Ernährungsumfrage vor. Während wir all diese Arrange ments trafen, wich Abdul mir nicht von der Seite. Er redete ununterbrochen und hatte nur eine Bitte an mich, nämlich vier mal am Tag beten und hinterher eine Zigarette rauchen zu dür fen. Ich leistete ihm beim Rauchen Gesellschaft. Langeweile war das größte Problem in den Lagern. Kinder bau ten Drachen, spielten mit selbstgebastelten Lumpenbällen Fuß ball und besuchten behelfsmäßige Zeltschulen, in denen sie rechnen lernten und im Koran lasen. Die älteren Jungen ver trieben sich die Zeit mit Steinchenschleudern, einem Spiel, bei dem es galt, einen Stein in die Luft zu werfen und so viele Steinehen wie möglich aufzulesen, ehe man ihn wieder auffing. Für mich bedeutete der Feierabend das Ausarbeiten von Statisti ken, das Schreiben von Handbüchern, das Kommunizieren mit anderen MSF-Teams im Land, das Schicken von Berichten nach Europa und den Versuch, frittierte Erbsen zu vermeiden. Abge sehen von der Arbeit gab es wenig Abwechslung.
Eines Nachts kam einer der Wachleute und weckte mich auf.
Olivier und ich hatten sorgfaltig eine Karte des Lagers angefertigt
Obwohl es extrem gefährlich war, nachts draußen zu sein, stan
und in der Nacht vor unserer Impfkampagne vierzehn Impfstel
den vor dem Haus eine junge Frau und ihr Ehemann. Sie waren
len mit grünen Flaggen gekennzeichnet. Abdul und ich machten
vom Lager Sarshahi gekommen und hatten ein Minenfeld
uns am Morgen darauf schon früh auf den Weg, um sicherzuge
durchquert, um die Militärkontrolle zu umgehen. Den restli
hen, dass alles bereit war. Am Vorabend war ein Pick-up durch
chen Weg hatte jemand sie im Wagen mitfahren lassen. Sie hat
die Lager gefahren und hatte die Eltern mittels eines Lautspre
ten ihr einziges Kind mitgebracht, einen Säugling, knapp eine
chers aufgefordert, sämtliche Kinder unter fünfJahren zu einem
Woche alt. Der Kleine sei sehr krank, sagten sie. Ich untersuchte
der gekennzeichneten Impfzentren zu bringen. Jetzt tat er noch
ihn, wickelte ihn wieder ein und gab ihnen möglichst schonend
einmal dasselbe. Doch alle Flaggen waren fort. Ich warf einen
zu verstehen, dass ihr Sohn tot war. Spät nachts hörte ich aus
Blick in die umliegenden Berge und sah einen Kreis aus grünen
dem Gästezimmer, in dem wir sie untergebracht hatten, das
Flaggen um eine rauchende Feuerstelle. »Mudschaheddin«, sag
Schluchzen der Mutter und die Stimme ihres Mannes, der sie
te Abdul. »Grün ist ihre Farbe.« Vorbereitung und Koordination
zu trösten versuchte. Am Morgen darauf saßen sie still im Lkw,
der Kampagne hatten Wochen gedauert. Wir konnten uns ein
als wir sie zurück zum Lager fuhren. Nicht einmal Abdul redete.
Scheitern nicht leisten. Wir fuhren auf die Feuerstelle zu, so
Im Lager schritt ich mit Abdul die äußere Grenze ab, zählte
weit das zerklüftete Gelände es uns gestattete, und legten den
die Zelte und die Personen pro Zelt, um für die Ernährungsum
restlichen Weg zu Fuß zurück, etwa dreihundert Meter den Berg
frage die Stichprobengröße zu bestimmen. Plötzlich erbebte die
hinauf. Abdul war langsam, aber wir schafften es in ungefähr
Erde, sausten mir Staubpartikel und kleine Steine um die Oh
dreißig Minuten, und der Kommandant kam uns entgegen.
ren, und ich hörte Kindergeschrei von der Stelle, wo noch vor
Ich erklärte ihm besorgt, dass es meine Fahnen seien und ich
wenigen Minuten eine Gruppe Jungen Steineschleudern ge
sie wiederhaben wolle. Abdul redete mit dem Kommandanten
spielt hatte. Ich eilte zu ihnen. Eine Panzerabwehrmine war
und wandte sich an mich. »James, ich bin ein alter Kater, der
explodiert und hatte drei der Kinder in den Tod gerissen. Ihre
noch drei Leben übrig hatte. Eines davon habe ich eben dir
blutigen Überreste lagen um einen Krater im Sand verstreut,
gegeben. Deine Miene ist viel zu ernst. Ich habe ihm gesagt,
während ihre Freunde schreiend davonstolperten.
es täte dir leid, dass du seine Fahnen genommen hast. Er ist
Einige Tage später kam Lucie Blok, die medizinische Leiterin
einverstanden, sie dir für die kommenden drei Tage zu leihen.
von Ärzte ohne Grenzen, zu mir ins Lager, um mir bei der Impf
Er freut sich, bei der Impfung helfen zu können, und möchte
kampagne und der Ernährungsumfrage zu helfen. Sie erzählte
dich auf ein Glas Tee einladen. Nimmst du zwei Stück Zucker
mir, dass sich einige Wochen zuvor im ehemaligen Jugoslawien
oder drei? Du willst ihm vielleicht eine Zigarette anbieten,
eine MSF-Krankenschwester eine böse Verletzung zugezogen ha
sonst nimmt er sie dir weg.«
be, als serbische Streitkräfte einen von UN-Friedenstruppen ge
Zuerst tranken wir Tee und rauchten, und dann impften wir
schützten Hilfskonvoi, der nach Vukovar unterwegs war, mit
drei Tage lang fünfundneunzig Prozent der Kinder im Lager.
Mörsern beschossen hatten. Einige Wochen zuvor seien acht
Unsere Umfrage ergab, dass achtzehn Prozent der Kinder mo
undsechzig Menschen bei einem Mörserangriff auf den Markt
derat bis stark unterernährt waren. Jetzt hatten wir eine Be
platz von Sarajewo ums Leben gekommen. Die NATO hatte ver
gründung, um mehr Lebensmittel vom Welternährungspro
sprochen, sie werde die ))Safe havens«, die sicheren Zufluchtsorte
gramm zu fordern, das seinerseits eine Begründung dafür
der Vereinten Nationen für Muslime, schützen. Sie hatte versagt.
hatte, mehr Spenden einzutreiben. 1 53
Das Tibet-Projekt war wieder angelaufen, und ich sollte binnen einer Woche nach Amsterdam zurückkehren. Abdul
Einige Minuten später härte man draußen auf der Straße mehrere Maschinengewehrsalven.
lud mich zum Essen ein und bat mich, bei ihm und seiner
»Das ist nur eine Hochzeit«, sagte Abdul.
Familie zu übernachten. Als Gast setzte man mich auf den
» Und wer heiratet?«, fragte ich.
Ehrenplatz auf ein Bett aus dicken roten Teppichen. Zwei jun
»Wer weiß«, sagte Abdul und goss uns zwei großzügige Glä
ge Mädchen brachten mir Kissen für den Rücken. Ein drittes
ser Black Label ein, »aber wir feiern trotzdem.« Wir tranken
goss zunächst mir Wasser über die Hände, damit ich sie säu
noch ein paar Gläser. Halb fragend, halb feststellend sagte Ab
bern konnte, anschließend den übrigen Männern. Die jungen
dul: »Afghanistan ist schon ein raues Land, was?«
Burschen kicherten und warteten darauf, dass die älteren Män
»Ja, und ziemlich grausam«, antwortete ich.
ner zu essen begannen. Die Frauen trugen das Essen auf Es
Abdul genehmigte sich noch einen Schluck und sagte: »Ja,
war ein langsames, entspanntes Mahl bestehend aus Ziegen fleisch und Brot.
grausam trifft es besser.« Einige Tage später rauchten Abdul und ich das letzte Mal
»Die Russen waren abartig«, sagte Abdul. »Sie haben unsere
eine Zigarette zusammen. »Ich weiß, dass wir schwierig sein
Leute gefoltert, und wenn einem Soldaten deine Frau gefiel,
können, James, aber lass nicht zu, dass Ärzte ohne Grenzen uns
konnte er sie nach Belieben vergewaltigen. Sie hatten keinerlei
vergisst. Und vergiss du mich auch nicht«, sagte er. Er gab mir
Ehre im Leib, und manche von ihnen vergingen sich sogar an
einen kleinen afghanischeu Gebetsteppich mit auf den Weg,
Jungen. Viele junge Männer nahmen sich danach das Leben.«
ein Geschenk seiner Familie.
Ein alter Mann, der auf der anderen Straßenseite wohnte , hatte sich zu uns gesellt. Er erzählte in gebrochenem Englisch, dass die Russen, wie schon die Briten vor ihnen, erfahren mussten, dass »man Afghanistan nicht erobern kann. Wir können uns nicht einmal selbst erobern. Sehen Sie uns doch an. Wir sollten uns alle schämen.« Er hatte mit den Mudschaheddin g ekämpft und Daumen und Zeigefinger der linken Hand verloren, weil eines der Projektile im Gewehrlauf explodiert war. Er lachte. »Amerikanische Kugeln in einem chinesischen Gewehr!« Ich befragte ihn zu den Narben auf seinen Armen und seinem Ge sicht. Die Männer unterhielten sich angeregt auf Paschtu und lachten, als sie von ihren Kämpfen gegen die Russen erzählten. Während er zwischen Ring- und Mittelfinger eine Zigarette hielt, wandte sich der Alte mir zu und sagte : »Keine Narben, keine Geschichte, kein Leben.« Es war spät, als die Frauen grünen und schwarzen Tee für uns eingossen. »Seien Sie vorsichtig«, sagte der Alte, bevor er ging. »Abdul können Sie vertrauen. Er ist ein alter Mann und immer gut aufgelegt. In letzter Zeit weint er auch manchmal.«
ISS
Teil II
Die Zerreißprobe
Der Genozid in Ruanda war meine Zerreißprobe. Hier wurde mir zutiefst bewusst, zu welcher Grausamkeit der Mensch fähig ist. Danach war in mir kein Raum mehr für Illusionen oder Phantasien, war kein Rückzug mehr möglich in falsche Hoff nungen oder sentimentale Sehnsüchte nach einer verlorenen Vergangenheit. Ich lebte danach achtzehn Monate lang in einer Art Nie mandsland der Verwirrung, stets bestrebt, Erinnerungen auszu weichen, die sich j ederzeit aufdrängen konnten. Ich kämpfte gegen mein Wissen an, doch es holte mich immer wieder ein. Ich hatte Mühe, meinen Halt als Mensch, als Arzt und als Phi lanthrop zurückzugewinnen, und gerate noch heute ins Wan ken, sobald ich mit Erinnerungen an jene Zeit konfrontiert bin, Erinnerungen, die zwar nicht mehr unaussprechlich, aber im mer noch unerträglich sind. Völkermord ist kein Unfall der Natur, auch kein Akt Gottes. Er ist von Menschen geplant und ausgeführt - eine menschli che Entscheidung. Und Völkermord ist auch kein Krieg, denn im Krieg gelten zumindest noch gewisse Regeln. Beim Völker mord gibt es keine Regeln, abgesehen von dem Bestreben, die Arbeit möglichst gründlich zu erledigen. Denn nichts anderes ist der Völkermord als ein Versuch, den anderen samt seiner Möglichkeiten vollständig auszulöschen. Was in Ruanda geschah, war der effektivste Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts, effektiver noch als das Vorgehen der Türken gegen die Armenier, als das der Roten Khmer gegen unerwünschte Personen, effektiver sogar als der Vernichtungs feldzug der Nazis gegen die Juden und gegen all jene, die dem Dritten Reich Widerstand boten. In Ruanda entschieden die '5 9
Machthaber, die Volksgruppe der Tutsi auszurotten, und zudem alle Hutu, die mit Ersteren sympathisierten. Der technische Aufwand dieses Genozids war gleich null: Man drückte ganz einfach unzufriedenen jungen Burschen, die man über das Ra dio aufgehetzt hatte, Knüppel und Macheten in die Hand. Von April bis Juli 1 994 - in nur vierzehn Wochen - waren 85 Prozent aller Tutsi in Ruanda - eine Million Männer, Frauen und Kinder - ausgelöscht; das waren viermal mehr Menschen, als in vier Jahren Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu Tode kamen. Eine halbe Million Menschen trugen Verletzungen da von, und über die Hälfte aller Ruander - vier Millionen - begab sich auf die Flucht. Die Vereinten Nationen hatten den Verlust von vierzehn Friedenssoldaten zu beklagen. Ärzte ohne Grenzen und das Rote Kreuz hatten zwar keine ausländischen Helfer ver loren, dafür aber viele hundert einheimische Mitarbeiter, die meisten davon Tutsi; sie waren aus den medizinischen Einrich tungen getrieben und kaltblütig ermordet worden - am Stra ßenrand, an Flussufern, an Brunnen und auf den Feldern. Jules rief mich zunächst am 1 2 . Mai 1994 an. Ich war wenige Wochen zuvor aus Afghanistan nach Kanada zurückgekehrt und wartete noch immer darauf, die Reise nach Tibet antreten und dort das Tuberkulose-Projekt beginnen zu können. In der Zwi schenzeit arbeitete ich in einem Krankenhaus unweit der Stadt Toronto, ein idealer Zeitvertreib: Die Nächte verbrachte ich in einer ländlichen Notaufnahme, die Tage im Kanu. Der Tibet Einsatz sei nach wie vor in der Schwebe, meinte Jules, da Ärzte ohne Grenzen mit der chinesischen Regierung und den tibeti schen Behörden noch immer die Bedingungen aushandele. Ich solle doch stattdessen nach Ruanda reisen, schlug er mir vor. Er wusste, dass ich bereits erste Erfahrungen in diesem Land hatte sammeln können, über seine Kultur, Geographie und Sprache. Viel war geschehen in Ruanda, seit ich es 1988 verlassen hatte. Präsident Habyarimana und seine Familie hielten die Regierung und damit den Staat im Würgegriff. Sie hatten gleichsam eine 1 60
Lizenz zum Gelddrucken, kontrollierten den Wechselkurs, er hielten ausländische Unterstützung und machten Schulden auf Staatskosten. Die meisten Zuwendungen kamen einer kleinen Hutu-Elite und Habyarimanas Heimatregion zugute, dem Nord westen Ruandas. Die Frau des Präsidenten gewann zunehmend an Einfluss, dasselbe galt für ihre Brüder. Gemeinsam würden sie als die Akazu bekannt werden, das Kleine Haus. Die Akazu kontrollierten den gesamten maßgeblichen Binnen- und Außen handel. Frankreich unterstützte die Habyarimana-Diktatur tatkräftig seit dem Ende der 198oer Jahre. Auch die Belgier pflegten starke Geschäftsinteressen in Ruanda und engagierten sich dort poli tisch, mittlerweile allerdings gleichsam im Schatten Frank reichs. Frankreichs Interesse an Ruanda diente wohl eher dem Erhalt der eigenen imperialistischen Vorstellung von sich als Großmacht. In Wirklichkeit war Frankreich außerhalb der fran kophonen Länder Afrikas schon längst keine Großmacht mehr. Da in Ruanda französisch gesprochen wurde, sollte das Land Frankreichs Günstling sein, ein politischer und wirtschaftlicher Gegenpol zu den sehr realen anglo-amerikanischen Interessen in der Region der Großen Afrikanischen Seen. Die USA konzentrierten sich auf Mobutus Zaire, eine Klepto kratie, reich an Bodenschätzen und seit Beginn der 1 96oer Jahre unterstützt von der CIA. Aber Zaire zerfiel unter Mobutus Re gierung. Das benachbarte Uganda mit Staatsoberhaupt Museve ni, eine ehemalige britische Kolonie, hatte sich mittlerweile
zum vorbildlichen Entwicklungsstaat gemausert, der mit gan zer Kraft die strukturellen Ausgleichsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds umsetzte. Ugandas Gesundheitssystem jedoch bröckelte aufgrund mangelnder Fi nanzen. Nachdem für staatliche Einrichtungen wie das Gesund heitswesen und das Schulsystem Gebühren erhoben worden waren, stieg Ugandas Aidsrate von acht Prozent im Jahr 1990 in nur vier Jahren auf achtzehn Prozent. In Ruanda hatte eine
ähnliche wirtschaftliche Schocktherapie desaströse Folgen. Die Preise schnellten in die Höhe, der Konsum ging zurück, die
Einkommen sanken, wogegen die Kosten für Bildung, Wasser
muss es tun, um zu überleben.« Er erklärte mir, sein Vater kön
und Gesundheit stetig stiegen.
ne nur seinen Brüdern Land vermachen, er selbst werde einmal
Kaffee war Ruandas wichtigstes Exportgut. 1989, nachdem
leer ausgehen. Er sei weder zur Schule gegangen noch besitze
amerikanische Kaffeehändler sich erfolgreich dafür eingesetzt
er Kühe, also habe er auch keine Frau. Da es keine Arbeit für
hatten, die Quoten abzuschaffen, sanken die Kaffeepreise welt
ihn gebe, habe er nichts zu essen. »Und ich will schließlich
weit um fünfzig Prozent. Als die Weltmärkte sich nach dem
nicht verhungern, nicht?« Nach kurzer Pause setzte er hinzu:
Ende des Kalten Krieges öffneten, waren weitere mandisehe
»So etwas wie Scham kann ich mir nicht leisten.« Als der Völ
Exportgüter wie Tee und Zinnerz massiven Preisstürzen unter
kermord begann, war die Inrerahamwe-Miliz eine dreißigtau
worfen, so dass die Schatztruhen der Regierung leer blieben.
send Mann starke, bestens strukturierte, im ganzen Land ver
Die ohnehin schon anämischen sozialen Programme wurden
breitete Hutu-Truppe.
noch weiter beschnitten, und so fiel es den ärmeren Familien
1989 erklärte Habyarimana, dass die fünfhunderttausend
immer schwerer, ihre Kinder zu ernähren. 1989 wurde der Sü
Thtsi-Flüchtlinge in Uganda nicht nach Ruanda zurückkehren
den des Landes zudem von einer Dürre heimgesucht. Das inof
konnten. Sie waren jetzt auch in Uganda unerwünscht, obwohl
fizielle Tauschsystem, das innerhalb der offiziellen Geldwirt
viele von ihnen, darunter Paul Kagame, während des Bürger
schaft ein prekäres Dasein führte, wurde für diejenigen, die
kriegs, der vor kurzem in Uganda geherrscht hatte, auf Muse
davon abhängig waren, noch unsicherer. 1993 lebten schon
venis Seite gekämpft hatten. Kagame war ein loyaler Leutnant
neunzig Prozent der Bevölkerung Ruandas unterhalb der Ar
Musevenis, aber seine oberste Loyalität galt seiner eigenen
mutsgrenze, und so wurde das Land von den Vereinten Natio
Volksgruppe, den Tutsi, und er unterstützte ihre berechtigte
nen offiziell als das ärmste Land der Welt eingestuft Das einstmals als Paradies gepriesene Ruanda steckte in gro ßen Schwierigkeiten. Niemand im Land konnte Geld verdie
Forderung, nach Ruanda zurückkehren zu dürfen. Als Habya rimana ihm dieses Recht verweigerte, rief er die Ruandische Patriotische Front
(RPF)
ins Leben. Nachdem die
RPF
sich von
nen, ohne die Akazu zu beteiligen. Unter den Hutu außerhalb
Händlern aus den USA Waffen besorgt hatte, startete Paul Kaga
der nordwestlichen Region wuchs der Groll gegen die Macht
me, der seine militärische Ausbildung auf dem Stützpunkt der
haber. Die Ausgeschlossenen wollten an der Regierung teilha
82. Airborne and Special Operations Forces in Fort Bragg,
ben, die neben der Kirche der einzige Zugang zur Macht und
North Carolina, absolviert hatte, im Oktober 1990 von Uganda
damit zu Begünstigungen war. Rufe nach einer Reformierung
aus den ersten Überfall auf Ruanda. Von 1 990 bis 1 993 wurden
des Einparteiensystems wurden immer lauter. Als Reaktion dar
etwa zweitausend Tutsi ermordet. Sie fielen einer Reihe von
auf sonderte die Akazu die gemäßigten Hutu aus und gründete
Massakern und Pogromen durch Privatrnilizen zum Opfer.
gemeinsam mit den extremistisch gesinnten die Vereinigung
Während dieser wiederholten Angriffe auf Tutsi in Ruanda
»Hutu Power«. Diese rekrutierte, trainierte und bewaffnete ihre
überfielen Guerillakämpfer der Patriotischen Front von jenseits
eigenen Milizen; die bekannteste war die Interahamwe.
der Grenze immer wieder Ziele in Ruanda. Mitte 1992 befan
Milizen zu gründen war nicht schwer. 1988 hatte ich einen
den sich aufgrund der RPF-Angriffe im Norden und der allge
Jugendlichen gefragt, der vor dem Centre Hospitalier de Kigali
meinen Bedrohung im ganzen Land bereits zwischen zweihun
manchmal auf mein Moped aufgepasst hatte, womit er
dert- und dreihunderttausend Menschen in Ruanda auf der
(CHK)
eigentlich seinen Lebensunterhalt verdiene. »Mit Stehlen«, hat te er geantwortet und mich dabei unverwandt angesehen. »Ich
Flucht. 1 990 half Frankreich, die Rebellen zurückzudrängen, indem
französische Militärberater der ruandischen Armee Schulungen,
schließlich einer zunächst vierhundert, bald j edoch schon tau
Waffen und Aufklärung über die Bewegungen der RPF anboten.
send Mann starken belgischen Fallschirmjägereinheit, die als
Einige Angehörige des französischen Offizierskorps bezeichne
starker Arm der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen
ten die RPF als Ruandas Khmer Noire, eine Anspielung auf die mor
für Ruanda, kurz UNAMIR, fungieren sollte. Bereits im Januar
denden Roten Khmer in Kambodscha. Seit 1990 hatte Frankreich
1994 wusste Generalmajor Romeo Dallaire, der kanadische UNA
zwischen sechshundert und elfhundert Soldaten in Ruanda
MIR-Kommandant, dass das Friedensabkommen von Arusha
stationiert, die die dortige Armee, mittlerweile dreißigtausend
wenig dazu beitragen würde, die Unruhen einzudämmen, zu
Mann stark, trainierten und mit Waffen ausstatteten. Französi
mal Hutu-Extremisten befürchteten, das Abkommen könne ih
sche Soldaten halfen beim Gefecht, bei der Befragung von
re Macht schmälern. UNAMIR war unzureichend ausgerüstet,
Kriegsgefangenen und bei der Durchsetzung von Kontrollmaß
hatte nur zwei funktionstüchtige Transportpanzer zur Verfü
nahmen in der Zivilbevölkerung. Habyarimana verband eine enge persönliche Freundschaft
gung, zu wenig Finanzmittel, zu wenig Personal und zu wenig Waffen. (Sein Budget war erst zwei Tage vor Beginn des Geno
mit Präsident Mitterrand, und sollte er den Kampf gegen die RPF
zids abgesegnet worden.) Am S · April 1994, einen Tag vor Be
verlieren, würde zum ersten Mal ein Regime, das Frankreich
ginn des Völkermords, verlängerte der UN-Sicherheitsrat das
die Treue hielt, ohne dessen Zustimmung abgeschafft werden.
Mandat der Friedenstruppe, die erst vier Monate zuvor nach
Damit stünde die Loyalität der übrigen von Frankreich abhängi
und nach ins Land gekommen war, erneut um vier Monate.
gen afrikanischen Staaten auf dem Spiel. Im Februar 1993 ent
Im Februar und im März 1994 wurden immer wieder Grup
sandte Frankreich über fünfhundert Soldaten nach Ruanda; sie
pen von Tutsi und gemäßigten Hutu ermordet, außerdem er
sollten »indirekt« das Kommando übernehmen und den Ruan
folgten gezielte politische Morde in Kigali und im Süden Ruan
dern dabei helfen, den Vormarsch der Rebellen zu stoppen. Die
das. Viele tausend Macheten wurden ins Land gebracht und
Franzosen schickten Waffen und Munition ins Land, bis zu
verteilt, und Hasspropaganda strömte wie Gift aus dem kom
zwanzig Tonnen täglich, eine Menge, die ausreichte, um ein
merziellen Radiosender RTLM. Aus geheimen Depots im ganzen
tiefes Loch in ihre eigenen Militärbestände zu reißen. Doch im
Land wurden Waffen an die Mitglieder der Interahamwe-Miliz
Frühsommer 1 993 musste Frankreich schließlich einsehen, dass
verteilt. Die Regierung hatte ganz offensichtlich nicht die Ab
es zwar kurz davor stand, Ruanda zu übernehmen, seine Ziele
sicht, das Arusha-Friedensabkommen einzuhalten, und suchte
aber trotzdem nicht durchsetzen konnte. Und so stellte es sich
stattdessen nach Mitteln und Wegen, eine kompromisslose mi
bei Gesprächen zwischen der ruandischen Regierung und den
litärische Auseinandersetzung mit der Ruandischen Patrioti
RPF-Rebellen als Vermittler zur Verfügung, die beste, billigste
schen Front herbeizuführen.
und einfachste Lösung für die französische Außenpolitik in Ru anda.
Nichts von alledem war zu diesem Zeitpunkt an die Öffent lichkeit gedrungen, nur die Geheimdienste der USA, Belgiens
Im August 1993 kam nach monatelangen Verhandlungen in
und Frankreichs waren im Bilde, weil General Dallaire ausführ
der Stadt Arusha in Tansania zwischen Habyarimana und den
liche Berichte an die Vereinten Nationen geschickt hatte. Be
RPF-Rebellen ein Friedensvertrag zustande. Nach Kapitel VI der
sonders doppelzüngig waren die Franzosen; während sie Kri
UN-Charta schickte der Sicherheitsrat im November eine klassi
senpläne zur Evakuierung ihrer Staatsbürger erstellten, lieferten
sche Friedenstruppe nach Ruanda, und Mitte Dezember waren
sie einem Bericht des belgiseben Senats zufolge von Zaire aus
bereits eintausenddreihundert Soldaten vor Ort stationiert, ein-
weiterhin heimlich Waffen an die mandisehe Regierung. UNA-
MIR identifizierte und beschlagnahmte des öfteren Schiffsla
und war i n Begleitung des burundischen Präsidenten auf dem
dungen dieser Art.
Rückflug. Alle Flugzeuginsassen kamen bei dem Anschlag ums
Jahre nach dem Genozid sollte ans Licht kommen, dass am
Leben. Sofort wurden Straßensperren rings um die Stadt errich
Io. Januar I994 ein Informant Dallaire darüber in Kenntnis ge
tet. Innerhalb einer Stunde hatte das Massaker begonnen. Überall
setR�hatte, wie extreme Hutu die »Auslöschung« angesehener
in Ruanda wurden systematisch Tutsi und gemäßigte Hutu nie
Tutsi planten, wie sie Interahamwe-Milizionäre auf die Ausrot
dergemetzelt. Plangemäß gaben Bürgermeister und Angestellte
tung von bis zu tausend Tutsi in nur zwanzig Minuten vorberei
in Behörden die Namen und Adressen von Tutsi an die Intera
teten und die Ermordung einiger belgiseher Blauhelme plan
hamwe-Milizen weiter. Die Menschen wurden in ihren Woh
ten, um die Vereinten Nationen zum Rückzug ihrer Truppen
nungen ermordet, in Kirchen, Schulen und Krankenhäusern, wo
zu bewegen. Dallaire hatte daraufhin das UNO-Hauptquartier in
man sie zusammengetrieben hatte, oder in Latrinengruben und
New York kontaktiert. Sein mittlerweile berühmtes Fax datierte
Massengräber gestoßen, wo man sie nicht etwa erschoss, son
vom
I
I . Januar.
dern ihnen Hände und Füße abhackte, damit sie außerstande
Dallaire bat darin die Vereinten Nationen, seinem Informan
waren, aus den Gruben zu klettern, und elend verbluteten. Viele
ten Asyl zu gewähren. Er wollte außerdem identifizierte Waf
flehten ihre Mörder an - und boten ihnen Geld dafür -, sie
fenlager plündern, um die Ermordung von Tutsi durch Hutu
möchten ihre Kinder doch lieber erschießen und ihnen dieses
Extremisten zu verhindern. Weil ein Versuch, Waffen zu be
besonders grausame Schicksal ersparen. In der Stadt Butare im
schlagnahmen, in Somalia zu gewalttätigen Ausschreitungen ge
Südwesten Ruandas ließen Interahamwe-Milizionäre den Hutu
führt und die uN-Mission zum Scheitern gebracht hatte, erteilte
Bürgermeister eine Entscheidung treffen: Er konnte seine Tutsi
Kofi Annan, damals als Untergeneralsekretär der Vereinten
Ehefrau und die Kinder nur retten, indem er stattdessen seine
Nationen für Friedenssicherungseinsätze zuständig, Dallaire
Schwiegerfamilie - die Eltern der Frau und ihre Schwester - den
schroff den Befehl, keinesfalls einzuschreiten. Stattdessen solle
Mördern auslieferte. Er ließ sich auf den Handel ein.
er seine Informationen an den Präsidenten Ruandas weiterge
Zwei Tage nach Beginn des Genozids fiel die Rumdisehe Pa
ben. Dallaire war »fassungslos«, wie er mir Jahre später gestand.
triotische Front von ihrem Stützpunkt in Uganda aus in Ruanda
UNAMIR waren die Hände gebunden, und ihre Glaubwürdigkeit
ein. Damit befand das Land sich in einem radikalen Bürgerkrieg,
war schnell verpufft. In den darauffolgenden zwölf Wochen
der ausgefochten wurde, während zugleich ein Genozid tobte.
verwendete Dallaire elfmal den Satz »die Lage spitzt sich zu«
Binnen einer Woche hatten sämtliche Hilfsorganisationen, Bot
und bat sechsmal um Truppenverstärkung und um die Befugnis,
schaften, Missionen und UN-Vertretungen ihre Gebäude verlas
Waffendepots beschlagnahmen zu dürfen. Er erhielt weder das
sen. Den Großteil ihrer ruandischen Mitarbeiter überließen sie
eine noch das andere. Stattdessen wurde ihm gesagt, er solle die
ihrem Schicksal. Nach dem 6. April I994 blieben nur das Rote
Gespräche mit der ruandischen Regierung fortsetzen, während
Kreuz, Ärzte ohne Grenzen, zwei Mitglieder der humanitären
man sich dort längst auf das Gemetzel vorbereitete.
Vorhut der Vereinten Nationen und die UNAMIR-Friedenstruppe
in Kigali zurück. Der eigentliche Genozid begann am 6. April I994· mit einem
Drei Tage nach Beginn der Morde sandten Frankreich, Belgien
Raketenangriff auf das Flugzeug von Präsident Habyarimana, das
und Italien dreitausend Fallschirmjäger nach Ruanda, um ihre
sich im Landeanflug auf den Flughafen Kigali befand. Der Präsi
Bürger in Sicherheit zu bringen, während die Amerikaner in
dent hatte an einer Friedenskonferenz in Arusha teilgenommen
einem Konvoi über Land flüchteten, um zweihundertfünfzig us-
I66
amerikanische Marines zu treffen, die j enseits der burundischen
Staaten und die Vereinten Nationen wenig Lust einzuschreiten.
Grenze auf sie warteten. Die Franzosen landeten eine C- 1 6o
Nachdem das Flugzeug des ruandischen Präsidenten abge
Transportmaschine in Kigali, um ihre Landsleute auszufliegen,
schossen worden war, verließen die letzten us-amerikanischen
zusammen mit Habyarimanas Ehefrau und sechzig Kindern aus
Kriegsschiffe noch am selben Tag den Hafen von Mogadischu.
einem Waisenha_us, dessen vierunddreißig Angestellten und
Der Genozid konnte nun ungehindert fortgesetzt werden.
weiteren zweihundertneunundneunzig extremistischen Hutu. Die Franzosen holten nicht nur Menschen aus dem Land, sie
Ärzte ohne Grenzen war seit 1990 in Ruanda, um Menschen
brachten auch nützliche Waren: Die Hercules hatte Munition
zu helfen, die von dem schwelenden Bürgerkrieg im eigenen
und Waffen geladen; beides wurde zum Stützpunkt der rumdi
Land und im angrenzenden Burundi aus ihrer Heimat vertrie
seben Regierungsarmee RGF geschafft, nicht weit vom Flugplatz
ben worden waren. Zu Beginn des Völkermords hatte Ärzte
entfernt.
ohne Grenzen einhundertsechsundzwanzig ausländische und ausländische
viele hundert einheimische Mitarbeiter im Land. In den voraus
Bürger außer Landes gebracht. Ruander, denen es gelungen war,
gehenden Monaten, während die Demonstrationen immer ge
einen der Evakuierungs-Lkws zu besteigen, wurden bei Stra
walttätiger wurden, politische Morde und Massaker an Tutsi
Insgesamt
wurden
dreitausendneunhundert
ßensperren heruntergeholt und vor den Augen französischer
sich häuften, erarbeitete Ärzte ohne Grenzen gemeinsam mit
und belgiseher Fallschirmjäger getötet. Drei Tage nach dem Ab
dem Roten Kreuz einen Notfallplan, um auf die sich potenzie
sturz des Präsidentenflugzeugs sagte Herve Le Guillouzic, der
rende Anzahl von Verwundeten zu reagieren.
medizinische Koordinator fiir das Rote Kreuz in Kigali: »Ges
Mit Beginn des Genozids schien das Land im Chaos zu ver
tern war noch von einigen tausend Toten die Rede. Ab heute
sinken. Wie andere Organisationen bereitete Ärzte ohne Gren
können wir von zigtausend Toten sprechen.« Am 1 4 . April zog die belgisehe Regierung ihre eintausend
zen sich in materieller Hinsicht so gut wie möglich auf die Ereignisse vor. Im Rückblick war die Reaktion der Hilfsorgani
Mann starke Fallschirmjägereinheit ab, nachdem zehn belgisehe
sation technisch nahezu perfekt, in politischer Hinsicht aber
Blauhelme von RGF-Soldaten, Mitgliedern der Präsidentengarde,
gänzlich uninformiert. Obwohl der Verband seit 1990 drei Ein
getötet worden waren. Die Belgier waren zum Schutz der Pre
satzzentren in Ruanda betrieb, hatte noch niemand den Versuch
mierministerin abgestellt worden, einer gemäßigten Hutu, die
unternommen, eine zusammenhängende politische Analyse zu
anschließend grausam ermordet wurde. Jahre später sollte be
erstellen. Jetzt blieb MSF nichts weiter übrig, als auf das unmit
kannt werden, dass die belgisehe Regierung nicht nur die eige
telbare Chaos vor Ort zu reagieren, und dies bedeutete, dass
nen Truppen zurückzog, sondern, internationale Störungen be
niemand auch nur almte, was eigentlich vor sich ging.
fürchtend, die USA und die Vereinten Nationen zu überreden
Als Jules mich anrief, hatten MSF und Rotes Kreuz gleicherma
suchte, die gesamte UNAMIR-Friedensmission einzustellen. Wie
ßen Probleme, Ärzte zu finden, die bereit waren, nach Ruanda
sich später herausstellen sollte, hatte man die Ermordung der
zu gehen. Und das aus gutem Grund. In Kigali wurden Kranken
zehn belgiseben Soldaten minutiös geplant, um genau diese Re
wagen des Roten Kreuzes angehalten, die Patienten herausgezo
aktion hervorzurufen.
gen und erschossen. Das CHK war beschossen worden, und
Ohne Waffen und Ausrüstung und ohne die Fallschirmjäger
nachdem dreizehn Mitarbeiter des Roten Kreuzes und einund
war UNAMIR gänzlich zum zahnlosen Tiger mutiert. Nach dem
zwanzig Tutsi-Waisenkinder getötet worden waren, stellte das
Somali-Debakel wenige Monate zuvor hatten die Vereinigten
Rote Kreuz, das die Morde aufs Schärfste verurteilte, vorüberge-
t68
hend seine Tätigkeit ein. Weil Ärzte ohne Grenzen sich Anfang
sie ermorden. An der Staatlichen Universität wurden Tutsi-Stu
1 994 der Opfer von Gewalt angenommen hatte, galt unser Ver
denten zusammengetrieben und erschossen. Die Morde waren
band bei den ruandischen Regierungstruppen und den lntera
erbarmungslos, ihre Anzahl stieg ins Unermessliche.
hamwe-Milizen als Tutsi-freundlich. Am Ende der ersten Woche
Bis Ende April waren allein in der Region Butare an die hun
des Völkermords wurden daher, auf der Suche nach Tutsi, belgi
derttausend Tutsi abgeschlachtet worden. Das Rote Kreuz be
sehe Staatsbürger, MSF-Kliniken und -Niederlassungen angegrif
richtete über mehrere hunderttausend Tote im ganzen Land.
fen. Regierungssoldaten und Milizen gingen von Tür zu Tür
Da es unmöglich geworden war, im
und verglichen die Angaben in den Personalausweisen mit den
ten MSF und Rotes Kreuz gemeinsam in der verlassenen Schule
Namen auf ihren Todeslisten. MSF hatte viele Tutsi-Mitarbeiter
der Salesianerinnen in Kigali ein Behelfskrankenhaus. Gemein
CHK
zu arbeiten, errichte
samt ihren Familien aufgenommen; man ermordete sie im Haus
sam gelang es den noch verbliebenen Mitarbeitern von Ärzte
oder davor. Daraufhin ließ Ärzte ohne Grenzen sämtliche auslän
ohne Grenzen und Rotem Kreuz, das Krankenhaus am Laufen
dischen Helfer außer Landes bringen; am Ende blieben nur noch
zu halten. Aber das Gemetzel ringsum war grauenhaft. Fünf
vierzehn Mitarbeiter in Ruanda. Das CHK, in dem ich 1988 gear
hundert Meter vor dem Krankenhaus fand Rene Caravielle, ein
beitet hatte, war kein Spital mehr, sondern ein Schlachthaus,
MSF-Logistiker, ein junges Mädchen, »Marie Ange, neun Jahre
und wurde gänzlich aufgegeben, nachdem sich die Schlächter
alt, die an einem Baumstamm saß . . . die Beine gespreizt; sie
bei uns dafür bedankt hatten, ihnen ein Gebäude zur Verfügung
war von Exkrementen, Sperma und Blut besudelt . . . in ihrem
zu stellen, in dem sie Tutsi zusammentreiben konnten. Ein MSF
Mund steckte ein abgehackter Penis, der ihres Vaters . . . (Ganz
Team wagte sich am 14. April zurück und fand in der Leichen
in der Nähe) lagen in einem Graben voll stinkenden Wassers
halle mindestens tausend Tote. Der gesamte Krankenhauskom
vier Leichen, ihre Eltern und älteren Brüder.«
plex war übersät mit zerhackten Leichen.
Wouter van Empelen war mit seinen MSF-Kollegen und eini
Am 20. April 1 994 beobachtete Dr. Rony Zachariah von Ärzte
gen Dutzend Patienten und einheimischen Mitarbeitern von
ohne Grenzen am Universitätskrankenhaus in Butare, wie Re
Butare nach Burundi entkommen, indem er den Interahamwe
gierungssoldaten hundertneunundsiebzig Männer, Frauen und
Tötungskommandos Geld zuwarf, während er seinen Lkw
Kinder zusammentrieben und grüppchenweise aus dem Kran
Konvoi in vollem Tempo auf die Grenze zulotste. Dort drohte
kenhaus holten. Draußen wurden sie zunächst verprügelt, dann
ein Priester, der sie begleitete, den Grenzposten mit ewiger
totgehackt. »Ich versuchte, den Soldaten Einhalt zu gebieten«,
Verdammnis, falls sie die Wagen nicht passieren ließen. Der
sagte Dr. Zachariah, »aber sie erklärten mir, die Leute stünden
Konvoi - und die Grenzposten - wurden gerettet. Ich sollte
auf ihrer Todesliste.« Den Hutu unter den MSF-Mitarbeitern
später erfahren, dass ein MSF-Team aus Frankreich nach Tansa
wurden Macheten in die Hand gedrückt und befohlen, ihre
nia geflüchtet, aber gezwungen worden war, seine einheimi
Tutsi-Kollegen zu ermorden. Wer sich weigerte, galt als Tutsi
schen Mitarbeiter an der Grenze zurückzulassen. Mindestens
Freund und wurde selbst getötet. Dr. Zachariah hörte einen der
Vierzehn Menschen waren ermordet worden. Die übrigen drei
Soldaten sagen: »Dieses Krankenhaus stinkt nach Tutsi. Wir
undzwanzig erlitten vermutlich dasselbe Schicksal; niemand
müssen es säubern.« Sabine, eine MSF-Krankenschwester, war
hatte je wieder etwas von ihnen gehört.
schwanger; sie war eine Hutu, aber ihr Name stand auf der Liste des kommandierenden Offiziers, weil ihr Ehemann ein
Zwischen meinen Schichten im Notdienst hatte ich, noch be
Tutsi war. »Genau wie das Baby«, sagte der Offizier und ließ
vor ich Jules' Anruf erhielt, die Zeitungen nach Neuigkeiten
über die Vorgänge in Ruanda durchforstet. Die Berichterstat
Nachdem der Genozid begonnen hatte, äußerten sich die
tung war bestenfalls oberflächlich. Die Medien widmeten sich
Vereinten Nationen zwar entsetzt Ȇber die Ereignisse in Ruan
ganz der Wahl Mandelas zum Präsidenten Südafrikas, der Bos
da«. Trotzdem weigerte sich der Sicherheitsrat - mit Ausnahme
nienkrise in Jugoslawien und dem Prozess gegen O.J. Simpson
der Vertreter Neuseelands, Argentiniens, der Tschechischen Re
in Nordamerika. Die Ereignisse in Ruanda wurden knapp auf
publik und Spaniens -, die Vorgänge als Völkermord anzuerken
den hinteren Seiten der größeren Tageszeitungen geschildert.
nen. Ungeachtet der privaten und öffentlichen Stellungnahmen
Was in Ruanda vor sich gehe, sei kein Genozid, hieß es. Die
seitens Ärzte ohne Grenzen und anderer Hilfsorganisationen
Morde seien das Ergebnis von Stammesfehden, und diese Art der
verhielt sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen lange Zeit
Gewalt sei, nach Hobbes, an Orten wie Afrika unumgänglich.
wie ein zahnloser Papiertiger, der ernsthafte Resolutionen prä
Einige Tage nach Ausbruch des Genozids konnte man in einem
sentierte und in geschliffener Rhetorik seine humanitäre Gesin
Leitartikel im Wall Street Journal lesen, in Ruanda sei der National
nung beteuerte, während die Großmächte weiter ihre nationa
staat noch nicht fest verwurzelt: »Jeder Versuch von außen, Ord
len Interessen verfolgten.
nung zu schaffen, muss als >Imperialismus< aufgefasst werden . . .
Zwei Wochen nach Beginn der Massaker beschloss der Si
Wo kein Staat ist, der sein Gewaltmonopol geltend macht, um
cherheitsrat am 2 1 . April - nur zwei Tage, nachdem er dafür
die Gewalt Einzelner zu zügeln, ist ein Krieg aller gegen alle
gestimmt hatte, die UN-Truppen in Bosnien zu verstärken -, die
gleichsam vorprogrammiert.« Für junge Männer, die ohne Be
restlichen Blauhelme aus Ruanda abzuziehen, so dass nur noch
schäftigung, ohne Sicherheit und ohne Perspektiven lebten, hieß
zweihundertsiebzig Soldaten übrig waren, die als »Vermittler«
es weiter, biete die Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Gruppe
agieren sollten, um »beide Seiten« zu einer »Waffenruhe« zu
eine Flucht aus der Langeweile, die Vorteile der Kameradschaft
bewegen und »die Wiederaufnahme humanitärer Hilfseinsätze
und außerdem die Möglichkeit, sich zu bereichern. Sie sei
zu unterstützen« . Das Rote Kreuz verurteilte den Rückzug der
gleichsam ein Quäntchen Sicherheit in einer gesetzlosen Welt.
Friedenstruppen aus Ruanda. Und obwohl der Befehl vom Si
Dabei verfügte Ruanda über einen völlig intakten Staatsappa
cherheitsrat kam, weigerte sich Dallaire, ihn auszuführen, und
rat, der mittlerweile ganz auf den Völkermord eingestimmt
sagte standhaft: »Ich werde mich nicht zurückziehen.« Er blieb
war. Niemand wollte zugeben, dass Ruanda eine funktionieren
mit einer 470 Mann starken Truppe Freiwilliger im Land, um
de, straff organisierte Diktatur war, die jahrelang vom Westen
viele tausend Zivilisten in Kigali zu beschützen, die im Amaho
Unterstützung erhalten hatte.
ro-Stadion, im König-Faisal-Krankenhaus und anderen Gebäu
Die New York Times war in ihrer Darstellung der Morde nicht
den in der Stadt Zuflucht genommen hatten. Dallaire bediente
viel besser. Am 14. April berichtete sie von »Zigtausend Toten«,
sich beharrlich der wenigen Journalisten, die noch im Land
bezeichnete die Morde aber als politisch motiviert. Der Grund,
geblieben waren, um auf den Völkermord hinzuweisen und auf
hieß es, seien Stammesfehden. Dabei war es längst kein Ge
die Notwendigkeit, UNAMIRS Truppen aufzustocken. Doch seine
heimnis mehr, dass in Ruanda ein Völkermord im Gange war.
Bemühungen waren vergeblich. Infolge der Resolution vom
Am 1 1 . April 1994 hatte Jean-Philippe Ceppi, ein Journalist für
2 1 . April, die die Truppe der Blauhelme gleichsam kastrierte,
die französische Zeitung Liberation, Kigali als eine Stadt beschrie
häuften sich die Massenmorde in Ruanda.
ben, die von Schreien und Schüssen widerhalle. Er hatte die
MSF und andere wehrten sich nach Kräften gegen das Klima
Ermordeten und ihre Mörder gesehen. »Alle sprachen von Völ
der Gleichgültigkeit und vorgetäuschten politischen Machtlo
kermord«, schrieb Ceppi. »Alle wussten Bescheid.«
sigkeit angesichts des Völkermords. Dr. Rony Zachariah von Ärz-
1 72
1 73
te ohne Grenzen und sein Team konnten aus Butare nach Burun
V ölkermord hatten fliehen können. Die fünfzehn Berichterstat
di fliehen und erzählten der Weltöffentlichkeit, was sie erlebt hatten. Bei einer Pressekonferenz in Brüssel am 28 . April be
ter in Ruanda wetteiferten mit den vielen hundert Journalisten, die aus Südafrika - das die ersten freien Wahlen hinter sich
zeichnete der Präsident von MSF Belgien, Reginald Moreels, die
hatte - nach Tansania strömten. Nun waren die Vertriebenen,
Ereignisse in Ruanda als Genozid. Am Tag davor hatte Ärzte ohne
nicht der V ölkermord, Thema der Schlagzeilen.
Grenzen seinen Generaldirektor Jean-Pierre Luxen gebeten, sich
Im Monat Mai appellierten die Hilfsorganisationen MSF, Ox
bei den Vereinten Nationen für die Errichtung humanitärer Kor
fam, Human Rights Watch und Amnesty International wieder
ridore und ziviler Schutzzonen in Ruanda einzusetzen. Luxen
holt an die Weltöffentlichkeit, politisch mehr Druck auszuüben
traf sich mit Vertretern der amerikanischen Regierung und mit
auf das Mörder-Regime Ruandas, und forderten die Vereinten
dem Präsidenten des UN-Sicherheitsrats, dem neuseeländischen
Nationen auf, endlich zu intervenieren und die Zivilisten zu
Botschafter Colin Keating. Der belgisehe UNo-Botschafter be
schützen. Es war nicht einfach. Ohne die Zustimmung der stän
schrieb Luxens Darlegungen als »K.-o.-Schlag«, der den Mit
digen fünf Mitglieder des Sicherheitsrats, vor allem der USA,
gliedern des Sicherheitsrates zunächst die Sprache verschlug,
konnte gar nichts geschehen. Da die Erinnerung an den toten
ehe sie vom ruandischen Botschafter eine Erklärung forderten.
Ranger, der nackt durch die Straßen Mogadischus geschleift
Keating beschwor den Sicherheitsrat, den Tatbestand des Ge
worden war, den Amerikanern noch allzu frisch in Erinnerung
nozids anzuerkennen. Die fünf ständigen Mitglieder - die
war, wollten die USA sich nicht allzu intensiv in UN-Friedens
Großmächte - wollten davon nichts wissen. Erst als Keating
einsätzen engagieren, sofern nicht ihre eigenen Interessen auf
drohte, die Debatte an die Öffentlichkeit zu bringen, erklärten
dem Spiel standen. Ruanda fand sich auf Clintons Themenliste
sie sich bereit, eine Stellungnahme abzugeben. Man war jedoch
nicht an erster Stelle. Anthony Lake, nationaler Sicherheitsbera
nicht gewillt, das Wort Genozid zu benutzen. Die Stellungnahme
ter des Präsidenten, war bereits mit den Krisen in Bosnien und
vom 30. April verurteilte die Menschenrechtsverletzungen in
Haiti beschäftigt. James Woods, im Verteidigungsministerium
Ruanda und erinnerte daran, dass die Ermordung von Mitglie
für afrikanische Angelegenheiten zuständig, erhielt von den
dern einer ethnischen Gruppe, in der Absicht, diese ganz oder
Vorgesetzten die Weisung: »Was in Ruanda-Burundi passiert,
teilweise zu zerstören, ein Verbrechen sei, das gegen das V öl
ist uns gleich. Streichen Sie den Punkt von der Liste. Die Inter
kerrecht verstoße.
essen der USA stehen nicht auf dem Spiel, und wir können uns
Indem er an den Wortlaut der UN-Konvention aus dem Jahr 1 9 48 über die Verhütung und Bestrafung von V ölkermord erin
nicht um jedes alberne humanitäre Problem kümmern . . . also weg damit!«
nerte, dabei aber weder die Konvention beim Namen nannte
Am 3. Mai 1 99 4 unterzeichnete Bill Clinton die Presidential
noch die Ereignisse in Ruanda explizit als V ölkermord bezeich
Decision Directive 25 . Sie war inoffiziell schon seit Oktober
nete, drückte sich der Sicherheitsrat um die Pflicht, dem Gesetz
1993 gültig gewesen und sollte - nach der Erfahrung in Soma
gegen V ölkermord Genüge zu tun. Anfang Mai - mittlerweile hatten über eine Million Men
lia - die Beteiligung us-amerikanischer Truppen an internatio nalen Friedensmissionen auf ein Minimum beschränken. Mit
schen im Land ihr Zuhause verloren- waren nur noch elf aus
PDD 25 war für die Regierung Clinton der V ölkermord in Ru
ländische MSF-Mitarbeiter in Ruanda geblieben, während die
anda von der Bildfläche verschwunden - zumindest, solange
Organisation ihre Teams in Tansania, Burundi und Zaire vergrö
er im Gange war.
ßerte, um ruandischen Flüchtlingen beizustehen, die vor dem 1 74
Als jedoch der öffentliche und politische Druck seitens Ärzte 1 75
ohne Grenzen und anderer Organisationen zunahm, konnten
französischen Fernsehen: »Es handelt sich um Völkermord . . .
die Vereinten Nationen nicht länger tatenlos zusehen. Am
und Frankreich kennt die Täter, liefert ihnen Waffen und Muni
1 7 . Mai verabschiedete der Sicherheitsrat, der sich noch immer
tion - eine Strategie der Anstiftung . . . Der französische Staat
weigerte, das Wort Genozid zu benutzen, eine Resolution, die
denkt nicht daran, die Schlächter in Kigali und Butare aufzuhal
der Friedenstruppe UNAMIR die Befugnis gab, zum Schutz der
ten . . . « Tags darauf ließ MSF Frankreich einen offenen Brief in
Zivilbevölkerung Gewalt anzuwenden, und ihr auch die ent
die französische Tageszeitung Le Monde setzen, der sich an Präsi
sprechenden Waffen und Gerätschaften in Aussicht stellte. Die
dent Mitterrand richtete: »Frankreich - diese Bastion für Men
ser Beschluss war von den USA drei volle Tage hinausgezögert
schenrechte - trägt eine große Verantwortung . . . in Ruanda.«
worden; angeblich musste man Instruktionen zum weiteren
Mitterrand, hieß es weiter, müsse der systematischen Ausrot
Vorgehen aus Washington abwarten. In letzter Minute bestan
tung einer Volksgruppe durch die von Frankreich mit Waffen
den die Amerikaner darauf, dass das neue Mandat für UNAMIR
ausgestatteten Gegner Einhalt gebieten. Am 2 3 . Mai erschien
erst in Kraft treten sollte, wenn der Sicherheitsrat sich vor Ort
in der New York Times der Leserbrief des Präsidenten von MSF
von dessen Notwendigkeit überzeugt hatte. Obwohl die Reso
International, der die unangemessene Reaktion des UN-Sicher
lution theoretisch Versorgungsgüter, Lkws, fünfzig bewaffnete
heitsrates auf den Genozid scharf verurteilte. Am 24. Mai legte
Truppentransporter und fünftausendfünfhundert Soldaten be
MSF der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen
willigte, war sie in Wirklichkeit nur eine Farce. Die USA hatten
ein formelles Dokument zur Lage in Ruanda vor. Nachdem die
»die Resolution abgewürgt«, so Ratspräsident Colin Keating,
kanadische Regierung Dr. Zachariahs Beschreibungen der Vor
die erweiterte UNAMIR sei in Wahrheit nur Fiktion. Die Großmächte widersetzten sich nicht nur der Notwendig keit, dem Völkermord Einhalt zu gebieten, sie verhinderten,
gänge in Ruanda gehört hatte, berief sie eine Krisensitzung ein, um zu entscheiden, ob in Ruanda tatsächlich ein Völkermord stattfand.
ja sabotierten sämtliche Bemühungen, UNAMIR den Rücken zu
Ich solle mich bereithalten, meinte Jules, denn er wolle mich
stärken. Obschon die Mai-Resolution ein Waffenembargo ge
möglichst bald nach Kigali schicken, damit ich dort die Ein
gen die ruandische Regierung beschlossen hatte, erhielt Letzte
satzleitung übernehmen könne. Ich sollte ein Chirurgenteam
re aus Frankreich weiterhin geheime Waffenlieferungen. Un
leiten und das noch nie benutzte König-Faisal-Krankenhaus in
terdessen weigerten sich die USA, den Radiosender RTLM zu
Betrieb nehmen, in dem Blauhelme derzeit sechstausend Zivi
stören, der mit seiner Hasspropaganda die Hutu-Bevölkerung
listen beschützten. Mitte Mai waren bereits fünfhunderttausend
zur Ermordung von Tutsi anstiftete; eine solche Aktion, so das
Menschen ermordet worden. Einige Tage später saß ich im
Argument, verstoße gegen das Völkerrecht. Und sowohl die
Flugzeug nach Ruanda. Anfang Juni wäre ich in Kigali.
Vereinigten Staaten wie auch das Vereinigte Königreich verzö
Warum ging ich nach Ruanda? Ich hatte dort Bekannte -
gerten durch bürokratische Hinhaltemanöver Waffen- und Ma
Krankenschwestern, Ärzte und andere Mitarbeiter des Centre
teriallieferungen an UNAMIR Mittlerweile hatte MSF eine internationale Kampagne gestartet,
Hospitalier de Kigali, darunter viele Tutsi. Außerdem vertraute ich Jules. Ich hatte ihn in Somalia und in Afghanistan erlebt.
die sich an die Vereinten Nationen und einzelne Regierungen
Er war klug und umsichtig, hätte niemals andere einer Gefahr
richtete, man möge dem Genozid in Ruanda Einhalt gebieten.
ausgesetzt, die er selbst lieber mied. Sollte sich die Arbeit als
Am 1 6 . Mai kehrte Dr. ]ean-Herve Bradol, damals Einsatzleiter
unmöglich erweisen, konnte ich mich immer noch anders ent
von MSF Frankreich, aus Kigali nach Paris zurück und erklärte im
scheiden. Ich war dreiunddreißig, alleinstehend und frei. Ich 1 77
musste es wenigstens versuchen, sonst hätte ich am Morgen nicht mehr in den Spiegel schauen können. Theoretisch wusste ich, was auf mich zukam, aber im Nachhinein betrachtet, hatte ich nicht die geringste Vorstellung davon. Ich reiste gemeinsam mit Jonathan Brack nach Europa. Er war
Mitarbeitern des MSF-Tearns vor Ort und besprachen mit Julia na, der Koordinatorin, die Einzelheiten zu Konununikation und Logistik. Am darauffolgenden Morgen flogen wir von Nairobi aus nach Entebbe in Uganda und bestiegen dann einen UN Hubschrauber nach Kabale in Uganda, wo wir im Highland Hotel schliefen. Die erste Nachthälfte suchte ich nach einem
wie ich Kanadier, neunundzwanzig und Logistik-Experte. Er
funktionierenden Telefon, um das MSF-Hauptquartier in Ams
hatte bereits für MSF gearbeitet und sein Medizinstudium noch
terdam anzurufen. Später überprüfte ich den Inhalt des Notfall
nicht abgeschlossen. Er war ein wenig überstürzt abgereist und
koffers, den ich aus Toronto mitgebracht hatte, denn in Somalia
hatte sich noch nicht impfen lassen, trug die Impfstoffe aber bereits im Koffer bei sich. Ich verabreichte ilun die Spritzen in einem Waschraum am Flughafen, kurz bevor wir an Bord gin gen. Wir waren beide nervös. Ich versicherte ihm, dass ich durchaus die Absicht hätte, nach Kanada zurückzukehren, und dass wir nur so lange bleiben würden, wie es gefahrlos möglich wäre.
hatte ich gelernt, mich auf niemanden zu verlassen als auf mich selbst. Das meiste von dem, was er enthielt - Breitbandantibio
tika, Infusionsschläuche, Beatmungskanülen, Plasmaexpander,
ein kleines Operationsbesteck -, hatte ich von den Kranken schwestern bekommen, mit denen ich in Toronto zusammen gearbeitet hatte. Ich zeigte den Koffer auch Eric, damit er Be scheid wusste, falls er ihn einmal benötigen sollte.
Zehn Stunden später standen wir im Büro von MSF Amster
Am darauffolgenden Morgen gönnten wir uns ein schnelles
dam und lernten vveitere Mitglieder unseres Teams kennen: Efke
Frühstück und begaben uns zum UN-Hubschrauber-Startplatz uns ein UNAMIR-Fahrzeug abholen sollte. Wir
Bille , eine holländische Krankenschwester, die in Liberia im
in Kabale,
Einsatz gewesen war, und Eric Vreede, einen holländischen An
waren nervös, erst recht, als wir einigen der in Kabale statio
ästhesisten, bemerkenswert freundlich, der in der chirurgischen
nierten UN-Soldaten begegneten. Die beiden Ghanaer waren
wo
Abteilung assistiert hatte. Wir tranken mit Jules Kaffee, während
ernst und düster und hatten nichts von dem herausfordernden
er zunächst mich, dann die übrigen Mitarbeiter über die neues
Gebaren, wie ich es oft an UN-Soldaten in Somalia bemerkt
ten Entwicklungen aufklärte. Die Lage änderte sich schnell. Der
hatte. Obwohl sie nicht direkt in Ruanda stationiert waren,
Flughafen Kigali war beschossen worden und deshalb geschlos sen. »Es ist noch nicht sicher, ob ihr einreisen könnt«, sagte
wussten sie nur allzu gut, was dort vor sich ging. Die Grenze zwischen Ruanda und dem Rest der Welt war nur von einem
jules. »Und ob ihr das auch wirklich wollt<<, bemerkte jemand
knorrigen Holzbalken gekennzeichnet, der als Barriere quer
aus dem Notfallteam, der kurz zuvor ins Büro gekommen war.
über einer Sandstraße lag. .
»Mal sehen, was möglich ist«, sagte ich. »Natürlich. Mehr können wir nicht tun<<, sagte Jules. Tags darauf bestiegen wir das Flugzeug nach Nairobi. Das Team war nervös, trotzdem schliefen die meisten während des Flugs. Ich nicht. Stattdessen brütete ich über den Dokumenten, die Jules mir in die Hand gedrückt hatte. UN-Flüge von Nairobi nach Kigali waren immer noch verschoben, also übernachteten wir in einem Hotel in Nairobi. Wir trafen uns dort mit einigen
Wir wurden von UN-Soldaten über die Grenze nach Ruanda gefahren, in die Region Akagara, die jetzt von den rebellieren den Tutsi der Ruandischen Patriotischen Front kontrolliert wur de. Wir saßen in einem vw-Bus, den ein Schweizer Offizier
der UN-Friedenstruppe fuhr. Sein Hemd und
grüne Uni
formjacke waren schweißgeträn.kt. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Im Minibus roch es nach seinen Gitanes. Auf unserer Fahrt durch den Wildpark im Nordosten Ruandas sa17 9
hen wir aufgequollene Leichen im Fluss treiben. Einige hatten
Das Rote Kreuz hatte die meisten Leichen aus den Anfangs
sich am Ufer in den Zweigen verfangen, und Fliegenschwärme
wochen des Genozids fortschaffen lassen, etwa hunderttausend
schwebten wie schwarze Tornados über ihnen. Die Landschaft
allein in der Stadt Kigali. Die Toten, die wir jetzt sahen oder
wirkte wie erstarrt, während der vw Diesel hochtourig dahin
rochen, waren verhältnismäßig frisch. Mein Blick fiel auf die
jagte. Der Wind trug den süßlich-fauligen Gestank der Verwe
Leiche einer Frau am Straßenrand. Streunende Hunde hatten
sung mit sich. Der Fahrer zündete sich eine frische Zigarette
ihr Gesicht zerstört. Ich versuchte mich zu erinnern, warum
an. Das Fahrzeug bremste vor einem größeren Schlagloch, und
ich gekommen war.
auf der Straße glänzte eine Blutlache in der Sonne. Fliegen schwärmten
um
das Menschenfleisch, das von einem Rudel
Wir näherten uns dem UNAMIR-Hauptquartier, und ich muss te mich konzentrieren. Ich zündete mir noch eine Zigarette an.
streunender Hunde an den Straßenrand geschleift worden war.
Fünf MSF-Mitarbeiter arbeiteten auf der RPF-Seite des Frontver
Die fettgefressenen Tiere rissen sich in aller Seelenruhe ihre
laufs, wo auch UNAMIR stationiert war, und vier im Rotkreuz
Brocken aus dem Kadaver. Eine Weile sahen wir keine Leichen
Krankenhaus, auf der Seite der Regierungsarmee RGF. Als Erstes
entlang der Straße; stattdessen entdeckte jemand eine Zebraher
würde ich mit allen sprechen, um herauszufinden, was über
de und wollte sie fotografieren. Wir hielten an. In einiger Ent
haupt vor sich ging. Wir erreichten das mit Sandsäcken ge
fernung erspähten wir kleine Kochfeuer, und Menschen, die
schützte Hauptquartier. Die Mauern des vierstöckigen Gebäu
davonliefen, als sie uns sahen. Geier hockten auf den Ästen
des - im früheren Leben ein Hotel - wiesen Einschusslöcher
oder zogen am Himmel ihre Kreise. Surreal ist das alles, ver
auf, die mit Holzresten ausgebessert worden waren. In den
flucht surreal, dachte ich. Den Rest der Fahrt waren wir still,
meisten Fenstern fehlten die Scheiben, sie waren mit Sandsä
da Worte in dieser Situation versagten.
cken abgedichtet, die noch intakten Fenster waren mit Gewebe band befestigt worden, damit keine Glassplitter mehr in die
Wir passierten vierzehn Militärkontrollen auf der zweistündi
Innenräume platzen konnten. Leicht abgenutzte weiße Jeeps
gen Fahrt. Als wir Kigali erreichten, früher eine Stadt mit drei
und Pick-up-Trucks der Vereinten Nationen standen auf dem
hundertfünfzigtausend Einwohnern, waren die einzigen Men
Parkplatz. Auf einem weißen Transportpanzer mit schwarzem
schen, die wir sahen, die Leichen auf den Straßen. Ein Gestank
UN-Logo auf der Seite saßen zwei Soldaten. Der eine rauchte,
nach Tod und Verwesung erfüllte die Luft. Ich zündete mir eine
der andere starrte uns wütend an, als wir vorgefahren kamen.
Zigarette an. Wir fuhren an einem bewaffneten Pick-up vorbei,
Ich bemerkte das MSF-Logo auf den Türen zweier Fahrzeuge.
mit etwa zehn RPF-Rebellen auf der Ladefläche. »Ein Teil der
Eines davon, ein Toyota Hilux Pick-up, hatte einen platten Rei
Stadt wird von der Patriotischen Front kontrolliert«, sagte unser
fen. Zwei tadellos gepflegte UN-Offiziere aus Bangladesch,
Fahrer. »Hier sind wir als Gäste manchmal unerwünscht.« Als
Klemmbretter in den Händen, kontrollierten die Motoren und
wir uns dem UNAMIR-Hauptquartier näherten, bemerkte ich
notierten die Autonummern auf den Schildern: »Ich sehe nach,
den Schaden, der dem Parlamentsgebäude auf dem Hügel
ob Teile kaputt sind oder fehlen«, erklärte mir der eine mit
durch Granatenbeschuss zugefügt worden war. Während ich
starkem Akzent. »Aber ich kann nur raten, wissen Sie. Wir kön
aus dem offenen Fenster schaute, versuchte ich möglichst flach
nen die Motoren nicht anlassen, weil wir nicht genügend Treib
zu atmen, damit der Gestank nicht zu tief in mich eindrang,
stoff haben.«
und hielt nach jedem Atemzug ein wenig die Luft an. Die leich te Brise brachte nur halbwegs Erleichterung. r8o
Don MacNeil, ein sonnengebräunter, etwas unfrisierter Ka nadier mittleren Alters, war der stellvertretende Kommandant.
Die Zigarette in der Hand, stellte er sich vor. »Willkonnnen in
und musterten uns lustlos. Einige Planen flatterten in der sanf
der Hölle ohne Treibstoff«, sagte MacNeil und streckte mir die
ten Brise, und Männer rissen Kleider in Streifen und bemühten
Hand entgegen. Seine Stimme klang nüchtern, als
er
sich an
sich, die losen Enden wieder festzubinden. Die Menschen hat
unseren Schweizer Fahrer wandte, der jetzt, innerhalb des Ge
ten sich ihre Bereiche geschaffen und verteidigten sie
ländes, entspannter war. »Wie war die Fahrt?«
Mächtigeren saßen unter den Freilufttribünen, die Schwäche
die
»Es ging so« , antwortete der Fahrer. »Die Zahl der Leichen
ren obenauf. Pepijn war ganz allein, und er tat sein Möglichstes
hat sich diesmal in Grenzen gehalten.« 0 Gott, dachte ich, wie
für die Menschen im Stadion. Und das war bei aller Anstren
viele waren es denn normalerweise?
gung nicht viel.
Pepijn Boot, Logistik-Experte und einer der fünf MSF-Mitar beiter auf RPF-Seite, wollte unverzüglich zum Amahoro-Stadion fahren. Schmutz hatte sich in den Falten seiner Hände abgesetzt und überzog seine Unterarme, sein Haar war fettig und unge waschen, sein Hemd wies Schweißflecken und Lehmspritzer auf. Er grüßte flüchtig, und seine blauen Augen sahen durch mich hindurch, als er darauf bestand, sofort zum Stadion zu fahren. Wir konnten aber erst aufbrechen, wenn UNAMIR uns ein Fahrzeug und einen Fahrer zur Verfügung stellte. Boot war erst eine Woche in Ruanda, machte aber schon jetzt einen völ lig desorientierten und desolaten Eindruck. Das Stadion mit seinen dreißigtausend Sitzplätzen, etwa ei nen Kilometer vom UNAMIR-Hauptquartier entfernt, war von den Blauhelmen zu einem Logistik-Stützpunkt verwandelt wor den. Dutzende beschädigte Lkws, einige Transportpanzer und
Die Behelfsklinik befand sich in einem der Umkleideräume unterhalb der Tribünen. Etwa zweihundert Leute drängten sich
in diesem Raum, der bestenfalls für dreißig konzipiert worden war. Die Luft war zum Schneiden dick vom Geruch der viel zu vielen Menschen, die schon viel zu lange in einen viel zu klei
nen Raum gepfercht waren. Der Raum war dunkel. Nur gele gentlich drang Sonnenlicht durch die Tür und fiel schimmernd auf die olivgrünen Wände. Es gab keine Betten, und die weni gen Decken waren mit Kot beschmiert. Eine Frau ging an mir vorbei; sie trug einen Eimer mit Fäkalien zu den Latrinen, die Pepijn neben dem Spielfeld hatte ausheben lassen. Ein Mann
wand sich vor Schmerzen; eine Frau tröstete ihr schreiendes Kind. Ein anderer Mann, schweißgebadet, die Beine von Durch fall bedeckt, schrie im Fieberwahn nach Wasser. ))Agwa, agwa, agwa.« Ich musste mich fast übergeben.
andere weiße UNo-Fahrzeuge standen nutzlos um das Spielfeld
»Diese Frau ist Krankenschwester«, sagte Pepijn leise. Die
herum, weil keine Ersatzteile verfügbar waren. >>Auch für sie
Frau sah mich an. Ihr Blick war leer. In der einen Hand hielt
gibt es kein Benzin« , sagte Pepijn. Im Stadion hatten einerseits
sie einen Eimer mit dem UNO-Logo darauf, der halb mit Wasser
Tutsi Zuflucht genommen, die den Todesschwadronen der In
ger ullt war, in der anderen einen roten Plastikbecher. Sie stieg
terahamwe und den ruandischen Regierungstruppen entkom
über die Menschen hinweg, von denen einige schliefen, andere
men waren, andererseits Hutu, die sich vor den vorrückenden
sich wanden, wieder andere schon tot waren, und trat neben
Rebellen fürchteten, die mittlerweile das Gelände rings um das
den Mann, der nach Wasser schrie. »Sie bringen uns nur die
Stadion kontrollierten. Wer das Stadion verließ, wurde getötet.
Todkranken her, meistens kurz, bevor sie sterben«, stellte Pe
»Hier sind ungefahr zwölftausend Menschen versammelt« ,
pijn fest. »Die Toten fortzuschaffen ist ein Problem. Manchmal
sagte Boot. »Wir versuchen, Latrinen zu graben, aber wir ha
dauert es Tage. Es fehlt uns hier wirklich an allem: Wir brau
ben nicht genügend Spaten.«
chen Medikamente, Decken, Plastikplanen, Balken für Latrinen,
Im Stadion stank es nach Kot, altem Blut und Tod. Auf den Tribünen saßen Leute unter aufg espannten blauen Plastikplanen
Schaufeln.« Er hielt inne, und wieder starrten seine blauen Au gen durch mich hindurch. >}Wir haben nichts.«
Wieder auf dem UNAMIR-Gelände, kam Steven Kyler auf mich zu, ein Spezialist für Wasser- und Sanitärtechnik im Krisenteam. Er war seit zwei Wochen im Land. Seine Fingernägel waren un geschnitten, über eineinhalb Zentimeter lang, und seine Augen huschten erbarmungslos umher. Er sprudelte Worte hervor, eine Art freie Gedankenassoziation, die immer wieder abriss. Steven war unter anderem für die Sicherheit des Teams im Notfall verantwortlich. Er hatte keinerlei Vorkehrungen getrof fen. Es gab kein Wasser, keinen Treibstoff, keine Lebensmittel, keine Straßenkarten und keine Notfallkoffer. Es gab noch nicht einmal einen Evakuierungsplan. Uns standen zwei Fahrzeuge zur Verfügung: Das eine hatte einen platten Reifen, und beide hatten kein Benzin. Wir stiegen die Treppe hinauf in den dritten Stock, wo man für Ärzte ohne Grenzen hastig ein Büro eingerichtet hatte. Un ser fünfköpfiges Team war dort einquartiert. Über uns waren mehrere UN-Soldaten untergebracht, unter uns befanden sich weitere Zimmer und Büros - auch dasjenige von General Dal laire. Unser Büro war ein einziges Durcheinander, das von UNA MIR nicht viel besser, obwohl es nach mehrmaligem Beschuss aufgeräumt worden war. Es gab kein fließendes Wasser, weder zum Trinken noch zum Spülen. Der Gestank aus den Toiletten, die einige immer noch benutzten, mischte sich mit dem Ge ruch aus den hastig ausgehobenen Latrinen. Ich lernte Giovanni Gabrini kennen, einen italienischen Chi rurgen, seine Frau Dana Turati, eine Operationsschwester, und Jacques Ramsey, einen Arzt und der Letzte der fünf ausländi schen MSF-Mitarbeiter auf RPF-Seite. Sie waren einige Tage vor uns angekommen und wohnten im UNAMIR-Hauptquartier. Jacques hatte ein warmes Lächeln und wirkte strukturiert und entschlossen. Er war schon erpicht darauf, das König-Faisal Krankenhaus auszustatten und in Betrieb zu nehmen. Da keiner der beiden funktionierenden Transportpanzer der Vereinten Nationen verfügbar war, schlüpften wir in kugelsichere Wes ten, und ein Blauhelm-Soldat brachte uns in einem liN-Gelän dewagen zu dem drei Kilometer entfernten Stadion. Wir fuhren
über mehrere Kreisverkehrsschleifen und eine völlig zerschos sene Landstraße, die als Frontlinie zwischen RPF-Rebellen und Regierungstruppen fungierte. Als Teil des Arusha-Abkommens hatte die Ruandische Patrio tische Front in Kigali zum Schutz ihrer Delegierten ein Batail lon stationiert. Die Soldaten hatten einige Tage vor Beginn des Genozids hier Stellung bezogen. In den ersten Wochen des Völ kermords war Paul Kagame von Uganda aus zu ihnen vorgesto ßen, um für seine vorrückenden Truppen den Weg zu bereiten; die Einheiten der Regierungsarmee in der Hauptstadt sollten auf diese Weise von den Truppen außerhalb isoliert werden. Ende Mai hatten sich die besten Soldaten der Regierungsar mee - die Präsidentengarde und vier Gendarmeriebataillons mit den Interahamwe zusammengetan, um eine Gegenoffensi ve zu starten. Außerhalb von Kigali drängten die Rebellen die Regierungstruppen nach Westen zurück. Während die Intera hamwe-Milizen weiter Tutsi niedermetzelten, stärkten die Ein heiten der Regierungsarmee ihnen den Rücken. Berichten zu folge töteten die Rebellen der RPF auf ihrem Vorstoß Hutu ehemalige Regierungsbeamte - samt ihren Familien. Überall im Land beschränkte die Patriotische Front die Bewegungen der Militärbeobachter der UNAMIR, vermutlich im Bestreben, die eigenen Aktivitäten, vor allem die Massaker, zu vertuschen. In Kigali fanden die meisten Zweikämpfe Mann gegen Mann in der Nacht statt. Der Kampf zwischen Rebellen und Regie rungstruppen war in vollem Gange, wobei die Rebellen signi fikante Siege für sich verbuchen konnten. In einigen Gebieten waren die Einheiten der Regierung auf dem Rückzug. Plünde rungen, Meuterei und Fahnenflucht waren an der Tagesord nung. In verlassenen Häusern und in Schützengräben zu beiden Seiten der Straße verbarrikadierten sich Heckenschützen. Sie schossen auf alles, was sich bewegte. Wir fuhren, was das Zeug hielt, drosselten die Geschwindigkeit nur, wenn wir uns dem Krankenhaustor näherten. Das Faisal-Krankenhaus war ein funkelnagelneuer Bau mit ISO Betten, die noch nie benutzt worden waren. Die Einwei-
hung hätte im Juni stattfinden sollen, die Betten und ein Groß
Als ich eben im Begriff war, zum UNAMIR-Hauptquartier zu
teil der für ein Krankenhaus erforderlichen Ausrüstung waren
rückzufahren, sah ich, wie ein kleiner Junge von einer Gruppe
im Keller gelagert. Jetzt diente das Gebäude sechstausend Men
älterer Jungen gejagt wurde. Sie warfen Steine nach ihm, als er
schen als Zufluchtsstätte, die den Tötungskommandos und dem
auf das Wachhäuschen neben dem Krankenhaustor zurannte
Bürgerkrieg zu entkommen suchten, der ringsum wütete. Die
und sich am Ende weinend auf den Rinnstein setzte, während
meisten hatten sich zu Beginn des Genozids aus der Umgebung
die älteren Kinder ilm verhöhnten. Ich ging zu ihm, und er
in das Krankenhaus geflüchtet. Eine elf Mann starke Einheit
sagte mir, sein Name sei Lulu. Er war fast fünf Jahre alt und ein
tunesischer Blauhelme bot vermeintlich Schutz vor den Ereig
Metis, ein Mulatte. Gemischtrassige Menschen hatten es selbst in
nissen draußen. Jedes Zimmer des vierstöckigen Gebäudes war
Friedenszeiten schwer in Ruanda. Ich würde später erfahren,
mit Menschen vollgepackt. Immer noch gelang es einigen, das
dass sein Vater Belgier war
Gelände heimlich zu betreten, zumeist in der Nacht, doch je
brandmarkt, ganz gleich, ob seine Mutter eine Tutsi oder eine
leerer die Stadt wurde, und je heftiger die Kämpfe wüteten,
Hutu war. Ich setzte mich kurz zu ihm, und er spielte mit
desto weniger Menschen wurden es.
meinem Füller. Ich bat ihn, darauf aufzupassen, bis ich wieder
Es gab nicht ein einziges Bett auf den Stationen. Stattdessen
Lulu war also auf jeden Fall ge
käme.
bedeckten Töpfe, Pfannen, Decken und was immer die Men
Wir fuhren mit Vollgas zurück zum UNAMIR-Hauptquartier,
schen auf ihrer Flucht mitgeschleppt hatten, den Fußboden. Auf
wo ich Don MacNeil traf. Ich wusste bereits, dass es zu gefähr
den Balkonen, in den Gängen, den Abstellkammern, Treppen
lich
häusern und Toiletten drängten sich die Menschen, die aus
»Kommt nicht in Frage«, sagte MacNeil und zündete sich eine
Mangel an fließendem Wasser seit fast zwei Monaten nicht mehr
Zigarette an. »Seien Sie nicht dumm. Es herrscht dort nachts
war,
auf dem
Krankenhausgelände
zu
übernachten.
gebadet hatten. UNAMIR und das Rote Kreuz hatten einige kleine
viel zu viel Granaten- und Mörserbeschuss, und wenn die Ka
Generatoren besorgt, um die wenigen Wasserpumpen anzutrei
cke am Dampfen ist, haben wir nicht genügend Waffen, um eure Leute herauszuhauen. Und alleine könnt ihr nicht her
ben. Innerhalb des zwei Meter hohen Maschendrahtzauns, der das Krankenhausgelände umgab, waren Zelte errichtet worden.
aus
Die nähere Umgebung des Gebäudes sowie der Boden des offe
len im Dunkeln bestimmt keinem Interahamwe-Kämpfer be
entlang der Straße wird nachts heftig gekämpft. Sie wol
nen Atriums im Zentrum des Hauses waren mit Feuerstellen
gegnen. Und wenn die Front sich verschiebt und ein Teil der
übersät. Der Geruch nach brennendem Holz bot eine willkom
Strecke an die Regierungstruppen flillt, dann sind Sie geliefert.
mene Ablenkung.
Aber die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen.« MacNeil er
Im Inneren drängten sich unversorgte Kranke und Verwun
klärte mir das Funksystem der UNAMIR, das wir mit unseren
dete, wohin man sah. Viele lagen sterbend zwischen denen,
MSF-Funkgeräten und Walkie-Talkies abstimmten. Sein Funkruf lautete »Mama Papa One«, Dallaires »Mama Papa Zero« und der unse
die nur einen Platz brauchten für ihre Decken und Kochtöpfe. Zehn Minuten nach meiner Ankunft warf ich einen Blick in
re ;;Mama Papa
einen der vollbelegten Räume und sah eine Frau mit einer
Territorium in der Stadt beanspruchte, und wo sich Verände rungen abzeichneten. Das König-Faisal-Krankenhaus stand jetzt
Platzwunde am Kopf, die sich konvulsivisch am Boden wälzte. Ein Assistenzarzt und einige Schwestern wohnten bei den Men
Nine.«
Er beschrieb, welche Gruppierung welches
unmittelbar an der Front, und das Rotkreuz-Krankenhaus auf
schen auf dem Krankenhausgelände. Sie taten ihr Möglichstes
dem Gebiet der Regierungstruppen. »Das Faisal hat einige Tref
und waren hoffnungslos überlastet.
fer abbekommen, das Rotkreuz-Krankenhaus dagegen ist seit
186
Anfang Mai verschont geblieben«, erklärte er. »Aber die Regie
mand einen Fluchtversuch unternahm. Zwischen Sonnenunter
rungsarmee ist nicht eben begeistert, dass Ärzte ohne Grenzen
gang und Sonnenaufgang töteten sie Tutsi und gemäßigte Hutu.
sie des Völkermords bezichtigt und nach einer Intervention der
Zu diesem Zeitpunkt, so MacNeil, war UNAMIR auf weniger als
Vereinten Nationen schreit. Die Rebellen der Patriotischen
470 Friedenssoldaten geschrumpft und wartete auf den verspro
Front sind auf dem Vormarsch. Sie nehmen die Stadt nach und
chenen Nachschub: Treibstoff, Waffen, Lebensmittelvorräte und
nach ein, aber das kann sich wieder ändern.«
Truppenverstärkung. Bis all dies ankäme, könne UNAMIR allen
>>Wie meinen Sie das?«, fragte ich.
falls die Stellung halten, doch was wäre, wenn die Lage sich
»Die Franzosen treiben ihre Spielchen mit uns«, sagte Mac
noch weiter zuspitzte? Es war kein ermutigendes Gespräch.
Neil. »Sie schaffen es, trotz des Embargos, die Regierungsar
Es war zu gefahrlieh für das MSF-Team, sich aus dem kleinen
mee weiter mit Waffen auszustatten. Auch die Rebellenarmee
Areal herauszuwagen, das UNAMIR auf dem Territorium der Re
ist nicht sonderlich angetan von Ärzte ohne Grenzen. Wegen
bellen belegte, deshalb durfte niemand ohne meine Erlaubnis
der Franzosen. Mal sehen, was weiter passiert.«
das Gelände verlassen. Meistens wurden wir in UNO-Fahrzeu
Die Soldaten der RGF und der Interahamwe mochten militä
gen von Blauhelmsoldaten herumgefahren. Um die Frontlinie
risch auf dem Rückzug sein, kannten aber keine Gnade, wenn
zu überqueren, ließen wir uns in einem Transportpanzer fah
es darum ging, Tutsi-Zivilisten zu töten. Auf der Stadtkarte an
ren, wenn einer verfügbar war. Es gab nur zwei, die funktio
der Wand deutete MacNeil auf Waisenhäuser, Kirchen, diploma
nierten, und sie sollten die gesamte UNAMIR-Mission im Land
tische Gebäude, eine Botschaft und das Centre Hospitalier de
abdecken. Gelegentlich blieb uns nichts weiter übrig als in »ge
Kigali; in jedes dieser Häuser hatten sich Menschen geflüchtet,
fundenen« oder geborgten Fahrzeugen der Vereinten Nationen
und das eine oder andere befand sich in Reichweite der Blauhel
oder des Roten Kreuzes herumzufahren.
me. Einige Menschen versteckten sich auch in Privathäusern, die meisten im Bezirk Kimihurura, wo ich 1988 gelebt hatte. Seit Beginn des Völkermords waren über zehntausend Men schen von UNAMIR-Einheiten gerettet worden, die nur über
MacNeil organisierte einen Transportpanzer, der mich über die Frontlinie zum Rotkreuz-Krankehhaus brachte. Ich wollte mich vor Ort mit dem
MSF-Team
und mit Philippe Gaillard
treffen, dem Einsatzleiter des Roten Kreuzes. Da das Fahrzeug
Faustfeuerwaffen verfügten. UNAMIR wusste genau, dass sich an
nur über einen schmalen Sehschlitz aus Panzerglas verfügte,
all diesen Orten Menschen befanden, doch verhinderten die
konnte ich nicht viel sehen, als Schüsse fielen und Projektile
Todesschwadronen ihre Überführung in sicherere Gegenden.
von der gepanzerten Metallhülle unseres Fahrzeugs abprallt en,
Gelegentlich konnten sie noch einige Menschen herausholen,
während wir hügelaufwärts und hügelabwärts rumpelten, über
aber nicht viele. >>Wir haben ja nicht einmal genügend Helme.
Schlaglöcher und zerschossene Straßen. Nach dem dritten Be
Lassen Sie diese kugelsichere Weste nicht aus den Augen - sie
schuss wollte ich mir eine Zigarette anzünden, aber der Fahrer
ist heiß begehrt, und es gibt keinen Ersatz«, sagte MacNeil und
wies mich darauf hin, dass Rauchen gegen die Regeln verstieß.
rauchte die dritte Zigarette zu Ende. Wer in der Stadt eingeschlossen war, für den bedeutete ein
Schließlich ratterten wir den letzten Hügel hinauf zum Rot kreuz-Krankenhaus und bogen durch das Haupttor auf das von
Schritt vor die Tür zu tun den sicheren Tod. Blieb er dagegen
einer Mauer eingeschlossene Gelände. Ehemals eine Schule, be
im Versteck, war es ein Warten auf den Tod. Die Regierungsar
stand das behelfsmäßige Krankenhaus aus mehreren Klassen
mee und die Imerahamwe umkreisten tagsüber die Gebäude
zimmerbauren auf einem Hügel, und aus Verwaltungsgebäuden
oder waren nicht weit, tauchten binnen Minuten auf, wenn je-
unweit der Straße, am Fuß des Hügels. Es war mit Sandsäcken
188
gesichert und mit riesigen Rotkreuz-Fahnen auf den Dächern,
Im Krankenhaus befanden sich etliche Tutsi, die es nicht ver
Mauern und den Bäumen ringsum deutlich gekennzeichnet.
lassen konnten. Die Mehrheit der Patienten aber waren Hutu,
Wie das Faisal war auch dieses Krankenhaus voll belegt; etwa
die während der RPF-Offensive verwundet worden waren. Da
zweitausendfünfhundert Menschen lebten in Zelten oder Un
Ärzte ohne Grenzen wiederholt die Vereinten Nationen gebeten
terständen zwischen den Klassenräumen, die als Krankenstatio nen dienten. Ärzte ohne Grenzen und Rotes Kreuz führten hier
an den französischen Präsidenten appelliert hatte, er möge die
seit der ersten Woche des Genozids chirurgische Eingriffe
mandisehe Regierung persönlich auffordern, das Morden sein
durch. Hutu und Tutsi hatten hier ebenso Zuflucht gesucht wie
zu lassen, galt die Organisation bei der Regierungsarmee und
im Faisal, aber die Verwundeten waren hier besser aufgehoben,
ihren Milizen als tutsi-freundlich. Das MSF-Team sammelte da
hatte, dem Morden ein Ende zu machen, und mehr als einmal
weil das Krankenhaus funktionstüchtig war. Die Verletzungen
her sämtliche Sticker und Kleidungsstücke mit dem MSF-Logo
der Menschen waren teils durch Macheten, teils durch explo
ein und trug nur noch Kittel mit den Insignien des Roten Kreu
dierte Granaten oder Landminen verursacht worden, viele Pati enten wiesen Schuss- und Schrapnellwunden auf oder hatten
zes, nur leider war allgemein bekannt, dass im Krankenhaus auch Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen arbeiteten. Gilbert
gebrochene Rippen, weil sie lebendig begraben worden waren.
zufolge konnten die Ärzte ihre Arbeit fortsetzen,
solange
Nach der Operation konnte der Verwundete nirgendwohin ge
Interahamwe und RGF das Rotkreuz-Krankenhaus noch respek
hen und gesellte sich zu den anderen Zufluchtsuchenden.
tierten. Wir sprachen jedoch auch über die Möglichkeit, das
Ich traf Philippe Gaillard, der seit über sieben Monaten in Ruanda tätig war. Er war ein dünner, bärtiger, dunkelhaariger
MSF-Team zu evakuieren, und waren uns einig, dass man j eder zeit bereit sein müsse, die Zelte abzubrechen.
Mann mit Nikotinflecken an den Fingerkuppen und freundli
Ich fuhr im Transportpanzer zum Faisal-Krankenhaus zu
chen, klugen Augen. Er trug in jeder Lebenslage eine Krawatte
rück, um mein Team zu holen. Am Haupttor wartete Lulu auf
und ein braunes Sakko mit den Insignien des Roten Kreuzes
mich. Lächelnd gab er mir den Stift zurück. Ich begleitete ihn
auf der Brusttasche. Trotz des Sakkos wirkte er klapperdürr und
zum Krankenhausgebäude. Seine Mutter war seit Stunden in
rauchte ohne Pause. Wir schüttelten einander warm die Hände,
heller Aufregung und sichtlich erleichtert, ihn wohlauf zu se
und ich mochte ihn auf der Stelle. Das Artilleriefeuer um die
hen. Weinend schloss sie ihn in die Arme und verschwand in
Stadt rücke dem Krankenhaus immer näher, stellte er fest. »Falls
der Menge.
nötig, holen wir eure Leute heraus«, versicherte er mir. »UNA MIR hat's versprochen. Wir brauchen nur zu fragen.«
Wir kehrten zum UNAMIR-Hauptquartier zurück, und ich verbrachte die halbe Nacht am Satellitentelefon, um mit Jules
Nachdem ich die Situation von UNAMIR kannte, war ich
in Amsterdam zu sprechen. Die Stadt stand unter heftigem Be
nicht beruhigt. Ich wollte die Arbeitsbedingungen unseres
schuss, und wir fassten Pläne für die folgenden Tage. Was da
Chirurgenteams sehen, das aus vier Franzosen bestand, dem
nach käme, würde sich zeigen.
Anästhesisten Patrick Henaux, den Operationsschwestern Ma
Am darauffolgenden Morgen fuhren wir zum König-Faisal
deline Boyer und Isabelle Lemasson und dem Logistik-Experten
Krankenhaus zurück. Efke, unsere Krankenschwester, trieb die
Gilbert Hascoet. Ich sprach ausführlich mit Gilbert, dem Mit
Leute aus dem Operationssaal und ließ ihn für uns säubern und
Koordinator des Teams. Er hatte während des Bürgerkriegs für Ärzte ohne Grenzen in Mosambik gearbeitet und war sehr
Giovanni dort Schwerstverwundete operieren. Unter den vielen
praktisch veranlagt.
Menschen, die im Krankenhaus lebten, bat Efke jeden mit ein
vorbereiten. Schon nach wenigen Stunden konnten Eric und
wenig medizinischer Erfahrung, uns zur Hand zu gehen. Ich ging in den Operationssaal, um Giovanni und Eric bei einem schwierigen Patienten zu assistieren. Eine große ruandische Frau stand neben dem Operationstisch, und als sie mich sah, fing sie an zu weinen. »Sie sind das, Dr. James.« Es war Therese, die Krankenschwester, die ich 1 9 88 kennengelernt hatte. Wir umarmten uns. Jetzt weinten wir beide. Therese war von ihrem Tutsi-Ehemann und den Kindern getrennt worden. Sie wusste nicht, ob sie noch am Leben waren. Im Laufe einer Woche verwandelten wir das Faisal in ein funktionierendes Krankenhaus. Die Menschen wurden aus den Krankenzimmern in andere Räume verlegt und die Zimmer ge säubert. Außerdem errichteten wir eigene Stationen für Kinder, für frisch Operierte und für Erwachsene. Jacques war verant wortlich für die Erwachsenenstationen, Eric und Giovanni für die Chirurgie und die frisch Operierten, und ich kümmerte mich um die Kinder. Auf der Kinderstation lagen etwa achtzig Patienten. Giovanni hatte einige operiert, aber die meisten litten an Unterernäh rung, Durchfall oder unbehandelter Malaria. Mein erster Patient war ein dreijähriger Junge mit einem massiven Abszess zwi schen Lunge und Brustbein, der sich um einen Granatsplitter in seiner Brust gebildet hatte. Nachdem ich den Splitter heraus geholt hatte, legte ich eine Kanüle, um den Eiter herauszuzie hen. Die meisten Kinder hatten verhältnismäßig kleine Verlet zungen von Macheten und Knüppeln davongetragen, die ich nähte und verband. Eli, ein siebzigjähriger Hutu, sorgte dafür, dass einige der Frauen, die im Krankenhaus lebten, den Kindern zu essen gaben und sie badeten. Eli humpelte leicht und hatte traurige, blutun terlaufene Augen. Vor Beginn des Völkermords hatte er in einer MSF-Klinik in Kigali geputzt. Mehr gibt es nicht zu sagen über ihn, außer vielleicht, dass er immer einen weißen Laborkittel trug, den er irgendwo gefunden hatte, und dass er der Einzige war, der eine Kerosinlampe besaß. Eines Morgens beobachtete ich ihn, wie er sich mühte, ein Stück Holz über dem Ellbogen
eines kleinen Mädchens wieder festzukleben. Ich hatte es dort angebracht, um den Arm der Kleinen für einen Infusions schlauch gestreckt zu halten. Während er arbeitete, beruhigte er das Kind. Er war kein Pfleger, aber er gab sich große Mühe. Ich vertraute ihm. Er war der selbsternannte Schutzengel der Kinder - und er machte seine Sache gut - besonders nachts. Wer zu den Kindern wollte, musste zuerst an Eli vorbei. Granatfeuer und Mörserbeschuss um das Krankenhaus her um waren ein großes Problem, also errichteten wir Luftschutz
räume rings um die dicken Betonsäulen zwischen den Stock werken und um die Treppenhäuser. Wir impften alle Kinder im Krankenhaus gegen Masern und Tetanus und richteten im obersten Stockwerk für alle elternlosen Kinder, die weder ernst haft krank noch verletzt waren, ein Waisenhaus ein. Mit Hilfe des Roten Kreuzes konnten wir das gesamte Krankenhaus mit Wasser versorgen. Die vielen Schläuche an den aufblasbaren Tanks auf jedem der vier Balkone und auf dem Rasen um das Gebäude herum ließen an riesige Spinnen denken, die die Mauer hinaufkrabbelten. Trotz des Fortschritts wurden unsere medizinischen Vorräte allmählich knapp. Dem Roten Kreuz er ging es genauso. Der Flugplatz stand noch immer unter Be schuss. UNAMIR-Flugzeuge konnten nicht landen. Jeden Tag nahm ich im UNAMIR-Gebäude an den sogenannten Morgengebeten teil - Lagebesprechungen mit General Dallaire und seinem Kommandoteam. Vor oder nach den Sitzungen traf ich mich für gewöhnlich mit Oberst Yaache aus Ghana oder
mit Don MacNeil, um unsere Fahrten zu koordinieren und, wenn möglich, für drei Tage im Voraus zu planen. Ich unter hielt mich auch mit den fünfzehn Journalisten, die im UNAMIR Gebäude lebten, um Informationen zu sammeln, oder mit Ma jor Frank Kamanzi, dem RPF-Verbindungsoffizier für UNAMIR. Nur mit Offizieren der Regierungstruppen traf ich mich nie, zurnal sie sich weigerten, mit UNAMIR zu kooperieren. Der internationale Protest verschiedener Hilfsorganisationen zeigte allmählich Wirkung. Anfang Juni verkündete MSF öffent1 93
lieh, dass Mediziner außerstande seien, einen Völkermord zu
gungsfahrten der Friedenstruppe bestenfalls sporadisch. Ugan
unterbinden, und forderte daher die Vereinten Nationen auf,
da verhinderte, dass die Vereinten Nationen Waffenlieferungen
den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Am 8. Juni
an die RPF-Rebellen jenseits der Landesgrenze überwachten.
hatte der Sicherheitsrat beschlossen, die Befugnisse von UNA
Anfang Juni hatte UNAMIR für seine 470 Mann starke Truppe
MIR zu erweitern: Die Blauhelme sollten innerhalb Ruandas so
nur noch Nahrung und Wasser für wenige Tage und nur noch
genannte Sicherheitszonen für Zivilisten schaffen. Aber schöne
für zwei Tage Benzin. Auch unser MSF-Team ernährte sich mitt
Worte allein ändern bekanntlich nicht viel. Dallaire wartete
lerweile von abgelaufenen Bohnen, Sardinen, Dosenwürstchen
noch immer auf die Ersten der fünftausendfünfhundert Solda
und Kirschkuchen aus Deutschland.
ten, die ihm die ON-Resolution vom Mai als Verstärkung zuge
Größere Massaker kamen bei den genannten »Morgengebe
sichert hatte. Die Vereinten Nationen, allen voran die Amerika
ten« zur Sprache. Auch die politischen Winkelzüge der Verein
ner, weigerten sich nach wie vor beharrlich, das Geschehen in
ten Nationen und der internationalen Gemeinschaft kamen bei
Ruanda beim Namen zu nennen. Zwei Tage nach der Resoluti
diesen Gelegenheiten auf den Tisch. Eines Tages erfuhren wir,
on vom 1 7 . Mai bestand das amerikanische Außenministerium
dass die UN-Menschenrechtskommission plante, mehrere Be
darauf, dass man in Ruanda nicht alle Morde der Kategorie
vollmächtigte nach Ruanda zu entsenden, die entscheiden soll
Genozid zuweisen könne. Die Vereinten Nationen betrieben
ten, ob tatsächlich ein Völkermord im Gange war. Nach dieser
Haarspalterei, um nur j a nicht zum schnellstmöglichen Zeit
Ankündigung beugte ein Offizier sich zu mir herüber und
punkt militärisch einschreiten zu müssen, wie es das Gesetz im
flüsterte: »Ach, sieh mal an. Und wo sind sie in den vergange
Falle eines Völkermords vorsah.
nen zwei Monaten gewesen, verdammt nochmal ?« Auch die
Bei den Morgenbesprechungen wurden Berichte von Mili
Berichte in den lokalen und internationalen Medien wurden
tärbeobachtern vorgelesen, die überall im Land die Truppenbe
aufmerksam verfolgt. Die wiederholten Appelle der Friedens
wegungen sowie Verbrechen und Verluste beider Parteien auf
truppe an die Vereinten Nationen, man möge doch endlich die
zeichrieten. Mittlerweile gab es geschätzte eineinhalb Millionen
Hasstiraden aus dem Radiosender RTLM verbieten, waren zur
Binnenvertriebene in Ruanda, und mindestens eine halbe Milli
Farce geworden.
on Flüchtlinge in Tansania. Tutsi strömten von Uganda aus in
Einmal hieß es, das Büro der Vereinten Nationen zur Friedens
den Nordosten Ruandas, während vertriebene Hutu sich nach
sicherung in Nairobi wolle UNAMIR keine größeren Mengen an
Westen bewegten, in Richtung Zaire. Die Regierungsarmee ver
Lebensmitteln und Wasser zuteilen, weil die Antragsformulare
hielt sich unverhohlen feindselig gegen UNAMIR, beschoss Fahr
nicht ordnungsgemäß ausgefüllt und fallige Zahlungen nicht
zeuge und blockierte j eden Versuch, gefangene Hutu gegen
geleistet worden seien. Das Personal in Nairobi wolle sich am
Tutsi auszutauschen. Angesichts der Entscheidung der Verein
Montag in New York erkundigen, werde aber vermutlich erst
ten Nationen, nicht mit Waffengewalt einzuschreiten, hatte die
am Dienstag oder Mittwoch Antwort erhalten, weil die Kontakt
Rebellenarmee beschlossen, dem Völkermord auf eigene Faust
person nicht vor Ort sei. Dallaire sprang auf und brüllte: »Wer
Einhalt zu gebieten; UNAMIR sollte sich möglichst heraushalten.
zum Teufel sind diese Leute? Raffen die das nicht? Für die Intera
Die RPF beschränkte daher die Überlandfahrten der Friedenssol
hamwe gibt es keine Sonntage, und für uns ebenso wenig. «
daten und bestand darauf, in den Regionen, in denen sie das
Die Lage
vvar
alles andere als gut. Keine ankommenden Flü
Sagen hatte, die Hilfsaktionen zu überwachen. Während der
ge, unlahige Bürokraten im Büro der UN-Friedenssicherung,
Flugplatz weiterhin unter Beschuss stand, waren die Versor-
politische Misswirtschaft in und um den Sicherheitsrat, Kür1 95
zungen der Treibstoff-, Lebensmittel- und Wasservorräte, dazu keine Truppenverstärkung
-
UNAMIR lebte von geborgter Zeit.
Und wir ebenso. Ich sorgte dafür, dass unser Team sich bereit hielt, das Land zu verlassen. Ich sprach mit Dallaire in seinem Büro über die Evakuierung der französischen MSF-Mitarbeiter im Rotkreuz-Krankenhaus. Dallaire hatte seine Soldaten fest im Griff und genoss großen Respekt. Er war stattlich, gepflegt, sichtlich erschöpft und den noch stets konzentriert. Düster hörte er zu, als ich ihm die Situation am Rotkreuz-Krankenhaus schilderte. Er kannte sie nur allzu gut. Gaillard hatte recht gehabt: Dallaire würde sie außer Landes bringen. »Wir dürfen auf keinen Fall warten, bis es zu spät ist«, sagte er. »Ist der Punkt nicht längst erreicht?«, fragte ich. »Am liebsten wäre mir, die Leute würden bleiben«, sagte Dallaire, »aber ob und wann Sie Ihr Team abziehen, ist natür lich Ihre Entscheidung. Sie sagen mir einfach Bescheid. Solange ich hier bin, sorge ich für die Sicherheit Ihrer Leute. Das ver spreche ich.« Es war fast unmöglich geworden, sich in der Stadt zu bewe gen. Überall lauerten Heckenschützen. Das Vorgehen der Re bellentruppen war diszipliniert, kühn und unnachgiebig. Sie wandten Guerilla-Strategien an und attackierten überfallartig, um in der Stadt weiter an Boden zu gewinnen. Nachts beschos sen sie Hochburgen der Regierungsarmee, tagsüber waren sie bemüht, die eroberten Positionen zu halten. Langsam und un erbittlich kämpften sie ihre Gegner nieder. Etwa fünfzigtausend Menschen waren in Kigali geblieben. Die Hälfte davon versteckte sich in Dachstuben, Latrinengruben und in den Büschen und Schluchten, die die Stadt überziehen. Sie zu erreichen, war nahezu
unmöglich.
Sie tranken Abwasser
und ernährten sich von Baumrinde und Blattwerk, wenn sie sich nachts nach draußen wagten. Die meisten trauten sich nicht; alle hungerten, und viele starben. Eines Nachmittags gelang es mir, das CHK zu erreichen. Es war geplündert worden und menschenleer. Ich hatte Angst,
mich zu weit hineinzuwagen. Ich zündete eine Zigarette an, nahm meinen ganzen Mut zusammen und tastete mich bis in die frühere Kinderstation vor, nicht weit von der Vorderseite des Gebäudes entfernt. Blutspritzer bedeckten den Boden und die gelben Wände. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, als bewege sich etwas über mir. Ich hatte Angst, bekam schweißnasse Hän de, und das Herz klopfte mir bis zum Hals. »Ist da jemand?«, rief ich leise auf Französisch. »Je suis
un
medecin
avec
MSF.« Wieder
hörte man Geräusche, und wenige Augenblicke später kamen zwei Männer, Vater und Sohn, aus dem Nebenzimmer. Sie wa ren halb verhungert und hatten mich durch ein Loch in den Deckenfliesen beobachtet. »Vous etes seul, Docteur?«, wollte der Vater wissen. »Üui«, antwortete ich. »Wie lange sind Sie schon hier?« Er sah mich argwöhnisch an. Die Lippen seines Sohnes zitterten, während er sich an den Arm seines Vaters klammerte und mich aus angstgeweiteten Augen anstarrte. Der Vater hatte den trau rigsten Blick, den ich je gesehen hatte. »Ich weiß es nicht mehr«, antwortete er. »Sind noch andere Menschen hier?«, fragte ich. Er zuckte die Schultern. »Wir waren immer nur da oben«, sagte er und deutete zur Decke. »Gibt es Neuigkeiten?«, fragte er mich. »Es geht weiter«, antwortete ich. Sie wollten nicht mitkom men, hatten zu viel Angst. Aber der Vater bat mich, ihnen Essen zu bringen. Ich wolle es versuchen, sagte ich, könne aber nichts versprechen. Er verstehe das, meinte er und bat mich um eine Zigarette. Ich gab ihm die ganze Schachtel.
UNAMIR bemühte sich unermüdlich, mit der Regierungsar mee und der Interahamwe-Miliz eine vorübergehende Waffen ruhe auszuhandeln, die entlang den Straßen und an den Kon trollpunkten gelten sollte. Trotzdem wurden UNO-Fahrzeuge häufig beschossen. Sobald wir die Versammlungsorte erreich
ten, konnten wir nicht viel mehr tun als den Menschen einige medizinische Versorgungsgüter und Lebensmittel zu bringen und ihnen zu versichern, dass man sie nicht vergessen hatte. 197
Dallaire schickte häufig Journalisten zu diesen »Stippvisiten«,
Bild im Raum. Als ich mich schließlich zum Gehen wandte,
und sei es nur, um die Interahamwe und die RGF daran zu
hielt er mich zurück. »Merci, merci, merci, dass Sie gekommen
erinnern, dass die Welt ein Auge auf sie hatte. Eines späten Nachmittags ließ ich mich im Transportpanzer
sind.« Er hatte das Stethoskop um meinen Hals bemerkt und begriffen, dass ich Arzt war. »Wir brauchen dringend Medika
zum College St. Andre, einer Kirche und Schule im Nyamiram
mente für die Kinder«, sagte er auf Französisch. Ich fragte ihn
bo-Viertel in Kigali, fahren, um eine Gruppe Kinder, die im
nach seinem Namen. »Medikamente, wir brauchen Medika
Gebäude festsaß, medizinisch
zu
versorgen. Luc Racine, ein Mi
litärbeobachter von UNAMIR, begleitete mich. Wir waren nicht
mente für die Kinder«, wiederholte er und begann wieder zu beten.
sicher, ob wir durchkommen würden. Ich konnte nicht viel
Der Pfarrer war mit vielen hundert Kindern in St. Andre
sehen durch den Schlitz in der Tür, und wegen des Motoren
geblieben. Interahamwe-Milizionäre selektierten sie nach und
lärms hörte ich auch nicht, was draußen vor sich ging. Ich sah
nach, holten sie nachts aus der Kirche. Ihre Leichen und abge
nur die Gesichter und muskulösen Arme der Milizionäre, wenn
hackten Glieder warfen sie über die Mauer zurück, damit die
wir vor einem der Interahamwe-Kontrollpunkte halten muss
noch Lebenden wussten, was auf sie zukam. Die Kinder wur
ten.
den systematisch abgeschlachtet, grüppchenweise - manchmal
Als wir St. Andre schließlich erreichten, lungerten auf der
fünf, manchmal dreißig, manchmal mehr, je nachdem, wie viel
Straße davor einige Interahamwe-Soldaten herum. Die Kinder
Alkohol und Drogen die Tötungskommandos intus hatten. Wir
im Inneren waren in einem erbärmlichen Zustand. Sie hatten
versuchten den Kommandanten der RGF zu überzeugen, dass
nur wenig zu essen und kaum Wasser, waren zum Teil stark
die Kinder ins Faisal-Krankenhaus gebracht werden mussten.
unterernährt, hatten die Krätze und steckten in zerlumpten,
Wir würden mit Lastwagen zurückkommen und sie holen. Sie
stinkenden Kleidern. Viele litten an Malaria oder Lungenent
müssten unter Quarantäne gestellt werden, behauptete ich,
zündung oder an beidem, und einige wiesen Stich- und
weil sonst eine Masern-Epidemie drohe. Ich fragte ihn, ob er
Schnittwunden auf und Verletzungen durch Schläge. Alle blick
selbst Kinder habe. Er sei Vater von vier Kindern, sagte er mir.
ten mir scheu und voller Angst entgegen. Sie klammerten sich
»Meine Kinder sind derzeit nicht im Land«, sagte er. »Aber
grüppchenweise aneinander, hatten Angst, vor die Tür zu ge
diese hier sind keine Kinder, sondern Tutsi inyenzi - Schaben.
hen, auf den Hof oder in die Nähe der Außenmauer oder des
Man muss sie zertreten wie Ungeziefer.« Wir redeten weiter
Tors.
auf den Kommandanten ein, aber mittlerweile war es spät ge
Ich ging in das Zimmerehen des Pfarrers. Er saß auf dem Bett,
worden. Und die Erlaubnis, die Straße zu benutzen, war nur
das Kruzifix fest an die Brust gedrückt, und murmelte mit weit
bis sechs Uhr abends gültig. Jetzt war es 5 : 30 Uhr, wir mussten
offenen Augen ein Gebet. Er war weiß, Franzose, und etwa fünf
also schleunigst zurückfahren, vorbei an den Kontrollen der
undvierzig Jahre alt. Er war ausgemergelt, das Haar schulterlang
Interahamwe. Wir brachen auf
und unfrisiert, und der schwarze Bart reichte ihm fast bis auf
Tags darauf fuhr ich zum Waisenhaus der Sisters of Charity,
die Brust. Seine bloßen Füße waren schmutzig und steckten in
am Fuß des Hügels der Kathedrale Ste. Famille gelegen. Die
dicken Ledersandalen. Ich versuchte, mit ihm zu reden, aber er
Schwestern hatten das von einer Mauer geschützte Gebäude
wollte sein Gebet nicht unterbrechen. Also geduldete ich mich
nicht verlassen. Seit Jules mir von dem Waisenhaus erzählt hat
ein paar Minuten und betrachtete dabei ein Bild von Jesus, an
te, in dem über einhundertvierzig Erwachsene und zweihun
der Wand gegenüber dem schmalen Bett. Es war das einzige
dert Kinder lebten, hatte ich es einige Male besucht. Eine der 199
Schwestern, mit der ich häufig zu tun hatte, stammte aus Indi
Wir verließen St. Paul's und fuhren den Hügel hinauf zur
en, eine zweite aus Afrika. An diesem Tag lagen die Kinder
Hauptstraße. Überall lungerten Männer herum. Interahamwe.
auf Feldbetten, die in mehreren Reihen aufgestellt waren, eines
Sie ließen uns passieren. Einige standen paarweise zusammen
neben dem anderen, zuweilen mit zwei oder drei Kindern dar
und redeten, andere standen für sich, wieder andere tranken
in. Der Saal war dunkel; wenig Licht drang durch die kleinen
Bier. Die Stimmung war beinahe feierlich. Sie gönnten sich
Fenster. Ich untersuchte die kränksten Kinder und versprach,
eine Pause von der schweren Arbeit. Ein Mann, ein paar Jahre
mit Medikamenten zurückzukommen.
älter als ich, der ein rotes T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln
Einmal ließ ich mich von einem Blauhelmsoldaten zu der reli
trug, merkte, dass ich ihn ansah, und starrte abschätzig zu mir
giösen Einrichtung St. Paul's fahren. Sie stand am Fuß des Hügels,
herein. Dann hob er die ädrige Hand, die eine Machete hielt,
unweit des Rotkreuz-Krankenhauses. Auch hier befanden sich
grinste mir zu und tippte mit der Messerspitze an seinen Hut.
Hunderte von Kindern, genau wie in St. Andre. Auch diesmal
Ich hielt seinem Blick stand. Das hier ist keine kollektive Psy
baten wir den RGF-Kommandanten um die Erlaubnis, die Kinder
chose, dachte ich. Es ist geplanter Mord, ausgeführt mit über
ins Faisal-Krankenhaus verlegen zu dürfen. Er lehnte ab.
legter Grausamkeit. Puck you, dachte ich. Puck you.
Tags darauf kehrten wir mit einigen medizinischen Versor
Einige Tage später unternahm Luc Racine einen neuerlichen
gungsgütern nach St. Paul's zurück. Wir stiegen aus dem Wagen
Versuch, die Kinder aus St. Andre mitzunehmen. Er war dies
und gingen auf das Tor zu. Die Milizionäre, einige mehr als am
mal in Begleitung eines Journalisten, und sein Besuch erregte
Vortag, standen endang der Straße. Sie verhöhnten uns, grölten
den Zorn der Interahamwe. Schüsse fielen. Eine Kugel traf den
und lachten. Ich überquerte den staubtrockenen Parkplatz. Da
Journalisten in den Hintern, die beiden entkamen nur knapp.
bemerkte ich etwas, das ich auf den ersten Blick für Würstchen
Racine brachte den Journalisten zu mir ins Faisal-Krankenhaus.
hielt, die in teigigem, rotbraunem Lehm steckten. Ein wenig
Seine Verletzung war ein glatter Durchschuss. Giovanni und
sehr klein für Würstchen, dachte ich noch, wahrscheinlich hat
Eric säuberten seine Wunde, ehe der Journalist außer Landes
sie jemand hier verloren. Doch das Gegröle der Milizionäre öff
gebracht wurde.
nete mir die Augen. Ich starrte nicht auf Würstchen, sondern
Ich hatte oft große Angst, wenn ich das UNAMIR-Hauptquar
auf Finger - Kinderfinger. In der vorangegangenen Nacht waren
tier oder das Faisal-Krankenhaus verließ. Aber ich musste es ver
wieder ediche Kinder abgeschlachtet worden und lagen jetzt
suchen. Andere versuchten es auch. Ich hatte Zweifel, war ver
unter einer blauen Plastikplane, nur noch ein Haufen Gliedma
wirrt, unsicher, was unsere Tätigkeit hier anbelangte und die
ßen, Kleider und Blut. Innerhalb der Mauern saß ein Junge mit
Risiken, die wir eingingen. Manchmal war meine Angst so
dem Rücken an eine Säule gelehnt. Er war etwa sieben Jahre alt.
groß, dass ich fast hoffte, von irgendeinem Umstand daran ge
Man hatte ihm beide Ohren abgeschnitten und ihn mit einer
hindert zu werden, das UNAMIR-Hauptquartier oder das Kran
Machete über dem rechten Auge verletzt. Er war halbseitig ge
kenhaus zu verlassen. Ich hoffte sogar, andere würden das
lähmt. Als ich ihn untersuchte, fragte ich mich, wie viel Über
Handtuch werfen, damit ich es ihnen gleichtun konnte. Es wur
windung es kosten mochte, ein Kind zu packen, das schrie vor
de von Mal zu Mal schwieriger, sich im Freien zu bewegen,
Angst? Wie viel Hass war nötig, um ihm so etwas anzutun?
trotzdem mussten wir es versuchen.
Wie konnte jemand Kinder wie Ungeziefer behandeln? Zorn
In der kommenden Woche rückten die Rebellen der RPF noch
wallte in mir auf, und Angst. Zorn auf das, was ich wusste, und
weiter vor, bis das Faisal sich in ihrem Einflussbereich befand.
Angst vor dem, was ich mir nicht erklären konnte.
Als die RPF schließlich die Umgebung eines wichtigen Kreisver-
200
20!
kehrs kontrollierte, der auf das Faisal zuführte, zog unser Team
Sie hielt ihm den Löffel an den Mund, er aber drehte den Kopf
ins Faisal-Krankenhaus um, das von elf tunesischen Blauhelmen
zur Seite. Sie versuchte es immer und immer wieder. Jedes Mal
beschützt wurde. Der Umzug bedeutete für die Patienten eine
wandte er sich ab. Schließlich ließ sie die Hand sinken. Jetzt
bessere medizinische Versorgung und für mich die Gelegenheit,
weinte auch sie. Am Ende versetzte sie ihrem Bruder eine schal
in der Kinderstation öfter nach dem Rechten zu sehen. Mittler
lende Ohrfeige und schrie auf ihn ein. Die anderen Kinder
»Marna-we, Mama-we«,
schrie der Kleine.
weile war das Krankenhaus besser organisiert, und mehr Kinder
härten auf zu singen.
erholten sich von Malaria und Lungenentzündung. Die Versor
Seine Schwester griff nach dem Löffel. Als Eli dazu kam, sperrte der Junge den Mund auf und nahm einen Happen. Wimmernd
gung wurde deutlich besser. In der Nacht, in der wir ins Krankenhaus übersiedelten,
nahm er einen zweiten.
mussten wir über Menschen hinwegsteigen, die in den Gängen und Treppenhäusern hausten. Einige schliefen, die meisten
UNAMIR verstrickte sich in endlosen Diskussionen mit Regie
nicht. Ich ging zur Kinderstation, um nach einigen Schwerkran
rungssoldaten und Rebellen, um Tutsi gegen Hutu einzutau
ken zu sehen. Eli hatte seine Laterne bei sich und sang mit den
schen. Zu diesem Zweck hätten Hutu und Tutsi sorgfaltig ge
Kindern. Ich blieb an der Tür stehen und sah zu. Obwohl die
zählt, dokumentiert und überprüft werden sollen; anschließend
Antibiotika sein Fieber kuriert hatten, hatte der Dreijährige mit
sollten die Kommandanten beider Lager informiert, Lastwagen
der Kanüle in der Brust seit einer Woche nichts gegessen. Sein
organisiert, Routen gezeichnet und von beiden Seiten freies Ge
kleiner Körper brauchte dringend Nahrung. Eli hatte versucht,
leit garantiert werden, bevor ein Austausch stattfinden konnte.
ihn zu füttern, und seine Schwester dazu ermutigt, ihm gut
Alles andere hätte den sicheren Tod bedeutet. Oft vergingen
zuzureden. Ich hatte in dieser Woche mindestens einmal täglich
Stunden, meist sogar Tage, bis eine Einigung erzielt wurde, und
nach dem Kleinen gesehen, der ständig nach seiner Mutter
ob es dabei blieb, war fraglich. Da die RPF-Rebellen sowohl in
Seine zwölfjährige Schwester pass
Kigali vorrückten als auch auf dem Land, in westlicher Rich
te auf ihn auf, wickelte ihn alle paar Minuten fest in seine Decke.
tung, war die Regierung in Aufruhr. Während sich ihre Einhei
weinte:
>>Mama-we, Mama-we.«
Der Junge saß jetzt still an ihrer Seite, den Arm um ihr ausge
ten bemühten, die Stellungen zu halten, zerfiel die Interahamwe
strecktes Bein gelegt, die Augen geschwollen vom vielen Wei
in mehrere Gruppierungen. Ein uninformierter Heckenschütze
nen. Er verlor zusehends an Gewicht und würde zweifellos ster
oder ein böswilliger Milizionär oder Soldat konnten einen ge
ben, wenn er nicht bald etwas zu sich nahm. Eli hatte den Teller
planten Gefangenenaustausch in ein Desaster verwandeln.
mit Grütze vor dem Kleinen stehen lassen.
Die unmittelbarste Einschränkung der Blauhelme war das
Seine Schwester hatte nur noch ein Bein. Giovanni hatte ihr
Fehlen bewaffneter Fahrzeuge und der Mangel an Treibstoff.
das andere eine Woche zuvor amputieren müssen. Sie hatte
Irgendwann waren nur noch zweitausend Liter Treibstoff üb
sich mit ihrem verwundeten Bruder hinter ihrem Elternhaus in
rig, die nicht einmal für einen Tag reichten. Manchmal mussten
einer Scheune versteckt, und als sich die beiden nachts hervor
Austausch-Aktionen abgebrochen werden, nur weil es UNAMIR
wagten, war sie auf eine Granate getreten. Irgendwie hatte
arn nötigen Treibstoff fehlte.
mand die beiden ins Faisal gebracht. Ihre ganze Familie war
Die Verletzungen wurden immer schwerer, und beiden
von den lnterahamwe getötet worden. Nur sie und ihr Bruder
Krankenhäusern fehlte es an medizinischen Versorgungsgütern.
waren entkommen.
Gerry McCarthy, ein geselliger Ire und der einzige UNICEF-Ver
Ich sah von der Tür aus zu, wie sie versuchte, ihn zu füttern. 202
treter im Land, kannte Gott und die Welt und konnte einfach 203
alles beschaffen. Er wusste, wo medizinische Güter lagerten, und wir kauften sie. Aber sie reichten nicht MSF hatte noch kistenweise Material am Flughafen und in verlassenen Depots in der Stadt gelagert. Sowohl Pepijn Boot als auch Jonathan Brack waren tüchtige Logistik-Experten und fest entschlossen, alles Nötige für uns heranzuschaffen. Am dringendsten brauch ten wir Fahrzeuge und Treibstoff; also »borgten« wir uns ohne Erlaubnis einige Trucks, die ungenutzt am Flughafen von Kigali standen. Fahrzeuge der Vereinten Nationen und des Roten Kreuzes wurden auf dieselbe Art »erworben«. Anschließend fuhren Jonathan und ich zu einem alten MSF-Depot, im Bezirk Rwandex in Kigali. Die Vorräte herauszuholen erwies sich als nicht ganz einfach. Im Ionern hasteten Ratten über geplünderte Medikamentenpackungen, und die Regierungstruppen hatten Landminen und Granaten ausgelegt, um Leute wie uns abzu schrecken.
Neben Medikamenten, Verbandszeug, Infusions
schläuchen und -flüssigkeiten fanden wir eine Kiste voller Spielsachen für das Waisenhaus. Wir schafften alles unversehrt aus dem Lager, doch als wir uns unweit des Faisal-Krankenhau ses einem Kreisverkehr näherten, eröffnete ein Heckenschütze das Feuer auf uns. Ich saß am Steuer des »ausgeborgten« Lkw und hatte einen solchen Wagen noch nie zuvor gefahren. Wäh rend ich mit dem Schaltgetriebe kämpfte, kauerte Jonathan auf dem Boden des Führerhauses. Er zündete eine Zigarette für mich an, während wir durch den Kugelhagel rasten. Wir trugen die Spielsachen in die Kinderstation. Wie andere Leute in der näheren Umgebung waren auch einige Prostituier te, die vor Ort in der bei Weißen sehr beliebten Kigali Nights Bar gearbeitet hatten, in der ersten Woche des Genozids ins König-Faisal-Krankenhaus geflüchtet Sie hatten sich bereit er klärt, für die verwaisten und kranken Kinder im Haus zu ko chen. Der dreij ährige Junge aß nun besonders gern, und bald konnte ich ihn auch von der Kanüle befreien. Ich teilte meine Zeit zwischen dem Faisal-Krankenhaus, dem UNAMIR-Hauptquartier, dem Rotkreuz-Krankenhaus und dem Stadion auf und versorgte die Menschen mit allem, was ich 204
auftreiben konnte. Jeden Morgen drehte ich zunächst eine schnelle Runde auf der Kinderstation und fuhr dann zum UNA MIR-Hauptquartier. Carl Wilkins, ein Amerikaner, kam manch mal zu den morgendlichen Besprechungen. Die Leute nannten ihn den Meister der Gottestruppe. Er war ein Pastor der Sieben ten-Tags-Adventisten, der mit seiner Familie in Kigali gelebt hatte, als der Völkermord begann. Er hatte seine Frau und die Kinder nach Nairobi geschickt, war selbst aber geblieben. »Ich tue, was ich tun kann und tun muss(<, erklärte er mir. »Man kann doch nicht einfach den Rücken kehren, oder?« Und er wagte mehr als irgendjemand sonst. Allein fuhr er durch das Kimihurura-Viertel und versuchte, Leuten zu helfen, die dort in der Falle saßen. Eines Morgens wurde ihm die Windschutz scheibe von »ein paar durchgedrehten Hutu-Jungs« zerschos sen. Er wusste, dass ihn einige für verrückt hielten, aber das war ihm egal. »Solange Gott mir beisteht, bleibe ich hier.« Carl bat mich oft um Hilfe und stellte eine Menge Fragen, wartete aber nie wirklich auf eine Antwort. Er ließ mich wis sen, was er brauchte und wann er käme, es zu holen. Einmal, ganz zu Anfang , brauchte er Medizin für eine Familie, die sich seit Wochen auf dem Dachboden eines Hauses versteckt hielt. Eines der Kinder hatte Fieber - »Malaria vielleicht? Was meinen Sie, Doc?« -. und er holte sich von uns die entsprechenden Medikamente. Außerdem nahm er Verbandszeug mit, weil eini ge Familienmitglieder Verletzungen aufwiesen. Wir hatten nicht immer alles vorrätig, was Carl brauchte, aber etwas be kam er immer. Ärzte ohne Grenzen setzte sich auf internationaler Ebene im mer eindringlicher für ein militärisches Einschreiten der Verein ten Nationen ein. (Selbst das Rote Kreuz löste sich zum ersten Mal in seiner hundertdreißigjährigen Geschichte von seiner tra ditionellen Neutralität, ging allerdings nie so weit, eine militäri sche Intervention zu fordern.) MSF warb in der französischen Tageszeitung
Le Monde
für ihre Belange und setzte alles daran,
auch in anderen Zeitungen Artikel zu veröffentlichen; außerdem gab sie weltweit Fernseh- und Radio-Interviews. Nicht nur UNA205
MIR hatte die internationale Presse im Auge; auch die RGF und die Interahamwe nahmen sie zur Kenntnis, wie wir wussten.
Ich verbrachte mindestens zwei Stunden täglich am Telefon, informierte unsere Niederlassungen in Europa über die Lage
Alles härte über tragbare Radios den Sender RTLM, die Propa
hier in Kigali oder versuchte die Einsätze unseres ' Teams vor
gandamaschine der Regierung, die zum Genozid anstachelte
Ort zu koordinieren: Pepijn tat sein Möglichstes im Amahoro
und entsprechende Instruktionen erteilte. Die Radios an den
Stadion, im Faisal wurden bis zu dreißig Operationen täglich
Interahamwe-Kontrollpunkten waren auch im Rotkreuz-Kran
durchgeführt, und das Team im Rotkreuz-Krankenhaus arbeite
kenhaus und im König-Faisal-Krankenhaus zu hören. In den
te unbeirrt weiter, obwohl sich der Frontverlauf bedrohlich ver
von den Regierungstruppen kontrollierten Gebieten waren MSF
schob. Wir alle waren täglich zwischen sechzehn und achtzehn
und UNAMIR nun offen zu Zielscheiben des Hasses geworden.
Stunden im Einsatz. Oft wurden wir aus dem Schlaf gerissen,
RTLM setzte auf Dallaire ein Kopfgeld aus und versprach jedem
um Neuzugänge zu verarzten oder um uns um Schwerstkranke
eine üppige Belohnung, der einem Weißen die Arme abhackte.
auf den Stationen zu kümmern. Am Faisal wurde allmählich das
Als ich eines Morgens aus meinem Zimmer im Krankenhaus
Morphium knapp, und wir mussten unsere Vorräte rationieren.
trat, um zur Lagebesprechung im UNAMIR-Gebäude aufzubre
Oft brüllten die Patienten vor Schmerz, besonders nachts, wenn
chen, warnte mich ein Mann, der vor der Tür gewartet hatte,
sie in den langen Stunden der Dunkelheit keinerlei Ablenkung
dass jeder meiner Arme fünfzig Dollar wert sei. Dallaire stellte
hatten.
für das Krankenhaus und für mich zusätzlich Leute zur Verfü
Eines Nachts verließ ich gegen 2 2 : 30 Uhr den Operationssaal,
gung. »Seien Sie um Himmels willen vorsichtig«, warnte er
nachdem ich bei einer Amputation assistiert hatte, der elften
mich an diesem Morgen.
Operation, die Giovanni und Eric an diesem Tag durchgeführt
Auf einer meiner Fahrten durch die Stadt sprang ein streunen
hatten. Ich musste lernen, wie man Amputationen durchführte,
der Hund gegen mein offenes Fenster, als der Fahrer vor einem
weil so viele der Patienten, die eingeliefert wurden und dann
Kreisverkehr das Tempo drosselte. Ich erschrak und sah im sel
auf den Krankenzimmern, in den Gängen und Treppenhäusern
ben Moment, wie sich am Straßenrand eine ganze Hundemeute
lagen, Explosionswunden oder so heftige Schnittverletzungen
an einer Leiche zu schaffen machte. Als wir vorbeifuhren, hoben
aufwiesen, dass uns nichts anderes übrigblieb, als ihnen die be
die Köter die Köpfe und beäugten uns dreist, wichen aber keinen
troffenen Gliedmaßen abzunehmen. Eric und Giovanni waren
Zoll von ihrer Futterquelle. Der Hund, der unseren Wagen ange
noch in der chirurgischen Abteilung, um ihre abendliche Runde
sprungen hatte, kehrte knurrend und zähnebleckend zu seinem
zu beenden, ich dagegen trat erst einmal auf den Balkon im
Rudel zurück , ohne mich aus den Augen zu lassen. Die Stadt war von Leichen übersät. »Herr Jesus«, stieß der
zweiten Stock, wo einige Leute sich ihr Abendessen kochten , ehe ich noch einmal auf der Kinderstation nach dem Rechten
Fahrer aus, ein österreichischer Blauhelm-Soldat, während ich
sah. Ich suchte mir eine dunkle Ecke, um einen Moment lang
mir eine Zigarette anzündete. »Man könnte meinen, sie wür
für mich zu sein. Hier traf ich weder auf Pflegepersonal noch
den sie wenigstens ins Gebüsch zerren . . . Drecksköter . . . «
auf Kollegen, hier hatte ich Ruhe vor all den Fragen und Proble
Nach kurzer Pause fügte er hinzu : »Dass Sie als Arzt rauchen ,
men, mit denen man üblicherweise zu mir kam. Es war ein
überrascht mich sehr. « Typisch Österreicher, dachte ich und
Moment des Rückzugs an einem Tag, der wieder rund um die
schnippte die frisch angezündete Zigarette nach einem der
Uhr aus Arbeit bestanden hatte.
Hunde, der sie kurz beschnupperte, bevor er sich wieder seiner Mahlzeit zuwandte, und zündete mir eine neue an.
206
Die nächtliche Kühle hatte sich über die Stadt gelegt. Dünne Rauchschwaden von den Feuerstellen unter dem Balkon trieben
207
in eine seidige Bläue. Die Sterne funkelten. Ich nahm die letzte
war mit ihren beiden Kindern, dem kleinen Lulu und der vier
Zigarette aus der Schachtel; während ich nach den Streichhöl
Monate alten Vanessa, in diese Kammer gezogen, wo die drei
zern tastete, sagte ich mir wieder einmal, wie abträglich das
nachts schliefen. Ich stand jeden Tag sehr zeitig auf, erstellte
Rauchen für meine Gesundheit war. Aber hier, an diesem Ort
eine Liste mit den Aufgaben, die ich erledigen wollte, und
nicht zu rauchen, wäre zweifellos noch viel schädlicher. Ich här
machte mich auf den Weg in die Kinderstation. Lulu begleitete
te Leute reden, irgendwo in der Nähe spielte ein Transistorra
mich nicht selten und bestand darauf, mir das Stethoskop zu
dio, und in den Hügeln der Stadt heulten die Hunde. Alle paar Minuten erhellte Granatfeuer den Himmel, und Se
tragen. Nachdem Eli ihm etwas zu essen gegeben hatte, spielte Lulu mit den anderen Kindern.
kunden später war gedämpft die Explosion zu hören. Manchmal
An diesem Morgen sah ich zunächst nach Sylvie, bevor ich
wackelte der Balkon, doch solange keine Ziegelsteine herunter
meine übliche Runde drehte. Sie war auf dem Laubengang und
fielen, kümmerte sich kein Mensch darum. Niemand ging nach
badete Vanessa in einem blauen Plastikzuber. Lulu hatte schon
sehen, wo der Einschlag erfolgt war. Man wartete einfach, bis
gebadet und saß artig neben seiner Mutter. Die älteren Kinder,
die Erschütterungen verebbt waren. Das Krankenhaus wurde
erpicht darauf, ihre tägliche Piesackerei zu beginnen, warteten
mehrmals beschossen. Mörser schlugen nur wenige Meter vom
nur darauf, dass seine Mutter ihm den Rücken kehrte. Unter
Hauptgebäude ein. Offensichtlich handelte es sich dabei um Irr
der oberflächlichen Ruhe im Krankenhaus fürchtete jeder je
läufer der RGF, die eigentlich den Hügel hinter dem Krankenhaus
den. Die Minderheit im Krankenhaus bestand aus Tutsi, und sie
anvisiert hatte; hier waren Granatwerfer der Rebellen aufgestellt
hatten Angst vor den vielen Hutu um sie herum.
und auf Nyamirambo gerichtet, eine Hochburg der RGF. Bisweilen fand auch das Projektil eines Scharfschützen zielsi
Eines Morgens verbrachten Don MacNeil und ich einige Stunden mit dem selbsternannten Intellektuellenkomitee des
cher den Weg auf das Krankenhausgelände. Ein andermal ha
Krankenhauses. Einige Tage zuvor hatte ich einen drei Seiten
gelte es staccatoartig Maschinengewehrsalven. Dann wieder
langen handschriftlichen Brief von ihnen erhalten. Es war das
schlugen Irrläufer bei uns ein, Schüsse, die in unbestimmter
erste Mal, dass ich von ihnen gehört hatte. Ich wollte keine
Ferne abgefeuert worden waren. Solche Gäste waren ebenso
Zeit vergeuden mit diesem Treffen, aber jetzt hatte ich keine
zufällig wie unerwünscht und mahnten für einige Augenblicke
andere Wahl. Tags zuvor hatten sie mir ein zweites Schreiben
zur Vorsicht, einige Augenblicke, in denen man über den rauen
zukommen lassen, eine Liste, die eine ganze Seite in Anspruch
Boden robbte, der einem die Knie wund scheuerte, einige Au
nahm und deren letzter Punkt lautete: »MSF hackt Ruandern
genblicke, in denen die Angst in alle Glieder fuhr. Danach ging
Arme und Beine ab.«
wieder alles den gewohnten Gang. Man stand auf, warf einen Blick über die Mauer, und alles war beim Alten.
Wir saßen einander gegenüber, an zwei Tischen, der eine kurz, der andere lang. Das Komitee - zwölf Männer - belegte
Ich rauchte in Ruhe meine Zigarette. Dieser Ort, an dem ich
den langen Tisch, MacNeil und ich saßen am kurzen. Einige
mich befand, war schon eigenartig: ein Gebäude, manchmal
der Komitee-Mitglieder trugen Anzüge. Sie waren bei weitem
ein Krankenhaus, meistens etwas anderes. Mittlerweile hatte ich
nicht so ungepflegt wie die übrigen sechstausend Menschen
mit Lulu, dem kleinen Mulatten, Freundschaft geschlossen. Sei
im Krankenhaus, und bei weitem besser genährt. Sie waren
ne Mutter Sylvie hatte neben meinem Zimmer im Krankenhaus
der festen Überzeugung, dass MSF aus unerfindlichen Gründen
eine große Abstellkammer entdeckt, die vom Laubengang im
Wasser und Decken von den Bedürftigen fernhielt, und bestan
zweiten Stock über ein offenes Fenster
den darauf, dass man Lebensmittelvorräte und andere Hilfsgü-
208
zu
erreichen war. Sie
20 9
ter zunächst an das Komitee verteilen sollte, welches sich dann um die Weitergabe kümmern wolle.
Ich hatte nicht vor, ihnen auch nur eine einzige Bohne oder Decke zu überlassen. Aber ich konnte diese potentiell gefährli
Nach einer langen Einführung in geschliffenem Französisch
che Gruppe nicht vor den Kopf stoßen. Also redete ich. Und
stellte das Komitee den letzten Punkt des zweiten Briefs vor. Er
redete. Und redete weiter. Und stellte Fragen, die »zu gegebener
betraf ein heikles Thema und war der Grund, warum ich an
Zeit ausführlicher besprochen werden sollten«. Am Ende gab
dem Treffen teilnahm. Nachdem ein Mitglied des Komitees be
ich bekannt, dass ein Mitglied des Intellektuellenkomitees ei
teuert hatte, wie sehr man unseren Einsatz doch schätze, wie
gens dafür bezahlt worden sei, die chirurgisch amputierten
derholte es ein Gerücht, das angeblich im Krankenhaus kursier
Gliedmaßen beiseitezuschaffen. Sie hätten in den Verbren
te, und dem zufolge MSF-Ärzte Ruander töteten. Ein weiteres
nungsöfen eingeäschert werden sollen, die wir
Komitee-Mitglied wollte durchsetzen, dass die abgehackten
Zweck bereithielten. Keine angenehme Aufgabe, aber sie sei
Gliedmaßen gezählt und mit der Anzahl der Verwundeten ab
nun einmal notwendig. Ich sei dem Betreffenden sehr dankbar
zu
diesem
geglichen wurden, die sich im Krankenhaus befanden, nur um
für seine Dienste, beteuerte ich, und bezahlte ihn gern dafür.
sicherzugehen, dass nicht etwa »Überzählige« Glieder auf
Dann fragte ich ihn, ob er vielleicht, in einem großzügigen
tauchten. Ich dachte an die RTLM-Propaganda und an meine
Versuch, seinen Lohn zu teilen, seine Arbeit von Dritten habe
eigenen Fünfzig-Dollar-Arme.
erledigen lassen, gegen Bezahlung. Vielleicht habe er es ja ver
Während ich dasaß und zuhörte, wandte sich MacNeil mir
säumt, sicherzustellen, dass die Gliedmaßen auch wirklich ein
zu und flüsterte: »Meinen diese verblödeten Eierköpfe das
geäschert und nicht einfach nur verscharrt wurden. Nach dieser
ernst?« In Wahrheit brachten streunende Hunde immer wieder
Bemerkung entschuldigte ich mich bei ihm, weil ihm niemand
Gliedmaßen zum Vorschein, die wir verwundeten Patienten
erklärt hatte, dass er die Arbeit selbst zu erledigen habe. Ich
chirurgisch entfernt und dann auf dem Gelände hatten vergra
erwähnte weder, dass er das Brennmaterial, das wir zur Verfü
ben lassen. Erst am Morgen hatte ich einen Hund mit dem Stück
gung stellten, weiterverkauft und die Gliedmaßen stattdessen
von einem Bein im Maul gesehen. Das Komitee brachte noch
vergraben hatte, noch dass er mit den Einnahmen aus dem Kran
die übrigen Punkte auf der Liste zur Sprache.
kenhaus einen Lebensmittel-Schwarzhandel betrieb, wie ich aus
MacNeil verlor allmählich die Geduld. Aber wir konnten die
zuverlässiger Quelle wusste. Stattdessen dankte ich dem Komi
Vorwürfe nicht einfach ignorieren. In diesem Gebäude lebten
tee, uns auf das Problem aufmerksam gemacht zu haben, und
sechstausend Menschen, darunter fast dreihundertfünfzig Pati
forderte die Männer auf, sich darüber Gedanken zu machen. Bis
enten, und jeden Tag kamen weitere Verwundete dazu. Genau
diese für uns alle sehr unangenehme Angelegenheit vom Tisch
wie MacNeil wusste auch ich, dass unsere Essensvorräte nur
wäre, schloss ich, müssten die übrigen Punkte auf der Liste
noch fünf Tage reichten und dass der Nachschub bestenfalls
warten.
ungewiss war, trotz der hoffnungsvollen Rhetorik seitens der Vereinten Nationen. Das Komitee hatte darüber entschieden, welche Botschaft als
»Bist du sicher, dass du Arzt bist und kein verdammter Poli tiker?«, fragte mich MacNeil
am
Ende.
Tags darauf überquerte ich die Frontlinie, um einige Versor
»Stimme des Volkes« weitergetragen werden sollte - ein Kol
gungsgüter zum Rotkreuz-Krankenhaus zu transportieren und
lektiv, das sie definierten und dem sie ihre Stimme verliehen.
mit Gilbert Hascoet zu sprechen. Die Rebellen der Patriotischen
Ich hörte lächelnd zu. Das Komitee gab daraufhin grünes Licht
Front rückten schnell vor in Kigali. Im Rotkreuz-Krankenhaus
für Diskussionen.
lebten einige extremistische Hutu, die jetzt heimliche Treffen
210
211
abhielten und sämtliche Tutsi auf dem Areal - Patienten wie Krankenhausmitarbeiter
auf eine Liste schrieben. Angesichts
der MSF-Kampagne für eine rasche Intervention der Vereinten Nationen nahm ich an, dass auch die ausländischen MSF-Mit glieder auf der Liste standen. Gilbert wusste dies so gut wie ich und hatte bereits das Team informiert. Ich wollte unsere Mitarbeiter sofort in Sicherheit bringen, aber Gilbert meinte, die Arbeit sei im Augenblick einfach zu wichtig, wir würden zu viele Kranke und Verwundete im Stich lassen. Sein Team werde auf jeden Fall die Stellung halten. sagte er, außerdem habe er Freunde unter den Hutu, die ihn warnen würden, wenn sich etwas zusammenbraute. »Es ist unsere Entscheidung«. sag te er. »Wir werden nicht gehen.« Auf der Rückfahrt sah ich einen ermordeten Priester auf der Straße liegen. Man hatte ihm mit der Machete einen Fuß abge hackt. Seine Hände, die einen abgeschabten Rosenkranz hiel ten, waren in der Hitze steinhart geworden. Eine der Perlen war zersplittert. Doch nicht alle Priester waren tot. Einer, ein Franzose, hielt in St. Andre die Stellung. einem anderen würde ich schon bald in der Kirche Ste. Familie begegnen. Es war später Nachmittag, und Jacques, ein Blauhelm-Soldat, und ich hatten vor der Kirche angehalten, um medizinische Versorgungsgüter zu den Menschen zu bringen, die im Inneren Zuflucht gesucht hatten. Ich schwitzte in der heißen Sonne. An diesem Tag lungerten keine lnterahamwe-Kämpfer auf dem Parkplatz herum. Wir betraten den braunen Ziegelbau. Fast zweitausend Menschen drängten sich im Inneren. Manche sa ßen, andere lagen auf den Bänken, mit Tüchern oder Plastikpla nen zugedeckt. Dreieckige. bunte Wimpel. wie man sie von Sportveranstaltungen oder Faschingsfesten her kannte, waren quer über das Kirchenschiff gespannt Blauer Rauch von den Kochfeuern vor der Tür erfüllte den Raum, ohne den Gestank nach Fäkalien und ungewaschenen Körpern zu übertünchen. Durch die langen, schmalen Fenster fiel Licht ins Innere. Keiner regte sich, als wir eintraten, keiner sagte ein Wort, keiner kam auf uns zu. Ich konnte die Angst förmlich riechen. 212
Alle starrten mich an, als ich zum Altar ging, im vorderen Bereich der Kirche, wo sich angeblich die Klinik befand, und einer Frau einige medizinische Versorgungsgüter überließ. Ich
sah den Priester mit einer Gruppe Männer rasch davongehen. Er nickte mir finster zu. Er trug eine lange Hose, dazu den Kragen der Geistlichen, und über dem Schmerbauch eine ku gelsichere Weste, militärgrün. Ich sollte später erfahren, was es mit Ffarrer Wenceslas, dem Hutu-Ffarrer, auf sich hatte, der für Ste. Famille verantwortlich war. Ich traf einen überlebenden Tutsi dieser Gemeinde, Leon dre Cyusa. Er war neunzehn, als er sich in die Kirche geflüchtet hatte. Zu Beginn hatten sich etwa sechstausend Menschen in der Kathedrale befunden, Hutu und Tutsi. Die meisten Tutsi waren von den Interahamwe ermordet worden. »Ffarrer Wenceslas war ein abscheulicher, bösartiger Mann«, erzählte Leondre. Er habe entschieden, wer leben und wer sterben würde. Pfarrer Wenceslas hatte junge Tutsi-Frauen ausgewählt und die hüb schesten am Leben gelassen, um sie zu vergewaltigen, wann immer ihm danach war. Alle hätten Angst vor diesem Priester, erzählte Leondre. Sobald sie dabei erwischt wurden, wie sie mit jemandem sprachen, der in die Kirche kam, wurden sie ermordet. Die einzige Möglichkeit, die man hatte, sich zu äu ßern, sei das Schreiben gewesen. Leondre schrieb also einen Brief: >>Liebe Vereinte Nationen: Hier in dieser Kirche finden Massaker statt. Hier werden Menschen ermordet. Es gibt unzäh lige Tote. Bitte helft uns.« Nachdem er die Notiz einem Blau helm-Soldaten in die Jackentasche schmuggeln konnte, habe er sich besser gefühlt, sagte Leondre, weil er zumindest den Ver such unternommen habe, sich und andere zu retten. Einige Tage später hatte Ffarrer Wenceslas in Begleitung eines RGF-Komman danten, des Bürgermeisters von Kigali und einiger Interaham we-Milizionäre die Kirche betreten. Einer der Milizionäre er kannte in Leondre seinen Schulkameraden. »Du bist ein Tutsi! Wir haben dich übersehen!« Bald darauf
Pfarrer Wenceslas
trank unterdessen mit dem Bürgermeister und dem General Tee - hatte die Miliz in der Kirche das Feuer gegen ihn eröffnet. 213
Leondre war hinausgerannt und hatte sich auf das Territorium der Rebellen retten können. Es war spät, wir mussten die Kirche vor Beginn der Ausgeh sperre um achtzehn Uhr verlassen. Draußen auf dem Parkplatz gingen wir auf unseren Hilux-Pick-up der Marke Toyota zu. Ein etwa elfjähriges Mädchen kauerte seitlich an der Kirchen mauer. Sie stand auf, rief nach uns und kam näher, wobei sie mir die Hand entgegenstreckte wie zum Gruß. Ich blieb stehen und ging dann einen Schritt auf sie zu. Da nahm sie mich an der Hand und führte mich sanft zum Rinnstein entlang der Kathedrale. Sie ließ meinen Arm los und bückte sich nach ei nem bedruckten Schal. Sie hatte ihn mit Steinen beschwert, um ihn über ihrer Mutter festzuhalten, die im Rinnstein lag. Ihre Mutter öffnete und schloss Augen und Mund, um die Fliegen zu verscheuchen, die ihr übers Gesicht krabbelten. Sie war zu schwach, um die Hände zu heben, lag schweißnass und be schmutzt von Erbrochenem und Durchfall zwischen mehreren Leichen, die man aus der Kirche geworfen hatte. Sie phantasier te, war ausgezehrt, kaum noch am Leben. Ihre Brust hob und senkte sich mühsam bei jedem Atemzug. Ich solle gefälligst in den Wagen steigen, brüllte Jacques: »Verfluchte Scheiße! Es ist fünf vor sechs, fuck!« Ich hatte keine Wahl, dachte auch nicht nach, tat es einfach. Ich hob die Mutter des Mädchens auf und trug sie zum Wagen. Auch Jacques überlegte nicht lange. Er hob die Kleine ins Füh rerhaus und bedeutete ihr, sich unter das Armaturenbrett zu ducken. Sollte die Interahamwe sie oder ihre Mutter auf der Rückfahrt zum Krankenhaus entdecken, wären wir alle tot. Ich hob ihre Mutter in den Pick-up und legte sie auf die Ladefläche. Dann stieg ich ein, und Jacques fuhr los. »Wir haben noch drei Minuten«, sagte er, »dann eröffnen sie das Feuer.« Ich zündete mir eine Zigarette an, während er aufs Gas trat. Die Mutter der Kleinen rollte bei jedem Schlagloch hin und her. »Sie rutscht uns noch von der Ladefläche«, sagte ich. »Noch zwei Minuten. Ich halt an, und du legst dich auf sie und hältst sie fest«, sagte Jacques. Er fuhr an den Straßenrand 214
und ich kletterte nach hinten und warf die Zigarette fort. Als ich mich hinlegte und Jacques losfuhr, härte ich etwas an mei nem linken Ohr vorbeipfeifen, dann krachte ein Schuss. »Bleib unten, verflucht nochmal!« , brüllte Jacques und trat aufs Gas. Das Mädchen hieß Therese. Ihre Mutter litt an Ruhr und wahrscheinlich auch an Tuberkulose. Zwei Tage später starb sie. Therese wich ihr die ganze Zeit nicht von der Seite, wusch sie, hielt ihre Hand und versuchte, sie zu füttern. Nachdem ihre Mutter gestorben war, half Therese Eli mit den Kindern. Das Morden ging weiter. UNAMIR hatte Opfer zu beklagen, und obwohl die Truppe jetzt mit einem erweiterten Mandat ausge stattet war, fehlten ihr die Mittel, es auch umzusetzen. Das Überleben der Blauhelme, sowohl in politischer wie auch in praktischer Hinsicht, war ungewiss, da die RPF-Rebellen ihren Einfluss in der Stadt täglich weiter ausdehnten. Landesweit wa ren Millionen heimatlos geworden, Hunderttausende bereits über die Grenze nach Tansania und Burundi geflüchtet, und mindestens eine Million Menschen in westlicher Richtung nach Zaire unterwegs. Millionen brauchten Hilfe. Die Not im Land war überwältigend und wurde von Tag zu Tag größer. Mittlerweile war ich seit zwei Wochen in Ruanda. Ich stand auf dem Laubengang im zweiten Stock und sah hinaus in die Nacht. Vom vielen Rauchen hatte ich Husten bekommen. Bis auf die Krankenschwester Therese, die mich entdeckt hatte, hatte ich niemanden mehr entdeckt, den ich noch von 1 988 kannte. Die vier französischen MSF-Mitarbeiter waren jenseits der Front gefangen. Die Hetzpropaganda auf RTLM klang immer verzwei felter, und die Regierungstruppen sowie die lnterahamwe-Mili zen wurden zunehmend undisziplinierter, während die RPF Rebellen zum Rotkreuz-Krankenhaus vorrückten. Ich hatte Angst um mein Team, Angst um mich selbst. Ruanda befand sich im Ausnahmezustand - ein schwarzes Loch in der internationalen Gemeinschaft. Es gab zwar ein Ge setz gegen Völkermord, doch es kam nicht zum Tragen, da ja angeblich kein Völkermord stattfand. Und so gab es auch keine 2 15
Möglichkeit eines organisierten Hilfseinsatzes. Was wir zu bie
darauf, sich mit mir zu treffen. MacNeil wusste nicht, worum
ten hatten, waren einzelne Handlungen der Nächstenliebe, die
es ging. Vermutlich um Waisenkinder, dachte ich. Kouchner
manchmal möglich waren angesichts dessen, was um uns her
war einige Wochen zuvor in Kigali gewesen und mit einem
geschah, meistens aber nicht.
Flugzeug voller elternloser Kinder nach Frankreich zurückge
Ärzte ohne Grenzen und andere HUfsorganisationen appel
kehrt. Er war als Präsident der französischen Nichtregierungsor
lierten immer eindringlicher an die Vereinten Nationen, UNA
ganisation Medecins du Monde gekommen, die er nach seinem Aus
MIR unverzüglich aufzustocken und eine Intervention nach Ka
scheiden aus MSF gegründet hatte. Die fünfzig Kinder waren zu
pitel VII der UN-Charta zu beschließen, die es den Blauhelm
einer Maschine der französischen Luftwaffe geflogen worden,
Soldaten gestatten würde, zum Schutz der Zivilbevölkerung Ge
die in Nairobi bereitstand, einem fliegenden Krankenhaus, und
walt einzusetzen. MSF Frankreich ließ weitere ganzseitige Anzei
von dort aus nach Frankreich, wo die Medien ihnen die aller
gen in die Tageszeitung Le Monde setzen, um Druck auszuüben
größte Aufmerksamkeit hatten angedeihen lassen.
auf die französische Regierung, damit sie die logistischen und
Ich erwartete Kouchner im MSF-Büro im dritten Stock, aber
finanziellen Mittel bereitstellte. Bei den Franzosen wuchs die
im Krankenhaus warteten Patienten auf mich, und eben waren
allgemeine Empörung über die Tatsache, dass ihre Regierung
weitere Verwundete eingeliefert worden. Er kam im Moment,
möglicherweise in einen Völkermord verwickelt war. Mittler
als ich die Bürotür abschloss und mich zum Gehen wandte. Ich
weile waren dem UN-Sicherheitsrat weiterhin die Hände gebun
wollte die Tür wieder aufsperren. »Nein, nein«, sagte er, »nicht
den, weil die Amerikaner den Gebrauch des Wortes >Genozid<
nötig, die Angelegenheit ist schnell erledigt. Ich bin Bernard
nicht zulassen wollten. Sowohl die Vereinigten Staaten wie auch
Kouchner. Und Ärzte ohne Grenzen kenne ich natürlich sehr
das Vereinigte Königreich erstickten sämtliche Bemühungen,
gut.« Er warf den Kopf zurück, während er mir in die Augen
UNAMIR zu unterstützen, im Keim. MSF wandte sich daher direkt
sah. Er fragte mich nicht nach meinem Namen, ließ mir auch
an die Vereinten Nationen und an Washington, damit die USA
keine Zeit, mich selbst vorzustellen. Er war klein, selbstbewusst,
die versprochenen Transportpanzer lieferten und ein Mandat
in olivgrüner Safariweste und Chino-Hose. Nach allem, was ich
nach Kapitel VII der UN-Charta befürworteten. Die Hilfsorgani
über ihn gehört hatte, hatte ich ihn mir größer vorgestellt.
sationen Amnesty International, Human Rights Watch und Ox
Kouchner ließ mich wissen, dass er mit einem Filmteam zum
fam taten es ihnen gleich. Jules erzählte mir, in Europa gehe
König-Faisal-Krankenhaus fahren werde. Ich sollte ihn durch
das Gerücht, dass die französische Regierung möglicherweise
die Räumlichkeiten führen. »Wir haben nicht viel Zeit«, stellte
Truppen entsenden werde.
er fest.
Am 1 7 . ]uni tauchte plötzlich Bernard Kouchner im UNAMIR
» Tja«, sagte ich und schwieg. Was kann einem nicht alles
Hauptquartier auf. Weder UNAMIR noch MSF, die mich immer
gleichzeitig durch den Kopf gehen! Ich wusste, dass die franzö
sehr zuverlässig informiert hatten, welche Diplomaten wo un
sische Regierung eventuell Truppen entsenden wollte, nur
terwegs waren, hatten mir seinen Besuch angekündigt.
wann? Und wozu? Um die rumdisehe Regierungsarmee zu un
Ich war an diesem Nachmittag zum Areal von UNAMIR gefah
terstützen? Um sichere Zufluchtsorte zu schaffen? Sei's drum.
ren, um mich mit Oberst Yaache und Don MacNeil zu bespre
Wenn sie tatsächlich kämen, wären sie verdächtig, sobald sie
chen. Kouchner war Stunden zuvor als offizieller Vertreter der
die Grenze überschritten. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass un
französischen Regierung angekommen und hatte sich mit Dal
sere Organisation, wenn sie in den kommenden Monaten auch
laire ausgetauscht. Jetzt, so MacNeil, brenne Kouchner geradezu
nur im mindesten effektiv sein wollte, sich klar und deutlich
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217
von einer Intervention durch die Franzosen distanzieren muss
UNAMIR,
te. Ein Foto von Kouchner in einem MSF-Krankenhaus voller
können, wenn sie nur die Mittel dazu gehabt hätte, '-"'1lfde aus
die
Macht, die dem Genozid hätte Einhalt gebieten
verwundeter Ruander, bevor französische Streitkräfte ins Land
gerechnet von der Regierung lahmgelegt, die die ruandischen
kamen, würde weder uns helfen noch den Hunderttausenden,
Regierungstruppen auch während des Genozids weiter mit
die unseren Beistand brauchten - obwohl es zweifellos viel dazu
Waffen ausgestattet hatte.
beigetragen hätte, die französische Öffentlichkeit von einer In tervention zu überzeugen. »Das ist nicht möglich«, sagte ich. »Wie meinen Sie das? Ich muss so bald wie möglich dort hin. Ich bin bereit. Die Journalisten warten.« »Ich werde es nicht zulassen.«
Am Morgen darauf flatterte an j edem Kontrollpunkt die fran zösische Fahne. RGF und Interahamwe, befeuert durch die An kündigung der Franzosen, gerieten in einen Freudentaumel und jubelten:
sauver!«
))Nos freres franfais viennent!
Les
franfais viennent pour nous
(Unsere französischen Brüder kommen! Die Franzosen
kommen, um uns zu retten!) An den Kontrollpunkten wurde
Er starrte mich ungläubig an und brüllte, rot vor Zorn: »Sie
nun noch häufiger gemordet, und auch in den Kirchen und
sind ein verfluchter Idiot!« Seine Halsschlagadern schwollen
Waisenhäusern kamen mehr Menschen zu Tode. Gleichzeitig
an. Er deutete mit dem Finger auf mich und trat heftig gestiku
wurde über den Radiosender RTLM die Anwesenheit von Ärzte
lierend von einem Bein auf das andere. Unwillkürlich wich ich
ohne Grenzen in ganz Ruanda angeprangert.
einen Schritt zurück. »Sie wissen gar nichts . . . gar nichts!«, brüllte er. »Es kommt nicht in Frage, basta«, wiederholte ich langsam. Kouchner stürmte den Gang entlang und die Treppe hinun ter. Ich schloss mein Büro auf und telefonierte mit Jules.
Tags darauf erfuhr ich auf der Rückfahrt vom Rotkreuz-Kran kenhaus über Funk, dass einer der Blauhelmsoldaten auf offe ner Straße angeschossen worden war. Da unser Wagen dem Geschehen am nächsten war, teilte ich MacNeil über Funk mit, dass wir bereits auf dem Weg waren; mein Fahrer stieg aufs
In dieser Nacht verkündete die französische Regierung, sie
Gas. Am Ort des Geschehens angekommen, hielten wir hinter
habe im Interesse der Menschlichkeit eine »französisch-afrika
dem anderen Wagen und rannten aus Angst vor weiteren
nische humanitäre Intervention« beschlossen, um sichere Zu
Schüssen aus dem Hinterhalt geduckt nach vorn. Der Soldat lag
fluchtsorte zu schaffen und humanitäre Hilfe in Ruanda zu er
auf dem Sitz. Wir zogen ihn heraus und legten ihn auf den
möglichen. Die Länder Tschad, Niger, Mauretanien, Senegal,
Rücksitz unseres vierradangetriebenen Fahrzeugs. Dann wies
Kongo und Togo erklärten sich bereit, die französische Initiati
ich über Funk Eric an, einen Operationstisch für den Soldaten
unterstützen. Nachdem der Ruf Frankreichs im In- und
vorzubereiten. Ich untersuchte den Mann so gut es ging, wäh
Ausland übel gelitten hatte, wollte seine Regierung die militäri
rend wir über die Frontlinie zum Faisal fuhren. Seine kugelsi
ve
zu
sche Intervention legitimieren und würde sich in den kom
chere Weste hatte das Projektil abgehalten, das die Tür seines
menden fünf Tagen bemühen, von den Vereinten Nationen
Lkws durchschlagen hatte. Er war wie betäubt, und seine Seite
grünes Licht für ihre Pläne zu erhalten. Die Intervention sollte
schwoll rasch an. Er war ein Russe mit polnischem Namen,
nicht das Geringste mit dem UNAMIR-Einsatz zu tun haben.
und dass auch ich einen polnischen Namen trug, war ihm ein
Kouchner war, wie ich später erfahren sollte, als Vertreter der
Trost. »Wir sind Brüder! Wir sind Brüder!«, beteuerte er ein
französischen Regierung nach Kigali gekommen, um mit Dal
ums andere Mal. Ich gab MacNeil Bescheid. Wir erreichten das
laire und auch Kagame zu sprechen. Sein Auftrag lautete, die
Faisal. Der Russe hatte ein wenig Blut im Urin, weil Niere und
beiden offiziell von der künftigen Initiative zu informieren.
Seite einen derben Schlag hatten einstecken müssen, doch an-
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sonsten schien er unverletzt zu sein. Der Flugplatz war noch immer geschlossen, also würde man ihn erst tags darauf nach Nairobi ausfliegen können. Ich sah ihn später in der UNAMIR Kaserne, wo er sich mächtig betrank. Wir prosteten einander zu, dass sein Wodka überschwappte. »Mein Freund«, rief er, »für immer ! « Am Vortag waren UNAMIR-Soldaten während eines Transfers von Tutsi von der RGF beschossen worden. Als die Blauhelme sich dann auf RPF-Gebiet zurückzogen, wurden sie auch von dieser Seite beschossen. Ein Friedenssoldat kam dabei ums Le ben, ein zweiter wurde schwer verletzt. Der Zwischenfall löste einen Tumult aus im UNAMIR-Gebäude, wo eine Abordnung von RPF-Rebellen versuchte, eine Delegation von RGF-Soldaten »festzunehmen«, die dort mit Dallaire politische Themen be sprachen. Irrfolge der bevorstehenden Ankunft der Franzosen waren die Militärbeobachter von UNAMIR außerstande, sich in der Stadt zu bewegen. Sämtliche Transfer-Aktionen wurden abge sagt. Mittlerweile - Truppenverstärkungen waren ausgeblieben, die Vorräte knapp geworden - hatte es fast den Anschein, als müsste UNAMIR sich den Weg aus Kigali gewaltsam erkämpfen. Ich sah mir ihre Evakuierungspläne an und ließ mein MSF-Team entscheiden, wer bereit sei, sie zu begleiten. In dieser Nacht stand ich, eine Zigarette in der Hand, auf dem Balkon und lauschte dem Geheul der Hunde. Ich hatte mich über das Geländer gebeugt, wobei mir das Stethoskop gegen die Unterarme baumelte, und atmete den Duft von bren nendem Eukalyptusholz ein, der von den Feuerstellen zu mir aufstieg. Ich sah die Menschen um ihre Kochfeuer sitzen. Am Hori zont sah man die Silhouetten derer, die sich aus dem sicheren Krankenhausareal gewagt hatten, um Brennholz zu sammeln. In der Nacht war es nicht ganz so riskant, weil weniger He ckenschützen lauerten. Von meiner Position aus sah ich, wie ein kleines Mädchen sich hinter dem Außenzaun nach Brennholz bückte. Ich zog an
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der Zigarette, als seine Hand danach griff. Als ich den Rauch ausblies, brach es zusammen. Einen Sekundenbruchteil später krachte ein Schuss durch die Nacht. Eine Frau stand auf und ging in Richtung des getroffenen Mädchens. Sie rief nach ihrem Kind, fing an zu laufen, doch bevor sie den Zaun erreichte, krachte ein zweiter Schuss, und sie warf sich zu Boden. Während sie weiter in Richtung Zaun kroch, fiel noch ein Schuss. Zu gefilirlich, dachte sie wohl, da sie kehrtmachte und zurück ans Feuer kroch und dabei immer wieder nach ihrem Kind rief. Dann wartete sie. Die Menschen, die auf den Laubengängen des Krankenhau ses lebten, standen mittlerweile am Geländer und starrten in die schwarze Nacht hinaus , um nach dem Heckenschützen Ausschau zu halten, der die Panik verursacht hatte. Die Mutter stand nun reglos, die Hände auf den Mund gepresst. Einige Männer, die um die Kochfeuer gesessen hatten, rannten ge duckt an den Zaun, um das Mädchen zu suchen. Sie hatten nur das Licht der Sterne. Wenn sie die Kleine fanden und sie noch am Leben war bekäme ich sie zu sehen. Sie wäre ein weiteres Opfer, das wi
;
operieren, dem wir mehrmals den Verband wechseln müssten und bei dem die Gefahr einer Infektion oder sonstigen Kompli kation bestünde. Wenn sie tot wäre, bekäme ich sie nicht zu sehen. Man würde sie nicht zu mir bringen, ihre Mutter bliebe anonym, ein Gesicht unter Tausenden. Ich sog die rauchblaue Ruhe des Nikotins in mich ein, zündete mir noch eine Zigaret te an, schnippte den Stummel über das Geländer und machte mich schließlich auf zur Kinderstation. Der Kampf um Kigali tobte immer heftiger. Trotz der neu entfachten Kampfmoral verloren die Regierungstruppen weiter an Territorium, gebärdeten die Interahamwe sich zunehmend disziplinloser und wurden gleichzeitig zurückgedrängt. In dem Klima der Ungewissheit, das der Ankündigung einer französi schen Intervention folgte, wandten die Rebellen der Patrioti schen Front sich gegen sämtliche französisch sprechenden afri kanischen Friedenssoldaten. Dallaire war gezwungen, sie außer
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Landes fliegen zu lassen. Da auch kanadische Blauhelme franzö
um nur ja keine beunruhigenden Signale auszusenden. Es war
sisch sprachen, wurden nun auch sämtliche Kanadier - ich
nicht klar, ob unsere Pläne uns sicher außer Landes bringen
eingeschlossen - zu Hassobjekten.
würden. Im Augenblick war es das Beste, hier zu bleiben und
Die Friedenstruppe UNAMIR war von ihren politischen Dienst
auf eine Gelegenheit zur Flucht zu warten.
herren im Stich gelassen worden, denselben, die j etzt eine Inter vention nach Kapitel VII der UN-Charta durch die wankelmüti gen Franzosen erwogen. Da die Rebellen die Befürchtung hatten, die Franzosen könnten alles daransetzen, die Völkermörder zu
Am 2 1 . ]uni funkte Philippe Gaillard mich an: »Komm sofort
retten, machten sie kein Hehl daraus, dass sie angreifen würden,
her, mit allen Ärzten, mit allem, was ihr habt.« Das Rotkreuz
falls sie auf Franzosen stießen. Dies war nicht nur Gerede. Wenn
Krankenhaus war mit Verwundeten überschüttet worden. »Es
eine afrikanische Armee gewillt war, es mit den Franzosen auf
zunehmen, dann die RPF. Unbestätigten Berichten zufolge hatten
sind Hunderte. Hunderte! Ihr müsst sofort kommen.« Ich rief MacNeil an. Er hatte den Funkspruch gehört und bereits einen
die Franzosen bereits Spähtrupps in Zaire stationiert, entlang der
Transportpanzer zum Faisal geschickt, der uns abholen sollte.
Grenze zu Ruanda. Dallaire befürchtete, die Franzosen könnten
Es werde so erbittert gekämpft, warnte MacNeil, dass nicht
versuchen, das Land zu spalten, so wie in Zypern. Die
RPF war
fest entschlossen, Kigali und so viel Land wie irgend möglich
sicher sei, ob wir, trotz Panzer, die Frontlinie überqueren konn ten. Von beiden Seiten wurden Granaten und Mörser abge
an sich zu bringen, bevor die Franzosen einfielen. Sollten diese
schossen, und an den Straßen waren überall Scharfschützen
versuchen, Kigali zu erobern, käme es erneut zu Blutvergießen
postiert, einige mit Bazookas bestückt.
in dieser scheinbar endlosen Spirale von Völkermord und Bür gerkrieg.
Im Schutz des kugelsicheren Gefährts blieben Eric und ich unversehrt. Wir härten Granatfeuer, Mörserbeschuss und Ma
Und wir agierten gleichsam im Auge des Sturms. Ärzte ohne
schinengewehrsalven. Die Friedenssoldaten waren nervös, ich
Grenzen traf sich mit RPF-Offizieren in Europa, um sie von der
ebenso. Wir durchquerten den Kreisverkehr und passierten
Tatsache zu überzeugen, dass die Hilfsorganisation eine Inter
zwei Kontrollpunkte. Als Wir den letzten Hügel hinaufratterten,
vention des parteiischen Frankreichs ganz und gar nicht gut
bemerkte ich durch den Sehschlitz eine Gruppe RGF- und
heiße, vielmehr ein Einschreiten der Vereinten Nationen unter
Interahamwe-Soldaten, etwa hundert Meter vom Krankenhaus
stütze, damit der Völkermord ein Ende habe. Leider hatten nur
entfernt. Es war nicht klar, welcher Art ihre Waffen waren. Wir
die Franzosen ihre Interventionspläne bekanntgegeben. Ich war
legten das letzte Stück Straße zum Krankenhausgelände zurück
nicht sicher, ob wir für unsere Arbeit einen neuen humanitären
und hielten unmittelbar hinter dem Tor.
Raum schaffen konnten. Ich hatte keinen Anteil an den inter-
Überall um uns her lagen Menschen auf dem Boden und
nen Überlegungen und Diskussionen von Ärzte ohne Grenzen,
wanden sich vor Schmerz. Andere waren bereits verstorben
bekäme aber in Kigali die Konsequenzen zu spüren. Ich veranlasste daher mein Team, Vorräte für eine mögliche
und wurden von Verwandten und Freunden beweint. Einige Verwundete konnten sich noch auf den Beinen halten, andere
Evakuierung anzulegen und drei Landrouten zu erarbeiten, auf
wurden gestützt, wieder andere getragen; die einen waren bei
denen wir ohne die Hilfe der Friedenssoldaten flüchten konn
Bewusstsein, andere nicht. Es gab viele hundert Opfer, und
ten. Ich besprach die Routen weder mit Jules, noch verriet ich
Dutzende Rotkreuzhelfer bemühten sich, ein wenig Ordnung
UNAMIR unsere Pläne, noch bat ich die RPF um sicheres Geleit,
in das Chaos zu bringen. Unter den Verwundeten waren auch
222
22 3
Regierungssoldaten und Interahamwe-Milizionäre, außerdem
Samenflüssigkeit vermischt mit Blut klebte an ihren Schen
zahlreiche Frauen und Kinder mit Schussverletzungen, Stich
keln. Sie war mit Macheten traktiert, ihr gesamter Körper syste
wunden oder Explosionswunden. Ein Großteil der Frauen und
matisch verstümmelt worden. Man hatte ihr die Ohren abge
Mädchen war vergewaltigt worden. Und noch immer wurde
schnitten und ihr mit dem Messer ein Muster ins Gesicht geritzt.
in der Stadt und rings um das Krankenhaus erbittert gekämpft.
Die Achillessehnen waren durchtrennt, beide Brüste abgeschnit
Die Verwundeten schwappten stoßweise herein. Wir setzten
ten worden. Ihre Peiniger hatten dafür gesorgt, dass sie langsam
Brustkanülen, banden blutende Arterien ab und schlossen, am
verblutete. Sie lag auf der Straße, eine Eins auf die Stirn geklebt,
Straßenrand, aufgeschlitzte Bäuche. Das Blut bildete zahlreiche
und jetzt sahen wir einander an.
Rinnsale, die im Lehmboden versickerten. Und es kamen immer noch mehr Verwundete. Sie erhielten eine
1,
2 oder 3 auf die Stirn geklebt: Die Eins bedeutete >sofort
»Je m'excuse, je m'excuse«,
sagte ich, weil ich sie mit der Pinzette
gezwickt hatte. Sie schloss die Augen, bis der Schmerz verebbt war, und hielt dabei meinen Arm. Da wurde mir schlecht. Ich
behandeln<, die Zwei hieß >binnen vierundzwanzig Stunden
wandte mich ab und übergab mich das erste und einzige Mal
behandeln<, die Drei bedeutete >Unheilbar<. Alle, die mit einer
während meines Einsatzes in Ruanda.
Drei bewertet worden waren, wurden zum kleinen Hügel an
Sie wartete geduldig, bis ich mich gefangen hatte. Dann be
der Straße geschafft, gegenüber der Notaufnahme, und einem
rührte sie wieder meinen Arm. Ich sah in ihre braunen Augen.
möglichst sanften Tod überlassen. Sie wurden mit Decken
»Ummera«,
warm gehalten, bekamen Wasser zu trinken und alles verfügba
Freund<, dachte ich. Sie redete mit mir.
sagte sie,
»Ummera-sha.« Sha,
das bedeutet >mein
»Ummera, ummera-sha«,
re Morphium. Die Einsen wurden in der Notaufnahme oder
wiederholte sie. Ich versorgte die klaffenden Wunden, wo ihre
im Eingangsbereich abgelegt, die Zweien grüppchenweise hin
Brüste gewesen waren. Wieder rief die Schwester:
ter die Einsen platziert.
prochain,
der Nächste!
Vite,
»Docteur, Je
Docteur!«
Wir waren hoffnungslos überlastet. Die Toten konnten nicht
Die Frau war eine von Hunderten und sich dessen bewusst.
schnell genug beiseitegeschafft, die Verwundeten nicht einfach
Wieder berührte sie meinen Arm und nickte mir zu. »Allez, al
über die toten Körper hinweg in die Notaufnahme, den Opera
lez
tionssaal oder zu den Krankenstationen getragen werden.
mein Freund.« Nie habe ich eine klarere Stimme gehört.
. . .
Ummera, ummera-sho«,
sagte sie leise. »Gehen Sie. Nur Mut,
Ich kniete auf der Sandstraße neben einer Patientin, die auf
Ich rappelte mich auf und ging zum nächsten Patienten, ei
einer Plane lag und aus zahlreichen Wunden langsam verblute
nem Soldaten. Fast drei Meter seines Dünndarms quollen in
te. Ich legte eine Infusion bei ihr an und führte ihr Flüssigkeit
Schlingen aus einer klaffenden Bauchwunde. Er war bei vollem
zu. Ich untersuchte sie sorgraltig, entdeckte blutende Wunden
Bewusstsein, saß aufrecht auf der Straße, presste sich die Gedär
am Kopf, am Rumpf und an den Beinen und ging daran, sie
me in den Bauch und schrie aus Leibeskräften:
zu nähen. Die Frau zitterte am ganzen Leib, war bei Bewusst
aidez-moi, helfen Sie mir! Ich falle aus meinem Körper!« Muss
sein und voller Angst.
»S'il vous plait
,
der humanitäre Helfer auch die Soldaten betreuen? Der Arzt
Eine Krankenschwester rief mich zum nächsten Patienten.
sieht das Leid, nicht die Uniform. Ich legte ihn auf den Rücken.
Die Frau zuckre unter meinen
Mit Hilfe steriler Gaze fasste ich die glitschigen Darmschleifen
Händen, als ich eine blutende Wunde auf ihrer Brust schloss,
und packte sie sorgfaltig , Meter für Meter, wieder in seinen
»Mointenant! Tout de suite, Docteur!«
und berührte meinen Arm. Ich sah zu ihr auf. Und erst in
Bauch. Dann nähte ich die Wunde provisorisch mit ein paar
diesem Moment wurde mir bewusst, was ihr zugestoßen war.
Stichen zu, wonach man ihn zur Schlange vor dem Operations-
2 24
2 25
saal trug, während ich mich um den nächsten Patienten küm merte. Und so ging es weiter. Stunde um Stunde versorgten wir
An diesem Tag, dem 2 2 . Juni, erklärte der UN-Sicherheitsrat, in Ruanda sei eine multinationale humanitäre Intervention ge plant, bis UNAMIR die nötige Stärke besitze - für maximal sech
einen Patienten nach dem anderen. Der Boden wurde mehrere
zig Tage. Die Franzosen sollten ein Mandat nach Kapitel VII der
Male von Granaten erschüttert, die in der Nähe einschlugen.
UN-Charta erhalten und somit die Erlaubnis, sich nötigenfalls
Die Rinnsteine waren rot von Blut, überall lagen verwundete
auch mit Waffengewalt durchzusetzen. Das Abstimmungser
Menschen. In der Tür zur Notaufnahme lag eingerollt ein Mäd
gebnis betrug zehn zu null, doch mit fünf Stimmenthaltun
chen. Ich bemerkte es mehrere Male, erahnte seine Schmerzen.
gen - von China, Neuseeland, Brasilien, Nigeria und Pakistan -
Sie ist die Nächste, dachte ich immer wieder, aber dann war
war es keineswegs einhellig. Von einem Völkermord war in der
immer noch jemand vor ihr.
UN-Resolution freilich nicht die Rede, und dies war auch der
Eine Stunde später war sie gestorben, und ich stieg, ein ver
Grund, warum sie von Ärzte ohne Grenzen abgelehnt wurde.
wundetes Mädchen im Arm, über ihren toten Körper. Im sel
Die Franzosen kamen ins Land. Es war der Beginn ihrer Ope
ben Moment krachten Schüsse. Sie waren so nah, dass es mir
ration Turquoise. Die Meldung erreichte mich auf der Kinderstati
in den Ohren dröhnte und ich mich instinktiv mitsamt dem
on des Rotkreuz-Krankenhauses. Ich untersuchte gerade zwei
Kind auf die Betonstufen warf. Nach einer zweiten Maschinen
Brüder mit Verdacht auf Tetanus. Steif wie Bretter lagen sie in
gewehrsalve kehrte ich in die Notaufnahme zurück und fand
ihren Betten, die Bäuche steinhart, die Schultern nach oben
Gaillard dort vor.
gezogen, die Gliedmaßen ausgestreckt. Sie schrien vor Angst,
Die Schüsse aus Großkaliberwaffen hatten aufgehört, und
als ich sie untersuchte. Beide waren zwischen zwölf und fünf
auch das Granatfeuer klang weiter entfernt. Philippe und ich
zehn Jahre alt und hatten heftige Explosionswunden an den
waren uns einig, dass wir die Arbeit fortsetzen mussten. Er
Beinen. Beide waren operiert worden.
informierte Dallaire und beschwerte sich bei den Kommandan
Ihr Impfschutz schien versagt zu haben. Sie zeigten die typi
ten von RGF und RPF wegen der Angriffe auf das Krankenhaus.
schen Symptome der Krankheit : Kaumuskelkrämpfe und Ge
Philippe schuftete in der Notaufnahme, schleppte Patienten,
sichtsspasmen. In den vergangeneu zwei Tagen hatte eine spasti
ermutigte seine Mitarbeiter und schaffte Vorräte von einem
sche Lähmung des Nackens und der Gliedmaßen eingesetzt.
Raum in den anderen. »Wir müssen durchhalten«, sagte er.
Wenn sich das Tetanus-Nervengift im Körper ausbreitet, können
»Mehr können wir nicht tun.« Und noch einmal, lauter dies
die überaus heftigen spastischen Kontraktionen Muskelzerrun
mal: »Mehr können wir nicht tun!«
gen oder Kompressionsfrakturen der Halswirbel verursachen.
Wir transportierten medizinische Versorgungsgüter über den
Die Starre erfasst die Brust, den Rücken, die Bauchmuskeln und
Frontverlauf von einem Krankenhaus zum anderen, wobei uns
manchmal die Kehlkopfmuskeln, wodurch die Atmung beein
ein Transportpanzer oder der kugelsichere Krankenwagen des
trächtigt wird. Unter normalen Umständen, ohne Behandlung,
Roten Kreuzes zur Verfügung stand. Während wir die Notauf
stirbt einer von drei Infizierten. Unter diesen Bedingungen wa
nahmen und Operationssäle am Laufen hielten, wurde bis tief
ren die Überlebenschancen noch geringer. Wir hatten Penicil
in die Nacht geschossen. Ich fuhr in der Dunkelheit zurück
lin, aber kein Immunoglobulin gegen Tetanus. Das Rotkreuz
zum Faisal, um alles einzupacken, dessen ich habhaft werden
Krankenhaus hatte keines mehr vorrätig. Wir konnten den bei
konnte - Thoraxdrainage-Sets, Plasmaexpander und Blut -, und
den Jungen zur Muskelentspannung allenfalls Diazepam - Vali
es tags darauf zum Rotkreuz-Krankenhaus zu bringen.
um - spritzen.
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Als ich von der UN-Resolution erfuhr, ließ ich mich unver züglich zum UNAMIR-Gebäude fahren. Sobald die Franzosen ver suchten, in Kigali einzumarschieren, würde sich unsere Lage noch weiter verschlimmern. Die Rebellen der Patriotischen Front hatten dem UN-Sicherheitsrat einen Brief geschrieben und ihn aufgefordert, die Blauhelme abzuziehen, zumal man nicht für ihre Sicherheit garantieren könne. Den Franzosen gegenüber verhielten sie sich offen feindselig und betonten wiederholt, sie seien kampfbereit. Die vier französischen MSF-Mitarbeiter am Rotkreuz-Krankenhaus waren umzingelt von Regierungssolda ten und Interahamwe-Milizionären, die RPF war auf dem Vor marsch. Ich versuchte verzweifelt, meine Mitarbeiter in Sicher heit zu bringen. Zunächst traf ich mich mit Dallaire. Wieder sagte er: »Sagen Sie mir einfach, wenn es so weit ist. Dann werde ich tun, was in meiner Macht steht, um sie herauszuho len«, sagte er. Als Nächstes traf ich mich mit Major Frank Kamanzi, dem Verbindungsoffizier der
RPF.
Er könne den MSF-Mitarbeitern si
cheres Geleit versprechen, erklärte er mir, sofern sie unverzüg lich das Land verließen: »Und sagen Sie Ihren europäischen Freunden bei Ärzte ohne Grenzen, dass sie uns keine Franzosen mehr ins Land schicken sollen.« Wenn wir diese Forderung akzeptierten, würden wir zulassen, dass die RPF unsere Ent scheidungen kontrollierte, und damit ein weiteres Stück Unab hängigkeit aufgeben. Ich besprach die Situation mit Jules. Als ich mich am darauffolgenden Nachmittag erneut mit Kamanzi traf, verhandelten wir lange und ausgiebig. Schließlich kamen ;:vir überein, dass er den französischen Staatsangehörigen bei Arzte ohne Grenzen sicheres Geleit durch RPF-Gebiet gewähr leisten würde, wann immer sie bereit wären, das Land zu ver lassen, und dass wir künftige Probleme um die Staatsangehö rigkeit ausländischer Helfer von Fall zu Fall lösen würden, je nach Ausgangslage. In anderen Worten, wir befassten uns mit dem gegenwärtigen Thema und verschoben ein anderes. Ich fuhr zum Rotkreuz-Krankenhaus zurück. Wie viele Men schen wir in diesen wenigen Tagen versorgten, weiß niemand. 228
Hunderte starben, nachdem wir sie als »hoffnungslos« einge stuft hatten. Viele starben trotz Operation, und viele starben später an Infektionen oder anderen Komplikationen, die wir nicht angemessen behandeln konnten. Hunderte überlebten. Am 24. Juni entsandte die französische Regierung 2 200 Fall schirmjäger nach Goma und Bukavu in Zaire, unweit der ruan dischen Grenze. Von dort aus stießen Aufklärungstrupps in den Westen Ruandas vor. Die Motive der
Operation Turquoise
waren
bestenfalls undurchsichtig. Trotz UN-Resolution war nicht ge klärt, was die Franzosen eigentlich zu tun gedachten. Innerhalb der Organisation MSF war man geteilter Meinung, was die Intervention der Franzosen betraf. Einige vertraten die Ansicht, dass angesichts des Völkermords der Zweck die Mittel heilige, und begrüßten das Einschreiten Frankreichs, wogegen andere eher ihre Zweifel hatten, was das Gelingen der
Turquoise
Operation
anbelangte. Ich gehörte zu den Befürwortern, weil ich
vor allem eines wollte, nämlich dass das Morden endlich ein Ende hatte, und dazu war mir jedes Mittel recht. Unsere Orga nisation gab öffentlich bekannt, sie werde die Franzosen im Auge behalten und gegebenenfalls gegen die Aktionen der
ration Thrquoise protestieren,
Ope
sollten sie in irgendeiner Weise den
humanitären Absichten zuwiderlaufen. Da die Rebellenarmee RPF fest entschlossen war, Kigali ein zunehmen, und die Regierungstruppen nicht weichen wollten, tobte die Schlacht um die Stadt ganze zwölf Tage. Die gegneri schen Einheiten lieferten sich heftige Gefechte, und beide Krankenhäuser wurden von mehreren Granaten getroffen. In j ener ersten Nacht schlug ein Geschoss in der Notaufnahme des Rotkreuz-Krankenhauses ein, ungeachtet der sieben mal sieben Meter großen Rotkreuz-Flaggen, die eigens die Dächer und Au ßenmauern der ehemaligen Schule kennzeichneten. Ungezählte Telefonate von und nach Kigali waren die Folge. Journalisten, Angehörige und Freunde, die von dem Beschuss erfahren hat ten, riefen an. Ich kam nicht zu Gaillard durch und musste Jules anrufen und ihn bitten herauszufinden, ob einer der Hel-
fer verletzt oder getötet worden war. Wie sich herausstellte,
Am Vorabend hatte Gilbert sich stundenlang mit seinem Team
waren alle wohlauf, aber sieben Patienten waren getötet und
und mit Verantwortlichen in Paris beraten. Es war nun nicht
vier weitere verletzt worden. Die Notaufnahme lag in Trüm
mehr Sache des Verbands, sondern j edermanns persönliche
mern. Auch das Faisal geriet unter Beschuss. Ein Geschoss
Entscheidung, ob er bleiben wollte. Sie alle wussten um die
schlug im seihen Augenblick 1m Operationssaal ein, als ein Pa
Gefahren, und wollten trotzdem bleiben. Ich verstand Gilberts
tient aus der Tür geschoben worden war. Das Rotkreuz-Kran
Haltung, respektierte die Entscheidung seines Teams, würde
kenhaus war bei weitem schlimmer in Mitleidenschaft gezo
versuchen, im Notfall zum Rotkreuz-Krankenhaus zu kommen,
gen.
und versprach, weiterhin Kontakt mit ihm zu halten und über
Tags darauf fuhr ich dorthin zurück, um mit Gilbert zu spre
Satellitentelefon rund um die Uhr erreichbar zu sein. Am Ende
chen und Verbandszeug und Antibiotika sowie Diazepam für
wünschte ich ihm Glück und stieg in den Transportpanzer. Auf
die beiden Tetanus-Patienten abzugeben. Etwa zweihundert
der Rückfahrt zündete ich mir eine Zigarette an. Die Soldaten
Meter vor dem Krankenhaus passierten wir eine große Gruppe
schien es nicht zu stören, und wenn doch, war es mir gleich.
lnterahamwe- und RGF-Soldaten. Die Milizionäre waren größ
An diesem Abend rauchte ich zu viele Zigaretten auf dem
tenteils betrunken und schwangen Knüppel, Macheten und
Balkon. Die Hunde j aulten, einige Patienten wimmerten vor
französische Fahnen, als wir vorüberfuhren. Ich konnte Gilbert nicht finden, also sah ich nach den beiden Brüdern. Als ich die Kinderstation betrat, bröckelten die Steine
Schmerzen, und einen Augenblick lang kämpfte ich mit den Tränen. Dann ging ich zu Bett. Während die RPF-Rebellen aus östlicher Richtung vorrück
in der Mauer gegenüber dem Eingang. Ein Kugelhagel ergoss
ten, leistete die RGF Widerstand, wurde aber in den Westen
sich quer über die Außenmauer. Die Kinder krochen instinktiv
zurückgedrängt, in Richtung Zaire. Zweieinhalb Millionen Hu
aus ihren Betten, auf eine der Seitenwände zu, wobei sie sich
tu waren j etzt auf der Flucht und bewegten sich vor den RGF
gegenseitig halfen. Ihre Schreie wurden nur noch vom Ge
her in westlicher Richtung, weil sie Vergeltungsmaßnahmen
sichtsausdruck derer überboten, die vor Angst nicht mehr
seitens der RPF befürchteten. Die RGF-Truppen und Interaham
schreien konnten. Wieder krachten Schüsse, und wieder brö
we-Milizen ermordeten auf ihrem Weg sämtliche Tutsi und ge
ckelte das Mauerwerk. Die an Wundstarrkrampf erkrankten
mäßigten Hutu.
Brüder lagen stocksteif in den Betten. Der eine schrie; der an
Um das Faisal herum wurde weiterhin geschossen. Mehrere
dere starrte immer wieder entsetzt zur Krankenschwester und
Mörser schlugen nur wenige Meter vor dem Krankenhaus ein.
zu mir. Wir robbten auf die beiden zu und zerrten sie aus den
Das war eindeutig zu nah. Die Menschen 1m Krankenhaus er
Betten und zu den anderen Kindern, die sich an die Seitenwand
fasste blanke Panik. Die Wucht der Explosionen hatte einige
drückten. Die Maschinengewehrsalve brach ab. Die Kinder här
Scheiben zerbrochen, obwohl sie mit Klebeband befestigt wa
ten auf zu schreien, blickten aus angstgeweiteten Augen auf
ren. Wir hatten Luftschutzräume auf dem Krankenhausgelände
mich und die Schwester. Einige wimmerten leise, andere blie
errichtet, aber sie boten nicht annähernd Platz fiir alle.
ben stumm. Philippe Gaillard und sein Team hatten trotzdem nicht die
Wir hatten keine Möglichkeit, die Heckenschützen zu stellen, wussten aber, dass die Mörser von der RPF kamen. In ihren
Absicht, das Handtuch zu werfen, wenigstens noch nicht. Ich
Augen hatte sich MSF jetzt mit den Franzosen verbündet, ob
versuchte, Gilbert und die übrigen ausländischen MSF-Mitar
wohl keiner der ausländischen Ärzte diesseits der Front franzö
beiter zu überreden, mit mir im Transportpanzer zu fahren.
sischer Staatsbürger war. Versuchten sie uns einzuschüchtern?
Wollten sie uns vertreiben? Ich traf mich erneut mit Major Ka manzi, dem RPF-Verbindungsoffizier, um mich bei ihm zu be schweren. »Seit wann erteilt ein Arzt militärstrategische Ratschläge?«, fragte er. »Mit Militärstrategien kenne ich mich nicht aus«, erwiderte ich, »nur mit ihren ungünstigen Auswirkungen.« Kamanzi lächelte, MacNeil, der mit am Tisch saß, ebenso.
Ich spürte die kühle Nachtluft, spürte, wie Gleichgültigkeit in mich einsickerte. Ich musste fliehen, musste mir eine kurze Auszeit gönnen. Ich war müde. All das Leid, der allgegenwärti ge Tod, die Schmerzensschreie und stummen Blicke, all das Grauen, ich ertrug es nicht mehr. Und ich hatte mehr und mehr das Gefühl, an der Gleichgültigkeit und Bös>villigkeit der Politiker zu zerschellen. Bevor ich zu Bett ging, wollte ich noch einmal nach Vanessa sehen, Lulus vier Monate alter Schwester. An diesem Morgen
Ich erinnerte Kamanzi daran, dass Schüsse auf ein Krankenhaus gegen geltendes Kriegsrecht verstießen, seine Männer sollten
ich war gerade aufgestanden - hatte Sylvie gegen fünf Uhr
gefalligst etwas sorgfaltiger zielen.
dreißig an meine Tür geklopft. Sie war der Verzweiflung nah.
Wieder lächelte er. »Ein Missgeschick, so etwas kommt vor.« Er versprach trotzdem, sich darum zu kümmern. »Als kleine Gedächtnisstütze«, sagte ich und reichte ihm ei
»Sie hat so lange überlebt«, sagte sie. »Ich bemühe mich nach Kräften, die Kinder sauber zu halten, sie vor all den schädlichen Keimen an diesem Ort zu schützen. Bitte helfen Sie uns, Dr. James.« Vanessa hatte Fieber und atmete schnell. Ich horchte
nen förmlichen Brief. rer Peilung. Da die Regierungstruppen den Vormarsch der Pa
ihre Brust ab und härte das Rasseln einer sich anbahnenden Lungenentzündung. Also holte ich ihr ein Antibiotikum aus der
triotischen Front zu verhindern suchten, wurde die Stadt weiter
Kinderstation. Ich hatte Sylvie gebeten, mich selbst oder einen
hin von heftigem Artilleriefeuer erschüttert. Außerdem zielten
der anderen Ärzte aufzusuchen, sollte sich Vanessas Zustand in ein paar Stunden noch immer nicht gebessert haben. Inzwi
Der Mörserbeschuss wurde fortgesetzt, allerdings mit besse
Heckenschützen auf alles, was sich auf den Straßen regte.
schen waren mehr als sechzehn Stunden vergangen, und Sylvie Ich stand auf dem Krankenhausbalkon und rauchte eine Zigaret
war beruhigt. Vanessa atmete leichter, und ihr Fieber war ge
MSF-Versorgungsteam in Ams
sunken. Ich untersuchte die Kleine und ging ein wenig froher
te. Kurz zuvor hatte ich mit dem
terdam telefoniert. Seit Wochen gellten uns die nächtlichen
zu Bett. In dieser Nacht schlief ich gut.
Schmerzensschreie der Menschen in den Ohren. Wir brauchten dringend Morphium. Ich hatte zunächst die medizinische Ab
Nachdem der französische Einsatz Wirklichkeit geworden war,
teilung von MSF kontaktiert, dann die Abteilung für Logistik, dann wieder die medizinische Abteilung. Morphium sei in li
änderte sich die Einstellung der Patriotischen Front. Solange die Franzosen eindeutig humanitäre Ziele verfolgten und inner
RPF sich
mitierten Mengen in den klassischen Chirurgennotfallkoffern
halb der ihnen zugewiesenen Zone blieben, würde die
von MSF enthalten, wurde ich belehrt. »Sie müssen schon mit dem zurechtkommen, was wir Ihnen schicken. Es ist unser
der Intervention nicht widersetzen. Die Schlacht um K.igali tob te unterdessen unvermindert weiter. Die RPF rückte immer wei
Standardzubehör. «
ter nach Westen vor, und der Strom der Verwundeten riss nicht
»Tja, das funktioniert aber bei meinen Standardpatienten nicht, verflucht«, brüllte ich in den Hörer. Ich rief Jules an. Er versprach mir, das Morphium zum nächstmöglichen Termin nach Kigali zu schicken.
ab. Die Rebellen der Patriotischen Front ließen wieder Aufklä rungstrupps der
UNAMIR auf ihrem Gebiet zu.
UNAMIR erwarte
te Verstärkung, und so war die Stimmung innerhalb der Kaser23 3
ne besser. Es gab jetzt von Kampala aus, auf dem Landweg,
UN-Blauhelme, und dass Rebellen der Patriotischen Front das
eine sporadische Versorgungslinie. Dem Roten Kreuz war es
Krankenhausgelände nur mit vorheriger Ankündigung betreten
gelungen, einen mit medizinischen Gütern beladenen Lkw ins
durften, unbewaffnet und mit UN-Eskorte. Die Rebellen ver
Land zu bringen, allerdings war kein Morphium dabei.
sprachen, sich nicht an MSF-Vorräten zu vergreifen, gaben zu
Das Rotkreuz-Krankenhaus war randvoll mit Patienten. UNA MIR gelang es zuweilen , entlang der Front und an diversen
rück, was sie uns gestohlen hatten, und hielten sich künftig an die Vereinbarungen.
Kontrollpunkten vorübergehende Waffenruhen auszuhandeln ,
Kigali war nach wie vor heftig umkämpft. Einmal schoss ein
damit man Verwundete ins Faisal-Krankenhaus verlegen konn
Heckenschütze einem Journalisten, der auf dem Dach seines Ho
te. MSF ließ außerdem einige Vorräte aus Kampala kommen,
tels stand, ins Bein. Eric und Giovanni verarzteten seine Wunde.
einschließlich Morphium und Malariamitteln. Wir brauchten
Der Journalist war besorgt, seine Angehörigen könnten aus allen
beides ganz dringend. Einige Personen waren an Malaria er
Wolken fallen, wenn sie über die Medien von der Angelegenheit
krankt, zum Beispiel Gerry McCarthy von UNICEF und Frank
erfuhren, also bat er mich, sie anzurufen. Ihr Schrecken, unge
Kamanzi. Ich behandelte beide.
achtet aller Beschwichtigungsversuche meinerseits, erinnerte
Neben verwundeten Zivilisten wurden auch verwundete Re
mich daran, dass unsere Familien und Freunde nicht im Ge
gierungssoldaten ins Faisal gebracht. Wir versorgten sie, wie
ringsten nachvollziehen konnten, was wir hier unten durchleb
wir j eden versorgen würden, wenn auch auf einer gesonderten
ten. Nachdem ich aufgelegt hatte, dachte ich an die Ängste mei
Station. Die RPF wusste, dass wir auch ihre Gegner medizinisch
ner eigenen Angehörigen und fragte mich, ob ich wohl j emals
versorgten, und schickte des Öfteren Delegierte, die sich in den
imstande sein würde, ihnen die Ereignisse hier zu schildern.
Räumlichkeiten umsahen; sie kamen ohne vorherige Ankündi
Gegen Ende Juni stand die offizielle Operationszone für die
gung und bewaffnet und verlangten, den Patienten Fragen stel
Franzosen noch nicht fest, und so war noch immer nicht klar,
len zu dürfen. Außerdem wollten sie sämtliche Bewohner des
worin eigentlich ihre Aufgabe bestünde. Die Patriotische Front
Krankenhauses »Überprüfen« . Angeblich hatten die Rebellen an
rückte weiter vor und nahm bis auf einen schmalen Streifen
einem der Kontrollpunkte bei Zivilisten, die aus dem Rotkreuz
den gesamten Westen ein. Die Regierungsarmee hoffte nach
Krankenhaus verlegt worden waren, Handgranaten entdeckt,
wie vor auf französische Unterstützung, und es ging das Ge
und den Verdacht, es könnte sich um Regierungssoldaten oder
rücht, dass die Franzosen planten, Fallschirmjäger über Kigali
Interahamwe gehandelt haben.
abzusetzen. Die Franzosen trafen sich mit der Führung der RGF
Wie stets bei solchen Gelegenheiten nahmen die Rebellen
im Meridien Hotel in Gisenyi, dem Zentrum der Hutu-Macht
Medikamente und Versorgungsgüter an sich, auch Malariamit
im Nordwesten des Landes. Die Franzosen kamen mit Versor
teL Außerdem wollten sie die RGF-Soldaten mitnehmen. Ich traf
gungsgütern für die RGF-Generäle und wurden von Schulkin
mich mit MacNeil und beschwerte mich bei Frank Kamanzi,
dern, die vom Radiosender RTLM mobilisiert worden waren,
man möge sich im Umgang mit verwundeten Feinden gefäl
mit Blumen begrüßt. An einer Schranke posierte ein lntera
ligst an die Genfer Konventionen halten. MacNeil schlug vor,
hamwe-Milizionär vor d�r Kamera; er trug einen Strohhut in
die Menschen, die im Krankenhaus lebten, in ein Auffanglager
den französischen Nationalfarben und stand mit seiner Machete
überführen zu lassen und ihnen die Waffen abzunehmen. Wir
vor einem Straßenschild , auf dem zu lesen stand: »Vive la France.«
kamen auch überein, dass die RGF-Soldaten als Kriegsgefangene
Nach der Besprechung verkündeten die RGF-Generäle, dass sie
auf einer gesonderten Station bleiben würden, bewacht durch
eine große Gegenoffensive starten würden.
Die Franzosen verlegten ihre Truppen nach Cyngugu im Südwesten Ruandas. Wieder wurden sie von einer jubelnden Menge, die der Sender RTLM mobilisiert hatte, mit Blumengir landen begrüßt. Als sie sich über Cyngugu hinauswagten, wur den zehn französische Soldaten in der Region Butare von den RPF-Rebellen gefangen genommen und einige Stunden als Gei seln festgehalten. Ein elfter Franzose wurde in Kibuye veiWun det. Die
RPF
meinte es bitterernst, als sie sagte: »Wir können
mehr Leichensäcke ertragen als ihr in Paris.« Am 1 . Juli berief der UN-Sicherheitsrat eine unparteiische Ex pertenkommission, die untersuchen sollte, inwiefern im Staats gebiet von Ruanda gegen internationales Menschenrecht versto ßen wurde oder gar ein Völkermord im Gange war. Zu diesem Zeitpunkt stapelten sich vor dem Rotkreuz-Krankenhaus die Leichen zu stinkenden Haufen. Tausende hatten noch inuner Bedenken, das Areal zu verlassen, und so wurden weitere Zelte zwischen den Gebäuden errichtet. Auch vor dem König-Faisal Krankenhaus warteten Tausende, worauf, wussten wir nicht. Eines Morgens saß ich in der Leichenhalle auf der Lauer. Ich hatte tags zuvor einen toten Säugling hier abgelegt. Eli hatte das Kleine in ein Tuch gewickelt. Es war ein drei Monate altes Mädchen, das wenige Tage vor Beginn des Völkermords auf die Welt gekommen war. Wie die Mutter es so lange am Leben erhalten konnte, weiß ich nicht. Sie waren nur wenige Tage im Krankenhaus gewesen. Das Baby hatte über einen Infusionszu gang, der immer wieder herausrutschte, Antibiotika erhalten. Die Mutter versuchte weiter, ihr Kind zu stillen. Das Baby war schließlich einer Lungenentzündung erlegen, die auf seine Un terernährung zurückzuführen war. Die Leichenhalle war voll, also legte ich die Kleine zwischen weitere Tote auf den Boden. Tags darauf ging ich an der offenen Tür vorbei und bemerkte eine Bewegung am Kopf der Kinderleiche. Ich ging der Sache nach und sah eine Ratte davonhuschen. Als ich entdeckte, dass das Tuch im Bereich der Augen durchgebissen worden war, setzte ich mich auf den Boden hinter der Tür und rauchte wei nend eine Zigarette. Die Sonne schien herein, und Staubpartikel
tanzten in der kühlen Kellerluft Die Ratten fixierten mich aus schwarzen Äuglein, schienen nur darauf zu warten, dass ich das Feld räumte. Im Büro des Krankenhauses fand ich auf dem Tisch einen an mich adressierten Brief. Er war mit den MSF-Versorgungsgü tern aus Uganda gekommen. Pater Benedict hatte mir geschrie ben
vermutlich hatte er die Interviews gehört, die ich im
Radiosender
CBC in Toronto über
Satellitentelefon gegeben hat
te. Es war, wie wenn ein lieber, aber fast vergessener Freund plötzlich vor der Tür stünde. Ich steckte den Brief ein und betastete ihn einige Stunden in der Jackentasche, während ich meine Runde durch die Kinderstation beendete. Später, nach einer weiteren Operation und einer Zigarettenpause auf dem Balkon, öffnete ich ihn. Da Benedict leicht zitterte, war seine Handschrift schwer lesbar, doch die Botschaft war schlicht: »Lieber James: anbei ein kleiner, aber wichtiger Gedanke.« Es folgten einige Zeilen aus einem Gedicht von Gerard Manley Hopkins, die Benedict mir sorgfaltig aufgeschrieben hatte. Ich las in zittriger blauer Schrift: Geschlechter traten, traten schweren Tritts; Und alles ist von Schacher ausgedörrt; besudelt, beschmiert von geschäftiger Mühsal; Trägt Menschenschmutz, teilt Menschendunst: der Grund Ist kahl nun, noch kann Fuß ftihlen, der beschuht. Trotz alledem, Natur bleibt immer unerschöpft; Kösdichste Frische lebt tiefinnerst allen Dingen . . . Darunter standen die Worte: »Mit den besten Wünschen, Bene dict.« Ich ließ den Blick über die Kochfeuer unter mir schwei fen und lauschte dem Heulen der Hunde j enseits der Mauer. Das Gedicht war wie der Fund einer Geldmünze mitten im UIWald - interessant, aber gänzlich nutzlos. Ich zündete mir eine weitere Zigarette an. Ich war allein in dieser Hölle. Nicht
einmal Benedict verstand das. Wie sollte er auch, und wie
ter des Patienten überwachen, während der Chirurg sich ganz
konnte ich ihm jemals erklären, was aus Ruanda geworden war?
seiner Aufgabe widmen kann.
Wozu der Mensch filiig war, wozu ich selbst womöglich fähig
Ich spürte, wie sich mir Schweißperlen auf dem Rücken bil deten und sich in meinen Handschuhen sammelten. Meine
war? Tags darauf fuhr ich nach meiner Besprechung mit Dalla.ire
Finger waren feucht, und der Puder in den Handschuhen ver
zurück zum Krankenhaus, um meine Runden zu beenden. Es
dichtete sich zu einer klebrigen Paste. Ich suchte nach den Blut
arn
gelaßen im zerschossenen Bein. Therese öffnete für mich eine
Himmel. Ich hatte Giovanni und Eric im Transportpanzer zum
frische Packung steriler Handschuhe. Eric Vrede hatte einen
war um die Mittagszeit, und die Sonne stand senkrecht
Rotkreuz-Krankenhaus geschickt und war nun der einzige Arzt
kleinen Walkman mit Kopfhörern nach Ruanda gebracht und
arn Faisal. Eine Krankenschwester rief mich in den OP, damit
im OP vergessen. Therese legte Ry Cooders
ich mir einen Jungen ansah, der eben eingeliefert worden war.
auf, Erics Lieblingssong. Wir lachten kurz über die Partys , die
Der Junge lag weinend auf einer fahrbaren Krankentrage au ßerhalb des Operationssaals. Seine Mutter stand bei ihm, beide Hände an der Seite der Trage. als wollte sie ihr Hab und Gut
Chicken Skin Music
wir 1 988 gefeiert hatten, und über den grandiosen Tanzabend bei Susan Allen hinter dem Centre Hospitalier. Ich durchschnitt und spülte die Arterien und klemmte sie
aus billigem Synthetik mit einem grell
ab. In den vergangeneu sechs Wochen hatte Giovanni sämtliche
war nicht afrikanisch. Wahrscheinlich
chirurgischen Sägeblätter zerbrochen. Jetzt benutzten wir eine
aus einem Secondhand-Kleidermarkt, dachte ich. Ihre Augen
sterilisierte Bügelsäge. Ich durchsägte den Knochen, schnitt das
inspizierten mich mit der gleichen Sorgfalt, mit der ich die
Gewebe zurecht und nähte die Wunde zu, wobei ich knapp
bewachen. Ihr Schal gelben Blumenmuster
Wunde ihres Sohnes in Augenschein nahm. Ich bemerkte ihr
über dem Knie einen Hautlappen übrig ließ, den wir später
Kopftuch, schmutzig vom wochenlangen Tragen, mit Blutfle
schließen würden. In dreißig Minuten hatte ich ihm das Bein
cken darauf Ich spürte die Meinung, die sie sich von mir gebil
abgesägt. Wie schweißtreibend musste es sein, ein Bein mir
det hatte: »unsicher, aber die einzige Hoffnung für meinen
der Machete abzuhacken, dachte ich, Schwerstarbeit. Einen Fuß
Sohn«. Sie hüllte sich fest in ihren Schal, während die Kranken
oberhalb des Knöchels abzuhacken, wäre bei weitem weniger
schwester den Jungen in den OP schob.
anstrengend, sofern der Winkel stimmte, und noch weniger
Der Junge war vierzehn, sein rechter Unterschenkel von ei
mühsam wäre das Durchtrennen der Achillessehne. Um einen
ner Landmine zerfetzt. Was von seinem Fuß übrig war, hing
Menschen zu töten, wären, sofern man die richtige Technik
ihm lose vom Schenkel, ein Knäuel aus Knochen, Fleischresten,
zum Einsatz brachte, nur Sekunden vonnöten - und kaum
dem Teil eines Schuhs. Die Explosion hatte sich vor zwei, drei
Schweiß. So rechnete die Interaharnwe-Miliz.
Tagen ereignet. Der Junge fieberte, und die Entzündung hatte
einer Machete ist
es
]a,
dachte ich,
mit
anders.
bereits das Knie erreicht. Ich würde das Bein deshalb oberhalb
Therese legte das abgetrennte Bein in einen Eimer, der neben
des Knies abtrennen müssen, die erste Amputation, bei der ich
dem Operationstisch bereitstand. Dann stieß sie die Tür zum
allein die Verantwortung trug. Ich hatte Angst, eine Arterie zu
Operationssaal auf. Der eine Flügel schlug gegen die Wand, die
treffen, ihn umzubringen. Therese, meine OP-Schwester, las die
andere fiel wieder zu. Seine Mutter schrie:
Besorgnis in meinen Augen. Wir betäubten den Jungen mit
y' Nola!«, und warf sich über ihren Sohn, umarmte ihn, strei
»Mama-we! Mama-we
Ketamin; Ketamin verursacht keine Atemdepression, und so
chelte ihm über die Stirn. Das Licht fiel durch die Fenster, dass
kann eine filiige Schwester auf dem Monitor die Vitalpara.me-
seine schweißnasse Stirn glänzte und das Gelb ihres Schals noch
intensiver strahlte. Sein Bein lag in einem Eimer, und er war am
wieder weggefahren war, richteten wir eine Tuberkulose-Stati
Leben. Sie hielt seinen Kopf umfasst, während er leise flüsterte:
on ein.
»Mama-we, Mama�we.«
Ein schöner Anblick, wie ich fand. Und
mit einem Mal dämmerte mir, was Benedict gemeint hatte.
Am Abend horchte ich die Brust des alten Mannes ab, der darauf bestand, seine Tonpfeife zu rauchen. Er konnte sich nicht allein auf den Beinen halten. Wir saßen auf dem Lauben
Am darauffolgenden Morgen war es in der Stadt bemerkens
gang, tief genug, um nicht ins Visier der Heckenschützen zu
wert ruhig. Es war der 4. ]uli, und statt des Artilleriefeuers wa
geraten, die rings um die Stadt noch immer Widerstand leiste
ren nur sporadische Maschinengewehrsalven zu hören , die vom
ten, aber hoch genug, um die Sterne zu sehen. Ich machte dem
Bezirk Kimihurura herübertönten. Als ich das Krankenhaus
Mann Vorhaltungen, weil er rauchte, obwohl seine Lunge in
verließ, um ins UNAMIR-Hauptquartier zu fahren, hielt mich
einem so schlechten Zustand war. »Wir haben Krieg, Herr
eine Artillerie-Einheit der Patriotischen Front auf. Rings um
Doktor. Jetzt hat die Patriotische Front das Sagen. Irgendjemand
den Kreisverkehr waren keine Scharfschützen mehr postiert.
spielt immer den Chef. Ich schlage mich durch, so gut es eben
Bei der morgendlichen Sitzung waren alle in Hochstimmung.
geht«, erklärte er auf Französisch.
Die Regierungstruppen hatten die Flucht ergriffen, und die Re
Ich bot ihm eine Zigarette an. Er bedankte sich: »Ich werde
bellen die verlassenen Stellungen um die Stadt wieder bezogen;
sie genießen. Morgen muss ich auf die Beine kommen. Mal
sie hatten eine nahezu menschenleere Hauptstadt erobert. Eini
sehen, wie's wird, Herr Doktor, mal sehen.« Ich besah mir
ge tausend Zivilisten hielten sich immer noch versteckt. Die
meine blutbespritzten Schuhe und dachte: Ja, mal sehen.
eine Hälfte der ursprünglich dreihunderttausend Einwohner
Am darauffolgenden Morgen fuhr ich im Transportpanzer
Kigalis war geflüchtet, die andere tot. In Kigali hatte Kagame
zur Kirche St. Andre. Die Milizionäre waren verschwunden. Die
den Sieg errungen, aber anderswo im Land herrschte noch im
Kinder waren nicht mehr in die Zimmer gepfercht. Sie spähten
mer Krieg.
vor die Tür, noch immer ängstlich. Der französische Priester
An diesem Abend wurde bei UNAMIR gefeiert. Philippe Gail lard verließ Ruanda am darauffolgenden Morgen.
blinzelte in die helle Sonne, der lange Bart fiel ihm über die blasse Haut und die knochigen Schultern. Er war drei Monate
Romeo Dallaire handelte eine klar umrissene Operationszone
bei den Kindern geblieben und entsprechend verdreckt. Seine
für die Franzosen aus. Diese sprachen von »humanitärer Schutz
bloßen Füße in den schweren Ledersandalen waren braun vor
zone«, doch in Wirklichkeit handelte es sich um den wichtigs
Schmutz, der sich tief in die Haut eingetreten hatte. Zwei UN
ten Fluchtweg der Regierungstruppen und der Interahamwe
Soldaten griffen ihm beim Gehen unter die Arme.
Miliz in das benachbarte Zaire. Die zweite Route wäre ein klei
Er machte sich los und wankte zurück in sein Zimmer. Eini
ner Landstreifen in Rhuengeri, eine traditionelle Hochburg der
ge Augenblicke später kam er mit dem Kruzifix wieder heraus,
Hutu.
das er bei meinem letzten Besuch vor etwa vier Wochen an
An diesem Nachmittag brachte die RPF unangemeldet etwa dreißig Tuberkulose-Patienten
zum
Faisal. Sie wurden vor der
sich gedrückt hatte. Er begleitete mich zum Krankenhaus, und ich organisierte ihm eine Mahlzeit, warmes Wasser, damit er
Eingangstreppe des Krankenhauses abgelegt, fast schon von der
sich waschen konnte, und ein sauberes Zimmer für sich allein.
Ladefläche des Lkws gestoßen. Ein alter Mann hustete Blut. Eine
Er hatte quälende Rückenschmerzen und konnte nicht schlafen.
Krankenschwester reichte ihm ein Tuch, mit dem er sich den
Ich untersuchte ihn, während er vornübergebeugt im Bett saß.
blutigen Schleim von den Lippen wischte. Nachdem der Lkw
Er war schwach, die Muskeln vorn langen Hungern verkürn-
mert, und er zuckte zusammen, als meine Hand seinen Rücken berührte. Ich gab ihm Valium und achtete darauf, dass er es auch schluckte.
»Geh einfach weiter . . . und mach ein zuversichtliches Ge sicht«, sagte ich. Nachdem wir uns noch etwa eine Minute durch das dichte
Der Priester blieb etwa fünf Tage bei uns. Er aß nie eine volle
Gedränge gewühlt hatten, übernahm Jonathan die Führung.
Mahlzeit, immer nur ein paar Bissen. Wenn er umherging, hielt
»Hier entlang.« Wir hielten auf einige RPF-Kämpfer zu, die
er den Blick starr zu Boden gerichtet und murmelte unentwegt
neben ihrem Militärfahrzeug standen. Ich war erleichtert, als
Gebete vor sich hin. Er konnte nicht stillsitzen, zupfte unruhig
wir uns zu ihnen gesellten. Ich konnte mich wieder orientieren
an seinen Fingern, bewegte in einem fort die Zehen. Ich hörte,
und beruhigte mich. Wir fanden mehrere Personen mit ein
wie sich einige Mitglieder unserer Belegschaft im Speisesaal
wenig ärztlicher Erfahrung und machten Stellen ausfindig, an
über ihn lustig machten. »Der Bart, die Sandalen, für wen hält
denen sich aufblasbare Wassertanks platzieren ließen. Als wir
er sich? Für Jesus?« Ich wandte mich den Spöttern zu. »Nach
später mit Versorgungsgütern zurückkamen, sahen wir, wie ei
allem, was er getan hat, ist er Jesus Christus«, sagte ich. Einige
ne Gruppe junger Männer in sauberer Kleidung von Soldaten
Tage später wurde er nach Frankreich ausgeflogen.
der RPF in einem Lkw abtransportiert wurde.
In den folgenden Tagen kamen Patienten zu uns, die sich
Viele RPF-Rebellen hatten während des Völkermords ihre ge
monatelang verkrochen hatten und nahezu verhungert waren.
samte Familie verloren, und keine noch so straffe militärische
Einige hatten sich aus den Verstecken gewagt und waren auf
Ordnung vermochte ihre Wut gänzlich einzudämmen. Unweit
Landminen und Granaten getreten, die in der Stadt verstreut
des Faisal wurde ein RPF-Kämpfer an Ort und Stelle hingerich
lagen. Ich hielt eine Gruppe Kinder davon ab, einen Blindgän
tet, nachdem seinem Kommandanten zu Ohren gekommen
ger mit Steinen zu bewerfen, während jemand ihn aufhob und
war, dass er eine Frau vergewaltigt hatte. Die RPF setzte ihre
einen Abhang hinunterwarf, wo er prompt explodierte.
Säuberungsaktionen fort und beschränkte zu diesem Zweck un
Eines Morgens fuhr ich mit Jonathan Brock zu einem von
sere Bewegungsfreiheit. An neuen Kontrollpunkten inspizierten
der RPF kontrollierten Auffanglager für Menschen, die drei Mo
sie unsere Fahrzeuge, überprüften die Staatsangehörigkeit der
nate in der Stadt eingeschlossen gewesen waren. Mindestens
ausländischen Helfer, ließen uns weiterfahren oder wiesen uns
fünfzehntausend Personen drängten sich in den Räumen der
ab. Andernorts in Ruanda war die RPF nicht so diszipliniert wie
Bildungsstätte, und Lastwagen brachten immer noch mehr. Es
in Kigali, und im Westen des Landes kämpfte sie nach wie vor
waren ausnahmslos Hutu. Man sah weder Waffen noch Unifor
gegen die Regierungstruppen.
men, nur muskulöse junge Männer in sauberer Kleidung. Ich
Auf Ansuchen Frank Kamanzis und Oberst Yaaches fuhr ich
war nervös, zumal ich diese jungen Männer nicht aus der Si
im Konvoi mit UNAMIR zu einem Waisenhaus außerhalb von
cherheit eines gepanzerten Wagens betrachtete, sondern mitten
Kigali. Kamanzi hatte vorgeschlagen, wir sollten Journalisten
unter ihnen stand; so nah war ich ihnen noch nie gewesen.
mitnehmen, und Henry Anyidoho, stellvertretender Komman
Ich hatte Angst, und so etwas können sie riechen, dachte ich.
dant von UNAMIR, führte uns in drei vierradangetriebenen Fahr
Ich wusste nicht mehr, aus welcher Richtung wir gekommen
zeugen aus der Stadt und über unbefestigte Straßen. Transport
waren, wo unser Fahrzeug stand, welcher Weg ins Freie führte.
panzer waren in diesem Fall nicht notwendig, da wir einer
Im Gehen machte ich mir Notizen zu den einzelnen Gebäuden.
Einladung der Rebellenarmee in ein Gebiet folgten, das sie un
Jonathan warf einen Blick auf meine Kritzelei. »Wir haben uns verlaufen, oder?«, sagte er.
angefochten kontrollierte. Wir rumpelten knapp eine Stunde lang über sehr schlechte 2 43
Straßen. Als wir die freie Landschaft erreichten, waren weit und breit keine lebenden Menschen mehr zu sehen. Sechs Jahre zuvor hatte ich noch das Gefühl gehabt, nirgends allein zu sein. Das war jetzt anders. In einiger Entfernung rauften ein paar streunende Hunde. Die Leichen am Straßenrand hatten sie ge fressen. Geknickte Zweige, in der Sonne braun geworden, klatschten gegen die Windschutzscheibe, doch sogar durch das dichte Gestrüpp entlang der Straße sah man Leichen im Gras liegen. Sie waren schon mehrere Wochen alt. Sonnengebleichte Knochen ragten weiß aus der harten Lederhaut, die von Mache ten zerhackt oder von Hunden zerrissen worden war. Frauen lagen über ihren Kindern. Vermutlich hatten sie mit ansehen müssen, wie man ihre Kinder niedermetzelte, bevor man auch sie ermordete. Andere Frauen lagen mit gespreizten Schenkeln auf dem Rücken, die Arme vor dem Gesicht; man hatte ihnen Stöcke in den Unterleib getrieben. Die Sonne brannte unbarm herzig auf diese Szenen. Ich bekam kaum noch Luft, öffnete meine kugelsichere Weste und zündete mir eine Zigarette an. Als wir an den beschriebenen Ort kamen, war es kein Wai senhaus, sondern ein verlassenes Internat, in dem sich eine Gruppe psychisch Kranker aufuielt. Vielleicht hatte man sie hier abgesetzt; vielleicht waren sie von selbst gekommen und geblieben. Es handelte sich ausnahmslos um psychotische Män ner. 1988 in Mugonero hatte ich viele psychisch kranke Men schen gesehen. Viele Ruander halten noch immer an der tradi tionellen Vorstellung fest, derzufolge die Gemüter psychisch Kranker von »Würmern« befallen sind und Geister in Gestalt von Vögeln mit den Besessenen sprechen. Die Menschen hier waren allesamt dem Hungertod nah. Einige gingen unentwegt im Kreis herum, andere führten Selbstgespräche. Ein Mann stand vor einem Baum und redete mit den Vögeln. »Das sind nur die Schwachsinnigen. Die Kinder sind im Haus«, sagte ein in Zivil gekleideter RPF-Mann. Die Männer schienen ihn überhaupt nicht zu kümmern, und sofort wurde ich misstrauisch. Die Journalisten ignorierten die psychisch Kranken. Sie woll-
ten Kinder sehen. Ich wanderte durch das Gebäude, gefolgt von einem Mann, der immerzu lächelte und mir zuwinkte. Ich
�and einen Lagerraum am Ende des überdachten Laubengangs
1m Erdgeschoss. Er war mit einer Holztür verschlossen, die in
der oberen Hälfte ein kleines Gitter aufwies. Ich blickte hinein und sah Säcke voller Mais und Mehl, einige Dosen Backöl und einige ungekennzeichnete zugeklebte Schachteln. Ich bahnte mir einen Weg zu den Kindern. In ihrem Saal standen Betten in einer Reihe, ein jedes mit fünf oder sechs Kleinstkindern und Säuglingen belegt. Einige ältere Kinder im Alter zwischen drei und vier Jahren saßen auf dem Boden und machten große Augen, als plötzlich diese Gruppe von Men schen mit Kameras und kugelsicheren Westen vor ihnen stand. Viele der Kinder weinten, alle waren schmutzig und verängs tigt, und die Duftmischung aus Durchfall und ungewaschener Kleidung war überwältigend. Insgesamt waren es etwa vierzig Kinder. Ich untersuchte einige von ihnen, während die RPF Männer den Journalisten erklärten, dass Malaria nicht nur von den Regenfallen kam. Die Kinder waren völlig ausgehungert Einige hatten Fieber, bei anderen war wie bei Malaria die Milz vergrößert. Viele hatten Durchfall und lagen in den eigenen Exkrementen. Je mand hatte die Kinder mit Nahrung versorgt, so viel stand fest. Ohne Nahrung und Wasser wären die jüngsten und die kran ken längst gestorben. »Wer kümmert sich um die Kinder?«, fragte ich. »Sie sind im Augenblick nicht hier, aber sie sorgen gut für sie«, antwortete der Gmgekleidete. In einem Interview sagte er, die Kinder brauchten Nahrung und Medikamente - vor allem gegen Malaria. »Der Doktor wird mir sicher recht geben.« Augenblicklich schwenkten die Kameras zu mir. Ich wusste, dass es der Patriotischen Front an Malariamedikamenten fehlte. Ich beantwortete die Fragen der Journalisten, während ich den Saal verließ und über den Gang zum Lagerraum ging. Die Journalisten folgten mir. »Lebensmittel sind in diesem Fall nicht das Problem«, sagte
ich. »Wenn Sie einen Blick hier hineinwerfen, sehen Sie die
Land ist doch verrückt geworden. Als wir wegfuhren, winkte
Säcke voller Mais. Aber natürlich müssen wir uns vergewissern.
der lächelnde Mann hinter uns her, bis wir hinter den Büschen
Vielleicht lagern hier ja noch mehr Vorräte. << >>Ich habe keinen Schlüssel«, sagte der RPF-Mann, >>und der
am Straßenrand verschwunden waren. Abends telefonierte ich wie immer mit Jules. »Die RPF-Rebellen sind nicht eben Pfadfinder, was?«, sagte
Hausmeister ist nicht hier. Aber wie dem auch sei, die Kinder sind krank, und es wäre doch grotesk, sie nicht gegen Malaria zu behandeln. Was werden Sie tun, Herr Doktor?«, fragte er.
er. Einige Tage später kam Eric Goemaere, ein Generaldirektor
>>Einige der Kinder sind vielleicht wirklich an Malaria er
von MSF, unerwartet nach Kigali. Er war in Butare gewesen,
krankt«, sagte ich, »aber sie sind auch anderweitig nicht ge
mittlerweile auf RPF-Seite, wo Ärzte ohne Grenzen Hilfszentren
sund und müssen dringend medizinisch versorgt werden. Ich
errichtete. Von ihm erfuhr ich, dass die RPF die Menschen in
bringe sie zum Faisal-Krankenhaus.«
sogenannte Umgruppierungslager stecken wollte. Medizinische
»Sie können weiter fotografieren, während wir besprechen,
Helfer wurden eingeschüchtert, in der Nacht verschwanden
wie wir die Angelegenheit regeln«, sagte der RPF-Mann zu den
Patienten, einzelne Hutu wurden herausgepickt und getötet.
Journalisten, während er sich höflich bei mir unterhakte und
Im Nordosten, wo Ärzte ohne Grenzen jetzt ebenfalls aktiv war,
mit mir auf den Hof hinaustrat. »Nein, die Kinder dürfen nicht
war die Situation kaum anders. Ich war nicht überrascht.
weggebracht werden«, meinte er dann. »Anweisung von oben.
In ihrer humanitären Schutzzone nahmen die Franzosen den
Am besten, Sie geben uns die Medikamente, dann versorgen wir
auf dem Rückzug befindlichen RGF- und Interahamwe-Soldaten
sie hier vor Ort.« So gehe das nicht, erklärte ich ihm. Zumindest
nicht etwa die Waffen ab, sondern beschworen sie - nicht im
einige der Kinder müssten im Krankenhaus behandelt werden.
mer mit Erfolg -, von weiteren Ausschreitungen gegen Tutsi
Und alle müssten sie wegen Mangelernährung behandelt, geba
abzusehen. Einige französische Offiziere waren dermaßen ange
det und ordendich betreut werden. Keines der Kinder erhalte
widert von dem, was ihre Streitmacht unternahm beziehungs
hier wirklich, was es brauche. »Die Kinder bleiben hier«, sagte
weise versäumte, dass sie sich selbst als Komplizen in einem
er noch einmal mit Nachdruck.
Völkermord sahen, der angeblich gar nicht existierte. Nachdem
»Dann erklären Sie aber den Journalisten, dass nicht einmal
sie achthundert halbverhungerte Tutsi entdeckt hatten, die aus
die kränksten Kinder in die Klinik verlegt werden können, ob
dem Wald im Südwesten gekommen waren, und von denen
wohl wir hier einen Wagenkonvoi haben, der sie mitnehmen
dreihundert trotz massiver Stich- und Schusswunden überlebt
könnte«, sagte ich.
hatten, sagte einer der Offiziere: » {Die Regierung} hat uns ma
Ich wusste, dass wir in unseren Fahrzeugen nicht ausrei
nipuliert. Wir sollten glauben, die Hutu seien die Guten und
chend Platz hatten, um sie alle mitzunehmen, und sorgte dafür,
die Opfer.« Nach allem, was sie gesehen hatten, bestand für
dass Henry und ich vvenigstens die kränksten Kinder und alle
diese französischen Offiziere nun kein Zweifel mehr.
Säuglinge ins Kankenhaus bringen durften. Die übrigen Kinder
In dieser Nacht wurden Eric und ich im Faisal zu einer Frau
würden wir holen, sobald geeignete Transportmittel organisiert
gerufen, die kurz vor der Entbindung stand. Der Generator war
wären. »Und was wird aus den Männern ?«, fragte ich. »Auch
ausgeschaltet v..ur den, also bahnten wir uns mit Hilfe einer
sie brauchen professionelle Hilfe.«
Öllarnpe einen Weg durch die vielen Menschen, die noch im
»Die Schwachsinnigen? Wir bringen sie zu euch«, sagte er.
mer auf den Gängen, den Treppen und in den Eingängen
Welche Schwachsinnigen?, dachte ich. Das ganze verfluchte
schliefen. Die meisten waren Hutu und wagten sich nicht vom
Gelände. Einige waren wach und wollten wissen, warum wir
einen britischen Chirurgen, drei neue Krankenschwestern und
um drei Uhr morgens nicht schliefen. Obwohl die Rebellen
einen Logistiker, und außerdem einen neuen Einsatzleiter, der
der Patriotischen Front dies vehement von sich wiesen, kamen
bald meine Pflichten übernehmen würde. Das Interesse der UN
ihre Soldaten oft nachts durch den Zaun und zerrten Leute zur
Spezialorgane galt in erster Linie einer gesicherten Wasserver
Befragung aus dem Haus. »Keine Soldaten«, sagte ich, »dann
sorgung der Menschen. Wir dagegen hatten andere Prioritäten;
geht alles glatt.«
wir mussten planen, wie wir das Krankenhaus den neuen Macht
Es kam zu Komplikationen, die Mutter war erschöpft, und
habern Ruandas übergeben sollten, die noch nicht feststanden.
das Baby ließ auf sich warten. Eine alte mandisehe Frau, die
Ich half dem neuen MSF- Team nach Kräften, aber der Abschied
die Geburt überwacht hatte, lachte träge. während sie ihre Ton
fiel mir nicht leicht.
pfeife rauchte, ein Privileg, das nur den ältesten Frauen in Ru
Am 1 3 . ]uli nahm die RPF Rhuengeri ein. Am 14. Juli fiel
anda vorbehalten war. Sie zwinkerte und reichte die Pfeife an
Gisenyi, die letzte Hochburg der Regierungsarmee. Am darauf
eine jüngere Frau weiter, während ich die Mutter untersuchte.
folgenden Tag machten vertriebene Hutu sich auf und flüchte
Die Alte war eine magere Gestalt mit tiefen Furchen und ledri
ten über die Grenze nach Zaire, zumal Gerüchte über Vergel
ger Haut. Sie sprach ein keckerndes, zuversichtliches Kinyar
tungsmaßnahmen durch die RPF laut geworden waren. Zur
wanda, und eine jüngere Frau übersetzte. Die Flamme flackerte
gleichen Zeit strömten weiter im Süden stündlich sechstausend
und rauchte, bekam nicht genügend Öl. Irgendwo in der Stadt
Menschen, darunter auch Interahamwe und Mitglieder der
explodierte eine Granate, und die nächtlichen Zikaden hörten
Übergangsregierung - einschließlich dreizehn Minister des Ka
eine Weile auf zu zirpen. Ich griff nach einer Saugglocke, um
binetts -, in die französische Schutzzone. Die Franzosen waren
das Baby herauszuziehen. Ich roch den Tabak im Atem der alten
weder gewillt, die mutmaßlichen Rädelsführer des Genozids
Frau, während sie sich gegen die Beine der Mutter stemmte.
zu verhaften, noch nahmen sie den Regierungstruppen die
Ich zog an der Saugglocke. »Wenn es ein Junge ist, geht das
Waffen ab. Stattdessen »initiierte und organisierte« die Füh
Morden weiter«, prophezeite die Alte, während sie mir zusah.
rungsgruppe im Generalstab die Flucht der Genocidaires nach
»Ist es ein Mädchen, hört es auf. « Ich zwängte den Kopf des
Zaire.
Kindes aus der Mutter heraus, und der Körper folgte ohne wei
In nur zwei Tagen hatten über eine Million Menschen die
teres nach. Der kleine Junge schrie. »Bald«, sagte die Alte,
Grenze nach Zaire überschritten. Es war die größte und schnells
»bald kriegt sie ein Mädchen.«
te Bewegung von Flüchtlingen über eine Landesgrenze, die je
Ich wickelte das Neugeborene genauso ein, wie ich es in
mals dokumentiert worden war. Sie schlossen sich fünfhundert
Toronto getan hätte - in eine Decke, in der es bequem atmen
tausend Flüchtlingen in Tansania und zweihunderttausend in
konnte und die es warmhielt Die Alte nahm mir den Kleinen
Burundi an. Die Regierungsarmee führte ihr gesamtes Waffenar
aus dem Arm. Als sie ihn erneut einwickelte, auf traditionelle
senal mit sich, und ehemalige Regierungsbeamte sorgten dafür,
mandisehe Art, sagte sie: »Sie haben geholfen, gut, aber das
dass alles, was nicht niet- und nagelfest war, geplündert und in
Baby lebt hier, nicht in Ihrer Welt.«
die Camps geschafft wurde. Ganze Fabriken wurden auseinan dergenommen; jeder Computer, jeder Bleistift, jeder einzelne
Nachdem Kigali an die RPF gefallen war, strömten weitere Nicht
Gegenstand der medizinischen Ausrüstung, jede Tablette, jedes
regierungsorganisationen und außerdem Spezialorgane der Ver
Fahrzeug und jeder Hammer wurden aus Ruanda in die Camps
einten Nationen in die Stadt. Ärzte ohne Grenzen schickte uns
geholt. In Zaire drängten sich mittlerweile über eine Million 249
Menschen in der Provinz Kivu zwischen Goma und Bukavu,
Mai versprochen, traf etwa um dieselbe Zeit ein. Den meisten
unweit der ruandischen Grenze. Sie hatten weder Zelte, noch
fehlte es an der passenden Ausrüstung, einige hatten gar keine.
sauberes Wasser, noch medizinische Versorgung, noch Lebens
Am 1 8 . Juli erklärte die Patriotische Front den Bürgerkrieg
mittel. Sie waren von Regen und Exkrementen umspült. MSF
für beendet, stellte eine Übergangsregierung und schaffte die
und Oxfam verteilten zwar sauberes Wasser, aber die Menschen
Personalausweise ab, die zwischen Hutu und Tutsi unterschie
starben in den folgenden Tagen zu Tausenden an tödlichen Cho
den. In dieser Nacht bat mich Jules, nach Zaire zu fahren. Eine
lera- und Ruhrepidemien. Außerdem schwappten viele hundert
Million Tutsi waren im Zuge des Völkermordes in Ruanda getö
Journalisten ins Land: CNN, BBC, ABC und sämtliche größeren
tet worden. Hunderttausende waren verwundet oder krank.
Fernseh- und Radiosender hatten Reporter geschickt. Als der
Millionen hatten in Ruanda ihre Wohnsitze verloren, und min
Völkermord in vollem Gange gewesen war, hatten sich nie
destens zwei Millionen Flüchtlinge wurden jetzt von dem, was
mehr als fünfzehn Reporter im Land befunden. Komplizierte
von der mordenden Regierung und ihrer Armee noch übrig
Unterschiede zwischen Hutu und Tutsi, zwischen Mittätern
war, aus dem Land getrieben. In den vierzehn Mordwochen
und Mitläufern, zwischen Tätern und Opfern, Kidnappern und
hatte UNAMIR ungefahr dreißigtausend Menschen in Kigali das
Geiseln, Regierungsarmee und Rebellenfront wurden in präg
Leben gerettet und selbst vierzehn getötete Soldaten zu bekla
nanten Fünfzehn-Sekunden-Zitaten, die alles besagten, wirksam
gen. MSF hatte viele hundert einheimische Mitarbeiter verloren.
ausgelöscht. Jetzt war von einer »Cholera-Epidemie in einer
Der Krieg war vorbei, und der nächste bereits vorprogram
humanitären Krisensituation« die Rede oder von »diesem
miert. Ich rauchte mindestens eine Schachtel am Tag. Ich hatte
kriegstraumatisierten Kind, das an Durchfall leidet«. Amerika
in den vergangeneu zwei Tagen Fieber gehabt und blutigen
und die Welt konnten nicht tatenlos zusehen. Präsident Clinton
Schleim gehustet. Bronchitis oder Lungenentzündung - ich
sagte: »In jeder Minute stirbt ein Kind.« In den folgenden Tagen
war nicht sicher, was es war, schluckte Antibiotika und fühlte
pumpten viertausend mit großen Gewehren bewaffnete ameri
mich allmählich besser. Vermutlich hatte ich die falsche Dia
kanische Soldaten sauberes Wasser zu einer Million Menschen;
gnose gestellt, aber die richtige Behandlung gewählt: besser als
sie schlossen sich den französischen Soldaten und vielen tau
umgekehrt, dachte ich. Ich war erschöpft, gänzlich ausge
send weiteren Soldaten aus anderen Ländern an, um die Spezial
brannt. Und so ließ ich Jules wissen, dass ich nach Hause flie
organe der Vereinten Nationen und die Nichtregierungsorgani
gen würde.
sationen bei ihren Hilfseinsätzen zu unterstützen. Nach Ruanda wurden keine Truppen entsandt, dort waren nur die Franzosen
Ich stand auf dem Balkon, rauchte eine Zigarette. Das französi
stationiert. Die französischen Soldaten halfen den an Cholera
sche MSF-Team hatte vor einigen Tagen das Rotkreuz-Kranken
erkrankten Vertriebenen und belieferten die Flüchtlinge in Zaire
haus verlassen. Es war pures Glück, dass sie noch am Leben
mit zehn Tonnen Lebensmitteln.
waren. Ihre Entscheidung, im Land zu bleiben, würde mich
UNAMIR hatte noch immer keine gesicherte Wasserversor
ein Leben lang verfolgen. Ich dachte an die psychisch Kranken,
gung und keine sicheren Nahrungs- oder Treibstoffvorräte. Die
an die kleinen Kinder. Sie wurden nicht zu uns gebracht. Ich
Transportpanzer und Lkws, die man UNAMIR in der UN-Resolu
dachte an die ältere Frau, die mich ihren Freund genannt hatte.
tion am 1 7 . Mai versprochen hatte, kamen erst Ende Juli, nach
Umrnera-sha. Sie hatte mir Mut gemacht. Ich habe sie nie wieder
und nach, ohne Funkgeräte, ohne Reparaturwerkzeug und oh
gesehen. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende. Sylvie in ihrer
ne Maschinengewehre. Die Truppenverstärkung, ebenfalls im
Besenkammer war noch wach, und Lulu und Vanessa schliefen
in ihre Decke gehüllt auf dem Boden. Ich steckte Sylvie ein wenig Geld zu und sagte ihr, ich würde mich am Morgen von ihr verabschieden. Dann kam Eli, bat mich, ein Mädchen zu untersuchen, das mehrere Stunden zuvor ins Krankenhaus gebracht worden war.
einen wurden drei. Tags darauf packte ich meine Koffer und verabschiedete mich von meinem Team. Dann hielt ich Aus schau nach Sylvie, Vanessa und Lulu, fand sie aber nicht. Am Nachmittag verließ ich Kigali in einer Maschine von UNAMIR
Die Kleine wollte nicht sprechen. Sie war nach ihrer Ankunft gebadet worden, es wurden aber keine sauberen Kleider für sie gefunden. Jetzt saß sie in einer Ecke der Kinderstation in ihrer zerschlissenen, schmutzigen blauen Schultunika. Sie war unver letzt, aber stumm. Ich setzte mich zu den beiden auf den Bo den. Eli streichelte ihre Hand, während er mit ihr redete. Er übersetzte für mich, als sie endlich reagierte. Sie sei den Interahamwe entkommen, erzählte sie. Ihre Mut ter habe sie in der Latrine versteckt. »Durch das Loch habe ich gesehen, wie sie mit Macheten auf meine Mutter eingeschlagen haben. Die Männer waren wütend und stark. Ich habe gesehen, wie der Arm meiner Mutter in das Blut meines Vaters fiel, und lautlos geweint.« Ich hörte ihr zu und sah, wie ihr Mund zitter te, während ihr die Worte langsam und abgehackt über die Lippen kamen, wie sie die braunen Augen abwandte, als ihr Tränen über die Wangen liefen, und kämpfte mit den meinen. In diesem Moment überkam mich eine verzweifelte Wut, weil dieses Kind schon hatte erfahren müssen, zu welch einem Grad an Grausamkeit der Mensch fähig war. Auch Tiere können brutal sein, aber nur der Mensch ist willentlich grausam. Er hat die freie Wahl, dachte ich, kann alles sein, sich an alles gewöh nen. Nur der Mensch kann böse sein, sich für das Böse ent scheiden. Ich spürte mein Herz klopfen und wünschte mir ein Gewehr, um die Männer zu erschießen, die dem Mädchen so etwas angetan hatten, stellte mir vor, wie ich wieder und im mer wieder abdrückte. Da schien es mir fast, als wäre etwas in mir zerbrochen, unwiederbringlich zerstört. Ich konnte nicht länger stillsitzen, und weil ich mich meiner Tränen schämte, ging ich die Treppe hinunter und trat hinaus auf den Laubengang, um eine Zigarette zu rauchen. Aus der
25 3
Teil III
Flüchtlinge in Zaire : Angst vor dem , was sie wissen, Angst vor dem , was wir nicht sehen
Ich fuhr auf dem Highway 401 durch Toronto, als ein blauer Mazda Miata mich überholte. Er hatte dieselbe Farbe wie die Plastikplane, von der ich monatelang geträumt hatte, ohne zu wissen warum. Sofort war mir der süßliche Geruch von totem Fleisch und Blut in der Nase, sah ich abgehackte Kinderfinger in der roten Erde. Ich geriet fast ins Schleudern bei dem Ver such, das Fenster herunterzukurbeln. Die Stoßstange schramm te an der Leitplanke entlang, ehe der Wagen zum Stehen kam. Draußen schneite es. Die Scheibenwischer waren nicht aus dem Takt geraten, ich schon. Ich hatte mich verändert. Ich saß da, zählte die weggeworfenen Gegenstände am Straßenrand und fuhr dann eine Weile nur umher. Mit dreistündiger Verspätung traf ich endlich bei meinen Eltern ein. Zwischen Ruanda und Kanada lagen Welten, in Kanada lebte man, was die Ereignisse in Ruanda betraf, in ahnungsloser Glückseligkeit. Am 3 1 . Juli 1 994 hatte mich die größte Zeitung des Landes, der Toronto Star, für einen Leitartikel interviewt, der die Überschrift trug : »Arzt bezeichnet Ereignisse in Ruanda als Genozid. « Ich hatte abge nommen in den achtzehn Monaten, seit ich wieder hier war, rauchte zu viel und ging nicht ans Telefon. Ich engagierte mich nach wie vor als Vizepräsident für MSF Kanada und war zudem in der Krankenhaus-Notaufnahme tätig. Außerdem strebte ich einen Master-Abschluss in Epidemiologie an. Die Logik von Statistiken hatte eine beruhigende Wirkung auf mich, dennoch konnte ich meinem Wissen nicht gänzlich entfliehen. Ich war von dem, was ich in Ruanda erlebt hatte, wie besessen, gefan gen zwischen Wut und Verzweiflung. Während des Essens ergingen meine Eltern sich in belanglo sem Geplauder, versuchten indirekt, mich auszulotsen, einzu25 7
schätzen. Ruanda wurde nicht erwähnt, aber es umhüllte uns
abgeschnitten vom Weltgeschehen. Dann, am 1 7 . November,
wie die schwüle Luft, die darin herrschte. Nach einer langen
während ich den Abschlussbericht in meinem Hotelzimmer ver
Gesprächspause, in der nur das laute Ticken der Uhr im Zim
fasste, klingelte das Telefon. ]ules war am Apparat. »Ich versuche
mer nebenan zu hören war, fing meine Mutter an zu weinen.
schon seit Wochen, dich zu erreichen. Übrigens, deine Eltern
»Du hättest nicht dorthin zurückkehren dürfen. Du bist völlig
lassen dich schön grüßen« , sagte er. »Es geht wieder um Ruanda.
verändert.« Mein Vater fasste über den Tisch und streichelte ihr
Nun ja, nicht ganz.«
die Schulter. Meine Mutter schüttelte den Kopf und weinte in
»Sag nichts. Zaire. Ich sehe es gerade auf CNN«, sagte ich.
ihre Hände. »Du kannst dich nicht einfach aufgeben, James«,
»Die Rumdisehe Patriotische Front hat die Flüchtlingslager
sagte mein Vater. »Hörst du? Gib nicht auf. Komm wieder
überfallen«, erzählte Jules. »MSF hat die Vereinten Nationen auf
hoch. Das wird schon. « Einige Wochen später besuchte ich Benedict. Wir stapften
gefordert, Truppen nach Zaire zu entsenden. Es ist nicht ganz klar, was vor sich geht. Ich brauche dich in Goma. Was hast du
eine Stunde lang durch den Schnee. Keiner von uns sagte etwas.
heute Abend vor?« Ich würde wieder nach Ruanda reisen. Die
Als wir aus dem Wald traten, sagte er: »Manchmal tut Schwei
Geschichte war noch nicht vorbei, so wenig wie mein Part
gen gut.« Danach redeten wir bis in die Nacht hinein über
darin.
Ruanda, und ich dankte ihm für das Gedicht, das er mir ge schickt hatte. Ich ging hinaus, um eine Zigarette zu rauchen,
Im Auftrag der Organisation hatte ich versucht, kanadische Re
und ließ den blauen Schein des Mondes auf mich wirken, der
gierungsbeamte für Ruanda zu interessieren. Ich war viele Male
den mitternächtlichen Schnee erhellte. In den darauffolgenden
nach Amsterdam geflogen, hatte diverse Texte verfasst und über
Monaten suchte ich einen Therapeuten auf, und bald darauf
die Vorgehensweise von Ärzte ohne Grenzen debattiert. Wir
fragte ich mich: Warum sollte ich die Welt nicht einfach akzep
hatten nach dem Ende des Genozids Hunderte ausländischer
tieren wie sie ist? Auf einer Party von Ärzte ohne Grenzen in Toronto lernte ich Rohe Srivastava kennen, meine zukünftige Frau. Sie war die
Helfer nach Ruanda geschickt, die sich bemühten, in einer im mer prekärer werdenden politischen Lage humanitäre Hilfe zu leisten.
Freundin einer Freundin und wusste nichts von den Dilemmata
Seit im Juli 1994 die neue Regierung in Ruanda die Macht
in unserer Welt. Mit ihrer erfrischenden Art taute sie mich auf.
übernommen hatte, mit Vizepräsident Paul Kagame, der auch
Manchmal ziehen Gegensätze sich magisch an. Ich konnte wie
Verteidigungsminister des Landes war, hatte sie sich um einen
der atmen.
Erhalt der Ordnung bemüht. Abgesehen von moralisierenden
Im August 1 996 rief ein Freund mich an, der für die Canadian
Sprüchen zum Völkermord, der sich »niemals« wiederholen
Public Health Association tätig war. Einer ihrer Ärzte war abge
dürfe, und von einem tiefen Bedürfnis nach Gerechtigkeit, setz
sprungen, und sie brauchten dringend einen Ersatz; es galt, die
te sich die internationale Gemeinschaft herzlich wenig mit der
Hilfsprogramme der Organisation in Sambia einer Beurteilung
rauen Wirklichkeit Ruandas auseinander. Die Weltbank verlang
zu unterziehen. Wenige Tage später saß ich schon im Flugzeug.
te Zinszahlungen auf Darlehen, die sie dem Regime Habya
In den kommenden zehn Wochen reiste ich durch Sambia, inspi
rimanas gewährt hatte, ehe sie bereit war, der neuen Regierung
zierte Kliniken und Latrinen, notierte die Immunisierungsraten
einen Kredit einzuräumen. Ende 1994 traf ich mich mit Vertre
bei Kindern und aß zusammen mit Häuptlingen und Dorfaltes
tern der Canadian International Development Agency und be
ten frisches Hühnchenfleisch. In all dieser Zeit war ich gänzlich
schwor sie, Ruanda auf seinem Weg zum Rechtsstaat zu unter2S9
stützen, was der westlichen Öffentlichkeit freilich weniger
war für nur vierhundert Häftlinge konzipiert, beherbergte der
reizvoll erschien als humanitäre Hilfe zu leisten, für die Zukunft
zeit aber siebentausend Männer und Jungen. Der Junge hatte
Ruandas aber nicht minder wichtig war. Zwei Jahre später war
sich im Beisein des Arztes übergeben. Er hatte so viele Häftlinge
dieser Rechtsstaat immer noch wenig mehr als ein Phantom,
durch Fellatio befriedigen müssen, dass er Samenflüssigkeit er
das seine Büroausstattung sowie ein einziges Fahrzeug von der
brach.
Hilfsorganisation Rwanda's Citizens' Network erhielt, die von
Die Vertreter des Kagame-Regimes waren nach wie vor keine
Belgien in den Monaten nach dem Genozid gegründet wor
Chorknaben. Als sich die Franzosen im August 1994 aus dem
den war. Das Land hatte nur fünf Richter - alle übrigen waren
Land zurückzogen, gab es in der französischen Schutzzone Dut
MSF
ermordet worden oder ins Exil gegangen. Im November 1994
zende von Auffanglagern ftir Vertriebene. Etwa vierhunderttau
verabschiedete der UN-Sicherheitsrat eine Resolution und grün
send Hutu lebten in den Camps, die von nun an den Blauhel
dete den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda, der sich
men von UNAMIR unterstanden - nun unter dem Kommando
mit den Massenmorden befasste. Doch keines der Mitgliedslän
des kanadischen Generals Guy Tousignant. Ruandas Regierung
der im Sicherheitsrat hatte Geld beigesteuert, um dieses Strafge
wollte die Camps schließen und vertrat die Ansicht, dass die
richt zu finanzieren. Bis zum Jahr 1995 war die einzige finanzi
Menschen gefahrlos in ihre Heimatdörfer zurückkehren könn
elle Unterstützung von der Schweizer Regierung gekommen -
ten. Viele blieben trotzdem, weil sie zu Hause Vergeltungsmaß
schäbige einhunderttausend Schweizer Franken, die kaum aus
nahmen befürchteten. Wer aufbrechen wollte, wurde nicht sel
reichten, um einen Mercedes-Benz mit leerem Tank zu kaufen.
ten von den lnterahamwe-Milizionären verprügelt oder gar
Gleichzeitig wurde für den Friedenseinsatz der Vereinten Natio
getötet, die innerhalb der Lager eine bewaffnete Guerilla-Streit
nen im ehemaligen Jugoslawien eine Milliarde Dollar jährlich
macht bildeten. Am 2 2 . April 1 995, ein Jahr nach Beginn des
ausgegeben.
Völkermords, überfielen Soldaten der Rumdisehen Patrioti
In Ruanda saßen über einhunderttausend Menschen im Ge
fängnis, die von ihren Nachbarn als
genocidaires, als Täter im
schen Armee RPA - vormalig die Ruandische Patriotische Front RPF
das Camp Kibeho in Ruanda und töteten Inindestens vier
Völkermord, denunziert worden waren, und ihre Zahl stieg
tausend Hutu. Die Menschen wurden in etwa fünf Stunden
täglich. Die Zustände in den zahlreichen Gefiingnissen des Lan
durch unausgesetzten Beschuss aus Maschinengewehren, Gra
des und den sogenannten
cahotes, den Verhör-Camps, waren ka
natwerfern und Panzerabwehrgeschützen niedergemetzelt. Der
tastrophal. Die Gefangenen saßen so dicht gedrängt, dass sie
sambische UNAMIR-Kommandant bat sein Hauptquartier in Ki
nur schichtweise schlafen konnten, und die meisten hatten sich
gali wiederholt um die Erlaubnis, einen Gegenangriff starten
vom vielen Herumstehen in Exkrementen und im Müll Fußfau
zu dürfen, doch immer wieder wurde ihm gesagt, er könne
le zugezogen. Vielen musste man wegen des sich ausbreitenden
nur zusehen und den Verwundeten beistehen. Mehrere Tage
Wundbrands Gliedmaßen amputieren, und einer von acht Ge
zuvor hatte die RPA das Camp mit etwa zweitausendfünfhundert
fangenen starb an Krankheiten wie Malaria und Lungenentzün
Mann eingekreist, die Lebensmittelversorgung unterbrochen
dung. Einige Tage nach meiner Ankunft in Kigali Ende Novem
und die Schutzhütten der Menschen zerstört und niederge
ber 1996 erzählte mir ein verstörter MSF-Arzt, dass sich in den
brannt. MSF und UNAMIR waren Zeugen des Blutbads und
Gefängnissen die Immunschwächekrankheit Aids wie ein Lauf
schätzten die Anzahl der Getöteten ähnlich ein. Einzelne UNA
feuer verbreite. Der Arzt hatte einen vierzehnj ährigen Jungen
MIR-Soldaten spielten daraufhin der Presse ein Dokument zu, in
untersucht, der über Magenschmerzen klagte. Das Gef'angnis
dem geschildert wurde, wie die RPA nachts etliche tausend Tote
260
beiseitegeschafft hatte. Offiziell schwieg UNAMIR, leugnete den
ten, wie sie ihr Vorhaben, »den Völkermord in Ruanda zu Ende
Bericht. Unter dem massiven öffentlichen Druck seitens MSF
zu bringen«, benannten.
startete die RPA-Regierung eine Untersuchung, die zu dem
Trotz eines ON-Embargos wurden EX-FAR und Interahamwe
Schluss gelangte, dass undisziplinierte Soldaten kaum mehr als
über den Flughafen Goma in Zai.re nach wie vor mit Waffen
dreihundert Menschen in Kibeho getötet hatten, um ihre wäh
beliefert , und viele dieser Waffen stammten aus französischen
rend des Genozids ermordeten Familienangehörigen zu rächen.
Quellen. Die französische Regierung bot Präsident Mobutu Sese
Während die Sicherheitslage für MSF-Mitarbeiter prekär blieb,
Seko von Zaire, der von seinem langjährigen Gönner USA aus
behaupteten sie weiterhin so unmissverständlich, dass einige
der Zeit des Kalten Kriegs im Stich gelassen worden war, politi
tausend im Zuge eines sorgialtig geplanten Überfalls auf das
sche Hilfe an. Mobutu hatte lange Zeit die Habyarimana-Regie
Camp zu Tode gekommen waren, dass die mandisehe Regie
rung in Ruanda unterstützt, und nun ließ er den Hutu-Streit
rung am Ende des Jahres die französische MSF-Sektion des Lan
kräften, die die Camps in der Region Kivu kontrollierten, die
des verwies.
Zügel schleifen. Die militärischen, politischen und administra
Neben der öffentlichen Verurteilung des Kibeho-Massakers
tiven Strukturen der früheren Regierung Ruandas waren effek
setzte sich Ärzte ohne Grenzen dafür ein, dass die internationa
tiv dazu benutzt worden , innerhalb der Camps in Tansania und
le Gemeinschaft half. in Ruanda ein lebensfähiges Rechtssystem
Zaire Miniaturstaaten zu errichten. Zehnjährige Jungen wurden
zu errichten, das die genocidaires znr Rechenschaft ziehen konnte,
von Interahamwe und EX-FAR zwangsrekrutiert. Flüchtlinge,
und forderte zudem finanzielle Unterstützung für die neue Re
die nach Ruanda heimkehren wollten, wurden vergewaltigt,
gierung in Ruanda. Wir lenkten die Aufinerksamkeit auf die
geschlagen oder öffentlich hingerichtet.
Zustände in den Getangnissen und auf weitere Massaker, die
Das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten
sich im Land ereignet hatten. Doch vor allem wies MSF auf die
Nationen
unerträgliche Situation in den Flüchtlingslagern in Zaire und
Grenzen und etwa zweihundert weitere Nichtregierungsorga
Tansania. Hier hatten Interahamwe-Milizionäre und Militärs
nisationen engagierten sich jetzt in den größten Flüchtlingsla
UNHCR,
verschiedene ON-Organisationen, Ärzte ohne
der früheren Regierung, jetzt bekannt als Ex-Rwandan Armed
gern der Welt. Seit Sommer 1 994 waren über zwei Milliarden
Forces oder Ex-FAR, das Kommando übernommen und führten
Dollar an Hilfsgeldern in die Region geströmt. Aufgrund der
ein totalitäres Regiment.
massiven Veruntreuung dieser Gelder und auch der Million aus
Achtzigtausend Flüchtlinge in den Camps waren im Sommer
der UN-Flüchtlingshilfe gewannen die genocidaires zunehmend an
199 4 an Cholera und anderen Krankheiten gestorben. Zwei Jah
Macht. Humanitäre Helfer waren unentwegt Morddrohungen
re später drängten sich über 1 , 2 Millionen Menschen in den
und Einschüchterungen ausgesetzt. Versuche, eine Zählung der
Lagern Zaires, weniger als sieben Kilometer von der ruandi
Flüchtlinge vorzunehmen, um ihre Bedürfnisse exakt zu ermit
schen Grenze entfernt. Siebenhundertfünfzigtausend Flüchtlin
teln, wurden behindert. So litten trotz der gewaltigen Geld
ge waren in den Lagern Tansanias und weitere zweihundert
summen , die in die Lager flossen, mindestens zehn Prozent der
fünfzigtausend in Burundi. Sie fungierten als menschliche
Kinder an Mangelernährung.
Schutzschilde, da die Lager der Armee als Stützpunkte im Hin
MSF, einige andere Nichtregierungsorganisationen und das
terland dienten, von wo aus Guerilla-Kämpfer nach Ruanda
Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen
einfielen und die Soldaten der EX-FAR und der Interahamwe
UNHCR
sich offen auf die sogenannte Operation Insektizid vorbereite-
mit Hilfe einer Friedenstruppe die EX-FAR und die Interahamwe
262
appellierten an den ON-Sicherheitsrat, man solle doch
entwaffnen und sie aus den Flüchtlingslagern entfernen. Als Re
seit über zwei Jahren bestanden, brodelte es in der Provinz
aktion kamen Platitüden, ansonsten tat sich nichts. Der Sicher
Kivu
heitsrat hatte den Genozid als humanitäre Katastrophe bezeich
kerungsdichte.
der ärmsten Gegend des Landes mit der höchsten Bevöl
net, nicht als politisches Verbrechen. Mit der Krisensituation in
EX-FAR-Soldaten und Interahamwe-Kämpfer zwangen die
den Camps verfuhr er nicht anders. Und viele nichtstaatliche
Hutu der Region Kivu, deren Vorfahren seit Jahrhunderten hier
Organisationen unterstützten diese Einstellung, indem sie sich
gelebt hatten, sich ihrem Kampf anzuschließen und »Hutu
für eine apolitische Haltung im humanitären Einsatz starkmach
land« zu gründen, von wo aus sie in Ruanda einfallen wollten.
ten und jede Konfrontation mit der internationalen Gemein
Andere einheimische Volksstämme, die seit vielen hundert Jah
schaft vermieden. Viele dieser Nichtregierungsorganisationen
ren in der Region Kivu gelebt hatten - wie die Hunde und die
erhielten von den Westmächten, die sich weigerten, aktiv einzu
Tembo - , wurden von Mobutu gegeneinander ausgespielt, der
greifen, finanzielle Unterstützung - gleichsam als willkomme
seinen disziplinlosen Truppen erlaubte, nach Belieben zu ver
nes humanitäres Alibi.
gewaltigen und zu plündern, und den EX-FAR-Soldaten dasselbe
Angesichts der Tatenlosigkeit des Sicherheitsrates stand MSF
zugestand. Gleichzeitig wurden zairische Tutsi, die seit über
nun vor der unmöglichen Entscheidung, entweder einer totali
dreihundert Jahren in Kivu heimisch waren, von Einheiten der
tären Armee, die erpicht darauf war, den Genozid, den sie be
EX-FAR und der Interahamwe terrorisiert. Den Tutsi aus Ruanda,
gonnen hatte, zu Ende zu bringen, wissentlich materielle Un
die nach 1959. aufgrund der Pogrome gegen Tutsi, in die Regi
terstützung zu liefern, oder aber die Flüchtlinge im Stich zu
on geflüchtet waren, erging es nicht anders. Sie waren nun
lassen. Es war ein Dilemma, dem es sich mutig zu stellen galt.
heftigen Schikanen ausgesetzt, sowohl durch Hutu-Milizen wie
Immer wieder bestand Ärzte ohne Grenzen auf den Einsatz ei
auch durch die Streitkräfte Mobutus. Man stahl ihnen das Vieh,
ner UN-Friedenstruppe und drohte damit, sich andernfalls aus
setzte ihre Felder in Brand, vergewaltigte ihre Frauen. Eine Säu
den Camps zurückzuziehen. Mit großer Überredungskunst
berungskampagne führte dazu, dass die Bewohner ganzer Dör
brachten wir einige andere Nichtregierungsorganisationen da
fer niedergemetzelt oder davongejagt wurden. Infolgedessen
zu, sich uns anzuschließen. Keine leichte Entscheidung, für
gesellten sich zu der Million mandiseher Hutu-Flüchtlinge nun
niemanden. Nach monatelangen internen Debatten und dem
mehr als zweihundertfünfzigtausend Zairer, die man aus ihren
Scheitern einer gemeinschaftlichen humanitären Widerstands
Heimatonen vertrieben hatte und die nun in den Hügeln und
strategie zog Ärzte ohne Grenzen sich allmählich aus den
auf den Feldern der Masisi-Region lebten. Da sie jedoch keine
Camps zurück: im November 1994 MSF Frankreich, gefolgt von
Landesgrenze überschritten hatten und demnach intern Vertrie
MSF Belgien im Frühling 1995 und von MSF Holland im August.
bene waren, zeigten die Vereinten Nationen
Angesichts der reduzierten Finanzmittel durch Geberländer
seitens Ärzte ohne Grenzen
folgten einige wenige Nichtregierungsorganisationen unserem
trotz der Proteste
kein Interesse an ihnen.
Einige Tutsi aus Zaire schlossen sich der Ruandischen Patrio
Beispiel. MSF Belgien setzte seine Arbeit in Ruanda fort, bot
tischen Armee an. Anfang Oktober 1 996 hatten sie sich mit
Hunderttausenden medizinische Hilfe und reichte bei der Re
Verstärkung aus Ruanda und Uganda zu einer Rebellenstreit
gierung Beschwerde ein wegen der beklagenswerten Zustände
macht zusammengeschlossen, der
in den Ge!angnissen;
the Liberation of Zaire,
MSF
Holland setzte die Arbeit außerhalb
AUiance of Democratic Forces for
kurz ADFL. Das Kommando führte Laureut
der Camps fort, im Bezirk Masisi in der zairischen Provinz Ki
Kabila, ein ehemaliger marxistischer Rebell, der zudem Dia
vu, an der Grenze zu Ruanda. Da die Flüchtlingslager bereits
manten- und Goldschmuggel betrieb. Von Kivu aus lehnte sich
die ADFL gegen Mobutu auf. dessen dreißigjährige Kleptokratie das Land in den Ruin getrieben und ihn selbst zu einem der reichsten Männer der Welt gemacht hatte. Mobutu hielt sich aufgrund einer Krebsbehandlung in Europa auf, sein Regime bröckelte, und Zaire war reif für einen Regierungswechsd. Die ADFL war scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht, sollte aber schon bald überall im Land an Einfluss gewinnen. Ende September attackierten Rebellen der RPA und der ADFL in Südkivu die reguläre Armee Zaires, kurz FAZ genannt. Mitte Oktober überfielen sie zunächst regionale Flüchtlingslager, dann die Lager um Goma in Nordkivu. Sämtliche UN�Organisationen und nichtstaathebe Organisationen in den Camps reduzierten daraufhin drastisch ihre Teams. Aufgrund der unausgesetzten Gewalt zogen sich die verbliebenen hundert humanitären Helfer auf das UNHCR-Areal in Goma zurück, bevor sie nach Ruanda evakuiert wurden. Die Kämpfe eskalierten, als sich die Truppen von EX-FAR und FAZ zusammenschlossen und gemeinsam gegen die rebellierende ADFL zu Felde zogen. Und obwohl die ruandi sche Regierung nichts dergleichen einräumen wollte, entsandte sie Truppen über die Grenze nach Zaire, um die ADFL zu unter stützen. Einige Journalisten berichteten, Einheiten der EX-FAR und der Interahamwe hätten als Reaktion auf die Angriffe Flüchtlinge zusammengetrieben und ihnen nahegelegt, nach Westen zu fliehen, fort aus Ruanda, sich im z.airischen Dschun gel zu verstecken. Andere Journalisten berichteten, dass jeder, der Widerstand leistete, mit Macheten niedergemacht wurde, und dass nicht selten ganze Familien betroffen waren. Überle bende Flüchtlinge gaben später an, dass viele freiwillig den An weisungen der EX-FAR und der Interahamwe gefolgt seien, aus Angst vor dem, was die ADFL-Rebellen und ihre Verbündeten ihnen zufügen konnten. Am 1 . November waren bereits eine halbe Million Flüchtlinge in den Wäldern um Südkivu gefan gen, und ungef'ahr sechshunderttausend Menschen waren nach Norden geflüchtet, auf das Mugunga-Flüchtlingscamp zu, am Stadtrand von Goma. Journalisten strömten zu Hunderten in die Gegend. Ärzte 266
ohne Grenzen flog einhundertachtzig ausländische Freiwillige und tonnenweise medizinische Versorgungsgüter in das Kri sengebiet. Doch die ruandische Regierung und die ADFL-Rebel len riegelten die Grenze ab und hinderten die Menschen daran, nach Kivu zurückzukehren. Knapp eine Woche gab es in Nord kivu in Südkivu waren es zwei Wochen weder humanitäre Helfer noch Journalisten, die hätten bezeugen können, was vor sich ging. Ärzte ohne Grenzen befürchtete das Schlimmste dass die Krise für Flüchtlinge und Zivilbevölkerung in ein Blut bad ausarten könnte und äußerte dies auch öffentlich. Am 4· November appellierte Ärzte ohne Grenzen an die Vereinten Nationen, Zivilbevölkerung und Flüchtlinge vor den Auseinan dersetzungen zu schützen und die Macht der EX-FAR über die Flüchtlinge zu brechen. Zwanzig Minuten später verkündete Laureut Kabila eine einseitige Waffenruhe. die den Flüchtlingen die Rückkehr nach Ruanda ermöglichen sollte. Ärzte ohne Grenzen forderte wütend einen Zugang zur Grenze. Die Kämp fe wurden in Zaire fortgesetzt, und die Grenzen blieben ge schlossen. Aus der Erfahrung heraus prophezeite Ärzte ohne Grenzen, dass voraussichtlich dreizehntausendsechshundert Menschen an Cholera, Unterernährung und anderen Krankheiten sterben würden, von den Gewaltopfern ganz zu schweigen. Die Hilfs organisation bestand nach wie vor auf einem Einschreiten der Vereinten Nationen und erhielt Unterstützung vom UN-Flücht lingskommissariat, von regionalen afrikanischen Regierungen und von einer Koalition weiterer Nichtregierungsorganisatio nen. Selbst die Verantwortlichen des normalerweise neutralen Roten Kreuzes hielten es für angebracht, aktiv zu werden, und befürworteten die Idee einer UN-Friedenstruppe. Offenbar auf das Betreiben von Premierminister Jean Chretien, der die Krise im Fernsehen verfolgt hatte, erbot sich Kanada, selbst eine In terventionstruppe zu entsenden; Voraussetz.ung sei allerdings ein UN-Mandat. Der politische Druck stieg, und der Eu-Kom missar für Menschenrechtsfragen bezeichnete die langsame Re aktion des Sicherheitsrates als einen »internationalen Skandal«.
Mobutus Armee erfuhr durch das Bündnis Ruanda-ADFL eine
solution verabschiedet, die einer UN-Friedenstruppe nicht etwa
böse Niederlage und stimmte einer UN-Friedenstruppe zu,
die Befugnis erteilte, die Flüchtlinge von den EX-FAR fernzuhal
während die mandisehe Regierung sich energisch widersetzte. Der Druck stieg weiter. Die mandisehe Regierung gab schließ lich zu, die ADFL zu unterstützen, wiederholte aber, dass die Anwesenheit von EX-FAR- und Interahamwe-Soldaten in den Camps eine Bedrohung darstelle für die Sicherheit Ruandas,
ten oder sie vor den Auswirkungen des Kriegs zwischen der ADFL und der zairischen Armee zu schützen: Die Blauhelmtrup pe sollte lediglich dafür sorgen, dass humanitäre Hilfseinsätze ohne ZwischentaUe vonstatten gingen. Binnen Stunden nach der UN-Resolution wurde die mandisehe Grenze geöffnet. In
und sprach sich erneut gegen eine UN-Intervention aus. Kabila
den nun folgenden drei Tagen strömten Hunderttausende von
bestand kategorisch auf einer »neutralen« Armee, ohne franzö
Flüchtlingen über Goma nach Ruanda. Journalisten und HUfs
sische Staatsbürger, gestattete aber einer begrenzten Anzahl von Journalisten, auf streng kontrollierten Wegen in die Stadt Uvira in Südkivu und nach Goma in Nordkivu zu fahren. Um dem wachsenden politischen Druck zu begegnen, berief
organisationen durften anschließend nach Zaire zurückkehren, sich aber nur in bestimmten Stadtteilen Gomas und nur in ver lassenen Camps frei bewegen. Alles andere sei zu unsicher, so die Begründung der ADFL
Kabila weitere versöhnliche Pressekonferenzen ein und erklärte
Es waren die Starken und Gesunden, die, ihre Habe auf dem
sich bereit, einen NGo-Hilfskonvoi in das Stadion in Goma fah
Kopf balancierend, die Grenze überschritten hatten. Einige wa
ren zu lassen; die Aktion wurde im Fernsehen übertragen. Die
ren erschöpft, aber Ruandas Regierung erlaubte den MSF-Ärz
Welt sollte sehen, wie die Versorgungsgüter die notleidenden
ten lediglich, provisorische Wasser- und Erste-Hilfe-Stationen
Menschen erreichten. Die Lkws wurden entladen und umge
an der Straße nach Kigali zu errichten. Die RPA nahm Ärzte
hend nach Ruanda zurückgeschickt. Die ADFL stellte in Aus
ohne Grenzen und anderen Hilfsorganisationen die Fahrzeuge
sicht, den Mitarbeitern der Nichtregierungsorganisationen die
ab, um Flüchtlinge schneller befördern zu können. RPA-Solda
Rückkehr nach Kivu zu gestatten, sobald man sie eingehend
ten trieben eine dreißig Kilometer lange Menschenschlange
geprüft und für »unparteiisch« befunden habe. Unterdessen
über die Grenze und in sorglaltig vorbereitete Auffanglager. Ei
nahm die ADFL die Versorgungsgüter entgegen und versprach,
nige der Heimkehrenden wurden verdächtigt, sich am Genozid
sie zu verteilen. Die Journalisten begaben sich zu Kabilas nächs
beteiligt zu haben, und verhaftet, die meisten aber innerhalb
ter Pressekonferenz, wo dieser seine Reaktion auf Präsident Bill
von nur drei Tagen wieder in ihren Heimatgemeinden angesie
Clintons Bereitschaft kundtat, mit einer Friedenstruppe unter
delt. Die Presse nannte die Operation ordentlich und gut ge
kanadischer Führung auch eintausend amerikanische Soldaten
plant. Viele Beobachter meinten, dass alle Flüchtlinge dank der
ins Land zu schicken. Während die endgültige Entscheidung
geplanten Intervention schon bald wieder zu Hause ankämen.
noch ausstand, hatte Clintons Pressesekretär Mike McCurry be
Am
2 3 . November
veranstalteten die Amerikaner etwas, das
hauptet, das Interesse der USA sei in erster Linie humanitärer
man mir als sogenannte Blitzbuff-Pressekonferenz beschrieb,
Natur, man wolle Leben retten. Fast drei Wochen lang hatten
mit multimedialer Untermalung und sonstigem Pipapo. Mit
weder Journalisten noch Ärzte tatsächlich gesehen, was in Kivu
Hilfe von Satelliten und Aufklärungsflugzeugen hatten sie her
vor sich ging.
ausgefunden, dass die ursprüngliche Anzahl der Flüchtlinge in
In der Nacht des 1 4 . November griffen ADFL-Rebellen das
den Camps
-
1 . 2 Millionen laut Angaben des UN-Flüchtlings
Mugunga-Flüchtlingscamp in der Nähe von Goma an. Nur we
kommissariats - überschätzt worden sei und dass bereits sechs
nige Stunden zuvor hatte der UN-Sicherheitsrat endlich eine Re-
hundert- bis neunhunderttausend Menschen wieder zurückge-
268
kehrt seien. Man habe Menschentrauben in Zaire gesichtet, so
der Heimkehrenden dünner geworden, nur noch zehntausend
die Amerikaner, von denen angenommen werden müsse, auf
am Tag, Tendenz fallend. Dennoch hatten die Journalisten mit
grund ihrer Bewegungen und aufgrund anderer Indizien, dass
einer Apokalypse gerechnet. Was sie stattdessen zu sehen beka
es sich dabei um Angehörige der EX-FAR und der Imerahamwe
men, so Arjan, seien leere Camps gewesen und Hunderttausen
und deren Familien handelte. Sollen sie doch zum Teufel gehen,
de wohlgenährter Flüchtlinge, denen man in Ruanda einen
war die unausgesprochene Botschaft. Die Flüchtlinge kamen,
sorgfaltig inszenierten Empfang bereitet habe. Ich fragte ihn,
alles in allem, in verhältnismäßig guter Verfassung zu Hause an,
was mit den Menschen geschehen sei, die man vergessen habe.
und die Welt nahm es im Fernsehen zur Kenntnis. Die Amerika
Sie seien noch immer ohne Schutz und liefen j ederzeit Gefahr,
ner stellten jetzt die Notwendigkeit einer Intervention in Frage.
ermordet zu werden. »Willkommen im Land der Täuschung,
Die Ruander und die ADFL hatten getan, was alle anderen zu
wo alles genauso ist, wie es auf CNN erscheint«, sagte Arjan. >>In
tun versäumt hatten: Sie hatten das Problem der Flüchtlings
einem Spiel von Verzögerung, von Lügen und Halbwahrheiten,
lager gelöst. Auch wenn eine halbe Million Menschen ver
kommt es auf das Wahrnehmungsvermögen an.«
schwlmden blieben, war dieser Umstand bemerkenswert: eine
Unsere Organisation drängte weiter auf eine UN-lnterventi on, aber unsere Glaubwürdigkeit hatte Schaden genommen.
afrikanische Lösung für ein afrikanisches Problem. Wer auf der Strecke geblieben war, verlor sich in der Ge
Die Presse konfrontierte uns mit den Ankiindigungen einer Cholera-Epidemie und beschuldigte uns und andere Hilfsorga
schichte der vielen, die zurückgekehrt waren.
nisationen, wir hätten die Pferde scheu machen wollen und die Mein Flugzeug landete in Kigali, als viele Journalisten und Hel
Zahl sterbender Flüchtlinge absichtlich übertrieben,
fer sich zum Abflug bereitmachten. An den Säulen im Flugha
denaktionen anzukurbeln. Zeitungskommentare bestätigten,
um
Spen
fengebäude sah man Einschusslöcher, die noch aus dem Jahr
was j edermann deutlich auf seinem Fernsehbildschirm sehen
1994 stammten. Arjan Hehenkamp, mein Freund aus Somalia
konnte: Dank der humanitären Hilfe, die vor über zwei Jahren
und mittlerweile MSF-Einsatzleiter in Ruanda, holte mich vom
durch eine äußerst effektive Spendenkampagne in Gang gesetzt
Flughafen ab. Wir fuhren am Amahoro-Stadion vorbei. Selbst
worden war, kehrten die Flüchtlinge wohlbehalten und wohl
in der Dämmerung sah ich, dass es frisch gestrichen war. Doch
genährt in ihre Heimat zurück.
meine Erinnerungen konnte nichts übertünchen. Wir hielten
Was konnten wir noch tun?, fragte ich Arjan.
kurz am MSF-Gebäude und gingen dann in ein Restaurant. Eine
»Wir suchen nach vier- oder Hinfhunderttausend Menschen,
Flotte klimatisierter Geländewagen wartete vor dem Restaurant
die sich offenbar in Luft aufgelöst haben. Sie befinden sich ir
»Cactus« mit Blick über die Hügel der Stadt. Im Inneren saßen
gendwo in den Urwäldern Kivus, vorangetrieben von der EX
UN-Mitarbeiter, Entwicklungshelfer, Diplomaten und amerika
FAR / FAZ und gejagt von der ADFL.« Ob die Zahlen gesichert
nische Soldaten und unterhielten sich lautstark während des
seien, wollte ich wissen. »Nicht zu hundert Prozent, aber doch so weit, um eine griindliche Suche nach den Menschen in die
Essens. sie passten nicht
Wege zu leiten. Die Presse hat kein Interesse. Die Kanadier haben
zusammen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats
zwar eine Einheit hier stationiert, aber die multinationale Armee
hatten in den ersten drei Tagen nach dem Angriff am r s . No
scheint auseinanderzufallen. Alles ist Blendwerk, löst sich in
Arjan und ich berieten uns über die Zahlen
vember schätzungsweise vierhundertfünfzigtausend Flüchtlinge
Rauch auf Die Informationen kommen über streng kontrollierte
die Grenze nach Ruanda überschritten. Seitdem
Wege nach Kivu. Die Regierung Ruandas ist uns feindlich ge-
2]0
war
der Strom
271
sinnt« , erklärte er, »möchte aber doch als >menschenfreundlich<
Balas erfahren, der ursprünglich aus Belgien stammte und seit
gelten. Wir stolpern immer wieder über Handgranaten, die man
mehreren Jahren in Masisi tätig war. Ihm hätten Dorfbewohner
uns auf das Gelände geworfen hat und die nicht detoniert sind,
erzählt, dass im Wald Flüchtlinge ermordet würden. Viele Häu
die RPA-Regierung ändert unentwegt die Einreisebestimmun
ser in Goma wiesen schwere Kriegsschäden auf, und überall
gen, um uns auszubremsen, und lässt unsere Wagen und Lkws
sah man Soldaten und schweres Geschütz. Von der ADFL orga
beschlagnahmen. Wir versuchen daher, über Zaire eigene Flüge
nisierte Arbeiter beseitigten den Schutt. Es war das erste Mal in
zu organisieren, um herauszufinden, was vor sich geht, und die
über dreißig Jahren, dass so etwas wie eine Straßenreinigung
verschollenen Flüchtlinge aufzustöbern.«
versucht wurde, und die internationale Presse lobte die Initiati
Wir aßen die Teller leer und gingen im Dunkeln den Hügel hinunter zu unserem Fahrzeug. Ich war wieder in Ruanda und hatte plötzlich das Gefühl, es nie verlassen zu haben.
ve als ein Beispiel für die Ordentlichkeit des neuen Rebellenre gimes. Mare und ich fuhren zu einem verlassenen Lagerhaus, in
In dieser Nacht schlief ich zusammen mit etwa dreißig wei
dem Ärzte ohne Grenzen ein provisorisches Feldlazarett einge
teren ausländischen Helfern auf dem Boden. Am darauffolgen
richtet hatte. Es war für zweihundertfünfzig Patienten konzi
den Morgen traf ich Arjan in einem Zelt, das hinter dem MSF
piert, tadellos gepflegt, beherbergte aber nur vierunddreißig,
Gebäude errichtet war. Landkarten waren mit Gewebeband an
war also praktisch leer. Leslie Shanks war die verantwortliche
der Zeltwand befestigt, auf dem Tisch klebte noch der vergos
Ärztin, und sie erklärte, dass die meisten Patienten Angst hät
sene Kaffee vom Vortag, ausgetretene Zigarettenstummel lagen
ten, sich zu äußern. Trotzdem hätten ihr einige erzählt, sie
über den Boden verstreut, und überall lungerten Journalisten
seien von der EX-FAR aus den Camps geworfen und dann von
herum, auf der Suche nach einer Story. »Was können Sie uns
ADFL-Rebellen angegriffen worden. Während wir uns unter
zu den Flüchtlingen sagen?«, fragte einer. »Nur, dass wir sie
hielten, saß eine Frau auf der Plastikplane am Boden und starrte
finden werden«, entgegnete Arjan.
gegen die Wand, während ihr Kind versuchte, an ihrer Brust
Arjan und ich fuhren an die Grenze. Die wenigen Journalis
zu trinken. Leslie erklärte, die Frau fürchte um ihren Mann und
ten, die noch im Land geblieben waren, machten Fotos von
weitere Kinder, die in den Wald geflüchtet waren, als das Lager
Menschen, die nicht zu Tausenden, auch nicht zu Hunderten,
attackiert worden war. Mare und Leslie wussten, dass sich Tau
sondern in vereinzelten kleineren Gruppen die Straße entlang
sende solcher Familien im Dschungel versteckt hielten.
gingen, von RPA-Soldaten vorangetrieben. Zivilisten starrten
Unser MSF-Team war zuverlässig, aber erschöpft, und viele der
mit leeren Gesichtern von Lastwagen, die von Soldaten nach
Mitarbeiter noch jung und unerfahren. »Du wirst jedem auf die
Ruanda gefahren wurden. Ich stieg um in einen anderen MSF
Finger schauen müssen«, sagte Mare. »Schick sie immer wieder
Wagen, der an der Grenze auf mich wartete, und fuhr hinüber
nach Kigali, damit sie sich erholen können.« Etliche waren mit
nach Goma, wo ich den Einsatzleiter Mare Gastellu-Etchegorry
einheimischen Mitarbeitern und lokalen Stammesführern be
traf, den ich ablösen sollte. Das achtzehnköpfige MSF-Team in
freundet. Einige waren während der Angriffe im Oktober und
Goma war extrem frustriert, da die ADFL überall in der Stadt
November außer Landes gebracht worden. Alle waren unzufrie
Kontrollpunkte errichtet hatte, um die Ärzte abzuhalten. Mare
den, weil sie so wenig tun konnten. »Wir erreichen die Außen
wusste, dass sich außerhalb seiner Reichweite Flüchtlinge be
bezirke nicht, werden ständig ausgebremst«, sagte Mare. »Sie
fanden, da einige durchgekommen oder von der ADFL zu uns
lassen uns nur das sehen, von dem sie wollen, dass wir es sehen.«
gebracht worden waren. Mare hatte auch von Pfarrer Laureut
Die wenigen Flüchtlinge, die aus den Wäldern kamen, wurden
271
2 73
von der ADFL durchleuchtet, ehe diese sie an das UN-Flüchtlings
Wir passierten mehrere Kontrollpunkte entlang der fünfund
kommissariat und an uns verwies. Wir behandelten zunächst die
zwanzig Kilometer langen Strecke nach Sake, südlich von Go
Kranken , die dann von Mitarbeitern des UN-Flüchtlingskommis
ma. In der Ferne ragten die drei größten Vulkane des Virunga
sariats in Lastwagen zur ruandischen Grenze gefahren wurden.
Dschungels auf. Erst vor wenigen Tagen war ein kleinerer Vul
Alle übrigen sollten wir mit Lebensmitteln, Medikamenten und
kan ausgebrochen. Er rumorte noch immer, als wir das ehema
Wasser versorgen. Mare zeigte mir eine provisorische Cholera
lige Mugunga-Camp erreichten. Am Rand des dreizehn Kilome
Klinik, die für einhundertfünfzig Patienten konzipiert war; wir
ter langen Lagers blieben wir stehen, wurden jedoch von einer
hatten nur vierzehn. »Sie stammen allesamt aus der Stadt Goma« ,
ADFL-Patrouille sofort wieder in den Wagen gescheucht. Noch
sagte mir Phil Clark, ein Logistik-Experte aus Großbritannien.
vor Wochen hatte dieses Lager vierhunderttausend Menschen
»Wir haben hier keine Flüchtlinge. Wahrscheinlich existieren sie
beherbergt . Jetzt erinnerte es an eine Geisterstadt, gebaut aus
in Wirklichkeit gar nicht. « Mitarbeiter des MSF-Teams, beson
Lumpen, Bambusstöcken und blauen Plastikplanen, mit über
ders jene, deren Patienten aus den Lagern und Wäldern kamen ,
dachten Latrinen und zerschossenen Fahrzeugen, die ein Wir
schienen fassungslos von dem, was sie erlebten. »So viel Angst
belsturm umgeblasen hatte. Es stank nach fauligem Fleisch, und
zu sehen, genau zu wissen, dass es hier nur im Traum Gerechtig
abgesehen vom Wind und den Ratten regte sich nichts. Ich
keit gibt, das ist einfach zu viel«, sagte Mare. Morten Rostrup,
sollte später erfahren, dass an diesem Tag mindestens fünftau
ein norwegischer MSF-Arzt, meinte: »Es ist ein Verbrechen, und
send Leichen im Lager eingesammelt worden waren. In anderen
niemand kann etwas dagegen tun.«
Camps hatte man viele tausend Tote aus überdachten Latrinen
Die Wasserversorgung war in den vergangeneu Wochen
gezogen.
während der erbitterten Kämpfe in Goma zerstört worden, und
Wir fuhren weiter, betrachteten die Eukalyptusbäume und
Ärzte ohne Grenzen versorgte nun mehrere Gebiete um die
Bananenstauden , die Mango- und Bambusbäume, die das Lager
Stadt herum mit Wasser. Jetzt hatten die Gefechte sich nach
säumten, und gelangten an eine Straßensperre. Ein etwa drei
Westen, Norden und Süden verschoben, in die Hügel und Wäl
ßigjähriger ADFL-Soldat stellte sich uns mit versteinerter Miene
der rings um die Camps und in die dicht bevölkerte Landschaft.
in den Weg. Er ignorierte jeden unserer Versuche, mit ihm zu
Mare warnte mich vor den Gefahren, die uns drohten , und
sprechen, starrte uns lediglich an. Unser nervöser Fahrer öffne
schlug vor, ich solle unerforschtes Gebiet zunächst einmal
te ihm die hintere Tür des Geländewagens, und der Soldat warf
selbst erkunden, ehe wir dort ein Team stationierten. »Versuche
einen Blick hinein. Er gab zwei Kameraden ein Zeichen, die
es in westlicher Richtung, nach Masisi«, sagte er mir. »Unseren
flink die roten und gelben Lattenkisten, die die Straße versperr
Schätzungen zufolge müssten etwa zweihunderttausend Men
ten, beiseiteschafften. Gleich darauf hätten wir beinahe einen
schen dorthin unterwegs sein. Fahr auch nach Norden, nach
kleinen Jungen überfahren, etwa vier Jahre alt, der mitten auf
Bunia, aber sei vorsichtig - die ADFL ist nicht so stark wie sie
der Fahrbahn saß. Er bewegte sich nicht von der Stelle, als wir
tut, die FAZ gewinnt wieder an Einfluss. Letztere hat natürlich
näher kamen und hupten. Wir blieben stehen. Er blickte wie
die Truppen der EX-FAR und der Interahamwe auf ihrer Seite,
betäubt aus tiefbraunen Augen zu den weißen Männern auf, die
außerdem geht das Gerücht, dass sie von Frankreich unterstützt
sich über ihn beugten. Nachdem ich von einigen Umstehenden
werden und Söldner anheuern« , sagte er. »Anschließend ver
erfahren hatte, dass er ein Waisenkind war, brachten wir ihn
suchst du im Süden mit unseren Teams in Bukavu Verbindung
zum Ernährungszentrum, das MSF in der Nähe errichtet hatte.
aufzunehmen, gleich hinter Sake.«
Der Kleine hatte einen bösen Kratzer im Gesicht, und die dün-
2 74
nen roten Haare und geschwollenen Hände und Füße zeigten uns, dass er stark unterernährt war. Er trug das I-Shirt eines Erwachsenen, das an ihm hing wie ein Kleid. Es war so abgetra gen, dass der Stoff sich allmählich auflöste. Er roch nach Durch fall. Im Ernährungszentrum befanden sich hundertdreißig Per sonen, zumeist Frauen und Kinder, die aus entlegenen Dörfern gekommen waren. Keine Flüchtlinge. Mare reiste noch am selben Abend ab, und am darauffolgen den Morgen fuhr ich mit Graziella Godain, einer französischen MSF-Krankenschwester, in westlicher Richtung nach Masisi. Doch jeder Weg, auf dem wir in den kommenden Wochen unser Glück versuchten, wurde uns über kurz oder lang von der ADFL versperrt. Ähnlich erging es dem Team in Südkivu. Der MSF-Koordinator dort war Jose Antonio Bastos, ein spani scher Arzt. Seit Anfang November hatte er versucht, mit seinem Team die Grenze zu überqueren, und erst nach dreiundzwanzig Tagen die Erlaubnis erhalten, von Ruanda aus nach Zaire zu fahren. Kaum waren sie in Bukavu angekommen, hatte die ADFL ihre Bewegungen auf ein Mindestmaß beschränkt, und
sie richteten dort noch weniger aus als wir im Norden. Arjan hielt ständig Kontakt mit weiteren MSF-Teams in der Region der Afrikanischen Großen Seen und in Europa, mit an deren Nichtregierungsorganisationen sowie mit mir in Goma und Jose in Südkivu. Sobald der Luftraum freigegeben war, unternahm MSF eigene Aufklärungsflüge, manchmal in Beglei tung von Mitarbeitern des Roten Kreuzes und des UN-Flücht lingskommissariats, manchmal allein. Nach unseren Informa tionen gab es Flüchtlingsgruppen aus zehn- bis hunderttausend Menschen. Zudem hatten sich kleinere Menschenansammlun gen von den größeren Gruppen getrennt, als diese auf ihrer Flucht nach Westen von der ADFL angegriffen worden waren. Unser Plan bestand nun darin, die Flüchtlinge an ihren mut maßlichen Zielorten zu »empfangen«. Unsere Bemühungen, zu ihnen vorzudringen, wurden jedoch vom Krieg vereitelt, von den ständigen Truppenbewegungen und von Gerüchten und Hindernissen in Ruanda wie in Zaire.
Unser Programm in Goma lief unterdessen unverändert wei ter. Ich wollte weder die Cholera-Klinik noch das Behelfskran kenhaus schließen, um gewappnet zu sein, falls eine Flüchtlings welle hereinschwappte. Wir hielten daher Weiterbildungskurse für zairische Krankenschwestern und Ärzte, um sie im Umgang mit Cholera und anderen Seuchen zu schulen. Bei unseren all abendlichen Treffen äußerten die Mitarbeiter ihren wachsenden Ärger angesichts der ängstlichen und unvollständigen Zeugen aussagen von immer weniger Flüchtlingen. Mir erging es nicht anders. Ich hatte in Ruanda das Schlimmste gesehen und machte mir Sorgen, was sich im Verborgenen hier abspielen mochte. Niemand wusste, was in den Dörfern und Wäldern hinter Goma geschah. Die Vorgänge jenseits der Straßensperren waren wie hinter einem dunklen, undurchdringlichen Vorhang verborgen. Es wurde von Tag zu Tag deutlicher, dass wir wenig mehr waren als gleichsam die Lumpensammler der ADFL. Später in dieser Woche hatte ich ein wenig Glück. Unweit des Ernährungszentrums in Sake erreichte ich eine unbewachte Nebenstraße, die nach Westen führte, auf die Straße nach Ma sisi. Mein Fahrer und ich fuhren durch den dichten Urwald und meldeten uns alle fünfzehn Minuten im MSF-Quartier. Ein mal hielten wir an, um zu urinieren. Ich ging ein paar Meter in den Busch und sah das Gesicht eines Toten zu mir herauf starren. Neben ihm lagen zwei weitere Leichen; sie waren höchstens einen Tag alt und bereits von wilden Tieren angefres sen. Alle drei waren junge Männer, die man mit Schüssen in den Hinterkopf getötet hatte. Da so viel von Massakern die Rede war, wusste ich nicht, ob die Leichen, auf die ich starrte, Opfer eines isolierten Vorfalls waren oder die Reste eines un gleich größeren Problems. Wir fuhren weiter. Auf einem Acker entdeckten wir die Spuren eines riesigen Lagers für zigtausend Menschen. Es sah aus, als seien seine Bewohner überstürzt auf gebrochen, ohne zu packen. Sie hatten lange genug hier gela gert, um provisorische Schutzhütten aus blauen Plastikplanen zu errichten; doch waren diese ebenso flu chtartig verlassen worden wie die Habseligkeiten, die diese Menschen zwei Jahre
lang mit sich herumgeschleppt hatten. Überall lagen Kochtöpfe
diese Menschen durchaus imstande, sich ohne fremde Hilfe
herum, Öldosen mit dem Aufdruck »Geschenk des amerikani
durchzubringen, die Natur biete ja Nahrung in ausreichendem
schen Volkes«, Kleidungsstücke und Schulbücher. Benzinkanis
Maße. Hilfsorganisationen, die sich Zugang zu den Flüchtlin
ter waren von zahllosen Füßen in den Boden gestampft wor
gen verschaffen wollten, würden von den Rebellen nur noch
den. Ich blickte auf eine einsame rote Plastiksandale, die aus
selten an ihrem Vorhaben gehindert. Man habe nur deshalb für
»Made in China«
eine UN-Intervention plädiert, sagte er, weil die Mitarbeiter der
war in die Sohle geprägt. Wir fuhren an Dörfern vorbei, die
Hilfsorganisationen sich in Kivu nicht frei bewegen durften;
geplündert und niedergebrannt worden waren. Einige waren
das ändere sich jetzt, deshalb rate er zu einer neuerlichen Ein
verlassen. Wir sahen vereinzelt Menschen in den Hügeln ste
schätzung der Lage.
dem Erdreich ragte. Der Riemen war zerrissen:
hen. Mein Fahrer hatte Angst, den Wagen anzuhalten. Es ist
Damit war die geplante UN-Intervention mit einer multina
nicht mein Volk, erklärte er. Er sei ein Tembo, und diese Leute
tionalen Friedenstruppe gestorben. Man wollte lediglich recht
gehörten zur Gruppe der Hunde. Nachdem wir ungefilir fünf
zeitig zu Weihnachten Lebensmittelpakete abwerfen, aber schon
undzwanzig Kilometer durch das Hügelland hinter uns ge
zum damaligen Zeitpunkt war absehbar, dass auch dieses Vorha
bracht hatten, zwang uns ein Erdrutsch zur Umkehr. Ich sprach
ben nicht verwirklicht werden würde. Wochen später sprachen
am Abend mit
Arjan, und er sagte mir, dass General Maurice
Ärzte ohne Grenzen und andere Hilfsorganisationen mit j edem
Baril, der kanadische Kommandant der multinationalen UN
Journalisten , der bereit war, ihnen zuzuhören. Da sich jedoch
Friedenstruppe, von Ärzte ohne Grenzen Informationen einho
unsere Prognosen zu möglichen Choleraopfern unter den
len wolle.
Flüchtlingen nicht erfüllt hatten, war man uns gegenüber skep
Ich traf General Baril jenseits der Grenze in Gisenyi, im Vier
tisch geworden. In den Interviews, die ich geben konnte, beton
Sterne-Hotel Meridien. Wir saßen im Freien, unter dem Stroh
te ich immer wieder, dass ohne eine multinationale Intervention
dach einer stilisierten afrikanischen Hütte. Er war mit einer
die Lage für einige hunderttausend Flüchtlinge auch weiterhin
Schar von Beratern gekommen und ein freundlicher, beschei
prekär wäre: Sie würden durch die Einheiten der
dener und direkter Mensch. Mit Hilfe von Landkarten gab ich
der Interahamwe massiv unter Druck gesetzt und gleichzeitig
EX-FAR
und
ihm die aktuellsten Informationen, die die MSF-Teams aus der
von den Truppen der
Luft und auf dem Boden über die Landstriche gesammelt hat
jagt. Ich bezog mich auf die Aufklärungsflüge unserer Organisa
ten, in denen wir Flüchtlinge vermuteten. Ich erzählte ihm von
tion, bei denen erst kürzlich fünfzigtausend Flüchtlinge in der
ADFL
durch die zairische Landschaft ge
der Straße, die ich tags zuvor erkundet, von den verlassenen
Nähe von Walikali, weitere achtundvierzigtausend in Shabunda,
Dörfern, die ich gesehen hatte. Tags darauf, am 8. Dezember,
dreißigtausend in der Nähe von Hombo und zwanzigtausend
fuhr er in Begleitung von Mitarbeitern des
siebzehn
nicht weit von Masisi entdeckt worden waren. Die Flüchtlinge,
Kilometer auf derselben Straße wie ich, und kehrte wieder um.
die man zu uns gebracht habe, argumentierte ich, hätten von
In einem Interview mit der
BBC
UNHCR
erklärte er zu meinem Erstau
zahllosen Verwundeten und Kranken berichtet, doch die
ADFL
nen, das Leben in der Gegend, die er erkundet habe, scheine
halte uns von ihnen fern. Doch nichts , was ich sagte, vermochte
wieder den normalen Gang zu nehmen. Er selbst habe zwar
irgendetwas zu bewirken. Die
keine Flüchtlinge gesehen, räume aber
ten weiter vor, kämpften im Süden, Norden und Westen und
dass sich mögli
cherweise noch kleinere Personengruppen im Wald und
in den
Hügeln versteckt hielten. Allerdings, so seine Ansicht, seien
übten
ADFL
und ihre Verbündeten rück
grausame Rache an Hunderttausenden unsichtbarer
Flüchtlinge. 279
Der Kampf lief gut für die ADFL, aber nicht so gut wie ge plant. Als die Rebellenarmee vorrückte, begegnete sie den Mai
ten mein Fahrer und ich umgestürzte Bäume und liegengeblie bene Kleinbusse aus dem Weg. Wir überdeckten Schlammlöcher
die traditionelle Kräfte beschworen, um bewaffnete Angriffe
mit Baumstämmen und befreiten uns mit Hilfe von Wagenhe bern, Winden, Hacken und Schaufeln aus dem schlammigen
von sich, ihren Dörfern und Almen fernzuhalten, die auf dem
Erdreich. Wir fuhren so weit es ging, aber die Situation war
Land begraben waren. Die Mai-Mai waren der festen Überzeu
unverändert. Bei einem Dorf kamen die Bewolmer langsam von
gung, die Energie des Wassers mache sie unbesiegbar, und wa
den Hügeln, als mein Fahrer sie rief. Ich fragte sie, warum von
ren erbitterte Krieger. Die schiere Erwähnung der Mai-Mai
einigen Häusern noch immer Rauch aufstieg. Die Leute hatten
Mai: Männer und junge Burschen, einige erst zehn Jahre alt,
konnte ein ganzes Dorf entvölkern. Ich löste Schreie, wilde
Angst, und so erfuhren wir lediglich, dass Einheiten der EX-FAR
Tänze und Unmut aus, als ich einem etwa vierzelmjährigen
Flüchtlinge vor sich her getrieben hatten und die
Mai-Mai, der seine Maschinenpistole kaum schleppen konnte,
gefolgt war, dass viele Menschen in ihrem Dorf zu Tode gekom
eine Zigarette anbot. Der Junge bestreute sie mit irgendeinem
men waren und dass noch immer heftig gekämpft wurde. Wir
Pulver, ehe er sie rauchte.
fuhren weiter und entdeckten die Spuren eines erbitterten
Das Zweckbündnis, das die Mai-Mai zunächst mit den Ein heiten der PAR
ADFL
und der
FAZ
geschlossen hatten, um die Truppen der
EX
abzuwehren, war zerbrochen. Der Groll der
ADFL
ihnen
Kampfes. Grüne mandisehe Busse mit der Aufschrift »Geschenk aus Japan« lagen umgestürzt und mit Einschusslöchern in einer Schlucht neben der Straße. Militärfahrzeuge der
EX-FAR
waren
Mai-Mai gegen die Rebellen, die sie als mandisehe und ugandi
über den Abhang gedrängt worden, und ich sah auf die zerstör
sche Eindringlinge betrachteten, wurde immer größer, obwohl
ten Fahrzeuge von
beide Länder weiter leugneten, dass sie Soldaten in Zaire statio
im Oktober und im November gestohlen hatte. In den Feldern
UNHCR,
MSF
und anderen NGOs, die die
FAZ
niert hatten. In Sake hatten Mai-Mai-Milizen die Straßenkon
und am Straßenrand lagen die zurückgelassenen Habseligkeiten
trollen übernommen.
mehrerer hunderttausend Menschen, die in westlicher Richtung
Eines Nachts kam ein Priester in unser Büro und wollte mich sprechen. Er war weiß, Belgier, und hatte seit Jahren in Kivu
geflüchtet waren. Wir sahen keine Knochen, kein Fleisch, weder Lebende noch Tote.
gearbeitet. Er wollte mit einer Gruppe von Ffadfindern in den
Ich hatte über Funk unsere MSF-Niederlassung kontaktiert,
Dschungel rings um die Stadt vordringen, um Flüchtlinge auf
als uns ein nicht näher gekennzeichneter brauner Geländewa
zuspüren, und bat mich, ihm einige Ärzte mitzuschicken.
gen entgegenkam. Ich drehte sofort unser Funkgerät lauter, da
»Nicht jetzt«, sagte ich, da ich das Unterfangen für zu gefähr
mit jeder im Umkreis wusste, dass wir notfalls davon Gebrauch
lich hielt. Zwei Tage später wurde eine Pfadfindergruppe im
machen würden. Das Fahrzeug hielt an, und ein stämmiger
Dschungel von Interahamwe- und EX-FAR-Kämpfern überfallen.
Weißer um die vierzig stieg aus und kam auf uns zu.
Wieder versuchte ich, auf der Seitenstraße, auf der ich noch vor
sich als Dave Kyzner von der amerikanischen Botschaft vor. Was
Tagen unbehelligt geblieben war, nach Westen vorzudringen.
mochte ilm veranlasst haben, allein durch verbrannte Dörfer
»James Orbinski, Ärzte ohne Grenzen«, sagte ich. Er stellte
Die Regenzeit hatte begonnen, und so waren die Schlammwege
zu fahren? Ich war misstrauisch und fragte ihn, was ilm in
durch den hügeligen Dschungel nahezu unbefahrbar. Der Erd
diese Gegend verschlagen habe. »Ach, Sie wissen schon, Men
rutsch, der uns aufgehalten hatte, war von der vorrückenden
schenrechte und so«, antwortete er und gab zu bedenken, dass
ADFL
mit Baumstämmen überbrückt worden. Unterwegs räum-
2 80
die Straßen nicht passierbar seien und dass die
EX-FAR
und In281
terahamwe regelmäßige Patrouillen durchführten. Wir sollten
und ein grüner Ausfluss aus der Nase sammelte sich über den
schleunigst kehrtmachen. Ich sagte ihm, wir würden erst zu
Lippen. Er lächelte mir zu, und ich streichelte ihm über den
rückfahren, wenn wir die Medikamente, die wir bei uns hatten,
Kopf. »Wie geht es dir?«, fragte ich ihn auf Französisch. Die
verteilt hätten. Er kehrte nach Goma zurück, und wir fuhren
Mama übersetzte mir, was er sagte, und schlug sich dabei la
weiter, erreichten schließlich das Dorf. In der abgebrannten
chend auf die Schenkel: »Er sagt, er wartet auf seine Mutter. Es
MSF-Klinik traf ich auf einen Pfleger. Er war überrascht und
hat geregnet letzte Nacht. Deshalb ist sie nicht gekommen.
hatte den Blick eines gehetzten Tiers. Niemand rückte so recht
Heute Nacht setzt Gott Sterne in den Himmel, die den Regen
mit der Sprache heraus; man sagte mir nur, dass es schlimm
davon abhalten, auf die Erde zu fallen. Heute Nacht wird sie
um die Bewohner stehe und ich lieber verschwinden solle. Da
kommen, sagt er.« Sie umarmte den Jungen liebevoll. Ich lä
kamen in schwarzen Gummistiefeln ADFL-Soldaten in die Kli
chelte ihm zu und streichelte ihm noch einmal über den Kopf.
nik. Sie trugen neue AK-47-Sturmgewehre bei sich und befah
»Gott! Nein, so etwas, haha! Wo ist hier ein Gott?«, lachte sie,
len uns, nach Goma zurückzufahren.
während sie die Grütze umrührte.
Wir hielten am Dorf Mweso. Wieder sahen wir Menschen,
Wir blieben vor einer provisorischen MSF-Klinik stehen, in
größtenteils Frauen und Kinder, verängstigt und stumm. Eine
der nur zehn Patienten versorgt wurden. Die meisten stammten
Frau saß allein am Straßenrand, die zitternden Hände in die Leis
aus der Umgebung und konnten sich die Gebühren in den
ten gepresst. Sie starrte trostlos auf den tiefbraunen Schlamm.
regulären Krankenhäusern, die größtenteils bei den jüngsten
Ich fragte, was geschehen sei, erhielt aber keine Antwort. Von
Kämpfen Schaden genommen hatten, nicht leisten. Drei Patien
den schwelenden Häusern ringsum stieg der Rauch auf. Auf dem
ten litten an der gefürchteten afrikanischen Schlafkrankheit, die
Umhang der Frau war verkrustetes Blut zu sehen. Sie stand auf.
von der Tsetsefliege übertragen wird. Der Arzt behandelte sie
Ganz krumm vor Schmerzen humpelte sie davon. Ich half ihr zu
mit einem Wirkstoff auf der Basis von Arsen, das heftig in den
einer Gruppe Frauen, die in einiger Entfernung am Straßenrand
Adern brennt, wenn es injiziert wird. Ein Mann schrie auf, als
saßen. Auch sie waren vergewaltigt worden. Zwei Frauen stan
ihm die Arznei verabreicht wurde; eine Frau, die die psychoti
den auf und halfen ihrer Leidensgenossin, sich zu ihnen zu set
schen Symptome der Krankheit durchlebte, redete mit einem
zen. Wer denn so etwas tue, fragte ich meinen Fahrer. »Rebellen
Geist. Kein einziger Flüchtling hatte an diesem Tag das Kran
oder EX-FAR
kenhaus aufgesucht, und in den vergangeneu Wochen waren
-
das ist nicht klar«, antwortete er. »Keiner sagt
etwas, alle bleiben sie lieber im Busch versteckt. Einige halten
sie nur tröpfchenweise gekommen.
uns für Tiere. Aber Sie wissen, dass wir Menschen sind.« Auf der
Wir behandelten nur wenige Patienten, versorgten aber den
Rückfahrt kämpften wir uns schweigend durch den Schlamm.
Großteil der Stadtbevölkerung mit Wasser und hielten das Be
Die Nacht brach herein, und wir hielten am Ernährungszen
helfskrankenhaus sowie das Ernährungszentrum in Sake am
trum in Sake. Mütter saßen bei ihren Kindern und warteten auf
Laufen. Wir unterstützten Missionsgruppen wie die Sisters of
Lebensmittel. Eine dicke zairische Frau, die Haare zu stacheli
Mercy sowie Krankenhäuser in der Stadt und Gesundheitszen
gen Zöpfen geflochten, rührte den Haferschleim in einem
tren in den wenigen umliegenden Dörfern, die wir erreichen
Trog , und der Rauch des Kohlenfeuers erfüllte die Luft im Zelt
konnten. Wir sammelten Zeugenaussagen von Flüchtlingen und
Sie hatte hier das Sagen, war die »Mama« des Zentrums. Ich
Dorfleuten, die bereit waren, mit uns zu sprechen. Jane Little,
bemerkte den Kleinen, den wir einige Wochen zuvor fast um
die Krankenschwester, die das Sake-Ernährungszentrum betrieb,
gefahren hätten. Er hatte ein Gazepflaster neben dem Mund,
sagte eines Abends zu mir: »Ich habe Angst, James.« Ich auch,
282
antwortete ich ihr und fügte hinzu, dass ich keinem trauen
schwerbewaffneten Männern umstellt - ob sie der EX-FAR, den
könne, der von sich das Gegenteil behauptete. In dieser Nacht
Mai-Mai oder der ADFL angehörten, ließ sich nicht feststellen.
schrieb ich in mein Tagebuch: »Angst, Angst, Angst: Wir sind
Ich hatte Todesangst. Da tauchte der pharmazeutische Leiter des
von Angst umzingelt: Ich spüre die meine in allen Knochen.
Masisi-Krankenhauses mit weiteren Männern aus dem Dschun
Muss mich auf die Arbeit konzentrieren.«
gel auf »Ärzte ohne Grenzen! «, sagte er. Er selbst gab sich als
Eine Handvoll Journalisten in Goma waren neben den Mitarbei
Sie holten unsere Fahrzeuge aus dem Schlamm, bestanden auf
Mai-Mai zu erkennen. Wir übergaben ihm die Medikamente. dem Roten Kreuz,
einem Gruppenfoto und verschwanden mitsamt den Medika
einer kleinen Anzahl von Missionen und anderen Hilfsorganisa
tern von Ärzte ohne Grenzen, dem
mentenkisten, die die Jüngeren auf dem Kopf balancierten,
tionen die einzigen Ausländer in der Stadt. Merlin, eine briti
wieder im Urwald. Wir hatten mehrere Stunden im Schlamm
UNHCR,
sche Nichtregierungsorganisation mit medizinischem Schwer
festgesteckt, und es war zu spät und auch zu gefährlich, noch
punkt, zog ihre Einsatzkräfte ab, weil sie keine Spendengelder
viel weiter zu fahren. Also beschlossen wir, die Nacht im nächs
mehr auftreiben konnte. Westliche Geberländer konzentrierten
ten Dorf zu verbringen, Matanda, wo man unsere Organisation
ihre Bemühungen hauptsächlich auf die Flüchtlinge, die nach
kannte und wir uns einigermaßen sicher fühlten. Das Dorf wur
Ruanda zurückgekehrt waren; dasselbe galt für die meisten
de von ADFL-Soldaten bewacht, die sich auf dem Kirchengelän
Nichtregierungsorganisationen. Die Vereinten Nationen hatten
de herumtrieben, wo Ärzte ohne Grenzen eine Klinik betrieben
diplomatische Initiativen angeregt, deren Ziel Friedensverhand
hatte. Wir suchten den Priester auf Er war ein Tutsi aus Ruanda
lungen waren. Die ADFL und ihre Verbündeten setzten dagegen
und neu auf seinem Posten. Er schien einen guten Draht zu den
ihre Offensive fort. Mobutu war von seiner Krebsbehandlung in
Soldaten zu haben, die in seiner Gegenwart entspannt wirkten.
Europa zurückgekehrt, und es kursierten Gerüchte über eine
Obwohl er überrascht war, uns zu sehen, bat er uns in seine
größere Gegenoffensive der FAZ, in der die Region Kivu zurück
Wohnung. Er wies uns ein Gästezinuner mit nur einem Einzel
erobert werden sollte. Wir reduzierten unser Team auf die erfah
bett, gab uns Wasser und etwas zu essen und schärfte uns ein,
rensten Mitarbeiter.
das Zimmer auf keinen Fall zu verlassen. Später hörte ich den
Eines Nachts kam der Verwaltungschef des Masisi-Kranken
Priester leise mit den Soldaten sprechen und trat hinaus auf die
hauses zu uns. Er war erschöpft , weil er sechzig Kilometer zu
Terrasse. Es war eine wolkige Nacht. Kein einziger Stern war zu
Fuß durch den Dschungel zurückgelegt hatte, um uns um me
sehen. Manchmal ist die Nacht so dunkel, dass selbst die Sterne
dizinische Versorgungsgüter zu bitten. Ärzte ohne Grenzen hat
sich fürchten, dachte ich. Der Priester kam zurück, um sich zu
te jahrelang im Masisi-Krankenhaus gearbeitet, war aber in den
erkundigen, ob alles zu unserer Zufriedenheit sei, und um mir
vergangenen Monaten nicht durchgekommen. Der Verwal
noch einmal einzuschärfen, dass wir das Zimmer nicht verlas
tungschef war unserer Belegschaft gut bekannt, und ich ver
sen durften, nicht einmal, um auf die Terrasse zu gehen. »Keine
sprach ihm, einen Versuch zu wagen. Leslie Shanks und ich fuhren also mit zwei Geländewagen, voll beladen mit medizinischen Versorgungsgütern, in Rich tung Masisi. Wir kamen zwar weiter als ich das letzte Mal, blie
Sorge, bei mir sind Sie sicher«, sagte er. Ich schlief auf dem Boden, als es regnete. Es war eine der längsten Nächte meines Lebens. Am 1 2 . Dezember hörten wir neue Gerüchte; angeblich war
ben dann aber im Schlamm stecken. Während wir uns mühten,
Mobutus Elitegarde nach Kivu verlegt worden, um die ADFL
die Fahrzeuge freizuschaufeln, sahen wir uns plötzlich von
aus der Region zu vertreiben. Arjan erzählte mir, das MSF-Büro
in Kigali sei während einer Razzia durch Militärs, bei der Trä
die Soldaten bei der täglichen Inspektion unseres Büros und
nengas zum Einsatz kam, ausgeraubt worden. Andere Nichtre
forderten uns zur Herausgabe unserer Funkgeräte und anderer
gierungsorganisationen in Kigali, die allzu beharrlich nach
Kommunikationsmittel auf. Zudem hatten sie Spitzel bei uns
dem Verbleib der verschwundenen Flüchtlinge forschten, wie
eingeschleust. Als Reaktion drohte ich, der Stadt mitsamt dem
das American Refugee Committee, waren ebenfalls überfallen
Team den Rücken zu kehren, und bestand auf einer Unterre
oder ausgeraubt worden.
dung mit Oberst Kabongo, dem für Goma zuständigen ADFL
Am Freitag, dem 1 3 . Dezember, wurde General Barils Inter
Kommandanten.
ventionstruppe offiziell aufgelöst, nachdem Hunderte kanadi
Die ADFL hatte uns zwar gerufen - wir verliehen ihren nur
scher Soldaten im ugandischen Entebbe bereits vor Tagen ihre
vordergründig humanitären Beweggründen Glaubwürdigkeit -,
Taschen gepackt hatten. Am 1 7 . Dezember entdeckten MSF, das
doch nun drohte die Stimmung zu kippen. Mobutus Streitkräfte
Rote Kreuz und Aufklärungsflüge des UN-Flüchtlingskommis
erlitten eine böse Niederlage. Er hatte serbische Söldner ange
sariats etwa zweihunderttausend Flüchtlinge im Südwesten Go
heuert und angeblich auch die südafrikanische Söldner-Firma
mas. In Gegenwart der Medien erklärten sich die Rebellen ein
Executive Outcomes um Hilfe gebeten, deren Kampfhubschrau
verstanden, dass humanitäre Einsatzkräfte den Flüchtlingen
ber stündlich eintreffen sollten. Im Norden, Süden und Westen
halfen, vor Ort j edoch wurde uns der Zugang verwehrt, weil
Kivus sagten die Mai-Mai sich von der ADFL los. Die Vertriebe
es angeblich zu »unsicher« sei. Also erhielten wir in Kigali und
nen und die Menschen der Region waren nun zwischen den
in den Hauptstädten der ganzen Welt den politischen Druck
Fronten gefangen. Unsere einheimischen Mitarbeiter hegten
aufrecht. Gelegentlich erlaubte man uns, die Flüchtlinge zu se
die Befürchtung, dass der Krieg ausarten könnte, und schickten
hen, aber immer nur einige Stunden am Stück. Sie waren in
ihre Familien fort, blieben selbst jedoch bei uns, weil die Löh
einem entsetzlichen Zustand. Baril hatte nur teilweise recht ge
ne, die sie von Ärzte ohne Grenzen bezogen, ihre einzigen Ein
habt: Die Menschen hatten in der Tat Wurzeln und Blätter ge
künfte waren.
gessen, seit die Camps im Oktober überfallen worden waren.
Am 1 8. Dezember traf ich mich mit dem Einsatzleiter des
Die Überlebenden waren fast verhungert, litten an Malaria und
Roten Kreuzes in Goma. Tags zuvor waren in Tschetschenien
Durchfall, an geschwollenen Beinen und aufgerissenen Füßen.
sechs Mitarbeiter des Roten Kreuzes ermordet worden. »Sie be
Die ADFL verfolgte sie weiter, während Mobutu die Soldaten
haupten, es seien Einbrecher gewesen«, erzählte er mir, »aber
und Milizen, die sie in Schach hielten, mit Waffen ausstattete.
man hat sie in ihren Betten erschossen, während sie schliefen.«
Abgesehen von diesen zweihunderttausend kranken, hungrigen
Es war der blutigste Angriff auf das Rote Kreuz in seiner hun
und gepeinigten Menschen gab es noch immer mehrere Hun
dertdreiunddreißigjährigen Geschichte. Nun stellte der Einsatz
derttausend, die ungezählt und ungesehen in den Urwäldern
leiter alles in Frage. »Wir können hier kaum etwas tun«, sagte
Zaires hausten.
er. »Unsere Möglichkeiten sind genau wie die euren erheblich
In Goma behauptete die ADFL, unsere Hilfsgüter seien den
eingeschränkt, und die politische Lage im Land wird immer
Menschen in Zaire gespendet worden, und da dieser Landesteil
prekärer. Die Risiken sind einfach zu groß. Wir reduzieren un
Zaires jetzt von der Rebellenarmee kontrolliert werde, stünden
sere Teams, ziehen uns vielleicht ganz zurück, bis sich die Stim
die HUfsgüter ihr zu. Die ADFL warf uns vor, den Franzosen
mung wieder verändert hat.«
in die Hände zu arbeiten, die ihrerseits Mobutu unterstützten.
Ich bemühte mich um eine Unterredung mit Oberst Kabon
»Woher sollen wir wissen, dass ihr keine Spione seid?«, fragten
go, aber er ließ mich immer wieder vertrösten. Schließlich teil-
286
te ein Offizier mir mit, dass der Oberst ein einstündiges Treffen
Mitglied unserer einheimischen Belegschaft angesprochen. Er
angesetzt habe. Ich fuhr geradewegs zu seinem Hotel, dem Be
war ein Tutsi aus Zaire und erzählte mir, dass jemand in der
fehlsstand der Rebellen, da ich nicht zu spät kommen wollte.
vergangenen Nacht sein Haus beschossen und Granaten auf
Als ich vorfuhr, verließ gerade Dave Kyzner das Hotelrestaurant,
sein Grundstück geworfen habe. Er verdächtigte die Mai-Mai,
und ich fragte mich, was ein amerikaDiseher Botschaftsbeamter
war aber nicht sicher. Seine Familie war bereits vor Monaten
wohl mit einem Rebellenführer zu bereden hatte. Kyzner war
nach Südafrika abgereist, und nun wollte er ihnen folgen. Doch
freundlich, und wir sprachen kurz über die Sicherheitssituation
die ruandische Regierung legte Wert darauf. dass alle zairi
und das Problern mit den Funkgeräten. Nachdem ich drei Stun
schen Tutsi in Kivu blieben. Da verriet er mir, es gebe eine
den gewartet hatte, ließ Kabongo mich ins Restaurant holen,
Verschwörung unter den Mitgliedern unseres einheimischen
wo er zu Mittag speiste. Vor seinem Tisch, auf einem Großbild
Teams. Sie hätten die Absicht, einige Ausländer zu entführen.
fernseher, lief der Sender CNN. Kabongo ließ versehentlich die
Mit der Auslösesumme wollten sie sich aus dem Staub machen.
Gabel zu Boden fallen. und während ein Soldat sich danach
Sie hatten bereits Fahrzeuge organisiert und einen Plan ausge
bückte, packte der Oberst das Stück Fleisch auf seinem Teller
heckt. Er wusste nicht, ob die ADFL beteiligt sei, und auch es stattfinden
mit den Fingern und biss hinein. Er ignorierte mich, als ich
nicht, wann das Ganze stattfinden sollte, nur
ihm zusah, wie er sich die Lippen und die fetttriefenden Hände
würde. Er fürchtete um sein eigenes Leben und bat mich, ihn
an der Serviette abwischte. Der Soldat legte ihm eine saubere
aus Zaire hinauszuschleusen.
Gabel auf den Tisch. »Es ist ein Unglück, was in Tschetschenien geschehen ist,
dass
Die Rebellen waren auf dem Vormarsch. Unsere Funksprü che wurden abgehört und unsere E-Mails abgefangen. Ich fuhr
nicht wahr? Dabei sind die Mitarbeiter des Roten Kreuzes so
durch Sake. Mai-Mai waren allgegenwärtig, und nur diejenigen
überaus gute Menschen«, stellte Kabongo fest, ohne mir in die
Patienten blieben im Ernährungszentrurn, die zu krank waren,
Augen zu sehen. »Solche Unfälle können natürlich überall pas
um sich davonzumachen, weniger als zwanzig Kinder und Er
sieren. Ärzte ohne Grenzen hat uns so viele schöne, junge,
wachsene. Die Mama, die das Kommando führte, war fort, der
pflichtbewusste Europäer hierher nach Kivu geschickt.« Ich sah
Junge ebenso. Ich hatte das Gefühl, in ein Spiel geraten zu sein,
ihm schweigend zu, wie er sich ein Stück Fleisch absäbelte, und
dessen Regeln ich nicht kannte. Ich fuhr über die Grenze nach
fragte ihn dann, warum man es auf unsere Funkgeräte abgese
Kigali, um mit Arjan persönlich zu sprechen. Wir trafen uns
hen habe. Wir würden sie aufkeinen Fall hergeben, seine Solda
mit den kanadischen, holländischen, französischen und ameri
ten dürften sie allenfalls inspizieren.
kanischen Botschaftern im Land, wollten wissen, was sie im
»Lieber Herr Doktor, sagen Sie mir nicht, was ich darf und
Bedarfsfall unternehmen würden, um uns aus der Grube zu
was ich nicht darf.« Er steckte sich noch einen Bissen Fleisch
holen. »Am besten, Sie fallen gar nicht erst hinein«, antwortete
in den Mund und kaute sorgtaltig. Das Herz klopfte mir bis
die amerikanische Botschafteein und zitierte ihren Sicherheits
zum Hals, während ich wartete. »Keine Sorge, mein Lieber, wir
offizier zu sich. Herein kam Dave Kyzner. Sichtlich verlegen,
finden schon eine Lösung«, sagte er sanft und winkte mit der
als er mich dort sitzen sah, gab er Wald-und-Wiesen-Ratschläge
Serviette.
über Sicherheitsmaßnahmen zum Besten: Seien Sie wachsam,
Ein Soldat trat an den Tisch. »Ihre Unterredung ist vorbei«, sagte er. Auf dem Parkplatz des MSF-Geländes wurde ich von einem 288
halten Sie zu jeder Tages- und Nachtzeit Funkkontakt, bleiben Sie zus amme n, fahren Sie nicht auf ungenehmigten Straßen, achten Sie auf Minen. Die Botschaft war klar: Ihr seid auf euch
gestellt. Später waren Jules, Arjan und ich uns einig darüber,
gang des MSF-Gebäudes mit Arjan und Jose Antonio Bastos,
dass wir das Team außer Landes bringen mussten, wenigstens
der aus Süd-Kivu gekommen war. Auch sein Team war in der
vorübergehend. Ohne Verdacht zu erregen, wollten wir versu
Bewegung stark eingeschränkt worden. Die Sterne blinkten,
chen, unsere Fahrzeuge und Vorräte über die Grenze zu schaf
und wir sprachen tüchtig dem Alkohol zu. »Es ist der reinste
fen. Weihnachten rückte näher, und wir würden es, gemein
Rassismus«, sagte Arjan. »Einige hunderttausend Hutu-Flücht
sam mit anderen ausländischen MSF-Mitarbeitern, in Ruanda
linge werden vermisst. Mittlerweile gelten ausnahmslos alle
verbringen. Ich kehrte nach Goma zurück.
Hutu, selbst die Kinder, als genocidaires. Es ist wie eine von der
In Zaire erhalten die Menschen üblicherweise statt Urlaubs geld ein »dreizehntes Monatsgehalt«. In den darauffolgenden
internationalen Gemeinschaft geduldete Vergeltungsmaßnahme mit Massenhinrichtungen. So viel zu den Menschenrechten.«
Tagen traf ich mich mit unserer einheimischen Belegschaft,
»Gewisse Literaten mögen anderer Meinung sein, aber in der
stellte ihnen ein dreizehntes Monatsgehalt in Aussicht und sag
Liebe und im Krieg ist keineswegs alles erlaubt«, sagte Jose.
te, dass wir Weihnachten mit anderen MSF-Teams in Ruanda
»Wir müssen weiter versuchen, den Flüchtlingen zu helfen,
verbringen würden. Sollte die Krise sich verschärfen und wir
herausfinden, was wirklich vor sich geht, und es an die Öffent
außerstande sein, zurückzukommen, wären ihre Verträge been
lichkeit bringen. Manchmal kann man nicht mehr tun als reden.
det, und sie hätten zumindest das dreizehnte Gehalt, um noch
Aber wer nichts sagt, versäumt die Chance zur Menschlichkeit.
eine Weile davon zu zehren. In den darauffolgenden Tagen ver
Nein, in der Liebe und im Krieg ist nicht alles erlaubt«, wieder
ließen die ausländischen MSF-Ärzte und Pfleger nach und nach
holte er. »Wenn wir jemals erfahren sollen, was Liebe und Frie
das Land, Fahrzeuge und Ausrüstung nahmen sie mit sich. An
de wirklich bedeuten, wenn es echte Hoffnung für uns geben
dere Hilfsorganisationen taten es ihnen gleich, und das Rote
soll, dann müssen wir uns daran erinnern.«
Kreuz zog sich aus anderen Regionen Kivus ganz zurück.
»Du bist ja ein Poet, Jose«, stellte ich fest.
Wir verbrachten Weihnachten wie geplant im ruandischen
»Nun ja, ich bin Spanier.« Er lachte. »Es liegt mir im Blut! «
Rhuengeri, nicht weit von der Grenze nach Zaire entfernt. Ich
»Wie allen Spaniern?«, fragte ich. Er lächelte. Wir tranken,
hatte mit so vielen Menschen gesprochen und so viele Sonder
bis die Sonne aufging.
regelungen vereinbart, dass ich seit Wochen nicht mehr or
Am 20. Januar erwachte ich in Toronto zu den Nachrichten,
dentlich geschlafen hatte, die vergangeneu zwei Nächte nicht
die aus meinem Radiowecker tönten. Drei spanische Mitarbei
länger als zwei Stunden. Und so schlief ich am ersten Weih
ter der Hilfsorganisation Medicos del Mundo - MDM - waren
nachtsfeiertag achtzehn Stunden am Stück. Am darauffolgen
in Rhuengeri ermordet worden. Später erfuhr ich, dass die
den Morgen beschlossen wir, ein kleines, erfahrenes Team täg
Mörder zunächst zum MSF-Gebäude gefahren waren, wo wir
lich, sofern die Sicherheitslage es erlaubte, nach Goma zu
Weihnachten verbracht hatten, aber an den Wachleuten nicht
schicken und zurück; es sollte dort nach dem Rechten sehen
vorbeigekommen waren. Sie hatten eine Granate über die Mau
und unser eingeschränktes Hilfsprogramm aufrechterhalten.
er geworfen, aber sie war nicht explodiert. Erst daraufhin wa
Zwei Wochen lang ging alles gut. Mitte Januar sollte ich eigent
ren die Mörder zur MDM-Niederlassung gefahren. Sie hatten
lich nach Kanada zurückfliegen. Bis dahin waren sämtliche
den Nachtwächter niedergeschlagen und sich Zugang ver
Straßen von Goma aus, die wir zuvor hatten erreichen können,
schafft. Nachdem sie die Pässe überprüft hatten, streckten sie
vollständig von der ADFL blockiert.
drei spanische Einsatzkräfte mit Kopfschüssen nieder und schos
Ich verbrachte meine letzte Nacht in Kigali auf dem Lauben-
sen einem amerikanischen Entwicklungshelfer ins Bein. Eine
halbe Stunde später erschienen Soldaten der RPA auf der Bild
saßen in Kliniken und Ernährungszentren, die weder mit Pfle
fläche und nahmen den Nachtwächter in Gewahrsam. Er wurde
gepersonal noch mit Versorgungsgütern ausgestattet waren. Als
erschlagen. Als offizielle Todesursache wurde Malaria angege
der mandisehe Botschafter vor den Vereinten Nationen be
ben. Die rumdisehe Regierung behauptete vor den Vereinten
hauptete, es gebe in Zaire keine Flüchtlinge mehr, zogen die
Nationen und den Hilfsorganisationen, dass Interahamwe-Mili
Flüchtlinge von Shabunda sich nach Übergriffen durch die
zionäre die Gegend unterwandert hätten, was auch zutraf, und
ADFL in den Urwald zurück. Am
dass sie für die Morde verantwortlich seien. Wer tatsächlich hin
Kreuz, Ärzte ohne Grenzen, CARE und Oxfam die Gelegenheit,
ter den Morden an den ausländischen Helfern steckte, ob die
vor dem UN-Sicherheitsrat zu sprechen. Wieder war unsere
1 2 . Februar erhielten das Rote
RPA oder die Interahamwe, konnte nicht geklärt werden. Einige
Botschaft eindeutig: Die Flüchtlinge brauchten Schutz, die EX
Tage später wurde der kanadische Priester Guy Pinard, der seit
FAR und die lnterahamwe mussten von ihrlen getrennt werden,
über zwanzig Jahren in Rhuengeri tätig gewesen war, während
und humanitäre Hilfe war kein Ersatz für politisches Handeln.
des Gottesdienstes von hinten erschossen. Zwei Wochen da
Bald darauf schlug der UNO-Generalsekretär vor, erneut eine
nach kamen in derselben Gegend fünf Menschenrechtsbeob
multinationale Interventionstruppe in Zaire zu stationieren.
achter zu Tode, angeblich von der Interahamwe ermordet; den
Während Frankreich die Initiative unterstützte, wurde sie von
abgetrennten Kopf des einen fand man auf dem Sitz des UNO
den USA und dem Vereinigten Königreich abgewürgt, ehe der
Geländewagens.
Sicherheitsrat einen politischen Bevollmächtigten in die Region
Ruanda schien erneut in einen Bürgerkrieg zu schlittern, vor
entsenden konnte.
allem in der Region, die an Kivu angrenzte, einer einstigen Hochburg von Habyarimanas Genozid-Regierung. Die ADFL
In den nun folgenden Monaten sollten mehrere Fakten bekannt
setzte ihren Vormarsch in Kivu fort und rückte in der Provinz
werden. Journalisten stießen in den ehemaligen Flüchtlings
Shaba ein, die reich war an Bodenschätzen. Mobutu bombar
camps auf Dokumente, die bewiesen, dass EX-FAR und Intera
dierte dagegen Bukavu in Süd-Kivu. Das Rote Kreuz, das UN
hamwe für Dezember 1996 einen Staatsstreich in Ruanda ge
Flüchtlingskommissariat, Ärzte ohne Grenzen und andere Hilfs
plant hatten, dem Mobutu zugestimmt hatte, und dass die
organisationen bemühten sich unter strengen Sicherheitsvor
französische Regierung Mobutu mit Waffen unterstützte. Eben
kehrungen, der vom Krieg in Zaire in Mitleidenschaft gezoge
falls ans Licht kam die Tatsache, dass die mandisehe Regierung
nen Zivilbevölkerung zu helfen, und suchte weiter nach den
ADFL-Soldaten angeheuert und im Sommer 1 996 in Ruanda
Flüchtlingen, für die sich offenbar niemand sonst interessierte.
hatte ausbilden lassen. Ruanda, Uganda und Burundi stellten
Gleichzeitig fand in Kigali, übertragen vom öffentlichen Radio
der ADFL außerdem eine große Anzahl von Soldaten an die
sender, der erste Prozess gegen einen Anführer der Interaham
Seite, auch wenn sie es leugneten. Es tauchten Beweisstücke
we-Miliz statt, der des Genozids beschuldigt wurde. Mitte Dezember 1996 waren westlich von Goma, in Tingi
auf. denen zufolge Dave Kyzner in Kivu nicht allein gewesen war. Amerikanische Sondereinheiten hatten die RPA in Ruanda
Tingi. Tausende Flüchtlinge »entdeckt« worden. Ende Januar
beraten und trainiert und Kabilas Streitkräfte während ihres
1 997 waren mehr als siebenhundert dieser Menschen verhun
Vormarsches zusätzlich mit logistischem Know-how und mit
gert. Die Kämpfe und das mittlerweile perfektionierte Ja-Nein
militärischer Ausrüstung unterstützt: Heimlich waren amerika
Spiel der ADFL hatten zur Folge, dass ihre Lebensmittelvorräte
nische Green Berets mit der RPA nach Zaire gekommen und im
nicht einmal für vier Tage reichten. Viele tausend Menschen
Oktober mit der FAZ zusammengestoßen. Es wurde offenkun-
dig, dass die Vereinigten Staaten Anfang November Kanada ge
zeug hatten vorüberfahren sehen, aus dem DschungeL Kaum
beten hatten, das Kommando über die Interventionstruppe der
war dies geschehen, wurden Männer, Frauen und Kinder getö
Vereinten Nationen zu übernehmen. Die USA dagegen gaben
tet. Verängstigte Dorfbewohner erzählten es Fraser im Gehei
sich zwar öffentlich den Anschein, als wollten sie die geplante
men, als er einige Tage später auf derselben Route zurückbeglei
Interventionstruppe eventuell mit Soldaten bestücken, unter
tet wurde. Ein ADFL-Soldat erklärte unumwunden: »An die
banden aber gleichzeitig alle diplomatischen Bemühungen in
Flüchtlinge im Wald kommen wir nicht heran. Also benutzen
dieser Richtung. Die USA hatten den Interventionsplan schließ
wir die Nichtregierungsorganisationen dazu, sie herauszulo
lich bei einem Novembertreffen der beitragenden Staaten in
cken .« Fraser war eingeschüchtert, fürchtete um sein Leben.
Stuttgart abgewürgt, zwei Wochen, bevor ich General Baril ge
Heimlich und sorgfältig schrieb er die Informationen nieder,
troffen hatte. Wie ein Beamter des Außenministeriums es aus
die er gesammelt hatte: wo genau sich die Gräber befanden, wie
drückte, war Mobutu ein »nützlicher Tyrann« gewesen, jetzt
viele Menschen getötet worden waren, und von wem welche
aber zu einer »Karikatur der Geschichte« mutiert, die einer
Äußerung stammte. »Wenn sie mein Tagebuch gefunden hätten,
funktionierenden Marktwirtschaft, einer ordentlichen Regie
wäre ich tot gewesen«, erzählte er mir Jahre danach. Fraser
rung und freien Demokratie im Weg stand. Außerdem würde
spielte den Naiven, konnte sein Tagebuch an der ADFL-Eskorte
die Tatsache ans licht kommen, dass ein kanadisches und ame
vorbeischmuggeln. Es war das fehlende Puzzleteilchen. Gemein
rikanisches Bergbaukonsortium und andere multinationalen
sam mit anderen MSF-Mitarbeitern konfrontierte er Washington,
Bergwerkskonzerne der ADFL und ihren Verbündeten Voraus
New York, London und andere Hauptstädte in der westlichen
zahlungen für Schürfrechte geleistet hatten.
Welt mit den Massakern und der Taktik der ADFL, humanitäre
Ende März 1 99 7 gelang es dem MSF-Team in Goma, die ADFL
Einsatzkräfte als Köder zu missbrauchen. Die
ADFL
konterte, in
Kontrollpunkte in Sake zu umgehen, und man entdeckte Mas
dem sie den Hilfsorganisationen Spionageabsichten oder In
sengräber in den Hügeln im Umkreis einiger Dörfer. Zur selben
kompetenz unterstellte, und rückte weiter vor.
Zeit machte sich weiter südlich in Zaire der kanadische MSF
Der Feldzug aus Desinformation, Mord, ethnischen Säube
Logistiker James Fraser gemeinsam mit Vertretern des UN
rungen und Einschüchterungsmanövern in Kivu kannte keine
Flüchtlingskommissariats daran, an der Straße nach Ruanda
Grenzen. Mit jeder öffentlichen Beschuldigung seitens Ärzte
Raststationen für die in alle Winde verstreuten Shabunda-Flücht
ohne Grenzen, jeder Forderung des Verbands, man möge ihnen
linge zu errichten, die nach Hause zurückkehren wollten. Nach
den Zugang zu den Flüchtlingen nicht länger verwehren,
längeren Verhandlungen und intensivem politischen Druck sei
wuchs die Gefahr für die humanitären Helfer in Ruanda und
tens Ärzte ohne Grenzen hatte die ADFL die streng kontrollierte
Zaire. Immer und immer wieder standen MSF-Mitarbeiter vor
Fahrt endlich genehmigt. Entlang der Straße bemerkte Fraser
dem Problem, ihre eigene Sicherheit gegen diejenige der Zivi
Dutzende frisch umgegrabener Felder. Im Geheimen erzählten
listen und Flüchtlinge abwägen zu müssen. Innerhalb der Or
ihm Dorfbewohner, es handle sich dabei um Massengräber für
ganisation gerieten Diskussionen über die Frage, wann man
Flüchtlinge, die von der ADFL niedergemetzelt worden seien.
handeln, wann reden und wann schweigen müsse
Ein weißer Priester beschwor ihn: »Im Wald ist ein Völkermord
Entscheidung hing nicht selten das Leben ab -, immer häufiger
im Gange wie damals bei den Nazis - die Welt muss davon
außer Kontrolle und brachten die Organisation mehrmals fast
erfahren.« Als Fraser unter der Aufsicht von ADFL-Soldaten von
an den Punkt der Auflösung.
Dorf zu Dorf fuhr, wagten sich Flüchtlinge, die das MSF-Fahr-
von der
Der Konzern America Mineral Fields Incorporated führte im
März 1 997 in Goma Gespräche mit Kabila. Etwa um die gleiche
schlug ihnen der Verwesungsgestank zahlloser Leichen entge
Zeit leistete der Konzern Vorauszahlungen an Kabila für die
gen, begrüßten sie die Schreie vieler Tausend Kranker und Ver
die Massaker wurden
wundeter und das Geräusch mechanischer Bagger, die im Wald
Schürfrechte. Einige Wochen später fortgesetzt
erhielt die Firma American Diamond Buyers das
Recht, den ersten Diamanthandel in Kisangani zu eröffnen.
Gräber aushoben. Die USA beauftragten Bill Richardson, zur Lösung der Krise
Ende März 1997 machten MSF und das Rote Kreuz an der
beizutragen. Bislang hatte weder Washington noch Paris ein
einhundertfünfzig Kilometer langen Bahnstrecke im Süden der
offenes Gespräch mit Kabila oder Mobutu gesucht, um ihnen
Stadt Kisangani etwa einhunderttausend erschöpfte, verwunde
ihre Bedingungen zu erläutern. Nun war es höchste Zeit. Ärzte
te und hungernde Flüchtlinge aus. Die Menschen krochen über
ohne Grenzen bestand erneut auf Flüchtlingsschutz und Asyl
den Boden, um sich die Kekse zu holen, die die Helfer an sie
für die Kranken und Verwundeten, da die Situation in Ruanda
verteilten. Ein Viertel der Menschen war zu krank, um sich von
für eine Rückführung zu unsicher sei.
der Stelle zu bewegen, und Ärzte ohne Grenzen bestand darauf,
In Kigali verurteilte Kagame unsere Organisation und be
sie medizinisch zu versorgen, und appellierte an die Vereinten
schuldigte das UN-Flüchtlingskommissariat, es sei, was die
Nationen, Schutz und Asyl für sie zu gewährleisten. Nachdem
Rückführung der vielen Menschen anbelangte, viel zu »langsam
der Radiosender der ADFL Hetzkampagnen gegen Ärzte ohne
und inkompetent«. Tags darauf behinderten die Rebellen die
Grenzen und andere HUfsorganisationen verbreitet hatte, be
Verteilung von Nahrung und Wasser und begannen, Flüchtlinge
gegneten deren Mitarbeiter in Zaire und Ruanda in zunehmen
in Transporter zu laden und zum Flughafen Kisangani zu fahren,
dem Maße Gewalt und Einschüchterung, und nach organisier
zur Rückführung nach Ruanda. So vollgepackt waren die Trans
ten Demonstrationen wurden Niederlassungen von Ärzte ohne
portlaster, dass einundneunzig Menschen erstickten. Viele von
Grenzen und von den Vereinten Nationen in Kisangani geplün
den Flüchtlingen, die auf diese Weise gezwungen wurden, in
dert.
ihre Heimat zurückzukehren, waren so krank, dass die Hälfte
Angesichts der Widerspenstigkeit der Rebellen und des of
der Menschen, die anschließend in Ruanda in Krankenhäuser
fenkundigen Desinteresses von Mitgliedern des Sicherheitsrates
eingeliefert wurden, innerhalb von achtundvierzig Stunden
warf UN-Generalsekretär Kofi Annan den Rebellen vor, sie lie
starben. Gleichzeitig wurden aus einem Krankenhaus in Süd
ßen die Menschen absichtlich verhungern, und bezeichnete sie
Kivu einhundertzehn Patienten von Rebellen entführt, fünfzig
als Mörder. Er wies sie an, die Hilfsorganisationen ungehindert
davon Kinder, und blieben verschollen. Hunderttausende blie
ihre Arbeit tun zu lassen, und verkündete, eine UN-Menschen
ben nach wie vor in den Wäldern versteckt. Am 6. Mai bezeich
rechtskommission werde prüfen, was von den Gerüchten über
nete Emma Bonino, die Eu-Kommissarin für Menschenrechte,
Massaker zu halten sei. Die Lage wurde allmählich peinlich für
den Osten Zaires explizit als ein »Schlachthaus«, wie die Nach
Washington, das nunmehr an die »Mitmenschlichkeit« der
richtenagentur Agence France Press bekanntgab.
ADFL-Rebellen appellierte, auf die diese sich gefälligst besinnen
Am 1 9 . Mai veröffentlichte Ärzte ohne Grenzen eine Analyse
Forced Flight,
sollten, wenn ihnen an einem guten Verhältnis mit den USA
der Ereignisse mit dem Titel
gelegen sei. Doch wie zuvor versprach die ADFL vor aller Welt,
Die Öffentlichkeit wurde in aller Ausführlichkeit über die Vor
sie werde den Zugang zu den Flüchtlingen gewährleisten, nur
gänge in Ruanda und Zaire informiert, wobei man die Aussagen
um im nächsten Moment die Helfer vor Ort zu behindern.
des Pflegepersonals zu Rate zog, Ergebnisse von Patientenbefra
Immer wenn HUfsorganisationen den Einsatzort erreichten,
gungen, Erkundungen aus der Luft und am Boden, medizini-
»Erzwungene Flucht«.
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sehe Studien sowie Erfahrungsberichte aus erster Hand durch
das Lager mit Granaten und Maschinengewehren beschossen.
unsere freiwilligen Helfer. Detailliert wurde beschrieben, wie
Wir machten uns mit ein wenig Getreide, ein paar Kleidungs
die ADFL ab Oktober 1 996 systematisch Flüchtlinge ermordete,
stücken und zwölf Dollar auf in den Kahuzi-Biga-Wald, wate
aushungerte, aus dem Wald lockte oder scheuchte, und die Not
ten ohne zu schlafen durch den Morast. Dann gesellten wir uns
der Eingeborenenvölker in der Region Kivu wurde geschildert.
dreißigtausend Leuten in der Nähe einer Straße zu und wurden
Tags darauf lauteten weltweit die Schlagzeilen der überregiona
von zairischen Soldaten in Zivil als Geiseln genommen. Unge
len Zeitungen: »Ärzte ohne Grenzen klagt an« oder
filir zehn Menschen, die sich gegen Plünderungen zur Wehr
»ADFL
setzt
Völkermord auf Raten fort«.
setzten, wurden getötet. Wir ernährten uns von PRanzen. Fünf
Der Bericht erschien zu einem denkbar schlechten Zeit
bis sechstausend Menschen wurden in Shabunda niedergemet
punkt. Am 20. Mai marschierte Kabila in Kinshasa ein, der
zelt. In Tingi-Tingi fand ich meinen Vater, zwei Schwestern
Hauptstadt von Zaire, und erklärte sich selbst zum Präsidenten.
und einen Bruder. Gemeinsam gingen wir weiter. Eines Nachts
Eine Woche später plädierte der us-Gesandte Bill Richardson
standen wir vor der Lubutu-Brücke. Als die Brücke freigegeben
dafür, ihm eine Chance zu geben. Frankreich versuchte, seinen
wurde, stürzten einige Menschen ins Wasser und ertranken.
Einfluss in der Region beizubehalten, indem es weiter Mobutu
Ich verlor das Bündel, das ich auf dem Kopf getragen hatte, lud
unterstützte und für dessen Anhänger in der neuen Regierung
mir meine Frau auf den Rücken und durchwatete den Fluss.
einen Platz auszuhandeln suchte.
Wir gingen weiter. Viele sind an Krankheiten gestorben oder
Aber das Problem der vermissten Flüchtlinge war noch nicht
verhungert. Um in einem Kanu über den Fluss zu kommen,
gelöst. Ein Teil derer, die in Zaire geblieben waren, der neu ge
mussten wir eine Hose hergeben. Eine Gruppe von Leuten, zu
gründeten Demokratischen Republik Kongo, wurden über die
denen auch mein Vater und mein Bruder gehörten, beschloss,
Grenze in die Republik Kongo getrieben. Die ADFL-Rebellen wa
nach Kisangani zu gehen, um von dort aus nach Ruanda zu
ren dabei beobachtet worden, wie sie wahllos auf Flüchtlinge
rückgebracht zu werden. Wir gingen in unterschiedlichen
feuerten, während diese den Fluss zu durchqueren suchten, und
Richtungen weiter. Mein zweiter Bruder war an Malaria er
wie sie Menschen in den angrenzenden Wäldern verprügelten,
krankt und blieb am Straßenrand liegen. Da ich gehört hatte,
unter Beschuss nahmen und mit Macheten auf sie einhackten.
dass all jene, die auf der Straße gingen, Gefahr liefen, getötet
Eine Umfrage, die Ärzte ohne Grenzen unter Flüchtlingen
zu werden, versteckten wir uns wieder im Wald. In Wendji
durchführte, die seit dem vergangenen Oktober über zweitau
erzählte uns ein Ffarrer, dass Kabila käme . Einige Menschen
send Kilometer durch die Wälder gejagt worden waren, ergab,
machten kehrt,
dass im Durchschnitt nur eines von fünf Familienmitgliedern
nach Kongo [Republik Kongo] zu gelangen. Wir hatten kein
überlebt hatte. Alle waren unterwegs fast verhungert, hatten
Geld, also warteten wir auf ein freies Boot. [Später] kamen die
Prügel oder Vergewaltigung über sich ergehen lassen, und viele
Rebellen. Es waren fünfundsiebzig schwerbewaffnete Soldaten
waren auf der Strecke geblieben: die einen, weil man sie getötet
in drei Fahrzeugen. Sie feuerten aus Kalaschnikows in das Flücht
hatte, die anderen, weil sie einer Krankheit erlegen waren. Einer der Überlebenden, ein achtundzwanzigjähriger Mann,
um
den Tumbasee zu durchqueren und direkt
lingslager. Ich floh an den Fluss. Ein alter Mann ruderte uns den Fluss hinunter; nach einer Weile kamen wir zurück, um
erzählte: »Ich habe 1 995 im Kashusa-Camp geheiratet. Im Sep
uns in Wendji umzusehen. Ungef'ahr zwanzig Leute waren er
tember 1 996 wurden wir dort überfallen . Zuerst wurden jene
schossen worden, fast ausnahmslos Frauen und Kinder. Die Re
umgebracht, die im Inera-Wald Holz schnitten. Dann wurde
bellen waren fort. Wir fanden ein Kanu, das uns in den Kongo
[Republik Kongo] brachte. Wir zahlten mit Decken. Im Wald fand ich eine Decke, eine Bibel und ein Taschentuch.« Dieser Bericht ist in Le Monde vom n . Juli 1 997 abgedruckt.
Unpolitisch bleiben: Humanitärer Einsatz in Nordkorea, im Kosovo und im Sudan
In Ruanda wurden Flüchtlinge, die zwangsweise repatriiert worden waren, auf ihre Gemeinden verteilt, als die EX-FAR und Interahamwe-Milizen die westlichen Regionen Ruandas unter wanderten. Es gab in dieser Gegend weder Menschenrechts kommissare noch Entwicklungshelfer. Sie war viel zu unsicher. Zu Beginn des Jahres 1998 gab Paul Kagame Nick Gowing von der BBC ein Interview: »Wir nutzen besser als jeder andere die modernen Kommunikations- und Informationsmittel zur Kriegführung« , so Kagame. »Die Medien und nichtstaatlichen Organisationen standen uns im Weg. Also mussten wir die Leute eine Zeitlang heraushalten. Das ist uns gelungen. Sie haben In formationen durchsickern lassen, waren sehr schädlich . . . Sie sind nicht so neutral, wie sie behaupten. Wenn wir allen freie Hand lassen, schneiden wir [Ruander] uns ins eigene Fleisch.« Im März 1 998 verbrachte Präsident Clinton fünf Stunden am Flughafen Kigali. Er entschuldigte sich öffentlich für die Taten losigkeit Amerikas während des Genozids im Jahr 1994. Er und andere Staatsoberhäupter hätten den Ernst der Lage nicht er fasst, als das Grauen über Ruanda hereinbrach. Die Rede wurde im Fernsehen übertragen, und ich fragte mich, was er und andere Staatsoberhäupter wohl noch vorgaben, nicht gewusst zu haben. Niemand weiß genau, wie viele Menschen vom Oktober 1996 bis zum triumphalen Einzug der ADFL in Kinshasa sieben Monate später ermordet wurden. Irgendwo gibt es nach wie vor einige Hunderttausend namenlose Flüchtlinge, lebendig oder tot. Für sie ist Gerechtigkeit nur ein Traum.
Einige Wochen, nachdem ich im Januar 1997 aus Zaire zurück gekehrt war, besuchte ich Benedict. »Gerechtigkeit ist eine Illu sion«, sagte ich, als wir durch den Wald spazierten. »Nicht, wenn man das Unrecht benennen kann«, antwortete Benedict spontan. »Opfer sind konkrete Menschen. Die Ge rechtigkeit versagt nur dann, wenn wir uns nicht vorstellen können, dass sie möglich ist. Aber wie so vieles hängt sie nicht nur von Vorstellungen ab, sondern von unserem Tun. « Wir redeten von Ärzte ohne Grenzen und den Konflikten, mit de nen die Organisation in Zaire konfrontiert war. »Manchmal müssen wir uns einen Raum erkämpfen, in dem es keine klaren Grenzen mehr gibt. Es ist der Kampf um das Zusammenleben, und er ist lohnend«, sagte Benedict. Als wir schweigend durch den kalten Winterwald wanderten, wurde mir klar, dass nur eine Sache unwiderruflich verloren war, nämlich die naive Vor stellung, mich gänzlich aus der Politik heraushalten zu können. Auf einer Tagung in Toronto über globale Angelegenheiten lernte ich Janice Stein kennen, eine Professorin für internatio nale Zusammenarbeit. Ich war als Vortragender für j emanden eingesprungen, der in letzter Minute hatte absagen müssen, und sprach über den fehlenden Raum für humanitäres Handeln in Zaire und über die Politik, die ihn verhinderte. Janice hatte meinen Vortrag gehört. Bei einer Tasse Kaffee sagte sie zu mir: »In der Politik bekommt man das, wofür man kämpft, wenn auch nicht immer. Aber wer keinen Einsatz bringt, bekommt gar nichts. « »Tja, dann auf i n den Kampf! «, meinte ich lachend. Auch sie lachte und schlug mir vor, ich solle doch ein Jahr an der Universität von Toronto ein Seminar an ihrer Fakultät belegen.
300
30 1
Ich packte die Gelegenheit beim Schopf. und während ich wei ter in der Notaufnahme arbeitete und gelegentlich nach Europa
die sich wegen Völkermords, Kriegsverbrechen und Verbre
reiste, vertiefte ich ein Jahr lang mein Wissen über Politik und
Jugoslawien zu verantworten hatten; internationale Konventio
humanitäres Handeln. Am meisten bewegte mich die Frage,
nen limitierten den Einsatz von Landminen. Langfristig hatten
wie sich humanitäres Handeln vor dem Hintergrund kriegeri
diese Veränderungen
scher Auseinandersetzungen die Unabhängigkeit bewahren
Grenzen
sollte. Deren große Bedeutung war mir wenige Monate zuvor
und in künftigen Kriegen die Auswirkungen der Gewalt auf
in Zaire vor Augen geführt worden. Da der Kalte Krieg nun
Nichtkämpfende einzuschränken.
vorüber war und überall auf der Welt Demokratien und freie Märkte entstanden, gab es nun eine neue Art von Aktivismus.
Hilfszuwendungen, so die Vertreter dieses New Humanitaria nism, sollten davon abhängig gemacht werden, ob Friedensver
Internationale
handlungen vorangetrieben wurden oder nicht; auf diese Weise
Nichtregierungsorganisationen,
die
Entwick
chen gegen die Menschlichkeit in Ruanda und im ehemaligen
allesamt unterstützt durch Ärzte ohne
das Potential, Völkerrechtsverstöße zu verhindern
lungshilfe leisteten und sich einem breiten Spektrum an huma
v.iirde der humanitäre Einsatz zum Werkzeug eines unmittelba
nitären und sozialen Belangen widmeten, wurden immer zahl
ren politischen Wandels. Für Hilfsorganisationen wie Ärzte oh
reicher und größer. Während es in den 1 98oer Jahren erst etwa
ne Grenzen und das Rote Kreuz hatte humanitäres Handeln im
eintausendsechshundert große und kleine internationale Nicht
Krieg hingegen immer noch das Ziel, das Leid der Betroffenen
regierungsorganisationen gegeben hatte, waren es Mitte der
zu lindern und einen Raum zu schaffen, in dem ein solches
1 9 9oer Jahre schon über viertausendsechshundert. Die Hilfsor
Handeln überhaupt erst möglich wird. Wenn Ärzte ohne Gren
ganisation Ärzte ohne Grenzen agierte nicht mehr von einem
zen gegen Kriegsverbrechen protestierte, dann nicht nur in der
bescheidenen Pariser Büro aus, sondern bestand mittlerweile
Absicht, in ferner Zukunft Täter ihrer gerechten Strafe zuzufüh
weltweit aus neunzehn Sektionen, mit einem Budget von drei
ren: Man wollte direkt Einfluss nehmen auf den Gang der Dinge.
hundertfünfzig Millionen Dollar für Einsätze in siebzig Ländern
Unsere Organisation verstand sich nicht als Hüter, Verfechter
mit zweitausend internationalen und fünfzehntausend Mitar
oder Architekt eines verbindlichen Völkerrechts, obwohl ihr
beitern aus den Regionen.
durchaus daran gelegen war, dass es respektiert wurde. Wie }ean
Viele Nichtregierungsorganisationen forderten die interna
Pictet, Vizepräsident des Internationalen Komitees vom Roten
tionale Gemeinschaft auf, die Konflikte an der Wurzel zu pa
Kreuz, geschrieben hatte, müssen sich humanitäre Helfer im
cken. Sie plädierten dafür, all jenen, die gegen internationales
Krieg »mit der Politik auseinandersetzen, ohne von ihr verein
Kriegsrecht verstießen, nicht mehr länger Straffreiheit zuzubil
nahmt zu werden«. Wir konnten nicht zulassen, dass das Be
ligen, und humanitäre Hilfe im Krieg an Entwicklungsagenden,
dürfnis nach humanitärer Hilfe ignoriert oder von den politi
Konfliktlösungsinitiativen oder an Menschenrechtsnormen wie
schen Interessen ringsum missbraucht wurde.
die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu koppeln.
Natürlich war es noch immer Sache der Politik zu bestim
Gleichzeitig schossen die Staatsausgaben für humanitäre Hilfe
men, wann und v.ie das Recht zur Anwendung käme. Im April
in nur zehn Jahren gewaltig in die Höhe, von zwei Milliarden
1998 einigte sich der UN-Sicherheitsrat auf einen Abzug des
Dollar im Jahr 1 990 auf fast sechs Milliarden 1999. Menschen
Ermittlerteams der Vereinten Nationen aus Zaire. Unter dem
rechtsaktivisten hatten diesen New Humanitarianism auf den Weg
intensiven Druck aus Ruanda und Uganda hatte Kabila die Ar
gebracht und Großartiges bewirkt: So gab es mitderweile inter
beit der Ermittler monatelang behindert. Am 29. Juni 1998
nationale Gerichtshöfe, um all j enen den Prozess zu machen,
schrieb der UN-Generalsekretär, ausgehend von den Beweisen,
3 02
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die die Ermittlungen ergeben hatten, an den Sicherheitsrat:
de ich nach Europa eingeladen und führte dort ein längeres
»Die Morde seitens der ADFL und ihrer Verbündeten sind Ver
Gespräch mit Jean-Marie Kindermans, dem Sekretär von MSF
brechen gegen die Menschlichkeit; dasselbe gilt für die Verwei
International. Als Präsident würde ich täglich mit ihm zusam
gerung humanitärer Hilfe für Hutu-Flüchtlinge aus Ruanda.«
menarbeiten. Er genoss einen ausgezeichneten Ruf, und ich
Zwei Wochen später appellierte der Sicherheitsrat an die Demo
mochte seine Ehrlichkeit und Wärme. Ich sprach außerdem mit
kratische Republik Kongo und an Ruanda, den Aussagen zu
Philippe Biberson, dem Präsidenten von MSF Frankreich, der
Menschenrechtsverstößen und Kriegsverbrechen nachzugehen.
stets offen war für Diskussionen. Trotz internationaler Kritik
In anderen Worten, die Regierungen, denen man Kriegsverbre
hatte Ärzte ohne Grenzen meiner Meinung nach in der Region
chen zur Last legte, sollten eigenmächtig ermitteln.
der Großen Seen genau das Richtige getan. Wir waren uns beide
Mein Studienjahr war ein Luxus gewesen. Anschließend war
einig, dass die Organisation auch in Zukunft vor komplizierten
ich bereit, mich wieder der Realität von Ärzte ohne Grenzen
Dilemmata stehen würde; doch solange die Mitarbeiter Fragen
zu stellen, nur wusste ich noch nicht, wie und wo.
offen zur Sprache brachten, konnten auch Lösungen gefunden werden.
Im Frühjahr 1 998 sollte der Internationale Rat, das höchste Or
Kurz vor meiner Europareise hatte ich mich mit Jonathan
gan von Ärzte ohne Grenzen, einen neuen Präsidenten wählen.
Brock auf ein Bier getroffen. Wir hatten während des Völker
In der Vergangenheit hatte man die Kandidaten für diese Positi
mords in Kigali zusammengearbeitet. Jonathan hatte mittler
on unter den amtierenden Präsidenten der neunzehn Sektionen
weile sein Medizinstudium abgeschlossen und war kurz zuvor
ausgewählt. Doch Ärzte ohne Grenzen hatte sich noch nicht
von einem MSF-Einsatz in Sierra Leone zurückgekommen. Wir
von der Krise erholt, der man in Zaire und in der Region der
sprachen darüber, was uns an diesem Verband faszinierte, und
Afrikanischen Großen Seen ausgesetzt gewesen war, und konn
während ich uns an der Bar neue Getränke holte, brachte Jona
te sich nicht einigen, was Struktur und Organisation des inter
than ein paar Gründe zu Papier: »Wir nähen Wunden, halten
national agierenden Verbands betraf. Aus diesem Grund über
Ereignisse fest, informieren die Welt. Wir kämpfen täglich mit
zeugte keiner der amtierenden Präsidenten, und so suchte man
dem inneren Zweifel, ob wir etwas bewegen oder nicht. Die
anderswo nach einem geeigneten Kandidaten für den Vorsitz.
endgültigen Entscheidungen mögen außerhalb unserer Reich
Ich erhielt Anfang April einen Anruf von Nicola Kaatsch, der
weite, in irgendeinem Konferenzsaal getroffen werden. Doch
Leiterin der deutschen Sektion, mit der ich befreundet war.
ich habe blutende Menschen gesehen, Menschen, die schreien
»Du kannst das«, sagte sie. »Wirst du kandidieren?«
vor Schmerz, Menschen, die hoffnungsfroh lachen. Und seit
»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«, lautete zunächst
dem weiß ich, dass wir gebraucht werden.« Ich hatte den Zet
meine Antwort, da ich mich für gänzlich ungeeignet hielt, eine
tel behalten und musste an Jonathans Worte denken, als ich die
so große Verantwortung zu übernehmen, und außerdem nichts
Entscheidung traf, mich mit zwei weiteren Kandidaten um das
von höherer Politik verstand.
Präsidentenamt zu bewerben.
»Gerade deshalb brauchen wir dich«, meinte sie.
Dieses eine Jahr, in dem ich Zeit hatte zum Nachdenken,
»Aber mein Französisch ist erbärmlich.«
Lesen und Schreiben, hatte mir gezeigt, dass Ärzte ohne Gren
>>Damit stehst du nicht allein da«, entgegnete sie.
zen sich nun mehr denn je für die Schaffung eines Raums ein
In den kommenden Wochen riefen immer wieder Leute bei
setzen musste, in dem humanitäres Handeln möglich war. Ich
mir an, die mich ermuntern wollten zu kandidieren. Dann wur-
sah die Stärke des Verbands in seiner unmittelbaren Reaktion
auf medizinische Bedürfnisse, in seiner klaren Umsetzung hu
Regime seine Grenzen geschlossen und seine eigenen Statisti
manitärer Prinzipien, und - was das Wichtigste war - in seiner
ken geheim hielt, ließ sich nicht ermessen, wie groß die Not
Verpflichtung, Zeugnis abzulegen. Wir mussten so unabhängig
war.
sein wie nur irgend möglich. Während viele andere Nichtregie
1995 bat Nordkorea die Vereinten Nationen um Lebensmit
rungsorganisationen größtenteils von westlichen Regierungen
telzuwendungen. Die Hilfe kam, aber das Regime bestand auf
Finanzmittel erhielten, deckte Ärzte ohne Grenzen 1998 fünfzig
strengen Kontrollen und beschnitt damit den Bewegungsspiel
Prozent seiner Ausgaben durch private Spenden. Diese finanzi
raum der UN-Organe, des Roten Kreuzes und der kleinen An
elle Unabhängigkeit, die dem Verband mehr Handlungsspiel
zahl von Nichtregierungsorganisationen - einschließlich Ärzte
raum garantierte, musste meiner Meinung nach noch größer
ohne Grenzen -, die das Land betreten durften. Alle ausländi
werden. Ich wurde einstimmig gewählt. In dieser Nacht saß ich
schen Helfer baten um die Erlaubnis, umherreisen zu dürfen,
in meinem Brüsseler Hotelzimmer und blickte auf die Place de
wurden jedoch unentwegt von Regierungsbeamten begleitet.
la Trinite. Ich zündete mir eine Zigarette an und dachte, was
Bestimmte Gebiete blieben ihnen verschlossen. 1996 war Nord
zum Teufel hab ich bloß getan? Ich hatte kein Büro, kein Budget
koreas Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zu 1 993 um fünfzig
und keine Sekretärin. Ich musste mir alles erst aufbauen.
Prozent gesunken, und das Welternährungsprogramm der Ver
Wochen, nachdem ich mein Amt angetreten hatte, führten wir
die Europäische Union und einige andere Staaten - rief die
einten Nationen - unterstützt durch die Vereinigten Staaten, eine heftige interne Debatte über den Einsatz in Nordkorea,
damals größte Hilfsaktion in seiner Geschichte ins Leben. 1 997
einem Land, in dem in den vergangeneu drei Jahren mehr als
unterstützte Ärzte ohne Grenzen über tausendeinhundert Klini
drei Millionen Menschen dem Hunger oder daraus erwachsen
ken und betrieb sechzig Ernährungszentren in drei Provinzen
den Krankheiten erlegen waren. Nordkorea war und ist der
Nordkoreas.
letzte stalinistische Staat auf der Welt. Nach dem Ende des Kal
Dennoch lag einiges im Argen. Siebzigtausend Nordkoreaner
ten Krieges öffnete sich das kommunistische China marktwirt
konnten aus Gebieten fliehen, die die Mitarbeiter von Ärzte
schaftliehen Reformen; mit dem Zusammenbruch der Sowjet
ohne Grenzen und anderen Organisationen nicht betreten durf
union fanden auch die vorteilhaften Handelsbedingungen ein
ten, und schilderten das Ausmaß der Katastrophe in diesen Ge
Ende, die so lange das totalitäre Regime Nordkoreas gestützt
genden. Die Flüchtlinge hatten den Fluss nach China durch
hatten. Das paranoide und kulthafte Regime von Kim Jong Il
quert, wo Ärzte ohne Grenzen imstande war, einigen zu helfen
verfolgte damals seine Juche-Ideologie der »strukturellen Autar
und ihre Zeugenaussagen zu sammeln. Ein Priester sagte: »Ich
kie«, die den Bau von Langstreckenraketen, die Nutzung von
sah Tote auf den Straßen liegen, verhungert und erfroren. Ich
Atomkraft und die Entwicklung von Atomwaffen beinhaltete.
sah sieben Kinder, eines neben dem anderen, ohne Schuhe, die
Als Nordkorea nicht länger mit billigen Lebensmittelimporten
erfroren in einem Toreingang lagen. Die Armee sammelt die
aus Russland oder China rechnen konnte, beinhaltete Juche auch
Toten in der Nacht ein. Die Gewalttätigkeit ist entsetzlich . . .
Reformen in der landwirtschaftlichen Produktion - Reformen,
Ich sah Kinder, die den Kleineren regelrecht das Brot aus dem
die sich als desaströs erweisen sollten. Zwei Überschwemmun
Mund gerissen hatten. Man munkelt sogar von Kannibalismus.«
gen, 1994 und 1995, beschädigten etwa 15 Prozent der ohnehin
Ein anderer Mann erzählte von einem Nachbarn, »der ein Wai
bereits unzureichenden Lebensmittelerträge des Landes. Zwar
senkind getötet und aufgegessen hatte, und niemand schien
kursierten Gerüchte über Nahrungsknappheit, doch weil das
überrascht, dass so etwas möglich war«. Flüchtlinge erzählten
uns, das Regime habe veranlasst, dass zunächst das Militär mit Nahrung versorgt werde - die fünftgrößte Armee der ganzen Welt, ein stehendes Heer mit über einer Million Soldaten -, dann jene, die sich loyal verhielten. Wer als »nicht loyal« gelte, erhalte nur selten Essensrationen. Große Gruppen hungriger und verzweifelter Waisenkinder würden in geheimen Lagern gehalten, den 6 !29 -Camps - so benannt nach dem Todestag von Kim Jong Ils Vater und Vorgänger -, die offiziell gar nicht existierten. Trotz wiederholter Bemühungen verwehrte man
uns
den Zu
gang zu einigen Landesteilen. Unsere Teams beobachteten nachts eine große Anzahl hungriger Straßenkinder, die tagsüber verschwunden waren und deren Existenz die Behörden vernein ten. Niemand auf den Straßen schien älter zu sein als etwa sech zig. Im Geheimen ließ man uns wissen, dass die Alten zu Hause starben, weil sie ihre spärlichen Essensrationen den Enkelkin dern gaben, um sie am Lehen zu halten. Andere Helfer berichte ten von Kindergartenkindern, die sich vor lauter Schwäche nicht auf den Beinen halten konnten. Des Weiteren trug man uns zu, dass die Soldaten die Felder bestellen mussten, weil die Bauern zu schwach waren, und dass die Menschen auf dem Land nur noch von Wurzeln und Blättern lebten. Bill Richard son, der amerikanische UN-Botschafter, sagte am 1 1 . Juni 199 7 in der
International Herold Tribune:
»Wir haben die Sorge, dass . . .
die Lebensmittel, die wir schicken, den Durchschnittsmenschen gar nicht erreichen. Dass das Militär den Großteil der Zuwen dungen erhält, wissen wir ohnehin.« Nordkorea hatte sich 1994bereit erklärt, seine Kernreaktoren einer Inspektion unterziehen zu lassen, und sich zudem verpflichtet, die Entwicklung von Nuklearwaffen auf Eis zu legen; damit hatte es den Krieg gegen die USA vermieden. Während die Gespräche, die darauf abziel ten, eine nukleare Bedrohung zu neutralisieren, sich bis ins Jahr 1998 zogen. wurde auch das LebensmittelhUfsprogramm fort gesetzt, um die fragile Politik des Regimes und der Region nicht zu erschüttern. Im Juni 1998 verbot die Regierung Nordkoreas Ärzte ohne
Grenzen, eine Ernährungsumfrage durchzuführen, sogar in den wenigen Bezirken, in denen wir arbeiten durften. Stattdessen sollten wir Rohstoffe für die Herstellung von Medikamenten liefern. Mit unserer Anwesenheit
vorausgesetzt, wir schwie
gen und respektierten die Einschränkung unseres Handlungs spielraums - vermittelten wir nach außen hin den Eindruck, als wäre humanitäres Handeln in Nordkorea möglich, als respektie re das Regime grundlegende humanitäre Prinzipien. Dem war aber nicht so. Indem wir der Regierung mit unserer Gegenwart einen Dienst erwiesen, vertuschten wir nicht nur das Leid der Menschen, sondern verlängerten es sogar. Falls wir uns aber den Wünschen der Regierung widersetzten, würde man uns nicht gestatten, die Arbeit fortzusetzen. In diesem Sommer trafen wir uns zu ausfuhrliehen Debatten mit MSF-Ärzten aus Nordkorea. Wir wussten, dass Millionen hungerten und dass die Regierung uns den Zugang zu ihnen verweigerte. Nachdem wir uns drei Jahre lang vergeblich bemüht hatten, sie umzustimmen, blieb uns als Druckmittel nur noch unsere Stimme. Wir würden uns weigern, gemeinsame Sache zu machen mit einem totalitären Regime, das Millionen Menschen dem Hungertod preisgab. Wir würden in Zweifel ziehen, dass humanitäre Hilfe als politisches Werkzeug missbraucht werden durfte, um eine militärische Be drohung abzuwenden. Im August schickte das Regime seinen ersten Satelliten in den Weltraum und seine erste Langstrecken rakete über Japan. Am 3 0. September verkündete Ärzte ohne Grenzen auf einer Pressekonferenz in Hongkong, dass man uns regelrecht aus Nordkorea hinausgedrängt habe. Dr. Eric Goemaere, der Gene raldirektor der belgiseben MSF-Einsatzzentrale, sagte: »Es beste hen nach wie vor große medizinische, ernährungstechnische und sanitäre Probleme, die es zu bewältigen gilt . . . [Aber] wir hatten keine Wahl. Wir mussten das Land verlassen.« Er be schrieb die Begleitumstände und sagte, dass » Versorgungsgüter den Bedürftigsten nicht helfen könnten, wenn sie nicht frei verteilt würden«. Eric erklärte, wie MSF zu dieser schwierigen Entscheidung gelangt war: »Es ist nicht einfach für Ärzte, sich
aus einem Land zurückzuziehen, in dem so viele Menschen
Im Süden des Sudan hatten sechzehn Jahre Bürgerkrieg zwei
sterben und um ihr Leben fürchten müssen. Aber letztendlich
Millionen Menschenleben gefordert und die größte Anzahl von
kann humanitäres Handeln nur dann etwas bewirken, wenn es
Personen weltweit aus ihrer Heimat vertrieben und sie der Ge
unparteiisch und verlässlich ist. Dies ist in Nordkorea nicht der
fahr von Hunger und Krankheit ausgesetzt. Zivilisten wurden
Fall.« Er schloss: »Jetzt ist es an der Zeit, dass die Regierung
von der Khartum-Regierung und loyalen Milizen beschossen,
Nordkoreas die Verantwortung für die Gesundheit ihres Volkes
vergewaltigt, ausgeraubt und sogar versklavt. Gleichzeitig wur
übernimmt und direkte humanitäre Hilfe zulässt.« MSF appel
den die Ölinteressen kanadischer, französischer und chinesi
lierte an alle Regierungen, ihre Unterstützungsstrategien für
scher Konzerne von der sudanesischen Regierung geschützt.
Nordkorea zu überdenken. Westliche Regierungen, sagte ich,
Die Überlebensbrücke Sudan war 1989 vorn Kinderhilfswerk
würden humanitäre Hilfe als politisches Druckmittel benutzen,
UNICEF
sie von politischen, anstatt von humanitären Zielen abhängig
bieten zu helfen und um Hungersnöten vorzubeugen. Bis zum
machen. Im Februar 1999 gestattete Nordkorea den Amerika
Jahr 1998 hatte sich die Operation Lifeline Sudan, kurz OLS, zur
ins Leben gerufen worden, um Zivilisten in Kriegsge
nern gegen mehr Lebensmittel Zugang zu seinen Atommeilern.
administrativen Dachorganisation für mehrere UN-Verbände
Wir halfen weiterhin nordkoreanischen Flüchtlingen in Chi
und etwa zweiundvierzig Nichtregierungsorganisationen ent
na und Südkorea und setzten unseren Appell an die Regierung
wickelt, einschließlich Ärzte ohne Grenzen. Obwohl OLS zu Be
Nordkoreas fort, eine unabhängige, unparteiische, bedarfsge
ginn sehr viel bewirkt hatte, war die Aktion nun, fast zehn
rechte humanitäre Versorgung ihrer Schutzbedürftigen zuzulas
Jahre und drei Milliarden Dollar später, institutionalisiert und
sen. Nachdem von einigen Hilfsorganisationen unsere Position
ein wenig verkalkt. Sie war gefangen zwischen den politischen
als »unverständlich« und »unverzeihlich« kritisiert worden
und militärischen Interessen der sudanesischen Regierung in
war, folgten andere Nichtregierungsorganisationen unserem
Khartum und der Rebellenbewegung Sudan People's Liberation
Beispiel und legten ebenfalls ihre Arbeit in Nordkorea nieder.
Movement im Süden. Die Khartum-Regierung verweigerte OLS
Die
Welternährungspro
den Zugang zu weiten Bereichen des Sudan, wie beispielsweise
das Rote Kreuz und einige wenige Nichtregie
der Region Äquatoria, wo nur Ärzte ohne Grenzen und wenige
Weltgesundheitsorganisation,
gramm,
UNICEF,
das
rungsorganisationen setzten dagegen ihre Arbeit dort fort.
andere Nichtregierungsorganisationen, unerlaubterweise, vie len hunderttausend Menschen halfen. Wenn man OLS den Zu
Ende 1998 reiste ich zu einem Treffen von MSF-Einsatzleitern
gang gestattete, war ihr Handlungsspielraum bestenfalls be
nach Nairobi, um über die Arbeit in Afrika zu diskutieren.
schränkt.
Dabei stellte sich bald heraus, dass wir im Sudan ein größeres
Launen der Khartum-Regierung unterworfen. Jede Hilfsliefe
Problem hatten. Ich traf Marie-Christine Ferier, Einsatzleiterin
rung, die tatsächlich durchkam, wurde von OLS unzulänglich
der Brüsseler MSF-Sektion. Sie war äußerst kompetent, nur ihre
überwacht und erreichte nur allzu oft nicht ihr eigentliches
Lebensmitteltransporte per Flugzeug
waren
den
mangelnden Englischkenntnisse machten ihr schwer zu schaf
Ziel, die Bedürftigsten. Die Rebellen, die einen Großteil des
fen. Wir rauchten zusammen die eine oder andere Zigarette,
südlichen Sudan kontrollierten, missbrauchten die Lebensmit
und dank meines armseligen Französisch kamen wir gut
telzuwendungen, um ihre Armee zu ernähren und die Zivilbe
miteinander aus. Marie-Christine erklärte, dass die Aktion OLS,
völkerung in Schach zu halten. Die OLS ließ die Hilfsbedürfti
(Überlebensbrücke Sudan) , der Vereinten
gen im Stich, und weil Ärzte ohne Grenzen im seihen Boot
Operation Lifeline Sudan
Nationen nicht funktionierte. 3 10
saß, galt dies auch für uns. 311
Im Januar 1 998 hatten die Rebellen eine Großoffensive ge
hatten amerikanische Marschflugkörper eine Chemiefabrik in
startet, um einige Städte in der Region Bahr al-Ghazal im Süd
K.hartum zerstört, die einzige im Land. Die sudanesische Regie
sudan aus der Hand der Regierungstruppen zurückzuerobern.
rung hatte angeblich das Terrornetzwerk Al-Qaida unterstützt,
Die Regierung in K.hartum reagierte, indem sie eine zweimona
das einige Monate zuvor Bombenanschläge auf die amerikani
tige Sperre auf sämtliche oLs-Flüge erließ und Dörfer und
schen Botschaften in Daressalam und Nairobi verübt hatte. Die
HUfszentren in der von den Rebellen kontrollierten Region
Amerikaner gaben vor, die sudanesische Regierung habe in die
bombardierten. Aufgrund der fortgesetzten Gefechte und der
sem Unternehmen biochemische Waffen hergestellt (eine Be
fehlenden Lebensmittel hungerten viele tausend Menschen und
hauptung, die später von den UN-Waffeninspektoren widerlegt
waren zur Flucht gezwungen. Ärzte ohne Grenzen protestierte
werden sollte) , und zerstörten sie am selben Tag,
gegen die Sperre der Nahrungsmittellieferungen, aber die OLS
ca Lewinsky vor einem großmächtigen Geschworenengericht,
reagierte erst, als wir Journalisten einschleusten, die die Krise
welches einberufen worden war, um Präsident Clinton des
enthüllten. Erst als die
die Regierung in K.hartum unter
Meineids zu überführen, als Zeugin aussagen würde. (Am sei
Druck setzte, erlaubte diese schließlich Lebensmittellieferungen
hen Tag wurde außerdem Afghanistan mit Marschflugkörpern
OLS
an
dem Moni
in ein paar Dörfer. Für einige wenige Menschen verbesserte
attackiert: ein vergeblicher Versuch, Osama bin Laden zu töten,
sich dadurch die Situation. Jedoch waren die Hilfslieferungen
der sich dort versteckt hielt, nachdem er zunächst in Somalia
und Lebensmittelabwürfe so stark limitiert worden, dass die
vermutet worden war.) Die Spannungen zwischen K.hartum
MSF-Ärzte, die in den Ernährungszentren arbeiteten, selbst oft
und den USA, einem wichtigen Geberland der OLS, zogen eine
tagelang nichts zu essen hatten und von den Vorräten leben
Einschränkung der Hilfslieferungen nach sich. Die sudanesische
mussten, die für die hungernden Sudanesen gedacht waren. In
Regierung wurde im Süden noch aggressiver, bombardierte
einigen Gebieten stahlen Rebellen über drei Viertel der Lebens
dort sogar MSF-Krankenhäuser.
mittelzuwendungen aus dem Ausland, doch weil die OLS die
Da abzusehen war, dass in wenigen Monaten die Hungersai
Rebellen als »humanitäre Partner« betrachtete, wurde nur we
son begann, hegte Marie-Christine die Befiirchtung, dass wie
nig unternommen, um diese massive Abzweigung von Hilfsgü
der Tausende unnötigerweise sterben würden. Ärzte ohne
tern zu unterbinden. Noch im Juli waren in der Stadt Ajiep,
Grenzen engagierte sich seit 1978 im Sudan und hatte mittler
obwohl die OLS dort einige hundert Tonnen Lebensmittel abge
weile Hunderte ausländischer Mitarbeiter im Land verteilt. Im
worfen hatte, über achtzig Prozent der Kinder unterernährt,
vergangeneu
während die Lebensmittelspeicher der Rebellen voll waren. Bis
bekämpft, sondern zudem im Norden fas t drei Millionen Men
zum Oktober waren über Ajiep mehrere tausend Tonnen Nah
schen gegen Meningitis geimpft und in den entlegensten Ge
rungsmittel abgeworfen worden, und trotzdem v.ies noch im
genden des Landes umfassende Gesundheitsprogramme ins Le
mer die Hälfte aller Kinder Symptome von Mangelernährung
ben gerufen. Beim Einsatztreffen in Nairobi stellte sich heraus,
Jahr hatten wir nicht nur den Hunger im Süden
auf Insgesamt verstarben in der Region Bahr al-Ghazal etwa
dass wir im Sudan zu viele Positionen mit unerfahrenen Leuten
fünfzigtausend Menschen, während die Regierung in K.hartum
besetzt hatten und dass uns die bürokratischen Vorschriften der
ihre strenge Beschränkung der HUfsgüter beibehielt und die
OLS hinderlich waren. Zahlreiche über die Jahre getroffenen
Rebellen sich nahmen, was sie brauchten.
Vereinbarungen zwischen der Regierung in K.hartum, den Re
Bis zum Herbst 1998 war die Khartum-Regierung politisch
bellen, den UN-Agenturen, dem UN-Sicherheitsrat, den Geber
isoliert und ins Visier der Amerikaner geraten. Am 2 0 . August
ländern und Nichtregierungsorganisationen hatten ein fast un-
durchdringliches Netz aus widersprüchlichen Arrangements
auffolgenden Morgen i n das Dorf Mapel fahren. In den kom
entstehen lassen, in dem alle und niemand die Verantwortung
menden vier Stunden erläuterte Fran..ois mir Struktur und
trugen für humanitäre Hilfe. Jean-Marie Kindermaus und ich
Strategie von OLS und die wichtigsten Gefahren, die den Hilfs
starteten eine interne Untersuchung unserer Reaktion auf die
kräften im Süden drohten.
Krise und erstellten eine Analyse, wie unser Verhältnis zur Ope
Danach nahm Franc;:ois mich mit in die Kantine zur obligato
ration Lifeline Sudan sein sollte. Wir wussten humanitäre Be
rischen täglichen Sicherheitsinstruktion für die Neuankömm
lange von politischen zu trennen. Die OLS war eine Mischung
linge. Etwa fünfzehn von uns
aus beidem, wodurch Millionen von Menschen nicht nur dem
und OLS-Vertreter
Krieg zwischen Regierung und Rebellen ausgeliefert waren,
Beamten des britischen Sandereinsatzkommandos - ein schlak
sondern auch den Machtinteressen, die auf beiden Seiten eine
siger, etwa fünfunddreißigjähriger Mann in Safari-Shorts, der
freiwillige Helfer, Journalisten
standen im Halbkreis um einen früheren
Rolle spielten. Wir wollten die OLS nicht auflösen - nur verbes
für die Sicherheit bei OLS zuständig war und uns eine halbe
sern. Wenn unser Schweigen angesichts der mangelnden Effek
Stunde lang über sämtliche Risiken und Regeln im Umgang
tivität von OLS eine strategische Entscheidung war, dann war
mit den Rebellen im Süd-Sudan aufklärte. »Falls irgendetwas
diese ein Fehlschlag.
schiefgeht«, sagte er, »holen wir euch per Flugzeug. Aber das
Ich wollte mich persönlich von den Vorgängen im Land
kann dauern, Herrschaften! Vier bis sechs Stunden bei günstiger
überzeugen und flog daher nach Loki, dem OLS-Hauptquartier
Wetterlage, einige Tage, wenn es mehr als eine Rettungsanfrage
an der kenianischen Grenze zum Sudan. In den zehn Jahren,
gibt. Noch Fragen? Gut. Danke für eure Aufmerksamkeit.« Bin
seit OLS dort tätig war, hatte sich Loki zu einer lebhaften UN
nen wenigen Minuten war die Kantine von Mitarbeitern der
Wüstenstadt entwickelt, mit Rollfeldern, Hangars, einem Kon
Vereinten Nationen und Hilfskräften überflutet, die hier ge
trollturm und einer Umzäunung. Es
meinsam aßen und sich hinterher an der Bar das unverzichtbare
war
Hunderten von Ein
satzkräften der Vereinten Nationen und diverser Nichtregie
Bier holten. In dieser Nacht schlief ich in einem der Gästezelte
rungsorganisationen zur zweiten Heimat geworden. Lastwagen
und wurde von der kenianischen Mannschaft daran erinnert,
und Bahncontainer waren in kleine Speicher umgewandelt, zu
dass die schmutzige Wäsche vor zehn Uhr vormittags abgeholt
dem Lagerhäuser und Wohnquartiere errichtet worden. Es gab
werden würde. Ich kam mir vor wie im Safari -Camp und schlief
Badezimmer mit Warmwasserduschen, und man hatte Beton
ausgezeichnet.
fundamente und -mauern gegossen und provisorische Zeltbau
Am Morgen darauf flog ich nach Mapel, über mir der klare
ten darauf errichtet, die mittlerweile schon seit Jahren dort
blaue Himmel, unter mir die braune Wüste. Die Vibrationen
standen. Der Belgier Fran�ois Fille, unser MSF-Einsatzleiter, be
der kleinen Propellermaschine waren gleichmäßig, und das un
grüßte mich auf dem Rollfeld, und wir fuhren zum MSF-Büro.
unterbrochene Brummen des Motors wurde von den Kopfhö
Loki war ein geschäftiger Ort, mit Lastwagen, die Güter trans
rern kaum gedämpft, die der Pilot mir gegeben hatte. Als wir
portierten, und Entwicklungshelfern, die vor offenen Fenstern
uns der grasigen Rollbahn näherten, sah ich einige Rebellen um
an ihren Rechnern saßen. Es herrschte eine Hitze wie in der
Nahrungsmittelpaletten versammelt, die von Flugzeugen der
Sauna, als wir uns auf einem sorgfaltig angelegten Fußweg zu
OLS abgeworfen worden waren. Jean, der MSF-Koordinator in
Fran�ois' Schreibtisch auf einer Veranda unter freiem Himmel
Mapel, kam mir entgegen und erklärte, dass sich zunächst die
begaben. Ein Kenianer aus dem Dorf jenseits des eingezäunten
Rebellen bedienten. Was noch übrig sei, werde zu den Ernäh
Bereichs goss die Blumen entlang des Wegs. Ich sollte am dar-
rungszentren gefahren und dort vertellt. Nachts kämen die Sol-
314
daten zu den Zentren und holten sich von den Müttern die
In den folgenden Monaten flog ich mehrmals zwischen Europa
Lebensmittel wieder zurück. ))Sie nennen es tayeen, eine Art
und dem Sudan hin und her. Ich traf mich mit Rebellenfüh
Schutzsteuer, die sie den Rebellen entrichten müssen« , sagte
rern, Vertretern der sudanesischen Regierung, der Operation
er mir. Jean hatte sechs Monate in Mapel gearbeitet und den
Lifeline und anderer Hilfsorganisationen sowie mit Vertretern
schlimmsten Hunger mit ansehen müssen. Wir setzten uns in
von Geberländern der Operation Lifeline. Doch am wichtigsten
den Schatten, unter eine der wenigen Baumgruppen im Dorf
waren die Besuche in den Dörfern und Städten, in denen Ärzte
Er erklärte mir das Behandlungsprotokoll, das im Ernährungs
ohne Grenzen im Einsatz war. Nach einem sechsstündigen Flug
zentrum zur Anwendung kam, in das derzeit nur etwa drei
von Loki aus über die Wüste kam ich eines späten Nachmittags
hundert Menschen aufgenommen wurden.
im Dorf Ajiep an. Fast das ganze Dorf empfing mich am Roll
(Während der
schlimmsten Hungerzeiten waren es zweitausenddreihundert
feld. Ich hatte die Post und einige medizinische Versorgungsgü
gewesen.) ))Wir haben das Protokoll so viele Male umgearbeitet,
ter mitgebracht. Während Einheimische das kleine Flugzeug
dass es jetzt perfekt ist«, sagte er. Während er redete, bemerkte
enduden, traf ich mich mit dem MSF-Team. Die Co-Koordina
ich in der Nähe ein mageres Mädchen mit geschwollenen Fü
torin, Marie-Anne, führte mich in das Gesundheitszentrum,
ßen - Symptom der Mangelkrankheit Marasmus -, das bei sechs
ein kleines Gebäude aus Lehm und Bambus mit einigen Betten
weiteren Mädchen stand, die uns beobachteten. Ich lächelte ih
für stationäre Patienten, und von dort aus weiter zum Ernäh
nen zu. Drei der sechs hatten ebenfalls geschwollene Füße. Ich
rungszentrum, das all den anderen MSF-Ernährungszentren
fragte Jean nach dem Grund. ))Das Protokoll ist perfekt, aber die
glich, die ich in den vergangeneo Monaten besucht hatte. Eini
Schutzsteuern sind so hoch«, sagte er. ))Die OLS sieht einfach
ge hundert Menschen waren an diesem Tag dort versammelt,
darüber hinweg, und wir können nichts dagegen tun.«
und ich untersuchte ein Kind mit aufgeschwollenem Bauch.
Ich besuchte noch einige andere Dörfer, ehe ich nach Khar
Die Kleine litt an Leishmaniose, einer tödlichen Infektionser
tum zurückflog, wo ich mich mit einigen Verantwordichen der
krankung, die von Sandmücken übertragen wird. Ich erklärte
Operation Lifeline Sudan und mit Botschafter Tom Eric Vraal
ihrer Mutter, dass wir wegen der Kämpfe nicht imstande wa
sen traf, dem UN-Sonderbeauftragten für den Sudan. Ich äußer
ren, ihrer Tochter die vierwöchige intravenöse Behandlung, die
te meine Sorge, und der Botschafter, nachdem er mir versichert
sie benötigte, zukommen zu lassen. )>Ich gebe ihr zu essen und
hatte, was für >>ein wichtiger Partner« Ärzte ohne Grenzen
warte«, sagte sie.
zweifellos sei, erinnerte mich höflich daran, dass für das Vor
Am Abend machten wir ein Lagerfeuer. Am dunklen Him
bringen von Bedenken der Dienstweg einzuhalten sei. Jede
mel funkelten die Sterne. Während ich mit Marie-Anne und
noch so geringfügige Kritik an Rahmenbedingungen, die in
einigen der Dorfältesten sprach, spielte einer der ausländischen
zehn Jahren ausgehandelt worden waren, kam ungelegen. Ich
Mitarbeiter Gitarre. Gegen elf gesellten sich zwei weitere Dorf
fragte, warum Ärzte ohne Grenzen keinen Zugang zur Provinz
älteste zu uns. Sie sagten, man habe in einigen Kilometern Ent
Äquatoria erhielt, humanitäre Hilfe müsse in jeder Region
fernung Milizionäre der Khartum-Regierung die Bahngleise
möglich sein, sagte ich. Der Botschafter antwortete : »Es wäre
entlangreiten sehen, das MSF-Team solle sich lieber nach Loki
ideal, zweifellos. Aber in Äquatoria ist der Bedarf nicht so groß
zurückziehen, bis die Soldaten die Gegend verlassen hätten.
wie beispielsweise in Bahr al-Ghazal. Wenn wir zu viel fordern,
Marie-Anne war hin und her gerissen zwischen der Sicherheit
erhalten wir womöglich gar nichts.«
des Teams und dem unangenehmen Gefühl, das Dorf im Stich
Unsere eigenen Einschätzungen waren bereits auf dem Weg.
zu lassen. Die Ältesten jedoch blieben hart. Einer sagte: ))Wir
gehen in den Busch. Wir können euch nicht beschützen. Ihr
die Frauen. Ich hatte Angst, selbst auch vergewaltigt zu wer
seid keine Soldaten und auch keine Heiligen. Ihr könnt uns
den«, sagte Sylvie.
nicht helfen, wenn ihr tot seid. Und wir brauchen euch doch.« Am darauffolgenden Morgen überließ Marie-Anne die Schlüs
»Wir haben sie im Stich gelassen«, stellte Peter mit blutun terlaufenen Augen fest.
sel zum Ernährungs- und zum Gesundheitszentrum dem Ober
Wir gingen wortlos auf den Pick-up zu, der in der sengen
haupt des Dorfes. Während wir Computer, Funkgeräte und Klei
den Hitze stand. In Ajiep war die Miliz eingefallen, um gegen
dung zusammenpackten, sah ich Gruppen von Frauen, Kindern
die Rebellen zu kämpfen. Doch der ors-Sicherheitsmann sagte,
und Alten mit kleinen Bündeln auf ausgetretenen Pfaden in den
es sei nur »ein kleiner Angriff« gewesen. Nur einige Männer
Busch gehen. Wir hörten das ors-Flugzeug in der Ferne und
waren getötet, nur einige Frauen vergewaltigt, nur einige Frau
kletterten auf die Ladeflächen mehrerer Pick-ups. Während die
en und Kinder entführt worden, um im Norden des Sudan in
Männer sangen, kamen die Dorfältesten mit uns, um uns zu
die Sklaverei verkauft zu werden. Bis zum Wochenende waren
verabschieden, und nackte Kinder winkten uns zu, als wir auf
sechs von sieben MSF-Teams evakuiert und vier der sieben Dör
dem Weg zum Rollfeld an ihnen vorüberfuhren. Ich schaute
fer, in denen sie gearbeitet hatten, überfallen worden.
nach einer Frau, die mit ihrem Kind reglos am Wegesrand stand
Ich saß mit Xavier, einem französischen MSF-Logistiker, auf
und uns nachblickte. Es war die Mutter, deren kleine Tochter
der Veranda seines Büros und trank mit ihm ein Bier. Er schlug
ich tags zuvor im Ernährungszentrum untersucht hatte. Sie
mit der Faust auf den wackeligen Tisch und sagte: »Die Regie
wandte sich ab und ging in den Busch. Sie würde warten.
rungssoldaten blockieren Luftbrückenflüge und überfallen nach
Ein anderes Dorf in der Nähe von Ajiep war ebenfalls von
Belieben die Dörfer. Die Rebellen wiederum nehmen sich ein
einem Überfall durch Milizionäre bedroht. Das ms-Flugzeug
fach, was sie brauchen. Die OLS kann nichts dagegen tun. Müt
hatte Verspätung, und das MSF- Team war mit den Dorfbewoh
ter und Kinder sterben, und wir schauen schweigend zu! Ist
nern in den Busch geflüchtet. Sie hatten ein tragbares Funkgerät
das humanitäres Handeln? Es ist doch unerträglich, all diese
und riefen alle zwei Stunden an. Milizionäre waren ins Dorf
Missstände zu kennen und kein Wort darüber verlieren zu dür
gekommen und hatten Feuer gelegt, vergewaltigt und getötet.
fen. Ich könnte schreien! «
Sie durchsuchten jetzt das umliegende Buschland. Fran<;:ois war
Zwei Tage später, Anfang Februar 1999. war ich wieder in
panisch, weil ein weiteres Dorf evakuiert werden musste, und
Brüssel und ging zusammen mit Jean-Marie Kindermaus den
wir wechselten uns am Funkgerät ab. Ich übernahm die Schicht
letzten Entwurf unseres Berichts zum Thema Operation Lifeline Su
zwischen 23 Uhr nachts und 2 Uhr früh. Ich wusste nicht, was
dan durch. Ich hatte von OLS-Vertretern auf halboffiziellem We
ich sagen würde, falls tatsächlich jemand aus dem Busch anru
ge erfahren, dass man uns Ärzte ohne Grenzen, sollten wir
fen sollte, doch von meiner Zeit in Somalia wusste ich noch,
»Stunk« machen, aus der Aktion ausschließen würde. Doch
wie wichtig es war, dass jemand den Funkruf hörte. Niemand
wenn wir weiter schwiegen, bliebe alles beim Alten. Wir hatten
rief an. Tags darauf wurde das Team geholt, und ich begrüßte
Op-Eds vorbereitet, die wir in wichtigen internationalen Zei
sie am seihen Nachmittag in Loki. Peter, ein fünfundzwanzig
tungen veröffentlichen wollten, und mit Beamten im Sudan, in
j ähriger Logistik-Experte aus Holland, stieg mit Sylvie aus dem
Nairobi und in der Europäischen Union Treffen organisiert. Ich
Flugzeug, einer belgischen Krankenschwester, auch sie um die
sollte mit Marie-Christine in die USA reisen, wo wir den Chef
fünfundzwanzig.
von UNICEF, den Präsidenten des UN-Sicherheitsrates , Beamte
»Wenn sie die Leute aufstöbern, vergewaltigen sie als Erstes
verschiedener UN-Sonderorganisationen, die Redaktion der Wa-
shington Post, weitere Journalisten sowie den Nationalen Sicher
und fragte mich, wie oft dieser Raum wohl schon in Schwei
heitsrat der Vereinigten Staaten treffen würden. Ein wichtiger
gen versunken war. Schließlich ergriff ein erfahrener Berater
Vertreter von UNICEF in New York rief mich am Abend vor
das Wort und reagierte auf meine Analyse. Wieder beugte Ma
unserer Abreise in Brüssel an. »Es gibt offenbar Schwierigkei
rie-Christine sich vor. »Nein, es ist Diebstahl, und die Kinder
ten mit OlS, aber ich bin optimistisch, dass wir sie unter uns
sind hungrig. Das ist nicht - wie sagt man - korrekt. OlS weiß
bereinigen können. Es wird also nicht nötig sein, die Sache an
das genau. Wir alle wissen das. Und Sie wissen es auch. Nur
die Öffentlichkeit zu bringen.« Nach einem Jahr privater Pro
Sie können etwas dagegen tun. Sie müssen etwas tun.« Es gab
teste hatte noch niemand offen von einem Scheitern der Opera
nichts mehr zu sagen.
tion lifeline gesprochen. Ich fuhr noch einmal in mein Brüsse
Die anfängliche Reaktion der Operation Lifeline Sudan auf
ler Büro, bevor ich nach New York flog. Ich hatte eine E-Mail
unsere öffentliche Herausforderung war wie erwartet defensiv.
von einem holländischen MSF-Logistiker in Loki bekommen. Er
Doch selbst nachdem sie unsere Analyse als >>Ungenau und un
war ein stiller, entschlossener Mitarbeiter, der nie viele Worte
ausgewogen« abgetan hatten, wurden wir nicht ausgeschlossen.
machte, wenn ich ihn traf. Seine Botschaft war schlicht: »Wenn
Einige Monate später reiste ich mit Jean-Herve Bradol, dem Ein
du zum Weißen Haus kommst, dann vergiss den ganzen diplo
satzleiter der Pariser Sektion von Ärzte ohne Grenzen, nach Nai
matischen Quatsch und sag einfach die beschissene Wahrheit.«
robi, wo wir uns mit OLS-Vertretern trafen. Dr. Shaw, der Leiter
Nach unseren Gesprächen in New York flogen Marie-Chris
der Operation lifeline Sudan, versicherte uns, dass Ärzte ohne
tine und ich nach Washington. Unser Flugzeug landete mit
Grenzen ein wertvoller Partner sei. Er erklärte, dass OlS um
Verspätung. Wir passierten rasch den Sicherheitsbereich im
strukturiert werde, zumal die Rebellen eingeräumt hätten, dass
Weißen Haus und gingen in ein Nebengebäude. John Prender
in manchen Gebieten Korruption ein Problem sei und dazu füh
gast, Direktor für afrikanische Angelegenheiten im Nationalen
re, dass Lebensmittel unterschlagen würden. Von nun an werde
Sicherheitsrat der Clinton-Regierung, erwartete uns mit seinem
die Nahrungsverteilung besser kontrolliert. »Vergessen wir die
Mitarbeiterstab. Ich goss mir eine Tasse Kaffee ein, präsentierte
Vergangenheit, schauen wir in die Zukunft«, sagte er. Jean-Her
dann ausführlich die Geschichte von OlS, schilderte ihr Versa
ve und ich verließen das Treffen und kamen überein, dass die
gen während der Hungersnot 1998 in Bahr al-Ghazal und wies
Veränderungen, obwohl OlS die Verteilung der Lebensmittelhil
auf die humanitären Folgen hin, die diese indirekte Unterstüt
fe weiterhin den Rebellen überließ, im Großen und Ganzen
zung der Rebellen durch die us-Regierung hatte. Nachdem ich
doch eine Verbesserung darstellten.
eine halbe Stunde referiert hatte, gab das jüngste Mitglied im Team höflich zu bedenken, dass Ärzte ohne Grenzen eventuell
Im Sudan hatten wir Veränderungen in der humanitären Praxis
zu weit gegangen war mit der öffentlichen Kritik an OlS. Ehe
bewirkt. Wir sollten bald in eine Krise geraten, in der sich
ich antworten konnte, fiel Marie-Christine mir ins Wort. Mit
erweisen würde, wie enorm wichtig die Unabhängigkeit hu
starkem französischen Akzent sagte sie: »Sie verstehen gar
manitären Handeins war.
nichts. Die Rebellen nehmen den Müttern und ihren Kindern
Am 24. März 1 999 war ich in London, um Ärzte ohne Gren
das Essen weg. Die Rebellen stehlen, und die Mütter müssen
zen einen Besuch abzustatten. Ich nahm mir den Abend frei
ihre Kinder begraben. So sieht es aus.«
und trank mit meiner Cousine Bernadette und anderen Famili
Niemand sagte ein Wort. Ich nippte an meinem lauwarmen
enmitgliedern ein paar Bierehen über den Durst. Am Morgen
Kaffee, sah mir die cremefarbenen, holzvertäfelten Wände an
darauf rief Jean-Marie mich auf dem Handy an. Die NATO hatte
3 20
32 1
begonnen, serbische Militärstützpunkte im Kosovo und in Ser
ren vor den Angriffen der Serben geflüchtet, die ihre Brunnen
bien zu bombardieren. Russland und China hatten einen frühe
vergiftet und ihre Häuser angezündet hatten, und lebten jetzt
ren Versuch, den NATO-Einsatz im UN-Sicherheitsrat durchzu
in den Bergen und Tälern. Heckenschützen hatten die Dörfer
setzen, blockiert. Die NATO agierte jetzt ohne UN-Mandat. Als
besetzt, nachdem die Bewohner geflüchtet waren. Familien wa
der Beschuss begann, verkündete der britische Premierminister
ren auseinandergerissen worden, weil Kinder schneller laufen
Tony Blair im Fernsehen, diese Bomben fielen »im Namen der
konnten als Erwachsene. Die Menschen waren in panischer
Menschlichkeit«. Die Luftangriffe der NATO sollten eine »hu
Furcht ohne ihre warme Winterkleidung geflüchtet, und viele
manitäre Katastrophe verhindern«. Zum ersten Mal seit fünfzig
Familien mussten sich eine einzige Decke teilen, wenn sie im
Jahren waren die NATO und NATO-Mitgliedsstaaten an einem
Freien schliefen, in den von Landminen durchsetzten Wäldern
Krieg beteiligt, einem Krieg in Europa. Kaum fielen die ersten
und Tälern. Während auf diplomatischer Ebene weiter verhan
Bomben, beschleunigte der jugoslawische Präsident Slobodan
delt wurde, rechneten Ärzte ohne Grenzen, die Vereinten Natio
Milosevic seinen »Hufeisenplan« innerhalb der Provinz Koso
nen und andere Hilfsorganisationen eher mit einer Zuspitzung
vo, indem er seine vierzigtausend Mann starke Streitmacht aus
der Lage als mit einer Verbesserung.
Polizei, Miliz und Militär dazu benutzte, Angehörige der alba
Das im Dezember 1995 unterzeichnete Dayton-Abkommen
nischen Minderheit über die Grenze in Nachbarstaaten zu trei
bezog sich auf Bosnien, ohne den Kosovo zu berücksichtigen.
ben.
Milosevic blockierte die Gespräche, indem er sich weigerte,
In den Monaten zuvor, angesichts der Bedrohung durch NA
Vertretern der U<;K, die an den Friedensverhandlungen über
To-Luftangriffe, hatte die aus den sechs Mitgliedsstaaten Groß
den Kosovo im Schloss Rambouillet bei Paris hatten teilnehmen
britannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Russland und den
wollen, Ausreisevisa auszustellen. Am 1 8 . März verließ Milose
USA bestehende Kontaktgruppe mit Milosevic verhandelt, um
vic die Pariser Verhandlungen, um den Truppenaufbau im Ko
die Kosovo-Frage zu lösen. Der Bürgerkrieg im Kosovo hatte im
sovo voranzutreiben. Unbewaffnete Mitarbeiter der Organisati
Februar 1998 begonnen, als die Aufständischen der u<;K, der
on für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (oszE) zogen
Befreiungsarmee des Kosovo, mit Unterstützung der Amerika
sich aus dem Kosovo zurück. Nach monatelangen bedrohlichen
ner zu den Waffen griffen, um gegen Milosevics serbische
Luftangriffen stand nun die Glaubwürdigkeit der NATO auf dem
Streitkräfte zu kämpfen, die in der Region Drenica im Zentral
Spiel. Ihr Ruf hatte ernstlich Schaden genommen, als es ihr
Kosovo Dutzende Albaner niedergemetzelt hatten. Seit 1 992 hat
nicht gelungen war, serbische Gräueltaten gegen Muslime in
te sich Ärzte ohne Grenzen im Kosovo engagiert und schon in
Bosnien zu verhindern. Am 24. März begann die NATO, serbi
den sechs Monaten vor dem NATO-Luftangriff mit Nachdruck
sche Militärziele im Kosovo und in Serbien zu bombardieren.
auf die Krise hingewiesen. Wir hatten öffentlich gegen die Ein
Damit befand sie sich im Krieg, und unser Verband musste
schüchterungskampagne der serbischen Streitkräfte gegen die
seine Unabhängigkeit wahren, von ihren Mitgliedsstaaten wie
albanische Minderheit protestiert, die neunzig Prozent der aus
auch von Serbien und der U<;K. Nachdem Jean-Marie mich in
zwei Millionen Menschen bestehenden Bevölkerung des Kosovo
London angerufen hatte, verbrachten wir beide die folgenden
ausmachte. Außerdem hatten wir über zweihunderttausend
achtzehn Stunden am Telefon, um zu gewährleisten, dass keine
Menschen ärztlich versorgt, die aus ihren Wohnsitzen vertrie
MSF-Sektion Geld von einem der NATO-Mitgliedsstaaten für hu
ben oder in anderer Weise von den Kämpfen in Mitleidenschaft
manitäre Hilfe im Kosovo entgegennahm. Wir trafen eine Rei
gezogen worden waren. Fünfzigtausend dieser Menschen wa-
he von Vereinbarungen, in denen die einzelnen MSF-Sektionen
einander gegenselUg absicherten. Besondere Aufmerksamkeit
Militärangehörige wurden »unwillentlich zu Akteuren in einem
richtete man auf den Geldbedarf der belgischen Sektion, die
Propagandakrieg«, nachdem sie in Makedonien von serbischen
unsere größten Einsätze unterstützte, sowohl auf internationa
Streitkräften als Geiseln genommen, verprügelt und im serbi
ler Ebene wie auch im Kosovo. Nachdem unsere Finanzlage
schen Fernsehen vorgeführt worden waren. In Montenegro, das
gesichert war, erklärten wir unsere humanitäre Unabhängigkeit
noch immer zu Serbien gehörte, aber eine pro-westlich gesinn
von allen Teilnehmern im Konflikt.
te Regierung hatte, drohte ein Bürgerkrieg, als serbische Flug
Milosevics Entschlossenheit wurde durch die NATO-Luftan
abwehrkanonen auf Kampfflugzeuge der NATO feuerten. Die
griffe noch gestärkt. Seine Reaktion war schnell und grausam.
Stimmung innerhalb des NATO-Bündnisses wurde gereizt: Auf
Er intensivierte seine bereits Monate andauernde Terrorkampa
der einen Seite waren die Hardliner USA und Großbritannien ,
gne, die Hunderttausende Kosovo-Albaner über die Grenzen
auf der anderen Italien und Griechenland. Ich wusste, dass die
trieb. Es war die größte und schnellste Flüchtlingswelle in Euro
Lage auch für Ärzte ohne Grenzen allmählich brenzlig wurde,
pa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Milosevic warf die
als der Vorstandsvorsitzende von MSF Griechenland mich anrief
Presse aus dem Land, und unser MSF-Team - die letzte Nichtre
und beschwor, MSF möge öffentlich gegen die NATO-Luftangrif
gierungsorganisation, die noch vor Ort geblieben war - musste
fe Stellung beziehen.
sich am 29. März schließlich ebenfalls zurückziehen, weil die Sicherheit seiner Mitarbeiter nicht mehr gewährleistet war. In
Früh am Morgen des 4· April war ich wieder in London, und
den Monaten davor hatten wir wie j edermann erwartet, dass
wieder rief mich Jean-Marie auf meinem Handy an. Mehr als
die Krise sich innerhalb, nicht außerhalb des Kosovo zuspitzen
fünfzigtausend Flüchtlinge aus dem Kosovo waren in einem
würde. Wir hatten Lebensmittel und andere Hilfsgüter diesseits
Niemandsland gestrandet, nachdem Makedonien seine Grenzen
der Grenzen gelagert und - nach dem Vorbild anderer Hilfsorga
dichtgemacht hatte. Jean-Marie organisierte eine Telekonferenz
nisationen - die Ressourcen außerhalb des Kosovo einge
der Generaldirektoren , an der auch Lex Winkler teilnahm, der
schränkt. Seit Beginn der Luftangriffe hatten wir neunzehn
sich an der Grenze zwischen dem Kosovo und Makedonien
Transportflüge mit Versorgungsgütern unternommen und für
befand. »Es ist nicht zu glauben«, erzählte Lex. »Tausende sit
eine massive Ausweitung unserer Teams in der Region gesorgt.
zen hier, eingezäunt, im Dreck fest. Frauen und Kinder schrei
Der kanadische NATO-Botschafter teilte mir am 3 1 . März tele
en und weinen. Die Behörden lassen nicht zu, dass wir ihnen
fonisch mit, dass die diplomatische Mission des russischen Pre
helfen.« Wir mailten den Direktoren eine Presseverlautbarung,
mierministers ]ewgeni Primakow in Belgrad fehlgeschlagen sei
die sie uns per Telefon kommentieren sollten. Eine Stunde spä
und die NATO ihre Luftangriffe fortsetzen werde. Ein amerikani
ter schickten wir eine Stellungnahme um die Welt, in der wir
scher Tarnkappenbomber war über Serbien abgeschossen wor
den ungehinderten Zugang zu den Flüchtlingen an der make
den, und die NATO hatte eine intensive Suche nach dem vermiss
donischen Grenze forderten. Die NATO hatte die Kontrolle ver
ten Piloten gestartet. In Makedonien veranstalteten slawische
loren, da sie den erzwungenen Exodus von über dreihundert
Nationalisten gewalttätige Proteste vor der amerikanischen Bot
tausend Kosovo-Albanern nicht vorhergesehen hatte.
schaft als Reaktion auf die vielen Flüchtlinge aus dem Kosovo,
haben uns einen Mangel an Phantasie vorzuwerfen«, kommen
»Wir
die ins Land fluteten. Es bestand eine reale Gefahr, dass Grie
tierte das britische Außenministerium und gestand, dass vor
chenland, Bulgarien und die Türkei in die Spannungen in Make
den NATO-Luftangriffen keine Pläne gefasst worden waren, um
donien hineingezogen werden könnten. Drei amerikanische
Flüchtlingen zu helfen, und dass man in der NATO nicht mit
der »Geschwindigkeit, Barbarei und Größenordnung« der ser
drängten sich Mütter mit Kopftüchern, die ihre Kinder in nas
bischen Reaktion gerechnet hatte. Im Economist hieß es, dass
sen Decken unter tropfenden Plastikplanen in den Schlaf wieg
die Bombenangriffe die ethnische Säuberungsaktion nur noch
ten. Kinder weinten, alte Männer rauchten, und jüngere Männer
mehr befeuert hätten und dieser Krieg sich als ein fataler Fehler
rissen nasse Zweige von den Bäumen , um kleine, rauchende
erwiesen habe. Zeitungen auf der ganzen Welt äußerten ähnli
Feuer zu schüren.
che Einschätzungen.
Am darauffolgenden Morgen stand ich an der Grenze. Die
Ich reiste in die Region, um mir selbst ein Bild von der
Schlange aus Fahrzeugen und Menschen davor war mindestens
Situation zu machen. Am Morgen des 5 . April fuhren Chris
fünfzehn Kilometer lang. In der Ferne stieg Rauch auf, wo ser
Stokes , der belgisehe MSF-Koordinator, und ich zehn Stunden
bische Streitkräfte Bauernhäuser in Brand gesteckt hatten. NA
von Tirana in Albanien an die Grenzstadt Kukes. Wir fuhren
TO-Bomber flogen am Himmel. Serbische Soldaten hielten auf
gegen den Strom vieler tausend Flüchtlinge, die in Autos , Trak
Wachtürmen Ausschau, die ungefähr einen halben Kilometer
toren, Wohnwagen und zu Fuß zu den Auffangzentren unter
von der Grenze entfernt waren, und spähten aus hastig gegra
wegs waren, die Ärzte ohne Grenzen im Süden Albaniens für
benen Fuchslöchern in unmittelbarer Grenznähe. Etwa hundert
sie errichtet hatte. In Kukes warteten weitere hunderttausend
Meter vor der Grenze hatten Ärzte ohne Grenzen und andere
Kosovo-Albaner mit wenig oder keinerlei Beistand. Die meisten
Hilfsverbände provisorische Kliniken errichtet für die Flücht
waren in den Bauernhäusern und Wohnungen von Albanern
linge, die ins Land strömten. Ein alter Mann schlug die Hände
untergekommen, die ihre mageren Erträge mit den Vertriebe
vors Gesicht und weinte bitterlich, während ich eine fünfzehn
nen teilten. Die Einwohnerschaftell ganzer Kosovo-Dörfer hat
Zentimeter lange Platzwunde auf seiner Stirn bandagierte. Er
ten auf den Feldern der Bauern »wilde Traktorenlager« errich
war mit einem Gewehrkolben geschlagen worden, weil er die
tet, indem sie zum Schutz Plastikplanen über die Fahrzeuge
Deportationslinie verlassen hatte, um in den Büschen zu urinie
drapiert hatten. Eine Gruppe von etwa vierhundert Menschen
ren. Sein Sohn war von serbischen Soldaten mitgenommen
hatte in einer Hühnerfarm Zuflucht genommen. Der Geruch
worden , einige davon Angehörige der örtlichen Polizei, und er
und die Lebensbedingungen dort waren beklagenswert. Die
hatte entsetzliche Angst um ihn.
medizinischen Bedürfnisse waren nicht groß, aber die Men
An diesem Tag , dem 6. April, bot Milosevic eine einseitige
schen brauchten Lebensmittel, Decken und Unterkünfte. Wir
Waffenruhe an. Die Flüchtlinge sollten zurückkehren. Die NATO
organisierten eine Impfkampagne gegen Masern, da viele Koso
lehnte dies ab, forderte die Erfüllung der Rambouillet-Vereinba
vo-Albaner im Vorjahr eine Schutzimpfung abgelehnt hatten,
rungen, und verschärfte die Luftangriffe. Der UN-Sicherheitsrat
aus Angst, serbische Behörden könnten sie vergiften. Die u<;K
war noch immer blockiert. Russland drohte, Milosevic militä
rekrutierte Soldaten unter den Flüchtlingen und unternahm
risch gegen die NATO zu unterstützen. Die USA warnten wieder
grenzüberschreitend Angriffe auf den Kosovo. Christopher und ich trafen uns am selben Abend mit dem
um, dass eine russische Parteinahme dieser Art schwerwiegende Konsequenzen haben werde. Milosevic schloss die Grenzen. Als
MSF-Team, um die Aufgaben zu verteilen. Es galt Schutzhütten,
er sie wieder öffnete, waren dreihunderttausend Menschen
Behelfskliniken, Wasserversorgungs- und Sanitäranlagen zu er
nach Makedonien, Montenegro und Albanien vertrieben wor
richten, Seuchen vorzubeugen und die Verteilung von Lebens
den - drei der ärmsten Regionen Europas. Da Makedonien be
mitteln und Decken zu organisieren. Anschließend fuhren wir
fürchtete, dass Tausende die Stacheldrahtzäune stürmen wür
in die Stadt. Es war kalt und regnerisch. Auf dem Marktplatz
den, postierte man Soldaten und Bereitschaftspolizei um die
Vertriebenen. Gleichzeitig sprach Deutschland, »einen explosi
Inland Albaniens errichteten französische und deutsche Solda
ven Zustrom befürchtend« , sich dafür aus, dass vertriebene Ko
ten zusammen mit den Truppen aus acht weiteren NATO-Mit
sovo-Albaner im Balkan bleiben sollten, während Tony Blair die
gliedsstaaten Lager, in denen die Flüchtlinge Zuflucht fanden.
Möglichkeit ausschloss, auch nur einem von ihnen zu gestatten,
Die NATO lenkte die Aufmerksamkeit der Medien nun auf den
sich in Großbritannien niederzulassen. Tags darauf verkündeten
Beistand, den man den Flüchtlingen bot. Sie beschuldigte die
NATO-Verbündete, sie würden bis zu hunderttausend Flüchtlin
Hilfsorganisationen, »eiskalt erwischt worden zu sein«, »nicht
ge aus dem Balkan in ihre Länder holen, wo man ihnen vor
mit so vielen Flüchtlingen gerechnet zu haben« und »viel zu
übergehend Zuflucht gewähren wolle.
langsam auf die humanitäre Katastrophe reagiert zu haben« .
Die Medienaufmerksamkeit richtete sich weiter auf die
An den Grenzen hatten serbische Truppen der Mehrheit der
Flüchtlinge, und die NATO musste in diesem Propagandakrieg
Flüchtlinge die Personalausweise abgenommen. Infolgedessen
eine böse Niederlage hinnehmen. Das NATO-Kommando grün
wurden sie vom UN-Flüchtlingskommissariat nicht offiziell re
dete die Operation Allied Harbor, die humanitäre Hilfe bot. Der
gistriert - ein wesentlicher erster Schritt zu ihrem gesetzlichen
britische Außenminister Robin Cook erklärte dazu, dass die NA
Status als Flüchtlinge -, und einige wurden von NATO-Streit
TO als eine »humanitäre Organisation« agieren werde, die den
kräften zwangsweise aus den provisorischen Auffanglagern ge
»Schutz der Flüchtlinge« gewährleisten wolle, während sie ihre
holt und an andere Orte verlegt. Die Registrierung war nicht
militärischen Aktionen fortsetzte. Über eine Luftbrücke der NA
nur ein verwaltungstechnisches Problem. Im Süden Albaniens
TO wurden Hilfsgüter eingeflogen. Präsident Clinton stellte ein
zum Beispiel machten organisierte Banden Jagd auf Flüchtlinge
Komitee zusammen, dessen Aufgabe darin bestand, Spenden
und entführten sie im Auftrag von Prostitutionsringen in Mit
gelder aufzutreiben und für ein amerikanisches Netzwerk aus
teleuropa und anderswo. In mehreren Pressekonferenzen räum
Nichtregierungsorganisationen im Kosovo die logistische Un
te Ärzte ohne Grenzen ein, dass die logistischen Möglichkeiten
terstützung durch das Militär zu koordinieren. Viele in diesem
der NATO notwendig gewesen seien, um Hilfe in der Region
NGO-Netzwerk unterstützten in aller Offenheit den NATO-Ein
leisten
satz, doch Ärzte ohne Grenzen musste unparteiisch bleiben,
Einsatz unbedingt kontrollieren müsse. Andernfalls bestehe die
und so zogen wir unser amerikanisches Büro aus dem Netzwerk
Gefahr, dass die humanitäre Hilfe als Teil einer Militärkampa
heraus. Vertreter der NATO-Mitgliedsstaaten trafen sich mit den
gne der NATO angesehen werde. Wir ermahnten die NATO
Regierungen Albaniens, Montenegros und Makedoniens, ohne
Streitkräfte, die Rechte der Flüchtlinge unbedingt zu respektie
zu
können, erklärten aber, dass UNHCR den humanitären
die UN-Organisationen mit einzubeziehen, und verhandelten
ren, und warnten davor, dass die Hilfsaktionen der NATO die
über den Umgang mit den Flüchtlingen. Das Flüchtlingskom
Flüchtlinge gefahrden konnten. Angesichts der Krise war es
missariat der Vereinten Nationen (UNHCR) wurde umgangen.
schwierig, in dieser Weise zu argumentieren, ohne den Ein
Das benötigte Spendenvolumen für die Region war nur zur
druck unnötigen Revierverhaltens zu erwecken, aber die Si
Hälfte erfüllt worden, da die Gelder hauptsächlich aus Staaten
cherheit der Flüchtlinge ließ uns keine Wahl. Einige Tage später
stammten, die zugleich Mitglieder der NATO waren. An der
nahmen serbische Streitkräfte Flüchtlingslager unter Beschuss,
Grenze zwischen Albanien und dem Kosovo wurden achttau
die die NATO im albanischen Kukes, in Makedonien und Monte
send NATO-Soldaten stationiert; italienische Streitkräfte errichte
negro errichtet hatte.
ten ein mobiles Feldlazarett, während weitere Soldaten Artillerie
Milosevic war ein bekannter - und bald schon unter Anklage
eingruben und Flüchtlingslager zu bauen begannen. Weiter im
stehender - Kriegsverbrecher, und es bestand kein Zweifel, dass
er im Kosovo Verbrechen gegen die Menschlichkeit beging. In
Er argumentierte, dass humanitäre Belange auf seiner Prioritä
den drei Wochen seit Beginn der Luftangriffe hatten wir in der
tenliste, was diesen Krieg angehe, an letzter Stelle stünden -
gesamten Region Zeugenaussagen von Flüchtlingen gesammelt.
erst gelte es, die Stabilität in Südosteuropa wiederherzustellen
Ein fünfzehnjähriges Mädchen zum Beispiel erzählte uns, dass
und den guten Ruf der USA zu schützen. Überall in der Region
ihr Dorf von Polizisten eingekreist worden sei: »Wir waren zu
brachte die NATO Apache-Hubschrauber zum Einsatz, die im
Hause. Überall waren Soldaten, bis zum Wald. Jemand hat eine
Tiefflug Angriffe auf serbische Bodentruppen flogen. Soldaten
Handgranate auf unser Haus geworfen, und sie ist direkt vor
der NATO gruben Artillerie an der Grenze zwischen dem Kosovo
meinen Füßen gelandet. Ich habe mir die Hand verletzt und
und Albanien ein, und Tausende von Soldaten wurden im Land
eine Menge Blut verloren. Wir sind am Fluss entlang geflüch
stationiert.
tet, durch den Wald und dann weiter auf der Straße. Alle zehn
Die meisten Hilfsorganisationen hatten weiterhin Spenden
Meter waren Soldaten postiert. Kaum waren wir über der Gren
gelder von NATO-Mitgliedsstaaten erhalten und sich öffentlich
ze, wurde ich ins italienische Lager gebracht und von dort zum
den Hilfsaktionen der NATO angeschlossen. Angesichts der fast
Krankenhaus in Kukes, zum Röntgen. Den Ausweis hat man
sechshunderttausend Flüchtlinge in der Region und Tausender
mir an der Grenze abgenommen. «
mehr, die über die Grenze getrieben worden waren oder in
A m 12. April waren bereits über eine halbe Million Menschen
den Bergen festsaßen, konnte Ärzte ohne Grenzen nicht mehr
aus dem Kosovo vertrieben worden. Mehrere hunderttausend
länger tatenlos zusehen. Unser Schweigen würde Bände spre
waren außerdem in den Bergen im Inneren des Kosovo gefan
chen. Das humanitäre Handeln war bereits vereinnahmt wor
gen. Viele unserer Hilfslieferungen in die Region wurden an
den, und wir mussten uns die Unabhängigkeit zurückerobern.
der Grenze abgefangen. Die Nutzung des zivilen Luftraums war
Wenn humanitäre Belange als Letztes auf Holbrookes Liste stan
durch die Luftangriffe der NATO eingeschränkt, was auch unsere
den, so standen sie auf der unseren ganz oben. Als ich mich
Möglichkeiten beschnitt, die erforderlichen Hilfsgüter ins Land
auf eine Pressekonferenz vorbereitete, dachte ich an die unter
zu bringen. Es fehlte an der nötigen Koordination, eine Aufga
schiedlichen politischen Motive hinter den Interventionen in
be, die nach geltendem Völkerrecht den Vereinten Nationen
Somalia, Ruanda, Zaire und anderswo. Ich wusste, dass UN
zukam. Ich war frustriert bis in die Knochen. Und war damit
Friedenstruppen sich Wochen zuvor in aller Stille aus Angola
nicht allein. Ein MSF-Arzt weinte, als er zusehen musste, wie
zurückgezogen hatten, wo die humanitäre Hilfe an eine Frie
Menschen aus dem Kosovo vor der Grenze im Regen warteten.
densordnung der Vereinten Nationen gekoppelt war. Als diese
Während die NATO ihre Bombenangriffe fortsetzte, verlang
Ordnung zusammenbrach, galt dies auch für die humanitäre
ten Kommentatoren Bodentruppen. Clinton und Blair befürch
Hilfe für die Opfer von Angolas Bürgerkrieg. Was wäre, wenn
teten Verluste unter den Soldaten und verweigerten in der Öf
NATO-Bodentruppen kämen und im Kosovo Erfolg hätten? Und
fentlichkeit diese Option, obwohl die NATO Vorbereitungen traf
was wäre, wenn sie scheiterten? Oder überhaupt nicht kämen?
für eine ausgeweitete Offensive. Während Blair behauptete,
Die Bedürfnisse der Flüchtlinge und Zivilisten diesseits und
dass der Krieg ein »Konflikt zwischen Gut und Böse« sei und
j enseits der Grenze - die der Kosovo-Albaner und Serben glei
die NATO ihre Luftangriffe fortsetzen müsse, »um die Flüchtlin
chermaßen - waren real und unmittelbar. Mit oder ohne Bo
ge zu retten«, vertrat Richard Holbrooke, der amerikanische
dentruppen mussten wir für einen unabhängigen humanitären
Diplomat, dessen jugoslawische Pendeldiplomatie im NATO-An
Raum eintreten, in dem die Helfer unbehelligt agieren konn
griff kulminiert war, einen harten realpolitischen Standpunkt.
ten. Ich hatte mehrere führende Vertreter von Ärzte ohne Gren-
330
331
zen kontaktiert, um sie zu fragen, ob der Verband den Ruf nach Bodentruppen unterstützen sollte. Rony Brauman, ein früherer Präsident von MSF Frankreich, sagte zu mir: »Die NATO ist keine faschistische Armee, vergiss das nicht.« Im selben Moment war mein Akku leer, und die Presse wartete schon. Auf der Pressekonferenz verurteilten wir Milosevics ethni sche Säuberungsaktion und sagten, dass bis zu einer Million vertriebene Kosovo-Albaner nun verschwunden seien. Die Auf merksamkeit der Weltöffentlichkeit konzentrierte sich auf die Gefechte zwischen Jugoslawien und der NATO und auf das Be mühen, Personen zu ernähren und unterzubringen, die aus dem Kosovo geflüchtet waren - doch was sollte aus all den Menschen werden, die blieben? »Wo ist diese eine Million Menschen? Was geschieht mit ihnen?«, fragte ich und beschul digte die NATO, Satellitenbilder und andere Informationen über den Verbleib und den Zustand der Menschen, die sich immer noch im Kosovo befanden, zurückzuhalten. Zudem bestand ich auf einem neutralen humanitären Raum im Kosovo und außer halb. Die unvermeidliche Frage, ob unser Verband NATO-Boden truppen befürworte oder nicht, kam von David RiefE Ich kann te und achtete David als Reporter und als einen der führenden Denker in Sachen humanitäres Handeln. Die NATO brauche nicht unsere Zustimmung fiir eine einseitige Intervention, die ohnehin vonstatten ginge. sagte ich ausweichend. Rieff ließ nicht locker, warf ein, meine Argumentation sei inkohärent, im Balkan müsse man sich nun einmal für eine Seite entschei
den. Ich hatte vielleicht nicht die besten Argumente, aber hier ging es nicht um Kohärenz, sondern rein um Pragmatismus. Lieferten wir heute moralische Rückendeckung für einen von der NATO geführten »humanitären Krieg«, dann gäbe es mor gen kein Zurück zu einer moralisch kohärenten Forderung nach einem neutralen humanitären Raum. Über eine Stunde lang wollten Rieff und andere Journalisten mich zu einer Ant wort zwingen: »Ja oder nein?« Es war die anstrengendste Pres sekonferenz meines Lebens, aber ich ließ mich nicht hinreißen.
Einige Tage später gaben wir die Zeugenaussagen der Flücht linge, die wir gesammelt hatten, an die Presse. Es waren Be weismittel, mit denen wir unsere öffentliche Anschuldigung untermauerten, dass Milosevic Kriegsverbrechen beging. Ich flog nach Brüssel zurück. In den nachfolgenden Wochen musste Ärzte ohne Grenzen sich der eigenen internen Krise stellen. Die griechische Sektion ver strickte sich in der Partisanenpolitik des eigenen Landes und der Kriegspolitik in der Region. Griechenland war ein NATO Mitglied, und doch sprachen sich neunzig Prozent der Bevölke rung gegen den NATO-Luftangriff auf den Kosovo und auf Serbi en aus. Innerhalb Griechenlands gab es eine große serben freundliche Mehrheit, und die griechische Regierung bemühte sich um Mittel und Wege, diesem pro-serbischen Gefühl Genü ge zu tun und gleichzeitig NATO-Mitglied zu bleiben. Griechen und Serben kamen überein, dass griechische Nichtregierungs organisationen Zutritt in den Kosovo und nach Belgrad erhalten sollten. Aber wo sie helfen durften und wo nicht, würde die serbische Regierung bestimmen. Griechenland erwirkte außer dem eine Übereinkunft mit der NATO, dass man für griechische Nichtregierungsorganisationen humanitäre Korridore schaffen würde, die frei wären von Luftangriffen. Eine griechische Nicht regierungsorganisation hatte das Arrangement bereits genutzt, und so stand die griechische MSF-Sektion unter einem gewalti gen inländischen Druck, ihrem Beispiel zu folgen. Ihr Vorstand versprach im Geheimen, die Bedingungen der Serben zu akzep tieren und sich zu beteiligen, wusste aber, dass MSF aus Sorge, die Anwesenheit von Ärzte ohne Grenzen in Serbien könne ein Regime rechtfertigen, dem wir öffentlich im Kosovo Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last legten, zunächst ein erfahre nes, unparteiisches internationales Team ins Land schicken woll te, um von ihm die humanitäre Lage einschätzen zu lassen. Der griechische MSF-Vorstand wusste auch, dass die serbische Regie rung unserem Verband unter diesen Voraussetzungen logischer weise die Wiedereinreise nach Serbien verweigert hatte. 333
Am 7 . Mai fuhr der Vorstandsvorsitzende der griechischen Sektion unter griechischer Flagge an der Spitze eines MSF-Kon vois mit medizinischen Versorgungsgütern in den Kosovo und nach Belgrad. Laut einer geheimen Vereinbarung wurden die Hilfsgüter an ein staatliches serbisches Krankenhaus geliefert. Der Vorstandsvorsitzende der griechischen Sektion warf der NATO öffentlich vor, sie habe versucht, die Fahrzeuge zu bom bardieren, und halte sich nicht an humanitäre Korridore; au ßerdem äußerte er Zweifel, dass tatsächlich ethnische Säube rungsaktionen im Gange waren. Die Vorgehensweise von MSF Griechenland verstieß nicht nur gegen all unsere Grundsätze, sondern widersprach auch dem Vorhaben unseres Verbands, einen vorsichtigen Weg zu beschrei ten. Wir konnten zum Glück den Einsatz stoppen. Wochenlange, intensive Debatten, Telefonate und Krisensitzungen der Vorstän de und des Internationalen Rats folgten. Der griechische Vor stand behauptete, er habe »keine Wahl« gehabt, zumal er die Forderungen der serbenfreundlichen Mehrheit in Griechenland habe erfüllen müssen. Er hatte sich wider besseres Wissen oder doch bestenfalls naiv in taktische Erwägungen verstricken lassen und das Vertrauen gebrochen, das für die Mitgliedschaft in jeder Organisation grundlegend ist. Die griechische MSF-Sektion wei gerte sich, die Haltung der übrigen Sektionen anzuerkennen. Und so stimmten am 1 2. Juni die restlichen achtzehn Mitglieder des Internationalen Rats einstimmig dafür, die griechische Sekti on aus dem Verband auszuschließen. Wir mussten den unabhän gigen humanitären Charakter unseres Verbands schützen, durf ten uns auf keinen Fall von den Leidenschaften hinreißen lassen, die ein Krieg innerhalb der Zivilgesellschaft entfachen kann. Wir mussten uns die Legitimität unserer Stimme bewahren, indem wir uns eindeutig gegen Menschenrechtsverstöße aussprachen. Es war, soweit ich weiß, das erste Mal, dass eine internationale Organisation eine solche Entscheidung getroffen hatte. Ich hatte das Gefühl, als hätten wir ein Familienmitglied verloren. Nie mand von uns war glücklich darüber. (Anfang 2005 wurde die griechische Sektion wieder Mitglied bei MSF, nachdem sie sich 3 34
bereit erklärt hatte, die humanitären Vorgehensweisen und Prin zipien des Verbands zu teilen.) Am 24. Mai war Milosevic offiziell wegen Kriegsverbrechen in Bosnien unter Anklage gestellt worden. Mitte Juni hatten Russland und die USA sich auf eine politische Lösung der Krise geeinigt. Nach achtundsiebzig Tagen Bombenkrieg lenkte Milo sevic ein. Die Regierung Clinton war nur noch wenige Tage davon entfernt, eine hundertfünfundsiebzigtausend Mann star ke Bodentruppe in die Region zu entsenden. Eine mit einem UN-Mandat versehene Friedenstruppe mit dem Namen KFOR rückte am 1 3 . ]uni im Kosovo ein, und binnen Wochen konnten die meisten Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren. Bernard Kouchner wurde von Kofi Annan, dem UN-Generalsekretär, da zu bestimmt, als sein Sonderbeauftragter die UN-Mission im Kosovo zu leiten. Für Kouchner war der Kosovo ein Bewäh rungstest für das, was er und andere als das »Recht der Staaten einzugreifen« bezeichneten. Kouchner erklärte : »Wir müssen grundsätzlich auf der Seite der Minderheiten, der Leidenden sein . . . Das Recht einzugreifen findet in zunehmendem Maße Befürworter. Man sagt bereits im Vorfeld: >Herr Diktator, Sie haben nicht das Recht, diese Minderheit zu bedrohen. Und wenn Sie darauf bestehen, haben wir, alle Länder der Erde, eine riesige Armee, die Sie daran hindert.< Ich spreche von Prävention, von Abschreckung.« Der »humanitäre Krieg« wurde als ein Sieg der NATO beju belt, und einige, wie David Rieff, sahen darin das Ende eines neutralen, unabhängigen humanitären Handelns. Für Tony Blair sollte die Militärintervention »Zur Linderung der humani tären Not« die Werte von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Men schenrechten und einer offenen Gesellschaft verbreiten. Für ihn war der Kosovo ein erster Schritt zu einer »New Doctrlne of Interna tional Community«, in der »Werte und Interessen verschmelzen«. Ärzte ohne Grenzen schätzte die Lage anders ein. Wir protes tierten gegen Kriegsverbrechen im Kosovo, beklagten aber auch die unmittelbare Beteiligung der NATO an humanitären Hand lungen, die ungewisse Rolle des UN-Flüchtlingskommissariats. 335
den Mangel an humanitärem Schutz innerhalb des Kosovo und
Bereits Minuten nach der offiziellen Verlautbarung fielen
die Konsequenzen für Nichtregierungsorganisationen, die von
Hunderte Journalisten in unserem Pariser Büro ein. Außerdem
kriegführenden Staaten finanzielle Unterstützung erhielten. Es
rückten unzählige Satelliten-Übertragungswagen an. Die Beleg
waren Schlüsselfragen in einer Krise, in der humanitäre The
schaft sang und tanzte durch die Flure und ließ Champagner
men als Vorwand dienten für eine militärische und politische
korken knallen. Ein ähnliches Bild bot sich in sämtlichen MSF
Intervention. Trotz der Anwesenheit vieler tausend mit einem
Niederlassungen und an weltweit vierhundert Einsatzarten. Das
UN-Mandat versehenen Soldaten im Kosovo begannen Vergel
Nobelpreiskomitee lobte das Engagement von MSF im »huma
tungsmorde an Serben. Bis Ende Juni 1 999 hatten Zehntausende
nitären Einsatz und die Tatsache, dass der Verband sich nicht
Serben den Kosovo verlassen. Während gewaltige Anstrengun
scheute, laut und deutlich auf die Ursachen der j eweiligen Kata
gen zum Wiederaufbau im Kosovo unternommen wurden,
strophen hinzuweisen, und auf diese Weise die öffentliche Mei
blieben wir vor Ort präsent, boten den Menschen medizinische
nung gegen Gewalt und Machtmissbrauch zu mobilisieren«.
Versorgung und überwachten die humanitäre Situation für die
Auf einer hastig einberufenen Pressekonferenz sagte Philippe
Kosovo-Albaner wie auch für die Serben.
Biberson, der Präsident von MSF Frankreich: »Wir wissen nicht sicher, ob wir Menschen retten, indem wir Dinge beim Namen
Am 15. Oktober 1 999 eröffnete ich in Paris die erste Konferenz
nennen, aber eines wissen wir wohl, nämlich dass Schweigen
unserer Kampagne für den Zugang zu unentbehrlichen Medika
tödlich ist.«
menten. Ich war eben im Begriff, vom Podium zu steigen, als
Nach achtzehn intensiven Interview-Stunden machte ich mir
mein Handy klingelte. Am Telefon war ein Mann, der sich als
langsam Sorgen, welche Konsequenzen die Auszeichnung für
Geir Lundestad vorstellte, Vorsitzender des Nobelpreiskomitees,
unseren Verband haben würde. Würde MSF künftig zu einer
und mir mitteilte, dass MSF mit dem Friedensnobelpreis ausge
Institution werden, die vor allem salbungsvolle Reden zu bieten
zeichnet werde. Die öffentliche Verlautbarung werde in fünf
hatte, sich dabei aber immer weiter von der Lebenswirklichkeit
zehn Minuten erfolgen. Da ich das Ganze für einen Scherz hielt,
der Hilfsbedürftigen entfernte? Bevor ich von der Preisverlei
notierte ich mir höflich den Namen und die Telefonnummer
hung erfahren hatte, hatte ich nach Mariinsk in Sibirien reisen
des Mannes und bat meine Assistentin, das Nobelpreiskomitee
wollen, um russische Sträflinge auf Tuberkulose zu untersu
anzurufen und die Angaben zu überprüfen. Es stimmte. Ich ging
chen. Ich beschloss also, diesen Plan einzuhalten, und reiste
auf die Toilette, rauchte eine Zigarette, notierte mir ein paar
nach Moskau. Dort bestieg ich ein Flugzeug nach Kemerovo
Dinge, die ich sagen wollte, und kehrte in den Konferenzraum
in Sibirien und fuhr dann durch das trostlose Hinterland nach
zurück, um Bernard Pecoul Bescheid zu geben, dem französi
Mariinsk. Hier befanden sich mehrere Hochsicherheitsgefang
schen Leiter der Kampagne. »Das ist doch nicht wahr?«, fragte
nisse, bekannt als Kolonie 3 3 , ehemalige Gulags, mit neunund
er.
zwanzigtausend Häftlingen. »Doch, es steht fest«, erwiderte ich.
Ich unterstützte zwei Wochen lang das MSF-Team. Wir be
Er unterbrach den Redner und verkündete stolz: »Ärzte ohne
handelten Hunderte Tuberkulosekranker und versuchten auch
Grenzen ist für den Friedensnobelpreis nominiert worden! «
j enen zu helfen, die an einer multiresistenten Form der Tuber
Die Zuhörer klatschten höflich.
kulose
Da stand ich auf und setzte hinzu: »Nicht nur nominiert, man hat uns den Friedensnobelpreis verliehen. «
(MDR-TB)
litten. Insgesamt saßen über drei Millionen
Menschen in russischen Gefangnissen. Von diesen litten zehn Prozent an einer offenen Tuberkulose, ein Viertel von diesen 337
wiederum an der multiresistenten Form. Gefängnisleitung und
sogenannten Bomji, Penner -, die nach dem Zusammenbruch
Gesundheitsamt hatten unwissenschaftliche und längst wider
des Sowjetregimes und der Einführung marktorientierter Wirt
legte Behandlungsmethoden zum Einsatz gebracht, die wäh
schaftsreformen obdachlos geworden waren. Ich saß einige
rend der Sowjetzeit entwickelt worden waren, und so bestand
Stunden in der Klinik und sah einfach nur zu. Dann ging ich
die Gefahr, dass die Häftlinge die Krankheit nach ihrer Entlas
nach draußen, um mit Sergi, einem fünfzigjährigen Ingenieur
sung in ihre Heimatgemeinden einschleppten. Dort ersetzten
mit harten Zügen, der uns als Dolmetscher und Fahrer zur Verfü
unerfahrene Privatärzte das zusamm engebrochene staatliche
gung stand, eine Zigarette zu rauchen. Noch j emand rauchte
Gesundheitssystem. Multiresistente Tuberkulose verbreitete sich
draußen eine Zigarette. Er bat mich um eine Zigarette, die er
über die russischen Grenzen hinaus, mit über einhunderttau
sich in die Manteltasche steckte. »Hier draußen bin ich ein
send identifizierten Fällen weltweit, von denen viele mittels
ji«, sagte er. >>Ich komme in die Klinik, weil die mich wie einen
bom
Biotypisierung bis in russische Gefangnisse zurückverfolgt wer
normalen Menschen behandeln . Das dauert nicht lange, aber
den konnten.
hier drin fühle ich mich gleichwertig.« Sergi ging zu einem
Das MSF-Team in den Gef'angnissen war von der Außenwelt
Straßenverkäufer in der Nähe und kaufte dem Mann eine Schach
abgeschnitten, die Arbeit nicht einfach. In Zellen, die für zwölf
tel Zigaretten. Als wir zum MSF-Büro fuhren, hatte Sergi Tränen
Insassen konzipiert waren, drängten sich nicht selten fünfzig
in den Augen. »Mir könnte es genauso gehen«, sagte er.
Gefangene. In den fast lichtlosen, schlecht belüfteten Räumen
Mumars größte Sorge galt nicht der Tuberkulose oder den
war die Luft wegen des permanenten Zigarettenrauchs zum
Obdachlosen, sondern Tschetschenien. Von MSF öffentlich dazu
Schneiden dick. Die dünnen, blässlichen Tuberkulosekranken
aufgefordert, hatte die russische Regierung etwa hundertsech
wurden nur sporadisch medizinisch versorgt, und keiner von
zigtausend Personen, die vor den Gefechten in der abtrünnigen
ihnen erhielt genügend zu essen. Eine Gefängnismafia kontrol
nordkaukasischen Republik geflüchtet waren, gestattet, die
lierte alles, von den Sexsklaven über den Zugang zu Zigaretten
Grenze in das benachbarte Inguschetien zu überqueren. Mumar
und Nahrung bis hin zum Schwarzhandel mit legalen und ille
erinnerte mich daran , dass erst drei Jahre zuvor - wie ich wohl
galen Drogen. Wir brauchten die Zustimmung des Mafiabos
wusste
ses - und erhielten sie auch -, um die neunmonatige Tuberku
Kreuzes ermordet hatten. Mumar und unsere einheimische Be
losebehandlung durchführen zu können. Selbst unter idealen
legschaft befürchteten Repressalien der russischen Geheimpoli
unbekannte Angreifer sechs Mitarbeiter des Roten
Bedingungen war die Behandlung kompliziert und erforderte
zei wegen der öffentlichen Forderungen, die wir stellten. Nun,
diverse Drogentests und Sputumproben. Ich untersuchte einen
da die russische Armee mehr als eintausend gepanzerte Fahr
Mann in Einzelhaft, der am ganzen Körper, mit Ausnahme der
zeuge in den Norden Tschetscheniens verlegte und Flugzeuge
Hände und des Gesichts, tätowiert war. Die Wärter verabreich
unausgesetzt Bomben über dem Gebiet abwarfen, war die Be
ten ihm täglich seine Tuberkulose-Tabletten. »Danke dafür«,
richterstattung aus der Republik großen Einschränkungen un
sagte er kurz angebunden auf Russisch. »Das Gefängnis ist ein
terworfen. Seit Beginn des Bürgerkriegs 1994 hatten die russi
Scheißloch. Aber sogar ich will leben.«
schen Streitkräfte den Zivilisten fast so etwas wie Verachtung
Ich flog zurück nach Moskau , um mich mit mehreren Mitar
entgegengebracht. Intensive, wahllose Bombardierungen, Luft
beitern im Gesundheitsministerium und mit Mumar, unserem
angriffe durch Kampfhubschrauber und Überfalle durch russi
Einsatzleiter, zu treffen. Wir hatten ein Klinikprogramm für eini
sche Bodentruppen hatten mehr als siebzigtausend Tschetsche
ge der hunderttausend Moskowiter gestartet - zumeist für die
nen getötet. Fünf Jahre lang hatte die internationale Gemein33 9
schaft, um Russlands Stabilität fürchtend, zu dessen »internen« Angelegenheiten geschwiegen. Der Westen unterstützte Boris Jelzin auch finanziell, indem er ihm etwa 70 Milliarden Dollar stundete. Durch den Mangel an entschlossenen Reaktionen auf
kesrede fertigzustellen. Ich hatte seit Wochen daran gearbeitet, traf mich mit wichtigen Personen unseres Verbands und bat sie um Ideen und Unterstützung. Ich wollte keinen Fehler machen, aber in der Nacht vor der Zeremonie blieb die Rede unvollen
eindeutige Verstöße gegen geltendes Kriegsrecht erhielt der
det. Gemeinsam mit Philippe Bibersou und Fran):oise Bouchet
Kreml grünes Licht, um seine Offensive in Tschetschenien fort
Saulnier, auf Menschenrechte spezialisiert, arbeitete ich noch
zuführen. Ich ging mit Mumar die Formulierung unserer nächs
bis in die frühen Morgenstunden an ihrer Fertigstellung. Wir
ten Presseverlautbarung durch. Wir wollten erneut an die russi
bezogen uns auf die Krisen in Nordkorea , im Kosovo, in Ruan
sche Regierung appellieren, sie möge uns den Zugang zu den
da und Gorna und betonten unsere notwendige Unabhängig
notleidenden Zivilisten gewähren.
keit. Seit Jahren suchte ich nach einer treffenden Formulierung,
In meinem Brüsseler Büro erwartete mich eine Nachricht
um zu beschreiben, wie meiner Meinung nach das Verhältnis
meines guten Freundes Paul Hogan. Der Künstler befasste sich
zwischen humanitärem Handeln und Politik auszusehen hatte.
in Sri Lanka mit tamilischen und muslirnischen Kindern, die
Im Laufe dieser langen Nacht sagte Philippe, dass humanitäres
vom Bürgerkrieg in ihrem Land in Mitleidenschaft gezogen wor
Handeln den Krieg weder beenden noch rechtfertigen könne;
den waren. »Ich habe gelernt, dass die Furcht die Mutter des
es sei ein Kampf um die Schaffung menschlicher Räume inmit
Mutes und der Anfang aller Möglichkeiten ist«, schrieb er. »lr
ten anomaler Zustände. Um diesen Raum schaffen zu können,
gendwie habe ich den Eindruck, dass dieses seltsame Grüppchen
mussten wir bereit sein, uns der politischen Macht zu stellen.
namens Ärzte ohne Grenzen dies schon vor langer Zeit entdeckt
Es ist ein unvollkommener Kampf, und er hört niemals auf. In
hat.« Ich schickte eine E-Mail an David Rieffin New York, in der
der Dankesrede schrieb ich daher: »Humanitäres Engagement
ich ihm einige Versäumnisse der Vereinten Nationen erläuterte,
ist gänzlich unpolitisch, doch wenn seine Handlungen und sei
die bereits im Kosovo deutlich geworden waren. In seiner Ant
ne moralischen Grundsätze ernst genommen werden, erhält es
wort bezog Rieff sich auf die Weigerung von Ärzte ohne Gren
eine zutiefst politische Komponente.«
zen, sich in der Frage der Bodentruppen zu äußern. »Du hattest
Vor Beginn der Zeremonie wurde ich dem norwegischen
recht, ich lag falsch« , schrieb er. Einige Tage später hielt ich mich
Königspaar vorgestellt. Der Protokollchef hatte mich gebeten,
in New York auf, um an einer Tagung zum Thema Tuberkulose
mein Handy auszuschalten, doch weil an diesem Tag zwei MSF
teilzunehmen, und traf mich mit Rieff in seinem lieblingslokal.
Mitarbeiter in Sierra Leone entführt worden waren und vor
Wir unterhielten uns über organisierte humanitäre Hilfe ange
dem Festsaal die frühere griechische MSF-Sektion demonstrier
sichts dieses ersten humanitären Krieges. Ärzte ohne Grenzen
te, konnte ich seiner Bitte nicht Folge leisten. Prompt klingelte
kämpfte mit dessen Auswirkungen auf Ost-Timor, Sierra Leone,
mein Handy während der Unterhaltung. Der König war ein
Angola, Burundi und Tschetschenien. Rieff und ich waren uns
wenig irritiert. Doch als ich ihn wissen ließ. dass meine zu
einig, dass MSF sich als zivilrechtliche Organisation für einen
künftige Schwiegermutter mich sprechen wolle, sagte er: »Um
unabhängigen humanitären Raum einsetzen musste.
Gottes willen, gehen Sie ran, gehen Sie ran«, und winkte sei nen Protokollchef hinaus.
Am 8. Dezember fiel ein kleiner Schwarm MSF-Mitglieder im
An diesem Nachmittag nahmen die Ärztin Marie-Eve Ra
Grand Hotel der norwegischen Hauptstadt Oslo ein. Zwischen
guenaud
Medieninterviews und Telefonaten bemühte ich mich, die Dan-
Teppichen und zu feierlichen Trompetenfanfaren für Ärzte ohne
frisch aus Burundi angereist - und ich auf tiefblauen
34 1
Grenzen den Friedensnobelpreis entgegen. Um klar und deut
austausch in Europa und flog dann mit einem Koffer voller
lich unsere Weigerung, das Inakzeptable zu akzeptieren, zum
Akten und Dokumente, die ich über die Jahre gesammelt hatte,
Ausdruck zu bringen, begann ich meine öffentliche Dankesrede
nach New York. Fram;oise und ich setzten uns einige Tage in
mit folgenden Worten: »Die Menschen in Tschetschenien -
einem kleinen Hinterzimmer des MSF-Büros in New York zu
und besonders die Menschen in Grosny
ertragen bereits seit
sammen und erarbeiteten unsere Präsentation.
drei Monaten und selbst am heutigen Tag die wahllosen Bom
Wir arbeiteten bis spät in die Nacht, so dass ich am Morgen
bardements durch die russische Armee. Humanitäre Hilfe ist
der Präsentation verschlief und gerade noch zur rechten Zeit
diesen Menschen praktisch unbekannt. Die Kranken, die Alten
kam. Ein Angestellter der Vereinten Nationen führte mich
und die Gebrechlichen können nicht aus Grosny fliehen.
durch den Sicherheitsbereich in ein Vorzimmer des eigentli
Im Mittelpunkt der Ehre, die Sie uns heute erweisen, steht
chen Konferenzsaals und wies mir einen blauen Ledersessel zu.
die Würde dieser Menschen in Not. Ihre Würdigung an Ärzte
Ich redete die bewilligten dreißig Minuten, wobei ich die Not
ohne Grenzen ist unsere spezifische Antwort auf die Not dieser
wendigkeit einer politischen Antwort auf politische Probleme
Menschen. Ich appelliere deshalb heute an Seine Exzellenz, den
und einer humanitären Antwort auf humanitäre Probleme be
Botschafter von Russland, und über ihn an Präsident Jelzin, das
tonte und mich für eine robuste, verlässliche Friedenstruppe
Bombardement der schutzlosen Zivilbevölkerung in Tsche
aussprach, die den Schutz der Zivilbevölkerung gewährleisten
tschenien einzustellen. Wenn Konfli kte und Kriege eine Staats
sollte. Ich bezog mich auf Somalia und hob die Gefahr hervor,
angelegenheit sind, dann gehen Verstöße gegen das humanitäre
die eine Vermischung von Schutzmaßnahmen und humanitärer
die
Hilfe mit sich bringen könnte; erwähnte Länder wie Zaire, in
Menschlichkeit uns alle an.« Der russische Botschafter rutschte
denen ungestraft Kriegsverbrechen verübt worden waren oder
Völkerrecht,
Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen
ungemütlich auf seinem Stuhl hin und her. Er saß umringt
nach wie vor verübt wurden, ohne dass die Vereinten Nationen
von MSF-Leuten, die I-Shirts trugen mit der Aufschrift: »Keine
militärische oder politische Maßnahmen dagegen ergriffen hät
Bomben mehr auf Zivilisten in Grosny!«
ten. Ich verwies auf den Kosovo und betonte die negativen Folgen, die der »humanitäre Krieg« auf ein unabhängiges hu
Einige Wochen nach der Nobelpreisverleihung wurde unsere
manitäres Handeln gehabt hatte. Der Mangel an Klarheit, sagte
Organisation von den Vereinten Nationen gebeten, vor dem
ich, gehe letztlich auf Kosten der Opfer des Konflikts, wenn
Sicherheitsrat über den Schutz von Zivilisten in Konfliktsitua
die Grenzen zwischen kurzfristiger Hilfe und längerfristiger
tionen zu sprechen. Es wäre eine wichtige Gelegenheit, zwi
politischer Verantwortung für Schutz und Sicherheit fließend
schen humanitärer Hilfe und politischem Schutz zu unterschei
würden. Von essentieller Bedeutung sei die Sprache, fuhr ich
den. Wieder bat ich Frant;:oise Bouchet-Saulnier, mir bei der
fort: Sie entscheide, wie ein Problem definiert werde, und be
Präsentation zu helfen. Sie war nicht nur eines der intelligentes
stimme die Bandbreite möglicher Lösungen. Ich bezog mich
ten und engagiertesten Mitglieder der Organisation, sondern
auf die Geschehnisse in Ruanda, die kein Mitglied des Sicher
kurz nach dem Bruch unserer Organisation mit Kouchner von
heitsrates mit dem Begriff Genozid hatte benennen wollen. Der
Rony Brauman angeheuert worden, und wenn irgendj emand
Sicherheitsrat habe das Problem mittels einer humanitären In
den Unterschied und den Zusammenhang zwischen humanitä
tervention lösen wollen, die es allenfalls verschleiert oder ver
ren und politischen Verantwortlichkeiten verstand, dann sie.
harmlost habe. Damit sei die politische Pflicht der Vereinten
Ich traf mich mit mehreren MSF-Mitgliedern zum Gedanken-
Nationen, einzugreifen und dem Genozid Einhalt zu gebieten, 343
kurzerhand ausgelöscht worden. In diesem Falle wäre einzig
benhundertfünfzigtausend Menschen im Kosovo. Einige MSF
eine militärische Intervention, die mit Gewalt gegen die Massa
Teams erarbeiteten Programme zur seelischen Betreuung der
ker vorging, die richtige Reaktion gewesen. Ich verwies auf die
Menschen und suchten diejenigen, die zu viel Angst hatten,
Unfahigkeit des Sicherheitsrates, die Verstöße in Tschetscheni
um aus dem Haus zu gehen, in ihren Wohnungen auf. Vor
en gegen geltendes Kriegsrecht zumindest anzusprechen, weil
einer albanischen Enklave hatte ein Serbe einem unserer Ärzte
Russland von seinem Vetorecht Gebrauch machte, und beklagte
ins Gesicht geschlagen, und einige unserer albanischen Mitar
die fehlende Transparenz bei den Wahlen. Sichtlich verärgert
beiter mussten um ihr Leben fürchten. Es war nicht selten zu
tat der russische Botschafter meinen Kommentar als anmaßend
gefahrlich, kranke oder verwundete Patienten ins Krankenhaus
ab und bestand darauf, dass Tschetschenien eine interne Ange
zu verlegen. Wir forderten eine Verbesserung der Sicherheit,
legenheit sei, die den Sicherheitsrat nichts angehe. Ich hielt
woraufhin für gewöhnlich KFOR-Soldaten vermehrt Patrouillen
dagegen, dass es einzelnen Ra.tsmitgliedern, wenn es um den
durchführten, allerdings nur wenige Tage. Die Friedenstruppe
Schutz von Zivilisten im Kriegsfall gehe, zwar erlaubt sein soll
bot den Polizisten vor Ort keinerlei Rückendeckung. Im vergan
te, sich der Stimme zu enthalten, nicht aber, von ihrem Veto
geneu Jahr waren nur dreitausendeinhundert der sechstausend
recht Gebrauch zu machen, und schlug vor, die Begründung
benötigten KFOR-Soldaten angekommen, und einige mussten
für jeden Beschluss des Sicherheitsrates öffentlich zu machen.
umgehend wieder nach Hause geschickt werden, weil sie we der ein Fahrzeug lenken noch eine Waffe bedienen konnten. Es
über ein Jahr nach der erfolgreichen humani
hatte keinerlei geschlossene Anstrengung gegeben, der Gewalt
tären Intervention durch die NATO mit über dreiundvierzigtau
ein Ende zu bereiten, und nicht ein Verbrecher war seit Beginn
hatten bereits mehr als zweihunderttau
der UN-Mission verurteilt worden. Nach einem Jahr im Kosovo
send Serben und Angehörige der Roma den Kosovo verlassen.
hatte Dennis McNamara, der UN-Sonderbeauftragte für huma
Kleine serbische Enklaven inmitten von Albanern blieben im
nitäre Belange, gallig eine »implizite Toleranz für Intoleranz«
südlichen Kosovo bestehen, kleinere albanische Enklaven, um
eingeräumt und zugegeben, dass das Militär seine Notstandser
geben von Serben, im nördlichen Teil Mitrovicas. Ich flog mit
mächtigung gleich zu Beginn großflächig hätte umsetzen müs
Axel Parisel, dem Generaldirektor von MSF Belgien, nach Prishti
sen, um diese Kultur der Straflosigkeit zu verhindern.
Im August
2ooo
-
send KFOR-Soldaten
na im Kosovo. Am selben Abend gestand mir einer der MSF
Eines frühen Nachmittags fuhr ich mit unserem Team durch
Ärzte bei ein paar Bier: »Ich glaube nicht mehr an das, was ich
einen schwerbewachten KFOR-Kontrollpunkt über die Brücke
tue.« Ich blieb fast zwei Wochen, hörte zu, redete und versuchte
zur serbischen Enklave Schkolla, in der fast keine Serben mehr
zu verstehen.
lebten. Seit Juni 1 999 waren die meisten nach Serbien geflüchtet,
Um die serbischen wie auch um die albanischen Enklaven
aber einige wenige, fast ausnahmslos alte Leute, waren geblie
kam es immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen: Im
ben. Drei große Wohnblocks standen um einen breiten Platz mit
Vorbeifahren wurden Schüsse abgegeben, Handgranaten ge
einem Straßencafe an einer Seite. Albanische Märmer saßen hier
worfen, verbale Beschimpfungen ausgestoßen, außerdem wa
beisammen, rauchten und tranken Kaffee. Ihnen gegenüber, auf
ren Raubüberfalle, Erpressungen und Brandstiftungen an der
einem bewaffneten KFOR-Wagen, saßen französische Soldaten,
Tagesordnung. Über fünfhunderttausend Menschen waren be
die ebenfalls rauchten und Kaffee tranken. Als wir aus dem Wa
reits zu Tode gekommen, und bis Juni 1999 wurden es noch
gen stiegen, begannen die Männer im Cafe uns zu verhöhnen,
mehr. Wir organisierten medizinische Versorgung für etwa sie-
einer begrüßte uns gar mit dem allseits bekannten Stinkefinger.
3 44
3 45
Wir gingen drei Stock\verke hinau f bis zu einer metallenen
Praxis mit Medikamenten und anderen medizinischen Gütern.
Wohnungstür. Sie war mit Schmierereien besprüht und mächtig
»Das größte Problem unserer Leute ist die Angst«, sagte er zu
verbeult. Ihr Blech war stellenweise angesägt, und Stücke der
mir. »Wir geben ihnen Medikamente dagegen, aber der medi
flammhemmenden Isolierung von der Innenseite der Tür lagen
zinische Eingriff kollidiert mit ihrer Freiheit, macht sie unbe
auf dem Boden. Else, die MSF-Krankenschwester, machte sich
weglich. Nur was soll ich tun ? Es ist unser Schicksal. «
durch ein vereinbartes Klopfzeichen bemerkbar und verkündete
Ich fragte ihn, wie e s u m den Schutz durch die KFOR-Truppen
laut, sie habe einen Freund mitgebracht. Im Innern lag zer
bestellt sei. »KFOR sagt, sie wollen uns nur helfen, wenn wir
sprungenes Fensterglas auf dem Boden. Eine alte Frau im Nacht
mit ihnen kooperieren«, erklärte er. KFOR hatte tatsächlich die
hemd ging langsam zu ihrem dick gepolsterten Lehnstuhl zu
humanitäre Hilfe von dieser Kooperation abhängig gemacht.
rück. Sie war etwa siebzig Jahre alt. Obwohl zwei Fernseher und
Erst vor wenigen Wochen hatte KFOR einem Konvoi aus Strpce,
ein Radio eingeschaltet waren, hörten wir, wie die Männer im
einer serbischen Enklave, die Eskorte verweigert. Wie der Kom
Cafe unten sie verhöhnten. Sie brauche Diazepam, etwas »zur
mandant der Truppe erklärte, waren gegen die Enklave »wegen
Beruhigung der Nerven«, weil sie nicht schlafen könne, sagte
aggressiver Übergriffe auf das UN-Gebäude und Tätlichkeiten
sie. »Die ganze Nacht hämmern sie gegen die Tür«, erzählte sie,
gegen KFOR-Soldaten« Sanktionen verhängt worden. KFOR hatte
»den ganzen Tag brüllen sie etwas zu mir herauf.« Else maß
außerdem sämtliche humanitären Projekte in der albanischen
ihren Blutdruck. Die Angehörigen der Frau waren vor Monaten
Stadt Kamenica auf Eis gelegt. Grund dafür waren feindselige
nach Serbien geflüchtet. Sie hatte sich geweigert zu gehen, hatte
Handlungen gegen KFOR-Soldaten - gewalttätige Demonstratio
gehofft, die Lage werde sich verbessern. »Ich bin hier geboren
nen, Steinewerfen und das Zünden einer Handgranate. Bis die
und will auch hier sterben, bei meinen Ahnen«, sagte sie. Es
Einwohner der Orte Strpce und Kamenica ihre Bereitschaft zeig
war klar, dass KFOR die Albaner völlig unbeeindruckt ließ, und
ten, mit UNMIK - der UN-Mission im Kosovo - und KFOR zu
dass unsere Forderung nach mehr Sicherheit wiederum die
kooperieren, würden nur jene Gemeinden von den humanitä
KFOR.-Leute kaltließ. Es war auch klar, dass wir die illusion dieser
ren Zuwendungen profitieren, »die die Vereinten Nationen und
Frau, sie sei in Sicherheit, nur bestärkten. Indem wir ihr »etwas
KFOR unterstützten«. Ich rauchte mit dem serbischen Arzt eine
für die Nerven« gaben, streuten wir ihr nur noch mehr Sand in
letzte Zigarette, und er verabschiedete sich mit den Worten:
die Augen.
»Sie müssen reden, damit sich etwas ändert an dieser hoff
In einer anderen serbischen Enklave, südlich der Stadt, betrat
nungslosen Situation.«
ich die von Kerzen beleuchtete orthodoxe Kirche und sah drei
Ich wollte die Lage mit Bernard Kouchner erörtern und ver
Frauen auf Knien vor handgemalten Ikonen beten. Ich trat wie
suchte mehrmals, ihn zu einem Treffen zu bewegen; doch er
der hinaus, ging an einem Zelt vorbei, das als Schule für serbi
war unabkömmlich. Man munkelte schon, der Hass zwischen
sche Kinder fungierte, und zwängte mich durch eine Öffnung
Serben und Albanern habe Kouchner und seine Kollegen zu
im Stacheldraht, der die Kirche umgab. Eine Gruppe albani
tiefst deprimiert. Wochen vor meinem Besuch gaben seine Mit
scher Teenager verhöhnte und bespuckte mich. Ich wischte mir
arbeiter zu, dass der Mangel an Risikobereitschaft seitens der
die Spucke eines Jugendlichen vom Ärmel und begab mich in
KFOR-Soldaten, ihre Weigerung, sich selbst in Gefahr zu brin
ein kleines Gebäude, wo sich im zweiten Stock eine Arztpraxis
gen, dazu geführt habe, dass die informelle Aufteilung des Ko
befand. Der serbische Arzt rauchte ununterbrochen, während
sovo nicht in Frage gestellt, sondern lediglich verwaltet wurde.
wir uns im dunklen Zimmer unterhielten. Wir belieferten seine
Während wir anderswo im Kosovo mit der ärztlichen Versor-
3 47
gung fortfuhren, fassten wir den Entschluss, in bestimmten serbischen und albanischen Enklaven die psychische Betreuung abzubrechen. Wir baten stattdessen die Gemeindevertreter, die alten Leute fortzubringen, wenn sie es wollten. Und wir mel deten uns öffentlich zu Wort. In einer Pressekonferenz warfen wir den Vereinten Nationen und KFOR Versagen vor, was den Schutz von Minderheiten betraf. Die Menschen in den Enklaven seien mit einer zunehmend beängstigenden und hoffnungslo sen Situation konfrontiert, erklärte ich. »Die Lösung kann nicht darin bestehen, ihre durchaus berechtigte Angst mit Diazepam zu bekämpfen, sondern indem man mehr Sicherheit schafft.« Ein Reporter fragte mich, ob unsere Reaktion Bernard Kouch ner provozieren werde. »MSF und Bernard Kouchner haben un terschiedliche Auffassungen von humanitärem Handeln«, ant wortete ich. »Er hat den politischen Weg eingeschlagen, wir den humanitären.« Unsere Ansätze hätten unterschiedlicher nicht sein können. Humanitäre Hilfe konnte den Menschen keinen physischen Schutz bieten. Die Intervention durch die NATO hatte vorgeblich humanitäre Gründe, doch jetzt gelang es den Vereinten Nationen nicht, die Minderheiten zu schützen. Schlimmer noch, KFOR machte humanitäre Hilfe abhängig von der Kooperation der Betroffenen mit einer politischen Agenda. Aber die Bevölkerung im Kosovo hatte ein Recht auf humanitä ren Beistand und die internationale Gemeinschaft die Pflicht, den Raum für diesen Beistand zu ermöglichen. Als humanitäre Helfer oblag es unserer Verantwortung sicherzustellen, dass wir mit unseren Handlungen das Leid der Menschen linderten anstatt es zu leugnen oder zu betäuben -, damit die Menschen, denen wir halfen, in der Lage waren, freie, selbständige Ent scheidungen zu treffe11. Ende 2ooo kehrte ich mit zwei weiteren Personen aus unserer europäischen Zentrale nach Khartum zurück. In den Monaten zuvor waren Dörfer, die ich bei früheren Reisen besucht hatte, wie Ajiep und Mapel, von der Luftwaffe der Regierung bom bardiert worden, in einigen Fällen wiederholt. Sudanesische
Antonow-Flugzeuge warfen aus großer Höhe Streubomben und möglicherweise auch Bomben, die chemische Substanzen enthielten. Ihre Wirkung war verheerend. Es hatte viele Opfer gegeben, und viele unserer Ernährungszentren, Kliniken und Krankenhäuser waren zerstört worden. Das Rote Kreuz hatte anderswo im Süden ein ähnliches Schicksal erfahren, trotz sei ner gut gekennzeichneten Flugzeuge und Hilfszentren. Wir waren auch in anderen Gegenden tätig, die von Rebellen kon trolliert wurden, in der Nähe der Ölfelder der Regierung, wo westliche und chinesische Ölkonzerne stationiert waren. Unse re Einrichtungen dort waren ebenfalls bombardiert worden. Die Operation Lifeline Sudan stand kurz davor, eine weitere interne Untersuchung zu starten, und obwohl sie wie üblich an die sudanesische Regierung appelliert hatte, wurde weiter bombardiert. Auch uns war daran gelegen, dass die Regierung die Luftangriffe einstellte. Ich war eben aus Kambodscha zu rückgekommen und hatte infolge des Jetlag nicht sonderlich gut geschlafen. Ich war daher schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen, setzte mich in den kleinen Garten der MSF-Nieder lassung in Khartum und ging meine Notizen durch. Von einer nahegelegenen Moschee tönte der Ruf des Muezzin zum Gebet herüber, und ich lauschte dem Morgengesang der langschwän zigen Vögel kurz vor Sonnenaufgang. An diesem Tag erreichte die Temperatur 3 5 Grad Celsius. Wir trafen uns mit mehreren Regierungsbeamten, dem Au ßenminister und dem Minister für humanitäre Angelegenhei ten. Im Krieg seien Fehler vorprogrammiert, man müsse sie hinnehmen, sagte ich, nur seien diese Bomben keine Fehler. Die Regierung hatte behauptet, Ärzte ohne Grenzen beliefere die Rebellen im Süden heimlich mit Waffen, eine gänzlich un begründete und absurde Anschuldigung. Die Gespräche, die sich über drei Tage hinzogen, waren zunächst angespannt und formell. Ein Minister sagte zu mir: »Die Rebellen bewegen sich gern unter Zivilisten; die Rollfelder sind nicht das Eigentum von Ärzte ohne Grenzen, sondern Teil unseres souveränen Staa tes; wir befinden uns im Krieg, und solange sich dort Rebellen 3 49
befinden, werden sie bombardiert.« Doch liebäugelte der Su dan mit der Vorstellung, Afrika als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat zu vertreten, und musste daher internationales Menschenrecht respektieren. Ich erinnerte den Minister daran,
Eine Welt der Möglichkeiten schaffen : Der Kampf für lebensnotwendige Medikamente
dass alle Länder an das humanitäre Völkerrecht gebunden seien. In den darauffolgenden Tagen, während die Gespräche Fort
schritte erzielten, änderte sich der Ton. Wir speisten gemein sam mit dem Außenminister in einem privaten Restaurant zu
Als ich im Dezember 1999 fiir Ärzte ohne Grenzen den Friedens
Mittag, von dem aus die Tuti-Insel zu sehen war, beim Zusam
nobelpreis entgegennahm, brachte ich ein Unrecht zur Sprache,
menfluss des Blauen mit dem Weißen Nil. Der Minister trank
das nichts mit Krieg zu tun hatte. Neunzig Prozent aller Todesßl
ein großes Glas Wasser und goss auch mir ein Glas ein. »Direkt
le infolge ansteckender Krankheiten waren in Entwicklungslän
aus dem Nil - der Lebensader des Sudan!«, sagte er. Er sprach
dern zu beklagen. Als Ärzte mussten wir mit ansehen, wie unsere
von der »großartigen Zusammenarbeit«, die zwischen der Re
Patienten Krankheiten erlagen wie
gierung und MSF bestand. Ich trank einen Schluck Wasser. »Ma
sie an der Schlafkrankheit und anderen tropischen Krankheiten
chen Sie gemeinsame Sache mit den Amerikanern?«, fragte er. »Wir helfen Menschen in Not«, sagte ich. »Da hat man es
AIDS
oder Tuberkulose, wie
starben, nur weil lebensrettende Medikamente
zu
teuer und
manchmal überhaupt nicht verfügbar waren. Der Kampf um
mit allen möglichen interessanten Typen und Regierungen zu
den Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln wäre die nächste
tun.« Am Ende unseres Gesprächs räumte der Außenminister
Herausforderung für Ärzte ohne Grenzen.
ein, dass seine Regierung im Gegensatz zu den Rebellen, die
1998 war ich in der kaum kontrollierten Freihandelszone
nach Belieben angreifen und flüchten konnten, die Pflicht ha
zwischen Kambodscha und Thailand unterwegs, wo Spielkasi
be, humanitäre Hilfe zu respektieren. Die Regierung nahm den
nos, Drogenschmugglerringe und Prostitution florieren. Aids
Vo rwurf. wir würden Waffen schmuggeln, zurück, und an un
war hier auf dem Vormarsch, besonders unter den »Servier
serem letzten Tag in Kharturn ließ der Minister in die überre
mädchen« in den Bars und Bordellen. Ärzte ohne Grenzen bot
gionale Zeitung einen Artikel setzen mit der Überschrift : »Die
den Mädchen Aids-Aufklärung, Kondome, medizinische Ver
sudanesische Regierung heißt Ärzte ohne Grenzen im Sudan
sorgung und Medikamente gegen diverse Geschlechtskrankhei
willkommen und wird ihr Bestes tun, der Organisation die hu
ten. Ich begleitete Maurits van Pelt, den MSF-Einsatzleiter, in
manitäre Arbeit im Norden und im Süden des Landes zu er
eine Wohnung hinter einem Bordell, um ein etwa sechzehnjäh
leichtern.«
riges Mädchen zu untersuchen. Sie lag im Bett, die Haut voller
Wie lange diese neue »Kooperation« halten würde, wusste
Ekzeme, dennoch sah man, dass sie einmal schön gewesen war.
ich nicht. Bei einem unserer Treffen hatte der Minister seine
Sie starb an Aids. Auf der Welt-Aids-Konferenz in Vancouver
Achtung vor den »MSF-Leuten« zum Ausdruck gebracht. »War
vor zwei Jahren hatten Forscher verkündet, dass eine neue Be
um tut ihr das?«, hatte er mich gefragt. Und ich hatte, ohne zu zögern, geantwortet: »Weil wir es können.«
handlungsmethode die tödliche Seuche in eine chronische Er krankung verwandeln könne, die sich ebenso gut in Schach halten ließe wie Diabetes. Mit Hilfe äffendieher Gelder waren antitetravirale Medikamente, kurz ARVs genannt, entwickelt worden; die Rechte hatte man an die Pharmaindustrie verkauft.
351
Die lebenserhaltenden ARV-Medikamente standen unter Patent
die neuen, lebenserhaltenden Medikamente an vierhunderttau
schutz, und weil sie das Monopol darauf hatten, konnten die
send Personen ausgegeben, von denen neunundneunzig Pro
Konzerne sie zu Höchstpreisen auf den Markt bringen. 1998
zent in Europa und Nordamerika lebten, wo die Sterblichkeit
beliefen sich die durchschnittlichen Kosten für die patentierten
um siebzig Prozent zurückging. Weniger als ein Prozent aller
Arzneien auf fünfzehntausend Dollar im Jahr. Eine Freundin
ARV-Medikamente wurden in Afrika verkauft, wo jährlich zwei
des Mädchens hatte von den neuen Medikamenten gehört und
Millionen Menschen an Aids verstarben.
gab uns in gebrochenem Englisch zu verstehen, dass diese für
Einzelne pharmazeutische Konzerne sowie der amerikani
die Kranke unerschwinglich seien. Sie hatte recht. Es gab nicht
sche Pharmaverband PhRMA (hundert der weltweit größten
den Funken einer Hoffnung für die junge Frau. Wir konnten
Arzneimittelhersteller, mit sieben Lobbyisten für jeden Kon
allenfalls versuchen, sie zu trösten.
gressabgeordneten in Washington und vielen hundert Lobbyis
Noch vor zehn Jahren, als ich in Ruanda HIV-Studien betrie
ten in Europa) hatten ihren Einfluss auf westliche Regierungen
ben hatte, gab es nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisa
geltend gemacht, um zu verhindern, dass HIV-Medikamente in
tion weltweit einhundertfünfzigtausend Aids-Kranke; bis zum
den ärmeren Regionen der Welt zu günstigeren Preisen verfüg
Ende der 1 990er Jahre hatte man mit zwei bis drei Millionen
bar gemacht wurden. PhRMA befürchtete sinkende Gewinne,
Aids-Fällen gerechnet, eine optimistische Prognose, wie sich
weil die Menschen in den reichen Ländern, sobald patentierte
herausstellen sollte. 1999 war Aids zur globalen Katastrophe ge
Medikamente in der Dritten Welt zu günstigeren Preisen ver
worden. Weltweit waren bereits neunzehn Millionen Menschen
fügbar wären, für sich dasselbe einfordern könnten. 1999 wur
an der Krankheit gestorben, und immer noch erlagen ihr jähr
den weltweit pharmazeutische Produkte im Wert von 3 3 7 Milli
lich fast drei Millionen. Dreiunddreißig Millionen hatten sich
arden Dollar verkauft; entsprechend hoch waren die Gewinne.
mit dem Virus infiziert, und jedes Jahr kamen mehrere Millio
Die PhRMA-Konzerne gehörten zu den größten und umsatz
nen Neuinfizierte dazu. Präventionsstrategien waren eingeführt
stärksten aller Unternehmen und standen seit fast dreißig Jah
worden, aber die Krankheit setzte ihren erbarmungslosen Sie
ren ganz oben auf der Rangliste Fortune soo. Jahrelang hatte die
geszug fort. Sie wütete hauptsächlich unter den armen Men
Pharmaindustrie Millionen Dollar ausgegeben, um ihr öffentli
schen und unter denjenigen, die an den Rand der Gesellschaft
ches Image zu pflegen, indem sie ihr Engagement für For
gedrängt worden waren. Sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer
schung und Entwicklung im Gesundheitssektor hervorhob. Sie
in der Karibik, in Südamerika, Russland und den ehemaligen
hatte ebenfalls Millionen dafür aufgewendet, Washington und
Sowjetrepubliken, in China und Indien. Aber nirgends schlug
andere Hauptstädte der westlichen Welt mittels intensivster
sie so erbarmungslos zu wie in Afrika. Dort hatte das Virus von
Lobbyarbeit auf ihre Seite zu ziehen und auf diese Weise den
den gesellschaftlichen Rändern aus die gesamte Bevölkerung
Patentschutz zu stärken. TRIPS, das Übereinkommen der Welt
befallen. In Schwarzafrika starben mittlerweile auch Lehrer, Sol
handelsorganisation über handelsbezogene Aspekte der Rechte
daten, Beamte und Ärzte an Aids. Länder wie Botswana, in de
am geistigen Eigentum (Agreement on Trade-Related Aspecs of Intellectual
nen mehr als neununddreißig Prozent der Bevölkerung infiziert
Property Rights) , wurde von PhRMA ausgearbeitet und sollte welt
waren, standen kurz vor dem Zusammenbruch. In Schwarzafri
weit dem Patentschutz dienen.
ka waren - und sind - mehr als die Hälfte der Infizierten Frau
Wie die Ärzte und Pfleger, mit denen unsere Organisation
en. 1999 verloren auf dem gesamten Kontinent elf Millionen
zusammenarbeitete, mussten auch wir hilflos zusehen, wie un
Kinder infolge der Krankheit ihre Eltern. Im selben Jahr wurden
sere Patienten an heilbaren oder vernachlässigten Krankheiten 353
starben, nur weil für sie keine Medikamente verfügbar waren.
Eine Regierung darf nur dann zu diesem Mittel greifen, wenn
Weltweit hatten zwei Milliarden Menschen keinen Zugang zu
die Preisverhandlungen mit dem Inhaber des Patents gescheitert
lebensnotwendigen Medikamenten. Die Armut ist eine treiben
sind. Die zweite Maßnahme, als Parallelimport bekannt, erlaubt
de Kraft hinter einer schlechten körperlichen Verfassung, und
es einer Regierung, den internationalen Markt nach dem bil
dieses Problem konnten wir nicht lösen. Doch der fehlende
ligsten Nachahmerprodukt für ein patentiertes Medikament ab
Zugang zu Medikamenten war für uns Ärzte ein Unrecht, das
zugrasen. Beide Möglichkeiten würden die Kosten von ARV-Me
wir in Angriff nehmen konnten. Am selben Tag, an dem be
dikamenten in Südafrika um wenigstens achtzig Prozent senken
kannt wurde, dass die Organisation Ärzte ohne Grenzen mit
und es dem Land ermöglichen, die Aids-Epidemie einzudäm
dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden sollte, riefen wir
men.
unsere Kampagne »Zugang zu unentbehrlichen Medikamen
PhRMA bezeichnete das südafrikanische Vorgehen umgehend
ten« ins Leben. Die Kampagne wurde von Dr. Bernard Pecoul
als »Piraterie«; das Gesetz schwäche den Patentschutz und er
organisiert, dem ehemaligen Generaldirektor unseres Pariser
schöpfe die Einkünfte, so der Pharmaverband, die für For
Büros , der Rechtsanwältin Ellen 't Hoen, dem früheren Marke
schung und Entwicklung dringend gebraucht würden. Neun
tingexperten für pharmazeutische Produkte Daniel Berman und
unddreißig Unternehmen des Verbands verklagten Südafrika
von mir. Wir entsandten ein etwa zwanzig Personen starkes
und versuchten, Einfluss zu nehmen auf die Europäische Union
MSF-Team, das die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorga
und die us-Regierung, damit diese Druck ausübten auf Südafri
nisationen auf der ganzen Welt suchte. 1998 und 1999 organi
ka, das umstrittene Gesetz wieder außer Kraft zu setzen. »Die
sierten wir eine weltweite Koalition von über hundert Nichtre
us-Regierung . . . wird die legitimen Interessen und Rechte
gierungsorganisationen und Bürgerinitiativen, darunter CRTech,
amerikanischer Pharmaunternehmen verteidigen«, schrieb die
Health GAP, ACT UP und Oxfam im Norden; globale NGO-Netz
stellvertretende Außenministerin Barbara Larkin in einem Brief
werke wie Health Action International; und kleinere NGO-Netz
an den Kongress. Die USA verhängten Wirtschaftssanktionen
werke in Ländern wie Indien, Brasilien, Guatemala und Kam
gegen Südafrika, und Vizepräsident Al Gore reiste nach Südafri
bodscha, darunter ACCESS in Thailand und die Treatment Action
ka, um Nelson Mandela persönlich mitzuteilen, dass die Verei
Campaign in Südafrika, die es als Erstes mit den Pharmaunter
nigten Staaten das Gesetz nicht tolerieren würden. Der Vizeprä
nehmen aufnehmen würde.
sident der EU-Kommission, die Präsidenten Frankreichs und
Über fünf Millionen der neununddreißig Millionen Einwoh
der Schweiz sowie der deutsche Kanzler setzten Südafrika in
ner Südafrikas waren mit dem HI-Virus infiziert, dazu 45 Pro
ähnlicher Weise unter Druck. Zur gleichen Zeit versuchte der
zent aller Armeeangehörigen. Dennoch weigerten sich die
amerikanische Pharmaverband PhRMA Einfluss zu nehmen auf
Pharmaunternehmen, ihre Preise für patentierte antiretrovirale
westliche Regierungen und die Welthandelsorganisation WTO,
Medikamente zu senken. 1 997 verabschiedete Nelson Mandela
damit sie neue Zwangslizenzen limitierten und Parallelimporte
ein Gesetz, das zwei Aktionen zulassen würde, die nach interna
für illegal erklärten. Außerdem drängten sie auf noch strengere
tionalem Handelsrecht vollkommen legal sind. Die erste, be
Maßnahmen zum Schutz geistigen Eigentums, die den Zugang
kannt als Zwangslizenzierung, verleiht einer Regierung das
zu Medikamenten in der Dritten Welt weiter beschränken soll
Recht, ein Pharmaunternehmen zu zwingen, sein Patent einem
ten.
lokalen Hersteller von Generika zu überlassen, der wiederum
Überall auf der Welt herrschten ähnliche Bedingungen:
verpflichtet ist, dem Patent-Inhaber Lizenzgebühren zu zahlen.
PhRMA-Unternehmen weigerten sich, ihre Preise zu senken,
354
355
während Millionen Menschen starben. 1 999 waren in Brasilien über eine halbe Million Menschen HIV-infiziert. Trotz des gewal tigen politischen Drucks seitens der Europäischen Union und der USA trotzte Brasilien der PhRMA-Vereinigung, indem es ARV Nachahmerprodukte herstellte und sie kostenlos an Aids-Kranke verteilte. Binnen Monaten waren Krankenhaus- und Behand lungskosten um mindestens zwei Drittel gesunken. Während die Regierung ihre forsche Präventionskampagne fortsetzte, sanken Aids-Sterblichkeitsrate und Anzahl der Neuerkrankungen um die Hälfte. Thailand wollte dieselbe Gesundheitspolitik verfol gen wie Brasilien, bekam aber wie Südafrika den massiven poli tischen Druck seitens der USA und der Europäischen Union zu spüren. Für die Mitstreiter der Medikamentenkampagne war die Klage des Pharmaverbands in Südafrika eine Art Herausforderung, ein Präzedenzfall mit globalen Auswirkungen. In den USA kandidier te Al Gore für das Amt des Präsidenten und erhielt Wahlkampf spenden von Unternehmen des PhRMA-Verbands. Daraufhin ket teten
ACT
UP-Aktivisten sich an die Tür seines Washingtoner
Büros und unterbrachen seine Wahlkampfreden, um gegen den massiven Druck auf Südafrika zu protestieren. Die Verfechter der Medikamentenkampagne unterstützten Aktionen dieser Art, indem sie zeitgleich Demonstrationen gegen PhRMA-Konzerne in Südafrika und auf der ganzen Welt organisierten und auf diese Weise weltweit die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zogen. Ralph Nader, Ärzte ohne Grenzen und andere schrieben offene Briefe an das Weiße Haus, in denen sie die Regierung aufforder ten, ihre Drohungen gegen Südafrika zu unterlassen. Innerhalb weniger Tage nach diesen koordinierten Bemühungen änderte Al Gore seine Meinung und behauptete nun, er habe keine Angst, es mit der Pharmaindustrie aufzunehmen. Bald danach verkündete Präsident Clinton, dass kein afrikanisches Land Sank tionen zu befürchten habe, das Zwangslizenzen oder Parallelim porte fiir angebracht hielt; woraufhin die PhRMA-Unternehmen einen neuen Präsidentschaftskandidaten unterstützten. Im November 1999 trafen wir uns zu einer Konferenz in Ams-
terdam, an der über hundert NGO-Vertreter der Medikamenten kampagne teilnahmen, dazu Beamte der Europäischen Union und der brasilianischen Regierung, Vertreter der Weltgesund heitsorganisation und anderer UN-Organisationen und einige Vertreter von PhRMA. Wir waren auf der Suche nach Alternativen für die Praktiken der Welthandelsorganisation wro, die in der Dritten Welt den Zugang zu Medikamenten verhinderten. In we nigen Wochen sollte das Ministertreffen der Welthandelsorga nisation in Seattle stattfinden, und in Amsterdam machten die Europäische Union und die Weltgesundheitsorganisation ihre Positionen deutlich. Die EU vertrat die Auffassung, dass konkrete Ratschläge an die Entwicklungsländer in Bezug auf Handelsthe men eine angemessene Lösung für das Zugangsproblem darstell ten. Michael Scholtz, ein Repräsentant der Weltgesundheitsorga nisation, gab an, dass die WHO in Seattle die Auffassung unterstütze,
dass gesundheitliche Belange keine »Handels
hemmnisse« darstellen dürften. Die meisten Teilnehmer der Konferenz zeigten sich schockiert. Die Weltgesundheitsorgani sation ist die einzige zwischenstaatliche Institution, deren Ziel es ist, die Gesundheit aller Menschen zu schützen und zu för dern. Ich schloss das Treffen mit der Forderung, die Organisati on möge ihre Verantwortung wahrnehmen und sicherstellen, dass »der Handel kein Gesundheitshemmnis« darstelle. Einige Tage später sprach ich vor dem Europäischen Parlament in Brüs sel. Nachdem ich betont hatte, dass Ärzte ohne Grenzen nicht gegen Globalisierung, freie Märkte oder Patentschutz sei, protes tierte ich aufs Schärfste gegen die offizielle Handelspolitik der Europäischen Union. Ich appellierte an die EU, sie möge, ihrer Verantwortung gemäß, die Gesundheit der Bevölkerung über den Handel stellen. Eine Woche später begab sich Dr. Bernard Pecoul zum Wirtschaftsgipfel in Seattle, um dort »der Gesund heit zuliebe« für »Ausnahmeregelungen von Handelsbestim mungen« einzutreten. Die Gespräche in Seattle drohten an Dis kussionen über Textilien, Landwirtschaft und geistiges Eigentum zu scheitern. Draußen war das Gebäude von Demonstranten um geben und drinnen stieß Bernards Appell auf taube Ohren.
35 7
Die Vertreter der Medikamentenkampagne hielten nicht nur
ein gestaffeltes Preisschema vor, mit 95 Prozent Preisnachlass
hochtrabende Reden, sondern suchten auch durch pragmati
für lebensnotwendige patentierte Medikamente in den Ent
sche Unternehmungen einen Wandel herbeizuführen. Wir ver
wicklungsländern. Sykes lehnte unseren Vorschlag unumwun
einigten die gewaltige Kaufkraft von MSF, um die Preise für
den ab, bestand aber darauf, uns das Abendessen zu bezahlen.
Generika nach unten zu treiben. Gleichzeitig recherchierten
Dies wiederum lehnten wir ab und zahlten unseren Anteil
wir Preisunterschiede zwischen patentierten und generischen
selbst. Wir trafen uns mit Vertretern der Firmen Bristol-Myers
ARV-Medikamenten und anderen Hrv-Arzneimitteln in unter
Squibb, Eli Lilly und Merck sowie mit Vertretern der Weltbank
schiedlichen Ländern und stellten die Ergebnisse ins Internet,
in Washington, kamen aber zu keiner annehmbaren Einigung.
damit sie für jedermann zugänglich waren. So fanden wir bei
Der Druck auf die internationale Gemeinschaft, einzelnen
spielsweise heraus, dass Fluconazol, ein Wirkstoff, der bei
Regierungen zu erlauben, gegen die Aids-Krise anzugehen,
Aids-bezogener Meningitis zum Einsatz kam, in Thailand pro
wuchs zusehends. Im Mai 2ooo, als Teil des
Tag nur siebzig us-Cents, in Kenia dagegen zwanzig Dollar kos
Programme on HIV I AIDS (uNAIDS),
Joint United Nations
kündigten fiinf Pharmakonzerne
tete. Der Wirkstoff war in Kenia patentiert worden: Somit hatte
ihre Absicht an, die Preise für ihre patentierten antiretroviralen
nur eine Firma das Recht, ihn herzustellen und zu einem belie
Arzneistoffe für einige afrikanische Länder bis auf einen Durch
bigen Preis zu verkaufen. Ich muss wohl nicht eigens erwäh
schnittspreis von ungetahr zweitausend Dollar jährlich pro Pati
nen, dass in Kenia mehr Menschen
an
Aids-bezogener Menin
gitis starben als in Thailand. Aber auch in Thailand starben zu
ent zu reduzieren. Die
USA boten den Ländern Kredite zu sieben
Prozent Zinsen, um die patentierten Arzneimittel zu kaufen.
viele Menschen an Aids. Gemeinsam mit Organisationen wie
Doch eine höhere Verschuldung würde das Problem auf keinen
stellte Ärzte ohne Grenzen das zwanzig Jahre alte Patent
Fall lösen, eher im Gegenteil. Wie Bernard Pecoul sagte: »Die
der Firma Bristol-Myers Squibb auf das Aids-Medikament Dida
Tatsache, dass wir die Arzneimittelkonzerne mit unserer Kam
nosin in Thailand in Frage, um zu bewirken, dass ein Generi
pagne dazu gebracht haben, über eine drastische Preissenkung
kum des Arzneistoffs bewilligt wurde. In der gesamten Dritten
bei Aids-Medikamenten nachzudenken, ist bereits ein Sieg. Al
ACCESS
Wel t klärten wir Regierungen über Zwangslizenzen und Paral
lerdings nur ein kleiner Sieg, so als hätte ein Elefant eine Maus
lelimporte auf und ermutigten
diese Möglichkeiten für sich
zur Welt gebracht.« Wir appellierten an die afrikanischen Re
zu nutzen, um kostengünstiger an Arzneimittel zu kommen.
gierungen, Vorschläge dieser Art abzulehnen, was sie auch ta
Wir drängten auch eine zögernde Weltgesundheitsorganisation
ten.
dazu, einer Resolution zuzustimmen, die diese Maßnahmen
Als die Medikamentenkampagne zunehmend an Ansehen
unterstützte, und versuchten bei Weltwirtschaftsgipfeln die
und politischem Einfluss gewann, brachte die PhRMA-Gruppe
Welthandelsorganisation wro, die Vereinten Nationen und die
das Argument vor, dass Südafrika und andere Entwicklungslän
G8-Staaten zu überzeugen.
der nicht einmal die notwendige Infrastruktur besäßen
Wir trafen uns viele Male mit Vertretern des PhRMA-Ver
»Uh
ren, fließendes Wasser, Kühlschränke« -, um die medikamen
bands. Bei einer Gelegenheit waren Bernard Pecoul, Daniel Ber
töse Behandlung von Aids zu unterstützen, und so habe es
man und ich in einem exklusiven Restaurant in Brüssel mit Sir
wenig Sinn, wenn eine Regierung »ihr Geld auf solche Arznei
Richard Sykes verabredet, einem kleinen, nervösen, bebrillten
mittel verschwendete«. Selbst als die
Mann, der damals Vorstandsvorsitzender des Unternehmens
hungen gegen Südafrika zurückgenommen hatten, beharrten
SmithKline Beecham war. Im Verlauf des Essens schlugen wir
die PhRMA-Konzerne auf ihrer Klage gegen die südafrikanische
EU
und die
USA ihre
Dro
359
Gesetzgebung. Als Reaktion veranstalteten Aktivisten weiterhin
hatte: »Wozu? Ohne Medikamente ist es ein Todesurteil.« Jetzt
Straßendemonstrationen, und die Treatment Action Campaign
genügte schon das Gerücht einer möglichen Behandlung, um
(TAC) verklagte ihrerseits die Konzerne des PhRMA-Verbands.
die Leute zum Bluttest zu ermutigen.
Die Vertreter der Medikamentenkampagne drängten Regierun
An diesem Abend gingen Eric und ich mit Zackie Achmat,
gen weltweit, Südafrika gegen PhRMA zu unterstützen. Jamie
einem ruhigen, offen schwulen, mv-positiven Mann, der TAC
Love, der auf seinem Laptop unentwegt Patiencen legte, selbst
initiiert hatte, auf ein Bier. Wir wollten zeigen, dass die Men
während er redete, war regelrecht besessen vom Gedanken an
schen ein Recht hatten auf die ARV-Arzneirnittel und dass eine
Zwangslizenzen. Seine Gruppe, CRTech, vereinte Juristen und
umfassende Behandlung selbst in den ärmsten Verhältnissen
Akademiker aller Kontinente und unterbreitete dem Gerichts
der Dritten Welt möglich war. Wir waren außerdem fest ent
hof in Südafrika juristische Informationen, um der weltweiten
schlossen, die falsche Zweiteilung zwischen Behandlung und
Kampagne gegen PhRMA noch mehr Gewicht zu verleihen.
Prävention abzuschaffen, und wollten sicherstellen, wie es in Brasilien geschehen war, dass beides Hand in Hand ging. Am
Anfang Januar 2001 reiste ich mit Eric Goemaere, dem MSF
1 9 . April 2oor sollte die Anhörung der PhRMA-Konzerne statt
Einsatzleiter in der Township Khayelitsha am Stadtrand von
finden, bis dahin blieb der Import von ARV-Medikamenten wei
Kapstadt, nach Südafrika. Gemeinsam mit der Organisation TAC
ter illegal. Gegen ein ungerechtes Gesetz dürfe man verstoßen,
wollten wir öffentlich illegale Nachahmerversionen von ARV
so Zackies Argument, und das Beste sei der gewaltlose zivile
Medikamenten importieren. Khayelitsha liegt versteckt hinter
Ungehorsam. Wir kamen überein, dass MSF von einem brasilia
dem Lion's Head Mountain, der Kapstadt überblickt, und im
nischen Hersteller antiretrovirale Medikamente kaufen, TAC sie
Jahr 2001 lebten dort mindestens vierhundertfünfzigtausend
importieren und MSF sie in der Klinik in Khayelitsha kostenlos
Menschen, mehr als die Hälfte unter dreißig, in Ziegel- oder
an kranke Patienten verteilen würde.
Wellblechhütten, mit ungeklärtem Abwasser, das am Rand von staubigen Sandstraßen dahinströmte. Eric schätzte,
dass in
Tags darauf trafen Eric und ich uns mit John Kearney, dem südafrikanischen Geschäftsführer von GlaxoSmithKline, dem
Khayelitsha mindestens fünfzigtausend Menschen HIV-positiv
größten Pharmaunternehmen der Welt. Wie schon viele Male
waren. In der MSF-Klinik drängten sich heute die Menschen.
zuvor forderte ich eine Preissenkung von fünfundneunzig Pro
Fast alle hatten Gerüchte gehört, dass MSF und TAC ARV-Medika
zent für antiretrovirale Medikamente; außerdem appellierte ich
mente verteilen wollten, vorläufig allerdings nur an einhun
an die 3 9 Unternehmen im PhRMA-Verband, ihre Klage gegen
dertfünfzig Personen. Einige waren verärgert, weil sie schon so
die südafrikanische Regierung fallenzulassen. Kearney erwider
lange auf den Wirkstoff gewartet hatten; einige versuchten Eric
te seelenruhig, dass Glaxo den Schutz seines Patents »aggressiv
und mich zu überzeugen, dass ihnen eine Vorzugsbehandlung
verteidigen« werde.
zustand; andere saßen mit aufgeschlagenen Bibeln da und bete
Eric und ich kehrten nach Kayelitsha zurück und trafen uns
ten darum, zu den wenigen Auserwählten zu gehören; die
mit dem Komitee, das unter vielen tausend Infizierten hundert
meisten saßen still da und warteten, zu krank, um sich zu be
fünfzig Patienten für die lebensrettende Behandlung auswählen
wegen. Außerdem waren viele gekommen, um einen Bluttest
sollte. In einem heißen Hinterzimmer der Klinik erklärte ich
vornehmen zu lassen. Wie überall in den Entwicklungsländern
den Mitgliedern des Komitees, dass in den kommenden Wo
unterzogen die Leute in Khayelitsha sich ungern diesen Tests.
chen die Augen der ganzen Welt auf ihnen ruhen würden. Da
Wie ein Mann mir einige Wochen zuvor in Thailand erklärt
man von außen zweifellos versuchen würde, die Initiative zu
diskreditieren, trafen in diesem Fall nicht die Ärzte, sondern
produkte gesunken. Ein Jahr nach Beginn der Behandlung hatte
die Gemeindemitglieder die Entscheidung, wer die Behandlung
die Mehrheit der einhundertfiin fzig Aids-Patienten in Khaye
erhalten sollte. Einige Komitee-Mitglieder waren selbst HIV-po
litsha mindestens zehn Kilo zugenommen; vierundachtzig Pro
sitiv; keines war Arzt oder Pfleger. Es waren Sozialarbeiter dar
zent waren am Leben und wohlauf. Wir weiteten das Khayelit
unter und Menschen, die sich für die Rechte von Frauen, Ar
sha-Projekt aus und lancierten überall auf der Welt ähnliche
beitern und Kindern einsetzten. Gemeinsam kämpften sie nun
Programme, um zu zeigen, dass es selbst unter schwierigen
für den Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten. Die Grup
Bedingungen möglich war, Aids zu behandeln.
pe musste darauf gefasst sein, ihre Entscheidung vor der Ge meinde und der ganzen Welt rechtfertigen zu müssen.
Für
MSF
waren ARV-Medikamente nur die Spitze des Eisbergs.
Tage nach unserem Treffen mit Glaxo lancierte Ellen 't Hoen
Im Jahr 2ooo lebten weltweit sechzehn Millionen Menschen mit
von Ärzte ohne Grenzen den internetbasierten Aufruf » Verfah
offener Tuberkulose - die Hälfte von ihnen ansteckend. Jährlich
ren einstellen«. Die Mitstreiter der Medikamentenkampagne or
starben über eineinhalb Millionen Menschen an der Krankheit,
ganisierten Demonstrationen in New York, Kopenhagen, Bang
und in jedem Jahr wurden mehr als acht Millionen neue Tuber
kak, Pretoria, Manila und anderen Städten auf der ganzen Welt.
kulosefalle diagnostiziert. Die Behandlung war kompliziert, und
Das Europäische Parlament verabschiedete eine Resolution, in
das ist sie auch heute noch: Vier bis sechs Medikamente müssen
der es die PhRMA-Konzerne beschwor, die Klage fallenzulassen,
über sechs bis neun Monate täglich eingenommen werden. Ob
und viele hochkarätige Politiker brachten ihre Unterstützung
wohl diese Standardbehandlung sehr wirksam war, hatte in der
von Südafrika zum Ausdruck. In der Khayelitsha-Klinik wurden
Praxis nur einer von sechs Tuberkulosekranken Zugang zu Me
die Patienten ausgewählt, ohne dass es zu Ausschreirungen ge
dikamenten. Und wer die Behandlung erhielt, brach sie meist
kommen wäre, die illegalen Arzneistoffe wurden importiert,
ab, sobald eine Verbesserung seines Gesundheitszustands ein
und wir machten uns daran, aidskranke Menschen zu behan
trat, weil er es sich auf Dauer nicht leisten konnte, der Arbeit
deln. Das skrupellose Gewinnstreben durch die Pharmakonzer
fernzubleiben
ne, während Millionen Menschen an Aids starben, hatte - dank
Dollar am Tag einbrachte. Abgebrochene Behandlungen be
der Medikamentenkampagne
weltweit für Entrüstung gesorgt.
schleunigten die Wirkstoffresistenz und führten zu der gefürch
Am 1 9 . April, kurz vor Beginn der Anhörung, zogen die PhRMA
teten multiresistenten Form der Tuberkulose (MDR-TB) . Diese
Unternehmen ihre Klage gegen Südafrika bedingungslos zu
war im Jahr 2ooo in über hundert Ländern nachgewiesen wor
rück. Unverfroren gab PhRMA sich erfreut darüber, dass die Re
den. Unter der Leitung von Jim Yong Kim und Paul Farmer von
gierung des Landes bereit war, sich an internationales Handels
der Hilfsorganisation
recht zu halten. Insgeheim jedoch versprach der Verband, die
Mitglieder der Medikamentenkampagne die Weltgesundheitsor
Gerichtskosten für TAC zu übernehmen. Ellen 't Hoen, die sich
ganisation, entschlossener als bisher gegen die unterschiedli
einer Arbeit, die ihm allzu oft weniger als zwei
Partners in Health
beschworen MSF und die
unermüdlich fiir die Kampagne engagiert hatte, sagte: »So bald
chen Arten der Tuberkulose in der Welt vorzugehen. Jim Yong
wird PhRMA wohl kein weiteres Entwicklungsland vor Gericht
Kim trug wesentlich dazu bei, dass ein Plan zustande kam, der
schleppen.«
einerseits einen gerechten Zugang zu Medikamenten fördern,
Bis zum Jahresende war der Preis fiir ARV-Medikamente pro
andererseits die Verbreitung von
TB
und MDR-TB eindämmen
Patient von fünfzehntausend Dollar jährlich für patentierte
sollte. Medikamente gegen multiresistente Tuberkulose kosten
Wirkstoffe auf weniger als zweihundert Dollar für Nachahmer-
insgesamt etwa achttausend Dollar pro Patient. Wir mussten ei-
ne Preissenkung für Cycloserin, den teuersten Wirkstoff, errei chen. In Genf traf ich mich daher mit Vertretern des Pharma konzerns Eli Iilly und erwirkte nach zäher Verhandlung eine Preisreduktion von fünfundneunzig Prozent. Ärzte ohne Gren zen übernahm Kauf und Lagerung der Arznei fiir andere Nicht regierungsorganisationen und die Weltgesundheitsorganisation. Wir mussten sicherstellen, dass die Medikamente korrekt ange wendet wurden. Gemeinsam mit Jim Yong Kim regten wir die Weltgesundheitsorganisation
dazu
an,
ein
entsprechendes
Überwachungskomitee zu gründen. Trotzdem v<.'Urden nach wie vor bessere und kürzere Tuberku lose-Behandlungen gebraucht. Seit 1967
gegen die Krank
war
heit kein neuer Wirkstoff mehr auf den Markt gekommen. Fünf undneunzig
Prozent
aller
Tuberkuloseralle
traten
in
den
Entwicklungsländern auf, und selbst wenn neue Wirkstoffe ent deckt Vl.'tlrden, investierte die Pharmaindustrie dafür wenig bis keine Forschungsmittel, da der Markt als nicht lukrativ genug galt. Doch seit vor kurzem ein Tuberkulosefall in New York
<;:ity
aufgetreten war und die Krankheit sich auch anderswo in der westlichen Welt wieder bemerkbar machte, sah
man
in der
Branche einen möglicherweise gewinnträchtigen Markt. Ariel Pablo-Mendez von der RockefeUer-Stiftung war der Meinung, dass Forscher, mit öffentlichen Geldern unterstützt, in Zusam menarbeit mit der Pharmaindustrie neue Wirkstoffe entwickeln müssten, die den Patienten dann auf gerechte Weise zugänglich gemacht werden sollten. Ariel war besessen von seiner Idee, obwohl er nicht wissen konnte, ob sie überhaupt funktionieren würde. Ärzte ohne Grenzen stellte Fragen, debattierte und betei ligte sich schließlich am Experiment einer öffentlich-privaten Partnerschaft. Im November 2ooo VI.'Urde die
Drug Development
Global Alliance for
TB
ins Leben gerufen, und ich Vl.'tlrde als Vertreter
von Ärzte ohne Grenzen Mitglied im Stiftungsrat Giorgio Roscigno. ein tadellos gekleideter früherer Geschäftsführer der PhRMA-Gruppe, der, wie er es ausdrückte, »in die Solidarge meinschaft übergelaufen war«, war der erste amtierende Vor standsvorsitzende.
Im Oktober 2ooo hatte die Weltgesundheitsorganisation ihr
Massive-Effort-Programm
gegen Aids, Tuberkulose und Malaria
gestartet. Sie warb für die Verteilung von Moskitonetzen gegen Malaria, von Kondomen zur HIV-Prävention, für Medikamen tenspenden zur Behandlung von Aids und propagierte eine Ausweitung der mittlerweile unzureichenden Behandlungspro gramme gegen Tuberkulose. Sie äußerte sich weder über die Notwendigkeit neuer Arzneistoffe noch über die Verantwor tung der Regierungen im Umgang mit Handelsvorschriften, um den Zugang zu ärztlicher Versorgung zu gewährleisten. Nach Meinung von Ärzte ohne Grenzen ging
Massive Effort nicht
weit genug. Ein hochrangiges Mitglied im WHO-Kabinett hatte gehört, dass Ärzte ohne Grenzen der neuen Kampagne kritisch gegenüberstand. Der Mann rief mich auf dem Handy an, als ich eben im Begriff war, das Podium zu besteigen und auf der Veranstaltung zu sprechen, die die WHO-Kampagne auf den Weg bringen sollte. »Nehmen Sie den Mund lieber nicht so voll!«, brüllte er ins Telefon, »sonst wird die WHO den Kontakt zu Ärzte ohne Grenzen abbrechen !« Ich fiihrte daraufhin einige Telefonate mit wichtigen Vertretern unseres Verbands, um mich ihrer Unterstützung zu versichern. Anschließend trat ich an das Rednerpult und beklagte, dass die WHO-Kampagne komplexe Sachverhalte allzu sehr vereinfache, den Status quo akzeptiere und es versäume, auf den Bedarf an neuen Arzneien und an besseren Gesundheitsstrategien zu reagieren. Der Kontakt zu Ärzte ohne Grenzen wurde trotzdem nicht abgebrochen. Ende des Jahres 2ooo traf ich Rolie, meine Partnerin, am Brüs seler Flughafen. Ich war erst drei Stunden zuvor aus Thailand angekommen und wurde zu einem dringenden Meeting im Su dan erwartet. Rohe hatte mir einen Koffer mit frischer Kleidung mitgebracht, und wir aßen in einem Flughafenrestaurant im Schein von Neonröhren gemeinsam zu Abend. Ich war seit fast drei Jahren der Internationale Präsident von MSF. Das Tempo war mörderisch - ich war ständig unterwegs, bereiste manch mal in nur einer Woche drei Kontinente. Es kam mir so vor, als
betrete oder verlasse ich ständig eine Krise. Einige Mitglieder im Internationalen Rat des Verbands hätten am liebsten die Statuten verändert, um mich noch länger im Amt zu halten. Doch ich stand am Scheideweg. Zuweilen hatte ich das Gefühl, als sei ich der Kampf in Person. Wenn ich so weitermachte, fürchtete ich,
sigte Krankheiten«, die ich gemeinsam mit Els Torreele leitete, einem ehemaligen belgiseben Biochemieprofessor. Zunächst überlegten wir uns, wie sich die Entwicklung von Medikamen ten für vernachlässigte Krankheiten ankurbeln ließe. Die Grup pe bestand aus etwa vierzig Wissenschaftlern, Fachleuten aus
würde ich am Ende nicht mehr wissen, wofür ich eigentlich
der Arzneimittelherstellung und aus dem öffentlichen und pri
kämpfte. Nach meiner Rückkehr aus dem Sudan klebte ich eine
vaten Gesundheitssektor der Industrie- und Entwicklungslän
Notiz auf unseren Kühlschrank in Brüssel: »Ich will nicht ver längern! Ich entscheide mich für die Liebe! « Dr. Morten Rost rup löste mich ab, und Ende Januar 2001 kehrten Rolie und ich nach Toronto zurück. Einige Monate später waren wir verheira tet. Ich konnte Ärzte ohne Grenzen jedoch nicht vollständig den Rücken kehren. Mit unserer Medikamentenkampagne hatten wir zwar einige Schlachten gewonnen, aber immer noch star ben zu viele unserer Patienten an Krankheiten, für die es noch keine modernen Behandlungsmethoden gab, da nicht die Ge sundheitsbedürfnisse ihrer Mitmenschen, sondern die mögli chen Gewinnspannen den Ausschlag geben, wie Pharmakon zerne ihre Budgets für Forschung und Entwicklung anlegen. Und Letztere sind zudem schmal im Vergleich zu den Ausgaben im Bereich Marketing. 2001 investierten Pharmaunternehmen
der. In den folgenden zwei Jahren veranstalteten wir Tagungen in Indien, Malaysia, Brasilien, New York und Europa, um das Problem sorgfältig zu umreißen. Zuerst stellten wir fest, dass ein fatales Ungleichgewicht bestand zwischen den gesundheit lichen Bedürfnissen armer Menschen in Entwicklungsländern und dem Mangel an Forschung und Entwicklung von Arznei mitteln, um ihre Krankheiten zu behandeln. In Zaire hatte ich Patienten an der afrikanischen Schlafkrankheit leiden sehen, die j ährlich dreihunderttausend Menschen befallt. Werden sie nicht behandelt, entwickeln sie eine Psychose, und in jedem Jahr sterben über sechzigtausend Menschen daran: die einen, weil sie keine Medikamente erhalten, die anderen, weil die existierende Arznei, ein Medikament namens Melarsoprol. eine giftige
Arsenverbindung
und die
Einnahme
entsprechend
hochgefahrlieh ist. Der Wirkstoff wird in die Venen injiziert
einunddreißig Cent pro Dollar ihres Einkommens für Marke
und verursacht bei jeder der zehn erforderlichen Dosen uner
ting und Werbung, aber nur vierzehn Cent pro Dollar für For
trägliche Schmerzen. Ich habe mit angesehen, wie Patienten
schung und Entwicklung. Als Ärzte ohne Grenzen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, hatte ich provo kativ eine globale Steuer auf den gesamten Umsatz mit phar mazeutischen Produkten vorgeschlagen, um damit Forschung und Entwicklung für vorrangige Gesundheitsbedürfnisse
zu
finanzieren. In Oslo hatten wir angekündigt, das Geld für den Friedensnobelpreis in die Erforschung neuer Behandlungsme thoden für vernachlässigte Krankheiten fließen zu lassen. Jetzt wollte ich dieses Vorhaben in die Praxis umsetzen. Von meinem Wohnsitz in Toronto aus gründete ich mit Ber nard Pecoul und dem europäischen Team der Medikamenten kampagne die Arbeitsgruppe »Medikamente gegen vernachläs-
schreien, wie sie festgehalten werden müssen, während man ihnen die Arznei verabreicht. Melarsoprol verursacht eine Schwellung des Gehirns und zuweilen auch Ohnmachtsanfälle. Acht von zwanzig Personen, die das Medikament erhalten, ster ben: einer stirbt an der Behandlung selbst, die restlichen sieben an einer Art Schlafkrankheit, die gegen das Medikament resis tent ist. In Zusammenarbeit mit der Harvard School of Public Health schickte unsere Arbeitsgruppe den zwanzig führenden Pharma konzerneu der Welt einen Fragebogen und fand heraus, dass unter den elf Unternehmen, die ihn ausfüllten, acht kaum Geld und Mühe investierten für Wirkstoffe gegen vernachlässigte
Krankheiten wie die afrikanische Schlafkrankheit. Des Weiteren
Regierungen die gesundheitlichen Bedürfnisse armer Men
zeigte sich, dass nur 0 , 2 Prozent der sechzig Milliarden Dollar,
schen in der Dritten Welt vollkommen außer Acht ließen.
die weltweit in jedem Jahr in die Entwicklung neuer Wirkstoffe
1 998 hatte ich eine MSF-Klinik in der Slum-Siedlung Kibera
flossen, für Mittel gegen Tuberkulose, Malaria und akute Atem
am Stadtrand von Nairobi besucht. Wir versorgten die Men
wegserkrankungen investiert wurden, gegen Krankheiten also,
schen mit den grundlegenden Mitteln, verabreichten ihnen
die achtzehn Prozent aller tödlich verlaufenden Krankheiten
Medikamente gegen Krankheiten wie Malaria und Durchfall
ausmachten. Von 1 3 93 neu patentierten Wirkstoffen, die zwi
und organisierten ein Programm zur Vermeidung von Aids. Ich
schen 197t; und 1999 auf den Markt kamen, bekämpften nur
saß im Büro der Klinik und untersuchte eine apathische, fünf
dreizehn tropische Krankheiten. Von diesen dreizehn Wirkstof
jährige Malariapatientin, die nach drei Tagen Behandlung mit
fen resultierten sechs aus der Veterinär- und vier aus der Mili
dem üblichen Chloroquin noch immer erbrach und fieberte.
tärforschung. Unsere Untersuchung ergab außerdem, dass der
Ihre Malaria reagierte nicht auf den Wirkstoff. Arzneimittelre
Patentschutz häufig zu einer Forschung führte, die weit weni
sistenz ist ein natürliches Phänomen, alle Erreger werden ir
ger innovativ war als die Unternehmen des PhRMA-Verbands es
gendwann resistent. Deshalb muss ja auch unentwegt nach
uns glauben machten. Die meisten Innovationen waren verhält
neuen Wirkstoffen geforscht werden. Ich unterhielt mich mit
nismäßig preisgünstig, nur kleinere molekulare Modifizierun
der Mutter des Mädchens, als ungeklärtes Abwasser unter der
gen, die zwar die Wirkung eines Medikaments nicht verbesser
Tür hereinsickerte. Die von Hand gegrabenen Abflussrinnen
ten, aber die legalen Kriterien für ein neues Patent erfüllten
entlang der unbefestigten Straße waren verstopft, und so hatte
und somit höhere Gewinne einbrachten. Diese sogenannten
sich, wie es etwa dreimal pro Woche passierte, wieder einmal
Me-too-Präparate waren zum primären Forschungsziel gewor
ein Rückstau gebildet. Während Klinikmitarbeiter den Abfall
den, so dass sie bald achtundsechzig Prozent aller vermeintlich
beseitigten, machten sich einige der vielen tausend Menschen,
innovativen Medikamente der PhRMA-Unternehmen darstell
die im Slum lebten, daran, die Rinnen zu säubern.
ten. In den
USA
erzielten weniger als fünf Prozent der Medika
In jedem Jahr sterben weltweit fast zwei Millionen Menschen
mente, die zwischen 1981 und 2ooo von den führenden fünf
an Malaria. Neunzig Prozent dieser Todesfälle treten in Afrika
undzwanzig Pharmaunternehmen neu auf den Markt gebracht
auf, und weil das Immunsystem von Kindern empfindlicher ist,
wurden, therapeutische Fortschritte, obwohl etwa siebzig Pro
sind achthunderttausend der Opfer Kinder. Pharmaunterneh
zent davon mit öffentlichen Geldern gefördert worden waren.
men, die nach dem potentiell lukrativen Markt mit westlichen
Viele Regierungsinitiativen verschärften die Ungerechtigkeiten
Touristen schielten, erklärten sich bereit, Medikamente gegen
des Marktes. Staatlich subventionierte Forschung brachte che
Malaria zu entwickeln. Das Special Programme for Research
mische Verbindungen hervor, die Leitsubstanzen darstellten.
and Training in Tropical Diseases, die größte internationale öf
Diese wurden dann von PhRMA-Unternehmen aufgekauft.
fentliche Gesellschaft,
Zwar lockten Regierungen die Konzerne mit Steuerentlastun
Krankheiten betraut ist, hatte 1 999 eine öffentlich-private Part
gen und anderen finanziellen Anreizen zu einer Fortsetzung der
nerschaft gegründet , die Medicines for Malaria Venture oder
die mit
der Erforschung tropischer
Forschungstätigkeit, aber ohne die Garantie auf einen kräftigen
MMV, um vollkommen neue Medikamente zu entwickeln. Bis
Reibach blieben Leitsubstanzen für neue Medikamente oft un
j edoch ein neuer Wirkstoff auf dem Markt verfügbar wäre,
entwickelt in Verbindungsbibliotheken gespeichert. Es war klar,
konnten bis zu zehn Jahre ins Land gehen. Unterdessen breitete
dass die Marktmechanismen und eine unzulängliche Politik der
sich die Resistenz gegen bereits existierende Medikamente un-
aufhaltsam weiter aus. Während wir darauf warteten, dass die MMV Ergebnisse präsentierte, kamen Experten in unserer For
schungsinitiative »Medikamente gegen vernachlässigte Krank heiten« auf die Idee, mit der Kombination zweier bereits exis tierender
Malariamittel
in
einer
Tablette
kurzfristig
eine
wirksame Behandlung zu erzielen. Nur wie ließ sich diese Idee in die Tat umsetzen?
dreißig Millionen Dollar für die Kampagne zur Wiederwahl von George Bush gesammelt worden waren. Das Dinner war von Garnier veranstaltet worden. Uns fehlten nach wie vor fünfundzwanzig Millionen Dollar, und wir hatten solche Schwierigkeiten, sie aufzutreiben, dass Bernard und ich Ärzte ohne Grenzen
zu
überreden versuchten,
unserer Forschungsinitiative mit einem Startkapital auf die Bei
Wir beschlossen, selbst tätig zu werden, und gründeten un
ne zu helfen. So kam es dann auch, aber erst nach einer intensi
ser eigenes, nicht gewinnorientiertes Pharmaunternehmen,
ven internen Debatte (sprich: Schlacht) ; am Ende gab das Argu
spezialisiert auf Medikamente gegen besonders vernachlässigte
ment, dass niemand die nötigen Finanzmittel zur Verfügung
Krankheiten. Wir nannten das Forschungsprojekt
stellen würde, wenn MSF sie nicht selbst aufbrachte, den Aus
ted Diseases initiaive,
Drugs for Neglec
kurz DNDi. Bernard, Els und ich stellten eine
schlag.
Expertengruppe zusammen, unter der Leitung von Yves Cham pey - ein Pharmaunternehmer, der seit kurzem im Ruhestand
Seit sie 1999 lanciert worden war, hatte die MSF-Medikamenten
war -, und ließen sie einen Geschäftsplan erstellen. Binnen zwei
kampagne eine Menge erreicht. 2002 schrieb Richard Horton,
Jahren errichteten wir ein Netzwerk, das aus fünfzehn afrikani
Herausgeber der Zeitschrift
schen Forschungszentren bestand, vernetzt mit MSF, dem Insti
zinzeitschriften der Welt, dass Ärzte ohne Grenzen und ähnli
The Lancet,
eine der führenden Medi
tut Pasteur und den medizinischen Forschungsräten Indiens,
che Organisationen den Kurs der globalen Gesundheitspolitik
Malaysias, Brasiliens und Südafrikas. Wir hatten nun zwar die
bestimmten, dem die Weltgesundheitsorganisation im Wesent
Kapazität zu forschen, brauchten j edoch Geld und den Zugang
lichen folge. Die Medikamentenkampagne war zur globalen
zu Präparate-Bibliotheken für die Grundlagenforschung, um
Bürgerbewegung geworden. Sie hatte am Mythos der Pharma
rasch Fortschritte zu erzielen. 2002 , auf dem G8-Gipfel in Ka
riesen gekratzt, Regierungen dazu gedrängt, ihrer Verantwor
nanaskis, versuchte ich für unsere DND-lnitiative Finanzmittel
tung nachzukommen, und demonstriert, dass praktische Alter
aufzutreiben. Bernard, Ellen und Daniel taten dasselbe auf wei
nativen möglich waren. Drei Jahre nach Beginn der ARV
teren G8-Gipfeln und bei Treffen mit anderen potentiellen Ge
Behandlung für einhundertfünfzig Menschen in der Khayelits
berländern. Wir kamen alle mit leeren Händen zurück.
ha-Klinik in Südafrika hatte Ärzte ohne Grenzen über vierzig
Bernard und Yves konnten die Japanese Pharmaceutical Asso
tausend Menschen in dreißig Entwicklungsländern mit diesen
ciation überreden, uns den Zugang zu einigen ihrer molekula
Medikamenten versorgt. 2001 , als Reaktion auf den Druck
ren Verbindungen zu gewähren, aber wir brauchten noch
durch die Medikamentenkampagne, lancierten die Vereinten
mehr. Ich traf mich mit Jean-Paul Garnier, dem Vorstandsvorsit
Nationen ihren
zenden von GlaxoSmithKline, im Hauptsitz des Unternehmens
zu bekämpfen. 2002 drängten wir die Weltgesundheitsorgani
Global Fund,
um Aids, Tuberkulose und Malaria
in Philadelphia. Garnier, entspannt und sonnengebräunt, er
sation, einen Ausschuss ins Leben zu rufen, der sich mit den
klärte sich bereit, von Fall zu Fall mit uns zusammenzuarbeiten.
Themen öffendiche Gesundheit, Innovation und Patente befas
Es war ein kurzes Treffen, weil er einen Termin in Washington
sen sollte. Auf unsere Anregung hin wurde ein solcher Aus
einhalten musste. Tags darauf berichtete die New York
dass
schuss gebildet und fand prompt heraus, dass das gegenwärtige
beim größten politischen Fundraising Dinner der Geschichte
Patentesystem der Forschung und Entwicklung von Wirkstoffen
37 0
Times,
371
für vorrangige Gesundheitsbedürfnisse zuwiderlief. Die Ver fechter der Medikamentenkampagne hatten die WHO und UN AIDS aufgefordert, dafür zu sorgen, dass Menschen mit Aids ihre Medizin erhielten. 2003 erklärte der neue Generaldirektor der WHO, Lee Jong-wook, den fehlenden Zugang zu Medika menten gegen Aids zum »globalen Gesundheitsnotstand« . Mit seiner Ankündigung begannen sowohl die WHO als auch UN AIDS mit der Verwirklichung ihres ehrgeizigen Plans, drei Mil lionen Menschen in den Entwicklungsländern binnen zwei Jah ren mit antiretroviralen Medikamenten zu versorgen. Die Kampagne rief weitere globale Gesundheitsinitiativen ins Leben, wie zum Beispiel den Versuch, ein Forschungs- und Ent wicklungsabkommen für vorrangige Gesundheitsbedürfnisse zu treffen. Sie drängte aufzahlreiche konkrete Regierungsinitia tiven, wie die Besteuerung des internationalen Reiseverkehrs durch die französische Regierung; die Einnahmen wurden für die Entwicklung von Wirkstoffen verwendet, mit denen kranke Kinder in Entwicklungsländern behandelt werden. Im Juli 2003 wurde die Forschungsinitiative DNDi als gemeinnütziges Phar maunternehmen lanciert, mit vier Projekten
Medikamente ge
gen die afrikanische Schlafkrankheit, die Chloroquin-resistente Malaria, die Chagas-Krankheit und die Leishmaniase. Die Grün dungsmitglieder unterzeichneten die Statuten im selben Saal des
Rathauses, in dem 1 864 die Grundsätze für das Rote
Kreuz festgelegt worden waren. Aber die Medikamentenkampagne erzielte auch weniger gute Ergebnisse und musste sogar klare Niederlagen einstecken. Aus der Klage gegen Südafrika zogen wir die Lehre, dass Zwangsli zenzen und Parallelimporte nur durchsetzbar waren, wenn die Mächtigen sich einverstanden erklärten. So erkannten beispiels weise Ellen 't Hoen von Ärzte ohne Grenzen und Jamie Love von CPTech, dass es entscheidend war, von der Welthandelsorganisa tion WTO eine politische Auslegung der Gesetze zu erwirken, die sich auf unentbehrliche Medikamente bezogen. Die Medika mentenkampagne verschärfte den Druck der öffentlichen Mei nung und versuchte weiterhin, Regierungen zu beeinflu ssen. 3 72
Auch der PhRMA-Verband führte lange, schonungslose Verhand lungen in den Hinterzimmern der Welthandelsorganisation und westlicher Regierungen. Die einzelnen Unternehmen wollten ihre höchst gewinnträchtigen Patentrechte behalten und das hl krafttreten der Ausnahmeregelungen auf Epidemien wie Aids beschränken. Im Mai 2001 sprach ich auf einer Tagung in Genf mit Mike Moore, damals Generaldirektor der Welthandelsorga nisation. Er sagte mir, er habe den Ehrgeiz, die »richtige Balan ce« zwischen den einzelnen Punkten zu finden , und suche nach einer Lösung für das Inkrafttreten der Ausnahmeregelungen, von der beide Seiten profitierten. Ich war mir nicht ganz sicher, was er damit meinte. Es gibt keine richtige Balance zwischen Leben und Tod, wenn Leben möglich ist. Es gibt keine richtige Balance zwischen Recht und Unrecht, wenn Recht möglich ist. Dank der aktiven Unterstützung durch Ärzte ohne Grenzen und weitere Mitglieder der Medikamentenkampagne betonten Brasi lien und eine Gruppe afrikanischer Länder in der Welthandels organisation, dass souveräne Staaten die Pflicht und das Recht hätten, im Hinblick auf das Gemeinwohl Maßnahmen zu ergrei fen, die die Gesundheit der Bevölkerung gewährleisteten. Die Fronten waren mittlervveile vorhersehbar: Auf einer Seite standen die Regierungen der Entwicklungsländer und die Ver fechter der Medikamentenkampagne, auf der anderen die Phar malobby, die USA, Kanada und die Regierungen der Europäi sehen Union. (Die Schweiz, europäische Heimat von PhRMA, verfolgte einen besonders harten Kurs.) Nachdem andere Un stimmigkeiten noch immer nicht geklärt waren, wusste nie mand, welche Richtung die Dinge nehmen würden. Die Ent scheidung fiel in der Form des alten Sprichworts »Was dem einen recht ist, ist dem andern billig«. Wenige Tage nach dem Terroranschlag mit Milzbranderregern in Washington und New York im Oktober 200 1 , bei dem siebzehn Personen infiziert wurden und fünf starben, wollten sowohl Kanada wie auch die USA Ciprofloxacin-Vorräte anlegen, das wirksamste Medikament gegen Milzbrand. Beide Staaten verhandelten mit dem Pharma unternehmen Bayer, konnten aber keine Preiseinigung erzielen, 373
und so drohten sie der Firma öffentlich, sie würden Zwangsli
schiedet. Wie die Gesetze, die schon bald in Norwegen und
zenzen für Nachahmerprodukte vergeben. Auf der ganzen Welt
der Schweiz folgen sollten, brachte es keinerlei Vorteile. Die
protestierten nun die Verfechter der Medikamentenkampagne
Bedingungen der rhetorisch ansprechenden Gesetze waren vom
gegen die Heuchelei westlicher Regierungen, die im Zusam
PhRMA-Verband ausgearbeitet worden und so restriktiv, kost
durch Anthrax-Erreger mit
spielig und unangenehm bürokratisch, dass bis Ende 2007
Zwangslizenzen drohten, während sie den Entwicklungslän
menhang mit der Bedrohung
nicht eine einzige Tablette auf legalem Weg von Kanada, Nor
dern, in Bezug auf Aids, dieses Recht verweigerten. Wenige Tage
wegen oder der Schweiz in ein Entwicklungsland gelangt war.
später, am 14. November 2001 , gaben die Vertreter der Welthan
Somit hatte PhRMA die Medikamentenkampagne ausmanövriert
delsorganisation ihre Erklärung von Doha bekannt, in der sie
Mit der Medikamentenkampagne waren diverse Gruppen soli
bestätigten, dass das TRIPs-Abkommen (über Zwangslizenzen
darisch gegen Ungerechtigkeit und gegen bestehende Machtar
und Parallelimporte) Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisa
rangements unter Eliten, Opponenten und Autoritäten zu Felde
tion nicht davon abhalten sollte, Maßnahmen zum Schutz der
gezogen. Wir suchten uns Partner bei den Nichtregierungsorga
Gesundheit ihrer Bevölkerung zu ergreifen. Sie dürften den Zu
nisationen, in der Regierung und der Industrie, fanden Mitglie
gang zu Medikamenten sicherstellen, ohne befürchten zu müs
der, die unsere Ziele unterstützten, und bemühten uns, potenti
sen, in einen Prozess verwickelt zu werden. Die Doha-Erklärung
elle Überläufer auf unsere Seite zu bringen. Wir gingen dabei
war ein großer Sieg für die Verfechter der Medikamentenkam
weder dogmatisch noch ideologisch, sondern pragmatisch vor
pagne. Wie Ellen 't Hoen von Ärzte ohne Grenzen es ausdrückte:
und blieben unseren Grundsätzen treu. Das außerordentlich fle
»Jetzt müssen die Regierungen diese Möglichkeiten nutzen, um
xible, dezentralisierte Netzwerk ließ Ein- und Austritte zu und
die Arzneimittelkosten zu reduzieren und den Zugang zu le
war bisweilen ausgesprochen opportunistisch. Auf diese Weise
bensrettenden Therapien zu ermöglichen.« PhRMA war ausma
konnte die Gruppierung ungerechte Strategien und Praktiken ins
növriert worden.
Visier nehmen, besondere Abkommen mit der Pharmaindustrie
Doch siegten die Pharmakonzerne in einem wesentlichen
treffen und Regierungen auffordern, ihrer Verantwortung nach
Punkt: Ein Reporter des Wall Street Journal bemerkte treffend,
zukommen. Unser Handeln entsprang einer besonderen Auffas
PhRMA habe erreicht, dass die Frage, was Länder ohne eigene
sung vom Verhältnis der Menschen zueinander: Ein j eder hatte
Produktionskapazitäten tun könnten,
die Würde des anderen zu respektieren.
unbeantwortet bleibe.
Nach beinahe zwei Jahren intensivster Lobbyarbeit durch PhRMA und die Vertreter der Medikamentenkampagne wurde
2004 kam unser Sohn Rohin zur Welt. Nachdem ich mich dafür
Ende 2003 endlich eine Einigung in dieser Frage erzielt. Präsen
entschieden hatte, eine Familie zu gründen, wusste ich, dass ich
tiert als Geschenk für die Armen, schuf sie ein Labyrinth aus
nicht mehr ständig durch die Welt reisen und mein Leben für
bürokratischen Bestimmungen und Hürden, die es zu überwin
Ärzte ohne Grenzen in Gefahr bringen konnte. Ich schied daher
den galt, ehe theoretisch der Export von Nachahmerprodukten
offiziell aus dem Verband aus, nahm eine Stelle in der For
patentierter Medikamente in ein Land erlaubt war, das einen
schungsabteilung am St. Michael's Hospital in Toronto an und
entsprechenden Antrag stellte. Kanada war das erste Land, das
lehrte zudem an der Universität Toronto. Da der Zugang zu Me
Veränderungen im Patentschutz vornahm, um die Bedingungen
dikamenten allmählich leichter wurde, wollte ich einen Weg
des neuen Abkommens zu erfüllen. Kanadas verändertes Gesetz,
finden, das natürliche Mitgefühl in menschlichen Gemeinschaf
zunächst Pledge for Africa genannt, wurde im Mai 2004 verab-
ten zu nutzen - ein Mitgefühl, das ich in Kriegs- und Krisensi-
3 74
3 75
tuationen immer wieder erlebt hatte -, um die Behandlung und
Wenn Charity nicht bald Medikamente erhielt, wären es dem
Prävention von Aids zu verbessern. 2004 reiste ich daher mit
nächst neun Waisen - zvveiundvierzig Prozent aller Kinder im
James Fraser von Ärzte ohne Grenzen nach Malawi, wo die Im
Dorf -, und wie sie überleben würden, ließ sich nur erahnen.
munschwäche seit
1985 bereits sechshundertfünfzigtausend
In Malawi gab es insgesamt eine halbe Million Waisenkinder,
Menschenleben gefordert hatte. Mittlerweile trug fast eine Milli
und vierundneunzigtausend Kinder waren bereits Hrv-positiv.
on der zwölf Millionen Menschen im Land das Virus in sich. Die
Die meisten überlebten dank der beharrlichen Barmherzigkeit
Krankenzimmer im Zomba Central Hospital im Süden Malawis
von Menschen wie Charity und den anderen drei Frauen in ih
waren überfüllt, die meisten der Patienten mager, verhärmt, aus
rem Dorf - beharrlich, weil zwei dieser vier Frauen mv-positiv
gezehrt. Draußen lagen Erwachsene fiebernd und schweißüber
waren und zudem die eigenen Kinder durchbringen mussten.
strömt im Gras, während ihre Kinder an ihrer statt um Nahrung
1 oo 6 waren fünf Millionen Menschen in Malawi auf Nahrungs
bettelten. Alice, die einzige Krankenschwester in der Einrich
mittelspenden angewiesen. 100 7 traf Malawi das fünfte Jahr in
tung, erzählte mir, dass neunzig Prozent der Patienten an Krank
Folge eine Dürre. Grund für diese extreme Trockenheit ist laut
heiten litten, die mit Aids in Verbindung standen. Es war kein
Aussage des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen
Krankenhaus, sondern eine Leichenhalle, in der die Lebenden
ein Klimawandel, der einen Großteil Südafrikas und Asiens be
darauf warteten, zwischen den Toten zu sterben.
trifft. Abgesehen von den Dürrekatastrophen sind bereits fünf
In einer kleinen Siedlung, etwa vierzig Kilometer vom Kran
zehn Prozent von Malawis Arbeitskräften, die einmal pflanzten
kenhaus in Zamba entfernt, redete ich mit einer Frau, die an
und ernteten, der Krankheit Aids zum Opfer gefallen. Das sind
Aids und Tuberkulose erkrankt war und begreiflicherweise wei
so viele, dass in zehn Prozent aller Familien ein Kind und in der
terleben wollte. Während wir uns auf einen kleinen Teppich
Hälfte der Familien eine Person über fünfundsechzig das Sagen
vor ihrem Haus setzten, rang sie nach Luft und war verlegen
hat, zumeist die Großmutter, die ihre eigenen Kinder hat sterben
wegen eines Aids-induzierten Tumors im Gesicht. Sie hieß Cha
sehen. In Malawi liegt infolge der Immunschwächekrankheit die
rity und hatte zwei Kinder, eine sechsjährige Tochter und einen
durchschnittliche Lebenserwartung bei sechsunddreißig Jah
zwölfjährigen Sohn. Ihr Sohn hieß Mpwale, »Geschenk«. Ohne
ren - das ist zufallig auch Charitys Alter.
den Dollar, den er am Tag verdiente, indem er täglich zwölf
James und ich trafen uns mit dem Staatssekretär für Gesund
Stunden auf den Getreidefeldern der Nachbarn arbeitete, wäre
heit, Wesley Sangala. 200 3 waren viertausend Menschen auf
Charitys Familie mit Sicherheit verhungert. Während wir rede
ARV-Medikamente gesetzt worden. »Wir haben jetzt zwar die
ten, gesellten sich drei weitere Frauen zu uns, und nach weni
Möglichkeit, an preisgünstigere Medikamente heranzukom
gen Minuten hatten sich einundzwanzig lächelnde, kichernde
men, aber nicht genügend Personal, um sie zu verteilen«, sagte
Kinder um uns geschart.
Dr. Sangala. Aids hatte zahlreiche Mitarbeiter im Gesundheits
Ich fragte, warum keine Männer im Dorf seien. »Sie sind
sektor getötet, und die Mehrzahl derer, die noch übrig waren,
alle gestorben«, sagte Charity. »Alle an Aids gestorben. Auch
hatten zu Hause aidskranke Familienmitglieder zu versorgen.
viele Frauen sind gestorben«, fügte sie hinzu. In Malawi, wie
Und einige sahen sich im Ausland nach besseren Möglichkeiten
in vielen Ländern Schwarzafrikas, sind sechzig Prozent der HIV
um. Malawi hatte Mühe, seine zwölf Millionen Menschen me
Infizierten Frauen. Ich bat die Kinder, die beide Eltern verloren
dizinisch zu versorgen, zumal im öffentlichen Sektor kaum
hatten, die Hände zu heben. Sieben der einundzwanzig Kinder
hundert Ärzte arbeiteten und im ganzen Land insgesamt nur
hoben die Hand.
dreitausendachthundert Schwestern und Pfleger zu finden wa377
ren. 2004 blieben über sechzig Prozent der Arbeitsstellen im
Hospital begannen wir mit der Pflege von Menschen mit Aids
Pflegebereich und ein Drittel aller Stellen im Gesundheitssektor
und lehrten andere, es uns gleichzutun. Wir nahmen Kontakt
unbelegt. Die Anzahl der Ärzte schrumpfte aufgrund des soge
auf zu Menschen wie Pax Chingwale, der mit der Hiv-Infektion
nannten Braindrain-Phänomens noch weiter: Über achtundzwan
lebte. Er hatte bereits eine Gruppe von Eltern in Zomba dazu
zig Prozent aller Ärzte, die in den USA, in England, Kanada und
gebracht, Kinder
Australien tätig sind, erhielten ihre Ausbildung im Ausland,
klären. Pax ließ sich nicht unterkriegen. »Wir können nicht
flinfundsiebzig Prozent davon in Entwicklungsländern wie Ma
einfach tatenlos zusehen, wie unsere Kinder sterben«, sagte er.
lawi. Oft heißt es halb im Scherz, dass es mehr malawische
»Wir müssen ihnen zeigen, wie man lebt.«
Ärzte im englischen Manchester gebe als in ganz Malawi. Dr. Sangala bedauerte den beklagenswerten Zustand des ma
auch die seinen
über HIV und Aids aufzu
In den folgenden drei Jahren bildete Dignitas in Zusammen arbeit mit dem Gesundheitsministerium von Malawi Hunderte
lawischen Gesundheitswesens. Das gesamte Budget für soziale
von Menschen aus: Krankenschwestern und Pfleger, Labortech
Dienste belief sich auf magere fünfzehn Dollar jährlich pro
niker und andere medizinische Helfer und Mitarbeiter im Be
Person. Diese Zahl umfasste sämdiche Ausgaben für Gesund
reich der gemeindebasierten Pflege. Wir entwickelten verein
heit, Bildung und andere sozialen Dienste und beinhaltete auch
fachte Behandlungsalgorithmen, die Krankenschwestern und
alle Zuschüsse aus dem Ausland. Gesundheitssysteme sind es
gemeindebasierte Pfleger jetzt anwenden, um Menschen mit
sentiell im Kampf gegen Krankheit und Armut, in Malawi je
Aids Medikamente zu verabreichen. Im Zomba Central Hospital
doch, wie in anderen Entwicklungsländern, war das öffentliche
und in endegenen Dorfkliniken werden in j edem Monat Tausen
Gesundheitswesen außerstande, neue Arbeitskräfte einzustel
de von Menschen mit
len, außerdem wurden seine politischen Entscheidungen von
und andere brachten Frauengruppen mit Waisenkindern zu
den Kreditbedingungen der Weltbank und des Internationalen
sammen. Dignitas unterstützte sie mit Schulungen, Präventions
Währungsfonds gegängelt. Dennoch sagte Dr. Sangala, er sei
kursen, Schulgebühren, der Pflege zu Hause und dem Zugang
HIV
getestet, behandelt und betreut. Pax
fest entschlossen, der Aids-Epidemie in seinem Land das Rück
zu Medikamenten. Pax brachte auch Dortalteste und Häupdinge
grat zu brechen. »Es scheint unmöglich. Aber wir müssen es
zusammen, die sich bereit erklärten, einige traditionelle Prakti
schaffen«, sagte er. »Wir haben keine andere Wahl.«
ken zu ändern, die zur Verbreitung von
Hrv beitrugen.
Ein spe
International entstand
zielles Programm wurde entwickelt, um Frauen über ihre ge
aus den Erfahrungen, die James Fraser und ich in Malawi ge
setzlichen Rechte im Falle einer Vergewaltigung aufzuklären.
sammelt hatten, und aus den Gesprächen, die wir dort führten.
Ende 2007 wurden in Zomba bereits über fünftausend Kinder,
Die Nichtregierungsorganisation
Dignitas
Ihrer Vorstellung gemäß bemühte sich Dignitas International
Frauen und Männer mit ARv-Medikamenten versorgt, war bei
gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium im Bezirk Zorn
über hunderttausend Menschen ein Bluttest vorgenommen
ba um den Aufbau einer Infrastruktur für eine gemeindebasier
worden, außerdem hatte man sie über Aids aufgeklärt. Das
te Versorgung HIV-infizierter und aidskranker Menschen. Wir
Krankenhaus war frisch gestrichen worden, und Woche für Wo
hatten bald die Unterstützung des St. Michael's Hospital und
che pilgerten Hunderte gesunder Menschen dorthin oder in die
der Universität Toronto. James Fraser übernahm den prakti
Dorfkliniken, um sich ihre ARv-Medikamente abzuholen. (Im
schen Aufbau von Dignitas, und nach wenigen Monaten hatten
Sommer 2007 starb Pax Chingwale auf der Heimfahrt von ei
wir ein Team beisammen, das das Modell einer gemeindeba
nem Dignitas-Treffen bei einem Verkehrsunfall. Seine Begräb
sierten Versorgung entwarf und erprobte. Am Zomba Central
nisfeier war eine der größten, die Zomba j emals erlebt hatte. 37 9
Hunderte sangen und tanzten, als sein Sarg der Erde übergeben wurde. Und jemand sagte: »Pax hatte Mut. Er hat uns gezeigt, dass das Leben Mut erfordert.«)
Ummera : Wir stehen immer wieder am Anfang
Schon im Juni 2007 hatte das Gesundheitsministerium in Malawi mit der Unterstützung durch Organisationen wie Dig nitas einhunderttausend Menschen mit ARV-Medikamenten ver sorgt. Inzwischen reisten die Menschen aus anderen Ländern Afrikas nach Zamba, um sich unseren Ansatz der gemeindeba sierten Pflege zeigen zu lassen. Wir arbeiten inzwischen mit anderen Organisationen in Südafrika zusammen und mit Uni versitäten in Malawi und Nordamerika, um das Modell noch zu verfeinern. Als Gemeinschaft haben wir vorzeigbare Ergebnisse erzielt, und gemeinsam werden wir noch mehr erreichen. Der Kampf um den Zugang zu unentbehrlichen Medikamen ten eröffnete eine Welt der Möglichkeiten. Bis Ende 2007 hatte das WHO-UNAIDS-Programm bewirkt, dass weltweit fast drei Millionen Menschen mit ARV-Medikamenten behandelt wur den. In ganz Afrika war zum ersten Mal in der Geschichte der Epidemie ein allmählicher Rückgang der Sterberaten und Neu erkrankungen zu vermelden. 2007 brachte die Forschungsini tiative Drugs
for Neglected Diseases ihr erstes Medikament auf den
Markt, einen Kombinationswirkstoff gegen Chloroquin-resis tente Malaria. Und sie entwickelt bereits siebzehn weitere Arz neistoffe gegen besonders vernachlässigte Krankheiten. Die Me dikamentenkampagne läuft weiter. Unser Blick auf globale Gesundheitsthemen hat sich für immer verändert. Obwohl es nach wie vor Hürden zu überwinden gibt, ist das Unmögliche möglich geworden.
Am 1 1 . September 2001 kam ich um 8 : 2o Uhr am Newark Air port an. Im Flugzeug von Toronto hatte ich eine Präsentation durchgelesen, die ich an diesem Morgen im UNICEF-Gebäude gegenüber dem Hauptsitz der Vereinten Nationen in Manhattau vorlegen sollte. Im Taxi auf der Fahrt vom Flughafen sah ich, wie aus einem der Zwillingstürme des World Irade Center Rauch aufstieg. Der Fahrer schaltete das Radio ein, und während der Verkehr rings um ins Stocken geriet, hörte ich ihn murmeln: »Großer Gott ! « Eine Passagiermaschine war soeben i n den zweiten Turm ge flogen. Wir brauchten das Radio nicht, um zu wissen, dass es sich dabei um einen Terroranschlag handelte. Vom Taxi aus sah ich die Türme brennen , und eine Stunde später, vom anderen Ufer des Hudson River aus, sah ich sie einstürzen. In den dar auffolgenden Stunden tat ich, was viele New Yorker taten und was viele tausend freiwillige MSF-Mitarbeiter seit über dreißig Jahren auf der ganzen Welt leisteten: Ich versuchte, den Opfern zu helfen. Ich stellte mich also in Hoboken, New Jersey, in einer Triagestelle als Arzt zur Verfügung. In den Stunden , die ich dort verbrachte, warteten wir eher auf Patienten, als dass wir sie behandelten. Wer zu uns kam, war zumeist nur leicht verletzt und konnte über den Fluss zur Triagestelle gebracht werden. Ein Mann aus Ostasien mit einem gebrochenen Handgelenk, mit Staub und Glassplittern in den Augen schrie von der Trage aus: »Ich bin Amerikaner! Bitte, bitte . . . ich kann nichts sehen! Hilfe ! « Wir behandelten Menschen mit Rauchgasvergiftung und Atembeschwerden, mit gebrochenen Händen und Füßen, Abschürfungen und Schnittwunden; dahinter j edoch lag das Grauen dessen, was geschehen war. Um acht Uhr abends war
der Strom der Opfer verebbt. Tag s darauf ging ich zur U-Bahn.
Ausstieg Amerikas aus dem Atomwaffensperrvertrag von 1972,
Amerikanische Flaggen flatterten aus Autofenstern und von
erklärte das Versagen des us-Kongresses, die Legitimität des In
Fenstersimsen, einige mit der Aufschrift: »Wir haben Krieg !«
ternationalen Gerichtshofs auch nur in Betracht zu ziehen, die
In New York City, im Pentagon und in Pennsylvania waren
Fortsetzung der Militarisierung des Weltraums, die Prägung von
fast dreitausend Menschen bei den Anschlägen durch Al-Qaida
Amerikas internationaler Gesundheitspolitik, eine rechtsgerich
Terroristen ums Leben gekommen, dem ersten folgenschweren
tete christliche Ideologie, das Umschreiben geltenden Kriegs
Ereignis im 2 I . ]ahrhundert. Für kurze Zeit stand die Welt soli
rechts, um Kriegsgefangene ihrer Rechte zu berauben, und die
Die französische Zeitung Le Monde erklär
Beeinflussung humanitärer Einsätze durch militärische Interes
darisch hinter den
USA.
te in einer Schlagzeile auf der Titelseite: »Wir sind alle Ameri
sen.
kaner<< , und in Städten in der ganzen Welt hielten Millionen
Am t o . September 2001 waren eine Million Menschen in
eine Schweigeminute ab. Die sehr reale Bedrohung, die Al-Qai
Afghanistan auf die Lebensmittelzuwendungen aus dem Ernäh
da darstellte, konnte nicht geleugnet werden. Doch schon bald lehnte die Welt die amerikanische Antwort auf die Anschläge ab. Bereits wenige Tage nach dem I I . Septem
rungsprogramm der Vereinten Nationen angewiesen, dem es jahrelang an den erforderlichen Spendengeldern gefehlt hatte. Am 1 2 . September erzwangen die
USA
die Schließung von Af
ber versprach Präsident George W Bush der Bevölkerung einen
ghanistans Grenzen, wodurch sie Menschen an der Flucht hin
»Kreuzzug gegen das Böse«. Obwohl er das Wort »Kreuzzug«
derten und Lebensmittellieferungen fernhielten, weil diese
später zurücknahm, würde er es in den darauffolgenden Mona
»den Taliban zugute kommen konnten«. Am 7. Oktober be
ten erneut benutzen. Einige Worte beschwören eine tiefere his
gann eine Koalition unter amerikanischer Führung Bomben auf
torische Bedeutung, die nicht vergessen werden kann - eine
Afghanistan zu werfen mit dem Ziel, die Taliban auszuhebeln
Bedeutung, die in der muslimischen Welt mit Sicherheit nicht
und den Al-Qaida-Führer Osama bin Laden »zur Strecke zu
vergessen wurde. Die Anschläge vom 1 t . September waren ein
bringen«. Mittlerweile benötigten siebeneinhalb Millionen Af
Versuch seitens fundamentalistischer muslimischer Extremis
ghanen Lebensmittelzuwendungen. George Bush sagte: »Wäh
ten, die wirtschafdiche und militärische Macht des Westens
rend wir militärische Ziele angreifen, wollen wir zugleich Nah
mitten ins Herz zu treffen. Sie lösten einen Krieg in Afghanistan
rungsmittel, Medikamente und andere Versorgungsgüter für
aus und leisteten der Kriegspolitik der Bush-Administration
die Hungernden und Kranken in Afghanistan abwerfen.« Da
Vorschub, die den Präventivschlag vorsah, einschließlich des
die Grenzen für Lebensmittellieferungen noch immer geschlos
präventiven Einsatzes von Nuklearwaffen, und im illegalen An
sen waren, appellierte Bush an die amerikanischen Kinder, dem
griff auf den Irak gipfelte. Die Invasion wurde zunächst mit der
Weißen Haus
Behauptung gerechtfertigt, im Land befänden sich Massenver
hungernden Kindern in Afghanistan zu helfen. Tag ftir Tag fie
nichtungswaffen, außerdem habe Saddam Hussein Al-Qaida
len nun amerikanische Bomben vom Himmel, dazu Medika
»not a dime but a doßar«
zu schicken und damit den
materiell unterstützt. Als sich diese Behauptungen als Lügen
mente und siebenunddreißigtausend gelbe Lebensrnittelpakete,
entpuppten, schob man humanitäre Gründe vor, um den Krieg
Erstere um Leben zu vernichten, Letztere, um Leben zu erhal sie deckten 0,005 Prozent
fortzusetzen. In nur wenigen Jahren wurde die Wel t in einen
ten. Die gelben Lebensmittelpakete
Ort verwandelt, wo der Begriff des »Amerikanischen Exzeptio
vom Nahrungsbedarf der Bevölkerung
nalismus« zum Euphemismus wurde für die Einstellung »Wer
unterscheiden von den gelben Streubomblets, die die Kampf
nicht für uns ist, ist gegen uns«: Damit rechtfertigte man den
bomber abwarfen. Viele Kinder verloren Gliedmaßen oder star-
waren fast nicht zu
ben, weil sie sich nach etwas gebückt hatten, was sie für Ess bares hielten.
Millionen Afghanen hungerten weiter. Der
amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld räumte
von Informationen. Ein Leutnant der us-Army sagte: »Je mehr sie uns helfen, die bösen Jungs zu finden, desto mehr Gutes kriegen sie.«
ein: »Natürlich können siebenunddreißigtausend Tagesrationen
Zu Beginn des Jahres 200 3 , als das amerikanische Militär Pläne
nicht mehrere Millionen Menschen ernähren. Wer andererseits
für eine Invasion des Irak ausarbeitete, schickte die United States
zu den Hungernden gehört und eine der Rationen für sich
Agency for International De'Velopment (usAID) nichtstaatliche
ergattert, ist bestimmt dankbar.« Die Taliban betrachteten Le
Organisationen in das künftige Kriegsgebiet. Das Office of Re
bensmittel und Medikamente der Amerikaner als Kriegswaffen
construction and Humanitarian Assistance ( ORHA, zu deutsch:
und drohten damit, das abgeworfene Essen zu vergiften. Die
Amt für Wiederaufbau und Humanitäre Hilfe) des amerikani
Büros der UNICEF und des UNHCR wurden von amerikafeindli
schen Verteidigungsministeriums wurde im Januar 2003 ge
chen Demonstranten in Pakistan und Afghanistan angegriffen
gründet und bestand darauf, dass alle nichtstaatlichen Organisa
und niedergebrannt. Die Entwicklungshelfer sahen sich so vie
tionen im Irak, die mit amerikanischen Geldern unterstützt
len Drohungen ausgesetzt, dass Hilfsorganisationen in Kasch
wurden, die amerikaDisehe Flagge hissen sollten. Die Invasion
mir, Bangladesch, Indonesien, Kenia und Somalia gezwungen
des Irak wurde mit der sogenannten shock and awe-Kampagne (zu
waren, ihre Teams drastisch zu reduzieren oder die Arbeit ganz
deutsch etwa: Schrecken und Ehrfurcht) fortgesetzt, die laut
einzustellen, obwohl viele Menschen dringend ihre Hilfe benö
Aussage Harlan Ullmans, der sie ins Leben gerufen hatte, von den
tigten. Während Ärzte ohne Grenzen gegen das Abwerfen von
Auswirkungen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki
»Bomben und Brot« protestierte, bezeichnete Außenminister
inspiriert worden war. Eine Woche nach Beginn dieser Kampa
Colin Powell die nichtstaatlichen Organisationen als force mul ti
gne war Ullman nicht sicher, ob diese Strategie tatsächlich funk
pliers, Kampfkraft-Verstärker, und als »wichtige Bestandteile un
tionierte. »Die Frage ist, ob Bagdad sich kampflos ergeben -.vird
serer Truppen«.
oder ob wir es einnehmen sollen. Oder wir belagern die Stadt
Außerhalb der Stadt Dschalalabad, wo ich 1 994 gewesen war,
und hungern sie aus.« Das Internationale Komitee vom Roten
behandelten humanitäre Helfer viele hundert Zivilisten, die
Kreuz (IKRK) und der UN-Generalsekretär erinnerten die Ameri
durch die Bomben zu Schaden gekommen waren. In Afghanis
kaner an die Tatsache, dass eine Belagerung gegen geltendes
tan bedeutete die Unmöglichkeit, zwischen kämpfenden und
Recht verstieß.
nicht kämpfenden Zielen zu unterscheiden, dass Schulen, Kran
Während Osama bin Laden sich der Gefangennahme entzog,
kenhäuser, Hochzeitsgesellschaften und Rotkreuz-Lagerhäuser
war in Afghanistan nicht mehr vom Krieg gegen den Terror die
bombardiert wurden. In den ersten neun Wochen der Luftan
Rede, sondern von einer Mission, deren Ziel angeblich darin
griffe wurden etwa dreitausend Zivilisten getötet - die soge
bestand, afghanisehe Frauen von der Burka und der Herrschaft
nannten Kollateralschäden -, während viele größere und klei
der Taliban zu befreien. Im Irak dagegen wurde der Krieg,
nere Städte sich allmählich leerten. In den Monaten nach dem
nachdem die Lügen bezüglich der Massenvernichtungswaffen
Sturz der Taliban im Dezember 2001 verteilten die Koalitions
auf die Geheimdienste abgewälzt worden waren, kurzerhand
truppen Lebensmittel, Medikamente und Decken und machten
zur Zivilisierungsmission erklärt, die der Bevölkerung zu Frei
sich daran, Schulen und Krankenhäuser zu bauen. In dem Be
heit und Demokratie verhelfen sollte. USAID bezeichnete jetzt
mühen, die Herzen der Afghanen zu erobern, verknüpften die
die amerikanischen Nichtregierungsorganisationen im Irak und
Koalitionstruppen ihre humanitäre Hilfe mit der Sammlung
in Afghanistan als den »verlängerten Arm der us-Regierung«,
die nur mit Erlaubnis aus Washington mit den Medien spre
Leiterin von CARE International, Margaret Hassan. Die meisten
chen durften. Obwohl die Organisation Ärzte ohne Grenzen
anderen Nichtregierungsorganisationen trafen dieselbe Ent
auf ihre Unabhängigkeit pochte, gerieten im Juni 2004 fünf
scheidung. Tage später begann der kompromisslose Angriff der
ihrer Mitarbeiter in einen Hinterhalt und wurden in der Pro
Alliierten auf die Stadt Falludschah mit dem Sturm auf ein
vinz Badghis brutal ermordet. Die Taliban bekannten sich zu
Krankenhaus, das als Propagandazentrum galt. Bis 2oo6 waren
den Morden: »Wir haben sie getötet, weil sie für die Amerika
im Irak infolge der Invasion mindestens sechshundertachtund
ner arbeiten, gegen uns, und die humanitäre Hilfe nur als Vor
sechzigtausend Zivilisten gestorben, wie eine in der Zeitschrift
wand benutzen. Wir werden weitere ausländische Helfer tö
The Lancet erschienene Studie mutmaßte. Einer neueren Studie
ten.« Angesichts dieser Bedrohung und weil die von den
zufolge, die 2oo8 erschien, waren es über eine Million Tote.
Amerikanern unterstützte Regierung Hamid Karzais es ver
Bis zum Beginn des Jahres 2oo8 waren zwei Millionen Iraker
säumte, gegen die Mörder zu ermitteln, beschloss Ärzte ohne
aus ihren Häusern vertrieben worden, und weitere zwei Millio
Grenzen, seine Mitarbeiter aus Afghanistan abzuziehen, nach
nen waren in angrenzende Staaten geflüchtet. Islamische Nicht
dem die Organisation dort über vierundzwanzig Jahre lang tä
regierungsorganisationen engagieren sich offen und relativ un
tig gewesen war. Manche kritisierten diesen Schritt, argumen
gehindert,
tierten, die Kriegsregeln hätten sich verändert, Ärzte ohne
westlicher nichtstaatlicher Organisationen, die noch im Irak
Grenzen müsse mit den Koalitionsstreitkräften kooperieren.
verblieben sind, im Geheimen agieren müssen.
während
das
Rote
Kreuz
und
eine
Handvoll
Dr. Rowan Gilles, der damalige internationale Präsident von Ärzte ohne Grenzen, wies die Kritik mit den Worten von sich:
Seit dem Ende des Kalten Krieges dienen humanitäre Einsätze
»Im >Krieg gegen den Terror< fordern alle Fraktionen, dass wir
und Menschenrechte den dominierenden Großmächten als
uns für eine Seite entscheiden. Wir lehnen dies ab, weigern
Rechtfertigung militärischer Interventionen, sobald sie ihre na
uns, eine Zukunft zu akzeptieren, in der Zivilisten, die in der
tionalen Interessen gefährdet sehen. Im Kielwasser des
Kriegshölle gefangen sind, nur von den kriegführenden Ar
tember wurde humanitäres Handeln zum Bestandteil des shock
II
. Sep
meen Hilfe erhalten.« Bis zum Januar 2oo8 waren Zehntausen
and awe-Spektakels, ein reines Mittel zum Zweck in einem Krieg,
de afghanischer Zivilisten getötet worden; Millionen waren
der von Staaten ausgefochten wird, die foltern lassen und dabei
nach wie vor auf der Flucht. Die unvermeidlichen Opfer, die
beteuern, für Menschenrechte und humanitäre Werte einzuste
die Luftangriffe forderten, haben zu einer Entfremdung der af
hen. Im Jahr 2004, angesichts der Berichte über sexuelle und
ghanischen Bevölkerung von den NATO-Besatzern geführt, und
religiöse Demütigungen, über Missbrauch und Folter im iraki
die prekäre Sicherheitslage hat die UN-Behörden und Nichtre
sehen Abu-Ghuraib-Gefängnis, entstand der Eindruck, die Be
gierungsorganisationen in ihren Möglichkeiten, humanitäre
satzer hätten keinerlei moralische Bedenken mehr. In Afghanis
Hilfe zu leisten, stark beschnitten.
tan
lieferten
Koalitionstruppen
aus
Kanada
und
anderen
Anfang November 2004 sah sich Ärzte ohne Grenzen im Irak
Ländern gefangene Taliban-Kämpfer den Amerikanern oder der
gezwungen, die Mitarbeiter abzuziehen. Die Gründe waren die
Regierung in Kabul aus. Seit 2002, als Alberto Gonzales, der
Militarisierung humanitärer Hilfe durch die Koalitionstruppen,
Generalbundesanwalt der Vereinigten Staaten, die Genfer Kon
die Bombenanschläge auf die Gebäude der Vereinten Nationen
ventionen als »drollig« und überholt betitelte, gelten solche
und des Roten Kreuzes durch Al-Qaida, zahlreiche Entführun
Gefangenen als ungesetzliche Kombattanten und genießen da
gen ausländischer Helfer sowie die Ermordung der britischen
her nicht den Schutz international gültiger Menschenrechte.
Viele wurden nach Guantanamo Bay verschleppt und dort ge foltert oder in afghanischeu Gefängnissen gequält.
mühelos den Weg zum richtigen Gebäude fand. Eine Fotokopie des Plans hatte man in Syrien, während der Folter, Maher Arar
Der Krieg gegen den Terror ist dazu benutzt worden, um
vorgelegt. Arar war demnach von amerikanischen Behörden
weitverbreitete Abhöraktionen ohne richterlichen
inhaftiert und der Folter unterzogen worden, weil er ein Mos
in den
USA
Beschluss zu rechtfertigen, und hat auf der ganzen Welt zu
lem war, der einen Moslem kannte, der einen Lkw fuhr, in
einer Aushöhlung der Bürgerrechte geführt. Er hatte die Ver
dem sich ein Plan befand, den ein Parkwächter einem anderen
schleppung einer unbekannten Anzahl Verdächtiger in soge
Fahrer überlassen hatte.
nannte Black Sites zur Folge - Gefängnisse in Europa und in den
Die Affäre Arar war ein Paradebeispiel für die Beschneidung
Staaten, in denen bekanntermaßen gefoltert wird. Fünf kanadi
der bürgerlichen Freiheiten, nicht nur in Kanada, sondern auf
sche Bürger wurden als sogenannte persons
eingestuft.
der ganzen Welt. In Kanada und überall auf der Welt wurde
Sie stammen allesamt aus dem Nahen Osten, haben eine dop
der Schutz der Demokratie aus dem Fenster geworfen. Die ka
pelte Staatsbürgerschaft und wurden in Staaten verschleppt, in
nadische Regierung hat Maher Arar öffentlich von jeglicher
denen gefoltert wird. Einer dieser Männer, Maher Arar, wurde
terroristischen Verbindung freigesprochen, sich bei ihm ent
gegen seinen Willen an Syrien ausgeliefert, nach
schuldigt und ihm Schadenersatz gezahlt. Die Regierung der
von den
USA
of interest
dem er während einer Reiseunterbrechung in New York ver
Vereinigten Staaten jedoch hat sich - unter Berufung auf das
haftet worden war. Zehn Monate lang wurde er in einer von
Privileg, Staatsgeheimnisse schützen zu dürfen - bis heute ge
Ratten befallenen, einen Meter breiten, zwei Meter langen und
weigert, Arar zu rehabilitieren; seine Familie und er stehen
zweieinhalb Meter hohen Zelle gefangen gehalten und gefol
auch weiterhin auf der Liste der Terrorverdächtigen.
tert. Den Ergebnissen einer erschütternden öffentlichen Unter
zeichnete David Wilkins, amerikanischer Botschafter in Kana
suchung zufolge hatten die Royal Canadian Mounted Police
da, den kanadischen Minister für öffentliche Sicherheit als »an
und der kanadische Geheimdienst spekulative, unrichtige und unfaire Informationen über Arar an die
USA
weitergegeben, die
200 7
maßend<< , weil er Kritik geübt hatte am Umgang der
USA
be
mit
Arar. Auf die Frage, ob seine Regierung den Fall Arar bedauere,
schließlich zu seiner Verschleppung führten. Die Untersuchung
reagierte Wilkins sichtlich verwirrt: »Die Vereinigten Staaten
(bei der einige Beweismittel im Geheimen weitergegeben wur
sollen ihr Verhalten bedauern? Die
den) ergab, dass kanadische Ermittler keine Mühe gescheut hat
dung (Arar zu verschleppen) im Interesse der amerikanischen
ten, Hinweise auf mögliche terroristische Aktivitäten Herrn
Bevölkerung getroffen, und stehen dazu.« Die Vereinigten Staa
USA
haben ihre Entschei
Arars zu entdecken, aber trotz alledem nicht fündig geworden
ten, setzte er hinzu, hätten »schwierige Entscheidungen« zu
waren. Sie hatten lediglich eruiert, dass Maher Arar ein flüch
treffen im Kampf gegen den Terror, damit er keine »zweite
tiger Bekannter Abdullah Almalkis war, ebenfalls Kanadier und
Chance« bekäme. Es komme wahrscheinlich zu weiteren De
Moslem, den man terroristischer Umtriebe verdächtigte. Al
portationen, Kanadier mit doppelter Staatsbürgerschaft sollten
malki war Fernfahrer. Einer Lieferung wegen war er mit einem
sich als gewarnt betrachten.
Firmen-lkw über die Grenze nach Amerika gefahren. Als ame
Das Gesetz macht aus uns keine guten, gerechten Menschen,
rikanische Zollbeamte den Laster inspizierten, fanden sie den
aber es kann uns vor dem schützen, was nicht gut und gerecht
Gebäudeplan eines staatlichen Forschungszentrums am Stadt
ist. Doch auch das Gesetz kann in einer Weise verdreht werden,
rand von Ottawa. Besagten Plan hatte ein anderer Fahrer vom
dass sein Inhalt nicht mehr klar ersichtlich ist. Wie Steny Hoyer,
Parkplatzwächter des Forschungszentrums erhalten, damit er
Führer der demokratischen Mehrheitsfraktion im amerikani-
sehen Repräsentantenhaus, meinte: »Die Grenze zwischen legi timen Verhörmethoden und Folter ist verwischt worden möglicherweise absichtlich.« Neben dem nationalen und dem internationalem Recht gibt es mitderweile das Dritte Recht der Bush-Administration. Nach diesem Gesetz wurde etwas Illega les ausnahmsweise legalisiert. Nachdem die Grenzen der Befra gungsmethoden neu definiert worden sind, sind nun Techni ken einer »intensiveren Befragung« zulässig, die nicht wirklieb Folter sind. Diese beinhalten Waterboarding, kalte Zellen, sexu elle und religiöse Demütigung, Kapuzen über dem Kopf, Reiz entzug oder Dauerbeschallung. All diese Aktivitäten fallen aus dem Rahmen der internationalen Menschenrechtsbestimmun gen und des humanitären Völkerrechts, die dem Missbrauch der Staatsgewalt in Krisenzeiten Grenzen setzen. Die Bush-Ad ministration hat sich durch geheimen Beschluss ihr eigenes Ge setz gemacht und beruft sich auf das Staatsgeheimnis, um die Zwänge einer öffentlichen und politischen Rechtfertigung zu umgehen. Präsidentenvetos und sogenannte Signing Statements durch den Präsidenten werden gegen die Beschlüsse des Kon gresses in Anwendung gebracht, der die Regierung zu zügeln versucht. Wie weit soll das noch gehen? David Addington, von 2oo1 bis 2oos juristischer Berater von Vizepräsident Dick Che ney und jetzt dessen Stabschef, meinte besorgt, die Bush-Admi nistration werde »so lange vorwärtsdrängen, bis irgendeine größere Macht sich uns in den Weg stellt«. Im Krieg gegen den Terror werden »verdächtige Personen« und Kriegsgefangene gefoltert, und die Rechte von nicht kämp fenden Opfern ignoriert und mit Füßen getreten. Gleichzeitig werden humanitäre Gründe vorgeschoben, um den Krieg zu rechtfertigen und weiterzuführen, und Bürger im Westen sind allzu oft bereit, schockierende Vorgehensweisen aus idealisti schen Gründen zu verzeihen. Samuel Moyn, Professor für Ge schichte der Menschenrechte, meint, seit dem 1 1 . September verfolgten die USA »mit hehren humanitären Reden niedere im perialistische Ziele. Die Folgen auf die Menschenrechte als eine öffentliche Sprache und politische Angelegenheit sind immens,
und es ist noch nicht abzusehen, ob sie sich jemals erholen.« Kein Wunder, dass jene, die sich in den Dienst der Menschheit stellen, mit Skepsis, unverblümter Abneigung oder gar Gewalt empfangen werden. Das soll aber nicht heißen, dass Idee und Praxis humanitären Handeins eine solche Reaktion verdient hät ten. Denn dem ist nicht so. Aber humanitäre Organisationen müssen sich ihr Ressort - und damit ihre politische und menschliche Bedeutung wieder zurückerobern. Humanitäres Handeln steht vor einem Scheideweg, und diejenigen, die für den humanitären Geist stehen, wie ich ihn hier beschreibe, müssen sich weigern, an einem Missbrauch der Mitmenschlich keit teilzunehmen. Der Begriff »Flüchding« bezeichnete einmal Menschen, die ei ne Zuflucht gefunden hatten. In den Anfangsjahren des 21 . Jahr hunderts hat AustraBen vor seiner Küste Zehntausende afgha nischer Flüchtlinge abgewiesen und andere in Lagern untergebracht, die von Mauern umschlossen sind. Dort bege hen Männer aus Verzweiflung Selbstmord oder nähen sich die Lippen zu aus Protest gegen das Schweigen, das ihnen auferlegt ist. In Nordkorea hungern die Menschen weiter und leiden un ter dem fehlenden Raum für humanitäres Handeln in einem totalitären Regime, das vom Ausland mit Lebensmittelspenden unterstützt wird. In China gelten humanitäre Einsatzkräfte und chinesische Bürger, die Flüchtlingen aus Nordkorea helfen, als kriminell. In Darfur werden vor den Augen einer beklagenswert unterbesetzten und unterbezahlten Friedenstruppe weiterhin Kriegsverbrechen begangen. Nachdem die Massaker von 1996 und 1997 ungeahndet geblieben waren, breitete sich der Krieg über die gesamte Demokratische Republik Kongo aus. Sieben Regionalstaaten waren darin verwickelt - einige von Frank reich, andere von den USA unterstützt und wetteiferten um die Kontrolle über die gewaltigen natürlichen Ressourcen des Landes. Seit 1997 sind dort zwischen drei und vier Millionen Menschen an den direkten und indirekten Auswirkungen des Krieges gestorben, und einige zehntausend Kinder wurden als 3 91
Soldaten oder Sexsklaven für Milizen zwangsrekrutiert. 2oo8
zudem noch immer Adan Husseins Waisenhaus, das seit 1993
hatte der Krieg sich fast erschöpft, bis auf den ursprünglichen
mit wenig oder keiner Unterstützung von der Außenwelt über
Brandherd, die Stadt Goma in Nord-Kivu.
zehntausend Kinder versorgt hat. Lesto Mohamed Idris hatte
Ich reiste 2007 nach Goma und sprach mit vergewaltigten
die Stadt 1993 verlassen, um Europa und die Vereinigten Staaten
Frauen. Viele von ihnen schämten sich für das Erlittene, ver
zu bereisen, war aber 1 995 zurückgekehrt, um seinen Platz als
trauten mir aber trotzdem ihre Geschichten an, damit ich sie
Stammesältester einzunehmen. »Dies ist mein Land, hier be
weitererzählte. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das auf ihre gy
streite ich mein Leben, hier will ich kämpfen und sterben«,
näkologische Operation wartete, sagte mir, sie sei das Opfer
sagte er zu mir. Anfang 2oo8 waren schon über eine Million
einer Gruppenvergewaltigung durch Milizionäre geworden. Ei
Menschen vor den Kämpfen in Mogadischu geflohen, Millio
ne alte Frau zeigte mir ihre verkrüppelten Knie, zerstört von
nen haben nicht genug zu essen, und während der Krieg gegen
den Ketten, die sie gefesselt hatten, während sie tagelang verge
den Terror weitergeht, droht eine Hungersnot, noch schlimmer
waltigt worden war. Vergewaltigung ist so weit verbreitet in
als jene von 1 992 / 93 ·
Goma, dass die daraus resultierenden gynäkologischen Verlet
In diesem Miasma aus vergessenen Kriegen, aus Folter und
zungen und Zerstörungen als Kriegsverletzungen gelten. Einige
Terrorbekämpfung gibt es keine einfachen Antworten, beson
Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen und
ders nicht angesichts eines sehr realen Terrorismus. Aber ich
UN-Friedenstruppen sind in und um Goma im Einsatz, wo vier
kann Fragen stellen. Als humanitärer Helfer kann ich aus einem
hunderttausend Menschen aus ihren Häusern und Dörfern ver
Gefühl der Solidarität mit den Opfern heraus handeln. Ich trage
trieben wurden.
eine Verantwortung, muss Zeugnis ablegen von der Not derer,
Unterdessen versucht das Kriegstribunal der Vereinten Natio
denen ich beistehen möchte, muss auf die Unabhängigkeit hu
nen in Arusha, jenen den Prozess zu machen, die wegen Völ
manitären Handeins pochen und auf die Einhaltung der Men
kermordes im Nachbarstaat Ruanda vor Gericht stehen. Im No
schenrechte. Als Bürger kann ich meiner Verantwortung für das
vember 2007, dreizehn Jahre nach dem Völkermord, appellierte
öffentliche Leben
Arnnesty International an alle Staaten, sie sollten Menschen, die
nicht als Zuschauer, sondern als aktiver Teilnehmer, der es
das politische Leben - gerecht werden,
im Verdacht standen, am Genozid im Jahr 1 99 4 beteiligt gewe
durch sein Engagement mitgestaltet. Die größere Kraft, die sich
sen zu sein, nicht nach Ruanda ausliefern. Dort würden sie
gegen den Machtmissbrauch zu wehren weiß, ist die Kraft einer
vermutlich nicht vor ein ordentliches Gericht gestellt, sondern
Bürgerpolitik, die offen über den richtigen Einsatz von Macht
in geheimen Strafkolonien gefoltert werden, bis sie ihre Schuld
und das begründete Streben nach Gerechtigkeit diskutiert. Ca
gestanden. In Ruanda werden Opfer und Augenzeugen nicht
therine Lu, eine befreundete Politikwissenschaftlerin, hat die
angemessen geschützt, und in den Ge!angnissen, die noch im
Gerechtigkeit einmal als eine Grenze beschrieben, die wir nicht
mer an die sechzigtausend mutmaßliche genocidaires beherber
überschreiten dürfen, als ein Band zwischen den Menschen und
gen, herrschen haarsträubende Zustände.
als ein Gleichgewicht unter Menschen gleichen Werts und glei
2007 kehrte ich nach Baidoa zurück. Somalia ist zur dritten
cher Würde. Sie ist zudem eine bewusste Wahl. Ich kämpfe
Front im Krieg gegen den Terror geworden, da amerikanische
nicht für ein utopisches Ideal, sondern entscheide mich j eden
und äthiopische Truppen, die die Übergangsregierung mit Sitz
Tag gegen den Nihilismus und für die Gerechtigkeit.
in Baidoa unterstützen, die Union islamischer Gerichte in Mo gadischu und anderswo im Land bekämpfen. In Baidoa gibt es 392
393
Ich war 2004 noch einmal nach Ruanda gereist, anlässlich ei
Altmännergebiss in seinem jungen Gesicht zu bemerken. »Wir
ner Gedenkzeremonie zum zehnten Jahrestag des Völkermords.
haben euch im Stich gelassen«, sagte er, und dann auf Kinyar
Ich war zwiespältig gewesen, ob ich teilnehmen sollte, vor al
wanda: »Das wird nicht wieder geschehen.«
lem nach dem Vorgehen Paul Kagames im Kongo. Am Ende
Niemand stand für ihn auf, aber die Menge zollte ihm re
entschied ich mich dafür, um die Toten zu ehren, Buße zu tun
spektvoll Beifall. Danach ergriff ein anderer Diplomat das Wort,
und irgendwie neu anzufangen. Ich wollte Lulu finden, den
und noch einer und noch einer. Ihre hohlen Worte wurden
damals Vierjährigen, der mit seiner Mutter und seiner Schwes
mit mechanischem, hohlem Beifall belohnt. Ruander, das muss
ter in der Besenkammer neben meinem Zimmer im Kranken
man ihnen lassen, sind höflich. Zu höflich, dachte ich. Dann
haus gewohnt hatte. Er wäre mittlerweile im Teenageralter. Wir
traten traditionelle mandisehe Sänger und Tänzer auf. Es folg
hatten nach dem Völkermord noch ein paar Jahre Kontakt ge
ten die Zeugenaussagen von Überlebenden des Völkermords
halten, doch irgendwann war er abgerissen. Ich fand Lulu tat
einige vorbereitet, andere spontan, einige kurz, andere nicht.
sächlich, und meine Frau Rolie konnte unser Wiedersehen mit
Die Menge klatschte jedem der Redner Beifall und wurde wie
erleben. Am Tag vor unserer Abreise aus Ruanda wohnten Rolie
der still, während der nächste Sänger, Diplomat oder Zeuge
und ich der staatlichen Zeremonie bei, die an den Völkermord
auftrat. Das Ganze dauerte Stunden.
im Amahoro-Stadion in Kigali erinnerte.
Ich bemerkte einige Vögel, die über den Tribünen auf der
Seit dem Vormittag waren Menschen hereingeströmt - min
gegenüberliegenden Seite ihre Kreise zogen. Unter ihnen fiel
destens dreißigtausend. Sie gingen langsam, schweigend, ka
mir eine Frau ins Auge. Sie ruckte und zuckte, während sich
men von überallher, die meisten aus Kigali; alle trugen sie ihre
die Zeremonie dahinzog. Ihre Augen waren geschlossen, das
besten Kleider und setzten sich stumm auf die Bankreihen aus
Gesicht gen Himmel gewandt. Die Frau neben ihr legte ihr den
Beton. Sie hatten Sonnenschirme mitgebracht, reichten Wasser
Arm um die Schultern - wie um ihr Trost und Halt zu geben.
herum und warteten. Journalisten und Fernsehleute rauften um
Sie schaukelte sich weiter vor und zurück. Dann begann sie sich
die besten Aussichtspunkte auf das Spielfeld unter ihnen. Einige
schwankend zu drehen, wirbelte immer schneller. »Ah-wee!
rauchten, andere lagen im Gras und hörten Musik aus ihren
Ah-wee! Ah-wee!«, schrie sie dabei und warf den Kopf weit
Kopfhörern, wieder andere redeten in ihre Handys, während
zurück. »Mama-we? Mama-we? Mama-we?« (Mama, wo bist
sie auf den Beginn der Feierlichkeiten warteten.
du?) Sie stürzte hintenüber in die Menge und wurde schlaff,
Die Diplomaten kamen in einem Konvoi aus kugelsicheren
bewusstlos, auf das Spielfeld getragen. Sicherheitsleute über
Limousinen. Überall sah man Sicherheitsleute und Soldaten,
nahmen sie und legten sie sanft auf den Rasen. Sie regte sich
strategisch um das Stadion postiert. Die Militärkapelle mar
zunächst nicht, doch dann rollte sie hin und her, hin und her.
schierte herein, ein wenig aus dem Rhythmus, die Instrumente
Immer wenn ihr Rücken den Boden berührte, griff sie in den
leicht verstimmt. Kagame folgte in seiner Staatskarosse, neben
Himmel.
ihm seine Frau. Die Menschen erhoben sich, als er kam, die
Ich blickte hinunter auf das Spielfeld. Journalisten und Ka
Kapelle spielte die Nationalhymne. Er verlas einen langen, sorg
meraleute rannten hinüber zu der Frau, stießen einander bei
fältig verfassten Text, in dem er - sehr zum Unbehagen auslän
seite, um das beste Foto zu erhaschen. Ein Sicherheitsmann im
discher Diplomaten - Kritik übte an der französischen Regie
schwarzen Anzug raufte mit einem Kameramann. Die Kamera
rung. Der belgisehe Premierminister hielt eine Rede, bekannte
fiel zu Boden. Eine Welle erfasste die Menge, als die Aufmerk
sich schuldig, ehrlich, aufrichtig. Ich kam nicht umhin, das
samkeit vom Podium weg und hin zu der Frau unten auf dem
3 94
395
Spielfeld schwenkte. Sie lag jetzt auf dem Rücken und reckte die Arme, als wolle sie etwas aus dem Himmel zerren. Da er
EPILOG : Was wir tun können
tönte von irgendwoher der Ruf einer anderen Frau: »Ah-wee! Ah-wee! « Auch sie verlor die Besinnung und wurde auf das Spielfeld getragen. Dann noch eine Frauenstimme. Und noch eine. Ein Diplomat versuchte sich Gehör zu verschaffen und geriet ins Stottern, als er auf das Spielfeld blickte. Durch meine Tränen hindurch sah ich die Vögel am Himmel kreisen. Warum erinnern wir uns? Vielleicht, weil unsere Antworten
Jeder von uns kann aktiv Verantwortung übernehmen für die Welt, in der wir leben. Wir alle können uns im humanitären
noch nicht die richtigen sind. Lieber die richtigen Fragen stel
Bereich engagieren und darauf bestehen, dass die Regierungen
len als falsche Antworten geben. In Camus Roman Die Pest sagte
kriegführender Länder sich an internationales humanitäres
Tarrou: »Man kann nicht alles vergessen, so sehr man es auch
Recht halten, an das Flüchtlingsrecht und die Genfer Konventio
möchte: Die Pest hinterlässt nun einmal ihre Spuren in den
nen, die die Anwendung von Folter verbieten. Jeder kann etwas
Herzen der Menschen.« Ich erinnere mich, wie die Frau, eine
beitragen, indem er sich dem Thema widmet, das ihn am meis
von vielen, meinen Unterarm berührte und dazu flüsterte: »Al
ten beschäftigt. Zunächst will er vielleicht mehr darüber erfah
lez, allez . . . Ummera, ummera-sha.« Sie besaß die klarste Stim
ren, und herausfinden, was andere sagen und tun. Er sollte sich
me, die ich jemals gehört hatte.
daher für eine politische Partei oder eine nichtstaatliche Organi
Meine Sammlung heiliger Orte wird immer größer. Ich finde
sation entscheiden, die ihm entspricht, und Kritik üben an öf
sie auf Schritt und Tritt: verborgene Winkel im Park, verlassene
fentlichen Strategien, an Gesetzen und Praktiken, sowohl auf
Grundstücke, mein verwilderter Garten zu Hause. Es sind für
nationaler wie auf internationaler Ebene. Geld zu spenden, zu
gewöhnlich Orte, an denen ich anonym unter alten Bäumen
wählen oder an gewählte Volksvertreter zu schreiben, sind ein
im Gras sitzen kann. Manchmal befällt mich eine Traurigkeit,
fache erste Schritte. Aber sie genügen nicht. Treten Sie einer
die mich aber schon bald wieder verlässt, als hätte ich sie ir
Organisation bei. Bringen Sie Ihre Meinung ein, diskutieren Sie
gendwo eingefangen und nach einer Weile aufgebraucht. Ich
mit anderen, engagieren Sie sich als freiwillige Helfer. Wenn Sie
stehe oft vor Sonnenaufgang auf, von der Stille zwischen Nacht
keine Organisation finden, gründen Sie eine und interessieren
und Tag magisch angezogen. Dann gehe ich in unseren Garten,
Sie andere dafür. Einige der Organisationen, die ich unterstütze,
um dem Morgengesang der Vögel zu lauschen. Noch vor den
für die ich gearbeitet oder die ich mitgegründet habe, sind un
Vögeln, vor Sonnenaufgang kommen zuweilen unsere Kinder
ten aufgelistet.
zu uns ins Bett. Wenn ich sie so sehe, wie sie schlafend unsere Wärme suchen, weiß ich, was auf sie zukommen wird und
Dignitas International
warum unser Kampf richtig ist und gut, und warum wir jeder
Dignitas International erprobt und entwickelt einen gemeinde
zeit neu anfangen können.
www.dignitasinternational.org
basierten Pflegeansatz, um der Aids-Epidemie in den Ländern der Dritten Welt Herr zu werden. Die Organisation arbeitet mit Gruppen verwundbarer Menschen zusammen sowie mit Regierungen und Wissenschaftlern, um den Zugang zu Präven tivmaßnahmen, zu Behandlungsmethoden, zur Pflege und Un3 97
terstützung zu fördern, einschließlich der lebensrettenden anti
SAFER www.saferworld.ca
retroviralen Medikamente. Sie schult Krankenschwestern und
Die HUfsorganisation Social Aid for the Elimination of Rape
andere Berufsgruppen im Gesundheitssektor und freiwillige
hilft Frauen in der Demokratischen Republik Kongo, die Opfer
Helfer in der gemeindebasierten Pflege. Dignitas hat in Malawi
von Vergewaltigungen als Mittel der Kriegsführung geworden
über achttausend Hiv-positive Frauen, Kinder und Männer un
sind.
ter ihrer Obhut, von denen viertausend ARV-Medikamente ge gen Aids erhalten.
War Child www.warchild.ca War Child ist eine gemeinnützige Organisation, die Kindern in
Mededns Sans Frontieres I Ärzte ohne Grenzen
Kriegsgebieten auf der ganzen Welt hilft und sich überall fiir
www.aerzte-ohne-grenzen.de
die Rechte von Kindern einsetzt.
Ärzte ohne Grenzen ist eine unabhängige humanitäre Organisa tion, die medizinische Nothilfe leistet, wenn in Kriegsgebieten,
The Global Alliance for TB Drug Development
durch Epidemien und Naturkatastrophen das Leben vieler Men
www. tballiance.org
schen bedroht ist. Die Mitarbeiter der Organisation haben sich
Die amerikanische Non-Profit-Organisation erforscht und ent
dazu verpflichtet, die Weltöffentlichkeit auf die Not der Men
wickelt neue Wirkstoffe gegen Tuberkulose.
schen aufmerksam zu machen, die ihre Hilfe benötigen.
Amnesty International www.amnesty.org Drugs for Neglected Diseases initiative www.dndi.org
Amnesty International ist eine nichtstaatliche Organisation, die
Die Forschungsinitiative DNDi ist eine Non-Profit-Organisation,
sich ohne Gewinnerzielungsabsicht weltweit für Menschen
die Medikamente fiir vernachlässigte Krankheiten entwickelt.
rechte einsetzt.
Sie strebt den gerechten Zugang zu neuem, feldrelevantem me dizinischen Rüstzeug an, um die Lebensqualität und die Ge
Human Rights Watch www.hrw. org
sundheit der Menschen zu verbessern, die an vernachlässigten
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch mit
Krankheiten leiden. Sie verweist außerdem auf die Notwendig
Hauptsitz in den USA ist der Überzeugung, dass internationale
keit, Forschung zu betreiben und Wirkstoffe gegen jene ver
Menschenrechte gleichermaßen für alle Menschen gelten, und
nachlässigten Krankheiten zu entwickeln, die aus dem Rahmen
beschäftigt sich mit Menschenrechtsverletzungen auf der gan
der marktorientierten Forschung und Entwicklung herausfal
zen Welt.
len, und ruft die Öffentlichkeit zum verantwortlichen Handeln auf, wenn es um die Bedürfnisse vernachlässigter Patienten geht.
Hope for Rwanda's Children Fund www.hopefund.on.ca Der Hope for Rwanda's Children Fund hilft bedürftigen Kin dern und Jugendlichen in Ruanda, die sich keinen Unterricht, keine Schulbücher und Schulmaterialien leisten können.
3 99
Anmerkungen und Quellenangaben
Kapitel
2
und 3
Ascherson, Neal. The King Incorporoted: Leopold the Second and the Congo. Lon don: Allen and Unwin 1963; London: Granta 2001 . Zitate entstammen der Granta-Edition. Hochschild, Adam.
King
Leopold 's Ghost. New York: Mariner Books 1999.
(Dt.: &hatten über dem Kongo. Klett -Cotta 2009) Prunier, Gerard. The Rwanda Crisis: History of a Genocide 1959 - 1994. Lon Die Quellen zu den im Text erwähnten Fakten sind in den meisten öf fentlichen Bibliotheken verfügbar oder mittels Internetrecherche nach zuprüfen. Nachfolgend sind die wichtigsten Bezugsquellen für jedes Kapitel aufgelistet und auch solche, die nicht so leicht im Internet nachzuprüfen sind. An mehreren Stellen habe ich den Inhalt des Kapi tels durch Kommentare und Literaturempfehlungen ergänzt. Kapitel
1
fornia: Stanford University Press 1 998. (Dt. : Homo sacer: Die souveräne Macht und da5 nackte Leben. Suhrkamp 2oo2)
Agamben, Giorgio, State of Exception . Chicago: University of Chicago sacer H. J .
Suhrkamp 2004.)
Arendt, Hannah. Between Past und Future: Eight Exercises in J>o.litical Thought. New York: Penguin Books 1954. (Dt.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken. Texte 1954- 1 964 Hg. Ursula Ludz, Piper,
München 1994. Debord, Guy. The Society of the Spectacle. New York: Zone Books 1 994. (Dt.; Die Ge.sdlscbaft des Spektakels. Bittermann 1996.) Dillard, Annie. For the Time Being. New York: Knopf 1999. (Dt.: Außer der Zeit. Claassen Verlag 2001 .)
Griffin, Susan. A Chorus of Stones. New York: Doubleday 1 9 9 2 . King, Thomas. The Truth about Storie.s: A Native Narrative. Toronto: House of Anansi Press 2003. Levinas, Emmanuel. Entre Nous: On T!Linking of the Other. New York: Co lurnbia University Press 1998. (Dt.: Zwischen
uns :
Versuche über da5 Denken
an den Anderen. Hanser, Juli 2007)
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Kapitel + Das Buch Hard Chokes; Moral Dilemmas in Humanitarian Intervention (Hg. Jona than Moore, Lanham,
MD.:
Rowman and Littlefield 1998) schildert
kurz und prägnant die Geschichte der Hilfsorganisation Ärzte ohne
Agamben, Giorgio. Homo Sacer: Sovereign Power and Bare I.ife. Stanford, Cali
Press 2005. (Dt.: Ausnahmezustand. Homo
don: Hurst and Company 1 997·
Grenzen. Weitere geschichtliche Details, die in diesem Kapitel beschrieben sind, finden sich in Populations in Danger, Mooecins sans Frontieres, hg. von Fran�ois Jean (London: John Libby 1 9 9 2 ) ; Life, Deatb and Aid: The Medecins Sans Fran tieres
Report on
World Crisis Intervention , hg. von Franr,:ois Jean (New York:
Routledge 1 9 93 ) ; Populations in Danger 1995: A Mooecins Saru Frootieres Reporr von Fran�ois Jean (London: Editions La Decouverte 1995) ; World in Cri sis: The J>o.litics of Survival at the End of the zoth Century, hg. von Mededns Sans
Frontieres (London: Routledge 1997) ; und The Red Cross and the Holocaust von Jean-Claude Favez. Carnbridge: Cambridge University Press 1 99 9 . Somalia De Waal, Alex, Famine Crime.s: J>o.liti cs & the Disaster Relief Jndustry in Africa. Bloomington, Indiana: Indiana University Press 1 998. Hirsch, John L. und Robert B. Oakley. Somalia and Operation Restore Hope: Re flections on Peacemaking and Poocekeeping. Washington D.C. : United States Insti
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Kapitel 6
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Burkhalter, Holly. Congressional Testimony, Physicians for Human
(Stand
402
r.
März 2003) .
Kapitel 7
ance of the Banyamulenge People (den Tutsi aus Zaire) . Erklärtes Ziel
Afsani Bassir Pour, >>The Tragedy of the Zairean Refugees Shakes Wa
der ADFL war es, Mobutu zu stürzen; damit hatte sie die Unterstüt
shington Out of its Passivity«, Le Monde, 17. April 1997.
zung Ruandas, Ugandas und der
Die Region Kivu ist die ärmste und bevölkerungsreichste Region der
Das Unternehmen America Mineral Fields Incorporated der Brüder
Demokratischen Republik Kongo (dem früheren Zaire) . Die Bevölke
Jean-Raymond und Max Boulle mit Sitz in Hope, Arkmsas, hatte ein
USA.
rung Kivus setzt sich aus Eingeborenenstämmen und den sogenannten
großes Interesse daran. Joseph Kabilas Machtübernahme 1996 zu för
Banjaruanda (das Wort banja bedeutet »von«) zu sammen. Zu den Einge
dern. Die Firma der Brüder Boulle hatte seit 1 993 indirekt mit dem Re
borenenstämmen zählen die Volksgruppen der Hunde, Nande, Tembo
bellenführer in Verbindung gestanden; ihr belgiseher Bevollmächtigter
und Nyanga. Die Banjaruanda sprechen Kinyarwanda, leben seit über
war auch ein Militärberater Kabilas. Jean-Raymond Boulle traf sich im
dreihundert Jahren in der Region Kivu und sind teils Hutu beziehungs
März 1997 persönlich mit Kabila in Goma, während Max, zudem Inha
weise Bahutu und teils Tutsi beziehungsweise Banyamulenge. Ehen zwi
ber der Firma American Diamond Buyers, Anfang April 1997 das
sehen den beiden Untergruppen der Banjaruanda waren seit Jahrhun
Recht erhielt, mit Diamanten zu handeln. Max Boulle kaufte in Kisan
derten üblich. Präsident Mobutu kam 1961 durch einen Militärschlag
gani, kurz nach der Eroberung der Stadt im März 1997 , Diammten im
an die Macht, welcher der durch die amerikanische CIA und durch Bel
Wert von
gien gestützten Ermordung Patrice Lumumbas folgte, des ersten ge
Ort pumpte und die Finanzen der ADFL verbesserte.
wahlten Premierministers von Kongo I Zaire. Kaum hatte der von den
America Mineral Fields borgte den ADFL-Gewährsmännern während
100
Millionen Dollar, wodurch er Geld in die Wirtschaft vor
USA bevorzugte Präsident Mobutu 1961 die Macht inne, schürte er
des Kriegs eine Million Dollar und zahlte Kabila vvie verlautet einen
Zwistigkeiten in der Region Kivu, nur um sie anschließend zu schlich
Vorschuss von zwanzig bis fünfzig Millionen Dollar, bevor am 1 6 .
ten: Auf diese Weise bewahrte er seine politische Macht. 1981 hob Mo
April 1 99 7 - einen Monat vor Ende des Bürgerkriegs
butu die Bürgerrechte der Banjaruanda auf (sowohl die der Bahutu wie
Boulle nach Lubumbashi kam, um einen Vertrag über achthundertfünf
Jean-Raymond
auch jene der Barryamulenge) und brandmarkte sie offiziell als Auslän
undachtzig Millionen Dollar zu unterzeichnen, der America Mineral
der, die kein öffentliches Amt bekleiden durften. Dies führte zu einer
Fields das Recht erteilte, die Aushubhalden in Kolwezi zu raffinieren,
Kluft zwischen den Banjarumda und den eingeborenen Volksgruppen
die Mine in Kipushi wieder zu bearbeiten, eine Zinkhütte und eine
der Hunde und Nymga. Die jahrhundertealte Allianz zvvischen zairi
Raffinerie zu errichten. Der Konzern America Mineral Fields stellte Ka
schen Hutu und Tutsi innerhalb der Banjaruanda zerriss mit dem Zu
bila auch seinen Firmenjet zur Verfügung, als er noch Anführer einer
strom der mächtigen und bewaffneten Hutu der Ex-F."'R und Interaham
Guerilla-Truppe war. und bezahlte die Spesen anderer Mitglieder der
we aus Rumda, die in Kivu Hutuland gründen wollten. Der Zustrom
Allianz. Wer weitere Informationen hierzu lesen möchte, findet sie bei
schuf eine tiefe Kluft zwischen den in Zaire beheimateten Bahutu und
spielsweise in Colette Braeckmms Buch fenjeu Congolais. fAfrique centroJe
Banyamulenge. Die Banyamulenge erhielten Unterstützung seitens der
apres Mobutu (Paris: Fayard, 1999 ) ; außerdem in Wayne Madsens Zeu
RPF-Regierung im benachbarten Ruanda und traten dem Rebellenbünd
genaussage vor dem Subcommittee on International Operations and
nis ADFL bei, das Laurem Desire Kabila anführte. Die
ADFL
wurde von
Rumda, Uganda und den USA unterstützt. Die Allianz demokratischer Kräfte für die Befreiung Kongo-Zaires (ADFL) bildete sich im Laufe des Sommers 1996 und gab sich offiziell
Humm Rights am 1 7 . Mai
2001
(http:/ /www.house.gov/internatio
nal_relations/madsosq.htrn); in: Jean-Claude Willame, L'odyssee Kabila. Trojectoire pour
un
Conga nouveau ? (Paris: Edition Karthala): auf Seite 84 zi
tiert er aus La Lettre Afrique Energies (Ausgabe vom 1 7 . Mai 1998 ) ; in
im Oktober 1996 zu erkennen. Angeführt von Laurent Desire Kabila,
»U.S. Firms Stake Claims In Zaire's War; Investors Woo Rebels In Mine
war sie eine Verschmelzung der Popular Revolutionary Party of Shaba,
ral-Rich Area«, einem Artikel von Cindy Shiner in Goma auf Seite A 1
dem National Resistance Council for Democratic Kasaii, dem Revolu
der Ausgabe vom 1 7 . April 1997 der Washington Post: und in >>Zairim Re
tionary Movement for the Liberation of Zaire und der Democratic Alli-
bels' New Allies: Men Armed With Briefcases«, einem Artikel von
James C. McKinley }r. in Lubmnbashi auf Seite A w der Ausgabe vom
Rieff, David. A B ed for the Night: Humanitarianism in Crisis. New York: Si
1 7 . April 1997 der New York Times.)
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Gnamo, Abbas H. »Tile Rwandan Genocide and the Collapse of Mobu
Die Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an Ärzte
tu's Kleptogracy«. In: The Path of a Genocide: The Rwanda Crisis from UlJC!llda
ohne Grenzen verfassten James Orbinski, Philippe Biberson, Fran(,:oise
to Zaire, herausgegeben von Howard Adelman und Astri Suhrke. New
Bouchet-Saulnier, Rony Brauman, Jean-Marie Kindermans, Alex Pari
Brunswick, N.].: Transaction Publishers, 1999.
sei, Austen Davis und Eric Stobbaerts. Beiträge lieferten außerdem Sa
Gowing, Nik. New Challenges and Problems for Information Management in Com
mantha Bolton, Fiona Terry, Kristina Torgeson Ulld viele freiwillige
plex Eme'!lencies: Ominous Lessous from the Great Lakes And Eastern Zaire in Late
MSF-Mitarbeiter, die mir ihre Gedanken per E-Mail aus ihren jeweili
1996 and Early 1997. European Union ECHO Discussion Paper. 1998.
gen Einsatzorten schickten. Bei der Überarbeitung der vielen Ideen
Ismi Asad. »The Western Heart of Darkness: Mineral-rieb Conga
und einiger früherer Entwürfe halfen mir David Rieff, Jim Graff, Ursu
Ravaged by Genocide and Western plunder<< . Canadian Centre for Policy Al
la Franklin, Craig Scott und Janice Stein.
ternatives. Monitor Issue. 1 . Oktober 200 1 . Jennings, Christian. Across the Red River. London: Orion Books, 2ooo.
Kapitel 9
Montague, Dena. »Stolen Goods: Coltan and Conflict in the Democra
Die Konzerne des PhRMA-Verbands haben wenig Interesse daran, die
rie Republic of the Congo<< .
Preise fUr Medikamente in Entwicklungsländern festzusetzen, weil ih
SAJS
Review 22 , Nr. 1 ( 2002).
Moore, David. »From King Leopold to King Kabila in the Congo: The
nen daran liegt, ihre Gewinne auf globaler, nicht auf staatlicher Ebene
Continuities and Contradictions of the Long Road from Warlordism to
zu
Democracy in the Heart of Africa«. Review of African Political Economy.
fall schaffen wollen. Aus ihrer Sicht gilt es unbedingt zu vermeiden,
maximieren, Ulld weil sie in puncto Niedrigpreis keinen Präzedenz
2 8 : 87 (2001 ) : S. 1 30- 1 35·
dass in den reichen Ländern ähnlich niedrige Preise verlangt werden.
Nabeth, Pierre, Allee Crosier, Midrad Peadri, Jean-Herve Bradol, Epi
Siehe hierzu S. 69 des Human Development Report der UNDP aus dem
Centre und Medecins sans Frontieres. »Were Acts of Violence Commit
Jahre 1999, verfügbar auf: http//hdr.undp.org /en/media/hdr_ I999-
ted Agairrst the Rwandan Refugees?« The Lancet. Oktober 1997.
en.pdf
Rosenblum, Peter. »Kabila's Congo.« Current History Mai 1998: S. 193-
Im November 2007 schätzt UNAIDS, dass 33 , 2 Millionen Menschen
2oo.
weltweit mit dem HI-Virus infiziert sind, und dass es 2007 2 , 5 Millio
Vereinte Nationen. Report of the Panel on the lllegal Exploitation of Natmul
nen Neuinfizierte gab. Zum ersten Mal hat sich in den meisten Teilen
Resources and Other ForiUS of Wealth of the Democratic Republic of the Coll{IO.
Schwarzafrikas die Anzahl der Hiv-Fälle entweder stabilisiert oder so
1 2 . April 2001 .
gar minimiert. In Südostasien zeigen die Epidemien in Kambodscha, Myanmar und Thailand allesamt einen Rückgang der Hiv-Neuerkran
Kapitel 8
kUilgen. 2007 starben weltweit irrfolge einer Aids-Erkrankung 2, 1 Mil
Becker, Jasper. La Grande Farnine de Mao: 30 a so miUious de morts. Paris : Edi
lionen [ 1 , 9
tions Dagorono, 1998.
ersten Mal wurde ein Rückgang der Aids-SterbefäHe bemerkt. Dieser
Conquest, Robert. The Ha.rve.st of Sorrow. Oxford: Oxford University
Rückgang geht zum Teil auf das Konto der antiretroviralen Medikamen
2 , 4 Millionen] , davon 76 Prozent in Schwarzafrika. Zum
Press, 1986.
te, die vermehrt zum Einsatz kommen. Aids gehört nach wie vor welt
Haggard, Stephen Ulld Marcus Noland. Farnine in North Korea: Markets, Aid
weit zu den Haupttodesursachen und in Schwarzafrika zur Todesursa
and Reform. New York: Columbia University Press, 2007.
che Nummer eins, wodurch zum einen deutlich wird, welch eine
Ogata, Sadako. Briefing Notes by Mrs. Sadako Ogata, United Nutions High Commis
gewaltige Herausforderung, was die Behandlungsmethoden anbelangt,
sioner for Refugees, to the (United Natious) Security Council. New York, 5· Mai
noch vor uns liegt, zum anderen, wie unverhältnismäßig stark die Be
1999· s. 6 .
völkerung Schwarzafrikas von der Seuche betroffen ist. Die HIV-Inzi-
den:z. (die Anzahl der Neuerkrankungen innerhalb einer Bevölkerung
Chin, James, und Jonathan Mann. >>Global Surveillance and Forecas
pro Jahr) ist der Schlüsselparameter, den Präventionsbemühungen redu
ting of AIDS.« Bulletin of the World Hmlth Or�anization 67 ( 1989) : 1 - 7 .
zieren wollen, da Neuinfizierte die Anzahl derer vergrößern, die mit
Chowdhury, Zafrullah. The Politics o f Essential Drugs. London: Zed Books ,
dem HI-Virus leben; die Krankheit wird irgendwann ausbrechen und
1995·
zum Tode führen; außerdem sind diese Menschen eine potentielle
Cohen-Kohler, J C. »The Morally Uncomfortable Global Drug Gap.«
Quelle neuer Ansteckung. Die globale HIV-Inzidenz erreichte in den
Nature 82, Nr. 5 (2007) . Nachzulesen auf:
späten 199oern wahrscheinlich ihren Höhepunkt mit mehr als drei Mil
Correa , Carlos. Intellectual Property Rights, the
lionen Neuerkrankungen im Jahr und wurde 2007 auf 2 , !) Millionen
London: Zed Books, 2000.
www.nature.com. wro
and Developing Countries.
[ 1 , 8 -4, 1 Millionen] Neuerkrankungen geschätzt, zwei Drittel ( 68 Pro
Dye, Chris. »Stopping
zent) davon in Schwarzafrika. Dieser Rückgang der Hrv-Inzidenz spie
ten auf der Rockefeiler Foundation Conference on
gelt vermutlich natürliche Trends in der Seuche wieder ;.vie auch das
(Tagung zur Entwicklung eines Wirkstoffs gegen Lungentuberkulose)
TB:
Weighing the Alternatives.« Vortrag, gehal TB
Development
Greifen von Präventionsprogrammen, die in unterschiedlichen Zusam
in Kapstadt, Südafrika, vom 6. bis zum 8. Februar 2ooo.
menhängen zu Verhaltensänderungen führten. Es ist wichtig festzustel
Holme C. , Cranberg 1., Owen-Drife J. »Tuberculosis: story of medical
len, dass größere Investitionen für die Prävention von
failure.« BMJ 3 1 7 ( 1 998) : 1 26o.
HIV,
für die Be
handlung Infizierter und für die Pflege Aids-Kranker zwar Ergebnisse
Keck, Margaret, und Kathyrn Sikkink. Activisr.s Beyond Borders: Advocacy Net
zeitigen, zugleich aber die Komplexität der Epidemie und der Analyse
works in International Politics. Ithaca, N. Y. : Cornell University Press, 1998.
ihrer Trends deutlich erhöhen. Die UNAIDS-Analyse aus dem Jahr 2007
Meyer, David S., und Sidney Tarrow. »A Movement Society: Conten
kann den Einfluss besonderer Interventionen oder Programme ni.cht in
tious Politics for a New Century.« In The Social Movement Society; Contenti
angemessener Weise definieren. Hierzu wird man spezielle Studien vor
ous Politics for a New Century, hg. von D. S. Meyer und S. Tarrow. l.anham,
Ort durchführen müssen, die direkte Bewertungen der HIV-lnzidenz,
Md.: Rowman and Uttlefield, 1998.
der Sterblichkeit, der Effektivität der Programme und der Belastung
Orbinski, James. »Health, Equity and Trade: A Failure in Global Gover
von Kindern durch die HIV-lnfektion, deren Erkrankung und Tod mit
nance.« In The Role of the World Trade Organization in Global Governance, hg.
einschließen. Vgl.: UNAIDS & WHO. 2007
von Gary Sampson. New York: United Nations University Press, 2001 .
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Economic Development.« Bericht der Commission on Macroecono
gen. Da viele der Bombenangriffe
mics and Health. Weltgesundheitsorganisation. Genf, 200 1 .
(Autos, Kliniken, Rundfunkstationen, Brücken) oder die Angriffe im
wie jene auf zivile Infrastruktur
Troullier, P., P. Olliaro, E. Torreele, J. Orbinski., R. Laing und N. Ford.
November und im Dezember auf alles, was sich im südlichen Afghanis
»Drug development for neglected diseases: a deficient market and a
tan auf den Straßen bewegte - gegen geltendes Kriegsrecht verstießen,
public health policy failure.« Tbe Lancet 35'9 (2002) : 2 1 8 8 - 2194·
gibt es Kriegsverbrechen, die untersucht werden müssen. Eine Fehlbe
Velasquez, German. »Drugs Should Be a Common Good: Unhealthy
wertung dieser Ereignisse würde verhindern, dass die Familien derer,
Profits, Le Monde diplomatique.« Juli 200 3 . http : //MondeDip
die zu Unrecht getötet wurden, in angemessener Weise entschädigt
lo. com/ 2oo3/ 07/ 10velasquez
werden. Sie würde auch internationales Recht verhindern.{< (Mare He rold, »Counting the Dead: Attempting to Hide the Number of Afghan
Kapitel
Civilians Killed by U.S. bombs Are an Affront to justice«, Tbe Guardian.
10
Als die Vereinten Nationen aufgrund der amerikanischen Luftangriffe
8. August 2002. Nachzulesen aufhttp:// www.guardian .eo.uk/afghanis
ihre Lebensmittelzuwendungen einstellten, mussten 7 , 5 Millionen Af
tan/comment/story/ o, 1 1447 , 770999 ,oo.html
ghanen hungern. Zwar warfen die Amerikaner pro Tag 3 7 .s-oo Nah
Am 2 . ]uni 2004 wurden fünf MSF-Kollegen auf der Straße zwischen
rungspäckchen ab, sogenannte Humanitarian Daily Rations
(HDR) ,
Khairkhana und Qala-I-Naw in der afghanischeu Provinz Badghis grau
deckten damit aber nur o, oos- Prozent des Bedarfs der Bevölkerung.
sam ermordet: Die Opfer waren die Projektkoordinatorirr Helene de
Insgesamt versorgten die amerikanischen Streitkräfte 2001 die Afgha
Beir, der Logistikexperte Pim Kwint, der Arzt Egil Tynaes, der Überset
nen mit 2,4 Millionen Nahrungspäckchen. »Sie sollten die unsichere
zer Fasil Ahmad und Besmillah, der Fahrer des Teams.
Lebensmittelversorgung der Menschen ein wenig verbessern, der Be
Arendt, Haunah. >>Collective Responsibility : Contribution to Symposi
völkerung vor Augen führen, dass die Amerikaner ein Herz hatten für
um 1968.« In Amor Mundi: Explomtions in the fuitb and Tbought of Hannah
die Nichtkämpfenden, und die internationale Kritik am Vorgehen der
Arendt, hg. von ]. W. Bernauer, S. J, Boston: Martinus Nijhoff. 1987.
USA
mindern . . . Während einige Rationen tatsächlich für hungernde
Camus, Albert. The Plogue. (dt. Die Pest) New York: Knopf, 1948; New
Menschen im Allgemeinen gedacht waren, waren andere eindeutig Ge
York: Vintage Books, 1991 : S. 250. Zitat stammt aus der Vintage-Aus
schenke an Zivilisten, die sich mit den amerikanischen Streitkräften
gabe.
verbündeten. Einmal zum Beispiel warf die Air Force 17 200 Nah
Canada. Commission of Inquiry into the Actions of Canadian Officials
rungspäckchen für Dorfbewohner ab, die um den Fluss Arghanab her
in Relation to Maher Arar. 2006. Report of tbe Events Re.lating to Maher Arar:
um wohnten, nachdem sie einer Gruppe us-Soldaten dabei geholfen
fuctual Background, Band 1 (nachzulesen auf http:/ /www.ararcomrnissi
hatten, eine steinerne Brücke über eine seichte Stelle im Fluss zu bau
on.ca/ eng/Vol_ I _English. pdf) .
en, um den Fahrzeugen die Überquerung zu erleichtern.« (Ben Skla
Cole, David. »The Man Bellind the Torture.« The New York Review of
ver, »Humanitarian Daily Rations: The Need for Evaluation and Guide
Books, 6. Dezember 200 7 : 38 -43. Eine Rezension zu Jack Goldsmith,
lines«, Disasteis 27, Nr. 3 (200 3 ) : 25'9 - 271 . Nachzulesen auf http://
The Terror Presidency.
www.blackwell-synergy.com/doilpdf!
Danner, Mark. »The Logic of Torture.« The New York Review of Books.
IO. I I I I I 1467-7717·oo232)
»Die vielen tausend afghaniseben Zivilisten, die ums Leben kamen,
24. ]uni 2004 (nachzulesen auf http://www.markdanner.com/arti
mussten sterben, weil die Eliten des us-Militärs und der Politik sich für
des/show/ 34) .
einen Bombenkrieg entschieden, in dem schwere Geschütze zum Ein
Danner, Mark. »Torture and Truth.« Tbe New York Review of Books. !o. Ju
satz kamen, wo viele Zivilisten lebten (die entlegenen Ausbildungs
ni 2004 (nachzulesen auf http:/ /www.markdanner. com/articles/
camps waren schon in der ersten Woche weitgehend zerstört worden) .
show/35') .
Aus politischen Gründen war es notwendig, das Blutbad auf afghani
Goldsmith, Jack. Tbe Terror Presidency: Law and Judgment Inside the Bush Admi
schem Boden weitgehend vor der Öffentlichkeit im Westen zu verber-
nistmtian. New York: W. W. Norton, 2007 .
410
411
Lu, Catherine. »Images of Jusrtce: Justice as a Bond, a Boundary, and a Balance.« The Journal of Political Philosophy 6, Nr. 1 ( 1 998) :
r
-26.
Dank
Marty, D. Secre! detent:ions and illegal transfers of detainees involving Council of Eu rope member states: Second report Ausschuss für Recht und Menschenrechte.
Parlamentarische Versammlung des Europarats. 8. Juni 2007 (nachzule sen auf http:/ /news.bbc.co.ukl 2/shared/bsp/hi/pdfs/marty_o8_o6_ 07.pdf) Moyn, Samuel. »The Genealogy of Morals.« The Nations, r6. April 2007: 25-31 . Prunier, Gerard. Darfur: The Ambiguous Genocide. Ithaca, N. Y. : Comell Uni versity Press, 2005. Ullrnan, Harlan. Shock and Awe: Achieving Rapid Dominance. Washington, D. C.: NDU Press, 1996 (Verfügbar auf http:/ /ics.leeds.ac.uk/papers/
Ohne drei wichtige Personen gäbe es kein Buch: Die erste ist Martha Kanya-Forstner, meine Lektorin. Sie vor allem hat mir dabei geholfen, diese Geschichte zu Papier zu bringen
indem
sie aus einem Gespräch zwischen uns beiden ein Buch entste hen ließ -, was sie in der Tat zu einer begabten Lektorin macht.
pmt/exhibits/ 223/ Shock_and_Awe,_Achieving_Rap%sB t %sD.pdf) .
Sie hat mich etwas über die Knnst des Schreibens gelehrt und
Yoo, John. War by Other Means: An Insiders Account of the War on Terror. New
mich auf dieser Reise geführt. Vielen Dank, Martha, weil Sie die Menschen in den Geschichten genauso mochten wie die
York: Atlantic Monthly Press, 2oo6.
Geschichten selbst und so viel Zeit in dieses Projekt investiert haben. Sie haben es bereichert. Ohne Sie wäre nichts daraus geworden. Und danke auch für Ihre Freundschaft - sie ist mir
literaturhinweise
sehr wertvoll. Die zweite Person ist Bruce Westwood, der einer Fünf sehr gute zeitgenössische Bücher
zu
den Belangen und Konflik
Vorlesung beiwohnte, die ich an der Universität Toronto hielt
ten humanitären Handeins sind:
über die amerikanische Invasion im Irak im Jahr
Barnett, Michael, und Thomas Weiss, Hg. Humanitarianism in Quest:ion: Poli
mich daraufhin verfolgte, bis ich mich bereit erklärte, »Über
tics, Power and Ethics. Ithaca, N. Y.: Cornell University Press, 2oo8.
ein Buch nachzudenken«. Danke, Bruce, für Ihre Freundschaft
Rieff, David. A Bed for the Night: Humanitarianism in Crisis. New York: Si mon & Schuster, 2002. Steiner, Henry J., und Paul Alston. International Human Rights in Context:
Lt!W, Politics, Morals. Zweite Auflage. Oxford: Oxford University Press, 2000. Terry, Fiona. Conderuned to Repeat? The Paradox of Humanitarian Action. Comell University Press, Ithaca, 2002. Weissman, Fabrice, Hg. In the Shadow of 11]nst Wars<<: Yiolence, Politics and Hu manitarian Action. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 2004.
2003 ,
und der
und Beharrlichkeit. Die dritte Person ist die wichtigste, sie ist meine Partnerin und Freundin Rolie. Ihr verdanke ich alles, besonders die Erlaubnis, die Buchstaben R und L zu benutzen. Ohne sie wäre das Buch weitaus schwieriger zu schreiben ge wesen. Rolie lebt tagtäglich mit meinen Seelenqualen, mit den Leidenschaften und Ideen, die mich schon so lange beschäfti gen, und aus denen ich j etzt schöpfen kann. Sie ist die Mutter unserer Kinder und zeigt mir Tag für Tag, dass Liebe der Beginn von allem Sinnvollen ist, und mein Leben ist angefüllt mit Sinn. Mein besonderer Dank gilt jean-Marie Kindermaus und Phi lippe Biberson, beide Mitglieder von Ärzte ohne Grenzen, die sicherlich mit vielem, was ich in diesem Buch geschrieben ha be, nicht einverstanden sind. Trotzdem haben meine Gedanken
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von den Diskussionen und der Freundschaft mit ihnen über
mont, Michelle Latimer, Micheie Hozer, das gesamte Team von
alle Maßen profitiert. Ich möchte auch die vielen tausend frei
White Pine Pictures und vor allem Patrick Reed. Ihnen allen
willigen Helfer und einheimischen Mitarbeiter erwähnen, die
vielen Dank.
mit Mut und Entschlossenheit arbeiten, um Menschen in Not
Was den Titel des Buches anbelangt, habe ich mich von einer
humanitären Beistand und Schutz zu bieten. Es gibt so viele,
Zeile des poetischen Songs »Anthem« von Leonard Cohen in
die man namentlich erwähnen müsste, Mitarbeiter der Hilfsor
spirieren lassen. Das Buch ist meinen Kindern gewidmet. Ich
ganisation Ärzte ohne Grenzen, des Internationalen Komitees
empfand es als wichtig, diese Geschichte jetzt zu erzählen, so
vom Roten Kreuz, der verschiedenen Organe der Vereinten Na
lange die Ereignisse noch frisch im Gedächtnis sind. Ich habe
tionen, Angehörige der Friedenstruppen der Vereinten Natio
sie in dem verzweifelten Wunsch geschrieben, der mich seit
nen und anderer Organisationen. Ganz besonders danken
ihrer Geburt nicht loslässt, ihnen die unvermeidliche Reise zu
möchte ich Bernard Pecoul, Samantha Bolton, Winifred Simon,
erleichtern. Weil ich dieses Buch verfasste, versäumte ich den
Rick Bedel, Jules Pieters, Kathleen Metcalfe, Carol Devine, Fran
ersten Schultag meiner Kinder. Hoffentlich ist es ihnen auf ih
�oise Bouchet-Saulnier, Daniel Berman, Ellen 't Hoen, Eis Tor
rem letzten von Nutzen. Für meine Kinder: Die Welt ist so, wie
reele, Jacques DeMilliano, Jean-Herve Bradol, Rony Brauman,
sie immer war, schrecklich und schön zugleich, und sie bietet
]os Nolle, Alex Parisel, Zackie Achmat, ]im Kim, Paul Farmer
Möglichkeiten. Für mich ist sie schöner, seit ihr darin lebt.
und Phil Clarke, die mich alle in besonderer Weise inspiriert haben. Dank auch an das St. Michael's Hospital und an das Munk Centre for International Studies , beide Teil der Universi tät Toronto, für ihre Unterstützung in diesem Projekt. Für die Hilfe bei der Recherche danke ich Barry Burciul, David Egan, Andrea Paras , Ankita Jauhari und ]oe Belliveau. Viele andere haben mir
wissentlich oder unwissentlich und zu unter
schiedlichen Zeiten - bei diesem Schreibprojekt geholfen. In diesem Zusammenhang seien erwähnt Michael Lieberman, Jac qui, Kevin, Deirdre und Bernadette Orbinski, Justin Reynolds, Carolynne Hew, Phil Playfair, Peter Scott, Patti Strong, Robbie Chase, Chris Romeike, Andrew Fedosov, Eric und Rhys Ho skins, Samantha Nutt, Ian Small, Michelle Oser, Vic Neufeld, John Frid, Ursula Franklin, Harriet Friedman, Gerry Caplan, Solly Benatar, Janice Stein, Lou Pauly, Gerry Helleiner, John und Elizabeth Fraser, Vincent Tovel, Art Slutsky, Ron Diebert, David Welch, Melissa Williams, Jim Graff, Craig Scott, Peter Hajnal, Michael Barnett, Joanna Santa Barbara, Graeme MacQueen, Ed Mills, Stephen Lewis, Allan Rock, Bob Fowler, Uoyd A.xworthy, Roger Lemoyne, David Rieff, Michael Young, Rene Fox, Jack Rosenfeld, John Westheuser, Steve Simon, Ao Loo, Peter Ray-
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