Alexandra Cordes
Nimm eine eine
Handvoll Sterne Sterne
Inhaltsangabe Nach einem Juwelenraub in Frankfurt wird Paul...
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Alexandra Cordes
Nimm eine eine
Handvoll Sterne Sterne
Inhaltsangabe Nach einem Juwelenraub in Frankfurt wird Paul Kammer festgenommen, seine rothaarige Komplizin entkommt. Nach acht Jahren ist Paul wieder auf freiem Fuß und auf der Suche nach der Frau und den Juwelen. – Der deutsche Maler Horst Rixen verbringt mit Gloria, seiner schönen, rothaarigen Frau und seiner siebenjährigen Adoptivtochter Naty Ferien in Saintes-Maries. Eines Tages sind Gloria und Naty verschwunden. Eine unkenntlich gemachte Leiche in Glorias Kleid und Schmuck wird geborgen. Ist es wirklich Gloria? – Nach Saintes Maries de la Mer strömen im Mai aus aller Welt die Zigeuner zu ihrer traditionellen Marienprozession herbei. Eine schwarzhaarige Zigeunerin ähnelt auf verblüffende Weise Gloria.
Sonderausgabe des Lingen Verlages, Köln
mit Genehmigung des Schneekluth Verlags, München
© 1981 by Franz Schneekluth Verlag, München
Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln und
Bercker Graphischer Betrieb GmbH, Kevelaer
Schutzumschlag: Roberto Patelli
Printed in West Germany
Alle Rechte vorbehalten
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
1
A
ls er sich auf die Seite drehte, verfing sich seine Hand im Mos kitonetz. Das feine Gespinst zerriß mit einem schwirrenden Ge räusch. Von einer Sekunde zur anderen war er wach. Und mit der hellsichtigen Ahnung, die manchmal blitzartig Licht auf unsere Zukunft wirft, fühlte Horst Rixen, daß etwas nicht stimmte. Er schlug die Augen auf und wußte im ersten Moment nicht, wo er war. Die Sonne schien durch das weit geöffnete Fenster, zu dessen Sei ten sich rote Vorhänge im Wind blähten. Er sah einen silbern glit zernden Streifen Wasser, darüber dunstigblau den Himmel und da zwischen einen weißen Streifen Strand. Und da wußte er wieder, er war in Port St. Marie. Das Sonnenlicht stach ihm schmerzhaft in die Augen. Er wandte den Kopf. Sofort begann es in seinen Schläfen zu hämmern. Und gleich darauf spürte er den pappigen Geschmack im Mund. »Gloria«, sagte er undeutlich. »Gloria, gib mir ein Glas Wasser.« Niemand antwortete. Er drehte sich herum und sah, daß ihr Bett, durch einen kleinen dunkelgebeizten Nachttisch von dem seinen getrennt, leer war. »Gloria!« wiederholte er verblüfft und richtete sich auf. Nicht weit vom Fenster war die Tür zum Bad. Sie war halb geöff net, aber keines der gewohnten Geräusche, die Glorias Morgentoi 1
lette begleiteten, war von dort zu hören – nicht das Klirren der Glasflakons und nicht das leise Summen, das sie keine Sekunde un terbrach, wenn sie ihre lange rote Mähne bürstete. Horst Rixen fuhr sich mit der Hand über das kurzgeschorene braune Haar. Er schlug das Moskitonetz zurück, schwang die Beine auf den Boden. Als er aufstand, ließ ihn jäher Schwindel nach dem Bettpfosten greifen. »Mann«, sagte er, »ich muß blauer gewesen sein, als die Polizei erlaubt.« Er griff nach seinem weißen Bademantel, gähnte, während er den Gürtel knotete, und ging ins Bad. Gloria war von Natur aus etwas unordentlich. Stets ließ sie ge brauchte Kleenex herumliegen oder vergaß, die Zahncremetube zu zuschrauben. Aber heute morgen brauchte er sich nicht darüber zu ärgern. »Komisch«, meinte er verwundert, »das gibt's doch nicht?« Er vergaß seinen Durst, vergaß den schalen Nachgeschmack der durchgefeierten Nacht und wandte sich ins Zimmer zurück. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß Glorias Bett unberührt war. Und – sein Blick glitt weiter – seine dunkelgraue Leinenhose und das weiße Sporthemd, die er in der Nacht getragen hatte, lagen zer knüllt auf einem Stuhl. Aber Glorias schwarzes Cocktailkleid fehlte. Und die Satinpumps waren nicht da. Und ihr Schmuck lag nicht auf dem Nachttisch. Horst Rixen spürte, daß sein rechter Mundwinkel zu zucken be gann, wie immer, wenn er nervös oder unsicher war. Nebenan schlief Naty, ihre Tochter. Natürlich, klar! Er lächelte über sich selbst. Gloria schlief bei dem Kind. Und jetzt erinnerte er sich auch. Sie waren aus dem El Ruedo ins Hotel gekommen, und Gloria hatte noch einmal nach Naty sehen wollen. 2
Er ging über den Flur und öffnete behutsam die Zimmertür, be müht, keinen Lärm zu machen. Zwar konnte er noch genau den Abdruck des Kinderkopfes in dem weißen Kissen erkennen, aber auch Natys Bett war leer. Ihre roten Jeans fehlten, der weiße Pullo ver und die blauen Sandalen. Panik erfaßte ihn. Doch er versuchte, sie mit den Argumenten leicht zugänglicher Logik zu bekämpfen: Wahrscheinlich waren Glo ria und Naty zum Strand hinuntergegangen. Nur eines wunderte ihn und gab seiner Angst, die seit dem Er wachen wie ein Feuer in ihm schwelte, neue Nahrung: Warum hatte Gloria für den Morgenspaziergang das tief ausgeschnittene schwarze Cocktailkleid wieder angezogen? Und warum sollte sie zum Strand ihren kostbaren Smaragdschmuck tragen? In der Küche des Mas Armand – ›Mas‹ werden in der Camargue die Bauernhöfe genannt – tröpfelte das Wasser nur spärlich. Und es war rostrot. »Clement, Clement, was ist denn wieder mit dem Brunnen los?« rief die dunkelhaarige, vollbusige Frau, die dabei war, ein Hühn chen in Portionen zu zerteilen. Sie trat in die Tür zum Hof, stemmte die Arme in die Hüften. Mit herabgezogenen Mundwinkeln betrachtete sie den Mann, von dem nur die hageren Beine in verwaschenen blauen Hosen und die ma geren Hüften über dem Brunnenrand zu sehen waren. »Was ist denn nun?« fragte sie ärgerlich. »Ich muß mich ans Ko chen machen!« Der schmächtige Oberkörper und der fast weißblonde Schopf des Mannes tauchten auf. Clement Armand wandte sich um. »Irgend was liegt im Brunnen drin, Rose!« »Hast wohl wieder vergessen, den Deckel draufzutun, wie?« schimpfte die Frau. »Womöglich ist ein Kalb reingefallen?« 3
Wie zur Antwort blökte es durchdringend vom nahen Stierpferch her. »Ach was!« Der Mann kam näher, zündete sich eine schwarze Zi garette an, hustete dumpf. »Wie soll denn ein Kalb in den Brunnen fallen.« Er nahm sein Fahrrad, das an der weißgetünchten Hauswand lehn te, stieg auf. »Ich fahr' nach St. Marie. Jemanden holen, der mir hilft, das Ding aus dem Brunnen zu kriegen.« Die Frau kniff die Augen zusammen. Erst jetzt schien sie zu mer ken, daß ihr Mann kreidebleich war; so bleich, daß die Sommer sprossen auf seinen Wangen doppelt so groß und dunkel wirkten wie sonst. »Was ist los?« fragte sie. »Da stimmt doch was nicht?« »Ich hol' jemanden um Hilfe«, sagte er, »geh nicht an den Brun nen, bis ich zurück bin.« Und damit radelte er eilig davon. Aber sie ging an den Brunnen. Wenn es eine Eigenschaft gab, die Rose Armand vor allen anderen besaß, war es Neugier. Sie beugte sich über den steinernen Brunnenrand. Sie sah etwas Schwarzes aus dem Wasser ragen und etwas Weißes. Es waren Arme und Beine. Und einen Schopf roten Haares. Sie schrie jäh und schrill auf. Sie schlug beide Hände vor den Mund. Sie stürzte ins Haus. In der Küche verkroch sie sich in einen Winkel. Hastig ließ sie den Rosenkranz durch ihre bebenden Finger gleiten. »Nein Monsieur, ich habe Madame nicht gesehen«, sagte der Por tier des Hotels Bellevue. Er schüttelte den runden ergrauten Schä del und fuhr fort, mit rosigen Fingerspitzen das Weiche aus dem Weißbrot zu pflücken und es gluckernd mit Rotwein herunterzu 4
spülen. »Ich hab' aber auch erst vor einer halben Stunde meinen Dienst angetreten.« Horst Rixen folgte dem Blick der porzellanblauen Augen auf die Messingzeiger der altmodischen Standuhr. Es war genau halb neun. »Wer hat in der Nacht Dienst gehabt?« fragte er. »Niemand, M'sieur. Unsere Gäste gehen früh zu Bett und stehen spät auf. Sie sind ja im Urlaub.« Der Portier lachte, als habe er ei nen guten Scherz gemacht. »Na schön«, sagte Horst Rixen, »wenn Madame inzwischen kommt, sagen Sie ihr, daß ich an den Strand gegangen bin, um sie zu suchen.« Er lief zum Strand und stapfte gegen den schwülen, salzatmigen Südwestwind an, der über die Promenade strich, den grausilbernen Sand in kleinen Fontänen aus dem Strand hob. Hier und da klappten die ersten Sonnenschirme wie bunte Pilze auf und fanden sich die ersten Sonnenhungrigen mit ihren Luftma tratzen ein. Horst Rixen gelangte zum Spielplatz des Campingstrandes, be fand sich Sekunden später inmitten eines Gewimmels von kleinen Kindern und großen Hunden. Aber Natys roten Schopf entdeckte er nicht. Und erst recht nicht Gloria. Gloria, die er im Menschengequirl eines Kaufhauses gefunden, in jeder Menschenmenge entdeckt hätte, einfach, weil er ihre Nähe spürte, auch wenn er sie nicht sah. Seit sie sich vor drei Jahren in München bei einer Party zu Ehren eines Bestsellerautors begegne ten, war das so gewesen, und so würde es bleiben. Horst lief den Strand hinauf und hinunter. Er durchstreifte die engen Straßen von Port St. Marie, lief kreuz und quer über den Blumen- und Gemüsemarkt, der wie an jedem Mittwoch stattfand. 5
Er nahm den Wagen und fuhr zu den Gestüten hinaus. Gloria liebte es, am frühen Morgen, wenn die Sonne kaum aufgegangen war, zu Pferd über die Salzmarschen zu jagen. Nur – es war inzwischen elf Uhr geworden. Naty nahm sie auch nie dazu mit. Und sie hatte noch nie einen Ausflug allein unternommen, ohne es ihm vorher zu sagen oder einen Zettel mit ihrer großen, steilen Schrift zu hinterlassen: ›Reite aus, warte nicht mit dem Frühstück auf mich, Gloria.‹ Früher hatte da noch gestanden: In Liebe, Gloria, oder viele Küß chen, aber das war seit einem Jahr nicht mehr so. Ausgerechnet, seit sie München verlassen hatten, geflohen waren vor dem zu leich ten Leben, den Schwabinger Partys, dem Kaffeehausgeschwafel über den ganz großen Wurf, der einem nie gelang. Geflohen vor sinnlo sen Besäufnissen, sinnlosen Eifersuchtsszenen, die ihre Ehe zu ver giften drohten, um in Arles und in der Camargue ein neues Leben zu beginnen, ehe es zu spät war. Horst Rixen parkte den Wagen im Schatten von hohen Tamaris ken. Er stieg aus, zündete sich eine Zigarette an. Aus zusammen gekniffenen Augen blickte er über den flachen Teller der Camargue, fast eintönig silbrig-grau der Boden, die Sträucher, das spärliche Moos, das spanische Rohr. Er hatte vergessen, daß er früh am Morgen Kopfschmerzen ge habt hatte. Hatte vergessen, daß er hungrig und auch durstig gewe sen war. Und daß er Angst hatte. Denn Angst – er gestand es sich jetzt ein – erfüllte ihn mit dröh nendem Herzschlag. Sorge um Gloria, seine Frau, und um Naty, ihr Kind. Die Polizisten lachten. »'ne Leiche im Brunnen? Ach nee! Hast wohl wieder zu tief in 6
den Rouge geschaut, Armand.« »So glaubt es mir doch«, beteuerte Clement Armand und ballte die Hände mit den roten Knöcheln zu Fäusten. »Es ist eine Frau. Es muß eine Frau sein.« »Wie sieht sie denn aus?« fragte der Beamte, den seine Kollegen wegen seiner vorquellenden Augen ›den Frosch‹ nannten. Armand mußte sich räuspern. »Rotes Haar hat sie. Und ein schwarzes Kleid hat sie an.« »Ach nee!« Die Polizisten lachten noch lauter und zwinkerten sich gegenseitig zu. »Armand, der neue Maigret!« »Ich sage euch, es ist wahr«, wiederholte Armand, »und ihr müßt mit rauskommen. Ich glaube«, er feuchtete sich die trockenen Lip pen mit der Zungenspitze an, »ich glaube, da ist ein Mord pas siert.« Ein Mord in Port St. Marie? In Saintes Maries de la Mer? In der Perle der Camargue? Im Ferienparadies mit dem silbernen Strand und den weißen, mit dunklem Ried gedeckten Häusern, den roten Geranien vor jedem Fenster, selbst vor den Fenstern der Gendar merie. Ein Mord! Das Wort setzte den Polizisten Amtsmienen auf. »Na schön«, sagte der ›Frosch‹, der jetzt gar nicht mehr lächerlich aussah. »Ich fahre mit dir hinaus.« Wenige Minuten später radelten Clement Armand und der Poli zist Barthelet durch den silbernen Sonnenglast des Mittags. Und ei ne knappe Viertelstunde später erreichten sie den Mas Armand. Die Touristen, die sich sonst hier in ganzen Scharen Pferde aus liehen, waren heute ausgeblieben, und auch von den Hausgästen war niemand zu sehen. Sie waren wohl alle am Strand. Auch Rose erschien nicht, als die beiden Männer ihre Räder im Hof hinter dem Haus abstellten. Sie hörten dumpfes Gemurmel aus der Küche. Armand konnte 7
sich ein rasches Grinsen nicht verkneifen. Rose wußte also Be scheid, ihre Neugier war wieder einmal stärker gewesen. Der ›Frosch‹ beugte sich so weit über den Brunnenrand, daß es eine Sekunde lang aussah, als würde er das Gleichgewicht verlieren. Er starrte lange hinunter. Als er sich wieder aufrichtete, atmete er schwer. Auf seinen Wan gen standen dicke Schweißtropfen wie Tränen. Umständlich betupf te er sich den breiten Mund mit einem großen Taschentuch. »Merde. Alors, Armand, das wird Ärger geben«, sagte er. »Ärger?« »Fahr zurück nach St. Marie, und sag meinen Kollegen Bescheid. Sie sollen alles mitbringen, was zur Spurensicherung notwendig ist.« »Ist sie ermordet worden?« flüsterte Armand, als fürchte er, der zahme Reiher, der neugierig herbeispazierte, könne sie belauschen. »Das werden wir bald festgestellt haben«, sagte der ›Frosch‹ wich tig. Er hörte nicht auf, an seinem Mund herumzuwischen. Schwer ließ er sich auf dem großen Feldstein neben dem Brun nen nieder. Seine Stirn hatte tiefe Querfalten, als müsse er tief nach denken. Ein Mord in Port St. Marie? Seit Menschengedenken war das nicht vorgekommen; wenn man von den paar ungeklärten Todes fällen von Schmugglern absah, die im Laufe der letzten beiden Jahr zehnte hier angeschwemmt worden waren. Aber das waren ja eher ›Betriebsunfälle‹… Horst Rixen sah einen schwarzen Citroën aus Richtung Arles her anbrausen und in den schmalen Feldweg zum Mas Armand einbie gen. Wenige Minuten später folgte ein zweiter Wagen, diesmal ein schwarzer Peugeot, und Rixen konnte die runden, steifen Polizei mützen hinter den Scheiben genau erkennen. 8
Er zerdrückte die halbgerauchte Zigarette im sonnenverdörrten, glasharten Gras und stand auf. Als er zu seinem Wagen zurückging und einstieg, hatte er eine seltsame Schwere in den Beinen. Er wendete auf die Hauptstraße und bog dreihundert Meter wei ter in den sandigen Weg ein, der zum Pferdehof der Armands führ te. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er mindestens eine Stunde un ter den Tamarisken gesessen hatte. Von Port St. Marie her läutete es Mittag. Er parkte seinen Wagen neben den Polizeiautos. Hinter dem Haus hörte er Stimmengewirr und dann klar und deutlich die Worte: »Sie ist seit Stunden tot.« Er ging um das Haus herum in den Hof. Sieben Männer umstanden etwas, das neben dem Brunnen auf dem Sandboden lag. Es waren sechs Polizisten, drei davon in Uni form, die anderen nur ihrer Haltung nach. Und Armand. Horst kannte Armand. Denn von Armand hatte sich Gloria meis tens die Pferde geliehen, wenn sie ausritt. Die Männer unterhielten sich. Aber sie sprachen sehr schnell und im üblichen Patois der Camargue. Horst konnte kaum die Hälfte verstehen, obwohl er schon seit einem Jahr in Südfrankreich lebte. Armand entdeckte Horst als erster. Er sah ihn starr an. Dann war es, als bekäme der magere Mann einen unsichtbaren Stoß gegen die Brust, denn er wich zwei Schritte zurück. Und damit öffnete sich der Kreis um das, was auf dem Boden lag. »Bonjour«, wollte Horst sagen, aber das Wort gefror ihm auf den Lippen. Er riß die Arme nach vorn, als wolle er etwas abwehren. Und dann schrie er wild auf: »Nein!« Auf dem Boden lag eine Frau. Seine Frau. Gloria. Rotes Haar. Und schwarzes Kleid. Und seltsam verkrümmt die Arme und Beine, blaß, gar nicht mehr gebräunt. Und das Gesicht… 9
Sie hatte kein Gesicht mehr. Rixen preßte die Hände vor die Augen. Er taumelte. Jemand faß te nach seinem Arm. »Monsieur, bitte Monsieur –« sagte eine Stimme. Und eine andere fragte: »Wer ist denn das?« »Ein Deutscher, der seit einem Jahr in Arles lebt. Ein Maler. Sein Name ist Rixen.« »Monsieur, es tut mir so leid«, sagte Armand heiser. »Bitte, Mon sieur, Sie müssen sich beruhigen.« Horst Rixen hielt den Kopf abgewandt, um das Schreckliche nicht zu sehen. Er hielt die Augen geschlossen. »Monsieur Rixen – wir bedauern zutiefst, was geschehen sein muß. Kommen Sie, wir wollen uns im Haus darüber unterhalten.« Der Griff auf seinem Arm verstärkte sich. Willenlos ließ er sich ins Haus führen. Die große, dämmrige Küche, in der nur die Kupfergeräte an den Wänden blinkten. Der Geruch nach Knoblauch und Rosmarin. Ein Dutzend gerupfter Hühner auf dem verzinkten Tisch aufgereiht. Rixen wandte sich ab, würgte, schluckte, mußte wieder würgen. »Holen Sie einen Cognac, Madame Rose, irgendeinen Schnaps«, befahl der Kriminalbeamte, der Horst ins Haus begleitet hatte. Horst spürte den Blick des Polizisten im Nacken. »Es ist gleich vorbei«, sagte er, »es ist gleich vorüber…« »Bitte setzen Sie sich doch, Monsieur.« Horst nahm auf einem Stuhl in einer Ecke Platz. Der Beamte hol te sich einen zweiten. »Ist – ist es Ihre Frau?« fragte er behutsam. Er hatte große dunkle Augen von der Farbe reifer Brombeeren, schwarzes Haar, das ihm in spitzem Winkel in die Stirn wuchs, und ein ausgeprägtes Bona parte-Gesicht. »Mein Name ist Lion«, sagte er und legte die Hände auf die Knie. »Es ist also Ihre Frau?« wiederholte er. 10
Horst nickte nur, konnte nicht antworten. »Es besteht kein Zweifel, daß sie eines gewaltsamen Todes gestor ben ist«, sagte der Beamte. »Aber wie? Wie konnte das geschehen?« fragte Horst verstört. »Gloria. Warum Gloria?« »Wann haben Sie Ihre Frau zum letztenmal gesehen?« fragte Kommissar Lion. »Bitte versuchen Sie mir genau zu antworten.« Rixen mußte sich räuspern. »In der Nacht. Kurz nach Mitter nacht. Wir kamen aus dem El Ruedo. Wir hatten – unseren Hoch zeitstag gefeiert. Wir – sie ging noch mal zu unserer kleinen Toch ter.« Plötzlich schrie er auf. »Es ist nicht meine Frau! Es kann nicht Gloria sein!« »Aber – sie …« »Ich habe sie schon den ganzen Morgen gesucht. Aber Naty ist doch mit ihr verschwunden.« »Wer ist Naty?« »Unsere Tochter Renate. Das heißt, die Tochter meiner Frau. Ich habe Naty adoptiert. Sie ist sieben. Sie war nicht in ihrem Zimmer, als ich erwachte und nachschauen ging.« »Ein siebenjähriges Kind kann auch allein Spazierengehen.« »Naty nicht. Sie ist brav. Sie würde das nie tun, ohne uns um Er laubnis zu fragen.« »Dann, Monsieur Rixen, muß ich Sie bitten, sich die Tote noch einmal genau anzuschauen.« Es war Horst, als werde er zu seiner Hinrichtung geführt. Die Sonne brannte aus dem wolkenlosen Himmel herunter, er watete wie durch glühende Luft. Die Tote lag noch da wie zuvor. Nur hatte jemand ein Taschen tuch über das zerstörte Gesicht gebreitet. Unter dem Taschentuch funkelten die Smaragde wie eine Hand voll grüner Sterne. Glorias Smaragde. In Brillanten und Platin ge faßt. Ein Vermögen wert. 11
Aus der Erbschaft einer ihm unbekannten Tante seiner Frau. Und das schwarze Kleid. Es trug noch die Kerzenwachsspritzer vom Vorabend aus dem El Ruedo am Saum, über die Gloria sich so geärgert hatte in einem ihrer jähen, unbeherrschten Zornesaus brüche. »Es ist das Kleid meiner Frau – es ist der Schmuck meiner Frau… Aber – meine Frau war von der Sonne gebräunt. Und diese – diese Tote… Sie hat doch eine ganz helle Haut.« Kommissar Lion sah Rixen scharf an. »Der Schmuck gehört Ihrer Frau? Sie sind Maler, Monsieur? Der Schmuck ist gut und gern seine zweihunderttausend Nouveaux Francs wert…« Horst Rixen verzog den Mund. »Oui, Monsieur le Commissaire, ich kenne den Schmuck von Madame Rixen«, sagte Armand, der näher getreten war. »Es stimmt, es ist ihr Schmuck.« Plötzlich färbte Ungeduld Lions Stimme. »Ist es Ihre Frau?« »Ich weiß es nicht. Nein – sie ist es nicht…« »Trotz des Schmucks?« fragte der Kommissar sarkastisch. Horst Rixen schwieg. Er war verwirrt, konnte das alles nicht be greifen. Kommissar Lion räusperte sich. »Hatte Ihre Gattin vielleicht ein besonderes körperliches Merkmal?« »Ja, eine kleine Narbe im linken Ellenbogen. Eine Brandnarbe.« Zu sehen, wie der Beamte den todesstarren Arm hob, trieb Horst den Schweiß auf die Stirn. Es rann naß an seinen Schläfen herunter, über den Hals, versickerte unter dem Hemd. Die Beuge des Ellenbogens war weiß und ohne Mal. »Nun?« fragte Lion. »Es ist nicht meine Frau«, sagte Horst Rixen. Und so makaber es war angesichts der fremden Toten, er hätte in diesem Moment ju beln mögen. Aber – wie kam die Tote an Glorias Kleid, wie an ihren Schmuck? 12
Die Smaragde versprühten grünes Feuer im Glast der Sonne. »Können Sie uns erklären, Monsieur Rixen, wieso Sie ausgerech net um diese Zeit hierher auf die Ranch kamen?« »Ich habe meine Frau überall gesucht«, sagte Horst. »Und meine Tochter.« »Und warum sind Sie dann ausgerechnet zu den Armands ge kommen?« »Weil meine Frau häufig von hier ausritt.« »Reitet Ihre Tochter auch?« »Nein. Wir hielten es für zu gefährlich. Sie ist ja noch so klein. Aber …« »Danke, Monsieur Rixen«, unterbrach ihn Kommissar Lion. »Wir brauchen Sie hier nicht mehr. Aber vielleicht halten Sie sich noch in Ihrem Hotel zu unserer Verfügung? Sie wohnen…« »Im Bellevue.« »Danke, Monsieur. Und noch etwas – Sie werden verstehen, daß wir den Schmuck und die Kleidungsstücke Ihrer Frau bis zur Klä rung des Falles behalten müssen?« »Natürlich«, sagte Rixen tonlos. »Dann – au revoir, Monsieur.« Der Kommissar wandte sich ab, gab rasche, bestimmte Anweisun gen, wohin die Leiche der jungen rothaarigen Frau zu schaffen sei. Für Horst Rixen hatte er kein Wort mehr, und der Maler kam sich vor, als sei er wegen einer Verfehlung gemaßregelt worden. Horst warf keinen Blick mehr auf die Tote, jetzt, da er sicher war, daß es nicht Gloria sein konnte. Er ging zu seinem Wagen zurück. Als er sich noch einmal umwandte, sah er, daß Kommissar Lion ihn mit gerunzelter Stirn nachblickte. Rixen fröstelte, obwohl es sehr heiß war. Die Hütte war vor langer Zeit einmal weiß getüncht gewesen. Jetzt 13
war sie fleckig grau. Das Rieddach ließ durch viele Löcher die Son ne und den Wind herein. Es war sehr heiß, und wenn Naty durch die Fensterluke hinaus schaute, taten ihr nach wenigen Minuten die Augen weh, so weiß gleißten die Salzberge im Mittagslicht. Aber die Augen taten ihr auch weh, weil sie so lange geweint hat te. Und dazu hatte sie allen Grund. Denn sie war in der Hütte eingesperrt. Sie wußte nicht, wie sie hierhergekommen war. Sie war erwacht und lag zwischen weichen, wolligen Schaffellen auf dem Bretterboden. Und sie war ganz allein. Zuerst hatte sie nach der Mami gerufen und dann nach ihrem Vati. Sie hatte mit beiden Fäusten gegen die Tür gehämmert. Aber das alles hatte nichts genützt. Sie war allein und eingesperrt. Da hatte sie natürlich angefangen zu weinen und gar nicht mehr aufhören können, bis sie vor lauter Unglücklichsein den Schluck auf bekam. Sie dachte daran, daß der Vati und die Mami sie oft davor ge warnt hatten, mit fremden Leuten mitzugehen. Und natürlich hatte sie das ja auch nie getan. Aber jetzt war es doch offensichtlich so, daß ein Fremder sie hier hergebracht hatte. Ich bin entführt worden, dachte Naty, und die Verbrecher werden jetzt von Vati Lösegeld verlangen. Und wenn er es nicht bezahlen kann, dann werden sie mich tot machen. Sie las – mühsam zwar noch, aber mit großem Interesse – alle Zei tungen, die sie erwischen konnte. Und es war noch gar nicht so lange her, da hatte eine Entführungsgeschichte darin gestanden, von einem kleinen Mädchen, gerade so alt wie sie selbst. Als Naty daran dachte, wurde ihr ganz kalt, und sie begann mit 14
den Zähnen zu klappern, als habe sie Fieber. Sie kroch wieder unter die Schaffelle, aber davon wurde es auch nicht besser. Sie ließ den Blick durch die Hütte schweifen. Da standen Konser vendosen auf einem Regal. Und in einer Ecke entdeckte sie einen rotlackierten Campingkocher. Aber – das war ja sogar der Kocher, den Mami immer zum Picknick mitnahm. Naty kriegte vor Erstaunen heftiges Herzklopfen. Wenn der Kocher hier war, dann mußte die Mami doch auch ir gendwo in der Nähe sein. Naty lief in die Ecke, holte sich den Kocher und kroch damit wieder zwischen die Schaffelle. Sie preßte das Stück Metall fest an sich, wie ein kostbares, lang ersehntes Spielzeug. Aber es konnte trotzdem nicht sein, daß Vati und Mami sie in diese Hütte eingesperrt hatten. Es sei denn, sie hatten sie ausgesetzt wie die bösen Eltern im Mär chen von Hansel und Gretel. Aber das war doch nicht möglich, das war einfach nicht vorstell bar. Energisch schüttelte Naty den Kopf. Und im selben Moment hörte sie das Geräusch eines Automo tors. Sie richtete sich auf, saß stockstill. Das Gebrumm kam näher, und dann verstummte es. Naty hielt den Atem an, als sie gleich darauf Schritte hörte. Dann kam ein kratzendes Geräusch im Schloß, und danach wur de die Klinke heruntergedrückt. Die Tür sprang auf. Verblüfft riß Naty den Mund auf, aber sie brachte kein Wort her vor. Sie starrte die Frau mit dem langen schwarzen Haar und dem lan gen roten Rock sprachlos an und schüttelte nur immer wieder un 15
gläubig den Kopf. Die Frau schloß die Tür hinter sich. Sie strich sich das Haar zu rück, und riesige goldene Ohrringe glänzten auf. »Mami, bist du's, oder bist du's nicht?« fragte Naty unsicher. »Du – du siehst ja aus wie eine Zigeunerin!« Die Frau lachte leise, vergnügt. »Aber natürlich bin ich es, Naty lein. Wer denn sonst?« Sie saßen auf der Terrasse des Hotels Bellevue. Kommissar Lion nippte an seinem Pastis. Er zog ein blütenwei ßes, scharf gefaltetes Taschentuch hervor, tupfte sich den schwarzen Schnurrbart ab. Er hatte ein kleines Paket mitgebracht und vor sich auf den Tisch gelegt, aber bisher noch nicht erwähnt, was es enthielt oder zu be deuten hatte. »Sie haben also noch keine Nachricht von Ihrer Frau oder Ihrer Tochter?« fragte er. »Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?« fragte Horst Rixen unge duldig zurück. »Sie haben auch keine Ahnung, wo Madame sich befinden könn te?« »Nein!« »Aber dafür erscheinen Sie mir bemerkenswert ruhig, Monsieur?« »Was soll ich tun? Wie ein Verrückter durch St. Marie laufen?« Der Kommissar lächelte schmal. »Sie haben in keiner besonders glücklichen Ehe gelebt? Vielleicht sind Sie sogar ein wenig erleichtert, daß Madame verschwunden ist?« »Wie können Sie es wagen …« Lion hob beschwichtigend die Hand. Das Lächeln seiner schma len Lippen verstärkte sich. »Wer – ich frage Sie, Monsieur Rixen –, 16
welcher Ehemann wünschte nicht irgendwann einmal seine Frau zur Hölle?« »Ich nicht. Ich liebe meine Frau.« »Und dennoch haben Sie, Monsieur, erst gestern abend, genau das Ihrer Frau ins Gesicht geschrien. – ›Geh doch zur Hölle!‹ haben Sie geschrien.« Horst spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg. »Das ist doch Unsinn…« »Muß ich wirklich Ihrem Gedächtnis nachhelfen, Monsieur Ri xen? Es war gegen acht Uhr. Sie und Madame wollten ins El Ruedo gehen. Madame wählte ein Kleid, das Ihnen nicht paßte. Sie nann ten Ihre Frau schamlos. Es kam zu einem sehr heftigen Wortwech sel, für den die Wände dieses Hotels zu dünn sind. Und Sie schrien auch: ›Geh doch zum Teufel mit deiner verfluchten Eitelkeit!‹« »Was soll das beweisen?« fragte Rixen. »Ich bin eifersüchtig, mei ne Frau ist sehr schön.« Er krampfte die Hände um die weißen Leh nen seines Korbsessels. »Und was wollen Sie eigentlich von mir? Ich habe mit der Toten vom Mas Armand nichts zu tun, denn Gott sei Dank ist es nicht meine Frau. Und gewiß werde ich spätestens mor gen erfahren, wo meine Frau und Tochter sich aufhalten. Ja, es kann sogar sein, daß sie nach Arles zurückgekehrt sind. Mit dem Bus, Naty fährt so gern Bus. Und weil ich heute den ganzen Tag auf der Suche nach ihnen war, hat sie mich nicht erreicht, wenn sie ver suchte, mich anzurufen.« »Sie haben jedoch nicht versucht, in Arles anzurufen, und Ihre Frau hat Sie nicht angerufen«, sagte der Kommissar. »Denn man hätte es Ihnen ausgerichtet, weil Sie mehrmals darum gebeten ha ben.« Horst Rixen zuckte mit den Schultern. »Bei dem Betrieb …« Er ließ den Blick über die Bummler auf der abendlichen Strand promenade gleiten. »Hochsaison. Da wird leicht mal was verges sen.« 17
»Sie sind ein beneidenswert gelassener Mann«, sagte der Kommis sar, und jetzt lächelte er ganz und gar nicht mehr. »Aber eines möchte ich noch von Ihnen wissen: Wie erklären Sie sich, daß die Tote vom Mas Armand das schwarze Cocktailkleid und den Schmuck Ihrer Frau trug?« Horst Rixen hob stumm die Schultern. Der Kommissar griff nach dem Päckchen, wickelte es umständlich auf. Funkelnd fing sich das Licht der Bogenleuchten der Terrasse in den sternförmigen Smaragden und Brillanten. »Ist der Schmuck Ihrer Frau echt?« fragte er, während er die Stei ne betrachtete. »Ja, natürlich«, sagte Horst Rixen. »Meine Frau würde nie unech ten Schmuck tragen. Übrigens ist das Kollier ein Erbstück.« »Es sieht genauso aus wie dieses hier?« »Ich, ich glaube ja.« Horst war mit einemmal unsicher. Und er mochte die Smaragde nicht, weil sie aus den Jahren vor seiner Hei rat mit Gloria stammten, über die sie nicht oder nur sehr wortkarg sprechen wollte. »Nun, Monsieur, dieser Schmuck ist eine Fälschung. Synthetische Smaragde, Zirkone, in Silber gefaßt. Was der Täter sich wohl dabei gedacht hat?« Der Kommissar raffte das Kollier zusammen, steckte es achtlos in seine Jackentasche. Er erhob sich, ohne Horst noch einen Blick zu gönnen, winkte dem Kellner und bezahlte seinen Pastis. »A bientôt, Monsieur«, sagte er. »Auf bald.« Er schlenderte langsam wie ein Spaziergänger davon, der den Son nenuntergang über dem Meer genießen will. Der Brief lag auf dem Kopfkissen. Es war ein gelbes Kuvert mit der schwarzen steilen Schrift von Gloria, an ihn adressiert. Horst Rixen stürzte darauf zu, riß den Umschlag auf. 18
›Ich bin tot‹, stand da. ›Versuch nichts anderes zu glauben. Wenn man mich findet, identifiziere mich. Gloria.‹ Dieser halbe Satz, ›identifiziere mich‹, war dreimal dick unterstri chen. Es war kein Wunsch – es war ein Befehl.
2
E
s war eines der gelben violett gefütterten Kuverts, die Gloria ei gens in München anfertigen ließ. Es war das starke gelbe Lei nenpapier, das sie stets für ihre Briefe benutzte. Und es war ihre steile Handschrift, die ihm unmißverständlich befahl, ihren ›Tod‹ zu bescheinigen. Horst Rixen konnte die Augen nicht von dem Brief lösen. Er merkte erst, daß er sich eine Zigarette angezündet hatte, als sie ihm den Daumennagel versengte. Er ließ die Kippe fallen, sie rollte auf das gelbe Papier, brannte ein schwelendes braungezacktes Loch hin ein. Er schüttelte sie herunter, zertrat sie auf dem Boden. Gloria lebt. Sie lebt also wirklich. Aber er konnte es nicht mit Erleichterung denken. Er saß da und spürte, daß die Verwirrung sich wie ein Stahlband um seinen Kopf legte, seine Gedanken zusammenpreßte zu formlo sen grauen Bruchstücken. Die Tote im Brunnen des Mas Armand. Mit Glorias rotem Haar und Glorias schwarzem Kleid, das noch die Kerzenwachsspritzer aus dem El Ruedo trug. Die Tote ohne Gesicht, mit dem falschen Smaragdschmuck. 19
Ein Mord. Ein brutaler, blindwütiger Mord, an einer Frau began gen, die Gloria zum Verwechseln ähnlich gewesen sein mußte. Ein Mord, der an Gloria begangen werden sollte. Warum? Wer haßte Gloria, wer konnte eine Frau wie sie hassen? Aber wenn Gloria das Opfer sein sollte, dann mußte sie den Mör der gekannt und erwartet und gefürchtet haben. Und vor ihm ge flohen sein. Das wäre auch eine Erklärung für ihr Verschwinden gewesen. Aber warum hatte sie Naty mitgenommen, das siebenjährige Kind? Und nun der Brief. Glorias Brief: ›Ich bin tot. Identifiziere mich.‹ Der Schweiß lief Horst über Stirn und Wangen, rann ihm den Rücken herunter. Es war unerträglich heiß im Zimmer. Viel zu heiß für diese Jahres zeit. Schließlich war erst Mai. Er trat zum Fenster, riß es auf. Nacht über dem Meer. Sterne wie Irrlichter zwischen ziehenden Wolken, Wind, der böig sprang. Es würde ein Gewitter geben. Was soll ich tun? Was muß ich tun? Was kann ich tun? Zu Kommissar Lion fahren, ihm den Brief zeigen? Und was dann? Horst zündete sich eine neue Zigarette an. Er mußte tief, schmerz haft husten. Raus hier aus diesem Zimmer, in dem alles an Gloria erinnerte: die Bücher auf dem Nachttisch, die Parfümflakons mit ›Vent Vert‹ und ›Femme‹, das Bittere und das Süße, Strümpfe über einer Stuhl lehne, hauchdünnes Seidengespinst ihres Morgenrocks. Horst hatte sich oft gefragt, wovon sie das alles bezahlte. Teure Wäsche, teure Kleider, kostbare Parfüms. Aber Gloria hatte nur gelacht, so ge lacht, daß es klang, als springe Wasser über Kiesel. Und ihre Fingerspitzen an seiner Wange: »Was kümmert es dich, 20
Lieber? Du weißt doch, ich spekuliere ein bißchen an der Börse.« Und wenn er fragte: »Womit?« – »Du weißt doch, Tante Marie hat mir ein bißchen Kapital hinterlassen.« Tante Marie, die er nie ge kannt und der auch das Haus in Arles gehört haben sollte, in dem sie seit einem Jahr lebten. Wo er zu arbeiten versuchte und es nicht konnte. Nur eines hatte vom ersten Tag ihrer Ehe als stillschweigende Ab machung zwischen ihm und Gloria gegolten: daß er den Lebens unterhalt finanzierte. Er besaß ein Mietshaus in München, von sei nen im Krieg umgekommenen Eltern vererbt. Es brachte genug Zinsen ein, um Essen und Trinken und den Wagen zu bestreiten. Auf einer anderen Forderung hatte Gloria ganz klar bestanden: daß er Naty adoptierte, ihre damals vierjährige Tochter eines töd lich verunglückten Verlobten, von dem er nur den Vornamen kann te – Paul. Horst blieb plötzlich stehen. Er merkte erst jetzt, daß er das Ho tel Bellevue verlassen hatte und wie ein Nachtwandler durch die en gen Straßen von Port St. Marie gelaufen war. Vor dem hellerleuch teten Bistro Marseille fand er sich nun wieder. Eine Musikbox warf flirrende Farbkreise durch die Scheiben. Frank Sinatra sang ›Strangers in the Night‹. Fremde in der Nacht… Vielleicht war es das, was ihn zu einer jähen Erkenntnis zwang: Waren nicht er und Gloria stets wie Fremde in der Nacht gewe sen? Fremde, die sich begegnen, nichts voneinander wissen, wenig von einander erfahren. Leidenschaft – ja. Liebe – hin und wieder. Zärtlichkeit – wenn er Gloria aus einem ihrer Alpträume weckte, die sie stöhnen und wimmern und in seinen Armen Schutz suchen ließen, wenn sie erwachte. 21
Aber über den Inhalt dieser Träume sprach sie nie. »Mein Gott«, er schlug sich mit der geballten Faust in die linke Hand, »mir ist, als hätten wir nie richtig miteinander gesprochen!« Ein Pärchen, eng umschlungen, ging vorbei, sah ihn erstaunt an, und er merkte, daß er laut mit sich selbst geredet hatte. Röte schoß ihm ins Gesicht. Er wandte sich hastig ab, betrat das Bistro. An der Theke blieb er stehen, bestellte einen Pastis. Hinter sich hörte er das scharrende Füßeschleifen der tanzenden Mini-Mädchen und der Jungen mit den bis zum Nabel offenen Hemden. Er blickte in den Spiegel über dem Tresen, betrachtete das Gewo ge der Jugendlichen mit den langen Mähnen. Als die Musikbox schwieg, kehrten sie lachend und plappernd zu ihrem Cola und Cassis zurück. Und im gleichen Moment entdeckte Horst Rixen den schmalen blonden Kopf der Frau. Sie saß an einem Tisch am Fenster, allein. Sie hob gerade die Hand, um die Zigarette zum Mund zu führen, und hielt mitten in der Bewegung inne, als sich ihre Blicke begegneten. Und dann kräuselte jenes Lächeln ihren blassen Mund, das ihr früher, als sie noch Schüler voll jugendlicher Romantik gewesen wa ren, den Namen Mona Lisa eingetragen hatte. Horst drehte sich um, und sie liefen fast aufeinander zu. Einen Schritt voneinander entfernt blieben sie stehen. »Karen«, rief Horst, »ist es denn wirklich wahr?« »Horst! Grüß dich.« Sie streckte die schmale Hand aus, und er umfaßte sie mit seinen beiden Händen, als greife er nach einem Rettungsanker. »Karen«, wiederholte er und empfand mit einemmal eine unsin nige, ihn fast glücklich machende Erleichterung. »Wie kommst du denn hierher?« »Ich war in Avignon und bei meinem alten Freund Marc in Châ 22
teauneuf du Pape und in Arles. Und ich dachte, ich verbringe noch ein paar Tage hier in Port St. Marie. Ich mache Urlaub.« »Es ist schön, dich wiederzusehen«, sagte er. »Nach all den Jah ren.« »Es ist ein Jahr her«, sagte sie und entzog ihm die Hand. Sie senk te ein wenig den Kopf mit dem falbenfarbigen Haar, das an den glatten Spitzen silbrig schimmerte. »Aber ich hatte, um ehrlich zu sein, erwartet, dich zu treffen. Ist es wahr – ich meine, ist es Glo ria?« Er mußte sich räuspern, ehe er antwortete. »Komm, laß uns ir gendwohin gehen, wo wir in Ruhe reden können.« Er zahlte, sie verließen das Bistro, bogen in eine Seitengasse ein, die nur spärlich von Laternen erleuchtet war. Ein paar Hunde streunten umher, Katzen spielten in düsteren Hausfluren. Es war sehr still. Auch in Fernandos Bar. Die Knoblauchkränze über der Theke warfen im Schein der Ker zen bizarre Schatten. Die Krustenpanzer toter Riesenkrabben, rot wie chinesischer Lack, hockten auf den Strohmatten der Wände. Horst und Karen waren die einzigen Gäste, bis auf zwei Zigeuner, schwarzhaarig, schwarzgekleidet, die sie aus schwarzen Augen be trachteten, sich dann gleichgültig abwandten und ihre Unterhaltung mit Fernando über die bevorstehende Prozession des fahrenden Volkes wieder aufnahmen. Horst und Karen Schaumburg setzten sich an einen Tisch in der Ecke. Fernando kam, brummte »bonsoir«, stellte unaufgefordert ei nen Tonkrug mit tiefrotem provençalischem Wein zwischen sie auf die große weißgescheuerte Holzplatte. »Gib mir bitte eine Zigarette«, sagte Karen. Horst gab ihr Feuer, betrachtete dabei ihre Hände. Sie waren schmal und doch kräftig, sehnig fast, das einzige an Ka ren, das etwas über die Stärke, Energie und Verläßlichkeit aussagte, 23
die in ihr steckten. »Woher weißt du – das mit Gloria?« fragte er. »Heute nachmittag, als ich ankam, sprachen sie im Hotel darü ber. Am Empfang im Bellevue. Ein Kommissar war da. Lion aus Arles. Ich – wollte gleich zu dir, aber dann dachte ich, es wäre bes ser, wir träfen uns zufällig.« »Gloria ist seit gestern nacht verschwunden«, sagte Horst. »Man hat eine Tote gefunden, draußen auf dem Mas Armand. Sie sieht Gloria zum Verwechseln ähnlich, aber…« Er verstummte, hatte mit einemmal das Gefühl, beobachtet zu werden, blickte auf, sah je doch nur die schmalen schwarzen Rücken der beiden Zigeuner, die schmalen schwarzen Schädel. Horst senkte die Stimme. »Sie ist es nicht. Gloria lebt.« Karen sagte nichts. Sie blickte ihn nur fragend mit diesen großen, klaren grauen Augen an. Er zog den Brief aus der Tasche, schob ihn über den Tisch. Sie las ihn, eine steile Falte kerbte sich zwischen ihren Brauen ein. »Ich hätte dich gerufen«, sagte er. »Ich glaube, ich hätte dich in Deutschland angerufen. Ich wußte nicht, was tun. Weiß es auch jetzt noch nicht. Gloria tut manchmal unerklärliche Dinge. Ich meine damit, sie ist sehr impulsiv und auch sehr unabhängig. Wir hatten gestern abend einen kleinen Streit wegen eines Kleides, das sie unbedingt anziehen wollte und auch anzog. Wie das so unter Eheleuten vorkommt.« Er lachte kurz, unsicher auf. »Na ja, aber dann gingen wir doch ins Ruedo, ist so ein Tanzschuppen, weißt du, und sie war fröhlich und ausgelassen. Als wir ins Hotel zurück kamen, wollte sie noch mal nach Naty sehen, und darüber bin ich eingeschlafen. Heute morgen war sie verschwunden, mit Naty, und ich habe die beiden überall gesucht. Auch in Arles in unserem Haus habe ich angerufen, aber da meldete sie sich nicht. Und auch unser Hausmädchen nicht. – Jetzt dieser Brief – und dann, sie hat doch Naty mitgenommen. Das Kind, verstehst du?« Er sprach schneller, 24
drängender. »Du hast doch eher Erfahrung in solchen Dingen als ich. Als Gerichtsreporterin. Ich meine, du hast gewiß schon Fälle erlebt, die keinen Sinn ergaben, so wie dieser. Ich begreife es ein fach nicht. Ich liebe das Kind, ich liebe Gloria. Wir waren glücklich miteinander, auch wenn es hin und wieder Schwierigkeiten gab. Und dann verschwindet sie. Ist einfach nicht mehr da. Und eine Tote wird gefunden, die so aussieht wie sie…« Er verstummte, biß sich auf die Lippen. Karen faltete den Brief zusammen, schob ihn Horst wieder zu. »Hast du dem Kommissar davon erzählt?« fragte sie. »Von diesem Brief, meine ich?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Dann tu's auch noch nicht. Tu das, was Gloria dir darin auf trägt. Identifiziere die Tote als deine Frau.« »Aber wie kann ich das? Und warum?« »Ich weiß es noch nicht«, sagte Karen. »Aber ich glaube, dann wird Gloria bald wieder von sich hören lassen.« Das Geklimper von Geldstücken ließ sie beide zusammenzucken. Als sie aufblickten, verließen die beiden Zigeuner, die mageren Gesichter hochmütig verschlossen, die Bar. Fernando hinter dem Tresen klaubte zwei blitzende Fünf-FrancStücke auf. »Horst, ich will dir helfen«, sagte Karen einfach. »Weißt du, was das Schlimmste ist?« fragte er. »Was mich am meisten fertigmacht? Daß sie das Kind mitgenommen hat. Naty ist nicht meine Tochter – aber ich, ich hänge zu sehr an ihr. Zu den ken, daß ihr etwas zustoßen könnte…« Er wandte das Gesicht ab. »Vielleicht kommen sie beide schneller zu dir zurück, als du denkst. Vielleicht klärt sich alles noch als ganz harmlos auf«, sagte Karen, aber sie hörte selbst, wie wenig überzeugend das klang.
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Der Chef der Kriminalpolizei in Arles, Jules Lapier, war ein kleiner, untersetzter Mann. Im Büro trug er stets einen makellosen blauen Anzug und ein blütenweißes Hemd. Seine Kurzsichtigkeit kaschierte eine elegante Schildpattbrille mit getönten Gläsern. Zu Hause – und so saß er Lion nun gegenüber – trug er einen schäbigen grauen Pullover über ausgebeulten Khakihosen, und die stahlgefaßte rundglasige Armeleute-Brille verlieh ihm Eulenaugen. Man hätte ihn für einen Kneipenwirt halten können oder für ei nen Rentner, der in seinem Garten Sonnenblumen zog, keinesfalls für einen Kriminalbeamten. Doch wenn Jules Lapier sich eines Falles persönlich annahm, tat ihm eben diese Verkleidung gute Dienste. »Wir haben es also hier mit einer nicht zu identifizierenden Er mordeten zu tun, einem kostbaren Smaragdschmuck, der durch ei ne Fälschung ersetzt wurde, und einem deutschen Maler, der viel leicht als Täter in Frage kommt«, faßte Lapier den Bericht zusam men, den Lion von den Ereignissen in Port St. Marie gegeben hat te. Nachdenklich rieb der Chef die Oberlippe mit dem rechten Dau mennagel. »Eine unerfreuliche Geschichte. Vor allen Dingen zu Beginn der Saison. – Hat die Presse schon Wind von der Sache bekommen?« »Bisher nicht«, antwortete Lion. »Aber ich fürchte, nach der Ob duktion im Leichenschauhaus …« Er zuckte mit den Schultern. »Was haben Sie für einen Eindruck von diesem Horst Rixen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Lion. »Beim ersten Anblick der Leiche brach er fast zusammen. Seit wir jedoch feststellten, daß sie keine Brandnarbe am linken Ellenbogen hat, die er als besonderes Kenn zeichen seiner Frau nannte, scheint er es mit ziemlicher Fassung zu tragen, daß sie und seine Adoptivtochter verschwunden sind.« Das Klingeln des Telefons unterbrach Lion. 26
Oberkommissar Lapier griff nach dem Hörer. »Ja? Ja, er ist hier.« Er blickte auf. »Für Sie, Lion, aus Ihrem Büro.« Lion nahm den zweiten Hörer auf. Die hohe, aufgeregte Stimme seines Assistenten Jean meldete sich. »Chef, dieser Rixen hat angerufen. Es handelt sich bei der Ermor deten doch um seine Frau. Er sagte, er habe ganz vergessen, daß sie sich die Brandnarbe im linken Ellbogen durch eine kosmetische Operation habe entfernen lassen.« »Und?« fragte Lion knapp. »Nichts weiter. Ich habe ihn für morgen früh um zehn Uhr hier her bestellt.« »Gut gemacht, Jean.« Lapier und Lion legten zur gleichen Zeit die Hörer auf. »Was meinen Sie dazu?« fragte Lion. »Wer sich in eine Falle begibt, kommt darin um«, sagte Lapier. Es war zur selben Stunde in derselben Nacht. Vor wenigen Minuten hatte sich Karen Schaumburg von Horst Rixen in der Halle des Bellevue verabschiedet. Jetzt betrat sie ihr Zimmer, knipste das Licht an, verschloß die Tür hinter sich. Sie schlüpfte aus den blaßgrünen flachen Ballerinenschuhen, warf die Jacke ihres gleichfarbigen Hosenanzuges über einen Stuhl. Sie war mit zwei Schritten beim Bett, kniete davor nieder, zog ihren Koffer darunter hervor. Sie hatte ihn vor Jahren in New York gekauft, als sie dort für ihre Zeitung über einen aufsehenerregenden Giftmordprozeß Bericht er stattete. Der Koffer besaß ein Patentschloß, dessen winzigen Schlüssel sie auf Reisen stets an ihr Uhrarmband gehakt trug. 27
Der Verschluß schnappte mit einem leisen Scharren auf. Karen nahm einen gelben Aktendeckel heraus, eine Lupe mit ei nem schwarzen Metallgriff, eine starkstrahlige Taschenlampe. Sie kauerte sich aufs Bett, öffnete die Mappe auf ihren Knien. Der erste Zeitungsausschnitt war sehr vergilbt. Er trug das Datum vom 10. Februar 1959. Die Überschrift lautete: ›Dreister Juwelenraub in Frankfurt‹. Darunter stand folgender Text: ›Für 800.000 Mark Schmuck erbeuteten heute vormittag eine rot haarige junge Frau und ihr Komplize in einem Juweliergeschäft an der Hauptwache. Sie betäubten den Geschäftsinhaber und die bei den Verkäuferinnen mit Gaspistolen. Die rothaarige Frau, die als auffallende Schönheit geschildert wurde, konnte entkommen. Mit Hilfe des nebenstehenden Fotos, das unser Reporter durch Zufall von den beiden Gangstern schoß, als sie das Juweliergeschäft verlie ßen, konnte der Komplize schon kurze Zeit später auf dem Haupt bahnhof festgenommen werden. Es dürfte der Polizei nicht schwer fallen, diesen Fall binnen kurzem ganz aufzuklären.‹ Aber die Polizei klärte den Fall nicht auf. Der Schmuck im Wert von 800.000 Mark blieb verschwunden – und mit ihm die rothaarige Frau. Ihr Komplize wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Und in diesen Tagen nun waren die acht Jahre Zuchthaus für Paul K. herum. Er sollte aus der Strafanstalt Butzbach entlassen werden. Das Foto zeigte ihn als großen, schlanken Mann mit einem kühn geschnittenen Gesicht. Einem blonden Piratengesicht, unverwechselbar durch die hohen Wangenknochen, die grünen schmalen Augen – so hatte Karen ihn auch während des Prozesses gesehen. Karen erinnerte sich dieses Prozesses noch so genau, weil er der erste war, über den sie ganz allein für ihre Zeitung berichten durfte. Vom ersten bis zum letzten Tag. Sie war sehr stolz darauf gewesen, 28
immer wieder unter den Schlagzeilen ihren Namen zu lesen: Karen Schaumburg. Der Angeklagte Paul K. wurde von zwei Anwälten betreut, die sich die größte Mühe gaben, ihn zu verteidigen, seine Tat als eine Af fekthandlung darzustellen, ihn womöglich als unzurechnungsfähig zu erklären, weil er unter Drogeneinfluß gestanden habe. Nein, kein Haschisch, kein Morphium und auch kein Heroin, denn das hätte den Angeklagten ja wieder nur belastet, dann wäre die Frage aufgetaucht, woher Paul K. die Drogen hatte und wer die Dealer waren. Paul K. wurde zur Zeit der Tat von seinem Arzt mit einem be kannten Tranquilizer behandelt, einem Mittel, das mit Alkohol konsumiert zu Halluzinationen führen konnte oder zum Verlust be stimmter Moralbegriffe. Nur dadurch hatte er sich an fremdem Ei gentum vergriffen. Der Angeklagte war in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen, es hatte ihm nie an etwas gemangelt, bis seine Eltern sich scheiden ließen. Und diese Tatsache hatte tiefe seelische Wunden bei ihm hinterlassen. Er war von einem Jungen, der beste Noten aus der Schule nach Hause brachte, der stets fröhlich und unbeschwert ge wesen war, zu einem jungen Mann herangewachsen, der mit tiefen Depressionen zu kämpfen hatte. – So die Aussage seiner Verteidi ger. Der Angeklagte schien ihnen aufmerksam zu lauschen. Der Staatsanwalt beharrte darauf, daß der Juwelenraub mit eiskal ter Dreistigkeit ausgeführt worden sei, daß der Angeklagte und sei ne Komplizin, die leider flüchtig sei, auch vor der Anwendung von körperlicher Gewalt nicht zurückgeschreckt wären, denn schließlich liege eine der Verkäuferinnen noch im Krankenhaus, und es sei zu befürchten, daß sie ihr Augenlicht verlieren werde. Zugegeben, sie habe seit langer Zeit am grünen Star gelitten, doch das Gas aus der direkt auf sie abgefeuerten Pistole habe diesen Zustand so katastro 29
phal beeinflußt, daß mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. Auch das hörte sich der Angeklagte aufmerksam an. Und dennoch wirkte er unbeteiligt, wirkte wie irgendeiner der Zu schauer und Zuhörer des Prozesses, als ginge ihn das Ganze in Wirk lichkeit nicht das geringste an. Als sei er beispielsweise, so dachte Karen damals, nur in den Gerichtssaal gekommen, um eine Repor tage zu schreiben – wie ich. Nach seiner Komplizin befragt, schwieg er. Sagte kein einziges Wort. Seine Anwälte beschworen ihn, doch auszusagen, daß sie die trei bende Kraft bei diesem Einbruch gewesen sei. Ja, sie habe ihn dazu angestachelt, eine wunderschöne Frau, der es nach Schmuck gelüs tete, den sie sich nie kaufen könnte. Aber Paul K. schwieg. Der Prozeß zog sich hin, was verständlich war, da die Anwälte immer neue Gutachter aufmarschieren ließen, die das gestörte Ver hältnis des Angeklagten zu seiner Umwelt überhaupt beweisen soll ten – schließlich wird ein junger Mensch nicht ohne Schaden aus einem behüteten Zuhause gerissen und zum Spielball zwischen den sich hassenden Eltern. Auch dazu sagte der Angeklagte kein Wort. Karen erhielt die Erlaubnis, allein mit ihm zu sprechen. Das war auf ihre freundschaftliche Verbindung mit der Familie des Gerichts präsidenten zurückzuführen. Und darauf, daß sie ihm glaubhaft ver sichern konnte, sie wollte keine Sensationsstory schreiben, sondern das Porträt eines Menschen, der durch Umstände, die er selbst nicht mehr kontrollieren kann, zum Verbrecher wird. Und dann saß sie Paul K. in einem kahlen Raum an einem schma len Tisch gegenüber. Er fragte: »Was wollen Sie von mir?« Sie sagte: »Ich glaube von allem kein Wort, was bisher vor Ge richt vorgebracht worden ist.« 30
»Sie sind ziemlich aggressiv.« »Das muß man in meinem Beruf sein.« »Sie sehen nicht aus wie eine Gerichtsreporterin.« »Und doch bin ich eine.« »Warum wollen Sie mit mir reden?« »Weil ich wissen will, was hinter Ihrem Schweigen steckt.« »Um daraus eine große Story zu machen?« »Keineswegs. Nur einen Hintergrundbericht.« »Wenden Sie sich an meine Anwälte.« »Die langweilen mich.« »Und ich tue das nicht?« »Sie schweigen vor Gericht. Warum?« Es war fast, als lächle er. Wenigstens in den grünen Augen. Und blieb stumm. »Sie sehen aus wie ein Pirat«, sagte sie, »oder zumindest so, wie ich mir Piraten vorstelle.« »Die lebten zu einer Zeit, die mir gepaßt hätte.« »Also Auflehnung gegen unsere Gesellschaft? Überdruß? Kein Ziel vor Augen, für das es sich lohnt zu leben?« Er zuckte mit den Schultern. »Was geht mich das alles an?« »Das frage ich ja Sie!« »Da können Sie lange fragen.« »Und kriege keine Antwort?« »Nein.« »Sie haben den Raub nicht allein unternommen. Es gab eine Komplizin.« »Ach ja?« »Ja, das wissen Sie doch selbst. Es gibt doch ein Foto von Ihnen beiden.« »Ach ja?« »Wenn Sie mir schon nichts von sich erzählen wollen, was ich, offen gestanden, für falsch halte, denn meine Zeitung …« 31
»Ach, hören Sie doch auf«, sagte er. »In den Knast muß ich so oder so. Und für wie viele Jahre spielt jetzt eigentlich keine Rolle mehr.« »Wirklich nicht?« »Nein«, sagte er, seine Augen jetzt grünes Eis. »Und warum nicht?« »Ich habe einen Menschen geliebt. Zum erstenmal, nach meinen Eltern. Einen einzigen Menschen. Ich habe gedacht, jetzt wird alles anders. Jetzt kommst du in die Reihe. Jetzt fängst du ein ganz nor males Leben an. Ich habe gedacht, ich brauche das Zeugs nicht mehr, keine Medikamente und keinen Alkohol. Ich habe gedacht, ich werde was schaffen. Für uns beide. Aber es ging ihr nicht schnell genug. Nichts ging ihr schnell genug. Sie wollte alles auf einmal ha ben. Und sie kannte sich aus, wie man alles auf einmal kriegt. – Oh, verdammt, nein, Sie blöde Kuh haben mich zum Reden ge bracht!« Und er hob die Hände und verbarg sein Gesicht darin. Er rieb sich Stirn und Wangen und Augen, und sie sah, was sie nicht für möglich gehalten hätte, daß er weinte. »Diese Frau also«, sagte sie leise. »Halten Sie den Mund!« »Diese Frau«, wiederholte sie. »Ich will hier raus!« sagte Paul K.. »Wärter, ich will nicht länger mit dieser Dame reden.« Und dann wurde er hinausgeführt und schaute sich – natürlich – nicht mehr um. Und der Umbruchredakteur sagte sechs Stunden später: »Mann, Karen, wenn du das so bringst, kommt der Kerl ja frei.« Und sie sagte: »Ich kann es nicht anders bringen.« Aber in dieser Nacht nahm sich die Verkäuferin aus dem Juwelier geschäft das Leben, denn sie hatte erfahren, daß sie nie mehr würde sehen können. Paul K. hatte sie nicht ermordet, es war ihre eigene Entscheidung. Daher konnte man ihm nur Körperverletzung mit tödlichem Aus 32
gang anlasten. Paul K. wurde schließlich nach dem Tauziehen all der Sachver ständigen um seine Persönlichkeit und deren Struktur zu acht Jah ren Zuchthaus verurteilt. Seine Komplizin aber blieb für immer verschwunden. Nun, acht Jahre später, betrachtete Karen die Frau auf dem Foto neben Paul K. lange und aufmerksam durch die Lupe. Aber sie war und blieb unkenntlich, denn im Bruchteil der Sekunde, in dem der Reporter auf den Auslöser drückte, hatte der Wind ihr das lange Haar über das Gesicht geweht. »Verdammt!« stieß Karen hervor. »Einfach nichts zu machen.« Sie knipste die Taschenlampe aus, warf die Lupe auf das Bett, schob den Aktendeckel von ihren Knien. Sie beugte sich vor, angelte nach den Zigaretten auf dem Schreibtisch. Sie rauchte, starrte vor sich hin auf den roten Fliesenboden, die weiße Wand, die eine blaugelbe Postkartenlandschaft verunzierte. Karen Schaumburg war nicht durch Zufall nach Arles gekommen und nicht durch Zufall nach Port St. Marie in der Camargue. Sie war gekommen, um Horst Rixen zu finden und seine rothaa rige Frau Gloria, die sie nie gesehen hatte. Die rothaarige Gloria, die vor drei Jahren aus dem Nichts aufge taucht war, in München, in Schwabing, als sie, Karen, in Amerika war mit ihrem ersten großen Auslandsauftrag. Damals war sie froh darüber, denn sie hoffte, von Horst Rixen loszukommen, ihn zu vergessen, weil sie ihn liebte, ihm aber nicht mehr bedeutete als ein Mädchen, mit dem er zwar gern schlief, das er aber nicht liebte. Und da war Gloria gekommen. Gloria, von der Horst Rixen ihr nach Amerika schrieb: ›Du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie sie ist. Ich kann sie dir auch nicht 33
beschreiben. Ich weiß nur, daß Gloria für mich der Mensch ist, für den es sich lohnt zu leben.‹ Und dann das Telegramm: ›Haben geheiratet. Herzliche Grüße Horst und Gloria.‹ Zwei Jahre später hatte sie ihn durch Zufall in München wieder gesehen – sie gerade aus Amerika zurückgekehrt, er auf dem Sprung, nach Frankreich zu fliegen. Aufgeregt war er gewesen wie ein kleiner Junge. »Wir werden in Arles leben«, hatte er gesagt und sie lachend bei den Schultern genommen. »Ich werde malen, Karen, endlich richtig malen. Dann brauchst du keine guten Besprechungen mehr für mich bei deinen Kritikerkollegen zu lancieren, dann werd' ich sie von allein bekommen.« Er war ausgelassen gewesen, übermütig, glücklich. Sie hatten eine Flasche Champagner im Regina-Hotel getrunken auf ihrer aller glückliche Zukunft. Und heute? Ein Jahr später? Horst hatte nicht gemalt. Auch nicht in Arles. Da war doch Glo ria. Und da war Naty, das Kind. Er mußte sich um sie kümmern und sich erst einmal richtig an das fremde Land und seine Men schen gewöhnen, nicht wahr? Das hatte er mit einem verlegenen, wie um Verzeihung bittenden Lächeln in Fernandos Bar gesagt. Karen schüttelte den Kopf. Sie rieb sich die steile Falte auf der Stirn. Das war also aus Horst Rixen geworden: ein Mann, der einer Frau hörig war. Einer Frau, von der Karen allen Grund hatte zu glauben, daß sie eine Verbrecherin war. Denn Horst hatte ihr damals in München ein Foto von Gloria gezeigt, auf dem sie um den schlanken weißen Hals unter dem wol kigen roten Haar herrliche Smaragde trug. Und Smaragde wie diese, in Brillanten gefaßt, sternengleich, wa ren auch damals in Frankfurt geraubt worden. Das hatte Karen in 34
zwischen noch einmal nachgeprüft. Aber wie konnte diese Frau es wagen, diesen Schmuck zu tragen? Die übrige Beute aus dem Raubüberfall war gewiß längst verhö kert. Und gewiß in Frankreich, denn jedermann wußte, wie sehr Franzosen Schmuck liebten. Ein Mann konnte noch so schäbig herumlaufen, aber er würde seiner Geliebten oder Frau, sobald es ihm irgendwie möglich war, einen Einkaräter an den Finger stecken. Aus dem Erlös der geraubten Juwelen stammte das Haus in Arles? Und der Lebensunterhalt? Aber angeblich war alles von ›chère Tan te Marie‹ geerbt. Was für eine Frau war Gloria? Was für ein Mensch? Böse, gut – nein, gut gewiß nicht. Triebhaft? Das bestimmt. Und ausgerechnet Horst Rixen, der so viel Sensibilität besaß, den hatte Gloria sich gekapert. ›Sind überglücklich‹, hatte es noch in seinem Telegramm gehei ßen. Aber das war er längst nicht mehr. Man sah es ihm an. Er fühlte sich als Versager. Er wurde zu einem Versager, weil er einer Frau hörig war. Ferne Worte, mit harter, gefühlloser Stimme gesprochen: »Ich habe einmal in meinem Leben einem Menschen vertraut …« Paul K., ein Opfer damals vor acht Jahren. Horst Rixen heute das zweite? Deswegen war Karen hierhergekommen. Weil sie wußte, daß Paul K. entlassen werden sollte – mit größter Wahrscheinlichkeit inzwischen entlassen worden war. Und sie hatte ihn noch einmal gesprochen vor wenigen Wochen, noch einmal versucht, hinter die undurchdringliche Fassade des kühnen Gesichts zu dringen. Wieder hatte es ihr der väterliche Freund, der Gerichtspräsident, ermöglicht. 35
»Was wollen Sie schon wieder?« fragte Paul K. »Ihre Strafe ist bald um. Was werden Sie dann tun?« »Was geht Sie das an?« »Mich persönlich nichts. Aber es interessiert meine Leser.« »Ich werde an einen Ort reisen, wo die Sonne scheint, mich an den Strand legen und braunbraten lassen.« »Wo?« »Das weiß ich noch nicht.« Aber er wußte es sehr genau, sie sah es in seinen Augen. »Wo diese Frau ist?« »Ich weiß nicht, wen Sie meinen.« »Sie wissen es sehr gut. Sie wollen es nur nicht zugeben. Zufällig weiß ich, daß Ihre Anwälte von unbekannter Seite dafür bezahlt werden, daß sie Sie mit allem Nötigen versorgen, dessen Sie bedür fen. Und ich könnte mir vorstellen, daß Sie vor allem Zeitungen verlangt haben.« Da lachte er hell auf, und seine grünen Augen blitzten. »Sie können mich nicht aufs Kreuz legen. Sie sind zwar sehr schlau und sehr schön, ja, das stimmt, aber aufs Kreuz legt mich niemand mehr. Ich beziehe nicht eine einzige Zeitung. Was geht mich der Scheißdreck an, der draußen passiert!« Und wieder verlangte er, sofort in seine Zelle zurückgeführt zu werden. »Lassen Sie mich endlich in Ruhe«, sagte er noch zum Abschied. »Aber was werden Sie nach Ihrer Entlassung tun?« So schnell gab Karen nicht auf. »Das geht Sie überhaupt nichts an!« »Ich könnte Ihnen vielleicht helfen?« »Es gibt genug Sozialhelfer«, sagte er. »Tun Sie Ihren Job. Und mischen Sie sich nicht ein.« Aber wie sollte sie es fertigbringen, sich nicht einzumischen? Horst war in Gefahr. Wenn Gloria Paul K.s ehemalige Komplizin 36
war. Denn Paul K. würde sie suchen, würde sie finden und sich rä chen – an ihr oder an Horst. Und Horst war verwundbarer als Paul K., ein sehr sensibler Mann, der unter allem litt, was ihn von seiner Arbeit abhielt, auch wenn er das nie zugeben würde. Glücklich war er in Arles nicht, das wußte Karen von den Nach barn. Oft war das Kind, das er adoptiert hatte und das nun sieben Jahre alt war – Paul K.s Kind? – verstört. Die Eltern stritten sich häufig. Manchmal fuhr Horst mitten in der Nacht weg. Oder Gloria, die Frau, die Karen nie gesehen hatte. Eine schöne Frau, gewiß, so sagten sie alle, eine Frau, der man Rosen streute in Arles. »Warum?« fragte Karen. »Ach, das ist so ein alter Brauch. Einer Frau, so schön, so zart, so ungewöhnlich, der streut man Rosen.« »Wo?« fragte Karen. »In unseren Herzen«, antwortete man ihr. Karen sah sich vor dem Café sitzen – endlich den petit café vor sich – mit dem alten Ehepaar, das neben den Rixens wohnte. Sie hatten miteinander zu Abend gegessen, all diese vielen Gänge eines ›einfachen‹ Menüs. Das Plateau war schon eine Mahlzeit für sich: Sardellenfilets, win zige Silberzwiebeln in Safran, Oliven aller Art und nicht zu verges sen die Tapenade und die Brandae und dazu das frische krustige Weißbrot. Danach Lapin – »in seinem eigenen Blut gesotten«, wie ihr die alte Frau versicherte und die milchigtrüben Augen genieße risch schloß. »Meine Liebe, wer das nicht in Arles gegessen hat, weiß nicht, was der Himmel ist…« Der Himmel wölbte sich hoch und dunkelblau über der alten Stadt mit ihren Kunstschätzen, mit ihren grandiosen Zeugen längst vergangener Kulturen. Eine herrliche Stadt, die Stadt für einen Maler. 37
»Morgen wird es Mistral geben«, sagte der alte Mann und tunkte das letzte Bißchen der Soße des Kaninchens auf, das im eigenen Blut gekocht worden war. Die Käseplatte entlockte ihm lange Tira den über Reife und Unreife der verschiedenen Bleus und Ziegen käse. Schließlich entschied er sich doch. Und dann das Dessert, man mußte das Leben genießen, nicht wahr. Da kam eine junge Frau da her und lud einen zu einem Abendessen ein, das man sich von der schmalen Pension immer seltener erlauben konnte, die schmaler wurde von Jahr zu Jahr. »Weil wir ja wieder eine Inflation haben«, sagte seine Frau. Nun endlich das Dessert und schließlich der Kaffee vor dem Re staurant, der Abend war so mild, noch kein Mistral… »Das muß man ausnutzen«, sagte die alte Frau. »Wissen Sie«, sagte sie, »den Mistral kann ich einfach nicht lie ben. Ich bin eine Provençalin, eine echte, aber der Mistral, der greift mir direkt ins Gehirn. Da werde ich böse, da werde ich verrückt.« »Das wirst du«, sagte der Mann. »Er hat recht. Wissen Sie, Mademoiselle, manchmal weiß ich dann gar nicht mehr, was ich tue.« »Du schikanierst mich«, sagte der alte Mann. »Ja, mon vieux«, gab die alte Frau zu, »das tue ich. Aber du weißt doch, daß ich dich liebe, mon petit chou.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte er, »aber wir wollten doch nicht über unsere Angelegenheiten reden, die sowieso für diese junge Dame unwichtig sind. Wir wollten reden über Monsieur et Madame Ri xen.« »Ja, das ist wahr. Du hast recht wie immer.« Und die alte Frau blickte Karen mit ihren milchtrüben blauen Augen an. »Glücklich sind sie nicht. Nicht einmal das Kind. Manchmal kommt es unter einem Vorwand zu uns. Es sagt dann immer, ›mein Vater muß ar beiten, aber meine Mutter läßt ihn nicht‹ oder ›bei uns ist es so kalt‹ – verstehen Sie, mitten im Sommer, wenn wir unsere Läden ge 38
schlossen halten gegen die Hitze. Ja, dann kommt das Kind. Und ich erzähle ihm Märchen. Es versteht alles. Alles versteht dieses Kind. Es ist ein Kind der Liebe. Nur ist Monsieur nicht sein wirk licher Vater. Das weiß es.« Nein, Horst ist nicht sein richtiger Vater, dachte Karen, aber er hat Naty adoptiert. »Woher weiß es das Kind?« fragte sie. »Das wissen wir nicht«, sagten die alten Leute. Und danach schwiegen sie und wiegten die Köpfe vor Wohlgefal len über das köstliche Mahl, das sie sich von ihrer schmalen Pen sion nicht hätten leisten können. Wen wollte sie nun eigentlich warnen und wenn möglich schützen? fragte sich Karen in ihrem Hotel in Port St. Marie. Wen? Und schritt unruhig auf und ab. Den Mann, den sie immer noch liebte? Horst. Das Kind, das sie nicht einmal kannte? Aber ein Kind eben. Oder die Frau, die Schuld auf sich geladen hatte? – Alle drei wa ren untrennbar miteinander verbunden. Der Mann, der diese Frau liebte, und das Kind, das er adoptiert hatte. Und ich selbst, dachte Karen. Was ist mit mir? Na, schön und gut. Ich bin eine erfolgreiche Frau. Und ich bin selbständig. Ich bin allein. Wenn ich einen Mann brauche, na gut, dann finde ich ihn schon. Nur hatte sie keinen mehr gesucht – seit Horst. Mach dir nichts vor, sagte sie zu sich selbst. Du bist hoffnungslos altmodisch. In allen Gazetten steht zu lesen, wie man sich befreien kann. 39
Es gibt ganz einfache Rezepte dafür: Man fragt einfach: Willst du mich? Oder sagt: Ich möchte mit dir schlafen. Und ein Nein ist dann einfach keine Antwort. Die vergißt man. Fragen kostet ja nichts. Aber ich schweife ab, sagte sie zu sich selbst. Verdammt noch mal, ich bin nicht hierhergekommen, um mein Seelenleben oder was auch immer zu sezieren. Ich bin gekommen, um – sie schloß die Augen, blieb einen Mo ment lang ganz still stehen. Um Horst zu retten. Das sind große Worte, Karen. Na und? Ich will ihm helfen. Das ist alles. Und weiter? Nichts weiter. Aber sie belog sich selbst. Und sie wußte es. Aber sie war noch nicht soweit, sich das selbst einzugestehen. Karen trat zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite, blickte grü belnd hinaus. Wolken trieben schnell über den Mond. Das Meer war ein Spiegel aus rußigem Silber. Silbrig schimmerte auch der Sand. Und deutlich hoben sich dagegen zwei schmale, schwarze Ge stalten ab. Sie standen regungslos. Ihre Gesichter waren unter breit randigen Hüten verborgen. Zigeuner. Das Feuer loderte hell auf. Zischend quoll Harz aus den Scheiten, blähte sich zu bernsteinfarbenen Blasen. Die gezupften Laute der Gitarren schwirrten wie Grillen durch die Nacht. Monoton, hellsingend. Naty saß regungslos auf dem Polster aus Ziegenfellen. Sie ließ die Augen schweifen. 40
Über die finsteren Gesichter der Männer, die Gitarre spielten und in deren dunklen Augen sich das Feuer spiegelte. Über die Mäd chen und Frauen mit den langen Zöpfen und den knallbunten Sei denkleidern, die ein wenig hinter den Männern saßen und die Ober körper im Takt wiegten. »Mami«, flüsterte Naty, »sind das wirklich ganz richtige Zigeuner, oder ist das ein Karneval?« Gloria, die wie alle anderen Frauen gekleidet war, in glänzende, grelle Seide, breite Goldmünzenbänder um Hals und Armgelenke, lachte ihr leises, klingendes Lachen. »Natürlich, Natylein, sind das richtige Zigeuner.« Naty griff nach ihrer Hand. »Aber warum haben sie denn keine Pferdewagen mehr?« »Autos sind schneller und bequemer, Liebling.« »Mami, wenn sie doch richtige Zigeuner sind – in meinem Mär chenbuch steht aber, daß sie – kleine weiße Kinder stehlen…« Naty flüsterte, und die letzten Worte bekam sie nur mit angstvollem Sto cken heraus. »Aber Kleines, das sind Märchen, ich bin doch bei dir.« »Ja, schon – aber ich hab' trotzdem Angst.« Das kleine Mädchen schluckte, machte eine unwillkürliche schreckhafte Bewegung zum Hals. »Du siehst auch so komisch aus – genau wie die anderen. Und – und warum ist Vati denn nicht hier?« »Er kommt ja bald, Natylein. Er will doch ein Bild von dem Zi geunerlager malen.« »Ja schon, das hast du mir ja schon erklärt. Aber warum müssen wir ohne ihn schon hier sein? Und warum hast du dich so ange zogen und dir die Haare gefärbt?« »Weißt du, Zigeuner sind sehr scheue Menschen. Sie haben es nicht gern, wenn ein Fremder in ihr Lager kommt. Deswegen habe ich mich so angezogen, und deswegen habe ich mir die Haare ge 41
färbt. Und weil ich ihre Sprache spreche, kann ich Vatis Besuch vorbereiten.« »Aber – wenn sie nun entdecken, daß du keine Zigeunerin bist?« fragte Naty voller Furcht. »Hab' keine Angst, Liebling, das werden sie schon nicht.« Mit einem zärtlichen Lächeln zog Gloria das Kind an sich. Im gleichen Moment entdeckte sie die beiden schlanken Männer mit den breiten Schlapphüten, die aus dem Dunkel der nächtlichen Camargue in den Schein des Lagerfeuers traten, sich suchend um schauten, dann rasch auf sie zukamen. Das Lächeln glitt von Glorias Lippen, unwillkürlich kniff sie die Augen zu, als könne sie so den Ausdruck der Männergesichter bes ser deuten. »Sei gegrüßt«, sagte der größere der beiden. »Sei gegrüßt, Janos«, antwortete Gloria. »Wir haben ihn gesehen«, sagte der kleinere. »Mit einer blonden Frau«, ergänzte Janos. »Sie wohnt im gleichen Hotel wie er«, sagte der kleinere. »Sie ist eine Journalistin.« »Eine Deutsche?« fragte Gloria. »Ja, eine Deutsche.« »Kennt ihr den Namen?« »Karen Schaumburg«, sagte Janos. »Mami, was ist denn?« flüsterte Naty. »Warum zitterst du plötz lich so?« »Es ist gut«, sagte Gloria tonlos zu den beiden Männern. »Ich danke euch. Und verliert die beiden nicht aus den Augen.« Die Männer zogen die Hüte, neigten den Kopf. Dann wandten sie sich um, gesellten sich zu den Gitarrespielern. Sie nahmen dün ne schwarze Zigarillos aus ihren Jackentaschen, begannen zu rau chen. »Komm«, sagte Gloria zu ihrer Tochter. Sie stand auf, zog Naty 42
mit sich in die Höhe. »Wo gehen wir hin? Und was wollten die Männer von dir, Mami?« »Sie haben uns Grüße von Vati gebracht. Und wir fahren jetzt wieder in unser kleines Haus«, sagte Gloria in dem sanften Tonfall, den sie Naty gegenüber fast immer anschlug. Das spanische Rohr, das die Hütte wie ein Schutzwall umgab, rauschte im Wind. Zwei Wildenten strichen mit flappendem Flü gelschlag von einem nahen Salztümpel auf. Naty drückte sich eng an ihre Mutter, klammerte ihre kleine Hand in den seidenen Rock. Gloria entriegelte die Tür der Hütte, stieß sie auf. »Warte einen Moment«, sagte sie zu Naty, und gleich darauf pras selte grellweiß das Licht einer Karbidlampe auf. »So, jetzt gehen wir beide schön schlafen.« Sie hob Naty auf und trug sie zu dem Lager aus Schaffellen. Sie kleidete das Kind aus, ließ es in den roten Flanellpyjama schlüpfen, deckte es mit den weißen, weichen Fellen zu. »Mami, du läßt mich doch nicht mehr wieder allein?« sagte Naty schlaftrunken. Mit einemmal war sie sehr müde. Die Augen fielen ihr zu. »Nein«, sagte Gloria, »ich lasse dich niemals allein.« »Dann laß uns beten«, sagte das Kind, aber es hörte die von Glo ria zögernd, wie nur unter Anstrengung geflüsterten Worte des Ge betes schon nicht mehr. Naty erwachte von einem hohen, hellen Schrei. Sie war sofort hellwach. Und noch einmal schrie es. Jäh. Gellend. Und dann war alles still. Ganz still. Schrecklich still. Mami, wollte Naty flüstern. Mami, aber sie bekam kein Wort her 43
aus. Sie tastete um sich. Nichts. Niemand. Nur die Felle. Sie kroch über den Boden, kreuz und quer durch die Hütte. »Mami, Mami, wo bist du denn?« flüsterte Naty. Nichts. Keine Antwort. Plötzlich ein Luftzug, kalt und feucht. Naty erstarrte. Ein Windzug schob die Tür der Hütte knarrend auf. Und im gleichen Moment ergriff Panik das Kind. Naty sprang auf. Rannte aus der Hütte. Sie lief, stolperte, rannte weiter. Nur weg. Nur weg von diesem gespenstischen Ort. Hinter den Wolken, die den Regen ausschütteten, war ein blasser roter Schein zu sehen. Dort ging die Sonne auf. Und wo die Sonne aufging, da war das Meer. Instinktiv erinnerte sich das Kind daran, weil der Vater es ihm ei nes frühen Morgens gezeigt hatte. Und wo das Meer war, mußte auch das Hotel sein. Und im Ho tel war der Vati. »Vati!« rief das Kind, während es durch das spanische Rohr rann te, höher als es selbst, über knisternd-verharschte Salzlaugenlachen, sandigen Marschboden. »Vati, Vati!« Es war ein Ruf der Beschwörung, die flehende Bitte um Rettung vor den Schrecken der Nacht. Doch der Ruf verhallte ungehört in den Lagunen der schweigenden Camargue. »Vati, Vati!« Immer wieder rief Naty nach ihm, während ihr die Tränen und der Regen übers Gesicht rannen, rief nach Horst, bis ihr fast die Stimme versagte vom schnellen Laufen, ganz heiser und erstickt kamen die Worte nur noch. Sie liebte Horst. Sie liebte ihn von ganzem Herzen. 44
Helle Bilder der Freude durchzuckten ihre Angst und Panik: Sie saß ganz still auf einem kleinen Schemel vor dem schönen alten Haus in Arles, und Vati malte sie. Es war das einzige Bild, das Horst in Arles vollendet hatte, und nun hing es über dem roten Kamin aus Marmor in Natys Zimmer. Das schöne Zimmer mit dem Messingbett und den weißen wallen den Vorhängen, von rosa Kordeln tagsüber zur Seite gerafft. Vati am Bett, ganz nah bei ihr, weil sie Fieber hatte, und er er zählte ihr ein wunderschönes Märchen von einem weißen Kanin chen, bis Mami ihn leider wegrief. Aber am nächsten Tag kaufte Vati ihr auf dem riesigen Markt von Arles, der sich an den Markttagen um die ganze Stadt zieht, ein weißes Kaninchen. Und sie tauften es feierlich ›Nathan der Weise‹ wie das Kaninchen aus dem Märchen. Und zur Kirmes im Herbst nahm Vati sie mit und tanzte mit ihr auf dem großen runden Platz, als sei sie gar kein Kind mehr, son dern schon eine richtige Frau. Später hatte Mami geschimpft, er verwöhne Naty zu sehr, aber da hatte er nur gelacht und gesagt: »Gloria, vergiß nicht, Naty ist auch meine Tochter.« »Du hast sie bloß adoptiert!« »Ich liebe das Kind, als wäre es mein eigenes.« »Du liebst sie mehr als mich.« »Bitte, Gloria, nun hör schon auf!« Doch da hatte seine Stimme ganz traurig geklungen. Aber er ging und kaufte Mami den weißen Zwergpudel, den sie sich gewünscht hatte. Und um ihn kaufen zu können, malte er rie sige bunte Plakate für das Reisebüro an der breiten Promenade, ob wohl Vati doch ein wirklicher Maler war und kein Plakatmaler. »Vati, Vati«, wimmerte Naty. Sie stolperte immer wieder, fiel dann hin, blieb liegen. Sie war so müde, sie hatte solche Sehnsucht nach ihrem Vati und 45
solche Angst. Sie preßte fest die Augen zu. Zuerst, damit die endlich aufhören sollten zu weinen. Dann, weil sie dachte, vielleicht ist das hier nur ein böser Traum, und wenn ich die Augen wieder aufmache, bin ich bei Vati und darf mit ihm im Bett frühstücken, selbst wenn es kein Sonntagmorgen ist, sondern Nacht. Eiskalte Regennacht. Ich darf nicht liegenbleiben. Ich muß zu Vati. Naty öffnete die Augen wieder, stand taumelnd auf. Aber da, wo vorher noch das fahle Rot gewesen war, das ihr die Richtung hätte weisen können, war nun auch alles schwarz.
3
D
üster lag der rote Abglanz des verglimmenden Lagerfeuers auf den regennassen Gesichtern der Zigeuner. Zitternd stand Gloria vor ihnen, verzweifelt, dem Weinen nahe, das sie nur durch die stählerne Disziplin beherrschen konnte, die ein Mensch zwangsläufig erlernt, der jahrelang unter dem nerven zermürbenden – aber auch nervenstärkenden – Druck der Angst lebt; der Angst vor dem Tag der Abrechnung. »Ihr müßt Naty wiederfinden!« beschwor sie die Zigeuner. »Ihr müßt mein Kind finden!« Die Männer starrten sie finster an. »Wir haben gesucht«, sagte Janos. Seine Stimme klang störrisch, und in seinen Augen lag der Trotz verletzten Stolzes. 46
»Aber ihr habt sie nicht gefunden!« schrie Gloria. »Nein«, sagte Janos knapp. »Ich biete auch hundert Francs – fünfhundert Francs für jeden von euch, der Naty findet!« Janos' Augen verengten sich. Plötzlich schnellte seine Hand vor, packte Glorias Arm. »Ich muß mit dir reden«, sagte er. Ehe sie noch Widerstand leis ten, protestieren konnte, hatte er sie ins Dunkel hinter die Tamaris ken gezerrt. Er blieb erst stehen, als das Klimpern der Gitarren, das Klappern der Kastagnetten und der kehlige Singsang der jungen Mädchen aus dem Lager hinter ihnen verstummt war. »Was für ein Spiel treibst du?« fragte er und drehte Gloria so, daß sie ihn ansehen mußte. »Ich habe deine Sippe um Obdach gebeten«, sagte Gloria. »Das weiß ich. Aber warum?« »Jemand ist hinter mir her.« »Wer?« »Ein Mann.« »Was für ein Mann?« »Ich kann nicht darüber sprechen.« »In Port St. Marie ist eine Frau ermordet aufgefunden worden. Eine Frau, die aussah wie du.« »Ich habe nichts damit zu tun«, sagte Gloria schnell. »Nein?« Der Griff seiner Hand auf ihrem Arm verhärtete sich. »Wirklich nicht?« »Nein! Bestimmt nicht!« »Aber der Mann, der hinter dir her ist – er hat was damit zu tun?« »Das weiß ich nicht.« »Du lügst«, sagte er. »Nein!« 47
»Wir sind das Fahrende Volk«, sagte Janos. »Manche Leute schimpfen uns Diebe, Betrüger und Schlimmeres. Aber wir haben eine Ehre. Und wer zu uns kommt wie du und unsere Ehre verletzt – den töten wir.« »Ich weiß, Janos«, sagte Gloria mit seltsamer Demut. »Vergiß nicht, daß meine Großmutter eine der euren war. Vergiß nicht, daß ich von ihr eure Sitten und Gebräuche kenne. Ich werde euch keine Schande machen. Ich bitte euch um nichts weiter, als eine Weile bei euch bleiben zu dürfen. Mit meinem Kind. Ich werde euch be stimmt keine Schande machen.« »Das hoffe ich«, sagte Janos. »Das hoffe ich für dich. Denn sonst –« Er ließ Gloria los, daß sie einen Schritt zurückstolperte. Er sprach nicht weiter, aber in den beiden Worten ›denn sonst‹ hatte eine Drohung gelegen, die sie, die keine Panik kannte, zittern ließ. Ohne sich noch einmal umzublicken, lief Gloria davon. Lief zu der Hütte, die ihr und Naty seit zwei Nächten Unterschlupf ge währt hatte. Lag dann zusammengekauert auf dem Lager aus Schaffellen und starrte mit weit offenen Augen in das Dunkel. Sie hatte Angst. Sie hatte große Angst. Sie dachte daran, wieviel sie in ihrem Leben falsch gemacht hatte. Sie dachte an die Sünden, die sie bewußt begangen hatte, nur um eine Handvoll Sterne zu erlangen. Sie verfluchte ihre Eitelkeit, ihren unbezähmbaren Geltungstrieb, die sie dazu getrieben hatten. Und sie weinte um den einzigen Mann, den sie liebte, und um ihre kleine Tochter, die sie verloren glauben mußte. Auch Gloria hatte – vor etwa zwei Stunden – den Schrei gehört, der Naty davongejagt hatte. Den wilden gellenden Schrei eines Menschen in Todesnot. So hatte es sich angehört. Nur – es war der Schrei eines Nachtvogels gewesen. Nichts weiter. 48
Aber für Minuten hatte er Gloria gelähmt, hinter dem Steuer ih res gemieteten Renaults, mit dem sie gerade aus Port St. Marie zu rückgekehrt war. Und diese Minuten hatten Naty genügt, um zu flüchten. Der Re gen fiel mit eintönigem Rauschen vom dunklen Himmel. Das und das Knistern des salzverharschten Sandes unter ihren Schritten war das einzige, was Naty hören konnte. Das kleine Mädchen lief auf den roten Schein, der plötzlich wie der da war, weit, weit weg am Horizont, zu, durch hohes spanisches Rohr, über scharfes, starres Gras. Naty lief mit dem einzigen Gedanken, den die Furcht ihr ließ: Ich muß zu Vati. Ich muß zu meinem Vati. Ein Kind allein in der Nacht. Ein Kind allein in der Einöde Ca margue. Ein Kind, das vor rätselhaften Geschehnissen davonläuft. Jetzt lief Naty auf den roten Schein zu, der heller wurde und fla ckerte. Sie dachte, dort müsse das Meer sein, über dem die Sonne aufging. Und wo das Meer war, war auch Vatis Hotel. Mit einemmal hörte der Regen auf. Naty merkte, daß sie in einen kleinen Wald geraten war. Und im selben Moment war auch der rote Schein vom Himmel wieder verschwunden. Naty blieb stocksteif stehen. Die Angst schloß sich wie eine eisige Hand um ihren Nacken und schüttelte sie. Sie preßte die Finger auf den Mund, damit ihre Zähne aufhörten zu klappern. Aber gegen das Weinen konnte sie nichts tun und auch nichts dagegen, daß ihr Herz schlug, als wollte es zerspringen. Sie hörte ein seltsam schnaufendes Geräusch, und jäh schoß blitz schnell ein Schatten auf sie zu. Naty sprang instinktiv zur Seite. Der Schatten wirbelte einmal um sich selbst, und dann beschnupperte eine kalte, feuchte Schnauze 49
ihr Gesicht, eine warme, nasse Zunge leckte ihre Wange. Das Kind hielt ganz still, stand ohne sich zu rühren. Ein Hund! O lieber Gott, wo ein Hund ist, sind auch Menschen. Sie hätte plötzlich lachen können vor Erleichterung. Der Hund stieß ein leises Winseln aus, drückte seine Nase gegen Natys Arm. Er machte einen Satz zurück, blieb stehen, drehte seinen Kopf, als wolle er sagen: Komm mit. Naty setzte einen Fuß vor den anderen, zögerte. Wenn er nun ein Zigeunerhund war? Aber da hörte sie wieder das seltsame Schnaufen und gleich da rauf das Stampfen von Hufen, und sie wußte, in der Nähe mußte ein Stiergatter sein. Der Hund lief vor ihr her durch das Wäldchen, und als sie unter den Bäumen hervortrat, sah sie im mattroten Licht der aufgehen den Sonne das braune, starke Holzgatter und darin die schwarzen, glänzenden Rücken der Stiere und ein wenig weiter weg eine der kleinen weißen Hirtenhütten, die wie Schiffe auf der grausilbernen See der Camargue segeln. Aus dem Kamin der Hütte kräuselte sich lustig der Rauch wie aus einem Märchenhaus. Der Hund war neben Naty stehengeblieben. Es war ein großer zottig-gelber Schäferhund, und er blickte sie mit klugen Bernstein augen an, als wollte er ihr etwas sagen. Dann bellte er leise, vorsichtig, als dürfte er die Vögel im Schilf nicht aufwecken. Ein alter Mann erschien in der Tür der Hütte. Er trug eine blaue Leinenbluse und blaue Leinenhosen und reckte den Kopf vor, auf dem buschig graues Haar wuchs. »Wer ist da?« rief er mit einer tiefen Stimme. Wieder bellte der Hund leise. Er trabte auf den Mann zu, setzte sich vor ihm auf die Hinterläufe und leckte die Hand des Mannes, der ihm den Kopf streichelte. 50
»Wer ist da?« fragte der Mann noch einmal und drehte sein Ge sicht zu Naty herum, die dem Hund langsam gefolgt war. »Bonjour, Monsieur«, sagte Naty höflich. »Du bist ein Kind?« fragte der Mann. »Ein kleines Mädchen?« Naty starrte ihn verblüfft an. »Können Sie das denn nicht sehen?« »Nein, ich kann dich nicht sehen.« Der alte Mann lächelte. »Ich bin nämlich blind, weißt du?« »Blind? Aber deine Augen sind doch ganz weit offen.« »Trotzdem«, sagte der Mann. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie sehen können.« Er streckte die Hand aus. »Wie kommst du hierher, ma petite?« »Durch den Wald«, sagte Naty und legte ihre kleine in seine gro ße warme Hand. »Ich – ich bin auf der Flucht«, fügte sie ernsthaft hinzu. »So, auf der Flucht?« Der Mann lachte leise, vergnügt, als habe sie einen Scherz gemacht. Aber seine Augen guckten ganz starr und blau über sie hinweg. »Wovor bist du denn auf der Flucht?« fragte er. »Vor – vor…« Naty wußte nicht weiter, sagte schließlich: »Das ist eine lange Geschichte.« »Dann erzähl sie mir«, sagte der Mann. »Aber erst komm rein. Du wirst hungrig sein, nicht wahr?« »O ja«, sagte Naty eifrig, »schrecklich hungrig. Und naß!« In der Hütte war es warm, denn ein lustig flackerndes Feuer brannte in dem kleinen offenen Herd. Ein schwarzer Eisenkessel hing an einem Haken über der Kochstelle, eine Fischsuppe blub berte darin. Auf einem Tisch unter dem winzigen Fenster, durch das man nur ein Stückchen blauen Himmels sehen konnte, lagen Weißbrot und silbrige Zwiebeln. »Zieh deine nassen Sachen aus und das hier an.« Er reichte ihr eine Schaffelljacke, die ihr bis auf die Füße fiel. 51
Der alte Mann hängte ihren roten Pyjama über eine Leine neben dem Kamin. »Nun setz dich an den Tisch«, sagte er dann. »Hoffentlich magst du Fischsuppe?« »O ja, sehr gern«, sagte Naty. »Zu Hause kocht mein Vati immer eine…« Und während sie das sagte, mußte sie wieder anfangen zu weinen. »Warum weinst du?« fragte der Mann. »Weil ich so traurig bin«, sagte Naty schluchzend. »Weil Mami mich im Stich gelassen hat und weil ich doch so gelaufen bin und gelaufen und immer noch nicht bei meinem Vati bin.« »Wo hat deine Mama dich denn im Stich gelassen?« fragte der alte Mann, während er in zwei braune Steingutteller Suppe schöpfte und sie zum Tisch brachte. »In einer Hütte, beim Zigeunerlager. Als die komischen Männer kamen.« »Aber du bist doch kein Gitan-Kind?« »O nein, Monsieur«, sagte Naty. »Ich bin eine Deutsche. Mein Vati ist ein Maler aus München, und wir wohnen eigentlich in Arles, wo er arbeitet wie der Maler ohne Ohr.« Naty stand auf und machte einen Knicks, wie die Mami es sie gelehrt hatte, und fügte hinzu: »Ich heiße Renate Rixen, genannt Naty. Und wie heißen Sie, Monsieur?« »Enchanté, ma petite«, sagte der Mann und lächelte wieder. Naty dachte, es ist wie Sonnenschein, der plötzlich auf sein Gesicht fällt. »Du kannst mich Tatu nennen.« »Was für ein komischer Name!« Naty lachte hell auf. »Ja, da hast du recht.« Der Mann schmunzelte. »Aber so nennt man mich nun mal. – Und nun laß uns essen.« Er setzte sich an den Tisch, griff nach dem Brot, brach es und legte ein Stück neben Natys Teller. »Komisch, daß du blind bist, Monsieur Tatu«, sagte sie, »du tust 52
alles so, als könntest du es richtig sehen.« »Ich sehe mit meinen Händen«, sagte er, »und mit meinen Ohren und mit meiner Nase.« Da mußte Naty wieder lachen, und sie merkte, daß sie richtig fröhlich war und keine Angst mehr hatte, und sie sagte: »Du wirst mir helfen, Monsieur Tatu, nicht wahr, damit ich zu meinem Vati zurückkomme?« »Und wo ist dein Vater?« »Im Hotel Bellevue.« »Und wo ist das Hotel Bellevue?« »Am Meer.« »Ja – aber in welchem Ort?« Naty starrte ihn verwirrt an, und dann sagte sie tonlos: »Das weiß ich nicht. Das habe ich ganz und gar vergessen.« Karen Schaumburg saß auf der Terrasse des Bellevue. Es war noch sehr früh am Morgen. In silbrigem Dunst verschmolzen Horizont und Meer. Die Luft war klar und frisch nach dem Regen der Nacht. Nur wenige Schwimmlustige hatten sich bisher herausgewagt, und ihre Köpfe tanzten, winzige helle und dunkle Punkte, auf dem glit zernden Wasser. Karen zündete sich die erste Zigarette nach der ersten Tasse Kaf fee an. Sie betrachtete halb gelangweilt, halb aufmerksam zwei Zi geunermädchen, die riesige runde Körbe, gefüllt mit Silberzwiebeln, auf stolz erhobenen Köpfen balancierten und dem nahen Markt zu strebten. Zigeuner. Karen mußte an die beiden Männer denken, die in der Nacht zu vor ihr Fenster beobachtet hatten. Magere schwarze Gestalten, die Schlapphüte tief in die Stirn gezogen. Sie konnten aber auch Horsts Fenster beobachtet haben. 53
Und es mochten die gleichen Männer gewesen sein, die sie we nige Stunden zuvor in Fernandos Bar gesehen hatten. Zigeuner – die sich für Horst Rixen interessierten oder für sie selbst? Karen schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Die große alljährliche Prozession der Zigeuner in Port St. Marie und Saintes Maries de la Mer stand bevor. Zu Tausenden strömten sie herbei. Kein Wunder, daß man ihnen da auf Schritt und Tritt begegnete. Karen zerdrückte ihre Zigarette im Aschenbecher. Sie strich sich das glatte falbenfarbige Haar hinter die Ohren zurück, griff nach der Zeitung neben ihrem Frühstücksgedeck. Nichts. Noch keine Meldung über Gloria Rixens Tod. Karen überflog die Nachrichten der jüngsten politischen Ereig nisse, faltete das Blatt wieder zusammen, legte es auf den Tisch zu rück. Als sie aufblickte, sah sie Horst Rixen auf sich zukommen. Er war sehr blaß und versuchte vergeblich, sich zu einem Lächeln zu zwingen, als er ihre Hand nahm und guten Morgen sagte. Karen bemerkte zum erstenmal das Grau in seinem braunen kurzgeschore nen Haar. »Ich habe wieder eine Nachricht von Gloria bekommen«, sagte er mit einer spröden Stimme, die sie eigentlich gar nicht an ihm kann te. Er schob den gelben Umschlag über den Tisch. Diesmal enthielt der Brief nur zwei Zeilen: ›Bestätige meinen Tod. Wenn Du es nicht tust, wirst Du mich und Naty nie wiedersehen.‹ Keine Unterschrift. »Was hast du getan?« fragte Karen. »Ich habe noch in der Nacht bei der Polizei in Arles angerufen. Kommissar Lion war nicht da. Ich habe seinem Assistenten gesagt, 54
daß die Tote meine Frau ist.« »Und?« »Sie haben mich für heute zehn Uhr nach Arles bestellt.« »Soll ich mit dir kommen?« fragte Karen. »Nein«, sagte er, und sein Mund wurde hart. »Horst – ist dir klar, daß sie dich unter Umständen für den Mör der halten könnten?« »Das ist doch absurd!« Er sah sie starr an. Seine Augen waren von dünnen roten Äderchen durchzogen, sein Blick sehr müde und sehr mutlos. »Ist dir schon einmal die Idee gekommen –«, Karen zögerte, »daß Gloria gerade das beabsichtigen könnte?« »Nein! Das nicht! Was immer Gloria tut, was immer sie vorhat, das nicht! Sie liebt mich. Sie…« »Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte Karen ruhig. »Nur, ich weiß so wenig von Gloria. Ich kenne sie nicht. Und ich versuche, einen Grund für die Rätsel zu finden, die sie dir aufgibt.« »Sie handelt unter Zwang«, sagte Horst. »Ich spüre es. Da ist ir gend jemand, irgend etwas, vor dem sie geflohen ist und das sie jetzt zwingt, sich mit dem Kind verborgen zu halten.« »Was hat sie dir eigentlich von Natys Vater erzählt?« fragte Karen. »Wer war er? War sie mit ihm verheiratet? Wo hat sie mit ihm ge lebt?« »Gloria hat praktisch nur einmal von ihm gesprochen. Es war kurz vor unserer Heirat. In München. Sie bat mich eines Sonntags, mit ihr zum Starnberger See zu fahren. Ich hatte keine Lust. Es regnete. Es war kalt. Ein scheußlicher Tag. Aber sie sagte: ›Ich muß dir dort etwas zeigen. Etwas Wichtiges, das du längst wissen solltest.‹ Sie fuhr. Ich hatte damals ja keinen Wagen. Ich sehe sie noch hinter dem Steuer ihres gelben Kabrioletts sitzen. Verkrampft, bis in die Spitzen ihrer Finger gespannt. 55
Wir fuhren zu einem Kinderheim. Und Gloria sagte: ›Du wirst gleich meine Tochter Renate kennenlernen.‹ Komisch, an dem Tag war ihr sonst so leuchtend rotes Haar ganz stumpf. Und sie war so blaß –« Horst Rixen räusperte sich, sein rechter Mundwinkel zuck te, wie immer, wenn er nervös, erregt war. »Die kleinen Mädchen kamen gerade aus der Messe. Naty als letz te. Sie war die kleinste und scheueste. Aber dann entdeckte sie Glo ria. Ich werde nie ihren glücklichen Aufschrei vergessen: ›Mama!‹ Und sie kam auf uns zu wie ein roter Wirbelwind mit ihrem langen Haar, das sich aus seiner Spange gelöst hatte. Wir nahmen Naty zum Mittagessen mit und anschließend, als es aufhörte zu regnen, gingen wir spazieren. Naty immer zwischen uns, ihre kleinen, weißen Hände in meiner und Glorias Hand. Auf der Rückfahrt nach München sagte Gloria dann: ›Wenn du Naty adoptierst, werde ich dich heiraten.‹ Und ehe ich noch etwas fragen oder antworten konnte, fuhr sie fort: ›Natys Vater ist tot. Er war meine Jugendliebe. Aber ich hätte Paul sowieso nie geheiratet.‹« Horst Rixen schwieg. Er atmete schwer und öffnete den obersten Knopf seines weißen Sporthemdes. Karen sah es, und es gab ihr einen heißen Stich des Mitleids – aber auch des Zorns auf die Frau, die ihn so leiden ließ. »Und das war das einzige und letzte Mal, daß sie über Natys Va ter sprach?« fragte Karen. »Ja.« »Aber du weißt doch seinen vollen Namen?« »Nein.« Horst schüttelte den Kopf. »Er interessierte mich auch nicht. Du mußt verstehen, ich liebte Gloria. Ich wollte so wenig wie möglich von anderen Männern erfahren, die sie gekannt haben mochte.« »Woher stammt Gloria eigentlich?« »Sie wurde in Berlin geboren, hat dann in Düsseldorf gelebt.« »Hatte sie einen Beruf?« 56
»Sie war Sekretärin.« »Familie?« »Ihre Eltern sind in den letzten Kriegstagen in Berlin umgekom men. Sie hatte eine Tante hier in Südfrankreich. Tante Marie. Aber sie starb, als Gloria und ich uns kaum kannten. Von ihr hat Gloria das Haus in Arles geerbt.« »Hast du ein Bild von Naty?« fragte Karen. Horst zeigte ihr drei, vier Fotos. Schwarzweißaufnahmen und in Farbe. Eine lachende, schöne jun ge Frau mit rotem Haar, die auf allen Fotos eine Sonnenbrille trug. Und ein lachendes, kleines rothaariges Mädchen an ihrer Hand, in ihren Armen, dessen Augen sich auf eine merkwürdige Art mond sichelförmig verengten, wenn es lachte. »Was für eine Augenfarbe hat Naty?« fragte Karen. »Grün«, sagte Horst. »Sie hat ein ungewöhnliches Gesicht für ein Kind«, sagte Karen. »Wie meinst du das?« fragte Horst. »Schon sehr ausgeprägt. Eigentlich schon ein Erwachsenenge sicht«, sagte Karen. »Ja, das ist wahr.« Horst nickte mit einem unbewußten, zärtlich traurigen Lächeln. »Das kommt von ihren hohen Wangenknochen. Wenn sie schwarzes Haar und schwarze Augen hätte, könnte man sie glatt für eine kleine Indianerin halten.« »Läßt du mir eines der Fotos hier?« fragte Karen. »Ich möchte mich gern in Port St. Marie umsehen, während du in Arles bist. Ei gentlich dürfte es nicht schwerfallen, jemanden zu finden, der sich an Naty erinnert – und vielleicht weiß, wo sie jetzt ist.« Horst trank seinen Kaffee, den der Garçon inzwischen – von bei den fast unbemerkt – gebracht hatte und der längst kalt geworden war. Horst verabredete sich mit Karen zum Mittagessen im Hotel und ging dann zum Parkplatz des Hotels hinüber, wo sein Wagen stand. 57
Karen verließ die Terrasse des Bellevue ebenfalls. Sie schlenderte durch den kleinen Fischerort, vorbei an den Ständen mit dem billi gen Touristentand, aber auch an Läden, die schönes, altes proven zalisches Steingut feilboten, vorbei an den kleinen, düsteren Knei pen, aus denen schon der Geruch nach gesottenen Tintenfischen, Muscheln in Knoblauch und gedünsteten Zwiebeln quoll. Sie betrat das neue, weiße, mit roten Geranienkästen geschmückte Postgebäude, ließ sich am Schalter ein Telegrammformular geben. Der Text, den sie mit ihrer knappen, energischen Handschrift rasch hinwarf, lautete: ›Erbitte neuestes Foto Paul K. Dreister Juwelenraub Frankfurt 10. Februar 1959. Ferner genaues Datum seiner Zuchthausentlassung Butzbach.‹ Der Empfänger des Telegramms war ein bekannter Kriminalrepor ter und guter Freund von Karen in Frankfurt. Sie wußte, sie würde spätestens am nächsten Tag Antwort erhal ten. Ganz aus Versehen ließ sie ihre Handtasche auf dem kleinen Schreibpult liegen, während der Beamte am Schalter die Worte des Telegramms auszählte und umständlich die Gebühren errechnete. Als Karen die Tasche holte, um das Telegramm zu bezahlen, be merkte sie, daß Natys Foto fehlte. »Da war doch jemand an meiner Tasche!« entfuhr es ihr. »Comment?« fragte der Beamte, der kein Deutsch verstand. Karen warf die Francs auf den Schaltertisch, lief hinaus. Leer lag die Straße im Sonnenglast. Es war sehr heiß, aber Karen konnte sich eines plötzlichen Frös telns nicht erwehren. Sie wußte, daß jemand sie beobachtet hatte, ihr hierher ins Post amt gefolgt war und Natys Foto aus ihrer Handtasche gestohlen hatte. 58
Der Ventilator drehte sich knarrend unter der mit bräunlichen Al tersflecken übersäten Zimmerdecke. Die Platte des Schreibtischs war von in langen Jahren daran ver brachten Arbeitsstunden blankgewetzt. In einem Schrank verstaubten Akten hinter einem schiefen Rou leau. Drei unbequeme hochlehnige Stühle vervollständigten die Ein richtung von Kommissar Lions Büro. »Sie bleiben also dabei? Die Ermordete vom Mas Armand ist Ihre Frau?« fragte Lion. Er strich sich zum zwanzigstenmal über das schwarze Haar. »Ja«, antwortete Horst Rixen zum zwanzigstenmal. »Warum haben Sie es dann zuerst abgestritten, geleugnet?« »Weil ich verwirrt – weil ich geschockt war.« »Und jetzt sind Sie nicht mehr verwirrt?« »Warum fragen Sie mich das immer wieder? Warum müssen Sie mich quälen? Ist es nicht genug, daß meine Frau einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist?« »Sie lügen, Monsieur Rixen, ich möchte wissen, wieso.« »Warum sollte ich lügen?« »Genau das möchte ich ja wissen.« »Ich kann Ihnen nur sagen, daß die Tote meine Frau ist.« »Und wo ist Ihre Tochter – pardon, Ihre Adoptivtochter? Liegt sie in einem anderen Brunnen, erwürgt, mit Salzsäure unkenntlich gemacht, Monsieur Rixen?« »Bitte!« preßte Horst hervor. »Ja, was denn? Um was bitten Sie denn?« »Ich habe meine Frau geliebt – und Naty.« »Warum haben Sie dann keine Vermißtenanzeige aufgegeben?« Kommissar Lion beugte sich vor. Aber sein blasses Bonapartege sicht blieb ausdruckslos. »Gut, nehmen wir einmal an, nur Ihre Frau sei ermordet worden. Wo ist dann das Kind? Warum haben Sie uns 59
nicht den Auftrag gegeben, nach Ihrer Adoptivtochter zu fahnden?« »Weil ich…« Horst mußte schlucken, seine Stimme wollte ihm nicht mehr gehorchen. Er steckte die Hände in die Jackentaschen, ballte sie zu Fäusten. »Weil ich Angst um Naty habe. Weil ich fürch te, daß man ihr dasselbe antun könnte wie meiner Frau.« »Tatsächlich, Monsieur? Ist das nicht eine Ausrede? – Also, wenn Sie glauben, daß die Ermordete doch Ihre Frau ist, dann könnte ich meinerseits auch meinen Vermutungen glauben.« »Und die sind?« »Sie haben Ihre Frau umgebracht. Und Sie haben Ihre Tochter umgebracht. Sie haben gehofft, daß die Polizei Ihnen nicht so schnell daraufkommen würde, wenn Sie ihre Gesichter verstüm meln. Und Sie haben sogar ein Motiv, Monsieur: Beim Tod Ihrer Frau erhalten Sie zweihunderttausend Franc. Aus einer Lebensver sicherung, die Sie auf Ihre Frau abgeschlossen haben. Nur – eines scheinen Sie vergessen zu haben: Die Versicherung zahlt nicht bei einem ungeklärten und so merkwürdigen, nun, sagen wir mal – To desfall.« »Das ist nicht wahr«, sagte Horst Rixen. »Das ist alles nicht wahr. Ich habe nicht einmal gewußt, daß Gloria eine Lebensversicherung hat. Ich…« Ein nervöser Hustenanfall schnitt ihm die Rede ab, schüttelte ihn. Kommissar Lion rührte keine Hand. Er nahm nicht eine Sekun de den Blick von Rixens erblaßtem, erschöpftem Gesicht. Als Rixens Hustenanfall vorbei war, wurde es bedrückend still im Büro. Von weither konnten sie eine Werkssirene heulen hören. Es war ein warnendes und drohendes Geräusch zugleich. »Sie beschuldigen mich, meine Frau und meine Tochter umge bracht zu haben, Monsieur le Commissaire«, sagte Horst, nun wie der ruhiger. »Bitte, darf ich rauchen?« Lion nickte stumm. »Wegen lächerlicher zweihunderttausend Franc aus einer Lebens 60
versicherung, die ich nie für meine Frau abgeschlossen habe?« Lion zog einen dünnen hellgrünen Hefter aus einer Schublade seines Schreibtisches, öffnete ihn, reichte ihn Horst. »Was ist das?« »Obenauf liegt die Versicherungspolice.« Horst überflog sie, bis er zu der Unterschrift kam. »Die ist gefälscht«, sagte er. »Monsieur?« fragte Lion höflich. »Diese Unterschrift ist nicht die meine, jemand hat sie gefälscht.« »Und wer bitte?« »Das weiß ich nicht. Woher haben Sie diese Police überhaupt?« »Nun, wir haben uns inzwischen in Ihrem Haus in Arles umgese hen. Ein schönes Haus, es stellt auch einen beträchtlichen Wert dar – besonders für einen unvermögenden Mann, wie Sie es sind, Mon sieur Rixen.« Horst sprang auf. »Sie wagen es…« »Ich wage gar nichts.« »Sie beschuldigen mich des Mordes! Sie brechen in mein Haus ein! Sie, was sind denn das für Methoden! Leben wir hier in einem totalitären Staat?« »Mäßigen Sie sich, Monsieur. Ich habe nur getan, was ich tun mußte, mit richterlicher Erlaubnis.« »Also gut«, Horst gelang es, wieder in normalem Ton zu spre chen, »ich kann unter Eid aussagen, daß nicht ich diese Versiche rung für meine Frau abgeschlossen habe. Genügt Ihnen das fürs erste, Monsieur le Commissaire?« »Es genügt – fürs erste, Monsieur«, sagte Lion. »Also gut, fahren Sie nach Port St. Marie zurück. Aber seien Sie sicher, daß wir Sie keinen Moment aus den Augen lassen werden.« Rixen erhob sich, um zu gehen. Lion blieb sitzen.
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Horst Rixen war es, als spüre er noch den Blick des Kommissars in seinem Rücken, als er schon längst das Polizeigebäude verlassen hatte. Minutenlang saß er untätig, in sich zusammengesunken hinter dem Steuer seines Wagens. Als er schließlich anfuhr, lenkte er den Wagen mehr instinktiv als mit Überlegung in die Rue Jean-Jacques. Das Haus Nummer zwölf – sein Haus, Glorias Haus. Schmiedeei serne, schmale Balkons vor den Fenstern, die blaßblauen Läden, die dringend eines Anstrichs bedurften, geschlossen. Die Haustür knarrte wie immer, als Horst sie aufstieß. Düster die Halle. Abgetretener Steinboden, die schmiedeeiserne Wendeltreppe, die ins Obergeschoß führte. Vertrocknete Schilfblü ten in der Ecke in einem Tonkrug. Horst war es, als betrete er eine Gruft. Die Küche mit dem schwarzen Schlund des offenen Herdes, blin kendes Kupfergeschirr an den weißgetünchten Wänden wie hölli sche Spiegel, die sein Gesicht zu Grimassen verzerrten. Gegenüber der Wohnraum. Rotes und blaues französisches Lei nen und schwere schwarze Eichenmöbel, ein weißer Schafwolltep pich und auch hier vertrocknete Blumen in den Vasen. Horst Rixen begriff nicht mehr, daß er noch vor kaum vierzehn Tagen mit Naty hier ausgelassen herumgetollt hatte. Er betrat die Schlafzimmer nicht. Im Oberstock endlich sein Ate lier. Hell durch die riesigen Scheiben nach Südosten. Die Staffelei. Darauf Glorias Porträt im Halbprofil. Unvollendet. Aber die Smaragde leuchteten in fast lebendigem Feuer an ihrem weißen Hals. Und da war noch etwas, das leuchtete, ein dünner roter Strich – ein mit messerscharfem Schwung genau hingemalter Schnitt durch die blütenweiße Kehle. Ein Stöhnen kam aus Horst Rixens Brust. Er hörte es selbst. 62
Er sah den unauffälligen, grauen Wagen nicht, als er wenige Mi nuten später sein Haus verließ, als sei er auf der Flucht. Und Horst Rixen sah auch nicht das zufriedene Lächeln, das Kommissar Lions Mundwinkel umspielte. Karen Schaumburg erhielt die Antwort auf ihr Telegramm noch am Abend desselben Tages. Horst Rixen und sie saßen gerade beim Essen auf der Terrasse des Bellevue, als der Portier das Schreiben brachte. »Du entschuldigst«, bat Karen und riß es auf. Horst Rixen blickte starr vor sich hin, mit Augen, die nichts zu sehen schienen. Das einzige Lebendige an ihm schien seine rechte Hand, die in regelmäßigen Abständen nach dem Weinglas griff, es an die Lippen führte, trank, bis das Glas leer war, dann nach der Flasche griff und es frisch füllte. Karen ließ ihn trinken, auch wenn es weh tat, ihn so zu sehen: ein Mann, am Ende eines langen Weges angelangt, der ihn ins Nichts, in die Finsternis geführt hatte. Sie ließ ihn trinken, weil sie wußte, es war das einzige, was er tun konnte nach dem, was er in Arles erlebt hatte. Sie entfaltete ihr Telegramm, las: ›Paul K. seit vier Tagen aus Butzbach entlassen. Seither fehlt jede Spur. Annahme: Er hat sich ins Ausland abgesetzt. Foto folgt per Expreß. Gruß Günther.‹ Karen faltete das Telegramm zusammen, steckte es in die Brustta sche ihrer grünen Bluse. »Horst«, sagte sie dann ruhig und sanft. Er hob die Augen, blickte sie an. »Ich glaube, ich muß dir eine lange Geschichte erzählen«, sagte sie. »Von Gloria und einem Mann namens Paul Kammer.« 63
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orst krampfte beide Hände um das Weinglas, als sei es etwas, an dem man sich festhaken könnte. Er sah Karen mit Augen an, die rotgeädert waren, als habe er viele Nächte nicht mehr geschlafen. Und er sah sie an, als kenne er sie nicht. »Horst, bitte, hör mir zu!« beschwor ihn Karen. »Es ist wichtig, was ich dir zu sagen habe.« Unter dem Tisch preßte sie die Hände zwischen die Knie, um sie nicht nach dem armen, gequälten Ge sicht des verratenen Mannes auszustrecken. »Horst – ich habe dich erst heute morgen nach Natys Vater ge fragt. Nach dem Mann, mit dem Gloria vor eurer Zeit zusammen gelebt hat. Ich glaube, ich weiß jetzt, wer er ist.« »Das interessiert mich nicht!« stieß Horst hervor. »Aber…« Er stand so abrupt auf, daß der Stuhl hinter ihm umfiel. »Horst!« Aber da war er schon die Stufen von der Terrasse zur Straße hin untergeeilt, überquerte die Fahrbahn, begann dann zu rennen. Karen sprang auf, raffte Handtasche und Stola zusammen, lief hinter ihm her. Über die Straße. Die Promenade entlang. Immer weiter. »Horst!« rief sie, aber der Wind von See her war zu stark; sie wuß te, ihr Ruf erreichte den Mann nicht. Sie sah Horst abbiegen, auf den Campingstrand zu. Und wenige Sekunden später war er zwischen den Zelten ver schwunden. Karen blieb stehen. Strich sich das Haar aus dem Gesicht, merkte, 64
daß ihre Wangen naß waren, daß sie weinte. Und die kühle, energische, selbstsichere Karen Schaumburg, die von ihren Reporterkollegen ›Miß Frigidaire‹ genannt wurde, sank, wo sie stand, in die Knie, kauerte sich in den Sand und weinte wie ein verlorenes Kind. Voller Qual, voller Hilflosigkeit. Um Horst, den einzigen Mann, den sie je geliebt – der sie nie ge liebt hatte, nie hatte wirklich haben wollen, weil sie nicht viel mehr für ihn war als ein guter Kumpel, ein prima Kamerad. Ihn – ausgerechnet ihn mußte sie um einer anderen Frau willen leiden sehen, daß es ihn fast um den Verstand brachte. Wie ihm helfen? Was für ihn tun? Hier, allein mit sich am Strand in der dunklen Unendlichkeit ei ner Nacht, gestand Karen Schaumburg sich ein, daß sie ursprüng lich sogar nach Arles und Port St. Marie gekommen war, um Horst leiden zu sehen, weil sie vermutete, wer seine Frau in Wahrheit war, und um ihn mit dieser Wahrheit zu konfrontieren. Aber jetzt, da Gloria ihn so leiden ließ, Gloria, die vorgab, tot zu sein und Horst in den Verdacht brachte, sie ermordet zu haben, jetzt wollte Karen nur noch helfen. An nichts anderes durfte sie denken als daran, daß Horst ein Mensch war, der ihrer Hilfe bedurfte. Liebe? Sie hatte so lange ohne die Liebe eines Mannes gelebt, weil sie sich nicht mit Halbheiten begnügen wollte. Sie war dreißig darü ber geworden. Und bei allem beruflichen Erfolg sehr einsam. Tro cken schluchzte sie auf. Liebe konnte man nicht erzwingen. Karen strich sich das Haar hinter die Ohren zurück, sie erhob sich, klopfte den Sand von der kühlen grünen Seide ihres Rockes. Sie wandte sich um, ging auf den Campingstrand zu. Sie mußte Horst finden, ins Hotel zurückbringen und vernünftig mit ihm reden, ihm alles sagen, was sie wußte – dann würde man weitersehen. 65
Der Alkohol webt seine grauen Fäden wie eine unsichtbare Spinne. Sie schlingen sich um die Gedanken, verwirren den Verstand, ersti cken die Vernunft in einem dichten Wattekokon. Hirngespinste – nicht vergeblich nennt man die Gedanken so, die der Alkohol eingibt. Horst Rixen saß in Fernandos Bar, das wußte er noch. Das Glas vor ihm auf dem Tresen war mit einer milchigen gelb lichgrünen Flüssigkeit gefüllt. Er leerte es auf einen Zug – Anisgeschmack, Kälte von Eiswürfeln und Hitze zugleich in Mund, Kehle und unter dem Brustbein. »Noch einen Pastis!« Horst ließ das Glas über die Theke zum Patron hinüberschlittern. »Sie sollten schlafen gehen, Monsieur«, sagte Fernando. »Die Nacht ist kurz.« »Was wissen Sie schon von der Nacht«, erwiderte Horst. »Was wissen Sie schon davon?« »Sie sollten sich nicht so viel Gedanken machen, Monsieur.« »Das sagen Sie!« »Das sage ich, Monsieur!« Täuschte Horst sich, oder war da ein warnendes Blinzeln in den schillernd-schwarzen Augen des anderen. »Fernando, was wissen Sie?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Monsieur.« »Sie haben meine Frau gekannt, Fernando.« »Ja, Monsieur.« »Und meine Tochter. Naty.« »Ja, Monsieur.« »Wenn Sie irgend etwas wissen…« »Es tut mir leid, Monsieur, ich weiß gar nichts.« »Ich gehe daran kaputt, Fernando.« Horst sagte es sehr leise, als fürchte er, jemand könne ihn belauschen. Dabei hätte er es heraus schreien mögen, so laut herausschreien, daß Gloria es hören mußte, wo immer sie war. 66
»Trinken Sie noch einen, und gehen Sie schlafen, Monsieur«, sagte Fernando. Und auch das war noch Wirklichkeit. Horst trank noch einen Pastis. Er zahlte insgesamt zehn Franc. Er stolperte, als er über die Schwelle der Bar hinaus in die Nacht trat. Aber was dann kam… Er sah den Zug der Zigeuner, einen lachenden, trunkenen, tan zenden Zug: Mädchen mit fliegenden Zöpfen und aufgelöstem Haar, Männer, denen Schweiß in Silberperlen auf den dunklen Stir nen stand, die Gitarren zupften, daß es hell von den Häuserwänden widerschallte. Und mitten unter ihnen erkannte er eine biegsame Gestalt, nack te, schmale Füße, die den Takt stampften, hocherhobene Hände, die ein Tamburin schüttelten. Er sah das Gesicht ekstatisch zurück geworfen, umzüngelt von schwarzem Schlangenhaar. Sah das Gesicht so, wie er es oft in der Verzückung der Liebe ge sehen. Er stürzte sich in den Zug der Männer und Frauen, er schlug um sich, bahnte sich einen Weg. Aber die Tanzende im roten Rock, die Tanzende mit Glorias Ge sicht schien sich immer weiter zu entfernen. Es war wie in einem Alptraum … Da waren Rücken und Arme und Fäuste und grinsende Fratzen, die ihm den Weg versperrten. »Gloria!« schrie er, und da traf ihn der Schlag auf den Hinter kopf. Horst sackte zusammen. Daß ihn zwei Männer mit Schlapphüten, die ihre Gesichter ver bargen, zum Straßenrand trugen, ihn dort niedersetzten, mit dem Rücken gegen eine grünfleckige Hauswand gelehnt, wußte er schon nicht mehr. 67
Als er aus der Bewußtlosigkeit erwachte, lag die Straße still und leer, nur von einer einzigen Laterne flackernd erhellt, vor ihm. Horst richtete sich taumelnd auf. Er spürte, daß seine Knie wie aus Gummi waren. Der Alkoholgeschmack war pappig, pelzig in seinem Mund. Kalter Schweiß der Erschöpfung brach ihm aus, während er sich ins Hotel zurückschleppte. Er bekam nicht einmal die Bitte nach seinem Zimmerschlüssel heraus. Der Hausdiener hinter dem Empfangstisch schnarchte, erwachte nicht. Horst tastete sich die Wand entlang, bis zum Aufzug. Erster Stock. Nr. 14, Karens Zimmer. Er klopfte. Sie öffnete, als habe sie die ganze Zeit darauf gewartet. Er fiel ihr in die Arme. Sie schleppte ihn mehr, als sie ihn führte, zu ihrem Bett. Er legte sich zurück, schloß die Augen, hörte ihre Schritte sich entfernen, das Klappen einer Tür. Dann kam sie zurück, beugte sich über ihn. Etwas Kühles, Nasses berührte lindernd seine Stirn. Er bewegte den Kopf, und da hörte er sie unterdrückt aufschrei en: »Du blutest ja.« Er öffnete die Augen und sah, daß sie sehr blaß war. »Was ist geschehen?« fragte sie mit zitternden Lippen. Er hob die Hand, betastete seinen Hinterkopf. Als er sie wieder hervorzog, war sie rot von Blut. Und da erinnerte er sich wieder. Da wußte er, daß es kein Alp traum gewesen war. Er hatte Gloria unter den Zigeunern gesehen, und als er ihren Na men schrie, hatte jemand ihn niedergeschlagen. »Sie mögen es nicht, wenn man sich einmischt«, sagte Karen, nachdem er ihr alles erzählt hatte. »Die Zigeuner sind sehr emp findsam und sehr jähzornig. Und natürlich spielt im Moment bei 68
ihnen auch der Alkohol eine große Rolle. Sie bereiten sich auf ihre Prozession vor, und das mit ausgelassenen Festen.« »Aber ich habe Gloria gesehen«, wiederholte Horst. »Ich bin ganz sicher. Nur daß ihr Haar jetzt schwarz war. Aber ihr Gesicht – ihre Gestalt habe ich genau erkannt.« »Es mag sein«, sagte Karen nur. »Ich werde mich morgen darum kümmern.« »Wie willst du das tun?« fragte er. »Ich werde zu den einzelnen Zigeunerlagern fahren und so tun, als wollte ich eine Reportage machen.« »Karen«, sagte er, »warum tut Gloria das alles. Warum?« »Darüber sprechen wir morgen«, versprach sie und lächelte ihr sanftes Lächeln. »Das Wichtigste ist, daß du jetzt schläfst. Gut schläfst.« »Aber du bleibst bei mir«, sagte er, »du gehst nicht fort?« Er griff nach ihrer Hand, preßte sie. »Du läßt mich nicht im Stich?« »Ich lasse dich nicht im Stich.« Karen löste behutsam ihre Hand aus der seinen und ging ins Bad. Sie nahm zwei Tabletten aus ih rem Arzneietui, ging zu ihm zurück, gab sie ihm mit einem Schluck Wasser. Sie zog ihm die Schuhe aus, schlug die dünne Wolldecke über ihn. Sie setzte sich ans Fenster und lauschte auf seinen Atem, bis er ruhig wurde, gleichmäßig. Dann verließ sie auf Zehenspitzen das Zimmer. Es war zur selben Stunde und in derselben Nacht. Die großen schwarzen Zeiger der elektrischen Uhr am Ende der Bahnhofshalle rückten auf Punkt elf, als der Mann mit dem kühn geschnittenen Gesicht den Wartesaal erster Klasse des Hauptbahn hofs in Frankfurt verließ. 69
Er blieb vor der Pendeltür stehen, blickte sich um. Seine Augen wurden schmal, was den hohen Schnitt seiner Backenknochen noch mehr betonte. Ein Mädchen mit langem, schwarzem Haar in violettem Mini-Le derkostüm, das ihn einladend angelächelt hatte, drehte sich erschro cken um, ging hastig davon. Der Mann blieb stehen und überzeugte sich, daß niemand ihn beobachtete. Er war sehr vorsichtig. Er war zeit seines Lebens vorsichtig gewe sen; bis auf ein einziges Mal. Und das war genau auf den Tag acht Jahre und vier Monate her. Sein Mund wurde zu einer harten Kerbe, während er daran dach te, und die vorbeieilenden Passanten, die ihn zufällig ansahen, wand ten schnell den Blick ab. Der Mann flößte Angst ein; Haß und Grausamkeit prägten sein Gesicht. Der Mann steckte die Hände in die Taschen seines taubenblauen Trenchcoats. Die Farbe war vor acht Jahren äußerst modisch gewe sen. Jetzt wirkte der Mantel zu lang und auch zu weit. Die Hosen beine des Glencheckanzugs, die unter dem Mantel hervorsahen, wa ren ebenfalls zu weit, und die Schuhe zu spitz. Der Mann war sich dessen bewußt, und er dachte den Bruchteil einer Sekunde lang, ich muß wirken wie jemand aus einem altmodischen, längst vergesse nen Film. Aber das würde sich bald ändern; dessen war er ganz sicher. Er hatte die Bahnhofshalle inzwischen verlassen. Es regnete, die Leuchtreklamen des Vorplatzes spiegelten sich iri sierend im nassen Asphalt. Der Mann mußte eine Weile warten, bis er ein Taxi bekam. »Zum grünen Bock«, sagte er dann und stieg in den Fond des Wagens, der durch eine dicke Glasscheibe von Fahrer- und Beifah rersitz getrennt war. Das hatte es vor acht Jahren noch nicht gegeben. 70
Aber vor acht Jahren hatte es auch keine Miniröcke gegeben und keine Gammler und keine Hippies. Sein Mund verzog sich in ei nem zynisch-amüsierten Lächeln, das die Kühnheit, aber auch die Grausamkeit seines Gesichts verstärkte. Dieses Lächeln hatte früher seine Feinde gefügig und die Frauen ihm hörig gemacht. Wenn man acht Jahre hinter ausbruchsicheren Mauern verbracht hatte, konnte man beinahe den Kontakt zur Zeit verlieren, nicht wahr? Das Taxi glitt über die Mainbrücke. Er roch den beißenden Gestank, der von dem dunklen, chemika lienverseuchten Fluß aufstieg. Er hätte deswegen am liebsten laut aufgelacht. Das wenigstens war etwas Vertrautes. Aber auch der Grüne Bock hatte sich nicht verändert. Das Äppelwoi-Lokal in Sachsenhausen. Der Akkordeonspieler war noch der alte und der Bucklige, der die Brezeln herumtrug. Auf den Tischen, an denen sich lärmend die Gäste drängten, stan den die Gläser mit Äppelwoi, und auf den Platten dampften ›Ripp che mit Sauerkraut‹ wie eh und je. Der Mann war im Eingang des Lokals stehengeblieben. Er hatte die Hände aus den Taschen des Trenchcoats genommen, öffnete und schloß sie nervös. Mit einemmal war sein Mund ganz trocken. Es kostete ihn Anstrengung, den Kopf zu wenden und zur Theke zu blicken. Er sah direkt in die geweiteten Augen des dicken Hugo. »Mensch«, flüsterte der und feuchtete sich die wulstigen roten Lippen mit der Zunge an. »Mensch, bist du's oder bist du's nicht?« »Grüß dich«, sagte der Mann und ließ es zu, daß der andere ihm auf die Schulter klopfte, ihm mit der rosigen Hand ins Gesicht patschte. »Mensch, Paule, Mensch, Kammer! Mensch, ist das gut, dich wie derzusehen!« »Hoffentlich«, sagte Paul Kammer, »hoffentlich sagst du aus 71
nahmsweise mal die Wahrheit.« »Komm, komm mit mir!« Der dicke Hugo zog ihn mit sich. Eine Tür im Hintergrund tat sich auf, sie gingen durch den kurzen, nur von einer blauen Leuchte erhellten Gang, kamen an eine gepolster te Tür. Und dann… Diesmal konnte Paul Kammer das Lachen nicht unterdrücken. Er sah sich auf der Schwelle eines Boudoirs, das einer Kokotte des 19. Jahrhunderts Ehre gemacht hätte. Kostbare Draperien aus purpurnem Samt verhüllten nicht vor handene Fenster. Licht rieselte regenbogenfarbig aus Kristallüstern. Gold- und resedafarbene Polstersessel, ein cremefarbener Teppich, in dem der Fuß versank. »Immer noch der alte Hugo, wie?« Kammer schlug dem Dicken mit der Hand auf die Schulter. Der senkte die Lider, an denen die Wimpern fehlten. »Luxus ist doch meine einzige Schwäche«, sagte er bescheiden. Und dann wieder eifrig: »Aber setz dich endlich. Du sollst jetzt erst mal einen Rosé d'Anjou probieren!« Er küßte genießerisch sei ne Fingerspitzen. »1964, Schloßabfüllung. Eine Blume, sage ich dir!« Er drückte Kammer in einen der schwellenden Sessel, bewegte sich dann mit einer Leichtigkeit, die seine plumpen Beine Lügen strafte, hierhin und dorthin. Brachte Zigaretten, mit Goldmundstück natürlich. Gebäck aus der ersten Konditorei der Stadt. Kandierte Früchte, eigens aus Florenz für ihn importiert. Er stellte hochstielige, antike Weinkelche auf das schwarze Mar mortischchen, jeder einzelne ein Vermögen wert. »Dir geht es sichtlich ausgezeichnet«, sagte Kammer mit dem amüsierten-zynischen Lächeln, das seine Mundwinkel nicht mehr verlassen wollte. »Ah, man kann nicht klagen!« Hugo schüttelte den runden, stier nackigen Schädel. »Du hast was verpaßt, Paule. Die letzten Jahre – 72
Geschäfte könnt' man machen! Geschäfte, sage ich dir! Weißt du, was das Neueste ist? LSD. Neue Droge, geht besser als Marihuana, besser als Morphium. Und weißt du auch, warum? Die Jugend lichen sind ganz scharf drauf. Und man kann's selbst herstellen.« Er zwinkerte mit den wimpernlosen Lidern. »Ich hab' da so ein kleines Labor. Verkrachter Chemiestudent. Dem Suff ergeben. Der stellt mir das Zeugs pfundweise her.« »Nicht mein Fall«, sagte Kammer knapp. »Du weißt, ich bin nur für saubere Sachen. Kein Rauschgift. Keine Gewalt.« »Jaja, ich weiß«, sagte Hugo, als müsse er ihn besänftigen. »Laß uns darauf trinken.« Sie tranken von dem Rosé d'Anjou, Jahrgang 1964, Schloßabfül lung. Hugo schloß genießerisch die Augen, leckte sich die Lippen. »Ist das ein Weinchen, mein Freund? Eine Gottesgnade. Ein Him melsgeschenk.« »Die Adresse«, sagte Kammer. Hugo riß die Augen auf. Seine Hand bebte, als er das Glas ab setzte. »Ich weiß nicht, was du meinst…« »Glorias Adresse«, sagte Kammer. »Aber die weiß ich nicht!« Blankes Erstaunen jetzt in den runden braunen Augen. »Sie sollte sich bei dir melden, und du solltest stets wissen, wann und wie sie zu erreichen ist.« »Das hat sie auch getan. Vier Jahre lang. Aber dann kam sie eines Tages und – und – und sagte…« Hugo geriet ins Stottern, rieb sich nervös das Ohrläppchen mit dem kleinen goldenen Ring darin. »Nimm dich zusammen«, befahl Kammer, »was geschah eines Ta ges vor vier Jahren, was sagte sie?« »Sie sagte, sie habe Nachricht von dir erhalten. Sie sagte, sie müs se sich absetzen. Du wüßtest, wohin. Sie sagte, die Bullen seien hin ter ihr her.« »Und die Sterne?« 73
»Sie – sie hat alles mitgenommen.« Hugos Unterlippe zitterte jetzt. Man konnte deutlich sehen, daß er ein falsches Gebiß trug. »Und du hast ihr einfach alles gegeben? Alles –« »Sie – sie ließ mir keine andere Wahl. Sie« – Hugo hob ganz lang sam die Hand an den fleischigen Hals, der aus dem bis zum Gürtel offenen gelben Seidenhemd rot herausragte – »sie hat versucht, mich zu erdrosseln.« Kammer begann zu lachen, laut, schallend, aber genauso plötz lich war sein Gesicht wieder ernst. »Du Schwächling«, sagte er, »du armseliger Feigling.« »Ich war nicht feige«, entgegnete Hugo. »Ich – sie – sie hat es mit einer Stahlschlinge versucht.« »Und da hast du klein beigegeben?« »Was sollte ich denn tun? Sag doch selbst, was konnte ich tun? Das war keine leere Drohung, das war« – Hugos Gesicht wurde ganz blaß – »das war ein Mordversuch.« »Als ob Gloria zu so etwas fähig wäre! Du Idiot!« Kammer stand auf. Er stieß dabei das zierliche schwarze Marmortischchen um. Der Rosé ergoß sich auf den cremefarbenen Teppich. »Wehe, wenn du Gloria betrogen hast. Wenn du mir nicht die Wahrheit gesagt hast, dann gnade dir Gott!« »Mensch, Paul, wie kannst du glauben, daß ich Gloria betrogen habe! Sie hat mich betrogen. Sie hat nicht nur dein Zeug mitge nommen, sondern auch noch ein paar zehntausend Piepen von mir.« Kammer sah Hugo in die Augen, versuchte, darin eine Schwäche zu erkennen, das schnelle Aufflackern der Lüge, aber er sah, daß Hugo die Wahrheit sprach. »Wo ist sie?« fragte Kammer knapp. »Hast du eine Ahnung?« »Nicht die geringste. Paul, Mensch, was glaubst du, welchen Bam mel ich gehabt habe vor diesem Moment! Davor, dir das alles sa 74
gen zu müssen.« »Glaubst du, daß sie sich mit unserem Freund in München zu sammengetan hat?« fragte Kammer. Hugo hob die Schultern. »Mit dem arbeite ich schon lange nicht mehr zusammen. Mensch, Paule, ich konnte damals ja keine poli zeiliche Suchmeldung nach Gloria aufgeben, mit dem heißen Zeug, das sie bei sich hatte.« »Ich brauche Geld«, sagte Kammer mit Bestimmtheit. »Dreitau send. Du kriegst sie zurück.« Hugos Lippen begannen zu zittern, aber er nickte nur. Er verließ das Zimmer, kam nach einigen Minuten mit einem braunen Umschlag wieder. Ohne nachzuzählen, steckte Kammer die in dem Umschlag knis ternden Geldscheine ein. »Du hast versagt, Hugo«, sagte er, »aber ich will noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging. Er schritt durch den kurzen, düsteren Gang, dann durch das äp pelwoiselige Lokal, diesmal ohne nach rechts und links zu sehen. Draußen traf ihn die Kühle der Nacht wie ein Faustschlag ins Ge sicht. Erst jetzt wurde ihm klar, daß Gloria nicht nur Hugo, son dern auch ihn betrogen hatte. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er acht Jahre lang vergebens in Butzbach gesessen hatte. Gloria war mit der Beute über alle Berge. Gloria und das Kind. Wenn er an Naty dachte, dann gab es dem abgebrühten Mann aus dem Zuchthaus einen Stich ins Herz. Sie war seine Tochter, und Gloria hatte ihm nicht nur die Beute, sondern auch sein Kind gestohlen. Über die Anwälte hatte Gloria ihm regelmäßig Fotos von Renate zukommen lassen, die ja erst nach seiner Verhaftung und Verurteilung geboren worden war. Regelmäßig, jedes Viertel jahr, ja, sogar noch vor drei Monaten. Das Kind glich ihm, und ge 75
rade weil er es noch nie gesehen hatte, liebte er es, liebte es mit ei ner glühenden Ausschließlichkeit wie nichts sonst auf der Welt. Mehr noch, als er Gloria je geliebt hatte. Und nun kam der Haß auf Gloria, fraß sich in seine Seele, in sein Gehirn, ließ ihn sich die wahnwitzigsten Torturen für sie ausden ken. Er würde sie finden, mußte sie finden. Das schwor er sich, wäh rend er zu Fuß von Sachsenhausen über die Mainbrücke auf die hellerleuchtete Paulskirche zuschritt, über den stinkenden Fluß hin weg, in die Dunkelheit der Stadt hinein, wo sie damals so glücklich gewesen waren. Kammer biß die Zähne zusammen. Er wollte sein Herz eiskalt machen. Die Rache ist mein, dachte er. Ich werde ganz kalt han deln. Zuerst nach München – und dann werden wir weitersehen. Es war sehr dunkel in der Hütte und sehr warm. Manchmal konnte Naty das Schnüffeln von Loulou, dem zottig gelben Schäferhund, hören, und sie konnte an ihren nackten Füßen seinen Atem spüren. Denn Loulou lag zu ihren Füßen, wie er auch den ganzen Tag nicht von ihren Fersen gewichen war, als müsse er sie beschützen. Morgen, dachte Naty, morgen fahren wir nach Arles. Vati würde zwar nicht zu Hause sein, aber die Nachbarn, die alten Bernards, hatten den Schlüssel, und Naty wußte, wo Vatis kleines schwarzes Notizbuch lag, nämlich direkt neben dem Telefon in seinem Ate lier. Und darin standen alle Telefonnummern von allen Leuten, die Vati kannte. Und einer von seinen Freunden, vielleicht Monsieur Marc oder Monsieur Jean, einer würde bestimmt wissen, wie der dumme Ort hieß, in dem Vati Ferien machte, aus dem Mami sie verschleppt und dessen Namen sie vergessen hatte. Zahlen konnte Naty lesen, und sie konnte auch schon telefonie 76
ren. Sie war ganz zuversichtlich, daß sie ganz bald wieder bei ihrem Vati sein würde. Komisch, an die Mami mochte sie gar nicht denken. Und wenn sie an die Mami dachte, dann kriegte sie eine richtige Gänsehaut, so, als sei die Mami sehr böse. Nur gut, daß sie weggelaufen war und Monsieur Tatu gefunden hatte. Das war wirklich ein lieber alter Mann. Er konnte so schöne Märchen erzählen, wie ein richtiger Großvater. Monsieur Tatu, der auf der anderen Seite des Zimmers in seinem Bett lag, hustete. Und im gleichen Moment begannen draußen die Stiere mit den Hufen zu stampfen und zu schnaufen. »Monsieur Tatu«, flüsterte Naty, »Monsieur Tatu, bist du wach?« »Ja, mein Kind«, sagte der alte Mann. »Monsieur Tatu, warum schnaufen die Stiere so?« »Psssst«, machte Monsieur Tatu, »sei still.« Naty lag ganz still. Sie spürte, daß Loulou den Kopf von ihren Füßen hob, hörte seinen plötzlich hechelnden Atem. »Still, Loulou!« befahl Monsieur Tatu dem Schäferhund. »Kein Laut und Platz.« Der Hund gehorchte, einmal tief aufseufzend, und legte den Kopf wieder auf Natys Füße. Die Stiere schnauften noch lauter und stampften noch heftiger, und es hörte sich fast wie Donnerrollen an. »Monsieur Tatu«, flüsterte Naty, »ich habe Angst.« »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Monsieur Tatu, und sie spürte seine große, warme Hand an ihrer Wange. Lautlos war er zu ihr herübergekommen. »Aber wenn das nun die Zigeuner sind?« »Sie werden dir nichts tun. Die Hütte ist verschlossen.« Und da polterte es schon gegen die Tür der Hütte, jemand warf sich dagegen, daß es nur so krachte. Naty preßte das Gesicht in das wollige Fell von Monsieur Tatus Jacke. 77
»He, aufmachen!« schrie eine Stimme. »Sofort aufmachen!« Und dann war es mit einemmal ganz still. Selbst die Stiere hatten mit Stampfen aufgehört. Naty hielt den Atem an und hatte nur die eine Furcht, daß die draußen womöglich das Klopfen von Monsieur Tatus Herzen hö ren konnten, das in ihren Ohren so schrecklich laut rumpelte. »He, aufmachen!« rief es noch einmal von draußen. Und dann sagte eine andere kehlige Stimme: »Da ist niemand drin. Komm, wir machen, daß wir weiterkommen.« Das Kind und der alte Mann atmeten erleichtert auf, als sie kurz darauf weit weg das Geräusch eines abfahrenden Wagens hörten. »Jetzt hab' ich aber doll Angst gehabt«, sagte Naty. »Siehst du, es waren bestimmt die Zigeuner. Mami hat sie geschickt. Ganz be stimmt. Aber ich will nicht zu ihr zurück, Monsieur Tatu! Ich will nicht!« »Das brauchst du auch nicht«, sagte der alte Mann, »ich bringe dich morgen nach Arles, und von da aus werden wir deinen Vater suchen.« Aber seine Stimme klang nicht ganz sicher. Für den Rest der Nacht, wieder auf seinem harten Lager, ver mochte er keine Ruhe zu finden. Denn Monsieur Tatu war alt und blind, und ein kleines unschul diges Mädchen hatte sich seiner Obhut anvertraut. Die Nacht neigte sich dem Morgen zu. Das Schwarz verblich zu ei nem sanften Grau, das ins Zimmer sickerte wie Nebel. Karen Schaumburg war müde. Sie hatte die ganze Nacht gewacht. Sie war müde und schmiegte ihren Kopf an das Leinenpolster des Sessels. Sie hatte vergeblich gewartet, und ihr war fast, als sei sie selbst da ran schuld. 78
Sie dachte an Horst, der, wie sie hoffte, in der Etage unter ihr in ihrem Zimmer schlief, und ohne es zu merken, glitt sie in einen Halbtraum. Sie liefen durch den Tierpark Schönbrunn, Hand in Hand, Herbstlaub fiel golden und rot auf ihren Weg, und er sagte: »Ich mag keinen Menschen so wie dich…« Sie spürte noch das Lächeln des erträumten Glücks auf ihren Lip pen, als ein scharrendes Geräusch sie jäh hochschrecken ließ. Die Klinke der Tür bewegte sich und dann die Tür selbst. Karen saß im Schatten des Moskitonetzes, welches das Bett ver hüllte. Sie hatte sich absichtlich getarnt. Die Tür öffnete sich. Langsam. Zentimeter um Zentimeter. Karen sah eine schmale Hand mit langen rotlackierten Nägeln, sah Goldreifen an einem bräunlichen Handgelenk, die Falte eines roten Rocks. Sie hielt den Atem an. Die Frau glitt ins Zimmer, lautlos. Karen sah langes schwarzes Haar, undeutlich durch den Schleier des Moskitonetzes ein schma les Gesicht. Die Frau tat einen Schritt auf das Bett zu, blieb stehen. Hob den Kopf, fragte leise: »Horst?« Karen fuhr in die Höhe, riß das Moskitonetz zur Seite. Aber nicht schnell genug. Ein entsetzter Blick aus riesigen violetten Augen, ein unterdrück ter Laut der Furcht. Etwas sauste blitzend durch die Luft. Ein Wir bel des roten Rocks. Dann schlug die Tür zu. Karen bückte sich hastig nach dem, was durch die Luft geflogen war, hob es auf. Grüngleißendes Feuer in ihrer Hand. Die Sternsmaragde. Karen stopfte sie in die Hosentasche. Wichtiger war jetzt: Hinter Gloria her… Hinaus auf den Flur. Die Treppe hinunter. Zwei, drei Stufen auf 79
einmal. Durch die Halle. Die Drehtür. Leer lag die Promenade im Morgengrauen. Aber von rechts her das Aufheulen eines Wagenmotors. Karen lief nach rechts. Der Hotelparkplatz. Ein grauer Renault schoß vor. Direkt auf sie zu. Verzerrtes Gesicht hinter der Scheibe, Riesenau gen, Schlangenhaar. Karen sprang zur Seite, der Wagen raste vorbei. Sie lief zu ihrem eigenen Wagen. Sie hatte vergessen, ihn abzu schließen – diesmal zu ihrem Nutzen. Tür auf, hinters Steuer geworfen. Der Wagenschlüssel. Sie riß die Smaragde heraus. Mein Gott, der Wagenschlüssel. Lieber Gott, ich hab' ihn doch eingesteckt! In der Brusttasche war der Schlüssel. Zündung. Der Motor sprang ausnahmsweise einmal sofort an. Übertönte das Brummen des anderen, sich entfernenden Wagens. Vom Parkplatz herunter, in die Hauptstraße hinein. Vorn fuhr der Renault. Bog um die Ecke. Hinterher. Ich muß ihn einholen, dachte Karen. Es muß mir einfach gelin gen, Gloria zu stellen!
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ie weite Ebene der Camargue lag im ersten Licht der Sonne. Silbrig, violett überschattet, schimmerten Schilf, spanisches Rohr, die Tamarisken, der sandige Boden. Von einer nahen Salzlake hob sich eine Wolke von Flamingos mit rosigem Flügelschlag. Aber Gloria Rixen hatte keinen Blick für die Pastellfarbenschön heit der Landschaft. Vor ihr lag das dunkelgraue Asphaltband der Straße, geradeaus, immer geradeaus, so weit das Auge reichte. Nur am Horizont ein Wäldchen – starre, düstere Zypressen, flachschirmige Pinien. Der Park des Chateau d'Avignon. Links von der Straße verboten schon jetzt weiße, blau umrandete Schilder mit der Aufschrift ›Privateigentum‹ die Benutzung der Sei tenwege. Und dennoch, hier lag Glorias einzige Chance, dem weißen Ka briolett zu entkommen, das ihr folgte. Dieser Deutschen, dieser Karen Schaumburg, dieser Kriminal reporterin, dieser Schnüfflerin! Gloria biß sich zornig auf die Lippen, schmeckte ihr eigenes Blut. Wenn diese Karen nicht aufgetaucht wäre – hätte noch alles gut gehen können. Wenn… Aber so blieb ihr keine andere Wahl. Die Reifen des Renault quietschten, als Gloria jäh auf die Bremse trat, das Steuer herumriß, den Wagen in die schmale, beidseitig von Zypressen gesäumte Einfahrt zog. Ein sandiger Weg, rechts und links unter den schwarzgrünen Bäu 81
men dichtes Gestrüpp. Gloria fuhr bis zu einer blauweiß gestreiften Barriere, welche die Weiterfahrt endgültig verbot. Gloria sprang aus dem Wagen, riß sich den langen roten Rock herunter. Darunter trug sie knappe Khakishorts. Sie schleuderte die grellgrüne Bluse mit den weiten volantbesetzten Ärmeln von sich. Darunter kam ein dünner khakifarbener Baumwollsweater zum Vor schein. Gloria raffte das Haar mit einer Spange im Nacken zusammen und hörte im selben Augenblick auch schon das näherkommende Motorengeräusch des Kabrioletts. Mit einem katzenhaften Sprung warf sie sich in das Unterholz, kauerte sich in den Schutz eines dicht belaubten Haselnußstrauchs. Sie hielt nichts in der Hand als ein dünnes gelbes Seidentuch, zu einem Strick gedreht. Das Kabriolett tauchte in ihrem Blickfeld auf. Hielt. Einen Moment lang ließ Karen Schaumburg noch den Motor laufen, während sie sich aufmerksam umschaute, dann schaltete sie die Zündung aus. Sie stieg langsam aus dem Wagen, näherte sich vorsichtig dem Re nault. Sie beugte sich vor, blickte in das Innere. Sie griff hinein, nach der grünen Seidenbluse. Karen war zwar vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug. Sie überhörte das Knacken eines trockenen Zweiges. Sie überhör te den katzengleichen Schritt. Sie hielt die grüne Bluse in der Hand, betrachtete sie nachdenk lich. Es war leicht, viel leichter, als Gloria es sich gedacht hatte. Die gelbe Schlinge fiel um Karens Hals. Gloria zog zu. Nicht einmal für einen Überraschungslaut blieb dem blonden Mädchen Zeit. 82
Karens Gesicht färbte sich purpurrot. Ihr Mund öffnete sich zu einer dunklen Höhle, dann sackte sie in die Knie. Gloria lockerte die Schlinge in dem Moment, in dem sie sicher war, daß Karen Schaumburg das Bewußtsein verloren hatte. Sie sprang auf, raffte die grüne Seidenbluse und den roten Rock zusammen, schlüpfte wieder hinein. Sie warf sich hinter das Steuer. Der kleine Renault mahlte beim Wenden Gestrüpp und Gesträuch nieder, aber dann war er wieder auf dem sandigen Weg, raste davon. Sie trat das Gaspedal ganz durch. Der Motor verfiel in ein hohes, überzogenes Singen. Sehr bald ragten die Zypressen nur noch, nackten, vom Brand ge schwärzten Pfählen gleich, hinter ihr auf, sanken dann unter den blausilbernen Horizont. Wenn jemand nun in Glorias schöne violette Augen geschaut hät te – er hätte sie nicht zur Feindin haben mögen. Als Karen Schaumburg zu sich kam, hatte die Sonne ihre Augen durch die Lider geblendet. Sie sah nichts als grellrote, rasende Krei se. Schmerz klopfte in ihrem Kopf. Ihre Mundhöhle war wie ausge dörrt. Als sie schluckte, stach es wie mit tausend Nadeln in ihrer Kehle. Karen versuchte sich aufzurichten, und Schwindel erfaßte sie, Übelkeit stieg in ihr auf. Auf allen vieren kroch sie zu ihrem Wagen, hangelte sich am Tür griff hoch. Das Türschloß des Handschuhfachs schien immer wieder dem tastenden Druck ihrer Finger zu entgleiten, aber schließlich schnappte das Fach doch auf. Karen verwahrte stets eine Taschenflasche Cognac darin. Mit beiden zitternden Händen führte sie die Flasche an den 83
Mund. Trank. Es brannte wie Säure. Sie schloß die Augen, ließ den Kopf auf das Sitzpolster sinken. Nimm dich zusammen, befahl sie sich selbst. Nimm dich, ver dammt noch mal, zusammen! Du hast einen Sonnenstich, nichts weiter! Das passiert jedem ir gendwann einmal. Aber zugleich wußte sie, daß es kein Sonnenstich war, der ihr diese Schmerzen in Hals und Kopf bereitete und sie so qualvoll hilflos machte. Sie wußte, jemand hatte einen Mordanschlag auf sie verübt.
Nein, nicht jemand.
Gloria!
Karen zwang sich, es ganz klar zu denken: Gloria Rixen hat ver sucht, mich zu erdrosseln. Und ich werde es Horst sagen müssen. Horst, der Gloria liebt. Dessen Frau sie ist. Gloria Rixen. Karen nahm noch einen Schluck von dem Cognac. Diesmal breitete sich wohltuende Wärme in ihrem Magen aus. Es gelang ihr, auf den Sitz hinter das Steuer zu rutschen. Sie mußte Geduld haben mit sich selbst, sie mußte den Schock über winden. Mußte sich kühl und mit Vernunft mit der Tatsache befas sen, daß Gloria versucht hatte, sie zu ermorden. Aber warum? Ich weiß zuviel, dachte Karen, und das ahnt Gloria.
Aber wieso? Woher?
Und da fiel es wie Schuppen von ihren Augen.
Sie sah sich wieder vor acht Jahren. Ja, es war fast auf den Tag ge nau acht Jahre her. Sie kam aus dem Frankfurter Gericht, vom Prozeß gegen Paul Kammer, den dreisten Juwelendieb. 84
Sie fuhr zum Café Schwüle, wo sie sich hin und wieder mit Re porterkollegen zu einem Drink traf. Jonny war da von AP und Günther von DPA. Sie sprachen den Fall Paul Kammer durch. Sie unterhielten sich über die rothaarige Komplizin Kammers, die der Polizei noch nicht ins Netz gegangen war. Am Nebentisch saß eine blonde junge Frau. Silberblond, um ge nau zu sein. Sie trug eine riesige dunkle Sonnenbrille. Man hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie hinter dieser Brille schön war oder auch nur hübsch. Was Karen damals an ihr auffiel, war der schmale, geschwungene Mund. Ein nervöser Mund, Lippen, von denen man eine seltsame, vielleicht grausame Zärtlichkeit erwarten mochte. Aber auch das hätte Karen nicht bemerkt, hätte nicht die Silber blonde im gleichen Augenblick, als Jonny das Strafmaß für Paul Kammer nannte – acht Jahre Zuchthaus –, einen Laut der Betrof fenheit ausgestoßen. Karen schaute sie noch erstaunt an, da wandte sich die junge sil berblonde Frau ab, legte Geld auf den Tisch und verließ schnell das Café. Und Karen hörte wieder den Fachsimpeleien ihrer Kollegen über den Fall Kammer im besonderen und weniger aufsehenerregenden Fällen im allgemeinen zu. Damals hätte sie Gloria erkennen müssen. Damals hätte sie wissen müssen, daß sich unter der silberblonden Mähne und hinter der riesigen Sonnenbrille die rothaarige Kompli zin von Paul Kammer verbarg. Vielleicht wäre dann noch alles ganz anders gekommen. Bestimmt hätte Horst Gloria dann nie kennengelernt, sie nie ge heiratet. 85
Horst… Der Gedanke an ihn gab Karen plötzlich Kraft, gab ihr Mut, weil sie wußte, daß er sie brauchte, jetzt mehr als jemals zuvor. Sie startete den Wagen. Sie fuhr den langen Weg nach Port St. Marie im Schritttempo zu rück. Als sie auf dem Parkplatz des Hotels Bellevue aus dem Kabriolett stieg, hatte sie ihre grüne Seidenbluse bis zum Hals zugeknöpft. Sie wirkte kühl, gelassen, beinahe zu selbstsicher, als sie zum Ho tel hinüberging. Am Empfang lag ein Brief aus Deutschland, aus Frankfurt, für sie. Er enthielt das letzte Foto von Paul Kammer, das sie von ihrem Reporterkollegen angefordert hatte. Karen Schaumburg brauchte nur einen Blick darauf zu werfen: Es war der letzte Beweis, das Naty, Horst Rixens Adoptivtochter, nur das Kind von Paul Kammer sein konnte. Die Ähnlichkeit war frap pierend. Es war ein altmodischer zweirädriger Karren, wie ihn früher die südfranzösischen Bauern benutzten, um Melonen und Gurken in die Stadt zu bringen. Den Karren zog der Apfelschimmel namens Jean-Paul, der, blind wie sein Herr, dennoch in stetem Trab seinen Weg nach Arles fand. Unter Schaffellen lag Naty auf dem rauhen Bretterboden des Fuhrwerks versteckt. Ihr war entsetzlich heiß, und die Felle stanken abscheulich nach ranzigem Fett, aber Monsieur Tatu hatte Naty eingeschärft, daß sie allenfalls nur ihre Nase zum Atmen unter den Fellen herausstecken dürfte. »Man kann nie wissen, was unterwegs passiert«, hatte er gesagt, und seine Stimme hatte ganz hart geklungen, »wir müssen damit 86
rechnen, daß wir Zigeunern begegnen.« Und davor hatte Naty schreckliche Angst. Sie hatte Angst vor den Zigeunern und vor Mami. Ja, vor meiner eigenen Mami habe ich Angst, dachte Naty, und sie kriegte einen Schluckauf vor lauter Kummer. Ach, lieber Gott, dachte sie und blinzelte durch einen Spalt zwi schen den Fellen in den Himmel, der blau und silbern über ihr schaukelte, bitte, mach doch, daß ich endlich, endlich wieder zu meinem Vati komme. Als sie die Vororte von Arles erreichten, fand Naty den Verkehrs lärm schrecklich laut. Ihr kam es vor, als sei sie eine Ewigkeit in der schweigenden Ca margue gewesen, draußen, in der kleinen weißen Hütte bei dem runden Gatter für die Stiere, deren Schnaufen und Stampfen das einzige war, was die Stille störte. Naty warf die Schaffelle zurück und strich sich das lange rote Haar hinter die Ohren. Es war ein seltsames Bild, das sich einkaufenden Hausfrauen und Bummlern, den Männern vor den Bistros und den im Rinnstein spielenden Kindern bot: Der feiste, alte Apfelschimmel, der alte Mann mit dem Wust grauer Haare und den strahlend blauen Au gen, die in weite, unerreichbare Fernen blickten, und das kleine Mädchen mit dem roten Haar in seinem roten Flanellpyjama, das wie ein kleiner Buddha mitten auf dem Karren hockte. Aber dessen war Naty sich natürlich nicht bewußt. Sie hatte auch gar keine Zeit, die amüsierten Blicke der Leute wahrzunehmen, denn sie mußte Monsieur Tatu ja jetzt den Weg erklären. »Langsamer, Monsieur Tatu«, befahl sie. »Brrrr«, gab der alte Mann das Kommando, und der Schimmel verfiel in noch gemächlichere Gangart. »Jetzt rechts abbiegen, in die Rue d'Orange.« Naty streckte ihren 87
rechten Arm aus, um die Richtung anzuzeigen. »So – ja, das ist richtig. Wir sind bald zu Hause, Monsieur Tatu. Dann werd' ich dir Vatis Atelier zeigen und meine Spielsachen. Ich hab' ganz viele Stofftiere, Monsieur Tatu. Einen Elefanten, der ist so groß…« Und während Naty noch seine Größe mit ihren kleinen Händen in die Luft malte, wurde ihr bewußt, daß Monsieur Tatu das alles ja gar nicht sehen konnte. »Verzeih mir, Monsieur Tatu«, bat sie kleinlaut, »ich bin wirklich dumm. Immer vergesse ich, daß du ja gar nicht sehen kannst. – Schnell, jetzt müssen wir links herum.« Der Apfelschimmel gehorchte dem Zügelruck und bog in die Rue Jean-Jacques ein. »Da ist unser Haus, da bin ich daheim!« jubelte Naty. Sie sprang vom Karren, kaum daß er hielt, zerrte heftig an der altmodischen Messingklingel, daß es laut durch das Haus Nr. 12 schallte. Sie konnte es ganz genau hören. Aber niemand antwortete. Kein Schritt näherte sich von drinnen der Tür. Niemand öffnete sie. »Oh, Monsieur Tatu – es ist niemand da!« Naty wandte sich hilfe suchend zu dem alten Mann um. »Natürlich nicht«, sagte der und lächelte. »Dein Vati ist doch am Meer. Aber denk mal nach – haben deine Eltern vielleicht irgend je mandem den Schlüssel zum Haus gegeben?« »Natürlich! Wie dumm ich bin!« rief Naty. »Den Schlüssel hat Madame Bernard. Sie wohnt gleich nebenan.« »Ich habe den Schlüssel«, sagte jemand hinter Naty, und als sie sich umdrehte, lächelte ein Mann sie freundlich an, den sie nie vor her gesehen hatte. »Wer sind Sie?« fragte Monsieur Tatu und wandte auch den Kopf in die Richtung des Mannes. »Kommissar Lion.« »Von der Polizei?« fragte Naty atemlos. 88
»So ist es, mon enfant.« »Aber Sie tragen ja gar keine Uniform?« »Nicht alle Polizisten tragen Uniform«, sagte Monsieur Tatu, und wieder zu dem Kommissar gewandt: »Man nennt mich Tatu. Ich bin hier, um die Kleine wieder zu ihren Eltern zu bringen.« »Ich glaube, darüber müssen wir uns ausführlich unterhalten«, sagte Lion. »In meinem Büro.« »Gern, Monsieur«, antwortete der alte Mann. »Wenn Sie mich bitte führen würden? Ich bin nämlich blind.« »Im Büro vom Kommissar?« flüsterte Naty verstört. »Aber was sollen wir denn da?« »Hab keine Angst«, sagte Monsieur Tatu, »ich bin ja bei dir.« Und wie zur Bekräftigung seiner Worte legte er den Arm fest um die Schultern des kleinen Mädchens. Eine Viertelstunde später saßen der alte Mann und das Kind dem Kommissar in seinem Büro gegenüber. Lion stellte knappe, präzise Fragen. Der alte Mann und das Kind bemühten sich, sie ebenso präzise zu beantworten. »So, bei den Zigeunern willst du mit deiner Maman gewesen sein?« fragte der Kommissar schließlich. »Aber ja«, sagte Naty, »ich habe es Ihnen doch genau erzählt.« »Wie sahen die Zigeuner denn aus?« »Wie Zigeuner eben aussehen.« »Und deine Maman, was hatte sie dort zu suchen?« »Sie hat gesagt, Vati will ein Bild von den Zigeunern malen. Und Mami ist schon mit mir vorher zu ihnen gegangen, weil sie die Zigeunersprache kennt und weil die Zigeuner so scheu sind.« »Und dann?« »Und dann hat sie mich im Stich gelassen. Mitten in der Nacht. 89
Da hat jemand ganz schrecklich geschrien, und davon bin ich wach geworden. Und da war Mami nicht da. Und da bin ich weggelau fen.« »Wann war das?« »Oh – das ist schon lange her«, sagte Naty. »Ein Tag, zwei Tage, drei Tage, ich weiß nicht.« »Vor zwei Nächten ist sie gekommen«, sagte Tatu. »So«, sagte der Kommissar trocken. »Und wann, sagen Sie, waren die Zigeuner an Ihrer Hütte?« fragte er Tatu. »Letzte Nacht.« »Sie sind sicher, daß es Zigeuner waren?« Monsieur Tatu hob die Hände. »Ich habe ihre Stimmen gehört.« »Schön. Nehmen wir einmal an, das stimmt alles, was Sie mir er zählt haben…« »Es ist die Wahrheit«, sagte Naty fest. Kommissar Lion lächelte zum erstenmal. »Ich glaube dir ja, ma petite. Aber sag' mir, haben sich deine Eltern oft gestritten?« »Warum wollen Sie das wissen?« fragte Naty vorsichtig. »Weil es wichtig ist, ma petite.« »Warum ist es wichtig?« »Siehst du, deine Mami ist verschwunden. Und du warst ver schwunden. Und dein Vati hat euch beide gesucht. Jetzt bist du hier, und ich werde dich heute noch zu deinem Vati bringen. Aber…« »Au fein«, unterbrach ihn Naty und sprang von dem hochlehni gen Stuhl herunter. »Bitte, können wir gleich zu meinem Vati los fahren?« Und sie fügte erklärend hinzu: »Wissen Sie, der Schimmel kann nicht mehr so schnell laufen, und es ist doch bestimmt weit bis zum Meer, nicht?« »Wir fahren mit dem Auto«, entgegnete Kommissar Lion. »Aber zuerst mußt du mir noch meine Frage beantworten.« »Welche denn?« 90
»Haben deine Eltern sich oft gestritten?« »Ja«, sagte Naty zögernd, »leider. Aber meistens war die Mami schuld. Sie hat immer gesagt, Vati ist ein Schwächling. Er weiß nicht, was er will. Und einmal – ja, einmal«, Natys Stimme wurde ganz leise, ganz klein, »einmal hat Vati deswegen richtig geweint. An meinem Bett, als er noch mit mir zur Nacht gebetet hat.« Naty senkte den Kopf. Sie schämte sich plötzlich, daß sie es dem Kom missar erzählt hatte. Denn eigentlich durften Männer doch nicht weinen, und eigentlich mußten sie doch immer wissen, was sie woll ten – wenigstens war es das, was die Mami behauptete. »Na schön«, sagte Kommissar Lion und erhob sich aus seinem Sessel hinter dem Schreibtisch, »dann fahren wir jetzt zu deinem Vati. Verabschiede dich von Monsieur Tatu.« Und zu dem alten Mann gewandt, fragte er: »Sie finden Ihren Weg zurück?« »Natürlich, Monsieur Commissaire«, antwortete Tatu. »Aber ich möchte gern, daß du meinen Vati kennenlernst«, wider sprach Naty. »Ach, bitte Monsieur Tatu, komm doch mit zu mei nem Vati!« Der alte Mann lächelte. »Ihr werdet mich besuchen. Kommissar Lion weiß, wo ich zu finden bin.« Naty schlang impulsiv die Arme um den alten Mann und drückte das Gesicht an seine Brust. »Wir kommen dich bald besuchen, Monsieur Tatu«, versprach sie. »Ganz bald. Und ich bringe dir auch ein Geschenk mit, weil du so lieb zu mir warst. Und vielleicht kann Vati deine Stiere malen, und dann wirst du noch ganz berühmt.« Naty wußte nicht, warum, aber sie mußte einfach ein bißchen weinen, als sie wenige Minuten später Monsieur Tatu, seinem Apfel schimmel und dem alten Karren nachblickte, wie sie langsam da vonzockelten. Karen Schaumburg war zornig. Sie wollte es nicht sein, aber sie 91
konnte einfach nicht anders. »Horst, wach auf!« sagte sie. »Sieh die Dinge wie sie sind! Gloria hat dich vom ersten Tag an belogen!« »Ich kann es nicht glauben«, erwiderte er. Er starrte auf den Zeitungsausschnitt, der auf Karens Bett lag, den er mit beiden Händen zerknüllt und angewidert weggeschleudert hatte. Demnach sollte Gloria die Komplizin eines Juwelendiebs ge wesen sein und – unvorstellbar dieser Gedanke – Naty das Kind die ses Verbrechers. »Du kennst Gloria nicht«, stieß er hervor. »Zugegeben, sie war manchmal ein bißchen geheimnisvoll, sie war verschlossen, aber sie konnte nicht lügen. Sie haßte es, zu lügen. Wenn sie beispielsweise Naty bei einer Unwahrheit ertappte, dann – dann hat sie das Kind geschlagen. Ich mußte Naty dann immer verteidigen, aber Gloria ließ keine Entschuldigung für eine noch so harmlose Lüge gelten.« »Aber Horst, Gloria hat dich belogen!« wiederholte Karen. »Sie hat dir von einem Verlobten erzählt, der tödlich verunglückt sei. Doch Paul Kammer lebt. Er ist vor einigen Tagen aus dem Zucht haus Butzbach entlassen worden, wo er acht Jahre wegen des Juwe lenraubes in Frankfurt gesessen hat. Und Gloria war daran beteiligt. Glorias Smaragde stammen aus diesem Raubzug.« »Gloria hat die Smaragde geerbt«, widersprach Horst. »Von ihrer Tante Marie aus Arles.« »Ich bin sicher, daß es nie eine Tante Marie in Arles gegeben hat«, entgegnete Karen. »Leider habe ich bisher nur noch nicht die Zeit gehabt, es nachzuprüfen.« »Nein«, sagte Horst, »nein, ich kann und will das alles nicht glau ben.« »Horst«, begann Karen wieder – und verstummte. Sie hatte es ihm nicht sagen wollen, nein, sie hatte ihn schonen wollen, aber blieb ihr jetzt noch eine andere Wahl? »Horst –«, sie mußte sich räuspern. »Gloria war letzte Nacht in 92
deinem Zimmer.« Er fuhr in die Höhe. »Was?« »Während du hier schliefst, nachdem dich ein Zigeuner niederge schlagen hatte, ging ich in dein Zimmer. Ich ahnte, daß etwas ge schehen würde, ich hoffte es zumindest. Und im Morgengrauen kam Gloria. Sie sah wie eine Zigeunerin aus. Und sie warf das hier in den Raum.« Karen zog die Hand aus der Tasche ihres Hosenanzugs. Die Sma ragde lagen darin. Grüngleißende Sterne, Eisfeuer, in Platin gefaßt. »Die echten Smaragde?« »Ja, die echten Smaragde«, bekräftigte Karen. »Und was geschah weiter?« »Dann flüchtete Gloria.« »Und?« »Ich bin ihr gefolgt.« »Wohin?« »In einen Zufahrtsweg zum Chateau d'Avignon.« »Was ist dann passiert? Mein Gott, spann mich doch nicht auf die Folter!« »Ich ging an ihren Wagen heran. Er war leer. Und dann – sie hat versucht, mich zu erdrosseln.« »Nein!« Horst schrie es laut. »Nein!« Er preßte die Fäuste vor den Mund. »Du lügst! Du haßt sie! Du bist eifersüchtig auf sie! Du willst sie in meinen Augen schlechtmachen! Aber sie ist nicht schlecht! Gloria ist gut, gut, gut! Ich weiß es! Und sie liebt mich! Und ich liebe sie! Und sie wird zurückkehren! Zu mir zurückkeh ren!« »Horst«, sagte Karen scharf. »Hör auf!« »Entschuldige«, sagte er. »Ich wollte es dir ersparen«, sagte Karen, »aber hier, sieh dir das an.« Sie öffnete den obersten Knopf ihrer grünen Bluse. Und Horst 93
sah den roten Striemen quer über ihren schmalen Hals. Seine Lippen bewegten sich stumm. Er schüttelte den Kopf, als könne und dürfe er seinen Augen nicht trauen. »Es tut mir leid«, sagte Karen, »es tut mir leid für dich.« Sie stand auf, wandte sich ab. Sie zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief, mußte husten. »Karen?« fragte Horst. »Ja?« »Ich werde zur Polizei gehen.« »Ja«, antwortete sie, »ich glaube, das mußt du tun.« »Aber«, Horst sprach so langsam, als müsse er jede Silbe ganz neu, zum erstenmal formen, »was geschieht dann mit Naty?« Das Kind… An das Kind hatte Karen nicht mehr gedacht. »Ja, Naty«, sagte sie. »Gloria hat gedroht, ich würde sie und das Kind nie wiedersehen. Und wenn ich dir glauben soll, dir glauben muß, dann bedeutet das nur eins: Sie würde – sie wird dem Kind etwas antun.« Am Abend desselben Tages, an dem sich all das in Port St. Marie in der Camargue ereignete, verließ ein elegant gekleideter Herr in grauem Flanellanzug und anthrazitfarbenem Trenchcoat den Mün chener Hauptbahnhof. Er winkte ein Taxi heran und ließ sich zum Hotel am Hof in der St. Augustingasse fahren, einem kleinen, aber distinguierten Hotel in der Nähe des Viktualienmarktes, wo Börsen makler, Generalvertreter und Herren ähnlicher Professionen abzu steigen pflegen. Niemand hätte in dem Fahrgast, der schweigend die in deftigem Bayerisch gehaltenen Schilderungen des Taxifahrers vom Wetter, teuren Lebenshaltungskosten und Verkehrsgewirr über sich ergehen ließ, den erst seit fünf Tagen aus dem Zuchthaus Butzbach entlas 94
senen Juwelendieb Paul Kammer vermutet. Nur noch seine engsten Freunde hätten ihn an den merkwürdig mondsichelförmigen Augen über den hohen Backenknochen er kannt. Aber von diesem Charakteristikum lenkte der dichte schwarz graue Schnurrbart ab, der die Oberlippe Kammers zierte. Sein Haar war ebenfalls schwarz gefärbt mit einem Silberanflug an den Schlä fen. Die leicht gebeugte Haltung, Kammer stützte sich auch im Sit zen auf einen Malakkastock mit silberner Krücke, ließ ihn wesent lich kleiner erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Diese Tarnung war lebensnotwendig für ihn. Ihm war klar, daß Kommissar Bertram vom Raubdezernat in Frankfurt die Mitteilung von seiner Entlassung längst auf dem Tisch hatte, ihn vielleicht längst schon beschatten ließ. Und es gab für Kammer gewiß keinen Grund, die Polizei auf Glorias Spur zu set zen – falls er sie selbst jemals finden würde. Wenn er sie fand, dann wollte er sich die Beute nicht noch nach träglich von den Hütern des Gesetzes abnehmen lassen. Im Hotel am Hof trug Kammer sich natürlich unter falschem Na men ein. Er ließ sich eine halbe Flasche Champagner aufs Zimmer schi cken, ein Tatarbeefsteak und einen mit Essig und Zwiebeln ange machten Camembert. Während er aß – und das tat er mit großem Genuß –, legte er sei nen Schlachtplan für den kommenden Tag fest. Paul Kammer war ein pedantischer Mensch – er trug die einzel nen Stationen mit winziger Schrift auf einen winzig kleinen Zettel ein. 8.00 Uhr aufstehen, frühstücken. 8.30 Uhr Kaufhaus Oberpollinger, Garderobe vervollständigen. 9.30 Uhr Besuch bei F. Und exakt an diese Uhrzeiten hielt sich Paul Kammer auch. 95
Am anderen Morgen, um 9.30 Uhr entstieg er in München-Men zing einem Taxi vor dem schwarzen schmiedeeisernen Tor zu einer tief in einem Park gelegenen Villa. Er trug – es war ein warmer Tag – einen leichten blauen Kamm garnanzug, den jeder einem erstklassigen Maßschneider zugeschrie ben hätte, ein weißes Hemd mit Cardinkragen, eine Krawatte in ge dämpften Pop-Farben, schlichte schwarze Schuhe. Er stützte sich auf den Malakkastock. Er sah aus wie ein Herr – und wirkte wie ein sehr erfolgreicher Bankier. Diesen Eindruck gewann auch ein junger Mann, der in der Villa Fridolin keine andere Pflicht zu erfüllen hatte, als durch ein rundes Mansardenfenster wie durch ein Riesenauge jeden Besucher zu beo bachten, der sich Park und Haus nähern mochte. Der junge Mann war gelähmt, aber nur unterhalb der Taille. Bei einem kleinen Unfall war es passiert. Ein Querschläger während ei ner von der Polizei inszenierten Jagd hatte seinerzeit sein Rückgrat verletzt. Der junge Mann nahm das Fernglas von den Augen, drückte auf die weiße Taste einer tischgroßen Apparatur neben sich. »Ja?« fragte eine kühle Stimme gleich darauf. »Objekt etwa einsachtzig groß, schwarzhaarig, scharfgeschnittenes Gesicht, elegant gekleidet.« »Alter?« »Unbestimmt. Objekt scheint leidend, stützt sich auf Stock.« »Besondere Merkmale?« »Sehr hohe Wangenknochen, Schlitzaugen.« »Gut. Lassen Sie ihn ein«, befahl die kühle Stimme. Der junge Mann drückte auf eine andere, diesmal schwarze Taste. 96
Paul Kammer lächelte ein zynisch-amüsiertes Lächeln, als lautlos das schmiedeeiserne Parktor vor ihm aufschwang, noch ehe er hätte läuten können. Er schritt über einen rotgekiesten Weg zu der in matten Grauund Weißtönen gehaltenen Villa. Die Haustür, handgearbeitet, Ma hagoni, eine Kostbarkeit, schwang ebenfalls lautlos vor ihm auf. Ein bebrillter junger Mann empfing ihn in der mit Marmor aus gelegten Halle. Verbeugte sich stumm, bat mit einer Handbewe gung, ihm zu folgen. Kammers Lächeln vertiefte sich. Seltsam, dachte er, Menschen än dern sich doch nie: Weder Hugo mit seiner Vorliebe für jedweden Puffluxus noch Fridolin mit seiner Vorliebe für Krüppel. Denn der junge Mann, der ihm vorausging, war stumm, und nur ein vorzüglich angepaßtes Jackett verbarg seinen Buckel. Aber Fridolin sah diese seine Vorliebe für verkrüppelte Menschen sehr realistisch. »Erstens«, so hatte er Kammer einmal erklärt, »erin nern sie mich stündlich daran, daß ich mich bester Gesundheit er freue. Und zweitens sind sie einem, wenn man sie anständig be handelt, für alle Zeit bis in die Ewigkeit hündisch ergeben, mithin absolut folgsam.« Sie schritten durch eine Flut von mit erlesenen Kunstschätzen ausgestatteten Räumen. Schließlich öffnete sich die letzte Tür. Eine karge weißgetünchte Zelle. Als einziges Mobiliar ein Schreibtisch aus schwarzem Ebenholz. Dahinter ein Gobelinstuhl aus dem Mittelalter. Und auf dem Stuhl mit kahlem, gelblich glänzendem Schädel – Fridolin. »Guten Tag, mein Freund«, sagte er mit seiner kühlen Stimme, »ich habe dich erwartet. Tritt näher.« Die Tür schloß sich lautlos hinter Kammer. Er war mit Fridolin allein. Es wunderte ihn nicht, daß der andere 97
ihn sofort erkannt hatte. Denn Amadeus Fridolin und er waren sehr alte Komplizen. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte Kammer und blickte sich nach einer Sitzgelegenheit um. Es gab keine. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als stehenzublei ben. »Ja«, sagte Fridolin, »acht Jahre sind eine lange Zeit. Aber es war deine eigene Schuld. Du hast versagt, mein Lieber.« »Es war ein Zufall«, widersprach Kammer, »ein Zufall, den nie mand einkalkulieren konnte.« »Man muß jeden Zufall einkalkulieren – in unserem Geschäft«, sagte Fridolin. In seinem Gesicht, das an einen Mönch denken ließ, regte sich kein Muskel. Komisch, daß Frauen ihn so interessant finden, dachte Kammer blitzartig, und er erinnerte sich, daß selbst Gloria von der seltsamen Anziehungskraft Fridolins gesprochen hatte. »Was führt dich hierher?« fragte Fridolin. »Ich will wissen, wo Gloria ist.« »Das weißt du nicht?« fragte Fridolin. »Nein. Natürlich nicht.« »Sie hat uns beide betrogen«, sagte Fridolin, »und sie ist dabei, dafür zu büßen.« »Wo ist sie?« fragte Kammer. »Weit weg.« »Wie – wie weit weg?« fragte Kammer und hörte selbst, daß seine Stimme mit einemmal leiser klang. »Hoffentlich in der Hölle«, sagte Fridolin, und in seinen Augen begann es zu glitzern. »Denn auch eine Handvoll Sterne sind keine Lebensversicherung.«
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s war eine Weile bedrückend still in der klösterlich kargen Zelle, die niemand in der eleganten Villa in München-Menzing ver mutet hätte. Für den bekannten Finanzmakler und Juwelier Ama deus Fridolin war sie jedoch der wichtigste Raum im ganzen Haus – nämlich die Brutstätte seiner besten Ideen. Hierher zog sich der kahlköpfige häßliche Mann zurück, um seine genialen Schachzüge vorzubereiten, die seinen Reichtum mehrten, ohne sein Ansehen in der Gesellschaft zu schmälern. Hier empfing Amadeus Fridolin auch Besucher zu ungestörten Unterredungen, die keine Zeugen duldeten. Doch – einen Zeugen gab es stets – ein hochempfindliches Ton bandgerät, in den antiken Schreibtisch aus Ebenholz eingebaut, das Mikrofon kunstvoll in der Schnitzerei getarnt. Minutiös hielt es je des der Gespräche fest, die manchen schon Vermögen und Anse hen, aber erst wenige den Kopf gekostet hatten. Nun saß der über Nacht ›gealterte‹ Paul Kammer dem im gehei men sehr mächtigen Finanzmakler gegenüber. Fridolin hatte die karge Einrichtung der Zelle durch seinen stummen buckligen Sek retär um einen Stuhl für Kammer vervollständigen lassen. Das ge schah aus einer flüchtigen Regung des Mitgefühls heraus, denn Fri dolin hatte den jungen kühnen Kammer sehr geschätzt, bis er Glo ria verfiel, der rothaarigen Hexe. »Du weißt, daß ich damals vor acht Jahren schon strikt dagegen war, Gloria in der Aktion Sternschnuppe einzusetzen«, sagte Ama deus Fridolin. »Ich ließ mich von dir nur umstimmen unter der Be dingung, daß alle anderen Vereinbarungen eingehalten würden. Aber was geschah? Du wurdest geschnappt, weil du, Glorias wegen, 99
nicht schnell genug warst. Ja, sie war sogar schneller als du. Sie be folgte zwar vier Jahre lang meine Anweisungen, und Hugo hielt die Sterne unter Verschluß. Aber dann gelang es Gloria, ihn zu übertöl peln. Von Hugo erfuhr ich das allerdings nicht. Er behauptete – wahrscheinlich aus Feigheit – bei der vierteljährlichen Berichterstat tung immer wieder steif und fest, daß alles in bester Ordnung sei. – Du weißt, daß wir den Tag deiner Entlassung zur Verteilung der Sterntaler festgesetzt hatten.« »Aber wo ging Gloria damals hin? Wo ist sie heute?« unterbrach Paul Kammer ihn ungeduldig. »Sachte, sachte«, sagte Fridolin und hob die gelbliche knochige Hand mit den langen rosig manikürten Nägeln. »Ich erfuhr schließ lich – vor genau einem Jahr, daß Gloria hier in München aufge taucht war. Sie verriet sich durch ihre Eitelkeit. Bei einem berühm ten Faschingsball trug sie die Smaragde.« Kammer preßte die Lippen zusammen, er sagte nichts. »Und ich erfuhr weiterhin, daß sie verheiratet ist.« »Das ist nicht wahr!« Kammer sprang auf, stemmte die Fäuste auf den Schreibtisch. Er beugte sich weit vor, blickte starr in das unbe weglich-unbeteiligte Gesicht seines ehemaligen Partners. »Gloria hat nicht geheiratet! Das ist eine Verleumdung! Gloria kann gar keinem anderen Mann gehören! Sie hat ein Kind von mir! Mein Kind! Mei ne Tochter!« »Ja, und genau an das Kind knüpfte sie bei ihrer Eheschließung mit einem jungen, zwar vielversprechenden, aber noch erfolglosen Maler eine Bedingung. Horst Rixen, so heißt ihr Mann, mußte die kleine Renate adoptieren, die bis dahin in einem Internat am Tegernsee untergebracht war. Damit das Kind einen ehrbaren Vater hat, einen sauberen Namen, verstehst du?« »Und dann?« stieß Kammer hervor. »Ich ließ Gloria beobachten. Sehr unauffällig natürlich, ich kann mir keinen Skandal leisten. Aber sie muß dennoch dahintergekom 100
men sein, denn eines Tages verschwand sie mit Mann und Kind spurlos.« »Also weißt du auch nicht, wo sie jetzt ist?« »Doch«, sagte Fridolin und spitzte amüsiert seine bläulichen Lip pen. »Sie lebt in Südfrankreich, in einem Haus in Arles, das angeb lich einmal einer verstorbenen Tante von ihr gehört hat.« »Und was sollte dein Geschwafel von vorhin, Gloria sei in der Hölle?« »Nun – noch lebt sie im Fegfeuer ihrer Angst vor deiner Entlas sung. Zur Hölle ist es da nur noch ein kleiner Schritt, nicht wahr? Ich hätte sie natürlich längst dahin befördern können, aber ich dachte mir, du nimmst mir diese Arbeit gewiß gern ab.« Jedes Wort traf wie ein Giftpfeil, und alle hatten auf Paul Kam mer verheerende Wirkung. Die Glocken läuteten ohne Unterlaß. Schon von weitem – sie sa hen den Trutzbau der Kirche von Saintes Maries de la Mer wie ei nen Scherenschnitt vor dem weißblauen Himmel – hörten Naty und Kommissar Lion die jubelnden Lobgesänge aus abertausend Kehlen von abertausend dunkelhäutigen Menschen, die über die kleine Stadt wie ein Heuschreckenschwarm hergefallen waren. Alljährlich, am 25. Mai, versammelten sich Tausende von Zigeu nern hier, um die Jungfrauen Marie mit einer Prozession zu ehren, aus Dankbarkeit dafür, daß sie vor Urzeiten auf wundersame Weise von ihren Feinden gerettet worden waren. Aus dem fernen Palästina waren Marie Jacobe und Marie Salomé und die schwarze Sarah vor Christenverfolgern über das Meer geflüchtet und mit ihrem kleinen Schiff hier an den Strand gespült worden. Sie waren dem Verhun gern und dem Verdursten nahe, und siehe da – aus dem trockenen Sand sprudelte eine Quelle süßen Wassers. Zum Dank dafür errich teten die beiden frommen Frauen an der Stelle einen Altar. 101
Die Zigeuner waren ein Volk, das seine Legenden nicht vergaß, täglich mit ihnen lebte. Legenden, die ihnen ruhmreiche Schlachtund Kriegsgeschichten anderer Völker ersetzten. Kommissar Lion erklärte Nelly all das mit möglichst einfachen Worten, und das kleine Mädchen lauschte mit großen, begeisterten Augen. Dann aber verdunkelte sich Natys Blick, und sie sagte: »Aber das muß meine Mami doch auch gewußt haben. Von der Prozession – meine ich. Dann hat sie doch gelogen. Denn da hätte mein Vati doch gar nicht in ein Zigeunerlager zu fahren brauchen, um ein Bild von denen zu malen. Das hätte er doch hier tun können, nicht?« Kommissar Lion erwiderte nichts darauf. Einmal, weil er nicht wußte, was er erwidern sollte, zum anderen, weil ihm dieses kleine Mädchen leid tat, das in den letzten Tagen mehr geheimnisvoll-ge fährliche Dinge erlebt hatte als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. Wenn er beispielsweise nur an den Vortag dachte, nachdem der blinde Tatu die Kleine nach Arles gebracht hatte – Er, Lion hatte sogleich im Hotel Bellevue in Port St. Marie ange rufen, aber Rixen nicht erreicht. Sie besichtigten die Salinen, gab der Portier Auskunft. Sie? Ja, Monsieur Rixen und Mademoiselle Schaumburg. Naty hatte vor Enttäuschung bitterlich geweint, das konnte selbst einem abgebrühten Kriminalbeamten zu Herzen gehen. Bis in den späten Abend war Rixen nicht zurückgekehrt, und so hatte Lion das Kind schließlich mit zu sich nach Hause genom men, zu seiner Frau Monique. »Weißt du, Monsieur le Commissaire«, sagte Naty jetzt nachdenk lich, während er den Wagen auf einer Obstwiese am Ortsrand park te, die Türen gut abschloß und das kleine Mädchen nicht von sei ner Seite ließ, »weißt du, ich glaube, meine Mami ist mit mir zu den Zigeunern gelaufen, um sich zu verstecken. Weil sie vor etwas 102
Angst hatte. Ganz große Angst!« Und dann ruckte Naty an seiner Hand, preßte sie ganz fest. Ihr Gesichtchen war mit einemmal schneeweiß. »Monsieur le Com missaire«, flüsterte sie, »meinst du, es könnte meine Mami gewesen sein, die so furchtbar geschrien hat, in der Nacht bevor ich wegge laufen bin?« »Ich weiß es nicht«, sagte Kommissar Lion. »Aber ich verspreche dir, ich werde es bald herausfinden. Und gleich bist du erstmal wie der bei deinem Vati, und dann ist sowieso alles gut.« »Sie sind ein netter Polizist«, sagte Naty mit dem tapferen Ver such eines Lächelns. »Eigentlich mag ich Sie ganz gern. Aber ob Sie meine Mami finden können? Ich glaube, sie ist zu schlau für Sie. Sie war schon immer schlauer als Vati.« »Wie meinst du das?« fragte Lion. Naty zuckte die Schultern. »Sie hat es oft selbst gesagt.« Armer Kerl, dieser Rixen, dachte Kommissar Lion mit einem An flug von Mitleid, dessen er sich aber schnell erwehrte. Schließlich – das war eine alte Weisheit – war jeder seines Glückes Schmied. Und wenn ein Mann wie Rixen eine Frau wie Gloria heiratete, mußte er wissen, was er tat. Von einem Schritt zum anderen gerieten der Kommissar und das kleine rothaarige Mädchen in die Prozession der Zigeuner hinein, die sich einem schillerndbunten Tausendfüßler gleich durch den Ort zur Kirche und von dort zum Meer hin bewegte. Es roch betäubend nach Nelken und Weihrauch. Goldschmuck glänzte an den Hälsen und Armen der Frauen, glitzerte an den Oh ren der Männer. Heller Geigenklang, Gitarrenschlag und Castagnet tengeklapper erfüllten die Luft und begleiteten auf seltsam heid nische und doch fromme Weise den inbrünstigen Bittgesang. Salut, Salut, o Saintes Maries!
Salut, Salut…
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Naty klammerte sich mit beiden Händen an Lions Hand, um nur ja in dem wogenden Menschenstrom nicht von seiner Seite gerissen zu werden. Ihr Gesichtchen zwischen der Wolke roten Haares war eine Maske der Furcht. Kommissar Lion hob schließlich das Kind auf seinen Arm. Für den Weg zum Port St. Marie und zum Hotel Bellevue, für den man normalerweise zehn Minuten benötigte, brauchten sie fast eine Stunde. Lion atmete auf, als sie die Halle betraten, die wie leergefegt war, alle Touristen wohnten natürlich dem farbenprächtigen Schauspiel der Zigeunerprozession bei. »Na, da wollen wir hoffen, daß dein Vati oben in seinem Zimmer ist«, sagte Lion und setzte Naty auf die Füße. Hand in Hand mit dem Kind stieg er die Treppe hinauf. Naty sprang jetzt mit kaum gezügelter Ungeduld neben ihm her. »Vati hat Zimmer 23«, sagte sie, »in 24 habe ich immer geschla fen.« »Ich weiß«, sagte der Kommissar lächelnd. Zimmer Nr. 23. Er klopfte an. Eine Frauenstimme rief: »Herein!« Naty stand stocksteif, als Lion die Tür öffnete. Sie sahen sich einer jungen blonden Frau gegenüber, die am Fens ter lehnte und einen Feldstecher in den Händen hielt. »Wer bist denn du?« fragte Naty verblüfft. Das Gesicht der Frau verzog sich zu einem Lachen. »Naty!« rief sie. Und dann: »Horst, Horst, Naty ist da!« Horst Rixen kam aus dem Bad. Er ließ ein Frottiertuch fallen, stand den Bruchteil einer Sekunde lang regungslos, dann stürzte er vor, riß Naty in seine Arme. »Vati!« jubelte das Kind. »Vati!« »Natylein«, sagte Horst rauh. »Mein Gott, Natylein. Endlich, end lich!« »Ich glaube, wir sollten die beiden eine Weile alleinlassen«, sagte 104
Kommissar Lion zu Karen Schaumburg, über das Kind und den Mann hinweg, die ihr Glück des Wiedervereintseins kaum fassen konnten. Karen nickte zustimmend, kam zu ihm herüber, ging mit ihm hinaus. »Wir haben heute schon vergeblich versucht, Sie in Arles zu er reichen«, sagte Karen, nachdem sie sich einander vorgestellt hatten. »Man sagte uns, daß Sie unterwegs seien, aber nicht, daß Sie Naty zurückbringen würden. Wo haben Sie sie gefunden?« »Uns?« fragte Lion. »Sind Sie mit Rixen verwandt?« Karen schüttelte leicht den Kopf. Flüchtig verdunkelten sich ihre Augen, etwas wie Trauer kam in ihren Blick. »Ich bin nur eine alte Bekannte aus Studientagen von Herrn Rixen. Bitte, wollen wir uns eine Weile in meinem Zimmer unterhalten?« Sie wies dem Kommissar den Weg in die untere Etage des Hotels. »Einen Cognac?« fragte sie, als Lion in einem der kleinen kreton überzogenen Sessel am Fenster ihres Zimmers Platz genommen hatte. »Danke, nein. Verraten Sie mir lieber, was Sie mit dem Feldste cher taten, als wir eben hinaufkamen?« »Ich habe die Zigeunerprozession beobachtet«, antwortete Karen. Sie schenkte sich einen Cognac aus einer Flasche auf der Kommo de ein, trank ihn in kleinen Schlucken. Sie setzte sich dem Kommissar gegenüber, schlug die schlanken, langen Beine übereinander, die heute in weißen Leinenhosen steck ten. Dazu trug sie ein schlichtes graues Sporthemd. »Und ich habe gehofft, Gloria Rixen dabei zu entdecken«, fügte sie hinzu. »Wir waren übrigens aus dem gleichen Grund gestern draußen bei den Salzfeldern. Wie Sie sehen, jedoch ohne Erfolg.« »Und ich habe dadurch einen ganzen Tag verloren«, sagte Lion. Er zündete sich eine seiner langen blonden Zigarillos an. Betrach tete Karen eine Weile nachdenklich durch den Rauch. Was er sah, 105
war eine schöne junge Frau mit falbenblondem Haar. Große graue Augen, kluge, ehrliche Augen. »Ihr Freund Rixen scheint kein Mann zu sein, der die Wahrheit liebt«, sagte er dann. »Ich weiß, daß er Sie angelogen hat, als er zu Ihnen nach Arles kam, um die Tote vom Mas Armand als seine Frau zu identifizie ren. Er tat es sogar auf meinen Rat hin. Denn ich kenne seine Frau. Kenne ihre Vergangenheit. Und daher riet ich ihm, Glorias Befeh len zu folgen.« »Ihren Befehlen?« Lions Augenbrauen hoben sich. »Ja, es waren Befehle, die sie ihm in kurzen, unmißverständli chen Briefen nach ihrem angeblichen Tod zukommen ließ. Und wie gesagt, ich riet Horst, diesen Befehlen zu folgen, weil seine Frau gleichzeitig drohte, er werde sonst Naty und sie selbst nie wieder sehen.« »Sie scheinen äußerst gut informiert zu sein, Mademoiselle«, sagte Kommissar Lion nicht ohne Bitterkeit. »Das bringt mein Beruf mit sich«, antwortete Karen. »Und was ist das für ein Beruf?« »Ich bin Journalistin. Gerichtsreporterin, um präzise zu sein.« »Also fast eine Kollegin.« Lion lächelte schmal. »Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Karen und erwiderte offen sein Lächeln. »Soll ich Ihnen alles der Reihe nach erzählen, was ich von Gloria Rixen weiß?« »Ich bitte darum«, sagte der Kommissar. Karen begann zu berichten. Als sie Lion eben auseinandersetzte, daß sie nach Port St. Marie gekommen war, weil sie Gloria verdächtigte, bei dem Juwelenraub von Frankfurt die gesuchte Mittäterin gewesen zu sein, betrat Horst Rixen das Zimmer. Naty führte er an der Hand. Karen unterbrach sich und fragte: »Möchtest du weitererzählen, Horst?« 106
Aber er schüttelte nur den Kopf. »Naty und ich wollen in den Ort gehen.« »Wohin?« fragte Lion scharf. »In die Kirche«, sagte Naty. »Ich muß doch dem lieben Gott für meine Errettung danken.« Sie klammerte sich an ihres Vaters Hand, als wolle sie sie nie mehr loslassen. »Bitte bleiben Sie hier«, sagte Lion. »Es wäre mir…« »Warum?« unterbrach ihn Horst abweisend. »Glauben Sie, ich kann nicht auf meine Tochter aufpassen?« »Es sind Tausende von Fremden im Ort. Da könnte das Ver schwinden zweier Menschen vielleicht zu spät auffallen …« »Er hat recht, Horst«, sagte Karen. »Bitte bleibt im Hotel.« »Na schön.« Rixen zuckte ergeben mit den Schultern. »Das Ganze nimmt ihn schrecklich mit«, sagte Karen. »Sie lieben ihn, nicht wahr?« fragte der Kommissar. Karen antwortete nicht. Statt dessen erzählte sie den Rest dessen, was sie von Gloria wuß te, verschwieg auch nicht, daß sie ursprünglich nur nach Port St. Marie gekommen war, um Gloria als die Komplizin des Juwelen diebs Paul Kammer zu entlarven und Horst vor ihr zu warnen. Nur – Gloria war ihr mit ihrem Verschwinden zuvorgekommen. »Wenn man daran denkt, was alles geschehen ist…« Kommissar Lion sprach nachdenklich, langsam, wie zu sich selbst. »Da wird eines schönen Maimorgens eine Frau ermordet im Brunnen der Ar mands gefunden. Alle Indizien deuten darauf hin, daß es sich dabei um Madame Rixen handelt. Die Smaragde, die sie trägt, das Kleid, in dem sie noch am Vorabend in der Bar El Ruedo gesehen worden war, ein Kleid, das Kerzenwachsspritzer abbekam, worüber sich Ma dame Rixen sehr aufregte. Monsieur Rixen identifiziert die Tote als seine Frau, dann behauptet er, sie sei es doch nicht. Und schließ lich, angeblich getrieben von den Briefen seiner Frau, kommt er wieder zu uns und behauptet, sie ist doch die Ermordete. Die Sma 107
ragde, die bei der Toten gefunden wurden, waren falsch – wo sind die echten?« »Ich habe sie«, sagte Karen ruhig. Sie erhob sich, ging zu ihrem Bett, zog den Koffer darunter hervor. Sie öffnete das Spezialschloß mit dem winzigen Schlüssel, den sie wie stets an ihrem Uhrarm band trug. Feuriggrün leuchteten die sternförmigen Edelsteine auf, als Karen sie in Lions Hand legte. »Wie sind Sie dazu gekommen?« fragte Lion. »Gloria selbst hat sie mir vor zwei Nächten sozusagen ins Gesicht geworfen.« Karen berichtete, wie sie Gloria verfolgt hatte, die ihr aber draußen auf dem offenen Land der Camargue entwischt war. Den Anschlag auf ihr Leben verschwieg sie. Sie tat es instinktiv, hätte keine Erklärung dafür geben können. Kommissar Lions Bonaparte-Gesicht blieb ausdruckslos. »Und warum das alles?« fragte er abrupt. »Das alles sind doch Handlungen, die keinen Sinn ergeben.« »Doch – einen!« Karen blickte ihn fest an. »Gloria Rixen handelt aus panischer Angst. Denn Paul Kammer, der Juwelendieb, ist vor sechs Tagen in Deutschland aus dem Zuchthaus entlassen worden.« »Und wer, glauben Sie, hat die rothaarige Frau auf dem Mas Ar mand umgebracht?« Karen blickte ihn nur an, antwortete nicht. »Na schön«, Lion erhob sich. »Sie haben recht, meine liebe Kol legin, das muß ich wohl selbst herausfinden.« »Und was wollen Sie wegen Gloria unternehmen?« »Wir werden sie suchen und finden.« Zum erstenmal lächelte Lion frei, doch das Lächeln verschärfte nur den harten, entschlossenen Ausdruck in seinen dunklen Augen. Die Prozessionsgesänge flatterten in den blauen Himmel, der sich 108
weit, beinahe unendlich über die Camargue spannte. Der ferne, inbrünstige Gesang und das Läuten der Kirchenglo cken wehten sogar bis zu der kleinen, verlassenen Hütte hinüber, die Gloria Rixen zu ihrem Zufluchtsort gewählt hatte. Bis Janos die Tür schloß. Da wurde es sehr still. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und blickte Gloria stumm an. Dann nahm er den Schlapphut ab, fuhr sich mit der anderen Hand durch das bläulich schimmernde schwarze Haar. An seinem Ringfinger blitzte das weiße Feuer eines Brillanten auf. Gloria verzog unwillkürlich den Mund. Der Solitär – ein Vermö gen wert, und sie hatte sich davon trennen müssen, um sich Janos' Hilfe zu sichern. »Was bringst du für Nachrichten?« fragte sie. »Keine guten.« »Was ist passiert? Sag's schon!« forderte sie scharf. »Die Polizei hat das Kind gefunden und nach Port St. Marie zu rückgebracht.« »So! Und du wagst es, mir das einfach so zu sagen!« Gloria fuhr in die Höhe. Katzengleich sprang sie den mageren großen Mann an und schlug ihm mit dem Handrücken links und rechts ins Gesicht. Die olivfarbene Haut seiner Wangen verfärbte sich nicht. Nur sei ne Augen verengten sich. »Das wirst du eines Tages büßen«, sagte er. »Keine Frau hat es je gewagt, Janos zu schlagen!« »Du hast es verdient«, sagte Gloria. »Und du weißt es. Du hast versagt. Ihr alle habt versagt. Ihr habt es nicht einmal fertigge bracht, ein Kind in einer Gegend zu finden, die ihr angeblich wie eure Hosentasche kennt.« »Wir haben gesucht«, sagte Janos. »Wir haben getan, was du von uns verlangt hast. Aber jetzt ist Schluß!« »Ich habe dich gut dafür bezahlt«, sagte Gloria bitter. »Aber es gibt keinen Preis für ein Verbrechen. Du hast…« 109
»Schweig!« Janos lächelte schmal, grausam, mit weißblitzenden Zähnen, die Gloria einen Augenblick lang wie die Fänge eines Raubtieres vor kamen. »Du hast eine halbe Stunde Zeit«, sagte er. »Eine halbe Stunde, um zu verschwinden. Ich will mir die Hände nicht beschmutzen. Aber nach einer halben Stunde werden wir dich jagen wie ein toll wütiges Tier.« Auf der Flucht. Sie floh vor sich selbst, floh vor den Schatten ihrer Vergangen heit, floh vor den Sünden, die sie begangen hatte. Vor dem Mann, den sie verraten und vor dem anderen, den sie geliebt hatte. Eine halbe Stunde Vorsprung – es war nicht viel, was ihr blieb. Und außerdem… Die Polizei hatte Naty gefunden und nach Port St. Marie zu Horst zurückgebracht. Gloria wußte, was das bedeutete: Die Polizei würde keine Zeit verlieren, nun ihre Spur zu suchen und aufzunehmen. Und die Zigeuner boten ihr keinen Schutz, keine Hilfe mehr. Das war ihre eigene Schuld. Eine halbe Stunde ließ Janos ihr – und wenn sie keinen guten Ge brauch davon machte, dann würde er sie wirklich jagen lassen wie ein tollwütiges Tier. Angst mit einem Würgegriff an ihrer Kehle. Nichts anderes als Angst in ihrem Herzen und in ihrem Kopf. Unter Janos' Augen raffte sie ihre wenigen Habseligkeiten zusam men, stopfte sie in einen kleinen Segeltuchkoffer. Sie lief hinaus zu ihrem Wagen, schob sich hinter das Steuer. Im Rückspiegel sah sie Janos' Gesicht. Schmal, dunkel, der Aus druck seiner Augen gefährliche Drohung. Er stand neben der Tür der Hütte, die Hände in den Taschen seiner engen schwarzen To 110
rerohosen. Eine halbe Stunde ließ er ihr, dann würde er zur Jagd blasen. Die Gendarmerie von Saintes Maries de la Mer war an diesem Tag der Zigeunerprozession geschlossen. Die Erfahrung eines Jahrzehnts hatte Barthelet, den seine Kolle gen auch den ›Frosch‹ nannten, gelehrt, daß an diesem Tag höchst selten etwas geschah, was das Eingreifen der Polizei erforderlich machte. Das kam erst später, das kam am nächsten Tag, wenn die religiöse Inbrunst der Gitanes sich in trunkener Ausgelassenheit löste. Dann kam es manchmal zu Schlägereien wegen eines Mädchens und alle Jahre wieder einmal auch zu einer Messerstecherei. Dann mußten Barthelet und seine Gendarmen schon einschrei ten. Aber nicht am 25. Mai. Und so saß der ›Frosch‹ nicht weit von der Gendarmerie vor sei nem Haus, neben sich eine Flasche Rouge, die Gauloise im Mund winkel, die Hände über dem Bauch gefaltet, und ließ das Kaleidos kop von Farben, Geräuschen und Gerüchen der Zigeunerprozes sion an sich vorüberziehen. Unsanft schreckte ihn daher Kommissar Lions Hand auf, die sich plötzlich auf seine Schulter legte. »Ich muß telefonieren«, sagte der napoleongesichtige Kommissar militärisch knapp ohne weitere Erklärung. »Und sagen Sie Ihren Leuten Bescheid, Barthelet, in zehn Minu ten will ich sie alle in der Gendarmerie versammelt sehen. Mit ihren Jagdhunden.« »Oui, mon commissaire!« Barthelet beeilte sich, den Befehlen Lions zu folgen. Er wußte aus Erfahrung, da nützte kein Wider spruch. Lion telefonierte mit seiner Dienststelle in Arles. 111
Er forderte vier Bereitschaftswagen mit je vier Mann Besatzung an. »Bewaffnet?« fragte sein Assistent Jean vom anderen Ende. »Fragen Sie nicht so saublöd! Und noch etwas brauche ich – ei nen Haftbefehl. Lapier wird ihn ausstellen. Den bringen Sie mir mit.« »Auf welchen Namen?« »Auf den Namen Gloria Rixen.« Zur selben Zeit an diesem Tag saßen ein älterer Mann und eine verhärmt aussehende Frau in einer Wohnküche in einem schäbigen Haus in Arles. Das war so schäbig und armselig wie ihr ganzes Leben, seit Louis mit dem Lungendurchschuß aus dem Krieg heimgekehrt war und nicht mehr arbeiten konnte. Lisette trug es eigentlich mit Ergeben heit – wie eine unerforschliche Strafe, die der Herrgott einem auf erlegt hat. Nur – und das würde sie nie begreifen – warum mußte er ihnen jetzt auch noch ihre kleine Manon nehmen, ihre kleine Tochter? Warum? So fragte sie sich immer wieder, während sie leise und hilflos in ihre mageren Hände weinte, die vom Waschen und Put zen stets rissig und entzündet waren. »Wo kann sie nur sein?« fragte sie hilflos. »Sag doch, Louis, wo kann Manon sein?« »Sie ist achtzehn. Alt genug, um auf sich selbst aufzupassen«, sag te der Mann mit dem fahlen, krankhaft grauen Gesicht. »Und es ist ja nicht das erstemal, daß sie verschwindet. Voriges Jahr haben sie sie in Marseille aufgegriffen.« »Aber da war sie nur zwei Tage fort. Und jetzt ist es schon eine ganze Woche…« »Sie wird schon wiederkommen«, sagte Louis. »Glaub mir, Lisette, sie wird wiederkommen. Wir müssen nur Geduld haben.« »Ich habe immer gehofft, wenn sie mal erwachsen ist, werd' ich 112
eine Stütze an ihr haben. Ich hab' mir immer gewünscht, daß sie einen richtigen Beruf erlernen, ihren Eltern dankbar sein und für sie sorgen wird. Wir haben doch nie hoch hinaus gewollt, Louis. Wir waren doch nicht so. Von wem hat sie das bloß?« Der Mann hob seine knochigen Schultern, die sich deutlich unter dem zwar sauberen, aber sehr abgetragenen Hemd abzeichneten. »Ich weiß es nicht, Lisette.« »Und wenn wir doch wieder zur Polizei gingen? Sie suchen lie ßen.« »Du weißt, was der Kommissar beim letztenmal gesagt hat«, warn te Louis. »Wenn Manon noch einmal aufgegriffen wird wie in Mar seille, dann steckt man sie in ein Erziehungsheim – oder sogar ins Gefängnis …« »Aber wenn sie nun in falsche Hände geraten ist, wenn ihr nun etwas Schlimmes passiert ist?« Die Bitterkeit kerbte sich in tiefen, dunklen Falten um den Mund des Mannes. »Dann können wir auch nichts tun.« »Aber…« »Lisette, wir müssen Geduld haben«, sagte er. »Das ist das einzige, was uns zu tun übrigbleibt.« »Sie war so munter noch am letzten Tag. Sie sang und trällerte und tanzte durch das Haus. Und einmal nahm sie mich sogar in den Arm und schwang mich herum und rief: ›Maman, Maman, bald wirst du nicht mehr putzen müssen. Bald, Maman, sind wir reich!‹« »Ihr übliches Hirngespinst«, sagte der Mann. »Nein, nein, denn ich sagte noch: ›Red nicht so dummes Zeug daher!‹ Ich war böse mit ihr, weil sie mir meine letzten fünfzig Francs abbettelte. Sie wollte zum Friseur. Und sie sagte: ›Es ist wirk lich wichtig Maman, ich muß mir die Haare rot färben lassen, denn damit fängt unser Glück an.‹« 113
»Und darauf bist du natürlich reingefallen!« »Ach, du kennst sie doch, Louis! Ich sagte noch, ›du willst wohl in einer Bar arbeiten wie deine Freundin, wie?‹ Aber Manon lachte nur. ›Ich nicht Maman. Nein, das hab' ich nicht mehr nötig! Wart's nur ab, du wirst schon sehen!‹ – ›Dann sag mir, was du vorhast‹, hab' ich verlangt, aber sie hat nur wieder lachend den Kopf ge schüttelt. Und lachend ist sie aus dem Haus gelaufen!« Lisette legte die Hände vor das Gesicht und begann wieder zu weinen. Louis strich ihr tröstend über das graue Haar, aber ihre Tränen wollten nicht versiegen. »Tu doch was, bitte, tu doch was!« bettelte sie nur immer wieder. »Du mußt Manon finden. Ich hab' so ein Gefühl, so eine schreck liche Angst…« Aber wovor sie Angst hatte, das sagte sie nicht. Und schließlich zog Louis Monbeau seine Leinenjacke an, schlang sich den Schal aus ungebleichter Schafwolle um den Hals, den er auch bei größter Hitze trug, und sagte: »Gut, ich gehe zur Polizei. Ich sag' ihnen, sie sollen Manon wieder mal suchen.« Er trat aus der Küche direkt auf die Straße, und wie stets fror er, obwohl die Sonne schien. Er krümmte die Schultern und zog das Jackett fester über der Brust zusammen. Er hatte sich schon ein paar Schritte vom Haus entfernt, als Li sette ihm nachrief: »Denk daran, Manon hat sich das Haar rot fär ben lassen. Sag das dem Kommissar!« Die Hütte, die Gloria Rixen als Zufluchtsort gedient hatte, lag weiß blendend im Sonnenglast. Tür und Fenster standen offen. Sie schien verlassen. Nahebei sto ben Flamingos mit rosigem Flügelschlag auf. Kommissar Lion zündete sich eine seiner langen blonden Zigaril 114
los an, während er auf die Hütte zuging. Es war wie die Witterung eines Jagdhundes – ihm sagte sein In stinkt, daß das endlich die Hütte war, in der Naty und Gloria Rixen gehaust hatten. Ein paar Schritte hinter Lion folgten drei seiner Leute. »Wird wohl auch wieder Fehlanzeige sein«, knurrte einer der Be amten. »Schnauze!« befahl Lion. Er trat über die Schwelle. Einen Lidschlag lang war er wie blind, bis seine Augen sich an die Dämmerung in der Hütte gewöhnt hat ten. Und dann sah er den Mann. Er war schwarz gekleidet, und er lag auf dem Bauch. Das Gesicht hatte er in einen Haufen Schaffelle gepreßt. Seine Füße, in kurz schaftigen schwarzen Stiefeln, ragten grotesk riesig auf. Der Mann regte sich nicht. »He«, sagte Kommissar Lion, aber noch ehe er sich zu dem Mann hinunterbeugte, wußte er, daß er keine Antwort bekommen würde.
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er Mann war tot. »Es ist ein Gitan«, sagte Kommissar Lion – und zu seinem As sistenten Jean zurückgewandt: »Los, steh nicht so herum! Hol die Kamera aus dem Wagen!« Auf diese Kamera war Lion besonders stolz. Er hatte sie in Deutschland gekauft. Seine Frau Monique hatte ihn lange überre 115
den müssen, einmal einen Urlaub in Deutschland zu verbringen, aber dann waren sie gerade zum Oktoberfest in München zurecht gekommen, und er hatte sogar einen Tirolerhut erstanden, den er allerdings jetzt, zu Hause in Arles, nur noch in seinem Garten trug. Auch Hamburg hatte sich an einem knisterndkühlen, klaren Ok tobertag den Lions von seiner besten Seite gezeigt, und hier hatte Kommissar Lion die Kamera gekauft, die in Minutenschnelle fix und fertige Fotos lieferte. Er hatte sich sogar auch ein hochmoder nes Blitzlichtgerät geleistet. Jean beeilte sich, diese Kamera aus dem Dienstwagen zu holen. Drei, vier bläuliche Blitze erhellten in Minutenabständen das Halbdunkel der kleinen Hütte mitten in der Camargue, und Kom missar Lion betrachtete das jeweilige Foto mit unverhohlenem Stolz. Seine Beamten scharten sich bewundernd um ihn und die Kame ra. »Formidable! Vraiment formidable!« murmelten sie ein über das andere Mal. Lion konnte ein gönnerhaftes Lächeln nicht unterdrü cken. »Ja, ganz nett, nicht wahr?« Aber dann war er wieder der pflichtbewußte Kriminalbeamte. Mit seinem blütenweißen Taschentuch zog er vorsichtig das Mes ser aus dem Rücken des Toten. Das Schwarz seines Jacketts hatte sich purpurn verfärbt. Lion reichte das Messer Jean, befahl ihm, es in einem eigens für solche Fälle mitgeführten Kasten in seinem Dienstwagen unterzu bringen. Mit sanfter Hand drehte Lion dann den Toten auf den Rücken. Die schwarzen Augen des Mannes waren weit geöffnet in einem Ausdruck blanker Verwunderung. Aber die Oberlippe war in dem jähen Entsetzen, das ihn in der letzten Sekunde seines Lebens überfallen haben mußte, von den Zähnen zurückgezogen. Diese Zähne bleckten den Kommissar wie die Fänge eines tollwütigen Hundes an. 116
Der Tod hatte den Zigeuner überrascht. Er hatte ihn weder erwar tet noch gefürchtet. Kommissar Lion tastete die Taschen des Toten ab. Er förderte ein Schnappmesser zutage, wie man es in jedem Laden für Jagdwaffen kaufen kann. Eine Rolle neuer Francnoten, die zusammen etwa eine Summe von dreihundert ergaben. Drei Goldstücke und einen Staa tenlosenpaß, der auf den Namen Janos Aggamon lautete, am 14.12.1930 geboren, katholisch getauft. Kommissar Lion hob die Arme des Toten, um ihm die Hände zu falten, und im selben Moment gewahrte er den Ring. Wie Sternfeuer blitzte es ihn an; ein riesiger Brillant, so groß, wie Lion noch keinen gesehen hatte, in Platin gefaßt. Der Mörder, wer immer es gewesen sein mochte, mußte es sehr eilig gehabt haben, daß er diesen Ring dem Toten ließ. »Jean und Barthelet, Sie bleiben bei dem Toten«, wies Lion seinen Assistenten und den ersten Gendarm von Port St. Marie an, den seine Freunde auch den ›Frosch‹ nannten. »Sie, Jacob, fahren mit mir nach Arles – wir schicken euch den Leichenwagen so bald wie möglich raus.« Der sensible weißblonde Jean, der eben um seine Empfindlichkeit zu überwinden, zur Kriminalpolizei gegangen war, konnte sich ei nes Schauderns nicht erwehren. Von Lion trug ihm das einen abfälligen Blick ein. Der ›Frosch‹, den so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte, ließ sich dem Toten gegenüber auf einen kleinen Stuhl aus rotem Holz mit einem Sitz aus Weidengeflecht nieder und zündete sich eine Gauloise an. »Es wäre gut, wenn Sie uns was zu essen mitschicken würden, mon commissaire.« Er grinste. »Schließlich sind wir schon den gan zen Tag mit leerem Magen unterwegs. Und was Trinkbares wäre auch nicht zu verachten.« Daraufhin begann Jean, dem dieser Wunsch angesichts des Er 117
mordeten ungeheuerlich erschien, nervös zu husten. Lion verzog stumm, verächtlich den Mund und verließ die Hütte. Er war sehr schweigsam auf der Rückfahrt nach Arles. Wieder in seinem Büro angelangt, telefonierte er als erstes mit sei nem Chef, berichtete von dem neuen Mord. »Ein famoser Saisonauftakt«, war die sarkastische Antwort. »Und was ist mit dieser Gloria Rixen, die Sie gesucht haben?« »Nichts, leider«, bekannte Lion mit einem Seufzer, »aber meine Männer suchen weiter. Drei Wagen sind noch unterwegs. Da es praktisch nur zwei Straßen gibt, auf denen Madame Rixen entkom men kann, müßten wir sie irgendwo noch einholen.« »Das hoffe ich für Sie«, sagte der Chef, und das war genug des Tadels. Lion legte mit einer kleinlauten, aber auch wütenden Handbe wegung den Telefonhörer auf. Er zog den Brillantsolitär aus seiner Jackentasche, legte ihn vor sich auf den Schreibtisch. Er war sicher, daß beide Morde irgendwie zusammenhingen. Der Mord an der unbekannten Rothaarigen auf dem Hof der Armand. Bei dieser Rothaarigen waren die – wenn auch falschen – Smaragde gefunden worden. Und nun der Mord an dem Zigeuner, der einen Brillantsolitär ge tragen hatte. Lion war ganz sicher, daß es da eine Verbindung geben mußte. Aber sich vorzustellen, daß eine Frau wie Gloria Rixen zwei Men schen umbrachte – nur um ihre Spuren zu verwischen – das fiel ihm schwer. Wenn sie Grund hatte, sich abzusetzen – nach allem, was Lion von dieser deutschen Gerichtsreporterin gehört hatte, dieser Karen Schaumburg, war es ja so –, dann würde Gloria Rixen es doch ge 118
wiß nicht unter Hinterlassung von zwei Toten tun? Sie hätte doch einfach wegfahren können aus Port St. Marie. Nach Marseille zum Beispiel. Und von dort aus irgendwohin fliegen. Sie hätte doch fortfahren können, ohne daß deswegen jemand sterben mußte. Aber da dachte Lion an das, was irgendein großer Philosoph ein mal gesagt hatte: »Eine Frau kennenzulernen bedeutet mehr als das Werk eines einzigen Lebens, dazu bedarf es der Ewigkeit.« Lion seufzte tief auf. Dieser Mann schien recht zu haben. Ganz gewiß! Lion öffnete das unterste Fach seines Schreibtischs. Er holte den Cognac Napoleon heraus und nahm gleich aus der Flasche einen langen Schluck. Im Augenblick blieb für ihn nichts weiter zu tun, als die Berichte seiner Leute abzuwarten, die immer noch in der Camargue unter wegs waren, um Gloria Rixen zu finden. Und dann auf den Befund aus dem Leichenschauhaus zu warten, vor allem deswegen, ob es wahrscheinlich war, daß eine Frauenhand den tödlichen Messer stich gegen den Rücken des Zigeuners geführt hatte. Gloria Rixen hatte eine halbe Stunde Vorsprung gehabt, und sie hatte sie gut genutzt. In den Wochen vorher, nachdem sie sich entschlossen hatte un terzutauchen – für niemand mehr existent zu sein, tot zu sein, für jeden, der nach ihr forschen mochte –, hatte sie jedes Fleckchen Erde in der Camargue ausgekundschaftet. Und sie war dabei auch auf einen Geräteschuppen eines Salzberg werks gestoßen, der nicht mehr benutzt wurde. Es war eine halbverfallene Halle, die voll rostigen Gerümpels stand. Zwischen diesem Gerümpel würde niemand sie vermuten. Denn die einzige Straße zu betreten, die zu dem Schuppen führte, 119
war jedem Unbefugten verboten. Und es gab einen Wächter dort, der jederzeit beschwören würde, niemand durchgelassen zu haben – solange man ihn mit einer ausreichenden Menge seines geliebten Pastis versorgte. Gloria hatte ihn damit beglückt, und nun fuhr sie ihren Wagen in diesen Schuppen. Der Wagen war klein, und er fand Schutz hinter einem riesigen Kran, der mit seinen rostigen Greifzähnen die Decke anzunagen schien. Gloria nahm ein Stück Weißbrot und ein Stück Ziegenkäse aus dem Handschuhkasten. Sie biß abwechselnd herzhaft in beides hin ein, spülte jeden Bissen mit einem Schluck Selters herunter, das al lerdings kälter hätte sein können. Als Gloria satt war, zündete sie sich eine Zigarette an, lehnte sich im Sitz zurück und schloß halb die Augen. Vorläufig, dessen war sie gewiß, war sie in Sicherheit. Niemand würde sie hier vermuten und niemand sie daher hier finden. Auch Janos' Sippe nicht. Und morgen würde Janos' Sippe die Umgebung von Saintes Ma rie de la Mer verlassen, ihre Zelte abbrechen – die ja keine mehr waren, sondern hochmoderne Wohnwagen und schwere Limousi nen –, sie würden weiterziehen auf ihrer ewigen Wanderschaft durch die südlichen Länder Europas. Ursprünglich hatte Gloria vorgehabt, mit den Zigeunern zu zie hen, um einmal das zu stillen, was ihre Großmutter ihr vererbt hat te: den Durst nach absoluter Freiheit. Und dann ein Jahr später oder auch zwei Jahre später, wenn sie sich ganz sicher glauben konnte, wollte sie zu Horst zurückkehren. Horst – der Gedanke an ihn durchfuhr sie mit scharfem, atem nehmendem Schmerz. Sie hätte ihm nie begegnen dürfen. Dann wäre sie nie der Liebe erlegen, hätte nie ihren glasklaren, kalten Verstand verloren. 120
Aber sie war ihm in München begegnet. War ihm im Fasching begegnet, zu einem belanglosen Flirt bereit, der sie zur Liebe führte, zur Hingabe. Erst da war ihr bewußt geworden, was sie nahe daran war zu ver säumen: ihre Jugend, ihre Schönheit. Bald dreißig und stets nur der Eisstimme ihres Verstandes gefolgt, stets nur dem wilden Verlangen gehorcht, den kleinen, schäbigen Verhältnissen, denen sie ent stammte – dem Vater, der leidend war, der Mutter, die trank –, die ser ganzen Welt einer elenden Kindheit und Jugend für immer zu entkommen. Deswegen auch die gemeinsame Tat mit Paul Kammer. Deswegen vor acht Jahren der Juwelenraub am hellichten Tag in Frankfurt. Um zu beweisen, sich selbst zu beweisen, daß sie aus anderem Holz geschnitzt war als ihre Eltern. Und dann vier Jahre in einer schäbigen Absteige in Frankfurt, immer versteckt, immer am Rande der Armut, denn was sie von Hugo, dem Kneipenwirt zum ›Grünen Bock‹ in Sachsenhausen, zum Leben bekam, war nicht viel. »Wir müssen Geduld haben«, predigte Hugo stets mit salbungs vollem Augenaufschlag. »Was sind acht Jahre für dich, Gloria? Du bist jung, schön, und du wirst es auch noch sein, wenn Paul entlas sen wird. Dann fängt dein Leben an. Denn dann kräht kein Hahn mehr nach den Sterntalern. Dann können wir daran gehen, sie zu verteilen.« Sie hatte Hugo geglaubt, vier Jahre lang geglaubt. Und Naty, Pauls Kind, das er nie gesehen, wuchs vier Jahre lang in dieser mie sen Absteige auf, die nicht besser war als Glorias Elternhaus. Bis zu dem Tag, an dem Gloria die Geduld verlor. Bis sie sich das besorgte, was man auch einen Hirschfänger nennen kann. Eine dünne Stahlschlinge – Gloria steckte ihre Hand in die Ta sche ihrer Khakihose, als könne sie noch jetzt den kalten Stahl spü 121
ren. Sie wollte Hugo nicht töten, o nein. So weit war sie damals noch nicht. Aber er sollte den Schmuck herausrücken. Was er dann auch tat. Denn sein eigenes Leben war ihm mehr wert als aller Schmuck der Welt. Und Gloria drohte ihm: Wehe, wenn ein Wort über seine Lippen käme! Wehe, wenn er sie an den großen Chef verriete, den sie nicht kannte und von dem sie nichts wußte, als daß er irgendwo unter der Maske eines ehrenwerten Mannes lebte. Paul Kammer würde sich rächen. Hugo ließ sich davon ins Bockshorn jagen. Er schwieg. Und Gloria ging nach München. Sie war vorsichtig, brach die Steine aus einem Saphierkollier her aus und verkaufte sie einzeln. Der Erlös entsprach zwar bei weitem nicht dem Wert des Schmuckes, aber er genügte, um Gloria in ei nen Kaufrausch zu versetzen. Sie kaufte Kleider, Schuhe, Pelze, Wäsche wie Feengespinst, sie schwelgte in kostbaren Parfüms. Sie aß tagelang mittags und abends in den besten Restaurants wie jemand, der drauf und dran war zu verhungern. Sie stopfte sich förmlich mit allen Köstlichkeiten voll, die sie von jeher entbehrt hatte und nur vom Hörensagen kannte. Und sie tat eines – sie befreite sich von Naty, dem Kind. Sie hing an ihrer kleinen Tochter, sie liebte sie wirklich sehr, aber gleichermaßen fühlte sie sich ständig durch die schmalen grünen Augen des Kindes über den hohen Backenknochen an seinen Vater, Paul Kammer, erinnert. Sie wußte, daß sie ihn verriet, indem sie einen Teil ihrer gemein samen Beute verpraßte. Und sie wußte, daß es unter Umständen, wenn der große Chef davon erfuhr, Paul oder sie das Leben kosten 122
konnte. Gloria brachte Naty in ein Internat für noch nicht schul pflichtige Kinder an den Tegernsee. Und nur ein halbes Jahr später begegnete sie Horst Rixen. Sie sah sofort, wie begabt er war, daß wirklich ein großer Maler in ihm steckte. Aber er rieb sich auf mit kleinen Aufträgen für Rekla mefirmen, er vergeudete seine Zeit mit Zeichnungen für die Wer bung. Zum erstenmal empfand sie Mitleid mit einem anderen Men schen – mit diesem Mann, den sie liebte, ob sie es wollte oder nicht. Sie heiratete ihn, und sie ließ ihn Naty adoptieren, damit das Kind einen anständigen Namen bekam. Und schließlich – um wirklich ein neues Leben anzufangen –, nahm sie heimlich mit einer Maklerfirma in Südfrankreich Kontakt auf. Sie fand bald, was sie suchte, das Haus in Arles. Und es war so leicht, Horst davon zu überzeugen, daß dieses Haus aus dem ›Nachlaß‹ ihrer Tante Marie stammte, mit dem sie ihm von Anfang an die Herkunft ihres Geldes erklärt hatte. Horst war glücklich – mein Gott, wie war er glücklich. In Südfrankreich malen – in Arles malen wie van Gogh! Nur – daß es nie dazu kam. Sie zogen zwar nach Arles, und das Haus war genau das, was sie sich vorgestellt hatten. Sie hätten so glücklich sein können, aber sie waren es nicht. Da war ihre eigene Rastlosigkeit, ständig das Gefühl, etwas zu ver säumen, die sie in Nächten, wenn sie Horst schlafend wußte, durch Arles irren ließ, immer auf der Suche – wonach? Sie wußte es nicht. Sie trank viel in jenen Monaten, trieb sich in Bars herum, folgte hin und wieder diesem oder jenem Mann in ein Hotel. Und tagsüber bat sie Horst mit jeder Geste, mit jedem Wort um Verzeihung, hoffte immer, daß er ihre nächtliche Abwesenheit nicht 123
bemerkt hatte, wünschte immer verzweifelter, er möge nie hinter das Geheimnis ihres Doppellebens kommen. Denn sie liebte ihn, liebte ihn wirklich. Gloria beugte den Kopf vor, legte die Stirn auf das Lenkrad. O mein Gott, warum hast du mich so gemacht? dachte sie. O mein Gott, warum konnten Horst und ich nicht wenigstens dieses eine Jahr in Arles glücklich sein? Denn sie waren es nicht. Sie stritten sich, anfangs nur hin und wieder, dann jeden Tag. Naty merkte es und war unglücklich. Und Horst konnte überhaupt nicht mehr arbeiten. Nein, es war kein gutes Jahr in Arles gewesen – und ganz be stimmt nicht von dem Zeitpunkt an, als Gloria bewußt wurde, daß Paul Kammers Entlassung aus dem Zuchthaus Butzbach bevor stand. Denn da gesellte sich zu ihrer Rastlosigkeit die Angst. Sie konnte nicht mehr essen, nicht mehr trinken, nicht mehr schlafen. Denn sie war sicher, daß Kammer nach seiner Entlassung nichts Eiligeres zu tun haben würde, als nach ihr zu forschen, sie zu fin den und zu bestrafen. Aber es mußte doch einen Ausweg geben. Es mußte ihr doch ge lingen, ihm für immer zu entkommen? Ohne Horst zu verlieren. Ohne Naty zu verlieren. Gloria weinte jetzt, weinte in der Erinnerung an das, was in den letzten Wochen geschehen war, bitter und verzweifelt, denn sie wußte, es gab niemand mehr, von dem sie Hilfe erwarten konnte. Nun war sie endgültig auf der Flucht. Es wurde schon Abend an diesem Tag, als ein Taxi vor dem Haus 124
der Rixens in der Rue Jean-Jacques in Arles hielt. Der Fahrgast, der darin saß, stieg nicht aus. Er stützte sich auf einen Malakka-Stock mit Silberkrücke und starrte aus schmalen grünen Augen zu dem Haus hinüber. Er trug noch immer den dichten, von silbernen Fäden durchzo genen dunklen Schnurrbart, und sein Haar zeigte an den Schläfen den ersten Anflug von Weiß. Paul Kammer beobachtete das Haus, prägte sich jede Einzelheit ein, die Anordnung der Fenster, jeden Stuckvorsprung. Es war, als könne er mit seinen Augen die Mauern durchdringen, hinter denen Gloria seit einem Jahr leben sollte. Das Haus wirkte unbewohnt, weil die Fensterläden geschlossen waren, aber das hatte in diesen südlichen Breiten nichts zu bedeu ten, denn damit sperrte man die Hitze aus. Kammer hatte ursprünglich vorgehabt, einfach hinzugehen, an der Tür zu läuten, Gloria plötzlich gegenüberzustehen. Es wäre ge wiß gefahrlos für ihn gewesen, in der Maske des vornehmen älteren, von Krankheit gebeugten Herrn. Aber er verzichtete darauf, und dafür gab es einen guten Grund. Denn in der Rue Jean-Jacques parkte noch ein zweiter Wagen. Allzu betont unauffällig las darin der Mann hinter dem Steuer in einer Zeitung. Mit dem untrüglichen Gespür von Menschen seiner Art erfaßte Paul Kammer, daß es sich bei dem anderen nur um einen Kriminal beamten handeln konnte. Und bei seinen Racheplänen konnte er gewiß auf die Hilfe der Polizei verzichten. »Fahren Sie mich zum Hotel Provence«, wies er daher den Taxi chauffeur in seinem makellosen Französisch an. Und dort, in der Abgeschiedenheit eines ruhigen Zimmers mit Blick auf einen Hinterhof, unterzog sich Paul Kammer einer neuer lichen Verwandlung. 125
Ein schmales Lächeln nistete sich um seine Lippen ein, während er in alte, ausgebeulte Cordhosen und ein altes, ausgeblichenes Pul loverhemd schlüpfte. Er zog dazu ausgetretene Leinenschuhe an. Er hantierte eine Weile mit Schminke – schließlich hatte er nicht vergeblich in seiner Jugend einen Schauspielkursus absolviert. Als er fertig war, blickte ihm aus dem Spiegel das Gesicht eines älteren, nicht gerade sehr gepflegten Mannes entgegen, dessen gerötete Nase von häufigem Weingenuß zeugte. Um seine Verkleidung zu vollenden, wählte Kammer unter einer Anzahl von Brillen eine mit runden Gläsern und einem Nickelge stell aus, die seine Augen eulenhaft kurzsichtig erscheinen ließ. Er wirkte nun wie ein Rentier, der gewohnt ist, seine leeren Tage an einem kleinen Tisch vor einem Straßencafe bei einem fin a l'eau zuzubringen oder hin und wieder seine magere Pension durch Ge legenheitsarbeiten aufbesserte. Paul Kammer verließ das Hotel Provence durch einen Hinteraus gang. Er schlenderte – er hatte sich den Weg genau gemerkt und anhand eines Stadtplans noch einmal eingeprägt – zur Rue Jean-Jac ques zurück. An der Ecke gab es ein tagsüber düsteres Bistro, das nun aller dings von Neonleuchten grell erhellt war. Es war von jeher Kammers Stärke gewesen, den Dialekt oder be sonderen Tonfall einer Gegend rasch aufzuschnappen und fast per fekt zu beherrschen, und so verriet ihn nun auch kein falscher Ak zent als Ausländer. Er blieb an der Theke stehen, zwischen Männern, die kaum an ders gekleidet waren als er, und trank einen Pastis. Hinter der The ke stand auf einem Wandbrett in Augenhöhe ein Fernsehapparat, und aufmerksam wie alle anderen verfolgte er die Ziehung der na tionalen Lotterie, zu der als Rahmenprogramm ein hübsches Bal 126
lett, Johnny Halliday und Sylvie Vartan, auftraten. Die Männer unterhielten sich über dies und das. Kammer nahm jedes Wort auf, vergaß es aber sofort, denn es berührte nichts, was er zu wissen begehrte. Endlich entschloß er sich, einen Vorstoß zu wagen. »Hier wohnen doch diese Deutschen in der Rue Jean-Jacques?« fragte er den Patron. »Ich soll was für sie im Haus reparieren.« »Sie meinen den Maler?« fragte der Patron. »Ja, seine Frau hat das Haus von mir gekauft, vor einem Jahr.« »Ein schönes Haus«, sagte Paul Kammer. »Sie hat viel Geld reingesteckt.« Der Patron nickte. »Die Deut schen können sich so was leisten.« Er schlug die dicht bewimperten Augen zum Himmel. »Mon dieu, man sollte nicht glauben, daß die den Krieg verloren haben!« Er beugte sich vor, senkte seine Stimme. »Hinter Ihnen, an dem Tisch in der Ecke, da sitzt der alte Mon beau. Hat ganz am Anfang des Scheißkrieges einen Lungendurch schuß abgekriegt und ist nie wieder richtig auf die Füße gekom men. Armer Kerl. Und immer Ärger mit seiner Tochter hat er. War eben erst auf der Präfektur. Sie ist ihm wieder mal durchgebrannt.« »Tja«, sagte Kammer, »das Schicksal ist manchmal sehr unge recht.« »Übrigens«, sagte der Patron, »ich glaube, die Rixens sind verreist. He, Monbeau!« rief er über Kammers Schulter. »Weißt du, wo die Rixens sind?« Paul Kammer wandte sich um und blickte in ein von Krank heit gezeichnetes fahlgraues Gesicht. »Fragen Sie ihn, was er trinken will«, sagte er zum Patron. »Es geht auf meine Rechnung.« »He, Monbeau, komm rüber, der Monsieur hier gibt dir einen aus!« Monbeau erhob sich, schlug die Enden seines Schals aus unge bleichter Wolle übereinander, knöpfte das abgetragene, aber sehr 127
saubere Jackett zu. »Monsieur?« Er lächelte Kammer ein bißchen mißtrauisch, ein bißchen verlegen an. »Bonjour«, sagte Kammer. »Der Patron sagt mir eben, Sie könn ten mir ein bißchen was über die Deutschen aus der Rue JeanJacques erzählen?« »Oui – salute«, Monbeau kippte den Pastis, zu dem Kammer ihn eingeladen hatte, in einem Zug. Dann hustete er dumpf, winzige Schaumbläschen bildeten sich in seinen Mundwinkeln. Kammer und der Patron wechselten einen schnellen Blick, und der Franzose hob die Schultern und zog die Mundwinkel herab, als wolle er sagen: Das ist immer das gleiche, Alkohol bekommt ihm nicht, aber trinken muß er trotzdem. »Ja, Monsieur«, sagte Monbeau mit leiser, erschöpfter Stimme, »Sie wollen was über die Rixens wissen? Nette Leute. Ruhig, immer freundlich. Meine Frau hat manchmal für sie gewaschen. In letzter Zeit nicht mehr, weil meine Frau krank war.« »Sind Sie schon mal bei denen im Haus gewesen?« fragte Paul Kammer. »Ich nicht, aber meine Tochter.« Plötzlich standen Tränen in den Augen des Mannes, liefen ihm die Wangen herunter, versickerten in den grauen Furchen um seinen Mund. »Aber meine Tochter ist ver schwunden, Monsieur. Einfach verschwunden. Vielleicht wird sie nie wieder jemandem was erzählen können…« »Das tut mir leid, Monsieur«, sagte Kammer. »Ja, so ein schönes Mädchen. So ein junges Mädchen und nichts als Flausen im Kopf. Ich weiß nicht, von wem sie das hat. Von Li sette, das ist meine Frau, müssen Sie wissen, gewiß nicht. Und von mir – ja, vielleicht hat sie die Unruhe von mir. Ich wollte immer zur See fahren, wissen Sie. Früher, als junger Bursche… Aber eines will mir nicht aus dem Kopf, Monsieur, die Polizei hat auch ein ganz dummes Gesicht gemacht, als ich es erzählt hab' – meine klei 128
ne Manon war blond, blond wie Gold. Aber an dem Tag, als sie verschwunden ist, hat sie ihr schönes langes blondes Haar rot fär ben lassen. Feuerrot! Verstehen Sie das, Monsieur?« Paul Kammer wußte nicht warum, aber bei den letzten Worten von Monbeau war es ihm eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. »Ich hoffe, Ihre Tochter kommt bald wieder gesund und munter zurück«, sagte er mit nicht ganz sicherer Stimme, und er wußte im gleichen Moment, daß er selbst nicht daran glaubte. Das Gegenteil war der Fall: Er fürchtete, daß Gloria hinter dem seltsamen Verschwinden der kleinen Manon steckte. Gloria, deren eiskalt planendes Gehirn, deren Fähigkeit, einen an deren Menschen eiskalt für ihre ureigensten Zwecke auszunutzen, ihn gleichzeitig fasziniert und abgestoßen hatten. Und er erkannte zugleich, daß er alles tun, alles versuchen mußte, um Gloria aufzuspüren, wo immer sie sein mochte. Karen Schaumburg kannte kaum Furcht. Aber an diesem späten Nachmittag, der sich schon dem Abend zuneigte, der erfüllt war von dem heißen goldenen Licht der untergehenden Sonne, fürch tete sie sich. Sie hatte Angst, einem siebenjährigen Kind gegenüberzutreten, dessen Vertrauen sie gewinnen mußte. Karen stand lange vor ihrem Kleiderschrank – es war beinahe wie vor einem ersten Rendezvous – und wußte nicht, was sie anziehen sollte. Schließlich wählte sie ein schlichtes weißes Leinenkleid mit einem sportlichen grünen Ledergürtel. Sie schlüpfte in die passenden San dalen und verbrachte lange Zeit vor dem Spiegel damit, sich das Haar zu bürsten. Sie überlegte eine Zeitlang, ob sie Make-up auflegen sollte, be nutzte schließlich nur einen blaßorangefarbenen Lippenstift. 129
Sei nicht dumm, schalt Karen sich selbst. Naty ist doch nur ein Kind, und nicht einmal Horsts Kind. Aber sie wußte gleichzeitig, wie sehr Horst Rixen an dem kleinen Mädchen hing. Mitten in ihre Überlegung hinein, ob sie nicht ein paar Süßigkei ten, irgendein Geschenk für das kleine Mädchen besorgen sollte, klopfte es an ihre Tür. »Ja, bitte?« Sie wandte sich um. Naty, von Horsts Hand geschoben, trat als erste ein, blieb stehen, guckte Karen mit diesen großen grünen Augen an. »Wir haben dich viel zu lange allein gelassen«, sagte Horst, und sie hörte deutlich die Verlegenheit in seiner Stimme. »Naty, das ist Tante Karen, sag ihr guten Tag.« »Bonsoir, Madame«, sagte Naty und machte einen Knicks. »Du kannst Deutsch mit ihr sprechen«, sagte Horst. »Sie ist doch eine alte Freundin von mir aus München.« »Ach – bist du die Tante, die immer in der ganzen Welt herum reist? Mein Vati hat mir schon viel von dir erzählt.« Das war natürlich kindliche Übertreibung, aber Karen erfüllte es dennoch mit einem heißen, zu Kopf steigenden Gefühl der Freude. »Ja, ich bin schon viel in der Welt herumgekommen, Naty. Wenn du magst, erzähl' ich dir mal davon.« Sie war zu Naty gegangen und beugte sich zu ihr hinunter. Fest nahm sie die kleine Kinderhand in ihre beiden Hände und sagte: »Ich freue mich auch, dich kennenzulernen, denn dein Vati hat mir schon viel von dir erzählt.« Naty lachte halb verlegen, halb vergnügt – und Karen und Horst stimmten in ihr Lachen ein. Da war plötzlich gar keine Verlegenheit mehr, keine Fremdheit – es war, als hätten die blonde junge Frau und das kleine rothaarige Mädchen einander schon seit langer Zeit gekannt. »Ich dachte, wir sollten zusammen essen?« fragte Horst. »Gern«, erwiderte Karen. 130
»Denk mal, Tante Karen, Vati hat mir erlaubt, daß ich ein Ome lett Alaska essen darf. Weißt du, mit ganz viel Eierschnee, und der Ober gießt am Tisch Likör darauf und zündet es an. Und Vati hat gesagt, ich darf zur Feier des Tages überhaupt alles essen, was ich mag!« Munter sprang Naty zwischen den beiden Erwachsenen die Trep pe hinunter. Im Speisesaal ließ sie es mit ernsthafter Miene geschehen, daß der Kellner ihr den Stuhl zurechtrückte. Dann studierte sie aufmerksam – sie konnte ja schon lesen – die lange Speisekarte. Am liebsten hätte sie alles bestellt, hätte Horst nicht schließlich lachend Einhalt geboten. Aber eines, und darauf bestand Naty ganz energisch, mußte der Vati ihr erlauben – nämlich ein Glas Champagner zu trinken, der doch so herrlich schmeckte und in der Nase prickelte. Als sie beim Kaffee waren, fielen Naty nach all den Aufregungen dieses langen Tages fast die Augen zu. Sie schmiegte den Kopf an Karens Arm und sagte schon halb im Schlaf: »Bringst du mich bitte ins Bett?« Karen blickte Horst fragend an. Er nickte nur. Sie sah ihm an, er konnte nichts sagen. Karen stand auf und nahm das Kind auf den Arm. Während sie die Halle durchquerte, spürte sie die ganze Zeit Horsts Blick in ih rem Rücken. »Ich darf doch bei Vati schlafen?« fragte Naty schlaftrunken, wäh rend Karen sie auskleidete. »Aber ja, das darfst du.« »Und morgen bei dir?« fragte das Kind. »Darf ich morgen bei dir schlafen?« Karen spürte, wie ihr die Augen feucht wurden, und wußte, sie war noch nie so glücklich gewesen. »Ja, mein Kleines«, sagte sie sanft. 131
Sie ging mit Naty ins Bad, zum Gesicht- und Händewaschen und zum Zähneputzen. Im Spiegel Karens Augen suchend, sagte Naty: »Du darfst mich nicht für dumm halten, aber ich habe immer noch Angst. Würdest du bitte noch ein bißchen bei mir bleiben und später dann die Tür ganz fest abschließen, bis Vati heraufkommt?« »Aber ja, Naty, gern.« Sie half Naty in einen weißen, flauschigen Pyjama und deckte sie zu. Das Kind griff nach ihrer Hand. »Bitte bete mit mir«, flüsterte es. »Lieber Gott, ich danke dir, daß du mich wieder zu meinem Vati geführt hast. Lieber Gott, ich dan ke dir auch, daß Tante Karen bei ihm ist, damit er nicht mehr so traurig ist. Danke, lieber, lieber Gott. Amen.« Ihre Mutter erwähnte Naty nicht. Als Karen einige Zeit später wieder herunterkam, hielt sie vergeblich im Speisesaal und der Halle nach Horst Rixen Ausschau. Der Nachtportier bemerkte ihren suchenden Blick und kam zu ihr herüber. Er gab ihr einen zusammengefalteten Zettel. »Tut mir leid, Karen«, stand darauf in Horsts Schrift, »aber ich muß Gloria suchen. Ich weiß jetzt, wo sie ist, und ich werde sie fin den. – Paß bitte auf Naty auf.« Karen lief hinaus auf die Straße, zum Parkplatz des Hotels. Horst fuhr eben ab. Das Licht der Scheinwerfer erfaßte sie, als er seinen Wagen wen dete. Sie blieb stehen, mit hängenden Armen, konnte plötzlich keinen Schritt mehr tun. Sie sah sein Gesicht hinter der Windschutzscheibe, ein blasses, ausdrucksloses Oval. 132
Dann stieg er aus, kam zu ihr. »Karen«, sagte er, »bitte.« Und legte beide Hände an ihre Wan gen. Erst da merkte sie, daß sie weinte. Aber es war ihr egal, sie schämte sich nicht. »Bitte bleib hier«, flüsterte sie. »Überlaß es doch der Polizei. Bit te, Horst, ich habe Angst um dich.« Er schüttelte den Kopf. Fast war es, als lächle er, aber es mochte auch nur das Spiel von Licht und Schatten sein, das seine Züge belebte. »Ich muß es selbst tun. Bitte verstehe das. Ich habe Jahre mit einem Menschen verbracht und nicht gewußt, wer er war. Ich – ich allein muß Gloria finden!« »Du begibst dich in Gefahr.« »Ich weiß«, sagte er, »aber ich muß es tun. Nicht allein für mich. Auch für Naty – und für dich.« Er nahm sie in die Arme. Er preßte sie an sich. Es war eine lange und doch viel zu kurze Ewigkeit, in der sie nichts als seinen Herz schlag hörte. Dann ließ er sie los. Ging schnell zu seinem Wagen zurück, ohne sich noch einmal umzusehen.
8
H
orst Rixen sah plötzlich roten Feuerschein vor dem nächtlichen Horizont. Er war schon lange vorher von der asphaltierten Straße abgebo gen, die nach Arles führte. Der Wagen holperte über eine sandig 133
verkrustete Fahrspur zwischen kurzem Steppengras. Hin und wieder schoben sich Tamarisken silbrig ins Licht der Scheinwerfer, glitten wieder ins Dunkel zurück. Der Wind rauschte in Inseln aus hohem spanischem Rohr. Hell loderte das Feuer in den Nachthimmel. Horst konnte schließ lich das Skelett eines Hauses oder einer Hütte darin erkennen, star re schwarze Balken im roten Flammenmeer. Und dann, glänzend im gelben Widerschein, Autos, eine Unzahl von großen Limousinen und Wohnanhängern, die im Halbkreis standen. Die Wagen der Zigeuner. Sie verbrannten die Hütte, in der Gloria sich versteckt gehalten hatte. Es konnte nicht anders sein. Horst trat auf die Bremse, der Wagen blieb mit einem heftigen Ruck stehen. Horst sprang hinaus, lief auf die Autos, auf das Feuer zu. »Gloria!« schrie er und wußte es nicht einmal. »Gloria!« Er sah sich plötzlich ein, zwei Männern gegenüber, hageren, dun kelgekleideten Gestalten mit harten Gesichtern, die im rötlich zu ckenden Widerschein der Flammen noch grimmiger wirkten. Sie sagten nichts, blickten ihn nur an. »Was ist da passiert?« fragte Horst. »Warum brennt die Hütte?« Andere Gestalten tauchten aus dem Dunkel auf. Magere, hochge wachsene Männer, schmale Frauen in langen Kleidern. Sie umringten Horst, schlossen ihn ein. »Was soll das?« fragte er. Nur das Prasseln der Flammen antwortete. »Was ist denn hier los?« Er sah sich um – ein Gesicht wie das an dere, düstere Mienen, verschlossen und – er erkannte es tief betrof fen – haßerfüllt. »Laßt mich durch!« sagte er. »Ihr seid wohl verrückt geworden! Laßt mich …« 134
»Schweig!« Das eine Wort war wie ein Peitschenhieb. Der größte der Männer löste sich aus dem Kreis und trat einen Schritt auf Horst zu. »Du bist Rixen, nicht wahr?« fragte er in einem bastardierten Französisch. »Ja, der bin ich.« »Die Rothaarige ist deine Frau!« Es war keine Frage. »Ja, Gloria ist meine Frau«, sagte Horst. Die Hand des Großen schnellte vor, packte ihn vorn am Hemd. »Dann weißt du ja auch, warum wir die Hütte verbrennen!« »Nein.« »Es ist Janos, den wir rächen!« »Ich kenne keinen Janos.« Rixen befreite sich schroff von der Hand des Mannes. »Ich höre diesen Namen zum erstenmal. Ich weiß nur, daß meine Frau sich bei euch, bei Leuten eures Stammes, versteckt hält. Wo ist sie? Ich will sie sehen.« Um ihn herum murmelten sie, er verstand kein Wort. »Schweigt!« befahl der Magere, Große, der ihr Anführer zu sein schien. Die Zigeuner verstummten sofort. »Du weißt nicht, warum wir die Hütte verbrennen?« fragte er. »Nein«, sagte Horst bestimmt. »Janos ist darin verraten und ermordet worden.« Die Frauen begannen zu lamentieren, wehklagend erhoben sie ihre Stimmen in schrillem Diskant. »Es tut mir leid«, sagte Rixen, »aber es geht mich nichts an.« »Janos hat deine Frau zu uns gebracht.« Ein scharfer Stich der Eifersucht – ein anderer Mann? »Das mag sein«, sagte Horst Rixen. »Aber auch davon weiß ich nichts.« »Sieh an – du weißt wohl überhaupt nichts?« fragte der Große mit scharfem Spott. »Du bist wohl ein Kretin? Seht her – vor euch steht ein Kretin!« 135
Horst Rixen spürte, wie sich die Blicke aller feindselig auf ihn richteten. Sie rückten näher, drängten sich um ihn, er roch ihren Schweiß, ihren Atem, das schwere Parfüm der Frauen. »Laßt mich in Frieden«, sagte er, »ich bin nur hierhergekommen, um meine Frau zu finden.« »Der Hund winselt um Gnade, hört nur«, sagte der Große ver ächtlich. Und dann traf Horst der erste Schlag. Nicht von einer Hand – ein Stein flog durch die Luft, traf seine Schulter. Er riß die Arme hoch, sprang einen Schritt zurück, prallte gegen jemanden, wirbelte herum, stieß einem Mann die Fäuste vor die Brust. Der wich zur Seite, eine Gasse öffnete sich… Aber Horst kam nicht weit, kam keine drei, vier Schritte weit. Wo immer sie auch die Steine in dem sandigen Boden fanden – wer mochte es wissen – aber von allen Seiten nahmen sie ihn zum Ziel. Steine trafen seinen Kopf, seine Schultern, seinen Rücken. Er schützte den Kopf mit den angewinkelten Armen, das Gesicht mit den Händen, spürte Naß unter den Fingern, wußte, es war Blut. Der Schmerz schnitt ihm den Atem ab, als ihn ein Steinbrocken zwischen die Schulterblätter traf. Er stolperte. Ein Schrei aus unzähligen Kehlen war die Antwort, ein Aufschrei befriedigter Wut. Ihn hörte er noch, als er in die Knie brach, vorn über lang hinschlug. Dann waren sie über ihm, traten, schlugen auf ihn ein, bespien ihn. Er preßte das Gesicht in den sandigen Boden. Schmerzen, nie ge kannte, nie geahnte Schmerzen peinigten seinen Körper. Und den noch kam kein Laut aus seiner Kehle. Und sein Gehirn war ganz klar. Horst Rixen dachte: So ist das also, wenn man gefoltert wird. So 136
ist das also… Und nichts anderes vermochte er mehr zu denken, ehe er das Be wußtsein verlor. Mitternacht war vorbei. Nur noch das Leuchtfeuer der Sterne er hellte den endlos hohen, endlos dunklen Himmel. Das Rauschen der Brandung war seit Tagen zum erstenmal wieder deutlich zu hören. Denn das Fest der Zigeuner war vorbei. Die Prozession zu Ehren der Sainte Maries gehörte bis zum nächsten Jahr der Vergangenheit an. Es war, als seien mit dem Ende des Festes Port St. Marie et Sain tes Maries de la Mer in eine Art Erschöpfungsschlaf versunken. Die Straßen waren leer, die Bistros und Bars längst geschlossen. Nur hier und da blakte eine einsame Straßenleuchte. Hier und da lief ein streunender Hund vorbei, kuschten Katzen schnell davon, wenn Karens Schritte sich näherten. Karen Schaumburg wußte, es war sinnlos, durch den Ort zu lau fen. Sie wußte doch, daß Horst Rixen sich irgendwo draußen in der weiten Ebene der Camargue befand, auf der Suche nach Gloria. Aber sie hatte es im Hotel einfach nicht mehr ausgehalten. Sie blieb stehen und schützte, während sie sich eine Zigarette an zündete, die Flamme ihres Feuerzeugs mit der hohlen Rechten. Sie war auf ihrem Rundgang durch Port St. Marie zum Parkplatz des Bellevue zurückgekehrt. Sie ließ den Blick darüberschweifen. Nur ihr eigener Wagen und der alte Austin des jungen englischen Paares, das seine Flitterwo chen hier verbrachte, standen da. Karen setzte sich auf die niedrige weiße Mauer, die den Parkplatz einfriedete. Wenn Horst nun etwas passierte, irgendwo dort draußen in der 137
Salzgrassteppe? Aber ihrer anfänglichen Panik war die Überlegung gefolgt: Er hat te in den letzten Tagen, ja vielleicht Wochen und Monaten, so vie les tatenlos ertragen müssen. Alles, was Gloria getan, mußte sein Selbstbewußtsein untergraben haben, daß sie, Karen, ihm jetzt das Handeln nicht verbieten durfte. Und deswegen hatte sie ihn auch nicht zurückgehalten. Wenn ich bloß wüßte, wo er ist, dachte sie. Die Camargue war weit und leer, fast ein unerforschtes Land. Aber da war die Hütte, irgendwo in der Salzgrassteppe, von der Naty berichtet hatte. Da war der blinde Monsieur Tatu, der Stiere hütete, bei dem Na ty Zuflucht gefunden hatte. Da war das Zigeunerlager. Drei verschiedene Orte, wohin Horst sich gewandt haben moch te. Karen hatte nur eine unklare Ahnung, daß sie sich irgendwo im Osten befanden, wo auch die Salzteiche lagen. So weit das Auge reichte, viereckige, langgestreckte, flache Gewäs ser, durch niedrige Dämme voneinander getrennt, aus denen die Sonne gierig das Wasser leckte, um nur das grauweiß glitzernde Salz übrig zu lassen. Wenn Horst sich nun dorthin verirrte, irgendwo vom Weg ab kam, steckenblieb? Es sollte Menschen gegeben haben, die nie von dort zurückfanden. Das Kreischen der Möwen erfüllte jäh und schrill die Nacht. Und ich kann nichts tun, dachte Karen mutlos. Nur das eine – ich muß hierbleiben, in Port St. Marie, bei Naty. Ich muß auf das Kind aufpassen. Am besten wäre es, Lion zu benachrichtigen. Er sollte wissen, wo er Horst zu suchen hat. Aber dem Kommissar ist es nicht gelungen, Gloria zu finden. 138
Und wenn Horst Gloria aufspürt? Ob er sie überreden wird, mit ihm zurückzukehren? Vielleicht überredet sie aber auch ihn, mit ihr zu flüchten? Ach – es waren unlösbare Fragen. Grübeleien, die zu nichts führ ten. Karen zertrat die halbgerauchte Zigarette, stand auf. Sie schlug den Kragen ihrer Lederjacke hoch. Sie ging langsam zum Hotel zurück. In der zweiten Etage schimmerte aus einem Fenster durch die ge schlossenen Vorhänge schwaches Licht. Es war Horsts Zimmer, in dem Naty schlief. Ihretwegen bleibe ich hier, dachte Karen. Es war ihre Pflicht und Bedürfnis zugleich. Das Kind hatte schon genug Böses erlebt, man durfte es nicht wieder im Stich lassen. Karen betrat das Bellevue. Der Nachtportier hatte es sich neben dem Empfangspult in ei nem Plüschsessel, halb verborgen hinter einer immergrünen Pflan zenwand, bequem gemacht. Sein pfeifender Schlafatem war das ein zige Geräusch in der Stille der Halle. Langsam stieg Karen die Treppe hinauf. Zögerte im ersten Stock, wo ihr Zimmer lag, ging dann weiter. Sie schloß die Tür zu Horsts Zimmer auf. Ihr erster Blick galt natürlich dem breiten Bett. Nur der rote Haarschopf von Naty war unter dem Moskitonetz zu sehen. Karen streichelte das weiche Haar. Ein Kind von sieben Jahren, Tochter von Paul Kammer, Tochter eines Verbrechers, und die Mutter war auch nicht besser. Hoffentlich wirst du später nicht darunter zu leiden haben, dach te Karen. Hoffentlich wird es deine und Horsts Zukunft nicht ver giften. Und sie dachte ganz spontan: Was ich dagegen tun kann, will ich 139
tun. Doch was würde sie tun können? Und würde Horst es ihr über haupt erlauben? Sie war dessen ganz und gar nicht sicher. Er hatte sie umarmt, draußen auf dem Parkplatz. Aber man um armte auch einen Freund. Karen wandte sich ab. Sie schlüpfte aus ihren braunen Mokassins, durchquerte auf Strümpfen das Zimmer. Sie knipste die Nachttischlampe aus, setzte sich ans Fenster. Leer lag die Strandpromenade, weit, verschmelzend mit dem nächtlichen Horizont dehnte sich das Meer. Karen saß da und blickte hinaus, wo es eigentlich nichts zu sehen gab. Sie wartete auf Horst. Sie wußte, sie würde lange auf ihn warten müssen – ob er Gloria fand oder nicht. Ob er sie zurückbrachte oder nicht. Und vielleicht würde ihr Warten, das Warten auf die Liebe, über haupt vergeblich sein? Wie es so lange, leere Jahre vergeblich gewe sen war. Der Morgen fiel mit einem eiskalten, heftigen Mistral in das Rhô nedelta. Arles, die Stadt, die von der Sonne lebt, von ihr Farbe, Geruch und Atem erhält, lag grau in einem grauen Nieselregen. Die Menschen in den Straßen schienen es eiliger zu haben als sonst, ungeduldiger zu sein, ärgerlich ohne Grund. Aber Kommissar Lion hatte Grund, sich zu ärgern. Mon dieu! Nichts hatte geklappt! Gar nichts! Die Suche nach Gloria Rixen in der Salzgrassteppe der Camargue war ergebnislos verlaufen. 140
Er hatte noch nicht den geringsten Anhaltspunkt erhalten, was den Mörder des Zigeuners anging. Janos Aggamon war an einem Stich ins Herz gestorben. Die Tatwaffe, ein beidseitig rasierklingenscharf geschliffenes Mes ser, konnte ebensogut von einer Frau wie von einem Mann geführt worden sein. So wenigstens hatte es die Untersuchung ergeben. An der Tatwaffe befanden sich keine Fingerabdrücke. Kommissar Lion schlug mit einer nervös-zornigen Handbewegung seine Wagentür zu, überquerte den Parkplatz der Präfektur. Und ausgerechnet heute brachten die Zeitungen den Mord an der Unbekannten vom Mas Armand ganz groß. ›Die geheimnisvolle Tote vom Mas Armand‹ – hieß es da auf den ersten Seiten in roter Balkenüberschrift. ›Warum ist es bisher unserer Polizei noch nicht gelungen, den Mord aufzuklären?‹ wurde gefragt. ›Wie konnte unsere Polizei zulassen, daß ein zweiter geheimnis voller Mord in der gleichen Gegend geschah?‹ ›Daß ein Zigeuner in einer verlassenen Hirtenhütte in der Ca margue erstochen wurde?‹ ›Und daß diese Hütte in der vergangenen Nacht aus unerklärli chen Gründen abgebrannt ist?‹ ›Schläft unsere Polizei?‹ Jean, Lions Assistent, zog es vor, gar nicht erst guten Morgen zu wünschen, als der Chef ihm die Zeitungen auf den Tisch knallte. Jean zog den weißblonden Kopf zwischen die Schultern, widmete sich mit übertriebenem Eifer der Lektüre des polizeiärztlichen Be richtes über den Tod von Janos Aggamon. Aber er kam nur wenige Zeilen weiter, da riß Lion schon wieder die Tür seines Büros auf. »Kommen Sie rüber!« 141
Jean gehorchte, so schnell es seine Beine erlaubten. Mit hochgezogenen Schultern blieb er vor dem Schreibtisch sei nes Chefs stehen. Dessen Napoleongesicht war an diesem Morgen eher noch bleicher und ausdrucksloser als sonst. »Was soll diese Schweinerei?« fragte Lion und schlug mit der fla chen Hand auf ein engzeilig beschriebenes Platt Papier mit dem Datum vom Vortag. »Warum habe ich da keine Kenntnis von erhalten? Warum haben Sie mich nicht sofort angerufen?« »Eh – Sie meinen – die Anzeige von Monbeau, mon Commis saire?« »Ja, genau, die meine ich!« »Ich – wollte Sie ja anrufen, mon Commissaire, aber Sie waren doch im Konzert, nicht wahr?« »Na und? Ist Arles etwa Paris, daß Sie mich in ein paar hundert Konzertsälen suchen müßten? Und selbst dann!« »Ich dachte nur – ich wollte Sie nicht stören, da Sie doch so gern Beethoven hören…« »Sie sind ein Schwachkopf, Jean!« unterbrach ihn Lion. »Ist Ihnen nicht klar, was das hier bedeutet, was da drin steckt?« »Ich – ich fürchte, nein, mon Commissaire. Die kleine Manon der Monbeaus ist verschwunden. Aber das ist doch nicht das erste mal.« »Sie sollten irgendwo bei Bahn oder Post ihre Hosen blankwet zen«, sagte Lion, »aber nicht bei der Polizei! Los, los bringen Sie mir Monbeau her! Und zwar schnell, verstanden?« »Oui, mon Commissaire!« Jean beeilte sich, das Büro seines Chefs zu verlassen. Mit hochroten Ohren und zusammengepreßten Lippen war er wenige Minuten später in einem Dienstwagen unterwegs zu den Monbeaus. 142
Währenddessen schritt Kommissar Lion in seinem Büro auf und ab. Er pfiff die Marseillaise. In seinen Fingerspitzen kribbelte es, ein Zeichen schlecht gezügel ter Ungeduld. Manon Monbeau hatte sich kurz vor ihrem Verschwinden die Haare rot färben lassen. Und wenn er es recht bedachte: Der polizeiärztliche Bericht über die Ermordete auf dem Hof der Armands wies aus, daß die Tote nicht älter als zweiundzwanzig gewesen sein konnte, daß ihr Haar gefärbt und ihre Hände sehr gepflegt – also die Hände einer Frau waren, die keine schmutzige Arbeit verrichtete. Ihre Füße in den hochhackigen Satinpumps aber waren ungepflegt, mit unlackierten, abgebrochenen Zehennägeln und mit Hornhaut an den Fersen, als sei sie es gewohnt gewesen, oft barfuß zu laufen. Und unter dem schwarzen Cocktailkleid, einem Pariser Modell, hatte die Tote bil lige Nylonwäsche aus einem Einheitspreisladen getragen. Es war nicht nur wahrscheinlich – es war beinahe gewiß, daß es sich bei der Ermordeten um Manon Monbeau handelte. Nun – er würde in kürzester Zeit absolute Gewißheit haben. Und nicht nur darüber, über manches andere mehr. Lion lächelte selten, aber er tat es, als sein Assistent Monsieur Mon beau hereinführte. Der Kranke hustete dumpf, seine Augen tränten, sein fadenschei niges Jackett war viel zu dünn für den kühlen Morgen. »Setzen Sie sich, Monsieur. Möchten Sie einen Kaffee?« fragte Lion. »Oh, machen Sie sich bitte keine Umstände, Monsieur le Com missaire. Sagen Sie mir nur…« »Jean, einen Kaffee für Monsieur Monbeau und mich«, unter brach Lion ihn und scheuchte Jean mit einer ungeduldigen Hand 143
bewegung hinaus. Dann wieder zu Monbeau gewandt: »So, Monsieur, wir beide wer den uns nun ein bißchen unterhalten, nicht wahr?« Eine Viertelstunde später wußte Lion alles, was er von Monbeau zu wissen begehrte. Und noch ein bißchen mehr. Er war – so erfuhr er – nicht der erste, der sich danach erkundig te, ob die Monbeaus das Ehepaar Rixen kannten. Da war gestern abend jemand in Fernandels Bistro gewesen. Jawohl, ein älterer Mann. – Ein Franzose? – Ja, aber nicht aus der Gegend, obwohl er das Patois sprach, den ortsüblichen Dialekt. Und noch etwas war Monbeau an dem Fremden aufgefallen: Er hatte das Gesicht eines Mannes, der gern dem Alkohol zuspricht, aber er trank fast nichts. Der Kommissar verstehe, was er meine, nicht wahr? Er wirkte ein bißchen wie ein Schauspieler, dieser Fremde. »Ich sollte Sie in meine Abteilung aufnehmen«, sagte Lion, »Sie haben mehr Spürsinn und Aufmerksamkeit bewiesen als alle meine Beamten.« Louis Monbeau lächelte traurig. »Sie werden es nicht glauben, aber früher einmal war es mein größter Wunsch, zur Kriminalpoli zei zu gehen. Ich dachte mir, es müsse sehr aufregend und abenteu erlich sein. Aber dann kam meine Kriegsverletzung dazwischen…« Er zuckte mit den Schultern. »Doch Sie haben mir immer noch nicht den eigentlichen Grund gesagt, warum Sie mich herbestellt haben, Monsieur le Commissaire!« »Nein«, gab Lion zu, »und leider – ich fürchte, mein lieber Mon beau, was ich Ihnen zu sagen habe, wird Ihnen sehr weh tun.« »Sie haben unsere kleine Manon gefunden?« fragte Monbeau. Sei ne Augen begannen wieder zu tränen. Er wischte das Naß mit dem Handrücken fort. »Ja, ich glaube, wir haben sie gefunden«, bestätigte Lion. 144
»Und – lebt sie?« Lion schüttelte stumm den Kopf. »Ich habe es mir gedacht«, sagte Monbeau. »Es tut mir leid«, sagte Lion. »Es ist nicht Ihre Schuld, Monsieur le Commissaire«, sagte Mon beau. »Wahrscheinlich ist niemand schuld.« »Doch«, sagte Lion. »Soll das heißen …« Monbeau konnte nicht weitersprechen. Er bewegte stumm die plötzlich blauen Lippen, hob die Hand an den Hals, als müsse er seine Stimmbänder massieren, damit sie ihm wie der gehorchten. »Ja, Monsieur«, sagte Lion, »Ihre Tochter ist ermordet worden.« Monbeau senkte den Kopf. Er legte die Hände ineinander, be gann seine mageren, knotigen Finger zu kneten. »Muß ich es Liset te sagen?« fragte er. »Muß meine Frau es erfahren?« »Ich fürchte ja«, sagte Lion. »Ich werde es ihr erklären«, sagte Monbeau. Er hob den Kopf, und etwas wie ein Lächeln verzog flüchtig seinen Mund. »Ich werde ihr erklären, daß es früher oder später …« Er brach ab. Lion stand auf, kam um den Schreibtisch herum. Er blieb neben Monbeau stehen, berührte seine Schulter mit der Hand. Es war eine Geste wie unter alten Freunden. »Sie müssen Manon identifizieren«, sagte er. »Lassen Sie es uns gleich tun, es ist besser.« Am Nachmittag dieses Tages besuchte Louis Monbeau die Filiale der Credit Provence, die sein kleines Sparguthaben verwaltete. Auf dem Konto lagen genau 1.783 Francs, einschließlich der Zin sen. Monbeau hob den gesamten Betrag ab. Heimlich hatte er dieses Geld gespart, über zwanzig Jahre hinweg 145
hier einen Franc abgeknapst, dort ein paar Centimes, immer dann, wenn er mal eine Gelegenheitsarbeit fand. 2.000 Francs hatte er sparen wollen, um sie an dem Tag abzuhe ben, an dem seine Tochter kommen und sagen würde: »Papa – Maman, ich will heiraten.« Er hatte mit dem Geld ihre Hochzeit aus richten wollen. In seinen Träumen hatte er Manon gesehen, Orangenblüten im Haar und in einem weißen Kleid, lang und fließend wie das, das Lisette bei ihrer Hochzeit getragen hatte. Er hatte die Festtafel vor sich gesehen, weißgedeckt mit blinken den Gläsern und blitzendem Silberbesteck. Und er hatte im Geist die köstlichen Düfte der provencalischen Küche gerochen, die an diesem Tag für seine Tochter, für seine klei ne Manon, das Beste hergeben sollte, was sie zu bieten hatte. Er hatte Lisette im seidenen Kleid gesehen und sich selbst in ei nem warmen, neuen schwarzen Jackett, das er später an kühlen Ta gen tragen konnte und das ihn stets wärmend an die Hochzeit sei ner Tochter erinnern würde. Es waren nur 1.783 Francs, die er in zwanzig Jahren hatte sparen können, und sie mußten nun für die Beerdigung seiner kleinen Manon genügen. Es war genau zehn Uhr dreißig, als in die Rue Jean-Jacques zwei Streifenwagen einbogen. Der eine hielt nicht weit von dem Haus der Rixens entfernt, der andere drüben bei dem Bistro Fernandel. Dem ersten Wagen ent stieg niemand, aus dem zweiten sprangen zwei Beamte, betraten das Bistro. Ein Lächeln umspielte Paul Kammers Mund, während er die bei den Limousinen durch die Schlitze des Fensterladens beobachtete. Er stand in Glorias Schlafzimmer. 146
Es hatte ihm keinerlei Schwierigkeiten bereitet, das Haus zu betre ten: einen Abdruck vom Schloß der Haustür im Schutz der vergan genen Nacht genommen, in seinem Hotel einen passenden Schlüs sel zurechtgefeilt – darauf verstand er sich, es war eine Kleinigkeit gewesen. Inzwischen hatte er das Haus schon durchsucht, wobei er na türlich Handschuhe trug. Und er hatte eigentlich schon gefunden, was er suchte: Das Por trät Glorias, unvollendet, aber unverkennbar von einer sehr talen tierten Hand gemalt. Nun, mit einem Stümper, und war es auch nur ein Maler, hätte Gloria sich ja nie abgegeben. Was Kammer aber viel mehr interessierte – das Porträt war durch einen roten Strich quer über Glorias Kehle entstellt. Er wirkte so natürlich, als habe jemand den Hals einer Lebenden durchschnit ten. Das, dachte Paul Kammer, ist natürlich das ferngesteuerte Werk des großen Meisters Fridolin in München, eine für Gloria ge wiß sehr angsteinflößende Warnung und Drohung. Wahrscheinlich war das sogar der direkte Anlaß für ihre Flucht gewesen. Paul Kammer hatte in ihrem Sekretär, einem wunderhübschen Louis Quinze-Möbel, Reiseprospekte gefunden. Ein einziger davon war abgegriffen, so, als habe Gloria sich im mer wieder damit befaßt. Eine Telefonnummer darin war mit Ku gelschreiberpunkt versehen. Es war die Nummer des Hotels Bellevue in Port St. Marie. Warte nur, Schätzchen, dachte Paul Kammer, während er vom Fenster zu dem Safe zurückging, den er hinter einer Landschaft von Horst Rixen entdeckt hatte. Auch dieses Schloß widerstand Kammers geübter Hand nicht lan ge. Aber der Safe war leer – was ihn keineswegs überraschte, eher mit einer gewissen bösen Befriedigung erfüllte. 147
Warte nur, Schätzchen, dachte er, was immer du mir von der Beute übriggelassen hast, weiter als bis Port St. Marie kommst du nicht damit. Er schlug den Safe zu. Hängte das Bild wieder davor. Mit einem katzenhaften Schritt war er am Fenster, sah, daß noch immer niemand aus dem ersten Polizeiwagen ausgestiegen war und die beiden Beamten aus dem zweiten das Bistro noch nicht verlas sen hatten. Falls sie auf der Suche nach ihm sein sollten – er hielt es zwar für ausgeschlossen –, sie würden ihn nicht schnappen. Paul Kammer verließ das Haus der Rixens über den Hofausgang. Er kletterte durch eine Mauerlücke. Ein paar Kinder, die im Garten nebenan mit Murmeln spielten, starrten ihn dümmlich-überrascht an. Er lachte ihnen zu, warf eine Handvoll Francs in ihre Richtung und erreichte gleichzeitig die Hoftür des Nebenhauses. Er betrat einen dunklen Flur, hörte rechts aus einem Zimmer ein Radio plärren, roch Küchendunst, dann war er an der Haustür und trat auf die Straße. Paul Kammer zog sich die Baskenmütze tiefer in die Stirn, klapp te den Kragen seiner Lederjoppe hoch, steckte die Hände in die Ta schen und schlenderte davon. Eine Stunde später verließ er in einem gemieteten Renault das heute gar nicht sonnige, sondern sehr kühle und trübe Arles in Richtung Port St. Marie. Der Wind pfiff und klirrte durch das spanische Rohr. Er bog die Tamarisken, daß sie mit ihren Zweigen die salzigsandige Erde feg ten. Es regnete aus einem grauen, tiefhängenden Himmel. 148
Aber es roch immer noch nach den verkohlten Balken, dem ver brannten Strohdach der Hütte. Horst Rixen war im Morgengrauen zum erstenmal zu sich ge kommen. Da hatte es gerade zu regnen begonnen, aber das Feuer glimmte noch, und er hatte sich instinktiv auf allen vieren in die Nähe der wärmenden Glut geschleppt. Es waren vielleicht fünfzehn Meter, die er bis dorthin hatte zu rücklegen müssen, aber sie hatten ihn so erschöpft, daß er wieder bewußtlos wurde. Als er nun zum zweitenmal erwachte, war sein Kopf klar, er konn te ihn sogar drehen. Er sah den grauen Himmel und das graue spanische Rohr und die schwarzverkohlten Reste der Hütte. Die Wagen der Zigeuner sah er nicht mehr. Der Zigeuner, die ihn gesteinigt hatten. Er konnte es fast gelassen denken, jetzt, da der Schmerz ihn nicht mehr so peinigte, da er sich besser bewegen konnte. Er richtete sich auf, tastete seine Beine in den zerrissenen Hosen ab. Prellungen, ein paar Platzwunden, nichts Schlimmes. Das linke Handgelenk war geschwollen, wahrscheinlich ver staucht, aber auch das tat im Augenblick kaum weh. Er tastete sein Gesicht ab. Eine Wunde an der Stirn blutverkrus tet, die rechte Kinnseite geschwollen. Er konnte sich seltsamerweise genau erinnern, daß ihn da ein Fußtritt getroffen hatte. Ich muß fein aussehen, dachte er und hätte am liebsten gelacht. Abgerissen, zerlumpt, zusammengeschlagen – wie ein Landstrei cher, der in eine Prügelei geraten ist. Karen wird Augen machen. Nein. Nicht Karen. Das kam später. Alles, was mit Karen zusam menhing, mußte später kommen. Gloria. Gloria sollte Augen machen und ihm eine Erklärung ge 149
ben für das, was mit ihm geschehen war. Er richtete sich auf. Eine Sekunde lang erfaßte ihn Schwindel, er schwankte, aber dann tat er den ersten Schritt, den zweiten, ging, mit zusammengebissenen Zähnen, gerade aufgerichtet, zu seinem Wagen hinüber. Doch der Wagen nützte ihm nichts. Die Zigeuner hatten alle vier Reifen zerschnitten. Also ohne Wagen, zu Fuß weiter. Wohin? Jetzt doch zurück nach Port St. Marie. Denn ohne Wagen konn te er die Camargue nicht durchstreifen. Er folgte den ausgefahrenen Reifenspuren, die sich durch das kur ze Gras zogen, in die Richtung, aus der er in der Nacht vorher ge kommen war. Fünf Stunden später schleppte er sich nur noch stolpernd und taumelnd dahin. Ihm war, als sei die Nässe des Regens, der unablässig vom grauen Himmel fiel, im Wind zu einem Eisfilm auf seiner Haut erstarrt. Darunter brannte sein Fleisch, brannte jede Fiber seiner Muskeln wie in höllischem Feuer. Die Erschöpfung ließ rote Kreise vor seinen Augen tanzen. Immer wieder mußte er stehenbleiben und versuchen, langsam und normal durchzuatmen. Und Port St. Marie hatte er immer noch nicht erreicht. Er wußte, daß er Fieber hatte, und er hielt den beißenden Salzge ruch, der immer stärker wurde, für eine Ausgeburt seiner Fieberfan tasie. Bis er die Salzteiche erblickte, die künstlichen, schnurgeraden, fla chen Gewässer, in denen die Sonne der Camargue nur den grau weißen Schnee des Salzes nicht zum Schmelzen brachte. 150
Und dann sah Horst den Schuppen. Von Wind und Wetter gebleichte Bretterwände, ein schadhaftes Rieddach. Aber wenigstens Schutz vor dem Regen würde er dort finden. Er erreichte den Schuppen mit letzter Kraft. Ein rostiger Türgriff gab unter seiner Hand nach. Seine Knie knickten unter ihm ein, er fiel über die Schwelle. Er hörte nicht den leichten Frauenschritt, und er sah nicht das von ungläubigem Entsetzen erblaßte Gesicht, das sich gleich darauf über ihn beugte.
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D
er Regen hatte Gloria Rixen davon abgehalten, im Morgen grauen, wie geplant, ihr Versteck in dem alten Geräteschuppen des Salzwerks aufzugeben. Sie hatte Angst gehabt, die Reifenspuren ihres Wagens auf den aufgeweichten Wegen könnten sie verraten. Und nun? Plötzlich hatte sich das Tor der Halle quietschend in seinen rosti gen Angeln gedreht. Die große, breitschultrige Gestalt eines Man nes hatte einen Augenblick lang schwankend vor dem grauen Re genhimmel gestanden und war dann fast lautlos und sehr langsam in die Knie gebrochen. »Horst, mein Gott, Horst!« flüsterte Gloria, und ihre Hände strei chelten sein von Kratzern, Blutergüssen und Hautabschürfungen entstelltes Gesicht, das vom Fieber brannte. Der einzige Mann, der ihr etwas bedeutete. 151
Der einzige Mensch, den sie liebte, der sie manchmal ihren kalten Egoismus vergessen ließ. Ausgerechnet ihn mußte sie so sehen! Und sie vergaß ganz, daß es unmittelbar oder mittelbar ihre Schuld war. »Horst, lieber Horst…« Sie schluchzte und küßte die Lippen, die so blau und spröde waren, die Augen, die sich in der Ohnmacht geschlossen hatten. Mein Gott, wie kommt er hierher? Mein Gott, wer hat ihn so zugerichtet? Gloria brauchte ihre ganze Kraft, als sie Horst unter den Achsel höhlen packte und in den Schuppen zog. Sie schloß das Tor, lief in die Ecke, wo sie die Nacht verbracht hatte. Sie schleifte den Strohsack herüber, die Decken, zwei modrig rie chende, aber trockene Schaffelle, die sie in einem anderen Winkel des alten Geräteschuppens gefunden hatte. Sie machte für Horst ein Lager zurecht. Wieder mußte sie ihre ganze Kraft zusammennehmen, um ihn darauf zu schieben. Sie riß sich den Pullover herunter, trocknete Horst damit Gesicht und Hände, das nasse Haar. Sie lief zu ihrem kleinen Renault, den sie im Schatten des rosti gen Krans abgestellt hatte. Nahm die Taschenflasche Cognac aus dem Handschuhfach. Sie benetzte Horsts Schläfen, dort, wo die Haut nicht abgeschürft war, vorsichtig mit dem Alkohol, träufelte ein paar Tropfen auf sei ne Lippen. Er atmete flach und stoßweise. Er atmete so wie jemand, der sehr, sehr weit und sehr, sehr lange gelaufen ist. Er ist nicht nur zerschlagen und erschöpft, er ist auch krank, dachte sie in Panik. 152
Sie tastete nach seinem Puls. Heftiger, unregelmäßiger Schlag. Er hat Fieber, hohes Fieber. Mein Gott, was soll ich nur tun? »Horst«, flüsterte sie, »Horst, bitte komm doch wenigstens zu dir.« Sie sah, wie seine Lider zu zittern begannen, sah, wie sich sein Mund in einem tiefen, gequälten Atemstoß öffnete. »Horst«, flüsterte sie noch einmal, und da schlug er die Augen auf. Er blickte sie an. Blickte sie an und erkannte sie nicht. »Gloria«, sagte er heiser, »Gloria, wo bist du!« Und seine Augen schweiften suchend umher. »Hier«, sagte sie, »ich bin doch bei dir. Horst, ich bin doch bei dir.« »Durst«, flüsterte er, »Wasser. Gebt mir doch was zu trinken!« Sie hatte kein Wasser. Sie hatte nichts als den Cognac. Sie hob Horsts Kopf an, ließ einen kleinen Schluck Cognac in seinen Mund rinnen. Er verschluckte sich, hustete. »Horst, lieber, lieber Horst«, sagte sie. Da sah er zu ihr auf. »Erkenn mich doch«, bat sie verzweifelt. »Bitte, ich hab' mir doch bloß das Haar gefärbt. Ich hab' es doch bloß schwarz gefärbt. Ich bin es doch, deine Gloria.« »Warum hast du das getan?« fragte er. »Warum? Womit hab' ich das verdient?« Und seine Lider schlossen sich wieder, langsam, als sei er sehr müde und könne sie einfach nicht mehr offenhalten. Gloria ließ ihn wieder auf das Lager zurückgleiten. Machte sich daran, ihm die nassen Reste seiner Hose und seines Hemdes auszuziehen. 153
Sie steckte die Wolldecken um ihn fest, legte noch die Schaffelle darüber. Sie wrang seine Kleider aus, breitete sie über ein eisernes Gerüst, das einmal zur Salzbereitung benutzt worden war. Sie lief wieder zu ihrem Wagen, schloß den Gepäckraum auf. In ihrem Koffer befand sich ein alter, weiter Pullover, den konnte Horst später anziehen. Vorerst würde sie ihn schlafen lassen. Bis es dunkel wurde. Aber dann mußte sie ihn von hier fortbringen. Sie mußte ihn in Sicherheit bringen – und sich selbst auch. Gloria kehrte zu Horst zurück, hockte sich neben ihn auf den Boden. Sie zog die Knie fest an, legte die Arme darum; sie fror plötzlich, als sei sie wie er stundenlang im Regen umhergelaufen. Sie betrachtete sein armes zerschundenes Gesicht und sie dachte – was soll aus uns werden? Mein Gott, wie wird das alles enden? Der Regen schlug eintönig, unablässig wie schon den ganzen Tag, an die Fensterscheiben. In der Bibliothek des Chefs der Kriminalpolizei von Arles, Jules Lapier, brannte ein wärmendes Feuer im großen Sandsteinkamin. Die Haushälterin hatte einen für zwei Personen verschwende risch gedeckten Abendbrottisch davorgeschoben. Als Vorspeise gab es grüne und schwarze Oliven, Tapénade, das typischste aller provencalischen Hors d'œuvres, in Safran gesottene Zwiebeln und mit Pfefferkörnern und Öl gewürzte Pilze; als Haupt gang Seezungenfilets in Champagnersauce und einen cremigen Zie genkäse als Nachtisch. Aber dieses üppige Mahl konnte Kommissar Lion nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein Chef sehr unzufrie den mit ihm war. Und das äußerte sich dann bei Cognac und Kaffee so: 154
»Wir haben in den letzten Tagen mehr als eine ernste Schlappe erlitten«, begann Jules Lapier ärgerlich und zog dennoch genüßlich an seiner blonden Zigarre. »Zuerst geht uns diese Gloria Rixen durch die Lappen. – Sie haben immer noch nichts von ihr gehört?« Lion schüttelte stumm den Kopf. »Dann finden wir erst nach acht Tagen per Zufall heraus, daß es sich bei der Ermordeten vom Mas Armand um die kleine Manon Monbeau handelt.« Lion schloß für den Bruchteil einer Sekunde verbittert die Augen. Er dachte ganz und gar nicht gern an die Szene im Leichenschau haus zurück, als Monbeau seine Tochter identifiziert hatte. »Dann«, so fuhr Lapier fort, »lassen Sie den Stamm, dem der er mordete Zigeuner Janos Aggamon angehört hat, ungehindert das Weite suchen.« Lion hob Einspruch heischend die Hand. »Ganz so war es ja nicht«, widersprach er. »Ich habe die Ältesten des Stammes verhört. Sie haben bei ihrer Seele geschworen, daß kei ner aus ihrem eigenen Stamm Janos umgebracht hat. Und man kann über die Zigeuner sagen, was man will – ihre Stammesehre würden sie gewiß nicht durch einen Meineid beflecken.« »Ihr Wort in Gottes Ohr«, sagte Jules Lapier. Er strich sich über den Magen, der sich rundlich unter seinem ausgeleierten, alten grauen Pullover abzeichnete, und nippte an seinem Cognac. »Aber weiter im Text – und jetzt ist auch noch dieser Horst Ri xen verschwunden.« Strafend blickten die Eulenaugen des Chefs durch die Nickelbrille. Lion konnte ein heftiges Aufstoßen – seine Verdauung reagierte eben nervös auf die vielen Aufregungen der letzten Tage – nicht unterdrücken. »Trinken Sie einen Schluck Cognac, mein Lieber, vielleicht klärt das auch Ihren Geist«, sagte Lapier ohne Mitleid. Und dann ganz hart: »Nun, was gedenken Sie jetzt zu tun?« 155
»Ich werde die Camargue noch einmal durchkämmen«, sagte Lion verbissen. »Und ich verspreche Ihnen eines, ich werde Ihnen die beiden Deutschen herbeischaffen – tot oder lebendig.« »Lieber lebendig«, sagte der Chef, »sonst könnte es womöglich zu diplomatischen Verwicklungen kommen. Die fehlten uns gerade noch!« Eine Stunde später gab Lion schon den Fahndungsbefehl aus: Alle verfügbaren Fahrzeuge der Polizei von Arles wurden eingesetzt. Es sollte die größte Jagd auf Menschen werden, die Kommissar Lion je veranlaßt hatte. Währenddessen saßen Karen Schaumburg und Naty im Hotel Belle vue in Port St. Marie beim Abendessen. Außer ihnen befand sich nur das junge englische Paar im Speise saal. Sie in karottengelbem Pullover mit Spitzenjabot und schwar zen Samtjeans. Wann immer Natys Blick zu ihnen wanderte, konnte sie ein Ki chern nicht unterdrücken – und wie magisch angezogen, mußte sie das Pärchen einfach dauernd anschauen. »Naty, das tut man nicht«, sagte Karen schließlich. »Man starrt fremde Leute nicht so an.« »Das hat meine Mami auch immer gesagt, aber sag doch selbst, Tante Karen, sehen die nicht zum Schießen aus?« »Vielleicht ist das in England heutzutage Mode«, sagte Karen und konnte selbst ein Lächeln nicht unterdrücken. »Na klar ist das Mode«, erklärte Naty. »Das müßtest du doch ei gentlich wissen. Die sich so anziehen, haben sogar einen Namen, die heißen Hippies oder Blumenkinder. Und sie tragen Plaketten, darauf steht ›make love not war‹!« Naty sprach das Schlagwort so aus, wie es geschrieben wird, und nun konnte Karen einfach nicht anders als lachen. 156
Aber Naty ließ sich nicht davon beirren. »Ich weiß auch, was es heißt, Vati hat's mir erklärt – es heißt: ›Seid nett zueinander, und schlagt euch nicht die Köpfe ein.‹ Meinst du, ich kann die fragen, ob sie mir so eine Plakette schenken?« »Ich schenk' dir eine«, Karen lachte. »Ich hab' oben eine in mei nem Koffer.« »Au fein, Tante Karen!« Naty strahlte und klatschte in die Hände. »Du bist richtig prima. Können wir gleich raufgehen und sie ho len?« »Später«, sagte Karen, »erst mußt du deinen Nachtisch aufessen.« Folgsam löffelte Naty ihren Obstsalat. »Kommt Vati heute abend wieder?« fragte sie plötzlich. »Nein«, sagte Karen, »ich glaube nicht.« Diesmal mußte sie sich zu einem Lächeln zwingen, und sie spürte, daß ihre Mundwinkel zitterten. »Wohin ist er eigentlich gefahren?« »Nach Arles.« »Was tut er da? Warum hat er uns nicht mitgenommen?« »Dein Vati bekam einen Anruf, weißt du. Es ist etwas Berufliches. Er mußte ganz schnell weg.« »Noch mitten in der Nacht?« »Nein – er ist erst heute morgen…« »Och, Tante Karen, jetzt flunkerst du aber. Ich weiß doch, daß du gestern nacht bei mir geschlafen hast und nicht mein Vati. Du hast im Sessel am Fenster gesessen und hast geschnarcht.« »Ich – geschnarcht?« fragte Karen verwirrt. »Ja! Ganz komisch hat sich das angehört.« Naty lachte hell auf. »Ich hab' dir sogar noch ein Kissen unter den Kopf schieben wol len, aber dann bin ich wieder eingeschlafen. – Und Vati ist gestern nacht noch weggefahren, nicht?« »Also gut – ja«, gab Karen zu. »Hast du vielleicht mit ihm gezankt?« fragte Naty. 157
»Nein – wie kommst du darauf?« »Och, nur so! Wenn Mami und Vati sich gezankt haben, dann ist er manchmal abgehauen oder sie. Kam ganz darauf an. – Kennst du eigentlich meine Mami?« fragte Naty. »Sie ist sehr schön. Sie heißt Gloria.« »Ja, ich kenne deine Mutter«, erwiderte Karen, und dann fügte sie hinzu: »Aber wir reden viel zu laut, Naty, die anderen Leute brau chen nicht zu hören, was wir uns erzählen.« »Die Engländer verstehen doch gar kein Deutsch, oder?« »Nein«, sagte Karen mit unterdrückter Stimme, »aber eben ist noch ein alter Herr hereingekommen.« »Meinst du den, der mich die ganze Zeit schon anstarrt?« Naty legte den Kopf schief und guckte an Karen vorbei den älteren Herrn an, der schräg hinter ihr saß und in einem Kaffee rührte. »Bitte, Naty«, sagte Karen. »Ja, dann laß uns mal lieber nach oben gehen«, sagte das kleine Mädchen. »Wir können ja oben weiterquatschen, nicht?« Sie hängte sich an Karens Hand, als sie den Speisesaal verließen, und einmal rieb sie ihre Nase an Karens Arm. Es war eine Liebko sung, wie man sie von jungen Hunden kennt. »Schläfst du wieder bei mir, Tante Karen?« fragte sie. »Und weckst du mich, wenn mein Vati kommt?« »Ja«, versprach Karen, »ich wecke dich, wenn er kommt.« Nachdem Karen das kleine Mädchen ins Bett gebracht hatte, ging sie noch einmal hinunter zum Empfang. Sie bat den Portier, sie unter allen Umständen zu rufen, wenn noch ein Telefongespräch für sie kam – für sie oder für Rixens. Un ter allen Umständen bitte, egal wie spät es war. Sie warte dringend darauf. Und während der Portier beteuerte, daß sie sich ganz gewiß da 158
rauf verlassen könne, fühlte Karen wieder die Augen des älteren Herrn auf sich ruhen, der ihr schon im Speisesaal aufgefallen war. Er saß halb im Schatten der immergrünen Pflanzenwand. Er hielt einen Malakkastock mit Silberkrücke zwischen den Knien und stützte beide Hände darauf. Sie war sicher, ihm noch nie begegnet zu sein, aber irgend etwas in seinem Gesicht erinnerte sie an jemanden, den sie kannte. Sie hätte nur nicht zu sagen vermocht, an wen. »Eine hübsche Person, nicht wahr?« Der Portier schmunzelte und blickte wohlgefällig Karens schlanken Beinen nach, die oben um den Treppenabsatz ins obere Stockwerk verschwanden. »Man sollte gar nicht meinen, daß die deutschen Frauen so hübsch sind.« Er strich sich genießerisch über die Enden seines dünnen, ausgefrans ten Schnurrbarts. »Tja, Monsieur«, der Portier schlenderte zu dem älteren Herrn hinüber, der den Malakkastock aus der Hand gelegt hatte, seiner in neren Jackettasche ein flaches silbernes Etui entnahm und diesem eine Zigarette mit Goldmundstück. »Die Zeiten ändern sich, nicht wahr, Monsieur? Früher waren die Pariserinnen die schönsten Frauen der Welt. Ah, wenn ich daran denke, in den dreißiger Jahren ka men sie hierher, die großen Chansonetten – denken Sie nur, sogar die Piaf war einmal hier – die großen Schauspielerinnen. Schön wa ren sie, ich sage Ihnen, schön wie die Engel. Und heute«, er hob die Schultern mit theatralisch-komischer Manier, »heute sind es die Ausländerinnen, die einem den Mund wäßrig machen.« »Ich habe nichts übrig für blonde Frauen«, sagte der ältere Herr. »Meine Vorliebe gehört den Rothaarigen.« »Ah, Monsieur, da hätten Sie früher herkommen müssen. Vor vierzehn Tagen, vor einer Woche!« Der Portier, froh, jemanden ge funden zu haben, der ihm die langweilige Zeit nach dem Abendes 159
sen vertrieb, geriet ins Schwärmen. »Da kam dieser Maler, dieser Deutsche, dieser Monsieur Rixen. Seine Frau hätten Sie sehen müs sen. Ein Reh. Eine Gazelle. Dieser Gang, wie ein Panther. Und rot haarig!« Die Lippen des älteren Herrn kräuselten sich unter dem dichten grauen Schnurrbart. »Na, na«, sagte er, »wenn das Ihre Frau hören würde.« »Oh, meine Jeanette hat sie ja selbst bestaunt. Eines Abends hab' ich ihr von Madame Rixen erzählt, und gleich am nächsten Mor gen ist sie zum Strand gelaufen und hat sie sich angesehen. Rotes Haar, Monsieur, hat Madame Rixen gehabt, bis fast zur Taille. Rot wie Flammen. Formidable, vraiment!« »Gehabt?« fragte der ältere Herr. »Ach ja, das können Sie ja gar nicht wissen. Die arme Madame Rixen ist umgekommen.« Der Portier senkte die Stimme. »Auf dem Mas Armand. Ermordet worden.« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals mit dem stark hervortretenden Adamsapfel. »Man er zählt sich, ihr Gesicht sei ganz unkenntlich gemacht worden, mit Säure, verstehen Sie? – Da hätten Sie ihren Mann erleben sollen, so was von Trauer! Er war ganz verstört. Aber man erzählt sich auch, daß es gar nicht Madame Rixen war, die ermordet wurde, sondern jemand anderes. Und daß sie es mit den Zigeunern gehalten hat, daß sie mit ihnen fortgezogen ist. Sie wissen doch, da war die all jährliche Prozession. Na, ich sage Ihnen, aufregende Tage haben wir hinter uns!« »Aber das war doch eben ihr Kind?« fragte der ältere Herr. »Wessen Kind?« fragte der Portier verwirrt. »Die Kleine, eben im Speisesaal, mit der blonden jungen Frau. Das war doch die Tochter von dieser – Madame Rixen?« »Ach so! Ja, natürlich! Ja, und die Kleine war auch ein paar Tage lang verschwunden. Ganz mysteriös. Und dann tauchte die Blonde auf. Ist eine Reporterin und, was ich gehört habe, eine alte Freun 160
din von Monsieur Rixen. Wenn Sie mich fragen«, der Portier nickte bedeutungsschwer, »es würde mich nicht wundern, wenn die beiden unter einer Decke steckten, was das Verschwinden der armen Ma dame Rixen angeht.« »Ja, ja«, sagte der ältere Herr, »es gibt Dinge im Leben …« Er er hob sich, stützte sich schwer auf die silberne Krücke seines Malak kastocks. »Gute Nacht, mon ami. Es wird Zeit für einen alten Mann, schlafen zu gehen. Aber dank Ihnen hab' ich mir ein biß chen die Zeit vertrieben.« Eine Zehn-Franc-Note wechselte aus Paul Kammers Hand in die des Portiers. Der beeilte sich, ihm den Zimmerschlüssel zu holen, die Tür zum Aufzug aufzureißen. »Bonne nuit, Monsieur, à votre service, Monsieur!« Ein grausa mes Lächeln lag um Paul Kammers Mund, als er hinauf in die zwei te Etage des Hotels Bellevue fuhr. Es gab kein elektrisches Licht in dem weißgetünchten, von einem tiefgezogenen Rieddach beschirmten Haus. Dafür erhellten einige alte, sehr schöne Petroleumlampen die bei den Zimmer. Eines davon diente noch als ärztliche Ordination, das andere war Wohn- und Schlafraum zugleich. Die Möbel in der Ordination waren weiß lackiert, und man konn te an der Dicke und den Unebenheiten des Lackes ablesen, wie oft sie schon angestrichen worden waren. Es gab eine Untersuchungsliege, einen kleinen Schreibtisch und ein hohes Tischchen, auf dem Pinzetten verschiedener Größe, ein chirurgisches Besteck und einige Spritzen lagen. Hinter den Glas scheiben des Medikamentenschranks stapelten sich die bunten Pa ckungen der Arzneimittelfirmen. Im Wohn- und Schlafraum bedeckten Schaffelle den roten Ziegel 161
boden; die Sitzmöbel waren mit Kalbfellen bespannt. In dem rie sigen Kamin hing über dem flackernden Feuer ein kupferner Was serkessel. Auf dem Tisch stand ein kostbarer altrussischer Samowar auf hohen gedrechselten Silberbeinen. Der Samowar summte. »Sie trinken doch eine Tasse Tee?« fragte Dr. Kubachow lä chelnd. Er verneigte sich. »Bitte nehmen Sie Platz, Madame.« Gloria streifte langsam das Kopftuch ab, setzte sich in einen der Kalbfellsessel vor das Feuer. »Der Samowar ist das einzige, was ich von meinen Eltern geerbt habe«, sagte Dr. Kubachow, der Glorias verwunderten Blick be merkt hatte. »Und wie in meinem Elternhaus hält er Tag und Nacht für mich heißen Tee bereit.« Er lächelte, während er den kleinen sil bernen Hahn öffnete und den Tee in zwei hauchdünne Porzellan schalen rinnen ließ. Sogleich verbreitete sich ein starker, herber und aromatischer Duft. »Ich habe noch nie solchen Tee getrunken«, sagte Gloria, als sie davon genippt hatte. »Ich bekomme ihn von einem früheren Geschäftsfreund meines Vaters direkt aus China«, antwortete Dr. Kubachow mit dem sanf ten Lächeln, das seine Lippen nie zu verlassen schien. »Alle drei Monate fahre ich nach Marseille, um den Tee dort beim Zoll ab zuholen.« Er lachte leise auf. »Einmal hat mich dort die Polizei einem Ver hör unterzogen. Man nahm an, ich sei womöglich ein chinesischer Spion.« Wenn er lachte, faltete sich nur das Lid über dem rechten Auge, das Lid des linken blieb starr. Man merkte übrigens auch kaum, daß er hinkte, nur, wenn er über den Ziegelboden ging, hörte man es. »Ich habe diese – hm, körperliche Behinderung schon seit meiner 162
Kindheit. Seit der russischen Revolution«, sagte er, als habe er Glo rias Gedanken erraten. »Und ich habe seither viel Zeit gehabt – mich daran zu gewöhnen. – Aber wir wollen weder von meinem ge liebten Tee noch von mir selbst sprechen. Verzeihen Sie einem alten Mann, der selten Besuch hat, die Schwatzhaftigkeit. – Was führt Sie zu mir, Madame?« »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Gloria. Der Arzt schlürfte von seinem Tee, zündete sich dann eine lange Papirossi an, deren Pappmundstück er anknickte. Gloria mochte nicht rauchen. »Wer hat Sie zu mir geschickt?« fragte Dr. Kubachow. »Niemand. Ich mußte an der Tankstelle halten, weil ich glaubte, mich verfahren zu haben. Und da sagte man mir, daß Sie hier in Mejanes wohnen – und Arzt sind.« »Ich lebe seit dreißig Jahren hier.« Dr. Kubachow lächelte. »Aber die Leute kennen meinen Namen immer noch nicht.« »Doktor, Sie müssen mir helfen«, sagte Gloria. »Seit dreißig Jahren wartet mein Sprechzimmer auf einen Patien ten – es hat noch keinen gesehen. Ein paar kranke Stiere auf der Weide, das war alles, wozu die Leute mich gerufen haben.« »Mein Mann ist krank«, sagte Gloria. »Er ist zusammengeschlagen worden. Aber das ist es nicht allein. Ich glaube – er hat Fieber. Ho hes Fieber. Er erkennt mich nicht mehr.« »Seit wann?« »Ich glaube, seit ein paar Stunden.« »Sie glauben?« »Bitte stellen Sie mir keine Fragen. Bitte! Ich kann sie doch nicht beantworten. Ich bitte Sie nur um eines, helfen Sie meinem Mann!« »Wo befindet er sich?« »Es ist etwa fünfzehn Kilometer von hier. Vielleicht auch weniger. In den Salzfeldern. Er liegt in einem alten Geräteschuppen. Ich wollte ihn mitbringen, aber er ist zu groß, zu schwer. Ich konnte 163
ihn nicht allein in den Wagen schaffen.« »Ist die Polizei hinter Ihnen her?« »Nein.« »Hinter Ihrem Mann?« »Nein, hinter ihm bestimmt nicht.« »Also doch hinter Ihnen, Madame?« »Vielleicht. Aber mein Mann hat nichts damit zu tun! Bitte, Sie müssen ihn untersuchen, versorgen, wieder gesund machen! Er ist der einzige Mensch, den ich liebe. Er darf nicht sterben. Es ist egal, was es kostet! Ich habe Geld!« »Und was werden Sie tun?« fragte Dr. Kubachow. »Ich werde – verschwinden!« »Haben Sie ein Verbrechen begangen?« »Ja – nein – bitte, ich kann und darf es Ihnen nicht erklären. Sie sind Arzt. Sie haben einen Eid geschworen, den Menschen zu hel fen. Ich bitte ja nicht für mich, nur für meinen Mann. Nur für ihn!« »Weinen Sie nicht, Madame. Tränen haben noch nie etwas ge nützt.« Doktor Kubachow erhob sich. Er trat an den Schrank, der in die honiggelbe Holztäfelung der einen Längswand des Raumes eingelassen war, nahm eine lammfellgefütterte Lederjoppe heraus, eine schwarze Baskenmütze. »Kommen Sie«, sagte er, »wir holen Ihren Mann.« Mit dreizehn Wagen – Kommissar Lion hoffte, daß diese Zahl sich ausnahmsweise einmal als glückverheißend erweisen würde – wurde die Fahndung nach Gloria und Horst Rixen in der Salzgrassteppe der Camargue aufgenommen. Es war Punkt zehn Uhr abends, als die Fahrzeuge der Polizei – Li mousinen und leichte Geländewagen – Arles in Richtung Camargue verließen. 164
Lion hatte zuvor an die Fahrer, die kein Funkgerät im Wagen hatten, Walkie-Talkies verteilt. Japanische Sprechgeräte, die angeb lich eine Reichweite von fünfzehn Kilometern haben sollten. Er hoffte nur, daß das zutraf. Auf der tischplattenflachen Ebene der Camargue war das Dröh nen der Wagenmotoren weithin zu hören. Es rollte wie Donner über das Land, und in mehr als einem Haus der kleinen, spärlich verstreuten Ortschaften erwachten die Bewohner, machten Licht, liefen zum Fenster, sahen verblüfft nah oder fern Scheinwerferkegel die Dunkelheit mit gelben Fingern abtasten. Die Fahrzeuge schwärmten in einem weiten Kreis aus, den sie im Lauf der Nachtstunden immer enger ziehen würden. So lange, bis ihnen Horst und Gloria Rixen ins Netz gehen und sich dann fangen würden. Horst Rixen wurde wach und wußte nicht, wo er war. Vom matten Schein einer Taschenlampe erhellt, sah er rostiges Gerümpel um sich herum und über sich die spitzen Zähne eines Krans. Er versuchte den Kopf zu wenden, aber sogleich schoß ein schar fer Schmerz ihm vom Nacken in den Schädel. »Karen«, flüsterte er, »Karen, wo bist du?« Er hörte den Wind heulen und monotones Trommeln, das wie Regen klang. »Naty«, flüsterte er, »Naty?« Er streckte den rechten Arm aus, tastete um sich. Seine Hand berührte etwas Glattes, Knisterndes – Papier. Er krallte die Finger darum, hob die Hand, hielt es sich vor die Augen. Ein Blatt Papier. Und – er kniff die Augen zusammen, um es bes ser zu erkennen – mit einer Schrift bedeckt. Glorias Schrift – siedendheiß schoß es durch ihn hin. 165
›Lieber – mach Dir keine Sorgen. Es wird alles gut. Bin bald wie der bei Dir.‹ Er stöhnte auf, hörte, wie sich der häßliche Klang zwischen dem Gerümpel verlor. Also hatte er Gloria gefunden. Es war kein Alptraum, keine Ausgeburt seiner Fieberfantasie. Er schloß die Augen. Wartete auf die Befriedigung, die Erleichterung, die jetzt kommen mußten. Aber er empfand nichts, gar nichts. Er zwang sich nachzudenken. Die Erinnerung an den endlosen Marsch durch die Salzgrassteppe im Regen kam zurück. Dann hatte er die Salzteiche gesichtet, den Schuppen, hatte die Tür aufgesto ßen… und dann war alles schwarz. Aber er mußte Gloria doch gesehen, mit ihr gesprochen haben?
Nichts.
Keine Erinnerung.
Er öffnete die Augen wieder, starrte zu den rostigen Greifzähnen
des Krans hinauf. Sie waren wie ein Sinnbild des Schicksals, das ihn ergriffen hatte, brutal, drohend, düster. Als er Schritte hörte, wandte er den Kopf. Er sah einen Mann herankommen, der hinkte und einen grauen Spitzbart trug. An seiner Seite schritt eine Frau, in langen dunkelblauen Hosen, einem blauen Pullover. Das schwarze Haar fiel ihr, vom Wind zer zaust, über die Schultern. Und dennoch unverkennbar Gloria.
Seine schöne Gloria.
Nein, nicht mehr seine Gloria.
Eine fremde Gloria.
Eine Fremde.
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»Horst?« fragte sie mit unsicherer Stimme, und gleich darauf knie te sie neben ihm, und ihre Hände streichelten seine Wangen, ihr Gesicht kam ganz nah auf ihn zu. Und da sagte er: »Laß das!« »Horst?« wiederholte sie ungläubig, wiederholte es wie ein Kind, das nicht fassen kann, warum es zu unrecht getadelt wird. »Hoffentlich hast du eine gute Erklärung bereit, für alles?« stieß Horst hervor. Und dann sah er den Mann an und sagte: »Meine Frau ist eine Mörderin.« Im selben Augenblick hörten sie das Dröhnen eines Wagenmo tors, noch fern zuerst, Sekunden später schon fast ohrenbetäubend die Stille füllend. Und dann das Heulen einer Sirene… Einer Polizei-Sirene.
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as auf- und abschwellende Heulen der Sirene kam schnell näher. Gloria stand wie erstarrt. Riesengroß waren ihre Augen in dem schmalen Gesicht, das alle Farbe verloren hatte, erblaßt war bis in die geschwungenen Lippen. Das war keine Ausgeburt seiner Fieberfantasie, Horst sah es ge nau, das war die Wirklichkeit: Gloria hatte Angst. Es bereitete ihm eine seltsame Befriedigung – so, als habe er per sönlich ein lange verfolgtes Ziel erreicht. 167
»Jetzt kommst du nicht mehr davon, jetzt sitzt du in der Falle!« sagte er auf deutsch. »Halt den Mund!« Gloria funkelte ihn aus halb geschlossenen Augen an. »Was ist los, Monsieur?« fragte der Mann mit dem grauen Spitz bart, der neben Gloria stand, in einem gepflegten Französisch, das ihn nur durch den harten Akzent als Ausländer verriet. »Gilt die Suche der Polizei Ihnen, Monsieur? Es scheint mir, Sie fürchten sich, Madame?« Aber Gloria beachtete ihn gar nicht. Sie blickte Horst an, flehend, um Hilfe bettelnd. »Ich muß weg«, flüsterte sie verzweifelt. »Ich muß mich verstecken.« »Du entkommst ihnen nicht mehr«, sagte er und lauschte befrie digt dem Heulen der Sirene. Es hörte sich an, als umkreise der Polizeiwagen den alten Geräte schuppen, in dem sie sich befanden. »Du kannst doch nicht wollen, daß sie mich schnappen und ein sperren?« flüsterte Gloria. »Horst, du kannst doch nicht wollen, daß wir uns nie wiedersehen?« Er schwieg, preßte die Lippen aufeinander. Er sah sie an, aber da war nichts mehr in ihrem gebräunten, glatten, schönen Gesicht, das ihn anrührte. Sie hätte genausogut eine Fremde sein können, die er zum ersten mal sah. Draußen verstummte die Sirene, dann auch das Motorengeräusch des Wagens. Mit einemmal war es sehr still. Gloria stand wie zum Sprung geduckt. Blickte sich um, wie ein gehetztes Tier. Und dann glitt sie davon. Aus dem matten Lichtkreis der Taschenlampe, der flackerte und bald ganz verlöschen würde, weil die Batterie fast leer war. Es dau 168
erte ein paar Sekunden, dann war Glorias leichter Schritt nicht mehr zu vernehmen. Und wieder war es sehr still. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte der Mann mit dem grauen Spitzbart. Und dann machte er eine unter diesen Umständen ein bißchen lächerliche Verneigung. »Dr. Kubachow ist mein Name. Ich bin Arzt. Ihre Frau hat mich gebeten, ich solle mich um Sie kümmern. Ich hoffe nur, daß ich keine Schwierigkeiten dadurch be komme. Ich bin Ausländer, wissen Sie. Russischer Emigrant. Ich lebe seit dreißig Jahren in Frankreich, und ich habe mir noch nie etwas zuschulden kommen lassen.« Er kniete neben Horst nieder und öffnete seine alte, abgeschabte Bereitschaftstasche aus Schweinsleder. Draußen wurden schwere Schritte hörbar. Dann knirschten die Flügel des Tores in ihren Angeln. Greller weißer Lichtstrahl von einem Handscheinwerfer fiel herein, eine Männerstimme rief: »Ist hier jemand?« Horst mußte plötzlich schallend lachen. Warum, wußte er selbst nicht, aber er konnte nichts dagegen tun. Die Schritte kamen rasch näher, und er konnte ein rotes, erhitztes Gesicht über blauem Uniformkragen erkennen. »Monsieur! Monsieur Rixen?« Überraschung und Erleichterung zugleich. »Wie kommen Sie denn hierher?« »Ich habe mich verlaufen«, sagte Horst sarkastisch. »Habt ihr sie?« rief eine andere Männerstimme vom Tor her, und gleich darauf tauchte der napoleongesichtige kleine Kommissar auf. »Rixen? Dacht' ich's mir doch!« Befriedigung blitzte in Lions dunklen Augen auf. »Wo ist Ihre Frau?« »Ich weiß es nicht«, sagte Horst wahrheitsgemäß. »Sie wissen es nicht – aber das hier und das hier –«, Lion hob Glorias Pullover und ein Kopftuch auf, die neben Horst lagen. »Sie 169
war doch hier. Sie haben sie doch gefunden?« »Ja, ich habe sie gefunden«, sagte Horst. »Hier. Aber als sie die Sirene Ihres Wagens hörte, ist sie geflohen. Verschwunden.« »Los, Robert, sag den anderen Bescheid! Ruf über Funk alle Wa gen herbei, sie sollen die Gegend hier abriegeln«, herrschte Lion den anderen Beamten an. Der polterte nach draußen. Und wieder zu Horst gewandt, fragte der Kommissar: »Wer ist der Mann?« »Ich bin Dr. Kubachow. Seit dreißig Jahren in Ihrem wunderba ren, freiheitsliebenden Land. Und in den dreißig Jahren habe ich mir noch nichts zuschulden kommen lassen, Monsieur le Commis saire.« »Das werden wir nachprüfen«, sagte Lion. »Sind Sie Arzt?« »Oui, Monsieur.« »Und wie kommen Sie hierher?« »Madame erschien vor etwa einer Stunde bei mir und bat mich, ihr hierher zu folgen. Sie sagte mir, ihr Gatte sei sehr krank. Sie se hen, er ist es tatsächlich.« Dr. Kubachow deutete auf Horsts zer schundenes Gesicht. »Na schön«, sagte Lion, »und Madame ist also wieder verschwun den? Sie ist nicht mehr in diesem Schuppen?« Horst zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« »Aber Sie wissen, daß Sie sich mitschuldig machen, wenn Sie Ih rer Frau bei der Flucht helfen?« sagte Lion. »Ihre Frau ist eine Mör derin.« Wieder zuckte Horst nur mit den Schultern. Er war mit einemmal sehr müde. Er konnte kaum noch die Au gen offenhalten. Was ging das ihn noch alles an? Er hatte Gloria wiedergefunden und erkannt, daß er sie nicht mehr liebte. 170
Er war mit ihr fertig. Er war fertig mit ihr für alle Ewigkeit. Er hatte jetzt nur noch einen Wunsch – zu schlafen. Tief und traumlos zu schlafen und an einem neuen, hellen Tag zu erwachen. »Karen«, murmelte er. »Naty…« »Was ist mit ihm?« fragte Lion den Arzt. »Er ist wieder bewußtlos, Monsieur. Er hat hohes Fieber.« »Wissen Sie, wo seine Frau hin ist?« Die Augen des Arztes blieben ausdruckslos, aber sie wichen Lion nicht aus. »Nein, Monsieur le Commissaire. Sie ist verschwunden.« Lion wußte, es hatte keinen Zweck, weiter in den anderen zu drin gen; der hatte zuviel Angst um seine eigene Haut. Der Kommissar wandte sich abrupt ab. »Robert! Alfons! Hierher!« brüllte er zum Tor hinaus. Die beiden Beamten eilten herbei. »Wir durchsuchen den Schuppen«, befahl Lion. Sie ließen keinen Winkel aus, keinen Verschlag, keine Kiste, die groß genug war, um einen Menschen zu verbergen. Sie fanden eine Falltür, stiegen in einen Keller hinunter. Auch hier nur altes Gerümpel, verrostete Werkzeuge, Spinnweben, an manchen Stellen dicht wie Nebel. Hier war seit Jahren niemand mehr gewesen. »Ich versteh' es nicht!« brüllte Lion los, als sie wieder oben neben Rixen standen. Fast haßerfüllt blickte er in das Gesicht des Kranken. »Rixen! Wachen Sie auf! Hören Sie mich!« »Bitte lassen Sie ihn«, sagte der Arzt. »Alles, was Sie von ihm hö ren könnten, wären Fieberfantasien.« Lion knirschte hörbar mit den Zähnen, während er vor den Schuppen trat. Im Umkreis von zwanzig, dreißig Metern war alles von den Such scheinwerfern der Polizeiwagen taghell erleuchtet. 171
Ein Kreis aus gelbem Licht, dessen Bannstrahl Gloria sich nicht entzogen haben konnte. Aber sie war ihm entkommen. Sie lief. Lief in die Nacht hinein. Lief, so schnell es ihre Füße, ihre keuchende Lunge, ihr hämmerndes Herz erlaubten. Weiter hinter ihr das Scheinwerferlicht der Polizeiwagen. Vor ihr Dunkelheit. Osten, Süden, Westen, Norden, es spielte keine Rolle, in welche Richtung sie lief. Jetzt nicht. Nur fort. Ihnen doch noch entkommen. Im Dunkeln sah Gloria den Hügel nicht, stolperte, fiel der Länge nach auf seine flache Flanke. Gesicht im Dreck. Nein. Kein Dreck. Salz. Salz in ihren Augen, in Nase und Mund. Sie schrie auf. Ihre Augen tränten, schmerzten. Nase und Mund brannten. Sie schluchzte vor sich hin, während sie sich aufraffte, versuchte, ihr Gesicht vom Salz zu reinigen. Halb blind in der Nacht. Mitten in der Salzgrassteppe. Ihre Füße platschten in Wasser. Es war einer von den künstlichen Salzteichen. Das Wasser reichte ihr bis zu den Knien. Und plötzlich die Panik. Ich komme nie mehr hier heraus! 172
Nie mehr aus der Einöde, nie mehr aus der Salzgrassteppe. Nie mehr werde ich ein normales Leben führen. Nie mehr in den Armen eines Mannes liegen, seinen Atem hören, seine Hände spüren. Horsts Hände, Horsts Atem. Nie mehr Naty sehen. Nie mehr das Lachen des Kindes hören, silberhell, wenn es spielend umhertollt. Nie mehr vor einem Kaminfeuer sitzen. Nie mehr am Strand liegen, träge, müde in der Sonne – und wis sen: Ich lebe. Nie mehr abends vor einem Café in Arles sitzen, die flanierenden jungen Leute beobachten – und wissen, auch ich bin noch jung. Nie mehr mit der Gemüsefrau feilschen, nie mehr Hausarbeit tun… Dinge, die sie verabscheut hatte, kamen ihr jetzt wie kost bare Perlen im Halsband ihres Lebens vor. Das Halsband, das sie nun erdrosseln würde. »Ich bin am Ende«, sagte sie vor sich hin. »Ich bin am Ende.« Sie watete immer noch durch das flache Wasser. Das Salz biß in ihre nackten Fesseln. Endlich die weißlichgraue Linie des Ufers. Nein, es war nur ein Damm. Dahinter war wieder ein Teich. Und dahinter noch einer. Sie dachte, ich finde nie mehr hier heraus. Und ihr war, als müsse sie am scharfen Geruch des Meersalzes er sticken, wenn sie nicht vorher vor Erschöpfung zusammenbrach. Das Läuten des Telefons ließ Karen Schaumburg aufschrecken. Sie schlug das Moskitonetz zurück, schwang ihre Beine aus dem Bett, griff gleichzeitig nach dem Telefonhörer. »Mademoiselle Schaumburg? Hier spricht Lion.« »Kommissar…« 173
»Wir haben Monsieur Rixen gefunden.« »Und?« »Seine Frau ist uns wieder entkommen. Aber wir geben nicht auf.« »Ich verstehe. Kommissar, war Monsieur Rixen – hatte er sie ge funden?« »Ja.« »Aber dann, ich verstehe nicht…« »Er ist krank. Der Arzt hält es für einen Malariaanfall. Wußten Sie, daß er Malaria hat?« »Nein«, sagte Karen. »Er hat Fieber. Er fantasiert. Er verlangt nach Ihnen.« »Wo ist er?« »Hier bei einem Arzt. In der Nähe von Mejanes. Und noch eines. Man hat ihn auch zusammengeschlagen. Wer es war, wissen wir noch nicht. Aber das wird er uns hoffentlich bald sagen können.« »Darf ich – hinkommen?« »Sie dürfen, Mademoiselle. Lassen Sie sich vom Portier im Hotel den Weg beschreiben. Er müßte ihn wissen. Der Arzt heißt Kuba chow – ein Exilrusse.« »Danke, Kommissar«, sagte Karen. Sie legte langsam den Hörer auf. Ihr Mund war ganz trocken. Ihre Hände gefühllos. Sie stand auf, schlüpfte aus ihrem Pyjama. Zog sich hastig an. Dann weckte sie Naty. Sie mußte das Kind mitnehmen, sie durfte es nicht zurücklassen, nicht, solange Gloria noch flüchtig war. »Ist mein Vati schwer krank?« fragte Naty, sich noch verschlafen die Augen reibend, während Karen sie schon ankleidete; die langen blauen Hosen, den weißen Pullover, darüber eine warme Wolljacke. »Es wird ihm bald wieder besser gehen«, sagte Karen ohne Über zeugung. »Hat er dich angerufen, Tante Karen?« »Nein, der Kommissar.« 174
»Ach so. Hat er auch meine Mami gefunden?« Es klang beinahe ängstlich. »Woher weißt du …« »Vati hat mir erzählt, daß die Polizei meine Mami sucht«, sagte das Kind. »Weißt du, Tante Karen, ich glaube, meine Mami hat et was sehr Böses getan. Sonst könnte die Polizei sie doch nicht su chen, oder?« »Du darfst nicht traurig sein deswegen«, sagte Karen. »Aber das bin ich ja nicht. Wirklich nicht, Tante Karen. Ich mei ne – sie war so komisch, als wir bei den Zigeunern waren. Ich habe gar nicht glauben können, daß sie überhaupt noch meine Mami ist.« Die Kleine blickte mit ihren großen, grünen, unschuldigen Augen zu Karen auf. Plötzlich kräuselte sie die Nase, was ihr ein sonderbar altkluges Aussehen gab. »Weißt du, Tante Karen, komische Ferien sind das! Wenn ich zu rückkomme nach Arles und in die Schule gehe und meinen Freun dinnen alles erzähle, ich meine von dem blinden Monsieur Tatu und von den Zigeunern und daß meine Mami verschwunden ist – das glaubt mir ja kein Mensch.« »Vielleicht wirst du gar nicht mehr in Arles in die Schule gehen«, sagte Karen. »Vielleicht fahren wir alle nach Deutschland zurück.« »Aber da haben wir doch kein Haus! Wohnen wir dann bei dir?« »Das muß dein Vati entscheiden«, sagte Karen und knüpfte das weiß- und blaugesprenkelte Kopftuch unter dem Kinn des Kindes fest. »Ich fände es ganz nett«, sagte Naty nachdenklich. »Wirklich, ich glaube, bei dir möchte ich schon wohnen. Kannst du gut kochen?« Ihre Fragen nahmen kein Ende, während Karen das Zimmer ab schloß, mit ihr hinunterging, den Schlüssel abgab, sich beim Por 175
tier nach dem Weg nach Mejanes erkundigte. Weder sie noch Naty bemerkten den älteren Herrn, der wenig später nach ihnen das Bellevue verließ. Er blieb im Schatten des Hotelportals stehen, sah zu, wie Karen und Naty in den Wagen stiegen, die Scheinwerfer aufflammten, der Motor ansprang und das kleine Kabriolett bald darauf vom Park platz kurvte und seinem Gesichtsfeld entschwand. Hätte jemand ihn beobachtet, er hätte echte Ratlosigkeit in den grünen Augen über den hohen Backenknochen des Mannes ent deckt. Und wirklich – zum erstenmal seit Beginn seiner Suche nach Glo ria wußte Paul Kammer nicht weiter. Wußte nicht, was es zu bedeuten hatte, daß jetzt auch diese junge deutsche Reporterin und das kleine Mädchen, sein Kind, mitten in der Nacht Port St. Marie verließen. »Mademoiselle Schaumburg hat sich nach dem Weg nach Mejanes erkundigt«, antwortete ihm der Portier auf seine Frage. »Aber was sie dort tun will, mitten in der Nacht…« Er hob die Augenbrauen, senkte die Mundwinkel. »Die Entschlüsse der Frauen sind häufig rätselhaft, nicht wahr?« Die Suche der Polizei nach Gloria Rixen dauerte bis zum Tagesan bruch. Die Sonne stieg messinggelb hinter der tischflachen Ebene der Salzgrassteppe auf. Es würde ein heißer Tag werden, ein schwüler Tag. Die Polizisten starrten müde in das blendende Licht, und sie ver fluchten ihren Beruf, verfluchten ihren Vorgesetzten, der immer noch nicht das Ende der Jagd befahl. 176
Lion war aus Mejanes in den alten Geräteschuppen des Salzge winnungswerkes zurückgekehrt. Mit gekrauster Stirn, verbissenem Mund lief er auf und ab. Was hatte er falsch gemacht? Wie hatte es geschehen können, daß ihm diese Frau, diese Gloria Rixen, wieder entkam? »Was sollen unsere Leute jetzt tun?« fragte sein Assistent Jean, dessen weißblond bewimperte Augen vor Müdigkeit rot umrändert waren. Er hielt mit allen Wagen über Funk und die Walkie-Talkies Sprechverbindung. »Weitersuchen!« brüllte Lion. Jean zuckte zusammen. »Chef, nehmen Sie es doch nicht so schwer«, sagte er. »Was heißt hier schwernehmen!« Lion fuhr herum. »Es ist einfach lächerlich, daß unsere Beamten, die hier in der Gegend aufgewach sen sind, die fast alle aus der Camargue stammen, sie weniger gut kennen als diese Frau.« »Jetzt am Tag werden wir sie bestimmt finden«, sagte Jean. »Wie wär's, wenn wir die Wagen stehenließen und zu Fuß weitersuch ten?« »Okay – endlich mal eine vernünftige Idee aus Ihrem Hohlkopf. Geben Sie den Befehl durch.« »An alle – an alle!« gab Jean durch. »Zu Fuß weitersuchen.« »Wer sagt das?« kam eine krächzende Stimme empört zurück. »Psst – der Chef!« Aber Lion war schon heran, brüllte: »Hier spricht Lion. Soll ich Ihnen Beine machen?« »Warum so aufgeregt, Chef?« entgegnete gelassen die Stimme aus dem Funkgerät. Lions blasses Gesicht rötete sich vor Wut. Jean zog den Kopf zwischen die Schultern und wandte den Blick hastig ab. Er glich einem Kaninchen, das aus den Augenwinkeln sei 177
nen Jäger angstvoll beobachtet. In München-Menzing geschah in diesen Morgenstunden dies: Ein Mann betätigte die bronzene Klingel am Tor eines verwilder ten Parks. Ein anderer, unsichtbar für den ersten, richtete aus dem runden Mansardenfenster der Villa das Fernglas auf den Besucher. Drückte dann die weiße Taste einer komplizierten Apparatur an seiner Seite. Ein Summer ertönte, dann fragte eine kühle Stimme: »Was ist?« »Objekt etwa einsfünfundsechzig groß. Macht ausländischen Ein druck. Anzug könnte von einem französischen Schneider stammen, trägt unpassend gelbe Schuhe dazu. Als Kopfbedeckung eine Bas kenmütze.« »Ach ja«, sagte Amadeus Fridolin mit unverhohlener Befriedi gung, »lassen Sie den Herrn ein.« Der Besucher wurde – wie schon vor knapp einer Woche Paul Kammer – in der Halle des Hauses von einem stummen, buckligen jungen Mann in Empfang genommen. Er wurde allerdings nicht in die karge Zelle geleitet, die dem bekannten Finanzmakler – der je doch auch undurchsichtige Geschäfte tätigte – als Ideenbrutstätte diente, sondern in ein mit gutem Geschmack und viel Geld einge richtetes Schlafzimmer. Ein chinesischer Seidenteppich in blassen Apfelgrün- und Rosa tönen verschluckte den Schritt der gelben Schuhe. Neben einem kostbaren Bett, das der Barockepoche angehörte, zu seines Besitzers geheimen Mißvergnügen jedoch kein Original war, saß der glatzköpfige, auch noch in dieser Umgebung wie ein Mönch wirkende Amadeus Fridolin. »Ah, mon cher.« Er lächelte liebenswürdig und reichte seinem Be sucher die rosige manikürte Linke. Die Rechte lag zur Massage mit 178
einem orientalischen Duftwasser in den braunen Händen eines jun gen Mädchens, das vor ihm kniete. »Ich freue mich, Sie bei mir zu sehen, Gaston.« »Merci, Monsieur«, antwortete der Besucher und zündete sich ei ne Gauloise an. Er pappte die Zigarette in den linken Mundwinkel, den sie, bis sie sich zu vier Fünfteln in Asche verwandelt hatte, nicht weder verlassen sollte. Sekundenlang verzog Fridolin, von dem ungewohnten Rauchge ruch angewidert, den Mund. Dann jedoch – er war in leutseliger Stimmung, und das nicht zuletzt wegen der zarten braunhäutigen jungen Dame zu seinen Füßen – sagte er: »Nun, beginnen Sie, lie ber Gaston.« »Kann die Kleine dabeibleiben?« fragte der Franzose. »Sie versteht nur Nubisch oder das, was man in Nubien spricht«, antwortete Fridolin lächelnd. »Na schön.« Gaston zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Rot haarige aus den Augen verloren.« »Ach?« Das klang schon bedeutend kühler. »Niemand konnte ahnen, was die vorhat. Schließlich bin ich kein Gedankenleser.« »Was also hat sie getan?« fragte Fridolin, seinen Ärger unter Gleichgültigkeit verbergend. »Sie hat jemanden umgelegt.« »Ach, tatsächlich?« »Ein Mädchen. Sie hat der kleinen Manon Monbeau eingeredet, alles sei nur ein Spaß. Und sie hat ihr eine ganze Stange Geld dafür versprochen.« »Ach«, sagte Fridolin, »und weiter?« »Sie hat der kleinen Manon erzählt, sie solle sich die Haare rot färben lassen. Sie hat ihr ein Cocktailkleid von sich geschenkt und einen Smaragdschmuck, der natürlich eine Fälschung war. Und dann hat sie einen günstigen Abend in Port St. Marie abgewartet 179
und die Kleine umgelegt.« »Das alles konnten Sie nicht verhindern?« fragte Fridolin kalt. »Nein, konnte ich wirklich nicht«, antwortete sein Besucher. »Es geschah alles so schnell und so geheim, daß weder ich noch einer meiner Leute Wind davon bekamen. Erst als alles vorbei war, als die falsche Rothaarige tot und die echte verschwunden war, haben wir das alles herausgefunden.« »Und wofür habe ich dich bezahlt, mein lieber Gaston?« »Ich sollte die Rothaarige nicht aus den Augen lassen. Hab' ich ja auch getan. Aber Sie haben mir nicht gesagt, daß ich einen Mord verhindern sollte.« »Na schön«, sagte Fridolin, »und wo befindet sich der Schmuck?« »Ein Teil im Gewahrsam der Polizei von Arles. Die echten Sma ragde und ein Solitär, den man bei einem toten Zigeuner gefunden hat.« »Ach ja, noch ein Toter?« »Ja, auch ermordet. Aber damit hat die Rothaarige nichts zu tun.« »Wie erfreulich.« »Also – wie gesagt…« Gaston war nicht aus der Ruhe zu bringen. Er steckte sich am Rest der alten Gauloise eine neue an. »Bei der Polizei liegt ein Solitär von etwa drei Karat und das echte Smaragd kollier. Der Rest…« Er zuckte mit den Schultern. »Mit dem Rest ist Gloria verschwunden?« fragte Fridolin mit ei nem Lächeln, das eisig war. »Sie sagen es, Chef.« »Wie fabelhaft. Und das alles wagst du mir so einfach zu er zählen?« »Ja, was soll ich denn sonst tun. Sie haben mich schließlich zur Berichterstattung herbefohlen.« »Ja, das habe ich. Aber ich habe etwas anderes davon erwartet.« »Tut mir leid. – Wie soll's jetzt weitergehen?« »Gar nicht«, sagte Fridolin. »Ich brauche deine Dienste nicht 180
mehr.« »Überhaupt nicht?« fragte Gaston, und seine Stirn legte sich in zwei tiefe Falten. »Nein, überhaupt nicht«, sagte Fridolin und drückte auf einen Klingelknopf, der unter der Marmorplatte des Nachttisches ange bracht war. Der bucklige Sekretär erschien. »Führen Sie Monsieur hinaus«, sagte Fridolin. »Aber…« »Adieu, Gaston«, sagte Fridolin und wandte sein Lächeln dem zarten braunhäutigen Geschöpf zu, das während der Unterhaltung stumm, mit feuchten dunklen Augen zu ihm aufschauend, den Kopf an seine Knie geschmiegt hatte. Am Nachmittag wurde vor dem Hauptbahnhof in München ein Mann überfahren. Der Wagen raste auf den Bürgersteig, erfaßte den Mann und schleifte ihn etwa zwanzig Meter weit mit. Hielt endlich an. Doch in seiner Verwirrung muß der Fahrer den Rückwärtsgang eingelegt haben, denn der Wagen setzte zurück und überrollte noch einmal den Kopf des Mannes. Der Tote trug gelbe Schuhe. Und sein Paß lautete auf den Na men Gaston Varvier. Der Fahrer des Wagens wurde von einer in Sekundenschnelle er schienenen Polizeistreife festgenommen. Er schien unter einem Schock zu stehen, plapperte und faselte unverständliches Zeug. Im nächsten Krankenhaus unterzog man ihn einer Blutprobe. Er hatte nicht getrunken. Da er sich jedoch weiterhin äußerst sonderbar benahm, wies man ihn zur Vorsicht in eine psychiatrische Klinik ein. 181
Drei Monate später sollte ihm der Prozeß gemacht werden. Zu gegebener Zeit würde sich ein namhafter Anwalt melden, um die Verteidigung dieses ›äußerst interessanten Falles‹ zu übernehmen. Man durfte schon jetzt – und Amadeus Fridolin lächelte bei die sem Gedanken friedfertig und zufrieden vor sich hin – mit einer sehr niedrigen Strafe für den Mörder rechnen. Naty weinte nicht. Sie hatte es Tante Karen versprechen müssen. Sie saß ganz stumm neben dem Bett ihres Vatis im Haus von Dr. Kubachow und sah ihn immer nur an. Er atmete so komisch. Es klang fast, als raßle jemand mit einer Kette. Er sah auch furchteinflößend aus. Sein Gesicht war ganz blau und violett gefleckt, jemand mußte ihn ganz schrecklich verhauen haben. Aber was das Schlimmste war, er erkannte sie beide nicht. »Tante Karen«, flüsterte Naty schließlich, ohne den Blick vom Gesicht des Vaters zu heben, »Tante Karen, muß mein Vati – muß er sterben?«
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as Licht der Petroleumlampen erfüllte das kleine Haus am Rand von Mejanes mit wabernden Schatten. Sie und der flackernde Feuerschein im offenen Kamin gaben der jungen blonden Frau und dem kleinen rothaarigen Mädchen, die 182
neben dem Kranken saßen, etwas seltsam Altmodisches. Dr. Kuba chow strich sich seinen grauen Spitzbart und dachte, sie wirken wie Gestalten auf einem Gemälde eines alten holländischen Meisters. »Muß mein Vati sterben?« flüsterte Naty, die ihre angstvollen Au gen nicht vom Gesicht ihres Vaters abwenden konnte. »Nein, ganz bestimmt nicht.« Karen Schaumburg griff nach der Hand des kleinen Mädchens. Die Finger waren ganz kalt und klamm. Karen lächelte so gut sie es vermochte. »Er wird wieder ge sund, ganz bestimmt.« Es war doch kein Malariaanfall, an dem Horst Rixen litt, wie Dr. Kubachow mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln einge standen hatte. Er hatte schließlich so lange nicht mehr als Arzt prak tiziert, da konnte man die Symptome schon mal verwechseln, nicht wahr? »Aber warum keucht Vati denn so? Und warum erkennt er uns nicht?« fragte Naty. »Es ist das Fieber«, sagte Karen. »Siehst du, dein Vati hat eine schwere Lungenentzündung. Aber es wird ihm bald wieder besser gehen. Ganz bestimmt.« Es klang wie eine Beschwörung, und das war es auch. Horst mußte wieder gesund werden. Er mußte einfach! Karen konnte und wollte an nichts anderes denken. Das Feuer in dem offenen Kamin lohte hoch auf. Einen Augen blick lang schien es, als kehre die Farbe des Lebens wieder in die eingefallenen Wangen des Kranken zurück. Aber er hörte nicht auf, den Kopf von einer Seite auf die andere zu werfen und im Fiebertraum zu stöhnen. Und sie konnten nichts tun, als bei ihm sitzen und auf den Kran kenwagen warten, der Horst nach Arles ins Hospital bringen sollte. »Ich habe ihm doch Antibiotika gegeben«, sagte Dr. Kubachow und zupfte an seinem Spitzbart. »Ich begreife nicht, daß das Fieber nicht runtergeht.« 183
»Wahrscheinlich war das Medikament zu alt«, sagte Karen. »O nein, Mademoiselle, ich habe es erst im letzten Herbst ge kauft.« »Der Krankenwagen muß ja nun jeden Augenblick kommen«, sag te Karen, wie um sich selbst Mut zu machen. »Es tut mir leid, Mademoiselle, daß ich Ihnen keine größere Hilfe sein kann.« »Es ist schon gut«, sagte Karen. Aber nichts war gut. Gar nichts. Sie blickte in Horsts Gesicht, und sie sah die Schatten dann und die seltsame Entrücktheit, die an den Tod gemahnen. Nimm ihn mir nicht, dachte sie, bitte, bitte, laß ihn leben! Und sie preßte die Hand des kleinen Mädchens an ihrer Seite, weil es das einzige war, was ihr ein wenig Halt gab. Naty begann zu weinen. Es war erst zehn Uhr morgens. Aber es war schon drückend heiß. Die Sonne stach messinggelb aus einem bleigrauen Himmel. Spä testens am Nachmittag würde es ein Gewitter geben. Gloria saß, vor Erschöpfung zitternd, im dünnen Schatten eines grausalzenen Berges. Ihre Kehle war ausgedörrt, ihre Lippen waren aufgesprungen, ihre Augen schmerzten von dem grellen Gefunkel des Wassers, in dem sich die Sonne hundertfach spiegelte. Die flachen Salzteiche umgaben Gloria, so weit das Auge reichte. Brackig und scharf stieg der Brodem des Salzschlamms daraus auf. Er reizte Gloria immer wieder zum Husten, und sie dachte: Es reißt mir Schlund und Magen auf. Sie saß da und hustete, und ihre Augen tränten von dem gleißen den Sonnenlicht und von dem Salzgeruch, der die Luft verpestete 184
– und sie wußte, sie konnte nicht mehr weiter. Hier würde man sie finden. In einem selbstverschuldeten Fegefeuer der Schmerzen und der Qual. Die Haut ihrer nackten Füße – sie trug nur flache Ballerinenschu he, inzwischen längst vom Salzwasser aufgeweicht – war rot und ris sig und brannte, daß es kaum auszuhalten war. Gloria war nicht fähig, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Kommt bald, dachte sie, tut mir nur den einen Gefallen, und kommt bald. Sie lehnte den Kopf zurück. Salz rieselte herunter, in den Kragen ihrer blauen Sportbluse. Kommt bald, dachte sie und war zu erschöpft, um klar zu über legen, was danach geschehen würde – wenn sie erst einmal verhaf tet war. Mit Händen, die ihr vor Nervosität kaum gehorchen wollten, zog sie die Bluse aus dem Bund ihrer blauen Leinenhose. Um die bloße Taille trug sie einen weichen Ledergürtel und daran die Tasche mit den Juwelen. Der Reißverschluß des weichen Lederbeutels klemmte. Schließlich riß Gloria ihn einfach entzwei. Die Steine fielen in ihre Hand. Geschliffene Smaragde, Saphire und Brillanten, kein Stein unter einem Karat. Ein Vermögen. Ein Vermögen – von dem außer Paul Kammer niemand eine Ah nung hatte, nicht einmal die Polizei, die damals vor acht Jahren den Juwelenraub in Frankfurt zu klären versuchte. Denn diese Handvoll Edelsteine tauchten nirgendwo in den Bü chern des beraubten Juweliers auf. Er hatte sie illegal bei einem Händler in Teheran besorgt. Eine Handvoll Sterne, dachte Gloria, ich besitze eine Handvoll Sterne, und ich kann nichts, gar nichts mehr damit anfangen. Sie begann laut und bitter und schallend zu lachen. 185
Es hallte weithin über die tischflachen Salzteiche. Die beiden Polizisten hörten das Lachen. Sie waren am Rand eines der Teiche stehengeblieben. Der ›Frosch‹ – Kommissar Lion hatte ihn mit seinen Beamten zur Verstärkung angefordert – ließ das Fernglas sinken. »Da lacht doch jemand«, sagte er, und sein Froschmund blieb vor Verblüffung halb offen stehen. »Ja, da lacht jemand«, bestätigte Robert und fuhr sich mit Zeige finger und Daumen zwischen Hals und schweißnassen Kragen sei nes Uniformhemdes. »Eine Frau«, sagte der Frosch. »Eine Frau«, bestätigte Robert. Und dann sahen sie sich an. »Das kann doch nur…« Wie auf ein scharfes, aber lautloses Kom mando hin, setzten sie sich in Trab. Das Wasser der flachen Salztei che spritzte unter ihren derben Schuhen hoch auf. Das Frauenlachen brach so plötzlich ab, wie es begonnen hatte. Aber sie liefen in der Richtung weiter, aus der es gekommen war. Sie erreichten den Hügel aus grauweiß glitzerndem Salz. Sie sahen die Fußspuren im salzverharschten, ausgedörrten Bo den. Und dann standen sie vor Gloria. Ihre Augen waren riesengroß in dem blassen, von roten Beulen übersäten Gesicht. Von ihren aufgeplatzten Lippen rann ihr ein dünner Blutfaden über das Kinn. Der Frosch mußte sich räuspern, er war außer Atem, denn schließ lich lief man in seinem Alter nicht alle Tage durch diese glühende Hitze, nicht wahr? Aber dann sagte er in seinem besten Beamtenton: »Madame, ich 186
verhafte Sie im Namen des Gesetzes.« Und da versuchte Gloria es noch einmal – versuchte zum letzten mal, ihrem Schicksal zu entkommen. Sie sprang auf. Sie hetzte davon. Die beiden Beamten liefen ihr nach, holten sie nach wenigen Me tern ein. Packten ihre Arme. »Das hat doch keinen Zweck mehr, Madame!« sagte der Frosch streng. »Nein, nein, nein!« Sie schluchzte wie ein Kind. Und dann öffnete sie die Rechte, die sie zur Faust geballt hatte. Das Feuer der Edelsteine blitzte die Polizisten an. »Nehmt das«, flüsterte sie, »bitte, nehmt alles! Es ist ein Vermö gen wert. Nur laßt mich laufen. Bitte laßt mich laufen!« Doch als Gloria in die Gesichter der beiden Beamten sah, erkann te sie, daß ihre einzige Regung Verblüffung war. Gloria schleuderte die Steine hoch in die Luft. Sie gingen wie bunter Sternenregen nieder. Und wieder begann Gloria zu lachen. Aber sie ließ es geschehen, daß die Stahlfessel um ihre Handge lenke schnappte. »Eine Handvoll Sterne!« rief sie lachend. »Hört ihr, das war eine ganze Handvoll Sterne!« Der Himmel war immer noch bleigrau. Und die Sonne immer noch messinggelb. Es war drei Uhr nachmittags. Sieben Schläge hallten von der Eglise Saint Trophime. In der Kirche war es kühl und halbdunkel. Eine alte Frau zündete vor einem Seitenaltar lange, dünne Kerzen 187
an. In der Nähe des Haupteingangs knieten Karen und Naty. »Bitte, Tante Karen, laß uns in die Kirche gehen«, hatte das Kind verlangt, als sie das Hospital verließen, in dem Horst Aufnahme ge funden hatte. »Wir wollen Kerzen anzünden und den lieben Gott bitten, daß er meinen Vati wieder gesund macht.« Und jetzt knieten sie hier und beteten, und beide, das Kind und die Frau, dachten an das ernste, besorgte Gesicht des Arztes und an sein Versprechen, alles Menschenmögliche für Monsieur Rixen zu tun. »Tante Karen«, flüsterte Naty plötzlich und zupfte sie am Ärmel, »schau mal, es sieht so aus, als ob die Muttergottes lächelt.« Ein Sonnenstrahl hatte das sanfte, wächserne Gesicht der Madon na erreicht, malte ein Lächeln um die geschwungenen Lippen. »Das ist ein Zeichen«, sagte Naty mit großen Augen. »Ich habe den lieben Gott so darum gebeten, und jetzt hat er es geschickt. Er wird meinen Vati wieder gesund machen, nicht wahr?« Karen konnte nur nicken. Sie nahm die Hand des Kindes und führte es aus der Kirche. Doch als sie draußen auf dem Vorplatz standen, wußte Karen nicht, wohin sie sich nun wenden sollten. Diese Entscheidung nahm Naty ihr ab. »Es ist nicht weit von hier zu unserem Haus. Und ich hab' den Schlüssel aus Vatis Tasche!« Triumphierend hielt das kleine Mäd chen den Schlüssel hoch. »Jetzt kann ich dir auch endlich meine Spielsachen zeigen und Vatis Atelier. Komm«, sie zupfte Karen am Arm, »laß uns schnell nach Hause laufen.« Im Bistro an der Ecke der Rue Jean-Jacques lehnte Paul Kammer in seiner Verkleidung als Gelegenheitsarbeiter an der Bar. Er nippte hin und wieder an seinem Pastis und ließ das Haus der Rixens auf 188
der anderen Straßenseite nicht aus den Augen. Da inzwischen alle Akteure vom Schauplatz Saintes Maries de la Mer verschwunden waren – zuerst Gloria, von deren Verhaftung er allerdings noch nichts ahnte, dann dieser Rixen, ihr Mann, und schließlich auch noch Karen Schaumburg und seine Tochter Naty –, war Kammer, seinem Instinkt folgend, nach Arles zurückgekehrt. Er war sicher, daß einer der Beteiligten hier auftauchen mußte. Und so geschah es auch. Er sah Naty und Karen Schaumburg in die Straße einbiegen und dem Haus auf der anderen Straßenseite zustreben. Das Kind schloß die Haustür auf – die junge Frau schien zu zö gern, ehe sie den dämmerigen Flur betrat. Er sah, wie wenig später die blaßblauen Fensterläden im ersten Stock geöffnet und gegen die Mauer zurückgeschlagen wurden. »Kann man hier mal telefonieren?« fragte Kammer den Patron, der hinter einer Wettzeitung döste. »Ja, hinten im Durchgang.« Er machte eine Daumenbewegung zur Rückwand der Gaststube hin. Die Telefonnummer der Rixens stand im Telefonbuch. Kammer warf die Münzen in den Schlitz, wählte. Beim zweiten Läuten wurde schon der Hörer abgenommen. »Hier bei Rixen.« Es war die Stimme von Karen Schaumburg. »Ich hätte gern M'sieur Rixen gesprochen.« Kammer verfiel in das ortsübliche Patois. »Mit wem spreche ich, bitte?« »Masseron, Jules Masseron, à votre service, Madame.« Sie schien dem Klang seiner Stimme nachzulauschen, fragte dann: »In welcher Angelegenheit wollen Sie Monsieur Rixen sprechen?« »Es geht um Farben. Ich habe für Monsieur Aquarellfarben aus Paris besorgt. Und ich bin schon ein paarmal an der Tür gewesen, aber es war nie jemand da.« »Monsieur Rixen liegt im Krankenhaus«, sagte Karen Schaum 189
burg. »Ich werde ihm bei Gelegenheit ausrichten, daß Sie ihn ange rufen haben. – Bonjour Monsieur.« Klick machte es, und die Leitung war tot. »Im Krankenhaus? Wo und in welchem?« Kammer schlug das Branchenverzeichnis auf, begann die angegebenen Krankenanstalten anzurufen. Er erhielt vier negative Auskünfte. Dann erschien der Patron im Flur. »He«, fragte er, »was machen Sie denn da so lange?« »Ich versuche, mein Kleingeld loszuwerden.« Kammer grinste. »Auch 'ne Beschäftigung«, sagte der Patron, aber es klang ein biß chen mißtrauisch. »Sagen Sie mal, ich hab' Sie doch schon mal hier gesehen, nicht wahr?« »Kann sein.« Kammer zuckte mit den Schultern. »Sie haben dem alten Monbeau einen ausgegeben. Und kurz da rauf war die Polizei hier…« »Na, ich trink noch einen Pastis«, unterbrach ihn Kammer gelas sen, »und dann zieh' ich ab.« »Aus der Gegend sind Sie aber nicht, Monsieur?« fragte der Wirt, als er wieder hinter der Theke stand und Kammer ihm sein Glas hinschob. »Hab' lange in der Normandie gelebt«, behauptete Kammer. »Ach so.« Überzeugt klang das nicht. Und der Instinkt warnte Kammer, daß dem Kneipenwirt irgend etwas an ihm verdächtig vorkam. Wenn schon, er hatte nichts zu befürchten, bloß auf die ›Hilfe‹ der Polente war er nicht scharf. Kammer trank seinen Pastis in Ruhe aus, zahlte dann, murmelte ein gleichgültiges »Bonjour« und schlenderte nach draußen. Gemächlich überquerte er die Straße. Gemächlich näherte er sich dem Haus der Rixens. Das Kind öffnete, als er an der altmodischen Klingel zog. 190
Es blickte ihn mit schräg geschnittenen grünen Augen – seinen Augen – an. Aber ehe Naty noch fragen konnte, was er wolle oder wer er sei, erschien Karen Schaumburg. »Naty, ich hab' dir doch gesagt…« Die junge Frau verstummte, ihre Augen weiteten sich. »Bonjour«, sagte Kammer. »Bonjour«, sagte Karen; unwillkürlich hatte sie das kleine Mäd chen fest an sich gezogen. »Madame und Monsieur sind nicht da, nicht wahr?« fragte Kam mer. »Nein! – Was wollen Sie?« »Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte er. Und im gleichen Moment sah er das Erkennen in ihren Augen aufblitzen. Ja, sie erkannte ihn. Und sie wich mit dem Kind zu rück, wollte rasch, ohne ein weiteres Wort, die Tür schließen. Aber er hatte seinen Fuß dazwischengeschoben. Er lächelte das Kind an. Und dann Karen Schaumburg. »Wir können eigentlich Deutsch miteinander sprechen, nicht wahr?« Und Karen direkt in die Augen sehend, fügte er hinzu: »Sie haben richtig geraten, Mademoiselle, ich bin Kammer. Paul Kam mer.« »Naty, lauf nach oben! In dein Zimmer!« Sie wirbelte das Kind herum, von ihm fort. »Schließ dich ein!« Das Kind gehorchte, flink wie ein Wiesel, ehe Kammer etwas da gegen tun konnte. Oben klappte eine Tür zu, ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloß. »Das hätten Sie nicht zu tun brauchen«, sagte Kammer. »Wirklich nicht.« Er lächelte Karen an. »Sie überschätzen mich, Mademoisel le. Ich neige nicht zu Gewalttaten. Mein Kind ist vor mir ganz si cher.« 191
»Kommen Sie herein«, sagte sie und öffnete zur Linken eine Tür. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Fräulein Schaumburg, wenn Sie mir die Wahrheit sagen.« Er war ihr gefolgt, blieb mitten im Zimmer stehen, sah sich um. Rotes und blaues Leinen, ein weißer Schafwollteppich, vertrocknete Blumen in den Vasen. »Was wollen Sie?« fragte Karen. Sie ließ ihn keinen Moment lang aus den Augen. »Wissen, wo Gloria ist!« »Man hat sie verhaftet!« »Ach? Wann?« Seine Stimme klang mit einemmal rauh, er hörte es selbst. »Heute morgen. Draußen in der Camargue.« »Und wo ist der Schmuck?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte Karen. »Ich weiß, daß Gloria allen Schmuck bei sich hatte, als sie Arles verließ«, sagte er. »Die Polizei ist inzwischen im Besitz eines Brillantsolitärs und eines Smaragdhalsbandes.« »Das ist nicht alles«, sagte Kammer. » Wo ist das andere Zeug?« »Ich habe keine Ahnung«, wiederholte Karen. »Aber Rixen weiß es?« »Nein. Er hatte nicht einmal eine Ahnung von dem Raubzug, den Sie vor Jahren mit Gloria gemacht haben.« »Ein Unschuldsengel, wie?« »Ja«, sagte Karen. »Er ist unschuldig an allem!« Und dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen. »Was wollen Sie denn noch wis sen? Lassen Sie uns doch endlich in Ruhe. Gloria hat schon genug Unheil angerichtet!« »Ich habe meine Tat verbüßt«, sagte Kammer kalt. Und dann: »Ja, ich lasse Sie jetzt in Frieden. Aber ich komme wieder, verlassen Sie sich darauf.« 192
Gegen fünf Uhr an diesem Tag fielen die ersten Regentropfen, zer platzten auf den heißen Steinen und Mauern der von der Schwüle wie gelähmten Stadt. Und dann entlud sich das Gewitter mit einer Gewalt, daß es aussah, als verwandelten die Blitze Arles in ein gel bes Flammenmeer. Lion schloß hastig die Fenster seines Büros. Dann wandte er sich wieder Gloria zu. Sie saß in sich zusammengesunken vor seinem Schreibtisch. Das schwarzgefärbte Haar, das an den Wurzeln deutlich rot nachwuchs, verbarg ihr Gesicht. »Wollen Sie nicht endlich ein Geständnis ablegen, Madame?« fragte Lion beinahe sanft. Sergeant Robert und Assistent Jean im Hintergrund seufzten. Nachgerade ging ihnen die Verstocktheit der Verhafteten wirklich auf die Nerven. Und Gloria schwieg. »Sie haben die kleine Manon Monbeau umgebracht, um Ihre Spuren zu verwischen, nicht wahr?« Gloria antwortete nicht. »Madame, Sie machen doch alles nur noch schlimmer, wenn Sie nicht endlich gestehen.« Gloria schüttelte nur den Kopf. »Sehen Sie, Madame, ich weiß doch sowieso alles.« Lions Stimme blieb beinahe sanft, geduldig, gelassen. »Es war am 10. Februar 1959, als Sie mit Ihrem Komplizen, Paul Kammer, in Frankfurt ein Juweliergeschäft ausraubten. Schauen Sie doch her, vor mir auf dem Schreibtisch liegen die Beweise: Der Solitär, den Sie dem Zigeuner Janos schenkten für die Hilfe, die er Ihnen gewährte. Das Smaragdhalsband, das echte – und das falsche, das die tote Manon Monbeau trug. Und die ungefaßten Steine, die meine Beamten Ihnen heute morgen bei der Verhaftung abnahmen. Und wir wissen auch, daß Ihr Komplize, Paul Kammer, inzwischen 193
Ihre Spur aufgenommen hat.« Gloria hob ruckartig den Kopf. Ihre Augen waren schwarz vor Angst. »Wo ist er?« fragte sie. »Hier in Arles. Wenn wir wollen, können wir ihn Ihnen gegen überstellen.« »Nein!« »Doch, Madame. Also, wollen Sie jetzt ein Geständnis ablegen?« »Bitte – ich – könnte ich einen Schluck Wasser haben?« »Später, Madame.« »Bitte – ich habe nichts mehr gegessen, nichts mehr getrunken seit gestern!« »Sie werden später zu essen und zu trinken bekommen.« »Ich – gut, ich werde gestehen.« Sie senkte den Kopf wieder. Kommissar Lion sah, wie sie die abgebrochenen, schmutzigen Nä gel ihrer Hände in den Stoff ihrer blauen Leinenhose grub. »Ja, ich war Kammers Komplizin«, stieß sie dann hervor. »Ja, da mals – bei dem Raub, da war ich dabei. Aber den Mord – nein –, den habe ich nicht begangen. Es war – es war Horsts Idee. Eines Tages, nachdem wir nach Arles gezogen waren, mußte ich ihm ge stehen, woher mein Geld stammte. Er glaubte mir einfach nicht länger, daß ich durch eine Erbschaft reich geworden sei. Er – war natürlich zuerst entsetzt. Aber – Horst war arm. Er verdiente keinen Pfennig. Er verkaufte seine Bilder zu Spottpreisen, war auf mich an gewiesen. Und deswegen mußte er mir verzeihen. Ich meine, von da an saßen wir im gleichen Boot. Und damals sagte ich Horst auch, daß Kammer bald aus dem Zuchthaus in Deutschland entlassen würde. Ich gestand ihm, daß ich Angst davor hätte, und Horst meinte, dann müßte ich eben verschwinden. Damals lernten wir Manon Monbeau kennen. Sie brachte ein paarmal die Wäsche, die ihre Mutter für uns gewaschen hatte. 194
Horst fiel die Ähnlichkeit des Mädchens mit mir auf. Es war we niger das Gesicht als die Gestalt. Aber ihm fiel es auf. Und er hatte Angst um mich, verstehen Sie. Denn er liebte mich. Er hatte solche Angst um mich…« Gloria begann zu weinen, legte die Hände vor das Gesicht. »Er wollte nicht, daß mir etwas passier te. Er wollte auch nicht, daß wir ewig vor Kammer auf der Flucht sein sollten. Und so faßte er den Plan. Er sagte Manon Monbeau, sie solle sich das Haar rot färben las sen, weil sie mir dann noch ähnlicher sehe und er sie mit mir zu sammen – als meine Schwester – malen wolle. Horst versprach ihr Geld dafür. Und Manon willigte ein. Ich fragte ihn, was das alles zu bedeuten habe. Aber er sagte nur: ›Laß mich das machen.‹ Am Tag darauf fuhren wir nach Port St. Marie. Ein paar Abende später gingen wir aus. Ich trug ein schwarzes Cocktailkleid. Wir gingen ins El Ruedo. Horst war ungeschickt, er stieß die Kerze an, die auf dem Tisch stand. Wachs tropfte auf mein Kleid. Ich war noch sehr ärgerlich darüber. Aber er lächelte nur, als mache ihm das Spaß. Er trank gar nicht viel. Aber er machte doch den Eindruck, daß er betrunken war, wenigstens solange wir noch in der Bar waren. Draußen führte er mich nicht zum Hotel zurück, sondern in eine Gasse, in der ich noch nie gewesen war. Dort stand ein kleiner Renault. Es ist alles darin, was du brauchst, sagte er. Auch Farbe für dein Haar. Du mußt dir das Haar schwarz färben. Und jetzt verschwinde! Ich bat ihn, mir doch erst richtig zu erklären, was er vorhabe, aber Horst sagte nur, je weniger ich davon wisse, um so besser sei es für mich.« »Und dann?« fragte Kommissar Lion, da sie schwieg. »Ich sollte nach Marseille fahren. Aber ich verirrte mich in der Camargue. Und – und schließlich landete ich bei den Zigeunern.« »Das klingt alles sehr gut, Madame, nur – es stimmt alles nicht.« 195
Ihr Kopf fuhr hoch, sie sah ihn starr an. »Geben Sie sich keine Mühe, Madame, uns für dumm zu verkau fen. Denn Sie verschwanden ja nicht allein, Sie nahmen Ihr Kind mit. Und zwar weil Sie wußten, daß Sie damit Ihren Mann zwingen konnten, alles zu tun, was Sie wollten. Sie wußten, wie sehr er an dem kleinen Mädchen hängt, das nicht einmal seine Tochter ist. Sie nahmen Ihr eigenes Kind sozusagen als Geisel mit!« »Nein! Nein, nein, nein!« schrie Gloria. Sie heulte auf wie ein Tier, sprang auf, schlug um sich. Robert und Jean waren zur Stelle, packten ihre Arme, hielten sie fest. »So«, sagte Lion scharf, als ihr Heulen in ein hilfloses Wimmern überging. »Jetzt wollen wir noch einmal ganz von vorn anfangen. Sie erkannten die Ähnlichkeit Manon Monbeaus mit Ihnen, und Sie schmiedeten aus panischer Furcht vor dem Auftauchen Paul Kammers den teuflischen Plan. Sie überredeten Manon Monbeau, sich das Haar rot färben zu lassen, und Sie bestellten das Mädchen nach Port St. Marie. Sie trafen sich am Stadtrand mit ihr, erdrossel ten sie, machten ihr Gesicht mit Säure unkenntlich. Sie zogen ihr das schwarze Cocktailkleid an und legten ihr das Halsband mit den falschen Sternsmaragden um. Sie fuhren die Tote zum Mas Armand und warfen sie dort in den Brunnen. Ihr Mann schlief währenddes sen seinen Rausch aus, den Sie durch ein Schlafmittel verstärkt hat ten. Denn es trifft zu, er hatte im El Ruedo nicht viel getrunken, das haben wir nachgeprüft. Nachdem Sie Manon Monbeau umgebracht hatten, fuhren Sie ins Hotel Bellevue zurück, holten Ihre Tochter, der Sie ebenfalls zu einem tiefen Schlaf verholfen hatten. Sie fuhren zu dem Zigeuner lager in der Salzsteppe hinaus, wo Janos Sie erwartete und zu der alten Viehhirtenhütte brachte, die schon seit langem nicht mehr be nutzt wurde. Dort glaubten Sie, in Ruhe abwarten zu können, was geschah, 196
denn sie ließen Ihren Mann ja durch die Zigeuner beobachten. Sie wurden jedoch nervös, als er die Tote aus dem Brunnen Ar mands nicht als seine Frau identifizierte. Sie sandten ihm Botschaften, von denen Sie glaubten, daß er sie einfach vernichten würde, weil Sie ja Naty bei sich hatten und weil Sie ihm drohten, er würde sie sonst nie wiedersehen. Aber Sie liebten Ihren Mann, Madame, und das war Ihr schwa cher Punkt. Sie kehrten noch einmal ins Bellevue nach Port St. Marie zurück, als Ihnen bewußt wurde, daß Ihr Mann ja ohne finanzielle Mittel war. Vielleicht auch, weil Janos von Ihnen das Smaragdhalsband verlangte, das Sie ihm natürlich niemals geben wollten. Aber als Sie nachts in das Zimmer Ihres Mannes kamen, war nicht er dort, son dern Mademoiselle Schaumburg. Und ihr fiel auch der Smaragd schmuck in die Hände. Sie war es, die Sie verfolgte und die Sie dann umbringen wollten. Erdrosseln, wie Sie Manon Monbeau erdrosselt hatten.« »Nein«, wimmerte Gloria, »ich wollte sie nicht töten. Ich wollte ihr nur Angst einjagen und sie daran hindern, mich weiter zu ver folgen.« »Beides gelang Ihnen ja auch.« »Ich wußte nicht mehr, was ich tat«, sagte Gloria. »Ich hatte nur noch Angst. Nur noch Angst!« »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Lion. »Vor allem, weil inzwi schen auch noch Ihre Tochter Naty verschwunden war und Janos drohte, Ihnen nicht weiterzuhelfen.« »Woher wissen Sie das?« »Die Zigeuner sind ein Volk, das seine eigenen ganz besonderen Vorstellungen von Ehre hat. Janos mußte übrigens sterben, weil er Sie, eine Mörderin, geschützt hatte. Sein Mörder ist von uns inzwi schen an der spanischen Grenze festgenommen worden. Aber zurück zu Ihnen, Madame, gestehen Sie endlich, an dem 197
Tode der Manon Monbeau schuldig zu sein?« Gloria antwortete nicht. Sie sprang auf, lief zum Fenster. Riß es auf. Stürzte sich hinaus.
12
D
ie Morgenzeitungen in Arles brachten es ganz groß auf der ersten Seite: ›Mörderin der geheimnisvollen Toten vom Mas Armand gefaßt! Beim Verhör statt Geständnis Todessprung aus dem Fenster!‹
Gloria lag im Krankenhaus. Bewußtlos. Noch wußte man nicht, ob sie je wieder zu sich kommen würde. Der behandelnde Arzt hielt es für wahrscheinlich, daß sie auf jeden Fall für immer gelähmt blieb. Paul Kammer las die Berichte der Zeitungen wieder und wieder. Er saß in seinem Hotelzimmer im Hotel Provence. Die Croissants vertrockneten, sein Morgenkaffee wurde kalt. Er zündete eine Zigarette an der anderen an.
Das war also das Ende für Gloria.
Und auch das Ende für ihn.
Sie entzog sich nicht nur der Gerechtigkeit – sondern auch seiner
Rache. Und sie hatte ihn endgültig um seine Beute betrogen. 198
Der Traum von einer Handvoll Sterne, den jeder Verbrecher träumt, er war wie eine Seifenblase zerplatzt. Es gab nur zwei Möglichkeiten für Paul Kammer: Nach Deutschland zurückzukehren und sich wieder in die Ab hängigkeit von Amadeus Fridolin zu begeben. Handlangerdienste für ihn zu tun und irgendwann einmal wieder von der Polizei ge schnappt und eingebuchtet zu werden. Oder – und zum erstenmal in seinem Leben faßte Kammer diese Möglichkeit ins Auge – ein normales Leben zu beginnen. Aber als was? Er hatte keinen Beruf erlernt. Als Staubsaugervertreter? Er lachte hart und bitter vor sich hin. Das alte Berufsklischee ei ner verkrachten Existenz. Aber warum eigentlich nicht – es mußten ja nicht Staubsauger sein, die er verkaufte? Ein neues, ganz normales, ganz simples Leben beginnen. Irgendwo eine kleine Wohnung haben, später vielleicht sogar mal ein kleines Haus. Einen kleinen Garten, wo er Gemüse ziehen konnte, wie sein Großvater vor langen Jahren in Altona. Eine sentimentale Wunschvorstellung? Doch warum eigentlich nicht. Und warum nicht mit Naty zusammen, die ihm abends, wenn er von der Arbeit nach Hause käme, lachend und von allen mögli chen kindlich-wichtigen Erlebnissen übersprudelnd, entgegensprin gen würde? Sein Kind. Naty. Seine kleine Tochter. Kammer war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß es nur dieses siebenjährige Kind war, das ihn überhaupt auf die Idee brachte, ein ›bürgerliches‹ Leben zu führen. Ich darf keinen Fehler machen, dachte er. Was ich jetzt be 199
schließe, darf nicht vergeblich sein. Er drückte die halbgerauchte letzte Zigarette im Aschenbecher aus. Mit einer winzigen, äußerst korrekten Handschrift begann er ei nen Plan zu entwerfen, der seine nächste Zukunft betraf. Als es an der Tür klopfte, glaubte Kammer, es könne nur eines der Zimmermädchen sein, die auf dem Flur mit Eimer, Schrubber und Staubsauger lärmten. Aber ein beamtenhaft pedantisch gekleideter Herr mit einem Na poleongesicht betrat das Zimmer. Noch ehe er sich vorstellte, wußte Kammer, daß er nur von der Polizei sein konnte. »Monsieur Kammer. Ich bin Kommissar Lion.« »Sehr erfreut.« »Oh, das ist ein wenig voreilig«, sagte Lion und lächelte sanft. »Bitte nehmen Sie doch Platz, Monsieur«, sagte Kammer gelassen. »Es wäre mir lieb, wenn Sie ihre Koffer in meinem Beisein packen würden.« Lion blieb stehen. »Warum? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.« »Das weiß ich, Monsieur Kammer. Aber dazu soll es auch gar nicht erst kommen. Sehen Sie, aufgrund Ihrer – Vergangenheit möchte ich Sie nachdrücklich bitten, unser schönes Arles und Frankreich zu verlassen.« »Sie weisen mich aus?« »So kann man es nennen, Monsieur.« »Ich hatte aber sowieso nicht die Absicht, noch lange hierzu bleiben«, sagte Kammer vorsichtig. »Das freut mich, Monsieur.« »Genügt es, wenn ich die Stadt heute abend verlasse? Sie können mir gern einen Beamten mitgeben, der mich zum Bahnhof beglei 200
tet.« Lion betrachtete ihn eine Weile nachdenklich; Kammer wich sei nen Augen nicht aus. »Gut, Monsieur. Ich verlasse mich auf Ihr Wort.« »Ich danke Ihnen, Monsieur le Commissaire«, erwiderte Kammer lächelnd. Sie reichten einander höflich die Hand. »Übrigens, Monsieur le Commissaire«, sagte Kammer, als der Franzose schon an der Tür war, »es wäre Ihnen auch nichts an deres übriggeblieben.« »Wie bitte, Monsieur Kammer?« Eine steile Falte erschien auf der Stirn des Kommissars. »Eine rechtliche Handhabe gegen mich haben Sie nicht, weil ich die Strafe für meine letzte strafbare Handlung verbüßt habe und seither ein unbescholtener Mann geblieben bin. Sie können sich also nur auf mein Wort verlassen.« Am Abend verließ Paul Kammer das Hotel Provence und begab sich zum Bahnhof. Er stieg in den Zug, der ihn nach Avignon und von dort aus wei ter nach Deutschland bringen sollte. Der Polizeibeamte, der ihn beschattete, war beruhigt, er erstattete Lion dementsprechend Bericht. Kammer kehrte jedoch zwei Tage später nach Arles zurück. Und zwar in einer Verkleidung, die der Polizei noch nicht bekannt war – als distinguierter älterer Herr, der sich eines Rheumaleidens wegen auf einen Malakkastock mit Silberkrücke stützen mußte. Anstelle des schwarzen, an den Wurzeln rot nachwachsenden Haa res trug Gloria einen weißen, dicken Kopfverband. 201
Man hatte ihr das Haar wegen der schweren Schädelverletzung abrasieren müssen. Ihr vor noch wenigen Tagen glattes schönes Gesicht glich schon einer Todesmaske. Seit fünf Tagen lag Gloria in tiefer Bewußtlosigkeit. Die Haut spannte sich gelblich auf den Wangenknochen, umgab lose, in vielen senkrechten Fältchen den ehemals vollen geschwun genen, nun blassen, schmalen Mund. Ihre Hände lagen am Nachmittag noch so wie am Morgen, nach dem die Schwester, die Gloria versorgte, sie auf der Brust gefaltet hatte. Manchmal zitterten ihre pergamentdünnen Lider und manchmal auch ihre Lippen, doch der Arzt oder die Schwester, die sich dann gespannt über sie beugten, wurden immer wieder enttäuscht. Gloria erwachte nicht. Am siebenten Tag, im Morgengrauen, starb sie, ohne das Bewußt sein wiedererlangt zu haben. Ihr Körper bäumte sich noch ein einziges Mal auf. Ein Atemzug, tief und rasselnd, weitete ihre Brust. Und dann lag sie ganz still. Es war vorbei. Und es war niemand da, der in der letzten Minute, in dieser letz ten Sekunde ihres Lebens, einen Gedanken, ein Gebet für sie ge habt hätte. Ein anderes Krankenzimmer im gleichen Hospital war an diesem Morgen mit der Hoffnung des Lebens erfüllt. Blumen, gelb, rot und blau, standen auf der weißlackierten Fens terbank. Die Scheiben blitzten in der frühen Sommersonne. Und selbst von den blaßgelb gestrichenen Wänden schien ein 202
Leuchten auszugehen. Es war der dritte Morgen, an dem Horst Rixen ohne Fieber er wachte. Und er fühlte sich zum erstenmal nicht mehr kraftlos und ausgelaugt, sondern wohl, ausgeruht und wußte, daß er wieder ge sunden würde. Als die Schwester ihm das Frühstück brachte, verschlang er alles mit neugewonnenem Appetit; ein pflaumenweich gekochtes Ei, Toast, Honig, Milch und Kaffee. Die Schwester lachte, es machte ihr Spaß, ihm zuzusehen. Und sie versprach, den Arzt gleich vorbeizuschicken, damit er den Be such erlaube, nachdem es Horst mehr als nach allem anderen ver langte: Karen. Sie war hell durch seine Fieberträume geglitten, und er hatte ihr sanftes Gesicht beschworen, wenn er darum rang, ins Bewußtsein zurückzukehren. Er mußte sie sehen. Bald. Schnell. Um bestätigt zu bekommen, daß er leben würde. Und noch einmal ganz von vorn anfangen. Er wußte nicht, was aus Gloria geworden war. Und er wollte auch jetzt nicht daran denken. Das würde später sowieso kommen. Aber es war schon jetzt nicht mehr wichtig. Wichtig war Karen. Wichtig war Naty. Und wichtig war, daß sie alle zusammen nach Deutschland zurückkehren würden. Er dachte auch an seine Arbeit. An seine Malerei. Er sah es nun ein: Er hatte sich jahrelang selbst getäuscht. Er war begabt. Aber zu dem großen Durchbruch als Maler, zur Karriere, zum Ruhm würde es nie reichen. Und warum auch? Er lächelte sich selbst im Spiegel an, während er sich rasierte. Die Schwester hatte zwar lachend protestiert, ihn aber doch gewähren 203
lassen, und zum erstenmal seit sieben Tagen war er nun aufgestan den und rasierte sich. Er wollte für die Werbung arbeiten. Und vielleicht nebenbei ein bißchen als Karikaturist. Und er wollte Kinderbücher illustrieren, wie früher, bevor er Gloria kannte. Sie hatte diese Arbeiten als sei ner unwürdig bezeichnet, ihm eingeredet, er sei zu Höherem beru fen, bis er es selbst glaubte. Aber auch davon war er jetzt frei – wie von ihr. Das Leben ist leicht, dachte er, man muß nur seine eigenen Gren zen kennen. Dann wird alles einfach und klar. Genau das sagte er auch Karen, als sie anderthalb Stunden später kam, schmal und kühl anzusehen, in einem blaßblauen Leinenkleid an seinem Bett stand. »Du bist so ruhig, du siehst so zufrieden aus«, sagte sie, und ihre Augen waren die eines ganz jungen Mädchens, staunend und fra gend. »Gib mir deine Hand«, sagte er und streichelte die schmalen Fin ger mit den ungelackten Nägeln. »Das habe ich früher nie getan, damals in München. Weißt du, du warst so kühl und so selbst sicher, und ich hatte einfach nicht den Mut dazu. Wirst du bei mir bleiben? Bei mir und Naty?« »Wenn du es willst«, sagte sie. Der Hals wurde ihm plötzlich ganz eng. Er brachte kein Wort mehr heraus. Er konnte nur nicken. »Naty, willst du es auch?« fragte er schließlich das kleine Mäd chen, das neben Karen stand und noch keine Sekunde lang ihre Hand losgelassen hatte. Naty nickte heftig. »Na klar!« Sie strahlte. »Ich finde es ganz pri ma.« Sie lachten alle drei. Und sie alle drei sahen einander mit glück 204
lichen Augen an. »Wenn ich erst einmal hier herauskomme, dann wird alles an ders«, begann Horst seine Pläne zu erläutern. Sie zauberten ein sanf tes, weiches Lächeln um Karens Mund, und Naty hörte so gespannt zu, daß man zu sehen meinte, wie sich ihre Ohren spitzten. Keiner von ihnen dachte an diesem Morgen an Gloria. An Gloria, die gestorben war. Die mit dem selbstgewählten Tod für ihre Sünden büßte. Am Nachmittag besuchte Kommissar Lion noch einmal das Haus in der Rue Jean-Jacques, Nummer zwölf. Er lächelte sowieso selten, und so fiel Karen seine ernste Miene zuerst nicht auf. »Kommen Sie doch herein, Monsieur.« Karen bat ihn in den Wohnraum, in dem die Vasen wieder mit frischen, leuchtend bun ten Blumen gefüllt waren. »Sie wissen, daß Madame Rixen sich durch ihren Sturz aus dem Fenster meines Büros gefährlich verletzt hatte«, begann der Kom missar. »Ja«, sagte Karen. »Ich habe Koffer im Flur gesehen, Mademoiselle. Gehe ich rich tig in der Annahme, daß Sie abreisen wollen?« »Ich hoffe, daß Horst – ich meine, Herr Rixen, in den allernächs ten Tagen aus dem Krankenhaus entlassen wird. Wir wollen dann so bald wie möglich nach Deutschland zurückkehren.« »Ich verstehe«, sagte der Kommissar. Er räusperte sich. »Übri gens – Madame Rixen ist tot.« Er sah, wie Karen um die Mundwinkel herum blaß wurde. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, sagte sie. »Ich dachte, es ist besser, wenn ich es Ihnen zuerst sage.« Der Kommissar betrachtete angelegentlich seine Fingerspitzen. 205
»Haben Sie – haben Sie noch das Geständnis von ihr bekom men?« fragte Karen. »Nein.« Lion schüttelte den Kopf. »Sie hat bis zur letzten Minute versucht, alle Schuld zu leugnen. Sie beschuldigte Monsieur Rixen des Mordes an Manon Monbeau.« »Aber das glauben Sie doch nicht?« fragte Karen rasch. »Nein, keine Sorge, Mademoiselle. Ich glaube es nicht. – Werden Sie es ihm sagen?« »Ja«, erwiderte Karen. »Und übrigens – die Beerdigung ist übermorgen.« Karen fuhr noch einmal ins Krankenhaus. »Du«, sagte Horst überrascht und glücklich. Er nahm ihre Hand und legte sie an seine Wange. Das Buch, in dem er gelesen hatte, glitt vom Bett, fiel zu Boden. »Du machst ein so ernstes Gesicht«, sagte er. »Es tut mir leid, aber Gloria ist tot.« Für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelten sich seine Augen, sie spürte, daß die Hand, die ihre hielt, mit einemmal sehr heiß war. »Es – es ist schlimm«, sagte er, »aber – ich – ich empfinde nichts dabei. Wahrscheinlich ist es auch besser so – für sie.« Er ließ Karens Hand los, wandte das Gesicht ab. »Bitte tu mir einen Gefallen«, sagte er mit plötzlich sehr müde klingender Stimme, »laß uns nie mehr darüber sprechen.« Zweifel. Zweifel in der Nacht. Schlaflos im Schlund der Zeit, vertickende Stunden. Kann man auf dem Unglück eines anderen Menschen sein ei genes Glück aufbauen? 206
Kann man wirklich vergessen? Kann Horst vergessen? Wird er nicht eines Tages mich für alles verantwortlich machen? Wenn ich nicht in Port St. Marie aufgetaucht wäre, wenn ich nicht ihm und Lion gegenüber Gloria als Komplizin von Paul Kam mer entlarvt hätte, vielleicht wäre ihr Plan gelungen, jemand anders für sich selbst sterben zu lassen. Unterzutauchen, der Rache Kam mers zu entkommen, die er geplant haben muß. Um eines Tages, irgendwann einmal, mit dem Mann, den sie liebte, wieder vereint zu sein. Denn Gloria hat Horst geliebt. Und Horst hat sie geliebt. Denk an den Tag in München, als du ihn zufällig wiedersahst und er dir von Gloria erzählte… Er hat sie geliebt. Aber er hat eine Mörderin geliebt. Gloria hat einen Mord begangen. Karen zitterte vor Kälte auf der Couch im Wohnzimmer, obwohl im Kamin noch ein Feuer gloste. Sie brachte es nicht über sich, oben in dem Zimmer zu schlafen, in dem einmal Gloria und Horst ihre Nächte verbracht hatten. Horst hat gesagt, daß ihm Glorias Tod nichts ausmacht. Aber er hat auch gesagt, daß wir nie wieder darüber sprechen wol len. Vielleicht kommt er nie darüber hinweg? Vielleicht wird er sie nie vergessen? Ich habe Horst zu lange geliebt, dachte Karen, ich habe ihn zu lange ohne Hoffnung und ohne Erfüllung geliebt. Ich kann mich jetzt nicht mit Halbheiten zufriedengeben. Ich kann es einfach nicht! Sie weinte hilflos und verzweifelt. »Tante Karen?« fragte Naty von der Tür her. »Tante Karen, wa rum weinst du denn?« Da stand das kleine Mädchen mit vom Schlaf zerzaustem rotem 207
Haar, das Nachthemd flappte um die langen Beine. »Tante Karen!« Sie kam herübergelaufen und warf sich auf die Couch, umschlang Karen mit den dünnen Armen. »Du brauchst doch nicht zu weinen«, sagte sie. »Der Vati hat dich lieb, und ich hab' dich lieb, und zusammen sind wir doch eine richtige Familie. Oder glaubst du das etwa nicht?« »Doch«, sagte Karen, »doch, ich glaube dir ja.« »Na siehst du, dann wein auch nicht mehr so doll.« Naty ver suchte ungeschickt, Karens Tränen mit einem Zipfel ihres Nacht hemdes zu trocknen. »Weißt du was«, sagte sie, »ich schlafe diese Nacht bei dir, dann bist du nicht allein, und ich bin nicht allein.« Sie kroch unter die Decke, kuschelte sich an Karen. Karen begann ihr Haar zu streicheln, das kleine Mädchen lag ganz still. Erst nach einer Weile sagte es: »Weißt du, warum ich runterge kommen bin?« »Nein«, sagte Karen. »Ich habe an meine Mami denken müssen. Wo sie jetzt wohl ist? Weißt du, ich glaube, sie ist über das Meer gefahren, weit, weit über das Meer. Sie hat nämlich oft zu mir gesagt, eines Tages fahren wir weit, weit übers Meer in ein Land, wo immer die Sonne scheint.« Und dann mit einer Stimme, die kaum mehr vernehmbar war: »Weißt du, Tante Karen, ich habe in letzter Zeit immer so viel Angst vor Mami gehabt, daß ich sie gar nicht mehr liebhaben konnte. Manchmal hab' ich gedacht, ich bin gar nicht ihr Kind. Verstehst du das, Tante Karen?« »Ja«, sagte Karen. Sie mußte sich räuspern. »Aber du darfst nicht traurig sein, deine Mutter hat dich bestimmt liebgehabt. Und du hast recht, sie ist über ein weites, weites Meer gefahren.« »Siehst du, ich hab' es genau gespürt.« Und wieder nach einer Weile: »Tante Karen, lehrst du mich, wie 208
man einen Brief schreibt? Dann kann ich ihr doch mal einen Brief schreiben, nicht?« »Ja«, sagte Karen, »ich werde dich lehren, wie man einen Brief schreibt.« Und sie dachte: Es muß Zeit vergehen, viel, viel Zeit vergehen, ehe wir alle Gloria vergessen können. Es regnete. Der Friedhof lag weit draußen vor der Stadt. Es gab keine Andacht in der Kapelle. Nur ein kurzes Gebet des blassen, noch sehr jungen Priesters. Zwei Männer in schwarzen Anzügen karrten den Sarg zum Grab. Die rote Erde war grau vor Nässe. Es gab keine Trauernden. Es gab keine Kränze. Und auch Karen hatte keine Blumen mitgebracht. Stumm stand sie am Grab, als der Sarg an den Seilen hinunter gelassen wurde. Stumm warf sie eine Handvoll Erde darauf. Sie senkte den Kopf, als der Priester betete. Er verabschiedete sich mit undeutlich gemurmelten Beileidswor ten, ging rasch davon. Die beiden Männer in den schwarzen Anzügen traten im Hinter grund ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Sie trugen Schuhe, die den ungewohnten Regen durchließen. Karen hielt den Kopf gesenkt, und sie betete. Gloria war schlecht gewesen. Gloria war eine Verbrecherin gewe sen. Sie hatte einen Mord begangen. Aber dennoch war sie ein Mensch gewesen – und sei es auch nur in ihrer Schwäche, der Liebe zu Horst Rixen. Horst Rixen hatte Karen gebeten, nicht in das Haus in der Rue Jean-Jacques zurückkehren zu müssen, wenn er aus dem Hospital entlassen würde. 209
Sie hatte zwei Zimmer im Hotel Monfort gemietet, für die letzte Nacht vor ihrer Abreise nach Deutschland. Den letzten Nachmittag verbrachte sie mit Naty in der Ca margue. Das Kind hatte so inständig darum gebettelt, den blinden Monsieur Tatu noch einmal zu besuchen, daß weder Horst noch Karen es ihm abschlagen konnten. Und so war Horst allein, als ein älterer Herr sein Hotelzimmer betrat. Horst erhob sich langsam aus dem Sessel vor dem Schreibtisch, wo er Dokumente geordnet hatte. »Bonjour?« sagte er fragend. »Guten Tag, Herr Rixen«, sagte der ältere Herr, der sich auf einen Malakkastock stützte. »Sie sprechen Deutsch?« fragte Horst verwundert. »Mein Name ist Paul Kammer«, sagte der andere. »Paul Kammer!« Das Blut schoß Horst zum Herzen, er bekam sekundenlang keine Luft. Instinktiv zuckte seine Hand zum Schreib tisch, tastete nach dem Telefon. »Nicht«, sagte Kammer und war mit wenigen Schritten bei ihm. »Lassen Sie uns in Ruhe miteinander sprechen.« »Ich wüßte nicht…« »Doch, Herr Rixen. Es gibt eine Menge, die wir zu besprechen haben. Und bitte, nehmen Sie doch auch wieder Platz. Ich weiß, Sie sind gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen…« »Was wollen Sie?« fragte Horst und blieb stehen. »Wie kommen Sie überhaupt hierher?« »Ich muß mit Ihnen über Gloria und über meine Tochter spre chen.« »Gloria ist tot.« »Ich weiß.« »Sie scheinen sehr viel zu wissen.« »Allerdings«, sagte Kammer ruhig. »Und Sie sollten mich wirklich 210
in Ruhe eine Weile anhören.« Er ging zu einem anderen Sessel, setzte sich. Zog ein Zigaretten etui heraus, zündete sich eine Zigarette an. Horst sah, daß Kam mers Hand nicht ganz sicher war. »Also?« fragte er. »Ich wurde vor knapp vier Wochen aus dem Zuchthaus entlassen. Ich hatte acht Jahre für einen Raubzug verbüßt, an dem Gloria be teiligt war. Sie hielt offenbar das Warten auf mich nicht aus und verließ Frankfurt. Sie tauchte in München auf und lernte Sie ken nen. Den Rest wissen Sie selbst.« »Allerdings«, sagte Horst bitter. »Ich nahm Glorias Spur auf und kam nach Arles und Port St. Marie. Da war der Mord schon passiert und Gloria verschwunden. Und mit ihr die Beute.« »Falls Sie glauben, daß ich die Juwelen habe…« Horst schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts damit zu tun.« »Wirklich nicht? Es gab da einen Beutel voll ungefaßter Steine.« »Das ist möglich, aber ich weiß nichts davon«, sagte Horst be stimmt. Er spürte, daß Kammer ihn prüfend anschaute, hob den Kopf, sah ihm direkt in die Augen. »Nun gut«, sagte Kammer, »ich glaube Ihnen. Und das macht auch schon gar nichts mehr aus. – Aber etwas anderes ist mir sehr wichtig. Ich habe mich entschlossen, in Zukunft ein – bürgerliches Leben zu führen.« Er lächelte wie um Entschuldigung bittend. »Es mag Sie sonderbar anmuten, aber dafür gibt es einen wichtigen Grund.« Horst sagte nichts. »Meine Tochter Renate«, sagte Kammer. Horst mußte sich setzen, die Beine trugen ihn nicht länger. Er spürte, wie ihm kalter Schweiß auf dem Rücken ausbrach. »Ich möchte Sie bitten, mir mein Kind zurückzugeben«, sagte 211
Kammer. »Nein«, sagte Horst, »nein, niemals! Ich habe Naty adoptiert. Sie ist mein Kind, sie ist meine Tochter. Ich habe sie erzogen. Ich habe für sie gesorgt.« »Aber ich bin ihr rechtmäßiger Vater.« »Das interessiert mich nicht!« Kammer erhob sich langsam. In seinen Augen war ein kalter, grausamer Glanz. »Ich werde Mittel und Wege finden, um mein Kind zu mir zurückzuholen«, sagte er und betonte dabei jedes Wort.
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F
eindselig standen sich die beiden Männer gegenüber, in einem Hotelzimmer in Arles. Horst Rixen und Paul Kammer. Beide durch die Schuld Glorias an einer bitteren Zwischenstation ihres Lebens angelangt. Rixen eben noch voller Hoffnung auf die Zukunft. Kammer entschlossen, diese Hoffnung zu erlangen durch sein Kind, Naty. »Sie wissen, daß eine Adoption endgültig ist«, sagte Horst Rixen und hörte selbst, wie hart, aber auch spröde seine Stimme klang. »Und selbst wenn Sie die Absicht hätten, sie anzufechten, ich glau be kaum, daß irgendein Gericht zu Ihren Gunsten entscheiden könnte.« »Ich habe ein Verbrechen mit acht Jahren Zuchthaus gebüßt. Seither habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen.« 212
»Naty weiß nicht einmal, daß Sie existieren«, sagte Horst. »Aber das ändert nichts daran, daß ich ihr Vater bin.« »Sie können doch nicht Ihren eigenen Egoismus über das Wohl eines Kindes stellen.« »Was für ein Leben werden Sie ihr denn schon bieten«, sagte Kammer verächtlich. »Was sind Sie denn schon? Ein verkrachter Künstler, der auf die Gnade seiner Frau angewiesen war. Und Sie haben ja sogar schon einen Ersatz für Gloria gefunden.« Horst ballte die Hände zu Fäusten. Das Blut stieg ihm heiß, schwindelerregend zu Kopf. »Gehen Sie!« preßte er hervor. »Gehen Sie, oder ich rufe die Po lizei!« »Sie sind ein Feigling«, sagte Paul Kammer. »Sie können noch nicht einmal mit einer Situation allein fertig werden.« »Gehen Sie«, wiederholte Rixen. Er wußte, er würde nicht mehr lange stehen können. Er wußte, er würde sich nicht einmal mehr verteidigen können; er war noch zu schwach, zu erschöpft – und nicht aus Feigheit. Kammer setzte sich wieder. Ein Lächeln spielte um seine ge schlitzten grünen Augen. »Ich werde warten, bis meine Tochter zu rückkommt«, sagte er. »Sie soll doch wenigstens endlich erfahren, wer ihr Vater ist, nicht wahr?« Schritte auf dem Flur, Stimmen, Natys helles Lachen. Die beiden Männer sahen sich an. Beide mit einemmal sehr blaß. »Bitte«, sagte Rixen, aber weiter kam er nicht. Die Tür sprang auf. Naty stürmte herein. »Vati, sieh mal, was ich dir mitgebracht habe…« Sie schwang einen Kranz silbriger Knob lauchzwiebeln. Aber da gewahrte sie den Fremden, und ihr Lachen brach ab. 213
»Bonjour«, sagte sie höflich, und ihr Blick glitt fragend zu Horst. Hinter ihr erschien Karen. »Karen, geh bitte mit Naty in dein Zimmer!« Es war ein Befehl. Aber ehe Karen noch die Hand nach dem Kind ausstrecken konnte, hatte Kammer sich erhoben. Er ging auf das kleine Mädchen zu. Er streckte die Hand aus. Höflich, aber ein wenig zögernd, weil sie instinktiv die Spannung spürte, legte Naty ihre kleine Hand hinein. »Bonjour, ma petite«, sagte er auf französisch. »Bonjour, Monsieur«, wiederholte das Kind. »Nun – hat sich der blinde Monsieur Tatu über deinen Besuch gefreut?« »Jawohl, Monsieur – aber woher wissen Sie davon?« »Dein Vater hat mir von deinen vielen Abenteuern in den letzten Wochen erzählt.« Kammers Stimme schwankte, er räusperte sich. »Ja, es war ziemlich aufregend«, sagte Naty ernsthaft. »Sind Sie ein Freund meines Vatis, Monsieur?« »Nein, mein Kind.« Paul Kammer schüttelte lächelnd den Kopf. »Nur ein flüchtiger Bekannter.« Er ließ Natys Hand los und hatte das Zimmer verlassen, ehe Horst oder Karen noch ein Wort her vorbringen konnten. »Wer war denn das?« fragte Naty verwundert. »Nur ein flüchtiger Bekannter«, sagte Horst, er wußte, sie würden Paul Kammer nie wiedersehen. Horst Rixen traf am anderen Morgen, ehe sie Arles verlassen woll ten, noch einmal mit Kommissar Lion zusammen. Sie saßen sich ein wenig verlegen, ein wenig befangen in Lions Büro gegenüber. Sie sprachen über dies und das, hatten beide das Gefühl, daß die ses Treffen eigentlich überflüssig sei. 214
Schließlich kam Lion auf das Haus in der Rue Jean-Jacques zu sprechen. »Sie wissen, daß es Ihnen als Erbe Ihrer Frau gehört?« fragte er. »Soweit ich die rechtliche Lage übersehe, könnte niemand Sie daran hindern, es weiter zu bewohnen oder zu verkaufen.« »Aber es ist doch anzunehmen, daß – Gloria das Haus mit Mit teln erwarb, die aus dem Verkauf der gestohlenen Juwelen stamm ten?« wandte Horst ein. »Anzunehmen, ja, doch rechtlich kaum zu beweisen. Das Haus, Monsieur, gehört also Ihnen.« »Ich will es nicht«, sagte Horst einfach. »Wenn – wenn es jeman dem zusteht oder nützen könnte, dann den Monbeaus. Ja, die Monbeaus sollen es bekommen.« »Das müßten Sie notariell festlegen, Monsieur.« »Kann ich das von Deutschland aus tun?« »Natürlich«, sagte Lion. »Gut, es wird das erste sein, was ich zu Hause veranlasse.« Horst Rixen erhob sich. »Ich nehme an, das war alles?« »Ja, Monsieur Rixen.« Die beiden Männer gaben sich die Hand. »Adieu und trotz allem – bon voyage«, sagte der Kommissar lä chelnd. Bon voyage. Gute Reise. Eine Reise in die Zukunft. Sie ließen eine Vergangenheit zurück, an die sie nicht mehr den ken wollten, die sie zu vergessen hofften. Der junge Mann, die junge Frau und das Kind. Zu dritt saßen sie vorn in Karens kleinem Sportwagen. Gelb und grün unter dem hohen blauseidenen Himmel flog das Land vorbei, während sie nordwärts fuhren. 215
Ein Land, in das Horst Rixen ausgezogen war, das Glück zu su chen. An der Seite Glorias war es ihm nicht gelungen. Das Glück würde in Zukunft ein helles, sanftes Gesicht tragen. Seine Hand berührte Karens Schulter. Sie wandte den Kopf und lächelte ihm zu. »Ihr seid so still«, sagte Naty, »warum redet denn keiner von euch.« »Wir haben Hunger«, logen beide wie aus einem Mund. Und sie alle drei lachten. Aber Karen dachte, solange das Kind bei uns ist, ist es gut. Doch was wird sein, wenn Horst und ich allein sind? Heute abend? Mor gen? Wie sollen wir unbeschwert sein? Sie gestand sich ein, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben wirk lich ratlos, hilflos war. Und der Abend kam für sie im Jura. Pappeln warfen lange Schatten über die Straße, dann versank die Sonne hinter den Hügeln. Naty schlief, den Kopf an Horsts Arm gelehnt. Ihre linke Hand lag auf Karens Knie. Der glatte Asphalt hörte mit dem nächsten Ortsschild auf, buck liges Kopfsteinpflaster begann mit den efeuberankten Hofmauern eines Dorfes. Neonleuchten und alte Gaslaternen, grünbelaubte, uralte Platanen und späte Kastanien, die ihre Kerzen rot und weiß wie starre Wachs lichter trugen. Ein paar junge Leute lungerten um einen moosbe wachsenen Brunnen herum. Gammler, wie man sie heutzutage überall trifft. Sie haben die alten Männer mit der Baskenmütze und der ewigen Gauloise im Mundwinkel verdrängt. »Wir sollten hier irgendwo ein Hotel finden und übernachten«, sagte Horst. 216
Karen lenkte den Wagen in eine Seitenstraße. Ein schmiedeeisernes Schild, das zwei behelmte Krieger zeigte, klapperte an einem rot und grau getünchten Haus im Wind. »Hotel la Reserve.« »Ich frage, ob sie etwas frei haben«, sagte Horst. Karen hielt den Wagen an. Vorsichtig schob Horst das Kind von sich fort, in Karens Arm. Sie lächelten sich an, sekundenlang jenseits von Zeit, Bedenken, Be wußtsein. Dann stieg er aus, sie sah ihm nach. Horst war mager geworden durch seine Krankheit, und dennoch schien sein Gang, seine Haltung kraftvoller als vorher. Im Schein der gelben Ampeln, die den Hoteleingang flankierten, sah Karen, wie graugefleckt sein Haar war. Eine Stunde später – nachdem sie Naty zu Bett gebracht hatten – stand Karen vor dem Spiegel im Bad, ließ wieder und wieder die Bürste durch ihr Haar gleiten und hatte nicht den Mut, zu Horst hinunterzugehen. Was sagen? Was tun? Wie die Befangenheit überspielen, die zwi schen ihnen sein mußte? Sie zündete sich eine Zigarette an, aber der Rauch kratzte sie im Hals. Sie wusch sich die Hände zum fünftenmal, um Zeit zu gewin nen. Selbstsicherheit, was für ein flüchtiges Wort! Hatte sie diese je mals besessen? Sie war blaß, legte Make-up auf, aber kam sich damit vor wie ein Clown. Sie wischte es wieder weg. Ihr war zumute wie vor Jahren, als sie gerade den Führerschein gemacht hatte und zum erstenmal ihren Wagen durch Münchens Verkehrschaos steuern sollte. Ein Türenklappen schreckte sie auf. Sie verließ endlich das Bad und trat in ihr Zimmer. 217
Sie sah ihn am Fenster stehen, eine dunkle Silhouette gegen den helleren Abendhimmel. Und sie machte kein Licht. »Ich habe es unten nicht ausgehalten«, sagte Horst. »All die frem den Menschen.« »Vielleicht können wir hier oben essen«, sagte sie. »Karen, bitte komm her zu mir.« Sie ging zu ihm, Schritt für Schritt. »Karen«, sagte er und hob die Hände, legte sie um ihre Schultern, ließ sie an ihren Armen hinuntergleiten. »Karen«, flüsterte er, »bitte, sag nicht, daß erst Zeit vergehen muß, bitte, halt mich nicht hin.« Seine Augen waren ganz dunkel, sie konnte ihren Ausdruck nicht erkennen. Die grauen Flecken in seinem Haar schimmerten fast weiß. »Ich will alles tun, was du willst«, sagte sie. Er preßte ihre Hände, hob sie an sein Gesicht. »Glaub nicht, daß du – nur ein Ersatz für Gloria…« »Bitte sprich nicht weiter«, sagte Karen. »Bitte zerrede es nicht. Ich habe mir diesen Abend, diese Stunde, diese Minute mein Leben lang gewünscht.« »Weißt du, ich dachte zuerst, alles, was ich in den letzten Wo chen erlebte, macht mich kaputt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich – ich glaube, ich bin wieder ich selbst geworden.« Sie kam in seine Arme, und sie legte ihr Gesicht an sein Gesicht, und sie standen eine Weile lang regungslos. Sie lauschten einer auf den Atem des anderen, und sie waren es zufrieden. »Ich brauche dich«, sagte Horst. »Ich brauche dich«, sagte Karen. »Wir werden es schaffen, das neue Leben«, sagte er. »Ja, wir werden es schaffen«, sagte Karen. »Du, Naty und ich.« Und da waren keine Zweifel mehr und keine Befangenheit und 218
keine Angst zwischen ihnen.
Da war nur noch das Vertrauen auf die Zukunft.
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