Jean Grondin
Einführung zu Gadamer
Mohr Siebeck
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Jean Grondin
Einführung zu Gadamer
Mohr Siebeck
UrIB
UTB 2139
FtJRWISSEN SCHAFf
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage
Wilhelm Fink Verlag München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Paul Haupt Verlag Bern . Stuttgart . Wien Hüthig Fachverlage Heidelberg Verlag Leske + Budrich GmbH Opladen Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen Quelle & Meyer Verlag Wiebelsheim Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn . München' Wien' Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen und Zürich WUVWien
ist Professor für Philosophie an der Universite de Montreal. Gastprofessuren in Lausanne (1998-2000) und Nizza (1998). Mitglied der Academie des lettres et des sciences der Societe Royale du Canada. Killam Fellow (19941996). Bücher (u. a.): Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers (1982; 2. Aufl. 1994); Le tournant dans la pense de Martin Heidegger (1987); Kant et le probleme de la philosophie; l'a priori (1989); Einführung in die philosophische Hermeneutik (1991; 2. Aufl. 2001); L' horizon hermeneutique de la pensee contemporaine (1993); Der Sinn für Hermeneutik (1994); Kant zur Einführung (1994); Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie (1999). Herausgeber des Gadamer-Lesebuches und Übersetzer von Gadamer auf Französisch.
JEAN GRONDlN
FRANK REBMANN, Tübingen, hat das Manuskript sprachlich durchgesehen und das Register erstellt.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-EilZheitsallfllahme Grondin,Jean: Einführung zu Gadamer I Jean Grondin. - Tübingen : Mohr Siebeck, 2000 (UTB für Wissenschaft : Uni-Taschenbücher; 2139) ISBN 3-8252-2139-3 (UTB) ISBN 3-16-147274-8 (Mohr)
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Satz: Computersatz Staiger, Pfäffingen; Druck: Presse-Druck, Augsburg; Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
© 2000
ISBN 3-8252-2139-3 UTB Bestellnummer
Frau Kläre Riedel-Rühle in Dankbarkeit
Inhalt
Einleitung ................. : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Leben und Werk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
1. Das Problem der Methode und die Idee einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik Wie kann der Anfang der Hermeneutik gemacht werden? Ein Rilkegedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen und Geschehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Destruktion der Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Methodenproblem und die humanistische Tradition. . Die kantische Wende ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants Grundlegung der Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Geschmack- zur Genieästhetik . . . . . . . . . . . . . . Die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins
22 . . . . . . .
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2. Die Wahrheit von der Kunst her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Kritik an der Subjektivierung der Kunst: das Spiel der Kunst ist ein ganz anderes ......... . . . . . . .. Die Kunst als verwandelnde Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Wiedererkenntnis der mimesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die festliche Zeitlichkeit des Kunstwerkes . . . . . . . . . . . . . . . .. Die exemplarische Bedeutung der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . .. Die Darstellung in den nichttransitorischen Künsten ......... Die Übergangsstellung der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutische Konsequenzen aus der Wahrheit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
3. Die Destruktion der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts ...............................
22 26 30 32 40 45 48
51 56 56 61 66 69 72 74 80 83
86
Die Kritik an der romantischen Ausdruckshermeneutik . . . . . .. 86 Die Selbstauslöschung der historischen Schule . . . . . . . . . . . . .. 96 Die drei Aporien Diltheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 103 Der phänomenologische Durchbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
VIII Inhaltsverzeichnis
4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 125 Die Konstellation des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Vorurteile und die Sache selbst: eine Aporie? . . . . . . . . . . .. Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Prinzip der Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins . . .. Der unvordenkliche Charakter der Tradition und das Beispiel des Klassischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Das Grundproblem der Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die ethische Wachsamkeit von Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Weisheit der juristischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . .. Die wiedergefundene Einheit der hermeneutischen Disziplinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Luftspiegelungen der Reflexion und das Gespenst des Relativismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Offenheit des hermeneutischen Bewußtseins . . . . . . . . . . ..
125 134 140 144 146 152 158 164 171 174 178 187
5. Das Gespräch, das wir sind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 193 Unterwegs zur unheimlichen Nähe der Sprache. . . . . . Von der platonischen Sprachvergessenheit zu ihrer augustinischen Freilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Begriffsbildung und die Universalität der Rhetorik Die Wahrheit des Wortes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die spekulative Wahrheit der Sprache .. . . . . . . . . . . .
. . . . . .. 193 . . . .
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205 217 225 230
Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Der universale Aspekt der Hermeneutik oder die Universalität des Aspektes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 234 Die Hermeneutik als Metaphysik der Endlichkeit. . . . . . . . . . .. 237
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 247 Die Ausgabe der Gesammelten Werke . . . . . . Wichtige Bücher, die einzeln erschienen sind. Gadamer in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . Zu Betti. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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247 249 249 249
Zu Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 250 Zu Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Wichtige Interviews Gadamers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 251
Inhaltsverzeichnis Einschlägige Sekundärliteratur zu Gadamer . . . . . . . . . . . . . . .. Sammelbände und Zeitschriftenhefte, die Gadamer (bzw. der Hermeneutik) gewidmet sind . . . . . . . . . . . . . . . .. Zur Ästhetik von Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Zum Wahrheitsbegriffbei Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Sprache bei Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur über die Gadamer-Habermas-Debatte . . . . . ..
IX 253 255 256 257 257 258
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 261
Abkürzungen:
GA
Gesamtausgabe von Martin Heidegger, Frankfurt a. M., Vittorio Klostermann, seit 1975.
GW
Gesammelte Werke von Hans-Georg Gadamer, in 10 Bänden, Tübingen, Mohr Siebeck, 1985-1995.
HGG
Hans-Georg Gadamer.
KSA
Kritische Studienausgabe von Friedrich Nietzsche, in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio CoUi und Mazzino Montinari, 2. Aufl., München/Berlin/New York, dtv/de Gruyter, 1988.
LB
Gadamer Lesebuch, Tübingen, Mohr Sieb eck, 1977.
PL
HGG, Philosophische Lehrjahre, Frankfurt a. M., Klostermann, 1977.
SZ
Mattin Heidegger, Sein und Zeit, zitiert nach der Originalpaginierung von 1927.
TPHGG
The Philosophy cif Hans-Georg Gadamer, The Library ofLiving Philosophers, XXI, hrsg. von L E. Hahn, La SaUe, Illinois, Open Court Publishing, 1997.
WM
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), in GW 1,1986.
[ ... ]
Textauslassung in einem Zitat.
Einleitung Hans-Georg Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg geboren, genau 250 Jahre nach dem Tode von Rene Descartes, der am 11. Februar 1650 starb. Das ist natürlich der reinste Zufall, aber ein sehr glücklicher, denn man hört unschwer einen Bezug auf Descartes' Wirkungsgeschichte im Titel von Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode heraus. Descartes ist zweifelsohne der Begründer des Methodengedankens, auf dem die neuzeitliche Wissenschaft beruht. Nach Descartes muß das gesamte Gebäude des Wissens methodisch geprüft und auf gesicherte Fundamente gestellt werden: Das aus Vorurteilen und Tradition gespeiste Wissen wird verdächtig, weil sich seine Grundlagen keiner unerschütterlichen Gewißheit verdanken. Das Fundament sowie das Modell dieser Gewißheit wird Descartes in der Evidenz des cogito, des »ich denke«, finden, das unbezweifelbar festssteht, solange ich es mir wiederhole und von seiner Gewißheit erfüllt bin, selbst dann, wenn ein böser Geist mich betrügen will. Die tabula rasa des neuzeitlichen Methodenwissens verspricht damit einen absoluten Neubeginn, der von einer beharrlichen Gewißheit ausgeht. Nach der selben Klarheit müssen alle Sätze der Wissenschaft dem Beispiel der Geometrie folgend abgeleitet werden. Nur so wird das Wissen aufhören, sich auf Voreingenommenheit und bloß angenommene Autorität zu gründen. Von Gadamers gesamtem Opus läßt sich sagen, daß es, im Gegensatz zu diesem neuzeitlichen Methodenwissen, von einem Zweifel gegenüber einer universellen Ausweitung der Methodenidee als alleinigem Zugang zur Wahrheit ausgeht. Gadamers Absicht geht natürlich nicht dahin, die Methode selbst als Wahrheitsweg in Frage zu stellen. Er will vielmehr
2
Einleitung
ihre Grenzen markieren, weil ihr Monopolanspruch andere Wahrheitserfahrungen zu verdecken und unkenntlich zu machen droht. Um die Wiedergewinnung dieser Wahrheitserfahrungen und um ihre philosophische Legitimierung geht es im Werke Gadamers.Dabei stellt er zwei Grundvoraussetzungen des kartesianischen Unternehmens in Frage: 1. die Suche nach einem Wissen, das nach allen Seiten absolut klar und gesichert wäre, 2. die Annahme, daß sich der Schlußstein des Wissens ausgerechnet in der reflexiven Evidenz des sich selbst denkenden Denkens finden solle. Gegenüber diesem Anspruch, der die menschliche Erkenntnis stillschweigend nach der göttlichen ausrichtet, wird Gadamer geltend machen, daß das menschliche Wissen viel mehr von der Tradition und ihren Vorurteilen (»Wirkungsgeschichte« wird er diesen Fundus nennen) abhängig bleibt, als der Mensch sich einzugestehen bereit ist. Das Verwenden einer immer schon vorausgesetzten Sprache, das selbstverständliche Wohnen in ihrer Verständlichkeit bildet die prägnanteste Erinnerung daran. Die Wirkungsgeschichte verbietet es ferner, die Selbstdurchsichtigkeit des Bewußtseins als einen absoluten Ausgangspunkt zu nehmen. Darin folgt Gadamer stillschweigend den sogenannten Meistern des Verdachts, Nietzsche (1900 gestorben) und Freud (dessen grundlegende Traumdeutung 1900 erschien), die beide auf ihre Weise die Abgründe des Selbstbewußtseins zum Thema gemacht haben. Für Nietzsche und Freud ist das Selbstbewußtsein sogar konstitutiv von Illusionen durchtränkt (Gadamer wird bescheidener von einem von der Geschichte »erwirkten« Bewußtsein sprechen). Es ist jedenfalls alles andere als ein sicherer Ausgangspunkt. In beiden Fällen ist es also die menschliche Endlichkeit, die Gadamer mit seinem Lehrer Heidegger, aber auch mit Platon in Erinnerung ruft. Heidegger sieht nämlich in der Suche nach einem fundamentum inconcussum und seiner Errichtung im menschlichen »Subjekt« eine Flucht der zeitlichen Existenz vor sich selbst. Viele (einschließlich Heidegger!) sahen in Platon den Vater dieser metaphysischen Idee. Gadamer liest Platon vielmehr als einen, der daran erinnert, daß kein Gott philosophiert (Symposion 204 e) und daß das menschliche
Einleitung
3
Wissen stets von seinem Abstand (und nicht von seiner Angleichung) dem göttlichen oder absoluten Wissen gegenüber zu fassen ist. Es heißt also, die menschliche Endlichkeit zu vergessen, wenn man mit Descartes nach einem unerschütterlichen Fundament strebt und dieses im menschlichen· Wissen festmachen will. Es ist daher sehr verftihrerisch, in Gadamer einen »postmodernen« Denker zu sehen, der die Grundpfeiler der Moderne in Frage stellt. Aber das wäre ein Mißverständnis. Wer von Postmodernität spricht, bleibt nämlich auf kartesianischem Boden. Der Begriff der Postmodernität suggeriert ja gerade die Idee eines Neubeginns, einer tabula rasa, die es nach Gadamer nie geben kann. In geschichtsphilosophischer Hinsicht bleiben nach Gadamer die postmodernen Denker geheime Kartesianer. Sie bleiben es auch in ihrer Verabschiedung der Idee der Wahrheit, die mit ihrer systematischen Dekonstruktion der Methode einhergehen soll. Deshalb gibt es ftir sie lediglich Interpretationen oder Perspektiven und keine Adäquation der Erkenntnis mit der Wirklichkeit. Aber destruiert wurden dabei nur die Fundamente der kartesianischen Methodenwahrheit, nicht die Wahrheit als solche. Was Gadamer in Frage stellt, ist also nicht die Verbindung zwischen der Wahrheit und der Methode. Es ist so selbstverständlich, daß die Methode einen zuverlässigen Weg zur Wahrheit bietet, daß es lächerlich wäre, daran etwas aussetzen zu wollen (vgl. GW 2, 498). Fraglich ist allein der moderne und offenbar postmoderne Anspruch, daß Wahrheit nur auf diese Weise zu erreichen ist. Das kartesianische Vorurteil unserer Zeit resultiert vielleicht aus einer Vergessenheit der menschlichen Endlichkeit, d. h. einer Vergessenheit ihrer tatsächlichen Erkenntnismöglichkeiten und -vollzüge. Gadamers Werk will sie in Erinnerung bringen, um die Menschlichkeit unseres Wissens vor falschen Illusionen zu bewahren.
Leben und Werk
Das gesamte Werk Gadamersdreht sich - wie dies bei den meisten großen Denkern der Fall ist - um ein einzelnes Hauptwerk: Wahrheit und Methode, 1960 erschienen. Gadamer war gerade 60 Jahre alt. Es handelt sich sicherlich um ein Reifewerk, das aus langer Hand vorbereitet war. Aber angesichts Gadamers methusalemischer Lebenslänge und Produktivität ist man nach 40 Jahren nahezu versucht, es als ein Jugendwerk zu betrachten. Denn Gadamer hat vor 1960 relativ wenig publiziert. Er ist erst 22 Jahre alt, als er seine unveröffentlicht gebliebene, 116seitige Dissertation über »Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen« 1 schreibt. Am meisten hervorzuheben ist an dieser Dissertation nahezu der Umstand, daß sie von dem berühmten Neukantianer Paul Natorp (1854-1924) betreut wurde. Gadamer war einer seiner letzten Studenten. Natorp ist heute vor allem bekannt als Verfasser eines epochemachenden Buches über Platons Ideenlehre (1903). Das Buch ist berühmt fur seine kantische Lesart, die in Platons Ideen Vorahnungen für die apriorischen Methoden der Naturwissenschaft sehen wollte. Es ist leider weniger bekannt, daß Natorp diese Interpretation 1921 in einem Nachwort mit dem unkantischen Titel »Logos-Psyche-Eros« korrigierte. Er rückte nun die mystischeren Aspekte von Platon in den Vordergrund. Es ist anzunehmen, daß es auch diese
1 Für die folgenden bio- und bibliographischen Angaben verweise ich auf meine ausftihrlichere Darstellung: Hans- Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen, Mohr Siebeck, 1999.
Leben und Werk
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Seiten von Natorp sind, die Gadamer kennenlernte. Fasziniert wurde er von dem Interesse, das der späte Natorp Hir Musik, Dichtung und Poesie zeigte. So erinnert sich Gadamer, daß N atorp »manchmal sonntags einen Kreis in sein Haus ein[lud] und [ ... ] dort Dichtungen [las], vor allem Dramen von Ribindranath Tagore, deren mystischer Tiefsinn mich oft ganz erfüllte« (PL, 19). Das strenge neukantianische Milieu war aber sehr wohl das Element, in dem Gadamer seine erste philosophische Prägung erhielt. Bevor er sein Studium im Herbst 1919 in Marburg fortsetzte, hatte er drei Semester lang in Breslau studiert, wo sein Vater ein namhafter Professor rür pharmazeutische Chemie war. Dort studierte er u. a. bei dem Neukantianer Richard Hönigswald, 2 der - wie die meisten Neukantianer die systematische und methodische Ausrichtung der Philoso--: phie als Wissenschaft betonte. Wie auch immer man hie und da versuchte, sich von Kant zu emanzipieren, die Verpflichtung der Philosophie auf die Epistemologie und die Erkenntnistheorie blieb unerschüttert. Das galt übrigens selbst für die Ethik. Die kantische Ethik hatte es sichja zur Aufgabe gestellt, das moralische Gebot herauszustellen, das nach dem Vorbild eines »naturwissenschaftlichen Gesetzes« konzipiert war. Im Horizont des Neukantianismus fand diese »objektivistische« Moralkonzeption ihren Niederschlag in der Werteethik, die Gadamer bei seinem Marburger Lehrer und BefOrderer Nicolai Hartmann erkannte. Gadamer scheint aber von diesem epistemologischen Milieu nicht ganz angetan gewesen zu sein. Der Umstand, daß er sich bereits in seiner Dissertation rür Platon interessiert, zeugt davon. Denn bei Platon bleibt die Philosophie etwas Dichterisches und Musisches. Seit seinen Gymnasialjahren ist Gadamer ein begeisterter Liebhaber von Dichtung. Es 2 Zu Richard Hönigswald (1875-1947), vgl. den Band ErkennenMonas - Sprache. Internationales Richard-Hönigswald-Symposion Kassel 1995, hrsg. von W Schrnied-Kowarzik, Würzburg, Königshausen & Neumann, 1977 (mit einem Brief von Hö.nigswald an Gadamer von 1919).
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Leben und Werk
war damals insbesondere die Dichtung von Stefan George, die ihn - wie viele andere auch - ergriff und ihn dazu brachte, zunächst Germanistik an der Universität Breslau zu studieren. Bald genug wurde er aber von der dort herrschenden Formlehre abgeschreckt, so daß er sich für die Philosophie entschied, obwohl er weiterhin Literatur und Kunstgeschichte in Marburg (vor allem bei Richard Hamann) studierte. Dichtung vermittelt auch eine Erkenntnis, aber eine, die sich mit den Kategorien der an den Wissenschaften orientierten Erkenntnistheorie nicht beschreiben läßt. Schlimmer noch: die herrschende Erkenntnistheorie tendiert dazu, alles, was wie Dichtung oder Kunst aussieht, aus dem Reich der Erkenntnis zu verbannen. Gadamer wird darin eine enorme Blindheit sehen, als dessen Korrektur sich seine gesamte Philosophie verstehen läßt. Einen Einschnitt bildet kurz nach seiner Promotion die Polio erkrankung, die ihn im August 1922 befällt. Sie zwingt ihn, viele Monate in Quarantäne zu verbringen. Während seiner Rekonvaleszenz überläßt ihm sein Lehrer Natorp das Manuskript eines jungen Assistenten von Edmund Husserl in Freiburg, Martin Heidegger, den damals bereits eine große Fama umgibt. Allein durch die Kraft seiner Vorlesungen galt er als der steigende Stern oder gar der heimliche König der deutschen Philosophie. Aber dieser Ruf war (noch) nicht durch nennenswerte Publikationen gestützt. Deshalb hatte ihn Natorp gebeten, ihm einen Bericht seiner AristotelesArbeiten zu schreiben, um ihn auf ein Extraordinariat an der Universität Marburg berufen zu können. Der lange für verschollen gehaltene Bericht wird 1989 zufällig wiedergefunden, weil Heidegger ihn gleichzeitig an Georg Misch in Göttingen schickte, der auch die Kandidatur von Heidegger für eine Stelle ersucht hatte. Misch übergab seinem Schüler JosefKönig das Manuskript, in dessen Nachlaß es gefunden wurde. 3 3
Es wurde von Hans-Ulrich Lessing unter dem Titel »Phänomeno-
logische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation« im Dilthey-jahrbuch 6 (1989),237-269 veröffentlicht.
Leben und Werk
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Wir können heute unschwer in Heideggers Manuskript eine der Keimzellen von Sein und Zeit erkennen. Aber wir verfugen inzwischen über den Abstand einer gewaltigen, 80jährigen Heideggerrezeption, der uns an seine Art Fragen gewöhnt hat. Der halsbrecherische Text von 1922 traf die damaligen Leser völlig unvorbereitet! Georg Misch nahm auch Anstoß an seinem äußerst manieristischen Zuschnitt, so daß er Moritz Geiger, einen orthodoxeren Repräsentanten der Münchner Phänomenologie, für die Göttinger Stelle vorzog. Natorp und Gadamer fanden das Manuskript hingegen schlichtweg genial. Natorp betrieb daraufhin die Berufung von Heidegger nach Marburg, sicherlich ein Zeichen von großer Offenheit und Vorahnung für einen Gelehrten von nahezu 70 Jahren. Gadamer betrieb seinerseits seinen Wechsel nach Freiburg, um bei Heidegger zu studieren, sobald es seine Kräfte zuließen. Heideggers elektrisierende Prosa erinnerte ihn sofort an Verse von George (PL, 212). Er erkennt sich auch in Heideggers phänomenologischem Rückgang auf Aristoteles wieder, zumal er gerade über dessen Ethik arbeiten wollte. »Phänomenologisch« bezeichnet für Gadamer weder ein Arbeitsgebiet, noch eine Methode, sondern ein Wertprädikat: Damit ist ein mit Anschaulichkeit und Phänomenennähe verbundenes Denken gemeint. Endlich sieht da jemand, wovon Aristoteles spricht. Es ist diese phänomenologische Gabe, die Gadamer bei Heidegger am meisten begeistern wird (Heideggers »Dogmatik«, dies sei ohne abschätzendes Urteil gesagt, wird ihn weit weniger anziehen). Es gibt in der Tat etwas Dichterisches in Heideggers Sprachgenius. Gadamer begreift auch bald genug, daß diese Sprachfeinheit mit einer eklatanten Destruktion der überlieferten Kategorien des Aristotelismus, aber zugleich auch mit einer Destruktion der Erkenntnistheorie des Neukantianismus einhergeht: Idealismus, Realismus, usw. sind sachferne Etiketten, die den phänomenologischen Zugang zum Denken, ja zum Sehen von Aristoteles versperren. Dies verleiht der Heideggerschen Destruktion eine revolutionäre Tragweite, die den Erwartungen einer jüngeren Generation entspricht, die aus den Erfahrungen des
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Leben und Werk
Ersten Weltkrieges desillusioniert herausgekommen ist. Die Sinnlosigkeit der grausamen Materialschlachten stellt den Fortschrittsglauben der Wissenschaft in Frage,jener Wissenschaft, von der der Neukantianismus wie selbstverständlich ausging. Heidegger erschüttert nun all diese Fassadengewißheiten. Im April 1923, frisch verheiratet und damit endlich vom Elternhaus unabhängig, setzt Gadamer sein Studium in Freiburg fort. Der Zufall will es, daß Heidegger in diesem Semester eine Vorlesung zur »Hermeneutik der Faktizität« (GA 63) hält. Sie ist für uns eines der sprechendsten Zeugnisse desjungen Heidegger, der in Sein und Zeit (SZ, 72) selber seine gesamte Vorlesungstätigkeit seit 1919/20 unter dem Titel einer »Hermeneutik der Faktizität« zusammenfassen wird. Gadamers erste Begegnung mit Heidegger steht somit unter dem Stern der Hermeneutik, die sein Lebensthema werden sollte. Es ist ein weiterer Zufall, daß Heidegger in diesem Semester zudem ein Seminar über das 6. Buch der Nikomaehisehen Ethik hält. Das Seminar scheint Gadamer mehr zu fesseln als die Vorlesung. Jedenfalls hat er in seinen zahlreichen autobiographischen Schriften weniger von ihr als von dem Aristoteles-Seminar gesprochen. 4 Gadamer wird in der Tat dauerhaft beeindruckt bleiben von Heideggers Neubelebung des »praktischen Wissens« von Aristoteles,jener phronesis, die er in Wahrheit und Methode als ein Vorbild des hermeneutischen Verstehens empfehlen wird: Das praktische Wissen ist zwar situativ bedingt, aber es beweist sich nur in der Anwendung, die mein ganzes Sein betrifft. Praktisches Wissen gründet also nicht nur auf methodischer Kontrolle und Distanz, es schlägt seine Wurzel vor allem in die Sorge der Existenz um mich selbst. Deshalb wurde die phronesis rur den jungen Heidegger eine Zeit lang so wichtig. Aber Gadamer blieb ihr in ~ Es ist aber zu verzeichnen, daß Gadamer in seinen Löwener Vorträgen von 1957 (1963 gedruckt unter dem Titel Le probleme de la conscience historique, Nachdruck: Paris, Seuil, 1996) dem Thema »Martin Heidegger und die Bedeutung seiner Hermeneutik der Faktizität fiir die Geisteswissenschaften« ein ganzes Kapitel widmete.
Leben und Werk
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einer gewissen Hinsicht noch treuer als sein Lehrer, da sich Heidegger wenig später nur noch rur den Aristoteles der metaphysischen Seinsfrage interessierte. Die Seinsfrage, nicht das praktische Wissen sei sein Lebensthema. Bereits 1930 wird Gadamer einen rur uns vorahungsvollen Aufsatz unter dem Titel »Praktisches Wissen« schreiben, ein Aufsatz, der ihm vermutlich so naheging, daß er ihn erst 1985 in seinen Gesammelten Werken drucken ließ (GW 5,230-248). Aber die lebenslange Beziehung zu Heidegger, die eine immer bewußter werdende Distanz nicht ausschloß, wird in diesen Monaten geknüpft. In der schweren Wirtschaftskrise vom Spätsommer 1923 wird sie noch enger, als Gadamer und seine Frau vier Wochen in Heideggers winziger Hütte in Todtnauberg verbrachten. Der Austausch gestaltet sich nun etwas wechselseitiger: Heidegger, der aus Freiburg und aus dem Südwesten so gut wie nie herausgekommen ist, wurde soeben von Natorp nach Marburg berufen und läßt sich von Gadamer über die Kleinwelt der Philosophenhochburg Marburg informieren. Am 14. Juli 1923 schreibt er Jaspers, daß er sich verspreche, Nicolai Hartmann, der eigentlich Richard Kroner rur den Marburger Lehrstuhl vorgezogen hatte, »die Hölle heiß zu machen«. »Ein Stoßtrupp«, fugt er kämpferisch hinzu, »von 16 Leuten, bei manchen unvermeidlichen Mitläufern einige ganz ernste und tüchtige, kommt mit.« Darunter Gadamer. Noch unter dem Bann seiner ersten Begegnung mit Heidegger schreibt er 1923 seine ersten Aufsätze. In einem Beitrag zur Festschrift zum 70. Geburtstag von N atorp, zu dem ihn Hartmann eingeladen hatte, macht Gadamer skeptische Bemerkungen über die Relevanz der Systemidee in der Philosophie, die allgemein ein Dogma des Neukantianismus war. 5 Diese Skepsis ist offensichtlich eine Frucht seiner Freiburger Monate. Ein früherer Aufsatz aus dieser Zeit, der in der renommierten Zeitschrift Logos veröffentlicht wird, zeigt eine lange Auseinandersetzung mit Nicolai Hartmanns 1992 erschienenem Werk Metaphysik der Er5 HGG, »Zur Systemidee in der Philosophie«, in Festschrift für Paul Natorp zum 70. Geburtstag, Berlin, de Gruyter, 1924,55-75.
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Leben und Werk
kenntnis. Trotz der engen Verbundenheit mit Hartmann weist die Besprechung einen sehr kritischen Ton auf. Gadamer wirft Hartmann mangelnde Radikalität vor: ob sich Hartmann seinen besten Absichten zum Trotze vom neukantianischen Paradigma der Erkenntnistheorie hinreichend befreit habe? Ohne sie beim Namen zu erwähnen, verrät Gadamer seine Quelle, indem er sich (in einer auf den Fahnen hinzugefügten Bemerkung) auf die Aufgabe einer »kritischen Destruktion der philosophischen Tradition«6 bezieht! Gadamer ist damit wohl der erste, der die Heideggersche Redeweise literarisch verwendet, noch vor Heidegger selbst, der bis 1927 nichts von seinen grundlegenden Ideen publizierte. Die Formel und die Fragen waren dennoch sehr gewagt, so daß der spätere Gadamer in diesen früheren Aufsätzen, die er in seine Gesammelten Werke nicht aufgenommen hat, nichts als »vorlautes Zeug« (GW 2,483) sehen wollte. Nichtsdestoweniger findet man in der Kritik an der Systemidee und an dem erkenntnistheoretischen Paradigma eines der wesentlichen Motive seiner späteren Hermeneutik, die von der Geschichtlichkeit des Verstehens ausgehen wird.i Im Wintersemester 1923/24 folgt also Gadamer seinem Lehrer nach Marburg, wo er dessen Assistent wird. Dort tritt Heidegger selbstbewußter als in Freiburg auf. Vom Schatten Husserls geographisch befreit, setzt er in seiner ersten Vorlesung (GA 17) zu einer großen Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Husserl an, vor der er in Freiburg eher zurückscheute. Husserls Phänomenologie sei nicht phänomenologisch genug, erklärt er, weil sie ihre Begrifflichkeit von einer Tradition übernehme, deren ontologische Fundamente es kritisch zu hinterfragen, d. h. in Heideggers Sprache: zu »destruieren« gelte. Heidegger entfaltet in Marburg eine Lehrtätigkeit von erstaunlicher Macht, die eine ganze Generation bezaubert. Außer Gadamer zählen spätere Philosophen vom Rang wie Hannah Arendt, Leo Strauss, Karl Löwith, Gerhard Krüger, Hans Jonas zu den von Heidegger Gefesselten. Gada6 HGG, »Metaphysik der Erkenntnis. Zu dem gleichnamigen :Such von Nicolai Hartmann«, in Logos 12 (1923-24),350.
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mer ist fasziniert, aber auch erdrückt von der Wucht Heideggers. Ein harter Brief von Heidegger bringt ihn dazu, an seiner eigenen Begabung in der Philosophie zu zweifeln .. So entscheidet er sich 1925, ein planmäßiges Studium der Klassischen Philologie zu absolvieren, das 1927 zu einem Staatsexamen führt. In Marburg hatte Gadamer das große Glück, unter der Leitung des großen Platonforschers Paul Friedländer zu arbeiten. Durch seine feinfühlige Lektüre aller platonischen Dialoge, die in den drei Bänden seines damals geschriebenen Meisterwerkes über Platon literarisch nachzuempfinden ist, schärft er die Aufmerksamkeit von Gadamer rur die kunstvolle Dialogkunst Platons. Der in Marburg lehrende Theologe Rudolf Bultmann, der Gadamer damals zu seinem Graeca-Leserkreis einlädt und der sich rur die Stilgattungen der Heiligen Schrift interessierte, wird dieselbe hermeneutische Disposition bei ihm stärken. In Friedländers Seminar präsentierte Gadamer eine Interpretation des aristotelischen Protreptikos, aus der 1928 eine große Kritik an Werner Jaegers Aristoteles-Deutung werden sollte. 7 Jaeger hatte eine anspruchsvolle genetische Interpretation der aristotelischen Philosophie entwickelt, um die in ihr auftretenden »Widersprüche« zu erklären: Von einem Anhänger der Ideenlehre zur Zeit seiner Lehrjahre in der Akademie hätte sich Aristoteles langsam zu einem Kritiker derselben entwickelt, um einen eigenständigen Ansatz im Bereich der Physik und der Ethik auszuarbeiten. Der Protreptikos galt ihm dabei als eine Jugendschrift, weil man in ihr noch eine platonische Auffassung der Philosophie und der phronesis erkennen könne. Die phronesis sei dort mit einer umfassenden Weisheit gleichgesetzt, während sie in den späteren Ethiken den bescheideneren Platz des prudentiellen Wissens einnehme. Gadamer wirft Jaeger vor, die Stilgattung des Protreptikos zu vernachlässigen. In ihr gehe es nicht darum, eine bestimmte philosophische Konzeption zu profilieren, sondern um die 7
HGG, »Der aristotelische Protreptikos und die entwicklungsge-
schichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik«,in Hermes 63 (1928), 138-164; GW 5, 164-186.
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Verteidigung der Philosophie als solcher. Die Solidarität mit der platonischen phronesis-Konzeption ist also nichts Überraschendes in einer solchen Werbeschrift. Gadamers Kritik verrät seine hermeneutischen Instinkte, die von Heidegger, Friedländer und Bultmann vorexerziert wurden: der Textbesessenheit der Philologen setzt er erfolgreich die Berücksichtigung des Kontextes und der Zielrichtung der Schrift entgegen. Im Gegensatz zu den frühen Aufsätzen von 1923-24 wird Gadamer einen gewissen Stolz über diesen ersten Beitrag zur Klassischen Philologie beibehalten. Es gab aber erneut eine gewisse Kühnheit in Gadamers Kritik, war doch Jaeger die überragende Autorität der damaligen Altphilologie. Bei allen Kontroversen sind Jaegers Arbeiten die einflußreichsten des 20.Jahrhunderts im Bereich der AristotelesForschung. In den Bänden seines großen Buches Paideia hat er ferner bei den Griechen die Grundlagen eines pädagogischen Humanismus hervorgehoben, der der damaligen Zunft der Altphilologen als eine Art Legitimation diente. Trotz seiner frühen Kritik ist Gadamer selbst diesem Humanismus weitgehend treu geblieben, sehr im Gegensatz zu Heidegger, der ihn zu platt fand. 8 Gadamer teilte nie Heideggers Abschied vom Humanismus. Wie wir sehen werden, wird er sogar eine Rehabilitierung humanistischer Grundbegriffe am Anfang von Wahrheit und Methode anmahnen. Das Studium der Klassischen Philologie hat es Gadamer zweifelsohne erlaubt, eine gewisse Unabhängigkeit Heidegger gegenüber zu erlangen und zu beweisen. Dennoch konnte er der Einladung von Heidegger nicht widerstehen, als dieser ihn nach seinem Staatsexamen von 1927 zu einer Habilitation unter seiner prestigevollen Leitung ermunterte (Heidegger hatte soeben Sein und Zeit mit gewaltiger Resonanz veröffentlicht). Gadamer mußte sich aber beeilen, weil Heidegger die Husserl-Nachfolge in Freiburg anstrebte, was sich 1928 auch verwirklichen sollte. In dieser gedrängten Situation, die 8 Vgl. dazu meine Studie über »Gadamer on Humanism«, in meinem Band Sources cifHermeneutics,Albany, SUNY Press, 1995, 111-123; auch in TPHGG,157-170.
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mit dem schweren Todeskampf seines am 15. April 1928 verstorbenen Vaters zusammenfiel, brachte Gadamer »Phänomenologische Interpretationen zum platonischen Philebos« zustande, die 1931 in revidierter Fassung unter dem Titel Platos dialektische Ethik erschienen. Sie waren als Vorspiel ftir eine Interpretation der aristotelischen Ethik gedacht, die aber auf später verschoben werden mußte. Das Buch von 1931 blieb im Grunde Gadamers einziges Buch bis zum Erscheinen von Wahrheit und Methode. Für dieses lange Schweigen Gadamers gibt es eine Reihe von Gründen. Seine Habilitationsschrift von 1928 »habilitierte« ihn nämlich, als unbesoldeter Privatdozent Lehrveranstaltungen an der Universität Marburg zu halten. Nach Heideggers Weggang nach Freiburg bildeten seine in Marburg verbliebenen Habilitanden Karl Löwith, Gerhard Krüger und Gadamer ein selbstbewußtes Trio, das in Marburg das kritische Erbe der Heidegger-Schule fortsetzte. Gadamer widmete sich vollauf seiner Lehrtätigkeit und konnte bis auf die Habilitationsschrift und eine geplante kommentierte Ausgabe der aristotelischen Physik, die nie zustande kam, an keine größere Publikation denken. Alsdann erschienen die Nazis und errichteten ihre Terrorherrschaft. Wie seine meist jüdischen Freunde (Karl Löwith, der Heidegger-Nachfolger Erich Frank, der bei ihm wohnende Jakob Klein u. a.) hielt Gadamer den Atem an, in der Hoffnung, daß der »Spuk« bald verschwinden möge, wie es die abwechslungsreiche Folge der früheren Regierungen der Weimarer Republik erwarten und hoffen ließ. Ich möchte an dieser Stelle die Debatte um Gadamers Stellung während der NS-Zeit nicht neu aufrollen, da ich es in der Biographie bereits ausftihrlich getan habe. Ich beschränke mich hier auf das Wesentliche: Von seiner Herkunft und seiner Disposition her war der weitgehend apolitische Gadamer kein Nazi. Sonst wäre er (wie Heidegger) selbstverständlich Parteimitglied geworden, was er nicht wurde. Wie die etwas hochmütigen Intellektuellen seines Kreises hat er die Nazis eher verachtet und nicht ernst genommen. Nach dem Röhmputsch vom 30. Juni 1934 gab es aber keinen Zweifel mehr über die kri-
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minelle und totalitäre Natur der Nazi-Diktatur. Jeder Intellektuelle, der nicht gerade Deutschland verlassen mußte oder wollte, mußte von nun an schweigen, wenn er kein Märtyrer sein wollte. Inquisitorische Geister werden zwar bei Gadamer keine direkte Stellungnahme von damals gegen die Nazis finden, aber die Fortsetzung der philosophischen Praxis von früher darf als eine solche in einem totalitären braunen Meer gewertet werden. Es finden sich auch keine sehr direkten Stellungnahmenfür die Nazis, die Partei oder den Führer, was Gadamer zur Ehre gereicht. . Es ließe sich aber nicht sagen, daß die Nazis Gadamer an der Ausführung seiner Forschungs- und Publikationspläne gehindert hätten. Gadamer hatte den guten Sinn und die Klugheit, sich in diesen Jahren auf Forschungen im Bereich der antiken Philosophie zu konzentrieren, die die Nazis nicht störten. »Die wirklichen Nazis hatten doch überhaupt kein Interesse an uns« war der Titel eines wichtigen Interviews von Hans-Georg Gadamer mit Dörte von Westernhagen, das 1990 in Das Argument (182, S. 543-555) erschienen ist und das die schizophrene Situation eines totalitären Terrors schildert, der doch nicht so total gewesen sein sollte. Es läßt sich dennoch nachweisen, daß Gadamer Querelen von den Nazis erdulden mußte, bis er 1937 den Professorentitel erhielt, weil er als zu unpolitisch galt. Diese Haltung halfihmjedoch, 1939 auf eine Professur an der Universität Leipzig berufen zu werden, die als eine der politisch unabhängigsten im ganzen Reich galt. Aufjeden Fall tat er gut daran, von 1933 bis 1945 an keine größeren Publikationen zu denken. 1945 wurde die Stadt Leipzig zunächst von den Amerikanern befreit, um nach dem Rückzug der Amerikaner zur sowjetischen Besatzungszone zu gehören. Weil er sich unter den Nazis nicht kompromittiert hatte und als konziliant galt, einigte man sich dann leicht auf Gadamer als Rektor, der mit den Russen verhandeln konnte (sein Vorgänger, der Archäologe Bernhard Schweitzer war daran gescheitert). So versuch-
te er, in einem neuen ideologischen Rahmen, die Unabhängigkeit der Universität und der Wissenschaft zu verteidigen. Diese mutigen Stellungnahmen des Rektors wurden damals
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veröffentlicht. 9 Aber sie liefen gegen den Lauf der Dinge im Osten. Da sich die erhoffte Einheit nicht verwirklichte und die Logik des Kalten Krieges immer eindeutiger wurde, nahm Gadamer im September 1947 einen Ruf nach Frankfurt am Main an, wo er diesmal mit Adorno und Horkheimer gut zusammenarbeiten würde. Die umwälzende und aufreibende Zeit des Rektorats eignete sich auch nicht ftir größere philosophische Publikationsvorhaben. So beschränkte sich Gadamer in dieser Zeit weitgehend auf Interpretationen dichterischer Werke von Rilke, Goethe, Hesse, Karl Immermann, die auch öffentlich vorgetragen wurden und die das beste der deutschen Kultur retten wollten, als diese sich in ihrer schwersten Krise befand. Sie sind heute zum großen Teil im 9. Band der Gesammelten r-#rke versammelt. Sie dokumentieren nicht nur die »angewandte Hermeneutik« Gadamers, sondern auch die schweren Krisenjahre, in denen sich Gadamer auf die Dichtung als die »Religion der Innerlichkeit« besann. In Frankfurt und ab 1949 in Heidelberg, wo Gadamer die Nachfolge von Karl jaspers antrat, widmet er sich weiterhin der dringenden Aufgabe des kulturellen Aufbaus des geistig völlig zerrütteten Landes. In dieser Situation erscheint es ihm dringend, die Rolle der Philosophie zu verteidigen. Zunächst beschäftigen ihn pädagogisch zu nennende Publikationen. So bringt er eine Neuausgabe von Diltheys Grundriß der Geschichte der Philosophie und eine Übersetzung des XII. Buches der aristotelischen Metaphysik heraus. Er beweist Mut und Treue, indem er 1950 eine Festschrift zum 60. Geburtstag seines politisch sehr belasteten Lehrers Martin Heidegger zusammenstellt. Seinen politischen Irrtum hat er nicht geteilt, aber der Titel der Festschrift - »Anteile« - verrät, daß er die demütigende Isolation, die Heidegger auferlegt wird, unge-
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Vgl. die Rektoratsrede vom 5.2. 1946 Über die Ursrpünglichkeit der
Wissenschaft, Leipzig, Johann Ambrosius Barth Verlag, 1947 und Über die Ursprünglichkeit der Philosophie: Zwei Vorträge, Berlin, Chronos Verlag, 1948.
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recht findet. Es gelingt ihm, Karl Löwith, der in der damaligen Situation als ein Heideggergegner galt, fur einen Beitrag zu gewinnen. Wenige Jahre später holt er ihn aus einem langen Exil nach Japan und den USA zurück und läßt ihn nach Heidelberg berufen. Gadamer begründet 1953 eine Zeitschrift, die Philosophische Rundschau, die sich der Diskussion von Neuerscheinungen widmet. Sie wird zu einer, wenn nicht zur besten philosophischen Zeitschrift Deutschlands avancieren. Viele junge, brillante Köpfe wie Jürgen Habermas, Dieter Henrich, Walter Schulz, Ernst Tugendhat, Wolfgang Wieland und Rüdiger Bubner werden sich in ihr bemerkbar machen und von Gadamer entscheidende Anstöße empfangen, auch wenn ihre Denkansätze von den seinigen sehr entfernt sind. Aber Gadamer schätzt das Niveau der philosophischen Herausforderung stets höher ein als die Linientreue. Wie im aristotelischen Protreptikos geht es ihm weniger um die Verteidigung philosophischer Positionen als um die Verteidigung der Philosophie als solcher, um die wesentlich dialogische Praxis der Philosophie, die er seit langem praktiziert. All das macht noch kein Werk. So wird Gadamer von vielen Seiten aufgefordert, endlich etwas Substantielles vorzulegen. Aber er versteht sich nicht als Systematiker und fühlt sich unbegabt, abstrakte philosophische Systeme zu konstruieren. Seinem platonischen Vorbild folgend, zieht er das lebendige Gespräch, aber auch das Gespräch mit den großen Denkern und Dichtern der Tradition vor. Er fühlt nicht zuletzt den Schatten seines großen Lehrers Heidegger. In einem großartigen autobiographischen Zeugnis bekennt er: »Sonst blieb mir das Schreiben auf lange hinaus eine rechte Qual. Immer hatte ich das verdammte Gefühl, Heidegger gucke mir dabei über die Schulter.« (GW 2,491) Seine Studenten fordern ihn aber auf, just diese philosophische Konzeption vorzulegen, die dem Gespräch alles verdankt. Sie läßt sich nicht besser beschreiben als durch das Wort »Hermeneutik«. Denn dieses Wort bezeichnet nicht nur die traditionelle Kunst und Praxis der Auslegung, es deutet auch auf einen Vorgang hin, den man an sich selbst vollzieht,
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wenn man interpretiert. Von Heidegger hat er nämlich gelernt, daß der Mensch ein hermeneutisches, d. h. ein interpretierendes und sich selbst deutendes Wesen ist. Aber Gadamer lehnt sich auch an Dilthey, der die Hermeneutik mit der Aufgabe einer Legitimierung der Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften verband, und fernerhin auch an Husserl an, der wie er abstrakten Konstruktionen mißtraute. Diese Philosophie, die er seit langem praktiziert, wird also eine philosophische Hermeneutik sein müssen. Er wagt es nicht, von »hermeneutischer Philosophie« zu reden, wie es Heidegger gewollt hatte (GW 10,199). Den Titel der Philosophie wagt er nicht in Anspruch zu nehmen. Philosophie ist fur ihn ein Prädikat: so begnügt er sich mit einer Hermeneutik, einer hermeneutischen Praxis, die eine philosophische Relevanz erheischen kann, weil sie eine universale Tragweite besitzt: Interpretieren und Verstehen sind nicht nur Prozesse, die die Geisteswissenschaften auszeichnen, sie betreffen vielmehr unsere gesamte Seinsweise. Die Arbeit an diesem Werk der Hermeneutik verlangt zehn Jahre. 1959 legt Gadamer, der eigentlich ein Meister des kleinen Essays ist, seinem Verleger ein SOOseitiges Manuskript unter dem Titel »Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik« vor, als sollte eine noch ausführlichere Hermeneutik nach diesen Grundzügen folgen (der italienische Jurist Emilio Betti hatte 1955 eine noch umfangreichere AllgemeineAuslegungslehre publiziert)! Hans-Georg Sieb eck, der auch der Verleger von Bultmann ist, findet den Titel aber etwas seltsam. Die Hermeneutik, was ist das denn? Gadamer solle einen ansprechenderen Titel finden. Er denkt zunächst an »Verstehen und Geschehen«, das sich schön reimt und die Grundthese des Buches vielleicht besser wiedergibt als der spätere Titel, aber das erinnere vielleicht doch zu sehr an Bultmann, dessen Aufsatzbände »Glauben und Verstehen« heißen. Gadamer kommt schließlich auf »Wahrheit und Methode«. Das erinnert vage an Goethe (»Dichtung und Wahrheit«) und ist ebenso prägnant wie geheimnisvoll. Es bleibt bei diesem Titel, auch wenn er Leser enttäuschen wird, die sich von Gadamer große Auskünfte über die Natur der Methode und der
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Wahrheit versprechen. Sie verstehen nicht, daß das Geheimnis eines Titels in seiner Anredekraft besteht. Es ist tatsächlich ein großes Werk, zweifelsohne das wichtigste Buch der deutschen philosophischen Tradition seit Sein und Zeit. Es ist das Resultat des langsamen, geduldigen Werdeganges von Gadamer und der Ausgangspunkt seines späteren Schaffens. Nach diesem Werk veröffentlicht er nämlich vier Bände von Kleinen Schriften (1967 bis 1977) sowie Aufsatzsammlungen über Platon (Platos dialektische Ethik erscheint 1968 in 2. Auflage mit neuen Studien), Hegel (Hegels Dialektik, 1971), Heidegger (Heideggers Wege, 1983), aber auch zahlreiche Interpretationen dichterischer Werke, wdl auch da »Phänomenologie« am Werke sei (Wer bin ich und. wer bist Du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtsfolge >Atemkristall<, 1973; Poetica, 1977; Gedicht und Gespräch, 1990). Seine Autobiographie von 1977 (Philosophische Lehrjahre) ist eigentlich keine, steht sie doch unter dem gewaltigen Eindruck der philosophischen Begegnungen, die Gadamer dort schildert. »Warum soll man es leugnen, daß es ein Vorzug ist, einen genialen Lehrer zu haben?«, stellt Gadamer fest (PL, 35). Gadamer hat aber nicht wenige gehabt: Hönigswald, Hartmann, Natorp, Scheler, Hamann, Bultmann, Friedländer, Husserl, Heidegger. Es ist Gadamers Genie, daraus eine philosophische Gesamtkonzeption entwickelt zu haben, die es mit Leibniz hält: Ich billige fast alles, was ich lese (GW 2, 492). Dieser Ausspruch stammt von dem Vater des ur-rationalistischen Satzes vom Grunde. Der Satz ist aber ein hermeneutischer, wie es sich ftir einen Bibliothekar wie Leibniz von selbst versteht: Alles hat seinen Grund, wenn man sich in die Perspektive des anderen versetzt und dessen Gründe berücksichtigt. Der Satz setzt die eigene Endlichkeit und die Offenheit fur den anderen voraus. Die Seele der Hermeneutik, so wird der späte Gadamer oft sagen, besteht darin, daß der andere recht haben kann. Wahrheit und Methode hat seit 40 Jahren viele Diskussionen ausgelöst, und Gadamer hat von allen viel gelernt. Betti, Habermas und Derrida sind nur die bekanntesten seiner Gesprächspartner gewesen. Es wäre lohnend, die spätere Entwicklung der Gadamerschen Hermeneutik genauer zu ver-
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folgen, aber Gadamer hat selbst nie das Bedürfnis verspürt, eine neue systematische Darstellung seines Denkens vorzulegen. Die wichtigsten Weiterentwicklungen finden sich in den Entgegnungen auf seine Gesprächspartner im 2. Band seiner Gesammelten Werke, der 1986 erschienen ist. Er folgt auf Wahrheit und Methode (Band 1), aber erstaunlicherweise trägt auch dieser 2. Band den Titel Wahrheit und Methode! Gadamer deutet damit an, daß das Gespräch zum Werk selbst gehört und daß es ein letztes Wort nicht gibt. Die Ausgabe seiner Gesammelten Werke, die 1985 begann, wollte Gadamer auf 1 0 Bände begrenzen. Er hatte das unerwartete Glück, sie bis zum letzten Band 1995 zu betreuen. Nach den zwei ersten, der Hermeneutik gewidmeten Bänden bestehen die restlichen acht Bände fast ausschließlich aus Interpretationen. Band 3 und 4 bringen Interpretationen zur neueren Philosophie, aber die zahlreichsten Interpretationen betreffen doch Heidegger, als dessen Nachfolger Gadamer nach 1976 immer mehr gilt. Die drei folgenden Bände versammeln die Beiträge zur griechischen Philosophie. Der 1991 erschienene 7. Band, Platon im Dialog, ist vielleicht der erfrischendste der gesamten Ausgabe, weil er das reife Platobuch bietet, das sich Heidegger immer von Gadamer erhoffte. Geduld hat sich bei Gadamer stets gelohnt. Die zwei folgenden Bände bringen Gadamers Studien zur Ästhetik (Band 8 ist theoretischer Natur, während Band 9 konkrete Einzelinterpretationen vorführt). Es wäre irrsinnig, darin - wie nicht unüblich - eine Anwendung der hermeneutischen Methode von Gadamer zu sehen. Sie bilden viel eher die Inspiration derselben, wenn man überhaupt von einer hermeneutischen »Methode« sprechen darf. Der 8. Band ist aus zwei Gründen besonders wichtig: 1) Seine poetologische Konzeption ergänzt in vielerlei Hinsicht die eher kritische Schilderung des »ästhetischen Bewußtseins« in Wahrheit und lV1ethode, von der Beobachter wie J. Weinsheimer und andere behauptet haben, sie bilde nahezu eine »Anti-Ästhetik« 10.2) Der Band versammelt ferner die spätesten philosophischen Arbeiten von Ga10
Vgl. die Beiträge von
J. Weinsheimer, K. Wright
und
J.
Grondin
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damer, die sich mit den »Grenzen der Sprache« und der »Phänomenologie von Ritual lind Sprache« befassen. In ihnen darf man in der Tat die letzten Ausrichtungen des Gadamerschen Werkes erblicken. Ihre Besinnung auf die Grenzen der Sprache steht in einer gewissen Spannung zu der universal angesetzten Sprachlichkeit von Wahrheit und Methode. Der letzte Band der Gesammelten Werke ist rückblickend: Hermeneutik im Rückblick. Es ist kein Wunder, daß Gadamer dort erneut auf die Begegnungen mit seinen Lehrern und vor allem aufHeidegger zurückkommt (1. Heidegger im Rückblick), dessen Werk dank dem Fortschritt seiner eigenen, viel anspruchsvolleren Gesamtausgabe besser nachvollziehbar geworden ist. Der Band dokumentiert in einem II. Teil die »hermeneutische Wende« der Philosophie unseres Jahrhunderts, mit der Gadamers eigener Beitrag zusammenfällt. Die weiteren Abschnitte gelten zwei anderen Leidenschaften von Gadamer, der praktischen Philosophie (III) und der Stellung der Philosophie in der Gesellschaft (IV). Sie füllen Gadamers wichtigen Begriff der Bildung mit Inhalt. Die 300seitige Bibliographie aller Schriften von Gadamer, die Etsuro Makita 1995 erstellt hat, belehrt, daß die Gesammelten Werke nur die Quintessenz bieten. Gadamer ließ etliche Interpretationen zu Geschichte und Dichtung sowie viele okkasionelle Vorträge beiseite. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1968 ist Gadamer ein unermüdlicher Weltreisender geworden (vgl. GW 10,346). Von 1969 bis 1985 lehrte er fast jedes Jahr in Nordamerika. Überall in der Welt hielt er meist frei gehaltene Vorträge, aus denen Texte und Bücher erstellt wurden. Diese Vortragstätigkeit fand ihre Dokumentation in den Büchern der Bibliothek Suhrkamp: Die Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft (1976), Lob der Theorie (1983), Das Erbe Europas (1989), Über die Verborgenheit der Gesundheit (1993). Ein bescheiden sein wollendes Opus, das sich im Grunde um ein einzelnes Hauptwerk dreht, ist damit riesig geworden. Kein Freund hermeneutischen Denkens wird darüber klagen, über »Gadamer and the Truth of Art», in Encyclopedia of Aesthetics, hrsg. von M. Kelly, vol. II, New York, Oxford UP, 1998,261-271.
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aber es empfiehlt sich, die Konzeption von Wahrheit und Methode als geschlossenes Ganzes für die vorliegende Einführung zu Grunde zu legen. Diese Einsicht geht von der keineswegs originellen Hypothese aus, daß man sich einem Denken am besten nähert, wenn man sich in sein Hauptwerk kritisch einfUhrt. Die EinfUhrung wird aber der Weiterentwicklungen des späteren Werkes Rechnung tragen, sofern sie im Hauptwerk angelegt waren und dessen Denkrichtung radikalisieren.
1. Das Problem der Methode und die Idee einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik Wie kann der Anfang der Hermeneutik gemacht werden? Ein Rilkegedicht Wie fUhrt man sich in die Hermeneutik ein? Wie wir gesehen haben, hat es hier eine kartesianische Philosophie leichter, da sie mit dem cogito absolut neu beginnen will. Ein solcher, selbstsicherer Anfang steht der Hermeneutik nicht zu. So fangt Gadamer sein Buch -leider eine Seltenheit fUr philosophische Bücher - mit einem Gedicht an. Es ist dort von einem »Fangen« die Rede: »Solang du Selbstgeworfenes fangst, ist alles / Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn«. Diese Worte dürfen durchaus als ein Anklang aufDescartes und sein Ideal einer methodischen Erkenntnis vernommen werden, die uns in Stand setzen soll, »maitres et possesseurs de la nature« zu werden. Aber fassen wir da, scheint Rilke zu stöhnen, nur Selbstgemachtes, das uns nicht weiterbringt? Und wer sind wir, um überhaupt etwas fangen oder fassen zu wollen. Sind wir nicht vielmehr die Gefesselten, die Antwortenden? »Erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles, / den eine ewige Mitspielerin / dir zuwarf, deiner Mitte, in genau / gekonntem Schwung, in einem jener Bögen / aus Gottes großem Brükkenbau: / erst dann ist Fangen-können ein Vermögen, - /
Nicht deines, einer Welt.« Die dichterische Metapher des Wurfes, des Spiels und der Welt, der wir vermögend werden, lassen die Heideggersche
Wie kann der Anfang der Hermeneutik gemacht werden?
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»Geworfenheit« unmißverständlich mit anklingen,jenes beängstigende Geworfenwerden in die Existenz. Es wird genial markiert durch die glückliche Alliteration der »S«, »I«, »g« und »E« in den zwei ersten Versen: »Solange du Selbstgeworfenes fängst, ist alles / Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn«.11 Sie erinnert daran, daß jeder Entwurf unter dem Provisorium eines »solange ... « steht. Der daraus resultierende Gewinn läßt sich zwar messen, erweist sich aber gemessen an der Zeitlichkeit, die wir sind, als »läßlich«. Dieses »solange« verwendete übrigens auch Descartes in den einschlägigen Passagen seiner Meditationen: Das cogito ist evident, »solange« (quamdiu, quoties a me proJertur) ich es aussage. Aber läßt nicht gerade diese zeitliche Bedingtheit die Hybris eines Jundamentum inconcussum fraglich erscheinen? Die Heideggersche Geworfenheit ist hier zweifelsohne am Ball, aber hier spielt auch eine Mitspielerin, die mich anredet (»dir zuwarf, deiner Mitte«) und zur Antwort herausfordert. Wer ist denn diese »ewige Mitspielerin«? Ach, wenn wir es wüßten! Aber das zu wissen, hieße, daß wir wiederum Meister unseres Schicksals und auf das Spiel eines mit sich selbst spielenden cogito zurückgeworfen würden. Wir wissen nicht, woher der Ball kommt, der uns fängt und den wir nur fangen »können«, ohne daß dieses Können von uns allein abhinge. Gadamer, der übrigens diese Verse in seinem Hauptwerk und m. W auch sonst in seinem Werk nie kommentiert hat, scheint damit anzudeuten, daß das Verstehen ein Vermögen ist, das wir nie ganz beherrschen können, weil wir so von ihm eingenommen sind. Gadamer sagte neuerdings 12 : »Verstehen 11 Gadamer zitiert nicht die restlichen Verse des aus dem Nachlaß Rilkes stammenden Gedichtes. Sie sind auch weniger glücklich und seien hier der Vollständigkeit halber angeführt: »Und wenn du gar / zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest / und schon geworfen hättest ... (wie das Jahr / die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme, / die eine ältre einer jungen Wärme / hinüberschleudert über Meere -) erst / in diesem Wagnis spielst du gültig mit. / Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst / dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt / das Meteor und rast in seine Räume ... « 12 Öffentlich auf einer Heidelberger Tagung am 3.7.1999.
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1. Das Problem der Methode
ist Nichtauslegenkönnen«. Man ist so vom Verstehen gefesselt, im Verstehen drin, daß man nicht erklären kann, was und wie uns geschieht. Die Vorgängigkeit des Wurfes läßt das Verstehen als ein Antwortenkönnen erscheinen. Das Verstehen ist damit von einer Dialektik von Können und Nichtkönnen getragen: Indem ich verstehe, kann ich, vermag ich etwas, aber woher und wieso ich das kann, beherrsche ich nie ganz. In Rilkes Gedicht entfaltet sich dieses Fangenkönnen »in einemjener Bögen aus Gottes großem Brückenbau«. Was bedeutet hier das Göttliche? Damit wird weniger eine positive Theologie als die Grenze unseres Fangenkönnens in Erinnerung gerufen. Das Göttliche erschien bekanntlich zuerst bei den Griechen als Prädikat. 13 Theos ist ursprünglich die Eigenschaft von etwas, das uns überragt: der Sturm, der auf dem Meer tobt, die Liebe, die uns ergreift, der plötzlich ausbrechende Krieg: nichts von alle dem läßt sich im Sinne von menschlicher Beherrschung erklären: Deshalb hießen oft die Götter die kreittones bei Homer, die »Höheren«, die Überragenden. Die Götter bezeichneten ursprünglich weniger Substanzen oder Wesen als vielmehr das, was ohne unser Zutun geschieht. Positiver vom Göttlichen zu reden, steht uns nicht zu, wenn die Göttlichen wirklich überlegen sind, irgendwo da oben auf dem Gipfel, aber zugleich überall. So ist es mit Rilkes Bögen aus Gottes großem Brückenbau. Aber wir sind es, die den Ball fangen und die einer Welt vermögend sind. Dieses Vermögen, das weniger ein Tun als ein Erleiden, ein Pathos ist, ist ftir Gadamer das Verstehen. Seine philosophische Hermeneutik wird versuchen, dieses Verstehen zu verstehen. Sie ist buchstäblich ein Begreifen dessen, was uns ergreift (GW 2,108). So übernimmt Gadamer das Heideggersche Programm einer Hermeneutik der Faktizität, 13 Vgl. U. v. Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellet/erz, 2. Aufl. 1931,17 f.: ,>Prädiziert wird immer eine dem Menschen überlegene Macht. [ ... ] Das Göttliche ist das kreitton uns gegenüber«. Gadamer bezieht sich auf diese bekannte These in seinem Buch Der Anfarzg der Philosophie, Stuttgart, Reclam, 1996, 126.
Wie kann der Anfang der Hermeneutik gemacht werden?
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die dem Rätsel des Verstehens, von dem wir doch leben, nachgeht. Was versteht man eigentlich, wenn Ulan versteht? Gadamer will dem Verstehen eine gewisse Rätselhaftigkeit belassen, weil er in dem Vorhaben einer Methodologie des Verstehens, als die sich die Hermeneutik traditionell verstand, eine Vergessenheit dieses Rätsels wittert. So unentbehrlich sie auch sein möge, verfällt man nicht einer Selbsttäuschung zum Opfer, wenn man das Verstehen umjeden Preis domestizieren will, indem man es zu methodisieren trachtet? Ist es das Entscheidende am Verstehen, daß es methodischen Regeln gehorcht? Weiß das Verstehen immer, worin es besteht und woher es stammt? Um dieses Wunder des Verstehens zurückzugewinnen, fragt Gadamer im Vorwort zur 2. Auflage von Wahrheit und Methode: »Bedarf es einer Begründung dessen, was uns immer schon trägt?« (GW 2,447) Beruht das Verstehen nur auf einer Begründung und kann man das Verstehen immer begründen? Gadamer stellt diese Fragen nicht deshalb, weil er antifundamentalistisch denken und im Chor der Postmoderne jede Art von Grund ablehnen würde. Er will vielmehr dem Fragen nach dem Grund seine vergessene Grunddimension zurückgeben. Sie besteht darin, daß das Gründende so gundlegend ist, daß es sich im Grunde jeder Begründung entzieht. Das Gründende und Begründende ist vielleicht nicht das, was man denkt. Es ließe sich nicht sagen, daß dieses Denken dem Grundsätzlichen abhold ist, ganz im Gegenteil. Es wehrt sich vielmehr gegen die Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Fundamentalen, hier im Umgang mit dem Verstehen: gegen das Gründende, das sich zähmen und bequem erklären läßt. Das Fundamentale erklären wollen, heißt gerade, es um seinen fundamentalen Charakter zu bringen, der darin besteht, jener Fundus zu sein, aus dem her sich alles verstehen und erklären läßt. Gadamer demaskiert also die Trugbilder des Fundamentalen. Die Idee einer Methodologie des Verstehens ist ein gutes Beispiel dafür. Es gibt nichts Verwerfliches daran, Regeln des Verstehens anzugeben, aber kommt man dadurch auf den Grund des Verstehens? Es könnte also sein, daß die Idee einer Methodologie das Verstehen um sein tragendes
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1. Das Problem der Methode
Element bringt, indem es eine technische Beherrschung des Verstehens in Aussicht stellt. Es ist nicht gesagt, daß das Verstehen des Verstehens eine Sache von Technik ist. Das will Gadamer in Erinnerung bringen, wenn er seine Hermeneutik im Gegenzug zu dieser technischen Konzeption des Verstehens aufstellt, die ihren »Gegenstand« vielleicht übergeht.
Verstehen und Geschehen Die herkömmliche Hermeneutik verstand sich nach Gadamer zu technisch, wenn sie eine reine »Kunstlehre des Verstehens« (Schleiermacher) sein wollte. »Die hermeneutischen Regeln müssen mehr Methode sein«, schrieb Schleiermacher. 14 Diesem »mehr Methode!« scheint Gadamer ein »weniger Methode« entgegenzusetzen. Es wäre aber ein Mißverständnis, in Gadamers Hermeneutik ein Plädoyer »gegen die Methode« (wie etwa bei Paul Feyerabend, »Against Method«) zu sehen. Man muß Methoden folgen, wenn man eine Brücke bilden, ein mathematisches Problem lösen, ein Heilmittel gegen Aids finden oder eine historisch-kritische Ausgabe herausgeben will. Das ist fUr Gadamer selbstverständlich und es ist ihm nie in den Sinn gekommen, das in Abrede zu stellen. Gadamer hat selbst von den von ihm hochgeschätzten Methodologien der Wissenschaften viel gelernt. Es handelt sich fUr ihn um Evidenzen. Was er beanstandet, ist also nicht die methodische Wissenschaft als solche (was töricht wäre), sondern die Faszination, die von ihr ausgehtlS und die uns dazu verfUhrt, das Verstehen rein instrumentell zu verstehen und damit zu verfehlen. So schrieb er in einer wichtigen Selbstdarstellung, daß »die Hermeneutik und ihre methodischen Konsequenzen aus der Theorie der modernen Wissenschaft nicht so viel zu lernen haben wie aus älteren Traditionen, an die es sich zu erinnern gilt« (GW 2,498). Gadamer denkt hier 14
F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred
Frank, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1977,84. 15 Vgl. das Interview mit HGG im LB, 294.
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insbesondere an das Zeugnis der Kunst sowie an die »älteren« Traditionen der praktischen Philosophie, an den Humanismus und an die Rhetorik, weil sie eine noch nicht instrumentelle Auffassung des Verstehens vertraten. Der Gedanke, daß die Hermeneutik vielleicht »nicht so viel aus der Theorie der modernen Wissenschaft« zu lernen hat, schließt das Zugeständnis ein, daß es auch von ihr viel zu lernen gilt. Aber die Herrschaft der modernen Wissenschaft ist uns so evident geworden, daß es fUr Gadamer dringender erscheint, ihre Grenzen im Auge zu behalten und an andere Traditionen zu appellieren. Um diese Grenzen anzuzeigen, hebt Gadamer insbesondere auf den Ereignischarakter des Verstehens ab, der uns plötzlich ergreift ())wenn du plötzlich Fänger wirst. .. «). Gadamer wollte ja ursprünglich seinem Werk den Titel )>Verstehen und Geschehen« geben. Ein programmatischer Text aus der Einleitung erklärt auch, warum: »Wenn im folgenden nachgewiesen werden wird, wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist und wie wenig durch das moderne historische Bewußtsein die Traditionen, in denen wir stehen, entmächtigt sind, so werden damit nicht etwa den Wissenschaften oder der Praxis des Lebens Vorschriften gemacht, sondern es wird versucht, ein falsches Denken über das, was sie sind, zu berichtigen.« (WM,3). Es geht also nicht um eine neue Methode, auch nicht um eine Anti-Methode, aber um das Geschehen des Verstehens selbst, auch wenn man es methodisch praktiziert: ))Nicht, was wir tun, nicht, was wir tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage.« (GW 2,438) Der Begriff des Verstehens ruhrt hier leicht in die Leere, weil man daran gewöhnt ist, es rein intellektuell zu fassen, d. h. als einen kognitiven Vorgang, der zu unserer VerfUgung steht. Gadamer leistete gelegentlich diesem Mißverständnis Vorschub, als er seiner Fragestellung in Wahrheit und Methode epistemologisch klingende Wendungen gab. So sprach er vom Verstehen als einer »Erkenntnis« und von den Vorurteilen als den nahezu transzendentalen »Bedingungen« des Verstehens. Das war vielleicht noch zu instrumentell for-
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muliert. Deshalb hat er in seinen späteren Arbeiten weniger auf die Verwurzelung seiner Fragestellung in die Epistemologie der Geisteswissenschaften, die 1960 in die Augen sprang, als auf seine Nähe zur Erfahrung der Kunst insistiert, 16 wo der instrumentelle Kognitivismus offenbar zu kurz greift. Das Verstehen ist im Grunde weniger eine »Erkenntnis« als eine Erfahrung, die uns trägt und aus der wir zehren. Sie bildet das Element, in dem wir atmen und das es uns erlaubt, einander zu verstehen und Erfahrungen zu teilen. Es handelt sich freilich weniger um die Erfahrung, die der Wissenschaftler in seinem Laboratorium herstellt, als um die Erfahrung im Sinne des pathei mathos des Aischylos, die Erfahrung, die uns trifft und umwirft und die uns dauerhafter und entschiedener prägt alsjedes noch so wissenschaftlich oder analytisch sein wollende Argument, das man bald vergißt. Verstehen heißt nicht Begreifen und Beherrschen. Es ist wie das Atmen und das Lieben: man weiß nicht so recht, was uns da hält und woher der Wind kommt, der uns Leben einflößt, aber wir wissen, daß alles davon abhängt und daß wir nichts beherrschen. Man muß da sein, um zu erfahren, worum es geht und um zu wissen, daß es weniger ein Wissen als ein Sein ist. Man huldigt einer instrumentellen Erkenntnisauffassung, wenn man hier, wie in den heutigen philosophischc;n Debatten üblich, nach Kriterien, Normen und Begründungen heischt. Heidegger hatte bereits begonnen, das Verstehen von diesem epistemologischen Modell zu lösen, als er es von der Formel her »sich auf etwas verstehen« neu verstand (SZ, 143). Verstehen heißt, einer Sache gewachsen sein, etwas können. Dieses Können ist weniger eine Erkenntnis als eine praktische Fertigkeit, die aber auch eine Möglichkeit meiner selbst manifestiert: »ich« verstehe mich auf dieses oder jenes, ich kann es. So verstehe ich mich aufs Tanzen oder aufs Schwimmen, nicht weil ich da etwas weiß oder gute Methoden anwende, sondern weil ich es einfach kann. So sprach Rilke von dem Fangenkönnen als einem Vermögen. Geht dieses Vermögen 16 Vgl. insbesondere den späten Aufsatz »Wort und Bild - >so wahr, so seiend< (1992), GW 8, 373-399.
Verstehen und Geschehen
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in Erkenntnis und Beherrschung auf? Es gibt nämlich ein Stück Nichtkönnen und Nichtverstehen im Verstehen selbst. Jedes Können oder Vermögen setzt ein Unvermögen voraus. Das steckt bereits in der Formel »einer Sache gewachsen sein«. Sie schließt ja ein, daß man der Sache gerade nur gewachsen ist, daß es gerade ausreicht. Aber was hier »gekonnt« wird, kann jederzeit in ein Unvermögen umschlagen: Der beste Fußballspieler der Welt kann mal ein schlechtes Spiel spielen. Der beste Rhetoriker kann eines Tages stammeln, wie der Stammelnde auch mal auf eine glänzende Formulierung stoßen kann. Etwas können, etwas verstehen, impliziert ein Unvermögen, ein Nichtverstehen. Für Heidegger war das Nichtkönnen sogar das Primäre 17 : die Geworfenheit ist so sehr die grundlegende Dimension, daß sich das Verstehen wie eine Eroberung, eine uns selbst überraschende Errungenschaft ausnimmt. Wer versteht, wirkt wie das Kind, das plötzlich merkt, daß es radfahren kann und vor lauter Ergriffenheit nicht sieht, daß es gefährlich schnell hin und her taumelt. Dieses Ineinander von Licht und Dunkel geht bekanntlich in Heideggers Wahrheits begriff ein, der von der griechischen a-letheia aus als Un-verborgenheit gedacht wird. Die Wahrheit erweist sich in diesem Licht als eine Ent-decktheit, die die Verdecktheit aber nie ganz aufhebt. Sofern Gadamer diese Wahrheits erfahrung voraussetzt (wir werden auf die Unterschiede zu Heidegger wiederholt zurückkommen), läßt sich sagen, daß bei ihm die Stelle der Verdecktheit von der »Wirkungsgeschichte« besetzt wird. Aus einer nie ganz durchsichtig werden könnenden Geschichte und Sprachlichkeit heraus geht uns ein Licht, ein flackerndes Kerzenlicht auf, als das sich das Verstehen zu erkennen hat. Die traditionelle Hermeneutik war deshalb bestrebt, dieses so zerbrechliche Verstehen durch Regeln sicherer zu machen. Nach Gadamer kommt es weniger darauf an als vielmehr auf die Wiederentdeckung ei17 Vgl. SZ, 189: »Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhaI/se muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werde/l.«
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1. Das Problem der Methode
ner Wahrheitserfahrung, die sich diesem Sicherheitsideal nicht ganz fugt. Es geht also um eine Wahrheitserfahrung, die »den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt« (WM, 1). Gadamers Hermeneutik möchte daran erinnern, daß Wahrheit nicht nur und vielleicht nicht primär eine Sache von Methode ist, aber auch daran, daß »die Methodensucht«, vor der der junge Kant bereits warnte 18 , uns dazu fUhrt, diese Wahrheitserfahrung völlig zu verunstalten,ja aus dem Raum der menschlichen Erkenntnis zu verbannen. Seine Hermeneutik ist insofern anamnetisch. Gadamer wird diese Wahrheitserfahrung in wertvollen, aber in Vergessenheit geratenen Traditionen aufsuchen, zu deren Rehabilitierung er erheblich beigetragen hat: 1) in der Tradition der Rhetorik, wo die Wahrheit als das verisimile, das Einleuchtende, das Beherzigenswerte, immer noch eine Sache von Glaubwürdigkeit und argumentativ zu verteidigender Wahrscheinlichkeit bleibt; 2) in der praktischen Philosophie, wo mich die Wahrheit unmittelbar trifft und sich bewähren muß, ohne eine AlTare von Technik oder Wissenschaft zu sein; 3) in der juristischen und theologischen Hermeneutik, wo das Verstehen mit der Anwendung des zu Verstehenden auf die jeweilige Situation und den jeweiligen Fall zusammengeht. Aber das wichtigste Zeugnis fUr die Wahrheitserfahrung, die Gadamer wiedergewinnen will, wird die Erfahrung der Kunst sein. Sie bildet den Ausgangspunkt von Wahrheit und Methode.
Z ur Destruktion der Ästhetik Um die Wahrheitserfahrung der Kunst zurückzuerobern, müssen zunächst die Konstruktionen destruiert werden, die sie fur uns unkenntlich machen. Auch wenn er das Wort in Wahrheit und Methode selten gebraucht, folgt Gadamer dabei unbewußt oder instinktiv - der »Methode« seines Lehrers Heidegger: der Destruktion. Um sich einen Zugang zu den 18 Vgl. 1. Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763), Ak. II,71.
Zur Destruktion der Ästhetik
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Sachen selbst zu bahnen, müssen zunächst die sogenannten »Evidenzen« destruiert werden, die den Blick auf sie versperren. Was es hier zu destruieren gilt, ist in einem Wort: die Ästhetik. 19 Das Unternehmen hört sich zunächst paradox an: Allein die Destruktion der Ästhetik soll einen Weg zur Wahrheit der Kunst bahnen. Worin besteht das ästhetische Bewußtsein? Um es diesmal tautologisch auszudrücken: es ist das Bewußtsein, besser die Bewußtseinsstellung, die Kunstwerke rein ästhetisch betrachtet, d. h. unter Absehung ihrer moralischen oder kognitiven Dimension. Es steht außer Zweifel, daß diese Bewußtseinsstellung zur Autonomisierung der Kunst in der Moderne gefUhrt hat. Die moderne Kunst ist ohne sie unvorstellbar. Gadamer wird dies zwar nicht in Abrede stellen, aber diese Au-· tonomie hat nach seiner Überzeugung einen Preis: sie bringt die Kunst um ihren »Wahrheitsanspruch«, wie es in Wahrheit und Methode vor allem heißt, d. h. um ihre wirkliche »Aussage«, wie es später bevorzugt lauten wird. »Kunst als Aussage« ist in der Tat der Titel des 8. Bandes der Gesammelten Werke von Gadamer, der endgültigen Version seiner Ästhetik. Der Titel ist polemisch gerichtet gegen die logistische Reduzierung der Wahrheit auf die propositionale Aussagewahrheit. Auch die Kunst verfugt über eine erstaunliche Aussagekraft, die ihr eigen ist, indem sie sich der Übersetzung in ein anderes \:Medium widersetzt. Die ästhetische Betrachtungsweise hat durchaus ihre Legitimität, sie darf aber nicht vergessen lassen, daß das Kunstwerk in erster Linie eine Wahrheitserfahrung verkörpert. So ist es King Lear, der uns offenbar macht, worin die Undankbarkeit besteht, 20 oder das Bild von Goya mit den hingerichteten Bauern, das uns wirklich lehrt, was die Napoleonischen Kriege in Spanien waren. Was »lernt« man an der Kunst und wieso prägt sich das so ein, wie es kein noch so 19 Von einer Destruktion der Ästhetik spricht auch 1. M. Feher, »Gadamers Destruktion der Ästhetik im Zusammenhang seiner philosophischen Neubegründung der Geisteswissenschaften«, in Denkwege, hrsg. von D. Koch, Tübingen, Attempto, 1998, 25-54. 20 Das Beispiel ist von Gadamer, im LB-Gespräch, 283.
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strenges wissenschaftliches Argument vermag, das man nach zehn Minuten vergessen hat? Wer seit zwanzig Jahren keinen Roman mehr von Kafka oder Proust gelesen hat, weiß immer noch, was ftir eine Welt von Erfahrung uns da zuteil wird. Was ist es an der Kunst, daß ihre Aussage so sehr anzusprechen vermag? Es ist ftir G(lci(ln.:H~r aus vielen Gründ~en wichtig, darin eine ~ahrheitsecl"ahrungwiederzuentdecken: Erstens, ~~ den Wahrheitsbegriff aus der Zwangsjacke zu befreien, die ihm die wissenschaftliche Methodik auferlegt; zweitens, um der gängigen Zurückftihrung der Geisteswissenschaften (und der Philosophie) auf ein rein ästhetisches, d. h. im Grunde auf ein willkürliches, ernstloses und spielerisches Unternehmen entgegenzuwirken; drittens, um von der Kunst zu erfahren, worin die Wahrheit des Verstehens positiv besteht. Die damit freigelegte Wahrheitserfahrung der Kunst soll es uns nämlich ermöglichen, das sich in den Geisteswissenschaften entfaltende Verstehen angemessener zu begreifen. Das Problem des Verstehens in den Geisteswissenschaften bildete ja die. größte Herausforderung der Hermeneutik rur Dilthey. So stellte er eine allgemeine Kunstlehre des Verstehens oder der Hermeneutik in Aussicht, die als methodologische Grundlage aller Geisteswissenschaften dienen könnte.
Das Methodenproblem und die humanistische Tradition Da Gadamer eine andere Idee von Hermeneutik verfolgt, die er aber gegen Diltheys Projekt profilieren will, geht er in Wahrheit und Methode selbst von diesem Methodenproblem der Geisteswissenschaften aus, sehr im Unterschied zu Heidegger, der sich von der ganzen Problemstellung Diltheys verabschiedet hatte, als er seine Idee einer Hermeneutik des Daseins verfolgte. Das Methodenproblem der Geisteswissenschaften existiert im Grunde nur, seitdem es die Trennung zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften gibt,
Das Methodenproblem und die humanistische Tradition
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also seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Und es stellt sich den Geisteswissenschaften mit besonderer Dringlichkeit, weil sie von einem methodologischen Minderwertigkeitskomplex den methodologisch gesicherteren Naturwissenschaften gegenüber heimgesucht werden. Zwei Möglichkeiten boten sich in dieser Situation ftir das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften an: Entweder übernehmen sie schlicht und einfach die Methoden, die zum Erfolg der Naturwissenschaften geftihrt haben (bzw. haben sollen). Diese Position, die man allgemein mit dem Positivismus gleichsetzen kann, läuft aber auf eine Negierung des Unterschiedes zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hinaus, weil sie dem Ideal einer »unified science« huldigt. Diesen Positivismus teilt noch heute das allgemeine Bewußtsein, vor allem im angelsächsischen Bereich (die deutsche Sprachwelt bildet da eine gewisse, aber nicht mehr so entschiedene Ausnahme), wenn es unter »science« allein die Naturwissenschaften versteht (ftir die es auch Nobelpreise gibt; ftir alle anderen gibt es ja den Nobelpreis ftir Literatur ... ). Oder die Geisteswissenschaften entwickeln ihre eigene »Methodik«. Diese These von der methodologischen Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften vertritt im allgemeinen Dilthey und seine Schule. Diese eigenständige Methodik läßt sich ihrerseits entweder auf die Eigenart ihres Gegenstandes (das Individuelle oder Singuläre im Unterschied zum gesetzesmäßigen Allgemeinen) oder auf ihre Erkenntnisweise (das Verstehen im Unterschied zum Erklären) gründen. Es kann keine Frage sein, und die Dilthey-Schule hat dies oft gegen Gadamer zur Geltung gebracht, daß Dilthey ein sehr feines hermeneutisches Gespür fur die Eigenart der Geisteswissenschaften hatte. Gadamer fragt sich aber nur, ob er sich genügend vom methodologischen Paradigma freigemacht habe. So sehr er sich um die Besonderheit der Geisteswissenschaften besorgt zeigt, scheint Dilthey nach wie vor von dem Ideal einer Methodik auszugehen, wenn er von einer logischen, erkenntnistheoretischen und methodologisehen Begründung der Geisteswissenschaften spricht. Gadamers kleine, aber revolutionäre Frage lautet hier: Ist denn die Methodologie der Königsweg der Hermeneutik und der
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Geisteswissenschaften? Kommt es da wirklich auf eine Methodik an, oder läßt man sich nicht seinen besten Absichten zum Trotz vom Modell der exakten Wissenschaften verblenden? Mit seiner bescheidenen Frage verbindet Gadamer einen Vorschlag zum besseren Verständnis der nicht exakten Wissenschaften, ein Vorschlag, der in Wahrheit eine Wiedererinnerung ist: Wäre es nicht naheliegender, an die Tradition des Humanismus zu appellieren, um den Wahrheitsanspruch und die Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften zu begreifen, anstatt vom Methodenparadigma auszugehen? Es liegt nahe, weil die Geisteswissenschaften aus der viel älteren Tradition der humaniora hervorgegangen sind. Aber diese Tradition des Humanismus hat ftir uns ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Selbst Heidegger gehörte zu denjenigen, die auf Distanz zum Humanismus gingen, so daß es sich heute weitgehend um eine Tradition handelt, die man entweder nicht mehr kennt oder die man völlig ablehnt (wie dies im postmodernen Denken weitgehend der Fall ist). Es könnte aber durchaus sein, suggeriert Gadamer, daß diese Ablehnung selbst eine Konsequenz der Verzerrung bildet, die die Wissenschaft mit dem methodischen Wissen gleichsetzt und rur andere Weisen des Wissens blind macht. Deshalb wird sich Gadamer in den einleitenden Kapiteln seines Hauptwerkes darum bemühen, das humanistische Wissensmodell in Erinnerung zu rufen. Er geht dabei von dem Begriff der Bildung aus. Die Bildung besteht ja nicht darin, daß der Lernende wissenschaftliche Stoffe und Methoden sammelt, sondern darin, daß er sich selbst bildet. Sind nicht ebenso die Erkenntnisse, die die Geisteswissenschaften zuwege bringen, Wahrheiten, die uns bilden, indem sie uns formieren, erziehen und verwandeln? Als diese Wissenskonzeption in der italienischen Renaissance, auf die sich Gadamer in diesem Zusammenhang nicht direkt bezieht (er lehnt sich viel eher an Herder und Hegel an), entwickelt wurde, erhob sie sich polemisch gegen die weitgehende Verachtung des menschlichen Wissenwollens im Mittelalter: Im Lichte der von Gott gespendeten Heilswahrheit war das menschliche WissenwoiIen als eine Frucht der curiosi-
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tas verdächtigt, kraft derer der Mensch sich selbst rechtfertigen und erheben wollte. Die Renaissance berief sich dagegen auf das Wort von Genesis 1, 26, wonach der Mensch nach Gottes Bild geschaffen wurde. Weil er von Gott stamme, dürfe der Mensch seine Intelligenz und seine Talente nicht unterentwickelt lassen. So verstand sich die cultura, die Bildung, als »die eigentümlich menschliche Weise, seine natürlichen Anlagen und Vermögen auszubilden.« (WM, 16) Gadamer bezieht sich dabei gern auf Hegel, weil er diese Bildungsaufgabe als eine »Erhebung zur Allgemeinheit« und damit als eine gewisse »Aufopferung der Besonderheit ftir das Allgemeine« (WM, 18) versteht. Es handelt sich dabei nicht um das Allgemeine des Naturgesetzes, auch nicht um die Allgemeinheit des vollendeten Begriffs, weil diese Erhebung einen Prozeß darstellt (und bildet!), der nie ans Ende kommt, aber eine ständige menschliche Aufgabe bleibt, kraft derer man lernt, über die eigene Besonderheit hinauszusehen. Ließen sich nicht die Geisteswissenschaften von dieser Bildungsaufgabe aus besser verstehen als von dem Methodenideal her? Dieses Bildungsideal ist heute aus anderen Gründen in Verruf gekommen, weil man in dieser Art Bildung die eitle Ansammlung eines Schatzes von Kultur erblickt, die einer Elite vorbehalten sei. Darin besteht nicht das Wesen der Kultur ftir Gadamer. Der gebildete Mensch ist nicht derjenige, der es versteht, ein verblendendes Bildungswissen aufzuspreizen. Wer sich so ausnimmt, ist nicht gebildet, sondern pedantisch. Gewiß wird man nicht den Pedanten als Modell der geisteswissenschaftlichen Bildung empfehlen. Die wahre Bildung besteht eher in einer Art Abstand gegenüber diesem Scheinwissen, das den Pedanten auszeichnet. Gadamer beschrieb diese Art Wissen, erneut unter Hinweis aufHegel, in einem schönen öffentlichen Vortrag unter dem Titel »Was ist allgemeine Bildung heute?« in Heidelberg ani. 7.Juli 1995,aus dem ein Passus zitiert sei, auch um anzudeuten, wie nachhaltig ihn dieses Bildungsthema beschäftigt: »Gebildetsein, das ist offenbar eine besondere Form des Abstandes. Hegel hat einmal gefragt, was ist eigentlich ein gebildeter Mensch? Ein gebildeter Mensch ist ein Mensch, welcher bereit ist, die Gedan-
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1. Das Problem der Methode
ken eines anderen gelten zu lassen. Ich gebe zu, es ist eine wunderbare Beschreibung des ungebildeten Menschen: Wenn man also sieht, wie jemand mit einer diktatorischen Sicherheit irgendeine aufgeschnappte Weisheit in allen möglichen Anwendungen und Situationen verteidigt. Das ist ty. pisch ungebildet. Dagegen, daß man lernt, etwas dahingestellt sein zu lassen, das ist das Wesen des Fragenkönnens. Wer nicht in der Lage ist, sich sein Nichtwissen einzugestehen und deswegen gewisse Frageentscheidungen dahingestellt sein läßt, um ihre richtige Beantwortung zu finden, wird niemals wirklich dem entsprechen, was man gebildet nennt. Wer gebildet ist, ist also nicht einer, der überlegenes Wissen besitzt, sondern nur, ich zitiere Sokrates, der, der sein Wissen um sein Nichtwissen nicht vergessen hat.« Die Gedanken eines anderen gelten lassen, darin besteht die wirkliche Bildung, denn sie setzt eine Erhebung über die eigene Begrenztheit voraus. Die Bildung vollzieht sich also nicht auf dem Weg der Vielwisserei, sondern im Wissen um das eigene Nichtwissen. Kraft dieses Bewußtseins, das sich in den Geisteswissenschaften, aber natürlich nicht nur dort, entwickeln läßt, erhebt man sich zu einem Allgemeinen: »Wer sich der Partikularität überläßt, ist ungebildet, z. B. wer seinem blinden Zorn ohne Maß und Verhältnis nachgibt. Hegel zeigt, daß es einem solchen Menschen im Grunde an Abstraktionskraft fehlt: er kann nicht von sich selbst absehen und auf ein Allgemeines hinsehen, von dem her sich sein Besonderes nach Maß und Verhältnis bestimmte.« (WM, 18) Wie läßt sich diese Art Wissen methodologisch beschreiben? Gadamer läßt sich dabei gern von den Beobachtungen des Naturwissenschaftlers Helmholtz leiten, der in einer Heidelberger Rede von 1862 sehr gut erkannt hat, daß es sich dabei nicht um ein induktives Wissen nach dem Modell der Naturwissenschaften handeln kann. Etwas anderes ist hier im Spiel. Deshalb sprach Helmholtz lieber von einer »künstlerischen Induktion«, von einem Takt, der sich nicht recht mithilfe von Methoden umschreiben läßt, der aber dennoch in der Ausbildung eines »allgemeinen Sinnes« besteht. So linkisch die Idee einer künstlerischen Induktion erscheinen mag,
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sympathisiert Gadamer durchweg mit der Schilderung von Heimholtz über den Takt: »Liegt das Wissenschaftliche der Geisteswissenschaften am Ende mehr in ihm als in ihrer Methodik?« (WM, 13) Gadamer spricht hier von einer besonderen Erkenntnisweise, die Wahrheit verbürgt, aber man darf sie wiederum nicht zu epistemologisch oder instrumentell fassen. Denn es geht um die Ausbildung eines »Sinnes«, freilich nicht um einen »sechsten Sinn«, sondern um einen »allgemeinen Sinn«, vermöge dessen wir ein Allgemeines fassen können. Nach dem Bildungsbegriffbildet diese Idee eines allgemeinen oder gemeinsamen Sinnes (sensus communis) die zweite wichtige Anleihe Gadamers bei der humanistischen Tradition. Gadamer muß hier freilich gegen eine in der deutschen Sprachwelt besonders verbreitete Herabsetzung des »Gemeinsinnes« intervenieren (sie ist weniger präsent im englischen common sense oder im französischen bon sens, mit denen man durchaus heute noch einen Erkenntnisanspruch verbindet). Diese negative Besetzung läßt sich etwa an dem Begriff des »Gemeinplatzes« erkennen, worunter man heute nur noch ein falsches Vorurteil versteht. Aber in der rhetorischen Tradition, bei Melanchthon zum Beispiel,21 sah man in ihnen, in den loei communes, Bedingungen der Möglichkeit der Kommunikation, da der Redner stets an Grundüberzeugungen appellieren muß, die allgemein geteilt sind, ohne je begründet worden zu sein. Die moderne Kampfansage gegen die loei communes und gegen den überlieferten Gemeinsinn geht der Sache nach auch auf Descartes' Methodenideal zurück, das in ihnen einen dubiosen Haufen von Scheinwahrheiten witterte, weil sie nie auf eine klare und distinkte Perzeption begründet wurden. Daraus folgt der kartesianische Imperativ einer 21 Gadamers Bezugnahme auf die rhetorische Tradition wurde in bedeutender Hinsicht ergänzt durch die Ausftihrungen von Klaus Dockhorn in seiner ausftihrlichen Besprechung von ftVahrheit und Methode in den Göttingschen GelehrtenAnzeigeH 218 (1966),169-206. Vgl. dazu, und ganz besonders zu Melanchthon, meinen Artikel »Hermeneutik« im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, Bd. UI, Tübingen, Niemeyer, 1996, 1350-1374.
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neuen Methode, die mit diesen Pseudowahrheiten und der Tradition schechthin reinen Tisch machen will. Aber sind die Erkenntnisse des Gemeinsinnes einer solchen Letztbegründung fähig? Im Unterschied zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der objektivierbaren Außenwelt erscheint die Objektivierung fehl am Platze bei den Wahrheiten der moralischen, politischen und geschichtlichen Welt, wo wir selbst mit im Spiel sind. Was uns die Geschichte zu erkennen gibt, geht nicht in rein methodischem Wissen auf. Es ist mehr, es ist nach ihrem klassischen Selbstverständnis als memoria und magister vitae eine Art Lebensweisheit und -erinnerung. Soll das wirklich nur ein Wissens hindernis sein? Denn was hier geschärft wird, ist nicht zuletzt eine Urteilskraft, sogar ein »Geschmack«. Das hört sich heute etwas komisch an, weil Geschmack für uns etwas rein Ästhetisches, d. h. eine reine »Geschmacksache« geworden ist. Gadamer ruft ins Gedächtnis, daß der Geschmack ursprünglich eher eine moralische als eine ästhetische Bedeutung genoß. So sprach die englische Philosophie des 18.Jahrhunderts von einem moral taste, und selbst der junge Kant wollte 1765 eine »Kritik des moralischen Geschmacks« schreiben. Für den Humanismus stellte der Geschmack noch eine Erkenntnisweise oder einen allgemeinen Sinn dar, den man als solchen nicht lehren kann, der sich aber ausbilden läßt, weil das menschliche Zusammensein ohne ihn undenkbar ist. Er ist ein Sinn für das Ziemende, das Angemessene und damit für das Richtige. Heute fällt er vor allem auf, stellt Gadamer fest, am negativen Beispiel der Taktlosigkeit. Man kann da nicht sagen, gegen welche allgemeine Regel verstoßen wird, aber sie offenbart einen Mangel an Urteilskraft in einem besonderen Fall, der aber über diesen Fall hinausgeht. Gadamer wird bereits zu Beginn von Wahrheit und Methode diese Art »Erkenntnis« bzw. diesen Sinn mit der aristotelischen Idee eines praktischen Wissens in Verbindung bringen (WM, 29). Wesentliche Elemente sind in der Tat dem allge-
meinen Sinn der Urteilskraft und dem ethischen Wissen gemeisam. Diese Weisheit ist weder lehr- noch lernbar wie das mathematische Wissen. Wie es die weitere aristotelische, in
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der modernen Ethik oft vernachlässigte Unterscheidung der Praxis von der techne lehrt, geht es bei ihr nicht um den Erwerb von Regeln oder Normen, sondern um die Kultivierung einer Lebensweisheit,ja einer Seinsweise. Dieses Wissen besteht ferner nicht aus einem bestimmten Inhalt, sondern in der Fähigkeit, diese Weisheit in bestimmten Situationen anzuwenden. Man hat es hier nichtsdestoweniger mit einer bestimmten Art von »Erkenntnis« zu tun, besser: mit einem Sinn, ja besser noch: mit einem allgemeinen Sinn (sensus communis), weil er es uns erlaubt, über die Partikularität hinauszugelangen. So erschiene es doch sehr naheliegend, die Erkenntnisweise der Wissenschaften vom Menschen an diese Art Wissen, die man bereits hermeneutisch nennen darf, anzulehnen: »Es hat etwas sofort Einleuchtendes, die philologisch-historischen Studien und die Arbeitsweise der Geisteswissenschaften auf diesen Begriff des Sensus communis zu gründen. Denn ihr Gegenstand, die moralische und geschichtliche Existenz des Menschen, wie sie in seinen Taten und Werken Gestalt gewinnt, ist selbst durch den Sensus communis entscheidend bestimmt.« (WM, 28) Aber diese Evidenz ist uns heute abhanden gekommen. Warum? Weil es sich nicht oder nicht mehr um eine »Erkenntnis« handelt. Im Grunde ist das nicht falsch. Denn man hat immer schon gewußt, daß die Bildung, der sensus communis, die Urteilskraft oder der Geschmack keine Sache der Erkenntnis im engeren, epistemologischen oder theoretischen Sinne ist. Ist das aber ein Grund, diesen Sinn aus dem Reich der Erkenntnis auszugliedern oder, schlimmer vielleicht, ihm eine rein ästhetische oder kosmetische Funktion zuzuerkennen? In den Augen Gadamers bedeutet dies einen enormen Verlust, weil man dadurch die humanistischen Leitbegriffe aus der Hand gibt, mit deren Hilfe die Geisteswissenschaften ihren eigenen Erkenntnisanspruch hätten fassen und legitimieren können.
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Die kantische Wende Der entscheidende Wandel vollzog sich bei Kant bzw. in seiner unmittelbaren Wirkungsgeschichte. Wenn Kant selbst rur diesen Wandel nicht verantwortlich ist, liegt es daran, daß rur ihn die humanistische Tradition eine unverkennbare Evidenz behielt. Man merkt es etwa, wenn er in der Kritik der reinen Vernunft den Mangel an Urteilskraft als ein Gebrechen charakterisiert, dem gar nicht abzuhelfen ist, oder wenn er in der zweiten Kritik von einer »praktischen Erkenntnis« spricht, oder wenn er dem ästhetischen und teleologischen Urteil in seiner Kritik der Urteilskraft eine moralische BedeutYl1gzuerkennt. Aber mit seiner Fragestellung und ihrem Widerhall wurde diese humanistische Tradition immer unsichtbarer,ja sogar hinfällig. Kants grundsätzliche Fragestellung hatte ursprünglich nichts mit der humanistischen Tradition zu tun. Die Leitfrage der Kritik von 1781 ist bekanntlich diejenige nach der Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft. Kants Frage ist im Prinzip der Metaphysik freundlich gesonnen. Er will ihr dazu verhelfen, endlich eine strenge Wissenschaft zu werden, wie es der Titel seiner Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) noch einmal einschärft. Aber Kant verwendet dabei einen harschen und selbstbewußten Ton, der seine positiven Absichten etwas in den Hintergrund geraten läßt: Von dem Gerichtshof seiner Kritik aus scheint er der Metaphysik tatsächlich einen erbarmungslosen Prozeß zu machen, aus dem sie ohne jegliche Berufungsmöglichkeit verurteilt zu werden scheint. Kant erweckt ferner den Eindruck, daß er die Newtonsehe Wissenschaftskonzeption zu Grunde legt, wenn er nach der Möglichkeit von Metaphysik als Wissenschaft fragt. Die Kritik wirkt so niederschmetternd, daß man dabei die Aussicht auf eine künftige Metaphysik aus den Augen verliert. Dies ist wohlgemerkt nicht der Fall beim deutschen Idealismus, aber die von ihm erstrebte Verwirklichung und Systematisierung der neueren Metaphysik wirkt so überschwenglich, daß der Mißkredit gegnüber jeder Metaphysik, die den Kriterien der
Die kanrische Wende
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strengen Naturwissenschaft nicht standhält, in der Folgezeit nur noch größer wird. Erkenntnis und zuverlässiges Wissen
scheint es von nun an nur noch in den methodischen Erfahrungswissenschaften zu geben, deren Fundamente Kant mit seiner Kritik sichergestellt habe. De facto hatte sich Kant freilich relativ wenig rur die »Methoden« der Erfahrimgswissenschaften interessiert, aber die Verurteilung der »dogmatischen« Metaphysik und die Bezugnahme auf Newton haben genügt, um aus Kant einen Positivisten der strengen N aturwissenschaften zu machen. Diese Entwicklung erweist sich aber als verhängnisvoll rur die Geisteswissenschaften, die anfangs von diesem Prozeß nicht direkt betroffen waren. Tatsächlich hat es die Geisteswissenschaften erst nach Kant gegeben, in einem gewissen Sinne aber auch seinetwegen. 22 Es war nämlich gerade die Verherrlichung der Naturwissenschaften und ihrer Methodik, die die Geisteswissenschaften zu einem distinkten Wissensgebiet werden ließ, das den methodischen Normen der strengen Wissenschaft nicht bzw. noch nicht genügte. Das methodologische Defizit steht damit den Geisteswissenschaften an die Stirn geschrieben. Sie sind aber aus einem weiteren wichtigen Grund in den Kantischen Prozeß integriert: Von seiner Warte aus entbehrt von nun an das unmethodische Wissen der humanistischen Tradition jeglicher Legitimation. Das »Geschmackswissen« ist offenbar keine Wissenschaft, 22 Vgl. dazu R. Makkreel, »Kant, Dilthey, and the Idea of a Critique of Historical ]udgment«, in Dilthey-jahrbuch 10 (1996),61-79. In seinem Buch Imagination and Interpretation in Kant. The Hermeneutical Import of the «Critique ofJudgment» (Chicago University Press, 1990) hatte Makkreel bereits gezeigt, daß die Unterscheidung zwischen dem Verstehen der Geistes- und dem Erklären der Naturwissenschaften der Sache nach auf die kantische Unterscheidung zwischen den bestimmenden und den reflektierenden Urteilen in der dritten Kritik zurückging: während die ersten das Einzelne unter ein Gesetz subsumieren, verfahren die reflektierenden Urteile hermeneutischer, indem sie das gegebene Einzelne in einen größeren Bedeutungsrahmen einzuordnen versuchen, der aber nie gegeben ist. Die Methodologien des 19.]h. haben es nicht gemerkt, weil Kant fur sie der Verfasser der als Methodentraktat der Naturwissenschaften gelesenen Kritik der reinen Vernurift blieb.
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mag es noch so· sehr zur Ausbildung der Urteilskraft und des sensus communis beitragen. Was ist es dann? Die Antwort, die sich bei Kant anbahnt, die aber seine Wirkungs geschichte nur radikalisieren wird, lautet: Es ist etwas Ästhetisches. Die Kultur des Geschmacks wird nach Kant zu dem, was sie bis heute weitgehend geblieben ist, d. h. zu einer ästhetischen Sache. Damit verschwand immer mehr der Erkenntnissinn der hu. manistischen Kultur, aber auch der Kunst. Wenn es Wissenschaft im Bereich der Kultur geben soll, wird sie ebenso strengen Methoden gehorchen müssen wie denjenigen, die den Erfolg der Naturwissenschaften möglich gemacht haben. So gut wie nichts soll der Urteilskraft überlassen bleiben, stellt sie doch eine unsichere Erkenntnisquelle dar. Von nun an wird man in den Geisteswissenschaften nach methodischen Analysen Ausschau halten. Auf einmal werden mathematische und statistische Studien in der politischen Wissenschaft und in der Volkswirtschaft gedeihen, an die wir inzwischen so gewöhnt sind, obwohl es sie vor dem 19.Jahrhundert nicht gab. Dasselbe Modell dringt auch bald in die Literatur- und die Geschichtswissenschaft ein, aber nicht zuletzt in die Philosophie, die sich nach dem analytischen Vorbild der exakten Wissenschaften verstehen möchte. Alles andere ist reine Ästhetik oder Geschmacksache, aber in einem Sinn, der dem Geschmack keinerlei glaubwürdige Erkenntnisfunktion mehr zuzuerkennen bereit ist. Diese Entwicklung ist für die Geisteswissenschaften fatal, weil sie sich damit von ihrem humanistischen Nährboden abgeschnitten finden: »Das ist von nicht leicht zu überschätzender Bedeutung. Denn was damit aus der Hand gegeben wurde, ist eben das, worin die philologisch-historischen Studien lebten und wovon sie, als sie sich unter dem Namen der >Geisteswissenschaften< neben den Naturwissenschaften methodisch begründen wollten, allein ihr volles Selbstverständnis hätten gewinnen können.« (WM, 46). Die Wissenschaften vom Menschen werden damit nicht nur von ihrer
humanistischen Heimat vertrieben, sie müssen sich nunmehr auch noch nach dem einzigen verfügbaren Wissensmodell definieren; nach dem Modell der methodischen
Die kantische Wende
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Wissenschaft: Indem die Kantische Wende »jede andere theoretische Erkenntnis als die der Naturwissenschaft diskreditierte, hat sie die Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften in die Anlehnung an die Methodenlehre der N aturwissenschaften gedrängt.« (WM,47) Die Geisteswissenschaften befinden sich nunmehr vor der problematischen Alternative: Methode oder Ästhetik? Obwohl sie dem methodischen Paradigma meist zu widerstehen wußten, weil es ihrer Erkenntnisweise zutiefst wesensfremd war, haben es die Geisteswissenschaften nicht immer vermocht, sich vom ästhetischen Modell zu lösen, das ihnen vom Methodenparadigma stiefmütterlich aufoktroyiert wurde. Gadamer wird uns helfen, die falsche Verführung dieses Modells auch dort zu erkennen, wo man es nicht vermuten würde, nämlich im Historismus. Seit dem 19.Jahrhundert haben die autonom gewordenen Geisteswissenschaften eine betont historistische Wende genommen, die bestrebt ist, alle Phänomene aus ihrem geschichtlichen Kontext her zu deuten. Gadamer wird zwar den Erkenntnisgewinn des Historismus nicht in Abrede stellen, aber doch seine Verlustrechnung aufstellen: Der Anspruch, die Erscheinungen von ihrem Kontext her zu begreifen, bringt sie um ihren Erkenntnisgehalt und tendiert dazu, sie zu ästhetisieren. Alle Produkte der Kultur und der Philosophie werden immer mehr als »Ausdruckserscheinungen« aufgefaßt, die aus ihrer Zeit oder dem Leben ihres Schöpfers verstanden werden sollen. Diese Verstehenstendenz hat sich inzwischen durchgesetzt, aber sie läßt uns vergessen, daß es bei diesen Produkten auch um Wahrheit geht. Geht das Verstehen im Ausdrucksverstehen auf, das nur insofern versteht, wenn es eine »Schöpfung« als Tat ihres Autors oder ihrer Zeit genetisch begreift? Ist das Verstehen nicht vielmehr die Teilhabe an einer hermeneutischen Wahrheit, einer Bildungswahrheit; die uns formt und verwandelt? Gadamer wird an zwei Fronten kämpfen, der des Historismus und der der Ästhetik, aber jedesmal gegen denselben Feind, nämlich gegen die Vergessenheit bzw. Amputation des Wahrheitsanspruches der Geisteswissenschaften, die ihre Quelle im Wahrheitsmonopol der methodischen Wissen-
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schaft hat. Es springt in die Augen, daß eine Hermeneutik wie die Gadamersche, die sich in die Diltheysche Tradition einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik stellt, der Hauptfeind im Historismus steckt: Die Herrschaft des ästhetisierenden Ausdrucksverstehens und des Methodengedankens in den Geisteswissenschaften, die Gadamer dem Historismus und Dilthey zur Last legen wird, geht an der Wahrheitserfahrung dieser Wissenschaft vorbei. Dennoch wird sich Gadamer erst im Zweiten Teil seines Werkes direkt mit dem Historismus auseinandersetzen. Er muß zunächst mit dem ästhetischen Bewußtsein abrechnen: zum einen, weil alles mit der Ästhetisierung begonnen hat, zum anderen, weil Gadamer aus der Erfahrung der Kunst einen Wahrheitsbegriff entwickeln möchte, den er auf das geschichtliche Verstehen anwenden kann. Gadamer scheint dabei selbst in die Falle des Methodenbewußtseins zu treten, wenn er die Geisteswissenschaften demonstrativ von der Kunst aus - und damit scheinbar rein ästhetisch - verstehen will. Seine Ausführungen werden aber zeigen, daß die rein ästhetische Auffassung der Kunst selbst ein Produkt des Methodenbewußtseins darstellt. Was es an der Kunst zu gewinnen gilt, ist ein Begriff, besser: eine Erfahrung von Wahrheit, die es uns erlaubt, nicht nur die Kunst, sondern auch die Geisteswissenschaften und, grundsätzlicher noch, das menschliche Verstehen besser zu verstehen. Der argumentative Gang von Wahrheit und Methode ist damit vorgezeichnet. Er setzt an bei einer begrenzt erscheinenden Frage nach der Wahrheit der Kunst, deren Tragweite allerdings immer universaler hervortreten wird: »Aber geht es an, den Begriff der Wahrheit der begrifflichen Erkenntnis vorzubehalten? Muß man nicht auch anerkennen, daß das Kunstwerk Wahrheit habe? Wir werden noch sehen, daß eine Anerkennung dieser Seite der Sache nicht nur das Phänomen der Kunst, sondern auch das der Geschichte in ein neues Licht rückt.« (WM,47) Seit alters mit den Geisteswissenschaften verbunden, wird die Hermeneutik von der Kunst ausgehen, um den Ästhetizismus zu entlarven und aus dessen Destruktion heraus einen angemesseneren Wahrheitsbegriff zu gewinnen, der die Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften
Kants Grundlegung der Ästhetik
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dann selbst besser beleuchten hilft. Aber Gadamers Werk wird schließlich auch das begrenzte, weil immer noch zu epistemologische Problem der Geisteswissenschaften überschreiten und an der Erfahrung unserer Sprachlichkeit eine allgemeinere Hermen~utikkonzeption skizzieren, die auf einen universalen Aspekt unserer Welterfahrung hindeutet.
Kants Grundlegung der Ästhetik Wir wissen, daß Kant aus gewichtigen Gründen verantwortlich ist fUr die Ästhetisierung der Erfahrungsfelder, die den Standards der exakten Wissenschaften nicht genügen. Er war zunächst derjenige, der ftir die Nachwelt das Wissenschaftsmodell der mathematischen Naturwissenschaft zur absoluten und ausschließlichen Norm zu erheben schien (was aber nicht so originell war, weil er hierin nur der kartesianischen Modernität und dem Humeschen Empirismus folgte), die alle anderen Wissensarten in den Bereich der Meinung und des Nichtwissens zu verweisen schien. Aber Kant war auch derjenige, der mit seiner Kritik der Urteilskraft von 1790 die Fundamente der Ästhetik legte, die ihr einen autonomen Geltungsbereichjenseits der Erkenntnis (Gegenstand der ersten Kritik von 1781) und der Moral (die die zweite Kritik von 1788 abhandelte) zuordnete. Bei dieser Grundlegung der Ästhetik ist es beachtenswert, daß sich Kant der Leitbegriffe des Humanismus bedient, wenn er von Geschmack, von Gemeinsinn und natürlich auch von Urteilskraft spricht. Das ist ein weiteres Zeichen, daß der Humanismus fUr ihn noch lebendig war; seine Leitbegriffe erhalten bei ihm aber eine unerhörte DimenSIOn. Das Ästhetische (Kant denkt dabei in erster Linie an das ästhetische Urteil) gehörte damals wie selbstverständlich zum Bereich der Kritik des Geschmacks, von dem wir gesehen haben, daß er eine moralische wie eine politische Relevanz einschließt. Die Kantische Reduktion war hier so erfolgreich, daß wir kaum noch von Geschmack in diesen Domänen sprechen. Etwas davon erhält sich jedoch, wenn wir negativ von
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Geschmacklosigkeit oder positiv von Sozialität oder von common sense sprechen. Es handelt sich nicht um eine Erkenntnis im Sinne der Wissenschaft, aber doch um so etwas wie eine Seinsweise, die es zu kultivieren gilt, weil sie für das Miteinanderleben unentbehrlich ist. Wie kann man aber ihren Gel~~~~~"~,!1.~p.t.!!.fh t::e(;htf.~~~igen? Das ;'~;G~u;;d;b;~~its die Frage von Kant, aber die Fragestellung verrät den Vorrang des epistemologischen Modells. Man möchte fast sagen, daß sie etwas Schiefes hat. Es leuchtet j a ein, daß die »Gültigkeit« des Geschmacksurteils nicht die der Wissenschaft sein kann. Man darf also nicht von einer objektiven Allgemeingültigkeit sprechen, wahrscheinlich auch nicht von Erkenntnis. Um welche Art von Gültigkeit handelt es sich dann? In seiner Kritik der Urteilskraft wird sich Kant bemühen, diesen nicht objektiv zu nennenden Geltungsbereich zu umschreiben. Da die Objektivität der Wissenschaft vorbehalten bleibt, wird sich Kant erdreisten, hier von einer »subjektiven Allgemeinheit« zu sprechen (vgl. Kr. d. U. § 6). Die bewußt paradox klingende Formel besagt, daß diese Allgemeinheit lediglich das Spiel unserer Erkenntnisvermögen betrifft, die ein ästhetisches Gefühl hervorrufen. Die reichen Einzelheiten der Kantischen Analyse können uns hier nicht in extenso beschäftigen, aber es springt in die Augen, daß der Objektivitätsanspruch der Naturwissenschaft den Hintergrund bildet, vor dem sich die Kantische Begründung der Ästhetik zu profilieren hat. Das ästhetische Urteil muß einen anders gearteten Anspruch erheben, soll es autonom werden. Gadamers Diskussion der Kantischen Ästhetik legt besondere Aufmerksamkeit auf eine Unterscheidung, die in der Kritik der Urteilskraft sekundär erscheinen mag, die Gadamer aber für ein wichtiges und verhängnisvolles Symptom der Autonomie der Ästhetik hält, die sich bei Kant anbahnt: die Distinktion von der freien und der anhängenden oder adhärierenden Schönheit (Kr. d. U. § 16). Die freie (und eigentliche) Schönheit ist diejenige, die Gegenstand eines reinen Ge-
schmacksurteils ist, wo sich keine moralischen oder intellektuellen Gesichtspunkte beimischen. Das Paradebeispiel für diese Schönheit bilden rur Kant die Arabesken oder auch die
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Ornamentsblumen, die nur »schön« sind. Einer weniger reinen Art von Schönheit begegnet man bei der anhängenden Schönheit, weil sie einem Begriff »adhäriert«. Ihr Sinn ist nicht bloß ein ästhetischer. Dies ist etwa der Fall, notiert Kant (ebd.), bei der Schönheit eines Menschen, eines Pferdes oder eines Gebäudes, weil hier ein gewisser Zweck vorausgesetzt wird. Nach Kant darf aber ein reines Geschmacksurteil keine »Vorstellung eines Zwecks« zu Grunde legen. Ein Zweckbezug würde gleichsam die rein ästhetische Schönheit des Geschmacksurteils beeinträchtigen. Gadamer sieht in dieser Distinktion, die die ästhetische Reinheit des Geschmacksurteils etablieren will, eine »höchst fatale Lehre« (WM, 50), weil sie das ästhetische Urteil vonjedem Seins- und Erkenntnisbezug abschneidet. Sie zwingt die Ästhetik dazu, sich im Gegen..::] zug zur Erkenntnis und zur Moral zu bestimmen. Gadamer weiß sehr wohl, daß die volle Autonomie der Ästhetik bei Kant nur vorbereitet wird. Kant spricht ja auch von der Schönheit als einem »Symbol der Sittlichkeit« (im Titel vom § 59). Aber es handelt sich eben um einen ganz besonderen Typ von Symbol, den man auch nur von Kants Voraussetzungen aus recht verstehen kann. Was Kant dazu bringt, in der Schönheit ein Symbol des Sittlichen ~.~ '~rkennen, ist nä"ffiIlch die Tatsache, daß die Natur selbst unser Gli.ick·zu~ wollen scheint, wenn sie durch ihre Schönheit ein Spiel unserer Erkenntniskräfte in Bewegung setzt. Das Geflihl der Lust, das der Mensch dabei empfindet, ist zwar rein subjektiv, aber dennoch allgemein teilbar, so daß man es hier tatsächlich mit einer subj ektiven Allgemeinheit zu tun hat. Man ist hier nahezu versucht zu sagen, daß die Natur es gut mit uns meint, indem sie dieses Geflihl nur flir uns und ohne weiteren Zweck bereitstellt. Im Geiste Kants, der hier der Leibnizianischen Harmonievorstellung sehr nahe ist, wird auf indirekte, aber sehr erhebende Weise bestätigt, daß wir damit den Endweck der Schöpfung bilden: »Das Interesse am Schönen in der Natur ist also >der Verwandtschaft nach moralisch<. Indem es die absichtslose Übereinstimmung der Natur zu unserem von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen bemerkt, mithin eine wunderbare Zweckmäßigkeit der Natur fur uns, weist es auf
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uns als auf den letzten Zweck der Schöpfung, auf unsere >moralische Bestimmung«<. (WM, 56) Die Ästhetik besitzt also in einem ganz bestimmten, ausschließlich aus diesen Kantischen Prämissen zu verstehenden Sinne eine moralische Bedeutung. Von daher läßt sich auch verstehen, warum Kant das Naturschöne vor dem Kunstschönen vorzieht. In der Kunst ist nämlich dieser Appell an unsere intelligible Natur gleichsa~ gewollt und insofern weniger erhaben. Das Kunstwerk spricht ja bereits eine geistige Sprache: [ ... ] »die Kunstprodukte sind nur, um uns so anzusprechen Naturobjekte dagegen sind nicht, um uns so anzusprechen.« (WM, 57) Das Großartige ist hier, daß das Naturschöne keine »bestimmte Aussage« abgibt. Es wird dadurch aber um so sprechender und erhabener. Das bleibt freilich nur solange zwingend, als man mit Kant den stillschweigenden Horizont einer Schöpfungstheologie und -teleologie voraussetzt. Es ist just dieser metaphysische und noch rationalistische Horizont, der den romantischen Nachfolgern von Kant weniger verbindlich erscheinen wird, schien er doch die Autonomie der Ästhetik zu gefährden, die Kant hatte begründen wollen.
Von der Geschmack- zur Genieästhetik Die nachkantische Ästhetik, die mit Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) ansetzt, wird sich also bemühen, gleichsam kantischer als Kant zu sein, um die bei Kant nur angelegte Autonomie der Ästhetik zu retten. Sie wird sie auch radikalisieren, aber der humanistische Einschlag wird zunehmend in ihr unkenntlich werden. Kant war noch Erbe dieser Tradition, als er das Geschmacksurteil weiterhin in dem mehr oder weniger geheimen Rahmen einer Moraltheologie ansiedelte, der noch nicht ganz mit der erkenntnismäßigen ~nd moralischen Dimension des Ästhetischen gebrochen hatte. Schiller bricht ebenfalls nicht ganz mit ihr, insofern er von »Erziehung« spricht, aber sie wird bei ihm eben eine »ästhetische Erziehung«. Diese dem »Spieltrieb« des Menschen untergeordnete Erziehung wird fUr die Ästhetik
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epochemachende Umwälzungen in die Wege leiten. Zwei sind von überragender Bedeutung: Der Kantische Vorrang des Naturschönen wird dem des Kunstschönen Platz machen, während der Gesichtspunkt der Geschmack- durch den der Genieä~thetik ersetzt wird. Es handelt sich um komplexe Vorgänge, deren Konsequenz sich aber gut nachvollziehen läßt: Soll die Ästhetik über einen autonomen Geltungsbereich verfugen, der allein dem freien subjektiven Spieltrieb Folge leistet,jenseits also von dem Erkenntnis- und Handlungstrieb, dem sich die Wissenschaft und die Moral beugen, wird sie von nun an die Subjektivität privilegieren, die sich am freie'sten in der künstlerischen und genialen Kreation äußert. Diese Genieästhetik verdrängt im selben Atemzug den Gesichtspunkt des Geschmackes, da er ihr in einer gewissen Hinsicht zuwiderläuft, geht doch von dem Geschmack und dem Gemeinsinn eine nivellierende Tendenz aus, die es ihnen verbietet, geniale Schöpfungen gebührend zu würdigen, weil sie gegen den jeweiligen Geschmack verstoßen. Der Kantisch,e Vorrang des Naturschönen und des Geschmacksurteils wird damit hinfällig, weil er schließlich mit der vollen Autonomie des Ästhetischen unvereinbar scheint. Auf diese Weise haben sich die Kategorien des Genies und der künstlerischen Schöpfung in der nachkantischen Ästhetik durchgesetzt. Gadamer spricht zu Recht von einer wahren Apotheose des Genialen und des Schöpferischen, die im 19.Jahrhundert zu universellen Wertbegriffen avancieren (WM, 65). Sie gehen mit einem Kult der unbewußten Produktion und des Irrationalismus einher, der um so eindeutiger zur Abtrennung der künstlerischen Welt von der Welt der Erkenntnis und der Moral fuhrt, wo die kalten Gesetze der Vernunft und des Verstandes herrschen. Die Kunst verpflichtet und verurteilt sich damit zur Irrationalität und zur Marginalität der Erkenntnis, aber auch der Gesellschaft gegenüber. Außer Schiller waren nach Gadamer Goethe und Rousseau die ersten Inspiratoren fur diese neue ästhetische Weltanschauung, obwohl es bei ihrer Dichtung noch um Wahrheit ging. Beide hatten ihre Dichtung mit ihrer persönlichen Erfahrung aber so eng verbunden, daß die Kunst mit der Selbst-
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darstellung zusammenzuschmelzen schien. Man denke dabei an die lange Autobiographie, die Goethes »Dichtung und Wahrheit« bietet oder an die verschiedenen 'Versionen von Rousseaus »Konfessionen«. Der Künstler spricht jetzt von sich selbst und teilt seine inneren Erlebnisse mit. Kunst hat es von nun an mit diesem Reich des Erlebnisses und seiner Ausdrücke zu·tun. Für Gadamers hermeneutische Untersuchung ist es natürlich von besonderer Bedeutung, daß Dilthey der größte Theoretiker dieser ästhetischen Weltansicht wurde. Er trug auch erheblich zur Verbreitung des Erlebnisbegriffes bei, den er in seinem Buch Das Erlebnis und die Dichtung (1905) zu einer Grundkategorie der Ästhetik emporhob. Er wird auch zu einer Grundkategorie der ihm vorschwebenden Hermeneutik der Geisteswissenschaften werden. Damit erwies sich aber nach Gadamer das Modell des ästhetischen Bewußtseins als maßgebend ftir die Geisteswissenschaften. Dagegen erhebt sich Gadamer, wenn er fragt, ob es bei diesen Wissenschaften vyirklich nur um die Erlebnisse der gelesenen Autoren und nicht vielmehr um Erkenntnis und Wahrheit gehe. Gilt das selbst von der Kunst? Die Apotheose des Erlebnisbegriffs gehorcht zwei Grundtendenzen, die ftir das positivistische 19. Jahrhundert symptomatisch sind. Einerseits hofft man, im Erlebnis eine letzte, den Fakten der empirischen Naturwissenschaften angemessenere Gegebenheit ausgemacht zu haben, die für die Kunst wie rur die Geisteswissenschaften gleichermaßen gelten soll. Andererseits verweist aber gerade diese Erfahrungsgrundlage auf einen gleichsam »pantheistischen« Horizont (WM, 70), insofern sie uns an einer allumfassenden Manifestation des Lebens teilhaben läßt, die sich den kognitiven Kategorien des Rationalismus entzieht. Das Leben selbst erscheint immer mehr als ein irrationalistisches Ganzes, das bald eine Reihe von »Lebensphilosophien« auf den Plan ruft. Es handelt sich gewiß um kontradiktorische Tendenzen, da die eine positivistisch, die andere pantheistisch ist, die aber in Wahrheit beide Hand in Hand gehen: Wenn sie im wissenschaftlichen Zeitalter Respekt erheischen wollen, müssen es auch die Geisteswissenschaften mit letzten Gegebenheiten zu tun haben, selbst wenn
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sie auf einen irrationalistischen Horizont hinauslaufen. Aber dieser Irrationalismus wird ihnen letztlich von der Wissenschaft selbst aufgezwungen, weil diese sich allein für das Rationale zuständig erklärt. Der Irrationalismus setzt die Herrschaft des Rationalismus voraus, die er mit seiner Marginalität nur bestätigt. Gadamer erblickt hier eine falsche Alternative, die aus einer fatalen Abstraktion herrührt.
Die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins Selbst heute erliegen wir der Tendenz, Werke der Kunst und des Geistes als Schöpfungen und Ausdruckserscheinungen zu interpretieren. Gadamer erinnert daran, daß es sich um relativ neuere Erfindungen handelt, die für das 19. Jahrhundert charakteristisch sind. Man bedient sich dabei spezifisch ästhetischer Kategorien, die stillschweigend voraussetzen, daß sich die Kunst nicht mehr als Erkenntnis beschreiben läßt. Das Kunstwerk gilt als Ausdruck eines Erlebnisses, und die ästhetIsche Erfahrung erschöpft sich im Nacherleben des schöpferischen Erlebnisses. Gegen diesen Kurzschluß ruft Gadamer in Erinnerung, daß die Kunst ehedem ganz andere Aufgaben erfüllte. Ein erstes Zeugnis davon wird er in der Allegorie sehen. Die Allegorie bezeichnete ursprünglich eine rhetorische Redeform und eine Interpretationspraxis, bevor sie eine Kunstform wurde, wie zum Beispiel in der allegorischen Malerei. Es handelt sich für uns um eine eher entlegene Kunstform, die man heute fast nur noch in den konventionell wirkenden Darstellungen der Göttinnen findet, etwa die der Gerechtigkeit mit einer Waage oder einem Schwert, aber auch in den viel sprechenderen Repräsentationen des Himmels und der Hölle bei Breughel. Was uns an der Allegorie fremd vorkommt, ist, daß sie sich wie eine kodifizierte Schrift ausnimmt, die nur dazu da ist, um auf eine bestimmte Wirklichkeit hinzuweisen. Die Allegorie ist also weniger eine ästhetische als vielmehr eine Wirklichkeitserfahrung (WM, 82). Das macht sie für Gadamer besonders interessant, nicht etwa, weil er eine besondere
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Vorliebe rur diese Art der Malerei hat, sondern weil sie auf die Grenzen des rein ästhetischen Bewußtseins hinweist: »Die Allegorie ist gewiß nicht allein Sache des Genies. Sie beruht auf festen Traditionen und hat stets eine bestimmte, angebbare Bedeutung, die sich gar nicht dem verstandesmäßigen Erfassen durch den Begriff widersetzt.« (WM,85) Gadamer interessiert sich auch deshalb rur die Allegorie, weil sie just aus diesem Grund von der Genieästhetik diskreditiert wurde. Sie konnte nämlich nicht zulassen, daß das Kunstwerk auf etwas anderes verweisen könne als auf sich selbst. Gadamer zögert seinerseits nicht, einer »Rehabilitierung der Allegorie«23 das Wort zu reden, weil die Allegorie lehrt, daß die Trennung zwischen Kunst und Wirklichkeit das Wesen der Kunst auf den Kopf stellt. Diese radikale und in seinen Augen fatale Trennung meint Gadamer, wenn er von der Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins spricht. Die Kunst mag uns noch so sehr aus der Alltäglichkeit herausholen, sie darf nicht in Opposition zur Wirklichkeit und unserer Erkenntnis von ihr gestellt werden. Diese fatale Trennung ist der Preis der Autonomisierung der Ästhetik, die sich mit Schillers Briefen entscheidet. Die Erziehung, die er meint, sei nicht mehr eine Erziehung durch die Kunst, sondern eine Erziehung zur Kunst (WM 88). Schiller wollte damit vielleicht die Kantischen Dualismen zwischen Natur und Freiheit, zwischen Theorie und Praxis überbrükken, aber er hat damit einen noch größeren Abgrund zwischen Kunst und Realität geschaffen. Vonjedem Realitätsbezug durchs Erkennen oder Handeln gelöst, ~~V\T~gt s].c;h.die Kunst nunmehr im angeblich autonomen Reich des schönen S~heinc:~, Gadamer erkennt darin die Folge des NominalisrriiiS,cler die neuzeitliche Wissenschaft auszeichnet: Wenn sich die gesamte Wirklichkeit auf die raumzeitliche Materie beschränkt, die die Wissenschaft untersucht und besetzt, kann die Kunst nur noch zum Schein,ja zur Fiktion gehören. Ist es nicht bezeichnend, bemerkt neuerdings Gadamer, daß die 23 So lautet der Titel desjenigen Abschnittes (WM, 76), der die Wiedergewinnung des Realitätsbezugs der Kunst in die Wege leitet.
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gesamte Literatur im Englischen (der Sprache der modernen . Wissenschaft) den Namen »fiction« trägt, um anzudeuten, daß sie keinen Sachbezug habe. 24 Sachbücher gehören ihrerseits unter die unnachahmbar genannte Rubrik der »non-fiction«! Die Herrschaft der modernen Wissenschaft und ihres Nominalismus geht so weit, daß die gesamte Literatur durch ihren fiktiven Charakter beschrieben wird! Aber stimmt das wirklich? Lernt man nicht etwa durch King Lear, was die Undankbarkeit in Wirklichkeit »ist«, und von Kafka, was die moderne Welt ausmacht? Ist das alles »Fiktion«? Gadamer wird diese Fiktionalisierung der Kunst mit Entschiedenheit bekämpfen, nicht nur, weil sie die Wahrheit der Kunst trivialisiert und entrealisiert, sondern auch, weil sie das :\ Wesentliche an der Kunst verdeckt, nämlich ihre Fähigkeit, \ die Erfahrungswirklichkeit in ihrer vollen Bedeutsamkeit ~arzustellen. Deshalb wird er seine positive Ästhetik pointiert unter den Titel einer »Ontologie des Kunstwerks« stellen. Die Kunst ist für ihn in erster Linie eine Wahrheits- und Seinserfahrung. Gadamer wird sogar in der Kunst von einem Zuwachs an Sein sprechen. Die Kunst hat nicht an einem minderen Wirklichkeits grad teil, im Gegenteil: in ihr wird das Sein mehr (WM, 145). Diese ontologischen Kategorien wirken sonderbar »quantitativ«, aber diese Betrachtungsweise ist nur . die Kehrseite der nominalistischen Verlegenheit, unter die die moderne Wissenschaft das Kunstwerk zu nötigen scheint, wenn sie es in die irreale Welt des schönen Scheines verbannt. Das ästhetische Bewußtsein ist also das Ergebnis einer Verlegenheit, die den Nominalismus der Wissenschaft zur Voraussetzung hat. Gewiß erlangt die Kunst dadurch eine Auto-
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24 Vgl. Gadamers Vortrag über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner ästhetischen Kommunizierbarkeit« anläßlich der Freiburger Kulturgespräche vom 5. FebnIar 1994 in Marienbad (Autobahnuniversität: Heidelberg, earl-Au er-Systeme Verlag, 1994): »Stellen Sie sich das einmal vor, daß man eine ganze große Literaturgattung >fiction< danach beschreibt, daß sie nicht dem Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft entspricht. Das Fiktive an der Handlung als das Wesentliche? Nein, es ist gerade das Unwesentliche. Das ist es doch gerade, daß niemand das als Fiktion nimmt, weil jeder es schon weiß.«
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nornie; eine Souveränität, aber sie bleibt nach Gadamers Urteil eine imaginäre, eine irreale. Sicherlich gewinnt die Kunst dadurch auch mehr Sichtbarkeit als Kunst. Von nun an werden besondere Stätten für die Kunst errichtet: Jede respektable bürgerliche Stadt besitzt seit dem 19. Jahrhundert ihr Kunstzentrum, wo man Schauspielhäuser, stehende Theater und Museen zusammenstellt (WM, 93). Je mehr die Kunst in diesen Stätten gedeiht, desto mehr wird sie sorgfaltig von der übrigen, realen städtischen Welt ClEgetrennt, die von Wissenschaft und Wirtsch,aft_yerwaltet bleibt. Jede anständige Zeitung-hat von nun an ein Feuilleton, wo die Kunst, die Geisteswissenschaften und die Philosophie abgehandelt werden: aber bitte nach den wirklichen Nachrichten und dem Blick in die Wirtschaft. In Nordamerika heißeri'''diese Feuilletons oft »Arts and Entertainment«, weil die Kunst eigentlich da ist, um uns zu unterhalten und von der wirklichen Welt abzulenken. Die Kunst ist unwirklich geworden und zelebriert ihre eigene Unwirklichkeit. Selbst der Künstler verliert seinen Ort in der Welt. So wird er spätestens seit Puccinis bekannter Oper (1896) zur Boheme verurteilt. Das Außenseiterturn des armen böhmischen Zimmermädchens wird nunmehr zur bevorzugten Stelle des Künstlers in der Welt. Ein wahrer Kult der Boheme wird damit instituiert. Von Kult darf man sprechen, weil in der entgötterten Welt der Wissenschaft die Marginalität des Künstlers zu einem neuen Heilsträger wird. Dieses ästhetische Bewußtsein bildet nach Gadamer eine Abstraktion in vielerlei Hinsicht. Erstens schneidet es die Kunst von der Wirklichkeit auf fatale Weise ab, indem es die Kunstwelt in eine radikale Diskontinuität zur übrigen Welt stellt. Zweitens abstrahiert es auf fatale Weise von dem Wahrheitsbezug, der nach Gadamer jeder Kunst eignet. Drittens abstrahiert es von dem tatsächlichen Treiben der Künstler selbst. Die Kunstkritik mag noch so sehr von Schöpfung, Genialität, (nahezu göttlicher) Inspiration und tiefen Bedeutungsbezügen reden, aber die wirklichen Künstler verbleiben meist bei sehr prosaischen Betrachtungen über ihre Arbeitsweise und ihre Technik, wenn sie von ihren Produktionen sprechen. Welcher Künstler hat sichje in der Kunstkritik er-
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kannt? Die Kunst ist ferner rur ihn eine Arbeit. Weit davon entfernt, eine Sache von reiner Ästhetik zu sein, ist die Kunst in den meisten Fällen auch eine Auftragsarbeit. Da das ästhetische Bewußtsein postulierte, daß die wahre Kunst nur aus der ungebundenen, rein schöpferischen Inspiration des Genies fließen könne, mußte es die Auftragskunst diskreditieren. Es vergaß, daß die gesamte abendländische Kunst darauf angewiesen war: Nahezu die Gesamtheit der Kantaten von Bach wurden für die jeweilige Sonntagsmesse komponiert, während Racine und Moliere - die größten Klassiker der französischen Literatur - ihre Stücke in erster Linie für Louis XIV und seinen Hof geschrieben haben. Die »Meninas« von Velazquez sind schließlich auch nichts anderes als ein Porträt der königlichen Familie.
2. Die Wahrheit von der Kunst her Die Kritik an der Subjektivierung der Kunst: das Spiel "der Kunst ist ein ganz anderes Will man der Kunst einen Wahrheitsanspruch zuerkennen, um von ihr in Erfahrung zu bringen, worin eine nicht methodisierbare Wahrheit bestehen könnte, so ist es notwendig, die Kantische und nachkantische Subjektivierung der Ästhetik zu überwinden. Es handelt sich nach Gadamer um die große Sackgasse der Ästhetik,ja der Moderne schlechthin. Es ist tatsächlich der Herrschaftsanspruch der modernen Wissenschaft zur Objektivität, der die ästhetische Erfahrung dazu nötigt, sich rein subjektiv zu verstehen, als ginge es da nur um die Erlebnisse des Individuums. Der Nominalismus feiert seine Bestätigung in dieser Subjektivierung der Kunst, die das ästhetische Bewußtsein auch noch unterschreibt. Könnte die Kunst uns vielleicht helfen, ihn zu erschüttern? Nach Gadamers positiver und polemischer Grundthese bildet die Kunst zunächst eine Seinserfahrung, die sich als Erkenntnisgewinn beschreiben läßt. Wie läßt sich dieser Seinszuwachs des näheren bestimmen? Die Frage ist bereits etwas schief gestellt, weil die ästhetische Erfahrung eine Erfahrung ist, der wir nicht Herr sind. Das ist es gerade, was das Geschehen der Kunst ausmacht, daß wir uns in ihr Spiel hineinnehmen und -ziehen lassen. Aber was nimmt uns hier in Anspruch? Rilke hat es vielleicht am besten formuliert, als er hier von einem Fangen-können als einem Vermögen sprach, das nicht meines, sondern das einer Welt ist. Rilkes Beispiel war auch das des Balles, der mir zugespielt wird, ohne daß die
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Initiative von mir ausginge. Ebenso lasse ich mich auf das Spiel der Kunst ein. Gadamer wird sich also von der Spielmetapher leiten lassen, um die Wahrheit der Kunst wiederzugewinnen. Es handelt sich freilich um eine vom ästhetischen Bewußtsein bereits besetzte Metapher. Schiller hatte ihr ja in seinem Entwurf der ästhetischen Erziehung eine breite Tragweite zuerkannt. Kant sprach noch von einem Spiel unserer Erkenntnisvermögen, aus dem Schiller allein die Idee eines Spieltriebes herausholte, weil er mit ihm die ästhetische BefreiuJ;lg schildern wollte, die in der Ablösung von dem Erkenntnisund Handlungszwang stattfindet. Das Spiel war damit dem »Ernst« der Erkenntnis entgegengestellt. In diesem Sinne spricht man heute von der Kunst als entertainment oder divertissement, weil sie vom lästigen Ernst des Erkennens entlasten soll. Ist es aber denn a'Usgemacht, daß die Kunst oder selbst das Spiel etwas Unernstes ist? Ist da alles rein spielerisch und alles nur subjektiv? Gadamer möchte diese spielerische Banalisierung der Kunst destruieren, aber er tut es, indem er sich ebenfalls der Spielmetapher bedient. Er scheint eine schelmische Freude daran zu haben, die Grundkategorien des ästhetischen Bewußtseins zu benützen, um ihnen indes einen ganz anderen Sinn und einen Wahrheitsbezug zu geben: Genauso wie er der Irrealität und dem schönen Schein des ästhetischen Bewußtseins die Idee eines Seinszuwachses entgegenstellt, genauso fUhrt er gegen die Vorstellung eines rein subjektiven Spieles die Erfahrung ins Feld, daß die Kunst ein Spiel darstellt, in dem die Subjektivität eine buchstäblich sekundäre Rolle spielt. Dieses »Spiel« der Kunst hat selbst etwas ernstes, wie jedes Spiel auch. Man sagt ja von demjenigen, der nicht ernsthaft spielt, daß er die Spielregeln verletze, als genieße das Spiel eine eigene Autonomie und Regelhaftigkeit. Gadamer folgt hier - wie er es oft und gern tut - dem Genius der Sprache, die diese Autonomie meint, wenn sie von einem Spiel des Lichtes, einem Spiel der Wellen, einem Wortspiel oder von allen sportlichen Formen des Spieles spricht (es ist zu beach-
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ten, daß es für das deutsche Wort Spiel zwei verschiedene Termini im Englischen gibt:game und play). In all diesen Beispielen (1) ist es nie das autonome Spiel der Spielenden, sondern die Autonomie des Spieles selbst, die sich behauptet. Gadamer spricht von einem Primat des Spieles gegenüber dem Bewußtsein des Spielenden (WM, 110). Die Subjektivität spielt nur richtig, wenn sie mitspielt, d. h. wenn sie sich dem Gesetz des Spieles beugt. Es ist hier wichtig zu vermerken, daß dies nicht nur für die Spielenden, sondern selbst rur die Zuschauer des Spieles gilt (was sich für Gadamers Vollzugsontologie der Kunst als besonders wichtig erweisen wird): Wer einem Tennisspiel zuschaut, spielt insofern mit, als er dem Ball folgt und von der Spannung des Ballwechsels ergriffen wird. Das wahre Subjekt des Spieles ist also das Spiel selbst, das alle, die an ihm teilnehmen, in seine Spielwirklichkeit hineinzieht: »Der Spielende erfährt das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit.« (WM, 115) Gadamer spricht hier von dem »medialen Sinn« des Spieles. Wer der alten Sprachen nicht kundig ist, wird nicht unmittelbar einsehen, was darunter gemeint sein könnte. Das Mediale ist im Griechischen ein Verbgenus, das zwischen dem passiven und dem aktiven oszilliert: das Verb weist zwar eine passive Konstruktion auf, hat aber eine eher aktive Bedeutung. Gute Beispiele dafür sind mediale Verben wie peithomai für »gehorchen« oder paideuomai für »erziehen«. Die Bildung ist grammatisch passiv, aber es ist ein »aktiver« Vorgang anvisiert. Er ist aber wiederum nicht gänzlich aktiv, weil es sich um etwas handelt, was mit einem geschieht oder über einen ergeht. Die Spielbewegung ist rur die Spieler insofern ein »Gespieltwerden«, das sich am besten medial ausdrücken läßt: »Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird.« (WM,112) Wenn das Spiel das wahre Subjekt darstellt, kann man nie allein spielen. Selbst wenn ein Gegenspieler fehlt, wie etwa bei einem Kreuzworträtsel, bei einem Patiencespiel oder dem einsamen Spielen des Kindes mit einem Ball, muß »immer ein anderes da sein, mit dem der Spielende spielt und das dem Zug des Spielers von sich aus
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mit einem Gegenzug antwortet« (WM, 111). Ebenso, darf man hinzusetzen, spielt man mit Möglichkeiten oder mit Worten. Was bedeutet diese ~hänomenologie des Gespieltwerdens ftir eine Ontologie des Kunstwerkes und die hermeneutische Fragestellung Gadamers? Ihr polemischer Ertrag ist zunächst wertvoll: Die grundlegende Kategorie der (Schillers ehen) Ästhetik, die des Spieles, ist weniger spielerisch und subjektiv, als sie aussieht. Das Spielen bedeutet nicht einen Rückzug des Spielers auf das Innenreich seiner ungebundenen Freiheit, es ist vielmehr ein Sichbeugen vor einer überragenden Wirklichkeit, die ihren fesselnden Ernst hat. Dieses Gefangensein bildet aber keine Befangenheit, denn nur von dem, der so gefesselt ist, kann man sagen, daß er »versteht«. Gadamer scheint von dieser Idee eines Gefangenseins fasziniert :zu sein, weil die Subjektivität damit in eine andere Wirklichkeit erhoben zu werden scheint, wo sie aber dennoch direkt angeredet bleibt. Der Begriff des Spieles erlaubt es somit, zwei Aspekte der Kunsterfahrung zusammenzudenken, die gegenläufig erscheinen mögen, die aber fur ihre Seinsweise wesentlich ist, nämlich der Umstand, daß die Kunst eine autonome und uns überragende Wirklichkeit darstellt, in der wir aber zugleich immer impliziert sind. Wenn man solche Begriffe hier verwenden könnte, ließe sich sagen, daß die Kunst einerseits sehr »objektiv« ist: sie ist da, in dem gelungenen Gedicht, in der Symphonie, im Bild, aber sie ist zugleich eminent »subjektiv«: das Gedicht oder die Symphonie ergreifen mich in ihrer Bewegung, das Bild »schaut« mich an. Unsere »Subjektivität« spielt immer mit im Spiel der Kunst. Sie ist aber sekundär, da sie immer nur auf das Angebot des Kunstwerkes antwortet. Der späte Gadamer hat sehr häufig auf dieser Hoheit, auf dieser nahezu sakralen Absolutheit des Kunstwerkes insistiert. 25 Das wahre Kunstwerk steht da und drängt mir sein Diktat auf. Gadamer hebt oft diesen etymologischen Zusammenhang zwischen der Dichtung und ihrem Diktat hervor (vgl. GW 8, 25 Vgl. seine spätere Studie »Wort und Bild - >so wahr, so seiend<<< (1992), GW 8,379.
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251; GW 10,140 u. ö.). Die großen Texte der Literatur sind »eminente« Texte und fordern uns damit auf, ihrem Diktat zu folgen. Ebenso blickt uns das Bild von einer gewissen Höhe oder Hoheit aus an (GW 10, 283). Der Anspruch, der sich uns da aufdrängt, ist aber ein Anspruch aufRichtigkeit, der übrigens in der Regel auch eine längere Dauer hat als die wissenschaftliche Richtigkeit: Wer etwa ein Lehrbuch der Physik oder der Medizin vom Anfang des 20. Jahrhunderts zur Hand nimmt, wird verblüfft sein, wie sehr das alles veraltet ist. Dasselbe läßt sich nicht von einer Tragödie des Sophokles, einer Skulptur von Phidias oder gar einem Dialog von Plato sagen. Hat man es hier nicht mit einer Wahrheit zu tun, die - sehr zur Überraschung des common sense - auch viel mehr Bestand hat als jede noch so rein wissenschaftliche Wahrheit? Wenn Gadamer von dieser Absolutheit bzw. Disktinktion des Kunstwerkes spricht, scheint er freilich in die Nähe jener »ästhetischen Unterscheidung« zu geraten, die er andererseits so energisch in Frage stellt, weil sie Kunstwerke rein ästhetisch betrachtet. Deshalb empfiehlt es sich, terminologisch die ästhetische Unterscheidung von der ästhetischen Distinktion, die die Kunst zur Kunst macht, auseinanderzuhalten. Denn die Kunst, deren »Distinktion« uns auch zum Verweilen bei ihr einlädt, ist nicht von der Welt unterschieden. In ihr wird die Welt nur sprechender, offenbarer. Wenn Gadamer hier von einer »ästhetischen Nichtunterscheidung« spricht, weiß er sehr wohl, daß die Nichtunterscheidung die Unterscheidung, besser: den distinkten Charakter der Kunst mit einschließt. Die subjektive Ästhetik greift nur zu kurz, wenn sie allein auf die Unterscheidung abhebt, als sei es hier das einzig Wesentliche. Wesentlicher erscheint rur Gadamer das Gegenteil, nämlich daß die Kunst uns einen Zuwachs an Sein zuteilt. Sie bildet somit eine »Aussage« und erhebt einen Wahrheitsanspruch. Es ist aber ein Wahrheitsanspruch, der eine Antwort erheischt. Die Aussage der Kunst ist eigentlich ei11:e:t\nrede. Das Spiel der Kunst besteht in diesem Zusammenspiel des (»objektiven«) Werkes und seines Nachvollzuges, den man »subjektiv« nennen kann, der aber dem Schrittgesetz des Werkes
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Folge leistet. Es gibt nämlich nie das »objektive« Gedicht in seiner Absolutheit, sondern immer nur das Gedicht, das rezi-
tiert und verstanden wird. Ein Interpretationsband von Gadamer trägt deshalb den Titel »Gedicht und Gespräch« (Frankfurt a. M., Insel, 1990). Das Wort des Gedichts ist auf eine Antwort, ein Gespräch angewiesen. Das gilt nicht nur vori der Dichtung und der Kunst, die eine Wortsprache spricht. Denn auf dieselbe Weise will ein Bild angeschaut werden. Ebenso ist es unmöglich, eine Melodie zu hören, ohne sie innerlich zu summen, ohne mit den Fingern oder den Füßen tanzen zu wollen. 26 Das Kunstwerk ist eigentlich nur in diesem Mitspielen, in diesem Angeredetwerden da, das uns verwandelt.
Die Kunst als verwandelnde Darstellung Die Idee des Spiels macht es möglich, die Anrede der Kunst und ihre Antwort in der Einheit eines dialektischen Prozesses zusammenzudenken. Das Spiel meint sowohl die Distinktion des Kunstwerkes als auch die Tatsache, daß wir uns in es »dialogisch« verfuhren lassen. Das Kunstwerk gibt uns sein Diktat, sein Gesetz auf, aber wir bleiben immer »dabei«. Dies fUhrt Gadamer in Wahrheit und Methode zur wichtigen These, daß das Kunstwerk sein eigentliches Sein in der Darstellung hat, an der wir immer teilhaben. Will man der Seinsweise der Kunst gerecht werden, darf nicht das Kunstwerk von seiner Darstellung, etwa das Gedicht von seiner Rezitation oder das Theaterstück von seiner Auffuhrung, ontologisch unterschieden werden. Das eloquenteste Beispiel dafUr liefern nach Gadamer die »transitorischen« Künste, d. h. das Theater oder die Musik, die auf der Bühne gespielt und interpretiert sein wollen. Gadamer wird aber dieses Modell auf alle Formen von 26 Zur Antwort, die die Musik erwecken will, vgl. GW 10,283. Die Musik wird bei Gadamer leider weit weniger thematisiert als andere Kunstformen,aber ihr Angewiesensein auf einen Mitvollzug des Hörenden gibt ihr exemplarische Bedeutung fur Gadamers Ontologie der Kunst. Vgl. »Musik und Zeit«, in GW 8, 362-365; Hermeneutische Entwürfe, Tübingen 2000, S. 3.
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Kunst anwenden. Jede Art von Kunst (selbst die Literatur oder die Malerei, wo dies weniger evident erscheinen könnte) ist auf eine »Darstellung« angewiesen. Der beste Ausdruck für diese Darstellung wäre sicherlich das Wort Interpretation (transitorische Künste heißen auf Französisch »Interpretationskünste«). So will die Musik oder das Theaterstück »interpretiert« werden und hat nur in dieser Interpretation ein Sein. Natürlich kann man theoretisch eine Interpretation von dem Originalwerk unterscheiden. Man kann etwa eine Aufführung von Don Giovanni zu »modern« finden, weil sie dem Werk nicht gerecht zu werden scheint. Aber das können wir nur sagen, weil uns eine andere, glücklichere Aufführung vorschwebt (die nicht unbedingt die von Mozart direkt gewollte sein muß). Das beweist nur, daß das Werk auf eine solche Darstellung angewiesen ist. In seinen späteren Texten zur Ästhetik spricht Gadamer hier weniger von Darstellung als von Vollzug. Das Wort stammt vermutlich aus den Vorlesungen des jungen Heidegger, die in den letzten Jahren zur Veröffentlichung gelangt sind. Heidegger verstand darunter die Realisierung der Bedeutung durch den Einsatz des eigenen Verstehens, den actus exercitus, der allein die Bedeutung formaler Termini mit Inhalt fülle. Ebenso ist die Kunst auf einen Vollzug angewiesen, um realisiert zu werden. Gadamers Interpretationen dichterischer Werke im 9. Band seiner Gesammelten Werke (1993) heißen betont »Hermeneutik im Vollzug«. Der späte Gadamer spricht hier auch gern von einem »Lesen«, aber in einer sehr weiten Bedeutung, die über das Lesen sprachlicher Zeichen hinausgeht. So schrieb er 1979 einen Text »Über das Lesen von Bauten und Bildern« (Gesammelte Werke 8,331338). Auch ein Bauwerk oder ein Bild wollen in ihrer Aussage »gelesen« werden. Wer durch ein Bauwerk hindurchgeht oder ein Musikstück hört, läßt es auf sich wirken, so daß es sprechend wird. »Lesen heißt immer etwas sprechen lassen« (GW 9, 462). Die Erfahrung des Kunstwerkes ist immer die, daß es so anzusprechen vermag. Dieses Lesen von Kunst hat damit etwas von »Auslese«, d. h. von Ernte und Sammlung an sich. Die Darstellung, die Interpretation, der Vollzug oder das Le-
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sen des Kunstwerkes findet ihren Widerhall im »inneren Ohr« des Lesers. 27 Mit den späteren Begriffen des Lesens, des Vollzugs und des inneren Ohrs scheint Gadamer der verstehenden Aufnahme einen größeren Spielraum zuzuerkennen. Die in Wahrheit und Methode bevorzugte Formel der Darstellung insistierte vielleicht mehr auf den ontologischen Vorgang, der im Kunstwerk geschieht und von ihm ausgeht. Gadamer sprach auch neuplatonisch von Emanation (WM, 145), um das Kunstgeschehen als einen Seinsvorgang hervortreten zu lassen. Der Begriff der Darstellung ist insofern glücklich, als er sowohl eine Darstellung von etwas (und damit eine Emanation) als auch eine Darstellung für jemanden, für den dieses Sein Gestalt gewinnt, meint. Diesen Seinsvorgang faßt Wahrheit und Methode als eine »Verwandlung ins Gebilde«. Verwandlung meint hier, »daß etwas auf einmal und als Ganzes ein anderes ist, so daß dies andere, das es als Verwandeltes ist, sein wahres Sein ist, dem gegenüber sein früheres Sein nichig ist« (WM, 116). Diese komplexe Formulierung läßt viele Facetten des Wortes Verwandlung mit anklingen. 1) Durch die Verwandlung in ein Gebilde wird offenkundig das dargestellte Sein etwas anderes, nämlich ein Kunstwerk. Es gewinnt damit eine Gestalt, d. h. eine Idealität, auf die man zurückkommen kann. Denken wir etwa an die gemalten Schuhe von van Gogh, die es Heidegger so sehr angetan haben. Das Bild verleiht ihnen eine besondere Dringlichkeit (einen »Seinszuwachs«), indem es sie ins Gebilde »verwandelt«. 2) Durch die Verwandlung wird aber das Dargestellte nichts anderes als es selbst, d. h. als das, was es in Wirklichkeit ist. Dieses Sein wird uns aber nur durch das Kunstwerk zuteil. Bei einem gelungenen Photo von jemandem sagen wir: »das 27 Vgl. GW 8, 247: »Meine These ist nun, daß das literarische Kunstwerk mehr oder weniger sein Dasein fur das innere Ohr hat. Das innere Ohr vernimmt das ideale Sprachgebilde - etwas, was keiner je hören kann.« Zu diesem fur den späten Gadamer wichtigen Begriff, der weit über das literarische Kunstwerk hinaus Anwendung findet, vgl. meine Studie »Das innere Ohr. Distanz und Selbstreflexion in der Hermeneutik«, in Denken der Individualität. Festschrift fur ]osefSimon zum 65. Geburtstag, Berlin, De Gruyter, 1995, 325-334.
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ist der ganz genau!« und bei dem mißlungenen: »das trifft nicht«. Es handelt sich zwar um dieselbe Person, aber ihr Sein wird vün dem einen Bild getroffen, vün dem anderen nicht. Es ist aber so., daß wir dieses Sein nicht kennen würden ühne das Bild, ühne die »üntülügische Valenz«, die das Sein dank ihm erlangt. Allein im Bild gelangen die Schuhe vün van Gügh üder die dargestellte Persün zu ihrem wahren, erkennbaren Sein. Bilder vo.n »fiktiven« Wesen sind vielleicht hier ein gutes Beispiel. Wir wissen alle, wie Engel aussehen, selbst wenn sie nicht existieren. Nur die Kunst lehrt uns, was sie sind und wie sie aussehen, so. wie uns nur die Sixtinische Kapelle vür Augen fUhrt, wie Gütt aussieht, selbst wenn man sein Dasein leugnet. Aber das ist Gütt, der Gütt, der vüm Gläubigen wie vüm Atheisten gleichermaßen vürausgesetzt wird. Wir wissen es nur durch die ins Gebilde verwandelnde üntülügische Funktiün der Kunst. - Verwandlung hat aber hier nüch weitere Bedeutungen: 3) Im religiösen Sprachgebrauch bedeutet sie bekanntlich die Erhöhung in einen höheren Seinsbereich. Sie meint eine Epiphanie. Sie besagt, daß der Verwandelte (im N euen Testament geht es um die Verklärung Christi, vgl. Mt 17, 1) durch die an ihm geschehende Verwandlung zum ersten Mal sein wahres Sein üffenbart, das aber auf sein früheres Wirken ein völlig neu es Licht wirft. In der Verwandlung versteht man auf einmal auch, was früher war. Das ist die üntülügische Leistung der Kunst rur Gadamer, der auf die religiöse Bedeutung seiner Termini selten hinweist, auch wenn er sie wühl vüraussetzt. Eine letzte Bedeutung der Verwandlung erscheint hier einschlägig: 4) In der Verwandlung werden auch die an ihr Teilhabenden mit verwandelt. Es ist nicht nur ein übjektives Sein, das in der Kunst verwandelt erscheint. Wir sind es, die auf einmal mit neuen Augen sehen. Das verwandelte Sein, das uns die Kunst vür Augen fUhrt, ist zugleich das unsrige. Es ist das Sein unserer Welt, das sich in der Darstellung der Kunst verwandelt zeigt. Die Kunst verwandelt nicht nur das Sein, das sie zur Darstellung bringt, sündern auch die vün ihr Erreichten. Diese Verwandlung ins Gebilde versteht Gadamer auch als »Vermittlung«, aber er spielt hier wiederum auf die Vieldeu-
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tigkeit des Terminus an. Denn die Vermittlung meint hier zum einen die Inszenierung, die Aufführung und insofern ihre »Interpretation«, zum anderen aber auch die Aneignung oder die Interpretation, die der Zuschauer vollbringt. Man hat den Eindruck, daß er damit die Kunst und ihre Interpretation ineins verschmelzen läßt. Es macht aber nach Gadamer die Kunst aus, daß hier die Vermittlung in der Tat »total« ist, d. h., daß man nicht recht das Werk von seiner Interpretation unterscheiden kann. Dasselbe gilt auch von einer Interpretation oder einer Übersetzung: eine Interpretation von Platon ist dann gelungen, wenn sie sich als Deutung nicht bemerkbar macht, wenn man den Eindruck gewinnt, daß der Gedanke von Platon angemessen wiedergegeben wird. Aber das erfordert eine sehr große Interpretationskunst. Es ist nicht abwegig, in dieser Konzeption der totalen Vermittlung einen gewissen Anklang an Bultmanns Auffassung des »Kerygmas« zu vernehmen. Die Grundlage der christlichen Botschaft ist nach Bultmann nicht so sehr die Geschichte von Jesu, die uns als solche unerreichbar ist, als vielmehr die Proklamation oder Verheißung der Apostel selbst. Diese Proklamation oder dieses kerygma bildet die erste und einzige Gegebenheit der christlichen Botschaft. Aber sie war bereits selbst eine »Interpretation«. Die Botschaft als solche ist nur in einer vermittelnden Interpretation oder Darstellung zugänglich. Die Wiederauferstehung Jesu erscheint da weniger wichtig als die Bedeutung, die sie rür die an sie Glaubenden gewann (so daß Bultmann gelegentlich den Eindruck erweckt, daß die Auferstehung Jesu mit seiner Auferstehung im Glauben gleichzusetzen ist). Diese Bedeutung liegt nach Bultmanns protestantischer Theologie in der Anerkennung der Unmöglichkeit, sich selbst zu verstehen und zu rechtfertigen ohne die Gnade. Das ist »die Sache« des Glaubens, die aber nur in der Proklamation und ihrer Erneuerung erfahrbar ist. So erklärt sich auch Bultmanns späteres Programm einer Entmythologisierung der christlichen Botschaft28 : selbst die 28 Über diese Kohärenz des Denkweges von Bultmann, vgl. die auch ansonsten sehr lehrreichen Ausfuhrungen von Wolfhart Pannenberg,
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erste Verheißung enthielt mystische Elemente (wie z. B. die Idee eines Hinabstiegs in die Hölle oder einer Himmelfahrt), die für uns nicht mehr verbindlich sind und die sich nicht mehr proklamieren lassen. Man kann also die Sache der ersten Verheißung der Apostel »besser« proklamieren, obwohl es um dieselbe »Sache« geht. Die theologische Tragweite dieser Einsicht ist für Gadamer natürlich weniger einschlägig als ihre hermeneutische: der Sinn der Kunst vollbringt sich nur in seiner Vermittlung oder Darstellung, die das Kunstwerk neu zum Sprechen bringt. Die Interpretation oder Vermittlung (möge sie auf der Bühne oder beim Interpreten geschehen) läßt sich nicht vom Werk selbst unterscheiden.
DieWiedererkenntnis der mimesis Gadamers Insistieren auf der Wahrheitserfahrung der Kunst und dem Seinszuwachs, den ihre Verwandlung zeitigt, muß auf weite Strecken auch an Heidegger erinnern. In seinen Vorträgen »Der Ursprung des Kunstwerkes« von 1935-36 hatte Heidegger von einem Ins-Werk-Setzen der Wahrheit in der Kunst gesprochen. Auch für ihn war die Kunst eine Seinserfahrung. Erstaunlicherweise bezieht- sich aber Gadamer in Wahrheit und Methode nicht direkt auf Heideggers wichtige Analyse. Das verwundert um so mehr, als er 1959 aufHeideggers Anraten hin ein wichtiges Nachwort zur Reclam-Ausgabe von Der Ursprung des Kunstwerkes schrieb. 29 Es ist deshalb lohnend, trotz des gemeinsamen »ontologischen« Vokabulars auf die stillschweigenden Unterschiede zwischen der Gadamerschen und der Heideggerschen Kunstauffassung hinzuweIsen. Es fällt zunächst auf, daß Gadamer vor der anspruchsvollen Seinsspekulation Heideggers und der Idee einer metaphysiProblemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht/UTB, 1996, 208. 29 Jetzt in GW 3, 249-261.
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sehen Seinsvergessenheit, die das Abendland gekennzeichnet haben sollen, zurückscheut. Er insistiert lieber auf der Seinserinnerung, wie sie nicht zuletzt in der Kunst geschieht. Unter Sein versteht Gadamer allgemein - und viel schlichter als Heidegger - dasjenige, was das Denken der Subjektivität übersteigt (vgl. WM, 105): Die Kunst ist eine Erinnerung an dieses Sein und damit an die Grenze der Subjektivität. Aber auch der Wahrheitsbegriffist in Gadamers Kunstdenken etwas anders besetzt. Er versteht die Wahrheit weniger als ontologisches Ineinanderspiel von Unverborgenheit und Verbergung, von Welt und Erde, sondern als eine Erkenntnis, ja eine Wiedererkenntnis. Die uns durch das Kunstwerk zuteil werdende Erfahrung hat den Charakter einer Anamnese. Sie bringt uns dazu, die Welt, in der wir leben, wiederzuerkennen, aber so, als ob wir sie zum ersten Mal erkennen würden. Im alltäglichen Leben sind wir zu sehr von unserem Treiben und unseren kleinen Sorgen in Anspruch genommen, um die Welt als solche wahrzunehmen: Die Kunst holt uns aus unserer Weltvergessenheit heraus und öffnet uns die Augen ftir das, was ist. Gadamer zögert nicht, hier von einer »Wesenserkenntnis« zu sprechen (WM, 120). Es ist sozusagen die wahre Wirklichkeit der Welt, die aus dem Kunstwerk sprechend herauskommt. Die Kunst macht uns sehender. Die natürlichste Reaktion auf die Offenbarung, die im Kunstwerk geschieht, wird Gadamer in seinen letzten Arbeiten zur Ästhetik mit den schlichten Worten Goethes ausdrücken: »so wahr, so seiend«3o. Vor dem gelungenen Kunstwerk kann man nur sagen: »so ist es«, »es kommt heraus« (GW 8,389). Wahrheit und Methode sprach hier in einem sicherlich allzu quantitativen Sinne von einem »Seinszuwachs«: die von van Gogh gemalten Schuhe haben »mehr« Sein als die der Bäuerin oder des Malers, sie sind mehr als ihre Kopie, weil sie ihre Essenz wiedergeben. Diese kognitive oder rekognitive Tragweite der Kunst wird Gadamer zu einer Rehabilitierung der seit langem hinfällig 30
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Vgl. »Wort und Bild - >so wahr, so seiend«( (1992), GW 8, 373-
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gewordenen, auf Platon zurückgehenden Auffassung der Kunst als Nachahmung (mimesis oder imitatio) fuhren. Denn die künstlerische Nachahmung der Wirklichkeit ist nie bloß ihre Verdoppelung oder ihr unvollkommenes Abbild, sondern das, was uns dieses Sein allererst zu erkennen erlaubt. Die mimesis bildet insofern weniger eine blinde Nachahmung als einen Erkenntnisprozeß. Man muß dabei in der mimesis das Moment von anamnesis mithören, wie es die Etymologie auch nahelegt: die Welt wird so sehr im Element der ontologischen Vergessenheit erlebt, daß es die anamnetische Funktion der Kunst auszeichnet, die Welt rur sich selbst wiederzuentdekken. Die verloren gegangene Evidenz dieser Mimesis-Idee lag nach Gadamer an der Erkenntnisfunktion der Kunst, die bis zur Heraufkunft des ästhetischen Bewußtseins allgemein anerkannt gewesen sei. Dieses Bewußtsein konnte natürlich von dieser Idee keinen Gebrauch mehr machen, weil die Kunst ja von der Welt abgetrennt sein sollte: »Nachahmung hat also als Darstellung eine ausgezeichnete Erkenntnisfunktion. Der Begriff der Nachahmung konnte aus diesem Grunde in der Kunsttheorie solange ausreichen, wie die Erkenntnisbedeutung der Kunst unbestritten war. Das aber gilt solange, als es feststeht, daß Erkenntnis des Wahren Erkenntnis des Wesens ist, denn solcher Erkenntnis dient die Kunst auf eine überzeugende Weise. Für den Nominalismus der modernen Wissenschaft dagegen und seinen Wirklichkeitsbegriff, aus dem Kant rur die Ästhetik die agnostizistischen Konsequenzen gezogen hat, hat der Begriff der Mimesis seine ästhetische Verbindlichkeit eingebüßt.« (WM, 120f.) Die in Verruf geratene Mimesis verfugt über keinen Platz in der Kunst, weil die Kunst selbst die Welt nicht mehr »nachahmen«, sondern rein schöpferisch sein will. Diese Schöpfung will weniger ein sehenmachender Spiegel der Wirklichkeit sein als der Erguß einer kreativen Subjektivität, die die ästhetische Erfahrung »nacherleben« will. Das ästhetische Bewußtsein stellt damit die Kunsterfahrung in eine nach Gadamer künstliche Diskontinuität zur Welt und zum Rest unserer Erfahrung. Kommt es nicht bei der Kunst vielmehr auf die Betonung und die Vertiefung der Kontinuität unserer Existenz an? Diese Begeg-
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nung der Existenz mit sich selbst macht den spezifisch zeitlichen Charakter des Ästhetischen aus.
Die festliche Zeitlichkeit des Kunstwerkes Nach Gadamer liegt das Wesen der Kunst in ihrer Darstellung. Kunst gibt es nur, solange sie »begangen« wird. Ihr eignet damit eine gewisse Zeitlichkeit, die Gadamer zunächst anband der Erfahrung des Festes verdeutlicht. 31 Ein Fest gibt es ja nur, solange es »begangen« wird. Ein Fest erscheint zu einer gegebenen Zeit, die als festlich gilt, und die alle an ihm Teilnehmenden zu einer feierlichen Stimmung erhebt und damit verwandelt. Am Fest zeigt sich somit, daß die zu ihm Gehörenden in ein Spiel eingefügt sind, das über ihr subjektives Belieben, Tun und Meinen hinausragt. Ein Fest - wie jedes Kunstwerk,ja wie jedes Verstehen - hat sein Dasein in der Weile und der Gemeinschaft, durch die es begangen wird. Auch wenn die meisten Feste auf ein Stiftungsereignis oder -datum zurückgehen, existieren sie nur in dem jeweiligen Vollzug ihres Begangenwerdens. Nehmen wir etwa das Weihnachtsfest als Beispiel. Es weist natürlich auf ein Stiftungsereignis zurück, aber das Weihnachtsfest, das gefeiert und begangen wird, ist nicht einfach die Repetition eines Geschehens, das vor 2000 Jahren stattfand, es meint die Gegenwart: das Fest, das sich dieses Jahr ereignet und dessen Gegenwart uns feierlich be-stimmt (oder nicht, aber dann spricht man nicht von einem Fest, sondern von einem pflichtgemäßen Besuch bei den Schwiegereltern). Diese einstimmende Gegenwart des Festes ist nach Gadamer die Gegenwart einerjeden Kunsterfahrung,ja eines jeden Verstehens. Das Fest vollzieht sich nur vermittels dieser »Darstellung«, in dieser zeitli31 WM, 128f. Die Überlegungen über die Festlichkeit der Kunst wurden ausgeweitet in HGG, Die Aktualität des Schönen, Stuttgart, Reclam, 1977, 52ff. Uetzt in GW 8, 130ff.). Vgl. dazu meine Studie »Spiel, Fest, Ritual bei Gadamer. Zum Motiv des Unvordenklichen in seinem Spätwerk«, in Homo Ludens 8 (1998),43-52.
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chen Begehung. In ihm »verschmelzen« nämlich die Horizonte der Gegenwart und der Vergangenheit: In der Wiederkehr des Festes liegt ein Moment der Wiederholung der Vergangenheit, aber ebensosehr liegt in der Wiederholung ein unabdingbarer Gegenwartsbezug. Jedes Fest stellt damit eine Gegenwart sui generis dar. Kein Fest ist wie ein anderes, auch und gerade dann, wenn immer wieder dieselben Feste wiederkehren. Die vom Fest her verstandene Zeitlichkeit der Kunst charakterisiert sich somit durch ihre »Gleichzeitigkeit«. Gadamer schließt sich damit an einen Begriff an, der eine wichtige Rolle bei Kierkegaard spielte. Die Gleichzeitigkeit meinte bei ihm die Dringlichkeit der christlichen Botschaft, die anjeden ergeht. In ihr geht es nicht um eine Geschichte, die sich vor 2000 Jahren abgespielt hat und die man mit der gebotenen Distanz zu verstehen habe, sondern um einen Appell, dem sich keiner entziehen kann. Jeder fühlt sich von ihm angesprochen und zur Entscheidung aufgerufen. Vor Gadamer war dieses Motiv in der dialektischen Theologie von Karl Barth und Rudolf Bultmann erneuert worden. Sie bezogen sich auf diese »Gleichzeitigkeit«, um den Historismus der liberalen Theologie in seine Schranken zu weisen. Es war ja der Anspruch dieser aus der Hermeneutik des 19.Jahrhunderts hervorgegangenen Theologie, die biblischen Berichte aus ihrem geschichtlichen Kontext her zu verstehen, um somit eine kritische, objektive, weil objektivierende, Distanz ihnen gegenüber zu ermöglichen. Bestenfalls konnte man ihnen eine moralische Bedeutung abgewinnen, so als ob es darum ginge, die Heilige Schrift durch Kants Religion innerhalb der Grenzen der blassen Vernunft zu lesen. Nach Barth verkennt die liberale Theologie, daß es in ihr um Gottes Wort geht, das an mich heute gerichtet ist. Weniger »theozentrisch« als Barth, behauptet Bultmann, daß es dabei um die Unr:uhe meiner eigenen Existenz gehe. In seinem berühmten Aufsatz von 1925, »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?«,32 antwortet er der 32 Wieder aufgenommen in Glauben und Verstehen, Band I, Tübingen, Mohr Siebeck, 1933, 8. Aufl. 1980, 26-37.
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Sache nach so, daß das Reden von Gott ein Reden über die eigene Fraglichkeit meiner Existenz ist, die vor eine Entscheidung gestellt ist. Die bequeme Selbstsicherheit der liberalen, historischen Theologie wird damit aus den Angeln gehoben. Wiederhergestellt wird die Gleichzeitigkeit eines Appells, der sich nicht historisch relativieren läßt, weil niemand vor ihm indifferent verharren kann. Gadamer war nicht unberührt von diesen Debatten, auch wenn ihm die theologischen Konsequenzen fernlagen. 33 Er gewann daraus die Einsicht, daß das »Verstehen auf Abstand« etwas Wesentliches am Verstehen übersieht. Die Objektivität ist nicht immer mit der Distanz des Beobachters verbunden, wie es das naturwissenschaftliche Modell nahelegt. Es gibt auch die Objektivität des Angesprochenwerdens. Eine Aussage, eine Bemerkung, ein Gedicht kann mir die Augen öffnen, d. h. die Sachen sehen lassen, wie sie sind, auch wenn ich vielleicht der einzige bin, der sie dann sieht. So kann ich z. B. die Not von jemandem verstehen, aber nicht weil ich auf distanzierte Weise verstehe, sondern weil ich von einem Anspruch erreicht werde. Auch hier gibt es Objektivität, aber es ist nicht die der Wissenschaft. 34 Nach Gadamer ist es die Kunst, die uns fur die Wiedergewinnung einer solchen Wahrheit sensibilisieren kann. Kunst gibt es nur, wenn sie begangen oder vollzogen wird. Das Kunstwerk spricht mich an und fordert mich auf. Seine Aufforderung läßt sich nach Gadamer mit folgendem Vers von Rilke beschreiben, den er oft anfUhrt (dessen Worte aber be-
33 Gadamers wichtigste Beiträge zu diesen Marburger Debatten sind: »Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der Entmythologisierung« (1961), GW 2,121-132; »Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz« (1965), GW 2, 133-146; »Martin Heidegger und die Marburger Theologie« (1964), GW 3, 197-208. 34 Zu dieser hermeneutischen Wahrheit, vgl. die einleitenden Bemerkungen zu meiner Studie »Zur hermeneutischen Wahrheit. Heidegger und Augustinus«, in E. Richter (Hrsg.), Die Frage nach der Wahrheit, Frankfurt a. M., Vittorio Klostermann, 1997, 161-173.
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reits die Worte des Kommandeurs in Don Giovanni waren): »Du mußt dein Leben ändern.«35
Die exemplarische Bedeutung der Tragödie Man könnte darin freilich eine etwas zu »pathetische« Kunstauffassung sehen. Es ist auch offenkundig, daß sie sich sakraler Termini und Muster bedient (Fest, Emanation, Verwandlung, Gleichzeitigkeit), die nicht ohne weiteres fur jede Kunsterfahrung verbindlich erscheinen. Im Lichte des Substanz- und Realitätsverlustes des ästhetischen Bewußtseins erscheint es aber Gadamer sehr wichtig, etwas von der »sakralen« Bedeutung der Kunst zurückzugewinnen. Gegen eine Kunstauffassung, die allein die spielerische Irrealität des schönen Scheines hervorkehrt, scheut er nicht davor zurück, den existentiell zu nennenden Appell, der vom Kunstwerk ausgeht, in den Vordergrund zu rücken. So ist es kein Zufall, wenn er in der Tragödie das hervorragendste Beispiel dieser Gleichzeitigkeit erfaßt. Die Tragödie bildet ja nicht nur eine ästhetische Kunstform, sie ist auch ein metaphysisch-moralisches Phänomen. Dies hat Kunsttheoretiker wie Max Scheler und Richard Hamann, die für Gadamer wertvolle Lehrer gewesen sind, dazu geführt, die Tragödie aus dem Reich q.es rein Ästhetischen herauszuhalten (WM, 134). Es ist aber die hier waltende »ästhetische Nichtunterscheidung«, die Gadamer im Gegenteil dazu bringt, der Tragödie eine beispielhafte Funktion zuzusprechen, Es ist ja unverkeimbar, daß die gespielte Tragödie einen auf die Tragödie des eigenen Lebens zurückfuhrt. Die Gleichzeitigkeit ist hier total, weil keine ästhetische Unterscheidung diese Kontinuität des Lebens aufzuheben vermag: »Der Zuschauer verhält sich nicht in der Distanz des ästhetischen Bewußtseins, das die Kunst der Darstellung genießt, sondern in der Kommunion des Dabeiseins. 35 Es sind dies die letzten Worte des programmatischen Aufsatzes von 1964, »Ästhetik und Hermeneutik«, mit dem die Ästhetik von Kunst als Aussage (GW 8, 8) ansetzt.
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Das eigentliche Schwergewicht des tragischen Phänomens liegt am Ende in dem, was sich da darstellt und erkannt wird und woran teilzuhaben offenbar nicht beliebig ist.« (WM, 137). Die Kontinuität des Lebens wird in der gespielten Tragödie nicht aufgehoben, sondern vielmehr zugespitzt. Ist diese Erfahrung wirklich nur ästhetisch? Einen wichtigen Beleg fur die Kurzsichtigkeit des ästhetischen Bewußtseins erkennt Gadamer in der berühmten Charakterisierung der Tragödie, die die aristotelische Poetik bietet: die Tragödie vollzieht eine Reinigung (katharsis) der Leidenschaften von eleos und phobos, von Jammer und Bangigkeit. Diese Definition hat bekanntlich zwei Lesarten hervorgebracht,je nachdem, wie man den Genetiv liest: handelt es sich um eine Reinigung im Sinne einer Loslösung von den Leidenschaften von Jammer und Bangigkeit (genetivus objectivus) oder um eine Läuterung der Leidenschaften selbst (genetivus subjectivus), die daduch reiner hervortreten? Auch wenn Gadamer den subjektiven Genetiv vorzieht, ist die Frage des Genetivs fUr seine Analyse nicht entscheidend. Ausschlaggebend ist fUr ihn vielmehr der Umstand, daß die Wirkung auf den Zuschauer zur Wesensbestimmung der Tragödie gehört. Der Zuschauer erfahrt in ihr eine Läuterung seiner Affekte, wie auch immer man diese katharsis zu verstehen hat. Die Selbstbegegnung ist nach Gadamer fUr jede Kunstform konstitutiv. Die Tragödie fUhrt sie nur dramatischer, aber um so exemplarischer vor. Die Tragödie ist in mehrfacher Hinsicht fUr Gadamer paradigmatisch. Es geht aus ihr deutlich hervor, 1. daß die Tragödie ihr Sein in der Darstellung oder in der Aufruhrung hat, 2. daß sie den Zuschauer in ihr Spiel,ja, fUr die Griechen, in ihr Fest miteinbezieht, und 3. daß sich die gespielte Tragödie vom tragischen Charakter des Lebens nicht abtrennen läßt. Wir werden später sehen, daß das Tragische nicht nur Gadamers Kunstverständnis, sondern darüber hinaus seinen Verstehensbegriff entscheidend bestimmt: die hermene"utische Erfahrung schlechthin wird aus der tragischen Erfahrung heraus als Widerfahrnis und Leiden - nach dem pathei mathos von Aischylos (vgl. WM, 362) - verstanden werden.
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Man könnte sich hier aber fragen, ob Gadamers Modell nicht zu gut gewählt ist. Gilt es fUrjede Kunst? Von der Tragödie des Lebens zur aufgefUhrten Tragödie scheint der Schritt hier etwas außergewöhnlich. Ferner hat es etwas zu Selbstverständliches, von Darstellung bei den darstellenden oder transitorischen Künsten (Theater, Musik, Tanz, Oper) zu reden. Wie steht es aber mit den nichttransitorischen Künsten, wie der Malerei, der Literatur oder der Architektur? Hat es Sinn, auch dort von Darstellung, Fest und Verwandlung zu sprechen?
Die Darstellung in den nichttransitorischen Künsten Es ist nicht sicher, daß Wahrheit und Methode eine Antwort auf all diese Fragen parat hält. Seine Poetik hat Gadamer eigentlich erst nach 1960 entwickelt (Gw, Bd. 8 und 9), wo man sehen kann, daß die Dichtung und die Literatur fur ihn die exemplarischen Künste sind. Das Ziel von Wahrheit und Methode war nicht, eine integrative Theorie der Künste zu bieten. Es ging bescheidener um die» Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst« (so der Titel des Ersten Teiles des Buches), deren Tragweite den Bereich der Kunst überschreitet und die fur eine allgemeinere Hermeneutik der Geisteswissenschaften und des sprachlichen Verstehens überhaupt fruchtbar gemacht werden kann. Gadamers Hauptthese ist hier, daß die Kunst ein Spiel darstellt, dessen Sein in der verwandelnden Darstellung besteht, die dem Dargestellten einen Seinszuwachs zufugt. Dieser Seinszuwachs bedeutet, daß das so verwandelte Sein in seiner Wahrheit erkannt wird. Diese erkannte Wahrheit wird fur den Zuschauer zur Selbstbegegnung Unter diesen Umständen leuchtet es ein, daß Wahrheit und Methode den transitorischen Künsten und insbesondere der Tragödie, wo diese Selbstbegegnung eine nahezu chronische Dimension aufWeist, den methodologischen Primat zuerkennen mußte (WM, 142). Aber diese Seins darstellung läßt sich
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auch in den plastischen oder bildenden Künsten wiedererkennen. Bei dem Bild scheint es zwar keine unabhängige Darstellung zu geben. Esscheint ein rein autonomes Gebilde zu sein, das allein auf sich selbst verweist und eine spezifisch ästhetische Erfahrung verlangt. Angesichts der Autonomie des Bildes scheint die bei den transitorischen Künsten als konstitutiv zu veranschlagende »Darstellung« außer Spiel gesetzt zu werden. Dennoch hat Gadamers Bild-Analyse vielleicht am stärksten hervortreten lassen, was er unter Darstellung versteht. Denn die Darstellung, die hier im Spiele ist, vollzieht sich sowohl abwärts vom als auch aufwärts zum Bild: bildabwärts, insofern es sich um die Darstellung von jemandem oder etwas handelt (es ist kein Zufall, wenn Gadamer hier das Porträt privilegiert), bildaufwärts, sofern die Darstellungfür einen Zuschauer da ist, fur den das Dargestellte an Sein gewinnt. Weit davon entfernt, eine autonome Realität zu bilden, verweist das Bild auf ein Modell oder ein Abgebildetes, das dadurch eine »Seinsvalenz« erlangt. Der Seinszuwachs ist hier aber so einschlägig, daß das so dargestellte Sein allein durch das Bild wirklich wird (man denke an die Schuhe von van Gogh oder an das Porträt, das uns das wahre Wesen einer Person nahebringt). Gadamers These ist hier sogar noch provokanter: Was im Bild zur Darstellung gelangt, ist nicht nur ein beliebiges Sein, sondern ein Sein, das von Hause aus eine darstellende Funktion ausübt und dessen Sein das Bild deshalb genau trifft, weil es diese Darstellung so gut darstellt: »Das läßt sich an dem besonderen Fall des Repräsentationsbildes leicht aufweisen. Wie sich der Herrscher, der Staatsmann, der Held zeigt und darstellt, das wird im Bilde zur Darstellung gebracht. Was heißt das? Doch nicht dies, daß durch das Bild der Dargestellte eine neue eigentlichere Erscheinungsweise gewinnt. Vielmehr ist es umgekehrt. U1eil der Herrscher, der Staatsmann, der Held sich zeigen und den Seinen darstellen muß, weil er repräsentieren muß, gewinnt das Bild .seine eigene Wirklichkeit.« (WM, 147) Nach Gadamers auf den ersten Blick kornisch anmutender Konzeption lebt das Repräsentationsbild gleichsam von der repräsentativen Funktion des Dargestell-
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ten: der König, der Held, ein Ereignis der Heilsgeschichte (eine Madonna, eine Kreuzigung), eine Schlacht wollen repräsentiert, dargestellt und ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Aber nur das Bild erreicht dieses Sein. Es erhebt sich aber die Frage, wie es um die »banaleren« Realitäten wie etwa die der Schuhe van Goghs oder ein Stilleben bestellt ist. Welche Repräsentationsfunktion soll denn hier repräsentiert werden? Man könnte sagen, daß die darstellende Funktion hier per Kompensation am Werke ist: weil diese Realitäten im alltäglichen Treiben unserer Lebenswirklichkeit weitgehend unbeachtet und damit untervertreten sind, ist es allein das Bild, das ihnen ihre ontologische Dignität, ihre Seinsvalenz zurückgibt. Dasselbe ließe sich vielleicht auch von den Farben und Formen sagen, die uns in der nichtfigurativen Kunst begegnen. Allein die Kunst erlaubt es uns, sie als sie selbst wahrzunehmen und ins Sein zu heben. Die Darstellung hat damit etwas Konstitutives für die bildende Kunst. Das Bild bleibt an die Welt gebunden, die sich in ihm zur Darstellung bringt. Das Porträt ist hier exemplarisch für Gadamer, weil es auf ein Modell zurückverweist, auch wenn es - als Bild - die ganze Aufmerksamkeit auf sich konzentriert, denn erst im Bild wird uns das Wesen des Dargestellten anschaulich. Das Bild bleibt aber auch an die Situation oder die Okkasion gebunden, die es hervorgebracht hat. Diese Okkasionalität äußert sich etwa in Widmungen und Inschriften, aber auch in den Gegenwartsanspielungen in einer Komödie: »Okkasionalität besagt, daß die Bedeutung sich aus der Gelegenheit, in der sie gemeint wird, inhaltlich fortbestimmt, so daß sie mehr enthält als ohne diese Gelegenheit.« (WM, 149) Auch dank seiner Okkasionalität fügt sich das Kunstwerk in einen Lebenshorizont ein. Es ist freilich nicht zu verleugnen, daß sich Gadamer auf ein für ihn gefährliches Terrain begibt, wenn er diese Okkasionalität der Kunst hervorhebt. Seine Kritik an der Autonomie des ästhetischen Bewußtseins im Namen der Okkasionalität könnte in der Tat dem Mißverständnis Vorschub leisten, daß er stattdessen eine Lanze brechen möchte rur den Historismus oder die historisierende Deutung der Kunstwerke, die
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sie aus ihrem Entstehungszusammenhang heraus versteht. Das hieße von einern Gegenteil in das andere fallen. Gadamer möchte den Ästhetizismus und den Historismus in der Kunst gleichermaßen vermeiden. Es geht ihm darum, das eine gegen das andere auszuspielen: Während das ästhetis<;:he Bewußtsein vergißt, daß Kunstwerke in der Kontinuität eines Lebenszusammenhanges verwurzelt bleiben, vergißt der Historismus, daß es sich um Kunstwerke handelt. Ein Kunstwerk läßt sich nie aus seinem historischen Zusammenhang heraus restlos »erklären«. Deshalb spricht Gadamer lediglich von einer »allgemeinen Okkasionalität« (WM,153), die dem Kunstwerk als solchem zugehört. Es ist aber nicht nötig, alle historischen Bezüge zu kennen, um ein Kunstwerk zu verstehen. Wer vermag je alle Anspielungen in einer antiken Komödie nachzuvollziehen? Gadarner möchte dem Modell eines rein restaurativen oder rekonstruktiven Verstehens entgegenwirken, das er mit Schleiermacher und dessen Hermeneutik verbindet. Gadamer kommt es primär nicht auf die Rekonstruktion des Vergangenen an, sondern auf den verstehenden Nachvollzug der Bildwirklichkeit selbst, der diese Okkasionalität innewohnt. Die Okkasionalität besagt hier lediglich, daß »es im Sinnanspruch eines Werkes selber liegt, daß es auf ein bestimmtes Urbild verweist« (WM, 151). Das bleibt auch dann wahr, wenn die historischen Bezüge unkenntlich sind. So ist uns m. W das Urbild der Mona Lisa nicht mehr bekannt, aber es gehört unzweifelhaft zum Sinnanspruch des Werkes, daß es auf ein solches verweist, während es zum Verweilen bei dem Bild einlädt. Die Okkasionalität ist also nicht historistisch zu verkürzen. Sie unterstreicht nur, daß ein Kunstwerk zu einer Welt gehört, die sich im Bild mit zur Darstellung erhebt. Die Okkasionalität des Werkes ist aber auch die unserer Welt. Das Kunstwerk geht nicht nur aus einer bestimmten Konstellation hervor, es spricht auch eine gewisse Gegenwart an, die sich in ihm erkennt. Die Werke oder Theaterstücke, die man im 18. oder im 19.Jahrhundert am häufigsten aufftihrte, sind nicht unbedingt diejenigen, die man im 20.Jahrhundert am liebsten sieht. Ein Werk gewinnt (oder verliert)
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an Bedeutung in seiner Rezeptionsgeschichte, die als solche zur allgemeinen Okkasionalität des Werkes gehört. Es handelt sich dabei um die Okkasionalität aufwärts des Bildes oder des Stückes. Fungierte die Kunst des Porträts als das beste Beispiel für die Darstellung abwärts des Bildes, weil das Dargestellte dadurch einen Seinszuwachs erfährt, so werden die Architektur und die Skulptur die besten Beispiele rur die Darstellung aufwärts des Werkes liefern. Die Plastik oder, offenkundiger noch, das Bauwerk ist offenbar eine Schöpfung aus der Vergangenheit, die aber weiterhin in eine neue Gegenwart ragt. Das Bauwerk erlangt dadurch neue Funktionen und Aufgaben. Das ästhetische Bewußtsein neigt freilich dazu, diese funktionale oder nützliche Dimension der Architektur abzuwerten. Gadamer wird sie hingegen hervorheben, weil sie es erlaubt, sowohl das ästhetische als auch das historische Bewußtsein fragwürdig erscheinen zu lassen. Eine rein ästhetische Betrachtungsweise wird nämlich der praktischen Zweckset,?ung der Architektur nie gerecht (daher die manchmal zu bemerkende Versuchung, die Architektur aus dem Bereich der Ästhetik zu verbannen). Aber auch das historische Bewußtsein greift hier zu kurz, weil das Bauwerk sich in einer neuen Gegenwart behaupten muß, die ihm eine neue Seinsvalenz verleiht, weil es mit den Erfordernissen der modernen Verkehrsmittel, den neuen Bauten und der Bauarbeit von Jahrhunderten zurechtkommen muß. Als der Bahnhof von Orsay in Paris z. B. unbrauchbar geworden war, stellte sich die Frage, ob man ihn niederreißen solle. Statt dessen machte man daraus ein Museum für die Kunst des 19.Jahrhunderts (!), wo viele Meisterwerke des Impressionismus zur Darstellung gelangten, die im Jeu-de-Paume-Museum zu wenig Platz hatten. Ob die Verwandlung gelungen ist, ist eine andere Frage. Das Beispiel der Architektur fuhrt aber plastisch vor Augen, daß das Nachvollziehen von Kunst eine wahre Vermittlung oder Verschmelzung von Vergangenheit und
Gegenwart darstellt. Der Sinnanspruch des Werkes bleibt eine Aufgabe für unsere Gegenwart. Die Grenzstellung der Architektur genießt also eine bevorzugte Funktion in Wahrheit und
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Methode, die sie übrigens auch im Spätwerk behalten wird, weil sie den »Vollzugscharakter« der Kunst veranschaulicht,ja verräumlicht: Wer ein Bauwerk »verstehen« will, muß es begehen und bewohnen. 36 Die Integrationsaufgabe, die die Architektur für die Gegenwart stellt, erweist" sich damit als paradigmatisch für die Kunst, aber auch für das Verstehen im allgemeInen. Wahrheit und Methode wird sich für eine weitere, entlegene Kunstform interessieren: für die Kunst des Dekorativen. Sie ist als entlegen zu bezeichnen, weil das ästhetische Bewußtsein sie als wahre Kunst nicht anzuerkennen bereit ist. Sie scheint ja die sekundäre Funktion der Verzierung zu erfüllen, die man nicht auf das gleiche Niveau wie die wahre schöpferische Kunst stellen dürfe: »Der Begriff des Dekorativen wird meist aus dem Gegensatz zum >eigentlichen Kunstwerk< und von dessen Ursprung in der genialen Eingebung aus gedacht. Man argumentiert etwa so: Was nur dekorativ ist, ist nicht Kunst des Genies, sondern Kunstgewerbe.« (WM, 164) Was bringt Gadamer dazu, die dekorative Kunst in seiner Ontologie des Kunstwerkes zu berücksichtigen? Er schätzt offenkundig an ihr den »Seinsbezug«, der seinen Begriff des Okkasionellen zu präzisieren hilft. Die Dekoration ist nämlich nicht bloß ein Ornament, das zu einem bereits bestehenden Sein hinzukommt. Sie bringt dieses Sein selbst erst zum Vorschein. Wer in einen Raum tritt, weiß von der Dekoration her, woran er ist. Ebenso kann ein Schmuckstück den Charakter einer Person widerspiegeln. Es ist aber so, daß wir es nur dank dieses Schmuckstückes erfahren (etwa wenn eine schicke Dame einen Diamanten oder der Rocker eine Rasierklinge am Ohr trägt: in beiden Fällen erfahrt man einiges vom Sein der Person). Das Dekorative ist hier nicht bloß ein Ornament, es ist eine Emanation des Seins, die sich aber nur in der Darstellung offenbart: »Alles, was Schmuck ist und schmückt, ist durch den Bezug auf das, was es schmückt, auf das, woran es ist, auf das, was sein Träger ist, bestimmt. Es besitzt nicht einen ästhe36 Vgl. insb. HGG, »Über das Lesen von Bauten und Bildern« (1979), GW 8, 331-338.
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tischen Eigengehalt, der erst nachträglich eine einschränkende Beziehung durch den Bezug auf seinen Träger erhielte.« (WM,164) . Es mag verwundern, daß sich eine Ästhetik wie die Gadamersche für scheinbar so triviale Kunstformen wie die Dekoration interessiert. Aber sie beweist auf sehr plastische Weise die Konzeption der Seinsdarstellung: Das Sein liegt hier tatsächlich in der Darstellung und wird nur über sie erfahrbar. Viel verwunderlicher ist 'indes die sehr knapp ausfallende Darstellung der Literatur in Wahrheit und Methode.
Die Übergangsstellung der Literatur Die Literatur ist tatsächlich die letzte Kunstform, die im Ersten Teil von Wahrheit und Methode abgehandelt wird. Im Lichte des Interesses, das Gadamer für das Fest, die Tragödie, das Bild, die Architektur und selbst für die dekorative Kunst an den Tag legt, nimmt sich die Thematisierung des literarischen Kunstwerkes 1960 äußerst bescheiden aus: knappe vier Seiten! Angesichts des gesamten Werkes von Gadamer und der zahlreichen Inspirationen handelt es sich um eine gewaltige Ungerechtigkeit. Deshalb sind die Ergänzungen der späteren Ästhetik in den Bänden 8 und 9 der Gesammelten Werke hier sehr geboten. Ein wichtiger Text wie »Text und Interpretation« (1981) aus dem 2. Band (GW 2,330-360) ist auch dazu zu rechnen. Die späte Ästhetik ist nämlich fast ausschließlich der Literatur und Dichtung gewidmet. Wie erklärt sich also die etwas ärmliche Behandlung der Literatur in Wahrheit und Methode?37 Zum einen wollte sich Gadamer dort damit bescheiden, an der Literatur seine grundlegende These über die darstellende Seinsweise der Kunst auszuweisen. Diese Einsicht konnte nämlich auf einen Widerspruch im literarischen Kunstwerk 37 Sie wird auch in der 5. Auflage, die 1986 als Band 1 der GW erschien, von einem neuen selbstkritischen Absatz (WM, 165) begleitet, dessen Gedankengang der Text »Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik« (GW 2, 3-23) fortsetzt.
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stoßen, insofern es sich bei ihm um ein abgeschlossenes Gebilde zu harideln scheint. Gadamer wird hier vermutlich an das klassische Werk von Roman Ingarden über Das literarische Kunstwerk (1931) denken, das sich betont als eine Ontologie der Literatur verstand. 1960 will Gadamer also noch gegen eine Auffassung des literarischen Kunstwerkes anrennen, demgegenüber »es anscheinend überhaupt keine Darstellung mehr [gibt], die eine eigene Seinsvalenz beanspruchen könnte« (WM, 165). Worin besteht die Darstellung bei der Literatur? Gadamer erblickt sie im Vollzug des Lesens. Auch wenn die Aufnahme der Literatur »ein Höchstmaß an Entbundenheit und Beweglichkeit« zeigt, stellt sie doch ein »Geschehen« dar, »in welchem sich der gelesene Inhalt zur Darstellung bringt« (WM, 166). Die Literatur aktualisiert sich nur in der Akzentuierung, der Betonung und der verstehenden Aufnahme des Lesers. Von der heutigen Warte aus hat man aber den Eindruck, daß Gadamer hier offene Türen einrennt. Seine Hervorhebung der rezeptiven Aufnahme des Lesens hat sich in der Literaturwissenschaft inzwischen weitgehend durchgesetzt. Ihr wurde nicht zuletzt in der Konstanzer Schule eine enorme Resonanz beschieden. Ihre von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser vertretene »Rezeptionsästhetik« hat beide Seiten der literarischen Darstellung verfolgt: ebenso sehr ihre Verwurzelung in einem okkasionellen Kontext, den Jauß besonders betont, wie ihre Aktualisierung im Akt des Lesens, für den sich Iser interessiert. 38 Wie wir gesehen haben, hat Gadamer diesem Begriff des Lesens eine universale Tragweite in seiner späteren Ästhetik verliehen, als er den Vollzug eines jeden Kunstwerkes als ein »Lesen« verstand. Selbst das Bild und das Bauwerk wollen in diesem Sinne gelesen werden. 38 Vgl. H. R. JauB, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1970; Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1982; W Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München, UTB, 1976, 2. Aufl.1984. Für die vielfältigen Beziehungen zwischen der Gadamerschen Hermeneutik und der Literaturtheorie, vgl. J. Weinsheimer, Hermeneutics and Literary Theory, N ew Haven, Yale University Press, 1991, der die amerikanische reader-responsetheory berücksichtigt.
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Man muß zudem in Betracht ziehen, daß die Behandlung der Literatur einen weiteren Zweck im Argumentationsgang von Wahrheit und Methode verfolgt. An der Grenze zwischen der Ästhetik des Ersten und der Hermeneutik des Zweiten Teiles ist sie auch dazu berufen, den Übergang von einer Problematik in die andere ins Werk zu setzen. Die damalige Intuition von Gadamer war relativ einfach: Sollte es stimmen, daß erst der Akt des Lesens die darstellende Verwandlung des toten Buchstabens in einen nachvollziehbaren Sinn leistet, so fragt es sich, ob diese darstellende Funktion nicht auch fUr das Verstehen aller Texte gilt: »Vollendet sich der Sinn aller Texte erst mit ihrer Aufnahme im Verstehenden? Gehört, anders gesprochen, das Verstehen zum Sinngeschehen eines Textes ebenso dazu wie das Zu-Gehör-Bringen zur Musik?« (WM, 169) Die darstellende und mitspielende Implikation des Verstehenden ließe sich dadurch in einer Hermeneutik der Geisteswissenschaften positiv zur Geltung bringen. Sie könnte dort dazu beitragen, das positivistische Modell einer vom Standort des Erkennenden völlig losgelösten Erkenntnis ad absurdum zu fUhren. Unter dem Gewicht dieser (an sich wichtigen) Argumentationsstrategie fällt freilich die Berücksichtigung der Literatur 1960 äußerst karg aus. Sie hatte auch die paradoxe Konsequenz, den Unterschied zwischen dem literarischen Text und jeder anderen Form von Schriftlichkeit einzuebnen. 39 Der Unterschied wurde wohlgemerkt in diesem Zusammenhang aus einsichtsvollen Gründen verwischt: einerseits wollte Gadamer geltend machen, daß die Verstehenserwartung einem literarischen Text gegenüber keine rein ästhetische, sondern eine sachliche ist, wie jeder anderen Art von Text gegenüber (WM, 168); andererseits ging es ihm um die bei beiden Arten von Texten gemeinsame Aufgabe der entziffernden Verwandlung von (toter) Schriftlichkeit in verstehbaren Sinn, die sich fUr alle Geisteswissenschaften als maßgebend erweisen 39
VgL WM, 168: »Insofern ist der Unterschied zwischen einem lite-
rarischen Kunstwerk und irgendeinem anderen literarischen Text kein so grundsätzlicher.«
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könnte. Es zeigte sich somit an der Literatur, daß hier »Kunst und Wissenschaft ineinander übergehen« (WM, 168). Diese Einsicht wurde 1960 freilich um den Preis einer erstaunlichen Nivellierung der Distinktion zwischen dem literarischen Kunstwerk und der übrigen Masse von Schriftlichkeit erkauft. Das war erstaunlich, weil sich die späteren Beiträge Gadamers zur Literatur ausgerechnet ftir diese Disktinktion des literarischen Kunstwerkes interessieren werden. Dieser Distinktion zuliebe entwickelt der späte Gadamer seine in Wahrheit und Methode abwesende Lehre vom »eminenten Text«, der zufolge das dichterische Kunstwerk dazu einlädt, beim Wort selbst zu verweilen. 4o Man tut also gut daran, die Ergänzungen der späteren Ästhetik hier zu Rate zu ziehen, die eine eigene Darstellung verlangen würden. Die Stoßrichtung von Wahrheit und Methode ging offenbar in eine andere Richtung. Es ging da nicht um die Ausarbeitung einer eigenständigen Ästhetik oder Poetik, sondern hauptsächlich darum, an der Erfahrung der Kunst die Wahrheitsfrage ftir die Geisteswissenschaften, aber auch rür die Philosophie freizulegen. Was haben wir gelernt und tatsächlich freigelegt?
Hermeneutische Konsequenzen aus der Wahrheit der Kunst Von hermeneutischen Konsequenzen muß man sprechen, weil Gadamer von der hermeneutischen Frage nach dem richtigen Verständnis der Geisteswissenschaften und ihres Wahrheitsanspruches ausgegangen ist. Es ist offenkundig genug, daß der Methodenbegriff hier ziemlich unangemessen bleibt, weil er zu sehr auf die Erkenntnisweise der Naturwissenschaften zugeschnitten ist. Daher die Verführung der Geisteswissenschaften, sich statt dessen nach dem Modell der Ästhetik zu bestimmen. Aber nach welcher Ästhetik? Wie es die 40 Zum eminenten Text, vgl. die Ausftihrungen in »Text und Interpretation«, GW 2, 348ff., 475ff; sowie »Der >eminente< Text und seine Wahrheit« (1986), GW 8, 286-295 u. ö.
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Gadamersche Freilegung der Wahrheitsfrage anhand der Kunst darlegt, können die Geisteswissenschaften großen Gewinn aus ihr ziehen. Es ist aber so, daß sie sich eher von einer verkürzten Ästhetik aus verstanden haben, die ihnen vom Methodenmodell stillschweigend aufgenötigt wurde. Es ist dieses Muster, das die Kunst dazu fUhrt, sich rein marginal zu verstehen, in allen Bedeutungen des Wortes: marginal nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Wirklichkeit, der Gesellschaft und der Wahrheit gegenüber. Das erscheint Gadamer fatal, sowohl ftir die Kunst als auch ftir die Geisteswissenschaften. Indes hat Gadamer selbst in seiner programmatischen Freilegung wenig von »Wahrheit« gesprochen. Er hat de facto eher auf die Funktion der »Darstellung« im zeitlichen Vollzug von Kunst abgehoben, die im Grunde auf einen ontologischen Prozeß hinausläuft. Aber diese »ontologische« Seinserfahrung erweist sich als eine Wahrheitserkenntnis ftir Gadamer. Es ist fUr sie wesentlich, daß sich der Verstehende ins Spiel bringt, anstatt außerhalb des Spiels zu bleiben, wie es die moderne Methodologie nahelegt. Wir haben also erstens von der Kunst zu lernen, daß die Wahrheit nicht nur von der Distanz des Verstehenden abhängt, daß es also eine hermeneutische Wahrheit des Angesprochenwerdens gibt. Zweitens kann man von der Kunst bestens lernen, daß dieses Verstehen den Charakter eines Geschehens hat. Geschehen will hier sagen, daß wir nicht Herr der Wahrheit sind, die uns in der Kunst zuteil wird. Gadamer spricht platonisch von Teilhabe, weil das Beherrschen oder Kontrollieren ein unangemessenes Modell ftir das Verstehen abgibt, das sich von der Wahrheit der Kunst ergreifen läßt. Kunst ist auch nicht etwas, das wir beherrschen. Wie Adorno schreibt, kann man nie sagen, daß jemand die Kunst versteht, sondern höchstens, daß er etwas davon versteht. 41 Die Kunst
41 T. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1970, 185: »Die Sprache, wie sie vorphilosophisch die ästhetische Erfahrung beschreibt, sagt mit Grund, einer verstünde etwas von Kunst, nicht, er
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demonstriert jedoch, daß man nicht weniger versteht, wenn man nicht alles versteht. Die Kunst lehrt uns drittens, daß die Kunst weniger ästhetisch ist, als die Ästhetik meint. Es geht auch da um Wahrheit. Von einer solchen Kunstauffassung dürfen sich die Geisteswissenschaften seht wohl inspirieren lassen. Nach Gadamers Überzeugung haben sie es aber im 19.Jahrhundert weitgehend vorgezogen, dem falschen Modell des ästhetischen Bewußtseins zu folgen, wenn sie nicht durchweg dem Methodenparadigma erlagen. Dieses ästhetische Bewußtsein äußert sich vor allem im Historismus, der nur insoweit zu verstehen gedachte, als er Ausdrücke aus seiner Zeit begriff. Ästhetisch ist diese Denkweise, weil es da weniger um Wahrheit und Vernunft als um eine kontemplative Rekonstruktion des Ausdrucksvorgangs per se geht. Indem sie Ausdrucksphänomene entweder aus ihrem Autor (psychologistisch) oder ihrer Epoche (historistisch) rekonstruieren möchte, schließt sich diese ästhetisierende Denkweise stillschweigend aus dem Reich der Sacherkenntnis aus. Die Ästhetik und der Historismus erweisen sich in diesem Licht als zwei Formen desselben Verlustes. Was dabei verlorengeht, ist die hermeneutische Wahrheit des Verstehens, die uns die wiedergewonnene Wahrheit der Kunst zurückzuerobern erlaubt. Um diese Wahrheit des Verstehens ins Licht zu rücken, müssen die historisierenden Hermeneutiken des 19.Jahrhunderts einer neuen Destruktion unterzogen werden.
verstünde Kunst. [ ... ] Wer bloß verständnisvoll in der Kunst sich bewegt, macht sie zu einem Selbstverständlichen, und das ist sie am letzten.«
3. Die Destruktion der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts Die Kritik an der romantischen Ausdruckshermeneutik Da sie eine Integrationsaufgabe darstellt, bildet nach Gadamer die Kunst weniger eine ästhetische als eine hermeneutische Erfahrung. Deshalb muß die Problematik der Ästhetik in eine Hermeneutik zurückgenommen werden. Ihr gelten auch alle weiteren Ausführungen von Wahrheit und Methode. Der Schatten des ästhetischen Bewußtseins wird aber weiterhin an der Themenstellung der Hermeneutik hängen. Denn das Interesse für das Verstehen oder die Geisteswissenschaften bedeutet keineswegs, daß man das »hermeneutische Problem« in seiner Radikalität, d. h. in dem ihm eigenen Wahrheitsanspruch voll erfaßt hat. Gadamer ist der Überzeugung, daß die Entdeckung der Hermeneutik und der Fokus auf das Verstehen im 19. Jahrhundert noch viel zu sehr von ästhetischen, aber natürlich auch von methodischen Prämissen aus diktiert blieb. Deshalb begegnen bei ihm so oft Titelüberschriften, die von einer »Freilegung«, einer »Ausweitung« und einer »Wiedergewinnung« des hermeneutischen Problems handeln. Es gilt nämlich, die falschen Problemstellungen zu überwinden oder zu destruieren, die das hermeneutische Problem verdecken. Im Zweiten Teil von Wahrheit und Methode geht es um die Destruktion der Hermeneutiken des 19. Jahrhunderts, hauptsächlich um die Hermeneutik Schleiermachers und Diltheys. Seine Auseinandersetzung mit dieser »romantischen« Her-
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meneutik, als dessen Erbe Gadamer auch gesehen werden kann, fällt sehr polemisch aus: er möchte nämlich zeigen, wie sehr Schleiermacher und Dilthey ihren besten Absichten zum Trotz der Versuchung eines zum Teil methodischen und zum Teil ästhetischen Denkens nicht zu widerstehen wußten. Die Herrschaft dieses Denkmodells brachte sie schließlich dazu, das hermeneutische Problem zu verfehlen. Der Angriff ist in der Tat ungeheuer: Die Begründer der modernen Hermeneutik hätten die Hermeneutik verpaßt! So wundert es nicht, daß Gadamer viele Gegendarstellungen auf den Plan rief, die die Einseitigkeit der Gadamerschen Darstellung hervorkehrten. Gadamer hätte unterschlagen, inwieweit Schleiermacher und Dilthey viele seiner hermeneutischen Einsichten vorweggenommen hatten. 42 In dieser revisionistischen Literatur, die Gadamer auf sich geladen hat, übersah man aber, daß Gadamers Kritik der romantischen Hermeneutik diese grundlegende Solidarität voraussetzte. Insofern sich Gadamers Hermeneutik auch gegen die Verführung einer rein methodischen Hermeneutik erhebt, ist sie selbst urromantisch. Gadamers Destruktion der romantischen Hermeneutik ist nur sinnvoll, weil Schleier macher und Dilthey die Spezifizität des hermeneutischen Problems ebenfalls sehr gut gesehen haben. Es ist nur erforderlich, die methodischen und ästhetischen Denkformen zu überwinden, mit denen sie diese Spezifizität zu formulieren suchten. Die revisionistische Schleiermacherund Diltheyliteratur vergißt aber auch (und das wird sie nicht 42 Für Dilthey, vgl. vor allem F. Rodi, Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20.Jahrhunderts, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1990; T. Nenon, »Hermeneutical Truth and the Structure of Human Experience« in Dilthey-jahrbuch 8 (1992-93), 75-92. Für Schleiermacher, siehe vor allem M. Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1977; P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1970; C. Berner, La philosophie de Schleiermacher. Hermeneutique, Dialectique, Ethique, Paris, Cerf, 1995. In meinem Buch Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991,2. Aufl. 2001, habe ich es selbst vorgezogen, auf diejenigen Elemente bei Schleiermacher und Dilthey hinzuweisen, die eine Radikalisierung der Hermeneutik vorbereitet haben.
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gern hören), daß man ohne die Gadamersche Destruktion heute wahrscheinlich sehr wenig von Schleiermachers oder Diltheys »Hermeneutik« sprechen würde. Auch wenn sie sich mit ihr dauerhaft befaßten, haben nämlich weder Schleiermacher noch Dilthey eine halbwegs abgeschlossene Hermeneutikkonzeption vorgelegt oder publiziert. Schleiermacher würde fUr uns wahrscheinlich das bleiben, was er vor Gadamer war, d. h. der Autor der Reden über die Religion (1797) und einer Glaubenslehre (1821~22), also ein großer protestantischer Theologe, der zudem neue Maßstäbe mit seiner vollständigen Platonübersetzung setzte, der sich aber publikationsmäßig nur am Rande mit der Hermeneutik beschäftigte. Dilthey bliebe seinerseits ein beeindruckender Philosophiehistoriker - dem wir beispielsweise die Akademieausgabe der' Werke Kants und die Wiederentdeckung des jungen Hegel zu verdanken haben - und ein anspruchsvoller Methodologe, mit seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883),in derkomischerweise - das Wort Hermeneutik kein einziges Mal auftaucht. Auch wenn sie in der historischen Schule nicht wirkungslos blieben, erlaubte erst die philosophische Nobilitierung der Hermeneutik bei Gadamer, auf die fragmentarischen Ansätze von Schleiermacher und Dilthey zurückzukommen. Auch hier diente die Destruktion zur Neuentdekkung. Es muß aber festgehalten werden, daß sich Gadamers Auseinandersetzung mit seinen romantischen Vorgängern weitgehend von dem einseitigen Bestreben fUhren läßt, seinem hermeneutischen Beitrag mehr Profil zu verleihen. Gadamer hat das in seiner »Selbstkritik« von 198643 auch zugestandep.. Aber bereits in Wahrheit und Methode hatte er zu erkennen gegeben, daß seine »summarische Darstellung« »lediglich der Abhebung« diente, um »die Wendung der Hermeneutik ins Historische, die das 18.Jahrhundert bringt«, zu verdeutlichen (WM, 178). Nichtsdestoweniger hatte das Werk von 1960 den Finger auf wichtige Aporien im Unternehmen von 43 GW 2, 7. Vgl. auch die neueren, gemäßigteren Aufsätze über Dilthey in Band 4 seiner GW (406-447).
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Schleiermacher und Dilthey gelegt, die sich nach Gadamer nicht mehr w-egwünschen lassen. Gadamers grundsätzliche Kritik an d~r romantischen Hermeneutik von Schleiermacher ist die, daß sie das Verstehen auf den Ausdruck als solchen und nicht mehr auf die Wahrheit ausrichte: Verstanden werde nicht mehr eine Sache, sondern eine Individualität (oder eine Gattung). Gadamer erblickt ein erstes Indiz dieser Wendung in dem neuen Interesse, das Schleiermacher für das Verstehen als solches aufbringt, wenn er die Hermeneutik als eine »Kunstlehre des Verstehens« charakterisiert. Gadamer hätte sich in diesem Interesse für das Verstehen aber auch selbst erkennen können, zumal es bei Schleiermacher die Universalität der Hermeneutik begründet: Während sich die traditionellen Spezialhermeneutiken von ihrem Gegenstand (der Heiligen Schrift, den klassischen Texten, dem juristischen Kanon usw.) her bestimmen ließen, wird sich die von Schleiermacher angemahnte Allgemeinhermeneutik auf das ihnen gemeinsame Verfahren des Verstehens konzentrieren. Für Gadamer bedeutet diese Neuorientierung aber sogleich, daß die Einheit der Hermeneutik nicht mehr in ihrem inhaltlichen Gegenstandsbezug, sondern »in der Einheit eines Verfahrens« begründet wird (WM, 182). Hier wirkt die Gadamersche Argumentation in der Tat voreilig. Denn die Aufmerksamkeit, die das Verstehen als solches genießt, schließt nicht unbedingt ein, daß sein Inhaltsbezug schlichtweg preisgegeben wird. Ein analoger Primat bleibt ja bei Gadamer und Heidegger dem Verstehen erhalten. Wenn sich aber von einem Inhaltsverlust bei Schleiermacher sprechen läßt, liegt es an der neuen Wendung, die das Verstehen bei ihm zu nehmen scheint. Das Verstehen ziele nach Gadamers Lesart immer mehr auf die »Meinung« des anderen als auf die sachliche Wahrheit des Gemeinten. Dies wird bei Dilthey noch deutlicher hervortreten, wenn er seine Theorie der Geisteswissenschaften auf der Trias ErlebnisAusdruck-Verstehen errichten wird: Verstanden wird der Ausdruck als Manifestation des Erlebnisses eines Autors oder einer Epoche. Gadamers erstes Gegenargument besteht hier natürlich darin, an den Wahrheitsbezug des Verstehens zu
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erinnern. Dieses Argument kennen wir schon, weil es die ganze Kritik des ästhetischen Bewußtseins regierte. Gadamers subtileres Gegenargument liegt in der Ausarbeitung einer anderen Konzeption des Verstehens. Heidegger hatte bereits dem Verstehen eine praktische Dimensioniugesprochen, als er es als ein Sich-auf-etwas-verstehen faßte. Gadamer setzt dies voraus, fUgt aber hier dem Verstehen eine weitere Dimension hinzu. Er versteht es nämlich von dem »Sichmiteinanderverstehen« her, das so etwas wie ein Einverständnis anzeigt. »Sichverstehen« hat nämlich auch die Bedeutung von »sich verständigen«: >Verstehen heißt zunächst, sich miteinander verstehen<. Verständnis ist zunächst Einverständnis«. (WM, 183) Es ist aber nicht unmittelbar einsichtig, wie sich diese neue Fassung des Verstehens fUr das hermeneutische Problem fruchtbar machen läßt. Sie hat auch viele Mißverständnisse nach sich gezogen. Eine sehr oberflächliche Lesart schrieb Gadamer die These zu, daß man nur insofern verstehe, als man mit dem Verstandenen einverstanden sei. Das kann von Gadamer nicht gemeint sein. Sonst könnte man Mein Kampf nur dann verstehen, wenn man mit seinenThesen einverstanden wäre! . Gadamer meint offenbar etwas anderes. Zwei Gründe werden ihn bewogen haben, das Verstehen vom Verständigungsmodell her zu denken: erstens der Sach-, zweitens der Sprachbezug dieser Verständigung. 1. Der Sachbezug ist bei der Verständigung evident: man versteht sich immer über bzw. in etwas, man ist darin einig. Bei diesem Sichverstehen genießt nämlich das Verstehen oder die Meinung selbst kein eigenes Profil. Die subjektive Meinung tritt hier deutlich hinter dem sachlich Gemeinten zurück. 2. Der Sprachbezug, der freilich erst im Dritten Teil des Werkes voll zum Tragen kommen wird, klingt hier bereits mit. Die Verständigung ist in der Regel eine sprachliche. Gadamer wird große Konsequenzen daraus ziehen und von der wesentlichen Sprachlichkeit allen menschlichen Verstehens sprechen. Auf sie wird er schließlich die Universalität seiner Hermeneutik zurückführen. Man darf in dieser Hervorhebung des sprachlichen Elements unseres Verstehens, worauf wir später zurückkommen, eine beträchtli-
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che Neuerung Heidegger gegenüber sehen, der in Sein und Zeit diese sprachliche Dimension des Verstehens unterbelichtete. Schleiermacher gegenüber ist sie freilich weniger originell. Man darf also· nicht die Solidarität unterschätzen, die in dem Schleiermacher entnommenen Motto des Dritten Teiles von Wahrheit und Methode liegt: »Alles Vorauszusetzende in der .Hermeneutik ist nur Sprache. « Aber wir greifen zu weit vor. In der Auseinandersetzung mit Schleiermacher im Zweiten Teil spielt allein der Sachbezug der Verständigung eine kritische Rolle. Wie wir gesehen haben, genießt die Meinung des anderen dann kein eigenes Profil, wenn man sich in oder über etwas versteht oder verständigt. Sie gewinnt aber eins, wenn die Verständigung in der Sache gestört wird. Erst wenn ich etwas Überraschendes oder Unverständliches zu hören bekomme, frage ich mich, wie der andere zu seiner Äußerung gekommen ist. Gadamer zieht daraus eine wichtige Folgerung: Das Interesse flirdie Meinung des anderen ist flir die Hermeneutik ein sekundäres. Es tritt nur in Erscheinung, wenn die grundlegende Verständigung gestört oder unmöglich geworden ist. Es sei gestattet, auf das infame Beispiel von Mein Kampf zurückzukommen. Weil niemand bei rechtem Verstand mit dem dort Ausgeflihrten einverstanden sein kann, deshalb kann man das Werk nur historistisch oder psychologistisch lesen, d. h. als historisches Dokument der wahnsinnigen Vorstellungen von Hitler. Man kann sich da nur kritisch fragen: Wie ist er denn zu seinen Meinungen gekommen? Aber niemand würde diese Frage wesentlich finden bei einem Stück von Sophokles, einem Gedicht Rilkes oder bei Euklids Elementen. Selbstverständlich lassen sich auch Überlegungen über die Meinung von Euklid, Sophokles oder Rilke anstellen, und es gibt seit dem 19. Jahrhundert eine ausgiebige Literatur darüber. Sie kann wohlgemerkt in vielen Fällen unabdingbar sein, da sich viele Werke nur historistisch oder psychologistisch deuten lassen. Aber es handelt sich nach Gadamer um eine sekundäre Orientierung des Verstehens, die eine Störung des Sachverständnisses zur Voraussetzung hat. Er sieht in ihr den Ausnahmefall, der bei Schleiermacher zu Unrecht zum Normalfall des Verstehens erhoben worden sei.
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Schleier macher hatte nämlich die Erfahrung der Fremdheit und damit die Gefahr des Mißverständnisses in der Kunst der Auslegung universalisiert: »Die strengere Praxis {dieser Kunst] geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen aufjedem Punkt muß gewollt und gesucht werden. «44 »Mehr Methode«45 verlangte er angesichts des ständig drohenden Risikos des Mißverständnisses. Schleiermacher gab dieser methodischen Hermeneutik eine betont rekonstruktive und psychologische Zwecksetzung: »Die Aufgabe der Hermeneutik [besteht] darin [ ... ], den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenstenachzubilden«.46 Gadamer fragt sich hier, ob es in der Hermeneutik primär auf dieses Verstehen ankommt. Versteht man nur, sofern man eine fremde Meinung (in der Texthermeneutik die mens auctoris) rekonstruiert? Versteht man nicht zunächst einen Sinn, eine Wahrheit und damit ihre Gründe? In vielen Varianten hatte Schleiermacher die Formel verwendet, daß es in der Hermeneutik darauf ankomme, »einen Autor besser zu verstehen« als er sich selbst. 47 In ihr sieht Gadamer »das eigentliche Problem der Hermeneutik beschlossen« (WM, 196), denn diese Formel erlaubt es, die Scheidelinie zwischen zwei sehr distinkten Auffassungen der Hermeneutik zu ziehen. Das Besserverstehen kann sich nämlich entweder auf den Autor oder auf die von ihm ausgedrückte Wahrheit beziehen. Ursprünglich ging es nach Gadamer primär um ein besseres Verständnis der Sache selbst. In diesem unmißverständlichen Sinne hatte Kant die Formel in seiner transzendentalen Dialektik gebraucht, als er bemerkte, daß »es gar nichts Ungewöhnliches sei«, einen Autor »besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte« (Kr. d. r. V, A 314 = B 370). Kant 44 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1977,92. 45 Ebd.,84. 46 Ebd.,321. 47 Ebd., 94, 104, 325.
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meint in dem Kontext, daß er das von Platon Gedachte besser versteht, weil er die Ideen nicht in ein jenseitiges Himmelreich, sondern in die reine Vernunft zurückversetzt. Er beansprucht nicht, Platons Werk oder Person, sondern allein die Sache besser zu verstehen. Die Formel scheint bei Schleiermacher aber ~ine subjektivistische Bedeutung zu erlangen, wenn er von der Nachbildung der »komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers« spricht - mag er noch so sehr auf ihren unvollendbaren Charakter hindeuten. Nach Gadamer kommt es im Verstehen weniger auf die Rekonstruktion des Gewesenen als auf die gegenwärtige Integration des Verstandenen an. Hier zieht seine Hermeneutik Lehren aus der Destruktion des ästhetischen Bewußtseins: Genauso wie die Kunst sich nur in der gegenwärtigen Darstellung oder Lesung realisiert, genauso vollzieht sich das Verstehen in der Anwendung oder Integration des heutigen Verstehens. Die Integration setzt nämlich voraus, daß uns der Sinn weiterhin anspricht. Integration und Anwendung sind hier freilich höchst mißverständliche Ausdrücke. Sie scheinen dem »anything goes« inder Hermeneutik Tür und Tor zu öffnen. Gadamer verteidigt aber offenbar nicht die relativistische These, nach der jedes Verstehen berechtigt sei. Irrsinnige oder zu modernisierende Deutungen lassen sich durchaus als solche erkennen und disqualifizieren. Aber wie? Weil die Sache in ihnen gerade nicht zum Sprechen ko rrlmt , sondern allein die Meinung des Interpreten. Gadamer schreibt in diesem Zusammenhang, daß sich das Gelingen einer Interpretation daran zeigt, daß sie sich als Interpretation nicht bemerkbar macht. Dasselbe gilt von einer gelungenen Übersetzung. Eine veraltete oder modernisierende Übersetzung fällt als solche immer auf. Bei einer fließenden Übersetzung hat man hingegen nicht das Gefühl, es mit einer Übersetzung zu tun zu haben, weil der Text so unmittelbar spricht. Aber sprechen kann er nur, weil er uns erreicht und insofern unsere Sprache redet. Eine gute Interpretation von Platons Ideenbegriff ist nicht eine allzu modernisierende (wie etwa die von Kant oder Natorp), sondern diejenige, die als Interpretation so sehr zurücktritt, daß man den Eindruck
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hat, die Idee selbst ohne Vermittlung vo~ Augen zu haben. Die Interpretation oder Übersetzung ist dann gelungen, und das erfordert eine hohe Kunst. Eine integrierende, anwendende Interpretation hebt also nicht die Fremdheit auf, sondern macht sie allererst verständlich. Es ist Platons Ideenbegriff oder die Bedeutung eines geschichtlichen Ereignisses, das ich dann besser verstehe, aber das kann ich nur in der Sprache der Gegenwart, und somit dank einer Verstehensleistung, die um so mehr gelingt, als sie als solche verschwindet. Dieses Verschwinden bringt Gadamer zum Ausdruck, wenn er von einer »Horizontverschmelzung« im Verstehen spricht. Dabei verstehe ich durchaus den Horizont der Vergangenheit, aber das kann ich freilich nur von dem gegenwärtigen Horizont aus. Das Verstehen ist eher als gelingendes Geschehen einer Horizontverschmelzung zu denken, als das neuzeitliche Methodenbewußtsein sich einzugestehen bereit ist. Gadamer hat gewiß recht, das Geschehensmoment des Verstehens gegenüber einer allzu methodischen Auffassung der Hermeneutik zur Geltung zu bringen. Dennoch hat seine Gegenüberstellung der psychologischen und der sachlichen Zwecksetzung der Hermeneutik manchmal etwas zu Starres. Es ist in der Tat etwas überzogen, die Sachwahrheit gegen die mens auctoris zu stellen. Denn oft genug hilft uns die Berücksichtigung der mens auctoris, die Sachwahrheit besser zu verstehen. Gadamer gefällt die Redeweise von einem »Sichversetzen« in den anderen nicht, weil sie eine mysteriöse psychische Transposition zu suggerieren scheint. Aber sie entspricht durchaus dem Begriff des Verstehens im geläufigen Sprachgebrauch. Man »zeigt Verständnis« fur jemanden, wenn man seine Sache versteht. Man verstünde sie aber nicht, wenn man sich nicht in die Situation des anderen »versetzen« würde. Es ist nicht ausgemacht, daß dies eine geheimnisvolle psychische Transposition einschließt. Das Sichversetzen bedeutet hier lediglich, daß man sich bemüht, die Gründe des anderen nachzuvollziehen. Insofern ließe sich durchaus eine Verteidigung der mens auctoris im Sinne Schleiermachers gegen Gadamer zur Geltung bringen. Gadamers eher ablehnende Haltung der mens auctoris gegenüber, ist allein aus seiner freilich nicht un-
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berechtigten Polemik gegenüber der subjektivistischen, weil rein ästhetischen Verkürzung der Hermeneutik zu verstehen. Er hat aber den Bogen in die umgekehrte Richtung vielleicht zu weit gespannt, als er die mens auctoris und die Motivation des »Sichversetzens« über Bord zu werfen schien. Alles kommt auf die Bedeutung an, die dem Begriff des Ausdruckes in dieser Kontroverse zukommt. Gadamer hat ihm einen wichtigen Exkurs im Anhang zu Wahrheit und Methode gewidmet, der in der Literatur vielleicht zu selten berücksichtigt wurde. 48 Gadamer erkennt dort auf erhellende Weise an, daß seine »Kritik an der Psychologisierung des Begriffs >Ausdruck< das Ganze der vorliegenden Untersuchung [in Wahrheit und Methode] durchzieht und sowohl der Kritik an der >Erlebniskunst< wie der an der romantischen Hermeneutik zugrunde liegt.« (GW 2, 386) Der Begriff des Ausdrucks erfreute sich bereits einer Schlüsselrolle im hermeneutischen Unternehmen von Dilthey und Georg Misch. 49 Gadamer spricht von einer Psychologisierung des Begriffs, weil der Ausdruck in diesem Kontext auf ein Erlebnis zurückgeht, das das Verstehen nachzuerleben trachtet. Gadamer geißelt diese Konzeption erbarmungslos, weil er in ihr eine Ästhetisierung und einen Wahrheitsverlust des Verstehens befUrchtet. Man darf daraus aber nicht schließen, daß er den so heftig angegriffenen Ausdrucksbegriff vollends ablehnen möchte. Wie es der Exkurs zeigt, ist er vielmehr darum bemüht, ihm seinen ursprünglich rhetorischen Sinn zurückzugeben. In der Rhetorik meint die expressio vor allem den sprachlichen »Ausdruck«, der Eindruck macht. Was Eindruck macht, ist aber immer die Sache selbst, die da sprechend wird: »Im Ausdruck ist das Ausgedrückte da«. Es ist immer die Sache selbst, die auf diese Weise ausgedrückt wird, nicht so sehr die Subjektiyität, die sie ausdrückt: »Den Ausdruck finden, heißt aber, einen Ausdruck finden, der einen Eindruck erzie48 Jetzt in GW 2, 384-386, unter dem Titel: »Exkurs VI: Zum Begriff des Ausdrucks«. 49 Vgl. dazu meine Arbeit »Georg Misch und die Universalität der Hermeneutik. Logik oder Rhetorik?«, in Dilthey-Jahrbuch 11 (1997-98), 48-63.
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len will, also keineswegs den Ausdruck im Sinne des Erlebnisausdrucks.« (GW 2,384) Es geht Gadamer also darum, den Begriff der expressio aus seiner modernen und rein subjektivistischen Färbung zu befreien. In dieser einseitigen Färbung wittert er eine Vergessenheit des Wesens der Sprachlichkeit, die weniger ein Ausdruck der Subjektivität als ein Ausdruck der Sachen ist. Die Destruktion der romantischen Ausdruckshermeneutik ist somit bei Gadamer positiv gemeint: sie soll den ursprünglich rhetorischen Sinn des expressio-Begriffes freilegen helfen.
Die Selbstausläschung der historischen Schule An der subjektivistischen Auffassung des Ausdrucksbegriffs kritisiert Gadamer das Fortwirken einer immer noch ästhetischen Denkart im wahrheitsfremden Sinne des Wortes: »Eine solche isolierende Beschreibung des Verstehens bedeutet aber, daß das Gedankengebilde, das wir als Rede oder als Text verstehen wollen, nicht auf seinen sacl].lichen Inhalt hin, sondern als ein ästhetisches Gebilde verstanden wird, als Kunstwerk oder >künstlerisches Denken<.« (WM, 191) Nach Schleiermacher fand diese ästhetisierende Hermeneutik ihre unmittelbare Anwendung im Denken der historischen Schule. Die historische Schule bildet keine philosophische Schule im engeren Sinne. Sie bestand hauptsächlich aus Philologen wie August W Boeck (1785-1867) und namhaften Historikern wie Leopold von Ranke (1795-1886) oder Johann Gustav Droysen (1808-1884). Ranke verdanken wir eine mehrbändige Weltgeschichte (1885) und Droysen wichtige Bücher über die Geschichte der preußischen Politik (1855), aber auch über den Hellenismus (1878) und Alexander den Großen (1883). Im Geiste des 19. Jahrhunderts haben sie sich auch Gedanken über die methodologischen Grundlagen ihrer Disziplin gemacht. Sie taten es wohlgemerkt als Historiker, da sie philosophischen Konstruktionen mit überaus großem Mißtrauen begegneten. Ihnen stand vor allem das abschreckende Beispiel der Geschichtsphilosophie Hegels vor Augen. Ihre
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eigenen Überlegungen lassen sich aber durchaus als Antwor:... ten auf Hegel lesen. Seiner als metaphysisch verschrienen idealistischen Geschichtsphilosophie gegenüber waren sie bestrebt, den wissenschaftlichen Charakter ihres Faches zu verteidigen. Sie monieren im allgemeinen den scheinbar apriorischen, teleologischen, kurzum idealistischen Zug einer Geschichtsphilosophie, die der Singularität und Kontingenz geschichtlicher Ereignisse nicht gerecht wird. Die historischen Fakten werden ihres Erachtens zu offenkundig in einen vorgegebenen idealistischen Rahmen gepreßt. Diese Kritik der idealistischen Geschichtsphilosophie im Namen der geschichtlichen Faktizität bildet die Standardkri- . tik, die seit eh und je gegen Hegel erhoben wird. Welches Erkenntnismodell kann aber die historische Schule gegen dieses diskreditierte Vorbild aufbieten? Die Antwort der historischen Schule folgt teils dem Positivismus, teils dem Muster einer ästhetisierenden Hermeneutik. Sie ist positivistisch, insofern sie auf die Faktenangewiesenheit einer Geschichte insistiert, die als Wissenschaft wird auftreten können. Die geschichtlichen Fakten sind nicht mehr von einem metaphysischen System aus zu deduzieren, sondern aus sich selbst zu verstehen. Das kann man aber nur tun, wenn man sie aus ihrem geschichtlichen Kontext heraus versteht. Es wird hier aber stillschweigend vorausgesetzt, daß die Geschichte so etwas wie einen Text bildet, der sich entziffern läßt. In diesem Sinne weist der proklamierte Positivismus der historischen Schule auf eine hermeneutische Basis hin. Es fragt sich aber, ob die historische Schule damit jede Form von Idealismus verabschiedet hat. Denn die geschichtlichen Fakten bleiben taub, wenn sie nicht in einen größeren Rahmen einbezogen werden, der letztlich der der Weltgeschichte ist. Bei genauerem Hinsehen gibt es also selbstfür die historische Schule keine nackten Fakten, die rein gegeben wären und geschichtliche Bedeutung hätten. Die Einzelheit, auf die sich der Historiker zu konzentrieren hat, gewinnt nur »Sinn« in einem Kontext. Woher stammt die hier waltende Dialektik zwischen der Einzelheit und dem Ganzen, wenn nicht aus der Hermeneutik und ihrem Modell der Textinter~
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pretation? Auf diese Weise, stellt Gadamer fest, wurde die Hermeneutik zur stillschweigenden Grundlage der Historie. Aber läßt sich das Modell des Textes ohne weiteres auf die Geschichte übertragen (es wird bald auf die Existenz selbst Anwendung finden, wenn sich die Frage nach dem »Sinn des Lebens« in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts aufdrängen wird)? Es gibt ja wichtige Unterschiede zwischen der Philologie und der Geschichte. Im Unterschied zur Geschichte bilden die Texte, die die Philologie untersucht, eine Ganzheit, die relativabeschlossen ist und die meist einen angebbaren Anfang und ein Ende haben. Wo läßt sich aber so etwas wie ein Anfang und ein Ende der Geschichte ausmachen? Muß man hier nicht einen Geschichtsverlauf und eine ganzheitliche »Weltgeschichte« voraussetzen? Auf diese Weise findet sich die historische Schule aber erneut vor das Hegelsche Problem einer Universalgeschichte gestellt, das sie wie die Pest meiden wollte. Die historische Schule unterscheidet sich von Hegel höchstens durch ihre Ablehnung einer Geschichtsteleologie: 50 Man habe es in der Geschichte nicht mit einem steten Fortschritt der Vernunft und der Freiheit zu tun. Es stehe nicht an, die geschichtlichen Epochen von dem Blickwinkel der Gegenwart oder eines höheren philosophischen Zieles aus zu beurteilen. Deshalb wird die Idee eines Geschichtsfortschrittes bei Ranke durch die Vorstellung einer Gleichwertigkeit aller Epochen vor Gott ersetzt. Der Lutheraner Ranke hätte damit die christliche Idee einer »Unmittelbarkeit zu Gott« auf das Amt des Historikers übertragen. (WM,214) Wennjede Epoche aus sich selbst zu verstehen ist, weil sie ihre eigene Legitimität besitzt, übernimmt der Historiker stillschweigend die Stelle eines intellectus inJinitus, der die Epochen aus sich selbst beschreibt: »Hier ist die Idee des unendlichen Verstandes (intellectus inJinitus) , fur den alles zugleich ist 50
Eine teleologische Komponente ist aber der historischen Schule
nicht völlig fremd, stellt Gadamer fest (WM, 207), insofern sie in dem Erfolg ein Kriterium erkerint; das die Fakten in geschichtliche Ereignisse verwandelt. Es handelt sich aber um eine Teleologie ohne Telos (ebd.).
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(omnia simuQ, zum Urbild historischer Gerechtigkeit umgeformt. Ihm kommt der Historiker nahe, der alle Epochen und alle geschichtlichen Erscheinungen vor Gott gleichberechtigt weiß.« (WM, 214) Ist es aber angängig, das Amt des Historikers aIl das eines unendlichen Intellektes anzugleichen? Ist man hier wirklich sehr weit vom Idealismus entfernt? Um die Objektivität geschichtlicher Erkenntnis bewahrt zu wissen, spricht Ranke in einer berühmt gewordenen Formel von einer »Selbstauslöschung« des Historikers. Der Ausdruck hört sich zunächst positivistisch an. Ranke scheint tatsächlich die Arbeit des Historikers an die des Naturwissenschaftlers zu assimilieren, dessen Ergebnisse vom Standort des Beobachters unabhängig bleiben sollen. Der Historiker soll zurücktreten, ja sich selbst auslöschen, um die Phänomene besser sprechen zu lassen. Wie können sie aber »sprechen« ohne den Historiker? Die Selbstauslöschung beraubt den Historiker seines Ortes in der Geschichte. Steht der Historiker über der Geschichte, wie bei Hegel? So sehr sie sich auch von einem Gerechtigkeitsgebot den historischen Fakten gegenüber leiten lassen mag, wird die historische Schule dennoch der Geschichtlichkeit des Historikers nicht gerecht. Gehört dieser nicht selbst zur Geschichte, die er erzählt? Trägt nicht jede Geschichtsschreibung das Siegel ihrer Zeit? Der stark apologetische Zug der Geschichte Preußens, wie sie von Droysen dargestellt wird, ist übrigens ein sprechender Beleg daftir! Gibt es ferner nicht eine unaufhebbare Bedeutsamkeit der geschichtlichen Phänomene, die vor aller Selbstauslöschungjeden Historiker bindet? In einer Formel, die den Gedanken der Wirkungsgeschichte vorbereitet, spricht Gadamer hier von einer »Vorgängigkeit des geschichtlichen Lebensbezugs« (WM, 201), die sich vor jedem methodischen Bewußtsein des Historikers behauptet. Es gibt nie so etwas wie eine sub specie aeternitatis geschriebene Geschichte. Allein Gott könnte eine solche schreiben. Ist dies aber ein tragfähiges Modell fur die Geschichtswissenschaft? In ihm scheint die Geschichtlichkeit des Historikers keinen Platz zu finden. Die Ironie ist hier die, daß die historische Schule Hegel vorgeworfen hatte, die geschichtliche Faktizität
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zu verkennen. In ihrem Namen hoffte sie, den idealistischen Konsequenzen Hegels zu entgehen. Die Hermeneutisierung der Geschichte und die scheinbar positivistische Vorstellung einer Selbstauslöschung belehren indessen, daß selbst die historische Schule ohne idealistische Anleihen nicht auskommt. Es könnte also sehr wohl sein, daß sich das Hegelsche Motiv einer Integration der »begriffenen« Geschichte hier wegweisender erweisen könnt~ als das Ideal der Selbstauslöschung. . Die historische Schule bedient sich nach Gadamer ästhetisierender Vorstellungen, wenn sie das Modell der Philologie stillschweigend auf die Geschichte anwendet. Wenn jede geschichtliche Tatsache lediglich Ausdruck ihrer Epoche sein soll, gerät die Stellung des Historikers zu einer rein kontemplativen. Die postulierte Selbstauslöschung der Zugehörigkeit des Geschichtsschreibers zu seiner Zeit unterschlägt, daß jede Geschichte von der Gegenwart aus neu zum Sprechen und zum Verstehen gebracht wird. Darf man aber in dieser Zugehörigkeit nur eine Beeinträchtigung der Objektivität sehen? Gadamers radikaler sein wollende Geschichtshermeneutik wird von dieser Zugehörigkeit ausgehen und in ihr eine fruchtbare Bedingung geschichtlicher Erkenntnis sehen lernen. Droysen hat mit seiner Historik eine viel reflektiertere Auffassung entwickelt, insofern sie den Vermittlungen des Verstehens besser Rechnung trug. Er sieht auch sehr gut, daß Fakten als solche dem Historiker unzugänglich bleiben. Er schreibt: »Es heißt die Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor.«51 Verstanden werden nur erhaltene Berichte und Zeugnisse, die selbst Ausdruck eines Verstehens darstellen. Im verstandenen Ausdruck sucht man zwar ein »Inneres« zu ermit51 J. G. Droysen, Historik, hrsg. von R. Hübener,München, 7. Aufl. 1937 (Nachdruck: D
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teIn, das aber für Droysen nie dingfest gegeben ist. Gadamer nimmt natürlich Anstoß an der Vorrangstellung des Ausdrucksbegriffs in diesem Zusammenhang. Droysens Hinweis auf das Innere hinter dem Ausdruck würde beweisen, daß Droysen »hier ganz auf cartesianischem Boden« stehe (WM, 216). Gadamers Urteil ist hier vielleicht etwas zu voreilig. Denn Droysen zeigt sich doch sehr besorgt, dieses geschichtliche Verstehen von dem »Erklären« der naturwissenschaftlichen Erkenntnis abzusondern, wo eine solche letzte Positivität gegeben ist. Deshalb spricht er von einem unaufhörlich »forschenden Verstehen«. Die Unendlichkeit der Forschungsaufgabe, die sich dem Verstehen hierbei stellt, besagt nur, daß eine letzte innere Gegebenheit nie gesehen werden kann. Sie kann nur »forschend verstanden« werden, d. h. in einem Prozeß unendlicher Annäherung. Verstehen ist nach der berühmten Formel von August Boeckh immer nur die »Erkenntnis des Erkannten«, also nie die Durchdringung einer letzten Gegebenheit. Das Verstehen hat es nur mit Verstandenem und immer mit neu Verstandenem zu tun. Für den Historiker Droysen ist folglich das Hörensagen »nicht eine schlechte Beglaubigung, sondern die einzig mögliche« (WM,221). Es ist also alles andere als ausgemacht, daß diese die Vermittlungen des Verstehens sehr wohl in Rechnung stellende und damit Rankes Vorstellung der Selbstauslöschung überwindende Konzeption so kartesianisch ist. Gadamer erkennt ferner an, daß der Begriff der »Forschung« in Droysens forschendem Verstehen einen eher religiösen als naturwissenschaftlichen Unterton hat. Er sei von der Erfahrung der Gewissensforschung her zu verstehen, für die es ja konstitutiv sei, daß sie nie auf den letzten Grund des Gewissens stoße (WM, 220). Gadamer wird sich zwar ereifern, diese religiösen Untertöne an den Hintergrund einer »pantheistische[ri] Metaphysik der Individualität« (WM, 202) zurückzubinden, die er bereits bei Schleiermacher entdecken wollte, aber seine Ausführungen dürfen die theologischen Untertöne seines eigenen Verstehensbegriffs nicht in Vergessenheit geraten lassen. Er hat ja von der Marburger Theologie gelernt, daß das
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Selbstverständnis nichts von kartesianischer Selbstgewißheit an sich hat, es besteht vielmehr in der Anerkennung, daß das Selbstverstehen nie gelingen wird. 52 Mir scheint, daß diese Konzeption dem Verstehensbegriff Droysens sehr nahekommt. Gadamer schreibt also vielleicht zu Unrecht: »Der Begriff des Verstehens behält nun trotz aller Vermittlung für Droysen das Kennzeichen einer letzten Unmittelbarkeit.« (WM,221) Eine letzte Unmittelbarkeit ist in Droysens Begriff des forschenden Verstehens geradezu ausgeschlossen. Wenn er nicht darum bestrebt ist, eine kartesianische Grundlage, die man unbestritten in dem Unternehmen einer methodologischen Historik erblicken darf, bei Droysen nachzuweisen, versucht Gadamer, seine Verstehenskonzeption als eine bloß ästhetische Denkweise hinzustellen. Droysen erblickt nämlich in der Geschichte das Walten »sittlicher Mächte«. Sie würden »die eigentliche Wirklichkeit der Geschichte« (WM, 219) bilden. Auch wenn dieser Begriff der sittlichen Mächte etwas Rohes hat, indem er an die in der Natur wirkenden Mächte gemahnt, ist es nicht ausgemacht, daß es sich um eine rein ästhetische Kategorie handelt, wie Gadamer meint (WM, 237). »Sittliche« Mächte sind nicht ästhetisch, sondern moralisch. Kann eine sittliche Lesart der Geschichte nur ästhetisch sein? Ist man hier wirklich so weit von der Konzeption Hegels entfernt, der die Geschichte als einen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit verstand? Auch hier erscheint es angebracht, Gadamers strenges Urteil zu differenzieren, wonach Droysen die »Aufgabe der Historie nur in ästhetisch-hermeneutischen Kategorien« (WM,221f.) denken könne und wonach er von Hegel einzig die Vorstellung einer Entäußerung des Geistes in der Geschichte übernommen habe.
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VgL GW 10, 14i: »Das Wort >Selbstverständnis< hat vielmehr einen
pietistischen Unterton und läßt anklingen, daß es dem Menschen eben
nicht gelingt, sich selber zu verstehen, und daß über diesem Scheitern seines Selbstverständnisses und seiner Selbstgewißheit der Weg zum Glauben fuhren soll.«
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Die drei Aporien Diltheys Die historische Schule war im wesentlichen eine Reaktion von Historikern auf die gewaltige Herausforderung der idealistischen Geschichtsphilosophie Hegels. Die Hermeneutik des Verstehens erwies sich aber als die uneingestandene Voraussetzung der historischen Schule. Ihre Philologisierung der Geschichte ging selbst aus 1. von stillschweigend idealistischen Prämissen (die einzelnen Ereignisse sind von einem umfassenderen Ganzen aus zu verstehen), 2. von positivistischen Vorentscheidungen (Rankes Selbstausläschung) und 3. von ästhetischen Dispositionen, sofern jede Erscheinung als Ausdruck ihrer Epoche zu verstehen ist. Bei all dem konnte freilich von einer ausgearbeiteten Philosophie der geschichtlichen Erkenntnis nicht die Rede sein. Eine solche wird erst Dilthey zu liefern versuchen. Er empfahl sich selbst als Methodologe der historischen Schule, als er sich an das Unternehmen einer »Kritik der historischen Vernunft« machte. Diese Kritik sollte für die Geisteswissenschaften eine ähnliche Begründung erbringen wie diejenige, die Kants Kritik der reinen Vernunft den Naturwissenschaften gebracht haben sollte. Bekanntlich hat aber Dilthey kein einzelnes seiner Werke mit dem Titel einer »Kritik der historischen Vernunft« auszuzeichnen gewagt. Seine Lebensaufgabe blieb damit eine bis zuletzt offene Werkstatt. Nach Gadamer konnte Diltheys Projekt einer Vollendung nicht entgegengeftihrt werden, weil es von grundsätzlichen »Aporien« heimgesucht blieb. Man kann die Bedeutung von Gadamers Auseinandersetzung mit Dilthey nicht hoch genug veranschlagen. Dilthey zeigt sich in vielerlei Hinsicht als der wichtigste Gesprächspartner und Gegner von Wahrheit und Methode. Die ganze geschichtliche Vorbereitung des Zweiten Teiles will die idealistischen, romantischen und ästhetischen Voraussetzungen der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts in Erinnerung rufen, die diejenigen von Dilthey bleiben. Gadamers Verstehenshermeneutik läßt sich auch nur als Gegenkonzept zu Diltheys methodologischer Auffassung der Hermeneutik nachvollziehen. Das Denken Diltheys und seiner Schule, zu der ein wei-
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tes Spektrum von Autoren wie Georg Misch, Hermann Nohl, JosefKönig, Bernhard Groethuysen, Raymond Aron, Georges Gudsdorf, Otto Friedrich Bollnow und Frithjof Rodi gerechnet werden kann, bildet ja auch die letzte Stufe in der Geschichte der Hermeneutik. Heidegger hatte zwar emphatisch von einer Hermeneutik des Daseins gesprochen, die eine große Inspiration fUr Gadamer werden sollte, aber er hatte demonstrativ mit der klassischen Problematik der Geisteswissenschaften, mit denen die Hermeneutik seit Dilthey verbunden war, gebrochen, um sie an die Seinsfrage zu binden. Seine eigentliche phänomenologische Methode war die der geschichtlichen Destruktion, die in dem späteren Entwurf der Seinsgeschichte nur radikalisiert wurde. Sie brachte ihn aber dazu, das teils methodologisch, teils transzendental und damit subjektivistisch belastete Thema der Hermeneutik fallenzulassen. Auch wenn er vom Heideggerschen Boden aus denkt, wird Gadamer die Debatte mit der Hermeneutik der Geisteswissenschaften wieder aufnehmen. Ein Blick auf Gadamers Arbeiten in den 50er Jahren, der Gärungszeit von Wahrheit und Methode, lehrt auch, daß sie von der Diltheysehen Frage der Wahrheit der Geisteswissenschaften, und von dem nicht weniger Diltheyschen Problem des historischen Bewußtseins beherrscht sind. Man denke dabei insbesondere an die Aufsätze »Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie« (1943), »Wahrheit in den Geisteswissenschaften« (1953), »Was ist Wahrheit?« (1957)53 sowie an die Löwener Vorträge über Das Problem des historischen Bewußtseins von 1957. 54 Im Jahre 1949 hatte Gadamer ferner eine 53 Sie geben jetzt den Auftakt zum 2. Band der GW und damit von »Wahrheit und Methode II« ab: GW 2, 27-56. 54 Sie wurden 1957 auf Französisch gehalten und 1963 veröffentlicht (Le probleme de la conscience historique, Neuauflage: Paris, Seuil, 1996, mit einem neuen Vorwort von 1975, das fur die englische Übersetzung dieser Vorträge geschrieben worden war). Ihnen lag ein deutsches Manuskript zu Grunde, das Gadamer verloren hat, das man jedoch als Urfassung von Wahrheit und Methode bezeichnen kann und das man in der Handschriftenabteilung der Heidelberger Universitätsbibliothek vermuten darf (dessen Anfang veröffentlicht wurde: H.-G. Gadamer, Wahr-
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ergänzte Neuausgabe von Diltheys Grundriss der allgemeinen Geschichte der Philosophie (Frankfurt a. M., Klostermann) herausgegeben. Es ist also gar keine Frage, daß er sich in den SOer Jahren in die Kontinuität der Fragestellung Diltheys stellte. Im Vorwort zur englischen Ausgabe der Löwener Vorträge gab er auch unmißverständlich zu erkennen, daß man in der Herausforderung des geschichtlichen Bewußtseins und in der Erfahrung der Kunst die zwei Ansatzpunkte seiner Hermeneutik erkennen könne. 55 In späteren Texten wollte er aber zunehmend in dem geisteswissenschaftlichen Ausgangspunkt eine epistemologische Verengung seiner Fragestellung sehen, so daß er hier lieber die Bedeutung der Kunst hervorhebt (vgl. GW 8,373). In genetischer Sicht, aber auch im Lichte seiner Bedeutung ftir die Geschichte der Hermeneutik war die Auseinandersetzung mit Dilthey entscheidend. Es handelt sich zudem um eine Schaltstelle in der Argumentation von Wahrheit und Methode, weil die geschichtliche »Destruktion« damit an ihr Ende gelangt und die eigentlich systematische Herme"'neutik von Gadamer mit dem phänomenologischen Durchbruch anheben kann. Gadamer geht wie Dilthey von der Herausfor,derung des geschichtlichen Bewußtseins aus. Es handelt sich zweifellos um das große Problem der Philosophie seit Hegel, das wir heute vor allem unter den Titeln des Relativismus oder des Nihilismus kennen. Die Problemstellung von Dilthey hört sich etwas weniger dramatisch an, weil er ihr eine epistemologische Wende gibt: Wenn jede Manifestation des Geistes geschichtlich zu verstehen ist, wie läßt sich eine objektive und allgemeingültige Erkenntnis der Geschichte gewährleisten? Dieses Problem der geschichtlichen Erkenntnis stellte sich vor allem rur die Geisteswissenschaften. Sie leiden unter einem Minderwertigkeitskomplex den Naturwissenschaften heit und Methode. Der Anfang der Urfassung (ca. 1956), in Dilthey-Jahrbuch 8 (1992-93),131-142). Der deutsche Text entspricht dort sehr genau dem Anfang des ersten Löwener Vortrags (1996,28 ff.). Der französische Text soll demnächst ins Deutsche rückübersetzt werden. 55 Le probleme de la consdence historique, 1996, 14.
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gegenüber, weil sie noch über keine Methodologie verfügen. Eine solche tut not, und Dilthey verspricht in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften und in seinem verstreuten Schrifttum, eine zu erbringen: Die Hermeneutik wurde zwar in der Einleitung von 1883 nicht direkt zu Hilfe gerufen, wurde aber aus einem naheliegenden »Syllogismus« immer präsenter für Dilthey: Alle Geisteswissenschaften sind verstehende Wissenschaften; die Hermeneutik versteht sich nun seit Schleiermacher (dessen Biograph Dilthey war) als die Kunstlehre des Verstehens;also scheint die Hermeneutik dazu auserkoren, die methodologische Grundlage aller Geisteswissenschaften zu liefern. Die wichtige Studie von 1900 über »Die Entstehung der Hermeneutik« sieht demnach die »Hauptaufgabe« der Hermeneutik darin, »gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch [zu] begründen, auf welcher alle Sicherheit der Geschichte beruht.«56 Indem sie »die Frage nach der wissenschaftlichen Erkenntnis der Einzelpersonen,ja der großen Formen singulären menschlichen Daseins überhaupt« stellt, soll die Hermeneutik klären helfen, »ob das Verständnis des Singulären zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann«.57 Es mag überraschen, daß Gadamer diese positivistisch klingenden Passagen in Wahrheit und Methode nicht anführt. Sie hätten unschwer seine Grundintuition über die Verführung des epistemologischen und methodischen Modells bei einem Denker wie Dilthey, der andererseits ein so feines Gespür für die Eigenart der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis zeigte, belegen können. Er konzentriert sich stattdessen auf die »Aporien« des Historismus, in die sich Dilthey verstrickt habe. Gadamer spricht von Aporien im Plural, ohne sie auseinanderzuhalten. Sie hängen alle mit der einheitlichen Problemstellung des Historismus zusammen, aber 56
W Dilthey, »Die Entstehung der Hermeneutik«, Gesammelte
Schriften, Band 5, 33l. 57 Ebd., 317.
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der Klarheit halber werden wir im folgenden drei Aporieebenen unterscheiden. 1. Die grundsätzliche Aporie ist offenkundig diejenige, die zwischen dem methodologischen Anspruch auf eine allgemeingültige Erkenntnis fUr die Geisteswissenschaften und dem romantischen Ansatz bei der Geschichtlichkeit eines jeden Erkennens waltet. Wie es ein späterer Aufsatz von Gadamer verdeutlichen sollte, scheint Dilthey damit »zwischen Romantik und Positivismus« zu schwanken. 58 Es gibt nicht nur ein Schwanken, sondern einen echten Widerspruch zwischen beiden Ansätzen: Wenn wir durch und durch von der Geschichte bedingt sind, wie es Dilthey anerkennt, wird dann nicht eine allgemeingültige Erkenntnis, die diese universelle Geschichtlichkeit transzendieren würde, ausgeschlossen? Nichtsdestoweniger scheint Dilthey in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften nach einem »festen Rückhalt«59 Ausschau zu halten, der den Sätzen der Einzelwissenschaften »Gewißheit« geben könnte. Das Verlangen nach einem festen, Gewißheit verbürgenden Rückhalt, den Dilthey auch erkenntnistheoretisch legitimieren möchte, muß an Descartes Rede von einem fundamentum inconcussum gemahnen. Wird aber nicht die Aussicht auf eine unerschütterliche Gewißheit von der grundsätzlichen Geschichtlichkeit in Frage gestellt? Gadamer wird sich zudem fragen, ob die Wahrheit der Geisteswissenschaften von einem solchen unerschütterlichen Fundament abhängt. Läßt man sich hier nicht von dem Ideal der kartesianischen Gewißheit und dem Modell der Naturwissenschaft in die Irre fUhren? Diese erste Aporie läßt sich als die des kartesianischen Begründungsdenkens und der Geschichtlichkeit charakterisieren. Beide scheinen miteinander unversöhnlich. 2. Die nächste Aporie ist etwas subtiler, aber fUr das Verständnis des Gadamerschen Unternehmens noch wichtiger. J
58 HGG, »Das Problem Diltheys. Zwischen Romantik und Positivismus« (1984), GW 4,406-424. Auf den Kartesianismus von Dilthey hatte Heidegger in seinen Vorlesungen (vgl. GA 28, 137) bereits hingewiesen. 59 W Dilthey, Gesammelte Schriften, Band 1, XVII.
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Sie betrifft die nach Gadamer zu intellektualistische oder instrurnentalistische Auffassung des geschichtlichen Bewußtseins bei Dilthey. Denn das geschichtliche Bewußtsein war bei ihm nicht nur ein von der Geschichte bedingtes Bewußtsein, sondern das Bewußtsein von der Geschichte im Sinne einer Bewußtwerdung des geschichtlichen Charakters aller Erscheinungen. Das geschichtliche Bewußtsein stellte also fur Dilthey nicht nur ein Problem, sondern auch eine Chance dar. Es gestattet selbst eine Lösung des Problems geschichtlicher Erkenntnis: unser geschichtliches Bewußtsein unterscheidet uns nämlich von früheren, ungeschichtlich denkenden Epochen, so daß es als Reflexions- und Aufklärungsgewinn zu begrüßen ist. 6o Weil wir ein Bewußtsein der geschichlichen Bedingtheit haben, können wir uns - im Unterschied zu früheren ungeschichtlichen Zeitaltern - über sie erheben und sie objektiv erkennen, d. h. aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang heraus. Aus der Not wird eine Tugend: Das geschichtliche Bewußtsein erscheint nahezu als das Heilmittel gegen den Relativismus, den es heraufzubeschwören scheint. Zweifellos darf man im geschichtlichen Bewußtsein einen Aufklärungsschub sehen. Die Frage ist aber die, ob man das geschichtliche Bewußtsein dabei nicht zu sehr auf ein Erkenntnisproblem verkürzt. Darin liegt nach Gadamer die größte Aporie Diltheys. Er verstehe zu sehr das Bewußtsein - darin auch kartesianisch - als eine »Weise der Selbsterkenntnis« (WM,239). Gadamer fragt sich hingegen, ob sich die Geschichtlichkeit des Bewußtseins nicht vielmehr in der Begrenzung der Selbsterkenntnis bekunde. Das »geschichtliche« Bewußtsein ist fur Gadamer nicht nur wie bei Dilthey das Bewußtsein von der Geschichte (genetivus objectivus), sondern viel ursprünglicher noch das von der Geschichte bedingte und erwirkte Bewußtsein, das nicht imstande ist, seine 60 Vgl. dazu die vor allem in Band 8 der Gesammelten Schriften Diltheys versammelten Studien über »Das geschichtliche Bewusstsein und die Weltanschauungen« (3-71). Vgl. dazu außerdem: WM, 239; HGG, Le probleme de la conscience historique, 1996, 39; und meine neuere Arbeit »La solution de Dilthey au probleme du relativisme historique«, in Revue internationale de philosophie, im Erscheinen.
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ganze BedIngtheit in die Durchsichtigkeit des Selbstbewußtseins zu heben. Deshalb wird Gadamer dem stolzen geschichtlichen Bewußtsein von Dilthey ein »wirkungsgeschichtliches« Bewußtsein zur Seite stellen, das sich von der Geschichte erwirkt und getragen weiß. Nach der glücklichen Formulierung von Gadamer, die aber erst nach 'Wahrheit und Methode erschien, ist· dieses wirkungsgeschichtliche Bewußtsein mehr Sein als Bewußtsein (vgl. GW 2,11,247; u. GW 4, 346f.), d. h. mehr von der Geschichte herbeigefUhrt, als es es sich je zu Bewußtsein bringen kann. Das geschichtliche Bewußtsein beschreibt somit eher das, was wir sind, als das, was wir wissen. Ein solches geschichtliches Bewußtsein kann sich nie aus der Geschichte ganz herausreflektieren. Gadamers Gegenthese läßt sich so formulieren: »Geschichtlichsein heißt, nie im Sichwissen aufgehen.« (WM, 307) Die Aporie von Dilthey ist hier die einer noch zu intellektualistischen und .damit instrumentalistischen Auffassung des geschichtlichen Bewußtseins, die seine eigene Geschichtlichkeit verkennt. In aller Gerechtigkeit muß man anerkennen, daß sich bei Dilthey Stellen finden, die das geschichtliche Bewußtsein in einem geschichtlichen »Sein« verankern. Es war ja eines seiner leitenden Bestreben, die Grundbegriffe der Wissenschaft aus den Kategorien des Lebens abzuleiten. Gadamer und Heidegger ließen sich von dieser Seite der Arbeiten Diltheys sehr inspirieren, weil sie sich dadurch eine Sprengung des ursprünglich methodologischen Rahmens und eine allgemeinere Philosophie des geschichtlichen Lebens versprachen. Heideggers Hermeneutik der Faktizität und Gadamers Universalhermeneutik lassen sich durchaus in die Folge dieser Forschungen stellen. Das gilt auch fUr Husserls Phänomenologie der Lebenswelt, die die Grundkategorien der Wissenschaft auf eine Urstiftung des Lebens zurückfuhrt. 3. Gadamer stellt aber fest, daß Diltheys Behandlung der Kategorien des Lebens weiterhin von kartesianischen Prämissen durchsetzt bleibt. So wollte Dilthey u. a. die wissenschaftliche Methode und ihren grundsätzlichen Zweifel von dem Skeptizismus und dem Selbstzweifel ableiten, die viel ursprünglicher das menschliche Dasein befallen können.
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Ebenso versuchte Dilthey, die wissenschaftliche Suche nach Gewißheit und letzten Fundamenten auf das instinktive Streben des Lebens nach Rückhalt und Stabilität zurückzuftihren. Nach Gadamer verkennt Dilthey aber, daß der Zweifel und die Sicherheitssuche in der Wissenschaft und im Leben sehr verschiedene Sachen sind. Der kartesianische Zweifel zweifelt nämlich, um zu einer unbezweifelbaren Gewißheit zu gelangen. Der existentielle Zweifel hingegen zweifelt an der Möglichkeit einer solchen Gewißheit überhaupt. Weit davon entfernt, den Lebensskeptizismus fortzusetzen, ist nach Gadamer die wissenschaftliche Reflexion, die nach letzten Fundamenten greift, »eine gegen das Leben gerichtete Bewegung« (WM, 242). Ferner bildet die Stabilität und Verläßlichkeit des Lebens in Tradition, Familie und Sitte etwas ganz anderes als die wissenschaftliche Sicherheit, die sich aus einem fundamentum inconcussum deduzieren läßt. Diese Stabilität ist eine Sache von Solidarität und Zugehörigkeit, nicht von Begründung. Dilthey hätte viel zu sehr die letztere mit der ersteren verwechselt. Man darf hier von einer dritten Aporie Diltheys sprechen. Sie äußert sich in seiner Neigung, das geschichtliche Leben unbemerkt von den kartesianischen Kategorien der Wissenschaft her und auf sie hin zu konzipieren, während er doch das Gegenteil verspreche, nämlich eine Explikation der Wissenschaft vom historischen Leben her. Trotz seiner besten Absichten würde Dilthey in seiner allgemeinen Philosophie des Lebens Kartesianer bleiben. Das von der Wissenschaft her anvisierte Leben werde damit viel zu epistemologisch und instrumentalistisch gefaßt und auf diese Weise verkürzt. Das von Dilthey gestellte Programm einer allgemeinen Philosophie des geschichtlichen Lebens und Bewußtseins bleibe gleichwohl erhalten. Es müsse nur von den epistemologischen Engpässen, in die sich Dilthey verstrickt habe, befreit werden. Der entscheidende Durchbruch zu einer solchen Philosophie, die als allgemeine
Hermeneutik werde auftreten können, wurde nach Gadamer von der Phänomenologie und vor allem von Heidegger geleistet.
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Der phänomenologische Durchbruch Dilthey bildete vor Heidegger und Gadamer den letzten Stand der Hermeneutik. Es steht außer Zweifel, daß Gadamer Ditheys Aporien auf die Spitze getrieben hat, um seinen eigenen hemeneutischen Beitrag pointierter profilieren zu können. Seine hermeneutische Philosophie kann erst jetzt richtig in Gang kommen. Sie wird sich zwar von den geschichtlichen und romantischeren Einsichten Diltheys leiten lassen, aber es ist unverkennbar, daß sie ihre wichtigsten Anstöße von Heidegger empfangen hat. Aber von welchem Heidegger? Dank den im Rahmen seiner Gesamtausgabe veröffentlichten frühen Vorlesungen und Manuskripten wissen wir heute, daß Gadamer viel weniger von Sein und Zeit als von seiner frühen Hermeneutik der Faktizität ausgeht. In ihr hat er auch sehr früh die Impulse erkannt, die zur Kehre des späten Heidegger führten. Gadamer hat der Distinktion zwischen einem »ersten« und »zweiten« Heidegger nie große Bedeutung beigemessen, weil sie die einheitliche Zielrichtung seines Denkens vergessen lassen könnte. Diese Zielrichtung hat Gadamer in der »Überwindung der Subjektivität des modernen Denkens« erkannt. (GW 10, 71)61 Die instrumentalistische Auffassung des modernen Denkens beruhe auf der vom Menschen besetzten »Subjektivität«, die auf Griechisch so viel heißt wie das Zugrundeliegende. Sie stamme aus einer Verdrängung der menschlichen Zeitlichkeit. Bereits in Wahrheit und Methode hat Gadamer zu erkennen gegeben, daß die Kehre lediglich eine Freisetzung dieser Absicht bedeutete (WM, 262), die allein durch das transzendental wirkende Zwischenspiel von Sein und Zeit unterbrochen worden sei. 61 Der Titel des 1985 geschriebenen, aber erst 1995 veröffentlichten Beitrags, dem die zitierte Formulierung entnommen ist, lautet pointiert »Die Kehre des Weges« im Singular. Eine Kehre kann es nämlich nur auf einem einheitlichen Weg geben. Heidegger beschrieb es ebenso in einem seiner gelungensten Aphorismen: »Auf einen Stern zugehen, nur dies«, in Aus der Erfahrung des Denkens. Vgl. auch die einsichtsvolle Studie unter dem Titel »Der eine Weg Martin Heideggers« (1986), GW 3,417430.
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In seinen Löwener Vorträgen von 1957 62 und in Wahrheit IJnd Methode lehnt sich Gadamer deshalb viel lieber an das Stichwort einer Hermeneutik der Faktizität(WM, 259) an, das die Intuitionen des späten Heidegger über die Sekundarität der menschlichen Subjektivität vorwegnimmt. Natürlich wurde es ftir Gadamer eine Bereicherung, daß das spätere, sich kehrende Denken auf die Wahrheitserfahrung des Kunstwerkes und auf die Sprache zurückging, um das instrumentaltechnische Denken der Subjektivität zu überwinden, aber er hatte den Weitblick, darin eine Fortsetzung der Urmotive des frühen Heidegger zu erkennen. Später sprach er bekanntlich von der »Kehre vor der Kehre« (GW 3,423 u. ö.)! Indem Gadamer selbst an dem Thema der Hermeneutik, das der späte Heidegger fallenließ, festhielt, bezog er das Ende des Heideggerschen Denkweges auf seinen hermeneutischen Anfang zurück. 63 Gadamers ebenso einsichtsvolle wie kühne Intuition verlieh damit dem Heideggerschen Weg eine Kohärenz, die vielen - und vielleicht Heidegger selbst - entgangen war. Die der Gesamtausgabe zu verdankende Wiederentdeckung des jungen Heidegger hilft uns, das Ausmaß dieser Kohärenz zu ermessen. Aber 1960 sah die Situation ganz anders aus. Der »frühe« Heidegger war damals nur der Heidegger von Sein und Zeit. Seit seinem Humanismusbrief von 1946 schien Heidegger seiner »ersten Philosophie« abgeschwört zu haben. Er schien das transzendental-hermeneutische Denken zugunsten eines anscheinend dichterischen Denkens der Seins geschichte zu verabschieden. Die damals herrschenden Interpretationen von Karl Löwith, Max Müller, Walter Schulz und später von Otto Pöggeler und William Richardson bestätigten diese Lesart. Die »Hermeneutik der Faktizität« war im Grunde un62 Der dritte Vortrag lautet dort: »Martin Heidegger und die Bedeutung seiner >Hermeneutik der Faktizität< für die Geisteswissenschaften«. Vgl. auch die wenig bekannte Vorlesung von Gadamer: Lectures on Philosophical Hermeneutics, Pretoria, Van Schaik's Boekhandel, 1982, 5. 63 Das war die These meines ersten Gesprächs mit Gadamer in Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, Königstein, 1982, 2. Aufl. Weinheim, BeIz-Athenäum, 1994.
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bekannt. Von den übrigen Manuskripten oder Vorlesungen- . des frühen Heidegger gab es keine Spur. GadaIller konnte sich
auf sie nicht berufen. Diese Texte werden uns erst seit den 80er Jahren zugänglich. Seitdem hat Gadamer mit nahezujugendlichem Eifer sehr viele Studien über Heidegger geschrieben, in denen er sich auf unvergleichlich eindrückliche Weise über sein Verhältnis zu seinem Lehrer äußert. Würde Wahrheit und Methode heute geschrieben, hätte Gadamers Heidegger-Kapitel mehr oder weniger den Gehalt seines Buches Heideggers J.#ge. 64 Das Buch erschien 1983. Es wurde 1987 in den 3. Band der Gesammelten Werke aufgenommen, enthielt aber funfneue Studien zu Heidegger. Als der 10. und letzte Band der Gesammelten Werke 1995 herauskam, fing er seinerseits mit sieben neuen Texten über Heidegger an. Heideggers J.#ge ist wahrlich das Buch, das Gadamer nie aufgehört hat zu schreiben. Es ist das Gespräch, das sein eigenes Werk voraus- und fortsetzt, sofern seine eigene Hermeneutik in Wahrheit und Methode nach einem Heidegger-Kapitel ansetzt. Aber seit Platon und Aristoteles wissen wir, daß das Philosophieren immer auch ein Gespräch mit seinen Lehrern einschließt. 1960 muße Gadamer also zeigen, inwiefern sein Unternehmen von Heidegger ausging, aber ohne über die Textgrundlagen und den historischen Abstand zu verfugen, der jetzt der seinige - sowie der unsrige - ist. In der damaligen Situation war es nicht leicht, zu behaupten, daß Heidegger ausgerechnet in seinem Hauptwerk seinen intimsten Intuitionen über die geschichtliche Geworfenheit unserer Endlichkeit untreu gewesen sei! Seitdem wir denjungen Heidegger besser kennen, erfreut sich aber diese Lektüre inzwischen einer gewissen Evidenz. 65 Diese Lage verleiht dem Phänomenologie-Kapitel von Wahrheit und Methode einen ellipti64 In der letzten Ausgabe von WM (1986) verweist Gadamer selbst auf Heideggers vvege in einer Fußnote zu dem Titel des Heidegger-Kapitels. 65 Sie liegt auch der Rekonstruktionsgeschichte von T. Kisiel, The Genesis ofHeidegger's Being andTime (Berkeley University Press, 1993) zugrunde.
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schen Charakter, der um so bedauerlicher ist, als es sich um eine SchaltsteIle handelt. Gadamer verfugte damals weder über die Quellen noch über die Distanz oder gar die Befugnis, das Ausmaß seines Verhältnisses und seiner Schuld Heidegger gegenüber zu verdeutlichen. Da er von Hermeneutik sprach, konnte sich Gadamer 1960 nur auf Sein und Zeit stützen, um die Idee glaubwürdig zu machen, daß Heideggers Radikalisierung der Geschichtlichkeit eine Überwindung der epistemologischen Fragestellung, in der Dilthey noch befangen war, fur die Hermeneutik bedeutete. Aber der scheinbar transzendentale Rahmen des Werkes, die Wiederaufnahme der metaphysischen Seinsfrage und der Begründungsanspruch einer »Fundamentalontologie« waren überhaupt nicht im Sinne Gadamers. Es waren auch diese Aspekte in Heideggers Werk, die Georg Misch in seinem Buch von 1930, Lebensphilosophie und Phänomenologie, dazu führten, nach wie vor in Dilthey das radikalere Durchdenken der Geschichtlichkeit zu erkennen. Um seine These von der Überwindung der epistemologischen Aporien Diltheys eindringlicher zu machen, bezog sich Gadamer deshalb auf Yorck und Husserl, wie es Heidegger in Sein und Zeit selbst getan hatte. So werden Graf Yorck, Husserl und Heidegger die großen Geburtshelfer einer Überwindung des epistemologischen Paradigmas, d. h. einer rein methodischen und letztlich instrumentalen Auffassung des Verstehens. Yorck ist freilich ein besonders polemischer Ausgangspunkt. Er ist heute vor allem bekannt als der Korrespondent und Kritiker von Dilthey, mit dem sich Heidegger im § 77 von Sein und Zeit so sehr solidarisiert hatte, daß er Yorcks Briefexzerpte seitenweise und nahezu kommentarlos zitierte. Yorck hatte die Grundaporie Diltheys darin gesehen (es handelt sich oben um die dritte), daß er sich dem Leben viel zu sehr von den kartesianischen Kategorien der neuzeitlichen Wissenschaft aus näherte. Diltheys Abheben auf die Objektivationen des Lebens und die Notwendigkeit eines epistemologischen Rückhaltes würden das Leben um die Mobilität und Geschichtlichkeit bringen, die die wahre Grundlage der Geisteswissenschaften bilden sollten. Yorck war auch der er-
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ste, der damit den geheimen Ästhetizismus von Dilthey beim Namen genannt hatte. Gadamers Kritik des Ästhetizismus der historischen Schule geht wahrscheinlich auf den durch Heidegger gelesenen Grafen Yorck zurück. Yorck monierte insbesondere das Gewicht, das Dilthey der komparativen Methode beilegte (WM, 238; und bereits SZ, 400). Man könne nur Formen vergleichen und gegeneinander abwägen, denen gegenüber man eine kontemplative und ästhetische Distanz behält. Wird aber diese kontemplative Sicht der Einbezogenheit des Interpreten in seine Materie und ins geschichtliche Leben gerecht? Bildet nicht diese Zugehörigkeit das wesentliche Element der Geisteswissenschaften und einer Philosophie des Lebens? Dilthey hätte also die Geschichtlichkeit verpaßt, weil er sie anhand ästhetischer und optischer Kategorien zu fassen suchte, die den objektivierbaren Naturwissenschaften entnommen waren. F. Rodi hat zu Recht geschrieben, daß Dilthey wirkungs geschichtlich nie mehr ganz aus dem Schatten dieser Yorck-Kritik herausgetreten sei, die von Heidegger (und Gadamer) so kraftvoll wiederaufgenommen wurde. 66 Sie verbirgt auch eine gewisse Ungerechtigkeit Dilthey gegenüber, denn es ist nicht ausgemacht, daß Yorck selbst über diese briefliche Kritik hinaus ein besseres Gegenmodell besaß, um das Verhältnis des geschichtlichen Lebens und seiner Erkenntnis zu fassen. Solch ein Modell findet sich allenfalls in der Veröffentlichung aus seinem Nachlaß unter dem versprechenden Titel Bewußtseinsstellung und Geschichte. Diese Schrift erschien 1956, als Gadamer an seinem Hauptwerk schrieb, so daß er sich auf sie beziehen konnte. Aber die Ausftihrungen, die Gadamer ihr in Wahrheit und Methode widmete und nirgendwo wiederaufuahm, sind nicht besonders einsichtig. Die Überlegungen des Grafen Yorck blieben selbst äußerst spekulativ und unverbindlich. Mit der kraftvollen Forderung einer ausweisbaren phänomenologischen Sichtweise im Namen einer Rückkehr zu den Sachen selbst war Husserl gewiß ein größerer Befreier. 66 F. Rodi, Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1990, 103.
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Die Parole einer Rückkehr zu den Sachen selbst befreite zunächst von deITl ITlethodologischen Modell, das die Philosophie dazu zu verurteilen schien, eine Wissenschaft zweiten Grades zu sein. Philosophie als PhänoITlenologie will etwas anderes sein" und von den Sachen selbst handeln. Das methodologische und wissenschaftstheoretische Paradigma des Neukantianismus wird damit überwunden. Befreiend war ferner Husserls Kritik an dem wissenschaftlichen Objektivismus, als er von den »Sachen selbst« sprach. Die Sachen sind nämlich nie unabhängig VOITl Bewußtsein, sondern allein kraft der Intentionalität des Bewußtseins gegeben. Die Intentionalität besagt, daß jede gegenständliche Gegebenheit die Seinsweise des Bewußtseins teilt. Die Intentionalität ist ihrer Herkunft nach eine hermeneutische Kategorie, auch wenn Husserl sehr selten von Hermeneutik spricht;67 Es gibt keine Objektivität oder Gegenstandserschließung ohne konstitutive Intentionalität des Bewußtseins. Husserl war auch insofern ein Befreier, als er sah, daß sich diese Konstitution nicht iITlmer auf die souveräne Leistung einer transzendentalen Subjektivität zurückftihren läßt. Die Intentionalität entfaltet sich nämlich in einem Horizont, der über die Subjektivität hinausgeht. Gadamer zeigt eine besondere Vorliebe für diesen Husserlschen Begriff des Horizontes. Dieser Begriff markiert sehr schön, daß jede Intention in den RahITlen einer Sichtbarkeit eingespannt bleibt, der aber nicht völlig thematisch sein kann, ohne daftir eine starre Grenze zu bedeuten, weil sich der Horizont ja mit uns mitbewegt und zum Weitergehen einlädt. Husserl hat auch gesehen, daß der implizite Horizont des Bewußtseins - er sprach gelegentlich auch von passiver Synthesis - auf eine unterschwellige Temporalität des Bewußtseinslebens zurückverweist. So spricht die Krisis in unerhörter Weise von einer »absoluten Historizität«, die alles Seiende umspannt. 68 Viel glücklicher ist ohne Zweifel die 67 Vgl. dazu mein Kapitel über »Husserl's Silent Contribution to Hermeneutics«, in Sources oJ Hermeneutics, 1995,35-46. 68 Husserliana VI, 344. Die Formel ist so verblüffend, daß Gadamer sie in WM zweimal anfuhrt (248,260).
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Formel einer »Lebenswelt«, die jeder Intentionalität und jedem Bewußtsein zugrunde liegt. Es ist also jener Husserl, der vom intentionalen Bewußtsein auf das vorgegebene Element der Lebenswelt zurückgeht, der somit nach Dilthey und Yorck die hermeneutische Fragestellung weiterbringt. Nach Gadamer ist aber Husserl nicht radikal genug gewesen, weil er weiterhin und paradoxerweise (WM,252) von einer »Konstitution der Lebenswelt« sprach, die auf ein transzendentales Ur-Ich zurückzuftihren wäre. Husserl hätte sich hier nicht ausreichend von idealistischen und epistemologischen Denkschemata losgelöst. Sie brachten ihn auch dazu, seine Philosophie an das Ideal einer apodiktischen, einer Letztbegründung anstrebenden Wissenschaft anzulehnen. Ähnlich wie Dilthey hätte sich Husserl also vom Kartesianismus nicht befreien können, als er es sich zum Ziel setzte, das Bewußtseinsleben in seiner »absoluten Historizität« zu fassen. Es sind gerade diese Denkmuster, die Heidegger mit seiner Radikalisierung der Geschichtlichkeit, der sich Dilthey und Husserl nur genähert hatten, sprengt. Dies ist der rechte Sinn seiner Hermeneutik der Faktizität. Die Faktizität bedeutet also nicht wie bei den Junghegelianern oder der historischen Schule, daß die Faktizität eine letzte Gegegebenheit oder eine neue Positivität darstellt, die sich einer Metaphysik des absoluten Geistes entgegensetzen ließe. Sie zielt vielmehr darauf ab, die metaphysische Voreingenommenheit des Begründungs- und Subjektivitätsdenkens aufzudecken. Die Fundamentalontologie ist also weder fundamentalistisch noch subjektivistisch mißzuverstehen: »Daß Heideggers Entwurf einer Fundamentalontologie das Problem der Geschichte in den Vordergrund stellen mußte, war also klar. Doch sollte sich bald zeigen, daß nicht die Lösung des Problems des Historismus, daß überhaupt keine ursprünglichere Begründung der Wissenschaften,ja auch nicht wie bei Husserl, eine letztradikale Selbstbegründung der Philosophie den Sinn dieser Fundamentalontologie ausmachte, sondern daß der Begründungsgedanke selbst eine völlige Umkehrung eifuhr.« (WM, 261) Der Begründungsgedanke wird fragwürdig, weil Heidegger in einer breit angelegten Destruktion dessen ontologische
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Voraussetzungen entlarvt; Es ist seine tragende Intuition, daß die Suche nach einem absoluten und damit zeitlosen Fundament der Erkenntnis aus einem verdrängenden Vergessen der menschlichen Zeitlichkeit resultiert: angesichts seiner Endlichkeit sucht der Mensch nach einem festen Rückhalt in einer beständigen Gegenwart. Aber setzt diese Unerschütterlichkeit des Grundes nicht die Endlichkeit voraus? Das Denken der Subjektivität stammt aus derselben Ontologie der Permanenz. Das subjectum oder hypokeimenon ist das Zugrundeliegende. Für diese Rolle kommt nach Aristoteles der Mensch nicht in Frage, sondern allenfalls das »grammatische Subjekt«, weil es jeder Prädikation zugrunde liegt, oder die jedem Seienden zugrunde liegende Materie (hyle). Erst rur das spätere moderne Denken wird der Mensch in einem Selbstbeforderungsakt zum Subjekt, d. h. zum Zugrundeliegenden, auf das sich alles bezieht. Es ist die Hybris dieser Anmaßung, die Heidegger namhaft macht, wenn er das Dasein an seine unentrinnbare Zeitlichkeit erinnert. Läßt sich der Mensch oder sein Bewußtsein wirklich als der gemeinsame Nenner allen Seins ansetzen? Wird er nicht vielmehr selbst ins Sein geworfen, und zwar nur rur eine winzige Zeit, der er nicht einmal Herr ist? Es ist diese »Geworfenheit« des Daseins, von der eine Hermeneutik der Faktizität auszugehen hat. Sie ist aber alles andere als eine beständige Gegenwart, ein Fundament, sie ist also kein »Subjekt«. Das Subjekt ist buchstäblich das Zugrundegeworfene. Wenn man hier unbedingt von einem >>}ectum« sprechen will, dann muß man auf die grundsätzliche, unverfügbare Geworfenheit des Menschen abheben. Die Geworfenheit ist somit als Gegenbegriff zum modernen Subjectum konzipiert. 69 Sie bildet die »Grundlage« einer Hermeneutik der Faktizität. Von Hermeneutik ist zu sprechen, weil sich diese Geworfenheit durch Verstehen aus-
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Vgl. die Notiz in GA 28, 116: »Sub-iectum: das darunter Geworfe-
ne und daher darunter Liegende (hypokeimenon)« [in Anmerkung dazu
steht: »Geworfenheit«]. Entgegen einem weit verbreiteten Irrtum ist jedoch festzuhalten, daß Descartes selbst nie den Menschen oder das cogito als subjectum denkt.
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zeichnet: Das Dasein versteht nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst. Für eine Hermeneutik der Faktizität ist aber dieses Verstehen so grundlegend, daß es sich nicht mehr bloß als das kognitive und damit methodologisierbare Verfahren der Geisteswissenschaften ansprechen läßt. Es setzt tiefer an, da es nunmehr »die ursprüngliche VollzugsJorm des Daseins, das In-der-Weltsein« verkörpert (WM, 264). Heidegger hatte auf revolutionäre Art dieses Verstehen als »sich-auf-etwas-verstehen« verstanden. Es ist weniger ein Erkennen als ein Können, eine Fertigkeit, eine Fähigkeit, einer Sache gewachsen zu sein. Wer es versteht, ein Gedicht zu lesen, ist nicht jemand, der etwas erkennt oder über eine besondere Methode verrtigt, sondernjemand, der es einfach kann (SZ, 143; WM, 264). Dieses Verstehen ist immer zugleich ein Sichverstehen: es geht in ihm um eine Möglichkeit meiner selbst, nicht um einen von mir ablösbaren Wissensinhalt, den ich objektiv erkenne. Die Subjekt-Objekt-Dichotomie ist hier fehl am Platz. Ich bin es, der es versteht, ein Gedicht zu lesen oder eine fremde Sprache zu sprechen. Darin liegt rur Gadamer ein doppelter Durchbruch: Das Verstehen ist weniger ein Verfahren als ein Können, und weniger ein reines Erkennen von etwas als ein Sichverstehen auf etwas. Beide Elemente, der Selbstbezug des Verstehens und dessen Könnenscharakter, markieren die Grenze einer Methodologie des Verstehens. Das Verstehen ist nicht mehr die unter Regeln zu bringende erkenntnismäßige Umkehrung eines Schaffensprozesses, sondern die »Vollzugsweise« des Daseins schlechthin. Heidegger schildert diese Vollzugsweise auf unvergleichlich dramatische Weise. Im Verstehen geht es immer um eine Möglichkeit meines bedrohten Selbst, auf die hin ich mich »entwerfe«. Der entwerfende Charakter des menschlichen Verstehens ist damit vorgreifend. Injedem Verstehen steckt somit eine Antizipation, ein Vorgriff auf das Verstandene. Dieser Vorgriff wird bei Heidegger sehr existenzial gefaßt: Injedem Entwurfwird eine Existenzweise antizipiert. Eine Hermeneutik der Faktizität ist also nach Heidegger dazu berufen, das Dasein rur diese Möglichkeiten seiner selbst zu erwecken, weil das Dasein sich allzu gern, da es viel bequemer ist, auf uneigentliche
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Möglichkeiten hin entwirft. Die Zielrichtung seiner Hermeneutik ist eminent kritisch, ja dekonstruktiv: »Die Hermeneutik hat die Aufgabe, dasje eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich fur das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein.«7o Diese Selbsterhellung wird dem Verstehen nicht hinzu gedichtet. Sie wohnt ihm inne, sofern das Verstehen von Hause aus ein vorgreifendes Sichverstehen ist. Die Hermeneutik fragt hier: Worauf versteht sich dieses Verstehen, wenn es sich auf diesen oder jenen Vorgriff hin entwirft? Mit anderen Worten: Welche Existenzweise wird da antizipiert? Eine einfach so übernommene, d. h. eine uneigentliche, oder eine eigentliche, d. h. eine eigens und mit Entschlossenheit entworfene? Die Hermeneutik will dem Dasein zum Verstehen seiner selbst verhelfen: »Thema der hermeneutischen Untersuchung ist je eigenes Dasein, und zwar als hermeneutisch befragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszubilden.« (GA63, 16) Der Entwurf des Verstehens schließt also immer ein Entwerfen auf eine mögliche Existenz hin ein. Der Entwurfsgedanke ist hier natürlich etwas mißverständlich, sofern er an einen »Plan« oder ein Lebensprojekt gemahnt, worüber das Dasein frei verfugen könnte. Der junge Heidegger weiß sehr wohl, wie es in dem Natorp-Bericht von 1922 heißt, daß das faktische Leben weit mehr in die sein Verstehen leitenden Hinsichten »hineingerät als daß es sie ausdrücklich sich zueignet.«71 In Sein und Zeit wird er deswegen die Seinsverfassung des Daseins als »geworfenen Entwurf« charakterisieren. Es gibt nämlich keinen Entwurf ohne Geworfenheit. Es mag aber sehr wohl sein, daß der frühe Heidegger mehr auf das M. Heidegger, GA 63: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), 15. M. Heidegger, »Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation«, in Dilthey-Jahrbuch 6 (1989),241. 70
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Entwurfsmoment und die dabei zu gewinnende »Durchsichtigkeit« als auf die Geworfenheit abhob. Die Kehre spielt sich ohne Zweifel hier ab, insofern der späte Gedanke der Seinsgeschichte eher die Dimension der Geworfenheit hervorzukehren scheint. Aber auch dies geschieht nur, um einen anderen Anfang und damit einen neuen »Entwurf{< vorzubereiten. Die Idee eines neuen Anfangs ist Gadamers Hermeneutik eher fremd. Dennoch hat er wichtige Lehren ausHeideggers Verstehenskonzeption gezogen. Das Verstehen behielt bei ihm den Charakter eines Selbstkönnens. Es ist insofern entwerfend, als es sich von Antizipationen leiten läßt, aber auch geworfen, sofern diese Entwürfe aus einer Wirkungsgeschichte her stammen. Es wäre ja vermessen, alle Entwürfe des' Verstehens in die Durchsichtigkeit des Bewußtseins heben zu wollen und von einer absolut autonomen Subjektivität abhängen zu lassen. Das wäre ein Rückfall in das instrumentalistische und methodische Denken der Subjektivität. Nach Gadamer gehört der Verstehende mehr zu einer in ihm wirkenden Geschichte, als er sich bewußt werden kann. Es wäre aber ein Irrtum und ein Mißverständnis des Verstehens, in dieser Bedingtheit ein reines Verstehenshindernis zu sehen. Sie ist auch eine Bedingung der Möglichkeit rur das Verstehen: Man versteht nur, weil man sich von Erwartungen leiten läßt und von einer Wirkungsgeschichte her versteht. Von Heidegger hat Gadamer gelernt, daß diese Vorstruktur zur »ontologischen« Verfassung des Verstehens gehört. Wer über diese Vorstruktur hinausspringen will, weil sie das Verstehen beeinträchtigt, mißversteht das Wesen des Verstehens. Es wäre ein weiteres Mißverständnis, in der Anerkennung dieser Vorstruktur des Verstehens einen Freibrief rur alle möglichen Vormeinungen und Interpretationen zu sehen. Die Zugehörigkeit zu einer Tradition unterstreicht den Geschehenscharakter des Verstehens, sie darf nicht als eine Legitimation des Verstehens gedeutet werden. Gadamer erkennt durchaus an, daß es »immanente Kriterien« (WM,265) der Erkenntnis gibt und denkt dabei gewiß an das logische Prinzip des Widerspruchs und an die herzustellende Sachangemessenheit des Verstehens. Er hält also fest, daß die Vorgreif-
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lichkeit des Verstehens und die Zugehörigkeit zu einer Tradition nicht zu verwechseln ist mit dem Hineinspielen von emotiver Vorliebe und Voreingenommenheit: »)Zugehörigkeit< ist nicht deshalb eine Bedingung rur den ursprünglichen Sinn historischen Interesses, weil Themenwahl und Fragestellung außerwissenschaftlichen, subjektiven Motivationen unterliegen (dann wäre Zugehörigkeit nur ein Spezialfall emotionaler Abhängigkeit vom Typus der Sympathie), sondern weil Zugehörigkeit zu Traditionen genau so ursprünglich und wesenhaft zu der geschichtlichen Endlichkeit des Daseins gehört wie sein Entworfensein auf zukünftige Möglichkeiten seiner selbst.« (WM,266) Nicht auf diese spezielle Zugehörigkeit kommt es an. Sie spielt freilich auch eine Rolle, aber sie läßt sich meist im Zaum halten. Gadamer meint etwas Vordergründigeres, nämlich eine ontologische Verfassung unserer Endlichkeit, d. h. die sie charakterisierende Unmöglichkeit, einen letzten Grund fur ihre Sinnentwürfe ausfindig zu machen. Die Methodologie, die hier nach Kriterien, Sicherheit und Gewißheit sucht, behält ihre Berechtigung, aber sie verfuhrt uns leicht dazu, in ihnen das Wesentliche der Verstehenswahrheit zu erblicken. Versteht man nur, insofern und weil man etwas sichern kann? Setzt nicht die Wahrheit des Angesprochenwerdens eine viel ursprünglichere Zugehörigkeit voraus, die die moderne Methodologie falsch versteht, wenn sie in ihr nur ein Verstehenshindernis erkennen will? Gadamer möchte die Fruchtbarkeit der Geschichtlichkeit und unserer Zugehörigkeit zur Tradition nicht hervorkehren, um alle Vorurteile zu legitimieren, sondern um kritisch die Grenze des methodologischen Denkens vor Augen zu fuhren. Ein Element von Tradition und Geschehen läßt sich aus dem Verstehen nicht wegdenken. Es handelt sich gleichsam um eine »transzendentale« Bedingung des Verstehens, die Gadamer im Anschluß an Heidegger philosophisch legitimieren will, weil sie viel zu sehr als Hürde verstanden wird: »So knüpfen auch wir zunächst an den transzendentalen Sinn der Heideggerschen Fragestellung an. Durch Heideggers transzendentale Interpretation des Verstehens gewinnt das Problem
Der phänomenologische Durchbruch
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der Hermeneutik einen universalen Umriß,ja den Zuwachs einer neuen Dimension.« (WM; 268) Der Begriff des »Transzendentalen« ist hier aber alles andere als selbstverständlich. Er hebt in erster Linie den philosophischen Anspruch des Unternehmens hervor. Es handelt sich jedoch um ein Transzendentales eigentümlicher Art, nämlich um die wesentliche Zugehörigkeit des Verstehens zum Verstandenen, das sich nur im Horizont von Vorentwürfen und vor dem Hintergrund einer Tradition 'aus verstehen läßt. Diese Verstehenskonzeption ist nur transzendental, sofern sie eine unaufhebbare Bedingtheit jeden Verstehens beinhaltet. Es springt in die Augen, daß sie damit auch die Grenze einer jeden transzendentalen Reflexion in Erinnerung ruft, die das Verstehen allein von seinen Gültigkeitsbedingungen her erklären würde. Ein solch transzendentales Denken bliebe instrumental. Gadamers Gebrauch des Transzendentalen ist also nicht frei von Spannungen, die auch im Heidegger-Kapitel zum Vorschein kommen. Einerseits lehnt er sich explizit an den transzendentalen Sinn der Heideggerschen Fragestellung an (WM, 268), andererseits wirft er »Heideggers Entwurf von Sein und Zeit« vor, daß er sich »dem Bereich der transzendentalen Reflexionsproblematik nicht völlig entwunden hatte« (WM, 260)! Unter der »transzendentalen Reflexionsproblematik« versteht Gadamer zweifellos die neukantianische und methodologische Reflexion über die Gültigkeitsbedingungen der Erkenntnis, der er sich sehr wohl entwinden möchte, weil sie das Verstehen noch zu instrumental denkt. Dagegen möchte er eine Hermeneutik der Endlichkeit aufstellen, die er in einem anderen Sinne »transzendental« zu nerinen wagt. 72 Sie ist nicht transzendental, weil sie eine neue Bedingung des Verstehens ausfindig macht, sondern weil sie die universelle Bedingtheit zu umschreiben versucht, unter der jedes Verstehen steht und vor der sichjede transzendentale Problematik beu72 Wir werden im Schlußkapitel sehen, daß sich Gadamer damit an den ontologischen und mittelalterlichen Sinn des Transzendentalen anschheßt.
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gen muß. In dieser schillernden Zweideutigkeit des Transzendentalen bewegt sich· die ganze Fragestellung Gadamers. Sie weist auf die unvordenkliche Dimension des Verstehens hin, die keine transzendentale Refle:x;ion einholen kann, weil sie dem Verstehen vorausliegt.
4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit Die Konstellation des Verstehens »Daß alles freie Sichverhalten zu seinem Sein hinter die Faktizität dieses Seins nicht zurück kann, darin lag die Pointe der Hermeneutik der Faktizität und ihr Gegensatz zu der transzendentalen Konstitutionsforschung der Husserlschen Phänomenologie. Unüberholbar liegt dem Dasein voraus, was all sein Entwerfen ermöglicht und begrenzt. Diese existenziale Struktur des Daseins muß ihre Ausprägung auch im Verstehen der geschichtlichen Überlieferung finden, und so folgen wir zunächst Heidegger.« (WM, 268f.)
Weil Gadamer zunächst Heidegger und damit Sein und Zeit folgt, geht er zunächst vom Zirkel des Verstehens aus, dem Heidegger eine betont ontologische, d. h. eine nicht erkenntnistheoretische Wende gegeben hatte: Weil das Dasein ein Wesen der Sorge ist und sich primär um seine Zukunft sorgt, versteht es sich ständig von mehr oder weniger ausdrücklichen Antizipationen aus. Mit seinen Sinnentwürfen versucht es sozusagen, den Schlägen zuvorzukommen, wohl wissend, daß die Existenz immer wieder solche parat hat bis hin zum letzten, unvermeidbaren Schlag des Todes, den das gesamte Bestreben der Metaphysik zu umgehen versucht. Der Zirkel ist hier der des Verstehens und der Auslegung: Es gibt keine Auslegung ohne verstehende Vorwegnahme. Heidegger sprach indes ungern von einem Zirkel, weil es sich um eine räumliche und geometrische Figur handelt. Als s01-
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ehe ist sie auf das bloß »vorhandene« Seiende zugeschnitten und insofern ungeeignet, die besorgte Struktur des Daseins auszudrücken. Es ist also nicht ganz richtig, von Heideggers »Lehre« vom Zirkel des Verstehens zu reden. Denn nicht weniger als zweimal gibt er in Sein und Zeit unmißverständlich zu erkennen, daß man die unangemessene Redeweise von einem Zirkel wird »vermeiden müssen« (SZ, 153, 314). Er hat diese Redeweise nur aufgenommen, um auf den Verdacht des »logischen Zirkels« zu reagieren, den seine Konzeption wachrufen lassen könnte. Er hatte ja dargelegt, daß jede Auslegung - also selbst die wissenschaftlich und objektiv sein wollende von Verstehenserwartungen geleitet wird. Heidegger parodiert alsdann die Empörung der Logiker, die er ironisch vorwegnimmt: »Der Zirkel aber ist nach den elementarsten Regeln der Logik circulus vitiosus« (SZ, 152)! Heidegger antwortet auf diesen Gedanken mit einer rhetorischen Provokation: Wenn sie unbedingt vom Zirkel sprechen wollen, dann ist es vielleicht nicht das Entscheidende, den Zirkel zu vermeiden, »sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen« (SZ, 153). So, und nur so ist Heidegger dazu gekommen, vom Zirkel zu sprechen. Um hier klarer zu sehen, ist es nicht unangebracht, eine logisch-epistemologische von einer phänomenologischen Auffassung des Zirkels zu unterscheiden. In logischer Hin-:-sicht kann der Zirkel nur ein vitiosus sein, sofern er z. B. bei einem Beweis darin besteht, das zu Beweisende vorauszusetzen. Man kann hier auch von einer petitio principii sprechen. Es ist hier tautologisch, von einem circulus vitiosus zu sprechen. Heideggers und Gadamers Analyse gilt aber nicht dem logischen Zirkel, dessen Gültigkeit unangetastet bleibt, sondern dem phänomenologischen, also rein beschreibbaren Gehalt des Zirkels des Verstehens: Er bringt nämlich den von Fall zu Fall aufWeisbaren Umstand zum Ausdruck, daß sichjede Auslegung von Verstehensvoraussetzungen - in Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff - leiten läßt. Die verhängnisvollste Voraussetzung wäre hier sogar das Dogma der Voraussetzungslosigkeit. Wer sich hinter dieser Versicherung versteckt, wird auf um so sichere Weise der Gewalt uneingestandener Voraussetzungen
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erliegen. Die Auslegung, die sich ihrer Voreingenom:menheit zumindest bewußt ist, wird hingegen »ihre erste, ständige und letzte Aufgabe« darin sehen, »sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Vqlksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern« (SZ, 153). Es läßt sich also nicht sagen, daß dieser hermeneutische Auslegungsbegriff einen Freibrief ftir jede interpretatorische Voreingenommenheit erstellt.7 3 Es handelt sich im Gegenteil um einen kritischen,ja selbstkritischen Auslegungsbegiff, der um eine Ausweisung an den Sachen selbst besorgt ist. Bevor wir auf diese Problematik der Ausweisung an den Sachen selbst zurückkommen, ist es wichtig, die oft übersehenen Unterschiede zwischen Gadamer und Heidegger in ihrer Diskussion des sogenannten hermeneutischen Zirkels ins Blickfeld zu rücken. Die Motivation ist bei beiden Autoren nicht genau die gleiche. Bei Heidegger ist sie in erster Linie existenzial. Im Verstehen als Sichverstehen des Daseins ist immer eine Antizipation der Existenz im Spiel, die die Auslegung aufzuklären hat: »Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. [ ... ] Die Auslegung ist nicht die Kenntnisnahme des Verstandenen, sondern die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten.« (SZ, 148f4 73 Wie Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1975, 12f. unterstellte: »Aus dem Skandalon des Zirkels, in dem das Verstehen dennoch seine Bedingung erkennen muß, wurde ein Beruhigungsmittel.« 74 Heidegger spielt hier offenbar auf die Mehrdeutigkeit des einschlägigen Begriffs der Auslegung an. Heideggers Konzeption, der zufolge es erst ein (zuvorkommendes und besorgtes) Verstehen und dann eine Auslegung dieses Verstehens gibt, kehrt bewußt das in der überlieferten Hermeneutik fur natürlich gehaltene teleologische Verhältnis zwischen beiden um: eine Auslegung wird aufgeboten, um ein Verstehen oder Verständnis zustandezubringen (vgl. dazu E. Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, 1954, Nachdr.: Mohr Sieb eck, Tübingen, 1988,13). Nach Heidegger gibt es aber keine so unvoreingenommene Auslegung, daß sie nicht immer ein Verstehen voraussetzte. Aber er versteht etwas anderes unterer Auslegung, nämlich die Ausbildung und aus-
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Gadamers Stoßrichtung ist anders pointiert". Er polemisiert in erster Linie gegen das methodologische Objektivitätsmodell, das jede Implikation des Verstehenden in dem, was er versteht, für Anathema erklärt. Ein solches Modell wird der Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstand und zu seiner Tradition nicht gerecht. Heideggers Vorstruktur des Verstehens hatte den ontologischen Charakter dieser Zugehörigkeit existenzial ins Licht gestellt. Gadamer möchte diese Einsicht für eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik zum Tragen kommen lassen: »Die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstande, die in der Reflexion der historischen Schule keine rechte Legitimation zu finden vermochte, erhält nun einen konkret aufureisbaren Sinn, und es ist die Aufgabe der Hermeneutik, die Aufweisung dieses Sinnes zu leisten.« (WM,268). Der genannte Unterschied resultiert vor allem aus einer verschiedenen Motivation der Verstehenskonzepte Heideggers und Gadamers. Weitere Differenzen betreffenjedoch das Verständnis des Zirkels selbst. Es fällt zunächst auf, daß Heidegger im Gegensatz zu Gadamer nie vom Zirkel des Ganzen und seiner Teile, sondern vom Zirkel des Verstehens und seiner Auslegung spricht. Auf den Zirkel kommt er zu sprechen, weil seine Auffassung, wonach die Auslegung einen Entwurf des Verstehens zur Voraussetzung hat, den epistemologischen Zirkeleinwand hervorruft: Ist die Auslegung oder Interpretation denn nur die Bestätigung eines vorweg aufgebotenen Verständnisses? Insofern - und nur insofern - ist die Problematik von Heidegger etwas epistemologischer als die von Gadamer. Von Anfang an verbindet Gadamer hingegen die Zirkelproblematik mit der in der Hermeneutik herkömmlichen, rein beschreibenden Thematik des Zirkels des Ganzen und seiner Teile. Wahrheit und Methode ruft dabei in Erinnerung, daß die »hermeneutische Regel« (!), nach der man das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne· aus dem Ganzen verstehen müsdruckliche Entfaltung der im (existentialen) Verstehen entworfenen Möglichkeiten. Diese Konzeption soll auch auf den Spezialfall der philologischen Auslegung Anwendung finden.
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se, aus der antiken Rhetorik stamme (WM, 296). Sie hatte auch dort einen rein phänomenologischen Gehalt, indern sie die tastende Hin- und Herbewegung eines jeden Verstehens beschrieb. Weit davon entfernt, einen logischen Fehler zu charakterisieren, schildert die Zirkelvorstellung den ständigen Revisionsprozeß der Verstehensantizipationen im Lichte eines vertieften Verständnisses des Ganzen und seiner Teile. Gadamer wird konsequent in der Kohärenz des Ganzen und seiner Teile ein Richtigkeitskriterium des Verstehens erkennen: »Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen ist das jeweilige Kriterium ftir die Richtigkeit des Verstehens. Das Ausbleiben solcher Einstimmung bedeutet Scheitern des Verstehens.« (WM, 296) Nicht ein logischer Fehler, sondern eine logische Forderung ruft die Zirkelmetapher auf den Plan. Die Revision des Verstehens läßt sich bei Gadamer von einem »Vorgriff der Vollkommenheit« leiten. Gadamer verdeutlicht in erhellender Weise, daß dieser Vorgriff eine »Konsequenz« des hermeneutischen Zirkels darstellt (WM,299). Er besagt, daß »nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt« (ebd.). Es ist eine dem Interpretandum verliehene Vollkommenheit, die dem angelsächsischen »charity principle« nicht unähnlich ist: Was ich zu verstehen suche, muß ein kohärentes Ganzes bilden. Man erkennt daran, daß fur Gadamer die Übereinstimmung der Interpretation mit diesem kohärenten Sinn die teleologische Norm jeder Interpretation bleibt. Es ist diese Kohärenz in der Sache, die das Verstehen antizipiert. Nur wenn sie sich als unhaltbar erweist, muß auf historistische oder psychologistische Deutungen zurückgegriffen werden. Was hier Bestätigung findet, ist Gadamers Auffassung, der zufolge das Verstehen ein Sichverstehen in der Sache ist. Das Verkennen dieses Sachverhalts ftihrte im Historismus dazu, allein die komparative, psychologische und historistische Methode in den Vordergrund zu rücken. Gadamers Zirkelproblematik ist in einem ganz besonderen Sinne weniger epistemologisch angesetzt als Heideggers, sofern sie nicht vom logischen Zirkelverdatht ausgeht. Der Zir-
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kel beschreibt nach Gadamer vielmehr einen beständigen Revisionsprozeß, ja eine immanente Regel einer jeden Interpretation: es müssen die Verstehensentwürfe ausgearbeitet werden, die der Kohärenz des Interpretandum am nächsten kommen. Es zeigt sich aber, daß Gadamers Problematik in einer anderen Hinsicht doch epistemologischer ist als diejenige Heideggers, sofern nämlich der Akzent deutlich auf die Revision der vorläufigen »Hypothesen« des Verstehens gelegt wird. Es gibt also etwas von trial-and-errorin der rein beschreibend sein wollenden Darlegung Gadamers. Dies hängt freilich mit dem unterschiedlichen Anwendungsbereich der Zirkelproblematik zusammen: Während es Heidegger bei der Auslegung deutlich um die Herausstellung der vorverstandenen Existenzantizipationen geht, hat Gadamer zweifellos das gewiß beschränktere Feld vor Augen, das die geisteswissenschaftliche Textinterpretation bietet. Es ließe sich sagen, daß Gadamer den Heideggerschen Zirkel damit philologisiert, oder genauer: re-philologisiert, denn der Zirkel stammte ja ursprünglich aus der Hermeneutik und der Rhetorik. Zu dieser Verschiebung der Zirkelproblematik hat Odo Marquard das bekannte bonmot geprägt, Gadamer habe Heideggers Sein-zum-Tode durch ein Sein-zum-Text ersetzt. 75 Auch wenn es Gadamers bekundete Absicht ist, die Heideggersche Zirkelproblematik auf eine Hermeneutik der Geisteswissenschaften anzuwenden, bleibt dieses bonmot etwas oberflächlich. Gadamer vergißt ja nicht die radikalere Hermeneutik seines Lehrers, wenn er sie konkretisiert. Kann man »Texte« interpretieren oder lesen unter Ausschaltung des eigenen Seins-zum-Tode? Der Text, den ich interpretiere, spricht immer die Endlichkeit desjenigen Textes an, der ich fur mich selbst bin. Die Pointe der Heideggerschen Analyse sieht Gadamer auch weniger in der Erinnerung, daß im Verstehen ein Zirkel vorliegt - denn die Rhetorik und die romantische Herme75
0. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart, Reclam, 1981,
130 u. ö. Gadamer sah darin aber immer eine Verkürzung seiner Intentionen (vgL WM, 316f.; GW 2, 233 und das LB-Gespräch, 282).
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neutik hatten um ihn immer schon gewußt -, sondern darin, daß dieser Zirkel »überhaupt nicht ein methodischer Zirkel [ist], sondern [ ... ] ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens« beschreibt (WM, 299). Ein methodischer Zirkel wäre es nämlich nur aus einer epistemologischen oder kartesianischen Perspektive, nach der das Verstehen linear von Evidenz zu Evidenz fortschreitet. Versteht man immer auf diese archimedische Art und Weise, fragt Gadamer? Erfolgt nicht vielmehr das Verstehen aufgrund von mehr oder weniger ausdrücklichen Sinnantizipationen, die sich vor dem Hintergrund einer Traditionszugehörigkeit bilden? Auch wenn dies bei Heidegger und Gadamer unterbelichtet erscheint, ließe sich bei ihnen die »holistische« Rede vom Zirkel des Verstehens gegen eine rein lineare Auffassung des Verstehens abheben. Gegen die methodische Idee einer Sinnbeherrschung aufgrund einer linearen Ableitungskette entwickelt die Hermeneutik eine »holistischere« Auffassung des Verstehens als »Teilhabe«, nach der sich das Verstehen immer in einem ganzheitlichen Kontext vollzieht, in den der Verstehende selbst gehört. Um die logisch verdächtige und belastete Metapher des Zirkels zu vermeiden, sprechen viele Interpreten von hermeneutischer »Spirale«. Diese Metapher hat aber ebenfalls ihre Grenzen. Das Verstehen wird hier als ein asymptotischer Annäherungsprozeß gefaßt, der dem Geschehenscharakter im Sinne Gadamers nicht ganz gerecht wird. Nach der oben angeführten Formel aus dem Jahre 1999 heißt Verstehen für Gadamer: »nicht auslegen körinen«, weil man von der Sache so ergriffen wird. Es läßt sich hier schwerlich von einer Spirale sprechen. Vielleicht ließe sich angemessener von einer »Konstellation« des Verstehens sprechen. Jedes Verstehen steht nämlich in einer ihm weitgehend unbewußten Konstel- lation, die ihm seine Lichthaftigkeit verleiht. Man versteht auch, weil man unter einem gewissen Stern steht und geboren wurde. Ein Deutscher versteht ein Stück weit anders als eine Chinesin, ein 17jähriger anders als ein 60jähriger, ein Mensch des 20.Jahrhunderts anders als einer aus dem Mittelalter. Wer Heidegger und Hölderlin gelesen hat, versteht auch anders als
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derjenige, der durch Bertrand Russell und Conan Doyle erzogen worden ist. Es ist nun einmal die Konstellation, in der jedes Verstehen steht und die ihm - wie jede stellarische Konstellation - auch nicht präsent zu sein braucht, zumal die eine Konstellation ausmachenden Sterne selbst Lichtjahre voneinander entfernt sind und nur für unseren Blick zusammenkommen. Jedes Verstehen hat auf diese Weise seine Konstellation. Auch wenn man dabei dasselbe versteht, versteht man doch etwas anders. Die grundlegende Idee ist hier die, diese Konstellation von dem präjudizierenden Charakter zu befreien, den die Methodologie allein in ihr erkennt. Es gilt auch, ihre Legitimation in einer Hermeneutik der Geisteswissenschaften zu erbringen. Ein letzter Unterschied zwischen Gadamer und Heidegger in der Zirkelfrage läßt sich nicht verkennen: Während Heidegger eher auf den Primat der Zukunft bei den Entwürfen des zuvorkommenden Verstehens abhebt, hofft Gadamer, dem Grundmotiv einer Hermeneutik der Geworfenheit gerechter zu werden, indem er am Primat der Vergangenheit festhält. Für Gadamer ist die Zukunft gerade das, was sich unserem Verstehen entzieht und was wir höchstens im Lichte der bereits gesammelten Erfahrungen »antizipieren« können. 76 Es mag hilfreich sein, diese oft verkannten Differenzen zwischen Gadamer und Heidegger im Verständnis des hermeneutischen Zirkels in folgendes Schema zu setzen:
76 Vgl. dazu Gadamers Antwort auf K.-O. Apel, die sich auch als Antwort auf Heidegger zu lesen empfiehlt, in TPHGG, 95: »Apel describes what disturbs hirn in my thought, namely, the >strange primacy of the past over the future<. This, however, must astonish me. The future which we do not know is supposed to take primacy over the past? Is it not the past which has stamped us permanencly through its effective history? If we seek to illuminate this history we may he ahle to make ourselves conscious of and overcome some of the prejudices which have determined us.«
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Heidegger
Gadamer
Termini des Zirkels
Zirkel der Ausleguhg und des in ihr vorausgesetzten Verstehens
Zirkel des Ganzen und seiner Teile
Logische Bedeutung
Der Zirkel entsteht aus dem Verdacht eines circulus vitiosus oder einer petitio principii - epistemologischer Zirkel (vom Gesichtspunkt der logischen Kritiker aus betrachtet)
Der Zirkel bezeichnet eine hermeneutische Regel, die aus der Rhetorik stammt - phänomenologischer (rein beschreibender) Zirkel
Grenze der Zirkelmetapher
Eine räumliche oder geometrische Figur, die der Bewegtheit der Existenz nicht gerecht wird, weil sie auf das Seiende als Vorhandenheit zugeschnitten ist
Es gibt in Wahrheit keinen logischen Zirkel, weil die Figur lediglich die beständige Revisionsforderung von Sinnhypothesen im Lichte des Vorgriffs der Vollkommenheit wiedergibt - hier denkt Gadamer epistemologischer als Heidegger .
Bevorzugtes Anwendungsfeld
Hermeneutik der Existenz
Texthermeneutik
Verstehen heißt vor allem
Sichverstehen auf, etwas können
Sichverstehen in der Sache
Inhalt der Vorstruktur des Verstehens
Die Antizipation der Existenz in Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff
Vorurteile des Verstehens
Herkunft der Antizipationen
Primat der Zukunft
Primat der Vergangenheit (Wirkungsgeschichte)
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Das wesentliche Einverständnis zwischen Gadamer und Heidegger betrifft den ontologischen Charakter, aber auch den Erkenntnisgewinn dieses Zirkels. Als Anzeige des möglichen Wachseins des Verstehens fordert er die Auslegung dazu auf, sich ihrer Voreingenommenheit innezuwerden, um die Sache, die es zu verstehen gilt, besser sprechen lassen zu können. Liegt darin aber nicht ein neuer Widerspruch? Wie läßt sich von den Sachen selbst sprechen, wenn die Vorstruktur des Verstehens so ontologisch, d. h. universal sein soll?
Die Vorurteile und die Sache selbst: eine Aporie? Ein Verstehen, das sich über seine Zugehörigkeit zu einer Konstellation von Sinn im klaren ist, wird sich um eine Herausstellung seiner Vorurteile bemühen. Gadamer verzichtet keineswegs auf das aufklärerische Ideal einer Hebung der Vorurteile, er macht sogar selbst ein Vorurteil der Aufklärung namhaft, nämlich das Vorurteil gegen Vorurteile! Dieses Vorurteil geht nämlich davon aus, daß man nur das rür wahr halten kann, was auf einer letzten Begründung und Gewißheit beruht. Wo läßt sich aber eine solche vorurteilslose Gewißheit im Spielraum unseres Erkennens auffinden, wenn man die Sphäre der logischen und mathematischen Wahrheiten beiseite läßt? Nach Gadamer ist die Idee einer letzten Begründung keine reale Möglichkeit unseres Verstehens. Auf dieser Möglichkeit beruht jedoch der Mißkredit, den die Aufklärung über alle Vorurteile verhängt. Ist es nicht dieses Ideal oder >>Vorurteil«, das revisions bedürftig ist, weil es der Geschichtlichkeit unseres Verstehens nicht gerecht wird? Man wird alsdann aufhören, in dem Neutralitätsidealoder in der Selbstauslöschung ein wirkliches oder auch nur einschlägiges Modell für eine geschichtliche Hermeneutik zu sehen. Die polemisch wirkende Formulierung eines Vorurteils gegen die Vourteile denunziert in der Aufklärung ein sachunangemessenes Vorurteil. Sie setzt also voraus, daß es legitime und illegitime Vorurteile gibt. Die ersten verschaffen uns ei-
Die Vorurteile und die Sache selbst: eine Aporie?
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nen Zugang zur Sache selbst, die anderen versperren ihn. Wie lassen sie sich aber ausweisen und auseinanderhalten? Gadamer antwortet stets: an den Sachen selbst! Diese verblüffende Auskunft war bereits die von Heidegger in dem entscheidenden Passus von Sein und Zeit, nach dem es die »erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern.« (SZ, 153). Im selben Sinne schreibt' Gadamer: »Damit wird die ftir eine wahrhaft geschichtliche Hermeneutik zentrale Frage, ihre erkenntnistheoretische Grundfrage, formulierbar: Worin soll die Legitimation von Vorurteilen ihren Grund finden? Was unterscheidet legitime Vorurteile von all den unzähligen Vorurteilen, deren Überwindung das unbestreitbare Anliegen der kritischen Vernunft ist?« (WM, 281f.) Weder Heidegger noch Gadamer zweifeln an der Möglichkeit einer Ausweisung der Verstehensvorgriffe an den Sachen selbst. Wer meint, ihre Hermeneutik mache die Vorstellung einer Adäquation mit den Sachen selbst hinfällig, verwechselt sie mit ihren postmodernen Epigonen. Die Frage wird aber um so dringlicher: Wenn man in der Vorurteilsstruktur eine unabdingbare Bedingung des Vers tehens sieht, schneidet man sich nicht ipso facto von einer Bewährung an den Sachen selbst ab? Man hat darin nicht selten die Grundaporie der Gadamerschen Philosophie gesehen: Wie kann man die wesentliche (»ontologische«) Vorgängigkeit der Vorurteilsstruktur mit der beständigen - ftir viele irritierenden - Berufung auf die Sachen selbst in Einklang bringen? Sehen wir zu, ob hier wirklich eine unversöhnliche Aporie besteht oder, wie ich zeigen möchte, ob sich hier nicht vielleicht eine noch hartnäckigere Aporie verbirgt. Zwei Evidenzen sind von vornherein festzuhalten. 1. Für Gadamer erfolgt tatsächlich jedes Verstehen unter Antizipationen (die man »Vorurteile« nennen kann), so daß die Berichtigung eines als illegitim erwiesenen Vorurteils immer nur im Lichte einer weiteren, die ersten Antizipationen ersetzende Antizipation
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geschieht. 2. Die Sachen selbst meinen bei Gadamer nicht die Sachen oder Dinge an sich, wie sie sich etwa unabhängig von jedem Verstehen in Erfahrung bringen ließen (was ein offenkundiger Widerspruch wäre). Diese Dinge an sich kennt nur Gott. Wie ist also die von Heidegger und Gadamer ständig angemahnte Aufforderung einer Ausweisung der Vormeinungen an den Sachen selbst zu verstehen? Das Wort »Sache« hat im Deutschen den emphatischen Sinn der zur Verhandlung stehenden Sache, wenn man etwa sagt, daß jemand endlich »zur Sache« kommen solle, daß jemand in »eigener Sache« spricht oder daß er etwas zur Sache sagen möchte. Diese Sache ist immer die Streitsache, die »sachliche Sache«, wenn man das sagen darf. Diese Sache ist also bereits in den Gesichtskreis des Verstehens eingerückt. Die der Sache angemessenen Antizipationen ausarbeiten heißt also, die Verstehensentwürfe zu entwickeln, die der debattierten Sache gewachsen sind. Dies setzt voraus, daß uns die Sache angeht, daß wir von ihr betroffen sind. Man kann hier die sachangemessenen Projektionen nicht entwerfen, ohne sich selbst ins Spiel, d. h. ins Gespräch mit der Sache zu bringen. Dieses dialogische Verstehensmodell ist zweifellos gegen das epistemologische Paradigma eines von seinem Objekt abgekoppelten Verstehenssubjektes gerichtet. Aber dieses epistemologische Paradigma ist zäh und läßt erneut die Frage auftauchen: Ist nicht der Verstehende in diesem Prozeß sowohl parteiisch als auch Richter? Nein, antwortet Gadamer, weil hier die Sache spricht und Widerstand leistet. Die Wahrheit liegt in der ständig zu erweisenden Adäquation des Verstehens an diese Sache. Gadamer verzichtet nie, hier von Richtigkeit oder adaequatio zu sprechen. Es handelt sich freilich nicht um die reine Äquivalenz zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Aber das wird auch nicht von der adaequatio unterstellt, wenn man genau hinhört. Die An-gemessenheit oder die ad-aequatio schließt die Bewegung an (»ad«) die Sache an. Im buchstäblichen Sinne ist die adaequatio nichts als die Richtung, die darin besteht, sich auf die Sache zuzubewegen, um ihr gerecht und gewachsen zu sein. Die recht verstandene adaequatio vergißt also nie diese konstitutive Bewegung des
Die Vorurteile und die Sache selbst: eine Aporie?
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Verst~henden aufdie Sache ~u. Die hier einschlägigen Ideen von Ubereinstirnrnung, Einklang, Konkordanz, Konsonanz
verdeutlichen es mit allem Nachdruck: die Wahrheit ist eine Sache von Übereinstimmung im nahezu musikalischen Sinne, insofern der Verstehende mit dem Interpretandum zusammenstimmt. Das Merkmal der Wahrheit ist nicht unbedingt die Objektivierung oder die Verdinglichung des Gegenstandes, sondern die Übereinstimmung, d. h. der Einklang mit der zu verstehenden Sache. Insofern ist jede Wahrheit hermeneutisch, d. h. Sache von Adäquation. Wenn etwas wahr ist, sagt man auf Deutsch: »es stimmt!« Die Übereinstimmung ist hier die zwischen der zu verstehenden Sache und dem Verstehen. In diesem Begriff der Sache darf man erneut ein Echo auf Bultmann vernehmen, auch· wenn das hier .etwas entlegen klingen mag. Für Bultmann liegt bekanntlich die Sache der christlichen Botschaft allein in ihrem ))Kerygma«, d. h. in ihrer Verkündigung durch die Apostel. Diese Grundlage bildet die Sache jeder christlichen Verkündigung. Aber jede Verkündigung muß sich an ihr messen lassen, ihr gewachsen sein. Das gilt selbst ftir die allererste Verkündigung, die der Apostel. Es kann nämlich durchaus sein, daß ihre Verkündigung selbst dem zu Verkündenden nicht ganz gewachsen war, weil sie sich etwa mythologischer Denkmuster bediente. Daher das Bultmannsche Projekt einer Entmythologisierung der christlichen Botschaft, um sie in unserer Welt erneut verkündbar und nachvollziehbar zu machen. Wie kann man aber wissen, ob die ursprüngliche Verkündigung unangemessen war? Allein durch eine neue Verkündigung, die der Sache der Verkündigung besser gerecht zu werden. Man kann nämlich nur eine inadäquate Darstellung durch eine adäquatere ersetzen wollen, die den Sachen angemessener zu sein beansprucht. Der Irrtum wäre aber hier zu meinen, daß sich diese Sache an sich oder ohne Verkündigung vorgeben ließe. Es gibt ftir das Verstehen keine ))Sache« ohne eine Darstellung, die ihr adäquat zu sein scheint. Dieser Zusammenhang ist hier bedeutsam, weil er unmittelbar an die Ausführungen des Ersten Teiles von Wahrheit und Methode über den Darstellungscharakter
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der Kunsterfahrung anknüpft. Auch hier gibt es keine Sache ohne Darstellung, die sich zu bewähren hat. Der Begriff der adaequatio ist hier unverzichtbar, weil es offenbar unadäquate Darstellungen, Darbietungen und Verkündigungen gibt, bei der die Sache den zu einseitigen Vorgriffen und Verkündigungen Widerstand leistet. Es liegt aber an einer neuen Darstellung oder Verkündigung, diese Einseitigkeit im Namen der Sache selbst herauszustellen. Jedes Verstehen ist nichts anderes als ein Adäquationsversuch, ein Sichanmessen an die Sache selbst, die das Verstehen jedoch nie erschöpft. Das »ad« in der adaequatio erinnert daran, daß die Gleichheit (aequatio) für uns nie vollständig sein kann. Allein Gott verfügt über eine den Sachen gleiche, d. h., wenn man das unschöne Fremdwort gestatten möge, über eine »äquate« Erkenntnis. Unsere Erkenntnis will nur ad-äquat sein. Sie ist nie vollkommen. Aber das steckt auch im Wortsinn von »adäquat« oder »angemessen«, wenn man diese Worte im Sinne von »bloß zureichend« versteht. Jemand fragt uns etwa: Wie war die Aufführung oder der Vortrag heute Abend? Man kann antworten, daß sie »adäquat« oder »angemessen« waren, um anzudeuten, daß es zwar ging, aber auch hätte besser sein können. Das gilt auch für alle unsere Verstehensentwürfe. Auch sie könnten immer angemessener sein. Deshalb gibt es schließlich keine wirkliche Aporie zwischen der Vorstruktur des Verstehens und der Sache selbst. Die menschliche Wahrheit liegt nämlich ih der hier waltenden Angemessenheit und Adäquation. Weit davon entfernt, sie zu verabschieden, erlaubt uns diese hermeneutische Wahrheitsauffassung, den berechtigten Sinn der Rede von Übereinstimmung und Einklang wiederzuentdecken. Diese Neuentdeckung der Wahrheit macht es möglich, im postmodernen Relativismus, der auf den Wahrheits- und konsequent auch auf den Adäquationsbegriff verzichtet, den Nachhall einer objektivistischen und fundamentalistischen Wahrheitsauffassung zu erkennen, wo das »Subjekt« kein Wort zu sagen hat. Es ist aber ein Kurzschluß, aus dem Ausbleiben einer solchen, für uns nicht nachvollziehbaren Wahrheit zu schließen, daß es keine Wahrheit gibt!
Die Vorurteile und die Sache selbst: eine Aporie?
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Es ist keine Aporie, von einer Übereinstimmung zwischen der Sinnantizipation und der Sache selbst zu sprechen, denn das ist nun einmal der rechte Sinn der Wahrheit, die sich von Fall zu Fall, d. h. in der jeweiligen Angemessenheit des Verstehens an die Sache zu erweisen hat. Gadamers Aporie liegt vielleicht anderswo und wurde bislang weniger gesehen. Sie steckt bereits im Begriff des Vorurteils, sofern er vorauszusetzen scheint, daß sich ein Vorurteil immer in ein Urteil umsetzen läßt. Die Absicht der statuierten Unterscheidung zwischen wahren und illegitimen Vorurteilen geht dahin, die Vorurteile ins Bewußtsein zu heben, um sie zu prüfen. Ist das aber bei »Vorurteilen« immer möglich? Wissen wir so genau, welche Vorurteile uns bestimmen, wenn uns das Verstehen gelingt? Charakterisiert sich ein Vorurteil nicht vielmehr dadurch, daß wir es in der Regel nicht erkennen? Gadamer hatte das in Wahrheit und Methode durchaus eingesehen, als er festhielt: »Die Vorurteile und Vormeinungen, die das Bewußtsein des Interpreten besetzt halten, sind ihm als solche nicht zu freier Verfügung.« (WM,301) Im Lesebuch-Gespräch von 1997 schärfte er es nochmals ein: »Unsere Vorurteile sind aber gerade dadurch definiert, daß wir uns unserer Vorurteile nicht bewußt sind.« (LB, 285) Wenn dem aber so ist, wie können wir noch auf ein Kriterium hoffen, das es uns gestatten würde, falsche von wahren Vorurteilen zu scheiden, als ob sie uns zur freien Verfügung stünden? Die wesentliche Aporie liegt also zwischen dem Wortlaut von WM, 301, der an die Unverfügbarkeit der uns »besetzenden« Vorurteile erinnert, und dem Wortlaut von WM, 281, wo Gadamer die »erkenntnistheoretische Frage« so formuliert: »Worin soll die Legitimation von Vorurteilen ihren Grund finden?« Um die Aporie anders zu formulieren: Hat Gadamer in Wahrheit und Methode selbst die »erkenntnistheoretische Fragestellung« überwunden, als er dem Problem der Wahrheit unserer Vorurteile eine so erkenntnistheoretische Wendung gab? War es nicht seine Absicht, aus der Kunsterfahrung eine Wahrheitserfahrung wiederzuerobern, die den Rahmen einer rein erkenntnistheoretischen und damit noch instrumentalen Wahrheitsauffassung überwindet?
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Man darf hierin in der Tat eine wesentliche Spannung im Denkentv.rurf von Wahrheit und Methode erkennen, weil das Werk ansonsten ein sehr scharfes Bewußtsein der Grenzen der erkenntnistheoretischen Fragestellung an den Tag legt. Das gilt erst recht rur die unbemerkte Wirksamkeit der Vorurteile, der Gadamer seine dramatischsten Zeilen widmet: »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. [ ... ] Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins. « (WM, 281)
Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes ? Die wesentliche Aporie hat sich also als die folgende erwiesen: Gadamer hatte sich ursprünglich vorgenommen, den epistemologischen Rahmen zu überschreiten, in den der Historismus das hermeneutische Problem einzusperren neigte. So stellte er das epistemologische Objektivitätsmodell der Selbstauslöschung des Interpreten in Frage, weil es von der Zugehörigkeit des Interpreten zu einer Verstehenskonstellation abstrahierte. Es ist diese Dimension der Zugehörigkeit (die nicht bloß emotiver, sondern sachlicher Art ist), die in einer angemessenen Hermeneutik der Geisteswissenschaften und unserer geschichtlichen Erfahrung zu ihrem Recht verholfen werden soll. Das bringt Gadamer dazu, die Vorurteile als Wahrheitsbedingungen zu rehabilitieren. Die Wahrheit wird dabei als Übereinstimmung des Verstehens mit der Sache neu verstanden. Aber diese Übereinstimmung erfolgt ständig im Chor von Vorurteilen. Gadamers Frage lautet alsdann: Wie lassen sich legitime von illegitimen Vorurteilen unterscheiden? Der Unterschied ist natürlich sinnvoll,ja geboten, aber es fragt sich, ob die Suche nach einem damit wenigstens in Aussicht gestellten Unterscheidungsmerkmal nicht den Epistemologismus perpetuiert, in dem Gadamer sonst ein instrumentelles Mißverständnis des Verstehens erkennt. Scheint er
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nicht selbst nach einem solchen positiven, erkenntnistheoretischen Kriterium Ausschau zu halten (daß es negative wie das Widerspruchsprinzip gibt, steht außer Zweifel)? Die Frage stellt sich mit um s.o größerer Dringlichkeit, als Wahrheit und Methode durchaus anerkennt, daß Vorurteile als solche meist unbewußt bleiben. Lassen sich die uns besetzenden Vorurteile alle ausgraben, und sind die dabei ans Tageslicht gebrachten wirklich die uns bestimmenden? Es sind diese Fragen, die in Wahrheit und Methode vielleicht noch nicht mit der gebotenen Konsistenz gestellt werden. Die »für eine wahrhaft geschichtliche Hermeneutik zentrale Frage« nach dem Unterscheidungsmerkmal zwischen legitimen und illegitimen Vorurteilen war noch eine »erkenntnistheoretische Grundfrage« (WM, 281). U nb es trittenermaßen handelt es sich um eine wichtige Frage in einer erkenntnistheoretischen Perspektive. Wäre aber in der Sicht der von Gadamer anvisierten Hermeneutik die konsistentere Antwort nicht eher die, daß es eine falsche methodische Verführung ist, hier nach einem letzten positiven Unterscheidungskriterium zu suchen? Läßt sich die Übereinstimmung, die die Wahrheit ausmacht, mit einem äußeren Instrument messen, oder liegt sie nicht in der Übereinstimmung selbst (wenn »es stimmt«), die sich von Fall zu Fall zwischen dem Verstehen und der Sache vollzieht? Diese Wahrheit gibt es, aber es ist ein erkenntnistheoretischer Wahn, sie von außen mit einern für alle Fälle gültigen Kriterium sichern zu wollen. Wenn weniger die Geschichte uns gehört als wir ihr, darf man dann wirklich auf eine metaphysische Lösung des erkenntnistheoretischen Problems der legitimen und illegitimen Vorurteile hoffen? In Wahrheit und Methode hat Gadamer den Umriß einer Lösung in der Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes sehen wollen. Mit gutem Recht übrigens. Oftmals ist es in der Tat die Zeitendistanz, die es fruchtbaren Interpretationen erlaubt, sich »auf Dauer« zu behaupten. Das beste Beispiel liefert für Gadamer die Kunstkritik. Wie läßt sich nämlich die wahre Kunst von einer Kunst aussondern, die dem Geschmack der Zeit entspricht, aber keinen dauerhaften Wert besitzt? So ist
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das Urteil über gegenwärtige Kunst »von verzweifelter Unsicherheit« (WM, 302). Der Zeitenabstand leistet hier eine sehr hilfreiche Auslese. Er läßt die unangemessenen, weil zu sehr zeitbedingten Vorurteile verschwinden, so daß sich die bleibenden Werke auf Dauer erkennen lassen können. Aber 1960 wollte Gadamer in dieser Fruchtbarkeit die einzige Lösung ftir das erkenntnistheoretische Problem der Vorurteilslegitimierung sehen: »Nichts anderes als dieser Zeitenabschnitt vermag die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen, nämlich die wahren Vorurteile, unter denen wir verstehen, von den falschen, unter denen wir mißverstehen, zu scheiden.« (WM,304) Gadamer spricht zwar etwas Profundes über die Produktivität des Zeitenabstandes aus, sofern er in ihm weniger einen uns von der Vergangenheit trennenden Abgrund als eine Brücke erkennt, die sie uns zu verstehen hilft. Aber er ging zu weit, als er die Lösung des erkenntnistheoretischen Grundproblems generell von der Auslesefunktion des Zeitenabstandes abhängig machte. Gadamers Lösung ist aus zwei Gründen unzureichend: Erstens hilft sie uns keineswegs, legitime oder illegitime Vorurteile bei zeitgenössischen Werken und Erkenntnisansprüchen zu unterscheiden, wo die Distinktion ihren guten Sinn hat. Zweitens verkennt sie den Umstand, daß der Zeitenabstand auch verdeckend sein kann, indem er - sei es unbewußt, oder per Machtspruch - auch solche Interpretationen zu konsolidieren hilft, die möglicherweise unangemessen sind. Die Geschichte liefert daftir auch Beispiele, aber die besten sind gerade unbekannt: Es ist z. B. durchaus vorstellbar, daß die Überlieferung antike Stellen aus Texten wegstrich, weil sie in der damaligen Konstellation ftir vernunftwidrig galten, ohne die aber die Texte fur uns ewig unerschließbar bleiben können. Und wer hat je die Geschichte der spurlos verschwundenen Völker schreiben können? Diese oft verdeckende Arbeit der Tradition hatte Heidegger im Auge, als er eine Destruktion der
ontologischen Tradition anmahnte! Wenn er von großer Hilfe ftir das Verstehen sein kann, kann der ZeitenaBstand auch verbergend sein.
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Das Problematische lag also in Gadamers pauschaler Behauptung, daß »nichts anderes als dieser Zeitenabstand« die Legitimität von Vorurteilen sichern könne. Es ist aber zu verzeichnen, daß Gadamer 1986 in der 5. Auflage von Wahrheit und Methode diesen Passus modifiziert hat. »Nichts anderes als« wurde durch ein vorsichtigeres »oft« ersetzt, so daß sich der Text jetzt so liest: »Oft vermag der Zeitenabstand die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen [ ... ]« Eine hübsche und wertvolle Textänderung, da sie von der wirklichen Vollzugsweise des hermeneutischen Zirkels zeugt, die darin besteht, für Revision offen zu bleiben, sollte sich die ursprüngliche Einsicht als unhaltbar erweisen. In dieser Offenheit, in diesem Gespräch hat sich letztlich die Frage der Legitimität der Vorurteile jeweils zu erv.'eisen. Die Textmodifikation zeigt ferner, daß sich Gadamer auch der Grenzen einer strikt erkenntnistheoretischen Fassung des hermeneutischen Problems bewußt wurde. Das Wesentliche liegt weniger in der magischen Lösung des Problems der Legitimität der »Vorurteile« (ein Terminus übrigens, der mit seinem Werk stark verbunden bleibt, obwohl Gadamer ihn nach Wahrheit und Methode kaum noch wiederverwendete) als in der Überwindung einer noch zu instrumentalen Konzeption des Verstehens. Die Kritik, die Gadamer an die Hermeneutik des 19.Jahrhunderts adressiert, daß sie nämlich noch »viel zu sehr von der Idee eines Verfahrens, einer Methode, beherrscht ist« (WM, 295), läßt sich auch gegen die Thematisierung des Vorurteilsproblems in Wahrheit und Methode richten. Indem dieses Werk das Problem der Distinktion zwischen wahren und illegitimen Vorurteilen erkenntnistheoretisch auf die Spitze trieb, blieb es gewissermaßen dem methodischen Denken verhaftet. Das Problem erhielt auch keine letztendlich befriedigende Lösung. Die Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes bietet jedenfalls keine, und Gadamers Textänderung beweist, daß er sich dessen bewußt wurde. Das bedeutet aber mitnichten, daß die Distinktion sinnlos oder uneinlösbar sei, sondern nur, daß sie von ihrem zu engen erkenntnistheoretischen Rahmen zu befreien ist~ um eine hermeneutische Frage zu werden, d. h. eine
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Frage von Wachsamkeit, die sich in jedem Augenblick zu bewähren hat.
Das Prinzip der Wirkungsgeschichte Es gibt indes in Wahrheit und Methode einen Begriff, der alle anderen an Bedeutung überragt und der auf vortreffliche Weise zeigt, inwiefern Gadamer den Instrumentalismus des geschichtlichen Bewußtseins überwindet: der Begriff der Wirkungsgeschichte. Gadamer erhebt ihn sogar zum »Prinzip«, dessen Konsequenzen der Rest des Buches nach und nach aufzeigen wird. Der Ausdruck existierte natürlich vor Gadamer. Er kam bereits im 19. Jahrhundert in Umlauf, um diejenige Disziplin zu kennzeichnen, die sich fUr das Fortwirken oder die Rezeption von Werken oder Ereignissen interessierte. Es ist auch kein Zufall, wenn sich diese Disziplin im Zeitalter des Historismus entwickelte. Das geschichtliche Bewußtsein interessierte sich nämlich fUr die verstehende Aufnahme und Rezeption von Werken, um sich ihrer Wirkung und Wirksamkeit zu entziehen. Wer etwa den originellen Sinn eines Werkes von Aristoteles oder den wirklichen Gang der Französischen Revolution erforschen will, tut gut daran, ihre Wirkungsgeschichte zu studieren, um sich nicht von ihren Vorurteilen irrefUhren zu lassen. Man müsse also die originalen Werke von ihrer Rezeptionsgeschichte unterscheiden, um sie »objektiv« oder an sich erforschen zu können. Wie bei Dilthey sollte es das geschichtliche Bewußtsein ermöglichen, sich vom Fortwirken der Wirkungsgeschichte zu emanzipieren. Das geschichtliche Bewußtsein würde sie durch die Objektivierung neutralisieren. Dieses geschichtliche Bewußtsein verstand sich in einem gewissen Sinne als die Vollendung der Aufklärung. Denn diese Aufklärung des 19. Jahrhunderts ist so aufgeklärt, daß sie auf das Ideal eines teleologischen Fortschritts der Geschichte, der die Aufklärung des 18.Jahrhunderts charakterisierte, verzichtet. Diese Fortschrittsidee ist ihrerseits selbst ein geschichtlich situierbares Vorurteil, das idealistisch vorbelastet
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ist. Dieses Vorurteil hört aber auf, rur eine radikal geschichtliche Aufklärung verbindlich zu sein. Der Historismus betreibt insofern eine Aufklärungskritik im Namen einer radikaler sein wollenden geschichtlichen Aufklärung. Er geht sogar von einer der Aufklärung entgegengesetzten Voraussetzung aus, nämlich daß der Gang der Geschichte so unteleologisch oder .vernunftfremd sei, daß er nur geschichtlich, also von der Höhe des geschichtlichen Bewußtseins aus recht verstanden werden könne. Mit dem Historismus vollende sich also die Aufklärung. »Eben hier liegt der Punkt, an dem der Versuch einer philosophischen Hermeneutik kritisch einzusetzen hat« ( WM, 280), schreibt Gadamer pointiert. Denn just gegen den aufklärerischen Stolz des geschichtlichen Bewußtseins erhebt sich Gadamers Begriff der Wirkungsgeschichte. Die Wirkungsgeschichte bildet nämlich nicht nur die Rezeptionsgeschichte, die sich erkennen und objektivieren läßt, sondern sie ist die nie völlig einsichtig werden könnende Geschichte, in derjedes Bewußtsein - und selbst das geschichtliche Bewußtsein! - steht. Das geschichtliche Bewußtsein vergißt, daß es immer ein wirkungsgeschichtliches Bewußtsein bleibt. Das Wort »Wirkung« unterstreicht hier, daß diese Geschichte auch da am Werke ist, wo sie nicht vermutet oder wahrgenommen wird. Es ist in diesem Zusammenhang ein schönes Wort, weil es im Deutschen sowohl den Wirkungsprozeß (also die wirkende Geschichte) als auch sein Produkt (die Geschichte, aber auch unser Bewußtsein) bezeichnet. Die Vorurteile des einzelnen, die i>weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins« (WM,281) ausmachen, sind das Werk der Wirkungsgeschichte. Mit diesem Prinzip vollzieht Gadamer die Überwindung der erkenntnistheoretischen und instrumentalen Fragestellung in der Hermeneutik. Denn die Wirkung der Wirkungsgeschichte benennt ein Fortwirken der Geschichte über das Bewußtsein hinaus, das wir von ihr haben können. Von ihr aus erweist sich das Verstehen »nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität [ ... ], sondern als Einrücken in ein Überliiferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig
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vermitteln.« (WM,295) Es ist nicht überraschend, die die Grenze der Subjektivität aufweisende Spielmetapher in diesem Zusammenhang wiederauftauchen zu sehen. Das Verstehen läßt sich nunmehr als »das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten« (WM, 298) beschreiben. Aber in dem Moment, wo man den Eindruck hat, daß die Wirkungsgeschichte einen gigantischen Moloch bildet, der das Bewußtsein in sich verschlingt, als ob es sich um eine Neuauflage der Heideggerschen Seinsgeschichte handelte, behauptet Gadamer mit Entschiedenheit, daß es darauf ankomme, ein ausdrücklich wirkungsgeschichtliches Bewußtsein zu entwickeln. Um welches, ja um wessen Bewußtsein geht es hier eigentlich?
Die Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins »Meine philosophische Hermeneutik versucht geradezu, die Fragerichtung des späten Heidegger einzuhalten und in neuer Weise zugänglich zu machen. Ich nahm in Kauf, daß ich zu diesem Zweck an dem Bewußtseinsbegriff festhielt, gegen dessen letztbegründende Funktion Heideggers ontologische Kritik sich gekehrt hatte. Doch versuchte ich, diesen Begriff in sich selbst zu begrenzen. [... ] Freilich muß man mein Kapitel über das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein in Wahrheit und Methode richtig lesen. Man darf darin nicht eine Modifikation des Selbstbewußtseins sehen, etwa ein Bewußtsein der Wirkungsgeschichte oder gar eine hermeneutische Methode, die sich darauf gründet. Man muß darin vielmehr die Begrenzung des Bewußtseins durch die Wirkungsgeschichte erkennen, in der wir alle stehen. Sie ist etwas, was wir nie ganz durchdringen können. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist, wie ich damals sagte, >mehr Sein als Bewußtsein<.« (GW 2, 101f.)
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Gadamer möchte zwar das Bewußtsein durch die Wirkungsgeschichte begrenzen, aber sein wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist eminent reflektiert und vielschichtig. Ein solches Bewußtsein ist sich nämlich seiner eigenen Geschichtlichkeit bewußt. Es war dieses Bewußtsein, das dem geschichtlichen Bewußtsein des Historismus fehlte. Es läßt sich insofern als die »Vollendung« des geschichtlichen Bewußtsein verstehen. Es ist aber ein Bewußtsein, das sich nicht in voller Durchsichtigkeit vollzieht, da es um die geschichtlich gesetzten Schranken des Bewußtseins weiß.·Anstatt eine vollständige Transparenz seiner selbst anzustreben, fordert es zu geschärfter Wachsamkeit auf. Da es sich um ein mehrschichtiges Bewußtsein handelt, empfiehlt es sich, diese Schichten zu unterscheiden: 1) Als Bewußtsein der Wirkungsgeschichte (genetivus objectivus) handelt es sich im Sinne des Historismus zunächst um ein Bewußtsein der eigenen jeweiligen Situiertheit. Gadamer behält hier durchaus den Erkenntnisgewinn des geschichtlichen Bewußtseins bei. Seiner Geschichtlichkeit eingedenk, ist dieses historiographisch zu nenennde Bewußtsein darum bemüht, seine eigene hermeneutische Situation auszuarbeiten. Es ist die geschichtliche Sensibilität oder Wachsamkeit, die die Wirkungsgeschichte als solche erforscht und die die Lage der Forschung zusammenfaßt, um sich ihr gegenüber besser profilieren zu können. Jede Forschung, jedes Verstehen steht in einer Wirkungsgeschichte, der es sich bewußt zu werden gilt. Nach Gadamer ist es hier weniger wesentlich, sich von dieser Wirkungsgeschichte objektivierend zu distanzieren, als das Gespräch mit ihr aufzunehmen, und zwar von den eigens zu diesem Zweck herausgearbeiteten Verstehensvoraussetzungen aus. Nach Heideggers Hermeneutikverständnis handelte es sich um die Aufgabe der erhellenden Auslegung der das Verstehen leitenden Situation. Gadamer erkennt vielleicht prinzipieller an, daß eine vollständige Aufklärung77 hier 77 Gadamer hat immer nur die Idee einer vollständigen historischen Aufklärung kritisiert. So fuhlt er sich nicht betroffen von den Einwän-
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unerreichbar ist, aber die sich daraus ergebende philosophische Wachsamkeit wird um so schärfer sein. 2) Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein hat zweitens den allgemeinen philosophischen Sinn eines Bewußtseins des Wirkens der Geschichte injedem Verstehen über uriser Bewußtsein hinweg: in jedem Verstehen ist Geschichte und Tradition am Werke, auch wenn wir sie uns nicht ins Bewußtsein heben können (im Sinne von 1). Man darf also von einem Prinzip der Wirkungsgeschichte sprechen, das hinter jedem Verstehen stillschweigend operiert. Mit dem späteren Gadamer könnte man sagen, daß im Verstehen mehr Ritual als Bewußtsein steckt: 78 Man ist mehr in Verstehensformen eingespielt, als man sich bewußt ist. 3) Das Bewußtsein der Wirkungsgeschichte läßt sich ferner als ein genetivus subjectivus lesen, nämlich als das Bewußtsein, das der Wirkungs geschichte selbst eignet, so wenn man etwa vom »Geist der Zeit« spricht. Das mag hegelisch klingen, und deshalb wird die Auseinandersetzung mit Hegel hier eine entscheidende Rolle spielen. In Wahrheit hat man es aber mit einer Umkehrung von Hegel zu tun. Nach Gadamer hat die Hermeneutik buchstäblich »den Weg der Hegelschen Phänomenologie des Geistes insoweit zurückzugehen, als man in aller Subjektivität die sie bestimmenden Substanzialität aufweist.« (WM, 307) Gemeint ist, daß unser Bewußtsein selbst Anteil am Bewußtsein der Zeit hat (das spätere Epochen in der Regel besser durchschauen als die in ihm stehenden). Es gibt auch im den derjenigen, die ihn zu einem »Kritiker der Aufklärung« stempeln wollten. Vgl. seine Antwort auf David Detmer (»Gadamer's Critique of the Enlightenment«) in TPHGG, 287: «It is extremely astonishing to me that my project of a philosophical hermeneutics as well as some other such projects are being discussed under the tide >critique of enlightenment< and not with reference to the idealist concept of the >completed enlightenment< which was coined by Fichte. For what matters to us can only be the question whether a completed enlightenment which would dissolve all human predisposition and societal prejudices is an intelligible claim.» 78 Vgl. insb. HGG, »Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache« (1992), GW 8, 400-440 sowie das LB-Gespräch.
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Bewußtsein ein Wirken von Tradition und Geschichte, dessen sich das Bewußtsein nicht voll bewußt ist. Von diesem wirkungsgeschichtlich bedingten Bewußtsein läßt sich sagen, daß es »mehr Sein als Bewußtsein« ist. 79 4) Aber just davon gilt es, ein Bewußtsein zu entfalten. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist insofern selbstreflexiv, aber diese Reflexion bringt viel weniger einen Selbstbesitz als ein Demutswissen zustande. Es ist ein Bewußtsein, das sich in einem spezifischen Sinne der Grenzen der Reflexion bewußt ist. Dieses »Grenzbewußtsein« wird nach Gadamer das Grundsätzliche der hermeneutischen Erfahrung ausmachen und zu einer Offenheit für das andere führen. Will man die idealistischen Konnotationen des Bewußtseinsbegriffs vermeiden, so ließe sich von einer wirkungsgeschichtlichen Wachsamkeit sprechen. Der Begriff der Wachsamkeit wird hier nicht willkürlich eingeführt. Er spielte bereits eine entscheidende Rolle in Heideggers Programm einer Hermeneutik der Faktizität. Das menschliche Dasein war ja bereits als »Anzeige des Weges des möglichen Wachseins« (GA 63,7) angesprochen. Das Verstehen, auf das die Hermeneutik hinzielt, läßt sich terminologisch »als das Wachsein des Daseins für sich selbst« (GA 63,15) fixieren. »Thema der hermeneutischen Untersuchung ist je eigenes Dasein, und zwar als hermeneutisch befragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszubilden.« (GA 63,16)80 79 Man könnte hier mit Schelling von dem unvordenklichen Charakter des Bewußtseins sprechen. Dieses Schellingsche Motiv des Unvordenklichen ist aber in rMlhrheit und Methode eher unterschwellig und wurde erst später zum vollen Tragen gebracht. Vgl. dazu meine kleine Arbeit über »Die späte Entdeckung Schellings in der Hermeneutik«, in 1. M. Feher und W G. Jacobs (Hrsg.), Zeit und Freiheit: Schelling - Schopenhauer - Kierkegaard - Heidegger, Budapest, KetefBt., 1999, 65-72. 80 Das urhermeneutische Thema der »Wächterschaft« behielt seine Dringlichkeit im späteren Denken der Seinsgeschichte. Vgl. etwa den Brief über den Humanismus (GA 9, 343), wo die Existenz als »die Wächterschaft, das heißt die Sorge für das Sein« bestimmt wird. Vgl. GA 69,
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Die Wachsamkeit bezeichnet die Stellung desjenigen, der sich bemüht, mitten in der Nacht, die ihn zu umschlingen droht, die Augen aufzubehalten. Diese Rolle der Wachsamkeit ftir das menschliche »Bewußtsein« ist freilich nicht auf Heidegger beschränkt. Sie geht schließlich auf Heraklit zurück (Fg. 29, Snell: »Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt; im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu«; Fg. 26: »Der Mensch steckt sich zur Nacht ein Licht an, wenn sein Auge erloschen ist. Lebend rührt er an den Toten im Schlaf, wachend rührt er an den Toten«; vgl. Fg. 73, 75). Ebenso unterscheidet Platon die Wachheit (hupar) der Philosophenwächter (phulaka) von dem Schlaf- oder Traumzustand (onar) der Vielen (Politeia 476 d).Die Metapher der Wachheit spielte· bekanntlich eine eschatologische Rolle im N euen Testament (Mt 24, 42: »Wachet also, denn ihr wißt nicht, an welchem Tage euer Herr kommt«, vgl. Mk 13,35; Lk 12, 40). Selbst die »Aufklärung« charakterisierte Kant als ein Aufwachen aus einem langen Schlaf (sapere aude.0. 81 Aber die Idee des Wachseins findet sich auch in Wahrheit und Methode, und zwar in einem wichtigen Passus, der in der 5. Auflage von 1986 hinzugeftigt wurde. Der »kontrollierte Vollzug« der sich im Verstehen verschmelzenden Horizonte der Vergangenheit und der Gegenwart wird dort als »die Wachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins« (WM, 312) bezeichnet. Die früheren Auflagen sprachen hier von der »Aujgabe des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins«. Die spätere Formulierung (die übrigens in der 5. Auflage nicht als solche kenntlich gemacht wurde) hat offenbar einen weniger positivistischen Klang. Ein wirkungsgeschichtliches Bewußtseins ist nicht da, um methodologische Aufgaben lösbar zu machen, sondern um eine Wachheit auszubilden. Der Terminus begegnet aber auch früher in Gadamers Opus und - be150 über die »Wächterschaft der Wahrheit des Seyns«. Vgl. GA 29/30, 33f. u. ö. 81
Auch f"tir Schellings Freiheitsschrift setzt das Licht die Dunkelheit
voraus: »Dennoch wüßten wir nichts, das den Menschen mehr antreiben könnte, aus allen Kräften nach dem Lichte zu streben, als das Bewußtsein der tiefen Nacht, aus der er ans Dasein gehoben worden.« (SW VII, 360)
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zeichnend genug - im Zusammenhang mit der phronesis. Der Aufsatz von 1930 über das praktische Wissen faßte pointiert die phronesis als eine »Wachsamkeit der Sorge um sich selbst«.82 Die Horizontverschme1zung bildet eine gute Veranschaulichung dieser Wachsamkeit. Wir wissen ja seit Husserl und Heidegger, daß sich jedes Verstehen in einen Horizont und eine Sinnkonstellation einfügt, die aber ebensosehr das Werk der Vergangenheit wie der Gegenwart ist. Nach der Hermeneutik des Historismus konnte man nur insofern verstehen, als man sich in den Horizont der Vergangenheit hineinversetzte. Gadamer fragt sich aber, ob es so etwas wie einen reinen Vergangenheitshorizont überhaupt gibt, in den es sich zu versetzen gelte und der sich chirurgisch von der Gegenwart abtrennen ließe. Wird der Vergangenheitshorizont nicht immer von der Gegenwart aus formuliert, auch und erst recht, wenn es darum geht, das Fremde in ihm zu treffen? Der Horizont der Gegenwart wird seinerseits durch die Vergangenheit bedingt: »Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont fur sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.« (WM,311). Die verdinglichende Trennung der Horizonte stellt nach Gadamer eine instrumentale Verfuhrung des Bewußtseins dar. Setzt aber nicht die Verschmelzungsidee die vorherige Distinktion beider Horizonte voraus? Gadamer gesteht es durchaus zu: Der Horizont des 4. Jahrhunderts v. ehr. ist nicht derjenige des 21.Jahrhunderts, aber ich verstehe den Horizont der Vergangenheit nur insofern, als der meinige mit ihm zusammenschmilzt. Es gilt allerdings vor zu unkritischer Verschmelzung auf der Hut zu sein. Deshalb behält die Trennung 82 HGG, »Praktisches Wissen« (1930), GW 5, 241. Vgl. ebd., 238: »Und es ist eine einzige besorgte Wachsamkeit der Seele, von keinem Schein getäuscht zu werden, sich von keinem Gerede bereden lassen zu wollen und in die Tat und Wirklichkeit zu drängen.«
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ihre Berechtigung rur die historische und wissenschaftliche Forschung. Man kann hier nur einen kontrollierten Vollzug der Horizontverschmelzung anmahnen, der die Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins ausmacht (WM, 312). Es kommt also weniger darauf an, diese Verschmelzung zu kontrollieren, als ihrer bewußt zu sein. Sie vollzieht sich als Wachsamkeit im Traditionshorizont.
Der unvordenkliche Charakter der Tradition und das Beispiel des Klassischen Der Gedanke der Wirkungsgeschichte ist nicht da, um die Reflexion zu lähmen, sondern um sie an ihre wirklichen Wachsamkeitsmöglichkeiten zu erinnern. Das Bewußtsein, das Gadamer begrenzen will, ist das Bewußtsein, das die philosophische Tradition als ein Medium der puren Durchsichtigkeit zu begreifen gewöhnt ist: Die Welt wird uns durch das Bewußtsein durchsichtig und greifbar, ebenso müßte das Bewußtsein des Bewußtseins (die Reflexion also) im Element der absoluten Transparenz erfolgen. Für Aristoteles blieb aber dieses Denken des Denkens (noesis noeseos) der Gottheit vorbehalten. Die ganze Hermeneutik Gadamers will ins Gedächtnis rufen, daß wir keine Götter sind. Wenn das Bewußtsein rur die Götter so etwas wie eine Selbstdurchsichtigkeit bedeutet, ist es rur uns eine Sache von Wachsamkeit. Die Sprache sagt es selbst in ihrem nicht-philosophischen Gebrauch: »bewußt sein« heißt ja auch »wach sein«, bei Bewußtsein sein, »da« sein im Horizont der Wachheit. Liegt nicht in dieser Wachheit der ursprüngliche und vergessene Sinn des Bewußtseins? Bewußt-sein heißt ja: die Augen aufhaben, der Welt aufgeschlossen sein, und zwar in einem Licht, dessen Quelle wir nicht sind. Das Bewußtsein ist insofern weniger ein beherrschendes Bewußtsein von diesem oder jenem als ein Eingenommenwerden von dem Sinn, der uns wachhält. Dieses Bewußtsein weiß sich von der Tradition getragen und ist insofern ein wirkungsgeschichtliches Bewußtsein.
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Gadamers »Rehabilitierung der Tradition« ist vielleicht das am meisten mißverstandene Stück seiner Philosophie. Es lag ja nahe, darin einen Traditionalismus zu argwöhnen, zumal sich Gadamer dabei gern auf sein Spezialgebiet, die Klassische Philologie berief. Tradition meint indessen etwas viel Vordergründigeres bei Gadamer, nämlich, um es erneut mit Schelling auszudrücken, das Unvordenkliche in jedem Verstehen. Diese Formel unterstreicht, daß unsere Wachsamkeitsmöglichkeiten nicht zu unserer vollen Verfügung stehen und nicht immer auf expliziter Begründung beruhen: »Sie werden in Freiheit übernommen, aber keineswegs aus freier Einsicht geschaffen oder in ihrer Geltung begründet. Eben das ist es vielmehr, was wir Tradition nennen: ohne Begründung zu gelten.« (WM, 285) Gemeint ist also nicht, daß das Traditionelle als das Begründende gilt (das wäre purer Traditionalismus), sondern daß nicht alles, was gilt, auf Begründung zurückgeht. Selbst in der Geltung und in der Begründung gibt es ein Moment von Tradition und Geschehen, sofern auch da vieles ohne Begründung gilt. Proust sprach hier gern von der Gewohnheit (Habitude, die er auf Französisch auch meist großschrieb), die das Bewußtsein trägt. 83 Es wäre nach Gadamer ein Irrtum, in dieser Macht der Tradition etwas Irrationales, Willkürliches oder Autoritäres zu sehen. Das kann man nur von kartesianischen Voraussetzungen aus behaupten. Was sich bewährt hat, ist nämlich dasjenige, was das Bewußtsein so sehr überzeugt, daß es von ihm weitergetragen wird. Deshalb spricht Gadamer stets von einer »in Freiheit übernommenen« Geltung aus Herkommen und Überlieferung (WM, 285). Gemeint ist nicht eine Tradition, die Gegenstand einer ausdrücklichen und bewußten Aneignung wäre (was relativ selten der Fall ist), sondern die Vernünftigkeit der Tradition, die sich fortsetzt, weil 83 Vgl. am Anfang der Recherche: »L'habitude! amenageuse habile mais bien lente, et qui commence par laisser souffrir notre esprit pendant des semaines dans une installation provisoire, mais que malgre tout il est bien heureux de trouver, car sans l'habitude et reduit a ses seuls moyens, il serait impuissant a nous rendre un logis habitable.«
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sie sich bewährt hat und deren Grundlage die Basis jedes vernünftigen EntWurfs und jeder Begründung bleibt. Jede Begründung setzt eine solche Tradition voraus. Gadamer sieht in dieser Evidenz der sich fortpflanzenden Tradition eine Tat der Vernunft und der Freiheit: »Auch die echteste, gediegenste Tradition vollzieht sich nicht naturhaft dank der Beharrungskraft dessen, was einmal da ist, sondern bedarf der Bejahung, der Ergreifung und der Pflege. [ ... ] Bewahrung aber ist eine Tat der Vernunft, freilich eine solche, die durch Unauffälligkeit ausgezeichnet ist. Darauf beruht es, daß die Neuerung, das Geplante, sich als die alleinige Handlung und Tat der Vernunft ausgibt. Aber das ist ein Schein.« (WM,286) Dieser Schein wird nämlich durch eine einseitig instrumentale Fassung der Vernunft genährt, die sich als ein Vermögen der ausdrücklichen Begründung versteht, das von jeder Tradition unabhängig wäre. Man übersieht dabei die Vernünftigkeit desjenigen, das sich fortsetzt. Aber auch hier kann man von Anerkennung durch Freiheit und Vernunft sprechen. Wer beispielsweise die herkömmlichen Grußformen übernimmt und anwendet, setzt stillschweigend und anerkennend ihre Vernünftigkeit voraus. Wenn sie langsam veraltet scheinen, verschwinden sie bald oder machen sich als traditionalistisch und damit gekünstelt bemerkbar. Es ist diese zugrundeliegende Vernünftigkeit des Bewährten, die Gadamer für grundlegender als jede noch so lineare Begründung hält. Denn dieses Bewährte ist auf Anerkennung durch Vernunft angewiesen. In Wahrheit und Methode wirft Gadamer deshalb Karl Jaspers und Gerhard Krüger vor, dieses Prinzip der Vernunftanerkennung verkannt zu haben (WM, 284). Die Autorität des Bewährten, hält Gadamer fest, beruht auf einem »Akt der Freiheit und der Vernunft« (WM, 284). Der Begriff des »Aktes« ist hier vielleicht etwas überzogen, da es sich nicht immer um einen bewußten Akt handelt, aber Gadamer hat recht, hier von Freiheit und Vernunft zu sprechen. Die Tradition ist nämlich die »namenlos gewordene Autorität« (WM, 285), die im Prinzip eingesehen werden kann und die es immer ist, sofern sich die Tradition fortschreibt. Eine
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Tradition, deren Autorität fraglich geworden ist, stirbt auf die Dauer ab und wird nur aus folklorischen Gründen aufrechterhalten. Diese Tradition zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Gegenwart nicht mehr trägt. Für sie interessiert sich Gadamer nicht. Die Tradition, auf die er abhebt, ist diejenige, die unsere Gegenwart möglich macht und die in ihr unvordenklich am Werke ist, indem sie den Horizont unseres Bewußtseins und unserer Wachsamkeit ausbildet. Ein Beispiel dieser für die Gegenwart verbindlichen Tradition sieht Gadamer in der Autorität, die das Klassische genießt. Viele Kritiker von Gadamer haben sich natürlich ereifert, darin ein klassizistisches Ideal zu sehen. Das war ein Mißverständnis. Gadamer hat lediglich ein Beispiel aus seinem eigenen Kompetenzbereich, den Klassischen Altertumswissenschaften, geschöpft, um das Wirken der Wirkungsgeschichte zu exemplifizieren. Sein einziger Fehler bestand nur darin, daß er aus seiner eigenen Faktizität heraus philosophierte (nur die Götter philosophieren anders, aber das ist - wie Diotima im platonischen Symposion ausführt - so wahr, daß sie überhaupt keine Philosophie in unserem Sinne treiben). Manchmal fuhrt aber gerade ein kleines Beispiel zu einer universalen Wahrheit. Das ist auch der Sinn des Klassischen bei Gadamer. Früher. genoß das Klassische eine vorwiegend normative Bedeutung. Sie war etwas naiv und erdrückend: die Klassiker bildeten unüberbietbare Gipfel und damit nachzuahmende Vorbilder. Es ist diese Idealisierung, die den »klassischen Altertumswissenschaften«, wie sie bei F. A. Wolf heißen, Sinn und Legitimität verlieh. Gegenüber diesem normativen Begriff machte der Historismus das Klassische zu einem reinen Epochenbegriff, der keine normative Geltung besaß, weil ein solches Werturteil die Objektivität des Historikers beeinträchtigen würde. Das Klassische wird damit in eine historische Distanz gerückt, die die Objektivität der Naturwissenschaften nachzuahmen strebt. Dieses historistische Ansinnen brachte verdienstvolle Forscher der Antike dazu, andere Epochen zur Geltung zu bringen und vom Schatten der als klassisch geltenden Epoche zu befreien: die archaische, die hellenistische
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Periode usw. Das Klassische verlor dabei seine normative und verbindlich sein sollende Bedeutung. Gadamer fragt sich, ob die Sachen wirklich so einfach sind: Kann es einen rein historischen Begriff des Klassischen geben? Gadamers Absicht ist es natürlich nicht, einen streng normativen Begriff des Klassischen zu rehabilitieren. Er bleibt viel zu sehr Erbe des geschichtlichen Bewußtseins, um so ungeschichtlich zu denken. Er will lediglich in Erinnerung rufen, daß ein normatives Element aus dem geschichtlichen Bewußtsein nie ganz verschwindet. Bereits der Umstand, daß andere Epochen neu zur Geltung (!) gebracht oder rehabilitiert werden, beweist a contrario,daß das Klassische etwas von seiner Geltung behält, auch und gerade, wenn es in Frage gestellt wird. Das Klassische bezeichnet also den mehr oder weniger als kanonisch vorausgesetzten Hintergrund, den selbst das sich von seinen Gegenständen in reiner Objektivität abgeschnitten wähnende geschichtliche Bewußtsein voraussetzt. Eine gewisse Klassizität oder Kanonizität des, sei es auch nur vage Anerkannten oder Geltenden bleibt in jedem Verstehen erhalten. 84 Wer bestimmt letztlich, was die wichtigsten Ereignisse oder die »klassischen« Werke sind, die man kennen und erforschen muß, wenn nicht der klassische Charakter, den ihnen die Geschichte bzw. eine bestimmte Geschichte verliehen hat? Jedes Fach,jedes Gebiet und jede noch so revolutionäre Bewegung haben ihre »Ahnenreihe«. Gadamer möchte selbstverständlich keine spezifische Ahnenreihe zur Geltung bringen, sondern lediglich daran erinnern, daß kein historisches Bewußtsein von solchen Wertungen völlig frei ist. Sofern das Bewußtsein eine Form der Wachheit ist, ist es immer erschlossen durch eine gewisse Kanonizität des Beherzigenswerten, des Denkwürdigen und desjenigen, was als ein treffendes und glaubwürdiges Argument gelten darf. Woher stammt dieser »Kanon« des Glaubwürdigen und Treffenden, wenn nicht aus der Wirkungsgeschichte? Das Beispiel des Klassischen bei Gadamer will also in Erinnerung rufen, daß 84 Vgl. dazu meine Skizze »Canonicite et philosophie hermeneutique«, in Theologiques 1 (1993),9-23.
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»das h,istorische Bewußtsein noch immer anderes einschließt, als es von sich aus eingesteht« (WM, 292). Ein Werk oder ein Ereignis spricht uns vor jeder wissenschaftlichen Objektivierung des geschichtlichen Bewußtseins an. Es versteht sich, daß der Inhalt des Klassischen oder des als kanonisch Geltenden unendlich variabel ist,je nach den Wachheitskapazitäten jeder Epoche. Und das als klassisch Etablierte kann man nur mithilfe einer anderen Kanonizität über Bord werfen (und nichts ist heute klassischer als das). Das Klassische ist also fur Gadamer nie »ein übergeschichtlicher Wertgedanke« (WM, 292), sondern eine Modalität des Geschichtlichseins, die uns das Vergangene als eine bereits mit Bedeutung und Appellkraft beladene Größe überliefert, die dem objektivierenden geschichtlichen Bewußtsein vorausliegt: »Das Klassische ist eben im Grunde etwas anderes als ein deskriptiver Begriff, den ein objektivierendes historisches Bewußtsein handhabt; es ist eine geschichtliche Wirklichkeit, der auch noch das historische Bewußtsein zugehört und untersteht.« (WM, 292f.) Gadamer ist also nicht interessiert am Klassischen als solchem oder an einer besonderen Klassizität, sondern an dem, was uns das Klassische über unsere wesentliche Zugehörigkeit zur Geschichte lehrt. Diese Zugehörigkeit verläuft in zwei Richtungen: Wir gehören der Geschichte und der Wirkungsgeschichte an, aber es ist auch die Geschichte, die uns gehört, sofern sie stets von der Gegenwart und ihren Wachsarnkeitsmöglichkeiten aus gelesen, verstanden und angeeignet wird. Es ist diese Vermittlung von Gegenwart und Vergangenheit, die ftir das geschichtliche Bewußtsein charakteristisch ist und die es anzuerkennen gilt. Die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstand, zur Geschichte und zu seiner Zeit wird nicht mehr als ein Objetktivitätshindernis gesehen: »Diese Erörterung des Begriffs des Klassischen beansprucht keine selbständige Bedeutung, sondern möchte eine allgemeine Frage wecken. Sie lautet: Liegt am Ende solche geschichtliche Vermittlung der Vergangenheit mit der Gegenwart, wie sie den Begriff des Klassischen prägt, allem historischen Verhalten als wirksames Substrat zugrunde?« (WM,295) Diese Vermittlung läßt uns das Grundproblem
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der Hermeneutik wiederentdecken: die in jedem Verstehen vollzogene Anwendung.
Das Grundproblem der Anwendung Als Gadamer seine Metapher der Horizontverschmelzung verwendete, hatte er eine besondere Konnotation des Ausdrucks »Horizont« im Deutschen hervorgehoben: »Der Begriff >Horizont< bietet sich hier an, weil er der überlegenen Weitsicht Ausdruck gibt, die der Verstehende haben muß. Horizont gewinnen meint immer, daß man über das Nahe und Allzunahe hinaussehen lernt, nicht um von ihm wegzusehen, sondern um es in einem größeren Ganzen und in richtigeren Maßen besser zu sehen.« (WM, 310) So sagt man beispielsweise von einer Begegnung, einem Buch oder einer Reise, daß sie unseren Horizont erweitert oder ausgeweitet haben. Der Begriff des Horizontes deutet hier eine gewisse Großmut, ja eine Weisheit an. Eine solche Weisheit gehört wesentlich zum Gadamerschen Horizontbegriff. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein hat etwas mit der Ausarbeitung einer angemessenen Horizontbreite zu tun. Da ich mich von der Geschichte erwirkt weiß, weiß ich auch um die Grenzen meines Bewußtseins. Es ist diese Wachsamkeit, die mich zur Offenheit fur die Perspektiven der anderen fUhrt. Der späte Gadamer hat diese Offenheit oft so charakterisiert: »Die Seele der Hermeneutik besteht darin, daß der andere recht haben kann.«85 Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein schließt damit eine gewisse Ethik des Verstehens ein. So ist es nicht von ungefähr, wenn in Wahrheit und Methode die drei der» Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems« (WM,312) geltenden Abschnitte sichjeweils mit dem Problem der Anwendung, der Aktualität der aristotelischen Ethik und der exem85
Vgl. das Interview mit HGG in der Süddeutschen Zeitung vorn 10./
11. 2. 1990 (= Information Philosophie 1991, Heft 3, S. 27); Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a. M.,Suhrkarnp, 1993, 109; Das Erbe Europas, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1989, 158 u. Ö.
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plarischen Bedeutung der juristischen Hermeneutik befassen (wäre es etwas später entstanden, hätte das Werk sicherlich auch ein Kapitel über die Rhetorik gehabt). Gadamers ganzer Denkweg war von der Ethik ausgegangen. Seine Dissertation und seine Habilitationsschrift (Platos dialektische Ethik, 1931) waren der Ethik der Griechen gewidmet, und seine akademische Karriere fing 1929 in Marburg mit einem Lehrauftrag rur Ethik und Ästhetik an. Es läßt sich sagen, daß er mit der in Wahrheit und Methode betont ethischen »Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems« zu seinen ethischen Wurzeln zurückkehrt. Gadamer kehrt damit im gewissen Sinne auch zu seinen hermeneutischen Wurzeln zurück. In der profilierenden Hermeneutikgeschichte, die er beschrieben hatte, um seinen eigenen Beitrag besser exponieren zu können, ließ er die moderne Hermeneutik mit Schleiermacher anheben. Aber er tat es offenbar, um einen Substanz- und Wahrheitsverlust namhaft zu machen, mit dem die Hermeneutik eine verhängnisvolle rekonstruktive, psychologistische und schließlich historistische Wende genommen habe. Nach der Herausstellung des »Prinzips« der Wirkungsgeschichte kann er endlich zum hermeneutischen Grundproblem zurückgehen, das dabei »verloren« ging: dem Problem der Anwendung. Die Anwendung war vor Schleiermacher noch ein Bestandteil der Hermeneutik, insofern der Interpret auch die Aufgabe hatte, das Verstandene auf einen bestimmten Kontext anzuwenden. Gadamers Argumentation ist insofern etwas forciert, als die applicatio eine relativ sekundäre Rolle in der Hermeneutik des 18.Jahrhunderts spielte, die sich nicht mit der weitergehenden Bedeutung vergleichen läßt, die Gadamer ihr zusprechen wird. Triftig ist jedoch Gadamers Feststellung, daß die pietistische Hermeneutik der applicatio noch eine bedeutende Funktion zumaß, die in den späteren, epistemologischeren Hermeneutiken weggeräumt wurde. Wenn die applicatio in »dem geschichtlichen Selbstbewußtsein der nachromantischen Wissenschaftslehre ganz entschwunden war« (WM, 312), lag es natürlich daran, daß der anwendende Bezug auf die Gegenwart dem Objektivitätsideal der Auslegung Abbruch zu tun
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schien. Gadamer sieht indes in diesem Objektivitätsideal eine noch verhängnisvollere Verkennung des Wesens einer jeden Interpretation. In diesem Geiste schließt er sich an das Modell der pietistischen Hermeneutik an, die der Kunst des Verstehens (subtilitas intelligendz) und der Auslegung (subtilitas explicandl) eine dritte Kompetenz hinzufügte: die applicatio. Gadamer spricht hier von einer subtilitas applicandi, obwohl der Ausdruck in der pietistischen Hermeneutik von J. J. Rambach, auf die er sich beruft, nicht direkt überliefert ist. Sachlich ist das aber von sekundärem Belang, da Rambach am Anfang seiner Institutiones hermeneuticae sacrae (1723) die praktische Aufgabe der sakralen Hermeneutik ebenfalls dreifach gabelt: ihr obliegt es, erstens den Sinn der Schrift zu erforschen (investigandum), zweitens ihn anderen zu erklären (aliis exponendum) und drittens ihn weislich anzuwenden (sapienter adplicandum).86 Diese Hervorhebung der applicatio zeichnet in der Tat die pietistische Hermeneutik aus. 87 Gemeint ist hier 86 J. J. Rambach, Institutiones hermeneuticae sacrae (1723), Iena, 1752, 2: »Posteriore modo accepta hermeneutica sacra, est habitus practicus, quo doctor theologus, necessariis adminiculis sufficienter instructus, praelucente spiritus sancti lumine, idoneus redditur, ad sensum scripturae legitime investigandum, investigatumque aliis exponendum, & sapienter adplicandum, ut hoc modo Dei gloria, & hominum salus promoveatur.« 87 Die Idee, der zufolge der Pietismus den subtilitates intelligendi und explicandi das »sapienter adplicare« hinzugfjügt hatte, wurde 1838 von dem ersten Herausgeber der Hermeneutik Schleiermachers, Friedrich Lücke, ausgesprochen. Lücke hob es hervor, um das Wiederauftauchen dieser Idee bei neueren Interpreten zu bedauern - ein Werturteil, hinter dem man Schleiermacher selbst vermuten darf. In einer Anmerkung zu E Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1977,99) schreibt Lücke, nachdem er eine »herrschende Definition« von Ernesti auf Latein anfuhrt:» Unde in bono interprete esse debet, subtilitas intelligendi et subtilitas explicandi. Früher fugte J. Jac. Rambach Institutiones hermen. sacrae. p. 2. noch ein drittes hinzu, das sapienter applicare [sie], was die Neuern leider wieder hervorheben«. Es ist höchst wahrscheinlich, daß es dieser Text von Lücke war, der Gadamer dazu fuhrte, den Ausdruck subtilitas applicandi zu bilden und ihn retrospektiv auf Rambach anzuwenden. Vgl. dazu 1. M. Feher, »Hermeneutik und Philologie: Verständnis der Sachen, Verständnis des Textes«, in Berliner Beiträge zur Hungarologie, Berlin/Budapest, 1999, 11-25. Ich bin ferner
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vor allem die »Anwendung« des Textes der Heiligen Schrift, den der Prediger auf die gegenwärtige Situation seiner Gemeinde zu leisten hat. Man könnte denken, daß es sich hier um einen sehr entlegenen Fall handelt. Gadamer wird ihn. aber auch in der Situation des Richters wiederentdecken, der einen juristischen Text oder ein allgemeines Gesetz auf einen besonderen Fall anzuwenden hat. Er wird ihn darüber hinaus in jeder Form von Verstehen auffinden, nicht zuletzt in der historisch-philologischen Interpretation selbst, sofern der Interpret zu den Texten und Ereignissen gehört, die er in der Gegenwart sprechen läßt. Gadamer leitet hier eine unerhörte Revolution der Denkungsart in die Wege, die jenen Paradigmenwechseln nicht unähnlich ist, die uns die Grundlagen der Wissenschaft (hier die der Hermeneutik) neu sehen lassen: Anstatt vom kognitiven Modell der historisch-philologischen Interpretation auszugehen, die einen objektivierten Sinn zu verstehen sucht, wird sich Gadamer auf das praktische Modell der juristischen und der theologischen Hermeneutik berufen, um von ihm aus selbst das Wesen der historisch-philologischen Interpretation neu zu fassen. Aber Gadamer spricht ungern von Revolution. Sein Anspruch ist bescheidener, er will eine verlorene Evidenz wiederentdecken, nämlich die, daß Verstehen immer ein Anwendungsmoment enthält: »Ehedem galt es als ganz selbstverständlich, daß die Hermeneutik die Aufgabe hat, den Sinn eines Textes der konkreten Situation anzupassen, in die hinein er spricht.« (WM,313) Diese Wahrheit, von der der Dritte Teil des Werkes zeigen wird, daß sie in unserer sprachlichen Verfassung gründet, wurde von den späteren Hermeneutiken des 19.Jahrhunderts wider~ufen, als sie es vorzogen, dem sicherheitversprechenden Modell der objektiven Wissenschaften zu folgen, wo die Implikation des Interpreten verteufelt ist. Verkannt wurde aber hier, daß man einen vergangenen Sinn immer nur in der Gegenwart und ihrer Sprache verstehen kann. Das Verstehen vollzieht damit eine ÜbersetzungsHerrn Feher rur viele weitere Auskünfte in dieser Debatte dankbar verpflichtet.
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leistung, die um so mehr gelingt, als sie als solche nicht auffallt. Die erste Lehre, die Gadamer aus der pietistischen applicatioLehre ziehen möchte, ist also, daß ein Verstehen ohne Anwendung oder Übersetzung noch kein Verstehen ist. Indem er dabei Anschluß an die ältere Hermeneutik sucht, »marginalisiert« Gadamer sozusagen den Epistemologismus des 19.Jahrhunderts im Namen einer Auffassung, besser: einer Praxis der Auslegung, die sich nicht anzuerkennen scheut, daß ihr die zu interpretierenden Texte etwas zu sagen haben. Die zweite aus der älteren Hermeneutik zu ziehende Lehre liegt an dem Begriff der subtilitas, der zumindest für die sub tilitas intelligendi und die subtilitas explicandi gut überliefert ist. Er signalisiert nämlich, daß selbst die Erkenntnis kein bloß mechanischer, regelgeleiteter Prozeß, sondern eine Sache von subtilitas, d. h. von Können und Takt bleibt. Dies marginalisiert wiederum den Intellektualismus der methodologischen Hermeneutiken, die das Verstehen unter Regeln domestizieren wollten, um es zur Wissenschaft zu erheben. Wie es der Naturwissenschaftler Helmholtz suggeriert hatte, könnte es aber sehr wohl sein, daß hier außerwissenschaftliche Faktoren wie die Tradition, der Spürsinn und die Einftihlungskapazität eine wichtigere. Rolle als die (in ihren Domänen natürlich unentbehrliche) Methode spielen. Die epistemologische Denkweise ist aber zäh. Man könnte nämlich glauben, daß ein Text zuerst auf kognitive und objektive Weise verstanden werden muß, bevor er in einem zweiten, praktischen Schritt auf unsere Situation angewendet wird. So unterschied Emilio Betti die zu erkennende Bedeutung von ihrer heutigen Bedeutsamkeit. Gadamer setzt die Anwendung viel radikaler an: Die Anwendung kommt nicht zum (kognitiven oder historischen) Verstehen hinzu, sie bildet ihren Kern. Hier muß man von einer Radikalisierung der pietistischen applicatio sprechen. 88 Gadamer möchte also 88 Von der applicatio handelte Rambach nämlich im letzten Teil seiner Institutiones hermeneuticae sacrae, 804-822. Vgl. auch den Auszug aus Rambachs »Erläuterung über seine eigenen Institutiones hermeneuticae sacrae«,
den HGG und G. Boehm im von ihnen herausgegebenen Sammelband
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nicht die Trias von intellectio, explicatio und applicatio als solche erneuern, sondern die Anwendungsleistung mit dem Verstehen schlichtweg gleichsetzen. Gadamer denkt hier nicht an eine bewußte Anwendung, etwa an eine modernisierende Adaptation, weil sich diese immer als solche entdecken läßt, sondern an das Geschehen des Verstehens selbst. Die Übersetzung liefert hier erneut die beste Konkretisierung für das Gemeinte. Es ist immer derfremde Sinn, der für den Interpreten verbindlich ist und der in eine fremde Sprache übersetzt werden will. Dennoch spricht man von einer gelungenen Übersetzung dann, wenn sie es fertigbringt, diesen Sinn in einer anderen Sprache oder Epoche sprechen zu lassen. Je weniger die Übersetzungsleistung als solche auffällt, desto besser ist sie gelungen. Die Übersetzung ist in diesem Fall adäquat, aber diese Adäquation erfordert immer die Leistung einer Vermittlung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Ebenso verhält es sich mit dem Verstehen: Es gelingt, wenn es einen Text zum Sprechen kommen läßt, aber sprechen kann es nur in einer Sprache, die uns anspricht. Dieses Verstehen läßt sich ohne Applikation nicht nachvollziehen. Der Begriff der Applikation hat übrigens einen kleinen Nebensinn, auf den Gadamer in diesem Zusammenhang nicht direkt abhebt, der aber hier sehr wohl eine gewisse Rolle spielt. In den romanischen Sprachen sagt man von einer Arbeit, daß sie mit »Applikation« gemacht wurde, um zu unterstreichen, daß sie mit Beflissenheit, Anspannung und fleiß geschrieben wurde. 89 Die Applikation steht hier im Dienste der Sache, im Falle der Übersetzung im Dienste des zu übersetzenden Sinnes. Er ist es, der übersetzt werden soll, aber das Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1976, 62-68 publiziert haben. 89 Im Französischen wird dazu das schöne und sehr gebräuchliche Reflexivverb »s' appliquer« gebildet, das so viel heißt wie: sich eifern, sich konzentrieren, sich zusammennehmen usw. Dieser Vorgang ist ohne Selbstanwendung unmöglich. Sie ist aber wohlgemerkt weniger ein Achtgeben auf sich selbst als auf die Sache. Wer sich an etwas daran macht (»s'applique a quelque chose«), geht ganz in der Sache auf.
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geht nie ohne eine der Sache gehorchende Anspannung. Diese Implikation des Verstehenden in dem, was er versteht, gehört sehr wohl zu Gadamers Konzeption der Anwendung. Diese doch revolutionäre Auffassung der Anwendung bedeutet natürlich eine wahre Provokation fUr das methodologische Bewußtsein, das jedes Anwendungsmoment auszuschalten bestrebt ist. Um seinem Verstehenskonzept eine breitere Basis zu geben, wird sich Gadamer also auf weitere Modelle als die der theologischen und juristischen Hermeneutik berufen müssen. Man könnte ja gegen sie ins Feld fUhren, daß die Anwendung hier einen zwar wichtigen, aber doch sekundären Faktor gegenüber der primären Aufgabe des kognitiven Verstehens darstelle. Gadamers Analyse erhebt einen grundsätzlicheren Anspruch. Sie möchte nämlich ein Wissensmodell zur Geltung bringen, in dem die Anwendung, und damit auch die Selbstanwendung, fUr das Verstehen und seinen Wahrheitsanspruch konstitutiv sind. Bevor Gadamer die Muster der juristischen und der theologischen Hermeneutik neu zu Ehren bringt, will er dem Applikationswissen, das er im Auge hat, eine philosophische Grundlage verschaffen. DafUr beruft er sich auf die aristotelische Ethik.
Die ethische Wachsamkeit von Aristoteles Gadamer hat sich öfter und gern an das ethische Modell des Aristoteles angeschlossen, und zwar an strategisch wichtigen Stellen seines Werkes. In seinen Vorträgen von 1957 über »Das Problem des geschichtlichen Bewußtseins« hatte ein, in Wahrheit und Methode weitgehend eingegangenes,AristotelesKapitel die Brücke zwischen einem Vortrag zur Hermeneutik der Faktizität von Heidegger und dem letzten Vortrag über die Grundzüge der Hermeneutik geschlagen. In Wahrheit und Methode liefert Aristoteles nicht nur die erste Manifestation, sondern auch die philosophische Basis rtir das wiedergewonnene Anwendungswissen, das uns dazu verhelfen soll, die Einheit der hermeneutischen Disziplinen zu fassen. Hier kehrt Gadamer wahrlich zu den ethischen Wurzeln seines
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Denkansatzes zurück. Seine ersten Studentenarbeiten galten ja der aristotelischen Ethik (vgl. GW 2, 485, 488), insbesondere die Studien von 1927 über den Protreptikos (GW 5,164186) un~ die von 1930 über das »praktische Wissen« (GW 5, 230-.,.248). Die Thematik hat ihn aber weit über Wahrheit und Methode hinaus beschäftigt: Eine seiner letzten Veröffentlichungen ist eine Edition des 6. Buches der Nikomachischen Ethik im Jahre 1998 gewesen. Selbst in seiner doch auto bio- . graphischen »Selbstdarstellung« von 1975 hat er sich ausfUhrlich über das aristotelische Programm einer praktischen Wissenschaft geäußert (GW 2, 499-508), obwohl man das hier nicht unbedingt erwartet hätte. Was kann die Hermeneutik von Aristoteles (aber auch von Platon, wie Gadamer später häufig einschärfen wird 90) lernen? In der Literatur gibt es eine verbreitete Art und Weise, das Verhältnis der Hermeneutik zur aristotelischen Ethik zu erklären, die aber in Wahrheit lediglich einen untergeordneten Aspekt berührt. Er hängt, mit einem Wort, an dem »Relativismus«, den man gern dem »Situationswissen« anhaftet, das der aristotelischen Ethik und der Hermeneutik gemeinsam sei. Diese Lesart setzt aber die Problemstellung des Relativismus und seines notwendigen Korrelats, das Monopol des kartesianischen, auf einem unerschütterlichen und sicheren Fundament ruhenden Wissens, als verbindlich voraus. In dieser Konstellation gibt es offenbar keine absoluten Normen oder standfesten Erkenntnisse, so daß alles eine bloße Frage von 90 Die Frage, ob Gadamer letztlich Aristoteles oder Platon näher ist, ist zu spannend, um in den Grenzen der vorliegenden Einfuhrung abgehandelt werden zu können. Mir will scheinen, daß er auf's Ganze gesehen Platon insofern näher ist, weil ihm das dialogisch-sokratische Element Platons ,.viel näher liegt als die akribische Begriffsanalyse des Aristoteles. Das große Spätwerk »Plato im Dialog« (GW 7) dokumentiert auch diese Solidarität. Aber in Wahrheit und Methode zeigt er sich Platon gegenüber viel kritischer (im Dritten Teil wird er, wie wir sehen werden, seine Sprachauffassung einer grundlegenden Kritik unterziehen) als sonst in seinem Werk und ordnet sich viellieber dem aristotelischen Muster unter. Möglich, daß er dabei das Gefuhl hatte, im großen Schatten von Heidegger zu schreiben, wie er es später so offenherzig zugab (GW 2,491).
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Ethos und Situation wird - im relativististischen und gefahrlichen Sinne des Wortes. Das »Situationswissen« ähnelt dabei dem utilitaristischen Wissen desjenigen, der nach seinen Interessen oder, schlimmer noch, denen seines Stammes handelt, weil sie nun einmal die seinigen sind und er in diesem Ethos erzogen wurde, dem er sich nicht entwinden kann. Ein solches Situationswissen gemahnt auf bedenkliche Weise an das kalte Kalkül desjenigen, der aus der Situation profitieren möchte. Es ist nicht in Abrede zu stellen, daß dieser sogenannte »Neoaristotelismus« der Werte eine gewisse Rolle in den neueren Ethikdiskussionen spielte, wo er meist dem Kantianismus der universalen Normen entgegengesetzt wurde. Es geht aber überhaupt nicht darum in Gadamers Anlehnung an die aristotelische Ethik, auch wenn die Opposition zu Kant eine beträchtliche, aber oft mißverstandene Rolle bei Gadamer spielen wird. 91 Die entscheidende Frage betrifft vielmehr den Intellektualismus des praktischen Wissens. Die aristotelische Ethik fungiert nicht als hermeneutisches Modell, weil sie einen »Werte relativismus« behaupten würde (und wo hätte ihn Aristoteles behauptet?), sondern weil sie sehr gut erkannt hat, daß das moralische Wissen nicht eine Frage von bloßem Intellekt ist: Die ethische Weisheit geht nicht in der Anschauung einer idealen Norm auf (sei es eine Idee, ein abstraktes Gutes oder eine mathematische Allgemeingültigkeit) , sie erweist sich in der Anwendung des Guten im konkreten Lebensvollzug. Die Pointe ist die, daß es hier
91 Die Gegenüberstellung von Aristoteles und Kant trat vor allem in dem wichtigen Essay von 1963 »Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik« (GW 4, 175-188) hervor, der nicht wenig zur Wiederentdeckung der aristotelischen Ethik und zur Rehabilitierung der praktischen Philosophie in Deutschland beitrug. Da die von Gadamer mit ausgelösten Debatten bald dazu tendierten, den Kantischen Universalismus gegen einen aristotelischen »Relativismus« aufZurichten, hat Gadamer in neueren Arbeiten eher auf der Solidarität zwischen Kant und Aristoteles insistiert, die er im Auge hat. Vgl. insb. seine Studie »Aristoteles und die imperativistische Ethik« (1989), wo ein durch Gerhard Krüger gelesener Kant als ein Kritiker der moralischen Aufklärung und ein Erbe von Aristoteles in der Tradition der praktischen Philosophie erscheint.
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nicht auf die Objektivation, sondern, im Gegenteil, auf die Anwendung ankommt. Wenn man diese Einsicht gegen Kant geltend machen will, dann nicht deshalb, weil Kant etwa auf irrealistische Weise behauptet hätte, es gäbe universale Handlungsnormen. Gadamer erhebt sich keineswegs gegen den kategorischen Imperativ, im Namen etwa eines nietzscheanischen Werterelativismus. In dieser Debatte ist Gadamer dem Kantischen Universalismus viel näher. 92 Wir haben ja oben gesehen, daß seine Bildungskonzeption eine Erhebung zur Universalität und damit ein Überschreiten der einfachen Partikularität mit einschließt. Das ist nicht wenig kantianisch. Problematisch ist also ftir Gadamer mitnichten der Universalismus, sondern der Intellektualismus - und folglich der hintergründige Instrumentalismus -, der die Richtigkeit des moralischen Handelns von der Erkenntnis einer abstrakten Norm abhängen läßt, so als ob das menschliche Handeln immer imstande wäre, die es bestimmenden Normen zu objektivieren. Diese Handlungskonzeption rührt von einer objektivistischen, der modernen Methodenwissenschaftlichkeit verpflichteten Auffassung her, die die Spezifizität des moralischen Verstehens aus der Hand gibt. Das moralische Verstehen ist nicht ein Objektivations-, sondern ein praktisches Anwendungswissen. Es ist Aristoteles, der nach Gadamer das befriedigendste Modell dafür geboten hat, weil es gerade seine Absicht war, die Grenzen einer intellektualistischen Auffassung der Handlungsnormen aufzuweisen: Ebensowenig wie Geschichtlichsein im Sichwissen aufgeht, ebensowenig geht das Sittlichsein in einem objektivierenden Wissen auf. Damit wird nicht geleugnet, daß da:; moralische Handeln von einem normativen Fundus aus erfolgt. In unseren praktischen Handlungen und Urteilen bleiben wir vielfach von einem ethischen Erbe geprägt, beispiels92 Über diese oft bekundete Gemeinsamkeit mit Kant, vgl. GW 3, 336. Siehe auch Gadamers Antwort aufK.-O.Apel in TPHGG, 97: »The doctrine of the inseparability of ethos and phronesis remains fundamental. This holds for Plato's ideal republic as weil as for the ethics and politics of Aristotle, and even for a Kant who has been correctly understood.« Vgl. zuletzt »Aristoteles und die imperativistische Ethik«, GW 7, 387ff.
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weise dem des kategorischen Imperativs, der zehn Gebote, der goldenen Regel und der griechischen Tapferkeitsethik. In diesem Sinne bleibt in der Tat jedes praktische Handeln einem normativen Hintergrund verpflichtet. Aber wer ist wirklich dazu fähig, all die Fäden, die seine moralische Konstitution weben, auseinanderzuhalten? Die einschlägige Frage ist hier allerdings: Hängt die Richtigkeit des moralischen Handelns von. einer solchen Erkenntnis ab? Natürlich nicht. Es ist die Herrschaft der methodischen Wissenschaft, die auf allgemeine und mathematische Gesetze aus ist, die uns dazu . verfuhren, auch die praktische Einsicht als ein Wissen zu konstruieren, das sich nach ihrer Entsprechung zu universalen und objektivierbaren »Gesetzen« au~gestalten läßt. Die selbstverständlich gewordene Herrschaft des N ormenbegriffs in den neueren Ethikdiskussionen belegt es auf deutliche Weise. Sie leitet sich aus dem szientistischen Erkenntnisideal her, das nach Gesetzen der Natur strebt, die deren Regelhaftigkeit erklären hilft. Angesichts des unleugbaren Erklärungspotentials dieser Konzeption legte sich die Vermutung nahe, daß es ebenso solche »Gesetze« im moralischen Bereich gebe. 93 Kant gab vermutlich den Anstoß dazu, als er den kategorischen Imperativ, den er ursprünglich aus dem Begriff des guten Willens herausentwickeln wollte, nach dem Muster eines allgemeinen »Naturgesetzes« formulierte. Damit verpflichtete er die Ethik einem Erkenntnisideal, das auf Naturgesetze zugeschnitten ist. Ist das aber so evident? Verfällt man nicht hier einer Objektivation zum Opfer, die das moralische Handeln eher verfremdet als erhellt? Wäre es nicht angebrachter, den hier einschlägigen Gesetzesbegriff an ältere Modelle wie die der mosaischen Thora oder der griechischen Nomoi anzulehnen, die mit der Gesetzesmäßigkeit der modernen Wissenschaft nichts gemein haben? Die wohl verstandene Kritik des Kantischen Modells ist also keinesfalls ein Plädoyer fiir einen Werterelativismus (nur von absolutistischen Voraussetzungen aus läßt sich so etwas 93 Vgl. dazu meine Studie »Zur Phänomenologie des moralischen >Gesetzes«<, in Kant-Studien, im Erscheinen.
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konstruieren), sondern eine Kritik des dabei vorausgesetzten Objektivationsmodells, weil es dem moralischen Handeln nicht ganz angemessen ist. Handelt derjenige richtig, der universale Normen in ihrer Reinheit erkannt hat? Geht man nicht arp Guten und am praktischen Handeln vorbei, wenn· man absolute Normen oder Gesetze dafUr sucht? Das war der Sinn der aristotelischen Kritik an Platons Idee des Guten. 94 Gadamer wird aus ihr Lehren fur seine Hermeneutik ziehen. Der Hinweis auf das konkrete Ethos ist nicht im relativistischen Sinne gemeint. Das würde zu einem heillosen Perspektivismus im Bereich der Hermeneutik fUhren. Er will nur in Erinnerung rufen, daß die' Richtigkeit hier nicht von der Objektivierung und dem Abstand der Handlungssituation gegenüber abhängt, wie das im Bereich der Wissenschaft und der Technik der Fall sein mag. Es ist sogar die aristotelische Abgrenzung des ethischen Wissens gegen die episteme und die techne, auf die es Gadamer am meisten .ankomrnqVom Hintergrund der Intellektualismuskritik aus betracluef, leuchtet sie auch ein. Es springt ja in die Augen, daß die praktische Weisheit nicht zur episteme gerechnet werden darf, deren Modell fUr die Griechen die Mathematik bildete: Es geht hier nicht um ein mathematisches Gutes, sondern um das menschliche Gute. Etwas schwieriger, aber um so ausschlaggebender ist die Abgrenzung gegenüber der techne. Denn die techne ist wie die praktische Tugend primär auf ein Tun ~nd nicht auf ein Erkennen gerichtet. Aber in der techne geht es um die Herstellung eines von mir unterschiedenen Objektes. Bei dem praktischen Wissen hingegen ist diese Unterscheidung zwischen dem Tun und dem Gegenstand unzulässig, da es hier immer auch um mich selbst geht. Man hat es also nicht mit einem Objektwissen zu tun: »Die Überfremdung mit den objektivierenden Methoden der modernen Wissenschaft, die die Hermeneutik und Historik des 19.Jahrhunderts charakterisiert, erschien uns als die Folge einer falschen Vergegenständ94 In seiner Abhandlung über »Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles« (1978; GW 7,128-227) wird Gadamer an der Richtigkeit dieser Kritik festhalten,jedoch entschiedener hervorheben, daß sie in Platon keinen wirklichen Gegner hat.
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lichung. Diese zu durchschauen und zu vermeiden, ist das Beispiel der aristotelischen Ethik berufen. Das sittliche Wissen, wie es Aristoteles beschreibt, ist offenkundig kein gegenständliches Wissen. Der Wissende steht nicht einem Sachverhalt gegenüber, den er nur feststellt, sondern er ist von dem, was er erkennt, unmittelbar betroffen.« (WM,319) Der Handelnde verfugt nicht über die Distanz zu sich selbst, die der technisch Herstellende seinem Gegenstand gegenüber einnimmt. Ich bin selbst von meinem Handeln betroffen, aber ich bin auch immer in der Situation desjenigen, der handeln soll (WM, 322). Man darf freilich diesen Situationsbegriff nicht vorschnell im Sinne einer »Situationsethik« vereinnahmen. Denn diese bleibt oft utilitaristisch gedacht und verbirgt im Grunde ein immer noch technisches Wissen (wie kann ich »aus der Situation Nutzen ziehen«?). Gadamers Situationsbegriff kommt nicht von diesen Ethiken, sondern von Jaspers her. Die Situation kennzeichnet sich dadurch, »daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann.« (WM,307) Die Situation hat insofern etwas Unsichtbares, weil wir in sie versetzt sind, aber das Wichtige ist hier zu sehen, daß diese Unsichtbarkeit die Einsicht und den Sinn für das Richtige nicht ausschließt, sondern zu Tage fordert: »Wenn man auch einer Situation ansehen muß, was sie von einem verlangt, so bedeutet dieses Sehen doch nicht, daß man das in dieser Situation Sichtbare als solches wahrnimmt, sondern daß man sie als die Situation des Handelns sehen lernt und damit im Lichte dessen, was recht ist.« (WM, 327) Die Urteilskraft, die hier gefordert wird, hängt viel weniger an der Objektivierung oder der Selbstdistanzierung als an der Wachsamkeit, die der Situation gewachsen ist. So sprach Gadamer in einem wichtigen Aufsatz von 1963 über die ethischen Grundlagen seiner Hermeneutik von einer »Wachsamkeit des Gewissens« (GW 4, 180).Jede solche Wachsamkeit läßt sich von einem normativen Fundus, von einem Sinn fur das Gute tragen, aber sie
verwirklicht sich nur, indem sie der Herausforderung der jeweiligen Situationen gerecht wird, die ihr einziger Betätigungsplatz sind.
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Die ethische Weisheit des Aristoteles zeichnet sich also dadurch aus, daß sie sich der Objektivierung versagt. Das kann man nur als einen Mangel empfinden, wenn man dieses Wissen an dem Maßstab der Erkenntnis des Unveränderlichen oder des technisch Machbaren mißt; aber damit ..!ritt man aus der Sphäre der praktischen Philosophie heraus. Da es sich der Objektivation entzieht, läßt sich das praktische Wissen weder lernen (wie das mathematische) noch lehren (wie eine technische Fertigkeit). Dennoch ist es hier legitim, von einem »Wissen« - oder von einer Weisheit - und seiner Richtigkeit zu sprechen. Aber diese Richtigkeit bewährt sich nur in der Wachsamkeit und der Anwendung. Es ist ein Wissen, wo es weder möglich, noch wünschenswert ist, daß man sich selbst ausschaltet, um das Rechte und das Richtige zu verstehen, und wo die Ausrichtung nach abstrakten, vom Wissenschaftsideal hergeleiteten Normen die sichjedem stellende Aufgabe zu verdunkeln droht. Es handelt sich somit um ein praktisches Wissen, das vom Sein und der jeweiligen Anwendung nicht abgekoppelt ist. Es ist dieses Modell, das Gadamer auf die Hermeneutik anwenden möchte. Es soll das Paradigma der Selbstauslöschung ersetzen.
Die Weisheit der juristischen Hermeneutik Von dieser errungenen philosophischen Grundlage aus kann Gadamer zum Anwendungsproblem zurückkehren, wie es sich den »praktischen« Hermeneutiken des Rechts und der Theologie stellt. Sie werden uns ihrerseits helfen, den praktischen Skopus jedes Verstehens besser zu verstehen. Die juristische Hermeneutik wird sich hier in mehr als einer Hinsicht als exemplarisch erweisen. Wie es bei dem Muster der Predigt der Fall war, könnte das Beispiel des ein Gesetz auf einen konkreten Fall anwendenden Richters etwas begrenzt erscheinen. Aber in Kontinuität mit der praktischen Weisheit wird uns hier der begrenzte Fall erlauben, ein Allgemeines zu ge~ahren. Der italienische Hermeneutiker Emilio Betti, der von Hause aus auch Jurist war, hatte bereits von der normati-
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ven Anwendungsfunktion gesprochen, die sich im Urteil des Richters manifestiert, aber er sah in ihr eine zusätzliche Bemühung, die zur grundlegenden hermeneutischen Aufgabe des Verstehens hinzukomme: Der Richter, der ein Gesetz richtig anwenden will, muß es bzw. seine ursprüngliche Intention zunächst verstehen. 95 Das philologische Muster des noetischen Sinnerkennens blieb also bei Betti maßgebend. Hier wird Gadamer die Perspektive umkehren und in der Anwendung das erste und wirkliche Verstehen erblicken. Gadamer wird dafür das Beispiel des Rechtshistorikers (nicht des Richters) anführen, der ein altes Gesetz zu verstehen sucht. Auf dieses Beispiel hatte sich bereits Betti berufen, um von ihm die zusätzliche Anwendungsleistung des Richters zu unterscheiden, dessen Urteil das Recht schafft. Aber nach Gadamer tut der Rechtshistoriker »genau dasselbe«, »was der Richter tut, nämlich den ursprünglichen Sinngehalt des Gesetzestextes von demjenigen Rechtsgehalt unterscheiden, in dessen Vorverständnis er als Gegenwärtiger lebt« (WM, 332). Auch der Rechtshistoriker muß eine Anwendungsleistung vollziehen. Sie erfolgt auf zwei Ebenen: 1. Wenn er den Sinn des Gesetzes verstehen will, muß er ineins damit dessen mög"liehe Anwendung verstehen, denn das Gesetz hat nur eine Funktion in einem solchen Anwendungszusammenhang: Indem er diesen Kontext berücksichtigt, »versteht« der Rechtshistoriker nur, insofern er das Gesetz auf ihn applizieren kann. 2. Grundsätzlicher noch kann der Historiker diesen »ursprünglichen« Kontext nicht »verstehen«, wenn. er von seinen eigenen Rechtserwartungen und seinem eigenen Sinn für das Recht absieht. Das bedeutet beileibe nicht, daß der Rechtshistoriker das von ihm untersuchte Gesetz unter seine eigenen Rechtskriterien stellen soll, sondern nur, daß sein Rechtsverständnis von solchen Erwartungen geleitet bleibt, erst recht, wenn es darum geht, uns völlig fremde Rechtsverhältnisse zu verstehen. Wenn er z. B. die uns völlig 95 Über Betti, vgl. meine Arbeit »L'hermeneutique comme science rigoureuse selon Emilio Betti (1890-1968)«, in Archives de philosophie 53, 1990,177-198; wieder aufgenommen in meinem Band L'horizon hermeneutique de la pensee contemporaine, Paris, Vrin, 1993, 155-177.
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fremde Norm verstehen will, die es früheren Zeitaltern gestattete, behinderte Neugeborene sterben zu lassen, wird er zwar als Historiker diese Norm von heute aus nicht zu beurteilen haben. Er wird sich vielmehr bemühen zu zeigen, inwiefern sie in einem gewissen Kontext als Recht gelten konnte. DafUr muß er aber seinen eigenen Rechtssinn ins Spiel bringen. In der Distinktion des vergangenen Rechtshorizontes ist es also immer noch die Norm des heutigen, die das Verstehen 'stillschweigend leitet. Daraus schließt Gadamer: »Darin scheint mir die hermeneutische Situation fUr den Historiker wie fUr den Juristen die gleiche, daß wir jedem Text gegenüber in einer unmittelbaren Sinnerwartung leben. Ein unmittelbares Zugehen auf den historischen Gegenstand, das seinen Stellenwert objektiv ermittelte, kann es nicht geben. Der Historiker muß die gleiche Reflexion leisten~ die auch den Juristen leitet.« (WM,333f.) Gadamer ist sich freilich der Unterschiede zwischen beiden Anwendungsleistungen bewußt: Die eine statuiert unmittelbare Rechtsfolgen, während die andere kontemplativer· Natur bleibt. Aber ihm erscheint die Gemeinsamkeit bedeutsamer. Sie betrifft schließlich weniger die Rechtsanwendung durch den Richter als das Rechtsverstehen, wie es fUr den Historiker und den Richter gleichermaßen gilt. Hier darf man von einer einheitlichen Verstehensbemühung sprechen, sofern sie immer die Richtigkeit der Anwendung auf den konkreten Fall im Auge hat. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik liegt also nicht nur in der tatsächlichen Anwendung durch den Richter. Die juristische Hermeneutik (aber auch die theologische, da Gadamer von beiden im selben Atemzug spricht) ist noch in einem weiteren Sinne exemplarisch: Sie konkretisiert die fur jedes Verstehen konstitutive Spannung zwischen der Gesetzes- oder Texttreue einerseits und der Notwendigkeit ihrer Anwendung auf den gegenwärtigen Kontext andererseits. Es wäre nämlich ein gravierender Irrtum, in der konkreten, rechtsergänzenden Gesetzesanwendung eine Freiheit oder Willkür dem ursprünglichen Gesetze gegenüber zu sehen. Man wird dem Gesetz und seinem Geist nur gerecht, wenn man es, den
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jeweiligen Umständen entsprechend, in schöpferischer Weise auf den jeweiligen Fall neu anzuwenden weiß.96 Wer das nicht versteht, hat das Gesetz selbst nicht verstanden, d. h. seinen Geist, in dem es ja liegt, daß es immer wieder anders angewendet werden muß, um den jeweiligen Situationen und ihren unabdingbaren Partikularitäten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ihnen nicht Rechnung zu tragen, hieße den Sinn des Gesetzes und des Rechts schlichtweg zu verfehlen. Die juristische und theologische Anwendung des vergangenen Sinnes auf die Gegenwart ist somit nicht gewaltsam, sondern liegt im Wesen des zu Verstehenden. Ihre Verstehensbemühung bleibt wesentlich zwischen zwei Polen eingespannt: dem Text der Vergangenheit und dem heutigen Fall, der immer ein besonderer ist und dessen Berücksichtigung Urteilskraft erfordert. Diese Bipolarität gilt nach Gadamer rur jedes Verstehen. Darin erweist sich vielleicht die vorzüglichste Exemplarität der Rechtshermeneutik: »Wir können somit als das wahrhaft Gemeinsame aller Formen der Hermeneutik herausheben, daß sich in der Auslegung der zu verstehende Sinn erst konkretisiert und vollendet, daß aber gleichwohl dieses auslegende Tun sich vollständig an den Sinn des Textes gebunden hält. Weder der Jurist noch der Theologe sieht in der Aufgabe der Applikation eine Freiheit gegenüber dem Text.« (WM,338)
Die wiedergefundene Einheit der hermeneutischen Disziplinen Die Anwendung kann nur solange als willkürlich erscheinen, als man von vornherein in dem Mitreden der heutigen Situation eine Gefährdung der Objektivität sieht. Die juristische 96
WM, 333: »Der Richter, welcher das überlieferte Gesetz den Be-
dürfnissen der Gegenwart anpaßt, will gewiß eine praktische Aufgabe
lösen. Aber seine Auslegung des Gesetzes ist deshalb noch lange nicht eine willkürliche Umdeutung. [ ... ] Er sucht dem >Rechtsgedanken< des Gesetzes zu entsprechen, indem er es mit der Gegenwart vermittelt.«
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Hermeneutik lehrt uns, daß es im Gegenteil das Verkennen der heutigen Situation ist, das einem Objektivitäts- und Gerechtigkeitsmangel gleichkommt. Die Zugehörigkeit zu einer Gegenwart wie beispielsweise zu einer Tradition ist hier nicht eine einschränkende, sondern eine ermöglichende Bedingung des rechten Verstehens (WM, 334). Im Lichte der juristischen Hermeneutik erscheint es also an der Zeit, die falschen Objektivitätsmodelle, die in der philologischen und historischen Hermeneutik nach wie vor herrschen, einer Revision zu unterziehen. Wir hatten oben gesehen, daß sich die historische Hermeneutik des 19. Jahrhunderts auf das Muster der Philologie berufen hatte, um die Objektivität des historischen Verstehens zu erklären: Verstehen heißt, einen Sinn von einem gegebenen Ganzen bzw. einem Kontext her zu deuten. Das Einzelne ist immer nur Ausdruck eines umfassenderen Ganzen, das in der Geschichte jedoch nie gegeben ist. War in diesem Zusammenhang von einer Philologisierung der Historie die Rede, so muß man auch sehen, daß sie mit einer Historisierung der Philologie einherging. Denn selbst die Texte, die der Philologe auszulegen suchte, wurden zunehmend als Ausdrücke verstanden, die aus ihrem jeweiligen Kontext zu interpretieren seien. Die Texte werden damit weniger nach ihrem eigenen und gegenwärtigen Aussagesinn, sondern als Zeugnisse und Überbleibsel einer großen Geschichte gelesen. Auf diese Weise wurde die Philologie selbst zu einem Zweig der Geschichte. Diese Wahlverwandtschaft zwischen der Philologie und der Geschichte findet ihre Bestätigung in dem Qualitativ »philologisch-historisch<{, das in Deutschland dazu dient, die gesamten Geisteswissenschaften zu umschreiben. So hat z. B. jede wissenschaftliche Akademie ihre »philologisch-historische Klasse«, um die geisteswissenschaftlichen Forschungen aufzunehmen. Gadamers Hervorhebung der applicatio anhand der praktischen Geisteswissenschaften des Rechts und der Theologie fUhrt dazu, die Vorzugsstellung dieser philologisierten Historie zu erschüttern. Sie stellt nämlich den Universalitätsanspruch einer Forschungskonzeption in Frage, die als wissenschaftliche allein das objektivierende Mo-
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delI gelten läßt. Es erscheint Gadamer nicht nur fiir die praktisch orientierten Geisteswissenschaften wie die Jurisprudenz oder die Theologie unzureichend, sondern selbst fiir die Geschichte und die Philologie, wie sie tatsächlich praktiziert werden. Selbst unter der Ägide des geschichtlichen Bewußtseins werden immer noch philologische oder philosophische Texte gedeutet und gelesen, weil sie uns ansprechen. Das gilt auch fiir geschichtliche Ereignisse, die man wegen ihrer geschichtlichen Bedeutung untersucht. Woher stammt diese Bedeutung wenn nicht aus der Wirkungsgeschichte, die sie gezeitigt haben und in der wir heute stehen? Droysen hatte ja sehr richtig erkannt, daß die vom Historiker untersuchten Fakten immer nur Zeugnisse und Reste der Vergangenheit sind. In dem Material, das der Historiker untersucht, steckt bereits Bedeutung, Anwendung und Wirkungsgeschichte. Natürlich muß der Historiker eine sorgfältige Quellenkritik betreiben, aber woher kommen ihm seine Fragen, Zweifel und Infragestellungen gegenüber der bisherigen Geschichtsschreibung (und darin besteht nicht zuletzt die historische Forschung), wenn nicht aus anderen Zeugnissen und aus seiner eigenen Zugehörigkeit zur Vergangenheit, die er heute zu verstehen, d. h. sprechen zu lassen sucht? Es könnte also sehr wohl sein, daß hier die entscheidenden Faktoren »der Anwendung historischer Methoden« vorausliegen (WM, 344). In dem Anwendungsgeschehen, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit beständig und produktiv vermitteln, wird Gadamer also den gemeinsamen Nenner aller hermeneutischer Disziplinen finden, nämlich der Historie, der Philologie, der Theologie und des Rechts. Die Einheit der Hermeneutik liegt also weder in der Allgemeinheit einer Verstehensmethode (Schleiermacher), noch in der des geschichtlichen Bewußtseins (Dilthey), noch in dem kontemplativen Ideal des Philologen, der seine Texte als historische Ausdrücke liest, sondern in der Anwendungsaufgabe, von der die juristische und theologische Hermeneutik nur die auffälligsten Beispiele sind. Gadamers Konsequenz ist so weittragend, daß sie in voller Länge angefiihrt werden muß:
Die wiedergefundene Einheit der hermeneutischen Disziplinen
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»So erkennen auch wir eine innere Einheit von Philologie und Historie an, aber wir sehen sie nicht in der Unive~salität der historischen Methode, nicht in der objektivierenden Ersetzung des Interpreten durch den ursprünglichen Leser, noch in der historischen Kritik der Überlieferung als solcher, son:... dern umgekehrt darin, daß beide eine Applikationsleistung vollbringen, die nur maßstabmäßig verschieden ist. Wenn der Philologe den gegebenen Text, und das heißt, sich in dem angegebenen Sinne in seinem Text versteht, so versteht der Historiker auch noch den großen, von ihm erratenen Text der Weltgeschichte selbst, in dem jeder überlieferte Text nur ein Sinnbruchstück, ein Buchstabe ist, und auch er versteht sich selbst in diesem großen Text. Beide, der Philologe wie der Historiker, kehren damit aus der Selbstvergessenheit heim, in die sie ein Denken verbannt hielt, für das das Methodenbewußtsein der modernen Wissenschaft der alleinige Maßstab war. Es ist das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, worin sich beide als ihrer wahren Grundlage zusammenfinden.« (WM, 346) Darin liegt der Schlußstein der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, die Gadamer im Zweiten Teil seines Werkes entfaltet. Nach seiner Befreiung aus dem ihm wesensfremden Modell der Selbstauslöschung und der Zurückftihrung aller Bedeutung auf den AusdruCk eines objektivierbaren Geschichtsprozesses wird das Verstehen in seiner wirkungsgeschichtlichen Zugehörigkeit die Bedingung seiner Möglichkeit und in der Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins seine dringendste Aufgabe erkennen. Aber Gadamers Hermeneutik beschränkt sich nicht oder wird sich nicht mehr darauf beschränken, ein angemesseneres Verständnis der Geisteswissenschaften zu liefern. Seine Untersuchung wird eine philosophische, d. h. hier: eine universale und ontologische Wende nehmen, die über den Rahmen einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik hinausweist. Das Prinzip der Wirkungsgeschichte, das es uns erlaubt, die Einheit der hermeneutischen Disziplinen zurückzuerobern, ist nämlich ein universales Merkmaljedes Verstehens und Weltbezugs. Es gründet schließlich in unserer sprachlichen Verfas-
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sung. Die noch bevorstehende Universalisierung der Hermeneutik wird sich an diesem Leitfaden der Sprache vollziehen. Ehe wir diese letzte Wendung nehmen, wird sich eine besondere »Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins« mit dem Erbe der Reflexionsphilosophie auseinandersetzen müssen.
Die Luftspiegelungen der Reflexion und das Gespenst des Relativismus ,>Der Delphische Orakel >Erkenne Dich selbst< erinnert uns daran, daß wir keine Götter, sondern Menschen sind. Sollte man ihn deswegen des historischen Relativismus bezichtigen?« 97 Hans-Georg Gadamer
In seinem ganzen Buch hat sich Gadamer wiederholt auf Hegel berufen, um aus den Engpässen des Historismus herauszukommen. Hegel habe viel besser als Schleiermacher erkannt, daß das Verstehen weniger eine Rekonstruktion des Vergangenen als eine Integration in eine gegenwärtige Konstellation -vollzieht, da sich der Sinnjeweils nur in der Anwendung verwirklicht. Er habe auch viel eindringlicher als der Historismus gesehen, daß die Geschichte weniger einen objektiven Forschungsgegenstand, sondern die intimste Verfassung des Historikers ausmache. Er habe schließlich wie kein anderer ausgeführt, wie sehr das Bewußtsein aus der Geschichte,ja aus der Wirkungs geschichte hervorgehe. Dieses sich aus der Geschichte heraus verstehende Bewußtsein sei damit ein Selbstbewußtsein. Gadamers Hermeneutik gipfelt ihrerseits in der Entfaltung eines reflektierten wirkungs geschichtlichen Bewußtseins. Ist es nicht insofern eine neue Spielart des Hegelianismus? 97
TPHGG,385.
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Um die wichtigen und dezidierten Differenzen gegenüber Hegel zu markieren, wird sich Gadamer also mit seinem idealistischen' Bewußtsein auseinandersetzen müssen, .ohne jedoch »aufHegel zu verzichten«, wie es Paul Ricoeur in seiner eigenen Hermeneutik des geschichtlichen Bewußtseins getan hat. 98 Es ist für Gadamer wichtiger, »die Wahrheit des Hegelschen Denkens« (WM, 348) gegenüber dem totalisierenden und reflektierenden Anspruch seines Systems festzuhalten. Gadamer ist vor allem bestrebt, dem Zauber der »Reflexionsphilosophie« zu entgehen. 1960 hatte er vielleicht noch nicht genügend verdeutlicht, was er darunter verstand, aber man erriet unschwer, daß er dabei Hegels Anspruch im Auge hatte, die Geschichte in der Dimension des Bewußtseins.aufzuheben. Der Ausdruck »Reflexionsphilosophie« war insofern mißverständlich, als Hegel ihn bereits kritisch verwendet hatte. Unter dem Titel der Reflexionsphilosophie kritisierte er seit seiner Differenzschrift (1801) die Denkart von Kant, Fichte und Jacobi, deren größter Fehler nach Hegel darin lag, daß sie nie wirklich aus dem Bannkreis der Subjektivität hinausgelangten und damit jeder Wirklichkeit entbehrten. Indem er den Ausdruck gegen Hegel kehrt, wirft Gadamer ihm vor, daß er schließlich selbst die volle Wirklichkeit der Geschichte verkenne. Mit seiner Auflösung der Geschichte in das Selbstbewußtsein des Geistes hätte sich Hegel dem Bann der Reflexionsphilosophie ebenfalls nicht entwunden. Gadamer versucht, dieser Versuchung zu widerstehen, indem er das Bewußtsein weniger an die Selbstdurchsichtigkeit des Geistes als an die geschichtliche Wachsamkeit des Bewußtseins bindet, die sich selbst nie völlig transparent werden kann. Das Medium dieser Wachsamkeit ist auch nicht das der 98 Vgl. P. Ricoeur, Temps et redt, Band 3, Paris, Seuil, 1985, 280ff. Nichtsdestoweniger erscheint mir Ricoeur in diesem Kapitel seines Werkes Gadamer am allernächsten, wie sich zeigen ließe. Über die Herkunfts- und Methodenunterschiede zwischen Gadamers und Ricoeurs Hermeneutik, vgl. vorläufig meine Skizze »Hans-Georg Gadamer und die französische Welt«, in G. Figal (Hrsg.), Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, S tu ttgart, Reclam, 2000, 147-159.
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Selbstrdlexion, sondern das offene Element der Sprache, kraft dessen wir alles sehen und denken können, das sich aber auf unvordenkliche Weise der thematischen Reflexion entzieht. Die Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins erinnert an die unvordenkliche Geschichtlichkeit, auf der das Bewußtsein immer schon aufruht. Darin liegt die »Wahrheit des Hegeischen Systems«, die es gegen seinen Anspruch auf ein absolutes, d. h. von dieser Geschichtlichkeit losgelöstes Wissen auszuspielen gilt. Diese urhermeneutische Position sieht sich aber vor zwei Schwierigkeiten gestellt, die eine neue Reflexionsphilosophie gegen sie geltend machen kann: 1. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtseines mag noch so bedingt sein, aber ist es nicht ebenfalls über die Geschichte erhaben, so daß es selbst absolut ist bzw. als absolut gelten will? Mit anderen Worten: Die universale Aussage des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins will allgemein gelten. Sie darf es aber von ihren eigenen Voraussetzungen aus anscheinend nicht. Gibt es hier nicht einen Widerspruch bzw. einen (pragmatischen) Selbstwiderspruch? 2. Wenn das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein von der Geschichte nicht losgelöst ist, wie kann es dem historischen Relativismus entgehen? Beide Argumentationslinien gehören hierher, weil Gadamer dazu neigt, in ihnen allgemein Gestalten der Reflexionsphilosophie zu sehen. Nichtsdestoweniger behandelt er sie aus großer Distanz, so als fühlte er sich nicht von ihnen betroffen. Er wollte ja die Problemstellung des Historismus und damit die des Relativismus überwinden. Er hat sich selbst also nie in dem Relativismusvorwurf wiedererkannt. Es sind vor allem seine Gegner wie K.-O. Apel, die dieses Gespenst heraufbeschwören. 99 Für Gadamer ist der Relati99 Vgl. zuletzt K.-o. Apel, »Regulative Ideas or Truth-Happening? An Attempt to Answer the Question of the Conditions of the Possibility ofValid Understanding«, in TPHGG, 67-94; dt.: »Regulative Ideen oder Wahrheitsgeschehen? Zu Gadamers Versuch, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gültigen Verstehens zu beantworten«, in Ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischenAnsatzes, Frankfurt a. M., 1998,569-607.
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vismus genau dieses: ein Gespenst. Es soll Angst einflößen, indem es die unmöglichen Konsequenzen vor Augen stellt, die aus der These erfolgen sollen, daß alles relativ sei. Die Hermeneutik hat aber nie behauptet, daß alles relativ sei, sondern nur, daß wir zur Sinnerfahrung gehören und daß es ohne diesen Nachvollzug rur uns keinen Sinn geben kann. Einen nichtsituierten Sinn - außerhalb des engen Bereiches der mathematischen und logisch-analytischen Wahrheitenkönnen wir nicht nachvollziehen. Die Hermeneutik erinnert hier lediglich an die Selbstbescheidung des Delphischen Orakels: »Erkenne Dich selbst, d. h., erkenne, daß du kein Gott, sondern ein Mensch bist«. »Sollte man den Delphischen Orakel deswegen des historischen Relativismus beschuldigen?«, fragt Gadamer. Gadamers ganze Hermeneutik entwickelt aber doch eine Antwort auf die Herausforderung des Relativismus, insofern sie dessen Grundlagen destruiert. Man kann von Relativismus nur sprechen, wenn man die Möglichkeit einer absoluten Wahrheit voraussetzt. Nur im Lichte einer solchen Wahrheit erscheint alles als bloß relativ. Es ist diese absolutistische Auffassung der Wahrheit, die die Hermeneutik rur uns Menschen und sprachliche Wesen in Frage stellt. Federführend ist bei diesem Absolutismus die Vorstellung einer Wahrheit, die auf einem fundamentum inconcussum begründet, ja »letztbegrundet« wäre. Woher kommt diese Vorstellung einesfundamentum inconcussum, wenn nicht aus einer Verdrängung unserer Endlichkeit? Steht es an, die Wahrheitsmöglichkeiten unserer Endlichkeit rur relativ zu erklären, weil sie diesem unzeitlichen Anspruch nicht standhalten? Gadamer erscheint es vielmehr geboten, diese metaphysische Vorstellung selbst in Zweifel zu ziehen. Die Geschichtlichkeit erscheint dann nicht mehr nur als eine Begrenzung (was sie zweifelsohne auch ist), sondern ebenso als eine Bedingung der Möglichkeit der Wahrheit: »Die Geschichtlichkeit ist nicht länger eine Grenzbestimmung der Vernunft und ihres Anspruchs, die Wahrheit zu erfassen, sondern stellt vielmehr eine positive Bedingung rür die Erkenntnis der Wahrheit dar. Dadurch verliert die Argumentation des historischen Relativismus jedes
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wirkliche Fundament. Ein Kriterium für absolute Wahrheit verlangen enthüllt sich als ein abstrakt-metaphysisches Idol und verliert jede methodologische Bedeutung. Die Geschichtlichkeit hört auf, das Gespenst des historischen Relativismus heraufzurufen« (GW 2,103). Der Relativismus ist fur Gadamer insofern eine reine Gestalt der Reflexion, als erjedes Sachbezugs entbehrt. Er entwirft ein Problem, das keine wirkliche Frage ist, weil es sie nur in der Reflexion gibt. Es ist ein grobes Mißverständnis, die Grunderfahrung der Geschichtlichkeit mit einem relativistischen »anything go es« gleichzustellen. Das Gegenteil ist der Fall: Ein in der Geschichte eingetauchtes, von ihr betroffenes und damit verwundbares Bewußtsein wird zwar vieles tolerieren, aber nicht alles akzeptieren dürfen. Es wird nach glaubwürdigen Gründen und Argumenten fragen. Wir haben oben gesehen, wie sehr die Hermeneutik an den Aufgaben der Konsistenz und der adaequatio, in der das Bewußtsein aber immer mitredet, festhielt. Ein situiertes und sich situiert wissendes Bewußtsein wird also für den Horizont des anderen und damit für jede Revision offen bleiben. Eine der Luftspiegelungen des Relativismusvorwurfs ist es, uns vergessen zu lassen, daß für uns Menschen die Wahrheit eine Sache von Wachsamkeit und Horizont bleibt. Für die Hermeneutik ist der Relativismus nicht zu widerlegen, sondern zu destruieren. Eine andere Frage ist es, ob die Hermeneutik selbst kohärent ist, wenn sie auf die Geschichtlichkeit des Verstehens abhebt. Falls sich beide Problemkomplexe auseinanderhalten lassen, würde man hier vom Relativismus- zum Selbstwiderspruchsproblem übergehen. Der (oft pragmatisch oder performativ genannte) Widerspruch läge in der universalen Behauptung, daß jedes Verstehen geschichtlich geprägt sei, sofern diese »These« selbst ungeschichtlich gelten wolle. Für diese Selbstwiderlegungsargumentation haben .Heidegger und Gadamer noch weniger Geduld aufgebracht als für die verwandte Argumentation des Relativismus. Es sei zugegeben, daß sie vor allem nach dem Erscheinen von Wahrheit und Methode erhoben wurde, vor allem durch Autoren wie K.-O.
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Apel und Jürgen Habermas (und im Falle Apels im Namen einer Letztbegründung, was zumindest konsequent war). Gadamer und Heidegger haben in ihr weniger eine höchst raffinierte Reflexion gesehen, als welche sie sich gern ausgibt, sondern eine Karikatur derselben. Heidegger, der sie im Zusammenhang der Selbstwiderlegung des Skeptizismus erwähnte, sprach hier von einem »formal-dialektischen Überrumpelungsversuch« (SZ, 229;vgl.WM,350).Eine überrumpelnde Attacke hat nämlich etwas Heimtückisches. So wird beispielsweise ein Spaziergänger im Central Park von hinten »überrumpelt«. Der Sinn des Selbstwiderlegungsarguments ist es, den Gegner zu übertrumpfen. Es will nämlich darauf aufmerksam machen, daß doch nicht alles relativ oder geschichtlich sei, wenn man die These aufstellen kann, daß alles geschichtlich sei. Aber wen will man damit überfuhren? Die Endlichkeit würde ihrer endlichen Bedingtheit in dem Moment entgehen, in dem man dank dieser schlauen Reflexion erkennen würde, daß sie sich selbst nicht ohne Selbstwiderspruch aufrechterhalten läßt? Schöner Trost. Wenn man es unbedingt so will, dann avanciert diese Endlichkeit zu einem neuen Absolu turn. Es handelt sich aber nicht um ein Absolutes, das es in sich hat, uns über die Möglichkeit einer absoluten Wahrheit zu beruhigen. Gibt es aber wirklich einen »Widerspruch« im Festhalten an diesem Prinzip der Endlichkeit? Nein, weil es sich damit bescheidet, in natürlich selbst bedingten Worten und in einer ebenso bedingten Zeit an die Bedingtheit zu erinnern, in der sich die Wahrheitserfahrung fUr uns Menschen abspielt (denn die Götter verfugen vermutlich über eine absolute Wahrheit, wir aber wissen nicht einmal, ob es sie gibt). Eine dieser Bedingtheit nicht gehorchende Wahrheit wäre fUr uns keine Wahrheit. Diese Bedingtheit gilt selbstverständlich auch fUr die Hermeneutik. Auch sie ist eine Antwort auf eine gewisse Konstellation, nämlich eine Antwort auf eine ungeschichtliche Wahrheitsauffassung. Selbst die Hermeneutik stellt sich in einen dialogischen Kontext, wie die geschichtlichen Erinnerungen in den ersten Kapiteln von Wahrheit und Methode zur Genüge belegen.
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Die Selbstwiderlegungsstrategie verharrt nach Gadamer im leeren Raum der reinen Reflexion und entbehrt damit jeder Sachlichkeit. Gadamer assimiliert sie gern an einer Figur der Sophistik. Ihm steht dabei das Modell des sokratischen Dialogs vor Augen, wo zwei entgegengesetzte Aussagen mit dem gleichen Recht gegenübergestellt werden. Ausschlaggebend ist hierbei nie das Reflexionsspiel allein, sondern der Blick auf die Sache. Es ist nicht Gadamers Absicht, die kritischen Möglichkeiten der Reflexion zu beschneiden. Er will sie vielmehr durch den Aufweis schärfen, daß sie allein nicht ausreichen und daß sie nicht ohne Grund verdächtigt werden, wenn sie den Blick auf die Sache - hier die Endlichkeit - verlieren. Die Reflexion verfallt anscheinend einem panischen Sicherheitswahn, wenn sie durch ihren Rückzug in die Se1bstwiderlegungsstrategie die Augen vor der Geschichtlichkeit verschließt. Sie sieht u. a. nicht, daß sich ihr Sicherheitsstreben einer Verleugnung der Geschichtlichkeit verdankt, die deren Universalität nur bestätigt. Das Reflexionsargument will umjeden Preis die Möglichkeit einer ungeschichtlichen Wahrheit aufrechterhalten, die aber schließlich nur die Wahrheit des eigenen, um sich kreisenden Reflexionsspieles ist. Anspruch auf eine solche Wahrheit erhebt die Hermeneutik nicht. Sie will lediglich die geschichtliche Bedingtheit (im Sinne der conditio humana) in Erinnerung rufen, die die einer jeden Wahrheit für uns Menschen bleibt. Sie gilt auch für die Wahrheiten der Wissenschaften, sofern sie sich sprachlich artikulieren und damit verständig sein möchten. Der Hermeneutik ist es aber nie eingefallen, diese Bedingtheit in einer einzelnen Aussage zu formulieren, wohl wissend, daß jede Aussage (einschließlich die hiermit riskierten) daran teil hat. Es ist diese Bedingtheit der Zugehörigkeit zu einer Geschichte und einer Sprachlichkeit, die Gadamer im letzten Abschnitt seines Werkes dazu bringt, von einem »universalen Aspekt« der Hermeneutik zu sprechen. Universal ist also weder eine Aussage, noch eine Philosophie, sondern ein wesentlicher Aspekt des Sinnes seine Einbezogenheit in eine von der Geschichte umrissene Verständlichkeit. Es ist nicht Gadamer, der zunächst von dem Univer-
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salitätsanspruch der Hermeneutik gesprochen hat, sondern Habermas. 100 Indem sie an die sprachlich-geschichtliche Bedingtheit jedes Verstehens zurückerinnert, will die Hermeneutik ein »Lebensverhältnis« zum Vorschein bringen, das man nicht als eine logische Konstruktion verstehen darf »Es gehört zu den Vorurteilen der Reflexionsphilosophie, daß sie als ein Verhältnis von Sätzen versteht, was gar nicht auf der gleichen logischen Ebene liegt. So ist das Reflexionsargument hier nicht am Platze. Denn es handelt sich gar nicht um widerspruchsfrei zu haltende Verhältnisse von Urteilen, sondern um Lebensverhältnisse. Die sprachliche Verfaßtheit unserer Welterfahrung ist imstande, die mannigfachsten Lebensverhältnisse zu umfassen.« (WM,452) Es entbehrt nicht der Pikanterie, daß sich Gadamer 1960 dafür ausgerechnet auf einen Aufsatz des jungen K.-O. Apel berief, der sehr schön gezeigt hatte, »daß das Reden des Menschen über sich selbst keinesfalls als gegenständlich fixierende Behauptung eines Soseins zu verstehen ist, so daß eine Widerlegung solcher Aussagen durch den Aufweis ihrer logischen Rückbezüglichkeit und Widersprüchlichkeit sinnlos ist.« (WM,452) Gadamers platonische Reserve dem Reflexionsargument gegenüber hat auch etwas mit seinem Mißtrauen angesichts des Sichselbstbesitzenwollens zu tun, das diese reine, d. h. um sich zentrierte Reflexion beseelt. Die Reflexionsphilosophie setzt nämlich voraus, daß es ein Selbstbewußtsein ebenso wie ein Gegenstandsbewußtsein geben kann. Zweifellos ist sich das Bewußtsein der sich in ihm »widerspiegelnden« Welt bewußt: die Welt ist fur das Bewußtsein da als der Horizont alles Erfahrbaren. Gibt es aber ein Bewußtsein dieses Bewußtseins selbst, d. h. eine Selbstspiegelung des Spiegels? Die Metapher der Spiegelung und der Reflexion legt es ja nahe, daß der Spiegel und das in ihm Widergespiegelte nicht dasselbe sind (kann die Reflexionsphilosophie die Metaphorizität ihrer ei100 Sein in der Gadamer-Festschrift von 1970 zunächst veröffentlichter, später vielfach nachgedruckter Beitrag hieß in der Tat »Der Lfniversalitätsanspruch der Hermeneutik«. Wir kommen am Schluß darauf zurück.
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genen Aussagen einholen?). Die Selbstreflexion setzt voraus, daß sich das Bewußtsein selbst vor das Bewußtsein bringen kann, wie es an sich ist. Wer sagt uns aber, ob das im »Belag« des Spiegels widergespiegelte Bewußtsein, um das Wort von Rodolphe Gasche wiederaufzunehmen, 101 dem Bewußtsein angemessen ist und ob man von Evidenz in einem solchen Spiegelspiel sprechen kann? Es liegt ja bereits im Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins, daß die Subjektivität vielleicht bloß ein Zerrspiegel ist (WM, 281). Verrät nicht die proklamierte Selbsttransparenz der Reflexion eine noch durchgehendere Undurchsichtigkeit? Es ist möglich, daß sich die Reflexion hier durch ihre eigenen Metaphern irrefUhren läßt, sofern sie auf sich selbst die Kategorien und Motive des »Begreifens« und »Beherrschens« anwendet, die sich allein rur die objektivierte Natur der Wissenschaft bewähren ließen. Die Grenze dieser Metaphern ist auch die der Reflexionsphilosophie. Nach Gadamer läßt sich ein Sichselbstdenken des Denkens . freilich nachvollziehen, aber wie bei Aristoteles bleibt es der noesis noeseos der Gottheit vorbehalten. Diese Gottheit ist jedoch so souverän, daß sie nur um sich weiß und sich um den Rest der Welt nicht schert. Dies ist auch die Gefahr der Reflexionsphilosophie, daß sie nur auf sich hört. Seiner Endlichkeit eingedenk, wird das hermeneutische Bewußtsein im Gegenteil fUr den anderen offen bleiben.
101 Vgl. R. Gasche, The Tain 01 the Mirror: Derrida and the Philosophy cf Riflection, Cambridge (Mass.), Harvard University Press, 1986. Über diese Grenze der Reflexion, vgl. R. Brague, Aristote et la question du monde, Paris, PUF, 1988 (der Aristoteles durch Heidegger liest, wie es Gadamer tut), 17: »Je ne peux faire 1'experience que de ce a quoije suis present. Mon experience est precedee necessairement par une presence au mon-
de. Mais cette presence au monde,je n' en dispose pas. En un sens, il n'y a pas d' experience du monde: l' experience ne porte jamais que sur les choses presentes dans le monde, et jamais sur le monde lui-meme.«
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Die Offenheit des hermeneutischen Bewußtseins Die Seele der Hermeneutik besteht darin, daß der andere recht haben kann: Das ist ein Diktum, das der späte Gadamer gern verwendet. Es findet seine Vorbereitung in der Offenheit der hermeneutischen Erfahrung, die Gadamer in Wahrheit und Methode der Geschlossenheit der Reflexionsphilosophie entgegenstellt. Diese Erfahrung ist aber nicht diejenige, die der Wissenschaftler in seinem Laboratorium vor-bereitet, die sich also wiederholen und verifizieren läßt, sondern diejenige, die dem Bewußtsein widerfährt. Es ist die Erfahrung, die uns überrascht, unsere Erwartungen enttäuscht und damit zum Umdenken nötigt. Ihr Vorbild bietet das Wort von Aischylos: pathei mathos, durch Leiden wird man weiser. Darin besteht die wirkliche Erfahrung, denn die Erfahrung, die nur bestätigt, was wir schon wissen, ist keine. Da erfährt man nichts. Allein die negative Erfahrung verschafft uns Einsicht und erschließt neue Horizonte. Der Fallibilist Karl Popper hat beredt von einer Dialektik des trial and error inder Wissenschaft gesprochen. Gadamer begrüßt zwar diese Erfahrungskonzeption, aber sie bleibt ihm doch zu voluntaristisch und zu instrumentell auf ein Experimentieren und Kontrollieren ausgerichtet. Sie verkennt damit den »leidenschaftlichen« und widerfahrenden Charakter der wirklichen Erfahrung. 102 Der Wissenschaftler, der seine Hypothesen testen oder falsifizieren läßt, bleibt Herr der Erfahrung, aus der er Resultate zieht. Der der hermeneutischen Erfahrung eigene Umsturz beraubt hingegen das Bewußtsein dieser Sicherheit. Die hermeneutische Erfahrung benimmt ihm seine Gewißheit, um es mit seiner Endlichkeit schlechthin zu konfrontieren. Wie Hegels Phänomenologie richtig geschildert hatte, zieht der negative Charakter der wesentlichen Erfahrung eine neue Gestalt des Bewußtseins nach sich. Sie fuhrt nämlich das hermeneutische Bewußtsein zur grundsätzlichen Anerkennung seines eigenen Nichtwissens: »Die Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn. Sie ist nicht einfach eine 102
Vgl. dazu die neue Fußnote in WM, 359.
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4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschi'chtli~hen Wachsamkeit
Täuschung, die durchschaut wird und insofern eine Berichtigung, sondern ein weitgreifendes Wissen, das erworben wird.« (WM, 359) Dieses Bewußtsein der eigenen Endlichkeit ist ein Bewußtsein des tragischen Wesens der menschlichen Erfahrung, »die stets selber erworben sein muß und niemandem erspart werden kann.« (WM, 361) Diese weitgreifende hermeneutische Weisheit ist eine Weisheit, die uns auch einen Horizont gewinnen läßt. So sagt man von demjenigen, der einen solchen Horizont gewonnen hat, daß er ein erfahrener Mensch ist (vgl. WM, 359, 377). Der erfahrene Mensch, von dem man auch sagt, er sei weise (phronimos) , ist also nicht derjenige, der über ein universalgültiges Wissen verfugt oder der den Lauf der Dinge souverän voraussagen kann. Hier hat uns Aristoteles die entscheidendsten Winke gegeben, als er die Erfahrung (empeiria) zwischen den isolierten Wahrnehmungen und der Allgemeinheit des Begriffs einordnete (WM, 373). Diese Mittelstellung der Erfahrung ist aber alles andere als ein Mangel. Sie trifft genau das Wesen der Erfahrung, die man zu erwerben nie aufhört. Sie resultiert zwar aus einer Mehrzahl von Wahrnehmungen, aber im Unterschied zur allgemeinen Begriffserkenntnis kann sie immer noch umgestoßen werden. Wichtiger noch: sie bewährt sich nur im konkreten Fall. Diese Erfahrungsallgemeinheit auf die Ebene der Begriffserkenntnis zurückzuführen, würde sie ihres konstitutiven Bezugs auf die Erfahrung berauben, diestets erworben und immer wieder erworben werden muß, die aber auch ihr einziges Anwendungst.errain bildet. Der erfahrene Mensch verfugt nicht über eine unfehlbare Methode, um den Kurs der Dinge zu steuern, er weiß vielmehr um das Unvorhersehbare aller Erfahrung. Wer an die Erfahrung von hohen abstrakten Prinzipien aus herantreten möchte, die für jede Situation gelten sollen, ist nicht sehr erfahren und auch nicht besonders weise. Nichtsdestoweniger genießt nach Aristoteles die empeiria eine »Universalität«, die aber weder die des Begriffs, noch die der wiederholten Wahrnehmung ist. Sie weist auf die Universalität der Endlichkeit jeder Erfahrung und schließlich auf die Grunderfahrung der Endlichkeit selbst hin.
Die Offenheit des hermeneutischen BeWußtseins
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Deshalb fuhrt diese Erfahrung zur Offenheit fur den anderen und fur eine neue Erfahrung, von der man nur voraussagen kann, daß sie unvorhersehbar ist. Durch das Leiden und die Enttäuschung ihrer früheren Erwartungen belehrt, wird diese Erfahrung einen Wachsamkeitshorizont bilden. Darin besteht der Horizont des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins: Er ist eine »Einsicht in die Grenzen, innerhalb deren Zukunft fur Erwartung und Planung noch offen ist - oder noch grundsätzlicher [ein Anerkennen dessen], daß alle Erwartung und Planung endlicher Wesen eine endliche und begrenzte ist.« (WM,363) Gadamers Argumentation ist hier einsichtig genug: Da wir uns endlich und begrenzt wissen, öffnen wir uns fur andere Horizonte. In einer kritischen Perspektive darf man jedoch die Frage stellen, ob die der hermeneutischen Erfahrung eigene Endlichkeit unbedingt zur Offenheit fur den anderen und für neue Erfahrungen fuhrt. Besteht nicht die Endlichkeit des wirkungsgeschichtlich bedingten Bewußtseins auch und vor allem darin, daß sie sich nicht fur alle Erfahrungen offenhalten kann? Ein scharfsinniger Kritiker von Gadamer, Claus von Bormann, hat darin die wesentliche Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung gesehen. 103 Eine die Endlichkeit radikalisierende Hermeneutik muß nämlich anerkennen, daß eine gewisse Geschlossenheit sehr wohl zur hermeneutischen Erfahrung gehört. Ihre Insistenz auf die bedingenden und bedingten Vorurteile des Verstehens schließt ja ein, daß sie uns nicht alle zur freien Verfugung stehen. Das Bewußtsein ist aufgrund ihrer aufgeschlossen, d. h. für die Welt wach, es ist aber nicht für alle Perspektiven offen. Ein radikalisiertes wirkungsgeschichtliches Bewußtsein wird auf diese wesentliche Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung achtgeben müssen. Sie wird aber seine Wachsamkeit nur schärfen. Da ich mich irren kann, auch 103 C. von Bormann, »Die Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung«, in Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1971, 83-119. Gadamer hat das Recht dieser Kritik durchaus zugestanden (GW 2,256).
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4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
wenn ich recht zu haben wähne, werde ich mich um so mehr rur die Chance des Gesprächs und die Perspektive des anderen offenhalten (der auch in mir selbst wohnen kann, denn die besten Argumente, die man gegen seine eigene Position geltend machen kann, sind immer diejenigen, die man in sich selbst verdrängt - jeder, der einen halbwegs philosophischen Text geschrieben hat, wird es erfahren haben). In diesem Geiste wird sich Gadamer an das Modell der sokratisch-platonischen Dialektik anschließen, die immer schon weiß, daß der Unterschied zwischen der Wahrheit und der Sophistik sehr fadenscheinig ist. Wer kann je sicher sein, daß er nie der Sophistik erliegt? Auch das ist menschliche Endlichkeit, und sie ist nach der Hermeneutik universal. Deshalb mündet die hermeneutische Erfahrung nicht in eine absolute Sicherheit (sei es die der wissenschaftlichen Erfahrung oder die des absoluten Wissens bei Hegel) , sondern in die Infragestellungjeder Sicherheit. Hegels Dialektik des Bewußtseins wird also in die platonische Dialogik zurückgenommen, die unter der Ägide von Sokrates alle angeblichen Wissensansprüche in Frage stellt. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist insofern sokratisch, als es selbst eine Kunst des Fragens und des Offenhaltens entwickelt. In den Geisteswissenschaften ist es nicht immer das Entscheidende, feste Ergebnisse zutage zu fördern, sondern Fragen stellen zu können. Wie oben bereits gestreift, ist der gebildete Mensch nicht der, der eine Antwort auf alles parat hält, sondern der, der Fragen stellen kann, sie offen sein läßt und damit zeigt, daß er Horizont hat. Die Offenheit rur die möglichen Antworten gehört wesentlich zur Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins. Sofern sie zur Ausbildung dieser Wachsamkeit beiträgt, ist die Logik der Geisteswissenschaften eine Logik der Frage. Eine Vorahnung dieser Logik fand Gadamer in der von R. G. Collingwood entfalteten logic of question and answer. Collingwood hatte nämlich sehr gut erkannt, daß der Historiker, der den Gang der Dinge verstehen will, die Frage rekonstruieren muß, auf die die geschichtliche Tat die Antwort ist (WM, 376). Man kann die Vergangenheit nicht verstehen, ohne ihr Fragen zu stellen und sich in die Offenheit ihrer Situation zu verset-
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zen. Verstehen bedeutet hier, die Frage zu verstehen, auf die die Geschichte die Antwort ist. Aber diese Frage und Fragesituation läßt sich als solche eben nur verstehen, sie ist nicht faktisch gegeben. Gegeben ist nur die Antwort. In diesem Fragen nach dem, was hinter dem Geschehenen, Geschriebenen und Gesagten steckt, liegt sehr wohl eine universalisierbare Logik der Geisteswissenschaften. Der Durchbruch von Collingwood ist insofern sehr wertvoll. Ihr haftet indessen bei Collingwood eine doppelte Einseitigkeit an. Einerseits scheint sie vorauszusetzen, daß der Lauf der Geschichte einem bewußten Plan gehorcht. Die Pläne und Erwartungen der geschichtsträchtigen Handelnden sind in der Geschichte nicht allein maßgeblich. In ihr kreuzen sich vielmehr die Intentionen der Akteure mit den Kontingenzen und den Kausalketten unvorhersehbarer Faktoren. Andererseits scheint Collingwood zu unterstellen, daß man sich einfach in die Situation und die Fragen der den Geschichtsgang voranbringenden Handelnden zu versetzen braucht, um den Lauf der Dinge zu verstehen. Das seit der romantischen Hermeneutik vertraute Motiv des »Sichversetzens« ist Gadamer bekanntlich verdächtig. Die Frage, die man zu verstehen sucht, ist ftir ihn immer eine, die man selbst stellt, so daß man hier erneut von einer Horizontverschmelzung sprechen muß. Es ist natürlich nicht so sehr die Geschichte, die auf die Fragen von heute antworten soll, sondern die Fragen von heute, die die Geschichte sprechen lassen, auch wenn der Historiker sie vorsichtig in die Form kleidet: hier könnte man sich fragen, ob ... (WM,381) Diese geisteswissenschaftliche Logik von Frage und Antwort konkretisiert die Gadamersche Konzeption der Anwendung. Der Durchbruch von Collingwood ist aber auch in dem Sinne ausschlaggebend, als er über den Rahmen der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik hinausweist. Es trifft nicht nur zu, daß man ein Ereignis oder einen Text als Antwort auf eine Frage zu verstehen hat - und die man nur solange versteht, als man sie selbst fragt - sondern es trifft auch zu, daß man jede Aussage als eine Antwort verstehen kann. Die universalste Fassung dieser Einsicht fand sich nach Wahrheit und Methode, in einem Text von 1966: »Das ist in der Tat das her-
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meneutische Urphänomen, daß es keine mögliche Aussage gibt, die nicht als Antwort auf eine Frage verstanden werden kann, und daß sie nur so verstanden werden kann.« (GW 2, 226). Man versteht eine Rede, ein Wort, aber auch ein Schweigen oder eine Geste - all dies ist Sprachlichkeit - sofern man auch die Frage, die Not, das Leiden oder die Konstellation mithört, aus denen sie stammen. Insofern vollzieht sich im Verstehen eine Horizontverschmelzung zwischen dem zu Verstehenden und dem Verstehenden selbst. Es ist der »leitende Gedanke der folgenden Erörterung« von Gadamer, »daß die im Verstehen geschehende Verschmelzung der Horizonte die eigentliche Leistung der Sprache ist. «( (WM, 383) Die Sprache bildet dabei nicht nur den »Gegenstand« (etwa ein sinnhaftes Gebilde), sondern auch die »Vollzugsweise« des Verstehens, sofern man einen Sinn zu artikulieren sucht. Es handelt sich aber um einen Gegenstand und eine Vollzugsweise, die etwas Unabwägbares, ja Unheimliches haben, da die Sprache so sehr mit diesem Gegenstand und dem Vollzug des Verstehens zusammengewoben ist, daß es unmöglich erscheint, die Sprache erstens von den Sachen und zweitens von der sprachlichen Bemühung des Verstehens auseinanderzuhalten. Hier muß man von einer verdoppelten Verschmelzung sprechen, da sie sowohl die der Sprache mit den Sachen als auch die der Sprache und des Denkens ist. Diese Nichtunterscheidung ist aber nur beunruhigend füt eine der Objektivierung verpflichtete Denkweise, die das Denken von seiner sprachlichen Artikulation und die Dinge von ihrer Versprachlichung unterscheiden möchte. Es ist gerade die hier waltende instrumentelle Sprachauffassung, die Gadamer hinterfragen möchte, um sich dem »Gespräch, das wir sind« anzunähern. Die Sprache ist nicht bloß ein Werkzeug oder ein verftigbarer Besitz, dessen sich das souveräne Denken bedient (WM, 384). Das wesentliche Gespräch, das wir sind, nicht nur mit den Dingen, sondern auch mit uns selbst, wird die letzte Denkherausforderung der Hermeneutik bilden. Das Sein wird sich von der es bewohnenden Sprache nicht mehr unterscheiden lassen. Diese Einsicht wird eine ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache in die Wege leiten.
5. Das Gespräch, das wir sind Unterwegs zur unheimlichen Nähe der Sprache »Begreifen, was uns ergreift«, so läßt sich die paradoxe 'Aufgabe der Hermeneutik zusammenfassen (GW2, 108).Die Hermeneutik unserer geschichtlichen Geworfenheit bildet ein besonderes Augenmerk ftirdie Zugehörigkeit unseres Verstehens zum sprachlichen Medium, das sich einem instrumentalistischen Begreifen entzieht, weil esjedem Begriff und jedem Entwurf immer schon vorausarbeitet. Diese Unverfugbarkeit war im Zweiten Teil die der Geschichte, der wir mehr gehören als daß sie uns gehört. In der Sprachlichkeit wird Gadamer nunmehr die universellste Dimension dieser wirkungsgeschichtlichen Zugehörigkeit sehen. Die Sprache gehört aber »zum Allerdunkelsten, was es fur das menschliche Nachdenken gibt«, weil die Sprachlichkeit uns so »unheimlich nahe« ist (WM, 383). Das Unheimliche ist buchstäblich das, wo wir uns nicht heimisch ftihlen und das uns deshalb ein gewisses Geftihl des Ungeheuren einflößt. Gadamers Grundeinsicht ist hier, daß dieses unheimliche Element der Sprache gerade unsere Heimat ist. In ihr, d. h. in ihrer »unheimlichen Nähe« wohnen und leben wir. Die Hermeneutik der Geworfenheit kann also nicht umhin, diese unheimliche Unvordenklichkeit der Sprache zu denken. Sie wird ihr aber nie Herr werden. Wie könnte man auch das Medium beherrschen, das uns nach Gadamers tragender Einsicht durch und durch beherrscht? In einer Denkbewegung, die an Heideggers »Unterwegs zur Sprache« gemahnt, kann man nur hoffen, »dem Dunkel der Sprache nahezukommen« (WM,383). Nichts mehr, aber auch nichts weniger.
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5. Das Gespräch, das wir sind
Es ist nicht verwunderlich, daß Gadamer später ein gewisses Unbehagen über seine AusfUhrungen zur Sprachlichkeit im letzten Teil seines Hauptwerkes zum Ausdruck brachte. Im Gespräch mit Carsten Dutt bekannte er 1993 offenherzig, daß seine Arbeit der letzten 35 Jahre der Vertiefung dieses Rätsels unserer Sprachzugehörigkeit gewidmet waren. 104 Die AusfUhrungen des Dritten Teiles weisen vielfach einen rudimentären Charakter auf. Man muß aber sehen, daß das nicht nur ein Mangel ist. Gadamer wollte ja nur dem verunsichernden Dunkel,ja dem Dschungel der Sprache näherkommen. Diese Annäherung an das nahezu Unnahbare behält in eben dieser Hinsicht einen exemplarischen Charakter für eine Geworfenheitshermeneutik, deren Absicht es ist, das Bewußtsein an dasjenige zu erinnern, wasjedem Bewußtsein vorausliegt und es möglich macht. Je stammelnder und rauher eine Sprachanalyse ist, desto mehr wird sie ihrem Gegenstand gerecht. Unter diesem Blickwinkel sind die Ausführungen des Dritten Teiles zur Sprache ein Meisterstück. Man muß ferner in Betracht ziehen, daß bis ca. 1960 die Thematik der Sprache weitgehend eine .terra incognita der Philosophie geblieben war. Die Sprachlichkeit hat sich seitdem so sehr als das beherrschende, wenn nicht als das alleinige Thema der Philosophie aufgedrängt, daß man sich die damalige Situation kaum noch vorzustellen vermag. Diese philosophische Evidenz der Sprache hat sich auch von wirklich sehr verschiedenen Strömungen aus gespeist, zu denen man den logischen Positivismus, die Oxforder ordinary language philosophy, den amerikanischen Pragmatismus (und dessen Neubelebung durch Quine), den Strukturalismus, die Psychoanalyse (von Lacan beispielsweise), die Dekonstruktion, die Hermeneutik, die transzendentale Pragmatik von Apel und Habermas und die letzten Arbeiten von Merleau-Ponty und Heidegger 104 Vgl. Hans-Georg Gadamer im Gespräch: Hermeneutik - Ästhetik Praktische Philosophie, hrsg. von Carsten Dutt, Heidelberg, Carl Winter Verlag, 1 993; vgl. den Ausdruck desselben Unbehagens im LB-Gespräch, 282. In diesem Sinne sind die betonten Hinweise der letzten Ausgabe von WM (447,465) auf die »gebotenen Ergänzungen« zur Sprachlichkeit im 2. Band der GW zu verstehen.
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rechnen darf. Gegen Ende der 50er Jahren hatten nur wenige in Deutschland Wittgenstein gelesen. Die in Amerika herrschende analytische Philosophie blieb dort so gut wie unsichtbar bzw. mit dem Positivismus des Wiener Kreises assoziiert und eben deshalb verfemt. Trotz ihres großen Interesses rur die Probleme der Bedeutung und der Intentionalität hatte selbst die Husserlsche Phänomenologie der Sprache wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das war im allgemeinen auch der Fall in der klassischen Philosophie, wo man viel lieber von Begriffen, Ideen, Vorstellungen als von Worten sprach. Dieses Urteil hat man seitdem mehrfach zu revidieren Anlaß gehabt, so daß sich inzwischen bei allen Klassikern der Philosophie, von Platon und Aristoteles bis hin zu Augustin, Ockham, Humboldt und Nietzsche, eine Sprachkonzeption auffinden ließ, aber dies war nur ein Rückschein der nahezu inflationären Bedeutung, die die zeitgenössische Philosophie der Sprache zumißt. 10S Beim tieferen Ausgraben könnte man auch viele Ausnahmen dieser philosophischen Sprachvergessenheit vor 1960 namhaft machen (Gadamer wird sich selbst auf die heute jedoch wenig bekannten Arbeiten von Richard Hönigswald, Julius Stenzel und Johannes Lohmann beziehen), aber sie empfehlen sich nur als Sprachkonzeptionen von unserer Gegenwart aus, die der Sprache einen alles beherrschenden Vorrang, und zwar nicht nur in der Epistemologie, sondern selbst in der Ethik einräumt. Die einzige nennenswerte und rur Gadamer maßgebliche Ausnahme ist natürlich Heidegger. Man darf indes nicht vergessen, daß sein großes Buch über die Sprache, Unterwegs zur Sprache, 1959 erschien, als Wahrheit und Methode bereits im Druck war. Gadamer kannte freilich Heideggers seit 1935 öffentlich gewordene Reflexionen über die Sprache und die Dichtung. Sie werden ihn sicherlich inspiriert und ermuntert haben, aber in einer 105
Von Inflation sprach der belgische Philosoph Gilbert Hottois,
L' Inflation du lan.gage dans la philosophie contemporaine. Causes,Jormes et limites, Bruxelles, Editions de l'Universite Libre de Bruxelles, 1979. Inzwi-
schen gibt es nicht wenige Sammelbände über die älteren »Klassiker der Sprachphilosophie«. Ob sie VOr 1960 möglich gewesen wären? Auch hier wirkt Wirkungsgeschichte.
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5. Das Gespräch, das wir sind
schwer einzuschätzenden Weise: Auch wenn etliche Wendungen Gadamers an Heidegger erinnern (»Ontologische Wendung«, »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« usw.) , nimmt er keinen direkten Bezug auf Heideggers sprachphilosophische Schriften, ebensowenig wie er sich auf Heideggers Kunstauffassung in der Ästhetik des Ersten Teiles beruft. Ferner behandelt er die Sprachlichkeitim Rahmen einer betont hermeneutischen Philosophie, die Heideggers Kehre hinter sich zu lassen schien, als sie sich dem Mysterium der Sprache zuwendete. Gadamers Hermeneutik der Sprachlichkeit macht aber offenkundig, daß die Heideggersche Kehre zur Sprache ihrerseits vielleicht eine Rückkehr zu der Urintuition der Hermeneutik der Geworfenheit bedeutet. Die Sprache fungiert gleichsam als das Urelement dieser Geworfenheit, in der wir »da«, d. h. der Welt aufgeschlossen sind. Die Sprache ist damit die allererste Seinserschlossenheit, das Urdasein. Gadamer vermeidet selbst die manieristische Rede von einer »Kehre«, läßt sie aber gleichwohl mit anklingen, wenn er von einer ontologischen »Wendung« der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache spricht. Ohne sich damals darüber im klaren zu sein, entsprach diese Wendung durchaus dem linguistic turn (!) der angelsächsischen, aber auch der französischen Philosophie. 106 Gadamer wagte sich also in einen damals weitgehend unerforschten Dschungel, als er seine Hermeneutik der Sprachlichkeit entwarf. Viele seiner damaligen Ausftihrungen scheinen uns heute an Profil zu mangeln, so daß der Dritte Teil seines Werkes bislang vielleicht weniger rezipiert wurde als die zwei ersten über das Methodenproblem, die humanistische Tradition, die Ästhetik und die geisteswissenschaftliche Hermeneutik. 107 In ihrer Generalität schienen Gadamers Thesen offene Türen einzurennen, die es aber 1960 natürlich nicht waren. Das ist sicherlich der Fall von Gadamers erster grundVgl. dazu die neue Fußnote in WM, 421. Vgl. inzwischen die der Sprache gewidmeten Beiträge in dem neuen Sammelband Hermeneutische lM:ge, hrsg. von G. Figal, J. Grondin und D. Schmidt, Tübingen, Mohr Siebeck, 2000. 106
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legender These, der zufolge die Sprachlichkeit sowohl den Gegenstand als auch den Vollzug des Verstehens bestirnrnt. Diese Auffassung ist heute so geläufig, nahezu so banal, daß es nun vielleicht dringender wäre, zu sehen, inwiefern dieser Sinn rur Sprachlichkeit in einer wichtigen Hinsicht, die Augustin uns im nächsten Abschnitt besser zu verstehen helfen wird, aus der Erfahrung der Grenzen der Sprache resultiert. 108 Gadamer hat sich in seinen Arbeiten der 80er und 90er Jahre zunehmend mit ihnen befaßt. Um die schillernde These von Wahrheit und Methode zur Sprachlichkeit besser zu verstehen, tut man gut daran, sich an . die Art und Weise zu erinnern, wie die Sprache in den Aufbau des Buches einbezogen wird. Die geisteswissenschaftliche Hermeneutik des Zweiten Teiles schloß ja mit einer Logik von Frage und Antwort, die auf ein sprachliches Fundament verwies: Man versteht nur »etwas« (nicht nur eine Aussage, sondern auch eine Tat, eine Geste, ein Schweigen, einen Blick usw.), wenn man es als Antwort auf eine Frage versteht. Es ist ja das »urhermeneutische Phänomen«, daß man nur Sprachliches als Antwort auf eine Frage verstehen kann. Das Verstehen wird hier als Anwendung gefaßt: Ich verstehe nur, sofern ich die Sinnkonstellation, in die sich das zu Deutende einschwingt, nachvollziehen kann, und zwar in meinen eigenen Worten nachvollziehen kann. Daraus leitet sich die grundlegende These ab, daß die Sprachlichkeit sowohl den Gegenstand (das zu Verstehende) als auch die Vollzugsweise des Verstehens be-stimmt. Die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Vollzug ist hier schwierig, da ich diesen sogenannten )}Gegenstand« nur )}sprachlich« artikulieren und insofern halbwegs verstehen kann. Aber auf diese hermeneutische Nichtunterscheidung, d. h. auf die Verschmelzung von Gegenstand und Vollzug kommt es Gadamer eben an. Dieser Vollzug des Verstehens läßt sich durchaus als ein Übersetzen fassen: Verstehen heißt,
108 Auf sie habe ich deshalb in meiner Einführung in die philosophische Hermeneutik von 1991 (2. Aufl. 2001) besonders abgehoben.
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einen (prinzipiell sprachlichen) Sinn in meine Worte einigermaßen übersetzen zu können. Diese Verschmelzungs- bzw. Übersetzungsleistung beschreibt Gadamer gern als einen dialogischen Prozeß. Die Idee des Dialoges bildet in der Tat die Angel, um die sich die ganze Sprachhermeneutik des Dritten Teiles dreht. Gadamer insistiert zunächst auf der Verwandtschaft, die zwischen dem Gesprächsvollzug und einer Textinterpretation besteht. In Wahrheit und Methode behauptet er, daß er vom ersten Modell ausgehe, um das andere zu erklären (WM, 387). In Wahrheit macht er das Gegenteil: Er ist tatsächlich vom Paradigma der geisteswissenschaftlichen Interpretation ausgegangen, um an die umfassendere Dimension der Sprachlichkeit zu gelangen. Die Dialogik von Frage und Antwort wurde zunächst rur die Geisteswissenschaften zurückerobert. Wer einen Text interpretiert, versteht ihn als Antwort auf eine Fragekonstellation, die der Interpret weiterhin stellt. Nach Gadamer schließt dies aber keineswegs ein, daß die Perspektive des Interpreten den Text bzw. seinen ursprünglichen Sinn vereinnahmt oder verformt. Er besteht vielmehr auf dem Gegenteil: Je besser eine Interpretation oder Übersetzung gelingt, desto mehr wird sie vor dem Text zurücktreten und sich als solche nahezu unkenntlich machen: »Kein Text und kein Buch spricht aber, wenn es nicht die Sprache spricht, die den anderen erreicht.« (WM,401) Gadamer hatte es freilich sehr schwer, die Verfechter der mens auctoris davon zu überzeugen, daß dies keine Abschwächung der Objektivitätsforderung in der Interpretation bedeutete! Dabei wurde vielleicht übersehen, daß Gadamer diese Auffassung entwickelte, als er just die Richtigkeit der Interpretation zu umschreiben suchte. Die modernisierende oder »subjektivistische« Interpretation ist diejenige, die dem Text übergestülpt wird und die sich als solche erkennen und disqualifizieren läßt. Die richtige oder adäquate Interpretation ist hier offenbar diejenige, die diesem Fehler entgeht. Worin ist sie jedoch richtig? Sie ist es, indem es ihr gelingt
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vorhebungen, Akzente und Betonungen, die der Interpret (und bereits der Akt des Lesens) dem Text verleiht. Man kann den Sinn des Textes nicht ohne eine solche Überhellung wiedergeben (WM, 404), die im Dienst der Sache steht. In dieser Versprachlichung des Sinnes vollzieht sich der wesentliche Dialog mit dem Text. Die Übersetzung bietet hier erneut die beste Veranschaulichung dieses Vorganges: Je weniger das Genie des Übersetzers auffällt,je richtiger wird seine Übersetzung sein. 109 Ebenso wirdjede Interpretation auf die Sache selbst des Textes abzielen. Die Interpretation überzeugt nur, wenn es ihr gelingt, diese Sache überzeugend, d. h. gut begründet darzustellen. Natürlich kann die faktisch zustande gekommene Überzeugung eine sachlich unrichtige sein, aber es obliegt einer neuen Interpretation, das überzeugend zu machen. Stets ist es die Sache selbst, die sich sprachlich, d. h. vermöge einer Anwendungs- bzw. Vermittlungsleistung nachvollziehen läßt. Insofern ist jede Interpretation ein »Dialog« mit dem Text und seiner Sache. Die schillernde Bedeutung des deutschen Wortes »Verständigung« kommt hier Gadamers Intentionen sehr entgegen. Verstehen heißt ja ftir ihn »Sichverständigen«. Aber man versteht sich immer mit jemandem (im Alleingang auch mit sich selbst, wenn man sich von etwas überzeugt) über bzw. in etwas. Ferner heißt das Resultat des Verstehens oder der Verständigungsbemühung auch eine »Verständigung« im Deutschen. Man darf hier von einer gewissen Selbständigkeit des Dialogs sprechen, in dem sich die Sache behauptet, so daß die Gesprächspartner weniger die Dialogfuhrenden als die Geftihrten sind (vgl. WM, 407). Nur wenn diese gesuchte Verständigung ausbleibt, wird es zulässig, eine Zuflucht zu psychologistischen, historisierenden und im Therapiefall psychoanalytischen Deutungen zu nehmen. Die Auffassung, der gemäß die Sprachlichkeit den hermeneutischen Gegenstand und den hermeneutischen Vollzug erschließt, besagt also, daß das zu Verstehende ein im Prinzip 109 Vgl. WM, 407: »Der Ausleger weiß nicht darum, daß er sich selbst und seine eigenen Begriffe in die Auslegung mit einbringt.«
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sprachliches Sinngebilde ist, das das Verstehen sprachlich nachzuvollziehen sucht. Man könnte hier aber sehr wohl entgegnen, daß der Gegenstand und der Vollzug des Verstehens doch nicht unbedingt sprachlich sein müssen. Wo liegt etwa diese Sprachlichkeit in der musikalischen Interpretation oder im anschauenden Verstehen eines Bildes? Sie scheinen eher eine Bewunderung oder einen sinnlichen Nachvollzug (bzw. eine Ablehnung) hervorzurufen, die man nicht ohne weiteres als sprachlich charakterisieren darf. Angesichts eines musikalischen oder plastischen Meisterwerkes scheint in der Tat jedes Wort zu viel. Gadamer zieht sehr wohl dieses Gegenargument in Erwägung, vermag aber in Wahrheit und Methode darin noch keine Begrenzung seiner These zu sehen: »Der grundsätzliche Vorrang der Sprachlichkeit, den wir behaupten, muß recht verstanden werden. Gewiß erscheint die Sprache oft wenig fcihig, das auszudrücken, was wir fühlen. Angesichts der überwältigenden Präsenz von Kunstwerken erscheint die Aufgabe, in Worte zu fassen, was sie uns sagen, wie ein unendliches Unternehmen aus einer hoffnungslosen Ferne. [ ... ] Allein das ändert nichts an dem grundsätzlichen Vorrang der Sprachlichkeit.« (WM, 405) Es ist hervorzuheben, daß Gadamer hier weniger von Sprache als von »Sprachlichkeit« spricht. Im Lesebuch-Gespräch von 1996 hat er diesen Unterschied etwas näher ausgeführt (LB, 286ff.). Unter Sprachlichkeit meint er nur die auf Sprache, d. h. auf einen Nachvollzug angewiesene Bemühung unserer Endlichkeit, die sehr wohl um die Grenzen der jeweiligen Aussagen weiß. Gemeint ist die Virtualität des sprachlichen Verstehens, d. h. die immer offene, wenngleich nicht immer verwirklichte Möglichkeit eines verstehenden Nachvollzugs, dem man Folge leisten kann. So ruft ein Bild, eine AufI'ührung, ein Musikstück einen Nachvollzug hervor, auch wenn es ihre Absicht ist (wie in der modernen Kunst nicht unüblich), jeden Anspruch auf Verständlichkeit oder sprachliche Intelligibilität zu zerstören. Hier gilt es, sich der Lehren der Gadamerschen Ästhetik zu erinnern: Als Aussage ist das Kunstwerk auf eine Antwort angewiesen. Diese Anrede ist nach Gadamer Sprache, besser: Sprachlichkeit, und zwar in demselben Sinne wie
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eme Geste, ein Blick oder ein Schweigen eine Frage, eine Einladung oder eine Bitte sein können. Sie sind dann, um mit Proust zu sprechen, »so evident wie ein Satz«.110 Besonders lehrreich ist in Wahrheit und Methode die Diskussion des Gegenbeispiels des Künstlers, der jede sprachliche Interpretation seines Werkes als sekundär, verfehlt oder unkünstlerisch abweisen würde. Aber er kann nicht leugnen, argumentiert Gadamer, »daß die reproduktive Interpretation einer solchen Rechenschaft grundsätzlich fähig ist« (WM, 403). Mit anderen Worten: Eine sprachliche Interpretation kann er nur in Abrede stellen, weil sie dem zu Sagenden nicht gewachsen ist. Der Künstler, der die sprachliche Interpretation von sich abweist, tut es nur im Namen einer anderen Interpretation, die im Prinzip überzeugender wäre und der man folgen könnte. Die beste Antwort auf ein Musikstück kann beispielsweise ein Tanz sein (den man sich im besten Fall sprachlos wünscht!). Es ist dieses Überzeugtsein, dieses Folgenkönnen, dieses Dabeisein, das nach Gadamer den Vollzug einer jeden Interpretation ausmacht. Muß man hier unbedingt von Sprache und Sprachlichkeit sprechen? Ich bin nicht völlig davon überzeugt, aber in Wahrheit und Methode liegt Gadamer sehr daran, so sehr, daß er in diesem Kontext zum ersten Mal von der Universalität der Sprache oder der Sprachlichkeit spricht. 110 Vgl. Le C8te de Guermantes II, ch. 2, Gallimard, 1954, 70: » ••• le document compromettant frappait tout d'abord mes yeux comme il n'avait pas pu ne pas frapper ceux de Franyoise, place par elle tout en dessus, presque apart, en une evidence qui etait un langage, avait son eloquence, et des la porte me faisait tressaillir comme un cri.« Dasselbe Motiv in Sodome et Gomorrhe II, Gallimard, 1988,16: »Maintenant l'abstrait s'etait materialise, l' etre enfin compris avait aussitot perdu son pouvoir de rester invisible et la transmutation de M. de Charlus en une personne nouvelle etait si complete que non seulement les contrastes de son visage, de sa voix, mais retrospectivement les hauts et les bas eux-memes de ses relations avec moi, tout ce qui avait apparu jusque-la incoherent a mon esprit, devenait intelligible, se montrait evident comme une phrase, n' offrant au<;:un sens tant qu' elle reste decomposee en lettres disposees au hasard, exprime, si les caracteres se trouvent replaces dans l'ordre qu'il faut, une pensee que l'on ne pourra plus oublier.«
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Er meint damit, daß jede Erinnerung an die Grenzen der Sprache Anteil an der Universalität des sprachlichen Mediums hat. So bleibt selbst das Unaussagbare, das man immer wieder gegen die Universalität der Hemeneutik zur Sprache (1) bringt, auf Sprache angewiesen: Das Unaussagbare, das Schreckliche wie das unaussagbar Erfreuliche, ist nämlich nur unaussagbar im Lichte all dessen, was auszusagen wäre, auch wenn es keine Sprache dafür gibt. Uns fehlen die Worte, weil wir tragisch nach ihnen suchen. Was sich der Sprache entzieht, schreit auf schmerzliche Weise nach Sprachlichkeit, nach Mitvollzug. Insofern, behauptet Gadamer, »überholt die Sprache alle Einreden gegen ihre Zuständigkeit«, so daß »ihre Universalität [ ... ] mit der Universalität der Vernunft Schritt« hält (WM, 405). Die Universalität ist aber hier immer die Universalität des Sagenwollens. Das Nichtsprachliche, das Unnennbare, alles Außer- oder Übersprachliche, sofern es evoziert wird, und erst recht wenn es stimmlos bleibt, partizipiert an der zumindest möglichen Aussagbarkeit. In diesem und nur in diesem Sinne kann Wahrheit und Methode in dem oft mißverstandenen Ausspruch gipfeln: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. « (WM, 478) Gemeint ist, daß das nicht zur Sprachlichkeit Gekommene nicht recht verstanden werden kann. Das Sein, das nicht verstanden werden kann, ist [ur uns nicht Sprache. Wir »verstehen« nur das klein bißchen Sein, das wir sprachlich herauszustammeln vermögen. Aber auch dieses verstandene Sein schöpft nie all das aus, was über dieses Sein auszusagen wäre. Die Erfahrung der Grenzen der Sprachlichkeit liegt also sehr wohl der hermeneutischen Sprachkonzeption zugrunde. Das schließt keineswegs aus, daß wir vieles nicht verstehen. Es gibt so vieles, was wir nicht verstehen! Vielleicht gibt es nur das. Denn die Verständlichkeit der Sprache setzt selbst diese grundlegende Unverständlichkeit voraus, und zwar in dem präzisen Sinne, in dem Heidegger in Sein und Zeit nachwies, daß das »beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein [ ... ] ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins [ist], nicht umgekehrt« (SZ, 189). Zur Geworfenheit dieses In-der-Welt-seins gehört es, daß wir uns in eine Sprache geworfen befinden, die etwas
Unterwegs zur unheimlichen Nähe der Sprache
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Sein verständlich sein läßt, die sich aber selbst der Verständlichkeitentzieht, weil sie uns so unheimlich nahe steht. Die heimatliche Vertrautheit der Sprache hat insofern selbst etwas Unheimliches,ja Unvordenkliches: »Aber was ist Heimat fUr uns, dieser Ort der Urvertrautheit? Wo ist er, was wäre er, ohne die Sprache? Zur Unvordenklichkeit der Heimat gehört vor allem die Sprache!«111 Gadamer scheint dabei zweifelsohne den Akzent auf die unhintergehbare Vertrautheit der Sprache, vor allem der Muttersprache zu legen. Die Sprache erscheint bei ihm deswegen weitgehend als das urbane, zivilisierende Element der Heimat, der Verständigung und der Vertrautheit. Man kann aber nur von Heimat sprechen, wenn man das Unheimliche voraussetzt. Denn: »[ ... ] wer ist in einer Sprache zu Hause?« (GW 8,56) In die Verständlichkeit der Sprache wird zwar alles geborgen, aber ineins damit auch verborgen. Die Unvordenklichkeit der Sprachlichkeit und selbst der uns vertrautesten Sprache behält im Grunde etwas Ungeheures: Was sich sagen läßt, auch wenn es sich in voller Evidenz sagen läßt, läßt zugleich immer etwas entschwinden, weil es sich einer gegebenen, oft vereinfachenden und vereinnahmenden Verständlichkeit beugt. Die Sprache als Haus des Seins ist doch oft ein Gehäuse, wo man sich eng fühlt. Der späte Gadamer hat diese Erfahrung des Mangelns an Sprache immer stärker berücksichtigt. Er hat sie am Schluß seines wichtigen Aufsatzes von 1985 über die »Grenzen der Sprache« mit der Urerfahrung unserer sterbenden Endlichkeit in Zusammenhang gebracht: »Es ist das Bewußtsein, daß jeder Sprechende injedem Augenblick, in derri er das richtige Wort sucht - und das ist das Wort, das den anderen erreicht 111 HGG, »Leben ist Einkehr in eine Sprache. Gedanken über Sprache und Literatur«, in Universitas 10 (1993),923. Vgl. GW 3,84: Die Sprache »hält uns ganz umfangen, wie die Stimme der Heimat, die eine unvordenkliche Vertrautheit atmet.« GW 3, 236: »Aber wie das Denken des Unvordenklichen das Seine, z. B. die Heimat, bewahrt, wird doch auch • das Unvordenkliche unserer Endlichkeit in der beständigen Sprachwerdung unseres Daseins mit sich selbst geeint und ist im Auf und Ab, im Entstehen und Vergehen, >da<.«
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zugleich das Bewußtsein hat, daß er es nicht ganz trifft. Immer geht ein Meinen, ein Intendieren über das hinaus, an dem vorbei, was wirklich in Sprache, in Worte gefaßt den anderen erreicht. Ein ungestilltes Verlangen nach dem treffenden Wort - das ist es wohl, was das eigentliche Leben und Wesen der Sprache ausmacht. Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Unerfüllbarkeit dieses Verlangens, des desir .(Lacan), und der Tatsache, daß unsere eigene menschliche Existenz in der Zeit und vor dem Tode vergeht.« (GW 8,361) Jedes noch so vertraute In-der-Sprache-wohnen hängt selbst »auf dem Rücken eines Tigers«, um mit Nietzsche (KSA 1, 877) und Foucault zu sprechen. Ausgehend von diesem Bewußtsein des unheimatlichen Charakters unserer Sprachgeworfenheit läßt sich durchaus eine Brücke von der Hermeneutik zur Derridianischen Dekonstruktion schlagen. 112 Ein widerborstiges Element bleibt also die Sprachlichkeit. Da sie allem Verstehen zugrundeliegt, muß sie aber als Feld oder Dickicht der Philosophie wiederentdeckt werden. Nach Gadamer - und das ist die historische Hauptthese im Sprachteil von Wahrheit und }Uethode - hat sich nämlich die abendländische Tradition durch eine hartnäckige Sprachvergessenheit ausgezeichnet. .
112 Vgl. meinen Vorschlag »La definition derridienne de la deconstruction«, in Archives de philosophie 62 (1999),5-16. Foucaults angeführte Bezugnahme auf Nietzsehe findet sich in Les mots et {es choses, Paris, Gallimard, 1966, 333.
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Von der platonischen Sprachvergessenheit zu ihrer augustinischen Freilegung »Oberster Grundsatz der philosophischen Hermeneutik ist, wie ich sie mir denke (und deshalb ist sie eine hermeneutische Philosophie), daß wir nie das ganz sagen können, was wir sagen möchten.«113 Hans-Georg Gadamer
In Wahrheit und Methode erweist sich Platon als der Hauptverantwortliche für die Sprachvergessenheit, die die ganze Denkgeschichte des Abendlandes bestimmt und charakterisiert haben soll. Im Meer dieser Sprachvergessenheit soll der mit Augustin gefaßte Gedanke der Inkarnation die einzige Ausnahme bilden. Das ist der Sinn von Gadamers schwerwiegender Behauptung am Anfang seines Kapitels über »Sprache und Verbum« in seinem magnum opus: »Es gibt aber einen Gedanken, der kein griechischer ist und der dem Sein der Sprache besser gerecht wird, so daß die [mit Platon einsetzende] Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens keine vollständige werden kann. Es ist der christliche Gedanke der Inkarnation.« (WM, 422) Auch wenn ihr eine enorme Bedeutung in der dramatischen Konzeption von Wahrheit und Methode zukommt, ist der Sinn dieser gewagten These alles andere als evident. Um sie zu verstehen, um die »augustinische Ausnahme« zu begreifen, muß zunächst die abendländische Sprachvergessenheit erörtert werden. Wenn Heideggers Thema die Seinsvergessenheit war, so bildet die Sprachvergessenheit die große Herausforderung von Wahrheit und Methode. Und analog zu Heidegger, beginnt diese Vergessenheit rür Gadamer mit Platon.
113 GW 10, 274. Vgl. TPHGG, 496: »In this lies the real problem which really came to my full attention only through Heidegger and which found expression in the Scholastic distinction of actus signatus and actus exercitus. It concerns the fact that not everything which one knows and can know in effect is sayable in a thematic assertion.«
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Die Sprachvergessenheit bedeutet zunächst, daß in der abendländischen Denktradition der wesentliche Bezug des Denkens zum sprachlichen Medium unterschlagen wurde. Anstatt sich rur diesen Bezug zu interessieren, konzentrierte sich das abendländische Denken auf das Verhältnis des Denkens zur Welt. In diesem Verhältnis wurde die Sprache lediglich, wenn sie denn überhaupt zum Thema gemacht wurde, zu einem Instrument des Denkens heruntergestuft: Worte sind nur dazu da, um Gedanken zu bezeichnen, die ohne sie auch da, d. h. im Denken, sein könnten. Dieses instrumentale Sprachverständnis entspricht dem des Nominalismus im weiten Sinne: Worte sind nichts mehr als »nachträgliche«, weitgehend konventionelle Bezeichnungen oder Zeichen rur Dinge und Gedanken. Der Name der »Rose« zum Beispiel ist lediglich eine Bezeichnung rur das Ding »Rose« bzw. ihren Gedanken. In dem Namen stecke nichts mehr als in dem Ding selbst, das ich anschauen oder riechen kann, oder in dem Gedanken, den ich nachvollziehe. Der Name der »Rose« könnte irgendein anderer sein und nichts würde sich an dem Sachverhalt ändern. Natürlich denke ich hier an Shakespeares berühmte Frage in Romeo andJuliet: »What's in a name? That which we call a rose, By any other name would smell as sweet?« Dieser latente Nominalismus, der wohl auch der gewöhnlichen Sprachauffassung des Menschen entspricht, bildet nach Gadamer die stillschweigende Voraussetzung des abendländischen Sprachdenkens. Er verbirgt jedoch nach Gadamer eine Sprachvergessenheit, weil Sprache in dieser Konzeption kein eigenes Gewicht, keine rechte Dichte erlangt: Sie dient nur als Instrument fur ein ohne sie mögliches Denken. Mit anderen Worten: Daß Sprache ein notwendiges und vorheriges Element eines jeden Denkens bildet, wird nicht eigens bedacht. Die unangetastete Souveränität des Denkens gegenüber der Sprache beweist sich nicht zuletzt darin, daß logisches Denken sprachliche Konventionen statuieren und sprachliche Äquivokationen heben kann. Sprache tritt damit in ein sekundäres und sogar kontingentes Verhältnis zum Denken. Dies besiegelt fur Gadamer eine Sprachvergessen-
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heit, nämlich ein Vergessen der Sprachlichkeit als des Elements eines jeden Denkvollzuges. Ihr erster und folgenschwerer Vollstrecker ist ftir Gadamer kein anderer als Platon. Wer das ganze Werk des Platonikers Gadamer überschaut, wird über die Strenge seiner Auseinandersetzung mit Platons Sprachkonzeption in diesem strategisch wichtigen Abschnitt von Wahrheit und Methode erstaunt, ja verblüfft sein. Denn das hermeneutische (und rhetorische) Sprachverständnis, das Gadamer freizulegen bestrebt ist, erweist sich sonst Platon stark verpflichtet. Der Platon, dem Gadamer im allgemeinen am nächsten steht, ist der des Siebten Briefes oder des Phaidros mit seinem Hinweis auf die dialogische Einbettung einer jeden Aussage in ein nachzuvollziehendes Sagenwollen: Jede Aussage kann aus ihrem Kontext herausgelöst werden und damit ihren hermeneutisch-rhetorischen Sinn einbüßen. Diese Aussagekritik macht einen nicht unerheblichen Bestandteil der Gadamerschen Sprachauffassung aus. In dieser Hinsicht müßten Platon und sein Siebter Brief Gadamers Verbündete sein. In Wahrheit und Methode indessen ist es Platons massive Relativierung des sprachlichen Mediums als solchem, die Gadamer stört und zur Gegenwehr herausfordert. Das mag damit zusammenhängen, daß er sich dort auch weniger dem Phaidros oder dem Siebten Brief, oder allgemeiner dem dialogischen Platon, als dem Kratyios widmet, der auch sonst als Platons eigentlich sprachphilosophisches Werk gilt. Bekanntlich werden dort zwei Thesen über den Ursprung der sprachlichen Bezeichnungen aufgestellt: nach der einen entstammen sie einer Konvention, einer Setzung (thesel), nach der anderen eher einer natürlichen (physel) Ähnlichkeit mit den Dingen. Es handelt sich um sophistische Theorien, und es läßt sich bekanntlich nicht unmittelbar ermitteln, welche Platon selbst vorzieht. Diese Frage ist jedoch ftir Gadamers Belange auch sekundär. Ihn beschäftigt vielmehr die stillschweigende Voraussetzung dieser Kontroverse, nämlich daß das Wort in beiden Fällen lediglich als Name und Zeichen gefaßt wird, als ob die Dinge erkannt werden könnten, ehe sie von Worten bedeutet werden. Nach Gadamer wolle Platon nämlich zeigen, daß man nicht durch
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Worte zur Erkenntnis der Dinge gelange. Er wolle sich damit von den Sophisten absetzen, die lehren, daß eine Beherrschung der Worte eine Meisterung der Sachen verbürge. Dem gegenüber müsse sich nach Platon die echte Erkenntnis so weit wie möglich von der Herrschaft der Worte befreien, um zu den Dingen selbst, d. h. zu den Ideen zu streben und zu gelangen. Platon wolle damit nicht unbedingt in Abrede stellen, daß sich die philosophische Erkenntnis auch sprachlich vollziehe, aber sein Hauptpunkt sei der, daß das Wort nicht selbst zur Kenntnis des Wahren führe. 114 Es bleibt aber dabei, daß die reine Erkenntnis der Ideen keinen essentiellen Bezug zur Sprache behält. Sprache werde hier von Platon durchweg als ein »äußeres Moment von bedenklicher U neindeutigkeit anvisiert« (WM, 411). Platon scheine in diesem Kontext sogar zu übersehen, daß das als Gespräch der Seele mit sich selbst definierte Denken ipso facto sprachlich fundiert sei. Es ist aber auch Gadamer, der sich in diesem Abschnitt nicht sonderlich für den dialogischen Charakter der platonischen Sprachauffassung interessiert, auf dem er sonst in allen seinen anderen Schriften zu Platon insistiert. Wenn er den Siebten Brief in dem Kapitel über »Sprache und Logos« anführt, dann nur, um an ihm zu verdeutlichen, wie sehr Sprache auf die Erkenntnis des Einen, die Idee, hingeordnet bleibt (WM, 411). Damit bleibt die Sprache der noeti114 Der entscheidende Passus rur diese Argumentation ist WM, 411: »Plato will mit dieser Diskussion der zeitgenössischen Sprachtheorien zeigen, daß in der Sprache, in dem Anspruch auf Sprachrichtigkeit (orthotes tön onomatön) keine sachliche Wahrheit (aletheia tön ontön) erreichbar ist und daß man ohne die Worte (aneu tön onomatön) das Seiende erkennen müsse rein aus sich selbst (auta ex heautön). [ ... ] Die Dialektik, auf die dies zielt, beansprucht offenbar, das Denken so aufsieh selbst zu stellen und seinen wahren Gegenständen, den )Ideen< zu öffnen, daß damit die Macht der Worte (dynamis tön onomatön) und ihre dämonische Technisierung in der sophistischen Argumentierkunst überwunden wird. Die Übersteigerung des Bereichs der Worte (onomata) durch die Dialektik soll natürlich nicht heißen, daß es wirklich ein wortfreies Erkennen gäbe, sondern nur, daß nicht das Wort den Zugang zur Wahrheit öffnet, sondern umgekehrt: daß die )Angemessenheit< des Wortes erst von der Erkenntnis der Sachen aus zu beurteilen wäre.«
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schen Ideenkenntnis untergeordnet und erweist sich damit als ein sekundäres Erkenntnismoment. Dies fuhrt Gadamer zu einem Verdikt über Platon von erstaunlicher Strenge: »Man muß· also als Ergebnis formulieren, daß die Entdeckung der Ideen durch Plato das eigene Wesen der Sprache noch gründlicher verdeckt, als es die sophistischen Theoretiker taten, die im Gebrauch und Mißbrauch der Sprache ihre eigene Kunst (techne) entwickelten.« (WM, 412). Das Urteil ist so kompromißlos, daß man sich nahezu die Augen reiben möchte: Platon war noch verdeckender als die Sophisten! Es steht außer Zweifel, daß Heidegger, obwohl er nicht genannt wird, einen großen Schatten auf diesen Abschnitt wirft. Wie bei Heidegger erscheint Platon mit seiner logooder ideozentrischen Sprachauffassung als der Vorreiter einer Herrschaftsmetaphysik, die dazu tendiert, Sprache in eine Art characteristica universalis umzugestalten. Indem er Sprache auf ihre instrumentelle Funktion für das Denken reduziere, bereite Platon, in Gadamers hier sehr heideggerianisierenden Worten, eine Auffassung vor, für die »das Sein als die absolut verftigbare Gegenständlichkeit« gefaßt werden könne (WM, 418). Gadamer fällt ein so hartes Urteil über Platons »noetische« Verdeckung der Sprache, weil er in ihr die entscheidende »Prägung des Begriffs >Sprache< durch die Denkgeschichte des Abendlandes«, so der Titel des entsprechenden Textabschnittes in Wahrheit und Methode, sieht. Von nun an wird die Behandlung der Sprache im ganzen Abendland im Schatten dieser instrumentalistischen, nominalistischen Sprachauffassung des Platonismus stehen. In Platons »Hinausweisung der Erkenntnis in die intelligible Sphäre«, die aus der Reduzierung der Sprache auf ihre Zeichenfunktion herrührt, drückt sich eine folgenschwere, ja nach Gadamer fatale »Entscheidung über das Denken dessen, was Sprache ist, aus, die Epoche gemacht hat« (WM, 418). Die Wirkungs geschichte des sprachlichen Platonismus bestand darin, daß Sprache nur noch als eine Veräußerlichung von Gedanken betrachtet wurde, die sich ohne sie sehr gut,ja gegebenenfalls viel besser entfalten könnten. »Das Denken enthebt sich so sehr des Eigenseins der Wörter, nimmt sie als bloße Zeichen, durch die
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das Bezeichnete, der Gedanke, die Sache in den Blick gerückt wird, daß das Wort in ein völlig sekundäres Verhältnis zur Sache gerät. Es ist bloßes Werkzeug der Mitteilung, als das Heraustragen (ekpherein) und Vortragen (logos prophorikos) des Gemeinten im Medium der Stimme.« (WM,418). Die damit anhebende Sprachvergessenheit geht einher mit dem sekundären und oft problematischen Status, der der Sprache im Rahmen der Erkenntnis zuerkannt wird. Der Logos des Erkenntnisvollzugs hat prinzipiell nichts mit der vorherigen Textualität oder Materialität einer Sprache zu tun, sondern mit einer Logik, die die Ordnung der Ideen wiedergibt, wie sie sich in der intelligiblen Klarheit des reinen Verstandes noch sprachlos zusammenfügt. Im besten Fall reproduziert Sprache den logischen Gang der Gedanken, im schlimmsten Fill verunstaltet sie ihn durch Äquivokationen oder unzureichende Metaphern, die eine logische Kritik der Sprache auf den Plan rufen, wie sie wohl bis heute die analytische Sprachkonzeption weitgehend bestimmt. Es erhebt sich aber die Frage: Wird diese logistische Sprachauffassung dem tatsächlichen Vollzug des Denkens und der Vorgängigkeit der Sprache fur jedes Denken gerecht? Nach der großartigen Übertreibung von Gadamer in Wahrheit und Methode (seltsamerweise wurde sie in anderen Schriften nicht wiederholt) kennt diese logistische Sprachvergessenheit des Abendlandes nur eine Ausnahme: den christlich-augustinischen Inkarnationsgedanken. Das hört sich zunächst sehr sonderbar an. Denn man assoziiert viel eher Augustin mit einer instrumentalistischen Sprachauffassung. Wittgenstein hatte es ja am Anfang seiner Philosophischen Untersuchungen wirkungsvoll getan, und zwar mit einem gewissen Recht. Denn in seinen sprachphilosophischen Schriften huldigt Augustin tatsächlich einer instrumentalistischen und platonischen Sprachkonzeption. Sein De magistro zum Beispiel ist ein Dialog über die Nachteile der Sprache fur das Denken und die Lehre. In Wahrheit und Methode wird Gadamer auch nicht sehr großes Interesse für Augustins sprachphilosophische Schriften an den Tag legen. Er bezieht sich viel eher auf Augustins Gedanken zur Trinitätslehre in dessen Traktat
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De trinitate, von dem man doch zugeben wird, daß es keinen natürlichen oder besonders kristallklaren Ausgangspunkt rur eine Sprachreflexion bildet. Außerdem zitiert Gadamer Augustin äußerst selten. Er begnügt sich mit einer generellen Anspielung auf die Kapitel10-1S des 1.S.Buches von De trinitate (WM, 424). Der am meisten zitierte Autor in diesem Abschnitt Gadamers ist auch nicht Augustin, sondern Thomas von Aquin! Was hat Gadamer an Augustin so sehr fasziniert? Es war zunächst, wie der Text von Wahrheit und Methode unterstreicht (WM, 422), der christliche (und nicht nur und nicht der spezifisch augustinische) Gedanke der Inkarnation. Gadamer hebt zu Recht hervor, daß dieser Gedanke nichts Griechisches hatte, da er nicht eine »Einkörperung« im platonischen, gnostischen Sinne meinte, nach der ein spirituelles Sein, eine Seele oder ein Geist in einen ihm wesensfremden Körper »herunterfällt«. Diese gnostische Einkörperungsidee entsprach übrigens nicht wenig der instrumentellen Sprachkonzeption Platons, nach der ein materiales Zeichen immer auf einen rein geistigen Gedanken zurückverweist, der von der zufälligen Materialität des Zeichens unabhängig bleibt, um am besten ohne es erfaßt zu werden. Deshalb konnte die unabdingbare »Materialität« der Sprache,ja die Sprache selbst im Zuge dieses Einkörperungsgedanken, keine rechte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 115 Das Geheimnis der Inkarnation zwingt aber dazu, das Verhältnis von Geist und Materie anders zu denken, ja umzudenken. Die Inkarnation des Sohnes bildet ja keine Herabwürdigung oder Verminderung Gottes, da sie dessen volle, wesentliche und fur uns heilbringende Manifestation »verkörpert«. Für die christliche Dogmatik bedeutet somit die Inkarnation keinen Verlust, keinen Abfall Gottes. Darin erahnt Gadamer den rettenden Gedanken. Es geht ihm freilich nicht um den theologischen Kontext, sondern um die 115 Diese Verachtung des Körperlichen erklärt auch die Feindschaft des griechischen Denkens, insbesondere des Neuplatonismus gegenüber der christlichen Inkarnationsidee, da sie des Göttlichen unwürdig erachtet wurde. Vgl. dazu die trefflichen Ausfuhrungen von Pierre Hadot, Plotin ou la simplicite du regard, Paris, Gallimard-Folio, 1997,26.
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sprachphilosophischen Konsequenzen, die diese ungriechische Rehabilitierung der (sprachlichen) »Fleischlichkeit« zur Folge hat. Denn damit kann erstmals die Sprachlichkeit in der ihr eigenen Materialität und Ereignishaftigkeit als Thema hervortreten. Der christliche Inkarnationsgedanke hat also die Sprache aus der spirituellen Geistigkeit des Denkens befreit und allererst zugänglich gemacht. Augustin hat sich bekanntlich an das Modell der Sprache angelehnt, um sich dem Inkarnationsgeheimnis anzunähern. Gadamer macht das Umgekehrte, indem er sich auf das Modell der Trinität bezieht, um den Ereignischarakter der Sprache neu zu denken. Auch wenn die Inkarnation kein griechischer Gedanke war, ging Augustin gleichsam notgedrungen, da es keine andere begriffiiche Terminologie gab, von griechischen Begriffen aus, nämlich von der stoischen Unterscheidung zwichen dem äußeren und dem inneren logos (logos prophorikos und endiathetos), um ihr jedoch einen ungriechischen Sinn abzugewinnen. Bei den Stoikern bezeichnete der innere Logos den Raum des Denkens, der der sprachlichen Veräußerlichung vorhergeht und der die Auszeichnung der menschlichen Spezies darstellt: andere Tiere verfugen sehr wohl über einen äußeren Logos (Vögel zwitschern, Hunde bellen usw.), aber nur bei uns Menschen geht dem Sprechen ein Denken voraus. In ihrer sprachphilosophischen Reflexion legen also die Stoiker den Akzent eindeutig auf den inneren Logos als logischen Denkprozeß, von dem der äußere Logos nichts mehr als die (oftmals imperfekte) Verlautbarung ad extra bietet. In seiner trinitarischen Reflexion muß aber Augustin ein neues Augenmerk auf den logos prophorikos richten. Für das christliche Verständnis kann es sichja aufkeinen Fall um eine sekundäre oder unwesentliche Erscheinung handeln. Die ins Denken nicht restlos einzuholende Materialität des Logos gewinnt damit auf einmal eine unüberbietbare Dringlichkeit und Bedeutung. Dieser ungriechische Gedanke hat Gadamer offenbar sehr inspiriert. Er zog daraus gewaltige sprachphilosophische Konsequenzen. Die erste Konsequenz ist die der Wesensgleichheit des inneren und des äußeren Wortes im Inkarnationsvorgang. Für
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Gadamers hermeneutisches Sprachverständnis hat dies zur Folge, daß sich der reine Akt des Denkens nicht recht von seiner sprachlichen Manifestation und Veräußerlichung·unterscheiden läßt. Die Materialität der Sprache stellt nicht mehr eine noch unvollkommene, weil bildliche Erscheinungsform des Denkens dar, sie wird zu deren einziger Verwirklichungsstätte. In diesem Sinne bildet rur Gadamer Augustin - oder allgemeiner gesehen: der christliche Inkarnationsgedanke eine großartige Ausnahme im Meer der abendländischen Sprachvergessenheit. Für uns wie für die göttliche Inkarnation stellt die Veräußerlichung des Wortes im logos prophorikos keinen zweiten und nachträglichen Prozeß im Vollzug der Erkenntnis dar, sie verschmilzt mit diesem Erkenntnisprozeß: »Das Wort wird nicht erst gebildet, nachdem die Erkenntnis vollendet ist, [ ... ] sondern es ist der Vollzug der Erkenntnis selbst. Insofern· ist das Wort mit dieser Bildung (jormatio) des Intellektes zugleich.« (WM, 428). Die Identität, die Gadamer hier hervorkehren will, ist die des Denkens und seiner sprachlichen Ausgerichtetheit. Das innere Denken geht nicht dem Sprechen voraus, es ist selbst so etwas wie ein inneres Sprechen: »Es handelt sich um mehr als um ein bloßes Bild, denn das menschliche Verhältnis von Denken und Sprechen entspricht in aller Unvollkommenheit doch dem göttlichen Verhältnis der Trinität. Das innere Wort des Geistes ist mit dem Denken genauso wesensgleich, wie Gottessohn mit Gottvater.« (WM,425) Die zweite Konsequenz folgt aus dem Prozeß- und Geschehenscharakter der Inkarnation: Die Inkarnation läßt sich ja nicht als ein rein spirituelles Ereignis fassen. Sie ist buchstäblich Fleischwerdung. Für die hermeneutische Sprachauffassung hat dies zur Folge, daß die Fleischwerdung des Denkens in, besser: als Sprache unabdingbar zum Sinn gehört, der verstanden, geteilt und mitgeteilt werden kann. Endliche Wesen wie wir haben an dem Geschehen des Sinnes nur kraft der vielfältigen Materialität seiner Erscheinungen und Bilder teil. Diese Vielfalt ist nicht die der rein logischen Schlüssigkeit. Das Denken existiert nur in dieser Fleischwerdung, in dieser inkarnierten Bildlichkeit und Vielfalt. Gadamer drückt es so
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aus: Das (innere) Wort wird nicht durch einen reflexiven Akt gebildet (WM, 430).Es gibt nicht zuerst einen logischen Akt der Reflexion oder des Denkens, dem ein Wort in einem nachfolgenden Vorgang angeheftet wird. Dieser reflexive Akt des Denkens, wenn man ihn denn denn als solchen von der Sprache isolieren kön:p.te (was nach Gadamer unmöglich ist), müßte vor der Sprachlichkeit stattfinden, im Raum des reinen Denkens. Es ist gerade dieser Raum des rein Noetischen, den der augustinische Inkarnationsgedanke problematisiert, wenn er auf die unabdingbare Fleischlichkeit eines jeden Sinnes ftir uns abhebt. Für Gadamer besagt dies, daß sich das Denken nicht mehr außerhalb oder gar vor der Sprachlichkeit denken läßt. Die Materialität der Sprache bildet immer schon das unvordenkliche Element, in dem sich jedes Denken entfalten kann und muß. Sofern das Denken ein Vorgang, ein procedere ist, ist es Sprache,ja Sprachsuche. Es gibt eine dritte, subtile und sehr wichtige Konsequenz: Diese unabdingbare Materialität der Sprache impliziert nicht, daß sich das ganze Denken auf die Ebene der tatsächlichen Aussagen reduzieren läßt. Wie im christlichen Inkarnationsgedanken bleibt die spannungsvolle Differenz zwischen dem äußeren und dem inneren Wort erhalten: Das äußere Wort weist nach wie vor auf den Nachvollzug eines inneren Wortes hin, um in seiner ganzen Fülle verstanden zu werden. Das äußere Wort schöpft nie das innere aus, es indiziert es nur. Worin besteht aber dieses geheimnisvolle innere Wort, fragt Gadamer? Alles, was sich von ihm sagen läßt, ist, daß es »der bis zu Ende gedachte Sachverhalt« (WM, 426) wäre. Aber dies ist ftir uns endliche Wesen nichts mehr als ein Grenzbegriff. Denn wann ist ein Sachverhalt bei uns je schon zu Ende gedacht? Dieser Grenzbegriff ist nichtsdestoweniger unabdingbar, um die Prozeßhaftigkeit und Endlichkeit unseres sprachlichen Denkens angemessen in den Blick zu bekommen. Die Worte, die wir verwenden, bilden ja immer nur einen kontingenten Ausschnitt des »ganzen« Sachverhalts. Es sind die Worte, die uns zukommen, aber mit denen es nie gelingt, all das zu sagen, was ftir die Einsicht in den Sachverhalt zu sagen wäre. Sprache bleibt immer hinter all dem zurück, was zu sagen wäre. Der
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gnostische, platonische Irrtum wäre hier aber zu meinen, daß sich diese Vollkommenheit des Denkens anderswo fände, daß sie etwa in einer noetischen Sphäre des logos endiathetos zu erreichen wäre. Dieses innere Wort, das nichts als Denken und vollkommen vorsprachlich wäre, gibt es nicht. Jedes Denken hat Anteil an der Dichte und Bildhaftigkeit der Sprachlichkeit. Nur das innere Wort erlaubt es, die spannungsvolle Differenz - wenn nicht die diffbance - zwischen dem Ausgesagten (dem logos prophorikos) und all dem mitzuhören, was zu sagen wäre, um allen Mißverständnissen aus dem Wege zu gehen (was natürlich nie gelingt). Aber dieses hinter der äußeren Sprache zu Hörende bleibt ein zu Sagendes, ein nach Sprache Ringendes. Es ist dieses innere Wort, das man hinter den äußeren Worten zu verstehen trachtet, aber sein Nachvollzug bleibt auf Sprache angewiesen, die nur unvollkommen und stammelnd sein kann. Dieses Stammeln liegt aber nicht an der Sprache als solcher (im Unterschied etwa zum Denken), sondern an unserer Endlichkeit, die auch die unseres Denkens ist. Augustin erlaubt es also zu sehen, inwiefern die Universalität des Mediums der Sprachlichkeit mit den Grenzen der Geweils verwendeten) Sprache Hand in Hand geht. War es vorhin die Analogie zwischen dem göttlichen Inkarnationsprozeß und der unausweislichen Sprachlichkeit unseres Denkvollzugs, die uns weiterftihrte, so ist es in diesem Fall die Differenz zwischen dem göttlichen Verbum und dem menschlichen, die ftir die Hermeneutik lehrreich wird. Der inkarnierte Logos Gottes entspricht ja voll und ganz dem göttlichen Wesen. Er ist »wesensgleich« (homoousia) mit ihm, da er deren vollkommene und restlose Manifestation bietet. Diese Wesensgleichheit zwischen dem äußeren Logos und dem inneren Wort des zu Sagenden entspricht aber nicht ganz unserer Spracherfahrung. Im Unterschied zum göttlichen Wort vermag ja kein Wort, das zu Denkende vollkommen wiederzugeben (WM, 429). Kein Wort reicht an das nach Worten Strebende wirklich heran. Diese Unvollkommenheit ist aber nicht die der Sprache, sondern die der menschlichen Erkenntnis schlechthin. Das menschliche Den-
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ken ist eben kein~ pure Selbstgegenwart, keine reine noesis noeseos. Das Denken folgt vielmehr dem Rhythmus der Worte, in die es immer schon einverleibt ist. Diese unvordenkliche Angewiesenheit des Denkens auf eine schon gegebene und gesprochene Sprache charakterisiert die ursprüngliche Gegebenheit der Sprachlichkeit, wie sie der augustinische Inkarnationsgedanke dem Denken erschließt. Fassen wir den Argumentationsgang zusammen. In ihrer augustinischen Sprachkonzeption geht es der Hermeneutik also um zwei Aspekte, die kontradiktorisch erscheinen mögen, die aber in Wahrheit komplementär zu denken sind: Er. stens geht es um die Wesensgleichheit zwischen dem Denken und seiner möglichen sprachlichen Manifestation, da es rur uns kein denkbares Denken ohne das vorgegebene Element der Sprache geben kann. Zweitens muß man sich jedoch davor hüten, in der äußeren Sprache, in den Aussagen des logos prophorikos, die volle und restlose Manifestation des Denkens (des logos endiathetos) finden zu wollen, d. h. den vollen Ausdruck all dessen zu sehen, was gesagt werden müßte, um angemessen verstanden zu werden. Die Diskrepanz zwischen dem äußeren und dem inneren Logos ist auch lehrreich. Wenn ich recht sehe, hat Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode eher auf dem ersten Punkt, nämlich auf der notwendigen Sprachlichkeit allen Denkens insistiert, z. B. als er die »Universalität der Hermeneutik« unmißverständlich darin sah, daß »Sprache alle Einreden gegen ihre Zuständigkeit« überholen und deshalb »mit der Universalität der Vernunft Schritt« halten könne (WM, 405). In seinen letzten Arbeiten indes war es eher die Unaussagbarkeit des inneren Wortes, die er ins Zentrum rückte. So widmete er viele Aufsätze der Erfahrung der »Grenzen der Sprache«, die ihn in einem Text von 1993 schließlich dazu brachten, den »oberste[n] Grundsatz der philosophischen Hermeneutik« darin zu erblicken, »daß wir nie das ganz sagen können, was wir sagen möchten.« 116
116 GW 10, 274. Dies ist übrigens kein hapax legomenon. Gadamer wiederholte es sehr oft in den letzten Jahren. Vgl. oben, S. 205.
Die Begriffibildung und die Universalität der Rhetorik
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Es ist wohl weniger angebracht, darin eine Entwicklung bei Gadatner zu sehen, als eine Akzentverschiebung, denn beide Aspekte der hermeneutischen Universalität, nämlich die Sprachangewiesenheit eines jeden Denkens und die Grenzen einer jeden sprac:hlichen Aussage, bilden eine Zusammengehörigkeit, die die Universalität der hermeneutischen Erfahrung ausmacht. Es ist aber Augustin und der christliche Inkarnationsgedanke, die es erlauben, diese Zusammengehörigkeit zu fassen.
Die Begriffsbildung und die Universalität der Rhetorik Wahrheit und Method,e ist auf diese Weise Augustin sehr verpflichtet. Seine Einsicht hat zur Folge, daß die menschliche Endlichkeit rür die Hermeneutik von ihrer Angewiesenheit auf die Sprache her zu denken ist. Das menschliche Denken ist auf unaufhebbare Weise eine Versprachlichung, auch wenn die tatsächlich gesprochene Sprache das innere Wort des Auszusagenden nicht auszuschöpfen vermag. Diese Einsicht rührt aber dazu, die logistischen Vorurteile, die die Behandlung der Sprachlichkeit im Abendland seit Platon beherrschen, in Frage zu stellen. Die Hermeneutik wird damit eine geschärfte Aufinerksamkeit auf die Materialität und die rhetorisch zu nennende Inkarnation des Sinnes lenken. Denn in der Konsequenz dieser augustinisch-hermeneutischen Solidarität liegt eine rhetorische Sprachkonzeption. Dabei gilt es, sich von einer einseitig pejorativen Rhetorikauffassung freizumachen, die gerade von den logistischen Vorurteilen über Sprache genährt wird. Rhetorik gilt nach dieser Auffassung als eine gefährliche und verführerische »Verkleidung« der Gedanken, die einen logischen Raum für sich bilden sollen. Diesen reinen Raum hat Gadamers Augustinismus problematisiert: Das Denken ist für uns immer schon Fleisch, d. h. Sprache geworden, die einen erreichen kann.
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Gegenüber der logistischen Auffassung des Denkens entwickelt Gadamer in Wahrheit und Methode einen rhetorischeren Begriff des Denkens. Ihm zufolge besteht das menschliche Denken nicht so sehr in der logischen Ableitung der Genera und Spezies als in der »Explikation im Wort« (WM, 432). Denken ist nicht ein Subsumieren, sondern ein Wortesuchen für das, was zu sagen ist, wenn man etwas verstehen will. Der Prozeß des Denkens ist nie rein begrifflich, er folgt vielmehr und immer schon der Spur des Wortes, die mit ihren Metaphern und Bildern die Bahnen des Denkens allererst erschließt. Diese Vorgabe leistet immer schon die grundsätzliche Metaphorik der Sprache: »Übertragung von einem Bereich in einen anderen hat nicht nur eine logische Funktion, sondern ihr entspricht die grundsätzliche Metaphorik der Sprache selbst. Die bekannte Stilfigur der Metapher ist nur die rhetorische Wendung dieses allgemeinen, zugleich sprachlichen und logischen Bildungsprinzips. [ ... ] Am Anfang der Gattungslogik steht somit die Vorausleistung der Sprache.« (WM,434f.) Es ist diese metaphorische, rhetorische Leistung der Sprache, der das Denken immer schon gehorcht, die Gadamer gegen eine rein demonstrative Fassung des Denkens (und des Sprechens!) zur Geltung bringen will. War Platon der Hauptverantwortliche für die logistische Verkürzung der Sprache, gegen die Augustin zu Hilfe gerufen worden war, so ist es nun Aristoteles, der in Wahrheit und Methode für die Alleinherrschaft der apodiktischen Logik im Bereich des Denkens verantwortlich gemacht wird. Er habe die Leistung der Metapher an seinem demonstrativen Ideal gemessen und sie folglich in den beschränkten Bereich der Rhetorik abgeschoben, deren Universalität ihm dadurch - d. h. von seinem Beweisideal her - abhanden kam: »Die Folge dieser Messung an dem logischen Beweisideal ist aber, daß die aristotelische Kritik die logische Leistung der Sprache um ihre wissenschaftliche Legitim.ation gebracht hat. Sie findet nur noch unter dem Gesichtspunkt der Rhetorik ihre Arierkennung und wird dort als das Kunstmittel der Metapher verstanden. Es ist das logische Ideal der Überordnung und Unterordnung der Begriffe, das
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jetzt über die lebendige Metaphorik der Sprache, auf der doch alle natürliche Begriffsbildung beruht, Herr wird.« (WM,436) Die Ironie ist aber die, daß Aristoteles selbst in seinen Untersuchungen viel weniger dem Muster der logischen Demonstration folgte als dem Genius und der Vielfalt der Sprache. Wie bei Platon war auch bei Aristoteles die Praxis des Denkens wegweisender für das hermeneutische Sprachdenken als deren logistische Wirkungsgeschichte. In Wahrheit und Methode begnügt sich aber Gadamer weitgehend damit, gegen die logistische Abschiebung der Metaphorik der Sprache in die Rhetorik und damit gegen einen noch allzu eingeschränkten und instrumentalistischen Begriff der Rhetorik zu protestieren. Erst später verknüpfte er die Universalität der Hermeneutik mit einem universelleren Begriff der Rhetorik und der grundsätzlichen Rhetorizität der Sprache. Die Universalität der Hermeneutik wurde damit immer betonter mit der der Rhetorik verknüpft. 117 Diese Verknüpfung, die mit einer allgemeinen Rehabilitierung der Rhetorik zusammenging,118 fand sich indes nicht expressis verbis in Wahrheit und Methode selbst. Insofern sie in dem entscheidenden Schritt, der von Platon zu Augustin führt, angelegt war, läßt sich sagen, daß das Hauptwerk von Gadamer unterwegs zu einer universalen Konzeption der Rhetorik war, ohne sie jedoch voll zu entfalten, da es ihm 1960 vor allem darum ging, die Sprachlichkeit als gewissermaßen prälogisches Thema der Philosophie in ihrer Universalität wiederzuentdecken. Ging die klassische Philosophie bislang von der Angewiesenheit der Sprache auf ein vorausgegangenes Denken aus, wird mit Gadamer die Angewiesenheit des Denkens auf die
117 Vgl. u. a. Gw, 2, 111, 289, 291, 305, 467. Vgl. das Interview im LB, 284,291. Zum geschichtlichen Hintergrund, vgl. meinen Artikel »Hermeneutik« im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, Bd. IH, 1996, 13501374. 118 Vgl. dazu den instruktiven Sammelband Rhetoric and Hermeneutics in Our Times, hrsg. von Michael J. Hyde and Walter Jost, New Haven, Yale University Press, 1997.
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rhetorisch zu nennende Vorleistung der Sprache in den Vordergrund gerückt. Die Rhetorik erscheint nicht mehr als ein defizienter Modus der Erkenntnis, sondern als die Vollzugsweise des Denkens selbst und unseres sprachlichen In-derWelt-seins. Eine gewaltige Verkürzung bedeutet die Auffassung der Metapher als einer Denkform, der es an der Klarheit des Begriffs mangle, und die Auffassung der Rhetorik als ein Kunstmittel, auf das man zurückgreife, wenn zwingende Beweise fehlen. In beiden Verkürzungen bekämpft Gadamer dasselbe platonische Vorurteil, d. h. die Vergessenheit der Sprache als Nährboden eines jeden Beweises, jeder Klarheit sowie jeder Rationalität. Die klassische Tradition der Rhetorik ist natürlich in der Neuzeit in Verruf geraten, weil ihre Angewiesenheit auf die Überzeugungskraft der Sprache hinter dem demonstrativen Ideal der kartesianischen Wissenschaft zurückzubleiben schien. Es ist aber gerade dieses Ideal, dessen Grenzen Gadamer offenlegen möchte. Weil es Gadamer um eine Verteidigung der menschlichen Rationalität geht, die sich aus Sprache nährt und in ihr zu bewähren hat, ohne dem Vorbild der rein logischen Demonstration zu gehorchen, lag die Berufung auf die rhetorische Tradition nahe: »Woran sonst sollte sich auch die theoretische Besinnung auf das Verstehen anschließen als an die Rhetorik, die von ältester Tradition her der einzige Anwalt eines Wahrheitsanspruches ist, der das Wahrscheinliche, das eikos (verisimile) , und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende gegen den Beweis- und Gewißheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt? Überzeugen und Einleuchten, ohne eines Beweises fähig zu sein, ist offenbar ebensosehr das Ziel und Maß des Verstehens und Auslegens wie der Rede- und Überredungskunst - und dieses ganze weite Reich der einleuchtenden Überzeugungen und der allgemein herrschenden Ansichten wird nicht etwa durch den Fortschritt der Wissenschaft allmählich eingeengt, so groß der auch sei, sondern dehnt sich vielmehr aufjede neue Erkenntnis der Forschung aus, um sie ftir sich in Anspruch zu nehmen und sie sich anzupassen. Die Ubiquität der Rhetorik ist eine unbeschränkte.« (GW 2, 236f.).
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Diese Übernahme der rhetorischen Erbschaft stand im Zentrum der Auseinandersetzung mit der Ideologiekritik von Habermas. So hieß Gadamers Erwiderung aufHabermas: »Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik« (1967, GW 2, 232-250), wobei Gadamer sehr wohl auch die eigene Rhetorik der Ideologiekritik ins Visier nahm. Habermas hatte gegen Gadamer ins Felde geftihrt, daß die rhetorisch erzielte Überzeugung bzw. das bloß rhetorisch begründete Verstehen, also »ein scheinbar )vernünftig< eingespielter Konsensus sehr wohl auch das Ergebnis von Pseudokommunikation sein kann«.119 Deren Rationalität könne also durchaus bloß strategisch, d. h. manipulierend sein. Ihr stellte Habermas das Ideal eines reflexiv eingesehenen Einverständnisses entgegen. Diese über den Unterschied zwischen Einsicht und Verblendung »aufgeklärte Hermeneutik« bindet »Verstehen an das Prinzip vernünftiger Rede, demzufolge Wahrheit nur durch den Konsensus verbürgt sein würde, der unter den idealisierten Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation erzielt worden wäre und auf Dauer behauptet werden könnte«. 120 In dieser aufgeklärten Hermeneutik ist die Wahrheit bar jeglicher Rhetorik. Der kleine Haken ist, daß sie eben nur in einer solchen idealen Situation erzielt werden könnte: »Wahrheit ist der eigentümliche Zwang zu zwangloser universaler Anerkennung; diese aber ist gebunden an eine ideale Sprechsituation, und das heißt Lebensform, in der zwanglose universale Verständigung möglich ist.« 121 Das ist aber nur eine 119 J. Habermas, »Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik« (1970), in Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1971,152. 120 Ebd.154. 121 Ebd. Es ist zuzugeben, daß sich der spätere Habermas seit seiner beeindruckenden Theorie des kommunikativen Handeins (Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1981) viel vorsichtiger ausgedrückt hat, aber sein Ideal kommunikativer Rationalität bleibt auch dort eine dem strategisch-rhetorischen Handeln entgegengesetzte, kontrafaktische Antizipation; die jedem Sprechakt zugrundeliegen soll. Man sollte m. E. die Bedeutung der speech-acts-theory in diesem Zusammenhang nicht überbewerten, da sich Habermas hier auch auf das Schellingsche Motiv der Identitätsphilosophie und auf die Tradition der Mystik bezieht, wie er gelegentlich
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andere Art zu sagen, daß eine nichtrhetorische Wahrheit fUr uns unerreichbar ist. Habermas kann also die Rhetorik nur im Namen einer idealen Rationalität herabwürdigen, die aber nie die unserer sublunaren Welt sein wird. Muß man auf das Jüngste Gericht warten, um zu erfahren, was wahr ist? Bis dahin ist es vielleicht die Habermassche Herabsetzung der Rhetorik, die im Namen einer vernünftigeren Auffassung der Rationalität revisionsbedürftig ist. Das war die Quintessenz der Gadamerschen Antwort auf Habermas: »Wenn die Redekunst auch, wie es seit alters klar ist, die Affekte anspricht, so fällt sie doch damit keineswegs aus dem Bereich des Vernünftigen heraus. Vico macht mit Recht einen eigenen Wert derselben geltend: die copia, den Reichtum an Gesichtspunkten. Ich finde es er-· schreckend unwirklich, wenn man - wie Habermas - der Rhetorik einen Zwangs charakter zuschreibt, den man zugunsten des zwangsfreien rationalen Gesprächs hinter sich lassen müsse. Man unterschätzt damit nicht nur die Gefahr der beredten Manipulation und Entmündigung der Vernunft, sondern auch die Chance beredter Verständigung, auf der gesellschaftliches Leben beruht. Alle soziale Praxis - und wahrlich auch die revolutionäre - ist ohne die Funktion der Rhetorik undenkbar.« (GW 2,467) Es ist eine logistische Verkürzung des Denkens (das allein den apodiktischen Beweis gelten läßt), die dazu fUhrt, in der Rhetorik nichts als eine niederträchtige Manipulationsstrateund sehr ehrenvoll eingesteht. Vgl. etwa J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Franfkurt a. M., Suhrkamp, 1985, 202: »Ich habe ein Gedankenmotiv und eine grundlegende Intuition. Diese geht übrigens auf religiöse Traditionen, etwa der protestantischen oder jüdischen Mystiker zurück, auch aufSchelling. Der motivbildende Gedanke ist die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne, die Vorstellung also, daß man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in der wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten; daß man aufrecht gehen kann in einer Gemeinsamkeit, die nicht die Fragwürdigkeit rückwärtsgewandter substantieller Gemeinschafdichkeiten an sich hat.«
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gie zu sehen, die vernünftiger Argumente spottet. Das Gegenteil ist der Fall: Vernünftige Argumente sind qua Argumente ohne Rhetorik undenkbar. Ein vernünftig sein wollendes Argument muß uns nämlich davon überzeugen, daß es vernünftig ist, d. h. daß Gründe rür es sprechen. Habermas hat durchaus recht, wenn er hinweist auf den wichtigen heuristischen Unterschied zwischen der strategisch erzwungenen Überzeugung und derjenigen Überzeugung, die auf guten Argumenten beruht. Daran ist festzuhalten. Aber diese Unterscheidung fällt selbst in die unverkürzt verstandene Rhetorik, die hier sprachlich sehr wohl zwischen Überredung und Überzeugung zu unterscheiden versteht. Was macht ein vernünftiges oder ein starkes Argument aus? Offenbar der Umstand, daß es dazu in der Lage ist, ein wachsames Bewußtsein davon zu überzeugen, vor schwachen Argumenten, die den einschlägigen Seiten der Sache nicht Rechnung tragen, auf der Hut zu sein. Es obliegt aber einer weiteren, gehaltvolleren Argumentation, die einschlägigen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Dies läßt sich aber ohne eine diese Sachlichkeit entfaltende Sprache, d. h. ohne Rhetorik nicht nachvollziehen. Sonst bliebe die menschliche Rationalität ein schöner Traum ohne jede Wirklichkeit. Diese Universalität der Rhetorik mündet deshalb in eine Hermeneutik der Wachsamkeit ein. Man kann es nicht mit dem Postmodernismus bei dem Seufzer belassen, daß alles doch nur rhetorisch sei, so als seien Wahrheit und Vernunft nichts als Illusionen. Als ob alle Argumente gleich wären! Die Idee einer kommunikativen Vernunft ist zu pflegen und in die Tat umzusetzen, weil gewisse Argumente glaubwürdiger, solider und gehaltvoller sind als andere. Sie erfordern aber einen rhetorischen Aufwand, der die Gründe herauszustellen sucht, die für gewisse Wahrheitsansprüche sprechen. Diese Rationalität ist allerdings nicht die des Jüngsten Gerichtes, sondern diejenige, die uns hic et nunc überzeugen und für sich gewinnen kann. Weil wir keine Götter sind, ist uns eine andere Rationalität nicht beschieden. Sie läßt sich aber nur als rhetorisch inkarnierte verstehen und praktizieren. Es ist freilich nicht ausgeschlossen, daß die kritische Vernunft selbst
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Scheinargumenten und sophistischen Gemeinplätz~n verfallt. Eine von Platons Auseinandersetzung mit der Sophistik herkommende Hermeneutik wie diejenige Gadamers muß nicht ausdrücklich an den Unterschied zwischen Verblendung und Einsicht erinnert werden. Die Möglichkeit, daß sich Sophistik auch dort einschleicht, wo allein die Vernunft zu sprechen wähnt, läßt sie nie völlig ausschließen. Daraus leitet sich die unüberbietbare Wachsamkeit des hermeneutisch geschulten Bewußtseins ab. Diese Wachsamkeit hat Gadamer konsequent auf die Begriffsgeschichte angewandt. Eine Hermeneutik, die sich der Schuld jeder Begriffsbildung der Rhetorik gegenüber bewußt ist, wird erkennen müssen, daß die philosophischen Begriffe nicht vom Himmel des reinen Verstandes fallen. Ehe ein Wort zu einem Schulbegriff wird, quillt es aus dem Leben einer Sprache hervor. Um diesem Ursprung der philosophischen Begriffe nachzugehen, entwickelte Gadamer in einem wichtigen Aufsatz von 1970 die Konzeption einer bislang vielleicht zu wenig gewürdigten122 »Begriffsgeschichte als Philosophie« (GW 2,77-91). Sie geht davon aus, daß sich die Sachlichkeit eines Begriffes nicht von der Situation und der Not absondern läßt, in denen er geboren und verwendet wurde. Man kann einen Begriff nur nachvollziehen, wenn man die Situation versteht, die ihn allein zum sprechenden Begriff werden ließ. Begriffe sind nicht Werkzeuge eines instrumentellen Denkens, sie bringen selbst ein Lebensverhältnis zur Sprache, das ein Denken allererst anheben läßt. Diese Begriffsgeschichte erinnert an Heideggers Destruktion der Grundbegriffe der Tradition, insofern sie die Grundworte heute wieder zum Sprechen bringen will. Gadamer insistiert dabei aber vielleicht weniger auf der zu destruierenden Tradition als auf der stets mitsprechenden Kraft der Wirkungs geschichte, in die unsere Begriffe als geschichtliche Worte eingebettet bleiben. Gadamer hat außerdem zur Institutionali122 Eine Ausnahme bildet F. Renaud, Die Resokratisierung Platons. Die platonische Hermeneutik Hans- Georg Gadamers, Sankt Augustin, Academia, 1999,22-34.
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sierung dieser Begriffsgeschichte beigetragen, als er sich an der Begründung einer Enzyklopädie (dem Historischen Wörterbuch· der Philosophie, seit 1970) und der Begründung einer Zeitschrift (dem Archivfür Begriffsgeschichte) beteiligte, die beide dieser Idee verpflichtet sind. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein wurde dadurch zu einer begriffsgeschichtlichen Wachsamkeit. 123 .
Die Wahrheit des Wortes »'Tis but thy name that is my enemy;Thou art thyself though, not a Montague. What's Montague? It is nor hand, nor foot, N or arm, nor face, nor any other part Belonging to a man. 0, be some other name! What's in a name? That which we call a rose, By any other name would smell as sweet« Shakespeare, Romeo and Juliet
Die hermeneutische Wahrheit ist ohne ihre Sprachangewiesenheit nicht nachvollziehbar. Um sich der unheimlichen Nähe der Sprache anzunähern, hat Gadamer zunächst von einer Vorgängigkeit der Sprache gegenüber dem Denken gesprochen. Vermäge der Sprache erheben wir uns zum Denken, aber noch viel ursprünglicher zu den Sachen selbst. Nur in der Sprache sind die Sachen in einern eigentümlichen Sinne ftir uns »da«. Anstatt von einer Vorgängigkeit wird Gadamer also immer mehr von einer Gleichzeitigkeit sprechen.
123 Über die Begründung dieses Wörterbuches und dieser Zeitschrift, vgl. PL, 18f. Gadamersjüngste Arbeiten gelten auch dem Verhältnis zwischen dem Begriff und dem Leben der Sprache. Es ist der Leitfaden hinter seinen Arbeiten, die den Weg »Vom Wort zum Begriff« verfolgen. Vgl. vorerst den Beitrag von 1995 unter diesem Titel im LB, 100110 sowie die letzten Seiten der Arbeit »Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache« (1992), GW 8, 400-440 (bes. 426ff.: »Auf dem Weg zum Begriff«).
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Die Vorgängigkeit der Sprache beschränkt sich nämlich nicht auf eine Schematisierung der Wirklichkeit durch den Geist, denn wir wohnen immer schon sprachlich in der Welt, die uns auch wesentlich durch Sprache gegenwärtig ist. Die Sprache ist nicht nur ein Imperfekt, sondern auch ein Modus des Präsens von Welt und Denken. Wilhelm von Humboldt hatte also vollkommen recht, die Sprache als Weltansicht aufzufassen. Aber nach Gadamer ist das noch nicht genug: Es ist für ihn die Welt selbst, die Sprache ist, die für uns nur als Sprechende da ist, so daß man die Sprachansicht von der Welt »an sich« nicht mehr recht unterscheiden kann. Indem Humboldt die Versprachlichung der Welt auf eine »Geisteskraft« und den »Formalismus eines Könnens« einschränke, habe er sich von einer subjektivistischen Metaphysik der Geistesvermögen nicht richtig losgelöst (WM, 444). Gadamer sieht darin eine noch zu formalistische Sprachauffassung, in der er einen neuen Instrumentalismus des Denkens gegenüber der Sprache wittert: Es ist immer noch eine sprachliche »Form«, die die Materialität und Verschiedenartigkeit der menschlichen Erfahrung formiert. Diese heute weit verbreitete Auffassung der Sprache als Schema oder symbolische Form ist nach Gadamer auch diejenige von Cassirer und bleibt noch zu instrumentell. Trotz ihrer Verdienste, allen voran z. B. die Wiederentdeckung der Sprachlichkeit, werde die Humboldtsche Sprachkonzeption der vollen sprachlichen Präsenz der Welt als Sprache nicht gerecht: »Gleichwohl stellt ein solcher Begriff von Sprache eine Abstraktion dar, die wir für unsere Zwecke rückgängig machen müssen. Sprachliche Form und überliiferter Inhalt lassen sich in der hermeneutischen Erfahrung nicht trennen. Wenn eine jede Sprache eine Weltansicht ist, so ist sie das in erster Linie nicht als ein bestimmter Typus von Sprache, (wie der Sprachwissenschaftler Sprache sieht), sondern durch das, was in dieser Sprache gesprochen wird bzw. überliefert ist.« (WM,445) Für Gadalller ist die Sprache nicht eine Ansicht der Welt oder deren Formung fur unseren Geist, sie ist die weltlichste Welt, die es überhaupt geben kann. Hier folgt Gadamer zweifellos Heideggers Weltanalyse: Nur der Mensch zeichnet sich da-
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durch aus, daß er eine Welt im Modus der Erschlossenheit hat. Man wird vielleicht entgegnen, daß diese sprachliche Welt doch nur eine menschliche sei, so daß es neben ihr auch eine »Welt an sich« gebe. Aber selbst dieses angebliche Ansichsein der Welt muß sich sprachlich artikulieren lassen, um nachvollziehbar, d. h. um Welt zu sein. Welt gibt es nur rur uns in einer Präsenz, die uns etwas sagt: »Die Sprache ist nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt sich dar, daß die Menschen überhaupt Welt haben.« (WM, 446) Dieses Welthaben ist nach Gadamer ein durch und durch sprachliches. Diese erschließende Kraft der Sprache hat Gadamer auch als die »Wahrheit des Wortes« zu umschreiben versucht. Bereits in Wahrheit und Methode riskierte er diese Formel, aber noch mit äußerst zögerndern Anftihrungsstrichen (WM, 443), als ob er vor der Gewagtheit seiner Formulierung zurückschreckte. Es sind aber immer solche riskanten Formeln, die am besten das vom Denken Ersuchte wiedergeben. In der 5. Auflage von 1986 wurde die Formel um eine Fußnote bereichert, in der Gadamer auf eine noch zu veröffentlichende Arbeit unter dem Titel »Die Wahrheit des Wortes« hinweist. Diese Arbeit erschien erst 1993 im 8. Band der Gesammelten Werke. Es handelt sich um eine Arbeit, die einen langen Reifungsprozeß hinter sich hatte. Vorträge unter diesem Titel wurden bereits in den Jahren 1971 und 1972 gehalten, so daß bereits 1972 das Nachwort zur 3. Auflage von Wahrheit und Methode deren baldiges Erscheinen versprach (GW 2,475). Als ich mich 1997 an die Edition eines Lesebuches machte, das Gadamers repräsentativste Aufsätze versammeln sollte, hat mir Gadamer eindringlich nahegelegt, diesen (sowohl alten als auch neuen) Text aufzunehmen. 124 12~ HGG, »Von der Wahrheit des Wortes«, in GW 8,37-57 (LB,120140). Man wird diesen Text nicht mit demjenigen gleichen Titels (!) verwechseln dürfen, der 1988 in der Jahresgabe der Martin-Heidegger-Geseilschaft erschien und der 1993 im 9. Band der GW unter dem neuen Titel »Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins >Andenken«(
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Das Wort, an das Gadamer dabei denkt, ist natürlich das Wort, dessen Plural »Worte« lautet. Das Wort kann hier auch ein Satz, eine Rede oder ein treffender Ausdruck sein. In dieser Hinsicht ähnelt es sehr dem griechischen logos. Man gibt seinen Sinn am besten wieder, wenn man mit Ga~amer von der »Wahrheit des Wortes« spricht. Die Formel ist im Sinne eines genetivus subjectivus zu hören: Es ist das Wort, das Wahrheit sein läßt, indem es ein Wahres allererst erschließt, noch vor jedem reflexiven Bewußtsein der Wahrheit des Wortes im Sinne eines genetivus objectivus, der die Richtigkeit des treffenden Wortes registriert. Gadamers Einsicht ist, daß diese erschließende Macht des Wortes jedem Instrumentalismus des Denkens vorausliegt. In seinem Aufsatz von 1993 (bzw. 1971) hat Gadamer diese aletheiologische Kraft insbesondere im Hinblick auf das dichterische Wort entwickelt, das ja eine der tragenden Inspirationen seines Werkes bildet. Im dichterischenWort wird die Welt nicht nur schön ausgedrückt, in ihm öffnet sich allererst Welt, nämlich in dem Sinne, daß ein Wort eine Sache und ihren Raum präsent werden läßt. Das Wort erweist sich damit als eine ontologische Manifestation der Welt (weiterhin im Sinne eines genetivus subjectivus): »Was Sprache als Sprache ist und was wir als die Wahrheit des Wortes suchen, ist nicht in der Weise faßbar, daß man von den sogenannten >natürlichen< Formen sprachlicher Kommunikation ausgeht, sondern umgekehrt werden solche Formen der Kommunikation von jener dichterischen Weise des Sprechens aus in ihren eigenen Möglichkeiten faßbar.« (GW 8,53; LB, 136) Das dichterische Wort eröffnet eine Welt, die uns nur dank dieses Wortes präsent und betretbar wird. Diese Besinnungen lassen sich durchaus an die Darstellungsästhetik des Ersten Teiles von Wahrheit und Methode anschließen. Gadamer hatte dort von der Seinsvalenz des Kunstwerkes gesprochen, die das Sein des Dargestellten allererst hervortreten läßt. Ebenso spricht Gadamer von einer »Seinsvalenz des
(42-55) aufgenommen wurde. Die Gleichheit des Titels bezeugt aber die Zähigkeit des Themas.
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Wortes« (GW 8,54; LB, 137): Die Welt ist nur da im »da« der Sprache. Das Wort ist also weder eine Form noch ein Konstrukt des Denkens, sondern das Da der Welt selbst, das sich im dichterischen Wort kristallisiert: »Das universale >Da< des Seins im Wort ist das Wunder der Sprache, und die höchste Möglichkeit des Sagens besteht darin, sein Vergehen und Entgehen zu binden und die Nähe zum Sein festzumachen. Es ist Nähe, Präsenz, nicht von diesem oder jenem, sondern von der Möglichkeit zu allem.« (GW 8, 54f.; LB, 137f.) Das dichterische Wort zehrt von dieser Seinsvalenz, aber im Modus des Erinnerns, der Wiedererkenntnis (mimesis), da es eigens diese Seinspräsenz zur Sprache bringt und uns damit aus unserer Sprachvergessenheit herausholt. »Das ist es, was das dichterische Wort auszeichnet. Es erftillt sich in sich selbst, weil es das >Halten der Nähe< ist.« (GW 8,55; LB, 138) Auf Shakespeares berühmte Frage What's in a name? wäre Gadamer vermutlich zu antworten geneigt: Alles! Es ist das Wort - oder im Fall einer Person: ihr Name - das die Präsenz, das »da« der Sache und deren Wesen aufbewahrt: »Denn das ist der Name, daß einer oder eine auf ihn hört - und der Eigenname als das, was einer ist und den er ausftillt.« (GW 8,55; LB, 138) Ist es Zufall, wenn Juliet diese Frage stellt und dabei das Beispiel der Rose evoziert:» What's in a name?That which we call a rose, By any other name would smell as sweet«. Der Name der Rose ist nicht bloß ein Name, er läßt die Gegenwart der Rose selbst präsent werden, eine Präsenz der Schönheit und der Liebe (bis hin zum heutigen Kitsch der Rose in der Liebeskonsumgesellschaft, aber auch das gehört zur Appellkraft im N amen der Rose). Nein, eine Rose würde unter einem anderen Namen nicht so schön duften. Der Gang von Shakespeares Drama bestätigt diese Wahrheit des Wortes. Juliet mag noch so sehr über die Unwirklichkeit des Namens Montague stöhnen, es ist doch der Fluch des Namens, der es ihr verbieten wird, Romeo zu lieben. Das Wort ist hier die Wahrheit des Seins. Was sich im »da« der Sprache hält, ist aber nicht nur die Präsenz des Seins, sondern auch sein Entschwinden, die Er-
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fahrung, daß das Sein sich uns entzieht: »In der Tat ist das unsere Grunderfahrung als zeitliche Wesen, daß alle Dinge uns entgehen, daß alle Inhalte unseres Lebens uns mehr und mehr verblassen, so daß sie aus fernster Erinnerung höchstens noch in einem fast unwirklichen Schimmer leuchten. Aber das Gedicht verblaßt nicht. Das dichterische Wort bringt gleichsam die Zeitentgänglichkeit zum Stehen.« (GW 8, 78) »Das dichterische Wort bezeugt uns unser Dasein, indem es selbst Dasein ist.« (GW 8, 79) Dieses Ineinander von Präsenz und Absenz lag Heideggers Begriff des Daseins zugrunde. Gadamer hat immer in diesem Denken des »da«, wo sich das Licht und die Verbergung ablösen, die grundlegende Idee von Heideggers Hermeneutik der Faktizität erkannt (vgl. GW 10, 64f.; LB, 272). Das Wunder aller Wunder ist nicht, daß etwas da ist, sondern daß es ein »da« gibt, das sich dem Menschen offenbart und zugleich verbirgt. In diesem Sinne ist auch die Hermeneutik der Sprachlichkeit ein Denken des »da«, das sich entbirgt und zugleich entzieht.
Die spekulative Wahrheit der Sprache Ein solches Denken wird sich also davor hüten, dieses »da« der Sprache auf die Ebene der jeweils gefällten Aussagen zu reduzieren. Der Begriff der Aussage, insistiert Gadamer, »steht nun aber in einem äußersten Gegensatz zu dem Wesen der hermeneutischen Erfahrung und der Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung überhaupt.« (WM, 472) Keine Aussage kann nämlich ausschöpfen, was nach Sprache ringt. Das >>universale >Da< des Seins im Wort« ist nicht das der jeweils ausgesprochenen Sprache, die sich kodifizieren und fixieren läßt. Es bleibt der Grenzen jeder Aussage angesichts des Auszusagenden gewahr. Gadamers Hermeneutik der Sprachlichkeit wird sich also gegen die Herrschaft der Aussagenlogik erheben müssen. Die Karikatur der »Aussage« wird Gadamer in der Aussage vor Gericht erblicken. Dort muß man auf Fragen antworten, ohne jedoch zu wissen, warum sie uns gestellt werden. Die Aussagen, die man dann so macht,
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werden protokolliert und dabei in völlig neue Kontexte eingebaut, die deren Sinn verdrehen. Zitate wären auch ein sehr gutes Beispiel für die Gewalt, die man der Sprache zufügt, wenn man sie auf das Niveau der zufällig gefällten Aussagen herunterbringen würde. Wie Augustin uns zu sehen lehrte, weist jede Sprache auf ein Ungesagtes zurück, das mitzuhören ist, wenn man das Gesagte verstehen will. Augustin sprach hier vom inneren Wort. Auch wenn dieses Wort als Wort wesentlich auf Sprache angewiesen bleibt, schöpft das herausgesagte Wort nie das, was gesagt werden wollte, das Schreienwollen des inneren Wortes aus. Diese Rückspiegelung des äußeren Wortes auf das innere, der atmende Rückverweis des begrenzten Elements des Gesagten auf die Unendlichkeit des Sagenwollens wird in Wahrheit und Methode die »spekulative Struktur« der Sprache genannt (in Wahrheit ist sie natürlich alles andere als eine »Struktur«). Nach einer nicht unfraglichen Etymologie, der Gadamer hier folgt, soll sich das Wort »spekulativ« von specuZum (Spiegel) her ableiten. Die Spiegelmetapher entspricht der Wahrheit des Wortes, die darin liegt, einen Sinn mitsehen zu lassen, der über das Gesagte hinausgeht. Jede endliche Aussage bleibt damit auf eine Unendlichkeit des Ungesagten ausgerichtet. Es ist die Unendlichkeit all dessen, was gesagt werden müßte, um richtig verstanden zu werden. Eine Aussage ist gelungen, wenn sie es fertigbringt, diese Unendlichkeit mithören zu lassen. Darin liegt die spekulative »Struktur« von Sprache: »Die Sprache [hat] selbst etwas Spekulatives - nicht IlUr in jenem von Hegel gemeinten Sinne der instinkthaften Vorbildung logischer Reflexionsverhältnisse, sondern als Vollzug von Sinn, als Geschehen der Rede, der Verständigung, des Verstehens. Spekulativ ist ein solcher Vollzug, sofern die endlichen Möglichkeiten des Wortes dem gemeinten Sinn wie einer Richtung ins Unendliche zugeordnet sind. Wer etwas zu sagen hat, sucht und findet die Worte, durch die er sich dem anderen verständlich macht. Das heißt nicht, daß er >Aussagen< macht. Was es heißt, Aussagen zu machen, und wie wenig das ein Sagen dessen ist, was man meint, weißjeder, der einmal ein Verhör - und sei es auch nur als Zeuge -
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durchgemacht hat. In der Aussage wird der Sinnhorizont dessen, was eigentlich zu sagen ist, mit methodischer Exaktheit verdeckt. Was übrigbleibt, ist der )reine< Sinn des Ausgesagten. Er ist das, was zu Protokoll geht. Er ist aber als so auf das Ausgesagte reduzierter schon immer ein entstellter Sinn. Sagen, was man meint, sich Verständlichmachen, hält im Gegenteil das Gesagte mit einer Unendlichkeit des Ungesagten in der Einheit eines Sinnes zusammen und läßt es so verstanden werden.« (WM,472f.) Der Vorrang der Aussage in der herkömmlichen Logik liegt an ihrer Verfugbarkeit. Sie ist das einzige an der Sprache, was sich recht greifen und festnageln läßt. Gewiß: die Logik erkennt auch an, daß jede Aussage Voraussetzungen hat, die in der Aussage selbst nicht stecken. Deshalb bemüht sie sich, die Wahrheit von Aussagen von weiteren, allgemeineren Aussagen abhängen zu lassen. Die Hermeneutik denkt die Wahrheit des Wortes anders: In den endlichen Worten der Sprache soll die Unendlichkeit des Sagenwollens mitvollzogen werden. Was man zu hören sucht, ist nicht bloß der semantischlogische Sinn der ausgesagten Rede, sondern darüber hinaus die sich selbst suchende Sprache. In einer Vorwegnahme des Denkens der Wahrheit des Wortes sprach Wahrheit und Methode hier von der »Dialektik des Wortes«, die »einemjeden Wort eine innere Dimension der Vielfachung zuordnet«: »Ein jedes Wort läßt daher auch, als das Geschehen seines Augenblicks, das Ungesagte mit da sein, auf das es sich antwortend und winkend bezieht.« (WM,462) Wenn dem so ist,so wird die Sprache aufhören, eine Befangenheit des Geistes zu signalisieren. Die grundsätzliche Sprachlichkeit unseres Verstehens schließt ein, daß die Sprache ihre jeweiligen Aussagen und Einseitigkeiten transzendieren kann. Diese sprachliche Freiheit ist indes nicht die des Instrumentalismus, der ein Denken unabhängig von der Sprache konstruieren möchte. Es ist die Freiheit des Anderssagenkönnens: Alles kann anders und besser gesagt oder erschwiegen werden. Die hermeneutische Sprachintelligenz verbietet es uns, die Aussagen beim Wort zu nehmen. Sie weist auf die Unendlichkeit des Sagenwollens hin. Man muß
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auf andere Worte, Töne und Formen des Schweigens rekurrieren, um die sich suchende Sprache nachvollziehen zu können. Habermas hat Gadamers Sprachauffassung ausgezeichnet wiedergegeben, als er hier von der Porosität der Sprache sprach. 125 Die menschliche Sprachlichkeit charakterisiert sich geradezu durch ein Übersichhinaussein, das es ihr erlaubt, für neue Horizonte und Sprachmöglichkeiten offenzubleiben und ihren eigenen Einseitigkeiten ein Stück weit zu entgehen, da sie sehr gut weiß, daß es ein letztes Wort nie gibt. Was sich aber nicht transzendieren läßt, ist der Horizont des Verstehens selbst und damit der Horizont seiner möglichen Sprachlichkeit. Es bleibt aber immer möglich und wünschenswert, sich anders auszudrücken und über die etablierten Verstehensmöglichkeiten hinauszuwachsen. Das ist die Universalität, die das hermeneutische Universum der Sprachlichkeit verheißt.
125 Vgl. dazu meine Einführung Darmstadt 1991,2. Aufl. 2001.
In
die philosophische Hermeneutik,
Schluß Der universale Aspekt der Hermeneutik oder die Universalität des Aspektes Ihrem Ruf zum Trotze nimmt sich die Universalität der Hermeneutik in Wahrheit und Methode relativ bescheiden aus. Gadamer spricht in der Tat nur von der Universalität eines Aspektes. Es ist - wenn man es auszusprechen sich erdreisten sol1- der Aspekt der Zugehörigkeit (besser des »da«) des Verstehens zum Sinn, den es hört, zur Tradition, die es interpretiert, verwandelt und erneuert, zur fremden Rede, die es übersetzt, in einem Wort: zur Sprache, die es spricht, die ebensosehr die Sprache der Dinge als auch die des Denkens ist. Wir sind immer da, dabei, wo Menschen, Dinge, Gedanken, Stimmungen, Erfahrungen verstanden werden sollen, aber in einem »da«, das sich der Objektivieru~g entzieht, weil man eben dabei sein muß, um zu verstehen. Der universale Aspekt der Hermeneutik liegt also an dem, was man die Universalität des Aspektes nennen könnte: Alles zeigt sich uns unter einem Aspekt, weil es uns betrifft und wir Anteil an seiner Erscheinungsweise haben. Der Aspekt oder das Aussehen einer Sache heißt auf Griechisch eidos. So folgte Platon der Spur der Sprache, als er im Phaidon seine Zuflucht zu den logoi nahm, um dem wahren Wesen der Dinge auf den Grund zu kommen. Diese Wende zu den logoi oder zu den Reden vollzieht die Hermeneutik als eine Wende zur Sprache, insofern sich in ihr das wahre Sein der Dinge offenbart. Man muß selbstverständlich diese Wende zu den logoi von der instrumentalistischen und rein noetischen Sprachauffassung befreien, die ihnen nach Gadamer der Kratylos aufzwingt.
Der universale Aspekt der Hermeneutik
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Indem er die Universalität des herrneutischen Aspektes hervorhebt, ist es Gadamers Grundabsicht, die Grenzen des rein objektivierenden Denkens vor Augen zu führen, das auf eine Seinsbeherrschung hinzielt. Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß diese objektivierende Denkweise in der Wissenschaft am Platze,ja unentbehrlich ist. Die Wissenschaft hat jedoch in unserer Zivilisation eine solche Autorität erlangt, daß der Anschein entsteht,jedes Wissen undjeder Seinsbezug beruhe auf einer Objektivierung, die den verstehenden Sprachbezug ausschalte. Es ist also nicht die Wissenschaft oder die Methode als solche, die Gadamer für eine einseitige Entwicklung hält, sondern diese Einseitigkeit unserer allein der Wissenschaft trauenden Zivilisation. Sie läßt uns nämlich vergessen, wie gering der Rahmen des Objektivierbaren in unserer Erfahrung bleibt, die sich nach wie vor viel eher an den Möglichkeiten der gesprochenen Sprache und an einem den Situationen gewachsenen Ethos orientiert. Aber die Grenzen des objektivierbaren Wissens sind nicht die Grenzen der hermeneutischen Wachsamkeit. Die weiten Erfahrungshorizonte der Kunst, der Geschichte, der Geisteswissenschaften, des ethischen Wissens, der sehr schön genannten Jurisprudenz, der Philosophie und schließlich der Sprache selbst haben uns gezeigt, daß die Zugehörigkeit des Interpreten zu dem entsprechenden Sinn der Richtigkeit, der Angemessenheit und der Adäquatheit des Verstehens keinen Abbruch tut, sondern diese Adäquatheit erst möglich macht. Wer die Augen vor diesem »hermeneutischen Aspekt« des Sinnes verschließt, verfällt dem Fetischismus der modernen Wissenschaft und einer nur scheinbaren Objektivität. Die Selbstauslöschung ist hier überhaupt nicht der Sache gerecht und damit auch nicht »objektiv«, weil sie am wesentlichen Dabeisein des Verstehens vorbeigeht und sich damit der Wachsamkeit versagt, die einem zeitlich situierten Wesen notwendigerweise anheimfällt. Diesen universalen »Aspekt« hat Gadamer zunächst rur die Geisteswissenschaften wirkungsvoll herausgearbeitet. Er spricht von einer »Universalisierung« der Hermeneutik, um ein Transzendieren dieser noch rein geisteswissenschaftlichen Problematik zu indizieren, die auf ein allgemeineres Thema
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hinausweist, das als solches die Philosophie auf den Plan ruft. 126 Dieses Thema betrifft die Universalität des Verstehens und der Sprachlichkeit fur unsere menschliche Erfahrung. Die immer wieder erfahrenen Grenzen des Verstehens und der Sprachlichkeit bekunden nur, daß sie unser Element bleiben. Wir streben nach Worten und Verstehen, weil sie uns im Grunde fehlen, aber das ist nun einmal die Bedingtheit unserer Endlichkeit. Diese Universalität der Sprachlichkeit wird bereits am Anfang des Dritten Teiles von Wahrheit und Methode entfaltet, wo die Sprachlichkeit als Gegenstand und Vollzugsweise des Verstehens erschlossen wird. Diese Universalität bedeutet nicht, daß alles verstanden und sprachlich ausgedrückt werden kann. Es ist vielmehr der Überschuß des Auszusagenden angesichts des dürftig Ausgesagten und Aussagbaren, der am Herz der Hermeneutik liegt. An ihrer Wurzel ist diese Hermeneutik ein Denken der Endlichkeit, der Endlichkeit des Sinnes, der Sprache und des Verstehens. Der universale Aspekt der Hermeneutik ist somit der unserer Endlichkeit. Banal, wird man vielleicht entgegnen? Möglich, aber es könnte sehr wohl sein, daß auch die anderen großen Wahrheiten der Philosophie (derer es wenige gibt) ebenso banal sind. Die Erinnerung an die Endlichkeit ist aber wertvoll, wenn man der Versuchung des Verstehensentgegenwirken will, falschen Unendlichkeitsansprüchen zu verfallen. Der Objektivitätswahn des modernen Wissenschaftsglaubens ist eine der Gestalten dieser Endlichkeitsvergessenheit. Er strebt danach, das »Dabeisein« in jedem Verstehen und 126 Zu dieser als Ausweitung zu verstehenden Universalität, vgl. WM, 479: »Indem wir nun als das universale Medium solcher Vermittlung [von Vergangenheit und Gegenwart] die Sprachlichkeit erkannten, weitete sich unsere Fragestellung von ihren konkreten Ausgangspunkten, der Kritik am ästhetischen und historischen Bewußtsein und der an ihre Stelle zu setzenden Hermeneutik, zu einer universalen Fragerichtung aus. Denn sprachlich und damit verständlich ist das menschliche Weltverhältnis schlechthin und von Grund aus. Hermeneutik ist, wie wir sahen, insofern ein universaler Aspekt der Philosophie und nicht nur die methodische Basis der sogenannten Geisteswissenschaften.« WM ,478: »Die methodische Selbstbesinnung der Philologie [drängt] zu einer systematischen Fragestellung der Philosophie hin[].«
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Seinsbezug zu tilgen zugunsten eines beherrschen wollenden Wissens, das als gewiß gilt, weil es ein Kontrollieren verspricht. Es wäre lächerlich, sich gegen diese Beherrschungsidee zu erheben, sofern sie legitim ist. Es ist aber geboten, ihre Universalisierung in Frage zu stellen, wenn sie zur Verkennung von Wissens- und Erfahrungsformen fuhrt, wo das Dabeisein und die Endlichkeit konstitutiv zum Sinn gehören, der verstanden werden soll. Hier ist eine andere Wachsamkeit gefordert. Darin liegt der Sinn der Endlichkeitserinnerung in der Hermeneutik.
Die Hermeneutik als Metaphysik der Endlichkeit Es ist dieses universelle Denken der Endlichkeit, das auf den letzten Seiten von Wahrheit und Methode in Aussicht gestellt wird. Diese Ausfuhrungen sind aber so skizzenhaft und treffen des Leser so unvorbereitet, daß nur wenige klugen Sinn aus ihnen machen konnten. Gadamer verteidigt dort tatsächlich die These, daß uns die aus der Enge der geisteswissenschaftlichen und damit epistemologischen Problemstellung endlich befreite Hermeneutik »in die Problemdimension der klassischen Metaphysik zurück[fuhrt]« (WM,464). Soweit ich sehe, wurde dieser offenbar »metaphysische« Schluß des ganzen Werkes in der Hermeneutikdiskussion bisher mit Schweigen übergangen. Die Horizonte, die Gadamer dort ausleuchtet, sind in der Tat unerhört. Wenn er von klassischer Metaphysik spricht, denkt er zudem - auch das mag überraschen - in erster Linie an die mittelalterliche Transzendentalieniehre. Was ihn an dieser Lehre fasziniert, ist offenbar der Umstand, daß sie noch der Zugehörigkeit des Erkennens zu einer die Kontroll- und Objektivierungsmäglichkeiten des Verstehens überschreitenden Seinsordnung Rechnung trug: »Wir geraten damit, wie wir erwarten mußten, in den Bereich von Fragen, mit denen die Philosophie seit alters vertraut ist. In der Metaphysik meint Zugehörigkeit das transzendentale
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Verhältnis zwischen Sein und Wahrheit, das die Erkenntnis als ein Moment des Seins selber und nicht primär als ein Verhalten des Subjektes denkt. Solche Einbezogenheit der Erkenntnis in das Sein ist die Voraussetzung des antiken und mittelalterlichen Denkens.« (WM,462) Man muß hier sehr gut sehen, daß es Gadamer keinesfalls um eine Restauration der mittelalterlichen Transzendentalienlehre im Namen einer neuen philosophia perennis geht. So ungeschichtlich denkt er nicht. Er möchte nur in Erinnerung rufen, daß diese Einbezogenheit des Verstehens in das Sein des Verstandenen zu unserer Endlichkeit gehört. Über das hinaus, was das Bewußtsein von sich aus aussagen mag, bleibt das Verstehen in ein Sein eingeschlossen, und zwar so sehr, daß dieses unser Verstehen mehr Sein als Bewußtsein ist. Es ist diese Endlichkeit und Zugehörigkeit des Verstehens, die der Nominalimus aufhob, als er das Subjekt von seiner Welt abtrennte, die dadurch unendlich beherrschbar und verfügbar wurde. Der Unendlichkeit dieses Instrumentalismus des Erkennens setzt Gadamer die Endlichkeit unserer Zugehörigkeit zum Sinn und zum verstandenen Sein entgegen, wie sie in der mittelalterlichen Transzendentalienlehre zumindest anvisiert wurde. Der tragende Gedanke ist hier der, daß das Erkennen dort noch kein Beherrschen, sondern eine Teilhabe an Sein und Wahrheit war. Das sprechendste Zeugnis dieser Metaphysik der Endlichkeit 127 wird Gadamer - und dies ist eine weitere Überraschung - in Platons Idee des Schönen erblicken. Man darf von einer späten, aber verdienten Ehrenrettung Platons sprechen, nachdem Gadamers kompromißlose Auseinandersetzung mit dem Kratylos Platon als Vorreiter der abendländischen Sprachvergessenheit ausgemalt hatte. Bereits bei Heidegger erschien Platon als der Vorbereiter einer instrumen127 WM, 481. Die Idee einer Metaphysik der Endlichkeit taucht hie und da in Gadamers Opus auf (vgl. PL, 149, in einem Text, der von 1949 stammt). In seinen Lectures on Philosophical Hermeneutics (Pretoria, Van Schaik's Boekhandel, 1982, 29) sieht Gadamer in ihr auch durchaus die Konsequenz seiner philosophischen Hermeneutik.
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talischen Auffassung des Denkens, das auf Seinsbeherrschung ausgerichtet sei. Die Idee des Schönen läßt uns jedoch einen ganz anderen Platon gewahren, der Gadamer auch immer näher lag. Es ist der Platon, der das Erkennen als Teilhabe an einem es überschreitenden Sein versteht und somit der menschlichen Endlichkeit gerechter wird: »In dieser Tradition des Platonismus wurde das begriffliche Vokabular ausgebildet, dessen das Denken der Endlichkeit der menschlichen Existenz bedarf.« (WM, 490) Es ist auch dieser Platon der Endlichkeitsmetaphysik, den Gadamer in nahezu all seinen anderen und späteren Schriften zu Platon gegen die Heideggersche Lesart zur Geltung bringt, die mit Platon die Seins- und damit die Endlichkeitsvergessenheit anfangen läßt. In diesem Schlußabschnitt von Wahrheit und Methode beläßt es Gadamer durchweg bei spekulativ wirkenden Ausblicken, aber gerade dieser Blick ins Weite ist lehrreich. Platons Schönheitslehre erlaubt es Gadamer zunächst, die Metaphysik der Seinseinbezogenheit des Verstehens an den Horizont der Überlegungen über die Wahrheit der Kunst zurückzuknüpfen, die den Auftakt des Werkes bildeten. Dort wurde ausgeführt, daß sich die Darstellung- d. h. sowohl der aufführende als auch der aufnehmende Vollzug des Verstehens vom Seins- und Wahrheitsanspruch des Kunstwerkes nicht abtrennen läßt. Die Darstellung kommt nicht zur Kunst und zu ihrem Sein hinzu, sie gehört wesentlich zum Sinn, der gehört und vollzogen werden will. Ebenso verhält es sich mit dem Schönen. Schön ist, was uns erleuchtet, uns einnimmt und anblickt. Die Unterscheidung zwischen dem Bewußtsein und dem Werk kommt immer zu spät, wenn es darum geht, das Schöne zu fassen: Es liegt weder im schauenden Auge noch im Werk selbst, sondern es ist das Band oder der Zauber, der beide zusammenhält. Ebenso wie uns das Kunstwerk in sein Spiel hineinzieht, ebenso gehört das Verstehen zum Sein, das es versteht und das allein in diesem Vollzug seine Verständlichkeit entfaltet. Beide gehören zusammen. Es ist die objektive Scheidung zwischen dem Verstehen und seinem Gegenstand, zwischen dem Werk und dem Schönen, die
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am Wesentlichen vorbeigeht, nämlich an der Zugehörigkeit des Verstehens zu einem »da«, das es festhält. Die Darstellung ist hier weniger eine Handlung der· aufsieh gestellten Subjektivität, sondern die Handlung des zu verstehenden Seins selbst. Im selben Atemzug ist es der hermeneutische Wahrheitsbegiff, der hier an Format gewinnt. Gadamer faßt ihn von der rhetorischen Tradition der illuminatio her. Nur sie wird der Endlichkeit unseres Verstehens gerecht. Das Wahre an sich, das injeder Hinsicht Gesicherte bleibt einer unendlichen Erkenntnis überlassen, dessen einziges, rur uns nachvollziehbares Beispiel das der mathematischen Erkenntnis ist. Die Wahrheit, die wir in Erfahrung bringen können, gehört zur Dimension des Einleuchtenden, des Wahrscheinlichen, das eine Wachsamkeit des Bewußtseins zutage fördert. Eine Endlichkeitshermeneutik kann nicht umhin, diesen der Rhetorik entlehnten Begriff des Wahrscheinlichen (verisimile) zu rehabilitieren und sein Wahrheitsmoment auszuloten: »Es ist rhetorische Tradition, der der Begriff des Einleuchtens angehört. Das eikos, das verisimile, das Wahr-Scheinliche, das Einleuchtende gehören in eine Reihe, die dem Wahren und Gewissen des Bewiesenen und Gewußten gegenüber ihre eigene Berechtigung verteidigt. [ ... ] Ja, wie das Schöne eine Art Erfahrung ist, die wie eine Bezauberung und ein Abenteuer sich innerhalb des Ganzen unserer Erfahrung hervor- und aus ihm heraushebt und eine eigene Aufgabe der hermeneutischen Integration stellt, ebenso ist offenbar auch das Einleuchtende immer etwas Überraschendes, wie das Aufgehen eines neuen Lichtes, durch das sich der Bereich dessen erweitert, was in Betracht kommt. Die hermeneutische Erfahrung gehört in diesen Bereich, weil auch sie das Geschehen einer echten Erfahrung ist. Daß an etwas Gesagtem etwas einleuchtet, ohne deshalb nach jeder Richtung gesichert, beurteilt und entschieden zu sein, trifft in der Tat überall zu, wo uns aus der Überlieferung etwas anspricht. Das Überlieferte bringt sich in seinem Recht zur Geltung, indem es verstanden wird, und verschiebt den Horizont, der uns bis dahin umschloß. Es ist in dem aufgezeigten
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Sinne eine wirkliche Erfahrung. Das Ergebnis des Schönen wie das hermeneutische Geschehen setzen beide die Ehdlichkeit der menschlichen Existenz grundsätzlich voraus.« (WM,488f.) Gadamers diffizile Idee ist die, daß das Licht, das uns hier erleuchtet und fesselt, zum Sein selbst gehört, wie es sich immer schon in der Sprache herausgesetzt hat. Es ist diese ontologische Zusammengehörigkeit der Sprache und des Seins, das verstanden werden kann, das die platonische Schönheitsmetaphysik zu verstehen hilft, die uns darüber hinaus auch vermittelt, inwiefern diese Zusammengehörigkeit die menschliche Endlichkeit zur Voraussetzung hat. Das Schöne als Transzendentales, als Idee, verweist nämlich auf eine Seinsordnung hin, die noch den Verstehenden mit einschließt. Es ist auch kein Zufall, stellt Gadamer fest, wenn das Schöne zunächst als eine Seinsordung wahrgenommen wurde, bevor es als »Gegenstand« einer künstlerischen Produktion und eines ästhetischen Gefühls konstruiert wurde. Wenn das Naturschöne aufgehört hat, das Paradigma für die moderne Ästhetik abzugeben, liegt es daran, daß die Wirklichkeit selbst auf eine formlose, von mechanischen Gesetzen regulierte Masse ontologisch reduziert wurde (vgl. WM, 483). Das ist die nominalistische, an sich sinnlose und damit instrumentell gewordene Wirklichkeit. In ihr verliert das Schöne jeglichen Seinsrang. Es wird nur noch eine Eigenschaft des menschlichen Vorstellungsvermögens, ein Gefühl oder ein freies Spiel ohne Zugriff auf die harte Wirklichkeit. Das Schöne bringt der Künstler hervor, wenn er eine produktive Einstellung gegenüber der an sich sinnlosen Wirklichkeit einnimmt: So wird er selbst zum Produzenten, zum Schöpfer einer Schönheit, die ohne ihn kein Sein hätte. So bleibt sie eine »Fiktion« des Künstlers. Wie oben ausgeführt, hat dieses ästhetische Bewußtsein an der mechanischen Denkweise des modernen Nominalismus teil, die die Welt als eine in sich formlose und damit unendlich beherrschbare Masse vergegenständlicht, aus der das Subjekt vertrieben wird. Mit seiner Erinnerung an Platons Schönheitslehre und an die aus ihr im Mittelalter abgeleiteten Transzendentalienlehre möchte Gadamer den ein-
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seitigen Instrumentalismus des modernen Denkens überwinden, der das Verstehen von dem Sinn und dem Sein, das es anspricht, abschneidet. Das Großartige an der platonischen Idee des Guten ist, daß sie sowohl die Transzendenz des uns Einleuchtenden, die Transzendenz also der Idee, als auch ihre Verkörperung oder sinnliche Manifestation auf dem Boden unserer Endlichkeit hervorkehrt. Platon schreibt bekanntlich in seinem Dialog Philebos, dem Gadamer 1931 sein erstes Buch widmete und mit dem Wahrheit und Methode schließt, daß die tur uns ungreifbare und unsichtbare Idee des Guten eine Zuflucht in die Idee des Schönen gefunden hat, wo sie von uns bewundert werden kann. Es gehört nämlich zum Wesen des Schönen, daß es erscheint und hervorleuchtet. Was sich aber da manifestiert und uns einnimmt, geht über unsere Fassungskraft hinaus, weil wir die Gefesselten bleiben. Die Idee des Schönen unterstreicht im selben Atemzug sowohl die notwendig sinnliche und materiale Manifestation der. Idee als auch ihre Transzendenz, weil das Schöne immer hervorleuchtet und sich gegenüber der uns umgebenden Mittelmäßigkeit abhebt. In Gadamers Worten: Wenn es hier offensichtlich einen Hiat (chörismos) zwischen Sinnlichem und Ideellem gibt, hier wird er zugleich auch geschlossen (WM, 485). Das Schöne ist also ein Sein, das im Sinnlichen leuchtet, es ist das am meisten Hervorleuchtende (ekphanestaton). Dieses Licht gehört freilich zum hervorleuchtenden Sein, aber es bezieht auch die menschliche Intelligenz in ihre Lichtung mit ein. Ein Leuchten ist immer ein Leuchten rur jemanden oder eine Lichtung, in der man steht. So wird das hier beleuchtete Verstehen in erster Linie vom Licht des Seins erhellt, aber so, daß sich die Qu-elle des Lichtes, in der das Sein und das Verstehen zugleich stehen, nicht mehr chirurgisch aufteilen läßt: Sein wird verstanden und ist nur in diesem Verstehen da, und zwar so, daß das Verstehen immer beim Sein bleibt. Es sei wiederholt, daß Gadamer mit diesen schwierigen Gedanken nicht die Absicht verfolgt, eine platonische Seinsmetaphysik zu erneuern, rur die das Sein an sich reines Licht wäre. Nichts liegt unserer endlichen Erfahrung ferner als die
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Vorstellung eines Seins, das nur Licht wäre! Gadamer bezieht sich vielmehr auf die platonische Lichtmetaphysik, um die unvordenkliche Vorgängigkeit des das Sein und das Verstehen umschließenden Lichtes jedem reflexiven Zugriff der objektivierenden Subjektivität gegenüber zu denken. Diese unvordenkliche Zusammengehörigkeit ist nach Gadamer die Leistung der Sprache und die Leistung unserer sprachlichen und damit endlichen Welterfahrung. Das Licht, das die Sachen erscheinen läßt, ist somit immer »das Licht des Wortes«. Gadamers Grundgedanke ist hier, daß dieses Licht der Sprache immer schon von den Sachen ausgeht, wie wir sie erfahren können. Man hat die Tendenz, in der Sprache eine intellektualistische Formierung einer Wirklichkeit zu sehen, die »an sich« dieser Formierung,ja dieser Erfindung unseres Intellektes gegenüber gleichgültig oder fremd wäre. Die Lichtmetaphysik hilft uns, die gleichsam präinstrumentelle Solidarität von Sein und Wort zu verstehen: »Das Licht, das alles so hervortreten läßt, daß es in sich selbst einleuchtend und in sich verständlich ist, ist das Licht des Wortes. Auf die Lichtmetaphysik ist also die enge Beziehung begründet, die zwischen dem Vorscheinen des Schönen und dem Einleuchtenden des Verständlichen besteht. Eben diese Beziehung aber hatte uns in unserer hermeneutischen Fragestellung geleitet.« (WM, 487) Im unfaßlichen Licht des Wortes wird das Sein Sprache, wie umgekehrt die Sprache immer schon die des Seins ist. Gadamer wird sich erneut in diesem Zusammenhang auf Augustin berufen, der diese Inkarnation des Seins als Sprache in seinem Genesis-Kommentar bedacht hatte. Augustin hebt dort hervor, daß das Licht geschaffen wurde, bevor die Dinge unterschieden wurden. 128 Die vorherige Schöpfung von Himmel und Erde erfolgte noch ohne das Wort Gottes. Erst mit der Erschaffung des Lichtes tritt auch das Wort Gottes in WM, 487. Franz Rosenzweig wurde auch von dieser Gleichzeitigkeit von Gotteswort und der Erschaffung der Dinge (»er sprach, und es ward«) in seiner tiefsinnigen Genesisanalyse eingenommen. Siehe Der Stern der Erlösung (1921), § 139, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1988, 168f. 128
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Erscheinung. Denn erst das Licht oder die Wahrheit des Wortes macht es möglich, die seienden Dinge voneinander zu unterscheiden. Das Sein profiliert sich immer schon auf dem Horizont einer möglichen Verständlichkeit, die die einer möglichen Sagbarkeit ist. Es sind diese zugegebenermaßen diffizilen Ausführungen Gadamers, die den Eindruck hervorrufen mochten, seine Hermeneutik sei ausgerichtet auf eine restlose und totalisierende Intelligibilität des Seins und entpuppe sich damit als ein neuer Hegelianismus. Die Bezugnahme auf die Lichtmetaphysik (!) des Platonismus schien dem Vorschub zu leisten. In Wahrheit ist es aber nicht ein neues Unendlichkeit"sdenken, sondern eine Metaphysik der Endlichkeit, die Gadamer damit anbahnen wollte. Die Sprache, die uns das Sein verstehen läßt, ist nicht ein uns zur Verfügung stehendes Werkzeug. Es ist das an sich selbst unverständliche Licht, in dem sich das Sein gibt. Dieses Licht ist nicht mit einer integrativen Verständlichkeit zu verwechseln. Licht gibt es nur vor dem Hintergrund einer weit umfassenderen Dunkelheit. Ein zu starkes Licht bewirkt sogar eine Verblendung, so daß wir nichts mehr sehen können. Die Gunst des Lichtes bleibt ihrerseits eine Überhellung zuungunsten dessen, was im Dunkeln bleibt. Das ist die jeder Rede, jedem Verstehen innewohnende Ungerechtigkeit. Aber die Rede, die wir halten und die uns hält, ist nie das letzte Wort über das Sein. Wie der Titel des letzten Abschnittes von Wahrheit und Methode (»Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie«) lehrt, ist Sprache für uns nur der Horizont des Seins. Was ist ein Horizont? Es ist die umfassende Weite, die uns eine Sicht ermöglicht, die aber zugleich die Grenzen dessen markiert, was wir sehen können. Aber der Horizont bewegt sich mit uns mit. Man kann seinen Horizont ausweiten, andere Worte und besseres Schweigen suchen, um das Sein auszusagen, das ausgesagt werden sollte. Es gibt aber keinen Horizont, um den Horizont selbst zu sehen und zu thematisieren. Man verfallt einer instrumentellen Denkweise, wenn man an der Hermeneutik aussetzt, daß sie im Horizont der Sprache verharre. Allein ein instrumentelles - oder göttliches, was hier fast auf dasselbe hinausläuft, - Den-
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ken kann hoffen, den Horizont einer zumindest möglichen Sprache zu überschreiten. Die Hermeneutik ist ein Denken der Endlichkeit und damit der Sprachlichkeit. Man leidet zwar unheimlich unter der Grenze der Sprache, aber sie wird sich nicht transzendieren lassen. Dieses Bewußtsein der Grenze ist auch das unserer Sterblichkeit, die immer auf verschobene Weise präsent ist. Aber der Horizont der Sprachlichkeit, der sich nicht überwinden läßt, läßt sich zumindest erweitern. So bleibt es stets möglich und geboten, sich über seil1e Partikularitäten und seine immer zu einseitigen Konzeptionen zu erheben. Die Endlichkeit findet sich damit zu einer unaufhaltsamen Wachsamkeit aufgefordert. Die der Endlichkeit zuerkannte Universalität ist auch die der Wachsamkeit, die sie wachruft.
Bibliographie Für eine vollständige Bibliographie aller Veröffentlichungen von Gadamer bis 1994, vgl. Etsuro Makita, Gadamer-Bibliographie (19221994), Frankfurt, Peter Lang, 1995. Für eine Übersicht der Sekundärliteratur zu Gadamer, vgl. J. M. Aguirre-Ora, »Bibliografia de y sobre Hans-Georg Gadamer«, Scritproium Victoriense 39 (1992),300345; H. Volat-Shapiro, »Gadamer and ·Hermeneutics. A Bibliography«, in H. Silvermann (Hrsg.), Gadamer and Hermeneutics, London, Routledge, 1991; M. Ferraris, Storia dell' Ermeneutica, Milano, Bompiani, 1988. Gadamer gewidmete Websites sind: http://www.svcc.edu/ academics/ classes/ gadamer/Gadbib.html und http://www.ms.kuki.sut.ac.jp/KMSLab/makita/ gadamerd.html
Die Ausgabe der Gesammelten Werke Von 1985 bis 1995 erschien eine zehnbändige Ausgabe der Gesammelten Werke von Gadamer, von der es seit 1999 eine preiswerte Taschenbuchausgabe (UTB 2115) gibt. Es handelt sich nicht um eine Gesamtausgabe (wie beispielsweise im Falle von Heidegger), da der Autor jene Arbeiten beiseite ließ, die er fur weniger wichtig hielt. Als eine »Ausgabe letzter Hand« enthält sie auch Korrekturen zu den bereits veröffentlichten Schriften. I. Hermeneutik I: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 1986, 2. Aufl. 1990 [die Ausgabe von 1986 war die 5. Auflage von Wahrheit und Methode (1960); sie erschien aber ohne das Vorwort zur 2. Auflage, ohne die Nachworte von 1965 und 1972 und ohne die »Exkurse«, die in den früheren Ausgaben zum Werk gehörten; sie finden sich nunmehr in Band 2].
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Bibliographie
II. Hermeneutik II: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, 1986, 2. Aufl. 1993 [versammelt Gadamers wichtigste Aufsätze zur Hermeneutik, darunter das Vorwort von 1965, die Nachworte von 1965 und 1972, eine Selbstdarstellung von 1973 und eine Selbstkritik von 1986]. III. Neuere Philosophie I: Hegel- Husserl- Heidegger, 1987 [enthält Gadamers Aufsätze über die drei großen »Hs« der deutschen Philosophie, fünf über Hegel, drei über Husserl und nicht weniger als zwanzig über Heidegger]. IV. Neuere Philosophie II: Probleme - Gestalten, 1987 [bietet Aufsätze über den Begriff der Geschichte, das Rätsel der Zeit, die Ethik, die Anthropologie und Texte über Herder, Oetinger, Kant, Schleiermacher, Hegel, Dilthey und Nietzsehe].
V. Griechische Philosophie I, 1985 [enthält Gadamers Habilitationsarbeit über »Platos dialektische Ethik« (1931) sowie Gadamers älteste Studien zur griechischen Philosophie (1927-1942)]. VI. Griechische Philosophie II, 1985 [versammelt neuere Studien Gadamers zur griechischen Philosophie (1936-1982)]. VII. Griechische Philosophie III: Plato im Dialog, 1991 [das Reifewerk über die griechische Philosophie und vor allem über Plato; Gadamers letzte Studien zu den Griechen sind hier versammelt (19781991)]. VIII. Ästhetik und Poetik I: Kunst als Aussage, 1993 [diese Aufsätze bieten die vollständigste Konzeption der Gadamerschen Ästhetik; sie ergänzen den Ersten Teil von Wahrheit und Methode zur Ästhetik]. IX. Ästhetik und Poetik II: Hermeneutik im Vollzug, 1993 [Gadamers »angewandte« Poetik; sie bietet Interpretationen zu Autoren wie Hölderlin, Goethe, Bach, Aischylos, Karl Immermann, Kleist, George, Rilke, Hilde Domin, Ernst Meister, Kafka und Celan]. X. Hermeneutik im Rückblick, 1995 [neuere Texte über Heidegger und Derrida, Aufsätze über »Die hermeneutische Wende«, die praktische Philosophie und die Stellung der Philosophie in der Gesellschaft].
Bibliographie
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Wichtige Bücher, die einzelri erschienen sind Le probleme de la conscience historique, Paris, Publications universitaires de Louvain / Paris, editions Beatrice-Nauwelaerts, 1963, Neuausgabe: Seuil, 1996 [ftinfVorträge über das Problem des geschichtlichen Bewußtseins, die 1957 in Löwen vorgetragen wurden]. Die Vernunft im Zeitalter der Wissenschcift, Frankfurt a. M., Suhrkainp, 1976. Philosophische Lehrjahre (1977), Frankfurt a. M., V. Klostermann, 1977. Poetica, Frankfurt a. M., Insel, 1977. Die Aktualität des Schönen, Stuttgart, Reclam, 1977 Uetzt in GW 8, 94-142). Lob der Theorie: Reden und AujSätze, Frankfurt a. M., S uhrkamp, 1983. Das Erbe Europas: Beiträge, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1989. Über die Verborgenheit der Gesundheit: AujSätze und Vorträge, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1993. Gadamer-Lesebuch, hrsg. v. Jean Grondin, Tübingen, Mohr Sieb eck, 1997. Der Anfang der Philosophie, Stuttgart, Reclam, 1997. Der Anfang des Wissens, Stuttgart, Reclam, 1999. Hermeneutische Entwüife, Tübingen, Mohr Sieb eck, 2000.
Gadamer in der Diskussion Ein wichtiger Teil des Gadamerschen Werkes und seiner Wirkungsgeschichte besteht in den Diskussionen mit wichtigen Zeitgenossen Gadamers. Es lassen sich insbesondere die Debatten mit Emilio Betti (über die methodologische Zwecksetzung der Hermeneutik), Jürgen Habermas (zur Ideologiekritik) und Jacques Derrida (zur Dekonstruktion) herausheben. 129
Zu Betti Direkt ausgelöst wurde diese Debatte durch Bettis Bezugnahme auf Heidegger, Bultmann und Gadamer in seiner Streitschrift: Die Her129 Für eine Rekapitulierung dieser Debatten in hermeneutischer Sicht, vgl. meine Einführung in die philosophische Hermeneutik (Darmstadt 1991,2. Aufl. 2001), Kapitel VII: »Die Hermeneutik im Gespräch«.
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Bibliographie
meneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissensch4ten, Tübingen, Mohr Siebeck, 1962. Dieses Werk ging aber auf ältere Studien von Betti zurück, insb. auf den Beitrag Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre (1954), Tübingen, Mohr Siebeck, 1988, und auf die Schrift Teoria generale della interpretazione (1955), die 1967 auf Deutsch unter dem Titel: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen, Mohr Siebeck, 1967 erschien. Gadamers Antworten aufBetti sind insbesondere:
»Hermeneutik und Historismus« (1961), in GW 2,387-424. Vorwort zur 2. Auflage von WM (1965), in GW 2,437-448. Nachwort zur 3. Auflage von WM (1972), in GW 2,449-478. »Betti und das idealistische Erbe« (1978), in Quaderni Fiorentini 7 (1978),5-11; wiederabgedruckt als Nachwort zur Neuausgabe von E. Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Ausleguttgslehre (1954), Tübingen, Mohr Siebeck, 1988, 91-98.
Zu Habermas Diese Debatte geht zurück auf Habermas' Kritik an Wahrheit und Methode in seinem Forschungsbericht Zur Logik der Sozialwissenschaften (1967) und in seinem Beitrag »Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik« (1970), der in der Gadamer-Festschrift von 1970 erschienen ist. Die wichtigsten Texte von Habermas, Gadamer und anderen Beteiligten wurden in dem Sammelband Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1971 abgedruckt. Gadamers wichtigste Stellungnahmen dazu sind: »Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode« (1967),in GW 2,219-231. »Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik« (1971), in GW 2, 251-275. Nachwort zur 3. Auflage von WM (1972), in GW 2,449-478. Spätere, sehr beachtenswerte Spuren der Auseinandersetzung von Habermas mit der Hermeneutik finden sich in J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins, Bd.1, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1981,192-196; und zuletzt: »Wie ist nach dem Historismus noch Metaphysik möglich? Zum 100. Geburtstag Hans-Georg Gadarners, in Neue Zürcher Zeitung, 12./13. Februar 2000.
Bibliographie
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Zu Derrida Auf Deutsch fanden die Beiträge der Gadamer-Derrida-Begegnung von 1981 in Paris erstmals ihre Dokumentation in P. Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, München, Fink-UTB, 1984. Gadamers Debatte mit Derrida sind die folgenden, späteren Texte gewidmet: »Text und Interpretation« (1981,1984); erweiterte Fassung des Textes des Forget-Sammelbandes in GW 2,330-360. »Und dennoch: Macht des guten Willens« (1981,1984), in P. Forget (ebd.),59-61. »Destruktion und Dekonstruktion« (1985), in GW 2,361-372. »Dekonstruktion und Hermeneutik« (1988), in A. Gethmann-Siefert (Hrsg.), Philosophie und Poesie. Otto Päggeler zum 60. Geburtstag, Stuttgart, Frommann-Holzboog, 1988, Bd. 1,3-15; wiederaufgenommen in GW 10,138-147 (dieser Text erschien zuerst unter dem Titel »Letter to Dallmayr« (1985), in dem von Diane Michelfelder und Richard Palmer herausgegebenen Sammelband Dialogue and Deconstruction, Albany, SUNY Press, 1989, 93101. »Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus« (1987), in GW 10,1995,125-137 (erschien zunächst unter dem Titel »Hermeneutics and Logocentrism«, in Dialogue and Deconstruction, 114-125). »Hermeneutik auf der Spur« (1994), in GW 10,148-174. »Hermeneutik und Dekonstruktion«, noch unveröffentlichter Vortrag von Gadamer in Paris am 17. 11. 1993.
Wichtige Interviews Gadamers Für eine vollständigere Liste, siehe meine Gadamer-Biographie (Hans- Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen, Mohr Siebeck, 1999),410-413. Hans-Georg Gadamer wird 80: Gespräch mit dem Philosophen, in Kälner Stadt-Anzeiger, 9./ 1O. Februar 1980. Interview mit Hans-Georg Gadamer. Cord Barkhausen spricht mit Hans-Georg Gadamer, in Sprache und Literatur in Wissenschcift und Unterricht, Paderborn, Schöning / München, W Fink, 57, 1986, 90-100. Wir dürfen doch ein Streitgespräch fUhren? Gespräch mit dem Heidelberger Philosophen H.-G. Gadamer, in Communale. Heidelberger Wochenzeitung 29, 19. Juli 1986,9 ..
252 Bibliographie Die verbindenden Solidaritäten sind nicht wirklich lebendig. Gespräch mit dem Heidelberger Philosophen H.-G. Gadamer, in Communale. Heidelberger Wochenzeitung 30, 24. Juli 1986,9. Traditionen sind der Wissenschaft oftmals weit überlegen. Ein Gespräch mit dem Heidelberger Philosophen H.-G. Gadamer, in Bild der Wissenschaft 6 (1986),80-88. »... die wirklichen Nazis hatten doch überhaupt kein Interesse an uns«. Hans-Georg Gadamer im Gespräch mit Dörte von Westernhagen, in Das Argument 182 (1990),543-555. Die Kunst, unrecht haben zu können. Gespräch mit dem Philosophen Hans-Georg Gadamer, in Süddeutsche Zeitung, 10./11. Februar 1990, Feuilleton, 16; repr. in Information Philosophie, 1991/3, 21-28. Gespräch mit Hans-Georg Gadamer [mit Sebastian Kleinschmidt], in Sinn und Form 43 (1991),487-500. Hans-Georg Gadamer on Education, Poetry, and History. Applied Hermeneuties, edited by Dieter Misgeld and Graeme Nicholson, Albany, SUNY Press, 1992 (vier Interviews: The German University and German Politics. The Case of Heidegger, 3-14; W riting and the Living Voice, 63-71; Historicism and Romanticism, 125-131; The 1920s, 1930s, and the Present: National Socialism, German History, and German Culture, 135-153). Hans- Georg Gadamer im Gespräch: Hermeneutik - Ästhetik - Praktische Philosophie, hrsg. von Carsten Dutt, Heidelberg, Carl Winter Verlag, 1993. »Die Kindheit wacht auf.« Gespräch mit dem Philosophen HansGeorg Gadamer, in Die Zeit, 26. 3. 1993, 22f. Hans-Georg Gadamer, »Die Griechen, unsere Lehrer.« Ein Gespräch mit Glenn W Most, in Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1994/1,139-149. »... nein, das letzte Wort will ich gar nicht haben.« Ein Gespräch mit dem Philosophen Hans-Georg Gadamer über die gewaltlose Macht der Sprache, in Franlifurter Rundschau, 11. 2. 1995, 8. Breslauer Studienjahre. Hans-Georg Gadamer im Gespräch [mit R. Grassl], in Pädagogische Rundschau 51 (1997), 115-139. Dialogischer Rückblick auf das Gesammelte Werk und dessen WirKungsgeschichte, in Gadamer-Lesebuch, hrsg. v.J. Grondin, Tübingen, Mohr Siebeck, 1997,280-295. Gadamer: »Viracconto questo secolo aggrappato al Titanic« (Gespräch mit Antonio Gnoli und Franco Volpi), in La Repubblica, 2. September 1999.
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Namenregister Adorno, Theodor W. 15,84 Aischylos 28,73,187 Apel, Kar!-Otto 132,167,180, 182f., 185,194 Arendt, Hannah 10 Aristoteles 7ff., 11, 113, 118, 144, 152, 164-167, 170f., 186, 188, 195, 218f. Aron, Raymond 104 Augustinus, Aurelius 195,197,205, 210-215, 217ff., 231, 243 Bach, Johann Sebastian 55 Barth, Kar! 70 Bernes, Christian 87 Betti, Emilio 17f., 127, 162, 171f. Boeck, August W. 96,101 Bollnow, Otto Friedrich 104 Bormann, Claus von 189 Brague, Remi 186 Bubner, Rüdiger 16 Bultmann, Rudolf 11f., 17f., 65, 70, 137
Freud, Sigmund 2 Friedländer, Paul 11f.,18 Gasche, Rudolphe 186 Geiger, Moritz 7 George, Stefan 7 Goethe, Johann Wolfgang von 15, 17, 49,50,67 Gogh, Vincent van 63f., 67, 75f. Goya, Francisco Jose 31 Groethuysen, Bernhard 104 Gudsdorf, Georges 104
Habermas, Jürgen 16,18,183,185, 194,221ff., 233 Hadot, Pierre 211 Hamann, Richard 6,18,72 Hartmann, Nicolai 5, 9f., 18 Hege!, Georg Wilhe1m Friedrich 18 34ff., 96-100, 102f., 105, 148, 178f:, 187,190,231 Heidegger, Martin 2,6-20, 22ff., 28ff., 32, 34, 63f., 66f., 89ff., 104, Cassirer, Ernst 226 109-136, 146f.,149ff., 164f.,182f., Collingwood, Robin George 190f. 193-196,202,205,209,224,226, 230, 238 Derrida, Jacques 18 He!mholtz, Hermann L. E von 36f., Descartes, Rene 1, 3, 22f., 37, 107, 118 162 Detmer, David 148 Henrich, Dieter 16 Dilthey, Wilhe1m 17, 32f., 44, 50, 86Heraklit 150 89,95,103-111,114f.,117,144,176 Herder, Johann Gottfried 34 Dockhorn, Klaus 37 Hesse, Hermann 15 Doyle, Conan 132 Hitler, Adolf 91 Droysen, Johann Gustav 96, 99-102, Hölderlin, Friedrich 130f. 176 .Homer 24 Dutt, Carsten 194 Hönigswald, Richard 5,18,195 Horkheimer, Max 15 Euklid 91 Hottois, Gilbert 195 Feyerabend, Paul 26 Humboldt, Wilhelm von 195,226 Feher, Isrvan M. 31, 160ff. Husser!,Edmund 6, lO,17f., 109, Fichte, Johann Gottlieb 148, 179 115ff., 151 Foucault, Michel 204 Frank, Erich 12 Immermann, Kar! 15 Frank, Manfred 87 Ingarden, Roman 81
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Namenregister
Iser, Wolfgang 81 Jacobi, Friedrich Heinrich 179 Jaeger, Werner 11f. Jaspers, Kar! 9,15,154,170 JauB, Hans Robert 81 Jonas, Hans 10 Kafka, Franz 32 Kant,Immanuel 5,30,38, 40ff., 4548, 57, 68, 92[, 150, 166ff., 179 Kierkegaard, S0ren 70 Kisiel, T. 113 Klein, Jakob 12 König, Josef 6,104 Kroner, Richard 9 Krüger, Gerhard 10,12,154,166 Lacan,Jacques 194,204 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18 Lessing, Hans-Ulrich 6 Lohmann, Johannes 195 Löwith, Kar! 10,12,16,112 Lücke, Friedrich 160 Makita, Etsuro 20 Makkreel, Rudolf A. 41 Marquard, Odo 130 Melanchthon, Philipp 37 Merleau-Ponty, Maurice 194 Misch, Georg 6[,95,104,114 Moliere, Jean-Baptiste 55 Mozart, Wolfgang Amadeus 62 Müller, Max 112
Proust, Marcel 32,153,201 Puccini, Giacomo 54 Quine, Willard van Orman 194 Racine, Jean 55 Rambach, Johann Jakob 160,162 Ranke, Leopold von 96, 98f., 101, 103 Renaud, F. 224 Richardson, William 112 Ricoeur, Paul 179 Rilke, Rainer Maria 15, 22ff., 28, 56, 70,91 Rodi, Frithjof 87,104,115 Rousseau, Jean-Jacques 49f. Rosenzweig, Franz 243 Russell, Bertrand 132 Scheler, Max 18,72 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 148,150,153, 221f. Schiller, Friedrich 48f., 52, 57 Schleiermacher, Friedrich 26, 77, 8694,96, 101, 106,159f.,176,178 Schulz, Walter 16,112 Schweitzer, Bernhard 14 Shakespeare, William 206, 225, 229 Siebeck, Hans-Georg 17 Sokrates 36, 190 Sophokles 60, 91 Stenzel, Julius 195 Strauss, Leo 10 Szondi, Peter 127
Natorp, Paul 4-7,9,18,93 Newton, Isaac 41f. Nietzsche, Friedrich 2,195,204 Nohl, Hermann 104
Tagore, Rabindranath 4 Thomas von Aquin 211 Tugendhat, Ernst 16
Ockham, Wilhelm von 195
Velazquez, Diego 55 Vico, Giambattista 222
Pannenberg, Wolfhart 65[ Phidias 60 Platon 2,4[,11,18,60,65,68, 93f., 113,150,165,168[,195,205,
207ff., 211, 217ff., 224, 234, 238f., 241f. Pöggeler,Otto 112 Popper, Karl 187
Weinsheimer, Joel 18,81 Westernhagen, Dörte von 14 Wieland, Wolfgang 16 Wittgenstein, Ludwig 195, 210 Wolf, Friedrich August 155 Yorck von Wartenburg, Graf Paul 114f., 117