f
,tú t-q??? .i
'
'l
.'1
':;,1
.l ,
-
.:t ,¡r 7 ü: u'L t- .,' -"' ! ? | tF -1
Jean Grondin I
I
Einfiihrung zu Gadamer
/t"
ü4ri?Íg
Mohr Siebeck 'I
,{
i
JneN Gnouoln ist Professor ñir Philosophie an der lJniversité de Montréal, Gastprofessuren in Lausanne (1998-2000) und Nizza (1998). Mitglied der Académie des lettres et des sciences der Société Royale du Canada. Killam Fellow (19941996). Bücher (u.a.): Herneneutisthe Wahrheit? Zum Wahrheitsbegrff HanvGeorg Cadamers (1982; 2. Aufl.1994); Le toumant dans la pensé de Martin Heídegger (1987)1
Kant et Ie probléme de Ia philosophíe; I'a príori (7989);Eínfiihrutry in die philosophkche Hertneneutik (L991;2. Aufl. 2001); L'áorizon hernéneutique tle la pensée tontempoÍtine (1993); Du Sinn Jür Hermeneutile (7994): Kdnt zut Ei1fithrung (7994); Hanv..Ceorg Gadaner. Eine Biographie (1999).Herausgeber des Gadamer-Lesebuches und Ubersetzer von Gadamer auf Franzósisch.
Fn¡Nr Rr¡¡,.r¡NN, Tübingen, hat das Manuskript sprachlich das
durchgesehen und
Register erstellt.
Díe DeLttsclrc Biblíothek
-
CIP-Einheitsaufinhmc
CrondhL,Jean:
Einfiihrung zu Gadamer ,/ Jean Grondin. - Tübingen : Mohr Siebeck, 2000 (UTB Íiir Wissenschaft : Uni-Taschenbücher ;2139) rsBN 3-8252-2139-3 (UTB) ISBN 3-1 6-147274-8 (Mohr)
2000 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Satz: Oornputersatz Staiger, Pf)áffingen; Druck: Presse-Druck, Augsburg; ía)
Einbrlltlscstaltu¡rg: Atelier Reichert, Stuttgart
lSllN
3-13252-21 39-3
UTB Bestellnummer
Frau Kliire Riedel-Rahle
in Dankbarkeit
Inhalt
Einleitung Leben und'Werk.
1. Das Problem der Methode und die Idee einer geisteswissenschaftlichen Flermeneutik ... ........
22
Wie kann der Anfang der Hermeneutik gemacht werden?
EinRilkegedicht.... Ve¡stehen und Geschehen Zur Destruktion der Ásthetik
.,.
Das Methodenproblem und die humanistische Die kantische Wende .
.. . ..
Tradition
Kants Grundlegung der Ásthetik VonderGeschmack-zurGenieásthetik..... Die Abstraktion des ásthetischen BewuBtseins
22 26 30 32 40 45
48 51
2. Die Wahrheit von der Kunst her . . .
56
Die Kritik an der Subjektivierung der Kunst: das Spiel der Kunst ist ein ganz anderes
Die Kunst
56
.
verwandelnde Darstellung. Die Wiedererkenntnis der mimesis Die festliche Zeitlichkeit des Kunstwerkes . . . . . Die exemplarische Bedeutung der Tragódie Die Darstellung in den nichttransitorischen Künsten Die Übergangsstellung der Literatur Hermeneutische Konsequenzen aus der Wahrheit der Kunst
61
als
66 69 72 74 80 83
3. Die Destruktion der Hermeneutik des
i9.Jahrhunderts
86
.
Die Kritik an der romantischen Ausdruckshermeneutik Die Selbstauslóschung der historischen Schule .
I)iedreiAporienDiltheys I)er phánomenologische Durchbruch
86 96
........103 111
VIII
Inhaltsverzeichnis
Inhalsverzeichnis
4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichdichen 'Wachsamkeit
r25
Die Konstellation desVe¡stehens . . . . . Die Vo¡urteile und die Sache selbst: eine Aporie?
1,25
Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes? .
140
134
.
Das Prinzip der Wirkungsgeschichte
Die Wachs¿mkeit des wirkungsgeschichtlichen Bewu8tseins . . . Der unvordenkliche Charakter de¡ Tradition und das Beispiel des Klassischen Das Grundproblem der Anwendung .Wachs¿mkeit von Aristoteles Die ethische Die Weisheit der juristischen Hermeneutik Die wiedergefundene Einheit der hermeneutischen Disziplinen Die Luftspiegelungen der Reflexion und das Gespenst
.
desRelativismus..... Die Offenheit des hermeneutischen Bewu8tseins . . .
144 146 152 158
164 177 174
178 187
.
.........193 UnterwegszurunheimlichenNáhederSprache . ..... 193
5.DasGesprách,daswirsind...
Von der platonischen Sprachvergessenheit zu ihrer
eugustinischenFreilegung
......205 .. . . . 217 ........225 ...... 230
Die Begriffsbildungunddie UniversalitátderRhetorik . .
DieWahrheitdesWortes. DiespekulativeW'ahrheitderSprache
SchluB
...
234
Der universale Aspekt der Hermeneutik
oderdieUniversalitátdesAspektes. Die Hermeneutikals MetaphysikderEndlichkeit. . . . . .
......234 .. . .. . 237
....247 Bibliographie ......247 DieAusgabede¡GesammeltenWe¡ke tüichtigeBücher,die einzeln erschienensind. .... . .. 249 ......... 249 Gad¿merinderDiskussion..... ......249 ZuBetti. ...250 ZuHebermas ..,.251 ZuDerrida ....251 WichtigelnterviewsGadamers
Einschlágige Sekundárliter¡tu¡ zu Gadamer Sammelbánde und Zeitschriftenheftg die Gadamer ftzw. der Hermeneutik) gewidmet sind . . . Zur Ásthetik von Gadame¡ Zum Wahrheitsbegriff bei Gadamer . Zur Sprache bei Gadamer Sekundá¡literatur über die Gademer-Habermas_Debarte
Namenregister.....
IX 253 255 256 2s7 257
2s8 261
Abkürzungen:
GA
Gesamtausgabe von
Martin Heidegger, Frankfurt
a.
M',
Einleitung
Vittorio Klostermann, seit 1975. GW
Gesammelte Werke von Hans-Georg Gadamer, in 10 Binden, Tübingen, Mohr Siebeck,1985-1995.
HGG
Hans-Georg Gadame¡.
KSA
Kritische Studienausgabe von Friedrich Nietzsche, in 15 Binden, h¡sg. von Giorgio Colli und Mezzino Montinari, 2. Aufl ., München/Berün/New York, dwlde Gruyter, 1988.
LB
Gadamer Lesebuch, Tübingen,
PL
HGG, Philosophische Leh{ahre, Frankfurt Klostermann, 1977.
SZ
Martin Heidegge¡ Sein und Zeit, zitiert nach der OriginalPaginierung von 7927
TPHGG
Mohr Siebeck, 1977'
M',
.
The Phitosophy oJHans-Ceorg Cadamer,
Philosophers,
a.
The Library of Living Salle, Illinois'
XXI, hrsg. von L. E. Hahn, La
Open Court Publishing, 1997.
WM
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (1960)' in GW 1,1986'
1...1
Textauslassung
in einem Zitat.
Hans-Georg Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg geboren, genau 250 Jahre nach dem Tode von René Descartes, der am 11 . Februar 1650 starb. Das ist natürlich der reinste Zufall, aber ein sehr glücklicher, denn man hórt unschwer einen Bezug auf Descartes''Wirkungsgeschichte im Titel von Gadamers Hauptwerk Wahrheít und Methode heraus. Descartes ist zweifelsohne der Begründer des Methodengedankens, auf dem die neuzeitliche'W'issenschaft beruht. Nach Descartes muB das gesamte Gebáude des \Missens methodisch geprüft und auf gesicherte Fundamente gestellt werden: Das aus Vorurteilen und Tradition gespeiste Wissen wird verdáchtig, weil sich seine Grundlagen keiner unerschütterlichen GewiBheit verdanken. Das Fundament sowie das Modell dieser GewiBheit wird Descartes in der Evidenz des cogíto, des rich denke<, finden, das unbezweifelbar festssteht, solange ich es mir wiederhole und von seiner Gewi8heit efillt bin, selbst dann, wenn ein bóser Geist mich betrügen will. Die tabula rasa des neuzeitlichen Methodenwissens verspricht damit einen absoluten Neubeginn, der von einer beharrlichen GewiBheit ausgeht. Nach der selben Klarheit müssen alle Sátze derWissenschaft dem Beispiel der Geometrie folgend abgeleitet werden. Nur so wird das Wissen aufhóren, sich auf Voreingellommenheit und bloB angenommene Autoritát zu grúnden. Von Gadamers gesamtem Opus láBt sich sagen, daB es, im ()egensatz zu diesem neuzeitlichen Methodenwissen, von einem Zweifel gegenüber.einer universellen Ausweitung der
Methodenidee
als alleinigem Zugang
zur Wahrheit ausgeht.
(ladamers Absicht geht natürlich nicht dahin, die Methode sclbst als Wahrheitsweg in Frage zu stellen. Er will vielmehr
Einlcitu¡ru
Einleitunq
ihre Grenzen markieren, rveil ihr Monopolanspruch andere Wahrheitserfahrungcn zu verdecken Llnd Llnkenntlich zu rnachen droht. (Jn.r die Wiedergervinnllrlg dieser Wahrheitserfahrur-rgen unLl um ihre philosophische Legitimierung geht es ir.n Werke Gadamers. Dabei stellt e r zrvei Grundvoraussetzungen des kartesianischen unternehruens itl Frage:1. die Suche
nach einem 'Wissen, das nach allen Seiten absoh-rt klar und
gesichert wáre, 2. die Annahme, daB sich der SchluBstein des 'Wissens ausgerc'chnet in der reflexivetr Evidenz des sich selbst
denkenden Denkeus finden solle. Gegeuiiber diesem Anspruch, der die n.renschliche Erkenntnis stillschweigend nach der góttlichen ausrichtet, wird Gad¿mer geltend machen, daB das mcnsthlith c Wissen viel mehr vou der Tradition und ihren Vorurteilen (>Wirkunesgeschichteo tvird er diesen Funclus nennen) abh:ingig bleibt, als der Mensch sic'h einzugestehen bereit ist. Das Vcnvenden einer imnrer schon vorausgesetzten 'Wohnen in ihrer VerstándSprache, das selbstverstándliche
lichkeit bildet die prlignanteste Eriunerttng daran. Die Wirkungsgeschichte verbietet es 1i:rtter, die Selbstdurchsichtigkeit des BewufJtseins als einen absoluten Ausgan¡¡spunkt zu nehmen. Darin lolet Gadaurer stillschweigend den sosenannten Meistern des Verdachts, Nietzsche (1900 gestorben) und Freud (dessen grundlegende Traumdeutlrng 1900 erscl'rien), die beide auf ihre'Weise die Abgründe des SelbstbewulJtseins zum Therna genracht haben. Für Nietzsche und Fretlcl ist das SelbstbewuBtsein sogar konstitutiv von Illusionen durchtránkt (Gadauter wird bescheidener volr einc'ur von der (]eschichte >erwirkteu< BewuBtsein sprechen). Es ist ¡edenfalls alles andere als ein sicherer Ausgangspunkt. In beiden Fállen ist es also die menschliche Endlichkeit, die Gadamer mit seinem Lehrer Heidegger, aber auch rnit Platon
in Erinnerung ruft. Heidegger sieht nánrlich in der
Suche
nach einenr-funtlaruentrr:l inconntssuttt und seiuer Errichtung inr nrenschlichen osubjektn eine Flucht dcr zeitlichen Existenz vor srch selbst. Viele (einschlieBlich Heidegger!) sahen in Platon den Vater dieser ruetaphysischen Idee. Gadamer liest Platon vieimehr als einen, der daran erinnert, daB kein Cott
phrlosophiert (Syn4tosíon 204e) r-rnd dafl das menschliche
'Wissen
stets von seinern Abstand (und nicht von seiner
3
An-
góttlichen oder absoluten'Wrssen gegenüber gleichung) zu fassen ist. Es heiBt also, die menschliche Endlichkeit zu vergessen, wenn tnan mit Descartes nach einem unerschütterlichen Fundament strebt und dieses irn r.nenschlichen'Wissen den-r
festmachen r,vill. ver{iihrerisch, in Gadamer einen Dpostlnoderneno Denker zu sehen, der die Grundpfeiler der Moderne in Frage stellt. Abel das r,váre ein Mi8verstándnis-'Wer von Postnodernitát spricht, bleibt námlich auf kartesianischem Boden. Der Begrifl der Postmodernitát suggeriert ja gerade die Idee eines Neubeginns, einer tabuld rasa,die es nach Gadamer nie geben kann. In geschichtsphiiosophischer Hinsicht bleiben nach Gadamer die postmodertlen Denker geheime Kartesianer. Sie bleiben es auch in ihrer Verabschiedung der Idee der Wahrheit, die ruit ihrer systematischen Dekonstn¡ktion der Methode einhergehen soll. Deshalb gibt es fiir sie lediglich Interpretationen oder Perspektiven und keine Adáquation der Erkenntnis mit der Wirklichkeit. Aber destruiert wurden dabei nur die Fundamente der kartesianiEs ist daher sehr
schen Methodenwahrheit, nicht die Wahrheit als Solche. Was Gadamer in Frage stellt, ist also nicht die Verbindung
zwischen der Wahrheit und dcr Methode. Es ist so selbstverstándlich, da8 die Methode einen zuverlássigen Weg zur Wahrheit bietet, daB es lácherlich wáre, daran etwas aussetzen zu wollen (vgl. GW 2,498). Fraglich ist allein der moderne
offenbar postmoderne Ar-rspruch, daB Wahrheit nur auf rlicse Weise zu erreichen ist. Das kartesianische Vorurteil ununc-l
Zeit resultiert vielleicht aus einer Vergessenheit der rrrcnschlichen Endlichkeit, d. h. einer Vergessenheit ihrer tats:ichlichen Erkenntnismóglichkeiten und -vo11züge. Ga,l:rrrrers Werk r,vill sie in Erinnerung bringen, um die Menschlir'hkeit unseres.Wissens vor falschen Illusionen zu be',1'ahren. serer
L¡ht'¡r ur¡J
Wcrk
5
Seiten von Natorp sind, die Gadamer kennenlernte. Faszi-
niert wurde er von den'r Interesse, das der spáte Natorp fiir Musik, Dichtung und Poesie zeigte. So erinnert sich Gadanrer, daB Natorp >manchmal sonntags einen Kreis in sein Haus ein[lud] und [...] dort Dichtr-rrrgen [las] , vor allem Dramen von Rabindranath Tagore, deren nrystischer Tiefsinn rnich oft ganz erfiillte- (PL,19). Das strcnge neukantianische Milieu rvar aber sehr wohl das Element, in dem Gad¿.uner seine erste philosophische Prágung erhielt. Bevor er sein Str-rdiunr im Herbst 1919 in Mar-
Leben und'Werk
daB sie von dem berührnten Neukantianer Paul Natorp (1854-1924) betreut wurde. Gadamer war einer seiner letzten Studenten. Natorp ist heute vor allem bekannt als Verfasser eines epochemachenden Buches über Platons ldeenlefue (1903). DaiBuch ist berühmt fiir seine kantische Lesart, die in Platons Ideen Vorahnungen ftir die apriorischen Methoden der Naturwissenschaft sehen wollte. Es ist leider weniger bekannt, daB Natorp diese Interpretation I92l tn e inem Nach-
burg fortsetzte, hatte er drei Seme ster lang in Breslau studiert, rvo sein Vater ein nan-rhafter Professor fiir phannazelrtische (lhemie war. Dort studierte er Ll. a. bei dem Neukantianer ll.ichard Hónigsr,vald,2 de. - wie die meisten Neukantianer die systelrlatische und rllethodische Ausrichtung der Philosophie als Wissenschaft betonte. Wie auch inrmer nran hie und cl¿r versuchte, sich von Kant z¡.r emanzipieren, clie Verptlichtnns der Philosophie :ruf die Epistemologie und die Erkenritnistheorie blieb unerschüttert. Das galt übrigens selbst fiir die Ethik. Die kantische Ethik hatte es sich ja zur Aufgabe gestellt, tl¡s nroralische Gebot herauszustelien, clas n¿rch dem Vorbild cines,>naturlvissenschaftlichen Gesetzesn konzipiert rvar. Im Horizont des Neukantianisnrus fand diese robjektivistische< Moraikonzeption ihren Niederschlag in der Werteethik, die (iadar-ner bei seinenr Marburger Lehrer und Belorderer Nicolli Hartmann erkannte. (ladanrer scheint aber von diesenr epistenrologischen Milie u nicht ganz angetan gewesen zu sein. Der lJnrstancl, daB .'r sich bereits in seiner l)issertation fiir Platon interessiert, zctrst davon. Denn bei Platon bleibt die Philosophie etwas I )ichterisches und Musisches. Seit seinen Gymnasialjahren
r,vort
ist (ladamer ein begeisterter Liebhaber von Dichtung.
Das gesamte Werk Gadamers dreht sich
meisien groBen Denkern der Fall ist
-
-
wie dies bei den um ein einzelnes
Hauptwerk: Wahrheit ttnd Metlrcde,1960 erschienen' Gadamer war gerade 60 Jahre alt. Es handelt sich sicherlich um ein Reif"*..k, clas aus langer Hand vorbereitet war. Aber angesichts Gadaners rnethusalemischer Lebenslánge und Produktivitát ist man nach 40 Jahren nahezu versucht, es als ein Jugendwerk
zu betrachten. Denn Gadamer hat vor 1960 relativ wenig publiziert. Er ist erst 22 Jahre alt, als er seille unveróffentlicht gebliebene, ll6seitige Dissertation iiber >Das'Wesen der Lust áach den platonischen Dialogenol schreibt. Ar.n meisten hervorzuheben ist an dieser Dissertation nahezu der (Jmstand,
mit dem unkantischen Titel ,Logos-Psyché-Eros< kor-
rigierte. Er rückte nun die l.nystischeren Aspekte von Platon in den Vordergrund. Es ist anzunehmen, daB es auch diese
Es
I Zn Rrchard Hónisswaltl (11175-19.17). vql. clen Banci f:itcrncr¡ - Spratltc.lnternationales Richarcl-Hóniesrvald-Symposion Kas-
.\,lrrr¡r¡-
r Fiir die
folgenden bio- und bibliographischen Angaben veru'eise
Darstellung: Ha ns-Ceorg Catlamcr' Eítte Bioich auf nreine ".,i1',hrli.h.t. griplrie, Tiibineen. Mohr Siebeck, 1999.
l 1995, hrsg. von W. Schmied-Kowarzik, Würzburg, Kónigshausen & N('unrann, 1977 (nit einem Brief von Hónissrvald an Gadamer von
st
l,)l()).
Lcben und
We ¡k
Leben und Wcrk
war danlals insbesondere die Dichtung von Stefin George, die ihn - wie viele andere auch - ergriff und ihn dazu brachte, zunáchst Germanistik an der universitát Breslau zlr studieren. Bald genug wurde er aber von der dort herrschenden Formlehre abgeschreckt, so daB er sich fiir die Philosophie entschied, obwohl er weiterhin Literatur und Kunstgeschichte in Marburg (vor allem bei Richard Hamann) studierte. Dichtung verrnittelt aurch eine Erkenntnis, aber eine,
Wir kónnen heure unschw-er in Heideggers Manuskript ,'ine der Keinrzellen von Scí¡ tmd Zeit erkennen. Aber wir verfiisen inzrvischen iiber den Abstand einer ge,uvaltigen,
lif )j:ihrigen Heideggerrezeptron, der uns an seine Art fra-gen qewiihnt hat. Der halsbrecherische Text von1922 traf dieáa_ rr;rligen Leser vóllig unvorbereitet! Ceorg Misch nahm auch
A¡rstofl an seinem áuBerst r.nanieristischen Zuschnitt, so daB
r'r Moritz Geiger, einen orthodoxeren Reprásentanten der N4 iinchner Phánonrenologie, ñir die Góttinger Stelle vorzog. Nrrtorp ur-rd Gadamer fanden das Manuskript hingegen ., lrlichtrveg genial. Natorp betrieb daraufhin die Berufung r',rn Heidegger nach Marburg, sicherlich ein Zeichen von rirol3cr Ofltnheit und Vorahnung fiir einen Gelehrten volr
die sich mit den Katesorien der an den 'Wissenschaften orientierten Erkenntnistheorie nicht beschreiben láBt. Schlimmer noch: die herrschende Erkenntnistheorie tendiert dazu, alles, was wie Dichtung oder Kunst aussieht, aus dem Reich der Erkenntnis zu verbannen. Gadamer wird darin eine enornre Blindheit sehen, als dessen Korrektur sich
rr,rirczu 70 Jahren. ( ]adamer betrieb seinerseits seinen'Wechsel trach Freiburg, ,rn bei Heidegger zu srudieren, sobald es seine Kráfte zulie_ Iit'rr. Heideggers elektrisierende prosa erinnerte ihn sofort an
seine gesamte Philosophie verstehen láBt.
Einen Einschnitt bildet kurz nach seiner Promotion die Polioerkrankung, die ihn im August 1922befálk. Sie zwingt ihn, viele Monate in Quarantáne zu verbringen. Wáhrend seiner Rekonvaleszenz überláBt ihm sein Lehrer Natorp das Manuskript eines jungen Assistenten von Edmund Husserl in Freiburg, Martin Heidegger, den clarnals bereits eine groBe Farna umgibt. Allein durch die Kraft seiner Vorlesungen galt er als der steigende Stern oder gar der heirnliche Kónig der deutschen Philosophie. Aber dieser Ruf war (noch) nicht durch nennenswerte Publikationen gestützt. Deshalb hatte ihn Natorp gebeten, ihm einen Bericht seiner AristotelesArbeiten zu schreiben, un ihn auf ein Extraordinariat an der lJniversitát Marburg berufen zu kónnen. Der lange ftir verschollen gehaltene Bericht wird 1989 zufdllig wiedergefunden, weil Heidegger ihn gleichzeitig an Georg Misch in Góttingen schickte, der auch die Kandidatur von Heidegger fiir eine Stelle ersucht hatte. Misch übergab seinem Schiiler Josef Kónig das Manuskript, in dessen NachlaB es gefunden wurde.3 -3 Es wurde von Hans-ulrich Lessing unter dem Titel rPhinonrenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der herrrreneuttschen S i tuation< irn D i h h ey -J ah rbu h 6 (1 989), 237 -269 veróffentlich t. c
Vt'r'sc von George
(PL,212).Er erkennr sich auch in Heideg_ phánomenologischem Rückgang aufAristoteles wieder, zunr¡l er gerade über dcssen Ethik arbeiten rvollte. >pháno_ lrt'rrologisch< bezeichnet fiir Gadarner wecler ein Arbeitsge_ lrrt't, eine Methode, sondern ei' Wertprác.likat: Damiiist 'och , rr nrit Anschaulichkeit und phánomenennáhe verbunclenes I )t'nkcn gemeint. Endlich sicfir da jenrand, wovon Aristoteles rit'r's
',1,r'it'ht. Es ist diese phánomenologische Gabe, clie Gadamer
l','i
Heidegger anr meisten begeistern wir<1 (Heideggers "l )osrlrarik<, dies sei ohne abschárzendes Urteil gesagt, wird I r rvcit rveniger anziehen). Es gibt in der Tat etwas Dichte_
r
r r
r.t lrcs in Heideggers Sprachgenius. Gadar¡rer begreift auch l,.rl,l scnug, dafl diese Sprachfeinheit mir einer eklaianten De_ r
''rr rrktion der überlieferten Kategorien des Aristotelismus, .rl,r'r zugleich auch mit einer Destruktion der Erkenntnis_
rr'olic des Neukantianismus einhergeht: Idealismus, Realis_ rnr\, usw. sind sachferne Etiketten, die den phánonrenologi_ ,, lr.'n Zr.rgang zum Denken, ja zum Sehen von Aristoteles ., r\l)('rrcn. Dies verleiht der Heideggerschen Destruktion tI
, u rt' r'c'r'olutionáre Tragrveite, die den Erwartungen einer ji,in_
,', r,'n (leneration enrspricht, die aus den Erfahrungen des
8
Leben und
L.b"tt uncl We¡k
Ersten Weltkr-ieges desillusioni ert herausgekollllllen ist' Die
Sinnlosigkeit dJ, gr"ur"t ten Materialschlachten stellt den
Fortschrlttsgiauben cler'Wissens ch:rft in Fra ge, j ener Wiss-en-d", der Neukantianismus wie selbstverstándlich schaft, ,ro., ausging. Heidegger erschiittert nun all diese FassadengewiB-
heiten.
Im April 1923, frisch verheiratet und damit endlich vom Elternhaus r-rnabhángig, setzt Gadamer sein Studium in Freiburg fort. Der ZufalL will es, dafJ Heidegger in diesem Seme,,.,.itt. Vorlesung zunrHerlneneutik der Faktizitáto (ClA 63) junhlilt. Sie ist fiir uns eines der sprcchendsten Zeugtlisse des geseine selber (52,72) Zcít und Seirr in gerr Heiclegger, cler einer denr Titel unter /20 1919 seit l.r-rrt" V"tl.tungstátigkeit ,>Hertneneutik cler Faktizitdt< zusanurrenfassen wird' Gadamers erste Begeenung mit Heidegger steht sonrit ttnter
denr Stern clcr F{enneneutik, die sein Lebensthelna rverden Sesollte. Es ist cin weiterer Zufall' daB Heidegger in diesem lJi l¿o,larlrlder lllester zudenr ein Semin:rr über das 6, Buch zu fesscltctt Etltik hált. Das Seminar scheint Gldaurer mehr
seirralsdieVorlesung.Jeclenfallshaterirrseitrenzahlreicherr autobiographischen S.lh.ift"tt weuiger von ihr als von der-n Aristoteles-Seurinar gesprochen.+ Gadamer wird in der Tat dauerhaft beeindruckl biciben von Heideggers Neubelebung die des opraktischen'Wissensu vouAristoteles,jener plvonesis' hernreneutides Vorbild ein als Mctlto¡le tmd ,n Wolrrlrrit ", ist schen Verstehens cmpfehien I'vird: Das praktische-Wissen Anwenzwar situativ betlingt, aber es beweist sich nur in der dung, die mein sanzes Sein betritA' Praktisches Wissen grünnicht nir auf methodischer Kontrolle und Distanz, es d.t "-lso um schlágt seine'Wurzel vor allem in die Sorge der Existenz jungen Heiden fiir mich selbst. Deshalb rvurde die plvonesis in degger eine Zeit iang so wichtig' Aber Gadamer blieb ihr Gld¡r.Ier it't scinen l-ós'e'tlel'Vortt i17 (1963 geci uckt unter derlr Titel Le ptobline dc la rctts':íett':c Heidegger i,.rnrl4,,r, N".hclruck: Paris, Seuil, 1 996) denr Thema.oMartin Gerstesund die Becleutung seiner Hernleneutik der Faktizitát fiir die rvrdrnete' Kapitel ganzes ein rvissenschaftenu
I
Es ist al.cr zu vcrzeichnen, tlaB
qen von
Wcrk
9
, irrcr selvissen Hinsicht noch treuer ais sein Lehrer, da sich I lcitleg¡ger r,venig spáter nur noch fiir den Aristoteles der ner lil ry5i56[s¡1 Seinsfrage interessierte. Die Seinsfrage, nicht das . r
¡,r',rktische Wissen sei sein Lebensthenta. Bereits 1930 wird
fiir uns vorahungsvollen Aufsatz unter dem 'l rtcl ,Praktisches 'Wissenu schreiben, ein Aufsatz, der ihm ( ,,rtlrrnrer einen
vt'r'rrrutlich so naheging,da8 er ihn erst 1985 in seinen Cesamtt,'ltctt Werken drucken liefl (G'W 5,230-248). Aber die lebenslange Beziehung zu Heidegger, die eine nrnrer bewuBter werdende Distanz nicht ausschloB, rvird in ,lrt'scn Monaten geknüpft. In der schweren Wirtschaftskrise r', rrrr Spátsomrner 1923 wird sie noch enger, als Gadanrer und
inc Frau vier 'Wochen in Heideggers winziger Hütte in l,rdtnauberg verbrachten. Der Austausch gestaltet sich nun ( r\vils wechselseitiger: Heidegger, der aus Freiburg und aus ,1,'rrr Südr,vesten so gllt wie nie herausgekommen ist, wurde ',, 't'[rcrl von Natorp nach Marburg berufen und láBt sich von ( i.rtl:rnrer iiber die Kleinwelt der Philosophenhochburg Marl,r n.r: informieren. Am 14. Juli 1923 schreibt er Jaspers, daB er ',r, lr verspreche, Nicolai Hartmann, der eigentlich Richard ',,
Kroncr fiir den Marburger Lehrstuhl vorgezogen hatte, odie I l,illc heifl zu machen<. >Ein StoBtruppo, fiigt er kámpferisch lrurzu, ,von 16 Leuten, bei manchen unvermeidlichen MitLrr¡f i'rn einige ganz ernste und tiichtige, kommc nrit.u I):rrunter Gadamer. Noch unter dem Bann seiner ersten llr'{c'unlrng mit Heidegger schreibt er 1923 seine ersten Auf'..rrzr'. In einem Beitrag zur Festschrift zum 70. Geburtstag von N,rl()r'p, zu dem ihn Hartmann eingeladen hatte, lnacht Gada,',, r. skcptische Bemerkungen über die Relevanz der Systemr,l,'r' ul der Philcsophie, die ailgemein ein Dogma des Neul.,r¡ti:rnismus war.5 Diese Skepsis ist offensichtlich eine l rur lrt seiner Freiburger Monate. Ein fi-üherer Aufsatz aus ,lr,'st'r. Zeit, der in del renommierten Zeitschr:ift Logos verófl, r¡rlic'ht wird, zeigt eine lange Auseinandersetzung mit Ni,,1,¡i IJ¡rtrrranns 1992 erschienenem Werk ivletaplrysik der Er-
19
I
l( l(1, >Zr"rr Systemidee in der Philosophien, in Fcstsclrrifr,fíir Parl t-0. Gchnstag, Berlin, de Gruyter, 1921,55-75.
.'tt,,lt :tntl
10
Lebcn tur.l Wcrk
Lcben uncl Wcrk
\'veist kenntnis.Trotz der engen Verbundenheit mit Hertnlann Gadamer auf' Ton kritischen sehr einen Besprechung
die rvirft Hartmann mangelnde Radikalitát vor: ob sich Hartvo1l1 neukantiani-.tn ,"itt"n besten ALsichten zum Trotze
befreit schen Paracligru.a der Erkenntnistheorie hinreichend
habe? ohne ii. b.ir' Nar'en z' er,rváhnc-n, verrát hinzugeseine Quelle, indem er sich (in einer atrf den Fahnen
Gadar'er
Defiigten-Bemerkung) auf die Aufgabe einenkritischen strluktion cler philosophischen Tradition<(' beziehtl Gadanrer
Redeweise liist damit r,vohf der erste, cler clie Heideggersche der bis 1927 selbst' Heiclegger vor terarisch verrvendet, noch
Die Fornichts von seinen grundlegenden Ideen publizierte dafl der so gewagt' sehr tltlt'loch *".." mei und die Frasen in seine er die Aufsátzen' frühercn diesen spátere Gadamerlit'r als nichts hat' ar-rfgenolnlnen nicht Werke 'voró"r.r-t-tt.t-t.1t.n lautes Zei.rg< (GW 2,483) sehen r'vollte' Nichtsdestoweniger erfindet mariin cler I{ritik an der Systemidee und an dem wesentlichen der kenntnistheorr-tischen Paracligma eines seiner sp:iteren Hermeneutik, die von der Geschicht-
Motive lichkeit des Verstehens ausgehcn rvird' ltrr-Winterselnesterlg23/24fblgtalso(]'adarrrerseinetrr Dort tritt Lehrer nach Marbr-rrg, wo er dessen Assistent wird'
Hei.tegger selbstbeuwflter als in Freiburg auL Vom Schatten geographisch betieit' setzt er in seiuer ersten Vorle-
Hr,rr.rltí
tZi ,., .i,t", groBen Ausein¿ndersetzung mit sei,r.ti L"h... Hr-lsr"ri "t, ,,o' cler er in Freiburg eher zurück-
sung (G't
scheute. Husserls Phiinomenologie sei nicht phánomenoloerklárt er' u'eil sie ihrc Begrifflichkeit von einer
gir.h g"r't.,g,
cleren ontologische Fundamente es kritisch zu hinterfragen, d' h' in Heideggers Sprache:zu->de*i....t< gelte. HeiJegger entfaltet in Marburg eine LehrtáMacht' die eine ganze Generation tigkeit toJ "rrt"r.rnlicher vom bJzaubert. AuBer Gaclamer ziihlern spátere Philosophen Gerhard Lówith' Karl Strauss, Leo R.,tg *i. Hannah Areudt' Kriifer, Hans Jor-ras zri cleu von Heiriegger Gefesselten' Cada-
i"ditio" lb"rn.hrlt",
6 HCG, ,Metaphysik tler Erkenntnis' Zu der¡ gleichnamigen Buch von Nicolai Hartrnanno. in Lctgo-s 12 (1923-2'+)' 35()'
lt
rner ist fasziniert, aber auch erdrückt von der Wucht Heicleggcrs. Ein harter Brief von Heide'gger bringt ihn dazu, an seirrer eisenen Begabr-rng in der Philosophie zr-r z',l,eifeln. So entscheidet er sich 1925, ein planmáBiges Studium der l(lrrssischen Philologie zu absolvieren, das 1927 zu einem St:r¿rtsexamen fLhrt. In Marburg hatte Gadamer das gro8e ( iliick, unter der Leitr-rng des sro8en Platonforschers Paul lrrie dláncler zn arbeiten. Durch seine fein{iihiige Lektüre aller plltonischen Dialoge, die in den drei Bánclen seines damals qcschriebenen Meisterwerkes iibcr Platon literarisch nachzucrrrpfinden ist, scl-ilrft er die Aufirrerksamkeit von Gadamer liir die kunstvolle Dialogkr.rnst Platons. Der in Marburs lehrcucle Theologe Rudolf Bultnann, der Gadamer damals zu st'incnl Graeca-Leserkreis einládt und der sich fiir die Stilgatrunsen der Heiligen Schrift interessierte, wird dieseibe hernrcneutische Disposition bei ihnr stárken. In Friedlánders Sernin¿rr prásentierte (ladanrer eitre Interl)r.et¡tion des aristotelischen ProtrepliAo-s, aus der 1928 eine iro13e Kritik an'Werner Jaegers Aristoteles-D e utung r'verden ',,lltc.7 Jaeger hatte eine anspruchsvolle senetische Interprel.rti()n der aristotelischen Philosophie entwickelt, unr die in rlrr :rlrftretenden ,>'Widerspri"icheo zu erkláren:Von einenr Anlr.ir rqcr der Ideenlehre zúL- Zeit seiner Lehrjahre in der Akadcurrc hritte sich Aristoteles langsanr zu einenl Kritiker dersel1,,'n clinvickelt, um einen eigenstándigen Ansatz irn Bereich ,1,'r' l)hysik und der Ethik ar-rszuarbeiten. Der Protrcptifros ealt clrrbci als eine Jugendschrift, weil marr in ihr noch eine 'lrrrr l,l.rtonische Autf assuns der Philosophie und der p/rroric-ri,r err
l.t r)r)cn kónne. Die phronesis sei dort mit einer umfassenden Wt'isheit gleichgesetzt, wáhrend sie in den spáteren Ethiken .Wissens
bcscheideneren Platz des prudentiellen einnehrrrt. (ledaner wirft Jaeger vor, die Stilgattung des Protreptíkos .'r r r,,'r-n:rchlássigen. In ihr gehe es nicht darum, eine bestirnm-
,1,'r¡
r, ¡'lrilosophische Korrzeption
, f rr,
!fi
zu profilieren, sonciern um die
I I(lG, >Der aristotelische Protreptikos und die entrvicklungsgelrtliche Betrachtung deraristotelischen Ethikr,rn Hennes 63 (1928),
l(r-{r
flW
5. 1ó4-1 8(r.
12
Leben und Werk
Verteidigung der Philosophie als solcher. Die Solidaritát mit der platonischen phronesis-Konzeption ist also nichts Überraschendes in einer solchen'W'erbeschrift. Gadamers Kritik verrát seine hermeneutischen Instinkte, die von Heidegger, Friedlánder und Bultmann vorexerziert wurden: der Textbesessenheit der Philologen setzt er erfolgreich die Berücksichtigung des Kontextes und der Zielrichtung der Schrift entgegen. Im Gegensatz zu den frühen Aufsátzen von 1923-24 wird Gadamer einen gewissen Stolz über diesen ersten Bei:'rag a)r Klassischen Philologie beibehalten. Es gab aber erneut eine gewisse Kühnheit in Gadamers Kritik, war doch Jaeger die überragende Autoritát der damaligen Altphilologie. Bei allen Kontroversen sind Jaegers Arbeiten die einfluBreichsten des 20.Jahrhunderts im Bereich der AristotelesForschung. In den Bánden seines groBen Buches Paideiahat er ferner bei den Griechen die Grundlagen eines pádagogischen Humanismus hervorgehoben, der der damaligenZunft der Altphilologen als eine Art Legitimation diente. Tiotz seiner friihen Kritik ist Gadamer selbst diesem Humanismus weitgehend treu geblieben, sehr im Gegensatz zu Heidegger, der ihn zu platt fand.8 Gadamer teilte nie Heideggers Abschied vom Humanismus. W'ie wir sehen werden, wird er so-
gar eine Rehabilitierung humanistischer Grundbegriffe am Anfang von Wahrheit und Methode anmahnen. Das Studium der Klassischen Philologie hat es Gadamer zweifelsohne erlaubt, eine gewisse Unabhángigkeit Heidegger gegenüber zu erlangen und zu beweisen.Dennoch konnte er der Einladung von Heidegger nicht widerstehen, als dieser ihn nach seinem Staatsexamen vonl927 zu einer Habilitation unter seiner prestigevollen Leitung ermunterte (Heidegger hatte soeben Sein und Zeit lolrit gewaltiger Resonanz veróffentlichQ. Gadamer mu8te sich aber beeilen, weil Heidegger die Husserl-Nachfolge in Freiburg anstrebte, was sich 1928 auch verwirklichen sollte. In dieser gedrángten Situation, die 8 Vgl.dazu meine Studie über rGadamer on Humanism<,in meinem Sources of Hermmeutics, Albeny,SUNY Press,l995,lll-123; auch in TPHGG,157-170. Band
Leben und
rrrit dem schweren Todeskampf seines am 15.
Werk 13
April 192g ve-
storbenen Vaters zusa[rmenfiÁl, brachte Gadamer ¡rphánome_
rrologische Interpretationen zum platonischen philebos< zu_
stande, die 1931 in revidierter Fasrung unter dem dialektísche Ethík. erschienen. Sie war*en als
Titel platos vorspiel fiir eine lnterpretation der aristotelischen Ethik gedacht, die aber auf spáter verschoben werden muBte. Das Buch von 1931 blieb irn Grunde Gadamers einziges Buch bis zum Erscheinen von Wahrheit und Methode. Fi.ir dieses lange Schweigen Gadamers
gibt es eine Reihe von Gründen' Seine Habilitationsschrift tszs >habilitier"o" Lehrveranstaltc< ihn námlich, als unbesoldeter privatdozent tungen an der Universitát Marburg zu halten. Nach Heideg_ gc.rs l7eggang nach Freiburg bildeten seine in Marburg vá
bliebenen Habilitanden fart tOwlth, Gerhard Krügei und (l¡damer ein selbstbewuBtes Tiio, das in Marbu.g dis kriti_
sche Erbe der Heidegger-Schule fortsetzte. Gada¡rier widme_
tc sich vollauf seiner Lehrtátigkeit und konnre bis auf die I labilirationsschrift und eine gÁphnte kommentierr. A;r;;_ bc der aristotelischen physik,áie nie zustande kam, an kei"ne
griiBere Publikation denken. Alsdann erschienen die Nazis und errichteten ihre Terror_ l¡crrschaft.'Wie seine meist jüdischen Freunde (Karl Lówith,
rlcr Heidegger-Nachfolger Erich Frank, der bei ihm woh_ rrcnde Jakob Klein u. a.) hielt Gadamer den Atem an, in der l,l.,ff'n""g: da8 der >Spuk< bald verschwinden móge, wie es
rlic abwechslungsreiche Folge der friiheren Regierringen der fcirnarelRepublik erwarten und hoffen lie8. rch mó"chte an tlicser Stelle die Debatte um Gadamers Stellung wáhrend der NS-Zeit nicht neu aufrollen, da ich es in der B.-iographie be_ ¡'cits ausfiihrlich getan habe. Ich beschránke mich-hier aufdas Wcsentliche:Von seiner Herkunft und seiner Disposition her
rv:¡r der weitgehend
apolitische Gadamer kein ñazi. Sonst rvrirc er (wie Heidegger) selbstverstándlich parteimrtglied ge_ rvorden, was er nicht wurde.Wie die etwas hochmttTg.o írr_ tcllcktuellen seines Kreises hat er die Nazis eher ve-rachtet
,:f].1.
ni:!!
ernst genommen. Nach dem Róhmpursch vom keinen zweifermehr ü-ber die kri-
t0. Jtrni 7934 gab es aber
14
Lt'bcn u¡rl
Leben und Wetk
We
rk
15
t'riitTentlicht.e Aber sre liefen gegen den Lauf der Dinge in-r Da sich die erhotfte Einheit nicht verrvirklichte und ,lie Loeik des Kalten Krieges irrmer eindeutiger wurde, rr,rlrnr Gadamer im Septentber 1947 einen Ruf nach FrankIrrrt run Main an, rvo er diesmal mit Adorno und Horkheimer lr I zusamnlenarbeiten wirrde. l)ie umwálzende und aufreibende Zeit des Rektorats eignt'tc sich auch nicht fiir gróBere philosophische Pubiikationsr',,rhaben. So beschránkte sich Gadamer in dieser Zeit weit,i.'lrcnd auf Interpretationen dichterischer Werke von Rilke, ( iocthe, F{esse, Karl lmnrermann, die auch óffentlich vorsetr.rqcn wurden und die das beste der deutschen Kultur retten rvollten, als diese sich in ihrer schwersten Krise befand. Sie ',rrrtl lreute zum groBenTeil im 9.Band der CesatnmeltenWerke r,'rs'rnlnelt. Sie dokumentieren nicht nur die ,angewandte I l,'nrreneutiko Gadanrers, sondern auch die schweren Kri',, rrj;rhre, in denen sich Gadal.ner auf die Dichtr-rng als die 'l{ t'lieion der Innerlichkeit< besain. In Frankfurt und ab 1949 in Heidelberg, wo Gadamer die l\,rt lrtirlge von Karl Jaspers antrat, widmet er sich rveiterhin ,l, r' tlringenden Ar-rfgabe des kulturellen Aufbaus des geistig r, 'llig zerrütteten Landes. In clieser Situation erscheint es ihm , lr rnscnd, die Rolle der Philosophie zu verteidigen. Zunáchst l', s, lr:iftigen ihn pádagogisch zu nennende Publikationen. So I'rr)st er eine Neuausgabe von Diltheys CrundriJ| der Ce' lti,lttt' tler Philosophie und eine Üb".set".rtrq des XII. Buches ,l, r ,rrrstotelischen Metaplrysik heraus. Er beweist Mut und I r, uc, indem er 1950 eine Festschrift zum 60. Geburtstag seirr, r ¡olitisch sehr belasteten Lehrers Martin Heidegger zu.rnrrrcnstellt. Seinen politischen Irrtum hat er nicht geteilt, ,1,,'r rlct Titei der Festschrift - >Anteile< - verrát, daB er die ,r, rrriitigcnde Isolation, die Heidegger auferlegt wird, unger
ninelleundtotalitáreNaturderNazi-Diktatur.JederlntelmuBte oder lektuelle, der nicht gerade Deutschland verlassen Mártyrer kein er wenn wollte, tnuBte von nun an schrveigen,
,.i.r ."ollt".Inquisitorische Geister werden zrvar bei Gadamer dt'e Nazis finkeine direkte Stellungnahnle von darlals gegen von früPraxis philosophischen der clen, aber die Fortsetzung geMeer braunen totalitáren einen in solche her ia.f als eine
werdeu. Es finden sich auch keine sehr direkten Stelwas lungnahmen -f/it <7te Nazis, die Partei oder den Fiihrer' Gadamer zur Ehre gereicht' Gadamer an Es lieBe sich abei nicht sagen, daB die Nazis Publikationspláne r-rnd der Ausfiihrung seiner Fotsihungs-
*..,.,
g.nná"r, hattJn. Gadamer hatte den guten Sinn und
die
i
erhielt' weil erdulden muBte, bis er 1937 den Professorentitel jedo ch'1939 ihm half ;; ;i, ," unpolitisch galt. Diese Haltung zu werberufen Leipzig auf eine P.áferru. an der Universitát ganzen ür unabhán'gigsterl den, die als eine der politisch 1945 bis 1933 von daran' gut er t"t n"i.ft galt. Aufjeden Fail denken' zu an kein*e gróBeren Publikationen 1945 riurde die Stadt Leipzie zunáchst von den Ar¡erikazur r-rern befreit, um nach dem Riickzug der Amerikaner unter er sich sowjetischen Besatzungszone zu-gehóren"Wéil als konziliant galt' und hatte kompÁrnittiert nicht den"Nazis mit man sich r'l.,tr-, l.itht auf Gadamer als Rektor' der "-igt. Archáoder d.ni..lrr.n verhandeln konnte (sein Vorgánger' versuchiog. e.r,th".d Schlveitzer u'ar daran gescheitert)' So Unabhándie Rahmerl' te er, in einem neuen ideologischen gigkelt der (Jniversitát und áer Wissenschaft zu verteidigen' ñi-.r. ,-trurigen Stellungnahmen des Rektors wurden damals
( )ste n.
r
1
'
Vql. (lie l{ektoratsrede r.or-n 5.2. 19+6 (tbcr dit Lirsrpiinglid*cir dcr I ú't.Lerpzig, Johann Anrbrosius I3arth Verlag, 1 9 17 und Ú bcr die t '.¡ rtttrgltthkcit der Phílosophie: Zruei Vtrtrii,gc, Berlin, Chronos Verlag, '' l:i t
I
t
t t t\t
r
16
Leben untl
Lel¡en untl Wcrk
cler damaligen recht fiIrclet. Es gelingt ihm, Karl Lór'vith' der in
Beitrag zu Situation als eir] Hei.leggergegner g:rlt' fiir einen 'Wenige langer-r einem ihtt. g.."r"".". Jahre spite r holt .er i:t ihn nach HeiláBt und .,t'ti de,t ÚSA zuriick ,r..tt
É*it
1.prtt
berufen. clelberg --
begriinclet 1953 eine Zeitschrift' die PlilosophiNeuerscheinunsclte |
á.i",',t..
*ia"*,. Vieie junge' inir.tt.rt Zeitschriít Deutschlands avancieretr' Habermas' D1e1er Henrich' Wal-*."
Lrillante Kópfe wie Jürgen
und Rüdiger ter Schulz, Ernst Tr'rgendhat, Wolfgang Wieland von Gadauncl machen bernerkbar ihr in sich Bubner werden ihre wenn mer entscheidencle AnstóBe enrpfanqeu, auch GadaAber sincl' Denkausátze von clen seinigen sehr eutfernt rler schátzt das Niveau der phiiosophischen Herausforderung aristotelischen stets hóher ein als die Linientreue' Wie im phiiosoVerteidigung die um protrrpt¡t orgeht es ihm we niger Philosophie der Verteidiguns ;1";.;". Po'rition"tl :rls utn Jieclialogische Praxis der Philoso.1, ,ol.h"r, urn clie wesetltlich phie, die er seit langer-n praktizlert' ' Ai1 ,l^, rnacht noch keitl'Werk' So wird Gadanler von vievorzule1",, S" it"t"t aufgefordert, encllich e tr'vas Sttbstantielles sich fiihlt und Systenratiker als nicht sic-h v!rstcht Aber er een. .:rnU.g^U r, abstr¡rk te
hilosophische Systcme zn konstruieren' l.it"rllt pi"tot-tis.h",t Vorbiicl folgend' zieht er das lebendige á;;p;.i, aber auch clas Gesprách mit den groBen Denkern p
.rni Di.h,..n der Tradition vor' Er luhlt nicht zuletzt den l.tt.,r.n seines grof3en Lehrers Heidegger' In einem groBar,rg"" ."roUiogriphischen Zeugnis bekennt er: '>Sonst blieb
auf lange hinaus eine rechte Qual' Immer gucke mir dabei hatte ich das vercl¿nrtllte óefiihl, Heidegger 491) 2, (GW über clie Schulter-< just cliese philosoSeine Sruclenten forclern ihn aber auf, Gesprich alles verder-rl die vorzulesen, phische Konzeption clas i.ttkt. Sie láBt sich nicht besser beschreiben ¿rls dr-rrch 'Wort ,rHerm31lg¡1¡ik(. Detur dieses-Wort bezeichnet nicht nur es deutet die traclitionelle Kunst unrJ Praxis der Auslegurlg, vollzieht' selbst sich an auch auf einen Vorglng hin, den l1lan
,ti. d., Schrelbcn
Wcrk
1l
man interpretiert. Von Heidegeer hat er nánrlich gel,'rnt, daB der Mensch ein herlneneutisches, d. h. ein interpreticrcndes und sich selbst deutendes'Wesen ist. Aber Gadamer It'hnt sich auch an Dilthey, der die Hermeneutik mit der Aufri,r[rc einer Legitinrierung der Erkenntnisrveise der Geistesn,issenschaften verband, und fernerhin auch an Husserl an, ,lt'r rvie er abstrakten Konstruktionen miBtraute. Diese Philo.,ophie, c'lie er seit langen praktiziert, r,vird also eine philoso¡'lrische Hermeneutik sein müssen. Er rvagt es nicht, von ,,1:cr-nreneutischer Philosophie< zu reden, wre es Heidegger ri,'w'ollt hatte (GW 10,199). Den Titel der Philosophie wagt , r' nicht in Ansprr-rch zu nehmen. Philosophie ist fiir ihn ein l'r':idikat: so begnügt er sich mit einer Hermeneutik, einer lrt'r'nreneutischen Praxis, die eine philosophische Relevanz , rlrcischen kann, '"veil sie eine unive4sale Tragweite besitzt: I r t t.rpretieren und Versteherl sirriT'iii cht,Rur Prozesse, die die ( ;('istcswissenschaften auyeidünen. sie bÉi¡'e"ffen vielmehr \\/c11r1
r
Seinsweisd. l)ie Arbeir an dieseni g/erk
ur¡\el'e gesalnte
!.;
t
d.er FJernrcur:utik vcrl.rrrgt .', lrn -lrlrre. 1959 lcgr Gadanlé¡,der eigentli,'h ein Meisrcr dcs I l, incn Essays ist, seinem Verle$r ein S0tlsqitiges Manuskript rrr rI ('r clem Titel,rGrundzügé-eine}"philoSophischen Herrner( utik( vor, als sollte eine noch ausfiihrlichere Hermeneutik r,,r, lr cliesen Grundziigen folgen (der italieniscl.re Jurist EmiI rr r | |¡¡¡i hatte 1 95 5 eine noch r,rrnfangreich ere Allgenteirte Arts1,,'tttt;¿slclre pubiiziert)! Hans-Georg Siebeck, der auch der \', r lt'qrr von Bultmann ist, findet den Titel aber etwas seltsam. I rr, l Icrnreneutik, was ist das denn? Gadamer solle einen an¡'r, , lrcnderen Titel fir-iden. Er denkt zunáchst an >Verstehen , r',1 (icschehen<, das sich schón reimt und die Grundthese ,1, , lir¡cires vielleicht besser wiedergibt als der spátere Titel, ,l ', r rl:rs crinnere vielleicht doch zu sehr an Bultmann, dessen \ut.,,rtzbincle rGlauben und Verstehen< hei8en. Gadamer I , 'rur)[ schlieBlich auf >'W'ahrheit und Methode<. Das erin,,
rt
\':rqc an Goethe (,Dichtung und Wahrheit<) und ist
. I ,, rrr, r prrienant rvie geheimnisvoll. Es bleibt bei diesem Tir I rr¡t lr r.venn er Leser enttáuschen r,vird, die sich von Gada-
' , r rirrrl3c Auskünfte iiber die Natur der Methode und der
18
Leben und
Leben und Werk
daB das GeheimWbhrheit versprechen. Sie verstehen nicht' besteht' nis eines Titels in seiner Anredekraft zweifelsohne das wichgroBes'W'erk' ein tatsáchlich ist Es seit Sel¿ ,ig;;;.h áer deutschJn philosophischengeTradition werdeduldigen n, l.tr gta*e un d zeí t.Es ist das Resultaid.s spáteren seines der Ausgangspunkt ;;Gt von Gadamer undWerk veróffentlicht er námlich vier Sltiff""r. Nach diesem bis 1977) sowie Aufsatz(1967 garr¿" von Kleinen SchtíJten erscheint diale.ktische.E¡hlk s (Piato über Plato"n ;;;""c;" (Hegek DialekHegel Studien)' neuen réáá i" í. tiufl^g"mit
ab er au c h zahli*, t ol t¡,H e ide g ger (H d ege r s w9se, t'Werke, 2-9s1.' wgil auch da ,"i.t. ll.rpretationen diclrerischer Du? e í
rPhánomenotogi.*
"*
Wt'L e se\ (Wer bin ich und wer bist
3; arZ u Paul C elans Cedichtsfolge Atemkristalk'I97 graAutobio eine un d G e sp r iich, 199 O)'S o rr¡ro, t97 7 ; Ge dí cht
nn Xo*^rr,
ll ;il;;;;
>
phitosophisehi Lehr¡ahre) ist eigentlich. keine' der philososteht sie doch unter dem gewaltigen Eindruck >Warum schildert' dort ohischen Iiegegnungen, dié Gadamer Lehgenialen einen g ist' Vorzu eS ein í;lñ;;l;ü;,r,á.g' aber hat Gadamer 35)' (PL' fest Gadamer ,". t ScheNatorP' "U"t?ulstellt "t *."ig" F{artmann' Hónigswald' gehabt: Es "i"ii i;;, H"*ñ, É,rltm,t"t, Frledhnder' Husserl' Heidegger' irt'G"d"-"rs Genie, daraus eine philosophische GesamtkonIch bil;;p;; entwickelt zu haben, die es mit Leibniz hált: Ausspruch was ich lese (GW 2' 492)'.Dteser ;;;;;;"s, Vater des ur-rationelistischen Satzes vom dem von ,rl-rn, wie es sich fiir Grunde. Der Satz ist aber ein hermeneutischer' Alles hat versteht: selbst einen Bibliothekar wie Leibniz von anderen des Perspektive die seinen Grund, wenn man sich in die setzt Satz Der berücksichtigt. l,".,",,. und dessen Gründe voraus' anderen den fiir Offenheit .ig.rr. Endlichkeit und die Gadamer oft Die Seele der Flermeneutik, so wird der spáte haben kann' og"rr, b.rt.ht darin, daB der andere recht --'iiÁhrhri, 40 seit Methodehat Jahren viele Diskussionen und HaGadamer hat von allen viel gelernt' Betti' Geseiner ""d "rrrg.lórt, U"rL", und Derrida sind nur die bekanntesten Entspátere die spráchspartner gewesen' Es wáre lohnend' ;i.kl;g der Cadamerschen Hermeneutik genauer zÚ ver-
tott
Werk
19
firlgen, aber Gadamer hat selbst nie das Bedürfnis verspürt, cine neue systematische Darstellung seines Denkens vorzulegcn. Die wichtigsten Weiterentwicklungen finden sich in den lintgegnungen auf seine Gespráchspartner im 2. Band seiner (iesammelten'Werke, der 1986 erschienen ist. Er folgt auf Wahrheit und Methode (Band 1), aber erstaunlicherweise trágt Titel Wahrheít und Methodel Gadamer rlcutet damit an, daB das Gesprách zum Werk selbst gehórt rurd daB es ein letztes'Wort nicht gibt. Die Ausgabe seiner Gesammelten 'W'erke, die 1985 begann, wollte Gadamer auf 10 Bánde begrenzen. Er hatte das unerrrtrch dieser 2.Bend den
wlrrtete Glück, sie bis zurr'letzten Band 1995 zu betreuen. Nlch den zwei ersten, der Flermeneutik gewidmeten Bánden lrcstehen die restlichen acht Bánde fast ausschlie8lich aus lrrterpretationen. Band 3 und 4 bringen Interpretationen zur ncueren Philosophie, aber die zahlreichsten Interpretationen lrctreffen doch Heidegger, als dessen Nachfolger Gadamer r¡;rch 1976 immer mehr gilt. Die drei folgenden Bánde vers,rnuneln die Beitráge zur griechischen Philosophie. Der 1991 ,'rsclrienene 7. Band, Platon im Díalog, ist vielleicht der erfrirt hcndste der gesamten Ausgabe, weil er das reife Platobuch lrictct, das sich Heidegger immer von Gadamer erhoffte. Ge-
,lrrltl hat sich bei Gadamer stets gelohnt. Die zwei folgenden It.irrde bringen Gadamers Studien zur Ásthetik (Band 8 ist tlrcoretischer Natur, wáhrend Band 9 konkrete Einzelinterllrct:rtionen vofihrt).Es wáre irrsinnig, darin - wie nicht unrrlrlich - eine Anwendung der hermeneutischen Methode vo¡r (ladamer zu sehen. Sie bilden viel eher die Inspiration ,1,'r'sclben, wenn man überhaupt von einer hermeneutischen ,.Mcthode< sprechen darf. Der 8. Band ist aus zwei Gründen l,r'sonders wichtig: 1) Seine poetologische Konzeption er¡i,rrrzt in vielerlei Hinsicht die eher kritische Schilderung des ,',¡st lrctischen BewuBtseins < ín Wahrheit und Methode, von der ll, ,brchter wie J.Weinsheimer und andere behauptet haben, ',r,' t'iltle nahezu eine >Anti-Ásthetik<10. 2) Der Band versamr¡r,'ll die spátesten philosophischen Arbeiten von Ga_fi'rner
"'
V1.{1.
die Beitráge von J.'Weinsheimer, K. Wright und J. Grondin
20
Leben und Werk
damer, die sich mit den >Grenzen der Sprache( und der >Phánomenologie von Ritual und Spracheu befassen.In ihnen darf
man in der Tat die letzten Ausrichtungen des Gadamerschen 'Werkes erbücken. Ihre Besinnung auf die Grenzen der Sprache steht in einer gewissen Spannung zu der universal angesetzten Sprachlichkeit von Wahrheit und Methode. Der letzte Band der Gesammelten'W'erke ist rückblick endl. Hermeneutík im Rückblick.Es ist kein'Wunder, daB Gadamer dort erneut auf die Begegnungen mit seinen Lehrern und vor allem auf Heidegger zurückkommt (I. Heidegger im Rückblick), dessen 'Werk dank dem Fortschritt seiner eigenen, viel anspruchsvolleren Gesamtausgabe besser nachvollziehbar geworden ist.
Der Band dokumentiert in einem II. Teil die >hermeneuti-
mit der Gadamers eigener Beitrag zusammenfillt. Die weiteren Abschnitte gelten zwei anderen Leidenschaften von Gadamer, der praktischen Philosophie (III) und der Stellung der Philosophie in der Gesellschaft (IV). Sie fiillen Gadamers wichtische'W'ende< der Philosophie unseres Jahrhunderts,
gen Begriffder Bildung mit Inhalt. Die 30Oseitige Bibliographie aller Schriften von Gadamér, die Etsuro Makita 1995 erstellt hat, belehrt, daB die Gesam-
melten Werke nur die Quintessenz bieten. Gadamer lieB etliche Interpretationen zu Geschichte und Dichtung sowie viele okkasionelle Vortráge beiseite. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1968 ist Gadamer ein unermüdlicher'Weltreisender geworden (vgl. GW 10, 346) . Von 1969 bis 1 985 lehrte er fast jedes Jahr in Nordamerika. Überall in der Welt hielt er meist frei gehaltene Vortráge, aus denen Texte und Bücher erstellt wurden. Diese Vortragstátigkeit fand ihre Dokumentation in den Büchern der Bibliothek Suhrkamp : Die Vernunft im Zeitalter derWissenschaft (1976), Lob derTheorie (1983), Das Erbe Europas (1989), Úber dieVerborgenheit der Gesundheit (1993). Ein bescheiden sein wollendes Opus, das sich im Grunde um ein einzelnes Hauprwerk dreht, ist damit riesig geworden. Kein Freund hermeneutischen Denkens wird darüber klagen, über ¡Gadamer and the Truth of Aror, in Eneyelopedia oJ Aesthetis,hrsg. von M. Keüy, vol. II, New York, Oxford UP,1998,261171.
Leben und
Verk
21
empfiehlt sich, die Konzeption von Wahrheít *.1.: und Me_ t d e als ges chlossenes Gan 6 fii, ii. vo rlie gende Einfiit .,rrrg zu.Grunde zu legen. Diese F,insicht geht lri , ¿.. t .i.r.r*.gi originellen Hypothese aus, daB -"riri.h einem Denken am besten náhert, wenn men h o
H"rrpr*..t kritisch ein_ I[r:="^t_.^_ti11|*pwirdaberd.rWettererrrwicklungen oes spateren Werkes Rechnung sich in sein
tragen, sofern sie
im Harfit_
werk angelegt waren und desún ñ.rrt.i.frturrg radikalisie_
ren.
Wie kann det Anfang der Hermeneutik gemacht n(
werden? 23
icworfenheit< unmiBverstándüch mit anklingen, jenes be_
.irrgstigende Geworfenwerden in die Exisrenz. Es wird genial
L. Das Problem der Methode
¡rr¡rkiert durch die glückliche Alliteration der >s<, >l<, ogn und in den zwei ersten Versen: rsolange du Selbstgeworfenes liingst, ist alles / Geschicklichkeit und láBlicher Gewinnu.ll Sic erinnert daran, daB jeder Entwurf unter dem provisorium cines >solange...< steht. Der daraus resultierende Gewinn láBt
und die Idee einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik
sich zwar messen, erweist sich aber gemessen an der Zeitlichkcit, die wir sind, als >láBlich<. Dieses >solange< verwendete iibrigens auch Descartes in den einschlágigen passagen seiner
of<
'W.ie
kann der Anfang der Hermeneutik gemacht werden? Ein Rilkegedicht
Wie fiihrt man sich in die Hermeneutik ein? Wie wir gesehen haben, hat es hier eine kartesianische Philosophie leichter, da sie mit dem cogíto absolut neu beginnen will. Ein solcher, selbstsicherer Anfang steht der Flermeneutik nicht zu. So fángt Gadamer sein Buch - leider eine Seltenheit fiir philosophische Bücher- mit einem Gedicht an.Es ist dort von einem rFangen< die Rede: >Solang du SelbstgeworGnes fingst, ist alles / Geschicklichkeit und láBlicher Gewinn<. Diese'Worte dürfen durchaus als ein Anklang auf Descartes und sein Ideal einer methodischen Erkenntnis vernommen werden, die uns in Stand setzen soll, >maitres et possesseurs de la nature( zu werden. Aber fassen wir da, scheint Rilke zu stóhnen, nur Selbstgemachtes, das uns nicht weiterbringt? Und wer sind wir, um überhaupt etwas fangen oder fassen zu wollen. Sind wir nicht vielmehr die Gefesselten, die Antwortenden? >Erst wenn du plótzlich Fánger wirst des Balles, / den eine ewige
Mitspielerin
/ dirzuwarfdeinerMitte,in
genau
/ gekonntem
Schwung, in einem jener Bógen / aus Gottes groBem Brükkenbau: / erst dann ist Fangen-kónnen ein Vermógen, - / Nicht deines, einer'W'elt.< Die dichterische Metapher des Wurfes, des Spiels und der 'W'elt, der wir vermógend werden, lassen die Heideggersche
Meditationen:Das cogito ist evident, >solange< (quamdíu, quotics a me profertur) ich es aussage. Aber láBt nicht gerade diese zcitliche Bedingtheit die Hybris eines fundamentum ínconcuss u m fr aglich erscheinen? Die Heideggersche Geworfenheit ist hier zweifelsohne am llall, aber hier spielt auch eine Mitspielerin, die mich anredet (,dir zuwad deiner Mitte<) und zur Antwort herausfordert. Wer ist denn diese >ewige Mitspielerin Ach, wenn wir es wüBten! Aber das zu wissen, hieBe, da8 wir wiederum Meister unseres Schicksals und auf das Spiel eines mit sich selbst spielenden cogíto zuríickseworfen würden. Wir wissen nicht, woher der Ball kommt, der uns fingt und den wir nur fangen okónnen<, ohne daB dieses Kónnen von uns allein abhinge. (iadamer, der übrigens diese Verse in seinem Hauptwerk und rlr.'W auch sonst in seinem Werk nie kommentiert hat, scheint damit anzudeuten, da8 das Verstehen ein Vermógen ist, das wir ni e ganz beherrschen kónnen, weil wir so von ihm cingenommen sind. Gadamer sagte neuerdingsl2: >Verstehen 11 Gadamer zitiert nicht die restlichen Verse des aus dem NachlaB l\ilkes stammenden Gedichtes. Sie sind auch weniger glücklich und sei_ cn hier der_Vollstándigkeit halber angefiihrt: ,Uná winn du gar / zu_ rtickzuwerGn Kraft und Mut besáBest ,/ und schon geworfen l¿tt rt .. . (wie das lahr / die Vógel wirft, die Wandervogelschwárme, / die eine
:iltre einer jungen'Wirme
/ hinüberschleuderiüber Meere -) erst rliesem Wagnis spielst du gültig mit. Erleichterst dir den Wurf nicht nrehr; erschwerst / dir ihn nichr rnehr. Aus deinen Hánden tritt das Mereor und rast in seine Ráume ...< t 2 Óffentlich auf eine¡ Heidelberger Thgu ng am 3. 7 . 1999.
/
lin
/
'1
24
.
Wie krnn der Arrñnq cler Hcr¡neneurik r¡cnracht rvcrtlcu? 25
Das l)rotrlertt dcr Methotlc
,lrc c'lem Rátsel des Verstehens, \,.ori dem u,ir doch leben,
ist Nichtauslegenkó11nen(. Man ist so voll1 Verstehen gefesund selt. inl Verstehen drin, dafJ man nicht erkiáren kann,lv;rs wie uns geschieht.
rr:rchgeht. Was versteht m¿rn ei€lentlich, rvenn man versteht? (
iutl¿rneruvill dem Verstehen eine ger.visse Rátselhaftigkeit lrt'l¡ssen, rveil er in dem Vorhaben einer Merhodoloeie des Ve rstehens, als die sich die Flerme neutik traditioneil verstand,
'Wurfes IáBt das Verstehen a1s ein Die forgángigkeit des Antwortenkónnen erscheinen. Das Verstehell ist d¿rr.nit von
, nre Vergessenheit dieses Rátsels rvittert. So unentbehrlich sie ,rut'h sein móge, verfillt man nicht einer Selbsttáuschung zum ( )[rfer,wenn man das Verstehen r-rmjeden Preis domestizieren
einerl)ialektikvorlKónnenuridNichtkónnengetragell:In-
Llncl dem ich verstehe, kann ich, verlnag ich etwas,lber woher (lel{ilkes Il1 ganz' nie ich beherrsche kann, das ich lr'ieso jener tsódicht entfaltet sich <Jieses Fangenkónnen 'in einem clas hier bedeutet llen ¿us Gottes groBenl Brückenbau<"Was als Theologie óomh.l'r"? Daniit rvird r'veniger eine positive gerLlfen' ErinlrerunFi die Grenze llnseres Farlgenkónne11s in Das Góttliche erschien bekanntlich zuerst bei den Griechen von etals Prádikat.r3 T/leo-. ist ursprünglich clie Eigenschirft die tobt' Meer denr ar-rf der was, das uns iiberrast: der Sturm, Krieg: ausbrechende plótzlich cier Liebe, clie uns ergieift, nichts voualleden] láfJt sich irusinne von menschlicher Beherrschuns erkláren Deshalb hieBen.oft dle Gótter die frrci¡I)ie Gót,orrcs bei Hlmer, die oHiihereno' dic Überragenden' ocler'WeSttbst¿trzen u'eniger ursprünglich ter bezeichnetetr Positisen als vielmehr das,lvr'ts ohnc unser ZLttLt'rl geschieht' die wenn zu' ver vom Góttlichen zu reden, stc'ht uns nicht auf oben da Góttlichen wirklich iiberlegen sind, irgendwo Bógen Rilkes rnit ist c's Gipfel, aber zugleich iiberall' So
clem
aus Gottes grolJenl Briickenbau'
sincl es, clie clen Ball fangen und die einer Welt vernrógend sind. Dieses Vermógen, das we-niger ein Tun als Seiein Erlliden, ei' pathos ist, ist fiir Gaclarner das Verstehen.
Aber
wil
ne philosophische Herrnelleutik rvird versuchen' dieses Ver,,"É"r, zu versteher. Sie ist buchstriblich ei' Regreife' dcssen, clas was uns ergreift (GXf 2, 108)' So übernimrnt G¿danrer Heicleggeriche programnl eillcr Hermeneurik der Faktizit¿'ir, Wilanrorvrtz-Moellendolf, Det Glutl¡c du Htllcncn' ¡ut].'l C¡t,171-.: rPrádiziert u'ird inrrner eiue clem Mcnschen iiberle-
rr Vel. U.
Z.
r''.
G:rtlaurer Dar Atfatry dar Pltil)ttch seineur in These bekar'te ant.jiese sic,lr ieziei-rt I 26' lo sopl ic.stuttsart. Reclanr, 1996,
g"n.'M:r.i-tt.i.. ¡UrtGóttlicheistdas'(¿r¿i¡¡oritttrsqcsc¡iiberu t
n'ill, indem nlan
es
zll methodisieren trachtet? Ist es das Ent-
r, lrciclcnde am Verstehen, daB es nrethodischen Regeln qel¡tr:-r'ht? WeiB das Verstehen imnrer, worin es besteht und rvolrr'r cs sta111nrt? Um dieses Wunder des Verstehens zurückzu-
\vinnen, fragt Gadamer im Vorrvort zur 2. ALlflage von IIitltrlrcít ttnd Metltode: rBeclarf es einer Beeriinclung dessen, \\.rs uns inmer schon trágt?< (GW 2,447) Bc.ruht das Verstelr( r) nlll' auf einer Beeriindung uncl k¿ult man das Verstehen
,,,(
rr¡)rrlcr begründen? ( irrclanrer stellt diese Fragen nicht deshrilb, weil er antifi-rn,l,rrrcntalistisch dcnken und inr Chor cler Postnrodcrne jede \ r t von Grund ablehnen r,vtirde . Er rvill vic'lnrehr clen-r Fr:rgen r,r, ll r1enr Grund seine vergessene Grunddinrension zurtick,,., 1'r'n. Sie besteht d¿rrin, da8 das Griinc.lendc so guncllegend r',t. tllfJ es sich im Gruncle jede-r Beeriindr-rn5¡ entzieht. Das t ,rrinriende und Begründende ist vielleicht nicht das, rvas tlenkt. Es lieBe sich nicht sasen, dafJ clieses Denken dem ',,,rn r ,r r¡lcls¿itzlichen abhold ist, eanz im Gegenteil. Es wehrt sich
'
r,
lrnchr gegen die Leichtfertigkeit inr Ur.ngang mit dem
I rrrrtlrrnrentalen, hier im unrgang
,
i.r., (
'
I rr rcnt¿rlcn.
mit denr Verstehen: geuen
iriindende, das sich záhnren r.rnd bequenr erkláren 1áBt. I I.rr l'undamentale erkláren wollen, heiBt gerade, es um seirr, rr li¡11¡l¿r-r-r"ntalen Charakter zu bringen, der darin besteht, ¡, rr, r' [:undus zu sein, aus denr her sich a]les verstehe n und erI l u ( r) liifit. Gad¿mer demaskierr also die Trugbilder des Fun-
n
Die Idee einer Methodologie
r'.utcs Beispiel dafiir. Es
des Verstehens ist
sibt nichts Verr,verfliches daran,
lf , ,,r'ln clcs Verstehens anzuqeben, aber komrut man dadurch rrrt ,lr'rr (lrund des Verstehens? Es kónnte also sein, daB die l,l , r'incrr Methodologie das Verstehen um sein tragendes
26
1. l)as I)roblcnr clcr
Vi'rstchcrl und
Mcthotle
Cieschcllc¡r 27
Element bringt, itrdenr
rrslrcsondere an das Zeugnis der Kunst sowie an die ,á]tcrcn<
stehens aufstellt, die ihren '>Gegenstandn vielleicht iibergeht.
und an die Rhetorik,i.veil sie eine noch nicht itrstrur.nenrt'llc Auftassung cles Verstehens vertraten. Der Gedanke, daB ,lic Herneneutik vielleicht >nicht so viel aus der Theorie der ¡norlcrnen 'Wissenschafto zu leruen hat, schlieflt das Zuge:t.incilris ein, daB es auch von ihr viel zu lernen gilt. Aber die I Iclrsch;rft der modernen Wisser-rschaft ist uns so evident serr ,rrclcn, daB es fiir Gaciamer dringender erscheint, ihrc Gren,/('n inr Auge zu behalten uncl an andere Traditior-ien zu appel-
es eille techr.rische Behel-rschuns des Verstehens in Aussicht steilt. Es ist nicht gesagt, daB das Verstehen des Verstehens eine Sirche von Technik tst. l)as r'viil Gaclamer in Erinnernng bringen, wenll er seine Herlnenc-utik irrr Geger)zrtgzv ciieser tecb.nischeu Kouzeption des Ver-
Verstehen und Geschehen Die herkómmliche Hc-rmeuentik verstand sich nach
Gacla-
technisch, r,venn sic eine reine >Kttustlehre des Verstehens< (Schleic-rmacher) sein u'ollte.,Die hertleneutischen Regeln miissen r.nehr Methtlcle seino, schrieb Schleiernracher. 1+ Diesen.r onrehr Methocielu scheint Cladarrer ein >we niger Methodeo entgegeltztlsetzell. Es lváre aber ein MiBverstdnd'is, i' Gadanlers Heruleneutik ein Plddoyer oeege' die Methodeo (wie ctrva bei Paul Feyerabend, oAsainst Methodo) zr-r sehen. Man rlrull Methode n folcen,lve nn tlran eine Briicke bilden, ein tl¿rthetnatisches Problem lósen, ein Heihnittc--1 eegen Aicls finden ocler eine historisch-kritische Ausgabe herausgeben will. Das ist fiir Gaclanlcr selbstverstándlich ttlrd es ist ihm nie in den Sinn sekouunen, das in Abrede zr-r stellen' Gadamer hat selbst von clen von ihm hochgeschátztell Methodologien der'Wissenschaften viel gelerrlt. Es handelt sicl.r fiir ihn un-r Evidenzen.'Was er beanstandet' ist also nicht die rnethodisc-he'W'issenschaft als soiche (was tóricht wiire), sondern die Faszination, die von ihr ar-rsgehtl5 und die uns daztt verfiihrt. das Verstehen rein instruurentell zu verstehen tlnd damit zu verfehlen. So schrieb er iu einer wichtigell Selbstdarstellung, da8 >die Hernleneutik und ihre methodischen 'Wissenschaft Konsequenzen alls der The<¡ric der nlocle rnen nicht so viel zu lernen habel.r wie aus iilteren Traclitionen, an clie es sich zu erinnern eilt* (GW 2,498). (iadame¡: denkt hier r-ner zu
r1 F Schlerer,nacher, Hcrrr¡¿'ttttttik wtd /<ú'itik, hrsg. vor.l Manfrecl '81. ri Vg1. das Ir)terview nrit HGC] rnr L8,294.
Fr¿rrk, Fr:rnkft¡rt a. M., Sr.rhrkan-rp, 1L)77
li'.rtlitionen der praktischen Philosophie, an den Humanisnrrrs
Ii
r'rcn.
Grenzen anzuze ige n, hebt (laclanrer insbesonder,' :ruf den Ereignischarakter cles Verstchcns ab, der uns plótzli,'h erereift (>wenn du plótzlich Fánser rvirst...<). (iac'l:rmer rvollte ja ursprünglich seinem Werk den Titel rVerstehen und ( lt'schehen< geben. Ein programriratischer Text aus der Einl, iturrg erklárt auch, warurn: >'Wenn inr folgenden nachgerr icsc'n rverden u'ird, wic.vicl C)esdtcltett in ailenr Wrstcltctt rr irksaln ist und r,vie wenig durch das rloderne historische llervulJtsein die Traditionen, in denen rvir stehen, entnr¿ich-
Unr
cliese
trgt sincl, so werden dartrit nicht etw¡r den 'Wissenschaften
,,tlcr cler Praxis des Lebens Vorschriften gemacht, sondern es u'irtl vcrsucht, ein falsches Denken iiber das, w¿rs sie sind, zu I'r'richtigen.< (WM, 3). Es geht also nicht unr eine neue Methode, auch nicl-rt unr ( rr)e Anti-Methocle, aber um das Geschehen des Verstehens :r'lbst, auch wenn rr:ll1 es nlethoclisch praktiziert: ,Nicht, lvas \\ il tll11, nicht, rvas wir tun sollten, sondern rvas iiber unser Wollcn uncl Tun hinaus mit uns eeschieht, steht in Frage.< t( iW 2, 43tt) Der Ilegriffdes Verstehens fiihrt hier leicht in ,lrc Leere, rveil man daran gewóhnt ist, es rein rntellektuell zu l,rsscn. cl. h. als einen kognitiven Vorgane, der zu unserer Verlriquns steht. Gad¿mer leistete eelegentlich diesem MiBver',r,inclnis Vc;rschub, als er seiner Fragestellung
in
Waltrheít
und
.\lt'tltodc episternologisch klingende'Wendungen gab. So ,l'r-:rch cr vom Verstehen ¿rls einer >Erkenntnisu und von den
\irrurteilen ¿ls den n¿rhezu tr¿rnszeltdentalen uBedingurlgen( ,lr'r Vcrstehens. Das rvar vreileicht noch zu instrumentell for-
28
1.
Vcrstehen turcl
D¡s l)roblc¡rr tlc¡ Methoilc
muliert. Deshalb hat er in seinen spáteren Arbeiten weniger
in Erkenntnis und Beherrschung
auf die Veluvurzelurlg seiner Fragestellung in die Episterrrolo* gie der Geistesrvissenschalten, die 19(r0 in die Ar'rgen sptang' als auf seine Náhe zr-rl Erfahrung der Kunst insistiert,l(' lvo der instrunrentelle Kognitivismus ofTenbar zu kurz greift Das Verstehen ist il-n Grundc rveniger eine rErkenntnis< als eine Erfahrung, die Llns tregt und aLls deruvir zehten' Sie bildet das Eleurent. ir dem'uvir attnen und das es uns erlaubt, einander zu verstehen und Erfahrunsen zll teileu. Es handelt sich
Str-ick
freilich rveniger ur.t-r clie Erfahrung, die der-'wisserlschaftler in seinem Laboratorium herstellt, als nm die Erfahrung irn Sinne trifTt des pathci mdtltos rles Aischylos, die Erfahrung' die r-rns prágt entschiedener und dauerhafter uns clie und r¡nilutnwirft jedes noch so wissenschaftlich oder':.rnalytiscl-r sein r'vo11ende Argument, das uran bald vergiBt. Verstehen heiflt nicht B.g..if"r., und Beherrschen. Es ist r'r'ie das Atmen und das LiJen: man r'veifl nicht so recht, was uns da hált und woher cler Wind koul.ut, der uns Leben einflóBt, aber r'vir wissen, als
d¿B alles clavott abhángt Lrnd daB wir nichts beherrschen' Man muB da sein, uur zu erfahren, worl1lll es geht ulld unl zu wissel1, clafJ es weniger ein'W'issen ¿r1s ein Sein ist' Man huldigt einer instrumentellen Erkenntnis:ruffassung, wenn man hier,
rvie in clen heutigen philosophischen Debatten üb1ich, nach Kriterien, Norureu und Begriindungen heischt' Heiilegger h¿tte bereits begonnen' das Verstehen von dieForser-n episténtologischen Modell zu 1óse n, als er es voll der
ú". ,sich auf etwas verstehen( lleu verstallLl (SZ,I43)' Verstehen heiBt, eir-rer Sache ger'vachseu sein, etwas kónneu' Dieses Kónnen ist weniger eine Erkenntnis als eine praktische Fer-tigkeit, clie aber auch eine Móglichkeit meiner selbst manifesáert:,icho verstehe rlich aufdieses oderjenes' tch kann es. So verstehe ich mich aufs Tanzen oder aufs Schu'immen, nicht r,veil ich da etrvas weiB oder gute Methoden anr'vende, sondern weil ich es einfach kann. So sprach Rilke von dem Fanseukórtt.len als eiuem Verr-nógen' Geht dieses Vermógen ,'n"1
-
'so rval-rr. so
ar-rP Es gibt n:inrlich ein Nichtkónnen und Nichtverstehen inr Versrehen selbst.
Jedes Kónrren ocler Verrnógen setzt ein (Jnvernrógr-n vor¿us. l)as steckt bereits in der Forrnel ,einer Sache gervachsen sein<.
Sie schlieBt ja ein, d¿r8 man cler Sache serade nur sewachscn ist, daB es gerade ausreicht. Aber was hier rgekonnto wircl,
in ein LJnvermógcn umschlagen: Der beste Fr"rl3ballspieler der'Welt kann rnal ein schlechtes Spiel spielen.
kann jederzeit
l)er beste Rhetoriker kir¡rn eines Tages stammein, r,vie der Stanunelnde auch mal auf eine qlánzende Forrnulierung stofien kann. Etwas kónnen, etwas verstehen, inrpliziert ein uni'ermógen, ein Nichtverstehen. Für Heidegger rvar das Nichtkónnen sogar das PrinriirerT: ciie Geworfcnheit ist so schr die gmndleeende I-)imension, clafl sich das Verstehen wie
t'ine Eroberung, eine uns selbst iiberraschencle Errungenwirkt r,vie das Kind, d:rs plótzlich merkt, dalJ es radfahren kann uncl vor lauter Ereriffenheit
schaft ausnimnlt.'Wer versteht,
nicht sieht, da8 es gefhhrlich schnell hin und her raunrek. Dieses Inein:rnder von Licht lurd Dunkel geht bekanntlich irr Heideegers WahrheitsbegrifTein, der von der eriechischen ¿-l[tlteia aus als LJn-verborsenheit gedacht wircl. Die Wahrlrcit e'rweist sich in cliesenr Licht als eine Ent-decktheit, die ,lic Verdecktheit aber nie qanz aufhebt. Sofern (lad¿rmer diese Wihrheitserfahruns voraussetzt (wir r.verclen auf die unter't hiede zu Heidegger r,viederholt zuriickkonulen), láBt sich r.rscn, daB bei ihm die Stelle der Verdecktheit von der >Wirkrrnssqeschichteu besetzt wird. Aus c-iner nie ganz durchsichtrq rverden kónnenden Geschichte und Sprachiichkeit heraus ¡1.'ht uns ein Licht, ein flackerndes Kerzenlicht ar:f, als das sich ,l.rs Verstehen zu erkcnnen hat. Dre traditionelle Hernreneutik rvar deshalb bestrebt, dicses so zerbrechliche Verstehen ,lrrr-ch Regeln sicherer zu ruachen. Nach Gadanrer kommt es \\ ('r)iser dar¿ruf :rn als r,ielmehr auf die Wiederentdeckung ei-
I Vgl. SZ, 189: 'L)as beruhigt-vertrautt In-cler-Xfelt-scin ist
\l,,rlus t(, Vgl. insbeso'clere de¡ sp:iten Alrfsatz "!lor¡ und Rild seiend, (1 992). GW u, 373-399.
(lt'sclrehc¡r 29
eir.r
cler Unheinrlichkeit des l)ase"irrs, nicht unrgekchrt. Da.r L-ir¿-.:lrIt,trr't ttttl.i existtn:íal-ttutttl,1gi.ic/r a1-, das rtrspriirrclirltcrc Pl¡tíntuttctt begriffut
30
1. Das Problenr
der Methode
Zur Destrukrion der Asrhe,tik 31
ner'Wahrheitserfahrung, die sich diesem Sicherheitsideal
S¡chen selbst zu bahnen, müssen zunáchst die sogenannten ,Evidenzen< destruiert werden, die den Blick auf s[ versper_ lcn.'W'as es hier zu destruieren gi1t, ist in einem Wort: die As_ thc:tik.1e Das lJnternehmen hJrt sich zunáchst paradox an: Allein die Destruktion der Asthetik soll einen.Weg zur W.ahr_ lrcit der Kunst bahnen.
nicht ganz fiigt. Es geht also unl eine-Wahrheitserfahrung, die >den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt< (WM,1). Gadamers Flermeneutik móchte daran erinnern, daB Wahrheit nicht nur und vielleicht nicht primár eine Sache von Methode ist, aber auch daran, da8 >die Methodensuchto, vor der der junge Kant bereits warnte18, uns dazu fiihrt, diese Wahrheitserfahrung vóllig zu verunstalten, ja aus dem Raum der menschlichen Erkenntnis zu verbannen. Seine Hermeneutik ist insofern anamnetisch. 'Wahrheitserfahrung in wertvollen, Gadamer wird diese aber in Vergessenheit geratenen Traditionen aufsuchen, zu deren Rehabilitierung er erheblich beigetragen hat: 1) in der Tradition der Rhetorík, wo die Wahrheit aIs das uerísinúle,das Einleuchtende, das Beherzigenswerte, immer noch eine Sache von Glaubwürdigkeit und argumentativ zu verteidigender Wahrscheinlichkeit bleibt;2) in der praktischen Philosophie, wo mich die Wahrheit unmittelbar trifft und sich bewáhren
Worin bestehr das ásthetische BewuBtsein? Um es diesmal t;rutologisch auszudrücken: es ist das BewuBtsein, besser die I lcrvt'Btseinsstellung, die Kunstwerke rein ásthetisch betrachtct, d. h. unter Absehung ihrer moralischen oder kognitiven l)inrension. Es steht auBer Zweifel, daB diese BewuBtseins_ stcllung zur Autonomisierung der Kunst in der Moderne ge_ liihrt hat. Die moderne Kunst ist ohne sie unvorsrellbar. Ca_ ,l:rnrer wird dies zwar nicht in Abrede stellen, aber diese Au_ tononlie hat nach sein5_r.ú-berzeugung einen preis: sie bringt
,lic Kunst um ihren >'W'ahrheitsanip.r:.ho, wie es in Wahrheít tttttl Methode vor allem heiBt, d. h. um ihre wirkliche >Aussa_ lit'n, wie es spáter bevorzugt lauten wird. >Kunst als Aussage<
muB, ohne eine Afllre von Technik oder'Wissenschaft zu sein; 3) ín der jurístíschen und theologischen Hermeneutile,wo das Verstehen mit der Anwendung des zu Verstehenden auf die je-
¡rt in der Tat der
Titel des 8. Bandes der Gesammelten Weike Gadamer, der endgültigen Version seiner Asthetik. Der I rtcl ist polemisch gerichtet gegen die logistische Reduzie_
i,ul
weilige Situation und den jeweiligen Fall zusammengeht. Aber das wichtigste Zeugnis fiir die'Wahrheitserfahrung, die Gadamer wiedergewinnen will, wird die Erfahrung der Kunst sein. Sie bildet den Ausgangspunkt von Wahrheit und Methode.
r
uns der Wahrheit auf die propositionalJAursagewahrheit.
,1u(.fi di.e Kunst verfiigt über eine erstaunliche Aussagekraft, , lic ihr eigen ist, indem sie sich der übersetzung in ein ánderes
Mt'rlium widersetzt. Die ásthetische Betractrtungsweise hat lt
'
rrchaus ihre Legitimitát, sie darf aber nicht vergessen lassen, i das Kunstwerk in erster Linie eine WahrhJitserfah.urrg
,l.rf
Zur Destruktion der Asthetik
vt'r'kiirpert. So ist es King Lear,der uns offenbar macht, wo.ii l¡.' Undankbarkeir besrehr,2o oder das Bild von Goya mit den lr rqcrichteten Bauern, das uns wirklich lehrt, was die Napo_ l,', rnrschen Kriege in Spanien waren. 'Was >lernt< man an der l(rrrrst und wieso prágt sich das so ein, wie es kein noch so ,
IJm die Wahrheitserfahrung der Kunst zurückzuerobern, müssen zunáchst die Konstruktionen destruiert werden, die sie fiir uns unkenntlich machen. Auch wenn er das Wort in Wahrheít und Methode selten gebraucht, folgt Gadamer dabei unbewuBt oder instinktiv - der >Methode< seines Lehrers Heidegger: der Destruktion. [Jm sich einen Zugang zu den
r r
r"
Von einer Destrukrion der Asthetik spricht auch I. M. Fehér, rGa_ I)estruktion der Ásthetik im Zusamienhang seiner philosophi., I r, r. Neubegründung der Geisteswissenschafteno,"in DrrLu,rgr, hrrg.
,
Lur rt.rs r
18 Vgl. I. Kant, Der einzig nógliúe Beweisgrund ztt einer Denonslration des Daseins Gottes (1763), Ak il,71.
I ). J{och, Tübingen, Attempto,Iggg, 25_34. ' 'r¡. "' l):rs Beispiel ist von Gadamer, im LB_Gesprách,2g3. ,
32
1. Das Problem der Methode
strenges wissenschaftliches Argument vermag' das man nach zehn Minuten vergessen hat?'W'er seit zwanzig Jahren keinen Roman mehr von Kafl
fiir Gadamer aus vielen Gründen wichtig, darin eine Wahrheitserfahrung wiederzuentdecken: Erstens, um den Wahrheitsbegriff aus der Zwangsjacke zu befreien, die ihm
die wissenschaftliche Methodik auferlegt; zweitens, urr der gángigen Zurückfiihrung der Geisteswissenschaften (und der lfril,osophie¡ auf ein rein ásthetisches, d. h. im Grunde auf ein willküriiches, ernstloses und spielerisches unternehmen ent-
gegenzuwirken; drittens, um von der Kunst zu erfahren, worin ái. W.hrheit des Verstehens positiv besteht. Die damit freigelegte Wahrheitserfahrung der Kunst soll es uns námlich ertogli.h.tt, das sich in den Geisteswissenschaften entfaltende Veritehen angemessener zu begreifen. Das Problem des Verstehens in den Geisteswissenschaften bildete ja die gróBte Herausforderung der F{ermeneutik fiir Dilthey. So stellte er eine allgemeine Kunstlehre des Verstehens oder der Hermeneutik in Aussicht, die als methodologische Grundlage aller Geisteswissenschaften dienen kónnte.
Das Methodenproblem und die humanistische Tiadition Da Gadamer eine andere Idee von Hermeneutik verfolgt, die er aber gegen Diltheys Projekt profilieren will, geht er in Wahrheii uid Methode selbst von diesem Methodenproblem der Geisteswissenschaften aus, sehr im lJnterschied zu Heidegger, der sich von der garizer' Problemstellung Diltheys ver-a-bschiedet hatte, als er seine Idee einer Hermeneutik des Daseins verfolgte. D as Methodenproblem der Geisteswissenschaften existiert im Grunde nur, seitdem es die Trennung zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften gibt,
Das Methodenproblem und die humanistische
llso seit Mitte
Traditron 33
l9.Jahrhunderts. (Jnd
es stellt sich den Geisteswissenschaften mit besonderer Dringlichkeit, weil sie von
des
einem methodologischen Minderwertigkeitskomplex den methodologisch gesicherteren Naturwissenschaften gegenüber heimgesucht werden. Zwei Móglichkeiten boten sich in clieser Situation fiir das Selbstverstándnis der Geisteswissenschaften en: Entweder übernehmen sie schlicht und einfach die Methoden, die zum Erfolg der Naturwissenschaften gefiihrt haben (bzw. haben soilen). Diese Position, die man allsemein mit dem Positivismus gleichsetzen kann,láuft aber auf eine Negierung des Unterschiedes zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hinaus, weil sie dem Ideal einer >unified science< huldigt. Diesen Positivismus teilt noch heute das allgemeine BewuBtsein, vor allem im angelsáchsischen Bereich (die deutsche Sprachwelt bildet da eine gewisse, aber nicht mehr so entschiedene Ausnahme), wenn es unter >scicnce< allein die Naturwissenschaften versteht
Nobelpreise gibt;
fiir
alle anderen gibt
es
(fiir die
es auch
ja den Nobelpreis
liir Literatur ...). Oder die Geisteswissenschaften entwickeln ihre eigene >Methodik<. Diese These von der methodologischen Eigenstándigkeit der Geisteswissenschaften vertritt im rillgemeinen Dilthey und seine Schule. Diese eigenstándige Methodik láBt sich ihrerseits entweder auf die Eigenart ihres (iegenstandes (das Individuelle oder Singuláre im (Jnterschied zum gesetzesmáBigen Allgemeinen) oder auf ihre Erkenn¡nisweise (das Verstehen im IJnterschied zum Erkláren) gründen. Es kann keine Frage sein, und die Dilthey-Schule hat dies oft gegen Gadamer zur Geltung gebracht, daB Dilthey ein sehr feines hermeneutisches Gespür fiir die Eigenart tle r Geisteswissenschaften hatte. Gadam er fragt sich aber nur, ob er sich genügend vom methodologischen Paradigma freiscmacht habe. So sehr er sich um die Besonderheit der Geiste swissenschaften besorgt zeigt, scheint Dilthey nach wie vor von dem ldeal einer Methodik auszugehen, wenn er von eirrcr logischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Begründung der Geisteswissenschaften spricht. Gatlar.ners kleine, aber revolutionáre Frage lautet hier: Ist denn
tlic Methodologie der Kónigsweg der Hermeneutik und der
34
Das Methodenproblem und die humanistische
1. Das Problem der Methode
Geisteswissenschaften? Kommt es da wirklich auf eine Methodik an, oder 1áBt man sich nicht seinen besten Absichten zttrn -frotz vom Mo dell der exakten'Wis s enschaften verblenden?
Mit
seiner bescheidenen Frage verbindet Gadamer einen Vorschlag zum besseren Verstándnis der nicht exakten Wissenschaften, ein Vorschlag, der in Wahrheit eine Wiedererinnerung ist:'Wáre es nicht naheliegender, an die Tradition des Humanismus zu appellieren, um den Wahrheitsanspruch und die Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften zu begreifen, anstatt vom Methodenparadigma auszugehen? Es liegt nahe, weil die Geisteswissensch¿ften aus der viel álteren Tradition der humaniora hervorgegangen sind. Aber diese Tradition des Humanismus hat fiir uns ihre Selbstverstándlichkeit eingebüBt. Selbst Heidegger gehórte zu denjenigen, die auf Distanz zum Humanismus gingen, so daB es sich heute weitgehend
um eine Tiadition handelt, die man entweder nicht mehr kennt oder die man vóllig ablehnt (wie dies im postmodernen Denken weitgehend der Fall ist). Es kónnte aber durchaus sein, suggeriert Gadamer, daB diese Ablehnung selbst eine Konsequenz der Verzerrung bildet, die die'Wissenschaft mit dem methodischen-Wissen gleichsetzt und fiir andere Weisen des'W'issens blind macht. Deshalb wird sich Gadamer in den einleitenden Kapiteln seines Hauptwerkes darum bemühen, das humanistische Wissensmodell in Erinnerung zu rufen. Er geht dabei von dem Begriff der Bíltlungaus. Die Bildung besteht ja nicht darin, daB der Lernende wissenschaftliche Stoffe und Methoden sammelt, sondern darin, daB er sich selbst bildet. Sind nicht ebenso die Erkenntnisse, die die Geisteswissenschaften zuwege bringen,'Wahrheiten, die uns bilden, indem sie uns formieren, erziehen und verwandeln? Als diese'Wissenskonzeption in der italienischen Renaissance, auf die sich Gadamer in diesem Zusammenhang nicht direkt bezieht (er lehnt sich viel eher an Herder und Hegel an), entwickelt wurde, erhob sie sich polemisch gegen die weitgehende Verachtung des menschlichen Wissenwollens im Mittelalter: tm Lichte der von Gott gespendeten Heilswahrheit war das menschliche Wissenwollen als eine Frucht det cwiosi-
Tradition 35
t,r.s verdáchtigt, kraft derer der Mensch sich selbst rechtfertigcn und erheben wollte. Die Renaissance berief sich dagegen ,rrrlt das 'Wort von Genesis 1.,26,wonach der.Mensch nach ( ;ottes Bild geschafGn wurde.W'eii er von Gott stamme, dürG ,lr'r Mensch seine lntelligenz und seine Talente nicht untert'ntwickelt lassen. So vershnd sich die cultura,die Bildung, als 'tlie eigentümlich menschliche Weise, seine natürlichen Anlrrgen und Vermógen auszubilden.( (WM, 16) Gadamer bezieht sich dabei gern auf Hegel, weil er diese I iildungsaufgabe als eine >Erhebung zsr Allgemeinheit< und tl¡rnit als eine gewisse >Aufopferung der Besonderheit fiir das Allgemeine< (WM, 18) versteht. Es handelt sich dabei nicht rrur das Allgemeine des Naturgesetzes, auch nicht um die A1lLrcnreinheit des vollendeten Begriffs, weil diese Erhebung eincn Proze8 darstellt (und bildet!), der nie ans Ende kommt, :rber eine stándige menschliche Aufgabe bleibt, kraft derer rnan lernt, über die eigene Besonderheit hinauszusehen. LieJcn sich nicht die Geisteswissenschaften von dieser Bildungs;rulgabe aus besser verstehen als von dem Methodenideal her? Dieses Bildungsideal ist heute aus anderen Gründen in Verruf gekommen, weil man in dieser Art Bildung die eitle Ansammlung eines Schatzes von Kultur erblickt, die einer Elite vorbehalten sei. Darin besteht nicht das'Wesen der Kultrrr fiir Gadamer. Der gebildete Mensch ist nicht derjenige, cler es versteht, ein verblendendes Bildungswissen aufzuspreizcn.'Wer sich so ausnimmt, ist nicht gebildet, sondern pedantisch. GewiB wird man nicht den Pedanten als Modell der geisteswissenschaftlichen Bildung empfehlen. Die wahre Bilrlung besteht eher in einer Art Abstand gegenüber diesem Scheinwissen, das den Pedanten auszeichnet. Gadamer beschrieb diese Art Wissen, erneut unter Hinweis auf Hegel, in cinem schónen óffentlichen Vortrag unter dem Titel >W'as ist f
rilgemeine Bildung heute?< in Heidelberg am 7.Juli 1995,aus clem ein Passus zitiert sei, auch um anzudeuten, wie nachhaltig ihn dieses Bildungsthemabescháftigt: ,Gebildetsein, das ist offenbar eine besondere Form des Abstandes. Hegel hat einrnal gefragt, was ist eigentlich ein gebildeter Mensch? Ein gebildeter Mensch ist ein Mensch,weicherbereit ist, die Gedan-
36
1.
Das Methodenproblem und die humanistische
Das Problem der Methode
ken eines anderen gelten zu lassen. Ich gebe zu, es ist eine wunderbare Beschreibung des ungebildeten Menschen: 'Wenn man also sieht, wie jemand mit einer diktatorischen Sicherheit irgendeine aufgeschnappte Weisheit in allen móglichen Anwendungen und Situationen verteidigt' Das ist rypisch ungebildet. Dagegen, da8 man lernt, etwas dahingestelit s.in la-ssen, das ist das'Wesen des Fragenkónnens'.Wer nicht "r, in der Lage ist, sich sein Nichtwissen einzugestehen und deswegen gJ*iss. Frageentscheidungen dahingestellt sein láBt, um'ihrJrichtige Beantwortung zu finden, wird niemals wirklich dem entrprechett, was man gebildet nennt"Wer gebildet ist, ist also nicht einer, der überlegenes'Wissen besitzt, sondern nur, ich zitiere Sokrates, der, der sein'Wissen um sein Nichtwissen nicht vergessen hat.<
Die Gedanken eines anderen gelten lassen, darin besteht die wirkliche Bildung, denn sie setzt eine Erhebung über die eigene Begrenztheit voraus. Die Bildung vollzieht sich also niiht auf dem Weg der Vielwisserei, sondern im-Wissen um das eigene Nichtwissen. Kraft dieses BewuBtseins, das sich in
den Geisteswissenschaften, aber natürlich nicht nur dort, entwickeln láBt, erhebt man sich zu einem Allgemeinen: >Wer sich der Partikularitát überláBt, ist ungebildet,z'B' wer seinem blinden Zorn ohne MaB und Verháltnis nachgibt' Hegel
zetgt, daB es einem solchen Menschen
im Grunde
an
Abltraktionskraft fehlt: er kann nicht von sich selbst absehen und auf ein Allgemeines hinsehen, von dem her sich sein Besonderes nach MaB und Verháltnis bestimmte'( (WM, 18) Wie láBt sich diese Art'Wissen methodologisch beschreiben? Gadamer láBt sich dabei gern von den Beobachtungen des Naturwissenschaftlers Helmholtz leiten, der in einer Heidelberger Rede von 1862 sehr gut erkannt hat, daB es sich dabei nicht um ein induktives'Wissen nach dem Modell der Naturwissenschaften handeln kann. Etwas anderes ist hier im Spiel. Deshalb sprach Helmholtz lieber von einer >künstlerischen Induktion<,von einemTakt,der sich nicht recht mithilfe von Methoden umschreiben láBt, der aber dennoch in der Ausbildung eines >allgemeinen Sinnes< besteht' So linkisch die Idee einer künstlerischen Induktion erscheinen mag,
Tradition 37
sympethisiert Gadamer durchweg mit der Schilderung von Helmholtz über den Takt: >Liegt das'Wissenschaftliche der Geisteswissenschaften arn Ende mehr in ihm als in ihrer Methodik?< (WM,13) Gadamer spricht hier von einer besonderen Erkenntnisweise, die Wahrheit verbürgt, aber man darf sie wiederum nicht zu epistemologisch oder instrumentell fassen. Denn es geht um die Ausbildung eines >Sinnes<, freilich nicht um einen osechsten Sinn<, sondern um einen ,allgemeinen Sinn<,
vermóge dessen
wir ein Allgemeines
fassen kónnen. Nach
dem Bildungsbegriffbildet diese Idee eines allgemeinen oder gemeinsamen Sinnes (sensus cornmunís) die zweite wichtige Anleihe Gadamers bei der humanistischen Tradition. Gadamer muB hier freilich gegen eine in der deutschen Sprachwelt besonders verbreitete Herabsetzung des >Gemeinsinnes< intervenieren (sie ist weniger prásent im englischen common sense oder im franzósischen bon sens, rnit. denen man durchaus heute noch einen Erkenntnisanspruch verbindet). Diese negative Besetzung láBt sich etwa an dem Begriff des >Gemeinplatzes< erkennen, worunter man heute nur noch ein falsches
in der rhetorischen Tradition, bei Melanchthon zum Beispiel,2l sah man in ihnen, in den loci rcn1munes, Bedingungen der Móglichkeit der Kommunikation, da der Redner stets an Grundüberzeugungen appellieren muB, die allgemein geteilt sind, ohne je begründet worden zu sein. Die moderne Kampfansage gegen die locí commur¡es und gegen den überlieferten Gemeinsinn geht der Sache nach auch auf Descartes' Methodenideal zurück, das in ihnen einen dubiosen Haufen von Scheinwahrheiten witterte, weil sie nie auf eine klare und distinkte Perzeption begründet wurden. Daraus folgt der kartesianische Imperativ einer Vorurteil versteht. Aber
2l Gadame.s Bezugrrahme auf die rhetorische Tradition wurde in bedeutender Hinsicht ergánzt durch die Ausfiihrungen von Klaus l)ockhorn in seiner ausfiihrlichen Besprechung von Wahrheit und Methor/c in den Cdttingschen Gelehrten Anzeigen 21.8 (1966),I69-206.Yg1. dazu, und ganz besonders zu Melanchthon,meinen Artikel >Hermeneutik< im HístorischenWórterbueh der Rhetorik, Bd. III, Tübingen, Niemeye¡ 1996, 1350-1374.
38
1. Das
Problem der Methode
neuen Methode, die mit diesen Pseudowahrheiten und der Tradition schechthin reinen Tisch machen will. Aber sind die Erkenntnisse des Gemeinsinnes einer solchen Letztbegründung fáhig? Im unterschied zu den naturwissenschaftiichen Erkenntnissen der obj ektivierbaren Au8enwelt erscheint die Objektivierung fehl am Platze bei den'W'ahrheiten der moralischen, politischen und geschichtlichen Welt, wo wir selbst mit im Spiel sind.'W'as uns die Geschichte zu erkennen gibt, geht nicht in rein methodischem Wissen auf. Es ist mehr, es ist nach ihrem klassischen Selbstverstándnis als memoria und magíster uitae eine Art Lebensweisheit und -erinnerung. Soll das wirklich nur ein Wissenshindernis sein? Denn wes hier geschárft wird, ist nicht zuletzt eine Urteilskraft, sogar ein >Geschmacku. Das hórt sich heute etwas komisch an, weil Geschmack fiir uns etwas rein Asthetisches, d. h. eine reine >Geschmacksache< geworden ist. Gadamer ruft ins Gedáchtnis, daB der Geschmack ursprünglich eher eine moralische als eine ásthetische Bedeutung genoB. So sprach die englische Philosophie des l8.Jahrhunderts von einem morcI taste, und selbst der junge Kant wollte 1765 eine
>Kritik
des moralischen Geschmacks< schreiben. Für den Humanismus stellte der Geschmack noch eine Erkenntnisweise oder einen allgemeinen Sinn dar, den man als solchen nicht lehren kann,der sich aber ausbilden láBt,weil das menschliche Zusammensein ohne ihn undenkbar ist. Er ist ein Sinn fiir das Ziemende, das Angemessene und damit fiir das Richtige. Heute fillt er vor allem auf, stellt Gadamer fest, am negativen Beispiel der Taktlosigkeit. Man kann da nicht sagen, gegen welche allgemeine Regel verstoBen wird, aber sie offenbart einen Mangel an lJrteilskraft in einem besonderen Fall, der aber über diesen Fall hinausgeht. Gadamerrvird bereits zu Beginn von Waluheit und Methode diese Art >Erkenntnis< bzw. diesen Sinn mit der aristotelischen Idee eines praktischen'Wissens in Verbindung bringen (WM,29).'\X/esentliche Elemente sind in der Tat dem allgemeinen Sinn der Urteilskraft und dem ethischen Wissen gemeisam. Diese Weisheit ist weder lehr- noch lernbar wie das mathematische 'W'issen. Wie es die weitere aristotelische, in
Das Methodenproblem und die hunlanistische
Tradition 39
cler modernen
Erhik oft vernachlássigte lJnterscheidung der von der techné lehrt, geht es bei ihr nicht um ¿eñ¡._ werb von Regeln oder Normen, sondern um die Kultivie_ Praxis
rung einer Lebensweisheit,ja einer Seinsweise. Dieses Wissen besteht ferner nicht aus einem bestimmten Inhalt, sondern in der Fáhigkeit, diese Weisheit in bestimmten Situationen an_
zuwenden. Man hat es hier nichtsdestoweniger mit einer be_ Art von >Erkenntnis< zu tun, besser: mit einem Sinn, ja besser noch: mit einem allgemeinen Sinn (sensus com_ tnunís),well er es uns erlaubt, über die partikuiaritát hinauszu-
stimmten
gelangen. So erschiene es doch sehr naheliegend, die Erkenntniswei_ se der Wissenschaften vom Menschin an diese Art Wissen,
die man bereits hermeneutisch nennen darf, anzulehnen:
>Es
hat etwas sofort Einleuchtendes, die philologisch_histori_ schen Studien und die Arbeitsweise der Geisteswissenschaf_ auf diesen Begriff des Sensus communis zu gründen. 1_en l)enn ihr Gegensrand, die moralische und geschichtliche Exi_ stenz des Menschen, wie sie in seinen Thten und Werken Ge_ stalt gewinnt, ist selbst durch den Sensus communis entschei_ dcnd bestimmr.( (WM,28) Aber diese Evidenz ist uns heute ;rbhanden gekommen. Warum? 'W'eil es sich nicht oder nicht ruehr um eine >Erkenntnis< handelt. Im Grunde ist das nicht fllsch. Denn man hat immer schon gewuBt, daB die Bildung, dcr sensus communís,die Urteilskraft oder der Geschmack kei_ nc Sache der Erkenntnis im engeren, epistemologischen oder -Grund, theoretischen Sinne ist. Ist das aber ein diÁen Sinn aus tlcr.n Reich der Erkenntnis auszugliedern oder, schlimmer viclleicht, ihm eine rein ásrhetische oder kosmetische Funk_ tion zuzuerkennen? In den Augen Gadamers bedeutet dies cinen enormen Verlust, weil man dadurch die humanistischen t.citbegrifíe aus der Hand gibt, mit deren Hilfe die Geistes_ rv issenschaften ihren eigenen Erkenntnisanspruch hátten fasscn und legitimieren kónnen.
40
Die kantische
1. Das Problem der Methode
Die kantische Wende Der entscheidende Wandel vollzog sich bei Kant bzw. in sei-
ne¡ unmittelbaren Wirkungsgeschichte.'Wenn Kant selbst fiir diesen Wandel nicht verantwortlich ist, liegt es daran, daB fiir ihn die humanistische Tradition eine unverkennbare Evidenz
behielt. Man merkt es etwa, wenn er in der Kritík der reinen Vernunft den Mangel an Urteilskraft als ein Gebrechen charakterisiert, dem gar nicht abzuhelfen ist, oder wenn er in der zweiten Kritik von einer >praktischen Erkenntnis< spricht, oder wenn er dem ásthetischen und teleologischen Urteil in seiner Kritík der IJrteilskraft eine moralische Bedeutung zúer kennt. Aber mit seiner Fragestellung und ihrem Widerhall wurde diese humanistische Tradition immer unsichtbarer, ja sogar hinfállig. Kants grundsátzliche Fragestellung hatte ursprünglich nichts mit der humanistischen Tradition zu tun. Die Leitfrage der Kritik von 1781. ist bekanntlich diejenige nach der Móglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft. Kants Frage ist im Prinzip der Metaphysik freundlich gesonnen. Er will ihr dazu verhelfen, endlich eine strenge Wissenschaft zu werden, wie der Titel seiner Prolegomena zu einer jeden künftigen Me'taphys ik, d.í e als Wi s s e n s ch aft wird auftre t e n kó nn e n ( 1 7 83) no ch einmal es
einschárft. Aber Kant verwendet dabei einen harschen und selbstbewuBten Ton, der seine positiven Absichten etwas in den Hintergrund geraten láBt: Von dem Gerichtshof seiner Kritik aus scheint er der Metaphysik tatsáchlich einen erbermungslosen ProzeB zu machen,aus dem sie ohne jegliche Be-
rufungsmóglichkeit verurteilt zu werden scheint. Kant erweckt ferner den Eindruck, daB er die Newtonsche'Wissenschaftskonzeption zu Grunde legt, wenn er nach der Móglichkeit von Metaphysik als Wissenschaft fragt. Die Kritik wirkt so niederschmetternd, daB man dabei die Aussicht auf eine künftige Metaphysik aus den Augen verliert. Dies ist wohlgemerkt nicht der Fall beim deutschen Idealismus, aber die von ihm erstrebte Verwirklichung und Systematisierung der neueren Metaphysik wirkt so überschwenglich, daB der MiBk¡edit gegnüber jeder Metaphysik, die den Kriterien der
strengen Naturwissenschaft nicht standhált,
[/ende
41
in der Folgezeit
nur noch gróBer wird. Erkenntnis und zuverlássiges 'Wissen scheint es von nun an nur noch in den methodischen Erfahrungsv,'issenschaften zu geben, deren Fundamente Kant mit seiner Kritik sichergestellt habe. De facto hatte sich Kanr freilich relativ wenig fiir die >Methoden< der Erfahrungswissenschaften interessiert, aber die Verurteilung der >dogmatischen< Metaphysik und die Bezugnahme auf Newton haben genügt, um aus Kant einen Positivisten der strengen Naturwissenschaften zu machen. Diese Entwicklung erweist sich aber als verhángnisvoll fiir die Geisteswissenschaften, die anfangs von diesem ProzeB nicht direkt betroffen waren. Tátsáchlich hat es die Geisteswissenschaften erst nach Kant gegeben, in einem gewissen Sinne aber auch seinetwegen.22 Es war námlich gerade die
Verherrlichung der Naturwissenschaften und ihrer Methodik, die die Geisteswissenschaften zu einem distinkten Wissensgebiet werden lieB, das den methodischen Normen der strengen Wissenschaft nicht bzw. noch nicht genügte. Das methodologische Defizit steht damit den Geisteswissenschaften an die Stirn geschrieben. Sie sind aber aus einem weiteren wichtigen Grund in den Kantischen Proze[J integriert: Von
.Warte seiner aus entbehrt von nun an das unmethodische Wissen der humanistischen Tradition jeglicher Legitimation. Das >Geschmackswissen< ist offenbar keine Wissenschaft, 22 Vgl. dazu R. Makkreel, >Kant, Dilthey, and the Idea of
Histo¡ical Judgment<, in Dihhey-Jahrbuch
1,0
a
Critique of
(1.996),61-79. In seinem
Buch Imagination and Interpretation ín Kant.The Hermeneutícal Import of the (Chicago Universiry Press, 1990) hatte Makkreel bereits gezeigt, daB die Unterscheidung zwischen dem Verstehen der Geistes- und dem Erkláren der Naturwissenschaften de¡ Sache nach auf die kantische lJnterscheidung zwischen den bestimmenden und den reflektierenden Urteilen in der dritten Kritik zurückgtng: wáhrend die ersten das Einzelne unter ein Gesetz subsumieren, verfahren die reflektierenden lJrteile hermeneutischer, indem sie das gegebene Einzelne in einen gróBeren Bedeutungsrahmen einzuordnen versuchen, der aber nie gegeben ist. Die Methodologien des 19. Jh. haben es nichr gemerkt, weil Kant frir sie der Verfasser der als Methodentraktat der Naturwissenschaften geiesenen Kri tik d er reínen Vernunft blieb.
42
1. Das
Diekantische.V/ende 43
Problen der Methode
mag es noch so sehr zur Ausbildung der lJrteilskraft und des seflsus communis beitragen. IVas ist es dann? Die Antwort, die sich bei Kant anbahnt, die aber seine'Wirkungsgeschichte nur radikalisieren wird, lautet: Es ist etwas Asthetisches. Die Kultur des Geschmacks wird nach Kant zu dem,was sie bis heute weitgehend geblieben ist, d. h. zu einer ásthetischen Sache. Damit verschwand immer mehr der Erkenntnissinn der humanistischen Kultur, aber auch der Kunst. 'Wenn es Wissenschaft im Bereich der Kultur geben soll, wird sie ebenso strengen Methoden gehorchen müssen wie denjenigen, die den Erfolg der Naturwissenschaften móglich gemacht haben. So gut wie nichts soll der Urteilskraft überlassen bleiben, stellt sie doch eine unsichere Erkenntnisquelle dar. Von nun an wird man in den Geisteswissenschaften nach methodischen Analysen Ausschau halten. Auf einmal werden mathematische und statistische Studien in der politischen Wissenschaft und in der Volkswirtschaft gedeihen, an die wir inzwischen so gewóhnt sind, obwohl es sie vor dem 19.Jahrhundert nicht gab. Dasselbe Modell dringt auch bald in die Literatur- und die Geschichtswissenschaft ein, aber nicht zuletzt in die Philosophie, die sich nach dem analytischen Vorbild der exakten Wissenschaften verstehen móchte. Alles andere ist reine Ásthetik oder Geschmacksache, aber in einem Sinn, der dem Geschmack keinerlei glaubwürdige Erkenntnisfunktion mehr zuzuerkennen bereit ist. Diese Entwicklung ist fiir die Geisteswissenschaften fatal, weil sie sich damit von ihrem humanistischen Náhrboden abgeschnitten finden: >Das ist von nicht leicht zu überschátzender Bedeutung. Denn was damit aus der Hand gegeben wurde, ist eben das, worin die philologisch-historischen Studien lebten und wovon sie, als sie sich unter dem Namen der )Geisteswissenschaften< neben den Naturwissenschaften methodisch begründen wollten, allein ihr volles Selbstverstándnis hátten gewinnen kónnen.< (WM,46). Die'Wissenschaften vom Menschen werden damit nicht nur von ihrer humanistischen Heimat vertrieben, sie müssen sich nun-
mehr auch noch nach dem einzigen verfiigbaren'Wissensmodell definieren, nach dem Modell der methodischen
'W'issenschaft:
Indem die Kantische Wende >jede andere theoretische Erkenntnis als die der Naturwissenschaft diskreditierte, hat sie die Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften in die Anlehnung an die Methodenlehre der Naturwissenschaften gedrángt.( (WM, 47) Die Geisteswissenschaften befinden sich nunmehr vor der problematischen Alternative: Methode oder Ásthetik? Obwohl sie dem methodischen Paradigma meist zu widerstehen wuBten, weil es ihrer Erkenntnisweise zutiefst wesensfremd war, haben es die Geisteswissenschaften nicht immer vermocht, sich vom ásthetischen Modell zu lósen, das ihnen vom Methodenparadigma stiefmütterlich aufoktroyiert wurde. Gadamer wird uns helfen, die falsche Verfiihrung dieses Modells auch dort zu erkennen, wo man es nicht vermuten würde, námlich im Historismus. Seit dem l9.Jahrhundert haben die autonom gewordenen Geisteswissenschaften eine betont historistische Wende genommen, die bestrebt ist, alle Phánomene aus ihrem geschichtlichen Kontext her zu deuten. Gadamer wird zwar den Erkenntnisgewinn des Historismus nicht in Abrede stellen, aber doch seine Verlustrechnung auG stellen: Der Anspruch, die Erscheinungen von ihrem Kontext her zu begreifen, bringt sie um ihren Erkenntnisgehalt und tendiert dazu, sie zu ásthetisieren. Alle Produkte der Kultur und der Philosophie werden immer mehr als >Ausdruckserscheinungen< aufgefaBt, die aus threr Zeít oder dem Leben ihres Schópfers verstanden werden sollen. Diese Verstehenstendenz hat sich inzwischen durchgesetzt, aber sie láBt uns vergessen, daB es bei diesen Produkten auch um Wahrheit geht. Geht das Verstehen im Ausdrucksverstehen auf, das nur insofern versteht, wenn es eine >Schópfung< als Tht ihres Autors oder threr Zeit genetisch begreift? Ist das Verstehen nicht vielmehr die Teilhabe an einer hermeneutischen Wahrheit, einer Bildungswahrheit, die uns formt und verwandelt? Gadamer wird an zwei Fronten kámpfen, der des Historis-
mus und der der Ásthetik, aber jedesmal gegen denselben Feind, námlich gegen die Vergessenheit bzw Amputation des Wahrheitsanspruches der Geisteswissenschaften, die ihre Quelle im Wahrheitsmonopol der methodischen'Wissen-
44
1. Das Problem der
Kants Grundlegung der
Methode
schaft hat.Es springt in die Augen, daB fiir eine Hermeneutik wie die Gadamersche, die sich in die Diltheysche Tradition
einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik stellt,
dann selbst besser beleuchten hilft.Aber Gadamers'W'erk wird schlieBlich auch das begrenzte, weil immer noch zu epistemologische Problem der Geisteswissenschaften überschreiten und an der Erfahrung unserer Sprachlichkeit eine allgemeinere F{ermeneutikkonzeption skizzieren, die auf einen universalen Aspekt unserer Welterfahrung hindeutet.
der
Hauptfeind im Historismus steckt: Die Herrschaft des ásthetisierenden Ausdrucksverstehens und des Methodengedankens in den Geisteswissenschaften, die Gadamer dem Historismus und Dilthey zur Last legen wird, geht an der'W'ahrheitserfahrung dieser Wissenschaft vorbei. Dennoch wird sich Gadamer erst im Zweíten Teil seines'Werkes direkt mit dem Historismus auseinandersetzen. Er mu8 zunáchst mit dem ásthetischen BewuBtsein abrechnen: zum einen, weil alles mit der Ásthetisierung begonnen hat, zum anderen, weil Gadamer aus der Erfahrung der Kunst einen'Wahrheitsbegriff entwickeln móchte, den er auf das geschichtliche Verstehen
Kants Grundlegung der Ásthetik Wir wissen, da8 Kant aus gewichtigen Gründen verantwortlich ist fiir die Asthetisierung der Erfahrungsfelder, die den Standards der exakten'W'issenschaften nicht genügen. Er war zunáchst derjenige, der fiir die Nachwelt das 'Wissenschafts-
anwenden kann. Gadamer scheint dabei selbst in die Falle des MethodenbewuBtseins zu treten, wenn er die Geisteswissenschaften demonstrativ von der Kunst aus - und damit scheinbar rein ásthetisch - verstehen will. Seine Ausfiihrungen werden aber zeigen, daB die rein ásthetische Auffassung der Kunst selbst ein Produkt des MethodenbewuBtseins darstellt.-Was es en der Kunst zu gewinnen gilt, ist ein Begriff, besser: eine Erfahrung von Wahrheit, die es uns erlaubt, nicht nur die Kunst, sondern auch die Geisteswissenschaften und, grundsátzlicher noch, das menschliche Verstehen besser zu verstehen' Der argumentative Gang von Wahrheit und Methode ist damit vorgezeichnet. Er setzÍ an bei einer begrenzt erscheinenden Frage nach der'Wahrheit der Kunst, deren Tragweite allerdings immer universaler hervortreten wird: >Aber geht es an, den Begriff der Wahrheit der begrifflichen Erkenntnis vorzubehalten? MuB man nicht auch anerkennen, daB das Kunstwerk Wahrheit habe?'W'ir werden noch sehen, daB eine Anerkennung dieser Seite der Sache nicht nur das Phánomen der Kunst, sondern auch das der Geschichte in ein neues Licht rückt.< (WM,47) Seit alters mit den Geisteswissenschaften verbunden, wird die Flermeneutik von der Kunst ausgehen, um den Asthetizismus zu entlarven und aus dessen Destruktion heraus einen angemesseneren Wahrheitsbegtlff zu ge-
winnen, der die Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften
Ásthetik 45
modell der mathematischen Naturwissenschaft zur absoluten und ausschlieBlichen Norm zu erheben schien (was aber
nicht so originell war, weil er hierin nur der kartesianischen Modernitát und dem Humeschen Empirismus folgte), die alle anderen'Wissensarten in den Bereich der Meinung und des Nichtwissens zu verweisen schien. Aber Kant war auch derjenige, der mit seiner Kritík der Urteilskraft von1.790 die Fundamente der Asthetik legte, die ihr einen autonomen Geltungsbereich jenseits der Erkenntnis (Gegenstand der ersten Krítik
von 1781) und der Moral (die die zweite Kritík von 1788 abhandelte) zuordnete. Bei dieser Grundlegung der Ásthetik ist es beachtenswert, daB sich Kant der Leitbegriffe des Humanismus bedient, wenn er von Geschmack, von Gemeinsinn und natürlich auch von Urteilskraft spricht. Das ist ein weiteres Zeichen, daB der Humanismus fiir ihn noch lebendig war; seine Leitbegrifle erhalten bei ihm abc'r eine unerhórte Di-
t i
¡
f
mension. Das Ásthetische (Kant denkt dabei in erster Linie an das ásthetische Urteil) gehórte danals wie selbstverstándlich zum Bereich der Kritik des Geschmacks, von dem wir gesehen haben, daB er eine moralische wie eine politische Relevanz einschlieBt. Die Kantische Reduktion war hier so erfolgreich, daB wir kaum noch von Geschmack in diesen Dománen sprechen. Etwas davon erhált sich jedoch, wenn wir negativ von
46
1. Das Problem der
Kants Grundlegung der
Methode
Geschmacklosigkeit oder positiv von Sozialitát oder von ¿ommon sense sprechen. Es handelt sich nicht um eine Erkenntnis im Sinne der Wissenschaft, aber doch um so etwas wie eine Seinsweise,die es zu kultivieren gilt,weil sie fiir das Miteinan-
derleben unentbehrlich ist.'Wie kenn man aber ihren Geltungsanspruch rechtfertigen? Das war im Grunde bereits die Frage von Kant, aber die Fragestellung verrát den Vorrang des epistemologischen Modells. Man móchte fast sagen, daB sie erwas Schiefes hat. Es leuchtet ja ein, da8 die >Gültigkeit< des Geschmacksurteils nicht die der'Wissenschaft sein kann. Man darfalso nicht von einer objektiven Allgemeingültigkeit spre-
chen,wahrscheinlich auch nicht von Erkenntnis. lJm welche
Art von Gültigkeit handelt
es sich dann?
In seiner Kritik
der
Urteilskraft wird sich Kant bemühen, diesen nicht objektiv zu
nennenden Geltungsbereich zu umschreiben. Da die Objektivitát der Wissenschaft vorbehalten bleibt, wird sich Kant erdreisten, hier von einer >subjektiven Allgemeinheit< zu sPrechen (vgl. Kr. d. U. $ 6). Die bewuBt paradox klingende Formel besagt, daB diese Allgemeinheit lediglich das Spiel unse-
rer Erkenntnisvermógen betrifft, die ein ásthetisches Gefiihl hervorrufen. Die reichen Einzelheiten der Kantischen Analyse kónnen uns hier nicht in extenso bescháftigen, aber es springt in die Augen, daB der Objektivitátsanspruch der Naturwissenschaft den Hintergrund bildet,
vor dem sich die
Kantische Begründung der Asthetik zu profilieren hat. Das ásthetische Urteil muB einen anders gearteten Anspruch erheben, soll es autonom werden. Gadamers Diskussion der Kantischen Ásthetik legt besondere Aufmerksamkeit auf eine (Jnterscheidung, die in der Krítík der Urteilskraft sekundár erscheinen mag, die Gadamer aber ñir ein wichtiges und verhángnisvolles Symptom der Autonomie der Ásthetik hált, die sich bei Kant anbahnt: die Distinktion von der freien und der anhángenden oder adhárierenden Schónheit (Kr. d. U. $ 16). Die freie (und eigentliche) Schónheit ist diejenige, die Gegenstand eines reinen Geschmacksurteils ist, wo sich keine moralischen oder intellektuellen Gesichtspunkte beimischen. Das Paradebeispiel fiir diese Schónheit bilden fiir Kant die Arabesken oder auch die
Ástheúk 47
Ornamentsblumen, die nur >schón< sind. Einer weniger reinen Art von Schónheit begegnet man bei der anhángenden Schónheit, weil sie einem Begriff >adháriert<. Ihr Sinn ist nicht bloB ein ásthetischer. Dies ist erwa der Fall, notiert Kant (ebd.), bei der Schónheit eines Menschen, eines Pferdes oder eines Gebáudes, weil hier ein gewisser Zweck vorausgesetzt wird. Nach Kant darf aber ein reines Geschmacksurteil keine >Vorstellung eines Zwecks< zu Grunde legen. Ein Zweckbezug würde gleichsam die rein ásthetische Schónheit des Ge-
schmacksurteils beeintráchtigen. Gadamer sieht
in
dieser
Distinktion, die die ásthetische Reinheit des Geschmacksurteils etablieren will, eine >hóchst fatale Lehreu (WM, 50), weil sie das ásthetische Urteil vonjedem Seins- und Erkenntnisbezugabschneidet. Sie zwingtdie Ásthetik dazu, sich im GegenzúgztJr Erkenntnis und zur Moral zu bestimmen. Gadamer weiB sehr wohl, daB die volle Autonomie der Ásthetik bei Kant nur vorbereitet wird. Kant sprichtja auch von der Schónheit als einem >Symbol der Sittlichkeit< (im Titel vom $ 59).Aber es handelt sich eben um einen ganz besonderen Typ von Symbol, den man auch nur von Kants Voraussetzungen aus recht verstehen kann.'Was Kant dazu bringt, in der Schónheit ein Symbol des Sittlichen zu erkennen, ist námlich die Tatsache, da8 die Natur selbst unser Glück zu wollen scheint, wenn sie durch ihre Schónheit ein Spiel unserer Erkenntniskráfte in Bewegung setzt. Das Gefiihl der Lust, das der Mensch dabei empfindet,ist zwar rein subjektiv, aber dennoch allgemein teilbar, so daB man es hier tatsáchlich mit einer subjektiven Allgemeinheit zu tun hat.Man ist hier nahezu versucht zu sagen, daB die Natur es gut mit uns meint, indem sie dieses Gefiihl nur fiir uns und ohne weiteren Zweck bereitstellt. Im Geiste Kants, der hier der Leibnizianischen Harmonievorstellung sehr nahe ist, wird auf indirekte, aber sehr erhebende Weise bestátigt, daB wir damit den Endweck der Schópfung bilden: >Das Interesse am Schónen in der Natur ist also >der Verwandtschaft nach moralisch<. Indem es die absichtslose Übereinstimmung der Natur zu unserem von allem Interesse unabhángigen Wohlgeñllen bemerkt, mithin eine wunderbare ZweckrnaBígkeit der Natur fiir uns, weist es auf
48
1. Das Proble
m der Methode
uns als auf den letzten Zweckder Schópfung, auf unsere )moralische Bestimmung<. (WM, 56) Die Ásthetik besitzt also in einem ganz beslimmten, ausschlieBlich aus diesen Kantischen Prámissen zu verstehenden Sinne eine moralische Bedeutung. Von daher láBt sich auch verstehen,warum Kant das Naturschóne vor dem Kunstschónen vorzieht. In der Kunst ist námlich dieser Appell an unsere intelligible Natur gleichsam gewollt und insofern weniger erhaben. Das Kunstwerk spricht ja bereits eine geistige Sprache: [...] >die Kunstprodukte sind nur, um uns so anzusprechen Naturobjekte dagegen sind nicht, um uns so anzusprechen.< (WM, 57) Das GroBartige ist hier, daB das Naturschóne keine >bestimmte Aussage< abgibt. Es wird dadurch aber um so sprechender und erhabener. Das bleibt freilich nur solange
zwingend, als man mit Kant den stillschweigenden Horizont einer Schópfungstheologie und -teleologie voraussetzt. Es ist just dieser metaphysische und noch rationalistische Horizont,
der den romantischen Nachfolgern von Kant weniger verbindlich erscheinen wird, schien er doch die Autonomie der Ásthetik zu gefáhrden, die Kant hatte begründen wollen.
Von der Geschmack- zur
Genieásthetik 49
epochemachende lJmwálzungen in die'W'ege leiten, Zwei sind von überragender Bedeutung: Der Kantische Vorrang des Naturschónen wird dem des KunstschónenPlatzmachen, wáhrend der Gesichtspunkt der Geschmack- durch den der Genieásthetik ersetzt wird.Es handelt sich um komplexe Vorgánge, deren Konsequenz sich aber gut nachvollziehen láBt:
Soll die Asthetik über einen autonomen Geltungsbereich verfiigen, der allein dem freien subjektiven Spieltrieb Folge leistet,jenseits also von dem Erkenntnis- und Handlungstrieb, dem sich die Wissenschaft und die Moral beugen, wird sie von nun an die Subjektivitát privilegieren, die sich am freiesten in der künstlerischen und genialen Kreation áuBert. Diese Genieásthetik verdrángt im selben Atemzug den Gesichrspunkt des Geschmackes, da er ihr in einer gewissen Hinsicht zuwiderláuft, geht doch von dem Geschmack und dem Gemeinsinn eine nivellierende Tendenz aus, die es ihnen verbie-
tet, geniale Schópfungen gebührend zu würdigen, weil sie gegen den jeweiligen Geschmack verstoBen. Der Kantische Vorrang des Naturschónen und des Geschmacksurteils wird damit hinfdllig, weil er schlieBlich mit der vollen Autonomie des Asthetischen unvereinbar scheint. Auf diese Weise haben sich die Kategorien des Genies und
Von der Geschmack- zur Genieásthetik
der künstlerischen Schópfung in der nachkantischen Ásthetik durchgesetzt. Gadamer spricht zu Recht von einer wahren
Die nachkantische Ásthetik, die mit Schillers Bríefen übet die
Apotheose des Genialen und des Schópferischen, die im .W.ertbegriffen 19.Jahrhundeft zu universellen avancieren (.WM,65). Sie gehen mit einem Kult der unbewuBten Produktion und des Irrationalismus einher, der um so eindeutiger zur Abtrennung der künstlerischen Welt von der-W'elt der Erkenntnis und der Moral fiihrt, wo die kalten Gesetze der Vernunft und des Verstandes herrschen. Die Kunst verpflichtet und verurteilt sich damit zur Irrationalitát und zur Marginali-
(1795) ansetzt,wird sich also bemühen, gleichsam kantischer ais Kant zu sein, um die bei Kant nur angelegte Autonomie der Ásthetik zu retten. Sie wird sie auch radikalisieren, aber der humanistische Einschlag wird zunehmend in ihr unkenntlich werden. Kant war noch Erbe dieser Tiadition, als er das Geschmacksurteil weiterhin in dem mehr oder weniger geheimen Rahmen einer Moraltheologie ansiedelte, der noch nicht ganz mit der erkennlnismáBigen und moralischen Dirnension des Asthetischen gebrochen hatte. Schiller bricht ebenfalls nicht ganz mit ihr, insoGrn er von >Erziehung< spricht, aber sie wird bei ihm eben eine >ásthetische Erziehung<. Diese dem oSpieitrieb< des iisthetische Erziehung des Menschen
Menschen untergeordnete Erziehung wird frir die Asthetik
tát der Erkenntnis, aber auch der Gesellschaft gegenüber. AuBer Schiller waren nach Gadamer Goethe und Rous'W'eltseau die ersten Inspiratoren fiir diese neue ásthetische anschauung,obwohl es bei ihrer Dichtung noch um Wahrheit ging. Beide hatten ihre Dichtung mit i.hrer persónlichen Erfahrung aber so eng verbunden, daB die Kunst mit der Selbst-
50
Die Abstraktion
1. Das Problem der Methode
darstellung zusammenzuschmelzen schien. Man denke dabei
an die lange Autobiographie, die Goethes >Dichtung und Wahrheit< bietet oder an die verschiedenen Versionen von Rousseaus >Konfessionen<. Der Künstler spricht jetzt von sich selbst und teilt seine inneren Erlebnisse mit. Kunst hat es von nun an mit diesem Reich des Erlebnisses und seiner Ausdrücke zu tun. Für Gadamers hermeneutische untersuchung ist es natürlich von besonderer Bedeutung, daB Dilthey der gróBte Theoretiker dieser ásthetischen.Weltansicht wurde. Er trug auch erheblich zur Verbreitung des Erlebnisbegriffes bei, den er in seinem Bu ch Das Erlebnk und die Díchtung (1905) zu einer Grundkategorie der Ásthetik emporhob. Er wird auch zu einer Grundkategorie der ihm vorschwebenden Hermeneutik der Geisteswissenschaften werden. Damit erwies sich aber nach Gadamer das Modeli des ásthetischen BewuBtseins als maBgebend fiir die Geisteswissenschaften. Dagegen erhebt sich Gadamer, wenn er fragt, ob es bei diesen'Wissenschaften wirklich nur um die Erlebnisse der gelesenen Autoren und
nicht vielmehr um Erkenntnis und Wahrheit gehe. Gilt
das
selbst von der Kunst?
Die Apotheose des Erlebnisbegriffs gehorcht zwei Grundtendenzen, die fiir das positivistische l9.Jahrhundert symptomatisch sind. Einerseits hofft man, im Erlebnis eine letzte, den Fakten der empirischen Naturwissenschaften angemessenere Gegebenheit ausgemacht zu haben, die fiir die Kunst wie fiir die Geisteswissenschaften gleichermaBen gelten soll. Andererseits verweist aber gerade diese Erfahrungsgrundlage auf einen gleichsam >pantheistischen< Horizont (WM, 70)' insofern sie uns an einer allumfassenden Manifestation des Lebens teilhaben láBt, die sich den kognitiven Kategorien des Rationalismus entzieht. Das Leben selbst erscheint imrner mehr als ein irrationalistisches Ganzes, das bald eine Reihe von >Lebensphilosophien< auf den Plan ruft. Es handelt sich gewiB um kontradiktorische Tendenzen, da die eine positivistisch, die andere pantheistisch ist, die aber in'Wahrheit beide Hand in Hand gehen:Wenn sie im wissenschaftlichen Zeitalter Respekt erheischen wollen, müssen es auch die Geisteswissenschaften mit letzten Gegebenheiten zu tun haben, selbst wenn
des isthetischen
BewuBtseins 51
Horizont hinauslaufen. Aber dieser lrrationelismus wird ihnen letztlich von der'Wissenschaft selbst aufgezwungen, weil diese sich allein fiir das Rationale zustándig erklárt. Der lrrationalismus setzt die Herrschaft des Rationalismus voraus, die er mit seiner Marginalitát nur bestátigt. Gadamer erblickt hier eine falsche Alternative, die aus einer fatalen Abstraktion herrührt. sie auf einen irrationalistischen
Die Abstraktion
des ásthetischen BewuBtseins
Selbst heute erliegen wir der Tendenz,'Werke der Kunst und des Geistes als Schópfungen und Ausdruckserscheinungen zu interpretieren. Gadamer erinnert daran, daB es sich um relativ neuere Erfindungen handelt, die fiir das 19. Jahrhundert cha-
rakteristisch sind. Man bedient sich dabei spezifisch ásthetischer Kategorien, die stillschweigend voraussetzen, daB sich die Kunst nicht mehr als Erkenntnis beschreiben láBt. Das Kunstwerk gilt als Ausdruck eines Erlebnisses, und die ásthetische Erfahrung erschópft sich im Nacherleben des schópferischen Erlebnisses. Gegen diesen KurzschluB ruft Gadamer in Erinnerung, daB die Kunst ehederr, g¿nz andere Aufgaben erfiillte. Ein erstes Zeugnis davon wird er in der Allegorie sehen. Die Allegorie bezeichnete ursprünglich eine rhetorische Redeform
und eine Interpretationspraxis, bevor sie eine Kunstform wurde,wie zum Beispiel in der allegorischen Malerei.Es handelt sich fiir uns um eine eher entlegene Kunstform, die man heute fast nur noch in den konventionell wirkenden Darstellungen der Góttinnen findet, etwa die der Gerechtigkeit mit einer'W'aage oder einem Schwert, aber auch in den viel sprechenderen Reprásentationen des Himmels und der Hólle bei Breughel. \I/as uns an der Allegorie fremd vorkommt, ist, daB sie sich wie eine kodifizierte Schrift ausnimmt, die nur dazu da ist, um auf eine bestimmte Wirklichkeit hinzuweisen. Die Allegorie ist also weniger eine ásthetische als vielmehr eine Wirklichkeitserfahrung flMM,82). Das mecht sie fiir Gadamer besonders interessant, nicht etwa, weil er eine besondere
52
l. Das Problem der Methode
Die Abstraktion
Vorliebe fiir diese Art der Malerei hat, sondern weil sie auf die Grenzen des rein ásthetischen BewuBtseins hinweist: >Die Allegorie ist gewiB nicht allein Sache des Genies. Sie beruht auffesten taditionen und hat stets eine bestimmte, angebbare Bedeutung, die sich gar nicht dem verstandesmáBigen Erfassen durch den Begriffwidersetzt.< 0üM,85) Gadamer interessiert sich auch deshalb fiir die Allegorie, weil sie just aus diesem Grund von der Genieásthetik diskreditiert wurde. Sie konnte námlich nicht zulassen, daB das Kunstwerk auf etwas anderes verweisen kónne als auf sich selbst. Gadamer zógert seinerseits nicht, einer >Rehabilitierung der Allegorieoz3 das 'W'ort zu reden, weil die Allegorie lehrt, daB die Trennung zwischen Kunst und'Wirklichkeit das'Wesen der Kunst auf den Kopf stellt. Diese radikale und in seinen Augen fatale Trennung meint Gadamer, wenn er von der Abstraktion des ásthetischen BewuBtseins spricht. Die Kunst mag uns noch so sehr aus der Alltáglichkeit herausholen, sie darf nicht in Opposition zur Wirklichkeit und unserer Erkenntnis von ihr gestellt werden. Diese fatale Trennung ist der Preis der Autonomisierung der Ásthetik, die sich mit Schillers Bríefen entscheidet. Die Erziehung, die er meint, sei nicht mehr eine Erziehung durch die Kunst, sondern eine Erziehurrgzrx Kunst (WM 88). Schiller wollte damit vielleicht die Kantischen Dualismen zwischen Natur und Freiheit, zwischen Theorie und Praxis überbrükken, aber er hat damit einen noch gróBeren Abgrund zwischen Kunst und Realitát geschaffen. Von j edem Realitátsbezug durchs Erkennen oder Handeln gelóst, bewegt sich die Kunst nunmehr im angeblich autonomen Reich des schónen Scheines. Gadamer erkennt darin die Folge des Nominalis-Wissenschaft auszeichnet: 'W'enn mus, der die neuzeitliche sich die gesamte Wirklichkeit auf die raumzeitliche Materie beschránkt, die die'[/issenschaft untersucht und besetzt, kann die Kunst nur noch zum Schein,ja zur Fiktion gehóren.Ist es nicht bezeichnend, bemerkt neuerdings Gadamer, daB die 23 So lautet der Titel desjenigen Abschnittes (WM, 76), der die dergewinnung des Realitátsbezugs der Kunst in die'W'ege leitet.
Wie-
des ásthetischen
BewuBtseins 53
gesamte Literatur im Englischen (der Sprache der modernen 'Wissenschaft) den Namen >fiction< trágt, um anzudeuten, daB sie keinen Sachbezug habe.2a Sachbücher gehóren ihrerseits
unter die unnachahmbar genannte Rubrik der >non-fictionist<, und von Kafka, was die moderne 'W'elt
ausmacht? Ist das alles >Fiktion
Gadamer wird diese Fiktionalisierung der Kunst mit Entschiedenheit bekámpfen, nicht nur, rveil sie die'W'ahrheit der Kunst trivialisiert und entrealisiert, sondern auch, weil sie das Wesentliche an der Kunst verdeckt, námlich ihre Fáhigkeit, die Erfahrungswirklichkeit in ihrer vollen Bedeutsamkeit darzustellen. Deshalb wird er seine positive Ásthetik pointiert unter den Titel einer >Ontologie des Kunstwerks< stellen. Die Kunst ist fiir ihn in erster Linie eine Wahrheits- und Seinserfahrung. Gadamer wird sogar in der Kunst von eínem Zuwachs an Sein sprechen. Die Kunst hat nicht an einem minderen Wirklichkeitsgrad teil, im Gegenteil: in ihr wird das Sein
mehr (WM,145). Diese ontologischen Kategorien wirken sonderbar )quantitativ(, aber diese Betrachtungsweise ist nur die Kehrseite der nominalistischen Verlegenheit, unter die die moderne Wissenschaft das Kunstwerk zu nótigen scheint, wenn sie es in die irreale Welt des schónen Scheines verbannt. Das ásthetische BewuBtsein ist also das Ergebnis einerVerlegenheit, die den Nominalismus der Wissenschaft zur Voraussetzung hat. GewiB erlangt die Kunst dadurch eine Auto2a Vgl. Gadamers Vortrag über >Das Kunsrwerk im Zeitalter seiner ásthetischen Kommunizierbarkeit<, anláBlich der Freiburger Kulturgespráche vom 5. Feb¡uar 7994 in Marienbad (Autobahnuniversitát: Heidelberg, Carl-Auer-Systeme Verlag, 1994): >Stellen Sie sich das einmal vor, da8 man eine ganze groBe Literaturgatrung rfiction< danach beschreibt, daB sie nicht dem Wirklichkeitsbegriff der Jt/issenschaft entspricht. Das Fiktive an der Handlung a1s das'W'esentliche? Nein, es ist gerade das Unwesentliche. Das ist es doch gerade, da8 niemand das als Fiktion nimmt, weil jeder es schon weiB.<
54
1. Das P¡oblem der Methode
nomie, eine Souveránitát, aber sie bleibt nach Gadamers IJrteil eine imagináre, eine irreale. Sicherlich gewinnt die Kunst dadurch auch mehr Sichtbarkeit ¿ls Kunst. Von nun an werden besondere Státten fiir die Kunst errichtet: Jede respektable bürgerliche Stadt besitzt seit dem 19. Jahrhundert ihr Kunstzentrum, wo man Schauspielháuser, stehende Theater und Museen zusammenstellt (WM,93).Je mehr die Kunst in diesen Státten gedeiht, desto mehr wird sie sorgfiltig von der übrigen, realen stádtischen Welt abgetrennt, die von'Wissenschaft und'Wirtschaft verwaltet bleibt. Jede anstándige Zeítung hat von nun an ein Feuilleton,wo die Kunst, die Geisteswissenschaften und die Philosophie abgehandelt werden: aber
bitte nach den wirklichen Nachrichten und dem Blick in die Wirtschaft. In Nordamerika heiBen diese Feuilletons oft >Arts and Entertainment<, weil die Kunst eigentlich da ist, um uns zu unterhalten und von der wirklichen W'elt abzulenken. Die Kunst ist unwirklich geworden und zelebriert ihre eigene Unwirklichkeit. Selbst der Künstler verliert seinen Ort in der 'W'elt. So wird er spátestens seit Puccinis bekannter Oper (1896) zur Bohéme verurteilt. Das AuBenseitertum des armen bóhmischen Zimrnermádchens wird nunmehr zur bevorzugten Stelle des Künstlers in der'W'elt. Ein wahrer Kult der Bohéme wird damit instituiert. Von Kult darf man sprechen, weil in der entgótterten Welt der Wissenschaft die Marginalitát des Künstlers zu einem neuen Heilstráger wird. Dieses ásthetische BewuBtsein bildet nach Gadamer eine Abstraktion in vielerlei Hinsicht. Erstens schneidet es die Kunst von der Wirklichkeit auf fatale'W'eise ab, indem es die Kunstwelt in eine radikale Diskontinuitát zur übrigen Welt stellt. Zweitens abstrahiert es auf fatale'Weise von dem'W'ahrheitsbezug, der nach Gadamer jeder Kunst eignet. Drittens abstrahiert es von dem tatsáchlichen Tleiben der Künstler selbst. Die Kunstkritik mag noch so sehr von Schópfung, Genialitát, (nahezu góttlicher) Inspiration und tiefen Bedeutungsbezügen reden, aber die wirklichen Künstler verbleiben meist bei sehr prosaischen Betrachtungen über ihre Arbeitsweise und ihre Technik, wenn sie von ihren ProduktionEn sprechen. Welcher Künstler hat sich je in der Kunstkritik er-
Die Abstraktion
des ásthetischen
BewuBtseins 55
kannt? Die Kunst ist ferner fiir ihn eine Arbeit.'Weit davon entfernt, eine Sache von reiner Ásthetik zu sein, ist die Kunst in den meisten Fállen auch eine Auftragsarbeit. Da das ásthetische BewuBtsein postulierte, daB die wahre Kunst nur aus der ungebundenen, rein schópferischen Inspiration des Genies flie8en kónne,muBte es die Auftragskunst diskreditieren. Es vergaB, daB die gesamte abendlándische Kunst darauf angewiesen war: Nahezu die Gesamtheit der Kantaten von Bach Wurden fiir die jeweilige Sonntagsmesse komponiert, wáhrend Racine und Moliére - die gróBten Klassiker der franzósischen Literatur - ihre Stücke in erster Linie fiir Louis XIV und seinen Hofgeschrieben haben.Die >Meninas< vonVelázquez sind schlieBlich auch nichts anderes als ein Portrát der kóniglichen Familie.
Die Kritik an der Subjektrvierung der
Kunst 57
Initiative von mir ausginge. Ebenso lasse i.ch mich auf
2.Díe 'Wahrheit von der Kunst her Die Kritik an der Subjektivierung der Kunst: das Spiel der Kunst ist ein ganz anderes
Will man der Kunst einen'W'ahrheitsanspruch
zuerkennen, um von ihr in Erfahrung zu bringen, worin eine nicht methodisierbare'Wahrheit bestehen kónnte, so ist es notwendig, die Kantische und nachkantische Subjektivierung der Ásthetik zu überwinden. Es handelt sich nach Gademer um die groBe Sackgasse der Asthetik,ja der Moderne schlechthin. Es ist tatsáchlich der Herrschaftsanspruch der modernen Wissenschaft zur Objektivitát, der die ásthetische Erfahrung dazu nótigt, sich rein subjektiv zu verstehen, als ginge es da nur um die Erlebnisse des Individuums. Der Nominalismus Giert seine Bestátigung in dieser Subjektivierung der Kunst, die das ásthetische BewuBtsein auch noch unterschreibt. Kónnte die Kunst uns vielleicht helfen, ihn zu erschüttern? Nach Gadamers positiver und polemischer Grundthese bildet die Kunst zunáchst eine Seinserfahrung, die sich als Erkenntnisgewinn beschreiben láBt.'Wie láBt sich dieser Seinszuwachs des náheren bestimmen? Die Frage ist bereits etwas schief gestellt, weil die ásthetische Erfahrung eine Erfahrung ist, der wir nicht Herr sind. Das ist es gerade, was das Geschehen der Kunst ausmacht, daB wir uns in ihr Spiel hineinnehmen und -ziehen lassen. Aber was nimmt uns hier in Anspruch? Rilke hat es vielleicht am besten formuliert, als er hier von einem Fangen-kónnen als einem Vermógen sprach, das nicht meines, sondern das einer V/elt ist. Rilkes Beispiel war auch das des Balles, der mir zugespielt wird, ohne daB die
das
Spiel der Kunst ein. Gadamer wird sich also von der Spielmetapher leiten lassen, um die'W'ahrheit der Kunst wiederzugewinnen. Es handelt sich freiiich um eine vom ásthetischen BewuBtsein bereits besetzte Metapher. Schiller hatte ihr ja in seinem Entwurf der ásthetischen Erziehung eine breite Tragweite zuerkannt. Kant sprach noch von einem Spiel unserer Erkenntalsvermógen, aus dem Schiller allein die Idee eines Spieltriebes herausholte, weil er mit ihm die ásthetische Befreiung
schildern wollte, die in der Ablósung von dem Erkenntnisund Handlungszwang stattfindet. Das Spiel war damit dem >Ernst< der Erkenntnis entgegengestellt. In diesem Sinne spricht man heute von der Kunst als entertainment oder diuertissement,weil sie vom lástigen Ernst des Erkennens entlasten soll. Ist es aber denn ausgemacht, daB die Kunst oder selbst das
Spiel etwas lJnernstes ist? Ist da alles rein spielerisch und alles nur subjektiv? Gadamer móchte diese spielerische Banalisierung der Kunst destruieren, aber er tut es, indem er sich ebenfalls der Spielmetapher bedient. Er scheint eine schelmische Freude daran zu haben, die Grundkategorien des ásthetischen BewuBtseins zu benützen, um ihnen indes einen ganz anderen Sinn und einen Wahrheitsbezug zu geben: Genauso wie er der Irrealitát und dem schónen Schein des ásthetischen BewuBtseins die Idee eines Seinszuwachses entgegenstellt, genauso fiihrt er gegen die Vorstellung eines rein subjektiven Spieles die Erfahrung ins Feld, daB die Kunst ein Spiel darstellt, in dem die Subjektivitát eine buchstáblich sekundáre
Rolle spielt. Dieses >Spiel< der Kunst hat selbst etwas ernstes, wie jedes Spiel auch. Man sagt ja von demjenigen, der nicht ernsthaft spielt, da8 er die Spielregeln verletze, als genieBe das Spiel eine eigene Autonomie und Regelhaftigkeit. Gadamer folgt hier - wie er es oft und gern tut - dem Genius der Sprache,
die diese Autonomie meint, wenn sie von einem Spiel 'W'ellen,
des
Lichtes, einem Spiel der einem-Wortspiel oder von allen sportlichen Formen des Spieles spricht (es ist zu beach-
58
2.
Die Kritik an der Subjektiüerung der
Die Wahrheit von der Kunst her
Kunsr 59
ten, daB es fiir das deutsche-W'ort Spiel zwei verschiedene Termini im Englischen gíbt: game und play).In a1l diesen B eispie-
mit einem Gegenzug entwortet( (WM, 111). Ebenso, darf man hinzusetzen, spielt man mit Móglichkeiten oder mit
len (!) ist es nie das autonome Spiel der Spielenden, sondern die Autonomie des Spieles selbst, die sich behauptet. Gadamer spricht von einem Primat des Spieles gegenüber dem BewuBtsein des Spielenden (WM, 110). Die Subjektivitát spielt nur richtig, wenn sie mitspielt, d. h. wenn sie sich dem Gesetz des Spieles beugt. Es ist hier wichtig zu vermerken' daB dies nicht nur fiir die Spielenden, sondern selbst fiir die Zuschauer des Spieles gilt (was sich fir Gadamers Vollzugsontologie der Kunst als besonders wichtig erweisen wird):'W'er einem Tennisspiel zuschaut, spielt insofern mit, als er dem Ball folgt und von der Spannung des Ballwechsels ergriffen wird. Das wahre
Worten.
Subjekt des Spieles ist also das Spiel selbst, das alle, die an ihm teilnehmen, in seine Spielwirklichkeit hineinzieht: >Der Spielende erfáhrt das Spiel als eine ihn übertreffende'Wirk-
lichkeit.< (WM,115) Gadamer spricht hier von dem >medialen Sinn< des Spieles.
Wer der alten Sprachen nicht kundig ist,wird nicht unmittelbar einsehen, was darunter gemeint sein kónnte. Das Mediale ist im Griechischen ein Verbgenus, das zwischen dem passiven und dem aktiven oszilliert: das Verb weist zwar eine passive
Konstruktion auf, hat aber eine eher aktive Bedeutung. Gute Beispiele dafiir sind mediale Verben wíe peithomal {iir >gehorchen< oder paídeuomaí fiioerziehen<. Die Bildung ist grammatisch passiv, aber es ist ein >aktiver< Vorgang anvisiert. Er ist aber wiederum nicht gánzlich aktiv, weil es sich um etwas handelt,was mit einem geschieht oder über einen ergeht.Die Spielbewegung ist fiir die Spieler insofern ein >Gespieltwerden<, das sich am besten medial ausdrücken Lá[Jt:>Alles Spielen ist eín Cespíehwerden.Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daB das Spiel über den Spielenden Herr wird.( (WM,112) Wenn das Spiel das wahre Subjekt darstellt, kann man nie allein spielen. Selbst wenn ein Gegenspieler fehlt, wie etwa bei einem Kreuzwortrátsel, bei einem Patiencespiel oder dem einsamen Spielen des Kindes mit einem Ball, mu8 >immer ein anderes da sein, mit dem der Spielende spielt und das dem Zug des Spielers von sich aus
'W'as
bedeutet diese Phinomenologie des Gespieltwerdens des Kunstwerkes und die hermeneutische Fragestellung Gadamers? Ihr polemischer Ertrag ist zunáchst wertvoll: Die grundlegende Kategorie der (Schillerschen) Asthetik, die des Spieles, ist weniger spielerisch und subjektiv, als sie aussieht. Das Spielen bedeutet nicht einen Rückzug des Spielers aufdas Innenreich seiner ungebundenen Freiheit, es ist vielmehr ein Sichbeugen vor einer überragenden Wirklichkeit, die ihren fesselnden Ernst hat. Dieses Gefangensein bildet aber keine Befangenheit, denn nur von dem, der so gefesselt ist, kann man sagen, daB er >versteht<. Gadamer scheint von dieser Idee eines Gefangenseins fasziniert zu sein,weil die Subjektivitát damit in eine andere Wirklichkeit erhoben zu werden scheint, wo sie aber dennoch direkt angeredet bleibt. Der Begriff des Spieles erlaubt es somit, zwei Aspekte der
fiir eine Ontologie
Kunsterfahrung zusammenzudenken, die gegenláufig erscheinen mógen, die aber fiir ihre Seinsweise wesentlich ist, námlich der ljmstand, da8 die Kunst eine autonome und uns überragende Wirklichkeit darstellt, in der wir aber zugleich immer impliziert sind. Wenn man solche Begriffe hier verwenden kónnte,lieBe sich sagen, daB die Kunst einerseits sehr ,robjektiv< ist: sie ist da, in dem gelungenen Gedicht, in der Symphonie, im Bild, aber sie ist zugleich eminent >subjektiv<: das Gedicht oder die Symphonie ergreifen mich in ihrer Bewegung, das Bild >schaut< mich an. lJnsere >Subjektivitát< spielt immer mit im Spiel der Kunst. Sie ist aber sekundár, da sie immer nur auf das Angebot des Kunstwerkes antwortet. Der spáte Gadamer hat sehr háufig auf dieser Hoheit, auf dieser nahezu sakralen Absolutheit des Kunstwerkes insistiert.2s Das wahre Kunstwerk steht da und drángt mir sein Diktat auf. Gadamer hebt oft diesen etymologischen Zusammenhang zwischen der Dichtung und ihrem Diktat hervor (vgl. GW 8, 2s Vgl. seine spátere Studie >Wort und Bild (1e92),GW 8,379.
-
rso wahr, so seiend<<
60
2.
Die Kunst
Die wahrheit von der Kunst her
10, 140 u. ó.). Die gro8en Texte der Literatur siild )eminente( Texte und fordern uns damit auf, ihrem Diktat zu folgen. Ebenso bückt uns das Bild von einer gewissen Hóhe oder Hoheit aus an (GW 10,283).Der Anspruch, der sich uns da aufdrángt, ist aber ein Anspruch auf Richtigkeit, der übrigens in der Regel auch eine lángere Dauer hat als die wissenichaftliche Richtigkeit:'Wer etwa ein Lehrbuch der Physik oder der Medizin vom Anfang des 20.Jahrhunderts zut Hand nimmt, wird verblüfft sein, wie sehr das alles veraltet ist. Das-
251;GW
selbe láBt sich nicht von einer Tragódie des Sophokles, einer Skulptur von Phidias oder gar einem Dialog von Plato sagen. Hat man es hier nicht mit einer'W'ahrheit zu tun, die - sehr zu. Überraschung des colnmon sense - auch viel mehr Bestand als jede noch so rein wissenschaftliche Wahrheit? Wenn Gadamer von dieser Absolutheit bzw. Disktinktion
hat
des Kunstwerkes spricht, scheint er
a1s
verwandelnde
Darstellung 61
Folge leistet. Es gibt námlich nie das >objektive< Gedicht in seiner Absolutheit, sondern immer nur des Gedicht, das rezitiert und verstanden wird.Ein Interpretationsband von Gadamer trágt deshalb den Titel >Gedicht und Gesprách< (Frank-
furt a.M., Insel, 1990). Das Wort des Gedichts ist auf eine Antwort, ein Gesprách angewiesen.Das gilt nicht nur von der Dichtung und der Kunst, die eine'Wortsprache spricht. Denn aufdieselbe Weise will ein Bild angeschaut werden.Ebenso ist es unmóglich, eine Melodie zu hóren, ohne sie innerlich zu surnmen, ohne mit den Fingern oder den FüBen taÍzen zu wollen.26 Das Kunstwerk ist eigentlich nur in diesem Mitspielen, in diesem Angeredetwerden da, das uns verwandelt.
Die Kunst
als
verwandelnde Darstellung
freilich in die Náhe jener
>ásthetischen unterscheidung( zu geraten, die er andererseits so energisch in Frage stellt, weil sie Kunstwerke rein ásthetisch betrachtet.Deshalb empfiehlt es sich,terminologisch die ásthetische lJnterscheidung von der ásthetischen Distinktion,
die die Kunst zur Kunst macht, auseinanderzuhalten. Denn die Kunst, deren >Distinktion< uns auch zum Verweilen bei
ihr einládt, ist nicht von der'Welt unterschieden. In ihr wird die Welt nur sprechender, offenbarer-'Wenn Gadamer hier von einer >ásthetischen Nichtunterscheidung< spricht, weiB er sehr wohl, daB die Nichtunterscheidung die Unterscheidi-rng, besser: den distinkten Charakter der Kunst mit einschlieBt. Die subjektive Asthetik greift nur zukurz,wenn sie allein aufdie lJnterscheidung abhebt,als sei es hier das einzig Wesentliche. Wesentlicher erscheint fiir Gadamer das Ge genteil, námlich daB die Kunst uns einen Zuwachs an Sein zuteilt. Sie bildet somit eine >Aussage< und erhebt einen'W'ahrheitsanspruch. Es ist aber ein'W'ahrheitsanspruch, der eine Antwort erheischt.Die Aussage der Kunst ist eigentlich eine Anrede-Das Spiel der Kunst besteht in diesem Zusammenspiel des (>objektiven<) Werkes und seines Nachvollzuges, den man >sub'Werkes jektivu nennen kann, der aber dem Schrittgesetz des
Die Idee des Spiels macht es móglich, die Anrede der Kunst und ihre Antwort in der Einheit eines dialektischen Prozesses zusammenzudenken. Das Spiel meint sowohl die Distinktion des Kunstwerkes als auch die Tatsache, daB wir uns in es >dialogisch< verfiihren lassen.Das Kunstwerk gibt uns sein Diktat, sein Gesetz auf, aber wir bleiben immer >dabeiu. Dies fiihrt Gadamer in Wahrheít und Methode zur wichtigen These, daB Kunsrwerk sein eigentliches Sein in der Darstellung hat, an der wir immer teilhaben. Will man der Seinsweise der Kunst gerecht werden, darf nicht das Kunstwerk von seiner Darstellung, etwa das Gedicht von seiner Rezitation oder das Theaterstück von seiner Aufliihrung, ontologisch unterschieden werden. Das eloquenteste Beispiel dafiir liefern nach Gadamer die >transitorischen< Künste, d. h. das Theater oder die Musik, die auf der Bühne gespielt und interpretiert sein wollen. Gadamer wird aber dieses Modell auf alle Formen von das
26 Zur An:wort, die die Musik erwecken wi1l, vgl. GW 10,283. Die Musik wird bei Gadamer leider weit weniger thematisiert als andere Kunstformen, aber ihr Angewiesensein auf einen Miwollzug des Hórenden gibt ihr exemplarische Bedeutung fiir Gadamers Ontologie der Kunst. Vgl. >Musik und Zeit<,in GW 8,362165;Hermeneutische Ent-
würG, Tübingen 2000, S.3.
62
2. Die Wahrhert von der Kunst her
Die Kunst
als venvandelnde
Darstellung 63
Kunst enwenden. Jede Art von Kunst (seibst die Literatur oder die Malerei, wo dies weniger evident erscheinen kónn-
sen des Kunstwerkes findet ihren Widerhall im ¡inneren Ohr< des Lesers.27
te) ist auf eine >Darstellung< angewiesen. Der beste Ausdruck
Mit den spáteren Begriffen des Lesens, des Vollzugs und des inneren Ohrs scheint Gadamer der verstehenden Áufnahme einen gróBeren Spielraum zuzuerkennen. Die in Wahrheít und Methode bevorzugte Formel der Darstellung insistierte viel_ Ieicht mehr auf den ontologischen Vorgang, der im Kunstwerk geschieht und von ihm ausgeht. Gadamer sprach auch neupla_ tonisch von Emanation @M, 145), um das KunstgeschÁen als einen Seinsvorgang hervortreten zu lassen. Der Begriffder Darstellung ist insofern glücklich, als er sowohl eine Darstel_ l,ungvon etwas (und damit eine Emanation) als auch eine Darstellungfürjemanden, fiir den dieses Sein Gestalt gewinnt, meint. Diesen Seinsvorgang fa8t Wahrheit und Methode als eine ,>Verwandlung ins Gebilde<.Verwandlung meint hier, >da8 et_
fiir diese Darstellung wáre sicherlich das Vy'ort lnterpretation (transitorische Künste heiBen auf Franzósisch >Interpretationskünste<). So will die Musik oder das Theaterstück >interpretiert( werden und hat nur in dieser Interpretation ein Sein. Natürlich kann man theoretisch eine Interpretation von dem Originalwerk unterscheiden. Man kann etwa eine Aufliihrung von Don Cíouanni zu >moderno finden, weil sie dem Werk nicht gerecht zu werden scheint. Aber das kónnen wir nur sagen, weil uns eine andere,glücklichere Auffiihrung vorschwebt (die nicht unbedingt die von Mozart direkt gewollte sein muB). Das beweist nur, da8 das Werk auf eine solche Darstellung angewiesen ist. In seinen spáteren Texten zur Asthetik spricht Gadamer 'Wort
hier weniger von Darstellung als von Vollzug. Das
stammt vermutlich aus den Vorlesungen des jungen Heidegger, die in den letzten Jahren zur Veróflentlichung gelangt sind. Heidegger verstand darunter die Realisierung der Bedeutung durch den Einsatz des eigenen Verstehens, den actus exercitus,der allein die Bedeutung formalerTermini mit Inhalt fiille. Ebenso ist die Kunst auf einen Vollzug angewiesen, um realisiert zu werden. Gadamers Interpretationen dichterischer Werke im 9. Band seiner Gesammelten Werke (1993) heiBen betont >Hermeneutik im Vollzug<. Der spáte Gadamer spricht hier auch gern von einem >Lesen<, aber in einer sehr weiten Bedeutung, die über das Lesen sprachlicher Zeichen hinausgeht. So schrieb er 1979 einen Text oÜber das Lesen von Bauten und Bildern< (Gesammelte Werke 8,331,338). Auch ein Bauwerk oder ein Bild wollen in ihrer Aussage >gelesen< werden.'W'er durch ein Bauwerk hindurchgeht oder ein Musikstück hórt, láBt es auf sich wirken, so daB es sprechend wird.,>Lesen heiBt immer etwas sprechen lassen< (GW 9,462).Die Erfahrung des Kunstwerkes ist immer die, daB es so anzusprechen vermag. Dieses Lesen von Kunst hat damit etwas von oAuslese<, d. h. von Ernte und Sammlung an sich. Die Darstellung, die Interpretation, der Vollzug oder das Le-
was auf einmal und als Ganzes ein anderes ist, so daB dies ande_ re, das es als Verwandeltes ist, sein wahres Sein ist, dem gegen_ über sein früheres Sein nichig isr( 0ñ/M, 116). Diese komple*e
Formulierung láBt viele Facetten des'Wortes Verwanálung mit anklingen. 1) Durch die Verwandlung in ein Gebilde wirá
offenkundig das dargestellte Sein etwas anderes, námlich ein Kunstwerk. Es gewinnt damit eine Gestalt, d. h. eine Idealitát, auf die man zurückkommen kann. Denken wir etwa an die gemalten Schuhe von van Gogh, die es Heidegger so sehr angetan haben. Das Bild verleiht ihnen eine besondere Dringlichkeit (einen >Seinszuwachs<),indem es sie ins Gebild. orr.iwandelt<.2) Durch die Verwandlung wird aber das Dargestellte nichts anderes als es selbst, d. h. als das,was es in Wirklichkeit ist. Dieses Sein wird uns aber nur durch das Kunstwerk zuteil. Bei einem gelungenen Photo von jemandem sagen wir: >das 27 Vgl. GW 8,247: >Meine These ist nun, da8 das literarische Kunst_ lverk mehr oder weniger sein Dasein fiir das innere Ohr hat. Das innere Ohr vernimmt das ideale Sprachgebilde - erwas, was keiner je hóren kann.< Zu diesem fiir den spáten Gadamer wichtigen Begriff,-der weit iiber das literarische Kunstwerk hinaus Anwendung findit, vgl. meine Studie rDas innere Ohr. Distanz und Selbstreflexion in der Heimeneu_ rlk<,in Denhen der Indiuidualita¡. Festschrift ñir Josef Simon zum 65. Ge_ burtstag, Berlin, De Gruyter, 1995,325-334.
64
2. Die
Die Kunst
wahrheit von der Kunst her
ist der ganz genau!( und bei dem mi8lungenen:
>das
trifft
nicht<. Es handelt sich zwar um dieselbe Person, aber ihr Sein wird von dem einen Bild getrofTen,von dem anderen nicht. Es ist aber so, daB wir dieses Sein nicht kennen würden ohne das Bild, ohne die >ontologische Valenz<, die des Sein dank ihm
erlangt. Allein im Bild gelangen die Schuhe von van Gogh oder die dargestellte Person zu ihrem wahren, erkennbaren Sein. Bilder von >fiktiven<'Wesen sind vielleicht hier ein gutes Beispiel. Wir wissen alle, wie Engel aussehen, selbst wenn sie nicht existieren. Nur die Kunst lehrt uns, was sie sind und wie sie aussehen, so wie uns nur die Sixtinische Kapelle vor Augen fiihrt, wie Gott aussieht, selbst wenn man sein Dasein leugnet. Aber das ist Gott, der Gott, der vom Gláubigen wie vom Atheisten gleichermaBen vorausgesetzt wird. Wir wissen es nur durch die ins Gebilde verwandelnde ontologische Funktion der Kunst. - Verwandlung hat aber hier noch weitere Bedeutungen: 3) Im religiósen Sprachgebrauch bedeutet sie bekanntlich die Erhóhung in einen hóheren Seinsbereich. Sie meint eine Epiphanie. Sie besagt, daB der Verwandelte (im Neuen Testament geht es um die Verklárung Christi, vgl. Mt 17,1) durch die an ihm geschehende Verwandlung zum ersten Mal sein wahres Sein offenbart, das aber auf sein früheres 'Wirken ein vóllig neues Licht wirft. In der Verwandlung versteht man auf einmal auch, was früher war. Das ist die ontologische Leistung der Kunst fiir Gadamer, der auf die religióse Bedeutung seiner Termini selten hinweist, auch wenn er sie wohl voraussetzt. Eine letzte Bedeutung der Verwandlung erscheint hier einschlágig: 4) In der Verwandlung werden auch die an ihr Teilhabenden mit verwandelt. Es ist nicht nur ein objektives Sein, das in der Kunst verwandelt erscheint. Wir sind es, die auf einmal mit neuen Augen sehen. Das verwandelte Sein, das uns die Kunst vor Augen fiihrt, ist zugleich das unsrige. Es ist das Sein unserer Welt, das sich in der Darstellung der Kunst verwandelt zeigt. Die Kunst verwandelt nicht nur das Sein, das sie zur Darstellung bringt, sondern auch die
als
veru¡ndelnde
Darstellung 65
tigkeit des Terminus an. Denn die Vermittlung meint hier zum einen die Inszenierung, die Auffiihrung und insofern ihre >Interpretation<, zum anderen aber auch die Aneignung oder die Interpretation, die der Zuschauer vollbringt. Man hat den Eindruck, da8 er damit die Kunst und ihre lnterpretation ineins verschmelzen láBt. Es macht aber nach Gadamer die Kunst aus, daB hier die Vermittlung in der Tar >total< ist, d. h., daB man nicht recht das Werk von seiner Interpretation unterscheiden kann. Dasselbe gilt auch von einer Interpretation oder einer Übersetz:rrgieine Interpretation von Platon ist dann gelungen,wenn sie sich als Deutung nicht bemerkbar macht, wenn man den Eindruck gewinnt, da8 der Gedanke von Platon angemessen wiedergegeben wird. Aber das erfordert eine sehr groBe Interpretationskunst. Es ist nicht abwegig, in dieser Konzeption der totalen Vermittlung einen gewissen Anklang an Bultmanns Auffassung des >Kerygmas( zu vernehmen. Die Grundlage der christlichen Botschaft ist nach Bultmann nicht so sehr die Geschichte von Jesu, die uns als solche unerreichbar ist, als vielmehr die Proklamation oder VerheiBung der Apostel selbst. Diese Pro-
klamation oder dieses kerygma bildet die erste und einzige Gegebenheit der christlichen Botschaft. Aber sie war bereirs selbst eine >Interpretation<. Die Botschaft als solche ist nur in einer vermittelnden Interpretation oder Darstellung zugáng-
lich. Die Wiederauferstehung Jesu erscheint da weniger wichtig als die Bedeutung, die sie fiir die an sie Glaubenden gewann (so daB Bultmann gelegentlich den Eindruck erweckt, daB die Auferstehung Jesu mit seiner Auferstehung im Glauben gleichzusetzen ist). Diese Bedeutung liegt nach Bultmanns protestantischer Theologie in der Anerkennung der Unmóglichkeit, sich selbst zu verstehen und zu rechtfertigen ohne die Gnade. Das ist >die Sache< des Glaubens, die aber nur in der Proklamation und ihrer Erneuerung erfahrbar ist. So erklárt sich auch Bultmanns spáteres Programm einer Entmythologisierung der christlichen Botschaft2s: selbsr die
von ihr Erreichten. Diese Verwandlung ins Gebilde versteht Gadamer auch als
>Vermittlung<, aber er spielt hier wiederum auf die Vieldeu-
28 Über diese Kohárenz des Denkweges von Bultmann, vgl. die auch ensonsten sehr lehrreichen Ausfiihrungen von'WoLftiart Pannenberg,
66
2. Die Wahrheir von der Kunsr her
erste VerheiBung enthielt mystische Elemente (wie z. B. die Idee eines Hinabstiegs in die Hólle oder einer Himmelfahrt),
die fiir uns nicht mehr verbindlich sind und die sich nicht mehr proklamieren lassen. Man kann also die Sache der ersten VerheiBung der Apostel obesser< proklamieren, obwohl es urn dieselbe >Sache< geht. Die theologische Tragweite dieser Einsicht ist fiir Gadamer natürlich weniger einschlágig als ihre hermeneutische: der Sinn der Kunst vollbringt sich nur in seiner Vermittlung oder Darstellung, die das Kunstwerk neu zum Sprechen bringt.Die
Interpretation oder Vermittlung (móge sie auf der Bühne oder beim Interpreten geschehen) láBt sich nicht vom Werk selbst unterscheiden.
Die'Wiedererkenntnis der mimesis Gadamers Insistieren auf der Wahrheitserfahrung der Kunst
und dem Seinszuwachs, den ihre Verwandlung zeitigt, muB auf weite Strecken auch an Heidegger erinnern. In seinen Vortrágen >Der ursprung des Kunstwerkes< von 1935-36 hatte Heidegger von einem Ins-Werk-Setzen der'Wahrheit in der Kunst gesprochen. Auch fiir ihn war die Kunst eine Seinserfahrung. Erstaunlicherweise bezieht sich aber Gadamer in Wahrheit und Methode nicht direkt auf Heideggers wichtige Analyse. Das verwundert um so mehr, als er 1959 auf Heideggers Anraten hin ein wichtiges Nachwort zur Reclam-Ausgabe von Der lJrsprung des Kunstwerkes schrieb.2e Es ist deshalb lohnend, trotz des gemeinsamen >ontologischenn Vokabulars auf die stillschweigenden Llnterschiede zwischen der Gadamerschen und der Heideggerschen Kunstauffassung hinzuweisen. Es fdllt zunáchst auf, daB Gadamer vor der anspruchsvollen Seinsspekulation Heideggers und der Idee einer metaphysiProblengeuhichte der neueren evangelischenTheologie ín Deutschland,Górtingen, Vandenhoeck & Ruprech t/ UTB, 1996, 208.
2e
let tinGW3,249-261.
DieViedererkenntnisdern¡imesis 67 schen Seinsvergessenheit, die das Abendland gekennzeichnet haben sollen, zurückscheut. Er insistiert lieber auf der Seinserinnerung, wie sie nicht zLlletzt in der Kunst geschieht. Un_ ter Sein versreht Gadamer allgemein - und viel schlichter als Heidegger - dasjenige, was das Denken der Subjektivitát übersteigt (vgl. WM, 105): Die Kunsr isr eine Erinnerung an dieses Sein und damit an die Grenze der Sublektivitát. Aber auch der W'ahrheitsbegriffist in Gadarners Kunstdenken etwas anders besetzt. Er versteht die Wahrheit weniger als
ontologisches Ineinanderspiel
von lJnverborgenheii und
Verbergung, von'W'elt und Erde, sondern als einé Erkenntnis, ja eine'Wiedererkenntnis. Die uns durch das Kunstwerk zuteil werdende Erfahrung hat den Charakter einer Anamnese. Sie bringt uns dazu, die Welt, in der wir leben, wiederzuerkennen, aber so, als ob wir sie zum ersten Mal erkennen würden. Im alltáglichen Leben sind wir zu sehr von unserem Treiben und unseren kleinen Sorgen in Anspruch genommen, um die Welt als solche wahrzunehmen. Die Kunst holt uns aus unse_ rer'W'eltvergessenheit heraus und óffnet uns die Augen fiir das, was ist. Gadamer zógert nicht, hier von einer >'Wesenserkenntniy. zu sprechen (V/M, 120).Es ist sozusagen die wahre Wirklichkeit der'W'elt, die aus dem Kunstweik sprechend herauskommt. Die Kunst macht uns sehender. Die natürlich_
ste Reaktion auf die Offenbarung, die
im Kunstwerk
ge_
schieht, wird Gadamer in seinen letzten Arbeiten zur Ásthe"tik
mit den schlichten-Worten Goethes ausdrücken: >so wahr, so seiendo3O.
Vor dem gelungenen Kunstwerk kann man nur sa-
gen: )so ist es(, >es kommr heraus< (GW 8, 389). Wahrheít und Methode sprach hier in einem sicherlich allzu quantitativen Sinne von einem >seinszuwachs<: die von van Gogh gemalten
Schuhe haben
Sein als die
der Báuerin oáeides Ma_ 'rmehr< lers, sie sind mehr als ihre Kopie, weil sie ihre Essenz wieder_ geben. Diese kognitive oder rekognitive Tragweite der Kunst wird Gadamer zu einer Rehabilitierung der seir langem hinfállig 30 VgI. oW'ort und Bild
399.
*
>so
wahr, so seiend<, (lggZ),GW g,373_
68
2.
gewordenen, auf Platon zurückgehenden Auffassung der Kunst als Nachahmung (mímesk oder imitatío) fiihren. Denn die künstlerische Nachahmung der Wirklichkeit ist nie bloB ihre Verdoppelung oder ihr unvollkommenes Abbild, sondern das, *it r'rt t dieses Sein allererst zu erkennen erlaubt. Die rnimesis bildet insofern weniger eine blinde Nachahmung als einen ErkenntnisprozeB. Man muB dabei in det mimesís das Moment von anamnesís rnithóren, wie es die Erymologie auch nahelegt: die'Welt wird so sehr im Element der ontologischen Vergessenheit erlebt, daB es die anamnetische Funktion der Kunst auszeichnet, die Welt fiir sich selbst wiederzuentdekken. Die verloren gegangene Evidenz dieser Mimesis-Idee lag nach Gadamer an der Erkenntnisfunktion der Kunst, die bis zur Heraufkunft des ásthetischen BewuBtseins allgemein anerkannt gewesen sei.Dieses BewuBtsein konnte natürlich von dieser Idee keinen Gebrauch mehr machen, weil die Kunst ja von der'W'elt abgetrennt sein sollte: >Nachahmung hat also als
Darstellung eine ausgezeichnete Erkenntnisfunktion. Der
Begriffder Nachahmung konnte aus diesem Grunde in der Kunsttheorie solange ausreichen, wie die Erkenntnisbedeutung der Kunst unbestritten war. Das aber gilt solange, als es feststeht, daB Erkenntnis des'W'ahren Erkenntnis des Wesens ist, denn solcher Erkenntnis dient die Kunst auf eine überzeugende Weise. Für den Nominalismus der modernen'Wissenschaft dagegen und seinen'Wirklichkeitsbegriff, aus dem Kant fiir die Ásthetik die agnostizistischen Konsequenzen gezogen hat, hat der Begriff der Mimesis seine ásthetische Verbindlichkeit eingebüBt.< ('WM, 120f.) Die in Verruf geratene Mi-
vefigt
über keinen Platz in der Kunst, weil die Kunst selbst die'Welt nicht mehr onachahmen<, sondern rein schópferisch sein will. Diese Schópfung will weniger ein sehenmachender Spiegel der'Wirklichkeit sein als der ErguB einer kreativen Subjektivitát, die die ásthetische Erfahrung >nacherleben< will. Das ásthetische BewuBtsein stellt damit die Kunsterfahrung in eine nach Gadamer künstliche Diskontinuitát zur'Welt und zum Rest unserer Erfahrung. Kommt es nicht bei der Kunst vielmehr auf die Betonung und die Vertiefung der Kontinuitát unserer Existenz an? Diese Begeg-
mesis
Die festliche Zeitbchkeit
Die lVahrheit von der Kunst her
des
Kunstwerkes 69
nung der Existenz mit sich selbst macht den spezifisch zeitlichen Charakter des Asthetischen aus.
Die festliche Zeitlichkeit
des Kunstwerkes
Nach Gadamer liegt das'Wesen der Kunst in ihrer Darstellung. Kunst gibt es nur, solange sie >begangen< wird. Ihr eignet damit eine gewisse Zeitlichkeit, die Gadamer zunáchsr anhand der Erfahrung des Festes verdeudicht.3l Ein Fesr gibr es ja nur, solange es >begangenu wird. Ein Fest erscheint zu einer gegebenenZeit,die als festlich gilt, und die alle an ihm Teilnehmenden zu einer feierlichen Stimmung erhebt und damit verwandelt. Am Fest zeigt sich somit, da8 die zu ihm Gehórenden in ein Spiel eingefiigt sind, das über ihr subjektives Belieben, Tün und Meinen hinausragt. Ein Fest - wie jedes Kunstwerk,ja wie jedes Verstehen - hat sein Dasein in der 'Weile
und der Gemeinschaft, durch die es begangen wird. Auch wenn die meisten Feste auf ein Stiftungsereignis oder -datum zurückgehen, existieren sie nur in dem jeweiligen Vollzug ihres Begangenwerdens. Nehmen wir etwa das'W'eihnachtsfest als Beispiel. Es weist natürlich auf ein Stiftungsereignis zurück, aber das'W'eihnachtsGst, das gefeiert und be-
gangen wird, ist nicht einfach die Repetition eines Geschehens, das vor 2000 Jahren stattfand, es meint die Gegenwart: das Fest, das sich dieses Jahr ereignet und dessen Gegenwart uns feierlich be-stimmt (oder nicht, aber dann spricht man
nicht von einem Fest, sondern von einem pflichtgemáBen Besuch bei den Schwiegereltern). Diese einstimmende Gegenwert des Festes ist nach Gadamer die Gegenwart einerjeden Kunsterfahrung,ja eines jeden Versrehens. Das Fest voll-
zieht sich nur vermittels dieser >Darstellung<, in dieser zeitli'wM, 128f. Die Überlegungen über die Festlichkeit der Kunst wurden ausgeweitet in HGG, Díe Aktualitüt des Schüren, Srutgart, Rec\arn,7977 ,52{f . (etzt in GW 8, 130ft.). Vgl. dazu meine Srudie >Spiel, Fest, Ritual bei Gadamer. Zum Motiv des unvordenklichen in seinem Spárwerk<, in Homo Ludens 8 (1998), 43-52. 31
70
2.
Die Wahrheit von der Kunsr he¡
chen Begehung. In ihm )verschmelzen< námlich die Horizonte der Gegenwart und der Vergangenheit: In der Wiederkehr des Festes liegt ein Moment der Wiederholung der Vergangenheit, aber ebensosehr liegt in der Wiederholung etn unabdingbarer Gegenwartsbezug. Jedes Fest stellt damit eine Gegenwart sui generis dar. Kein Fest ist wie ein anderes, auch und gerade dann, wenn immer wieder dieselben Feste wiederkehren. Die vom Fest her verstandene Zeitlichkeit der Kunst charakterisiert sich somit durch ihre >Gleichzeitigkeit<. Gadamer schlieBt sich damit an einen Begriff an, der eine wichtige Rolle bei Kierkegaard spielte. Die Gleichzeitigkeit meinte bei ihm die Dringlichkeit der christlichen Botschaft, die an jeden ergeht. In ihr geht es nicht um eine Geschichte, die sich vor 2000 Jahren abgespielt hat und die man mit der gebotenen Distanz zu verstehen habe, sondern um einen Appell, dem sich keiner entziehen kann. Jeder fiihlt sich von ihm angesprochen und zur Entscheidung aufgerufen. Vor Gadamer
war dieses Motiv in der dialektischen Theologie von Karl Barth und Rudolf Bultmann erneuert worden. Sie bezogen sich auf diese >Gleichzeitigkeit<, um den Historismus der liberalen Theologie in seine Schranken zu weisen. Es warja der
Anspruch dieser aus der Hermeneutik des l9.Jahrhunderts hervorgegangenen Theologie, die biblischen Berichte aus ihrem geschichtlichen Kontext her zu verstehen, um somit eine kritische, objektive, weil objektivierende, Distanz ihnen gegenüber zu ermóglichen. Bestenfalls konnte man ihnen eine moralische Bedeutung abgewinnen, so als ob es darum ginge, die Heilige Schrift durch Kants Religíon innerhalb der Crenzen iler blossen Vernunft zu lesen. Nach Barth verkennt die liberale Theologie, daB es in ihr um Cottes Wort geht, das an mich heute gerichtet ist. Weniger >theozentrisch< als Barth, behauptet Bultmann, daB es dabei um die lJnruhe meiner eigenen Existenz gehe. In seinem berühmten Aufsatz von1.925, >Welchen Sinn hat es,von Gott zu reden?o,32 antwortet er der 32 Wieder aufgenommen in Glauben untlWrstehen,Band I,Tübingen, Mohr Siebeck, 1933, 8. AufL 1980, 26-37 .
Die festliche Zeitlichkeir
des
Kunsrwerkcs 71
Sache nach so, daB das Reden von Gort ein Reden über clie eigene Fraglichkeit meiner Existenz ist, die vor eine Entschei_
dung gestellt ist. Die bequeme Selbstsicherheit der liberalen, historischen Theologie wird damit aus den Angeln gehoben. Wiederhergestellt wird die Gleichzeitigkeit eines Appells, der sich nicht historisch relarivieren láBt, weil niemaná vor ihm indifferent verharren kann. Gadamer war nicht unberührt von diesen Debatten, auch wenn ihm die theologischen Konsequenzen fernlagen.33 Er gewann daraus die Einsicht, daB das >Verstehen auf Abstand< etwas'Wesentliches am Verstehen übersiehr. Die Obj ektivitát ist nicht immer mit der Distanz des Beobachters veibunden, wie es das narurwissenschaftliche Modell nahelegt. Es gibt auch die Obj ektivitát des Angesprochenwerdens. Eine Auisa_ ge, eine Bemerkung, ein Gedicht kann mir die Augen óffnen, d. h. die Sachen sehen lassen,wie sie sind, auch wenn ich viel_ leicht der eínzige bin, der sie dann sieht. So kann ich z. B. die Not von jemandem verstehen, aber nicht weil ich auf distan_ zierte 'W'eise verstehe, sondern weil ich von einem Anspruch
erreicht werde. Auch hier gibt
es
Objektivitát, aber
es
isinicht
die der Wissenschaft.3a Nach Gadamer ist es die Kunst, die uns fiir die'Wiederge_ winnung einer solchen Wahrheit sensibilisieren kann. Ku-nst gibt es nur, wenn sie begangen oder vollzogen wird. Das
Kunstwerk spricht mich an und fordert mich auf. Seine Auf: forderung láBt sich nach Gadamer mir folgendem Vers von Rilke beschreiben, den er oft anfiihrt (desen'W'orte aber be_
33
_ _Gadamers wichtigste Beitráge zu diesen Marburger Debatten sind: >Zur Problematik des Selbswe¡stándnisses. Ein hermeñeutischer Beitrag zur Frage der Entmythologisierung< (1961), GW 2,127_132; >Die Konl tinuitát der Geschichte und der Augenblick der Existe nz< (1965),GW 2, Heidegger und die Marburger Theoiogien (1964),
[1:\f::Yytin
GW 3,197-208.
3a Zu dieser hermeneutischen Wahrheit, vgl. die einleitenden Be_ merkungen zu meiner Studie >Zur hermeneutischen Wahrheit. Heideg_ ger und Augustinus<, in E. Richter (Hrsg.), Díe Frage nach derWahrhát, Frankfurt a. M., Vittorio Klosrermann, 1997,161-1,13.
72
2.
Die \x/ahrheit von der Kunst her
Die exernplarische Bedeutung
derTragódie 73
reits die'Worte des Kommandeurs in Don Giovantti waren): >Du muBt dein Leben ándern.<35
Das eigentliche Schwergewicht des tragischen Phánomens liegt am Ende in dem, was sich da darstellt und erkannt wird
Die exemplarische Bedeutung der Tragódie
(WM, 137). Die Kontinuitát des Lebens wird in der gespielten Tragódie nicht aufgehoben, sondern vielmehr zugespitzt. Ist diese Erfahrung wirklich nur ásthetisch?
Man kónnte darin freilich eine etwas zu
)pathetische( Kunstauffassung sehen. Es ist auch offenkundig, da8 sie sich sakraler Termini und Muster bedient (Fest, Emanation, Verwandlung, GleichzeitigkeiQ, die nicht ohne weiteres fiir jede Kunsterfahrung verbindlich erscheinen. Im Lichte des Substanz- und Realitátsverlustes des ásthetischen BewuBtseins erscheint es aber Gadamer sehr wichtig, etwas von der >sakralenu Bedeutung der Kunst zurückzugewinnen. Gegen eine Kunstauffassung, die allein die spielerische Irrealitát des schónen Scheines hervorkehrt, scheut er nicht davor zurück, den
existentiell zu nennenden Appell, der vom Kunstwerk ausgeht, in den Vordergrund zu rücken. So ist es kein Zufall, wenn er in der Tragódie das hervorragendste Beispiel dieser Gleichzeitigkeit erfa8t. Die Tragódie bildet ja nicht nur eine ásthetische Kunstform, sie ist auch ein metaphysisch-moralisches Phánomen. Dies hat Kunsttheoretiker wie Max Scheler und Richard Flamann, die fiir Gadamer wertvolle Lehrer gewesen sind, dazu gefiihrt, die Tragódie aus dem Reich des rein Ásthetischen herauszuhalten ('WM, 134). Es ist aber die hier waltende >ásthetische Nichtunterscheidung<, die Gadamer im Gegentetl dazu bringt, der Tragódie eine beispielhafte Funktion zuzusprechen. Es ist ja unverkennbar, daB die gespielte Tragódie einen auf die Tragódie des eigenen Lebens zurückfiihrt. Die Gleichzeitigkeit ist hier total, weil keine ásthetische Unterscheidung diese Kontinuitát des Lebens aufzuheben vermag: >Der Zuschauer verhált sich nicht in der Distanz des ásthetischen BewuBtseins, das die Kunst der Darstelluirg genieBt, sondern in der Kommunion des Dabeiseins. 35 Es sind dies die letzten Worte des programmatischen Aufsatzes von 1964,rÁsthetik und Hermeneutik<,mit dem die Asthetik von Kunsl. als Aussage
(GW 8, 8) ansetzt.
und woran teilzuhaben offenbar nicht beliebig ist.<
Einen wichtigen Beleg fiir die Kurzsichtigkeit des ásthetischen BewuBtseins erkennt Gadamer in der berühmten Cha-
rakterisierung der Tragódie, die die aristotelische Poetikbietet: die Tragódie vollzieht eine Reinigung (katharsis) der Leidenschaften von eleos und phobos, von Jammer und Bangigkeit. Diese Definition hat bekanntlich zwei Lesarten hervorgebracht, je nachdem, wie man den Genetiv liest: handelt es sich um eine Reinigung im Sinne einer Loslósung von den Leidenschaften von Jammer und Bangigkeit (genetivus objectivus) oder um eine Láuterung der Leidenschaften selbst (genetivus subj ectivus) , die daduch reiner hervortreten? Auch
wenn Gadamer den subjektiven Genetiv vorzieht, ist die Frage des Genetivs fiir seine Analyse nicht entscheidend. Ausschlaggebend ist fiir ihn vielmehr der lJmstand, daB die Wir-Wesensbestimmung kung auf den Zuschauer zur der Tragódie gehórt. Der Zuschauer erfihrt in ihr eine Láuterung seiner Affekte, wie auch immer man diese katharsis zu verstehen hat. Die Selbstbegegnung ist nach Gadamer fiir jede Kunstform konstitutiv. Die Tragódie fiihrt sie nur dramatischer, aber um so exemplarischer vor. Die Tiagódie ist in mehrfacher Hinsicht fiir Gadamer paradigmatisch. Es geht aus ihr deutlich hervor, 1. daB die Tiagódie ihr Sein in der Darstellung oder in der Auffiihrung hat, 2. daB sie den Zuschauer in ihr Spiel,ja, fiir die Griechen, in ihr Fest miteinbezieht, und 3. daB sich die gespielte Tiagódie vom tragischen Charakter des Lebens nicht abtrennen láBt. Wir werden spáter sehen, daB das Tragische nicht nur Gadamers Kunstverstándnis, sondern darüber hinaus seinen Verstehensbegriff entscheidend bestimmt: die hermeneLltische Erfahrung schlechthin wird aus der tragischen Erfahrung heraus als Widerfahrnis und Leiden - nach dempathei mathos von Aischylos (vgl.WM, 362) - verstanden werden.
7
4
2.
Die Darstellung in den nichttransitorischen
Die Wahrheit von der Kunst her
Man kónnte sich hier aber fragen, ob Gadamers Modeli nicht zu gut gewáhlt ist. Gilt es fiirjede Kunst? Von der Tragódie des Lebens zur aufgefiihrten Tragódie scheint der Schritt hier etwas au8ergewóhnlich. Ferner hat es etwas zu Selbstverstándliches, von Darstellung bei den darstellenden oder transitorischen Künsten (Theater, Musik, Tanz, Oper) zu reden. 'Wie steht es aber mit den nichttransitorischen Künsten, wie der Malerei, der Literatur oder der Architektur? Hat es Sinn, auch dort von Darstellung, Fest und Verwandlung zu sprechen?
Die Darstellung in den nichttransitorischen Künsten Es ist nicht sicher, da[J Wahrheít und Methode eine
Antwort auf
all diese Fragen parat hált. Seine Poetik hat Gadamer eigentlich erst nach 1960 entwickelt (GW Bd' 8 und 9), wo man sehen kann, daB die Dichtung und die Literatur fiir ihn die exenrplarischen Künste sind. Das Ziel von Wahrheit und Methode war nicht, eine integrative Theorie der Künste zu bieten. Es ging bescheidener um die >Freilegung derWahtheítsfrage an der Erfahrung der Kunst< (so der Titel des Ersten Teiles des Buches), deren Tragweite den Bereich der Kunst überschreitet und die fiir eine allgemeinere F{ermeneutik der Geistes-
wissenschaften und des sprachlichen Verstehens überhaupt fruchtbar gemacht werden kann. Gadamers Hauptthese ist hier, daB die Kunst ein Spiel darstellt, dessen Sein in der verwandelnden Darstellung besteht, die dem Dargestellten einen Seinszuwachs zufiigt. Dieser Seinszuwachs bedeutet, daB das so verwandelte Sein in seiner Wahrheit erkannt wird. Diese erkannte'W'ahrheit wird fiir den Zuschauer zur Selbstbegeg-
nung
lJnter diesen lJmstánden leuchtet
es ein, daB Wahrheit und
Methode den transitorischen Künsten und insbesondere der
Tragódie, wo diese Selbstbegegnung eine nahezu chronische
Dimension aufweist, den methodologischen Primat zuerkennen mu8te (WM, 142). Aber diese Seinsdarstellung láBt sich
Kiinsten 75
in den plastischen oder bildenden Künsten wiedererkennen. Bei dem Bild scheint es zwar keine unabhángige Darstellung zu geben. Es scheint ein rein autonomes Gebilde zu sein, das allein auf sich selbst verweist und eine spezifisch ásthetische Erfahrung verlangt. Angesichts der Autonomie des Bildes scheint die bei den transitorischen Künsten als konstitutiv zu veranschlagende >Darstellungo auBer Spiel gesetzt ztt werden. Dennoch hat Gadamers Bild-Analyse vielleicht am stárksten hervortreten lassen, was er unter Darstellung versteht. Denn die Darstellung, die hier im Spiele ist, vollzieht sich sowohl abwárts vom als auch aufwárts zum Bild: bildabwárts, insofern es sich um die Darstellung uon jernandem oder etwas handelt (es ist kein Zufall,wenn Gadamer hier das Portrát priviiegiert), bildaufwárts, sofern die Darstellungfür einen Zuschauer da ist, fiir den das Dargestellte an Sein gewinnt. Weit davon entfernt, eine autonome Realitát zu bilden, verweist das Bild auf ein Modell oder ein Abgebildetes, das dadurch eine >Seinsvalenz< erlangt. Der Seinszuwachs ist hier aber so einschlágig, daB das so dargestellte Sein allein durch das Bild wirklich wird (man denke an die Schuhe von van Gogh oder an das Portrát, das uns das wahre'W'esen einer Person nahebringt) . Gadamers These ist hier sogar noch provokanter:'Was im Bild zur Darstellung gelangt, ist nicht nur ein beliebiges Sein, sondern ein Sein, das von Hause aus eine darstellende Funktion ausübt und dessen Sein das Bild deshalb genau trifft, weil es diese Darstellung so gut darstellt: ))Das láBt sich an dem besonderen Fali des Reprásentationsbildes leicht aufweisen. Wie sich der Flerrscher, der Staatsmann, der Held zeigt und .Was darstellt, das wird im Bilde zur Darstellung gebracht. heiBt das? Doch nicht dies, daB durch das Bild der Dargestellte eine neue eigentlichere Erscheinungsweise gewinnt. Vielmehr ist es umgekehrt. Weíl der Herrscher, der Staatsmann, der Held sich zeigen und den Seinen darstellen mu8, weil er reprásentieren muB, gewinnt das Bild seine eigene Wirklichkeit.< (WM, 147) Nach Gadamers auf den ersten Blick komisch anmutender Konzeption lebt das Reprásentationsbild gleichsarn von der reprásentativen Funktion des Dargestellauch
76
2.
Die Wahrheit von der Kunst her
ten: der Kónig, der Held, ein Ereignis der Heilsgeschichte (eine Madonna, eine Kreuzigung), eine Schlacht wollen reprásentiert, dargestellt und ins Gedáchtnis zurückgerufen werden. Aber nur das Bild erreicht dieses Sein. Es erhebt sich aber die Frage, wie es um die >banaleren< Realitáten wie etwa die der Schuhe van Goghs oder ein Stil-Welche Reprásentationsfunktion soll denn leben bestellt ist. hier reprásentiert werden? Man kónnte sagen, da8 die darstellende Funktion hier per Kompensation am Werke ist: weil diese Realitáten im alltáglichen Treiben unserer Lebenswirklichkeit weitgehend unbeachtet und damit untervertreten sind, ist es allein das Bild, das ihnen ihre ontologische Dignitát, ihre Seinsvalenz zurückgibt. Dasselbe lieBe sich vielleicht auch von den Farben und Formen sagen, die uns in der nichtfigurativen Kunst begegnen. Allein die Kunst erlaubt es uns, sie als sie selbst wahrzunehmen und ins Sein zu heben. Die Darstellung hat damit etwas Konstitutives fiir die bildende Kunst. Das Bild bleibt an die Welt gebunden, die sich in ihm zur Darstellung bringt. Das Portrát ist hier exemplarisch fiir Gadamer, weil es auf ein Modell zurückverweist, auch wenn es - als Bild - die ganze Aufmerksamkeit auf sich konzentriert, denn erst im Bild wird uns das Wesen des Dargestellten anschaulich. Das Bild bleibt aber auch an die Situation oder die Okkasion gebunden, die es hervorgebracht hat. Diese Okkasionalitát áuBert sich etwa in Widmungen und Inschriften, aber auch in den Gegenwartsanspielungen in einer Komódie: >Okkasionalitát besagt, daB die Bedeutung sich aus der Gelegenheit, in der sie gemeint wird, inhaltlich fortbestimmt, so daB sie mehr enthált als ohne diese Gelegenheit.<
(WM, 149) Auch dank seiner Okkasionalitát fiigt sich das Kunstwerk in einen Lebenshorizont ein. Es ist freilich nicht zu verleugnen, daB sich Gadamer auf ein fiir ihn gefihrliches Terrai.n begibt, wenn er diese Okkasionalitát der Kunst hervorhebt. Seine Kritik an der Autonomie
des ásthetischen
BewuBtseins im Namen der Okkasiona-
litát kónnte in der Tat dem MiBverstándni.s Vorschub leisten, daB er stattdessen eine Lanze brechen móchte fiirr den Historismus oder die historisierende Deutung der Kunstwerke, die
Die Darstellung in den rúchttransitorischen
Künsten 77
sie aus ihrem Entstehungszusammenhang heraus versteht. Das
hie8e von einem Gegenteil in das andere fallen. Gadamer móchte den Asthetizismus und den Historismus in der Kunst gleichermaBen vermeiden. Es geht ihm darum, das eine ge¡4en das andere auszuspielen: V/áhrend das ásthetische BewuBtsein vergi8t, daB Kunstwerke in der Kontinuitát eines Lebenszusammenhanges verwurzelt bleiben, vergiBt der Historismus,da8 es sich sm Kunstwerke handelt.Ein Kunstwerk liillt sich nie aus seinem historischen Zusammenhang heraus restlos >erkláren<. Deshalb spricht Gadamer lediglich von einer >allgemeinen Okkasionalitát< (WM, 153), die dem Kunstwerk als solchem zugehórt. Es ist aber nicht nótig, alle historischen Bezüge zu kennen, um ein Kunstwerk zu verstehen.'Wer vermag je alle Anspielungen in einer antiken Kornódie nachzuvollziehen? Gadamer móchte dem Modell eines rein restaurativen oder rekonstruktiven Verstehens entgegenwirken, das er mit Schleiermacher und dessen Flermeneutik verbindet. Gadamer kommt es primár nicht auf die l{ekonstruktion des Vergangenen an, sondern aufden verstehenden Nachvollzug der Bildwirklichkeit selbst, der diese Okkasionalitát innewohnt. Die Okkasionalitát besagt hier lqdiglich, da8 >es im Sinnanspruch eines Werkes selber liegt, daB cs auf ein bestimmtes Urbild verweist< (WM, 151). Das bleibt auch dann wahr, wenn die historischen Bezüge unkenntlich sind. So ist uns m. W. das Urbild der Mona Lls¿ nicht mehr bekannt, aber es gehórt unzweifelhaft zum Sinnanspruch des Werkes, daB es auf ein solches verweist, wáhrend es zum Verweilen bei dem Bild einládt. Die Okkasionalitát ist also nicht historistisch zu verkürzen. Sie unterstreicht nur, daB ein Kunstwerk zu einerWelt gehórt,die sich imBild mit zurDarsteliung erhebt.
Die Okkasionalitát
'Werkes
ist aber auch die unserer Welt. Das Kunstwerk geht nicht nur aus einer bestimmten Konstellation hervor, es spricht auch eine gewisse Gegenwart ¿rn, die sich in ihm erkennt. Die Werke oder Theaterstücke, die man im 18. oder im l9.Jahrhundert am háufigsten auflührte, sind nicht unbedingt diejenigen, die man im 20.Jahrhundert am liebsten sieht. Ein Werk gewinnt (oder verliert) des
78
2.
Die Darstellung in den nichttransitorischen
Die Wahrheit von der Kunst her
an Bedeutung
in seiner Rezeptionsgeschichte, die
als solche
handelt
zur allgemeinen Okkasionalitát des'Werkes gehórt. sich dabei um die Okkasionalitát aufwárts des Bildes oder des Es
Stückes.
Fungierte die Kunst des Portráts als das beste Beispiel fiir die Daistellung abwárts des Bildes, weil das Dargestellte dadurch einen Seinszuwachs erfihrt, so werden die Architektur und die Skulptur die besten Beispiele fiir die Darstellung aufwárts des Werkes liefern. Die Plastik oder, offenkundiger noch, das Bauwerk ist offenbar eine Schópfung aus der Vergangenheit, die aber weiterhin in eine neue Gegenwart ragt' b.r B.n*.tk erlangt dadurch neue Funktionen und Aufgaben. Das ásthetische BewuBtsein neigt freilich dazu, diese funktionale oder nützliche Dimension der Architektur abzuwerten. Gadamer wird sie hingegen hervorheben, weil sie es erlaubt, sowohl das ásthetische als auch das historische Bewu8tsein fragwürdig erscheinen zu lassen. Eine rein ásthetische Betrachtungsweise wird námlich der praktischen Zwecksetzung der Architektur nie gerecht (daher die manchrrrzl zu bemerkende Versuchung, die Architektur aus dem Bereich der Ásthetik zu verbannen). Aber auch das historische BewuBtsein greiít hier zu kurz, weil das Bauwerk sich in einer neuen Gegenwart behaupten muB, die ihm eine neue Seinsvalenz verleiht, weil es mit den Erfordernissen der modernen Verkehrsmittel, den neuen Bauten und der Bauarbeit von Jahrhunderten zurechtkommen muB. Als der Bahnhof von Orsay in Paris z. B. unbrauchbar geworden waq stellte sich die Frage, ob man ihn niederreiBen solle' Statt dessen machte *".t drr".tt ein Museum fiir die Kunst des 19'Jahrhunderts (!), wo viele Meisterwerke des Impressionismus zur
Darstellung gelangten, die im Jeu-de-Paume-Museum zu
wenig Platz hatten. Ob die Verwandlung gelungen ist, ist eine
a.rdeie Frage. Das Beispiel der Architektu¡ fihrt aber plastisch vor Augen, daB das Nachvollziehen von Kunst eine wahre Vermittlung oder Verschmelzung von Vergangenheit und
Gegenwart darstellt. Der Sinnanspruch des'Werkes bleibt eine Aufgabe fiir unsere Gegenwart.Die Grenzstellung der Architektúr genieBt also eine bevorzugte Funktion in Wahrheit und
Künsten 79
Methode, die sie übrigens auch im Spátwerk behalten wird, weil sie den >Vollzugscharakter< der Kunst veranschaulicht,ja verráumlicht:'Wer ein Bauwerk >verstehen< will, muB es begehen und bewohnen.36 Die Integrationsaufgabe, die die Architektur fiir die Gegenwart stellt, erweist sich damit als paradigmatisch fiir die Kunst, aber auch ftir das Verstehen im all-
gemeinen. Wahrheit und Methode wird sich
fiir eine weitere, entlegene
Kunstform interessieren: fiir die Kunst
des
Dekorativen. Sie ist
als entlegen zu bezeichnen, weil das ásthetische BewuBtsein sie als wahre Kunst nicht anzuerkennen bereit ist. Sie scheint j a die sekundáre Funktion der Verzierung zu efillen, die man
nicht auf das gleiche Niveau wie die wahre schópferische Kunst stellen dürfe: >Der Begriffdes Dekorativen wird meist aus dem Gegensatz zum >eigentlichen Kunstwerk< und von dessen Ursprung in der genialen Eingebung aus gedacht. Man
argumentiert etwa so:'Was nur dekorativ ist, ist nicht Kunst des Genies, sondern Kunstgewerbe.< (WM, 164) Was bringt Gadamer dant, die dekorative Kunst in seiner Ontologie des
Kunstwerkes zu berücksichtigen? Er schátzt oflenkundig an ihr den >Seinsbezug<, der seinen Begriffdes Okkasionellen zu prázisieren hilft. Die Dekoration ist námlich nicht bloB ein Ornament, das zu einem bereits bestehenden Sein hinzukommt. Sie bringt dieses Sein selbst erst zum Vorschein. Wer in einen Raum tritt, weiB von der Dekoration her, woran er ist. Ebenso kann ein Schmuckstück den Charakter einer Person widerspiegeln. Es ist aber so, daB wir es nur dank dieses Schmuckstückes erfahren (etwa wenn eine schicke Dame einen Diamanten oder der Rocker eine Rasierklinge am Ohr trágt: in beiden Fállen erfdhrt man einiges vom Sein der Person). Das Dekorative ist hier nicht bloB ein Ornament, es ist eine Emanation des Seins, die sich aber nur in der Darstellung offenbart: >Alles, was Schmuck ist und schmückt, ist durch den Bezug auf das, was es schmückt, auf das, woran es ist, auf das, was sein Tráger ist, bestimmt. Es besitzt nicht einen ásthe36 Vgl. insb. HGG, rÜber das Lesen von Bauten und Bildern<
GW8,331-338.
(1
979),
80
2.
Die Ubergangsstellung der
l)ie wahrheit ron der Kunst her
Literatur
81
tischen Eigengehalt, der erst nachtráglich eine einschránkende Beziehung durch den Bezug auf seinen Tráger erhielte'o
stoBen, insofern es sich bei ihm um ein abgeschlossenes Gebilde zu handeln scheint. Gadamer wird hier vermutlich an
(wM,164) Es nag verwundern, daB sich eine Asthetik wie die Gadamersche fiir scheinbar so triviale Kunstformen wie die De-
clas
koration interessiert. Aber sie beweist auf sehr plastische'W'eise die Konzeption der Seinsdarstellung: Das Sein liegt hier tatsáchlich in der Darstellung und wird nur über sie erfahrbar' Viel verwunderlicher ist indes die sehr knapp ausfallende Darstellung der Literatur ín Wahrlrcit und Methode'
Die Übergangsstellung der Literatur Die Literatur ist tatsáchlich die ietzte Kunstform, die im Ersten Teil von Wahrheít und Methode abgehandelt wird.Im Lichte des Interesses, das Gadamer fiir das Fest, die Tragódie'
Bild, die Architektur und selbst fiir die dekorative Kunst
das
an
den Tag legt, nirnmt sich die Thematisierung des literarischen Kunstwerkes 1960 áuBerst bescheiden aus: knappe vier Seiten! Angesichts des gesamten Werkes von Gadamer und der
zahlreichen Inspirationen handelt es sich um eine gewaltige Ungerechtigkeit. Deshalb sind die Ergánzungen der spáteren Ásthetik in den Bánden 8 und 9 der Gesammelten'Werke hier sehr geboten. Ein wichtiger Text wie >Text und InterpretationultgSt) aus dem 2. Band (GW 2,330-360) ist auch dazu zu rechnen. Die spáte Ásthetik ist námlich ñst ausschlieBlich der Literatur und Dichtung gewidn-ret. Wie erklárt sich also die etwas ármliche Behandiung der Literatur io Wahrheit und Methode?37
Zum einen wollte sich Gadamer dort damit bescheiden, an der Literatur seine grundlegende These über die darsteliende Seinsweise der Kunst auszuweisen. Diese Einsicht konnte námlich auf einen Widerspruch im literarischen Kunstwerk
klassische'Werk von Roman Ingarden über Das literarische Kunstwerk (1931) denken, das sich betont als eine Ontologie cler Literatur verstand. 1960 will Gadamer also noch gegen
eine Auffassung des literarischen Kunstwerkes anrennen, demgegenüber >es anscheinend überhaupt keine Darstellung niehr [gibt], die eine eigene Seinsvalenz beanspruchen kónnte< (WM, 165). Worin besteht die Darstellung bei der Literatur? Gadamer erblickt sie im Vollzug des Lesens. Auch wenn die Aufnahme der Literatur >ein HóchstmaB an Entbundenheit und Beweglichkeit< zeigt, stellt sie doch ein >Geschehenu dar, >in welchem sich der gelesene Inhalt zur Darstellung bringt< (WM, 166). Die Literatur aktualisiert sich nur in der Akzentuierung, der Betonung und der verstehenden Aufnahme des Lesers. Von der heutigen'Warte aus hat man aber den Eindruck, daB Gadamer hier offene Türen einrennt. Seine Hervorhebung der rezeptiven Aufnahme des Lesens hat sich in der Literaturwissenschaft inzwischen weitgehend durchgesetzt. Ihr wurde nicht zuletzt in der Konstanzer Schule eine enorme Resonanz beschieden. Ihre von Hans Robert JauB und Wolfgang Iser vertretene >Rezeptionsásthetik< hat beide Seiten der literarischen Darstellung verfolgt: ebensosehr ihre Verwurzelung in einem okkasionellen Kontext, den JauB besonders betont,wie ihre Aktualisierung im Akt des Lesens,fiir den sich Iser interessiert.3s'Wie wir gesehen haben, hat Gadalner diesem Begriff des Lesens eine universale Tragweite in seiner spáteren Ásthetik verliehen, als er den Vollzug eines jeden Kunstwerkes als ein >Lesen< verstand. Selbst das Bild und das Bauwerk wollen in diesem Sinne gelesen werden. 38 Vgl H. R. JauB, Literaturgeschichte als Prouokatior, Frankfurt a. M., 1 97 0; Ásthetixhe Erfahnmg und literarische Henneneutik,Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1982;W.lser, Der Akt tles LesensTheorie iisthetischer W ír k u ng, München, UTB, 1 9 7 6, 2. Au{.l. 98 4. Für die vi elfáltigen Beziehungen zwischen der Gadamerschen Hermeneutik und der Literaturtheorie, vg1.J. Weinsheimer, ilerneneutics antl LiteraryTheory,l{ew Haven, Yale Universiry Press, 1991, der die amerikanische reader-responseSuhrkamp,
1.
37 Sie wird auch
in der 5
Ar-rflage, die 1986 als Band 1 der
GW er-
schren, von einem neuen selbstkritrschen Absatz (WM, 165) begleitet, dessen Gedankengang der Text rZrvischen Phánornenologie und Dia-
lektik. Versuch einer Selbstkritik" (GW 2' 3-23) fortsetzt'
rheory berücksichtigt.
82
2. Die
Hermeneutische Konsequenzen aus der Wahrheit der
wahrheit von der Kunst her
Man muB zudem in Betracht ziehen, daB die Behandlung der Literatur einen weiteren Zweck im Argumentationsgang von Wahrheit und Methode verfolgt. An der Grenze zwischen der Asthetik des Ersten und der Hermeneutik des Zweiten Teiles ist sie auch dazu berufen, den Übergang von einer Problematik in die andere ins Werk zu setzen. Die damalige Intuition von Gadamer war relativ einfach: Sollte es stimmen, da8 erst der Akt des Lesens die darstellende Verwandlung des toten Buchstabens in einen nachvolLziehbaren Sinn ieistet, so fragt es sich, ob diese darstellende Funktion nicht auch fiir das Verstehen allerTexte gilt: >Voliendet sich der Sinn aller Texte erst mit ihrer Aufnahme im Verstehenden? Gehórt, anders gesprochen, das Verstehen zum Sinngeschehen eines Textes ebenso dazu wie das Zu-Gehór-Bringen zur Musik?< ('WM, 169) Die darstellende und mitspielende Implikation des Verstehenden lieBe sich dadurch in einer Hermeneutik der Geisteswissenschaften positiv
zur Geltung bringen. Sie kónnte
dort dazu beitragen, das positivistische Modell einer vom Standort des Erkennenden vóllig losgelósten Erkenntnis ad absurdum zu fi.ihren. unter dem Gewicht dieser (an sich wichtigen) Argumentationsstrategie fillt freilich die Berücksichtigung der Literatur 1960 áu8erst karg aus. Sie hatte auch die paradoxe Konsequenz, den Unterschied zwischen dem literarischen Text und jeder anderen Form von Schriftlichkeit einzuebnen.3e Der Unterschied wurde wohlgemerkt in diesem Zusammenhang aus einsichtsvollen Gründen verwischt: einerseits wollte Gadamer geltend machen, da8 die Verstehenserwartung einem literarischen Text gegenüber keine rein ásthetische, sondern eine sachliche ist, wie jeder anderen Art von Text gegenüber (WM, 168); andererseits ging es ihm um die bei beiden Arten von Texten gerrreinsame Aufgabe der entziffernden Verwandlung von (toter) Schriftlichkeit in verstehbaren Sinn, die sich fiir alle Geisteswissenschaften als maBgebend erweisen 3e Vgl.'W'M, 168: olnsofern ist der Unterschied zwischen einem
lite-
ra¡ischen Kunstwerk und irgendeinem anderen literarischen Text kein so grundsátzlicher.<
Kunst 83
kónnte. Es zeigte sich somit an der Literatur, daB hier >Kunst tund'Wissenschaft ineinander übergehen< (WM, 168). Diese Einsicht wurde 1960 freilich um den Preis einer erstaunlichen
Nivellierung der Distinktion zwischen dem literarischen Kunstwerk und der übrigen Masse von Schriftlichkeit erkauft. Das war erstaunlich, weil sich die spáteren Beitráge Gadarners zur Literatur ausgerechnet fiir diese Disktinktion des
literarischen Kunstwerkes interessieren werden. Dieser Distinktion zuliebe entwickelt der spáte Gadamer seine in WahrIteit und Methode abwesende Lehre vom >eminenten Text<, der zufolge das dichterische Kunstwerk dazu einládt, beim Wort selbst zu verweilen.40 Man tut also gut daran, die Ergánzungen der spáteren Ásthetik hier zu Rate zu ziehen, die eine eigene Darsteliung verlangen würden. Die StoBrichtung von Wahrheit und Methode ging ollenbar in eine andere Richtung. Es ging da nicht um die Ausarbeitung einer eigenstándigen Asthetik oder Poetik, sondern hauptsáchlich darum, an der Erfahrung der Kunst die'W'ahrheitsfrage fiir die Geisteswissenschaften, aber auch fiir die Philosophie freizulegen. Was haben wir gelernt und tatsáchlich freigelegt?
Hermeneutische Konsequenzen aus der der Kunst
'W'ahrheit
Von hermeneutischen Konsequenzen muB man sprechen, weil Gadamer von der hermeneutischen Frage nach dem
richtigen Verstándnis der Geisteswissenschaften und ihres Wahrheitsanspruches ausgeg¿ngen ist. Es ist ofTenkundig genug, daB der Methodenbegriff hier ziernlich unangemessen bleibt, weil er zu sehr auf die Erkenntnisweise der Naturwissenschaften zugeschnitten ist. Daher die Verfiihrung der Geisteswissenschaften, sich statt dessen nach dem Modell der Ásthetik zu bestimmen.Aber nach welcher Asthetik? Wie es die a(r +\'
¿urrr enrnenten Text, vg1. die Ausfiihrungen in uText und Interpretation<, GW2, 348ff.,475fe sowie >Der reminente< Text und seine
Wahrheit< (1986),
GIg 8,286-295
u. ó.
84
2.
Die wahrheit von der Kunst her
Hermeneutische Konsequenzen ¡us
c{er
Wahrheit der
Kunst
85
'W'ahrheitsfrage anhand der Gadamersche Freilegung der Kunst darlegt, kónnen die Geisteswissenschaften groBen Gewinn aus ihr ziehen. Es ist aber so, daB sie sich eher von einer verkürzten Asthetik aus verstanden haben, die ihnen vom Methodenmodell stillschweigend aufgenótigt wurde. Es ist dieses Muster, das die Kunst dazu Íiihrt, sich rein marginal zu .Wortes: marginal nicht verstehen, in allen Bedeutungen des der GeWirklichkeit, der auch nur der Wissenschaft, sondern GadaDas erscheint gegenüber. sellschaft und der Wahrheit
demonstriert jedoch, daB man nicht weniger versteht, wenn man nichr alles verstehc. Die Kunst lehrt uns drittens, daB die Kunst weniger ásthetisch ist, als die Ásthetik meint. Es geht auch da um Wahrheit. Von einer solchen Kunstauffassung dürfen sich die Geisteswissenschaften sehr wohl inspirieren lassen. Nach Gadamers Übet"eugu.rg haben sie es aber im lg.Jahrhundert weitgehend vorgezogen, dem falschen Modell des ásthetischen BewuBtseins zu folgen, wenn sie nicht durchweg dem Metho-
mer fatal, sowohl fiir die Kunst als auch fiir die Geisteswissen-
denparadigma erlagen. Dieses ásthetische BewuBtsein áuBert sich vor allem im Historismus, der nur insoweit zu verstehen gedachte, als er Ausdrücke aus seiner Zeit begriff. Ásthetisch ist diese Denkweise, weil es da weniger um Wahrheit und Vernunft als um eine kontemplative Rekonstruktion des Aus-
schaften. Indes hat Gadamer selbst in seiner programmatischen Frei-
legung wenig von >Wahrheit< gesprochen. Er hat de facto eher auf die Funktion der >Darstellung< im zeitlichen Vollzug von Kunst abgehoben, die im Grunde auf einen ontologischen ProzeB hinausláuft. Aber diese >ontologische< Seinserfahrung erweist sich als eine'W'ahrheitserkenntnis fiir Gadamer. Es ist fiir sie wesentlich, daB sich der Verstehende ins Spiel bringt, anstatt auBerhalb des Spiels zu bleiben, wie es die moderne Methodologie nahelegt. 'Wir haben also erstens von der Kunst zu lernen, daB die Wahrheit nicht nur von der Distanz des Verstehenden abhángt, daB es also eine hermeneutische Wahrheit des Angesprochenwerdens gibt. Zweitens kann man von der Kunst bestens lernen, daB dieses Verstehen den Charakter eines Geschehens hat. Geschehen will hier sagen, daB wir nicht Herr der Wahrheit sind, die uns in der Kunst zuteil wird. Gadamer spricht platonisch von Teilhabe, weil das Beherrschen oder Kontrollieren ein unangemessenes Modell fiir das Verstehen abgibt, das sich von der Wahrheit der Kunst ergreifen láBt. Kunst ist auch nicht etwas, das wir beherrschen. Wie Adorno schreibt, kann man nie sagen, daB jemand die Kunst versteht, sondern hóchstens, daB er etwas davon versteht.4l Die Kunst
a1 T.
drucksvorgangs per se geht. Indem sie Ausdrucksphánornene entweder aus ihrem Autor (psychologistisch) oder ihrer Epoche (historistisch) rekonstruieren móchte, schlieBt sich diese ásthetisierende Denkweise stillschweigend aus dem Reich der Sacherkenntnis aus. Die Ásthetik und der Historismus erweisen sich in diesem Licht als zwei Formen desselben Verlustes.'W'as dabei verlorengeht, ist die hermeneutische Wahrheit des Verstehens, die uns die wiedergewonnene Wahrheit der Kunst zurückzuerobern erlaubt. lJm diese Wahrheit des Verstehens ins Licht zu rücken, müssen die historisierenden Hermeneutiken des l9.Jahrhunderts einer neuen Destruktion unterzogen werden.
Adorno, AsthetischeTheoríe, Frankfurt a. M.' Suhrkamp'L970'
185: >Die Sprache, wie sie vorphilosophisch die ásthetische Erfahrung beschreibt, ügt rnit Grund, einer verstünde etwas von Kunst, nicht, er
verstünde Kunst. [. . .l Wer bloB verstándnisvoll in der Kunst sich bewegt, macht sie zu einem Selbswerstándlichen, und das ist sie am letzten.(
Die Kritik an der romandschen Ausdruckshermeneutik 87
3. Die Destruktion der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts Die Kritik an der romantischen Ausdruckshermeneutik Da sie eine Integrationsaufgabe darstellt, bildet nach Gadamer die Kunst weniger eine ásthetische als eine hermeneutische Erfahrung. Deshalb mu8 die Problematik der Ásthetik in
eine Hermeneutik zurückgenommen werden. Ihr gelten auch alle weiteren Ausfiihrungenvon Wahrheit und Methode. Der Schatten des ásthetischen BewuBtseins wird aber weiterhin an der Themenstellung der Hermeneutik hángen. Denn das Interesse fiir das Verstehen oder die Geisteswissenschaften bedeutet keineswegs, da8 man das >hermeneutische Problem< in seiner Radikalitát, d. h. in dem ihm eigenen'W'ahrheitsanspruch voll erfaBt hat. Gadamer ist der Überzeugung, daB die Entdeckung der Hermeneutik und der Fokus auf das Verstehen im 19. Jahrhundert noch viel zu sehr von ásthetischen, aber natürlich auch von methodischen Prámissen aus diktiert blieb. Deshalb begegnen bei ihm so oft Titelüberschriften, die von einer >Freilegung<, einer >Ausweitung< und einer >Wiedergewinnung< des hermeneutischen Problems handeln. Es gilt námlich, die falschen ProblemsteLlungen zu überwinden oder zu destruieren, die das hermeneutische Problem verdecken. Im Zweiten Teil von Wahrheit und Methode geht es um die
Destruktion der Hermeneutiken des lg.Jahrhunderts, hauptsáchlich um die Flermeneutik Schleiermachers und Diltheys' Seine Auseinandersetzung mit dieser )romantischen< Her-
I
I
rrreneutik, als dessen Erbe Gadamer auch gesehen werden k¡nn, fállt sehr polemisch aus: er móchte námlich zeigen, wie schr Schleiermacher und Dilthey ihren besten Absichten zum 'ltotz der Versuchung eines zum Teil methodischen und zum 'leil ásthetischen Denkens nicht zu widerstehen wu8ten. Die Herrschaft dieses Denkmodells brachte sie schlieBlich dazu, tlas hermeneutische Problem zu verfehlen. Der Angriffist in tler Tát ungeheuer: Die Begründer der modernen Hermeneutik hátten die Hermeneutik verpaBt! So wundert es nicht, cla8 Gadamer viele Gegendarstellungen auf den Plan rief, die rlie Einseitigkeit der Gadamerschen Darstellung hervorkehrtcn. Gadamer hátte unterschlagen, inwieweit Schleiermacher trnd Dilthey viele seiner hermeneutischen Einsichten vorweggenommen hatten.42 In dieser revisionistischen Literatur, die Gademer auf sich geladen hat, übersah man aber, daB Gaclamers Kritik der romantischen Hermeneutik diese grundlegende Solidaritát voraussetzte. Insofern sich Gadamers FIernleneutik auch gegen die Vefihrung einer rein methodischen Flermeneutik erhebt, ist sie selbst urromantisch. Gaclamers Destruktion der romantischen Hermeneutik ist nur
sinnvoll, weil Schleiermacher und Dilthey die Spezifizitát des hermeneutischen Problems ebenfalls sehr gut gesehen haben. Es ist nur erforderlich, die methodischen und ásthetischen l)enkformen zu überwinden, mit denen sie diese Spezifizitát zu formulieren suchten. Die revisionistische SchleiermacherLrnd Diltheyliteratur vergiBt aber auch (und das wird sie nicht a2 Für Dilthey, vgl. vor allem F. kodi, Erkenntnis des Erkannten. Zur 1 9. und 20.Jahrhundefts,Frankñtrt a. M.,Suhrkamp, 1990;
I lermeneutik des
'L Nenon,
>Hermeneutical Truth and the Structure of Human Ex-
perience< in Dilthey-Jahrbuú I (1.992-93), 7 5-92. Für Schleiermacher, siehe vor allem M. Frank, Das intlíuiduelle Allgemeine.Tbxtstrukturierung rntd -interpretatíon nach Schleiermacher,Frankfurt a. M., Suhrkamp,1977;P. Szondi, Einführung ín die literarische Henneneutik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1970; C. Berner, ln philosophie de Schleietmacher Herméneutique, Dialeaique, Ethique, Paris, Cerf, 1995. In meinem Buch Einfüluung in die yhilosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991,2.Aufl.2001, habe ich es sclbst vorgezogen, auf diejenigen Elemente bei Schleiermacher und Dilthey hinzuweisen, die eine Radikalisierung der Hermeneutik vorbereitct haben.
88
3. Die Destruktion der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts
gern hóren), daB man ohne die Gadamersche Destruktion heute wahrscheinlich sehr wenig von Schleiermachers oder Diltheys >F{ermeneutik< sprechen würde. Auch wenn sie sich mit ihr dauerhaft befaBten,haben námlich weder Schleiermacher noch Dilthey eine haibwegs abgeschlossene Flermeneu-
tikkonzeption vorgelegt oder publiziert. Schleiermacher würde fiir uns wahrscheinlich das bleiben, was er vor Gadamer war, d. h. der Autor der Reden über die Religion (1'797) :und einer Glaubenstehre (1'821'-22), also ein groBer Protestantischer Theologe, der zudem neue MaBstábe mit seiner vo11stándigen Platonübersetzung setzte, der sich aber publikationsmáBig nur am Rande mit der Hermeneutik bescháftigte' Dilthey bliebe seinerseits ein beeindruckender Philosophiehistoriker - dem wir beispielsweise die Akademieausgabe der Werke Kants und die Wiederentdeckung des jungen Hegel zu verdanken haben - und ein anspruchsvoller Methodologe, mit seiner Einleitungin die Geisteswissenschaften (1883),in der-
das'W'ort Hermeneutik kein einziges Mal auftaucht. Auch wenn sie in der historischen Schule nicht wirkungslos blieben, erlaubte erst die philosophische Nobilitierung der Hermeneutik bei Gadamer, auf die fragrnentarischen Ansátze von Schleiermacher und Dilthey zurückzukomrnen. Auch hier diente die Destruktion zur Neuentdek-
komischerweise
-
kung. Es muB aber festgehalten werden, daB sich Gadamers Auseinandersetzung mit seinen romantischen Vorgiingern weitgehend von dem einseitigen Bestreben fiihren láBt, seinem hermeneutischen Beitrag mehr Profil zu verleihen. Gadamer hat das in seiner >Selbstkritik< von 198643 auch zugestanden' Aber bereits ín Wahrheit und Methodehatte er zu erkennen gegeben, daB seine >summarische Darstellung< >lediglich der Ábh.bo.tgo diente, um >die Wendung der Hermeneutik ins Historische, die das l8.Jahrhundert bringt(, zu verdeutlichen
(WM, 178). Nichtsdestoweniger hatte das Werk von 1960 den Finger auf wichtige Aporien im lJnternehmen von
43 GW 2, 7. Vgl. auch die neueren, gemáBigteren Auíiátze über Dilthey in Band 4 seiner GW (406-447).
Die Kritik an der rcmantischcn Ausdruckshermeneutik 89
Schleiermacher und Dilthey gelegt, die sich nach Gadamer nicht mehr wegwünschen lassen. Gadamers grundsátzliche Kritik an der romantischen Hermeneutik von Schleiermacher ist die, da8 sie das Verstehen auf den Ausdruck als solchen und ni.cht mehr auf die Wahrheit ausrichte: Verstanden werde nicht mehr eine Sache, sondern eine Indivrdualitát (oder eine Gattung). Gadamer erblickt ein erstes Indiz dieser Wendung in dem neuen Interesse, das Schleiermacher ftir das Verstehen als solches aufbringt, wenn er die Hermeneutik a1s eine >Kunstlehre des Verstehens< charakterisiert. Gadamer hátte sich in diesem Interesse fiir das Verstehen aber auch selbst erkennen kónnen, zumal es
bei Schleiermacher die Universalitát der Hermeneutik begründet:Wáhrend sich die traditionellen Spezialhermeneutiken von ihrem Gegenstand (der Heiligen Schrift, den klassischen Texten, dem juristischen Kanon usw.) her bestirnmen lieBen, wird sich die von Schleiermacher angemahnte Allgemeinhermeneutik auf das ihnen gemeinsame Verfahren des Verstehens konzentrieren. Für Gadamer bedeutet diese Neuorientierung aber sogleich, da8 die Einheit der Hermeneutik nicht mehr in ihrem inhaltlichen Gegenstandsbezug, sondern >in der Einheit eines Verfahrens< begründet wird (WM, 182) . Hier wirkt die Gadamersche Argumentation in der Tat voreilig. Denn die Aufmerksamkeit, die das Verstehen als solches genieBt, schlieBt nicht unbedingt ein, daB sein Inhaltsbezug schlichtweg preisgegeben wird. Ein analoger Primat bleibt ja
bei Gadamer und Heidegger dem Verstehen erhalten. 'Wenn sich aber von einem Inhaltsverlust bei Schleiermacher sprechen láBt, liegt es an der neuen Wendung, die das Verstehen bei ihm zu nehmen scheint. Das Verstehen ziele nach Gadamers Lesart immer mehr auf die >Meinung< des anderen als auf die sachliche 'W'ahrheit des Gemeinten. Dies wird bei Dilthey noch deutlicher hervortreten, wenn er seine Theorie der Geisteswissenschaften auf der Trias ErlebnisAusdruck-Verstehen errichten wird: Verstanden wird der Ausdruck a1s Manifestation des Erlebnisses eines Autors oder einer Epoche. Gadarners erstes Gegenargument besteht hier natürlich darin, an den Wahrheitsbezug des Verstehens zu
90
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
des 19. Jahrhunderts
erinnern. Dieses Argument kennen wir schon, weil es die ganze Kritik des ásthetischen BewuBtseins regierte. Gadamers subtileres Gegenargument liegt in der Ausarbeitung einer anderen Konzeption des Verstehens. Heidegger hatte bereits dem Verstehen eine praktische Dimension zugesprochen, als er es als ein Sich-auf-etwas-verstehen faBte. Gadamer setzt dies voraus, fiigt aber hier dem Verstehen eine weitere Dimension hinzu. Er versteht es námlich von dem >Sichmiteinanderverstehen< her, das so etwas wie ein Einverstándnis anzeigt. >Sichverstehen< hat námlich auch die Bedeutung von >sich verstándigen<: >Verstehen heiBt zunáchst, sich miteinander verstehen<. Verstándnis ist zunáchst Einverstándnis<. (WM, 183) Es ist aber nicht unmittelbar einsichtig, wie sich diese neue Fassung des Verstehens fiir das hermeneutische Problem fruchtbar machen láBt. Sie hat auch viele Mi8verstándnisse nach sich gezogen. Eine sehr oberfláchliche Lesart schrieb Gadamer die These zu,da[J man nur insofern verstehe, als man mit dem Verstandenen einverstanden sei. Das kann von Gadamer nicht gemeint sein. Sonst kónnte man Mein Kampfnur dann verstehen, wenn man mit seinen Thesen einverstanden wáre! Gadamer meint oflenbar etwas anderes. Zwei Gründe werden ihn bewogen haben, das Verstehen vom Verstándigungsmodell her zu denken: erstens der Sach-, zweitens der Sprachbezug dieser Verstándigung. 1. Der Sachbezug ist bei der Verstándigung evident: man versteht sich immer über bzw. in etwas, man ist darin einig. Bei diesem Sichverstehen genieBt námlich das Verstehen oder die Meinung selbst kein eigenes Profil. Die subjektive Meinung tritt hier deutlich hinter dem sachlich Gemeinten zurück. 2.Der Sprachbezug, der freilich erst im Dritten Teil des Werkes voll zum Tragen kommen wird, klingt hier bereits mit. Die Verstándigung ist in der Regel eine sprachliche.Gadamer wird groBe Konsequenzen daraus ziehen und von der wesentlichen Sprachlichkeit allen menschlichen Verstehens sprechen. Auf sie wird er schlie8lich die Universalitát seiner Hermeneuti.k zurückfiihren' Man darf in dieser Hervorhebung des sprachlichen Elements unseres Verstehens, woraufwir spáter zurückkommen, eine betráchtli-
Die Kritik an der romantischen Ar¡sdruckshermeneutik
9I
che Neuerung Heidegger gegenüber sehen, der in Seín und Zeít diese sprachliche Dimension des Verstehens unterbelichtete. Schleiermacher gegenüber ist sie freilich weniger originell. Man darf also nicht die Solidaritát unterschátzen, die in dem Schleiermacher entnommenen Motto des Dritten Teiles
von Wahrheit und Methode liegt: >Alles Vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache. < Aber wir greifen zu weit vor. In der Auseinandersetzung mit Schleiermacher im Zweiten Teil spielt allein der Sachbezug der Verstándigung eine kritische Rolle.Wie wir gesehen haben, genieBt die Meinung des anderen dann kein eigenes Profil, wenn man sich in oder über etwas versteht oder verstándigt. Sie gewinnt aber eins, wenn die Verstándigung in der Sache gestórt wird. Erst wenn ich etwas Überraschendes oder lJnverstándliches zu hóren bekomme, frage ich mich, wie der andere zu seiner AuBerung gekommen ist. Gadamer zieht daraus eine wichtige Folgerung; Das Interesse fiir die Meinung des anderen ist fiir die Hermeneutik ein sekundáres. Es tritt. nur in Erscheinung, wenn die grundlegende Verstándigung gestórt oder unmóglich geworden ist. Es sei gestattet, auf das infame Beispiel von Meín Kampf zurückzukommen. Weil niemand bei rechtem Verstand mit dem dort Ausgefiihrten einverstanden sein kann, deshalb kann man das'W'erk nur historistisch oder psychologistisch lesen, d. h. als historisches Dokument der wahnsinnigen Vorstellungen von Hitler. Man kann sich da nur kritisch fragen: Wie ist er denn zu seinen Meinungen gekornmen? Aber niemand würde diese Frage wesentlich finden bei einem Stück von Sophokles, einem Gedicht Rilkes oder bei Euklids Elementen.selbstverstándlich lassen sich auch Überlegungen über die Meinung von Euklid, Sophokles oder Rilke anstellen, und es gibt seit dem l9.Jahrhundert eine ausgiebige Literatur darüber. Sie kann wohlgemerkt in vielen Fállen unabdingbar sein, da sich viele'Werke nur historistisch oder psychologistisch deuten lassen. Aber es handelt sich nach Gadamer um etne sel
sieht in ihr den Ausnahmefall, der bei Schleiermacher zu [Jnrecht zum Normalfall des Verstehens erhoben worden sei.
92
Die K¡itik an der ¡omanrischen Ausdruckshermeneurik 93
3. Die Destruktion der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts
Schleiermacher hatte námlich die Erfahrung der Fremdheit und damit die Gefahr des MiBverstándnisses in der Kunst der Auslegung universalisiert: >Díe strengere Pruxk fdieser Kunstl geht dauon aus, daf sich das Mifuerstehen uon selbst ergibt
rneint in dem Kontext, daB er das von platon Cedachtebesser versteht, weil er die ldeen nicht in ein jenseitiges Himmel_ reich, sondern in die reine Vernunft zurückversetzt. Er bean_ sprucht nicht, Platons Werk oder person, sondern allein die
und das Verstehen auf jedem Punkt muJ3 gewollt und gesucht werden.o44 >Mehr Methodecas verlangte er angesichts des stándig drohenden Risikos des MiBverstándnisses. Schleiermacher gab dieser methodischen Hermeneutik eine betont rekonstruktive und psychologische Zwecksetzung: rDie Aufgabe der Hermeneutik [besteht] darin [...], den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tátigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubildenu.a6 Gadamer fragt sich hier, ob es in der Hermeneutik primár auf dieses Verstehen ankommt. Versteht man nur, sofern man eine fremde Meinung (in der Texthermeneutik die mens auctorís) rekonstruiert? Versteht man nicht zunáchst einen Sinn, eine Wahrheit und damit ihre Gründe? In vielen Varianten hatte Schleiermacher die Formel verwendet, daB es in der Hermeneutik darauf ankomme, >einen Autor besser zu verstehen< als er sich selbst.aT In ihr sieht Gadamer >das eigentliche Problem der Hermeneutik beschlossen< (WM, 196), denn diese Formel erlaubt es, die Scheidelinie zwischen zwei sehr distinkten Auffassungen der Hermeneutik zu ziehen. Das Besserverstehen kann sich námlich entweder auf den Autor oder auf die von ihm ausgedrückte 'W'ahrheit beziehen. Ursprünglich ging es nach Gadamer primár um ein besseres Verstándnis der Sache selbst. In diesem unmi8verstándlichen Sinne hatte Kant die Formel in seiner transzendentalen Dialektik gebraucht, als er bemerkte, da8 >es gar nichts Ungewóhnliches sei<, einen Autor >besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte< (Kr. d. r.V, A 314 : B 370). Kant
Sache besser zu verstehen.
aa F Schleiermacher, Hermeneutik. und Kritik, hrsg. Frank, Frankfurt a. M., Suhrkamp,7977,92. 4s Ebd.,84. 46 Ebd.,32r. 47 8bd.,94,104,325.
von ManÍied
Die Formel scheint bei Schleiermacher aber eine subjekti_ vistische Bedeutung zu erlangen, wenn er von der NaifrUit_
dung der >komponierenden Tátigkeit des Schriftstellersu spricht
-
mag er noch so sehr auf ihren unvollendbaren Cha_
rakter hindeuten. Nach Gadamer kornmt es im Verstehen weniger auf die Rekonstruktion des Gewesenen als auf die gegenwártige Integration des Verstandenen an. Hier zieht sei_ ne Flermeneutik Lehren aus der Destruktion des ásthetischen
Rewu8tseins: Genauso wie die Kunst sich nur in der gegen_ wártigen Darstellung oder Lesung realisiert, genausó voll_ zieht sich das Verstehen in der Anwendung odér Integration des heutigen Verstehens. Die Integration ietzt námlich vor_ aus, daB uns der Sinn weiterhin anspricht. Integration und Anwendung sind hier freilich hóchst mif3verstándliche Aus_ drücke. Sie scheinen dem >anything goes( in der Hermeneu_ tik Tür und Tor zu óffnen. Gadamer verteidigt aber offenbar nicht die relativistische These, nach der jedes Verstehen be_ rechtigt sei. Irrsinnige oder zu modernisierende Deutungen lassen sich durchaus als solche erkennen und disqualifirierln. Aber wie? Weil die Sache in ihnen gerade nicht zum Spre_ chen kommt, sondern allein die Meinung des Interpreien.
Gadamer schreibt in diesem Zusammenhang, da8 sich das Gelingen einer lnrerpreration daran zeigt, da8 sie sich als Interpretation nicht bemerkbar macht. Dasselbe gilt von einer gelungenen Übersetzung.Eine veraltete oder modernisieren_ de LJbersetzung fdllt als solche immer auf. Bei einer flieBen_ den [Jbersetzung hat man hingegen nicht das Gefiihl, es mit einer lJbersetzrrng zrt tun zu haben, weil der Text so unmit_ telbar spricht. Aber sprechen kann er nur, weil er uns erreicht und insofern unsere Sprache redet. Eine gute Interpretation von Platons Ideenbegriffist nicht eine allzu rnodernisierende (wie etwa die von Kant oder Natorp), sondern diejenige, die als Interpretation so sehr zurücktritt, daB man den Eináruck
94
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
des 19. Jahrhunderts
Die Kritik an der rcmantischen Ausdruckshermeneutik 95
hat, die Idee selbst ohne Vermittlung vor Augen zu haben. Die Interpretation oder Übets.t",tttg ist dann gelungen, und
berechtigten Polemik ge genüb er der subj ektivistischen, weil rein ásthetischen Verkürzung der Hermeneutik zu verstehen.
das erfordert eine hohe Kunst. Eine integrierende, anwendende Interpretation hebt also nicht die Fremdheit auf, sondern mecht sie allererst verstándlich. Es ist Platons ldeenbegriff oder die Bedeutung eines geschichtlichen Ereignisses, das ich dann besser verstehe, aber das kann ich nur in der Spra-
Er hat aber den Bogen in die umgekehrte Richtung vielleicht zu weit gespannt, als er die mens auetoris und die Motivation des >Sichversetzens( über Bord zu werfen schien. Alles kommt auf die Bedeutung an, die dem Begriff des Ausdruckes in dieser Kontroverse zukommt. Gadamer hat ihm einen wichtigen Exkurs im Anhang m, Wahrheit und Methode gewidmet, der in der Literatur vielleicht zu selten berücksichtigt wurde.48 Gadamer erkennt dort auf erhellende 'Weise an, daB seine >Kritik an der Psychologisierung des Begriffs >Ausdruck< das Ganze der vorliegenden (Jntersuchung fín Wahrheit und Methodef durchzieht und sowohl der Kritik an der >Erlebniskunst< wie der an der romantischen Flerme-
che der Gegenwart, und somit dank einer Verstehensleistung, die um so mehr gelingt, als sie als solche verschwindet. Dieses
Verschwinden bringt Gadamer zum Ausdruck, wenn er von einer rHorizonrverschmelzung< im Verstehen spricht. Dabei verstehe ich durchaus den Horizont der Vergangenheit, aber das kann ich freilich nur von dem gegenwártigen Horizont aus. Das Verstehen ist eher als gelingendes Geschehen einer Horizontverschmelzung zu denken, als das neuzeitliche Me-
thodenbewuBtsein sich einzugestehen bereit ist. Gadamer hat gewiB recht, das Geschehensmoment des Verstehens gegenüber einer allzu methodischen Auffassung der Hermeneutik zur Geltung zu bringen. Dennoch hat seine Gegenüberstellung der psychologischen und der sachlichen Zwecksetzung der Hermeneutik manchmal etwas zu Starres. Es ist in der Tat etwas überzogen, die Sachwahrheit gegen die mens auctoris zu stellen. Denn oft genug hilft uns die Berücksichtigung der mens auctoris, die Sachwahrheit besser zu verstehen. Gadamer gefillt die Redeweise von einem >Sichversetzen( in den anderen nicht, weil sie eine mysterióse psychische Transposition zu suggerieren scheint. Aber sie entspricht durchaus dem Begriffdes Verstehens im geláufigen Sprachgebrauch. Man >zeigt Verstándnis< fiir jemanden, wenn man seine Sache versteht. Man verstünde sie aber nicht, wenn man sich nicht in die Situation des anderen ))versetzen( würde. Es ist nicht ausgemacht, da8 dies eine geheimnisvolle psychische Transposition einschlieBt.Das Sichversetzen bedeutet hier lediglich, daB man sich bemüht , die Gründe des anderen nachzuvollziehen. Insofern lieBe sich durchaus eine Verteidigung der mens auctoris im Sinne Schleiermachers gegen Gadamer zur Geltung bringen. Gadamers eher ablehnende Haltung der mens auctoris gegenüber, ist allein aus seiner freilich nicht un-
neutik zugrunde liegt.< (G'W 2,386) Der Begriff des Ausdrucks erfreute sich bereits einer Schlüsselrolle im hermeneutischen LJnternehmen von Dilthey und Georg Misch.ae Gadamer spricht von einer Psychologisierung des Begriffs, weil der Ausdruck in diesem Kontext auf ein Erlebnis zurückgeht, das
das
Verstehen nachzuerleben trachtet. Gadamer
geiBelt diese Konzeption erbarmungslos, weil er in ihr eine Asthetisierung und einen'W'ahrheitsverlust des Verstehens befiirchtet. Man darf daraus aber nicht schlieBen, daB er den so
heftig angegriffenen Ausdrucksbegriff vollends ablehnen móchte.'Wie es der Exkurs zeigt, ist er vielmehr darum bemüht, ihm seinen ursprünglich rhetoríschen Sinn zurückzugeben. In der Rhetorik meint die expressíovor allem den sprachlichen >Ausdruck<, der Eindruck macht. 'Was Eindruck macht, ist aber immer die Sache selbst, die da sprechend wird: >Im Ausdruck ist das Ausgedrückte da<. Es ist immer die Sache selbst, die auf diese Weise ausgednickt wird, nicht so sehr
die Subjektivitát, die sie ausdrückt: >Den Ausdruck finden, heiBt aber, einen Ausdruck finden, der einen Eindruck erzieaB ¡etzt in GW 2, 384-386, unter dem Titel: >Exkurs YI: Zum Begriff des Ausdrucks<. aq Vgl. dazu meine Arbeit >Georg Misch und die Universalitát der Hermeneutik. Logik oder Rhetorik?<, in Dilthey-Jahrbuch 11 (1997-98), 48-63.
96
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
des 19. Jahrhunderts
Die Selbstauslóschung der historischen
len will, also keineswegs den Ausdruck im Sinne des Erlebnisausdrucks.< (GV/ 2,384) Es geht Gadamer also darum, den Begriff der expressío aus seiner modernen und rein subjektivistischen Fárbung zu befreien. In dieser einseitigen Fárbung wittert er eine Vergessenheit des Wesens der Sprachlichkeit, die weniger ein Ausdruck der Subjektivitát als ein Ausdruck der Sachen ist.Die Destruktion der romantischen Ausdruckshermeneutik ist somit bei Gadamer positiv gemeint: sie soll
Schule 97
eigenen Überlegungen lassen sich aber durchaus als Antworten auf Hegel lesen. Seiner als metaphysisch verschrienen
idealistischen Geschichtsphilosophie gegenüber waren sie
Die Selbstauslóschung der historischen Schule
bestrebt, den wissenschaftlichen Charakter ihres Faches zu verteidigen. Sie monieren im allgemeinen den scheinbar apriorischen, teleologischen, kurzum idealistischen Zug einer Geschichtsphilosophie, die der Singularitát und Kontingenz geschichtlicher Ereignisse nicht gerecht wird. Die historischen Fakten werden ihres Erachtens zu offenkundig in einen vorgegebenen idealistischen Rahmen gepreBt. Diese Kritik der idealistischen Geschichtsphilosophie im Namen der geschichtlichen Faktizitát bildet die Standardkritik, die seit eh und je gegen Hegel erhoben wird. Welches
An der subjektivistischen Auffassung
Erkenntnismodell kann aber die historische Schule gegen dieses diskreditierte Vorbild aufbieten? Die Antwort der hi-
den ursprünglich rhetorischen Sinn des expressio-Begriffes freilegen helfen.
kritisiert Gadamer
das
des Ausdrucksbegriffs
Fortwirken einer immer noch ástheti-
schen Denkart im wahrheitsfremden Sinne des Wortes: >Eine
solche isolierende Beschreibung des Verstehens bedeutet aber, da8 das Gedankengebilde, das
wir
als
Rede oder
als
Text
verstehen wollen, nicht auf seinen sachlichen Inhalt hin, sondern als ein ásthetisches Gebilde verstanden wird, als Kunst>künstlerisches Denken<.< flfr'M, 191) Nach Schleiermacher fand diese ásthetisierende Hermeneutik ihre unmittelbare Anwendung im Denken der historischen Schule. Die historische Schule bildet keine philosophische Schule im engeren Sinne. Sie bestand hauptsáchlich aus Philologen wie August W Boeck (1'785-1'867) und namhaften Historikern wie Leopold von Ranke (1795-1 886) oder Johann Gustav Droysen (1808-1884). Ranke verdanken wir eine mehrbándige Wehgeschichte (1885) und Droysen wichtige Bücher über die Geschichte der preuBischen Politik (1855),aber auch über den Hellenismus (1878) und Alexander den GroBen (18S3). Im Geiste des 19. Jahrhunderts haben sie sich auch Gedanken über die methodologischen Grundlagen ihrer Disziplin gemacht. Sie taten es wohlgemerkt a1s Historiker, da sie philosophischen Konstruktionen mit überaus groBem MiBtrauen begegneten. Ihnen stand vor allem das abschreckende Beispiel der Geschichtsphilosophie Hegels vor Augen. Ihre
werk oder
storischen Schule folgt teils dem Positivismus, teils dem Muster einer ásthetisierenden Hermeneutik. Sie ist positivistisch, insofern sie auf die Faktenangewiesenheit einer Geschichte insistiert, die als'Wissenschaft wird auftreten kónnen. Die geschichtlichen Fakten sind nicht mehr von einem metaphysischen System aus zu deduzieren, sondern aus sich selbst zu verstehen. Das kann man aber nur tun, wenn man sie aus ihrem geschichtlichen Kontext heraus versteht. Es wird hier aber stillschweigend vorausgesetzt, daB die Geschichte so etwas wie einen Text bildet, der sich entztffern láBt. In diesem Sinne weist der proklamierte Positivismus der historischen Schule auf eine hermeneutische Basis hin. Es fragt sich aber, ob die historische Schule damit jede Form von Idealismus verabschiedet hat.Denn die geschichtlichen Fakten bleiben taub, wenn sie nicht in einen gróBeren Rahmen einbezogen werden, der letztlich der der'Weltgeschichte ist.Bei genauerem Flinsehen gibt es also selbst fiir die historische Schule keine nackten Fakten, die rein gegeben wáren und geschichtliche Bedeutung hátten. Die Einzelheit, auf die sich der Historiker zu konzentrieren hat, gewinnt nur >Sinn< in einem Kontext. Woher stammt die hier waltende Dialektik zwischen der Einzelheit und dem Ganzen, wenn nicht aus der Hermeneutik und ihrem Modell der Textinter-
98
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
pretation? Auf diese
des 19. Jahrhunderts
.Weise,
stellt Gadamer fest, wurde die Hermeneutik zur stillschweigenden Grundlage der Historie. Aber láBt sich das Modell des Textes ohne weiteres auf die Geschichte übertragen (es wird bald auf die Existenz selbst Anwendung finden, wenn sich die Frage nach dem >Sinn des Lebens< in der zweiten Hálfte des l9.Jahrhunderts aufclrángen wird)? Es gibt ja wichtige lJnterschiede zwischen der Philologie und der Geschichte. Im lJnterschied zur Geschichte bilden die Texte, die die Philologie untersucht, eine Ganzheit, die relativ abeschlossen ist und die rneist einen angebbaren Anfang und ein Ende haben. Wo láBt sich aber so etwas wie ein Anfang und ein Ende der Geschichte ausmachen? MuB man hier nicht einen Geschichtsverlauf und eine ganzheitliche >Weltgeschichte< voraussetzen? Aufdiese'Weise findet sich die historische Schule aber erneut vor das Hegelsche Problem einer (Jniversalgeschichte gestellt, das sie wie
die Pest meiden wollte.
Die historische Schule unterscheidet sich von Hegel hóchstens durch ihre Ablehnung einer Geschichtsteleologie:s0 Man habe es in der Geschichte nicht mit einem steten Fortschritt der Vernunft urnd der Freiheit zu tun. Es stehe nicht an, die geschichtlichen Epochen von dem Blickwinkel der Gegenwart oder eines hóheren philosophischen Zieles aus zu beurteilen. Deshalb wird die Idee eines Geschichtsfortschrittes bei Ranke durch die Vorstellung ein'er Gleichwertigkeit aller Epochen vor Gott ersetzt. Der Lutheraner Ranke hátte damit die christliche Idee einer >(Jnmittelbarkeit zu Gott< auf das Amt des Historikers übertragen. (WM,214) Wenn jede Epoche aus sich selbst zu verstehen ist, weil sie ihre eigene Legitimitát besitzt, übernirnmt der Historiker stillschweigend die Stelle eines intellectus in-finitus, der die Epochen aus sich selbst beschreibt: >Hier ist die ldee des unendlichen Verstandes (íntellectus infninu), fiir den alles zugleich ist s(' Eine teleologische Komponente ist aber der historischen Schule
nicht vóllig fremd, stellt Gadamer fest (WM,207), insofern sie in dem Erfolg ein Kriterium erkennt, das die Fakten in geschichtliche Ereignisse verwandelt. Es handelt sich aber um eine Teleologie ohne Telos (ebd.).
Die Selbsrauslóschung der historischen
Schulc 99
(omnía simul, zum Urbild historischer Gerechtigkeit umge_ formt. Ihm kommt der Historiker nahe, der alle Epochen ttd alle geschichtlichen Erscheinungen vor Gott gleichberechtigt wei8.u 0ñ/M,214) Ist es aber angángig, das Amt des Histoñ kers an das eines unendlichen Intellektes anzugleichen? Ist rnan hier wirklich sehr weit vom Idealismus entfernt? Um die Objektivitát geschichtlicher Erkenntnis bewahrt zu wissen, spricht Ranke in einer berühmt gewordenen For_ mel von einer >Selbstauslóschung< des Historikers. Der Aus_ druck hórt sich zunáchst positivistisch an. Ranke scheint tat_ sáchlich die Arbeit des Historikers an die des Naturwissen_ schaftlers zu assimilieren, dessen Ergebnisse vom Standort des Beobachters unabhángig bleiben sollen. Der Historiker soll zurücktreten, ja sich selbst auslóschen, um die phánomene besser sprechen zu lassen.'Wie kónnen sie aber >sprechen< ohne den Historiker? Die Selbstauslóschung beraubi den Hi_ storiker seines Orres in der Geschichte. Steht der Historiker i.iber der Geschichte, wie bei Hegel? So sehr sie sich auch von einem Gerechtigkeitsgebot den historischen Fakten gegenüber leiten lassen mag, *ird die hi_ storische Schule dennoch der Geschichtlichkeit des Histori_ kers nicht gerecht. Gehórt dieser nicht selbst zur Geschichte,
die er erzáhlt? Trágt nichtjede Geschichtsschreibung das Sie_
gel ihrer Zeit? Der stark apologetische Zug der Géschichte PreuBens, wie sie von Droysen dargestellt wird, ist übrigens cin sprechender Beleg dafiir! Gibt es ferner nicht eine urráuf_ hebbare Bedeutsamkeit der geschichtlichen phánomene, die vor aller Selbstauslóschung jeden Historiker bindet? In einer Formel, die den Gedanken der'Wirkungsgeschichte vorberei_
tct, spricht Gadamer hier von einer >Vorgángigkeit des ge_ schichtlichen Lebensbezugs< (WM,201), áie sich vor¡edém r¡rethodischen BewuBtsein des Historikers behauptet. Es gibt nie so etwas wie eine sub specie aeternitatis geschriebene óe_ schichte. Allein Gott kónnte eine solche schreiben. Ist dies ;¡ber ein tragfihiges Modell fiir die Geschichtswissenschaft? lu ihm scheint die Geschichtlichkeit des Historikers keinen l'latz zu finden. Die lronie ist hier die, daB die historische Schule Hegel vorgeworfen hatte, die geschichtliche Faktizitát
100
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
Die Selbstauslóschung der historischen
des 19. Jahrhunderts
Schule 101
schichtliche Tatsache lediglich Ausdruck ihrer Epoche sein soll, gerát die Stellung des Historikers zu einer rein kontemplativen. Die postulierte Selbstauslóschung der Zugehórigkeit des Geschichtsschreibers zu seiner Zeit unterschlágt, daB jede Geschichte von der Gegenwart aus neu zum Sprechen und zum Verstehen gebracht wird. Darf man aber in dieser Zugehórigkeit nur eine Beeintráchtigung der Objektivitát sehen? Gadamers radikaler sein wollende Geschichtsherme-
teln, das aber fiir Droysen nie dingfest gegeben ist. Gadamer nimmt natürlich Ansto8 an der Vorrangstellung des Ausdrucksbegriffs in diesem Zusammenhang. Droysens Hinweis auf das Innere hinter dem Ausdruck würde beweisen, da8 Droysen >hier ganz auf cartesianischem Boden< stehe (WM,216). Gadamers Urteil ist hier vielleicht etwas zu voreilig. Denn Droysen zeigt sich doch sehr besorgt, dieses geschichtliche Verstehen von dem >Erkláren< der naturwissenschaftlichen Erkenntnis abzusondern, wo eine solche letzte Positivitát gegeben ist. Deshalb spricht er von einem unaufhórlich >forschenden Verstehen<. Die Unendlichkeit der Forschungsaufgabe, die sich dem Verstehen hierbei stellt, besagt nur, daB eine letzte innere Gegebenheit nie gesehen werden kann. Sie kann nur >forschend verstanden< werden, d. h. in einem Proze8 unendlicher Annáherung. Verstehen ist nach der berühmten Formel von August Boeckh immer nur die >Erkenntnis des Erkannten(, also nie die Durchdringung einer letzten Gegebenheit. Das Verstehen hat es nur mit Verstandenem und immer mit neu Verstandenem zu tun. Für den Historiker Droysen ist folglich das Hórensagen >nicht eine
neutik wird von dieser Zugehórigkeit ausgehen und in ihr
schlechte Beglaubigung, sondern
zu verkennen. In ihrem Namen hofíte sie, den idealistischen Konsequenzen Hegels zu entgehen. Die Hermeneutisierung der Geschichte und die scheinbar positivistische Vorstellung einer Selbstauslóschung belehien indessen, daB selbst die hi-
storische Schule ohne idealistische Anleihen nicht auskommt. Es kónnte also sehr wohl sein, daB sich das Hegelsche Motiv einer Integration der >begriffenen< Geschichte hier wegweisender erweisen kónntg als das Ideal der Selbstauslóschung.
Die historische Schule bedient sich nach Gadamer ásthetisierender Vorstellungen, wenn sie das Modell der Philologie stillschweigend auf die Geschichte anwendet.'Wenn jede ge-
eine fruchtbare Bedingung geschichtlicher Erkenntnis sehen
lernen. Droysen hat mit seiner Historik eine viel reflektiertere Auffassung entwickelt, insofern sie den Vermittlungen des Verstehens besser Rechnung trug. Er sieht auch sehr gut, daB Fakten als solche dem Historiker unzugánglich bleiben. Er
schreibt: >Es heiBt die Natur der Dinge, mir denen unsere Wissenschaft bescháftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tátsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realitát unserer Forschung gar nicht vor.u51 Verstanden werden nur erhaltene Berichte und Zeugnisse, dte selbst Ausdruck eines Verstehens darstellen. Im verstandenen Ausdruck sucht man zwar ein >Inneres< zt errnits1
J. G. Droyset, Historik,hrsg. von R. Hübener, München, 7. Aufl. 1937 (Nachdruck: Darmstadt 1977),133. Vgl. ftir das'Weitere auch das Droysen-Kapitel meiner Einführu ng i n d i e ph ilo s op hi s ch e H erme neutik.
die einzig
mógliche<
(wM,221). Es ist also alles andere als ausgemacht, daB diese die Ver-
mittlungen des Verstehens sehr wohl in Rechnung stellende und damit Rankes Vorstellung der Selbstauslóschung überwindende Konzeption so kartesianisch ist. Gadamer erkennt ferner an, daB der Begriff der >Forschung( in Droysens forschendem Verstehen einen eher religiósen als naturwissenschaftlichen lJnterton hat. Er sei von der Erfahrung der Gewissensforschung her zu verstehen, fir die es ja konstitutiv sei, daB sie nie auf den letzten Grund des Gewissens stoBe
(WM, 220). Gadamer wird sich zwar ereifern, diese religiósen (Jntertóne an den Hintergrund einer >pantheistische[n] Metaphysik der Individualitát< (WM, 202) zwickzubinden, die er bereits bei Schleiermacher entdecken wo[te, aber seine Ausfiihrungen dürfen die theologischen LJntertóne seines eigenen Verstehensbegriffs nicht in Vergessenheit geraten lassen. Er hat ja von der Marburger Theologie gelernr, daB das
102
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
Selbswerstándnis nichts von kartesianischer SelbstgewiBheit an sich hat, es besteht vielmehr in der Anerkennung, daB das Selbstverstehen nie gelingen wird.s2 Mir scheint, da8 diese
Konzeption dem Verstehensbegriff Droysens sehr nahekommt. Gadamer schreibt also vielleicht zu [Jnrecht: >Der Begriff des Verstehens behált nun trotz aller Vermittlung fiir Droysen das Kennzeichen einer letzten lJnmittelbarkeit.< (WM,22I) Eine letzte Unmittelbarkeit ist in Droysens Begriff des forschenden Verstehens geradezu ausgeschlossen. 'W'enn er nicht darum bestrebt ist, eine kartesianische Grundlage, die man unbestritten in dem unternehmen einer methodologischen Historik erblicken darf, bei Droysen nachzuweisen, versucht Gadamer, seine Verstehenskonzeption als eine blo8 ásthetische Denkweise hinzustellen. Droysen erblickt námlich in der Geschichte das'W'alten >sittlicher Máchte<. Sie würden >die eigentliche Wirklichkeit der Geschichte< (WM,219) bilden. Auch wenn dieser Begriff der sittlichen Máchte etwas Rohes hat, indem er an die in der Natur wirkenden Máchte gemahnt, ist es nicht ausgemacht, daB es sich um eine rein ásthetische Kategorie handelt, wie Gadamer meint (WM,237). >Sittliche< Máchte sind nicht ásthetisch, sondern moralisch. Kann eine sittliche Lesart der Geschichte nur ásthetisch sein? Ist man hier wirklich so weir von der Konzeption Hegels entfernt, der die Geschichte als einen Fortschritt im Bewu8tsein der Freiheit verstand? Auch hier erscheint es angebracht, Gadamers strenges Urteil zu differenzieren, wonach Droysen die >Aufgabe der Historie nur
in
ásthetisch-hermeneutischen Kategorien< (Wly',.,22If.) denken kónne und wonach er von Hegel einzig die Vorstellung einer EntáuBerung des Geistes in der Geschichte übernommen habe.
s2 Vgl. GW 10,142: rDas'Wort >Selbswerstlndnis< hat vielmehr einen pietistischen lJnterton und láfJt anklingen, daB es dem Menschen eben nicht gelingt, sich selber zu verstehen, und daB über diesem Scheitern seines Selbswerstándnisses und seiner SelbstgewiBheit der 'W'eg zum Glauben fiihren soll.<
Die drei Aporien
des 19. Jahrhunderts
Diltheys 103
Die drei Aporien Diltheys Die historische Schule war im wesentlichen eine Reaktion von Historikern auf die gewaltige Herausforderung der idealistischen Geschichtsphilosophie Hegels. Die Hermeneutik des Verstehens erwies sich aber als die uneingestandene Voraussetzung der historischen Schule. Ihre Philologisierung der Geschichte ging selbst aus 1. von stillschweigend idealistischen Prámissen (die einzelnen Ereignisse sind von einem umfassenderen Ganzen aus zu verstehen), 2. von positivistischen Vorentscheidungen (Rankes Selbstauslóschung) und 3. von ásthetischen Dispositionen, sofern jede Erscheinung als Ausdruck ihrer Epoche zu verstehen ist. Bei all dem konnte freilich von einer ausgearbeiteten Philosophie der geschichtlichen Erkenntnis nicht die Rede sein. Eine solche wird erst Dilthey zu liefern versuchen. Er empfahl sich selbst als Methodologe der historischen Schule, als er sich an das lJnternehmen einer >Kritik der historischen Vernunft< machte. Diese Kritik sollte liir die Geisteswissenschaften eine áhnliche Begründung erbringen wie diejenige, die Kants Kritik der rein en W rnunft den Naturwissenschaften geb racht hab en sollte. Bekanntlich hat aber Dilthey kein einzelnes seiner Werke mit dem Titel einer >Kritik der historischen Vernunft< auszuzeichnen gewagt. Seine Lebensaufgabe blieb damit eine bis nrletzt offene 'Werkstatt. Nach Gadamer konnte Diltheys
Proj ekt einer Vollendung nicht entgegengefiihrt werden, weil
von grundsátzlichen >Aporien< heimgesucht blieb. Man kann die Bedeutung von Gadamers Auseinandersetzung mit Dilthey nicht hoch genug veranschlagen. Dilthey zeigt sich in vielerlei Hinsicht als der wichtigste Gespráchspartner und Gegner von Wahrheit und Methode-Die ganze geschichtliche Vorbereitung des Zweiten Teiles will die idealistischen, romantischen und ásthetischen Voraussetzungen der Flermeneutik des l9.Jahrhunderts in Erinnerung rufen, es
die diejenigen von Dilthey bleiben. Gadamers Verstehenshermeneutik láBt sich auch nur als Gegenkonzept zu Diltheys
methodologischer Auffassung der Hermeneutik nachvollziehen. Das Denken Diltheys und seiner Schule, zu der ein wei-
1O4
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
des 19. Jahrhunderts
Die drei Aporien
Diltheys 105
tes Spektrum von Autoren wie Georg Misch, Flermann Nohl, Josef Kónig, Bernhard Groethuysen, Raymond Aron,
erganzte Neuausgabe von Diltheys Grundriss der allgemeínen
Georges Gudsdorf,
ausgegeben. Es ist also gar keine Frage, daB er sich
Otto Friedrich Bollnow und Frithjof
Rodi gerechnet werden kann,bildetja auch die letzte Stufe in der Geschichte der Hermeneutik. Heidegger hatte zwar emphatisch von einer Hermeneutik des Daseins gesprochen, die eine groBe Inspiration fiir Gadamer werden sollte, aber er hatte demonstrativ mit der klassischen Problematik der Geisteswissenschaften, mit denen die Hermeneutik seit Dilthey verbunden war, gebrochen, um sie an die Seinsfrage zu binden. Seine eigentliche phánomenologische Methode war die der geschichtlichen Destruktion, die in dem spáreren Entwurf der Seinsgeschichte nur radikalisierr wurde. Sie brachte ihn aber dazu, das teils methodologisch, teils rranszendental und damit subjektivistisch belastete Thema der Hermeneutik fallenzulassen. Auch wenn er vom Heideggerschen Boden aus denkt, wird Gadamer die Debatte mit der Hermeneutik der Geisteswissenschaften wieder aufnehmen. Ein Blick auf Gadamers Arbeiten in den 50er Jahren, der Gárungszeit von Wahrheit und Methode, lehrt auch, daB sie von der Diltheyschen Frage der Wahrheit der Geisteswissenschaften, und von dem nicht weniger Diltheyschen Problem des historischen BewuBtseins beherrscht sind. Man denke dabei insbesondere an die Aufsátze >Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie< (19 43),>Wahrheit in den Geisreswissenschaften< (1953), >Was ist W'ahrheit? < (1957)53 sowie an die Lówener Vortráge über D¿s Problem des historischen BewuJStseins von 1957 .s4 Im Jahre 1.949 hatte Gadamer ferner eine s3 Sie geben jetzt den Auftakt atrn 2. Band der GW und damit von >Wahrheit und Methode II< ab GW 2,27-56. sa Sie wurden 7957 atfEnnzósisch gehalten und 1963 veróffentlicht (Le probléme de la conscience historique,Neuauflage: Paris, Seuil, 7996,mit einem neuen Vorwort von l975,das fiir die englische Übersetzung dieser Vortráge geschrieben worden war). Ihnen lag ein deutsches Manuskript zu Grunde, das Gadamer verloren hat, das man jedoch a1s Urfassung von Wahrheít und Methode bezeichnen kann und das man in der
Handschriftenabteilung der Heidelberger universitátsbibüothek ve¡muten darf (dessen Anfang verófFentlicht wurde: H.-G. Gadamer, W'ahr-
Ceschíchte der Philosophie
(Frankfurt
a.
M., Klostermann) herin den 50er
Jahren in die Kontinuitát der Fragestellung Diltheys stellte. Im Vorwort zur englischen Ausgabe der Lówener Vortráge gab er auch unmiBverstándlich zu erkennen, daB man in der Herausforderung des geschichtlichen BewuBtseins und in der Erfahrung der Kunst die zwei Ansatzpunkte seiner Hermeneutik erkennen kónne.ss In spáteren Texten wollte er aber zu-
in dem geisteswissenschaftlichen Ausgangspunkt eine epistemologische Verengung seiner Fragestellung sehen, so daB er hier lieber die Bedeutung der Kunst hervorhebt (vgl. GW 8, 373).ln genetischer Sicht, aber auch im Lichte seiner Bedeutung fiir die Geschichte der Hermeneutik war die Auseinandersetzung mit Dilthey entscheidend. Es handelt sich zudem um eine Schaltstelle in der Argumentation von Wahrheit und Methode,wetl die geschichtliche >Destruktion< damit an ihr Ende gelangt und die eigentlich systematische Hermeneutik von Gadamer mit dem phánomenologischen Durchbruch anheben kann. Gadamer geht wie Dilthey von der Herausforderung des geschichtlichen BewuBtseins aus. Es handelt sich zweifellos nehmend
um das groBe Problem der Philosophie seit Hegel, das wir heute vor allem unter den Titeln des Relativismus oder des Nihilismus kennen. Die Problemstellung von Dilthey hórt sich etwas weniger dramatisch an,weil er ihr eine epistemologische Wbnde gibt:'Wenn jede Manifestation des Geistes geschichtlich zu verstehen ist, wie láBt sich eine objektive und allgemeingültige Erkenntnis der Geschichte gewáhrleisten? Dieses Problem der geschichtlichen Erkenntnis stellte sich vor allem fiir die Geisteswissenschaften. Sie leiden unrer einem Minderwertigkeitskomplex den Naturwissenschaften heit und Methode. Der Anfang der Urfassung (ca. 1956), in Dilthey-Jahrbuch 8 (1.992-93),131-142).Der deutsche Text entspricht dort sehr genau dem Anfang des ersten LówenerVortrags (1,996,28 ff.). Der franzósische Text soll demnáchst ins Deutsche rückübersetzt werden. 55 Le problétne de Ia
conscience hístorique,7996,1.4.
1,06
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
Die drei Aporien
des 19, Jahrhunderts
gegenüber, weil sie noch über keine Methodologie
vefigen.
Eine solche tut not, und Dilthey verspricht in seiner Einleitung in die Geísteswissenschdten und in seinem verstreuten Schrifttum, eine zu erbringen. Die Hermeneutik wurde zwar in der Einleitung von 1883 nicht direkt zu Hilfe geruGn, wurde aber aus einem naheliegenden >Syllogismus< immer prásenter fiir Dilthey: Alle Geisteswissenschaften sind verstehende'Wissenschaften; die Hermeneutik versteht sich nun seit Schleiermacher (dessen Bio-
graph Dilthey war) als die Kunstlehre des Verstehens; also scheint die Hermeneutik dazu auserkoren, die methodologi-
sche Grundlage aller Geisteswissenschaften zu liefern. Die wichtige Studie von 1900 über >Die Entstehung der Herme-
neutik( sieht demnach die >Hauptaufgabe< der Hermeneutik darin, >gegenüber dem bestándigen Einbruch romantischer
Willkür und skeptischer Subjektivitát in
das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch [zu] begründen, auf welcher alle Sicherheit der Geschichte beruht.u56 Indem sie >die Frage nach der wissenschaftlichenErkenntnis der Einzelpersonen, ja der groBen Formen singuláren menschlichen Daseins überhaupt< stellt, soll die Flermeneutik kláren helfen, >ob das Verstándnis des Singulá-
ren ztrr Allgemeingültigkeit erhoben werden kannu.57
Es mag überraschen, daB Gadamer diese positivistisch klingenden Passagen in Wahrheit und Methode nicht anfiihrt. Sie hátten unschwer seine Grundintuition über die Verfiihrung des epistemologischen und methodischen Modells bei einem Denker wie Dilthey, der andererseits ein so feines Gespür fiir die Eigenart der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis zeigte,belegen kónnen. Er konzentriert sich stattdessen aufdie >Aporien< des Historismus,in die sich Dilthey verstrickt habe. Gadamer spricht von Aporien im Plural, ohne sie auseinanderzuhalten. Sie hángen alle mit der ein-
der Klarheit halber werden ebenen unterscheiden. 1.
Diltheys 107
wir im folgenden drei Aporie-
Die grundsátziiche Aporie ist ofltnkundig diejenige, die
zwischen dem methodologischen Anspruch auf eine allgerneingültige Erkenntnis fiir die Geisteswissenschaften und dem romantischen Ansatz bei der Geschichtlichkeit eines jeden Erkennens waltet. Wie es ein spáterer Aufsatz von Gadamer verdeutlichen sollte, scheint Dilthey damit rzwischen Romantik und Positivismus( zu schwanken.S8 Es gibt nicht nur ein Schwanken, sondern einen echten Widerspruch zwischen beiden Ansátzen:'Wenn wir durch und durch von der Geschichte bedingt sind,wie es Dilthey anerkennt,wird dann nicht eine allgemeingültige Erkenntnis, die diese universelle
Geschichtlichkeit transzendieren würde,
ausgeschlossen?
Nichtsdestoweniger scheint Dilthey in seiner Einleitung in díe Geisteswissenschaften nach einem >festen Rúckhalt<se Ausschau zu halten, der den Sátzen der Einzelwissenschaften >GewiBheit< geben kónnte. Das Verlangen nach einem festen,
GewiBheit verbürgenden Rückhalt, den Dilthey auch erkenntnistheoretisch legitimieren móchte, muB an Descartes' Rede von einem fundamentum ínconcussum gemahnen. Wird aber nicht die Aussicht auf eine unerschütterliche GewiBheit
von der grundsátzlichen Geschichtlichkeit in Frage gestellt? Gadamer wird sich zudem fragen, ob die'W'ahrheit der Geisteswissenschaften von einem solchen unerschütterlichen Fundament abhángt. LáBt man sich hier nicht von dem Ideal der kartesianischen GewiBheit und dem Modell der Naturwissenschaft in die Irre fiihren? Diese erste Aporie láBt sich als die des kartesianischen Begründungsdenkens und der Geschichtlichkeit charakterisieren. Beide scheinen miteinander
unversóhnlich. 2. Die náchste Aporie ist etwas subtiler, aber fiir das Verstándnis des Gadamerschen lJnternehmens noch wichtiger.
heitlichen Problemstellung des Historismus zusammen, aber s6
w: Dilthey,
>Die Entstehung Schriften, Band 5, 331. s7 8bd.,31.7.
s8 HGG, rDas Problem Diltheys. Zwischen Romantik und Positivis-
der F{ermeneutik
Cesammehe
rnus<,
(1984), GW 4,406-424.Auf den Kartesianismus von Dilthey hatte
Heidegger in seinen Vorlesungen (vgl. GA28,137) bereits hingewiesen. se UI Dilthey, Cesammelte Schriften, Band 1, XVIL
108
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
Sie betriflt die nach Gadamer zu intellektualistische oder instrumentalistische Auffassung des geschichtlichen BewuBt-
seins bei Dilthey. Denn das geschichtliche BewuBtsein war
bei ihm nicht nur ein von der Geschichte bedingtes BewuBtsein, sondern das BewuBtsein von der Geschichte im Sinne einer Bewu8twerdung des geschichtlichen Charakters ailer Erscheinungen. Das geschichtliche BewuBtsein stellte also fiir Dilthey nicht nur ein Problem, sondern auch eine Chance dar. Es gestattet selbst eine Liisung des Problems geschichtli-
cher Erkenntnis: unser geschichtliches Bewu8tsein unterscheidet uns námlich von früheren, ungeschichtlich denkenden Epochen, so daB es als Reflexions- und Aufklárungsgewinn zu begrüBen ist.60 Weil wir ein Bewu8tsein der geschichlichen Bedingtheit haben, kónnen wir uns - im [Jnterschied zu früheren ungeschichtlichen Zeitakern - über sie erheben und sie objektiv erkennen, d. h. aus ihrem geschicht-
lichen Zusammenhang heraus. Aus der Not wird eine Tügend: Das geschichtliche BewuBtsein erscheint nahezu als das
Heilmittel gegen den Relativismus, den es heraufzubeschwóren scheint. Zweifellos darf man im geschichtlichen BewuBtsein einen Aufklárungsschub sehen. Die Frage ist aber die, ob man das geschichtliche BewuBtsein dabei nicht zu sehr auf ein Erkenntnisproblem verkürzt. Darin liegt nach Gadamer die gróBte Aporie Diltheys. Er verstehe zu sehr das BewuBtsein - darin auch kartesianisch - als eine >Weise der Selbsterkenntnis< (WM,239). Gadamer fragt sich hingegen, ob sich die Geschichtlichkeit des Bewu8tseins nicht vielmehr in der Begrenzung der Selbsterkenntnis bekunde. Das >geschichtliche< BewuBtsein ist fiir Gadamer nicht nur wie bei Dilthey das Bewu8tsein von der Geschichte (genetivus objectivus), sondern viel ursprüngiicher noch das von der Geschichte bedingte und erwirkte Bewu8tsein, das nicht imstande ist, seine 60 Vgl. dazu die vor allem in Band 8 det Cesammelten Schriften DtItheys versammelten Studien über >Das geschichtliche Bewusstsein und die W'eltanschauungen( (3 -7 1).Ygl. dazu au8erdem: W M, 239 ; HG G, Le probléme de la conscience histoñque,1996,39; und meine neuere Arbeit >La
solution de Dilthey au probléme du relativisme historique<, in Reuue internationale
de
philosophie,im Erscheinen.
Die drei Aporien
des 19. Jahrhunderts
Diltheys 109
ganze Bedingtheit in die Durchsichtigkeit des SelbstbewuBt-
zu heben. Deshalb wird Gadamer dem stolzen geschichtlichen BewuBtsein von Dilthey ein >wirkungsgeschichtiiches< BewuBtsein zur Seite stellen, das sich von der Geschichte erwirkt und getragen weiB. Nach der glücklichen seins
Formulierung von Gadamer, die aber erst nach Wahrheít und Methode erschien, ist dieses wirkungsgeschichtliche BewuBtsein mehr Sein als BewuBtsein (vgl. G'W 2,11,247;u. GW 4, 346f.), d. h. mehr von der Geschichte herbeigefiihrt, als es es sich je zu Bewu8tsein bringen kann. Das geschichtliche Bewu8tsein beschreibt somit eher das, was wir sind, als das, was wir wissen. Ein solches geschichtliches BewuBtsein kann sich nie aus der Geschichte ganz herausreflektieren. Gadamers Gegenthese láBt sich so formulieren: >Ceschichtlíchseín heiJSt, nie im Síchwíssen aufgehen.< (WM,307) Die Aporie von Dilthey ist hier die einer noch zu intellektualistischen und damit instrumentalistischen Auffassung des geschichtlichen BewuBtseins, die seine eigene Geschichtlichkeit verkennt. In aller Gerechtigkeit muB man anerkennen, da8 sich bei Dilthey Stellen finden, die das geschichtliche BewuBtsein in einem geschichtlichen )Sein( verankern. Es war ja eines seiner leitenden Bestreben, die Grundbegriffe der Wissenschaft aus den Kategorien des Lebens abzuleiten. Gadamer und Heidegger lie8en sich von dieser Seite der Arbeiten Diltheys sehr inspirieren, weil sie sich dadurch eine Sprengung des ursprünglich methodologischen Rahmens und eine allgemeinere Philosophie des geschichtlichen Lebens versprachen. Heideggers Hermeneutik der Faktizitát und Gadamers Universalhermeneutik lassen sich durchaus in die Folge dieser Forschungen stellen. Das gilt auch fiir Husserls Phánomenologie der Lebenswelt, die die Grundkategorien der Wissenschaft aufeine (Jrstiftung des Lebens zurückfiihrt. 3. Gadamer stellt aber fest, daB Diltheys Behandlung der
Kategorien des Lebens weiterhin von kartesianischen Prámissen durchsetzt bleibt. So wollte Dilthey u. a. die wissenschaftliche Methode und ihren grundsátzlichen Zweifel von dem Skeptizismus und dem Selbstzweifel ableiten, die viel ursprünglicher das menschliche Dasein befallen kónnen.
110
3.
Die Destruktion der Hermeneudk
Derphánomenologische
des 19. Jahrhunderts
Ebenso versuchte Dilthey, die wissenschaftliche Suche nach GewiBheit und letzten Fundamenten auf das instinktive Streben des Lebens nach Rückhalt und Stabilitát zurückzufiihren. Nach Gadamer verkennt Dilthey aber, daB der ZweiGl und die Sicherheitssuche in der Wissenschaft und im Leben sehr verschiedene Sachen sind. Der kartesianische Zweifel zwei-
felt námlich, sm zu einer unbezweifelbaren GewiBheit zu gelangen. Der existentielle Zweifel hingegen zweifelt an der Móglichkeit einer solchen GewiBheit überhaupt.'W'eit davon entfernt, den Lebensskeptizismus fortzusetzen, ist nach Gadamer die wissenschaftliche Reflexion, die nach letzten Fundamenten greíft, >eine gegen das Leben geríchtete Bewegung
dung. Dilthey hátte viel zu sehr die letztere mit der ersteren verwechselt. Man darf hier von einer dritten Aporie Diltheys sprechen. Sie áuBert sich in seiner Neigung, das geschichtliche Leben unbemerkt von den kartesianischen Kategorien der'W'issenschaft her und aufsie hin zu konzipieren, wáhrend er doch das Gegenteil verspreche, námlich eine Explikation der'Wissenschaft vom historischen Leben her. Trotz seiner besten Absichten würde Dilthey in seiner allgemeinen Philosophie des Lebens Kartesianer bleiben. Das von der'W'issenschaft her anvisierte Leben werde damit viel zu epistemologisch und instrumentalistisch gefa8t und auf diese 'Weise verkürzt. Das von Dilthey gestellte Programm einer allgemeinen Philosophie des geschichtlichen Lebens und BewuBtseins bleibe gleichwohl erhalten.Es müsse nur von den epistemologischen Engpássen, in die sich Dilthey verstrickt habe, befreit werden. Der entscheidende Durchbruch zu einer solchen Philosophie, die als allgemeine Hermeneutik werde auftreten kónnen,wurde nach Gadamer von der Phánomenologie und vor allem von Heidegger geleistet.
Durchbruch
1,1,1
Der phánomenologische Durchbruch Dilthey bildete vor Heidegger und Gadamer den letzten Stand der Hermeneutik.Es steht auBer Zweifel,da[3 Gadamer Ditheys Aporien aufdie Spitze getrieben hat,um seinen eigenen hemeneutischen Beitrag pointierter profilieren zu kónnen. Seine hermeneutische Philosophie kann erst jetzt richtig in Gang kommen. Sie wird sich zwar von den geschichtlichen und romantischeren Einsichten Diltheys leiten lassen, aber es ist unverkennbar, da8 sie ihre wichtigsten AnstóBe von Heidegger empfangen hat. Aber von welchem Heidegger? Dank den im Rahmen seiner Gesamtausgabe veróffentlichten frühen Vorlesungen und Manuskripten wissen wir heute, daB Gadamer viel weniger von Seín und Zeit als von seiner frühen Hermeneutik der Faktizitát ausgeht. In ihr hat er auch sehr früh die Impulse erkannt, die zur Kehre des spáten Heidegger fiihrten. Gadamer hat der Distinktion zwischen einem >ersten< und rzweiten< Heidegger nie groBe Bedeutung beigemessen, weil sie die einheitliche Zielrichtung seines Denkens verge.ssen lassen kónnte. Diese Ziebichtung hat Gadamer in der >Uberwindung der Subjektivitát des modernen Denkens< erkannt. (G.W 10, 77)61 Die instrumentalistische Auffassung des modernen Denkens beruhe auf der vom Menschen besetzten >Subjektivitát<, die auf Griechisch so viel heiBt wie das Zugrundeliegende. Sie stamme aus einerVerdrángung der menschlichen Zeitlichkeit. Bereits tn Wahrheít und Methode hat Gadamer zu erkennen gegeben, daB die Kehre lediglich eine Freisetzung dieser Absicht bedeutete WM,262), die allein durch d¿s transzendental wirkende Zwischenspiel von Sein und Zeit tnterbrochen worden sei. 61 Der Titel des 1985 geschriebenen, aber erst 1995 verófíentlichten Beitrags, dem die zitierte Formulierung entnommen ist,lautet pointiert >Die Kehre des Weges< irn Singular. Eine Kehre kann es námlich nur auf einem einheitlichen Weg geben. Heidegger beschrieb es ebenso in einem seiner gelungensten Aphorismen: >Aufeinen Stern zugehen, nur dies<, in z{ns der Efahrung des Denkens.YgJ.auch die einsichtsvolle Studie unter demTitel >Der eine Weg Martin Heideggers< (1986), GW 3,417-
430.
I12
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
des
lg.Jahrhunderts
In seinen Lówener Vortrágen von 1,95762 und in Wahrheít und Methode lehnt sich Gadamer deshalb viel lieber an das Stichwort einer Flermeneutik der Faktizitát (WM,259) an, das die Intuitionen des spáten Heidegger über die Sekundaritát der menschlichen Subj ektivitát vorwegnimmt. Natürlich wurde es fiir Gadamer eine Bereicherung, daB das spátere, sich kehrende Denken auf die Wahrheitserfahrung des Kunstwerkes und auf die Sprache zurückging, um das instrumentaltechnische Denken der Subjektivitát zu überwinden, aber er hatte den Weitblick, darin eine Fortsetzung der lJrmotive des frühen Heidegger zu erkennen. Spáter sprach er bekanntlich von der >Kehre vor der Kehre< (G.W 3, 423 u.ó.)l Indem Gadamer selbst an dem Thema der Hermeneutik, das der spáte Heidegger fallenlieB, festhielt, bezog er das Ende des Heideggerschen Denkweges auf seinen hermeneutischen Anfang zurück.63 Gadamers ebenso einsichtsvolle wie kühne Intuition verlieh damit dem Heideggerschen W'eg eine Kohárenz, die vielen - und vielleicht Heidegger selbst - entgangen war. Die der Gesamtausgabe zu verdankende Wiederentdeckung des jungen Heidegger hilft uns, das AusmaB dieser Kohárenz zu ermessen. Aber 1960 sah die Situation ganz anders aus. Der >frühe< Heidegger war damals nur der Heidegger von Seín und Zeit.
Seit seinem Flumanismusbrief von 1946 schien Heidegger seiner >ersten Philosophie< abgeschwórt zu haben. Er schien das transzendental-hermeneutische Denken zugunsten eines anscheinend dichterischen Denkens der Seinsgeschichte zu verabschieden. Die demals herrschenden Interpretationen von Karl Lówith, Max Müller, Walter Schulz und spáter von Otto Póggeler und 'W'illiam Richardson bestátigten diese Lesart. Die >Hermeneutik der Faktizitát< war im Grunde un62 Der dritte Vortrag lautet dort: DMartin Heidegger und die Bedeutung seiner rFlermeneutik der Faktizitát< fiir die Geisteswissenschafteno. Vgl. auch die wenig bekannte Vorlesung von Gadamer: I¿ctures on Philosophical Hermeneutics,Pretotir,Van
Schaik's Boekhandel, 1982, 5. 63 Das war die These meines e¡sten Gespráchs mit Gadamer in .FIermeneutis che Wa.h rheit? Zum Waluheitsbegrif Hans - Georg Gadamers, Kónigstein, 1982, 2. Aufl. Weinheim, Belz-Athenáum, 1994.
DerphánomenologischeDurchbruch 1,13
bekannt. Von den übrigen Manuskripten oder Vorlesungen des frühen Heidegger gab es keine Spur. Gadamer konnte sich auf sie nicht berufen. Diese Texte werden uns erst seit den 80er Jahren zugánglich. Seitdem hat Gadamer mit nahezu jugendlichem Eifer sehr viele Studien über Heidegger geschrieben, in denen er sich aufunvergleichlich eindrückliche Weise über sein Verháltnis zu seinem Lehrer áuBert.'Würde Wahrheit und Methode heute geschrieben, hátte Gadamers Heidegger-Kapitel mehr oder weniger den Gehalt seines Buches Heideggers Wege.64 Das Buch erschien 1983. Es wurde 1987 tn den 3. Band der Gesammelten Werke aufgenommen, enthielt aber fiinf neue Studien zu Heidegger. Als der 10. und letzte Band der Gesammelten'Werke 1995 herauskam, fing er seinerseits mit sieben neuen Texten über Heidegger an. HeídeggersWege ist wahrlich das Buch, das Gadamer nie aufgehórt 'W'erk hat zu schreiben. Es ist das Gesprách, das sein eigenes voraus- und fortsetzt, sofern seine eigene Hermeneutik in Wahrheit und Methode nach einem Heidegger-Kapitel ansetzt. Aber seit Platon und Aristoteles wissen wir, daB das Philosophieren immer auch ein Gesprách mit seinen Lehrern einschlieBt. 1960 muBe Gadamer also zeigen, inwiefern sein unternehmen von Heidegger ausging, aber ohne über die Textgrundlagen und den historischen Abstand zu vefigen, der jetzt der seinige - sowie der unsrige - ist. In der damaligen Situation war es nicht leicht, zu behaupten, daB Heidegger ausgerechnet in seinem Hauptwerk seinen intimsten Intuitionen über die geschichtliche Geworfenheit unserer Endlichkeit untreu gewesen sei! Seitdem wir den jungen Heidegger besser kennen, erfreut sich aber diese Lektüre inzwischen einer gewissen Evidenz.6s Diese Lage verleiht dem Phánomenologie-Kapitel von Wahrheít und Methode einen ellipti6a
In de. letzten Ausgabe von WM (1986) verweist Gadamer selbst ín erner FuBnote zu dem Titel des Heidegger-Kapi-
auf HeidegersWege tels.
65 Sie liegt auch der Rekonstruktionsgeschichte von T. Kisiel, Tft¿ Genesis of Heidegger's Being andTirne (Berkeley
grunde.
University Press, 1993) z'a-
114
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
Der phánornenologische
des 19. Jahrhunderts
schen Charakter, der um so bedauerlicher ist, als es sich um eine Schaltstelle handelt. Gadamer verfiigte damals weder über die Quellen noch über die Distanz oder gar die Befugnis, das AusmaB seines Verháltnisses und seiner Schuld Heidegger gegenüber zu verdeutlichen. Da er von Hermeneutik sprach, konnte sich Gadamer 1960 nur auf Sein und Zeit stútzen, um die Idee glaubwürdig zu machen, daB Heideggers Radikalisierung der Geschichtlichkeit eine Überwindung der epistemologischen Fragestellung, in der Dilthey noch befangen war, fiir die Hermeneutik bedeutete. Aber der scheinbar transzendentale Rahmen des Werkes, die'Wiederaufnahme der me taphysischen S einsfrage
und der Begründungsanspruch einer >Fundamentalontologie< waren überhaupt nicht im Sinne Gadamers. Es waren auch diese Aspekte in Heideggers'Werk, die Georg Misch in seinem Buch von 1930, Lebensphílosophie und Phiinomenologie, dazu fiihrten, nach wie vor in Dilthey das radikalere Durchdenken der Geschichtlichkeit zu erkennen. um seine These von der Überwindung der epistemologischen Aporien Diltheys eindringlicher zu machen, bezog sich Gadamer deshalb auf Yorck und Husserl, wie es Heidegger ín Seín und Zeít selbst getan hatte. So werden Graf Yorck, Husserl und Hei-
degger die groBen Geburtshelfer einer Überwindung des epistemologischen Paradigmas, d. h. einer rein methodischen und letztlich instrumentalen Auffassung des Verstehens. Yorck ist freilich ein besonders polemischer Ausgangspunkt. Er ist heute vor allem bekannt als der Korrespondent und Kritiker von Dilthey, mit dem sich Heidegger im $ 77 von Sein und Zeít so sehr solidarisiert hatte, daB er Yorcks Briefexzerpte seitenweise und nahezu kommentarlos zitierte. Yorck hatte die Grundaporie Diltheys darin gesehen (es handelt sich oben um die dritte), daB er sich dem Leben viel zu sehr von den kartesianischen Kategorien der neuzeitlichen Wissenschaft aus náherte. Diltheys Abheben auf die Objektivationen des Lebens und die Notwendigkeit eines epistemologischen Rückhaltes würden das Leben um die Mobilitát und Geschichtlichkeit bringen, die die wahre Grundlage der Geisteswissenschaften bilden sollten. Yorck war auch der er-
Durchbruch
11
5
der damit den geheimen Ásthetizismus von Dilthey beim Namen genannt hatte. Gadamers Kritik des Ásthetizismus der historischen Schule geht wahrscheinlich auf den durch Heidegger gelesenen Grafen Yorck zurück. Yorck monierte insbesondere das Gewicht, das Dilthey der komparativen Methode beilegte flMM, 238; und bereits SZ, 400). Man kónne nur Formen vergleichen und gegeneinander abwágen, denen gegenüber man eine kontemplative und ásthetische Distanz behált. Wird aber diese kontemplative Sicht der Einbezogenheit des Interpreten in seine Materie und ins geschichtliche Leben gerecht? Bildet nicht diese Zugehórigkeit das wesentste,
liche Element der Geisteswissenschaften und einer Philosophie des Lebens? Dilthey hátte also die Geschichtlichkeit verpaBt,weil er sie anhand ásthetischer und optischer Kategorien zu fassen suchte, die den objektivierbaren Naturwissenschaften entnommen waren. F. Rodi hat zu Recht geschrieben, daB Dilthey wirkungsgeschichtlich nie mehr ganz aus dem Schatten dieser Yorck-Kritik herausgetreten sei, die von Heidegger (und Gadamer) so kraftvoll wiederaufgenommen wurde.66 Sie verbirgt auch eine gewisse Ungerechtigkeit Dilthey gegenüber, denn es ist nicht ausgemacht, daB Yorck selbst über diese briefliche Kritik hinaus ein besseres Gegenmodell besa8, um das Verháltnis des geschichtlichen Lebens und seiner Erkenntnis zu fasseri. Solch ein Modell findet sich allenfalls in der Veróffentlichung aus seinem NachlaB unter dem chenden Titel BewuJJ ts eins s t ellung un d Ge s chi ch t e. D íese Schrift erschien 1956, als Gadamer an seinem Hauptwerk
ve rspre
schrieb, so daB er sich auf sie beziehen konnte. Aber die Ausfiihrungen, die Gadamer ihr in Wahrheit und Methode widmete
und nirgendwo wiederaufnahm, sind nicht besonders einsichtig. Die Uberlegungen des Grafen Yorck blieben selbst áu8erst spekulativ und unverbindlich. Mit der kraftvollen Forderung einer ausweisbaren pháno-
menologischen Sichtweise im Namen einer Rückkehr zu den Sachen selbst war Husserl gewiB ein gróBerer Befreier. 66
F.
Rodi, Erkenntnis
Jahrhunderx, Frankfurt a.
des
Erkannten. Zur Hermeneuti.k
M., Suhrkamp, 1990, 103.
des 19.
untl 20.
116
3.
Die Destruktion der Flermeneutik
DerphánomenologischeDurchbruch 117
des 19. Jahrhunderts
Die Parole einer Rückkehr zu den Sachen selbst befreite zunáchst von dem methodologischen Modell, das die Philosophie dazu zu verurteilen schien, eine 'Wissenschaft zweiten
Formel einer >Lebenswelt(, die jeder Intentionalitát und jeclem BewuBtsein zugrunde liegt. Es ist also jener Husserl, der
vom intentionalen Bewu8tsein euf das vorgegebene Element
Grades zu sein. Philosophie als Phánomenologie will etwas anderes sein und von den Sachen selbst handeln. Das methodologische und wissenschaftstheoretische Paradigma des
der Lebenswelt zurückgeht, der somit nach Dilthey und Yorck die hermeneutische Fragestellung weiterbringt. Nach
Neukantianismus wird damit überwunden. Befreiend war ferner Husserls Kritik an dem wissenschaftlichen Objektivismus, als er von den >Sachen selbst< sprach. Die Sachen sind námlich nie unabhángig vom Bewu8tsein, sondern allein kraft der Intentionalitát des BewuBtseins gegeben.Die Intentionalitát besagt, daB jede gegenstándliche Gegebenheit die Seinsweise des BewuBtseins teilt. Die Intentionalitát ist ihrer Herkunft nach eine hermeneutische Kategorie, auch wenn Husserl sehr selten von Flermeneutik spricht.6T Es gibt keine Objektivitát oder Gegenstandserschlie8ung ohne konstitutive Intentionalitát des BewuBtseins. Husserl war auch insofern ein Befreier, als er sah, daB sich diese Konstitution nicht immer auf die souveráne Leistung einer transzendentalen Subjektivitát zurückfiihren láBt. Die Intentionalitát entfaltet sich námlich in einem Horizont, der über die Subjektivitát hinausgeht. Gadamer zeigt eine besondere Vorliebe fiir diesen Husserlschen Begriff des Horizontes. Dieser Begriffmarkiert sehr schón, daB jede Intention in den Rahmen einer Sichrbarkeit eingespannt bleibt, der aber nicht vóllig thematisch sein kann, ohne dafiir eine starre Grenze zu bedeuten, weil sich der Horizont ja mit uns mitbewegt und zum 'Weitergehen einládt. Husserl hat auch gesehen, daB der implizite Horizont des BewuBtseins - er sprach gelegentlich auch von passiver Synthesis - auf eine unterschwellige Temporalitát des Bewu8tseinslebens zurückverweist. So spricht die Kns¡s in unerhórter.Weise von einer >absoluten Historizitát<, die alles Seiende umspannt.68 Viel glücklicher ist ohne Zweifel die
weiterhin und paradoxerweise 0[/M,252) von einer rKon-
67 Vgl. daau mein Kapitel über >Husserl's Silent Contribution ro Hermeneutics<,in Sources of Hermeneutics,l99S, 35-46. 68 Husserliana VI,344. Die Formel ist so verblüffend, daB Gadamer sie
in'W'M zweimal anfiihrt (248,260).
Gadamer ist aber Husserl nicht radikal genug gewesen,weil er
stitution der Lebenswelt< sprach, die auf ein transzendentales Ur-Ich zurückzufiihren wáre. Husserl hátte sich hier nicht ausreichend von idealistischen und epistemologischen Denkschemata losgelóst. Sie brachten ihn auch dazu, seine Philosophie an das Ideal einer apodiktischen, einer Letztbegrün-Wissenschaft
dung anstrebenden Dilthey hátte sich Husserl
anzulehnen. Ahnhch wie
also vom Kartesianismus nicht befreien kónnen, als er es sich zurnZiel setzte, das Bewu8tseinsleben in seiner >absoluten Historizitát< zu fassen. Es sind gerade diese Denkmuster, die Heidegger mit seiner
Radikalisierung der Geschichtlichkeit, der sich Dilthey und Husserl nur genáhert hatten, sprengt. Dies ist der rechte Sinn seiner Flermeneutik der Faktizitát. Die Faktizitát bedeutet also nicht wie bei den Junghegelianern oder der historischen Schule, daB die Faktizitát eine letzte Gegegebenheit oder eine neue Positivitát darstellt, die sich einer Metaphysik des absoluten Geistes entgegensetzen lieBe. Sie zielt vielmehr darauf
ab, die metaphysische Voreingenommenheit des Begründungs- und Subjektivitátsdenkens aufzúdecken. Die Fundamentálontologie ist also weder fundamentalistisch noch subj ektivistisch miBzuverstehen: >DaB Heideggers
Entwurf einer
Fundamentalontologie das Problem der Geschichte in den Vordergrund stellen mu8te, war also klar. Doch sollte sich baid zeigen, da8 nicht die Lósung des Problems des Historismus, daB überhaupt keine ursprünglichere Begründung der Wissenschaften,ja auch nicht wie bei Husserl, eine letztradikale Selbstbegründung der Philosophie den Sinn dieser F¿¿damentalontologie ausmachte, sondern da[J der Begründungsgedanke selbst eine vóllige Umkehrung erfuhr.< flffM, 261)
Der Begründungsgedanke wird fragwürdig, weil Heidegin einer breit angelegten Destruktion dessen ontologische
ger
t
18
3-
Die Destruktion
de
r Hermeneutik
Voraussetzungen entlarvt. Es ist seine tragende Intuition, daB die Suche nach einem absoluten und damit zeitlosen Fundament der Erkenntnis aus einem verdrángenden Vergessen der menschlichen Zeitlichkeit resultiert: angesichts seiner Endlichkeit sucht der Mensch nach einem festen Rückhalt in einer bestándigen Gegenwart. Aber setzt diese lJnerschütterlichkeit des Grundes nicht die Endlichkeit voraus? Das Denken der Subjektivitát stammt aus derselben Ontologie der Permanenz. Das subjectum oder hypokeimenon íst das Zugrundeliegende. Für diese Rolle kommt nach Aristoteles der Mensch nicht in Frage, sondern allenfalls das >grammatische Subjekt<, weil es jeder Prádikation zugrunde liegt, oder die jedem Seienden zugrunde liegende Materie (hyle).Erst fur das spátere moderne Denken wird der Mensch in einem Selbstbefijrderungsakt zum Subjekt, d. h. zum Zugrundeliegenden, auf das sich alles bezieht. Es ist die Hybris dieser AnmaBung, die Heidegger namhaft macht, wenn er das Dasein an seine unentrinnbare Zeitlichkeit erinnert. LáBt sich der Mensch oder sein BewuBtsein wirklich als der gemeinsame
Nenner allen Seins ansetzen? Wird er nicht vielmehr selbst ins Sein geworfen, und zwar rrur fiir eine winzige Zeit, der er nicht einmal Herr ist? Es ist diese >Geworfenheit< des Daseins, von der eine Flermeneutik der Faktizitát auszugehen hat. Sie ist aber alles andere als eine bestándige Gegenwart, ein Fundament, sie ist also kein >Subjekt<. Das Subjekt ist buchstábZugrundegeworfene.'\X/enn man hier unbedingt von sprechen will, dann mu8 man auf die grundsátzliche, unverfiigbare Geworfenheit des Menschen abheben. Die Geworfenheit ist somit als Gegenbegriffzum modernen Subjectum konzipiert.6e Sie bildet die >Grundlage< ei-
lich
das
einem
Derphánomenologische
des 19- Jahrhunderts
>jectum<<
ner Flermeneutik der Faktizitát. Von Flermeneutik ist zu sprechen, weil sich diese Geworfenheit durch Verstehen aus6e Vgl. die Notiz in GA 28,116: >Sub-iectum: das darunter Geworfene und daher darunter Liegende (hypokeimenon)< [in Anmerkung dazu steht: >Geworfenheit<]. Entgegen einem weit verbreiteten Irrtum istjedoch festzuhalten, da8 Descartes selbst nie den Menschen oder das cogito aIs subjectum denkt.
Durchbruch
1,1,9
zeichnet: Das Dasein versteht nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst. Für eine Hermeneutik der Faktizitát ist aber dieses Verstehen so grundlegend, daB es sich nicht mehr bloB als das kognitive und damit methodologisierbare Verfahren der Geisteswissenschaften ansprechen láBt. Es setzt tiefer an, da es nunmehr ¡>die ursprüngliche Vollzugsform des Daseíns, das In-der-Weltsein< verkórpert flMM, 264). Heidegger hatte auf revolutionáre Art dieses Verstehen als >sich-auf-etwas-verstehen( verstanden. Es ist weniger ein Erkennen als ein Kónnen, eine Fertigkeit, eine Fáhigkeit, einer Sache gewachsen zu sein. 'Wer es versteht, ein Gedicht zu lesen, ist nicht jemand, der etwas erkennt oder über eine besondere Methode verfiigt, sondern jemand, der es einfach kann (SZ, 1,43;WM,264). Dieses Verstehen ist immer zugleich ein Sirúverstehen: es geht in ihm um eine Móglichkeit meiner selbst, nicht um einen von mir ablósbaren Wissensinhalt, den ich objektiv er-
kenne.
Die Subjekt-Objekt-Dichotomie ist hier fehl
Platz. Ich bin es, der
es
am versteht, ein Gedicht zu lesen oder eine
fremde Sprache zu sprechen. Darin liegt fiir Gadamer ein doppelter Durchbruch: Das Verstehen ist weniger ein Verfahren als ein Kónnen, und weniger ein reines Erkennen von etwas als ein Sichverstehen auf etwas. Beide Elernente, der Selbstbezug des Verstehens und dessen Kónnenscharakter,
markieren die Grenze einer Methodologie des Verstehens. Das Verstehen ist nicht mehr die unter Regeln zu bringende erkenntnismáBige Umkehrung eines Schafnensprozesses, sondern die >Vollzugsweise< des Daseins schlechthin. Heidegger schildert diese Vollzugsweise auf unvergleichlich dramatische 'W'eise. [m Verstehen geht es immer um eine Móglichkeit meines bedrohten Selbst, auf die hin ich mich >entwerfe<. Der entwerGnde Charakter des menschlichen Verstehens ist damit vorgreifend. In jedem Verstehen steckt somit eine Antizipation, ein Vorgriffauf das Verstandene. Dieser Vorgriffwird bei Heidegger sehr existenzial gefa8t: In jedem Entwurf wird eine Existenzweise antizipiert. Eine Hermeneutik der Faktizitát ist also nach Heidegger dazu berufen, das Dasein fiir diese Mógüchkeiten seiner selbst zu erwecken, weil das Dasein
sich allzu gern, da es viel bequemer ist, auf uneigentliche
1,20
3.
DerphánomenologischeDurchbruch 121,
Die Destruktion der Hermeneutik des lg.Jahrhunderts
Móglichkeiten hin enrwirft. Die Zielrichtung seiner Flermeneutik ist eminent kritisch, ja dekonstruktiv: >Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugánglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nechzugehen. In der Hermeneutik bildet sich fiir das Dasein eine Móglichkeit aus, ñir sich selbst uerstehend zu werden und zu sein.uTo Diese Selbsterhellung wird dem Verstehen nicht hinzugedichtet. Sie wohnt ihm inne, soGrn das Verstehen von Hause aus ein vorgreifendes Sichverstehen ist. Die Hermeneutik fragt hier:'W'orauf versteht sich dieses Verstehen, wenn es sich auf diesen oder jenen Vorgriff hin entwirft? Mit anderen 'W'orten:Welche Existenzweise wird da antizipiert? Eine einfach so übernommene, d. h. eine uneigentliche, oder eine eigentliche, d. h. eine eigens und mit Entschlossenheit entworfene? Die Hermeneutik will dem Dasein zum Verstehen seiner selbst verhelfen: >Thema der hermeneutischen ljntersuchung istje eigenes Dasein,und zwar als hermeneutisch befragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszubilden.( (GA63,16)
Der Entwurf des Verstehens schlie8t also immer ein EntwerGn auf eine mógliche Existenz hin ein. Der EntwurGgedanke ist hier natürlich etwas mi8verstándlich, sofern er an einen >Plan< oder ein Lebensprojekt gemahnt, worüber das Dasein frei verñigen kónnte. Der junge Heidegger wei8 sehr wohl, wie es in dem Natorp-Bericht von lg22heitJt,daB das faktische Leben weit mehr in die sein Verstehen leitenden Hinsichten rhineingerát als da8 es sie ausdrückiich sich zueignet.<71 ln Seín und Zeit wird er deswegen die Seinsverfassung des Daseins als >geworfenen Entwurfi, charakterisieren. Es gibt námlich keinen Entwurf ohne Geworfenheit. Es mag aber sehr wohl sein, daB der frühe Heidegger mehr auf das 70 M. Heidegger, GA 63: Ontologie (Hermeneutik der Faktizítiit), 15
.
71 M. Heidegger, >Phánomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation<, in Dílthey-Jahrbuch 6 (1989),241-.
Enrwurfsmoment und die dabei zu gewinnende >Durchsichtigkeir< als auf die Geworfenheit abhob. Die Kehre spielt sich ohne Zweifel hier ab, insofern der spáte Gedanke der Seinsgeschichte eher die Dimension der GeworGnheit hervorzukehren scheint. Aber auch dies geschieht nur, um einen anderen Anfang und damit einen neuen >Entwurfi< vorzubereiten.
Die Idee eines neuen Anfangs ist Gadamers Hermeneutik eher fremd. Dennoch hat er wichtige Lehren aus Heideggers Verstehenskonzeption gezogen. Das Verstehen behielt bei ihm den Charakter eines Selbstkónnens. Es ist insofern enrwerfend, als es sich von Antizipationen leiten láBt, aber auch geworfen, sofern diese Entwürfe aus einer Wirkungsgeschichte her stammen.Es wáre ja vermessen,alle Entwürfe des Verstehens in die Durchsichtigkeit des BewuBtseins heben zu wollen und von einer absolut eutonomen Subjektivitát abhángen zu lassen.Das wáre ein Rückfall in das instrumentalistische und methodische Denken der Subjektivitát. Nach Gadamer gehórt der Verstehende mehr zu einer in ihm wirkenden Geschichte, als er sich bewuBt werden kann.Es wáre aber
ein Irrtum und ein MiBverstándnis des Verstehens, in dieser
Bedingtheit ein reines Verstehenshindernis zu sehen. Sie ist auch eine Bedingung der Móglichkeit fiir das Verstehen: Man versteht nur, weil man sich von Erwartungen leiten láBt und von einer Wirkungsgeschichte her versteht. Von Heidegger hat Gadamer gelernt, daB diese Vorstruktur zur >ontologischen< Verfassung des Verstehens gehórt. Wer über diese Vorstruktur hinausspringen will, weil sie das Verstehen beeintráchtigt, miBversteht das'Wesen
des Verstehens.
in der Anerkennung dieser Vorstruktur des Verstehens einen Freibrief fiir alle móglichen Vormeinungen und Interpretationen zu sehen. Die Zugehórigkeit zu einer Tiadition unterstreicht den GeEs wáre ein weiteres MiBverstándnis,
schehenscharakter des Verstehens, sie darfnicht als eine Legitimation des Verstehens gedeutet werden. Gadamer erkennt durchaus an, daB es >immanente Kriterien< ('WM,265) der Erkenntnis gibt und denkt dabei gewiB an das logische Prinzip des Widerspruchs und an die herzustellende Sachangemessenheit des Verstehens. Er hált also fest, daB die VorgreiG
1,22
3. Die Destruktion der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts
lichkeit
des Verstehens
und die Zugehórigkeit zu einer Tradi-
tion nicht zu verwechseln ist mit dem Hineinspielen von emotiver Vorliebe und Voreingenommenheit: >>Zugehórigfiir den ursprünglichen Sinn historischen Interesses, weil Themenwahl und Fragestellung auBerwissenschaftlichen, subjektiven Motivationen unterliegen (dann wáre Zugehórigkeit nur ein Spezialfall emotionaler Abhángigkeit vom Typus der Sympathie), sondern weil Zugehórigkeit zu Traditionen genau so ursprünglich und wesenhaft zu der geschichtlichen Endlichkeit des Daseins gehórt wie sein Entworfensein auf zukünftige Móglichkeiten seiner selbst.( (WM, 266) keit< ist nicht deshalb eine Bedingung
Nicht auf diese spezielle Zugehórigkeit kommt es an. Sie spielt freilich auch eine Rolle, aber sie láBt sich meist im Zatrn halten Gadamer meint etwas Vordergründigeres, námlich eine ontologische Verfassung unserer Endlichkeit, d. h.
die sie
charakterisierende unmóglichkeit, einen letzten Grund fiir ihre SinnentwürG ausfindig zu machen. Die Methodologie, die hier nach Kriterien, Sicherheit und GewiBheit sucht, behált ihre Berechtigung, aber sie vefihrt uns leicht dazu, in ihnen das'Wesentliche der Verstehenswahrheit zu erblicken. Versteht man nur, insofern und weil man etwas sichern kann? Setzt nicht die W'ahrheit des Angesprochenwerdens eine viel ursprünglichere Zugehórigkeit voraus, die die moderne Methodologie falsch versteht, wenn sie in ihr nur ein Verstehenshindernis erkennen will? Gadamer móchte die Fruchtbarkeit der Geschichtlichkeit und unserer Zugehórigkeit zur Tradition nicht hervorkehren, um alle Vorurteile zu legitimieren, sondern um kritisch die Grenze des methodologischen Denkens vor Au ger, zvfiihren.
Ein Element von Tiadition und Geschehen 1áBt sich aus dem Verstehen nicht wegdenken. Es handelt sich gleichsam um eine >transzendentale< Bedingung des Verstehens, die Gadamer im AnschluB an Heidegger philosophisch legitimieren will,weil sie viel zu sehr als Hürde verstanden wird: >So knüpfen auch wir zunáchst an den transzendentalen Sinn der Heideggerschen Fragestellung an. Durch Heideggers transzendentale Interpretation des Verstehens gewinnt das Problem
DerphánomenologischeDurchbruch 123
der Hermeneutik einen universalen lJmriB,ja den Zuwachs einer neuen Dimension.< (WM,268) Der Begriffdes >Transzendentalen< ist hier aber alles andere als selbstverstándlich. Er hebt in erster Linie den philosophischen Anspruch des lJnternehmens hervor. Es handelt sich jedoch um ein Transzendentales eigentümlicher Art,
námlich um die wesentliche Zugehórigkeit des Verstehens zum Verstandenen, das sich nur im Horizont von Vorentwürfen und vor dem Hintergrund einer Tradition aus verstehen láBt. Diese Verstehenskonzeption ist nur transzendental, sofern sie eine unaufhebbare Bedingtheit jeden Verstehens beinhaltet.Es springt in die Augen,daB sie damit auch die Grenze einer jeden transzendentalen Reflexion in Erinnerung ruft, die das Verstehen allein von seinen Gültigkeitsbedingungen her erkláren würde. Ein solch transzendentales Denken bliebe instrumental. Gadamers Gebrauch des Transzendentalen ist also nicht frei von Spannungen, die auch im Heidegger-Kapitel zum Vorschein kommen. Einerseits lehnt er sich explizit an den transzendentalen Sínn der Heideggerschen Fragestellung an (WM,268), andererseits wirft er >Heideggers Entwurf von Sein und ZeíR< vor, daB er sich >dem Bereich der transzendentalen Reflexionsproblematik nicht vóllig entwunden hatte< flIr'M, 260)!
(Jnter der >transzendentalen Refl exionsproblematik< versteht Gadamer zweifellos die neukantianische und methodologische Reflexion über die Gültigkeitsbedingungen der Erkenntnis, der er sich sehr wohl entwinden móchte, weil sie das Verstehen noch zu instrumental denkt. Dagegen móchte er eine Hermeneutik der Endlichkeit aufstellen, die er in einem anderen Sinne >transzendentalo zu nennen wagt.7z Sie ist nicht transzendental, weil sie eine neue Bedingung des Verstehens ausfindig macht, sondern weil sie die universelle Bedingtheit zu umschreiben versucht, unter derjedes Verstehen steht und vor der sich jede transzendentale Problematik beu72 Wir werden im SchluBkapitel sehen, daB sich Gadamer damit an den ontologischen und mittelalterlichen Sinn des Tianszendentalen anschlieBt.
124
3.
Die Destruktion der Hermeneutik
des
lg.Jahrhunderts
gen muB. In dieser schillernden Zweideutigkeit des Transzendentalen bewegt sich die ganze Fregestellung Gadamers. Sie weist auf die unvordenkliche Dimension des Verstehens hin,
die keine transzendentale Reflexion einholen kann, weil sie dem Verstehen vorausliegt.
4.Der Horizont einer Flermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit Die Konstellation
des Verstehens
>DaB alles freie Sichverhalten zu seinem Sein hinter die Faktizitát dieses Seins nicht zurück kann, darin lag
die Pointe der Hermeneutik der Faktizitát und ihr Gegensatz zu der transzendentalen Konstitutionsforschung der Husserlschen Phánome¡rologie. Unüberholbar liegt dern l)asein voraus, was all sein Entwerfen ernróglicht und begrenzt. Diese existenziale Struktur des Daseins muB ihre Ausprágung auch im Verstehen der geschichtlichen Überlieferung finden, und so folgen wir zunáchst Heidegger.< (WM, 268f.)
Weil Gadamer zunáchst Heidegger und damit Sein und Zeit folgt, geht er zunáchst vom Zirkel des Verstehens aus, dem Heidegger eine betont ontologische, d. h. eine nicht erkenntnistheoretische Wende gegeben hatte: Weil das Dasein ein 'W'esen der Sorge ist und sich primár um seine Zukunft sorgt, versteht es sich stándig von mehr oder weniger ausdrücklichen Antizipationen aus. Mit seinen Sinnentwürfen versucht es sozusagen, den Schlágen zuvorzukommen, wohl wissend, daB die Existenz immer wieder solche parar hat bis hin zum letzten, unvermeidbaren Schlag des Todes, den das gesamte Bestreben der Metaphysik zu umgehen versucht. Der Zirkel ist hier der des Versrehens und der Auslegung: Es gibt keine Auslegung ohne versrehende Vorwegnahme. Heidegger sprach indes ungern von einem Zirkel, weil es sich um eine ráumliche und geometrische Figur handelt. Als sol-
126
4. Der
l{orizonc einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
Die Konstellation
des
Verstehens 1,27
und insofern ungeeignet, die besorgte Struktur des Daseins auszudrücken. Es ist also nicht ganz richtig, von Heideggers >Lehre< vom Zirkel des Verstehens zu reden. Denn nicht weniger als zweimal gibt er tn Sein und Zeit unmiBverstándlich zu erkennen, daB man die unangemessene Redeweise von einem Zirkel wird >vermeiden müssen( (SZ, 153,314). Er hat
erliegen. Die Auslegung, üe sich ihrer Voreingenommenheit zumindest bewu8t ist,wird hingegen >ihre erste,stándige und letzte Aufgabe< darin sehen, >sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriffnicht durch Einfilie und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftLiche Thema zu sichern< (SZ, 153). Es láBt sich also nicht sagen, da8 dieser hermeneutische Aus-
diese Redeweise nur aufgenommen, um auf den Verdacht des
legungsbegriff einen Freibrief
che ist sie aufdas bloB >vorhandene< Seiende zugeschnitten
>logischen Zirkels< zu reagieren, den seine Konzeption wachrufen lassen kónnte. Er hatte ja dargelegt, daB jede Auslegung - also selbst die wissenschaftlich und objektiv sein wollende -
von Verstehenserwartungen geleitet wird. Heidegger parodiert alsdann die Empórung der Logiker, die er ironisch vorwegnimmt: >Der Zirleel aber ist nach den elementarsten Regeln der Logik circulus vitiosus< (52,1.52)l Heidegger antwortet auf diesen Gedanken mit einer rhetorischen Provokation:'Wenn sie unbedingt vom Zirkel sprechen wollen, dann ist es vielleicht nicht das Entscheidende, den Zirkel zD vermeiden, >sondern in ihn nach der rechten'Weise hineinzukommen< (SZ, 153). So, und nur so ist Heidegger dazu gekommen, vom Zirkel zu sprechen. Um hier klarer zu sehen, ist es nicht unangebracht, eine logisch-episternologische von einer phánomenologischen Auffassung des Zirkels zu unterscheiden. In logischer Hinsicht kann der Zirkel nur ein uítiosus sein, sofern er z. B. bei einem Beweis darin besteht, das zu Beweisende vorauszusetzen. Man kann hier auch von eínet petítio principíí sprechen.Es ist hier tautologisch, von einem circulus uítiosus zu sprechen. Heideggers und Gadamers Analyse gilt aber nicht dem logischen Zirkel, dessen Gültigkeit unangetastet bleibt, sondern dem phánomenologischen, also rein beschreibbaren Gehalt des Zirkels des Verstehens: Er bringt námlich den von Fall zu Fall aufweisbaren lJmstand zum Ausdruck, da8 sich jede Auslegung von Verstehensvoraussetzungen - in Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff - leiten láBt. Die verhángnisvollste Voraussetzung wáre hier sogar das Dogma der Voraussetzungslosigkeit. 'W'er sich hinter dieser Versicherung versteckt, wird auf um so sichere'W'eise der Gewalt uneingestandener Voraussetzungen
fiir jede interpretatorische Voreingenommenheit erstellt.73 Es handelt sich im Gegenteil um einen kritischen,ja selbstkritischen Auslegungsbegiff, der um eine Ausweisung an den Sachen selbst besorgt ist. Bevor wir auf diese Problematik der Ausweisung an den Sachen selbst zurückkommen,ist es wichtig, die oft übersehenen {Jnterschiede zwischen Gadamer und Heidegger in ihrer Diskussion des sogenannten hermeneutischen Zirkels ins Blickfeld zu rücken. Die Motivation ist bei beiden Autoren nicht genau die gleiche. Bei Heidegger ist sie in erster Linie existenzial. Im Verstehen als Sichverstehen des Daseins ist immer eine Antizipation der Existenz im Spiel, die die Auslegung aufzukláren hat: rDie Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung.In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. [...] Die Auslegung ist nicht die Kenntnisnahme des Verstandenen, sondern die Ausarbeitung der im Verstehen entworGnen Móglichkeiten.< (5Z,,148)74 73 -Wie Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik,Fnnk-
furt
a. M., Suhrkamp, 1975,12f. unterstellte: >Aus dem Skandalon des Zirkels, in dem das Verstehen dennoch seine Bedingung erkennen muB, wurde ein Beruhigungsmittel.< 7a Heidegge. spielt hier offenba¡ auf die Mehrdeutigkeit des einschlágigen Begriffs der Auslegung an. Heideggers Konzeption, der zufolge es erst ein (zuvorkommendes trnd besorgtes) Verstehen und dann eine Auslegung dieses Verstehens gibt, kehrt bewuBt das in der überlieG¡ten Hermeneutik fiir natürlich gehaltene teleoiogische Verháltnis
zwischen beiden um: eine Auslegung wird aufgeboten, um ein Verstehen oder Verstándnis zustandezubringen (vgl. dazu E.Betti, Zur Crundlegung eíner allgemeínen Auslegungslehre, 1954, Nachdr. : Mohr Siebeck,Tübingen, 1988, 13). Nach Heidegger gibt es aber keine so unvoreingenommene Auslegung, daB sie nicht immer ein Verstehen voraussetzte. Aber er versteht ervyas anderes unterer Auslegung, námlich die Ausbildung und aus-
128
4. Der
Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
Gadamers StoBrichtung ist anders pointierr.Er polemisiert in erster Linie ge gen das methodologische Obj ektivitátsmodell, das jede hnplikation des Verstehenden in dem, was er versteht, fiir Anathema erklárt. Ein solches Modell wird der Zu-
gehórigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstand und zu seiner Tradition nicht gerecht. Heideggers Vorstruktur des Verstehens hatte den ontologischen Charakter dieser Zugehórigkeit existenzial ins Licht gestellt. Gadamer móchte diese Einsicht fiir eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik zum Tragen kommen lassen: >Die Zugehórigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstande, die in der Reflexion der historischen Schule keine rechte Legitimation zu finden vermochte, erhált nun einen konkret aufweisbaren Sinn, und es ist die Aufgabe
der Hermeneutik, die Aufweisung dieses Sinnes zu leisten.<
(wM,268). Der genannte lJnterschied resultiert vor allem aus einer verschiedenen Motivation der Verstehenskonzepte Heideggers und Gadamers. Weitere Differenzen betreffen j edoch das Verstándnis des Zirkels selbst. Es fillt zunáchst auf, daB Heidegger im Gegensatz zt Gadamer nie vom Zírkel des Ganzen und seiner Teile, sondern vom Zirkel des Verstehens und seiner Auslegung spricht. Auf den Zirkel kommt er zu sprechen, weil seine Auffassung, wonach die Auslegung einen Entwurf des Verstehens zur Voraussetzung hat, den epistemologisch.en Zirkeleinwand hervorruft: Ist die Auslegung oder Interpretation denn nur die Bestátigung eines vorweg aufgebotenen Verstándnisses? Insofern - und nur insofern - ist die Problematik von Heidegger etwas epistemologischer als die von Gadamer. Von Anñng an verbindet Gadamer hingegen die Zirkelpro-
blematik mit der in der Hermeneurik herkómmlichen, rein beschreibenden Thematik des Zirkels des Ganzen und seiner Telle. Wahrheít und Methode ruft dabei in Erinnerung, daB die >hermeneutische Regel< (!), nach der man das Ganze aus dem das Einzelne aus dem Ganzen verstehen müs-
Einzelnen und
drückliche Entflitung der im (existentialen) Verstehen enwyorfenen Móglichkeiten. Diese Konzeption soll auch aufden Spezialfaü der logischen Auslegung Anwendung 6nden.
philo-
Die Konstellation
des
Verstehcns 1,29
Rhetorik stamme 0üM,296). Sie hatte auch dort einen rein phánomenologischen Gehalt, indem sie die tastende Hin- und Herbewegung eines jeden Verstehens se, aus der antiken
beschrieb.'Weit davon entfernt, einen logischen Fehler zu charakterisieren, schildert die Zirkelvorstellung den srándigen RevisionsprozeB der Verstehensantizipationen im Lichte eines vertieften Verstándnisses des Ganzen und seiner Teile. Gadamer wird konsequent in der Kohárenz des Ganzen und seiner Teile ein Richtigkeitskriterium des Verstehens erkennen: rEinstimmung aller Einzelheiten a)nr Ganzen ist das je-
weilige Kriterium fiir die Richtigkeit des Verstehens. Das Ausbleiben solcher Einstimmung bedeutet Scheitern des Verstehens.< 0ñ/M,296) Nicht ein logischer Fehler, sondern eine logische Forderung ruft die Zirkelmetapher auf den Plan.
Die Revision
des Verstehens láBt sich
bei Gadamer von ei-
nem >Vorgriff der Vollkomrnenheit( leiten. Gadamer verdeutlicht in erhellender Weise, daB dieser Vorgriffeine >Konsequenz( des hermeneutischen Zirkels darstellt (.WM, 299). Er besagt, daB >nur das verstándlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt< (ebd.). Es ist eine dem Interpretandum verliehene Vollkommenheit, die dem angelsáchsischen >charity principle< nicht unáhnlich ist:'W'as ich zu verstehen suche, mu8 ein kohárentes Ganzes bilden. Man erkennt daran, daB fiir Gadamer die Übereinstimmung der Interpretation mit diesem kohárenten Sinn die teleologische Norm jeder Interpretation bleibt. Es ist diese Kohárenz in der Sache, die das Verstehen antizipiert. Nur wenn sie sich als unhaltbar erweist, muB auf historistische oder psychologistische Deutungen zurückgegriffen werden.'W'as hier Bestátigung findet, ist Gadamers Auffassung, der zufolge das Verstehen ein Sichverstehen in der Sache ist. Das Verkennen dieses Sachverhalts fiihrte im Historismus dazu,allein die komparative, psychologische und historistische Methode in den Vordergrund zu rücken. Gadamers Zirkelproblematik ist in einem ganz besonderen Sinne weniger epistemologisch angesetzt a1s Heideggers, sofern sie nicht vom logischen Zirkelverdacht ausgeht.D er Zir-
130
4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
kel beschreibt nach Gadamer vielmehr einen bestándigen Revisionsproze[J, ja eine imrnanente Regel einer jeden Interpretation: es müssen die Verstehensentwürfe ausgearbeitet werden, die der Kohárenz des Interpretandum am náchsten kommen. Es zeigt sich aber, daB Gadamers Problematik in einer anderen Hinsicht doch epistemologischer ist als diejenige Heideggers, sofern námlich der Akzent deutlich auf die Revision der vorláufigen >Hypothesenu des Verstehens geiegt wird. Es gibt also etwas von tríal-and-error in der rein beschreibend sein wollenden Darlegung Gadarners. Dies hángt freilich mit dem unterschiedlichen Anwendungsbereich der Zirkelproblematik zusammen: Wáhrend es Heidegger bei der Auslegung deutlich um die Herausstellung der vorverstandenen Existenzantizipationen geht, hat Gadamer zweifellos das gewiB beschránktere Feld vor Augen, das die geisteswissenschaftliche Textinterpretation bietet. Es lieBe sich sagen, da8 Gadamer den Heideggerschen Zirkel damit philologisiert, oder genauer: re-philologisiert, denn der Zirkel stammte ja ursprünglich aus der Hermeneutik und der Rhetorik. Zu dieser Verschiebung der Zirkelproblematik hat Odo Marquard das bekannte bonmot geprágt, Gadamer habe Heideggers Sein-zum-Tode durch ein Sein-zum-Text ersetzt.75 Auch wenn es Gadamers bekundete Absicht ist, die Heideggersche Zirkelproblematik auf eine Hermeneutik der Geisteswissenschaften anzuwenden, bleibt dieses bonmot etwas oberfláchlich. Gadamer vergiBt ja nicht die radikalere Flermeneutik seines Lehrers, wenn er sie konkretisiert. Kann man ))Texte( interpretieren oder lesen unter Ausschaltung des eigenen Seins-zurn-Tode? Der Text, den ich interpretiere, spricht immer die Endlichkeit desjenigen Textes an, der ich fiir mich selbst bin. Die Pointe der Heideggerschen Analyse sieht Gadamer auch weniger in der Erinnerung, daB im Verstehen ein Zirkel vorliegt - denn die Rhetorik und die romantische Flerme7s O. Marquard, Abschied uom Prinzipíellerz, Stuttgart, Reclam, 1981, 130 u. ó. Gadamer sah darin aber immer eine Verkürzung seiner Intentionen (vgl. WM,316f.; GW 2,233 und das LB-Gesprách,282).
Die Konstellation
des
Verstehens 131
neutik hatten um ihn immer schon gewuBt -, sondern darin, daB dieser Zírkel >überhaupt nicht ein methodischer Zírkel [ist], sondern [...] ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens< beschreibt (WM, 299). Ein methodischer Zirkel wáre es námlich nur aus einer epistemologischen oder kartesianischen Perspektive, nach der das Verstehen linear von Evidenz zu Evidenz fortschreitet. Versteht man immer auf diese archimedische Art und'W'eise, fragt Gadamer? Erfolgt nicht vielmehr das Verstehen aufgrund von mehr oder weniger ausdrücklichen Sinnantizipationen, die sich vor dem
Hin-
tergrund einer Traditionszugehórigkeit bilden? Auch wenn dies bei Heidegger und Gadamer unterbelichtet erscheint, lieBe sich bei ihnen die >holistische< Rede vom Zirkel des Verstehens gegen eine rein lineare Auffassung des Verstehens
abheben. Gegen die methodische Idee einer Sinnbeherrschung aufgrund einer linearen Ableitungskette entwickelt die Hermeneutik eine >holistischere< Auffássung des Verstehens als >Teilhabe<, nach der sich das Verstehen immer in einem ganzheitlichen Kontext vollzieht, in den der Verstehende selbst gehórt. Um die logisch verdáchtige und belastete Metapher des Zirkels zu vermeiden, sprechen viele Interpreten von hermeneutischer >Spirale<. Diese Metapher hat aber ebenfalls ihre Grenzen. Das Verstehen wird hier als ein asymptotischer Annáherungsproze[3 gefaBt, der dem Geschehenscharakter im Sinne Gadamers nicht ganz gerecht wird. Nach der oben angefiihrten Formel aus dem Jahre 1999 heiBt Verstehen fiir Gadamer: rnicht auslegen kónnen<, weil man von der Sache so ergriffen wird. Es láBt sich hier schwerlich von einer Spirale sprechen. Vielleicht lie8e sich angemessener von einer >Konstellation< des Verstehens sprechen. Jedes Verstehen steht námlich in einer ihm weitgehend unbewuBten Konstellation, die ihm seine Lichthaftigkeit verleiht. Man versteht auch, weil man unter einem gewissen Stern steht und geboren wurde. Ein Deutscher versteht ein Stück weit anders als eine Chinesin, ein 17jáhriger anders a1s ein 60jáhriger, ein Mensch des 2O.Jahrhunderts anders als einer aus dem Mittelalter.Wer Heidegger und Hólderlin gelesen hat,versteht auch anders als
132
4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtLichen W'achsamkeit
derjenige, der durch Bertrand Russell und Conan Doyle erzogen worden ist. Es ist nun einmal die Konstellation, in der jedes Verstehen steht und die ihm - wie jede stellarische Konstellation - auch nicht prásent zu sein braucht, zumal die eine
Konstellation ausmechenden Sterne selbst Lichtjahre voneinander entfernt sind und nur fiir unseren Blick zusammenkommen.Jedes Verstehen hat auf diese Weise seine Konstellation. Auch wenn man dabei dasselbe versteht, versteht man doch etwas anders. Die grundlegende Idee ist hier die, diese Konstellation von dem prájudizierenden Charakter zu befreien, den die Methodologie allein in ihr erkennt. Es gilt auch, ihre Legitimation in einer Hermeneutik der Geisteswissenschaften zu erbringen. Ein letzter lJnterschied zwischen Gadamer und Heidegger in der Zirkelfrage láBt sich nicht verkennen: Wáhrend Heidegger eher auf den Primat der Zukunft bei den Entwürfen des zuvorkommenden Verstehens abhebt, hofft Gadamer, dem Grundmotiv einer Hermeneutik der Geworfenheit gerechter zu werden, indem er am Primat der Vergangenheit
Die Konstellation
Heidegger
Termini
des
Zirkels
des
Verstehens 133
Gadamer
Zirkel der Auslegung und in ihr vorausgesetzten
des
Zirkel des Ganzen und seiner Teile
Verstehens
Logische
tledeutung
Der Zirkel entsteht aus dem Verdacht eines circulus vitiosus oder einer petitio principii
-
epistemologischer Zirkel
Der Zirkel bezeichnet eine hermeneutische Regel, die aus der
(vom Gesichtspunkt der
Rhetorik stammt
logischen Kritiker aus betrachtet)
-
phánomenolo-
gischer (rein beschreibender)
Zirkel Grenze der
Zirkelmetapher
Eine ráumliche oder geometrische Figur, die der Bewegtheit der Existenz nicht gerecht wird, weil sie auf das Seiende als Vorhandenheit zugeschnitten ist
festhált. Für Gadamer ist die Zukunft gerade das,was sich unserem Verstehen entzieht und was wir hóchstens im Lichte
gibt in'W'ahrheit keinen logischen Zirkel, weil die Figur ledig-
Es
lich die bestándige Revisionsforderung von Sinnhypothesen
im Lichte des
VorgrifB der Voll-
der bereits gesammelten Erfahrungen >antizipieren< kón-
kommenheit wiedergibt - hier denkt Gadamer
nen.76
Es mag hilfreich sein, diese oft verkannten Differenzen zwischen Gadamer und Heidegger im Verstándnis des hermeneutischen Zirkels in folgendes Schema zu setzen:
epistemologischer als
Bevorzugtes
Heidegger
Hermeneutik der Existenz
Texthe¡meneutik
Verstehen heiBt
Sichverstehen auf,
vor allem
etwas kónnen
Sichverstehen in der Sache
Inhalt der Vorstruktur des
Die Antizipation der Existenz
Vorurteile des
in Vorhabe, Vorsicht und
Verstehens
Verstehens
Votgriff
Herkunft der
Prirnat der
Anwendungsfeld
16 V{..dazu Gadamers Antwort auf K.-O.Apel,die sich auch als Antwort auf Heidegger zu lesen empfiehlt, in TPHGG, 95: >Apel describes what disturbs him in my thought, narrely, the )strange primacy of the past over the future<. This, however, must astonish me. The future which we do not know is supposed to take prirnacy over the past? Is it not the past which has stamped us permanently through its eflective history? If we seek to illuminate this history we may be able to make ourselves conscious of and overcome some of the prejudices which have determined
Antizipationen
Zrkrnft
Primat de¡ Vergangenheit (Wirkungsgeschichte)
1,34
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der gesctúchtüchen Wachsamkeit
Das wesentliche Einverstándnis zwischen Gadamer und Heidegger betrifft den ontologischen Charakter, eber auch den Erkenntnisgewinn dieses Zirkels. Als Anzeige des móglichen'Wachseins des Verstehens fo¡dert er die Auslegung dazu auf, sich ihrer Voreingenommenheit innezuwerden, um die Sache, die es zu verstehen gilt, besser sprechen lassen zu kónnen. Liegt darin aber nicht ein neuer'Widerspruch? Wie láBt sich von den Sachen selbst sprechen, wenn die Vorstruktur des Verstehens so ontologisch, d. h. universal sein soll?
Die Vorurteile und die Sache selbst: eine Aporie? Ein Verstehen, das sich über seine Zugehórigkeit zu einer Konstellation von Sinn im klaren ist, wird sich um eine Herausstellung seiner Vorurteile bemühen. Gadamer verzichtet keineswegs auf das aufklárerische Ideal einer Hebung der Vorurteile, er macht sogar selbst ein Vorurteil der Aufklárung namhaft, námlich das Vorurteil gegen Vorurteile! Dieses Vorurteil geht námlich davon aus, da8 man nur das fiir wahr halten kann, was auf einer letzten Begründung und GewiBheit beruht. Wo láBt sich eber eine solche vorurteilslose GewiBheit im Spielraum unseres Erkennens auffinden, wenn man die Spháre der logischen und mathematischen Wahrheiten beiseite láBt? Nach Gadamer ist die Idee einer letzten Begründung keine reale Móglichkeit unseres Verstehens. Auf dieser Móglichkeit beruht jedoch der MiBkredit, den die Aufklárung über alle Vorurteile verhángt. Ist es nicht dieses Ideal oder >Vorurteil<, das revisionsbedürftig ist, weil es der Geschichtlichkeit unseres Verstehens nicht gerecht wird? Man wird alsdann aufhóren, in dem Neutralitátsideal oder in der Selbstauslóschung ein wirkliches oder auch nur einschlágiges Modell fiir eine geschichtliche Hermeneutik zu sehen. Die polemisch wirkende Formulierung eines Vorurteils gegen die Vourteile denunziert in der Aufklárung ein sachunangemessenes Vorurteil. Sie setzt also voraus, daB es legitime
und illegitime Vorurteile gibt. Die ersten verschaffen uns ei-
Die Vorurteile und die Sache selbst: eine
Aporie? 135
nen Zugang zur Sache selbst, die anderen versperren ihn.'Wie lassen sie sich eber ausweisen und auseinanderhalten? Gada-
mer antwortet stets: an den Sachen selbst! Diese verblüffende Auskunft war bereits die von Heidegger in dem entscheidenden Passus von Sejn und Zeit,nach dem es die >erste, stándige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriffnicht durch Einfálle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern.< (SZ, 153). Im selben Sinne schreibt Gadamer: >Damir wird die fiir eine wahrhaft geschichtliche Flermeneutik zentrale Frage, ihre erkenntnistheoretische Grundfrage, formulierbar: Worin soll die Legitimation von Vorurteilen ihren Grund finden? Was unterscheidet legitime Vorurteile von all den unzáhligen Vorurteilen, deren Überwindung das unbestreitbare Anliegen 'Weder der kritischen Vernunft ist?< flVM,281f.) Heidegger noch Gadamer zweifeln an der Móglichkeit einer Ausweisung der Verstehensvorgriffe an den Sachen selbst.'W'er meint, ihre Hermeneutik mache die Vorstellung einer Adáquation mit den Sachen selbst hinfillig,verwechselt sie mit ihren postmodernen Epigonen. Die Frage wird aber um so dringlicher:'Wenn man in der Vorurteilsstruktur eine unabdingbare Bedingung des Verstehens sieht, schneidet man sich ntcht ipso faclo von einer Bewáhrung an den Sachen selbst ab? Man hat darin nicht selten die Grundaporie der Gadamerschen Philosophie gesehen: Wie kann man die wesentliche (>ontologische<) Vorgángigkeit der Vorurteilsstruktur mit der bestándigen - fiir viele irritierenden - Berufung auf die Sachen selbst in Einklang
bringen?
Sehen wir zu, ob hier wirklich eine unversóhnliche Aporie besteht oder, wie ich zeigen móchte, ob sich hier nicht vielleicht eine noch hartnáckigere Aporie verbirgt. Zwei Evidenzen sind von vornherein festzuhalten. 1. Für Gadamer erfolgt tatsáchlich jedes Verstehen unter Antizipationen (die man >Vorurteile< nennen kann), so daB die Berichtigung eines als illegitim erwiesenen Vorurteils immer nur im Lichte einer weiteren, die ersten Antizipationen ersetzende Antizipation
136
4.
Die Vo¡urteile und die Sache selbsc eine
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen W'achsamkeit
geschieht. 2. Die Sachen selbst meinen bei Gadamer nicht die Sachen oder Dinge an sich, wie sie sich efwa unabhángig von jedem Verstehen in Erfahrung bringen lieBen (was ein offenkundiger Widerspruch wáre). Diese Dinge an sich kennt nur Gott.'Wie ist also die von Heidegger und Gadamer stándig angemahnte Aufforderung einer Ausweisung der Vormeinungen an den Sachen selbst zu verstehen? Das Wort >Sache< hat im Deutschen den emphatischen Sinn der zur Verhandlung stehenden Sache, wenn man etwa sagt, daB jemand endlich >zur Sache< kommen solle, daB jemand in >eigener Sache< spricht oder daB er etwas zur Sache sagen móchte. Diese Sache ist immer die Streitsache, die >sachliche Sache<,wenn man das sagen darf. Diese Sache ist also bereits in den Gesichtskreis des Verstehens eingerückt. Die der Sache angemessenen Antizipationen ausarbeiten heiBt also, die Verstehensentwürfe zu entwickeln, die der debattierten Sache gewachsen sind. Dies setzt voraus, daB uns die Sache angeht, daB wir von ihr betroffen sind. Man kann hier die sachangemessenen Projektionen nicht entwerfen, ohne sich selbst ins Spiel, d. h. ins Gesprách mit der Sache zu bringen. Dieses dialogische Verstehensmodell ist zweifellos gegen das epistemologische Paradigma eines von seinem Objekt abgekoppelten Verstehenssubjektes gerichtet. Aber dieses epistemologische Paradigma ist záh und láBt erneut die Frage auftauchen: Ist nicht der Verstehende in diesem ProzeB sowohl parteiisch als auch Richter? Nein, antwortet Gadamer, weil hier die Sache spricht und'Widerstand leistet. Die W'ahrheit liegt in der stándig zu erweisenden Adáquation
Aporie? I37
Verstehenden auf die Sache zu. Die hier einschlágigen Ideen von Übereinstimmung, Einklang, Konkordanz, Konsonanz verdeutlichen es mit allem Nachdruck: die Wahrheit ist eine Sache von Übereinstimmung im nahezu musikalischen Sinne, insoGrn der Verstehende mit dem Interpretandum zusammenstimmt. Das Merkmal der Wahrheit ist nicht unbedingt die Objektivierung oder die Verdinglichung des Gegenstandes, sondern die Übereinstimmung, d. h. der Einklang mit der zu verstehenden Sache. Insofern istjede Wahrheit hermeneutisch, d. h. Sache von Adáquation.'Wenn etwas wahr ist, sagt man auf Deutsch: >es stimmt!< Die Übereinstimmung ist hier die zwischen der zu verstehenden Sache und dem Verstehen. In diesem Begriff der Sache darf man erneut ein Echo auf Bultmann vernehmen, auch wenn das hier etwas entlegen klingen mag. Für Bultmann liegt bekanntlich die Sache der christlichen Botschaft allein in ihrem >Kerygma<, d. h. in ihrer Verkündigung durch die Apostel. Diese Grundlage bildet die Sache jeder christlichen Verkündigung. Aber jede Verkündigung muB sich an ihr messen lassen, ihr gewachsen sein. Das gilt selbst fiir die allererste Verkündigung, die der Apostel. Es kann námlich duichaus sein, daB ihre Verkündigung selbst
ihr gerecht und gewachsen zu sein. Die recht verstandene
dem zu Verkündenden nicht ganz gewachsen war, weil sie sich etwa mythologischer Denkmuster bediente. Daher das Bultmannsche Proj ekt einer Entmythologisierung der christlichen Botschaft, um sie in unserer'W'elt erneut verkündbar und nachvollziehbar zu machen.Wie kann man aber wissen, ob die ursprüngliche Verkündigung unangemessen war? A1lein durch eine neue Verkündigung, die der Sache der Verkündigung besser gerecht zu werden. Man kann námlich nur eine inadáquate Darstellung durch eine adáquatere ersetzen wollen, die den Sachen angemessener zu sein beansprucht. Der Irrtum wáre aber hier zu meinen, da8 sich diese Sache an sich oder ohne Verkündigung vorgeben lieBe. Es gibt fiir das Verstehen keine >Sache< ohne eine Darstellung, die ihr adáquat zu sein scheint. Dieser Zusammenhang ist hier bedeutsam,weil er unmittelbar an die Ausfiihrungen des Ersten Tei-
adaequatio vergiBt also nie diese konstitutive Bewegung des
les
des Verstehens an diese Sache.
Gadamer
,r"."i"ht"t nie, hier von Richtigkeit
oder
adaeEtatío zu sprechen. Es handelt sich freilich nicht um die
reine Aquivalenz zwischen dem Subjekt und dem Objekt.
Aber das wird auch nicht von det adaeEtatlo unterstellt, wenn man genau hinhórt. Die An-gemessenheit oder die ad-aequatío schlie8t die Bewegung an (>ad<) die Sache an. Im buchstáblichen Sinne ist die adaequatío nichts als die Richtung, die darin besteht, sich auf die Sache zuzubewegen, um
von Wahrheit und Methode über den Darstellungscharakter
138
4.
Die Vorurteile und die Sache selbst: eine Aporic"? 1,39
Der Horizont einer Hermeneurik der geschichtlichen W'achsamkeit
der Kunsterfahrung anknüpft. Auch hier gibt es keine Sache ohne Darstellung, die sich zu bewáhren hat.
Der Begriff der adaequatio ist hier unverzichtber, weil es offenbar unailaquate Darstellungen, Darbietungen und Verkündigungen gibt, bei der die Sache den zu einseitigen Vorgriffen und Verkündigungen Widerstand leistet. Es liegt aber an einer neuen Darstellung oder Verkündigung, diese Einseitigkeit im Namen der Sache selbst herauszustellen. Jedes Verstehen ist nichts anderes als ein Adáquationsversuch, ein Sichanmessen an die Sache selbst, die das Verstehen jedoch nie erschópft. Das >ad< tn der adaequatío erinnert daran, daB die Gleichheit (aequatío) fiir uns nie vollstándig sein kann. Allein Gott verfiigt über eine den Sachen gleiche, d. h., wenn man das unschóne Fremdwort gestatten móge, über eine ))áquate( Erkenntnis. lJnsere Erkenntnis will nur ad-áquat sein. Sie ist nie vollkommen. Aber das steckt auch im Wortsinn von >adáquat< oder >angemessen(, wenn man diese Worte im Sinne von >bloB zureichend< versteht. Jemand fragt uns etwa: 'Wie war die Auffiihrung oder der Vortrag heute Abend? Man kann antworten, daB sie >adáquat< oder >angemessen( waren, um anzudeuten, daB es zwar ging, aber auch hátte besser sein kónnen. Das gilt auch fiir alle unsere VerstehensentwürG. Auch sie kónnten immer angemessener sein.
Deshalb gibt es schlieBlich keine wirkliche Aporie zwischen der Vorstruktur des Verstehens und der Sache selbst. Die menschliche'W'ahrheit liegt námlich in der hier waltenden Angemessenheit und Adáquation.'W'eit davon entfernt, sie zu verabschieden, erlaubt uns diese hermeneutische'Wahrheitsauffassung, den berechtigten Sinn der Rede von Üb..einstimmung und Einklang wiederzuentdecken. Diese Neuentdeckung der Wahrheit macht es móglich, im postmodernen Relativismus, der auf den W'ahrheits- und konsequent auch auf den Adáquationsbegriffverzichtet, den Nachhall ei-
ner objektivistischen und fundamentalistischen Wahrheits-
Es ist keine Aporie, von einer Übereinstimnung zwischen der Sinnantizipation und der Sache selbst zu sprechen, denn das ist nun einmal der rechte Sinn der Wahrheit, die sich von Fall zu Fall, d. h. in der jeweiligen Angemessenheir des Verstehens an die Sache zu erweisen hat. Gadamers Aporie liegt vielleicht anderswo und wurde bisiang weniger gesehen. Sie steckt bereits im Begriff des Vorurteils, sofern er vorauszusetzen scheint, daB sich ein Vorurteil immer in ein Urteil umsetzen láBt. Die Absicht der statuierten IJnrerscheidung zwischen wahren und illegitimen Vorurteilen geht dahin, die Vorurteile ins BewuBtsein zu heben, um sie zu prüfen. Ist das aber bei >Vorurteilen< immer móglich?-Wissen wir so genau, welche Vorurteile uns bestimmen, wenn uns das Verstehen gelingt? Charakterisiert sich ein Vorurteil nicht vielmehr dadurch, da8 wir es in der Regel nicht erkennen? Gadamer hatte das ín Wahrheít und Methode durchaus eingesehen, als er festhielt: >Die Vorurteile und Vormeinungen, die das BewuBtsein des Interpreten besetzt halten, sind ihm als solche nicht zu freier Verfiigung.< (WM,301) Im Lesebuch-Gesprách von 1997 schárfte er es nochmals ein: >(Jnsere Vorurteile sind aber gerade dadurch definiert, da8 wir uns unserer Vorurteile nicht bewuBt sind.< (LB,285) Wenn dem aber so ist, wie kónnen wir noch auf ein Kriterium hoffen, das es uns gestatten würde, falsche von wahren Vorurteilen zu scheiden, als ob sie uns zur freien Verfiigung stünden? Die wesentliche Aporie liegt also zwischen dem Wortlaut von WM,301, der an die lJnverfiigbarkeit der uns >besetzenden< Vorurteile erinnert, und dem 'Wortlaut von'WM, 281., wo Gadamer die >erkenntnistheoretische Frage< so formuliert: >'W'orin soll die Legitimation von Vorurteilen ihren Grund finden?< Um die Aporie anders zu formulieren: Hat Gadamer in Wahrheit und Methode selbst die >erkenntnistheoretische Fragestellung< überwunden, als er dem Problem derWahrheit unsererVorurteile eine so erkennt-
auffassung zu erkennen, wo das >Subjekt< kein'W'ort zu sagen hat. Es ist aber ein KurzschiuB, aus dem Ausbleiben einer solchen, ñir uns nicht nachvollziehbaren Wahrheit zu schlieBen,
nistheoretische Wendung gab? War es nicht seine Absicht, aus der Kunsterfahrung eine'W'ahrheitserfahrung wiederzuerobern, die den Rahmen einer rein erkenntnistheoretischen und damit noch instrumentalen'Wahrheitsauffassung über-
da8 es keine'Wahrheit gibtl
windet?
1,40
4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichüchen Wachsamkeit
I
F¡uchtbarkeit des Zeitentbstar:clcs?
1
41
Man darf hierin in der Tát eine wesentliche Spannung im Denkentwurf von Wahrheit und Methode erkennen, weil das 'Werk ansonsten ein sehr scharfes BewuBtsein der Grenzen der erkenntnistheoretischen Fragestellung an den Tag legt. Das gilt erst recht fiir die unbemerkte Wirksamkeit der Vorurteile, der Gadamer seine dramatischsten Zellenwidmet: >In Wahrheit gehórt die Geschichte nicht uns,sondern wir gehóren ihr. [...] Der Fokus der Subjektivitát ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im
nicht selbst nach einem solchen positiven, erkenntnistheore-
geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind díe Vorurteile des einzelnen weít mehr als seine (Jrteile die ge-
der gebotenen Konsistenz gestellt werden.
schichtliche Wírklkhkeit seínes Seins.< (WM, 28 1 )
Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes? Die wesentliche Aporie hat sich also als die folgende erwiesen: Gadamer hatte sich ursprünglich vorgenommen, den epistemologischen Rahmen zu überschreiten, in den der Historismus das hermeneutische Problem einzusperren neigte. So stellte er das epistemologische Objektivitátsmodell der Selbstauslóschung des Interpreten in Frage, weil es von der Zugehórigkeit des Interpreten zu einer Verstehenskonstellation abstrahierte. Es ist diese Dimension der Zugehórigkeit (die nicht bloB emotiver, sondern sachlicher Art ist), die in einer angemessenen Flermeneutik der Geisteswissenschaften und unserer geschichtlichen Erfahrung zu ihrem Recht verhoifen werden soll. Das bringt Gadamer dazu, die Vorurteile als Wahrheitsbedingungen zu rehabilitieren. Die Wahrheit wird dabei als lJbereinstimmung des Verstehens mit der Sache neu verstanden. Aber diese Übereinstimmung erfolgt stándig im
Chor von Vorurteilen. Gadamers Frage lautet aisdann: Wie lassen sich legitime von illegitimen Vorurteilen unterscheiden? Der Unterschied ist natürlich sinnvoll, ja geboten, aber es fragt sich, ob die Suche nach einem damit wenigsrens in Aussicht gestellten unterscheidungsmerkmal nicht den Epi* stemologismus perpetuiert, in dem Gadamer sonst ein instrumentelles MiBverstándnis des Verstehens erkennt. Scheint er
tischen Kriterium Ausschau zu halten (daB es negarive wie das Widerspruchsprinzip gibt, steht auBer Zweifel)? Die Fraee stellt sich mit unr so gróBerer Dringlichkeit, als Wahrheit und Methode durchaus anerkennt, da8 Vorurteile als solche rneist unbewuBt bleiben. Lassen sich die uns beserzenden Vorurteile alle ausgraben, und sind die dabei ans Tageslicht gebrachten wirklich die uns bestimmenden? Es sind diese Fragen, die in Wahrheit und Methode vielleicht noch nicht mit
Die >fiir eine wahrhaft geschichtliche Hermeneurik zentrale Frage< nach dem lJnterscheidungsmerkmal zwischen legitimen und illegitimen Vorurteilen war noch eine >erkenntnistheoretische Grundfrage< (WM, 281). lJnbestrittenermaBen handelt es sich um eine wichtige Frage in einer erkenntnistheoretischen Perspektive. Wáre aber in der Sicht der von Gadamer anvisierten Hermeneutik die konsistentere Antwort nicht eher die, daB es eine falsche methodische Verfiihrung ist, hier nach einem letzten positiven LJnterscheidungskriterium zu suchen? LáBt sich die Übereinstinrmung, 'Wahrheit die die ausmacht, mit einem áu8eren Instrument rnessen, oder liegt sie nicht in der Übereinstimmung selbst (wenn >es stimmt<), die sich von Fall zu Fall zwischen dern Verstehen und der Sache vollzieht? Diese Wahrheit gibt es, aber es ist ein erkenntnistheoretischer Wahn, sie von auBen mit einem fiir alle Fálle gültigen Kriterium sichern zu wollen. Wenn weniger die Geschichte uns gehórt als wir ihr, darf man dann wirklich aufeine metaphysische Lósung des erkenntnistheoretischen Problems der legitimen und illegitimen Vorurteile hoffen? In Wahrheít und Methode hat Gadamer den umri8 einer Lósung in der Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes sehen wollen. Mit gutenl Recht übrigens. Oftmals ist es in der Tat die Zeitendistanz, die es fruchtbaren Interpretationen erlaubt, sich >auf Dauer( zu behaupten. Das beste Beispiel liefert fiir Gadamer die Kunstkritik. Wie láBt sich námlich die wahre Kunst von einer Kunst aussondern, die dem Geschmack der Zeit entspricht, aber keinen dauerhaften Wert besitzt? So ist
142 das
4.
Fruchtbarkeitdes Zeitenabstandes? 1,43
Der Horizont einer He¡meneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
urteil über gegenwártige Kunst )von verzweifelter Unsi-
cherheit< (WM, 302). Der Zeitenabstand leistet hier ei.ne sehr hilfreiche Auslese. Er 1áBt die unangemessenen, weil zu sehr zeitbedingten Vorurteile verschwinden, so daB sich die bleibenden Werke auf Dauer erkennen lassen kónnen. Aber 1960 wollte Gadamer in dieser Fruchtbarkeit die einzigeLósung fiir das erkenntnistheoretische Problem der Vorurteilslegitimierung sehen: >Nichts anderes als dieser Zeitenabschnitt vermag die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lósbar z\r machen, námlich die wahren Vorurteile, unter denen wir uerstehen,von denfalschen, unter denen wir míJluerstehen,nt scheiden.< (WM,304)
Gadamer spricht zwar etwas Profundes über die Produkdes Zeitenabstandes aus, sofern er in ihm weniger ei-
tivitát
nen uns von der Vergangenheit trennenden Abgrund als eine Brücke erkennt, die sie uns zu verstehen hilft. Aber er gíng zu weit, als er die Lósung des erkenntnistheoretischen Grundproblems generell von der Auslesefunktion des Zeitenabstandes abhángig machte. Gadamers Lósung ist aus zwei Gründen unzureichend: Erstens hilft sie uns keineswegs, legitime oder illegitime Vorurteile bei zeitgenóssi-Werken schen und Erkenntnisansprüchen zu unterscheiden, wo die Distinktion ihren guten Sinn hat. Zweitens verkennt sie den (Jmstand, da8 der Zeitenabstand auch verdeckend
sein kann, indem er - sei es unbewu8t, oder per Machtspruch - auch solche Interpretationen zu konsolidieren hilft, die móglicherweise unangemessen sind. Die Geschichte liefert dafiir auch Beispiele, aber die besten sind gerade unbekannt: Es ist z. B. durchaus vorstellbar, da8 die Überlieferung antike Stellen aus Texten wegstrich,weil sie in der damaligen Konstellation fiir vernunfrwidrig galten, ohne die aber die Texte fiir uns ewig unerschlieBbar bleiben kónnen. IJnd wer hat je die Geschichte der spurlos verschwundenen Vólker schreiben kónnen? Diese oft verdeckende Arbeit der Tradition hatte Heidegger im Auge, als er eine Destruktion der ontologischen Tiadition anmahnte! 'W'enn er von groBer
Hilfe fiir
das Verstehen sein kann, kann der Zeitenabstand auch verbergend sein.
Das Problematische lag also in Gadamers pauschaler Behauptung, daB >nichts anderes als dieser Zeitenabstand< die Legitimitát von Vorurteilen sichern kónne. Es ist aber zu verzeichnen, da8 Gadamer 1986 in der 5. Auflage von Wahrheit und Methode diesen Passus
modifiziert hat. >Nichts
anderes als<
wurde durch ein vorsichtigeres )oft( ersetzt, so daB sich der Text jetzt so liest: >Oft vermag der Zeitenabstand die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lósbar zu machen [...]< Eine hübsche und wertvolle Textánderung, da sie von der wirklichen Vollzugsweise des hermeneutischen Ztrkels zeugt, die darin besteht, fiir Revision offen zu bleiben, sollte sich die ursprüngliche Einsicht als unhaltbar erweisen. In dieser Offenheit, in diesem Gesprách hat sich letztlich die Frage der Legitimitát der Vorurteile jeweils zu erweisen. Die Textmodifikation zeigt ferner, daB sich Gadamer auch der Grenzen einer strikt erkenntnistheoretischen Fassung des hermeneutischen Problems bewu8t wurde. Das Wesentliche liegt weniger in der magischen Lósung des Problems der Legitimitát der >Vorurteile< (ein Terminus übrigens, der mit seinem-Werk stark verbunden bleibt, obwohl Gadamer ihn nach Wahrheit und Method¿ kaum noch wieder-
verwendete) als in der Überwindung einer noch zu instrumentalen Konzeption des Verstehens. Die Kritik, die Gadamer an die Hermeneutik des l9.Jahrhunderts adressiert, daB sie námlich noch >viel zu sehr von der Idee eines Verfahrens, einer Methode, beherrscht ist< (.WM,295), láBt sich auch gegen die Thematisierung des Vorurteilsproblems tn Wahrheít und Methode richten.lndem dieses'Werk das Problem der Distinktion zwischen wahren und illegitimen Vorurteilen erkenntnistheoretisch auf die Spitze trieb, blieb es gewisserma8en dem methodischen Denken verhaftet. Das Problem erhielt auch keine letztendlich befriedigende Lósung. Die Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes bietet jedenfalls keine, und Gadamers Textánderung beweist, da8 er sich dessen bewuBt wurde. Das bedeutet aber mitnichten, da8 die Distinktion sinnlos oder uneinlósbar sei, sondern nur, daB sie von ihrem zu engen erkenntnistheoretischen Rahmen zu befreien ist, um eine hermeneutische Frage zu werden, d. h. eine
1,44
4. Der
Das Prinzip
Horizon¡ einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkert
ist. Dieses Vorurteil
Frage von Wachsamkeit, die sich in jedem Augenblick zu bewáhren hat.
Das Prinzip der Wirkungsgeschichte
in Wahrheít und Methode einen Begriff, der alle anderen an Bedeutung überragt und der auf vortreffliche 'W'eise zeigt, inwiefern Gadamer den Instrumentalismus des geschichtlichen BewuBtseins überwindet: der Begriff der Wirkungsgeschichte. Gadamer erhebt ihn sogar zum >Prinzip<, dessen Konsequenzen der Rest des Buches nach und nach atfzeigen wird. Der Ausdruck existierte natürlich vor Gadamer. Er kam bereits im 19. Jahrhundert in Umlauf, um cliejenige Disziplin zu kennzeichnen, die sich fiir das Fortwirken oder die Rezeption von'Werken oder Ereignissen interessierte. Es ist auch kein Zufall, wenn sich diese Disziplin im Zeitalter des Historismus entwickelte. Das geschichtliche BewuBtsein interessierte sich námlich fiir die verstehende Aufnahme und Rezeption von Werken, um sich ihrer Wirkung und Wirksamkeit zu entziehen.'Wer etwa den originellen Sinn eines'Werkes von Aristoteles oder den wirklichen Gang der Franzósischen Revolution erforschen will, tut gut daran, ihre Wirkungsgeschichte zu studieren, um sich nicht von ihren Vorurteilen irrefiihren zu lassen. Man müsse also die originalen'Werke von ihrer Rezeptionsgeschichte unterscheiden, um sie >objektiv< oder an sich erforschen zu kónnen. Wie bei Dilthey sollte es das geschichtliche BewuBtsein ermóglichen, sich vom Fortwirken der Wirkungsgeschichte zu emanzipieren. Das geschichtliche BewuBtsein würde sie durch die Objektivierung neutralisieren. Dieses geschichtliche BewuBtsein verstand sich in einem gewissen Sinne als die Vollendung der Aufklárung. Denn diese Aufklárung des lg.Jahrhunderts ist so aufgeklárt, da8 sie Es gibt indes
aufdas Ideal eines teleologischen Fortschrirts der Geschichte, der die Aufklárung des 1 8.Jahrhunderts cherakterisierte, verzíchtet. Diese Fortschrittsidee ist ihrerseits selbst ein geschichtlich situierbares Vorurteil, das idealistisch vorbelastet
derWirkungsgeschichte 1,45
hórt aber auf,fiir eine radikalgeschíchtliche
Aufklárung verbindlich zu sein. Der Historismus betreibt insofern eine Aufklárungskritik im Namen einer radikaler sein wollenden geschichtlichen Aufklárung. Er geht sogar von eii
ner der Aufklárung entgegengesetzten Voraussetzung
aus,
námlich daB der Gang der Geschichte so unteleologisch oder vernunftfremd sei, daB er nur geschichtlich, also von der Hóhe des geschichtlichen BewuBtseins aus recht verstanden werden kónne. Mit dem Historismus vollende sich also die Aufklárung. >Eben hier liegt der Punkt, an dem der Versuch einer philosophischen Hermeneutik kritisch einzusetzen hat< ( WM, 280), schreibt Gadamer pointiert. Denn just gegen den aufklárerischen Stolz des geschichtlichen Bewu8tseins erhebt sich Gadamers Begriff der Wirkungsgeschichte. Die Wirkungsgeschichte bildet námlich nicht nur die Rezeptionsgeschichte, die sich erkennen und objektivieren láBt,sondern sie ist die nie vóllig einsichtig werden kónnende Geschichte, in derjedes BewuBtsein - und selbst das geschichtliche BewuBtsein! - steht. Das geschichtliche BewuBtsein vergiBt, daB es
immer ein wirkungsgeschichtliches BewuBtsein bleibt. Das Wort >W'irkung( unterstreicht hier, daB diese Geschichte auch da am Werke ist, wo sie nicht vermutet oder wahrgenommen wird. Es ist in diesem Zusammenhang ein schónes Wort, weil es im Deutschen sowohl den WirkungsprozeB (also die wirkende Geschichte) als auch sein Produkt (die Geschichte, aber auch unser BewuBtsein) bezeichnet. Die Vorurteile des einzelnen,die ¡weít mehr als seíne Urteile die geschichtliche Wirklhhkeít seines Seins< (WM, 281) ausmachen, sind das Werk der'W'irkungsgeschichte. Mit diesem Prinzip vollzieht Gadamer die Überwindung der erkenntnistheoretischen und instrumentalen Fragestellung in der Hermeneutik. Denn die Wirkung der Wirkungsgeschichte benennt ein Fortwirken der Geschichte über das BewuBtsein hinaus, das wir von ihr haben kónnen. Von ihr erweist sich das Verstehen>nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivítat [...f , sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen,in dem sich Vergangenheit und Gegenwart bestándig aus
L46
4. Der
Horizont einer Hermeneutik der geschichtüchen Wachsamkeit
vermitteln.( (WM,295) Es ist nicht überraschend, die die Grenze der Subjektivitát aufweisende Spielmetapher in diesem Zusammenhang wiederauftauchen zu sehen. Das Verstehen láBt sich nunmehr als >das Ineinanderspiel der Bewegung
der Überlieferung und der Bewegung des
lnterpreten<
(WM,298) beschreiben. Aber in dem Moment, wo man den Eindruck hat, daB die Wirkungsgeschichte einen gigantischen Moloch bildet, der
in sich verschlingt, als ob es sich um eine Neuauflage der Heideggerschen Seinsgeschichte handelte, behauptet Gadamer mit Entschiedenheit, daB es darauf an* komme, ein ausdrücklich wirkungsgeschichtliches BewuBtsein zu entwickeln. LJm welches, ja um wessen Bewu8tsein geht es hier eigentlich? das BewuBtsein
Die Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins oMeine philosophische Hermeneutik versucht geradezu, die Fragerichtung des spáten Heidegger einzuhalten und in neuer'Weise zugánglich zu machen. Ich nahm in Kauf, da8 ich zu diesem Zweck an dem BewuBtseinsbegriff festhielt, gegen dessen letztbegründende Funktion Heideggers ontologische Kritik sich gekehrt hatte. Doch versuchte ich, diesen Begriff in sich selbst zu begrenzen. [...] Freilich mu8 man mein Kapitel über das wirkungsgeschichtliche BewuBtsein tn Walilteit und Methode richtig lesen. Man darf darin nicht eine Modifikation des SelbstbewuBtseins sehen, etwa ein Bewu8tsein der Wirkungsgeschichte oder gar eine hermeneutische Methode, die sich darauf gründet. Man mu8 darin vielmehr die Begrenzung 'Wirkungsgeschichte erdes BewuBtseins durch die kennen, in der wir alle stehen. Sie ist etwas, was wir nie ganz durchdringen kónnen. Das wirkungs geschichtliche BewuBtsein ist, wie ich damals sagte, rmehr Sein als BewuBtsein..n
(GW 2,1011.)
DieWachsamkeit des wrrkungsgeschichtlichen BewuBtseins
147
Gadamer móchte zwar das BewuBtsein durch die Wirkungsgeschichte begrenzen, aber sein wirkungsgeschichtliches BewuBtsein ist eminent reflektiert und vielschichtig.Ein solches BewuBtsein ist sich námlich seiner eigenen Geschichtlichkeit bewuBt. Es war dieses BewuBtsein, das dem geschichtlichen BewuBtsein des Historismus fehlte. Es 1á8t sich insofern als die >Vollendung< des geschichtlichen Bewu8tsein verstehen. Es ist aber ein BewuBtsein, das sich nicht in voller Durchsichrigkeit vollzieht, da es um die geschichtlich gesetzten Schranken des BewuBtseins weiB. Anstatt eine vollstándige Tiansparenz seiner selbst anzustreben, fordert es zu geschárfter Wach-
samkeit auf. Da es sich um ein mehrschichtiges BewuBtsein handelt, empfiehlt es sich, diese Schichten zu unterscheiden: 1) Als BewuBtsein der Wirkungsgeschichte (genetiuus objectízus) handelt es sich im Sinne des Historismus zunáchst um
ein Bewu8tsein der eigenen jeweiligen Situiertheit. Gada-
mer behált hier durchaus den Erkenntnisgewinn des geschichtlichen BewuBtseins bei. Seiner Geschichtlichkeit eingedenk, ist dieses historiographisch zu nenennde BewuBtsein darum bemüht, seine eigene hermeneutische Situation auszuarbeiten. Es ist die geschichtliche Sensibilitát oder Wachsamkeit, die die Wirkungsgeschichte als solche erforscht und die die Lage der Forschung zusammenfaBt, um sich ihr gegenüber besser profilieren zu kónnen. Jede Forschung, jedes Verstehen steht in einer Wirkungsgeschichte, der es sich bewuBt zu werden gilt. Nach Gadamer ist es hier weniger wesentlich, sich von dieser Wirkungsge* schichte objektivierend zu distanzieren, als das Gesprách mit ihr aufzunehmen, und zwar von den eigens zu diesem
Zweck herausgearb eiteten Verstehensvoraussetzungen
aus.
Nach Heideggers Hermeneutikverstándnis handelte
es
sich um die Aufgabe der erhellend en Auslegung der das Ver-
stehen leitenden Situation. Gadamer erkennt vielleicht prinzipieller an, deB eine vollstándige Aufklárung77 hier 17 Gadarne, hat immer nur die Idee einer vollstándigen historischen Aufklárung kritisiert. So fuhlt er sich nicht betroffen von den Einwán-
148
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtüchen Wachsamkeir
unerreichbar ist, aber die sich daraus ergebende philosophische'Wachsamkeit wird um so schárfer sein. 2) Das wirkungsgeschichtliche BewuBtsein hat zweitens den allgemeinen philosophische¡¡ Sinn eines BewuBtseins des Wirkens der Geschichte in jedem Verstehen über unser BewuBtsein hinweg: in jedem Verstehen ist Geschichte und Tladition am'Werke, auch wenn wir sie uns nicht ins BewuBtsein heben kónnen (im Sinne von 1). Man darf also von einem Prinzip der Wirkungsgeschichte sprechen, das hinter jedem Verstehen stillschweigend operiert. Mit dem spáteren Gadamer kónnte man sagen, daB im Verstehen mehr Ritual als Bewu8tsein steckt:78 Man ist mehr in Verstehensformen eingespielt, als man sich bewuBt ist. 3) Das BewuBtsein der Wirkungsgeschichte láBt sich ferner als ein genetíuus subjectiuus lesen, námlich als das BewuBtsein, das der Wirkungsgeschichte selbst eignet, so wenn man etwa vom >Geist der Zeít< spricht. Das mag hegelisch klingen, und deshalb wird die Auseinanderserzung mir Hegel hier eine entscheidende Rolle spielen. In'Wahrheit hat man es aber mit einer lJmkehrung von Hegel zu tun. Nach Gadamer hat die Hermeneutik buchstáblich >den 'W'eg der Hegelschen Phánomenologie des Geistes insoweit zurückzugehen, als man in aller Subjektivitát die sie bestimmenden Substanzialitát aufweist.( flFy'M, 307) Gemeint ist, daB unser BewuBtsein selbst Anteil am BewuBtsein der Zeithat (das spátere Epochen in der Regel besser durchschauen als die in ihm stehenden). Es gibt auch im
Die Wachsamkeit
des wirkungsgeschichrlichen
Bewul}trcirrr
I
.l()
BewuBtsein ein Wirken von Tradition und Geschiclrtc, dessen sich das BewuBtsein nicht voll bewuBt ist. Vcrr¡ tlic-
sem wirkungsgeschichtlich bedingren Bewulltsein liilit sich sagen, daB es >mehr Sein als BewuBtsein< ist.7') 4) Aber just davon gilt es, ein Bewuftsein zt entfalter.¡. l)us
wirkungsgeschichtliche Bewu8tsein ist insofern selbsrcflexiv, aber diese Reflexion bringt viel weniger einerr Selbstbesitz als ein Demutswissen zustande. Es ist ein BewuBtsein, das sich in einem spezifischen Sinne der Grenzen der Reflexion bewu8t ist. Dieses >GrenzbewuBtsein< wird nach Gadamer das Grundsátzliche der hermeneutischen Erfahrung ausmachen und zu einer Offenheit fiir das andere fiihren.
Will man die idealistischen Konnotarionen des Bewufjtseinsbegriffs vermeiden, so lieBe sich von einer wirkungsgeschichtlichen W'achsamkeit sprechen. Der B egriff der -Wachsamkeit wird hier nicht willkürlich eingefiihrr. Er spielte bereits eine entscheidende Rolle in Heideggers Programm einer Flermeneutik der Faktizitát. Das menschliche Dasein war
ja bereits als >Anzeige des Weges des móglichen Wachseins< (GA 63,7) angesprochen. Das Verstehen, auf das die Hermeneutik hinzielt, láBt sich terminologisch >als das Wachsein des Daseins fiir sich selbst< (GA 63,15) fixieren. >Thema der hermeneutischen lJntersuchung ist je eigenes Dasein, und zwar als hermeneutisch befragt aufseinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte'\I/achheit seiner selbst auszubil-
den.< (GA 63,16)80 den derjenigen, die ihn zu einem >Kritiker der Aufklárung( srempeln wollten. Vgl. seine Antwort auf David Detmer (>Gadamert Critique of the Enlightenmentcritique ofenlightenment< and not with reference to the idealist concept of the rcompleted enlightenment< which was coined by Fichte. For what matters to us can only be the question whether a completed enlightenment which would dissolve all human predisposition and societal prejudices is an intelligible claim.r 78 Vg1. insb. HGG, >Zur Phánomenologie von Ritual und Sprache< (1992), cW 8, 400-440 sowie das LR-Gesprách.
7e Man kónnte hier mit Schelling von dem unvordenklichen Charakter des BewuBtseins sprechen. Dieses Schellingsche Motiv des Unvordenklichen ist aber in Wahrheit und Methode eher unrerschwellig und wurde erst spáter zum vollen Tragen gebracht. Vgl. dazu meine kleine Arbeit über >Die spáte Entdeckung Schellings in der Hermeneutik(, in L M. Fehé¡ und 'W G. Jacobs (Hrsg.), Zeit und Freiheit: Schelling - Schopenhauer - Kierl<egaarrl - Heidegger, Budapest, Ketef Pt.,1999,65-72. 80 Das urhermeneutische Themi der oWáchterschaft< behielt seine Dringlichkeit im spáteren Denken der Seinsgeschichte. Vgl. erwa den Bríef über den Humanísmus (GA 9, 343), wo die Existenz als >die Wáchterschaft, das heiBt die Sorge fiir das Sein< bestimmt wird. Vgl. GA 69,
150
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeir
Die Wachsamkeit
des rvirkungsgeschichtlichen
BewuBtseins
1
51
Die Wachsamkeit bezeichnet die Stellung desjenigen, der sich bemüht, mitten in der Nacht, die ihn zu umschlingen droht, die Augen aufzubehalten. Diese Rolle der'Wachsam-
zcichnend genug - im Zusammenhang rnit der phronesls. Der Aufsatz von 1930 über das praktische'Wissen faBte pointiert tlie phronesis als eine >Wachsamkeit der Sorge um sich
keit fiir das menschliche >BewuBtsein< ist freilich nicht auf Heidegger beschránkt. Sie geht schlie8lich auf Heraklit zurück (Fg.29, Snell: >Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt; im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu(; Fg.
sclbstu.s2
26: >Der Mensch steckt sich zur Nacht ein Licht an,wenn sein Auge erloschen ist. Lebend rührt er an den Toten im Schlaf, wachend rührt er an den Toten<; vgl. Fg.73,75).Ebenso unterscheidet Platon die Wachheit (hupar) der Philosophenwáchter (phulaka) von dem Schlaf- oder Traumzustand (onar) der Vielen (Politeía 47 6 d) .Die Metapher der Wachheit spielte bekanntlich eine eschatologische Rolle im Neuen Testament (Mt 24,42: >Wachet also, denn ihr wiBt nicht, an welchem
Die Horizonrverschmelzung bildet eine gute Veranschaulichung dieser Wachsamkeit.-W'ir wissen ja seit Husserl und Heidegger, daB sich jedes Verstehen in einen Horizont und cine Sinnkonstellation einfiigt, die aber ebensosehr das Werk r.ler Vergangenheit'wie der Gegenwart ist. Nach der Hermerreutik des Historismus konnte man nur insoGrn verstehen, ruls man sich in den Horizont der Vergangenheit hineinversetzte. Gadamer fragt sich aber, ob es so etwas wie einen reinen Vergangenheitshorizont überhaupt gibt, in den es sich zu versetzen gelte und der sich chirurgisch von der Gegenwart ¿btrennen lieBe. Wird der Vergangenheitshorizont nicht im-
Mk 73,35;Lk12,40). Selbst die >Aufklárung< charakterisierte Kant als ein Aufwachen aus einem langen Schlaf (sapere aude!).81 Aber die Idee des'W'achseins findet sich auch in Wahrheit und Methode, und zwar in einem wichtigen Passus, der in der 5. Auflage von 1986 hinzugefiigt wurde. Der >kontrollierte Vollzug< der sich im Verstehen verschmelzenden Horizonte
lner von der Gegenwart aus formuliert, auch und erst recht, wenn es darum geht, das Fremde in ihm zu treffen? Der Hori-
der Vergangenheit und der Gegenwart wird dort als >die 'W'achheit des wirkungsgeschichtlichen Bewu8tseins< (WM, 31.2) bezeichnet. Die früheren Auflagen sprachen hier von der Aufgab e des wirkungsgeschichtlichen B ewuBtseins<. Die spátere Formulierung (die übrigens in der 5. Auflage nicht als
der Wrschmelzung solcher uermeintlich
Tage euer Herr kommt<, vgl.
>
solche kenntlich gemacht wurde) hat oflenbar einen weniger positivistischen Klang. Ein wirkungsgeschichtliches BewuBtseins ist nicht da, um methodologische Aufgaben lósbar zu machen, sondern um eine Wachheit auszubilden. Der Terminus begegnet aber auch früher in.Gadamers Opus und - be150 über die >Wáchterschaft der.Wahrheit des Seyns<. Ygl. GA29/30, 33f. u. ó. 81 Auch fiir Schellings Freihei*schrift setzt das Licht die Dunkelheit voraus: ,Dennoch wüBten wir nichts, das den Menschen mehr antreiben kónnte, aus allen Kráften nach dem Lichte zu streben, als das BewuBtsein der tiefen Nacht, aus der er ans Dasein gehoben worden.< (SW VlI,360)
zont der Gegenwart wird seinerseits durch die Vergangenheit
bedingt: >Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit.Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont fiir sich, wie es historische Horizonte gibt, die rnan zu gewinnen hátte. Vielmehr istVerstehen immer derVorgang
für sich seíencler Horizonte.<< (wM,311). Die verdinglichende Trennung der Horizonte stellt nach Gadamer eine instrumentale Verfiihrung des BewuBtseins dar. Setzt aber nicht die Verschmelzungsidee die vorherige Distinktion beider Horizonte voraus? Gadamer gesteht es durchaus zu: Der Horizont des 4.Jahrhunderts v. Chr. ist nicht derjenige des 2l.Jahrhunderts, aber ich verstehe den Horizont der Vergangenheit nur insofern, als der meinige mit ihm zusammenschmilzt. Es gilt allerdings vor zu unkritischer Verschmelzung auf der Hut zu sein. Deshalb behált die Trennung 82
HGG, >Praktisches Wissen< (1930), GW5, 247. Ygl.
ebd.,
238: >Und es ist eine einzige besorgte'Wachsamkeit der Seele, von keinem Schein getluscht zu werden, sich von keinem Gerede bereden lassen zu wollen und in die Tht und Wirklichkeit zu drángen.<
152
4.
Die Wachsamkeit
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
ihre Berechtigung fir die historische und wissenschaftliche Forschung. Man kann hier nur einen kontrollierten Vollzug der Horizontverschmelzung anmahnen, der die'Wachsamkeit
des wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins ausmacht (tVM, 312). Es kommt also weniger darauf an, diese Verschmelzung zu kontrollieren, als ihrer bewuBt zu sein. Sie vollzieht sich als Wachsamkeit im Traditionshorizont.
Der unvordenkliche Charakter der Tradition und das Beispiel des Klassischen Der Gedanke der Wirkungsgeschichte ist nicht da, um die Reflexion zu láhmen, sondern um sie an ihre wirklichen Wachsamkeitsmóglichkeiten zu erinnern. Das BewuBtsein, das Gadamer begrenzen will, ist das Bewu8tsein, das die philosophische Tradition als ein Medium der puren Durchsichtigkeit zu begreifen gewóhnt ist:Die Welt wird uns durch das BewuBtsein durchsichtig und greifbar, ebenso müBte das BewuBtsein des BewuBtseins (die Reflexion also) im Element der absoluten Transparenz erfolgen. Für Aristoteles blieb aber dieses Denken des Denkens (noesis noeseos) der Gottheit vorbehalten. Die ganze Hermeneutik Gadamers will ins Gedáchtnis rufen, daB wir keine Gótter sind.Wenn das BewuBtsein fiir die Gótter so etwas wie eine Selbstdurchsichtigkeit bedeutet, ist es fiir uns eine Sache von Wachsamkeit. Die Sprache sagt es selbst in ihrem nicht-philosophischen Gebrauch: >bewuBt sein< heiBt ja auch >wach sein<, bei BewuBtsein sein, >da< sein im Horizont der Wachheit. Liegt nicht in dieser Wachheit der ursprüngliche und vergessene Sinn des BewuBtseins? BewuBt-sein hei8t ja: die Augen aufhaben, der Welt aufgeschlossen sein, und zwar in einem Licht, dessen Quelle wir nicht sind. Das BewuBtsein ist insofern rveniger ein beherrschendes BewuBtsein von diesem oder jenem als ein Eingenommenwerden von dem Sinn, der uns wachhált. Dieses BewuBtsein weiB sich von der Tradition getragen und ist insofern ein wirkungsgeschichtliches BewuBtsein.
des
wirkunpgeschichtlichen Bewu8tseins
1
53
Gadamers >Rehabilitierung der Tradition< ist vielleicht das meisten mi8verstandene Stück seiner Philosophie. Es lag ja nahe, darin einen Traditionalismus zu argwóhnen, zumal sich Gadamer dabei gern auf sein Spezialgebiet, die Klassische Philologie berief. Tladition meint indessen etwas viel Vordergründigeres bei Gadamer, námlich, um es erneut mit Schelling auszudrücken, das Unvordenkliche in jedem Verstehen. Diese Formel unterstreicht, da8 unsere Wachsamkeitsmóglichkeiten nicht zu unserer vollen Verfiigung stehen und nicht ¿rrn
immer auf expliziter Begründung beruhen: >Sie werden in Freiheit übernommen, aber keineswegs aus freier Einsicht geschaffen oder in ihrer Geltung begründet. Eben das ist es vielmehr, was wir Tradition nennen: ohne Begründung zu gelten.< (WM,285) Gemeint ist also nicht, daB das Traditionelle als das Begründende gilt (das wáre purer Traditionalismus), sondern daB nicht alles, was gilt, aufBegründung zurückgeht. Selbst in der Geltung und in der Begründung gibt es ein Moment von Tradition und Geschehen, soGrn auch da vieles ohne Begründung gilt. Proust sprach hier gern von der Gewohnheit (Habitude, die er auf Franzósisch auch meist groBschrieb), die das BewuBtsein trágt.83 Es wáre nach Gadamer ein Irrtum, in dieser Macht der
Tradition etwas lrrationales, Willkürliches oder Autoritáres zu sehen. Das kann man nur von kartesianischen Voraussetzungen aus behaupten.-Was sich bewáhrt hat, ist námlich dasjenige, was das Bewu8tsein so sehr überzeugt, da8 es von
ihm weitergetragen wird. Deshalb spricht Gadamer stets von einer rin Freiheit übernommenen< Geltung aus Herkomrnen und Überlieferung (.WM,285). Gemeint ist nicht eine Tradition, die Gegenstand einer ausdrücklichen und bewuBten Aneignung wáre (was relativ selten der Fall ist), sonclern die Vernünftigkeit der Tradition, die sich fortsetzt,weil 83 Vgl.am Anfangdet Recherc|re: >L'habitude! aménageuse habile mais bien lente, et qui commence par laisser soufhir qotre esprit pendant des semaines dans une installation provisorre,mais que malgré tout il est bien heureux de trouver, car sans I'habitude et réduit i ses seuls moyens, il serait impuissant i nous rendre un logis habitable.<
1,54
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
sie sich bewáhrt hat und deren Grundlage die Basis jedes vernünftigen Entwurfs und jeder Begründung bleibt. Jede Begründung setzt ej.ne solche Tiadition voraus. Gadamer sieht in dieser Evidenz der sich fortpflanzenden Tradition eine Tat der Vernunft und der Freiheit: rAuch die echteste, gediegenste Tradition vollzieht sich nicht naturhaft dank der Beharrungskraft dessen,.was einmal da ist, sondern bedarf der Bejahung, der Ergreifung und der Pflege. [...] Bewahrung aber ist eine Tat der Vernunft, freilich eine solche, die durch (Jnauffálligkeit ausgezeichnet ist. Darauf beruht es, daB die Neuerung, das Geplante, sich als die alleinige Handlung und Tat der Vernunft ausgibt. Aber das ist ein Schein.<
(wM,286) Dieser Schein wird námlich durch eine einseitig insrrumentale Fassung derVernunft genáhrt, die sich als ein Vermógen der ausdrücklichen Begründung versteht, das vonjeder
Tradition unabhángig wáre. Man übersieht dabei die Vernünftigkeit desjenigen, das sich fortsetzt. Aber auch hier kann man von Anerkennung durch Freiheit und Vernunft sprechen. Wer beispielsweise die herkómmlichen GruBformen übernimmt und anwendet, setzt stillschweigend und anerkennend ihre Vernünftigkeit voraus.'W'enn sie langsam veraltet scheinen, verschwinden sie bald oder machen sich als traditionalistisch und damit gekünstelt bemerkbar. Es ist diese zugrundeliegende Vernünftigkeit des Bewáhrten, die Gadamer fiir grundlegender als jede noch so lineare Begründung hált. Denn dieses Bewáhrte ist auf Anerkennung durch Ver-
nunft angewiesen. In Wahrheít und Methode wirft Gadamer deshalb Karl Jaspers und Gerhard Krüger vor, dieses Prinzip der Vernunftanerkennung verkannt zu haben flVM,284). Die Autoritát des Bewáhrten, hált Gadamer fest, beruht auf einem >Akt der Freiheit und der Vernunft< (WM,284). Der Begriff des >Aktesu ist hier vielleicht etwas überzogen, da es sich nicht immer um einen bewuBten Akt handelt, aber Gadamer hat recht, hier von Freiheit und Vernunft zu sprechen.
Die Tiadition ist námlich die >namenlos gewordene Autorirár( (WM,285), die im Prinzip eingesehen werden kann und die es immer ist, sofern sich die Tradition fortschreibt. Eine
Die Wachsamkeit deswirkungsgeschichtlichen Bewu8tseins 155
lradition, deren Autoritát fraglich geworden ist, stirbt auf die l)¿uer ab und wird nur aus folklorischen Gründen aufrechtcrhalten. Diese Tradition zeichnet sich dadurch aus, daB sie die Gegenwart nicht mehr trágt. Für sie interessiert sich Ga.lamer nicht. Die Tradition, auf die er abhebt, ist diejenige, die unsere (iegenwart móglich macht und die in ihr unvordenklich am \)ferke ist, indem sie den Horizont unseres BewuBtseins und 'W'achsamkeit unserer ausbildet. Ein Beispiel dieser fiir die (iegenwart verbindlichen Tradition sieht Gadamer in der Autoritát, die das Klassische genieBt. Viele Kritiker von Gaciarner haben sich natürlich ereiGrt, darin ein klassizistisches Ideal zu sehen. Das war ein Mi8verstándnis. Gadamer hat lecliglich ein Beispiel aus seinem eigenen Kompetenzbereich, clen Klassischen Altertumswissenschaften, geschópft, um das Wirken der Wirkungsgeschichte zu exemplifizieren. Sein cinziger Fehler bestand nur darin, da8 er aus seiner eigenen Faktizitát heraus philosophierte (nur die Gótter philosophiercn anders, aber das ist - wie Diotima im platonis chen Sympo.sio¿ ausfiihrt - so wahr, da8 sie überhaupt keine Philosophie
in unserem Sinne treiben). Manchmal fiihrt aber gerade ein
kleines Beispiel zu einer universalen Wahrheit. Das ist auch cler Sinn des Klassischen bei Gadamer. Früher genoB das Klassische eine vorwiegend normative Bedeutung. Sie war etwas naiv und erdrückend: die Klassiker
bildeten unüberbietbare Gipfel und damit nachzuahmende Vorbílder. Es ist diese Idealisierung, die den >klassischen Altertumswissenschafteno, wie sie bei E A. Wolf heiBen, Sinn und
Legitimitát verlieh. Gegenüber diesem nornativen Begriff machte der Historismus das Klassische zu einem reinen Epochenbegriff, der keine normative Geltung besaB, weil ein solches'Werturteil die Objektivitát des Historikers beeintráchtigen würde. Das Klassische wird damit in eine historische Distanz gerückt, die die Objektivitát der Naturwissenschaften nachzuahmen strebt. Dieses historistische Ansinnen brachte verdienstvolle Forscher der Antike dazu, andere Epochen zur Geltung zu bringen und vom Schatten der als klassisch geltenden Epoche zu befreien: die archaische, die hellenistische
156
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen W¡chsamkeit
Periode usw. Das Klassische verlor dabei seine normative und verbindlich sein sollende Bedeutung. Gadamer fragt sich, ob die Sachen wirklich so einfach sind: Kann es einen rein historischen Begriff des Klassischen geben? Gadamers Absicht ist es natürlich nicht, einen streng normativen Begriff des Klassischen zu rehabilitieren. Er bleibt viel zu sehr Erbe des geschichtlichen Bewu8tseins, um so ungeschichtlich zu denken. Er will lediglich in Erinnerung rufen, daB ein normatives Element aus dem geschichtlichen BewuBtsein nie ganz verschwindet. Bereits der Umstand, da8 andere Epochen neu zur Geltung (!) gebracht oder rehabilitiert werden, beweist a contrario, daB das Klassische etwas von seiner Geltung behált, auch und gerade, wenn es in Frage gestellt wird. Das Klassische bezeichnet also den mehr oder weniger als kanonisch vorausgesetzten Hintergrund, den selbst das sich von seinen Gegenstánden in reiner Objektivitát abgeschnitten wáhnende geschichtliche BewuBtsein voraussetzt. Eine gewisse Klassizitát oder Kanonizitát des, sei es auch nur vage Anerkannten oder Geltenden bleibt in jedem Verstehen erhalten.s4 Wer bestimmt letztlich, was die wichtigsten Ereignisse oder die >klassischen< Werke sind, die man kennen und erforschen muB, wenn nicht der klassische Charakter, den ihnen die Geschichte bzw. eine bestimmte Geschichte verliehen hat? Jedes Fach,jedes Gebiet und jede noch so revolutionáre Bewegung haben ihre >Ahnenreihe<. Gadamer móchte selbstverstándlich keine spezifische Ahnenreihe zur Geltung bringen, sondern lediglich daran erinnern, daB kein historisches BewuBtsein von solchen'Wertungen vóllig frei ist. Sofern das BewuBtsein eine Form der Wachheit ist, ist es immer erschlossen durch eine gewisse Kanonizitát des Beherzigenswerten, des Denkwürdigen und desjenigen, was als ein treffendes und glaubwürdiges Argument gelten darf. Woher stammt dieser >Kanon< des Glaubwürdigen und Tieffenden, wenn nicht aus der Wirkungsgeschichte? Das Beispiel des Klassischen bei Gadamer will also in Erinnerung rufen, daI3 8a Vg1. dazu meine Skizze ,Canonicité et philosophie herméneutiquen, in Théologiques I (1 993). 9-23.
DieWachsamkeitdeswirkungsgeschichtlichenBewuBtseins
I57
historische Bewu8tsein noch immer anderes einschlieBt, von sich aus eingesteht< ñüy'l/,.,292).Ein Werk oder ein I ireignis spricht uns vorjeder wissenschaftlichen Objektivierung des geschichtlichen BewuBtseins an. Es versteht sich, tl¡B der Inhalt des Klassischen oder des als kanonisch Gelten.'lcn unendlich variabel ist,je nach den Wachheitskapazitáten jcder Epoche. Und das als klassisch Etablierte kann man nur rnithilfe einer anderen Kanonizitát über Bord werfen (und nichts ist heute klassischer als das). Das Klassische ist also fiir (iadamer nie >ein übergeschichtlicher Wertgedanke< (WM, 292), sondern eine Modalitát des Geschichtlichseins, die uns rl:rs Vergangene a1s eine bereits mit Bedeutung und Appellkraft beladene GróBe überliefert, die dem objektivierenden geschichtlichen BewuBtsein vorausiiegt: )Das Klassische ist cben im Grunde etwas anderes als ein deskriptiver Begriff, den ein objektivierendes historisches BewuBtsein handhabt; es ist eine geschichtliche'Wirklichkeit, der auch noch das historische BewuBtsein zugehórt und untersteht.< (W M, 292f .) Gadamer ist also nicht interessiert am Klassischen als solchem oder an einer besonderen Klassizitát, sondern an dem, was uns das Klassische über unsere wesentliche Zugehóríguclas
,rls es
keit zur Geschichte lehrt. Diese Zugehórigkeit verláuft in zwei Richtungen:Wir gehóren der Geschichte und der'Wirkungsgeschichte an, aber es ist auch die Geschichte, die uns gehórt, sofern sie stets von der Gegenwart und ihren'W'achsamkeitsmóglichkeiten aus gelesen, verstanden und angeeig-
net wird. Es ist diese Vermittlung von Gegenwart und Veruangenheit, die fiir das geschichtliche BewuBtsein charakteristisch ist und die es anzuerkennen gi1t. Die Zugehórigkeit des lrlterpreten zu seinem Gegenstand, zur Geschichte unri zu seiner Zeit wird nicht mehr als ein Objetktivitátshindernis eesehen: rDiese Erórterung des Begri{Is des Klassischen beensprucht keine selbstándige Bedeutung, sondern móchte cine allgemeine Frage wecken. Sie lautet: Liegt am Ende solche geschichtliche Vermittlung der Vergangenheit mit der (iegenwart, wie sie den Begriff des Klassischen prágt, allem historischen Verhalten als wirksames Substrat zugrunde?< (WM,295) Diese Vermittlung láBt uns das Grundproblem
158
.
+.
O.r Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen
Wachsamkeit
der Hermeneutik wiederentdecken: die in jedem Verstehen vollzogene Anwendung.
Das Grundproblem der Anwendung Als Gadamer seine Metapher der Horizontverschmelzung verwendete, hatte er eine besondere Konnotation des Ausdrucks >Horizont< im Deutschen hervorgehoben: >Der Begriff >Horizont( bietet sich hier an, weil er der überlegenen 'W'eitsicht Ausdruck gibt, die der Verstehende haben mu8. Horizont gewinnen meint immer, daB man über das Nahe und Allzunahe hinaussehen lernt, nicht um von ihm wegzusehen, sondern um es in einem gróBeren Genzen und in richtigeren MaBen besser zu sehen.< (WM,310) So sagt man beispielsweise von einer Begegnung, einem Buch oder einer Reise, daB sie unseren Horizont erweitert oder ausgeweitet haben. Der Begriff des Horizontes deutet hier eine gewisse GroBmut, ja eine Weisheit an. Eine solche Weisheit gehórt wesentlich zum Gadamerschen Horizontbegriff. Das wirkungsgeschichtliche BewuBtsein hat etwas mit der Ausarbeitung einer angemessenen Horizontbreite zu tun. Da ich mich von der Geschichte erwirkt wei8, weiB ich auch um die 'W'achsamkeit,
Grenzen meines BewuBtseins. Es ist diese die mich zur Offenheit fiir die Perspektiven der anderen fiihrt. Der spáte Gadamer hat diese Offenheit oft so charakterisiert: >Die Seele der Hermeneutik besteht darin, daB der andere recht haben kann.<85 Das wirkungsgeschichtliche BewuBtsein schlief3t damit eine gewisse Ethik des Verstehens ein. So ist es nicht von un-
in
Wahrheít und Methode die drei der >Wiedergewinnung des hermeneutischen Crundproblems< ('WM, 312) geltenden Abschnitte sich jeweils mit dem Problem der Anwen-
gefáhr, wenn
dung, der Aktualitát der aristotelischen Ethik und der exem8s Vgl. das Interview mit HGG in d,er Süddeutschen Zeítung vom 10./ ll.2.l99} (= Informatíon Philosophie 1991, Heft 3,5. 27); Über die Wrborgenheit der Gesundheit,Frunkfixt a. M., Suhrkamp,7993,709;Das Erbe Europas,Ftankfirt a. M., Suhrkamp, 1989,158 u. ó.
Das Grundproblem der
Anwendung 159
plarischen Bedeutung derjuristischen Hermeneutik befassen (wáre es etwas spáter entstanden, hátte das'Werk sicherlich auch ein Kapitel über die Rhetorik gehabt). Gadamers ganzer Denkweg war von der Ethik ausgegangen. Seine Dissertation u nd seine Habilitationss chrift (P I ato s di aI ek tis ch e E thik, 1 9 3 l) waren der Ethik der Griechen gewidmet, und seine akademische Karriere fing1929 in Marburg mit einem Lehrauftrag fiir Ethik und Ásthetik an. Es láBr sich sagen, daB er mit der in Wahrheit und Methode betont ethischen >\Viedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems(( zu seinen ethischen
Wurzeln zurückkehrt. Gadamer kehrt damit im gewissen Sinne auch zu seinen termeneutischen Wurzeln zurück. In der profilierenden Herrneneutikgeschichte, die er beschrieben hatte, um seinen eigenen Beitrag besser exponieren zu kónnen, lieB er die moderne Flermeneutik mit Schleiermacher anheben. Aber er tat es offenbar, um einen Substanz- und'W'ahrhei tsuerlust namhaft zu machen, mit dem die Hermeneutik eine verhángnisvolle rekonstruktive, psychologistische und schlieBlich historisti'W'ende sche genommen habe. Nach der Herausstellung des ,rPrinzips< derWirkungsgeschichte kann er endlich zum herlneneutischen Grundproblem zurückgehen, das dabei >verloren< ging: dem Problem der Anwendung. Die Anwendung war vor Schleiermacher noch ein Bestandteil der Hermeneutik, insofern der Interpret auch die Aufgabe hatte, das Verstandene auf einen bestimmten Kontext anzuwenden. Gadamers Argumentation ist insofern etwas forciert, als die applícatío eine relativ sekundáre Rolle in der Hermeneutik des l8.Jahrhunderts spielte, die sich nicht mit der weirergehenI
clen Bedeutung vergleichen láBt, die Gadamer
ihr zusprechen wird.Trifiig istjedoch Gadamers Fesrstellung,daB die pietistische Hermeneutik der applicatío noch eine bedeutende Funktion zuma8, die in den spáteren, epistemologischeren FIermeneutiken weggeráumt wurde.'W'enn die applicatio in >dem ge-
schichtlichen SelbstbewuBtsein der nachromantischen Wisscnschaftslehrc ganz entschwunden war<( (WM,312), lag es rratürlich daran, daB der anwendende Bezug auf die Gegenwart dem Objektivitátsideal der Auslegung Abbruch zu run
160
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen W'achsamkeit
schien. Gadamer sieht indes j.n diesem Objektivitátsideal eine
noch verhángnisvollere Verkennung des
'Wesens
einer jeden
Interpretation.In diesem Geiste schlieBt er sich an das Modell der pietistischen Hermeneutik an, die der Kunst des Verstehens (subtilítas intellígendl und der Auslegung (subtilítas explícandl eine dritte Kompetenz hinzufiigte: die applicatío.Gadamer spricht hier von einer subtilitas applicandí, obwohl der
Ausdruck in der pietistischen Hermeneutik von J. J. Rambach, aufdie er sich beruft, nicht direkt überliefert ist. Sachlich ist das aber von sekundárem Belang, da Rambach am Anfang seiner Instítutiones hertneneutícae sacrae (1,723) die praktische Aufgabe der sakralen Hermeneutik ebenfalls dreifach gabelt: ihr obliegt es, erstens den Sinn der Schrift zu erforschen (inuestígandum),zweitens ihn anderen
zu erkláren (aliís
exponendum) und drittens ihn weislich anzuwenden (sapienter adplicandum).86 Diese Hervorhebung der applicatio zeichnet in
der Tat die pietistische Hermeneutik aus.87 Gemeint ist hier 86 J. J. Rambach,Institutiones hennenetúicae sacrae (1723),\ena,,1.7 52,2: >Posteriore rnodo accepta hermeneutica sacra, est habitus practicus, quo doctor theologus, necessariis adminiculis sufficienter insrructus, praelucente spiritus sancti lumine, idoneus redditur, ad sensurn scripturae legitime investigandum, investigatumque aliis exponendum, & sapienter adplic-andum, ut hoc modo Dei gloria, & hominum salus promoveatur.( 87 Die Idee, der zufolge der Pietismus den subtilitatis intelligendi tnd, explicandi das >sapienter adplicareu hínzugefiigt hatte, wurde 1838 von dem ersten Herausgeber der Hermeneutik Schleiermachers, Friedrich Lücke, ausgesprochen. Lücke hob es hervor, um das'Wiederauftauchen dieser Idee bei neueren Interpreten zu bedauern - ein Werturteil, hinter dem man Schleiermacher selbst vermuten darf. In einer Anmerkung zu F Schleiermacher, Hermeneutik und Kritík, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1977 ,99) schreibt Lijcke, nachdem er eine rherrschende Definition< von Ernesti aufLatein anñihrt: > Unde in bono interprete esse debet, subtilitas intelligendi et subtilitas explicandi. Früher ñigte J. Jac. Rambach Institutiones hernren. sac¡ae. p.2. noch ein drittes hinzu, das sapienter applicare [sic],was die Ner¡ern leider wieder hervorhebenn. Es ist hóchst wahrscheinlich, daB es dieser Text von Lücke war, der Gadamer dazu fiihrte, den Ausd¡uck yrl¡tilitas applicandi zu bilden und ihn retrospektiv auf Rambach anzurvenden. Vgl. dazu I. M. Fehér, >Hermeneutik und Philologie: Verstándnis der Sachen, Verstándnis des Texteso, in Berlíner
Beítráge zur Hungarologle, Berlin/Budapest,
I999,11-25. Ich bin ferner
Das Grundproblem der
Anwendung
1"61,
vor allem die >Anwendung( des Textes der Heiligen Schrift, den der Prediger auf die gegenwártige Situation seiner Gemeinde zu leisten hat. Man kónnte denken, daB es sich hier um einen sehr entlegenen Fall handelt. Gadamer wird ihn aber auch in der Situation des Richters wiederentdecken, der einen juristischen Text oder ein allgemeines Gesetz auf einen besonderen Fall anzuwenden hat. Er wird ihn darüber hinaus in jeder Form von Verstehen aufinden, nicht zuletzt in der historisch-philologischen Interpretation selbst, sofern der Interpret zu den Texten und Ereignissen gehórt, die er in der Gegenwart sprechen láBt. Gadamer leitet hier eine unerhórte Revolution der Denkungsart in die-Wege, die jenen Paradigmenwechseln nicht unáhnlich ist, die uns die Grundlagen der Wissenschaft (hier die der Hermeneutik) neu sehen lassen: Anstatt vom kognitiven Modell der historisch-philologischen Interpretetion auszugehen, die einen objektivierten Sinn zu verstehen sucht, wird sich Gadamer auf das praktische Modell derjuristischen und der theologischen Hermeneutik berufen, um von ihm aus selbst das'Wesen der historisch-philologischen Interpretation neu zll fassen. Aber Gadamer spricht ungern von Revolution. Sein Anspruch ist bescheidener, er will eine verlorene Evidenz wiederentdecken, námlich die, daB Verstehen immer ein Anwendungsmoment enthált: >Ehedem galt es aIs ganz selbsñerstándlich, da8 die Hermeneutik die Aufgabe hat, den Sinn eines Textes der konkreten Situation anzupassen, in die hinein 'W'ahrheir, er spricht.( (WM,313) Diese von der der Dritte Teil des'Werkes zeigen wird, daB sie in unserer sprachlichen Verfassung gründet, wurde von den spáteren Hermeneutiken des l9.Jahrhunderts widerruGn, als sie es vorzogen, dem sicherheitversprechenden Modell der objektiven Wissenschaffolgen, wo die Implikation des Interpreten verteufelt ten ^) ist. Verkannt wurde aber hier, da8 man einen vergangenen Sinn immer nur in der Gegenwart und ihrer Sprache verstehen kann. Das Verstehen vollzieht damit eine Übe.setzuttgrHerrn Fehér Íiir viele weitere Auskünfte in dieser Debatte dankbar verpflichtet.
1,62
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtüchen Wachsamkeit
leistung, die um so mehr gelingt, a1s sie als solche nicht auffillt. Die erste Lehre, die Gadamer aus der pietistischen applicatioLehre ziehen móchte, ist also, daB ein Verstehen ohne Anwendung oder Übersetzung noch kein Verstehen ist. Indem er dabei AnschluB an die áltere Hermeneutik sucht, >marginalisiert< Gadamer sozusagen den Epistemologismus des l9.Jahrhunderts im Namen einer Auffassung, besser: einer Praxis der Auslegung, die sich nicht anzuerkennen scheut, da8 ihr die zu interpretierenden Texte erwas zu sagen haben. Die zweite aus der álteren Flermeneutik zu ziehende Lehre liegt an dem Begriff der subtilítas, der zumindest fiir die s¡¿úlilitas íntelligendí und díe subtilítas explicandí gut überliefert ist. Er signalisiert námlich, da8 selbst die Erkenntnis kein blo8 mechanischer, regelgeleiteter Proze8, sondern eine Sache von subtílítas, d. h.
von Kónnen und Takt bleibt. Dies marginali-
siert wiederum den Intellektualismus der methodologischen Hermeneutiken, die das Verstehen unter Regeln domestizieren wollten, Llm es zur Wissenschaft zu erheben. Wie es der Naturwissenschaftler Helmholtz suggeriert hatte, kónnte es aber sehr wohl sein, da8 hier au8erwissenschaftliche Faktoren wie die Tradition, der Spürsinn und die Einfiihlungskapazítát
eine wichtigere Rolle als die (in ihren Dománen natürlich unentbehrliche) Methode spielen. Die epistemologische Denkweise ist aber záh.Mankónnte námlich glauben, da8 ein Text zuerst aufkosnirive und objektive 'W'eise verstanden werden muB, bevor er in einem zweíten,praktischen Schritt auf unsere Situation angewendet wird. So unterschied Emilio Betti die zu erkennende Bedeutung von ihrer heutigen Bedeutsamkeít. Gadamer setzt die Anwendung viel radikaler an:Die Anwendung kommt nicht zum (kognitiven oder historischen) Verstehen hinzu, sie bildet ihren Kern. Hier muB man von einer Radikalisierung der pietistischen applícatío sprechen.s8 Gadamer móchte also 88
Von der app licatiohandelte Rambach námlich im letzten'[eil seiner Insti tufiones hentten.euti cae sacrae,804-822. Vgl. auch den Auszug aus Rambachs rErláuterung über seine eigenen Institutioncs hermeneuticae sacrae<, den HGG und G. Boehr¡ im von ihnen herausgegebenen Sammelband
Das Grundproblem der
'l
Anwendung 163
nicht die Trias von intellectio, explícatio und applicatío als solche erneuern, sondern die Anwendungsleistung mit dem Verstehen schlichtweg gleichsetzen. Gadamer denkt hier nicht an eine bewuBte Anwendung, etwa an eine modernisierende Adaptation, weil sich diese immer als solche entdecken láBt, sondern an das Geschehen des Verstehens selbst. Die Üb.rr.tznng liefert hier erneut die beste Konkretisierung fiir das Gemeinte.Es ist immer derfremde Sinn, der fiir den Interpreten verbindlich ist und der in eine fremde Sprache übersetzt werden will. Dennoch spricht man von einer gelungenen Übersetzung dann, wenn sie es fertigbringt, diesen Sinn in einer anderen Sprache oder Epoche sprechen zu lassen. Je weniger die Übersetzungsleistung als solche aufflllt, desto besser ist sie gelungen. Die (Jbersetzung ist in diesem Fall adáquat, aber diese Adáquation erfordert immer die Leistung einer Vermittlung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Ebenso verhált es sich mit dem Verstehen: Es gelingt, wenn es einen Text zum Sprechen kommen láBt, aber sprechen kann es nur in einer Sprache, die uns anspricht. Dieses Verstehen láBt sich ohne Applikation nicht nachvollziehen.
Der Begriff der Applikation hat übrigens einen kleinen Nebensinn, auf den Gadamer in diesem Zusammenhang nicht direkt abhebt, der aber hier sehr wohl eine gewisse Rol-
le spielt. In den romanischen Sprachen sagt man von einer Arbeit, daB sie mit >Applikation< gemacht wurde, um zu unterstreichen, daB sie mit Beflissenheit,Anspannung und Flei8 geschrieben wurde.se Die Applikation steht hier im Dienste der Sache, im Falle der [Jbersetzung im Dienste des zu übersetzenden Sinnes. Er ist es, der übersetzt werden soll, aber das Setnínar: Philosophische Hermeneutík,
Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1976,
62-68 publiziert haben. 8e
hn Franzósischen wird dazu
das schóne
Reflexiwerb )'s'appliquer( gebildet,das
und sehr gebráuchliche
viel hei8t wie: sich eiGrn, sich konzentrieren, sich zusammennehmen usw. Dieser Vorgang ist ohne Selbstanwendung unmóglich. Sie ist aber wohlgemerkt weniger ein Achtgeben aufsich selbst a1s aufdie Sache.Wer sich an etwas daran macht ('>s'applique á quelque choseo), geht ganz in der Sache auf. so
1,64
4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsarnkeit
geht nie ohne eine der Sache gehorchende Anspannung. Diese Implikation des Verstehenden in dem, was er versteht, gehórt sehr wohl zu Gadamers Konzeption der Anwendung.
Diese doch revolutionáre Auffassung der Anwendung bedeutet natür1ich eine wahre Provokation fiir das methodolo-
gische BewuBtsein, das jedes Anwendungsmoment auszuschalten bestrebt ist. lJm seinem Verstehenskonzept eine breitere Basis zu geben, wird sich Gadamer also auf weitere Modelle als die der theologischen und juristischen Hermeneutik beruGn müssen. Man kónnte ja gegen sie ins Feld fiihren, daB die Anwendung hier einen zwar wichtigen, aber doch sekundáren Faktor gegenüber der primáren Aufgabe des kognitiven Verstehens darstelle. Gadamers Analyse erhebt einen grundsátzlicheren Anspruch. Sie móchte námlich ein 'Wissensmodell zur Geltungbringen,in dem die Anwendung, und damit auch die Selbstanwendung, fiir das Verstehen und seinen'Wahrheitsanspruch konstitutiv sind. Bevor Gadamer die Muster der juristischen und der theologischen Hermeneutik neu zu Ehren bringt, will er dem Applikationswissen, das er im Auge hat, eine philosophische Grundlage verschaffen. Dafiir beruft er sich auf die aristotelische Ethik.
Die ethische Wachsamkeit von Aristoteles Gadamer hat sich ófter und gern an das ethische Modell des Aristoteles angeschlossen, und zwar an strategisch wichtigen -Werkes. [n seinen Vortrágen von 1957 über Stellen seines >Das Problem des geschichtlichen BewuBtseins( hatte ein, in Wahrheit und Metho de weitgehend eingegangenes, AristotelesKapitel die Brücke zwischen einem Vortrag zur Flermeneutik der Faktizitát von Heidegger und dem letzten Vortrag über die Grundzüge der Flermeneutik geschlagen.In Wahrheit und MethodeliefetAristoteles nicht nur die erste Manifestation, sondern auch die philosophische Basis fiir das wiedergewonnene Anwendungswissen, das uns dazu verhelfen soll, die Einheit der hermeneutischen Disziplinen zu fassen. Hier kehrt Gadamer wahrlich zu den ethischen'Wurzeln seines
il
Die ethische rJlachs¡mkeit vo¡r Aristotclcs 165
Denkansatzes zurück. Seine ersten Studentenarbeiten galten ja der aristotelischen Ethik (vgl. GW 2,485,488),insbesondere die Studien von 1927 über den Protreptikos (GW 5, 164186) und die von 1930 über das >praktische'Wisseno (GW 5, 230-248). Die Thematik hat ihn aber weit iber Wahrheít und Methode hinaus bescháftigt: Eine seiner letzren VerófTentlichungen ist eine Edition des 6. Buches der Nikomachischen Ethík irnJahre 1998 gewesen. Selbst in seiner doch autobiographischen >Selbstdarstellung< von 1975hat er sich ausfiihrlich über das aristotelische Programm einer praktischen Wissenschaft geáuBert (G.W' 2, 499-508), obwohl man das hier nicht unbedingt erwartet hátte. Was kann die Herr¡eneutik von Aristoteles (aber auch von Platon, wie Gadamer spáter háufig einschárfen wirdeo) lernen? In der Literatur gibt es eine verbreitete Art und'W'eise, das Verháltnis der Hermeneutik zur aristotelischen Ethik zu erkláren, die aber in Wahrheit lediglich einen untergeordneten Aspekt berührt. Er hángt, mit einem'W'orr, an dem oRelativismus<, den man gern dem >Situationswissen< anhaftet, das der aristotelischen Ethik und der Hermeneutik gemeinsam sei. Diese Lesart setzt aber die Problemstellung des Relativismus und seines notwendigen Korrelats, das Monopol des kartesianischen, aufeinem unerschütterlichen und sicheren Fundament ruhenden Wissens, als verbindlich voraus. In dieser Konstellation gibt es offenbar keine abioluten Normen oder standfesten Erkenntnisse, so da8 alles eine bloBe Frage von ei) Die Frage, ob Gadamer letztlich Aristoteles oder Platon náher ist, ist zu spannend, um in den Grenzen der vorliegenden Einfiihrung abgehandelt werden zu kónnen. Mir will scheinen, da8 er auft Ganze gesehen Platon insoftrn náher ist, weii ihm das dialogisch-sokratische Element Platons viel nlher liegt als die akribische Begriflsanalyse des Aristoteles. Das groBe Spárwerk rPlato im Dialog< (GW 7) dokumentiert auch diese Solidaritát. Aber in Wahrheit wtd Methode zeigt er sich Platon geeenüber viel kritischer (im Dritten Teil wird eq wie wir sehen werden, seine Sprachauffassung einer grundlegenden Kritik unterziehen) als sonst in seinem'Werk und ordnet sich viel lieber dem aristotelischen Muster unter. Móglich, daB er d¡bei das Gefiihl hatte, im gro8en Schatten von Heidegger zu schreiben, wie er es spáter so offenherzig zugab (GW 2,491).
'1,66
4.
Die ethische Wachsamkeit von Aristoteles 167
Der Horizont einer Hermeneutik der geschrchtlichen Wachsamkeit
Ethos und Situation wird - im relativististischen und gefáhrlichen Sinne des'W'ortes. Das >Situationswissen< áhnelt dabei dem utilitaristischen-Wissen desjenigen, der nach seinen Interessen oder, schlimmer noch, denen seines Stammes handelt, weil sie nun einmal die seinigen sind und er in diesem Ethos erzogen wurde, dem er sich nicht entwinden kann. Ein solches Situationswissen gemahnt auf bedenkliche'Weise an das kalte Kalkül desjenigen, der aus der Situation profitieren móchte. Es ist nicht in Abrede zu stellen, da8 dieser sogenannte >Neoaristotelismus< der'Werte eine gewisse Rolle in den neueren Ethikdiskussionen spielte, wo er meist dem Kantianismus der universalen Normen entgegengesetzt wurde. Es geht aber überhaupt nicht darum in Gadamers Anlehnung an die aristotelische Ethik, auch wenn die Opposition zu Kant eine betráchtliche, aber oft mi8verstandene Rolle bei Gadamer spielen wird.el Die entscheidende Frage betrifft vielmehr den Intellektualismus des praktischen 'Wissens. Die aristotelische Ethik fungiert nicht als hermeneutisches Mo-
dell, weil sie einen >'Werterelativismus< behaupten würde (und wo hátte ihn Aristoteles behauptet?), sondern weil sie sehr gut erkannt hat, daB das moralische Wissen nicht eine Frage von bloBem Intellekt ist: Die ethische Weisheit geht nicht in der Anschauung einer idealen Norm auf (sei es eine Idee, ein abstraktes Gutes oder eine mathematische Allg.meingültigkeit), sie erweist sich in der Anwendung des Guten im konkreten Lebensvollzug. Die Pointe ist die, daB es hier e1 Die Gegenüberstellung vo.n Aristoteles und Kant trat vor allem in dem wichtigen Essay von 1963 >Uber die Móglichkeit einer philosophischen Ethik< (GW 4, 175-188) hervor, der nicht wenig zur'Wiederentdeckung der aristotelischen Ethik und zur Rehabilitierung der praktischen Philosophie in Deutschland beitrug.Da die von Gadamer mit ausgelósten Debatten bald dazu tendierten, den Kantischen (Jniversalismus gegen einen aristotelischen rRelativismus< aufzurichten, hat Gadamer in neue¡en Arbeiten eher auf der Solidaritát zwischen Kant und Aristoteles insistiert, die er im Auge hat. Vgl. insb. seine Studie >A¡istoteles und die imperativistische Ethik< (1989), wo ein durch Gerhard Krüger gelesener Kant als ein Kritiker de¡ moralischen Aufklárung und ein Erbe von Aristoteles in der Tradition der praktischen Philosophie erscheint.
nicht auf die Objektivation, sondern, im Gegenteil, auf die Anwendung ankommt. 'Wenn man diese Einsichtgegen Kant geltend machen will, 'W'eise dann nicht deshalb, weil Kant etwa auf irrealistische behauptet hátte, es gábe universale Handlungsnormen. Gadamer erhebt sich keineswegs gegen den kategorischen Imperativ, im Namen etwa eines nietzscheanischen'Werterelativismus. In dieser Debatte ist Gadamer dem Kantischen lJniver-Wir haben ja oben gesehen, daB seine salismus viel náher.e2 Bildungskonzeption eine Erhebung zur (Jniversalitát und da-
mit ein Überschreiten der einfachen Partikularitát mit einschlieBt. Das ist nicht wenig kantianisch. Problematisch ist also fiir Gadamer mitnichten der universalismus, sondern der Intellektualismus
-
und folglich der hintergründige Instru-
mentalismus -, der die Richtigkeit des moralischen Handelns von der Erkenntnis einer abstrakten Norm abhángen láBt, so als ob das menschliche Handeln immer imstande wáre, die es bestimmenden Normen zu objektivieren. Diese Handlungskonzeption rührt von einer objektivistischen, der modernen Methodenwissenschaftlichkeit verpflichteten Auffassung her, die die Spezíñzitát des moralischen Verstehens aus der Hand gibt. Das moralische Verstehen ist nicht ein Objektivations-, sondern ein praktisches Anwendungswissen. Es ist Aristoteles, der nach Gadamer das befriedigendste Modell dafiir geboten hat, weil es gerade seine Absicht war, die Grenzen einer intellektualistischen Auffassung der Handlungsnormen aufzuweisen: Ebensowenig wie Geschichtlichsein im Sichwissen aufgeht, ebensowenig geht das Sittlichsein in einem objektivierenden Wissen auf. Damit wird nicht geleugnet, daB das moralische Handeln von einem normativen Fundus aus erfolgt. In unseren praktischen Handlungen und Urteilen bleiben wir vielfach von einem ethischen Erbe geprágt,beispielse2 Über diese oft bekundete Gemeinsamkeit mit Kant, vgl. GW 3, 336.Siehe auch Gadamers Antwort auf K.-O.Apel inTPHGG,9T: rThe doctrine of the inseparabtliqr of ethos rnd phronesis remains fundamental. This holds for Plato's ideal republic as well as for the ethics and politics of Aristotle, and even for a Kant who has been correctly understood.< Vgl. zuletzt >Aristoteles und die imperativistische Ethik<, GW 7,387tr.
168
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkert
weise dem des kategorischen Imperativs, der zehn Gebote, der goldenen Regel und der griechischen TapGrkeitsethik. In diesem Sinne bleibt in der Tat jedes praktische Handeln einem normativen Hintergrund verpflichtet. Aber wer ist wirklich dazu fihig, all die Fiden, die seine moralische Konstitution weben, auseinanderzuhalten? Die einschiágige Frage ist hier allerdings: Hángt die Richtigkeit des moralischen Handelns von einer solchen Erkenntnis ab? Natürlich nicht. Es ist die Herrschaft der methodischen'Wissenschaft, die auf allgemeine und mathematische Gesetze aus ist, die uns dazu verfiihren, auch die praktische Einsicht als ein'Wissen zu konstruieren, das sich nach ihrer Entsprechung zu universalen
und objektivierbaren >Gesetzen< ausgestalten láBt. Die selbstverstándlich gewordene Herrschaft des Normenbegrifli in den neueren Ethikdiskussionen belegt es auf deutliche Weise. Sie leitet sich aus dem szientistischen Erkenntnisideal her, das nach Gesetzen der Natur strebt, die deren Regelhaftigkeit erkláren hilft. Angesichts des unleugbaren Erklárungspotentials dieser Konzeption legte sich die Vermutung nahe, daB es ebenso solche )Gesetze( im moralischen Bereich gebe.e3 Kant gab vermutlich den AnstoB dazu, als er den kategorischen Imperativ, den er ursprünglich aus dem Begriffdes guten Willens herausentwickeln wollte, nach dem Muster eines allgemeinen >Naturgesetzes( formulierte. Damit verpflichtete er die Ethik einem Erkenntnisideal, das auf Naturgesetze zugeschnitten ist. Ist das aber so evident? Verfillt man nicht hier einer Objektivation zurr' Opfer, die das moralische Handeln eher verfremdet als erhellt?-Wáre es nicht angebrachter, den hier einschlágigen Gesetzesbegriffan áltere Modelle wie die der mosaischen Thora oder der griechischen Nomoi anzulehnen, die mit der GesetzesmáBigkeit der modernen Wissenschaft nichts gemein haben? Die wohl verstandene Kritik des Kantischen Modells ist also keinesfalls ein Pládoyer fiir einen'W'erterelativismus (nur von absolutistischen Voraussetzungen aus láBt sich so etwes 93 Vgl. dazu meine Studie rGesetzes<<,
rZur Phánomenologie
in Kant-Studien, im Erscheinen.
des moralischen
Die ethrsche W'achsamkeit von Aristoteles 1,69
konstruieren), sondern eine
Kritik
des dabei vorausgesetzten
Objektivationsmodells, weíl es dem moralischen Handeln nicht ganz angemessen ist. Handelt derjenige richtig, der universale Normen in ihrer Reinheit erkannt hat? Geht man nicht am Guten und am praktischen Handeln vorbei, wenn rnan absolute Normen oder Gesetze dafiir sucht? Das war der Sinn der aristotelischen Kritik an Platons Idee des Guten.e4 Gadamer wird aus ihr Lehren fiir seine Flermeneutik ziehen. Der Hinweis aufdas konkrete Ethos ist nicht im relativistischen Sinne gemeint. Das würde zu einem heillosen Perspektivismus im Bereich der Hermeneutik fiihren. Er will nur in
Erinnerung rufen, daB die Richtigkeit hier nicht von der Objektivierung und dem Abstand der Handlungssituation gegenüber abhángt, wie das im Bereich der'Wissenschaft und der Technik der Fall sein mag. Es ist sogar die aristotelische Abgrenzung des ethischen.Wissens gegen die epis téme und die techné,auf die es Gadamer am meisten ankommt.Vom Hintergrund der Intellektualismuskritik aus betrachtet, leuchtet sie auch ein. Es springt ja in die Augen, daB die praktische Weisheit nicht zur epistémé gerechnet werden darf, deren Modell fiir die Griechen die Mathematik bildete: Es geht hier nicht um ein mathematisches Gutes, sondern um das menschliche Gute. Etwas schwieriger, aber um so ausschlaggebender ist die Abgrenzung gegenüber der techné.Denn die techne ist wie die praktische Tugend primár auf ein Tun und nicht auf ein Erkennen gerichtet. Aber in der techne geht es um die Herstellung eines von mir unterschiedenen Objektes. Bei dem praktischen'Wissen hingegen ist diese Unterscheidung zwischen dem Tün und dem Gegenstand unzulássig, da es hier immer auch um mich selbst geht. Man hat es also nicht mit einem
Objektwissen zu tun: rDie Überfremdung mit den objektivierenden Methoden der modernen 'Wissenschaft, die die Flermeneutik und Historik des l9.Jahrhunderts charakterisiert, erschien uns als die Folge einer falschen Vergegenstánde4
In seiner Abhandlung über >Die Idee des Guten zwischen Plato und A¡istoteles< (1978; GW 7,128-227) wird Gadamer an der Richtigkeit dieser Kritik festhalten,jedoch entschiedener he¡vorheben, daB sie in Platon keinen wirklichen Gegner hat.
170
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
lichung. Diese zu durchschauen und zu vermeiden, ist das Beispiel der aristotelischen Ethik berufen. Das sittliche Wiswie es Aristoteles beschreibt, ist offenkundig kein gegenstándliches V/issen. Der Wissende steht nicht einem Sachverhalt gegenüber, den er nur feststellt, sondern er ist von dem, was er erkennt, unmittelbar betroffen.< (WM,319) Der Handelnde verñigt nicht über die Distanz zu sich selbst, die der technisch Herstellende seinem Gegenstand gegenüber einnimmt. Ich bin selbst von meinem Handeln betroffen, aber ich bin auch immer in der Situation desjenigen, sen,
[VM, 322). Man darf freilich diesen Situationsbegriffnicht vorschnell im Sinne einer >Situationsethik< vereinnahmen. Denn diese bleibt oft utilitaristisch gedacht und verbirgt im Grunde ein immer noch technisches Wissen der handeln soll
(wie kann ich >aus der Situation Nutzen ziehen). Gadamers Situationsbegriff kommt nicht von diesen Ethiken, sondern von Jaspers her. Die Situation kennzeichnet sich dadurch, >daB man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenstándliches Wissen von ihr haben kann.( (WM,307) Die Situation hat insofern etwas lJnsichtbares, weil wir in sie versetzt sind, aber das Wichtige ist hier zu sehen, daB diese Unsichtbarkeit die Einsicht und den Sinn fiir das Richtige
nicht ausschlieBt, sondern zu Tage flordert: >'W'enn man auch einer Situation ansehen muB, was sie von einem verlangt, so bedeutet dieses Sehen doch nicht, da8 man das in dieser Situation Sichtbare als solches wahrninmt, sondern daB man sie die Situation des Handelns sehen lernt und damit im Lichte dessen, was recht ist.< (\X/M, 327) Die Urteilskraft, die hier
als
gefordert wird, hángt viel weniger an der Objektivierung oder der Selbstdistanzierung als an der Wachsamkeit, die der Situation gewachsen ist. So sprach Gadamer in einem wichtigen Aufsatz von 1963 über die ethischen Grundlagen seiner Hermeneutik von einer >W'achsamkeit des Gewissenso (GW 4,180).Jede solche'W'achsamkeit láBt sich von einem normativen Fundus, von einem Sinn fiir das Gute tragen, aber sie verwirklicht sich nur, indem sie der Herausforderung der jeweiligen Situationen gerecht wird, die ihr einziger Betátigungsplatz sind.
Die
.V/eisheit
der juristischen
Hermeneutik 1,71
Die ethische'Víeisheit des Aristoteles zeichnet sich also dadurch aus, da8 sie sich der Objektivierung versagt. Das kann man nur als einen Mangel empfinden, wenn man dieses Wissen an dem MaBstab der Erkenntnis des ljnveránderlichen oder des technisch Machbaren miBt; aber damit tritt man aus der Spháre der praktischen Philosophie heraus. Da es sich der
Objektivation entzieht, láBt sich
das
praktische'Wissen weder
lernen (wie das mathematische) noch lehren (wie eine technische Fertigkeit). Dennoch ist es hier legitim, von einem >W'issen< - oder von einer Weisheit - und seiner Richtigkeit zu sprechen. Aber diese Richtigkeit bewáhrt sich nur in der 'Wachsamkeit und der Anwendung. Es ist ein-Wissen, wo es weder móglich, noch wünschenswert ist, daB man sich selbst ausschaltet, um das Rechte und das Richtige zu verstehen, und wo die Ausrichtung nach abstrakten, vom'Wissenschaftsideal hergeleiteten Normen die sichjedem stellende Aufgabe zu verdunkeln droht.Es handelt sich somit um ein praktisches Wissen, das vom Sein und der jeweiligen Anwendung nicht abgekoppelt ist. Es ist dieses Modell, das Gadamer auf die Flermeneutik anwenden móchte. Es soll das Paradigma der Selbstauslóschung ersetzen.
Die'Weisheit der juristischen Flermeneutik Von dieser errungenen philosophischen Grundlage aus kann Gadamer zum Anwendungsproblem zurückkehren, wie es sich den >praktischen< Hermeneutiken des Rechts und der Theologie stellt. Sie werden uns ihrerseits helfen, den praktischen Skopusjedes Verstehens besser zu verstehen. Diejuristische Hermeneutik wird sich hier in mehr als einer Hinsicht als exemplarisch erweisen.Wie es bei dem Muster der Predigt der Fall war, kónnte das Beispiel des ein Gesetz auf einen kon-
kreten Fall anwendenden Richters etwas begrenzt erscheinen. Aber in Kontinuitát mit der praktischen Weisheit wird uns hier der begrenzte Fall erlauben, ein Allgemeines zu gewahren. Der italienische Hermeneutiker Emilio Betti, der von Hause aus auch Jurist war, hatte bereits von der normati-
1,72
4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
ven Anwendungsfunktion gesprochen, die sich im Urteil des Richters manifestiert, aber er sah in ihr eine zusátzliche Bemühung, die zur grundlegenden hermeneutischen Aufgabe des Verstehens hinzukomme: Der Richter, der ein Gesetz richtig anwenden will, muB es bzw. seine ursprüngliche Intention zunáchst uerstehen.es Das philologische Muster des noetischen Sinnerkennens blieb also bei Betti maBgebend. Hier wird Gadamer die Perspektive umkehren und in der Anwendung das erste und wirkliche Verstehen erblicken. Ga-
damer wird dafiir das Beispiel des Rechtshistorikers (nicht des Richters) anfiihren, der ein altes Gesetz zu uerstehen sucht. Auf dieses Beispiel hatte sich bereits Betti berufen, um von ihm die zusiitzlíche Anwendungsleistung des Richters zu unterscheiden, dessen
Urteil
das
Recht schafft. Aber nach Ga-
damer tut der Rechtshistoriker >genau dasselbe<, owas der Richter tut, námlich den ursprünglichen Sinngehalt des Gesetzestextes von demjenigen Rechtsgehalt unterscheiden, in dessen Vorverstándnis er als Gegenwártiger lebt< (WM, 332). Auch der Rechtshistoriker muB eine Anwendungsleistung vollziehen. Sie erfolgt auf zwei Ebenen:1. Wenn er den Sinn des Gesetzes verstehen will, muB er ineins damit dessen mógliche Anwendung verstehen, denn das Gesetz hat nur eine Funktion in einem solchen Anwendungszusammenhang: Indem er diesen Kontext berücksichtigt, >versteht< der Rechtshistoriker nur, insofern er das Gesetz auf ihn applizieren kenn. 2. Grundsátzlicher noch kann der Historiker diesen >ursprünglichen< Kontext nicht >verstehen<, wenn er von
seinen eigenen Rechtserwartungen und seinem eigenen Sinn fiir das Recht absieht. Das bedeutet beileibe nicht, daB der Rechtshistoriker das von ihm untersuchte Gesetz unter seine eigenen Rechtskriterien stellen soll, sondern nur, daB sein Rechtsverstándnis von solchen Erwartungen geleitet bleibt, erst recht, wenn es darum geht, uns vóllig fremde Rechtsverháltnisse zu verstehen.'Wenn er z. B. die uns vóllig es Über Betti, vgl. meine Arbeit oL herméneutique comme science rigoureuse selon Emilio Betti (1890-1968)<,in Archives de phílosophie 53, 1,9 9 0, 17 7 -79 8; wi eder aufgenommen in meine m Band L' ho ri zo n he mé v
neutique de la pensée conkmporaine,Paris,
Vrin, 1.993,155-177.
Die Weisheit der juristischen
Hermeneutik 173
fremde Norm verstehen wi1l, die es früheren Zeitaltern gestattete, behinderte Neugeborene sterben zu lassen, wird er zwar als Historiker diese Norm von heute aus nicht zu beurteilen haben. Er wird sich vielmehr bemühen zu zeigen,in-
wiefern sie in einem gewissen Kontext als Recht gelten konnte. Dafiir muB er aber seinen eigenen Rechtssinn ins Spiel bringen. In der Distinktion des vergangenen Rechtshorizontes ist es also immer noch die Norm des heutigen, die das Verstehen stillschweigend leitet. Daraus schlieBt Gadarner: >Darin scheint mir die hermeneutische Situation fiir den Historiker wie fiir den Juristen die gleiche, da8 wir jedem Text gegenüber in einer unmittelbaren Sinnerwartung leben. Ein unmittelbares Zugehen auf den historischen Gegenstand, das seinen Stellenwert objektiv ermittelte, kann es nicht geben. Der Historiker mu8 die gleiche Reflexion leisten, die auch den Juristen leitet.< (WM,333f.) Gadamer ist sich freilich der unterschiede zwischen beiden Anwendungsleistungen bewu8t: Die eine statuiert unmittelbare Rechtsfolgen, wáhrend die andere kontemplativer Natur bleibt. Aber ihm erscheint die Gemeinsamkeit bedeutsamer. Sie betrifft schlieBlich weniger die Rechtsanwendung durch den Richter als das Rechtsverstehen, wie es fiir den Historiker und den Richter gleichermaBen gilt. Hier darf man von einer einheitlichen Verstehensbemühung sprechen, sofern sie immer die Richtigkeit der Anwendung auf den konkreten Fall im Auge hat. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Flermeneutik liegt also nicht nur in der tatsáchlichen Anwendung durch den Richter. Die juristische Hermeneutik (aber auch die theologische, da Gadamer von beiden im selben Atemzug spricht) ist noch in einem weiteren Sinne exemplarisch:Sie konkretisiert die fiirjedes Verstehen konstitutive Spannung zwischen der Gesetzes- oder Texttreue einerseits und der Notwendigkeit ihrer Anwendung auf den gegenwártigen Kontext andererseits. Es wáre námlich ein gravierender lrrtum, in der konkreten, rechtsergánzenden Geietzesanwendung eine Freiheit oder Willkür dem ursprünglichen Gesetze gegenüber zu sehen. Man wird dem Gesetz und seinem Geist nur gerecht, wenn man es, den
1,7
4
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsarnkeit
j eweiligen [Jmstánden entsprechend, in schópferischer Weise
auf den jeweiligen Fall neu anzuwenden weiB.e6 'Wer
das
nicht versteht, hat das Gesetz selbst nicht verstanden, d. h. seinen Geist, in dem es ja liegt, daB es immer wieder anders angewendet werden muB, um den jeweiligen Situationen und ihren unabdingbaren Partikularitáten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ihnen nicht Rechnung zú tragen,hieBe den Sinn des Gesetzes und des Rechts schlichtweg zu verfehlen. Die juristische und theologische Anwendung des vergangenen Sinnes auf die Gegenwart ist somit nicht gewaltsam, sondern liegt im'Wesen des zu Verstehenden. Ihre Verstehensbemühung bleibt wesentlich zwischen zwei Polen eingespannr: dem Text der Vergangenheit und dem heutigen Fall, der immer ein besonderer ist und dessen Berücksichtigung Urteilskraft erfordert. Diese Bipolaritát gilt nach Gadamer fiir jedes Verstehen. Darin erweist sich vielleicht die vorzüglichste Exemplaritát der Rechtshermeneutik: >Wir kónnen somit als das wahrhaft Gemeinsame aller Formen der Hermeneutik herausheben, daB sich in der Auslegung der zu verstehende Sinn erst konkretisiert und vollendet, daB aber gleichwohl dieses auslegende Tun sich vollstándig an den Sinn des Textes gebunden hált. Weder der Jurist noch der Theologe sieht in der Aufgabe der Applikation eine Freiheit gegenüber dem Text.< (WM,338)
Die wiedergefundene Einheit der hermeneurischen
Disziplinen 175
es im Gegenteil das Verkennen der heutigen Situation ist, das einem Objektivitáts- und Gerechtigkeitsmangel gleichkommt. Die Zugehórigkeit zu einer Gegenwart wie beispielsweise zu einer Tradition ist hier nicht eine einschrinkende, sondern eine ermóglichende Bedingung des rechten Verstehens (\VM, 334). Im Lichte der juristischen Hermeneutik erscheint es also an der Zeit, die falschen Objektivitátsmodelle, die in der philologischen und historischen Flermeneutik nach wie vor herrschen, einer Revision zu unterziehen.'Wir hatten oben gesehen, daB sich die historische Hermeneutik des l9.Jahrhunderts auf das Muster der Philologie berufen hatte, um die Objektivitát des historischen Verstehens zu erkláren: Verstehen heiBt, einen Sinn von einem gegebenen Ganzen bzw. einem Kontext her zu deuten. Das Einzelne ist immer nur Ausdruck eines umfassenderen Ganzen, das in der Geschichte jedoch nie gegeben ist.War in diesem Zusammenhang von einer Philologisierung der Historie die Rede, so mu8 man auch sehen, da8 sie mit
Hermeneutik lehrt uns, daB
einer Historisierung der Philologie einherging. Denn selbst die Texte, die der Philologe auszulegen suchte, wurden zunehmend als Ausdrücke verstanden, die aus ihrem jeweiligen Kontext zu interpretieren seien. Die Texte werden damit weniger nach ihrem eigenen und gegenwártigen Aussagesinn, sondern als Zeugnisse und Überbleibsel einer groBen Geschichte gelesen. Auf diese'Weise wurde die Philologie selbst zu einem Zweíg der Geschichte.
Die wiedergefundene Einheit der hermeneutischen Disziplinen Die Anwendung kann nur solange als willkürlich erscheinen, als man von vornherein in dem Mitreden der heutigen Situation eine Gefihrdung der Objektivirát sieht. Die juristische e6 WM,333: >Der Richter, welcher das überlieGrte Gesetz den Bedürfriissen der Gegenwart anpa8t, will gewiB eine praktische Aufgabe lósen. Aber seine Auslegung des Gesetzes ist deshalb noch lange nicht eine willkürliche lJmdeutung. [.. .] Er sucht dem >Rechtsgedanken< des Gesetzes zu entsprechen, indem er es mit der Gegenwart vermittelt.<
Diese'W'ahlverwandtschaft zwischen der Philologie und der Geschichte findet ihre Bestátigung in dem Qualitativ >philologisch-historisch<, das in Deutschland dazu dient, die gesamten Geisteswissenschaften zu umschreiben. So hat z. B. j ede wissenschaftliche Akademie ihre >philologisch-historische Klasse<, um die geisteswissenschaftlichen Forschungen
aufzunehmen. Gadamers Hervorhebung der applicatio anhand der praletischen Geisteswissenschaften des Rechts und der Theologie fiihrt dazu, die Vorzugsstellung dieser philologisierten Historie zu erschüttern. Sie stellt námlich den
Universalitátsanspruch einer Forschungskonzeption in Frage, die als wissenschaftliche allein das objektivierende Mo-
t76
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichüchen Wachsamkeit
Die wiedergefundene Einheit der hermeneutischen
dell gelten láBt. Es erscheint Gadamer nicht nur fiir die praktisch orientierten Geisteswissenschaften wie die Jurispru-
denz oder die Theologie unzureichend, sondern selbst fiir die Geschichte und die Philologie,wie sie tatsáchlich praktiziert werden. Selbst unter der Agide des geschichtlichen BewuBtseins werden immer noch philologische oder philosophische Texte gedeutet und gelesen,weil sie uns ansprechen. Das gilt auch fiir geschichtliche Ereignisse, die man wegen ihrer geschichtlichen Bedeutung untersucht.'Woher stammt diese Bedeutung wenn nicht aus der'Wirkungsgeschichte, die sie gezeitigt haben und in der wir heute stehen? Droysen hatte ja sehr richtig erkannt, daB die vom Historiker untersuchten Fakten imm er nur Zeugnisse und Reste der Vergangenheit sind. In dem Material, das der Historiker untersucht, steckt bereits Bedeutung, Anwendung und Wirkungsgeschichte. Natürlich mu8 der Historiker eine sorgfáltige Quellenkritik betreiben, eber woher kommen ihm seine F ragen, Zw eifel und Infragestellungen ge genüb er der bisherigen Geschichtsschreibung (und darin besteht nicht n¿,letzt die historische Forschung), wenn nicht aus anderen Zeugnissen und aus seiner eigenen Zugehórigkeit zur Vergangenheit, die er heute zu verstehen, d. h. sprechen zu lassen sucht? Es kónnte also sehr wohl sein, daB hier die entscheidenden Faktoren >der Anwendung historischer Methoden< vorausliegen flVM, 344). In dem Anwendungsgeschehen, in dem sich Gegenwart
und Vergangenheit bestándig und produktiv vermitteln, wird Gadamer also den gemeinsamen Nenner aller hermeneutischer Disziplinen finden, námlich der Historie, der Philologie, der Theologie und des Rechts. Die Einheit der Flermeneutik liegt also weder in der Allgemeinheit einer Verstehensmethode (Schleiermacher), noch in der des geschichtlichen BewuBtseins (Dilthey), noch in dem kontemplativen Ideal des Philologen, der seine Texte als historische Ausdrücke liest, sondern in der Anwendungsaufgabe, von der die juristische und theologische Hermeneutik nur die aufldlligsten Beispiele sind. Gadamers Konsequenz isr so weittragend, da8 sie in voller Lánge angefiihrt werden mu8:
¡¡So erkennen
Disziplinen
1,77
auch wir eíne innere Einheit uon Philologie und wir sehen sie nicht in der (Jniversalitát der
Historie an, aber
historischen Methode, nicht in der objektivierenden Ersetzung des Interpreten durch den ursprünglichen Leser, noch
in der historischen Kritik der Überlieferung
I ü
I i
als solcher,
son-
dern umgekehrt darin, daB beide eine Applikationsleistung vollbringen, die nur maBstabmáBig verschieden ist.'W'enn der Philologe den gegebenen Text, und das heiBt, sich in dem angegebenen Sinne in seinem Text versteht, so versteht der Historiker auch noch den groBen, von ihm erratenen Text der Weltgeschichte selbst, in dem jeder überlieferte Text nur ein Sinnbruchstück, ein Buchstabe ist, und auch er versteht sich selbst in diesem groBen Text. Beide, der Philologe wie der Historiker, kehren damit aus der Selbstvergessenheit heim, in die sie ein Denken verbannt hielt, fiir das das MethodenbewuBtsein der modernen Wissenschaft der alleinige MaBstab war. Es rst das wírkungsgeschichtliche BewuJ3tsein,
worin sich beide als ihrer wahren Grundlage zusammenfinden.< (WM,346) Darin liegt der SchluBstein der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, die Gadamer im Zweiten Teil seines'Werkes entfaltet. Nach seiner Befreiung aus dem ihm wesensfremden
Modell der Selbstauslóschung und der Zurückfiihrung aller Bedeutung auf den Ausdruck eines objektivierbaren Ge-
wird das Verstehen in seiner wirkungsgeschichtlichen Zugehórigkeit die Bedingung seiner Móglichkeit und in der'Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins seine dringendste Aufgabe erkennen. Aber Gadamers Hermeneutik beschránkt sich nicht oder wird sich nicht mehr darauf beschránken, ein angemesseneres Verstándnis der Geisteswissenschaften zu liefern. Seine (Jntersuchung wird eine philosophische, d. h. hier: eine universale und ontologische Wende nehmen, die über den Rahmen einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik hinausweist. Das schichtsprozesses
Prinzip der Wirkungsgeschichte, das es uns erlaubt, die Einheit der hermeneutischen Disziplinen zurückzuerobern, ist námlich ein universales Merkmal jedes Verstehens und'W'eltbezugs. Es gründet schlieBlich in unserer sprachlichen Verfas-
1,78
4. Der
Horizonr einer Hermeneutik der geschichrlichen Wachsamkeir
sung. Di.e noch bevorstehende lJniversalisierung der
Die Luftspiegelungen der
Herme-
neutik wird sich an diesem Leitfaden der Sprache vollzj.ehen. Ehe wir diese letzte Wendung nehmen,wird sich eine besondere >Analyse des wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins< mit
dem Erbe der Reflexionsphilosophie
auseinandersetzen
müssen.
Die Luftspiegelungen der Reflexion und das Gespenst des Relativismus >Der Delphische Orakel >Erkenne Dich selbst< erinnert uns daran, da8 wir keine Gótter, sondern Menschen sind. Sollte man ihn deswegen des historischen Relativismus bezichtigen?<e7
Hans-Georg Gadamer
In seinem ganzenBuch hat sich Gadamer wiederholt aufHegel berufen, um aus den Engpássen des Historismus herauszukommen. Hegel habe viel besser als Schleiermacher erkannt, daB das Verstehen weniger eine Rekonstruktion des Vergangenen als eine Integration in eine gegenwártige Konstellation vollzieht, da sich der Sinn jeweils nur in der Anwendung ver-
wirklicht. Er habe auch viel eindringlicher als der Historismus gesehen, daB die Geschichte weniger einen objektiven Forschungsgegenstand, sondern die intimste Verfassung des
Historikers ausmache. Er habe schlieBlich wie kein anderer ausgefiihrt, wie sehr das BewuBtsein aus der Geschichte, ja aus der Wirkungsgeschichte hervorgehe. Dieses sich aus der Geschichte heraus verstehende BewuBtsein sei damit ein Selbstbewu8tsein. Gadamers Herneneutik gipGlt ihrerseits in der
Entfaltung eines reflektierten wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins. Ist es nicht insofern eine neue Spielart des Hegelianismus? 97 TPHGG,385
I
Reflexion 179
Um die wichtigen und dezidierten Differenzen gegenüber Hegel zu markieren, wird sich Gadamer also mit seinem idealistischen BewuBtsein euseinandersetzen müssen, ohne jedoch >auf Hegel zu verzichten<, wie es Paul Ricoeur in seiner eigenen.Hermeneurik des geschichtlichen BewuBtseins getan hat.e8 Es ist fiir Gadamer wichtiger, >die Wahrheit áes Hegelschen Denkens< (WM,348) gegenüber dem rotalisierenden und reflektierenden Anspruch seines Systems festzuhalten. Gadamer ist vor allem bestrebt, dem Zauber der >Reflexionsphilosophie< zu entgehen. 1960 harte er vielleicht noch nicht genügend verdeutlicht, was er darunter verstand, aber man erriet unschwer, daB er dabei Hegels Anspruch im Auge hatte, die Geschichte in der Dimension des BewuBtseins aufzuheben. Der Ausdruck >Reflexionsphilosophie< war insofern mi8verstándlich, als Hegel ihn bereits kritisch verwendet hatte. lJnter dem Titel der Reflexionsphilosophie kritisierte er seit seiner Differenzschrift (1801) die Denkart von Kant, Fichte und Jacobi, deren gróBrer Fehler nach Hegel darin lag, da8 sie nie wirklich aus dem Bannkreis der Subjektivirát hinausgelangten und damit jeder 'l7irklichkeit entbehrten. Indem er den Ausdruck gegen Hegel kehrt,wirft Gadamer ihm vor, da8 er schlieBlich selbst die volle Wirklichkeit der Geschichte verkenne. Mit seiner Auflósung der Geschichte in das SelbstbewuBtsein des Geistes hátte sich Hegel dem Bann der Reflexionsphilosophie ebenfalls nicht entwunden. Gadamer versucht, dieser Versuchung zu widerstehen, indem er das Bewu8tsein weniger an die Selbstdurchsichtigkeit des Geistes als an die geschichtliche Wachsamkeit des Bewu8tseins bindet, die sich selbst nie vóllig transparent werden kann. Das Medium dieser Wachsamkeit ist auch nicht das der
" Vg1.P Ricoeur, Tbmps et récit,Bend 3, Paris, Seuil, 1985,280ff. Nichtsdestoweniger erscheint mir Ricoeur in diesem Kapitel seines Werkes Gadamer am allernáchsten, wie sich zeigen lieBe. über die Herkunfts- und Methodenunterschiede zwischen Gadamers und Ricoeurs Hermeneutik, vg1. vorláufig meine Skizze rHans-Georg Gadamer und die franzósische Welt<, in G. Figal (Hrsg.), Begegnungen mit Hans-Ceorg Gadamer,Stuttgart, Recl arr', 2000,
1,
47
-1 59.
180
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsmkeit
Selbstreflexion, sondern das offene Element der Sprache, kraft dessen wir a1les sehen und denken kónnen, das sich aber auf unvordenkliche Weise der thematischen Reflexion entzíeht. Die Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins erinnert an die unvordenkliche Geschichtlichkeit, auf der das BewuBtsein immer schon aufruht. Darin iiegt die >Wahrheit des Hegelschen Systems<, die es gegen seinen Anspruch auf ein absolutes, d. h. von dieser Geschichtlichkeit losgelóstes'W'issen auszuspielen gilt. Diese urhermeneutische Position sieht sich aber vor zwei Schwierigkeiten gestellt, die eine neue Reflexionsphilosophie gegen sie geltend machen kann: 1. Das wirkungsgeschichtliche BewuBtseines mag noch so bedingt sein, aber ist es nicht ebenfalls über die Geschichte erhaben, so daB es selbst absolut ist bzw. als absolut gelten will? Mit anderen-Worten:Die universale Aussage des wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins will allgemein gelten. Sie darf es aber von ihren eigenen Voraussetzungen aus anscheinend nicht. Gibt es hier nicht einen Widerspruch bzw. einen (prag-Wenn matischen) Selbstwiderspruch? 2. das wirkungsgeschichtliche BewuBtsein von der Geschichte nicht losgelóst ist, wie kann es dem historischen Relativismus entgehen? Beide Argumentationslinien gehóren hierher, weil Gadamer dazu neigt, in ihnen allgemein Gestalten der Reflexionsphilosophie zu sehen. Nichtsdestoweniger behandelt er sie aus groBer Distanz, so als fiihlte er sich nicht von ihnen betroffen. Er wollte ja die Problemstellung des Historismus
und damit die des Relativismus überwinden. Er hat sich selbst also nie in dem Relativismusvor-wurf wiedererkannt. Es sind vor allem seine Gegner wie K.-O. Apel, die dieses Gespenst heraufbeschwóren. ee Für Gadamer ist der Relatiee Vgl. zuletzt K.-O. Apel, >Regrrlative Ideas or Truth-Happening? An Attempt to Answer the Question ofthe Conditions of the Possibiliry ofValid Understanding<, in TPHGG,67-94;dt.: >Regulative Ideen oder
'W'ahrheitsgeschehen?
Zu Gadamers Versuch, die Frage nach den Bedingungen der Móglichkeit gültigen Verstehens zu beantworten<, in Ders., Auseinandersetzungen in Erprobung
F¡ankfurt
a.
M.,1998, 569-607.
des
transzendentalpragnatischenAnsatzes,
,l
Die Luftspiegelungen der
Reflexion
1
81
vismus genau dieses: ein Gespenst. Es soll Angst einflóBen, indem es die unmóglichen Konsequenzen vor Augen stellt, die aus der These erfolgen sollen, daB alles relativ sei. Die Hermeneutik hat aber nie behauptet, daB alles relativ sei, sondern nur, daB wir zur Sinnerfahrung gehóren und daB es ohne diesen Nachvollzug fiir uns keinen Sinn geben kann. Einen nichtsituierten Sinn - auBerhalb des engen Bereiches der mathematischen und logisch-analytischen Wahrheiten -
kónnen wir nicht nachvollziehen. Die Flermeneutik erinnert hier lediglich an die Selbstbescheidung des Delphischen Orakels: >Erkenne Dich selbst, d. h., erkenne, daB du
kein Gott, sondern ein Mensch bist<. >Sollte man den Delphischen Orakel deswegen des historischen Relativismus beschuldigen?<, fragt Gadamer. Gadamers ganze Herrheneutik entwickelt aber doch eine
Antwort auf die Herausforderung
des Relativismus, insofern Grundlagen destruiert.Man kann von Relativismus nur sprechen, wenn man die Móglichkeit einer absoluten Wahrheit voraussetzt. Nur im Lichte einer solchen Wahrheit erscheint alles als bloB relativ. Es ist diese absolutistische Auffassung der Wahrheit, die die Hermeneutik fiir uns Menschen und sprachliche rü/esen in Frage stellt. Fedefihrend ist bei diesem Absolutismus die Vorstellung einer Wahrheit, die auf eínern fundamentum inconcussum begründet, j a >letztbegründet< wáre.'Woher kommt diese Vorstelltng einesfundamentum inconcussum, wenn nicht aus einer Verdrángung unserer Endsie dessen
lichkeit? Steht es an, die Wahrheitsmóglichkeiten unserer Endlichkeit ñir relativ zu erkláren, weil sie diesem unzeitlichen Anspruch nicht standhalten? Gadamer erscheint es vielmehr geboten, diese metaphysische Vorstellung selbst in Zweifel zu ziehen. Die Geschichtlichkeit erscheint dann nicht mehr nur als eine Begrenzung (was sie zweifelsohne auch ist),sondern ebenso als eine Bedingung der Móglichkeit der Wahrheit: >Die Geschichtlichkeit ist nicht lánger eine Grenzbestimmung der Vernunft und ihres Anspruchs, die 'Wahrheit zu erfassen, sondern stellt vielmehr eine positive Bedingung fiir die Erkenntnis der Wahrheit dar. Dadurch verliert die Argumentation des historischen Relativismus jedes
1,82
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsarnkeit
wirkliche Fundament. Ein Kriterium fiir absolute'Wahrheit verlangen enthüllt sich als ein abstrakt-metaphysisches Idol und verliert jede methodologische Bedeutung. Die Geschichtlichkeit hórt auf, das Gespenst des historischen Reiativismus heraufzurufen< (GW 2,103). Der Relativismus ist fiir Gadamer insofern eine reine Gestalt der Reflexion, als erjedes Sachbezugs entbehrt. Er entwirft ein Problem, das keine wirkliche Frage ist, weil es sie nur in der Reflexion gibt. Es ist ein grobes MiBverstándnis, die Grunderfahrung der Geschichtlichkeit mit einem relativistischen >anything goeso gleichzustellen. Das Gegenteil ist der Fall: Ein in der Geschichte eingetauchtes, von ihr betroffenes und damit verwundbares BewuBtsein wird zwar vieles tolerieren, aber nicht alles akzeptieren dürfen. Es wird nach glaubwürdigen Gründen und Argumenten fragen. Wir haben oben gesehen,wie sehr die Hermeneutik an den Aufgaben der Konsistenz und der adaequatio,tn der das BewuBtsein aber immer mitredet, Gsthielt. Ein situiertes und sich situiert wissendes BewuBtsein wird also fiir den Horizont des anderen und damit fiir jede Revision offen bleiben. Eine der Luftspiegelungen des Relativismusvorwurfs ist es, uns vergessen zu lassen, daB fiir uns Menschen die'W'ahrheit eine Sache von'W'achsamkeit und Horizont bleibt. Für die Hermeneutik ist der Relativismus nicht zu widerlegen, sondern zu destruieren.
Eine andere Frage ist es, ob die Hermeneutik selbst kohárent ist, wenn sie auf die Geschichtlichkeit des Verstehens abhebt. Falls sich beide Problemkomplexe auseinanderhalten
hier vom Relativismus- zum Selbstwiderspruchsproblem übergehen. Der (oft pragmatisch oder performativ genannte) Widerspruch láge in der universalen Behauptung, daB jedes Verstehen geschichtlich geprágt sei, soGrn diese üheseu selbst ungeschichtlich gelten wolle. Für diese Selbstwiderlegungsargumentation haben Heidegger und Gadamer noch weniger Geduld aufgebracht als fiir die verwandte Argumentation des Relativismus. Es sei zugegelassen, würde man
ben, daB sie vor allel¡' nach dem Erscheinen von Wahrheit und Methode erhoben wurde, vor allem durch Autoren wie K.-O.
t
Die Luftspiegelungen der
Reflexion 183
Apel und Jürgen Habermas (und im Falle Apels im Namen einer Letztbegründung, was zumindest konsequent war). Gadamer und Heidegger haben in ihr weniger eine hóchst raffinierte Reflexion gesehen, als welche sie sich gern ausgibt, sondern eine Karikatur derselben. Heidegger, der sie im Zusammenhang der Selbstwiderlegung des Skeptízísmus etwáhnte, sprach hier von einem >formal-dialektischen Übe.rump elun gsversuch< (SZ, 229 ; v gL WM, 3 5 0) . Eine überrumpelnde Attacke hat námlich etwas Heimtückisches. So wird beispielsweise ein Spaziergánger im Central Park von hinten
>überrumpelt<.
Der Sinn des Selbstwiderlegungsarguments ist es, den Gegner zu iibertrumpfen. Es will námlich darauf aufmerksam machen, daB doch nicht alles relativ oder geschichtlich sei, wenn man die These aufstellen kann, da8 alles geschichtlich will man damit überfiihren? Die Endlichkeit würde ihrer endlichen Bedingtheit in dem Moment entgehen, in dem man dank dieser schlauen Reflexion erkennen würde, daB sie sich selbst nicht ohne Selbstwiderspruch aufrechterhalten láBt? Schóner Trost.-Wenn man es unbedingt so will, dann avanciert diese Endlichkeit zu einem neuen Absolutum. Es handelt sich aber nicht um ein Absolutes, das es in sich hat, uns über die Móglichkeit einer absoluten Wahrheit zu beruhigen. Gibt es aber wirklich einen >Widerspruch< im Festhalten an diesem Prinzip der Endlichkeit? Nein, weil es sich damit bescheidet, in natürlich selbst bedingten Worten und in einer ebenso bedingten Zeit an die Bedingtheit zu erinnern, in der sich die Wahrheitserfahrung fiir uns Menschen abspielt (denn die Gótter verfiigen vermutlich über eine absolute Wahrheit, wir aber wissen nicht einmal, ob es sie gibt). sei. Aber wen
Eine dieser Bedingtheit nicht gehorchende Wahrheit wáre fiir uns keine Wahrheit. Diese Bedingtheit gilt selbstverstándlich auch {iir die Flermeneutik. Auch sie ist eine Antwort auf eine gewisse Konstellation, námlich eine Antwort auf eine ungeschichtliche Wahrheitsauffassung. Selbst die Hermeneutik stellt sich in einen dialogischen Kontext, wie die geschichtlichen Erínnerungen in den ersten Kapitelnvon Wahrheit und Methode zur Genüge belegen.
184
4.
f)er Horizont einer Hermeneutik
cler geschichtlichen Wachsamkeit
Die Luftspiegelungen der
4
Reflexion 185
Die Selbstwiderlegungsstrategie verharrt nech Gadamer im leeren Raum der reinen Refleúon und entbehrt damit
salitátsanspruch der Hermeneutik gesprochen hat, sondern
jeder Sachlichkeit. Gadamer assimiliert sie gern an einer Figur der Sophistik. Ihm steht dabei das Modell des sokratischen Dialogs vor Augen, wo zwei entgegengeserzte Aussagen mit dem gleichen Recht gegenübergestellt werden. Ausschlaggebend ist hierbei nie das Reflexionsspiel allein, sondern der Blick auf die Sache. Es ist nicht Gadamers Absicht, die kritischen Móglichkeiten der Reflexion zu beschneiden. Er will sie vielmehr durch den Aufweis schárfen, daB sie allein nicht ausreichen und da8 sie nicht ohne Grund verdáchtigt werden, wenn sie den Blick auf die Sache - hier die Endlichkeit - verlieren. Die Reflexion verfillt anscheinend einem panischen Sicherheitswahn, wenn sie durch ihren Rückzug in die Selbstwiderlegungsstrategie die Augen vor der Geschichtlichkeit verschlie8t. Sie sieht u. a. nicht, daB sich ihr Sicherheitsstreben einer Verleugnung der Geschichtlichkeit ver* dankt, die deren lJniversalitát nur bestátigt. Das Reflexionsargument will umjeden Preis die Móglichkeit einer ungeschichtlichen Wahrheit aufrechterhalten, die aber schlie8iich nur die Wahrheit des eigenen, um sich kreisenden Reflexionsspieles ist. Anspruch auf eine solche Wahrheit erhebt die Hermeneutik nicht. Sie will lediglich die geschichtliche Bedingtheit (im Sinne der conditio humana) in
Indem sie an die sprachlich-geschichtliche Bedingtheit jedes Verstehens zurückerinnert, will die Hermeneutik ein ,Lebensverháltnis< zum Vorschein bringen, das man nicht als eine logische Konstruktion verstehen darf; >Es gehórt zu den Vorurteilen der Reflexionsphilosophie, daB sie als ein Verháltnis von Sátzen versteht, was gar nicht aufder gleichen logischen Ebene liegt. So ist das Reflexionsargument hier nicht am PTatze. Denn es handelt sich gar nicht um widerspruchsfreí zu haltende Verháltnisse von lJrteilen, sondern um Lebensverháltnisse. Die sprachliche VerfaBtheit unserer Welterfahrung ist imstande, áie mannigfachsren Lebensverháltnisse zu umfassen.u (WM, 452) Es enrbehrr nicht der Pikanterie, daB sich Gadamer 1960 dafiir ausgerechner auf einen Aufsatz des jungen K.-O. Apel berief, der sehr schón gezeigt hatte, >daB das Reden des Menschen über sich selbst keinesfalls als gegenstándlich fixierende Behauptung eines Soseins m velstehen ist, so daB eine Widerlegung solcher Aussagen durch den Aufweis ihrer logischen Rückbezüglichkeit und Widersprüchlichkeit sinnlos ist.< (WM, 452) Gadamers platonische Reserve dem Reflexionsargument gegenüber hat auch etwas mit seinem MiBtrauen angesichts des Sichselbstbesitzenwollens zu tun, das diese reine, d. h. um
F.rinnerung rufen, die die einer jeden'W'ahrheit fiir uns Menschen bleibt. Sie gilt auch fiir die Wahrheiten der'Wissenschaften, sofern sie sich sprachlich artikulieren und damit verstándig sein móchten. Der Hermeneutik ist es aber nie einge-
fallen, diese Bedingtheit in einer einzelnen Aussage zn formulieren, wohl wissend, daB jede Aussage (einschlie8lich die hiermit riskierten) daran teil hat. Es isr diese Bedingtheit der Zugehórigkeit zu einer Geschichte und einer Sprachlichkeit, die Gadamer im letzten Abschni.tt seines'Werkes dazu bringt, von einem >universalen Aspekt< der Flermeneutik zu sprechen. (Jniversal ist also weder eine Aussage, noch eine Philosophie, sondern ein wesentlicher Aspekt des Sinnes seine Einbezogenheit in eine von der Geschichte umrissene Verstándlichkeit. Es ist nicht Gadamer, der zunáchst von dem lJniver-
Habermas.loo
sich zentrierte Reflexion beseelt. Die Reflexionsphilosophie setzt námlich voraus, da8 es ein SelbstbewuBtsein ebenso wie
ein GegenstandsbewuBtsein geben kann. Zweifellos ist sich BewuBtsein der sich in ihm >widerspiegelnden< Welt bewuBt: die Welt ist fiir das BewuBtsein da als der Horizont alles Erfahrbaren. Gibt es aber ein BewuBtsein dieses BewuBtseins das
selbst, d. h. eine Selbstspiegelung des Spiegels? Die Merapher
der Spiegelung und der Reflexion legt
es ja nahe, daB der Spiegel und das in ihm Widergespiegelte nicht dasselbe sind (kann die Reflexionsphilosophie die Metaphorizitát ihrer ei100 Sein in der Gadamer-Festsch¡ift von 1970 zunáchst veróffentIichter, spáter vielfach nachgedruckter Beitrag hieB in der Tát >Der Unive¡salitátsanspruch der Hermeneutik<. Wir kommen am SchluB clarauf zurúck.
186
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
genen Aussagen einholen?). Die Selbstreflexion setzt voraus, da8 sich das Bewu8tsein selbst vor das BewuBtsein bringen kann, wie es an sich ist.'W'er sagt uns aber, ob das im >Belag< des Spiegels widergespiegelte BewuBtsein, um das-Wo¡t von Rodolphe Gasché wiederaufzunehmen,l0l dem BewuBtsein angemessen ist und ob man von Evidenz in einem solchen Spiegelspiel sprechen kann? Es liegt ja bereits im Begriff des wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins, daB die Subjektivitát vielleicht blo8 ein Zerrspiegel ist (WM,281).Verrát nicht die proklamierte Selbsttransparenz der Reflexion eine noch durchgehendere (Jndurchsichtigkeit? Es ist móglich, da8 sich die Reflexion hier durch ihre eigenen Metaphern irrefiihren láBt, sofern sie auf sich selbst die Kategorien und Motive des >Begreifens< und >Beherrschens< anwendet, die sich allein fiir -Wissenschaft bewáhren lieBen. die objektivierte Natur der Die Grenze dieser Metaphern ist auch die der Reflexions-
philosophie. Nach Gadamer láBt sich ein Sichselbstdenken des Denkens freilich nachvollziehen, aber wie bei Aristoteles bleibt es der noesis noeseos
der Gottheit vorbehalten. Diese Gottheit ist je-
doch so souverán, daB sie nur um sich weiB und sich um den Rest der Welt nicht schert. Dies ist auch die Gefahr der Reflexionsphilosophie, daB sie nur auf sich hórt. Seiner Endlichkeit eingedenk,wird das hermeneutische BewuBtsein im Gegenteil fiir den enderen offen bleiben.
tot
Vgl. R. Gasché, TheThin of the Miror: Denida and the Phi.losophy of Reflection,C:;mbridge (Mass.), Ha¡vard (Jniversiry Press, 1986. Uber diese Grenze der Reflexion, vgl. R. Brague, Arístote et la qtrestiot't du nonde, Paris, PUE 1988 (der Aristoteles durch Herdegger liest, wie es Gadamer tut),17: 'je ne peux faire l'expérience que de ce i quoije surs présent. Mon expérience est précédée nécessairement per une présence au monde. Mais cette présence au monde,je n'en dispose pas. En un sens, il n'y a pas d'expérience du monde: I'expérience ne porte jamais que sur les choses présentes dans le monde, et jamais sur 1e monde lui-méme.<
t
Die Offenheit
Die Offenheit
des hermeneutischen
BewuBtseins 187
des hermeneutischen Bewu8tseins
Die Seele der Hermeneutik besteht darin, daB der
andere
recht haben kann: Das ist ein Diktum, das der spáte Gadamer gern verwendet. Es findet seine Vorbereitung in der OfGnheit der hermeneutischen Erfahrung, die Gadamer in Wahrheít und Methode der Geschlossenheit der Reflexionsphilosophie entgegenstellt. Diese Erfahrung ist aber nicht diejenige, die der 'Wissenschaftler in seinem Laboratorium vor-bereitet, die sich also wiederholen und verifizieren láBt, sondern diejenige, die
dem BewuBtsein widerfáhrt. Es ist die Erfahrung, die uns überrascht, unsere Erwartungen enttáuscht und damit zum Umdenken nótigt. Ihr Vorbild bietet das'W'ort von Aischylos: pathei mathos, durch Leiden wird man weiser. Darin besteht
die wirkliche Erfahrung, denn die Erfahrung, die nur bestátigt, was wir schon wissen, ist keine. Da efihrt man nichts. Allein die negative Erfahrung verschaflt uns Einsicht und erschlieBt neue Florizonte. Der Fallibilist Karl Popper hat beredt von einer Dialektik des tríal and error in der Wissenschaft gesprochen. Gadamer begrüBt zwar diese Erfahrungskonzeption, aber sie bleibt ihm doch zu voluntaristisch und zu instrumentell auf ein Experimentieren und Kontrollieren aus-
gerichtet. Sie verkennt damit den >leidenschaftlichen< und widerfahrenden Charakter der wirklichen Erfahrung. 102 Der 'Wissenschaftler, der seine Hypothesen testen oder falsifizieren láBt, bleibt Herr der Erfahrung, aus der er Resultate zieht. Der der hermeneutischen Erfahrung eigene (Jmsturz beraubt hingegen das Bewu8tsein dieser Sicherheit. Die hermeneutische Erfahrung benimmt ihm seine GewiBheit, um es mit seiner Endlichkeit schlechthin zu konfrontieren. Wie Hegels Phrinomenologie ríchtig geschildert hatte, zieht der negative Charakter der wesentlichen Erfahrung eine neue Gestalt des BewuBtseins nach sich. Sie fiihrt námlich das hermeneutische Bewu8tsein zur grundsátzlichen Anerkennung seines eigenen Nichtwissens: >Die Negativitát der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn. Sie ist nicht einfach eine 102 Vgl. dazu
die neue FuBnote in WM,359
__\ 188
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschíchtlichen Wachsamkeit
Táuschung, die durchschaut wird und insofern eine Berichtigung, sondern ein weitgreifendes 'Wissen, das erworben wird.< (WM,359) Dieses BewuBtsein der eigenen Endlichkeit ist ein BewuBtsein des tragischen'Wesens der menschlichen Erfahrung, >die stets selber erworben sein muB und niemandem erspart werden kann.< (WM,361) Diese weitgreifende hermeneutische Weisheit ist eine W'eisheit, die uns auch einen Horizont gewinnen láBt. So sagt man von demjenigen, der einen solchen Horizont gewonnen hat, daB er ein erfahrener Mensch ist (vgl. WM , 359 ,377) . Der erfahrene Mensch, von dem man auch sagt, er sei weise (phronímos),íst also nicht derjenige, der über ein universalgül'Wissen verfiigt oder der den Lauf der Dinge souverán tiges voraussagen kann. Hier hat uns Aristoteles die entscheidendsten'Winke gegeben, als er die Erfahrung (empeiria) zwischen
den isolierten Wahrnehmungen und der Allgemeinheit des Begriffs einordnete flX/M,373). Diese Mittelstellung der Er-
fahrung ist aber alles andere als ein Mangel. Sie triflt genau das der Erfahrung, die man zu erwerben nie aufhórt. Sie -Wahrnehmungen, resultiert zwar aus einer Mehrzahl von
-Wesen
aber im lJnterschied zur allgemeinen Begriffserkenntnis kann sie immer noch umgestoBen werden. Wichtiger noch: sie bewáhrt sich nur im konkreten Fall. Diese Erfahrungsallgemeinheit auf die Ebene der Begriffserkenntnis z,trückntfiihren, würde sie ihres konstitutiven Bezugs auf die Erfahrung berauben, die stets erworben und immer wieder erworben werden muB, die aber auch ihr einziges Anwendungsterrain bildet. Der erfahrene Mensch verfiigt nicht über eine unfehlbare Methode, um den Kurs der Dinge zu steuern, er weiB vielmehr um das IJnvorhersehbare aller Erfahrung. Wer an die Erfahrung von hohen abstrakten Prinzipien aus herantreten móchte, die fiir jede Situation gelten sol1en, ist nicht sehr erfahren und auch nicht besonders weise. Nichtsdestoweniger genie8t nach Aristoteles die empeiria eine >(Jniversalitát<, die aber weder die des Begriffs, noch die der wiederholten Wahrnehmung ist. Sie weist auf die Universalitát der Endlichkeit jeder Erfahrung und schlieBlich auf die Grunderfahrung der Endlichkeit selbst hin.
I
Die Offenheit
des hermeneutischen
Bewu8tseins 189
Deshalb fihrt diese Erfahrung zur OfGnheit fiir den anderen und fiir eine neue Erfahrung, von der man nur voraussegen kann, daB sie unvorhersehbar ist. Durch das Leiden und
die Enttáuschung ihrer früheren Erwartungen belehrt, wird diese Erfahrung einen Wachsamkeitshorizonr bilden. Darin besteht der Horizont des wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins: Er ist eine >Einsicht in die Grenzen, innerhalb deren Zukunft fiir Erwartung und Planung noch offen ist - oder noch grundsátzlicher [ein Anerkennen dessen], daB alle Erwartung und Planung endlicher'Wesen eine endliche und begrenzte ist.< (WM, 363) Gadamers Argumentation ist hier einsichtig genug: Da wir uns endlich und begrenzt wissen, óffnen wir uns fiir andere Horizonte. In einer kritischen Perspektive darf man jedoch die Frage stellen, ob die der hermeneutischen Erfahrung eigene Endlichkeit unbedingt zur Offenheit fiir den anderen und fiir neue Erfahrungen fiihrt. Besteht nicht die Endlichkeit des wirkungsgeschichtlich bedingten BewuBtseins auch und vor allem darin, daB sie sich nicht fijr alle Erfahrungen offenhalten kann? Ein scharfinniger Kritiker von Gadamer, Claus von Bormann, hat darin die wesentliche Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung gesehen.103 Eine die Endlichkeit radikalisierende Hermeneutik mu8 námlich anerkennen, daB eine gewisse Geschlossenheit sehr wohl zur hermeneutischen Erfahrung gehórt. Ihre Insistenz auf die bedingenden und bedingten Vorurteile des Verstehens schlieBt ja ein, daB sie uns nicht alle zur freien Vefigung stehen. Das Bewu8tsein ist aufgrund ihrer aufgeschlossen, d. h. fiir die Welt wach, es ist aber nicht fiir allePerspektiven offen. Ein radikalisiertes wirkungsgeschichtliches BewuBtsein wird auf diese wesentliche Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung achtgeben müssen. Sie wird aber seine 'Wachsamkeit nur schárfen. Da ich mich irren kann, auch 103 C.
von Bormann, uDie Zweideutigkeit der hermeneutischen Erin Henneneutik. und ldeologiekrilík, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1971,83-119. Gadamer hat das Recht dieser Kritik durchaus zugesranden (GW 2, 256). fahrung<,
190
4.
Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen W'achsamkeit
wenn ich recht zu haben wáhne, werde ich mich um so mehr fiir die Chance des Gespráchs und die Perspektive des anderen offenhalten (der auch in mir selbst wohnen kann, denn die besten Argumente, die man gegen seine eigene Position geltend machen kann, sind immer diejenigen' die man in sich selbst verdrángt - jeder, der einen halbwegs philosophischen Text geschrieben hat,wird es erfahren haben). [n diesem Geiste wird sich Gadamer an das Modell der sokratisch-platonischen Dialektik anschlieBen, die immer schon weiB, daB der Unterschied zwischen der Wahrheit und der Sophistik sehr fadenscheinig ist. Wer kann je sicher sein, daB er nie der Sophistik erliegt? Auch das ist menschliche Endlichkeit, und sie ist nach der Hermeneutik universal. Deshalb mündet die hermeneutische Erfahrung nicht in eine absolute Sicherheit (sei es die der wissenschaftlichen Erfahrung oder die des absoluten'Wissens bei Hegel), sondern in die Infragestellung jeder Sicherheit. Hegels Dialektik des BewuBtseins wird also in die platonische Dialogik zurückgenommen, die unter der Ágide von Sokrates alle angeblichen Wissensansprüche in Frage stellt. Das wirkungsgeschichtliche BewuBtsein ist insofern sokratisch, als es selbst eine Kunst des Fragens und des Offenhaltens entwickelt. In den Geisteswissenschaften ist es nicht immer das Entscheidende, feste Ergebnisse
zvtage zu fórdern, sondern Fragen stellen zu kónnen. Wie oben bereits gestreift, ist der gebildete Mensch nicht der, der eine Antwort auf alles parat hált, sondern der, der Fragen stellen kann, sie offen sein láBt und damit zeigt, daB er Horizont hat. Die Offenheit fiir die móglichen Anrlvorten gehórt wesentlich zur'Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlichen BewuBtseins. Sofern sie zur Ausbildung dieser Wachsamkeit beitrágt, ist
die Logik der Geisteswissenschaften eine Logik der Frage. Eine Vorahnung dieser Logik fand Gadamer in der von R' G. Collingwood entfalteten logic of questíon and answer. Collingwood hatte námlich sehr gut erkannt, daB der Historiker, der den Gang der Dinge verstehen will, die Frage rekonstruieren muB,aufdie die geschichtlicheTht die Anrwort ist 0ñ/M' 376)' Man kann die Vergangenheit nicht verstehen, ohne ihr Fragen zu stellen und sich in die Offenheit ihrer Situation zu verset-
Die Offenheit
des henneneutischen
BewuBtseins 191
zen. Verstehen bedeutet hie¡ die Frage zu verstehen, aufdie die Geschichte die Antwort ist. Aber diese Frage und Fragesituation láBt sich als solche eben nur verstehen, sie ist nicht faktisch gegeben. Gegeben ist nur die Antwort. In diesem Fragen nach dem, was hinter dem Geschehenen, Geschriebenen und Gesagten steckt, liegt sehr wohl eine universalisierbare Logik der Geisteswissenschaften. Der Durchbruch von Collingwood ist insofern sehr wertvoll. Ihr haftet indessen bei Collingwood eine doppelte Einseitigkeit an. Einerseits scheint sie vorauszusetzen, daB der Laufder Geschichte einem bewuBten Plan gehorcht. Die Pláne und Erwartungen der geschichtstráchtigen Handelnden sind in der
Geschichte nicht allein ma8geblich. In ihr kreuzen sich vielmehr die Intentionen der Akteure mit den Kontingenzen und den Kausalketten unvorhersehbarer Faktoren. Andererseits scheint Collingwood zu unterstellen, daB man sich einfach in die Situation und die Fragen der den Geschichtsgang voranbringenden Handelnden zu versetzen braucht, urn den Laufder Dinge zu verstehen. Das seit der romantischen Hermeneutik vertraute Motiv des rSichversetzens< ist Gadamer bekanntlich verdáchtig. Die Frage, die man zu verstehen sucht, ist fiir ihn immer eine, die man selbst stellt, so daB man hier erneut von einer Horizontverschmelzung sprechen muB. Es ist natürlich nicht so sehr die Geschichte, die auf die Fragen von heute antworten soll, sondern die Fragen von heute, die die Geschichte sprechen lassen, auch wenn der Historiker sie vorsichtig in die Form kleidet: hier kónnte man sich ftagen, ob ... flñfM, 381) Diese geisteswissenschaftliche Logik von Frage und Antwort konkretisiert die Gadamersche Konzeption der Anwendung. Der Durchbruch von Collingwood ist aber auch in dem Sinne ausschlaggebend, als er über den Rahmen der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik hinausweist. Es trifft nicht nur zu, da8 man ein Ereignis oder einen Text als Antwort auf eine Frage zu verstehen hat - und die man nur solange versteht, als man sie selbst fragt - sondern es trifft auch zu, da8 man jede Aussage als eine Antwort verstehen kann. Die universalste Fassung dieser Einsicht fand sich nach Wahrheit und Methode,in einem Text von 1966: rDas ist in der Tat das her-
192
4. Der Horizont einer Hermeneutik der geschichtlichen Wachsamkeit
meneutische Urphánomen, daB es keine mógliche Aussage gibt, die nicht a1s Antwort auf eine Frage verstanden werden kann, und daB sie nur so verstanden werden kann.o (G.W' 2,
226). Man versteht eine Rede, ej.n Wort, aber auch ein Schweigen oder eine Geste - all dies ist Sprachlichkeit - sofern man auch die Frage, die Not, das Leiden oder die Konstellation mithórt, eus denen sie stammen. Insofern vollzieht sich irn Verstehen eine Horizontverschmelzung zwischen dem zu Verstehenden und dem Verstehenden selbst. Es ist der >leitende Gedanke der folgenden Erórterung< von Gadamer, ndaJJ die ímWrstehen geschehewleWrsehmelzung der Horizonte die eígentliche Leistung der Sprache lsr. <
(WM, 383)
Die Sprache bildet dabei nicht nur den >Gegenstand( (etwa ein sinnhaftes Gebilde), sondern auch die 'rVollzugsweise< des Verstehens, sofern man einen Sinn zu artikulieren sucht. Es handelt sich aber um einen Gegenstand und eine Vollzugsweise, die etwas Unabwágbares, ja Unheimliches haben, da die Sprache so sehr mit diesem Gegenstand und dem Vollzug des
Verstehens zusammengewoben ist, daB es unmóglich erscheint, die Sprache erstens von den Sachen und zweitens von der sprachlichen Bemühung des Verstehens auseinanderzuhalten. Hier muB man von einer verdoppelten Verschmelzung sprechen, da sie sowohl die der Sprache mit den Sachen als auch die der Sprache und des Denkens ist. Diese Nichtunterscheidung ist aber nur beunruhigend fiir eine der Objektivierung verpflichtete Denkweise, die das Denken von seiner sprachlichen Artikulation und die Dinge von ihrer Versprachlichung unterscheiden móchte. Es ist gerade die hier waltende instrumentelle Sprachauffassung, die Gadamer hinterfragen móchte, um sich dem rGesprách, das wir sind< anzunáhern. Die Sprache ist nicht bloB ein Werkzeug oder ein verfiigbarer Besitz, dessen sich das souveráne Denken bedient (WM,384). Das wesentliche Gesprách, das wir sind, nicht nur mit den Dingen, sondern auch mit uns selbst,wird die letzte Denkherausforderung der Hermeneutik bilden. Das Sein wird sich von der es bewohnenden Sprache nicht mehr unterscheiden lassen. Diese Einsicht wild eine ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache in die Wege leiten.
5. Das Gesprách, das wir sind Unterwegs zur unheimlichen Náhe der Sprache rBegreifen, was uns ergreift<, so láBt sich die paradoxe Aufgabe der Hermeneutik zusammenfassen (G'W 2,1,08).Die Herrneneutik unserer geschichtlichen Geworfenheit bildet ein besonderes Augenmerk fiir die Zugehórigkeit unseres Verstehens zum sprachlichen Medium, das sich einem insrrumentalistischen BegreiGn entzieht, weil es jedem Begriff und jedem Entwurf immer schon vorausarbeitet. Diese Unverfiigbarkeit war im Zweiten Teil die der Geschichte, der wir mehr gehóren als daB sie uns gehórt. In der Sprachlichkeit wird Gadamer nunmehr die universellste Dimension dieser wirkungsgeschichtlichen Zugehórigkeit sehen. Die Sprache gehórt aber >zum Allerdunkelsten, was es fiir das menschliche Nachdenken gibt<, weil die Sprachlichkeit uns so >unheimlich nahe< ist (WM, 383). Das Unheimliche ist buchstáblich das,wo wir uns nicht heimisch fiihlen und das uns deshalb ein gewisses Gefiihl des [Jngeheuren einflóBt. Gadamers Grundeinsicht ist hier, daB dieses unheimliche Element der Sprache gerade unsere Heimat ist. In ihr, d. h. in ihrer >unheimlichen Náhe< wohnen und leben wir. Die Hermeneutik der Geworfenheit kann also nicht umhin, diese unheimliche (Jnvordenklichkeit der Sprache zu denken. Sie wird ihr aber nie
Herr werden. Wie kónnte man auch das Medium beherrschen, das uns nach Gadamers tragender Einsicht durch und durch beherrscht? In einer Denkbewegung, die an Heideggers >LJnterwegs zur Spracheu gemahnt,kann man nur hoffen, ,dem Dunkel der Sprache nahezukommen< (WM, 383). Nichts mehr, aber auch nichts weniger.
194
5. Das Gcsprách, das
wir sind
Untemegs zur unheimlichen Náhe der Sprache 195
Es ist nicht verwunderlich, daB Gadamer spáter ein gewis-
lJnbehagen über seine Ausfiihrungen zur Sprachlichkeit im letzten Teil seines Hauptwerkes zum Ausdruck brachte.Im ses
Gesprách mit Carsten Dutt bekannte er 1993 offenherzig, da8 Arbeit der letzten 35 Jahre der Vertiefung dieses Rátsels
seine
unserer Sprachzugehórigkeit gewidmet waren.l04 Die Ausfiihrungen des Dritten Teiles weisen vielfach einen rudimentáren Charakter auf. Man muB aber sehen, da8 das nicht nur ein Mangel ist. Gadamer wollte ja nur dem verunsichernden
le
chnen darf. Gegen Ende der 50er Jahren hatten nur wenige
in Deutschland'Wittgenstein gelesen. Die in Amerika herrschende analytische Philosophie blieb dort so gut wie unsichtbar bzw mit dem Positivismus des'Wiener Kreises assoziicrt und eben deshalb verfemt. Trotz ihres groBen Interesses
Dunkel,ja dem Dschungel der Sprache náherkommen. Diese Annáherung an das nahezu unnahbare behált in eben dieser Hinsicht einen exemplarischen Charakter fiir eine Gewor-
liir die Probleme der Bedeutung und der Intentionalitát hatte sclbst die Husserlsche Phánomenologie der Sprache wenig Aufmerksamkeit geschenkt.Das war im allgemeinen auch der Fall in der klassischen Philosophie, wo man viel lieber von llegriffen, Ideen, Vorstellungen als von'W'orten sprach. Dieses Urteil hat man seitdem mehrfach zu revidieren AnlaB gehabt, so daB sich inzwischen bei allen Klassikern der Philosophie,
fenheitshermeneutik, deren Absicht es ist, das BewuBtsein an dasjenige zu erinnern, was jedem BewuBtsein vorausliegt und es móglich macht. Je stammelnder und rauher eine Sprach-
von Platon und Aristoteles bis hin zu Augustin, Ockham, Humboldt und Nietzsche, eine Sprachkonzeption auffinden lie8, aber dies war nur ein Rückschein der nahezu inflationá-
analyse ist, desto mehr wird sie ihrem Gegenstand gerecht. (Jnter diesem Blickwinkel sind die Ausfiihrungen des Drit-
ten Teiles zur Sprache ein Meisterstück. Man muB ferner in Betracht ziehen, daB bis ca. 1960 die
Thematik der Sprache weitgehend erne
terra incognita der
Phi-
losophie geblieben war. Die Sprachlichkeit hat sich seitdem so sehr als das beherrschende, wenn nicht als das alleinige Thema der Philosophie aufgedrángt, daB man sich die damalige Situation kaum noch vorzustellen vermag. Diese philosophische Evidenz der Sprache hat sich auch von wirklich sehr verschiedenen Strómungen aus gespeist, zu denen man den logischen Positivismus, die Oxforder ordínary language phílosophy, den amerikanischen Pragmatismus (und dessen Neubelebung durch Quine), den Strukturalismus, die Psychoanalyse (von Lacan beispielsweise), die Dekonstruktion, die Hermeneutik, die transzendentale Pragmatik von Apel und Habermas und
die letzten Arbeiten von Merleau-Ponry und Heidegger 'uo Vgl. Hans-Ceorg Cadamer im Cespñch: Hemteneutik - Asthetik Praktisclrc Philosophíe, hrsg. von Carsten Dutt, Heidelberg, Carl Winter Verlag,1993;vgl. den Ausdruck desselben Unbehagens im LB-Gesprách, 282.
In diesem Sinne sind die betonten Hinweise der letzten Ausgabe
von WM (447,465) auf die ogebotenen Ergánzungen< zur Sprachlichkeit im 2. Band der GW zu verstehen.
ren Bedeutung, die die zeitgenóssische Philosophie der Sprache zumiBt.l0s Beim tieferen Ausgraben kónnte man auch viele Ausnahmen dieser philosophischen Sprachvergessenheit vor 1960 namhaft machen (Gadamer wird sich selbst auf
die heute jedoch wenig bekannten Arbeiten von Richard Hónigswald, Julius Stenzel und Johannes Lohmann beziehen), aber sie empfehlen sich nur als Sprachkonzeprionen von unserer Gegenwart aus, die der Sprache einen alles beherrschenden Vorrang, und zwar nicht nur in der Epistemologie, sondern selbst in der Ethik einráumt. Die einzige nennens-
werte und fiir Gadamer maBgebliche Ausnahme ist natürlich Heidegger. Man darf indes nicht vergessen, daB sein groBes Buch über die Sprache, Unterwegs zur Sprache,1959 erschien, als Wahrheit und Methode bereits im Druck war. Gadamer kannte freilich Heideggers seit 1935 óffentlich gewordene Reflexionen über die Sprache und die Dichtung. Sie werden ihn sicherlich inspiriert und ermuntert haben, aber in einer 105 Von inflation sprach der belgische Philosoph Gilbert Hottois, L'Infation du langage dans la philosophie contemporcine. Causes,formes et Ii-
Editions de 1'Université Libre de Bruxelles, 1979 .Inzwinicht wenige Sammelbánde über die álteren >Klassiker der Sprachphilosophie<. Ob sie vor 1960 móglich gewesen wáren? Auch hier wirkt Wirkungsgeschichte. rnlfes, Bruxelles,
schen
gibt
es
196
5. Das Gesprách,
das
wir sind
schwer einzuschátzenden'Weise: Auch wenn etliche'Wen-
dungen Gadamers an Heidegger erinnern (>Ontologische
'W'endung<, >Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache<
usw), nimmt er keinen direkten Bezug auf Heideggers sprachphilosophische Schriften, ebensowenig wie er sich auf Heideggers Kunstauffassung in der Asthetik des Ersten Teiles beruft. Ferner behandelt er die Sprachlichkeit im Rahmen einer betont hermeneutischen Philosophie, die Heideggers Kehre hinter sich zu lassen schien, als sie sich dem Mysterium der Sprache zuwendete. Gadamers Flermeneutik der Sprach-
lichkeit macht aber oflenkundig, daB die Heideggersche Kehre zur Sprache ihrerseits vielleicht eine Rückkehr zu der urintuition der Hermeneutik der GeworGnheit bedeutet. Die Sprache fungiert gleichsam als das Urelement dieser Ge-
worfenheit, in der wir >da<, d. h. derWelt aufgeschlossen sind. Die Sprache ist damit die allererSte Seinserschlossenheit, das Ljrdasein. Gadamer vermeidet selbst die manieristische Rede von einer >Kehre<, láBt sie aber gleichwohl mit anklingen, wenn er von einer ontologischen oWendung< der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache spricht. Ohne sich damals darüber im klaren zu sein, entsprach diese Wendung durchaus dern linguístic turn (!) der angelsáchsischen, aber auch der franzósischen Philosophie.
106
Gadamer wagte sich also in einen damals weitgehend unerforschten Dschungel, als er seine Hermeneutik der Sprachlichkeit entwarf. Viele seiner damaligen Ausfiihrungen scheinen uns heute an Profil zu mangeln,so daB der Dritte Teil seines'Werkes bislang vielleicht weniger rezipiert wurde als die zwei ersten über das Methodenproblem, die humanistische Tradition, die Ásthetik und die geisteswissenschaftljche Hermeneutik.107 In ihrer Generalitát schienen Gadamers Thesen offene Türen einzurennen, die es aber 1960 natürlich nicht waren. Das ist sicherlich der Fall von Gadamers erster grund-
lJntemegs zu¡ unheimlichen Náhe der Sprache 197
lcgender These, der zufolge die Sprachlichkeit sowohl den (legenstand als auch den Vollzug des Verstehens bestimmt. l)iese Auffassung ist heure so geláufig, nahezu so banal, da8
es
ntrn vi.elleicht dringender wáre, zu sehen, inwiefern dieser Sinn fiir Sprachlichkeir in einer wichtigen Hinsicht, die Ausustin uns im náchsten Abschnitt besser zu verstehen helfen rvird, aus der Erfahrung der Grenzen der Sprache resultiert.l08 (ladamer hat sich in seinen Arbeiten der 80er und 90er Jahre zunehmend mit ihnen befaBt. Um die schillernde These von Wahrheít und Methode zur Sprachlichkeit besser zu verstehen, tut man gut daran, sich an clie Art und'W'eise zu erinnern, wie die Sprache in den Aufbau des Buches einbezogen wird. Die geisteswissenschaftliche Hermeneutik des Zweiten Teiles schloB ja mit einer Logik von Frage und Antwort, die auf ein sprachliches Fundament verwies: Man versteht nur >etwas< (nicht nur eine Aussage, sondern auch eine Tat, eine Geste, ein Schweigen, einen Blick usw.), wenn man es als Antwort auf eine Frage versteht. Es ist ia das >urhermeneutische Phánomen<, daB man nur Sprachliches als Antwort auf eine Frage verstehen kann. Das Verstehen wird hier als Anwendung gefaBt: Ich verstehe nur, sofern
ich die Sinnkonstellation, in die sich das zu Deutende einschwingt, nachvollziehen kann, und zwar in meinen eigenen Worten nachvollziehen kann. Daraus leitet sich die grundlegende These ab, da8 die Sprachlichkeit sowohl den Gegenstand (das zu Verstehende) als auch die Vollzugsweise des Verstehens be-stimmt. Die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Vollzug ist hier schwierig, da ich diesen sogenannten >Gegenstand< nur usprachlich< artikulieren und insofern halbwegs verstehen kann. Aber auf diese hermeneutische Nichtunterscheidung, d. h. auf die Verschmelzung von Gegenstand und Vollzug kommt es Gadamer eben..an. Dieser Vollzug des Verstehens láBt sich durchaus als ein übersetzen fassen: Verstehen heiBt,
106 Vgl- dazu
die neue Fu8note in WM,421. tot Vgl. inzwischen die der Sprache gewidmeten Beitráge in dem neuen Sammelband Hermeneutísdrc Wege, hrsg. von G. Figal, J. Grondin und D. Schmidt,Tübingen, Mohr Siebeck,2000.
108 Auf sie habe ich deshalb in meiner Einfühnng in rtie philosophische Henneneúik von 1991 (2. Aufl.2001) besonders abgehoben.
198
5. Das Gesprách,
das
wir sind
einen (prinzipiell sprachlichen) Sinn in meine Worte einigerma8en übersetzen zu kónnen.
Diese Verschmelzungs- bzw. Übersetzungsieistung beschreibt Gadamer gern als einen dialogischen Proze8. Die Idee des Dialoges bildet in der Tat die Angel, um die sich die ganze Sprachhermeneutik des Dritten Teiles dreht. Gadamer insistiert zunáchst auf der Verwandtschaft, die zwischen dem Gespráchsvollzug und einer Textinterpretation besteht. In Wahrheít und Methodebehauptet er, daB er vom ersten Modell ausgehe, um das andere zu erkláren (WM,387). In'W'ahrheit macht er das Gegenteil: Er ist tatsáchlich vom Paradigma der geisteswissenschaftlichen Interpretation ausgegangen, um an die umfassendere Dimension der Sprachlichkeit zu gelangen. Die Dialogik von Frage und Antwort wurde zunáchst fiir die Geisteswissenschaften zurückerobert. Wer einen Text interpretiert, versteht ihn als Antwort ¿uf eine Fragekonstellation, die der Interpret weiterhin stellt. Nach Gadamer schlie8t dies aber keineswegs ein, daB die Perspektive des Interpreten den Text bzw. seinen ursprünglichen Sinn vereinnahmt oder verformt. Er besteht vielmehr auf dem Gegenteil: Je besser eine Interpretation oder Übersetzung gelingt, desto mehr wird sie vor dem Text zurücktreten und sich als solche nahezu unkenntlich machen: >Kein Text und kein Buch spricht aber, wenn es nicht die Sprache spricht, die den anderen erreicht.< (WM,401) Gadamer hatte es freilich sehr schwer, die Verfechter der mens auctoris davon zu überzeugen, daB dies keine Abschwáchung der Objektivitátsforderung in der Interpretation bedeutete! Dabei wurde vielleicht übersehen, daB Gadamer diese Auffassung entwickelte, als erjust die Ríchtigkell der Interpretation zu umschreiben suchte. Die modernisierende oder >subjektivistische< Interpretation ist diejenige, die dem Text übergestülpt wird und die sich als solche erkennen und disqualifizieren láBt. Die richtige oder adáquate Interpretation ist hier offenbar diejenige, die diesem Fehler entgeht. Worin ist sie jedoch richtig? Sie ist es, indem es ihr gelingt (!), den Text selbst sprechen zu lassen.'Wie ist dieses Gelingen seinerseits móglich? Es kenn nur zustande kommen durch die Her-
IJntemegs zur unheimlichen Náhe der Sprache 199
vorhebungen, Akzente und Betonungen, die der Interpret (Lrnd bereits der Akt des Lesens) dem Text verleiht. Man kann dcn Sinn des Textes nicht ohne eine solche überhellung wierlergeben (WM,404), die im Dienst der Sache steht. In dieser Versprachlichung des Sinnes vollzieht sich der wesentliche l)ialog mit dem Text. Die übersetzung bietet hier erneut die beste Veranschaulichung dieses Vorganges: Je weniger das (ienie des Überserzers auffáIlt, je ricñtigár wird seine-übersctzung sein.l0e Ebenso wirdjede Interpretation aufdie Sache selbst des Textes abzielen.
Die Interpretation überzeugt nur,
wenn es ihr gelingt, diese Sache überzeugend, d. h. gut begründet darzustellen. Natürlich kann die faktisch zustande gekommene Überzeugrrng eine sachlich unrichtige sein, aber es obliegt einer neuen Interpretation, das überzeugend zu rnachen. Stets ist es die Sache selbst, die sich sprachlich, d. h.
vermóge einer Anwendungs- bzw. Vermittlungsleistung nachvollziehen láBt.
Insofern ist jede Interpretation ein >Dialog< mit dem Text und seiner Sache. Die schillernde Bedeutung des deutschen 'Wortes >Verstándigung< kommt hier Gadamers Intentionen sehr entgegen. Verstehen heiBtja
fiir ihn >Sichverstándigen<.
Aber man versteht sich immer mit jemandem (im Alleingang auch rnit sich selbst, wenn man sich von etwas überzeugt) über bzw. in etwas. Ferner hei8t das Resultat des Verstehens oder der Verstándigungsbemühung auch eine >Verstándigung< im Deutschen. Man darf hier von einer gewissen Selbstándigkeit des Dialogs sprechen, in dem sich die Sache behauptet, so daB die Gespráchspartner weniger die Dialogfiihrenden als die Gefiihrten sind (vgl.WM,407). Nur wenn diese gesuchte Verstándigung ausbleibt, wird es zulássig, eine Zuflucht zu psychologistischen, historisierenden und im Therapiefall psychoanalytischen Deurungen zu nehmen. Die Auffassung, der gemáB die Sprachhchkeit den hermeneutischen Gegenstand und den hermeneutischen Vollzug erschlieBt, besagt also, daB das zu Verstehende ein im prinzip r0e
Vgi. WM, 407: >Der Ausleger weiB nicht darum, daB er sich selbst und seine eigenen BegrifG in die Auslegung r-nit einbringt.o
200
5. Das Gesprách, das wir sind
sprachliches Sinngebilde ist, das das Verstehen sprachlich nachzuvollziehen sucht. Man kónnte hier aber sehr wohl entgegnen, daB der Gegenstand und der Vollzug des Verstehens doch nicht unbedingt sprachlich sein müssen. Wo liegt etwa diese Sprachlichkeit in der musikalischen Interpretation oder im anschauenden Verstehen eines Bildes? Sie scheinen eher eine Bewunderung oder einen sinnlichen Nachvollzug (bzw. eine Ablehnung) hervorzurufen, die man nicht ohne weiteres als sprachlich charakterisieren darf. Angesichts eines musikalischen oder plastischen Meisterwerkes scheint in der Tat jedes'Wort zu viel. Gadamer zieht sehr wohl dieses Gegenargument in Erwágung, vermag aber in Wahrheit und Methode darín noch keine Begrenzung seiner These zu sehen: oDer grundsátzliche Vorrang der Sprachlichkeit, den wir behaupten, muB recht verstanden werden. GewiB erscheint die Sprache oft wenig fihig, das auszudrücken, was wir fiihlen. Angesichts der überwáltigenden Prásenz von Kunstwerken erscheint die Aufgabe, in Worte zu fassen. was sie uns sagen, wie ein unendliches lJnternehmen aus einer hoffnungslosen Ferne. [.. ] Allein das ándert nichts an dem grundsátzlichen Vorrang der Sprachlichkeit.< (WM, 405) Es ist hervorzuheben, daB Gada-
mer hier weniger von Sprache als von ,rSprachlichkeit< spricht. Im Lesebuch-Gesprách von 1.996 hat er diesen (Jnterschied etwas náher ausgefiihrt (LB, 286ff .). Unter Sprachd. h. auf einen Nach-
lichkeit meint er nur die auf Sprache,
vollzug angewiesene Bemühung unserer Endlichkeit, die sehr wohl um die Grenzen der jeweiligen Aussagen weiB. Gemeint ist die Virtualitát des sprachlichen Verstehens, d. h. die immer offene, wenngleich nicht immer verwirklichte Móglichkeit eines verstehenden Nachvollzugs, dem man Folge Ieisten kann. So ruft ein Bild, eine AufÍiihrung, ein Musikstück einen Nachvollzug hervor, auch wenn es ihre Absicht ist (wie in der modernen Kunst nicht unüblich), jeden Anspruch aufVerstándlichkeit oder sprachliche Intelligibiiitát zu zerstóren. Hier gilt es, sich der Lehren der Gadamerschen Ásthetik zu erinnern: Als Aussage ist das Kunstwerk auf eine Antwort angewiesen. Diese Anrede ist nach Gadamer Sprache, besser: Sprachlichkeit, und zwar ín demselben Sinne wie
Unteruegs zur unheimlichen Náhe der Sprache 201,
eine Geste, ern Blick oder ein Schweigen eine Frage, eine Einladung oder eine Bitte sein kónnen. Sie sind dann, um mir Proust zu sprechen, >so evident wie ein Satz(.110 Besonders lehrreich isttn Wahrheit und Methode die Diskussion des Gegenbeispiels des Künstlers, der jede sprachliche Interpretation seines Werkes als sekundár, verfehlt oder unkünstlerisch abweisen würde. Aber er kann nicht leugnen, argumentiert Gadamer, >daB die reproduktive Interpretation einer solchen Rechenschaft grundsátzlich fihig ist< (WM, 403). Mit anderen 'Worten: Eine sprachliche Inrerpreration kann er nur in Abrede stellen, weil sie dem zu Sagenden nicht gewachsen ist.
Der Künstler, der die sprachliche Interpretation von sich abweist, tut es nur im Namen einer anderen Interpretation,
die im Prinzíp überzeugender wáre und der man folgen kónnte.Die beste Antwort auf ein Musikstück kann beispielsweise ein Tanz sein (den man sich im besten Fall sprachlos wünscht!). Es ist dieses Überzeugtsein, dieses Folgenkónnen, dieses Dabeisein, das nach Gadamer den Vollzug einer jeden Interpretation ausmacht. MuB man hier unbedingr von Sprache und Sprachlichkeit sprechen? Ich bin nicht vóllig davon überzeugt, aber in Wahrheít und Methode liegt Gadamer sehr daran, so sehr, daB er in diesem Kontext zum ersten Mal von der [Jníuersalitrit der Sprache oder der Sprachlichkeit spricht. 110
Vgl.
Lr
Cóté tle Cuerrnntes
II, ch.2, Gallimard,
1954, 70: >... le
do-
cument compromettant frappait tout d'abord mes yeux comme il n'avait pas pu ne pas frapper ceux de Frangoise, placé par elle tout en dessus, presque i part, en une évidence qui était un langage, avait son éloquence, et dés 1a porte me faisait tressaillir comme un cri.< Dasselbe Motiv in Sodome et Conorrhe ( Gallimard, 1988, 16: rMaintenant I'abstrait s'était matérialisé,l'étre enfin compris avait aussit6t perdu son pouvoir de rester invisible et la transmutation de M. de Charlus en une personne nouvelle était si compléte que non seulement les contrastes dé son visage, de sa voix, mais rétrospectivement 1es hauts et les bas eux-mémes deies rela_ tions avec moi, tout ce qui avait apparu jusque-li incohérent i mon esprit, devenait inteiligible, se montrait évident comme une phrase, n'offrant aucun sens tánt qu'elle reste décomposée en lettres disposées au hasard, exprime, si les caractéres se trouvent replacés dans l,oidre qu'il faut, une pensée que I'on ne pourra plus oublier.<
202
5. Das Gesprrch, das
mr
sind
Er meint damit, daB jede Erinnerung an die Grenzen der Sprache Anteil an der Universalitát des sprachlichen Mediums hat. So bleibt selbst das (Jnaussagbare, das man immer wieder gegen die Universalitát der Hemeneutik zur Sprache (!) bringt, auf Sprache angewiesen: Das lJnaussagbare, das Schreckliche wie das unaussagbar Erfreuliche, ist námlich nur unaussagbar im Lichte all dessen, was auszusagen wáre, auch wenn es keine Sprache dafiir gibt. Uns fehlen die Worte, weil wir tragisch nach ihnen suchen. Was sich der Sprache entzieht, schreit auf schmerzliche 'Weise nach Sprachlichkeit, nach Mitvollzug. Insofern, behauptet Gadamer, >überholt die Sprache alle Einreden gegen ihre Zustándigkeit<, so daB >ihre Universalitát [...] mit der lJniversalitát der Vernunft Schritt< hált (WM,405). Die (Jniversalitát ist aber hier immer die Universalitát des Sagenwollens. Das Nichtsprachliche, das lJnnennbare, alles AuBer- oder Übersprachliche, sofern es evoziert wird, und erst recht wenn es stimmlos bleibt, partizipiert an der zumindest móglichen Aussagbarkeit. In diesem und nur in diesem Sinne kann Wahrheit und Methode in dem oft miBverstandenen Ausspruch gipfeln: ,>Sein, das uerstanden werden kann, ist Sprache.< (WM,478) Gemeint ist, daB das nicht zur Sprachlichkeit Gekommene nicht recht verstanden
werden kann. Das Sein, das nicht verstanden werden kann, ist fiir uns nicht Sprache. Wir >verstehen< nur das klein biBchen Sein, das wir sprachlich herauszustammeln vermógen. Aber auch dieses verstandene Sein schópft nie all das aus, was über dieses Sein auszusagen wáre. Die Erfahrung der Grenzen der Sprachlichkeit liegt also sehr wohl der hermeneutischen Sprachkonzeption zugrunde. Das schlieBt keineswegs aus, daB wir vieles nicht verstehen. Es gibt so vieles , was wir nicht verstehen! Vielleicht gibt es nur das.
Denn die Verstándlichkeit der Sprache setzt selbst diese grundlegende [Jnverstándlichkeit voraus, und zwar in dem prázisen Sinne, in dem Heidegger in Seín und Zeit nachwies, daB das >beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein [...] ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins [ist], nicht umgekehrto (SZ, 189). Zsr Gewofenheit dieses In-der-'W'elt-seins gehórt es, daB
wir uns in eine Sprache geworfen befinden, die etwas
I
[Jnteruegs zur unheirnlichen Náhe der
Sprache 203
Sein verstándlich sein láBr, die sich aber selbst der Verstándlichkeit entzieht, weil sie uns so unheimlich nahe steht. Die heimatliche Vertrautheit der Sprache hat insofern selbst etwas Unheimliches,ja Unvordenkliches: >Aber was ist Heimat fiir uns, dieser Ort der LJrvertrautheit? Wo ist er, was wáre er, ohne die Sprache? Zur (Jnvordenklichkeit der Heimat gehórt vor allem die Sprache!o111 Gadamer scheint dabei zweifelsohne den Akzent auf die unhintergehbare Vertrautheit der Sprache, vor allern der Muttersprache zu legen. Die Sprache erscheint bei ihm deswegen weitgehend als das urbane, zivilisierende Element der Heimat, der Verstándigung und der Vertrautheit. Man kann aber nur von Heimat sprechen, wenn man das Unheimliche voraussetzt. Denn: >[...] wer ist in einer Sprache zu Hause?< (GW 8,56) In die Verstándlichkeit der Sprache wird zwar alles geborgen, aber ineins damit auch verborgen. Die LJnvordenklichkeit der Sprachlichkeit und selbst der uns verrrauresten Sprache behált im Grunde etwas (Jngeheures:'Was sich sagen láBt, auch wenn es sich in voller Evidenz sagen láBt,láBt zugleich immer etwas entschwinden, weil es sich einer gegebenen, oft vereinfachenden und vereinnahmenden Verstándiichkeit beugt. Die Sprache als Haus des Seins ist doch oft ein Geháuse, wo man sich eng fiihlt. Der spáte Gadamer hat diese Erfahrung des Mangelns an Sprache immer stárker berücksichtigt. Er hat sie am schluB seines wichtigen Aufsatzes von 1985 über die >Grenzen der Spracheo mit der urerfahrung unserer sterbenden Endlichkeit in Zusamrnenhang gebracht: >Es ist das BewuBtsein, daB jeder Sprechende injedem Augenblick,in dem er das richtige 'W'ort sucht - und das ist das Wort, das den anderen erreicht 1rl
HGG, >Leben ist Einkehr in eine Sprache. Gedanken über Sprache und Literatur(, in (Jníversitas I0 (1993),923.Vg1. GW 3, 84: Die Sprache ohált uns ganz umfangen, wie die Stimrne der Heimat, die eine unvordenkliche Vertrautheit armet.< G'W 3,236: rAber wie das Denken des Unvordenklichen das Seine, z. B. die Heimar, bewahrt, wird doch auch Unvordenkliche unserer Endlichkeit in der bestándigen Sprachwerdung unseres Daseins mit sich selbsr geeint und ist in Auf und Ab, im Entstehen und Vergehen, >da<.n das
204
t
5. Das Gesprách, das wir sind
zugleich
das
BewuBtsein hat, daB er
es
nicht ganz trifft.Immer
geht ein Meinen, ein lntendieren über das hinaus, an dem vorbei, was wirklich in Sprache, in'W'orte gefaBt den anderen erreicht. Ein ungestilites Verlangen nach dem trelfenden Wort - das ist es wohl, was das eigentliche Leben und'Wesen der Sprache ausmacht. Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der lJnerfiillbarkeit dieses Verlangens,des désít (Lacan), und der Tatsache, da8 unsere eigene menschliche Existenz in der Zeit und vor dem Tode vergehr.( (GW 8,361) Jedes noch so vertraute In-der-Sprache-wohnen hángt selbst >auf dem Rücken eines Tigers<, um mit Nietzsche (KSA 1, 877) und Foucault zu sprechen. Ausgehend von diesem BewuBtsein des unheimatlichen Charakters unserer Sprachgeworfenheit láBt sich durchaus eine Brücke von der Hermeneutik zur Derridianischen Dekonstruktion schlagen.1l2 Ein widerborstiges Element bleibt also die Sprachlichkeit. Da sie allem Verstehen zugrundeliegt, muB sie aber als Feld oder Dickicht der Philosophie wiederentdeckt werden. Nach Gadamer - und das ist die historische Hauptthese im Sprachteil von Wahrheit und Methode - hat sich námlich die abendlándische Tradition durch eine hartnáckige Sprachvergessenheit ausgezeichnet.
112
Vgl. meinen Vorschlag >La définition derridienne de la déconstruction(, in / rchíves de philosophie 62 (1.999),5-16. Foucaults angeñihrte Bezugnahme auf Nietzsche findet sich in Les nots et les thoses,Pañs, Gallimard, 1966,333.
2os
;ffi;;J;""
Von der pt",o'ir.r'u.r, zu ihrer augustinischen Freilegung
>Oberster Grundsatz der philosophischen Hermeneurik ist, wie ich sie mir denke (und deshalb ist sie eine he¡rneneutische Philosophie), daB wir nie das ganz sagen kónnen, was,wir sagen móchten.o113 Hans-Geor¡¡ Gadarner
In
Wahrheit und Methode erweisr sich Platon als der Hauptfiir die Sprachvergessenheit, die die ganze
verantwortliche
Denkgeschichte des Abendlandes bestimmt und charakterisiert haben soll. hn Meer dieser Sprachvergessenheit soll der
mit Augustin gefaBte Gedanke der Inkarnarion die einzige Ausnahme bilden. Das ist der Sinn von Gadamers schwerwiegender Behauptung am Anfang seines Kapitels über >Sprache und Verbum< in seinem magnum opus: >Es gibt aber einen Gedanken, der kein griechischer ist und der dem Sein der Sprache besser gerecht wird, so daB die [mit Platon einsetzende] Sprachvergessenheit des abendlándischen Denkens keine vollstándige werden kann. Es ist der christliche Gedanke der Inkarnation.< NZly'r,422) Auch wenn ihr eine enorme Bedeutung in der dramatischen Konzeption von Wahrheít und Methode zukornrnt, ist der Sinn dieser gewagten These alles andere als evident. Um sie zu verstehen, um die )augustinische Ausnahme< zu begreifen, muB zunáchst die abendlándische -Wenn Sprachvergessenheit erórtert werden. Heideggers Thema die Seinsvergessenheit war, so bildet die Sprachvergessenheit die gro8e Herausforderung von Wahrheit und Methode. Und analog zu Heidegger, beginnt diese Vergessenheit fiir Gadamer mit Platon.
r13 GW 10,274. Vgl. TpHGG, 496:, >ln this lies the real problem which really came ro my full attenrion only rhrough Heidegger and which found expression in the Scholastic distinction of actus tig.r"trrs
and actus exercitus. It concerns the fact that not everything which one knorvs and can knorv in effect is sayable in a then-ratic assertion.<
206
5. Das Gesprách,
das
wir sind
Die Sprachverflessenheit bedeutet zunáchst, daB in der abendlándischen Denktradition der wesentliche Bezug des Denkens zum sprachlichen Medium unterschlagen wurde. Anstatt sich fiir diesen Bezug zu interessieren, konzentrierte sich das abendlándische Denken auf das Verháltnis des Denkens zurV/elt.In diesem Verháltnis wurde die Sprache lediglich, wenn sie denn überhaupt zum Thema gemacht wurde, zu einem Instrument des Denkens heruntergestuft:'W'orte sind nur dazu da,um Gedanken zu bezeichnen, die ohne sie auch da, d. h. im Denken, sein kónnten. Dieses instrumentale Sprachverstándnis entspricht dem des Nominalismus im weiten Sinne:'Worte sind nichts mehr als >nachtrágliche<, weitgehend konventionelle Bezeichnungen oder Zeichen ñir Dinge und Gedanken. Der Name der >Rose< zum Beispiel ist lediglich eine Bezeichnung fiir das Ding >Rose< bzw. ihren Gedanken. In dem Namen stecke nichts mehr als in dem Ding selbst, das ich anschauen oder riechen kann, oder in dem Gedanken, den ich nachvollziehe. Der Name der >Rose< kónnte irgendein anderer sein und nichts würde sich an dem Sachverhalt ándern. Natürlich denke ich hier an Shakespeares berühmte Frage in Romeo andJuliet: >What's in a name? That whích we call a rose, By any other name would smell as sweet? <
Dieser latente Nominalismus, der wohl auch der gewóhn-
lichen Sprachauffassung des Menschen entspricht, bildet nach Gadamer die stillschweigende Voraussetzung des abendlándischen Sprachdenkens. Er verbirgt jedoch nach Gadamer eine Sprachvergessenheit, weil Sprache in dieser Konzeption kein eigenes Gewicht, keine rechte Dichte erlangt: Sie dient
nur als Instrument fiir ein ohne sie mógliches Denken. Mit anderen'Worten: DaB Sprache ein notwendiges und vorheriges Element eines jeden Denkens bildet, wird nicht eigens bedacht. Die unangetastete Souveránitát des Denkens gegen-
über der Sprache beweist sich nicht ztletzt darin, da8 logisches Denken sprachliche Konventionen statuieren und sprachliche Aquivokationen heben kann. Sprache tritt damit in ein sekundáres und sogar kontingentes Verháltnis zum Denken. Dies besiegelt fiir Gadamer eine Sprachvergessen-
{
Von der platonischen Sprachvergessenheit
207
heit, námlich ein Vergessen der Sprachlichkeit als des Elements eines jeden Denkvollzuges. Ihr erster und folgenschwerer Vollstrecker ist fiir Gadamer kein anderer als Platon. Wer das ganze Werk des Platonikers Gadamer überschaut, wird über die Strenge seiner Auseinandersetzung mit Platons Sprachkonzeption in diesem strategisch wichtigen Abschnitt von Wahrheit und Methode erstaunt, ja verblüfít sein. Denn das hermeneutische (und rhetorische) Sprachverstándnis, das Gadamer freizulegen bestrebt ist, erweist sich sonst Platon stark verpflichtet. Der Platon, dem Gadamer im allgemeinen am náchsten steht, ist der des Síebten Bríefes oder des Phaídros mit seinem Hinweis auf die dialogische Einbettung einer jeden Aussage in ein nachzuvollziehendes Sagenwollen: Jede Aussage kann aus ihrem Kontext herausgelóst werden und damit ihren hermeneutisch-rheto-
rischen Sinn einbüBen. Diese Aussagekritik macht einen nicht unerheblichen Bestandteil der Gadamerschen Sprachauffassung aus. In dieser Hinsicht müBten platon und sein
Siebter Brief Gadarners Verbündete sein. ln Wahrheít und Methode indessen ist es Platons massive Relativierung des sprachlichen Mediums als solchem, die Gadamer stórt und zur Ge-
genwehr herausfordert. Das mag damit zusammenhángen, da8 er sich dort auch weniger dern Phaídro.s oder dem Síebten Brief,oder allgemeiner dem dialogischen Plaron, als dem Kr¿/y/os widmet, der auch sonst als Platons eigentlich sprachphilosophisches'Werk gilt. Bekanntlich werden dort zwei Thesen über den ursprung der sprachlichen Bezeichnungen aufgestellt: nach der einen entstammen sie einer Konvention, einer
Setzung (thesei), nach der anderen eher einer natürlichen @hysefi Áhnhchkeit mit den Dingen. Es handelt sich um sophistische Theorien, und es láBt sich bekanntlich nicht unmittelbar ermitteln, welche Platon selbst vorzieht. Diese Frage ist jedoch frir Gadamers Belange auch sekundár. Ihn bescháftigt vieLmehr die stillschweigende Voraussetzung dieser Kontroverse, námlich da8 das'W'ort in beiden Fállen lediglich als Name und Zeichen gefaBt wird, als ob die Dinge erkannr werden kónnten, ehe sie von Worten bedeutet werden. Nach Gadamer wolle Platon námlich zeigen, daB man nicht durch
208
5. Das Gesprách, das
wir sind
'Worte zur Erkenntnis der Dinge gelange. Er wolle sich damit
von den Sophisten absetzen, die iehren, daB eine Beherrschung der 'W'orte eine Meisterung der Sachen verbürge. Dem gegenüber müsse sich nach Platon die echte Erkenntnis so weit wie móglich von der Herrschaft der Worte befreien, um zu den Dingen selbst, d. h. zu den Ideen zu streben und zu gelangen. Platon wolle damit nicht unbedingt in Abrede stelIen, daB sich die philosophische Erkenntnis auch sprachlich vollziehe, aber sein Hauptpunkt sei der, daB das W'ort nicht selbst zur Kenntnis des Wahren fiihre.1la Es bleibt aber dabei, da8 die reine Erkenntnis der Ideen keinen essentiellen Bezug zur Sprache behált. Sprache werde hier von Platon durchweg als ein >áu8eres Moment von be-
denklicher Uneindeutigkeit anvisiert( (WM,411). Platon in diesem Kontext sogar zu übersehen, daB das als Gesprách der Seele mit sich selbst definierte Denken ipsofacto sprachlich fundiert sei. Es ist aber auch Gadamer, der sich in scheine
diesem Abschnitt nicht sonderlich fiir den dialogischen Charakter der platonischen Sprachauffassung interessiert, aufdem er sonst in allen seinen anderen Schriften zu Platon insistiert. V/enn er den Siebten Brief in dem Kapitel über >Sprache und
Logos< anfiihrt, dann nur, um an ihm zu verdeutlichen, wie sehr Sprache aufdie Erkenntnis des Einen, die Idee, hingeordnet bleibt (WM,411). Damit bleibt die Sprache der noeri114 Der entscheidende Passus fiir diese Argumentation ist WM,411: >Plato will mit dieser Diskussion der zeitgenóssischen Sprachtheorien zeigen, daB in der Sprache, in dem Anspruch aufSprachrichtigkeit (orthot¿s tdn ononaton) keine sachliche Wahrheit (alctheia tdn oflton) erreichbar ist und dafJ man ohne die Worte (aneu tofl onomdtón) das Seiende e¡kennen müsse rein aus sich selbst (auta ex heautdn). [...] Die Dialektik, auf die dies zielt, beansprucht offenbar, das Denken so aufsich selbst zu stellen und seinen wahren Gegenstánden, den >Ideenr zu óffnen, da8 damit die Macht der Wo¡te (d),namis ton onofiata)n) und ihre dámonische Technisierung in der sophistischen Argumentierkunst überwunden wird. Die
Ubersteigerung des Bereichs der Worte (onomata) durch die Dialektik soll natürlich nicht heiBen,daB es wirklich ein u'ortfteies Erkennen gábe, sondern nur, daB nicht das Wort den Zugang zur 'Vy'ahrheit óffnet, sondern umgekehrt: daB die >Angemessenheit< des'\X/ortes erst von der Erkenntnis der Sachen aus zu beurterlen wáre.<
Von der platonischcn Sprachvergessenheit
209
schen Ideenkenntnis untergeordnet und erweist sich damit als ein sekundáres Erkenntnismoment. Dies fiihrt Gadamer zu
einem Verdikt über Platon von erstaunlicher Strenge: >Man muB also a1s Ergebnis formulieren, da8 die Entdeckung der Ideen durch Plato das eigene-Wesen der Sprache noch gründ-
licher verdeckt, als es die sophistischen Theoretiker taten, die im Gebrauch und Mi8brauch der Sprache ihre eigene Kunst (techné) entwickelten.,.r (.W'M, 412).Das Urteil ist so kompromiBlos, da8 man sich nahezu die Augen reiben móchte:platon war noch verdeckender als die Sophisten! Es steht auBer Zweífel, daB Heidegger, obwohl er nicht genannt wird, einen groBen Schatten auf diesen Abschnitt wirft. Wie bei Heidegger erscheint Platon mit seiner logooder ideozentrischen Sprachauffassung als der Vorreiter einer Herrschaftsmetaphysik, die dazu tendiert, Sprache in eine Art characterístíca uniuersalís umzugestalten. Indem er Sprache auf ihre instrumentelle Funktion fiir das Denken reduziere, bereite Platon, in Gadamers hier sehr heideggerianisierenden 'Worten, eine Auffassung vor, fiir die >das Sein als die absolut verfiigbare Gegenstándlichkeit< gefaBt werden kónne (WM, 418). Gadamer ftllt ein so hartes Urteil über platons rnoerische< Verdeckung der Sprache, weil er in ihr die entscheidende >Prágung des Begriffs >Sprache< durch die Denkgeschichte des Abendlandes<, so der Titel des entsprechenden Textabschnittes in Wahrheít und Methode, sieht. Von nun an wird die Behandlung der Sprache irn ganzen Abendland im Schatten dieser instrumentalistischen, nominalistischen Sprachauffassung des Platonismus stehen. In Platons >Hinausweisung der
Erkenntnis in die intelligible Spháre<, die aus der Reduzierung der Sprache aufihre Zeichenfunktion herrührt, drückt sich eine folgenschwere, ja nach Gadamer fatale >Entscheidung über das Denken dessen, was Sprache ist, aus, die Epoche gemacht hat< (WM,418). Die Wirkungsgeschichte des sprachlichen Platonismus bestand darin, daB Sprache nur noch als eine Veráu8erlichung von Gedanken betrachtet wurde, die sich ohne sie sehr gut,ja gegebenenfalls viel besser entfalten kónnten. >Das Denken enrhebt sich so sehr des Eigenseins der Wórter, nimmt sie als bloBe Zeichen,durch die
210
5. Das Gesprich, das wir sind
Von der platonischen Sprachvergessenheit
Bezeichnete, der Gedanke, die Sache in den Blick gerückt das Wort in ein vóllig sekundáres Verháltnis zur Sache gerát. Es ist bloBes'Werkzeug der Mitteilung, a1s das Heraustragen (ekpherein) und Vortragen (/ogos prophorikos) des Gemeinten im Medium der Stimme.< NVM,418). Die damit anhebende Sprachvergessenheit geht einher mit dem sekundáren und oft problematischen Status, der der Sprache im Rahrnen der Erkenntnis zuerkannt wird. Der Logos des Erkenntnisvollzugs hat prinzipiell nichts mit der vorherigen Textualitát oder Materiaiitát einer Sprache zu tun, sondern mit einer Logik, die die Ordnung der Ideen wiedergibt, wie sie sich in der intelligiblen Klarheit des reinen Verstandes noch sprachlos zusammenfiigt. Im besten Fall reprodas
wird, daB
duziert Sprache den logischen Gang der Gedanken, im schlimmsten Fall verunstaltet sie ihn durch Aquivokationen oder unzureichende Metaphern, die eine logische Kritik der Sprache auf den Plan rufen, wie sie wohl bis heute die analytische Sprachkonzeption weitgehend bestimmt. Es erhebt sich aber die Frage: Wird diese logistische Sprachauffassung dem tatsáchlichen Vollzug des Denkens und der Vorgángigkeit der Sprache fiirjedes Denken gerecht? Nach der groBartigen Übertreibung von Gadamer in Wahrheit und Methode (seltsamerweise wurde sie
in anderen
Schriften nicht wiederholt) kennt diese logistische Sprachvergessenheit des Abendlandes nur eine Ausnahme: den christlich-augustinischen Inkarnationsgedanken. Das hórt sich zunáchst sehr sonderbar an. Denn man assoziiert viel eher Augustin mit einer instrumentalistischen Sprachauffassung. 'Wittgenstein hatte es ja am Anfang seíner Philosophischen Untersuchungen wirkungsvoll getan, und zwar mit einem gewissen Recht. Denn in seinen sprachphilosophischen Schriften huldigt Augustin tatsáchlich einer instrumentalistischen und platonischen Sprachkonzeption. Sein De magistro zum Beispiel ist ein Dialog über die Naehteile der Sprache fiir das Denken und die Lehre. In Wahrheit nnd Methode wird Gadamer auch nicht sehr groBes Interesse fiir Augustins sprachphilosophische Schriften an den Tag legen. Er bezieht sich viel eher auf Augustins Gedanken zur Trinitátslehre in dessen Traktat
211
De trinitate,von dem man doch zugeben wird, daB es keinen natürlichen oder besonders kristallklaren Ausgangspunkt fiir eine Sprachreflexion bildet. Au8erdern zitiert Gadamer Augustin áuBerst selten. Er begnügt sich mit einer generellen Anspielung auf die Kapirel 10-1 5 des 15. Buches von De trinitate (WM, 424) .Der am meisten zitierre Autor in diesem Abschnitt Gadamers ist auch nicht Augustin, sondern Thomas von Aquinl Was hat Gadamer an Augustin so sehr fasziniert? Es war zunáchst, wie der Text von Wahrheit und Nlethode unterstreicht (WM,422), der christliche (und nicht nur und nicht der spezifisch augustinische) Gedanke der Inkarnation. Gadamer hebt zu Recht hervor, daB dieser Gedanke nichts Griechisches hatte, da er nicht eine >Einkórperung( im platonischen, gnostischen Sinne rreinte, nach der ein spirituelles Sein, eine Seele oder ein Geist in einen ihm wesensfremden Kórper >herunterfillt<. Diese gnostische Einkórperungsidee entsprach übrigens nicht wenig der instrumentellen Sprachkonzeption Platons, nach der ein materiales Zeichen immer auf einen rein geistigen Gedanken zurückverweist, der von der zufilligen Materialitát des Zeichens unabhángig bleibt, um am besten ohne es erfa8t zu werden. Deshalb konnte die unabdingbare >Materialitát< der Sprache,ja die Sprache selbst im Zuge dieses Einkórperungsgedanken, keine rechre Aufmerksamkeit auf sich ziehen.lls Das Geheimnis der Inkarnation zwingt aber dazu, das Verháltnis von Geist und Materie anders zu denken, ja umzudenken. Die Inkarnation des Sohnes bildet ja keine Herabwürdigung oder Verminderung Gottes, da sie dessen volle,wesentliche und fiir uns heilbringende Manifestation >verkórpert<. Für die christliche Dogmatik bedeutet somit die Inkarnation keinen Verlust, keinen Abfall Gottes. Darin erahnt Gadamer den rettenden Gedanken. Es geht ihm freilich nicht um den theologischen Kontexr,sondern um die rls Diese Verachtung
des
Kórperlichen erkllrt auch die Feindschaft
des griechischen Denkens, insbesondere des Neuplatonismus gegenüber der christlichen Inkarnationsidee, da sie des Góttlichen unwürdig erachtet wr"rrde. Vgl. dazu dre trefllichen Ausñihruneen von pierre Haáot, p/o_
titt ou la sintplicité du regard,Parts, Gallimard-Foli o,1,997 ,26.
21.2
5. Dm Gesprlch, das
Von der platonischen Sprachvergessenheit
wir sind
sprachphilosophischen Konsequenzen, die diese ungriechi,ih. R.h"biliiierung der (sprachlichen) >Fleischlichkeit< zur Folge hat.Denn damit kann erstmals die Sprachlichkeit in der "eigenen Materialitát und Ereignishaftigkeit als Thema ihr
h..rroltr.t.n. Der christliche Inkarnationsgedanke hat also
die Sprache aus der spirituellen Geistigkeit des Denkens befreit und allererst zugánglich gemacht. Augustin hat sictrbekanntlich an das Modell der Sprache angelJh.tt, um sich dem Inkarnationsgeheimnis anzunáhern' Gáame. macht das Umgekehrte, indem er sich auf das Modell der Trinitát bezieht, um den Ereignischarakter der Sprache neu zu denken. Auch wenn die Inkarnation kein griechischer Gedanke war, ging Augustin gleichsam notgedrungen'
da es keine andere begriffliche Terminologie gab, von griechischen Begriffen aus, námlich von der stoischen lJnterscheidung r*i.h"tt dem áuBeren und dem inneren logos (logos
prophorikls ulnd endiathelos), um ihr jedoch einen ungriechiich"n Sinn abzugewinnen. Bei den Stoikern bezeichnete der innere Logos den Raum des Denkens, der der sprachlichen VeráuBerl[hung vorhergeht und der die Auszeichnung der menschlichen Spezies darstellt: andere Tiere verfiigen sehr wohl über einen áuBeren Logos (Vógel zwitschern, Hunde bellen usw.), aber nur bei uns Menschen geht dem Sprechen
ein Denken voraus. In ihrer sprachphilosophischen Reflexion legen ¿lso die Stoiker den Akzent eindeutig auf den,in,r"r.n iogo, als logischen DenkprozeB, von dem der áuBere
Logos niÁts mehr ais die (oftmals imperfekte) Verlautbarung adTxm bietet. In seiner trinitarischen Reflexion muB aber Augustin ein neues Augenmerk auf den logos prophoriko¡ rich,.rrIFü, das christliche Verstándnis kann es sich ja auf keinen Fall um eine sekundáre oder unwesentliche Erscheinung handeln. Die ins Denken nicht restlos einzuholende Materialitát des Logos gewinnt damir auf einmal eine unüberbietbare Dringlichkeit und Bedeutung. Dieser ungriechische Gedanke hat Gadamer offenbar sehr inspiriert' Er zogdaraus gewaltige sprachphilosophische Konsequenzen.Die erste Konsequenz ist die der Wesensgleíchheif des inne-
'Wortes im Inkarnationsvorgang' Für ren und des áuBeren
213
Gadamers hermeneutisches Sprachverstándnis hat dies zur Folge, daB sich der reine Akt des Denkens nicht recht von seiner sprachlichen Manifestation und VeráuBerlichung unrerscheiden láBt. Die Marerialitát der Sprache stellt nicht mehr eine noch unvollkommene, weil bildliche Erscheinungsform des Denkens dar, sie wird zu deren einziger Verwirklichungsstátte. In diesem Sinne brldet fiir Gadamer Augustin - oder
allgemeiner gesehen: der christliche'Inkarnationsgedanke eine groBartige Ausnahme im Meer der abendlándischen Sprachvergessenheit. Für uns wie fir die góttliche Inkarnation stellt die VeráuBerlichung des'Wortes irn logos prophorikos keinen zweiten und nachtráglichen ProzeB im Vollzug der Erkenntnis dar, sie verschmilzt mit diesem ErkenntnisprozeB: >Das'Wort wird nicht erst gebildet, nachdem die Erkenntnis vollendet ist, [...] sondern es ist der Vollzug der Erkenntnis selbst. Insofern ist das Wort mit dieser Bildun g (formatio) des Intellektes zugleich.< 0[/M,428). Die Identitát, die Gadamer hier hervorkehren will, ist die des Denkens und seiner sprachlichen Ausgerichtetheit. Das innere Denken geht nicht dem Sprechen voraus, es ist selbst so etwas wie ein inneres Sprechen: >Es handelt sich um mehr als um ein bloBes Bild, denn das menschliche Verháltnis von Denken und Sprechen entspricht in aller lJnvollkommenheit doch dem góttlichen Verháltnis der Trinitát. Das innere Wort des Geistes ist mit dem Denken genauso wesensgieich, wie Gottessohn mit Gottvater.<
(wM,42s) Die zweite Konsequenz folgt
aus dem ProzeB- und Geschehenscharakter der Inkarnation: Die Inkarnation láBt sich
ja nicht
als ein rein spirituelles Ereignis fassen. Sie ist buchstáblich Fleischwerdung. Für die herrneneutische SprachauG fassung hat dies zur Folge, daB die Fleischwerdung des Denkens in, besser: als Sprache unabdingbar zum Sinn gehórt, der verstanden, geteilt und mitgeteilt werden kann.Endliche Wesen wie wir haben an dem Geschehen des Sinnes nur kraft der vielfiltigen Materialitát seiner Erscheinungen und Bilder teil. Diese Vielfalt ist nicht die der rein logischen Schlüssigkeit. Das Denken existiert nur in dieser Fleischwerdung, in dieser inkarnierten Bildlichkeit und Vielfalt. Gadamer drückt es so
21,4
5. Das Gesprách, das
wir sind
(innere) Wort wird nicht durch einen reflexiven Akt gebildet 0ü/M, 430). Es gibt nicht zuerst einen logischen Akt der Reflexion oder des Denkens, dem ein Wort in einem nachfolgenden Vorgang angeheftet wird. Dieser reflexive Akt des Denkens, wenn man ihn denn denn als solchen von der Sprache isolieren kónnte (was nach Gadamer unmóglich ist), müBte vor der Sprachlichkeit stattfinden, im Raum des reinen Denkens. Es ist gerade dieser Raum des rein Noetischen, den der augustinische Inkarnationsgedanke problematisiert, wenn er aufdie unabdingbare Fleischlichkeit einesjeden Sinnes fiir uns abhebt. Für Gadamer besagt dies, da8 sich das Denken nicht mehr auBerhalb oder gar vor der Sprachlichkeit denken láBt. Die Materialitát der Sprache bildet immer schon das unvordenkliche Element, in dem sich jedes Denken entfalten kann und muB. Sofern das Denken ein Vorgang, ern procedere aus: Das
ist, ist es Sprache,ja Sprachsuche. Es gibt eine dritte, subtile und sehr wichtige Konsequenz: Diese unabdingbare Materialitát der Sprache impliziert nicht, da8 sich das ganze Denken auf die Ebene der tatsáchlichen Aussagen reduzieren láBt.'Wie im christlichen Inkarnations-
gedanken bleibt die spannungsvolle Diflerenz zwischen dem 'W'ort áuBeren und dem inneren'W'ort erhalten: Das áu8ere weist nach wie vor auf den Nachvollzug eines inneren'Wortes hin, um in seiner gar'zer, Fülle verstanden zu werden. Das áuBere'Wort schópft nie das innere aus, es indiziert es nur.'Worin besteht aber dieses geheimnisvolle innere Wort, fragt Gadamer? Alles, was sich von ihm sagen láBt, ist, daB es >der bis zu Ende gedachte Sachverhalt< (WM, 426) wáre. Aber dies ist fiir uns endliche'W'esen nichts mehr als ein Grenzbegriff. Denn wann ist ein Sachverhalt bei uns je schon zu Ende gedacht? Dieser Grenzbegriff ist nichtsdestoweniger unabdingbar, um die ProzeBhaftigkeit und Endlichkeit unseres sprachlichen Denkens angemessen in den Blick zu bekommen. Die'Worte, die wir verwenden, bilden ja immer nur einen kontingenten Ausschnitt des oganzen< Sachverhalts. Es sind die'W'orte, die uns zukommen, aber mit denen es nie gelingt, all das zu sagen, was fiir die Einsicht in den Sachverhalt zu sagen wáre. Sprache bleibt immer hinter all dem zurück, was zu sagen wáre. Der
(
Von der platonischen Sprachvergessenheit
215
gnostische, platonische Irrtum wáre hier aber zu meinen, daB sich diese Vollkommenheit des Denkens anderswo finde, da8 sie etwa in einer noetischen Spháre des /ogos endiathetos zu erreichen wáre. Dieses innere Wort, das nichts als Denken und vollkommen vorsprachlich wáre, gibt es nicht. Jedes Denken
hat Anteil an der Dichte und Bildhaftigkeit der Sprachlichkeit. Nur das innere'W'ort erlaubt es, die spannungsvolle Differenz - wenn nicht díe dilférance - zwischen dem Ausgesag-
ten (dem logos prophorikos) und all dem mitzuhóren, *", ,r', sagen wáre, um allen MiBverstándnissen aus dem'Wege zu gehen (was natürlich nie gelingt). Aber dieses hinter der áuBeren Sprache zu Hórende bleibt ein zu Sagendes, ein nach Sprache Ringendes. Es ist dieses innere'Wort, das man hinter den áuBeren'Worten zu verstehen trachtet, aber sein Nachvollzug bleibt auf Sprache angewiesen, die nur unvollkommen und stammelnd sein kann. Dieses Stammeln liegt aber nicht an der Sprache als solcher (im Unterschied etwa zum Denken), sondern an unserer Endlichkeit, die auch die unseres Denkens ist. Augustin erlaubt es also zu sehen, inwiefern die Universalitát des Mediums der Sprachlichkeit mit den Grenzen der (eweils verwenderen) Sprache Hand in Hand geht.
'War
es vorhin die Analogie zwischen dem góttlichen InkarnationsprozeB und der unausweislichen Sprachlichkeit unseres Denkvollzugs, die uns weiterfiihrte, so ist es in diesem Fall die Differenz zwischen dem góttlichen Verbum und dem menschlichen, die fiir die Hermeneutik lehrreich wird. Der inkarnierte Logos Gottes entspricht ja voll und ganz dem góttlichen 'Wesen. Er ist >wesensgleich< (homoousia) mit ihm, da er deren vollkommene und restlose Manifestation bietet. Diese'W'esensgleichheit zwischen dem áuBeren Logos und dem inneren Wort des zu Sagenden entspricht abir nicht ganz unserer Spracherfahrung. Im IJnterschied zum góttlichen'Wort vermag ja kein Wort, das zu Denkende vollkommen wiederzugeben flMM,429). Kein Wort reicht an das
nach'Worten Streibende wirklich heran. Diese l_Jnvollkommenheit ist aber nicht die der Sprache, sondern die der menschlichen Erkenntnis schlechthin. Das menschliche Den-
216
Die BegriflSbildung und die Universalitát der
5. Das GesPrách, das wir sind
Rhetorik 217
kenistebenkeinepureselbstgegenwart,keinereine¿oesís der Wornoeseos.Das Denkerrfolgt vielmehr dem Rhythmus
Es ist wohl weniger angebracht, darin eine Entwicklung bei Gadamer zu sehen, als eine Akzentverschiebung, denn
te,in die es immer schoñ einverleibt ist.Diese unvordenkliche Angewiesenheit des Denkens auf eine schon gegebene und gesirocherre Sprache charakterisiert die ursprüngliche Geget."n"i, der Spiachlichkeit,wie sie der augustinische Inkarnationsgedanke dem Denken erschlieBt' faisen wir den Argumentationsgang zusammen' In ihrer augustinischen Spracñkonzeption geht es der Hermeneutik ahá um zwei Aspekte, die kontradiktorisch erscheinen móErgen, die aber in tilt hth.it komplerrentár zu-denken sind: Denken dem zwischen í.* g.ht es um die Wesensgleichheit ,rnd ,].irr., móglichen sprachlichen Manifestation, da es fiir uns kein denkbares Denken ohne das vorgegebene Element jedoch. dader Sprache geben kann. Zweitens mu8 man sich des logos Aussagen den in Sprache, áufJeren in-der lro, hüt..r, Denkens des Manifestation reitlose und volle die prophoríkos Ausla., lrgo, endía.thetos) finden zu wollen, d' h' den vollen angeirrr.t átt dessen zu sehen,was gesagt werden müBte,um dem messen verstanden zu werden.Die Diskrepanz zwischen lehrreich' auch áuBeren und dem inneren Logos ist
beide Aspekte der hermeneutischen lJniversalitát, námlich die Sprachangewiesenheit eines jeden Denkens und die Grenzen einer jeden sprachlichen Aussage, bilden etne Zusammengehórigkeit, die die (Jniversalitát der hermeneutischen Erfahrung ausmacht. Es ist aber Augustin und der christliche Inkarnationsgedanke, die es erlauben, diese Zusammengehórigkeit zu fassen.
Wenn ich recht sehe, hat Hans-Georg Gadamer in Wahrheit notund Methode eher auf dem ersten Punkt, námlich auf der er als z'B' insistiert, Denkens allen wendigen Sprachlichkeit darunmiBverstándlich Hermeneutik< der die oU"niverialitát in sah, daB osprache alle Einreden gegen ihre Zustándigkeit<
überholen und deshalb >mit der Universalitát der Vernunft Schritt< halten kónne flWM,405)' In seinen letzten Arbeiten
indes war es eher die Unaussagbarkeit des inneren'Wortes' die er ins Zentrum rückte. So widmete er viele Aufsátze der Erfahrung der >Grenzen der Spracheu, die ihn in einem Text von
19S3 slHieBlich dazu brachten, den >oberste[n] Grundsatz odaB der philosophischen Hermeneutik< darin zu erblicken' móchten'u116 wir sagen was *ir nie das garrz sagen kónnen,
hapax legomenon' Gadamer
GW 10,274. Dies ist übrigens kein wiederholte es sehr oft in den letzten Jahren' Vgl' oben' S 116
'05'
I
Die Begriffsbildung und die Universalitát der Rhetorik Wahrheit und Methode ist auf diese Weise Augustin sehr ver-
pflichtet. Seine Einsicht hat zur Folge, daB die menschliche Endlichkeit fiir die Hermeneutik von ihrer Angewiesenheit ¿uf die Sprache her zu denken ist. Das menschliche Denken ist auf unaufhebbare Weise eine Versprachlichung, auch wenn die tatsáchlich gesprochene Sprache das innere Wort des Auszusagenden nicht auszuschópfen vermag. Diese Einsicht fiihrt aber dazu, die logistischen Vorurteile, die die Behandlung der Sprachlichkeit im Abendland seit Platon beherrschen, in Frage zu stellen. Die Hermeneutik wird damit eine geschárfte Aufmerksamkeit auf die Materialitát und die rhetorisch zu nennende Inkarnation des Sinnes lenken. Denn in der Konsecluenz dieser augustinisch-hermeneutischen Solidaritát liegt eine rhetorische Sprachkonzeption. Dabei gilt es, sich von ei-
ner einseitig pejorativen Rhetorikauffassung freizumachen, die gerade von den logistischen Vorurteilen über Sprache genáhrt wird. Rhetorik gilt nach dieser Auffassung als eine ge-
Fihrliche und verfiihrerische >Verkleidungu der Gedanken, clie einen logischen Raum fiir sich bilden sollen. Diesen reinen Raum hat Gadamers Augustinismus problematisiert: Das l)enken ist fiir uns immer schon Fleisch, d. h. Sprache geworclen, die einen erreichen kann.
218
5. Das Gespr:ich,
das
Gegenüber der logistischen Auffassung des Denkens entwickJk Gadamer tn Waluheit und Methode einen rhetorischeren Begriff des Denkens. Ihm zufolge besteht das menschliche DÁken nicht so sehr in der logischen Ableitung der Genera und Spezies als in der >Explikation imWort< (WM' 432)' Denken isi nicht ein Subsumieren, sondern ein Wortesuchen fiir das, was zu sagen ist, wenn man etwas verstehen will' Der ProzeB des Denkens ist nie rein begrifllich, er folgt vielmehr und immer schon der Spur des'Wortes, die nrit ihren Meta-
phern und Bildern die Bahnen des Denkens allererst erschlieBt. Diese Vorgabe leistet immer schon die grundsátzliche Metaphorik der Sprache: oÜbetttaguttg von einem Bereich in einelt a.rder.n hat nicht nur eine logische Funktion, sondern ihr entspricht die grundsátzliche Metaphorik der Sprache selbst. Dle bekannte Stilfigur der Metapher ist nur die rhetorische Wendung dieses allgemeinen, zugleich sprachlichen und logischen Bildungsprinzips' ["'] Am Anárrg d., Gattungslogik steht somit die Vorausleistung der Sprache.o (WM,434f.) Es ist diese metaphorische, rhetorische Leistung der Sprache, der das Denken immer schon gehorcht, die Gadamer gegen eine rein demonstrative Fassung des Denkens (und des Sprechens!) zur Geltung bringen will'War Platon der Haupt,r...rrr*oriliche fiir die logistische Verkürzung der Sprache, gegen die Augustin zu Hilfe gerufen worden war' so ist es nun
l4hhrlteit und Metho'de fiir die Alleinherrschaft der apodiktischen Logik im Bereich des Denkens veranrwortlich gemacht wird. Er habe die Leistung der Metapher an seinJ* demonstrativen Ideal gelnessen und sie folgii.h itt den beschránkten Bereich der Rhetorik abgeschoben' deren (Jniversalitát ihm dadurch - d. h' von seinem Beweisideal her - abhanden kam: >Die Folge dieser Messung an dem logischen Beweisideal ist aber, daB die aristotelische Kritik die iolische Leistung der Sprache um ihre wissenschaftliche Legilimation gebracht hat. Sie findet nur noch unter dem Ge-
ÁÁtot.l.r,
d-er
in
l.htrpunkider Rhetorik ihre Anerkennung und wird dort
Kunst mittel der Metapher vetsranden' Es ist das logische Ideal der Überordnung und lJnterordnung der Begrifle, das
als dai
Die tsegritGbildung und die Univcrsalitit der
rvir sind
Rhetorik 219
jetzt über die lebendige Metaphorik der Sprache, auf der doch alle natürliche BegrifBbildung beruht, Herr wird.< (wM,436) Die lronie ist aber die, da8 Aristoteles selbst in seinen untersuchungen viel weniger dem Muster der logischen Demonstration folgte als dem Genius und der Vielfalt der Sprache.'Wie bei Platon war auch bei Aristoteles die Praxis des Denkens wegrveisender fiir das henneneutische Sprachdenken als deren logistische'Wirkungsgeschichte. ln Wafuheit und Methttdebegnügt sich aber Gadamer weitgehend damit, gegen die logistische Abschiebung der Metaphorik der Sprache in die Rhetorik und damit gegen einen ¡roch allzu einge-
schránkten und instrumentalistischen Begriff der Rhetorik zu protestieren. Erst spáter verknüpfte er die lJniversalitát der Hermeneutik mit einem universelleren Begriff der Rhetorik und der grundsátzlichen Rhetorizitát der Sprache. Die Universalitát der Hermeneutik wurde damit immer betonter nrit der der Rhetorik verknüpft.117 Diese Verknüpfung, die mit einer allgemeinen Rehabilitierung der Rhetorik zusanmengi.g,1lt fand sich indes nicht expressis uerbis rn Wahrheít und Methode selbst. Insofern sie in dem entscheidenden Schritt, der von Platon zu Augustin fiihrt, angelegt war, láBt sich sagen, daB das Hauptwerk von Gadamer unterwegs zu einer universalen Konzeption der Rhetorik war, ohne sie jedoch voll zu entfalten, da es ihm 1960 vor allem darum ging, die Sprachlichkeit als gewissermaBen prálogisches Thema der Philosophie in ihrer Universalitát wiederzuentdecken. Ging die klassische Philosophie bislang von der Angewiesenheit der Sprache auf ein vorausgegangenes Denken aus, wird rnit Gadamer die Angewiesenheit des Denkens auf die
r 7 Vgl. u. a. GW 2, 1 1 1, 289, 291, 305, 467 . Vgl. das Interview irn LB, 284,291. Zum geschichtlichen Hintergrund, vgl. nreinen Artikel ,Hernreneutiku in Hisforischen Wijrteiln¿ch der Rhctorik,lld. III, 1996, 1350t371. rr8 Vgl. dazu den instruktiven Sanrmelband Rlrctoric and Henneneutics I
in OurTimes, hrsg. von Michael J. Hyde and Walter Jost, New Haven, Yale Universiry Press, 1 997.
220
Die Begrifiibildung und die Univcrs¡litát der
5. Das Gespnich, das wir sind
rhetorisch zu nennende Vorlei.stung der Sprache in den Vordergrund gerückt. Die Rhetorik erscheint nicht mehr als ein defizienter Modus der Erkenntnis, sondern als die Vollzugsweise des Denkens selbst und unseres sprachlichen In-derWelt-seins. Eine gewaltige Verkürzung bedeutet die Auffassung der Metapher a1s einer Denkform, der es an der Klarheit des Begriffs mangle, und die Auffassung der Rhetorik als ein Kunstmittel, auf das man zurückgreife, wenn zwingende Beweise fehlen. In beiden Verkürzungen bekámpft Gadamer dasselbe platonische Vorurteil, d. h. die Vergessenheit der Sprache als Náhrboden eines jeden Beweises, jeder Klarheit sowie j eder Rationalitát. Die klassische Tradition der Rhetorik ist natürlich in der Neuzeit in Verruf geraten, weil ihre Angewiesenheit auf die Übe.reugungskraft der Sprache hinter dem demonstrativen Ideal der kartesianischen Wissenschaft zurückzubleiben schien. Es ist ¿ber gerade dieses Ideal, dessen Grenzen Gada-
mer offenlegen móchte.'W'eil es Gadamer um eine Verteidigung der menschlichen Rationalitát geht, die sich aus Sprache náhrt und in ihr zu bewáhren hat, ohne dem Vorbild der rein logischen Demonstration zu gehorchen, lag die Berufung auf die rhetorische Tradition nahe: >'W'oran sonst sollte sich auch
die theoretische Besinnung auf das Verstehen anschlieBen als an die Rhetorik, die von áltester Tradition her der einzige Anwalt eines Wahrheitsanspruches ist, der das Wahrscheinliche, das eíkos (verísimile), und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende gegen den Beweis- und GewiBheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt? Überreugen und Einleuchten, ohne eines Beweises fáhig zu sein, ist offenbar ebensosehr das Ziel und MaB des Verstehens und Auslegens wie der Rede- und Überredungskunst - und dieses ganze weite Reich der einleuchtenden [Jberzeugungen und der allgemein herrschenden Ansichten wird nicht erwa durch den Fortschritt der Wissenschaft allmáhlich eingeengt, so groB der auch sei, sondern dehnt sich vielmehr aufjede neue Erkenntnis der Forschung aus, um sie fiir sich in Anspruch zu nehmen und sie sich anzupassen. Die Ubiquitát der Rhetorik ist eine unbeschránkte.< (GW 2, 236f.).
Rhetorik 221
Diese Übernahme der rhetorischen Erbschaft stand im Zentrurn der Auseinandersetzung mit der Ideologiekritik von Habermas. So hieB Gadamers Erwiderung aufHabermas: >Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik< (1967 ,GW 2, 232-250),wobei Gadamer sehr wohl auch die eigene Rhetorik der Ideologiekritik ins Visier nahm. Habermas hatte geg.en Gadamer ins Felde gefiihrt, da8 die rhetorisch erziehe lJberzeugung bzw das bloB rhetorisch begründete Verstehen, also >ein scheinbar >vernünftig< eingespielter Konsensus sehr wohl auch das Ergebnis von Pseudokommunikation sein kannu.11e Deren Rationalitát kónne also durchaus bloB strategisch, d. h. manipulierend sein. Ihr stellte Habermas das Ideal eines reflexiv eingesehenen Einverstándnisses entgegen.
Die-
über den lJnterschied zwischen Einsicht und Verblendung >aufgeklárte Flermeneutik< bindet >Verstehen an das Prinzip vernünftiger Rede, demzufolge Wahrheit nur durch denKonsensus verbürgt sein würde,der unter den idealisierten Bedingungen unbeschránkter und herrschaftsfreier Kommunikation erzielt worden wáre und auf Dauer behauptet werden kónnte(.120 In dieser aufgeklárten Hermeneutik iit die Wehrheit barjeglicher Rhetorik. Der kleine Haken ist, da8 sie eben nur in einer solchen idealen Situation erzielt werden kónnte: >Wahrheit ist der eigentümliche Zwang zu zwangloser universaler Anerkennung; diese aber ist gebunden an eine ideale Sprechsituation, und das heiBt Lebensform, in der zwanglose universale Verstándigung móglich ist.<121 Das ist aber nur eine se
lle
.¡. Habermas, >Der lJniversalitátsanspruch der Hermeneutik< in Hermeneutik und ltleologiekri¡ik, Frankfurt a.M., Suhrkamp,
(1970),
1971,,152. 120
Ebd.154.
121 Ebd. Es ist zuzugeben, daB sich der spátere Habermas seit seiner beeindruckenden Theoríe tles kommunikatiuen Handelns (Frankfurt a.M.,
Suhrkamp,1981) viel vorsichtiger ausgedrückt hat, aber sein Ideal kommunikativer Rationalitát bleibt auch do¡r eine dem strategisch-rhetorischen Hendeln enrgegengesetzte, kontrafaktische Antizipation, die jedem Sprechakt zugrundeliegen soll. Man solhe m. E. die Bedeutung áer speech-acts-theory in diesem Zusammenhang nicht überbewert.tr, d" sich Habermas hier auch auf das Schellingsche Motiv der Identitátsphilosophie und auf die Tradition der Mystik bezieht, wie er gelegenilich
222
5. Das Gespnich, das wir sind
andere Art zu sagen, daB eine nichtrhetorische Wahrheit uns unerreichbar ist.
Die Begriffsbildung und die Universalitát der
Íilr
Habermas kann also die Rhetorik nur im Namen einer idealen Rationalitát herabwürdigen, die aber nie die unserer sublunaren Welt sein wird. MuB man auf das Jüngste Gericht warten,um zu erfahren,was wahr ist? Bis dahin ist es vielleicht die Habermassche Herabsetzung der Rhetorik, die im Namen einer vernünftigeren Auffassung der Rationalitát revisionsbedürftig ist. Das war die Quintessenz der Gadamerschen Antwort auf Habermas: >W'enn die Redekunst auch, wie es seit alters klar ist, die Aflekte anspricht, so fillt sie doch damit keineswegs aus dem Bereich des Vernünftigen heraus. Vico macht mit Recht einen eigenen'Wert derselben geltend: die copia, den Reichtum an Gesichtspunkten. Ich finde es erschreckend unwirklich, wenn man - wie Habermas - der Rhetorik einen Zwangscharakter zuschreibt, den man zugunsten des zwangsfreien rationalen Gespráchs hinter sich lassen müsse. Man unterschátzt damit nicht nur die Gefahr der beredten Manipulation und Entmündigung der Vernunft, sondern auch die Chance beredter Verstándigung, aufder gesellschaftliches Leben beruht. Alle soziale Praxis - und wahrlich auch die revolutionáre - ist ohne die Funktion der Rhetorik undenkbar.< (G'W 2,467) Es ist eine logistische Verkürzung des Denkens (das allein den apodiktischen Beweis gelten láBt), die dazu fiihrt, in der Rhetorik nichts als eine niedertráchtige Manipulationsstrateund sehr ehrenvoll eingesteht. Vgl. etwa J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Franfkurt a. M., Suhrkamp, 1985, 202: >Ich habe ein Gedankenmotiv und eine grundlegende Intuition. Diese geht übrigens auf religióse Traditionen, erwa der protestantischen oder jüdischen Mystiker zurück, auch auf Schelling. Der motivbildende Gedanke ist die Versóhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne, die Vorstellung also, daB man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ókonomischen Bereich móglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in der wirklich Autonomie und Abhángigkeit in ein befriedetes Verhiltnis treten; daB man aufrecht gehen kann in einer Gemeinsarnkeit, die nicht die Fragwürdigkeit rückwá¡tsgewandter substantieller Gemeinschaftlichkeiten an sich hat.<
Rhetorik 223
gie zu sehen, die vernünftiger Argumente spottet. Das Gegenteil ist der Fall: Vernünftige Argumenre sind qua Argumente ohne Rhetorik undenkbar. Ein vernünftig sein wollendes Argument muB uns námlich davon überzeugen, da8 es vernünftig ist, d. h. daB Gründe fr)r es sprecher. Habermas hat durchaus recht, wenn er hinweist auf den wichtigen heuristischen (Jnterschied zwischen der strategisch erzwungenen Üb"rreugung und derjenigen Überzeugung, die auf guten Argumenten beruht. Daran ist festzuhalten. Aber diese Unterscheidung fillt selbst in die unverkürzr verstandene Rhetorik,. die hier sprachlich sehr wohl zwischen überredung und (Jberzeu gvng unterscheiden versteht.'Was macht ein vernünftiges oder ^) ein starkes Argument aus? Offenbar der Umstand, da8 es dazu in der Lage ist, ein wachsames BewuBtsein davon zu überzeugen, vor schwachen Argumenten, die den einschlágigen Seiten der Sache nicht Rechnung rragen, auf der Hut zu sein. Es obliegt aber einer weiteren, gehaltvolleren Argumentation, die einschlágigen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Dies láBt sich aber ohne eine diese Sachlichkeit entfaltende Sprache, d. h. ohne Rhetorik nicht nachvollziehen. Sonst bliebe die menschliche Rationalitát ein schóner Tiaum ohne jede'Wirklichkeit. Diese {Jniversalitát der Rhetorik mündet deshalb in eine Hermeneutik der Wachsamkeit ein. Man kann es nicht mit dem Postmodernismus bei dem Seufzer belassen, da8 alles doch nur rhetorisch sei, so als seien Wahrheit und Vernunft nichts als Illusionen.Als ob alle Argumenre gleich wárenl Die Idee einer kommunikativen Vernunft ist zu pflegen und in die Tat umzusetzen, weil gewisse Argumente glaubwürdiger, solider und gehaltvoller sind als andere. Sie erfordern aber einen rhetorischen Aufwand, der die Gründe herauszustellen sucht, die fiir gewisse Wahrheitsanspúche sprechen.Diese Ra-
tionalitát ist allerdings nicht die des Jüngsten Gerichtes, sondern diejenige, die :uns híc et nunc überzeugen und fiir sich gewinnen kann.Weil wir keine Gótter sind, ist uns eine andere Rationalitet nichr beschieden. Sie láBt sich aber nur als rhetorisch inkarnierte verstehen und praktizieren. Es ist freilich
nicht
atrsgeschlossen, daB
die kritische Vernunft
selbst
224
5. Das GesPrJch,
das
Die Wahrheit
wir sind
Gemeinplátzen verfállt' Scheinargumenten und sophistischen mit der Sophistik hetAuseinat'dt"t""ttg Éi". ".""pf"tons Gadamers muB nicht kommende Hermeneutik wie diejenige und an den LJnterschied zwiichen Verblendung Sophisich daB ""iltti.f.fi.ft werden' Die Mógtichkeit' ;;;;;;;i"nert ""i'f.""".i a.rt einschleicht, wo allein die Vernunft zu spreDaraus leitet sich .fr"" *aft",, láBt sie nie vóllig ausschlieBen' geschulhermeneutisch des Wachs""iktit
ái. ""oU.rUietbare Bewu8tseins ab' ten ---Di.s.
auf die BeWachsamkeit hat Gadamer konsequent sich der die Hermeneutik' Eine oriffsseschichte angewandt' ge genüb er b eder g s ;'"'fttu'l¿un !¡*.tf¡, iri*i.d erlá"nen müssen'daB die philosophisghen Ehe fallen' oriffe nicht vom Himmel des reinen Verstandes aus dem Leben :Ñ;;;;; .-.* Schulbegriffwird' quillt esder philosophiSp*.fre hervor. U- ái"s"m lJrsprung in einem Gadamer "i"", ,i'fr"" É.g.iff. nachzugehen' entwickelte bislang einer *i.rr,ig"ñ Aufsatz "oñ tgzo die Konzeption als oBegriffsgeschichte vielleicht zu wenig gewürdigtenl22 die sich daB davon.aus' geht inif.r"pft*- 1Cwi,7l-s1)' Sie Begriffes nichivon.der Situation und der
ll"'.'i|
3.ilfü;;;-
des
Wortes 225
sierung dieser Begriflsgeschichte beigetragen, als er sich an der Begründung einer Enzyklopádie (dem Hístorischen Wijrtcrbuch der Phílosophle, seit 1970) und der Begründung einer Zeitschrift (dern Archiu Jíir Begrifsgeschíchte) betelligte, die beide dieser Idee verpflichtet sind. Das wirkungsgeschichtliche BewuBtsein wurde dadurch zu einer begriffsgeschichtlichen 'Wachsamkeit.
123
Die'Wahrheit
des
-Wortes
>'Tis but thy name that is my enemy;
-
Thou art thyself though, not a Montague. What's Montague? It is nor hand, nor foot, Nor arm, nor face, nor any other part Belonging to a nan. O, be some other n¿rme! 'What's in a name? That which we call a rose, By any other name would smell as sweet( Shakespeare,
Romeo and Juliet
verwendel
Die hermeneutische Wahrheit ist ohne ihre Sprachangewiesenheit nicht nachvollziehbar. Um sich der unheimlichen
allein zum man die Situation versteht, Jie ihn Werkzeuge eines innicht sind Begrifle ilgtifi*.táen üeB' ein Lebensverháltlni-."t.n.n Denkensiie bringen selbstanheben láBt' Diese ,risiu, ip.t.he, das ein Denken allererst
Náhe der Sprache anzunáhern, hat Gadamer zunáchst von einer Vorgángigkeit der Sprache gegenüber dem Denken gesprochen. Vermóge der Sprache erheben wir uns zum Denken, aber noch viel ursprünglicher zu den Sachen selbst. Nur in der Sprache sind die Sachen in einem eigentümlichen Sinne fiir uns >da<. Anstatt von einer Vorgángigkeit wird Gada-
ir.tfi.tf."i,
eines
Ñ.|-rilt."¿ern láBt,"in denen er geboren und wenn *"t¿". Man kann einen Begriff nur ¡rachvollziehen' sprechenden
Destruktion der
i.grtfftg.t.ftichte erinnert an Heide ggets die Grundworte ó.i"áUEg.iff. der Tradition' insofern sie insistiert Gadamer will' ñ."r" *lJ¿.r zum Sprechen bringen Tradideslruierenden zu d-er weniger auf J.ü.i ,U., "ielleicht Wirkungsge-
K¡aft der Worte eingeschichtliche schichte, in die unsere Begriffe Institutionalizur auBerdem hat g.b.ii.i' br.lben' Gadame"r
tion
als auf der stets mitsfrechenden als
ptor",
i
Platons, Díe
¡¡,l. Ausnahme bildet F. Renaud, D ie Resokratisientng Augustin' Academia' lW' irr*rriu't;k Hanu C'org Catl arrcrs'Sankt
122
7999,22-34.
mer also immer mehr von einer Gleichzeitigkeit sprechen. 123 Über die Begründung dieses Wórterbuches und dieser Zeitschrift, vgl. PL, 1 8f. Gadarnersjüngste Arbeiten gelten auch dem Verhdltnis zwischen dem Begriffund dem Leben der Sprache. Es ist der Leitñden hinter seinen Arbeiten, die den Weg >Vom Wo¡t zum Begrif[, verfblgen. Vgl. vorerst den Beitrag von 1995 unter diesem Titel im LB, 100110 sowie die letzten Seiten der Arbeit rZur Phánomenologie von Ritual und Sprache< (1992), GW 8, 400-440 (bes.426ff.:,Auf dem Weg zum Begriffti).
a 226
5. Das Gesprách, das
Die Wahrheit des W'ortes 227
wir sind
Die Vorgángigkeit der Sprache beschránkt sich námlich nicht auf eine Schematisierung der Wirklichkeit durch den Geist, denn wir wohnen immer schon sprachlich in der Weit, die uns auch wesentlich durch Sprache gegenwártig ist.Die Sprache ist nicht nur ein Imperfekt, sondern auch ein Modus des Prásens von'Welt und Denken. Wilhelm von Humboldt hatte also vollkommen recht, die Sprache a1s Weltansicht aufzufassen. Aber nach Gadamer ist dás noch nicht genug: Es ist fiir ihn die W'elt selbst, die Sprache ist, die fiir uns nur als Sprechende da ist, so da8 man die Sprachansicht von der'Welt >an sich< nicht mehr recht unterr.h"id.tt kann. Indem Humboldt die Versprachlichung der
Welt auf eine >Geisteskraft< und den >Formalismus
durch aus, daB er eine Welt im Modus der Erschlossenheit hat. Man wird vielleicht entgegnen, daB diese sprachliche'W'elt doch nur eine menschliche sei, so da8 es neben ihr auch eine >Welt an sich< gebe. Aber selbst dieses angebliche Ansichsein der Welt muB sich sprachlich artikulieren lassen, um nachvollziehbar, d. h. um'Welt zu sein.'Welt gibt es nur fiir uns in einer Prásenz, die uns etwas sagt: >Die Sprache ist nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der'Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt sich dar, daB die Menschen überhaupt Welthaben.< 0ñ/M, 446) Dieses Welthaben ist nach Gadamer ein durch und durch sprachliches.
Diese erschlieBende Kraft der Sprache hat Gadamer auch
eines
Kónnens< einschránke, habe er sich von einer subjektivistischen Metaphysik der Geistesvermógen nicht richtig losgelóst ('WM, 444).Gadarner sieht darin eine noch zu formalistische Sprachauffassung, in der er einen neuen Instrumentalismus des Denkens gegenüber der Sprache wittert:Es ist immer noch eine sprachliche >Form<, die die Materialitát und Verschiedenartigkeit der menschlichen Erfahrung formiert. Diese heute weit verbreitete Auffassung der Sprache als Schema oder symbolische Form ist nach Gadamer auch diejenige von Cassirer und bleibt noch zu instrumentell.Trotz ihrer Verdienste, allen voran z. B. die Wiederentdeckung der SprachIichkeit, werde die Humboldtsche Sprachkonzeption der vollen sprachlichen Priisenz der Welt als Sprache nicht gerecht: >Gleichwohl stellt ein solcher Begriff von Sprache eine Abstraktion dar, die wir fiir unsere Zwecke rückgángig machen müssen. Sprachlíche Forrn und i,iberlieferter Inhalt lassen sich in der hermeneutischen Erfahrung nicht trennen..Wenn eine jede Sprache eine'Weitansicht ist, so ist sie das in erster Linie nicht als ein bestimmter Typus von Sprache, (wie der Sprachwissenschaftler Sprache sieht),sondern durch das,was in dieser Sprache gesprochen wird bzw. überliefert ist'< (WM' 445) Für Gadamer ist die Sprache nicht eine Ansicht der'W'elt oder deren Formung fiir unseren Geist, sie ist die weltlichste Weit, die es überhaupt geben kann. Hier folgt Gadamer zweifellos Heideggers Weltanalyse: Nur der Mensch zeichnet sich d¿-
'Wortes< als die >W'ahrheit des zu umschreiben versucht. Be-
in Wahrheit und Methode riskierte er diese Formel, aber noch mit áuBerst zógerndern Anfiihrungsstrichen flVM, 443), aIs ob er vor der Gewagtheit seiner Formulierung zureits
rückschreckte. Es sind aber immer solche riskanten Formeln, die am besten das vom Denken Ersuchte wiedergeben. In der 5. Auflage von 1986 wurde die Formel um eine Fu8note bereichert, in der Gadamer auf eine noch zu veróffentlichende Arbeit unter dem Titel >Die'Wahrheit des'W'ortes< hinweist. Diese Arbeit erschien erst 1993 im 8. Band der Gesammelten Werke. Es handelt sich um eine Arbeit, die einen langen Reifungsproze8 hinter sich hatte. Vortráge unter diesem Titel wurden bereits in den Jahren 1,97 1, und 1.972 gehalten, so daB bereits 1972 das Nachwort zur 3. Auflage von Wahrheit und Metlrcde deren baldiges Erscheinen versprach (GW 2,475). Als ich rnich 1997 an die Edition eines Lesebuches machte, das Gadamers reprásentativste Aufsátze versammeln sollte, hat mir Gadamer eindringlich nahegelegt, diesen (sowohl alten als auch neuen) Text aufzunehmen.l24 24 HGG, DVon der Wah¡heit des'Wortes<, in GW 8, 37-57 (LB, 120wird diesen Text nicht mit demjenigen gleichen Titels (!) verwechseln dürfen, der 1988 in der Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft erschien und der 1993 im 9. Band der GW unter dem neuen I
1
40). Man
Titel >Dichten und Denken im Spiegel von Hólderlins
>Andenken<<
228
5. Das Gesprich, das wi¡ sind
Das Wort, an das Gadamer dabei denkt, ist natürlich das -Wort, dessen Plural >Worte< lautet. Das Wort kann hier auch ein Satz, eine Rede oder ein treffender Ausdruck sein. In dieser Hinsicht áhnelt es sehr dem griechischen logos. Man gibt seinen Sinn am besten wieder, wenn man mit Gadamer von der >\Vahrheit des'W'ortes< spricht. Die Formel ist im Sinne 'W'ahreines genetíuus subjectíuus zu hóren: Es ist das W'ort, das heit sein láBt, indem es ein'Wahres allererst erschlieBt, noch 'Wahrheit des -Wortes vor jedem reflexiven BewuBtsein der im Sinne eines genetiuus objectivus, der die Richtigkeit des treffenden Wortes registriert. Gadamers Einsicht ist, daB diese
erschlieBende Macht des'Wortesjedem Instrumentalismus
des Denkens vorausliegt. In seinem Aufsatz von 1993 (bzw. I97 I) hat Gadamer diese aletheiologische Kraft insbesondere das ja eine Im dichteder tragenden Inspirationen seines Werkes bildet. rischen Wort wird die Welt nicht nur schón ausgedrückt, in ihm óffnet sich allererst'W'elt, námlich in dem Sinne, daB ein -Wort eine Sache und ihren Raum prásent werden láBt. Das
im Hinblick auf das dichterische Wort entwickelt,
'Wort erweist sich damit als eine ontologische Manifestation der Welt (weiterhin im Sinne eines genetivus subjectivus): >Was Sprache als Sprache ist und was wir als die Wahrheit des 'Wortes suchen, ist nicht in der Weise ñBbar, daB man von den sogenannten rnatürlichen< Formen sprachlicher Kommunikation ausgeht, sondern umgekehrt werden solche Formen der Kommunikation von jener dichterischen'Weise des Sprechens aus in ihren eigenen Móglichkeiten faBbar.< (GW 8, 53; LB, 136) Das dichterische'W'ort eróffnet eine'W'elt, die uns nur dank dieses Wortes prásent und betretbar wird. Diese Besinnungen lassen sich durchaus an die Darstellungsásthetik des Ersten Teiles von Wahrheit und Methode anschlieBen. Gadamer hatte dort von der Seinsvalenz des Kunstlverkes gesprochen, die das Sein des Dargestellten allererst hervortreten
láBt. Ebenso spricht Gadamer von einer ¡>Seinsvalenz des
I
-
Die Wahrheit des.W'ortes
229
'Wortes< (GW 8,54;LB, 137): Die'Welt ist nur da im >da< der Sprache. Das Wort ist also weder eine Form noch ein Konstrukt des Denkens, sondern das Da der'W'elt selbst, das sich im dichterischen 'W'ort kristallisiert: >Das universale >Da< des Seins im Wort ist das Wunder der Sprache, und die hóchste Móglichkeit des Sagens besteht darin, sein Vergehen und Entgehen zu binden und die Náhe zum Sein festzumachen. Es ist Náhe, Prásenz, nicht von diesem oderjenem, sondern von der Móg-
lichkeit zu allem.< (GW 8, 54f.; LB,
1,37f .) Des dichterische
'W'ort zehrt von dieser Seinsvalenz, aber im Modus des Erin'W'iedererkenntnis (mimesls), nerns, der da es eigens diese Seinsprásenz zur Sprache bringt und uns damit aus unserer Sprachvergessenheit herausholt. >Das ist es, was das dichterische 'W'ort auszeichnet. Es erfiillt sich in sich selbst, weil es d¿s >Halten der Náhe< ist.< (GW 8, 55; LB, 138) Auf Shakespeares berühmte Frage What's ín a name? wáre
Gadamer vermutlich zu antworten geneigt: Alles! Es ist das - oder im Fall einer Person: ihr Name - das die Prásenz, das >da< der Sache und deren'W'esen aufbewahrt: >Denn das ist der Name, daB einer oder eine auf ihn hórt - und der Eigenname als das, was einer ist und den er ausfiillt.< (G'W 8, 55;LB, 138) Ist es Zufall.,wenn Juliet diese Frage stellt und dabei das Beispiel der Rose evoziett:>>What's ín a name?That which we call a rose, By any other name would smell as sweet<<. Der Name der Rose ist nicht bloB ein Name, er láBt die Gegenwart der Rose selbst prásent werden, eine Prásenz der Schónheit und der Liebe (bis hin zum heutigen Kitsch der Rose in der Liebeskonsumgesellschaft, eber auch das gehórt zur Appellkraft im Namen der Rose). Nein, eine Rose würde unter einem ande'W'ort
ren Namen nicht so schón duften. Der Gang von ShakeDrama bestátigt diese Wahrheit des Wortes. Juliet mag noch so sehr über die Unwirklichkeit des Namens Montague stóhnen, es ist doch der Fluch des Namens, der es ihr verbieten wird, Romeo zu lieben. Das'Wort ist hier die Wahrheit des speares
Seins.
(42-55) aufgenommen wurde. Die Gleichheit des Titels bezeugt aber die Záhigkeit
des
Themas.
Was sich
im
>da< der Sprache hált, ist aber
nicht nur die Er-
Prásenz des Seins, sondern auch sein Entschwinden, die
230
Die spekulative Wahrheit der Sprache 231
5. Das Gesprách, das wir sind
fahrung, daB das Sein sich uns entzieht: >In der Tat ist das unsere Grunderfahrung als zeitliche Wesen, daB alle Dinge uns entgehen, daB alle Inhalte unseres Lebens uns mehr und mehr verblassen, so da8 sie aus fernster Erinnerung hóchstens noch
werden protokolliert und dabei in vóllig neue Konrexte eingebaut, die deren Sinn verdreh en.Zitate wáren auch ein sehr gutes Beispiel fiir die Gewalt, die man der Sprache zufrigt, wenn man sie auf das Niveau der zufillig gefillten Aussagen
in einem fast unwirklichen Schirnmer
leuchten. Aber das Gedicht verblaBt nicht. Das dichterische'Wort bringt gleichsam die Zeitentgánglichkeit zum Stehen.u (GW 8,78) >Das dichterische'Wort bezeugt uns unser Dasein, indem es selbst Dasein ist.< (GW 8,79) Dieses Ineinander von Prásenz und
herunterbringen würde. 'Wie Augustin uns zu sehen lehrte, weist jede Sprache auf ein LJngesagtes zurück, das mitzuhóren ist, wenn man das Gesagte verstehen wiil. Augustin sprach hier vom inneren 'W'ort. Auch wenn dieses Wort a/s Wortwesentlich auf Sprache
Absenz lag Heideggers Begriff des Daseins zugrunde. Gadamer hat immer in diesem Denken des trda<, wo sich das Licht und die Verbergung ablósen, die grundlegende Idee von Heideggers Hermeneutik der Faktizitát erkannt (vgl. GW 10, 64f.;L8,272).Das Wunder aller'W'under ist nicht, da8 etwas da ist, sondern daB es ein >da< gibt, das sich dem Menschen offenbart und zugleich verbirgt. In diesem Sinne ist auch die Flermeneutik der Sprachlichkeit ein Denken des >da<, das sich entbirgt und zugleich entzieht.
angewiesen bleibt, schópft das herausgesagte'W'ort nie das, was gesagt werden wollte, das Schreienwollen des inneren'W'ortes
Die spekulative Wahrheit der Sprache Ein solches Denken wird sich also davor hüten, dieses >da< der Sprache auf die Ebene der jeweils gefállten Aussagen zu reduzieren. Der Begriff der Aussage, insistiert Gadamer, >steht nun aber in einem áuBersten Gegensatz zu dem'Wesen der hermeneutischen Erfahrung und der Sprachlichkeit der menschlichen'Welterfahrung überhauP t. ( (WM, 47 2) Keine Aussage kann námlich ausschópfen, was nach Sprache ringt. Das >universale >Da< des Seins im'W'ort< ist nicht das der jeweils ausgesprochenen Sprache, die sich kodifizieren und fixieren láBt. Es bleibt der Grenzen jeder Aussage angesichts des Auszusagenden gewahr. Gadamers Hermeneutik der Sprachlichkeit wird sich also gegen die Herrschaft der Aussagenlogik erheben müssen. Die Karikatur der >Aussage< wird Gadamer in der Aussage vor Gericht erblicken. Dort mu8 man auf Fragen antworten, ohne jedoch zu wissen, warum sie uns gestellt werden.Die Aussagen, üe man dann so macht,
Diese Rückspiegelung des áuBeren'W'ortes auf das innere, der atmende Rückverweis des begrenzten Elements des Gesagten auf die Unendlichkeit des Sagenwollens wird in Wahrheít und Methode die >spekulative Struktur< der Sprache genannt (in Wahrheit ist sie natürlich alles andere als eine >Struktur<). Nach einer nicht unfraglichen Erymologie, der Gadamer hier folgt, soll sich das Wort >spekulativ< vorl speculum (Spiegel) her ableiten. Die Spiegelmetapher enrspricht der'W'ahrheit des'W'ortes, die darin liegt, einen Sinn mitsehen zu lassen, der über das Gesagte hinausgeht.Jede endliche Aussage bleibt damit auf eine Unendlichkeit des (Jngesagten ausgerichtet. Es ist die Unendlichkeit all dessen, was gesagt werden müBte, um richtig verstanden zu werden.Eine Aussage ist gelungen, wenn sie es fertigbringt, diese Unendlichkeit mithóren zu lassen. Darin liegt die spekulative >Struktur< von Sprache: >Die Sprache [hat] selbst etwas Spekulatives - nicht nur in jenem von Hegel gemeinten Sinne der instinkthaften aus.
Vorbildung logischer Reflexionsverháltnisse, sondern els Vollzug von Sinn, als Geschehen der Rede, der Verstándigung, des Verstehens. Spekulativ ist ein solcher Vollzug, sofern
die endlichen Móglichkeiten des 'W'ortes dem gemeinten Sinn wie einer Richtung ins Unendliche zugeordnet sind.
'W'er etwas zu sagen hat, sucht und findet die'Worte, durch die
er sich dem anderen verstándlich macht. Das heiBt nicht, da8 er >Aussagen< macht.'Was es heiBt, Aussagen zu machen, und wie wenig das ein Sagen dessen ist,was man meint,weiB jeder, der einmal ein Verhór - und sei es auch nur als Zeuge -
232
5. Das Gesprách,
das
l
wir sind
durchgemacht hat. In der Aussage wird der Sinnhorizont dessen, was eigentlich zu sagen ist, mit methodischer Exaktheit verdeckt.'Was übrigbleibt, ist der >reine< Sinn des Ausgesagten.
Er ist
das, was zu Protokoll geht. Er ist aber als so auf das Ausgesagte reduzierter schon immer ej.n entstellter Sinn.
Sagen, was man meint, sich Verstándlichmachen, hált im Gegenteil das Gesagte mit einer Unendlichkeit des lJngesagten in der Einheit eines Sinnes zusammen und láBt es so verstanden werden.< füy'll4., 472f.) Der Vorrang der Aussage in der herkómmlichen Logik liegt an ihrer Verfiigbarkeit. Sie ist das einzige an der Sprache, was sich recht greifen und festnageln láBt. Gewi8: die Logik erkennt auch an, da8jede Aussage Voraussetzungen hat, die in der Aussage selbst nicht stecken. Deshalb bemüht sie sich, die Wahrheit von Aussagen von weiteren, allgemeineren Aussa-
gen abhángen zu lassen. Die Hermeneutik denkt die Wahrheit des'W'ortes anders: In den endlichen Worten der Sprache soll die Unendlichkeit des Sagenwollens mitvollzogen werden.'Was man zu hóren sucht, ist nicht bloB der semantischlogische Sinn der ausgesagten Rede, sondern darüber hinaus die sich selbst suchende Sprache. In einer Vorwegnahme des Denkens der Wahrheit des Wortes sprach Wahrheít und Methoilehier von der >Dialektik des Wortes<, die >einem jeden'W'ort eine innere Dimension der Vielfachung zuordnet<: >Ein jedes Wort láBt daher auch, als das Geschehen seines Augenblicks, das lJngesagte mit da sein, auf das es sich antwortend und winkend bezieht.< (Wll/', 462) 'Wenn dem so ist,so wird die Sprache aufhóren,eine Befangenheit des Geistes zu signalisieren. Die grundsátzliche Sprachlichkeit unseres Verstehens schlieBt ein, da8 die Sprache ihre jeweiligen Aussagen und Einseitigkeiten transzendieren kann. Diese sprachliche Freiheit ist indes nicht die des Instrumentalismus, der ein Denken unabhángig von der Sprache konstruieren móchte. Es ist die Freiheit des Anders-
Die spekulative Wahrheit der Sprache 233
auf andere 'W'orte, Tóne und Formen des Schweigens rekurrieren, um die sich suchende Sprache nachvollziehen zu kónnen. Habermas hat Gadamers Sprachauffassung ausgezeichnet wiedergegeben, als er hier von der Porositát der Sprache
Die menschliche Sprachlichkeit charaktérisiert sich geradezu durch ein Übersichhinaussein, das es ihr erlaubt, fiir neue Horizonte und Sprachmóglichkeiten offenzubleiben und ihren eigenen Einseitigkeiten ein Stück weit zu entgehen, da sie sehr gut wei8, da8 es ein letztes'W'ort nie gibt. Was sich aber nicht transzendieren láBt, ist der Horizont des Verstehens selbst und damit der Horizont seiner móglichen Sprachlichkeit. Es bleibt aber immer móglich und wünschenswert, sich anders auszudrücken und über die etablierten Verstehénsmóglichkeiten hinauszuwachsen. Das ist die sprach.125
Universalitát, die das hermeneutische (Jniversum der Sprachlichkeit verheiBt.
sagenkónnens: Alles kann anders und besser gesagt oder er-
schwiegen werden.
Die hermeneutische
Sprachintelligenz
verbietet es uns, die Aussagen beim Wort zu nehmen. Sie weist auf die Unendlichkeit des Sagenwollens hin. Man muB
t" Vgl. dazu meine Darmstadt
1.99
Einfilhrung
l, 2. A:ufl 2001. .
in
díe philosophische Hermeneutik,
Der unive¡sale Aspekt der Hermeneutik 235
Schlu8 Der universale Aspekt der Hermeneutik oder die lJniversalitát des Aspektes Ihrem Ruf zum Trotze nimmt sich die Universalitát der Hermeneutik ín Wahrheít und Methode relativ bescheiden aus. Gadamer spricht in der Tat nur von der [Jniversalitát eines Aspektes.Es ist - wenn man es auszusprechen sich erdreisten soll - der Aspekt der Zugehórigkeit (besser des >da<) des Verstehens zum Sinn, den es hórt, zur Tradition, die es interpretiert, verwandelt und erneuert, zur fremden Rede' die es übersetzt, in einem-Wort: zur Sprache, die es spricht, die ebensosehr die Sprache der Dinge als auch die des Denkens ist.Wir sind immer da, dabei, wo Menschen, Dinge, Gedanken, Stimmungen, Erfahrungen verstanden werden sollen, aber in einem >da<,, das sich der Objektivierung entzieht, weil man eben dabei sein muB, um zu verstehen. Der universale Aspekt der Hermeneutik liegt also an dem, was man die Universalitát des Aspektes nennen kónnte: Alles zeigt sich uns unter einem Aspekt, weil es uns betrifft und wir Anteil an seiner Erscheinungsweise haben. Der Aspekt oder das Aussehen einer Sache heiBt auf Griechisch eldos. So folgte Platon der Spur der Sprache, als er ím Phaídor seine Zuflucht zu den logoi nahm,urn 'Wesen der Dinge auf den Grund zu kommen. dem wahren Diese Wende zu den logoi oder zu den Reden vollzieht die Hermeneutik als eine Wende zur Sprache, insofern sich in ihr das wahre Sein der Dinge offenbart.Man muB selbstverstánd'W'ende zu den logoi von der instrumentalistischen lich diese und rein noetischen Sprachauflassung befreien, die ihnen nach Gadamer der Kratylos aufzwingt.
Indem er die Universalitát des hermeutischen Aspektes hervorhebt, ist es Gadamers Grundabsicht, die Grenzen des rein objektivierenden Denkens vor Augen zu fiihren, das auf eine Seinsbeherrschung hinzielt. Es láBt sich nicht in Abrede stellen, daB diese objektivierende Denkweise in der'W'issenschaft am Platze,ja unentbehrlich ist. Die Wissenschaft hat jedoch in unserer Ziviiisation eine soiche Autoritát erlangt, da8 der Anschein entsteht,jedes'Wissen und jeder Seinsbezug beruhe aufeiner Objektivierung, die den verstehenden Sprachbezug ausschalte. Es ist also nicht die Wissenschaft oder die Methode als solche, die Gadamer fiir eine einseitige Entwicklung hált, sondern diese Einseitigkeit unserer allein der Wissenschaft trauenden Zivilisation. Sie láBt uns námlich vergessen, wie gering der Rahmen des Objektivierbaren in unserer Erfahrung bleibt, die sich nach wie vor viel eher an den Móglichkeiten der gesprochenen Sprache und an einem den Situationen gewachsenen Ethos orientiert. Aber die Grenzen des objektivierbaren'Wissens sind nicht die Grenzen der hermeneutischen Wachsamkeit. Die weiten Erfahrungshorizonte der Kunst, der Geschichte, der Geisteswissenschaften, des 'Wissens, ethischen der sehr schón genannten Jurísprudenz, der Philosophie und schlieBlich der Sprache selbst haben uns gezeigt, da8 die Zugehórigkeit des Interpreten zu dem entsprechenden Sinn der Richtigkeit, der Angemessenheit und der Adáquatheit des Verstehens keinen Abbruch tut, sondern diese Adáquatheit erst móglich macht.'W'er die Augen vor diesem >hermeneutischen Aspekt< des Sinnes verschlieBt,
verfillt dem Fetischismus der modernen'W'issenschaft und einer nur scheinbaren Objektivitát. Die Selbstauslóschung ist hier überhaupt nicht der Sache gerecht und damit auch nicht >objektiv<, weil sie am wesentlichen Dabeisein des Verstehens vorbeigeht und sich damit der Wachsamkeit versagt, die einem zeitlich situierten Wesen notwendigerweise anheimfdllt.
Diesen universalen rAspekt< hat Gadamer zunáchst fiir die
Geisteswissenschaften wirkungsvoll herausgearbeitet. Er spricht von einer >universalisierung( der Hermeneutik, um ein Transzendieren dieser noch rein geisteswissenschaftlichen
Problematik zu indizieren, die auf ein ailgemeineres Thema
236
Schlufl
hinausweist, das als solches die Philosophie auf den Plan roft.126 Dieses Thema betrifft die tJniversalitát des Verstehens und der Sprachlichkeit fiir unsere menschliche Erfahrung. Die immer rvieder erfahrenen Grenzen des Verstehens und der Sprachlichkeit bekunden nur, daB sie unser Element bleiben..Wir streben nach'Worten und Verstehen, weil sie uns im Grunde fehlen, aber das ist nun einmal die Bedingtheit unserer Endlichkeit. Diese Universalitát der Sprachlichkeit wird bereits am Anfang des Dritten Teiles von Wahrheít und Methode entfaltet, wo die Sprachlichkeit a1s Gegenstand und Vollzugsweise des Verstehens erschlossen wird. Diese tjniversalitát bedeutet nicht, daB alles verstanden und sprachlich ausgedrückt werden kann. Es ist vieimehr der UberschuB des Auszusagenden angesichts des dürftig Ausgesagten und Aussag-Wurzel
baren, der arn Herz der Hermeneutik liegt. An ihrer ist diese Flermeneutik ein Denken der Endlichkeit, der Endlichkeit des Sinnes, der Sprache und des Verstehens. Der universale Aspekt der Hermeneutik ist somit der un-
serer Endlichkeit. Banal, wird man vielleicht entgegnen? Móglich, aber es kónnte sehr wohl sein, daB auch die anderen groBen Wahrheiten der Philosophie (derer es wenige gibt) ebenso banal sind. Die Erinnerung an die Endlichkeit ist aber wertvoll, wenn man der Versuchung des Verstehens entgegenwirken will, falschen Unendlichkeitsansprüchen zu verfallen. Der Obj ektivitátswahn des modernen Wissenschaftsglaubens ist eine der Gestalten dieser Endlichkeitsvergessenheit. Er strebt danach, das >Dabeisein< in jedem Verstehen und 126 Zu dieser als Ausweitung zu verstehenden Universalitát, vgl. WM,479: olndenr wir nun als das universale Medium solcher Vern-ritt-
lung [von Vergangenheit und Gegenwart] die Sprachlichkeit erkannten, weitete sich unsere Fragestellung von ihren konkreten Ausgangspunkten. del Kritik am ásthetischen und historischen BewuBtsein und der an ihre Stelle zu setzenden Hermeneutik, zu einer universalen Fragerichtung aus. Denn sprachlich und darnit verstindlich ist das menschliche Weln erháltnis schlechthin und von Grund aus. Hermeneutik ist, wie wir sahen, insofern ein uníuersaler Aspekt tler Phílosopliie und nicht nur die urethodische Basis der sogenannten Geisteswissenschaften.o WM ,478: rDie methodische Selbstbesinnung der Philologie [drángt] zu einer systematischen Fragestellung der Philosophie hin [ ].<
Die Herrreneutik
als Metaphysik der
Endlichkeit 237
Seinsbezug zu tilgen zugunsten eines beherrschen wollenden 'Wissens,
das als gewi8 gi1t, weil es ein Kontrollieren verspricht. Es wáre lácherlich, sich gegen diese Beherrschungsidee zu erheben, sofern sie legitim ist. Es ist aber geboten, ihre Universalisierung in Frage zu stellen, wenn sie zur Verkennung von Wissens- und Erfahrungsformen fiihrt, wo das Dabeisein und die Endlichkeit konstitutiv zum Sinn gehóren, der verstanden werden soll. Hier ist eine andere Wachsamkeit gefordert. Darin liegt der Sinn der Endlichkeitserinnerung in der Herrneneutik.
Die Hermeneutik der Endlichkeit
als Metaphysik
Es ist dieses universelle Denken der Endlichkeit, das auf clen letzten Seiten von Wahrlrcít und Metlrcde in Aussicht gestellt wird. Diese Ausfiihrungen sind aber so skizzenhaft und treffen des Leser so unvorbereitet, da8 nur wenige klugen Sinn aus ihnen machen konnten. Gadamer verteidigt dort tatsáchlich die These, daB uns die aus der Enge der geisteswissen-
schaftlichen und damit epistemologischen Problemstellung endlich befreite Hermeneutik oin die Problemdimension der klassischen Metaphysik zurück[fiihrt]( (WM, 464). Soweit ich sehe, wurde dieser offenbar )metaphysischeo SchluB des ganzen Werkes in der Herneneutikdiskussion bisher mit Schweigen übergangen. Die Horizonte, die Gadamer dort ausleuchtet, sind in der Tat unerhórt.'W'enn er von klassischer Metaphysik spricht, denkt er zudem - auch das mag überraschen - in erster Linie an die mittelalterliche Tianszendentalienlehre. Was ihn ¿rn dieser Lehre fasziniert, ist oflenbar der lJmstand, daB sie noch der Zugehórigkeit des Erkennens zu
einer die Kontroll- und Objektivierunqsmóglichkeiten
des
Verstehens überschreitenden Seinsordnung Rechnung trug: >Wir geraten damit, wie wir erwartcn nruBten, in den Bereich von Fragen, mit denen die Philosophic seit alters vertraut ist. ln der Metaphysik meint Zu,qelttiri.qktit das transzendentale
238
( Die Hermeneurik
SchtuB
Verháltnis zwischen Sein und W'ahrheit, das die Erkenntnis als ein Moment des Seins selber und nicht primár als ein Verhalten des Subjektes denkt. Solche Einbezogenheit der Erkenntnis in das Sein ist die Voraussetzung des antiken und mittelalterlichen Denkens.< (WM,462) Man muB hier sehr gut sehen, daB es Gadamer keinesfalls um eine Restauration der
mittelalterlichen Transzendentalienlehre
im Namen einer
neuen philosophia perennís geht. So ungeschichtlich denkt er nicht. Er móchte nur in Erinnerung rufen, daB diese Einbezogenheit des Verstehens in das Sein des Verstandenen zu unserer Endlichkeit gehórt. Über das hinaus, was das BewuBtsein von sich aus aussagen mag, bleibt das Verstehen in ein Sein eingeschlossen, und zwar so sehr, daB dieses unser Verstehen mehr Sein als BewuBtsein ist.Es ist diese Endlichkeit undZugehórigkeit des Verstehens, die der Nominalimus aufhob, als er das Subjekt von seiner'W'elt abtrennte, die dadurch unendlich beherrschbar und verfiigbar wurde. Der Unendlichkeit dieses Instrumentalismus des Erkennens setzt Gadamer die Endlichkeit unserer Zugehórigkeít zurr' Sinn und zum ver-
standenen Sein entgegen, wie sie in der mittelalterlichen Transzendentalienlehre zumindest anvisiert wurde. Der tragende Gedanke ist hier der, daB das Erkennen dort noch kein Beherrschen, sondern eine Teilhabe an Sein und Wahrheit war.
Das sprechendste Zeugnis dieser Metaphysik der Endlichkeitl2T wird Gadamer-und dies ist eine weitere Überraschung - in Platons Idee des Schónen erblicken. Man darf von einer spáten, aber verdienten Ehrenrettung Platons sprechen, nachdem Gadamers kompromiBlose Auseinandersetzung mit dern Kratylos Platon als Vorreiter der abendlándischen Sprachvergessenheit ausgemalt hatte. Bereits bei Heidegger erschien Platon als der Vorbereiter einer instrumen127 l.ü/M,481. Die Idee einer Metaphysik der Endlichkeit raucht hie und da in Gadamers Opus auf (vg1. PL,149,in einem Text, der von 1949 stammt). In seinen Lectures on Philosophícal Hetmeneutics (Pretoria, Van Schaik's Boekhandel, 7982,29) sieht Gadamer in ihr auch durchaus die Konsequenz seiner philosophischen Hermeneutik.
als Metaphysik der
Endlichket 239
talischen Auffassung des Denkens, das auf Seinsbeherrschung ausgerichtet sei. Die Idee des Schónen láBt uns jedoch einen ganz anderen Platon gewahren, der Gadamer auch immer náher lag. Es ist der Platon, der das Erkennen als Teilhabe an einem es überschreitenden Sein versteht und somit der menschüchen Endlichkeit gerechter wird: >In dieser Tiadition des Platonismus wurde das begriffliche Voka-
bular ausgebildet, dessen das Denken der Endlichkeit der menschlichen Existenz bedarf.< (WM,490) Es ist auch dieser Platon der Endlichkeitsmetaphysik, den Gadamer in nahezu all seinen anderen und spáteren Schriften zu Platon gegen die Heideggersche Lesart zur Geltung bringt, die mit Platon die Seins- und damit die Endlichkeitsvergessenheir anfangen láBt. In diesem SchluBabschnittvon Wahrheit und Methode beláBt es Gadamer durchweg bei spekulativ wirkenden Ausblicken,
aber gerade dieser Blick ins Weite ist lehrreich. Platons Schónheitslehre erlaubt es Gadamer zunáchst, die Metaphysik der Seinseinbezogenheit des Verstehens an den Horizont
der tfberlegungen über die Wahrheit der Kunst zurückzuknüpfen, die den Auftakt des Werkes bildeten. Dorr wurde ausgefiihrt, daB sich die Darstellung
-
d. h. sowohl der auffiih-
rende als auch der aufnehmende Vollzug des Verstehens vom Seins- und Wahrheitsanspruch des Kunstwerkes nicht abtrennen láBt. Die Darstellung kommt nicht zur Kunst und zu ihrem Sein hinzu, sie gehórt wesentlich zum Sinn, der gehórt und vollzogen werden will. Ebenso verhált es sich mit dem Schónen. Schón ist, was uns erleuchtet, uns einnimmt und anblickt. Die Unterscheidung zwischen dem BewuBtsein und dem'W'erk kommt immer za spit, wenn es darum geht, das Schóne zu fassen: Es liegt weder im schauenden Auge noch im'W'erk selbst, sondern es isr das Band oder der Zeuber,der beide zusamrnenhált. Ebenso wie uns das Kunstwerk in sein Spiel hineinzieht, ebenso gehórt das Verstehen zum Sein, das es versteht und das allein in diesem Vollzug seine Verstándlichkeit entfaltet. Beide gehóren zusammen. Es ist die objektive Scheidung zwischen dem Verstehen und seinem Gegenstand, zwischen dem'Werk und dem Schónen, die
240
Die Hermeneutik
Schlug
als Metaphysik der
Endlichkeit
241,
begiff, der hier an Format gewinnt. Gadamer faBt ihn von der rhetorischen Tradition der ílluminatío her. Nur sie wird der
Sinne eine wirkliche Erfahrung. Das Ergebnis des Schónen wie das hermeneutische Geschehen setzen beide die Endlichkeit der menschlichen Existenz grundsátzlich voraus.< (wM,488f.) Gadamers difftzlle Idee ist die, da8 das Licht, das uns hier erleuchtet und fesselt, zum Sein selbst gehórt, wie es sich immer schon in der Sprache herausgesetzthet. Es ist diese ontologische Zusammengehórigkeit der Sprache und des Seins,
Endlichkeit unseres Verstehens gerecht. Das W'ahre an sich, das injeder Hinsicht Gesicherte bleibt einer unendlichen Er-
metaphysik zu verstehen hilft, die uns darüber hinaus auch
am'Wesentlichen vorbeigeht, námlich an der Zugehórigkert des Verstehens zu einem >da<, das es festhált. Die Darstellung ist hier weniger eine Handlung der auf sich gestellten Subjek-
tivitát, sondern die Handlung des zu verstehenden
Seiñs
selbst.
Im selben Atemzug ist es der hermeneutische Wahrheits-
kenntnis überlassen, dessen einziges, fiir uns nachvollziehbares Beispiel das der mathematischen Erkenntnis ist.Die Wahrheit, die wir in Erfahrung bringen kónnen, gehórt zur Dimension des Einleuchtenden, des Wahrscheinlichen, das eine Wachsamkeit des BewuBtseins zutage fiirdert. Eine Endlichkeitshermeneutik kann nicht umhin, diesen der Rhetorik entlehnten B e griff des'W'ahrs cheinl ichen (u eri s í tnil e) zu r ehabilitieren und sein'W'ahrheitsmoment auszuloten: >Es ist rhetorische Tradition, der der Begriffdes Einleuchtens angehórt.Das eíkos, das uerísimile, das Wahr-Scheinliche, das Einleuchtende gehóren in eine Reihe, die dem'Wahren und Gewissen des Bewiesenen und Gewu8ten gegenüber ihre eigene Berechtigung verteidigt. [...] Ja, wie das Schóne eine Art Erfahrung ist, die wie eine Bezauberung und ein Abenteuer sich innerhalb des Ganzen unserer Erfahrung hervor- und aus ihm heraushebt und eine eigene Aufgabe der hermeneutischen Integration stellt,.ebenso ist offenbar auch das Einleuchtende immer etwas lJberraschendes, wie das Aufgehen eines neuen Lichtes, durch das sich der Bereich dessen erweitert, was in Betracht kommt. Die hermeneutische Erfahrung gehórt in diesen Bereich, weil auch sie das Geschehen einer echten Erfahrung ist. DaB
an etwas Gesagtem etwas einleuchtet, ohne deshalb nach jeder Richtung gesichert, beurteilt und entschieden zu sein, trifft in der Tat überall zu, wo uns aus der Überlieferung etwas anspricht. Das Überlieferte bringt sich in seinem Recht zur Geltung, indem es verstanden wird, und verschiebt den Horizont, der uns bis dahin umschloB. Es ist in dem aufgezeigten
das
verstanden werden kann, das die platonische Schónheits-
vermittelt, inwiefern diese Zusammengehórigkeit die menschliche Endlichkeit zur Voraussetzung hat. Das Schóne als Transzendentales, als ldee, verweist námlich auf eine Seinsordnung hin, die noch den Verstehenden mit einschlieBt. Es ist auch kein Zufall, stellt Gadamer fest,wenn das Schóne zunáchst als eine Seinsordung wahrgenommen wurde, bevor es als >Gegenstand< einer künstlerischen Produktion und eines 'W'enn ásthetischen Gefiihls konstruiert wurde. das Naturschóne aufgehórt hat, das Paradigma fiir die moderne Ásthetik abzugeben, liegt es daran, daB die Wirklichkeit selbst auf eine formlose, von mechanischen Gesetzen regulierte Masse ontologisch reduziert wurde (vgl. WM, 483). Das ist die nominalistische, an sich sinnlose und damit instrumentell gewordene 'W'irklichkeit. In ihr verliert das Schóne jeglichen Seinsrang. Es wird nur noch eine Eigenschaft des menschlichen Vorstellungsvermógens, ein Gefiihl oder ein freies Spiel ohne Zugriff auf die harte Wirklichkeit. Das Schóne bringt der Künstler hervor, wenn er eine produktive Einstellung gegenüber der an sich sinnlosen Wirklichkeit einnimmt: So wird er selbst zum Produzenten, zum Schópfer einer Schónheit, die ohne ihn kein Sein hátte. So bleibt sie eine >Fiktion< des Künstlers.'Wie oben ausgefiihrt, hat dieses ásthetische BewuBtsein an der mechanischen Denkweise des modernen Nominalismus teil, die die'W'elt als eine in sich formlose und damit unendlich beherrschbare Masse vergegenstándlicht, aus der das Subjekt vertrieben wird. Mit seiner Erinnerung an Platons Schónheitslehre und an die aus ihr im Mittelalter abgeleiteten Transzendentalienlehre móchte Gadamer den ein-
242
Schluc
seitigen Instrumentalismus des modernen Denkens überwinden, der das Verstehen von dem Sinn und dem Sein, das es anspricht, abschneidet. Das GroBartige an der platonischen Idee des Guten ist, daB
sie sowohl die Tianszendenz des uns Einleuchtenden, die Tianszendenz also der Idee, als auch ihre Verkórperung oder sinnliche Manifestation auf dem Boden unserer Endlichkeit hervorkehrt. Platon schreibt bekanntlich in seinem Dialog Philebos, dem Gadamer 1,931, sein erstes Buch widmete und mit dem Wahrheít und Methode schlieBt, daB die fiir uns ungreifbare und unsichtbare Idee des Guten eine Zuflucht in die Idee des Schónen gefunden hat, wo sie von uns bewundert werden kann. Es gehórt námlich zum'Wesen des Schónen, daB es erscheint und hervorleuchtet.'W'as sich aber da maniGstiert und uns einnimmt, geht über unsere Fassungskraft hinaus, weil wir die Gefesselten bleiben. Die Idee des Schónen unterstreicht im selben Atemzug sowohl die notwendig sinnliche und materi¿le Manifestation der Idee als auch ihre Transzendenz, weil das Schóne immer hervorleuchtet und sich gegenüber der uns umgebenden MittelmáBigkeit abhebt. In Gadamers'W'orten:-Wenn es hier offensichtlich einen Hiat (charkmos) zwischen Sinnlichem und Ideellem gibt, hier wird er zugleich auch geschlossen IVM,485). Das Schóne ist also ein Sein, das im Sinnlichen leuchtet, es ist das am meisten Hervorleuchtende (ekphanestatott). Dieses Licht gehórt freilich zum hervorleuchtenden Sein, aber es bezieht auch die menschliche Intelligenz in ihre Lichtung mit ein. Ein Leuchten ist immer ein Leuchten fiirjemanden oder eine Lichtung, in der man steht. So wird das hier beleuchtete Verstehen in erster Linie vom Licht des Seins erhellt, aber so, daB sich die Quel1e des Lichtes,in der das Sein und das Verstehen zugleich stehen, nicht mehr chirurgisch aufteilen láBt: Sein wird verstanden und ist nur in diesem Verstehen da, und zwar so, daB das Verstehen immer beim Sein bleibt. Es sei wiederholt, daB Gadamer mit diesen schwierigen Gedanken nicht die Absicht verfolgt, eine platonische Seinsmetaphysik zu erneuern, fiir die das Sein an sich reines Licht wáre. Nichts liegt unserer endlichen Erfahrung ferner als die
I
Die F{e¡meneutik
als Metaphysik der
Endlichke¡t 243
Vorstellung eines Seins, das nur Licht wárel Gadamer bezieht sich vielmehr auf die platonische Lichtmetaphysik, um die unvordenkliche Vorgángigkeit des das Sein und das Verstehen ums chlieB enden Li chtes j e dem refl exiv en Zugr iff der obj ektivierenden Subjektivitát gegenüber zu denken. Diese unvordenkliche Zusammengehórigkeit ist nach Gadamer die Leistung der Sprache und die Leistung unserer sprachlichen und damit endlichen Welterfahrung. Das Licht, das die Sachen erscheinen láBt, ist somir immer >das Licht des 'W'ortes(. Gadamers Grundgedanke ist hier, da8 dieses Licht der Sprache immer schon von den Sachen ausgeht, wie wir sie erfahren kónnen. Man hat die Tendenz, in der Sprache eine intellektualistische Formierung einer Wirklichkeit zu sehen, die >an sich< dieser Formierung, ja dieser Erfindung unseres
Intellektes gegenüber gleichgültig oder fremd wáre. Die Lichtmetaphysik hilft uns, die gleichsam práinstrumentelle Solidaritát von Sein und Wort zu versrehen: >Das Licht, das alles so hervortreten láBt, daB es in sich selbst einleuchtend und in sich verstándlich isr, ist das Licht des Wortes. Auf die Lichtmetaphysik ist also die enge Beziehung begründet, die zwischen dem Vorscheinen des Schónen und dem Einleuchtenden des Verstándlichen besteht. Eben diese Beziehung aber hatte uns in unserer hermeneutischen Fragestellung geleitet.< (WM, 487) Im unfaBlichen Licht des-W'ortes wird das Sein Sprache, wie umgekehrt die Sprache immer schon die des Seins ist.
Gadamer wird sich erneut in diesem Zusammenhang auf Augustin berufen, der diese Inkarnation des Seins als Sprache in seinem Genesis-Kommentar bedacht hatte. Augustin hebt dort hervor, da8 das Licht geschaffen wurde, bevor die Dinge unterschieden wurden.l2s Die vorherige Schópfutrg ,ro, Himmel und Erde erfolgte noch ohne das Wort Gortes. Erst mit der Erschaffung des Lichtes trim auch das Wort Gottes in tza 1¡r¡i1, 487.Frenz Rosenzweig wurde auch von dieser Gleichzei-
tigkeit von Gotteswort und der Erschaffung der Dinge (>er sprach, und wardo) in seiner tiefsinnigen Genesisanalyse eingenommen. Siehe Der Stern der Erliisurag (1921), $ 139, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1988, 16gf. es
244
Schtu¡
Erscheinung. Denn erst das Licht oder die'Wahrheit des Wortes macht es móglich, die seienden Dinge voneinander zu unterscheiden. Das Sein profiliert sich immer schon auf dem Horizont einer móglichen Verstándlichkeit, die die einer móglichen Sagbarkeit ist. Es sind diese zugegebenerma8en difEzilen Ausfiihrungen Gadamers, die den Eindruck hervorrufen mochten, seine Flermeneutik sei ausgerichtet auf eine restlose und totalisierende Intelligibilitát des Seins und entpuppe sich damit als ein neuer F{egelianismus. Die Bezugnahme auf die Lichtmetaphysik (l) des Platonismus schien dem Vorschub zu leisten. In Wahrheit ist es aber nicht ein neues {Jnendlichkeitsdenken, sondern eine Metaphysik der Endlichkeit, die Gadamer damit anbahnen wollte. Die Sprache, die uns das Sein verstehen láBt, ist nicht ein uns zur Verfiigung stehendes Werkzeug. Es ist das an sich selbst unverstándliche Licht,in dem sich das Sein gibt. Dieses Licht ist nicht mit einer integrativen Verstándlichkeit zu verwechseln. Licht gibt es nur vor dem Hintergrund einer weit umfassenderen Dunkelheit. Ein zu starkes Licht bewirkt sogar eine Verblendung, so daB wir nichts mehr sehen kónnen. Die Gunst des Lichtes bleibt ihrerseits eine Überhellung zuungunsten dessen, was im Dunkeln bleibt. Das ist die jeder
Rede, jedem Verstehen innewohnende ungerechtigkeit. Aber die Rede,die wir halten und die uns hált,ist nie das letzte 'W'ort über das Sein. Wie der Titel des letzten Abschnittes von Wahrheít und Methode (>Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie<) lehrt, ist Sprache fiir uns nur der Horizont des Seins.Wis ist ein Horizont? Es ist die umfassende'Weite, die uns eine Sicht ermóglicht, die aber zugleich die Grenzen dessen markiert, was wir sehen kónnen. Aber der Horizont bewegt sich mit uns mit. Man kann seinen Horizont ausweiten, andere 'W'orte und besseres Schweigen suchen, um das Sein auszusagen, das ausgesagt werden sollte. Es gibt aber keinen Horizont, um den Horizont selbst zu sehen und zu thematisieren. Man verfállt einer instrumentellen Denkweise, wenn man an der Hermeneutik aussetzt, da8 sie im Horizont der Sprache verharre. Allein ein instrumentelles oder góttliches, was hier fast auf dasselbe hinausláuft,- Den-
-
Die Hermeneutik
als Metaphysik der
Endlichkeit 245
ken kann hoffen, den Horizont einer zumindest móglichen Sprache zu überschreiten. Die Hermeneutik ist ein Denken der Endlichkeit und damit der Sprachlichkeit. Man leidet zwar unheimlich unter der Grenze der Sprache, aber sie wird sich nicht transzendieren lassen. Dieses BewuBtsein der Grenze ist auch das unserer Sterblichkeit, die immer auf verschobene Weise prásent ist. Aber der Horizont der Sprachlichkeit, der sich nicht überwinden láBt, láBt sich zumindest erweitern. So bleibt es stets
móglich und geboten, sich über seine Partikularitáten und seine immer zu einseitigen Konzeptionen zu erheben. Die Endlichkeit findet sich damit zu einer unaufhaltsamen Wachsamkeit aufgefordert. Die der Endlichkeit zuerkannte (Jniversalitát ist auch die der Wachsamkeit, die sie wachruft.
I
Bibliographie Für eine voüstlndige Bibliographie aller Veróffentüchungen von Gadamer bis 1994, vgl. Etsuro Makita, Gadamer-Bibliographíe (19221994), Frankfurt, Peter Lmg,7995. Für eine Úbersicht der Sekundárliteratur zu Gadameq vgl. J. M. Aguirre-Ora, rBibliografia de y sobre Hans-Georg Gadamer<, Scritproium Victoriense 39 (1992),300345;H. Volat-Shapiro, rGadamer and Hermeneutics. A Bibliogra-
in H. Silvermann (Hrsg.), Cadamer and Hermeneutia, London, Routledge, 7991; M. Ferraris, Storía dell'Ermeneutíea, Milano, Bomphy<,
piani, 1988. Gadamer gewidmete Websites sind: http : / /www. svcc. edu/academics/ classes/ gadamer/ Gadbib. html und http /,/www.ms.kuki.sut.ac jplKMSLab/ rnakita/ gadamerd.html :
Die Ausgabe der Gesammelten'Werke Von 1985 bis 1995 erschien eine zehnbándige Ausgabe der Gesammelten'Werke von Gadamer, von der es seit 1999 eine preiswerte Taschenbuchausgabe (UTB 2115) gibt. Es handelt sich nicht um eine Gesamtausgabe (wie beispielsweise im Falle von Heidegger), da der Autor jene Arbeiten beiseite lie8, die er fiir weniger wichtig hielt. Als eine rAusgabe letzter Hand< enthált sie auch Korrekturen zu den bereits veróffentlichten Schriften.
l.
I: Wahrheit und Methode: Grunilzüge einer philosophiHermeneutih,I986,2. Aufl.1990 [die Ausgabe von 1986 war die 5. Auflage von Wahrheit und Methode (1960); sie erschien aber ohne das Vorwort atr 2. Arfltge, ohne die Nachworte von7965 undl972 und ohne die rExkurse<, die in den friiheren Ausgaben zum'W'erk gehórten; sie 6nden sich nunmehr in Band 2]. Hermeneutik
schen
248 lI. 2.
Bibliographie 249
Bibliographie
H erm eneu ti k II : Wahrheí t u ntl Metho
d e.
Ergánz
u nge
n, Regis te r, L986,
Aufl. 1993 [versamrnelt Gadamers wichtrgste Aufiátze zur Her-
meneutik, darunter
das
Vorwort von 1965, die Nachworte von 1965
undl972,eine Selbstdarstellung von 1973 und eine Selbstkritik von 1
e861.
lIl.
Neuere Phílosophie
I:
Hegel- Husserl- Heídeger, 1987 [enthált
Gadamers AuÍlátze über die drei gro8en >Hs< der deutschen
Philo-
sophie, fiinf über Hegel, drei über Husse¡l und nicht weniger als zwanzíg über Heide gger]. Probleme- Gestalten, 1987 pietet Aufsátze das Rátsel der Zeir, die Ethik, die Anthropologie und Texte über Herder, Oetinger, Kant, Schleiermacher, Hegel, Dilthey und Nietzschel.
IY.
Neuere Philosophíe
II:
über den Begriffder Geschichte,
Y.
985 [enthált Gadamers Habi]itationsa¡beit über >Platos dialektische Ethiko (1931) sowie Gadamers álteste Studien zur griechischen Philosophie (1927-1942)1. Griechische Philosophíe I,
YI.
1
Griechísche Philosophíe11,1985 [versammelt neuere
Studien Ga-
Wichtige Bücher, die einzeln erschienen sind
k
Publications universitaires Louvain / Paris, éditions Béatrice-Nauwelaerts, 1963, Neuausgabe: Seuil,1996 [fiinfVortráge über das Problem des geschichtlichen Bewu8tseins, die 1957 in Lówen vorgetragen wurden]. DieVernunft im Zeítalter derWissenschaft, Frankfurt a. M., Suhrkamp, probléme de la consdence historique,Paris, de
1976. Philosophische Leh(ahre (1977), Frankfurt a. 1977. Poetica, Frankfirt a. M., Insel,7977 .
Die Aktualitat des Sehónen, Stuttgart, Reclam, 1977 (erzt
a.
M., Suh¡kamp,1993.
Cadamer-I-esebuch,hrsg. v. Jean Grondin, Tübingen,
D e r Anfang
über die griechische Philosophie und vor allem über Plato; Gadamers letzte Studien zu den Griechen sind hier versammelt (1978leel)1.
YIll.
Ásthetik und Poetikl: Kunst als Aussage,1993 [diese AuÍiátze bieten die vollstándigste Konzeption der Gadamerschen Ásthetik;sie ergánzen den Ersten Teilvon Wahrheit und Methode zur Ásthetik].
IX. Asthetik und PoetikII: Henneneutík imVollzug,l993 [Gadamers oangewandteo Poetik; sie bietet Interpretationen zu Autoren wie Hólderlin, Goethe, Bach, Aischylos, Karl Immermann, Kleist, George, Rilke, Hilde Domin, Ernst Meister, Kafka und Celanl.
Mohr Siebeck,
1997. Der AnJang der Philosophie, Stuttgart,
Plato im Dialog,1991 [das Reifewerk
8,
Lob derTheorie: Reden und Aufsiitze,Frankfirt a. M., Suhrkamp, 1983. Das Erbe Europas: Beitriig¿, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1989. Ub er die Verborgenheit d er Ges undheit : AuJsiitze und Vortriige, Frankfurt
YIl.
III:
in GV/
e4-142).
damers zur griechischen Philosophie (1936-1982)1. Griechische Philosophie
M., V Klostermann,
Reclam,l997.
Reclam, 1999 . Hermeneutische Entwürfe,'I ibíngen, Mohr Siebeck, 2000.
Gadamer
d es
Wi s s en s,Stuttgart,
in der Diskussion
Ein wichtiger Teil des Gadamerschen.Werkes und seiner'W'irkungsgeschichte besteht in den Diskussionen mit wichtigen Zeitgenossen Gadamers. Es lassen sich insbesondere die Debatten mit Emilio Berti (über die methodologische Zwecksetzung der Hermeneutik), Jürgen Habermas (zur Ideologiekritik) und Jacques Derrida (zur Dekonstruktion) herausheben. 12e
X.
Zu Betti
schaftl.
Direkt ausgelóst wurde diese Debatte durch Bettis Bezugnahme auf Heidegger, Bultmann und Gadamer in seiner Streitschrift: Die Her-
Hermeneutik im Rückblick, 1995 [neuere Texte über Heidegger und Derrida, Aufsátze über >Die hermeneutische'Wenden, die praktische Philosophie und die Stellung der Philosophie in der Gesell-
l2e p¡. eine Rekapitulierung dieser Debatten in hermeneutischer Sicht, vgl. meine EinJiihrung in die philosophische Hermeneutlk (Darmstadt I99 1, 2. Aufl . 2001 ), Kapitel VII : >Die Hermeneutik im Gesprách<.
250
I
Bibliographie
meneutíle als allgemeine Metho dík der Geis teswissenschaften, Tübingen, 1962. Dieses Werk ging aber auf áltere Studien von Betti zurück, insb. auf den Beitrag Zur Grundlegung einer allgemeinen
Mohr Siebeck,
Tübingen, Moh¡ Siebeck, 1988, und auf die Schrlft Tboria generale della interpretazíone (1955), die 1967 auf
Auslegungslehre (1954),
Deutsch unter dem Titel Allgemeíne Auslegungslehre als Methodik det Ceis te swí s s ens damers
chaft en,
T nbíngen,
Mohr
Sieb
eck, 1 967 erschien. G a-
Antworten auf Betti sind insbesondere:
,>Hermeneutik und Historismus< (1961), in GW 2,387-424. Vorwort zw 2. A:uflage von WM (1965), in GW 2, 437-448. Nachwort zur 3. Auflage von WM (1972),in GW 2' 449-478. >Betti und das idealistische Erbe< (1978),in Quadetni Fiorentíni7 (197 8), 5-11 ; wiederabgedruckt als Nachwort zur Neuausgabe von E. Betti, Zur Grundlegung eíner allgemeínen Auslegungslehre (1954), Tübingen, Mohr Siebeck, 1988,91-98.
Zu Habermas
>Rhetorik, Hermeneutik und ldeologiekritik. Metakritische Eró¡terungen zu Wahrheit und Methode< (1967),inGW 2,219-231. >Replik zu Hermeneutik und ldeologiekritik( (1971)' in GW 2' 251-275. Nachwort zur 3. Auflage vonWM (1972),ínGW 2,449-478. Spátere, sehr beachtenswerte Spuren der Auseinandersetzung von Habermas mit der Hermeneutik finden sich inJ. Habermas,Theoríe des kommuxikatiuen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1981,192-1'96; und zuletzt: rWie ist nach dem Historismus noch Metaphysik móglich? Zum 100. Geburtstag Hans-Georg Ga-
in
Neue Zürcher Zeitung,
25t
Zu Derrida Auf Deutsch fanden die Beitráge der Gadamer-Derrida-Begegnung von 1981 in Paris erstmals ihre Dokumentation in P. Forget (Hrsg.), Text und Interpretatíon, München, Fink-UTB, 1984. Gadamers Debatte mit Derrida sind die folgenden, spáteren Texte gewidmet:
Interpretation( (1981,1984); erweiterte Fassung des Texin GW 2,330-360. >und dennoch: Macht des guten Willens< (1981,1984), in P. Forget nText und
tes des Forget-Sammelbandes
(ebd.), 5e-61. >Destruktion und Dekonstruktion< (1985), in GW 2, 367-372. >Dekonstruktion und Hermeneutik( (1988), in A. Gethmann-Siefert (Hrsg.), Philosophie und Poesie. Ouo Pógeler zum 60. Geburtstag, Stuttgart, Frommann-Holzboog, 1988, Bd. 1,3-15; wiederaufgenommen in GW 10,138-147 (dieser Text erschien zuerst unter dem Titel >Letter to Dallmayr< (1985), in dem von Diane Michelfelder und Richard Palmer herausgegebenen Sammelband Díalogue and Deconstructíon, Nbany, SUNY Press, 1989,93-
Diese Debatte geht zurück auf Habermas' Kritik an Wahrheit und Metho de inseinem Forschungsbe richt Zur Logik der So z ialwis senschaf' ten (1967) und in seinem Beitrag >Der (Jniversalitátsanspruch der Hermeneutik<{ (1970),der in der Gadamer-Festschrift von 7970 er' schienen ist. Die wichtigsten Texte von Habermas, Gadamer und anderen Beteiligten wurden in dem Sammelband Henneneutik und Ideologiekritík, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 7977 abgedruckt. Gadamers wichtigste Stellungnahmen dazu sind:
damers,
Bibliographie
I2./
13. Februar 2000.
101.
r¡Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus< (1987), in GW 10, 1995,125-137 (erschien zunáchst unter dem Titel >Hermeneutics and Logocentrism<, in Dialogue and Deconstruction, 114-125).
>Hermeneutik auf der Spur< (1994), in GW 10,148-174. ,Hermeneutik und Dekonstruktion<, noch unveróffentlichter Vortrag von Gadamer in Paris am17. 77. 1993.
'Wichtige
Interviews Gadamers
Für eine vollstándigere Liste, siehe meine Gadamer-Biographie (Hans-Georg Gadanter. Eine Bíographle, Tübingen, Mohr Siebeck, 1999),410-413. Hans-Georg Gadamer wird 80: Gesprách mit dem Philosophen, in Kiilner Stadt- Anzeiger, 9. / 10. Februar 1 980. Interview mit Hans-Georg Gadamer. Cord Barkhausen spricht mit Hans-Georg Gadamer, in Sprache und Líteratur inWíssenschaJt und Unteruicht, Paderborn, Schóning / München, W Fink,57,1986, 90-100. Wir dürfen doch ein Streitgesprách fiihren? Gesprách mit dem Heidelberger Philosophen H.-G. Gadame¡ in Communale. Heídelberger Wochenzeitung 29, 79.
Juli 1 986, 9.
252
Bibliographie 253
Bibliographie
Die verbindenden Solidaritdten sind nicht wirklich lebendig. Gesprách mit dem Heideiberger Philosophen H.-G. Gadamer, in Comtnunale. Heidelberger Wochenzeitung 30, 24. Juli 1986,9. Traditionen sind der Wissenschaft oftmals weit überlegen. Ein Gesprách mit dem Heidelberger Philosophen H.-G. Gadamer, in Bild derWíssenschaft 6 (1.986), 80-88. >... die wirk-lichen Nazis hatten doch überhaupt kein Interesse an unso. Hans-Georg Gadamer im Gesprdch mit Dórte von Westernhagen, tn Das Argument 182 (1990),543-555. Die Kunst, unrecht haben zu kónnen. Gesprách mit dem Philosophen Hans-Georg Gadamer, in Süddeutsche Zeitung, 10./11. Februar 1990, Feuilleton, 16; repr. in Infornatíon Philosophie,l99l / 3, 21-28. Gesprách mit Hans-Georg Gadamer [mit Sebastian Kleinschmidt], in Slr¿n und Form 43 (1991),487-500.
Hans-Ceorg Gadamer on Education, Poetry, and History. Applied Hertneneutics,edited by Dieter Misgeld and Graeme Nicholson, Albany, SUNY Press, 1992 (vier Interviews: The German University and German Politics. The Case of Heidegger, 3-14; lfriting and the
Living Voice, 63-71: Historicism and Romanticism, 125-131; The 1920s, 1930s, and the Present: National Socialism, German History, and German Culture, 135-153). Hans-Ceorg Catlamer ím Cesprdch: Hennctrcutik Philosophie ,hrsg.
-
Asthetik
von Carsten Dutt, Heidelberg, Carl
-
Praktische
.W'inter
Ver-
Lag,1993.
>Die Kindheit wacht auf.< Gesprách mit dem Philosophen HansGeorg Gadamer,in Die Zeít,26. 3. 1993,22f. Hans-Georg Gadamer, >Die Griechen, unsere Lehrer.< Ein Gesprách
mit Glenn 1.994/
'W.
Most, 1,139-149.
,...
in
Internatioilale Zeitsclvift -ftir Philosophie,
nein, das letzte Wort will ich gar nicht haben.n Ein Gesprách mit dem Philosophen Hans-Georg Gadarner über die gewaltlose Macht der Sprache, in Frankfurter Rwtdschau,ll. 2. 1.995,8. Breslauer Studienjahre. Hans-Georg Gadamer im Gesprách [mit R. Grassll, in Pádagogtsche Rundschau 51. (1.997),115-139. Dirlogischer Rückblick auf das Gesammelte'Werk und dessen Wirkungsgeschichte,in Cadarner-Lesebuch,hrsg. v. J. Grondin,Tübingen, Mohr Siebeck, 1997,280-295. Gadamer: ¡Viracconto questo secolo aggrappato a1 Titanic< (Gesprách mit Antonio Gnoli und Franco Volpi) , in La Repubblica,
2. September 1999.
im Gesprách mit Heimo Schwilk und Günter Figal, in Welt am \onntag,16.12.1,999. rFreiheit braucht Freiráume. Hans-Georg Gadamer wird heute hundert Jahr alt - RNZ-Cesprách mit dem Heidelberger Philor'Was bleibt?< Hans-Georg Gadamer
sophenn,
von Dieter Roth und Heribert Vogt,
Zeitung 34,
11..
in
Rhein-Neckar-
2. 2000.
Einschlágige Sekundárliteratur zu Gadamer Albert, H., Kritik
der reínen Hermeneutik, Tübingen, Mohr Siebeck, 1994. Apel, K.-O., rRegulative Ideas or Truth Happening? An Attempt to Answer the Question of the Conditions ofthe Possibility of Valid Understandin gn, in The Philosophy o-f Hans - Ceorg Gadamer, The Library of Living Philosophers, LaSalle, Il., Open Court Publishing, 1997, 67-94; dt: rRegulative Ideen oder Wahrheitsgeschehen? Zu Gadamers Versuch, die Frage nach den Beclirrgurrgen der Móglichkeit gültigen Verstehens zu beantwoltcn., in l)ers., Auseínandersetzungen ín Erprobung des trattszcndc tt d pr,lqrtt,rt
Frankfurt a. M.,1998, 569-607. Bernasconi, Il., >Bridging the Abyss: Heidegger and ()¿durrrcrn, irr Research in Phenomenology 16 (1986),1-24. Bernstein, R.J., Beyond Olt jectiuism and Relatipism: Scicttrt', Ilcntn'ttttttics and Praxrs, Philadelphia University of Pennsylvania l)rcss, 1988,261-265 (mit einem Brief von Gadamer). Da Re, A., L'ermeneutíca dí Cadamer c la-fiktsofia pratica, Rinrini, Magglioli,1982. tisdrcn Ansatze5
Caputo, J.D., Radical Hermeneutícs. Repetitiotr, Deconstructiort, and tlrc Henneneutic Project, lndiana University Press, 1 987. Di Censo, J., Heuneneutics and the Disclosure oJTiuth. A Study in the Work qf Heideger, Cadaner and Ritoeur, Charlotteville, University Press of Virginía, 1990. Dockhorn, K., Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, in Có t tittgs ch e Cel
e
h rte
A
n
z
e
ige n 21
8
(1 9 6
6),
1
69 -2fJ 6.
Dostal, R.J., >The W'orld Never Lost: The Hermeneutics of Trust<, in Plilosoplry and Phenomenologícal Research 47 (1,987),413-434. Fehér, I. M., rHermeneutik und Philologie. Verstándnis der Sachen, Verstándnis des Textes(, in Berliner Beitriige zur Hurryarologie, Ber-
linlBudapest, 1999, 11-25. Ferraris, M., S¡orir¡ dell'ermeneutiu, Milano, Bonpiani, 1988.
254
Bibliographie 255
Bibliographie
Figal, G., Der Siwt desWrstehens, Beitrrige zur hermeneutischen Philosophie, Sttttgart, Reciam, 1 996. Gallagher, S., Hermeneutics and Education, Aibany, SUNY Press, 1994. Grondin, J., Einfüluung in díe phílosophische Hermeneu¡ik, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991, 2. Auflage 2000. -, Der Süurfür Hermeneutik, Darmstadt, Wissenschaftiiche Buchgesellschaft, 1 994. -, Hans-Ceorg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen, Mohr Siebeck, 1999. Hammermeister,K., Hans-Ceorg Cadamer, München, Beck, 2000. Hirsch, E. D., Prinzipien der Interyretdtíorr, München, UTB,1972. Hofer, M., Niichstenliebe, Freundschaft, Ceselligkeít : Wrstehen und Anerkennen beí Abel, Cadamer untl Schleiermacher, München, Fink, 1998. Kaegi, D., >Was heiBt und zu welchem Ende studiert man phrlosophische Hermeneutik?<, rn Philosophísche Rundscltau 41. (1.994) 1.16-132.
Maclntyre, A., >Contexts of Interpretation. Reflections on HansGeorg Gadamert Truth and Methodo, in Bostott UníuersítyJournal 24 (1976),4r-46. Marquard, O., Abschied uom Prinzipiellen, Stuttgart, Reclam, 1 98I . Moratalla, A. D.,El arte de poder no tener razón. La lrcnnenéutica díalógíca tle H, - G. C adamer,Salamanca, Publicaciones ljniversidad Pontifi ca de Salamanca,1991. Palmer,
R. E.,
Hermeneutics, lnterpretatíortTheory
they, Heidegger and Cadamer, Evanston,
h
Schleiermacher,
Dil-
Northwestern University
Press,1969.
Renaud, F., Die Resokratisierung Platons. Die platonische Herrneneutik Hans-Georg Cadamers,Sankt Augustin, Academia, 1999.
Sullivan, R., Political Henneneutirs:The Early Thinking of Hans-Ceorg Cadamer, University Park, Penn State University Press, 1990. Thiselton, A. C., The Two Horizons. Neut Testament Hermeneutics and Philosophical Descriptíon utíth special Reference to Heidegger, Bultmann,
Cadanter and Wittgensteín, Exeter, The Paternoster Press, 1980.
Tietz, U., Hans-Ceorg Gadamer zur Ein_führung, Hamburg, Junius, 2000. 'W'arnke,
G., Cadaner : Hertneneutics, Tiaditíon and Reason, Cambridge Polity Press,1987. -, >Legitinrate Prejudiceso, tn Laudl théologique et philosophique 53 (19e7),89-102. 'W'einsheinrer, J., Cadamer\ Hernteneutícs. A Reading ofTiuth and Met/¡od, New Haven, Yale University Press, 1 985.
Sammelbánde und Zeitschriftenausgaben,
die Gadamer (bzw. der Hermeneutik) gewidmet sind Harnteneutik und Dialektik,2 Bánde, Tübingen, Mohr Siebeck, 1970. Herneneutik und ldeologiekri¡iÉ, Frankfurt a. M., Suhrkarnp, 1()7 I Die antíke Philosophíe ín ihrer Bedeututry-fAr die Cegernuut: Kollo,¡rritrrtt .
zu Ehren des 80. Ceburtstages uott Hans-Ceorg Culuttt'r,lrlsg. v,rrr R. Wiehl, Heidelberg, Carl Winter Verlag, 19fi0. Herrueneulics. Questíotts artd Prospects,hrsg.von G. Shapixr t¡¡rrl A. Sir':r,
Amherst, The University of Massachusetts l)ress, l9tl4. de philosophíe 5't (1,984) (enthált tlic fl':rrrziisist lrcn Texte der Gadamer-Derrida-Begegnung).
Reuue internationale
Uli-
Ripanti, G., Gadaner, Assisi, Citadella Ed.,1978.
Hermeneutics antl Praxís, hrsg.
Risser,J., Hermeneutics and theVoice of the Other. Re-reading Gadamer's
versity of Notre Dame Press, 1985. Hertnetrcutics and Modern Phílosophy, hrsg. von B. R. Wachterhauser, Albany, SUNY Press, 1986.
Philosophícal Hermeneutícs, Albany,
SUNY
Press, 1997.
Sansonetti, G.,Il pensiero dí Hans-Georg Cadarner, Brescia, Morcelliana,1988. Schmidt, L.K., The Epistemology of Hans-Ceorg ()adarner. An Analysis o_f the Legitímization ofVorurteile, Frankíurt, Peter Lang, 1987. Smith, P. C., rThe Ethical Dimension of Gadamer's Hermeneutical Theoryo,in Research in Phenomenology 18 (1988),75-92. Herrneneutics and Human Finítude:Toutard an EthicalTheory of Un-, derstanding, New York, Fordham Universiry Press, 1 991 . Strauss, L. / H.-G. Gadamer, >Correspondence concerning Wahrheit und Metho
d e<,
in
Indep end ent J o urnal of Phi
Io s
ophy 2 (197 8), 5-12.
von R. Hollinger, Notrc l)anlc,
Internatit¡nal Philosophícal Quarterly 27 / 1. (1.987). Dialogue and Deconstructíon.The Gadamer-Derrida Encounter,hrsg. von D. Michelfelder und R. E. Palmer, Albany, SUNY Press, 1989. Festiuals of Interpretation. Essays on Hans-Ceorg Gadamer\ Work,hrsg. von K. Wright, Albany, SUNY Press, 1990. Arclúues de philosophie 53 (1990). Wrstehen und Cesclrchen: Symposiur-rr aus AnlaB des 90. Geburtstages
von Hans-Georg Gadamer,
Jahresgabe
Gesellschaft 1 990, Heidelberg, 1 991
.
der Martin-Heidegger-
256
Bibliographie 257
Bibliographie
Cadamer and Hermeneutics,hrsg.
ledge, 1991. Dilthey-Jahrbuch
von H. Silverman, New York, Rout-
8,1992-93, hrsg. von
F.
Rodi, Góttingen, Vanden-
hoeck und Ruprecht. Comprendre et interpréter. Le paradigme herméneutique de Ia raison,hrsg. von J. Greisch, Paris, Beauchesne, 1993. Hermeneutícs and Tiuth, hrsg. von B. R. Wachterhauser, Chicago,
Northwestern University Press, 1 994. The Specter of Relatíuism.Tiuth, Dialogue and Phrcnesis ín Phílosophical Hermeneutics, hrsg. von L. K. Schmidt, Northwestern university Studies in Phenomenology & Existential Philosophy, Evanston, Illinois, Northwestern Universiry Press, 1995. Internationale Zeítschr¡Ít für Philosophie,7996 (Heft 2). The Philosophy of Hans-Georg GadameLThe Library of Living Philosophers, XXI, hrsg. von L. E. Hahn, La Salle, Illinois, Open Court Publishing, 1997. Laual théologique et philosophique 53 / I , février L997 . Figal, G. /J. Grondin / D. Schmidt (Hrsg.), HermeneutischeWege,Tibingen, Mohr Siebeck, 2000. Figal, G. (Hrsg.) , Begegnungen mit Hans- Georg Gadamer, Stuttgart,
Re-
clam,2000. Reuue intemationale de philosophie 67 (2000). Dostal, R. (Hr sg.), Th e C amb ri dge C omp anio n t o C a d am er, Cambridge,
Cambridge Universiry Press, 2001. Krajewski, B. (Hrsg.), Gadamer at 1)),Berkeley, University of California Press, 2001.
Zur Ásthetik bei Gadamer >Zv Fragwürdigkeit der Transzendierung der ásthetischen Dimension der Kunst<, in Philosophische Rundschau 70
Becker, O.,
(1962),225-238. Fehér, I. M., >Gadamers Destruktion der Asthetik im Zusammenhang seiner philosophischen Neubegründung der Geisteswissenschaftenu, in Denkwege, hrsg. von D. Koch, Tübingen, Attempto,
-,
7998,25-54. >Kunst, Ásthetik und Literatur in der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers <, in Epoche - T¿xt - Mo dalíriit. Dk kurs der Moderne üt der ungarisehen Literuturutissenschaft, hrsg. von E. Kulcsár und M. Szegedy-Maszák, Tübingen, Niemeyer, 1999,
1-49.
Grondin, J., >Das innere Ohr. Distanz und Selbstreflexion in der Hermeneutik<,,ín Denken der Indíuidualílá/. Festschrift fiir Josef Simon zum 65. Geburtstag, Berlin, De Gruyter, 1995 ,325-334.
-,
uSpiel, Fest, Ritual bei Gadamer. Zum Motiv des Unvordenklichen in seinem Spátwerk(, in Homo Ludens 8 (1998), 43-52. -, Hans Georg Gadamer,in Ásthetik und Kunstphilosophie von derAntike bis zur Cegenwart in Einzeldarstellungen,hrsg.von J. Nida-Rümelin und M. Betzler, Stuttgart, Króner, 1998, 294-302. Jauss, H. R., Ásthetísehe Erfahrung und literarísche Hermeneutik,Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1982. Michelfelder, D. P., >Gadamer on Heidegger on Art<, in TPHGG,
437-4s6. Stambaugh, J., rGadamer on rhe Beautiful<, in
TPHGG,731-134.
Weinsheimer,J. / K. Wrighr /J. Grondin,Drei Aufsátze zumThema >Gadamer and the Truth ofArt<, in Encyclopedia oJAesthetics,hrsg. von M. Kelly, vol. II, New York, Oxford UP,1998,261-271.
Z'rm Wahrheitsbegriff bei Gadamer Dostal, R., >The Experience of Truth for Gadamer and Heidegger; Thking Time and Sudden Lightning<, in Hermeneutits anil Tiuth, hrsg. von B. R.Wachterhauser, Chicago, Northwestern Universiry Press,1994,47-67.
Grondin, J., H er m eneu tische Wahrheí t ? Zum Wahrhe i ts b egriff H ans - C e org Gadamers, Kónigstein, Forum Academicum, 1982; 2. Auflage Weinheim, Belz-Atháneum, 1 994. Marchildon, R.,,rA propos de la conception herméneutique de la vérité<, in Laml théologique et philosophíque 53 (1997),141-150. llisser,J., rThe Remembrance ofTiurh:The Truth of Remembrance<<,
1n Herm e neu tícs a nd Tiu th, 19 9 4, 1 23 -1
3
6.
R., r¡Understanding Tiuth and Objectiviry: A Dialogue between Donald Davidson and Hans-Georg Gadamer<, in Her-
Stueber, K.
meneutics an d Tiuth, 199 4,
1
48-17 1.
Teichert, D., E{ahrung, Erinnerung, Erkenntnis: (Jntetsuchungen zum Wahrheitsbegrílf der Hermeneutik Gadamers,stuttgart, Met zler, 199 L.
Zur Sprache bei Gadamer l)avey, N., >Hermeneutics, Language and Science: Gadamer's Distinction between Discursive and Propositional Language<, in Journal of the Brítish Society Jor Phenomenology 24 (1993) ,250-265 .
258
Fehér, I.
in
259
Bibliographie
M., >Zum Sprachverstándnis der Hermeneutik Gadamers<,
Figal, G. /J. Grondin./ D. Schmidt (Hrsg.),
Ingram, D., rThe Historical Genesis
Wege,Tubingen, Mohr Siebeck, 2000,191-2'06.
Grondin, J., rLintelligence herméneutique
du
language<, in Ilhorízon hernéneutíque de la pensée contemporaíne,Puis, Vrin,1 993, 253-269 (auch in Sources oJ Hermeneutia, Albtny,L995,1 41-155). Kusch, M.,lnnguage as Caleulus us. Language as Uniuersal Medium: A Study ín Husserl, Heideger and Cadatner, Dordrecht / Boston / London, Kluwer Academic Publishers, 1989. Pannenberg,'W, >Hermeneutik und Universalgeschichte <, in Seminar: Díe Hermeneutik unil dieWksenschaJter, hrsg. v. H.-G. Gadamer und G. Boehm, Frankfurt a.M.,1978,283-379.
Risser,
J., >Die Metaphorik des Sprechens<, in Figal, G. /
J. Grondin
/ D. Schmidt (Hrsg.),
Hermeneutísehe
Wege,Tibingen,
Mohr Siebeck, 2000, 17 6-189.
S
ekundárliteratur zur Gadamer-Flabermas-Debatte
Davey, N., ,rFlabermas' Contribution to Hermeneutic Theory<, in Journal oJ the Britkh Socíety for Phenomenology 16 (1985), 109-131. Depew, D.J., rThe Habermas-Gadamer Debate in Hegelian Perspective(, in Philosophy & Social Critickm 8 (1981),425-446. Fleury, P, rlumiéres et Tradition. J. Habermas face i H. G. Gadamer< in Comprendre et interpréter, I'a paradígme herméneutique de la ruison,
343-360. Giddens, A., >Habermas' Critique of Hermeneutics<, in Ders., Slailí e s
in
So ci al an
d
Polítiul Theory, London, Hutchinson,
1
97 7,
7 3
5-
164. Giurlanda,P., >Habermas'Critique of Gadamer:Does It Stand Up?<, in International Philosophical Quaúerly 27 (1987), 33-41.
Guillemot, J.-L., ,rfévolution de la critique de l'herméneutique chez Habermas<, in Eldos (1984),55-75. Honneth, A., rRückwirkungen des Provinzialismus. Zu Gadamers Beerbung der Heideggerschen >Mirwelt<<, in Figal, G. /J. Grondin / D. Schmidt (Hrsg.), Hermeneutische Wege, T iJ,bíngen, Mohr Siebeck, 2000, 309-335. as Productive Limitation in Social Theory. The Habermas-Derrida Deb ere<,inJournal oJ the British Society for
How A.R., >Dialogue
Phenomenology 11 (1 980), 131-1 43.
-, rA
Case
of
Gadamer's Hermeneutics<,inJournal no menology 1 6 (1985), 132-1 4 4.
Hermeneutísehe
Creative Misreading: Habermas' Evaluation of
C ontroversy<,
in
oJ
the Brítkh Societyfor Phe-
of the Gadamer-Habermas 1 0 ( 1 9 83), 8 6-
Auslegung. A J ournal oJ Phílo s ophy
151. Jay,
M. >Should lntelectual History Take a Linguistic Turn? Reflections on the Habermas-Gadamer Debate<, in D. La Capra,/ S. L.
Kaplan (Hrsg.), Modern Euroltean Intellectual Hístory,lthaca, 1.982. Kelley, M., r>The Gadamer-Habermas Debate Revisired: The Question of Ethics<,in Phílosophy & Social Criticísm 14 (1988), 369390.
Kisiel, T., >Ideology Critique and Phenomenology: The Current Debate in German Philosophy<, in Philosophy Today 14 (1970), 151-160. Mendelson, J., rThe Habermas-Gadamer Debate<<,in New Cerman Crítique 18 (197 9), 44-7 3. Misgeld,D., >Discourse and Conversation.The Theory of Communicative Competence and Hermeneutics in the Light of the Debate berween Habermas and Gadamer<,in Cuhural Hermeneutics 4
(1976/77),321-344. Ricoeur,
P.,
rHerméneutique et critique des idéologies<, in: 1988,333-377.
texte d l'actíon,Paris, Seuil,
P.
R., Du
ffiffi'
T Namenregister 'Wl
Freud, Sigrnund 2 Friedliinder, Paul 11f., 18
Adorno, Theodor 15, 84 Aischylos 28,73,187 Apel,
Karl-Otto
732, 167, l8O, 782f.,
185,194
Arendt,H¡nnah
10
Aristoteles 7tr., 17, 773, 178, 744, 752, 164-767 ,770f.,186, 1 88, 1 95, 2 1 8f. Aron, Raymond 104 Augustinus, Aurelius 195, 197, 205, 210-21 5, 277 fÍ., 231, 243 llach,Johann Sebastian 55 llarth, Karl 70 llernes,
f ., 727, 762, lloeck,AugustW 96,101 17
77 7f .
llollnow, Otto Friedrich 104 llormann, Claus von 189 llrague,
Rémi
186
llubner, Rüdiger 16 llultmann, Rudolf llf ., 17f., 65, 70,
t37 (lassirer,
Einst 226 Oollingwood, Robin George 190f. l)errida, Jacques
von
15, 17,
49,50,67 Gogh, Vincent van 63f., 67, 7 5f. Goya, Francisco José 31
Groethuysen, Bernhard 104 Gudsdod Georges 104 Habermas, Jürgen 16, 18, 183, 185,
Christian 87
lletti, Emilio
Gasché, Rudolphe 186 Geiger, Moritz 7 George, Stefan 7 Goethe, Johann Wolfgang
18
794,221Íf.,233 H¿dot, Pierre 211 Hamann, Richard 6,78,72 Hartmann, Nicolai 5,9f., 18 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 34ff., 96-100, 102f ., 105, 148, 178f .,
187,190,231 Heidegger, Martin 2, 6-20, 22tr., 28tr., 32, 34, 63f., 66f ., 89ff ., 104, 709-736, 1 46f ., 7 49tr., t64f ., 182f ., 793-79 6, 202, 205, 209, 224, 226,
230,238
Helmholtz, Hermann L. F. von 36f., René 1, 3, 22f., 37, 107, 118 762 l)etmer, David 148 Henrich, Dieter 16 I )ilthey, Wilhelm 17, 32f., 44, 50, 86Heraklit 150 89, 95, 103-111, 1 74f ., 117, 744, 77 6 Herder, Johann Gottfried 34 l)ockhorn,Klaus 37 Hesse, Hermann 15
I
)escartes,
l)oyle, Conan 132 )roysen, Johann Gustav 9ó, 99-102, 176 l)utt, Carsten 194 I
Euklid
91
Fcyerabend, Paul 26 |e hér, Iswán M. 31, 160ff. :ichte, f Gotdieb 748,179
Johann l:oucault, Michel 204 l:rank, Erich 12 l;rank, Manñed 87
Hitler, Adolf 91 Hóideriin, Fried¡ich 130f.
Homer 24 Hónigswald, Richard 5, 18, 195 Horkheimer, Max 15 Hottois, Gilbert 195 Humboldt, Wilhelm von 795, 226 Husserl, Edmund 6, 10, 17 f., 109, 11sfr.,1s1
Karl
15
Roman
81
Immermann, Ingarden,
262
Namenregister Proust, Marcel 32, 753,207
Iser, W'olfgang 81 Jacobi, Friedrich
Heinrich 179
Quine,Willard van Orman
Jaeger,Werner 11f.
Karl 9,75,154,770 JauB, Hans Robert 81 Jaspers,
Jonas, Hans
10
Kafue,Ftanz 32 Kant, Immanuel
5, 30, 38, 40ff., 4548, 57, 68, 92f ., 150, 166ff ., 179 Kierkegaand, Ssren 70
Kisiel,T. 113 Klein,Jakob 12
Racine, Jean 55 Rambach, Johann Jakob 160, 162 Ranke, Leopoid von 96, 98f., 101, 103 Renaud, F. 224
Richardson,
William
Ricoeur,Paul 179 Rilke, Rainer Maria
112 15, 22f1., 28, 56,
Rodi, Frithjof 87, 104, 115 12, 754, 766
Lacan,Jacques 194,204 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18
Hans-Ulrich
6
Lohmann,Johannes 195
L6with, Karl 10,72,16,112 Lücke, Friedrich 160 Makita, Etsuro 20 Makkreel, Rudolf A. 41 Marquard, Odo 130 Melanchthon, Philipp 37
Merleau-PonryMaurice 194 Misch, Georg 6f., 95, 704,174 Moliére, Jean-Baptiste 55 Mozart, Wolfgang Amadeus 62
Müller, Max
112
Natorp, Paul
41,9,18,93
Rousseau, Jean-Jacques 49f. Rosenzweig, Franz 243 Russell, Bertrand 132
Mu 18,72 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 148, 150,153,221f. Schiller, Friedrich 48f ., 52, 57 Schleiermacher, Friedrich 26,77, 8694, 96, 101,106, 159f.,776,t78
Scheler,
Schulz, Walter 16, 112
Schweitzer,Bernhard Shakespeare,
William
14 2O6, 225, 229
Siebeck, Hans-Georg 17
Sokrates 36,190 Sophokles 60,91
Stenzel,Julius Strauss,
Leo
195
10
Szondi, Peter 127
Newton, Isaac 41f. Nietzsche, Friedrich 2, 795, 204
Nohl, Hermann
194
70,97
Kónig,Josef ó,104 K¡oner, Richard 9 Krüger, Gerhard lO,
Lessing,
Puccini, Giacomo 54
104
Ockham, Wilhelm
von
195
Pannenberg,Wolfhart 65f. Phidias ó0 Platon 2, 4f ., 11, 18, 60, 65, 68, 93f., 113,150, 165, 168f., 195,205, 207 tr., 211, 217 tr., 224, 234, 238f ., 247f. Póggeler, Otto 112 Poppea Karl 187
Tagore, Rabindranath 4
Thomas von Aquin 211
Tügendhat,Ernst 1ó Yelázquez,Diego
55
Vico, Giambattista 222 Weinsheimer, Joel 18, 81 Westernhagen, Dórte
Wieland,Wolfgang
von
14
16
'Wittgenstein, Ludwig 195, 210 'Wolf, F¡iedrich August 155
Yorck von Wartenburg, Gmf
Paul 174f.,177