Ungekürzte Ausgabe September 987 2. Auflage August 990 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 929 und ...
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Ungekürzte Ausgabe September 987 2. Auflage August 990 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 929 und 957 John Steinbeck Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Cup of Gold‹ © 984 der deutschsprachigen Ausgabe: Diana Verlag AG, Zürich (Deutsche Erstveröffentlichung: Desch Verlag, München 953) Umschlaggestaltung: Celestino Piatti isbn 3-423-0786-3
040706 Nicht zum Verkauf !
Erstes Kapitel
I Den ganzen Nachmittag pfiff der Wind aus den schwarzen Waliser Bergschluchten und verkündete mit lauter Stimme, daß der Winter vom Pol her seinen Marsch nach Süden angetreten hatte. Am Fluß hörte man schwach das neue Eis ächzen. Es war ein trauriger Tag, ein Tag des Mißbehagens und grauer Unrast. Die gleichmäßig strömende Luft schien mit einer weichen, sanften Elegie den Verlust herbstlicher Heiterkeit zu beklagen. Auf den Weiden stampften unruhig große Arbeitspferde, und durch das ganze Land flogen kleine, braune, zwitschernde Vögel, zu viert oder fünft, und suchten mit ihren Rufen Genossen für ihre Wanderung nach dem Süden. Ein paar Ziegen kletterten auf die Spitzen hoher Felsen und starrten lange mit ihren gelben Augen gen Himmel. Der Nachmittag zog langsam, prozessionsgleich, vorüber, den Abschluß bildete der Abend, aber dicht hinter ihm kam wütend der Wind, raschelte in den trockenen Gräsern und floh wimmernd über die Felder. Wie eine schwarze Kapuze senkte sich die Nacht nieder. Seine Heiligkeit, der Winter, hatte seinen Nuntius nach Wales entsandt. Neben der Landstraße, die das Tal in gerader Linie durchzog und dann durch einen Bergpaß in die Welt hinausführte, stand ein aus groben Quadersteinen erbautes und mit Stroh gedecktes Bauernhaus. Ein gewisser Morgan, der es gebaut hatte, spielte gegen die Zeit und gewann beinahe. Drinnen auf dem Herd brannte ein Feuer. Ein eiserner Kessel hing über der Glut, und ein schwarzer eiserner Rost verschluckte
die Kohlen, die vom Rand der Flammen nach unten fielen. Das lebhaft flackernde Feuer ließ die Spitzen der in Gestellen an der Wand befestigten langschäftigen Piken aufleuchten, Waffen, die seit hundert Jahren nicht mehr gebraucht worden waren, seit damals, als Morgan in Glendowers Reihen seinen Schlachtruf erschallen ließ und auf den kieselharten Gefilden von Jolo Goch vor Wut zittert. Die breiten Messingbänder einer in einer Ecke stehenden Truhe saugten den Feuerschein an und warfen ihn blitzend zurück. In der Truhe lagen allerlei Papiere, Pergamente und steife, ungegerbte Häute, in Englisch, Latein und der alten kymrischen Sprache beschrieben : Morgan wurde geboren, Morgan heiratete, Morgan wurde zum Ritter geschlagen, Morgan wurde gehängt. Hier lag die schmachvolle und ruhmreiche Geschichte des Hauses. Aber die Familie bestand jetzt nur noch aus wenigen Personen, so daß sie wahrscheinlich den Aufzeichnungen in der Truhe lediglich die einfache Eintragung : Morgan geboren – Morgan gestorben, hinzufügen würde. Da war zum Beispiel der alte Robert. Er saß in seinem hohen Lehnstuhl und sah lächelnd ins Feuer. Sein Lächeln war aus Verdutztheit und einem sonderbaren, passiven Trotz geboren. Man könnte sagen, er versuchte, das Schicksal, das für sein Dasein verantwortlich war, dadurch zu beschämen, daß er darüber lächelte. Oft betrachtete er müde sein Leben, das von lauter kleinen Niederlagen umgeben war, die sich über ihn lustig machten, wie Straßenkinder über einen Krüppel. Es kam dem alten Robert immer sonderbar vor, daß er, der so viel mehr wußte als seine Nachbarn, der endlos über alles nachgedacht hatte, nicht einmal ein guter Bauer sein sollte. Manchmal dachte er sich, er verstände zu viele Dinge, um je etwas richtig zu machen. Und so schlürfte der alte Robert das von ihm selbst, nach eigenem Rezept, gebraute Bier und sah lächelnd ins Feuer. Seine 4
Frau entschuldigte ihn bei den Leuten wegen seiner Schwäche, wie er wußte, und die Feldarbeiter zogen den Hut vor Morgan, nicht vor Robert. Selbst seine hochbetagte Mutter, Gwenliana, die fröstelnd, als trüge der ums Haus heulende Wind die Kälte zu ihr herein, neben ihm saß, wurde nicht für so unzulänglich gehalten. In den Hütten ringsum fürchtete man sie sogar und hatte großen Respekt vor ihr. Wenn sie im Garten hofhielt, das heißt Anweisungen für Geisterbeschwörungen gab, war es ein übliches Bild, daß ein großer, errötender Bauernbursche den Hut gegen die Brust drückte und ihren Zauberformeln lauschte. Seit vielen Jahren hatte sie die Gabe des zweiten Gesichts entwickelt und war stolz darauf. Die Familienmitglieder wußten zwar, daß ihre Prophezeiungen reine Mutmaßungen waren, deren Schärfe mit den Jahren immer mehr abnahm, doch lauschten sie aufmerksam ihren Worten und fragten mit geheuchelter Ehrerbietung, wo sie wohl diese oder jene verlorene Sache wiederfinden könnten. Wenn nach ihren geheimnisvollen Sprüchen die Schere doch nicht unter der zweiten Bodendiele des Schuppens entdeckt wurde, so tat man jedenfalls so, als hätte man sie dort gefunden. Denn wenn sie den Ruf einer guten Wahrsagerin verloren hätte, wäre nur noch eine kleine, runzlige alte Frau übriggeblieben, die bald sterben mußte. Den Einfällen der alten Frau immer Beifall zu spenden, kam Mutter Morgan hart an. Sie gingen ihr wider den Strich, denn sie war offenbar auf die Welt gekommen, um als Geißel für alle Torheiten zu wirken : Dinge, die ganz offenbar nichts mit der Kirche oder den Preisen von Gebrauchsgegenständen zu tun hatten, waren glatter Unsinn. Der alte Robert hatte seine Frau so sehr und so lange geliebt, daß er sehr abschätzig über sie denken konnte, ohne daß diese Gedanken seine Zuneigung beeinträchtigten. Als sie an diesem 5
Nachmittag voll Entrüstung über den Preis eines Paars Schuhe, die sie jedoch gar nicht hatte kaufen wollen, heimkam, hatte er folgende Überlegung angestellt : »Ihr Leben ist wie ein mit bedeutenden Ereignissen vollgestopftes Buch. Jeden Tag erklimmt sie den Gipfel einer gewaltigen Begebenheit, die sich auf Knöpfe oder die Hochzeit eines Nachbarn bezieht. Wenn einmal eine wirkliche Tragödie über sie kommt, so wird sie das, glaube ich, über ihre Bergkette von Ameisenhaufen gar nicht sehen. Vielleicht ist das ein Glück«, dachte er, und dann : »Ich möchte gerne wissen, welche Bedeutung sie etwa dem Tod des Königs, im Vergleich zu dem Verlust eines der roten Ferkel unserer Sau, zumessen würde.« Mutter Morgan war zu sehr mit den kleinen Ereignissen des Tages beschäftigt, um sich mit der Torheit abstrakter Vorstellungen zu befassen. Jemand in der Familie mußte doch praktisch veranlagt sein – oder das Strohdach würde abgedeckt werden. Und was konnte man von einer Horde von Träumern erwarten, wie es Robert und Gwenliana und ihr eigener Sohn Henry waren ? Sie liebte ihren Mann mit einer sonderbaren Mischung aus Mitleid und Verachtung, einem Gefühl, das aus seinen Schwächen und seiner Güte geboren wurde. Ihren Sohn, den jungen Henry, betete sie an, obschon er ihrer Meinung nach nicht die geringste Ahnung davon hatte, was zu seinem Wohl oder zu seiner Gesundheit diente. Und die ganze Familie liebte Mutter Morgan, fürchtete sie und verstand ihre Art. Sie hatte sie satt gefüttert und die Lampe geputzt. Das Frühstück für den morgigen Tag stand schon auf dem Feuer. Nun suchte sie etwas zum Flicken – als ob sie nicht jedes Stück flickte, sobald es zerrissen war. Mitten in ihrem Suchen nach Beschäftigung blieb sie stehen und blickte scharf zu dem jungen Henry. Es war jener harte, aber liebevolle Blick, der besagt : »Nun 6
möchte ich doch wissen, ob er sich da auf dem kalten Boden keinen Schnupfen holt.« Henry zuckte zusammen und fragte sich, was er am Nachmittag wohl wieder ausgefressen haben könnte. Aber unmittelbar darauf ergriff sie ein Tuch und begann abzustauben, und Henry war beruhigt. Er lag auf einen Ellbogen gestützt und starrte, am Feuer vorbei, in sich hinein. Der lange graue Nachmittag, der jetzt in diese geheimnisvolle Nacht überging, hatte eine starke Sehnsucht in ihm erweckt, zu der einige Monate zuvor der Keim gelegt worden war. Vielleicht bewegte ihn dieselbe Kraft, die die Vögel zusammentreibt, wenn sie nach Süden ziehen, oder die Tiere nervös macht, wenn sie den Winter in der Luft spüren. Der junge Henry dachte an diesem Abend darüber nach, daß er fünfzehn Jahre müßig dahingelebt hatte, ohne irgendeine bedeutende Tat zu vollbringen. Hätte seine Mutter seine Gefühle gekannt, so würde sie gesagt haben : »Er ist im Wachsen.« Und sein Vater hätte den Ausspruch wiederholt : »Ja, der Junge ist im Wachsen.« Aber keiner würde verstanden haben, was der andere sagen wollte. Wenn man Henrys Gesicht betrachtete, sah man, daß er von beiden Eltern wesentliche Züge mitbekommen hatte. Seine Backenknochen waren hoch und hart, sein Kinn fest, seine Oberlippe kurz und dünn, wie die seiner Mutter. Aber da war auch die sinnliche Unterlippe, die feine Nase, und da waren die träumerischen Augen. Das waren Roberts Züge, ebenso das dicke, drahtige Haar, das wie schwarze Sprungfedern gegen den Kopf hin zusammengerollt war. Während jedoch Roberts Gesicht völlige Unschlüssigkeit zeigte, lag in Henrys Zügen eine große Entschlossenheit, der nur noch das Ziel fehlte, auf das sie sich richten konnte. Drei waren hier vor dem Feuer, deren Augen durch die Wände hindurchdrangen und körperlose Dinge sahen – die in der Nacht nach Geistern Ausschau hielten. 7
Es war eine übernatürliche Nacht, eine Zeit, wo man vielleicht Leichenkerzen über die Straße gleiten sah oder auf den Geist einer römischen Legion stieß, die im Eilschritt marschierte, um rechtzeitig vor dem vollen Anbruch des Sturmes die schützende Stadt Caerleon zu erreichen. Wo die kleinen, mißgestalteten Wesen der Berge nach verlassenen Dachshöhlen suchten, um vor der Nacht einen Unterschlupf zu finden, und wo der Wind über die Felder hinter ihnen herschrie. In der Stille des Hauses hörte man nur das prasselnde Geräusch des Feuers und das Rascheln der vom Wind durchblasenen Strohhalme des Daches. Ein Scheit krachte auf dem Herd auseinander, aus dem Spalt zischelte eine schmale Zunge, verbreiterte sich und hüllte den schwarzen Kessel wie eine Flammenblume ein. Die Mutter eilte nun ans Feuer. »Robert, du gibst nie richtig auf das Feuer acht. Du solltest es doch dann und wann schüren.« Das war ihre Methode. Sie schürte ein großes Feuer, um es kleiner zu machen, und wenn es heruntergebrannt war, rührte sie heftig in der Asche, um die Flamme wieder zum Steigen zu bringen. Undeutlich hörte man jetzt auf der Straße das Geräusch von Schritten. Es konnte auch der Wind sein oder jene wandelnden Dinge, die man nicht sehen kann. Die Schritte wurden lauter, hörten dann vor der Tür auf, an der man jetzt ein schüchternes Klopfen vernahm. »Herein«, rief Robert. Die Tür öffnete sich langsam, und in der Öffnung stand, hell gegen die schwarze Nacht, ein gebeugter, schwächlicher Mann, dessen Augen schon halb erloschenen Flämmchen glichen. Er blieb wie unschlüssig auf der Schwelle stehen, trat dann jedoch rasch ins Zimmer und fragte mit einer seltsamen, knarrenden Stimme : »Wirst du mich wohl noch kennen, Robert Morgan ? Wirst 8
du mich wiedererkennen, der ich so lange fort gewesen bin ?« Seine Worte klangen flehend. Robert betrachtete forschend das eingesunkene Gesicht. »Dich kennen ?« sagte er. »Ich glaube nicht – warte ! – kann es Dafydd sein, unser kleiner Knecht Dafydd, der vor langen Jahren zur See gegangen ist ?« Ein freudiger Ausdruck huschte über das Antlitz des Wanderers. Er hätte Robert Morgan auf eine heikle, beängstigende Probe stellen können. Jetzt quetschte er ein Lachen heraus. »Dafydd ist’s, sicher ist er’s, reich – und halb erfroren.« Bei den letzten Worten kam wieder der Ernst über ihn, so wie ein Schmerz kurze Zeit aufhört und dann wieder einsetzt. Dafydd war eisgrau und zähe wie ein trockenes Fell. Seine Gesichtshaut war so steif und dick, daß es schien, als könnte er den Gesichtsausdruck nur mit mühevoller, bewußter Anstrengung wechseln. – »Mich friert, Robert«, fuhr er mit seiner sonderbaren dürren Stimme fort. »Es ist mir, als könnte mir nie wieder warm werden. Aber jedenfalls bin ich reich« – als hoffte er, das würde einen Ausgleich schaffen –, »reich wie er, den sie Pierre le Grand nennen.« Der junge Henry hatte sich erhoben, und nun rief er : »Mann, wo bist du gewesen – wo ?« »Wo ? Nun draußen in Westindien – von dort komm’ ich ; in Goaves und Tortuga – das heißt die Schildkröte –, in Jamaika und in den dichten Wäldern von Hispaniola, auf der Jagd nach Vieh. Überall dort war ich.« »Jetzt setz dich mal, Dafydd«, unterbrach Mutter Morgan die Unterhaltung. Sie sagte das, als wäre er nie fort gewesen. »Ich werde dir einen warmen Trunk machen. Schau nur, wie Henry dich mit den Augen verschlingt, Dafydd. Gerade als ob er auch nach Indien gehen möchte.« Für sie waren diese Worte ein dummer Scherz. 9
Dafydd sagte nichts mehr, aber innerlich schien er mit dem Verlangen zu ringen, sich auszusprechen. Mutter Morgan machte ihm Angst wie damals, als er ein flachshaariger Stalljunge gewesen war. Der alte Robert erkannte seine Verlegenheit, und auch Mutter Morgan schien sie zu fühlen, denn als sie ihm eine dampfende Tasse in die Hand gegeben hatte, verließ sie das Zimmer. Die runzlige alte Gwenliana saß in ihrem Stuhl vor dem Feuer, doch ihr Geist hatte sich in der Weite der Zukunft verloren. Vor ihren umwölkten Augen hing der Schleier des morgigen Tages. Hinter ihrer wässerig-blauen Oberfläche schienen sich die Ereignisse und Zustände der Welt in dichter Reihenfolge aufzutürmen. Sie hatte ebenfalls das Zimmer verlassen – war in die reine, abstrakte Zeit eingegangen, die die Zukunft ist. Der alte Robert sah auf die Tür, die seine Frau hinter sich geschlossen hatte, und machte es sich dann mit vielen Drehungen und Wendungen, nach Art eines Hundes, bequem. »Nun, Dafydd«, sagte er und blickte lächelnd ins Feuer, während Henry auf dem Boden kniete und ehrfürchtig zu dem Sterblichen emporsah, der so ungeheure Entfernungen und Räume in seiner Hand hielt. »Nun, Robert – ja, von dem grünen Dschungel wollte ich erzählen und den braunen Indianern, die in ihm leben, und von ihm, den man Pierre le Grand nennt. Aber in mir ist etwas erloschen, so wie ein winziges Flämmchen, das auf einmal ausflackert. Nachts, wenn ich auf den Decks der Schiffe lag, dachte ich mir immer aus, welch wunderbare Begebenheiten ich erzählen würde, wenn ich heimkäme – aber jetzt ist es mir mehr wie einem Kind zumute, das heimgekommen ist, um zu weinen. Kannst du das verstehen, Robert ? Wie soll man das überhaupt verstehen ?« Er lehnte sich Antwort heischend vor. Es kam keine Antwort, und er fuhr fort : 10
»Also laß mich erzählen. Wir nahmen das große gepanzerte Schiff, das sie eine Galione nennen. Wir nahmen es und hatten nur Pistolen und die langen Messer, mit denen man Breschen durchs Dickicht schlägt. Wir waren vierundzwanzig – nur vierundzwanzig zerlumpte Kerle –, aber, Robert, mit diesen langen Messern richteten wir scheußliche Dinge an. Wenn man ein Bauernjunge war, so tut es einem nicht gut, so etwas zu tun und dann darüber nachzudenken. Das Schiff hatte einen feinen Kapitän – wir hingen ihn an den Daumen auf, bevor wir ihn zum Tode beförderten. Ich weiß nicht, warum wir das taten, ich half dabei und weiß nicht, warum. Einige sagten, er sei ein gottverdammter Papist, aber so einer war, glaube ich, auch Pierre le Grand. Einige warfen wir ins Meer, und ihre Brustpanzer schimmerten und glitzerten, als sie untergingen – große spanische Soldaten –, Luftblasen quollen ihnen aus dem Mund. Das Wasser ist dort so klar, daß man tief hinabsehen kann. Ich will dich nicht mit solchen Dingen langweilen, Robert, aber hier in meiner Brust unter den Rippen sitzt irgend etwas Lebendiges, das beißt und kratzt, um herauszukommen. Das Unternehmen hat mich reich gemacht, sicher, aber wenn man reich ist, möchte man noch mehr haben, und ich bin vielleicht reicher als dein Bruder, Sir Edward.« Robert lächelte mit fest geschlossenen Lippen. Ab und zu wanderten seine Augen zu dem am Herde knienden Jungen. Henry hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, gierig nahm er dem Erzähler jedes Wort vom Munde. »Schwere Schuld drückt dir auf die Seele«, sagte Robert, aber er vermied es, Dafydd dabei anzusehen. »Am besten sprichst du morgen früh mit dem Pfarrer – obschon ich nicht weiß, worüber.« »Nein, nein«, fuhr Dafydd schnell fort, »mit meiner Seele hat das nichts zu tun. Dieses Seelending rinnt einem in Westindien 11
gleich zu Anfang wie Wasser aus der Brust, und man hat dann das Gefühl, daß dort, wo es gesteckt hat, etwas eingetrocknet und eingeschrumpft ist. Nein, mit meiner Seele hat das nichts zu tun, sondern es kommt von dem Gift, das mir im Blut und im Gehirn steckt. Dieses Gift, Robert, läßt mich zusammenschrumpfen, wie eine alte Orange. Alle diese krabbelnden Wesen dort, die kleinen fliegenden Biester, die nachts ans Feuer kommen, und die großen bleichen Blumen – alles ist giftig dort. Sie richten einen scheußlich zu. Jetzt noch, wo ich vor dem schönen Feuer sitze, gleitet mir das Blut wie kalte Nadeln durch die Adern. Das kommt alles von dem faulen Atem des Dschungels. Man kann in ihm weder schlafen noch liegen, noch überhaupt in ihm leben, immer haucht es dich an und macht dich welk und alt. Und die braunen Indianer – da, schau !« Er schob den Ärmel zurück, aber entsetzt veranlaßte ihn Robert, die gräßliche weiße Pest, die ihm den Arm zerfraß, wieder zu bedecken. »Da hat mich nur ein Pfeil gestreift – eine kleine Kratzwunde, man konnte sie kaum sehen, aber in einigen Jahren wird diese Wunde mich wohl ganz auffressen. Ich habe noch was anderes in mir, Robert. Selbst die Menschen sind dort giftig. Die Matrosen haben darauf so ein Lied gemacht, das nur Matrosen singen.« Jetzt fuhr der junge Henry erregt auf. »Die Indianer !« rief er. »Erzähle mir doch von den Indianern und ihren Pfeilen ! Sind sie große Krieger ? Wie sehen sie aus ?« »Krieger ?« sagte Dafydd. »Nur das und nichts anderes. Sie kämpfen immer, weil es ihnen Spaß macht. Wenn sie nicht gegen die Spanier kämpfen, schlachten sie sich untereinander ab. Geschmeidig wie Schlangen sind sie, hurtig, leise und braun wie Frettchen, mit einer wahren Teufelskunst verschwinden sie vom Erdboden, bevor man noch einen Schuß auf sie abgeben kann. 12
Aber man muß sagen, es ist ein tapferes, starkes Volk, das nur zwei Dinge fürchtet – die Hunde und die Sklaverei.« Dafydd war jetzt ganz in seine Erzählung eingesponnen. »Ach, Junge, du kannst dir nicht vorstellen, was sie einem antun würden, wenn man sich bei einem Scharmützel mit ihnen gefangennehmen ließe. Einem solchen Gefangenen treiben sie vom Kopf bis zu den Zehen lange spitzige Dornen ins Fleisch, und das dicke Ende jedes Dorns umwickeln sie mit so einer Flaumflocke, die wie Wolle aussieht. Der arme Gefangene steht dann in einem Kreise nackter Wilder, die das feine Gespinst an den Dornen in Flammen aufgehen lassen. Der Indianer, der nicht singt, während er wie eine Fackel brennt, wird verflucht und als Feigling beschimpft. Kannst du dir vorstellen, daß ein Weißer das tut ? Aber die Hunde fürchten sie, weil die Spanier sie mit großen Metzgerhunden jagen, wenn sie Sklaven für die Bergwerke sammeln. Die Sklaverei ist ihnen ein Greuel. Lieber singen sie unter den brennenden Dornen und sterben den Flammentod, als daß sie aneinandergefesselt in die feuchte Erde steigen, jahrein, jahraus, bis sie an Schwindsucht zugrundegehen.« Er hielt inne und streckte seine dünnen Hände so nahe zum Herd hin, daß sie beinahe die Glut berührten. Das Licht, das während seiner Erzählung in seinen Augen aufgeleuchtet war, erlosch wieder. »Müde bin ich, Robert«, seufzte er, »so müde, aber etwas will ich dir noch sagen, bevor ich einschlafe. Vielleicht wird es mich erleichtern, vielleicht kann ich es eine Nacht lang vergessen, wenn ich es sage. Ich muß in das verdammte Land zurückgehen. Ich kann nie mehr von diesem verfluchten Dschungel loskommen, weil ich seinen heißen Atem brauche. Hier, wo ich geboren bin, friert mich so, daß ich zittere. Nach einem Monat wäre ich tot. Dieses Tal, wo ich spielte, wo ich aufwuchs und arbeitete, will mich nicht mehr haben und vertreibt mich wieder 13
in dieses faulig stinkende Pestland. Durch die Kälte befreit es sich von mir. Wenn du mir nun einen Platz zum Schlafen geben würdest und dicke Decken dazu, um mein armes Blut in Bewegung zu halten. Morgen früh werde ich dann wieder gehen.« Sein Gesicht war von Schmerz verzerrt. »Früher hatte ich den Winter so gern.« Der alte Robert faßte ihn unter dem Arm und führte ihn aus der Küche. Bald darauf kam er zurück und setzte sich wieder ans Feuer. Er betrachtete seinen Sohn, der regungslos auf dem Boden lag. »Woran denkst du denn jetzt, Henry ?« fragte er nach einer Weile mit sanfter Stimme. Henry, der in das Land hinter dem Feuerschein gestarrt hatte, sah nun zu seinem Vater hin. »Ich denke, daß ich nun bald gehen möchte, Vater.« »Das dachte ich mir, Henry. Dieses ganze lange Jahr hindurch habe ich es in dir wachsen sehen, und nun ist der Baum groß und dick geworden – London oder Guinea oder Jamaika. Das kommt von deinen fünfzehn Jahren und von deiner Kraft, da sehnt man sich nach neuen und fremden Dingen. Auch ich sah einmal das Tal kleiner und kleiner werden, bis es mich fast erstickte. Aber hast du denn keine Angst vor den Messern, den Giften und den Indianern ? Wird es dir da nicht bange, wenn du davon hörst ?« »Nein«, sagte Henry langsam. »Natürlich nicht. Wie sollte es auch möglich sein. Die Worte haben gar keinen Sinn für dich. Aber du siehst, wie Dafydd niedergeschlagen und ganz fertig ist, du siehst seinen armen, kranken Körper – wird es dir da nicht ängstlich zumute ? Willst du einmal mit einem solch schweren Herzen durch die Welt gehen ?« Der junge Henry dachte lange nach. »So könnte es mir nie gehen«, versetzte er schließlich. »Ich 14
würde sehr oft zurückkommen, damit mein Blut gesund bleibt.« Obschon seinem Vater das Herz schwer war, lächelte er doch tapfer weiter. »Wann willst du denn fort, Henry ? Ohne dich wird es hier einsam sein.« »Es ist jetzt bald Zeit – sobald ich kann«, sagte Henry, und es schien, als ob er der ältere sei und Robert ein kleiner Junge. »Henry, du mußt mir zuliebe zwei Dinge tun, bevor du gehst. Denke heute nacht mal darüber nach, wie viele lange, schlaflose Nächte ich deinetwegen habe und wie einsam meine Tage sein werden. Und dann denke an die Stunden, in denen deine Mutter sich Sorge um deine Unterwäsche und dein Verhältnis zur Religion machen wird. Das ist das erste, Henry. Nun kommt das zweite. Willst du morgen zu dem alten Merlin oben auf dem Berggrat gehen und ihm sagen, daß du fortgehst, und zuhören, was er dir sagt ? Er ist weiser als du oder ich jemals sein werden. Er kennt gewisse Zauberkunststücke, die dir einmal von Nutzen sein könnten. Willst du diese beiden Dinge tun ?« Henry war sehr traurig geworden. »Ich würde ja gerne hierbleiben, aber du weißt, Vater –.« »Ja, mein Junge«, sagte Robert und nickte dabei nachdrucksvoll. »Es ist mein Kummer, daß ich es weiß. Ich kann nicht ungehalten über dich sein und dir auch nicht verbieten, daß du gehst, weil ich dich verstehe. Ich wollte, ich könnte dich zurückhalten und dir eine Tracht Prügel geben, in der Meinung, ich würde dir damit nützen. Aber geh jetzt zu Bett, Henry, und denk lange nach, wenn das Licht aus ist und du im Dunkeln liegst.« Der alte Robert saß träumend in seinem Sessel, als der Junge gegangen war. Warum wollen Menschen wie ich Söhne haben ? fragte er sich. 15
Wohl darum, weil sie in ihrer armen zertretenen Seele hoffen, daß diese neuen Menschen, die ihres Blutes sind, das tun, wozu sie selbst nicht stark genug oder klug genug oder tapfer genug waren. Es ist, als könnte man das Leben noch einmal von vorne anfangen, als bekäme man einen neuen prallen Beutel voll Geld auf den Spieltisch gelegt, nachdem man sein Vermögen verspielt hat. Vielleicht tut der Junge, was ich in lange vergangenen Jahren hätte tun können, wenn ich nur tapfer genug gewesen wäre. Ja, ich glaube, das Tal hat mich niedergedrückt, und ich freue mich, daß mein Junge die Kraft in sich findet, die Berge zu überspringen und hinaus in die weite Welt zu schreiten. Aber wie einsam wird es hier sein – ohne ihn.
II Spät am Morgen kam Vater Robert aus seinem Rosengarten und trat in das Wohnzimmer, das seine Frau gerade reinfegte. Mißbilligend sah sie die von der guten Gartenerde beschmutzten Hände. »Er wird jetzt bald gehen wollen, Mutter«, sagte Robert nervös. »Wer will gehen, und wohin ?« Sie fegte eifrig und ohne Rücksicht auf ihren Mann weiter. Die schnellen und jeden Winkel untersuchenden Besenstöße wirbelten Staub aus Ecken und Bodenritzen und trieben ihn in rasch aufsteigenden Wölkchen ins Freie. »Nun, Henry. Er will nach Westindien gehen.« Sie hielt inne und starrte ihren Mann an. »Westindien ! Du bist wohl nicht recht bei Sinnen. Was für ein Unsinn !« Der Besen tanzte noch schneller in ihren Händen als vorher. »Ich habe es schon lange in ihm wachsen sehen«, fuhr Robert 16
fort. »Dann kam Dafydd mit seinen Erzählungen. Gestern abend hat mir Henry gesagt, daß er jetzt gehen muß.« »Er ist ja noch ein kleiner Junge«, fiel Mutter Morgan mit scharfer Zunge ein. »Er kann doch nicht nach Westindien gehen.« »Als Dafydd vorhin aufbrach, stand eine solche Sehnsucht in unseres Kindes Augen, daß sie überhaupt nie befriedigt werden kann, nicht einmal, wenn er nach Westindien geht. Hast du nicht bemerkt, Mutter, wie seine Augen manchmal hinter den Bergen etwas suchen, etwas, das er gern haben möchte ?« »Aber er darf nicht gehen. Er darf nicht !« »Ach, Mutter, so hat das keinen Sinn. Eine große Kluft liegt zwischen meinem Sohn und mir, aber gar keine zwischen mir und meinem Sohn. Wenn ich nicht den Wolfshunger in ihm so gut kennen würde, könnte ich vielleicht dieses Wagnis verbieten. Dann würde er mit Zorn im Herzen fortlaufen, denn er kann den Hunger, den ich in mir nach seinem Bleiben habe, nicht verstehen. Es würde auf dasselbe hinauskommen.« Robert suchte nach Worten, die seine Frau überzeugen könnten. »Es ist ein grausamer Unterschied zwischen meinem Sohn und mir. Ich habe ihn schon gesehen, als Henry noch jünger war. Denn während er den Finger in jeden Topf mit kaltem Brei steckt, immer in der Zuversicht, daß gerade dieser Topf den Brei enthält, den er sich erträumt hat, mag ich überhaupt keinen Kessel öffnen, denn ich glaube, daß jeder Brei kalt ist. Und so – und so stelle ich mir große Schüsseln mit purpurfarbigem Brei vor, durchmengt mit Drachenmilch, durchtränkt von einer solchen Süßigkeit, wie es sie in Wirklichkeit gar nicht gibt. Er stellt seine Träume auf die Probe, er will sie wirklich machen, ich aber – Gott helfe mir ! – habe Angst davor.« Sein langes Reden machte sie ungeduldig. »Robert«, rief sie fast wütend, »jedesmal, wenn etwas Un17
heilvolles heranzieht, wenn wir in Not sind oder Kummer haben, versteckst du dich hinter Worten. Du hast hier eine Pflicht zu erfüllen ! Henry ist noch zu jung. Schauderhafte Länder sind da über dem Meer, und dann kommt ja auch der Winter. Er würde sicherlich an einem Husten sterben, den er sich in der kalten Witterung holt. Du weißt, wie er jedesmal krank wird, wenn er nasse Füße hat. Er darf diesen Hof nicht verlassen, ja, nicht einmal nach London gehen, und wenn seine Augen, die du dir so genau angeschaut hast, noch so sehr Hunger leiden. Wie kannst du denn überhaupt wissen, in was für eine Gesellschaft er geraten wird, was für unsinniges Zeug ihm solche Leute vorschwätzen und was für Schlechtigkeiten sie ihm beibringen werden. Ich weiß, wieviel Böses es in der Welt gibt. Warnt nicht der Kurat fast jeden Sonntag davor ? ›Fallgruben und Schlingen‹ nennt er es. Und so ist es auch. Und du stehst da und redest dummes Zeug von purpurfarbigem Brei, wo du etwas tun solltest. Du mußt es ihm verbieten.« Aber jetzt wurde Robert ungeduldig. »Für dich ist er nur ein kleiner Junge, der angehalten werden muß, sein Abendgebet zu verrichten und draußen einen Rock anzuziehen. Du hast nicht den blanken Stahl in ihm gefühlt wie ich. Ja, für dich ist das schnelle, harte Vorstoßen seines Kinns nur die vorübergehende Widerspenstigkeit eines starrköpfigen Kindes. Aber ich weiß es besser, und ich sage dir, ohne Freude freilich, daß dieser unser Sohn ein großer Mann werden wird, weil – ja – weil er nicht sehr intelligent ist. Er hat zu einer gegebenen Zeit immer nur ein Verlangen, und das muß erfüllt werden. Er will seine Träume wirklich machen, wie ich schon sagte, er wird jeden Traum mit den unerbittlichen Pfeilen seines Willens töten. Dieser Junge wird jedes Ziel, das er ins Auge faßt, treffen, denn er sieht immer nur seine eigenen Gedanken, folgt immer nur seinem eigenen Verstand. Und mir ist angst um seine 18
zukünftige Größe, weil Merlin mir einmal etwas darüber gesagt hat. Schau nur seine Kinnbacken an, Mutter, die wie aus Granit sind, und wie ihm jedesmal die Backenmuskeln hervorstehen, wenn er die Zähne zusammenbeißt.« »Er darf nicht gehen«, sagte sie entschlossen und preßte fest die Lippen zusammen. »Schau, Mutter«, fuhr Robert fort, »du bist beinahe selbst so wie Henry, denn du läßt nichts anderes neben dir aufkommen als deine eigene Überzeugung. Ich aber will ihm nicht verbieten, fortzugehen, weil er sich nicht mit einem Stück Brot und Käse unterm Rock und dem Gefühl erlittenen Unrechts im Herzen einsam in die Dunkelheit hinausstehlen soll. Ich erlaube ihm, fortzugehen. Mehr noch, ich helfe ihm dabei, wenn er es will. Wenn ich dann meinen Sohn falsch beurteilt habe, wird er eines Tages mit der bangen Hoffnung zurückgeschlichen kommen, daß niemand seiner Feigheit Erwähnung tut.« »Unsinn !« sagte Mutter Morgan und machte sich wieder an ihre Arbeit. Sie würde diese Sache in Luft auflösen, einfach dadurch, daß sie nicht daran glaubte. Oh, wie viele tausend andere Dinge hatte sie schon mit ihrer Ungläubigkeit vom Erdboden verschwinden lassen und zu ewigem Höllenfeuer verurteilt ! Seit vielen Jahren hatte sie Roberts wilde Gedankenscharen mit einer schweren Phalanx nüchternen und hausbackenen Verstandes geschlagen. Ihre Truppen brauchten nur zum Angriff anzutreten, und schon hatten sie ihn überwältigt. Immer trat er dann, müde des Kampfes, den Rückzug an und lächelte eine Zeitlang still vor sich hin. Er war jedoch überzeugt, in diesem Falle wie in anderen, sich schließlich sagen zu können, daß er doch den besseren gesunden Menschenverstand gehabt habe. Robert bearbeitete mit seinen starken braunen Händen den Boden um einen Rosenstrauch. Er hob mit den Fingern den 19
schwarzen Lehm und legte ihn dann sanft wieder an seinen Platz. Dann und wann streichelte er mit großer Liebe den grauen Stamm des Busches. Es war, als glätte er die Decken über einem, der am Einschlafen war, und berühre dessen Arm, um sich zu vergewissern, ob er auch ja bequem läge. Es war ein heller Tag, denn der Winter hatte einen kurzen Rückzug angetreten und sein Unterpfand – eine kleine, kalt leuchtende Sonne – der Welt zurückgegeben. Der junge Henry stand plötzlich an einer vom Wind zerzausten kahlen Ulme. »Hast du über die Punkte, die ich dir sagte, nachgedacht ?« fragte Robert ruhig. Henry fuhr auf. Er hatte geglaubt, sein Vater, der so andächtig auf den Knien lag, als bete er die Erde an, habe ihn noch nicht bemerkt, und doch war er hierhergekommen, um bemerkt zu werden. »Ja, Vater«, sagte er. »Ich hätte ja gar nicht anders können.« »Und hat dich dieses Nachdenken veranlaßt hierzubleiben ?« »Nein, Vater, bleiben kann ich nicht.« Er war von der Traurigkeit seines Vaters angesteckt. Er fühlte sich bedrückt und elend, weil er der Anlaß zu dieser traurigen Stimmung war, aber der Hunger nach der Ferne nagte ihm noch immer am Herzen. »Dann geh wenigstens vorher auf den Berggrat und sprich mit Merlin«, bat sein Vater fast flehend, »und gib ja acht auf seine Worte.« »Ich gehe jetzt.« »Aber Henry, der Tag ist schon halb vorbei, und der Weg ist weit. Warte bis morgen.« »Morgen muß ich schon fort, Vater.« Roberts Hände sanken langsam auf den Boden und lagen dort, halb offen, auf der schwarzen Erde an den Wurzeln des Rosenbusches. 20
III Henry wandte sich bald von der Straße ab und kletterte einen breiten Bergpfad hinauf. Seine Windungen konnte man von unten verfolgen, bis sie in der großen Spalte des Passes verschwanden. Auf dem höchsten Punkt dieses Pfades wohnte Merlin. Merlin stieg nur selten ins Tal hinab. Die Bauernjungen hätten sich über Merlin lustig gemacht und mit Steinen nach ihm geworfen, wenn sie ihn nicht gefürchtet hätten. Aber Merlin hatte es verstanden, einen Schwarm schauerlicher Geschichten um sich zu sammeln. Es stand bei den Leuten im Tal fest, daß Tylwyth Teg ihm gehorchte und auf lautlosen Schwingen seine Botschaften durch die Luft trug. Die Kinder flüsterten sich zu, daß er buntscheckige Wiesel in seinen Diensten habe, die seine Befehle ausführten, wenn er sich an jemandem rächen wollte. Außerdem hielt er einen Hund mit roten Ohren. Das waren schreckliche Dinge. Mit Merlin durften Kinder nicht spaßen, denn sie kannten noch nicht alle Zeichen, mit denen man sich vor ihm schützen konnte. Wie die alten Leute sagten, war Merlin einst ein großer Dichter gewesen und hätte leicht noch ein größerer werden können, wenn er gewollt hätte. Zum Beweis sangen sie leise das Speerlied. Mehr als einmal hatte er im Sängerkrieg der Waliser Barden den ersten Preis davongetragen und wäre zum ersten Barden gewählt worden, wenn nicht ein Mitglied des Hauses Rhys in diesem Wettstreit gegen ihn aufgetreten wäre. Dann hatte er plötzlich, ohne bekannte Ursache, und obschon er noch ein junger Mann war, seine Dichtergabe in dem Steinhaus auf der Paßhöhe eingeschlossen und sie in strenger Gefangenschaft gehalten, während er alt und immer älter wurde. Diejenigen aber, die seine Lieder gesungen hatten, vergaßen sie oder starben. 21
Merlins Haus war ein niedriger, runder, grauer Turm, von dem man auf das Tal und auf die Berge blicken konnte. Einige sagten, es sei vor vielen hundert Jahren von einem von allen Seiten eingeschlossenen Riesen erbaut worden, um seine geraubten Jungfrauen dort versteckt zu halten, solange sie in diesem Zustand waren, andere aber wollten wissen, daß König Harold nach der Schlacht von Hastings dorthin geflohen sei und sein Leben dort beendet habe. Tag für Tag habe er mit seinem einen Auge ins Tal und über die Berge Ausschau nach den Normannen gehalten, die ihm auf der Spur waren. Jetzt war Merlin alt. Seine Haare und sein langer gerader Bart waren weiß und weich wie Frühlingswolken. Er hatte viel von einem alten Druidenpriester an sich, ein Sterngucker mit klaren, weite Räume durchdringenden Augen. Je höher Henry stieg, desto schmaler wurde der Weg. Seine Innenseite war eine Steinmauer, die messergleich in den Hirnmel schnitt, und die mißgestalteten, entlang des Weges eingemeißelten Bilder von Ungewisser Bedeutung, ließen sie wie den Felsentempel eines barbarischen Gottes der Vorzeit erscheinen, dessen Verehrer Affen waren. – Unten am Weg war noch Gras gewachsen, Büsche und ein paar tapfere, verkrüppelte Bäume, aber oben in der Felseneinsamkeit war alles Leben erstorben. Weit unten sah man die Häuser dicht beisammen, wie Käfer, die sich zum Fressen um einen leckeren Bissen versammelt haben. Das Tal sah ganz schmal und wie in sich selbst zusammengezogen aus. Von der anderen Seite wurde der Pfad jetzt von einem Berg eingeschlossen, so daß man den Himmel nur noch durch einen breiten Spalt erblickte. Aus diesem blauen Spalt strömte ein heftiger, gleichmäßig brausender Wind, der einen eisigen Hauch zum Tal hinuntertrug. Die am Wege liegenden Felsblöcke wurden größer, schwärzer und drohender, zum Sprung geduckte Wächter des Pfades. 22
Henry kletterte unermüdlich weiter. Was konnte der alte Merlin ihm schon zu sagen haben, oder würde er ihm vielleicht etwas geben können ? Eine Flüssigkeit, die die Haut hart und unempfindlich gegen Pfeile macht ? Ein Zaubermittel ? Zauberworte, die ihn vor den vielen kleinen Dienern des Teufels schützten ? Vielleicht konnte Merlin etwas sagen, was Henry von seiner Sehnsucht heilen und ihn für immer hier in Wales festhalten würde. Aber das konnte nicht sein, denn es waren fremde Kräfte da, namenlose Geister aus der Ferne, die ihm von jenseits des geheimnisvollen Meeres zuriefen und winkten. Ihm schwebte kein Zustand, keine Tätigkeit vor, sein Geist malte ihm kein Bild der Zukunft aus, als er sich dieser Sehnsucht überlassen hatte, es war nur ein Brennen im Herzen, ein unbezwinglicher Wille, in die Ferne zu schweifen, dem ersten Stern zu folgen, der sich über dem Horizont erhob. Der Pfad stieß vor einen riesigen Klotz festen Gesteins, halbkreisförmig wie der Kopf eines Hutes, und auf dem Gipfel dieser Felsmasse war das niedrige runde Haus Merlins, aus unregelmäßigen groben Blöcken erbaut, mit einem kegelförmigen Dach, das aussah wie ein Kerzenlöscher. Bevor er anklopfen konnte, trat ihm der Alte schon in der Tür entgegen. »Ich bin der junge Henry Morgan, im Begriff, nach Westindien zu gehen.« »So, so, nach Westindien willst du ? Dann komm mal herein und sprich dich aus.« Klar, leise und lieblich war die Stimme, wie ein Morgenwind, der zur Frühlingszeit durch einen Obstgarten säuselt. Wie wenn ein arbeitender Handwerker ein Lied vor sich hinsingt, so musikalisch klangen die Worte, und dazwischen glaubte man, oder man bildete es sich auch nur ein, den Ton nur leicht berührter und sich ausschwingender Harfensaiten zu hören. 23
Der einzige Raum war dick in Schwarz ausgeschlagen. Ringsum an den Wänden hingen Harfen und Speerspitzen, immer abwechselnd, rings um das ganze Zimmer. Kleine Waliser Harfen und die großen bronzenen Blattspeere der Briten. Unter diesen waren die Fenster, von denen aus man auf drei Täler und eine mächtige Familie von Bergen sehen konnte, und noch tiefer lief eine Wandbank um den ganzen Raum herum. In der Mitte stand ein mit zerfetzten Büchern beladener Tisch und daneben ein auf einen schwarzeisernen griechischen Dreifuß gestelltes kupfernes Heizbecken. Der große Hund beschnupperte Henry bei seinem Eintritt so, daß er vor Furcht zurückwich, denn gibt es unter dem blauen Himmelszelt etwas so Tödliches wie einen Hund mit roten Ohren, selbst wenn man ihn nur von weitem sieht ? »Du gehst also nach Westindien. Setz dich hierher, Junge. Schau, du kannst jetzt von hier aus dein Heimattal bewachen, daß es nicht nach Avalon davonfliegt.« Die Harfen fingen seine Worte auf und gaben als Antwort ein schwaches summendes Vibrieren von sich. »Mein Vater sagte, ich solle hierher gehen, Ihnen von meinem Plan erzählen und auf Ihre Worte hören. Er meint, Sie könnten mich veranlassen, hierzubleiben.« »Du gehst nach Westindien«, wiederholte Merlin. »Da suchst du sicher vorher Elisabeth auf und machst ihr große Versprechungen, daß ihr, wenn du fort bist, das Herz klopft und der Atem in der Kehle steckenbleibt, weil sie an die schönen Sachen denkt, die du ihr mitbringen wirst.« Henry wurde rot bis über die Ohren. »Wer sagt Ihnen denn, daß ich überhaupt an die kleine Ratte denke ?« rief er. »Wer sagt Ihnen denn, daß mir überhaupt etwas an ihr liegt ?« »Oh, der Wind hat mir etwas zugeflüstert«, sagte Merlin, »und dann hast du mir selbst etwas erzählt, weil du so eilig und 24
aufgeregt geantwortet hast. Du solltest mit Elisabeth sprechen, nicht mit mir. Dein Vater hätte das vorher wissen können.« Seine Stimme erstarb. Dann sprach er ernst und traurig weiter. »Mußt du denn deinen Vater verlassen, Junge, wo er sich sicher hier im Tal unter Leuten, die ihm ganz unähnlich sind, verlassen fühlen wird ? Ja, ich glaube, es gibt kein Aufhalten mehr. Die Pläne junger Leute sind ernst zu nehmen und können sich nicht ändern. Was aber kann ich dir sagen, um dich hier zu halten, Henry ? Dein Vater hat mir eine schwer zu lösende Aufgabe gestellt. Vor tausend Jahren – es muß sogar noch früher gewesen sein oder vielleicht habe ich nur davon geträumt – zog ich auf einem großen spanischen Schiff aus. Wir kamen schließlich nach dem grünen Westindien. Lieblich war es, aber unveränderlich. Einförmig grün, das ganze Jahr hindurch. Wenn du dorthin gehst, wirst du nichts mehr vom Kreislauf des Jahres wissen, nie mehr wird dich im tiefen Winter die schreckliche Angst ergreifen, die Erde könnte der Sonne untreu geworden sein und würde nun schiffbrüchig in den leeren Raum abgetrieben, so daß es nie wieder Frühling werden könnte. Du wirst auch nicht mehr den wilden, erregenden Aufschwung kennen, den uns die Rückkehr der Sonne bringt, in dem die Freude dich überflutet wie das Gewoge einer warmen Welle und dich mit Wonne und Jubel fast erstickt. Dort gibt es keinen Wechsel, gar keinen. Vergangenheit und Zukunft vermischen sich zu einem schrecklichen ewigen Jetzt.« »Aber hier gibt es auch keinen Wechsel«, fiel Henry ein. »Jahrein, jahraus wird die Ernte eingebracht, Kälber werden geboren und von ihren Müttern blank geleckt, jedes Jahr wird ein Schwein geschlachtet, und die Schinken werden in den Rauchfang gehängt.« Merlin schaute von seinen Fenstern auf die Berge und Täler, und in seinen Augen sah man den Wi25
derschein seiner Liebe zu dem Land. Aber als er sich wieder dem Knaben zuwandte, trug sein Gesicht einen schmerzlichen Ausdruck. Seine Worte nahmen den rhythmischen Klang eines Liedes an. »Ich will ein Wort für dies teure Kambrien bei dir einlegen, wo die Zeit berghoch aufgeschichtet ist, und am Fuße dieses Zeitberges liegen alte zerbröckelnde Tage. Hast du deine Liebe für das wilde Kambrien verloren«, rief er leidenschaftlich, »wie kannst du es verlassen, wenn das Blut deiner tausend Vorfahren den Boden getränkt hat, um das Land in Freiheit zu erhalten ? Hast du vergessen, daß du von Trojanern abstammst ? Aber – o weh ! – auch die Trojaner sind gewandert, als Ilion fiel.« »Ich habe keine Liebe verloren«, sagte Henry, »aber mein Traumland liegt jenseits des Meeres. Kambrien kenne ich.« »Aber, Junge, hier lebte der große Arthur, der seine Fahnen bis nach Rom trug und dann als unsterblicher Held nach Avalon segelte. Avalon liegt fern von unserer Küste, irgendwo über den versunkenen Städten. Dort liegt es grenzenlos auf den Fluten. Und hast du sie nicht gehört, die Geister all jener guten, tapferen, streitsüchtigen und unpraktischen Männer – Llew Llaw Giffes, Belerius, Arthur, Cadwallo und Brute ? Sie gehen als Wolken durch das Land und bewahren es von hoher Warte. In Westindien gibt es keine Geister und keinen Tylwyth Teg. In diesen wilden schwarzen Bergen ist alles voll von Geheimnissen. Hast du Arthurs Stuhl entdeckt oder die Bedeutung der kreisrunden Steine ? Hast du die Stimmen gehört, die triumphierend durch die Nacht rufen, und die Seelenjäger mit ihrem schrillen Hörnerklang und ihrer Meute blauer Hunde, die mit dem Sturm in die Dörfer einbrechen ?« »Ich habe sie gehört«, sagte Henry zusammenschaudernd. Er blickte scheu nach dem auf dem Boden schlafenden Hunde und sprach leiser : »Der Kurat sagt, das seien alles Lügen. Er 26
sagt, das rote Buch sei ein Märchenbuch für Kinder, und es sei eine Schande für Männer und große Knaben, daran zu glauben. Wir haben in der Pfarrschule gelernt, daß das alles unchristliche Lügengeschichten sind. Arthur sei ein unbedeutender Stammeshäuptling gewesen, und Merlin, dessen Namen Sie tragen, eine Ausgeburt des geistesgestörten Geoffrey von Monmouth. Er sprach sogar schlecht von dem Tylwyth Teg und von den Irrlichtern und von solchen Wesen wie seine Ehrwürden, der Hund hier.« »Der Narr !« rief Merlin zornig. »So ein Narr, diese Dinge zerstören zu wollen ! Statt dessen bietet er in der Welt eine von zwölf in ihren Überzeugungen ziemlich ungefestigten Mitarbeitern überlieferte Geschichte an. Warum mußt du gehen, Junge ? Siehst du nicht, daß Kambriens Feinde nicht mehr mit dem Schwert, sondern mit spitzen Zungen kämpfen ?« Die Harfen sangen seine Frage nach, der feine Ton schwang noch etwas im Raum, dann herrschte Schweigen in dem runden Hause. Henry sah mit zusammengezogenen Brauen auf den Boden. Schließlich sagte er : »Ich weiß gar nicht, was für ein Wesen man um mich macht. Was soll ich das alles lange erklären ? Ich komme ja wieder. Wenn dieser Brand nach neuen Dingen in mir gelöscht ist, werde ich sicher zurückkehren. Aber sehen Sie denn nicht, daß ich gehen muß, denn es scheint so, daß ich in zwei Hälften zerschnitten bin, von denen nur die eine hier ist. Die andere ist jenseits des Meeres und ruft und lockt mich, daß wir wieder ein Ganzes werden. Ich liebe Kambrien und werde zurückkommen, wenn ich wieder ganz bin.« Merlin sah dem Knaben forschend lange ins Gesicht. Traurig blickte er dann zu seinen Harfen auf. »Ich verstehe dich wohl«, sagte er sanft. »Du bist ein kleiner Junge. Du willst den Mond erhaschen, um aus ihm zu trinken wie aus einem goldenen Becher, und so wirst du höchstwahrscheinlich ein großer Mann 27
werden – wenn du nur ein kleines Kind bleibst. Alle Großen dieser Welt sind kleine Jungen gewesen, die den Mond haben wollten, und mit vielem Laufen und vielem Klettern fingen sie manchmal einen Leuchtkäfer. Aber wenn man den Geist eines Mannes bekommt, muß dieser Geist einsehen, daß er den Mond nicht haben kann und ihn auch nicht haben möchte, wenn er es könnte – und dann fängt er keine Leuchtkäfer.« »Aber haben Sie nie den Mond haben wollen ?« fragte Henry leise, und die Stille dämpfte seine Stimme noch mehr. »Doch, auch ich wollte ihn haben. Mit einer Sehnsucht ohnegleichen verlangte ich nach ihm, und dann – dann wuchs ich zum Manne heran und konnte ihn nicht mehr erreichen. Aber dieses Versagen bringt auch etwas Gutes mit sich. Die Leute wissen, daß man versagt hat, und sind traurig und gütig und sanft. Man hat die ganze Welt auf seiner Seite, man findet die Brücke, die einen mit seinem eigenen Volk verbindet, denn man trägt das Gewand der Mittelmäßigkeit. Aber wer einen Leuchtkäfer in der hohlen Hand birgt, den er in seinem Verlangen, den Mond zu erjagen, gefangen hat, ist doppelt allein. Nur er kann das Maß des Versagens ermessen, kann seine Kläglichkeit und seine tiefe Angst fühlen und kennt die Schliche, die er angewandt hat, um dieser Erkenntnis zu entgehen. Du wirst zu deiner Größe kommen, aber du wirst auch bald allein in deiner Größe sein und nirgendwo einen Freund haben, nur Leute um dich, die in Furcht, Scheu und Schrecken zu dir aufschauen. Wie du mir leid tust, Junge, mit den offenen, klaren Augen, die so sehnsüchtig aufwärts schauen, wie du mir leid tust, und – beim Himmel ! – wie ich dich beneide !« Die Dämmerung stahl sich in die Berge, füllte sie mit rotem Nebel. Die Sonne hatte sich an einer scharfen Felskante geschnitten und verströmte ihr Blut in die Täler. Die langen Schatten der Gipfel krochen wie schleichende Katzen auf die 28
Felder hinaus. Als Merlin weitersprach, war dem Ernst seiner Worte ein milderndes Lachen beigemischt. »Denk nicht zu tief über meine Worte nach«, sagte er, »denn ich bin mir ihrer selbst nicht ganz sicher. Träume kann man leicht erkennen, weil sie widerspruchsvoll und zusammenhanglos sind – aber wie könnte man den Blitz einordnen ?« Es wurde jetzt schnell dunkel. Henry sprang auf. »Ich muß jetzt gehen, sonst wird es stockfinster.« »Ja, du mußt jetzt gehen, aber denk nicht zu genau über meine Worte nach. Vielleicht habe ich versucht, mit ihnen auf dich Eindruck zu machen. Alte Leute brauchen eine gewisse stille Schmeichelei, wenn sie dahin gekommen sind, dem gesprochenen Wort zu mißtrauen. Vergiß nur nicht, daß Merlin mit dir gesprochen hat. Und wenn du irgendwo auf Waliser triffst, die meine vor so langer Zeit entstandenen Lieder singen, so sage ihnen, daß du mich kennst, sage ihnen, daß ich ein herrliches Wesen mit blauen Flügeln bin. Ich möchte nicht vergessen werden, Henry. Davor schaudert es einem alten Mann mehr als vor dem Tod.« »Ich muß jetzt wirklich gehen, es ist schon richtig dunkel. Und haben Sie vielen Dank, daß Sie mir das alles gesagt haben, Herr Merlin, aber was hilft’s, ich muß doch nach Westindien fahren.« Merlin lachte leise. »Ja, das mußt du, Henry. Und fang ja einen großen Leuchtkäfer. Leb wohl, Kind.« Henry sah sich noch einmal um, als der schwarze Schatten des Hauses hinter der Felskante versank, aber kein Lichtschein fiel aus den Fenstern. Der alte Merlin sprach zu seinen Harfen, aber das Echo, das sie zurückwarfen, klang wie Spott. Der Knabe schritt schnell aus. Vor ihm lag ein schwarzer See, die Lichter der Häuser glänzten aus seiner Tiefe wie der Widerschein von Sternen. Der Wind hatte sich gelegt. Tiefes 29
Schweigen lag auf den Bergen. Überall huschten lautlos die Geister der Traurigkeit zu den Wohnungen der Menschen, Henry ging vorsichtig, die Augen auf den in einem blassen Blau vor ihm schimmernden Pfad gerichtet.
IV Wie er so im Dunkeln dahinschritt, kehrten seine Gedanken zu der ersten Bemerkung Merlins zurück. Sollte er Elisabeth aufsuchen, bevor er fortging ? Er mochte sie nicht, manchmal war es ihm, als hasse er sie, aber diese Haßgedanken nährte und pflegte er nur, weil aus ihnen die Sehnsucht wuchs, sie zu sehen. Sie war für ihn etwas Geheimnisvolles. Alle Frauen und Mädchen hegten etwas in sich, von dem sie nie sprachen. Seine Mutter tat schrecklich geheimnisvoll, wenn sie Biskuits backte, und weinte manchmal, ohne daß man den Grund erkennen konnte. Im Innern der Frauen – einiger Frauen – lief parallel zu ihrem äußeren Leben ein anderes, ohne dieses jemals zu schneiden. Noch vor einem Jahr war Elisabeth ein hübsches kleines Mädchen gewesen, das mit den anderen kicherte und scherzte, wenn er in der Nähe war. Dann hatte sie sich plötzlich verändert. Man konnte nicht klar sehen, worin diese Veränderung eigentlich bestand, aber er fühlte, daß sie etwas wußte, was ihm verschlossen war, und daß sie dies still für sich behielt. Diese rätselhafte Überlegenheit, die Elisabeth auf einmal erworben hatte, erschreckte ihn. Auch mit ihrem Körper war es nicht mehr ganz geheuer – irgendwie war er verschieden von seinem und sollte, wie man ihm zugeflüstert hatte, sonderbarer wonniger Empfindungen und zauberhafter Veränderungen fähig sein. Selbst diesen knospenden Körper hielt sie vor ihm verborgen. Früher hat30
ten sie gemeinsam im Fluß gebadet, und sie hatte das als ganz natürlich empfunden, aber nun bedeckte sie sich sorgfältig vor ihm, und selbst der Gedanke, er könnte etwas von ihr erblicken, schien sie tief zu erschrecken. Ihr neues Wesen ängstigte und verwirrte ihn. Manchmal träumte er von ihr und lag dann schweißgebadet vor Angst, sie könnte etwas von diesem Traum erfahren. Manchmal sah er nachts ein sonderbares Schattenbild, das aussah, als wären Elisabeth und seine Mutter zu einer Person zusammengeschmolzen. Nach einem solchen Traum konnte er sich selbst und sie nicht mehr ausstehen. Er betrachtete sich als ein unnatürliches Ungeheuer und sie als eine Hexe, die sich, vom Teufel getrieben, verstohlen zu ihm schlich. Und von all diesem konnte er niemandem Mitteilung machen. Die Leute wären ihm dann sicher weit aus dem Wege gegangen. Vielleicht würde er sie doch aufsuchen, bevor er fortging. Sie hatte dieses Jahr eine sonderbare Macht in sich, eine Macht, die ihn anzog und doch zurückstieß, die sein Verlangen wie ein im Winde schwankendes Rohr hin- und hertrieb. Andere Jungen hätten vielleicht nachts zu ihr gehen und sie küssen können, nachdem sie ein bißchen mit ihrer bevorstehenden weiten Reise geprahlt hatten, aber diese anderen Jungen träumten eben nicht wie er, auch dachten sie nicht, wie er, zuweilen mit Ekel an sie. Es stimmte sicher nicht ganz mit ihm, denn er konnte sich nicht darüber klarwerden, ob er nach ihr verlangte oder sich vor ihr ekelte. Auf jeden Fall konnte sie ihn so leicht in Verlegenheit setzen. Nein, er würde ganz bestimmt nicht zu ihr gehen. Wie konnte nur Merlin, wie konnte nur irgendwer den Gedanken fassen, daß ihm auch nur für zwei Pfennige an ihr lag, an ihr, der Tochter eines armen Häuslers ? Sie war nicht wert, daß man auch nur einen Gedanken an sie verschwendete. 31
Er hörte Schritte hinter sich, laut hallten sie in die stille Nacht. Bald holte ihn eine hohe, dürre Gestalt ein. »Könnte es wohl William sein ?« fragte Henry höflich. Der Straßenarbeiter blieb stehen und schwang seinen Pickel auf die andere Schulter. »Wer könnte es wohl anders sein ? Und was tust du hier im Dunkeln auf dem Bergpfad ?« »Ich war bei Merlin und habe mir Rat bei ihm geholt.« »Hol ihn der Teufel ! Zu nichts anderem ist er mehr fähig. Einmal hat er Lieder gemacht, schöne Lieder, die ich dir hersingen könnte, wenn ich Lust dazu hätte, aber jetzt hockt er da auf dem Felsgrat wie ein alter kahlgerupfter Adler. Ich habe ihm das selbst gesagt, als ich dort oben vorbeikam, wie er wohl bezeugen kann. Ich nehme mir kein Blatt vor den Mund, wenn ich einen Gedanken im Kopf habe. ›Warum machst du keine Lieder mehr ?‹ so in demselben Ton habe ich ihn gefragt. ›Ich bin inzwischen ein Mann geworden‹, antwortete er, ›und ein Mann macht keine Lieder mehr. Nur Kinder machen Lieder – Kinder und Verrückte.‹ Der Teufel soll ihn holen. Er ist selbst verrückt, so denke ich und spreche es offen aus. Was hat er dir denn gesagt, der alte Weißbart ?« »Nun, ich gehe nach Westindien und –« »Nach Westindien, so, so. Ich war einmal in London. Alle Leute in London sind Diebe, hundsgemeine Diebe. Da war zum Beispiel ein Mann mit einem Brett, auf dem kleine abgeplattete Stäbe standen. ›Willst du nicht mal dein Glück versuchen, Freund ?‹ sagte er. ›Was für ein Stäbchen hat ein schwarzes Kennzeichen an seiner Unterseite ?‹ ›Das da‹, sage ich, und so war es auch. Aber beim nächstenmal – ah, auch der war ein Dieb, alle Londoner sind Diebe. Da gibt es Leute in London, die nichts tun als in ihren Kutschen herumfahren, straßauf, straßab, und dabei machen sie 32
voreinander Verbeugungen, während unsereiner auf dem Felde oder im Bergwerk sich zu Tode schwitzen kann, nur damit die da in den Kutschen fahren und voreinander Bücklinge machen können. Wie sollen es Leute wie wir, du und ich, zu etwas bringen, wenn alle feinen, reichgepolsterten Sitze von Räubern eingenommen werden ? Und weißt du vielleicht, was für einen diebischen Preis man in London für ein Ei zahlt ?« »Ich muß jetzt hier abbiegen«, sagte Henry, »ich muß nach Hause.« »Westindien.« Der Straßenarbeiter tat vor Sehnsucht einen tiefen Seufzer. Dann spuckte er aus. »Ach was, ich will wetten, daß dort auch lauter Diebe sind.« Die Nacht war pechschwarz, als Henry schließlich zu der armseligen Hütte kam, in der Elisabeth wohnte. Mitten auf dem Boden war das Herdfeuer, wie er wußte, und der Rauch suchte durch ein kleines Loch im Strohdach zu entkommen. Das Haus hatte keine Dielen, sondern der harte Lehmboden war nur mit Binsen bestreut, und wenn die Familie sich zum Schlafen niederlegte, hüllte sich jeder in einen Schafpelz, und so lagen sie im Kreise mit den Füßen zum Feuer. Die Fenster waren nicht verglast und hatten auch keine Vorhänge. Henry konnte den alten schwarzbrauigen Twym und seine dürre, zappelige Frau sich drinnen bewegen sehen. Er wartete, bis er auch Elisabeth durch das Fenster sehen konnte. Dann stieß er einen schrillen Vogelpfiff aus. Das Mädchen blieb stehen und sah nach draußen, aber Henry stand ruhig im Dunkeln und bewegte sich nicht. Dann öffnete Elisabeth die Tür, das helle Licht umschloß sie wie ein Rahmen. Das Feuer war hinter ihr, und Henry konnte den dunklen Umriß ihres Körpers durch ihr Kleid sehen. Er sah die feingeschwungenen Beine und die Schwellung ihrer Hüften. Da schämte er sich auf einmal so gewaltig für sie und für sich, daß er kopflos und sinnlos, keuchend 33
und fast schluchzend, denn zum richtigen Aufschluchzen fehlte ihm der Atem, in die Dunkelheit davonlief.
V Robert Morgan sah hoffnungsvoll auf, als der Junge hereinkam, aber dann erstarb die Hoffnung, und er wandte sich schnell dem Feuer zu. Mutter Morgan jedoch sprang auf und ging wütend auf Henry zu. »Was soll dieser Unsinn ? Was willst du denn in Westindien ?« »Ich muß nach Westindien, Mutter, wahrhaftig, ich kann nicht anders – Vater versteht mich ! Kannst du nicht hören, wie das Land mich ruft ?« »Nein, freilich kann ich’s nicht hören, weil das alles glatter Unsinn ist. Du bist noch ein kleines Kind, man kann dich überhaupt noch nicht von zu Hause fortlassen. Übrigens wird dir auch dein Vater sagen, daß du nicht gehen darfst.« Die starken Kinnbacken des Knaben wurden hart wie Fels, und an seinen Wangen wurden die Muskeln sichtbar. Plötzlich leuchteten seine Augen zornig auf. »Wenn du denn gar kein Verständnis hast, Mutter, so will ich dir sagen, daß ich morgen fortgehe – da könnt ihr tun, was ihr wollt.« Verletzter Stolz jagte den ungläubigen Ausdruck von ihrem Gesicht, aber auch der verschwand, und zurück blieb nur noch Schmerz. Sie wich vor dem Schlag, den sie erhalten hatte, zurück. Als Henry sah, was er mit seinen Worten angerichtet hatte, ging er schnell zu ihr hin. »Es tut mir leid, Mutter – es tut mir sehr leid, aber warum kannst du mich nicht gehen lassen wie Vater ? Ich will dir nicht 34
weh tun, aber ich muß gehen. Siehst du das nicht ein ?« Er legte den Arm um sie, aber sie wollte ihn nicht ansehen. Ihre Augen starrten ohne Ausdruck ins Leere. Sie war so überzeugt, daß ihre Meinung die richtige war. Ihr ganzes Leben lang hatte sie ihrer Familie hart zugesetzt, sie eingeschüchtert und mit Schimpfworten nicht gespart, und alle hatten gewußt, daß ihre kleine Tyrannei der Ausfluß ihrer Liebe für sie war. Aber nun hatte einer von ihnen, und dazu noch ihr Kind, den Ton gegen sie gebraucht, in dem sie zu jeder Stunde sprach. Das schlug ihr eine böse Wunde, die womöglich nie mehr ganz heilen würde. »Hast du mit Merlin gesprochen ? Was sagte er zu dir ?« fragte Robert vom Herd her. Henrys Gedanken flogen zu Elisabeth zurück. »Was er sagte, stimmt nicht mit meinen Ansichten überein.« »Nun, es war nur ein Versuch«, murmelte Robert. »Du hast deiner Mutter sehr weh getan, Junge«, fuhr er fort. »Ich habe sie noch nie so – so still gesehen.« Dann richtete sich Robert zu seiner ganzen Größe auf, und seine Stimme wurde fest. »Ich habe fünf Pfund für dich, mein Sohn. Es ist wenig genug. Vielleicht kann ich dir noch etwas mehr geben, aber auch das ist keine große Hilfe für dich. Und hier ist ein Empfehlungsbrief an meinen Bruder, Sir Edward. Er wanderte aus, bevor der König ermordet wurde, und aus irgendeinem Grunde – vielleicht weil er sich ruhig verhielt – hat der alte Cromwell ihn nicht abberufen. Wenn du nach Jamaika kommst, und er noch dort ist, kannst du diesen Brief überreichen, aber er ist ein kalter, sonderbarer Mann, der stolz auf seine reichen Bekannten ist und einen armen Verwandten wohl nicht mit offenen Armen empfangen dürfte. Und so weiß ich nicht, ob dieser Brief dir viel nützen wird. Du würdest ihm nicht gefallen, wenn du einen Mann, der so aussieht wie ich, nur daß er mit silbernem Schwert 35
und wallenden Federn einherstolziert, komisch fändest. Ich habe einmal über ihn gelacht, und seitdem ist es bei ihm aus mit der Bruderliebe. Aber behalt den Brief, er kann dir, wenn nicht bei deinem Onkel, so doch bei anderen Leuten nützen.« Er blickte nach seiner Frau, die in sich zusammengesunken im Schatten saß. »Bekommen wir nichts zu essen, Mutter ?« Sie deutete durch nichts an, daß sie ihn gehört hatte, deshalb ergriff Robert selbst den Topf und stellte das Essen auf den Tisch. Es tut weh, wenn man einen Sohn verliert, für den man sich sein ganzes Leben aufgeopfert hat. Sie hatte sich nie vorgestellt, daß er einmal nicht mehr an ihrer Seite sein würde – kein kleiner Junge mehr und nicht länger an ihrer Seite. Sie versuchte, an die kommende Zeit zu denken, wo Henry nicht mehr da wäre, aber der Gedanke zerschellte an der grauen Wand einer mageren Einbildungskraft. Sie versuchte, ihn als undankbar anzusehen, daß er so von ihr fortlief, sie dachte an den harten Schlag, den er ihr versetzt hatte, aber das alles half nichts. Henry war ihr kleiner Junge, und daher konnte er nicht böse oder hinterhältig sein. Wenn dieses ganze dumme Gerede vorüber war, würde er ja doch wieder an ihrer Seite sein und ihr brav folgen. Ihre Gedanken, die immer nur auf die Wirklichkeit gerichtet waren und die so gut sezieren konnten, ihre Phantasie, die sich immer nur mit der Gegenwart und der Außenseite der Dinge beschäftigt hatte, schweiften jetzt liebevoll in die Vergangenheit zurück und suchten das Kind, das am Boden herumgekrochen und bei seinen ersten Gehversuchen gestolpert war. Sie vergaß gänzlich, daß er fortgehen wollte, so tief war sie in die Träumerei über die im Glanz der Erinnerung liegende Vergangenheit versunken. Er wurde in einem langen weißen Kleidchen getauft. Das ganze Taufwasser sammelte sich in einem dicken Tropfen und rollte 36
ihm über die Nase, die nur ein rundes Klümpchen war, und sie wischte es in ihrem fanatischen Reinlichkeitsfimmel mit dem Taschentuch weg und fragte sich dann ängstlich, ob er nicht noch einmal getauft werden sollte. Der junge Kurat schwitzte vor Aufregung und konnte die Taufworte vor Verlegenheit kaum herausbringen. Er war erst kurze Zeit in der Gemeinde und eigentlich nur ein Bauernjunge, dem man eine so wichtige Handlung besser nicht anvertraut hätte. Womöglich sprach er die Worte nicht in der genauen Reihenfolge oder machte sonst einen Fehler. Und dann – Robert hatte mal wieder seine Weste falsch zugeknöpft. Nie konnte er den richtigen Knopf in das richtige Loch bringen. Er sah aus wie ein Schiff mit Schlagseite. Sie mußte doch hingehen und ihn auf seine Weste aufmerksam machen, ehe die Leute in der Kirche seine Unordentlichkeit bemerkten. Gerade über solche kleinen Dinge sprachen die Leute gern. Aber konnte sie diesem unbeholfenen jungen Kuraten so lange das Kind überlassen ? Würde er es nicht fallen lassen ? Das Abendessen war vorbei. Die alte Gwenliana erhob sich vom Tisch, um sich mühevoll zu ihrem Sessel am Herd zurückzutasten. Ihre Gedanken waren schon wieder von der rauhen Gegenwart in die freundliche Zukunft geschlüpft. »Wann willst du denn morgen aufbrechen ?« fragte Robert. »Ich denke, so gegen sieben, Vater.« Er versuchte, das so beiläufig herauszubringen, als wäre es nicht von besonderer Wichtigkeit. Die Greisin machte auf ihrer Reise vom Tisch zum Sessel halt und blickte ihn scharf an. »Wohin will er denn, der Henry ?« fragte sie »Du weißt es noch nicht ? Henry geht morgen früh von uns fort. Er geht nach Westindien.« »Und kommt nicht mehr wieder ?« fragte sie ängstlich. »Lange Zeit jedenfalls nicht. Die Entfernung ist zu groß.« 37
»Dann muß ich ihm aber die Zukunft auslegen, die vor ihm liegt, wie die weißen Seiten eines offenen Buches.« Sie war angenehm aufgeregt. »Ich muß ihm die Zukunft auslegen und alles, was sich in ihr ereignen wird. Laß mich dich ansehen, Junge.« Henry ging zu ihr hin und setzte sich ihr zu Füßen. Die alte kymrische Sprache hat zweifellos etwas Magisches an sich. Sie ist eine Sprache, die für Prophezeiungen wie geschaffen ist. »Wenn ich das eher erfahren hätte«, sagte Ciwenliana, »hätte ich natürlich den Schulterknochen eines frisch geschlachteten Hammels herbeigeschafft. Mit einem so alten und bedeutungsvollen Brauch kann man die Zukunft besser erforschen, als wenn man nur so schnell hinprophezeit. Und da ich alt, schwerfällig und lahm geworden bin, kann ich nicht mehr die Geister treffen, die über die Landstraße wandern. Man kommt nicht mehr so gut zurecht, wenn man nicht unter den wandernden Toten sein und ihre Gedanken belauschen kann. Aber ich werde meinem Enkel ein volles Leben geben und eine so schöne Zukunft auslegen, wie sie mir nur je eingefallen ist.« Sie lehnte sich im Sessel zurück und schloß die Augen, aber wenn man genau hingeblickt hätte, hätte man durch die Wimpern ihrer auf das erwartungsvolle Gesicht des Knaben gerichteten geschlossenen Augen ein feines Glimmen sehen können. Lange saß sie so in Verzückung da. Ihre Gedanken schienen die verfilzten Fäden der Vergangenheit auszukämmen, um eine sauber geordnete, für eine Weissagung geeignete Zukunft herzustellen. Schließlich sprach sie mit der leisen, heiseren, singenden Stimme, die der Aussage geheimnisvoller und furchterregender Dinge vorbehalten ist. »Dies ist die Kunde aus Abred, als Erde und Wasser im Kampf lagen. Aus ihrem tosenden Zusammenprall wurde ein kleines, zappelndes Leben geboren, um sich durch die Schlammkreise aufwärts gen Gwynfyd zu winden, der leuchtenden Reinheit. In 38
diesem ersten irrenden Fleisch ist die Geschichte der Welt und der Welt Reise durch den leeren Raum geschrieben. Und du – oft hat Annwn sein Haifischmaul geöffnet, um das winzige Lebensfünkchen, das du in dir trägst, wegzuschnappen, aber du hast seine List zuschanden gemacht und bist durchgeschlüpft. Tausend Jahrhunderte hast du gelebt, seitdem Land und Meer dich in ihrem Kampf erzeugt haben, und tausend Äonen wirst du das winzige Lebensfunkchen in dir weitertragen, wenn du es nur vor Annwn, dem Chaos, schützest.« Immer begann sie ihre Prophezeiungen mit diesem Spruch. Sie hatte ihn von einem wandernden Barden gelernt, dem er von einem anderen Barden überliefert worden war, und so von Barde zu Barde zurück bis zu den weißen Druiden. Gwenliana legte eine Pause ein, damit die Worte im Kopf des Knaben Wurzel schlagen konnten. Dann fuhr sie fort : »Dies ist die Kunde deiner jetzigen Weltwanderung : Du wirst ein großer Diener Gottes werden und die Lehren des Herrn verkündigen.« Ihre inneren Augen sahen, wie sich Enttäuschung auf dem Gesicht des Knaben verbreitete. Da rief sie : »Aber warte mal. Ich greife zu weit voraus. Es wird Kampf und Blutvergießen sein, und das Schwert wird deine erste Braut sein.« Henrys Gesicht leuchtete vor Freude auf. »Die Krieger der Welt werden sich dir unterordnen, wenn sie nur deinen Namen flüstern hören. Du wirst die Städte der Ungläubigen in Schutt und Asche legen und ungeheure Beute heimtragen. Der Schrecken wird dir voranfliegen wie ein schreiender Adler über die Schilde der Männer.« Sie wußte jetzt, daß sie mit ihrer Voraussage das Richtige getroffen hatte, und sie führte ihn schnell noch größerem Ruhm entgegen. »Inseln und große Reiche werden deinen Befehlen gehorchen, und du wirst ihnen Gerechtigkeit und Frieden bringen. Und schließlich, wenn du mit Ehren und Ruhm gegürtet bist, 39
wirst du ein Mädchen mit weißer Seele und von hohem Rang heiraten – ein reiches Mädchen aus guter Familie.« Damit war ihre Prophezeiung zu Ende. Sie öffnete die Augen und sah sich nach Beifall um. »Es wäre besser mit einer Hammelschulter gegangen«, quengelte sie, »oder wenn ich noch dann und wann die Geister auf der Landstraße treffen könnte, aber das Alter nimmt uns unsere kleinen Freuden und läßt uns nur das Warten, das schon selbst so kalt ist wie der Tod.« »Gut, Mutter, gut, das war eine schöne Prophezeiung, so eine schöne habe ich selten von dir vernommen. Du scheinst jetzt auf der Höhe deiner okkulten Kraft zu sein. Du hast mir die Furcht genommen und mich über Henrys Fortgang beruhigt. Jetzt bin ich nur stolz auf die große Laufbahn, die meinem Sohn bevorsteht. Nur wäre es mir lieber, er brauchte keinen Menschen umzubringen.« »Dann bist du also zufrieden und hältst die Prophezeiung für wirklich gut !« sagte Gwenliana glücklich. »Die Luft schien mir heute abend günstig und meine Augen klar zu sein. Aber ich hätte doch lieber eine Hammelschulter gehabt.« Sie schloß zufrieden die Augen und versank in dumpfes Hinbrüten.
VI Die ganze Nacht warf sich Robert Morgan im Bett unruhig hin und her, während seine Frau, ohne sich zu rühren, neben ihm lag. Als die Dunkelheit schließlich am Fenster in Silbergrau überging, stand sie ohne ein Wort zu sagen auf. »Was ? Hast du nicht geschlafen, Mutter ? Wohin willst du denn ?« »Ich gehe jetzt zu Henry. Ich muß mit ihm sprechen. Vielleicht 40
wird er auf mich hören.« Sie war nur eine Weile fort, dann kehrte sie zurück und legte den Kopf auf Roberts Arm. »Henry ist schon fort«, sagte sie. Ihr Körper wurde plötzlich starr. »Fort ? Wie konnte er das über sich bringen ? Zum erstenmal hat er feige gehandelt, Mutter. Er fürchtete sich, uns Lebewohl zu sagen. Aber es ist gut, daß er sich gefürchtet hat, denn sonst könnte man glauben, er habe gar kein Gefühl für uns. Er hatte Angst, sein Gefühl könnte in seinen Worten durchbrechen. »Mutter, was ist mit dir ?« Ihr Schweigen und ihre Kälte beunruhigten ihn. »Er wird ja bald zu uns zurückkommen, vielleicht schon, wenn im Frühling das neue Gras wächst. Ich schwöre es dir. Glaubst du es nicht ? Er ist nur für eine Woche fort – für ein paar Tage. Glaube mir doch ! Die Jahre bedeuten jetzt nichts mehr für uns, wir sind jetzt, wie wir waren – weißt du’s noch ? – nur näher, näher den Dingen, die längst vergangen sind. Uns bleiben die vielen kleinen Bilder aus vergangenen Tagen, wir haben seine Spielsachen noch. All das kann uns nicht genommen werden, solange wir leben.« Sie weinte weder, noch machte sie eine Bewegung, ja, er konnte nicht einmal ihren Atem hören. »O Elisabeth, meine liebe Frau«, rief er plötzlich angstvoll, »glaube mir doch, daß er bald wiederkommen wird – bald -bald – bevor du ihn überhaupt vermißt hast. Lieg nicht so still und verlassen da. Wenn der Frühling kommt, ist er wieder hier. Du mußt es mir glauben … liebe … Liebste !« Sehr sanft strich er mit seinen großen zärtlichen Fingern über die stille Wange.
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VII Er war noch vor Tagesanbruch aus dem Hause geschlüpft und marschierte schnell auf Cardiff zu. Eiseskälte und Bangnis umklammerten ihm das Herz, und seltsam, auf einmal war der Wunsch fortzugehen gar nicht mehr so dringend. Er hatte sich bei Nacht und Nebel fortgeschlichen, weil er Furcht gehabt hatte, er würde das Haus vielleicht nicht mehr verlassen, wenn er bis zum Abschied wartete, daß sogar Westindien ihn dann nicht mehr weglocken könnte. Der Himmel wurde grau, als er an den Wiesen vorüberkam, auf denen er herumgetollt war, an dem Steinbruch mit der Höhle, in dem er mit seinen Freunden so herrlich Räuber gespielt hatte. Twym Shone Catti hieß er, immer war er mit allgemeiner Zustimmung der Räuberhauptmann. Scharf umrissen standen die Berge vor ihm, nicht wie schweres, klotziges Gestein, sondern leicht wie Pappschachteln, mit einem silbernen Saum an den Rändern. Ein sanfter Morgenwind wehte von den Abhängen herab, es roch frisch und angenehm nach feuchter Erde und Laub. Pferde wieherten schrill, als er vorüberging, kamen dann ganz nahe und berührten ihn mit ihren weichen Nüstern. Vogelschwärme, die im Halbdunkel nach verspäteten Nachtbummlern des Käfergeschlechts suchten, flogen mit zornigem Zwitschern auf, als protestierten sie gegen die Störung. Bei Sonnenaufgang lagen neun Meilen hinter ihm. Als der gelbe Ball hinter den Gipfeln hervorkam und die an den Bergen hängenden leichten Wolkengebilde rosig färbte, zog Henry einen dicken Vorhang hinter sich zu. Schmerz und Einsamkeitsgefühl, die ihn bis dahin begleitet hatten, wurden abgeschüttelt und zurückgelassen. Cardiff lag vor ihm. Er kam in ein neues Land, das er noch nie gesehen hatte. Unter dem morgendlichen 42
Horizont schien schwach, aber um so verlockender, die grüne Krone Westindiens zu schimmern. Er kam durch Dörfer, die er nicht einmal dem Namen nach kannte, freundliche kleine Ansammlungen roher Hütten. Die Leute starrten ihn an wie einen Fremden. Für den jungen Henry war das etwas Neues. Bis jetzt hatte immer er andere angestarrt, die Fremde waren, und sich ihr Ziel und die geheimnisvollen Beweggründe vorgestellt, die sie in die Fremde führten. Schon der Name Fremder machte sie zu großen Leuten mit gewaltigen Vorsätzen. Nun war er ein Fremder, über den man nachdenken und den man mit Ehrfurcht anstarren konnte. Am liebsten hätte er gerufen : »Ich bin auf dem Wege nach Westindien.«Da hätten sie sicher ihre schläfrigen Augen aufgerissen und haushohen Respekt vor ihm gehabt. Blöde, rückgratlose Kreaturen waren sie in seinen Augen, ohne Ziel, ja, sie kamen nicht einmal auf den Gedanken, ihre feuchten, klobigen Hütten zu verlassen. Die Landschaft wurde anders. Er kam aus den Bergen in ein breites, unbegrenztes Land mit kleinen Hügeln und weiten, flachen Strecken. Er sah große Gruben, Löcher, die von Riesenhamstern in den Boden gewühlt zu sein schienen. Aus diesen Löchern kamen schmutzige schwarze Männer mit Kohlensäcken auf dem Rücken. Die Grubenarbeiter leerten die Säcke auf einen Haufen aus und gingen dann in die Höhlen zurück. Er bemerkte, daß sie auch dann gebückt gingen, obschon die schweren Säcke sie nicht mehr niederdrückten. Es wurde Mittag, ein langer, klarer Nachmittag folgte, und noch immer stapfte er weiter. Ein neuer Geruch lag in der Luft, der weiche, rauschende Atem des Meeres. Wie ein durstiges Pferd hätte er darauf zulaufen mögen. Am späten Nachmittag zog ein Heer schwarzer Wolken über den Himmel. Ein Wind kam auf, der nach Schnee roch, und wurde so stark, daß sich die Gräser bogen. 43
Er ging weiter in den aufkommenden Sturm hinein, bis ihm die Eisnadeln ins Gesicht schlugen und ihm die Kälte durch den Rock bis auf die Haut drang. Am Weg standen hier und da Häuser, aber Henry wollte in keinem Schutz suchen oder etwas zu essen kaufen. Er kannte die Sitten dieser Gegend nicht und auch nicht die Preise für Nahrungsmittel. Er durfte seine fünf Pfund nicht angreifen, bis er nach Cardiff kam. Als ihm schließlich die Hände blau wurden und der Schnee ihm das Gesicht wundpeitschte, kroch er in eine alleinstehende steinerne Scheune, aus der es nach Sommerheu roch. Nach dem Heulen und Pfeifen des Windes war es drinnen warm und still. Das Heu roch noch süß nach dem Honig, der in den Stengeln eingetrocknet war. Henry grub sich in das weiche Lager und schlief ein. Es war stockfinster, als er aufwachte. Halb im Traum fiel es ihm ein, wo er war, und sofort kamen die Gedanken, die er am Tage vorher verscheucht hatte, wieder angezogen und begehrten mit schrillem Gezeter Einlaß. »Du bist ein Narr«, sagte einer. »Denk an das große Zimmer, an die Piken und das helle Feuer ! Wo sind sie jetzt ? Du wirst sie nie mehr sehen. Sie sind verschwunden wie Traumgestalten, und du weißt nicht einmal, wohin sie fliegen. Du bist ein Narr !« »Still da, still da, hör, was ich zu sagen habe ! Warum hast du nicht auf Elisabeth gewartet ? Hattest du Angst ? Natürlich hattest du Angst. Dieser Junge ist ein Feigling, Brüder. Er fürchtet sich vor einem kleinen flachshaarigen Mädchen, der Tochter eines Häuslers.« Dann wurde eine traurige, langsame Stimme hörbar. »Denk an deine Mutter, Henry. Als du sie das letztemal sahest, saß sie gerade und still da. Du bist nicht zu ihr hingegangen. Du hast ihr nur einen Blick von der Türschwelle aus zugeworfen, als du gingest. Vielleicht ist sie auf ihrem Stuhl gestorben, während ihr der Kummer über dich noch aus den Augen sah. Das kann man 44
nie wissen. Und Robert, dein Vater – siehst du nicht, wie einsam, traurig und verlassen er jetzt ist ? Das ist dein Werk, Henry. Weil du nach Westindien wolltest, hast du nur an dich gedacht.« »Und was weißt du von der Zukunft ?« fragte eine dünne, ängstliche Stimme. »Es wird kalt sein, und vielleicht wird dich frieren, oder ein Fremder kann dich für Geld, und mag es noch so wenig sein, umbringen. So etwas ist schon mehr als einmal vorgekommen. Immer war jemand da, der auf dich aufpaßte und dafür sorgte, daß du es behaglich hattest. Dich wird hungern ! Frieren wird dich ! Du wirst sterben ! Ich weiß es bestimmt !« Unter die Quälgeister mischten sich dann die Geräusche der Scheune. Der Sturm war vorüber, aber ein Windzug seufzte mit unendlicher geisterhafter Traurigkeit um die Ecken. Dann und wann wurde ein leiser jämmerlicher Klagelaut hörbar. Es knisterte im Heu, wie wenn jeder Halm sich raschelnd fortschlängelte und verstohlen zu entkommen suchte. Fledermäuse flitzten umher und knirschten mit ihren winzigen Zähnchen. Schauerlich quiekten die Mäuse. Fledermäuse und Mäuse schienen aus der Dunkelheit heraus mit kleinen, gemeinen Augen nach ihm hinzuschielen. Er war ans Alleinsein gewöhnt, aber in einer ihm neuen Umgebung, an einem unbekannten Ort, war er noch nie so vollständig allein gewesen. Langsam wuchs und schwoll ihm das Grauen in der Brust. Die Zeit war ein träger Wurm geworden, der ganz langsam weiterkroch, dann anhielt, mit seinem blinden Kopf wackelte, und wieder langsam weiterkroch. Stunden schienen wie Wolken langsam über ihn hinwegzusegeln, während er vor Furcht zitternd dalag. Schließlich flog eine Eule herein, kreiste über ihm und schrie wie ein Wahnsinniger. Seine überreizten Nerven konnten diesem Schrecken nicht mehr standhalten. Wimmernd rannte er aus der Scheune und die Straße nach Cardiff entlang. 45
ZWEITES KAPITEL Länger als ein Jahrhundert hatte England ungeduldig zugesehen, wie Spanien und Portugal mit Erlaubnis des Papstes die Neue Welt unter sich aufteilten und ihr Eigentum eifersüchtig bewachten, um Unberufenen den Zutritt zu versagen. England empfand es bitter, wie ein Gefangener durch Gitterstäbe blicken zu müssen. Aber schließlich hatte Drake die Schranke durchbrochen und durchsegelte auf seiner kleinen »Golden Hind« die verbotenen Meere. Die Kapitäne der großen, roten spanischen Schiffe betrachteten Drake nur als winzige Stechfliege, die aber durch ihr Gesumme lästig fiel und daher beseitigt werden mußte, aber als die Fliege die schwimmenden Burgen aufschlitzte, diese und jene Stadt in Asche legte und sogar den geheiligten Silbertransport über die Landenge gefährdete, mußten sie ihre Ansicht ändern. Die Fliege war eine Hornisse, ein Skorpion, eine Natter, ein Drache. Sie nannten ihn El Draque. Die Neue Welt fürchtete allmählich die Engländer. Als die Armada von ihnen und den wütenden Wogen zerschlagen wurde, erschrak Spanien vor dieser neuen Macht, die von einer so winzigen Insel ausging. Der Gedanke, daß die prächtigen Musterstücke der Schiffsbaukunst auf dem Meeresboden lagen oder an der irischen Küste zerschellten, machte die Spanier mißmutig. Nun drang England sogar ins Karibische Meer vor. Ein paar Inseln kamen unter seine Gewalt – Jamaika, Barbados. Jetzt konnten die Erzeugnisse des Heimatlandes in den Kolonien verkauft werden. Kolonien machten ein kleines Land angesehener, vorausgesetzt, daß sie stark bevölkert waren. England begann, seine neuen Besitzungen mit Menschen zu versehen. Jüngere Söhne, Tunichtgute, verkrachte Existenzen fuhren 46
nach Westindien. Es war auch eine vorzüglich Methode, einen gefährlichen Mann loszuwerden. Der König brauchte ihm in Westindien nur Land zuzuweisen und dann den Wunsch ausdrücken, er möge auf seinem Besitz wohnen und den dortigen fruchtbaren Boden zum Besten der englischen Krone bebauen. Die ausfahrenden Schiffe waren mit Kolonisten überfüllt, Spielern, Zuhältern, Bordellbesitzern, Dissidenten und Papisten – die alle hinüberfuhren, um Land in Besitz zu nehmen, aber nicht, um zu arbeiten. Die portugiesischen und niederländischen Sklavenschiffe konnten die schwarze Ware aus Afrika nicht schnell genug abliefern, so wuchs der Bedarf an billigen Arbeitskräften. Dann wurden Verbrecher aus den Gefängnissen zusammengelesen, Razzien nach Beschäftigungslosen auf den Londoner Straßen abgehalten, Bettler festgenommen, die den ganzen Tag vor den Kirchentüren standen, jeder festgesetzt, der der Zauberei, des Hochverrats, der Lepra oder des Papismus verdächtig war, und alle diese wurden als Kontraktarbeiter auf die Pflanzungen geschickt. Der Plan war glänzend. Auf diese Weise wurden die fehlenden Arbeiter hergeschafft, und die Krone erhielt sogar noch Geld für die wertlosen Körper eben jener, die sie vorher gefüttert, gekleidet und gehängt hatte. Aus diesem Geschäft konnte noch mehr herausgeholt werden. Gewissen Kapitänen wurden ganze Stapel amtlich beglaubigter Kontrakte verkauft, in denen der Platz für die Namen freigelassen war. Sie erhielten Anweisung, bei der Eintragung der Namen mit äußerster Behutsamkeit und Verschwiegenheit zu Werke zu gehen. Kaffee-, Orangen-, Zuckerrohr- und Kakaoplantagen wurden auf den Inseln angelegt und dehnten sich immer mehr aus. Es gab natürlich einige Schwierigkeiten, wenn der zeitlich begrenzte 47
Kontrakt auslief. Aber die Londoner Elendsviertel lieferten weiß Gott schnell genug neue Sklaven, und der König hatte immer eine hübsche Anzahl Feinde, die beseitigt werden mußten. England wurde eine Seemacht und versorgte die Neue Welt mit Gouverneuren, Regierungsgebäuden und Buchhaltern. In immer steigender Anzahl fuhren Schiffe, mit Fertigwaren beladen, aus Liverpool und Bristol aus.
I Bei Tagesanbruch kam Henry in die Vororte Cardiffs. Die schreckliche Angst war vergangen, dafür wurde sein Staunen immer größer. Denn man konnte es kaum glauben, daß es so viele Häuser gab, Reihe auf Reihe, und nicht zwei genau gleich – endlos streckten sich die Bauten in gerader Linie aus, eine im Dreck aufmarschierte Armee. So etwas Großes und Gewaltiges hatte er sich nie vorgestellt, wenn die Leute von Städten sprachen. Die Läden wurden gerade aufgemacht, und in jedem gab es Waren zu sehen und zu kaufen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte Henry in jeden Laden, an dem er vorüberkam. Eine lange Straße führte ihn endlich zum Hafen – ein Mast am andern, wie Weizen auf dem Feld, und wie Wolken und Spinngewebe hing oben die braune Takelage in einer anscheinend unentwirrbaren Unordnung. In einige Schiffe wurden Ballen, Fässer und geschlachtete Tiere verladen, aus den rundlich geschwungenen Bäuchen anderer kamen Waren in sonderbar aussehenden ausländischen Kisten und Säcken aus geflochtenem Stroh ans Tageslicht. Ein aufgeregtes, geschäftiges Gewimmel herrschte auf den Docks. Dieselbe kitzelnde Neugier und feiertägliche Stimmung ergriff den Knaben, wie er sie daheim gefühlt hatte, wenn die Leute Buden für den Jahrmarkt aufschlugen. 48
Ein lauter Gesang hallte von einem Schiff, das gerade den Anker lichtete. Die Worte waren klar, in einer schönen ausländischen Sprache. Der sich auf dem Wasser wiegende glatte Rumpf erweckte in ihm ein freudiges, fast schmerzliches Gefühl. Er fühlte, daß er, nach einem Tage und Nächte währenden Fieberwahn, an einen ihm längst bekannten und geliebten Ort heimgekehrt war. Der Gesang von der sich bewegenden Bark verstärkte sich noch, und jetzt erschien der braune Anker über dem Wasser. Von den Rahen fielen die Segel und bauschten sich im Morgenwind. Die Bark glitt von ihrem Ankerplatz weg und schwamm langsam in die Fahrrinne hinab. Er ging weiter zu dem Kielholplatz. Tang und Muscheln, in vielen Meeren gesammelt, hingen an den leuchtenden Seiten der Schiffe. Hier hörte er das kurze schnelle Hämmern der Kalfaterer, das Kratzen der Eisenfeilen am Holz und harte Kommandorufe, die sich durch die Sprachrohre zum Brüllen steigerten. Als die Sonne schon ziemlich hoch stand, verspürte Henry Hunger. Er wanderte langsam zur Stadt zurück. Nur ungern verließ er die Docks, obschon er einen mächtigen Hunger hatte. Jetzt kamen die Matrosenwerber aus ihren Löchern, ebenso die schnüffelnden Falschspieler, die von dem Leichtsinn der Seeleute lebten. Hier und da schlurfte schnell eine zerzauste, schläfrige Dirne heim, als ob sie fürchtete, von der Sonne erwischt zu werden. Matrosen auf Landurlaub rieben sich die geschwollenen Augen und blickten, als sie sich gegen die Mauern lehnten, um nicht umzufallen, zum Himmel auf, um zu sehen, wie wohl das Wetter werden würde. Henry fragte sich, was diese Männer wohl schon auf ihren vielen Fahrten gesehen haben mochten. Er trat zur Seite, um eine Reihe von Wagen und Karren vorbeizulassen, die mit Kisten und Ballen für die Schiffe beladen waren, aber sofort mußte er einer anderen Reihe ausweichen, die mit überseeischen Gütern von den Schiffen kamen. 49
Schließlich stand er vor einem vielbesuchten Wirtshaus. »Die drei Hunde« hieß es, und diese waren auch auf dem Schild zu sehen, hatten aber mehr das Aussehen von drei verdutzten Dromedaren. Henry trat ein und fand das große Gastzimmer voll von Leuten. Er fragte einen dicken Mann in einer Schürze, ob er ein Frühstück bekommen könnte. »Hast du Geld ?« fragte der Wirt argwöhnisch, Henry ließ ein Goldstück funkeln, das er in der Hand trug, und als er das Zauberding, das Türen und Herzen öffnet, vorgezeigt hatte, machte der Schürzenmann eine Verbeugung und zog ihn freundlich am Arm weiter in den Gastraum. Henry bestellte sein Frühstück, blieb aber stehen und sah sich in der Wirtschaft um. An langen Tischen saßen eine Menge Leute, andere lehnten an den Wänden, einige saßen sogar auf dem Boden. Eine kleine Kellnerin ging mit einem Tablett gefüllter Gläser zwischen ihnen umher. Einige waren Italiener von genuesischen und venezianischen Schiffen. Das kostbare Holz und die Gewürze, die sie mitgebracht hatten, waren von Kamelen über Land vom Indischen Ozean nach Byzanz getragen worden, Franzosen waren da, von den Weinschiffen aus Bordeaux und Calais, hier und da sah man einen blauäugigen Basken mit quadratischem Gesicht unter ihnen. Schweden, Dänen und Finnen waren da, Walfischfänger aus dem nördlichen Ozean, schmutzige Kerle, die nach fauligem Tran rochen. An einigen Tischen saßen grausame Holländer. Sie gaben hier das Geld aus, das sie durch den Transport schwarzer Sklaven von der Goldküste nach Brasilien verdient hatten. Verstreut unter diesen Ausländern saßen ein paar Waliser Bauern. Ängstlich, schüchtern und verlassen saßen sie unter den anderen Gästen. Sie hatten Schweine und Schafe zur Verproviantierung der Schiffe gebracht und schlangen jetzt ihr Essen herunter, um rechtzeitig vor Einbruch der Nacht wie50
der daheim zu sein. Sie blickten vertrauensvoll auf drei Matrosen der königlichen Marine, die in Uniform waren und im Gespräch an der Tür standen. Das angenehme Gesumm und Tellerklappern und die vielen fremden Gesichter nahmen den jungen Henry ganz gefangen. Er hörte fremde Sprachen und sah neue Dinge : Die Ohrringe der Genuesen, die kurzen, messerähnlichen Schwerter der Holländer, verschiedene Gesichtsfarben von Fleischrot bis zum ledernen Braun. Den ganzen Tag hätte er dort stehen können, ohne zu merken, wie die Zeit verstrich. Eine Hand griff ihn am Ellbogen, eine Hand, die einen Handschuh aus Schwielen trug. Hernry blickte in das breite, aufrichtige Gesicht eines irischen Seemanns. »Willst du dich hierher setzen, junger Mann, zu einem ehrlichen Seemann aus Cork namens Tim ?« Bei diesen Worten quetschte er heftig einen Nachbarn beiseite, so daß am Bankende ein schmaler Platz für den Knaben blieb. Niemand kann auf so grobe Weise höflich sein wie ein Ire. Henry setzte sich, aber er wußte nicht, daß der Seemann aus Cork sein Goldstück gesehen hatte. »Danke«, sagte er. »Und wohin fährst du ?« »Wohin Schiffe fahren, dort fahre ich hin«, antwortete Tim. »Ich bin ein ehrlicher Seemann aus Cork und habe nur den einen Fehler, daß nie ein Geldstück in meiner Tasche glänzt. Ich denke gerade darüber nach, wie ich das schöne Frühstück bezahlen soll. Du kannst meine Taschen umkehren und findest keinen Hosenknopf darin.« »Nun, wenn du kein Geld hast, will ich dir dein Frühstück bezahlen – aber du mußt mir vom Meer und den Schiffen erzählen.« »Das habe ich sofort gesehen, daß du ein feiner Herr bist«, rief Tim. »Kaum waren meine Augen auf dir gelandet, wußte 51
ich das schon. – Und als Vorkost ein Gläschen, nicht wahr ?« Ohne Henrys Zustimmung abzuwarten, bestellte er es. Als er es in Händen hielt, hob er die braune Flüssigkeit in Augenhöhe. »Uisquebaugh nennen es die Iren, das heißt Lebenswasser, und die Engländer nennen es Whisky – nur Wasser. Sapperlot noch mal, wenn Wasser den schönen Gehalt und die feine Glut hätte wie dies da, würde ich das Segeln aufgeben und nur noch schwimmen.« Er brüllte vor Lachen und kippte das Glas hinunter. »Ich gehe nach Westindien«, bemerkte Henry, der dabei die Absicht hatte, Tim wieder zu Meer und Schiff zurückzuleiten. »Nach Westindien ? Da schau einer an, ich auch, morgen früh, nach Barbados, mit Messern, Sicheln und Kleiderstoffen für die Plantagen. Das Schiff ist aus Bristol, ein gutes Schiff, aber der Alte ist ein harter Knochen und vollgepumpt bis zum Hals mit Religion aus der Kolonie in Plymouth. Er spuckt höllisches Feuer und nennt es Gebet und Buße, aber ich glaube, das Rösten gefällt ihm. Wir würden alle eine ganz hübsche Zeit brennen, wenn es nach ihm ginge. Es ist mir ein Rätsel, was das für eine Religion ist, es kommt nie ein Ave Maria drin vor, wie kann das also überhaupt eine Religion sein ?« »Meinst du – meinst du vielleicht, ich könnte auf deinem Schiff mitfahren ?« fragte Henry unter Würgen. Über Tims ehrliche Augen senkten sich die Lider. »Wenn du zehn Pfund hättest«, sagte er bedächtig, aber als er das betrübte Gesicht des Knaben sah, verbesserte er sich – »fünf, meine ich –« »Ich habe jetzt noch etwas über vier«, sagte Henry traurig. »Nun, vier würden es auch tun. Du gibst mir deine vier Pfund, dann spreche ich mit dem Alten. Wenn man ihn näher kennenlernt, ist er so schlimm nicht, nur ein sonderbarer Kauz und hat eben den Fimmel mit seiner Religion. Nein, so brauchst 52
du mich nicht anzuschauen. Du kommst mit mir. Ich würde doch einem Jungen, der mir ein Frühstück spendiert hat, nicht seine vier Pfund klauen.« Ein zufriedenes Lächeln verklärte sein Gesicht. »Komm«, sagte er, »laß uns darauf anstoßen, daß du auf der ›Bristol Girl‹ mit mir fährst. Uisquebaugh für mich und Portwein für dich !« Dann kam das Frühstück, und sie machten sich darüber her. Nachdem er ein paar Mundvoll gegessen hatte, sagte Henry : »Ich heiße Henry Morgan. Wie heißt du noch außer Tim ?« Der Matrose lachte herzlich. »Wenn ich je noch einen Namen außer Tim gehabt habe, so muß er in Cork in der Gosse liegen. Mein Vater und meine Mutter hielten sich nicht lange dabei auf, mir meinen Namen zu sagen. Tim hieß ich und Tim heiße ich. Tim ist ein Name, den jeder nehmen kann, ohne daß einer dagegen Einspruch erhebt, so wie man die Traktätchen aufhebt, die die Dissenter auf den Straßen fallen lassen, wonach sie sich gleich auf die Strümpfe machen, um nicht mit ihnen erwischt zu werden. Tim kannst du wie die Luft einatmen, ohne daß du verhaftet wirst.« Als sie gefrühstückt hatten, gingen sie auf die Straße, wo Händler, Knaben mit Körben voll Orangen und hausierende alte Weiber ihre Waren anpriesen. Die ganze Stadt schrie die feinen Waren aus, die die Schiffe aus den fernen unirdischen Ecken der Welt hergebracht und wie wertlose Erdklumpen, so schien es, auf die staubigen Ladentische Cardiffs geschüttet hatten : Zitronen, Kaffee, Tee, Kakao, bunte Teppiche aus dem Osten, unheimliche Arzneien Indiens, die einen Dinge sehen ließen, die gar nicht da waren und Wonnen empfinden lassen, die sich wieder in Luft auflösen. Mitten auf der Straße standen Fässer und irdene Krüge mit Weinen von den Ufern der Loire und den Berghängen Perus. 53
Sie kamen wieder zu den Docks und den schönen Schiffen. Es roch nach Teer und sonnenverbranntem Hanf, und vom Wasser her kam die weiche, salzige Meeresluft gezogen. Schließlich erblickte Henry, ziemlich am Ende der langen Reihe, ein großes schwarzes Schiff, an dessen Bug in goldenen Buchstaben der Name »Bristol Girl« gemalt war. Die ganze Stadt und die anderen flachen Schiffsrümpfe sahen neben dieser Meerschönheit häßlich und schmutzig aus. Ihre feingeschwungenen Linien und die Sicherheit, mit der sie sich mit beinahe sinnlichem Vergnügen auf dem Wasser wiegte, waren ein herzerfreuender Anblick. Neue weiße Segel hingen wie lange, zarte Kokons von Seidenraupen von ihren Rahen, und ihre Decks waren frisch gelb gestrichen. So lag das Schiff da und hob und senkte sich leicht auf den Wellen, ungeduldig wie ein Pferd, das auf die Gebißstange beißt, bereit, nach jedem Land zu fliegen, nach dem die Phantasie verlangt. Unter den unauffälligen braunen Schiffen im Hafen war es eine schwarze Königin von Saba. »Oh, was für ein schönes, was für ein herrliches Schiff !« rief Henry, der sich vor Staunen nicht fassen konnte. Tim war stolz. »Aber komm nur erst mal an Bord und sieh dir die Ausstattung an – alles neu. Ich werde jetzt mit dem Alten über dich sprechen.« Henry blieb auf dem Mitteldeck stehen, während der Seemann nach achtern ging und vor einem Skelett in abgetragener Uniform die Mütze zog. »Ich habe da einen Jungen«, sagte er, obschon Henry nicht hören konnte, was er sagte, »einen Jungen, der unbedingt nach Westindien will, und ich meine, er wäre was für Sie, Käpt’n.« Der uniformierte Hungerleider machte ein abweisendes Gesicht. »Ist es wenigstens ein kräftiger Junge, der auf den Inseln was 54
taugt, Bootsmann ? So viele gehen schon in den ersten Monaten um die Ecke, und auf der nächsten Fahrt hat man dann Scherereien.« »Er ist hier, da, hinter mir, Käpt’n. Schauen Sie ihn an, wie er dasteht, ein starker, fester Kerl.« Der Kapitän schätzte Henry ab, ließ seine Augen von den strammen Beinen bis zur breiten Brust auf ihm herumspazieren. Jetzt war er schon eher geneigt, ihn mitzunehmen. »Starker Kerl, ganz recht. Du hast gut gearbeitet, Tim. Bekommst ein gutes Trinkgeld und an Bord eine kleine Extraration Rum. Aber weiß er, was ihm bevorsteht ?« »Nicht die Spur.« »Dann sag ihm nichts. Gib ihm Arbeit in der Kombüse. Er meint dann, er muß seine Überfahrt abarbeiten. Hat keinen Sinn, wenn er den Leuten in ihrer Freizeit was vorjammert. Wenn er erst drüben ist, wird ihm schon ein Licht aufgehen.« Der Kapitän lachte und ließ Tim stehen. »Du kannst mitfahren«, rief der Bootsmann. Henry konnte sich vor Freude nicht rühren. »Aber«, fuhr Tim dann mit ernster Miene fort, »die vier Pfund genügen nicht für die Überfahrt. Wenn du ein bißchen in der Küche arbeiten willst, kannst du mitfahren.« »Alles will ich tun, alles«, sagte Henry, »wenn ich nur mitfahren kann.« »Dann laß uns wieder an Land gehen und uns einen auf eine schöne freie Fahrt trinken. Uisquebaugh für mich und für dich wieder derselbe großartige Portwein.« Sie saßen in einer schmutzigen Kneipe, deren Wände mit Flaschen aller Arten und Größen geschmückt waren, von einer kleinen bauchigen Buddel bis zu riesigen Korbflaschen. Nach einer Zeit sangen sie zusammen, schlugen mit den Händen den Takt und lachten sich blöde an. Aber schließlich machte der 55
wärmende Portwein den Knaben weich und traurig. Er fühlte, daß ihm die Augen naß wurden, und er freute sich darüber. Das würde Tim zeigen, daß er Kummer hatte und nicht nur ein leichtsinniger Junge war, der um jeden Preis nach Westindien durchbrennen wollte. Er wollte Tim offenbaren, welch tiefer Empfindungen er fähig war. »Weißt du, Tim«, sagte er, »ich habe nämlich Abschied von einem Mädchen genommen. Sie hieß Elisabeth. Sie hatte goldene Haare – golden wie die Morgensonne. Am Abend, bevor ich wegging, suchte ich sie auf, und sie kam zu mir in die Dunkelheit hinaus. Die Kälte und die Dunkelheit umspannten uns wie ein Zelt. Sie jammerte und weinte und bat mich, doch dazubleiben, obschon ich ihr von den schönen Dingen erzählte, die ich ihr nach kurzer Zeit mitbringen würde, von Schmuck und seidenen Gewändern. Aber sie ließ sich einfach nicht trösten, und es macht mich traurig, wenn ich daran denke, wie sie weinte, weil ich fortging.« Jetzt kollerten ihm dicke Tränen aus den Augen. »Ich weiß«, sagte Tim gerührt. »Ich weiß, wie traurig es einen Mann macht, wenn er ein Mädchen verläßt und auf See geht. Habe ich nicht Hunderte sitzenlassen, und schöne Käfer dazu ? Aber hier ist ein neues Glas für dich, Junge. Wein tut einer Frau besser als alle Süßigkeiten Frankreichs, wenn ein Mann ihn trinkt. Wein macht jede Frau liebenswert. Wenn die Häßlichen nur ein kleines Becken mit Wein auf ihre Türschwelle stellen wollten, so wie in der Kirche die Weihwasserbecken stehen, da würde in den Städten mehr geheiratet. Ein Mann würde gar nicht merken, was ihnen an gutem Aussehen abgeht. Aber trink noch ein Glas von dem großartigen Wein, mein trauriges Knäblein, dann kann es eine Prinzessin werden, die hinter dir herjammert und die du sitzenläßt.«
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II Nun geht es nach Westindien – dem schönen fremden Westindien, wo die Träume des Knaben wohnten. Die große Scheibe der Morgensonne kämpfte gegen den grauen Nebel. Auf dem Deck schwärmten die Matrosen aus wie die wütenden Insassen eines zerstörten Bienenhauses. Es ertönten kurze Befehle, die Matrosen sprangen in die Wanten, um von dort auf die Rahen zu klettern. Andere drehten sich singend im Kreise, während sie die Ankerkette hochwanden. Nun kamen die Anker aus dem Wasser und hingen an den Schiffsseiten wie braune, triefende Motten. Auf nach Westindien – die weißen Segel fühlten es, als sie sich mit seidigem Rauschen bauschten und blähten. Das schwarze Schiff fühlte es und schwebte stolz auf den Wellen der zurückweichenden Flut, von einem leichten frischen Morgenwind getrieben. Sorgfältig löste sich die »Bristol Girl« aus dem Schiffswald und glitt langsam durch die lange Ausfahrtsrinne. Der Nebel vermischte sich allmählich mit dem Himmel. Die walisische Küste wurde blau und blaßblau, bis sie mit dem weiten Horizont verschwamm wie eine Fata Morgana. Die schwarzen Berge wurden eine Wolke und dann ein Wölkchen dünnen Rauches. Dann war Wales verschwunden, als wäre es nie dagewesen. Porlock, Illfracombe und viele in den Bodenfalten Devons hingeduckte Dörfer ließen sie an Backbordseite liegen. Der gute frische Wind trug sie an Stratton und Camelford vorbei. Seemeile auf blaue Seemeile glitt Cornwall langsam hinter ihnen weg. Dann kam Land’s End, die scharfe Spitze von Englands Kinn, und als sie es in südlicher Richtung umrundeten, kam schließlich der Winter. Die Dünung wurde stärker und preschte gegen das Schiff, 57
aber dieses lief vor den kläffenden Hunden des Windes wie ein starker, auf seine Schnelligkeit vertrauender Hirsch, lief tapfer mit Untersegeln und Sprietsegel. Der Wind heulte aus seiner nordischen Heimat, und die »Bristol Girl« fuhr ihm keck über das Gesicht nach Südwesten. Es wurde kalt. Die vereisenden Wanten klirrten im Wind wie große Harfensaiten, die von einem wahnsinnigen Riesen gezupft werden, und die Rahen klagten stöhnend den an ihnen zerrenden Segeln ihr Leid, Vier Tage lang jagte sie der anhaltende Sturm auf das Meer hinaus, aber das Schiff tanzte vor Freude über den Kampf. Die Matrosen sammelten sich auf dem Vorschiff und rühmten seine Geschmeidigkeit und Festigkeit. Henry frohlockte in dieser Zeit wie ein junger Gott. Das Brausen des Windes war auch in ihm. Er stand auf Deck, fest gegen einen Mast gestemmt, das Gesicht dem Winde zugekehrt, ihn mit seinem Kinn durchschneidend, wie der Bug das Wasser durchschnitt. Ein innerer Jubel füllte seine Brust bis zum Bersten, eine Freude, die wie Schmerz war. Die Kälte wischte die Linsen seiner Augen rein, so daß er klarer in die weitgespannte, wie ein Kreis ihn umschließende Ferne sah. Hier wurde die alte Sehnsucht um eine neue vermehrt, denn der Wind erweckte in ihm das Verlangen, weit ausladende Flügel und den ganzen Himmel als Tummelplatz zu haben. Das Schiff war für ihn, der sich in die Luft erheben wollte, ein schaukelndes, knarrendes Gefängnis. Wenn er doch ein Gott wäre und auf dem Sturm reiten könnte, nicht unter ihm ! Der Wind versetzte ihn in einen Rauschzustand, in dem zwar eine Sehnsucht gestillt, aber gleichzeitig eine neue geboren wurde. Er schrie nach den Flügeln der Allmacht, und die Elemente bliesen ihm eine neue Kraft in die Muskeln. So schnell, wie sie gekommen waren, schlichen sich die teuflischen Diener des Winters wieder davon und hinterließen eine klare, blank gefegte See. Das Schiff setzte alle Segel und ließ sich 58
von dem gleichmäßigen Passatwind treiben. Es ist ein frischer, vom Himmel gesandter, vom Gott der Schiffahrt für die großen Segelschiffe geblasener Wind. Die starke Spannung war vorüber, die Matrosen spielten an Deck wie ausgelassene Kinder, denn der Passatwind erzeugt ein jugendliches Glücksgefühl. Der Sonntag kam, ein Tag, der auf der »Bristol Girl« ungern gesehen und immer von Furcht und bösen Ahnungen begleitet war. Henry beendete seine Arbeit in der Kombüse und ging an Deck. Ein alter Matrose saß auf einer Luke und flocht einen Langspleiß zusammen. Seine Finger schienen jeder für sich ein kleines Gehirn zu besitzen, denn ihr Herr verschwendete keinen Blick an sie, sondern seine kleinen blauen Augen schweiften nach Seemannsart über das Ende der Dinge hinaus. »Du möchtest mir wohl das Geheimnis absehen«, sagte er, ohne einen Blick vom Horizont wegzuwenden. »Du brauchst nur genau zuzuschauen. Ich mache das schon so lange, daß mein alter Kopf den Kniff, der dabei ist, vergessen hat, nur meine Finger kennen ihn. Wenn ich daran denke, was ich tue, verheddere ich mich. Willst du Seemann werden und eines Tages in die Takelage klettern ?« »Das möchte ich gerne, wenn ich den Beruf lernen könnte.« »Das ist so schwer nicht. Du mußt zuerst lernen, Dinge auf dich zu nehmen, von denen die Landratten noch nie gehört haben. Die Arbeit setzt einem hart zu, aber wenn man einmal damit begonnen hat, kann man sie nicht mehr aufgeben. Schau mich an, immer wieder habe ich versucht, meinen alten Kasten in den Hafen zu steuern und ihn vor einem warmen Herd dauernd vor Anker zu legen. Ich möchte noch so ein bißchen nachdenken und dann sterben. Aber das ist alles zwecklos. Jedesmal renne ich mir die Beine ab, um wieder an Bord eines Schiffes zu kommen.« Ein heftiges Läuten der Schiffsglocke unterbrach ihn. 59
»Komm her«, sagte er, »der Alte wird uns jetzt die Hölle heiß machen.« Der Kapitän mit seinem Totenkopf stand, mit Gott bewaffnet, vor seiner Mannschaft. Ängstlich wie kleine Vögel, die eine heranschleichende Schlange beobachten, blickten die Leute zu ihm hin, denn sein Glaube sprühte Flammen aus seinen Augen, und zornige Worte fielen von seinen Lippen. »Gott hat euch nur mit einem Zipfel seiner alles zerschmetternden Macht berührt«, brüllte er. »Er hat euch die Kraft seines kleinen Fingers gezeigt, damit ihr Buße tut, ehe ihr im höllischen Feuer brennt. Höret den Namen des Herrn im Sturm und bereut eure Hurereien und Lästerungen ! Er wird euch sogar für die bösen Gedanken bestrafen, die ihr im Kopf habt ! Die Lehre, die euch das Meer erteilt, sollte sich euch wie eine eisige Hand um die Kehle klammern, daß ihr vor Schrecken erstickt. Aber jetzt, wo der Sturm vorüber ist, habt ihr ihn schon vergessen. Ihr fühlt euch wohl, es ist keine Zerknirschung in euch. Aber laßt euch die Lehre, die euch der Herr erteilt hat, zur Warnung dienen. Tut Buße ! Tut Buße, oder sein Zorn vernichtet euch.« Wild fuchtelte er mit den Armen und sprach von den armen, einsamen Seelen, die wegen kleiner menschlicher Schwächen im ewigen Feuer litten. Und schließlich entließ er die bedrückte Schar. »Laß dich nur nicht bange machen«, sagte der alte Matrose zu Henry. »So’n ollen Quatsch brauchst du dir gar nicht zu merken. Wer auch den Sturm gemacht hat – Gott oder der Teufel –, der hat ihn gemacht, weil er Spaß an einem guten Sturm hatte, und zu nichts anderem. Wer den Sturm so heulen lassen kann, was liegt dem an so einer Nußschale, die in der endlosen Weite umhergestoßen wird ? Ich würde mich einen Dreck darum kümmern, wenn ich Gott oder der Teufel wäre.« 60
Bei diesen letzten Worten war der Bootsmann Tim zu ihnen gestoßen und legte schützend die Hand auf Henrys Arm. »Das mag schon stimmen«, sagte er. »Laß aber nur den Alten nichts merken, daß du so etwas sagst oder auch nur anhörst, sonst wird er dir die Macht Gottes mit einem Tauende beweisen. Wenn er und sein Gott über dich kommen, so möchte die Sache für so einen kleinen Jungen, der die Töpfe in der Kombüse ausscheuert, schlimm ausgehen.« Gleichmäßig und unablässig blies der Passatwind. Wenn Henry seine Arbeit in der Küche getan hatte, mischte er sich unter die Matrosen, stieg mit ihnen in die Takelage und lernte die Namen und die Handhabung des Triebwerks des Schiffes. Die Matrosen hatten ihn gern, weil er ein so ruhiger und höflicher Junge war und weil er ihren Reden lauschte, als ob sie als Aussprüche weiser und gütiger Männer ein großes Geschenk für ihn bedeuteten. Daher brachten sie ihm bei, was sie konnten, denn offenbar war dieser Junge für die See geboren. Er lernte die Lieder, die beim kurzen und langen Auf- und Niederholen gesungen werden, von denen das eine einen schnellen und nervösen, das andere einen langsamen, schwingenden Rhythmus hatte. Er sang mit ihnen die alten Seemannslieder von Tod, Meuterei und blutgefärbten Wogen. Bald fluchte er auch wie ein Matrose, und es waren kernige, saftige Flüche, die aus seinem Munde kamen, und dazu noch lästerliche, schmutzige, haarsträubende Redensarten, die aber in seinem Munde ihre eigentliche Bedeutung völlig verloren. Nachts hörte er still zu, wenn die Männer von wunderbaren Begebenheiten erzählten, die sie entweder gesehen oder sich ausgedacht hatten – von meilenlangen Schlangen, die sich um Schiffe ringelten, sie zermalmten und verschlangen, von Schildkröten, die so riesenhaft groß waren, daß sie Bäume, Flüsse und ganze Dörfer auf dem Rücken trugen und alle fünfhundert 61
Jahre nur einmal in die Tiefe sanken. Unter den schwingenden Hängelampen erzählten sie, daß Finnen aus Rache einen tödlichen Sturm herbeipfeifen konnten, daß es Meerratten gab, die Löcher durch die Schiffsplanken nagten, so daß das Schiff sank. Schaudernd sprachen sie von dem gräßlichen schleimigen Kraken. Wenn jemand dieses auftauchende Ungeheuer erblickte, lastete ein Fluch auf ihm, und wahrscheinlich sah er dann nie wieder Land. Sie hatten Ungetüme gesehen, die Wasser in die Luft spieen, brüllende Kühe, die im Meer lebten und ihre Kälber säugten wie Landkühe, Geisterschiffe, die endlos umherschweiften und einen Hafen suchten, während die Matrosen, die die Segel bedienten, gebleichte Skelette waren. Henry konnte sich vor Spannung nicht rühren, wenn er ihnen zuhörte, atemlos lauschte er ihren Erzählungen und schnappte jedes Wort gierig auf. Tim streckte sich manchmal gähnend und sagte : »Ich weiß nichts von euren großen Schlangen, auch habe ich noch nie – Gott sei mir gnädig ! – einen Kraken gesehen. Aber ich kann euch ein Stückchen erzählen, das nicht übel ist, wenn ihr zuhören wollt. Damals war ich so ein Junge wie dieser da und fuhr auf einem freien Schiff, das sich so überall auf den Meeren herumdrückte und aufnahm, was es gerade kriegen konnte – manchmal ein paar schwarze Sklaven und dann und wann ein bißchen Gold von einem spanischen Schiff, das sich nicht helfen konnte. Wir hatten unseren Kapitän selbst gewählt, Papiere hatten wir überhaupt nicht, aber verschiedene Flaggen, und dazu noch auf der Brücke. Wenn wir ein Kriegsschiff im Glas ausfindig machten, fuhren wir drauflos. Nun, was ich euch sage, eines Morgens machten wir eine kleine Bark an Steuerbord aus, und setzten sofort Segel, um sie zu kapern. Das taten wir denn auch. Ein spanisches Schiff, 62
keine große Beute, eine kleine Bark, nur beladen mit Salz und rohen Häuten. Aber als wir die Kajüte umstülpten, fanden wir ein großes, stattliches Weib, schwarzhaarig, mit einer hohen, weißen Stirn und den schlanksten, zartesten Fingern, die ich je gesehen habe. Das andere Zeug ließen wir, wo es war, aber die Frau nahmen wir mit uns. Der Kaplan wollte die Frau gerade mit sich aufs Achterdeck führen, da trat der Bootsmann vor. ›Wir sind eine freie Mannschaft‹, sagte er, ›und haben dich zum Kapitän gewählt. Wir wollen die Frau auch haben, und wenn wir sie nicht kriegen, dann wird gleich eine hübsche Meuterei in Gang kommen.‹ Der Kapitän blickte uns finster an, aber er sah nur in ebenso finstere Gesichter. Da zuckte er die Schultern und lachte – ganz hämisch lachte er. ›Wie wollt ihr denn über sie bestimmen ?‹ fragte er, denn er dachte, es würde eine große Keilerei wegen der Frau geben. Aber der Bootsmann zog ein paar Würfel aus der Tasche und warf sie auf das Deck. ›Wir werden uns nach diesen richten‹, sagte er, und sofort rutschte jeder auf den Knien nach den Würfeln hin. Aber ich sah mir die Frau, die da stand, lange an und denke mir so : ›Die Frau ist ein zäher Brocken, die könnte einem Mann, den sie haßt, verdammt die Krallen versetzen. Nein, mein Junge, sage ich mir, bei diesem Spiel machst du am besten nicht mit.‹ Kaum hatte ich das gedacht, da läuft die Schwarze an die Reling, nimmt eine Kanonenkugel aus dem Gestell, schließt sie in die Arme und springt über Bord. Das war alles ! Wir liefen an die Reling, sahen aber nur noch ein paar Luftblasen. Nun, zwei Nächte später kommt die Achterdeckwache mit gesträubten Haaren auf die Back gerannt. ›Da schwimmt etwas hinter uns her, etwas Weißes‹, schreit er, ›und es sieht so aus, als wäre es die Frau, die über Bord ging.‹ Natürlich liefen wir alle hin und schauten über die Heckreling. 63
Ich konnte nichts sehen, aber die anderen sagten, es wäre eine Gestalt, die mit weißen Händen nach unserem Achtersteven faßte, aber sie schwamm nicht, sondern schleifte hinter uns her, als wäre das Schiff ein Magnetstein und sie ein Stück Eisen. Ihr könnt euch denken, daß in dieser Nacht von Schlaf kaum die Rede war. Wer eindöste, schrie und ächzte im Schlaf, und ich brauche euch wohl nicht erst zu sagen, was das bedeutet. Die Nacht darauf stürzte der Bootsmann aus dem Laderaum und schreit wie ein Verrückter. Seine Haare waren plötzlich grau geworden. Wir hielten ihn fest und klopften ihm beruhigend den Rücken, bis er schließlich im Flüsterton etwas herausbrachte. ›Ich hab’s gesehen ! O mein Gott, ich hab’s gesehen ! Zwei lange, weiße, weiche Hände mit schlanken Fingern – sie kamen durch die Seitenwand und rissen eine Planke nach der anderen weg, als wären sie aus Papier. O Gott, rette mich !‹ Da fühlten wir, wie das Schiff sich seitwärts neigte und zu sinken begann. Nun, drei von uns trieben auf einer losen Spiere an die Küste, aber zwei waren wahnsinnig geworden und fauchten wie wilde Katzen, die armen Teufel. Ich habe nie gehört, ob noch andere gerettet wurden, ich glaube es nicht. Und näher bin ich an die Dinge, von denen ihr immer redet, nie herangekommen. Man sagt, daß man in klaren Nächten auf dem Indischen Ozean die ermordeten Hindus sehen kann, wie sie als Geister den toten Vasco da Gama über den Himmel jagen. Diese Hindus sollen übrigens als Sklaven nicht viel taugen, und so läßt man sie besser in Ruhe, wenn sie einen dazu noch wegen Mordes verfolgen.« Vom ersten Tage an hatte es der Koch übernommen, den jungen Henry zu belehren. Der Mann schien ganz versessen darauf zu sein, Belehrungen auszuteilen, dazu brachte er sie in zornigem Ton vor, als ob er jede Minute Widerspruch befürchtete. Dieser Koch war ein grauhaariger Mann mit braunen 64
Hundeaugen. Er hatte etwas von einem Priester, etwas von einem langweiligen Professor und etwas von einem Meuchelmörder an sich. Er sprach wie ein Gelehrter, aber seine Unsauberkeit deutete darauf hin, daß er aus den finsteren Hintergassen Londons stammte, wo das Elend zu Hause ist. Er war sanft, gütig und hinterhältig unaufrichtig. Niemand gab ihm die Möglichkeit, sich als vertrauenswürdig zu erweisen, weil jedermann annahm, daß er verräterisch handeln würde, wenn es sich im geringsten lohnte. Sie waren nunmehr in das warme Wasser gekommen, und ein warmer Wind trieb sie vorwärts. Henry und der Koch standen oft an der Reling und beobachteten, wie die Haie mit ihren dreieckigen Flossen im Kielwasser hin und her schossen und nach Abfällen schnappten. Sie sahen kleine, braune Büschel Tang vorbeischwimmen und den gemächlichen Lotsenfisch, der immer geradeaus vor dem Bug schwamm. Einmal zeigte der Koch auf die braunen Vögel mit den langen, biegsamen Flügeln, die ihnen immer folgten, über ihnen hingen oder kreisten, tauchten, allerlei Schwenkungen ausführten, immer flogen, niemals ruhten. »Sieh dir diese Ruhelosen an«, sagte der Koch. »Gleichen sie nicht irrenden Seelen ? Tatsächlich sagen einige sie seien die Seelen ertrunkener Seeleute, so mit Sünden beladen, daß sie jahraus, jahrein keine Ruhe finden. Andere schwören, daß diese Vögel ihre Eier in schwimmende Nester legen, die sie auf den Planken untergegangener Schiffe erbauen, und wieder andere, daß sie überhaupt keine Nester haben, sondern daß sie voll ausgewachsen aus dem weißen Kamm einer Welle geboren werden und sofort ihren lebenslangen Flug beginnen. Ah, wie ruhelos sind sie doch !« Das Schiff scheuchte einen Schwarm fliegender Fische auf, die wie glitzernde Silbermünzen über die Wellenkämme sprangen. 65
»Das sind die Geister der auf See verlorengegangenen Schätze, der Mord und Totschlag erzeugenden Dinge wie Smaragde, Diamanten und Gold. Die wegen dieser Dinge von Menschen begangenen Sünden haften an ihnen und treiben sie unablässig durch die Wellen. Das muß schon gar kein Seemann sein, der nicht Wunderdinge von ihnen erzählt.« Henry zeigte auf eine große, auf dem Wasser schlafende Schildkröte. »Und was erzählt man von den Schildkröten ?« fragte er. »Nichts. Sie dienen nur zur Nahrung, und es ist nicht wahrscheinlich, daß ein Mensch Sachen, die er ißt, romantisch verklärt. Sie sind ihm zu nahe, und was durch den Magen geht, ist für phantastische Ausschmückung nicht geeignet. Und doch haben diese Tiere viele Schiffe gerettet und haben viele Menschen davor bewahrt, als gebleichte Gerippe auf dem Deck von Wracks auf dem Meer zu treiben. Das Fleisch der Schildkröten ist mild und gut. Die Bukaniere versorgen ihre Schiffe manchmal mit diesem Fleisch, wenn sie keine wilden Rinder auftreiben können.« Während sie so sprachen, war die Sonne unter das Wasser gesunken. In der Ferne sandte eine schwarze Wolke unausgesetzt züngelnde, blendende Blitze aus, aber von diesem einen Fleck abgesehen, war der ganze Himmel von einem seidigen Blauschwarz, in dem Schwärme von Sternen glitzerten. »Sie haben mir doch versprochen, von diesen Bukanieren zu erzählen, die man die Brüder der Küste nennt«, bat Henry. »Sagen Sie mir doch, sind Sie je mit ihnen gefahren ?« Dem Koch verursachte diese Frage offensichtlich Unbehagen. »Es herrscht Friede zwischen Spanien und England«, sagte er. »Ich würde des Königs Frieden nicht brechen. Nein, gefahren bin ich mit ihnen nicht, nein, nein. Aber ich habe Dinge von ihnen gehört, die wahr sein mögen. Ich habe gehört, daß die Bukaniere 66
große Narren sind. Sie gewinnen bei ihren Plünderungen große Schätze und werfen alles dann den Wirten und Bordellbesitzern von Tortuga und Goaves hin, so wie Kinder Sand wegwerfen, wenn sie genug damit gespielt haben. Solche Narren !« »Hat denn keiner von ihnen jemals eine Stadt erobert ?« fragte Henry. »Ein Dorf haben sie mal ab und zu weggeschnappt, aber für solche Unternehmungen haben sie keine Führer.« »Ich meine eine große Stadt mit vielen Schätzen.« »Nein, das haben sie nie fertiggebracht. Sie sind Kinder, sage ich dir – starke und tapfere Kinder.« »Könnte man nicht, wenn man sorgfältig überlegte und plante, eine spanische Stadt einnehmen ?« »Hoho !« lachte der Koch. »Willst du vielleicht Bukanier werden ?« »Ich meine, wenn man alles sorgfältig vorbereitete ?« »Ich will dir was sagen. Wenn es einen Bukanier gäbe, der einen Plan machen könnte, sorgfältig oder nicht, wäre die Sache schon möglich, aber solche Bukaniere gibt es nicht. Sie sind kleine Kinder, die wie der Teufel kämpfen und anständig sterben können – aber Narren. Für ein Glas Wein bohren sie ein Schiff in Grund und Boden, wo sie doch das Schiff verkaufen könnten.« »Wenn man sich alles sorgfältig überlegte, alle Möglichkeiten in Betracht zöge und die richtigen Männer auswählte, dann müßte es doch –« »Ja, dann müßte es gehen.« »Da war einer namens Pierre le Grand, der kein Narr war.« »Ja, aber Pierre nahm ein reiches Schiff und machte sich dann nach Frankreich davon. Er war ein waghalsiger Spieler, aber kein kluger Mann. Doch vielleicht kehrt er eines Tages an die Küste zurück und verliert dann alles und seinen Kopf dazu.« 67
»Es wäre also möglich«, sagte Henry mit langsam reif gewordener Bestimmtheit, »wenn man nur die Sache sorgfältig überlegte und plante.« Nach ein paar Tagen kamen sie in Landnähe. Auf der Kante des weiten Kreises saß eines Morgens der bleiche Geist eines Berges, Baumstämme und Zweige schwammen vorbei, und Landvögel kamen ihnen entgegengeflogen und ruhten sich in der Takelage aus. Sie waren in die Heimat des Sommers gekommen, von wo aus er jährlich die nördlichen Gegenden besucht. Bei Tage war die Sonne eine glühende Messingzimbel, der Himmel um sie wie ausgewaschen und totenbleich. Nachts schwammen die großen Fische um das Schiff und ließen weitgeschweifte Furchen blassen Feuers hinter sich. Der das Wasser zum Aufschäumen bringende Bug wühlte Millionen fliegender Diamanten auf. Das Meer war ein runder, leicht gekräuselter, mit einer seidenen Haut bedeckter See. Wenn das Kielwasser langsam, ganz langsam verebbte, legte eine angenehme Hypnose die Gehirntätigkeit brach. Es war, als sähe man in ein Feuer. Man sah nichts, aber man konnte nur mit äußerster Willensanstrengung die Augen bewegen, und schließlich versank man in einen träumerischen Zustand, obschon man nicht schlief. Auf den tropischen Meeren liegt ein so tiefer Frieden, daß man ihn nicht mehr ergründen kann. Man will an kein Ziel mehr kommen, sondern nur so dahingleiten, aus dem Reich der Zeit hinaus. Monate und Jahre schien das Schiff schon so dahinzufahren, aber die Besatzung zeigte keine Ungeduld. Die Matrosen taten ihre Arbeit und lagen dann in einem sonderbaren glücklichen Dämmerzustand an Bord. Eines Tages schwamm eine kleine Insel im Meer, die aussah wie eine Heudiele und grün wie ein sprießendes Gerstenfeld. Sie war dicht bedeckt mit einem wilden, durcheinanderwuchernden Wachstum, Ranken und Schlingpflanzen und ein paar dunklen 68
Bäumen. Henry glaubte in ein Zauberland zu blicken. Sie fuhren an dieser Insel vorbei und an vielen anderen ähnlichen, bis das Schiff schließlich in der Finsternis eines früben tropischen Morgens in den Hafen von Barbados fuhr. Die Anker klatschten ins Meer und zogen die rasselnden Trossen mit. An der Küste war dasselbe salatgrüne Dickicht wie auf den kleinen Inseln, aber weiter landeinwärts sah man Plantagen mit schnurgeraden Wegen und weiße Häuser mit roten Dächern, noch weiter leuchtete der rote Boden wie große Wunden aus dem Dickicht. Und ganz weit hinten erhoben sich scharf und hart die Berge. Sie sahen aus wie große, graue Zähne. Kleine aus einem Baumstamm geschnitzte Kanus schwärmten um das Schiff und führten saftige Früchte und an den Füßen gebundenes Geflügel mit. Die Indianer kamen, um zu verkaufen oder zu kaufen oder alles zu stehlen, was das Schiff enthielt. Glänzend dunkelhäutige Männer sangen beim Rudern in langsamem, rhythmischem Takt. Henry drückte sich gegen die Reling und war von dem neuen Land überwältigt. Es überstieg alle seine Hoffnungen. Der Anblick füllte seine Augen mit Tränen, so daß er sich beinahe schämte. In der Nähe stand Tim, aber er blickte traurig und niedergeschlagen drein. Schließlich kam er herbei. »Es drückt mich, einem so netten Jungen wehzutun, der mir ein Frühstück spendiert hat«, sagte er. »Es drückt mich so, daß ich nicht schlafen kann.« »Aber du hast mir doch nicht wehgetan. Du hast mich ja hierher nach Westindien gebracht, wohin ich so sehnlich wollte.« »Ach«, sagte Tim kummervoll, »wenn ich nur so eine Religion hätte wie der Alte, dann könnte ich sagen : ›Es ist Gottes Wille‹ – und brauchte dann nicht mehr dran zu denken. Und wenn ich ein Geschäft oder eine Stellung hätte, dann könnte ich gut daherreden, wie der Mensch leben muß. Aber ich habe 69
überhaupt keine Religion in mir, außer daß ich mal im Sturm ein Ave Maria oder ein Miserere domine sage. Und was meine Stellung betrifft, so bin ich leider nur ein armer Seemann aus Cork, und es drückt mich verdammt, einem Jungen wehzutun, der mir ein Frühstück bezahlte, Wo ich ihm doch ganz fremd war.« Er sah nach einem langen, näherkommenden Kanu, das von sechs Kariben gerudert wurde. Achtern saß ein kleiner, nervöser Engländer, dessen Gesicht mit den Jahren nicht lederbraun, sondern immer röter geworden war, so rot, daß die dünnen Äderchen über der Haut zu liegen schienen. Die kleinen blassen Augen des Mannes zeigten das Flattern ewiger Unschlüssigkeit und Ziellosigkeit. Sein Kanu stieß an die Schiffswand. Er kletterte langsam an Bord und ging geradenwegs auf den Kapitän zu. »Da haben wir’s nun«, rief Tim. »Du wirst nicht zu schlecht von mir denken, Henry, nicht wahr ? Du siehst doch, wie arg es mir ist.« »Kombüsenjunge !« brüllte der Kapitän. »Heda, Kombüsenjunge ! Morgan ! Achtern !« Henry ging zum Hinterschiff, wo der Engländer und der Kapitän standen. Er war sehr erstaunt, als der kleine Pflanzer sorgfältig ihm die Arme und Schultern befühlte. »Zehn könnte ich geben«, sagte er zu dem Kapitän, »Zwölf !« erwiderte der Kapitän barsch. »Meinen Sie wirklich, daß er so viel wert ist ? Sie müssen bedenken, ich bin kein reicher Mann, und ich dachte mir ›zehn‹ –« »Nun, so sollen Sie ihn für elf haben, aber so wahr mich Gott sieht, er ist mehr wert. Sehen Sie nur, wie er gewachsen ist und was für breite Schultern er hat. Der geht nicht wie so viele andere um die Ecke. Er ist mehr wert, aber Sie sollen ihn für elf haben.« »Nun, wenn Sie wirklich meinen«, sagte der Pflanzer zögernd 70
und begann, Geld aus seinen Taschen zu ziehen. Es kam noch mehr heraus als Geld : verhedderte Bindfäden, Kreidestücke, ein Gänsekiel und ein zerbrochener Schlüssel. Der Kapitän zog ein Papier aus der Tasche und zeigte es dem Knaben – einen Arbeitskontrakt für fünf Jahre. Henry Morgan stand als Unterschrift darunter, und unten in der Ecke war das amtliche Siegel. »Aber ich will mich nicht verkaufen lassen«, rief Henry. »Dazu bin ich nicht hergekommen. Ich will mein Glück machen und Seemann werden.« »Das sollst du auch«, erwiderte der Kapitän freundlich, als gäbe er seine Erlaubnis dazu. »Nach fünf Jahren. Nun geh mit dem Herrn mit und heule uns hier nichts vor. Das wäre ein schönes Geschäft für einen Kapitän, wenn er mir nichts dir nichts Jungen mitnähme, die nach Westindien fahren wollen. Tu deine Arbeit und vertrau auf Gott, dann wird alles gut für dich ausgehen. Für eine starke, doch demütige Seele ist Erfahrung immer eine gute Lehre.« Er stieß Henry sanft auf dem Deck vor sich her. Schließlich fand der Junge seine Stimme wieder. »Tim !« rief er, »Tim ! Sie verkaufen mich, Tim. Hilf mir, Tim !« Aber es kam keine Antwort. Tim hörte die Rufe, und er schluchzte in seiner Hängematte wie ein geschlagenes Kind. Als Henry vor seinem neuen Herrn die Schiffswand hinunterkletterte, fühlte er gar nichts. Die Kehle war ihm eng, aber sonst spürte er kein besonders heftiges Gefühl – nur eine schwere» breiige Dumpfheit.
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III So wurde Henry Morgan kraft eines weißen Papiers, das ihn mit Körper und Seele auf Gnade und Ungnade dem Pflanzer James Flower auslieferte, in Barbados ansässig. James Flower war kein harter Mann, und sicherlich war er kein sehr gescheiter Mann. Sein ganzes Leben lang hatte er Ideen nachgejagt, irgendwelchen Ideen, die er am liebsten selbst erzeugt hätte. Er wäre gern mit den Ideen schwanger gegangen, um sie in sich zu warmem, zappelndem Leben zu bringen und sie schließlich zum Erstaunen der Welt ans Tageslicht zu fördern. Sie würden dann losrasen, so wie Steine einen langen Abhang hinunterpoltern, und eine Lawine allgemeiner Bewunderung auslösen. Aber die Ideen blieben leider aus. Sein Vater war ein wackerer englischer Pfarrer gewesen, der wackere Predigten schrieb. Sie wurden sogar veröffentlicht, fanden aber nur wenige Käufer. Seine Mutter schrieb Gedichte, die etwas wie ein Auszug der Predigten waren. Ihre Verse wurden als Anhang dem Lehrbuch starrer Orthodoxie beigegeben. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter hatten Ideen. Beide waren auf einem kleinen Gebiet schöpferisch. In solcher Atmosphäre wuchs James Flower auf. »Ich muß jetzt zu meinem Verleger gehen, Helen.« »Aber William, heute morgen, als ich mich kämmte, kam mir plötzlich die Eröffnung von etwas ganz Herrlichem – ein glänzender Einfall. Er muß mir direkt von Gott eingegeben sein. Ich glaube, ich werde ihn zu Doppelreimen verarbeiten, Großartig ! Und er paßt genau zu deinen herrlichen Worten über die christliche Demut.« »So ? Schön. Aber ich muß jetzt zu meinem Verleger, um zu sehen, wie die Predigten, gehen. Ich habe ein Exemplar an den Erzbischof gesandt, und er hat vielleicht darüber gesprochen. 72
Das würde einen regen Absatz zur Folge haben.« – Ja, sie waren Leute, die Ideen hatten, und sie schüttelten oft über ihren stumpfsinnigen Sohn den Kopf. Er hatte in ehrfürchtiger Scheu zu ihnen aufgeblickt, hatte sich vor ihrer erhabenen Größe gefürchtet und sich geschämt Und so faßte er schon früh in seinem Leben den Entschluß, Ideen zu haben. Er hatte schrecklich viel gelesen. So fiel ihm auch König Jakobs Verteidigung der Zauberei‹ in die Hände, und er machte sich daran, die in diesem Buche aufgestellten Behauptungen zu beweisen. Mit Hilfe alter Zauberformeln und eines schwarzen Trunkes, der eine Anzahl übelriechender Bestandteile und eine große Menge Haschisch enthielt, versuchte er, von dem Dach seines Hauses zu fliegen. Während seine gebrochenen Beine heilten, stieß er auf Seots ›Enthüllung der Zauberei‹. Das System des Descartes erregte damals großes Aufsehen unter den Gelehrten, und auch James Flower beschloß, alle Philosophie auf ein Grundprinzip zurückzuführen. Er legte Papier und eine Anzahl schöner Federn auf den Tisch, aber er konnte nie auf sein Prinzip kommen. »Ich denke, also bin ich.« Aber dies führte ihn im Kreise herum, und er gelangte an kein Ziel. Dann schloß er sich der neugegründeten Schule Bacons an. Durch dauernde Experimente verbrannte er sich die Finger. Er versuchte Klee und Gerste zu kreuzen und fing im Bestreben, irgend etwas zu entdecken, zahllose Insekten. Aber er fand einfach nichts. Da er ein von einem Onkel ererbtes mäßiges Vermögen besaß, erstreckten sich seine Experimente auf viele Gebiete. So ging er auch eines Tages daran, einige der in dem Buch ›Die augenblicklichen und dauernden Wirkungen alkoholischer Flüssigkeiten‹ aufgestellten phantastischen Theorien nachzuprüfen. Mitten in seinen Forschungen verließ ihn plötzlich der Geist der Induktion, und er warf ohne Warnung oder Ursache einem Mitglied der königlichen Leibwache einen 73
Blumentopf an den Kopf. Dieses war – wenn er es nur gewußt hätte ! – die einzige selbständige Idee seines Lebens. Die Sache wurde durch Vermittlung eines mit seiner Mutter verwandten Erzdekans gütlich beigelegt. James Flowers kleines Vermögen wurde in einer Pflanzung auf Barbados angelegt. Offenbar paßte er nicht gut zu orthodoxen Lehren und orthodoxen Reimen. So war er auf der Insel alt geworden. Er besaß die schönste Bibliothek in Westindien und konnte in weitem Umkreise als der gelehrteste Mann gelten. Aber seine Gelehrsamkeit war Stückwerk und ohne Plan und Ziel. Er hatte das Gelernte nicht in sich aufgenommen und war nicht imstande, die einzelnen Tatsachen logisch miteinander zu verknüpfen. Sein Geist war eine trübe Masse unverbundener Tatsachen und Theorien. In seinem Gehirn wie auf seinen Bücherbrettern standen Caesar, Demokrit und eine Abhandlung über Urzeugung Schulter an Schulter. James Flower, der um jeden Preis ein schöpferischer Geist sein wollte, wurde ein stiller, freundlicher alter Herr, der in allen Dingen danebentappte und auch als Pflanzer keinen Erfolg hatte. In seinen späteren Jahren hatte er begonnen, Überzeugungen für Ideen zu halten. Wenn jemand irgendeinen Glauben laut genug betonte, erschrak James Flower, denn er sagte sich : Hier ist eines jener übernatürlich begabten Wesen, die jenes Feuer, das mir gänzlich abgeht, zum Lodern bringen.
IV Es gab nur wenige Weiße auf der großen grünen Pflanzung. Es waren armselige Wichte, Strafgefangene, die ein längst vergessenes Vergehen abbüßen mußten. In ihren Körpern lag das Fieber immer auf der Lauer, schlummerte dann und wann wohl ein wenig ein, wenn es sich ausgetobt hatte, aber immer wieder 74
konnte es voll Bosheit erwachen. Auf den Feldern kneteten sie den Boden mit den Fingern, und mit den Jahren erlosch das Licht in ihren Augen, gebückt schlichen sie einher, und die Verblödung hüllte ihr Hirn mit dicken Spinngeweben ein. Sie sprachen ein furchtbares Cockney-Englisch, zu dem die Neger von der Goldküste und die einheimische karibische Bevölkerung aus ihrer Sprache einige Brocken beitrugen. Wenn diese Männer schließlich aus der Sklaverei entlassen wurden, so wanderten sie eine Zeitlang traurig umher und sahen sehnsüchtig zu, wie die anderen arbeiteten. Dann unterzeichneten sie entweder neue Arbeitskontrakte oder schweiften wie Tiger umher, die aus einem Käfig ausgebrochen sind. Der Aufseher hatte zu diesen Leuten gehört, und jetzt, wo er seinen ehemaligen Kameraden Befehle erteilte, ließ er sie dieselben Qualen erleiden, die er selbst durchgemacht hatte. James Flower brachte Henry an die Küste. Das stille Leid des Jungen rührte den Pflanzer irgendwie. Es war ihm bis jetzt nie der Gedanke gekommen, daß seine Sklaven auch Menschen waren. Er war blind den Anregungen des schlauen, älteren Cato über den Umgang mit Sklaven gefolgt. Aber hier war einer, der offenbar etwas Menschliches an sich hatte und möglicherweise aus guter Familie stammte. Er hatte geschrien, er wolle kein Sklave sein. Die anderen kannten bei der Landung schon ihr Los und hatten eine verbissene Wut in sich, die ihnen auf dem Bock ausgetrieben werden mußte. »Laß dir das nicht so zu Herzen gehen, Kind«, sagte der Pflanzer. »Du kommst ja sehr jung hierher. In ein paar Jahren wirst du ein starker Mann sein.« »Aber ich wollte doch ein Bukanier werden«, sagte Henry verdrossen. »Ich bin auf See gegangen, um mein Glück und mir einen Namen zu machen. Und wie soll ich das fertigbringen, wenn ich als Sklave auf den Feldern schuften muß ?« 75
»Das brauchst du nicht, denn ich habe etwas anderes mit dir vor. Ich wollte dich haben – ich wollte einen Jungen haben, der mir zu Hause Gesellschaft leistet, denn ich werde langsam alt. Ich möchte einen – nun, so etwas wie einen Gefährten, der mit mir spricht und mir zuhört. Die anderen Pflanzer kommen zu mir und trinken meinen Wein, aber, ich glaube, wenn sie fort sind, lachen sie über mich und meine Bücher – meine lieben Bücher. Und so wirst du vielleicht abends bei mir sitzen, und dann werden wir über die Dinge reden, die in den Büchern stehen. Du siehst gerade so aus, als wäre dein Vater ein Gentleman. Aber wir müssen uns jetzt eilen, denn wir haben heute einen zum Hängen, und da müssen wir dabeisein. Ich weiß zwar nicht, was der Kerl getan hat, aber es langt sicher. Was sagt doch – ei, wie heißt er doch noch mal ? Irgendwo habe ich es gelesen – ›Der Hauptwert einer heftigen Bestrafung liegt in dem Schrecken jener, die dieselbe Strafe treffen könnte.‹ Ja, ich halte es für gut, wenn man dann und wann einen hängt. Es ist zwar teuer, bewirkt aber, daß sich die anderen gut betragen. Aber mein Aufseher nimmt mir das alles ab. Ich glaube, er hat richtigen Spaß daran.« Er führte den Knaben auf einen Platz, der von dicht nebeneinanderstehenden strohbedeckten Lehmhütten umgeben war, so daß er eine geschlossene Plaza bildete. In der Mitte des Platzes erhob sich wie ein schrecklicher Fetisch ein großer Galgen. Er war aus schwarzem Holz gefertigt und so lange mit Öl poliert worden, bis er stumpf in der Sonne glänzte. Er war so auf den Platz gestellt, daß kein Sklave aus seinem Hüttenloch schauen konnte, ohne dieses gräßliche schwarze Ding, das auch für ihn das Ende bedeuten konnte, zu erblicken. Es war des Aufsehers Werk. Mit eigenen Händen hatte er das schwarze Holz so lange gerieben, bis es glänzte. Er stand oft vor ihm, den Kopf zur Seite geneigt, wie ein Künstler, der sein eben fertig gewordenes Werk betrachtet. 76
Der Pflanzer und der junge Morgan setzten sich. Die Sklaven wurden auf dem Platz zusammengetrieben. Henry sah eine nackte schwarze Gestalt, die sich am Ende eines Seiles krümmte und wand, während die Neger sich am Boden hin- und herwiegten und Klagelaute von sich gaben. Die weißen Sklaven bissen die Zähne zusammen und zischten Flüche, um nicht laut aufzuschreien. Die Kariben hockten ruhig da und sahen dem Vorgang ohne besonderes Interesse und ohne Furcht zu. Genauso hätten sie vor dem Feuer hocken und zusehen können, wie ihr Essen kochte. Als alles vorüber war, und das Opfer schlaff an seinem krummen Hals hing, bemerkte der Pflanzer, daß Henry schluchzte. »Ja, ja, das erstemal nimmt es einen arg her. Als ich es zum erstenmal gesehen hatte, konnte ich eine ganze Zeitlang nicht schlafen. Aber wenn man erst mal fünf – zehn – ein Dutzend auf diese Weise hat enden sehen, denkt man sich nicht mehr dabei, als wenn man ein Huhn herumkugeln sieht, dem man den Hals umgedreht hat.« Henry konnte das Schluchzen noch immer nicht unterdrücken. »Ich kann dir in den Werken Holmarons über die Praxis der Inquisition eine Abhandlung über deinen Zustand zeigen. ›Wenn man zum erstenmal einen Menschen leiden sieht, empfindet man das als unnatürlich‹, sagte er, ›weil man im täglichen Verkehr meistens nur mit zufriedenen, satten Bürgern zu tun hat. Aber wenn man eine Anzahl Folterungen gesehen hat, findet man sie ganz normal, und normale Menschen finden dann mehr oder weniger Gefallen an ihnen.‹ Erinnere mich, daß ich dir die Stelle gelegentlich zeige. Gefallen habe ich allerdings nie an der Sache gehabt.« In den folgenden Monaten saßen die beiden abends in den schwarzen Tiefen der Veranda, und James Flower füllte dem jungen Henry Morgan mit seinen zusammenhanglosen Tatsa77
chen die Ohren. Henry hörte gespannt zu, denn oft sprach der Pflanzer von ehemaligen Kriegen und der in ihnen angewandten Taktik. »Steht das alles in den Büchern da an den Wänden ?« fragte Henry eines Abends. »Alles und noch viele tausend andere Dinge mehr.« »Würden Sie mich wohl die Sprachen lehren, in denen diese Bücher geschrieben sind ?« fragte Henry bald darauf. »Es müssen Dinge drin stehen, die ich gern selbst lesen möchte.« James Flower war entzückt. Da war endlich mal einer, dem er seinen angesammelten Wissensstoff mitteilen konnte, das gab ihm eine größere Befriedigung als er je empfunden hatte. Er gewann den jungen Sklaven lieb. »Du sollst alles von mir lernen«, rief er begeistert. »Latein und Griechisch und, wenn du willst, auch noch Hebräisch.« »Ich will die Bücher lesen, die von Krieg und Schiffahrt handeln«, sagte Henry. »Besonders die Kriege, von denen Sie mir erzählt haben, möchte ich sehr genau kennenlernen, denn eines Tages werde auch ich Bukanier sein und eine spanische Stadt einnehmen.« Er lernte die Sprachen sehr rasch, weil er die Bücher lesen wollte. James Flower tauchte tiefer denn je in seinen Büchern unter, denn er gefiel sich sehr in seiner neuen Rolle als Lehrer. Mitten in seiner Beschäftigung sagte er dann wohl : »Henry, sage dem Aufseher, er soll die Melasse an den Strand bringen lassen. Ein Kapitän will sie kaufen.« Oder auch : »Henry, gibt es morgen etwas Dringendes für mich zu tun ?« »Es ist ein großes Schiff aus den Niederlanden angekommen, Mr. Flower. Wir brauchen unbedingt Sensen. Die Kariben haben fast alle unsere alten Sensen gestohlen, um Schwerter daraus zu machen. Mit diesen Kariben werden wir eines Tages Schwierigkeiten haben.« 78
»Nun, dann sieh zu, daß die Sensen herkommen. Ich setze mich höchst ungern der Sonne aus. Und laß die Indianer bestrafen, wenn sie uns bestehlen. Erledige das, bitte.« So lernte Henry allmählich, wie man eine Plantage leitet. Nach Verlauf eines Jahres gewann Henry eines Abends James Flowers vollste Anerkennung. Wenn diese auch nicht sehr freudig gegeben wurde, so verlor er jedoch dadurch die Zuneigung des Pflanzers nicht. »Haben Sie über die Kriege des Altertums nachgedacht ?« fragte Henry. »Ich habe die Kriegstaten Alexanders, Xenophons und Caesars gelesen. Da ist mir der Gedanke gekommen, daß Schlachten und Taktik – das heißt erfolgreiche Taktik – nichts weiter sind als Überlistungen, wenn man dafür auch allerlei großsprecherische Namen hat. Waffen und eine genügende Anzahl Truppen sind natürlich nötig, aber in Wirklichkeit wird der Krieg durch den Mann gewonnen, der hinten sitzt. Er kommt mir vor wie ein Falschspieler, der seinen Gegner durch einen besonderen Kunstgriff übertölpelt. Ist Ihnen das nicht aufgefallen, Mr. Flower ? Jeder, der sich in die Denkweise der Generäle so hineinversetzen kann wie ich mich in die der Sklaven, kann Schlachten gewinnen. So einer brauchte nur das nicht zu tun, was man von ihm erwartet. Ist das nicht das ganze Geheimnis der Taktik, Mr. Flower ?« »Darauf bin ich bis jetzt noch nicht gekommen«, sagte James Flower ein klein wenig eifersüchtig. Die ehrwürdige Scheu, die er immer vor Leuten mit Ideen gehabt hatte, erstreckte sich nun auch auf Henry. Aber der Pflanzer tröstete sich mit dem Gedanken, daß schließlich er als Lehrer diese Ideen geweckt hatte. Zwei Jahre nach Henrys Ankunft wurde der Aufseher aus der Sklaverei entlassen. Da er so lange Zeit unselbständig gewesen war, vertrug er die Freiheit nicht. Er schnappte über, gebärdete sich wie ein tollwütiger Hund und griff die Vorübergehenden 79
an. Nachts überkam ihn die Raserei. Er rollte sich unter seinem Galgen auf dem Boden. Entsetzt sahen die Sklaven, wie ihm blutiger Schaum vor dem Mund stand. Schließlich erhob er sich mit zerrauften Haaren und irren Augen, nahm eine Fackel und lief auf die Felder. Henry Morgan schoß ihn nieder, als er mit der flackernden Flamme in ein dichtes Zuckerrohrfeld hineinlief. »Wer kennt die Arbeit so gut wie ich, und wem können Sie mehr vertrauen, Mr. Flower ?« fragte Henry. »Ich habe so viel aus Büchern und eigener Beobachtung gelernt, daß diese Pflanzung unter meiner Aufsicht hundertmal mehr Gewinn abwerfen wird als jetzt.« Auf diese Weise wurde er nicht nur Aufseher, sondern viel mehr. Henry ließ den Galgen von dem Platz inmitten der Hütten entfernen und anderswo aufstellen. Von jetzt an wurde das Hängen insgeheim in der Nacht vorgenommen. Er erkannte aus eigener Überlegung, daß das Unbekannte nie das Alltägliche werden kann und daß man den Sklaven einen weit größeren Schreck einjagen konnte, wenn man sie bei dem Vollzug der Strafe fernhielt, als wenn man die Bestrafung bei hellem Tage vor aller Augen vornahm. Henry hatte im Umgang mit den Sklaven viel gelernt. Er wußte, daß sie nie erfahren durften, was er dachte, denn dann hatten sie ihn, obschon es kaum zu sagen war, wie das zuging, in Händen, und es war schwer, ein solches Joch wieder abzuschütteln. Er mußte seine Untergebenen kalt, unpersönlich, ja beleidigend behandeln. Mit wenigen Ausnahmen würden sie ein so schroffes Auftreten als Zeichen seiner Überlegenheit betrachten. Man beurteilte ihn gewöhnlich nach dem äußeren Schein, und er konnte fast jede Rolle spielen. Wenn jemand glänzend gekleidet war, hielten ihn alle für 80
reich und mächtig und behandelten ihn entsprechend. Wenn er etwas mit Überzeugung sagte, glaubten fast alle, er wäre davon überzeugt. Aber das Wichtigste, was er gelernt hatte, war dies : Wenn er in neun Fällen vollständig ehrlich zu Werke ginge, dann könnte er beim zehnten Mal so viel stehlen, wie er wollte, und niemand würde Verdacht gegen ihn schöpfen, wenn er in den neun Fällen genügend die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte. Ein in einer Kiste unter seinem Bett verborgener, ständig wachsender Haufen von Goldstücken lieferte den Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht. Er befolgte genau das, was er gelernt hatte. Er gewährte nie einem Menschen den geringsten Einfluß auf sich, noch Einsicht in seine Beweggründe, seinen Besitz, seine Fähigkeiten und seine Schwächen. Da die meisten Menschen nicht an sich selbst glaubten, so konnten sie auch nicht an einen anderen glauben, der nach ihrer Meinung genauso war wie sie. Diese Leitsätze seines Verhaltens zog er allmählich aus seinem Leben, bis er Herr der Pflanzung war, bis James Flower sich kläglich auf seinen Rat und seine Vorschläge stützte, bis die Kariben, Neger und weißen Sträflinge ihn haßten und fürchteten, ohne sein Leben irgendwie beeinflussen oder ihm auf irgendeine Weise schaden zu können. James Flower war überglücklich – glücklicher als er je gewesen war –, denn dieser junge Mann hatte ihm die drückende Last der Pflanzung von den Schultern genommen. Er brauchte sich um Feldbestellung und Bodenbearbeitung nicht mehr zu kümmern. Mehr und mehr versank er in seinen Büchern. Er las jetzt, da er ein alter Mann wurde, immer wieder dieselben Bücher, ohne es zu merken. Manchmal war er leicht gereizt, denn jemand hatte den Rand mit Notizen beschmiert oder Eselsohren hineingemacht. 81
Henry Morgan hatte eine große Pflanzung und eine große Macht erworben. Unter seiner Leitung wurde die Erde fruchtbar. Sie gab viermal so viel her wie früher. Die Sklaven arbeiteten fieberhaft unter Peitschenhieben, aber diese Hiebe hatten nichts Persönliches an sich. Der ehemalige Aufseher war ein Sadist gewesen, aber Henry Morgan war nicht grausam. Er war nur erbarmungslos. Er sorgte dafür, daß sich die Räder seines Betriebes schneller drehten. Man konnte nicht gut zu einem Ketten- oder Schwungrad sein, und genausowenig konnte sich Morgan vorstellen, daß man Sklaven gütig behandeln sollte. Henry stampfte Geld aus dem Boden, und ein Teil dieses Geldes diente dazu, den Schatz in der Kiste zu vermehren. Wenn man das Zuckerrohr verkaufte oder Vieh zukaufte, fiel immer ein bißchen ab. Das war kein Diebstahl, sondern nur die Anlegung eines Sicherungsdepots. Der kleine Haufen Goldstücke wuchs und wuchs der Zeit entgegen, wo Henry Morgan auf Freibeuterfahrt gehen und eine spanische Stadt einnehmen würde.
V Henry hatte jetzt drei Jahre abgedient und war groß und stark, obschon er erst achtzehn war. Sein krauses schwarzes Haar ringelte sich dichter um den Kopf. Sein Mund hatte durch den Umgang mit den Sklaven einen festen, harten Zug bekommen. Wenn er diese drei Jahre überblickte, konnte er zufrieden mit sich sein, aber seine Augen hatten noch immer die Eigenart, in die Ferne und über die Gegenwart hinauszublicken. Wie eine rote Linie lief durch sein Wachen und Träumen ein heißer, unerfüllter Wunsch. Das Meer war seine Mutter und seine Geliebte, es war auch seine Göttin, die auf ihn wartete, um ihm Befehle zu erteilen und ihn zu ihrem Dienst willig und bereit zu finden, 82
bedeutete doch sogar sein Name in der alten keltischen Sprache einen Seefahrer. Die Schiffe lockten ihn jetzt immer mehr. Sein Herz fuhr auf jedem vorüberkommenden Handelsschiff mit. Er hatte alles, was James Flowers Bücher über die Schifffahrtskunst enthielten, genau studiert. Manchmal kreuzte er in der kleinen Schaluppe der Pflanzung in den Küstengewässern. Aber das war nach seiner Meinung nur ein Kinderspiel, das ihn nicht zu einem erfahrenen Seemann machen konnte. Er mußte ernstlich daran denken, ein großes Schiff führen zu lernen, wenn er bald Bukanier werden und eine spanische Stadt einnehmen wollte. Und so sagte er eines Abends : »Da ist eine Sache, die ich gern mit Ihnen besprechen möchte, Sir.« James Flower sah von seinem Buch auf und lehnte den Kopf zurück. »Wenn wir ein Schiff hätten, das unsere Erzeugnisse nach Jamaika bringen könnte«, fuhr Henry fort, »würden wir einen großen Teil unserer Frachtkosten sparen. Der Anschaffungspreis eines solchen Schiffes würde durch diese Ersparnisse bald wieder hereinkommen. Wir könnten dann auch die Erzeugnisse anderer Pflanzungen zu einem billigeren Frachtsatz mitnehmen, als die gewöhnlichen Handelsschiffe verlangen.« »Aber wo könnte man ein solches Schiff erwerben ?« fragte James Flower. »Es liegt gerade ein Zweimaster im Hafen, und –« »Dann kauf ihn doch. Du verstehst mehr von solchen Dingen als ich. Hier ist übrigens eine interessante Theorie über die Einwohner des Mondes. ›Sie können menschlichen Wesen ganz unähnlich sein‹, las er. ›Ihr Hals könnte –‹.« »Es würden etwa siebenhundert Pfund erforderlich sein, Mr. Flower.« 83
»Was sind siebenhundert Pfund ? Du scheinst nicht mehr so gut achtzugeben wie früher, Henry. Hör dir mal diesen Absatz an, er ist ebenso unterhaltend wie lehrreich –« Henry kielholte das Schiff, und als er es abgekratzt und angestrichen hatte, nannte er es »Elisabeth« und machte es seefertig. Er hatte, wie man von einem Reiter sagt, eine »gute Hand«, ein warmes Gefühl für die Persönlichkeit seines Schiffes. Die Navigation mußte er natürlich noch lernen, aber schon jetzt ging etwas von dem Geist des Schiffes in seine Seele über, und ein Teil von ihm ging in das Schiff über. Es war eine beständige Liebe, denn beide verstanden die Eigenheiten des Meeres. Am Zittern des Decks und an der Art, wie das Steuerrad auf den sanften Druck seiner Hand reagierte, erkannte er instinktiv, wie nahe er es an den Wind bringen konnte. Er glich einem Mann, der seinen Kopf an die Geliebte schmiegt und an ihren Atemzügen die Stärke ihrer Leidenschaft erkennt. Jetzt hätte er in diesem festen Schiff von Barbados fliehen und Seeräuber werden können, aber noch war es nicht an der Zeit. Er hatte noch nicht genug Gold aufgehäuft und er war noch zu jung. Darüber hinaus hatte er James Flower liebgewonnen und schämte sich, ihn zu enttäuschen. – Er gab sich eine Zeitlang zufrieden. Die Gier, die allen Männern in mehr oder minder großem Grade eigen ist – einige suchen die Aufregungen des Kartenspiels, andere den Rausch, wieder andere befriedigen sie bei Frauen –, war in Henry Morgan nur durch das Schwanken des Decks und das Knattern der Segel zu stillen. Ihn berauschte der aus einer schwarzen, drohenden Wolkenbank stoßende Wind, an ihm erprobte er seine Kräfte, ihn fühlte er wie eine Liebkosung. Er segelte nach Jamaika, setzte die Erzeugnisse der Plantage ab, trieb sich im Inselgewirr des Karibischen Meeres herum. Die Einnahmen aus der Pflanzung stiegen. Henrys Schatzkasten wurde langsam schwer. 84
Aber nach einigen Monaten ergriff ihn eine dumpfe, quälende Sehnsucht, die er schon als kleiner Junge gehabt hatte, nur lebhafter und stärker. Die »Elisabeth« hatte zwar seine alte Gier gestillt, dafür aber eine neue erzeugt, Es war die Sucht nach Beute, wie er selbst glaubte, nach Seide und Gold und Bewunderung, und nach diesen Dingen sehnte er sich jetzt mehr denn je. Henry ging zu den braunen und schwarzen Frauen in den Sklavenhütten, um diesen Hunger zu betäuben, wenn er ihn auch nicht stillen konnte. Sie duckten sich bereitwillig, bestrebt, ihm zu gefallen und seine Gunst zu erlangen, in der Hoffnung, sie könnten mehr zu essen oder einen Krug Rum als Geschenk bekommen. Jedesmal ging er von ihnen angeekelt fort, spürte aber auch Mitleid mit ihnen, weil sie sich in der Hoffnung auf so armselige Dinge prostituierten. Auf dem Sklavenmarkt in Port Royal fand er dann Paulette und kaufte sie als Dienstmädchen. Sie war schlank und doch reizvoll gerundet, gleichzeitig wild und sanft. Eine arme kleine Sklavin, in der Blut aus vielen Nationen zusammengeflossen war, spanisches, karibisches, französisches und Negerblut. Von dieser bunt gescheckten Schar ihrer Vorfahren hatte sie als Erbschaft mitbekommen : Haare, einem Sturzbach schwarzen Wassers ähnlich, Augen, blau wie das Meer, aber orientalisch geschlitzt, und eine Haut wie gleißendes Gold. Sie war eine sinnliche, leidenschaftliche Schönheit, hatte Glieder, die wie goldene Flammen leuchteten. Ihre Lippen konnten sich krümmen wie kleine, heftig schlagende Schlangen oder aufblühen wie rote Blumen. Sie war ein kleines Kind, aber alt an Lebenserfahrung. Sie war eine Christin, verehrte aber Baumgeister und sang leise Hymnen zu Ehren der Großen Schlange. Für Henry war sie ein vollkommenes, eigens für das Vergnügen gezeugtes Wesen, ein erstklassiger Gegenstand für sexuelle Gelüste. Sie glich jenen weiblichen Nachtalben, die 85
auf den Flügeln des Schlafes kommen – seelenlose Körper, Verkörperungen sinnlicher Träume. Er baute für sie ein weinumranktes, mit Bananenblättern gedecktes Häuschen, und dort ergötzte er sich an Liebesspielen. Zuerst fühlte Paulette nur Dankbarkeit, weil er ihr ein leichtes, bequemes Leben verschafft hatte, in dem die Arbeit nur eine geringe Rolle spielte, aber dann verliebte sie sich närrisch in ihn. Sie beobachtete sein Gesicht wie ein flinker Terrier, der je nach der Laune seines Herrn in wilder Freude hochspringt oder sich kriecherisch im Staube duckt. Wenn Henry ernst oder zerstreut war, fürchtete sie sich. Dann kniete sie vor der kleinen Elfenbeinfigur eines Buschgottes oder betete zur Mutter Gottes. Manchmal stellte sie der Jun-JoBiene, die die Männer treu erhält, Tassen voll Milch hin. Mit den feinen, vom wilden Blut eines Mischlings eingegebenen Kunstgriffen bemühte sie sich, ihn fest bei der Stange zu halten. Von ihrem Körper und aus ihren Haaren stieg ein betäubender orientalischer Duft auf, denn sie rieb sich mit Sandelholz und mit Myrrhe ein. Wenn er finster dreinsah, fragte sie schnell : »Liebst du Paulette ? Liebst du wirklich deine kleine Paulette ?« »Sicher liebe ich Paulette. Wie sollte ich die süße kleine Paulette nicht lieben – wie sollte ich ihre vollen Lippen berühren und sie nicht lieben ?« Aber während er das sagte, wanderten seine Augen zum Meer hinab und suchten die geschweifte Küste ab. »Aber liebst du Paulette bestimmt ? Komm, küß die kleinen Brüste deiner Paulette, die nur dir ganz allein gehört.« »Sicher liebe ich Paulette. Da ! Jetzt habe ich sie geküßt und bin bezaubert. Aber jetzt sei mal ein bißchen still. Hör, wie die Frösche quaken. Möchte wissen, was den alten bärtigen Affen auf dem Baum da aufregt, vielleicht ein Sklave, der Obst stiehlt.« Und seine Augen wanderten wieder ruhelos über das Meer. 86
Im Verlauf des Jahres sproß aus dem Boden ihrer Liebe ein erstickendes Gerank schrecklicher Ängste. Sie wußte, daß, wenn er sie schließlich verließ, sie mehr als allein sein würde. Sie müßte dann vielleicht kniend auf den Feldern arbeiten und mit den Fingern den Boden auflockern wie die anderen Frauen. Dann würde man sie eines Tages zu der Hütte eines großen, muskulösen Negers führen, er würde ihren zarten goldfarbenen Körper mit seinen Raubtierkrallen zerschinden, dann würde sie mit einem schwarzen Kind schwanger gehen, das, wenn es groß und stark war, in der heißen Sonne auf den Feldern schuften müßte. So verfuhr man auf der Insel mit allen Sklavinnen. Jener Teil ihres Geistes, der sehr alt war, schauderte bei diesem Gedanken zusammen, aber dieser Teil wußte auch, daß Henry sie eines Tages verlassen würde. Da fand der andere Teil, der ihr immer noch kindliches Gemüt speiste, für ihre Angst einen Ausweg. Wenn er sie heiraten würde – es schien zwar unmöglich, aber es waren schon seltsamere Dinge passiert –, wenn er sie heiraten würde, wäre sie alle Angst los. Denn jene eigenartigen Geschöpfe, die man Ehefrauen nennt, waren merkwürdigerweise, womöglich durch das Eingreifen einer höheren Macht, vor häßlichen und unangenehmen Dingen geschützt. Ach, sie hatte sie in Port Royal gesehen, wie sie, umgeben von ihren Männern, damit sie ja nicht mit unsauberen Elementen in Berührung kamen, umherspazierten. Sie atmeten durch parfümierte Tücher, um sich vor dem Pesthauch zu schützen, und hatten manchmal kleine Baumwollkügelchen in den Ohren, um Flüchen und gemeinen Redensarten den Zutritt zu verwehren. Paulette hatte gehört, daß sie daheim in großen, weichen Betten lagen und lässig ihren Sklavinnen Befehle erteilen. Mit kühner Hoffnung steuerte sie nun auf ein so gesegnetes Dasein zu. Sie wußte, daß ihr Körper allein nicht genügte, um 87
es zu erreichen. Oft versagte seine sanfte Gewalt. Wenn sie ihn zu viel mit Liebe fütterte, kam er eine Zeitlang nicht in ihre Laube, und wenn sie seine Leidenschaft nicht weckte, ging er entweder verdrossen fort oder warf sie lachend mit Gewalt auf ihr niedriges Lager aus Palmblättern. Sie mußte irgendeine zwingende Macht ausfindig machen, ein Gewaltmittel, um ihn zur Heirat zu treiben. Als Henry mit Kakao nach Port Royal fuhr, war sie fast von Sinnen. Sie kannte seine Liebe zu dem Schiff, seine Leidenschaft für das Meer und war auf beide eifersüchtig. In ihrer Vorstellung sah sie, wie er das Rad mit dem starken, doch zärtlichen Griff eines Verliebten streichelnd umfaßte. Ach, sie hätte dieses Rad, das ihn ihr raubte, zerkratzen und zerreißen können. Sie mußte es fertigbringen, daß er Paulette mehr liebte als die Schiffe, mehr als das Meer oder sonstwas auf der Erde, so daß er sie heiratete. Dann konnte sie hochmütig an den Hütten vorbeigehen und die Sklaven anspucken, dann brauchte sie nie zu fürchten, daß sie mit den Fingern in der Erde wühlen oder starke schwarze Kinder zur Welt bringen mußte, dann würde sie Kleider aus rotem Tuch tragen und dazu eine Silberkette um den Hals. Es war sogar möglich, daß man ihr dann hin und wieder das Essen an das Bett brächte, weil sie angeblich krank war. Der Gedanke entzückte sie so, daß sie ihre Zehen hin und her bewegte. Sie dachte sich schon jetzt die Schmähworte aus, die sie einer fetten Negerin, einer bösen Klatschbase, an den Kopf werfen würde. Diese alte, dicke Schlampe hatte Paulette vor versammeltem Publikum ein liederliches Frauenzimmer genannt. Paulette hatte ihr ganze Büschel Haare ausgerissen, bevor man ihr die Arme festhalten und an die Seite drücken konnte. Diese schwarze Kuh sollte schon sehen, wie sie ihr diese Frechheit eines Tages heimzahlen würde. Paulette würde sie auf den Bock schnallen und auspeitschen lassen. 88
Während Henry fort war, lief ein Handelsschiff in den Hafen ein. Paulette ging an den Strand, um sich die Waren anzusehen, die es gebracht hatte, aber auch um einen Blick auf die vom Wetter gebräunten Matrosen zu werfen. Einer von ihnen, ein großer, breiter Ire, dem zu viel starker Rum durch die Kehle geflossen war, ging auf sie los und drückte sie gegen einen Haufen Kisten. Stark und schnell wie sie war, setzte sie sich zur Wehr und suchte ihm zu entkommen, aber, obschon er hin und her schwankte, hielt er sie fest. »Da habe ich ja eine Fee gefangen, die wird mir Glück bringen«, lachte er und schaute ihr ins Gesicht. »Es ist wahrhaftig eine Fee.« Dann sah er, daß sie klein und sehr schön war, und nun wurde er zärtlich. »Du bist eine liebliche Fee«, sagte er leise, »eine so schöne haben meine Augen noch nie gesehen. Könnte so eine kleine, schlanke Person wohl etwas mit einem so großen, häßlichen Kerl anfangen ? Komm mit und heirate mich, dann sollst du alles haben, was ein Matrose dir nur geben kann.« »Nein !« schrie sie. »Nein !« Sie entwand sich ihm und lief fort. Der Matrose setzte sich auf den Sand und starrte verdutzt vor sich hin. »Es war nur ein Traum«, flüsterte er, »ein Traum aus dem Geisterreich. Nein, so was passiert einem armen Seemann nicht. Nein, für Matrosen sind die Hürchen da, die einen so scharf und hart ansehen und sagen : ›Komm mit, aber zuerst das Geld, mein Schatz.‹« Aber jetzt hatte Paulette entdeckt, wie sie Henry dazu bringen konnte, sie zu heiraten. Sie würde ihn betrunken machen, aber vorher einen Geistlichen bestellen, der sich in der Nähe aufhalten und sofort herbeikommen sollte, wenn sie ihn leise riefe. Oh, es hatte schon seltsamere Dinge gegeben. Gleich am ersten Abend nach seiner Rückkehr legte sie ihre 89
Schlinge aus. Ein großer Steinkrug war mit peruanischem Wein gefüllt, und im Schatten eines Baumes wartete ein mit einem gestohlenen Goldstück bestochener Geistlicher. Henry war übermüdet. Er hatte nur wenige Hilfskräfte an Bord gehabt und einen großen Teil der Arbeit selbst tun müssen. Es tat gut, sich in der kleinen weinumrankten Hütte ausruhen zu können. Ein weißer Vollmond warf einen silbrigen Glanz über das Meer und breitete im Schatten der Bäume purpurne Teppiche aus. Mit melodischem Rauschen strich ein leichter Landwind durch die Palmenwipfel. Sie brachte den Wein herbei und schenkte ihm einen Becher ein. »Liebst du Paulette ?« »So wahr mich Gott sieht, liebe ich Paulette, die liebe süße Paulette.« Noch ein Becher und wieder dieselbe Frage, nur ein wenig abgewandelt. »Bist du dir ganz sicher, daß du Paulette liebst ?« »Paulette ist ein kleiner Stern, der an einer Silberkette auf meiner Brust hängt.« Noch ein Becher. »Liebst du keine andere als deine Paulette ?« »Auf dem ganzen Heimweg habe ich mich nach Paulette gesehnt. Der Gedanke an sie begleitete mich überall.« Seine Arme schlossen sich fest um ihre schlanke goldene Taille. Noch ein paar Becher, dann lösten sich seine Arme von ihr. Die Hände ballten sich zu Fäusten. Ängstlich schrie das Mädchen auf. »Liebst du Paulette wirklich ?« Henry war mürrisch, fremd und kalt geworden. »Ich will dir etwas erzählen, das jetzt schon weit zurückliegt«, sagte er heiser. »Ich war damals noch ein kleiner Junge, aber schon alt genug, um zu lieben. Das Mädchen hieß Elisabeth und 90
war die Tochter eines reichen Gutsbesitzers. Sie war so lieblich wie diese Nacht um uns, so still und schön wie die schlanke Palme da im Mondlicht. Ich liebte sie mit jener Liebe, die ein Mann wohl nur einmal im Leben empfinden kann. Selbst unsere Herzen schienen Hand in Hand zu gehen. Welche Pläne schmiedeten wir doch, wenn wir abends draußen auf einem Hügel saßen ! Wir würden in einem großen Hause wohnen und liebe Kinder haben, die um uns aufwuchsen. Eine solche Liebe kannst du nie erfahren, Paulette. Das konnte natürlich nicht dauern. Die Götter sind eifersüchtig auf glückliche Menschen. Nichts Gutes kann dauern. Eine Bande räuberischer Matrosen durchstreifte das Land und führte mich fort – einen kleinen Jungen, der als Sklave nach Westindien verkauft wurde. Es war bitter, Elisabeth zu verlieren – so bitter, daß man es nach Jahren nicht vergessen kann.« Er weinte leise neben ihr. Paulette konnte die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, nicht begreifen. Sie streichelte ihm über Stirn und Augen, bis sein Atem ruhiger ging. Dann begann sie mit fast hoffnungsloser Geduld wieder wie ein Lehrer, der ein verstocktes Kind ausfragt. »Aber liebst du nicht Paulette ?« Er sprang auf und sah sie wütend an. »Dich ? Dich lieben ? Aber du bist ja nur ein kleines Tier ! Ein hübsches, goldenes Tierchen zwar, aber ein Stück Fleisch – nicht mehr. Kann man einen Gott anbeten, nur weil er groß ist, oder ein Land lieben, das keine Vorzüge hat als seine Ausdehnung, oder eine Frau, die nichts weiter besitzt als ihr Fleisch ? Du hast keine Seele, Paulette. Elisabeth hatte eine Seele mit weißen Flügeln. Ich liebe dich – ja mit dem, womit man dich lieben muß – dem Körper. Aber Elisabeth – Elisabeth liebte ich mit der Seele.« 91
Paulette war verdutzt. »Was ist diese Seele ?« fragte sie. »Und wie kann ich eine bekommen, wenn ich noch keine habe ? Und wo ist denn deine Seele, denn ich habe sie weder gesehen noch gehört. Und wenn man diese Seelen weder sehen noch hören, noch berühren kann, wie weißt du dann, daß sie eine hatte ?« »Still !« schrie er wütend. »Still ! oder ich haue dir eine Ohrfeige runter und lasse dich auspeitschen. Du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. Was kannst du von Liebe wissen, die außerhalb des Bereiches deiner fleischlichen Gaukelkunststücke liegt ?«
VI Weihnachten in den Tropen. Es war das vierte Weihnachten, das Henry dort erlebte. James Flower überreichte ihm eine mit einer farbigen Schnur umwickelte Schachtel. »Ein kleines Weihnachtsgeschenk«, sagte er. Seine Augen blitzten vor Freude, während Henry die Schachtel öffnete. Es war eine Teakholzschachtel, und drinnen auf dem purpurnen Seidenfutter lag sein in Stücke zerrissener Arbeitskontrakt. Henry nahm die Papierfetzen heraus, sah sie lange an, brachte dann ein Lachen heraus, das mehr wie Weinen klang, und beugte den Kopf auf die Hände nieder. »Jetzt bist du kein Sklave mehr, sondern mein Sohn«, sagte der Pflanzer. »Jetzt bist du mein Sohn, den ich schon so viele seltsame Dinge gelehrt habe, und jetzt werden wir noch viel mehr zusammen lernen. Wir wollen hier immer zusammen leben und jeden Abend miteinander plaudern.« Henry hob den Kopf. »Aber ich kann nicht hierbleiben, Mr. Flower. Ich muß als Freibeuter aufs Meer.« 92
»Wie ? Du kannst nicht hierbleiben ? Ich habe doch unser Leben schon genau festgelegt. Du würdest mich doch hier nicht allein lassen.« »Sir, ich muß aufs Meer. In all den Jahren ist das mein einziges Ziel gewesen. Ich kann nicht bleiben.« »Aber mein lieber Henry, du sollst sofort die Hälfte meiner Plantage haben und nach meinem Tode meinen ganzen Besitz, nur darfst du mich nicht allein lassen.« »Das geht nicht«, rief Henry. »Ich muß fort, um mir einen Namen zu machen. Es ist mir nicht bestimmt, als Pflanzer zu leben. Die Pläne, die ich so lange gründlich erwogen habe, sind nun reif geworden. Nichts kann sie ändern.« James Flower lehnte sich schwerfällig in seinem Stuhl vor. »Es wird hier sehr einsam ohne dich sein. Ich weiß nicht recht, was ich ohne dich tun soll.« Henry fiel der Abend ein, als sein Vater vor dem Feuer gesessen und genau dieselben Worte gesagt hatte – »Ohne dich wird es hier so einsam sein, mein Sohn.« Er sah auch seine Mutter, wie sie so gerade und schweigend dasaß. Sie hatte jetzt sicher ihr Leid überwunden. Man kommt auch über die schlimmsten Dinge weg, die Leute glauben es nur nicht. Dann dachte er an die kleine Paulette, die in ihrer Hütte vor Angst schreien würde, wenn er Abschied von ihr nähme. »Wir haben da ein junges Sklavenmädchen, die kleine Paulette. Ich habe sie unter meinen Schutz genommen. Wenn ich Ihnen je gute Dienste geleistet habe, dann tun Sie mir den Gefallen und beschäftigen Sie sie nur im Hause und nicht auf dem Feld. Lassen Sie das Mädchen auch nicht auspeitschen oder von Schwarzen schwängern. Wollen Sie mir diesen Gefallen tun, Mr. Flower ?« »Natürlich, gern«, sagte der Pflanzer. »Ach, es tat so gut, dich hier zu haben, Henry, so gut, abends deine Stimme zu hören. 93
Was soll ich jetzt abends anfangen ? Niemand kann deinen Platz einnehmen, denn du warst in Wahrheit mein Sohn. Ohne dich wird es hier sehr einsam sein, mein Junge.« »Die Arbeit, die ich in Ihren Diensten geleistet habe, ist durch die bei Ihnen erworbenen Kenntnisse mehr als abgegolten. Auch ich werde Sie vermissen, Mr. Flower, mehr als ich sagen kann. Aber Sie müssen mich verstehen. Ich muß Bukanier werden und eine spanische Stadt erobern, denn der Gedanke bohrt schon lange in mir, daß das möglich wäre, wenn man einen genauen Plan machte, alle Umstände in Betracht zöge und die richtigen Männer auswählte. Wenn ich dann Anerkennung und Ruhm erworben habe, werde ich vielleicht zu Ihnen zurückkehren, Mr. Flower, und dann können wir wieder abends zusammensitzen und uns unterhalten. Aber Sie werden daran denken, was ich Ihnen über Paulette gesagt habe ?« »Wer ist Paulette ?« fragte der Pflanzer. »Nun, das Sklavenmädchen, das ich Ihnen ans Herz gelegt habe. Ich möchte, daß sie nicht als Sklavin behandelt wird, weil ich sie gern habe.« »Ah ja, ich erinnere mich. Und wohin gehst du jetzt, Henry ?« »Nach Jamaika. Mein Onkel, Sir Edward, ist dort in Port Royal schon lange Statthalter, aber ich habe ihn nie gesehen – ich war ja ein armseliger Kontraktsklave, und er ist ein Gentleman. Ich habe einen Brief an ihn, den mein Vater mir vor Jahren gab. Vielleicht wird er mir helfen, für meine Kaperfahrten ein Schiff zu kaufen.« »Dazu werde ich dir verhelfen. Du hast dir so viel Mühe mit mir gegeben«, sagte der Pflanzer hoffnungsvoll. Jetzt überkam Henry doch die Scham, denn in der Kiste unter seinem Bett glitzerte ein Haufen Goldstücke – über tausend Pfund. »Nein, nein«, sagte er, »Sie haben mich schon tausendfach 94
entlohnt, weil Sie mich so viel gelehrt und wie ein Vater an mir gehandelt haben. Das ist nicht mit Geld aufzuwiegen.« Nun, wo er fortging, erkannte Henry, daß er diesen Mann mit dem krebsroten Gesicht und dem kauzigen Wesen liebgewonnen hatte. Starke Neger mit schimmernder Haut ruderten das Kanu auf ein vor Anker liegendes Schiff zu. Es war ein holländisches Schiff, das schwarze Sklaven von der Goldküste zu den Inseln brachte. James Flower saß im Heck und war sehr rot und still. Aber als sich das Kanu der Schiffswand näherte, hob er den Kopf und sagte flehend zu Henry : »Es stehen Bücher auf den Regalen, die du noch nicht gelesen hast.« »Eines Tages komme ich zurück und dann lese ich sie.« »Es gibt Dinge in meinem Kopf, die ich dir noch nicht erzählt habe.« »Wenn ich berühmt bin, komme ich zu Ihnen, dann sagen Sie sie mir.« »Schwörst du es ?« »Nun ja – ich schwöre es.« »Und wie lange brauchst du, um berühmt zu werden ?« »Das kann ich nicht sagen – ein Jahr – zehn – oder auch zwanzig Jahre. Ich muß mir einen sehr großen Namen machen.« Henry stieg über die Schiffsreling. »Ich werde mich sehr einsam fühlen, mein Sohn.« »Ich auch, Mr. Flower. Vorsicht, der Anker geht hoch. Und denken Sie ja an Paulette.« »Paulette ? Paulette ? Ah ja, ich erinnere mich.«
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VII Henry Morgan kam zu der englischen Stadt Port Royal. Er ließ sein Gepäck im Hafen und ging auf die Suche nach seinem Onkel. »Können Sie mir sagen, wo der Vizegouverneur wohnt ?« fragte er Leute auf der Straße. »Dort ist sein Palais, und womöglich ist er zu Hause.« Sein Palais – das paßte zu einem britischen Gentleman, der als Beamter fern von der Heimat weilte. Das sah ganz nach dem Mann aus, wie ihn sein Vater beschrieben hatte. Palast des Vizegouverneurs – so etwas nahm sich gut auf einem Brief aus. Der Palast war ein niedriges, schäbiges Haus, mit weiß getünchten Lehmmauern und einem schiefen Ziegeldach. Ein Hellebardier in schreiend roter Uniform stand an der Tür und hielt seine große, aber gänzlich unwirksame Waffe starr in den Händen, wobei er versuchte, trotz eines ihm arg zusetzenden Fliegenschwarmes seine Würde zu bewahren. Die Hellebarde senkte sich und versperrte Henry den Weg, als er näher kam. »Ich möchte zu Sir Edward Morgan.« »Was wünschen Sie von Seiner Exzellenz ?« »Nun, er ist mein Onkel, und ich möchte ihn sprechen.« Der Soldat blickte ihn finster und argwöhnisch an und faßte seine Hellebarde fester. Henry hatte seine Erfahrungen auf der Plantage nicht umsonst gemacht. Vielleicht war dieser Mann trotz seiner roten Uniform nichts anderes als ein Sklave. »Gib den Weg frei, du verdammter Hundsknochen, oder ich sorge dafür, daß du am Galgen baumelst«, schrie er ihn an. Der Mann nahm sofort eine unterwürfige Haltung an und ließ beinahe die Hellebarde fallen. »Ich werde Sie anmelden lassen, gnädiger Herr.« Er blies in eine kleine silberne Pfeife. Ein Diener in grüner Livree erschien. 96
»Ein junger Herr wünscht Seine Exzellenz zu sprechen«, sagte der Soldat zu dem Diener. Henry wurde in ein kleines Zimmer geführt, in dem es wegen der dicken, grauen, mattgold umrandeten Vorhänge beinahe dunkel war. An den Wänden hingen drei dunkle Porträts in schwarzen Rahmen, zwei Kavaliere in Federhüten. Sie hielten ihre Schwerter horizontal nach hinten, so daß sie wie steife dünne Schwänze aussahen. Ferner eine hübsche Dame in gepudertem Haar und Seidenkleid. Das Kleid war ausgeschnitten und ließ die Schultern und die halbe Brust unbedeckt. Hinter einer mit einem dicken Vorhang verdeckten Tür hörte er das dünne Gezirp einer langsam gezupften Harfe. Der Diener nahm Henrys Brief und ließ ihn allein. Und Henry fühlte sich sehr allein. In diesem Hause wehte eine kalte, scharfe Luft. Eine durch Höflichkeit gedämpfte Verachtung sprach sogar aus den gemalten Gesichtern an der Wand. Auf die Türvorhänge war das britische Wappen gestickt : Der Löwe auf der einen Seite, der die Hälfte des Schildes hielt, und das Einhorn mit seiner Hälfte auf der anderen. Wenn die Vorhänge gerade hingen, war das Wappen vollständig. In diesem Zimmer bekam Henry Furcht vor seinem Onkel. Aber alle diese Gedanken verflogen im Nu, als Sir Edward erschien. Es war sein Vater, so wie er ihn in Erinnerung hatte, und doch gar nicht sein Vater. Der alte Robert würde sich nie einen Schnurrbart so dünn wie eine Augenwimper zugelegt haben, und nichts in seinem Leben hätte ihn veranlassen können, die Lippen so fest zusammenzudrücken, bis sie fast so dünn waren wie der Schnurrbart. Diese zwei mochten sich bei der Geburt so ähnlich gesehen haben wie ein Ei dem andern, aber jeder hatte sich seinen eigenen Mund geschaffen. Robert hatte die Wahrheit gesprochen. Dieser Mann war sein auf Stelzen gehendes Gegenstück. Aber Sir Edward war wie ein 97
Schauspieler, der, obschon er eine lächerliche Rolle spielt, sie doch als die einzige annehmbare und alle anderen als lächerlich erscheinen läßt. Sein tiefroter, am Hals und an den Handgelenken mit Spitzen besetzter Rock, der lange Degen, dünn wie ein Bleistift, in einer grauseidenen Scheide, die grauseidenen Strümpfe und die weichen, grauen, mit Schleifen versehenen Schuhe erschienen Henry als die höchste Offenbarung der Eleganz. Sein eigener guter Anzug war im Vergleich dazu schäbig. Sein Onkel sah ihn eine Zeitlang starr an und wartete darauf, daß Henry zuerst das Wort ergriff. »Ich bin Henry Morgan, Sir – Roberts Sohn«, begann er ungekünstelt. »Das sehe ich. Es ist eine, wenn auch schwache Ähnlichkeit vorhanden. Und was kann ich für dich tun ?« »Nun, ich – weiß es nicht. Ich wollte mal vorsprechen und Sie von meiner Existenz in Kenntnis setzen.« »Nett von dir – sehr nett.« Es war schwierig, gegen diese fast höhnische Höflichkeit zu Wort zu kommen. »Haben Sie vielleicht etwas von meinen Eltern gehört ?« fragte Henry. »Ich war fünf Jahre lang von ihnen getrennt.« »Fünf Jahre ! Und was hast du in dieser Zeit gemacht, bitte ?« »Ich war Kontraktsklave. – Und, von meinen Eltern ?« »Deine Mutter ist tot.« »Meine Mutter ist tot«, wiederholte Henry flüsternd. Ob sie wohl bald nach seinem Weggang gestorben war ? Er spürte keine starke Erschütterung, und doch klangen die Worte so furchtbar und endgültig. Dies war das Ende von etwas, das nie wieder kommen würde. »Meine Mutter ist tot«, hauchte er. »Und mein Vater ?« »Ich habe gehört, daß dein Vater in seinem Rosengarten 98
absonderliche Dinge treibt. Gutsbesitzer Rhys hat mir darüber geschrieben. Er pflückt die Blumen ab, wirft sie in die Luft und schaut ihnen wie verwundert nach. Der Boden ist mit lauter Rosenblättern bedeckt, und die Nachbarn stehen herum und lachen über ihn. Robert war nie normal, ja, er war sogar nie ganz richtig im Kopf, sonst hätte er unter Jakob dem Ersten weit kommen können. So aber habe ich immer befürchtet, er könnte mal in eine schlimme Lage geraten. Er hatte vor nichts Respekt, was respektiert werden muß. Warum muß er so etwas in aller Öffentlichkeit tun und den Spott der Leute herausfordern ? Das setzt auch – äh – seine Verwandten der Lächerlichkeit aus.« »Glauben Sie, daß er wirklich geistesgestört ist, Onkel ?« »Das weiß ich nicht«, sagte Sir Edward. Ungeduld sprach aus seiner Stimme, als er fortfuhr : »Ich habe nur wiederholt, was Gutsbesitzer Rhys mir geschrieben hat. Meine Stellung läßt mir keine Zeit zu eitlen Vermutungen – auch nicht viel Zeit für müßige Unterhaltung«, setzte er spitz hinzu. Das methodische Getön der Harfe hatte aufgehört. Jetzt wurde der Türvorhang beiseite geschoben, ein schlankes, zartes Mädchen erschien. Man konnte sie bei der im Zimmer herrschenden Dunkelheit nur schwer erkennen. Man sah allerdings sogleich, daß sie nicht schön war, vielleicht konnte man sie hübsch nennen, hübschstolz, wenn auch nicht dummstolz. Sie war sorgfältig gekleidet und hatte ein blasses Gesicht. Selbst ihr Haar besaß einen feinen blassen Goldschimmer. Sie schien überhaupt ein blasses, müdes Echo Sir Edwards zu sein. Das Mädchen war sehr erstaunt, als sie Henry erblickte. Der junge Mann spürte in sich sofort dieselbe Furcht vor ihr wie vor ihrem Vater. Sie betrachtete Henry, als wäre er irgendeine ekelerregende Speise gewesen, die verächtlich beiseite zu schieben einem nur die strengen Regeln der Höflichkeit verboten. »Dein Cousin Henry«, sagte Sir Edward kurz. »Meine Tochter 99
Elisabeth, deren Mutter ebenfalls nicht mehr lebt.« Er setzte gleich, wie wenn aus dieser Bekanntschaft nichts Gutes kommen könnte, nervös hinzu : »Tätest du nicht besser daran, noch ein bißchen länger zu üben ?« Sie machte Henry gegenüber die Andeutung eines Knickses und begrüßte ihn in einem Ton, der dem ihres Vaters nichts nachgab. »Wie geht’s ? Ja, Vater, ich glaube, ich übe noch etwas. Das letzte Stück ist zwar schön, aber auch schwierig.« Sie verschwand hinter dem Vorhang, und gleich darauf ertönten wieder die langsamen, genau abgemessenen Klänge der Harfe. Henry faßte sich ein Herz, obschon er diesen Mann fürchtete. »Ich möchte mit Ihnen eine wichtige Sache besprechen, Sir. Ich möchte als Bukanier aufs Meer gehen – auf einem großen, mit Kanonen ausgestatteten Schiff. Und wenn ich genug Beute gemacht und durch den Ruf meines Namens tapfere Männer um mich gesammelt habe, würde ich eine spanische Stadt plündern und brandschatzen. Ich bin ein guter Seemann, Onkel. Ich kann ein Schiff auf jedem Meer und in jedem Wetter lenken, und ich habe es in mir, alles vorher sorgfältig zu überlegen. Ich habe viel über die Kriege des Altertums gelesen. Die Bukaniere sind nie eine Macht gewesen, aber ich werde sie zu einer machen. Ich könnte Heere und Flotten aus ihnen bilden, lieber Onkel. Mit der Zeit würde ich die ganze freie Bruderschaft der Küste unter meine Führung bekommen, und das wäre eine bewaffnete Macht, mit der man rechnen müßte. In den langen Jahren meiner Sklaverei habe ich das alles genau durchdacht. Ich brenne darauf, meine Pläne in die Tat umzusetzen. Ich hoffe zuversichtlich, mir durch meine Taten einen großen Namen und ein großes Vermögen zu verschaffen. Ich weiß, was ich leisten kann. Ich bin zwanzig Jahre alt, ich bin mehrere Jahre auf See gefahren und besitze tausend Pfund. Den Mann, der mir 100
jetzt hilft – der sich mir als Teilhaber anschließt – werde ich reich machen. Ich bin mir meiner Sache so sicher – so sicher. Ich bitte Sie, mein Onkel, zu meinen tausend Pfund so viel hinzuzulegen, daß ich mir ein Kaperschiff anschaffen und tapfere Männer um mich sammeln kann. Wenn Sie zu meinen tausend Pfund noch tausend hinzulegen, schwöre ich Ihnen, daß ich Sie reicher machen werde als Sie sind.« Die Harfe tönte nicht mehr. Als der junge Mann seinen Worten freien Lauf ließ, hatte Sir Edward die Hand erhoben, um ihm Einhalt zu gebieten, aber der Redestrom floß weiter. Dann lenkte das Verstummen der Harfe seine Aufmerksamkeit ab und er blickte unbehaglich nach der Tür. Jetzt schien er wieder Interesse an Henry zu nehmen. »Ich bin nicht so reich, daß ich Geld in unsichere Unternehmen stecken kann«, sagte er schneidend. »Ich habe auch keine Zeit mehr für eine weitere Unterhaltung. Der Gouverneur kann jeden Augenblick zu einer Besprechung kommen. Aber ich möchte doch noch sagen, daß du ein wilder, leichtsinniger Bengel bist, der leicht einmal an den Galgen kommen kann. Du bist genau wie dein Vater, nur daß bei diesem die Wildheit im Kopf sitzt. Ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß zwischen Spanien und England Friede herrscht. Es ist kein sehr freundliches Verhältnis zwischen ihnen, aber immerhin Friede. Wenn du Seeräuberei treibst, ist es meine Pflicht, dich zu bestrafen, so leid mir das tun mag. Die Roundheads* sind nicht mehr an der Macht. Jene wilden Streifzüge, bei denen Cromwell ein Auge zudrückte, werden jetzt sorgfältig überwacht. Denke an meine Worte, denn ich würde nicht gerne meinen Neffen hängen lassen. Jetzt muß ich aber wirklich dieser Unterredung ein Ende machen.« * Spitzname für Puritaner oder Anhänger der Parlamentspartei im 7. Jh. 101
Henry standen vor Wut Tränen in den Augen. »Danke dir für deinen Besuch. Auf Wiedersehen.« Und damit ging er durch die verhangene Tür. In trüben Gedanken schlenderte Henry die Straße entlang. Da sah er in kurzer Entfernung vor sich seine Cousine gehen mit einem großen schwarzen Diener an ihrer Seite. Er ging ganz langsam, um Abstand von ihr zu gewinnen, aber das Mädchen verlangsamte ebenfalls ihren Schritt. »Vielleicht will sie mit mir sprechen«, dachte Henry und ging schneller, um sie einzuholen. Er traute seinen Augen nicht, denn er sah jetzt, was das dunkle Zimmer ihm verborgen hatte. Sie war ein kleines Mädchen, höchstens vierzehn Jahre alt. Elisabeth sah auf, als er sie erreichte. »Finden Sie es interessant hier in Westindien ?« fragte Henry. »So interessant, wie man es erwarten kann«, erwiderte sie. »Wir sind ja schon ziemlich lange hier.« Dabei stieß sie den Sklaven mit ihrem kleinen Sonnenschirm an den Arm. Er bog mit ihr in eine Seitenstraße ein. Henry stand verdutzt da und sah ihnen nach. Er haßte diese stolzen Verwandten, die sich vor ihm zurückzogen, als hätte er etwas Unreines an sich. Lustig konnte er sich nicht über sie machen, denn sie hatten einen zu tiefen Eindruck in ihm hinterlassen. Sie hatten es fertiggebracht, daß er sich allein und hilflos und sehr jung vorkam. Die engen Straßen von Port Royal waren mit einer Schmutzschicht bedeckt, die von den Wagen und den vielen nackten Füßen zu einem dicken Schlammbrei verarbeitet war. Port Royal hatte so viel Ähnlichkeit mit einer Stadt wie der Palast des Vizegouverneurs mit Whitehall. Die Straßen waren nur enge Gassen mit schmutzigen Holzhäuschen. Aber jedes Haus hatte einen Balkon nach der Straßenseite hin, wo die Leute saßen und 102
Henry mit ihren Blicken verfolgten. Sie blickten jedoch nicht mit Interesse nach ihm, sondern müde und gleichgültig, wie Kranke, die an der Wand krabbelnde Fliegen beobachten. In einer Straße schienen nur Frauen zu wohnen – schwarze Frauen und weiße mit grauen und hohlwangigen, vom Fieber gezeichneten Gesichtern. Sie lehnten auf ihren Balkonen wie zerlumpte Sirenen und lockten ihn mit sanfter Stimme, als er vorüberging. Als er ihnen aber keine Beachtung schenkte, kreischten sie wie wütende Papageien, fluchten und spuckten nach ihm. In der Nähe des Hafens kam er an einer Wirtschaft vorbei, vor der sich eine große Menschenmenge angesammelt hatte. Mitten auf der Straße stand ein Faß Wein, dem oben die Dauben eingeschlagen waren. Ein dicker, betrunkener Mann, in zerrissenem, betreßtem Rock und Federhut, stolzierte vor ihm auf und ab. Er schenkte jedem ein, der danach verlangte, in Bechern, Becken und sogar Hüten. Ab und zu ließ er sich selbst hochleben, und die Masse stimmte begeistert ein. Henry suchte an diesem Auflauf vorbeizukommen, denn er war nicht in der Stimmung, bei dem Gelage mitzutun. »Komm her, junger Mann, und trink auf meine Gesundheit.« »Ich mag nicht trinken«, sagte Henry. »Was, du magst nicht trinken ?« Der Dicke war zuerst von dieser gänzlich neuen Lage überwältigt. Dann lief er vor Wut rot an. »Bei Gott ! Du wirst trinken, wenn dich Kapitän Dawes, der heute vor einer Woche den Frachter ›Sangre de Christo‹ kaperte, darum bittet.« Der Mann ging geduckt auf Henry zu, zog dann plötzlich eine große Pistole aus dem Gürtel und fuchtelte damit Henry vor der Brust herum. Henry sah in die Mündung der Pistole. 103
»Ich trinke auf Ihre Gesundheit«, sagte er. Während er trank, kam ihm ein Gedanke. »Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen, Kapitän Dawes«, und damit zog er den Seeräuber in die Wirtschaftstür. »Nämlich über Ihre nächste Fahrt –«. »Hol der Teufel meine nächste Fahrt«, brüllte der Kapitän. »Habe ich nicht gerade eine gute Prise genommen ? Habe ich Geld oder nicht ? Also was quäkst du da von meiner nächsten Fahrt ? Warte, bis die Prise versoffen und die Wunden geheilt sind. Warte, bis ich ganz Port Royal leergesoffen habe, dann sprich mir von meiner nächsten Fahrt.« Er stürmte wieder auf die Straße. »Leute !« brüllte er. »Stundenlang habt ihr nicht mehr auf meine Gesundheit getrunken. Los ! Alle zusammen, und dann wollen wir singen !« Henry ging verzweifelt weiter. Im Hafen lag eine Anzahl Schiffe vor Anker. Er ging zu einem im Sande sitzenden Matrosen hin. »Das ist ein guter Segler«, sagte er, um das Gespräch zu eröffnen. »Nun ja, schlecht ist er nicht.« »Sind hier Bukaniere in der Stadt, die einen Namen haben ?« fragte Henry. »Niemand außer diesem Dawes, und der ist nur ein lächerlicher Angeber. Er nimmt ein kleines Boot, das Lebensmittel nach Campeche bringt, und man sollte glauben, er hätte ganz Panama heimgebracht, so einen Lärm macht er darüber.«’ »Sind keine anderen da ?« »Da ist noch einer namens Grippo, aber er nimmt nur Prisen, wenn sie unbewaffnet sind. Der hat Angst vor seinem eigenen Schatten. Er ist hier im Hafen ohne Prise und säuft schlechten Rum auf Pump.« »Welches ist sein Schiff ?« »Das da, ›Ganymed‹ heißt es. Er soll es in Saint Malo gestohlen haben, als die Besatzung besoffen war. Er und neun andere 104
warfen die armen steifen Wichte über Bord und machten sich mit dem Schiff nach Westindien davon. Ja, es ist ein gutes Schiff, aber Grippo ist kein Kapitän dafür. Ein Wunder, daß er es noch nicht auf Grund gesetzt hat. Da ist Mansveldt schon ein anderer Kerl. Das wäre ein Kapitän für dich – der versteht sich auf sein Handwerk. Aber Mansveldt ist in Tortuga.« »Ein guter, schneller Segler«, bemerkte Henry, »er könnte ruhig ohne Schaden noch mehr Leinwand tragen. Hat er genug Kanonen ?« »Er soll mehr als genug haben.« Noch am selben Abend machte Henry den Bukanier in einer Hafenkneipe ausfindig. Der Mann war fast schwarz. Zwei tiefe Rillen durchschnitten seine Wangen, als wäre ein Seidenfaden so fest gegen das Fleisch gedrückt worden, bis er in ihm verschwand. Seine Augen wanderten wie Schildwachen vor einem Lager fluchtbereiter Angsthasen auf und ab. »Sind Sie vielleicht der, den man Grippo nennt ?« fragte Henry. »Ich habe keine Prise genommen«, rief der Mann und wich zurück. »Ich mache keine Kaperfahrten. Sie können nichts gegen mich vorbringen.« Einmal war er in Saint Malo so angeredet worden, und dann hatte man ihn auf den Bock geschnallt, bis sich hundert bluttriefende Wunden an seinem Körper bildeten. Seitdem wurde Grippo nervös, wenn sich ihm jemand näherte, der vielleicht etwas mit einer Behörde zu tun haben konnte. »Wer sind Sie ?« fragte er. »Ich glaube, daß du mit mir dein Glück machen wirst, Grippo«, sagte Henry jetzt schon mit Zuversicht. Er wußte, wie er diesen Mann anfassen mußte, denn Grippo war auch nicht anders wie die Sklaven, die er unter sich gehabt hatte – furchtsam und geldgierig. »Was würdest du mit fünfhundert englischen Pfund machen, Grippo ?« 105
Grippo leckte sich die Lippen und sah in seinen leeren Becher. »Was muß ich für diese Summe tun ?« flüsterte er. »Mir das Kommando deines Schiffes übertragen.« Jetzt war Grippo auf seiner Hut. »Die ›Ganymed‹ ist viel mehr wert«, sagte er wegwerfend. »Aber ich will ja nicht das Schiff kaufen, sondern nur die Kapitänsstelle. Schau her, Grippo. Ich mache folgenden Vertrag mit dir. Ich gebe dir fünfhundert Pfund, dafür bekomme ich die Hälfte von dem Gewinn, den das Schiff abwirft, und das Kommando über das Schiff ohne jede Einschränkung. Dann werden wir in See stechen. Ich weiß, wie man Beute macht, wenn mir nur keiner dreinredet. Wir machen einen schriftlichen Vertrag darüber. Wenn mir ein einziges Unternehmen mit der ›Ganymed‹ mißlingt, bekommst du das ganze Schiff zurück und kannst die fünfhundert Pfund behalten.« Grippo sah noch immer in seinen leeren Becher, aber plötzlich war er Feuer und Flamme. »Her mit dem Geld !« rief er. »Schnell, gib mir das Geld. –Oloto ! Oloto ! Bring Weißwein her – Weißwein – um Christi willen ! Schnell !«
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DRITTES KAPITEL Es gab viele glanzvolle Namen an der Küste Dariens und auf den grünen karibischen Inseln, als Henry Morgan Bukanier wurde. In den Weinläden Tortugas konnte man hören, wie viele gewaltige Reichtümer schon gewonnen und zerronnen, wie viele schöne Schiffe schon genommen und versenkt worden waren, und daß Gold und Silber wie Holz auf die Quais geworfen wurden … Die Freie Brüderschaft war eine gefährliche Macht geworden, seitdem Pierre le Grand und eine kleine Schar Jäger aus den Wäldern von Hispaniola hervorgebrochen waren und den Vizeadmiral der Silberflotte in einem Kanu gefangengenommen hatten. Frankreich, England und Holland betrachteten diese Inseln als gute und heilsame Unterkunft für ihre Verbrecher und hatten seit Jahren Menschenfracht in Westindien abgeladen. In diesen Ländern der Alten Welt wurde zeitweilig jeder, der sich nicht gebührend ausweisen konnte, zu anderen in ein Schiff gezwängt und nach Amerika geschickt, wo er als Kontraktsklave für eine kleine Summe Geldes von jedermann gekauft werden konnte. Wenn diese Leute ihre Zeit abgedient hatten, stahlen sie Gewehre und führten auf eigene Faust Krieg gegen Spanien. Das war gar nicht so seltsam, denn Spanien war katholisch und reich, während die Hugenotten, Lutheraner und Anglikaner arme Teufel waren. Sie führten einen heiligen Krieg. Spanien hatte die Schätze der Welt abgeriegelt. Wenn zerlumpte Bettler sich gelegentlich ein vergessenes Goldstück angelten, wem konnte das schaden ? Wer hatte, außer Spanien, etwas dagegen einzuwenden ? England, Frankreich und Holland machten nicht viel Aufhebens davon. Manchmal kämpften diese Piraten sogar in amtlichem Auftrag gegen Aragon und Kastilien, so daß mancher, 107
der zehn Jahre zuvor auf einem Sträflingsschiff hergekommen war, ein königliches Patent als Kapitän mit sich führte. Frankreich lag das Wohl seiner verirrten Kinder am Herzen, denn es schickte zwölfhundert Frauen nach Tortuga, die den Bukanieren als Ehefrauen zugedacht waren. Alle zwölfhundert wandten sich sofort nach ihrer Landung einem einträglicheren Geschäft zu ; aber dafür konnte Frankreich nichts. Die Bukaniere hatten ihren Namen in einer Zeit erhalten, als sie ihren Lebensunterhalt allein durch Jagen erwarben. Sie hatten eine besondere Methode, Rauchfleisch herzustellen, indem sie mit Fett umwickeltes Fleisch in kleinen Stücken rösteten. Auf diese Weise blieb das Fleisch saftiger als sonst. Dieses Verfahren wurde Bukan genannt, und von ihm erhielten die Piraten ihren Namen. Aber nach einiger Zeit kamen diese Jäger vorsichtig in kleinen Gruppen aus den Wäldern, dann bildeten sich Banden und schließlich ganze Flotten von acht oder zehn Schiffen. Bald sammelten sich Tausende solcher Gesellen in Tortuga und umschwärmten von diesem sicheren Platz aus Spaniens Flanken. Spanien konnte ihrer nicht Herr werden. Wenn zehn gehängt wurden, füllten Hunderte die Reihen wieder auf. Deshalb ging Spanien daran, seine Städte zu befestigen und sein Gold und Silber unter dem Schutz von Kriegsschiffen heimzusenden. Die zahllosen Schiffe der spanischen Kolonien wurden durch die wilden Bukaniere fast ganz von den Meeren vertrieben. Nur einmal im Jahr segelte jetzt die Silberflotte heim. Von den Mitgliedern der Bruderschaft hatten sich einige großen Ruhm erworben und so glänzende Taten vollbracht, daß Henry Morgan vor Neid hätte blaß werden können, wenn seine Zuversicht, sie alle eines Tages zu überschatten, nicht so groß gewesen wäre. Da war zum Beispiel Bartolomeo Portugues. Er machte große Beute, aber bevor er sie wegschaffen konnte, wurde er bei 108
Campeche gefangen. Er konnte von seiner Zelle auf dem Schiff sehen, wie der Galgen am Strand für ihn aufgerichtet wurde. In der Nacht vor seiner Hinrichtung erstach er die Wache und schwamm davon, wobei er ein Faß als Floß benützte. Es waren noch keine acht Tage vergangen, da kam er mit Piraten in einem langen Kanu und stahl dasselbe Schiff aus dem Hafen von Campeche. Er verlor es allerdings in einem Sturm auf der Höhe von Kuba, aber davon war in den Kneipen weniger die Rede. Roche Braziliano war ein Holländer mit pausbackigem Gesicht. In seiner Jugend wurde er von den Portugiesen aus Brasilien vertrieben ; daher sein Name. Sonderbarerweise hegte er gegen Portugal keine Abneigung. Sein Haß wandte sich gegen Spanien. Wenn keine Spanier in Sicht waren, war er ein freundlicher und braver Kapitän ; seine Leute verehrten ihn und tranken auf seine Gesundheit. Einmal, als er in Castilla de Oro gestrandet war, tötete er den größten Teil einer berittenen spanischen Truppe, um dann auf ihren Pferden davonzureiten. Wenn Spanier in seine Nähe kamen, trat ihm der Schaum vor den Mund. Man sagte ihm nach, er habe einmal Gefangene an Spießen über langsam brennendem Feuer rösten lassen ; aber das mochte nur ein wildes Gerücht sein. Als die reichbeladenen Schiffe vom Meer vertrieben waren, mußten die Bukaniere Dörfer nehmen und dann sogar befestigte Städte. Lewis Scot plünderte Campeche und hinterließ es als schwarzen, rauchenden Schutthaufen. L’Ollonais stammte aus Les Sables d’Olonne in der Vendée und wurde schnell der gefürchtetste Mann im westlichen Ozean. Er begann als Spanienhasser und endete als Sadist. Er riß Zungen aus und zerstückelte Gefangene mit dem Schwert. Die Spanier wären lieber dem Teufel in eigner Person begegnet als L’Ollonais. Schon beim Geflüster seines Namens leerten sich die Dörfer, die er mit seiner Gegenwart beglücken wollte. Es hieß, sogar 109
die Mäuse flüchteten ins Waldesdickicht, wenn er nahte. Er nahm Maracaibo, Neu-Gibraltar und St. James de Leon. Überall schlachtete er Menschen aus reiner Mordlust. Als ihn wieder einmal diese Mordgier überkam, legte man auf seinen Befehl siebenundachtzig gefesselte Gefangene der Reihe nach auf den Boden. Dann schritt er die Reihe ab, in der einen Hand einen Wetzstein, ein langes Schwert in der anderen. An diesem Tag schnitt er mit eigener Hand siebenundachtzig Köpfe ab. Aber L’Ollonais begnügte sich nicht damit, Spanier umzubringen. Er ging in das sanfte Land Yucatan, wo die Menschen in zerfallenen steinernen Städten lebten und die Jungfrauen Blumenkränze auf dem Kopf trugen. Friedliche Menschen lebten dort in Yucatan, eine Rasse, die in unerklärlichem Verfall dahinschwand. Als L’Ollonais abzog, waren die Städte Haufen aus Trümmern und Asche, und ein Kranz war auf keinem Kopf mehr zu erblicken. Die Indianer Dariens waren anders : wild, furchtlos unnachgiebig. Die Spanier nannten sie Bravos und schworen darauf, daß sie unzähmbar seien. Sie waren den Piraten aus Haß gegen Spanien immer freundlich gesinnt gewesen, aber L’Ollonais unternahm Raubzüge gegen sie und metzelte sie nieder. Viele Jahre warteten diese Indianer auf Rache, und eines Tages erwischten sie L’Ollonais, als sein Schiff an der Küste ihres Landes gestrandet war. Sie machten ein Feuer und umtanzten es stundenlang, und dann verbrannten sie den Körper des Franzosen Stück für Stück vor seinen Augen : erst einen Finger, dann ein kleines, herausgerissenes Stück Fleisch und schließlich immer größere Portionen. Eines Abends kam ein dürrer Franzose in eine Kneipe in Tortuga, und als man ihn nach seinem Namen fragte, ergriff 110
er ein großes, schweres Faß Rum und schleuderte es im Bogen durch den Raum. »Bras de Fer«, sagte er, und niemand richtete mehr eine Frage an ihn. Man hat niemals erfahren, ob er seinen Namen aus Scham, Kummer oder Haß verbarg, aber die ganze Küste lernte ihn als großen und tapferen Kapitän kennen. Das waren Männer, deren Aussprüche suggestive Kraft gewannen und von allen wiederholt wurden. »Ohne Gold kein Sold«, hatte L’Ollonais zu seinen Leuten gesagt, und jeder führte jetzt diesen Spruch im Munde. Als Kapitän Lawrence in einem kleinen Schiff von zwei spanischen Fregatten angegriffen wurde, sagte er zu seinen Begleitern : »Ihr habt zuviel Erfahrung, um die Gefahr nicht zu erkennen, und zuviel Mut, um sie zu fürchten.« Das war ein schöner Ausspruch ; von ihm angefeuert, nahmen seine Leute die spanischen Schiffe und brachten sie nach Goaves. Nicht alle waren grausam, ja, manche waren nicht einmal gewalttätig. Einige waren sogar fromm. Kapitän Watling hielt streng daran fest, jeden Sonntag durch einen Gottesdienst zu feiern, wobei die ganze Besatzung unbedeckten Hauptes an Bord stand. Daniel erschoß einmal einen Matrosen wegen einer Gotteslästerung. Diese Bukaniere beteten laut vor dem Kampf, und wenn sie Sieger blieben, ging die eine Hälfte in die Kathedrale der eroberten Stadt, um das Tedeum zu singen, während die andere Hälfte sich ans Plündern machte. Die Kapitäne hielten unter ihren Leuten strenge Disziplin. Jede Gehorsamsverweigerung oder irgendein anderes Vergehen, das den Erfolg beeinträchtigen konnte, wurde schnell und hart bestraft. Meutereien, wie sie später von Kidd, Blackbeard und Lafitte geduldet wurden, gab es damals noch nicht. In dieser Bruderschaft ragte ein Mann vor allen anderen hervor: das war der Holländer Eduard Mansveldt. An Tapferkeit und 111
Kampferfahrung nahm es keiner mit ihm auf. Er hatte Granada, St. Augustin, in Florida und die Insel St. Catherine genommen. Mit einer großen Flotte kreuzte er an den Küsten von Darien und Castilla de Oro und nahm, was ihm vor die Fänge kam. Er hatte viel Phantasie und beschäftigte sich mit großen Plänen. Aus seiner Bande zerlumpter Gesellen wollte er ein starkes, dauerhaftes Volk machen, eine kampferprobte Militärmacht in Westindien. Als immer mehr Bukaniere unter seine Fahne eilten, nahm dieser Traum klarere Gestalt an. Er versuchte, die Zustimmung der englischen und französischen Regierungen zu erlangen. Die aber waren entsetzt und verboten ihm strikt, einen solchen Plan auch nur in Erwägung zu ziehen. Das wäre noch schöner gewesen – eine organisierte Piratenmacht zu dulden, eine Nation von Banditen, für die man schließlich keine Galgen mehr hätte aufrichten können ! Dieser Staat hätte alle anderen Staaten, denen er einigermaßen gewachsen war, ausgeplündert. Aber Mansveldt verfolgte diesen Gedanken zäh weiter. Der neue Staat sollte auf der Katharineninsel seinen Anfang nehmen. Er siedelte eine Anzahl seiner Leute dort an und lud alle Freibeuter ein, dieser neuen Gemeinschaft beizutreten. Aber er erlitt in der Nähe der Stadt Havanna Schiffbruch, und die Spanier erdrosselten ihn mit der Garotte. Zum Führer dieser Männer wollte sich nun Henry Morgan aufschwingen. Voll Zuversicht ging er ans Werk. Kein Hindernis würde ihn aufhalten, wenn er sorgfältig überlegte und alle Möglichkeiten in Betracht zog. In Einzelaktionen waren diese Männer ungemein tüchtig, aber bei großen Unternehmungen versagten sie. Sie durchdachten ihre Handlungen nicht folgerichtig, viele waren dumm und alle eitel. Aber eines Tages konnten sie seinen Zwecken dienen. Mansveldt lebte noch und Bras de Fer war ein alter Mann, als 112
Henry Morgan mit dem schwarzen Grippo auf der »Ganymed« in See stach.
I Aufregung und Neugierde herrschte in Port Royal, als Morgan die »Ganymed« seetüchtig machte. Eine sonderbare Ladung und ungewöhnliche Waffen verschwanden im Bauch des Schiffes. Angezogen von der ruhigen Zuversicht dieses jungen Mannes, meldeten sich viele Seeleute als Freiwillige. Der Kapitän warb fünf bekannte Kanoniere an. Als die »Ganymed« Segel setzte und aus dem Hafen glitt, stand eine große Menschenmenge am Ufer und sah ihr nach. Das Schiff kreuzte an der Küste Dariens, aber nirgends kam eine Beute in Sicht. Das Meer schien wie leergefegt von spanischen Schiffen. Eines Morgens jedoch sichtete man unweit des Hafens von Cartagena den großen roten Rumpf eines Handelsschiffes. Kapitän Morgan schickte seine Leute von Deck. Keine Seele durfte sich sehen lassen. Selbst der Steuermann arbeitete in einem niedrigen Verschlag. Weithin sichtbar jedoch war eine täuschend ähnliche Steuerradattrappe angebracht, die keine Hand lenkte. So fuhren sie auf das spanische Schiff los, dessen Besatzung von Staunen überwältigt war. Da kam ein Schiff angefahren, das von keinem Menschen bedient wurde. Das sah nach Zauberei aus, oder es war eine jener zahlreichen Tragödien, von denen sich Seeleute nicht genug zu erzählen wissen. Vielleicht hatte eine Seuche die ganze Besatzung getötet, und man konnte das Schiff nehmen und verkaufen. Aber als die Spanier nahe heran waren, spieen drei getarnte Kanonen Flammen. Sie feuerten nur auf eine Stelle, und als sich der Rauch verzogen hatte, hing das spanische Ruder in Splittern, und das Schiff 113
trieb hilflos auf den Wellen. Kapitän Morgan hatte sich sofort aus der Reichweite der Breitseitengeschütze zurückgezogen, hing sich hinten an das spanische Schiff und feuerte so lange in den Rumpf, bis die Flagge niederging. Es war die erste Prise, das Ergebnis behutsamer Planung. Einige Tage später stieß er auf ein anderes Schiff, dem er durch ein geschicktes Manöver parallel zur Breitseite fuhr. Die spanische Besatzung stand dicht gedrängt an den Bollwerken, um den Angriff abzuwehren. Gleich darauf flogen mit Pulver gefüllte Tontöpfe durch die Luft, die in der dichten Schar der Verteidiger explodierten. Die Spanier liefen schreiend unter Deck, um diesem todbringenden Sprühregen zu entgehen. Als Henry Morgan schließlich nach Tortuga kam, folgten vier erbeutete Schiffe in seinem Kielwasser, und er hatte nicht einen einzigen Mann verloren. Alles war genauso leicht gegangen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte vier überzeugende Beweise für die Richtigkeit seiner Planung erbracht. Man brauchte nur schnell das Unerwartete zu tun. Das war das ganze Geheimnis erfolgreicher Kriegführung. Mansveldt war in Tortuga, als Henry Morgan dort eintraf. Als er die Beute sah, glitzerten seine kleinen Augen. Bald bat er den neuen Führer zu sich. »Sie sind also Kapitän Morgan, der die vier Prisen in den Hafen brachte ?« »Ja, der bin ich.« »Und wie haben Sie dieses Ding gedreht ? Die spanischen Schiffe sind stark bewaffnet und auf ihrer Hut.« »Ich hatte jedesmal einen bestimmten Plan. Viele Nächte habe ich darüber nachgedacht, wie man bei einer solchen Sache zu Werke gehen müßte. Ich arbeite mit Überraschung, während andere nur Gewalt gebrauchen.« Mansveldt betrachtete ihn mit Bewunderung. 114
»Ich rüste eine Expedition aus, um die Insel St. Catherine einzunehmen«, sagte er. »Dort will ich eine Republik von Bukanieren gründen, die dann mit Patriotismus kämpfen werden. Würden Sie vielleicht gern Vizeadmiral dieser Expedition ? Ich bin dafür bekannt, daß ich einen Blick für die richtigen Männer habe.« Mansveldt hatte einen großen Ruf. Das Angebot schmeichelte Henry. »Gern würde ich dieses Amt übernehmen«, sagte er schnell. Die Flotte lief aus, und Kapitän Morgan war Vizeadmiral. Der Überfall erfolgte plötzlich. Die Schiffe warfen die zerlumpten Horden an Land, und schon wurde auf den Mauern gekämpft und gemetzelt. Dem wilden Angriff konnte die Insel nicht widerstehen. Schließlich fiel auch die Festung. Dann bildete der holländische Admiral seine Regierung und hinterließ Henry Morgan als seinen Stellvertreter, während er selbst aufs Meer fuhr, um Beute zu machen und Rekruten zu sammeln. Er und sein Schiff gingen verloren und wurden nie mehr gesehen. Die Spanier richteten ihn hin. Henry Morgan war jetzt der bekannteste Piratenführer in den spanischen Gewässern. Von allen Seiten kamen Schiffe, um zu seiner Flotte zu stoßen, unter seinem Befehl zu fahren und an seinen Kämpfen und Erfolgen teilzunehmen. Er zog gegen Puerto Bello und legte die Stadt in Trümmer. Die Häuser wurden in Brand gesteckt und die wehrlosen Bürger ausgeplündert. Als die Schiffe fortsegelten, kroch schon der Dschungel in die Ruinen. Zehn Jahre lang zog er so auf dem Ozean, im Inselmeer und an den grünen Küsten des tropischen Amerika umher. Unter allen Piratenführern hatte er den größten Namen. Sein Ruhm lockte Seeräuber aus allen Ländern an. In Tortuga und Goaves feierte man ihn. Zahllose Freiwillige meldeten sich für jede 115
Expedition. Alle diese Männer warteten vergeblich darauf, daß er auf den Straßen ein Faß Rum anschlug oder jemals betrunken randalierte. Keiner erlebte das. Nüchtern und kalt ging er umher, bekleidet mit einem purpurroten Rock, grauen Seidenstrümpfen und grauen Schuhen mit Schleifen. An seiner Seite hing ein langer Degen, nicht dicker als ein Bleistift, in einer grauseidenen Scheide. In der ersten Zeit bemühten sich die Matrosen, Kameradschaft mit ihm zu pflegen, aber er war unnahbar. Er vergaß nie, was er als Sklavenaufseher gelernt hatte. Er machte gar nicht den Versuch, nach Volkstümlichkeit zu haschen, und die Folge war, daß er der angebetete Held der Freien Bruderschaft wurde und daß alle ihre Mitglieder diesem erfolgreichsten ihrer Kapitäne ihr Leben und ihr Schicksal anvertrauten.
II Zehn Jahre Kampf, Plündern und Brennen. Henry Morgan war jetzt Mitte Dreißig. Sein schon ergrauendes Haar schien sich noch enger um seinen Kopf zu ringeln. Er war erfolgreich, der vom Glück am meisten begünstigte Freibeuter der Welt, und seine Kameraden bewunderten ihn so, wie er es sich erträumt hatte. Seine Feinde – und jeder Spanier, der Geld hatte, war sein Feind – schauderten zusammen, wenn sein Name fiel. Sie fürchteten ihn wie Drake und L’Ollonais. Als er mit Grippo auf der »Ganymed« ausfuhr, war er überzeugt, daß ihn, wenn seine Kanonen Löcher in ein spanisches Schiff rissen, wenn er auf einem spanischen Deck stand und von Schreien und Waffengeklirr umtost war, jenes heiße Glücksgefuhl überströmen würde, nach dem sein Herz verlangte. Er hatte das alles erfahren und doch keine Befriedigung darin gefunden. Die dumpfe Sehnsucht in 116
ihm wuchs und zerriß sein Herz. Er hatte gedacht, die an Anbetung grenzende Verehrung, die ihm die Freie Bruderschaft entgegenbrachte, würde diese Wunde heilen, das Staunen der Welt über seine Klugheit und seine Erfolge würde ihm schmeicheln und ihn befriedigen. Nun war es soweit, er hatte erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Die Leute krochen fast vor ihm, aber er entdeckte, daß er sie deswegen verachtete und sie für Dummköpfe hielt, weil sie sich von so einfachen Dingen verblüffen ließen. Henry fühlte sich einsam in seinem Ruhm. Der alte Merlin hatte vor vielen Jahren die Wahrheit gesprochen : Kapitän Morgan hatte erreicht, was er wollte, aber er fühlte sich einsam und besaß keinen Freund. Die Sehnsucht, die an seinem Herzen nagte, fand keinen Ausweg und kein Ziel. Seine Ängste, seine Bedrückungen, seine Zweifel, seine Fehlschläge und kleinen Schwächen – das alles mußte er verstecken. Seine Gefolgschaft hing an ihm, weil sie ihn für übernatürlich stark hielt ; würde sie ihn nicht beim ersten Zeichen von Schwäche verlassen ? Er mußte damit rechnen. Während er Schätze zusammentrug, war ein seltsames Gerücht durchs Land geschlichen, hatte sich auf den Inseln verbreitet und war sogar an Bord der Schiffe geklettert. Ein Name wurde geflüstert – und jeder spitzte die Ohren. »In Panama lebt eine Frau, die schön ist wie die Sonne. Sie heißt dort die Rote Heilige. Alle Männer knien vor ihr.« So flüsterte man zuerst. Dann wurde das Gerücht vernehmlicher und schließlich ganz laut, bis man in den Schenken auf La Santa Roja trank. Während der Hundewache unterhielten sich die jungen Matrosen über sie. »Im Goldenen Becher soll eine Frau sein, die alle Männer anbeten wie Heiden die Sonne.« In Goaves hörte man sogar auf den Straßen von ihr reden. Niemand hatte 117
sie bis jetzt gesehen, niemand konnte den Teint ihrer Wangen oder die Farbe ihres Haares beschreiben. Aber binnen weniger Jahre hatte jeder an den wilden, weiten Küsten des spanischen Meeres auf die Rote Heilige getrunken und von ihr geträumt. Sie brachte die Männer dazu, ihr Herz zu prüfen, sie nahm die Züge einer ehemals in Europa hinter-lassenen Jugendgeliebten an, die jetzt, nach so vielen Jahren, von der Phantasie prächtig ausgeschmückt, wieder zum Vorschein kam. Panama wurde jedem Mann zum Ziel seiner Sehnsucht. Es war sonderbar. Diese unbekannte Frau versetzte diese rauhen Seeräuber in einen Rauschzustand, so daß sie kein Gespräch mehr führen konnten, ohne ihrer Erwähnung zu tun. Sie wurde für sie fast zu einer neuen Jungfrau, der sie ihre Verehrung darbrachten. Manche trugen, wenn sie zur Mutter Gottes beteten, auch La Santa Roja ihr Anliegen vor. Die Einnahme von Puerto Bello durch Kapitän Morgan erfüllte den Gouverneur von Panama mit Bewunderung. Er konnte aus dem Staunen gar nicht herauskommen, daß solch eine zerlumpte Horde schlecht geführter Leute ohne Uniformen eine solche Stadt erobern konnte. Er ließ sich durch einen Boten ein kleines Muster der Waffen erbitten, die so etwas möglich gemacht hatten. Kapitän Morgan führte den Boten in ein Gemach, das von der Feuersbrunst verschont geblieben war. »Hast du die Frau gesehen, die man in Panama die Rote Heilige nennt ?« fragte er. »Gesehen habe ich sie nicht, aber ich habe von ihr gehört. Bei den jungen Männern kommt sie gleich nach der Heiligen Jungfrau. Sie soll strahlend schön wie die Sonne sein . . .« »Wie ist ihr eigentlicher Name ?« »Das weiß ich nicht. Ich habe nur gehört, daß sie strahlend schön sein soll. Man sagt, sie sei von Córdoba gekommen und sei in Paris gewesen. Sie stammt angeblich aus adligem Geschlecht. 118
Sie soll auf einer von einer dichten Hecke umschlossenen Wiese nach Männerart auf Hengsten reiten. Es wird auch behauptet, daß sie geschickter fechten kann als irgendein Mann. Diese Dinge tut sie im geheimen, damit niemand sieht, daß sie gegen die Schicklichkeit verstößt.« »Wenn sie so schön ist, wie du sagst, was braucht sie sich dann um Schicklichkeit zu kümmern ?« versetzte Kapitän Morgan. »Schicklichkeit ist nur ein Schönheitspflästerchen, das man aufklebt, wenn Besuch da ist – ein Mittel, den Reiz zu erhöhen. Ich würde sie gern einmal reiten sehen. Weißt du sonst noch was von ihr zu berichten ?« »Nur was man in den Schenken erzählt – sie soll den Heiligen die Verehrung gestohlen haben, die man nur ihnen schuldet.« Kapitän Morgan saß lange träumend da, während der Bote schweigend wartete. Schließlich schüttelte er den Kopf, als wolle er lästige Gedanken vertreiben. Er zog eine Pistole aus dem Gürtel und gab sie dem Boten. »Überbringe sie Don Juan Perez de Guzman und sage ihm, so sähen die Waffen aus, die wir bei der Eroberung von Puerto Bello gebraucht haben. Aber meine anderen Waffen sind die starken Herzen meiner Leute. Von diesen werde ich ihm nicht nur eins senden, sondern eine beträchtliche Anzahl. Sage ihm, er soll die Pistole ein Jahr lang behalten, dann werde ich ihn persönlich besuchen und sie aus seiner Hand wieder entgegennehmen. Hast du mich verstanden ?« »Ja, Herr Kapitän.« Nach einigen Tagen kam der Bote wieder, brachte die Pistole zurück und mit ihr einen großen, viereckigen, in einen Ring gefaßten Smaragd. »Mein Herr bittet, Sie möchten diesen Stein als Zeichen seiner Hochachtung annehmen. Aber Sie möchten sich nicht die Mühe machen, nach Panama zu kommen – denn dann würde seine 119
Bewunderung ihn nicht von seiner Pflicht abhalten, Sie an den nächsten Baum zu hängen.« »Das ist eine gute Botschaft«, sagte der Kapitän, »eine ganz ausgezeichnete Botschaft. Sehr gern möchte ich mit Don Juan zusammentreffen, wenn auch am liebsten mit dem gezückten Schwert in der Hand. Es ist lange her, daß mich jemand herausgefordert hat. Und hast du mehr über La Santa Roja erfahren ?« »Nur was man auf der Straße erzählt. Ich habe überall herumgefragt, um Ihnen etwas Neues über sie sagen zu können. Sie soll, wenn sie ausgeht, einen dichten Schleier tragen, damit niemand ihr Gesicht sehen kann. Einige behaupten, es geschähe deshalb, weil sonst die Männer sich aus Liebesschmerz umbringen würden … Das ist alles, was ich in Erfahrung bringen konnte. Haben Sie sonst noch etwas auszurichten ?« »Sage deinem Herrn, daß ich innerhalb eines Jahres aus dem Goldenen Becher trinken werde.«
III Sein ganzes Leben lang war sein Wille wie eine eiserne Wetterfahne gewesen, die starr nach einer Richtung zeigt, aber niemals lange. Westindien, das Meer, die erfolgreichen Beutezüge und der Ruhm hatten seine Sehnsucht nicht stillen können. Er hatte alles erprobt, und alles war ihm unter den Händen verwelkt. Nur die Einsamkeit war geblieben. Seine Leute blickten mit scheuer Ehrfurcht zu ihm auf. Sie fürchteten ihn ; aber das befriedigte seine Eitelkeit nicht mehr. Er fragte sich, ob er niemanden von seinen Leuten als Freund gewinnen könne – aber er hatte so lange in der Burg seiner Einsamkeit gelebt, daß dieser Gedanke ihn verlegen machte 120
wie einen Knaben, der in eine neue Schule kommt. Er konnte sich auch nicht vorstellen, wer da in Betracht kommen könnte. Wenn er an ihre verbissenen Gesichter, an ihre gierigen Augen bei der Verteilung der Beute dachte, verging ihm die Lust, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Da kam ihm eines Tages ein junger Franzose in Erinnerung, den man Coeur de Gris nannte. Er war Kapitän Morgan durch seinen Mut aufgefallen. Mit raubtierartiger Geschmeidigkeit bewegte er sich im Kampfgetümmel. Sein Degen flitzte durch die Luft wie eine silbrige Feuerzunge. Er führte lieber die lange dünne Klinge als einen kurzen Säbel. Dieser junge Mann nahm Kapitän Morgans Befehle nicht mit finsterem Gesicht, sondern lächelnd entgegen. In seinen Augen sah man Ehrerbietung, aber keine Furcht, keine Eifersucht und kein Mißtrauen. »Ob dieser Coeur de Gris wohl mein Freund werden könnte ?« dachte Henry Morgan. »Überall, wo er aufgetaucht ist, soll er gebrochene Herzen zurückgelassen haben, und deshalb fürchte ich ihn ein wenig ; ich weiß nicht recht, warum.« Kapitän Morgan ließ den jungen Mann kommen, aber als er da war, fand er es schwierig, sich mit ihm zu unterhalten. »Da sind Sie ja – nun, wie geht es, Coeur de Gris ?« Der junge Mann war überwältigt, weil sein Kapitän ihn so herzich empfing. »Sehr gut, Herr Kapitän. Haben Sie einen Auftrag für mich ?« »Auftrag ? Nein. Ich dachte mir nur so, ich möchte einmal mit Ihnen sprechen – weiter nichts.« »Mit mir sprechen ? Wovon ?« »Nun – was machen denn die vielen netten Mädchen, die Sie gehabt haben sollen ?« fragte der Kapitän; aber der Versuch, einen leutseligen, scherzhaften Ton anzuschlagen, mißlang kläglich. »Oh, in Wirklichkeit sind es gar nicht so viele, wie man behauptet.« 121
Da zeigte Kapitän Morgan ganz unverhüllt, weshalb er ihn hatte kommen lassen. »Hör mich an, Coeur de Gris. Kannst du dir wohl vorstellen, daß ich einen Freund brauche ? Kannst du dir wohl denken, daß ich ein einsamer Mann bin ? Alle meine Leute haben Angst vor mir. Sie kommen zu mir, um Befehle zu empfangen, aber nie, um mit mir ein ruhiges Stündchen zu verplaudern. Ich weiß, daß ich diesen Zustand selbst herbeigeführt habe. Am Anfang mußte es so sein, denn ich mußte ein gefürchteter Mann werden, damit man mir gehorchte. Aber jetzt gibt es Zeiten, wo ich mich gerne aussprechen würde, und nicht nur über Krieg und Beutemachen. Zehn Jahre lang bin ich wie ein stummer Seewolf über die Meere gestreift und nirgendwo habe ich einen Freund. Ich habe dich als meinen Freund erwählt, erstens, weil ich dich gern habe, und zweitens, weil du nicht annehmen kannst, ich könnte dir etwas nehmen oder stehlen, denn du hast nichts dergleichen. Auch bin ich in meinem Herzen ein verträglicher Mensch. So kannst du mir ohne Furcht zugetan sein. Es ist sonderbar, wie argwöhnisch man gegen mich ist. Ich habe über jede Reise einen genauen Rechenschaftsbericht gegeben ; aber wenn ich freundschaftlich mit meinen Leuten sprach, haben sie ihr Gehirn zermartert, um hinter meinen offenen und sachlichen Worten die geheimen Absichten zu entdecken. Willst du mein Freund sein, Coeur de Gris ?« »Von ganzem Herzen, Herr Kapitän, und wenn ich gewußt hätte, daß Sie einen Freund suchen, wäre ich es längst gewesen. Wie kann ich Ihnen dienen ?« »Oh, einfach dadurch, daß du dich dann und wann mit mir unterhältst und mir ein bißchen Vertrauen schenkst. Ich habe keinen anderen Beweggrund als meine Einsamkeit. Aber du sprichst und handelst wie ein Gentleman, Coeur de Gris. Darf ich mich nach deiner Familie erkundigen – oder trägst du diesen 122
Namen nur wie eine verbergende Hülle, wie es so viele hier an der Küste tun ?« »Von meiner Familie ist wenig zu berichten. Mein Vater soll der große Bras de Fer gewesen sein ; aber wer Bras de Fer war, hat keiner je erfahren. Man gab mir meinen Namen in Erinnerung an seinen. Meine Mutter gehört zu den sogenannten leichten Mädchen von Goaves. Sie war achtzehn, als sie mich gebar. Sie stammte aus einer sehr alten Familie, die hugenottisch wurde … Ihr ganzer Besitz ging in der Bartholomäusnacht verloren. Als meine Mutter geboren wurde, war ihre Familie gänzlich verarmt. So wurde sie eines Tages auf der Straße aufgegriffen und mit einer ganzen Schiffsladung von Streunerinnen nach Goaves gebracht. Bald darauf lernte sie Bras de Fer kennen.« »Du sagst, daß sie ein leichtes Mädchen ist«, sagte Henry Morgan, betroffen, daß dieser junge Mann anscheinend nichts dabei fand. »Sicher hat sie jetzt dies – dieses Gewerbe aufgegeben, nachdem du so große Beute heimgetragen hast. Die langt doch für euch beide und noch für viele …« »Gewiß. Aber sie setzt ihr früheres Leben fort. Ich lasse sie gewähren, denn warum soll ich mich in etwas hineinmischen, was sie als einen Lebensinhalt betrachtet ? Sie ist stolz auf ihre Stellung, stolz, daß sie die besten Kunden hat. Es gefällt ihr, daß sie es, obschon sie Anfang vierzig ist, noch leicht mit dem jungen Gemüse aufnehmen kann, das jedes Jahr frisch in den Hafen kommt. Warum sollte ich den ruhigen Lauf ihres Lebens ändern – selbst wenn ich es könnte ? Nein, sie ist eine liebenswerte Frau und sie ist mir immer eine gute Mutter gewesen. Ihr größter Fehler ist, daß sie sich zu viele Sorgen um zu viele kleine Dinge macht. Sie mäkelt an mir herum, wenn ich daheim bin, und weint, wenn ich fortgehe. Sie hat schreckliche Angst, ich könnte einmal eine Frau finden, die mir Kummer bereitet.« 123
»Sonderbar, nicht wahr ? – Wenn man bedenkt, welches Leben sie fuhrt …« »Was ist daran so sonderbar ? Müssen die Frauen, die in diesem uralten Beruf tätig sind, ein anderes Gehirn haben ? Nein, Herr Kapitän, ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ihr Leben untadelig ist. Sie verrichtet dreimal am Tag ihr Gebet, und in ganz Goaves dürfte es wohl keinen geordneteren Haushalt geben. Denken Sie, als ich das letztemal heimkehrte, brachte ich ihr einen kostbaren Schal mit, der mir bei der Verteilung der Beute zufiel – ein herrliches durchsichtiges Gespinst aus Goldfäden. Sie wollte ihn nicht haben. Der gehöre um den Hals einer Katholikin, sagte sie, und es gezieme sich nicht für eine Hugenottin, ihn zu tragen. Ach, sie macht sich solche Sorgen um mich, wenn ich auf See bin. Sie hat schreckliche Angst, ich könnte verwundet werden ; aber fast noch größere Angst hat sie um mein Seelenheil. Das ist alles, was ich von meiner Familie weiß.« Kapitän Morgan ging zu einem Schrank und entnahm ihm zwei seltsam aussehende Krüge mit peruanischem Wein. Jeder Krug hatte zwei Hälse, und wenn der Wein aus dem einen floß, drang aus dem anderen ein feines Pfeifen. »Ich fand diese Krüge auf einem spanischen Schiff«, sagte er. »Willst du mit mir trinken, Coeur de Gris ?« »Es wäre mir eine große Ehre, Herr Kapitän.« Sie saßen lange in Ruhe bei diesem Wein ; dann sagte Kapitän Morgan träumerisch : »Es wundert mich, Coeur de Gris, daß du noch nicht von der Roten Heiligen besessen bist. Aber dann wäre sicher schon das Wespennest von Panama in hellem Aufruhr. Sie muß ebenso eifersüchtig bewacht werden wie Helena. Du hast doch schon von der Roten Heiligen gehört ?« Die Augen des jungen Mannes funkelten vom Wein. 124
»Gehört, Herr Kapitän ? Mein Gott, ich habe von ihr geträumt und im Schlafe laut nach ihr gerufen. Wer hat das noch nicht getan ? Wer hat in diesem Teil der Welt noch nicht von ihr gehört ? Aber niemand weiß etwas Genaues über sie. Sonderbar, der Name dieser Frau wirkt wie ein Zauber. La Santa Roja ! La Santa Roja ! Er weckt Sehnsucht im Herzen eines jeden Mannes, aber es ist keine Sehnsucht, die wirkliche Erfüllung verheißt, sondern jene traumhafte der geheimen Wünsche : es ist eine Märchensehnsucht. Man träumt, man wäre Prinz, König, Zauberer … Die jungen Leute machen wilde Pläne, manche wollen sich verkleidet in Panama einschleichen, manche möchten es mit Pulver in die Luft sprengen. Sie träumen mit wachen Augen davon, die Rote Heilige zu entführen. Ich habe gehört, wie ein von Krankheit zerfressener Matrose nachts leise zu sich selbst sagte : ›Wenn ich nicht so krank wäre, würde ich versuchen, La Santa Roja zu rauben.‹ Aber es bleibt bei Plänen und Träumen. Meine Mutter in Goaves quält sich mit der Angst, daß ich verrückt werde und hinter dieser Frau herlaufe. Sie fürchtet sie. ›Komm ihr nicht zu nahe, mein Sohn‹, sagt sie. ›Diese Frau ist böse, sie ist vielleicht der Teufel, bestimmt aber eine Katholikin.‹ Und keiner läßt sich ausfindig machen, der sie gesehen hat. Wir wissen nicht einmal, daß es wirklich eine solche Frau im Goldenen Becher gibt … Ich habe mir schon gedacht, daß eines Tages Panama ihretwegen dasselbe Schicksal erleiden wird wie Troja.« Henry Morgan hatte die Gläser immer wieder nachgefüllt. Er saß vornübergebeugt in seinem Sessel, ein listiges Lächeln umspielte seinen Mund. »Ja«, sagte er, schon mit schwerer Zunge, »sie ist eine Gefahr für den Völkerfrieden und vor allem für den Herzensfrieden der Männer. Es ist natürlich eine lächerliche Geschichte … Sie ist wahrscheinlich irgendein ganz hübsches und berechnendes 125
Wesen, das seine Schönheit aus der Phantasie der Männer bezieht … Aber wie kommt eine solche Vorstellung zustande ? Zum Wohlsein, Coeur de Gris. Wirst du mir ein guter und treuer Freund sein ?« »Ja, Herr Kapitän.« Und wieder tranken sie schweigend den starken Wein. »Aber in den Frauen ist viel Leid«, begann Henry Morgan, als hätte er gerade aufgehört zu reden. »Sie scheinen den Schmerz mit sich zu führen wie einen Beutel mit Silber, der ein Loch hat. Du sollst viel geliebt haben, Coeur de Gris. Hast du nie den Schmerz gefühlt, den sie tragen ?« »Ich kann mich nicht erinnern, Herr Kapitän. Man hat natürlich seine kleinen Gewissensbisse und allerlei Sorgen und Bedrückungen, aber ich habe meistens nur Vergnügen bei Frauen gefunden.« »Dann bist du ein glücklicher Mann«, sagte der Kapitän. »Du bist schon allein dadurch glücklich, daß du nie den Schmerz gespürt hast. Mein eigenes Leben ist durch Liebe vergiftet worden. Das Leben, das ich führe, wurde mir durch eine verlorene Liebe aufgezwungen.« »Wie ist denn das zugegangen, Herr Kapitän ? Das hätte ich mir denn doch nicht gedacht, daß Sie –« »Ich weiß. Ich weiß, ich habe mich so verändert, daß selbst du bei dem Gedanken, ich sei verliebt gewesen, lachen mußt. Jetzt könnte ich allerdings keine Grafentochter mehr dazu bringen, mich zärtlich zu lieben … Nein, gewiß nicht. Es ist lange her.« »Die Tochter eines Grafen, Herr Kapitän ?« »Ja, die Tochter eines Grafen. Wir liebten uns zu leidenschaftlich – zu vollkommen. Einst kam sie zu mir in einen Rosengarten und lag bis zum hellen Morgen in meinen Armen. Ich wollte mit ihr in ein fernes schönes Land fahren und ihren Titel hinter uns im Meer versenken. Vielleicht könnte ich jetzt 126
glücklich in Virginia leben, täglich von kleinen unschuldigen Freuden umgeben.« »Das ist wirklich ein großer Jammer.« Der Kapitän tat Coeur de Gris in der Seele leid. »Aber ihr Vater bekam Wind von der Sache. In einer dunklen Nacht wurde ich überwältigt und gefesselt, und sie, Elisabeth, wurde von meiner Seite gerissen. Man brachte mich, noch gebunden, auf ein Schiff und verkaufte mich in Barbados. Verstehst du jetzt, Coeur de Gris, daß ich manchmal so abwesend und ruhelos bin ? Während dieser Jahre ist ihr Bild auf allen meinen Beutezügen bei mir geblieben. Manchmal plagt mich der Gedanke, daß ich später gar keine Schritte mehr unternommen habe, aber ihr Vater war ein mächtiger Herr.« »Sie sind nach Beendigung Ihrer Gefangenschaft nie mehr zurückgegangen, um sie zu suchen ?« »Nein, mein Freund – nie mehr.«
IV Das Märchen von der Roten Heiligen wucherte wie ein unbezwingliches Schlinggewächs in seinem Gehirn. Aus dem Westen kam eine Stimme, lockend, spottend, höhnend. Er vergaß das Meer und seine Schiffe. Die Bukaniere hatten leere Taschen, weil sie so lange keine Beute gemacht hatten. Sie lagen schläfrig an Deck und verfluchten ihren Kapitän als einen hirnlosen Narren. Er kämpfte verzweifelt gegen die sich immer mehr zusammenziehenden Netze seines Traumes und suchte die Stimme, die er hörte, zu übertönen. »Diese Santa Roja soll zur Hölle fahren, weil sie uns alle verrückt macht. Sie bringt es fertig, daß Halsabschneider den Mond anbellen wie liebeskranke Hunde. Sie treibt mich mit diesem 127
sinnlosen Verlangen zum Wahnsinn. Ich muß etwas unternehmen – irgendwas –, um dieses Weib, das mich ständig verfolgt und das ich nie gesehen habe, loszuwerden. Ich muß diesen Spuk vertreiben. Wie kann ich nur auf den Gedanken kommen, den Goldenen Becher zu erbeuten ! Ein solches Unternehmen wäre für uns alle der Tod.« Er spürte wieder denselben Hunger, der ihn aus Wales getrieben hatte, nur noch stärker. Seine Gedanken raubten ihm den Schlaf. Wenn er endlich erschöpft einschlummerte, schlüpfte La Santa Roja in den letzten offenen Spalt des Bewußtseins. »Ich will Maracaibo nehmen«, rief er verzweifelt. »Ich will diese Sehnsucht in einem Blutbad ertränken. Ich will Maracaibo ausplündern, es in Stücke reißen und blutend im Sand liegen lassen.« (Es ist eine Frau im Goldenen Becher, die man wegen ihrer unsagbaren Schönheit anbetet.) »Sammelpunkt die Insel de la Vaca ! Die tapfersten Herzen her von allen Enden der See ! Jeder kann reich werden !« Seine Schiffe flogen in die Bucht von Maracaibo. Die Stadt rüstete sich fieberhaft zur Verteidigung. »Hinein in den Flaschenhals des Hafens! Ja, an die Kanonen!« Die Geschosse pfiffen durch die Luft und wirbelten Staubwolken aus den Mauern auf, aber die Stadt hielt stand. »Sie will sich nicht ergeben ? Dann nehmt sie im Sturm !« Pulvertöpfe flogen über die Mauern und zerrissen die Verteidiger hinter ihnen in Fetzen. »Das sind Bestien !« schrien sie. »Brüder, wir dürfen nicht um Gnade bitten. Wenn wir fallen, wird unsere schöne Stadt –« Leitern wurden angesetzt, und eine Welle brüllender Männer überspülte die Mauern. »Heiliger Lorenzo ! Verbirg uns ! Trag uns fort ! Das sind keine Menschen, sondern Teufel ! Erhöre uns ! Erhöre uns ! Gnade !« 128
»Nieder mit den Mauern ! Kein Stein bleibt auf dem anderen !« (Es ist eine Frau im Goldenen Becher, strahlend schön wie die Sonne.) »Kein Pardon wird gegeben ! Tötet die spanischen Ratten ! Nieder mit ihnen !« Maracaibo lag flehend auf den Knien. Von den Häusern wurden die Türen weggerissen, jeder tragbare Gegenstand wurde aus den Zimmern geschleppt. Die Frauen wurden in eine Kirche getrieben und eingeschlossen. Die Gefangenen brachte man vor Henry Morgan. »Hier ist ein alter Mann. Er ist bestimmt reich, aber er hat seine Schätze versteckt, und wir können sie nicht finden.« »Peitscht ihn ! Steckt ihm die Füße ins Feuer ! Was, er will noch immer nicht gestehen ? Strick um die Schläfen, quetscht ihm das Gehirn heraus ! – Schlagt ihn tot, rasch, schlagt ihn tot, daß er zu schreien aufhört ! – Vielleicht hatte er gar kein Geld –« (Es ist eine Frau in Panama -) »Habt ihr auch wirklich jedes Goldkorn herausgepreßt aus der Stadt ? Wir wollen reich sein nach all den Strapazen !« Eine spanische Flotte näherte sich, um die Stadt zu entsetzen. »Ein spanisches Geschwader ? Wir stellen uns zum Kampf ! Nein, nein ; wir flüchten doch lieber. Unsere Schiffe liegen zu tief im Wasser mit all dem Gold, das wir an Bord haben. Bringt die Gefangenen um !« (– sie ist so schön wie die Sonne.) Und Kapitän Morgan verließ das vernichtete Maracaibo. Zweihundertfünfzigtausend Goldstücke waren an Bord seiner Schiffe und Stoffballen und Silbergeschirr und Gewürzsäcke. Er hatte goldene Altarbilder aus der Kathedrale geraubt und perlenbestickte Gewänder. Und die Stadt war ein brennendes Wrack. 129
»Wir sind reicher geworden, als wir je hoffen durften. Es wird Freude sein in Tortuga, wenn wir zurückkommen ! Jeder Mann ein Held ! Wir werden feiern wie die Verrückten.« (– in Panama ist La Santa Roja.) »Dann bleibt mir also nichts anderes übrig. Aber ich fürchte, ich gehe dem Tod entgegen. Es ist der gefährlichste Versuch, den ich je unternommen habe. Ich muß dieses Verlangen stillen, selbst wenn ich zugrunde gehe.« Er rief den jungen Coeur de Gris zu sich. »Du hast dich in diesem Kampf ausgezeichnet, mein Freund.« »Ich habe nur getan, was notwendig war.« »Du hast tapfer gekämpft. Ich habe es gesehen. Darum ernenne ich dich zu meinem Stellvertreter. Du bist tapfer und klug und vor allem – du bist mein Freund. Ich kann dir vertrauen. Wer von allen meinen Leuten würde dieses Vertrauen nicht enttäuschen, wenn es sich für ihn lohnte ?« »Es ist eine große Ehre, Herr Kapitän. Ich werde Ihr Vertrauen mit Treue vergelten. Meine Mutter wird sich freuen.« »Ja«, sagte Kapitän Morgan lächelnd, »du bist ein junger Tor. Das ist eine große Tugend, so lange man einen hat, der führt und rät. Die Leute drängen schon, heimzukommen, damit sie ihr Geld ausgeben können. Wenn es möglich wäre, würden sie sich hinter die Schiffe stemmen, damit sie schneller fahren. Was wirst du mit deinem Geld anfangen, Coeur de Gris ?« »Die Hälfte werde ich meiner Mutter schicken. Den Rest werde ich teilen. Einen Teil werde ich zurücklegen und mit dem anderen werde ich mich ein paar Tage oder vielleicht auch eine Woche betrinken. Nach solchem Kampf tut ein mächtiger Rausch gut.« »Mir hat es nie Spaß gemacht, mich zu betrinken«, sagte der Kapitän. »Ich werde traurig davon. Aber ich habe schon ein neues Unternehmen im Kopf. Coeur de Gris, welches ist die 130
reichste Stadt der westlichen Welt ? Welche Stadt hat noch nicht die geringste Schramme von der Bruderschaft erhalten ? Wo könnten wir alle Millionen scheffeln ?« »Aber, Herr Kapitän, Sie denken doch nicht an – Sie können es doch sicher nicht für möglich halten –« »Doch, ich will Panama einnehmen – aus dem Goldenen Becher trinken.« »Wie soll das möglich sein ? Die Stadt ist stark befestigt und hat eine große Garnison, und über die Landenge führt nur ein Maultierpfad. »Ich muß Panama nehmen. Ich muß den Goldenen Becher haben.« Der Kapitän biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten. Da huschte Coeur de Gris ein Lächeln über das Gesicht. »Lachst du über mich ?« fragte Kapitän Morgan. »Mir fiel nur eine kleine Bemerkung ein, die ich vor einiger Zeit gemacht habe. Ich sagte nämlich, daß Panama vielleicht ein ähnliches Schicksal wie Troja erleiden würde.« »Ah ! Diese namenlose Frau steckt dir also auch im Kopf. Gib sie auf ! Vielleicht existiert sie gar nicht.« »Warum sollten wir dann gegen Panama ziehen ? Unsere letzte Beute hat uns reich genug gemacht.« »Es wäre doch nicht übel, wenn wir noch reicher würden ? Ich bekomme allmählich das Plündern satt, ich möchte mich bald zur Ruhe setzen.« Ein leichter Schleier legte sich über Coeur de Gris’ Augen, er zögerte eine Weile. »Ich glaube, Herr Kapitän, wenn wir nach Panama kommen, wird jeder seinem besten Freund wegen dieser Roten Heiligen an die Kehle springen !« »Du darfst mir schon zutrauen, daß ich Ordnung unter meinen Leuten halten werde – strenge Ordnung –, und wenn 131
ich die Hälfte von ihnen hängen muß ! Vor einiger Zeit ließ ich dem Gouverneur von Panama melden, daß ich ihn besuchen würde, aber ich sagte das mehr im Scherz. Vielleicht hat auch er es so aufgefaßt. Geh jetzt, Coeur de Gris, aber sage hiervon keinem etwas. Ich mache dich zu meinem Gesandten. Laß die Leute ihr Gold wegwerfen. Sie sollen ruhig drum spielen – hier – jetzt – auf dem Schiff. Geh ihnen mit gutem Beispiel in den Kneipen voran – das heißt, gib viel Geld aus ! Dann werden sie gezwungen sein, wieder mit mir zu gehen. Dieses Mal muß ich ein Heer haben, lieber Freund, und selbst dann können wir alle zugrunde gehen. Ich bin mir darüber klar. Aber vielleicht ist das der Hauptspaß des Lebens – es aufs Spiel zu setzen … Befolge gut, was ich dir aufgetragen habe. Vielleicht wirst du dann eines Tages reicher sein, als du dir jetzt denken kannst !« Der junge Coeur de Gris stand sinnend am Mast. »Auch unseren Kapitän, unseren kalten Kapitän, hat dieses fieberhafte Gerücht angesteckt … Wie sonderbar ! Es ist, als wäre mir die Rote Heilige aus den Armen gerissen worden. Mein Traum ist zerstört. Wenn sie es erst alle wissen, was er plant, wenn jeder das Gefühl eines bitteren Verlustes mit sich herumträgt – werden sie dann den Kapitän nicht hassen ? Weil er ihre Sehnsucht gestohlen hat ?«
V Sir Edward Morgan führte eine Streitmacht gegen St. Eustatius. Mitten im wütenden Kampf schlüpfte ein flinker brauner Indianer durch die Reihen und stieß ihm ein langes Messer in den Bauch. Der Vizegouverneur preßte die Lippen zu einer schmalen, harten Linie zusammen und sank zu Boden. »Meine weißen Hosen sind ruiniert«, dachte er. »Warum 132
mußte der Teufel das tun, gerade als wir so schön im Vorrücken waren ? Seine Majestät hätte mir ihren besonderen Dank ausgedrückt, aber jetzt werde ich ihn nicht mehr entgegennehmen können. Himmel noch mal, er hat sich eine peinliche Stelle ausgewählt !« Dann erkannte er das ganze Ausmaß des Unglücks. »Ein gewöhnliches Messer !« stammelte er. »Und in den Bauch ! Ein Schwert in der Hand eines Standesgenossen – ja, aber ein Messer und in den Bauch ! Ich muß ja scheußlich aussehen mit all dem Blut und Dreck an mir. Ich kann mich nicht mehr aufrichten ! Himmel, der Kerl hat eine empfindliche Stelle getroffen !« Seine Leute brachten ihn nach Port Royal. »Es ließ sich nicht vermeiden«, erzählte er dem Gouverneur. »Glitt von unten an mir herauf, der Kerl, und stieß mir das Messer in den Bauch. War so klein, der Satan, daß er wohl gar nicht viel höher hinauflangen konnte. Erwähnen Sie bitte in Ihrem Bericht an die Krone nichts von dem Messer oder dem Bauch. Und wollen Sie mich jetzt mit meiner Tochter allein lassen ? Ich habe nicht mehr lange zu leben.« Elisabeth beugte sich in dem verdunkelten Zimmer über ihn. »Bist du schwer verwundet, Vater ?« »Ja, sehr schwer. Ich werde sterben.« »Unsinn, Papa. Du machst einen Scherz …« »Elisabeth – hast du mich jemals scherzen hören ? Ich habe verschiedene Dinge mit dir zu besprechen, und die Zeit ist sehr kurz. Was wirst du beginnen ? Es ist nur wenig Geld da. Seitdem der König seine letzte allgemeine Andeutung über eine Anleihe machte, haben wir von meinem Gehalt gelebt.« »Aber was redest du denn da, Papa ? Du kannst doch nicht sterben und mich hier allein und verloren zurücklassen ! Das kannst du nicht, das darfst du nicht !« »Ob ich darf oder nicht, jedenfalls ist es aus mit mir. Darum laß 133
uns diese Sache besprechen, solange es geht. Vielleicht wird dein Cousin, der durch seine Räubereien solchen Ruhm erlangt hat, für dich sorgen. Der Gedanke ist mir peinlich, aber was will man tun, man muß leben. Und schließlich ist er dein Cousin.« »Ich will es nicht glauben. Ich glaube es einfach nicht. Du darfst nicht sterben !« »Du mußt bei dem Gouverneur bleiben, bis du deinen Cousin treffen kannst. Sage ihm genau, wie die Dinge stehen. Du brauchst nicht vor ihm zu kriechen – aber sei nicht zu stolz. Wenn er auch ein Räuber ist, so denke doch daran, daß er dein Blutsverwandter ist …« Er röchelte nun laut, und Elisabeth begann leise zu weinen, wie ein Kind, das nicht recht sagen kann, ob es sich weh getan hat oder nicht. Schließlich rang sich Sir Edward noch einmal zusammenhängende Worte ab. »Ich habe gehört, daß man einen Gentleman daran erkennt, wie er stirbt – aber ich möchte jetzt stöhnen. Robert hätte den Wunsch nicht unterdrückt, wenn ihm so zumute gewesen wäre. Natürlich war Robert ein sonderbarer Mensch – aber schließlich – war er mein Bruder – er hätte geschrien – Elisabeth, willst du bitte – das Zimmer verlassen. Es ist mir schrecklich – aber ich muß stöhnen. Sprich nie darüber – Elisabeth – du versprichst es mir – nie davon zu sprechen ?« Als sie wieder hereinkam, war Sir Edward Morgan tot.
VI In Kambrium war der Frühling eingezogen. Er kam aus Westindien und dem heißen, trockenen Herzen Afrikas. Es war der fünfzehnte Frühling, seitdem Henry fort war. Der alte Robert stellte sich gern vor und glaubte es schließlich sogar, daß sein Sohn den Frühling aus den Tropen nach Kambrium schickte. 134
Ein grüner Schimmer kletterte die Berge hinauf, und die Bäume erprobten ihre neuen zarten Blätter im Winde. Roberts Gesicht hatte sich zusammengezogen. Das Lächeln um seine Mundwinkel war zu einer Grimasse erstarrt, als wäre dort ein altes, wehmütiges Lächeln eingefroren. Ach, die Jahre waren einsam gewesen … Er wußte nun, was Gwenlianas Worte bedeuteten – daß das Alter nichts mehr brachte als kalte Unruhe und die dumpfe Erwartung eines Zustandes, den sich niemand recht vorstellen konnte. Vielleicht wartete er auf die Zeit, wenn Henry zurückkehren würde ? Aber das war kaum mehr möglich. Er war sich nicht einmal ganz sicher, daß er Henry noch einmal zu sehen wünschte. Das würde eine große Aufregung zur Folge haben ; und wenn man alt ist, haßt man Aufregungen. Lange hatte er sich gefragt : »Was tut Henry jetzt ? Was sieht er jetzt ?« Und dann verblaßte das Bild seines Sohnes allmählich, wurde wie ein Bild in einem alten Album – nicht mehr ganz wirklich, aber doch wirklich genug, um die Erinnerung wachzurufen. Auf diese Weise dachte Robert oft an seinen Sohn, von dem dann und wann unbestimmte Gerüchte in das abgelegene Tal drangen. Als er an dem schönen Frühlingsmorgen erwachte, dachte Robert : »Heute werde ich den Berg hinauf zu Merlin gehen. Die zunehmende Last der Jahre scheint ihm gar nichts anzuhaben. Er muß doch jetzt mehr als hundert Jahre alt sein ? Sein Körper ist ein schwaches Irrlicht – nur noch eine Andeutung, daß hier ehemals ein Körper war. Aber William sagt – wenn man aus Williams Reden überhaupt etwas entnehmen kann –, daß seine Stimme noch immer denselben metallischen Klang hat und daß er oft so schrecklichen Unsinn spricht, daß man ihn in London nicht anhören würde. Es ist erstaunlich, wie das ganze Leben dieses Straßenarbeiters sich wie eine Schlange um vier Tage Aufenthalt in London ringelt. Ich muß mich gleich 135
auf den Weg machen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß ich ihn noch einmal gehen werde.« Der steile, steinige Weg war ihm qualvoll, um so mehr, wenn er daran dachte, wie seine Beine ehemals gefedert hatten, wenn er ihn hinaufstürmte. Stark wie Blasebälge waren seine Lungen gewesen. Jeden Berglauf hatte er damals gewonnen ; aber wenn er jetzt ein wenig gestiegen war, mußte er sich ausruhen, und so ging es Stück für Stück weiter. Es war Mittag, als er schließlich auf dem Grat ankam. Merlin trat ihm in der Tür entgegen, bevor er noch geklopft hatte. Merlin hatte sich nicht mehr verändert als die Harfen und Speerspitzen an den Wänden. Er schien die Zeit wie ein Gewand beiseite gelegt zu haben. Er war auch nicht überrascht, daß Robert zu ihm kam. Es war, als hätte er schon vor tausend Jahren gewußt, daß diese langsame Pilgerfahrt an diesem Tag stattfinden würde. »Es ist lange her, Robert, seitdem du diesen Weg zu mir heraufgeklettert bist, und lange, seitdem ich ins Tal hinabgestiegen bin.« »Lange, lange«, sangen die Harfen. Er redete die Sprache, die in den Saiten schlummerte, und sie antworteten wie ein feiner Chor bei einem Hochamt. »Ja, ein alter Mann steigt jetzt zu dir herauf, Merlin. Du scheinst nicht älter geworden zu sein. Ich bin gespannt, wann du einmal ans Sterben denkst. Erörtern deine Jahre diese Frage nicht manchmal mit dir ?« »Um die Wahrheit zu sagen, Robert, ich habe sie schon mehrmals erwogen, aber immer gab es noch zu viele Dinge, über die man nachdenken mußte. Ich konnte nie die Zeit finden, mich zum Sterben hinzulegen. Wenn ich stürbe, könnte ich vielleicht nie mehr denken ; wer weiß das. Denn hier oben, Robert, wird diese Art von heimlicher 136
Hoffnung, welche die Menschen im Tal für Glauben halten, fragwürdig. Zweifellos würde auch ich mich für ein zukünftiges Leben vorbereiten, wenn ich von Menschen umgeben wäre, die unablässig sängen : ›Es ist ein weiser, gütiger Gott ; sicher werden wir nach dem Tode weiterleben.‹ Ja sicher … Aber allein hier oben, halbwegs zwischen Erde und Himmel, fürchte ich, der Tod könnte mein Nachsinnen unterbrechen. Die Berge sind so etwas wie ein beruhigender Umschlag für den abstrakten Schmerz des Menschen. In ihrer Mitte lacht er – weit öfter als er weint.« »Weißt du, Merlin«, sagte Robert, »meine Mutter, die alte Gwenliana, machte vor ihrem Tode eine letzte, sonderbare Prophezeiung. ›Heute nacht geht die Welt zu Ende‹, sagte sie, ›und es wird keine Erde mehr geben, auf der man herumgehen kann.‹« »Ich glaube, sie hat die Wahrheit gesprochen, Robert. Im Sterben hat sie das Richtige getroffen, wie auch immer ihre anderen Vorhersagen gewesen sein mögen. Dieser Gedanke schleicht sich manchmal ein und nagt an mir, und darum habe ich Angst vor dem Tode – schreckliche Angst. Wenn ich dadurch, daß ich lebe, auch dir Leben gebe und den Feldern und Bäumen und der ganzen grünen Welt ein neues frisches Dasein, wäre es ein entsetzliches Verbrechen, sie alle wie eine Kreidezeichnung auszuwischen. Ich traue mich nicht – noch nicht. Aber genug von diesen Dingen. Es ist kein Lachen in ihnen. Du, Robert, hast zu lange im Tal bei den Menschen geweilt. Deine Lippen lachen, aber in deinem Herzen ist keine Lustigkeit. Ich glaube, du setzt deinen Lippen ein Lächeln auf, so wie jemand Zweige über eine Fallgrube legt – um deinen Schmerz vor Gott zu verbergen. Einmal hast du versucht, mit ganzer Seele zu lachen, aber du hast nicht das Zugeständnis des echten Satirikers gemacht – nämlich durch ein bißchen Spott über dich selbst das Vorrecht zu erkaufen, sehr viel über andere zu lachen.« 137
»Ich weiß, daß mein Leben schiefgegangen ist, Merlin, aber daran ist nun nichts mehr zu ändern. Sieg oder Glück oder wie man es auch nennen mag, liegt offenbar in einigen wenigen verborgen wie Säuglingszähne unter dem Zahnfleisch. In den letzten Jahren hat Gott ein hartes Spiel mit mir getrieben. Es gab Augenblicke, wo ich wahrhaftig dachte, daß er betrügt …« »Einmal«, sagte Merlin langsam, »spielte ich gegen einen netten jungen Gott mit Bocksfüßen, und wegen dieses Spiels bin ich hierhergekommen. Aber dann machte ich das große Zugeständnis und unterzeichnete es mit traurigem Lachen. Habe ich nicht schon vor langer Zeit gehört, Robert, daß dein Geist auf seltsamen Pfaden geht ? Sicher ist William hier mal vorbeigekommen und hat mir erzählt, du seiest wahnsinnig geworden. Hast du nicht verwerfliche Dinge in deinem Garten getrieben ?« Robert lächelte bitter. »Das war einer der Streiche, die mir dieser Gott gespielt hat«, sagte er. »Ich will dir erzählen, wie es war. Eines Tages, als ich die welken Blätter von meinen Rosen rupfte, kam mir der Gedanke, etwas Symbolisches zu tun. Das ist doch nicht so ungewöhnlich. Wie oft breiten die Menschen auf Bergesgipfeln die Arme aus, wie oft knien sie im Gebet nieder und bekreuzigen sich ! Ich zerzupfte eine Blume und warf sie in die Luft, und die Blätter fielen wie ein Schauer um mich nieder. Diese Handlung schien meine ganze Lebensgeschichte in einer Gebärde zusammenzufassen und wiederzugeben. Dann nahm mich das liebliche Aussehen weißer Rosenblätter auf schwarzer Erde gefangen, und ich vergaß mein Symbol. Ich warf eine Blume nach der anderen hoch, bis der Boden ganz mit Rosenblättern beschneit war. Plötzlich sah ich auf und erblickte etwa ein Dutzend Menschen, die dastanden und mich auslachten. Sie waren aus der Kirche gekommen. ›Hähä‹, riefen sie, ›Robert hat den Verstand verloren ! Hähä ! Er ist nicht mehr ganz richtig im 138
Kopf ! Hoho ! Er ist kindisch geworden und wirft Blumen in die Luft.‹ Das schien mir ein merkwürdiger Gott zu sein, der das erlauben konnte.« Merlin schüttelte sich vor innerem Lachen. »Robert, Robert ! Warum tadelst du die Welt, wenn sie sich vor dir schützt ? Ich glaube, Gott und die Welt sind für dich eins. Wenn unten im Tal zehn Menschen wären, die gern Rosenblätter auf dem Boden liegen sähen, wärest du nur ein interessanter Sonderling. An Sonntagnachmittagen würde man Bekannte zu dir führen und dich zur Schau stellen. Aber da es solche Leute bei euch nicht gibt, bist du natürlich ein Radikaler, der hinter Schloß und Riegel oder aufgehängt gehört. Wenn man jemanden für verrückt erklärt, so heißt das weiter nichts, als daß man ihn geistig aufhängt. Wenn nur das Geflüster herumgeht, daß es mit ihm im Kopf nicht ganz stimmt, so kann er reden, was er will, man lacht nur über ihn. Ist das so erstaunlich, Robert ? Die Leute sind so oft auf Ideen und Schlagworte, die sie nicht verstanden, hereingefallen und von ihnen gequält worden, daß sie nun glauben, alles, was über ihren Verstand geht, sei verderblich und vom Übel, so daß sie es für das beste halten, es gleich zu zertreten und zu zerstampfen. Sie schützen sich nur vor den scheußlichen Verheerungen, die kleine Dinge anrichten können, wenn man sie groß werden läßt.« »Das ist mir alles bekannt«, sagte Robert, »und ich stimme darüber auch keine großen Klagen an. Worüber ich mich aber beklage, ist dies : daß der einzige Besitz, der mir verblieb, ein Sack voll verlorener Dinge ist. Ich besitze nur noch die Erinnerung. Vielleicht ist das gut so, denn ich glaube, ich liebe das, was ich nicht mehr besitze, mehr als früher. Aber ich kann nicht verstehen, daß das Glück nur einigen wenigen gehört, als wäre es mit ihnen geboren. Mein eigener Sohn packt jede Sehnsucht beim Schopf und hält sie fest, wenn ich recht unterrichtet bin.« 139
»Ja, du hattest ja einen Sohn, Robert, ich erinnere mich jetzt. Ich glaube, ich habe ihm prophezeit, er würde diesen oder jenen Teil der Welt beherrschen, wenn er ein Kind bliebe.« »Die Prophezeiung ist in Erfüllung gegangen. Aus dem Süden trägt mir ein leichter, unregelmäßiger Wind manchmal Nachricht zu. Das Gerücht hat Fledermausflügel. Es besagt, daß er über ein wildes Volk von Piraten herrscht, daß er kleine und große Städte eingenommen und geplündert hat. Die Engländer schwingen sich gern in höhere Sphären und nennen ihn einen Helden und Patrioten – und so nenne auch ich ihn manchmal. Aber ich glaube, wenn ich ein Spanier wäre, würde er für mich nur ein erfolgreicher Räuber sein. Ich habe gehört – ich glaube es aber nicht, denn ich will es nicht glauben –, daß er Gefangene gefoltert hat.« »So«, sagte Merlin sinnend, »er ist also der große Mann geworden, der er so gern sein wollte. Wenn das stimmt, dann ist er kein Mann. Dann ist er noch ein kleiner Junge, der den Mond einfangen will. Er wird sich nicht recht wohl dabei fühlen, nehme ich an. Wer sagt, Kinder seien glücklich, der weiß nicht mehr, wie es ihm als Kind zumute war. Ich bin gespannt, wie lange er das Mannesalter hinausschieben kann. Kennst du die großen schwarzen Ameisen, Robert, die mit Flügeln geboren werden ? Sie fliegen einige Tage, dann verlieren sie ihre Flügel, um ihr ganzes Leben lang nur noch zu krabbeln. Ich bin gespannt, wann dein Sohn seine Flügel verlieren wird. Ist es nicht sonderbar, Robert, welch hohe Meinung die Menschen von diesem Krabbeln am Boden haben ? – Wie die Kinder sich die Flügel abreißen, damit sie möglichst bald dieser herrlichen Krabbellust frönen können ?« »Wodurch werden Knaben zu Männern ?« fragte Robert. »Welche Umstände lassen ihnen die Flügel verdorren ?« »Ach, sehr viele hatten nie Flügel, und einige reißen sie sich selbst aus, bei manchen geht das schnell, bei anderen wieder 140
sehr langsam. Es gibt viele Umstände, ich kenne nicht alle. Bei mir war es die Lächerlichkeit. Ich machte mich über mich selbst lustig. Ich liebte ein kleines Mädchen im Tal, und ich glaube, sie war schön … Ich hoffe, daß ich nicht gerade häßlich war. Ich dichtete ein Lied für sie und nannte sie die Braut des Orpheus. Ich kam mir damals wie Orpheus vor. Aber sie betrachtete die Ehe mit einer Gottheit als eine Art Verbrechen gegen die Natur. Sie hielt mir belehrende Vorträge. Jeder Mann, sagte sie, sei es irgendwem oder irgendeiner Sache, ich weiß nicht mehr recht, was es war, seiner Familie oder seinem Vaterland oder sich selber schuldig, etwas aus sich zu machen. Was er aus sich machen sollte, wurde nicht recht klar, aber sehr klar brachte sie ihre Meinung darüber zum Ausdruck, daß ein Mann, der Lieder dichtete, gar nichts aus sich machen konnte. Gottheiten verabscheute sie, besonders heidnische. Nun war da ein Mann mit Ländereien und Häusern, der beruhigend menschlich war. Selbst in meinem hohen Alter denke ich nur mit Verachtung daran, wie kläglich menschlich er war. Sie heirateten also, und die Lächerlichkeit nagte mir meine Flügel ab. Mord, Selbstmord und kriegerischen Ruhm ließ ich durch meinen Geist spazieren, um diese winzige, aber peinigende Lächerlichkeit zu bekämpfen. Ich schämte mich so, daß ich beschloß, meine Lieder vor der Welt zu verschließen, so daß niemand sie mehr hören könne. Die Welt merkte es nicht einmal, als ich aus ihr fortging. Es kamen keine Abgesandten zu mir, um mich zur Rückkehr zu bewegen – und ich hatte der Lächerlichkeit versprochen, man würde mich auf den Knien bitten ! Da nagte sie mir die Flügel ab, und sie fielen zu Boden. Ich war ein Mann und hatte kein Verlangen mehr nach dem Mond. Als ich versuchte, wieder zu singen, war meine Stimme heiser geworden wie die eines Viehtreibers, und meine Lieder wirkten vor lauter Überlegung und Absicht gekünstelt.« 141
»Wie bin ich denn vom Kind zum Mann geworden ?« sagte Robert. »Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht blieb meine Jugend an schwerer Arbeit und am Geld haften – oder vielleicht lebt sie in jenen Ländern, von denen ich zu träumen pflegte. Aber Henry schwimmt in seinen Träumen, und manchmal beneide ich ihn. Jetzt erscheint mir manches sonderbar, Merlin, was mir früher nicht so aufgefallen ist. Meine Mutter, Gwenliana, glaubte, sie hätte das zweite Gesicht, und wir zogen sie oft auf, weil sie so stolz darauf war. An dem Abend, als Henry fortging, zeichnete sie ein Bild seines Lebens. Fast alle ihre Worte sind wahr geworden, Merlin. Können diese Gedanken wie eine Reihe klarer Bilder vor ihr vorbeigezogen sein ? Das ist doch sonderbar.« »Vielleicht hat sie ihm an den Augen abgelesen, was er sich ersehnte, und erfühlt, wie stark diese Sehnsucht in ihm war. Ich lehrte Gwenliana viele Dinge, die mit Magie zu tun hatten. Sie verstand sich gut darauf, Zeichen zu lesen – und Gesichter.« Der alte Robert stand auf und streckte sich. »Ja, sonderbare Dinge gibt’s. Für einen alten Mann ist so ein Abstieg noch mühsamer als der Aufstieg. Es wird Abend werden, bis ich daheim bin. Da kommt ja William mit seinem Pickel, der ihm, wie eine Eigenschaft, angeboren zu sein scheint. Ich werde eine Strecke lang mit ihm gehen und mir von den Zuständen in London erzählen lassen. Du mußt Worte gern haben, Merlin, da so viele aus deinem Munde kommen, und ich muß den Schmerz gern haben, da ich ihn immer wieder neu in mir erzeuge, wie jetzt, wo ich zum letztenmal von dir gehe. Aber das eine will ich dir noch sagen, Merlin. Ich glaube, du bist ein Schwindler und zahlst mit falscher Münze. Jedesmal, wenn ich dich besucht habe, war ich überzeugt, daß du mir tiefe Dinge gesagt hast, aber dann, wenn ich darüber nachdenken wollte, konnte ich mich an nichts deutlich erinnern … Ich glaube, du verzauberst einen – mit deiner sanften Stimme und dem Echo der Harfen.« 142
Als er den Pfad herabschritt, sangen ihm die Harfen leise klagend des Zauberers Lebewohl nach.
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VIERTES KAPITEL Im Jahre 670 war Panama eine große, schöne, reiche und starke Stadt und wurde mit Recht der Goldene Becher genannt. Kein Ort in der noch wenig entwickelten Neuen Welt konnte es mit ihr aufnehmen. Da beschloß Henry Morgan, sie zu zerstören. Ein Jahrhundert zuvor war Balboa zu der Küste eines neuen Ozeans gekommen. Er hüllte sich in einen schimmernden Panzer und watete in das Meer, bis das stille Wasser ihm die Schenkel umspülte. Dann hielt er eine ernste Rede an das Meer und meldete den Anspruch der Krone Spaniens auf alle Länder an, die an seinen Gestaden lagen. Er forderte, das Wasser solle sich folgsam und treu erweisen, denn es werde die Ehre haben, der Privatsee Kastiliens und Aragons zu sein. Hinter Balboa an der Küste lag ein armseliges Indianerdorf aus Grashütten. Sein Name war Panama. In der Eingeborenensprache bedeutete das einen Platz, wo sich gut fischen läßt. Als die spanischen Soldaten das kleine Dorf in Brand steckten, behielten sie den Namen bei, da er gut klang. Bald machte der Ort seinem Namen Ehre, denn von dieser kleinen Stadt aus warf Spanien seine Netze nach allen vier Himmelsrichtungen aus. Pedrarias fing, nach Norden zu, in den Maschen dieses Netzes die Städte des alten Mayavolkes. Er schickte von diesem Fischfang seltsam geformte Schlangen, schreckenerregende Fratzen und winzige, ziselierte Insekten, alles aus Gold, nach Panama. Als es keine solchen Schmuckgegenstände mehr gab, als die Tempel leere Steinkisten waren, warf Pedrarias das Netz Spaniens über die Menschen und trieb sie mit Peitschenhieben in die Bergwerke. Pizarro segelte mit gepanzerter Kavallerie nach Süden und streckte das mächtige Inkavolk nieder. Er brachte die Herrscher 144
um und riß das kunstvolle Verwaltungssystem in Fetzen. Dann wurden Diamanten, Silberplatten von den Tempelmauern, goldene Sonnensymbole und zeremonielle Goldschilder nach Panama verschifft. Zuletzt trieb Pizarro das Volk mit Peitschenhieben in die Bergwerke. Eine große Anzahl Söldnerführer zogen mit kleinen Soldatentrupps nach Osten und Südosten, wo die gefürchteten Indianer Dariens auf Bäumen und in Höhlen lebten. Hier fanden die Spanier Nasenringe, Fußspangen, Opfergeräte und Adlerfedern, deren Kiele mit Gold gefüllt waren. Alles wurde in Säcke geschüttet und mit Maultieren nach Panama gebracht. Als alle Gräber ihres Goldschmuckes beraubt waren, wühlten Indianersklaven, von Peitschenhieben angefeuert, unter der Erde nach weiterem Gold … Westwärts entdeckten die spanischen Schiffe kleine Inseln, in deren flachen Buchten man Perlen fischen konnte, wenn man tief genug tauchte. Bald sprangen die trägen Bewohner dieser Inseln in ein Meer, das von Haifischen wimmelte. Säcke voll Perlen fanden ihren Weg nach Panama. Ungezählte kostbare und in jahrelanger Arbeit geschaffene Kult- und Kunstgegenstände kamen nach Panama, wo die Schmelzöfen sie wie gierig aufgerissene Rachen erwarteten. Sie wurden umgeformt in plumpe, dicke Goldbarren. Die Lagerhäuser waren bis zum Dach mit diesen goldenen Barren gefüllt, die man dann jährlich nach Spanien verfrachtete. Manchmal wurden, weil in den Lagerhäusern kein Platz mehr war, Silberbarren auf der Straße aufgeschichtet. Sie waren so schwer, daß sie wegen ihres Gewichtes nicht so leicht gestohlen werden konnten. Inzwischen wurde die Stadt immer größer und prächtiger. Mit dem Reichtum versklavter Völker wurden Tausende schöner Häuser mit roten Dächern und kleinen intimen Innenhöfen errichtet, wo seltene, geheimnisvolle Blumen wuchsen. Alle 145
Annehmlichkeiten des alten Europa, Bilder und Kunstwerke strömten, vom Gold magisch angezogen, westwärts, um Panamas Häuser zu verschönern. Die ersten Spanier, die in das Land eindrangen, waren grausame, gierige Räuber gewesen, aber sie waren auch Kämpfer, die vor den blutigsten Gefechten nicht zurückschreckten. Die kleinen Banden, die die Neue Welt eroberten, besaßen als Ausrüstung wenig mehr als ihre Schwerter und einen unbezähmbaren Mut. Aber als die Völker Nicaraguas, Perus und Dariens zu Scharen wimmernder Sklaven herabgesunken waren, als es keine blutigen Auseinandersetzungen mehr gab, stieg in Panama eine andere Schicht auf. Es waren die Kaufleute. Sie waren zwar kühn und entschlossen, wenn es galt, ein Landgut seinem Besitzer mit juristischen Finessen zu entreißen und den Preis der Nahrungsmittel zu erhöhen, aber furchtsam und feige, wenn Stahl auf Stahl traf. Diese Kaufmannsschicht beherrschte bald die ganze Landenge. Die alten Eroberer waren tot – oder sie konnten das ruhige Leben nicht ertragen und zogen in neue gefährliche Länder. Sie ließen die Händler die Schlacht um Nahrungsmittel und Waren allein auskämpfen. Eine merkwürdige Sippschaft waren diese Kaufleute. Sie teilten Mehl und Wein aus und erhielten dafür Juwelen und Goldbarren, die sie in ihren Geldschränken verstauten. Die Händler hielten so gut zusammen, daß alle, als wäre es Gesetz, denselben hohen Preis verlangten ; und mit dem Gewinn bauten sie sich Häuser aus Zedernholz mit Dächern aus rosafarbenen Ziegeln. Auch diese Häuser waren sich alle ähnlich. Die neuen Besitzer kleideten ihre Frauen in ausländische Seidenstoffe, und auf der Straße waren sie fast immer von einem Gefolge unterwürfiger Sklaven begleitet. Eine Gesellschaft genuesischer Sklavenhändler baute ein großes Lagerhaus in der Stadt. Drinnen stand Käfig neben Käfig, und in 146
jedem saß ein Schwarzer und wartete darauf, daß er ans Tageslicht geführt, auf seinen Nutzwert abgetastet und verkauft wurde. Es war eine prächtige Stadt, dieses Panama. Zweitausend große Häuser aus Zedernholz umsäumten die Hauptstraßen. Um diesen Mittelpunkt herum standen fünftausend kleinere Gebäude : für Buchhalter, Schreiber, Boten und Militär. In den Außenbezirken waren in unzähligen Strohhütten die Sklaven untergebracht. Im Zentrum der Stadt befanden sich sechs Kirchen, zwei Klöster und eine große Kathedrale, alle mit goldenen Kirchengeräten und mit juwelenbesetzten Meßgewändern. Schon hatten zwei Heilige in Panama gelebt – keine großen Heiligen vielleicht, keine sehr bekannten, aber doch bedeutend genug, um kostbare Reliquien zu hinterlassen. Ein beträchtlicher Teil der Stadt bestand aus königlichen Lagerhäusern, Ställen und Kasernen. Hier wurde ein Zehntel von den Erzeugnissen des Landes aufgestapelt. Sie wurden dann mit Eseln und Maultieren über die Landenge befördert, um auf der anderen Seite auf Schiffe verladen zu werden. Panama unterhielt das Königreich Spanien, zahlte für die neuen Paläste des Königs und die Kriege, die er führte. Wegen des unablässig in seine Kassen strömenden Bargeldes verlieh der König der Stadt einen hochtrabenden Titel und viele Sonderrechte. Sie trug den stolzen Namen : Seiner Majestät Edle und Höchst Treue Stadt Panama. Sie stand im gleichen Rang mit Córdoba und Sevilla. Trugen ihre Beamten nicht goldene Amtsketten um den Hals ? Der König genehmigte der Stadt ein prächtiges Wappen : ein Schild auf goldenem Feld auf der linken, zwei Karavellen und eine handvoll Pfeile auf der rechten Seite. Über dem Ganzen stand der Polarstern, der Freund der Seefahrer ; das Wappen des spanischen Zwillingskönigreichs, Löwen und Burgen, faßte den Schild kreisartig ein. Panama war damals eine der größten Städte der Welt. 147
Das Zentrum des Goldenen Bechers war eine breite, gepflasterte Plaza mit einem Pavillon in der Mitte, in dem abends die Musik spielte. Während des Konzertes wandelte die Menge auf und ab. Jeder stellte seinen Rang und seine Stellung zur Schau ; man überlegte sich genau, mit wem man sich zeigte und unterhielt. Ein Kaufmann konnte bei Tag höchst würdelos über den Preis des Mehls feilschen, in vorgetäuschter Erregung und mit viel Fluchen und Flehen, aber abends auf der Plaza neigte er steif und stolz das Haupt, wenn er Bekannte traf, die nicht so reich waren wie er, und kroch beflissen, aber nicht allzu auffällig, vor denen, die reicher waren. Die Sicherheit, in der sie alle lebten, hatte die Einwohner sorglos gemacht und verweichlicht. Die Stadt galt als uneinnehmbar. Auf der einen Seite beschützte sie das Meer ; und auf diesem Südmeer gab es keine feindlichen Schiffe. Auf der Landseite lagen Befestigungen und ein ausgedehnter Sumpf, der in Zeiten der Gefahr überflutet werden konnte, so daß die Stadt dann einer Insel glich. Zudem mußte sich der Angreifer einen Weg durch den undurchdringlichen Dschungel der Landenge bahnen ; er mußte sich durch enge Pässe zwängen, die von einer kleinen Streitmacht verteidigt werden konnten. Keiner hielt es für möglich, daß irgendjemand bei gesundem Verstande auch nur daran denken konnte, Panama zu erobern. Als Campeche, Puerto Bello und Maracaibo den Bukanieren in die Hände fielen, zuckten die Kaufleute in Panama die Schulter und gingen ruhig ihren Geschäften nach. Es war natürlich nicht schön, nein, es war sogar sehr traurig, daß ihre Landsleute so mitgenommen und ausgeräubert wurden – aber was konnten sie anderes erwarten ? Ihre Städte lagen auf der falschen Seite. Panama bedauerte solcherlei Unanehmlichkeiten, aber sonst kümmerte es sich nicht weiter darum. Gott war gütig und fern, und das Geschäft war, je nachdem, ausgezeichnet oder misera148
bel. Die Masse hatte kein Geld – und die Plantagenbesitzer saßen auf ihren Erzeugnissen und hielten daran fest wie die Diebe. Don Juan Perez de Guzman war Gouverneur des Goldenen Bechers : ein ruhiger Edelmann, der sein Leben dem Ziel widmete, ein vollkommener Caballero zu werden. Er drillte sein kleines Heer, änderte an den Uniformen herum und achtete darauf, daß seine Verwandten sich gut verheirateten. Er war sein ganzes Leben lang Soldat gewesen – kein großer Feldherr, aber jedenfalls ein tapferer Offizier. Er erließ prachtvolle Tagesbefehle an seine Untergebenen. Wenn er ein indianisches Dorf zur Übergabe aufforderte, so war der Stil seiner Mitteilung über jeden Tadel erhaben. Die Einwohner mochten ihren Gouverneur gern. Er zog sich ausnehmend gut an, er war zwar stolz, aber doch auch leutselig. Sie jubelten ihm zu, wenn er mit einem Gefolge Berittener über die Straße klapperte. Wenn jemand sich erkühnen sollte, Panama zu bedrohen, so konnte man auf den ritterlichen Don Juan volles Vertrauen setzen. Er hatte bestes adliges Blut in sich – und unter sich die reichsten Lagerhäuser der Stadt. So lebte man glücklich in Panama dahin, ging während der heißen Jahreszeit in die grünumrankten Landhäuser und kehrte zu Beginn der Regenzeit in die Stadt zurück, um an den Bällen und Empfängen teilzunehmen. Das waf Panama, der Goldene Becher, zu der Zeit, als Henry Morgan beschloß, die Stadt zu vernichten. Eines Tages ging in Panama das Gerücht um, der schreckliche Morgan nahe heran, um die Stadt zu erobern. Zuerst schüttelte man ungläubig den Kopf und machte Witze ; aber als weitere Boten die Nachricht bestätigten, begann die Stadt einem aufgerührten Ameisenhaufen zu gleichen. Die Leute stürzten in die Kirchen, küßten die Reliquien und rannten wieder nach Hause. Hunderte von Priestern trugen in einer feierlichen Prozession 149
das Allerheiligste durch die Straßen. Die Schwarze Bruderschaft geißelte sich öffentlich, schleppte das schwere Kreuz und forderte die Einwohner auf, Buße zu tun. Aber die zerfallenen Mauern wurden nicht ausgebessert, die rostigen Kanonen nicht ausgewechselt. Don Juan hielt Ansprachen an das aufgeregte Volk und regte die Abhaltung einer neuen, noch glanzvolleren Prozession aller Priester an. Entsetzliche Geschichten wurden erzählt – als seien die Bukaniere keine Menschen, sondern merkwürdige Ungeheuer mit Krokodilsköpfen und Löwentatzen. Ernste Männer unterhielten sich auf der Straße über die unsinnigsten Schreckensgerüchte. »Einen schönen, guten Tag, Don Pedro.« »Der Segen der Heiligen Jungfrau über dich, Don Guierrmo.« »Nun, was hältst du von diesen Räubern ?« »Schrecklich, Don Guierrmo, schrecklich. Sie sollen wahrhaftige Teufel sein.« »Aber hältst du es denn tatsächlich für möglich, daß Morgan, dieses Monstrum, drei Arme hat und in jedem ein Schwert schwingt ? Man hat es allen Ernstes erzählt.« »Wer mag das sagen, Freund ! Er ist sicher vom Teufel besessen – und der Teufel kann noch ganz andere Dinge zustande bringen ! Wer kann sagen, wo die Macht des Bösen eine Grenze findet ? Es wäre Sünde, daran zu zweifeln, daß der Teufel dergleichen vollbringen kann. Drei Arme ? Warum nicht ?« Eine kurze Zeit darauf : »Du hast es von Don Guierrmo, wie du sagst ? Er würde es doch sicher nicht erzählen, wenn es nicht wahr wäre – ein so wohlhabender Mann wie er !« »Ich wiederhole nur seine Worte – Morgan atmet manchmal Schwefelflammen aus … Er hat sich dem Satan verschrieben … Ja, er soll nach Schwefel stinken. Don Guierrmo war seiner Sache ganz sicher.« 150
»Das muß ich meiner Frau erzählen, Don Pedro !« So wurden die Geschichten immer grotesker, bis die Leute halb verrückt waren. Grausamkeiten, die einst in anderen eingenommenen Städten vorgekommen sein mochten, wurden bis ins kleinste als neueste Taten Morgans berichtet, und die Kaufleute, die vorher die Schultern gezuckt hatten, wurden bleich. Sie konnten es einfach nicht glauben – und doch mußten sie es glauben, denn die Piraten waren schon auf dem Weg zum Chagres und hatten offen ihre Absicht kundgegeben, Panama zu erobern und zu plündern. Schließlich ließ sich Don Pedro unter Druck dazu bewegen, die Kirche zu verlassen, um fünfhundert Soldaten abzusenden, die auf dem Wege über die Landenge einen Hinterhalt legen sollten. Ein junger Offizier bat dringend um eine Audienz. »Nun, junger Mann«, begann der Gouverneur, »was wünschen Sie ?« »Wenn wir Stiere hätten, Exzellenz – wenn wir eine große Anzahl wilder Stiere hätten !« rief der Offizier aufgeregt. »Also her mit den Stieren ! Das ganze Land nach Stieren absuchen ! Die Soldaten sollen tausend Stück herbringen ! Was sollen wir mit ihnen machen ?« »Wir sollten sie wütend machen, daß sie in wilder Flucht die Feinde niedertrampeln.« »Ein ungewöhnlicher Plan. Aber warum nicht ? Gar nicht schlecht. Ein wunderbarer Plan! Ein geradezu genialer Offizier! Aber, mein lieber Freund – tausend Stiere ? Tausend ? Das würde wenig nützen. Zehntausend der wildesten Stiere sollen augenblicklich zusammengetrieben werden!« Der Gouverneur schickte die Soldaten aus, zweitausend Mann der königlichen Truppen, nahm eine Parade ab und begab sich dann wieder in die Kathedrale. Don Juan fürchtete sich nicht vor dem Kampf, aber als kluger General verstärkte er seine zweite Verteidigungslinie. 151
Das schleichende Gerücht wurde zum tobenden Ungeheuer. Die Bürger begannen unter Wehklagen ihr Silber zu vergraben. Priester warfen Kelche und Kerzenleuchter in die Zisternen, um sie zu retten, und mauerten wertvolle Reliquien in unterirdische Gänge ein. Balboa hätte die Mauern verstärkt und den Zugang zur Stadt unter Wasser gesetzt. Pizarros Heer hätte um diese Zeit schon die Landenge überschritten, um dem Feinde entgegenzutreten. Aber die heroischen Zeiten waren vorbei. Die Kaufleute von Panama dachten nur an ihren Besitz, an ihr Leben und allenfalls an ihr Seelenheil – genau in dieser Reihenfolge. Sie kamen gar nicht auf den Gedanken, ein Schwert umzugürten oder an den verfallenen Mauern zu arbeiten. Das war nicht ihre Sache. Das war die Aufgabe der Soldaten, die ja schließlich gut besoldet wurden, um die Bürger zu beschützen. Für die Verteidigung der Stadt war der Gouverneur verantwortlich. Don Juan hatte die Parade seiner Truppen abgenommen. Mehr konnte ein General nicht tun. Die Uniformen saßen tadellos. Auf jedem Exerzierplatz Europas hätten sich seine Soldaten sehen lassen können. Es waren ausgezeichnete Truppen. Inzwischen konnte eine neue Messe nicht schaden.
I Während die Bukaniere die Beute aus dem geplünderten Maracaibo durchbrachten, vertiefte sich Henry Morgan in die Pläne für den neuen Feldzug. Er würde mehr kampffähige Männer brauchen, als er je unter seinem Kommando vereint hatte. Seine Boten eilten nach allen Richtungen. In Plymouth und Neu-Amsterdam hörte man von dem bevorstehenden Unternehmen. Selbst an die bewaldeten Inseln, wo die Men152
schen wie Affen leben sollten, erging die Einladung zu dem großen Beutezug. »Wenn der Plan gelingt, kehrt jeder reich zurück«, so lautete die Botschaft. »Dies wird der gewaltigste Schlag, der je von der Bruderschaft geführt worden ist. Wir werden den Schrecken mitten in das Herz Spaniens tragen ! Unsere Flotte versammelt sich im Oktober an der Südküste von Tortuga.« Bald strömten Schiffe und Menschen zusammen. Da gab es gewaltige neue Schiffe mit weißen Segeln und geschnitztem Bug, Schiffe, die von schimmernden Kanonen starrten, aber auch alte, verfaulende Kästen, die ganze Wälder von Tang am Kiel mitschleppten und langsam wie Baumstämme durch das Wasser zogen ; es kamen Schaluppen, große Kanus und Flachboote, die mit langen Rudern getrieben wurden. Selbst Flöße, deren Segel aus Palmblättern geflochten waren, fanden sich ein. Das waren die Schiffe. Und ihre Insassen ? Alte Mitglieder der Bruderschaft, polternde Prahlhänse aus Tortuga, erfahrene Piraten aus Goaves, Franzosen, Niederländer, Engländer und Portugiesen – ein von den Ausgestoßenen der ganzen Welt gebildetes Heer. Kanus voll entsprungener Sklaven kamen herangepaddelt, die an dieser Expedition nur teilnahmen, um sich blutig an ihren ehemaligen Herren zu rächen. Die Sklaven waren Kariben, Neger und fieberkranke Weiße. Kleine Gruppen von Jägern erschienen an den Ufern grünwuchernder Inseln und fuhren mit irgendeinem Fahrzeug, das sie erwischten, nach der Südseite von Tortuga. Unter den größeren Schiffen waren Fregatten und Galeonen, die auf See gekapert waren. Als die Zeit der Abfahrt kam, hatte Kapitän Morgan siebenunddreißig Schiffe zur Verfügung, dazu eine Streitmacht von zweitausend Mann; von den Matrosen und Schiffsjungen abgesehen. Mitten unter diesen Schiffen lagen drei schlanke, saubere Schaluppen aus Neu-England. Sie waren nicht 153
zum Kämpfen, sondern zum Handeln gekommen – sie tauschten Pulver gegen Beutestücke, Whisky gegen Gold. Pulver und Whisky waren die beiden großen Offensivwaffen. Dazu kauften diese Männer aus Plymouth alte, unbrauchbare Schiffe, von denen nur noch das Eisen und das Tauwerk zu verwerten waren. Kapitän Morgan hatte Jäger in die Wälder geschickt, um Vieh zu schießen, und Schiffe zum Festland, um Getreide zu stehlen. Als alle zurückkehrten, war der Proviant für die Reise gesichert. Niemand in diesem ganzen, vielsprachigen Menschengedränge, das sich auf die Kunde von einem großen Beutezug eingefunden hatte, wußte, wohin die Reise gehen sollte. Niemand ahnte, wo man am Ende der Reise landen und auf welchen Gegner man stoßen würde. Dieses Heer von tapferen Dieben vertraute allein auf den Namen Morgan und auf sein Versprechen, daß jeder unbegrenzte Beute machen würde. Henry Morgan hatte nicht gewagt, das Ziel bekanntzugeben. So mächtig sein Name war – vor einem solchen, fast aussichtslosen Unternehmen wären selbst die Bukaniere zurückgescheut. Wenn sie Zeit hätten, sich mit Gedanken an Panama zu beschäftigen, so dachte er, würden sie vor Angst davonlaufen, denn seit einem halben Jahrhundert erzählte man im Inselmeer die unwahrscheinlichsten Geschichten von der Macht und den Verteidigungsanlagen Panamas. Panama war für sie eine unirdische, in den Wolken liegende Stadt, ein uneinnehmbarer Adlerhorst, aus dem Blitze auf jeden Angreifer niederzuckten. Natürlich glaubten auch einige, daß dort manche Plätze mit goldenen Steinen gepflastert und manche Kirchenfenster aus einem einzigen Smaragd geschnitten seien. Morgan hörte dergleichen nicht ungern. Solche Märchen würden die Leute vorwärtstreiben, sie durften nur keine Zeit finden, über das Risiko eines solchen Unternehmens nachzudenken. 154
Als die Schiffe gekielholt und abgekratzt, die Segel ausgebessert, die Kanonen geputzt und erprobt, die Rümpfe mit Nahrungsmitteln gefüllt waren, ließ Henry Morgan die Kapitäne zusammenrufen, um feierlich die Kriegsartikel zu verkünden und unterzeichnen zu lassen und die verschiedenen Kommandostellen in der Flotte zu verteilen. Dreißig Kapitäne, die mit ihren Schiffen an dem Unternehmen teilnehmen wollten, versammelten sich in der Kajüte des Admirals. Die Fregatte Kapitän Morgans war ein schönes spanisches Kriegsschiff. Bevor sie in die Hände der Piraten fiel, war sie von einem Herzog geführt worden. Die Kajüte ähnelte einem großen Salon. Sie war mit dunkler Eiche getäfelt. Ihre Wände bogen sich oben an der Decke etwas einwärts ; die Decke wurde von schweren Balken getragen, in die man Weinranken und zartes Blattwerk geschnitzt hatte. An einer Wand sah man noch die Spuren des spanischen Wappens, das von einem Dolch weggekratzt worden war. Kapitän Morgan saß hinter einem breiten Tisch, dessen Beine als heraldische Löwen geschnitzt waren, und ringsherum auf Hockern saßen die dreißig Führer seiner Schiffe und Soldaten. Sie warteten ungeduldig auf die Mitteilungen, die er ihnen zu machen hatte. Da war der kleine dicke Kapitän Sawkins, ein eifriger Puritaner, was man schon seinen fanatisch glühenden Augen ansehen konnte. Er rechtfertigte seine Mordbrennereien mit wahllosen Bibelstellen und hielt nach einem erfolgreichen Raubzug von einer Kanonenprotze herab einen Dankgottesdienst ab. Der schwarze Grippo war da, jetzt ein alter Mann, der unter der Last seiner vielen kleinen Teufeleien zusammengesunken war. Er hatte es so weit gebracht, sich Gott als einen gutmütigen Polizisten vorzustellen, dem man möglicherweise ein Schnippchen schlagen konnte. Er hatte in der letzten Zeit den Vorsatz ge155
faßt, seine Sünden durch eine Rückkehr zur katholischen Kirche und durch eine Generalbeichte loszuwerden – und diesen Plan wollte er ausführen, sobald er auf einer neuen Expedition einen goldenen Kerzenleuchter erwischte, den er seinem Beichtvater als Zeichen seiner Zerknirschung überreichen konnte. Holbert und Tegna, Sullivan und Meyther saßen in der Nähe Kapitän Morgans. In einer dunklen Ecke sah man zwei Männer, die in der ganzen Bruderschaft als die Unzertrennlichen bekannt waren. Man nannte sie einfach den Burgunder und den Anderen Burgunder. Der erste war ein kleiner, dicker Mann, dessen Gesicht einer roten, aufgedunsenen Sonne glich. Er war nervös und reizbar. Wenn er in der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit auf sich zog, geriet er in entsetzliche Verlegenheit. Wenn man ihn ansprach, wurde sein Gesicht noch röter, und er machte dann den Eindruck eines wie wahnsinnig herumrennenden Käfers, der einen Unterschlupf sucht. Der Andere Burgunder war sein Beschützer und Führer. Er war größer und kräftiger gebaut, obschon sein linker Arm nur noch bis zum Ellbogen reichte. Diese beiden sah man immer zusammen. Sie sprachen selten miteinander, aber meist lag der heile Arm des Anderen Burgunders wie zum Schutz auf den Schultern seines kleinen dicken Freundes. Rauh und kalt war Kapitän Morgans Stimme. Es herrschte tiefes Schweigen, als er die Artikel verlas. Wer ein Schiff aufbrachte, bekam soundso viel ausbezahlt. Ein Zimmermann mit eigenem Werkzeug erhielt soundso viel Lohn. Die Angehörigen der Gefallenen würden die und die Beträge beziehen. Dann kam er zu den Belohnungen, die erhalten sollten : der erste, der einen Feind sichtete, der erste, der einen Spanier tötete, der erste, der in die Stadt eindrang. Als er die Artikel zu Ende gelesen hatte, sagte er : »So, jetzt unterzeichnet.« Die Versammelten erhoben sich der Reihe 156
nach und kritzelten ihren Namen oder ihr Kennzeichen auf das Papier. Dann nahmen sie wieder Platz, und Sawkins stellte eine Frage, die ihm auf der Zunge brannte. »Die Belohnungen sind viermal so hoch wie üblich. Wie kommt das ?« Verschwendung war Sawkins zuwider. »Die Männer werden Mut brauchen«, sagte Henry Morgan ruhig. »Man muß ihnen einen Antrieb geben – es geht nämlich gegen Panama.« »Panama !« Sie ächzten und stöhnten beinahe, als sie das Wort wiederholten. »Ja. Panama. Ihr habt die Artikel unterzeichnet. Deserteure werden aufgehängt, wie ihr wißt. Schaut zu, daß ihr euren Leuten Mut macht. Ihr wißt alle, was es in Panama zu holen gibt – nun, erzählt ihnen davon, bis ihnen das Wasser im Munde zusammenläuft. Ich weiß sehr wohl, wie gefährlich das Unternehmen ist. Aber ich kenne die Wege genau. Ich bin fest davon überzeugt, daß alle Schwierigkeiten überwunden werden können.« »Panama – um Himmels willen !« rief Sawkins aus. Er verstummte und schien nachzudenken. »Deserteure lasse ich hängen«, erklärte Kapitän Morgan und verließ die Kajüte. Coeur de Gris blieb sitzen, um zu hören, was die anderen sagten. Er würde dann über ihre Stimmung Bericht erstatten. Zuerst sagte niemand etwas. Jeder rief sich alles, was er je über Panama gehört hatte, ins Gedächtnis zurück. »Gefährliche Sache«, sagte Sawkins schließlich, »aber sie bringt auch was ein. Der Kapitän hat uns versichert, daß er die Zugangswege und die Schwierigkeiten des Unternehmens genau kennt.« Diese Worte wirkten beruhigend. Wenn Kapitän Morgan so etwas sagte, brauchte man keine Angst zu haben. Morgan 157
war unfehlbar. Es kam schnell eine lebhafte Unterhaltung in Gang. »Geld ? Die Straßen sind damit gepflastert. Ich habe gehört, daß die Kathedrale –« »Aber wie sollen wir über die Landenge kommen ? Nichts als Urwald !« »Guten Wein haben sie in Panama. Ich habe schon welchen getrunken, der von dort kam.« Und auf einmal schien jeder an die Rote Heilige zu denken. »Da lebt doch diese Frau ! La Santa Roja !« »Ja, natürlich ! Wer wird die denn wohl bekommen ?« »Der Kapitän macht sich nichts aus Frauen. Ich denke, die wird wohl Coeur de Gris hier nehmen.« »Meinetwegen. Aber dann muß Coeur de Gris auf den Dolchstich eines Eifersüchtigen gefaßt sein … Ich würde mir’s vielleicht nicht lange überlegen, ihn niederzustechen, so leid mir’s tut – denn wenn ich es nicht tue, wird es ein anderer tun. Na, dann soll es doch schon lieber mein eigener Dolch sein. La Santa Roja !« »Was willst denn du mit einer solchen Frau anfangen ? Prügel mit dem Tauende wären wahrscheinlich nicht das richtige für sie.« »Ach was, der mit seinem Tauende ! Was mich betrifft, so habe ich, um die Wahrheit zu sagen, die fetten Dublonen immer für das beste Mittel gehalten, ein Weib herumzukriegen. Sie glitzern so schön.« »Nein, nein, die Sache ist ja viel einfacher. Fast alle Frauen kaufen ihre Diamanten mit ihrer Tugend zurück. Wenn du also die einen hast, wird dir das andere dazugegeben.« »Was sagt denn Einarm dazu ? – Der Andere Burgunder ? He ! Willst du die Rote Heilige für deinen dicken Freund da erwerben ?« Der Andere Burgunder machte eine artige Verbeugung. 158
»Das wäre nicht nötig«, sagte er. »Mein Freund ist sehr geschickt. Ich könnte euch eine Geschichte erzählen –« Er wandte sich an den Burgunder. »Erlaubst du es, Emil ?« Der Burgunder schien den Versuch zu machen, durch die Wand zu entkommen, aber er brachte es doch noch zu einem zustimmenden Nicken. »Dann will ich euch die Geschichte erzählen«, begann der Andere Burgunder. »In Burgund waren einmal vier Freunde. Drei von ihnen quetschten etwas sauere Milch aus den Brüsten der Kunst, während einer Hab und Gut hatte. Es gab zu dieser Zeit auch ein reizendes Mädchen in Burgund, schön, mit allen guten Eigenschaften ausgestattet, eine wahrhafte Circe … Und die vier Freunde verliebten sich alle in dieses entzückende Wesen. Jeder gab ihr die Geschenke, die ihm selbst am teuersten waren. Der erste faltete seine Seele zu einem Sonett zusammen und legte es ihr zu Füßen. Der zweite geigte ihr die sehnsüchtigsten Töne vor, die er seinem Instrument entlocken konnte, und ich, der dritte, malte ihr rosiges Antlitz. So warben wir Künstler in schöner Einmütigkeit um sie. Aber der eigentliche Künstler war der letzte der vier. Er machte nicht viel Worte, er ließ uns den Vortritt, der Schlaukopf. Welch ein Schauspieler ! Er gewann sie mit einer einzigen Gebärde. Er öffnete nur die Hand – so – und siehe da, auf seiner Handfläche lag eine große, lachende, rosige Perle. Sie heirateten. Nun, nach der Heirat zeigte es sich, daß Delphine noch größere Tugenden besaß, als irgendeiner geahnt hatte. Diese Krone der Schöpfung war nicht nur eine musterhafte Ehefrau, sondern auch die verschwiegenste und entzückendste Geliebte – nicht eines einzelnen etwa, sondern aller drei Freunde ihres Mannes. Und Emil, dem Ehemann, machte das gar nichts aus. Er hatte seine Freunde gern. Warum nicht ? Sie waren arm, aber sie waren wirkliche Freunde. 159
Aber ach – wo gibt es eine Macht, die so blind und blöde ist wie die öffentliche Meinung ? In diesem Falle hatte sie zwei Todesfälle und eine Verbannung zur Folge. Die Hydra der öffentlichen Meinung ! Sie zwang Emil, seine drei Freunde zum Duell herauszufordern. Selbst jetzt hätte noch alles mit einem Kuß und einer Umarmung enden können – ›meine Ehre ist wiederhergestellt, lieber Freund‹ –, wenn nicht Emil schon damals die in diesem Fall bedauerliche Gewohnheit gehabt hätte, die Spitze seines Degens, wenn er erst einmal in Fahrt kam, unbedingt in vergängliches Fleisch bohren zu müssen. Er konnte nicht anders. Zwei Freunde starben, und ich verlor meinen Arm. Aber die öffentliche Meinung war noch nicht zufriedengestellt. Wie ein blindwütiger Ochse stampfte sie von neuem los. Nachdem sie Emil die Duelle aufgezwungen hatte, vertrieb sie den Sieger aus Frankreich. Da sitzt nun Emil hier neben mir – der Herzensbrecher, der erstklassige Fechter, der Gutsbesitzer. Die öffentliche Meinung … Aber ich bin aus Haß gegen diese Macht von meiner Erzählung abgekommen. Ich wollte euch nämlich noch sagen, daß Emil weder um Nachsicht noch um Pardon bittet. Ich weiß, es sieht so aus, als wäre ein Schwarm hungriger Ameisen über seinen Geist hergefallen … Aber bringt nur mal ein schönes Weib vor ihn, laßt die Rote Heilige sich in diesen Augen spiegeln, und ihr werdet an meine Worte noch denken ! Er macht nicht viel Worte, er drängt sich nicht vor, er ist ein Künstler. Wo andere schreien : Eroberung ! Manneskraft ! Gewalt ! Notzucht ! – da trägt unser Emil als Liebeszauber eine rosige Perle in der Tasche.«
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II Eine lange Reihe von Flachbooten arbeitete sich mühsam den Chagresfluß hinauf. Jedes war bis zur Grenze der Tragfähigkeit mit den Mitgliedern der Freien Bruderschaft beladen. Die Franzosen unter ihnen trugen gestreifte Nachtmützen und lange, weite Hosen. Sie waren einmal von St. Malo oder Calais gekommen und hatten nun kein Vaterland mehr, in das sie zurückkehren konnten … Andere Barken waren mit Londoner Gesindel gefüllt, zum großen Teil schmutzige Kerle mit schwarzen Zähnen : eine richtige schäbige Diebesbande. Stiernackige, schweigsame Gesellen waren zumeist die Holländer, die träge in ihren Booten hockten und als Feinschmecker, die schon ganz andere Gerichte gesehen hatten, mit stumpfen Augen den Windungen des Flusses folgten. Die schweren viereckigen Boote wurden von Kariben und Cimaronen mit langen Stangen vorwärts gestakt. Diese Indianer zeigten eine wilde Fröhlichkeit, denn sie liebten den Krieg so sehr, daß man sie sogar veranlassen konnte, ihre geschmeidigen braunen Schultern unter mühevoller Arbeit zu beugen, wenn man ihnen Kampf und Blut als Belohnung verhieß. Einen Teil dieser merkwürdigen Flottenparade bildeten die erst kürzlich aus der spanischen Sklaverei entsprungenen Neger. Sie trugen rote, sich auf der nackten Brust kreuzende Patronenriemen, die auf ihrer Haut wie blutende Wunden aussahen. Ihr Führer, ein ungeheurer Koloß mit dem Gesicht eines schwarzen Elches trug dagegen gar nichts außer einem breiten gelben Gürteltuch und einem Kavaliershut, dessen große Feder herabhing und das fettig glänzende Kinn ihres Besitzers sichelförmig einfaßte. Die Boote ächzten in einer langen Linie den Fluß hinauf. Die Engländer sangen mißtönende Matrosenlieder, wobei sie sich hin und her wiegten, um den Rhythmus zu bewahren. Die 161
Franzosen trällerten heitere Chansons, in denen viel von Liebe die Rede war, und die Cimaronen und Schwarzen plapperten in endlosen Monologen, die an keine bestimme Adresse gerichtet waren. Der Chagres wand sich in Schleifen und weiten, hufeisenförmigen Biegungen dahin. Wenn man auf diesem Fluß ein Boot einen ganzen Tag lang vorwärts gestakt hatte, lag abends manchmal der Lagerplatz kaum eine halbe Meile in der Luftlinie von dem Aufbruchsort entfernt. Es war ein träger, apathischer Fluß, der manchmal so seicht war, daß der helle Sand in der Sonne durchs Wasser glitzerte. So klein und unbedeutend er war, verstand sich doch der Chagres ausgezeichnet auf das Hauptgeschäft der Flüsse – mit möglichst geringer Aufregung und Anstrengung zum Ozean zu kommen. Er glitt träumerisch durchs Land und hatte offenbar einen Widerwillen dagegen, seine schläfrige Individualität im Gewoge der polternden See zu verlieren. Nach einiger Zeit kam man in eine Gegend, wo das Dickicht bis ans Ufer reichte und wie eine gefrorene grüne Welle mit gebogenem Kamm den Fluß überragte. Zwischen den Baumstämmen schlichen gefleckte Raubkatzen einher und beobachteten mit trauriger Neugier die Menschen. Dann und wann glitt eine große Schlange von dem warmen Stamm, auf dem sie in der Sonne gedöst hatte, ins Wasser und schwamm mit erhobenem Kopf dahin. Ganze Völkerscharen aufgeregter Affen schwangen sich, anscheinend entrüstet über eine solche Ruhestörung, kreischend durch das Gewirr der Schlingpflanzen. Sie gaben nicht nur laut ihrer Empörung Ausdruck, sondern überschütteten die Boote auch mit einem Hagel von Blättern und Zweigen. Vierzehnhundert ausländische Subjekte wagten es, den Frieden der stillen Heimat zu stören ! Da hatte doch auch der kleinste Affe das Recht zum Protest. 162
Die Tageshitze kam schwer und betäubend wie ein Fieberhauch aus dem Dschungel. Die Lieder wurden gedämpft und erstarben schließlich, als hätte man heiße Tücher über die Männer geworfen. Schlaff hockten die Bukaniere auf den Bänken. Aber mit gleichmäßig schwingenden Bewegungen stakten die Indianer weiter. Das Spiel ihrer Muskeln, die sich an den Schultern zu Knäueln ballten und wieder lösten, glich den Bewegungen ruheloser Schlangen. Ihre brütenden Gehirne schwelgten in einem Traum von herrlichen Metzeleien, in denen das Blut spritzte. »Vorwärts !« befahl ihr Gehirn »Wieder zwei Schritte der Schlacht näher ! Vorwärts, vorwärts ! Panama ! Panama ! Siehst du die Seen von Blut ? Zwei Schritte näher !« Wie eine schreckliche Schlange mit vielen Gelenken wand sich die lange Reihe der Boote den Fluß hinauf. Der lange, glühende Tag neigte sich dem Abend zu, und kein menschliches Wesen war an den Ufern sichtbar geworden. Das war eine ernste Sache, denn in den Booten gab es keine Nahrungsmittel. Es war kein Platz für sie da. Jeder Zentimeter wurde für die Besatzung und die Waffen gebraucht. Auch auf den Flößen, auf denen man die Artillerie verstaut hatte, war kein Platz für sie, denn sie waren so niedrig, daß sie oft vom Wasser überflutet wurden. Man wußte, daß am Fluß viele Pflanzungen lagen, wo hungrige Männer leicht etwas zu essen finden würden, und aus diesem Grunde hatte man hier auf die Mitnahme von Proviant verzichtet. Den ganzen Tag hatten sie nach diesen Pflanzungen Ausschau gehalten, und es war nichts zu erblicken gewesen als das Dickicht des Urwaldes. Am Abend sah das erste Boot einen hölzernen Landungssteg. Hinter einer langen Baumreihe stieg eine Rauchfahne langsam gegen den Himmel. Mit lauten Freudenschreien sprangen die Bukaniere aus den Booten und wateten ans Ufer. Flüche und Verzweiflung. Die Gebäude waren niedergebrannt und verlas163
sen. Die schmale Rauchfahne stieg aus dem schwarzen Haufen einer ehemaligen Kornscheune, in der nicht ein einziges Korn mehr zu finden war. Tiefe Hufspuren führten in den feuchten Dschungel und zeigten an, in welche Richtung man das Vieh weggetrieben hatte. Aber die Spuren waren zwei Tage alt. Die hungrigen Männer gingen zu ihren Booten zurück. Gut, so gab es heute eben nichts zu essen ! Hunger gehörte zum Krieg, er war zu erwarten und mußte ertragen werden. Morgen würden sie sicher Häuser antreffen, in deren Kellern kühler und köstlicher Wein lagerte, Korrale, in denen fette Kühe, die nur darauf warteten, geschlachtet zu werden, stumpfsinnig nickten. Ein Bukanier, ein echter Bukanier, würde sein Leben für einen Becher saueren Weins verkaufen oder auch für die kurze Umarmung einer dieser braunen Mischlingsweiber. Das waren die Freuden des Lebens – und es gehörte mit dazu, daß man möglicherweise einen Dolch zwischen die Rippen bekam, bevor man noch den Becher ausgetrunken hatte. Sicher tut Hunger weh – aber morgen würde man schon etwas zu essen bekommen … Wieder erhob sich die Sonne, ein weißes Fiebergeschwür am Himmel. Da war wieder der Fluß mit seinen endlosen Windungen, die einen verrückt machten. An seinen Ufern lagen Plantagen, aber alle waren verlassen ; es waren keine Nahrungsmittel auf ihnen zu finden. Die Nachricht von dem Überfall war dem Zug wie eine Kunde vom Herannahen der Pest vorausgeeilt. Weder Mensch noch Tier waren dageblieben, um die Bukaniere zu begrüßen. Am dritten Tage fanden sie eine Anzahl zäher, frisch abgezogener Kuhhäute. Man klopfte sie mit Steinen weich, um sie eßbar zu machen. Dann entdeckte man ein wenig verbrannten Mais in einer noch brennenden Scheune ; doch einige, die ihn in ihrer Gier hinunterschlangen, starben schnell unter furchtbaren Qualen. 164
Die Bukaniere jagten im Dschungel, suchten zwischen den Bäumen nach irgendeinem Tier, das man verspeisen konnte. Doch selbst die Katzen und Affen schienen im Bunde mit Spanien zu sein. Der Dschungel war wie ausgestorben. Nichts war übriggeblieben als die Insekten. Manchmal wurde eine Schlange gefangen und geröstet ; und der Fänger bewachte mißtrauisch den schmorenden Braten. Dieser und jener fing ein paar Mäuse ; sie wurden hastig verschlungen, damit sie ja kein anderer wegschnappte. Nach viertägiger Fahrt wurde der Fluß für die Boote zu seicht. Die Kanonen wurden ans Ufer gebracht und von den Kräftigsten auf einem schmalen Pfad weitergezogen. In einer lang auseinandergezogenen Linie marschierten die Bukaniere flußaufwärts, während vor ihnen ein Schwarm eifriger Indianer, die Energie aus ihrem Bluttraum schöpften, mit ihren schweren Messern einen Weg durch den Dschungel bahnten. Ein paar kleine Gruppen fliehender Spanier wurden gesichtet, und dann und wann huschten kleine Banden fremder Indianer wie eine Kette aufgestöberter Wachteln aus dem Dickicht. Aber kein Feind hielt so lange stand, daß man mit ihm handgemein werden konnte. Einmal wurde unweit des Pfades ein für einen Hinterhalt angelegter Platz entdeckt : ein Erdwall und die Asche vieler Lagerfeuer. Er war verlassen. Die Soldaten, die hier kämpfen sollten, waren davongelaufen. Jetzt, da man Panama näher kam, war die Begeisterung der sich mühsam dahinschleppenden Männer verschwunden. Sie verfluchten ihren Anführer, weil sie hungern mußten ; doch sie folgten ihm weiter und weiter, immer noch mitgerissen von der Kraft seines Beispiels. Aber nun begann Henry Morgan, wenn er seine erschöpften Truppen betrachtete, selber zu zweifeln, ob sein Wunsch, nach Panama zu kommen, noch so stark sei wie früher … Er 165
versuchte, sich an die Kraft zu erinnern, die ihn auf diesen Weg getrieben hatte : die Anziehungskraft der nie gesehenen Frau. Mit zunehmendem Hunger war das Bild der Santa Roja in seiner Phantasie verblichen. Er konnte es nicht wiedererwecken. Aber selbst wenn dieses Leitbild völlig verschwände, müßte er weiterziehen. Ein einziges Versagen, ein Augenblick der Unschlüssigkeit – und seine bisherigen Erfolge würden davonfliegen wie ein Taubenschwarm. Coeur de Gris war ihm von Anfang an nicht von der Seite gewichen. Coeur de Gris sah abgezehrt aus und schlurfte ein wenig beim Gehen. Der Kapitän betrachtete seinen Stellvertreter mit Mitleid und Bewunderung. Er sah in den glasigen Augen ein flackerndes Licht, als wenn er dem Wahnsinn nahe wäre. Solange der junge Mann an seiner Seite war, fühlte sich Morgan weniger einsam. Coeur de Gris war allmählich fast ein Teil von ihm selbst geworden. Die Hitze fiel wie glühender Regen vom Himmel. Sie sank zu Boden und erhob sich dann langsam wieder, beladen mit Feuchtigkeit und dem ekelerregenden Gestank verfaulender Blätter und Wurzeln. Einmal wurde Coeur de Gris von der Hitze auf die Knie gezwungen, aber er erhob sich wieder und stolperte weiter. Henry Morgan sah seinen schwankenden Gang und blickte unschlüssig auf den vor ihm liegenden Weg. »Vielleicht sollten wir hier Rast machen«, sagte er. »Die Leute sind erschöpft.« »Nein, nein, wir müssen weiter«, erwiderte Coeur de Gris. »Wenn wir halten, werden die Leute beim Aufbruch nur noch schwächer sein.« Henry Morgan sah ihn an und sagte : »Was macht dich so eifrig in meinem Dienst ? Du stürmst vorwärts, wenn selbst ich zu zweifeln beginne. Was treibt dich so nach Panama ?« »Nichts«, sagte der junge Mann barsch. »Wollen Sie vielleicht 166
etwas aus mir herauslocken, was als Untreue ausgelegt werden könnte ? Ich bin mir vollkommen darüber klar, wem die Beute zufällt. Aber ich bin wie ein runder Felsblock, den man einen Berg hinunterrollen läßt – darum habe ich es so eilig, nach Panama zu kommen. Sie haben mich in Bewegung gesetzt, Herr Kapitän.« »Ich weiß im Grunde gar nicht, was mich eigentlich nach Panama treibt«, sagte Morgan. Zornig wandte ihm Coeur de Gris sein gerötetes Gesicht zu. »Panama ist Ihnen freilich gleichgültig – aber nicht die Frau, die dort lebt !« Sein Ton war genauso bitter wie seine Worte. Er preßte seine Handflächen gegen die Schläfen. »Ich gebe zu, daß mich die Frau reizt, aber ist das nicht sonderbar ?« »Sonderbar ?« rief Coeur de Gris jetzt in wilder Wut. »Wieso ist es sonderbar, auf eine Frau lüstern zu sein, die man im allgemeinen für eine außergewöhnliche Schönheit hält ? Möchten Sie jeden dieser Männer für sonderbar halten oder alle männlichen Wesen auf der Welt ? Oder haben Sie übermenschliche Eigenschaften, haben Sie die Lust eines Gottes in sich ? Haben Sie den Körper eines Titanen ? Sonderbar ! Ja, allerdings, Herr Kapitän, es ist sonderbar, daß alle Männer gleiche Lust auf die Vereinigung mit einer Frau haben und mit gleicher Lust daran denken !« Henry Morgan war verdutzt, aber er erschrak auch. Es war ihm, als hätte er einen Geist wandeln sehen, einen abstoßenden Geist, an dessen Existenz er nicht geglaubt hatte. Konnte es sein, daß diese Männer fühlten wie er ? »Aber ich glaube, es ist mehr als Lust«, sagte er. »Du kannst meine Sehnsucht nicht verstehen. Es ist, als strebe ich nach himmlischem Frieden. Diese Frau ist der Hafen für meine Unruhe. Ich denke nicht an sie wie an ein Weib mit Beinen und 167
Brüsten, sondern wie an eine nach arger Mühsal winkende Oase des Friedens, wie an köstlichen Duft nach fauligem Schmutz. Und das kommt mir sonderbar vor. Wenn ich an die vergangenen Jahre denke, setzt mich meine unablässige Tätigkeit in Erstaunen. Ich habe mir entsetzliche Mühe um lächerliche Dinge aus Gold gegeben. Ich habe das Geheimnis nicht gekannt, das die Erde zu einem großen Chamäleon macht … Meine Beutezüge erscheinen mir als die dummen Streiche eines fremden Menschen, der keine Ahnung davon hatte, wie man’s erreicht, daß die Welt in immer neuen Farben sprüht. Ich trauerte damals, wenn die Befriedigung starb, kaum daß ich sie erreicht hatte. Ist es ein Wunder, daß alle diese Freuden starben ? Ich kannte das Geheimnis nicht. Nein, du kannst meine Sehnsucht nicht verstehn.« Coeur de Gris preßte wieder seine Hände gegen die schmerzenden Schläfen. »Ich kann sie nicht verstehen ?« rief er verächtlich. »Sie täuschen sich! Ich kenne sie. Für Sie sind Ihre Gefühle etwas Neuartiges, frische Entdeckungen von unerhörter Bedeutung. Ihre ungeheure Einbildung erlaubt Ihnen nicht, zu glauben, daß dieser armselige Londoner Straßenjunge hinter Ihnen – ja, der da, der manchmal seine Anfälle kriegt und sich auf dem Boden wälzt – dieselben Hoffnungen und Bedrückungen hat wie Sie. Ich glaube, es würde Ihre kühnsten Vorstellungen übersteigen, wenn ich Ihnen sagte, daß ich diese Frau genauso ersehne wie Sie, daß ich ihr ebenso betörende Sätze ins Ohr flüstern könnte wie Sie, ja vielleicht – denn ich kenne die Frauen – besser als Sie.« Unter den Peitschenschlägen dieser Worte war maßloses Erstaunen in Kapitän Morgan hochgestiegen. Was Coeur de Gris da sagte, war ihm unfaßbar. Es war ungeheuerlich, zu glauben, daß diese Männer dieselben Gefühle haben konnten wie er … Solch ein Vergleich setzte ihn herab, machte ihn klein und unansehnlich. 168
»Sie staunen, daß ich so etwas sage ?« fuhr Coeur de Gris fort. »Sie sollen den Grund erfahren. Der Schmerz hat mich wahnsinnig gemacht ; es ist aus mit mir, ich werde sterben.« Er ging schweigend eine Weile weiter, dann schrie er auf und fiel zu Boden. Eine ganze Minute betrachtete ihn Kapitän Morgan. Dann schien sich in seiner Brust etwas zu lösen. Eine lang zurückgehaltene Welle durchbrach ungestüm das Stauwehr. Er erkannte in dieser Minute, wie sehr er den jungen Mann liebgewonnen hatte, er wußte, daß es unerträglich war, Coeur de Gris zu verlieren. Er fiel neben der stillen Gestalt auf die Knie. »Wasser !« rief er dem nächsten Bukanier zu, und als der Bursche ihn nur anstarrte, brüllte er : »Wasser ! Bring Wasser !« Seine Hand faßte zitternd nach der Pistole im Gürtel. Man brachte Wasser in einem Hut. Alle Piraten sahen ihren eiskalten Kapitän am Boden knien und Coeur de Gris über das feuchte, glänzende Haar streichen. Langsam öffnete der junge Mann die Augen und versuchte aufzustehen. »Verzeihung, Herr Kapitän. Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen – die Sonne hat mir das Gehirn ausgesogen. Aber Sie müssen aufstehen, Herr Kapitän. Die Leute verlieren den Respekt, wenn Sie hier knien !« »Bleib liegen, Junge. Lieg ruhig. Du darfst dich noch nicht bewegen. Ich dachte einen Augenblick, du wärest tot, und die ganze Welt wurde für mich zu einem Haufen Asche. Lieg ruhig ! Du darfst dich nicht bewegen. Jetzt werden wir den Goldenen Becher zusammen nehmen, und er soll für uns ein Kelch mit zwei Henkeln sein.« Er hob Coeur de Gris auf und trug ihn in den Schatten eines großen Baumes. Während Coeur de Gris langsam wieder zu Kräften kam, ruhten sich die Bukaniere auf dem Boden aus. 169
Coeur de Gris lehnte sich an den Baum und lächelte den Kapitän mit beinahe weiblicher Hingabe an. »Bin ich wie der Cockney ?« fragte Kapitän Morgan ein wenig ärgerlich. »Wie der Cockney, der die Anfälle hat ?« Coeur de Gris lachte. »Sie kennen den Mann gar nicht. Sie wären vielleicht stolz, wenn Sie ihm ähnlich wären ! Ich weiß, daß er für Sie nur irgendein Untergebener ist, der Befehle entgegenzunehmen hat. Ich will Ihnen sagen, wer er ist. Er heißt Jones. Sein ganzes Leben hat er gewünscht, das Evangelium zu predigen. Er hielt seine Anfälle für Heimsuchungen des Heiligen Geistes, der ihn auf die Probe stellen wollte, ob er seiner heiligen Mission würdig wäre. Einmal stand er in London an einer Straßenecke und sprach zu den Leuten. Da kam die Wache und verhaftete ihn. Nach dem Gesetz war er ein Landstreicher, und so wurde er nach Westindien verschifft. Nachdem Jones seine Kontraktzeit abgearbeitet hatte, wurde er Seeräuber, um nicht verhungern zu müssen. Bei einer Beuteverteilung fiel ihm eine Sklavin zu, eine hübsche Spanierin mit Negerblut. Er heiratete sie, um ihren Ruf zu retten. Er wußte nicht, wie wenig es da zu retten gab. Nun passen Sie auf, Herr Kapitän. Seine Frau ist katholisch. Wenn er daheim ist, darf er nicht die Bibel lesen. Und so glaubt er, daß wahrhaft teuflische Umstände ihm den Sieg geraubt haben, nicht einen Sieg, wie Sie und ich ihn kennen, sondern den Sieg, der nur mit Hilfe göttlicher Gnade zu erringen ist. Er glaubt, er hätte ein protestantischer Savonarola sein können !« »Aber seine Anfälle –«, sagte Henry Morgan. »Seine schrecklichen Anfälle – Ich habe sie gesehen.« Wieder lachte Coeur de Gris. »Die Anfälle ? Sie sind ihm angeboren – ein Erbstück.« »Und du meinst, er hat echtes Gefühl ?« 170
»Doch, natürlich. Denken Sie, er heiratete jene Frau, um ihren Ruf zu retten, und er behielt sie bei sich, als er erfuhr, wie es um diesen Ruf bestellt war. Sie werden sehen – bei der Verteilung der Beute wird er bescheiden ein Kruzifix verlangen. Er will ihr von Panama ein Kruzifix mitbringen. Herr Kapitän ! Er ist kein Katholik und verabscheut Kruzifixe !«
III Immer weiter rückten die Bukaniere auf Panama zu. Sie hatten Leder und bittere Wurzeln gegessen, Mäuse, Schlangen und Affen. Sie hatten Höhlen unter den Backenknochen, ihre Augen glänzten von Fieber. Jetzt, da ihre Begeisterung verflogen war, trieb sie nur der Glaube an die Unfehlbarkeit ihres Kapitäns weiter. Mit Morgan konnte nichts schiefgehen, weil ihm noch nie etwas schiefgegangen war. Sicher hatte er einen genialen Plan, der das Gold der Neuen Welt in ihre Taschen zaubern würde. Und das Wort Gold, obwohl es keinen wirklichen Gegenstand mehr bezeichnete, war mächtiger als das Wort Hunger. Am Morgen des achten Tages kam ein Pfadfinder zum Kapitän. »Der Weg ist verriegelt. Es sind Erdverschanzungen aufgeworfen, die mit Kanonen bestückt sind.« Schon kam das Kommando. Die Spitze der Heeressäule bog nach links ab und begann, sich ihren Weg durch dickes Unterholz zu schlagen. Am Abend kam man auf einen kleinen runden Hügel. Drunten, im goldenen Licht der untergehenden Sonne, lag Panama. Jeder blickte seinem Nachbarn ins Gesicht, um sicherzugehen, daß das Bild nicht seine persönliche Halluzination war … Einer von den Bukanieren beugte sich vor. Er erstarrte zuerst 171
und schrie dann wie ein Verrückter. Gleich darauf sah man ihn den Hügel hinunterrennen und sein Schwert schwingen. Unter ihnen in einer Mulde weidete eine Herde Rinder, die der Hirt wahrscheinlich im Stich gelassen hatte. Im Augenblick rasten alle vierzehnhundert Mann den Hügel hinunter. Sie machten die Rinder mit ihren Schwertern nieder, sie hieben und stachen auf die erschreckten Tiere ein. Bald rann das Blut von den Bärten der ausgehungerten Männer, die roten Tropfen fielen auf Hemd und Brust. In dieser Nacht fraßen sie sich voll bis zur Bewußtlosigkeit. Die Aufklärer hatten an der großen Fresserei nicht teilgenommen. Sie tauchten in die Dunkelheit und durchstreiften die Ebene wie Wölfe. Sie strichen an den Mauern entlang und zählten die vor der Stadt lagernden Soldaten. Am frühen Morgen weckte Kapitän Morgan seine Leute und rief sie zusammen, um ihnen die Befehle für den Kampf zu erteilen. Er wußte, wie er seine Bukaniere zu behandeln hatte. Er hob ihnen gleichsam das Gehirn aus dem Kopf und knetete es so zurecht, wie er es für den Kampf brauchte. Er weckte zuerst ihre Furcht. »Neun Tage Marsch sind es bis zur Flußmündung, wo die Schiffe liegen. Neun Tage – und ihr wißt, daß es da nichts zu essen gibt ! Ihr könntet die Schiffe nicht erreichen, selbst wenn ihr davonlaufen wolltet. Vor euch aber liegt Panama. Während ihr wie fette Eber geschlafen habt, waren unsere Aufklärer nicht müßig. Vor der Stadt sind viertausend Soldaten aufmarschiert, die von Kavallerie flankiert werden. Es sind keine Farmer mit alten Pistolen und Messern, sondern geübte Soldaten in roten Uniformen. Aber das ist noch nicht alles. Sie wollen Stiere gegen uns loslassen – ausgerechnet ! Auf euch erfahrene Viehjäger !« Lautes Gelächter folgte diesen Worten. Viele von seinen Männern hatten im Dschungel gelebt und ihr Leben durch die Jagd auf verwildertes Vieh gefristet. 172
Der Kapitän stachelte ihre Habsucht : »Gold und Juwelen sind in solchen Massen in der Stadt, daß wir die Hoffnung aufgeben müssen, sie zu zählen – jeder von euch wird unermeßlich reich, wenn wir die Stadt erobern !« Ihren Hunger : »Denkt an die herrlichen Braten, die euch erwarten, an die vielen Fässer Wein in den Kellern, an die feinen Speisen mit den feinsten Gewürzen – läuft euch nicht das Wasser im Munde zusammen ?« Ihre Wollust : »Nicht nur Sklavinnen sind in Hülle und Fülle in der Stadt, sondern, weiß Gott, tausend andere Frauen ! Frauen aller Art, für jeden Geschmack ! Die Schwierigkeit für euch wird nur darin bestehen, aus der uns zufallenden Menge die passende auszusuchen. Da sind nicht nur grobe Landarbeiterinnen – da gibt es in Mengen große Damen, die in seidenen Betten schlafen ! Na, juckt euch nicht die Haut, wenn ihr daran denkt, daß ihr mit ihnen in solchen Betten liegen werdet ?« Und weil er sie gut kannte, kitzelte er zuletzt ihre Eitelkeit. »Die Namen derjenigen, die an diesem Kampfe teilnehmen, werden in die Geschichte eingehen ! Dies ist kein gewöhnlicher Beutezug ; dies ist ein ruhmvoller Feldzug ! Stellt euch vor, wie die Leute in Tortuga auf euch zeigen werden ! Sie werden sagen : ›Der war bei Panama dabei !‹ Und sie werden sagen : ›Das ist ein Held und reich dazu !‹ Denkt daran, wie die Frauen in Goaves hinter euch herlaufen werden, wenn ihr heimkommt. Dort liegt der Goldene Becher vor euch ! Wollt ihr ihn liegen lassen ? Viele werden heute im Kampfe bleiben – das wißt ihr alle, und das ist nicht zu ändern. Aber jene, die ihn überstehen, werden das goldene Panama in ihren Taschen heimtragen !« Lauter Beifall aus heiseren Kehlen folgte diesen Worten. Die Franzosen warfen ihrem Führer nach ihrer Sitte Handküsse zu. 173
Die Kariben plapperten aufgeregt und rollten die Augen. Nur die feinschmeckerischen Holländer starrten mit glanzlosen Augen auf die weiße Stadt. »Noch etwas !« sagte der Kapitän. »So wie ich die spanische Taktik kenne, werden die Truppen in einer Linie aufmarschieren. Die Spanier wollen möglichst viel herzeigen. Ihr feuert nur auf die Mitte, alle miteinander ! Wenn die Mitte geschwächt ist, greifen wir an und reißen die Front auseinander.« Und er gab seine Befehle. Sie zogen in die Ebene, eine dicke Menschenwolke. Zweihundert Scharfschützen gingen voraus, während die übrigen sich in einzelne Gruppen auflösten. Don Juan, der Gouverneur von Panama, hatte seine prächtig uniformierten Fußtruppen in langer Reihe, zweigliedrig und nach Kompanien geordnet, aufgestellt. Verächtlich betrachtete er die ungeordnet wirkende Formation des Feindes. Fast fröhlich gab er das Signal zum Vorrücken. Die spanische Kavallerie setzte sich in Bewegung. Schwungvoll tänzelte und wirbelte sie von beiden Seiten über die Ebene. Jetzt bildete sie ein V und dann ein Karree. In flottem Trab führte sie all die verwickelten Bewegungen vor wie bei einer Parade : sie bildete Dreiecke und das große T. Einmal funkelten die Säbel hoch in der Sonne, dann senkten sie sich wieder, durch eine rasche Drehung des Handgelenks, um kurz darauf von neuem aufzuleuchten. Don Juan gab laut seiner Bewunderung Ausdruck. »Schaut nur, meine Freunde ! Schaut euch nur meinen braven Kapitän Rodriguez an ! Großartig, Rodriguez ! Ich muß staunen, wie gut er das alles von mir gelernt hat. Ist es möglich, daß das derselbe Rodriguez ist, den ich vor noch gar nicht so langer Zeit als Kind in den Armen gehalten habe ? Jetzt ist er ein Mann und ein Held. Seht euch die Sicherheit, die Genauigkeit an, mit denen 174
alle Bewegungen ausgeführt werden ! Wie wollen es diese zerlumpten Bukaniere mit einer solchen Reiterei aufnehmen !« Rodriguez, an der Spitze seiner Truppe, schien das Lob des Gouverneurs zu hören. Seine Schultern wurden immer gerader und steifer. Er erhob sich in den Steigbügeln und gab das Zeichen zum Angriff. Erregender Hörnerklang ertönte. Unter dem hohlen, rollenden Getrappel der Hufe erbebte der Boden. Es war, als stürze eine rote Woge mit silbernem Kamm heran. Rodriguez drehte sich im Sattel um und sah stolz auf die rasselnde und klirrende Schar, die ihm folgte, als wäre sie ein einziger, großer, vielgliedriger, von seinem Gehirn gelenkter Körper. Jeder Säbel war parallel zum Hals des Pferdes ausgestreckt. Rodriguez drehte sich noch einmal um, weil er vor dem Zusammenstoß noch einen Blick auf das schöne Panama werfen wollte … In diesem Augenblick ritt die ganze Truppe jäh in einen Sumpf. Man kannte diesen Sumpf, aber in der Begeisterung des Augenblicks, bei der Ausführung der komplizierten Figuren, hatte man ihn ganz vergessen oder die Entfernung unterschätzt. In einer Sekunde war die Reiterei Panamas nur noch ein wirres Knäuel gestürzter Pferde und Männer. Sie zappelten wie Fliegen auf einem Klebepapier. Don Juan blickte verdutzt über die weite Ebene, auf den Haufen sich windender Körper, und schluchzte auf wie ein Kind, das sein schönes Spielzeug zerbrochen auf der Straße liegen sieht. Er wußte nicht, was er tun sollte. Eine Blutwelle schoß ihm in den Kopf und vernebelte jeden klaren Gedanken. Er machte kehrt und ritt langsam auf die Stadt zu. Es würde das beste sein, dachte er, er ginge in die Kathedrale. Der spanische Stab war wie ein aufgeregter Bienenschwarm. Rote und goldene Uniformen liefen in allen Richtungen durcheinander. Jeder Offizier brüllte Befehle. Schließlich drang der junge Leutnant, der die Stiere herbeigeschafft hatte, mit seiner Stimme durch. 175
»Die Stiere loslassen – die Stiere !« rief er immer wieder, bis die anderen es auch riefen. Die Indianer, die die Stiere hielten, zogen ihnen die Nasenringe heraus und trieben sie mit den Stachelstöcken vorwärts. Langsam bewegte sich die Herde über die Ebene. Dann setzte sich ein rotes Ungeheuer in langsamen Trab, und sofort fing die ganze Herde an zu laufen. »Sie werden diese Räuber zerstampfen !« sagte ein spanischer Offizier mit fachmännischer Sicherheit. »Wo sie vorüberkommen, finden wir auf dem blutigen Boden nur noch Knöpfe und zerbrochene Waffenstücke.« Die Stiere galoppierten auf die lockere Linie der Bukaniere zu. Plötzlich knieten die zweihundert Scharfschützen nieder und feuerten. Sie feuerten schnell und sicher wie Jäger, die sich auf ihr Handwerk verstehen. Vor der galoppierenden Herde schichtete sich plötzlich ein Wall aus blutenden, brüllenden, am Boden um sich schlagenden Tieren auf. Der Rest der Herde hielt an, roch das Blut, drehte und raste in wilder Flucht zurück auf die spanischen Reihen los. Der Offizier hatte recht gehabt. Wo sie vorüberkamen, blieb nichts als ein paar Knöpfe, zerbrochene Waffenstücke und blutiger Rasen. Gleich hinter den Stieren folgten die Bukaniere. Sie stürmten in die Öffnung, die die Stiere gerissen hatten, und trieben die Verteidiger nach links und rechts. Noch hörte man hier und da wildes Feldgeschrei, aber die in Spanien ausgebildeten Soldaten waren an diese Art Kriegführung nicht gewöhnt. Diese schrecklichen, unsoldatischen Kerle, die sie vor sich hatten, lachten im Kampf und töteten ihre Feinde mit Messern und Fäusten. Die Spanier hielten eine Weile verzweifelt stand, aber dann ging ihnen unter den feinen roten Röcken der Mut aus. Sie flüchteten in den Dschungel. Kleine Trupps Bukaniere verfolgten sie und stachen die Erschöpften mit Spießen nieder. Andere kletterten auf Bäume und verbar176
gen sich im Laub. Wieder andere flüchteten in die Berge und wurden nie mehr gesehen. Panama war den Seeräubern hilflos preisgegeben. Eine Schar Bukaniere strömte durch das unverteidigte Tor und lief die breite Straße hinauf. An den Seitenstraßen lösten sich immer einige von der Schar und verschwanden darin, als wenn ein Fluß rückwärts wieder in seine Zuflüsse strömte. Dann und wann brachen auch einige aus der Hauptschar aus und stürzten sich auf eines der prächtigen Häuser. Sie hämmerten gegen die Tür, stemmten sich dagegen und drückten sie schließlich ein. Männer drängten sich durch den Eingang – man hörte Rufe, ein paar schrille Schreie, Gepolter : dann war wieder alles still. Eine alte Frau lehnte sich aus einem Fenster und betrachtete neugierig die Eindringlinge. Dann machte sie ein enttäuschtes Gesicht. »He !« schrie sie zu einem Fenster an der gegenüberliegenden Straßenseite hin. »Schaut euch das an, bitte ! Diese Diebe sehen ziemlich genauso aus wie unsere eigenen Leute. Sie sind gar keine Teufel !« Sie hätte es offenbar lieber gesehen, wenn sie Teufel gewesen wären. Sie zog ihren Kopf zurück, als wenn es sich nun nicht mehr lohnte, sie eines Blickes zu würdigen. Am Nachmittag brach Feuer aus. Hoch schlugen die Flammen zum Himmel. Zuerst brannten ein paar Häuser, dann eine Straße, schließlich die halbe Stadt. Henry Morgan ging zum Palast des Gouverneurs, wo er Quartier nehmen wollte. Im Toreingang stand Don Juan Perez de Guzman mit dem blanken Degen in der Hand. »Ich bin der Gouverneur«, sagte er gebrochen. »Die Einwohner dieser Stadt setzten das Vertrauen in mich, daß ich sie gegen diese Pest verteidigen würde. Ich habe versagt – aber vielleicht gelingt es mir wenigstens, Sie niederzustechen !« Henry Morgan blickte zu Boden. Dieser hysterische Mann setzte ihn in Verlegenheit. »Ich habe das Feuer nicht gelegt«, 177
sagte er. »Ich hatte es verboten. Ich vermute, einer Ihrer Sklaven hat es aus Rache getan.« Don Juan setzte sich mit dem gezogenen Degen in Bewegung. »Verteidigen Sie sich !« rief er. Kapitän Morgan veränderte seine Stellung nicht. Der Degen fiel dem Gouverneur aus der Hand. »Ich bin ein Feigling !« schrie er. »Warum habe ich Sie nicht einfach niedergestochen ? Warum sind Sie mir nicht entgegengetreten ? Ach, ich bin ein Feigling ! Ich habe zu lange gewartet. Ich hätte gar nicht mit Ihnen reden, sondern Ihnen die Degenspitze in den Hals bohren sollen ! Eben noch war ich bereit, zu sterben – als Sühne für mein Versagen – und ich wollte Sie mitnehmen, denn das wäre eine Beruhigung für mein Gewissen gewesen ! Panama ist gefallen, und ich hätte auch fallen sollen. Kann ein Finger noch weiterleben, wenn der Körper tot ist ? Aber jetzt habe ich nicht mehr den Mut zum Sterben. Ach, wenn ich nur schnell gehandelt – wenn ich nur nicht gesprochen hätte –.« Er ging auf das Stadttor zu und ins Freie hinaus. Henry Morgan rührte sich nicht und sah ihm nach : wie ein Betrunkener wankte der Gouverneur aus der Stadt hinaus. In der schwarzen Nacht war die Stadt ein Garten roter Feuerblumen. Der Turm der Kathedrale krachte zusammen und sprühte ein Funkenmeer gegen den Himmel. Panama starb in einem Flammenbett, und die Bukaniere mordeten auf den Straßen. Die ganze Nacht saß der Kapitän in dem Audienzzimmer, während seine Leute die gesammelte Beute hereinbrachten. Goldbarren warfen sie auf den Boden wie Korkplatten. Mancher Barren aber war so schwer, daß zwei kräftige Männer ihn nur mit großer Mühe tragen konnten. Die zusammengeworfenen Juwelen sahen aus wie glitzernde Heuhaufen in der Sonne. In einer Ecke wurden kostbare Kirchengewänder 178
aufgehäuft ; es ging dort zu wie auf einem himmlischen Trödelmarkt. Henry Morgan saß in einem großen geschnitzten Sessel, der einem Knäuel Schlangen ähnelte. »Habt ihr La Santa Roja gefunden ?« »Nein, Herr Kapitän. Die Frauen sind hier wie Teufel !« Gefangene wurden hereingebracht, die man mit einer im Gefängnis gefundenen Daumenschraube folterte. »Niederknien ! Wo ist dein Gold ?« Schweigen. »Dreh, Joe !« »Gnade ! Gnade ! Ich will euch hinführen. Ich schwöre es. In einer Zisterne bei meinem Hause.« Ein anderer … »Niederknien! Wo ist dein Gold ? Dreh, Joe!« »Ich will euch hinführen.« Sie waren geschickt, brutal und sachlich wie Metzgergesellen in einem Schlachthause. »Habt ihr La Santa Roja gefunden ? Ich lasse euch aufhängen, wenn ihr ein Leid geschieht !« »Niemand hat sie bis jetzt gesehen, \ lerr Kapitän. Übrigens sind fast alle betrunken !« So ging’s die ganze Nacht hindurch. Wenn ein Opfer gestanden hatte, wurde es von den Häschern hinausgeführt, und bald kehrten sie mit goldenem und silbernem Geschirr, mit Juwelen und Seidenkleidern zurück. Der leuchtende Schatz in der Audienzhalle wuchs zu einem gewaltigen Stapel. Müde wiederholte Kapitän Morgan : »Habt ihr die Rote Heilige gefunden ?« »Bis jetzt nicht, Herr Kapitän, aber wir suchen in der ganzen Stadt. Vielleicht bei Tagesanbruch –« »Wo ist Coeur de Gris ?« »Ich glaube, er ist betrunken, Herr Kapitän, aber …« Er sah von Henry Morgan weg. 179
»Was aber ? Was willst du sagen ?« »Nichts. Ich wollte gar nichts sagen. Es ist ziemlich sicher, daß er betrunken ist. Nur braucht er eben ganze Fässer, um einen Rausch zu bekommen, und vielleicht hat er inzwischen eine Freundin gefunden.« »Hast du ihn mit einer gesehen ?« »Ich sah ihn mit einer betrunkenen Frau, und ich könnte schwören, daß er selber auch betrunken war.« »Hast du vielleicht gedacht, die Frau könnte La Santa Roja sein ?« »O nein, Herr Kapitän ! Die stelle ich mir ganz anders vor ! Irgendeine Frau aus der Stadt.« Gerade warf man wieder goldenes Geschirr auf den Haufen. Es klirrte laut.
IV Eine gelbe Dämmerung kroch zögernd über die Hügel von Panama und wurde kühner, als sie die Ebene erreichte. Die Sonne flammte hinter einem Gipfel auf, und ihre goldenen Strahlen suchten die Stadt. Aber Panama war nicht mehr. In einer Nacht war die Stadt unter den verzehrenden Küssen des Feuers gestorben. Da aber die Sonne ein wankelmütiger Himmelskörper ist, ergötzten sich ihre suchenden Strahlen an der neuen Erscheinung. Sie beschienen die armseligen Ruinen, blickten erstaunt in todesstarre Gesichter, eilten durch die mit Trümmern besäten Straßen, fielen jäh in zerfallene Höfe. Sie kamen zu dem weißen Palast des Gouverneurs, sprangen durch die Fenster des Audienzsaales und tasteten über den Goldhaufen auf dem Boden. Henry Morgan schlief in dem Schlangensessel. Sein roter Rock 180
war mit dem Dreck der Ebene bespritzt. Sein Degen in der grauseidenen Scheide lag neben ihm auf dem Boden. Er war allein in dem Saal, denn alle, die mitgeholfen hatten, die Knochen der Stadt während der Nacht abzunagen, waren fortgegangen, um zu trinken oder zu schlafen. Es war ein hoher, langer Saal, dessen Wände mit poliertem Zedernholz getäfelt waren. Die Deckenbalken waren schwarz und schwer wie altes Eisen. In der Halle waren Gerichtssitzungen abgehalten, Hochzeiten gefeiert, Gesandte empfangen und Gesandte ermordet worden. Eine Tür ging nach der Straße hinaus, die andere, eine breite Bogenöffnung, führte in einen gepflegten Garten. In der Mitte des Gartens spie ein marmorner Delphin eine hohe Fontäne in einen Teich. Riesige Pflanzen mit purpurnen Blättern standen in rotglaslerten Töpfen ; daneben blühten Blumen, aus denen scharlachfarbene Pfeilspitzen, Herzen oder kissenartige Stempel schössen. Ein Affe, nicht größer als ein Kaninchen, suchte friedlich auf dem Kiesweg nach Samen. Auf einer der Steinbänke saß eine Frau. Sie zerzupfte eine gelbe Blume, wobei sie ein zärtliches, albernes Liebeslied sang : »Im Morgengrauen, wenn sie ihre Blüte öffnet, möchte ich die Blume für dich pflücken, Liebster.« Ihre Augen waren schwarz und unergründlich. Sie hatten ein monotones, glänzendes, durchsichtiges Schwarz wie die Flügel einer toten Fliege. Unter den Lidern waren scharfe kleine Linien. Sie konnte die Unterlider ihrer Augen so hinausziehen, daß sie zu lachen schien, obwohl ihr Mund hart blieb und sich nicht verzog. Ihre Haut war sehr bleich, ihr Haar glatt und dunkel wie Lavaglas. Einmal blickte sie zur Sonne hin, deren Licht sie zu stören schien, dann wieder zu der Bogentür des Audienzsaales. Sie unterbrach ihren Gesang, lauschte einen Augenblick aufmerksam und fing dann wieder an zu trällern. Man hörte keinen anderen Laut als das ferne Knistern des Feuers, das jetzt unter den 181
Palmhütten der Eingeborenen in den Außenbezirken wütete. Der kleine Affe hopste in einem kölnischen, schiefen Galopp den Gartenpfad entlang. Er machte vor der Frau halt und hob seine schwarzen Pfoten wie bittend über den Kopf. »Du hast deine Lektion gut gelernt, Chico«, sagte die Frau in sanftem Ton zu ihm. »Ja, dein Lehrer war ein Kastilianer mit einem mächtigen Schnurrbart. Ich bin gut mit ihm bekannt. Weißt du, Chico, er möchte gern das von mir, was er meine Ehre nennt. Er will sich nicht eher zufriedengeben, bis er meine Ehre zu seiner hinzugefügt hat, dann erst, meint er, könne er richtig einherstolzieren. Du hast keine Ahnung, wie groß und schwer seine Ehre jetzt schon ist. Aber du würdest mit einer Nuß zufrieden sein, Chico, nicht wahr ?« Sie warf dem Tierchen einen Teil der Blume hin, er ergriff das Stück, steckte es in den Mund und spie es verächtlich wieder aus. »Chico ! Chico ! Du vergißt, was dir dein Lehrer beigebracht hat. So mußt du das nicht machen. Damit wirst du nicht die Ehre einer Frau gewinnen ! Drück die Blume an dein Herz, küß laut schmatzend die Hand und dann schreite fort wie ein tapferes Schaf, das auf der Suche nach Wölfen ist.« Sie lachte und blickte wieder zu der Bogentür. Obwohl sie keinen Laut hörte, stand sie auf und ging schnell auf den Audienzsaal zu. Henry Morgan hatte im Sessel eine kleine Drehung gemacht. Daher kam es, daß das Sonnenlicht ihm jetzt auf die Augen fiel. Plötzlich fuhr er hoch und blickte um sich. Befriedigt betrachtete er den Haufen Gold, dann sah er der Frau, die unter dem breiten Bogen stand, voll in die Augen. »Haben Sie nun unsere arme Stadt genug zerstört ?« fragte sie. »Ich habe die Stadt nicht in Brand gesteckt«, sagte Henry Morgan. »Das haben Ihre spanischen Sklaven getan.« Er war überrascht. »Wer sind Sie ?« fragte er. 182
Sie trat einen Schritt in die Halle. »Mein Name ist Ysobel. Ich habe gehört, daß Sie mich suchen.« »Suchen ?« »Ja. Einige dumme junge Burschen haben mir den Namen La Santa Roja gegeben.« »Sie - ? Sie sind die Rote Heilige ?« Er hatte sich im Geist ein Bild ausgemalt, das Bild eines jungen Mädchens mit blauen Engelsaugen, die sich scheu vor ihm senken würden. Diese Augen senkten sich nicht. Unter ihrer weichen schwarzen Oberfläche schienen sie über ihn zu lachen, ihn zu bespötteln. Das Gesicht dieser Frau war scharf, fast habichtsähnlich. Schön war sie zweifellos ; aber es war die harte, gefährliche Schönheit des Blitzes. Und ihre Haut war weiß – gar nicht rosig. »Sie sind die Rote Heilige ?« Auf eine solche Korrektur seiner Vorstellung war er nicht vorbereitet. Er war maßlos verblüfft über diesen Verstoß gegen seine heiligsten Überzeugungen … »Was !« sagte seine innere Stimme, »über zwölfhundert Mann haben sich einen Weg durch den Dschungel gebahnt, sind über die Stadt wie eine Sturzflut hergefallen, Hunderte sind an schrecklichen Wunden gestorben, Hunderte verkrüppelt, der Goldene Becher liegt in Trümmern« – alles das geschah, damit Henry Morgan die Rote Heilige erringen konnte ! Bei so gewaltigen Vorbereitungen konnte doch kein Zweifel bestehen, daß er sie liebte ? Er wäre doch nicht gekommen, wenn er sie nicht geliebt hätte ? So sehr ihre Erscheinung ihn enttäuschte – die logische Schlußfolgerung, daß er sie liebte, konnte nicht bestritten werden. Es mußte so sein. Immer hat er an das Wort »Heilige« in ihrem Namen gedacht, und jetzt entdeckte er den Grund … Ein sonderbares Gefühl ergriff langsam von ihm Besitz – und dieses Gefühl war durchaus nicht logisch. Er erinnerte sich, daß er solche Empfindungen schon 183
einmal vor langer Zeit gehabt hatte. Er wurde von dieser Frau gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Er fühlte, daß sie die Macht hatte, ihn zu verwirren … Morgan schloß die Augen, und im Dunkel erblickte er die Gestalt eines schlanken Mädchens mit goldenem Haar. »Du bist wie Elisabeth«, sagte er in der monotonen Art eines Träumenden. »Du bist ihr ähnlich, obwohl du ihr ganz unähnlich bist. Vielleicht bist du Meisterin in der Kunst, die sie gerade zu handhaben lernte. Ich glaube, ich liebe dich, aber ich weiß es nicht genau. Ich bin mir nicht sicher.« Er hatte das mit halb geschlossenen Augen gesagt, und als er sie jetzt öffnete, stand eine wirkliche Frau vor ihm, nicht die Geistererscheinung Elisabeths. Sie betrachtete ihn neugierig und, wie es ihm schien, auch ein wenig liebevoll … Es war sonderbar, daß sie zu ihm gekommen war, obgleich sie niemand dazu gezwungen hatte. Sie mußte von ihm fasziniert sein … Er griff in sein Gedächtnis, um die Reden herauszuholen, die er sich auf dem Wege über die Landenge ausgedacht hatte. »Du mußt mich heiraten, Elisabeth-Ysobel. Ich glaube, ich liebe dich, Ysobel. Du mußt mit mir kommen und meine Frau werden – unter dein Schutz meines Namens und meiner Hand.« »Aber ich bin schon verheiratet«, unterbrach sie ihn, »und ganz zu meiner Zufriedenheit.« Auch das hatte er vorausgesehen. Während der Nächte im Dschungel hatte er diesen Plan genauso sorgfältig ausgearbeitet wie den Plan zu der Schlacht. »Aber ist es recht, daß zwei, die in Weißglut flammen, für alle Ewigkeit voneinander scheiden sollen, in grauer Unendlichkeit sich aus den Blicken verlieren, geschwärzt von der Asche eines Feuers, das noch gar nicht ausgebrannt ist ? Wer könnte uns verbieten, in dieser reinen Flamme zu verbrennen ? Sie wird 184
ewig lodern. Entzünden wir an ihr die Fackel, die jeder für den anderen durch die Dunkelheit trägt. O Ysobel, du kannst nicht leugnen, daß du in der gleichen Leidenschaft brennst. Unter meiner Berührung würdest du wie der empfindliche Leib einer alten und edlen Violine erzittern. Ich glaube, du fürchtest dich. Du hast Angst vor der bösen Welt, die neugierig auf unsere Geheimnisse ist, und möchtest dich am liebsten vor ihr verkriechen. Aber fürchte dich nicht, denn ich sage dir, daß diese Welt ein blinder, ziellos kriechender Wurm ist, der nur drei Leidenschaften kennt – Eifersucht, Neugier und Haß. Es ist leicht, dem Wurm jede Macht über uns zu nehmen, wenn man das Herz zu einem Universum macht. Der Wurm hat kein Herz und kann daher nicht begreifen, wie solch ein Herz arbeitet. In sinnloser Wut windet er sich unter den Sternen dieses neuen Universums. Warum sage ich dir diese Dinge, Ysobel, woher weiß ich, daß du sie verstehst ? Du mußt sie verstehen. Vielleicht sagt es mir die dunkle, berauschende Musik deiner Augen. Vielleicht kann ich deine klopfenden Herzschläge von deinen Lippen ablesen. Dein klopfendes Herz ist für mich eine Trommel, die mich antreibt, gegen deine Befürchtungen zu kämpfen. Deine Lippen sind wie zwei rote Zwillingsblüten des Hibiskusstrauches. Soll ich mich etwa durch einen lächerlichen Umstand von meiner Liebe abschrecken lassen ? Laß uns nicht scheiden, geschwärzt von der Asche eines Feuers, daß noch nicht ausgegangen ist !« Als er anfing zu sprechen, hörte sie ihm aufmerksam zu, aber dann hatte sich ihr Gesicht schmerzlich verzogen. Als er geendet hatte, stand nur noch Spott in ihren Augen. Sie lachte leise. »Sie vergessen nur eins, Herr Kapitän«, sagte sie. »Ich brenne nicht … Ja, ich frage mich, ob ich jemals wieder brennen werde. Sie tragen keine Fackel für mich – und ich hoffte doch so sehr 185
darauf. Ich bin eigens hierhergekommen, um mich zu überzeugen, ob Sie ein Fackelträger sind … Was Sie jetzt gesagt haben, habe ich oft in Paris und Córdoba gehört. Ich bin dieser Worte überdrüssig, die immer dieselben bleiben. Gibt es vielleicht ein Buch, aus dem angehende Liebhaber Belehrung schöpfen ? Die Spanier sagen genau dasselbe, nur tragen sie es vollendeter und daher überzeugender vor. Sie müssen noch viel lernen.« Sie schwieg. Henry blickte zu Boden. Sein Erstaunen hatte sein Gehirn in trüben Nebel gehüllt. »Ihretwegen habe ich Panama erobert«, sagte er kläglich. »Gestern hatte ich diese Hoffnung noch. Ich träumte davon, aber heute – nein, heute nicht mehr.« Sie sagte das leise und traurig. »Als ich von Ihnen hörte, daß Sie der Schrecken der Meere seien, hielt ich Sie für den einzigen Realisten auf dieser schwankenden Erde. Ich träumte, daß Sie eines Tages zu mir kommen und meinen Körper in schweigender, alle Erfahrung übersteigender Lust niederzwingen würden. Ich sehnte mich nach einer wortlosen, sinnlosen Brutalität. Der ständige Gedanke daran machte mir das Leben erträglich, wenn mich mein Mann herumzeigte. Er liebte mich nicht. Er schmeichelte sich mit der Vorstellung, daß ich ihn liebte. Das verschaffte ihm in seinen eigenen Augen die Bedeutung und den Charme, die ihm beide abgingen. Er führte mich durch die Straßen, und seine Augen sprachen : ›Schaut, was ich geheiratet habe ! Kein gewöhnlicher Mann könnte eine solche Frau heiraten, aber ich bin eben kein gewöhnlicher Mann !‹ Er hatte Angst vor mir. Er pflegte zu sagen : ›Mit deiner Erlaubnis, meine liebe Ysobel, werde ich das Vorrecht eines Ehemannes ausüben.‹ Ah, wie ich ihn verachte ! Ich sehnte mich nach Gewalt, nach blinder, wilder Gewalt, nach Liebe nicht zu meiner Seele oder zu irgendwelchen angeblichen Vorzügen meines Geistes, sondern zum Fetisch 186
meines Körpers. Ich will keine Sanftheit. Ich bin selber sanft. Mein Mann wäscht sich die Hände in parfümiertem Wasser, ehe er mich berührt, und seine Finger sind wie dicke, feuchte Schnecken. Ich sehne mich nach mißhandelnder Kraft, nach dem lustvollen Schmerz brutaler Umarmung.« Sie sah ihm forschend ins Gesicht, als suche sie noch einmal nach einer Eigenschaft, die sie nicht hatte finden können. »Wie eine Gestalt aus Erz erschienen Sie mir in meinen Träumen. Und jetzt entdecke ich, daß Sie ein Schwätzer sind, daß Sie wohlüberlegte Phrasen dreschen, und dazu noch auf ziemlich plumpe Weise. Ich finde, daß Sie durchaus kein Realist sind, sondern ein stümperhafter Romantiker. Sie wollen mich heiraten – mich beschützen. Ich vermag mich selber besser zu schützen. So weit ich zurückdenken kann, hat man mich mit solchen Phrasen überfüttert. Man hat mich in schmückende Beiwörter gekleidet und mit Liebeserklärungen genährt. Genau wie Sie trauten sich diese anderen Männer nicht zu sagen, was sie wollten. Genau wie Sie hielten sie es für nötig, ihre Leidenschaft in ihren eigenen Augen zu rechtfertigen. Genau wie Sie mußten sie sich und mich überzeugen, daß sie mich liebten.« Henry Morgan hatte, anscheinend weil er sich schämte, den Kopf auf die Brust gesenkt. Jetzt fuhr er auf einmal auf. »Aber ich werde Sie zwingen !« rief er. »Dazu ist es zu spät. Ich müßte dabei unwillkürlich an Ihre Deklamationen denken. Wenn Sie mir die Kleider vom Leibe rissen, würde ich mich erinnern, wie Sie mit öligen Worten meine Gunst zu erringen suchten. Ich glaube, ich würde lachen. Ich könnte mich schützen. Und Sie, der Sie eine Autorität auf dem Gebiet der Notzucht sein sollen, müßten wissen, was das für Folgen hat. Nein, Sie haben versagt – und es tut mir leid, daß Sie versagt haben.« »Ich liebe dich«, sagte er kläglich. 187
»Sie reden, als wäre das etwas Neues. Viele Männer haben mich geliebt, Hunderte haben mir das gesagt. Aber was wollen Sie mit mir anfangen, Kapitän Morgan ? Mein Mann ist in Peru, und mein Vermögen ist auch dort.« »Ich – ich weiß nicht …« »Soll ich Sklavin werden – wollen Sie mich als Gefangene behalten ?« »Ja. Ich muß Sie mitnehmen. Sonst würden meine Leute über mich lachen. Die Disziplin wäre in Gefahr.« »Wenn ich Sklavin sein muß«, sagte sie, »wenn ich von meiner Heimat fort muß, hoffe ich, daß ich Ihre Sklavin sein werde – oder das Eigentum eines reizenden jungen Bukaniers, dem ich gestern abend begegnet bin. Aber ich glaube nicht, daß Sie mich nehmen werden, Kapitän Morgan. Ich glaube nicht, daß Sie mich mitnehmen, denn dann drehe ich vielleicht das Messer herum, das ich Ihnen bereits in die Brust gebohrt habe.« Henry Morgan war empört. »Wer war dieser junge Bukanier ?« fragte er ärgerlich. »Ah, sie fühlen das Messer schon«, sagte Ysobel. »Wie soll ich ihn kennen ? Ich kann nur sagen, daß er reizend war und daß ich ihn gern wiedersehen möchte.« Die Augen des Kapitäns flammten vor Wut. »Ich werde Sie einsperren lassen«, schrie er. »Ich werde Sie gefangenhalten, bis wir wieder zum Chagres aufbrechen. Dann werden wir schon sehen, ob ich die Schärfe Ihres Messers so fürchte, daß ich Sie hier in Panama lasse.« Als sie ihm durch den Garten zu ihrem Gefängnis folgte, lachte sie auf. »Kapitän Morgan, es ist mir gerade klargeworden, daß sehr verschiedene Arten Männer ein und dieselbe Sorte Ehemann ergeben.« »Hinein in die Zelle«, befahl er ihr. »Daß ich es nicht vergesse, Kapitän Morgan – auf der Treppe 188
des Palastes finden Sie eine alte Frau. Sie ist meine Duenna. Seien Sie so gut und schicken Sie sie mir. Und nun auf Wiedersehen einstweilen, Herr Kapitän. Ich muß jetzt meine Gebetsübungen beginnen. Die Sünde, die ich abzubüßen habe, ist Wahrhaftigkeit. Sie bekommt der Seele nicht gut, die Wahrhaftigkeit.. .« Er ging langsam zu seinem Sessel im Audienzsaal zurück. Er fühlte, daß seine Männlichkeit einen schweren Schlag erlitten hatte, und er schämte sich deswegen. Sie hatte ihn ohne sichtliche Anstrengung geschlagen. Er dachte jetzt nur daran, wie seine Leute über ihn lachen würden, wenn sie seine Niederlage entdeckten. Hämisch würden sie grinsen, wenn er ihnen den Rükken wandte. Gruppen würden schweigend beisammenstehen, wenn er vorüberging, und wenn er aus ihrer Hörweite war, würden sie laut über ihn lachen. Dieser versteckte Spott war etwas Furchtbares für ihn. Seine Haßgefühle begannen ihr Haupt zu heben. Dieser Haß kehrte sich nicht gegen Ysobel, sondern gegen seine Leute, die über ihn lachen würden, gegen die Bevölkerung Tortugas, die mit Wonne die Geschichte in den Kneipen erzählen würde, gegen die gesamte westindische Küste. Aus dem kleinen Gefängnis an der anderen Seite des Gartens drang jetzt eine schrille Stimme, die zur Mutter Gottes betete. Der Ton dieser Stimme durchdrang mit seinem glühenden Mißklang den Palast. Hellhörig, wie ihn seine Niederlage gemacht hatte, lauschte Henry Morgan auf einen spöttischen Beiklang in den Worten oder im Ton, aber er konnte keinen entdecken. Der Ton einer ängstlich bittenden Sünderin : Ora pro nobis ! Eine schrille, durchdringende, nicht ermattende Frauenstimme, die eine schreckliche, nicht zu verzeihende Sünde bekannte. Sie hatte sie die Sünde der Wahrhaftigkeit genannt … »Ich war aufrichtig in meinem Wesen, und das ist ein schändliches Vergehen gegen die Seele. Vergib meinem Körper seine Menschlichkeit. Vergib mei189
nem Geist, der seine Grenzen erkennt. Vergib meiner Seele, daß sie diese kurze Zeit an beidem verankert war. Ora pro nobis.« Diese verrückte endlose Litanei fraß sich wie ein Geschwür in Morgans Gehirn. Schließlich ergriff er Degen und Hut und lief aus der Halle auf die Straße. Hinter ihm lag lächelnd der Schatz unter schrägen Sonnenstrahlen. Die Straßen um den Gouverneurspalast waren vom Feuer nicht berührt worden. Kapitän Morgan ging die gepflasterte Straße entlang, bis er zu den Ruinen kam. Hier ragten geschwärzte Mauern hoch, die Straße lag voll Schutt. Von den Häusern, die aus Zedernholz errichtet waren, sah man nur noch die Grundrisse in rauchenden Aschenhaufen. Hier und da lagen ermordete Bürger, die ihre letzte Todesqual gen Himmel grinsten. »Bis zum Abend sind ihre Gesichter schwarz«, dachte Morgan. »Ich muß sie entfernen lassen – oder es gibt Seuchen.« Aus der Stadt stiegen noch immer dünne Rauchsäulen auf und erfüllten die Luft mit Gestank. Die grünen Berge jenseits der Ebene kamen Morgan unwirklich vor. Er betrachtete sie genau und sah dann wieder auf die Stadt. Die Zerstörung, die ihm während der Nacht so vollständig und so schrecklich erschienen war, umfaßte doch nur ein kläglich kleines Gebiet. Morgan hatte nicht an die grünen Berge gedacht, die stehengeblieben waren. Die Eroberung war also eine mehr oder minder unbedeutende Angelegenheit. Ja, die Stadt lag in Trümmern, aber die Frau, die ihn hierher gezogen hatte, entging seinem Griff. Sie entschlüpfte ihm, während er sie noch in den Händen hatte. Morgan erschrak vor seiner Ohnmacht ; es schauderte ihn davor, daß andere sie erfahren könnten. Einige Bukaniere stocherten in den Aschenhaufen herum. Sie suchten nach geschmolzenem Silber, das ihnen bei der nächtlichen Plünderung entgangen sein könnte … Als er um 190
eine Ecke bog, stieß Morgan auf den kleinen Londoner Jones und sah, wie er schnell etwas in die Tasche steckte. Eine rote Wutflamme züngelte in Kapitän Morgan hoch. Coeur de Gris hatte gesagt, daß zwischen diesem epileptischen Zwerg und Kapitän Morgan kein Unterschied bestünde. Gar kein Unterschied ? Dieser Mann war ein Dieb. Die Wut verwandelte sich in eine unbezähmbare Lust, dem kleinen Mann wehzutun, ihn zu beleidigen, ihn verächtlich zu behandeln – wie er selbst behandelt worden war. Dieses grausame Verlangen machte des Kapitäns Lippen dünn und weiß. »Was hast du da in der Tasche ?« »Nichts – nichts, Herr Kapitän .. .« »Laß mich sehen, was du in der Tasche hast !« Er richtete die Mündung einer schweren Pistole auf ihn. »Es ist nichts, Herr Kapitän – nur ein kleines Kruzifix ! Ich habe es gefunden.« Er zog ein goldenes, mit Diamanten besetztes Kreuz heraus. »Es ist ein Geschenk für meine Frau«, erklärte er. »Ah, für deine spanische Frau !« »Sie ist Negermischling, Herr Kapitän.« »Du kennst die Strafe, die auf Unterschlagung von Beute steht ?« Jones blickte auf die Pistole, und sein Gesicht wurde grau. »Sie wollen doch nicht – oh, Herr Kapitän, das können Sie doch nicht übers Herz bringen –«, würgte er heraus. Dann schien er von riesigen, unsichtbaren Fingern erfaßt zu werden. Seine Arme fielen steif an den Seiten herab, seine Lippen klappten auf, seine Augen bekamen einen glanzlosen, idiotischen Ausdruck. Schaumbläschen traten ihm auf die Lippen. Sein ganzer Körper zuckte und tanzte wie eine an einer Schnur auf und ab bewegte Marionette. Kapitän Morgan schoß. 191
Augenblicklich schien der Cockney kleiner zu werden. Seine Schultern zogen sich ein, bis sie fast wie kurze Flügel die Brust bedeckten. Seine Hände verkrampften sich, dann fiel die zusammengezogene Masse zu Boden, bebend und zuckend wie dicke, belebte Gallerte … Mit einem letzten Röcheln zogen sich seine Lippen von den Zähnen. Henry Morgan bewegte die Leiche mit dem Fuß, und dabei ging auch in seinem Geist eine Bewegung vor. Er hatte diesen Mann getötet. Es war sein Recht, zu töten, zu brennen, zu plündern – nicht weil er besser als die anderen oder auch nur geschickter, sondern weil er stark war. Henry Morgan war der Herr von Panama und seiner gesamten Bevölkerung. Es gab keinen Willen in Panama außer Henry Morgans Willen. Er konnte jeden Menschen im ganzen Lande abschlachten, wenn es ihm beliebte. Das stand fest, niemand konnte das bestreiten. Aber im Palast war eine Frau, die seine Macht und seinen Willen mißachtete, und ihre Mißachtung war eine stärkere Waffe als sein Wille. Sie stach auf seine Verlegenheit ein und verwundete ihn ganz nach ihrem Belieben. Aber wie konnte das möglich sein ? Nur er allein war Herr in Panama ! Er hatte eben diesen Mann getötet, um es zu beweisen ! Unter dem Ansturm dieser Argumente zerbröckelte Ysobels Macht und verschwand. Er würde zum Palast zurückgehen und sie zwingen, wie er es angedroht hatte … Er hatte diese Frau mit zuviel Nachsicht behandelt. Sie wußte nicht, was Sklaverei bedeutete – und sie ahnte auch nicht, daß Kapitän Morgan ihr einfach seinen Degen in die Brust bohren konnte … Er machte kehrt und ging wieder auf den Palast zu. Im Audienzsaal warf er seine Pistolen fort, aber den grauen Degen ließ er an der Seite. Ysobel kniete in ihrer kleinen, weißgetünchten Zelle vor einem Heiligenbild, als Henry Morgan hereinstürzte. Die ver192
schrumpfte Duenna wich in eine Ecke zurück, aber Ysobel sah ihn fest und kalt an, bemerkte sein gerötetes Gesicht, seine halb geschlossenen, wild flackernden Augen und hörte sein schweres Atmen. Sie zeigte mit einem Lächeln, daß sie begriff, und stand auf. Dann zog sie schnell eine Nadel aus ihrem Mieder und ging in Fechtstellung, einen Fuß vorgestellt, den linken Arm hinter sich, um das Gleichgewicht zu halten, die spitze Nadel wie ein Florett in der Rechten. Dabei lachte sie laut. »En garde !« rief sie. Da stürzte sich der Kapitän auf sie. Seine Arme umfaßten ihre Schultern, mit den Händen zerrte er an ihrer Kleidung. Ysobel stand ganz still, bewegte nur schnell eine Hand – hierhin, dorthin – die Nadel stach ; wie eine kleine weiße Schlange biß die Nadel zu. Blutstropfen erschienen auf Morgans Wangen, an seinem Hals. »Als nächstes kommen die Augen dran«, sagte sie ruhig und stach ihn dreimal in den Backenknochen. Morgan ließ sie los, trat zurück und wischte sich mit dem Handrücken das blutige Gesicht ab. Ysobel lachte ihn aus. Ein Mann kann eine schreiende, eine flüchtende Frau schlagen, kann ihr alles Böse antun – aber vor einer, die stehenbleibt und ihn auslacht, ist er hilflos. »Ich habe einen Schuß gehört«, sagte sie. »Ich dachte mir, vielleicht haben Sie jemanden niedergeschossen, um sich Ihre Männlichkeit zu beweisen. Aber die wird jetzt leiden müssen, meinen Sie nicht ? Auf irgendeine Weise wird man von diesem Duell erfahren – Sie wissen, wie schnell solche Dinge herumkommen. Überall wird es heißen, daß eine Frau Sie mit einer Nadel besiegt hat …« Ihr Ton war jetzt grausam frohlockend. Henry griff nach der Seite. Der schlanke Degen kroch langsam aus der Scheide, wie eine gefrorene Schlange. Unheilverkündend glitzerte die scharfe Klinge im Licht. Schließlich glitt die nadelfeine Spitze heraus. Der Stahl machte eine Wendung und zeigte auf die Brust der Frau. 193
Ysobel wurde vor Schreck starr. »Ich bin eine Sünderin«, sagte sie. Dann sah man in ihrem Gesicht einen Gedanken aufdämmern. Sie winkte die alte Duenna herbei und sagte zu ihr schnell und abgebrochen etwas auf spanisch. »Ja, so ist es«, sagte die Alte, »so ist es.« Sorglich zog Ysobel das Spitzengewebe ihrer Mantilla beiseite, damit es nicht mit Blut getränkt würde. Die Duenna machte sich zum Dolmetscher. »Meine Herrin sagt, daß eine wahre Katholikin, die von der Hand eines Ungläubigen stirbt, in den Himmel kommt. Das ist wahr. Ferner, daß eine katholische Frau, die ihr heiliges Ehegelübde schützt, sofort in den Himmel kommt. Das stimmt ebenfalls. Ferner glaubt sie, daß solch eine Frau im Laufe der Zeit heiliggesprochen wird. Das ist schon öfter geschehen. O Herr Kapitän, haben Sie Erbarmen ! Lassen Sie mich meiner Herrin die Hand küssen, bevor Sie zustechen. Welche Gnade wird mir zuteil werden, daß ich die Hand einer Heiligen geküßt habe. Das kommt meiner eigenen sündigen Seele sehr zustatten.« Ysobel sagte wieder etwas zu ihr. »Meine Herrin bittet Sie, den Streich zu führen, sie erfleht es als eine Gnade. Schon umschweben die Engel ihr Haupt. Sie sieht das strahlende Licht, und die himmlische Musik tönt in ihren Ohren.« Die Degenspitze senkte sich. Henry Morgan wandte sich ab und blickte in den sonnigen Garten. Der kleine Chico kam den Weg entlanggaloppiert und setzte sich auf die Türschwelle. Das Tier hob die Pfoten über den Kopf und legte sie bittend zusammen. Man hörte einen scharfen, raschelnden Laut, als der schmale Degen in die Scheide fuhr. Kapitän Morgan hob das Äffchcn auf. Er ging fort, während er Chicos Kopf streichelte. Kapitän Morgan ergriff einen goldenen Becher aus dem Haufen Beutestücke. Es war ein schöner, schlanker Kelch mit 194
langen, gewölbten Henkeln. Um seinen Rand jagten sich vier grotesk gestaltete Lämmer, und drinnen am Boden erhob ein nacktes Mädchen die Arme in sinnlicher Ekstase. Der Kapitän drehte den Becher in den Händen. Dann schleuderte er ihn plötzlich auf eine kleine blitzende Pyramide aus Diamanten. Eine Anzahl Steine stob mit einem kurzen Klirrlaut von ihrem sauber aufgeschichteten Haufen. Henry Morgan ging zu seinem Schlangensessel zurück. Er dachte an den kleinen Cockney Jones, an die kalte Hand der Fallsucht, die ihn in seinem letzten Lebensaugenblick ergriffen hatte. Die Hand war immer hinter ihm gewesen, eine Riesenhand, die seinen Körper hin und her riß, bis ihm vor Todesangst weiße Tropfen von den, Lippen rannen. Morgan fragte sich jetzt, warum ihn das Verlangen gepackt hatte, dem kleinen Mann wehzutun, ihn zu quälen und schließlich zu töten. Jones war sein ganzes Leben lang von einem immer wachen Folterknecht beschattet worden. Dieser Mord war natürlich durch die Worte Coeur de Gris’ verursacht worden, der gesagt hatte, Jones sei Henry Morgan gleich. Ja, er wußte es jetzt und schämte sich, weil er, um sich selbst zu täuschen, ihn des Diebstahls beschuldigt hatte. Warum hatte er den Mann nicht ohne jede Erklärung niederschießen können ? Und wo war Coeur de Gris jetzt ? Er hatte Ysobel gesehen – daran war kaum noch zu zweifeln – und er war ihr aufgefallen. Vielleicht liebte sie Coeur de Gris, weil er goldblonde Haare hatte und so gut mit Frauen umzugehen verstand. Wie konnte er verhindern, daß Coeur de Gris seine Niederlage erfuhr, die Geschichte mit der Nadel hörte und Kunde von Morgans Schande erhielt ? Die Pistole, mit der er Jones niedergeschossen hatte, lag auf dem Boden. Morgan nahm sie auf und ging methodisch daran, sie wieder zu laden. Er fürchtete keinen Spott bei Coeur de Gris, sondern eher sein Mitgefühl und sein Verständnis. Morgan wünschte jetzt kein Verständnis. Der junge 195
Mann würde ihn mitleidig ansehen, aber das Mitleid würde etwas Überlegenes, etwas leicht Ironisches an sich haben. Es wäre das Mitleid eines hübschen jungen Mannes, der die im Liebeskampf erlittene Niederlage eines älteren und nicht so hübschen mit Nachsicht übergeht. Auch hatte Coeur de Gris mit seinem Einfühlungsvermögen etwas Weibliches an sich, er war wie Ysobel … Die Rote Heilige mußte er natürlich mitnehmen. Was sollte er sonst mit ihr anfangen ? Vielleicht würde sie, wenn eine gewisse Zeit vergangen war, ihn lieben, aber sicher nicht seiner persönlichen Verdienste wegen. Ihre Verachtung hatte ihn überzeugt, daß er ein häßliches Ungeheuer sein mußte. Sie hatte das zwar nicht offen gesagt, aber doch angedeutet. Nein, es war ihm nicht gegeben, eine Frau an seine Seite zu ziehen, wenn noch andere Männer in der Nähe waren. Aber wenn er sie von anderen Männern fernhielt, würde sie vielleicht die Eigenschaften, die ihm fehlten, nicht so sehr vermissen und sich auf andere konzentrieren, die er besaß … Er dachte an die letzte Szene. Jetzt, da er ruhig war, kam ihm sein Benehmen wie die dumme Prahlerei eines dickbeinigen Schuljungen vor. Aber wie hätte er anders handeln können ? Sie hatte seinen Angriff mit Lachen pariert – mit einem scharfen, grausamen Lachen, das seine Beweggründe bloßlegte und sich über sie lustig machte. Er hätte sie niederstechen können – aber welcher Mann könnte eine Frau töten, die getötet werden wollte, die darum bat ? Das war unmöglich. Er rammte eine Kugel in den Lauf seiner Pistole. Eine Gestalt in beschmutzter Kleidung und mit wirren Haaren erschien in der Tür. Es war Coeur de Gris. Er hatte gerötete Augen, der Dreck und das Blut der Schlacht klebten noch auf seinem Gesicht. Er blickte auf den Haufen Gold und Silber. »Wir sind reich«, sagte er ohne Begeisterung. 196
»Wo hast du gesteckt, Coeur de Gris ?« »Wo ? Nun, ich war betrunken. Es tut gut, sich nach dem Kampf zu betrinken.«Er lächelte müde und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Es ist nicht so angenehm, wieder nüchtern zu werden, aber notwendig und unerfreulich wie eine Geburt.« »Ich hätte dich gern an meiner Seite gehabt.« »So ? Mir wurde gesagt, Sie wollten allein sein und wären zufrieden und glücklich – und so betrank ich mich noch ein bißchen mehr. Ich mochte nämlich nicht daran denken, warum Sie so gern allein sein wollten.« Er schwieg eine Weile. »Ich hörte, daß die Rote Heilige hier ist.« Coeur de Gris lachte über seine schlecht versteckte Erregung. Mit sichtbarer Willensanstrengung änderte er seinen Ton ins Spaßhafte. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Herr Kapitän. Werfen Sie mir einen Brocken hin. Es kostet nicht viel, einen Mann wissen zu lassen, was ihm entgangen ist. Viele müssen sich mit solchen Mitteilungen ihr ganzes Leben lang begnügen. Sagen Sie mir, Herr Kapitän, ist der holde Feind besiegt ? Hat die Festung kapituliert ? Weht Morgans Fahne über dem Turm aus rosigem Fleisch ?« Morgan stieg das Blut ins Gesicht. Die Pistole in seiner Hand hob sich ruhig, gehalten von einer unerbittlichen, von keiner Überlegung mehr behinderten Vernichtungswut. Ein scharfer Knall und ein weißes Rauchwölkchen. Coeur de Gris blieb so stehen, wie er stand. Er schien angestrengt auf ein fernes, undeutlich zu hörendes Schluchzen zu lauschen. Dann breitete sich ein Ausdruck des Schreckens über sein Gesicht. Heftig zitternd suchten seine Finger auf der Brust umher und folgten einem Blutgetröpfel bis zu seiner Quelle, einem kleinen Loch über seiner Lunge. Der kleine Finger zwängte sich in das Loch. Coeur de Gris lächelte wieder. Vor 197
unabänderlichen Tatsachen fürchtete er sich nicht. Jetzt, da er Bescheid wußte, hatte er keine Angst mehr. Kapitän Morgan starrte verdutzt auf die Pistole, die er in der Hand hielt. Er schien überrascht, sie dort zu entdecken, schien nicht mehr zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Coeur de Gris lachte schrill. »Meine Mutter wird Sie hassen«, rief er jämmerlich. »Sie wird Sie verfluchen. Meine Mutter –« Er rang nach Atem. »Besser, wenn sie die Wahrheit nicht erfährt … lieber eine schöne Lüge. Lassen Sie mein Leben nicht wie einen halbvollendeten Turm stehen, sondern krönen Sie es mit einem goldenen Minarett. Sie brauchen ihr auch nur das Fundament zu liefern, dann wird sie darauf selbst ein Heldendenkmal errichten. Sie wird mir ein Grabmal aus leuchtenden Gedankensteinen erbauen.« Seine Kehle füllte sich mit Blut. »Warum haben Sie das getan, Herr Kapitän ?« Morgan sah von der Pistole auf. »Getan ?« Er sah die blutigen Lippen, die Wunde in der Brust. Er wollte aufstehen, fiel aber wieder zurück. Gram fürchte ihm tiefe Linien um die Augen. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich muß es gewußt haben, aber ich habe es vergessen.« Coeur de Gris sank langsam auf die Knie. Er stemmte die Handknöchel auf den Boden, um nicht ganz hinzusinken. »Meine Knie werden schwach, Herr Kapitän, sie tragen mich nicht mehr«, sagte er wie zur Entschuldigung. Er schien wieder auf das ferne Schluchzen zu hören. Plötzlich schwang sich seine Stimme zu bitteren Klagelauten auf. »Es ist eine Lüge, daß Sterbende an ihre vergangenen Taten denken. Nein – nein – ich denke an das, was ich nicht getan habe, was ich in den Jahren hätte tun können, die mit mir sterben. Ich denke an die Lippen nie gesehener Frauen – an den Wein, der in einer Traube schlummert – an meine Mutter in Goaves. Aber am 198
meisten denke ich daran, daß ich nie mehr umhergehen kann, nie mehr die Sonne sehen, nie mehr den Duft riechen werde, den der Vollmond aus der Erde zaubert … Herr Kapitän, warum haben Sie das getan ?« Henry Morgan blickte wieder auf die Pistole. »Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Ich muß es gewußt haben, aber ich habe es vergessen. Ich habe einmal einen Hund umgebracht – ich habe auch Jones umgebracht. Ich weiß nicht, warum.« »Sie sind ein großer Mann«, sagte Coeur de Gris bitter : »Große Männer überlassen die Darlegung der Gründe ihres Handelns den Geschichtsschreibern. Aber ich – ich bin nichts mehr, nichts. Noch eine Weile zuvor war ich ein ausgezeichneter Fechter, aber jetzt weiß ich kaum, ob mein eigentliches Wesen – das, was in mir kämpfte, fluchte und liebte – jemals existiert hat.« Seine Handgelenke knickten ein, er fiel auf die Seite, keuchte und rang nach Atem, weil seine Kehle voll Blut war. Eine Zeitlang hörte man nichts als dieses verzweifelte Ringen nach Atem. Aber plötzlich hob er sich auf einen Ellbogen und lachte, lachte wie über einen komischen Witz, irgendeinen Spaß, der aus den kreisenden Sphären des Alls zu ihm herunterklang, lachte triumphierend, als hätte er ein Rätsel gelöst, dessen Lösung im Grunde ganz einfach war. Eine Welle Blut kam mit dem Lachen über seine Lippen und füllte seinen Mund aus. Das Lachen wurde zu einem zischenden Gesprudel. Coeur de Gris sank langsam auf die Seite und war still. Morgan starrte noch immer auf die Pistole, die er in der Hand hielt. Langsam hob er die Augen zu dem offenen Fenster. Die hereinströmenden Sonnenstrahlen ließen den Goldhaufen aufleuchten wie eine Masse glühenden Metalls. Seine Augen wanderten zu der vor ihm liegenden Leiche. Ihn schauderte. Dann hob er Coeur de Gris auf und setzte ihn in einen Sessel. 199
Der schlaffe Körper fiel nach einer Seite hinüber. Morgan brachte ihn in eine aufrechte Stellung. Dann setzte er sich wieder hin. »So hob ich die Hand«, sagte er, indem er die Pistole auf Coeur de Gris richtete. »So muß ich sie gehoben haben, denn Coeur de Gris ist tot. So muß es gewesen sein – so muß ich gezielt haben –. Wie habe ich es nur fertiggebracht ?« Er senkte den Kopf, hob ihn dann wieder und gluckste ein Lachen heraus. »Coeur de Gris!« rief er, »Coeur de Gris! Ich wollte dir von La Santa Roja erzählen. Sie ist ein wildes Mannweib. Sie besitzt durchaus keine weibliche Sittsamkeit. Und sie sieht nur mittelmäßig aus.« Die Augen der steif aufgerichteten Gestalt vor ihm waren nur halb geschlossen gewesen, jetzt aber fielen die Lider herab, und die Augen begannen einzusinken. Die durch sein letztes Lachen verzerrten Züge waren geblieben, als wären sie eingefroren. »Coeur de Gris !« schrie der Kapitän. Er ging schnell zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Das ist ein Kadaver«, sagte er nachdenklich. »Nur ein Kadaver. Zieht die Fliegen und Seuchen her. Muß sofort weggeräumt werden. Coeur de Gris ! Man hat uns zum Narren gehalten. Das Weib kann fechten wie ein Mann und reitet nach Männerart. Soviel Mühe haben wir uns gegeben ! Und alles umsonst. Das kommt davon, wenn man alles glaubt, was man hört – hörst du, Coeur de Gris ? Aber das ist ja nur noch ein Kadaver, der Fliegen anzieht.« Er wurde von einem Getrampel auf der Treppe unterbrochen. Eine Gruppe seiner Leute trieb einen verängstigten und verdreckten Spanier herein. Man hatte ihm den Spitzenkragen vom Hals gerissen. Blut tropfte ihm aus einem Ärmel. »Hier ist ein Spanier, Herr Kapitän«, sagte der Führer. »Er kam mit einer weißen Fahne in die Stadt. Sollen wir die weiße Flagge respektieren ? Sein Sattel ist mit Silber verziert. Sollen wir ihn niedermachen ? Vielleicht ist er ein Spion.« 200
Henry Morgan überhörte die Meldung. Er zeigte auf die Leiche im Sessel. »Das ist ein Kadaver«, sagte er. »Das ist nicht Coeur de Gris. Coeur de Gris habe ich weggeschickt. Er wird bald wiederkommen. Aber das ist – so habe ich die Hand gehoben – seht ihr ? – so ! Ich weiß genau, wie ich es gemacht habe, ich habe es oft genug probiert. Aber das ist nur ein Kadaver, der Fliegen anzieht. Schnell, bringt ihn weg und begrabt ihn !« Ein Bukanier trat vor, um die Leiche wegzuschaffen. »Rühr ihn nicht an ! Wage nicht, ihn anzurühren ! Laß ihn, wo er ist. Er lächelt. Siehst du, wie er lächelt ? Aber die Fliegen – nein, laß ihn. Ich will ihn selbst wegbringen.« »Was sollen wir mit dem Spanier machen, Herr Kapitän ? Sollen wir ihn töten ?« »Mit welchem Spanier ?« »Mit diesem hier, der vor Ihnen steht, Herr Kapitän.« Er schob den Spanier vor. Morgan schien aus einem Traum zu erwachen. »Was willst du ?« fragte er barsch. Der Spanier kämpfte mit seiner Angst. »Es – es ist mein Wunsch und der Wunsch meines Padrone, eine Unterredung mit einem Kapitän Morgan zu haben, wenn er sie gütigst gewähren will. Ich bin ein Bote – Senor – kein Spion –.« »Was für eine Botschaft bringst du ?« fragte Morgan mit müder Stimme. Dieser mildere Ton machte dem Boten Mut. »Ich komme von einem sehr reichen Manne, Senor. Sie haben seine Frau.« »Seine Frau ?« »Sie wurde in der Stadt gefangengenommen, Senor,« »Wie heißt sie ?« 201
»Dona Ysobel Espinoza, Valctei y los Gabilanes, Senor. Die einfachen Leute in der Stadt haben sie La Santa Roja genannt.« Henry Morgan sah den Boten lange an. »Ja, ich habe sie«, sagte er schließlich. »Sie ist in einer Zelle. Was will ihr Mann von mir ?« »Er bietet Lösegeld an, Senor. Er möchte seine Frau gern zurückhaben.« »Welches Lösegeld bietet er ?« »Was würden Euer Exzellenz vorschlagen ?« »Zwanzigtausend Golddukaten«, sagte Morgan schnell. Der Bote war anscheinend wie vor den Kopf geschlagen. »Zwanzigtaus – viente mil –.« Er übersetzte sorgfältig, um sich die Höhe der Summe begreiflich zu machen. »Ich sehe, daß Euer Exzellenz die Frau auch gerne haben möchten.« Henry Morgan warf einen Blick auf den toten Coeur de Gris. »Nein«, sagte er, »ich will das Geld.« Dem Boten fiel ein Stein vom Herzen. Wie konnte ein so großer Mann ein so großer Idiot sein ? »Ich will tun, was möglich ist, Senor. Ich komme in vier Tagen zurück.« »In drei !« »Aber wenn ich bis dahin nicht zurück bin ?« »Dann werde ich die Rote Heilige mit mir nehmen und sie als Sklavin verkaufen.« »Ich werde tun, was ich kann, Senor.« »Behandelt ihn höflich !« befahl der Kapitän. »Mißhandelt ihn nicht, er bringt uns Gold.« Als die Leute gingen, wandte sich einer um und ließ die Augen gierig über den aufgehäuften Schatz wandern. »Wann findet die Verteilung statt, Herr Kapitän ?« »In Chagres, du Narr ! Meinst du, ich würde sie hier vornehmen ?« »Aber wir möchten gern schon jetzt etwas davon in Händen 202
haben – nur um zu wissen, wie es sich anfühlt … Wir haben schwer gekämpft, Herr Kapitän !« »Mach daß du fortkommst ! Ihr werdet nichts bekommen, bis wir wieder bei den Schiffen sind. Ihr würdet es doch nur den Frauen hier an den Hals werfen. Die Mädchen in Goaves wollen auch was davon sehen.« Die Männer murrten ein wenig, als sie den Audienzsaal verließen.
VI Die Bukaniere feierten rauschende Feste in Panama. Fässer mit Wein wurden in ein großes Lagerhaus gerollt. Die Ware war ausgeräumt, der Boden reingefegt. Dann begann ein wilder Tanz. An Frauen fehlte es nicht, denn viele waren zu den Piraten übergegangen. Sie tanzten und sprangen zu der schrillen Flötenmusik, als wüßten sie gar nicht, daß ihre Füße über das Grab Panamas wirbelten. Als kluge Rechnerinnen gewannen sie einen Teil ihrer verlorenen Habe mit einer Waffe zurück, die langsamer als das Schwert, aber ebenso wirksam war. In einer Ecke des Lagerhauses saßen der Burgunder und sein einarmiger Beschützer. »Schau, Emil! Die da drüben – sieh dir mal ihre Hüften an!« »Ich sehe sie, Toine. Es ist sehr lieb von dir, daß du mich darauf aufmerksam machst. Glaube nicht, daß ich deine Bemühungen um mein Wohlbefinden nicht zu schätzen weiß. Aber ich bin dumm genug, ein Ideal zu haben, selbst fürs Bett. Das beweist mir, daß ich noch immer ein Künstler, wenn nicht ein Edelmann bin.« »Aber schau nur, Emil. Betrachte nur einen Augenblick diesen schönen, vollen Busen.« 203
»Nein, Toine. Ich sehe nichts, was meine rosige Perle gefährden könnte. Ich will sie lieber noch eine Weile behalten.« »Aber wirklich, lieber Freund, ich glaube, du verlierst deinen Schönheitssinn. Wo ist dieses unfehlbare Auge, das wir bei der Kritik unserer Bilder so fürchteten ?« »Das Auge ist noch immer intakt, Toine. Es ist dein eigenes trübes Äuglein, das aus mageren Kühen Nymphen macht.« »Dann – dann, Emil, da du in deiner Blindheit beharrst, sei so gut und leihe mir deine rosige Perle. Schön, danke. Du bekommst sie bald wieder.« Grippo saß an der Wand in der Mitte und zählte verdrossen die Knöpfe an seinem Ärmel. »– acht, neun – es waren doch zehn. Da hat mir doch irgendein Schurke meinen Knopf gestohlen. Nur Diebe gibt es noch auf der Welt. Ich könnte ihn umbringen wegen dieses Knopfes. Es war mein Lieblingsknopf. Eins, zwei, drei, vier –.« Die Tänzer stoben an ihm vorbei, die Luft war geschwängert von Flötenklang. Kapitän Sawkins blickte finster auf die Tanzenden. Er glaubte fest, daß ein Tanzender auf dem kürzesten Wege zur Hölle war. Neben ihm betrachtete Kapitän Zeigler betrübt den ständigen Fluß der Getränke. Dieser Zeigler hatte den Beinamen »Schenkwirt des Meeres«. Er hatte die Gewohnheit, nach einem Raubzug die Leute so lange nicht an Land gehen zu lassen, bis sie ihren Anteil an der Beute in Rum angelegt hatten, den er selbst ihnen lieferte. Einmal soll auf seinem Schiff eine Meuterei ausgebrochen sein, weil er fast ein Vierteljahr lang ununterbrochen um eine Insel fuhr. Was sollte er anderes tun ? Die Leute hatten noch Geld, und er hatte noch Rum. Betrübt war er an diesem Abend, weil alle Fässer ausgetrunken wurden, ohne daß die Leute verpflichtet waren, in klingender Münze zu zahlen. Er hielt das für unnatürlich und verhängnisvoll. Henry Morgan saß allein im Audienzsaal. Die Tanzmusik 204
drang nur schwach bis zu ihm her. Während des ganzen Tages hatten kleine Trupps noch immer Beutestücke abgeliefert, die sie entweder ausgegraben oder mit Eisenhaken aus den Zisternen gezogen hatten. Eine Frau hatte einen Diamanten verschluckt, um ihn zu retten, aber auch nach ihm hatten die Bukaniere gegraben und ihn gefunden. In der Halle war jetzt graues Zwielicht. Den ganzen Tag über hatte Henry Morgan in seinem großen Sessel gesessen, und dieser Tag hatte ihn verändert. Seine Augen, die einst so scharf den bewegten Horizont des Meeres abgesucht hatten, waren nach innen gekehrt. Er hatte sich selbst betrachtet, verdutzt diesen Henry Morgan angeschaut, den er nicht wiedererkannte. In den Jahren seiner Jugend und seiner Abenteuer hatte er immer fest an sein Ziel geglaubt – an jedes Ziel, das er gerade im Auge hatte. Er hatte seine Aufmerksamkeit so sehr darauf gerichtet, daß für Selbstbetrachtungen wenig Zeit geblieben war. Aber heute hatte er in sich hineingesehen und war erschrocken. Henry Morgan war nicht viel wert, ja er war beinahe unbedeutend … Jene ehrgeizigen Wünsche und Ziele, hinter denen er wie ein kläffender Jagdhund hergelaufen war, durch die halbe Welt, erwiesen sich als unbedeutend und belanglos. So wie ihn äußerlich das graue Zwielicht umfloß, erfüllte ihn innerlich graue Schwermut. Durch das Halbdunkel schlüpfte plötzlich die verrunzelte Duenna. Als sie zu sprechen anhub, war es, als knistere Papier. »Meine Herrin wünscht mit Ihnen zu sprechen«, sagte sie. Henry Morgan erhob sich und ging schwerfällig hinter ihr her zur Zelle. Vor dem Heiligenbild an der Wand brannte eine Kerze. Die auf diesem Bild dargestellte Madonna glich einer wohlgenährten spanischen Bäuerin mit einem dicken Kind auf dem Arm, das sie mit melancholischem Staunen betrachtete. Der Mann, der das Bild gemalt hatte, wollte dem Gesicht offenbar einen ehrwürdi205
gen Ausdruck geben, aber er hatte ihn bei seinem Modell nicht gefunden, und so war es ihm nur gelungen, ein Porträt seiner bäuerischen Geliebten und seines Kindes zu liefern. Unter diesem Bild saß Ysobel … Als Morgan eintrat, ging sie ihm schnell entgegen. »Ich habe gehört, daß ich ausgelöst werden soll.« »Ihr Mann hat einen Boten gesandt.« »Mein Mann ? Muß ich wieder zu ihm – in seine parfümierten Hände ?«
»Ja.«
Sie zeigte auf einen Stuhl, und die Gebärde war so einladend, daß Morgan sich setzte. »Sie haben mich nicht verstanden«, sagte sie. »Sie konnten mich nicht verstehen. Sie müssen etwas über das Leben wissen, das ich geführt habe. Wenn ich Ihnen einiges darüber berichtet habe, werden Sie mich verstehen, und dann –« Sie wartete, daß er sein Interesse bekundete, aber Morgan schwieg. »Möchten Sie es hören ?« fragte sie.
»Ja.«
»Nur ganz kurz. Mein Leben war kurz. Aber ich möchte, daß Sie mich verstehen, und dann –« Sie sah ihm forschend ins Gesicht. Morgans Mund war wie im Schmerz verzogen. Er blickte bestürzt vor sich hin. Mit keinem Wort füllte er die Pause aus, die sie eingelegt hatte. »Es war so …«, begann sie. »Ich bin hier in Panama geboren, aber meine Eltern schickten mich nach Spanien, als ich ein kleines Kind war. Ich kam in ein Kloster in Córdoba. Ich trug graue Kleidung und durchwachte die Nächte in Anbetung vor dem Bilde der Jungfrau. Manchmal schlief ich ein, wenn ich beten sollte. Man bestrafte mich für diese Laxheit. Als ich schon mehrere Jahre dort war, überfielen die Bravos die Pflanzung meines 206
Vaters hier in Panama und töteten die ganze Familie. Ich hatte keine Verwandten mehr außer meinem alten Großvater. Ich war allein und sehr traurig. Eine Zeitlang schlief ich nicht mehr auf dem Boden ein, wenn ich vor der Jungfrau kniete. Ich wuchs zu einem schönen Mädchen heran. Das erkannte ich plötzlich, als einmal ein Kardinal, der die Schule besuchte, mich ansah. Seine Lippen zitterten, und die Adern auf seinen Händen traten hervor, als ich seinen Ring küßte. Ich hörte die Rufe der Wasserverkäufer über die Mauer. Einmal sah ich, wie zwei Männer ein Säbelduell vor mir ausfochten, denn ich stand auf einem Pfahl und blickte über die Mauer. Eines Abends führte ein junger Mann ein Mädchen in den Schatten des Tores und lag dort mit ihr, zwei Schritte von mir entfernt. Ich hörte, wie sie zusammen flüsterten, sie sagte, sie hätte Angst, und er beruhigte sie. Ich strich über mein graues Gewand und fragte mich, ob der junge Mann wohl auch mit mir so lieb spräche, wenn er mich kennen würde. Als ich einer der Schwestern dieses Erlebnis erzählte, sagte sie : ›Es ist eine Sünde, solche Dinge anzuhören, und eine noch größere, an sie zu denken. Du mußt für deine neugierigen Ohren Buße tun. An welchem Tor war denn das ?‹ Der Fischhändler rief : ›Kommt her, kleine graue Engel und schaut euch meinen schönen Fang an. Kommt heraus aus eurem frommen Gefängnis, kleine graue Engel.‹ Eines Nachts kletterte ich über die Mauer und floh aus der Stadt. Ich will Ihnen nicht von meinen Wanderungen erzählen, sondern nur von dem Tage, an dem ich nach Paris kam. Der König fuhr gerade durch die Straßen, und seine Equipage glitzerte von Gold. Ich stand unter der Menge auf den Zehenspitzen und schaute mir die vorbeireitenden Höflinge an. Da tauchte plötzlich vor mir ein schwarzes Gesicht auf, und eine starke Hand ergriff mich beim Arm. Ich wurde in einen Torweg gezogen. 207
Er schlug mich mit einem harten Riemen, Herr Kapitän, den er zu diesem Zweck bei sich trug. Es war, als verberge sich hinter der Oberfläche seines Gesichtes ein Raubtier, ich hörte das Fauchen. Aber er war kühn – ein kühner, freier Räuber. Wir schliefen in Torwegen, in Kirchen, unter Brückenbogen. Wir waren frei – frei von Gedanken und frei von Furcht und Sorgen. Aber einmal ging er fort ; ich suchte ihn und fand ihn an einem Galgen hängend. Es war ein großer Galgen, an dem viele Menschen aufgeknüpft waren. Können Sie das verstehen, Kapitän ? Sehen Sie das, wie ich es sah ? Bedeutet es etwas für Sie ?« Ihre Augen flammten. »Ich wanderte zurück nach Córdoba. Meine Füße waren zerschunden. Und ich tat Buße, bis mein ganzer Körper zerschunden war. Aber ich konnte den Teufel nicht ganz austreiben. Man nahm mit mir eine Teufelsaustreibung vor, doch der Satan steckte zu tief in mir. Können Sie das verstehen, Kapitän ?« Sie blickte ihn an und sah, daß er überhaupt nicht zugehört hatte. Sie trat neben ihn und ließ ihre Finger durch seine ergrauenden Haare gleiten. »Sie sind verändert«, sagte sie. »Ein Licht in Ihnen ist erloschen. Was für eine Furcht hat Sie befallen ?« Er schreckte aus seiner Träumerei auf. »Ich weiß es nicht.« »Ich habe gehört, daß Sie Ihren Freund erschossen haben. Ist es das, was Sie bedrückt ?« »Ja, ich erschoß ihn.« »Und trauern Sie um ihn ?« »Vielleicht. Ich weiß nicht recht. Ich glaube, ich trauere um etwas anderes, das tot ist. Vielleicht war er die Hälfte meines Wesens, und da er nun tot ist, bin ich nur ein halber Mann. Heute bin ich mir vorgekommen wie ein Gefesselter auf einer weißen Marmorplatte, um den sich die Chirurgen versammelt haben. 208
Man hielt mich für gesund ; aber die Messer zeigten, daß ich an einer Krankheit litt, die man Mittelmäßigkeit nennt.« »Das betrübt mich«, sagte sie. »Warum ?« »Weil das Licht in Ihnen erloschen ist, weil das tapfere, brutale Kind in Ihnen tot ist – das prahlerische Kind, dem nichts unmöglich schien und das glaubte, seine Taten erschütterten den Thron Gottes. Dieses Kind ist tot, und das betrübt mich. Ich würde jetzt mit Ihnen gehen, wenn ich es für möglich hielte, das Kind wieder zum Leben zu erwecken.« »Sonderbar«, sagte Morgan, »vor zwei Tagen wollte ich noch einen Erdteil umstülpen und auf ihm eine goldene Hauptstadt für Sie erbauen. Ich habe in Gedanken ein großes Reich für Sie errichtet und sogar das Diadem entworfen, das Sie tragen sollten. Aber nun erinnere ich mich nur noch dunkel an die Person, die so etwas dachte. Sie ist mir fremd und rätselhaft. Ihre Ziele sind mir nicht mehr faßbar. Und Sie … Ich fühle nur ein leichtes Unbehagen in Ihrer Nähe. Ich fürchte Sie nicht mehr. Ich will Sie nicht mehr. Ich habe Heimweh nach meinen dunklen Bergen und nach der Sprache meines Volkes. Ich möchte auf einer breiten Veranda sitzen und einem alten Mann zuhören, den ich einst gut kannte. Ich habe genug von diesem Blutvergießen, von diesem Kampf um flüchtige Dinge, die ihren Wert verlieren, kaum daß man sie in Händen hat. Ist es nicht schrecklich ? Ich wünsche mir nichts mehr. Ich habe keine Begierden mehr. Ich habe nur noch ein allgemeines Verlangen nach Frieden. Und ich möchte Zeit haben, unwägbare Dinge zu erwägen.« »Sie werden keine goldenen Becher mehr erwerben«, sagte sie. »Sie werden keine eitlen Träume mehr in unbefriedigende Eroberungen verwandeln. Sie tun mir leid, Kapitän Morgan. Was Sie von dem Sklaven sagten, stimmte nicht ganz. Er war zwar 209
krank, aber an der Krankheit, die Sie ihm zuschrieben, litt er nicht. Ich glaube, Sie haben schwer gesündigt. Alle Menschen, welche die Schranken der Mittelmäßigkeit durchbrechen, begehen schreckliche Sünden. Ich werde für Sie zu der Heiligen Jungfrau beten, und sie wird am Himmelsthron Fürbitte für Sie tun. Aber was soll aus mir werden ?« »Sie werden zu Ihrem Mann zurückkehren.« »Was bleibt mir anderes übrig ? Sie haben mich alt gemacht, Senor. Sie haben den Traum zerstört, auf dem sich mein schwerfälliger Geist über Wasser hielt. Vielleicht werden Sie mich in kommenden Jahren auch noch für den Tod Ihres Freundes verantwortlich machen.« »Das tue ich schon jetzt«, sagte Morgan zornig. »Es scheint nicht mehr der Mühe wert, zu lügen, und das ist ein weiterer Beweis dafür, daß es aus ist mit der Jugend. Leben Sie wohl, Ysobel. Ich wollte, ich liebte Sie jetzt so, wie ich Sie gestern zu lieben glaubte. Begeben Sie sich in die parfümierten Hände Ihres Gatten.« Sie lächelte und hob die Augen zu dem Muttergottesbild an der Wand. »Friede sei mit Ihnen, Sie großer Tor. Ach, auch ich habe meine Jugend verloren. Ich bin alt, denn ich kann mich nicht mit dem Gedanken an das trösten, was Ihnen entgangen ist.«
VII Henry Morgan stand in der Tür des Audienzsaales und sah einen kleinen Trupp Spanier durch die Straßen auf den Palast zureiten. Der Trupp war auf allen Seiten von einer lärmenden Schar Bukaniere umgeben. Zuerst kam der Bote, der sehr verändert aussah. Er war jetzt in scharlachrote Seide gekleidet. Zum Zeichen seiner friedlichen Sendung waren seine Hutfeder und 210
seine Degenscheide weiß. Hinter ihm ritten sechs Soldaten in silbernen Brustpanzern und den spanischen Helmen, die aussahen wie halbe Senfkörner. Der letzte Soldat führte eine weiße Stute mit leerem Sattel, roten Satteldecken und einer Reihe goldener Schellen am Stirnband. Über den Sattel war ein weißes Tuch gebreitet, das beinahe den Boden berührte. Dahinter folgten sechs Maulesel, die schwere Lederbeutel trugen. Den Abschluß der Kavalkade bildeten wiederum sechs Soldaten. Der Trupp machte vor dem Palast halt. Der Bote sprang vom Pferd und verbeugte sich vor Henry Morgan. »Ich bringe das Lösegeld«, sagte er. Er sah sorgenvoll und müde aus. Die Schwere seiner Verantwortung hatte ihn niedergedrückt. Auf seinen Befehl trugen die Soldaten die Lederbeutel in die Audienzhalle, und erst, als sie dort alle niedergesetzt waren, hellte sich sein Gesicht auf. »Ah«, sagte er, »endlich ! Da ist das Geld. Zwanzigtausend Golddukaten – und nicht einer ging unterwegs verloren. Wollen Sie bitte nachzählen, Senor.« Er staubte oberflächlich seine Füße ab. »Wenn meine Leute einige Erfrischungen haben könnten, Señor – Wein vielleicht –.« »Schau, daß die Leute etwas zu essen und zu trinken bekommen«, sagte Morgan zu einem der Bukaniere. »Sei höflich zu ihnen, wenn dir dein Leben lieb ist.« Dann ging er zu den Beuteln, um das Geld zu zählen. Er baute aus den glänzenden Münzen kleine Türme und schob sie auf dem Boden hin und her. Er warf einen Turm um und baute ihn wieder auf. Geld war äußerst zuverlässig . . . Man wußte im voraus, was es tun würde, wenn man es in Bewegung setzte … Er wußte es wenigstens bis zu einem gewissen Punkt. Über diesen Punkt hinaus war es nicht mehr kontrollierbar, aber das spielte keine Rolle. Man konnte Wein mit Geld kaufen. Man legte das Geld hin, und schon war der Wein da. Wenn der Kaufmanns211
gehilfe seinen Herrn eben dieses Geldes wegen töten sollte, so war das ein Unglück, man konnte es auch vielleicht Schicksal nennen oder so ähnlich, aber seinen Wein bekam er trotzdem für das Geld. Alle diese Haufen goldenen Geschirrs, diese Kreuze, Kerzenleuchter und kostbaren Gewänder würden auch solches Geld werden … Die Gold- und Silberbarren würden zu runden Plättchen geschlagen, und jedes würde mit einem Bild gestempelt werden. Das Bild würde ihm Charakter geben und eine eigentümliche, mit großer Überredungskunst ausgestattete Seele. Er warf die Münzen alle auf einen Haufen zusammen und baute ihn dann wieder zu Türmen auf. Ysobel kam aus dem Garten zu ihm. »Was für eine Menge Geld !« sagte sie. »Ist das mein Lösegeld ?« »Ja, das ist das Gold, mit dem Sie gekauft werden.« »Was für eine Menge ! Bin ich denn so viel wert ?« »Ihrem Mann schon. Er hat es für Sie bezahlt.« Er stellte zehn Türme in eine Reihe. »Und Ihnen ? Wieviel bin ich Ihnen wert ? Wie viele dieser goldenen Stückchen ?« »Genausoviel müssen Sie für mich wert gewesen sein. Ich setzte den Preis fest.« »Würden sie nicht hübsch über das Wasser schnellen ? Ah, wie sie hüpfen würden ! Ich kann nämlich wie ein Junge werfen, so, mit gekrümmtem Arm.« »Ich habe gehört, daß Sie auch diese Fähigkeit besäßen.« »Aber bin ich wirklich so viel wert ?« »Da ist das Geld, und Sie müssen gehen. Das ist Ihr Preis. Eine Sache muß wert sein, was man für sie bezahlt, sonst wäre kein Handel möglich.« »Ausgezeichnet«, sagte sie. »Es ist tröstlich, wenn man sei212
nen Wert in Geld kennt … Wissen Sie vielleicht, was Sie wert sind ?« »Wenn ich jemals gefangen würde und man ein Lösegeld für mich verlangte«, sagte Henry Morgan, »wäre ich keinen Kupferpfennig wert. Diese verdammten Hunde würden sich einen Ast lachen und die Schultern zucken. Ein neuer Kapitän wäre bald gefunden, und ich – nun, ich wäre meinen Feinden auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, und ich könnte schon jetzt vorhersagen, was sie mit mir anfangen würden. Ich habe mich in den letzten Tagen neu eingeschätzt. Ich habe vielleicht einigen Wert für Geschichtsschreiber, weil ich verschiedenes zerstört habe. Der Erbauer eurer Kathedrale ist bereits jetzt vergessen ; aber an mich, der sie niederbrannte, wird man wahrscheinlich noch in hundert Jahren denken. Daraus könnte man diese oder jene Folgerung für die Menschheit ziehen …« »Aber was an mir ist eigentlich dieses Gold wert ?« fragte sie hartnäckig weiter. »Sind es meine Arme oder meine Haare ? Oder bin ich etwa so wertvoll, weil ich die Eitelkeit meines Mannes verkörpere ?« »Ich weiß es nicht«, sagte Morgan. »Seitdem ich mich neu eingeschätzt habe, haben meine bisherigen Maßstäbe keine Geltung mehr, und ich sehe meine Gefühle und die Personen, mit denen ich zu tun habe, in einem anderen Licht. Wenn ich jetzt ein Lösegeld für Sie fordern müßte, wären Sie wohl nicht so geschmeichelt.« »So hassen Sie mich, Kapitän Morgan ?« »Nein, ich hasse Sie nicht. Aber Sie schienen ein Fixstern an meinem Firmament und haben sich als Meteor entpuppt.« »Das ist nicht galant, mein Herr. Vor zwei Tagen haben Sie anders gesprochen.« »Nein, galant ist das nicht. Ich glaube, daß ich von nun an nur noch aus zwei Gründen galant sein werde – wegen Geld und 213
wegen Beförderung. Der Versuch, aus reiner Freude an schönen und anmutigen Dingen galant zu sein, liegt hinter mir. Sie sehen, ich war vorher ehrlich gegen mich selbst und bin es auch jetzt. Freilich stehen diese zwei Ehrlichkeiten in diametralem Gegensatz.« »Sie sind verbittert.« »Nein, nicht einmal das. Der Stoff, von dem sich die Bitterkeit nährt, steckt nicht mehr in mir.« »Ich gehe jetzt«, sagte sie sanft und ernst. »Haben Sie mir nichts mehr über mich zu sagen ? Haben Sie mich nichts mehr zu fragen ?« »Nichts«, antwortete er und machte sich daran, die Münzen aufzutürmen. Der Bote, der Führer der Kavalkade, kam von der Straße herein. Er hatte tüchtig getrunken, denn er war froh gewesen, die Sorge um die Ablieferung des Geldes endlich los zu sein. Er verbeugte sich vor Ysobel und Morgan, verbeugte sich umständlich und bemühte sich offensichtlich dabei, sein Gleichgewicht zu bewahren. »Wir müssen fort, Señor«, verkündete er laut. »Der Weg ist lang.« Er führte Ysobel zu der Schimmelstute und half ihr in den Sattel. Auf sein Zeichen setzte sich der Trupp in Bewegung. Ysobel sah sich noch einmal um, aber dann beugte sie sich über den Hals des Pferdes und schien aufmerksam dessen weiße Mähne zu betrachten. Der Bote war in der Tür an Morgans Seite stehengeblieben. Zusammen sahen sie der fließenden Linie der Reiterschar nach. Die Sonne spiegelte sich in der Rüstung der Soldaten. Die Schimmelstute in der Mitte erschien wie eine Perle in Silberfassung. Der Bote legte Morgan die Hand auf die Schulter. »Wir Männer, die Verantwortung tragen, verstehen einander«, sagte er trunken. »Wir sind ja keine Kinder und brauchen keine 214
Geheimnisse voreinander zu haben. Wir tapferen und starken Männer. Wir können einander vertrauen. Sie können mir alles sagen, was Sie auf dem Herzen haben, Señor.« Henry schüttelte die Hand von der Schulter. »Ich habe dir nichts zu sagen«, bemerkte er barsch. »Dann will ich Ihnen etwas sagen. Vielleicht haben Sie sich gewundert, warum der Mann dieser Frau bereit war, eine so große Summe für sie zu zahlen. Sie ist nur eine Frau, sagen Sie. Es gibt viele Frauen, die billiger zu haben sind – manche schon für ein paar Pfennige. Ihr Mann ist ein Narr, sagen Sie. Aber ich möchte nicht, daß Sie so von meinem Herrn denken. Er ist kein Narr. Die Sache ist so : Ihr Großvater lebt noch, er ist Eigentümer von zehn Silberbergwerken und fünfzig Quadratmeilen fruchtbaren Landes in Peru. Doña Ysobel ist die Erbin. Wenn sie nun zu Tode käme oder geraubt würde – stellen Sie sich das vor ! Das Vermögen fiele der Krone zu !« Er war von seiner Beweisführung selbst beeindruckt. »Wir verstehen uns, Señor. Zwanzigtausend – gegen zehn Silberbergwerke gehalten, ist das gar nichts. Männer mit großer Verantwortung verstehen einander, nicht wahr ?« Er kletterte in den Sattel und ritt laut lachend fort. Henry Morgan sah, wie er die Kavalkade erreichte. Und nun kam zu der Perle in der Silberfassung noch ein Rubin. Kapitän Morgan ging zu dem Schatz zurück. Er setzte sich auf den Boden und nahm die Münzen in die Hand. »Der menschlichste aller menschlichen Züge ist die Unbeständigkeit«, dachte er. »Das zu erfahren, verblüfft einen mindestens so wie die Erkenntnis, daß man schließlich nur ein schwacher Mensch ist. Und warum muß man das zuletzt erfahren ? In all dem verrückten Wirrwarr der Welt, dem verwickelten Durcheinander des Lebens, hatte ich wenigstens das Gefühl, in mir selbst sicher verankert zu sein. Wie sehr andere auch schwankten, ich hielt 215
mich selbst für unerschütterlich beständig und gesichert. Aber siehe da, jetzt schleppe ich eine zerrissene Ankerkette nach und den Anker habe ich verloren. Ich weiß nicht, ob die Kette durchgefeilt wurde oder durch Abnützung schadhaft geworden ist – aber mein Anker ist jedenfalls fort. Ich segle unablässig um eine Insel, auf der es kein Eisen gibt.« Er ließ die Goldstücke durch die Finger gleiten. »Aber vielleicht ist dies das Eisen, aus dem man einen neuen Anker schmieden kann«, dachte er weiter. »Dies Metall ist hart und schwer. Sein Wert mag auf dem Markt der Wirtschaft etwas schwanken, aber wenigstens hat es einen klar erkennbaren Sinn – und zwar nur einen einzigen Sinn. Es ist der einzige zuverlässige Bürge beständiger Sicherheit. Ja, vielleicht ist dies hier der einzige wahre Anker, das einzige, dessen man ganz sicher sein kann. Es verankert uns in Wohlstand und Sicherheit. Sonderbar, daß ich ein so großes Verlangen nach beidem habe.« »Aber andere haben einen Anteil an diesem Gold«, sagte eine Stimme in seinem Inneren. »O nein, mein braves Gewissen. Dieses Stück ist jetzt zu Ende gespielt. Eine andere Welt tut sich auf. Ich habe eine neue Brille aufgesetzt – oder sie ist mir vielmehr an den Kopf geschmiedet, und ich muß mein Leben nach der Welt einrichten, wie ich sie durch diese neuen Gläser sehe. Ich sehe, daß Wohlanständigkeit und öffentliche Moral eine Leiter zu einem höheren, einträglicheren Verbrechen sein kann, Wahrhaftigkeit ein Mittel zu noch feinerer Heuchelei. Nein, diese Männer haben keine Rechte, die sie geltend machen können. Diese Männer sind zu frei mit den Rechten anderer umgegangen, um Rücksicht zu verdienen.« Der Gedanke erschien ihm äußerst glücklich. »Sie stehlen, und so soll auch ihre Beute gestohlen werden. Aber was ich sagen wollte war dies : ich brauche keine Ausflüchte und Schlafpülverchen für das Gewissen mehr. Was habe 216
ich noch mit Recht, Vernunft, Logik oder Gewissen zu tun ? Ich will dieses Geld haben. Ich will Sicherheit und Bequemlichkeit, und hier habe ich die Möglichkeit in den Händen, mir beides zu verschaffen. Es mag nicht das Ideal der Jugend sein, aber ich glaube, so ist es vom Ursprung der Welt an gewesen. Es ist vielleicht ein Glück, daß die Welt nicht von jungen Leuten gelenkt wird. Und übrigens verdienen es meine Leute, diese Narren, nicht anders. Sie würden das Geld nur in die Bordelle tragen, wenn wir heimkämen.«
VIII Die Bukaniere zogen aus dem zerstörten Panama ab. Sie trugen den ganzen Schatz auf Mauleseln mit sich über die Landenge. Als sie endlich nach Chagres kamen, waren sie erschöpft. Trotzdem wurde der folgende Tag für die Verteilung der Beute bestimmt. Um dieses Geschäft zu erleichtern, wurde der ganze Schatz auf ein Schiff gebracht, auf die große Galeone, die von einem Herzog geführt worden war, ehe die Piraten sie kaperten. Von diesem Zentrum aus sollte jeder seinen Teil bekommen. Kapitän Morgan war in guter Laune. Der Zug sei zu Ende, sagte er zu seinen Leuten, und es sei Zeit, es sich gutgehen zu lassen. Er ließ vierzig Fässer Rum an die Küste rollen. Frühmorgens öffnete ein schlaftrunkener Pirat die geröteten Augen und blickte aufs Meer. Wo die Galeone geankert hatte, sah er Wasser. Er weckte seine Kameraden, und im Augenblick war der Strand voller enttäuschter Männer, die angestrengt und aufgeregt den Horizont absuchten. Die Galeone war während der Nacht in See gestochen und hatte den Reichtum Panamas mitgenommen. Die Bukaniere bekamen Wutanfälle. Sie wollten sofort die 217
Verfolgung aufnehmen, sie wollten ihren Kapitän einholen und foltern. Aber wie sollten sie ihn verfolgen ? Die anderen Schiffe waren wertlos. Einige lagen auf dem sandigen Strande, mit großen Löchern in den Seiten ; von anderen waren die Masten beinahe durchgesägt. Schreie und wilde Flüche erfüllten die Luft. Im Namen der Rache schworen sie alle aufs neue Bruderschaft. Sie dachten sich die grausamsten Arten der Vergeltung aus. Aber dann zerstreuten sie sich langsam. Einige verhungerten, andere wurden von den Indianern zu Tode gemartert, die übrigen fingen die Spanier und erdrosselten sie ; ja, sogar England knüpfte, um die öffentliche Moral zu schützen, einige von ihnen auf.
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FÜNFTES KAPITEL Eine große Menschenmenge aus allen Volksklassen war am Strande von Port Royal versammelt. Alle waren gekommen, um Kapitän Morgan zu begrüßen, den Eroberer von Panama. Große Damen in Kleidern aus chinesischen Seidenstoffen hatten sich eingefunden, weil Henry Morgan schließlich doch aus guter Familie stammte – war er nicht der Neffe des lieben armen Vizegouverneurs, der im Kampfe gefallen war ? Matrosen waren da, weil Morgan ein Seemann war, kleine Jungen, weil er ein Seeräuber war, junge Mädchen, weil er ein Held, Geschäftsleute, weil er reich war, und Scharen von Sklaven, weil sie einen freien Tag hatten. Dirnen in Hülle und Fülle, die sich die Lippen mit Beerensaft rot gefärbt hatten und mit ruhelosen Augen die Gesichter allein gehender Männer durchforschten. Kaum den Kinderschuhen entwachsene Mädchen, deren Herzen die Hoffnung hegten, der große Mann könnte vielleicht dorthin schauen, wo sie standen, und bei ihnen das Verständnis finden, nach dem er sich doch sehnen mußte. Unter dieser Menge waren Seeleute, die stolz darauf waren, daß sie Kapitän Morgan hatten fluchen hören, und Schneider, die glücklich waren, ihm Hosen angepaßt zu haben. Jeder, der Henry Morgan gesehen und ihn sprechen gehört hatte, sammelte eine Gruppe von Bewunderern um sich. Diese Glücklichen hatten durch die Berührung mit ihm ein Stückchen von seiner Größe erhalten. Die an diesem Freudentage von der Feldarbeit befreiten Negersklaven sahen mit großen, leeren Augen die Galeone in den Hafen fahren. Plantagenbesitzer stelzten unter der Menge umher und verkündeten mit lauter Stimme, was sie zu Henry Morgan sagen würden, wenn sie ihn als Gast bei sich hätten. Sie 219
sagten das mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als hätten sie ständig Eroberer Panamas bei sich zu Gast. Einige Gastwirte schenkten reichlich Freiwein aus. Verdienen würden sie dann später – denn wie der Appetit mit dem Essen, so kommt der Durst mit dem Trinken. Abseits auf einem kleinen Landungsdamm wartete das Gefolge des Gouverneurs, hübsche junge Männer in Spitzen und Silberschnallen. Sie hatten eine Schar Hellebardiere um sich, die ihnen einen offiziellen Anstrich geben sollten. Das Meer fächerte so feine Wellen ans Ufer, daß nicht einmal ein Geplätscher entstand. Der Morgen war schon vorgerückt, die Sonne hing wie ein glühender Schmelztiegel am Himmel, aber niemand fühlte die Hitze. Die Leute hatten nur Augen und Gedanken für die große, in den Hafen einlaufende Galeone. Es wurde Mittag, bis sich Henry Morgan, der die Menge durch ein Fernrohr beobachtet hatte, entschloß, die Stadt zu betreten. Der Grund seines Zögerns war nicht nur Eitelkeit. In der Nacht war ein kleines Boot längsseits des Schiffs gekommen, mit der Nachricht, er könnte möglicherweise verhaftet werden, obgleich er die Feinde des Königs bekämpft hatte. Morgan hoffte, die Begeisterung der Bevölkerung würde den Ausschlag zu seinen Gunsten geben. Den ganzen Morgen hatte er diese Begeisterung wachsen sehen, denn die Menge wurde von Stunde zu Stunde immer aufgeregter. Jetzt wurde sein Langboot heruntergelassen, die Ruderer nahmen ihre Plätze ein. Als es sich dem Ufer näherte, brach die versammelte Menge in Schreie aus, die sich dann zu einem einzigen betäubenden Begrüßungsgebrüll vereinigten. Die Leute warfen die Hüte hoch, hüpften, tanzten, schnitten Grimassen. Der eine suchte den anderen zu überschreien. Hände wurden ausgestreckt, um Morgans Hand zu ergreifen, ehe er noch aus dem Boot war. Sobald er an Land war, formten die 220
Hellebardiere um ihn und das Gefolge des Gouverneurs einen Kreis und erzwangen sich mit gesenkten Waffen einen Weg durch die aufgeregte Menge, die sich die Hälse ausrenkte, um Morgan zu sehen. Mißtrauisch betrachtete Morgan die ihn umgebenden Soldaten. »Will man mich verhaften ?« fragte er den neben ihm gehenden Kavalier. Der lachte. »Verhaften ? Nein, selbst wenn wir das wollten, wäre es nicht möglich. Der Mob würde uns in Stücke reißen. Und wenn es uns gelänge, würde man mit den Fingern die Wand des Gefängnisses aufkratzen, um Sie zu befreien. Sie wissen gar nicht, in welch hohem Ansehen Sie bei den Leuten stehen. Seit Tagen spricht man nur von Ihnen. Aber der Gouverneur möchte Sie sofort sehen, Herr Kapitän. Aus begreiflichen Gründen konnte er selbst nicht herkommen.« »Kapitän Morgan«, sagte Gouverneur Moddyford, als sie allein waren, »ich weiß nicht, ob die Nachricht, die ich für Sie habe, gut oder schlecht ist. Ihre Taten sind dem König zu Ohren gekommen. Wir sind beide nach England befohlen.« »Aber ich habe doch ein Patent. Ich wurde sozusagen ermächtigt –«, begann Morgan. Der Gouverneur schüttelte bedauernd den dicken Kopf und zuckte die fetten Schultern. »Das Patent, Herr Kapitän, würde ich an Ihrer Stelle gar nicht erwähnen, obwohl ich selbst es ausgestellt habe. Es sind da Klauseln in Ihrem Patent, die uns beiden scharfen Tadel zuziehen könnten, ja, man könnte uns dafür beide aufhängen – aber ich weiß nicht – ich weiß nicht … Natürlich ist Friede zwischen Spanien und England, aber die Stimmung zwischen beiden ist schlecht – äußerst schlecht. Der König ist wütend auf uns, aber ich glaube, ein paar tausend Pfund, an den richtigen Stellen verteilt, könnten ihn besänftigen, und wäre seine Wut noch so groß. Das englische Volk freut sich über die 221
Eroberung. Lassen Sie sich darüber keine grauen Haare wachsen, ich tue es bestimmt nicht.« Er sah Morgan offen ins Auge. »Ich hoffe, Herr Kapitän, daß Sie diese paar tausend Pfund erübrigen können, wenn die Zeit kommt.« Sehr entgegenkommend und beinahe in amtlichem Ton sagte Morgan : »Ich habe versucht, den Wünschen meines Herrschers, die ja nicht immer in dem äußeren Spiel der Politik zum Ausdruck kommen, dem Geist nach zu dienen.« Und dann : »Seien Sie beruhigt, Sir Charles. Ich habe genug, die Gunst des Königs zu kaufen, und wenn sie eine halbe Million kosten sollte. Man sagt, der König ist ein freigebiger Mann und versteht, schöne Frauen zu schätzen, und nach meiner Erfahrung braucht ein solcher Mann immer Geld.« »Da ist noch eine andere Sache, die ich mit Ihnen besprechen möchte«, sagte der Gouverneur unbehaglich. »Ihr Onkel ist vor einiger Zeit auf dem Feld der Ehre gefallen. Seine Tochter ist hier in meinem Hause. Sir Edward war fast mittellos, als er starb. Natürlich würden wir sie immer gern bei uns behalten, Sie verstehen, aber ich glaube, sie fühlt sich nicht ganz wohl hier. Sie scheint das Gefühl zu haben, auf Mildtätigkeit angewiesen zu sein. Ich halte es für selbstverständlich, daß Sie sich ihrer annehmen. Sir Edward ist tapfer gestorben und erhielt eine öffentliche Belobigung vom König, aber davon kann man leider nicht leben.« Morgan lächelte. »Daß mein Onkel tapfer starb, war zu erwarten. Bei allem, was er tat – ja, ich glaube, sogar wenn er sich die Nägel schnitt –, benahm er sich so, als wenn der gesamte Adel ihn kritisch beobachtete. Wie ist er denn gestorben ? Hat er eine kurze, passende Ansprache gehalten ? Oder hat er seine dünnen Lippen zusammengepreßt, wie wenn er den Tod als nicht gesellschaftsfähig betrachtete ? Ah, dieser Mann ! Sein Leben verlief nach einem einfachen Plan, und er spielte die ihm zugewiesene 222
Rolle ohne Tadel. Ich habe diesen Onkel gehaßt.« Morgan sagte das lachend. »Er gehörte zu den wenigen Menschen, die ich fürchtete. Aber wie ist er denn gestorben ?« »Es ging das Gerücht, er habe einmal aufgestöhnt. Ich bin diesem Gerücht nachgegangen und habe herausbekommen, daß ein Diener sich hinter einem Vorhang versteckt hatte. Zweifellos stammt das Gerücht von ihm.« »Zu dumm ! Zu dumm ! Was für eine Schande, ein vollkommenes Leben durch einen Stoßseufzer zu ruinieren ! Aber jetzt fürchte ich ihn nicht mehr. Wenn er gestöhnt hat, war er doch auch nur ein schwacher Mensch. Ich verachte, aber liebe ihn auch deswegen. Meiner Cousine werde ich mich natürlich annehmen, darüber können Sie beruhigt sein. Ich erinnere mich nur noch dunkel an sie – ein großes Mädchen mit gelbem Haar – ein kleines Mädchen vielmehr, das jämmerlich Harfe spielte, wenigstens kam es mir so vor, obwohl ihr Spiel sehr gut gewesen sein mag.« Moddyford kam jetzt auf ein Thema zu sprechen, das ihm auf der Seele brannte. »Ich habe gehört, daß Sie in Panama die Rote Heilige gefangen und sie gegen ein Lösegeld freigelassen haben. Wie sind Sie denn dazu gekommen ? Sie muß doch bildschön gewesen sein.« Morgan wurde rot. »Ja, wissen Sie, bei näherem Zusehen schien mir doch, daß man ihre Schönheit sehr übertrieben hatte. Hübsch war sie zweifellos, und ich will nicht behaupten, daß sie keinen Eindruck auf Männer gemacht haben könnte. Aber sie gehörte nicht zu den Frauen, die mir besonders liegen. Sie war ziemlich frei in ihren Reden und sprach gern von Dingen, die meiner Ansicht nach unweiblich sind. Sie ritt nach Männerart und focht. Kurz, sie war ohne jene Sittsamkeit, die wir bei wohlerzogenen Frauen erwarten.« 223
»Hm, aber als Geliebte – als Geliebte wäre sie doch –« »Ich erhielt fünfundsiebzigtausend Golddukaten für sie. Das ist meiner Meinung nach mehr, als irgendeine Frau überhaupt wert ist.« »So viel ? Wie konnte sie denn nur ein so großes Lösegeld aufbringen ?« »Durch Nachforschungen bekam ich heraus, daß sie eine reiche Erbin war. Und wie ich schon sagte, sie war zwar hübsch, aber eine solche Schönheit, wie man allgemein sagte, war sie auch wieder nicht.« Inzwischen hatte in einem anderen Zimmer Lady Moddyford eine ernste Unterredung mit Elisabeth. »Ich glaube, ich muß mal mit dir reden wie eine Mutter, mein Kind, wie eine Mutter, die sich Gedanken über deine Zukunft macht. Es besteht natürlich gar kein Zweifel, daß dein Cousin sich deiner annehmen wird. Aber das wäre ja schließlich auch nicht das richtige, wenn du nur von seiner Gnade abhängig wärest. Betrachte ihn einmal in einem anderen Licht. Er ist reich und steht in hoher Gunst. Versteh, mein Kind, es ist unmöglich, hierbei zu feinfühlig zu sein, und ich weiß nicht mal, ob das wünschenswert wäre, selbst angenommen, es wäre möglich. Warum solltest du deinen Cousin nicht heiraten ? Wenn nichts anderes dabei herauskäme, so wärest du jedenfalls die einzige Frau auf der Welt, welche die Verwandtschaft ihres Mannes nicht kritisieren könnte.« »Aber was schlagen Sie mir da vor, Lady Moddyford ?« sagte Elisabeth, sittsam errötend. »Ist es nicht streng verboten, den eigenen Cousin zu heiraten ?« »Durchaus nicht. Weder die Kirche noch der Staat verbieten das. Ich selbst würde eine solche Heirat begünstigen. Sir Charles und dein Cousin sind nach England befohlen 224
worden. Sir Charles glaubt, es ließe sich sogar machen, einen Adelstitel herauszuholen. Dann wärest du Lady Morgan und dazu reich.« »Ich habe ihn nur einmal gesehen«, sagte Elisabeth nachdenklich, »nur einen Augenblick, und ich glaube, er gefiel mir gar nicht. Er zeigte seine Gefühle und errötete, aber sonst war er ganz angenehm und ehrerbietig. Ich glaube, er wollte sich mit mir anfreunden, aber mein Vater – Sie wissen ja, wie Papa war. Vielleicht würde er einen guten Ehemann abgeben.« »Mein Kind, jeder Mann wird ein guter Ehemann, wenn man es nur richtig anfängt.« »Ja, das wäre eigentlich der beste Ausweg. Ich mag mich nicht immer wegen meiner Armut bemitleiden lassen. Aber meinen Sie, er wird mich beachten, da er doch jetzt so berühmt ist ? Vielleicht ist er zu stolz, eine arme Cousine zu heiraten.« »Liebe Elisabeth«, sagte Lady Moddyford im Ton der Überzeugung, »weißt du noch immer nicht, daß fast jede Frau fast jeden Mann heiraten kann, solange keine andere Frau dazwischentritt ? Ich werde alles so arrangieren, daß dir keine in den Weg kommt. Das darfst du mir schon zutrauen.« Elisabeth hatte bereits einen Entschluß gefaßt. »Ich weiß, was ich tue. Ich werde ihm was vorspielen. Ich habe gehört, daß Musik diese wilden Männer besänftigt. Ich werde ihm meine neuen Stücke vorspielen : ›Der Elfentanz‹ und ›Gott trägt die müde Seele zur Ruhe‹.« »Nein«, unterbrach Lady Moddyford sie, »das würde ich an deiner Stelle nicht tun ! Vielleicht mag er keine Musik. Es gibt bessere Mittel.« »Sie sagten doch selbst, diese Stücke seien sehr schön. Musik soll, wie ich gelesen habe, die härtesten Männer weich machen.« »Nun, spiel immerhin, wenn du willst. So etwas kann in der 225
Familie liegen – Musikliebe, meine ich. Du mußt ihn natürlich bewundern und gleichzeitig ein bißchen Angst vor ihm haben. Laß ihn fühlen, daß du ein armes, hilfloses Geschöpf bist, das von reißenden Tigern verfolgt wird. Du mußt alles so arrangieren, wie es dir selbst am besten erscheint. Du hast es gar nicht so schwer, denn du kannst ihn gleich von Anfang an um Schutz bitten.« Sie seufzte. »Ich wüßte nicht, was wir täten, wenn wir die Männer nicht um Schutz anrufen könnten. Ich glaube, Sir Charles hätte mir bis heute noch keinen Antrag gemacht. Der Arme wußte einfach nicht, wie er beginnen sollte. Eines Nachmittags saßen wir auf einer Bank, und ich suchte tatsächlich die ganze Gegend ab, um etwas zu finden, was mich in Schrecken versetzen könnte. Wir waren sicher schon drei Stunden dagesessen, als sich endlich eine kleine Wasserschlange über den Pfad schlängelte, so daß ich mich in seine Arme flüchten konnte. Sir Charles hält ständig einen Mann im Garten, der nur auf Schlangen aufpassen muß. Und dabei habe ich Schlangen immer gern gehabt. Als ich noch klein war, hatte ich drei als Spieltiere …« Am nächsten Morgen brachte Lady Moddyford sie zusammen und ließ sie, sobald es einigermaßen anging, allein. Elisabeth sah ihren Cousin ängstlich an. »Sie haben große, schreckliche Taten auf dem Ozean vollbracht, Kapitän Morgan. Es wird mir ganz kalt, wenn ich nur daran denke.« Ihre Stimme zitterte dabei. »So groß waren die Taten nicht, auch nicht so schrecklich. Nichts ist so gut oder so schlecht, wie man es hört.« Er dachte bei sich : »Ich hatte eine ganz falsche Vorstellung von ihr. Sie ist gar nicht hochmütig. Es muß ihr Vater -dieser widerliche Kerl – gewesen sein, der mir einen falschen Eindruck von ihr vermittelte. Sie ist reizend.« »Ich bin sicher, daß Ihre Taten groß waren, Ihre Bescheidenheit läßt es nur nicht zu, sie so zu nennen«, fuhr sie in einem 226
ehrerbietig-zimperlichen Tonfall fort. »Wenn ich die Geschichten hörte, die man von Ihnen erzählte, mußte ich immer zittern, aber ich hoffte immer zuversichtlich, daß Sie alle Schwierigkeiten überwinden würden.« »Wirklich ? Wieso ? Ich habe immer gemeint, Sie schenkten mir gar keine Beachtung.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Auch ich hatte Schwierigkeiten.« »Ich weiß. Man hat mir gesagt, daß Sie sich nicht recht glücklich fühlen, und es bekümmerte mich sehr, das zu hören, kleine Cousine Elisabeth. Möchtest du dich nicht hier neben mich setzen, Elisabeth ?« Sie sah scheu nach ihm hin. »Ich werde Ihnen etwas vorspielen, wenn es Ihnen angenehm ist«, sagte sie. »Ja-a-ja, doch.« »Dies ist der ›Elfentanz‹. Wenn Sie genau achtgeben, können Sie hören, wie ihre Füßchen über das Gras eilen. Jeder findet das Stück allerliebst.« Ihre Finger zupften methodisch die Saiten. Diese Finger machten auf ihren Cousin größeren Eindruck als die Musik, ja, er vergaß sie völlig über ihren Fingern. Sie waren wie kleine weiße Motten, so zart und unruhig. Man würde es sich überlegen, sie zu berühren, weil sie davon zerbrechen könnten – und doch hatte man das Verlangen, sie zu streicheln. Das Stück endete mit lauten Baßtönen. Als die letzte Saite ausgezittert hatte, bemerkte er : »Du spielst sehr – sehr exakt, Elisabeth.« »Oh, ich spiele die Noten, wie sie kommen«, sagte sie. »Ich denke mir immer, der Komponist wird sein Geschäft besser kennen als ich.« »Ja, es ist ein Trost, dich zu hören. Es ist schön, wenn man weiß, daß alles an der richtigen Stelle sein muß – selbst Noten. Du hast jene verderbliche Freiheit beseitigt, die ich beim Spiel 227
einiger junger Mädchen beobachtet habe. Es waren sehr nette und liebenswerte Mädchen, aber sie ließen sich, um die Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen, allzusehr gehen. Ja, jetzt, wo ich älter werde, finde ich Befriedigung darin, das, was ich erwarte, auch zum Vorschein kommen zu sehen. Unsichere Dinge lenken den Menschen von seinem Ziel ab. Die Ungewisse Ferne hat auf mich nicht mehr die Anziehungskraft wie einst. Ich war ein Tor, Elisabeth. Ich fuhr auf den Meeren herum und suchte etwas – etwas, was es vielleicht gar nicht gibt. Jetzt, wo ich diese Sehnsucht verloren habe, bin ich vielleicht nicht glücklicher, aber auf jeden Fall zufriedener.« »Das klingt weise und welterfahren und ein bißchen zynisch«, bemerkte sie. »Wenn es weise ist, dann ist Weisheit die Erfahrung, daß es besser ist, sich in festen Grenzen zu halten, als ständig über die Stränge zu schlagen. Und wie könnte ich anders als welterfahren sein ? Und Zynismus ist das Moos, das sich auf einem rollenden Stein ansammelt.« »Das sind sehr geistreiche Bemerkungen«, sagte sie. »Was ich sagen wollte – haben Sie sehr viele jener jungen Mädchen kennengelernt, von denen Sie sprachen ?« »Was für Mädchen, Elisabeth ?« »Nun, die so schlecht spielten.« »Ach so ! Ein paar.« »Und – und – haben sie Ihnen gefallen ?« »Ich kümmerte mich nicht um sie und ließ sie gewähren, denn es waren Bekannte meiner Freunde.« »Hat eine sich in Sie verliebt ? Ich weiß, ich drücke mich nicht sehr zart aus, aber schließlich sind Sie ja mein Cousin und könnten fast mein – mein Bruder sein.« »Einige sagten mir ganz offen, daß sie mich liebten, aber ich glaube, sie wollten mein Geld.« 228
»Bestimmt nicht ! Aber ich werde Ihnen noch etwas vorspielen. Dies ist ein trauriges Stück : ›Gott trägt die müde Seele zur Ruhe‹. Es ist nach meiner Ansicht besser, wenn man zu der leichten Musik auch immer etwas Ernstes spielt.« »Ja«, sagte er, »das ist auch meine Ansicht.« Wieder glitten ihre Finger über die Saiten. »Ein sehr schönes und trauriges Stück«, sagte Morgan, als sie fertig war. »Es hat mir sehr gut gefallen, aber schau mal, Elisabeth, meinst du nicht, daß diese sechste Saite – die sechste vom Ende an gerechnet – etwas strammer gezogen werden müßte ?« »Oh, nicht um die Welt würde ich sie anrühren !« rief sie. »Bevor wir England verließen, hat Papa das ganze Instrument durch einen Mann – einen Harfner – nachsehen lassen … Ich hätte das Gefühl, mich gegen Papas Andenken zu vergehen, wenn ich daran herumpfuschte. Pfuscharbeit war ihm sehr zuwider.« Nach diesem heftigen Erguß trat für eine Weile Schweigen ein. Dann sah sie ihn flehentlich an. »Du bist mir doch sicher wegen der Saite nicht böse, Cousin Henry ? Ich kann nichts dafür, ich habe eben so tiefe Gefühle.« »Nein, böse bin ich dir natürlich nicht.« Wie kindlich und hilflos sie doch war ! »Was gedenken Sie jetzt, wo Sie so reich und berühmt und mit Ehren überhäuft sind, zu tun ?« »Ich weiß nicht. Ich möchte in einer Atmosphäre der Sicherheit und des Friedens leben.« »Eigenartig, ich denke ganz genauso. Wir müssen uns sehr ähnlich sein. Ich sage immer, es fließt einem alles zu, wenn man nur nicht danach sucht. Und ich weiß fast immer, was mir geschehen wird, weil ich darauf hoffe und dabei ganz still sitze.« »Ja«, sagte Henry. »Papas Tod war ein schwerer Schlag für mich«, fuhr sie fort. 229
Und wieder traten Tränen in ihre Augen. »Es ist schrecklich, wenn man plötzlich so allein ist und keine Verwandten oder Freunde hat. Die Moddyfords waren sehr nett zu mir, aber sie können einem natürlich die eigene Familie nicht ersetzen. O Gott, wie habe ich mich allein gefühlt! Ich war so froh, Cousin Henry, als du kamst, denn wir sind ja schließlich vom gleichen Blut.« Ihre Augen schimmerten feucht, und ihre Unterlippe zitterte heftig. »Du darfst nicht weinen«, sagte Henry besänftigend. »Du brauchst dir jetzt keine Sorgen mehr zu machen, Elisabeth. Ich werde dir die Last von den Schultern nehmen. Ich werde dir helfen und für dich sorgen, Elisabeth. Ich bin erstaunt, wie du den Kummer, der dich befallen hat, ertragen hast. Du warst sehr tapfer, daß du den Kopf so hoch gehalten hast, als das Elend deinen Geist niederdrückte.« »Ich hatte meine Musik«, sagte sie. »Ich konnte mich in meine Musik flüchten, wenn der Kummer mich überwältigte.« »Aber jetzt brauchst du dich nicht einmal in die Musik zu flüchten, Elisabeth. Du wirst mit mir nach England fahren und für immer ein angenehmes und sicheres Leben haben.« Sie sprang beinahe von ihm weg. »Aber worauf spielst du da an ? Was schlägst du mir da vor ?« rief sie. »Ist es nicht eine Sünde – ein schreckliches Vergehen –, wenn man eine Cousine heiratet ?« »Heiratet ?« »Oh !« Sie wurde rot. Ihre Augen glitzerten von neuen Tränen. »Oh ! Ich schäme mich. Du meintest doch heiraten, nicht wahr ?« Ihre Erregung war zum Erbarmen. Warum schließlich nicht ? dachte Morgan. Sie ist hübsch, ich weiß, daß sie aus guter Familie ist, und ferner ist sie so etwas wie ein Symbol jener Sicherheit, von der ich die ganze Zeit gepredigt habe. Wenn sie meine Frau wäre, würde ich sicher nie wieder sehr große Dummheiten machen. Und Sicherheit ist, glaube ich, das 230
einzige, wonach ich noch Verlangen habe. Und übrigens, dachte er zum Schluß, kann ich sie wirklich nicht so leiden lassen. »Natürlich meinte ich heiraten. Was hätte ich sonst meinen sollen ? Ich habe mich nur etwas plump und ungeschickt ausgedrückt. Ich habe dich erschreckt und verletzt. Aber, liebe Elisabeth, von einem Vergehen oder einer Sünde kann dabei keine Rede sein. Schon mancher hat seine Cousine geheiratet. Wir wissen alles voneinander, und unsere Familie ist eins. Du mußt mich heiraten, Elisabeth. Ich liebe dich.« »Oh!« stammelte sie. »O-oh! Ich kann es mir gar nicht denken. Ich meine – ich glaube – ich falle in Ohnmacht – es wird mir schwarz vor den Augen. Du handelst so plötzlich, Henry – so unerwartet. O bitte, laß mich gehen. Ich muß mich mit Lady Moddyford besprechen. Sie wird schon wissen, was da zu tun ist.«
II König Karl der Zweite und John Evelyn saßen in einem kleinen Bibliothekszimmer. Ein lustiges Feuer prasselte im Kamin und warf seinen flackernden Widerschein auf die Bücher, die die Wände bedeckten. Auf einem Tisch neben den beiden standen Flaschen und Gläser. »Ich habe ihn heute nachmittag geadelt«, sagte der König. »Er erhielt Generalpardon und die Ritterwürde für zweitausend Pfund.« »Zweitausend Pfund –«, murmelte John Evelyn. »Da ist er billig weggekommen.« »Man muß ein bißchen weiter denken, John. Ich hätte zwanzigtausend bekommen können. Er hat über eine Million aus Panama herausgeholt.« »Zweitausend Pfund –« 231
»Ich habe ihn für heute abend herbestellt«, sagte der König. »Diese Seeleute und Piraten haben manchmal hübsche Geschichten zu erzählen. Du wirst von ihm enttäuscht sein. Er ist – plump, ja, ich glaube, das ist das richtige Wort. Man hat den Eindruck einer großen Fleischmasse, und er bewegt sich, als schiebe er einen unsichtbaren Käfig vor sich her.« »Man könnte einen Titel für ihn schaffen«, schlug John Evelyn vor. »Es ist die reinste Verschwendung, eine Million fahren zu lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen –« Sir Henry Morgan wurde gemeldet. »Treten Sie ein, Sir !« Der König sorgte dafür, daß er ein Glas Wein in der Hand hatte. Morgan erschien verlegen und ängstlich. Er stürzte den Wein hinunter. »Gute Arbeit haben Sie da in Panama geleistet«, bemerkte der König. »Es war besser, die Stadt jetzt niederzubrennen als später, denn zweifellos hätten wir es einmal tun müssen.« »Daran habe ich gedacht, als ich die Brandfackel hineinwarf, Majestät. Diese Schweine von Spaniern möchten die ganze Welt schlucken.« »Diese Seeräuberei, Kapitän – oder um mich zarter auszudrücken –, dieses Freibeutertum war gewiß zu unserem Vorteil, aber die Spanier haben allzu sehr darunter gelitten. Es wächst sich jetzt zu einem großen Mißstand aus. Ich vertue die Hälfte meiner Zeit damit, dem spanischen Gesandten Entschuldigungen vorzubringen. Ich will Sie zum Vizegouverneur von Jamaika ernennen.« »Majestät !« »Keinen Dank ! Ich handle nach dem Rat eines Sprichwortes. Die Seeräuberei muß jetzt aufhören. Diese Leute haben jetzt genug Krieg gespielt.« »Aber ich war selbst Bukanier, Majestät. Wollen Sie, daß ich meine eigenen Leute hänge ?« 232
»Das ungefähr wollte ich sagen, Sir. Wer könnte sie besser ausfindig machen als Sie, der Sie alle ihre Schlupfwinkel kennen ?« »Sie haben mit mir zusammen gekämpft, Majestät.« »Ah, Gewissensbisse ? Ich dachte, Sie könnten mit Ihrem Gewissen ganz nach Belieben umgehen.« »Nicht Gewissensbisse, sondern Mitleid, Majestät.« »Mitleid ist für einen Beamten der Krone oder für einen Räuber schlecht am Platze. Die Hauptsache ist, daß man tut, was Nutzen bringt. Sie haben diesen Grundsatz selbst sehr schön demonstriert. Wir wollen sehen, ob Sie ihn nun auch in meinen Diensten anwenden können.« »Ich frage mich, ob ich es kann.« »Wenn Sie fragen, dann können Sie es«, bemerkte John Evelyn. Der König wurde jetzt liebenswürdig. »Trinken Sie !« sagte er. »Wir wollen lustig sein und vielleicht später singen. Aber zuerst erzählen Sie uns eine Geschichte, Kapitän, und versäumen Sie ja nicht, sich die Zunge dabei anzufeuchten. Der Wein gibt einer guten Geschichte erst die Würze. Eine gute, eine wahre Geschichte aus Ihrem Leben.« »Eine Geschichte, Majestät ?« »Ja, so eine kleine Geschichte von den Weibsbildern da unten, irgendein Zwischenspiel zwischen zwei Raubzügen, denn Sie werden ja nicht nur Gold gestohlen haben.« Er winkte einem Diener, Morgans Glas zu füllen. »Ich habe von einer gewissen Frau in Panama gehört. Das wäre so ein Abenteuer, das Sie uns berichten könnten.« Morgan leerte sein Glas. Sein Gesicht rötete sich. »Ja, von der hat man allerlei erzählt«, sagte er. »Sie war hübsch, aber sie war auch reich, Erbin eines Riesenvermögens in Form von Silberbergwerken. Ich gestehe, daß sie mir nicht unsym233
pathisch war. Ihr Mann bot mir hunderttausend Golddukaten für sie. Er wollte sich natürlich die Bergwerke nicht entgehen lassen. Das war nun eine kitzlige Sache, wie sie wohl nicht vielen Männern in dieser Art unterlaufen ist. Sollte ich die Frau nehmen oder die hunderttausend ?« Der König lehnte sich neugierig vor. »Was haben Sie genommen ? Schnell, raus damit !« »Ich blieb eine Weile in Panama. Was würden Eure Majestät an meiner Stelle getan haben ? Ich nahm beide. Vielleicht bekam ich auch noch mehr. Wer weiß, ob nicht schließlich mein Sohn die Bergwerke erben wird.« »Das hätte ich auch getan«, rief der König. »Sie haben richtig gehandelt. Sehr gescheit, Kapitän. Prosit ! Auf Ihren Weitblick ! Ich sehe, Sie sind nicht nur im Kriege ein guter General. Man sagt, Sie haben nie im Kampf eine Niederlage erlitten, aber haben Sie jemals in der Liebe eine erlitten ? Ich möchte mal etwas Außergewöhnliches hören, und außergewöhnlich ist es jedenfalls, wenn ein Mann zugibt, in der Liebe eine Schlappe erlitten zu haben. Ein solches Geständnis widerspricht gänzlich jedem männlichen Instinkt. Noch ein Glas, Kapitän, erzählen Sie uns von dieser Niederlage.« »Bei einer Frau habe ich nie eine erlitten, Majestät – aber einmal hat mir der Tod einen Streich gespielt. Es gibt Dinge, die einem so zu Herzen gehen, daß der Schmerz einen durch das ganze Leben begleitet. Sie haben mich gebeten, Ihnen von einer Niederlage zu erzählen, Auf Ihre Gesundheit, Majestät. Ich bin in den Waliser Bergen geboren. Ich stamme aus guter Familie. Als ich noch ein junger Bursche war, kam eines Sommers eine kleine französische Prinzessin in unsere Gegend, um sich in der guten Bergluft zu erholen. Sie hatte nur ein kleines Gefolge, und da sie sehr lebhaft, unruhig und gescheit war, gelang es ihr manchmal, der Aufsicht zu entschlüpfen. Eines 234
Morgens überraschte ich sie, als sie allein im Fluß badete. Sie schämte sich ihrer Nacktheit nicht. In einer Stunde – so leidenschaftliches Blut haben diese Französinnen – lag sie in meinen Armen. Majestät, auf allen meinen Zügen, in allen Städten, die ich genommen, und bei allen schönen Frauen, die ich gesehen habe, habe ich nie ein solches Vergnügen empfunden wie in jenen herrlichen Sommertagen. Wenn sie ihren Aufsichtsdamen entschlüpfen konnte, spielten wir wie Götterkinder. Aber das genügte uns nicht. Wir wollten heiraten. Sie wollte ihren Rang aufgeben, und wir wollten nach Amerika flüchten. Dann kam der Herbst. Eines Tages sagte sie : ›Wir müssen abreisen, aber ich will nicht gehen.‹ Am nächsten Tage kam sie nicht. Nachts ging ich an ihr Fenster, und sie warf mir eine kleine Notiz herab : ›Ich werde gefangengehalten. Man hat mich geschlagen.‹ Ich ging nach Hause. Was hätte ich tun sollen ? Ich konnte nicht gegen die Soldaten angehen, die sie bewachten. Spät in der Nacht wurde heftig an die Tür geklopft. ›Wo ist hier ein Arzt ? Schnell ! Die kleine Prinzessin hat sich vergiftete« Morgan blickte auf. Der König lächelte ironisch. Evelyn trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Und ?« sagte der König. »Und ?« »Ach, ich bin alt – ein alter Mann«, stöhnte Morgan auf. »Es ist alles erlogen. Sie war keine Prinzessin, sondern die Tochter eines Häuslers.« Er stand mühsam auf und ging auf die Tür zu. Scham brannte auf seinem Gesicht. »Kapitän Morgan, Sie vergessen sich.« »Ich – vergesse – mich ?« »Es gibt gewisse Gesetze der Höflichkeit. Die Sitte erfordert, daß Sie unserer Person die schuldige Achtung erweisen.« 235
»Ich bitte um Verzeihung, Majestät. Ich bitte um die Erlaubnis, gehen zu dürfen. Mir – mir ist schlecht.« Er verließ unter Verbeugungen das Zimmer. Der König lächelte in seinen Wein hinein. »Wie kommt es, John, daß so ein tapferer Kerl ein so großer Narr sein kann ?« »Wie könnte es anders sein ?« antwortete John Evelyn. »Wenn große Männer keine Dummköpfe wären, würde die Welt schon längst vernichtet sein. Wie könnte es anders sein ? Tollheit und falsches Augenmaß sind die Grundlagen der Größe.« »Du willst sagen, daß ich ein falsches Augenmaß habe ?« »Nein, das nicht.« »Dann kannst du nichts anderes meinen als –« »Ich spreche von Henry Morgan. Er ist ein ausgezeichneter Seeräuber, und das macht ihn groß. Sogleich nehmen Sie an, daß er auch auf jedem anderen Gebiete groß sein muß. Sie machen ihn zum Vizegouverneur. Sie machen denselben Denkfehler wie die Masse. Sie glauben, daß jemand, der auf einem Gebiete etwas Vorzügliches leistet, dies auch auf allen anderen tun müsse. Wenn jemand ein guter Mechaniker ist und eine endlose Reihe brauchbarer technischer Erfindungen herzaubert, meinen Sie, er sei auch fähig, Armeen zu führen oder zu regieren. Sie denken, weil Sie ein guter König sind, müßten Sie auch ein ebenso guter Liebhaber sein – oder umgekehrt.« »Umgekehrt ?« »Nur ein kleiner Spaß, Majestät … Sie wissen ja, ich setze der Unterhaltung gern ein paar Glanzlichter auf, um Ihnen ein Lächeln abzugewinnen.« »So, so. Sprechen wir lieber von Morgan. Ist er wirklich ein Narr ?« »Natürlich, sonst wäre er in Wales Bauer oder Bergarbeiter. Ihm schwebte irgendein Phantasiegebilde vor, er war so idio236
tisch, daß er glaubte, er könne es verwirklichen. Zum Teil ist ihm das ja auch gelungen – vernünftige Menschen bringen das nie fertig. Denken Sie an die Prinzessin.« Der König lächelte wieder. »Ich habe noch nie einen Mann kennengelernt, der zu einer Frau oder über eine Frau die Wahrheit gesagt hätte. Wie kommt das, John ?« »Majestät, wenn Sie vielleicht den kleinen Kratzer näher erklären könnten, den ich da unter Ihrem rechten Auge sehe, würden Sie verstehen, wie das kommt. Gestern abend war diese Kratzwunde noch nicht da, sie sieht genau so aus –« »Ja -ja – ein ungeschickter Diener. – Laß uns von Morgan sprechen. Du hast eine diebische Freude daran, John, versteckte Bosheiten anzubringen … Manchmal merkst du nicht einmal, daß es Bosheiten sind. Du mußt diese Gewohnheit ablegen, denn sonst wirst du nie ein vollendeter Höfling werden.«
III Sir Henry Morgan saß auf der Richterbank in Port Royal. Vor ihm lag wie eine blendende Grabplatte ein weißer Sonnenteppich. In dem Raum sang ein Chor von Fliegen seine einschläfernde Symphonie. Die dröhnende Stimme des juristischen Sachbearbeiters wirkte nur als lauteres Instrument gegen das gleichmäßige Summen der Begleitmusik. Gerichtsbeamte schlurften gelangweilt umher, und Fall für Fall wurde schnell verhandelt. »Es war am Fünfzehnten dieses Monats, Euer Gnaden. Williamson betrat das Grundstück des Herrn Cartwright, um festzustellen – er wollte sich davon persönlich überzeugen –, ob der Baum wie angegeben dastand. Während er dort war –« Der Fall wurde bis zu seinem monotonen Schluß abgesun237
gen. Hinter dem breiten Tisch kämpfte Sir Henry gegen seine Schläfrigkeit. Nun brachten die Polizisten einen verdrossenen, in Segeltuchfetzen gekleideten Landstreicher herein. »Der Angeklagte hat vier Biskuits und einen Spiegel gestohlen, Euer Gnaden.« »Der Beweis ?« »Er wurde ertappt, Euer Gnaden.« »Hast du vier Biskuits und einen Spiegel gestohlen oder nicht ?« Das Gesicht des Gefangenen wurde noch verdrossener. »Hab’s schon zugegeben.« »Euer Gnaden«, sagte ihm der Polizist vor. »Euer Gnaden.« »Warum hast du diese Sachen gestohlen ?« »Weil ich sie brauchte.« »Sag : Euer Gnaden !« »Euer Gnaden.« »Wozu brauchtest du sie ?« »Die Biskuits zum Essen.« »Euer Gnaden.« »Euer Gnaden.« »Und den Spiegel ?« »Um mich darin anzuschauen.« »Euer Gnaden.« »Euer Gnaden.« Der Mann bekam seine Strafe und wurde wieder ins Gefängnis gebracht. Nun führten die Polizisten eine dürre, bleiche Frau herein. »Angeklagt wegen Hurerei und Unzucht, Euer Gnaden.« »Unzucht verstößt gegen die Gesetze«, sagte Sir Henry gereizt, »aber seit wann werden denn Frauen wegen Hurerei bestraft ?« 238
»Ein besonderer Fall, Euer Gnaden – die öffentliche Gesundheit erfordert – wir glaubten, der Fall läge klar.« »Ah so, ich verstehe. Sie muß eingesperrt werden. Weg damit.« Die Frau fing an zu wimmern. Sir Henry legte die Hand über die Augen. Er sah die nächsten Angeklagten nicht an … »Angeklagt wegen Freibeuterei auf hoher See, Euer Gnaden, wegen Störung des öffentlichen Friedens, wegen einer feindseligen kriegerischen Handlung gegen eine befreundete Nation.« Sir Henry blickte schnell auf die Vorgeführten. Einer war ein rundlicher, kleiner Mann mit angstvollen Augen, und der andere ein magerer, ergrauter Geselle mit nur einem Arm. »Die Beweise gegen die Angeklagten ?« »Fünf Zeugen, Euer Gnaden.« »So ? Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen ?« Der Große hatte seinen heilen Arm seinem kleinen Begleiter um die Schultern gelegt. »Wir bekennen uns schuldig, Euer Gnaden.« »Ihr bekennt euch schuldig ?« rief Sir Henry in äußerstem Erstaunen. »Kein Seeräuber bekennt sich schuldig. Das ist noch nie dagewesen !« »Wir bekennen uns schuldig, Euer Gnaden.« »Aber warum ?« »Fünfzig Mann haben uns in Tätigkeit gesehen, Euer Gnaden. Warum sollen wir abstreiten, was fünfzig Zeugen beschwören werden ? Nein, das hat keinen Zweck. Wir sind mit unserer jüngsten Kampfhandlung ganz zufrieden und haben auch an unserem Leben nichts auszusetzen.« Der sehnige Arm legte sich fester um das bauchige Fäßchen. Henry Morgan saß eine Weile schweigend da. Aber schließlich hob er seine müden Augen. »Ich verurteile euch zum Tod durch den Strang.« 239
»Hängen wollen Sie uns lassen, Euer Gnaden ?« »Aufhängen am Halse bis zum Eintritt des Todes.« »Sie haben sich aber verändert, Herr Kapitän.« Sir Henry beugte sich vor und musterte aufmerksam die Gefangenen. Dann umspielte ein Lächeln seine Lippen. »Ja«, sagte er ruhig, »ich habe mich verändert. Der Henry Morgan, den ihr kanntet, ist nicht der Sir Henry Morgan, der euch zum Tode verurteilt. Ich töte nicht mehr wild drauflos, sondern weil ich muß.« »Laßt den Saal räumen«, sagte er mit lauter Stimme, »aber bewacht die Türen. Ich wünsche privat mit den Gefangenen zu sprechen.« Als sie allein waren, begann er : »Ich weiß wohl, daß ich verändert bin, aber sagt mir, woran ihr das seht.« Die Burgunder sahen sich an. »Sprich du, Emil.« »Verändert haben Sie sich so, Herr Kapitän : Einst wußten Sie, was Sie taten. Sie waren Ihrer selbst sicher.« »So ist es«, unterbrach ihn der andere. »Sie wissen nicht mehr – Sie sind Ihrer selbst nicht mehr sicher. Einst waren Sie ein Mann, der mit sich einig war. Jetzt bestehen Sie aus verschiedenen. Einem ganzen Mann kann man trauen, aber jetzt bestehen Sie aus mehreren Teilen. Wenn wir einem Teil trauen würden, müßten wir in Furcht vor den anderen sein.« Sir Henry lachte. »Das ist mehr oder weniger wahr. Es ist nicht meine Schuld, aber es stimmt. Das bürgerliche Leben splittert den Charakter auf, und wer sich nicht zersplittern lassen will, geht unter.« »Wir haben das bürgerliche Leben längst hinter uns«, sagte Antoine heftig, »ja, wir wissen gar nicht mehr, was das ist.« »Es tut mir leid, euch hängen zu lassen.« »Aber ist das denn so unbedingt nötig, Herr Kapitän ? Könnten wir nicht entkommen oder Vergebung erhalten ?« 240
»Nein, ihr müßt hängen. Es tut mir leid, aber es muß sein. Es ist meine Pflicht, euch hängen zu lassen.« »Aber haben Sie keine Pflichten gegen Ihre Freunde, Herr Kapitän – gegen Männer, die mit Ihnen gekämpft haben, die ihr Blut mit dem Ihrigen vermischt haben ?« »Nun, hör mal zu, Anderer Burgunder. Es gibt zwei Arten von Pflichten. Du würdest das wissen, wenn du dich noch an Frankreich erinnertest. Eine Art hast du erwähnt, aber es ist die schwächere. Die andere, die alles überragende Pflicht, die man niemals außer acht lassen darf, könnte man nennen : die Pflicht, den Schein zu wahren. Ich lasse euch nicht hängen, weil ihr Seeräuber seid, sondern weil man von mir erwartet, daß ich Seeräuber hängen lasse. Ihr tut mir leid. Ich möchte euch Sägen in die Taschen stecken, damit ihr aus dem Gefängnis ausbrechen könntet, aber ich darf es nicht. Solange ich tue, was von mir erwartet wird, bleibe ich Richter. Wenn ich etwas anderes tue, gleich aus welchen Beweggründen, kann ich selbst gehängt werden.« »Ja, so ist das, Herr Kapitän. Ich erinnere mich jetzt –« Er wandte sich an seinen zitternden Freund, den schon das Entsetzen in den Klauen hielt. »Du siehst, Emil, da ist nichts zu machen. Er verurteilt uns nicht gern, weil ihm das selbst weh tut. Vielleicht bestraft er sich auf diese Weise für etwas, was er getan hat oder nicht getan hat. Vielleicht denkt er an Chagres, Emil.« »Chagres !« Sir Henry lehnte sich interessiert vor. »Was geschah dort, nachdem ich fortgesegelt war ?« »Man hat Sie verflucht, Herr Kapitän, wie nur wenige je verflucht worden sind. Man hat Sie in Gedanken gefoltert, Ihr Herz geröstet und verspeist und Ihre Seele zur Hölle geschickt. Ich genoß diese wilden Ausbrüche ungemein, weil ich genau wußte, daß jeder, der Sie verfluchte, Sie im Grunde beneidete. Ich war stolz auf Sie, Herr Kapitän.« 241
»Und dann zerstreuten sie sich in alle Winde ?« »Zerstreuten sich und kamen um, die armen Teufel.« »Ja, sie tun mir leid, aber ich konnte sie doch schließlich nicht mitnehmen. Ja, das waren noch Zeiten ! Waren wir wirklich in Panama ? Wir haben es erobert und geplündert ? Ich war euer Führer, nicht wahr ?« »Das läßt sich nicht abstreiten. Das war ein toller Kampf, und Beute gab es da ! Aber darüber wissen Sie ja besser Bescheid als wir.« »Manchmal zweifle ich daran, ob dieser Körper wirklich in Panama war, aber daß mein Geist dort war, das glaube ich nicht. Ich möchte gern noch mit euch von diesen alten Zeiten eine Weile plaudern, aber meine Frau erwartet mich. Sie wird leicht ungeduldig, wenn ich zu spät zum Essen komme.« Und dann setzte er scherzhaft hinzu : »Wann möchtet ihr am liebsten gehängt werden ?« Die Burgunder flüsterten miteinander. »Da sind wir schon wieder beim Hängen. Wann es uns am liebsten wäre ? Das ist uns gleich, Herr Kapitän, jederzeit. Wir wollen Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, wenn Sie durchaus müssen – ein Henker und ein Strick haben immer Zeit genug.« Antoine ging auf den Tisch zu. »Emil möchte Ihnen ein letztes Kompliment machen. Es ist ein Geschenk für Ihre Frau, das allein durch seine Geschichte wertvoll ist. Emil hat diesen Schatz bis zum Ende bewahrt. Eine reiche Ernte hat ihm dieser Talisman gebracht, denn ein Talisman ist dieses Ding in der Tat. Er glaubt, daß er in Ihrer Hand die lange Reihe von Geschehnissen, die er ausgelöst hat, zum Abschluß bringen kann. Emil kann ja leider keinen weiteren Gebrauch davon machen. Emil küßt Lady Morgan die Hand, versichert sie seiner Hochachtung und läßt ihr die ehr242
erbietigsten Grüße übersenden.« Er legte eine rosige Perle auf den Tisch und drehte sich schnell um. Nachdem sie abgeführt waren, saß Henry Morgan lange da und betrachtete die Perle. Dann steckte er sie in die Tasche und ging heim. Er kam zu dem niedrigen, weißen Palais des Vizegouverneurs. Es war noch genau so, wie es Sir Edward verlassen hatte. Lady Morgan hätte sich nicht wohlgefühlt, wenn sie etwas daran hätte ändern lassen. Sie empfing ihren Mann an der Tür. »Wir werden bei Vaughns zu Abend essen. Was soll ich nur mit dem Kutscher anfangen ? Er ist betrunken. Ich habe dir immer wieder gesagt, du möchtest den Weinkeller zusperren, aber du hörst ja nicht auf meine Worte. Er hat sich wahrscheinlich ins Haus geschlichen und ein paar Flaschen stibitzt.« »Mach die Hand auf, meine Liebe. Ich hab dir etwas mitgebracht.« Er legte ihr die rosige Perle in die Handfläche. Sie sah sich schnell das rosige Etwas an und war sehr erfreut, aber dann musterte sie argwöhnisch sein Gesicht. »Was hast du denn da angestellt ? Wo bist du gewesen ?« »Wieso ? Ich habe den ganzen Morgen auf dem Gericht zu tun gehabt.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ich weiß schon. Du hast mit Recht angenommen, daß ich wegen gestern abend sehr ungehalten sein würde. Du warst richtig betrunken, wenn du es noch nicht wissen solltest. Alle Leute haben dich beobachtet und den Kopf geschüttelt. Widersprich mir nicht. Ich habe sie gesehen und habe dich gesehen. Und nun möchtest du mich bestechen, nicht wahr ?« »Natürlich habe ich angenommen, daß du ungehalten sein würdest, schon auf dem Heimweg und schon die ganze Nacht. Du hast recht. Ich nahm das nicht nur an, sondern war fest 243
davon überzeugt. Aber ich will dir die Wahrheit über die Perle sagen.« »Du sagst mir nur die Wahrheit, weil du weißt, daß du mich nicht täuschen kannst. Wann wirst du nur die naive Vorstellung aufgeben, daß ich nicht jeden deiner Gedanken kenne ?« »Aber ich habe gar nicht den Versuch einer Täuschung gemacht. Du hast mir keine Zeit dazu gelassen.« »Es erfordert nicht mehr Zeit, die Wahrheit zu sagen als –« »Hör mich doch an, Elisabeth. Ich hatte heute morgen zwei Seeräuber abzuurteilen, und die gaben mir die Perle.« Sie lächelte überlegen. »So ? Die gaben sie dir ? Warum ? Hast du sie freigelassen ? Das sähe dir ähnlich. Manchmal denke ich, du würdest dieser Sippschaft noch jetzt angehören, wenn ich nicht wäre. Es scheint dir gar nicht zum Bewußtsein zu kommen, daß du durch mich das geworden bist, was du bist – ein gesellschaftsfähiger Mensch und ein Sir. Du warst ja nur ein hergelaufener Seeräuber. Aber sag mir, hast du sie freigelassen ?« »Nein, ich habe sie zum Tode verurteilt.« »Warum haben sie dir dann die Perle gegeben ?« »Sie gaben sie mir, weil sie nichts anderes damit anfangen konnten. Sie hätten sie auch dem Henker geben können, aber das widerstrebt einem doch ein bißchen : einem Mann, der einem den Strick um den Hals legt, auch noch eine Perle zu schenken. Mit einem Henker kann man schlecht Freundschaft schließen. Deshalb gaben sie die Perle mir, und ich –«, er lächelte mit kindlicher Unschuld über das ganze Gesicht, »gebe sie dir, weil ich dich liebe.« »Nun, ich werde schon herausfinden, ob das stimmt, was du mir da erzählst ; und was deine Liebe betrifft – du liebst mich so lange, wie ich dich im Auge behalte, und keinen Augenblick länger. Ich kenne dich durch und durch. Aber ich bin froh, daß sie gehängt werden. Lord Vaughn sagte, daß sie allmählich uns 244
selbst gefährlich werden. Er meint, sie könnten eines Tages nicht mehr gegen Spanien kämpfen, sondern sich gegen uns wenden. Er hält es für das beste, sie wie tollwütige Hunde auszurotten. Ich fühle mich immer ein wenig sicherer, wenn einer von ihnen aus dem Wege geräumt ist.« »Aber, meine Liebe, Lord Vaughn hat keine Ahnung von Bukanieren, während ich –« »Henry, warum hältst du mich mit deinem dummen Gerede auf, wo du doch weißt, daß ich eine Unmenge zu tun habe ? Du meinst wohl, weil du den ganzen Tag nichts zu tun hast, müßte ich dir helfen, noch fauler zu werden. Schau lieber nach dem Kutscher, weil ich in schreckliche Verlegenheit käme, wenn er nicht fahren könnte. Seine Livrée paßt Jakob durchaus nicht, und ein Kutscher ohne Livrée – unmöglich. Mach ihn bis zum Abend nüchtern, und wenn du ihn zu diesem Zweck stundenlang unter Wasser halten mußt. Vorwärts, marsch ! Ich habe keinen Augenblick Ruhe, wenn ich nicht weiß, daß er gerade sitzen kann.« Sie ging schnell ins Haus, kehrte aber dann zurück und küßte ihn auf die Backe. »Es ist wirklich eine hübsche Perle – vielen Dank. Ich werde sie natürlich von Monsieur Banzet schätzen lassen. Nach dem, was mir Lord Vaughn erzählt hat, habe ich zu Seeräubern wenig Vertrauen. Sie könnten den Versuch gemacht haben, dich mit einem Brotkügelchen zu bestechen, du würdest ja den Unterschied gar nicht merken.« Sir Henry ging zum Stall. Er hatte jetzt wieder, wie schon bei vielen anderen Gelegenheiten, ein unbehagliches Gefühl. Dann und wann dämmerte ihm die Einsicht, daß trotz der immer wiederholten Versicherungen Elisabeths, daß sie ihn gründlich kannte, dies wirklich so sein könnte. Das war beunruhigend.
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IV Sir Henry Morgan lag in einem riesigen Bett, in einem so breiten Bett, daß sein Körper unter der Decke wie eine schneebedeckte Gebirgskette war, zu deren Seiten zwei große Ebenen liegen. Von den Wänden des Zimmers beobachteten ihn die kritischen Augen seiner Vorfahren. Auf ihren Gesichtern lag ein hämisches Lächeln. »Jawohl«, schien dieses Lächeln zu sagen, »ein geadelter Morgan – aber wir wissen genau, wie du deine Ritterwürde gekauft hast.« Die Luft im Zimmer war schwer, dick und heiß. So ist die Luft immer in einem Zimmer, in dem ein Mensch im Sterben liegt. Sir Henry starrte zur Decke empor. Schon eine Stunde lang plagte er sich mit dem Geheimnis dieser Decke herum. Sie hatte keine Stützbalken in der Mitte. Warum fiel sie nicht herab ? Es war spät. Niemand sprach ein Wort. Alle schlichen wie Gespenster durchs Zimmer. Man wollte ihn anscheinend überzeugen, daß er bereits tot war. Er schloß die Augen. Er war zu müde oder zu gleichgültig, um sie offenzuhalten. Er merkte, wie der Arzt kam und ihm den Puls fühlte. Dann sagte die sonore Stimme im Brustton der Überzeugung : »Es tut mir leid, Lady Morgan, es ist jetzt nichts zu tun. Ich weiß nicht einmal, was ihm fehlt. Vielleicht ist es ein altes Malarialeiden. Ich könnte ihn noch mal zur Ader lassen, aber wir haben ihm schon ziemlich viel Blut abgezapft. Es scheint ihm nicht gutzutun. Wenn jedoch sein letztes Stündchen naht, werde ich es noch einmal versuchen.« »Dann wird er also sterben ?« fragte Lady Morgan. Henry kam es vor, als spräche aus ihrer Stimme mehr Neugier als Kummer. »Ja, wenn Gott nicht ein Wunder tut. Nur Gott kennt seine Patienten genau.« 246
Dann verließen alle außer seiner Frau das Zimmer. Sie setzte sich ans Bett und weinte leise. »Wie schade«, dachte Morgan, »daß ich nicht auf einem Schiff in den Tod gehen kann, dann könnte sie meinen Koffer packen. Es würde sicher ein großer Trost für sie sein, wenn sie wüßte, daß ich mit einem genügend großen Vorrat an frischer Wäsche den Himmel betrete.« »Oh, mein lieber Mann – o Henry, mein lieber Mann.« Er drehte den Kopf nach ihr und sah sie neugierig an, und sein Blick drang tief in ihre Seele. Plötzlich packte ihn die Verzweiflung. »Diese Frau liebt mich«, dachte er. »Diese Frau liebt mich, und ich habe es nie gewußt. Diese Art Liebe geht über meinen Horizont. Ihre Augen – ihre Augen – nein, da komme ich nicht mit. Sollte sie mich immer geliebt haben ?« Er schaute wieder hin. »Sie ist Gott sehr nahe. Ich glaube, Frauen sind Gott näher als Männer. Sie könnte nicht darüber sprechen, aber wie leuchtet das aus ihren Augen ! Sie liebt mich. Bei ihrem ganzen Schimpfen und Kommandieren hat sie mich geliebt – und ich habe es nicht gewußt. Aber was würde ich getan haben, wenn ich es gewußt hätte ?« Er wandte den Kopf weg. Dieser Kummer war zu groß, zu brennend und zu schrecklich, als daß man ihn lange betrachten konnte. Es ist erschreckend, die Seele einer Frau aus ihren Augen leuchten zu sehen. So mußte er also sterben. Es war gar nicht so unangenehm, wenn der Tod auf diese Weise kam. Er fühlte sich behaglich warm und sehr müde. Gleich würde er einschlafen, und das würde der Tod sein – Bruder Tod. Er fühlte, daß jetzt noch jemand im Zimmer war. Seine Frau beugte sich über ihn, bis sie seinen Blick auffing. Sie würde sich ärgern, wenn sie wüßte, daß er den Kopf nach Belieben drehen konnte. »Der Herr Pfarrer, Liebster«, sagte seine Frau. »Sei nett zu 247
ihm. O höre doch auf seine Worte. Es kann dir von Nutzen sein – später einmal.« Ah, wie praktisch sie war ! Sie wollte versuchen, ob nicht ein Bund mit dem Allmächtigen geschlossen werden könnte. Ihre stille Fürsorge tat wohl, aber ihre Liebe – das, was in ihren feuchten Augen glitzerte – war erschreckend. Morgan fühlte, wie eine warme, weiche Hand nach seiner griff. Eine besänftigende Stimme ließ sich hören. Es war nur schwierig, ihr zuzuhören. Die Decke schwankte gefährlich. »Gott ist die Liebe«, sagte die Stimme. »Sie müssen Ihren Glauben auf Gott setzen.« »Gott ist die Liebe«, wiederholte Morgan mechanisch. »Laßt uns beten«, sagte die Stimme. Plötzlich fiel Morgan eine Szene aus seiner Kindheit ein. Er hatte schreckliche Ohrenschmerzen. Seine Mutter hielt ihn in den Armen. Sie streichelte sein Handgelenk mit den Fingerspitzen. »Das hat alles nichts zu bedeuten«, sagte sie. Er erinnerte sich genau, wie sie das sagte : »Dies hat alles nichts zu bedeuten. Gott ist die Liebe. Er läßt kleine Jungen nicht leiden. Wiederhole, was ich dir vorsage : ›Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln.‹« Es war, als verabreiche sie ihm eine Medizin. In demselben Ton würde sie ihm befohlen haben : »Komm, schluck dieses Öl.« Morgan fühlte die warmen Finger des Geistlichen an seinem Handgelenk entlangkriechen und fühlte ihr Streicheln. »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln«, knurrte Morgan schläfrig. »Er weidet mich auf einer grünen Aue –« Das Streicheln dauerte an, aber es war jetzt nicht mehr so zart. Der Geistliche sprach jetzt lauter und entschiedener. Nach vielen Jahren geduldigen Wartens hatte die Kirche Henry Morgan endlich wieder. Die Stimme hatte jetzt etwas Triumphierendes an sich. »Haben Sie Ihre Sünden bereut, Sir Henry ?« 248
»Meine Sünden ? Nein, an sie habe ich nicht gedacht. Soll ich Panama bereuen ?« Der Geistliche geriet in Verlegenheit. »Nun, Panama war ein patriotisches Unternehmen. Der König war einverstanden. Dazu waren die Einwohner Papisten.« »Aber was sind denn meine Sünden ?« fuhr Henry Morgan fort. »Ich erinnere mich nur an die angenehmsten und die schmerzlichsten. Die angenehmen möchte ich nicht bereuen. Das hieße, ihnen die Treue brechen, sie waren reizend. Und die schmerzlichen Sünden brachten schon ihre Sühne mit sich, eingeschmuggelte Messer, die einen plötzlich in die Eingeweide stachen. Wie kann ich sie bereuen ? Ich könnte mein ganzes Leben durchgehen, indem ich jede Handlung benenne und bereue – von dem Verlust meiner ersten Zähne an bis zu meinem letzten Bordellbesuch. Ich konnte alles bereuen, was mir nur einfiele – aber wenn ich eine einzige Sünde vergäße, wäre die ganze Mühe umsonst.« »Haben Sie Ihre Sünden bereut, Sir Henry ?« Da merkte er, daß er gar nicht gesprochen hatte. Das Sprechen war schwierig. Seine Zunge war faul und lahm geworden. »Nein«, sagte er, »ich kann mich nicht mehr gut an sie erinnern.« »Sie müssen Ihr Herz durchforschen nach Habsucht, Wollust und Haß. Sie müssen die Bosheit aus Ihrem Herzen vertreiben.« »Aber ich erinnere mich nicht, jemals bewußt boshaft gewesen zu sein. Ich habe Dinge getan, die später böse erschienen, aber während ich sie tat, hatte ich immer einen guten Zweck im Auge.« Er merkte, daß er wieder völlig lautlos sprach. »Laßt uns beten«, sagte die Stimme. Morgan machte eine heftige Bewegung mit der Zunge. »Nein !« rief er. 249
»Aber vorhin haben Sie doch gebetet.« »Ja, da habe ich gebetet – weil meine Mutter es gern gehört hätte. Sie hätte sich gefreut, wenn ich wenigstens einmal gebetet hätte, mehr zum Beweis meiner Folgsamkeit als aus anderen Gründen. Das hätte sie darüber beruhigt, daß sie ihre Pflicht nicht versäumt hatte.« »Möchten Sie als Abtrünniger sterben, Sir Henry ? Fürchten Sie sich nicht vor dem Tode ?« »Ich bin jetzt zu müde oder zu träge, um theologische Probleme zu erörtern, aber den Tod fürchte ich nicht … Ich habe viele Gewalttaten gesehen, aber keiner, den ich bewundert habe, hatte Angst vor dem Tode, nur vor dem Sterben. Der Tod ist eine Sache der Einsicht, aber das Sterben bedeutet Schmerz. Mein Tod ist bis jetzt ganz angenehm. Nein, ich fürchte mich nicht einmal vor dem Sterben. Es ist nicht unangenehm, und es würde in aller Ruhe vor sich gehen, wenn man mich nur allein ließe. Es ist, als schliefe ich nach einer großen Anstrengung ein.« Er hörte wieder die Stimme des Geistlichen, aber obwohl die warme Hand noch sein Gelenk streichelte, kam die Stimme aus weiter Entfernung. »Er gibt mir keine Antwort«, sagte der Geistliche. »Ich bange um sein Seelenheil.« Dann hörte er seine Frau sprechen. »Du mußt beten, Liebster. Jeder tut das. Wie kannst du in den Himmel kommen, wenn du nicht betest ?« Sie ließ nicht locker. Sie wollte unbedingt ein Bündnis mit Gott schließen. Aber Morgan hatte kein Verlangen, sie anzuschauen. So naiv ihre Philosophie war, ihre Augen waren so tief und traurig wie der grenzenlose Himmel. Er wollte sagen : »Ich habe keine Lust, im Himmel weiterzuleben, wenn ich einmal tot bin. Ich will meine Ruhe haben . . .« Sie machten so ein Theater um seinen Tod. 250
Der Arzt war ins Zimmer zurückgekehrt. »Er ist bewußtlos«, verkündete die sonore Stimme. »Ich glaube, ich werde ihn doch zur Ader lassen.« Henry fühlte, wie ihm das Messer in den Arm schnitt. Es war ein angenehmes Gefühl. Hoffentlich schnitt man ihn noch öfter, denn anstatt daß das Blut, wie man erwarten sollte, aus dem Körper abfloß, strömte es anscheinend hinein. Er spürte eine angenehme Wärme in allen Gliedern. Es war, als sänge alter Wein in seinen Adern. Eine sonderbare Veränderung ging nun vor sich. Er entdeckte, daß er durch die geschlossenen Lider sehen konnte, alle um sich her sehen konnte, ohne daß er den Kopf bewegte. Der Arzt, seine Frau, der Geistliche und selbst das Zimmer glitten von ihm weg. »Sie bewegen sich«, dachte er. »Ich bewege mich nicht. Ich bleibe auf einem Fleck. Ich bin der unbewegliche Mittelpunkt aller Dinge. Ich bin so schwer wie das Weltall. Vielleicht bin ich das Weltall.« Ein tiefer, erquickender Ton floß in sein Bewußtsein, ein vibrierender, voller Orgelton, der ihn ganz ausfüllte. Er schien von seinem Gehirn auszugehen, seinen Körper zu durchfluten und von ihm aus die Welt zu überströmen. Er sah mit einiger Überraschung, daß das Zimmer nicht mehr da war. Er lag in einer unermeßlichen, dunklen Grotte, deren Seiten aus Reihen dicker, niedriger, aus einem grünen, glitzernden Kristall verfertigter Säulen bestanden. Er lag ruhig da, und die lange Grotte glitt an ihm vorbei. Plötzlich hörte die Bewegung auf. Er war von sonderbaren Wesen umgeben. Sie hatten Kinderkörper und schwere, zwiebelförmige Köpfe, aber keine Gesichter. Wo ihre Gesichter hätten sein sollen, war festes Fleisch ohne eine Öffnung. Diese Wesen sprachen und plapperten mit rauhen, heiseren Stimmen. Morgan wunderte sich, daß sie ohne Mund sprechen konnten. 251
Langsam ging ihm die Erkenntnis auf, daß diese Wesen seine Taten und seine Gedanken waren, die bei Bruder Tod wohnten. Jedes hatte sich sofort, kaum, daß sie geboren waren, zu Bruder Tod begeben. Als er nun wußte, wer sie waren, wandten sich die gesichtslosen kleinen Geschöpfe zu ihm und drängten sich dicht an sein Bett. »Warum tatest du mich ?« rief eines. »Ich weiß nicht, ich kenne dich nicht mehr.« »Warum dachtest du mich ?« »Ich weiß nicht. Ich habe es zwar gewußt, aber ich habe es vergessen. Mein Gedächtnis verläßt mich hier in dieser Grotte.« Sie hörten jedoch nicht auf zu fragen, ihre Stimmen wurden kreischender und härter, so daß der tiefe, schöne Orgelton in ihrem Geschrei unterging. »Mich ! Mich ! … tatest mich … dachtest mich …« »Nein, mich !« »Laßt mich in Ruhe !« sagte Morgan müde. »Ich bin todmüde und kann euch keine Auskunft geben.« Dann sah er, daß die kleinen Wesen sich vor jemandem duckten, der hereinkam. Sie drehten sich alle dieser Gestalt zu und bückten sich tief, und schließlich fielen sie auf die Knie und hoben mit bittenden Gebärden die Arme hoch. Morgan richtete seine Aufmerksamkeit auf die Gestalt. Wahrhaftig, es war Elisabeth, die auf ihn zukam – die kleine Elisabeth mit goldenem Haar und einem ernsten, klugen Ausdruck auf ihrem jungen Gesicht. Sie war mit Kornblumen umgürtet und hatte einen sonderbar eindringlichen und erstaunten Blick in ihren hellen Augen. Sie blieb überrascht stehen, als sie Morgan bemerkte. »Ich bin Elisabeth«, sagte sie. »Du bist nicht zu mir gekommen, bevor du fortgingst.« »Ich weiß. Ich glaube, ich hatte Angst, mit dir zu reden. Aber ich stand in der Dunkelheit vor dem Fenster und pfiff.« 252
»Wirklich ?« Sie lächelte ihn freudig an. »Das war nett von dir. Ich weiß jedoch nicht, warum du dich vor mir hättest fürchten sollen – vor so einem kleinen Mädchen. Das war dumm von dir.« »Ich weiß nicht, warum«, sagte er. »Ich lief fort. Ich wurde von einer Macht getrieben, die aus allen Welten strömte. Meine Erinnerungen verlassen mich, eine nach der anderen – wie ein Schwarm alt gewordener Schwäne, der zu einer einsamen Insel fliegt, um dort zu sterben. Aber du bist doch eine Prinzessin geworden, nicht wahr ?« »Ja, das ist schon möglich. Hoffentlich war ich eine. Auch ich vergesse alles. Sag mir, hast du dort wirklich im Dunkeln gestanden ?« Morgan bemerkte etwas Sonderbares. Wenn er eines der geduckten gesichtslosen Wesen fest ansah, verschwand es. Er machte sich einen Spaß daraus, sie alle der Reihe nach anzusehen, bis sie alle fort waren. »Hast du wirklich draußen im Dunkeln gestanden ?« »Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich mir das auch nur gedacht.« Er sah sich nach Elisabeth um, aber auch sie war verschwunden. Wo sie gestanden hatte, war ein verglühender Aschenhaufen, der langsam schwarz wurde. »Warte, Elisabeth – warte. Sag mir, wo mein Vater ist. Ich möchte meinen Vater sehen.« Die verglühende Asche antwortete ihm. »Dein Vater ist glücklich tot. Er fürchtete sich nicht, zu erfahren, was der Tod ist.« »Aber Merlin – wo ist Merlin ? Wenn ich ihn nur finden könnte !« »Merlin ? Das solltest du doch wissen. Merlin hütet die Träume in Avalon.« Mit einem kurzen, scharfen Knall erlosch die Glut in der 253
Asche. Nirgendwo war mehr Licht. Einen Augenblick lang hörte Henry Morgan noch den tiefen, weichen Orgelton summen.
Ende E-Book: John Steinbeck - Eine Handvoll Gold