Science Fiction Nr. 203
Thomas Lockwood
Entscheidung auf Sigma Sechs
Philip Boyle war nicht gerade von auffälliger ...
29 downloads
879 Views
633KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Science Fiction Nr. 203
Thomas Lockwood
Entscheidung auf Sigma Sechs
Philip Boyle war nicht gerade von auffälliger Gestalt. Sein Äußeres machte ihn zu einem Musterbeispiel eines Normalbürgers, der sich durch keine besonderen Kennzeichen aus der Masse heraushob. Sein Körper war wohlgenährt und zeigte den typischen Mangel an sportlicher Betätigung, den sein Beruf und seine Lebensweise mit sich brachten. Sein strähniges Haar hing ihm oftmals in die Stirn und erweckte den Eindruck von Ungepflegtheit, was ihm schon manche tadelnde Bemerkung seiner Vorgesetzten eingetragen hatte. Boyle warf einen letzten prüfenden Blick auf die komplizierte Elektronik des mannshohen Kontrollpultes, dann befestigte er die Verbindungsplatte und packte sein Werkzeug in die Tasche. Ein Blick auf seinen Chrono sagte ihm, daß seine Arbeitsperiode schon seit geraumer Zeit beendet war, was ihn aber nicht weiter störte. Er hatte den letzten Check noch beenden wollen, und außerdem hatte er an diesem Abend wie an so vielen anderen nichts Besonderes vor. »Das wär’s dann«, sagte er halblaut, griff seine Tasche, nachdem er ein letztes Mal seinen Blick über die Aggregate des Schaltraums hatte schweifen lassen und verließ das Schiff auf dem üblichen Weg. Morgen stand ihm und einigen anderen Technikern noch der Abschlußtest bevor, dann war ihre Arbeit getan. Er wußte vom Hörensagen, daß die ›Terranian Star‹ tief ins Logur-Gebiet vordringen sollte – mit einer Reihe von Diplomaten und anderen hochgestellten Personen an Bord. Wahrscheinlich waren damit auch die Sicherheitsvorkehrungen zu begründen, überlegte er. Als er aus der Nebenschleuse trat, blinzelten ihm die kalten Lichter der Sterne entgegen. Für einen Moment blieb er stehen
und legte den Kopf in den Nacken. Ein sanfter, für diese Jahreszeit fast zu kalter Wind spielte mit seinen Haaren und stellte das Maß an Unordnung her, das seine Vorgesetzten von Zeit zu Zeit mit einem mißbilligendem Kopfschütteln zu kommentieren pflegten. Für Sekunden spürte er etwas von dem in sich, das die ersten Menschen empfunden haben mußten, die sich in primitiven Metallkästen aus dem schützenden Bereich des Mutterplaneten herausgewagt hatten, getrieben von Sehnsucht nach neuen Erkenntnissen. Aber gleichzeitig spürte er auch ein gewisses Maß an Angst – Angst davor, zwischen den Sternen ein jähes Ende zu finden, durch grelle Energieblitze aus LogurSchiffen. Raumfahrt hatte nichts Romantisches mehr, waren die Reisen zu anderen Welten, besonders in den Außenbezirken, ständig gefährlicher geworden, durch vereinzelte oder auch massive Überfälle jener Silicium-Rasse, die die Menschen in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung ›Logur‹ nannten. Philip Boyle verscheuchte diese Gedanken. Er befand sich auf der Erde, in Sicherheit. Und niemals würde er sich an Bord eines Raumschiffes befinden, das sich im All bewegte, wenn er dies auch manchmal bedauerte. Vor Jahren hatte er die psychologischen Tests nicht bestanden, und er hatte keinen Grund anzunehmen, daß sich dieses Fiasko heute nicht wiederholen würde. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und fröstelte einen Augenblick, während er langsam auf das nahe Kontrollgebäude des Raumhafens zuschritt. »Fertig für heute?« erkundigte sich der Uniformierte an der Energieschranke lächelnd. Boyle tippte kurz an seine Mütze. »Für heute ja, Henry«, sagte er und reichte ihm den Dienstausweis, in dem die Berechtigung zum Betreten des Start- und
Landefeldes eingetragen war. Der Beamte schob die flache Plast-Karte in den Prüfschlitz eines Gerätes und beobachtete mit mildem Interesse die Kontrollämpchen. Es war schon fast wie ein Zeremoniell, das sich jeden Abend wiederholte, obwohl sich die beiden Männer inzwischen gut kannten. Aber Vorschrift war eben Vorschrift, wie Henry zu sagen pflegte. »In Ordnung«, sagte der Uniformierte und reichte ihm den Ausweis zurück. »Und schönen Abend noch.« »Gleichfalls«, murmelte Philip, der keine Lust zu einer kurzen Unterhaltung hatte, durchschritt die unsichtbare Barriere und verließ kurz darauf das Gebäude, das zu dieser Zeit einen leeren, ausgestorbenen Eindruck machte. Sein Fahrzeug parkte ganz in der Nähe, nur einige Dutzend Meter entfernt. Am Horizont sah er den Strahlenglanz der nahen City, der sich halbkugelförmig über die Betonschluchten zu erstrecken schien. Aus Emissionsgründen war der Raumhafen weitab von der Stadt errichtet worden, so daß der Lärm der startenden und landenden Raumschiffe niemanden stören konnte. Aber zur Zeit wurde er ohnehin nur zu einem Viertel seiner Kapazität ausgelastet – auch eine Folge des interstellaren Konflikts, der fast schon die Bezeichnung Krieg verdiente. Die Stille, die sich über die weiten Stahlplastikflächen gelegt hatte, war schon beeindruckend und paßte irgendwie nicht hierher. Nichtsdestoweniger hatte sich Boyle, der sein ganzes Leben zwischen den weit auseinandergezogenen Komplexen verbracht hatte, schon daran gewöhnt, so daß ihm das leise Scharren in seiner unmittelbarer Nähe sofort auffiel. Unbewußt blieb er stehen, blickte sich um und lauschte. Doch da war nur das leise Rauschen des Windes, dessen Kälte ihn erneut frösteln ließ, und das ferne Summen und Raunen der City, dem Pulsschlag eines organischen Wesens gleich. Für einen Augenblick verharrte er in dieser Stellung, dann
schüttelte er den Kopf, drehte sich um und marschierte weiter. Wer sollte sich schon zu dieser Zeit hier aufhalten? Und welchen Grund sollte dieser Jemand haben, sich vor ihm zu verbergen, ausgerechnet vor ihm? Feine Steine knirschten unter seinen Schritten. Es war ein Geräusch, das ihm plötzlich eindringlicher erschien, als es sonst der Fall war. Die Empfindlichkeit seines Hörsinns schien sich gesteigert zu haben – und auch sein Bewußtsein wartete unter einer ihm selbst fremden Anspannung auf ein weiteres Zeichen dafür, daß sich jemand in seiner Nähe aufhielt. Abrupt blieb er stehen. War da nicht etwas gewesen? Unruhig und nervös geworden versuchten seine Blicke die Finsternis zu durchdringen. Er verfluchte es erneut, daß man die starken Atomlampen abgeschaltet hatte, die den Komplex sonst in ein taghelles Licht getaucht hatten. Aber sie verbrauchten viel Energie, und in Anbetracht dessen, daß während der Nachtstunden nur noch sehr selten ein Schiff landete, war ein derartiger Verbrauch sinnlos geworden. Die Tasche mit dem Werkzeug in seiner rechten Hand schien plötzlich tonnenschwer geworden zu sein, und er ließ sie auf den Boden sinken. In einer aggressiven Geste stemmte er die Fäuste in die Hüften, mehr, um sich selbst Mut zu machen, als einen möglichen Gegner zu beeindrucken. Möglichen Gegner? Ich werde langsam hysterisch, dachte er. Kein Wunder, daß sie mich nicht in den Raum lassen, wenn ich schon auf irgendein Geräusch gleich so reagiere! Er griff erneut nach seiner Tasche und wollte sich umdrehen, als er das Knirschen von Sand und Steinen vernahm. Seine Füße hatten sich nicht bewegt. Es mußte sich als doch jemand in seiner Nähe befinden; er täuschte sich nicht. Der Wind war nicht stark genug, um diese Geräusche hervorzurufen.
Die Dunkelheit um ihn herum hatte plötzlich etwas Bedrohendes. Sein Pulsschlag beschleunigte sich etwas, als er daran dachte, daß er den Outsidern in die Hände fallen könnte, Menschen, die ihren Lebensunterhalt dadurch bestritten, daß sie ihre Mitbürger um Spenden ›baten‹, ein Vorgang, der nicht immer glimpflich für den Betreffenden verlief. Und er hatte keine Waffe bei sich! Aber wer rechnete auch schon damit, hier, einige Kilometer von den Ausläufern der City entfernt, auf Outsider zu stoßen? Das war ein extrem unwahrscheinlicher Fall. Und außerdem mußten sie doch wissen, daß sie hier keine Beute machen konnten. Um diese Zeit verließen mit Sicherheit keine Passagiere mehr die Abfertigungshallen. Wieder das Knirschen. Boyle war wie gelähmt. Sein Fahrzeug befand sich ganz in der Nähe, aber er war davon überzeugt, daß er es nicht mehr unbeschadet erreichen würde, wenn er sich jetzt davonmachte. Vielleicht konnte er die Outsider davon überzeugen, daß bei ihm nichts zu holen war. Aus der Finsternis schälten sich langsam zwei hochgewachsene Männer heraus, die sich ihm mit lässigen Bewegungen näherten. Unbewußt registrierte Philip, daß sie eigentlich nicht wie Kriminelle wirkten. Ihre Kleidung war, soweit er das beurteilen konnte, ganz und gar nicht schäbig, wirkte eher teuer und ausgesucht. »Ich… ich habe kein Geld bei mir«, stammelte er. Sein Blick war nervös und unsicher. »Ihr habt bei mir… kein Glück.« Die beiden Männer sahen sich überrascht an, und Boyle bemerkte das flüchtige Grinsen, das über ihre Gesichter huschte. »Geld?« echote einer amüsiert. »Keine Angst, ›das‹ wollen wir nicht!« Seine Stimme klang dumpf. Boyle fühlte, wie es ihm kalt den Rücken hinabrann. Keine Outsider?
Sein Gesichtsausdruck mußte in diesem Augenblick nicht von besonderer Intelligenz zeugen, denn die beiden hageren Gestalten lachten gepreßt. »Sie sind Philip Boyle?« fragte der eine mit plötzlicher Schärfe. Philip nickte beinahe automatisch. Seine Stimme versagte ihm den Dienst. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Arbeitsperiode beendet ist und Sie Ihre Wohnung aufsuchen wollen?« Wieder nickte er und wunderte sich über den freundlichen Ton, in dem diese Frage gestellt wurde. »Und Ihr Fahrzeug steht dort drüben, nicht wahr?« Der ausgestreckte Arm wies auf den Parkplatz in der Nähe. »Ja, ganz recht«, entgegnete Philip und versuchte dabei, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen. »Aber… ich verstehe nicht…« »Das ist auch gar nicht nötig. Wir werden Sie begleiten und uns in Ihrer Wohnung weiter unterhalten.« Boyle war sich darüber klar, daß er kaum eine Wahl hatte, und fügte sich widerspruchslos. Nur wenig später saßen sie in seinem schon etwas älteren Gleiter, der sich in wenigen Metern Höhe auf die nahe City zubewegte. In Boyles Hirn herrschte ein Chaos. Fieberhafte Gedanken beschäftigten sich damit, was seine beiden ›Gäste‹ von ihm wollten. Es waren keine Outsider, das hatte er mittlerweile begriffen. Sie wollten kein Geld, und merkwürdigerweise machte ihn das noch nervöser, anstatt ihn zu beruhigen. Wenn sie kein Geld wollten, was dann? Boyle begann zu zittern. * Log-Tanger befand sich im Klimaraum seines Appartments, das zu den Unterkünften gehörte, die für außerirdische Besu-
cher konzipiert waren. Die aufwendige Technik, die hinter den Wänden verborgen und die nur aufgrund von unscheinbaren Sensorzellen zu vermuten war, gestattete es, in bestimmten Räumen die Bedingungen herzustellen, die die Besucher wünschten. Log-Tanger war ein Logur und ließ sich gerade von einem Schauer harter ultravioletter Strahlung berieseln. Das bewirkte in dem zusammengepreßt erscheinenden Wesen – einschließlich der Gravitation von 1,8 g – eine angenehm entspannende Empfindung. Er bedauerte aufrichtig, daß er nur noch sehr selten Zeit fand zu diesen Augenblicken des Wohlbehagens. Die Heimatwelt der Terraner bot ihm nur begrenzte Existenzmöglichkeiten, so daß er sich in halbwegs regelmäßigen Abständen, wenn er keinen Schutzanzug tragen wollte, einer Regeneration im Klimaraum unterziehen mußte. Die Beratungen, Gespräche und komplizierten Verhandlungen hatten ihm nicht immer ausreichend Gelegenheit dazu gegeben. Aber die Hauptarbeit lag jetzt hinter ihm. In wenigen Tagen würde er sich wieder an Bord der ›Agar‹ befinden, die ihn zu seinem Heimatsystem zurückbringen sollte. Während ein harter, peitschender Luftstrom an seiner gedrungenen Gestalt zerrte, dachte er noch einmal an die zurückliegenden Tage. Die unzähligen Gespräche waren erfolgreich gewesen und hatten zwei Zivilisationen endlich die Chance eröffnet, ihren Konflikt zu beenden und friedlich miteinander auszukommen. Die Verhandlungsdelegation der Terraner stand personell bereits fest und würde ebenfalls in wenigen Tagen zu der Welt aufbrechen, die Log-Tanger genannt hatte, einem Planeten, der der Logur-Einflußsphäre angehörte. Und dort mußte sich entscheiden, wie Logur und Terraner in Zukunft zueinander standen. Log-Tanger war zuversichtlich. Er wußte zwar, daß es unter den Menschen starke Gruppen
gab, die mit fanatischem Eifer jede Zusammenarbeit, ja sogar das friedliche Nebeneinander mit seinem Volk ablehnten und bekämpften, aber er hatte offensichtlich ihren wirklichen Einfluß überschätzt. Es gab genügend Terraner, die das Sinnlose einer weiteren Auseinandersetzung einsahen und den Weg zu Verhandlungen einschlagen wollten. Und auch in seinem Volk hatte es harte Auseinandersetzungen darum gegeben, ob man mit den Terranern sprechen sollte. Es gab auch unter den Logur eine Anzahl von Individuen, die erbitterte Gegner der Menschen waren, wenn dafür auch jeder rationale Grund fehlte. Logur waren Wesen, deren Stoffwechsel auf Silicium- statt auf Kohlenstoffbasis funktionierte. Im allgemeinen waren die Welten, auf denen Terraner lebten, für die Logur absolut unbewohnbar. Und umgekehrt. Eigentlich gab es überhaupt keinen vernünftigen Grund für die blutigen Auseinandersetzungen, die seit geraumer Zeit zwischen ihren beiden Völkern stattfanden. Log-Tanger genoß einen weiteren Schauer harter UV-Strahlen und veränderte mit einem raschen Tastendruck die Temperatur, die daraufhin binnen weniger Sekunden bis auf annähernd fünfundvierzig Grad anstieg. Er war der erste Logur, der jemals den Boden der Heimatwelt der Terraner betreten hatte. Wahrscheinlich würde er sogar in die Chroniken zweier Zivilisationen eingehen, als das Individuum, das den Weg zum Frieden bereitet hatte. Er verfügte über offiziellen diplomatischen Status und war berechtigt, Vorverhandlungen mit den Terranern zu führen. Er hatte sich wütenden Angriffen eines Mannes ausgesetzt gesehen, der sich Leicka nannte und zu den Fanatikern gehörte, die am liebsten sein ganzes Volk ausrotten würden. Aber dessen Bemühungen waren umsonst geblieben: Es würde offizielle Verhandlungen auf Regierungsebene geben! Und er, Log-Tanger,
hatte den Weg dazu geebnet! Die für menschliche Begriffe unerträgliche Hitze und die ungeheure Schwerkraft, die die des Planeten um fast den gleichen Wert übertraf, hatte ihn schläfrig werden lassen, Zeichen dafür, daß der Regenerationsprozeß fortgeschritten war. Er desaktivierte die Anlagen des Klimaraums, nicht ohne sich zuvor einem kurzen Schauer antiseptischer Strahlung ausgesetzt zu haben, hüllte sich dann in sein togaähnliches Gewand, das ihm Schutz vor der für ihn barbarischen Kälte dieser Welt bot, und verließ die Kammer. Zwar war er innerhalb seiner Unterkunft nicht auf diese Kleidung angewiesen, da er, soweit das möglich gewesen war, annehmbare Wohnbedingungen geschaffen hatte, aber sie diente ihm doch als psychologische Stütze, die ihn die ungemütliche Umgebung außerhalb dieser Existenzinsel vergessen ließ. Das Mobiliar hatte nicht gravierend geändert zu werden brauchen. Die Logur glichen dem Äußeren nach verblüffend den Terranern, wenn sie auch infolge der gewohnten höheren Schwerkraft gedrungener und breiter waren. Aber sie waren hominid, verfügten über zwei Arme und zwei Beine. Eigentlich war es nur der Stoffwechsel, der den grundlegenden Unterschied ausmachte. Organische Wesen auf Silicium-Basis mußten naturgemäß völlig anders aufgebaut sein als Menschen. Das Nahrungsproblem war schon wesentlich größer gewesen. Lebensmittel, die für die Terraner Delikatessen bildeten, waren für ihn absolut tödliches Gift. Die erste Zeit hatte er seinen Energiebedarf von den Vorräten bestritten, die er in weiser Voraussicht mitgebracht hatte – bis es dann der zentralen automatischen Küche gelungen war, schmackhafte Nahrung für ihn zu produzieren, die seinem Silicium-Stoffwechsel gerecht wurde.
Mittels der Bestelleinheit beschaffte er sich einen der köstlichen Suqh-Cocktails, deren Nachahmung der Küche – mit Hilfe seiner Anweisungen – besonders gelungen war. Er stellte das Glas mit der grünschillernden, leicht fluoreszierenden Flüssigkeit auf den Tisch und ließ sich in einen der Sessel sinken. Dann kreuzte er Arme und Beine in typischer LoganthanGeste und war für einige Minuten in tiefer Meditation versunken. ›Eins werden mit dem Kosmos‹, nannten die Loganthan-Priester seines Volkes dieses Zeremoniell, aus dem die Logur eine tiefe psychische Kraft schöpfen konnten. Es hatte LogTanger in den vergangenen Tagen ungemein geholfen, sein geistiges Gleichgewicht angesichts der ungewohnten Lebensbedingungen, der anstrengenden Gespräche und den Anfeindungen der Fanatiker zu wahren. Es war ihm gelungen, und darauf war Tanger besonders stolz. Der Logur löste sich mit einem kaum merklichen Stöhnen aus dem Loganthan und griff nach dem Glas. Der Suqh-Cocktail war völlig geruchlos, hatte aber einen sehr angenehmen Geschmack, wenn er mit der Speichelkomponente eines Logur in Berührung kam, und entwickelte eine entspannende Wirkung, ohne dabei berauschend zu werden. Log-Tanger leerte das Glas in kleinen Schlucken mit geschlossenen Augen und lehnte sich zurück. Instinktiv wartete er auf die Entspannung, die seinen Körper in angenehmen Schauern durchrieseln mußte. Diesmal jedoch war die Wirkung des Suqh-Cocktails eine völlig andere. Sein Magentrakt explodierte. * »Sie wissen, um was es geht?« fragte Martin Ferguson. Seine Stimme war dumpf, aber doch scharf akzentuiert. Das Überbe-
tonen der einzelnen Silben fiel Toger Raman längst nicht mehr auf. Er hatte sich an die eigenartige Sprechweise seines Chefs gewöhnt. »Nicht exakt«, entgegnete Toger und sah sich um. Das Domizil des Vorsitzenden des Sicherheitsbüros war, von der Größe her zu urteilen, beeindruckend. Die Einrichtung jedoch, die eher von zurückhaltender Natur war, dämpfte den Eindruck von Bedeutung etwas ab. Er wußte aber, daß die unscheinbaren und teilweise antiquiert wirkenden Schränke und Sideboards hochmoderne Technik beinhalteten, die den Raum absolut sicher machte – in jeder Beziehung. Ferguson räusperte sich kurz. Seine Gestalt paßte genau in diese Umgebung. Der etwa sechzigjährige Mann hatte keine besonderen Merkmale an sich, abgesehen von einer Leibesfülle, die verriet, daß sein letzter aktiver Einsatz schon lange zurücklag. Nur der Ausdruck seiner Augen zeugte von dem, was ihm die Leitung des Sicherheitsbüros eingetragen hatte: überragende Intelligenz und eine Art sechster Sinn, eine Spürnase für unliebsame Zwischenfälle. »Auch gut«, sagte Ferguson und legte den Magnetschreiber zur Seite. Der Sessel gab ein gequältes Stöhnen von sich, als sich die massige Gestalt zurücklehnte. »Sie wissen, wie es zwischen uns und den Logur steht. Wir führen seit Jahren eine schon fast kriegerische Auseinandersetzung, die, rational gesehen, absolut unsinnig ist, auf beiden Seiten von Fanatikern aber seltsamerweise immer wieder angeheizt wird. Sie wissen wahrscheinlich ebenso, daß dieser Konflikt langsam eskaliert und einem wirklichen Krieg nicht mehr fern ist – wenn man nichts dagegen unternimmt. Aber abgesehen davon: Unsere Randwelten stehen schon aufgrund der bis jetzt noch vergleichsweise harmlosen Auseinandersetzung an der Schwelle zum Ruin. Die Ausgaben für Rüstung
und Sicherheit, um die Überfälle von Logur-Schiffen abzuwehren, übersteigen ihre Möglichkeiten. Wenn es zum Krieg käme, ginge es uns – und auch den Logur – binnen weniger Jahre ähnlich. Es wäre ein Krieg, bei dem es nur zwei Verlierer geben kann! Logur und Terraner stehen technologisch auf gleicher Stufe, und auch die Kapazitäten der Produktionsanlagen sind, soweit wir das wissen, so gut wie gleich.« »Ganz abgesehen davon«, unterbrach Toger seinen Chef, »daß ein solcher Krieg der Gipfel von Sinnlosigkeit wäre. Wir könnten nichts mit ihren Welten anfangen, und umgekehrt ist es ebenso. Ich verstehe selbst die – wie Sie sagen noch ›harmlosen‹ – Auseinandersetzungen, die wir bis heute führen, nicht. Es ist alles so…« »Unvernünftig«, vervollständigte Ferguson. »Absolut unvernünftig. Aber trotzdem real!« Er räusperte sich kurz, bevor er weitersprach. »Vor zwei Standardwochen traf, wie Sie auch wissen, ein logurscher Diplomat namens Log-Tanger hier auf Terra ein, der uns ein Verhandlungsangebot seiner Regierung überbrachte. Das gibt uns endlich die Chance, zu einem dauerhaften Frieden mit den Logur zu kommen. Und trotz des erbitterten Widerstandes von Leicka und seiner Gruppe hat unsere Regierung einen vernünftigen Weg eingeschlagen und sich mit LogTanger geeinigt, offizielle Verhandlungen auf einem Planeten aufzunehmen, der im Logur-Gebiet liegt.« »Davon weiß ich ja gar nichts!« platzte Toger heraus. Ferguson nickte. »Kein Wunder. Geheimhaltungsstufe, verstehen Sie?« Raman verstand. »Man befürchtet Sabotageakte von Seiten der Fanatiker?« »Genau das! Wenn die Verhandlungen mit den Logur allgemein bekannt werden, sind die Fanatiker zu allem fähig. Und
es steht einfach zuviel auf dem Spiel, um solch ein Risiko eingehen zu können.« Toger nickte nachdenklich. »So eine Chance gibt es wahrscheinlich nur einmal. Wenn die nutzlos verstreicht, wird es richtig losgehen.« »Sie haben vollkommen recht, Toger. Zwei Zivilisationen stehen auf dem Spiel! Unsere offizielle Verhandlungsdelegation besteht aus insgesamt vierzig Personen, eine ausführliche Teilnehmerliste werden Sie noch erhalten. Der Start ist auf Dienstag, 16.00 Standardzeit festgesetzt worden. Das Schiff ist die ›Terranian Star‹.« »Das ist ja schon übermorgen!« »Ganz recht. Je eher, desto besser; um so weniger Zeit bleibt für mögliche Sabotageakte. Sie werden den Flug begleiten, als Sicherheitsbeauftragter mit Vorrangstatus. Und als CentauriGeborener haben Sie ja eine Ausbildung als Überlebensspezialist genossen, die eventuell nützlich sein kann. Wie gesagt, wir müssen einfach mit allem rechnen! Es ist sogar möglich, daß sich unter den Delegationsangehörigen Fanatiker befinden, die vor nichts zurückschrecken. Seien Sie also auf der Hut! Begleiten wird Sie übrigens Rhiatten-Dhoolen, Sie kennen sich ja bereits.« Toger nickte nur. Der Lyrrh hatte ihn schon auf mehreren Einsätzen begleitet. »Ach ja, noch was«, sagte Ferguson und sah Raman dabei streng in die Augen. »Ganz offensichtlich hat die Geheimhaltung nicht allzu viel genutzt. Log-Tanger ist tot!« »Was?« »Sie haben richtig gehört. Er muß eine Substanz zu sich genommen haben, die ihn im Zusammenwirken mit seinem fremdartigen Metabolismus umgebracht hat.«
»Weiß man schon, wer dahintersteckt?« Ferguson schüttelte den Kopf. »Nein. Es hat eine Manipulation an der Automatikküche für den extraterrestrischen Trakt gegeben, soviel steht fest. Derjenige, der den Anschlag geplant und durchgeführt hat, muß sich dort gut auskennen. Dieser heimtückische Mord beweist nur einmal mehr, wozu die Fanatiker fähig sind. Denken Sie immer daran, Toger!« »Hoffentlich brechen die Logur nicht sofort die Verhandlungen ab, wenn sie vom Tod ihres Diplomaten erfahren.« »Das wäre genau das, was die Fanatiker damit beabsichtigen. Und das muß den Logur klargemacht werden. Wegen eines Individuums darf der Frieden zwischen den Zivilisationen nicht in Gefahr geraten.« Toger Raman nickte ernst, nahm eine Tasche mit wichtigen Papieren an sich und verließ dann das Büro seines Chefs. Es kam eine Menge Arbeit auf ihn zu. * Es hatte sich eine ganze Menge verändert, fand Philip Boyle – und er hatte damit nicht ganz unrecht. Noch vor wenigen Tagen hatte der Raumhafen Nord leer und verlassen in der öden Landschaft außerhalb der City gelegen. Jetzt aber zeigte sich schon außerhalb des Komplexes rege Aktivität. Gelassen wirkende Gestalten patrouillierten schon weitab der eigentlichen Raumhafengebäude, gefährlich aussehende Waffen geschultert und aufmerksam ihre Umgebung beobachtend. Philip war schon dreimal kontrolliert worden, mit einer Gründlichkeit, die er nicht gewohnt war. Das Erscheinungsbild der Bewaffneten täuschte, sie verstanden ihr Handwerk. Boyle fragte sich für einen Moment, was die Ursache für die-
se umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen war; aber die Frage verschwand genauso schnell in seinem Unterbewußtsein, wie sie entstanden war. Er hatte seine Arbeit zu erledigen, alles andere ging ihn nichts an. Nachdem er zwei weitere Überprüfungen über sich hatte ergehen lassen, betrat er das scheinbar endlose Start- und Landefeld und schritt zielstrebig auf die dicht vor ihm liegende ›Terranian Star‹ zu. Einige helle Atomlampen tauchten den einhundert Meter durchmessenden kugelförmigen Riesen in ein blendendes Licht. Philip faßte seine Werkzeugtasche fester, erreichte nach einigen Minuten die offenstehende Schleuse und ließ sich von dem sanften Energiestrom nach oben tragen. Zwei langläufige Strahlwaffen richteten sich plötzlich mit maschinenhafter Präzision auf ihn, und er zuckte erschrocken zurück. »Identitätskontrolle!« schnarrte einer der beiden Wächter. Philip zog mit einem Seufzer zum wiederholten Mal seinen Ausweis. Der Mann betrachtete ihn genau und ließ die flache Karte zusätzlich von einer kompakten Elektronik einer Prüfung unterziehen, um sie dann nach einigen Augenblicken mit einem kurzen »Okay« zurückzureichen. Es hatte sich wirklich eine Menge geändert. Im Schiff herrschte ein allgegenwärtiges Summen, Zeichen dafür, daß die letzten Startvorbereitungen getroffen wurden. Einige in Overalls gekleidete Männer waren dabei, versiegelte Vorratsbehälter mit Lebensmitteln in den Depots zu verstauen, andere prüften die Kisten mittels haarfeiner Sensoren. Er verließ kopfschüttelnd den Schwerkraftlift und betrat einen quadratischen Raum, der unförmige Schaltblöcke beherbergte und dessen Wände mit elektronischen Geräten bestückt waren. Ein Knistern wie von statischer Elektrizität lag in der Luft. Winzige Kontrollampen und Leuchtdioden flackerten kurz
auf, wenn jemand in der Schiffszentrale einige Decks höher einen Checkkreis betätigte. »Dann wollen wir mal«, murmelte Boyle und entnahm seiner Tasche ein Allzweckzwerkzeug, mit dem er sich sogleich daranmachte, die Verkleidung eines der Aggregate abzulösen. Es war quaderförmig, mochte etwa zwei Meter hoch und ebenso breit sein. Es machte von außen einen unscheinbaren Eindruck, obgleich es das Herz der Elektronik in diesem Raum darstellte. Ihm oblag die Koordinierung sämtlicher Anweisungsimpulse aus der Zentrale, soweit sie die Astronavigation betrafen. In den Kristallspeichern befanden sich die Koordinaten von allen katalogisierten Sonnen, und die Systemkreise machten das Aggregat zu einer Halbautomatik, was das Manövrieren im freien Raum anbelangte. Es waren keine komplizierten und langwierigen Berechnungen mehr nötig, um den Kurs zu bestimmen und zu kontrollieren. Das Gerät bewältigte den Löwenanteil der Arbeit in einer verblüffend kurzen Zeit. Philip kappte mit einigen routinierten Handgriffen die Verbindung zur Zentrale und zur Energieversorgung. Das Raunen, das aus den Eingeweiden des Aggregats drang, verstummte übergangslos. Boyle nickte befriedigt. Heute ging ihm die Arbeit besonders leicht von der Hand. Seine Finger schienen von ganz allein die Module und ICs zu finden, die wichtig waren und die es zu testen galt. Er holte ein konusförmiges Gerät aus seiner Tasche, das über eine schwach schimmernde Skala verfügte und schloß es an einen bestimmten Schaltkreis an. Dann preßte er die Taste am Kopf des Gerätes nieder, worauf sich der Skalenzeiger zitternd in Bewegung setzte und einige Teilstriche in die Höhe kletterte. Boyle brummte zustimmend, als er sah, daß der angezeigte Wert genau dem Soll entsprach. Noch einige Male wiederholte er diese Prozedur, dann verstaute er den Ko-
nus wieder und entnahm seiner Tasche einen Würfel von einem Zentimeter Kantenlange, der über einige Steckverbindungen verfügte. Einige Sekunden lang drehte er das Element zwischen den Fingern. Er wußte, daß sich im Innern eine Anordnung befand, die eine beeindruckende Anzahl von Daten zu speichern vermochte. Dieser winzige Würfel beinhaltete annähernd tausend Koordinaten von Sternsystemen, mit deren Hilfe sich ein Raumschiff relativ gefahrlos im All bewegen konnte. Philip löste eine weitere Verbindungsplatte und gelangte nach einer halben Stunde angestrengter Arbeit an den Speicher der Halbautomatik, der den Raum von einem Kubikmeter einnahm. Es war eine Tätigkeit, die selbst ihm ungewohnt war. Nichtsdestoweniger saß jeder Handgriff, wenn auch eine höhere Konzentration erforderlich war. Vorsichtig befreite er die Würfel mit den Kristallen von allen Verbindungen mit der Elektronik, insbesondere von den Kondensatoren. Ein unkontrollierter Energiestoß konnte dazu führen, daß eine nicht zu übersehende Menge von Daten verändert wurde. Und so etwas führte im All zu katastrophalen Situationen. Einen Augenblick lang wunderte sich Boyle darüber, was seine Hände unternahmen, dann war der Impuls schon wieder verschwunden und machte einer fast euphorischen Empfindung Platz. Halblaut summte er eine fröhliche Melodie, während er mit sicheren Bewegungen einen ganz bestimmten Würfel aus dem Speicher löste. Er unterschied sich in nichts von all den anderen, nur die Bezeichnung in fluoreszierender Farbe ließ Rückschlüsse auf die Art der enthaltenen Daten zu. Rasch legte er ihn zur Seite, griff nach dem Datenelement, das er mitgebracht hatte und das die gleiche Bezeichnung aufwies, und machte sich daran, es in den Speicher zu integrieren. Das war genau der Augenblick, als sich zischend das Schott
öffnete und ein Mann eintrat, den der hellgrüne Kittel als Bordtechniker auswies. Sein nachdenkliches Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck maßlosen Erstaunens, als er Philip Boyle sah, der jetzt seine Arbeit an dem Datenspeicher unterbrach und sich umblickte. »Hey! Was machen Sie da?« fragte der Techniker, nun mißtrauisch geworden und kam mit raschen Schritten auf Philip zu. »Was, zum Teufel geht Sie das Koordinaten-Programm an?« Boyle zeigte ein flüchtiges Grinsen. »Ich habe den Auftrag, den Navigationsblock zu überprüfen«, erklärte er. Das Mißtrauen des Technikers wuchs. »Aber davon müßte ich doch etwas wissen!« stieß er hervor und verengte die Augen. »Wer sind Sie eigentlich?« »Boyle, Philip Boyle, Elektroniker.« »So, so. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie doch nur die Elektronik des Ersten Systemkreises zu testen, Boyle. An der Astronavigation haben Sie nichts zu suchen!« Erst jetzt sah er den geöffneten Block und den Datenwürfel, den Philip bereits aus dem Speicher gelöst hatte. »Sind Sie verrückt gew…« Weiter kam er nicht mehr. In einer blitzschnellen Bewegung hatte Boyle nach seinem Allzweckwerkzeug gegriffen und es dem Bordtechniker an den Schädel geschleudert. Es krachte dumpf und häßlich, dann sank der Mann stöhnend zu Boden. Aus einer tiefen Wunde am Kopf pulsierte Blut, das rasch eine Lache bildete. Aber das sah Philip bereits nicht mehr. Er hatte sich umgewandt und machte sich nun daran, den neuen Würfel in den Kristallspeicher einzusetzen. Sein bewußtes Denken war zum größten Teil ausgeschaltet und ließ nur noch die Bewältigung dieser Aufgabe zu. Feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, während er
den Würfel integrierte und anschloß. Irgendwo in seinem Unterbewußtsein tobte ein psychisches Chaos, das seinen Puls rasen ließ, obwohl er selbst bewußt nicht das geringste bemerkte. Nach wie vor hielt ihn eine Euphorie umfangen, schienen seine Hände mehr Werkzeuge einer Maschine zu sein, als zu seinem Körper zu gehören. Wieder und wieder setzte er den Konus an, um sein Werk zu kontrollieren, und jedes Mal brummte er zufrieden. Es war alles in Ordnung, er hatte keinen Fehler gemacht. »Was ist denn hier los?« Die schneidende Stimme wirkte wie das Schrillen einer Alarmsirene auf Boyle. Er wirbelte herum, tastete blind nach irgendeinem Werkzeug und warf sich dann erneut zur Seite – so schnell und überraschend, daß der Bewaffnete, der in den Raum getreten war, zunächst zu keiner Aktion fähig war. Der Sicherheitsbeamte sah die reglose Gestalt am Boden, nahm den betäubend süßen und zugleich abstoßenden Geruch frischen Blutes wahr und erkannte, daß Boyle hier irgend etwas unternahm, das es zu verhindern galt. Ein scharfkantiger Gegenstand sauste dicht an seinem Schädel vorbei und hob endgültig die Schrecklähmung auf, die ihn für einen Augenblick erfaßt hatte. Der Bewaffnete reagierte mit eingeübten Reflexen, einer organischen Kampfmaschine gleich. Er warf sich seitwärts zu Boden und als er dort aufprallte, hatte er bereits seine Waffe feuerbereit in der rechten Faust. Er sah in das zu einer Grimasse entstellte Gesicht von Philip Boyle, der wieder hochgesprungen war und sich anschickte, mit einem hysterischen Heulen auf den Uniformierten loszustürmen. Der machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Ein fahler Impuls aus seiner Waffe schickte den Amokläufer bewußtlos zu Boden. Aufatmend schob der Bewaffnete den Strahler in die Tasche
zurück, holte sein Miniaturfunkgerät hervor und gab Alarm. * Als Toger Raman das eindringliche Sirren hörte, wußte er, daß es zu einem Zwischenfall gekommen war. Es war seine Intuition, die ihm dies sagte, und er verließ eilig die Hygienezelle seiner Wohnung. In seinem Arbeitszimmer aktivierte er zuerst einmal die Abschirmung, die den Raum völlig unabhörbar machte. Dieser Handgriff war schon so zur Routine geworden, daß er keinen Gedanken mehr daran verschwendete. Dann schaltete er den unscheinbaren Spezialkom ein, auf dessen Front eine Leuchtdiode nervös flackerte. Das Gerät begann für einige Augenblicke verhalten zu summen, dann verstummte es wieder und desaktivierte sich selbst. Aufmerksam studierte Toger die dünne Folie, in der eine Vielzahl von codierten Symbolen eingestanzt war. Er kannte die Verschlüsselungsmethode und brauchte daher keinen Decoder, um die Botschaft verständlich werden zu lassen. »Toger Raman, SB A/12 mit Vorrangstatus, Geheimhaltungsstufe II. Diese Meldung hat Bedeutungscharakter Alpha. Um 20.11 Standardzeit wurde der Elektroniker Philip Boyle vom Sicherheitsbeamten Melvin Kingsley dabei überrascht, wie er sich – ohne ausdrücklichen Auftrag – an der Speichereinheit der Astronavigation zu schaffen machte. Boyle muß nur kurze Zeit vorher den Bordtechniker Harald Ebhens niedergeschlagen haben, der ihn in seiner Tätigkeit beobachtet hatte. Boyle griff auch Kingsley an, konnte von ihm jedoch geschockt werden. Eine sofortige Überprüfung ergab, daß Boyle einen Datenwürfel austauschte, der bewirkt hätte, daß die ›Terranian Star‹
einen unkontrollierbaren Kurs eingeschlagen hätte, der sie voraussichtlich in Richtung Sagittarius, also ins Zentrum der Milchstraße geführt hätte. Eine genaue Bestimmung der Position des Schiffes wäre im freien Raum nicht mehr gewährleistet gewesen, womit die Mission fehlgeschlagen wäre. Philip Boyle ist langjähriger Angestellter des Raumhafens Nord und hat sich bisher keine nennenswerten Vergehen zuschulden kommen lassen. Politisch ist er nicht tätig gewesen, kann daher auch nicht zu den Fanatikern gezählt werden. Eine oberflächliche psychische Untersuchung ergab, daß er unter dem Einfluß eines starken Psycho-Befehls stand und noch steht, der ihn zu diesem Anschlag trieb. Wann dieser Befehl in sein Bewußtsein verankert wurde und wer dafür verantwortlich ist, ist noch ungeklärt. Informationen darüber voraussichtlich während der De-Aktivierung um 10.00 Standardzeit im Medo-Center der ›Terranian Star‹. Persönliche Anwesenheit erwünscht. Gez. Ferguson.« Raman hielt die Folie noch einige Augenblicke in der Hand, dann schob er sie in die Desintegrationskammer, wo sie sich in einem kurzen Lichtblitz auflöste. Die Fanatiker waren aktiver, als er geglaubt hatte. Die Verabreichung eines Psycho-Befehls war nicht nur illegal und wurde strengstens bestraft, die Geräte, die dazu notwendig waren, waren kostspielig und erforderten fachgerechte Bedienung. Das waren Hinweise, die das Auffinden der Täter erleichtern mochten, wenn er auch daran zweifelte. Die Logur-Gegner erhielten Unterstützung auf höchster Ebene, und es war sehr fraglich, ob überhaupt nur die Suche nach den Verantwortlichen mit der nötigen Sorgfalt durchgeführt wurde. Aber das fiel ohnehin nicht in Ramans Ressort. Er war für die Sicherheit der Delegation ›an Bord‹ verantwortlich, nicht mehr und nicht weniger. Seine Sachen waren längst gepackt, so daß es nicht viel Zeit
erforderte, das Gepäck in ein Hover-Taxi zu verfrachten und sich an Bord des Schiffes zu begeben. Seine Kabine war überraschend geräumig und geschmackvoll eingerichtet. Der Lyrrh, der eine Spezialunterkunft ganz in der Nähe bewohnen sollte, war noch nicht an Bord. »Wird wieder im letzten Augenblick kommen«, brummte Toger und machte sich dann mit einem Achselzucken auf den Weg zum Medo-Center. Unterwegs begegnete er noch einigen Männern aus seiner Abteilung, die eine letzte Sicherheitskontrolle durchführten. Obwohl sie ihn kannten, wurde sein Ausweis mehrmals genauestens überprüft, bis er sein Ziel erreicht hatte. Das Medo-Center bestand aus mehreren Abteilungen, die auf bestimmte Behandlungen spezialisiert waren. Es war steril und leer – bis auf den großen Diagnose-Saal, in dem sich mehrere Männer in weißen Kitteln um eine Pneumoliege scharten, auf der der scheinbar leblose Körper von Philip Boyle lag, angeschnallt und mit dünnen Schläuchen und Sensoren mit einem summenden Aggregat verbunden. »Toger Raman«, stellte er sich halblaut vor und trat näher. »Ah, ja«, entgegnete einer der Ärzte mit einem nervösen Nicken. »Wir haben Sie so früh nicht erwartet. Äh, ich bin Dr. William Cummings, Leiter des Medo-Centers.« Der etwa vierzigjährige Mann mit dem schütteren Haar stellte die anderen Arzte vor, die alle dem Sicherheitsbüro angehörten und mit Opfern psychischer Konditionierung schon des öfteren zu tun gehabt hatten. Dr. Johnston und Dr. Gerard kannte er bereits, Dr. Harklin war noch jung und noch nicht sehr lange beim SB. »Wie geht’s ihm?« erkundigte sich Toger und deutete auf Boyle, der anscheinend noch immer nicht wieder bei Bewußtsein war. Sein Gesicht wirkte eingefallen und war ungewöhn-
lich blaß, die Haut glänzte von Schweiß. »Er ist immer noch bewußtlos«, bestätigte Cummings seine Vermutung. »Und das, obwohl die Schockwirkung der auf ihn abgefeuerten Waffe längst verschwunden sein müßte.« »Ist es möglich, den Psycho-Befehl wieder aufzuheben?« Johnston neigte nachdenklich und ernst den Kopf. »Möglich ist das ohne weiteres. Aber es ist nicht ganz ungefährlich. Wenn der Befehl so stark verankert ist, wie wir vermuten, dann besteht bei dem Versuch der Beseitigung die Gefahr eines Kollapses von Boyle. Außerdem können wir nicht mit Gewißheit sagen, ob der Block nicht auch eine Anweisung für diesen Fall beinhaltet, die Boyle quasi zu einem aufgezwungenen psychischen Selbstmord treibt. Er könnte sich selbst den Tod befehlen, verstehen Sie?« Toger nickte. »Ich glaube ja. Selbstherbeigeführter Herzstillstand oder Gehirnschlag?« »Das könnte durchaus passieren. Aber es bleibt uns ohnehin keine Wahl. Je länger wir mit einem Versuch warten, ihm zu helfen, um so schlechter werden seine Chancen. Wir müssen es ›jetzt‹ versuchen, später ist es sinnlos.« »Er hat so keine Überlebenschance?« »Absolut keine. Sie sehen selbst, daß wir ihn intravenös ernähren, und trotzdem wird der ganze Gesundheitszustand immer schlechter. Ich würde ihm noch etwa zwölf Stunden geben, wenn sich nichts Entscheidendes ändert.« Cummings sah auf seine Chrono. »Es wird Zeit, meine Herren. Wir erwarten niemanden mehr, ich glaube, wir können beginnen.« Die anderen Ärzte nickten. Toger zog sich etwas zurück, um nicht im Wege zu sein, und beobachtete, wie die Weißkittel mehrere Geräte heranrollten, deren Zweck er nicht kannte.
Weitere Sensoren wurden an Boyle angeschlossen, so viele, daß Raman die Ärzte bewunderte, weil sie offensichtlich nicht den Überblick verloren. »Stufe I«, sagte Gerard. Harklin betätigte an einer Kontrolltafel einige Tasten, woraufhin eine Reihe von Lichtem zu flackern begannen und sich auf einem grün schillernden Monitor pulsierende Wellen zeigten. Johnston verabreichte Boyle eine Injektion, blickte dann auf die Anzeige eines Gerätes links neben ihm und wartete einen Augenblick. Dann lud er den Injektor mit einer weiteren Kapsel und preßte den Inhalt in Boyles Blutkreislauf. Raman sah genauer hin und er hatte sich nicht getäuscht. Das Gesicht des regungslos daliegenden Mannes hatte tatsächlich etwas an Farbe gewonnen, und auch die Züge schienen nicht mehr so verkrampft zu sein wie noch vor wenigen Minuten. »Er kommt zu sich«, kommentierte Cummings und deutete auf einen weiteren Monitor. »Eindeutig Alpha-Wellen, das Gehirn wird aktiv!« In Toger wuchs die Spannung. Dieser Mann konnte über unschätzbare Informationen verfügen. Doch noch waren sie im Unterbewußtsein verborgen, hinter einem Block, der tödlich sein konnte. Boyle stöhnte verhalten und begann mit den Augenlidern zu zucken. Die pulsierenden Wellen auf dem Monitor verstärkten sich weiter. »Er spricht gut an«, sagte Johnston nüchtern. Toger ahnte, daß der SB-Arzt mindestens so aufgeregt war wie er, wenn er es auch nicht zeigte. Selbst die Routine vermochte daran kaum etwas zu ändern. Philip Boyle schlug die Augen auf und stöhnte erneut. Raman erkannte sofort, daß der Blick des Konditionierten in die
Ferne gerichtet war, als lebte er in einer anderen Welt, was in gewisser Weise ja auch stimmte. »Laßt… mich…« kam es undeutlich von seinen Lippen. Johnston sah seine Kollegen ernst an, lud erneut den Injektor und preßte dann das Gerät an den Oberarm Boyles. Mit einem leisen Zischen drang des anregende Mittel in die Blutbahn. »Ich… ich will… nicht«, stammelte Philip Boyle und Toger lief es dabei kalt über den Rücken. Was waren das für Menschen, die einen Unschuldigen brutal für ihre Zwecke einsetzten, die andere einfach nur ›benutzten‹ und sie fallen ließen, wenn sie ihren Zweck erfüllt hatten. Geistige Konditionierung gehörte zu den verabscheuungswürdigsten Verbrechen, die es gab – und es wurde entsprechend bestraft, fand man den oder die Schuldigen. Das jedoch geschah in den seltensten Fällen, da die Opfer meistens nicht lange genug überlebten oder eben nach einer derartigen ›Behandlung‹ geistig nicht mehr waren als neugeborene Kinder. »Können Sie mich hören?« fragte Cummings eindringlich und beugte sich über Boyle, der sicherheitshalber noch immer angeschnallt war. Man konnte nie wissen, wie sich Konditionierte in einer solchen Situation verhielten. »Können Sie mich verstehen?« Boyle verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar war, und aus seinem Mund drang milchiggelber Schaum. »Der Herzschlag erhöht sich rapide«, warnte Harklin. Gerard nickte. »Er kämpft mit sich selbst«, murmelte er. Johnston legte dem Konditionierten mit sicheren Bewegungen Elektroden an die Schläfen, die mit einem weiteren Gerät verbunden waren. »Stufe II«, erklärte er und drehte an einem Schalter. Boyle, der sich zögernd hin- und hergewunden hatte, erstarrte plötzlich.
»Puls stabilisiert sich etwas«, sagte Harklin. »Das war nicht anders zu erwarten«, bestätigte Johnston. »Der Elektronenstrom der Psycho-Wellen wirkt beruhigend und dämpft den Block etwas ab.« Er sah auf seine Skala. »Der Psycho-Befehl ist ungeheuer stark. Ich stoße bereits bei minus 2 auf Widerstand. Da wollte wer ganz sichergehen!« Boyle begann wieder zu stöhnen. »Philip, können Sie mich hören?« Cummings’ Stimme war eindringlich und scharf. »Wir wollen Ihnen helfen. Kämpfen Sie gegen den Block an, Sie können es schaffen! Hören Sie? Sie müssen mithelfen, allein schaffen wir es nicht. Kämpfen Sie gegen den Einfluß in Ihrem Unterbewußtsein, kämpfen Sie!« »Kämpf…« brachte Boyle undeutlich hervor. Der Rest des Wortes verlor sich in einem Hustenanfall. »Puls steigt wieder«, gab Harklin bekannt. Das Gesicht des jungen Arztes war kalkweiß. »Laßt… mich. Ich habe… doch… nichts getan«, quälte sich Boyle. Sein Blick flackerte unruhig und huschte umher. Es war offensichtlich, daß er seine Umgebung nicht wahrnahm. »Was wollt… ihr… von…« Wieder erstickten seine Worte in einem Hustenanfall, der seinen Körper durchschüttelte und den Puls weiter in die Höhe trieb. William Cummings versuchte es noch einmal. »Hören Sie, Philip. Sie können es schaffen, wenn Sie sich anstrengen, kämpfen Sie gegen den Block, gegen den fremden Einfluß in Ihnen!« Boyle warf sich gegen die Gurte und stieß einen heiseren Schrei aus. Sein Puls raste. Johnston erhöhte rasch die Stärke des Elektronenstroms, doch die Wirkung, die er damit erzielte, war anders, als er erhofft hatte. Boyle riß die Augen weit auf, versuchte seinen Oberkörper aufzurichten und sank plötzlich auf die Liege zurück.
»Was ist mit ihm, Doc?« erkundigte sich Raman vorsichtig. Cummings, der sich über den Mann gebeugt hatte, drehte sich langsam um und starrte ihn an. Seine Stimme klang brüchig, fast tonlos, als er sagte: »Wir werden keine Informationen erhalten. Boyle ist tot!« * Das leise, feine Summen, das den Raum erfüllte, wurde von den Männern schon gar nicht mehr wahrgenommen. Das Bewußtsein hatte dieses Geräusch längst verdrängt, und es bedurfte äußerster Konzentration, um die Aktivität der verborgenen Geräte akustisch zu registrieren, die dem Raum ein Höchstmaß an Sicherheit boten. Er war in jeder Beziehung vor Lauschangriffen geschützt, aber trotzdem arbeitete zusätzlich noch ein Zerhacker, der einem eventuellen Zuhörer nur unverständliches Gestammel geliefert hätte. »Ich glaube, wir können beginnen«, sagte Vierzehn und sah die drei anderen Männer durchdringend an. »Sechzehn?« Der Angesprochene räusperte sich kurz. »Es läuft alles nach Plan«, erklärte er mit dumpfer Stimme. »Der Start der ›Terranian Star‹ ist bekanntlich auf Dienstag, 16.00 Standardzeit festgesetzt, und nach meinen Informationen kann als sicher angenommen werden, daß dieser Termin eingehalten wird. Aktion Eins a und b ist fristgemäß abgeschlossen, Philip Boyle hat seine Aufgabe erfüllt und dürfte jetzt bereits…« er sah kurz auf seinen Chrono, »nicht mehr unter den Lebenden weilen. Damit ist SB Raman beschäftigt, zumindest bis zum Start und der ersten Flugphase. Der Träger von b ist erwartungsgemäß nicht entdeckt worden.« »Gut«, brummte Vierzehn und nickte langsam. »Die Einschätzung von Toger Raman hat eine nur geringe Zufällig-
keitsquote. Ich bin sicher, daß er nach unseren Erwartungen reagieren wird.« »Das ist mehr als wahrscheinlich«, bestätigte Einundzwanzig. »Das Psychogramm läßt keinen anderen Schluß zu. Aktion Zwei wird ohne gravierende Abänderung in Angriff genommen werden können. Eins a und b werden nachhaltig verhindern, daß Raman auf den Gedanken kommt, den vom SB vorgesehenen Kurs zu modifizieren oder gar völlig zu ändern.« Vierzehn nickte erneut. Seine Miene war ausdruckslos, aber in seinem Innern war er nicht annähernd so ruhig, wie sein Äußeres vermuten ließ. Es hing eine ganze Menge von ihrem Unternehmen ab, und von Zeit zu Zeit drückte ihn die Last der Verantwortung besonders schwer. Auch der bisher vielversprechende Verlauf ihres Plans konnte ihn nicht beruhigen. Ohnehin würden die nächsten Tage und Wochen die Entscheidung bringen; diese Zeit war noch lang und teilweise nicht exakt vorauszuplanen, was ihn am meisten störte. Es konnte noch viel geschehen – zu viel. »Gruppe II ist bereit?« »Schon seit Tagen, Vierzehn«, sagte Siebzehn gelassen. Er mochte der einzige sein, der ›wirklich‹ ruhig war und diesen Eindruck nicht nur vortäuschte, dachte Vierzehn. »Die Basis im System Sigma IV/221-Y ist voll ausgerüstet und auf alle Plan-Variationen vorbereitet. Gruppe II wird exakt zum vereinbarten Zeitpunkt aktiv werden.« Vierzehn überdachte zum wiederholten Mal die Plan-Details. Wieder kam er zu dem Schluß, daß kein bedeutender Faktor übersehen worden war, der zu einem Scheitern hätte führen können. »Ich glaube, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen«, sagte Siebzehn. »Eins a/b ist genau so abgelaufen, wie wir es uns vorgestellt haben. Und das ist die beste Voraussetzung für
das Gelingen von Aktion Zwei. In nur wenigen Wochen wird sich die politische und militärische Lage zwischen Terra und Logur nach unseren Wünschen entwickelt haben. Der Versuch einer interstellaren Verständigung wird fehlschlagen, und das so tief und gravierend, daß alle weiteren diesbezüglichen Unternehmungen von Anfang an im Sande verlaufen werden! Die Zeichen stehen auf Sturm, auch wenn einige Individuen nur eine leichte Brise spüren und dies als lauen Frühlingswind verstehen!« Siebzehn hatte schon immer eine Vorliebe für bildhafte Vergleiche gehabt, dachte Vierzehn amüsiert, und in diesem Punkt hatte er absolut recht. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Friedensmission der ›Terranian Star‹ von Erfolg gekrönt war, war jetzt derartig niedrig, daß sie als vernachlässigbar angesehen werden konnte. * Die ›Terranian Star‹ hatte die Jupiter-Bahn bereits hinter sich gelassen. Toger Raman saß in einem der bequemen Kontursessel seiner Kabine und arbeitete die Unterlagen über die an Bord befindlichen Personen durch. Es war eine langweilige und zeitraubende Routineangelegenheit, aber trotzdem wichtig. Vielleicht ergaben sich wichtige Informationen, die ihm bei seiner Aufgabe, für die Sicherheit der Delegation zu sorgen, helfen konnten. Der Türsummer gab ein helles Singen von sich, und bevor Toger den Öffner betätigen konnte, zischte das Schott bereits in die Wand. Er runzelte unwillig die Stirn, als er sich umdrehte, doch dann hellte sich sein Gesicht auf. »Hallo, Rhiat«, sagte er, als er den Lyrrh erkannte, der eintrat und das Schott hinter sich schloß. »Bist du also doch noch an
Bord gekommen.« »Natürlich!« entgegnete der Lyrrh fast beleidigt. »Was hast du denn gedacht? Schließlich habe ich den Auftrag, dir hilfreich zur Seite zu stehen. Und ohne mich bist du doch aufgeschmissen, stimmt’s?« Bescheidenheit war noch nie ein Wesenszug von Rhiatten-Dhoolen gewesen, aber daran hatte sich Toger während einiger zurückliegender Einsätze schon gewöhnt. Sein Kollege vom Sicherheitsbüro hatte nur entfernt Ähnlichkeit mit einem Terraner. Der etwas mehr als zwei Meter große Körper war zwar hominid, aber die Gliedmaßen und der Schädel offenbarten sofort, daß Rhiat einer extraterrestrischen Rasse angehörte. Die Beine verfügten über zwei Gelenke, die die Fortbewegungsart des Lyrrh oft skurril erscheinen ließen. Die gummiartigen Arme endeten in Händen, die über acht tentakelartige Finger mit mikroskopisch kleinen Saugnäpfen verfügten. Der Schädel saß fast übergangslos auf dem Torso und hatte entfernt Ähnlichkeit mit dem eines Frosches, wenn auch die beiden großflächigen Facettenaugen etwas Insektenhaftes in diesen Eindruck legten. Rhiat ließ sich, ohne zu fragen, in einem Sessel nieder, wobei seine Beingelenke schabende und mahlende Geräusche von sich gaben. Toger verzog scheinbar schmerzhaft das Gesicht. »Du bist informiert?« fragte er dann. Der Lyrrh nickte, obwohl ihm diese Bewegung schwerer fallen mußte als einem Menschen. »Ja«, sagte er knapp. Toger brummte zufrieden. »Ich bin dabei, die Liste aller an Bord befindlichen Personen durchzugehen«, erklärte er dann. »Die Ansprache und Vorstellung bei den Delegationsmitgliedern habe ich schon hinter mir. Es sind allesamt sehr hochgestellte und wichtige Personen, daher auch entsprechend schwierig. Der Referent für aus-
wärtige Angelegenheiten, Robert Moore-Gathew, ist auch darunter.« Rhiat nickte erneut. »Ich habe bisher keine Hinweise dafür entdecken können«, fuhr Toger fort, »daß sich Fanatiker an Bord befinden. Ich bin ziemlich sicher, daß alle ›sauber‹ sind.« »Auch die Besatzung?« »Gerade die!« sagte Raman mit Bestimmtheit und ließ die Unterlagen, die er in die Hand genommen hatte, auf den Tisch zurücksinken. »Sie sind dreimal überprüft worden, unter anderem auch mit Psycho-Detektoren. Bei niemandem hat sich auch nur der leiseste Verdacht ergeben, daß er, ähnlich Philip Boyle, unter fremdem Einfluß steht.« Rhiatten-Dhoolen bewegte seine Gesichtsmuskeln. Toger, der die Mimik des Lyrrh kannte, sah die Skepsis seines Kollegen. »Ein Psycho-Befehl ist, wenn er geschickt verankert ist, nicht leicht feststellbar, ja, ich möchte sogar sagen, es ist so gut wie unmöglich.« »Nicht mehr«, widersprach Toger. »Der Detektor ist inzwischen so weit verbessert worden, daß auch die beste Konditionierung aufspürbar ist. – Und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß die Fanatiker gleich zweimal zu diesem Mittel greifen. Nach dem Reinfall mit Boyle müssen sie damit rechnen, daß wir gerade in dieser Beziehung besonders wachsam sind.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß wir Fanatiker oder Beeinflußte an Bord haben!« »Um so besser«, meinte Rhiat, erhob sich unter schabendem Gelenkeknacken und schritt zur Automatikbar, um sich ein Spezialgetränk zu tasten. »Nein«, sagte Toger langsam und lehnte sich nachdenklich
zurück. »Ich finde das ganz und gar nicht beruhigend. Im Gegenteil! Mir wäre es lieber, ich hätte in den Unterlagen Hinweise auf die Tätigkeit von Fanatikern gefunden. Ich habe ein verdammt ungutes Gefühl!« »Rekapitulieren wir doch einmal«, schlug der Lyrrh vor, setzte sich und nahm einen Schluck aus seinem Glas, in dem eine rötliche Flüssigkeit schwappte. »Durch eine Logur-Initiative, deren Träger Log-Tanger war, wurde die terranische Regierung dazu veranlaßt, Verhandlungen aufzunehmen mit dem Ziel, zu einem dauerhaften Frieden mit den Logur zu gelangen und die in den Grenzbereichen immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen zu beenden. Die personelle Zusammensetzung der Delegation sowie die Vorbereitungen wurden streng geheimgehalten. Trotzdem müssen die fanatischen Logur-Gegner Informationen über das Verhandlungsvorhaben und auch einige Einzelheiten über den Termin der Abreise der Delegation erhalten haben. Das war eigentlich nicht sonderlich überraschend, da die Fanatiker Unterstützung von höchster Ebene erhalten und dort die Vorbereitungen naturgemäß nicht völlig unbemerkt bleiben konnten. Eine Gruppe tötete daraufhin den logurschen Diplomaten Log-Tanger, wahrscheinlich mit dem Ziel, die Friedensmission damit zu behindern oder ganz zum Scheitern zu bringen. Eine andere Gruppe nahm sich den Elektroniker Philip Boyle vor und konditionierte ihn derart, daß er die Speichereinheit der Astronavigation mit dem Ziel manipulierte, die ›Terranian Star‹ zwischen den Sternen verirren zu lassen, womit der Termin des Verhandlungsbeginnes und damit vielleicht auch die Gespräche überhaupt ins Wasser gefallen wären.« »So weit, so klar«, stimmte Toger zu. »Den Mord an Log-Tanger konnten wir nicht verhindern, das Vorhaben Boyles jedoch ist gescheitert – und damit der ganze schöne Plan der Fanati-
ker. Ein verankerter Selbstmordbefehl in Boyles Unterbewußtsein verhinderte, daß wir nähere Informationen erhielten. Es ist alles schon logisch – und doch beunruhigt mich etwas.« »Was?« »Es ist ›zu‹ einfach, ›zu‹ offensichtlich! Oberflächlich gesehen scheint es purer Zufall gewesen zu sein, daß man das Vorhaben Boyles noch rechtzeitig verhindern konnte, aber…« Raman schüttelte den Kopf, sein Blick verlor sich in der Ferne. »Die Fanatiker verfügen schon einige Zeit vor dem Start der ›Terranian Star‹ über eingehende Informationen über die Friedensmission. Sie wollten sie vereiteln, indem sie mittels des konditionierten Philip Boyle den Datenspeicher zu manipulieren versuchten. Aber sie mußten auch wissen, daß das Schiff zu dem Zeitpunkt, als sie den Anschlag durchführen ließen, von bewaffneten Sicherheitsbeamten nur so wimmelte. Die Wahrscheinlichkeit also, daß die Veränderung am Datenspeicher unbemerkt blieb, war entsprechend gering.« »Jetzt verstehe ich langsam, worauf du hinauswillst«, sagte Rhiat und stellte das Glas auf den Tisch zurück. »Hätten die Fanatiker die Manipulierung einige Tage früher in Angriff genommen, dann hätten sie auch Erfolg gehabt: Das Schiff wäre zwischen den Sternen vergessen gewesen.« »Ja«, bekräftigte Toger. »Aber die Fanatiker haben es nicht getan. Wir dürfen nicht den Fehler machen, diese Leute zu unterschätzen. Die Wahl des Zeitpunkts ihres Anschlags war wohlüberlegt – und das gibt mir zu denken! Warum gingen sie bewußt das Risiko eines Fehlschlags ein?« Rhiatten-Dhoolen erstarrte. »Vielleicht war es gar kein Fehlschlag?« »Nun, der Datenspeicher ist wieder in Ordnung«, meinte Toger. »Man brauchte nur den richtigen Datenwürfel an den rich-
tigen Platz zurücksetzen…« Er stockte plötzlich und riß die Augen auf. »Donnerwetter!« brachte er hervor. »Jetzt begreife ich, was du meinst. Vielleicht war es so ›geplant‹, daß man die Aktion Boyles bemerkte!« »Es gibt eigentlich keine andere Begründung«, bestätigte Rhiat nachdenklich. »Ich verstehe nur nicht den Zweck.« »Ablenkung, schlichte Ablenkung. Wahrscheinlich haben die Fanatiker zwei Aktionen geplant. Nummer eins ist noch rechtzeitig entdeckt worden – und das war der Sinn der Sache. Das soll uns in Sicherheit wiegen. Aber der wirkliche. Anschlag, der die Mission scheitern lassen soll, sieht ganz anders aus!« Ramans Gesicht wurde um eine Nuance blasser, als er sich bewußt wurde, in welcher Gefahr sie alle schwebten. Hatten sie noch genug Zeit? »Die Fanatiker sind nicht gerade zart besaitet«, fuhr er fort, eine Spur heftiger. »Um ihr Ziel zu erreichen, gehen sie über Leichen, was der Tod Boyles und Log-Tangers hinreichend beweist. Was meinst du, Rhiat, ist das sicherste Mittel, um zu verhindern, daß wir den Vorhandlungsplaneten erreichen?« Der Lyrrh brauchte nicht lange nachzudenken. »Eine Bombe!« * Irgendwie war Toger Raman fast zufrieden. Die wirkliche Gefahr war bekannt, die Zeit der quälenden Ungewißheit und unausgesprochenen Fragen vorbei. Jetzt, wo die Lage geklärt war, konnte er überhaupt nicht verstehen, warum er nicht schon eher zu diesem Ergebnis gekommen war. Während man ihn mit Boyle hatte beschäftigen wollen, kam der wirkliche Anschlag von einer ganz anderen Seite.
Eine Bombe an Bord. Natürlich! Es gab kein wirksameres Mittel, Friedensverhandlungen unmöglich zu machen. Toger hatte sich im ersten Augenblick gefragt, ob er Bordalarm veranlassen sollte, entschied sich dann aber anders. Eine Panik nutzte niemandem, konnte höchstens die rechtzeitige Entdeckung und Entschärfung des Sprengkörpers behindern. Er hatte auch dem ersten Impuls widerstanden, der ihn zu einer hektischen, unüberlegten Suche treiben wollte. Um alle Decks des Schiffes wirklich genau zu untersuchen, waren Monate notwendig, und die Zeit hatten sie mit Sicherheit nicht mehr. Allein durch logisches Denken konnte die Anzahl der Möglichkeiten eingeschränkt werden, wo sich die Bombe befand. Toger und Rhiat wußten aus Erfahrung, daß eine mittelgroße Bombe im allgemeinen nicht ausreichte, ein Schiff von der Größe der ›Terranian Star‹ so zu zerstören, wie die Fanatiker sich dies sicherlich wünschten. Einige Decks mochten zertrümmert werden, aber eine völlige Vernichtung war ausgeschlossen. Bomben wurden also – und das wußten sie wieder aus Erfahrung – dort angebracht, wo sich ihre Zerstörungskraft mit vorhandener Energie potenzierte. Orte wie etwa die Triebwerkskammern oder Fusionsmeiler waren geradezu prädestiniert dazu. Die beiden Agenten des Sicherheitsbüros waren davon überzeugt, daß auch hier der Fall nicht anders lag. Auch die Frage des Zündzeitpunkts zu klären, war nicht so unmöglich, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mochte. Die Bombe mußte während einer Situation detonieren, die ein Höchstmaß an Wirkung versprach. Das war dann, wenn die Triebwerke oder die Reaktoren hochgefahren wurden, also bei Einleitung einer Überlichtetappe. Der Zünder reagierte in diesem Fall auf die dabei entstehende höherdi-
mensionale Schockwelle. Toger hatte sich rasch vergewissert, daß bis zur ersten Etappe noch genügend Zeit verblieb. Sollte die Bombe bis dahin noch nicht gefunden sein, mußte er wohl oder übel Alarm geben, schon allein um das Überlichtmanöver zu verhindern. Er hoffte aber, daß dies nicht notwendig wurde, zumal wichtige und angesehene Personen, insbesondere Politiker, manchmal recht eigentümlich auf eine Gefahrensituation reagierten. Die Lage war also nicht ganz so schlimm, wie es zuerst ausgesehen hatte – wenn ihre Vermutungen zutrafen. Rhiat untersuchte die Triebwerkskammern, während Toger die Fusionsreaktoren unter näheren Augenschein nahm. Der mittelgroße Kontrollraum, in dem sich Raman befand, war so gut wie vollautomatisiert. Nur noch ein einziger Techniker war nötig, um die gesamte Anlage zu überwachen. Der Mann schien froh über eine Abwechslung zu sein, als er den SB erkannte. »Hallo, Raman«, sagte er jovial und reichte ihm die Hand. »Was machen unsere hohen Herren?« »Die sind alle wohlauf«, gab Toger lächelnd zurück. »Aber vielleicht nicht mehr sehr lange!« Der Techniker runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das? Ist etwas nicht in Ordnung?« »Das kann man wohl sagen!« Raman brauchte nicht lange zu überlegen, ob er den Mann einweihen sollte. Mit seiner Hilfe konnte die Suche wesentlich effektiver durchgeführt werden, da er sich bestens auskannte. »Wir vermuten«, sagte er langsam, »daß sich hier irgendwo eine Bombe befindet.« Der Techniker wurde merklich blasser, behielt aber die Beherrschung. »Die Fanatiker?« fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. Toger klärte ihn kurz über ihre Überlegungen auf.
»Das klingt einleuchtend«, sagte der Mann und nickte. »Bis zur Einleitung des ersten Überlichtmanövers bleibt uns noch etwas mehr als eine Stunde. Das ist verdammt wenig Zeit, um alle Anlagen genau zu kontrollieren. Ich glaube, Sie werden um einen Alarm nicht umhinkommen.« »Noch ist es nicht soweit«, widersprach Toger. »Wir müssen es wenigstens versuchen.« Der Techniker schritt eilig zu einem unförmigen Kontrollpult und warf einen prüfenden Blick auf die flackernden Lichter. Dann betätigte er in rascher Reihenfolge eine Reihe von Tasten und brummte zufrieden. »Eine Sicherheitsschaltung«, kommentierte er. »Jetzt überwacht eine Elektronik die Struktur der Reaktoren-Magnetfelder.« »Wenn Sie eine Bombe so anbringen wollten«, sagte Toger nachdenklich, »daß sie eine größtmögliche Wirkung entfaltet, wo würden Sie sie verstecken?« »In unmittelbarer Nähe eines Reaktors«, entgegnete der Techniker sofort. »Und zwar so, daß das Magnetfeld, das das Plasma stabilisiert, durch die Explosion zusammenbricht. Damit würde dann auch automatisch der Reaktor hochgehen, mit einer gewissen Verzögerung natürlich. In einem solchen Fall bleibt von unserer ›Terranian Star‹ kaum was übrig.« »Okay, wir haben nicht viel Zeit. Sehen wir uns gleich mal den Fusionsreaktor I an!« Der Techniker öffnete ein Schott, das zu einer Kammer führte, die Ähnlichkeit mit einer Luftschleuse hatte. Mehrere Schutzanzüge hingen wohlgeordnet an einer Magnetleiste. »Es besteht zwar keine akute Strahlungsgefahr, aber Vorsicht ist immer besser.« Sie streiften sich jeder einen der Anzüge über. Sie bestanden aus einem silberfarbenen, hauchdünnen Material, in dem, vom Träger unbemerkt, ein schwacher ener-
getischer Strom pulsierte, der optimalen Schutz gegen plötzlich auftretende Radioaktivität bot. Erst dann wurde das zweite Schott geöffnet, durch das sie einen mittelgroßen Korridor betraten, der nach einigen Metern zu einem Bogengang wurde, der direkt um den zylindrischen Reaktor herumführte. Toger konnte sich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Der Korridor war in ein grellweißes, fast blendendes Licht getaucht, das irgendwie antiseptisch wirkte, und mit jedem Schritt, dem sie sich dem glänzenden Zylinder näherten, schien das wispernde Raunen, das die Luft erfüllte, eindringlicher und stärker zu werden. Er dachte an die geballten, unvorstellbaren Energien, die in ihrer unmittelbaren Nähe aus der Verschmelzung von Wasserstoffatomen zu Helium gewonnen wurden, und es lief ihm dabei kalt über den Rücken. Es war die Schöpfungskraft selbst, die hier gebändigt und kanalisiert wurde. Von dem Reaktor selbst sahen sie natürlich nur einen kleinen Ausschnitt. Der Zylinder hatte einen Durchmesser von knapp zwanzig und eine Länge von vierzig Metern, beanspruchte also eine ganze Anzahl von Decks an Volumen. Der Bogengang jedoch war die einzige Stelle, an der man mühelos unmittelbar an den Reaktor herantreten konnte. Es gab zwar noch einige schmale Reparatur- und Überwachungsschächte, durch die man andere Bereiche der Außenzelle untersuchen konnte, doch das war naturgemäß mühevoll und erforderte einen nicht unerheblichen Zeitaufwand. Daß ein möglicher Attentäter diesen aufwendigeren Weg gehen würde, war mehr als unwahrscheinlich, zumal die beabsichtigte Explosionswirkung dadurch nicht heraufgesetzt wurde. Außerdem erhöhte der dadurch nötige Zeitaufwand das Risiko seiner eigenen Entdeckung. Wenn sich also am Reaktor I die Bombe befand, dann nur in der Nähe des Bogengangs, oder hinter der Verkleidung
eines der installierten Kontrollgeräte. Toger hatte ein handtellergroßes Gerät bei sich, das in der Lage war, die Impulse zu registrieren, die die winzige Ionenbatterie der Bombe aussandte und die notwendig waren, um den elektronischen Zünder einsatzbereit zu halten. Allerdings vermochte der SB nicht zu sagen, ob sein Sucher auch wirklich in der Lage war, die Impulse von den Störungen zu unterscheiden, die der laufende Reaktor zwangsläufig verursachte. Raman hatte alle anderen Gedanken ausgeschaltet, konzentrierte sich ausschließlich auf die Suche nach einem Mechanismus, von dem er nicht einmal wußte, wie er aussah. Es gab Bomben, die waren fast schon mikroskopisch klein! Für Sekunden dachte er beinahe panikerfüllt daran, daß ihre ganzen Überlegungen ja nicht zutreffend sein brauchten. Was war, wenn der Sprengkörper an einem ganz anderen Ort untergebracht war? Wenn sie die mögliche Sprengkraft unterschätzt hatten? Toger wischte diesen Zweifel rasch beiseite, konnte jedoch nicht verhindern, daß feine Schweißperlen auf seiner Stirn entstanden und seine Hände feucht wurden. Aufmerksam behielt er den haarfeinen Skalenzeiger seines Gerätes im Auge. Einige Male führte der Zeiger zitternde Bewegungen aus, aber das waren nichts weiter als energetische Störungen, hervorgerufen durch den nahen Fusionsprozeß, der mit seinem Rumoren bedrohlich wirkte. »Nichts!« sagte der Techniker, als sie wieder zusammentrafen. »Wenn man wenigstens wüßte, wonach man konkret suchen soll!« »Wir haben noch vierzig Minuten«, gab Toger nach einem Blick auf seinen Chrono dumpf zurück. »Nehmen wir uns Reaktor II vor.« Ein weiterer, nicht ganz so langer Korridor stellte die Verbindung dar. Reaktor II unterschied sich in nichts von seinem
Vorgänger. Toger Raman konnte nichts gegen die steigende Nervosität in sich unternehmen, als sie auch hier keinen Anhaltspunkt fanden. Zwanzig Minuten blieben noch, eine viel zu kurze Zeit. Sicherlich war das Ü-Manöver schon längst eingeleitet worden. Langsam gewöhnte er sich an den Gedanken, doch Alarm geben zu müssen. An das, was dann auf ihn und Rhiat zukam, mochte er nicht denken. Allein schon die Panik unter den Delegationsteilnehmern zu verhindern, war schwieriger als die Suche nach der Bombe selbst. Über Funk erkundigte er sich bei dem Lyrrh, ob er schon Erfolg gehabt hatte. Doch auch in den Triebwerkskammern zeigte sich nicht das geringste Anzeichen einer Fremdeinwirkung. »Wollen Sie nicht doch lieber…« begann der Techniker, doch der SB unterbrach ihn sofort. »Nein, noch nicht. Das Überlichtmanöver kann jederzeit abgebrochen werden, und noch haben wir zwanzig Minuten Zeit und Nummer III nicht untersucht. Los, kommen Sie!« Beide Männer kämpften gegen die in ihnen aufkeimende Panik an, was Toger aufgrund seiner Ausbildung etwas leichter fiel. Das Gesicht des Technikers hatte inzwischen eine ungesunde Farbe angenommen, und die unzähligen roten Flecken zeugten von dem in ihm herrschenden Emotionschaos. Die Zeit verrann unaufhaltsam. Die Sekunden tropften dahin, wurden zu Minuten, die sich beängstigend schnell aneinanderreihten. Und noch immer zeigte sich nicht die geringste Spur, die auf die Bombe hindeutete. Ramans Gerät registrierte immer wieder verschiedene Impulsströme, doch jedesmal stellte sich heraus, daß es sich nur um Störungen handelte. Er wollte schon aufgeben, als plötzlich ein Gedanke mit elektrisierender Eindringlichkeit durch sein Hirn zuckte.
»Verdammt!« rief er und strich sich mit der rechten Hand fahrig über die kurzgeschorenen Haare. Der Techniker, der den Aufschrei gehört hatte, kam eilig näher. »Haben Sie was gefunden?« »Nein, das nicht. Aber ich glaube, wir haben etwas ganz Entscheidendes übersehen.« »Was denn, um Himmels willen?« Die Stimme des Technikers überschlug sich fast. »Die Bombe entfaltet ein Höchstmaß an Zerstörungskraft dann, wenn sie die Magnetfeldstabilisierung des Fusionsprozesses aufhebt, nicht wahr? Aber wie kommen wir eigentlich darauf, daß dies nur ›hier‹, in unmittelbarer Nähe eines Reaktors geschehen kann? Es besteht doch auch die Möglichkeit, gleich die Stabilisierung aller ›drei‹ Reaktoren zu zerstören!« »O Gott«, stöhnte der Techniker. »Sie haben recht! Warum haben wir nicht schon längst daran gedacht?« Wie auf ein geheimes Kommando stürmten beide los. Laut hallten ihre Schritte durch die Korridore und Bogengänge, als sie mit verzerrten Gesichtszügen zu dem Kontrollraum zurückkehrten, von dem aus die Überwachung der überdimensionalen Aggregate erfolgte. In der Sicherheitskammer angelangt, rissen sie sich die Schutzanzüge vom Leib. Das Schott schien eine Ewigkeit zu benötigen, um in der Wand zu verschwinden. »Wir haben noch acht Minuten!« zischte Toger. Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als die Lautsprecher der KomAnlage knackten und die Stimme des Commanders ertönte. »Die erste Überlichtetappe steht unmittelbar bevor«, erklärte er. »Die Passagiere werden darauf hingewiesen, daß beim Eintauchen in die Parazone eine Schockwelle auftritt, die sich durch leichtes Unwohlsein und Schwindel bemerkbar macht. Achtung – X minus 480!«
Die beiden Männer achteten nicht weiter darauf. Der Techniker deutete auf einen kompakten Geräteblock. »Das ist es!« stieß er hervor und machte sich sofort daran, die Verkleidung zu lösen. Toger nickte langsam und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Block beinhaltete die Regelkreise, die die Stärke der Magnetfeldstabilisierung automatisch überwachten und – bis zu einem gewissen Grad – auch steuerten. Ein Attentäter konnte keinen besseren Ort für eine Bombe finden. Wenn innerhalb dieses Blocks ein Sprengkörper detonierte, dann fielen gleichzeitig die Magnetfelder ›aller drei‹ laufenden Fusionsprozesse in sich zusammen, zwar nicht im nächsten Augenblick, aber doch innerhalb der nächsten Minuten. Und wenn drei Reaktoren gleichzeitig überkritisch wurden, blieben von dem Schiff nicht mehr als ein paar Atome übrig! Die Verkleidung polterte scheppernd zu Boden. Noch sieben Minuten! »Da ist sie!« hauchte Toger, als er den quaderförmigen, etwa zwanzig Zentimeter langen tiefschwarzen Metallblock sah. Der Techniker machte ihm Platz. Was jetzt kam, war nicht seine Arbeit. Und als er sich seine Hände betrachtete, war er direkt froh darüber. Er hatte den Eindruck, mit seinen zitternden Fingern nicht einmal mehr die Kontrollen bedienen zu können, geschweige denn, eine Bombe unschädlich zu machen. Toger Raman war plötzlich die Ruhe selbst. Er justierte sein Gerät und sah auf die schmale Skala. Nichts. Sollte seine Vermutung hinsichtlich des Zünders falsch sein? Tatsache war jedenfalls, daß sein Sucher nicht den geringsten Impulsstrom feststellte. Er betrachtete den Sprengkörper genauer – und jetzt bemerkte er auch den hauchdünnen Draht, der aus dem Metallkörper führte und im Gewirr der Schaltkreise des Geräteblocks ver-
schwand. »Aha«, murmelte er, während der Techniker langsam grün anlief. Die Energie, die der Zünder benötigte, um auf die Schockwelle anzusprechen, wurde also von außen bezogen. Er griff nach einer Zange und setzte sie an, als er plötzlich den zweiten Draht bemerkte und zurückzuckte. Aus zusammengekniffenen Augen folgte er dem Lauf der beiden Leitungen, dann nickte er kaum merklich. Es war raffiniert, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre er auch auf den Trick hereingefallen. Der zweite Draht war für den Zündmechanismus nicht besonders wichtig. Durchtrennte er jedoch die Energiezufuhr, also die erste Leitung, dann unterbrach er damit auch einen Regelkreis innerhalb des Geräteblocks. Er hatte zwar nicht die Zeit festzustellen, um welche Schaltung es sich dabei handelte, aber er war sicher, daß damit ebenfalls die plasmastabilsierenden Magnetfelder der Reaktoren instabil wurden. Noch drei Minuten! Der Attentäter hatte zu einer einfachen, aber ungeheuer wirkungsvollen Sicherheitsmaßnahme gegriffen. War sie aber erkannt, konnte man sie leicht umgehen. Mit sicheren Bewegungen setzte Toger eine Überbrückung an, eine kurze Leitung, die den ersten mit dem zweiten Draht verband. Mit Hilfe des Punktlasers, den ihm der Techniker reichte, befestigte er die Verbindung. Dann griff er erneut nach der Zange und durchtrennte nach kurzem Zögern die Energiezufuhr zum Zünder. Während er mit der linken Hand die Bombe festhielt, kappte er auch den zweiten Draht und zog dann den schwarzen Quader aus dem Geräteblock heraus. Es war genau der Augenblick, als ihn der leichte Schwindel der Schockwelle erfaßte und die ›Terranian Star‹ in die Parazone eindrang.
* Der Commander der ›Terranian Star‹, Norman Windsor, war ein überaus erfahrener Raumkapitän. Er war sechzig Jahre alt, und die Hälfte davon hatte er zwischen den Sternen oder auf fremden Welten verbracht. In diesen Jahren war er zu einem ausgeglichenen Menschen geworden, hatte sein ungestümes Temperament, das so vielen jungen Raumfahrern eigen ist, vollständig abgelegt. Er war ruhig geworden, manchmal auch sehr nachdenklich, was ihm von Zeit zu Zeit von Menschen, die ihn nicht näher kannten, den Vorwurf einbrachte, er sei ein Träumer. Norman Windsor hing ganz und gar nicht Tagträumen nach, wenn es auch manchmal den Anschein hatte. Seine Fähigkeit, Raumschiffe sicher zu ihrem Bestimmungsort zu bringen, unvorhergesehene Situationen zu meistern, war dagegen unbestritten. Toger Raman und Rhiatten-Dhoolen kannten den Raumkapitän schon von früher her. Jetzt aber hatten sie den Eindruck, einen völlig anderen Menschen vor sich zu haben. »Sagen Sie, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?« Die Zornesader an der Schläfe des Sechzigjährigen war bedrohlich angeschwollen, und auch die vorgebeugte Haltung bewies den unverhohlenen Ärger des Commanders. »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen«, entgegnete Rhiat. »Die Bombe ist doch rechtzeitig entdeckt worden!« »Ja«, gab Windsor ironisch zu. »Im andern Fall könnte ich Ihnen jetzt wahrscheinlich keinen Vorwurf mehr machen. Menschenskind, in einem solchen Fall gibt man doch Alarm!« »Würden Sie ganz bewußt eine Panik an Bord riskieren?« warf Toger scharf ein. »Sie wissen, was das bedeuten kann!
Der Großteil der Delegationsteilnehmer ist, was Raumfahrt anbelangt, völlig unerfahren. Sie sind gefährliche Situationen, wie wir sie gerade hinter uns haben, nicht gewohnt und reagieren entsprechend. Und wenn wir die Bombe nicht rechtzeitig gefunden hätten, hätten wir einen Alarm veranlaßt, da können Sie ganz beruhigt sein. Oder glauben Sie, wir hätten uns hingesetzt und auf den großen Knall gewartet?« Für Sekunden sagte niemand ein Wort, dann entspannte sich die Haltung des Commanders und auch sein Gesicht nahm einen freundlicheren Zug an. »Nun ja«, sagte er und räusperte sich kurz. »Es ist ja noch einmal alles gut gegangen.« Er warf einen Blick auf den tiefschwarzen Metallkörper. »Anscheinend waren die Sicherheitsmaßnahmen doch nicht ganz ausreichend.« »Offensichtlich«, bestätigte Rhiat und verzog sein Froschgesicht zu einer Grimasse, die nach seinen Begriffen ein Lächeln war. Die Bombe lag auf einer flachen Metallkonsole, umgeben von transparentem Stahlplastik. Toger betätigte die Schaltungen der mobilen Greifarme, die sich an der gefährlichen Konstruktion zu schaffen machten. Verschiedene integrierte Werkzeuge waren dabei, das Innere des Sprengkörpers freizulegen. Die Sicherheitsmaßnahmen waren nötig, da niemand von ihnen mit letzter Gewißheit hätte sagen können, ob nicht doch noch eine Detonation zu befürchten war. Vorsichtig tasteten tentakelartige Greifer über die Stahloberfläche, versuchten Sensoren, Informationen über die Konstruktion zu gewinnen. Drei Augenpaare sahen ihnen dabei gespannt zu. Toger aktivierte einen Punktlaser, der sich daraufhin gleitend dem Quader näherte. Als es plötzlich hell aufblitzte, zuckten Rhiat und Windsor unbewußt zusammen. Aber nichts geschah. Langsam wanderte der grelle Lichtpunkt über
die Oberfläche des Metallquaders, fraß lautlos eine Öffnung hinein. Der haarfeine Laserstrahl hatte eine Reichweite von nur etwa drei Zentimetern, konnte also kaum eine Explosion auslösen. Es dauerte etwa zehn Minuten, dann hatte Toger die Bombe an einer Längsseite geöffnet. Mit einem Elektromagneten entfernte er das Außenstück, woraufhin eine verwirrende Ansammlung von Leitungen, gedruckten Schaltungen und elektronischen Bausteinen sichtbar wurde. Kernstück des Mechanismus war eine vielleicht zehn Zentimeter durchmessende graue, formlose Masse. »Teronit!« stellte Rhiat fest. Raman nickte wortlos, als er den Sprengstoff betrachtete. Teronit war ein teuflisches Zeug. Er schätzte, daß die Menge, die die Bombe enthielt, der Sprengwirkung von etwa zehn Kilogramm TNT entsprach. Die Wirkung mußte mörderisch sein. Ganz sicher wäre von der gesamten Reaktor-Leitstelle nicht sehr viel mehr als ein formloser Haufen dampfenden Metalls übriggeblieben. Ein Durchgehen der Reaktoren wäre die unausbleibliche Folge gewesen, mit absoluter Sicherheit! »Was sind das nur für Menschen«, murmelte Norman Windsor und ballte die Hände zu Fäusten. »Die gehen über Leichen, wenn das zur Erreichung ihres Ziels notwendig ist«, kommentierte der Lyrrh. Toger betätigte eine weitere Schaltung. Ein Gelenkarm mit einer Kamera an der Spitze steuerte zielstrebig auf die Bombe zu und stoppte einige Zentimeter vor dem freigelegten Inneren. Ein großflächiger Bildschirm erhellte sich lautlos und lenkte die Aufmerksamkeit der Männer auf sich. Deutlich wurde die Teronit-Masse sichtbar. Toger lenkte die Kamera zu einem anderen Bereich. »Du hattest recht«, sagte Rhiat und deutete auf das Bild.
»Der Zünder hätte zweifelsfrei auf die Schockwelle reagiert, wenn er unter Energie gestanden hätte. Das ist praktisch ein Strukturtaster in Miniaturausführung. Er…« Der Lyrrh stockte plötzlich und sah genauer hin. Toger bemerkte es im gleichen Augenblick, während der Raumkapitän unruhig wurde. »Stimmt was nicht?« Raman antwortete nicht, sondern betätigte die Vergrößerung. Der Zünder schien auf sie zuzuspringen, dann stabilisierte sich das Bild wieder. »Tatsächlich!« brachte er dann hervor. »Aber… jetzt verstehe ich gar nichts mehr.« »Was ist denn los?« Windsor wurde sichtlich nervöser. »Ja«, sagte Toger und lachte gepreßt. »Das frage ich mich auch.« Er drehte sich um und sah Rhiat und den Commander ernst an. »Die Bombe hätte uns zweifellos das Lebenslicht ausblasen können. Die Reaktoren wären überkritisch geworden – und aus! Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler: Der Zünder ist so konstruiert, daß er das Teronit niemals zur Detonation hätte bringen können!« »Wie bitte?« Das Gesicht des Raumkapitäns zeigte einen verwirrten und ungläubigen Ausdruck zugleich. »Mit anderen Worten«, fügte Rhiatten-Dhoolen hinzu, »die Bombe ist nichts weiter als eine Attrappe.« * Sie hatten den Mechanismus vollständig zerlegt und das Teronit sichergestellt, um die Gefahr einer zufälligen Explosion
vollkommen auszuschalten. In Ramans Kabine angelangt, tasteten sie sich Kaffee und ließen sich in die bequemen Kontursessel sinken. Einige lange Augenblicke sagte niemand ein Wort. Die Spannung, die nach ihnen gegriffen hatte, war fast körperlich spürbar. »Das begreife ich einfach nicht!« preßte Norman Windsor hervor. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, während er einen vorsichtigen Schluck aus seiner Tasse nahm. »Kann es sich nicht um einen Fehler des Attentäters handeln?« Toger schüttelte ganz entschieden den Kopf. »Auf gar keinen Fall! Solche Mini-Strukturtaster können aus einigen elektronischen Bausteinen kinderleicht zusammengesetzt werden. Selbst einem Laien kann dabei kein Fehler unterlaufen. Nein, der Zünder ist ganz bewußt so konstruiert worden, daß er auch dann nicht den Zündimpuls abgegeben hätte, wenn wir die vermeintliche Bombe nicht entdeckt hätten.« »Es kann sich nur um ein weiteres Ablenkungsmanöver handeln«, sagte Rhiat und sprach damit das aus, was sie alle dachten. Es gab keine andere Erklärung. »Irgendwer«, fuhr Toger fort, »legt großen Wert darauf, uns zu beschäftigen und praktisch keine Ruhepause zu gönnen. Erst der Anschlag mit dem konditionierten Boyle, jetzt die Bombe, die gar keine ist. Merkwürdig ist natürlich eins: Die Fanatiker hätten die Bombe ja auch so konstruieren können, daß sie dazu in der Lage gewesen wäre, die ›Terranian Star‹ zu zerstören. Sie konnten schließlich nicht ganz sicher sein, daß wir sie noch rechtzeitig entdeckten. Daß sie das nicht getan haben, läßt nur einen Schluß zu.« Windsor sah den SB neugierig an. »Sie wollen das Schiff gar nicht zerstören und uns damit töten.« Rhiat knurrte zustimmend, während der Raumkapitän große
Augen machte. »Das beruhigt mich zwar«, erklärte er. »Aber trotzdem: Ich glaube, ich verliere langsam den Überblick – und das behagt mir gar nicht. Was, zum Donnerwetter, haben die Fanatiker ›dann‹ vor?« »Genau das frage ich mich auch«, entgegnete Toger. »Irgendein Sinn steckt dahinter. Schließlich unternehmen die Fanatiker nicht zwei Aktionen, die, auf den ersten Blick, extrem gefährlich für uns zu sein scheinen, sich dann aber als völlig unwirksam herausstellen. Ablenkungsmanöver, ja. Aber wovon wollen sie uns ablenken? Wir wissen nur zu genau, daß ihnen alles daran liegt, die Friedensmission zu vereiteln. Mit großer Wahrscheinlichkeit steht uns demnach also der wirkliche Anschlag noch bevor.« »Und dieser Anschlag«, fügte der Lyrrh hinzu, »ist nicht auf die Zerstörung des Schiffes und das Leben der Delegationsteilnehmer gerichtet.« »Richtig. Die beiden Pseudoanschläge geben aber auch Anlaß zu einer weiteren Vermutung. Da die Fanatiker offensichtlich so großen Wert darauf legen, Rhiat und mich zu beschäftigen, scheinen sie zu befürchten, daß wir ihren dritten und ernstgemeinten Angriff vereiteln könnten. Dies muß also hier von Bord aus möglich sein, und zwar wahrscheinlich mit relativ einfachen Mitteln. Andererseits glaube ich nicht, daß wir einen weiteren Sprengkörper oder etwas Ähnliches mit uns führen, schon allein aus den angesprochenen Gründen. Es muß sich also um etwas völlig anderes handeln.« Er hatte nach kurzem Zögern noch etwas sagen wollen, aber plötzlich schrillten die Bordsirenen los. Für Sekunden waren die Männer erstarrt, dann sprang der Commander auf, öffnete das Schott und rannte auf den anschließenden Gang. »Ich muß in die Zentrale!« rief er den beiden SBs zu. Toger
und Rhiat sahen sich nur kurz an. Dann folgten sie dem Raumkapitän, der inzwischen schon hinter der nächsten Gangbiegung verschwunden war. Sie erreichten rasch den Schwerkraftschacht, dessen Kraftfeld sie einige Dutzend Meter höher trug, bis zum A-Deck, auf dem die Zentrale lag und ein Großteil der Delegationsteilnehmer untergebracht war. Als sie aus dem Schacht heraustraten, sahen sie, wie sich Windsor nicht weit vor ihnen durch eine Gruppe aufgeregt gestikulierender Menschen drängte. Ein hektisches Stimmengewirr schlug ihnen entgegen, das sich durch die noch immer heulenden Sirenen noch zu steigern schien. Die beiden Sicherheitsbeauftragten folgten dem Commander so rasch wie möglich, wurden aber von nervösen und teilweise schon beinahe panischen Männern und Frauen, die der Verhandlungsdelegation angehörten, immer wieder aufgehalten. Sie, die natürlich ahnten, daß die fanatischen Logur-Gegner versuchen würden, ihren Auftrag zu verhindern, befürchteten jetzt das Schlimmste und bestürmten sie mit Fragen, was der Alarm zu bedeuten habe. Toger gab ausweichende Antworten und schob die gestikulierenden Arme sanft, aber nachdrücklich beiseite. »Wir wissen auch nicht mehr als Sie!« rief er und versuchte, seiner Stimme dabei einen ruhigen Tonfall zu verleihen. »So lassen Sie uns doch durch! Wir werden Sie über alles genauestens informieren!« Nach einigen Minuten hatten sie die Zentrale erreicht, öffneten das Schott und traten ein. Toger hoffte, daß die Diplomaten so vernünftig waren, nicht alle in den saalartigen Kontrollraum zu stürmen und die Besatzung bei ihrer Arbeit zu behindern. Rasch orientierten sie sich. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen in schmucklosen Uniformen waren hier tätig, überwachten sämtliche Anlagen und Aggregate der ›Terranian
Star‹. Eine Vielzahl Bildschirme und Monitore waren in den Wänden eingelassen und zeigten verschiedene Sektoren des Schiffes. Auf dem großen Panoramabildschirm war nur ein undeutliches und farbloses Wallen zu erkennen: die Parazone, in der sie sich augenblicklich befanden. Unzählige Schaltbänke summten eindringlich und gaben von Zeit zu Zeit ein verhaltenes Knacken von sich. In der Mitte der Zentrale war der vier Meter durchmessende Navigationstisch installiert, der von einer nicht geringen Anzahl niedriger Geräteeinheiten, hochwertigen Rechnern, umringt war und auf dessen Oberfläche das Abbild eines bestimmten Sektors des Weltalls flimmerte. Der Commander stand, von drei weiteren, etwas jüngeren Männern umgeben, vor einem hufeisenförmigen, aufgeregt zirpenden Schaltpult und starrte regungslos auf die Anzeigen. Toger und Rhiat waren mit einigen Schritten bei ihm. »Was ist los?« erkundigte sich Raman. Windsor drehte sich langsam um und sah ihn durchdringend an. »Verstehen Sie etwas von der Navigation innerhalb der Parazone?« fragte er anstelle einer Antwort. Der Centauri-Geborene zuckte mit den Achseln. »Nicht sehr viel. Ich weiß nur, daß jede Richtungsänderung unmöglich ist. Nur die Länge der zurückgelegten Strecke ist zu bestimmen; der genaue Flugvektor wird vor dem Eintritt in die Zone ermittelt.« »Genau richtig«, bestätigte Windsor. »Der überlichtschnelle Flug innerhalb der Parazone erfordert normalerweise keine, sonderliche Überwachung, da Außeneinwirkungen, die den Flug beeinflussen könnten, unmöglich sind.« »Normalerweise?« echote Rhiat. »Sehr richtig.« Der Raumkapitän wandte sich wieder dem Schaltpult zu und deutete auf die Monitore, auf denen grünschillernde Kurven in rascher Bewegung waren.
»Wir stehen vor einem Rätsel«, sagte er dann leise. »Es ist nicht zu glauben – aber die ›Terranian Star‹ wird ganz offensichtlich durch fremden Einfluß von dem eingeschlagenen Kurs abgelenkt.« Toger hielt unwillkürlich den Atem an. »Kein Irrtum möglich?« »Nein. Unsere Instrumente sind in Ordnung. Wir werden abgelenkt, und zwar ziemlich rasch und gravierend. Der Flugsektor hat sich in den letzten zwei Minuten um gut einen Grad in den Grün-Sektor verschoben.« Die Alarmsirenen waren inzwischen verstummt, und eine monotone Robot-Stimme forderte die Passagiere auf, sich in den Schutz der Andruckliegen zu begeben. »Ich muß mich verbessern«, fügte er nachdenklich hinzu. »Es ist kein natürlicher Einfluß bekannt, der einen solchen Effekt hervorrufen kann. Aber ich habe einmal gerüchteweise von einer neuentwickelten Defensivwaffe gehört, die in der Lage sein soll, ganze Raumbezirke dadurch zu schützen, daß man dort für eine bestimmte Zeit jeden Überlichtflug unmöglich macht.« Die Linien auf dem Bildschirm kamen in immer raschere Bewegung. Der Prozeß schien sich weiter zu beschleunigen! Der Commander wandte sich an die drei Besatzungsmitglieder. »Stellen Sie fest, in welchen Sektor wir gelenkt werden. Wenn wir in das Normaluniversum zurückkehren, müssen wir exakt wissen, wo wir uns befinden.« »In Ordnung, Sir.« »Meinen Sie, daß die Fanatiker im Besitz dieser Waffe sein könnten?« fragte er dann. Der Lyrrh zuckte in menschlicher Manier mit den Achseln. »Möglich ist in dieser Beziehung alles. Die Logur-Gegner verfügen bekanntlich über politische und materielle Unterstüt-
zung sogar auf Regierungsebene. Es ist durchaus denkbar, daß man ihnen die Konstruktionsunterlagen einer solchen Waffe zugespielt hat.« »Und es würde eine ganze Menge erklären«, fügte Toger hinzu. »Die beiden Ablenkungsmanöver, die uns davon abhalten sollten, im letzten Augenblick sicherheitshalber den programmierten Kurs zu ändern. Die Fanatiker können mit dieser Waffe nur erfolgreich sein, wenn sie an einem ganz bestimmten Punkt unserer Kurslinie, die ihnen bekannt sein muß, quasi auf uns warten. Und dabei bestand für sie eben die Gefahr, daß wir uns hätten entschließen können, einen anderen als den vorgesehenen Kurs einzuschlagen.« Windsor sah ihn ausdruckslos an. »Damit könnten Sie den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Und wir haben keine Möglichkeit, uns dagegen zu wehren.« Toger hatte gar nicht richtig zugehört. In seinem Schädel jagte ein Gedanke den anderen. »Eins ist aber noch immer unklar«, sagte er plötzlich. »Warum war die Bombe nicht trotzdem so beschaffen, daß sie hätte explodieren können? Die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs der Fanatiker wäre damit noch gestiegen. Wenn wir nicht schon durch die Detonation umgekommen wären, hätten sie immer noch, als Reserve sozusagen, ihre Para-Falle gehabt. Aber die Bombe ›konnte‹ nicht explodieren – und das war wohlüberlegte Absicht. Und wenn man uns nicht töten will – was für die Fanatiker doch unbestritten der einfachste Weg wäre –, was hat man dann mit uns vor? Uns einfach eine Zeitlang irgendwo, an einem unbekannten Ort, festzuhalten, bis der Verhandlungstermin verstrichen ist?« »Ich glaube«, raunte Windsor, »wir sollten uns besser anschnallen. Die Abweichung erfolgt immer schneller. Wahrscheinlich werden wir in den nächsten Sekunden oder Minu-
ten in den Normalraum zurückfallen.« Sie nahmen in den hochlehnigen Sitzen Platz und schalteten die Fesselfelder ein, die, in gewissen Grenzen natürlich, auftretende Massenträgheitsenergie absorbierten. Im Jargon wurde diese Sicherheitsmaßnahme als »Anschnallen« bezeichnet, obwohl es mit Gurten oder ähnlichem nichts gemein hatte. »Die Triebwerke zeigen Rotwerte«, meldete ein Besatzungsmitglied. »Die Verdichtungskammern laufen heiß.« Abschalten! hatte Toger rufen wollen, doch dann war ihm eingefallen, daß das während eines Überlichtmanövers nicht möglich war. Die elektronische Aussteuerung der Triebwerke würde erst dann die Desaktivierungsimpulse geben, wenn die vorprogrammierte Flugstrecke zurückgelegt war, das heißt, das Schiff die Parazone verließ, was normalerweise dasselbe bedeutete. Jetzt war die Lage anders! Ein Knacken ging durch den ganzen Schiffskörper, als wehrte sich das Material gegen die steigende Belastung. Kaskaden von roten Lichtern schickten ihre Warnungen in den Raum. Doch die wenigen, die sich jetzt noch nicht im Schutze eines Fesselfeldes befanden, konnten nicht viel tun. Noch einmal heulte der Alarm auf, dann kehrte eine geradezu gespenstische Ruhe ein. Die Kontrollbänke glühten in grellem Rot, Skalenzeiger zitterten hin und her, Oszillographen zeigten wirre und schnell wechselnde Fluoreszenz-Kurven. Und dann ertönte ein Knirschen, das ihnen allen durch Mark und Bein ging. Rasch ›schnallten‹ sich auch die letzten an, um vor dem Folgenden bestmöglich geschützt zu sein. Das Knirschen steigerte sich rasch, wurde zu einem tosenden Dröhnen, das die Trommelfelle zu zerreißen drohte. Toger befürchtete, daß die äußere Kugelzelle der ›Terranian Star‹ der ungeheuren Beanspruchung nicht gewachsen war. Das konnte, da niemand einen hermetischen Schutzanzug trug, zu einer unvorstellba-
ren Katastrophe führen. Er verfluchte sich wegen der Nachlässigkeit, nicht daran gedacht zu haben. Aber er hatte ja auch nicht ahnen können, daß die Fanatiker zu einem derartigen Mittel griffen, um ihr Ziel zu erreichen. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Er brauchte einige Augenblicke, bis er merkte, daß dies nicht auf die überreizten Sehnerven zurückzuführen war. Das Fesselfeld kämpfte gegen die starken Beharrungskräfte an, und die normalerweise unsichtbaren Energien wurden dadurch als nebelhafte Schleier deutlich. Aus einigen Geräteeinheiten zuckten sonnenhelle Blitze. Der beißende Gestank von verbrannten und verschmorten Isolationen und Leitungen stach ihm eindringlich in die Nase. Dunkle Rauchschwaden, die aus den Aggregaten drangen, wurden nur noch stockend von der Klimaanlage abgesaugt. Das tosende Dröhnen der Kugelzelle schien langsam nachzulassen. Es war zwar immer noch so laut, daß Toger sein eigenes Wort nicht verstanden hätte, aber er atmete erleichtert aus, als er es feststellte. Einen Augenblick zu früh! Genau in diesem Moment ertönten unter ihnen drei heftige Explosionen, deren Erschütterungen trotz Fesselfeld spürbar wurden. Raman erblaßte. Das konnten nur die Verdichtungskammern der Triebwerke gewesen sein! Der große Panoramabildschirm war nach wie vor intakt. Durch das farblose Wallen schienen dann und wann die Blitze zu zucken. Aber er vermochte nicht zu sagen, ob dies real oder nur ein Fehler in der Impulsübermittlung war! Plötzlich jedoch klärte sich das Bild. Schlagartig verschwand die Projektton der Parazone und machte dem kalten Schwarz des Normalraums Platz. Gleichzeitig damit loderte sein Fesselfeld auf, begann es gefährlich zu sirren, dann packte ihn eine urgewaltige Kraft.
Toger wurde quer durch die gesamte Zentrale geschleudert. Überdeutlich sah er, wie eine Wand mit integrierten Schaltleisten auf ihn zuraste. Die rotpulsierenden Lichter schienen ihm entgegenzublinzeln, dann prallte sein Körper auf Stahlplastik und seine Gedanken wurden von einem tiefschwarzen Sog erstickt. * Vierzehn starrte nachdenklich auf die quadratmetergroße Bildfläche des 3-D-Projektors. Sie zeigte einen ganz bestimmten Ausschnitt des Weltalls, in dessen Zentrum sich das System Sigma IV/221-Y befand, als grüner Punkt markiert. Die anderen Sonnen und Systeme in unmittelbarer Nachbarschaft waren entsprechend ihrer Bedeutung gekennzeichnet. Zusätzlich waren noch die Standorte von militärischen Verbänden und Patrouillenkreuzern ersichtlich. Keines dieser leuchtenden Vierecke war näher an Sigma IV als einige Dutzend Lichtjahre. Und auch die interstellaren Handelsrouten berührten dieses System nicht. Ohne es selbst zu merken, nickte Vierzehn langsam. Für Aktion Zwei gab es keinen besseren Stützpunkt als jenen grünen Punkt in der Mitte der Bildfläche. Das System war natürlich katalogisiert worden, schon vor einigen Jahrzehnten, aber für Terra war es ohne jede Bedeutung. Die Planeten kamen für eine großangelegte Besiedlung nicht in Frage, und die Bodenschätze erreichten nicht das Mindestmaß für einen lohnenden Abbau. Vierzehn drückte eine Taste, woraufhin ein rötlicher Lichtpfeil zu pulsieren begann. Der Projektor war mit den Soll-Daten über den Flugverlauf der ›Terranian Star‹ programmiert und zeigte nun die Position, die das Schiff zu diesem Zeit-
punkt einnehmen mußte, als Annäherungswert natürlich, der nur einer oberflächlichen Orientierung dienen konnte. Der Endpunkt des Pfeils befand sich bereits in der Nähe von Sigma IV. Das bedeutete, daß die Aktion Zwei bereits angelaufen sein mußte. Ein flüchtiges Lächeln flog über das Gesicht von Vierzehn. Die Wahrscheinlichkeit für das Gelingen ihres Unternehmens war damit um einige wichtige Prozentpunkte in die Höhe geklettert. Ein feines Sirren ertönte, und aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie sich die Gestalt von Siebzehn aus dem flimmernden Transmit-Feld herausschälte. »Ist schon eine Bestätigung da?« Seine Stimme klang ruhig und gelassen, wie immer. Vierzehn fragte sich erneut, ob die Ausgeglichenheit, die Siebzehn eigen war, nur einer gespielten Rolle oder der Realität entsprach. Stumm schüttelte er den Kopf und deutete auf die Bildfläche. »Noch nicht«, erklärte er. Das leichte Vibrieren in seiner Stimme störte ihn in der Gegenwart von Siebzehn, dessen Augen belustigt zu funkeln schienen. Warum fühlte er sich ständig so unsicher, wenn Siebzehn in seiner Nähe war? Schließlich war er doch der Leiter dieser Einsatzgruppe. »Aber es müßte bald soweit sein«, fügte er hinzu. »Eins a und b sind erwartungsgemäß abgelaufen.« »Das war zu vermuten. Unsere Vorarbeit war schließlich entsprechend umfangreich.« »Richtig. Trotzdem war aber ein gewisser Unsicherheitsfaktor nicht ganz auszuschließen.« Vierzehn sah wieder auf die dreidimensionale Projektion. Der pulsierende Pfeil schien dem grünen Punkt um ein winziges Stück nähergekommen zu sein. Eine viereckige Fläche an der rechten Bildseite begann plötz-
lich in grellem Gelb zu leuchten. Für einige Augenblicke sahen sich die Männer stumm an, dann preßte Vierzehn die Aktivierungstaste nieder. Aus versteckt installierten Lautsprechern drang ein unterdrücktes Knacken. Dem folgte das Rauschen und Zischen von statistischen Störungen. Atemlos warteten sie auf die Meldung, die durch mehrere kompakte Geräteeinheiten decodiert wurde. Selbst wenn das Sicherheitsbüro diese Nachricht empfangen sollte, hätte die Dechiffrierabteilung nichts damit anfangen können. Der Funkspruch lief über mehrere Relaisstationen, die nachhaltig verhinderten, daß die Quelle der Impulse ermittelt werden konnte. Und die Information selbst bestand in jedem Fall nur aus einem einzigen Wort. Einige lange Sekunden war nur das Knistern zu hören, doch dann sank der Geräuschpegel ab und eine dunkle Stimme sagte tonlos: »Wintersonne!« Abrupt schaltete die Automatik die Lautsprecher wieder ab. Atemlose Stille breitete sich aus. Vierzehn drehte sich langsam um und sah das triumphierende Gesicht von Siebzehn. »Sie haben es geschafft«, kommentierte er dann – und diesmal ärgerte er sich nicht über seine nervös klingende Stimme. »Gruppe II hat die ›Terranian Star‹ in der Falle!« * Das erste, was Toger Raman bewußt wahrnahm, war der pochende, intensive Schmerz, der seinen ganzen Körper in Wellen durchflutete. Er verzog das Gesicht, und ein kraftloses Stöhnen drang von seinen Lippen. »Er kommt zu sich«, sagte eine Stimme, die ungeheuer weit entfernt zu sein schien. »Seine Alphawellen verstärken sich.« Was war damit gemeint? Plötzlich fiel ihm ein, daß er über
eine Anzahl von Sinnen verfügte, die ihm nähere Informationen übermitteln konnten. Mühsam versuchte er, seine Augenlider zu heben, schreckte jedoch sofort vor der Lichtflut zurück, die auf ihn einstürmte. »Toger, können Sie mich verstehen?« Er wollte nicken, doch schon die geringste Bewegung verursachte einen Schmerz, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Er biß die Zähne zusammen. Undeutlich nahm er ein Zischen ganz in seiner Nähe wahr, und gleich darauf spürte er, wie das beißende Zerren und Reißen nachließ und auf ein erträgliches Maß absank. Erneut öffnete er die Augen. Diesmal schrak er nicht gleich vor dem gleißenden Licht zurück, das ihn umgab, sondern ließ seinen Pupillen genügend Zeit, um sich daran zu gewöhnen. »Wie fühlen Sie sich, Toger?« Die sanfte, akzentuierte Stimme schien jetzt wesentlich näher zu sein. Der SB blickte in das hübsche, von langen, dunklen Haaren umrahmte Gesicht einer etwa fünfundzwanzigjährigen Frau. »Jetzt schon besser«, entgegnete er lächelnd. »Wie heißen Sie?« Die medizinische Assistentin wirkte einen Augenblick verblüfft, dann lachte sie ebenfalls. »Thorina«, sagte sie und legte den Injektor beiseite. William Cummings beugte sich über ihn. »Na, wieder alle Sinne beisammen?« »Es geht schon wieder, Doc. Wann werde ich entlassen?« »Na, hört euch den an!« preßte Rhiatten-Dhoolen glucksend hervor. »Kaum sieht er ein weibliches Wesen, schon wird er unternehmungslustig.« Toger richtete seinen Oberkörper auf und sah sich um. Der Lyrrh stand in einigen Metern Entfernung und schüttelte den Kopf, obwohl ihm diese Geste aufgrund seines extrem kurzen
Halses nicht leichtfallen konnte. Neben ihm stand Commander Norman Windsor und grinste breit. »Nach dem, was Sie hinter sich haben, sollte man meinen, daß ein Krankenhausaufenthalt von zwei Wochen angebracht wäre«, erklärte er. »Aber der Anblick eines Mädchens genügt, um sie schon nach zwei Tagen wieder fit zu machen!« Toger erstarrte. »Zwei Tage?« Cummings nickte und zeigte ihm mehrere Plast-Folien mit einer Vielzahl von eingestanzten, ihm unverständlichen Symbolen. »Nach Ihrem Flug quer durch die Zentrale und dem… hm… Kontakt mit dem harten Material einer Wand, zogen Sie sich zu: eine mittelschwere Gehirnerschütterung, einen komplizierten Armbruch, diverse Quetschungen, mehrere Rippenbrüche…« »Ist ja schon gut«, unterbrach ihn Raman. »So genau will ich das gar nicht wissen. Nur eins – bin ich jetzt wieder okay?« »Nun ja, die Brüche sind dank unserer Spezialeinrichtungen alle verheilt, und auch die Gehirnerschütterung ist entsprechend behandelt.« Toger hatte die Decke seiner Liege zurückgeschlagen und wollte aufstehen. Cummings drückte ihn sanft, aber nachdrücklich wieder zurück. »Sie können sich auf den Kopf stellen«, fuhr er energisch fort, »aber einen weiteren Tag werden Sie noch hierbleiben.« Toger sank wieder zurück. »Zwei Tage«, murmelte er. »Was ist in der Zwischenzeit geschehen?« Plötzlich fiel ihm ein, daß er, kurz bevor er seinen ›Flug‹ angetreten hatte, drei Explosionen vernommen hatte. »Und was ist mit den Triebwerken?« Windsor und Rhiat sahen sich einen Moment an.
»Wir befinden uns im Sonnensystem Sigma IV/221-Y«, sagte der Raumkapitän. »Das hat unsere astronomische Abteilung inzwischen zweifelsfrei ermittelt. Das System ist unbedeutend und verfügt über keine Niederlassungen oder Stützpunkte. Wir sind auf dem sechsten Planeten gelandet, der von den insgesamt achtzehn noch die akzeptabelsten Lebensbedingungen bietet.« »Was ist mit den Triebwerken?« bohrte Toger weiter. »Die Verdichtungskammern sind hin. Als wir in den Normalraum zurückgeschleudert wurden, konnten sie die Energie für einige Sekundenbruchteile nicht mehr weiterleiten – und sind durchgebrannt, im wahrsten Sinne des Wortes.« »Und wie sind wir dann gelandet?« »Mit den Notaggregaten. Es war schwierig, aber es ist uns geglückt.« Eine umfassende Leere breitete sich in dem Sicherheitsbeauftragten aus. War die Friedensmission damit gescheitert? Sein Auftrag hatte von Anfang an unter keinem sehr guten Stern gestanden. Er wußte, daß der Verhandlungsbeginn am Zielort auf den 24. Mai angesetzt war. Heute war der 12. Selbst wenn sie sofort starteten, benötigten sie an Flugzeit sieben Tage, um das System zu erreichen, dessen vierter Planet als neutraler Verhandlungsort vorgesehen war. Es blieben ihnen also nur fünf Tage, um die Triebwerke zu reparieren – eine viel zu kurze Zeit. »Ist eine Instandsetzung möglich?« Seine Stimme klang brüchig und hohl. Windsor nickte. »Durchaus. Wir haben alles an Bord, was wir brauchen – das Werkzeug, die Maschinen und auch die notwendigen Ersatzteile. Nur…« »Ja?« »Äh… die Verdichtungskammern sind wartungsfrei, wie Sie
wissen. Und da – statistisch gesehen – ein Defekt auf fast hunderttausend Betriebsstunden kommt, sind sie den Triebwerken so vorgelagert, daß man von innen nicht an sie herankommt. Man muß den gesamten Triebwerkssatz ausbauen, um die Verdichtung in Ordnung bringen zu können.« Das hatte Toger fast gedacht. Kalt lief es ihm den Rücken hinunter. »Und das dauert?« Der Commander überlegte einige Sekunden. »Wenn wir rund um die Uhr arbeiten und keine besonderen Zwischenfälle auftreten, könnten wir es innerhalb von fünf Tagen schaffen.« Raman fiel ein Stein vom Herzen. Für einige Augenblicke schloß er die Augen. Es ist doch noch nicht zu spät! dachte er. Als er in die bedrückten Gesichter der Männer sah, wußte er, daß sie noch nicht alles gesagt hatten. Ruckartig richtete er sich auf. »Was ist los?« fragte er vibrierend. Rhiatten-Dhoolen gestikulierte mit seinen gummiartigen Armen. »Wir können die Triebwerke innerhalb dieser Toleranzfrist reparieren«, erklärte er. »Aber das wird uns herzlich wenig nützen.« »Warum?« »Das gesamte Sigma-System ist in eine Raumblase gehüllt, die jeden Überlichtflug unmöglich macht!« * Jansal Rokaulan war Fremdrassenpsychologe und begleitete die eigentliche Verhandlungsdelegation auf ausdrücklichen Wunsch des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten. Seine Aufgabe war es, während der Gespräche mit den Logur
den Diplomaten beratend zur Seite zu stehen. Rokaulan war knapp über vierzig Jahre alt, und die Wölbungen in der Gegend seiner Körpermitte deuteten darauf hin, daß sein Beruf keine körperlichen Anstrengungen mit sich brachte. Er liebte es jedoch, ab und zu, wenn er dazu Zeit fand, ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen. Und Zeit hatte er jetzt mehr als genug. Jansal wußte, daß die Friedensmission so gut wie fehlgeschlagen war. Der Sicherheitsbeauftragte Toger Raman hatte die Besatzungs- und Delegationsteilnehmer vor wenigen Stunden eingehend über die Lage informiert – und über die schon zurückliegenden, nur scheinbaren Anschläge einer Gruppe, deren Mitglieder allgemein nur Fanatiker genannt wurden. Der Psychologe blieb einen Augenblick stehen und sah sich um. Der Landeplatz der ›Terranian Star‹ glich einer riesigen Baustelle. Menschen eilten geschäftig hin und her, gigantische, zusammengesetzte Maschinen waren dabei, die drei großen Triebwerkseinheiten aus dem Kugelleib des Schiffes auszubauen. Nur unweit entfernt davon hatten sie das Dorf errichtet, zumindest wurde die Ansammlung von kleinen und größeren Klimazelten so genannt. Zur Zeit herrschten in dieser Region Witterungsbedingungen, die den ersten Frühlingstagen auf Terra entsprachen. Jansal wußte jedoch, daß es für diesen Breitengrad des Planeten Hochsommer war, mit Höchsttemperaturen von fünfzehn Grad. Im Winter konnten die Werte unter minus fünfzig Grad sinken – und das mochte einer der Gründe sein, warum das Sigma-System nicht für eine umfassende Kolonisierung in Frage gekommen war. Und die sechste Welt, auf der sie niedergegangen waren, bot noch – für Menschen jedenfalls – die besten Lebensbedingungen. Mit einem Mindestaufenthalt von fünf Tagen mußte gerechnet werden, und es war niemand unter ihnen, der es nicht vor-
gezogen hätte, diese Zeit außerhalb des Schiffes zu verbringen. Rokaulan legte den Kopf in den Nacken und genoß den lauen Wind, der ihm sanft entgegenwehte. Schon damals, als der Konflikt begonnen hatte, hatte er sich entschieden dafür ausgesprochen, Gespräche mit den Silicium-Intelligenzen aufzunehmen. Doch die Regierung war der Ansicht gewesen, daß Abwarten besser wäre – Abwarten und Zurückschlagen. Nur sehr selten hatten sich Terraner und Logur gegenübergestanden – und der Charakter solcher Begegnungen stand auch heute noch unter dem Zeichen gnadenlosen und unverständlichen Hasses. Gerade für ihn als Psychologen war es mehr als unergründlich, wie dieser unselige Haß zustande gekommen war. Es gab einfach keine vernünftige und einleuchtende Begründung! Jansal hatte sich, ohne es zu bemerken, relativ weit vom Dorf entfernt. Die gelbe Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen und verschwand fast hinter dem Dunst. Es wurde merklich kühler. Der Wind drehte sich und brachte kältere Luft heran. Jansal, der nur eine dünne Jacke über seinem Hemd trug, fröstelte und schob die Hände tiefer in die Hosentaschen. Als er sich umdrehte, stellte er fest, daß ein niedriger Hügel zwischen ihm und dem Lager lag. Die obere Hälfte der ›Terranian Star‹ ragte in den Himmel und wirkte in dieser einsamen und unberührten Landschaft wie ein Fremdkörper, ein störender Faktor. Die Vegetation in dieser Region war im Vergleich zu anderen Landstrichen relativ üppig. Niedrige, verknorpelte Bäume mit weiten, schirmähnlichen Kronen wechselten ab mit Büschen, die fast undurchdringlich schienen. Das kniehohe Gras, das hier und da den Boden bedeckte, wiegte sich langsam unter dem Einfluß des Windes, über alldem lag eine gespenstische Ruhe. Kein Summen und Zirpen von Insekten, keine Schreie von Vögeln, die ihr Territorium damit abgrenzten,
nirgendwo das Knacken von Ästen, wenn sich ein Tier durch das Unterholz bewegte. Die Umgebung wirkte irgendwie unvollkommen. Jansal wußte plötzlich, was fehlte – Leben. Wären nicht die verschiedenen Pflanzen gewesen, hätte man diese Welt für steril halten können. Der Psychologe wußte aber ebenso gut, daß es tierisches Leben auf dem sechsten Planeten gab. Die Explorerschiffe Terras hatten, als sie dieses System untersuchten und katalogisierten, einige unterschiedliche Gattungen feststellen können. Jansal Rokaulan drehte sich achselzuckend um und wollte seine Schritte dem provisorischen Lager entgegenlenken, als das Geräusch ertönte. Der Psychologe zuckte zusammen und erstarrte in seinen Bewegungen. In der unheimlichen Lautlosigkeit, die hier alles zuzudecken schien, hatte jedes Geräusch den subjektiven Charakter eines Donnerschlags. Rokaulan kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Seine Muskeln hatten sich krampfartig versteift, ohne daß es ihm selbst bewußt geworden war. Obwohl kein greifbarer Grund dafür vorhanden war, spürte er das Fluidum einer drohenden Gefahr. Für eine Sekunde huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Der Mensch reagierte auf alles, was er nicht kannte, nach den alten, in Tausenden von Jahren herausgebildeten Reflexen – er bereitete sich auf eine Auseinandersetzung vor. Als Psychologe kannte er diese Verhaltensweise nur zu gut, und als er sich darüber klar wurde, entspannte er sich wieder. Da ertönte das leise Schnaufen, das ihn abrupt herumfahren ließ. Nicht weit von ihm entfernt, nur einige Meter, hockte eines der seltsamsten Wesen, das er bisher gesehen hatte. Es mochte vielleicht, wenn es sich zu voller Größe aufrichtete, anderthalb Meter groß sein. Die beiden stämmigen und musku-
lösen Beine waren jetzt auf merkwürdige Weise zusammengeknickt und die beiden längeren Greifarme pendelten langsam hin und her. Direkt über ihren Ansätzen entragten zwei weitere Arme dem Korpus, die jedoch degeneriert und verkümmert wirkten. Sie waren dünner und auch ein ganzes Stück kürzer. Der Kopf unterstrich das fremdartige Erscheinungsbild. Im Vergleich zum Körper erschien er überdimensioniert und hatte entfernt Ähnlichkeit mit der stilisierten Darstellung eines menschlichen Herzens. Eine tiefe Kerbe teilte ihn in zwei Hälften – und jede Hälfte schien eigenständig zu sein. Sie verfügten über exakt die gleichen Sinnesorgane und Jansal fragte sich, ob dieses Wesen auch zwei Gehirne besaß. Sechs lidlose Augen funkelten ihm entgegen. Durch den dichten blau schillernden Pelz fuhren wellenartige Bewegungen. Rokaulan runzelte die Stirn. Dieses Wesen machte einen intelligenten Eindruck, aber die Explorergruppe hatte, soweit er davon wußte, nicht das Vorhandensein einer eingeborenen Intelligenz gemeldet. Sollten sie diese Zwerge übersehen haben? Der Psychologe lächelte, trat einige Schritte näher heran und zeigte dem Zwerg die Innenflächen seiner Hände. Dann breitete er langsam die Arme aus und wartete gespannt auf eine Reaktion. Jedes intelligente Lebewesen mußte erkennen, daß diese Geste seinen Friedenswillen bekundete. Der Zwerg betrachtete ihn einige Sekunden lang, wobei seine Augen in den unterschiedlichsten Farbtönen zu flackern begannen, dann richtete er sich auf. Plötzlich hielt er ein seltsames Metallstück in seiner rechten Greifhand und richtete es drohend auf Jansal. Der Psychologe atmete auf. Bei dem seltsam geformten Metall mochte es sich um einen Kultgegenstand handeln, der ebenfalls Frieden demonstrierte. Er dachte kurz daran, daß die Entdeckung, die er gemacht hatte, phänomenal war, dann
durchzuckte ihn plötzlich ohne jede Vorankündigung ein beißender Schmerz, der ihn aufschreien ließ. Er dauerte nicht lange, vielleicht nur einige Sekundenbruchteile, dann war er wieder verschwunden. Als sich die trüben Nebel vor seinen Augen lichteten, sah er, daß sich der Zwerg ihm langsam näherte und dabei bedrohlich knurrte und knirschte. Die Augen funkelten in einem stählernen Blau. Unwillkürlich trat der Psychologe einige Schritte zurück. Dieses Metallstück mußte eine Waffe sein – und eine sehr wirksame dazu. Aber in den Händen des Zwerges wirkte sie anachronistisch. Um solche Geräte zu entwickeln, war ein hoher technischer Stand notwendig. Wo war die Zivilisation, die diese Dinge hervorgebracht hatte? Der sechste Planet wies nicht die geringsten Anzeichen einer Intelligenz, geschweige denn einer hochstehenden Kultur auf. Der Zwerg brüllte heiser und fuchtelte mit der Waffe. Als Jansal nicht reagierte, flutete erneut eine schneidende Welle durch seinen Körper, diesmal noch stärker. Schreiend stürzte Jansal zu Boden. Seine Augen tränten und sein Atem ging stockend, nachdem der Schmerz wieder abgeklungen war. Er hatte keine Waffe, war dem Zwerg hilflos ausgeliefert. Und das Lager war weit, viel zu weit! Einem plötzlichen Impuls folgend, warf sich Rokaulan herum, griff nach einem Stein und schleuderte ihn in einer blitzschnellen Bewegung auf seinen Gegner. Ein zorniges Aufbrüllen bestätigte ihm, daß er getroffen hatte, und das spornte ihn an. Er richtete sich auf und rannte, ohne sich noch einmal umzudrehen, auf den Hügel zu, der das Dorf seinen Blicken entzog. Es war schon wesentlich dunkler geworden, und Jansal hatte Mühe, die Orientierung nicht zu verlieren. Sein Atem ging
ruckweise und folgte ihm als nebelhafter Schleier. Viel zu nah hinter ihm nahm er das drohende Stampfen des Zwerges wahr. Das Gewicht dieses Wesens mußte wesentlich höher sein, als er geglaubt hatte. Jansal wagte es nicht, sich nach seinem Verfolger umzudrehen. Das hätte ihn wertvolle Sekunden gekostet, und Zeit hatte er nicht. Der Zwerg kannte sich hier bestens aus, und die muskulösen Beine hatten den Eindruck gemacht, als seien sie starke Belastungen gewohnt. Mit eindringlicher Schärfe drang ihm die Erkenntnis ins Bewußtsein, daß er dem Eingeborenen hoffnungslos unterlegen war. Er würde es niemals schaffen, sich dem Lager so weit zu nähern, daß er von dort auf Hilfe hoffen konnte. Seine Situation war völlig aussichtslos. Das Stampfen kam immer näher, und das dumpfe Knurren jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Jansal riß entsetzt die Augen weit auf, als plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, zwei weitere Zwerge vor ihm auftauchten und ihm aus ihren blauleuchtenden Augen entgegenstarrten. Er warf sich herum und zwang seinen Körper in eine scharfe Kurve. Er spürte bereits, wie sich Erschöpfung in seinen Gliedern ausbreitete, wie es immer schwieriger wurde, ein Bein vor das andere zu setzen. Und doch – panische Angst trieb ihn weiter vorwärts. Der zuckende Schmerzimpuls traf ihn völlig unvorbereitet. Seine Beine verweigerten ihm übergangslos den Dienst, und langgestreckt prallte sein Körper auf das scharfkantige Geröll. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepreßt. Mit dem letzten Rest klaren Bewußtseins nahm er wahr, wie sich die Zwerge über ihn beugten und ihn ohne jede Regung anstarrten, dann versiegte auch dieser Gedanke.
* Toger Raman fuhr herum, als Robert Moore-Gathew, Referent für auswärtige Angelegenheiten, in sein Zelt stürmte. »Was sitzen Sie hier so faul herum?« bellte der untersetzte etwa fünfzigjährige Mann. »Wozu sind Sie Sicherheitsbeauftragter, wenn Sie sich hier ständig ausruhen?« Der SB sah ihn aus rotgeränderten Augen an. Das Gesicht Gathews drückte unverhohlene Wut aus. »Sie machen mich für unsere Situation verantwortlich, nicht wahr?« stellte er scharf fest. »Für wen halten Sie mich eigentlich? Für einen Supermann? Ich bin auch nur ein Mensch. Zu Ihrer Information: Ich habe gerade fünfzehn Stunden Arbeit hinter mir – und davor lag ich mit diversen Verletzungen im Medo-Center!« »Arbeit nennen Sie das?« zischte Gathew. »Im Schiff herumschnüffeln, ob nicht irgendwo noch eine Bombe steckt?« »Mr. Gathew!« sagte Toger gefährlich ruhig. »Ich bin SB und für die Sicherheit der Passagiere und Besatzungsmitglieder der ›Terranian Star‹ verantwortlich, da haben Sie ganz recht. Ich mache meine Arbeit, und zwar so gut und gründlich, wie es in meiner Macht steht. Wollen ›Sie‹ mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe?« Das Gesicht des Referenten lief rot an. »Sie sind ein Versager! Sitzen hier herum, während sich andere Leute darum kümmern müssen, ob wir jemals wieder von hier fortkommen!« »Sie würden natürlich sofort einen Ausweg finden«, entgegnete Toger in ernstem Tonfall. Gathew wirkte einen Moment verblüfft, dann begriff er, daß der SB das doch etwas anders gemeint hatte. »Als Sicherheitsbeamter habe ich übrigens das Recht, in Not-
situationen die Befehlsgewalt zu übernehmen. Wir befinden uns in einer solchen Lage, Mr. Gathew. Und während ›wir‹ uns darum kümmern, daß die ›Terranian Star‹ wieder flottgemacht wird, sitzen ›Sie‹ den ganzen Tag in Ihrem Zelt!« Als der Referent wütend das Gesicht verzog und etwas erwidern wollte, unterbrach ihn Toger mit einer barschen Handbewegung. »Genug mit diesem Unsinn!« »Sie wissen wohl nicht, wen Sie vor sich…« »Sie wissen nicht, wen ›Sie‹ vor sich haben, Gathew«, sagte Raman leise. »Ich bin nicht einer Ihrer Lakaien! Verstanden? Und wenn Sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen haben, dann jetzt. Sonst verschwinden Sie, ich kann Sie nicht mehr sehen!« Robert Moore-Gathew bekam Stielaugen. Wahrscheinlich hatte noch niemand auf diese Art und Weise mit ihm gesprochen. Das schien ihn derart zu verblüffen, daß seine Wut plötzlich verschwand. »Jansal Rokaulan ist weg!« »Was sagen Sie da? Der Fremdrassenpsychologe…« »Ist wie vom Erdboden verschluckt!« Toger Ramans Müdigkeit war wie weggewischt. »Seit wann?« Gathew überlegte nicht lange. »Vor etwa sechs Stunden wurde er das letzte Mal gesehen. Er soll zu einem Spaziergang das Dorf verlassen haben und ist bis jetzt noch nicht wieder zurückgekehrt. Und es ist bereits seit etwa vier Stunden dunkel!« Der fünfzigjährige Politiker wartete keine Antwort ab, sondern drehte sich um und verließ das Zelt. Toger schüttelte unbewußt den Kopf. Er hatte das Gefühl, als hüllte ein undurchdringlicher Schleier sein Gehirn ein, der ihn daran hinderte, all die rätselhaften
Vorgänge im Zusammenhang zu sehen und endlich zu begreifen. Er war ständig in der Defensive, und alle Versuche, daraus auszubrechen, waren kläglich gescheitert. Der Plan, den die Fanatiker verfolgten, war ihm noch genauso unklar wie zu Beginn. Er hatte sich immer wieder die Frage gestellt, warum die Logur-Gegner sie nicht umgebracht hatten, dies ganz offensichtlich auch nicht wollten. Instinktiv spürte Toger, daß die Aktivitäten der Fanatiker keineswegs damit beendet waren, daß sie in diesem Sonnensystem festgehalten wurden. Nein, man hatte noch etwas mit ihnen vor, da war er ganz sicher. Andererseits: War die Friedensmission nicht schon damit gescheitert, daß sie mit hoher Wahrscheinlichkeit den Verhandlungstermin versäumten? Raman wußte nur zu gut, daß er sich mit diesen Fragen nach wie vor im Kreis bewegte. Er fand einfach keine vernünftigen und befriedigenden Antworten darauf. Er ergriff eine Schachtel mit YZ-31, einem Aufputschmittel, das ihn geraume Zeit ohne Schlaf auskommen lassen konnte, und begab sich in den Hangar der ›Terranian Star‹. Unterwegs erkundigte er sich, in welche Richtung der vermißte Fremdrassenpsychologe aufgebrochen war. Im Hangar erwartete ihn eine Überraschung. »Was machst du denn hier, Rhiat?« Der Lyrrh, der sich an den Aggregaten eines mittleren Atmosphärengleiters zu schaffen machte, wirbelte herum. »Junge, hast du mich erschreckt«, gab er dann gequält stöhnend von sich. »Was ich mache? Ich habe gerade die Systeme dieses Gleiters gecheckt. Habe mir schon gedacht, daß du nach diesem Rokaulan suchen würdest. Und da wir beide mittlerweile die Nase von unliebsamen Überraschungen gestrichen voll haben, habe ich mir dieses Fahrzeug einmal näher angesehen. Es ist alles okay, du brauchst dir keine Gedanken zu ma-
chen.« »Das hätte ich ohnehin nicht«, erwiderte Toger. »Ich glaube kaum, daß die Geräte dieses Gleiters manipuliert wurden. Das wäre doch etwas unwahrscheinlich.« »Sicher ist sicher. Hm, ich bleibe übrigens im Dorf, wenn du nichts dagegen hast. Es sollte jemand von uns beiden hier sein, wenn etwas geschieht, du weißt schon.« »Okay«, sagte Toger, nachdem er in der Pilotenkanzel des drei Meter langen und etwa anderthalb Meter breiten Gefährts Platz genommen hatte. Mit wenigen Handgriffen aktivierte er die Systeme. Die Anzeigen leuchteten ausschließlich in sanftem Grün, es war alles in bester Ordnung. Er winkte dem abseits stehenden Lyrrh zu, dann öffnete er mit einem kurzen Funkimpuls das Außenschott des Schiffes. Singend liefen die Antigrav-Generatoren an, die das Gewicht des Atmosphärengleiters neutralisierten. Die Magnetschiene schob das Fahrzeug vorsichtig aus dem Leib der ›Terranian Star‹ heraus. Als er das Plasmatriebwerk einschaltete, machte der Gleiter einen Satz nach vorn. Toger zwang ihn in eine enge Schleife, überflog das Dorf und schlug dann die Richtung ein, in der Rokaulan verschwunden sein mußte. Draußen war es stockdunkel. Durch die transparente Kanzel konnte er gar nichts erkennen, aber darauf war er auch nicht angewiesen. Der Bildschirm des leistungsstarken Infrarot-Suchers informierte ihn genau, wenn auch in einer etwas seltsamen Art, von seiner Umgebung. Verwirrende blaue und rote Linien zeichneten sich ab und zeugten von der unterschiedlichen Temperatur des Geländes unter ihm. Ein Mensch, der sich dort unten bewegte, konnte ihm aufgrund seiner Wärmeausstrahlung keinesfalls entgehen. Auf einem kleineren Monitor zeigte sich die stilisierte Darstellung des Landeplatzes und der umliegenden Landschaft. Toger veränderte die Einstellung
etwas, so daß das Lager in die linke unter Bildfläche wanderte. Als blinkender Punkt wurde ihm sein jeweiliger Standort angezeigt und ermöglichte so auch eine Kontrolle darüber, welches Gelände er schon abgesucht hatte. Das YZ-31 hatte ihm geholfen. Er fühlte sich jetzt so, als hätte er zehn Stunden erholsamen Schlafes hinter sich, war entsprechend entspannt und tatendurstig. Sekundenlang dachte er daran, daß sich die Basis, die für die Raumblase verantwortlich war, möglicherweise auf dieser Welt befand. Wenn man sie finden und die entsprechenden Geräte desaktivieren könnte… Toger schob dieses Wunschdenken beiseite und konzentrierte sich statt dessen auf die Anzeige des Infrarot-Suchers. ›Das‹ war im Augenblick wichtig. Der Bildschirm zeigte nach wie vor nur undeutliche, verwaschene Schlieren, die ineinander übergingen. Der erwartete grellrote Fleck blieb aus, daran änderte sich auch in der nächsten halben Stunde nichts. Jansal Rokaulan mußte sich demnach ziemlich weit vom Lager entfernt haben, es gab keine andere Erklärung. Und in den sechs Stunden, die er vermißt wurde, hatte er theoretisch eine gehörige Entfernung zurücklegen können. Toger glaubte nicht so recht daran, daß dem Mann etwas zugestoßen war. Viel wahrscheinlicher war es, daß er sich in der stockfinsteren Nacht verirrt hatte und nun genau in der falschen Richtung nach dem Lager suchte. Raman schaltete den Monitor auf eine andere Projektion um, orientierte sich kurz und fuhr die Triebwerke hoch. Hinter ihm dröhnte es auf, als sich der Gleiter in eine sanfte Kurve legte und beschleunigte. Welche Strecke konnte ein Mensch in knapp sieben Stunden zurücklegen? Unter normalen Umständen vielleicht, wenn er sich beeilte, an die dreißig Kilometer. Allerdings war es bereits
seit geraumer Zeit so dunkel, daß man nicht mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Zudem war das Gelände Jansal völlig unbekannt, ein Umstand, der das Tempo weiter drosselte. Toger schätzte, daß der Psychologe selbst unter günstigsten Bedingungen kaum mehr als fünfundzwanzig Kilometer zurückgelegt haben konnte. Raman ging etwas höher, um den Erfassungsbereich des Suchers heraufzusetzen. Aufmerksam beobachtete er die Anzeigen, als er plötzlich ein undefinierbares Geräusch wahrnahm. Er wandte sich halb um und horchte angestrengt. Sekundenlang war da nichts Ungewöhnliches, doch dann ertönte es erneut – ein unterdrücktes Schaben, als kratzte Metall auf Metall, ganz langsam, aber fest. Und es kam aus dem Bereich des Plasmatriebwerks! Toger erstarrte. Ein Blick auf die Kontrollen sagte ihm, daß alles in Ordnung sein sollte. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Im Triebwerksbereich bewegte sich etwas, was sich nicht bewegen sollte. Das Plasmaaggregat setzte für einen Sekundenbruchteil aus, und der Sicherheitsbeauftragte wurde in die Gurte geschleudert. Dann war wieder alles normal. Das Triebwerk summte sein monotones Lied, als sei nichts vorgefallen. In rascher Folge betätigte er eine Reihe Kontrollschaltungen, woraufhin einige Lichter zu flackerndem Leben erwachten. Aber auch sie erstrahlten in dem Grün, das ihn nun keineswegs mehr beruhigte. Das Plasmaaggregat hatte einen Defekt, da war er ganz sicher. Zischende und knisternde Geräusche aus dem Heckbereich bestätigten das. Und jetzt reagierte Toger Raman mit den automatenhaften Reflexen, die einen centaurischen Überlebensspezialisten auszeichneten. Mit einem Hieb auf eine grellrote Taste desaktivierte er das
Triebwerk, das daraufhin stotternd erstarb. Der Temperaturmesser zeigte nur Normalwerte, aber darauf konnte er sich jetzt nicht mehr verlassen. Die Gefahr, daß die Plasmakammern explodierten, konnte er nicht völlig ausschließen, und das war entscheidend! Alle anderen Systeme arbeiteten, soweit er das beurteilen konnte, einwandfrei und wurden nun von der leistungsfähigen Ionen-Batterie mit Energie beschickt. Die starken Bugscheinwerfer tauchten das vor ihm liegende Gelände in taghelles Licht. Er befand sich über einer zerklüfteten Region mit bizarren Felsformationen. Toger fluchte. Die Wahrscheinlichkeit, daß er den Gleiter im Schwebeflug relativ unbeschadet zu Boden brachte, sank damit auf einen beängstigend niedrigen Wert ab. »Ein Unglück kommt selten allein«, murmelte er und konzentrierte sich dann mit verbissenem Gesichtsausdruck auf die Steuerung. Der Antigrav war mit einigen Aggregaten des Triebwerks gekoppelt. Und die Sperrschaltung, die er betätigt hatte, verhinderte auch ein Aktivwerden der Schwerkraftneutralisatoren. Das war schlimm, zumal sein Gefährt nicht über Tragflächen verfügte, die ein sicheres Manövrieren ohne diese Anlagen gestattet hätten. Bedrohlich schnell kam der Gleiter dem felsigen Boden näher. Toger schaltete alle Systeme ab, die bei einer Bruchlandung zu einer Explosion führen konnten. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er auf die rasend schnell unter ihm hinweghuschende Landschaft. Und er hatte Glück im Unglück. Fast übergangslos wurde das Gelände zu einer mit dichtem Gras bewachsenen Ebene, in der sich zwar auch einige Felsbrocken zeigten, die jedoch weit höhere Aussichten für eine noch vergleichsweise weiche Landung bot. Toger schätzte, daß er sich mit etwa zweihundert Stundenki-
lometern bewegte, als er noch in einer Höhe von vielleicht zwei Metern war. Er zögerte nicht länger. Die relativ weiche Fläche unter ihm konnte schon im nächsten Augenblick wieder in eine Felswüste übergehen, in der er kaum eine Chance hatte. Langsam drückte er die Nase des Gleiters tiefer und schaltete dann auch die letzten Anlagen ab. Nur die Bugscheinwerfer erhielten weiter Energie. Er beugte seinen Oberkörper herunter und verbarg den Kopf zwischen den Armen. Die Bewegung war kaum ausgeführt, als sein Gefährt berstend auf den Boden schlug. Um ihn herum schien das Chaos loszubrechen. Das Krachen und Donnern drohte seine Trommelfelle zu zerreißen. Bildschirme explodierten, Glassplitter sausten Geschossen gleich durch die Kanzel. Die Gurte schnitten scharf ins Fleisch, und Toger biß die Zähne zusammen. Das Dröhnen und Knirschen überlasteten Materials nahm kein Ende, im Gegenteil. Es steigerte sich zu einem tosenden Stakkato, das seine Nerven vibrieren ließ. Plötzlich traf ihn etwas mit der Wucht eines Dampfhammers am Schädel. Seine Glieder wurden übergangslos steif und gefühllos. * Als Jansal Rokaulan wieder zu sich kam, spürte er zuerst eine beängstigende Leere in seinem Bewußtsein. Sekundenlang wallte Panik in ihm hoch, als er befürchtete, sein Gedächtnis verloren zu haben, dann setzte die Erinnerung wieder ein. Und damit die Angst. ›Was hatten die Zwerge mit ihm vor?‹ Nur mühsam gelang es ihm, sich selbst zu beruhigen. Ein leises, eindringliches Summen war um ihn herum, wie von einer weit entfernten, gleichmäßig laufenden Maschinenanlage. War er etwa wieder an Bord der ›Terranian Star‹?
Er schlug die Augen auf – und im gleichen Augenblick wurde seine Hoffnung zunichte. Sein Blick fiel auf die niedrige Decke, die in sanftem Licht erstrahlte und fremdartige Muster aufwies, die sich in ständiger Bewegung befanden. Die Wände waren dagegen irgendwie farblos und nüchtern, schienen aber aus dem gleichen Material zu bestehen, das Jansal im Augenblick nicht zu definieren vermochte. Rasch stellte er fest, daß auch die Architektur des Raumes fremdartig anmutete. Der Boden bildete ein exaktes Fünfeck, dessen Fläche sich nach oben hin zu erweitern schien. Die Wände waren also in einem geringen Winkel nach außen geneigt. Die einzige Einrichtung bestand aus der Liege, auf der er sich befand. Nein, er war noch immer in der Gewalt jener merkwürdigen Wesen, die er bis jetzt nur Zwerge genannt hatte. Wieviel Zeit mochte inzwischen verstrichen sein? Man hatte ihm seinen Chrono abgenommen, und er konnte beim besten Willen nicht sagen, wie lange er ohne Bewußtsein gewesen war. Aber vielleicht war schon eine Suchgruppe aus dem Lager unterwegs. Sein Verschwinden mußte jedenfalls inzwischen bemerkt worden sein, und die beiden SBs würden sicherlich nichts unversucht lassen, um ihn wieder herbeizuschaffen. Nur – wo sollten sie ihn suchen? Er selbst hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand. Und noch eine Frage stach plötzlich in sein Bewußtsein. Warum hatte die Explorer-Mannschaft in ihrem Bericht nichts von den Zwergen erwähnt? Die Eingeborenen mußten eine relativ hohe Zivilisationsstufe erreicht haben, was ihre Waffen und die Maschinengeräusche bewiesen. So etwas ›mußte‹ aber Spuren auf der Oberfläche eines Planeten hinterlassen. Ein helles Sirren ertönte, und Jansal zuckte zusammen. In einer Wand hatte sich eine Öffnung gebildet, durch die etwas helleres Licht drang. Einen Atemzug lang war der Psychologe
verwirrt, dann zeigte sich die gedrungene Gestalt eines der blaubepelzten Wesen. In einer Greifhand hielt er den Mechanismus, der ihn außer Gefecht gesetzt hatte, und um seinen Hals baumelte an einer metallenen Kette ein weiteres, kleineres Gerät. Der Zwerg trat einige Schritte näher und zirpte aufgeregt. Jansal runzelte die Stirn, dann ertönte aus dem Gerät an der Kette eine monotone Stimme: »Aufstehen und mitkommen!« Rokaulan zeigte einen maßlos verblüfften Gesichtsausdruck. »Sie können mich verstehen?« »Aufstehen und mitkommen!« Diesmal hatte er den Eindruck, als wäre der Befehl eine Spur nachdrücklicher. Er entschied sich dazu, der Anordnung zu folgen. Vielleicht führte ihn der Zwerg zu seinem Vorgesetzten oder Anführer, von dem er weitere Informationen erhalten konnte. Und außerdem war da auch noch dieser Mechanismus, der so unangenehme Impulse ausstrahlen konnte. Er erhob sich und wunderte sich einen Augenblick darüber, daß er dabei nicht den geringsten Schmerz verspürte. Eine leichte Taubheit, das war die einzige Nachwirkung dieser seltsamen Waffe. Als er auf den Gang trat, taumelte er einige Sekunden lang. Verwirrende Lichtreflexe und Spiegelungen huschten über Decke und Wände, deren Material sich in fließender, gleichmäßiger Bewegung befand. Oder war es nur eine Illusion? Jansal wußte es nicht. Er war mit einer derartig fremden Architektur noch niemals konfrontiert worden und fühlte sich ein wenig unsicher. Der harte Stoß in seinen Rücken machte ihm aber seine Situation wieder bewußt und verscheuchte den Schwindel, der ihn erfaßt hatte. »Vorwärts gehen!« tönte es aus dem Übersetzer, und Jansal beeilte sich, diesem Befehl nachzukommen.
Ihr Weg führte sie durch eine Reihe von Korridoren und saalartigen Räumen mit skurrilen Konstruktionen, die beständig summten. Manchmal war der Psychologe versucht, die Augen zu schließen, um sein Gleichgewicht ob der desorientierenden Lichtimpulse nicht zu verlieren, aber seine Neugier besiegte diesen Reflex. Die Anlage, in der sie sich bewegten, mußte von riesigem Ausmaß sein. Und doch war ihnen noch kein anderer Zwerg begegnet. Vor einem überdimensionalen Schott, das ebenfalls die Form eines Fünfecks hatte, blieben sie stehen. Der Eingeborene betätigte einen verborgenen Öffner, woraufhin das Schott mit einer blitzschnellen Bewegung in der Wand verschwand. Jansal Rokaulan blickte in einen Saal, der in weißes, fast blendendes Licht getaucht war. Eine Reihe von seltsam geformten Aggregaten und Geräteeinheiten stellte die Einrichtung dar. Mehrere Dutzend Liegen, die ebenfalls so angeordnet waren, daß sie ein übergroßes Fünfeck formten, bildeten das Zentrum, um das die Geräte gruppiert waren. Hinter ihm begann der Zwerg erneut aufgeregt zu zirpen. »Weitergehen!« Jansal trat einige Schritte in den Saal hinein und blieb dann wie angewurzelt stehen. Sechs weitere Eingeborene starrten ihm aus blitzenden Augen entgegen. Sie unterschieden sich nicht sonderlich von seinem Bewacher, trugen nur einige fluoreszierende Abzeichen. Rokaulan hatte den unbestimmten Eindruck, es mit Medizinern zu tun zu haben. Diese Vermutung wurde durch die Einrichtung des Saales, die auf ihn merkwürdigerweise nicht ganz so fremdartig wirkte, noch unterstrichen. Wollten die Intelligenzen seine körperliche Beschaffenheit untersuchen? Mit Grauen dachte er daran, daß die Zwerge möglicherweise nicht vor einer Vivisektion zurückschreckten, um ihren Wissensdurst zu stillen. Daß er dabei zwangsläufig
ums Leben kam, mochte sie vielleicht nur am Rande interessieren! Jansal drehte sich langsam um und stellte fest, daß sich das Schott inzwischen wieder geschlossen und sein Bewacher davor Posten bezogen hatte. Er trat einige Schritte näher an die Gruppe der sechs Zwerge heran. »Mein Name ist Jansal Rokaulan«, sagte er langsam und deutlich akzentuiert. »Ich gehöre einer intelligenten Spezies an, die sich Terraner oder auch Menschen nennt.« Keine Reaktion. Die Blaupelze starrten ihn nach wie vor ohne deutbare Mimik an. »Ich hege keine feindlichen Absichten«, fügte der Psychologe verzweifelt hinzu. »Ich komme in Frieden.« Die Zwerge begannen laut durcheinanderzuzirpen, und Jansal wartete gespannt und nervös auf die Übersetzung. Die kleinen Geräte blieben jedoch stumm. Demnach schienen sie nicht die Absicht zu haben, ihn an ihrem Gespräch teilhaben zu lassen. Rokaulans Unruhe stieg. Er hatte das ungute Gefühl, daß man ihn nur wie ein Objekt betrachtete, wie eine neue, unbekannte Maschine, deren Funktionsweise es zu ergründen galt. Die Blaupelze beendeten ihre Debatte und wandten sich wieder ihm zu. »Nimm auf dieser Liege dort Platz, Jansal Rokaulan!« ordnete einer an. Der Greifer zeigte in die entsprechende Richtung. Der Psychologe schluckte, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden, und sein Gesicht verlor jede Farbe. Wenn er mit seiner entsetzlichen Befürchtung recht hatte… »Was habt ihr mit mir vor?« fragte er. Seine Stimme klang nicht mehr so fest und sicher wie noch kurz zuvor. Anstelle einer Antwort durchraste ihn eine Schmerzwelle, die ihn aufschreien und niedersinken ließ. Sein Blick verschlei-
erte sich, und er biß die Zähne zusammen, um nicht das Bewußtsein zu verlieren. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, taumelte er auf die Liege zu und legte sich auf das Polster. Wenn er nur nicht so hilflos gewesen wäre… Ein kaum wahrnehmbares Flimmern hüllte sofort seinen Körper ein und ließ Bewegungen nur noch in sehr begrenztem Maße zu. Jansal ballte die Hände zu Fäusten. Ein energetisches Fesselfeld! schoß es ihm durch den Schädel. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie die sechs Blaupelze näher traten und ihn kalt musterten. Nach wie vor zeigten die Doppelgesichter nicht den geringsten Ausdruck. Mein Gott! dachte er. Können sie ohne jede Regung ein anderes intelligentes Wesen umbringen? Er glaubte nicht mehr daran, mit dem Leben davonzukommen. Und seltsamerweise nahm er dieses Wissen gefaßt und beherrscht auf. Aber ein letzter Rest seines Denkens klammerte sich immer noch an die unsinnige Hoffnung, der Rettungstrupp aus dem Lager könnte rechtzeitig eintreffen und ihn aus seiner Lage befreien. Eine überdimensionale Geräteeinheit schob sich langsam näher an seine Liege heran. Sie wirkte beinahe wie ein nackter Metallblock, obwohl sie sicherlich in ihrem Innern hochkomplizierte Technik beherbergte. Mehrere rechteckige, glitzernde Flächen schoben sich aus dem Block heraus und verhielten, als sie sich senkrecht über ihm befanden, in ihrer Bewegung. Dünne biegsame Tentakel näherten sich ihm, durchdrangen mühelos den Energievorhang und berührten seine Schläfen. Ungeheurer Ekel überschwemmte ihn dabei, aber er besaß keine Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Ein Metalltrichter, etwa einen halben Meter im Durchmesser, senkte sich von der Decke herab. Als die Öffnung noch etwa zwanzig Zentimeter von seinem Kopf entfernt war, leuchtete im Innern des Trichters
ein grelles Licht auf, das Jansal dazu zwang, die Augen zu schließen. Das leise, verhaltene Summen nahm langsam an Intensität zu, wurde zu einem Rauschen, das ihn seltsamerweise entspannte und die Angst vor dem Kommenden versiegen ließ. Mit plötzlicher Klarheit würde Rokaulan bewußt, daß man ihn in Sicherheit wiegen wollte. Mit der ganzen geistigen Kraft, deren er fähig war, kämpfte er gegen den fremden Einfluß an. Aber er spürte schon bald, daß er nicht widerstehen konnte. Es war wie eine Narkose, nur langsamer. Die Gedanken schienen immer träger zu werden, die kreatürliche Furcht versiegte und machte einer seltsamen Entspannung Platz, einer euphorieähnlichen Empfindung, die jede geistige Abwehr unsinnig erscheinen ließ. Jansal gab sich völlig diesem Gefühl hin. Die Geräusche, die an seine Ohren drangen, wurden undeutlicher und verstummten dann ganz. Dunkelheit und Lautlosigkeit hüllten ihn ein, und auch sein Tastsinn wurde vollständig taub. Es gab nur noch ihn selbst, sonst nichts mehr. So spürte er auch nichts mehr davon, wie sich die haarfeine Sonde in seine Schädeldecke bohrte… * Aus zusammengekniffenen Augen starrte Toger Raman auf die zerrissene und geborstene Masse Metall und Kunststoff, die einmal ein Atmosphärengleiter gewesen war. Es erschien ihm wie ein Wunder, daß er die Notlandung, die eigentlich mehr ein Absturz war, relativ unbeschadet überstanden hatte. Zwar war sein Körper übersät mit blutigen Schrammen, Quetschungen und Abschürfungen, und auch sein Kopf dröhnte wie eine gerade angeschlagene Glocke, aber ernsthaft war er
nicht verletzt. Die Schmerzen waren zwar noch immer da, pochend und bohrend, aber die Medikamente aus der Bordapotheke halfen, sie erträglicher werden zu lassen. »Da ist nichts mehr zu machen«, murmelte er, während er das Wrack umrundete und aufmerksam nach Verwertbarem absuchte. Er wußte nicht genau, wie lange er bewußtlos gewesen war, aber es mußte sich um mehrere Stunden gehandelt haben. Die gelbe Sonne des Sigma-Systems stand hoch am Himmel. Ihr gleißendes Licht blendete, reichte aber nicht dazu aus, die Temperaturen wesentlich über zehn Grad steigen zu lassen. Die vereinzelten Felsbrocken, die in der grasbedeckten Ebene verstreut waren, reflektierten das Licht und erschienen dadurch heller, als sie in Wirklichkeit waren. Das sanfte Knirschen unter seinen Stiefeln war das einzige Geräusch, das an seine Ohren drang. Die Ruhe wirkte unnatürlich für jemanden, der das pulsierende Leben auf anderen Welten kannte. Aber Toger verschwendete keinen Gedanken daran. Ein stumpfes, hellblaues Metallstück hatte seine Aufmerksamkeit erregt, und er bückte sich, um es aufzuheben. Es mußte während der Rutschpartie des Gleiters herausgeschleudert worden sein. Nur noch sehr undeutlich waren Teile von gedruckten Schaltungen oder deren Reste erkennbar. Toger runzelte die Stirn. Er kannte die Konstruktion von Atmosphärengleitern ziemlich gut, aber er konnte sich nicht an einen Mechanismus dieser Art entsinnen. Er drehte das Metallstück in den Händen hin und her – bis es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Dieses vermeintliche Trümmerstück war ihm gleich seltsam und vertraut erschienen, aber jetzt wußte er, um was es sich handelte: um das Bruchstück eines Phasenzünders! Und Phasenzünder wurden vorwiegend in Thermit-Bomben verwandt, die innerhalb
einer bestimmten Zeit eine unerhörte Wärmestrahlung abgaben! Toger nickte. Sein Absturz war also kein Unfall gewesen, sondern Sabotage. Jemand hatte es darauf abgesehen, ihn von der Bildfläche verschwinden zu lassen – und dieser Jemand mußte sich entweder unter den Besatzungs- oder den Delegationsmitgliedern befinden. Daß die Fanatiker die Systeme eines Gleiters manipuliert hatten und daß er auch noch ausgerechnet diesen Gleiter für seine Suche benutzt hatte, war so unwahrscheinlich, daß er diese Möglichkeit sofort ausschloß. Befand sich jemand im Lager, der den Psychologen hatte verschwinden lassen, um ihn dazu zu motivieren, mit einem entsprechend präparierten Fahrzeug zu starten? Und warum hatte Rhiat nichts von der Bombe bemerkt? Er hatte doch, wie er selbst angab, den Gleiter einer Kontrolle unterzogen. Toger schüttelte den Kopf. Warum gab sich überhaupt jemand solche Mühe, ihm das Lebenslicht auszublasen? Wem stand er im Wege? Daß das Bombenattentat fehlgeschlagen war, war offensichtlich. Aber er hatte nicht nur Glück gehabt. Seinem Gönner mußte ein Fehler unterlaufen sein. Und das war ein Pluspunkt für ihn, den er nicht unterschätzte. Der Unbekannte rechnete jetzt damit, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilte, und er würde seine weiteren Aktivitäten auf genau diesem Punkt aufbauen, wenn sich Toger davon auch noch keine konkreten Vorstellungen machen konnte. Aber instinktiv spürte er deutlich, daß auch sein Unfall mit dem Vorhaben der Fanatiker, die Friedensmission zu vereiteln, in Zusammenhang stand. Sekundenlang spürte er wieder diese ohnmächtige Wut darüber, anscheinend nur eine Figur in einem Spiel zu sein, die man beliebig von einem Feld ins andere setzte. Wenn es ihm nur gelang, aus dieser ständigen Defensive auszubrechen…
Eins war klar: Er mußte ins Lager zurück, und zwar so schnell wie möglich. Der Anschlag auf sein Leben konnte eigentlich nur bedeuten, daß man nun zum endgültigen Schlag gegen die Delegation ausholte – und er dabei störte. Hoffentlich war wenigstens Rhiatten-Dhoolen noch einsatzfähig. Daß Toger sich seit mehreren Stunden nicht gemeldet hatte, mußte dem Lyrrh sicherlich zu denken geben. Toger Raman wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß er sich in einem wesentlichen Punkt gründlich irrte… Er wischte alle bohrenden Gedanken beiseite und konzentrierte sich statt dessen darauf, wie er ins Dorf zurückkehren konnte. Den Gleiter zu reparieren und wieder flugfähig zu machen, war unmöglich. Das, was von ihm übriggeblieben war, besaß bestenfalls noch Schrottwert. Wohl oder übel mußte er sich also mit dem Gedanken anfreunden, die Strecke zu Fuß zurückzulegen. Dabei tauchten neue Probleme auf. Er wußte nicht exakt, wo er sich befand und wie weit das Lager entfernt war. Zum Glück hatte er die Richtung im Gedächtnis, aus der er gekommen war. Die breite Furche, die der Gleiter bei seiner ›Landung‹ in den Boden gerissen hatte, wich davon etwas ab, wovon sich Toger aber nicht irritieren ließ, da er kurz vor dem Absturz mehrmals den Kurs geändert hatte, wenn auch nicht gravierend. »Wasser habe ich noch etwas«, sagte er zu sich selbst. Er legte den Kopf in den Nacken. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt noch nicht ganz erreicht. Es war also kurz vor Mittag, noch etwas mehr als sechs Stunden Tageslicht standen ihm zur Verfügung. Toger zögerte nicht länger. Jede Sekunde, die er ungenutzt verstreichen ließ, verminderte seine Aussichten, das Dorf tatsächlich zu erreichen. Denn wenn erst die Nacht angebrochen
war, hatte er kaum noch eine Chance. Gegen die eisigen Temperaturen besaß er keinen Schutz. Eine Tablette YZ-31 verscheuchte die plötzlich wieder aufkeimende Müdigkeit. Dann warf er dem Schrotthaufen, der einmal ein teurer Gleiter gewesen war, noch einen letzten Blick zu und machte sich mit den zwei kurzen Wasserschläuchen in der Tasche auf den Weg. Daß er keine Waffe bei sich hatte, beunruhigte ihn nicht sonderlich. Dieser Planet hatte eine Tierwelt hervorgebracht, deren Population nicht sehr ausgeprägt war. Von ›daher‹ war keine Gefahr zu befürchten. Von Anfang an legte er ein zügiges Tempo vor, doch der Weg war beschwerlicher, als er gedacht hatte. Seine Ausbildung zum Überlebensspezialisten kam ihm jetzt zugute. Er schraubte die Empfindlichkeit seiner Sinne bis auf ein notwendiges Mindestmaß herunter und holte alles aus sich heraus. Wie ein Automat, mit starr geradeaus blickenden Augen, setzte er ein Bein vor das andere, legte er Meter um Meter zurück. Mehrmals wurde er gezwungen, Hindernisse zu umgehen, was wertvolle Zeit kostete. Als die Sonne dem Horizont bereits bedrohlich nahe gekommen war, schätzte er, daß er von den angenommenen vierzig Kilometern mehr als dreißig zurückgelegt hatte. Das war viel – und doch zu wenig! Es wurde schon jetzt merklich kühler, aber etwa zehn Kilometer lagen noch vor ihm. Toger entschloß sich dazu, ein starkes Aufputschmittel zu nehmen. Wenn die Wirkung abflaute, würde er zwar wie tot umfallen, aber es aktivierte letzte körperliche Reserven für zehn bis fünfzehn Stunden. Mit der Einnahme schien neue Kraft und Energie in ihn zu strömen, und er verfiel in einen leichten Dauerlauf, der ihn seinem Ziel näher brachte. Die Kälte stach immer unangenehmer in seine Glieder. Leichter Wind kam auf und verstärkte diesen Eindruck noch.
Nach einer weiteren halben Stunde war die Sonne völlig hinter dem Horizont verschwunden, und es wurde beängstigend schnell dunkel. Toger glaubte, dem Lager jetzt unmittelbar nahe zu sein. Den Schmerz, der von seinen wunden Füßen und den anderen Verletzungen ausging, spürte er nur als dumpfes Pochen. Auch dafür war das Aufputschmittel verantwortlich. Eine Viertelstunde später glaubte er, daß er die Richtung verfehlt hatte. Nach seinen Berechnungen hätte er das Dorf mittlerweile erreichen ›müssen‹. Die Kälte wurde immer schneidender, und in Toger keimte langsam Angst hoch, obwohl er sich nach Kräften dagegen wehrte. Vor unterdrückter Wut ballte er die Hände zu Fäusten, als plötzlich hinter einem seitlich von ihm liegenden flachen Hügel ein sanfter Lichtschimmer entstand. Sollte das wirklich… Er hastete die Erhebung hoch Und hielt oben keuchend inne. Vor ihm, nur einige hundert Meter entfernt, lag das Lager, von dem Schein mehrere Lampen in helles Licht getaucht. Ein paar Sekunden lang war seine Freude allesbeherrschend, dann preßte er die Lippen zusammen, so daß sie nur noch einen blutleeren Strich bildeten. »Und jetzt wollen wir doch mal sehen«, zischte er leise, »wem ich so unsympathisch bin!« Ruhig schritt er auf die Zelte zu. Er wunderte sich ein wenig darüber, daß die gewaltigen Maschinen, die schon zwei Triebwerke der ›Terranian Star‹ ausgebaut hatten nicht besetzt und inaktiv waren. Die dritte Schicht hätte doch schon längst mit ihrer Arbeit beginnen sollen. Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Auch im Lager selbst war nicht die geringste Bewegung zu beobachten. Alles war gespenstisch ruhig. »Hallo!« Sein Ruf verhallte, aber die erwartete Reaktion blieb
aus. Nirgend wo regte sich etwas, keine Antwort erscholl. Toger lief es kalt den Rücken hinunter. Was war hier geschehen? Er rannte los, blieb vor dem ersten besten Zelt stehen und trat ein. Das Bett war zerwühlt, erweckte den Eindruck, als hätte noch vor wenigen Augenblicken jemand darin gelegen. Doch die Decken waren kalt, wie er feststellte. Panikerfüllt untersuchte er die anderen Zelte. Nirgends zeigte sich auch nur die Spur eines Menschen. Das Lager war verlassen, aber wo waren die knapp fünfzig Personen geblieben? Er konnte auch keine Zeichen entdecken, die auf einen Kampf hingedeutet hätten. Die Besatzungs- und Delegationsmitglieder schienen das Dorf freiwillig verlassen zu haben, die Frage war nur, wohin. Toger ahnte mehr, als er wußte, daß das Verschwinden der Diplomaten und des Bordpersonals genau zu diesem Zeitpunkt kein Zufall war. Jemand hatte ihn aus dem Weg haben wollen, um dann, ohne nennenswerten Widerstand zu erwarten, das Lager räumen zu können. Und wenn, wie er vermutete, die Fanatiker dahintersteckten, dann mußte sich auf diesem Planeten eine Ausgangsbasis befinden, in der vielleicht auch die Aggregate zur Erzeugung der Raumblase untergebracht waren. Diese Basis mußte, wenn sie über vierzig Menschen aufzunehmen vermochte, ausgedehnt sein, so daß man, machte man sich gezielt auf die Suche, sie relativ leicht finden konnte. Und Toger vergaß auch nicht den enormen Vorteil, über den er jetzt verfügte. Es sah alles danach aus, als sollte es ihm gelingen, aus seiner defensiven Position auszubrechen. Niemand rechnete mehr mit ihm und seinem Eingreifen, wozu ihm theoretisch das gesamte technische Arsenal der ›Terranian Star‹ zur Verfügung stand. Er glaubte fast, daß das Mißlingen des Attentats auf ihn für
seine Gegner zu einem Kardinalfehler geworden war! Längst hatte der Sicherheitsbeauftragte die Empfindlichkeit seiner Sinne wieder heraufgesetzt. Das leise Knirschen, das von draußen an seine Ohren drang, nahm er daher in aller Deutlichkeit wahr. Für einen Augenblick erstarrte er. War seine Theorie falsch, befand sich doch noch jemand im Lager? In der nächsten Sekunde schüttelte er unmerklich den Kopf. Nein, es konnte niemand aus seiner Gruppe sein, sonst hätte man schon auf seinen Ruf geantwortet. Also blieb nur noch eine Möglichkeit übrig. Draußen befand sich jemand, der auf der anderen Seite stand. Ein Fanatiker! Seine Augen huschten flink umher, und als sein Blick auf die klobige, kurzläufige Waffe fiel, die auf einem niedrigen Tisch lag, nickte er befriedigt. Es war ein Impuls-Laser, ein überaus gefährliches Modell. Als er auf die Ladeanzeige blickte, stellte er fest, daß die Energiekammer zu drei Viertel geladen war. Das war mehr als genug. Raman duckte sich und bewegte sich katzengleich auf den Ausgang des Zeltes zu. Er mußte damit rechnen, daß sein Gegner exakte Kenntnis von seinem derzeitigen Aufenthaltsort hatte. Sehr wahrscheinlich wurde er draußen schon erwartet. Hoffentlich ist es nur einer! dachte Toger, dann packte er seine Waffe fester und spannte seine Muskeln. Wie ein huschender Schatten schoß er durch den schmalen Ausgang, prallte auf den Boden und warf sich im gleichen Augenblick zur Seite. Samtene Finsternis umhüllte ihn lückenlos, und seine Augen benötigten einige lange Sekunden, bis sie dazu in der Lage waren, einzelne Konturen voneinander zu unterscheiden. Toger wartete diese Anpassung jedoch nicht ab. Er sprang auf die Beine und stürmte auf ein anderes Zelt zu, dessen Umrisse er undeutlich erkannte.
War er im Lager von seinem Gegner erwartet worden? Die Lampen waren jetzt alle ausgeschaltet, was bewies, daß sein Gegenspieler nicht konfus, sondern überlegt agierte. Der zuckende Energiestrahl, der plötzlich exakt die Stelle traf, an der er sich noch eben befunden hatte, bewies ihm, daß er hier draußen vor dem Zelt erwartet worden war. Aus den Augenwinkeln hatte er den Standort seines Gegners ausmachen können. Er mußte sich etwa fünfzehn Meter rechts von ihm befinden, im Schutze eines größeren Zeltes. Ein weiterer, rotglühender Funke raste zu ihm herüber und vergaste nur wenige Meter neben ihm das Gestein. Toger reagierte mit einer kaum sichtbaren, reflexgesteuerten Bewegung. Sein rechter Arm mit der Waffe ruckte hoch, justierte sich fast von allein auf das Ziel und spie einen Feuerstrahl. Einen Sekundenbruchteil später wirbelte er zur Seite und wechselte seinen Standort. Ein erschreckter Aufschrei zeugte von der Überraschung, die sein Gegner empfand. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, auf so harten Widerstand zu stoßen. Aber dann herrschte wieder Stille. Toger riß seine Augen weit auf, um sich nichts entgehen zu lassen. Der Schrei, den sein Gegner ausgestoßen hatte, war von derselben Position gekommen wie auch die Energieblitze. Und er hatte irgendwie merkwürdig geklungen, fremdartig und unbekannt. Toger wechselte erneut die Stellung, konnte dabei aber nicht verhindern, daß ein Stein klackend gegen einen anderen schlug. Er erhielt auch sofort die Quittung dafür. Sein Gegner mußte seine Waffe auf Dauerfeuer umjustiert haben, denn ein fahler, rotleuchtender Strahl schlug dicht neben ihm ein und ließ den Boden explosionsartig nach oben spritzen. Die Emissionen tauchten ihn in ein rätselhaftes Licht. Raman warf sich zu Boden und entging damit wiederum nur knapp dem herumschwenkenden Strahl. Er mußte für seinen
Gegner jetzt ein vortreffliches Ziel abgeben, das kaum noch zu verfehlen war. Aber umgekehrt verhielt es sich ebenso. Toger konnte genau den Ausgangspunkt der tödlichen Energiebahn erkennen – und damit auch den Standort seines Gegners. Seine Reflexe, geschult während seiner Ausbildung zum Überlebensspezialisten, agierten wie ein eigenständiges Wesen. Sein Impulslaser richtete sich auf das Ziel und sein Finger preßte den Auslöser nieder. In rascher Folge lösten sich etwa zehn blitzende Funken von dem Lauf und rasten dem Fanatiker entgegen. Brüllendes Geschrei drang an seine Trommelfelle und bewies, daß er getroffen hatte. Noch ein paar Sekunden harrte er gespannt aus, dann erhob er sich und schritt vorsichtig auf die am Boden liegende Gestalt zu. Als er nur noch wenige Meter davon entfernt war, hielt er abrupt inne. Seine Augen weiteten sich, als er sah, was sich vor ihm abspielte. Seine Überraschung kannte keine Grenzen. Es war kein Fanatiker, der ihm aus trübe und milchig werdenden Augen entgegenstarrte, zumindest kein menschlicher. Sein Körper wirkte gedrungen und muskulös und war von dichtem, blauen Fell bedeckt. In die Brust hatte sein Feuer eine klaffende, stark blutende Wunde gerissen, und doch gab das Wesen keinen Laut von sich, obwohl es bei Bewußtsein zu sein schien. Toger wollte noch einen Schritt näher treten, als ihn der zweite Schock traf. Die ganze Gestalt schien plötzlich zu verschwimmen, in wellenartige und pulsierende Bewegung zu geraten. Er glaubte, seinen Augen nicht mehr trauen zu können, als sich, wie ein Zeitraffer, die Extremitäten des Wesens zurückbildeten, der Kopf seine Form veränderte, die Länge des Körpers wuchs. Toger dachte an eine Illusion, doch das Bild, das sich ihm bot, wirkte überaus real. Längst hatte er seine Waffe gesenkt,
denn von dem tödlich verletzten Wesen drohte ihm mit Sicherheit keine Gefahr mehr. Noch immer war der Körper in heftiger Bewegung, die Umwandlung war noch nicht abgeschlossen. Gestaltwandler! schoß es ihm durch den Kopf. Wahrscheinlich hatte diese Intelligenz nur einen anderen Körper angenommen, und angesichts des nahen Todes bezog sie – unbewußt vielleicht – die ursprüngliche Körperform. Und als die Umwandlung abgeschlossen war, traf ihn der dritte Schock, noch nachhaltiger und tiefgehender, als die beiden vorherigen. Das tote Wesen, das dort vor ihm am Boden lag und aus dessen klaffender Wunde noch immer Blut sickerte, war nur zwei Meter groß geworden. Die Gliedmaßen verfügten unverkennbar über Doppelgelenke. Die Arme endeten in acht tentakelartigen Fingern, und der Schädel hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit dem eines Frosches. Mit anderen Worten – das Wesen war zweifellos ein Lyrrh. * Norman Windsor, Commander der ›Terranian Star‹, fluchte unbeherrscht, und er hatte auch allen Grund dazu. Seine Blicke schweiften über die mehr als vierzig Köpfe, die miteinander tuschelten und dann und wann besorgt zu den vier Blaupelzen hinübersahen, die sie mit ihren unbekannten Waffen in Schach hielten. Es war alles viel zu schnell gegangen. Toger Raman war gerade unterwegs, als sie aufgetaucht waren, diese eingeborenen Intelligenzen, wie aus dem Boden gewachsen. Bevor jemand an Widerstand auch nur hatte denken können, waren die wenigen Waffen von ihnen eingesammelt und der Weg zum
Raumschiff und seinen Anlagen abgeschnitten worden. Der Raumkapitän fragte sich zum wiederholten Mal, ob es Zufall gewesen war, daß diese Blaupelze genau zu dem Zeitpunkt aufgetaucht waren, als der centaurische Sicherheitsbeauftragte nicht anwesend war. Und wieder fand er keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Eins war jedenfalls ganz sicher: Diese zwergenhaften Wesen waren hochintelligent und verfügten über eine komplizierte Technik, die der der Terraner in nichts nachzustehen schien. Sie hatten Gegenpole von Transmitverbindungen aufgebaut und sie dann gezwungen, in die leuchtenden und flimmernden Energiefelder zu schreiten. Und hier waren sie rematerialisiert, in einer gigantischen Halle, in der ebenso riesige Maschineneinheiten monoton und unablässig summten. Der Zweck, dem diese Aggregate dienten, war nicht zu ergründen, selbst nicht von den zwei Allround-Technikern, die dem Bordpersonal angehörten. Und was man mit ihnen vorhatte, war ebenso unklar. Windsor hatte jedoch ein ungutes Gefühl, ein Ziehen in der Magengegend, das sich immer dann einstellte, wenn Gefahr drohte. »Was geschieht hier mit uns?« unterbrach eine gepreßte Stimme seine Gedanken. Er sah kurz zur Seite und blickte in das verbissene Gesicht Robert Moore-Gathews. Unterbewußt stellte er fest, daß die schon fast sprichwörtliche Arroganz aus seinen Zügen verschwunden war. Sie hatte der Angst Platz gemacht, deren sich niemand von ihnen in dieser Situation zu schämen brauchte. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er gedehnt und schüttelte den Kopf. »Es sind zu viele Zufälle im Spiel, verstehen Sie? Erst die beiden vermeintlichen Anschläge auf das Schiff, die uns daran hindern sollten, den Kurs zu ändern. Dann die Raumblase, die uns zur Notlandung auf Sigma Sechs zwang, einer Welt, die über keine besonders erwähnenswerte Lebensform verfügt –
verfügen ›sollte‹, nach dem Bericht der Explorer-Gruppe. Und ausgerechnet eine Intelligenzform, die es hier demnach gar nicht geben dürfte, hat uns jetzt überfallen!« »Haben Sie eine Vermutung?« »Nein, gar keine. Aber die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen solcher Zufälle ist, wie Sie zugeben werden, extrem gering. Ich bin sicher, daß auch der Überfall der Zwerge mit der Friedensmission in Zusammenhang steht, aber inwiefern?« Gathew wirkte sehr nachdenklich. »Sie glauben, daß die Blaupelze keine eingeborene Intelligenz darstellen?« Windsor verzog verzweifelt das Gesicht. »Explorer-Gruppen leisten im allgemeinen präzise Arbeit. Wenn sie behaupten, auf Sigma Sechs gäbe es kein nennenswertes Leben, dann stimmt dies auch. Andererseits läßt sich die Anwesenheit dieser Zwerge nicht leugnen. Mir ist auch keine raumfahrende Spezies dieser Art bekannt, und ich bin weit herumgekommen. Hier ist etwas faul, stinkend faul, ich weiß nur noch nicht, was!« Der Referent für auswärtige Angelegenheiten sah zu den vier völlig unbeweglich dastehenden Blaupelzen hinüber. In ihren fremdartigen Mienen zeigten sich nicht die geringste Regung. Sie machten den Eindruck von Automaten, die für eine bestimmte Aufgabe programmiert waren. »Unsere Mission ist jedenfalls jetzt endgültig gescheitert«, sagte er dumpf. »Wir können die ›Terranian Star‹ niemals in den noch verbleibenden drei Tagen reparieren. Wer weiß, vielleicht sehen wir sie sogar nie wieder. Und die Raumblase besteht sehr wahrscheinlich auch noch.« Er hielt einen Augenblick inne, um dann dumpf fortzufahren: »Und wissen Sie was das bedeutet? In den nächsten Monaten oder Jahren wird aus dem – noch relativ unbedeutenden
– Konflikt zwischen Menschen und Logur ein interstellarer Krieg unvorstellbaren Ausmaßes werden. Es wird ein Krieg, bei dem es nur Verlierer gibt – und die Menschheit wird um Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtausende in ihrer Entwicklung zurückgeworfen werden.« »Und niemand weiß, warum«, erwiderte Windsor ernst. Erneut ließ er seinen Blick über die Diplomaten und Besatzungsmitglieder schweifen. Diesmal fiel ihm etwas auf. Nirgendwo konnte er die hochgewachsene Gestalt Rhiatten-Dhoolens erkennen, der die Terraner an Körpergröße um mehr als zwanzig Zentimeter überragte. Wo war der zweite Sicherheitsbeauftragte geblieben? War es dem Lyrrh gelungen, sich rechtzeitig abzusetzen und so der Gefangennahme zu entgehen? Der aufkeimende Hoffnungsfunke, der plötzlich in seinem Innern entstand, ließ ihn die Verzweiflung vergessen. Noch war nicht alles verloren, auch wenn die Lage vollkommen verfahren zu sein schien. Sie lebten noch, und solange dieser erfreuliche Zustand andauerte, hatten sie noch eine Chance. Toger Raman und Rhiatten-Dhoolen befanden sich mit größter Wahrscheinlichkeit in Freiheit. Und ihre Ausbildung prädestinierte sie direkt dazu, eine Befreiungsaktion einzuleiten! Aber woher sollten die SBs wissen, wo sich ihre Schutzbefohlenen befanden? Bevor Windsor eine Antwort auf diese Frage finden konnte, traten aus drei plötzlich entstandenen Transmit-Feldern ein Dutzend der Blaupelze heraus, ebenfalls klobige Waffen in den Greifhänden, die sich drohend auf sie richteten. Sofort erstarb das nervöse Gemurmel seiner Mitgefangenen, und mehr als vierzig Augenpaare blickten den Zwergen gespannt entgegen. Sekundenlang war es vollkommen still. Nur die überdimensionalen Aggregate summten weiter, schufen eine monotone Geräuschkulisse. Dann ertönte ein scharf
akzentuiertes Zirpen, und der Lautsprecher eines Translators knackte. »Teilt euch in drei gleichgroße Gruppen auf!« Die Stimme war übermäßig laut und drang jedem mit aller Eindringlichkeit ins Bewußtsein. Dennoch reagierte niemand von ihnen, bis jemand rief: »Was habt ihr mit uns vor?« »Ihr habt keine Fragen zu stellen, nur zu gehorchen. Jedes Nichtbefolgen unserer Anordnungen wird strengstens bestraft!« Drei Blaupelze hoben ihre Waffen. Kein Blitz entfuhr den Läufen, aber schrille Schreie bewiesen, daß sie die Auslöser betätigt hatten. Ohnmächtige Wut entstand in Windsor, und er ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Das zur Warnung!« sagte ein Blaupelz kalt. »Folgt unseren Befehlen!« Der Commander konnte erkennen, daß denjenigen, die von den Impulsen aus den Waffen getroffen waren, nichts weiter passiert war. Ihre Gesichter waren zwar vor Schmerz zu Grimassen verzerrt, aber verletzt schienen sie nicht zu sein. Und das gab Anlaß zu einer weiteren Vermutung. Offenbar legten die Zwerge Wert auf körperliche Unversehrtheit ihrer Gefangenen. Also waren sie für die Blaupelze von gewissem Wert, anders war das nicht zu erklären. Die Kaltblütigkeit, mit der die fremden Intelligenzen ihren Befehlen Nachdruck verliehen, verhinderte für den Augenblick jeden Widerstand. Von den drei Transmit-Feldern hatten sich etwa gleichgroße Schlangen gebildet. Ein Blaupelz forderte sie dazu auf, nacheinander in das Flimmern einzutreten. Zögernd und widerwillig folgten die ersten Gefangenen dieser Anordnung. Die Technik der Ent- und Rematerialisierung war ihnen zwar nicht un-
bekannt, aber die unterdrückte Angst vor dem Kommenden verstärkte die Unsicherheit der Männer und Frauen, sich der Technik der Fremden anzuvertrauen. Die drohenden Waffen, die auf sie zeigten, waren jedoch ein handfestes Argument dafür, den Schritt zu wagen. Die Schlangen wurden immer kürzer, und schließlich war auch Norman Windsor an der Reihe. Auch er zögerte unmerklich, als er direkt in die knisternde Energie blickte. Doch dann schloß er die Augen und unternahm den letzten Schritt. Deutlich spürte er den typischen kurzen Schwindel und die leichte Übelkeit, dann war schon alles vorbei, und er trat, an einem anderen Ort, aus dem Feld heraus. Seine Gruppe bestand aus sechzehn Personen, die sich neugierig in dem skurrilen Raum umsahen. Die Grundfläche bildete ein Fünfeck, die Wände waren in einem geringen Winkel nach außen geneigt, wodurch die etwa drei Meter über ihnen befindliche Decke eine etwas größere Fläche besaß. Der Raum war längst nicht so groß wie der Saal, den sie gerade verlassen hatten, aber auch in ihm kamen sich die Menschen verlassen vor. Vier Liegen waren in den Boden eingelassen und schienen direkt für menschliche Körper konzipiert zu sein. Und das gab dem Raumkapitän zu denken. Es war kaum vorstellbar, daß die Blaupelze Liegen, die menschlichen Bedürfnissen gerecht wurden, in irgendeinem Depot ständig zur Verfügung hatten. Ihr gedrungener Körper erforderte völlig andere Konstruktionen. Es blieb also nur noch eine Möglichkeit übrig. Die Fremden hatten sie ›erwartet‹! Das wiederum bedeutete nichts anderes, als daß sie gewußt haben mußten, daß die ›Terranian Star‹ auf dem sechsten Planeten landen würde. Die Voraussetzung für dieses Wissen war aber die Kenntnis von der Raumblase, die jeden Überlichtflug – und auch den Parafunk – im Sigma-System unmög-
lich machte. Norman Windsor hatte plötzlich das Gefühl, der Lösung und Erklärung all der rätselhaften Vorgänge ein gutes Stück näher gekommen zu sein. Die Antwort auf eine Frage konnte den Zusammenhang zwischen den einzelnen Fakten herstellen: Wer waren die Blaupelze, und welche Rolle spielten sie im Kampf um den Frieden zwischen zwei Zivilisationen? »Vier Individuen haben auf den Liegen Platz zu nehmen!« befahl einer der Zwerge, die sich in diesem Raum befanden. Auch sie trugen Waffen, an Widerstand war also immer noch nicht zu denken. Als sich niemand von ihnen rührte, sie nur fragende Blicke untereinander austauschten, deutete der Blaupelz auf vier ihn nahe stehende Männer. »Ihr!« Windsor konnte deutlich erkennen, wie die Gesichtsfarben der Genannten um eine Nuance blasser wurden. Sie drehten sich um, und der Commander sah in flackernde, ängstliche Augen. Doch er konnte nur mit den Achseln zucken und die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpressen. Als einer der Zwerge seine Waffe hob, setzten sich die Männer in Bewegung, zögerten kurz vor den auf Sockel ruhenden Liegen und legten sich dann auf die nachgebenden Polster. Im nächsten Augenblick hüllte ein sanftes Flimmern ihre Gestalten ein. Fesselfelder! fuhr es Windsor durch den Kopf. Zwei Zwerge näherten sich ihnen mit schußbereiten Waffen, drängten die zehn Männer und zwei Frauen ein Dutzend Meter zurück und blieben dann wachsam vor ihnen stehen. Der andere Blaupelz trat an die Kontroll- und Geräteeinheiten, die um die Liegen gruppiert waren und betätigte eine Reihe von Schaltungen. Es knisterte erst, dann ertönte ein feines, helles Singen. Vier große Aggregate schoben sich an die in Fes-
selfeldern gefangenen Terraner heran und hielten dicht vor ihnen inne. Aus den den Menschen zugewandten Seiten fuhren langsam und lautlos mehrere rechteckige Flächen, die, als sie sich exakt über den Liegenden befanden, verharrten. Als die Tentakel, an deren Enden sich Sondierungsmechanismen befanden, durch das von außen durchlässige Fesselfeld drangen und sich an den Köpfen der Terraner festsetzten, kam Windsor ein furchtbarer Verdacht. Der Mann, der neben ihm stand, blickte ihn aus geweiteten Augen an. Er hatte das Aufstöhnen vernommen, das seinen Lippen entronnen war. »Was ist mit Ihnen, Commander? Wissen Sie, was…« Er sprach nicht weiter, als Windsor langsam nickte und dabei merklich blasser wurde. »Ja«, sagte er heiser und deutete auf die Metallschirme, die sich jetzt herabsenkten. »Das dort sind nichts anderes als Geräteeinheiten zur geistigen Konditionierung von Menschen!« * Toger Raman stand unter Zeitdruck. In zweifacher Hinsicht. Die Wirkung des Aufputschmittels hielt noch etwa zehn Stunden an. Wenn er innerhalb dieses Zeitraums die Verschwundenen nicht finden und befreien konnte, war dieses Vorhaben ohnehin gescheitert. Sechshundert Minuten noch – danach würde er zusammenbrechen und für drei oder gar vier Tage wie tot sein. Damit war er auch gleich bei Problem Nummer zwei. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, daß es möglich war, die Triebwerke der ›Terranian Star‹ in den wenigen übrigbleibenden Tagen zu reparieren. Sie würden also, selbst wenn die Raumblase nicht mehr bestand – was er nicht glaubte – niemals den Termin des
Verhandlungsbeginns einhalten können. Das war völlig unmöglich geworden! Aber es gab noch einen anderen Weg, der Friedensmission erneut eine Chance zu verschaffen: Der Parafunk. Wenn es gelang, innerhalb von drei Tagen die Raumblase zu desaktivieren, dann konnte ein überlichtschneller Funkimpuls auf die Reise geschickt werden, in dem man die logursche Verhandlungsdelegation über das Vorgefallene informierte und um Verständnis für die nicht mehr zu vermeidende Verspätung bat. Drei Tage – das war die äußerste Grenze. Wenn diese Frist überschritten wurde, gab es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen interstellaren Krieg! Toger war zu einem wandelnden, absolut tödlichen Waffenarsenal geworden. Eine Reihe von winzigen Geräten, manche schon fast mikroskopisch klein, verliehen ihm die Kampfkraft einer ganzen Armee. Mehrere atomare Sprengsätze gehörten ebenso zu seiner Ausrüstung wie hochwirksame Nervengaskapseln, die jeden organischen Gegner in Sekundenbruchteilen außer Gefecht setzen mußten. Von den zehn Stunden, die ihm verblieben, waren schon allein sechzig Minuten verstrichen, um sich selbst einen bestmöglichen Schutz zu geben. Er hatte sich eigenhändig eine kleine Energiezelle unter die Haut gepflanzt, zusammen mit einem Modulator, der seinen ganzen Körper in ein unsichtbares, aber leistungsstarkes Energiefeld hüllte, das, bis zu einer gewissen Grenze natürlich, abgefeuerte Strahlen ableitete oder absorbierte. Der Standort der Basis, in der sich die Aggregate zur Erzeugung befanden und in der die Gefangenen untergebracht sein mußten, war eigentlich leicht zu ermitteln gewesen. Aber man hatte eben erst wissen müssen, wonach man suchen sollte. Die Metall- und Massedetektoren des Schiffes zeigten eine ungewöhnliche – und damit verdächtige – Konzentration etwa zwanzig Kilometer entfernt an. Und der Energietaster hatte so-
gar einige kurze Impulse aus exakt demselben Areal aufgefangen. Wenn Toger ehrlich war, dann mußte er zugeben, daß er sich wohler denn je fühlte. Das Hindernis, das die Tätigkeit seines Gehirns so nachhaltig beeinflußt hatte, schien verschwunden zu sein. Er erkannte erste Zusammenhänge und war dadurch in der Lage, sein Handeln bestimmen zu können. Die ersten beiden Attentate waren tatsächlich nur zu dem Zweck durchgeführt worden, um ihn abzulenken und von einer Kursänderung abzuhalten. Hier im Sigma-System, auf dem sechsten Planeten, warteten die Fanatiker in einer errichteten Basis auf den Rückfall der ›Terranian Star‹ in den Normalraum, hervorgerufen durch die von ihnen erzeugte Raumblase. Sie hatten sich ausrechnen können, daß sie nur auf dem sechsten Planten landen würden, alle anderen Welten boten wesentlich schlechtere Lebensbedingungen. Sie waren genau in die vorbereitete Falle gegangen! Hier aber, auf Sigma Sechs, lief die ernstgemeinte Aktion der Fanatiker an. Er sollte beiseite geschafft werden, weil er bei dem Vorhaben – aus einem noch rätselhaften Grund – störte. Nun, das war schiefgegangen und gab ihm endlich die langersehnte Chance offensiv vorzugehen. Zwei Dinge waren noch unklar. Was hatten die Fanatiker konkret mit den Gefangenen vor? Und welche Aufgabe kam den Gestaltswandlern zu? Toger stäubte sich gegen die Erkenntnis, daß Blaupelze mit den Lyrrhs identisch waren. Nicht nur, daß ein Lyrrh, nämlich Rhiatten-Dhoolen, ein guter Freund von ihm war, diese Rasse hatte sich gerade in letzter Vergangenheit, als zuverlässiger Verbündeter Terras erwiesen. Die Lyrrhs benutzen einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer industriellen Kapazitäten dazu, die Menschheit mit hochwertigen Rüstungsgütern zu versorgen. Gigantische, im Weltall an
bestimmten Positionen befindliche Wartungsstationen wurden von Terra und seinen Kolonien als Ausgangsbasen benutzt. Ohne Unterstützung durch die Lyrrhs war ein eventueller Krieg gegen die Logur gleich von Anfang an vollkommen aussichtslos. Die Industrie Terras war viel zu schwerfällig, um sich in dem dann nötigen Maß umzuorientieren. Außerdem: Wenn ein Teil der Kapazitäten auf Rüstungsproduktion umgestellt wurde, mußte es zwangsläufig zu einem Engpaß in einem anderen Bereich kommen. Und ein solcher Engpaß zog wiederum Konsequenzen nach sich… Die Folgen waren nicht auszudenken. Ein wirtschaftliches Chaos ohnegleichen wäre unausbleiblich gewesen. Die Unterstützung der Lyrrhs war – zumindest in diesem Bereich – fast lebenswichtig, speziell wenn es zu einem Krieg kommen sollte. Und ausgerechnet die Lyrrhs, als loyal bekannt, arbeiteten jetzt gegen Terra? Oder gab es auch unter ihnen Gruppen, die ihre eigenen Ziele verfolgten? Toger schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Anzeigen des Bodengleiters. Er mußte sich schon ganz in der Nähe der Basis befinden; Vorsicht war also geboten. Um die Navigation brauchte er sich nicht zu kümmern. Der Kurs war einprogrammiert, und der Autopilot war flexibel genug, um die jeweiligen Bodenformationen zu berücksichtigen. Raman hatte eine Höhe von nur einem Meter gewählt, in der er sich mit fast zweihundert Stundenkilometern fortbewegte. Er hoffte, daß er damit unter dem hypothetischen Ortungshorizont der gegnerischen Basis blieb. Auf dem Schirm des Massetasters leuchtete ein orangefarbener Punkt in kurzen Intervallen auf. Ein weiteres, blaues Signal, das sich ganz dicht neben dem ersten befand, kennzeichnete seine eigene Position in bezug auf den Ort ungewöhnlich hohen Metallvorkommens, bei dem es sich nur um die Basis
handeln konnte. Toger nickte kurz, brummte etwas Unverständliches und reduzierte die Geschwindigkeit des Gleiters. Eine wütende Entschlossenheit hatte sich seiner bemächtigt und ließ die Gefahr, in der er schwebte, nebensächlich erscheinen. Der Zeitpunkt der Entscheidung rückte näher, und der SB nahm das mit Befriedigung zur Kenntnis. Ein helles ›Ping‹ ertönte, und Raman, der auf dieses Signal schon gewartet hatte, hieb den Geschwindigkeitsregler in die Nullstellung zurück. Das sanfte Sirren aus dem Heckbereich erstarb, Antigrav-Felder bremsten die Restfahrt ab und ließen das tonnenschwere Fahrzeug mit einem Knirschen auf den sandigen Boden niedergehen. Toger strich sich über die kurzgeschnittenen Haare, kontrollierte ein letztes Mal die beiden Waffen in den Halftern des breiten Gürtels, einen Impuls-Laser und einen Projektil-Nadler, legte alle Systeme seines Gefährts still und stieg aus. Die Stille, die ihn umgab, schien die Bedeutung des Kommenden zu verhöhnen. Die sandige Einöde reichte bis zum Horizont, nur einzelne, teilweise verdorrte Sträucher sorgten für etwas Abwechslung. Nirgendwo zeigte sich auch nur das geringste Zeichen dafür, daß sich unter seinen Füßen eine ausgedehnte Anlage der Fanatiker befand. Sollte er sich getäuscht haben? Existierte hier vielleicht nur ein überreiches Erzlager, das seine Instrumente getäuscht hatte? Toger schüttelte langsam, aber nachdrücklich den Kopf. Die Ortungsimpulse ließen auf reines Metall schließen – und das existierte nicht zufällig. Das ›war‹ die Station, die fast perfekte Tarnung konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen. »Hier muß es doch irgendwo einen Eingang geben!« zischte er und blickte erneut auf die Anzeige seines kleinen elektronischen Detektors. Langsam bewegte er sich von dem Bodengleiter fort, konzentriert die Anzeige des Gerätes in seiner Hand
beobachtend. Aber der winzige Zeiger auf der matt leuchtenden Skala bewegte sich nicht. Die Anzeige blieb konstant, was darauf hindeutete, daß unter ihm ein oder mehrere Fusionsmeiler kontinuierlich arbeiteten. Nach einer Viertelstunde Suche kam er zu dem Schluß, daß so etwas wie eine Schleuse nicht existierte. Dann aber blieb nur noch eine Möglichkeit übrig – ein Transmit-Feld. Schließlich war es mehr als wahrscheinlich, daß die Fanatiker, die sich in der Basis aufhielten, ihre Station auch einmal verlassen wollten, zumindest dann, wenn sie ihr Vorhaben durchgeführt hatten. Und ein Transmit-Feld war die bequemste und auch sicherste Methode, die zudem noch verhinderte, daß Unbefugte eindrangen. Toger war ein Unbefugter, aber glücklicherweise verfügte er über die nötigen technischen Hilfsmittel. Er lief zum Gleiter zurück und holte einen Impulsgeber, der in der Lage war, innerhalb weniger Sekunden mehrere Millionen von Impuls-Kombinationen auszustrahlen, gewissermaßen durchzuprobieren. Toger wußte, daß die Aktivierungspole von Transmit-Feldern gewöhnlich mit einem fünfstelligen Code arbeiteten, und programmierte seinen Geber entsprechend. Dann preßte er die ›On‹-Taste nieder. Toger wartete gespannt und sah sich aufmerksam um. Als nach einer halben Minute noch immer nicht das charakteristische Flimmern entstanden war, vermutete er, daß die Transmit-Pole, über die die Fanatiker verfügten, nach einem anderen Code arbeiteten. Rasch programmierte er den Geber auf sechsstellige Signale um. Damit war die Anzahl der möglichen Kombinationen erheblich gewachsen. Die Kapazität und Arbeitsgeschwindigkeit der Elektronik war aber immer noch ausreichend. Es vergingen nur wenige Minuten, dann leuchtete auf dem Gerät ein grünes Licht auf, und einige Meter von ihm
entfernt schien die Luft plötzlich vor Hitze zu glühen. »Aha«, knurrte er, steckte den Geber weg und entsicherte seinen Impuls-Laser. Dann trat er auf das Transmit-Feld zu, zögerte einen Sekundenbruchteil und schritt in das Flimmern hinein. Ein kurzer Schwindel erfaßte ihn, und er schüttelte diese Empfindung ab. Den Raum, in dem er sich befand, hüllte ein allgegenwärtiges Summen ein. Mehrere Aggregat-Blöcke versperrten ihm den Blick auf die vor ihm liegende Fläche. Die merkwürdige Architektur fiel ihm sofort auf. »Ein Fünfeck«, murmelte er und runzelte die Stirn. Dieses Konstruktionsprinzip erschien ihm fremdartig und vertraut zugleich. Wo hatte er das schon einmal gesehen? Mit der einsatzbereiten Waffe in der Faust und funkelnden Augen trat er an einige der Metallblöcke heran und betrachtete die seltsamen Kontrollen auf den Stirnseiten – und plötzlich kehrte die Erinnerung mit eindringlicher Schärfe ins Bewußtsein zurück. Es war vor einigen Jahren gewesen, als er mit Rhiatten-Dhoolen einen der Bootes-Planeten besucht hatte. Er entsann sich jetzt auch wieder an den Namen der Welt – Chilmia, zweiter Satellit des Doppelgestirns Majoranti. Das Majoranti-System gehörte dem Einflußbereich der Lyrrhs an und war vor einigen hundert Jahren – terranischer Zeitrechnung – von ihnen besiedelt worden. Raman lief es kalt über den Rücken, als er in Gedanken die Schlußfolgerung zog. Die Architektur dieses Raumes – und damit wahrscheinlich der gesamten Basis – wies unverkennbare Ähnlichkeiten mit der auf Chilmia auf. Man konnte es auch anders ausdrücken: Diese Basis, in der sich mit ziemlicher Sicherheit die Aggregate befanden, die die Raumblase aufrechterhielten und die dazu dienen sollte, eine Annäherung von Terranern und Logur zu verhindern, war zweifellos von Lyr-
rhs erbaut worden! Er schloß die Augen und schluckte, aber der Kloß in seinem Hals blieb. Was veranlaßte Lyrrhs plötzlich, gegen die Menschheit – und auch gegen die Logur – zu arbeiten? Sie hatten sich in der Vergangenheit erfolgreich aus der Auseinandersetzung dieser beiden Machtblöcke heraushalten können. Warum änderten sie jetzt diese Politik? »Hallo, Toger«, sagte plötzlich eine dunkle Stimme hinter ihm. Der SB erstarrte für einen Sekundenbruchteil, dann wirbelte er herum, und sein Blick fiel auf das froschähnliche Gesicht Rhiatten-Dhoolens. Er wollte schon befreit aufatmen, als er den auf ihn gerichteten Impuls-Laser bemerkte, dessen Fokussierungsfeld gefährlich schimmerte. »Was…« »Du fragst dich, was das alles soll?« vervollständigte der Lyrrh. Die Waffe senkte sich nicht um einen einzigen Millimeter. »Wozu willst du das wissen? Du wirst ohnehin gleich tot sein!« * Togers Hirn schien wie gelähmt zu sein. Seine Gedanken flossen träge dahin, bar jeder Koordinierung. Gerade zu Rhiat hatte er immer ein besonders freundschaftliches Verhältnis gehabt, das sich in einer nicht geringen Anzahl von gefährlichen Einsätzen entwickelt und gefestigt hatte. Seine Waffe, deren Lauf auf den Boden zeigte, war wertlos für ihn geworden. Rhiat hätte es in jedem Fall geschafft, seinen Impuls-Laser eher abzufeuern. Aber Toger dachte auch gar nicht daran, auf den Lyrrh zu schießen, irgend etwas hinderte ihn daran. »Rhiat, ich…«
»Ich bin nicht Rhiat«, unterbrach ihn der Froschähnliche. »Dein Kollege vom Sicherheitsbüro ist bereits vor zwei Wochen ausgeschaltet worden. Er war uns zu unzuverlässig. Wie du siehst, habe ich seine Stelle eingenommen, erfolgreich, wie du zugeben mußt!« Toger Raman nahm befriedigt zur Kenntnis, daß sich sein Verstand langsam wieder klärte. Das lähmende Überraschungsmoment war verflogen, und damit hatte sein Gegner, vielleicht ohne es zu wissen, einen seiner Vorteile ihm gegenüber vergeben. Plötzlich lachte er auf. Während die Miene seines Gegenübers Überraschung und auch eine gehörige Portion Mißtrauen zeigte, dachte Toger amüsiert daran, daß er das unsichtbare Energiefeld, das seinen Körper schützte, vollkommen vergessen hatte. »Du hast die Bombe in dem Atmosphärengleiter installiert, nicht wahr?« fragte er. »Richtig«, erwiderte der Lyrrh. »Wie ich sehe, hast du den Absturz überlebt.« »Du hast einen Fehler gemacht.« »Zugegeben. Du hattest früher den Hangar erreicht, als ich glaubte. Aber wie du siehst, war das kein Kardinalfehler. Ich werde ihn nicht wiederholen. Gute Reise.« Mit den letzten Worten preßte er den Auslöser seines Lasers nieder. Ein gleißender Funke raste auf Toger zu, traf auf das unsichtbare energetische Hindernis und zerstob. Toger verließ sich nun vollkommen auf seine Reflexe. Das Feld, das ihn umgab, bot nur begrenzten Schutz. Wenn der Lyrrh seine Waffe auf höhere Stufe justierte, konnte die Barriere nicht lange standhalten. Er ließ sich nach rückwärts fallen, drehte sich noch während des Sturzes auf die Seite und fing damit den Aufprall ab. Ein haarfeiner Strahl jagte dicht über
ihn hinweg und schlug irgendwo hinter ihm in eine Geräteeinheit, aus der daraufhin helle Blitze zuckten. Mit einer fließenden Bewegung holte er eine Nervengaskapsel hervor und warf sie in die Richtung, in der er den Gegner vermutete. Ein Zischen ertönte, als die winzige Kapsel auf den Boden schlug und ihren Inhalt freigab. Toger wollte den Lyrrh nicht töten. Er brauchte unbedingt weitere Informationen, um alles zu verstehen. Die Filter in seiner Nase verhinderten, daß das Gas auf ihn wirkte. Zwar durfte er sich jetzt nicht mehr lange in diesem Raum aufhalten, da bekanntlich auch die Haut atmet, aber er hatte noch genügend Handlungsspielraum. Der Lyrrh erwies sich als ebenbürtiger Gegner. Er reagierte unglaublich schnell, veränderte die Gestalt und wurde zu einer einen Meter langen, ungeheuer wendigen Kröte von Arcturus Vier. Mit Entsetzen erinnerte sich Toger, daß diese Kröten bis zu einer Stunde ohne Atmung auskommen konnten. In dichter Reihenfolge schlugen mehrere grelle Energieimpulse in das ihm schutzbietende Aggregat. Die Flammen hüllten Toger sekundenlang ein, aber die Energieblase verhinderte, daß er ernsthaft verletzt wurde. Raman wechselte Deckung und Waffe. Der Projektil-Nadler, der in rascher Reihenfolge haarfeine Geschosse abfeuerte, die mit einem lähmenden Gift gefüllt war, war jetzt nützlicher. »Raman!« ertönte von links her die Stimme seines Gegners. »Du hast keine Chance gegen mich. Gib auf!« Für einen Augenblick staunte er darüber, daß eine arcturische Felskröte so exakt die terranische Sprache beherrschte, dann lachte er laut. »Um mich von dir erschießen zu lassen? Da mußt du dich schon etwas anstrengen!« Lautlos wechselte er erneut seinen Standort und wartete auf
eine Reaktion. Die Lyrrh-Kröte mußte über gute Augen und empfindliche Hörorgane verfügen, denn die Laserstrahlen brachten nur dicht vor ihm den Stahl zum Kochen. Togers Reflexe waren erneut schneller als seine kühle Überlegung. Er sprang aus der Deckung heraus, schlitterte bäuchlings einige Meter über den Boden und feuerte ununterbrochen aus seinem Nadler. Die Geschosse waren nicht sichtbar, aber er wußte, daß er traf. Der Lyrrh machte einen Satz in die Höhe, versuchte, seine Gestalt wieder zu verändern, aber es war zu spät dazu. Mitten im gespenstischen Umwandlungsprozeß wurde das Lähmgift voll wirksam, und alle Bewegungen erstarrten. Toger sprang auf die Beine und war mit einigen raschen Schritten bei dem jetzt formlosen, etwa anderthalb Meter durchmessenden Gewebeklumpen. Die Vorstellung, daß dies ein Lyrrh war, fiel ihm schwer. Plötzlich wurden seine Augen zu schmalen Schlitzen, und er betrachtete den Gestaltsumwandler genauer. Das Gift war zu einem Zeitpunkt wirksam geworden, als das Wesen eine neue Körperform hatte annehmen wollen. Und genau das war ihm zum Verhängnis geworden. Es war genau in dem amorphen Stadium gelähmt worden, das es normalerweise in Sekundenbruchteilen durchlief. In diesem Stadium aber konnte der Gestaltwandler seine Lebensfunktion offensichtlich nur sehr kurze Zeit aufrechterhalten. Toger würde von dem vermeintlichen Rhiatten-Dhoolen keine Informationen mehr erhalten. Der Lyrrh war tot. * Norman Windsor war leichenblaß. Zwölfmal hatte er jetzt schon in ohnmächtiger Wut zusehen müssen, wie denkende
und fühlende Menschen zu willenlosen Automaten wurden, die sich, oberflächlich betrachtet, zwar nicht verändert hatten, die in ihrem Innern jedoch nicht mehr dieselben waren. Er sah noch immer ihre vor grenzenloser Angst und Entsetzen verzerrten Gesichter, als sich die Psycho-Sonden in ihre Schädel gebohrt hatten. Acht aus seiner Gruppe hatten die Behandlung, die Konditionierung, schon hinter sich und waren sofort danach durch ein Transmit-Feld fortgeschafft worden. Wohin, wußte er nicht. Vier weitere, zwei Männer und zwei Frauen, lagen, von unüberwindlichen Fesselfeldern gefangen, auf den Liegen. Ihre Konditionierung war so gut wie abgeschlossen. Die Gesichter wiesen bereits entspannte Züge auf, die Furcht war spurlos daraus verschwunden. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann mußten die Felder erlöschen und sie freigeben. Dann würden auch sie fortgebracht werden – und dann waren die letzten vier Männer an der Reihe, einschließlich ihm selbst. Das Grauen, das sich in ihm auszubreiten begann, kannte keine Grenzen. Nach wie vor waren zwei Waffen auf sie gerichtet, die jeden Gedanken an Flucht erstickten. Es war hoffnungslos. Als die schillernden Fesselfelder übergangslos verschwanden, zuckte der Commander wie unter einem Schlag zusammen. Die vier Behandelten erhoben sich, blickten aus flackernden Augen umher, bis sie sich orientiert hatten. Sie sprachen kein Wort, das war das Gespenstische. Still und ruhig verließen sie ihre Liegen, nickten den Blaupelzen zu und traten, ohne zu zögern, in das entstehende Transportfeld, das danach wieder erlosch. »Ihr seid an der Reihe!« sagte der Zwerg kalt, der die Geräte bediente und deutete dabei auf die Liegen. Neben Windsor begann ein etwa dreißigjähriger Mann zu
schluchzen. Der Raumkapitän sah, wie er die Hände zu Fäusten ballte. Er wollte eine Warnung aussprechen, aber es war schon zu spät dazu. Mit einem heiseren, unartikulierten Schrei stürzte sich der Mann auf die Blaupelze, die ihm ausdruckslos entgegenstarrten. Ihre Reaktion kam präzise. Die Waffen ruckten wie auf ein geheimes Kommando herum, richteten sich auf den Amokläufer und spien unsichtbare, aber ungeheuer wirkungsvolle Impulse aus, die den Heranstürmenden wie einen gefällten Baum zu Boden stürzen ließen. Die Schmerzwellen aus den fremdartigen Waffen mußten ihm augenblicklich das Bewußtsein geraubt haben, kein Laut war über seine Lippen gekommen. Einer der Zwerge hob den regungslos Daliegenden an und deponierte ihn auf einer der Liegen. »Ihr seid an der Reihe!« wiederholte der Blaupelz mit scharfer Stimme. Stumpf setzten sich Norman und die beiden anderen Männer in Bewegung. Es gab keine Hoffnung mehr für sie, das hatten sie inzwischen eingesehen. Das Grauen, das der Raumkapitän noch kurz zuvor empfunden hatte, war einer weitgehenden Apathie gewichen, die ihn sein Schicksal plötzlich als bedeutungslos und unwichtig erscheinen ließ. Er war sogar dankbar dafür. Ohne jeden Widerstand legten sie sich auf die nachgebenden Polster der Liegen, sahen teilnahmslos zu, wie sich die Fesselfelder um sie hüllten und jede größere Bewegung verhinderten. Als sich der Metallschirm mit der haarfeinen Sonde herabsenkte, schloß Windsor die Augen und ergab sich dem Kommenden. Das war genau der Augenblick, als sich ein bis dahin nicht erkennbares Schott sirrend in die Wand schob und ein Mensch einem abgefeuerten Geschoß gleich, in den Raum stürmte. Der Commander konnte nicht viel erkennen, da er den Kopf nicht zu drehen vermochte, aber er glaubte doch, in dem Berserker
Toger Raman erkannt zu haben. Er erkannte auch nicht viel von dem Kampf, der um ihn herum stattfinden mußte, da sein Blickfeld arg begrenzt war. Aber als plötzlich das Fesselfeld verschwand, fuhr er in die Höhe wie eine Feder, die losgelassen worden war und stand eine Sekunde später neben der Liege. Er blickte direkt in das breite Grinsen Ramans. »Mir scheint«, sagte der SB, »ich bin exakt im richtigen Augenblick gekommen, nicht wahr?« »Nicht ganz«, gab der Commander dumpf zurück. »Zwölf von uns haben schon eine Konditionierung hinter sich. Und bei den anderen Gruppen wird es ähnlich sein!« »Konditionierung?« echote Raman und sah sich um. Erst jetzt fiel ihm die Ähnlichkeit einiger Aggregate mit derartigen Anlagen auf. Windsor starrte entsetzt auf die veränderten Gestalten der Blaupelze. Er konnte seine Rettung noch immer nicht begreifen, und die formlosen Fleischklumpen, die einmal hochintelligente Wesen dargestellt hatten, erschienen ihm irgendwie unwirklich. Die drei anderen Männer, die ebenfalls um Haaresbreite dem Schrecklichen entkommen waren, blickten aus nichtverstehenden Augen umher. »Was…« brachte der Raumkapitän mühsam hervor. Toger unterrichtete ihn in kurzen Worten über die Zusammenhänge. »Aus rätselhaften Gründen«, schloß er, »scheinen die Lyrrhs in Anbetracht von drohender Gefahr ihre Körperform verändern zu wollen. Und das Lähmgift unterbricht den Umwandlungsprozeß genau in einer Phase, die bei längerer Dauer tödlich für sie ist.« Windsor hatte sich während der Erklärung wieder gefaßt. »Jetzt wissen wir auch, welcher Zweck hinter all den uns zusammenhanglos erscheinenden Aktionen und vermeintlichen
Anschlägen steckt«, sagte er nachdenklich. »Man hatte – wie wir schon richtig vermutet haben – zu keinem Zeitpunkt vor, uns zu töten. Wenn ich es mir recht überlege, ist ihr wirkliches Vorhaben, mit dem sie die Friedensmission ein für allemal scheitern lassen wollen, auch wesentlich nachhaltiger. Man konditioniert uns, sicherlich auf eine Weise, die uns zu fanatischen Logur-Hassern macht. Und dann schickt man uns, als sei nichts Besonderes vorgefallen, wieder auf die Reise. Die Verhandlungen, die die Diplomaten führen sollen, wären damit zu einer Provokation für die Logur geworden, die sie bestimmt nicht hingenommen hätten. Die Fanatiker auf Terra wiederum hätten dies lautstark als einen Beweis dafür propagiert, daß die Silicium-Wesen den Frieden gar nicht wollen. Es ist plötzlich alles klar!« »Ich sollte beiseite geschafft werden«, fügte Toger hinzu, »weil ich als SB gegen Fremdbeeinflussung geschützt bin. Rhiat, oder besser gesagt, der vermeintliche Rhiat, stand ohnehin auf der Seite der Friedensgegner.« Er machte eine kleine Pause und runzelte die Stirn. »Aber noch ist nicht alles geklärt. ›Warum‹ sind die Lyrrhs in dieser Weise tätig geworden? Was bezwecken sie damit, wenn sie einen Frieden zwischen Terranern und Logur verhindern?« »Ich glaube«, unterbrach ihn Windsor, »wir sollten uns jetzt lieber um unsere Kameraden kümmern. Wenn wir uns beeilen, können wir vielleicht noch einige vor der Konditionierung retten.« »Sie haben recht, Commander«, sagte Toger nach kurzem Zögern. »Das werden Sie und Ihre drei Kollegen übernehmen.« Die Angesprochenen waren dem Gespräch aufmerksam gefolgt. Auch aus ihren Gesichtern war die Apathie vollständig verschwunden. Sie hatten die Waffen der Blaupelze an sich ge-
nommen, die für menschliche Hände zwar ungewohnt, von ihnen aber doch ohne weiteres zu bedienen waren. Toger reichte dem Raumkapitän seinen Projektil-Nadler. »Denken Sie daran, Norman, daß die Konditionierten erbitterte Gegner sein werden. Sie stehen jetzt auf der Seite der Fanatiker, mit all ihrem Denken und Fühlen.« Er blickte dem Commander ernst in die Augen und der erwiderte den Blick. »Halten Sie sich nirgendwo länger als nötig auf. Rüsten Sie die ›Freien‹ mit erbeuteten Schmerzwaffen aus, brechen Sie jeden Widerstand, auf den Sie treffen. Verstehen Sie? Sie müssen so schnell wie möglich – mit den Konditionierten – die Basis verlassen. Ich werde in der Zwischenzeit versuchen, die Aggregate, die die Raumblase aufrechterhalten, abzuschalten oder zu zerstören. Wenn ich diese Anlagen aber nicht finde, kann ich gezwungen sein, die ganze Station in die Luft zu jagen – dann müssen Sie bereits verschwunden sein!« Windsor sah ihn erstaunt an. »Ich kann ja verstehen, daß Sie es eilig haben…« »Wir haben nicht eine einzige Sekunde zu verlieren! Glauben Sie vielleicht, daß diese drei Blaupelze die einzigen sind? Wahrscheinlich wimmelt es hier nicht gerade von Gestaltwandlern, aber ihre Übermacht wäre, wenn sie sich von ihrer Überraschung erholt haben und wohlüberlegt gegen uns vorgehen, erdrückend.« Toger brauchte nicht lange, um mit Hilfe seines Impuls-Gebers den Gegenpol des Transmit-Feldes zu aktivieren, durch das die Konditionierten aus der Gruppe des Raumkapitäns verschwunden waren. Mit entschlossenen, verbissenen Gesichtern und entsicherten Waffen schritten die vier Männer durch das Flimmern. Sofort danach erlosch das energetische Feld wieder.
Toger gönnte sich keine Pause. Immer offensiv bleiben! dachte er. Wenn sie dich erst in die Defensive gedrängt haben, ist es aus! Er aktivierte den Geber erneut, probierte eine ihm wie eine Ewigkeit erscheinende Zeitspanne verschiedene Kombinationen durch, bis sich nicht weit von ihm der Pol eines anderen Transmit-Feldes aufbaute. Raman hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ihn die Energie versetzen würde. Wichtig war im Augenblick nur, daß er diesen Ort verließ, so schnell wie möglich. Während er auf das Flimmern zuschritt, dachte er daran, daß, obwohl die Verhandlungen mit den Logur noch gar nicht begonnen hatten, die Entscheidung über Krieg oder Frieden zwischen zwei hochentwickelten Zivilisationen kurz bevorstand. Die Entscheidung fiel hier, auf Sigma Sechs. * Eine Sekunde, nachdem er rematerialisiert war, wußte er, daß er sich in der Zentrale der Basis befand. Der ebenfalls fünfeckige, mit summenden Kontroll- und Schaltgeräteeinheiten angefüllte Raum ließ keinen anderen Schluß zu. Er war nicht sonderlich groß, wirkte im Vergleich zur Ausdehnung der Station sogar eher klein. Aber vielleicht rührte dieser Eindruck auch von der überwältigenden Masse der Anlagen her, auf deren Stirnseiten Kaskaden von Lichtern glühten. Ab und zu knisterte und knirschte es aus einem Block, aber das war – abgesehen von dem stetigen Summen – das einzige Geräusch, das er vernahm. Die Zentrale war unbesetzt, was den Schluß zuließ, daß ein großer Teil der routinemäßigen Überwachungsarbeit vollautomatisch erledigt wurde.
Mit schußbereiter Waffe trat er vorsichtig an ein fast schon überdimensionales Kontrollpult heran. Die Schriftzeichen, die darauf angebracht waren und zur Erläuterung dienten, erschienen ihm auf den ersten Blick völlig fremdartig und unverständlich, doch dann stellte er einige Übereinstimmungen mit ihm bekannten, lyrrhschen Buchstaben fest. Ein weiterer Beweis, dachte er und sah sich um. Er hatte auf gut Glück den Ort gewechselt, aber einen Volltreffer gelandet. Sicherlich konnte von hier aus auch die Raumblase desaktiviert werden, und dann brauchte er nur noch den Atomsprengsatz zu deponieren, der diese ganze Station nach Ablauf einer programmierten Zeitspanne in seine Bestandteile zerblies. Eine euphorische Empfindung griff nach ihm, er machte einige hastige Schritte nach vorn – und genau das war sein Fehler. Er erstarrte von einer Sekunde zur anderen, nicht vor Entsetzen, sondern in einem fesselnden energetischen Feld. Obwohl auch sein Gehirn wie gelähmt vor Schreck war, reagierten seine entwickelten Reflexe. Innerhalb eines Sekundenbruchteils schraubte er die Empfindlichkeit seiner Sinne um mehr als die Hälfte herunter. Wenn dies ein Schockfeld ist, dachte Toger, und seine Gedanken schienen dabei ungeheuer träge zu sein, werden sie damit bei mir kein Glück haben. Das Bewußtsein kann ich jetzt nicht mehr verlieren! Seine Waffe zeigte in spitzem Winkel auf den Boden, aber das war ohnehin bedeutungslos. Das Feld verhinderte nachdrücklich, daß sein Finger den Auslöser erreichte. Ein paar Meter direkt vor ihm entstand der Pol eines Transmitters und aus dem Feld trat die hochgewachsene Gestalt eines Lyrrh, in einer Greifhand eine kiloschwere Kombiwaffe, die sich sofort auf ihn richtete. Der Froschähnliche sah ihn einen Augenblick an, belustigt, wie es schien, dann ertönte sei-
ne dumpfe Stimme. »Sie sind zu unvorsichtig gewesen, Toger. Haben Sie im Ernst geglaubt, wir hätten keine Sicherheitsmaßnahmen getroffen? Wir konnten doch schließlich nicht ganz ausschließen, daß jemand von Ihnen einen Ausbruchsversuch unternimmt, vielleicht sogar einen erfolgreichen.« Eine automatische Falle! dachte er dann formulierte er: »Wer sind Sie?« und wunderte sich einen Augenblick später darüber, daß er sprechen konnte. Er setzte die Empfindlichkeit seines Hörsinns etwas herauf und wartete auf die Antwort. »Nennen Sie mich einfach Dreiundzwanzig«, entgegnete der Lyrrh bereitwillig. »Das reicht.« »Warum mischen sich die Lyrrhs in den Konflikt zwischen Terraner und Logur?« Die Frage brannte Toger förmlich unter den Nägeln. Er hatte das Gefühl, daß die Antwort darauf von größter Bedeutung war. »Oh«, sagte Dreiundzwanzig und trat einen Schritt näher an ihn heran, »wir sind nur eine – relativ – kleine Gruppe, die dies tut.« Toger nickte in Gedanken. »Sie sind Mutanten, nicht wahr? Nur eine geringe Anzahl von Lyrrhs hat die Fähigkeit, ihre Gestalt nach Belieben zu ändern?« Dreiundzwanzig wirkte für einen Sekundenbruchteil überrascht. »Sie haben recht, Toger. Da Sie ohnehin in ein paar Minuten nicht mehr unter den Lebenden weilen werden, nützt Ihnen diese Erkenntnis allerdings nur wenig.« Wenn du dich da nur nicht irrst! dachte der SB grimmig, während der Froschähnliche fortfuhr: »Vor ungefähr zweihundert Jahren Ihrer Zeitrechnung sind die ersten Gestaltwandler aufgetreten, und bis heute gibt es von uns ungefähr viertausend. Nicht viel, wenn man an die fünfzehn Milliarden ande-
ren, normalen Lyrrhs denkt. Aber unsere besonderen Fähigkeiten gestatteten es uns innerhalb dieses verhältnismäßig kurzen Zeitraums Schlüsselpositionen in unserer Gesellschaft, besonders in Industrie und Politik, zu besetzen. Heute sind wir so weit, daß man getrost sagen kann, daß wir viertausend Gestaltwandler den interstellaren Einflußbereich der Lyrrhs vollständig kontrollieren.« Eine heimliche Invasion von innen! dachte Toger und erinnerte sich dabei auch an Rhiat, der von ihnen ermordet worden war. Wut stieg in ihm hoch. »Der Konflikt zwischen Terranern und Logur erweckte schon sehr rasch unser Interesse«, fuhr Dreiundzwanzig selbstgefällig fort. »Etwa fünfhundert von uns gingen daran, als vermeintliche Terraner und Logur innerhalb der beiden Zivilisationen, in hohen und wichtigen Stellungen versteht sich, die Auseinandersetzungen anzuheizen.« »Ich habe mich schon immer gefragt, ›warum‹ überhaupt ein derartig schlechtes Verhältnis zwischen Terra und Logur besteht. Es gibt einfach keinen einleuchtenden Grund dafür.« »Unsere Arbeit«, sagte Dreiundzwanzig stolz. »Erst war es etwas schwierig, aber dann entwickelten sich die Dinge fast von allein – bis einige terranische und logursche Politiker auf die Idee kamen, doch einmal miteinander zu sprechen!« »Aber wozu das Ganze?« unterbrach ihn Toger. Der Lyrrh sah ihn mißbilligend an. »Ich hätte Sie für intelligenter gehalten, Raman. Sehen Sie den Grund immer noch nicht? Ein Krieg zwischen Ihren beiden Machtblöcken würde uns, uns viertausend, beide Zivilisationen in die Hand geben. Von dem Profit, der uns daraus erwächst, ganz zu schweigen. Wir werden mehrere tausend Prozent mehr Rüstungsgüter an Terra liefern – und natürlich ebenso an die Logur. Dazu kommen die Ersatzteile, Wartungs-
stationen und vieles andere. Das alles kostet Geld, Ihr Geld, um genau zu sein. Und es wird in unsere Kassen fließen. Terraner und Logur werden in diesem Krieg so ausbluten, daß sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten tausend Jahren davon nicht wieder erholen werden. Na, verstehen Sie jetzt? Der Niedergang zweier Völker hat die Hochentwicklung einer anderen Zivilisation zur Folge – die der Lyrrhs. Speziell wir viertausend Gestaltwandler werden dadurch zu einem Machtfaktor, der einmalig sein dürfte in diesem Spiralarm der Galaxis.« Es war plötzlich alles klar, so offensichtlich, daß sich Toger ernsthaft wunderte, warum er die Lösung nicht schon viel eher gefunden hatte. Das schlimme war, daß die Argumentation von Dreiundzwanzig schlüssig war. Sie wies keinen schwachen Punkt auf. Die Entwicklung würde, wenn die Friedensmission scheiterte, genauso verlaufen, wie es der Lyrrh vorhersagte. »Sie sind so still, Raman«, fügte der Froschähnliche zynisch hinzu. »Haben Sie nichts mehr zu sagen? – Nun gut.« Ausdruckslos nahm Toger zur Kenntnis, wie Dreiundzwanzig den Auslöser der schweren Kombiwaffe niederpreßte. Genau auf diesen Augenblick hatte er gewartet! Der gleißende Energiestrahl raste auf ihn zu und durchschlug die energetische Mauer des Schockfeldes mühelos. Zwei Dinge geschahen nahezu gleichzeitig. Der Strahl zerstob an seiner unsichtbaren Energiebarriere – und durch die zusätzlichen Emissionen wurde das Schockfeld für kurze Zeit instabil. Seine Reflexe sprachen augenblicklich an. Ein kräftiger Satz brachte ihn aus dem Bereich der Automatik-Falle heraus, dann eröffnete er seinerseits das Feuer auf den erstarrt dastehenden Gestaltwandler. Der Blitz verkohlte den linken Greifarm seines Gegners. Dreiundzwanzig brüllte heiser, wirbelte
herum und suchte Deckung hinter einem massiven Aggregat. Der zweite Strahl, den Toger aus seinem Impuls-Laser abfeuerte, traf auf das Metall und fraß sich dröhnend und zischend seinen Weg ins Innere. Der SB hatte auf Dauerfeuer geschaltet und sah aus zusammengekniffenen Augen zu, wie die gesamte Frontseite der Geräteeinheit rot zu leuchten begann. Nur einige Sekunden später schlug eine grelle Flamme aus ihren Eingeweiden, leckte über eine in der Nähe stehende Maschine, die daraufhin ein wütendes Kreischen von sich gab. Dann flog das ganze Aggregat fauchend auseinander. Mehrere glutheiße Trümmer trafen Toger, aber dessen schützendes Feld bewahrte ihn abermals vor ernsthaften Verletzungen. Nur der Aufprall konnte nicht ganz absorbiert werden und trieb ihn ein gutes Dutzend Meter weiter, wie ein welkes Blatt, mit dem der Wind spielt. Benommen kam er wieder hoch und sah sich um. Der Ort, an dem noch kurz zuvor ein mannshohes Aggregat gestanden hatte, wies jetzt nur noch geborstenes, scharfkantiges und glühendes Material auf. Der Lyrrh war nirgendwo zu entdecken. Mit großer Sicherheit war er von der Detonation zerrissen worden. Toger machte sich keine Illusionen. Das Dröhnen und Donnern konnte nicht ungehört geblieben sein. Er vermutete vielmehr, daß es schon in wenigen Minuten hier von Lyrrhs wimmelte; es blieb ihm also nur wenig Zeit. Er machte sich erst gar nicht die Mühe, die entsprechende Schalteinheit für die Aufrechterhaltung der Raumblase zu suchen. Die Kontrollen wären ihm ohnehin fremdartig erschienen, und er bezweifelte ob er sie überhaupt hätte bedienen können. Aber es gab noch einen anderen sicheren Weg, um die Raumblase, die jede höherdimensionale Aktivität im SigmaSystem verhinderte, nachhaltig zu beseitigen.
Er holte einen der atomaren Sprengsätze mit begrenzter Wirkung hervor, justierte den Verzögerungszünder, deponierte die eigroße Bombe dann zwischen zwei kompliziert wirkenden Pulten und hetzte auf die gegenüberliegende Seite der Zentrale. Eine schmale Nische bot ihm Schutz, und sein körpereigenes Energiefeld vervollständigte seine Sicherheit. Toger duckte sich. Als hinter ihm ein dumpfes, drohendes Grollen ertönte, erinnerte er sich unwillkürlich an die vielen Warnungen vor dem bevorstehenden Weltuntergang. Titanische Kräfte zerrten an seiner Gestalt, unvorstellbare Hitze durchdrang die nicht sichtbare Barriere und trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Es war das Chaos, die tosende Urkraft, die er freigesetzt hatte. Für einige bange Augenblicke befürchtete er, daß die Ladung doch zu stark gewesen war, dann sank der Geräuschpegel plötzlich wieder auf ein normales Maß herab. Der SB drehte sich langsam um. Die Zentrale glich einem einzigen Trümmerfeld. Glasierte Stellen auf Boden und Wänden zeugten von der Hitze, die hier geherrscht hatte und noch herrschte. Toger spürte davon nicht viel. Er hatte die Empfindlichkeit seiner peripheren Nerven stark herabgesetzt. Sein Verstand sagte ihm aber, daß er diesen Ort so schnell wie möglich verlassen mußte, wenn er nicht lebensgefährliche Verbrennungen davontragen wollte – trotz seines energetischen Schutzes. Er war sich auch im klaren darüber, was in den nächsten vierzig oder fünfzig Minuten geschehen mußte. Der Fusionsmeiler, nun jeder Steuerung und Kontrolle beraubt, würde überkritisch werden und explodieren. Die Energie, die er dabei entwickelte, entsprach der einer überschweren Wasserstoffbombe. Und das bedeutete, daß von der Basis nach Ablauf dieser Frist nicht viel mehr als ein paar Atome übrigblieben. Als er auf seinen Chrono blicken wollte, stellte er fest, daß
das Gerät verschwunden war. Die Haut an der Stelle hing in Fetzen herunter, aber glücklicherweise spürte er keinen Schmerz. Er mußte raus hier, eine größtmögliche Entfernung zwischen sich und diese Station bringen, und das in der nächsten halben Stunde. »Hoffentlich hat Windsor Erfolg gehabt!« preßte er zwischen den Zähnen hervor und machte sich dann daran, mit Hilfe des Impuls-Gebers, der zum Glück intakt geblieben war, einen Pol zu finden und zu aktivieren. Es dauerte geschlagene zehn Minuten, bis er Erfolg hatte, und in diesem Zeitraum hatte er schon befürchtet, daß die Regelkreise für die Transmit-Felder in der Zentrale untergebracht gewesen waren. Als er das Flimmern wahrnahm, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Es dauerte nochmals zehn Minuten, bis er einen Pol durchschritten hatte, der ihn auf die Oberfläche von Sigma Sechs versetzte. Noch immer spürte er infolge seiner geistigen Kontrolle nicht den geringsten Schmerz, obwohl seine Haut zunehmend abblätterte. Aber dafür empfand er plötzlich etwas anderes. Eine nie gekannte Müdigkeit stieg in ihm hoch, legte sich wie ein bleierner Schleier über seine Augen, umnebelte sein Gehirn. Einer seiner letzten Gedanken war, daß er diesen Ort verlassen mußte, sofort, ohne zu zögern. Aber anscheinend hatte er die Wirkungsdauer des Aufputschmittels falsch eingeschätzt. Sein Körper sank auf den steinigen Boden, seine Gedanken erloschen. * »He, so wachen Sie doch endlich auf!« Toger hörte die Stimme, begriff aber nicht, was sie von ihm wollte. Dann setzte plötzlich die Erinnerung wieder ein, und
er fuhr erschrocken in die Höhe. »Was ist…« Sanft, aber nachdrücklich wurde er auf die Polster der Liege zurückgedrückt. »Na, na, so habe ich das nun auch wieder nicht gemeint.« Toger blickte in das breit grinsende Gesicht Norman Windsors. »Sie… Sie haben es geschafft?« »Wenn es anders wäre, könnte ich jetzt wahrscheinlich nicht hier sein«, gab er ironisch zurück. »Wir haben die Diplomaten und Besatzungsmitglieder auf den letzten Mann aus der Basis rausholen können, bevor sie hochging. Gerade noch rechtzeitig. Die Konditionierten haben sich zwar nach Kräften gewehrt, aber wir haben es geschafft, und das ist das Entscheidende!« »Wo…« »Sie sind an Bord der ›Terranian Star‹, Toger, im Medo-Center. Eigentlich sind Sie der einzige etwas schwerer Verletzte, den es bei dem Kampf gegeben hat. Tja, Sie wären sogar mausetot gewesen, wenn wir Sie nicht noch rechtzeitig gefunden hätten. Menschenskind, Ihre Haut hat sich meterweise abgeschält. Und Ihr Kreislauf…« »Was ist mit den Konditionierten?« Togers Stimme war jetzt schon wieder etwas kräftiger. »Sind alle in sicherem Gewahrsam. Ein Schiff der Patrouille hat unseren Parafunk-Impuls aufgefangen und ist schon unterwegs. Es wird die Beeinflußten in eine Spezialklinik bringen, in der man ihnen helfen kann.« Raman ruckte erneut hoch. »Und die Friedensmission?« Windsor grinste. »Darum machen Sie sich mal keine Sorgen. Sie waren nicht wachzukriegen, da haben wir – mit Ihrer nachträglichen Erlaubnis, hoffe ich – den Bewußtseinsdetektor angelegt und
sind so an die Informationen über die Gestaltwandler gelangt. Das Patrouillenschiff, das wir sofort informiert haben, verfügt über einen wesentlich leistungsstärkeren Parasender und hat die logursche Verhandlungsdelegation bereits unterrichtet. Ein detaillierter Bericht ist übrigens auch schon an die Erde unterwegs. Es wird, schätze ich, in den nächsten Wochen einige Untersuchungen geben – auch bei den Logur. Ach so, ein neuer Verhandlungstermin steht schon fest: exakt in zwei Wochen am gleichen Ort!« »Mein Gott«, sagte Toger staunend, »wie lange habe ich denn geschlafen?« »Na – so an die achtundvierzig Stunden«, entgegnete Windsor. »Donnerwetter – und ich bin immer noch müde.« Damit drehte er sich auf die Seite und war nach einigen Sekunden fest eingeschlafen. ENDE