C.H.GUENTER
Eliteeinheit Nero
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT.
1. Der Luxuswagen stand in der Rue de France, ...
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C.H.GUENTER
Eliteeinheit Nero
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT.
1. Der Luxuswagen stand in der Rue de France, einen Block hinter der Seepromenade von Nizza. Den ganzen Abend und die halbe Nacht lang wurde er von einem Mann unauffällig im Auge behalten. Dies nicht nur, weil der Mercedes 500 SEC hinreißend schön war in seinen Linien, seinem dunkelblauen Metalliclack und den weißen Lederpolstern. Der Beobachter hatte anderes im Sinn. Er beabsichtigte, das Coupe zu knacken. Nachdem er einige Male an dem Spitzenprodukt europäischen Automobilbaus vorbeigeschlendert war, wußte er, was ihn erwartete. Der 500 SEC hatte keine Alarmanlage. Durchaus ein Vorteil. Andererseits führte sein Kennzeichen hinter den zwei Buchstaben, die eine Großstadt bezeichneten, eine niedrige Nummer, eine sehr niedrige sogar, eine Ziffer unter zehn. Also gehörte das Fahrzeug einem Prominenten. Erfahrungsgemäß war dies ein Nachteil, denn nach solchen Wagen wurde erheblich stärker gefahndet. Doch daran wollte er sein Vorhaben nicht scheitern lassen. Außerdem verfügte er über eine Reihe von Reservekennzeichen aus allen Ländern der Erde. Noch herrschte in der Rue de France zuviel Verkehr. Gegen Mitternacht kam ein kühler Wind auf. Er vertrieb als erstes die Nachtbummler. Wenig später brachte der Wind Regen mit, und der fegte die Straßen vollends leer. Für sein letztes Geld nahm der kleine Ganove in Charles Bistro ein Glas Wein. Nervös warf er die fünf Francs auf den Tresen und ging hinaus. Er fror in seiner dünnen Nylonjacke. Also blieb er in einem Hauseingang stehen. Es war eine Nische mit Blick auf das begehrte Objekt. Langsam zog er den Reißverschluß der Jacke auf und tastete nach den beiden Instrumenten, die er für den Bruch brauchte. Den Zughaken ließ er stecken, den Schraubendreher nahm er in die Rechte. Dann lauschte er mit angehaltenem Atem. Ein Lieferwagen fuhr vorbei, später ein Citroen. Er wartete, bis sie oben an der Rue du Conges um die Ecke bogen. Dann spurtete er los. Drüben, in Deckung zwischen Mauer und Mercedes, setzte er den Schraubendreher
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an die Gummidichtung der linken Vordertür. Ein Schlag auf den Griff - das scharfe Eisen schob sich hindurch. Er drückte es ein wenig nach hinten, führte die gebogene Motorradspeiche nach und fummelte die Sperre hoch. Fünfzehn Sekunden. Der Mercedes war offen. Er schlüpfte hinein. Ein Nichtraucherfahrzeug. Und wie es duftete! Nach feinstem Leder und Opium-Parfüm, oder was das war. Blitzschnell ließ er sich nach rechts fallen und blieb zusammengekauert liegen, bis der Lichtstrahl des Streifenwagens weitergewandert war. Jetzt kam der Augenblick der Gewalt. Er packte das Lenkrad, prüfte die wenigen Grad Freigang und riß es mit einem vielgeübten Ruck nach rechts. Es erforderte nicht nur Kraft, sondern auch Erfahrung, die Lenkschloßsperre aus Stahl abzureißen. Fußgänger näherten sich. Abermals tauchte er weg. Das war ohnehin notwendig, denn jetzt folgte die elektrische Feinarbeit. In dem Kabelgewirr unter dem Armaturenbrett galt es, ein paar Drähte anders zu verbinden, als die Fabrik es vorgesehen hatte. Kurz ließ er seine Lampe aufblitzen, loste Steckverbindungen, stellte andere her. Ein Relais knackte. Die Instrumente erhielten Leben, Zeiger zuckten, farbige Lampen gingen an und aus. Nun richtete er sich auf, schob sich hinter das Lenkrad und brachte die letzten zwei Kabelenden zusammen. Der Anlasser schnurrte. Der Motor sprang sofort an. Nichts ging über einen guten Einspritzer. Automatic auf D-, Scheinwerfer. Die Servolenkung arbeitete wie Butter. Links einschlagen und langsam aus der Parklücke rollen. In der Avenue de la Victoire gab er tüchtig Gas. Er war ein mittelloser Gangster, kraushaarig, klein von Statur und Korse obendrein. Weil man auf seiner Heimatinsel meist das Gegenteil von dem meinte, was man sagte, hatten sie ihn Nero genannt. Wegen seines Babyface, seines Kindergesichts. Als er mit siebzehn Jahren endlich die Ein-Meter-fünfzig-Marke überschritt, hatte seine Mutter dem Altar der heiligen Clementine eine Kerze gestiftet. »Danke dir, Madonna, jetzt ist er kein Liliputaner mehr«, hatte sie immer wieder gesagt. Bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr hatte Nero noch sieben Zentimeter zugelegt. Die Ärzte behaupteten allerdings,
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es handle sich dabei nicht um Wachstum. Es lag wohl an der Fronarbeit, die er in der Autowerkstatt leisten mußte. Oder am Fußballspiel am Wochenende. Allerdings hatten sie ihn nur in die Schülermannschaft aufgenommen, weil ihn die Großen einfach niedertrampelten. »Geh aus dem Weg, Zwerg!« Das klang ihm heute noch in den Ohren. Bald hatte er keinen Spaß mehr am Sport gefunden, an der Arbeit auch nicht. So war es bis heute geblieben. Er war ein bißchen zur See gefahren, hatte als Chauffeur gearbeitet, als Gebäudereiniger. Man konnte nicht sagen, daß er einer geregelten Beschäftigung nachging. Er war mittellos, doch zu einem Croissant und einem Kaffee am Morgen reichte es meistens. Außerdem lebte er in Nizza. Wenn schon arm, dann in der schönsten Stadt der Welt, dachte er jeden Tag. Wie viele Menschen, die so wenig hermachten, daß man sie kaum wahrnahm, fühlte er sich zu Höherem berufen. Nur wußte er noch nicht, was damit gemeint sein könnte. In dieser späten Stunde in einer Mainacht war Nero jedenfalls unterwegs zur Autobahn nach Marseille. Die Benzinanzeige stand auf halbvoll. Wenn er richtig informiert war, verfügte der SEC über eine Tankkapazität von neunzig Litern. Er gelangte also leicht bis an sein Ziel. Vorher schaute er kurz zu Hause vorbei. Alles, was im Mercedes nicht festgeschraubt war, unter anderem eine Merino-Wolldecke und ein schmaler Lederkoffer, ließ er in seinem möblierten Zimmer zurück. Aus dem Kennzeichenhaufen unter dem Bett wählte er die eines arabischen Rolls Royce, den er in Cannes geklaut hatte. Zwei Stunden später war er in Marseille. Sein Partner in der Großgarage ließ das Rolltor hinter dem Mercedes hinunter und machte Licht. Abschätzend ging er einmal um das Coupe herum. „Steht astrein da", sagte Nero. „Du kommst zu spät", lautete die Antwort. „Kilometerstand nur viertausend." „Wir verladen schon seit gestern." „Er ist so gut wie ladenneu, der Daimler." „Und heiß." „Ha, was willst du Calmu!" rief Nero aufgebracht. „Alle deine Autos sind heiß." „Aber umlackiert mit anderer Motor- und Fahrgestellnummer und prima Exportpapieren." „Für den da erzielst du in Kuweit siebzig und in New York immer noch fünfzigtausend Dollar, Mann."
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Calmu, ein Schlägertyp, den auch sein Nadelstreifenzweireiher nicht zum Baron werden ließ, schätzte den Korsen nicht besonders. Vielleicht deshalb, weil er selbst in Algerien geboren und mithin auch kein originaler Franzose war. „Erhöhtes Risiko", erklärte er. Damit wollte er den Preis drücken. „Wieviel?" fragte der Korse. Der Algerier hob die Linke, spreizte fünf Finger weg, ballte sie zur Faust und wiederholte das viermal. „Zwanzigtausend Francs?" „Dafür aber Cash." „Das sind lumpige dreitausend Dollar, Mann." „Ist es dir zuviel?" „Ein Schandpreis, Calmu." „Eh bien, nimm ihn wieder mit." Er ging zum Schalter, um das Rolltor hochfahren zu lassen. Nero überlegte. Wohin mit dem Auto? Er brauchte das Geld. In Genua drüben, bei der Auto-Mafia, erhielt er vielleicht das Doppelte. Aber es wurde schon Tag. Wie brachte er den Schlitten nach Italien. Spätestens in ein paar Stunden würden sie nach ihm fahnden. „Fünfundzwanzig", versuchte er zu handeln. Aber schon zog der Algerier das Gummiband von der Banknotenrolle und zählte. Er zählte das Geld auf die Motorhaube des Mercedes. Ein paar Scheine flatterten davon. Der Korse sammelte sie ein. Er war wütend. Er war in der Stimmung, diesem algerischen Bastard den Schraubendreher zwischen die Rippen zu jagen. Aber dann wäre er morgen, spätestens am Donnerstag, als Leiche durch die Bucht der Engel getrieben. Bei achtzehntausend hörte Calmu auf zu zählen. Der Korse schnippte mit den Fingern. „Den Rest!" „Ist meine Provision", erklärte Calmu. Aber dann ließ er gnädig noch einen Schein zu Boden segeln. „Weil du es bist, Winzling." „Scheiß drauf", sagte Nero. „Behalt ihn." Noch einmal prägte er sich das fiese Gesicht des Algeriers ein. Irgendwann, dachte er, hoble ich dir die Fresse, daß du glaubst, ein Lastzug hätte drauf gebremst. Er nahm seine Jacke aus dem Wagen und ging. „Mach dich nicht naß deswegen!" rief der Algerier hinter ihm her. „Ich mach es auf meine Weise", antwortete Nero. Daß er diese Kanaille eines Tages hochgehen ließ, das war in sein Gehirn gemeißelt. Diese Schweine sackten Millionen ein, und die Leute, auf die sie angewiesen waren, speisten sie mit Abfall, als seien sie Sklaven. Er fühlte sich
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niedergebügelt. Zum Glück war am Hafen eine Kneipe offen. Er frühstückte und überlegte, ob er mit der Bahn nach Nizza fahren sollte. Vorher versuchte er am Markt einen Lastzug zu kriegen, der ihn mitnahm. Aber es war wie verhext heute. Keiner wollte nach Osten. Also klaute er hinter der Oper einen wirklich total verrosteten R-4, schaffte es damit bis Nizza und ersparte dem Eigentümer den Weg zum Schrottplatz. Weil er klein und schwarzhaarig war, liebte Nero große Blondinen. Leider hatte sich ihm noch keine aus purer Liebe hingegeben. Er träumte nur davon. Gerade träumte er, daß eine auf ihm lag, daß er ihr Gesäß umfaßte und daß sie flüsterte: Liebster, wenn du mich heute nacht haben möchtest, auch wenn ich schlafe, dann tu's, sooft es dir Spaß macht. Und wie es dir Spaß macht. Jemand rüttelte ihn wach. „Du hast genug gepennt." „Auf einem Auge schlafe ich noch." Er blinzelte. Neben ihm stand die begehrenswerteste Blondine von Nizza. Aber sie war nicht seine Geliebte. Sie hatte nur etwas für Männer von fünfzig aufwärts übrig, die mindestens eine Bank besaßen. Geld macht sexy, pflegte sie zu sagen. Er stemmte sich im Bett hoch, daß die Matratze knarrte, stopfte das Kissen ins Kreuz und steckte eine Gauloise zwischen die Zähne. „Du bist mies dran", stellte Micheline fest. „Würde ich sonst rauchen?" „Und was ist das da?" Sie deutete auf die feine Merinodecke. „Schenke ich dir." „Ich würde sie nehmen, wenn sie aus Nerz wäre." „Dann laß es", sagte er. Auf der Kommode stand der flache Koffer aus dunkelblauem Leder. „Ein Hermes-Modell", sagte sie. „Lippenstift war auch drin. Wen hattest du zu Besuch, Nero?" ,,Brigitte Bardot." „Du liebst mich nicht mehr." „Ich liebe dich", seufzte er. „Ich schwör's, den Koffer habe ich gefunden." „Tonbandkassetten", zählte sie weiter auf, „Videokassetten, eine Schallplatte, Fotos. Hübsche Frau, ein bißchen poppig aufgedonnert, aber sie hat Flair. Und was ist mit den Akten?" „Zum Verbrennen." „Bringen die nichts ein?" „Wo denn? Beim Trödler? Ist doch in einer Fremdsprache geschrieben." „Italienisch?" „Keine Ahnung. Kann auch Englisch sein." Sie sprach ein paar Worte Amerikanisch. „Nein, Englisch ist es nicht. Eher skandinavisch. Sind 'ne Masse ck und tz und sch
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und pr drin. Was für ein Kauderwelsch!" Er nahm ihr alles weg, verschloß den Koffer und schob ihn unter das Bett. Micheline stand am Fenster. Sie hatte die Bluse tief aufgeknöpft. Ihr schwarzseidener Rock war geschlitzt bis zum Knie, dazu hatte sie schwarze, von den Knöcheln ab gemusterte Nylons an. Sie trug auch Strapse. Nero wußte es. Einmal hatte sie seine Hände bis dahin vordringen lassen. Dann hatte sie ihm ins Gesicht geschlagen. „Lädst du mich zum Essen ein?" fragte sie. „Wie kommst du darauf, daß ich mir das leisten kann?" „Den Koffer und die Decke findet man nicht irgendwo im Park. Wahrscheinlich in einem Automobil. " Er wollte nicht, daß sie weiter fragte, sonst verfiel sie auf die Idee, ihn zu erpressen. Etwa so: Erzähl mir alles, was du treibst, und ich schlafe mit dir! Lieber bezahlte er dafür. „Bon, gehen wir essen", entschied er. In dem kaum drei Quadratmeter kleinen Bad mit WC duschte er, trat nackt heraus, trocknete sich ab und schlüpfte in den schwarzen Slip. Micheline schaute ihm dabei zu. „Dem Reinen ist alles rein", spottete sie, „und dem Kleinen ist alles klein." Das machte ihn wütend. Er wollte ihr zeigen, daß er ein Mann war. „Wieviel?" fragte er. „Für was?" „Für wieviel gehst du nachts mit diesen reichen Onkeln aufs Zimmer?" Sie drückte ihre Zigarette an der Fensterscheibe aus. „Wenn mir einer gefällt, dann umsonst." „Und wenn dir einer nicht gefällt?" „Wird es teuer. Doch wenn er mir gar nicht gefällt, kann er so viele Mäuse gar nicht haben, daß ich ihn dafür hübsch fände." „Und wenn er dir ein bißchen gefällt?" „Nun, wenn er mir nicht unsympathisch ist, dann genügen tausend." „Ich gefalle dir nicht", stellte er betrübt fest. „Nicht genug. Ich will dich nicht beleidigen, Nero, aber mein Typ bist du nun mal nicht. Das weißt du." Er holte aus der Schublade, wo er ein paar tausend Francs von den achtzehntausend liegen hatte, zweimal fünfhundert hervor und schob sie ihr in den Büstenhalter. „Immerhin bin ich dir sympathisch." „Das ja." Sie nahm das Geld und gab es ihm zurück. „Aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen, Nero, du und ich. Ich müßte in einem fort kichern." „Dann kichere meinetwegen oder mach die Augen zu." „Und die Beine auf, he?" Sie nahm ihre
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Handtasche, die Jacke und das Hütchen. „Gibt doch tausend Huren in der Stadt, Nero." „Ich will ausgerechnet dich. Das ist mein Unglück." Mit ihrem begrenzten Wortschatz versuchte sie es ihm zu erklären. ,,Du bist mein Freund, Nero. Ich schulde dir Dank, du hast mich vor Dummheiten bewahrt." Er hatte mehr als das getan. Kennengelernt hatte er sie, als die Polizei anläßlich einer Razzia die Altstadt abriegelte. Micheline hatte Marihuana bei sich gehabt, und er hatte sie durch ein WCFenster, durch eine Hintertür, über Höfe und Zaune und durch den Keller eines Lagerhauses aus dem Sperrbereich gelotst. „Ja, ich bin dein Freund." „Dann laß uns Freunde bleiben", bat sie. „Ich kann nichts dafür, aber ich würde lieber auf deine Freundschaft verzichten, als mit dir zu schlafen." Er zog die engen Jeans und die Turnschuhe an. Er hatte eben Pech bei Blondinen. Aber irgendwann würde er Glück bei ihnen haben. Auch bei der Allerschönsten. Für zehntausend würde auch sie es tun, dachte er, aber zehntausend ist es mir nicht wert. Noch nicht. „Später, wenn ich Millionär bin", sagte er. „Ja, später, wenn dir endlich der Dreh eingefallen ist, wie sich ein Sandkasten als Sahara verkaufen läßt." Ein Sandkasten als Sahara, das wär's. „Gehen wir essen, Chérie." Einen Sandkasten als Sahara - das ging ihm den ganzen Abend nicht aus dem Kopf.
2. Ein bleigrauer Ostseemorgen lag über der Bucht von Eckernförde. Vor der Kasernenunterkunft der Kampfschwimmer war der zweite Zug angetreten. Er bestand nur aus fünfzehn Mann. Auf blauem Tuch trugen sie am Ärmel das Zeichen ihrer Einheit, den Schwertfisch vor einem stilisierten Fallschirm. Ihr Kompaniechef, ein Kapitänleutnant, verließ die Schreibstube. Begleitet wurde er von einem Mann in Uniform, aber ohne jegliches Rangabzeichen. Er mochte Mitte Dreißig sein, etwas über einsfünfundachtzig groß und wirkte trotz seines federnden Ganges athletisch. Das dichte braune Haar trug er etwas länger als für einen Soldaten üblich. Der Hautfarbe nach zu urteilen hatte er sich längere Zeit in den
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Tropen aufgehalten. Zu den grauen Augen, der kräftigen geraden Nase, dem Hunderttausend-Volt-Kinn trug er ein Lächeln um den Mund, als würde er alles, was je auf ihn zukam, locker mit Links nehmen. Auch das, was ihm heute bevorstand. Der Kompaniechef führte den Fremden ein. „Mal herhören, Herrschaften!" sagte er nicht allzulaut. „Dieser Kamerad - Name, Dienstgrad und Einheit kenne nicht mal ich wird an unserem Ernstfalltraining teilnehmen. Ihm ist bekannt, daß ihr die umfassendste, vielseitigste und härteste Ausbildung nicht nur aller Soldaten der Bundeswehr, sondern aller Soldaten der Welt hinter euch habt. Er wird sich einordnen, als sei er einer von euch, und versuchen, euren Leistungsstand mitzuhalten. Noch etwas! Ein Zeitungsschreiber ist er nicht." Dann wandte sich der Kapitänleutnant an seinen Zugführer. „Lassen Sie wegtreten, Oberbootsmann! In dreißig Minuten Befehlsausgabe. In einer Stunde Abmarsch." „Jawohl, Herr Kaleu!" rief der Zugführer. Einer der Männer vom zweiten Zug begleitete den Trainingsteilnehmer zur Kleider- und Waffenkammer. Dort wurde ihm die übliche Ausrüstung verpaßt. „Einmal Neoprentauchanzug, Marke Naßbiber. Welche Größe?" „Drei", schätzte der Fremde. „Schon mal unter Wasser geschwommen, he?" „Gelegentlich." „Gelegentlich", feixte der Maat, der ihn begleitete. „Weißt du, was dir bevorsteht, Kumpel?" „Ungefähr." „Ungefähr ein Langstreckenschwimmen von Eckernförde bis Heiligenhafen." „Quer durch die ganze Kieler Bucht, Mann", fügte der Maat der Kleiderkammer hinzu. „Das sind vierzig Kilometerchens." „Ohne Zigarettenpause?" erkundigte sich der Fremde. „Nur mit einer kurzen Übernachtung irgendwo am Strand." „Und in voller Ausrüstung", ergänzte der Kammerbulle. „Ich freue mich schon darauf", sagte der Mann ohne Namen und Dienstgrad. Der Kammerunteroffizier blinzelte dem Maat vom zweiten Zug verstohlen zu und machte weiter. „Flossen lang, Schnorchel lang. Kopfhaube schwarz, Brille Nummer drei, Aqualunge, Preßluftatemgerät, Tiefenmesser, wasserdichte Uhr, Kampfmesser kurz, nichtrostend, Notration Nato. Die Maschinenpistole schallgedämpft, Munition und Fallschirm
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empfängst du drüben." Der Trainingsgast nahm die Plane, in der alles lag, bei den Enden, schulterte sie mühelos und zog ab. „Bei uns", sagte der Zugführer später zu ihm, „geht es etwas anders zu als beim Rest der Armee." „Deshalb bin ich hier, Bootsmann." „Wenn du in der Bundeswehr einem die Frage stellst, wer die tatsächliche Elite sei, und er weiß Bescheid, dann wird er dir niemals den Generalstab, die Fallschirmjäger, die Piloten der Düsenjäger, aber immer wird er dir die Kampfschwimmer nennen. Denn wenn die anderen ihre Ausbildung hinter sich haben, fängt sie bei uns erst an." „Ich lasse mich überraschen", sagte der Gast und begab sich mit den anderen zur Einsatzbesprechung und zum Befehlsempfang. Nachdem der Kompaniechef das Manöverziel bekanntgegeben hatte, sagte er abschließend: „Ich erwarte von jedem Einsatz bis an die Grenze des Möglichen. Aber ihr werdet es bringen, Männer. Wenn es je Menschen gab, die das Zeug haben, zu Vögeln zu werden oder zu Fischen, dann seid ihr das. Abmarsch, sobald der Hubschrauber landet." Der Himmel verfloß in die See wie bei einem düsteren Aquarell. Leichter Wind ließ spüren, daß es noch lange nicht Sommer war. Sie saßen in dem schweren Transporthubschrauber. Alle Männer des zweiten Zugs dicht bei dicht. Als er mit Orkantosen abgehoben hatte, zog er sofort nach Nordwesten davon. Der Zugführer neben dem Trainingsgast sagte: „Wir baden natürlich nicht nur im Winter, wenn es schneit, sondern auch, wenn das Wasser zehn Grad hat. Das kommt aber selten vor." Sie versuchten, ihm auf ihre schlichte kameradschaftliche Art Angst zu machen. „Und wer nicht schwimmen kann", antwortete der Fremde grinsend, „ist ein Nichtschwimmer. Bismarck." „Dir vergeht das noch, Kumpel." „Vielleicht. Oder aber auch nicht." „Du bist doch gesund?" „Kern", erwiderte der Fremde einsilbig. „Wer einmal in der Ostsee tauchte, der weiß, daß es da Stellen gibt, wo du praktisch null Sicht hast. Da hat sich schon mancher verirrt." „Da kriegst du verdammt schnell Heimweh." „Vor Neuseeland und im Golf von Kalifornien gibt es das auch", tat es der Fremde ab. „Hört, hört!" meckerte einer. „Wie, bitte, heißt der Swimmingpool, den du eben
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erwähntest?" Der Hubschrauber ging auf seine Maximalhöhe. Noch einmal wurde die Ausrüstung überprüft. Atemgerät, Waffen, Fallschirm. Der Zugführer hämmerte dem Gast ein, wie er sich verhalten mußte. „Du kennst die taktische Lage. Vor uns an der Küste ist Feindgebiet. Man darf uns nicht zu früh entdecken. Deshalb freier Fall bis auf dreihundert Meter Höhe. Dann Reißfaden ziehen. Im Wasser sofort Schirmgurte losen. Sammeln, abtauchen und Unterwassermarsch Kurs Süd." Der Trainingsgast zeigte »verstanden«. Bald kam das Signal aus dem Hubschraubercockpit. Einer riß die Schiebetür auf. Sie sprangen hinaus wie Vögel und breiteten fallend Arme und Beine aus, um die Körperlage im anbrausenden Wind zu balancieren. Immer wieder ein Blick auf den Höhenmesser und die stürmische graue See in der Tiefe. Einer riß zu früh, einer ziemlich spät. Der Manövergast hielt sich an die Anweisung. Bei Höhe zweihundert riß der Wind seinen Schirm aus dem Sack und blähte ihn auf. Ein Ruck. Er pendelte die letzten Meter mit Fallgeschwindigkeit 10 Meter pro Sekunde ins Meer. Sie sammelten sich, zählten durch bis sechzehn. Dann fing die Schinderei an. Streckenschwimmen mit voller Ausrüstung quer durch die Kieler Bucht gegen Kälte, Wind und Strömung. Stunde um Stunde. Erst hielt sich der Fremde noch im Mittelfeld. Nach fünfzehn Kilometern fiel er allmählich gegen diese Crew austrainierter Kampfschwimmer zurück. Als er schon die letzte Energie mobilisierte, hielten sie Richtung Land und wateten auf ein einsames Strandstück. Dort legten sie zwei Stunden Pause ein. Zwecks Aufnahme von Kraftnahrung. „Das ist aber nicht nach Plan", bemerkte der Gast. „Es lag in meinem Ermessen", erwiderte der Oberbootsmann. „Ich sah, daß du ziemlich fertig warst, Macker." Daß jeder Kampfschwimmer der Einheit außerhalb des Wassers aktiver Hochleistungssportler war, bewies sich in der Nacht. Eine Gruppe tauchte auf lange Distanz an einen vor Anker liegenden Zerstörer heran und befestigte an seinem Rumpf Haftminen mit Zeitzünder. Die zweite und dritte FünfMann-Gruppe operierte getrennt. Die zweite näherte sich der Küste dort, wo die feindliche Raketenstellung lag. Die dritte
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Gruppe nahm sich die Radarstation vor. Gegen 23 Uhr, als der Mond verschwand, stiegen die Einzelkämpfer aus dem Meer, nahe den zu zerstörenden Objekten. Lautlos überquerten die Männer den kahlen Strand und warfen sich in Deckung. Als sie sicher waren, daß sie nicht entdeckt worden waren, drangen sie durch die Sperrzäune in das militärische Feindgelände ein. Während der vierzig Minuten dauernden Operation »tötete« der Trainingsgast mit dem Messer zwei Posten und mehrere Wachmannschaften mit der Maschinenpistole. Darm half er, die Sprengladung anzubringen. Atemlos wartete er mit dem Zugführer die Sollzeit ab. Auf die Sekunde genau flog erst der Zerstörer vor der Küste, dann die Raketenbatterie Östlich von ihnen in die Luft. „Zündung!" befahl der Oberbootsmann. Es gab eine symbolische Explosion von harmlosen Feuerwerkskörpern, weithin zu hören und zu sehen, aber ohne Schaden anzurichten. Wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder im Meer. Je drei Kampfschwimmer ließen sich jetzt von einem batteriegetriebenen Unterwasserscooter bis an den Rand der Dreimeilenzone ziehen. Dann hieß es Langstreckenschwimmer! Richtung Heimat. Nach zwei Stunden verhalf dem Trainingsgast auch die Tatsache, daß er die Bundesdienstflagge am Ärmel trug, nicht mehr zu neuen Kräften. Er mobilisierte die letzten Reserven. Trotzdem fiel er immer weiter zurück. Aus dieser verzweifelten Situation, die für einen nicht im Dauertraining stehenden Kampfschwimmer ganz natürlich war, rettete ihn ein wahres Wunder. Plötzlich umfaßte sie gleißende Helligkeit. Der Zugführer gab das Handzeichen zum Sammeln. Der Scheinwerfer eines Schnellbootes hatte sie erfaßt. Sie wurden über Megaphon angesprochen. „Zweiter Zug Kampfschwimmerkompanie?" „Oberbootsmann Okruch!" tönte es zurück. „Ist der Nobody unter euch?" Der Mann ohne Namen und Dienstgrad schwamm näher und reckte den Arm aus dem Wasser. „Befehl vom Admiral. Sie trennen sich von der Einheit und kommen an Bord." Der Fremde verabschiedete sich von den Kameraden, die sich sofort wieder in Marsch setzten. Wenig später waren ihre fünfzehn schwarzglänzenden Gummiköpfe nicht mehr zu
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sehen. Dem Gast wurde eine Leine zugeworfen. Sie zogen ihn an Bord und befreiten ihn von Flossen, Atemgerät und Kopfhaube. Als er sich auf die Schnellbootbrücke begab, sah er dort den Standortkommandeur von Eckernförde stehen. Der Vizeadmiral reichte dem Mann aus der See, er hatte jetzt wieder Rang und Namen, die Hand. „Na, wie wär's, Commander Urban?" „Hart." „Es war Ihr Wunsch." „Und es war nötig", erklärte Urban, der den Rang eines Kapitäns zur See der Reserve innehatte. „Leider", bedauerte der Admiral, „wurden wir durch einen Funkspruch aus Bonn, direkt vom Verteidigungsminister, veranlaßt, Ihnen den Spaß zu verderben." „Schade", log Urban, immer noch schweratmend. „Man bat mich aus Geheimhaltungsgründen, die Sache persönlich in die Hand zu nehmen." „Tut mir leid, daß ich der Marine solche Umstände bereite." „Die Sache dürfte hohen Dringlichkeitsgrad haben." „Was für eine Sache, Herr Admiral?" „Das hat man mir nicht anvertraut." Urban beugte sich zum Funkschapp hinunter. „Kann ich mal telefonieren?" „Können schon, aber ich rate ab, Herr Kapitän. Die Marine der DDR hört ständig mit." Inzwischen hatte das Schnellboot Kurs auf Eckernförde genommen und holte an Geschwindigkeit heraus, was die MTU-Getriebeturbinen hergaben. Urban, schätzte, daß es mehr als fünfzig Knoten waren. Wenige Stunden später befand sich der BND-Agent Nummer achtzehn, Robert Urban, auf dem Weg Richtung Süden. Nach seiner Gastrolle bei den Kampfschwimmern hätte er gern ein paar Tage auf Sylt verbracht. Aber immer diese gleichmäßig braunen nackten Mädchen, diese stets gleichbleibenden Partys mit den gleichen Champagnermarken und dem stets einprogrammierten Ende in irgendeinem Bett, sie hätten ihn doch nur angeödet. Vor Kiel ging er auf die A-7. Dann hatte er nur noch neunhundert Kilometer bis München. Auf einem schnurgeraden Stück, als sein BMW- Coupé wie auf Schienen dahinmarschierte, hängte er das Autotelefon aus und wählte das Hauptquartier an. Dabei tippte er jene Nummer ein, die ihn direkt mit dem grauen Postapparat auf dem Schreibtisch des Chefs der Operationsabteilung verband. „Hier Froschmann Urban"
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meldete er sich. „Mußte das sein, Sie Wahnsinnsmensch? Haben Sie sich nun ausreichend gewässert?" „Manchmal ist es nötig, daß man seine Grenzen erforscht", antwortete Urban. „Und nicht nur was die Aufnahme von Rotwein und Virginias betrifft." Der Alte war damit persönlich angesprochen. Aber mit der Lässigkeit eines Sechzigers, der glaubt, sich alles leisten zu können, weil er schon den Paragraphen für unzurechnungsfähig in Anspruch nahm, überging er es. „Wir stehen hier kopf", sagte er. „Das ist ungesund." „Und Sie vergnügen sich beim Baden." „Das Wasser war lauwarm und glasklar. Warum nahmen Sie mir das Vergnügen, als die Lust am größten war?" Der Alte kam jetzt zur Sache. „Ein Automobil wurde gestohlen." Urban fand das zum Lachen. „Autodiebstähle verfolgt selbst die Polizei schon gar nicht mehr." „Ein besonderes Auto. Mercedes fünfhundert SEC." „Seit wann spielt die Marke eine Rolle?" „In diesem Falle ist es der Eigentümer." Obwohl er eine Schlange von Fahrzeugen nicht ganz unriskant überholte, hatte Urban noch so viel Gehirnkapazität frei, daß ihm klar wurde, was Sebastians Bemerkung bedeutete. Ein Auto war also gestohlen worden. Da der BND gemäß seinem Dienstauftrag nur im Ausland tätig werden durfte - alles, was im Inland anfiel, war Sache von Bundeskriminalamt, Verfassungsschutz oder MAD -, mußte der Luxusschlitten jenseits der Grenze den Besitzer gewechselt haben. Selbst dadurch wurde der Vorgang noch nicht zu einem Fall des Nachrichtendienstes. „Wem gehört er?", „Einer prominenten Popsängerin." Eine Singdohle, das durfte nicht wahr sein. Vielleicht sogar Nuna, Nena, Nina, oder wie diese Heulbojen hießen. „Und deshalb belästigen Sie mich?" fragte Urban mit Betonung des letzten Wortes. „Dafür gibt es tausend Kriminaler, Detektive ..." Sebastian, der alte Bauernfänger, wußte, wie man Spitzenleute motivierte. Er sagte nur zwei Worte: „In Nizza." Urban liebte die Riviera. Spanien liebte er mehr und Italien auch, aber dann kam gleich Südfrankreich. „Na, wenn schon." „Nordnorwegen im Winter für Anfänger, die Riviera im Frühling für Fortgeschrittene." Urban hatte die Kolonne überholt und fiel auf hundertfünfzig zurück.
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Außerdem stellte er das Radio ab. „Sie sind außerordentlich gütig", bemerkte er, „wenn ich recht verstehe, lag im Mercedes das Glitzer-Flitter-Showkostüm der Dame, und das soll ich eilends wiederbeschaffen." „Nur den Koffer." „Inhalt?" „Geschäftspapiere." „Die Dame ist nebenbei Nobelpreisträgerin für Disco-Sound. Richtig?" „Sie nicht", erklärte der Operationschef, „aber ihr Ehemann. Ein ziemlich bekannter Chemiker. Doktor Collmann." „Collmann A. G. Mannheim", erinnerte sich Urban. „Sie sollte gewisse Dokumente an einen Geschäftsfreund Collmanns übergeben." „In Nizza?" fragte Urban ungläubig. „Warum nicht?" „Geschäftspapiere übergibt man in Nizza so wenig wie in Knatterbach an der Knatter." „Das ist ein Fakt", beharrte Sebastian, „und ich bitte, ihn zur Kenntnis zu nehmen." „Genommen", bestätigte Urban. „Aber was gehen uns Hersteller von Pflanzenschutzmitteln an?" „Das Interesse der Bundesregierung setzt dort ein, wo sie mit Millionensummen subventioniert." „Sie wollen sagen, wo Gefahr besteht, daß ein Forschungsergebnis, das unter Einsatz von Steuermillionen erarbeitet wurde, an unbefugte Auswerter gelangt?" „Etwa auch so", sagte der Alte ausweichend. Urban hatte genug von der Herumrederei. „Wie lautet mein Auftrag?" „Wiederbeschaffung der Akten." „Im Koffer." „Im Fünfhundert-SEC." Ebensogut hätte Sebastian fordern können: Bringen Sie mir die Träne zurück, die Penelope aus Gram über die zwanzigjährige Abwesenheit ihres Gatten Odysseus vor zweitausendfünfhundert Jahren ins Meer vergossen hat. „Nichts leichter als das", sagte Urban. „Bin bis zum Nachmittag in München." „Und morgen in Nizza", drängte der Alte. Urban legte auf. Seine silberne Reiseflasche, normalerweise gefüllt mit mindestens neun Jahre altem Bourbon-Whisky, war leer. Aber nur Bourbon half über so etwas - gegen Cholera der Seele. Er hoffte, daß bald eine Autobahnraststätte in Sicht käme. Der Bourbon, den er sich nahe dem Bordesholmer Dreieck einfüllen ließ, half wenig. Da ging es ihm wie einem Computerhacker bei der Überwindung elektronischer Programmsperren. Sein Gehirn arbeitete schon
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an dem Problem, wie ein Luxusautomobil wiederzukriegen sei, das längst per Schiff nach Arabien unterwegs war.
3. Die Marseiller Organisation befaßte sich mit Im- und Export verschiedener Waren. Offiziell ging es dabei um gebrauchte Maschinen und Fahrzeuge aller Art. Innerhalb der MAEXIMCO gab es drei Hauptbereiche: Geschäftsleitung, Einkauf-Verkauf und Abwicklung. Ihr Chef war Calmu. Ihm gleichgestellt war Perritier. Während der elegante Calmu ständig zwischen den Kais, den Lagerhäusern, Depots und Werkstätten unterwegs war, um dort, notfalls mit den Fäusten, nach dem Rechten zu sehen, saß Perritier meist im Büro. Im Gegensatz zu Calmu war Perritier von besserer Herkunft, weshalb er statt eines Maßanzugs lieber Jeans, T-Shirts und Turnschuhe trug. Die randlose Brille wies ihn als Akademiker aus. Er hatte mehrere Jahre die beste Managerschule des Landes, die Ècole Polytechnique, besucht. Kurz vor dem letzten Examen hatte man ihn gefeuert. Es war ruchbar geworden, daß er die Universität mit Haschisch und Marihuana versorgte. Diesem Jacques Perritier nun war etwas zu Ohren gekommen. Daraufhin rief er einen Freund in Paris, einen gewissen Demonde, an. „Du hattest immer einen exquisiten Draht zur Polizei", sagte er. „Den habe ich noch", erwiderte der für den Besitz von sechs Spielsalons noch junge Unternehmer. „Würdest du für mich auf dieser Flöte mal blasen?' „Hängt davon ab, um was es geht." „Um eine Information", deutete Perritier an. „Geheimer Natur?" „Um Informationen über gewisse Polizeimaßnahmen, die uns übertrieben dünken." Der in Paris lachte. „Sie übertreiben, wenn sie Angst haben. Immer wenn sie Angst haben, übertreiben sie. Auch ich bin davon betroffen. Da gibt es zum Beispiel eine neue Verfügung, daß kein einzelner Unternehmer im Gou vernement Seine mehr als sechs Bars, Restaurants, Bistros oder Clubs besitzen dürfe. Ich stoße bald an die Decke meines Einfallsreichtums. Wie steht es bei euch?" „Die Provence ist weitab, und die Riviera bietet jedem eine Chance, reich zu werden." „Vielleicht komme ich
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bald nach Süden", äußerte Demonde in Paris. „Ich bin dir gern behilflich", versicherte Perritier. „Was kann ich für dich tun, Alter?" Perritier aus Marseille faßte sich kurz. „In Nizza wurde vor wenigen Tagen ein Luxuscoupe gestohlen. Ein alltäglich zu nennendes Vorkommnis. Normalerweise nimmt die polizeiliche Fahndung nach der Diebstahlsmeldung ganz bestimmte Wege. Sie dauert bestimmte Zeit und schläft dann rasch ein." „Nach zwei, drei Tagen wird so was meistens in den Computer gespeichert und vergessen." „Und von jüngeren Ereignissen überrollt", bestätigte Perritier. „Ganz anders in diesem Fall. Hier lief es umgekehrt. Erst passierte weniger als Routine, plötzlich leiten sie Ringfahndung ein. Du weißt, was das bedeutet. Permanente Razzia im ganzen Departement. Kontrolle der Straßen im Umkreis von fünfzig Kilometern. Alle einschlägig wegen Autodiebstahls Vorbestraften wurden kassiert, alle Werkstätten und Lackierbetriebe, die sich je mit dem Umtünchen von Karosserien befaßten, wurden inspiziert. Ich frage mich, wozu dieser Aufwand?" „Hast du den Wagen auf dem Gewissen?" erkundigte sich der Mann in Paris. „Diese Frage dürftest du nicht einmal deinem besten Freund stellen", erklärte Perritier. „Selbst wenn ich ihn hätte, würde ich mich schnell von ihm trennen." „Besteht er innen aus purem Golde?" „Wenn ich ihn hätte, wüßte ich es und würde dich nicht um Hilfe bitten." Demonde in Paris ließ sich die Daten des Fahrzeugs geben und wollte sich wieder melden. Perritier saß weiter an seinem Schreibtisch im siebenten Stockwerk eines Bürohauses in der Rue de Dunkerque, gleich hinter den Frachtpiers, und dachte nach. Perritier war in der Organisation für Marketing zuständig. Mithin auch für die Ausweitung des Unternehmens, für die Erschließung neuer Märkte mit neuen Produkten. Dabei ging es nur um Gewinne und darum, ein Geschäft bis zum letzten Centime auszuquetschen. Von Freunden in Genua, die auf dem gleichen Gebiet tätig waren wie die MAEXIMCO, hatte Perritier die Warnung erhalten, daß ein in Nizza gestohlener Mercedes glühend heiß geworden sei. Der Mafioso hatte geraten, ihn nicht anzufassen. Sollte wegen dieses Autos die Organisation in Marseille auffliegen,
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dann würde es für die Branche insgesamt sehr eng werden, und zwar von Amsterdam bis Athen. Zu spät. Sie hatten den Wagen bereits angefaßt. Perritier rief Calmu über Autotelefon. Er erreichte ihn auf einem Lagerplatz der Firma, wo es Ärger mit Baggern gab, die nach Libyen verschifft werden sollten. Irgend jemand hatte versucht, die Maschinen zu ruinieren, indem er feinen Sand in die Hydraulikbehälter geschüttet hatte. „Was, zum Teufel, gibt's denn schon wieder?" fragte Calmu. „Wurde der Mercedes bei der Verschiffung registriert oder nicht?" „Hältst du mich für blöde?" erwiderte Calmu. „Wir steckten ihn in den Dreißigtonner Kühlaufleger für Abu-Dabi." „Gut getarnt, hoffe ich." „Die Tarnung bestand aus zwei Fünfhunderterscheinen, die ich dem Lagermeister vom Zoll auf die Augen drückte und die ihn blind machten." „Das beruhigt mich", gestand Perritier. „Du hast es leicht, Junge, sitzt da in piccobello Klamotten, während wir bis zu den Ellbogen im Öl buddeln, um die Filter vom Sand zu reinigen. Wenn ich das Schwein erwische, das mir das eingebrockt hat, kastriere ich es ohne Narkose." Für Perritier war das Tagwerk beendet. Er dachte daran, sich in einem Kunstfilmkino das Werk eines deutschen Regisseurs anzusehen, als ihn das Schrillen des Telefons einholte. Der Mann von höchster Ebene meldete sich. Perritier war nur ihm allein verantwortlich. Sie telefonierten oft, aber er sah diesen Mann seltener, als die Organisation Gehalt auf sein Konto überwies. Seine rauhe Kommandostimme war unverkennbar, auch die Klangfarbe, die sein Französisch im Algerienkrieg angenommen hatte. „Was höre ich da?" fragte der Chef. „Calmu bringt die Bagger bis morgen in Ordnung. Versand planmäßig." „Das meine ich nicht. Landauf, landab wird von einem heißen Mercedes gemunkelt." Wenn Perritier richtig im Bilde war, verstand man darunter Unter-der-Hand-Informationen, die sich von Landsitz zu Landsitz, von Villa zu Villa, von Yacht zu Yacht innerhalb der Clique der Bosse fortpflanzten. „Er schwimmt bereits Richtung Suez, Monsieur." „Kann man Spuren verfolgen?" „Alles abgecheckt, Monsieur. Es ist unmöglich." „Warum, zum Teufel, sind alle so wild? Sûreté, Kripo, Gendarmerie. Fehlt
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nur noch, daß sie Interpol und den Geheimdienst einschalten." „Ich habe meine Fühler nach Paris ausgestreckt, Monsieur, und erwarte stündlich Informationen." Der große Chef schien nachzudenken. „Bevor sie auf Ihrem Hintern rumsitzen und warten, werden Sie gefälligst aktiv, Perritier." „Sie meinen, in bezug auf den Lieferanten?" „Genau in diesem Bezug meine ich das." „Wird erledigt, Monsieur." „Sofort!" forderte der Chef. „Heute noch!" Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf, Es schien, als habe er den Hörer auf die Gabel gefeuert. Perritier teilte zwei Männer, die die grobe Arbeit innerhalb der MAEXIMCO erledigten, für den Einsatz ab. Sie stöberten Nero Nerone in einer Altstadtkneipe in Cannes auf. Er maulte herum und sagte, er wolle erst seinen Wein austrinken. Der Alkohol machte ihn mutig. Hinzu gesellte sich sein korsischer Stolz. Aber einer der MAEXIMCO-Leute trat dicht an ihn heran und stieß ihm etwas in die Seite. Es war die Spitze eines Messers. Sie fuhr Nero unter die Haut ins Fleisch. Der zweite flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Da wußte Nero, daß er nicht anders konnte. Aber er buchte es auf das Konto Calmu. Alles ging zu Lasten der Organisation. Draußen in ihrem großen Peugeot, bevor sie mit Fragen begannen, stellten sie einiges klar. „Entweder du antwortest, oder wir nehmen dich mit, Kleiner." Das wollte Nero vermeiden. Gut, er machte Geschäfte mit diesen Leuten, aber er ließ sich nicht zur Brust nehmen oder gar von ihnen einatmen. „Ich lausche", sagte er. „Der Mercedes war heiß." „Glaubt ihr, ich hätte ihn im Laden gekauft?" „Hundert Grad heißer als Wagen, die wir normalerweise abnehmen. Unsere Bedingungen sind dir bekannt." Nero nickte. ,,Luxuswagen laut Nachfrageliste, makellos, wenige Kilometer, möglichst von einem Ausländer. Die Autos müssen vorher avisiert oder mindestens vier Stunden nach der Inbesitznahme in einem der Depots sein. Daran habe ich mich gehalten." „Und warum suchen sie ihn wie den Räuber der Unschuld der Prinzessin?" Nero versuchte alles, um sich aus der Sache herauszuwinden. Dazu brauchte er Zeit. Also steckte er sich eine Gauloise an. Der mit dem Messer untersagte es ihm. „Laß das und gib Antwort!" Nero schob das blaue
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Päckchen wieder in die Jeanstasche. Dabei streifte er die Armlehne an der Innenverkleidung der Fondtür. Das gab ihm den Einfall. „Warum hat Calmu den Wagen nicht untersucht? Das tut er doch immer." „Wir haben ihn gewogen." „Was wiegen Brillanten schon!" „Wieso denn Brillanten, Mann?" „Nur so. Was kann man in einem Coupé schon verstecken! Gold, Drogen oder Brillanten." Die zwei aus Marseille waren äußerst mißtrauisch. „Wie kommt eine trübe Tasse wie du auf so was?" Nero redete sich noch einmal heraus. „Wenn er Wertgegenstände enthalten hätte, hätte ich ihn dann diesem Halsabschneider Calmu für achtzehn Mille überlassen? Bin ich ein Idiot?" Das schien ihnen einzuleuchten. Aber nicht für lange. Der eine blätterte in einem Notizbuch und las vor: „Gewicht laut Katalog fahrfertig tausendsechshundertdreißig Kilo. Er wog aber zehn Kilo weniger." „Na bitte." „Was also hast du entfernt, Nero?" „Dann müßte ich glatt etwas Lebenswichtiges abgeschraubt haben. Oder? Er war aber fehlerfrei. Calmu muß es bestätigen." Nero hoffte schon, er sei nun endgültig aus dem Schneider und habe diese Analphabeten befriedigt, da fing der Fahrer wieder an. „War da nicht etwas im Wagen?" „Eine Decke und ein Koffer." „Wo sind die geblieben?" „Ich habe sie weggeschmissen." „Eine Ratte wie du wirft nie etwas weg, die frißt alles." Nero gab zu, daß er die Absicht gehabt hätte, den feinen Aktenkoffer und die teuere Merinodecke an einen Trödler zu verkaufen. Aber vielleicht hätte die Polizei die Gegenstände dort gefunden. „Wo liegt das Zeug?" „Auf 'ner Müllkippe oben in den Bergen." „Was war im Koffer?" „Tonbandkassetten, eine Schallplatte, eine Betamax-Videokassette und Papier in 'nem braunen Umschlag." „Du hast alles verbrannt?" „Weggeschmissen, eingegraben und Abfall drüber", wiederholte Nero. „Bring uns hin!" „Jetzt, mitten in der Nacht? Außerdem regnet es." „Dann morgen früh." „Wenn drei Mann antanzen und den Müllberg durchwühlen, das fällt doch auf, oder?" „Er hat recht", sagte der Fahrer. „Eh bien, dann erledigst du es alleine", entschieden sie. Nero zeigte sich widerspenstig und verärgert, wußte aber, daß er nichts gegen sie zu melden hatte. Doch es war seine
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Natur. Außerdem respektierten sie Leute, die nicht gleich auf dem Bauch lagen. „Wieso ich?" protestierte er. „Bin ich euer Schuhputzer?" Der neben ihm ließ das Messer wieder springen. ,,Damit imponierst du mir nicht", sagte Nero, ,,Oder willst du deinem Boß erzählen, du hättest mich abgestochen? Lacrosse will keine Leichen, er will den Koffer, schätze ich. Al so, was bringt es ein?" Sie grinsten. „Unser Wohlwollen." „Da pisse ich drauf." „Hör zu, Nero", sagte der Fahrer. ,,Wir haben nur die eine Order, daß wir dich solange zur Schnecke machen, bis du rausrückst, was im Mercedes war. Ob es Bedeutung hat, wird sich dann ergeben. Könnte mir aber vorstellen, daß man dich beteiligt, falls es wertvoll ist. Wenn andererseits die Rückgabe dazu führt, daß sie die Nachforschungen einstellen, dann kann es uns allen nur recht sein." ,,Klingt wirklich verdammt beschissen", fluchte Nero. „Aber einleuchtend, oder?" „Laßt mir Zeit." „Einen halben Tag." „Vierundzwanzig Stunden." Das schienen sie verantworten zu können. „Bring auch die Decke mit", forderten sie. „Neuerdings webt man Geheimdokumente sogar in Damenschlüpfer ein." „Ihr lest zuviel Comics in eurer Freizeit", spottete Nero. „Kann ich gehen?" „Aber laß dich ja nicht ohne Ergebnis sehen, Kleiner!" Nero stieg aus und schlenderte im Regen davon. Er fühlte die Kälte, die Nässe im Haar, im Nacken und um die Schultern. Aber das war es nicht, was ihn beunruhigte. Mit diesem wunderschönen Mercedes, da hatte er sich wohl ein wenig vertan. Kaum hatte Perritier um 09 Uhr das Büro betreten, rief sein Bekannter aus Studentenzeiten an. „Hat mich fünf Tausender gekostet", eröffnete Demonde das Gespräch. „Das macht dich arm", antwortete Perritier und fürchtete, daß er seinem Ex-Kommilitonen wohl einen Dienst schuldig sein würde. „Sie suchen den Mercedes mit allen Mitteln." „Mit den konventionellen", versuchte Perritier es einzugrenzen, „Das überlasse ich deiner Beurteilung", sagte der Mann in Paris. „Die Sûreté erließ Anweisung an sämtliche Dienststellen in den Departements, vordringlich nach diesem Fahrzeug zu fahnden." „Aufgrund welcher Interessen?" „Zunächst einmal auf dringenden Wunsch von Interpol." „Es gibt stets Abstufungen
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bei Dringlichkeit," „Stufe eins", erklärte Demonde. „Also wird auch auf Interpol Druck ausgeübt." „Wahrscheinlich vom deutschen Bundeskriminalamt." „Und wer ist dazu in der Lage?" „Bonn. Die Regierung." „Wem, zum Teufel, gehört denn der Wagen? Einem Minister?" „Einem Chemieindustriellen", lautete die Auskunft. Perritier erfuhr den Namen der Firma. Er sagte ihm jedoch wenig. „Eine FamilienAktiengesellschaft", erklärte Demonde genauer. „Die Firma betreibt Tochterunternehmen in Frankreich und England." „Was stellt sie her?" „Pflanzenschutzmittel, Insektizide, Pestizide. Man befaßt sich aber auch mit Genforschung, soweit sie für die Schädlingsbekämpfung Bedeutung hat." „Zur Bekämpfung wessen? Des Kartoffelkäfers oder des Apfelblütenstechers?" „Die Collmann-AG ist bekannt für ihre Produkte zur Immunisierung gegen Getreideschädlinge bei Weizen, Roggen, Gerste und Hafer. Auch bei Mais und Sojabohnen sind sie erfolgreich.« Perritier zog daraus gewisse Schlüsse. „Diese Unternehmen arbeiten doch alle an umweltfreundlichen Giften, falls man bei Giften überhaupt von Umweltfreundlichkeit sprechen kann." „Genaugenommen ist alles tödlich, sogar Gebirgsluft in übergroßen Mengen eingeatmet." „Befinden sich Unterlagen dafür in dem Fahrzeug?" wollte Perritier nun wissen. „Das kann man nur vermuten." „Warum ließ der Eigentümer dann das Material im Wagen zurück?" „Wie ich hörte, wurde das Coupe von der Ehefrau des Chemieindustriellen, einer Popsängerin, benutzt. Sie gilt als mittlerer Star auf diesem Sektor der Showbranche." „Mit Namen Collmann?" „Beatrix Cool." Perritier stieß einen Pfiff aus. „Klar, die kenne ich. Habe ein paar Platten von ihr. Unternimmt sie nicht eine Tournee an der Küste?" „Sie gibt einige Galas in Nizza, in Cannes, bis 'rüber nach San Remo, als Promotion für ihren Film." „Aber das war nicht der einzige Grund für ihren Aufenthalt an der Riviera." „Einzelheiten darüber erbrachten meine Nachforschungen leider nicht. Die Sûreté will unbedingt den Wagen. Wie es sich anhört, betreibt man die Fahndung mit äußerstem Einsatz." „Merci", sagte Perritier. Sein Informant hatte noch etwas. „Ihr solltet damit
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rechnen, daß mit dem ganz großen Hammer zugeschlagen wird." „Dann werden wir in Deckung gehen." „Rüstet euch jedenfalls mit Stahlhelmen aus", riet der Mann in Paris. ,,Zu Gegendiensten immer bereit, Demonde." „Ich nehme dich beim Wort", sagte Demonde. Nachdem Perritier aufgelegt hatte, dachte er weniger an die Gefahr, die für die Organisation erwuchs, sondern mehr an das Anschlußgeschäft. In diesem Punkt hatte er schon konkrete Vorstellungen. Er ließ die zwei Ex-Legionäre, die sich mit Nero befaßt hatten, rufen. „Schon was Neues aus Nizza?" „Wir gaben ihm bis morgen abend Gnadenfrist." „Ich will es als erster wissen, wenn er sich meldet." „Verlassen Sie sich auf uns, Monsieur", erklärten sie.
4. Die Gala von Beatrix Cool lief noch, als Urban das Casino in San Remo betrat. Sie stand draußen auf der riesigen Bühne im grellen Scheinwerferlicht und sang irgend etwas von Haß und Begierde. Die Begleitband hämmerte drauflos wie Siegfried auf den Amboß, die Gitarren jaulten, der Drummer schlug Zweiunddreißigstel, aus dem Keyboard dröhnte es wie zehn Wurlitzer Orgeln. Bunte Lichtblitze, radarschnell und laserscharf, brachten ihr Glitzerkleid zum Glühen. Was für ein Satan! Rothaarig, weiße Haut, lange Beine, die Brüste unter Tüll mehr hervorgehoben als verdeckt. Was sie mit dem Mikrophon anstellte, war eine Orgie. Was sie mit dem Becken bot, ein Geschlechtsakt. Urban hatte keine übergroße Sensibilität für Musik dieser Art. Aber es war ihm, als singe Beatrix Cool stets einen halben Ton daneben. Man konnte sagen, ihr Vortrag enthielt massenhaft Fehler, aber offenbar die richtigen, denn der Applaus war orkanartig. Gewiß war das Publikum weniger kritisch als mitgerissen. Urban arbeitete sich zur Garderobe durch. Dort stand ein Bodyguard vor der Tür und verstand keine der herkömmlichen Weltsprachen. Nicht einmal Deutsch. Urban zeigte ihm ein Papier. Lesen konnte der Kerl auch nicht. Fast wäre Urban wütend geworden und hätte ihn aus der Lederjacke gestampft, wenn in diesem Moment nicht der Komet aufgetaucht wäre, einen Schweif von
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Reportern und Fotografen hinter sich herziehend. Ihre Haut war schweißnaß, ihre Augen glänzten begehrlich. Sie hatte sich aufgeheizt und duftete wie ein junges Tier. Sie sah Urban, übersah ihn und sah doch wieder zu ihm hin wie magnetisch angezogen. „Du bist?" Er nickte. „Ja." „Komm rein!" Der Bodyguard gab die Garderobentür für zwei Personen frei. Als sie drinnen waren, bildete er wieder eine Mauer. Erst schickte sie ihre Garderobiere hinaus, dann ließ sie sich in einen Sessel fallen, spreizte die Beine weg, goß sich ein Glas Champagner ein und stürzte es herunter wie Himbeersaft. „Wie war ich?" fragte sie. „Das gibt's nur einmal", äußerte Urban bar jeder Fachkenntnis. „Danach gibt's nicht mal mehr eine Kopie." Ihr Gesicht strahlte plötzlich mit fünfhundert Watt. „Methode SexHammer. Kommt immer an." ,,Sexhammer", wiederholte er, „Hammersex. Hast du fünf Minuten Zeit, Bea?" „Klar, wir sind doch verabredet. Was willst du wissen, Großer?" Er fing an zu fragen, und sie fing an, sich zu entkleiden. Das Glitzerding flog in die Ecke, die Netzstrümpfe hinterher. Er war nie ganz sicher gewesen, was Showstars darunter trugen. Sie trug kaum etwas darunter, nur ein winziges weißes Höschen. „Baumwolle", sagte sie, „saugt den Schweiß besser auf." Dann zog sie auch das Höschen aus. Sie war echt rothaarig. Weiß und rot, makellos die Haut ohne Punkt, Strich und Komma. Er fühlte sich total niedergebügelt, als sie so nackt herumlief, ohne den Paravent zu benutzen und dann in die Ecke unter die Dusche trat. Es war eine leise Dusche. Man konnte sich dabei unterhalten. Sie seifte sich nicht ab, sondern genoß nur das Perlen des Wassers und massierte ihren Körper an Stellen, von denen Nonnen gar nicht wußten, daß es sie gab. „Los, frag mich!" rief sie. „Fragen regt mich auf." ,,Was enthielten die geheimen Dokumente im Koffer?" „Das weiß mein Mann besser." „Der Professor weilt auf einem Kongreß in Tokio. Er machte nur Theater, als er von dem Autodiebstahl hörte. Und was für eins." „Kann ich mir denken. Bonn hat das Forschungsprojekt mit Millionen subventioniert." „Details erfahren wir nach seiner Rückkehr. Inzwischen soll ich das Ding wiederbeschaffen. Also, was bitte war im Koffer?" „Meine
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neue LP", zählte sie auf, ,,ein paar Kassetten und das U-MaticBand von zwei Videoclips." „Und der Umschlag mit den Papieren", erwähnte er der Ordnung halber. Sie bestätigte es, drehte die Dusche ab und begann sich abzutrocknen. „Warum blieb der Koffer im Wagen?" „Ich konnte ihn nicht immer mit mir 'rumschleppen, oder?" Sie mochte recht haben. Was sie natürlicherweise mit sich herumschleppte, war schon kostbar genug. Brüste wie halbierte Bowlingkugeln, einen Hintern wie von Botticelli gemalt und der kurze Flaum zwischen ihren Beinen war vielleicht sogar gesponnenes Gold. „War das nicht eine Portion Leichtsinn?" fragte Urban. „Ich bin nun mal nicht schwermütig." „Dein Ehemann wußte das?" „Er liebt es an mir." „Und vertraute dir die Papiere an?" „Der Typ, der sie erhalten sollte, wartete angeblich in der Negresco-Bar. Er meldete sich nach zwei Tagen noch nicht. Ist das meine Schuld?" Sie hatte das Abnibbeln beendet, brachte jetzt ihr Make-up in Ordnung und nahm den Pailettenfummel für den zweiten Teil der Show vom Bügel. Dann schaute sie auf die Uhr und hängte ihn zurück. „Nach so einer Bühnenorgie brauche ich immer was", gestand sie flüsternd, aber auch ein wenig stöhnend. „Nachher und mittendrin. Verstehst du das, Großer?" „Alles." „Verstehst du auch, was ich meine?" „Bin ja nicht vom Lande." „Du gefällst mir." Er konnte nicht behaupten, daß ihn Frauen wie Beatrix Cool regelmäßig umwarfen, aber sie hatte schon was an sich. „Wo?" fragte er. „Hier im Sessel." „Du bist verrückt." „Keineswegs. Wir haben drei Minuten. Mir genügt eine halbe." Er wollte es darauf ankommen lassen. Doch da fuhr innen die Lautsprecherdurchsage des Inspizienten dazwischen. „Madame Cool! Bitte auf die Bühne!" „Scheiße", sagte sie. „Aber the show must go on." „Ist besser so. Was würde auch Professor Collmann dazu sagen?" „Danke schön, würde er sagen, für den Service an meiner Frau." „Warum hat er dich geheiratet? Um dich mit anderen zu teilen?" Sie lächelte wie ein Engel. „Er besitzt mein Herz." „Und finanziert deine Platten und Shows." „Natürlich", sagte sie. „Er hat mich gekauft, und das ist der Preis." „Kann er es sich leisten?" „Als Mann nein, als Bankier
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ja." „Er ist vermögend." „Vermögend?" sagte sie, während er ihr in das silberne Trikot half. „Er ist reich! Reich wie der Vatikan. Sonst hätte er nie Landeerlaubnis auf mir erhalten." > Sie strich die Strümpfe glatt, und er schloß den Reißverschluß. Sie zerwühlte ihr Haar zur Frisur einer Zigeunerin. „Fertig. Wir sehen uns nach der Vorstellung. Okay?" „Im Hotel." Sie schüttelte die rote Mähne. „Nein, hier. Garderoben sind unbequem, aber sie machen mich ungeheuer an. Und wenn ich von der Bühne komme, dann — so was mußt du erst mal erleben, Großer." „Ich bin aufgeschlossen für alles Neue." Bea Cool schwebte von dannen. Anders als Gräfin Marizza, aber auch anders als Tina Turner. Urban steckte sich eine MC an, goß ein Glas voll Champagner, leerte es in einem Zug. Dann hörte er den Applaus. Das Getrampel von tausend Füßen erschütterte das Casino bis zu den Grundmauern. Die Starbässe hämmerten los. Es gab noch ein paar ungeklärte Fragen. Nur deshalb blieb Urban. Am besten, er verfolgte die Show aus der Kulisse heraus. Also ging er zur Bühne. Der Bodyguard stand immer noch da wie ein Monument. Ein schräger Blick wie unter einer Maske aus Beton traf ihn. Kein verständnisvolles Grinsen, null Reaktion. Urban schlenderte hinten um die Bühne herum und durch das Dunkel eines Ganges, an dessen Ende wieder Licht schimmerte. Etwas bewegte sich im Licht vorbei. Sicher ein Reflex des Geschehens auf der Bühne. Doch als er näher dran war, wußte er es besser. Es waren ganz einfach die Schatten von zwei Typen, die wie Killer aussahen. Dunkle Anzüge, weiße Hemden, Krawatte, wichtigtuerisch zusammengepreßte Lippen und in den Fingern Kanonen. Der eine stand vor ihm, der andere hatte sich katzenhaft geschmeidig hinter ihn gesetzt. „Mister Dynamit!" Sie kannten ihn. Doch ehe er antworten konnte, sagte der hinter ihm: „Fragen Sie nicht, was Sie für uns tun können. Sie können gar nichts für uns tun, als uns brav zu begleiten." „Wenn ich will." „Tot oder lebend." Besser lebend, dachte Urban und rammte dem hinter ihm den Ellbogen so in den Leib, daß er dachte, der Knochen sei ab und das Ellbogengelenk dort, wo das Handgelenk aufhört. Doch der Bursche blieb auf den Füßen.
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Blitzschnell schlug Urban dem anderen die Handkante auf den Kehlkopfknorpel und gab dem hinten mit der Faust den Rest. Doch diese unglaublich harten Nehmer standen noch immer. Daß sie die Kanonen einsetzten, war nur eine haltlose Drohung gewesen. Keiner schoß. Aber Urban, schätzte es wenig, wenn sich schwarze Mündungen mit Patronen dahinter auf ihn richteten. Er versuchte, den 38er wegzudrücken. Da schlug der andere zu. Von dieser Sekunde an hatte Urban keine Erinnerung mehr über den Fortgang der Show. Die Fahrt in dem großen Alfa-Romeo ging durch das nächtliche San Remo zur Autostrada. Etwa eine Stunde später tauchten die Lichter von Genua auf. Der Fahrer lenkte den Wagen nicht hinunter in die Stadt, sondern blieb oben auf der Höhe und verließ die Autobahn erst bei der zweiten Ausfahrt auf Santa Margherita zu. Jetzt ahnte Urban, wohin es ging und warum ihn der Italiener, der mit der Automatic in der Hand neben ihm saß, nicht gefesselt hatte. Während der ganzen zweihundert Kilometer hatte er kein Wort an ihn gerichtet. Doch vor der stattlichen Villa, als der Alfa knirschend auf dem feinen Kies ausrollte, war er plötzlich sehr höflich. „Würden Sie bitte mitkommen, Signore?" Er folgte ihnen die Freitreppe hinauf in den Palazzo. Der Salon zur Meerseite hin, im klassischen Stil möbliert, war von zwei Kristallüstern grell beleuchtet. Ein Diener erschien. „Kaffee, Signore?" „Einen Espresso." Urban trat zum Fenster. Zwischen Zypressen hindurch sah man den Sternenhimmel hoch über dem Golf von Genua. Und mit einemmal war es wie im Kino. Langsam wurde das Licht schwächer. Jemand dimmerte es herunter, aber nicht vollständig. Ältere Damen hätten die Helligkeit, welche die Kronleuchter jetzt von sich gaben, als vorteilhaft bezeichnet. Die Flügeltür in Elfenbein und vergoldeten Schnitzereien ging auf. Ein Mann eilte mit kurzen, schnellen Schritten herein. Nach einer ruckartigen Vollbremsung stand er da wie die geschrumpfte Mischung aus Mussolini und Hitler, Trotz Glatze, Schnurrbart und stechenden Augen war er so beeindruckend wie ein Gartenzwerg. Er breitete die Arme aus, umschloß Urban damit, küßte ihn links und rechts. „Roberto,
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Amigo!" rief er südländisch übertreibend. „Bruno", sagte Urban nur. Der Mafioso packte Urbans Unterarme und schob ihn in eine Position, wo er ihn genau betrachten konnte. „Meine Leute waren unhöflich, Caro mio." „Ein Gesunder hält es gerade noch aus." „Ich bitte in ihrem Namen um Verzeihung." „Gewährt." Der Mafioso versuchte nun zu erklären, daß es ihm darum gegangen sei, Urban so rasch und so unauffällig wie möglich hierherzubringen. „Muß mit dir reden, Roberto." „Ich wäre sowieso gekommen." „Zu spät vielleicht." „Brennt es euch auf den Nägeln?" „Dieser verdammte Coup mit dem Mercedes in Nizza könnte den mühsam ausbalancierten Frieden zwischen uns und der Polizei gefährden. Wer ahnte denn, daß das Ding so heiß ist." „Warum klaut ihr auch unschuldige Automobile." „Ich habe nichts damit zu tun", versicherte Bruno. Urban kannte ihn gut und lange. Bruno hatte vielleicht nichts mit der Nizza-Geschichte, dafür aber mit tausend anderen illegalen Dingen zu tun. Doch er wollte keine Änderung des Status quo. „Nun habt ihr den Ärger", sagte Urban schadenfroh. „Man muß versuchen, ihn klein zu halten." Bruno sprach nicht weiter, denn der Diener brachte auf einem riesigen Tablett eine winzige Tasse Mocca. Als er gegangen war und Urban sich gestärkt hatte, fuhr Bruno fort: „Es geht um die Schadensbegrenzung." „Dann halte ihn klein", schlug Urban vor. „Wir sind bereit, alles zu tun, um das Auto wiederzubeschaffen." Urban lachte kehlig. „Das schwimmt doch längst Richtung wer-weiß-wohin." ,,Dann eben den Inhalt." „Nur der ist mir wichtig." Bruno Spilotti wäre nie zu einem der führenden Mafia-Bosse aufgestiegen, wenn er nicht in jeder Lebenslage verstanden hätte, Geld zu verdienen oder seine Macht auszuspielen. „Was glaubst du, wirft die Versicherung dafür aus?" „Gibt es die überhaupt?" „Leute mit solchen Autos lassen jeden Popel versichern." „Du hast dich informiert?" Bruno nickte. „Nach beiden Seiten. Der Fünfhundert-SEC ist von der Allianz auf eine Weise gedeckt, wie das überhaupt nur möglich ist. Unfall, Diebstahl, Brand, Hagel, Insassen und Haftpflicht natürlich." Urban setzte die Tasse ab. „Woher weißt du das, Bruno?" „Verbindungen."
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„Dann", Urban gab seiner Stimme deutlich mehr Stärke, „laß, zum Teufel, deine Verbindungen weiter spielen und gib mir einen Tip, wie ich das Gesuchte zurückerhalte." „Einen vagen Hinweis vielleicht", meinte Bruno. Natürlich lieferte ein Mafioso den anderen nicht ans Messer. Das war ihre goldene Regel. „Wohin ging der Mercedes?" fragte Urban. „Nach Marseille." „Und wer ist dort für Exporte zuständig?" „Geklaut wurde er von einem korsischen Ganoven in Nizza", sagte Bruno ausweichend. „Wer sind die Leute in Marseille?" beharrte Urban. „Ich könnte dir vielleicht einen Mann nennen, der einen Mann kennt, der ihre Telefonnummer hat." „Mach weiter so, und es kostet dich unsere Freundschaft, Bruno." „Aber es sichert mein Leben vor Rache." „Va bene, stell mir den Draht her." Vorher hatte der Mafioso noch eine Frage. „Wieviel, glaubst du, spuckt die Versicherung aus?" „Für das Auto den Ladenpreis." „Für die Dokumente." „Ich darf bis hunderttausend gehn." „Dollar?" „Mark. Wir sind in Europa, Bruno." „In dieser Branche wird, wie auf dem Ölmarkt, ausschließlich in Dollar gerechnet." „Mark." „Wenn du den DMark-Betrag in Dollar garantierst, hunderttausend also." Bruno deutete ins Nebenzimmer. „Dann verschwinde ich, und du hast die Burschen am Draht." Urban kannte seine Vollmachten. Sein Limit lag höher. Trotzdem hielt er nicht mit. „Ihr seid alle Halsabschneider." „Si oder no?" „Erst muß ich wissen, ob sie den Koffer haben." Bruno nickte. „Okay also?" Bruno wurde doch noch ein echter Schatz. „Zehn Prozent für uns", forderte er. „Ich habe dich mal davor bewahrt", erinnerte Urban, „daß man dir eine Kugel durch den Kopf jagte. Wieviel, bitte, sind zehn Prozent davon? Laß mich mal nachrechnen. Das war vor sieben oder acht Jahren. Du holst mit deinem Clan pro Jahr im Schnitt zwanzig Millionen Dollar netto 'rein. Dann hätte ich von dir, hochgerechnet, zehn Prozent von acht Jahresgewinnen, also sechzehn Millionen Dollar zu kriegen, plus Zinsen. Cash bitte." Bruno stieß die Hände in die Hosentaschen, ging ein paar Schritte, blieb stehen, drehte sich um, nahm die Hände heraus und ruderte damit in der Luft herum, als ertrinke er augenblicklich. „Sagen wir, einen Ferrari
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Testarossa, Farbe nach deiner Wahl. Von Ferrari kriege ich Rabatt." „Du spinnst, Bruno", erwiderte Urban. „Von dir würde ich schon eine Flasche Grappa als Bestechung auffassen. Noch ein Wort über Provison, und ich rühre nie wieder einen Finger für dich. Könnte ja sein, daß du mich schnell wieder brauchst." „Ist das eine Drohung?" fragte der Mafioso schief. „Nimm es als Drohung so ernst, als würde ich zu deiner Gemahlin Rosalia sagen: Sie sind begehrenswert, Signora." Endlich kapierte Bruno, vielmehr gab er vor, es zu tun. Wo es bei Urban langging, hatte er schon begriffen, als sie sich kennenlernten, damals in Neapel, als ihn die Camorra mit Grobschrot fast zersiebt hätte. Bruno deutete auf sein Telefon. „Ich gehe in den Nebenraum und wähle. Sobald es läutet, hebst du ab." Bruno schloß die Tür, aber Urban öffnete sie wieder um einen Spalt. Jetzt kam es darauf an. Er ist ein Mann von Kultur, überlegte Urban, in schloßartige Residenzen passen keine Drucktastentelefone. Seine Schlußfolgerung ging auf. Bruno hängte aus und drehte die Nummer langsam in die Wählscheibe. Er wählte Frankreich an und Marseille. Danach folgte eine sechsstellige Zahl, beginnend mit niedriger Scheibenlaufzeit, also Ziffern unter fünf. Gegen Ende zu wurden die Ziffern höher, denn die Wählscheibe brauchte länger, um zum Anschlag zurückzukehren. Beim ersten Mal kam Bruno offenbar nicht durch. Beim zweiten Versuch war belegt. Er fluchte ungeduldig. Dann tat er Urban den Gefallen und wählte ein drittes Mal. Urban glaubte jetzt, die Teilnehmernummer mit einer Differenz von plus-minus eins pro Ziffer zu kennen. Er nahm neben dem Telefon Platz. Als es läutete, hob er ab. „Keine Namen", sagte der Mann, mit dem ihn der Draht verband. „Sie wünschen bitte?" „Wir möchten etwas von Ihnen erwerben", antwortete Urban. „Wir? Wer ist wir?" Die Stimme des Franzosen klang jung, herrisch und arrogant. Er befand sich in der Position eines Mannes, von dem man etwas haben wollte. Urban wäre es mühelos gelungen, ihn einzuschüchtern, aber es ging nicht darum, diese Organisation auf irgendeine Weise unter Druck zu setzen. Das war Sache der französischen Behörden. Er hingegen wollte etwas von ihnen. „Mein Vorschlag", erwiderte
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er. „Ich frage nicht, wer Sie sind, Sie fragen nicht, wer ich bin." Der Franzose akzeptierte es. „Was beabsichtigen Sie, von uns zu kaufen, Monsieur?" „Einen Aktenkoffer dunkelblaue, Hermes-Modell, goldene Buchstabenschlösser, aus einem Mercedes fünfhundert-SEC Coupé stammend, das vor wenigen Tagen in Nizza gestohlen wurde." „Das ist, als sollten wir Ihnen Sternenstaub von der Venus bürsten, Monsieur." Urban spielte es herunter: „Ein Geschäft wie jedes andere. Uns interessiert nur eines: Können Sie liefern? Wenn nein, dann betrachte ich unser Gespräch als beendet." Der andere zögerte. „Wir wollen etwas versuchen." „Wie bleiben wir in Kontakt?" „Wo halten Sie sich derzeit auf?" „In Genua." „Frankreich wäre günstiger als Italien." „Ich kann kommen, wohin Sie wünschen. Nach Nizza, Toulon oder Paris." Er hütete sich, Marseille zu nennen. „Unsere Nachricht wird telegraphisch postlagernd in Aix en Provence liegen. Kennwort: Dunkelblau. Details über Signor Bruno." Urban bestätigte die Vereinbarung. „Ich frage ab morgen zweimal täglich nach", erklärte er, legte auf, und Bruno stand in der Tür. „Er ist ein fixer Junge." „Womit handelt er?" fragte Urban. „Im und Ex." „Er erwähnte Signor Bruno. Daraus schließe ich, daß er bereits von den Dokumenten gehört hat und mit dir über den erzielbaren Preis reden wird. Sag ihm, daß wir nicht über Hunderttausend gehen." „Dollar." „Natürlich nicht Lire", entgegnete Urban. Bruno bat ihn zu bleiben. „Das Gästezimmer ist vorbereitet, Amigo." „Danke", sagte Urban, „gibt noch eine Menge zu tun." Es war wichtig, Leute wie Bruno Spilotti zu kennen, aber es lag ihm wenig daran, die Bekanntschaft mit ihnen in Freundschaft ausarten zu lassen. Am frühen Morgen brachten sie ihn nach San Remo zurück. Im Grunde war Urban nicht in Stimmung, Beatrix Cool zu treffen. In ihrem Hotel erfuhr er, daß sie schon abgereist sei. Von Aix nach Marseille fuhr Urban knapp zwanzig Minuten. Jede Stunde, die er aufbrachte, nutzte er zur Beobachtung des Bürohauses in der Rue Dunkerque. Kollegen vom französischen Geheimdienst SDECE hatten ihm geholfen. Die sechs bei Bruno in Genua aufgeschnappten Ziffern waren ziemlich ungenau gewesen. Der Anschluß
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gehörte einem Hutladen an der Ecke Rue Marceau. Daraufhin hatten sie zu kombinieren begonnen. Es ging um eine Im- und Exportfirma in Hafennähe, die sich notwendigerweise mit dem Handel von Automobilen befassen mußte. Wie sonst hätte sie Kontakte zu diesen Kreisen gehabt! „Offizielle Verschiffungen werden von Seespediti nen abgewickelt", hatte sein Kollege in Paris erklärt, „aber als Hehler und Aufkäufer dubioser Fahrzeuge ist uns in Marseille nur einer bekannt. Er heißt Lacrosse und gilt als Multiunternehmer. Ihm gehört unter anderem auch die Marseiller Ex-Im-Co, abgekürzt MAEXIMCO." Urban hatte Fotos erhalten, denn die MAEXIMCO war wiederholt erkennungsdienstlich aufgefallen. Zwar hatte man ihr niemals etwas nachweisen können, doch der Geschäftsführer, ein gewisser Perritier, und einige seiner Mitarbeiter waren fotografiert worden. Mittlerweile kannte Urban auch einige ihrer Gewohnheiten und die Wagen, die sie benutzten. Perritier fuhr einen älteren SM, die beiden anderen Gentlemen, vermutlich Algerier, wechselten sich auf einem R-25 ab. Einmal sah Urban Perritier mit einem Mann wegfahren, auf den die Beschreibung eines gewissen Calmu paßte. Aber das alles war die Spreu und nicht der Weizen. Wenn es dunkel wurde, verließ er seine wechselnden Beobachtungspositionen und fuhr nach Aix. Auch am zweiten Tag lag noch kein Telegramm für ihn vor. Am Nachmittag des Mittwochs wurde er Zeuge eines Ereignisses, das sich ihm einprägte, weil es das Verhaltensmuster dieser Leute durchbrach. Gegen 16 Uhr hielt ein heruntergekommener Simca vor dem Bürohaus. Der Simca führte ein NizzaKennzeichen. Der Mann, der ausstieg, war auffallend kleinwüchsig. Urban schätzte ihn auf einsfünfundfünfzig. Zwar trug er Schuhe mit Plateauabsätzen, aber das brachte nicht viel. Er trug Jeans, ein gelbes T-Shirt und eine abgewetzte Lederjacke, die ihm zu weit war und zu sehr an seiner hageren Gestalt herumschlotterte, als daß er sie je im Laden erworben haben konnte. Kaum ausgestiegen, beugte er sich noch einmal in den Simca und entnahm ihm ein Gepäckstück, von dem Urban annahm, daß es ein Stadtkoffer in Dunkelblau sei. Ganz
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sicher war er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, denn der kleine Schwarzlockige wickelte den Koffer in eine stark verschmutzte Wolldecke. Wenige Sekunden später ereignete sich das Ungewöhnliche. Der kleine Mann aus Nizza hatte seinen Simca gerade versperrt, als aus dem Eingang des Bürohauses zwei MAEXIMCO-Leute stürzten, als hätten sie hinter der Glastüre gelauert. Sie nahmen den Kleinen in die Mitte und verschwanden mit ihm in der Tiefgarage. Da in der darauffolgenden Stunde weder ihr R-25 noch der Peugeot die Garage verließ, nahm Urban an, daß sie den Kleinen nach oben gebracht hatten. Er harrte bis zur Dunkelheit aus. Der Kleine tauchte nicht mehr auf. Auch sein rostiger Simca blieb vor dem Bürohaus stehen. Urban fuhr nach Aix. Am Postamt lag ein Telegramm für ihn. Gegen Kennwort „Dunkelblau" wurde es ihm ausgehändigt. Inhalt nur fünf Worte: Sind lieferbereit Angebot über Bruno. Binnen zwölf Stunden wurden sie handelseinig. Ein Kurier war aus Mannheim unterwegs, um die hunderttausend Dollar zu überbringen. Urban lag in seinem Hotel in Aix und versuchte zu entspannen. Er zweifelte nicht daran, daß er es binnen kurzem zu Ende bringen würde, und zwar ohne weitere Überraschungen. Es war ein Fall gewesen, den man vergessen konnte. Genaugenommen war es eine Sache, die jeder andere ebensogut hätte erledigen können, jeder aus dem ersten Semester von der Pennerakademie - wenn man von seinem Draht zu Bruno absah. Das Telefon läutete. Er nahm an, daß es sich um den erwarteten Anruf handelte. Der Teilnehmer nannte keinen Namen. Perritier vermutlich. »Steht das Entgelt zur Verfügung?" fragte er. „In zwei Stunden trifft der Kurier ein." „Hören Sie zu. In Marseille, an der Kirche von Notre Dame de la Garde, wird von uns ein Fahrzeug geparkt. Ab dreiundzwanzig Uhr. Genau vor der Hauptpforte. Der Wagen ist nur an einer Tür offen und zwar rechts. Hinter dem Vordersitz finden Sie das Gewünschte. Nehmen Sie es und legen Sie den Behälter mit dem Entgelt an seine Stelle. Und keine Tricks." „Wir sind seriös, Monsieur", erwiderte Urban. „Und keine Polizei." „Die hätten wir längst eingeschaltet." „Wir halten das Fahrzeug unter Beobachtung." . „Kann ich mir
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denken." „Wenn das Entgelt nicht auf den Dollar stimmt, werden wir Sie jagen. Wir werden Sie erwischen und zur Rechenschaft ziehen. Mit uns wickelt man keine betrügerischen Geschäfte ab. Und wer es versucht, versucht es kein zweites Mal." „Ich mag solche Partner wie Sie", versicherte Urban. Es knackte in der Leitung. Der Kurier erschien pünktlich. Er hatte die Hunderttausend in einer Tüte in seiner Reisetasche. Urban zählte die Bündel durch. Daß nichts fehlte, garantierte wohl die Deutsche Bank. Im Dunkeln fuhr er los. Den BMW parkte er in der Rue Patadus. Die paar hundert Meter bis zu der Kirche in dem kleinen Park ging er zu Fuß. Urban hielt sich für ziemlich abgebrüht, fühlte sich aber trotzdem überrascht, als er im fahlen Licht der Laterne vor dem Hauptportal den alten Simca stehen sah, die Rostlaube des Kleinen aus Nizza. Er wartete einen günstigen Moment ab und schlenderte dann hinüber. Der Austausch war Sache von wenigen Sekunden. Im BMW überprüfte Urban den Koffer. Die goldenen Buchstabenschlösser waren, wie zu erwarten, aufgesprengt worden. Aber sonst stimmte der Inhalt mit der Liste überein, Fotos, eine Schallplatte, Tonbandkassetten, Videokassetten, ein U-Matic-Band und ein fester Umschlag aus braunem Natronpapier. Blätter voller Analysen, Formeln und Produktionsplänen in Chemikerkauderwelsch. Noch in der Nacht fuhr Urban nach München zurück.
5. Nero hatte für den Koffer hunderttausend Francs gefordert und anstandslos erhalten. Damit hatte er in einer Woche einen Schnitt erzielt wie sonst nicht in drei Jahren. Das versetzte ihn in Laune, als hätte er pfundweise Kokain durch die Nase gezogen. „Es geht aufwärts", sagte er zu Micheline, „wie mit der Bergbahn." „Und wie kommst du 'runter?" fragte sie. „Kopfüber?" Er schob sie zum Fenster und deutete auf den silbergrauen CX. „Hab schon mal in 'nem Citroen gesessen", bemerkte sie abfällig. „Gehört mir. „Wie lange?" „Das erste Auto, das ich gekauft und bezahlt habe." „Und woher rührt der Segen?" Nero öffnete die Schranktür. „Alles neue Klamotten,
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Flanellhose, Blazer, Hemden, Krawatten." „Seit wann trägst du so was?" „Von morgen ab, wenn wir nach Paris fahren." Dorthin hatte sie schon immer gewollt. Auch nach Venedig, aber dazu war es nie gekommen. „Einmal", sagte sie, „kannte ich einen Kerl aus Fontainebleau. Muß in der Nähe von Paris sein. Er sagte: Besuch mich mal. Ich rief ihn an. Und was war? Kein Anschluß unter dieser Nummer." „Meine Nummer ist très bien", versprach er. „Begleitest du mich?" „Dann entgeht mir pro Tag ein Fünfhunderter." „Ich miete dich." Sie dachte kurz nach. „Ohne Bettverpflichtung?" „Einverstanden. Aber wenn es dich überkommt, bin ich für dich da." „Schon gut, Kleiner." „Doch eins bitte ich mir aus. Kein anderer Kerl, solange wir zusammen sind." „Nur wenn es mich überkommt", sagte sie. Nero gab ihr zweitausend Vorschuß, damit sie sich einkleiden konnte. „Was Damenhaftes", wünschte er. Sie nahm das Geld, wenn auch zögernd. „Ist es heiß?" „Legal verdient." „Du und legal, Nero. Dich haben sie doch schon illegal gezeugt." „Wo ist keine Gefahr in diesem Leben?" „Und was willst du in Paris?" „Mein Geld verdoppeln." „Leg es auf die Bank. Da verdoppelt es sich auch." „Aber erst in acht Jahren." „Wie willst du es verdoppeln? Du kannst nichts, Nero, du bist nichts, hast von nichts eine Ahnung." „Aber eine Glückssträhne", erklärte er. Was er plante, darüber sprach er nicht. Er wußte selbst noch nicht genau, wie man einen Sandkasten als Sahara verkaufte. Nero war in Korsika auf einem Bauernhof aufgewachsen. Seine Eltern hofften, der schwächliche Knabe würde dort eher ein kräftiges Kerlchen werden. Auf dem Hof hatte es Pferde gegeben. Deshalb galt Neros zweite Liebe den Pferden. Genaugenommen war es seine dritte Liebe. Die erste war für Micheline, die Unerreichbare, reserviert, die zweite galt Autos und schon die dritte den Gäulen. Deshalb zog es ihn nach Vincennes. Kaum einen Tag in Paris, schon besuchte er das erste Pferderennen. „Wie setzt man da?" fragte seine Begleiterin. „Am besten auf den Gewinner." „Und wie fängt man das an?" „Geld auf Sieg oder Platz im soundsovielten Lauf." „Bei vier Rennen und Dutzenden von Gäulen?" „Das ist der Grund, warum die Wettgesellschaft immer gewinnt." „Die
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Chancen beim Lotto sind größer." „Kleiner", schätzte er, „aber mit höheren Gewinnsummen." „Und du Anfänger aus der Provinz, der von einer unterentwickelten Insel stammt, wo sie noch Blutrache ausüben, du bildest dir ein, hier absahnen zu können?" Er nickte und deutete auf seine Nase, die ziemlich groß war. ,,Pferdeverstand.'' „Kennst du denn alle diese Viecher?" „Ich schaue sie mir nur an." „Und was siehst du?" Er lächelte. „Ich schau dich an und weiß, daß du mich einmal vom Herzen her liebhaben wirst." „Nicht mal nur von der Brieftasche her", entgegnete sie ironisch. „Und ich sehe, welches Pferd den Siegerblick hat." „Das ist doch idiotisch." „Probieren wir es aus." „Es ist dein Geld", sagte sie. „Trotzdem schade drum." Beim zweiten Lauf am Nachmittag gewann Nero nur den doppelten Einsatz, aber beim letzten Lauf konnte er am Totalisator vierundzwanzigtausend Francs kassieren. Damit waren die Unkosten für den Citroen und die Reise bereits verdient. „Ich habe 'ne Strähne", erklärte er ohne großen Jubel. Am nächsten Tag holte er sich beim dritten Rennen fünfunddreißigtausend Francs. Dann hatte er genug, und sie fuhren zwei Tage an die Küste nach Deauville. Am Abend zogen sie sich fein an und gingen ins Spielcasino. Nero setzte erst vorsichtig auf Impair, verlor und setzte tausend Francs auf Rouge. Rouge kam. Das stimmte ihn mutig und sicher. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte er Micheline: „Wie alt bist du?" „Siebzehn, das weißt du doch." Sie war vierundzwanzig, aber er setzte auf 17. „Rien ne va plus!" Fast traf ihn der Schlag. Die 17! Sie kam noch zweimal in dieser Nacht. Als sie gingen, um die Chips umzutauschen, brauchten sie eine Plastiktüte, um das Geld ins Hotel zu tragen. Nero schlief schlecht. Er dachte nicht an Micheline, nur an die Moneten unter dem Kopfkissen. Am Morgen brachte er alles zur Credit-Provencial und eröffnete ein Konto. Für seine Verhältnisse war er jetzt reich. Immer wieder las er die Zahl im Sparbuch. Eine Sechs mit fünf Nullen. „Jetzt bin ich Millionär!" rief er. „Zur Hälfte", bremste Micheline seine Begeisterung, „und mit Francs. Sie stehen ein wenig höher als die Lira, aber Schweizer Franken wären bedeutend besser."
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„Kommt noch." „Am besten sind Dollar." „Laß mir Zeit." Er steckte das Sparbuch ein und merkte, wie ihr Blick begehrlich wurde. „Ich habe mit der Bank ein Kennwort vereinbart." „Und wie lautet es?" „Wenn du es errätst, schläfst du dann mit mir?" Sie zögerte noch. „Und wenn nicht?" „Bedecke ich deinen Körper mit Zehnern." „Vier Chancen", forderte sie. „Nein drei." „Bon, du heißt Nero. Man dreht den Namen um. Kennwort Oren." „Falsch." „Korsika." „Falsch." Sie hob die Brauen. „Doch nicht etwa Micheline?" „Erraten", log er. Sie fuhr ihn an wie eine gereizte Katze. „Du bist ein Betrüger! Das ist Beischlaferschleichung!" Er gab es zu, aber sie zog sich aus, und es kostete ihn vier Bündel Zehner, damit keine Hautstelle unbedeckt blieb. Aber immerhin hatte er sie total nackt gesehen. Mit der Hälfte seines Vermögens stieg er in ein riskantes Geschäft ein. Er orderte Warentermine. Man hatte ihm gesagt, in diesem Jahr sei eine schlechte Kaffee-Ernte zu erwarten. Die Preise an den internationalen Warenbörsen könnten nur steigen. „Die Weiternte beträgt ungefähr fünf Millionen Tonnen", erklärte ihm der Makler, „und das wird auch verbraucht. Bei der Kaffeebohnen-Produktion entfallen allein auf Brasilien und Kolumbien die Hälfte. Dort hat verheerendes Wetter - hier Regen, dort Trockenheit - die Erwartungen auf nahezu Null reduziert. Ergebnis: Der Preis kann nur anziehen." ,,Warum kaufen Sie dann nicht selbst?" fragte Nero schlau. „Ich habe schon gekauft. Alles auf Kredit. Ich stecke mit Haus, Auto und dem Schmuck meiner Ehefrau im Kaffeegeschäft. Ich würde noch höher einsteigen, bin aber nicht mehr flüssig." „Welche Gewinne sind zu erwarten?" fragte Nero. „Die Preise können bis auf das Dreifache steigen." „Rufen Sie mich in einer Stunde wieder an." Nero war nicht sehr gebildet, aber er hatte einen gesunden Instinkt. Er fragte bei der kolumbianischen Botschaft im Südamerika-Institut und zum Schluß bei der staatlichen französischen Anstalt für Meteorologie nach. Dort wurde ihm bestätigt, was er wissen wollte. Als sich der Terminhändler wieder meldete, sagte Nero: „Ich kaufe." „Für wieviel?" „Eine Million Francs." „Kaufen Sie für zwei. Ich besorge Ihnen den Kredit. Zu sieben Prozent. Das
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Geschäft Ihres Lebens. In spätestens acht Wochen haben Sie den Einsatz verdoppelt, Monsieur." Nero machte mit. Dann hatte er den Einsatz sogar schon nach zwei Tagen verdoppelt. Der Terminhändler rief ihn wieder an. „Was sagen Sie jetzt, Monsieur Nerone?" „Wozu?" „In Äthiopien haben die Farmer ihr Land verlassen. Sie bringen die Kaffee-Ernte nicht ein, und über Indonesien ziehen Wirbelstürme hinweg." ,,Was bedeutet das?" „An der Produktenbörse Chicago hat Kaffee in achtundvierzig Stunden um hundertzehn Prozent zugelegt." Nero dachte nicht lange nach. Er handelte instinktiv. „Verkaufen!" Es dauerte einen Moment, dann vernahm er ein freudiges „Merci, Monsieur! Ich habe Orders für zehn Millionen vorliegen." Tags darauf wurden Nero, abzüglich Spesen und Provision, einskommasieben Millionen Francs auf sein Konto überwiesen. „Ich könnte mich zur Ruhe setzen", sagte er zu Micheline. „So schnell geht das. Aber jetzt fängt es erst richtig an." Sie feierten das erfolgreiche Geschäft in einem Premiere-classe-Restaurant bei Champagner und einem Töpfchen Kaviar. Micheline fühlte sich schon zur oberen Schicht gehörend und wählte ihre Worte dementsprechend. „Du solltest jetzt aufhören mit diesen gewagten Unternehmen, mein Lieber", lispelte sie. „Was würde es dir ausmachen, wenn ich mein Geld wieder verlöre?" fragte Nero. „Es täte mir leid, mein Lieber." „Du heiratest mich ja doch nicht, Teuerste." „Du hast mich ja nie gefragt, mein Freund." „Dann werde ich dich also fragen." „Bitte nein." Ihr Blick ruhte mit Wohlgefallen auf einem Kellner im Frack, einem gutaussehenden Burschen, der sich wie ein Filmstar bewegte. Zu dem Restaurant gehörte eine Bar mit Trio. Da Micheline immer wieder mit anderen Männern tanzte, wurde es Nero zu dumm. Er erkletterte einen Hocker an der nierenförmig geschwungenen Theke und bestellte Kaffee und Cognac. Plötzlich saß einer neben ihm und lächelte. „Sind Sie nicht Nero Nerone?" Der Bursche mochte Ende Zwanzig sein, trug dunklen Maßanzug, Akademikerbrille und hatte etwas Forsches in Aussehen und Tonfall. „Kennen wir uns?" fragte Nero. „Ihr Name fiel gelegentlich, Monsieur." Nero witterte Gefahr und wollte mehr wissen, ohne seine
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Neugier zu zeigen. „Wohl kaum in Paris." „In Marseille", rückte der andere heraus. „Namen sind keine Gesichter." „Ich beobachtete Sie schon eine Weile", gestand der andere. „Der Beschreibung nach muß er es sein, dachte ich mir. Also fragte ich den Geschäftsführer. Der Tisch sei für Monsieur Nerone reserviert, sagte man mir." „Das nenne ich Diskretion", bemerkte Nero abfällig. „Wo fiel mein Name?" „Anläßlich eines Geschäftes." „Mit wem, wenn ich fragen darf?" Der andere wich aus. „Sie hatten Erfolg in letzter Zeit, Monsieur." „Nicht übermäßigen." „Wohl doch, denn es spricht sich herum. Sie sollten jetzt vorsichtig sein. Es gibt Neider." „Alles völlig legal. Und Neider gibt es an jeder Ecke." „Erfolg, behauptet man, anhaltender, großer Erfolg kann nicht legal sein und kommt nicht von ungefähr. Irgendwo, meist im Anfang, liegt eine Leiche im Keller." „Woher beziehen Sie diese Weisheiten?" „Ich studierte an der Ecole Polytechnique." Jetzt fiel es Nero auf. Da gab es einen, der litt unter ähnlichen verkorksten Manieren. „Ihr Gesprächspartner", fragte er direkt, „heißt nicht zufällig Perritier?" „Zufällig ja." Der Bursche wußte mehr, als Nero lieb war. Aber der Fremde wechselte jetzt das Thema. „Vor Perritier sollten Sie sich besonders hüten. Er ist eine Medaille, aber nicht mit zwei, sondern eine mit drei Seiten. Er war mir einen Dienst schuldig. Ich wollte in Marseille Spielclubs eröffnen, weil ich mich in Paris nicht weiter vergrößern darf. Und was tut Perritier? Er rät seinen Freunden, in genau diese Branche einzusteigen." „Lacrosse." „Und Calmu. Sie versuchen an der Küste, von Marseille bis Nizza, Clubs zu eröffnen, alles in meinem Stil und mit meinem Know-how. Ist das eine Sauerei oder nicht?" Nero nickte zustimmend. „Jetzt sind Sie wütend auf die Bande." „Ich werde es ihnen heimzahlen", schwor der andere. „Und deshalb möchte ich Sie sprechen, Nero." „Reden Sie", forderte Nero ihn auf, ,,ruhig von der Leber weg." „Übrigens, mein Name ist Demonde", sagte der aalglatte junge Manager. „Lacrosse und Calmu schnappen mir die Spielclubs weg", eröffnete ihm Demonde. „Jetzt schnappe ich ihnen die Armeebagger weg." „Die was, bitte?" fragte Nero. Demonde erklärte es ihm. „Die
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Armee stößt in Abständen Material ab. Nicht nur Waffen, sondern auch Lastwagen und Baugerät. Alles erstklassig gepflegt und zu Spottpreisen. Dann ist da noch ein Baggerhersteller in Belgien pleite gegangen. Er hat mehrere Dutzend von den Ungetümen auf dem Fabrikhof stehen." „Wer braucht schon Bagger?" fragte Nero. „In Europa wird nicht mehr allzu viel gebaut, aber in Afrika, in Arabien, im Orient. Dort wühlen sie die Erde für Stahlwerke und Reservoirs auf. Dort bauen sie Straßen, Flugplätze, wie neue Städte. Der Libanon ist ein Trümmerhaufen. Die Menge Bagger, die man dort braucht, möglichst preiswerte, die gibt es gar nicht. Bagger sind solide. Bagger, das ist gutes Eisen, Monsieur." Nero verstand. „Und es ist Calmus Geschäft?" Demonde hob einen merkwürdig langen, dünnen Zeigefinger. „Es war Calmus Geschäft, denn ich habe bereits alle Bestände optiert. Und wenn ich mit meinem letzten Franc einsteige - ich werde jeden preiswerten Bagger in die Hand bekommen." „Gratuliere", sagte Nero. Der andere kniff die Augen schmal. „Sollten Sie, mein Junge, irgend jemandem aus dieser MAEXIMCO-Bande eins auswischen wollen, dann hängen Sie sich dran." Nero fühlte, daß dies der rechte Augenblick sei. „Was kostet so ein Ding?" „Normalerweise ist ein moderner Hydraulikbagger auf Raupenfahrwerk unter fünfhunderttausend Francs nicht zu haben. Ich steigere sie für weniger als ein Viertel. Fabrikneue Konkursware." Nero rechnete. „Gibt es Rabatt bei zehn Stück?" Demonde schaute sich erst um, dann nickte er. „Noch mal zwanzig Prozent." „Netto hunderttausend also." „Wann fahren wir nach Belgien, Monsieur Nero?" „Von mir aus sofort." „Und Ihre schöne blonde Begleiterin?" „Ist beschäftigt, wie Sie sehen." „Machen Sie mich mit der Dame bekannt." „Erst möchte ich die Bagger sehen", erwiderte Nero. Als das Geschäft unter Dach war und Nero wußte, daß Calmu vor Ärger platzen würde, bereitete er seine Abreise aus Paris vor. Im Koffer hatte er die Besitzurkunden seiner Bagger. Er würde sie in Nizza in einen Banksafe legen. Demonde schloß inzwischen den Handel mit den Arabern ab. Übergabe der Papiere sollten gegen Cash in Dollar erfolgen. „Jetzt bist du
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wieder blank", sagte Micheline beim Packen. „Nach der zweiten Million bist du nie mehr pleite", antwortete er. „Ich habe noch eine hübsche Reserve. Und nächsten Monat, wenn die Bagger abgestoßen werden, kaufe ich mir ein Landgut in Korsika." „Und eine Angelschnur." „Und einen Hubschrauber", ergänzte er. „Und eine Frau. Eine kleine schwarzhaarige Korsin mit dickem Hintern und aufblasbaren Titten," „Ja, mit größeren als deinen", entgegnete er spöttisch. Das ließ sie wütend werden. Sie riß die Bluse auf und zeigte ihm ihre zwei prallen Dinger. ,,Steck sie weg", bat er. „Ich zeige sie, solange es mir paßt." „Mir paßt es nicht." „Der Herr hat plötzlich andere Interessen, wie?" fuhr sie ihn an. „Vielleicht", erwiderte er. „Reichtum macht empfindsam, he?" „Ja, gegen die Unverschämtheiten billiger Nutten." Warum sie ihre Meinung änderte, er wußte es nicht. Sie reagierte jedenfalls völlig unerwartet. Sie streckte die Hand vor. „Zehntausend!" „Wofür?" „Wirst schon sehen." „Auf einmal?" „Und für einmal." Er verstand nicht, was in sie gefahren sein sollte. Doch plötzlich war alles anders. Ihre Attraktivität hatte für ihn darin bestanden, daß sie sich ständig verweigerte. Aber jetzt, als sie bereit war, sich hinzulegen, war der Goldlack ab. Er nickte und entnahm der Innentasche seines Sakkos ein Banknotenbündel. „Zwanzig Fünfhunderter", sagte er. Micheline nahm sie, steckte sie in ihre Tasche, zog den Rock hoch und streifte den Slip ab. Während sie sich hinlegte, sagte er: „Kauf dir eine Fahrkarte zur Hölle und laß dich nie wieder blicken." Sie war ziemlich sprachlos. „Vorher oder nachher?" „Bei mir ist ab sofort nachher, Madame! Los, hau ab!" Micheline hielt ihn offenbar für impotent. „Was hat ihn denn so verschreckt, meinen kleinen Nero?" Er holte aus und ohrfeigte sie. Es war das erste Mal, daß er eine Frau schlug. „Warum nicht schon früher?" höhnte sie. „Das macht mich an." „Und du ekelst mich an. Ich verspreche dir", sagte er, „eins wird Nero Nerone nie wieder tun: für eine Frau bezahlen." Er stopfte die Kleider in ihren Koffer, nahm ihre Tasche, dann sie, öffnete die Tü r und warf alles hinaus in den Hotelflur. Dann schlug er die Tür zu und goß sich einen Cognac ein. Plötzlich
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ging die Tür wieder auf, und Micheline schaute herein. „Und wenn ich dich liebe?" fragte sie. „Dann vergiß es." Er drehte sich um und wartete, bis sie gegangen war.
6. „Immer wieder bewundere ich die Fähigkeit unserer Regierung", sagte Bob Urban, „die Wirklichkeit zu ignorieren." Die Sonne schien in die Abteilung O. L Da auch die Heizung lief, war das Klima tropisch. „Das Forschungsministerium steckt mit vielen Millionen in dem Projekt", betonte der Operationschef des BND immer wieder. Dabei zog er das zerknitterte mausgraue Sakko aus. „Es gibt Unmengen von Subventionen." „Bei der Collmann-AG handelt es sich um etwas völlig Neuartiges." „Bei anderen Firmen auch. Alte Technologien fördert man wohl nicht mit Staatsmitteln", entgegnete Urban. „Bei anderen Firmen liegt auch kein Verdacht auf Industriespionage vor." ,,Liegt er bei Collmann vor?« erkundigte sich Urban beharrlich. „Das ist zu befürchten." „Dann ist es anderswo auch zu befürchten. Industriespionage gibt es immer, gab es schon zu Zeiten, als das Rad erfunden wurde, die Steinschleuder, das Schwarzpulver, das Porzellan und das bunte Murano-Glas. Allein die DDR unterhält auf dem Gebiet der Bundesrepublik Tausende von Agenten. Denen geht es um Neuentwicklungen und Produktionsmethoden und wahrlich nicht um das, was Minister A dem Minister B im Kabinett zugeflüstert hat." Sebastian wußte, wie wenig stichhaltig das Material war, das er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte. „Die Collmann-AG befürchtet Spionage." „Wer genau? Doktor Collmann oder die AG?" „Collmann selbst kehrt erst in diesen Tagen aus Tokio zurück. Aber er hat Order gegeben, alles zu tun, was möglich ist." Urban steckte sich eine Goldmundstückzigarette an. „Genaugenommen hat unser Dienst schon mehr für Collmann getan, als er überhaupt durfte." „Auf Wunsch des Kanzleramtes." „Ich habe die Papiere wiederbeschafft." „Zurückgegeben", schränkte Sebastian ein. Aber es ging ihm wohl nur darum, Urbans Verdienst zu schmälern. „Hauptsache, die Akten sind da. Das Lösegeld zahlte nicht Collmann, nicht
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wir, nicht Bonn, sondern die Versicherung. Könnte man diese Angelegenheit nicht endlich als begraben betrachten?" Sebastian öffnete einen Schnellhefter und klappte ihn wieder zu. „Gern", erklärte er, „sogar liebend gern, wenn dieses Gutachten des BKA nicht wäre." „Na schön, sie fanden Spuren eines Fotokopiervorgangs auf den Dokumenten." „Schallplatten, Kassetten und Videos kopieren sich noch müheloser." „Wer ist schon scharf auf den miesen Popkäse von Beatrix Cool. Das ist doch der Sound von vorgestern." Sebastian schien auf die Dokumente fixiert zu sein. „Sie wurden kopiert, das steht fest." Urban ließ den Rauch aufsteigen und schaute zu den Ulmen hinaus, deren Blätter schon tüchtig sprossen. „Ich hätte sie wohl auch kopiert", sagte er. „Wozu das denn?" „Wenn ich geheime Akten habe und will etwas dafür und muß befürchten, daß man mich aufs Kreuz zu legen versucht, dann fertige ich zu meiner Sicherheit eine Kopie an. Ganz einfach." „Und was wird aus der Kopie?" „Ich behalte sie, bis das Geschäft gelaufen ist." „Und wenn sich eine Chance bietet, die Dinger zweimal zu verkaufen, etwa an einen Konkurrenten, was dann?" Urban dachte nach. „Dazu müßte ich mich in die Psyche eines Ganoven versetzen. Na schön, dann verkaufe ich die Dokumente ein zweites Mal an die Konkurrenz. Dazu ist aber der richtige Kontakt erforderlich. Das ist immer das Hauptproblem aller Geschäfte. Wie findet man den, der gerade das braucht, was man hat? Wer konnte das Chemikerlatein auf dem Dokument entziffern, beurteilen, seinen Wert abschätzen?" „Wir zahlten ein Vermögen dafür, also besitzt es Wert. Und die Konkurrenz schläft nicht." „Dazu müßte sie gehört haben, daß Collmann Akten vermißt." „Da gibt es noch den Mann, dem Beatrix Cool das Material übergeben sollte." Urban räumte ein, daß dies recht mysteriös sei. Der Bursche war nie in Erscheinung getreten. Der langen Rede kurzer Sinn war, daß Urban fragte: „Und was soll geschehen?" „Wir sind gebeten, festzustellen, wer die Fotokopie hat." „Dann geht diese Forderung von Collmann aus - oder von der Firmenleitung?" ,, Anzunehmen.'' „Da man bei Collmann weiß, daß die Papiere brisant sind, will man wissen,
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wer sie vervielfältigte. Mit diesem Clan sollte man ein Wörtchen reden." „Erst stellen Sie weitere Nachforschungen an." „Wo? In Nizza?" fragte Urban. „Wurde das Auto etwa in Schwabing geklaut?".76 „Wäre mir fast lieber", gestand Urban. Doch der Alte glaubte ihm nicht und hob die flache Hand mit den kurzen Würstchen daran, die er Finger nannte. „Sie sind der ehrlichste Schwindler, den ich kenne, Nummer achtzehn. Wenn Sie einen Landstrich mögen, dann ist es . . ." „Spanien", unterbrach Urban. „Aber Nizza ist der halbe Weg dahin." In Nizza gab es Probleme und wiederum keine. Auf der Präfektur kannten sie den Mann, den Urban beschrieb. Das konnte nur Nero Nerone sein, genannt der kleine Korse. Sie hatten sogar ein Foto. Irgendwann war der Bursche aufgefallen und registriert worden. ,,Aber er ist schon seit Wochen nicht mehr in der Stadt", hieß es. „Wird ihm doch nichts zugestoßen sein", sagte Urban. „Nicht dieser Laus", spotteten sie. „Läuse wie der sind unknackbar. Für alles gibt es ein Mittel. Große Tiere sind besonders empfindlich gegen Blatt- und andere Schüsse. Aber gegen Läuse wie Nero bist du machtlos. Er grinst dich an mit seiner hungrigen Visage, und du sagst zu ihm: Hau ab, Mann, kauf dir was zu essen. Hier hast du fünf Francs!" So etwa hatte Urban das kleine windige Kerlchen in den zerschlissenen Klamotten und dem Simca, den nur die Farbe noch zusammenhielt, in Erinnerung. Aber auch die nächtliche Stunde an der Kirche in Marseille fiel ihm ein. In Neros Simca hatte der Austausch stattgefunden. Die Worte des Inspektors klangen in Urbans Ohr nach: Er ist schon seit Wochen nicht mehr in der Stadt. Und wenn sie ihn umgelegt hatten? Urban wollte nicht gleich das Schlimmste annehmen. Er steckte das Foto ein und fragte: „Wo erhält man hier vernünftige Tips?" ,,Die schlechtesten im Negresco-Hotel." Klar, das war ein Luxusschuppen. „Und die besseren?" „Überall." Urban machte sich auf den Weg nach „überall", aber erst um Mitternacht herum. Er stand an den Bartheken, trank und redete mit diesem und jenem. Wenn ihm sein Gefühl sagte, der Bursche da ist aus der Szene, fragte er ihn aus. „Wo steckt Nero?" Meistens bestand die Antwort aus einem Schulterzucken. Aber da er oft
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fragte, erhielt er viele Antworten. Auch von einer ziemlich attraktiven Blondine. „Nero ist verrückt geworden", sagte sie. „Klapsmühlenmäßig?" fragte Urban. „Nein, portemonaiemäßig. Er zog das große Los." „In der Lotterie?" „Und gleich viermal." „Gib mir den Namen der Lotterie." „War ja keine. Erst ein Deal, dann die Pferderennbahn, dann der Spielsalon, dann die Börse, dann ein Blaßgesicht wie mein Hautarzt. Verstehst du das?" „Er muß unter die Irren gegangen sein." „Davon rede ich doch." Er spendierte ihr Drinks und merkte, daß er ihr gefiel. Ihr Knie war zwischen seinen Oberschenkeln ziemlich rege. Er nutzte es aus und erfuhr die Adresse, wo Nero einst gewohnt hatte. „Aber den findest du dort nicht mehr. Der verkehrt nur noch mit feinen Pinkeln." „Muß ihn sehen. Hab 'nen Gruß von seiner Oma" „Hatte der je so was wie 'ne Oma?" „In Korsika." Sie lachte laut. „Dann grüß ihn auch von mir, von Micheline." Sie küßte ihn und schrieb ihm mit Lippenstift die Telefonnummer auf den Handrücken. „Bis bald, Chérie!" rief sie. Er suchte seinen BMW in den verwinkelten Gassen, rangierte ihn, nicht ohne Anbumsen, aus der Enge und fuhr nach Norden hinaus. Hinter der Bahn wurden die Viertel ärmlicher. Die Adresse war Rue Cambeau Nr. 11. Weit draußen hielt er an und überquerte die Straße. Die Tür zum Vorgarten stand offen. Seitlich führte eine Treppe zum Obergeschoß. Er nahm sie. An der Tür, mit Reißzwecken angepinnt, ein Stück Pappe: N. Nerone. Kein Licht brannte. Er zögerte, legte das Ohr an. Nichts zu hören. Also knackte er das lächerliche Schloß mit einem Gegenstand, der nicht viel besser war als ein gekrümmter Zeigefinger. Drinnen schaute er sich um. Eine ärmliche Bude. Bett, Tisch, Schrank, ein Gaskocher. Hinter einem Plastikvorhang Waschbekken, WC und Dusche, alles im Miniformat. Urban knipste seine Kugelschreiberlampe aus, zog die Vorhänge zu und machte Licht. Seitlich hing ein Regal, darauf Bücher, Zeitschriften, Papierkram. Es gab auch Tonbandkassetten und Videokassetten, aber weit und breit kein Abspielgerät. Bei den Papieren handelte es sich um Anträge auf Sozialhilfe, Krankenscheine, Rechnungen, Mahnungen. Unten im Schrank
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lag ein Schuhkarton. Darin wieder Papiere, BlankoKraftfahrzeugscheine, Blanko-Führerscheinvordrucke, ein paar vergilbte Euroschecks, vermutlich Diebesgut. Erstklassig ging es dem Burschen gewiß nicht. Drunten fuhr ein Wagen vorbei. Urban suchte weiter. Ohne Nero gelangte er wohl nicht zum Ziel. Auf der Stange im Schrank hingen ein Mantel, ein ausgewaschener Jeansanzug, eine Hose. Er schaute alle Taschen durch, griff zwischen die Hemden und Unterwäsche. Es gab zu viele Möglichkeiten, Dokumente wie die von ihm gesuchten zu verstecken. Vorausgesetzt, Nero war es, der die Kopie hatte, und vorausgesetzt, er hatte die Kopien überhaupt gemacht. Dazu mußte er aber ihre Wichtigkeit erkannt haben. Urban blickte in den Spiegel. Da sah er, daß die Tür offenstand. Also drang auch Licht hinein. Verdammt, er hatte sie nicht richtig einschnappen lassen, und der Wind hatte sie wieder aufgedrückt. Aber es war nicht der Wind gewesen. Jetzt erst sah er den Zwerg hinter sich. Nicht direkt einen Zwerg, aber für einen Mann war er verdammt kleinwüchsig. Und er hatte ein ungeheures Ding von einer Kanone, rostbraun wie aus dem Schrott von Verdun. Er hielt sie beidhändig links und rechts. Die Waffe zielte in Urbans Nacken. Auf irgendeine Weise fand Urban die Situation eher komisch. Er mußte an den Reim denken: »Steht ein winzig Männlein da, fängt gleich an zu niesen." Nero - wer konnte es anders sein! - sprach kein Wort. Er atmete nur hörbar. Urban drehte sich langsam um. Der Bursche mußte geerbt haben - seiner übertriebenen Eleganz nach zu urteilen. Er war gekleidet wie einer, der sich teure Klamotten leisten konnte, aber bei der Farbwahl Probleme hatte. Zu der dunklen Nadelstreifenhose trug er Galoschen in Hellgelb. Kein Gentleman trug nach siebzehn Uhr etwas anderes als schwarze Schuhe. Urban, der an einem leichten Geburtsfehler litt, was sich als Muskelschwäche in den Mundwinkeln auswirkte, verstärkte dieses Lächeln. Der Kleine mißverstand es offenbar. Er schoß sofort. Mit einem ungeheuren Bums ging die Waffe los, traf aber nicht. Er hatte Urban gar nicht treffen wollen. Die Kugel hatte die Lampe ausgeblasen. Im Dunkel fühlte Urban einen Schlag im Nacken.
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Er ging nicht völlig über den Jordan davon, aber doch einige Schritte. Er nahm noch alles wahr, konnte nur nichts tun. Nero fummelte bei den Matratzen herum, dann knallte die Tür zu. Ein Auto fuhr weg. Urban suchte Halt, tastete nach dem Stuhl und ließ sich, weil es näher war, auf das Bett fallen. Wenige Minuten später war er wieder voll da. Die Tür ging von innen so leicht auf wie von außen. Im Freien wehte ein leichter Wind. Er kam von Süden und hatte sich in Afrika schon vorgewärmt. Weit und breit kein Fahrzeug und kein Mensch zu sehen. Nur Radiomusik drang aus einem offenen Fenster. Der Schuß hatte nicht einmal einen Hund aus dem Schlaf gerissen. Micheline war Neros Freundin. Micheline hatte ihm ihre Telefonnummer gegeben. Die Kripo lieferte ihm die Adresse dazu. Vielleicht wußte das Mädchen ein wenig mehr. Aber sie hatte wohl bestimmte Preisvorstellungen. Sie wohnte in der Rue Lanscaris, die dritte Straße hinter dem Hafenquai, Appartement Nummer 34. In eine Lücke zwischen die parkenden Wagen hatte sich ein CX geschoben. Er stand ziemlich schräg da. Mit dem Heck ragte er weit in die Straße, mit dem Vorderteil blockierte er den Gehsteig. Der Fahrer mußte es eilig gehabt haben. Urban tastete die Motorhauben mehrerer Wagen ab. Nur die des Citroen war spürbar warm. Micheline hatte Appartement Nr. 34. Laut Klingelschild gab es in jeder Etage vier Wohnungen. Einige Namensschilder fehlten. Vermutlich wohnte sie aber im Dritten. Hinter einem Eckfenster brannte noch Licht. Die Tür ließ sich aufdrücken. Der Schnapper war defekt. Lift gab es keinen. Urban nahm die Treppe und tastete sich durch einen Korridor zur Nordseite. Wo aus dem Fenster Licht gefallen war, sah er auch Licht unter der Eingangstür. Er suchte nach der Klingel. Sie fehlte. Nur zwei Drähte hingen lose weg. Aber er hörte Stimmen. Er klopfte. Noch stärker. „Wer ist da?" Das mußte Micheline sein. „Robert aus der Bar." „Sekunde!" Wieder Stimmen. Dann das Patschen nackter Füße. Es wurde geöffnet. Die Flurlampe ließ ihr Haar schimmern, als habe sie einen Glorienschein. Aber ein Engel war das nicht. Sie trug einen Hausmantel aus dünner, schwarzer Seide, nichts darunter. Scharf zeichneten sich die Spitzen ihrer Brüste ab.
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„Ist das eine Überraschung!" rief sie entzückt. „Eine böse?" „Eine feine", sagte sie. „Du willst wirklich zu mir?" „Zu wem sonst." Dabei sah er sich um. Eine winzige Wohnung. Vom Entree führte links und rechts je eine Tür, vermutlich in Bad und Küche. Dann folgte ein Durchgang in den Wohnschlafraum. Zur Barbeleuchtung paßte das Mobilar. Alles ein wenig plüschig in Lila und Rot. Auf dem breiten Bett Kuscheltiere. Darüber ein Poster der Dame ganz in nackt. Bevor er Micheline in ihr Boudoir folgte, war Urban einen Moment an der Wohnungstür stehengeblieben. Mit einer Hand am Rücken sperrte er zu und zog den Schlüssel ab. „Einen Drink?" „Was hast du?" „Wenn ich Kognak, Whisky und Dubonnet zusammengieße, reicht es für ein Glas." „Tu's", sagte er, „vielleicht wird es ein Zufallstreffer." Es wurde nur eine halbe Portion. Sie bedauerte es. Doch dann schien ihr einzufallen, daß es noch andere Erfrischungen gab. „Ich war sehr wild auf dich in der Bar." „Und jetzt?" „Bin ich noch wilder." Leider ging es ihm um etwas anderes. Und das mußte er in erster Linie vom Tisch haben. „Darf ich mal in dein Bad?" fragte er. „Hände waschen." „Und dann?" „Mal sehen." „Wieso Hände waschen? Was willst du mit den Händen? Wozu braucht man Hände?" Entweder wollte sie nicht, daß er ins Bad ging, weil Nero dort saß, oder sie hatte es ungeheuer eilig. Sie schmiegte sich an ihn. Lächelnd löste er sich, öffnete die Tür zum Bad, ließ den Hahn kurz laufen und kehrte zurück. Micheline hatte schon den Goldschuppengürtel des Negliges geöffnet. Er fand den Kontrast von heller Haut und schwarzer Seide etwas zu scharf. Seine Zurückhaltung schien sie zu irritieren. Sie warf sich an ihn, kaute auf seinen Lippen herum und stöhnte und flüsterte Sachen, von denen er nur die Hälfte verstand. „Es kostet dich gar keine Mühe - leg dich einfach hin - ich zieh dich aus - den Rest mache ich allein - ich lege mich auf dich, ja - et alors ..." Er packte sie bei den Schultern, stemmte sie regelrecht von sich weg und schüttelte sie wach. „Okay, aber wo ist Nero?" Sie erschrak und bewegte nur die Augen. „Wo Nero ist?" „Hier ist Nero, ihr Schweinepack!" Seine Stimme war überraschend kernig und dunkel. Auch
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diesmal hatte er die rostige Kanone in der Hand. Ein Ding, beinahe wie eine Strahlenwaffe aus einer anderen Galaxis. Ob er wieder nur das Licht ausschoß, war nicht mit Sicherheit vorherzusagen. Urban schleuderte Micheline gegen Neros linke Schulter. Der Aufprall brachte die Laufmündung aus der Visierlinie. Aber der Kleine wollte wohl gar nicht ballern. Sonst hätte er es längst getan, ehe ihn Urbans Faust am Kinn traf und er auf das Sofa segelte. Die Waffe krachte schwer zu Boden. Urban hob sie auf und setzte sie dem Korsen an die Schläfe. „Jetzt bist du dran, Nero", erklärte Urban. „Das mußt du akzeptieren wie die Tatsache, daß der Mont Blanc ein ziemlich hoher Berg ist." Der Korse hatte selbst jetzt noch listige Augen. „Dem ist wohl nichts hinzuzufügen", stellte er fest. „Abgesehen davon, daß es den Nagel auf den Kopf trifft", ergänzte Urban. Nach einer Stunde wußte Urban alles, und er nahm an, daß es sich fast um die Wahrheit handelte. Einer wie Nero ließ sich keine 9-Millimeter ins Ohr bohren und log dann noch das Blaue vom Himmel. „Nur Popmusik und Videos", winselte er, „ich schwöre." „Du hast die Bänder kopiert?" „Die Musik ja. Ein paar Nummern gefielen mir, waren recht heiß." „Wie viele Kassetten hast du gemacht?" „Drei oder vier. Eine für mich, eine für Micheline, eine für meine Kumpels." „Und was ist mit den Fotokopien?" Nero wollte beschwören, daß er zwar daran gedacht hätte, die Papiere im Umschlag vervielfältigen zu lassen, es dann aber unterlassen hätte. „Ebenso hätte ich den Koran lesen können. Das Zeug war wirklich nur für den Erfinder wichtig." „Oder für den Sohn des Erfinders", bemerkte Urban, ohne näher darauf einzugehen, was er damit meinte. „Dann muß es die MAEXIMCO kopiert haben." „Perritier?" fragte der Kleine. „Oder der Boß, Lacrosse." Nero schüttelte sich fast vor Lachen. „Für die wäre das ein völlig artfremdes Geschäft. Die sind froh gewesen, als sie die Kohlen hatten und den Kram los waren." Nero brachte alles auf eine Weise und mit so vielen Details, daß man ihm glauben mußte. „Wollen Sie eins von den Bändern, Monsieur?" „Danke, behalte sie." „Falls Sie mit Lacrosse sprechen, wegen der Kopien, von mir haben Sie seine Adresse nicht." Urban
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hatte sich noch eine Frage aufgehoben. „Wie lief das alles ab, Nero?" Der Korse atmete tief, als hole er zu einer langen Geschichte aus, doch dann packte er alles in wenige Sätze. „Ich knackte den Mercedes. Das war meine einzige Straftat. Noch in der Nacht verkaufte ich ihn an Calmu, einen Mann von Lacrosses Organisation. Für achtzehntausend. Ich dachte, das wär's. Da erschienen sie und wollten den Koffer und die Decke. Ich beschaffte das Zeug. Diesmal kassierte ich schon fünfzig Mille. Du hast 'nen Fortuna-Trip, denke ich, fahre nach Paris gewinne beim Pferderennen und in Deauville beim Roulette. Mit den schnellen Moneten laß ich mich auf einen Warenterminhandel mit Kaffeebohnen ein. Der Broker meldet sich zwei Tage danach und kauft den Kontrakt zurück - fürs Doppelte. Und.86 dann treffe ich einen, der mir zwölf neue Bagger andreht. Die Bagger übernehmen Araber, die quer durch Persien 'ne Autobahn bauen - für Cash." Daher also der Reichtum, der zu der goldenen Rolex geführt hatte. Urban trug nur eine aus Platin und Stahl. Er warf die Kanonen in den Sessel. „Das Ding da", riet er, „solltest du neu verrosten lassen. Da kommt schon bald der Chrom durch." Dann ging er und ließ sowohl Nero als auch Micheline ziemlich unbefriedigt zurück.
7. Emile Lacrosse war kurz vor Beginn des Krieges als Sohn eines Taxifahrers in Genua geboren worden. Sein Vater fiel in Afrika. Seine Mutter kehrte daraufhin nach Frankreich zurück und nahm ihren Mädchennamen wieder an. Weil man ihn in der Schule wegen seiner abgetragenen Anzüge hänselte, beschloß Lacrosse, reich zu werden, reicher als die Reichsten, die er kannte. Dies schaffte er mit Rücksichtslosigkeit und Durchsetzungsvermögen. Inzwischen hatte er sich eine pompöse Villa und den Habitus der französischen Oberklasse zugelegt. Er kleidete sich stets überkorrekt und sprach leise, betont und gewählt, als habe er eine Universität besucht. Dank seiner messerscharfen Intelligenz überrundete er bald alle Konkurrenten. Auf seine späten Besucher wirkte er eher zurückhaltend. Die Engländer glaubten beinahe, einen der
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ihren vor sich zu haben. „Monsieur Lacrosse", sagten sie, „wir danken Ihnen für die Überlassung der Dokumente." ,,Sie haben dafür bezahlt, Messieurs", erwiderte Lacrosse und strich sein Menjou-Bärtchen. Es war ein wenig altmodisch und zu scharf geschnitten, aber wie er Modemagazinen entnommen hatte, war diese Art, die Oberlippe zu schmücken, wieder im Kommen. „Aus der Sache", fuhren die Engländer fort, „könnte ein Milliardengeschäft werden." Lacrosse hob die Brauen. „Sprechen Sie von Francs?" „Wir sprechen nicht einmal von Dollars, wir reden von Pfund Sterling, Monsieur." Lacrosse lächelte. „Und das erzählen Sie weiter, ohne es alleine zu machen? Wie überaus menschenfreundlich, meine Herren." Die Engländer spürten die Ironie in seinen Worten und wußten, daß sie zum Thema kommen sollten. „Die Collmann-Papiere sind trächtig." „Dann melken Sie sie, Gentlemen", riet Lacrosse und spürte, daß sie etwas von ihm haben wollten, ohne das es offenbar nicht ging. „Wenn das so einfach wäre." Lacrosse begehrte jetzt Konkretes zu wissen. „Wie stellen Sie sich das Milliardengeschäft vor, Messieurs?" Der zweite Engländer, vermutlich der Finanzexperte, führte das Nähere aus. „Es gibt drei Varianten", erläuterte er. „Wir kaufen Ihnen etwas ab, Sie beteiligen sich am Risiko, oder Sie werden unser Partner." Am liebsten sah Lacrosse immer Bargeld. „Wie hoch wäre mein Gewinn, vorausgesetzt, ich kann erfüllen, was Sie von mir erwarten?" Der für Finanzen zuständige Engländer befragte seinen Taschenrechner. Dabei vertippte er sich mehrmals auf der, wie bei kleinen Rechnern üblich, unzulänglichen Tastatur. Dann las er ab und rechnete noch einmal alles im Kopf nach. „Ungefähr eine Million Pfund Sterling." „Bei we lcher Variante?" „Bei Cash, wenn Sie haben, was wir suchen." „Und bei Provision?" „Wenn das Geschäft so läuft, wie wir uns vorstellen, das Zehnfache binnen eines Jahres." „Und bei Partnerschaft?" erkundigte sich der Franzose. Der andere bewegte nervös die Brauen. „Das, Monsieur, kann bis in den Milliardenbereich gehen." Märchen, Sphärenklänge, Zukunftsmusik, dachte Lacrosse. „Um was handelt es sich überhaupt?" Die Besucher blickten sich auf eine Weise an, als
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überlegten sie, ob sie mehr preisgeben sollten. Der mit dem Rechner tat es. „Um Weizen." Lacrosse staunte. „Sie meinen diese auf Halmen wachsenden gelben Körner, aus denen man Mehl mahlt zum Backen von Brötchen?" ,,Genau diese." „Und woran wollen Sie die Millionen verdienen?" „Das geht natürlich nur, we nn man in Dimensionen der Weltweizenernte denkt." Lacrosse begann sie für Spinner zu halten und ging auf die zentrale Frage los. „Was muß ich für Sie tun, wenn ich die erste Variante wählte?" . Nun rückten sie endlich mit Fakten heraus. „Durch Bemühungen einer Londoner Rückversicherungsfirma für gestohlene Fahrzeuge wurden wir auf Sie aufmerksam. Sie konnten die Papiere wiederbeschaffen und für uns kopieren. Da wir umfangreiche Querverbindungen unterhalten, wissen wir um die Brisanz der CollmannForschungen. Wozu und wofür wir seine letzte Entdeckung nutzen wollen, das möchten wir jetzt nicht ausbreiten, Monsieur Lacrosse. Also nur soviel: Die Dokumente sind erstklassig, aber nicht vollständig." Lacrosse erinnerte sich, daß sie durchnumeriert gewesen waren und nichts gefehlt hatte. Er erwähnte dies. Aber die Engländer lächelten. „Im Grunde fehlt nur das Tüpfelchen auf dem i. Aber ohne diesen letzten Kick geht es nicht." „Geht was nicht, bitte?" „Mister Lacrosse, liefern Sie uns den I-Punkt, und Sie sind voll mit im Gewinn." Lacrosse verließ den Salon. Von seinem Arbeitsraum aus telefonierte er mit Perritier und dann mit Calmu. Nachdem er genaue Anweisungen erlassen hatte, kehrte er zu den Briten zurück. „Gentlemen", versprach er, „wenn das, was in den Dokumenten fehlt, je vorhanden war, dann finden wir es." ,,Über den Preis sind wir einig?" „Über den Preis", sagte Lacrosse, „reden wir, wenn es soweit ist." Nero Nerone wurde zu Lacrosse nach Marseille gebeten. Sie befahlen ihm nicht etwa, zu erscheinen, denn wohlhabende Leute pflegten solche Ansinnen zu ignorieren. Lacrosse wußte, daß Nerone zu Geld gekommen war und sich nunmehr aufspielte wie ein Zirkusdirektor. Also erließ er entsprechende Anweisungen. Nero fiel offenbar auf den roten Teppich herein. Er stolzierte in die Lacrosse-Villa wie der Graf von Luxemburg. Doch als er
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das Arbeitszimmer betrat, empfing ihn Eiseskälte. Im Halbkreis saßen da der Chef der MAEXIMCO, Perritier, der studierte Schlauberger, und Calmu, das brutale Aas. Lacrosse thronte in der Mitte. Er breitete die Arme aus. „Mon Ami!" rief er. Aber er stand nicht auf, um den Besucher zu begrüßen. Nero hielt ebenfalls auf Distanz. „Monsieur", sagte er unbewegten Gesichts. „Du hast Karriere gemacht", bemerkte Lacrosse, „hast deine wahren Talente gezeigt." „Und deine Zähne", ergänzte Calmu. Nero wußte, was Calmu ärgerte, und vermied es, ihn anzusehen. Im übrigen gab er sich weder arrogant noch herablassend, sondern freundlich, dies aber nicht allzusehr. Du hast ein paar Millionen im Kreuz, sagte er sich immer wieder, du bist clever, sie brauchen dich jetzt, diese Typen. Noch wußte er nicht, was sie wollten. Er hatte nur eine dumpfe Ahnung. Lacrosse ergriff wieder das Wort. „Das mit den belgischen Baggern war eine ausgesprochen unfreundliche Geste, Monsieur Nerone." Nero blickte sich um. „Steht hier etwa jemand vor Gericht?" Lacrosse gab sich wie ein Staatsanwalt. „Wir nicht, Monsieur Nerone." „Ich also." „Nun, wenn Sie es so sehen, möchte ich Ihnen nicht widersprechen.'' Unaufgefordert zog Nero einen Stuhl heran und setzte sich. Er wagte es, weil er sich stark fühlte und sein Erfolg es mit sich brachte, daß sie in seinen Augen auf Normalgröße schrumpften. Er hatte ihnen eine schmerzhafte Niederlage beigebracht, aber darum ging es wohl gar nicht. Sie benutzten sie nur als Aufhänger. „Ich sehe Sie ganz und gar nicht als Richter, Lacrosse", entgegnete er, „auch wenn Sie versuchen, sich den Anschein zu geben. Und was das Baggergeschäft betrifft, es wurde mir angetragen." „Von wem?" „Sie kennen ihn ja doch nicht." „Aber du wußtest", erhob nun Calmu die Stimme, „daß Baumaschinen mein Sektor sind." Nero nickte. „Niemand außer dir, Calmu, hat in den letzten sieben Jahren auch nur eine einzige gebrauchte oder neue Baumaschine in bestimmte Teile Afrikas und Arabiens verkauft." „Na bitte!" brüstete sich der Algerier. „Aber das muß nicht immer so sein und bleiben", fügte Nero hinzu. Calmu sprang auf. Lacrosse hielt ihn zurück. „Das richtet sich persönlich gegen mich!"
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schrie Calmu. „Den Burschen stoße ich wieder auf das Format, das er vor drei Wochen hatte. Nämlich auf Null." Nero steckte sich eine Zigarette an, eine ungefilterte Gitanes. Ihr scharfer Gestank erfüllte den Raum mit den Düften des niederen Volkes. „Erraten", sagte Nero. „Es richtet sich allein und ausnahmslos gegen dich, Calmu. Ich habe nicht das Geringste gegen die MAEXIMCO - und nichts gegen Sie, Lacrosse. Aber mit Calmu habe ich noch eine Rechnung offen. Immer wieder hat er mich, mit Verlaub gesagt, aufs gemeinste behandelt und beschissen. Bon, jetzt sind wir quitt." Calmu war nicht mehr zu halten. „Ich fordere fünfzig Prozent", schrie er, „des Gewinns aus dem Baggergeschäft als Entschädigung dafür, daß du es mir kaputtgemacht hast!" Nero fühlte sich noch stärker werden. „Dann würde ich rasch mal zum Arzt gehen, Calmu." „Blödsinn, ich bin gesund, warum sollte ich?" „Um einem Herzanfall vorzubeugen, wenn du erfährst, daß ich gestern hundert Radlader von Harvester-International nach Bagdad vermitteln konnte." Calmu lief rot an und geriet außer sich. „Ich lege dich um, du Bastard von einem Zwerg!" Nero befürchtete, daß er zu weit gegangen sei. Man gab keine Geschäftsgeheimnisse preis, nur um einen Gegner zur Explosion zu bringen. Er erkannte seinen Fehler, glaubte aber, daß mit oder ohne Fehler die Prozedur ohnehin programmiert war und auf einen Punkt hinauslief. Er wußte nur noch nicht, auf welchen. Nun ergriff Perritier das Wort. „Natürlich kennen wir deinen Partner in Paris. Dein Verhalten nenne ich einen Verstoß gegen das ungeschriebene Gesetz der Branche. Man arbeitet nicht mit einem Mann zusammen, der Partner von Freunden ist. Du wirst fortan kein Geschäft mehr abschließen können, das wir nicht konterkarieren. Du wirst kein Gespräch führen, was wir nicht abhören, keinen Schritt tun, den wir nicht beobachten. Wenn uns eine einzige deiner Bewegungen mißfällt, bist du ein toter Mann. Du vergißt, nur weil du zwei-, dreimal ein goldenes Händchen hattest, wer wir sind und wer hier die Macht ausübt." „Die Welt ist groß und hat für alle Platz." Mehr fiel Nero dazu nicht ein. „Aber wir sind in Marseille und nicht in der Südsee." „Ich lege ihn um!" zischte
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Calmu. „Ich mache ihn kalt! Für so einen Wicht wie den genügt eine halbe Patrone. Was sage ich, ein Luftgewehr genügt für den!" Nun ergriff der große Boß das Wort, und es sah aus, als gehöre auch das zur Regie des Abends. „Freunde", rief er, „mäßigt euch!" Dann erklärte er Nero mit gesetzten Worten, daß es wohl keine Zweifel gebe, daß er sich nach den Gesetzen der Unterwelt schuldig gemacht habe. Er räumte ein, daß ein Mann mit Talent durchaus einmal über das Ziel hinausschießen dürfe und man ihm das verzeihen würde, wenn er reumütig in den Schoß der Familie zurückkehre. Er sprach nicht von Strafmaßnahmen, nicht von Sühne, er fragte nur, ob Nero bereit sei, der Firma beizutreten. „Als Juniorpartner!" Nero, dem es um Zeitgewinn ging, er wollte nur noch lebend aus der Villa heraus, nickte erst einmal vorsorglich, „Nach einer gewissen Zeit der Bewährung", fuhr Lacrosse fort, „werde ich meine Partner vielleicht dazu überreden können, es mit dir als Vollmitglied zu versuchen. Tüchtige Leute .mit Ideen und Energie können wir immer brauchen." Vorsicht, dachte Nero, das läuft auf Bedingungen hinaus. „Aber", kam Lacrosse zum Hauptpunkt, „ich sagte schon, Bewährung muß seih. Du bist ein schlauer Kopf, Nerone, und wir haben eine angemessene Aufgabe für dich." Am liebsten hätte er seinen Hut genommen und wäre zur Tür hinausmarschiert. Er kannte sie doch, diese Kanaillen. Immer mauschelten sie ihre Geschäfte allein, um auch allein den Gewinn einzustecken. Wenn sie eine Art Aufnahmegebühr für den Club verlangten, dann war die Sache heiß und kostete ihn am Ende mehr als nur die Gesundheit. „Ich höre", erklärte er ruhiger, als er war. „Eine Sache von internationaler Dimension", erklärte Lacrosse, „genau das Richtige für dich. Dazu winkt hoher Lohn." „Und hohe Gefahr." „Das leugne ich gar nicht. Aber der Verteilerschlüssel wird deine Zustimmung finden. Fünfzehn Prozent vom Nettoerlös jeweils für dich, für Calmu und Perritier. Der Rest ist für mich." „Fünfzehn Prozent von wieviel?" wollte Nero wissen. Das konnte Lacrosse nicht genau beziffern. Er antwortete trotzdem. „Der Gewinn kann bis an die Hundertmillionen-Dollar-Grenze gehen. Oder darüber." Das ist
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ein Todeskommando, durchfuhr es Nero. „So viele Bagger gibt es gar nicht, und so viele Straßen werden nirgendwo gebaut." Die drei Inquisitoren blickten sich an und lächelten. Perritier faßte es in wenige Worte. „Es geht um den Hunger in der Welt." „Gegen den Hunger?" Calmu schüttelte den Kopf. Es bereitete ihm sichtlich Vergnügen, die Wahrheit zu sagen. „Für den Hunger. Denn nur mit Hungrigen kannst du Geschäfte machen, nicht mit den Satten." Was Nero in Andeutungen erfuhr, versetzte ihn in Schrecken. Aber es gab keine Chance, wieder auszusteigen. Jetzt wußte er zuviel. Außerdem stand er bei ihnen im Soll. Er mußte mitziehen. Wenn er sich absetzte, ihre Killer fanden ihn. Nur eins hätte ihn vielleicht gerettet eine gefährliche, anstreckende Krankheit. Aber er war kerngesund. Und er wollte es verdammt gern noch eine Weile bleiben. Auf der Rückfahrt nach Nizza stellte Nero Überlegungen an, welche Möglichkeiten es gab, sich schmerzlos außer Dienst zu stellen, sich für einige Zeit aus dem Verkehr zu ziehen, und zwar so, daß es legal aussah. Zu Hause dann, in seinem neuen eleganten Appartement, für das er eine Schandmiete von 4000 Francs zu entrichten hatte, sah er die Bescherung. Er hatte Besuch gehabt. Ein Profi wie er erkannte auf den ersten Blick, was die Einbrecher interessiert hatte. Auf keinen Fall Wertgegenstände. Sie hatten den Schreibtisch durchsucht, den Safe hinter dem Dali-Litho geöffnet, den Schrank im Schlafzimmer durchwühlt und sich mit seinen Schallplatten und Tonbandkassetten befaßt. Leute aus der Unterwelt von Nizza waren das nicht gewesen. Sie wußten, daß er hier wohnte. Sie beklauten nicht ihre eigenen Freunde. Die Burschen waren von außerhalb. Eine der Kassetten, und zwar eins der Beatrix-Cool-Bänder, fehlte. Ob es sich um das Original oder um eine der Kopien handelte, ließ sich nicht feststellen. Kein Zweifel, das waren Lacrosses Leute gewesen. Während er in Marseille um seinen Kopf kämpfte, hatten sie hier das Gelände sondiert. Offenbar war es nicht um Geschäftspapiere, Kontrakte et cetera gegangen, die hatte er alle im Tresor der Bank liegen. Das Tonband also. Aber warum? Sie hatten nicht nur die Collmann-Dokumente,
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sondern alles erhalten, was im Koffer gewesen war. Nero goß sich einen Martell ein. War die Einladung nach Marseille nur erfolgt, um Lacrosses Leuten Zeit zu ve rschaffen? Die hätten sie auch auf andere Weise haben können. Er war häufig unterwegs. Nach Augenblicken der Erleichterung wurde der Stein im Magen wieder spürbar. Das eine hatte mit dem anderen zu tun, und nichts täuschte über die Tatsache hinweg, daß er ihr Komplice geworden war. Er trank noch einen Doppelten. Dann leerte er die ganze Flasche. Er betrank sich absichtlich, denn er sah nur noch einen Ausweg. Den Plan Nummer drei. Als er so betrunken war, daß er sich gerade noch auf den Beinen hielt, um das Haus zu verlassen, lallte er einen Abschiedsgruß auf Michelines Anrufbeantworter. Dann steckte er sein Autoknackerbesteck ein, löschte das Licht, sperrte ab und begab sich auf die Suche nach einem leicht zu öffnenden Fahrzeug. Er taumelte den Quai St. Jean Baptiste entlang und bog in Richtung Château ab, wobei er die Altstadt durchqueren mußte. Er hatte Mühe, gerade zu gehen. Soviel Kognak war er nicht gewohnt. Als ihm schon übel wurde, sah er einen R-4, ein unproblematisches Auto, was das Knacken betraf. Außerdem war die Tür links offen. Er riß die Sperre ab, schloß kurz, ließ zittrig an und fuhr los. Ohne Licht. Er tat alles mit voller Absicht. Der Alkohol wirkte jetzt auf eine Weise, daß die Straße so eng wurde wie das hintere Ende eines Tunnels. Indem er noch überlegte, wie es am besten hinzukriegen sei, stieß er an der Promenade des Anglais heraus und fuhr sie auf der falschen Seite, gegen den Verkehr also, Richtung Cannes. Ein Busfahrer riß seinen Vierzigsitzer gerade noch herum. Auf der anderen Seite drüben blinkte das Blaulicht der Polizei auf. Eine Einsatzsirene heulte. Jetzt, dachte Nero, lenkte scharf nach rechts, fuhr auf den grasbewachsenen Mittelstreifen und dort gegen den Stamm einer Palme. Blech beulte ein, Glas splitterte, aus dem heißen Kühler spritzten Wasser und Dampf. Das Lenkrad hatte Neros Brustkorb touchiert, aber nicht allzusehr. Am Kopf blutete er aus einer Platzwunde. Schon war die Polizei zur Stelle. Sie zogen ihn heraus und versuchten, ihn auf die Beine zu stellen. Vergebens. „Der Kerl ist
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stockbesoffen." „Total", sagte Nero. „Ihre Papiere!" „Habe keine." „Wem gehört das Fahrzeug?" „Weiß ich nicht." „Gestohlen, wie?" „W-wer", stammelte er, ,,ha-hat in s-so 'ner lau-auen Nacht schon Lust zu F-Fuß zu gehn, Monsieur Commissaire?" Einer der Polizisten erkannte ihn. „Das kostet dich einen längeren Aufenthalt hinter vergitterten Fenstern, Nero." Nero streckte die Hände vor und kreuzte die Gelenke. „Ich bitte darum", sagte er.
8. Bonn war in diesem verregneten Frühjahr keine Reise wert. Der BND-Agent Robert Urban war in die Regierungshauptstadt gebeten worden, und er hatte diesem Wunsch entsprochen. Jetzt saß er in einem der Hochbauten am Rheinufer in einem nach Leder und Nußbaum duftenden Konferenzzimmer, mit ihm der Minister und sein Staatssekretär. Der Minister eröffnete. „Sie haben vorzügliche Arbeit geleistet." „Mehr war nicht herauszuholen." „Fürs erste wohl kaum." Sie trugen ungeheuer besorgte Gesichter zur Schau, als wüßten sie mehr als er. „Um was haben Sie Angst?" fragte Urban direkt. Der Minister drückte es griffig aus. „Um Deutschland." „Ein großes Wort. Wir stehen doch wohl nicht am Vorabend eines Krieges, oder?" „Es gibt natürlich Schlimmeres", meinte der Staatssekretär. Urban nahm an, daß ihr Sorgenkind nicht die Subventionsmillionen bei der Collmann-AG waren. „In der Tat, es geht nicht um Geld allein", erklärte man ihm, „es handelt sich um Doktor Collmanns entscheidende letzte Erkenntnisse auf einem GenForschungsgebiet.'' „Damit war zu rechnen", sagte Urban. „Aber gehört das nicht schon in den Kriminalbereich?" Der Staatssekretär weihte ihn ein, soweit ihm das selbst möglich war. „Collmanns Firma arbeitet an einem zum Teil vom Forschungsministerium finanzierten Programm. Es geht um die Anfälligkeit von hochergiebigen Getreidesorten, -sogenannten Tetra-Sorten. Sie versprechen extreme Erträge, sind aber empfindlich gegen eine Reihe von Schädlingen, Krankheiten, Pilzen und so weiter. Auf diesem Gebiet ist die deutsche
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Chemie schon immer führend gewesen. Da in unserer umweltschutzbewußten Gegenwart nun viele Pestizide und Schädlingsgifte möglicherweise Spätschäden beim Konsumenten auslösen, mußte man neue Wege beschreiten." „Indem man die Umweltgifte in neue Sorten schon hineinzüchtet", bemerkte Urban als Zeichen, daß er bis jetzt alles verstanden hatte. „So ist es. Der Collmann-AG scheint der Durchbruch gelungen zu sein. Man versucht, den Schädlingen oder Krankheiten nicht mehr mit Spritzmitteln beizukommen, sondern konstruiert Gegenkrankheiten, Gegenschädlinge in die Erbmasse, die die Übeltäter dann auffressen." „Immerhin geht bisher ein Drittel der Welternte durch Schädlinge kaputt", ergänzte der Minister. Urban wußte aus Erfahrung, daß neue Präparate letztlich immer neue Probleme aufwarfen. „Die Collmann-AG hat für die neue Generation von Viren sogenannte Bremsen entwickelt, damit sie nicht außer Kontrolle gerät." „Und noch mehr zerstört als die alten Stämme." „Ansonsten könnte sich das verheerend auswirken." „Wie eine unaufhaltsame Epidemie." Urban faßte zusammen, so wie er es verstand. „Collmann fand das Gegenmittel, aber auch das Kontrollinstrument für das neue Mittel. Wie immer das auch funktionieren mag." „Auf Gen-Basis wirkend." „Und das alles stand in den Nizza-Unterlagen?" „Die man leider fotokopierte." „Was noch nichts zu bedeuten hat." „Falls nicht konkurrierende Unternehmensgruppen davon Kenntnis erhielten." Urban stellte die einzig wichtige Frage: „Heißt das, daß Collmann die Sache noch nicht patentieren ließ?" Der Minister nickte. „Was glauben Sie, warum wir hier so fürchterlich schwimmen? Wir wissen es nicht, weil auch Collmanns engste Mitarbeiter nichts wissen. Die letzten entscheidenden Versuche stellte Collmann insgeheim und allein nachts in seinem Labor an. Dort muß er den genialen Dreh gefunden haben." „Dann sollte er das Ergebnis rasch amtlich schützen lassen. Aber das ist sein Problem, nicht wahr?" Es schien Urban, als verschweige man ihm noch immer die ganze Wahrheit. „Collmanns Mitarbeiter fürchten, daß die Formeln, die Produktionsverfahren, in falschen Händen zu
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Katastrophen führen könnten." Urban sah es nicht so eng. „Erstens ist es keine Atombombe, zweitens ist die Atombombe auf dem Papier noch keine gebaute und funktionsfähige Bombe, und drittens ..." Er blickte seine Gesprächspartner überrascht an, weil ihm eben erst etwas eingefallen war. „Und drittens, Oberst Urban?" „Warum", erwiderte er erstaunt, „warum fragt man nicht Professor Collmann? Warum sitzt er heute nicht hier bei uns?" Im selben Moment begriff er und betrachtete seine Frage als beantwortet. Die Weiterlieferung der Dokumente an andere war offenbar ohne Collmanns Wissen erfolgt. „Man kann ihn nicht befragen", bedauerte der Staatssekretär. „Irgendwann muß er ja wohl aus Tokio zurückkehren. Allmählich scheint mir das dringend notwendig." „Er kehrte schon gestern zurück", hieß es. Urban hob entsetzt die Hände. „Bitte sprechen Sie es nicht aus." „Wir müssen", sagte der Minister. Und der Staatssekretär tat es. ,,Professor Doktor Collmann ist tot. Herzinfarkt, vermutet man. Vielleicht hat auch Gift nachgeholfen. Die Staatsanwaltschaft in Mannheim überprüft das noch. Jedenfalls fand man ihn kurz nach dem ersten Gespräch, das seine Manager mit ihm führten, leblos auf dem Teppich im Arbeitszimmer seiner Villa." „Vor dem offenen Safe", ergänzte der Minister. „Wo er das Fehlen der Forschungsunterlagen festgestellt hatte." „Das befürchtet man." Urban massierte seine Stirn. „Wie paßt das mit der Aussage von Beatrix Cool zusammen?" „Leider überhaupt nicht." „Wie ich hörte, sollte sie im Auftrag ihres Ehemanns die Papiere in Nizza übergeben", sagte Urban. „Wo ist Beatrix Collmann?" fragte der Minister. Urban wußte es nicht. „Auf Tournee", vermutete er. „Sie ist unauffindbar. Auch die Agentur hat keinen Kontakt zu ihr." Und wieder einmal ahnte Urban, wo es langging. „Dann wird man sie wohl suchen müssen." „Deshalb baten wir Sie hierher, Oberst Urban." „Professor Collmann wird man nicht mehr zu einer Aussage bewegen können", ergänzte der Minister. „So unmöglich wie es ist, aus Sardellenpaste Sardellen zu gewinnen", bemerkte Urban trocken. „Es gibt nur den einen Weg zur Klärung." „Zwecks Abblockung jener Entwicklung, die Sie befürchten."
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„Die im Rahmen des Denkbaren liegen. So ist es." „Beatrix Cool", schlug Urban vor, „so lautet ihr Künstlername, muß man jetzt zu der Sache hören." „Die Dame wird einiges zu sagen haben." „Oder zu verschweigen." Der Minister nahm die Brille ab und putzte sie mit den gleichen sorgsamen Bewegungen, mit denen er alles zu tun schien. „Dazu sind Sie, wie man mir versprach, der richtige Mann", er lächelte, „Mister Dynamit." „Ein geeigneter", schränkte Urban ein. „Der einzige in Frage kommende." „Vielen Dank. Aber erwarten Sie nicht zuviel von nur." „Sie werden das schon richten", äußerte der Staatssekretär. „Wir verlassen uns auf Sie." Sie gingen noch in Details, aber in den meisten Einzelheiten fühlten sich die Herren nicht kompetent. „Die Wege, die Sie nehmen müssen, um die Pop-Lady zu finden, sind Ihnen geläufiger als uns. Bundeskriminalamt, Interpol, befreundete Geheimdienste sind Ihr Metier. Hauptsache, Sie führen den Fall zu einer baldigen Klärung - ehe es, pardon, zu spät ist." Urban wußte, was er zu tun hatte, und daß es jetzt galt, sich zu sputen. „Es wird Zeit", sagte er, „zum Nachsalzen." „Dieser Suppe?" fragte der Minister. „Was auch immer in irgendwelchen Töpfen, auf Feuern, die irgendwo brennen, am Kochen ist." „Nehmen Sie eine tüchtige Prise", riet ihm der Minister. Wenig später stand Urban auf der Straße vor dem hohen, häßlichen Betongebäude im neudeutschen Behördenstil. Es regnete noch immer. Zwischen den Höhen, in die der Rhein sich eingegraben hatte, zogen Wolkenfetzen dahin. Nachsalzen, dachte er. Aber welcher von den vielen Wegen führte in die richtige Küche? Beatrix Cool hatte ihre Frühjahrs-Tournee, die sie von Cannes an der Riviera entlang bis ins italienische Viareggio führte, planmäßig beendet. Nach der letzten Gala war sie verschwunden. Da ein junger vitaler Star von ihrem Temperament nicht einfach abhanden kam, ohne Spuren oder zumindest eine Leiche zu hinterlassen, schlug Urban den üblichen Routineweg ein. Die Bea-Cool-Show hatte vor drei Tagen in Marina di Pisa ihre letzte Vorstellung gegeben. Mit mäßigem Erfolg. Die große Casinohalle war nur zur Hälfte besetzt gewesen. Danach hatte sich die Band aufgelöst. Die
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Musiker waren nach Hause gefahren. „Die Techniker", erfuhr Urban von Bea Cools Agentur, „haben den LKW mit den Lautsprechern, den Verstärkern und den Mikros nach Frankfurt gebracht." „Wem gehört die Anlage?" „Sie wurde für die Dauer der Tournee gemietet. Und zwar von einer Firma, die sie an die Smog-&-Eyes-Gruppe verleaste, bevor diese pleite ging." „In Marina di Pisa trennte sich auch Bea Cool von dem Team?" „Ja, sie entschwand in ihrem nagelneuen Maserati unter Mitnahme des Schlagzeugers." Hier hakte Urban ein. „Nagelneuer Maserati? Den kaufte sie wahrscheinlich als Ersatz für den in Nizza gestohlenen Mercedes." „Anzunehmen. Sie ist ja nicht mittellos. Die Tournee war zwar kein Hit, aber sie trug sich. Außerdem hat Bea letztes Jahr tüchtig Platten umgesetzt. Die Nummer ,Faß mich fest an' - Take me hart war lange unter den ersten drei. Außerdem hat sie einen stinkreichen Ehemann, der ihr ein Dauerkonto eingerichtet hat." „Und sie nahm den Schlagzeuger mit?" versicherte sich Urban. „Nachdem sie vorher mit dem Keyboard-Spieler und dann mit dem Gitarristen was hatte." Der Künstleragent sprach darüber, als sei das offiziell bekannt. „Sie kann eben nicht allein sein", ergänzte er. „Ich schätze, sie muß das haben. Es gehört bei 'ner Pop-Lady wie Bea einfach dazu, wie bei anderen die Zigaretten oder die Tasse Kaffee." Der Herr war gut im Bilde. Urban bohrte weiter nach. „Und Professor Collmann weiß das alles?" „Wenn er nicht blind ist, sah er es, und wenn er nicht taub ist, hörte er davon." „Und er akzeptiert es?" „Offenbar schon." „Ist der Schlagzeuger inzwischen wieder aufgetaucht?" „Er rief mich aus Florenz an. Dort hat ihn Bea angeblich aus dem Hotel geworfen, wie man eine ausgelutschte Wurstpelle wegwirft." „Was weiß er über ihre Pläne?" „Daß sie in einer Bar versuchte, den Keeper anzumachen, aber es klappte wohl nicht. Vielleicht ist sie in Rom oder in Calabrien, was weiß ich!" „Wo hat sie den Maserati gekauft?" fragte Urban. „Ich glaube in San Remo." „Hat sie einen italienischen Wohnsitz?" „Schon möglich. Ist das wichtig?" „Ohne Residenzia kann sie den Wagen nicht auf ihren Namen in Italien neu zulassen. Könnte aber ein
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Vorführwagen gewesen sein." „Das entzieht sich meiner Kenntnis", erklärte der Mann von der Agentur. Urban bedankte sich und telefonierte mit Italien. In San Remo befragte er die Maserati-Händler und erhielt so die Kennzeichennummer des Hellgrünen von Signorina Cool. „Er mußte grün sein, wegen ihrer roten Haare", erwähnte der Händler. „Unser Vorführwagen hatte nur wenige Kilometer. Wir übergaben ihn ihr samt Zulassung. Sie wollte ihn in Turin auf ihren Namen umschreiben lassen." Urban veranlaßte die Fahndung nach dem Maserati. Das Biturbo-Coupé in Resedametallic gab es nicht allzuoft. Das Ergebnis der Ausschreibung verblüffte ihn einigermaßen. Die Polizei entdeckte das Fahrzeug in der Garage der Collmann-Villa in Mannheim. Die Haushälterin sagte aus, daß die gnädige Frau eine Stunde hier gewesen sei. Gestern nacht. Sie habe ihren Anwalt mit der Wahrnehmung ihrer Interessen, soweit sie durch den Tod von Professor Collmann entstanden, bevollmächtigt. Dann sei sie wieder weggefahren. Mit dem Geländewagen. Urban rief in Mannheim an. „Wohin pflegt Frau Collmann zu fahren, wenn sie den Geländewagen nimmt?" „Ins Jagdhaus im Odenwald." Urban erhielt die Adresse. So einfach war das. Ein Tag ohne Regen mit viel Sonne hatte die Wege getrocknet, so daß Urban mit dem BMW durchkam. Nur das letzte Steilstück bis zur Lichtung war schmierig. Es lag im Schatten und in der Nähe eines Baches. Seine Conti-Walzen rutschten. Auch die Quersperre an den Hinterachsen half wenig. Also ließ er den BMW stehen. Als, er den Hohlweg verließ, sah er das Haus und davor einen 280-GE, in poppigen Farben lackiert. Breit und geduckt stand die Jagdhütte da. Sie war mehr ein Komfortbungalow, ausreichend für eine zehnköpfige Edelkommune, als der Unterschlupf eines Weidmanns. Bea lag auf der Terrasse in der Sonne, nur mit einem Handtuch bedeckt. Unter der dunklen Brille bemerkte er das erschrokkene Spiel ihrer Augen. Als er neben ihr stand, sagte sie: „Ich habe in der Garderobe auf dich gewartet, Großer." „Für gewöhnlich halte ich solche Verabredungen ein." „Und später habe ich auch im Hotel gewartet." „Als ich hinkam, warst du
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schon fort." „Männer tun in der Regel alles, um mich zu kriegen." Sein Lächeln verstärkte sich. „Jetzt bin ich ja hier." Sie winkelte das linke Knie an, dadurch rutschte das Handtuch nach oben. Sie war sliplos darunter. „Mein Gott, was ist alles geschehen", seufzte sie schwer. „In den paar Tagen." „Mein Mann ist tot." „Ich we iß." Sie richtete sich auf. Jetzt glitt auch das Tuch von oben weg. Daß sie erstaunlich kräftige Brüste hatte, war ihm schon in San Remo aufgefallen. Sie taten nicht einen Mucks, als seien sie aus Plastik. „Bist du deshalb hier?" fragte sie. „Auch", gab er offen zu. „Ehrlich währt am längsten", sagte sie. „Das bedeutet, du bist seinetwegen hier, aber auch meinetwegen." Sie reichte ihm die Hand. Er half ihr auf die Beine. Das Frotteetuch lag jetzt am Boden, und sie war, wie Gott sie geschaffen hatte. Im kühlen Wind fror sie ein wenig. Es bewirkte eine Gänsehaut und steife Brüstwarzen. Sie ließ ihn nicht los und führte ihn ins Haus. „Erst einen Drink?" „Gern." ,,Ein Glas Champagner?" Sie hatte immer eine offene Flasche. Sie tranken, und er wußte, daß er von dieser Frau alles bekommen würde, wenn er die Reihenfolge einhielt. Ebensowenig wie sie andere über ihre Gefühle täuschte, war sie unfähig zu lügen oder Lügen lange durchzuhalten. Gewiß lag das auch an ihrem Beruf. Ohne Explosion von Gefühlen ging nichts über die Rampe. Verstellungskünstler erreichten nichts im Show-Busineß. Urban schaute sich um. Die Einrichtung des Jagdhauses ließ darauf schließen, daß der Professor ein Mann von Geschmack gewesen war oder einen guten Innenarchitekten beschäftigt hatte. Doch dann überraschte ihn Beatrix wieder einmal. „Alles von mir selbst entworfen. Haus und Möblierung. Es gehört mir." Der hintere Teil der Halle war offen bis zum Giebel. Eine schwere Eichentreppe führte zu einer Galerie. Urban nahm an, daß dort oben auch die Schlafzimmer lagen. Das mochte zutreffen, aber vorerst konnte er sie nicht besichtigen. Sie öffnete die Tür zu einer Abstellkammer. Nur ein alter Sessel stand darin. „Ich bin verrückt, aber ich tu's am liebsten in engen Kammern", gestand sie. „Auf die Primitivtour?" „Als Vierzehnjährige bin ich vergewaltigt worden. Im Keller, auf einer Kartoffelkiste. Es
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war der beste Akt, den ich je erlebte." „Seitdem suchst du den zweitbesten, wie?" Sie umarmte ihn, zog ihn aus. Die Jacke, das Hemd. Sie riß ihm alles vom Körper, und dann sanken sie auf das wurmstichige Polstermöbel. „Nimm bitte keine Rücksicht", forderte sie. Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen. „Sei so brutal, wie du kannst", keuchte sie. „Hammersex!" Es gibt seltsame Wesen, dachte er. Später, aber erst nach einem Marathonlauf durch die Gefilde der Lust, gelangte er doch noch in den Genuß ihres Bettes, einer 3 x 3 Meter Spielwiese. „Ich war nicht deine erste Witwe", fragte Bea. „Laß mich nachdenken." „Die Zahl ist unwichtig." „Was dann?" „Ob Witwen besser sind als Ehebrecherinnen." Er goß Champagner nach. Es war sogar gestattet, zu rauchen. „Trauer", fragte er, „empfindest du wohl keine?" ,,Doch", antwortete sie, „wie man um einen Hund trauert." „Beachtlich." „Um einen Hund, der einem die Treue entzogen hat." Unmerklich half er ihr, auf dem Weg zu bleiben, wenn sie abzuweichen drohte. „Wie alt war er?" wollte er wissen. „Ende Fünfzig." „Da verliert sich möglicherweise das biologische Interesse an der Fortpflanzung." „Ja, er war zu alt für mich. Er hatte alle Eigenschaften, die ich bei einem Mann suchte - bis auf den Umstand, daß er kein Jüngling mehr war, mit Power in den Lenden." „Was hast du dir von dieser Ehe versprochen?" „Zunächst Wärme, Geborgenheit, die Schule, in der man eine Frau zur Lady macht. Anfangs war er ein guter Liebhaber. Wir liebten uns mehrmals täglich. Er liebte mich, und ich hielt meine Leidenschaft unter Kontrolle. Ich blieb ihm treu. Doch binnen kurzem erlosch das Feuer in ihm. Ich suchte auf diese oder andere Weise Befriedigung. Auch bei Frauen. Ich kaufte mir Liebhaber. Italiener, Afrikaner, die besonders ausdauernd sind. Er erfuhr davon, veranstaltete aber keine Szenen. Er schwieg darüber. Dann hatte ich eine Affäre mit einem Kollegen. Die Sache wurde bekannt. Die Zeitungen schrieben darüber. Er bat mich, ihn wenigstens nicht zu kompromittieren. Aber da wußte ich längst, daß das, was ich bei ihm gesucht hatte, nicht zu finden war. Wir entfernten uns voneinander." „Sprach er von Scheidung?" „Zunächst nicht. Ein Collmann
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läßt sich nicht so schnell scheiden. Damit würde er einen Fehler zugeben. Und ein Collmann begeht keine Fehler. Er blieb nicht fünfzig Jahre unverheiratet, um dann einen Fehler zu begehen." Sie rückte näher zu ihm hin, und er nahm an, daß jetzt, nach den körperlichen Intimitäten, die der Seele folgten. Er irrte sich nicht. „Mein Mann hat mich finanziert. Er machte aus mir mit viel Geld das, was ich bin. Eine mittelmäßige, nicht sehr erfolgreiche Popsängerin aus der dritten Garnitur." „Du hast dich erstaunlich entwickelt." ,,Alles eine Frage von Werbung, Public Relations, von Texten und Komponisten, die er über seine Firma finanzierte. Ohne seine Millioneneinsätze würde ich heute noch in Kneipen singen oder auf Schützenfesten." „Das hätte dich immerhin zu Dank verpflichtet." „Ich war ihm dankbar, aber alles hat seine Grenzen. Bei mir liegt die Zone der Dankbarkeit leider nicht zwischen Knie und Nabel." „Er hat es aber erwartet", sagte Urban. „Und am Ende auch gefordert." „Ultimatum?" Sie nickte. „Schluß mit anderen Männern, oder er sperrt mir die Konten. Keine Zuwendungen mehr, keine Unterstützungen. Aus mit Mäzenatentum." „Das war vor seiner Tokioreise?" „Wo er sich den soundsovielten Doktorhut holte." „Scheidung oder treue Ehefrau, lautete die Alternative also." Sie schmiegte sich an ihn. Mit schweißnasser Haut klebten sie aneinander. „Ich wußte, daß ich das nicht schaffen würde. Aber ohne ihn, ohne sein Geld, war ich auch erledigt." „Und wie wär's mit Arbeit gewesen?" „Was für eine Arbeit? Ich wäre auf dem Strich gelandet." „Er hätte dich also weder abgefunden, noch hättest du ihn beerbt?" „Es gab einen klaren Ehevertrag." „Mit deiner Unterschrift?" Sie nickte. „Da erinnerte ich mich an das Gespräch mit einem seiner britischen Geschäftsfreunde anläßlich einer Gesellschaft im Winter." Urban ließ sie weiterreden. Jetzt erfuhr er es, er war sicher. „Wenn mein Mann müde aus dem Labor kam, oft mitten in der Nacht, dann weckte er mich, denn er brauchte eine Wand, gegen die er reden konnte. Und es mußte eine lebendige Wand sein. So erzählte er mir viel über seine Entdeckung und ihre Möglichkeiten. Für die AG versprach es ein Milliardengeschäft zu werden. Ich wußte, wo er das Material liegen hatte, als er
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nach Japan fuhr." „Die Engländer meldeten sich wieder?" „Sie waren bereit, allein für einen Blick in die Dokumente, nur für eine Stunde, eine Million Dollar zu zahlen." Das war es! Die Einsichtnahme sollte in Nizza stattfinden, aber bevor das geschah, hatte Nero den Mercedes geklaut. Einen Punkt wollte Urban noch geklärt haben. „In dem Umschlag gab es nur diese Papiere?" „Und eine Kassette mit meinen Songs." „Dachtest du dir etwas dabei?" „Es waren seine Lieblingslieder, die er am meisten mochte. Ich war gerührt, als ich die Kassette dort fand, wo er seine Geheimsachen aufbewahrte." Urban dachte alle drei Möglichkeiten durch. „Vielleicht enthielten die Kassetten mehr als nur Lieder?" „Ich hörte sie mir an. Nur meine Songs, nichts sonst, falls du an akustische Wortinformationen von Seiten des großen Biochemikers denken solltest." Er ließ es vorerst darauf beruhen. Da es keinen Grund mehr gab, eine Flasche Champagner nach der anderen zu köpfen, suchte er nach einem Grund, das traute Beisammensein zu beenden. Rasch, aber mit Anstand. „Wir sehen uns wieder?" fragte sie. „Das wird unumgänglich sein", log er. „War es so eindrucksvoll mit mir?" „Ich werde es nicht vergessen." „Mach's gut", flüsterte sie, „Großer." „Mach's auf deine Weise", antwortete er. Gegen Abend fuhr er nach Gronau hinunter. Welcher Schritt war als nächster zu tun? Es gab falsche und richtige. Er mußte die Engländer finden. Aber wie? Mit Hilfe des Bundeskriminalamtes oder mit Hilfe des Managements der Collmann-AG? Bea hatte ihm einen Namen genannt. Er lautete Jim Parker. Aber Jim Parker, das war in England wie Otto Meier in Deutschland. Davon gab es Tausende.
9. Der Schlüssel fuhr ins Schloß, sperrte dreimal um. Die Zellentür schwang auf. „Besuch für dich, Nerone!" Der Korse lag auf der Pritsche, stand seufzend auf und folgte dem Gefängnisaufseher ins Sprechzimmer. Er galt noch als festgenommen und wartete auf die Entscheidung des Haftrichters. Deshalb konnte er ohne Zwischengitter mit
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Micheline sprechen. „Alles erledigt?" fragte er kurz angebunden. „Es war schwierig." „Will nicht wissen, wie schwer es war", sagte er, „nur, ob du es erledigt hast." Sie nickte. „Wann also?" „Frühestens heute abend." „Und spätestens?" „Morgen." Er rechnete nach. „Ihr Anwalt war schon da. Sie haben von der Sache gehört. Sie sind so hinterhältig, daß sie sogar Kaution stellen. Wenn sie Kaution stellen, bin ich eine Stunde danach auf freiem Fuß. Und dann ist mir nicht mehr zu helfen. Dann nimmt alles seinen Lauf." „Markier irgendeinen Anfall. Dann bringen sie dich ins Lazarett." „Der Arzt stellt fest, daß ich simuliere, und wirft mich rasch wi eder 'raus." Micheline übergab ihm ein Paket mit Wäsche, Hemden und Socken. „Ich hoffe, du brauchst das nicht mehr." „Ich hoffe doch." „Warum verkriechst du dich im Knast, zum Teufel?" ,,Tu ich alles nur für dich, Cherie", erklärte er. „Ruf noch mal an. Damit das klappt. Bis später dann." „Bleib sauber", sagte Micheline. „Kein Problem hier", erwiderte er. Bevor er in die Zelle zurückgebracht wurde, durchsuchte der Aufseher das Päckchen. Sogar die GitanesPackung öffnete er. „Ich breche schon nicht aus", ve rsprach Nero. „Wer weiß!" Der Riegel schlug zu, das Schloß wurde gesperrt. Kaum lag Nero auf der knochenharten Pritsche, als er wieder Besuch erhielt. Diesmal von einem Anwalt. Lacrosse schickte ihn. Anwälte hatten das Privileg, Festgenommene in ihren Zellen sprechen zu dürfen. Der dickliche Brillenträger setzte sich auf den dreibeinigen Hocker. „Morgen früh sind Sie frei, Nerone." „Gegen Kaution?" „Gegen gute Worte. Der Unfall hat keinen anderen Verkehrsteilnehmer beeinträchtigt." „Ich war betrunken." „Das behaupten Sie und auch der Beamte von der Funkstreife. Objektiv ist der Promillegehalt Ihres Blutes nicht gesichert worden." „Der R 4 war gestohlen." Der Anwalt schielte über die Brille. „Sie setzten mich in Staunen, Monsieur", erklärte er. „Wollen Sie hier 'raus, oder wollen Sie drinnen bleiben?" „Heraus natürlich." Der Anwalt steckte sich einen Zigarillo an. „Der Eigentümer des R 4 hat eine Erklärung unterzeichnet, wonach er Ihnen das Fahrzeug leihweise zur Verfügung stellte." „Was kostet das?" „Nur einen neuen R-
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vier." „So einfach geht das?" „Dies und meine Bemühungen wird Monsieur Lacrosse mit Ihnen verrechnen. Ich bin nur hier, um Ihre Aussagen mit meinen Angaben abzustimmen. Man wird Ihnen auch die Fahrerlizenz wieder aushändigen." „Sie sind der Größte, Maître", sagte Nero bewundernd. „Dann bis morgen. Man holt Sie ab." „Merci, Maître." Nero hatte das Gefühl, daß seine Bemühungen, ihnen zu entgehen, keinen Erfolg hatten. Er war einfach nicht clever genug gewesen. Aber vielleicht doch. Das hing davon ab, ob sein letzter Anker griff. Mit wachsender Ungeduld wartete er. .Der Abend kam, die Dunkelheit, die Nacht sank herein. Längst war im Gefängnis das Licht gelöscht worden. Er lag da und starrte zur Decke. Wenn sein letzter Anker nicht hielt, dann fürchtete er, würde sein Schiff mit der Strömung gegen die Klippen treiben und dort zerschellen. Immer wieder horte er Schritte. Nur der Rundengänger. Es mochte schon 01 Uhr sein, da erwachte er wieder durch Schritte. Sie näherten sich, marschierten aber vorbei. Doch dann kehrten sie um. Er vernahm Stimmen. Der Schlüssel fuhr ins Schloß, die Riegel bewegten sich. Licht ging an. In der Tür standen der Nachtaufseher und der Mann, der schon damals, bei ihrer ersten Begegnung, eine dunkle Gabardinehose getragen hatte, Glenchecksakko, zartblaues Hemd und einfarbigen Seidenstrickbinder. Nero hatte ihn richtig eingeschätzt. Dieser Bursche, wer immer er war, Kriminalist oder Agent, war einer von den scharfen ewig Hungrigen. Und da er seinen Namen kannte, sagte er: „Ich wußte, daß Sie kommen, Monsieur Urban." Der Aufseher schloß die Zellentür. Urban steckte sich eine MC an, setzte sich, schlug die Beine übereinander und schaute sich um. „Sie sind in Not, Nerone?" fragte er. Der Korse, er wirkte total niedergebügelt, bestätigte es durch Kopfnicken. „Wir haben beide keine Zeit. Sie nicht und ich nicht." „Woraus schließen Sie das, Nerone?" Der Korse hatte Schwierigkeiten, es so zu formulieren, daß der Besucher auch begriff, um was es ging. „Hätte ich dich sonst gebeten, so schnell wie möglich nach Nizza zu kommen, Robert? Ich darf dich doch so nennen?" „Warum", präzisierte Urban seine Frage, „haben wir keine
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Zeit?" Nero senkte erst den Kopf, dann die Stimme. „Ich werde für ein Verbrechen benutzt." „Damit muß ein Mann wie du eines Tages rechnen." „Für ein Verbrechen ungewöhnlichen Ausmaßes. Und dir, Robert, schadet es ebenso." „Mir persönlich wohl kaum", bezweifelte Urban diese Feststellung. „Dann eben der Seite, die du vertrittst." „Und wen, glaubst du, vertrete ich?" „Weniger das Gesetz. Du bist kein Polizist. Aber vielleicht kämpfst du für das Allgemeinwohl einer Gruppe, einer ziemlich großen Gruppe von Menschen. Wie Geheimdienste das eben tun. Hinzu kommen noch die Interessen eines einzelnen." „Das hätte ich gern genauer." Nero lieferte das Gewünschte. „Jenes Mannes, von dem die Akte im Kofferraum des Mercedes stammt." „Collmann?" Der Korse war schon einen Schritt weiter. „Dir ist bekannt, was die Akte enthielt?" „Ungefähr." Neros Stimme wurde zu einem Flüstern. „Hast du begriffen, daß man damit eine Weltkrise auslösen kann?". „Dazu gehört ein wenig mehr, Nero, als der Wunsch, es zu tun." „Sie, diese Halunken, haben das Nötige. Und von mir fordern sie, daß ich den Anschlag ausführe. Aus irgendwelchen Gründen trauen sie mir zu, daß ich das kann. Vielleicht, weil ich von kleinem Wuchs bin, weil ich in letzter Zeit gewisse Erfolge hatte oder weil ich mit Technik umgehen kann." Für Urban lichtete sich der Nebel. Aber noch schaute er nicht weit genug hindurch. „Und du wirst das tun?" „Ich hoffte, aussteigen zu können. Deshalb provozierte ich einen Autounfall in Trunkenheit. Aber spätestens morgen früh bin ich auf freiem Fuß. Dank Lacrosses Anwalt." Urban sah wenig Möglichkeiten. „Wie könnte ich dir helfen, Nero?" Der kleine Korse zögerte und sagte es dann frei heraus: „Indem du mitmachst. Du bist ein fixer Junge. So schnell, wie du mich gekriegt hast, schaffte das noch kein Bulle. Es geht um mich und um euch. Ich brauche einen wie dich, um die Sache lebend zu überstehen." Ehe Urban darauf einging, an einem Verbrechen, wie auch immer, mitzuwirken, um es vielleicht zu verhindern, mußte er Einzelheiten wissen. „Wer steckt dahinter? Nur Lacrosse?" „Eine Gruppe, die mächtiger ist und auf Lacrosse irgendwie Einfluß nehmen konnte." „Was ist
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geplant?" „Ich erfahre Zug um Zug, was ich zu tun habe. Zunächst geht es um ein Schiff, das in einem britischen Hafen Ladung übernimmt, dann nach Frankreich fährt, dort erneut beladen wird und in zwei Häfen weiter nördlich die Ladung vervollständigt. Erst dann läuft es seinen Zielort an." ,,Name des Schiffes, Art der Ladung, Empfänger der Ware?" „Das erfahre ich unmittelbar vor dem Einsatz." „Vermutlich hat dein Einsatz mit der Ware oder mit dem Schiff etwas zu tun." Urban suchte nach einem Weg, den Herzschlag zu zählen, ohne den Finger an den Puls zu legen. „Du wirst bei deiner Tätigkeit überwacht werden, Nero." „Das ist zu befürchten." „Also muß ich dich und die Überwacher überwachen." „Wenn das nur gutgeht." „Es erfordert fast zuviel Chuzpe", befürchtete Urban. „Und was ist Chuzpe?" fragte Nero, der dieses Wort anscheinend noch nie gehört hatte. Urban versuchte es zu erklären. ,,Wenn ein Elternmörder vor Gericht um ein mildes Urteil bittet, weil er jetzt Vollwaise ist. Das würde man als Chuzpe bezeichnen." Nero steckte sich eine Schwarze an. „Dann allerdings werden wir eine Menge Chuzpe aufbringen müssen." Urban hatte noch nicht okay gesagt, aber er sah keinen anderen Weg. Mit Collmanns Material in falschen Händen konnte zuviel Unheil angerichtet werden. Nero schien zu merken, daß er gewonnen hatte. „Wie nennen wir uns jetzt? Elitetruppe Nero?" „Von einer Elitetruppe, schätze ich, sind wir meilenweit entfernt." Der Korse winkte ab. „Ich kenne die Branche, kenne Gangster und Polizisten. Du bist einer aus der Spitzenklasse." „Vielleicht aus dem zweiten Glied", erwiderte Urban. „Darüber wäre ich schon froh." „Nein, Spitze", beharrte der kleine Ganove. „Merk dir eines, Mann", erklärte Urban daraufhin, „die Spitzenleute aus dem ersten Glied, die erwischt es auch zuerst. Jene aus dem dritten Glied überleben." „D'accord!" Nero hatte verstanden. „Also nicht Elitetruppe Nero, sondern Neros verlorener Haufen." „Gefällt mir schon besser", äußerte Urban. Sie verständigten sich darüber, wie sie Kontakt halten wollten. Dann schlugen sie ein wie beim Pferdehandel. Der Korse hatte eine Art, einem in die Augen zu sehen, als sei er die ehrlichste Haut ganz Südfrankreichs.
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Trotzdem nahm sich Urban vor, auf der Hut zu sein. Wer, zum Teufel, wußte schon, welches Spiel sie spielten?
10. Sie nahmen Nero Nerone am Gefängnistor in Empfang. Ein Mann, ein Fahrer, eine Limousine. Der große Peugeot brachte ihn ein Stück in die Berge, Richtung Grasse. Dort bog er auf Nebenstraßen zu einem umfriedeten Gehöft ab, das über einen Hubschrauberlandeplatz verfügte. Nerone mußte sofort umsteigen. Als sie in der Luft waren und an der Küste entlangflogen, sagte sein Begleiter: „Jetzt haben wir sie abgeschüttelt." „Wen?" „Alle, die Interesse an dir haben." „Ich bin nur ein kleines Licht." „Eine Kerzenflamme kann eine Stadt niederbrennen", bemerkte der andere. „Außerdem weißt du sehr gut, was du wert bist. Du verfügst über Talente, die in dieser Kombination selten anzutreffen sind. Du bist eine unauffällige Erscheinung. Man übersieht dich fast. Du hast technisches Geschick, Einfallsreichtum und Glück." Der Helikopterpilot hielt weiterhin Kurs West. Zwischen Küste und den Seealpen blieb er auf vierhundert Meter Höhe. Nero hätte gern gewußt, wohin es ging, wollte aber keine Fragen stellen. Der Mann neben ihm, einer, den er bei Lacrosse noch nie gesehen hatte, war ziemlich mißtrauisch. Ein falsches Wort, und er faßte nach, zuschnappend wie eine Mausefalle. Wenn sie behaupteten, daß es jemanden zum Abschütteln gab, hatten sie etwas bemerkt. Wahrscheinlich seinen Partner Urban, wen sonst? Ob es richtig gewesen war, gerade diesen Burschen einzuschalten, darauf gab es nur eine klare Antwort. Sie lautete immer ja. Erstens hielt er Urban für ein As, zweitens war er ihm nicht unsympathisch wie diese Bullen von der NizzaPolizei. Dieser Urban agierte in anderen Dimensionen. Das bot auch ihm stärkeren Rückhalt. Darauf kam es an. Nero bildete sich ein, mit Urban eine Versicherungspolice erworben zu haben. Er fühlte sich unter den Augen der Geheimdienste in hoher Mission tätig werden. Dabei konnte er vielleicht sein eigenes Süppchen kochen. Er blickte zu dem hageren Burschen im Trenchcoat, der neben ihm hinter dem Piloten saß. Gut,
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dachte Nero, daß du nicht weißt, was ich denke. „Ist eine Frage erlaubt?" „Nein", knurrte der andere. Nach etwa zwanzigminütigem Flug ging der Hubschrauber tiefer. Aus dem Frühdunst über der Küste schälte sich das Häusermeer einer Stadt. Es mußte Frejus sein. Der Hubschrauber flog, der Straße folgend, bis zum Meer und landete am Rande einer weiten, ziemlich glatten Wiese. Auf einem der Hangars stand: Sportfliegerclub St. Raphael. Mit laufenden Motoren wartete ein Reiseflugzeug. Der Mann, der Nero abgeholt hatte, brachte ihn zu der Zweimotorigen. „Man bringt dich nach Le Havre", erklärte er. „Ich habe we der Geld noch einen Paß bei mir." „Findest du alles in dieser Mappe." Er übergab Nero ein schwarzes Lederbehältnis. „Inhalt: Pläne, Anweisungen, Verhaltensregeln. Du hast zwei Stunden Zeit, alles zu studieren. Am besten, du hältst dich buchstabengetreu daran." „Dann kann das jeder andere auch." „Eben nicht", sagte der Mann, der ihn am Gefängnistor abgeholt hatte. „Wer ist mein Kontaktmann in Le Havre?" „Ich nicht. Wir sehen uns niemals wieder. Mach's gut, Nerone." Sein Begleiter im Trenchcoat fuhr in einem Citroen weg. Die Zweimotorige startete, als Freigabe durch den Tower erfolgt war. Nach Beendigung des Steigfluges drosselte der Pilot die Motoren auf Reisedrehzahlen. Es ging verhältnismäßig ruhig nach Nordosten. Nero kletterte auf die hintere Sitzbank und öffnete die Mappe. Sie enthielt den faltbaren Plan eines Schiffes. Er hatte sich stets für Fahrzeuge aller Art, ob für Straße oder Schiene, für Wasser oder Luft, interessiert. In seinen Sturmund Drangjahren war er als Schmierer des Maschinisten auf einem Küstenmotorschiff ums Mittelmeer geschippert. Obwohl bei dem Schiff auf dem Plan weder Namen noch Abmessungen angegeben waren, schätzte er, daß es sich um einen Pott mit der Tragfähigkeit von etwa 30 000 Tonnen handelte. Ein moderner Frachter, speziell ausgerüstet zur Aufnahme von Schüttgut, was man auch darunter verstehen mochte, Kohle, Erz, Zement, Düngemittel. Dazu verfügte der Frachter über die entsprechenden Laderäume, die durch Schotten getrennt waren. Oben waren sie mit Lukendeckeln versehen, damit
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Schaufelbagger, Elevatoren oder große Sauger das Gut mühelos und rasch entladen konnten. Mittschiffs, bei den Aufbauten, etwas nach achtern auf den Maschinenraum zu, fand Nero zwei Markierungen vor. Die eine in Rot, die andere in Blau. Bei Rot stand Zentralklimaanlage Ladung/Einlaß. Bei Blau stand Klimaanlage/Abluft. Der beigefügte Paß enthielt ein Foto und lautete auf den Namen Luce Delorme, Beruf Schiffselektriker. Aber der Mann auf dem Foto war hellhaarig. Auf einem Bogen waren mit Maschinenschrift Verhaltensmaßnahmen aufgelistet. Punkt eins, nämlich zu Personen außerhalb der Gruppe jeden Kontakt zu vermeiden, übertrat Nero schon auf dem Flug in die Normandie. Er wandte sich an den Piloten. „Ist das Ihr Flugzeug?" „Ja leider", erfuhr er. „Als Pilot ohne eigenes Gerät liegen Sie hier auf der Straße. Also schafft man sich ein Flugzeug an. Aber die Kosten fressen alles auf. Die Charterpreise sind auf dem Hund. Zu große Konkurrenz. Da ist man froh über so einen Job, sage ich Ihnen." „Was kostet der Flug Riviera - Ärmelkanal?" „Sechstausend Francs. Ich mache es für fünf." Nach einer Weile tastete sich Nero weiter heran. „Sind Sie dem Auftraggeber für diese Charter anderweitig verpflichtet?" „Ich bin nur mir verpflichtet", erwiderte der Pilot, „und dieser alten Mühle da. Ich fliege alles und jeden überall hin. Man muß leben." Von dem Geld im Umschlag nahm Nero tausend Francs und zeigte sie dem Piloten. Der begriff sofort. „Wofür?" „Ein Telefongespräch nach Nizza. Und eine kurze Nachricht." „Warum tun Sie es nicht? Es wäre für Sie verdammt billiger." „Oder teurer", befürchtete Nero. „Sie meinen, wer telefoniert schon gern mit 'nem Messer im Rücken?" „So ist es." Sie wurden sich einig. „Und was habe ich zu berichten?" fragte der Pilot. „Le Havre, Schüttgutfrachter, dreißigtausend Tonnen." „Und keinen Gruß?" „Keinen." „Wenn es nicht mehr ist", sagte der Pilot. Eine knappe Stunde später meldete er seinen Anflug und bat um Landeerlaubnis. Die Anlaufadresse war ein Frisiersalon. Die ältere Frau an der Kasse fragte: „Rasieren?" Gemäß Anleitung erwiderte Nero: „Messerschnitt." Sie blickte ihn über die Kasse hinweg an. „Das erledigt der Chef. Gehen
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Sie nach hinten durch, die Tür, wo privat draufsteht." Es war ein kleines Büro. Ein typischer Friseur telefonierte und bat mit einer Handbewegung den Besucher, Platz zu nehmen. Kaum hatte er das Gespräch beendet, ging er wortlos ans Werk. Er band Nero ein Gummicape um, schnitt ihm das Haar kürzer und rieb eine galertartige Masse hinein. „Erst entfärben", sagte er. Nach einer Weile wusch er den Entfärber mit Brause und Nackenbecken heraus. „Aber rot geht nicht", entschied er, „das Haar würde uns hellblau. Ist blond recht?" „Von mir aus." „Hauptsache, man ändert sein Aussehen." In einer Stunde war die Prozedur beendet. Nero erkannte sich im Spiegel kaum wieder. Jetzt war er nicht nur eine kleine, sondern auch eine ziemlich blasse Erscheinung. Der Friseur hatte auch die Brauen mit Wasserstoffsuperoxyd behandelt. „Immer gut rasieren", riet der Meister, „sonst wächst das Schwarze durch. Compris?" „Was bin ich schuldig?" „Schon bezahlt, Monsieur." „Von Ihnen erhalte ich die nächste Adresse?" Es war der Laden eines Trödlers, zwei Straßen hinter dem Marktplatz, wenn man das alte Theater links liegenließ. Der Altkleiderhändler schob Nero hinter einen Vorhang. „Zieh davon an, was dir paßt." In jedem Fall handelte es sich um Sachen, wie Seeleute sie trugen. Nero wählte dunkelblaue Jeans, schwarze Stiefel halbhoch, einen Rollkragenpullover und eine marineblaue Jacke mit goldenen Ankerknöpfen. Sie war ihm zu lang, aber der Trödler behauptete, echte Fahrensleute würden sie so tragen. Zum Schluß empfing er noch eine dunkelblaue Schirmmütze aus Stoff mit irgendeiner Reedereiflagge über der Kordel. „Seesack?" fragte Nero. „Benutzt heute keiner mehr. Koffer genügt. Am besten der da." Das Ding war alt, abgeschunden, aber aus festem Rindsleder, mit Spuren von bunten Hotelaufklebern daran. Wieder kostete das Ganze nicht einen Sou. Der Trödler deutete auf ein kleines Hotel schräg gegenüber. Es ging auf 14 Uhr, als Nero dort das für Luce Delorme bestellte Zimmer bezog. Bis jetzt hatte er keinen Bissen gegessen. Im Begriff auszugehen, summte das Haustelefon. „Delorme, bleiben Sie oben", sagte jemand. „Bin gleich bei Ihnen." Wenig später wurde geklopft. Das Mädchen, von dem
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er den Schlüssel hatte, brachte ein Tablett. Darauf eine halbe Flasche Rotwein, Brot, Schinken und Käse. „Sie sind sehr aufmerksam, Mademoiselle", sagte er. Daraus und aus anderen Dingen schloß er, daß sie ihn total unter Verschluß hielten. Der Besucher sah aus wie ein verkrachter Wissenschaftler in einem alten Hollywoodfilm. Geflickte Brille, unrasiert, schäbiges Äußeres. Die Finger waren gelb vom Kettenrauchen, und er stank nach Fusel. Aber er wirkte lebendig und agil. Er hatte einen Koffer dabei. Den warf er aufs Bett und öffnete ihn feierlich. „Du gehst heute abend, bevor der Kahn ausläuft, an Bord", sagte er, „machst die Reise mit. Bis Rotterdamm bist du eingewöhnt. Du wirst dem dritten Ingenieur als Elektriker zugeteilt. Nur er allein weiß Bescheid - nicht darüber, was du zu tun hast, nur daß du etwas zu erledigen haben wirst. Er wird gut bezahlt und sorgt dafür, daß du klarkommst, mein Sohn." „Womit?" Der alte Herr, der seinen Namen nicht nannte, deutete auf den Inhalt des Koffers. Nero erkannte ein Gebilde, das aussah wie das Innere einer Thermosflasche, eine zehn Zentimeter dicke, runde Wurst aus silbrig schimmerndem Material. Ihre Länge entsprach der einer mittleren Salami. „Eine Stahlflasche zur Aufnahme von Druckluft", erklärte der alte Mann, „komprimiert auf sechzig Atü." „Dann geht da allerhand 'rein." „Muß auch. Und wir füllen sie mit besonderer Sorgfalt ab." „Nicht mit purer Waldesluft, schätze ich." „Der Inhalt ist für dich nicht interessant, mein Sohn." Der Experte erklärte nun, wann und auf welche Weise er welche Mengen in die Zuluftschächte der Klimaanlage einzublasen habe. „Für Menschen ist das Gas völlig unschädlich", versicherte der Unrasierte. „Da könntest du Kinderzimmer mit belüften." „Wem schadet es dann?" „Der Ladung." „Und aus was besteht die?" Der Experte beantwortete diese Frage nicht, erklärte aber ausführlich, wie weit die Rändelmutter am Ventil - und für wie viele Sekunden - jeweils geöffnet werden müsse. „Geht es nicht genauer?" fragte Nero. „Wir haben noch zu we nig Erfahrung mit dem Präparat. Es ist neu auf dem Markt." „Wohl auf dem Schwarzmarkt", bemerkte Nero ironisch und deutete auf die Druckflasche. „Hier drin ist also das Giftzeug." „Wie
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kommst du bloß auf Gift, mein Sohn?" tat der alte Herr erstaunt. „Höllenzeug, wenn Ihnen das besser gefällt." „Hölle oder Himmel", sagte der alte Herr. „In dieser Flasche hier ist jedenfalls nichts. Du empfängst das Material erst in Rotterdam. Das Laboratorium braucht noch einige Zeit, um es zu gewinnen. Also spätestens in Rotterdam." Beiläufig erfuhr Nero, daß er sich um 17 Uhr auf dem Frachter, der vom Silokai ablegte, einzufinden habe. „Er nahm Ladung in Bristol", sagte der alte Herr, „lädt heute in Le Havre, übermorgen in Rotterdam, dann noch einmal in Lübeck, ehe er sein Ziel Leningrad anläuft." Nero versuchte alles, doch er erfuhr weder den Namen des Schiffes noch die Art der Ladung. Aber etwas mehr als bei seiner Ankunft in Le Havre hatte er. Das Problem lag jetzt in der Nachrichtenübermittlung. „Und wie gelange ich an Bord?" fragte er den Besucher. „Punkt sechzehn Uhr steht vor dem Hotel ein Taxi. Wäre uns lieb, wenn du jetzt entspannen würdest. Was du zu tun hast, erfordert den vollen Mann, den ganzen Einsatz, gute Nerven, Mut und Schlauheit. Wir rechnen mit Störmaßnahmen, ohne zu wissen, von welcher Seite sie erfolgen." Nero fläzte sich aufs Bett. „Ich liege ja schon, Monsieur. Zufrieden?" Der Alte nahm seinen Koffer und ging. Und dann ereignete sich etwas, das Nero äußerst mißfiel. Die Hotelzimmertür wurde von außen abgesperrt.
11. Der BND-Agent Robert Urban hatte in dem Bistro an der Kreuzung gefrühstückt. Durch die Fenster sah er, wenn er die Augen auf Schärfe kniff, was vor dem Tor der grauen Betonmauer passierte. Gegen 07 Uhr 20 etwa trat Nero heraus. Rasch leerte Urban seine Tasse, schob das zweite Croissant zwischen die Zähne, zahlte und ging. Er folgte dem dunkelblauen Peugeot bis Grasse und von da ab mit größerem Abstand. Als Nero im Hubschrauber entschwebte, fühlte er sich zum ersten Male abgehängt. Aber er gab nicht auf. Der Helikopter flog nach einer kurzen Steigungsspirale nach Westen. Über Nizza Airport ging er nicht hinunter. Urban verlor ihn aus den Augen. Welcher Landeplatz kam in Frage?
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Toulon, Marseille, oder gab es dazwischen noch Flugplätze? Mutmaßungen halfen wenig. Er telefonierte mit der Flugleitung einiger Airports, die er im Verzeichnis der nächsten Telefonzelle fand. Er beschrieb den Hubschrauber. Es war ein Alouette II in Weiß und Grün. Eine Stunde später rief er abermals durch, aber sie konnten ihm nicht helfen. Also fuhr er nach Nizza zurück und klingelte bei Micheline. Sie öffnete ihm mit einem Handtuch um die Stirn, das nach Essig stank. „Kopfschmerzen", sagte sie. „Mit mir ist heute nichts los." „Vielleicht ruft Nero an." „Der ruft an, wenn er mag." „Ich habe mir die Nacht um die Ohren geschlagen", sagte Urban, ,,leih mir dein Bett." „Aber ohne mich." „Trotzdem danke." Er war rasch eingeschlafen. Es mochte auf Mittag gehen, da weckte ihn das Telefon. Micheline hob ab und fragte mehrmals nach, weil sie nicht verstanden hatte, und legte dann auf. „Komisch." „Nero?" „Ein Typ, der was sagte, das ich nicht kapiere." In der Hoffnung, er würde es besser verstehen, fragte Urban, was der Typ erzählt habe. „Le Havre, Schüttgutfrachter, dreißigtausend - und irgendwas mit dreißigtausend, aber Dollars waren es nicht." „Tonnen vielleicht?" „Ja, Tonnen. Oder doch nicht..." Daraufhin legte er zweihundert Francs hin. „Ich muß telefonieren." „Tu dir keinen Zwang an", sagte sie. „Soll ich 'rausgehen?" „Bleib", entschied er. Als er München hatte, sprach er deutsch, das sie ohnehin nicht verstand. Im Reportertempo gab er durch, was er erfahren hatte, und was sie für ihn ermitteln sollten. „In Le Havre liegt ein Schüttgutfrachter. Tonnage zwischen dreißigund vierzigtausend. Stellt fest, was er lädt, und wohin er läuft." „Ist das alles?" fragte Sebastians Assistent in der Operationsabteilung. „Macht es diskret. Unser V-Mann ist an Bord. Er darf nicht gefährdet werden." „Wenn es weiter nichts ist." „Und das alles bitte sofort", verlangte Urban. „Vermutlich läuft das Schiff weiter nach Norden. Ich setze mich in Bewegung und melde mich auf der Höhe von Lyon wieder. Bis dahin brauche ich Fakten, Fakten und noch mal Fakten." Sie versicherten ihm, daß das erledigt würde. Urban nahm an, daß sie jetzt über Hafenbehörden und Reedereibüros, über
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Kontaktleute in der Handelsschiffahrt, über befreundete Seespeditionen und so fort alles versuchen würden, um ihm einen Schritt weiterzuhelfen. Dann sagte er zu Micheline adieu. „Du bist nicht in unmittelbarer Gefahr", deutete er an, „aber wenn du merkst, daß du einen größeren Schatten hast als den, den du wirfst, dann fahr zu deiner Tante aufs Land." „Ich habe nur einen Onkel in Avignon", erwiderte sie. „Wenn er ein guter Onkel ist", riet er, „dann tu's." „Aber wenn sich Nero meldet?" „Es war nicht seine Stimme" erwiderte Urban, „also ist es unwahrscheinlich, daß er Gelegenheit dazu findet." Erst tankte er noch, dann fuhr er auf der Autoroute nach Westen. Dabei blieb er im französischen Geschwindigkeitslimit, denn noch trieb ihn nichts als seine Ungeduld und seine Neugier und die Spannung, die entstand, wenn es mehrere Lösungsmöglichkeiten für eine Sache gab. Er kombinierte die Eckdaten durch wie die Stellung der Figuren auf einem Schachbrett und überlegte die Züge, die er in diesem oder jenem Fall tun mußte. Ganze drei Stunden brauchte er bis zur Ausfahrt Givors. Dort verließ er die Autobahn, überquerte die Rhone und telefonierte vom Postamt in der Stadt. „Ich denke, Sie werden zufrieden sein", hörte er aus München. „Name des Schiffes ,Plutarchos'. Getreidefrachter. Ziemlich modernes Schiff mit Kühlanlagen, Umwälzsystem und Transportqualifikation für hochwertige Saatzuchten." „Wem gehört es?" „Einer Athener Reederei. Wem die Athener Reederei gehört, das ließ sich in der Kürze der Zeit nicht ermitteln. Sieht aber so aus, als stecke Londoner Kapital dahinter." „Welche Routen fährt die ,Plutarchos'?" Auch darauf hatten sie eine Antwort. „Entweder fährt sie Weizen von Argentinien via Leningrad oder Futtergetreide aus den amerikanischen Ostküstenhäfen via Rotterdam - Hamburg - Oslo. Aber meistens, speziell in den Herbst- und wintermonaten, ist sie für die Weizenfahrt Amerika - UdSSR eingesetzt." „Und im Frühsommer transportiert sie was?" „Saatgut", lautete die klare Antwort. „Die ,Plutarchos' kommt von Bristol, wo sie Weizensaat übernahm, etwa zehntausend Tonnen. Nun lädt sie in Le Havre und soll in der Nacht nach Rotterdam gehen." „Und überall nimmt sie Saatgut auf?" „Die
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letzte Menge irgendwo in einem deutschen Nord- oder Ostseehafen. Sämtliche Partien sind für Rußland bestimmt. Sie sollen wohl im Oktober nach der Ernte als Wintersaat ausgebracht werden." „Danke, das ist schon was", entgegnete Urban. „Macht brav weiter so." „Aber in welcher Richtung bitte?" In der Leitung knackte es. Der Hörer war übergeben worden. Die rauhe, aber unherzliche Stimme von Oberst Sebastian tönte höchstpersönlich durch den Draht. „Man stellt sich hier allmählich die Frage, was der Frachter ,Plutarchos' mit jenem Fall zu tun hat, den vordringlich zu bearbeiten Sie unterwegs sind." Urban schätzte es wenig, Mutmaßungen zu äußern. Per Telefon waren sie erst recht nicht dazu geeignet, andere zu motivieren. Aber er hatte keine andere Wahl. „Wissen Sie", fragte er den Alten, „welche Menge Getreide man unter normalen Wetterbedingungen auf normalen Böden aus einem Zentner Saatgut herausholen kann?" „Bin ich Agrarier?" fragte Sebastian, „Vielleicht zehn Zentner." „Sechzig", erklärte Urban. „Aus einem Zentner Saatgut erzielt man bis zu sechzig oder sogar achtzig Zentner Getreide." „Woher wissen Sie das? Wenn einer von Botanik null Ahnung hat, dann Sie doch!" „Ich habe es aus dem Handbuch für deutsche Landwirte, herausgegeben 1933 von der Reichsnährstandskammer der NSDAP." „Wie kommen Sie an solche Nazi-Literatur?" „Dem Acker und dem Weizen war es egal, was für Lieder zum Erntedanktag gesungen wurden. Und in der Eile war kein anderes Standardwerk greifbar. Aber soviel ich weiß, steht das Buch nicht auf der Liste der verbotenen Bücher. Ich habe mich also darin kundig gemacht. Nach Adam Riese ist die Saatgutladung des Frachters ,Plutarchos' gut für eine Ernte von über zwei Millionen Tonnen Weizen. Das war's dann wohl, Großmeister." Der Alte vergaß sich zu räuspern. Er war ganz still geworden. „Trotzdem verstehe ich nicht, was Sie damit meinen." „Professor Collmann entdeckte ein neues Präparat, ein Basis-Gen, einen Virus, was weiß ich! Es kann als Schädlingskiller wie auch als Schädling programmiert werden." „Bitte schön - und wenn, was dann?" „Angenommen, man vergiftet das Saatgut damit, dann kann das nicht nur zum
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Ausfall dieser zwei Millionen Tonnen Getreide führen, es verpestet möglicherweise auch den ganzen ukrainischen Getreidegürtel, greift über auf die Roggen-, Gerste-, Haferernte, breitet sich aus über Indien, Asien, China, über Amerika und Europa. Und was dann bitte?" „Kriegen wir ein weltweites Äthiopien." Immerhin das hatte der Alte begriffen. „Man sollte diese Möglichkeit einkalkulieren und Vorsorge treffen." Sebastian hatte sein Staunen beendet und stellte die einzig richtige Frage: „Wer, zum Teufel, sollte das wollen und warum?" ,,Erstens", erwiderte Urban. „Regierungen, die das eine oder andere Land unter Druck setzen, sprich hungern sehen wollen, gehen nicht soweit. Diese Leute sind Machtpolitiker, aber keine Massenmörder. Nein, wenn irgend jemand so etwas manipuliert, kann es sich nur im Verbrechersyndikate handeln. Es geht um Geld, um Dollar, um Milliarden davon. Angenommen, im Osten würde die gesamte Getreideernte des nächsten Jahres schon auf dem Halm verfaulen, dann müßte Rußland allen erreichbaren Weizen der Welt aufkaufen. Aber von wem? Von jener Gruppe, die ihn bereits in ihren Besitz brachte," „Das ist ja ein Horrorgemälde." „Aber denkbar." „Was sind das für Leute? Und woher haben sie diesen Collmannschen Teufelsvirus?" Dafür hatte Urban noch keine Erklärung. Selbst mit Hilfe der Laborunterlagen dürften es ihnen nicht möglich sein, in so kurzer Zeit genug Material herzustellen. „Irgendwie", befürchtete er, „müssen Stämme oder Nährböden mit dem Collmann-Virus zu ihnen gelangt sein." „Dachte, das sei alles längst geklärt?" „Bis auf Dinge, die selbst Beatrix Collmann nicht wissen konnte." „Und was, bitte, sollen wir unternehmen?" „Ich melde mich wieder." Urban fuhr weiter nach Paris. Während der Getreidefrachter „Plutarchos" von Le Havre nach Rotterdam unterwegs war, suchte Urban in Paris einen Elektronikfachmann auf. Der horte sich das Problem des deutschen BND- Agenten an und sagte: „Du bist selbst Doktor-Ing. und doch kein Anfänger, Mann. Wo sollte da Platz sein? Ich werde jetzt vor deinen Augen je ein Tonband und eine Videokassette zerlegen. Was war es für ein Video-System? Beta ist tot, Phillips-zweitausend ebenso.
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VHS lebt, Video-acht wird sich nie durchsetzen." „Eine BetaKassette glaube ich." „Glauben heißt, nichts wissen", bemerkte der Franzose, ohne die Zigarette von der Lippe zu nehmen. Im Nu hatte er die Kassetten geöffnet. Vielmehr hatte er die Plastikschalen der Hüllen voneinander getrennt, so daß man ins Innere sehen konnte. „In keinem Fall ist auch nur ein Millimeter mehr Platz als nötig. Der freie Raum auf der Leerseite täuscht, er wird ja aufgefüllt, wenn sich das Band beim Abspielen vorspult." Urban sah sich die Kassetten an. Er hatte damit gerechnet, daß es nicht gehen würde, aber er wollte es genau wissen. „An was dachtest du?" fragte der Franzose. „Daran, wo man eine Ampulle in der Kassette unterbringt." „Besteht der Verdacht, daß so etwas versucht wurde?" Wenn Urban überlegte, ob Dr. Collmann in einer Kassette mit Songs seiner Ehefrau Laborgeheimnisse versteckt haben könnte, dann lautete die Antwort auf die Frage des Franzosen: ja. „Durchaus", sagte Urban. „Kommt auf die Größe der Ampulle an. Angenommen, sie ist klein wie eine Sacharintablette, dann ist es vielleicht möglich." Urban suchte nach einem anderen Weg, den Collmann eingeschlagen haben mochte. „Kann man das Tonträgerband mehrmals beschichten?" „Es ist mit feinstem Eisenstaub zum Zwecke der Magnetisierung versehen. Irgendwo müssen die Schwingungen ja gespeichert sein, um wieder abgenommen werden zu können." „Eine zweite Schicht würde als Störung zu bemerken sein?" „Schon ein Staubfussel löst falsche Frequenzen aus." „Ausgenommen, man beschichtet die Unterseite des Bandes?" Der Experte überlegte. „Da die Unterseite immer auf einer Oberseite aufliegt, würde sich angesichts dieser feinen Strukturen eine chemische Schicht, aus was immer sie auch bestehen mag, auswirken, sich abdrücken. Sie würde Kontakt aufnehmen." „Angeblich waren Ton wie Bild einwandfrei." „Auf der Originalkassette?" „Eine Störung müßte wohl auch auf der Kopie zu sehen sein, oder?" „Wurden die Bänder von Anfang bis zum Ende abgehört?" Das konnte Urban nicht beantworten. Aber für ihn stand fest, daß Collmann vor der Japanreise einen Weg gefunden haben mußte, seine Virenstämme - die von ihm
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gefundenen Erreger oder was immer es war - zu verstecken. Denn im Labor war Derartiges nicht entdeckt worden. Auch kein Hinweis darauf. „Möglich ist es also doch?" vergewisserte sich Urban. „Wenn man es klein genug hinkriegt, die Ampulle, die Kristalle, die Kapsel, dann vielleicht schon", erwiderte der Franzose einschränkend. „Zu Gegendiensten immer bereit", versprach Urban und fuhr weiter nach Rotterdam. Dort traf der 18-Knoten-Frachter „Plutarchos" im Laufe des Nachmittags ein. Im Außenhafen übernahm er für Laderaum IV zehntausend Tonnen Hochzuchtweizen. Urban trug die schwarze Uniform eines holländischen Freihafenzöllners und ging mit zwei Rotterdamer Beamten an Bord der „Plutarchos". Auf Veranlassung des Geheimdienstes war er für eine Stunde zum Zolloberkommissar ernannt worden. „Hochzuchtweizen", fragte er den Kollegen, „was ist das?" „Die Steigerung lautet: Weizen, Saatweizen, Zuchtweizen, Hochzuchtweizen, EliteAuslese." „Ein Qualitätsmaßstab also." „Nur wichtig für Zuchtund Vermehrungsbetriebe." „Zehntausend Tonnen Zuchtweizen ergibt mal sechzig locker eine halbe Millionen Tonnen Saatgut." ,,Ungefähr." Wenn es gelang, diesen Hochzuchtweizen zu verseuchen, dann würden die Auswirkungen noch verheerender sein. Urban ging also mit den Holländern durch das Schiff. Es gab keinerlei Beanstandungen. Er sah einige Besatzungsmitglieder, aber keine Spur von Nero. „Nichts auszusetzen an Ladung, Papieren, Plombierung und so weiter", sagte der Holländer zu dem neuen Kollegen. „Was hatten Sie erwartet?" „Nun, eine kleine Unregelmäßigkeit entdeckt man gewöhnlich immer. Meist sieht man drüberweg. Aber erfahrungsgemäß ist nie alles hundertprozentig astrein wie in diesem Fall." „Und das mißfällt Ihnen?" „Wie alles Ungewöhnliche." „Der Dampfer ist so clean, daß man schon Verdacht schöpft, irgendwo könnte ein ganz dicker Hund begraben sein." Der Inspekteur gab sein Okay. Sie gingen von Bord. Der Getreidefrachter „Plutarchos" durfte ablegen und in See gehen. Im Büro des Hafenkapitäns erfuhr Urban, daß die „Plutarchos" in Lübeck noch einen Rest von fünftausend Tonnen Saatgut laden würde. Und zwar in
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etwa zweiunddreißig Stunden. „Sie nimmt den kürzesten Weg durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal", erklärte man ihm. Urban hoffte, daß es ihm auf deutschem Territorium gelingen könnte, den Fall zu knacken, und dies, bevor das Schiff im Hoheitsgebiet der Ostblockländer verschwand. In der Nacht fuhr er durch bis Hamburg. Nach wenigen Stunden Schlaf und einigen der Organisation dienenden Gesprächen rollte er elbabwärts nach Brunsbüttelkoog. An der großen Schleuse ging er in Wartestellung. Der Frachter „Plutarchos" war ein echter Schnelläufer. Er hatte die rund zweihundertfünfzig Seemeilen von Rotterdam bis zur Elbe in locker fünfzehn Stunden zurückgelegt. Zunächst wurde er vertäut, denn vor ihm waren ein Tanker und einige Küstenmotorschiffe an der Reihe. Urban sprach gerade über Autotelefon mit Eckernförde, als sich ein Mann in dunkelblauer Kluft und Prinz-Heinrich-Mütze seinem BMW näherte. Er kam von Bord des Getreidefrachters. „Ich bin der Kanallotse", sagte er. „Sind Sie Oberst Urban?" Urban nickte. „Dann sind Sie ab sofort mein Assistent. Hier habe ich Jacke und Mütze. Mehr brauchen Sie nicht." Urban trug meist eine dunkelblaue Gabardinehose. Er zog den Glenchecksakko aus und den Kulani an, stieg aus und sperrte den BMW ab. „Den können Sie stehenlassen", meinte der Lotse. „So aufgemotzte Mühlen faßt bei uns sowieso keiner an." Sie schlenderten zum Kanalbüro hinüber, nahmen dort einen Kaffee, und der Lotse fragte: „Geht mich zwar nichts an, warum Sie mir zugeteilt wurden. Haben Sie eine Ahnung von der Schiffahrt?" „Kaum", gestand Urban. ,,Ich bin nur Kapitän zur See der Reserve." Für Männer der christlichen Seefahrt hatten Marinedienstgrade wenig Bedeutung. „Besser als gar nichts", äußerte der Lotse, der dreißig Jahre lang alle Weltmeere als Kapitän befahren hatte, abfällig. Als es Zeit war, schlenderten sie hinüber zu dem Getreidefrachter und gingen an Bord. Wenig später öffneten sich für sie die Schleusentore. Die „Plutarchos" wurde verholt. Urban stand neben dem Lotsen auf der Brücke und verhielt sich routinemäßig, bis auf den Einsatz der Ohren und Augen und jenes sechsten Sinnes, über den ein Mann wie er einfach verfügen mußte. Gegen 14
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Uhr nahm der Frachter seine Fahrt durch die 98 Kilometer lange Wasserstraße auf, die ihm den weiten Weg um Jütland herum ersparte. Als Rudergänger war der beste Mann der griechischen Crew abgestellt worden. Einen Dreißigtausendtonner in einem nur hundert Meter breiten Fahrwasser bei niedriger Geschwindigkeit auf Kurs zu halten - und das bei Begegnungen mit anderen Schiffen -, erforderte Feingefühl. „Was haben Sie vor?" wandte sich der Lotse flüsternd an Urban. „Ich werde mich jetzt an Bord umsehen." „Lotsen haben außerhalb der Brücke nichts zu suchen." „Ich suche nur einen Kaffee." Urban sprach den Kapitän, einen bärtigen Burschen, auf Griechisch an. „Nehmen Sie für mich einen mit", antwortete der Grieche grinsend. „Und falls Sie gern einen zweiten hätten?" ging Urban auf den Scherz ein. „Dann bitte ich mir diesen zu verweigern, denn ich bin im Dienst." Urban tippte einen Gruß an den Mützenschirm und begann seine Runde durch das Schiff. Bei einem Kaffee mit Ouzo in der Messe redete er mit diesem und jenem von der Freiwache und mit einem, den er für den zweiten Chief hielt. „Schönes Schiff", begann Urban das Gespräch. „Ja, beste schottische Arbeit." „Was habt ihr für Diesel?" „Deutsche MAN-Turbos." „Zufrieden?" „Gibt nichts auszusetzen." „Kann man die mal besichtigen?" „Komm einfach zu mir 'runter, Mann." „Bis später." Urban ließ sich Zeit. Inzwischen war er schon einem Dutzend Männern der Besatzung begegnet, aber Nero war noch nicht aufgetaucht. Auch unten im Maschinenraum, bei den haushohen Zweitaktdieseln, konnte er den Korsen nicht entdecken. Urban stallte Fragen nach Verbrauch, Leistung und Drehzahlen und verdrückte sich dann zwischen mannsdicken Rohrleitungen, ratternden Hilfsmaschinen und Nebenaggregaten. Ganz hinten, an der Schalttafel für den Bordstromgenerator, fand er ihn endlich. Nero trug Lärmschutzklappen auf den Ohren und sagte etwas, ohne Urban anzusehen. „Morgen früh passiert es." Nero nahm die Gummischalen ab. „Mit Gas?" „Ja, durch die Umwälzlüftung." „In Lübeck legen wir den Dampfer an die Kette. Aber ich brauche Beweise, Nero." „In meiner Kabine. Ein Koffer mit
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den Druckflaschen." „Ich muß sie sehen." „Geht nicht. Erst wenn wir durch den Kanal sind." „Dann muß ich von Bord", sagte Urban, „spätestens in Holtenau." Nero überlegte und schaute sich um. „Kabine sieben, Mannschaftsdeck", sagte er und wischte mit Putzwolle Öl von den Fingern. „Hast du sie allein?" Nero nickte und spielte Urban den Schlüssel zu. Urban brauchte noch eine Information. „Wer ist dein Boß hier an Bord?" „Der leitende Ingenieur." „Hat er Helfer?" „Bei den Seeleuten. Auch ein Offizier gehört dazu." Ein Heizer ging vorbei. Urban tat, als lasse er sich von dem Elektriker Feuer für die Zigarette geben, dann schlenderte er weiter. Im Zwischendeck hing ein Schiffsplan. Dort suchte er Kammer sieben im Mannschaftslogis und den nächsten Weg dorthin. Später ließ er sich wieder auf der Brücke sehen und blieb dort. Als es auf die Kieler Bucht zuging, wurde es Abend. Es dämmerte. Dunst lag über dem Land beiderseits des NordOstsee-Kanals. „Ich werde hier noch einige Zeit zu tun haben", sagte Urban zu dem Lotsen. „Wie stellen Sie sich das vor? Wir müssen beide hinter Holtenau von Bord." „Ohne mich." „Und wo werden Sie sein?" Urban lächelte. „Verzeihung, das Wort Geheimdienst kommt wohl von dem Wort geheim." Der Lotse zog heftig an seiner Pfeife. „Ich werde das schon irgendwie hinkriegen. Aber der Rest geht zu Ihren Lasten." „Zu Lasten der Bundesregierung" verbesserte ihn Urban. „Machen Sie's gut, Kapitän. Und so long!" Als die Schleuse Holtenau auftauchte, war er von der Brücke verschwunden. Zweimal mußte er sich in eine Last verdrücken, ehe der Weg zur Mannschaftskammer Nr. 7 frei war. Mit Neros Schlüssel gelangte er mühelos hinein. In der Schublade unter der Koje fand er den Koffer. Im Koffer die zwei Stahlflaschen mit dem Gas. Es war ihm, als halte er die Zügel des Pferdes jenes Apokalyptischen Reiters in der Hand, der den Hunger über die Welt verbreitete. Eingeklemmt zwischen die Flaschen steckte der Plan. Ihm waren jene Lüftungsstutzen zu entnehmen, in die das Gas einzublasen war. Urban beschloß, sofort zu handeln. Die „Plutarchos" schleuste bereits ein. Ihr mächtiger Bug schob sich an den Stahltoren vorbei in die Kammer. Vor den Bulleyes
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glänzte nasser, veralgter Beton. Urban wußte, was er zu tun hatte. Er würde das Giftzeug in der Schleuse versenken. Die Stahlflaschen waren schwere Behältnisse. Taucher konnten sie herausholen. Hauptsache, sie waren vom Schiff. Er öffnete das seefest verschraubte Bulleye, hob die Gasflasche aus dem Koffer, und als er im Begriff war, sie durch die runde Öffnung zu schieben, hing dort plötzlich ein Drahtnetz. Von einer Sekunde zur anderen hatten sie es hinuntergelassen. Blitzartig begriff Urban, was das zu bedeuten hatte. Es gab noch einen Weg, die Flaschen vom Schiff zu bringen, aber dazu mußte er durch die Kabinentür. Und dort standen wahre Gebirge von Männern. Sie hatten Kanonen mit Schalldämpfern in den Fäusten, schwere Neun-Millimeter. In ihrer Mitte stand Nero. Noch kleiner geschrumpft als je zuvor. Seine Gesichtszüge logen nicht. Sie zeigten Ve rzweiflung und Erschütterung über das, was passiert war. „Die Flaschen zurück in den Koffer!" befahl einer der Maschinisten. „Eine falsche Bewegung, und wir zertreten erst dich, dann diese Laus." Einer im blütenweißen Overall tauchte auf. Die Streifen auf den Schulterstücken wiesen ihn als den Chief aus, den Leitenden Ingenieur. „Der Große ist gefährlich", warnte er seine Männer. „Zehnmal gefährlicher als das Gas in den Druckflaschen. Sie nennen ihn Mister Dynamit. Man hat mich über Funk unterrichtet, daß er auftauchen könnte." Urban versuchte es mit Bluff. „Ihr habt absolut keine Chance", erklärte er. „Weil wir uns noch auf eurem Hoheitsgebiet befinden, glaubst du?" „Ich weiß es." Der Chief grinste. „Lübeck wäre eine Gefahr, das ist richtig. Aber Lübeck fällt aus. Wir dampfen sofort durch die Kieler Bucht. Ein paar Stunden, und wir sind in der DDR." „Mit einem Höllengeschenk." „Von was spricht der Knabe?" „Der Kapitän wird da nicht mitspielen." „Der Kapitän wi rd tun, was ich anordne", erwiderte der Chief. „Das Schiff ist in unserer Hand. Oder glaubst du, wir verlassen uns nur auf einen Wicht wie den da?" Sie drückten Urban den Lauf einer Luger ins Kreuz, entwanden ihm die Stahlflaschen, sicherten sie und legten dann ihm und Nero Fesseln an. „Ein Mann bleibt als Wache vor der Tür." „Was soll mit ihnen geschehen?" „Zu den
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Fischen, sobald wir den Fehmarnbelt passiert haben." Dann wandte sich der Chief noch einmal an Urban. „Ein Mann wie du, Dynamit, mag auf Sieg abonniert sein. Lange. Bis auf das letzte Mal." Sie gingen hinaus und ließen die Gefangenen auf den Kojen zurück. . Ihre Arm- und Fußgelenke waren mit stählernen Bowdenzügen gefesselt. Unmöglich, sich davon zu befreien. „Verdammt, eine Natter sollte man sein!" fluchte Nero. „Selbst dann hättest du keine Chance." „Was jetzt?" Weil Urban schwieg, sagte der Korse: „Neros verlorener Haufen. Es gefiel mir von Anfang an nicht." „Denkst du, ich war begeistert?" „In meiner Socke steckt ein Messer. Ein wahrer Korse hat immer ein Messer bei sich." „Selbst wenn wir frei wären", sagte Urban, „mit dieser Neckermannklinge kommst du nicht weit." Nachdem der Frachter durchgeschleust hatte, dauerte es nicht lange, und er ging auf hohe Fahrt. Die Diesel mußten ihre letzten PS hergeben. Draußen wurde es dunkel, dann finster. Urban schätzte, daß sie Kurs Nordost liefern. „Wie lange noch?" fragte Nero. „Achtzig Meilen etwa." „Wie lange?" „Vier Stunden." Sie redeten wenig und das mit langen Pausen dazwischen. Jeder knobelte an seinen Problemen herum. Bis Nero aufschreckte. „Was war das?" „Eine Heulboje." „Warum heult sie?" „Wegen Nebel", meinte Urban. „Was tut sie, wenn kein Nebel ist?" „Dann heult sie auch", sagte Urban, „aber vielleicht könntest du den Schnabel halten. Ich muß nachdenken." „Über was? Über den Tod, ob es schnell geht oder langsam?" Nero sagte eine Weile nichts und dann: „Schmerzhaft oder schmerzlos?" ,,Laß dich überraschen." „Ob du es glaubst oder nicht, Robert, bisher machte ich es immer auf meine Weise. Jetzt wird mir das abgenommen, jetzt geht es auf die Weise der anderen." „Das ist noch nicht endgültig 'raus." „Hast du Hoffnung? Wenn ja, auf was?" „Sie müssen sich ausrechnen, daß man weiß, wo ich bin." „Wo ich bin, darum kümmert sich keine Sau." „Vielleicht wenn du mal groß bist, Kleiner", scherzte Urban bitter. „Dafür kriegst du was auf die Birne, wenn ich könnte." „Ich hab's riskiert, weil ich weiß, daß du nicht kannst." Nero lachte, und Urban nahm an, daß er ihn für eine Weile abgelenkt hätte. Als Nero wieder zu
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jammern anfangen wollte, als Südländer hing er eben außergewöhnlich am Leben, und er hatte noch zwei Drittel davon vor sich, sagte Urban: „Hörst du es auch?« „Die Nebelboje?" „Den Hubschrauber." „Ja, jetzt! Ist das normal?" „Wir nähern uns wohl der Zwölfmeilenzone zum Ostblock. Das bedeutet verstärkte Luftüberwachung. Küstenschutzboote werden uns im Radar erkennen und begleiten." „Ist von denen etwas zu erwarten?" ,,Für mich eher noch weniger", befürchtete Urban. „Und was ist weniger als nichts, bitte?" „Kerker, Verhöre, Sibirien vielleicht. Im Altertum sagten sie, jeder Tod ist mir recht, bloß nicht kreuzigen. Man stirbt verdammt langsam und hat zuviel davon." Der Hubschrauber war über das Schiff geflogen. Aus irgendwelchen Gründen verlangsamte der Getreidefrachter die Fahrt, behielt aber schätzungsweise vierhundert Umdrehungen bei. Wenig später hörten sie Schritte. Dann sperrte der Posten vor der Tür auf. Ein Maat und ein Mann standen da, beide schwer bewaffnet. Der Maat hatte einen Colt, der andere MPi und Handgranaten. „Stellt sie auf die Füße!" Sie schnitten ihnen die Fußfesseln mit Zangen auf und einer fragte: „Hier?" „Nein, an Deck. Bloß keine Spuren, nicht ein Spritzer Blut darf zu finden sein, nicht ein Gramm Gehirnmasse." Sie wurden vorwärtsgestoßen und an Deck getrieben. Draußen war es kalt, stockfinster und neblig. Man konnte kaum bis zur Reling sehen. Ein paar Lampen verbreiteten müdes gelbes Licht. Das Deck war glitschnaß. Das Schiff arbeitete kaum in der ruhigen See. Urban schätzte die Fahrt auf acht Knoten. Plötzlich vernahm er ein Klicken. Die anderen hörten es auch. Es war, als hake etwas metallisch ein. Sie suchten die Back ab, fanden aber nichts. „Licht aus!" befahl der Maat. „Du, Kleiner, bläst jetzt die Druckflaschen ab, wo man es dir gesagt hat, und wie man dich instruierte. Zum Dank empfangt ihr eine Kugel, die euch glatt tötet. Anderenfalls binden wir euch die Füße zusammen, und ihr werdet qualvoll ersaufen." Einer brachte den Koffer. Der Deckel schnappte auf. Sie befreiten Nero von seinen Handfesseln und drückten ihm eine der Gasflaschen in die Hand. Nero zögerte. „Auf was wartest du?" Nero blickte Urban an. Doch der sagte nichts und
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tat nichts. Nero hatte aber den Eindruck, daß etwas geschehen müsse, denn er fand Urbans Verhalten merkwürdig. Es sah aus, als warte Urban, als lausche er, als rechne er oder kalkuliere irgend etwas auf hinterlistige Weise aus. Der Maat preßte den Colt an Urbans Schläfe. „Ich warte nicht länger." Ehe er durchzieht, dachte Urban, hat er das Knie im Leib. Es würde allerdings nur ein kurzer Befreiungsschlag werden, der aber vielleicht einen Tumult auslöste. Wenn er Pech hatte, brachen er und Nero im Kreuzfeuer zusammen. Trotzdem tat er es. Er riß das Knie hoch und trat dem Maat zwischen die Beine. Der schoß sofort, aber hinauf in die Sterne. Nun riß der zweite Mann seine MPi herum und legte auf Urban an, um ihm ein Magazin voll in den Leib zu jagen. Da traf ihn etwas Langes, Spitzes im Rücken. Die Waffe schickte ihre tödlichen Garben hinaus auf die See. Die drei Sekunden Ablenkung hatten genügt. Schwarze Punkte tauchten an der Bordwand auf. Die Kampfschwimmer des Zuges Okruch flankten über die Reling. Daß sie zupacken würden, hatte Urban gewußt. Er hatte sie alarmiert. Daß sie da waren, hatte ihm der Hubschrauber angezeigt. Und daß sie abgesprungen waren, wußte er, als der Helikopter abdrehte. Und dann hatte er noch das Klicken der Fanghaken gehört, mit denen die Kletterleinen eingerastet waren. Gestalten wie schwarzlackiert jumpten an Deck. Im Feuer ihrer schallgedämpften Maschinenpistolen brach jeder Widerstand rasch zusammen. Die fliehenden Gegner holten ihre Preßluftharpunen ein. Um 20 Uhr 55 hatten sie das Vorschiff in ihrer Hand. Heftiger Lärm entstand. Dann kam ihnen der zweite Zug von achtern entgegen. Der Kompaniechef riß die Atemmaske herunter. „Nennt man das pünktlich?" „Danke", sagte Urban. „Sie sind sogar im Ernstfall ziemlich gut." Zwei Bootsmänner mit Lotsenpatent übernahmen das Schiff, änderten den Kurs und brachten es nach Lübeck. Einer der Maate löste ein Gummiband von der Wade und entnahm dem Munitionsbehälter, den er dort trug, eine Flasche. Sie enthielt Rum pur. „Eiserne Ration, Herr Kapitän." Urban entkorkte sie per Handschlag auf den Flaschenboden. Dann setzte er an und trank mit heißer Gier. Der Hochprozentige
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brannte ihm die Kehle hinunter. Dann reichte er die Flasche weiter an den kleinen Korsen. Der Fall Collmann war für Urban abgeschlossen und abgelegt, da hörte er noch einmal von Beatrix. Es war auf der Rückfahrt von Hamburg nach München auf der Autobahn, als sein Autotelefon ging. Mitten in der Nacht rief sie ihn aus Warschau an. „Ich tingle durch den Ostblock", sagte sie, „habe ein freies Wochenende. Besuchst du mich, Großer?" Sie konnte nicht wissen, daß er eher über den Südpol marschieren würde, als freiwillig seinen Fuß hinter den eisernen Vorhang zu setzen. „Ich muß dich unbedingt sehen", beharrte sie. „In zwei Wochen bin ich wieder zurück." Er zückte seinen Terminkalender und schaltete das Leselicht ein. „Bis Ende des Monats bin ich ausgebucht. Außerdem muß ich zu einem Flugtraining in die USA. Dann eine alte Sache in Ankara, anschließend habe ich in Tel Aviv zu tun. Wie wär's Mitte Juli?" „Schallplattenaufnahmen", bedauerte sie, „Fernsehen, ein Film." „Und im August bin ich in Norwegen." „Wie sieht es im Herbst aus?" wollte sie wissen. „Unbestimmt." Immer wieder gab es Troubles wie diesen Fall Collmann, der seine ganzen Pläne durcheinanderwirbelte. Sie verabredeten sich also für Ostern im nächsten Jahr. „Du kennst ja meine Höhle", erwä hnte Bea. „Also dann bis Karfreitag", sagte er, ziemlich sicher, daß sie es noch mehrmals verschieben würden, so lange, bis kein Bedürfnis mehr bestand und sie es ganz bleiben ließen ... ENDE
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