Gwen Edelman
Erzähl mir vom Krieg Roman Aus dem Amerikanischen von Canna von Enzenberg
Piper München Zürich Umschlagge...
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Gwen Edelman
Erzähl mir vom Krieg Roman Aus dem Amerikanischen von Canna von Enzenberg
Piper München Zürich Umschlaggestaltung: R -M-E, Roland Eschlbeck Bildmotiv: Ralph Gibson
Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »War Story« bei Riverhead Books/Penguin Putnam in New York. ISBN 3-492-04376-3 © Gwen Edelman 2001 © der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2002
Eine New Yorker Buchhandlung: dunkel getäfelt, still und stickig in der Hitze des Sommers. Sie sitzt auf einem . Hocker, gebeugt über ein Buch, das von einer Frau im Kimono erzählt ... Sie merkt, wie er sie anstarrt, wie er ihre weiße Bluse, ihre Beine fixiert. Ein breitschultriger älterer Mann mit dunkel umschatteten Augen. Sie läßt sich von ihm zum Kaffee einladen, begleitet ihn auf sein Hotelzimmer: So sieht der Beginn einer obsessiven, alles verzehrenden Leidenschaft aus. Nacht für Nacht, am Küchentisch und zwischen den Laken, erzählt Joseph ihr nun seine Geschichte. Das Wiener Elternhaus vor dem Krieg; die Kindheit in Amsterdam; die Flucht nach Palästina und wieder zurück nach Europa; die Triumphe als Bühnenschriftsteller. Die zahllosen Frauen, denen er sein Leben verdankt, die er geliebt und verlassen hat, die Mitzis und Hettys und Lenas, die ihn glücklich und unendlich traurig gemacht haben - so wie jetzt Kitty, die noch für kurze Zeit in seinen Armen liegt ... Josephs Vergangenheit, die Erinnerung daran, die ihn nicht losläßt, ist für Kitty Martyrium und Faszinosum zugleich. Sie wird schließlich für die beiden zum Verhängnis.
Gwen Edelman, aufgewachsen in New York, war in einem New Yorker Verlag tätig, bevor sie nach Pans ging. Dort schrieb sie »War Story«, ihren ersten Roman; bereits vor seinem Erscheinen in den USA wurden die Übersetzungsrechte in sechs Länder verkauft.
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Gwen Edelman
Erzähl mir vom Krieg Roman
Aus dem Amerikanischen von Canna von Enzenberg
Piper München Zürich
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Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »War Story« bei Riverhead Books/Penguin Putnam in New York.
ISBN 3-492-04376-3 © Gwen Edelman 2001 © der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2002 Gesetzt aus der Stempel Garamond Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
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Draußen vor dem Zugfenster erstrecken sich die endlosen Felder Nordfrankreichs, sie liegen brach, und die stachligen Stoppeln sind mit Raureif bestäubt. Alles hat einen weißen Anstrich, sogar der flache Winterhimmel und die fahle Scheibe des Mondes, der über den weißen Himmel rast, obwohl es erst Mittag ist. Wie kommt es, überlegt Kitty und schaut hinaus, daß der Mond mit ihnen Schritt hält, daß er immer genau über ihnen ist und mit ihnen zieht, während der Zug durch die gefrorene Landschaft jagt? Unter dem Fenster kriecht eiskalte Luft herein. Kitty schlägt den Mantelkragen hoch. Dann und
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wann kommen sie an einem kleinen Dorf, einer Ansammlung von Häusern und dem schlanken, spitzen Turm einer alten Kirche vorbei. Das Land macht mich nervös, sagte Joseph früher oft. Eine stockfinstere Nacht mit Hundegebell, und ich würde am liebsten packen und auf der Stelle abhauen. Du findest kleine Dörfer anheimelnd? Schön für dich. Kitty hat ihn zehn Jahre nicht gesehen, und jetzt wird sie ihn nie wiedersehen. In der Ferne taucht auf einem Feldweg eine Gestalt mit hochschaftigen Stiefeln auf, doch schon im nächsten Augenblick ist sie nicht mehr zu sehen; sie ist zu langsam für den Zug, der wie ein kalter Wind dahinfegt. Vor all den Jahren hastete er ihr voran den Bahnsteig entlang, und dabei schlug sein alter, verbeulter Koffer immer wieder gegen sein Bein. Schnell, rief er, fast rennend, sonst verpassen wir den Zug. Er beschleunigte seine Schritte, und sie hörte ihn schnaufen, als er zu rennen anfing. Wir können den Zug nicht verpassen. Beeil dich. Der Zug war noch lange nicht abfahrbereit. Da stand er, menschenleer, und der Schaffner lungerte auf dem Bahnsteig herum. Trotzdem kletterte Joseph atemlos die Stufen hoch und stürmte durch den leeren Gang auf einen Sitzplatz zu. Als sie neben ihm saß, zog er ein großes weißes Taschentuch heraus und wischte sich die feuchte Stirn ab. Wir haben es geschafft, sagte er und rang nach Luft, wir haben den Zug erreicht. Da saßen sie, dicht beieinander, und er nahm ihre Hand. Gott sei Dank, sagte er, wir haben es geschafft. Kitty starrte die leeren Gepäckablagen und die an den Rückenlehnen der Sitze befestigten, noch nicht verrutschten weißen Stoffquadrate an.
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Wie sollte sie diese Eile auch verstehen, diesen Zwang, eine Stunde vor Abfahrt dazusein, diese kopflose Rennerei auf dem Bahnsteig, die schwitzenden Hände, die feuchte Stirn? Warum sollten sie den Zug verpassen? Und selbst wenn, dann würden sie eben den nächsten nehmen. Es gab immer einen nächsten Zug. Du verstehst das nicht, was? fragte er und drehte sich auf dem rotbraunen Velourssitz zu ihr hin. Nein, antwortete sie kopfschüttelnd, wie sollte ich? Stimmt, pflichtete er ihr bei, wie solltest du. Na ja, nichts für ungut. Möchtest du eine Orange? Er zog eine aus seiner Tasche. Du weißt doch, daß ich keine Orangen mag. Er steckte sie wieder ein und blickte auf seine Uhr. Gut, sagte er glücklich, wir haben reichlich Zeit. Sie saßen ganz allein in dem langen Zug. Komm mit auf die Toilette, Liebling, raunte er. Ich möchte dir ein Kind machen. Der Zug kommt um 14:13 in Amsterdam an. Die Beerdigung ist um 15 Uhr. In einer Synagoge. Als sie ihn kennenlernte, dachte er nicht im Traum daran, den Fuß in eine Synagoge zu setzen. Dabei kannte er alle Gebete, und einer seiner Lieblingswitze endete mit den ersten Zeilen des Kaddisch, des Gebets für die Toten. In die Synagoge gehen? fragte er. Wozu? Hört Er mich denn nicht dort, wo ich bm, sondern nur in Seinem eigenen Haus? Das glaube ich nicht. Wo waren Abraham, Isaak und Jakob, als sie Ihn anriefen? Bestimmt nicht in einer Synagoge. Kitty betrachtet den Rauhreif, der sich in Wirbeln in den Ecken der Fensterscheibe festgesetzt hat. Außerdem, fügte er hinzu, würde Er mich gar nicht hineinlassen. Dafür habe ich mit zu vielen Frauen geschlafen. Wie lebt es sich mit so unendlich viel Ackerland? überlegt Kitty. Sie würde sich lebendig begraben fühlen. Ein Traktor
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lehnt in bedenklicher Schräglage an einer kleinen Böschung, die wuchtigen, schwarzen Räder schweben in der Luft. Warum hat der Bauer ihn so weit entfernt abgestellt? Er muß ja kilometerweit laufen, sagt sich Kitty, aber sie hat keine Ahnung vom Leben der Bauern, und vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung. Bevor ich Schriftsteller wurde, habe ich auf dem Feld gearbeitet, brüstete sich Joseph. In den Orangenhainen von Palästina, nach dem Krieg. Was glaubst du, wo ich diese Schultern und die kräftigen Oberarme herhabe? Kitty befühlte seine Oberarme. Ich dachte, sagte sie, die hast du davon, daß du so viele Frauen ins Bett getragen hast. Wenn ich jemanden ins Bett tragen möchte, dann dich, sagte er, vergiß die anderen. Er beugte sich herab und drückte seine breite Stirn gegen ihre. Ich höre dir beim Denken zu, sagte er. Der Schaffner kommt und möchte ihren Fahrschein sehen. Sein dunkler Schnurrbart füllt den Abstand zwischen Mund und Nase völlig aus und reicht so weit über die Wangen, als sei er in einem anderen Jahrhundert beim Herrenfriseur gewesen. Kitty will ihn noch einen Moment betrachten, und deshalb fragt sie ihn, wann sie in Amsterdam ankommen werden. Hoffentlich nie, antwortet er zu ihrer Überraschung. Wieso das? will Kitty wissen. Meine Schwiegermutter hat sich angesagt. Sie schneit uns zusammen mit dem Schneesturm ins Haus. In Amsterdam tobt er schon. Das haben sie gerade im Radio gemeldet. Man rechnet mit einem Blizzard. Kitty hat irgendwo gelesen, daß man in einem gefrorenen Boden keine Gräber ausheben kann und der Leichnam auf die Bestattung warten muß. Die Schaufel des Totengräbers könnte im gefrorenen Erdreich nämlich abbrechen... Und was ist mit Beerdigungen? fragt sie einfach. Wie meinen, Mademoiselle? fragt der Schaffner. Er knipst ihren Fahrschein ab und tippt sich an die Mütze.
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Mit seiner wilden Mähne aus welligem weißem Haar, seinen dunklen Augen mit den schweren Lidern, seinem eigenwilligen Kinn und der breiten Brust sorgte er überall für Aufsehen. Von ihm ging etwas Magnetisches aus, das nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Männer wirkte. Er kommandierte Kellner herum, klopfte am Bahnhof ungeduldig ans Schalterfenster, behandelte Taxifahrer von oben herab. Obwohl er kein Geld hatte, reiste er stets erster Klasse und fuhr nie mit dem Bus oder der U-Bahn. Mit seinem abstehenden weißen Haar strahlte er Selbstbewußtsein aus. Das ist ein Mann, hätte man meinen können, der seinen Platz auf dieser Welt kannte. Weit gefehlt. Für uns gab es keinen Platz, sagte er zu ihr, es gab keinen Ort auf dieser Welt, der uns haben wollte. In Restaurants wurde er mitunter laut, in Warteschlangen drängelte er sich vor, und wenn er nieste, hörte es sich an, als spiele er in einer Wiener Operette mit, und alles drehte sich nach ihm um. Nicht so laut, bat Kitty ihn, wenn er mal wieder ungeduldig nach dem Kellner rief, der Kellner kommt doch gleich. Mein armer Liebling, sagte er dann und sah sie verächtlich an. Hast du dich plötzlich in ein Mäuschen verwandelt? Hast du Angst, Staub aufzuwirbeln? Darum geht es nicht, protestierte sie. Worum denn? Du Heuchlerin, flüsterte er und preßte seine Stirn gegen ihre. Hast du nicht dein Leben lang davon geträumt, lästige Konventionen abzuschütteln? Vergiß mich nie, sagte sie manchmal zu ihm. Dich vergessen, mein Liebling? erwiderte er. Wie könnte ich dich vergessen? Du
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bist in mein Herz eintätowiert. Doch gleich darauf schweiften seine Gedanken ab, zurück in die Vergangenheit, und er wirkte abwesend. Das Knistern zwischen ihnen verschwand, und er war nicht mehr da. Endlos dehnt sich der weiße Winterhimmel über den Feldern. Die wunderbaren Holländer, sagte er oft, sie haben ihr Land dem Meer abgetrotzt. Die tapferen, tüchtigen Holländer. Kitty mag die alten holländischen Gemälde, die diesen Himmel, diese friedliche, flache Landschaft zeigen. Er dagegen interessierte sich nicht dafür. Was soll ich in sentimentalen Erinnerungen schwelgen? meinte er. Mein Holland ist ein anderes Holland. Ich bin nicht so gefühlsduselig und verträumt wie du. Nicht die Stirn runzeln, mein Liebling, sagte er, als er ihren Gesichtsausdruck sah, faßte ihr unters Kinn und küßte sie. Dann schüttelte er den Kopf. Du bist so empfindlich. Wie hättest du wohl den Krieg überstanden? Ein etwas dickeres Fell könnte dir nicht schaden. Kitty wickelt sich den Kaschmirschal um den Hals. Der gefältelte Vorhang neben dem Fenster bauscht sich wie ein Rock. Warum fährst du hin? hat Henri sie an diesem Morgen gefragt, als er ihr in den Mantel half. Sie lebt jetzt seit neun Jahren mit ihm zusammen. Liebst du ihn etwa noch immer? Sie ließ den Kopf gegen sein blütenweißes Hemd sinken, schloß die Augen und spürte, wie er ihren Mantelkragen nach unten schlug und mit den Fingerspitzen ihr Haar anhob. Im Kühlschrank steht für dich eine Kasserolle mit Essen, sagte sie zu ihm, und ein Schokoladendessert. Was war eigentlich so faszinierend an ihm? bohrte er weiter. Sie richtete sich auf und knöpfte den Mantel zu. Nichts, gar nichts, antwortete sie. Ich
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rufe dich an, sobald ich in Amsterdam bin. Er fuhr sich nervös mit der Hand durch sein borstiges graues Haar. Seine Theaterstücke konnte ich nicht lesen, meinte er verstimmt. Du etwa? Ich fand sie so deprimierend. Sie ging zu seinem Schreibtisch, um die Chromlampe auszuschalten. Morgen bin ich wieder zu Hause. Er stand unschlüssig vor ihr. Ich komme mit runter. Nicht nötig, Liebling, sie ist leicht wie eine Feder. Er hob die kleine Ledertasche hoch und verzog das Gesicht. Ganz schön schwer. Was hast du da drin? Sie nahm ihm die Tasche aus der Hand. Sei nicht so neugierig. Ein Buch für die Zugfahrt. Sie legte ihm eine Hand auf die Hüfte und gab ihm einen flüchtigen Kuß. Er ist immer da, wie ein Fixstern. Ruf mich an, sagte er mit besorgter Miene. Kitty nickte. Joseph war nie zweimal an denselben Ort gekommen. Wenn sie mit Joseph auf den Markt ging, machte er jedesmal Hamsterkäufe. Pfundweise Obst, Käse, Gemüse, Kaffee, Wurst und drei Laib Brot. Was soll das? fragte sie ihn. Das essen wir in einem Monat nicht auf. Man kann nie wissen, antwortete er, betastete eine Melone und hielt sie sich an die Nase, um zu prüfen, ob sie reif war. Wirf das ja nicht weg, sagte er eine Woche später zu ihr, wenn sie mit dem verfaulten Obst, dem überreifen Käse und zwei steinharten Brotlaiben vor dem Mülleimer stand. Ich verbiete es dir. Aber Joseph, beschwor sie ihn, es ist verdorben. Macht nichts. Wir können es trotzdem essen. Es gab eine Zeit, da war nichts Eßbares aufzutreiben, erinnerte er sie. Davon verstehst du nichts. Aber das ist fünfzig Jahre her, sagte sie müde. Und damals herrschte Krieg. Wenn es einen Krieg gab, kann es jederzeit wieder einen geben, sagte er und nahm ihr die Schachtel mit dem ranzigen Käse aus der Hand. Später, als er Zigaretten holen ging, warf sie alles weg und stellte den Müll zum Abholen hinters Haus.
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Die Minibar kommt vorbei, und ein leichenblasser Mann in einer kurzen schwarzen Jacke mit Goldknöpfen erkundigt sich, ob sie etwas wünsche. Sie betrachtet das Angebot von Nüssen und Süßigkeiten, den Korb mit Croissants, die in Papier eingeschlagenen Sandwiches. Der Mann wartet mit ausdruckslosem, wächsernen Gesicht, seine blaßblauen Augen starren über den Wagen hinweg. Monsieur} Langsam dreht er sich zu ihr hin und neigt den knochigen Schädel. Les biscuits au chocolat. Mit bleichen Fingern fischt er die Packung heraus und reicht sie ihr in Zeitlupe. Sie kaut auf einem Keks herum: Er schmeckt wie die, die sie als Kind gegessen hat. Vor dem tiefhängenden weißen Himmel huscht ein Dorf vorbei und in der Ferne ein Wasserturm, so groß wie ein Kinderspielzeug. Auf Zugfahrten kam Joseph immer mit Keksschachteln, Schokoriegeln, belegten Broten und Chips beladen vom Bistro zurück. Mein Gott, rief sie entsetzt, das können wir doch gar nicht alles essen. Und was ist, wenn ein Notstand ausbricht? wollte er wissen. Dann verhungern wir wenigstens nicht. Was für ein Notstand? Es ist alles möglich, sagte Q: und hielt ihr eine Schachtel mit Schokoladenkeksen hin. Besser, man ist gerüstet. Kopfschüttelnd blickte sie auf die Schokoriegel in ihrem Schoß herab. Er drehte ihr Kinn zu sich hin und küßte sie. Ich weiß, wovon ich rede, sagte er leise. In einer New Yorker Buchhandlung sah sie Joseph zum ersten Mal. Es war ein düsterer, altmodischer, mit dunklem Holz getäfelter Laden, eine Oase der Stille in der Sommerhitze. Sie saß in einem kleinen Nebenraum in der Ecke auf einem dreibeinigen Hocker und las vornübergebeugt in einem Buch. »Die Frau trug einen Kimono, dessen Saum über den Boden
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schleifte.« Doch schon bald hörte sie in ihrer Nähe jemanden atmen. Sie legte einen Finger auf die Seite und blickte auf. Im Türrahmen stand ein älterer Mann. Er hatte breite Schultern, einen Bauch und widerspenstiges weißes Haar, und er sah sie aus dunklen Augen mit schweren Lidern an. Ich hielt dich für einen Polen, sagte sie später zu ihm. Oder Israeli. Der Mann starrte unübersehbar erst ihre Beine und dann ihre Brüste an. Kitty preßte die Beine aneinander und hielt das Buch vor ihre Bluse. Er trug ausgebeulte Cordhosen und ein blaues Hemd. Ein Knopf über seinem Bauch stand offen, und sie erspähte etwas Weißes. Er fixierte sie mit seinen dunklen Augen. Die Luft war stickig, die Bücher von einer Staubschicht überzogen. Nun, sagte Kitty schließlich, um das Schweigen zu brechen, was ist? Ich möchte wissen, was Sie da lesen, sagte er langsam, obwohl er den Titel mühelos entziffern konnte. Er hatte einen starken, kehligen Akzent, den sie nicht einordnen konnte. Warum fragen Sie, wenn Sie es selbst erkennen können? Ich mache Konversation. Kitty lächelte. Na schön, räumte sie ein. Wovon handelt das Buch? Von einem Mann, der eine Geisha besucht. Und? fragte er. Was passiert mit dem Mann und der Geisha? Seine Stirn war von der Hitze in dem kleinen Raum schweißbedeckt. Der Mann aus Tokio hat die Geisha ein Jahr nicht gesehen. Er hat vergessen, ihr die Tanzanleitungen zu schicken, die er ihr versprochen hatte. Die Frau versucht, sich hinter ihrer weißen Puderschicht ein Lächeln abzuringen, aber plötzlich fällt ihr Mienenspiel in sich zusammen, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie liebt ihn mehr als er sie, schloß Kitty und legte das Buch in den Schoß. Der Mann hob
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die Achseln. Das passiert oft. Und was dann? Singt sie ihm etwas vor und zupft dazu auf dem Samisen, oder gehen sie gleich miteinander ins Bett? Kitty musterte ihn zögernd. Durch den Spalt in seinem Hemd konnte sie sein weißes Unterhemd sehen. Sie gehen gleich miteinander ins Bett, sagte sie schließlich. Später behauptete er: Ich habe dich in einem Freudenhaus kennengelernt. Oder war es bei einer nächtlichen Pokerpartie? Wir haben uns in einer Buchhandlung kennengelernt, erinnerte Kitty ihn. In einer Buchhandlung? Ausgeschlossen. Ich gehe nie in Buchhandlungen. Du liest gern, ich nicht. Du hast mir erzählt, daß du dich in deiner Kindheit zwischen den Blättern eines Apfelbaums versteckt und ein Buch nach dem anderen verschlungen hast. Eines blättrigen Nachmittags... Das hast du mir erzählt. Weißt du noch? Kitty nickte. Trotzdem habe ich dich in einer Buchhandlung kennengelernt. Ich habe in einer Ecke auf einem dreibeinigen Hocker gesessen und gelesen. Unfug. Ich habe dich in einem Bordell aufgegabelt. Du warst damals erst vierzehn. Zweiunddreißig. Dann hast du mich eben angelogen, als ich dic h nach deinem Alter gefragt habe, du Metze. Wieso habe ich mich überhaupt mit dir eingelassen, du Scheusal, murmelte sie und zog ihn am Haar. Er hatte aber auch immer die bessere Geschichte auf Lager! Sie fahren durch einen Tunnel, und das Rattern des Zuges wird auf sie zurückgeworfen. In der dunklen Fensterscheibe erkennt Kitty das Gesicht eines Mannes, der weiter vorn sitzt. Er hat den Mantelkragen hochgeschlagen, dunkles Haar und schmale, mandelförmige Augen wie ein Tartar. Etwas Katzenhaftes geht von ihm aus. Ohne selbst von ihm gesehen zu werden, starrt
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Kitty ihn an. Gerade schält er eine Orange. Mit langsamen, bedächtigen Bewegungen pellt er die schrumpelige Schale ab. Kitty beobachtet seine langen Finger. Irgendwann blickt er auf, und jetzt sieht auch er ihr Spiegelbild. Fragend zieht er die Brauen hoch. Doch in diesem Augenblick schießen sie mit saugendem Geräusch aus dem Tunnel heraus und hinein in gleißendhelles Licht, und da sind sie wieder, die gefrorenen Felder. Kitty schaut den Gang entlang, doch von ihrem Sitzplatz aus kann sie den Mann nicht sehen. Nur sein Spiegelbild. Joseph war sechzig, als sie ihn kennenlernte. Und sie zweiunddreißig. Aber genausogut hätte sie vierzehn gewesen sein können, so wie sie sich ihm gegenüber anfangs benommen hatte. Kitty hatte das Buch über die Geisha und den Mann aus Tokio gekauft und war mit dem Fremden in die Nachmittagshitze hinausgetreten, um einen Kaffee trinken zu gehen. Die Blätter hingen schlaff an den Bäumen, der Straßenbelag schimmerte feucht. Ihr klebte die Bluse am Leib. An einem Geländer lehnte ein Fahrrad, dem ein Rad fehlte. Während sie schweigend nebeneinander hergingen, streiften sich ihre Hüften. Ich weiß nicht recht, sagte Kitty plötzlich. Sie blieb an der Eingangstür des Cafes stehen und zupfte an ihrer Bluse herum. Seien Sie nicht kindisch, sagte er. Was kann Ihnen mitten am Tag in einem hellerleuchteten Cafe schon passieren? Er faßte sie am Ellbogen und zog sie hinein. Zögern ist das Schlimmste. Während man zögert, geht die Bombe hoch. Oder man wird auf offener Straße geschnappt. Wovon reden Sie? fragte Kitty. Nichts für ungut, erwiderte er und zeigte auf einen der Tische.
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Griechische Kellner mit glänzendem schwarzem Haar und schlechtsitzenden Nylonhemden nahmen die Bestellungen auf und riefen sie auf griechisch zu einem kleinen Küchenfenster weiter. Kitty rutschte auf die mit rotem Kunstleder bezogene Sitzbank. Nun, sagte er, als er ihr gegenübersaß, wird es nicht allmählich Zeit? Willst du mir nicht deinen Namen verraten? Seine dunklen Augen blitzten sie ironisch an. Ich heiße Kitty, antwortete sie höflich. Kitty? wiederholte er ungläubig und wischte sich mit einem großen weißen Taschentuch die Stirn ab. Wie ein Kätzchen? Was sind das für Eltern, die ihrem Kind so einen Namen geben? Das ist eine Provokation für alle Männer. Auf seinem blauen Hemd hatten sich unter den Armen und auf der Brust dunkle Schweißflecken gebildet. Und Sie? erkundigte sich Kitty. Joseph. Mein Vater wollte mich eigentlich Friedrich nennen, nach Friedrich dem Großen. Aber ausnahmsweise hat sich meine Mutter durchgesetzt, und deshalb nannten sie mich Joseph. Nach dem Joseph aus der Bibel, sagte meine Mutter. Nach unserem teuren, seligen Kaiser Franz Joseph, behauptete mein Vater. Kitty beugte sich vor. Woher kommen Sie? fragte sie. Nicht so eilig, meine Liebe, erwiderte er und zog das große weiße Taschentuch abermals heraus. Das ist eine lange Geschichte. He, rief er und hob den Arm, um den Kellner auf sich aufmerksam zu machen, zwei Kaffee. Er hat keine Manieren, stellte Kitty enttäuscht fest. Der Kellner stellte zwei Tassen Kaffee auf die Resopalplatte und schob ihnen die Zuckerschale hin. Josephs weißes Haar stand von der Stirn ab wie das eines Propheten. Er ist mindestens fünfundzwanzig Jahre älter als ich, dachte Kitty. In seinen Augenwinkeln hatten sich Falten eingegraben, ein Netzwerk aus feinen Linien. Doch die dunklen Augen, aus denen er sie musterte, waren klar. Wo sind Sie geboren? hakte
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Kitty nach. In Wien. Er trank seinen Kaffee schwarz, die breiten Finger in den Henkel der Tasse gepreßt. Aber dort habe ich nicht lange gelebt. Ihr Akzent hört sich nicht wienerisch an, sagte Kitty und richtete den Blick auf seinen breiten, dünnlippigen Mund. Ist er auch nicht. Später kamen Holländisch, Hebräisch, Englisch und sogar ein bißchen Russisch dazu. Kitty beäugte ihn scheu. Wann haben Sie Wien verlassen? Du bist ganz schön hartnäckig, bemerkte er. Bist du Sozialarbeiterin? Kitty mußte lächeln. Nichts für ungut, sagte sie. Sie müssen es mir nicht erzählen. Sie schüttete zwei Tütchen Zucker in ihren Kaffee und rührte langsam um. Nun, wenn das so ist, erwiderte er, werde ich es erzählen. Erwartungsvoll blickte sie auf. Ich bin mit elf aus Wien fortgegangen. Und warum sind Sie fortgegangen? Du siehst so nett aus, sagte er, mit deinem langen Haar und deinen grünen Augen. Und dann entpuppst du dich als Großinquisitor. Okay, okay, sagte sie leichthin, nichts für ungut. Schon wieder dieses »nichts für ungut«. Er griff nach ihrer Hand, spreizte ihre Finger und legte sie an seine Hand. Was für schöne Hände du hast, sagte er leise. So weiß und so wohlgeformt. Man sollte sie in weißen Marmor meißeln. Ich bin fortgegangen, weil ich Lust auf einen Tapetenwechsel hatte. Nein, wirklich. Wirklich? Mir stand der Sinn nach Ferien. Das war 1938, ein gutes Jahr, um Ferien zu machen. Sie spürte seine warme breite Hand an ihren Fingern. Als sie aufsah, ruhte sein dunkler Blick auf ihr. Sie entzog ihm die Hand und hob die Tasse. Er schaute auf seinen Bauch hinunter, zog ihn ein und machte den Knopf zu. Sie beobachtete ihn dabei, und das entging ihm nicht. Der geht sowieso gleich wieder auf, meinte er.
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Er faßte sie an der Hand und ging mit ihr einen halben Häuserblock weiter bis zu dem Hotel, in dem er wohnte. Es handelte sich um einen zwölfstöckigen Ziegelsteinbau, dessen Fassade durch gußeiserne schwarze Balkons aufgelockert war. An den Balkons blätterte die Farbe ab, die weit vorragende rotbraune Markise, auf der »Hotel Stuyvesant« stand, war ausgebleicht und verschlissen. Ein Hotel für Verrückte und Künstler, meinte er und drückte ihre Hand. Im vierten Stock komponiert ein Mann für seine Riesenschildkröten. Im neunten wohnt ein deutscher Transvestit. Leon Tucher im zehnten spielt Tuba und Pikkoloflöte, erklärte er. Er will mir zeigen, wie sagenhaft groß und zugleich unendlich klein wir Menschen sind. Über mir wohnt die Schauspielerin Damiana, die immer kostümiert herumläuft, ob sie auf die Bühne muß oder nicht. Hier bin ich zu Hause, verkündete er und führte sie durch eine dunkle Eingangshalle mit Bildern an den Wänden. Ein Verrückter unter Verrückten. Sind Sie wirklich verrückt? fragte Kitty und ließ seine Hand los. Wer ist das nicht? gab er zurück und schob sie an einem kleinen Mann mit Augenschirm, der am Empfang saß und in einer zerknitterten Zeitung las, vorbei zum Fahrstuhl. Das erste Mal. Der erste Nachmittag. Wie viele Jahre ist das her! Die weißen Fensterläden waren geschlossen und sperrten das Nachmittagslicht aus. Der Fußboden im Wohnzimmer war blank, auf dem durchgesessenen Sofa lag eine alte Tagesdecke, und an den leeren Wänden mit der abblätternden Farbe lehnten unordentliche Bücherstapel. Es hatte den Anschein, als wohne hier niemand. Selbst der Schreibtisch in der Ecke mit der Schreibmaschine darauf sah aus, als wäre er lange nicht benutzt
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worden. Alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Er beobachtete sie. Irgendwann schicke ich hier mal die Putzfrau durch, sagte er. Sie nickte und durchquerte das Zimmer eilig. Setz dich, befahl er und zeigte auf den langen Küchentisch. Hier also wohnt er, sagte sie sich. Die Holzplatte hatte unzählige Brandmale von Zigaretten. Ein angeschlagener Teller mit Aufschnitt und einer Leberwurst in Plastikhülle stand neben einem Laib dunklem Brot, dessen Krümel über den ganzen Tisch verstreut waren. So sah es hier immer aus. Sie saßen sich stets gegenüber, zwischen sich eine Flasche Schnaps oder die Teekanne mit den verblichenen Zirkusszenen oder die kupferne Kaffeekanne, die er aus Israel mitgebracht hatte. Die kleine goldfarbene, mit losem Tabak vollgestopfte Blechschachtel stand aufgeklappt auf dem Tisch, das Heftchen mit dem hauchdünnen weißen Zigarettenpapier lag daneben. Jetzt zeige ich dir mal, was richtiger Kaffee ist, sagte er und setzte den Kessel auf. Das Zeug, das sie einem hier in diesem Land vorsetzen, ist dünn, schmeckt nach nichts und macht nicht glücklich. Trink meinen Kaffee, und deine Sorgen sind wie weggeblasen. Die Wand neben dem Küchentisch war mit vergilbten Postkarten gepflastert. Postkarten aus mehreren Jahrzehnten. Blaues Meer, Esel, gotische Kathedralen, lange Sandstrände, ein mit rotem Lehm bemalter Indianer vom Amazonas, Sonnenaufgang in Jerusalem. Auf dem Tisch stand eine Lampe mit zerschlissenem Schirm, an deren Fuß weitere Postkarten lehnten. Sie könnten einen Laden aufmachen, meinte Kitty. Er folgte ihrem Blick. Stimmt, meine Liebe. Aus dem Küchenschrank, dessen Tür an ausgeleierten Scharnieren hing und offenstand, holte er ein Päckchen Kaffee. Sie bemerkte die achtlos übereinandergestapelten Schachteln in den Fächern.
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Aus einer war ein Häufchen Tee gerieselt, aus einer anderen quollen Makkaroni. Bei ihren Eltern zu Hause herrschten peinliche Ordnung und Sauberkeit. Alles war an seinem Platz, nirgends ein Flöckchen oder Blättchen. Das hier war eine andere Welt. Während er den Kaffee aufgoß, betrachtete sie seine breiten Schultern und seinen Stiernacken. Andächtig wartete er ab, den Kessel in der Hand. Noch zwei Minuten, und dann wirst du sehen, mein Engel. Das ist es, wofür mich die Frauen lieben. Mein Kaffee. Kitty zuckte mit den Achseln. Stolz schenkte er ihr ein. Probier mal. Nein, zierte sie sich, er ist noch zu heiß. Nicht eifersüchtig sein, murmelte er. Du hast mich doch gerade erst kennengelernt. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, zog die Schuhe aus und schlüpfte in gelbe marokkanische Pantoffeln. Also, was möchtest du wissen? fragte er. Kitty begutachtete das Brot. Warum Sie Wien verlassen haben. Er streifte unter dem Tisch einen Pantoffel ab und fuhr mit seinem bestrumpften Fuß ihren Schenkel entlang. Lassen Sie das, protestierte sie. Erzählen Sie lieber. Sein Fuß wanderte unbeirrt weiter. Trink deinen Kaffee, sagte er, und dabei ruhten seine dunklen Augen auf ihr. Er sah ihr zu, wie sie die angeschlagene Tasse an die Lippen hob. Und? fragte er. Köstlich, antwortete sie höflich. Gut, meinte er. Wo war ich stehengeblieben? Er öffnete den obersten Hemdknopf, und sein krauses, weißes Brusthaar kam zum Vorschein. Ungeniert kratzte er sich. Ich habe Wien in einem Zug voll dunkeläugiger Kinder verlassen, sagte er. Ist es das, was du wissen willst? Im November 1938. Ich war damals elf. Kitty nickte. Wir blieben die ganze Nacht auf und spielten, während
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das Pfeifen der Lokomotive durch die Nacht gellte und sich der Zug in die Kurven legte. Er nahm ein paar Tabakkrümel aus der Blechschachtel und legte sie auf ein Zigarettenpapier. Ich hatte einen kleinen Koffer dabei. Meine Mutter hatte vergessen, meine Socken einzupacken. Das konnte ich ihr nicht verzeihen. Von seiner Zigarette stieg Rauch auf. Trink, sagte er. Laß ihn nicht kalt werden. Er schenkte sich selbst Kaffee nach. Am nächsten Morgen standen wir mit Namensschildchen um den Hals dichtgedrängt auf dem Amsterdamer Bahnhof, hielten unsere kleinen Taschen umklammert und hörten aus den Lautsprechern eine kehlige Sprache, die wir nicht verstanden. Ich erinnere mich noch, daß ein Zwerg vorbeikam, als wir dort standen. Er war kleiner als wir, hatte einen großen Buckel und trug einen schwarzweißkarierten Anzug und einen Filzhut mit Feder, der aus Wien hätte sein können. Als er näher kam, erkannten wir, daß er ein Greisengesicht hatte, mit tiefen Furchen, schwarzen Augen und einer scharfgeschnittenen, sehr langen, schnabelartigen Nase, wie sie zu einem ausgewachsenen Mann gepaßt hätte. Wir strahlten ihn an, weil wir glücklich waren, unter dem hoch über uns schwebenden Glasdach eines fremden Bahnhofs jemanden zu sehen, der so klein war wie wir. Er sah aus wie eine Gestalt aus den Büchern, die man uns zu Hause vorgelesen hatte. Joseph bestrich eine dicke Brotscheibe mit Leberwurst und hielt sie ihr hin. Da, nimm, forderte er sie auf. Ich möchte nicht, daß du verhungerst. Der Zwerg blieb vor uns Kindern stehen, faßte sich an die Nasenspitze und quakte wie eine Ente. Dann ging er weiter. Kurz darauf wurden wir von den netten holländischen Familien abgeholt, die sich bereit erklärt hatten, uns für eine Weile aufzunehmen. Ich lernte in nur drei Monaten Holländisch. Meine Gastfamilie hatte eine dreizehnjährige Tochter,
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Hetty. Wenn sie im Bad war, öffnete ich immer die Tür und beobachtete sie. Er stand auf und kam um den Tisch herum auf sie zu. Genug erzählt, sagte er leise. Er zog sie hoch und nahm sie in den Arm. Nein, wehrte Kitty ab und drehte den Kopf zur Seite. Ich kann nicht. Nein? Warum nicht? Sie wich zurück, doch da faßte er sie an den Schultern und beugte sich hinab, um sie zu küssen. Sein Mund war warm und roch nach Tabak. Sie lehnte sich an ihn, weil ihre Beine nachgaben und fast unter ihr weggeknickt wären. Er mußte sie festhalten. Da siehst du, wie sehr du mich willst, sagte er und schob die Hand unter ihre Bluse. Warte, sagte sie atemlos und mit geröteten Wangen. Sie stemmte sich gegen seine Brust, versuchte, seine Finger wegzuschieben, die an ihrer Brustwarze zupften. Doch er zog ihr die Bluse aus, und als er sie, fest an sich gepreßt, ins Schlafzimmer führte, spürte sie, wie sich in ihrem Innern etwas löste. An jenem ersten Nachmittag knipste er im dämm-rigen Schlafzimmer mit den geschlossenen Fensterläden eine Lampe an, und gleich darauf badete der Raum in rotem Licht. Ich weiß nicht recht, sagte sie unschlüssig. Was weißt du nicht? Das Zimmer war leer bis auf das breite, ungemachte Bett mit den zu Wellen aufgeworfenen weißen Tüchern. Als er sich daranmachte, sie weiter auszuziehen, hielt sie seine Hände fest. Hindere mich nicht daran, sagte er und schob ihre Hände weg. Sie spürte seinen Mund an ihrem Hals. Einen Moment lang meinte sie, die rote Lampe würde blinken, doch dann merkte sie, daß ihre Augenlider flatterten. Er öffnete ihren Rock und zog ihr Höschen herunter, bis sie, in rotes Licht getaucht, nackt vor ihm stand. Er leckte sie unter den Armen. Sie bückte sich,
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um die Riemchen ihrer hochhackigen Sandalen zu lösen, doch er hielt sie zurück. Eine Frau, belehrte er sie, muß immer etwas anbehalten. Und du? Ziehst du dich nicht aus? fragte sie. Alles zu seiner Zeit, murmelte er, während er sie sacht auf das breite Bett drückte. Schau, was deine Gürtelschnalle angerichtet hat, beschwerte sie sich und zeigte ihm die rote Druckstelle auf ihrem Bauch. Er kniete nieder und küßte sie dort, dann zog auch er sich aus und ließ seine Kleider zu Boden fallen. Da stand er, breitschultrig, mit vorgeschobenem Bauch, erregt. Sie streckte ihm die Arme entgegen. Faß dir zwischen die Beine, Liebling, befahl er. Ich möchte dir zusehen. Kitty zögerte. Mach schon, ermutigte er sie. Sie nickte, spreizte die Beine und hob die Hand von den zerwühlten Laken. Er wird also in Amsterdam beerdigt, dachte Kitty und ließ den Blick über die reifbedeckten Stoppelfelder schweifen. Nicht in London, New York, Paris oder Tel Aviv, wo er nach dem Krieg lebte, sondern in Amsterdam, das er nie vergessen konnte. Das jüdische Viertel gibt es nicht mehr, erzählte er ihr. Macht nichts, dort habe ich sowieso nie gewohnt. Er kehrte jedes Jahr für achtundvierzig Stunden nach Amsterdam zurück. Das reicht, sagte er. Ich atme die Luft ein, schaue mir die Bäume und den Widerschein ihrer filigranen Zweige im Wasser der Kanäle an. Ich gehe in die alten Cafes und sehe nach, ob noch jemand von früher lebt, aber selbst die, die noch leben, sind längst weggegangen. Egal. Ich setze mich in eine der alten Kneipen, bestelle ein Glas Genever, rede Holländisch mit allen, die ich in ein Gespräch verwickeln kann, schlage eine holländische Zeitung auf, und so seltsam es klingt: dan n bin ich glücklich. Amsterdam war früher so sauber. Morgens sah man dralle holländische Hausfrauen auf allen vieren die Stufen vor ihrem Haus scheuern. An sie dachte ich, als ich zu masturbieren
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anfing. Anständige, propere Frauen, über deren breitem Hintern sich die Blümchenkleider spannten. Es gab eine Zeit, da hielt sie es nicht einmal einen halben Tag ohne Joseph aus. Dann lief sie zum Hotel Stuyvesant, hastete durch die dunkle Eingangshalle, stand vor dem Fahrstuhl und drückte immer wieder auf den Knopf, während das Licht auf der Stockwerksanzeige im Schneckentempo nach unten kroch. Kaum glitten die Türen auf, betrat sie mit glühenden Wangen die enge, von Neonröhren beleuchtete Kabine und klopfte mit dem Fuß ungeduldig auf den Boden, während sie höher und höher fuhr - bis zum achten Stock. Sie rannte den langen Korridor entlang und blieb, schon jetzt außer Atem, vor seiner Tür stehen. Nachdem sie geklingelt hatte, herrschte im ersten Moment Stille. Doch dann hörte sie drinnen auf dem Holzboden das schlurfende Geräusch seiner ausgetretenen, gelben marokkanischen Pantoffeln, das näher und näher kam, während sie ihr Haar und ihre Lippen berührte und anschließend ihre Tasche fest umklammerte. Sie hatte extra für ihn schwarze Strapse angezogen. Und kein Höschen. Mit hochrotem Gesicht wartete sie ab. Sie hörte, wie die Tür aufgesperrt wurde, und er stand vor ihr. Du siehst aus, sagte er, als wärst du gerannt, um den Zug noch zu erwischen. Abrupt wandte sie sich zum Gehen, doch er packte lächelnd ihren Arm, zog sie in seine Wohnung und schloß die Tür. Du Teufelsbrut, flüsterte er. Warum machst du das mit mir? Ich bin dir nachgelaufen, sagte sie später, als wärst du der Rattenfänger von Hameln. Er zerwühlte ihr Haar. Für dich, mein Liebling, war ich das auch.
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Wortlos begannen sie sich auszuziehen. Ihre Kleider lagen in der ganzen Diele und im Wohnzimmer verstreut. Schlimmer als bei Flüchtlingen, bemerkte er und hob Kitty andächtig hoch. Ihre Koffer waren so vollgestopft, daß sie sich öffneten, während sie die Straße hinuntergingen, und ihre Habseligkeiten Stück für Stück herausfielen. Ihre Wegstrecke war von verlorenen Kleidungsstücken gesäumt. Wie bei uns, mein Engel, sagte er und spreizte ihre Beine. Kitty lag mit halbgeschlossenen Augen in seinen Armen. Die weißen Fensterläden waren geschlossen, der Raum in dämmriges Licht getaucht. Ich habe nachgedacht, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Die Geschichte, die du mir über deine Abreise aus Wien erzählt hast... Du solltest sie aufschreiben. Er fing an zu lachen. Was ist? fragte sie verunsichert. Er stützte sich auf einen Ellbogen und nahm ihre Hand. Seine Wangen leuchteten vor Belustigung. Das habe ich, mein Liebling. Immer und immer wieder. Ich tue nichts anderes. Du bist Schriftsteller? Selbstverständlich bin ich Schriftsteller. Schon mal von Joseph Kruger gehört? Mein Gott, sagte Kitty leise und zog das Bettuch bis zur Schulter hoch, ich hatte ja keine Ahnung. Warum hast du mir das nicht gesagt? Was hätte das schon geändert? Hättest du dich etwa anders verhalten? Anders mit mir geschlafen? Lauter geschrien? Oder leiser? Kitty schüttelte den Kopf. Ich komme mir vor wie eine Idiotin. Dazu hast du keinen Grund, Liebling. Er nahm ihre Brust in seine Hand. Sollen wir es noch mal machen? Jetzt, wo du weißt, wer ich bm? Sie musterte ihn lächelnd. Du bist immer noch derselbe. Er schüttelte den Kopf. Seine Wange war von den Knitterfalten des Betttuchs gezeichnet. So ein Wahnsinn. Natürlich bin ich noch derselbe.
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Hast du meine Bücher gelesen? Oder meine Theaterstücke? Kitty verneinte. Noch nicht. Das ist eine Bildungslücke. Macht nichts. Jetzt wirst du sie lesen. Wenn eine Frau mit einem Schriftsteller schläft, will sie sofort alle seine Bücher lesen. Sie glaubt, sie könne dadurch weiter zu ihm vordringen als im Bett. Danach, rechnet sie sich aus, werde ich meinen Liebhaber besser verstehen. Aber wird sie das wirklich? Was er im Bett verbirgt, verbirgt er auch in seinen Büchern. Nicht unbedingt, widersprach Kitty vorsichtig, er gibt mehr von sich preis, als er glaubt. Für wen hältst du dich? fragte er mit finsterer Miene. Für eine Expertin? Kitty zuckte mit den Schultern. Von Büchern verstehe ich etwas. Du bist doch hoffentlich keine Schriftstellerin, sagte er und sah sie an. Ich wäre gern eine, erwiderte sie und blickte weg. Tja, dann, sagte er, bist du bei mir goldrichtig. Das erste Buch, das er ihr zu lesen gab, hieß Die Gesammelten Bühnenstücke. Du siehst ganz schön arrogant aus, sagte sie, als sie das Foto auf dem Schutzumschlag sah. Er beugte sich über sie. Stimmt, bestätigte er zufrieden. Und soll ich dir sagen, warum? Er nahm ihr das Buch aus der Hand und starrte sein eigenes Bild an. Die Nazis glaubten, einen Juden erkenne man an der Größe seiner Nase. Weit gefehlt. Es sind die Augen. Man mußte sich bloß den verängstigten, kriecherischen Augenausdruck der Juden ansehen, und schon wußte man Bescheid. Aber, fuhr er mit lauter Stimme fort, ich war schlauer. Monatelang stand ich vor dem Badezimmerspiegel und arbeitete daran, selbstbewußt, ja herablassend dreinzuschauen. Schluß mit den Judenaugen. Er schlug das Buch zu. Kitty blickte zu ihm hoch. Es ist nur so, daß ich das nach Kriegsende nicht mehr
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rückgängig machen konnte. Es ist so geblieben. Ich will dir die Wahrheit sagen, mein Schatz. Mir fiel es schwer, mich wieder wie ein Jude zu geben. Er nahm einen Stift. Wie heißt du mit Nachnamen? Jacobs, sagte sie. Er sah sie überrascht an. Jüdin? Das hätte ich nicht gedacht. Und ich bin Experte. Na schön, dann wären wir schon zu zweit. Er schlug das Buch auf und schrieb hinein: Für Kitty Jacobs, das Kätzchen. Die Liebe ist leichter, als wir denken. Joseph Kruger. Sie hat das Buch heute noch. Und auch all die anderen, die er ihr gewidmet hat. Sie hat sie hinter andere Bücher in ihrem Regal geschoben. Seit Jahren hat sie sie nicht mehr angesehen. Seit Kafka hat es so etwas nicht gegeben... hatten die Kritiker über ihn geschrieben. Seit Stalin nicht, sagte sie immer, wenn sie sich über ihn ärgerte. Und letztendlich ärgerte sie sich ständig über ihn. Alle drei Bücher, die er geschrieben hat, spielen in Amsterdam. Der Mann, der sich in einer Leimfabrik versteckte. Der Mann, der sich in einen Fisch verwandelte und sich in einem Kanal versteckte. Der Mann, der sich bei den Huren versteckte. Ich stamme aus einer zionistischen Familie, erklärte er Kitty. Von uns wurde erwartet, daß wir uns nur nach einem einzigen Land auf dieser Welt sehnten, nämlich nach Palästina. Das größte Glück war es, schließlich ins Heilige Land zu gelangen. Aber das Heilige Land war zu heiß und zu trocken. Und wer braucht schon Palmen? Amsterdam war die Stadt, die ich wirklich liebte. Warst du schon mal dort? Hast du die engen Kanäle mit den bogenförmigen Brücken gesehen? Bist du die Brouwersgracht bis zum Ende gegangen und hast gesehen, wie sich vor dir das Meer ausbreitet? Hast du frischen Hering gegessen und mit Genever heruntergespült? Und die holländischen Mädchen mit ihren butterweichen Lippen! Was für ein Paradies!
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Gedankenverloren rührte Kitty im Rest ihres Kaffees herum. Wie schrecklich, sagte sie. Joseph, eine Hand an der Stelle, wo sein gestreifter Bademantel aufsprang, sah sie ungehalten an. Schrecklich? Was ist schrecklich? Du verstehst das nicht. Ich wollte weg aus Wien. Klappernd stellte er seine Tasse auf die Untertasse. Glaubst du etwa, man hat mich ab geschoben? fragte er wütend. Von wegen. Ich wollte weg. Niemand hat mich gezwungen. Seine Stimme wurde lauter. Du hast keine Ahnung, wie glücklich ich war. Ich mußte nicht mehr zur Schule. Keine Eltern. Überall Mädchen. Es war wie Ferien, verstehst du? Wie Ferien. Das einzige, was fehlte, war ein gestreifter Sonnenschirm, und selbst den hätte man auftreiben können. Ich bin aus freien Stücken fortgegangen, wiederholte er mit Nachdruck. Niemand hat mich weggeschickt. Kitty lutschte an ihrem Löffel. Er preßte die Lippen aufeinander und blickte finster vor sich hin. Niemand. Glaubst du, ich bin so, wie ich mich gebe? fragte er sie oft. Ich bin Schauspieler, mein Liebling, und spiele ständig eine Rolle. Vergiß nicht, daß ich nach dem Krieg am Max-Reinhardt Seminar in Wien studiert habe. Ich bin ein Floh und ein Löwe. Manchmal beides gleichzeitig. Ein Seiltänzer, der auf einem haarfeinen Seil balanciert. Und du? Du willst mal raus aus deiner aufgeräumten Wohnung und ein paar Stunden oder Tage hier verbringen? Du willst mal den ganz normalen Wahnsinn erleben? Ist es das? Er beugte sich zu ihr herab und preßte seine Stirn gegen ihre. Innen drin, flüsterte er, seine Lippen an ihren, bin ich so klein wie eine Haselnuß, die sich hinter einem Blatt versteckt.
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Kitty lachte überrascht auf Das glaube ich dir nicht! Kleiner als das Ohr eines Flohs. Kitty rückte ein Stuck von ihm ab, um ihn anzusehen, doch in seine Augen war ein eiskalter, arroganter Ausdruck getreten, und er kehrte ihr die Schulter zu. Er füllte zwei kleine Schnapsgläser. Meine holländischen Pflegeeltern waren brave, phlegmatische, berechenbare Bürgersleute. Aber das nahm ich ihnen nicht übel. Alles nach Vorschrift, alles zur festgesetzten Zeit. Deshalb wußten sie auch genau, wie sie sich zu verhalten hatten, wenn Befehle ergingen. Er war klein, hatte eine angehende Glatze und feuchte dunkle Augen, die er jedesmal trockenwischte, wenn er sich die Nase putzte, als umfasse die Säuberungsaktion das ganze Gesicht und nicht nur einen Teil. Jeden Morgen verließ er um Punkt halb neun das Haus und begab sich zu der Versicherungsgesellschaft, wo er mit dem Sortieren von Unterlagen seine Brötchen verdiente. Er setzte sich den Hut auf und ging mit seinen frisch polierten Schuhen die Stufen hinunter. Bis heute abend, sagte er jedes Mal. Nach der Arbeit saß er dann in seinem grünen Sessel mit den Fransen, las Zeitung und schnalzte ab und zu mit der Zunge. Oje, oje, sagte er immer wieder kopfschüttelnd, oje, oje, bis wir alle anfingen, ihn nachzumachen. Eines Abends legte er die Zeitung zu meiner großen Überraschung beiseite und meinte, er wolle mir beibringen, wie man ein Ei verschwinden läßt. Offenbar zeigte er den Trick auch den Deutschen, denn kaum kreuzten sie auf, waren sämtliche Eier verschwunden. Und nicht nur die Eier. Er staunte, wie schnell ich lernte, meinte, ich sei der geborene Zauberer. Unterdessen rief meine Pflegemutter aus der Küche,
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ich solle ihr das Ei zurückbringen. Sie hielt mich zu Sauberkeit und zum Beten an. Sie achtete darauf, daß ich mich regelmäßig wusch, und sorgte dafür, daß ich meine Unterwäsche wechselte. Sauberkeit war für sie das oberste Gebot. Ihre Küche war immer blitzblank, sie schrubbte und wienerte die Böden und lüftete wöchentlich die Betten. Die kleine Hetty war ihr ein und alles, und als sie mich mit ihr im Bad erwischten (ich stand schon lange nicht mehr draußen vor der Tür), war die Hölle los. Um ein Haar hätten sie mir gedroht, mich nach Österreich zurückzuschicken. Trotzdem, sie waren nicht übel. Und Hetty, die ging in ihrer Phantasie gern auf Reisen, vor allem später, als sie das Haus nicht mehr verlassen konnte. Mit ihren gefühlvollen Augen und ihrem lockigen dunklen Haar sah sie einfach zu jüdisch aus. China, sagte sie zum Beispiel. Wir reisen nach China! Und dann ritten wir auf Kamelen durch die Wüste, glitten auf einer königlichen Barke den Jangtse hinunter und fuhren in einer Kutsche über die Chinesische Mauer. Sie war eine chinesische Prinzessin, ich war der Kaisersohn, der sich in sie verliebt hatte. »Kleine Nachtigall« sollte ich sie nennen und ihr die Hand küssen. Mehr nicht. Jedenfalls nicht damals. Obwohl ich es natürlich versucht habe. Sie waren wirklich nicht übel. Er kippte seinen Schnaps hinunter und schenkte sich nach. Trinkst du nichts? Er schob ihr das Glas hin. Trink, mein Engel, das tut der Seele gut. Kitty mußte husten, und Tränen schössen ihr in die Augen. Ganz schön stark, sagte sie. Was ist aus ihnen geworden? Aus wem? fragte er zurück. Aus deiner Pflegefamilie. Er legte etwas Tabak auf ein Zigarettenpapier. Was aus ihnen geworden ist? Sie sind fortgegangen. Kitty dachte an eine Reise ans Meer oder nach Frankreich.
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Joseph trug immer den gestreiften Bademantel und die marokkanischen Pantoffeln. Saß am Küchentisch und drehte sich eine Zigarette. Und es herrschte immer dämmriges Licht, weil die Fensterläden geschlossen waren. Gehst du nie raus? fragte sie ihn manchmal. Nur, wenn ich muß, erwiderte er. Wir haben es doch gemütlich hier, oder nicht, mein Engel? Oder sollen wir lieber rausgehen und uns an den Hauptbahnhof setzen? Er bestrich eine Brotscheibe mit Gänseschmalz. Am Abend, bevor die Deutschen in Holland einmarschierten, ging ich ins Bad, als Hetty drin war. Ich befahl ihr, sich hinzustellen, und faßte ihr zwischen die feuchten Beine. Sie war so dünn, aber zwischen den Schenkeln fühlte sie sich ganz weich an. Sie fing an zu weinen, aber ich schüttelte warnend den Kopf, und da gab sie Ruhe. Als am nächsten Tag die Panzer in die Stadt rollten und die Straßen von schwarzen Uniformen wimmelten, wußte ich, daß ich, ich ganz allein, für diese Katastrophe verantwortlich war. Waren meine Finger nicht an einen verbotenen Ort gewandert? Das war Gottes Strafe. Da hatte ich den Beweis für etwas, was ich immer wieder gehört hatte: die Gerechtigkeit Gottes folgt auf dem Fuße. Hetty wurde dünner und dünner und war immerzu nervös. Sie konnte nicht mehr zur Schule gehen und rollte sich zu Hause in einem Sessel zusammen, nicht so sehr wie eine Katze, sondern eher wie eine Schnecke. Ich versuchte sie zum Lachen zu bringen, aber sie fand nichts mehr komisch. Ihre traurigen dunklen Augen in ihrem kleinen weißen Gesicht wurden immer größer. Ich streichelte ihre Hand. Erzählte ihr meine besten Witze. Nichts half. Eines Tages sah ich sie am offenen Fenster stehen und hinunterschauen. Ich möchte springen,
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sagte sie vollkommen emotionslos, und als sie sich halb zu mir umdrehte, sah ich ihre eingesunkenen Nasenflügel und ihr kreidebleiches Gesicht. Hetty, laß uns nach China reisen, schlug ich vor. Du reitest auf einem feuerspeienden Drachen und trägst fließende Seidengewänder und Perlenketten. Und darüber einen Umhang, der aus den Federn von tausend Fasanen gemacht ist. Alle verneigen sich tief, wenn du vorbeireitest, weil du die Kaiserin bist, die schönste und mächtigste Person im ganzen Land. Ich werde an deiner Seite sein, mit einem flammenden Schwert in jeder Hand, um dich zu beschützen... Aber diesmal wollte Hetty nicht nach China reisen. Laß mich springen, sagte sie ruhig. Sie war damals fünfzehn. Komm, Liebling, laß uns ins Bett gehen. Warte, sagte Kitty, wir sind doch gerade erst aufgestanden. Aber ich bin schon wieder bereit. Einen Augenblick noch, ich muß etwas essen. Er stand auf, ging zum Küchenschrank und holte einen halben Laib Brot sowie ein kleines Glas Heringe heraus. Dann nahm er ein Holzbrett und wischte die Krümel ab. Laß dich von mir bedienen, sagte er. Er griff nach dem Brotmesser und schnitt in den dunklen, festen Laib. Schwarzbrot mit Hering - was gibt es Beßres? Skeptisch beäugte sie das belegte Brot. Komm schon, drängte er. Sei eine brave Jüdin. Sie nahm einen Bissen und lächelte. Magst du das? fragte er leise und zwickte sie in die Backe. Schmeckt das gut, mein Schatz? Ich weiß auch nicht, was es ist, murmelte er, aber ich kann einfach nicht die Finger von dir lassen. Weil ich jünger bin, meinte Kitty vorwitzig. Ha ha, höhnte er. Weiß du, wie viele jüngere Frauen ich schon gehabt habe? Das ist mir egal, sagte Kitty trotzig. Er lächelte. Liebling, du bist noch jünger, als ich dachte.
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Er nahm sie in den Arm und leckte die Krümel aus ihren Mundwinkeln. Schwarzbrot, Hering und Schnaps, murmelte er. Du riechst wie Wilna, du riechst wie Lublin, du riechst wie Czernowitz. Wonach riechst du eigentlich nicht? fragte er sie strahlend. Was würden deine respektierlichen Eltern sagen? Er strich ihr die Haare aus der Stirn. Sollen wir zusammen durchbrennen? Ich bringe dir Deutsch bei. Echtes Wiener Judendeutsch. Ich fange noch mal von vorn an, sagte er aufgeregt. Ich schreibe wieder Bühnenstücke. Sie werden am Burgtheater uraufgeführt, und ich rasiere mich jeden Tag und empfange die Presse - wie früher. Was meinst du? Sollen wir das machen, mein Schatz? Von vorn anfangen? Kitty küßte ihn innig, aber plötzlich ließ er die Arme sinken. Was ist? fragte sie. Stimmt etwas nicht? Das sind alles Hirngespinste! rief er. Nichts weiter. Als ob man im Leben noch mal von vorn beginnen könnte! Treibt die Vergangenheit etwa davon wie ein Boot auf einem nebelverhangenen Fluß? Ich bitte dich, ich sollte es eigentlich wissen. Vielleicht könntest du tatsächlich von vorn anfangen, meinte Kitty. Bist du nicht gescheit? stieß er heftig hervor. Es gibt kein Entrinnen. Wie Käfer, die sich mit dem Dreifachen ihres eigenen Gewichts abschleppen, tragen wir alle unsere Vergangenheit mit uns herum. Sie ist auf unserem Rücken festgeschnallt, wir können die Last nicht absetzen, können nicht an einem Wirtshaus haltmachen und sie für eine Nacht ablegen. Er setzte sich an den Tisch und schenkte sich etwas zu trinken ein. Sein weißes Haar war spröde wie trockenes Laub. Seine Augenlider hingen herunter. Kitty setzte sich ihm gegenüber. Das Geflecht aus feinen Linien in seinen Augenwinkeln fiel ihr in diesem Moment besonders auf. Sie wartete ab. Nach einer Weile griff er über den Tisch und nahm
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ihre Hand. Nichts für ungut, Liebhng, sagte er. Wir leben ja noch, stimmt's? Wieviel Uhr ist es? fragte Kitty und krempelte die Ärmel ihres Kimonos auf. Keine Ahnung, antwortete Joseph. Wenn meine Eltern mich sehen könnten, fuhr sie fort und betrachtete den Kaffeefleck auf ihrem Ärmel, wie ich mich hier verkrieche, mit Kaffeeflecken auf meiner Kleidung und Haaren wie ein Rattennest. Was für ein braves Mädchen du doch bist, sagte er. Du hast keine Ahnung vom Leben. Sie rieb an dem Fleck. Früher hatte ich einen anständigen Job. Ich habe in einem Verlag Manuskripte redigiert. Na, dann sei froh, daß du aus dem verstaubten Laden raus bist, bemerkte er. Ich bin gegangen, weil ich schreiben wollte. Und? Und dann habe ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt und Löcher in die Luft gestarrt, aber mir ist nichts eingefallen. Er hob die Achseln. Ein Schriftsteller schreibt. Wenn er kann, sagte sie ruhig. Was für eine Art von Juden sind deine Eltern? Kitty überlegte kurz. Unauffällige Juden. Sie behaupten nicht, sie seien keine, aber sie erzählen auch nicht jedem, daß sie welche sind. Bis ich von zu Hause weg bin, kannte ich keine Juden. Nur die aus den Büchern. Meine Eltern sprachen nie über die Vergangenheit. Und weil sie nicht darüber sprachen, war sie das einzige, was mich interessierte. Sie beugte sich vor. Ich habe Bücher über den Krieg gelesen, sagte sie, ich weiß, was passiert ist. Ach ja? fragte er ironisch. Sie wurde rot. Nichts für ungut, mein Schatz. Ich kenne kein Mädchen, das so sexy ist wie du, und ich habe eine Menge Mädchen gekannt. Ich wollte etwas über den Krieg erfahren, erzählte Kitty langsam weiter, weil ich das Gefühl hatte, zu diesen dunkeläugigen Juden zu gehören. Damit meine
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ich nicht, daß ich ihr schreckliches Schicksal teilen wollte, fügte sie rasch hinzu. Mir kam es nur so vor, als wäre mein wahres Zuhause bei ihnen. Meine Eltern hatten es hier wirklich zu etwas gebracht, jedenfalls glaubten sie das: ein großes weißes Haus im Kolonialstil mit schwarzen Fensterläden und einem riesengroßen Rasen davor. Und wovon träumte ich? Von dunkeläugigen Juden, die sich in Prag oder Berlin oder Budapest zum Mahl niedersetzten. Ich träumte, sie würden mich draußen auf dem Rasen sitzen und ein Buch über den Krieg lesen sehen. Die Narzissen würden blühen und die Eichen ihre dicken belaubten Äste von sich strecken. Was ist mit dir? würden sie, fast bestürzt, fragen. Warum willst du das alles lesen? Und ich hatte das Gefühl, wenn sie gekonnt hätten, hätten sie mir das Buch weggenommen. Aber das wäre unamerikanisch gewesen. Ich lebte in diesen Büchern. Joseph sah sie prüfend an. Und jetzt willst du vielleicht in diesem hier leben. Meine Mutter läutete immer mit einem silbernen Glöckchen, und dann warteten wir schweigend, bis Ruby mit ihrer strahlendweißen Schürze auf der schwarzen Dienstkleidung und ihrer glatten, geheimnisvollen schwarzen Haut hereinkam. Bei uns wurde damals so oft geschwiegen. Keiner sprach über das, was in ihm vorging. Ruby brachte die Servierplatte herein und trug sie wieder hinaus. Und dann legte meine Mutter plötzlich munter los: Hab heute die alte Mrs. Thomas gesehen... Und ich kaute langsam auf meinem Roastbeef herum. Kitty lachte gequält. Es herrschte gähnende Langeweile. Du machst dir keinen Begriff. Und worüber willst du schreiben? fragte Joseph und stieß ein paar Rauchkringel aus. Über das Schweigen bei Tisch? Das dürfte sich nicht sonderlich gut verkaufen.
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Mein Vater polierte seine eleganten braunen Lederschuhe jeden Abend auf Hochglanz. Meine Mutter trug ein Bettjäckchen aus Spitze und las immer noch eine halbe Stunde in einer englischen Detektivgeschichte, bevor sie das Licht ausknipste. Mir schien das Eheleben ziemlich öde zu sein. Jetzt lachte Joseph gequält. Es ist noch schlimmer, meinte er. Und trotzdem, sagte Kitty leise und wandte sich ab, trotzdem träumte ich davon. Allerdings von einer wilderen, freieren Variante. Mein Schatz, sagte Joseph mitleidig, die Ehe ist weder wild noch frei. Das sind Kleinmädchenphantasien. Ich verstehe etwas davon. Schließlich war ich zweimal verheiratet. Das war der blanke Wahnsinn. Ich habe meine Lektion gelernt. Kittys Eltern hatten mit ihrer Tochter nie eine Synagoge besucht. Sie wollten all das hinter sich lassen. Laßt uns nur einmal hingehen, bettelte Kitty, als sie noch klein war, nur um zu sehen, wie es dort ist. Ihr Vater tätschelte ihren Kopf. Nicht nötig, meinte er lächelnd, das kannst du dir getrost schenken. Aber ich möchte doch nur kurz reinschauen, sagte sie. Ich möchte sehen, wer drin ist. Statt dessen fuhren sie mit ihr nach Boston und Philadelphia, um den Freedom Trail abzulaufen und gesprungene Kirchenglocken, alte Quäkersiedlungen und das dunkle Holzhaus von Paul Revere zu besichtigen. Hier wurde die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet, verkündete ihr Vater aufgeregt und zeigte ihr das in einer Glasvitrine aufbewahrte Dokument. Aber das alte Stück Pergament sagte ihr nichts, und als sie ins Freie traten, blickte sie zum blauen, von weißen Wölkchen wie von Fischschuppen überzogenen Himmel auf und fragte sich, was für ein Mensch sie wohl
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geworden wäre, wenn sie vor dem Krieg im fernen Europa zur Welt gekommen wäre. Sie schaute in Josephs dunkle Augen, und ein friedvolles Gefühl überkam sie. Wie er in dem gestreiften Satinbademantel mit geschwellter Brust Kaffee einschenkte, hatte er etwas von einem Sultan aus dem Morgenland. Sie saß auf seinem Schoß. Joseph, sagte sie und zupfte an seinem Ohr, du darfst mich nie verlassen. Mein Liebling, antwortete er, eins hat mich das Leben gelehrt, nämlich daß man bereit sein muß, von einem Augenblick auf den anderen abzuhauen. Das war einmal, sagte Kitty. Er schüttelte den Kopf. Was hat sich seither geändert? Wir werden alle unter derselben Erde begraben, überlegt Kitty und starrt aus dem Zugfenster. Unter dieser bröckeligen dunklen Krume werden wir liegen. Sie muß an ihren eigenen Tod denken. Wenn er sterben kann, kann sie es auch. Und mit uns geht alles andere dahin. Was ist mit der Liebe? Wird sie zusammen mit unseren Knochen begraben? Du bist viel zu sentimental, spottete er oft. Du mit deinen Beschreibungen von Mond und Liebe. Als Schriftsteller muß man einen kühlen Kopf bewahren und distanziert sein. Er schloß den Hemdknopf über seinem Bauch, der immer wieder aufsprang. So wie ich. Wenn ich schreibe, bin ich vollkommen kühl. Von Gefühlen keine Spur. Seine Bücher waren wie Halluzinationen vom Krieg und allesamt schmale Bändchen. Mehr hätte auch niemand verkraftet. Er stellte die Welt auf den Kopf, stülpte ihr Innerstes nach außen. In seinen düsteren Visionen gab es kein Licht, das nicht ausgeblasen wurde. Er war ein Spaziergang, sagte er über
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den Krieg, ein Jahrmarkt. Besser als der Prater, wo ich als Kind hinging. Besser als der Mann, der den Hühnern den Kopf abbiß. Besser als die dicke Frau, der Zauberer und der Mann, der unanständige Postkarten verkaufte, zusammen. Du möchtest also Schriftstellerin werden, frotzelte er. Und worüber willst du schreiben? Über Liebe und Blumen? Vielleicht, antwortete Kitty und spielte mit einer Haarsträhne. Vielleicht schreibe ich abe* auch über dich. Über mich? Viel Glück. Seit wann schreibt das Kaninchen über den Fuchs? Er stand auf und ging zu ihr. Schreib doch darüber, raunte er, während er hinter sie trat, den Kimono von ihren Schultern streifte und sich herabbeugte, um ihren Nacken zu lecken. So, so, sagte er dicht an ihrem Ohr, du hast dich also gelangweilt, was? Hier wirst du dich nicht langweilen. Er schob ihren Kimono noch weiter herunter und zog sie hoch. Hast du es schon mal über den Küchentisch gebeugt gemacht? wollte er wissen. Sie befreite sich aus seinem Griff. Das Blut schoß ihr in die Wangen. Glaubst du etwa, du entkommst mir? fragte er. Ja, rief sie erregt. Impossible, sagte er auf französisch. Rasch packte er sie und preßte dabei ihre Arme an ihre Seiten. Jetzt hast du mich provoziert, mein Liebling. Beug dich vornüber, befahl er leise. Nein. Er drückte sie nach unten. Sie lachte. Mit einer Hand hielt er sie fest, mit der anderen schob er den Seidenstoff hoch und gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern. Sie spürte ihn zwischen ihren Beinen. Er legte das Gesicht an ihren durchgebogenen Rücken und küßte sie. Nun, Liebling? fragte er. Geht nicht runter, habe ich zu ihnen gesagt. Er schüttelte den Kopf. Unten auf der Straße stand ein Uniformierter mit
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Megaphon, und sie konnten es nicht erwarten. Er hob die Teekanne und schenkte ihr eine Tasse ein. Mitten beim Frühstück sprangen sie auf wie Marionetten, die an ihren Fäden hochgerissen werden. Trink, befahl er. Er neb sich das Brustbein. Und wozu die Eile? Später standen sie geschlagene zwölf Stunden zusammengepfercht auf dem großen Platz und brüllten wie die Ochsen. Er griff nach einer Postkarte, die auf dem Tisch lag, betrachtete kurz das barocke Bauwerk und den grauen Himmel und warf sie wieder hin. So sind die Juden eben, meinte er. Konnten es nicht erwarten zu sterben. Was ist? Warum trinkst du nicht? Ist er dir zu stark? Er hob den Deckel der Teekanne hoch und spähte hinein. Schwarz wie die Nacht, stellte er fest. Hat zu lang gezogen. Trink ihn trotzdem, Liebling. Es schadet nicht, wenn er ein bißchen bitter ist. Jetzt schenkte er auch sich selbst etwas Tee ein. Die Mutter war dünn, hatte einen langen schmalen Hals und kurzes Haar. Ihre Augen blinzelten immer wie die eines Vogels. Ein Vogel mit blauen Augen. Wenn sie die Augen bewegte, bewegte sie den ganzen Kopf. Wie ein Vogel eben. Er trank einen Schluck und musterte sie über den Tassenrand hinweg aus seinen dunklen Augen. Sie sah nicht jüdisch aus. Sie hätte davonkommen können, wenn sie all ihre Sinne beisammen gehabt hätte. Aber nicht mit ihnen. Der Vater und das Kind mit ihren ängstlichen Augen sahen durch und durch jüdisch aus. Er riß ein Stück Brot ab und kaute grimmig. Irrtum ausgeschlossen. Die Krümel fielen auf seine Brust. Mit der flachen Hand wischte er sich den Mund ab. Sobald abends die Lichter gelöscht waren, schlich ich mich ins Zimmer der Tochter. Sie war so alt wie ich, sah aber jünger aus. Ich schlüpfte zu ihr unter die Decke. Sie lag steif wie ein Brett da und ließ sich von mir obenherum anfassen. Zu sagen hatten
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wir uns nichts. Also schlugen wir die Zeit eben anders tot. Außerdem war es zwischen ihren duftenden Laken schön warm. Er runzelte die Stirn. Trink. Laß ihn nicht kalt werden. Muß ich denn alles für dich tun? Vielleicht sollte ich ihn dir mit einer Pipette einträufeln wie einem Vogeljungen. Komm, wirf ein paar Zuckerstückchen hinein. Hast du in deinem piekfeinen Elternhaus denn gar nichts gelernt? Mein Großvater - möge er in Frieden ruhen - klemmte sich beim Teetrinken immer ein Zuckerstück zwischen die Zähne. So süßt man den Tee bei jedem Schluck. Er griff über den Tisch und strich mit der Hand über ihre Wange. Soll ich es dir beibringen, mein Engel? Soll ich das Zuckerstück zwischen deine spitzen kleinen Zähne halten, bis du es selber kannst? Er kniff die Augen zusammen und sah sie listig an. Oder würdest du mich beißen, du Hure? Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Komm her, setz dich auf meinen Schoß. Ich möchte dich lecken, dich unterm Arm beißen. Warum rasierst du dich dort? Frauen sollten sich das Haar unter den Armen zu Büscheln wachsen lassen, damit es die Männer an das andere Haarbüschel erinnert. Oh, Liebling, komm her und setz dich auf meinen Schoß. Ich möchte dich spüren. Sie trank ihren Tee. Komm, Baby, komm zu mir. Er nahm sie wohlgefällig in Augenschein. Du siehst wie die Frauen vor dem Krieg aus: wohlgerundet, kesser Blick. Und diese volle Unterlippe! Ich möchte mit der Zunge darüberfahren und sie ablecken wie einen Briefumschlag. Sie lächelte in ihre Teetasse. Er säbelte ein Stück Blutwurst ab und steckte es sich in den Mund. Geht nicht runter, habe ich zu ihnen gesagt. Es ist gemütlicher, daheim erschossen zu werden. Er leckte sich das Fett von den Fingern. Ich kitzelte die Kleine in ihrer rosa Bluse unter dem Arm, aber diesmal lachte sie nicht. Komm schon, flüsterte ich
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ihr zu, bleib hier. Überleg doch mal, wieviel Spaß wir zusammen haben werden. Ihr Haar war zu straffen Zöpfen geflochten und mit Spangen festgesteckt. Bleib hier. Sollen sie doch ohne uns gehen. Sie riß die Augen auf und klammerte sich heulend an den Arm ihrer Mutter. Bleib. Ich bettelte richtig. Aber sie wollte nicht daheim bleiben, nicht bei einem so wichtigen Ausflug. Langsam trank er seinen Tee. Ich eigentlich auch nicht, sagte er nach einer kurzen Pause. Er schob das Häuflein Tabak, das auf dem Tisch lag, auf ein weißes Blättchen und drehte sich eine Zigarette. Aber ich dachte nicht daran, mit einem hübschen Köfferchen und einem flotten Hut auf die Straße zu gehen, um in einen Zug gesteckt zu werden. Er tippte sich an den Kopf. Ich bin eben ein schlauer Jude. Als sich die Stimme zum zweiten Mal per Megaphon meldete, zögerten sie nicht länger. Bevor sie gingen, spülte die Mutter noch die Tassen ab und stellte sie umgekehrt zum Trocknen hin. Eine gute Hausfrau bis zuletzt. Der Rauch quoll aus seinen Nasenlöchern. Sie trocknete sich die Hände ab und zog Handschuhe an, aber sie bekam die Finger nicht richtig hinein. Die Nerven. Er versuchte ihr zu helfen, aber auch er konnte seine Hände nicht ruhighalten. Verabschiedet haben wir uns nicht. Wozu? Die Mutter trug mir noch auf, mich um alles zu kümmern und abzuschließen, wenn ich hinausging. Ha! rief er. Dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloß. Und ich verkroch mich auf dem Dachboden, der so klein war wie ein Rattenloch, legte mich auf den staubigen Boden und wartete ab. Er verstummte kurz und zog an seiner Zigarette. Nach einer Weile, als draußen Ruhe einkehrte, wünschte ich mir, ich wäre mit den anderen auf die Straße gegangen. Es herrschte Grabesstille, und ich fühlte mich wie der letzte Mensch auf Erden. Mit der Zigarette zwischen den Lippen
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erzählte er weiter. Ich rief Ihn an. Schließlich war Er der einzige, der noch da war. Lieber Gott, sagte ich, kein Wunder, daß du zur Zeit nur so wenige Freunde hast, wenn du sie so behandelst. Er zuckte die Achseln. Aber Er antwortete nicht. Er hatte Sein Gesicht bereits abgewandt. Kitty umschloß mit beiden Händen die dampfende Teetasse. Du hattest bestimmt schreckliche Angst, sagte sie ruhig. Sein Blick verfinsterte sich. Was weißt du schon? herrschte er sie an. Halt dich aus meiner Geschichte raus. Er entfernte einen Tabakkrümel von seiner Zunge. Was weißt du schon, murmelte er. Was kannst du schon wissen. Wie sorgfältig sie gepackt haben, sagte er verächtlich. Sollen wir das mitnehmen? Werden wir jenes brauchen? Er lachte kurz. Zum Totlachen. Er sah sie lange an. Du hast ja keine Ahnung, sagte er dann. Das war eine andere Welt. Er seufzte erschöpft. Nichts für ungut, meinte er nach einer kurzen Pause. Komm, ich bring dich zum Lachen, Liebling. Soll ich auf dem Kopf ein Ei kreiseln lassen? Oder mir die Hose über die Ohren ziehen, damit ich wie ein Esel aussehe? Er griff über den Tisch und zog ihren Mundwinkel hoch. Lächeln, mein Schatz. Es ist alles in Ordnung. Geht ein Mann in die Synagoge. Rabbi, sagt er... Nein, ich weiß was Beßres: Laß uns ins Bett gehen. Komm ins Bett, Liebling, drängte er und zog sie hinter sich her ins Schlafzimmer. Grab ein Loch im Wald, sagte er und schlug die Decke zurück, und ich krieche hinein. Ein Loch für das Karnickel, in dem es sich verstecken kann, ein dunkles, stilles Loch. Er legte sich ins Bett und zog sie fest an sich. Deck mich mit Blättern zu, flüsterte er, zum Schutz gegen Raubtiere. "Was redest du da? flüsterte sie zurück. Sag so etwas nicht. Sie strich über sein trockenes Haar. Seine dunklen Augen waren vor Schrecken weit aufgerissen. Wo soll ich ihn verstecken? fragte er. Schnell. Wen willst du verstecken? Mach die Beine breit,
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Liebling. Ich möchte ihn in dir verstecken. Dort, zwischen deinen weißen Schenkeln, wird ihn niemand finden. Laß ihn rein, Liebling, mit seinem fehlenden Hütchen. Das ist der sicherste Ort. Sie spürte sein Herzklopfen an ihrer Brust. Aber der Krieg ist vorbei, stieß sie keuchend hervor, während sie sich ihm öffnete, der Krieg ist vorbei. Mein armer Liebling, erwiderte er besorgt, der Krieg wird nie vorbei sein. Ich muß dir etwas Merkwürdiges erzählen, sagte Joseph. Eines Abends sah ich in der Herrengracht das Mädchen wieder, jedenfalls glaubte ich das. Welches Mädchen? wollte Kitty wissen. Na, Hetty, die Tochter meiner Pflegefamilie, die man abgeholt hatte. Es war keine gute Idee, dort so spätabends herumzulaufen, selbst mit Papieren nicht. Über dem Kanal hing Nebel, und ich konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Ich hatte ein Kellerzimmer zum Wohnen gefunden und war gerade auf dem Weg dorthin. Plötzlich tauchte aus dem Nebel ein junges Mädchen in einem dunkelblauen Wollmantel mit glänzenden Goldknöpfen auf. Meine Hetty hatte auch so einen. Sie hatte dasselbe dunkle, von Spangen zurückgehaltene Haar, dieselben Augen. Bist du es? fragte ich sie. Was machst du hier? Sie antwortete nicht. Aber sie war es, ganz bestimmt. Komm, sagte ich, hier draußen ist es zu gefährlich. Ich habe ein Zimmer. Ich streckte die Hand nach ihr aus, aber sie verschwand im Nebel. Ich suchte überall nach ihr. Warum ist sie nicht zurückgekommen? Ich hätte sie gerettet. Ich hätte sie versteckt. Kitty schwieg. Er sah sie mit leerem Blick an. Das hätte ich getan, sagte er stockend, ich hätte sie in Sicherheit gebracht, bis zum Ende des Krieges. Warum ist sie weggelaufen?
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Nach dem Krieg lebte er in Paris, Tel Aviv, New York, Südfrankreich, Wien und London. Nirgendwo hielt er es lange aus. Rastlos reiste er immer wieder mit einer kleinen Reisetasche und einem knittrigen, zwanzig Jahre alten österreichischen Paß für ein paar Tage, höchstens eine Woche, irgendwohin. Wohin, spielte keine Rolle, Hauptsache, er war unterwegs. Aber auch in Venedig, Florenz, Budapest oder Athen war er nicht glücklich. Die große Vorfreude, mit der er aufbrach, verflog jedesmal, kaum daß er im Hotel sein Zimmer bezogen hatte und auf den Platz hinausging, um einen Kaffee zu trinken. Es hat sich nichts geändert, stellte er traurig fest, wenn er sich umblickte. Alles beim alten. Oft reiste er schon am nächsten oder übernächsten Tag wieder ab, früher als geplant. Manchmal, wenn ein Zirkus in die Stadt kam, wartete er. Er liebte den Zirkus und summte die Melodien der Dampforgel schon vor sich hin, noch bevor er das Zelt betrat. Mit neun Jahren war er davongelaufen, weil er zum Zirkus gehen wollte. Ein Mann hatte ihn am Ufer der Donau gefunden, wo er, einen kleinen Rucksack neben sich, ganz allein saß und Schokolade aus einer Serviette aß, und er hatte ihn wieder nach Hause gebracht. Er mochte alle Zirkusnummern, klopfte den Takt der Musik mit dem Fuß mit, juchzte und klatschte bei jeder Darbietung. Er lachte, wenn die Clowns aus ihrem winzigen Auto kletterten, obwohl er die Nummer schon hundertmal gesehen hatte. Doch kaum verließ er das Zirkuszelt, befiel ihn wieder die alte Hoffnungslosigkeit. Gemeinsam waren sie nach Prag und Budapest gereist, aber jedesmal stiegen sie schon nach ein, zwei Tagen wieder in den erstbesten Zug. In Prag hatten sie Kuchen gegessen und fiedelnden Zigeunern gelauscht. Am zweiten Tag hatten sie sich im Jüdischen Museum alte, in Glaskästen ausgestellte
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Gegenstände aus jüdischem Besitz angesehen: religiöse Gegenstände, ein Schultertuch, ein Buch, ein Paar Schuhe. Mit versteinerter Miene hatte Joseph sich abgewandt. Als wären wir alle tot und vom Erdboden verschwunden, sagte er verbittert, eine ausgestorbene Rasse, die eine Tasse und ein paar Teller zurückgelassen hat, und die stellt man jetzt in diesen Glassärgen zur Schau. Komm, sagte er und faßte ihren Arm, laß uns von hier verschwinden. Wir nehmen den nächsten Zug. Und jetzt sollen all seine verrückten Gedanken, all seine Energien in einem kleinen Holzsarg stecken? Wie ist das möglich? Gibt es kein physikalisches Gesetz, das das ausschließt? Genausogut könnte man von einem Riesen verlangen, im Loch einer Bisamratte zu hausen. Im Krieg war das an der Tagesordnung, sagte Joseph. Menschen zwängten sich in Schränke und unter Bodendielen oder versteckten sich in einem Loch im Waldboden. Ein Mann quetschte sich in einen Ofen und blieb jahrelang drin. Als wäre er nicht größer als eine Bisamratte oder eine Maus. Die Verwandlung eines Menschen in ein vierbeiniges Tier, in ein Insekt oder in einen Armvoll Feuerholz - erstaunlicher als jede Zirkusnummer, meinte er kopfschüttelnd, verteilte auf einem dünnen Zigarettenpapier mehrere lange Tabakfäden und rollte das Papier fest zusammen. Ohne mich, mein Liebling. Ich war ständig auf Achse und hatte mehr Freundinnen, als du an beiden Händen abzählen kannst. Ich hatte keine Lust, mich in einer Kiste zu verkriechen. Sie hat eins von Josephs Büchern mitgenommen. Die Gesammelten Bühnenstücke. Deshalb ist ihre Tasche so schwer. Finster wie die Nacht, hatten die Kritiker geschrieben. Schwarz
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wie Pech. Eine Reise in die Unterwelt. Trostloser als alles, was wir in den ganzen letzten Jahrzehnten gelesen haben. Der Kafka der Nachkriegszeit. Ein Autor mit brillanter Phantasie. Eine Welt ohne Licht und Erlösung. Unerhört komisch. Oft hatte er vergilbte Zeitungsausschnitte aus den fünfziger und sechziger Jahren herausgesucht und ihr die Rezensionen am Küchentisch ein ums andre Mal vorgelesen, bis sie sie auswendig konnte. Sie zieht den Reißverschluß ihrer Reisetasche auf und nimmt das Buch heraus. Auf dem Einband ist ein Mann mit umschattetem Blick neben einem entlaubten Baum abgebildet. Sie liest den hinteren Klappentext. Es ist wie ein Schock für sie, als sie sein Foto wiedersieht. Er vor dreißig Jahren, zwanzig Jahre bevor sie ihn kennengelernt hat. Damals war sein welliges Haar noch dunkel, sein Gesicht noch faltenlos, aber in seinen Augen lag bereits dieser verbitterte Ausdruck. Trotzdem, das ist er. Sie studiert sein Gesicht. Was hat das alles zu bedeuten? fragt sie sich müde. Sie kann Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr auseinanderhalten. Eines Tages wird ihre Zugfahrt nur noch Erinnerung sein - und die gefrorene Landschaft grün. Habe ich dir von Marijke erzählt? Damals, während des Krieges in Amsterdam? Ja, antwortet Kitty, mindestens hundertmal. Habe ich dir erzählt, wie sinnlich sie war, mit ihren vollen Lippen, ihren hellblauen Augen und ihrem weißblonden Haar? Ja, hast du, sagte Kitty. Sie hat mir das Leben gerettet. Ich weiß, erwiderte Kitty. Sie hat mir Geld für falsche Papiere gegeben. Und das alles nur, weil ich so ein hübscher Bursche war. Sie hat mich auf der Straße aufgelesen. Ich dachte, du wärst Italiener, flüsterte sie mir später zu, weil du dunkles Haar und dunkle Augen hast. Sie hat für Geld mit Männern geschlafen. In Friedenszeiten hätte sie das nie getan. Bist du sicher? fragte Kitty schneidend. Während der Besetzung mußte jeder
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zusehen, wie er zurechtkam. Das war eine andere Welt. Sie stammte aus einem Dorf im Norden von Holland und hatte die breiten Hüften und kräftigen Beine eines Bauernmädchens. Was für ein Schatz sie war! Bist du eifersüchtig? Nein, schwindelte sie, natürlich nicht. Das ist doch bald fünfzig Jahre her. Er sah sie forschend an. Doch, du bist eifersüchtig, stellte er triumphierend fest. Marijkes Tasche werde ich nie vergessen. Es war eine große schwarze Kunstledertasche. Dann schleppte sie alles mögliche mit sich herum: Zigaretten vom Schwarzmarkt, einen Schokoladenriegel von einem Liebhaber, eine orangefarbene Baskenmütze, ein Fläschchen Parfüm, Unterwäsche zum Wechseln, ein Stück Brot und immer ein paar lose Münzen. Von Portemonnaies hielt Marijke nämlich nichts. Wenn sie etwas bezahlen mußte, griff sie tief in ihren großen schwarzen Beutel, kramte darin herum und fischte das Geld Münze für Münze heraus. Dabei rief sie lachend: Ach, was für ein Durcheinander da drin herrscht. Stimmt das so? fragte sie und hielt dem Ladenbesitzer eine Handvoll Münzen hin. Wegen ihres Lachens und ihrer großen Brüste konnte kein Ladenbesitzer ihr jemals böse sein, daß sie seine Zeit vergeudete. Wie süß, bemerkte Kitty. Wie eifersüchtig du doch bist, stellte Joseph fest. Die eifersüchtigste Frau, der ich je begegnet bin. Ich rede über etwas, was fünfzig Jahre zurückliegt. Ich bin nicht eifersüchtig, widersprach Kitty und zwirbelte eine lange Haarsträhne. Er lachte. Jedenfalls nicht sehr. Einmal habe ich zu Marijke gesagt, fuhr er fort, daß es mein Traum wäre, mich in ihrer großen schwarzen Tasche zu verkriechen und den Rest des Krieges darin zu verbringen. Da mußte sie lachen. Was für ein Schatz sie war, sagte er zärtlich. Kitty saß schweigend da, zupfte an
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ihrer Lippe und betrachtete ihn über den großen Tisch hinweg, der wie eine Barriere zwischen ihnen stand. Sie nahm mich mit nach oben, obwohl sie wußte, daß ich nicht bezahlen konnte. Die Frau am Empfang wollte das zuerst nicht. He, rief sie. Ihr orangefarbenes Haar war zu einer Hochfrisur aufgetürmt. Was schleppst du da für ein unreifes Früchtchen an? Der Junge muß erst noch ein bißchen älter werden. Als Marijke sagte, ich sei ihr Cousin, zuckte die Frau bloß mit den Schultern. Mach, was du willst. Aber sieh zu, daß dein Cousin bezahlt. Es dauerte nicht lange, bis Marijke merkte, daß bei mir etwas fehlte. Ich schwöre bei meiner Mutter, daß ich nie darüber sprechen werde, flüsterte sie und legte die Hand aufs Herz. Wie konnte ich sie nicht lieben, wenn ich den Kopf zwischen ihre großen Brüste legte und mir ein vertrauter Geruch wie bei meiner Mutter in die Nase stieg? In den Sechzigern mußte ich zu einer Schriftstellertagung nach Amsterdam. Als ich durch die Straßen ging, war mir, als sähe ich sie vor einem Kino Schlange stehen. Ich erkannte ihr Profil, ihre Himmelfahrtsnase, ihre vollen Lippen, ihr weißblondes Haar. Sogar eine große schwarze Handtasche hatte sie dabei, und sie stand da, wie Marijke es immer getan hatte, einen Schuh abgestreift und den Fuß gegen den an deren Knöchel gestützt. Mir wurde schwindlig. Mein Herz raste. Ich konnte kaum gehen, aber irgendwie schaffte ich es, auf sie zuzulaufen. Marijke! rief ich. Marijke! Und dann, kurz bevor ich sie erreichte, drehte sich die Frau um ... Wir trafen uns immer in einem Cafe unten an den Docks. Ich war jedesmal etwas zu früh dort und wartete auf sie. Sie kam
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kurz nach mir, in ihrem Mantel mit dem Gürtel, der großen schwarzen Umhängetasche und wehendem weißblondem Haar. Sie lachte mich mit ihren großen Zähnen an, setzte sich neben mich und ging mit dem Mund ganz dicht an mein Ohr heran. Oje, sagte sie, diesmal hatte ich einen schrecklichen Kerl, aber dann sehe ich dich, und schon habe ich sie alle vergessen. Sie schlief auch mit Deutschen, und ich überlegte, was wohl passieren würde, wenn sie dahinterkämen, mit wem sie sie teilten. Doch sie konnte nicht mal eine deutsche Uniform beeindrucken. Obwohl sie mich liebte, hatte ich ständig Angst, daß sie mich verraten könnte. Nicht vorsätzlich, aber womöglich würde sie irgendwann nach ein paar Schnäpsen gefühlsduselig und erwähnte ihren hübschen Freund aus Wien. Kitty runzelte die Stirn. Wie hast du das nur ausgehalten? Oh, mein Liebling, sagte er, wie naiv du bist. Hatte ich denn eine Wahl? Und sie? Wir wollten einfach nur am Leben bleiben. Er erzählte ihr stundenlang von Marjke und von Amsterdam während des Krieges, immer und immer wieder, bis Kitty irgendwann ganz blaß und gereizt war. Ich habe den Krieg satt, sagte sie schließlich. Ho, ho, rief er und schlug mit dem Löffel gegen seine Tasse. Du hast den Krieg satt? Du? Du wurdest doch erst geboren, als alles vorbei war. Was glaubst du, wie satt ich ihn habe? Die alte Frau auf der anderen Seite des Gangs liest in einer kleinen Bibel. Ihr Kinn bebt, während sie mit gerötetem Finger den Zeilen folgt und immer wieder eine der hauchdünnen Seiten umblättert. Sie wird Henri anrufen, sobald sie in Amsterdam ist. Er hebt immer beim ersten oder zweiten Klingeln ab. Er ist so gewissenhaft, so beflissen. Manchmal läßt
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sie aus Boshaftigkeit ein, zwei Sekunden verstreichen, bevor sie etwas sagt. Und manchmal fragt sie sich auch, ob sie sich nicht von den Vorgaben ihrer Eltern hat leiten lassen: Sicherheit und Geborgenheit. Es gibt nichts Beßres, pflegte ihr Vater zu sagen, als im Licht der eigenen Lampe zu sitzen. Liebst du mich mehr, als du ihn geliebt hast? fragt Henri sie gelegentlich. Liebling, sagt sie dann und küßt ihn, was für eine Frage. Hinter den Feldern hat man eine Baumreihe gepflanzt. Wie Flechtwerk ragen die nackten, filigranen Zweige in den weißen Himmel. Meine Mutter, erzählte Joseph, stammte aus einem Dorf in der Ukraine. Dort trugen die Frauen Kopftücher und Stiefel aus brüchigem Leder, und als sie nach Wien kam, schämte sie sich. Trotzdem dachte sie oft an ihr Dorf, an das Muhen der Kühe, die gelben Felder, den Kerzenschein. Meine Mutter hatte blaue Augen und blondes Haar. Mein Vater wurde in Wien geboren. Er war ein Stadtkind, und elektrisches Licht, Straßenbahnen, Badewannen und Bordells waren ihm nicht fremd. Er sagte zu ihr, sie solle ihr Kopftuch wegwerfen und ins zwanzigste Jahrhundert herüberkommen. Und er verbot ihr, am Sabbat die Kerzen herauszuholen oder über den Flammen den Segen zu sprechen. Aber meine Mutter kam nun mal aus einer religiösen Familie, und das konnte sie nicht ganz vergessen. Manchmal nahm sie mich in Wien mit in einen düsteren Kellerraum. Dort flackerten die Kerzen, und östliche Melodien hallten von den kleinen, hoch oben in den Wänden eingelassenen Fenstern wider, unter denen auf schmalen Holzbänken fromme Juden beisammensaßen. Bevor wir uns trennten und jeweils auf die gegenüberliegende Seite des Raums gingen, faßte sie mich am Arm,
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beugte sich zu mir herunter und flüsterte: Das ist unser kleines Geheimnis. Du darfst deinem Vater nichts davon sagen. Ja, versicherte ich ihr, unser Geheimnis. Ich setzte mich zu den Männern, schwarzgekleideten polnischen Juden mit dichten, struppigen Augenbrauen und kleinen seidenen Gebetskäppchen. Sie runzelte jedesmal die Stirn, wenn sich unsere Blicke trafen, schüttelte den Kopf und wies auf den Mann, der in monotonem Singsang auf hebräisch etwas aus einem kleinen abgegriffenen Gebetbuch vortrug. Auf dem Heimweg kaufte sie mir dann ein Stück Kuchen. Aber irgendwann hörten wir auf, dorthin zu gehen. Warum ? fragte Kitty. Warum? Weil ich es ihm eines Tages erzählt habe. Er bekam natürlich einen Wutanfall. Schrie sie an. Warf ihr vor, daß sie wieder in ihren alten Schtetl-Trott zurückfalle. Er sagte zu ihr, wir seien moderne, aufgeklärte Menschen, echte Österreicher und keine Relikte aus dem Mittelalter. Meine Mutter stand mit hochrotem Gesicht ganz still da, die Hand an der Kehle, und sagte nichts. Als er mit seiner Tirade fertig war, ging sie in die Küche, um Abendbrot zu machen. Aber warum? fragte Kitty. Warum hast du es ihm erzählt? Der Rauch drang ihm aus Nase und Mund. Weil ... setzte er an. Er zuckte mit den Schultern. Weil ich sie liebte. Wir waren nicht wirklich Juden, weißt du. Wir gingen nicht in die Synagoge. Wir sprachen kein Jiddisch. Wir waren keine richtigen Juden. Wer war das schon? sagte Kitty. Die Ostjuden, erwiderte er verächtlich. Die jiddischen Juden in ihren Kaftanen. Sie waren Juden, wir nicht. Mein Vater trug ein Hemd mit gesteiftem Kragen und einen dunklen Anzug. Er sprach gutes Deutsch, und seine Kunden waren überwiegend Nichtjuden.
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Ich sang in der Schule patriotische Lieder und salutierte vor der Landesfahne. Und fortgegangen bin ich, sagte er ruhig, weil ich es wollte. Niemand hat mich weggeschickt. Meine Mutter sah österreichischer aus als die Österreicher. Sie wollte Bühnenschriftstellerin werden. Sie verehrte die jiddischen Dramatiker und schrieb feinlinierte Notizbücher mit sentimentalen Theaterstücken voll. Eins, daran erinnere ich mich noch, spielte in einem polnischen Dorf. Es war eine sehr romantische Geschichte von einem jungen Mädchen, das den Mann heiraten will, den es liebt. Aber der Vater verbietet es, weil der Mann fortgeht, um in Warschau sein Glück zu versuchen, und er nicht will, daß seine Tochter vom frommen Weg abkommt. Und? Brennt die junge Frau mit ihrem Geliebten durch? wollte Kitty wissen. Nein, sie heiratet den Mann, den ihr Vater für sie aussucht und den sie nicht liebt. Meine Mutter hat mir das Stück mehrmals vorgelesen. Ich fand zwar, daß das Mädchen zu oft heult, aber ansonsten gefiel es mir. Ich war damals erst zehn und auch der Meinung, daß das Mädchen mit seinem Liebsten nach Warschau hätte gehen sollen. Also schlug ich meiner Mutter vor, den Schluß zu ändern, aber sie antwortete, das sei ja gerade der springende Punkt: Manchmal müßten Menschen eben gewisse Dinge aus Pflichtbewußtsein oder Gehorsam tun, die sie nicht tun wollten oder den Rest ihres Lebens bereuten. Irgendwie bekam mein Vater das Notizbuch in die Finger. Er las bei Tisch Passagen daraus vor und schüttelte sich vor Lachen. Jedesmal wenn die junge Frau weinte, lachte er sich halbtot. Tut mir leid, sagte er dann mit tränennassen Augen zu meiner Mutter, aber so, wie du ihr Unglück beschreibst ... Und schon prustete er wieder los. Schließlich legte meine Mutter die Serviette hin und stand auf.
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Sie ist viel zu empfindlich, sagte er und zwinkerte mir zu. Wie alle Frauen. Meine Mutter hätte es verdient, besser behandelt zu werden. Auch von meinem Vater. Bei der Premierenfeier von Stöcke und Steine brachte Dalya, meine große Liebe, einen Toast auf meine Mutter aus. Auf die erste Bühnendichterin in der Familie, sagte sie. Das Miststück. Dafür haßte ich sie. Fiel mir gerade dann in den Rücken, wenn ich stark sein mußte. Er nahm den dunklen Brotlaib mit der aufgesprungenen Kruste, hielt ihn sich vor die Brust und schnitt eine Scheibe ab, indem er das Messer zu sich hinzog. Es ist ein bißchen altbacken, aber das wird uns schon nicht schaden. Ich kann kein Brot wegwerfen, erklärte er ihr. Nicht einen Kanten, nicht einen Bissen, ja, nicht einmal einen Krümel. Kannst du das verstehen? Weißt du, was man damals für einen Laib Brot bekam? Mühsam arbeitete sich die Klinge durch das harte Brot. Einen diamantenen Ehering, einen silbernen Kerzenleuchter, ein Bündel Geldscheine. Manchmal war der Preis, wie es an einer Stelle in der Bibel heißt, mit Rubinen nicht aufzuwiegen. Und wer das Brot ergatterte, fügte er hinzu, war auch noch überzeugt, einen hervorragenden Handel gemacht zu haben. Er legte den Laib beiseite und reichte ihr eine Scheibe. Na los, sagte er, greif zu. Jetzt ist es umsonst. Seine Scheibe bestrich er dick mit Gänseschmalz. Wie glücklich wären wir damals darüber gewesen! Was heißt glücklich? Wir wären vor Freude außer uns gewesen. Er zog die Schublade auf und förderte zwei versteinerte Brotkanten zutage. Für den Notfall, sagte er mit einem Augenzwinkern zu ihr und legte sie wieder in die Schublade. Man kann nie wissen. Besser, man ist gerüstet. Er
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wischte sich das Schmalz vom Mund. Die Leute hoben eine Brotkruste oft monatelang auf, pickten immer mal wieder eine Krume ab und ließen sie auf der Zunge zergehen, als wäre es pâté de foie gras. Wenn du nicht weißt, sagte er mit vollem Mund, wie köstlich einen Tag oder sogar drei Tage altes Brot schmeckt, verstehst du nichts vom Leben. Ich möchte aber etwas davon verstehen, sagte Kitty mit Nachdruck. Joseph sah sie prüfend an. Wirklich? Und jetzt glaubst du wahrscheinlich, ich bringe es dir bei? Das kann ich nicht, sagte er. Ganz einfach, weil ich selber nic hts davon verstehe. Immer noch nicht. Trotz allem. Aber etwas mußt du doch davon verstehen, beharrte Kitty. Er lachte kurz. Und wenn nicht? Glaubst du wirklich, daß Gott Ordnung ins Chaos gebracht hat, wie uns in der Genesis weisgemacht wird? Kann man noch daran glauben, wenn man nur einen Tag auf dieser Welt gelebt hat? Aber eine gewisse Ordnung muß es geben, sagte Kitty trotzig und beugte sich vor. Er schüttelte den Kopf. Es ist alles ein einziges Chaos. Der helle Wahnsinn. Ein Labyrinth aus Zerrspiegeln. Man weiß nie, wo man ist. Nicht eine Sekunde. Wir leben mitten im Wahnsinn. Und wenn du Gott anrufst und von Ihm eine Erklärung verlangst, was antwortet Er dann? Nichts. Er hat sich längst wie einer von diesen griechischen Göttern ans Ende der Welt abgesetzt, um Seinen Bruder, den Wind, oder Seine Schwester, die Brise, zu besuchen. Und in Seiner Abwesenheit umzingelt man die Schwachen, treibt sie auf rissige Betonweiden und massakriert sie. Das kann nicht sein! rief Kitty. Du bist zu sentimental, sagte er. Du hättest damals nicht lange durchgehalten. Er schenkte zwei kleine Schnapsgläser so voll, daß die Flüssigkeit über den Rand lief, aber das war ihm egal. Vergiß alles, was du auf dem Schoß deiner Mutter gelernt hast. Angewidert schüttelte er den
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Kopf. Die Juden mit ihren großen braunen Augen sind so sentimental, so weichherzig. Er sah sie voller Bitterkeit an. Rechne jederzeit mit dem Wahnsinn. Rechne damit, daß du hassen wirst. Und das Wichtigste: Mach dich allein auf den Weg. Dann hast du vielleicht eine Überlebenschance. Kitty begann leise zu weinen, und vor ihren tränennassen Augen verschwamm alles. Es muß doch nicht alles so aussichtslos sein. Bitte, Joseph, sag, daß es nicht so aussichtslos ist, flehte sie ihn an. Achselzuckend zog er ein weißes Taschentuch aus der Tasche seines Bademantels. Hier, mein Liebling. Sie griff nach dem Taschentuch und preßte es auf ihre Augen. Er sah ihr ungerührt dabei zu. Nur zu, sagte er, weine ruhig. Ich würde auch weinen, wenn ich könnte. Er führte sie ins Schlafzimmer, doch diesmal liebten sie sich lustlos. Sie zerrten grimmig aneinander, aber sie fanden nicht zusammen. Er stieß sie, wieder und wieder, sie stemmte sich mit beiden Händen frustriert gegen seine Brust. Da war keine Freude, nur eine unbarmherzige, sterile Hitze. Macht nichts, meinte Joseph anschließend erschöpft. Immerhin leben wir. Schwer atmend klammerten sie sich aneinander. Er fuhr ihr mit der feuchten Hand durchs Haar. Versuch zu schlafen, sagte er. Was bleibt uns anderes übrig? Ich wurde in der kältesten Nacht des Jahrhunderts geboren, erzählte er. Die Donau fror zu, und meine Mutter brachte ihren ersten und einzigen Sohn zur Welt. Schon bald hatte ich einen schwarzen Wuschelkopf, und als ich zwei war, erlaubte mir das Hausmädchen, ein junges Ding vom Land und daran gewöhnt, bei den Kühen zu schlafen, also es erlaubte mir, auf es zu krabbeln und zwischen seinen warmen Brüsten zu schlafen...
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Kitty schüttelte den Kopf. Er lachte und zwickte sie in die Wange. Mitzi, meine erste Liebe. Sie sprach mit mir noch wie mit einem Baby, als ich schon acht war. Sie badete mich, zog mich an, und manchmal konnte ich sie überreden, mich mit den Fingern zu füttern. Le petit roi, kommentierte Kitty. Mitzi flocht ihr blondes Haar immer zu Zöpfen, die sie über den Ohren zu festen Kringeln zusammendrehte. Manchmal berührte ich die Zöpfe, sie waren hart wie Hanfseile. Mitzi faselte ständig von Gespenstern, Geistern und Kobolden, die in Kaminen hausten, und von Dämonen, die in Kühe hineinfuhren und sie in den Wahnsinn trieben. Manchmal trug sie mich durch die halbe Stadt bis zu einer katholischen Kirche. Nachmittags war sie leer, und Mitzi kniete vor der Jungfrau Maria, während ich auf einer Bank saß und mit den Hacken gegen das Holz schlug, bis sie aufstand, sich bekreuzigte und mit mir wieder nach draußen ging. Warum hängt er da? fragte ich sie. Zu Hause wurde sie von ihrem Vater geschlagen und teilte sich mit ihm und ihren Brüdern ein Lager. Ihre Mutter war gestorben, als sie noch ein Baby war. Das arme Ding. Du kannst dir vorstellen, was sich im tiefsten Winter in dem großen geschnitzten Holzbett abspielte. Verglichen damit, verlangte ich von ihr nicht viel. Manchmal schlief sie vor mir ein. Das paßte mir nicht. Sobald ihr Atem leise zu pfeifen anfing, kniff ich sie, um sie wieder aufzuwecken. Nach dem Anschluß konnte sie nicht länger bei uns arbeiten. Weibliche arische Dienstboten unter fünfundvierzig durften nicht mehr in jüdischen Haushalten tätig sein. Weinend packte sie ihre paar Sachen. Wir besaßen selbst nicht viel, aber meine Mutter schenkte ihr einen ihrer alten Mäntel mit Kaninchenfellkragen. Mitzi küßte meiner Mutter die Hand, und ein Wortschwall in einem österreichischen Dialekt, den ich
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nicht verstand, sprudelte aus ihr heraus. Sie heulte und putzte sich die Nase mit einem geblümten Taschentuch. Dann drehte sie sich mit roten Augen zu mir um. Sie stellte ihre Sachen ab und streckte die Arme nach mir aus. Aber ich wollte ihr nicht Lebwohl sagen. Sie bat mich, ihr einen Kuß zu geben, aber ich konnte nicht. Ich drehte ihr sogar den Rücken zu. Meine Mutter schimpfte mit mir und erinnerte mich daran, wie sehr Mitzi mich liebte. Trotzdem weigerte ich mich standhaft, mich umzudrehen. Dann ging Mitzi. Eine Minute später überlegte ich es mir anders und rannte ihr auf die Straße nach, doch zu spät. Sie war nicht mehr zu sehen. Ich konnte nicht ahnen, daß auch ich schon in wenigen Monaten mit einem kleinen Koffer auf Reisen gehen sollte, mit dem kleinen Unterschied, daß Mitzi nach Hause fuhr, während ich... Eines späten Abends beschloß Joseph, ihr das Pokern beizubringen. Gegen Ende des Krieges, sagte er, während er die Karten verteilte, begab ich mich auf Wanderschaft. Damals hatte es den Anschein, als wäre ganz Europa auf den Beinen. Es ging zwischen Schuttbergen hindurch und durch ausgebombte Städte und Dörfer. Im ganzen Land waren die Menschen in Scharen unterwegs, nicht nur auf den Straßen, sondern auch auf den Feldern und in den Wäldern. Ich schlief am Straßenrand und bettete meinen Kopf wie Jakob auf einen Stein, aber vor dem Nachthimmel zeichnete sich keine heilige Leiter ab, die zum Himmel hinaufreichte. Ich war nicht der einzige, der unter den Sternen schlief. Manchmal, wenn ich im Dunkeln erwachte, sah ich neben mir die zitternden Gestalten der Menschen, die aussahen, als wären sie von den Toten auferstanden, und im Schlaf stöhnten. Sie lagen wie geschorene Schafe am selben Hang. Ich hielt es neben ihnen nicht aus. Sie schrien, und ihre Glieder zuckten. In jenen Tagen hatte ich nur
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einen einzigen Gedanken, nämlich mich irgendwie nach Marseille durchzuschlagen und dort das nächste Schiff nach Haifa zu nehmen. Nach Wien traute ich mich nicht zurück. Noch nicht. Ich wollte nach Paris und von dort nach Marseille, von wo aus Schiffe nach Haifa fuhren. Also marschierte ich los. Ich war wochenlang unterwegs. In Rotterdam hatte ich Glück. Dort ging gerade ein Zug nach Paris. Wir quetschten uns hinein, bis wir kaum noch Luft bekamen. Ein Esel wäre schneller gewesen. Nur drei Karten? fragte sie verwundert. Halt, warte, sagte er, schau sie dir noch nicht an. Erst muß ich dir etwas erzählen. Gegen Kriegsende, fuhr er fort, brauchte der Zug drei Wochen bis Paris. Wir spielten in den vollgepackten Waggons von morgens bis in die Nacht Karten, und zwar mit größter Begeisterung. Stell dir vor: junge wie alte Menschen, von denen die meisten kaum mehr als ein Kind wiegen und die Tag und Nacht Karten spielen, als wären sie selbst noch Kinder. Menschen ohne Arbeit, ohne Zuhause, ohne Rechnungen im Briefkasten, ohne Familien. Während die Karten neu verteilt wurden und sich der Zug seinem Ziel näherte, versuchten wir nicht darüber nachzudenken, was in Gottes Namen wir mit unserem Leben anfangen sollten. Mit unserem Leben, das wir allen Widrigkeiten zum Trotz hatten retten können. Plötzlich begann er die Karten blitzschnell zu mischen. Wie von einem Windstoß erfaßt, flogen sie seinen Arm hinauf und segelten anschließend zurück in seine Hand. Er hob die Hand, und sie stoben wie ein Vogelschwarm in die Luft, um sich gleich darauf wieder zu einem ordentlichen Stoß in seiner Hand zu sammeln. Mein Gott, flüsterte Kitty beeindruckt. Wo
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hast du das gelernt? Er lächelte beglückt, und seine Wangen leuchteten. Wieder mischte er flink die Karten und fächerte den Stapel in seiner Hand auf. Kommt schon, meine Süßen, säuselte er und drückte leicht auf die Karten, kommt, meine Vögelchen und die vier Asse schnalzten heraus. Wie ist das möglich? rief Kitty. Du bist nicht die einzige, die darüber staunt, verkündete er stolz. Auch anderen war das nicht geheuer. Im Zug nach Paris, erzählte er weiter, gab es eine Gruppe von Kindern, die durch die überfüllten Waggons zogen, Liedchen sangen und Kinderreime aufsagten. Sie wurden von einem Mann angeleitet, der früher in Wilna, Warschau und sogar in Wien als Sänger auf der Bühne gestanden hatte. Er war groß und ausgemergelt, hatte lange Glieder und eingefallene Wangen. Eines Abends, während der Zug durch die Dunkelheit rollte, kamen sie durch den Waggon, in dem ich saß. Die Kinder sangen ihre Lieder und sagten ihre kleinen Gedichte auf. Plötzlich begann der Mann aus unerfindlichen Gründen ein altes jiddisches Lied zu singen. Alle schrien, er solle aufhören. Geh mit deinen alten sentimentalen Liedern woanders hin, wir wollen sie nicht hören. Hau ab und nimm deinen Schmalz mit. Sie waren in Rage. Der arme Kerl. Er verließ weinend den Waggon, und sie riefen ihm höhnische Bemerkungen hinterher. Warum? fragte Kitty. Wie gemein von ihnen. Er verteilte die Karten. Jetzt schau dir deine Karten an, forderte er sie auf. Was hast du? Aber Kitty sah ihn fragend an. Ich verstehe das nicht. Nein? Keiner von den Juden wollte sein Herz auch nur einen Spaltbreit öffnen, um das andere, das frühere Leben hineinzulassen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, es für immer auszuschließen. Jetzt sieh dir deine Karten an, meinte er müde, und sag mir, was du hast.
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Im Hafen von Marseille gingen wir an Bord. Das Schiff war ein verrotteter Kahn, der nach Moder und Öl stank. Zu Hunderten drängten wir die Gangway hoch, während ringsum die gleißende Sonne auf dem Meer glitzerte. Eine Schiffsladung erschöpfter Juden, die nach oben stürmten, um an Deck ein kleines Fleckchen zu ergattern. Er fischte einen Hering aus dem Glas, und die Salzlake troff von seinen Fingern. Für dich, sagte er und hielt ihr den Hering hin. Kitty schüttelte den Kopf. So eine Hitze hast du noch nicht erlebt, fuhr er fort. Wir lagen mit bloßem Oberkörper an Deck. Unter Deck war es noch unerträglicher. Aus Laken, Hemden und Nachthemden machten wir uns notdürftige Sonnenschirme. Wir nutzten alles, was wir finden konnten, um uns gegen die Sonnenstrahlen zu schützen. Die kleinen Kinder schrien. Die Männer spielten Karten. Die Frauen schoben die Röcke hoch bis übers Knie. Was machte es schon? Jegliche Scham war vergessen. Wir schmorten. Je näher wir Palästina kamen, desto erbarmungsloser wurde die Hitze. In zweitausend Jahren hatten wir vergessen, wie stark die südliche Sonne sein kann. Keiner regte sich. Wir lagen apathisch da und warteten auf den Abend. Als die Sonne unterging, stieg ich mit Zenia, einer jungen Ungarin, unter Deck. Sie fing an, mir ihre Geschichte zu erzählen, eine Litanei des Unglücks. Aber ich hatte schon so viele von diesen Geschichten gehört und hatte die Nase voll von ihnen. Mußte ich mir noch mehr anhören? Also fiel ich ihr ins Wort und forderte sie auf, sich auszuziehen. Aber unter uns gesagt: Als sie aus ihrem Kleid schlüpfte und ich sah, wie sich an ihrer Brust die Rippen durch die Haut drückten und daß sie kein Gramm Speck auf den Hüften hatte, da konnte ich es nicht tun, Gott möge mir verzeihen. Ich erzählte ihr, mir sei nicht gut, ich hätte Probleme mit dem Magen, und half ihr, das zerfetzte
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Kleid wieder anzuziehen. Sie sah mich aus reglosen schwarzen Augen an. Was sollte ich tun? Ich hatte genug von Europas Knochenhaufen. Er schnitt eine dicke Scheibe Roggenbrot ab und beschmierte sie mit Butter. Wir erreichten den Hafen von Haifa bei Nacht, in einer klaren tropischen Nacht, und sahen die Silhouetten der Palmen vor dem sternenübersäten Himmel. Wir waren alle an Deck gekommen und gierten danach, einen Blick auf das Gelobte Land zu werfen. Jedes einzelne vom Mond beschienene Gebäude kam uns gesegnet vor, jeder streunende Hund wie ein Prophet. Die Gangway wurde herabgelassen, und wir betraten das Gelobte Land. Einige knieten nieder und küßten den Boden. Ich nicht. Ich hatte andere Dinge im Kopf. Warum ißt du nicht? fragte er und zeigte auf das Brot. Nicht, daß du mir zu dünn wirst. Im Hafen, der von Suchscheinwerfern ausgeleuchtet war, wimmelte es von Juden. Sie knabberten Pistazien aus kleinen Papiertüten und musterten jeden, der die Gangway herunterkam, weil sie hofften, einen Onkel, eine Schwester, eine Mutter oder einen Vater wiederzufinden, von denen sie seit 1939 nichts mehr gehört hatten. Morgens, noch vor Sonnenaufgang, kamen Lastwagen und brachten uns ins Durchgangslager. Ich sah den Karmel, diese dicht mit Pinien bewachsene Bergkette, und den hellblauen Himmel, dessen Zelt schon Abraham, Isaak und Jakob überwölbt hatte. Meine Eltern waren Zionisten. Wie glücklich wären sie gewesen, wenn sie mich dort gesehen hätten, wo Jakob träumte, Isaak ein Weib fand und Abraham seinen Sohn fesselte, dort, inmitten von Sand, sich in den Boden krallenden, vom Wind gezausten Büschen und dem Blöken arabischer
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Schafe. Im Lager wohnten wir in Zelten, umgeben von Stacheldraht, aber immerhin war die staubige Erde unter unseren Füßen diesmal heilig. Er kratzte sich an der Brust. Während ich im Durchgangslager war, kam mich ein Onkel besuchen. Früher hatte er Leon geheißen, nun lautete sein Name Arye. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Er war ein Bruder meines Vaters und mit knapp sechzehn nach Palästina ausgewandert. Er beäugte mich durch den Stacheldrahtzaun. Er durfte nicht hinein, ich nicht hinaus. Da bist du also, sagte er. Er zog ein weißes Taschentuch heraus und schneuzte sich geräuschvoll, wie mein Vater es auch immer tat. Du hast das Kinn deiner Tante, sagte er, und die Nase deines Großvaters. Dann schweifte sein Blick ab. Trotz der sengenden Sonne war er blaß - irgendwie paßte er nicht in dieses Klima. Er erzählte mir, daß er am Stadtrand von Tel Aviv eine Hutfabrik besaß. Sie stellten alles her, was verlangt wurde: Militärmützen, Gebetskäppchen, schwarze Filzhüte. Er versprach, mir eine Khakimütze zu schicken. Es sei denn, Gott bewahre, du möchtest lieber ein Gebetskäppchen. So, so. Du hast es also geschafft, aus Europa herauszukommen. Du hättest deine Eltern mitbringen sollen. Er sah mir ins Gesicht. Wohin bist du gegangen? Nach Amsterdam, antwortete ich. Das war die falsche Richtung, bemerkte er. Er hatte so eine seltsame Art, sich die Hände zu reiben - wie eine Fliege, die ihre Beine aneinanderreiht. Genau das tat er nun. Es ist so schrecklich, brach es plötzlich aus ihm hervor. Ich habe ihnen gesagt, daß sie herkommen sollen. Ich habe es deinem Vater noch vor '38 gesagt. Sigmund, habe ich gesagt, mach, daß du rauskommst. Geh auf ein Schiff und komm nach
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Palästina. Sein Deutsch hatte nach all den Jahren einen merkwürdigen Klang angenommen. Warum sind sie nicht gekommen? Ich war bereit, sie unterzubringen, bis sie etwas Eigenes gefunden hätten. Ich habe ihm gesagt, daß es in der Fabrik einen Platz für ihn gibt. Was für ein Wahnsinn. Er blinzelte in den Himmel. Der Hamsin ist im Anzug, stellte er fest. Wenn der bläst, färbt sich der Himmel rot wie am Ende aller Tage, aber das ist nur die Chemie in der Luft. Das trockene weiße Haar stand über seiner schmalen Stirn ab. Also dann, paß auf dich auf, sagte er zum Schluß und deutete einen Gruß an. Seine Hose war staubig, an seinem blauen Hemd fehlte ein Knopf. Er kam noch einmal zurück und kramte aus seiner Hosentasche em paar Schekel hervor. Ich steckte die Finger durch den Stacheldraht und nahm die Münzen. Ich komme hier bald raus, sagte ich zu ihm, und dann gehe ich in einen Kibbuz. Er sah mich finster an. Warum sind sie nicht gekommen, als sie noch die Möglichkeit dazu hatten? Ich habe angeboten, ihnen Geld zu schicken. Ich habe ihnen sogar angeboten, sie bei mir unterzubringen. Ich habe sie angefleht. Was haben sie sich bloß gedacht? Jetzt schrie er. Ich drehte die Münzen in meiner Hand. So war dein Vater schon immer -stur wie ein Esel. Nie hat er auf jemanden gehört. Sein Gesicht war vor Wut ganz fleckig. Sigmund, brüllte er. Joseph ging zum Kühlschrank, holte einen Teller mit Käse heraus und schnüffelte daran. Ich nenne ihn Stinkkäse, erklärte er. Das ist Limburger. Kitty kräuselte die Nase. Probier mal, Liebling, zier dich nicht so. Einige der köstlichsten Dinge im Leben riechen schlecht. Er stellte den Teller auf den Tisch und schnitt eine dünne Scheibe Brot ab. Limburger Käse - was gibt es Beßres? Da, iß. Halte ihn nicht in der Hand wie einen toten Vogel. Das ist eine Delikatesse. Er schüttelte den Kopf. Muß ich
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dir alles beibringen? Hast du in deinem ehrenwerten Elternhaus denn gar nichts gelernt? Kaum war ich aus dem Stacheldrahtverhau raus, zog ich los, um nach Überlebenden zu forschen. Ich stand frühmorgens auf und fuhr mit dem Bus zu der Behörde, wo die Listen geführt wurden, alphabetische Listen mit den Namen von Tausenden Juden. Die Sonne brannte auf das Blechdach des Busses herab und verwandelte ihn in einen Ofen. Selbst die Hühner machten schlapp. Als ich ankam, war mir schwindlig. Auf der Behörde wimmelte es von Menschen. Hinter einem behelfsmäßigen Schreibtisch saß eine Sekretärin, ein pummliges Mädchen mit leuchtendroten Locken. Ein Gewirr aus hundert verschiedenen Sprachen drang an mein Ohr. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich quetschte mich auf eine lange Bank. Ich hörte Schreie und Rufe, aber sie klangen weit weg. Irgendwann war mein Kopf wieder klar. Ich stand auf und bahnte mir durch das Gedränge einen Weg zu den Listen. So viele Namen hast du noch nie gesehen. Ich fand den Buchstaben L, aber ich konnte nicht hinsehen, noch nicht. Die Sekretärin lächelte mich an und schlug vielsagend die Augen nieder. Auf ihrem Schreibtisch verkümmerte ein grünes Pflänzchen. Da waren Lanzbergs, aber keine Lanzbergs, die ich kannte. Nur ich mit dem Namen meines Kibbuz daneben. Da begriff ich: Das war ein Versehen. Man hatte einfach vergessen, meine Eltern auf die Liste zu setzen. Ich wollte ein, zwei Tage später wiederkommen, und dann würde ich ihre Namen sehen: Lanzberg, Sigmund; Lanzberg Miriam. Lanzberg? fragte Kitty überrascht. Wieso Lanzberg? Weil wir so hießen. Kitty starrte ihn an. Dann ist Joseph Kruger gar nicht dein richtiger Name? Er klatschte sich den Limburger aufs Brot, bis er wie Mörtel aussah. Ich hatte viele Namen, meinte er achselzuckend. Das ist das Los eines
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Juden, mein Liebling. Er muß sich ständig in einen anderen verwandeln, wenn er einen Schritt voraus sein und am Leben bleiben will. Aber wie hast du bei deiner Geburt geheißen? Laß mich nachdenken, sagte er, wie hieß ich noch gleich? Hör auf, rief Kitty. Soweit ich mich erinnere, Friedrich Lanzberg. Sie sah ihn verständnislos an. Friedrich Lanzberg? Wer soll das sein? Das ist doch jemand anderes. Stimmt, gab Joseph ihr recht. Kitty preßte die Finger gegen die Stirn. Warum hast du mir das nicht gesagt? Ist es so wichtig? fragte er träge. Wir mußten alle unsere Namen ändern. Es war unsere einzige Chance. Aber der Krieg ist vorbei, sagte Kitty. Jetzt kannst du doch wieder deinen alten Namen annehmen. Er sah sie mitleidig an. Wie wenig du begreifst. Wir konnten es kaum erwarten, unsere jüdischen Namen abzulegen. Als es um Leben und Tod ging, versuchten wir verzweifelt, sie zu ändern oder geheimzuhalten. Wir wollten von vorn anfangen - ein neuer Name, ein neues Ich, ein neues Leben. Wir wollten vergessen. Und? Hat es geklappt? Er musterte sie. Was meinst du? Du hättest es mir erzählen sollen, wiederholte Kitty hartnäckig. Er zuckte mit den Schultern. Ich erzähle es dir doch jetzt. Sie schüttelte den Kopf. Mir kommt es so vor, als wüßte ich überhaupt nicht, wer du bist. Er stieß ein kurzes Lachen aus. Glaubst du, ich weiß es? Laut meinem Paß bin ich immer noch Friedrich Lanzberg, und in den Hotels werde ich an der Rezeption nach wie vor Herr Lanzberg genannt. Ich würde den Leuten gern erzählen, daß Friedrich Lanzberg 1940 verschwunden ist und ein Holländer namens Jan Vinke seinen Platz eingenommen hat. Aber an Rezeptionen herrscht immer Eile, da hat man keine Zeit für solche alten Geschichten - bis auf eine Ausnahme, und das ist lange her. Einmal traf ich spätabends in einem Frankfurter Hotel ein. Hinter dem Empfang stand ein gebeugter Mann in
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einer abgewetzten kastanienbraunen Livree. Das dünne schwarze Haar klebte an seinem Kopf, die Augen hatten dunkle Schatten. Er wirkte zwanzig Jahre älter als ich. Der Mann und ich sahen uns an, und ich dachte: Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Aber ich hatte keinen blassen Schimmer, woher bis er auf wienerisch zu mir sagte: Ist das nicht Fritz Lanzberg? Ich sah mir sein Gesicht genauer an. Rudy Hirschfeld, flüsterte er, jetzt Robert Hartley. Wir waren zusammen auf der Schule. Sieh einer an, antwortete ich, und wir leben beide noch. Er kam hinter der Rezeption hervor (es war schon spät, alle anderen waren bereits zu Bett gegangen), holte eine Flasche Cognac, und wir tauschten die ganze Nacht Geschichten aus. So, so, sagte Rudy und trank den letzten Schluck Cognac, du hast es also ins Gelobte Land geschafft. Und? War es so wie verheißen? Stell dir vor, sagte Joseph und stellte zwei kleine Gläser nebeneinander, ich war also im Garten Eden und konnte es kaum erwarten, wieder wegzukommen. Kitty nahm ihr Glas und trank es mit vorsichtigen Schlucken leer. Um mich zu überzeugen, brauchte es keinen Apfel und keine Schlange. Und keine Eva, fügte Kitty hinzu. Und schon gar keine Eva, pflichtete er ihr bei, obwohl es dort natürlich eine gab. Mehr als eine. Oh, mein Liebling, du wärst damals ganz vernarrt in mich gewesen. Ich war so ein hübscher Kerl mit meinem dunklen Lockenkopf. Im Kibbuz hatte ich so viele Mädchen, wie es im Negev Sandkörner gibt. Sie reckten die nackten Arme, um unter einem jüdischen Himmel Orangen zu pflücken. Was konnte ich mir Köstlicheres wünschen? Ich holte sie eine nach der anderen in mein Zelt. Aber der Kibbuzleiter erwartete, daß
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ich meinen Beitrag leistete. Ich mußte also die Ärmel hochkrempeln und mich an die Arbeit machen. Wie du weißt, mein Schatz, bin ich für diese Dinge nicht geschaffen. Ich hatte vom Leben im Kollektiv schon bald die Schnauze voll. Bleib hier, beschworen mich meine jüdischen Brüder, während sie in den Obstgärten des Herrn Orangen pflückten. Warum willst du zurück nach Europa, wo die Finsternis in hundert Jahren nicht vertrieben wird? Ich konnte nicht bleiben. Ich habe es versucht. Die Hitze machte mich wahnsinnig. Und wer braucht schon dreimal am Tag frische Orangen? Außerdem waren mir dort zu viele Juden. Ich fing an, mich nach den grauen Himmeln Europas zu sehnen. Ich erinnere mich noch an Eva, ein appetitliches junges Ding aus der Ukraine mit schiefer Nase und flachsblondem Haar. Sie trug ihre kurzen Hosen aufgerollt und eine karierte Bluse. Ich beobachtete sie immer auf den Feldern, und wenn sie sich bückte, vergaß ich das Orangenpflücken, ja, dann vergaß ich überhaupt alles. Ich brauchte nicht einen Tag, sondern zwei, um sie in mein Zelt zu locken. Wenn sie schrie, dann auf ukrainisch, aber ich verstand jedes einzelne Wort. Er trank seinen Schnaps und wischte sich zufrieden den Mund ab. Doch dann brach das Unheil über mich herein. Heuschrecken? Furunkel? Die Pest? Viel schlimmer. Malka, meine ungarische Plage. Meine erste Frau. Nachts nahm sie das Kopftuch ab, das sie den ganzen Tag über trug, und ich versank in den Wellen ihres weichen dunklen Haars. Wir konnten nicht aufhören, wir waren unersättlich. Die ganze Nacht unter den Sternen, immer und immer wieder - bis sie eines Tages schwanger wurde. Sie lief wie in Trance herum
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und wirkte so verzückt wie eine fromme Jüdin, die sich vor den Sabbatkerzen hin und her wiegt. Mein Kind wird in Erez Jisrael geboren, verkündete sie immer wieder, als würde sie den Messias austragen. Laß es wegmachen, sagte ich zu ihr. Genausogut hätte ich ihr vorschlagen können, sich vor einen Zug zu werfen. Sie nannte mich einen Unmenschen, ein Scheusal, ja sogar einen Nazi. Was nannte sie mich nicht alles? Er setzte die Tasse ab. Wollte ich ein brüllendes Baby? Will ein Jude Pogrome? Mein Vater war Zionist, aber er hätte das Heilige Land gehaßt. Er war einer von den Männern, die immer einen Anzug trugen, und wenn es noch so heiß war. Wo sind die Boulevards, hätte er gefragt, wo die Kaffeehäuser, die Konfiserien, die Restaurants mit ihren rotsamtenen Sitzbänken? Wo gibt es hier einen Konzertsaal, eine Operette? Was für eine Kultur ist das? Er hätte verzweifelt auf all den Sand um sich herum geblickt, sich über die unmelodischen patriotischen Lieder mokiert und vergeblich nach Frauen mit glänzendem Haar und noch glänzenderen Lippen, mit Seidenstrümpfen, Miedern und schicken hochhackigen Schuhen Ausschau gehalten. In einer Hutfabrik arbeiten? Gott bewahre. Eines Tages suchte mich eine ehemalige Geliebte von ihm auf. Damals nannte ich mich Yossi, obwohl ich offiziell immer noch unter Lanzberg geführt wurde. Sie besuchte mich im Kibbuz, ein wuscheliger Rotschopf in einem gemusterten Seidenkleid, das aus ihren Wiener Tagen übriggeblieben war. Inge hieß sie. Sie wollte über meinen Vater reden, und ich ließ sie reden. Sie war mal in ihn verliebt gewesen. Ich konnte den Ansatz ihrer Brüste sehen, die sie im knappsitzenden Dekollete geschickt zurechtgerückt hatte, aber sie waren nicht mehr straff und fest. Sie erinnerte sich noch an seine Lieder, seine Witze, den Namen seines Eau de Cologne.
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Du siehst ihm nicht sehr ähnlich, meinte sie und musterte mich. Vielleicht die Nase. Nach meiner Mutter fragte sie nicht. Ihr Hals war faltig, ihre Hände fleckig. Nach einer Weile hatte ich ihr Gerede über meinen Vater satt, aber ich wußte nicht, wie ich sie zum Schweigen bringen sollte. Sogar ihr Wienerisch ging mir auf die Nerven. Da gab es nur eins: ab ins Bett mit ihr. Du gehst aber auch mit jeder ins Bett, versetzte Kitty. Er zuckte die Achseln. Ist es nicht das, was die Frauen wollen? Joseph, sagte Kitty und blickte auf ihren Teller hinab, ich bin für dich nur eins von diesen Sandkörnern. Nein, mein Schatz, sagte er besänftigend, so darfst du nicht denken. Mit dir kann sich keine vergleichen. Lügner, sagte sie. Keine einzige. Er kam um den Tisch herum und stellte sich vor sie hin. Komm ins Bett, mein Liebling, sagte er zärtlich und schob die Hand in den Spalt ihres Kimonos. Ich werde dich besteigen, wie ein Hengst seine Lieblingsstute besteigt. Laß mich in der Höhle aus warmem Fleisch alles vergessen. Du wirst schreien und deine weichen, weißen Schenkel an mich pressen. Ich werde mich so tief in dir vergraben, daß sie mich nie wieder herauskriegen. Es ist der einzige Ort, wo er sicher ist, murmelte er. Er muß sich in diesem warmen Loch verstecken. Mein Liebling, ich war achtundzwanzig, als du geboren wurdest. Ich hatte den Krieg erlebt, war verheiratet und hatte ein Kind. Als dir die Windeln gewechselt wurden, war ich mit Malka verheiratet, und Anton mit seinen marmeladeverschmierten Bäckchen krabbelte überall herum. Er brüllte pausenlos. Ich weiß auch nicht, warum. Was sollte ich tun? Ich war selbst noch ein halbes Kind. Die Hitze in Palästina war unerträglich. Wir wohnten über einem Süßwarenladen, und
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schon damals war Malka unglücklich mit mir. Du Scheusal, schrie sie mit ihrem ungarischen Akzent, du Scheusal hast mein Leben und das meines Kindes ruiniert. Irgendwann ertränke ich mich in der Badewanne. Noch so eine Gemeinheit, und ich tauche im Badewasser unter und komme nie wieder hoch. Er schnaubte. Das wäre mein großer Tag gewesen. Diese Frau war beinhart. Sie hat sich nicht ertränkt, nicht Malka. Aber eines Tages packte sie ihre Sachen und ging. Als ich nach Hause kam, lag auf dem Küchentisch ein Zettel. Versuche nicht, uns zu finden, stand darauf. War das ein schwüler Abend, daran erinnere ich mich noch. Die Zikaden schlugen, kein Windchen wehte. Aber Jahre später versuchten sie, mich zu finden. Als Malka erfuhr, daß ich inzwischen ein berühmter Schriftsteller war, interessierte sie sich plötzlich wieder für mich. Und? Hast du sie wiedergesehen? Ja, ich habe sie wiedergesehen, warum auch nicht? Ich habe eine Nacht mit ihr verbracht, und die Hexe ist wieder schwanger geworden. Aber diesmal hat sie abgetrieben. Kitty schloß die Augen. Wie brutal, murmelte sie. Joseph zog sie neben sich aufs Bett. Brutal? wiederholte er. Du hast keine Ahnung, was brutal ist. Ich bin so müde, sagte Kitty, und erschöpft. Was glaubst du, wie müde ich bin? entgegnete er. Denkst du denn nie, aber auch wirklich nie an andere Menschen? fragte sie. Sie blickte auf ihn herab, wie er dort nackt vor ihr lag. So viele Frauen hatten ihn schon nackt gesehen. Er gehörte ihr nicht im geringsten. Sie wandte ihr Gesicht ab. Da nahm er ihr Kinn und drehte es zu sich hin. Den Mund dicht an ihrem Ohr, raunte er: Das kann ich nicht. Stell dir vor, ich hätte Rücksicht genommen... Und dann ist sie fortgegangen. Zwanzig Jahre später klingelte es an meiner Tür. Ich öffnete, und da sah ich mich, wie ich selbst in dem Alter gewesen war:
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dieselben Augen, dieselben schwarzen Locken, dieselbe Nase. Anton war gekommen, um seinem seit langem verlorenen Vater einen Besuch abzustatten. Allerdings war er im Gegensatz zu mir ein nüchterner, ernsthafter junger Mann. Er dosierte sein Leben mit dem Kaffeemaß, wie wir Dichter sagen. Ich dagegen langte mit einer Schaufel zu. Da stand er, mein Erstgeborener, und alles, was ihm in seiner nüchternen, ernsthaften Art einfiel, war: Warum hast du uns verlassen? Das klang richtig pathetisch. Ich mußte ihn daran erinnern, daß es seine Mutter gewesen war, die ihn genommen und mich verlassen hatte. Aber er hätte eine andere Version zu hören gekriegt, meinte Joseph schulterzuckend. Egal, jeder hat seine eigene Version. Er war ein netter Junge. Er wollte Ingenieur werden. Wenn er nicht mein Sohn gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht sogar gemocht. Vielleicht hatte er sich ausgemalt, daß ich ihn spontan in die Arme schließen oder mich lang und breit entschuldigen oder ihm meine väterliche Liebe erklären würde. Und wie ist es deiner Mutter ergangen? fragte ich ihn zum Schluß. Offenbar hatte sie kurz nach unserer Trennung wieder geheiratet, einen polnischen Juden, der mehr tot als lebendig aus Bergen-Belsen herausgekrochen war (so drückte er sich allerdings nicht aus), und das glückliche Paar hatte zusammen noch drei Kinder gezeugt - lauter Mädchen. Wie gesagt, er war ein netter Junge, aber ich konnte ihm kein Vater sein. Es war zu viel Zeit vergangen. Ich zeigte ihm ein Foto von mir, auf dem ich so alt war wie er, und er betrachtete es lange. Auch ihm fiel auf, wie sehr wir uns äußerlich ähnelten. Hast du eine Freundin? fragte ich ihn. Er nickte. Sie heißt Dafna und studiert Biologie. Na, dann lade mich doch zur Hochzeit ein, schlug ich vor, was er etwa ein Jahr später auch tat. Aber ich fuhr nicht hin. Extra nach Tel Aviv fliegen? Wozu? Er schüttelte den Kopf.
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Vielleicht hätte ich hingehen sollen. Immerhin war er mein Erstgeborener. Was für eine traurige Geschichte, meinte Kitty. Traurig? wiederholte Joseph. Sie ist nicht traurig. Du weißt nicht, was traurig ist. Hier, iß einen Keks, mein Engel. Er schob ihr den Teller hin. Nimm gleich zwei oder drei. Du wirst mir schon nicht zu zaftig. Er zog ein großes weißes Taschentuch aus seinem Bademantel und nieste mehrmals laut, wobei er den letzten Nieser besonders laut heraustrompetete. Ich finde das theatralisch und unnötig, meinte Kitty unbeeindruckt. Soll ich dir eine Geschichte zum Thema Niesen erzählen? Nein, erwiderte Kitty. Direkt unter mir wohnen zwei ältliche Schwestern, beides Jungfern mit langem grauem Haar. Eines Tages betrat ich den Aufzug. Eine der Schwestern stand darin. Sie hatte ihr langes graues Haar mit einer rosa Schleife zurückgebunden. Oh, Mr. Kruger, sagte sie mit ihrer mädchenhaften Stimme zu mir, als Sie gestern abend geniest haben, ist meine Schwester aus dem Bett gefallen. Kitty lachte. Na bitte, ich kann dich also doch noch aufheitern, sagte er und stopfte das Taschentuch wieder in die höhlenartige Tasche seines Bademantels. Auf der schmalen Landstraße veranstaltet ein Auto mit dem Zug ein Wettrennen; es rast über das leere Asphaltband. Sonst bewegt sich nichts in dieser unbelebten weißen Landschaft. Welcher seiner vielen Namen wird wohl auf dem Grabstein stehen? Welchen Namen wird man in den kühlen weißen Stein meißeln? Ein Mensch, der vier Namen hat, ist per Definition ein Verrückter, ein Schizophrener, der nicht nur in zwei, sondern in vier verschiedene Persönlichkeiten gespalten ist, sagte er zu ihr. Welches dieser Ichs ist das wahre? Ist es überhaupt eins von
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ihnen? Oder sind es alle? Was macht man mit einem Verrük kten? wollte er wissen. Hast du dir diese Frage schon einmal gestellt? Aber keine Sorge, ich bin gar nicht wirklich hier. Nicht einmal, wenn du mit mir schläfst? fragte Kitty. Er lächelte sie an. Komm her, meine Hübsche. Wenn ich mit dir schlafe, betrete ich jedesmal Neuland. Er streckte ihr die Hand entgegen. Komm her, mein Engel. Mein Sohn Anton blieb in Israel, erzählte er. Er wurde Soldat in der israelischen Armee. Einmal schickte er mir ein Foto von sich. Braungebrannt und kräftig ist er darauf, und ich erkannte mein Kinn, meine dunklen Augen, mein welliges Haar wieder. Ich bereute es, daß ich nicht zu seiner Hochzeit geflogen war, aber wenn man nicht zusammen mit seinem Kind aufwächst... Er studierte Ingenieurswesen. Das sagt mir nichts. Was heißt das? Daß man Brücken baut? Oder Rohre verlegt? Keine Ahnung. Jedenfalls hatte er sich für diese Laufbahn entschieden. Er wäre jetzt ungefähr in deinem Alter. Wäre? wiederholte Kitty wie ein Echo. Er lebt nicht mehr, antwortete er knapp. Und jetzt laß uns über erfreulichere Dinge reden. Aber Joseph, hakte Kitty nach, wie ist das passiert? Seine Mutter, diese Wahnsinnige, brachte ihn im Lazarett unseres Kibbuz zur Welt. Dreizehn Stunden dauerte die Geburt. Ich dachte schon, das Geschrei würde nie aufhören. Aber am Ende schaffte sie es doch, und er schlüpfte mit rotem Gesicht und empörter Miene heraus. Ich war dabei. Ich nahm ihn in den Arm und war gleich darauf mit mehr Blut beschmiert als ein Metzger. Seine Augen konnten natürlich noch nicht scharf sehen, aber irgendwie spürte ich, daß wir uns verstanden.
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Malka ging mit ihm fort, als er knapp ein Jahr alt war. Wie du weißt, habe ich ihn erst wiedergesehen, als er zwanzig war. Kurz darauf verließ ich das Gelobte Land. Ich hatte beschlossen, zurück nach Europa zu gehen. Offenbar hatte ich noch nicht genug erlebt. Es war noch dunkel, als ich den Kibbuz verließ. Als ich mit meinem kleinen Koffer zur Straße marschierte, ging die Sonne auf, ein glühendroter Ball, der die Obstgärten und Felder, die Brunnen und Flachdächer des Kibbuz beleuchtete. Plötzlich hörte ich die Stimmen meiner zionistischen Eltern. Bist du wahnsinnig? Du verläßt das Gelobte Land? Was bist du nur für ein Jude? Aber ich ging weiter, und als ich das Dröhnen des Busses hörte, hob ich die Hand. Wie ich an jenem Morgen in den ersten wärmenden Sonnenstrahlen in den Bus stieg, mußte ich an den dräuenden, finsteren Himmel über Europa denken und an die Stelle am Ufer der Donau, wo ich mich mit meinem Rucksack hingesetzt und Schokolade aus einer Serviette gegessen hatte. Später, als ich wieder im zerstörten Europa war, hörte ich manchmal die Stimmen meiner Eltern, wenn sich der Mond hinter den dunkel gesäumten Wolken versteckte und im Schornstein der Wind heulte. Und dann hatte ich das Gefühl, daß ich sie und all ihre Träume betrogen hatte. Was bist du nur für ein Jude? schienen sie zu fragen. Ich wußte darauf keine Antwort. Was ist mit Anton passiert? fragte Kitty nach kurzem Schweigen. Er hob die Achseln. Anton gibt es nicht mehr. Seine Mutter schrieb mir damals. Nur Ungarn können so weinen. Es war ein tränenbekleckster Brief mit allen Einzelheiten. Anton befand sich eines Nachts auf Patrouille an der libanesischen
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Grenze, als im Dunkeln ein Mann in israelischer Uniform auf ihn zukam. Anton ließ das Gewehr sinken. Es war eine mondlose Nacht. Der Mann, der gar kein Israeli war, hielt ihm eine Waffe an die Brust und drückte ab. Keiner wußte, wo er die Uniform gestohlen hatte. Joseph griff nach seinem Feuerzeug, das wie eine Rakete aussah. Anton war damals vierundzwanzig. Ich war bei der Beerdigung nicht dabei, ich hätte es nicht rechtzeitig geschafft. Er drehte sich eine Zigarette, befeuchtete den Rand und hielt das Feuerzeug daran. Meine Eltern sind tot, meine Frauen haben mich verlassen, und meine Söhne gibt es auch nicht mehr. Sieht so aus, als wäre ich ganz allein. Und was ist mit mir? wollte Kitty wissen. Er hatte sie offenbar nicht gehört, denn er blickte starr an ihr vorbei, zog an der Zigarette und stieß einen kleinen Rauchkringel nach dem anderen aus. Je weiter sie nach Norden kommen, desto schwerer, bleierner wirkt der Himmel. Die Dörfer und Bauernhöfe machen einen heruntergekommenen, baufälligen Eindruck. Hier und da liegt verrostetes landwirtschaftliches Gerät herum, dessen metallene Flügel und Rachen durch die zarte Schneeschicht weniger bedrohlich aussehen. Kitty zieht den Mantel enger um sich. Plötzlich möchte sie umkehren. Warum soll sie die weite Fahrt auf sich nehmen, wenn sie ihn nicht einmal sehen, ihn nicht berühren, nicht den Klang seiner Stimme hören kann? Suchst du die Kaffeekanne? fragte er sie eines Nachmittags. Dann komm mit. Er marschierte ihr voran zum Schrank in der Diele, als führte er eine Blaskapelle an. Kitty mußte lachen und folgte ihm. Vor der Schranktür blieb er kurz stehen, dann ging er weiter zum Wohnzimmerschrank. Dort zögerte er wiederum einen Augenblick, wobei er auf der Stelle weitermarschierte, machte abrupt kehrt und führte sie zurück zum Küchen-
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schrank, wo die Kanne stand. Da hast du deine Kaffeekanne, sagte er. Kitty lachte noch immer. Siehst du, du findest mich unwiderstehlich, behauptete er. Ach was, protestierte Kitty. Lügnerin, sagte er. Glaubst du, ich verstehe nichts von Frauen? Henri verstand nicht, warum sie fuhr. Wozu die lange Fahrt? Noch dazu bei der Lausekälte. Manchmal beobachtet sie Henri, wenn er an seinem Zeichentisch mit den vielen Linealen und Stiften sitzt. Er arbeitet still und konzentriert und zieht, den borstigen Haarschopf über die Pläne gebeugt, eine schnurgerade Linie nach der anderen. Ein grundsolider Mensch, zuverlässig und beständig. Liebst du ihn etwa immer noch? wollte er an diesem Morgen im Bett plötzlich wissen und stieß sie mit der Schulter fragend an. Im Kibbuz hatte ich einen Freund, erzählte ihr Joseph, der hieß Amnon. Als sein Vater starb, fuhr Amnon per Anhalter hinten auf einem Lastwagen mit, um es rechtzeitig zur Beerdigung zu schaffen. Über dem Arm trug er vorsichtig den besten Anzug, das weiße Hemd und die Krawatte seines Vaters. Als er atemlos beim Einbalsamierer eintraf, nahm ihm der Mann die Sachen ab, um den Leichnam anzukleiden. Und wo sind die Schuhe? fragte er. Amnon hatte sie vergessen. Wegen seiner Vergeßlichkeit (es blieb keine Zeit mehr, um noch einmal zurück zum Kibbuz zu fahren) würde sein Vater in der nächsten Welt keine Schuhe haben. Das trieb ihn in seinen Träumen um. Er konnte es sich nicht verzeihen. Er stellte sich seinen Vater barfuß im Sarg vor. Du hättest ein Paar Schuhe malen und ihm das Bild auf die Füße legen sollen, sagte ich zu ihm, so wie die Ägypter ihren Verstorbenen Augen malten, damit sie in der nächsten Welt sehen können.
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Sie hofft, daß Joseph Schuhe trägt und man ihm eins seiner unzähligen blauen Hemden angezogen hat. Er schien einen unerschöpflichen Vorrat davon zu besitzen. Abgesehen von seinem Bademantel sah sie ihn nie in etwas anderem. Woher hast du all die blauen Hemden? fragte sie ihn einmal. Ich habe genau dreißig Stück, erklärte er. Meine Freundinnen haben sie mir geschenkt. Du hattest dreißig Freundinnen? Eine von ihnen, antwortete er, hat mir neunundzwanzig Stück geschenkt. Er zwickte sie lächelnd in die Wange. Sie sah ihm zu, wie er in ein Schrankfach griff, ein Hemd herausnahm, die Pappe entfernte, die zwei obersten Knöpfe aufmachte und es sich über den Kopf streifte. Kein anderer Mann zieht das Hemd so an, sagte sie. Zuerst macht man alle Knöpfe auf. Schön, meinte er und stopfte die Hemdzipfel in die Hose, dann sorge ich eben für etwas Abwechslung. Anschließend bearbeitete er sein widerspenstiges Haar mit einer kleinen Bürste. Eines Abends schaltete er das verstaubte alte Radio an, das bei ihm auf einem Regalbrett stand. Er drehte am Frequenzregler, bis er einen Sender gefunden hatte, der alte Tanzmelodien aus den Vierzigern spielte. Hör dir das an, sagte er staunend. Ich erinnere mich noch an ein Lied namens ›Stardust‹. Es kam aus dem fernen Amerika, wo alle hinwollten, ja, sich hinsehnten. Amerika war gleichbedeutend mit Leben und Freiheit. Außerdem hatten wir gehört, daß die Straßen dort mit Gold gepflastert waren. Uns kam es so vor, als würden die Menschen in Amerika immer nur tanzen, während wir in Europa dahinstarben. Hinter ihm, am Rand der Arbeitsplatte in der Küche, nahm Kitty eine rasche Bewegung wahr. Da ist eine Maus, verkündete sie. Die winzige Kreatur huschte an der
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silbernen Kante entlang. Joseph ging hinüber und schlug mit der flachen Hand auf die Platte. Die Maus hielt wie gelähmt inne, doch gleich darauf flitzte sie weiter und verschwand. Wie sollen wir sie nennen? fragte Kitty. Martina, sagte er. Die kommt bestimmt wieder. Bei den Unmengen von Krümeln auf der Arbeitsplatte garantiert, bestätigte Kitty. Dann sei brav und wisch sie weg, sagte Joseph. Irgendwann bringe ich dich um, scherzte sie. Ach, Liebling, du kannst mich nicht umbringen. Ich bin schon tot. Sag so etwas nicht, rief Kitty. Er lächelte. Du hast ja recht. Er stand auf und nahm ihren Arm. Komm, drängte er und zog sie an sich, laß uns tanzen. Leg den Kopf an meine Brust und schmieg dich an mich. So tanzten die Paare auf den Fotos im ›Life‹-Magazin, das die amerikanischen Soldaten mitbrachten. Als der Krieg zu Ende war, waren wir eigentlich zu müde, um zu tanzen, erzählte er, während er sie vor- und zurückführte. Am liebsten hätten wir uns hingelegt und hundert Jahre geschlafen, aber irgendwann machten sich unsere Füße selbständig, und der Spaß ging los. Wir feierten das Kriegsende jahrelang. Es war wie ein Rausch, wie ein Traum. Er drückte sie an sich und schloß kurz die Augen. Paßt, stellte er leise fest. Was für ein Wunder. Seine Hände legten sich noch fester um ihre Taille. Auf einmal packte er sie unsanft. Wenn du wüßtest, wie sehr du mich erregst, flüsterte er. Er schob sie zum Tisch, beugte sie vornüber und drückte sie dagegen, bis sie schrie. Gut so, sagte er, schrei. Na los, schrei, bis dich jemand hört. Er drehte sie um und küßte sie zärtlich auf den Mund. Ich habe es nicht so gemeint, mein Engel, murmelte er. Warum sagst du dann so etwas? fragte sie und machte sich von ihm frei. "Weil ich dich liebe, antwortete er. Du machst alles so schwierig, sagte Kitty müde. Ich kann nicht anders. Ehrlich? Ehrlich. Er fuhr mit dem
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Finger über ihre Unterlippe. O nein, sagte sie und schüttelte ihn ab, du kriegst mich nicht wieder rum. Komm, ich füttere dich mit Datteln und Honigkuchen, raunte er. Warum sollen wir das große quietschende Eisentor zum Paradies nicht gemeinsam aufstoßen und hineingehen? Kitty schüttelte den Kopf. Ich habe keine Lust, dir zu verzeihen. Er schloß sie fest in die Arme und preßte seine Stirn gegen ihre. Gib mich nicht auf, bat er, noch nicht. Er litt unter Alpträumen. Träumte, er würde weglaufen, erstik ken, ertrinken. Träumte, die Lichter würden ausgehen, der Himmel herabstürzen, die Sonne ausgelöscht. Früher konnte er ohne eine Frau an seiner Seite nicht schlafen, egal welche Frau. Sie mußte ihn wecken, sobald er zu schreien anfing. Ich würde den Frauen gern ein Denkmal errichten, sagte er. Sie haben mich in den unterschiedlichsten Lebenslagen gerettet. Wie viele von ihnen habe ich in den Jahren nach dem Krieg mit meinem Geschrei mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen! Wie sie damit klargekommen sind, werde ich nie erfahren. Damals setzten die Alpträume ein, kaum daß ich den Kopf aufs Kissen gelegt hatte. Manchmal, wenn ich mit einer von meinen Hunderten Frauen im Bett lag, stellte ich mir vor, mein Großvater mit seinen dunklen Augen und seinem Bart, so weich wie Gras, würde am Fußende des Betts stehen, den Kopf schütteln und »Schande, Schande« murmeln. Wenn ein lasterhafter Mensch stirbt, so will es ein mittelalterliches jüdisches Gesetz, wird bei seiner Beerdigung ein Stein an seinem Leichentuch befestigt, als Symbol für die Steinigung, die er zu Lebzeiten verdient hätte und die ihm erspart geblieben ist. Und? Bist du ein lasterhafter Mensch? fragte sie. Ach, mein Liebling, antwortete er, ein Stein würde bei mir nicht reichen. An mein Leichentuch müßte man Felsblöcke hängen.
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Aber du, mein Schatz, sagte Joseph, drückte sie an sich und küßte sie auf den Mund, du bist noch ein Kind. Du weißt nicht, was der Tod bedeutet. Bis du stirbst, vergehen noch hundert Jahre. Ich bin zweiunddreißig, protestierte Kitty. Ein Kind, wiederholte er und strich ihr Haar glatt. Für mich, mein Engel, sagte er und zwickte sie in die Backe, wirst du immer ein kleines Mädchen bleiben. Und solange sie mit ihm zusammen war, blieb sie tatsächlich ein kleines Mädchen. Nur wenn sie das Hotelzimmer verließ und hinaus an die Luft ging, begann sie zu altern. Meinen Kindern habe ich nie etwas erzählt. Dir erzähle ich mehr, als ich ihnen je erzählt habe. Sie hatten Angst vor mir. Anton, der Erstgeborene, also Malkas Sohn, den habe ich, wie du weißt, erst als Erwachsenen wiedergesehen. Und Stefan... Stefan? fragte Kitty verwundert. Mein gemeinsamer Sohn mit Lena, meiner zweiten Frau. Er hob die Achseln. Stefan hatte keinen Mumm. Wie ich so ein Kind zeugen konnte, weiß ich bis heute nicht. Als Stefan klein war, benahm er sich wie ein kleines Klammeräffchen. Er schlang seine Ärmchen in mitleiderregender Weise um mein Bein oder klammerte sich an den Fußknöchel oder Hals seiner Mutter - was er gerade zu fassen bekam. Mich machte das wahnsinnig. Benimm dich wie ein Mann, mein Junge, sagte ich zu ihm, aber er streckte nur wieder mit diesem verschreckten, sehnsüchtigen Gesichtsausdruck seine Ärmchen aus. Er war dünn, hatte Beine wie Streichhölzer und große, flehentliche Augen. Gott im Himmel, sagte ich zu meiner Frau, er sieht schon jetzt wie ein Jude aus. Das hat mir
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noch gefehlt. Wir sollten ihn mit rotem Fleisch füttern und ihm das Salutieren beibringen. Es wäre doch gelacht, wenn aus ihm kein kräftiger, selbständiger, tüchtiger Bursche würde. Wo hat er diesen kriecherischen Ausdruck her? Man könnte meinen, er sei im Ghetto aufgewachsen. Aber Lena, dieses verrückte Weib, lebte in einer anderen Welt. Was ich sagte, ging bei ihr zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Sie nähte Vorhänge oder blätterte in Katalogen, und bei der Hausarbeit machte sie immer summende oder näselnde Geräusche. Es war wie in einem Bienenstock. Das ständige Gesumme war eine Tortur. Bitte, flehte ich sie an, benimm dich wie eine Frau und nicht wie eine Biene. Unseren Sohn überschüttete sie entweder mit ihrer Liebe und drückte und küßte ihn, bis ich zu ihr sagte, er bekomme von der vielen Küsserei noch ein wundes Gesicht, oder sie vergaß ihn völlig. Wenn sie einen ihrer Putzanfälle oder eine ihrer Depressionen hatte, war er für sie Luft. Dann konnte er heulen wie ein Wolf. Der Junge hatte die Angewohnheit, sich wie ein eifriges Hündchen an mich zu drücken. Ich mußte mich sehr beherrschen, um ihm keine Ohrfeige zu geben. Eines Tages tat ich es dann doch. Wir machten Picknick auf dem Land. Idyllische Umgebung, sanft geschwungene Hügel, grüne, mit wildwachsenden Blumen gesprenkelte Wiesen. Sogar ein Pferd gab es. Du hättest meinen Sohn sehen sollen. Als er das Pferd entdeckte, war er hin und weg. Er fing schon an, mit dem Gaul zu reden, als er noch meterweit entfernt war. Hallo du, ich bin Stefan und solche Dinge. Als er dann vor dem Pferd stand, streckte er seine kleinen Finger aus, um die Schnauze zu streicheln. Dabei muß
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er das Tier erschreckt haben, denn es zwickte ihn prompt mit seinen großen, gelben, äpfelzermalmenden Zähnen. Der Biß ging durch die Haut. Lena fing sofort an, wie eine Geisteskranke zu kreischen. Stefan heulte und hielt seine Hand wie einen Fremdkörper von sich. Im Krieg mußten wir viel schlimmere Dinge wegstecken, mein Junge, sagte ich zu ihm. Das ist ein Witz im Vergleich zu dem, was wir durchgemacht haben. Du mit deiner Heulerei und Wimmerei hättest es nicht geschafft. Wie wär's mit ein bißchen Schneid, ein bißchen Tapferkeit, mein kleiner Jude? Aber er hörte mit der Heulerei nicht auf, und da knallte ich ihm eine. Noch Jahre später hielt er mir das vor und behauptete, er könne sich genau daran erinnern. Kaum war es passiert, hörte er auf zu weinen und sah mich verstört an. Du Scheusal, rief meine Frau, wie konntest du. Sie ging mit Fäusten auf mich los. Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet, kreischte sie. Verglichen mit dem Leben an deiner Seite war das Ghetto der reinste Vergnügungspark. Kann sein, daß ich zu weit gegangen war. Ich streckte Stefan die Arme entgegen, aber er weigerte sich, zu mir zu kommen. Mit kühler Miene, wie ein Erwachsener, wandte er sich ab. Insgeheim war ich froh, daß ihn diese Erfahrung ein wenig abhärten und er lernen würde - wie auch ich es hatte lernen müssen -, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Du bist jung, du wünschst dir wahrscheinlich irgendwann ein Kind. Schau nicht mich an. Such dir einen netten jungen Mann, der noch nicht weiß, was auf ihn zukommt. Ich habe von Kindern genug. Sie machen einem nichts als Kummer. Sie sind wie Schwämme, sie saugen dich aus, brauchen Liebe und unendlich viel Zuwendung. Hab mich lieb, hab mich lieb ... Zermürbend. Er schenkte sich ein Glas Brandy ein. Zermürbend!
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Jedenfalls hat Stefan es nicht geschafft, sagte er. Es nicht geschafft? wiederholte Kitty, als hätte sie sich verhört. Mit dreizehn wurde er krank. Lungenentzündung. Lena und ich waren damals schon geschieden. Sie haßte mich, aber als das passierte, rief sie mich an. Ich stieg ins Flugzeug und flog nach Wien. Sie erwartete mich in der Wohnung. Sie war alt geworden. Ihr Haar war ergraut, rund um den Hals hatte sie Ringe und Falten in den Augenwinkeln. Ich hatte sie noch nie so ruhig erlebt. Er liegt im Sterben, sagte sie zu mir. Das war alles. Dann drehte sie sich um und ging in sein Zimmer. Ich folgte ihr. Ich erinnere mich noch, daß sie ein graues, vollkommen unmodisches Sackkleid trug. Er schlief. Ich sah ihn an und dachte: Ist der Junge mit dem weißen Gesicht, der dort hegt, mein Sohn? Ich wollte einen Helden zum Sohn, keinen kränkelnden Knaben mit bleichem Gesicht. Ich war schrecklich enttäuscht. Am nächsten Morgen war er tot. Kitty und Joseph saßen schweigend da. Plötzlich segelte eine große weiße Papierblume mit gelbem Blütengrund, die bei ihm im Regal gelegen hatte, zu Boden. Am liebsten hätte Kitty sie aufgehoben und weggeworfen. Sie war so schmutzig, als hätte sie Ewigkeiten auf einem Müllhaufen gelegen. Warum hebst du sie auf? fragte sie schließlich. Warum hebt man überhaupt etwas auf? fragte er zurück. Geschickt angelte er einen Zahnstocher aus einer kleinen Pappschachtel und begann damit, zwischen seinen Zähnen herumzustochern. Du hättest mich damals sehen sollen, sagte er, in Wien, kurz nach dem Krieg. Was war ich für ein hübscher Bursche. Seine Augen nahmen einen verklärten Ausdruck an. Mein Gott, hatte ich viele Freundinnen. Mit dem Ding im Mund
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siehst du aus wie ein Lastwagenfahrer, murmelte sie. Kaum verließ die eine mein Bett, kroch schon die nächste hinein. Eine vergaß ihre Strümpfe bei mir, und die nächste nahm sie mit. Er hob abwehrend die Hände, und der Zahnstocher in seinem Mund mac hte einen Hüpfer. Was hätte ich tun sollen? Es war gar nicht so einfach, sie mir vom Leib zu halten. Hast du es ernsthaft versucht? fragte Kitty. Sie wollten mich alle haben, mich, den vielversprechenden Schauspieldichter. Er stand auf, ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Wodka heraus. Er hob die Flasche hoch. Wie wär's mit einem Tröpfchen, mein Engel? Doch sie schüttelte den Kopf. Er polierte mit dem Ärmel ein Schnapsglas und setzte sich wieder. Damals wollte jedes Mädchen in Wien Schauspielerin werden, das war das Größte. Sie zwickten sich in die Backen, um möglichst gesund und wohlgenährt auszusehen, und dann ging's zum endlosen Vorsprechen auf ungeheizte Bühnen. Danach, fuhr er fort, kamen sie zu mir, schlüpften unter meine Daunendecke und erzählten mir davon. Er trank einen Schluck Wodka. Seine Wangen fingen an zu glühen. Ich erinnere mich noch an Erika. Sie hatte einen kleinen Hut mit Blume, wie die Generation meiner Mutter in den Zwanzigern. Diesem kleinen Hut konnte ich nicht widerstehen. Ich sah sie, als sie auf den Bus wartete (die Busse kamen damals so gut wie nie), und nahm sie noch am selben Abend mit zu mir. Es war so kalt, daß die Donau eine dicke Eisdecke hatte und die Tauben auf den Simsen festfroren. Aber meine kleine Erika und ich hatten es so gemütlich wie zwei Mäuschen. Sie räusperte sich leise und sah mich erwartungsvoll an, und als ich ihr sagte, was sie als nächstes ausziehen sollte, zögerte sie nicht lange. Wie gemütlich wir es in meinem kleinen Bett unterm Dach hatten. Herrlich, hmm. Warum trägst du eigent-
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lich keine Strumpfhalter, fragte er unvermittelt, so wie die Mädchen damals? Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich ihm aus. Bist du eifersüchtig, mein Liebling? Wenn es dich damals schon gegeben hätte, hätte ich dich vom Fleck weg verführt und auf der Schulter nach Hause geschleppt. Was hätten wir unter der Daunendecke nicht alles angestellt! Aber du warst damals noch nicht einmal geboren, mein Liebling. Du hast noch nicht existiert. Du bist so schweigsam wie ein Grab, beschwerte er sich und kniff sie in die Wange. Ich hätte dich auf meinen Schoß gesetzt, gurrte er, und dir löffelweise heiße Schokolade mit Sahne eingeflößt. Und ich hätte dich auf mir reiten lassen. Wir wären zwei Wochen nicht aus dem Bett gekommen. O Gott, stöhnte er, wenn du wüßtest, was du mit mir anstellst, du babylonisches Weib. Die Hausmeisterin war eine gewisse Frau Kümmel. Sie hatte eine spitze Nase und ein Glasauge. Ach, die vielen Mädchen, sagte sie immer zu mir, die tun dem Ruf des Hauses nicht gut. Welchem Ruf, Frau Kümmel? fragte ich. Ich hätte mit der Schlampe ins Bett gehen sollen, um sie zum Schweigen zu bringen, aber sie war flach wie ein Brett und hatte schmale Schultern. Außerdem trug sie rote Pantoffeln und drei lange Strickjacken übereinander. Als mein erstes Stück aufgeführt wurde, änderte sie ihren Ton. So sind die Wiener Portiersfrauen. Kaum haben sie eine Berühmtheit im Haus, werden sie ganz flatterig. Er stand vom Tisch auf, ging zur Kommode in der Ecke und zog eine Schublade auf, die bis zum Rand mit Papieren vollgestopft war. Er holte eine Schachtel heraus. Sie war mit Blümchenpapier beklebt, das sich an einigen Stellen bereits ablöste, und enthielt jede Menge Schwarzweißfotos. Schau mich an, sagte er stolz und hielt ein Foto hoch. Du wärst damals ganz vernarrt in mich gewesen. Sieh dir meine dunklen
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Locken an. Und wie schlank ich war. Er zog den Bauch ein. Schau mal, bedrängte er sie, so schlank. Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Foto und ließ es sinken. Sehr nett, sagte sie. Nett? rief er und nahm es ihr aus der Hand. Er starrte sein eigenes Bild an und sagte leise: Was würde ich dafür geben ... Sie zog einen kleinen Schnappschuß aus dem Stapel und beugte sich darüber, um ihn besser betrachten zu können. Auf dem Foto saß er, den Arm um eine lächelnde Brünette gelegt, mit einer Gruppe von Leuten in einem dämmrigen Nachtklub. Die Frau hatte große Augen und volle, rot angemalte Lippen, doch obwohl sie lächelte, wirkte ihr Blick unendlich traurig. Dieses Bild wurde in der »Roten Feder« aufgenommen, sagte er. Dort gingen wir oft gegen Mitternacht hin, wenn richtig was los war. Alle Theaterleute, Schriftsteller und Künstler trafen sich dort. Unser Lieblingskellner hieß Adolf. Wir verulkten ihn gnadenlos. Danke für die schönen Erinnerungen, Adolf, sagten wir beim Hinausgehen zu ihm. Wir hatten noch nie so viel Spaß wie in Bergen-Belsen. Der Arme, ein großer dünner Kerl mit einem langen, zitternden, strohfarbenen Schnurrbart, hob die Hände und bat uns, damit aufzuhören, aber das stachelte uns nur noch mehr an. Ich habe damals getrunken wie ein Loch. Danke für das Ferienlager in Sobibor, rief ich ihm zu. Er warf einen Blick auf das Foto. Ach ja, das ist Elke. Warum lächelst du nicht? wollte Kitty wissen. Weil ich mit offenem Mund häßlich aussehe, klärte er sie auf. Er hatte diese Elke an sich gezogen, und seine Finger gruben sich in ihren nackten Arm. Warum ist sie so traurig? fragte Kitty. Sie ist nicht traurig, rief er aus und blickte auf das Foto hinab. Sie ist verhebt. Sie war verrückt nach mir. Aber sie wirkt so
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abwesend. Sie war kein bißchen abwesend, sagte er unwirsch. Sie war krank vor Liebe. Kitty sah sich ihre Augen an. Woher kam sie? Aus Bukarest. Sie hatte den Krieg in einem stockfinsteren Kohlenkeller verbracht. Der Zufall wollte es, daß er einem alten Bauern gehörte, der an mehreren Abenden die Woche sturzbetrunken und nach Wodka stinkend die Kellertreppe heruntertorkelte. Er zuckte mit den Achseln. Was hätte sie tun sollen? Sie wollte nicht denunziert werden. Als der Krieg zu Ende war und sie den Keller endlich verließ, konnte sie eine Woche lang nichts sehen. Ihre gesamte Familie war in der Zwischenzeit verschwunden. Er zog an seiner Zigarette. Traurig? wiederholte er. Was ist schon traurig? Hauptsache, wir leben. Plötzlich strahlte er sie an. Diese Elke war im Bett wirklich der Knüller. Ich will davon nichts hören, erwiderte sie knapp. Es gab nichts, was sie nicht ausprobiert hätte. Das waren Zeiten, sagte er. Damals war ich noch jung. Und jetzt? fragte sie gekränkt. Er hob die Schultern. Jetzt ist jetzt. Er ließ sich müde auf den Stuhl sinken. Es herrschte Krieg, erklärte er ihr. Du kannst das nicht verstehen. Man wußte nie, ob man im nächsten Moment noch lebt. Also trieb man es wie ein Karnickel, weil es schließlich das letzte Mal sein konnte. Wir reden hier nicht über puritanische Moralvorstellungen, sagte er. Wir reden über die Henkersmahlzeit eines zum Tode Verurteilten. Sieh mal, sagte er, eine Faksimile-Ausgabe von Der Kaminkehrer mit meinen Anmerkungen und Änderungen an den Rändern. Ich erinnere mich noch an den Mann, der die Hauptrolle spielte. Ezra hieß er. Ezra Rosensweig. Er kam zum Vorsprechen. Da erschien also dieser Mann mit kahlgescho-
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renem Schädel, gebrochener Nase und haßerfülltem Blick im Theater. Er trug einen schlechtsitzenden Überzieher und staubige Schuhe und sah aus, als hätte er seit einer Woche nichts mehr gegessen. Ich traute meinen Augen nicht. Genau so hatte ich mir den Mann vorgestellt, der diese unbeschreibliche Rolle spielen sollte. Dieser Mensch machte allerdings einen so grimmigen, so zornigen Eindruck, daß ich befürchtete, es könnte ihn zerreißen. Aber auf der Bühne besaß er eine unglaubliche Ausstrahlung. Bei den Proben lockte er die Leute aus allen Ecken und Winkeln des Theaters an. Selbst Frau Baumgarten, die für die Garderoben und Waschräume zuständig war, tauchte zum ersten Mal aus ihren Niederungen auf und stellte sich in den Mittelgang, um ihm zuzuschauen, und ihre kleinen Augen glänzten wie die einer Krähe. Ich hatte damit gerechnet, daß er auf der Bühne wüten und toben würde, doch er tat nichts dergleichen. Statt dessen sprach er mit leiser, mitleidsloser Stimme davon, daß es so etwas wie Hoffnung und menschliche Wärme schon seit langem nicht mehr gebe. Ich war außer mir vor Begeisterung. Ein halbes Jahr lang trat Ezra an sechs Abenden die Woche auf. Wir waren Monate im voraus ausverkauft. Die Kritiken waren unglaublich. Man nannte mich einen Meister, ein Genie, einen Zauberer und Gott weiß was noch alles. Dieser Ezra erinnerte mich an mich selbst. Wenn er die Worte sprach, die ich geschrieben hatte, war mir, als hätte ich sie selbst gesagt. Ezra verbrachte schon bald seine gesamte Zeit im Theater. Er kam von Tag zu Tag früher. Das erzählte mir Frau Baumgarten. In ihm loderte ein seltsames Feuer. Seine Augen wirkten fast fiebrig, seine schauspielerischen Leistungen wurden von Mal zu Mal großartiger und zugleich unheimlicher. Sechs Monate, Abend für Abend. Er wohnte mit einem Mädchen zusammen,
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einem mageren heimatlosen Ding mit blasser, ungesunder Haut und einem ausgefransten Wollschal um den Hals. Ich habe die junge Frau einmal gesehen. Er redete über sie, als hätte sie keinerlei Bedeutung für ihn, und nannte sie immer nur »das Mädchen«. Die letzte Aufführung fand 1956 an Silvester statt. Anschließend war eine Champagner-Party im Restaurant Gärtner geplant. Nach der Aufführung gab es stehende Ovationen, die über eine Viertelstunde andauerten. Ezra stand mit unbewegter Miene regungslos auf der Bühne. Das Rampenlicht zeichnete tiefe Schatten um seine Augen und ließ seine Wangenknochen noch stärker hervortreten. Schließlich ging er ab. Geht schon mal vor, sagte er zu uns, ich komme in ein paar Minuten nach. Ich war dagegen, aber die anderen meinten, laß ihn, er braucht ein paar Minuten für sich allein. Also zogen wir schon mal los. Eine halbe Stunde später war er immer noch nicht da. Einer von uns ging zurück, um nachzusehen, was ihn aufhielt. Wir hatten soeben erfahren, daß er den Friedrich-Heinz-Blessing-Preis für die beste schauspielerische Darbietung des Jahres 1956 erhalten hatte. Nun, du ahnst natürlich schon, was passiert war. Er hatte sich erhängt. Er hinterließ einen Abschiedsbrief an das Mädchen, mit dem er zusammengelebt hatte. Wie sich herausstellte, waren die beiden verheiratet. Sie hatten sogar ein kleines Kind. Wir hatten so viel Zeit miteinander verbracht, aber er hatte mir nie erzählt, daß er ein Kind hatte oder was diese Frau ihm bedeutete. All das stand in dem Brief. Der Kaminkehrer wurde in Berlin, London, New York und Tel Aviv aufgeführt. Viele Jahre später nahm seine Frau Kontakt mit mir auf. Sie hieß Saskia. Mittlerweile war sie
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eine bekannte Bildhauerin geworden, und obwohl nicht mehr ganz jung, hatte sie sich ihre kindliche Ausstrahlung bewahrt. Sie erzählte mir von ihm, von ihrem gemeinsamen Leben und von ihrem Leben nach seinem Tod. Sie hatte nie wieder geheiratet. Das Kind, ein Mädchen, war Schauspielerin geworden. Ezra, erzählte sie mir, hatte im Krieg dem Sonderkommando angehört und sich die Schornsteine vorgenommen, wie sie sich ausdrückte. Auch davon hatte er nie etwas gesagt. Hätte ich es gewußt, hätte ich ihn nie diese Rolle spielen lassen, aber ich hatte keine Ahnung. Er hatte nie ein Wort über den Krieg verloren. Joseph schenkte sich etwas zu trinken ein. Wenn man es richtig anpackt, sagte er, ist ein Theaterstück so lebendig wie das wahre Leben. Dieser Mann hatte alles überlebt, und dann wurde ihm ein Theaterstück zum Verhängnis. Was soll man davon halten? Kitty fielen die tiefen Falten um seine Augen auf. Seine Mundwinkel hingen herab. Sie schwieg. Wie wäre es mit etwas zu essen? schlug er vor. Weißt du, wie man mich nannte? Den bedeutendsten deutschsprachigen Bühnenschriftsteller der Nachkriegszeit. Kafkas Erben. Habe ich dir von der Premiere von Stöcke und Steine erzählt? An dem Abend war ich der wichtigste Mensch von ganz Wien. Alle kamen: der Bürgermeister, Marlene Dietrich und auch Erich Maria Remarque. Das Theater war seit Wochen ausverkauft. Die Eintrittskarten wurden auf dem Schwarzmarkt für ein Vermögen gehandelt. Ich stand hinter den Kulissen und rauchte eine Zigarette. Dann gingen die Lichter aus. Auf der Bühne wurden im Dunklen die Umrisse eines kleinen Schranks sichtbar, und in diesem Puppenschrank kauerte ein Mensch. Als die Musik einsetzte und ein schwaches blaues Licht aufleuchtete, faltete der Mann mühevoll seine Glieder ausein-
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ander und stieg mit einem kleinen Koffer in der Hand aus dem Schrank. Absolute Stille. Ich wagte kaum zu atmen. Mitten im ersten Akt verließ ein älterer Herr aus Wien verärgert den Saal. Schrecklich, murmelte er beim Hinausgehen. So eine Schande. Ich folgte ihm ins Foyer. Dort machte der Herr, der einen teuren Kamelhaarmantel trug, gerade seinem Ärger Luft. Mein lieber Herr, sagte ich mit erlesenster Höflichkeit, wie es scheint, habe ich Sie gekränkt. Doch vor nicht allzu langer Zeit haben Sie mich gekränkt, aber ich, mein Herr, konnte nicht einfach hinausgehen. Er wurde kreidebleich. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen, junger Mann, schimpfte er. Ich schlich mich zurück ins Theater, wo noch immer Grabesstille herrschte. Die Zuschauer waren gefesselt. Es war die Szene, wo er mit dem Gehstock ihren Rock anhebt und verkündet, daß sie bald in Polen einfallen werden. Ich mußte mich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Ich lebte, und die Leute rannten scharenweise in mein Stück. Begreifst du, was das bedeutet? Erst wollen sie dich umbringen, und dann erheben sie dich zu einem Gott. Das soll einer verstehen. Er neigte seine Kaffeetasse und starrte hinein. Was für ein seltsamer Zufall: Am Premierenabend brachte Lena, meine zweite Frau, Stefan zur Welt. Als der Vorhang fiel, war er schon da. Noch ein Jude, auf den eine Ungewisse Zukunft wartete. Aber ich konnte nicht zu ihnen, noch nicht. Ich mußte auf die Premierenfeier. Am nächsten Morgen - ich hatte einen fürchterlichen Kater - ging ich mit einer Schachtel schokoladenüberzogener Kirschen ins Krankenhaus. Meine Frau, dieses verrückte Weib, faselte schon von Beschneidung. Ich wütete und tobte, bis man mich fast aus dem Krankenhaus
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geworfen hätte. Sollte ich meinen Sohn etwa für eine neuerliche Ausrottung kennzeichnen? fragte er ungläubig. Noch am selben Nachmittag ging ich zu Dalya. Du erinnerst dich an Dalya? Sie war die Liebe meines Lebens. Nachdem wir uns ausgiebig geliebt hatten, besänftigte sie mich und sagte, ich solle kein Dummkopf sein, sondern hingehen und den Jungen beschneiden lassen. Der Krieg ist vorbei, sagte sie. Davon war ich zwar nicht überzeugt, aber Dalya war in einem Lager gewesen, und wenn sie sagte, daß der Krieg vorbei war, dann war er es wohl auch. Dalya hätte ich alles geglaubt. Sie war eine richtige polnisch-jüdische Schönheit, mit ihrem dicken, glänzenden kupferfarbenen Haar und ihren Sommersprossen. Sie war so warm und wohltuend wie das Sonnenlicht und hatte eine Haut, so hell wie Milch. Dalya ist es also zu verdanken, daß mein Sohn beschnitten wurde. Dalya hatte sämtliche Tageszeitungen gekauft. Wir lagen im Bett, tranken Champagner und stießen auf meinen Sohn und mein Stück an. Ich ließ sie die Kritiken vorlesen. Dabei verdrehte sie immer wieder die Worte. Was haben wir gelacht. Dalya - in sie war ich wahnsinnig verliebt. Drei Jahre später war sie tot. Sie ertränkte sich im Meer, draußen vor Haifa. Eine Schönheit war sie. Aber auch sie litt unter Alpträumen. Sie schrie, krallte sich die Finger ins Gesicht und fuhr mit schreckgeweiteten Augen aus dem Schlaf hoch, und dieses Entsetzen konnte keine Umarmung vergessen machen. Warum sie sich das Leben genommen hat? Wer weiß, vielleicht, damit die Alpträume endlich aufhörten, damit sie endlich in Frieden schlafen konnte. Nichts, sagte er, wird jemals so wie früher sein. Er drehte sich eine Zigarette. Immerhin starb sie in Israel. In Erez Jisrael.
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An einem kalten Abend, begann er zu erzählen, während er den Tabak auf dem dünnen weißen Papier verteilte, ging mein Schatz zur Arbeit, und ich setzte mich an den Ecktisch und schrieb die ganze Nacht an Der Weg nach unten. Kitty nickte, sie kannte das Stück. Er rollte das Papier zusammen, und seine Fingerspitzen bewegten sich so flink wie die eines Mannes, der die Thora liest. Nicht eine Pause gönnte ich mir. Die Wörter sprudelten nur so aus mir heraus, bis mir ganz schwindlig war. Er füllte sein Glas und hielt ihr die Flasche hin, doch sie schüttelte den Kopf. Wie viele Wörter ein Jude in seinen Schädel stopfen kann. Die ganze Welt stürzt auf ihn ein. Sie hatten sich in all den Kriegsjahren dort oben angesammelt, eine Unmenge von Wörtern, die beschreiben konnten, was geschehen war. Aber als sie es dann beschreiben sollten, erwiesen sie sich als nutzlos. Wasser und Staub. Er zündete die Zigarette an, und das Papier knisterte. Trotzdem, dort oben hatte sich etwas angesammelt, und in dem kleinen kalten Zimmer kullerten die Buchstaben aus mir heraus wie Perlen aus einem Beutel. Ich wollte es ihr vorlesen, als sie in jener Nacht nach Hause kam, aber mein kleiner Spatz war so erledigt, daß er nur noch ins Bett fiel. Er zupfte sich einen Tabakkrümel von der Zunge. Also las ich es ihr am nächsten Morgen vor, als sie sich die Augen rieb und ihr Nachthemd nach unten zog. Und sie lachte. Stell dir das vor. Ich glaube, sie kapierte kein Wort. Erinnerst du dich noch, fragte er Kitty, wie Stanislas sagt, hör nur, wie die Geier in den Bäumen singen, die Melodie ist so vertraut, daß jemand, der zufällig des Weges kommt, sie beinahe mitsingen könnte? Sie nickte. Nun, an der Stelle lachte sie sich kaputt. Sie
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fand das niedlich. Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Was sollte ich machen? Ich zwickte das alberne Ding in die Backe, entfuhr es ihm laut. Das Buch wurde später als das bedeutendste des Jahrzehnts bezeichnet. Vor ihm stieg Rauch in die Luft. Die tiefen Furchen in seinen Augenwinkeln waren besonders deutlich zu sehen. Das war vor dreißig Jahren. Er sah sie überheblich an. Da hast du gerade sprechen gelernt, mein Engel. Noch einmal schüttelte er den Kopf. Das waren Zeiten. Er kippte den Schnaps hinunter und beugte sich vor. Der größte Schriftsteller der Nachkriegszeit, so nannte man mich. Der Weg nach unten machte mich über Nacht berühmt. Alle führenden Tageszeitungen brachten Rezensionen - in Wien, Berlin, Frankfurt und Prag. Du solltest mal die Ordner mit den Zeitungsausschnitten sehen. Ein bitteres Gebräu, sagte er leise, so hieß es in den Zeitungen. Schwarz wie das Pikas. Was erwarteten sie? Er schenkte sich noch einen Schnaps ein. Was geschehen war, kümmerte niemanden mehr, als wäre es längst vorbei und vergessen. Nur wir konnten nicht vergessen, nicht einen Augenblick. Höchstens zwischen den warmen Schenkeln einer Frau, und nicht einmal dort. Kitty griff quer über den Tisch nach seiner Hand. Was soll das? fuhr er sie an. Willst du mich trösten? Sie zog die Hand zurück und legte schützend die andere darüber. Glaubst du etwa, du könntest mich trösten? fragte er ungläubig. Kitty errötete. Nein, sagte sie. Draußen vor dem Fenster wirbelt der Wind die Schneeflocken wild durcheinander. Aus dem gedrungenen Schornstein eines kleinen Hauses steigt eine Rauchfahne auf. Kitty malt sich aus, daß in dem Haus wie im Märchen ein altes Paar sitzt, an einer Bruyerepfeife zieht und darauf wartet, daß ein Fabelwesen erscheint. Hinter dem heimelig und gemütlich wirkenden Häuschen dehnt sich weiß und trostlos das Land. Unter dieser
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gefrorenen Erde wird Joseph also bald liegen. Wer wird den Kaddisch für ihn sprechen, wo seine beiden Söhne tot sind? Wer das Gebet der Erinnerung, ein Gebet, das so alt ist, daß es ursprünglich auf aramäisch abgefaßt wurde? Diesmal ist endgültig Schluß. Diesmal kommt er nicht davon. Seine vielen Leben sind aufgebraucht. Ich hatte mehr Leben als eine Katze, erzählte er. Wie viele hat eine Katze noch mal? Neun? Ich hatte viel mehr. Er zog das weiße Taschentuch heraus und schneuzte sich laut. Warum, weiß ich auch nicht. Womit hatte ich das verdient? Sicher nicht, weil ich so viel Gutes getan oder ein so reines, lauteres Herz hatte. Aber so war es nun mal. Eines Abends, begann er zu erzählen und stopfte das Taschentuch zurück in die ausgebeulte Tasche seines Bademantels, lief ich in Amsterdam so schnell die Straße hinunter, wie es möglich ist, ohne zu rennen. Es war bitterkalt, nirgends brannte Licht, nur der eisige Mond schien. Ich hatte mich nicht an die Ausgangssperre gehalten, und jetzt waren die Straßen menschenleer. Innerlich verfluchte ich Marijke. Noch fünf Minuten, hatte meine Liebste gemurmelt und ihre weichen Brüste an mich gedrückt. Das hatte ich nun davon. Sieht so aus, dachte ich mit vor Kälte klappernden Zähnen, als wäre ich der letzte Jude, den es auf dieser Welt noch gibt. Ich hatte gesehen, wie die anderen fortgegangen waren, wie sie sich mit ihren überflüssigen Koffern abgeschleppt und versucht hatten, ihre Mäntel zuzuknöpfen. Noch heute erinnere ich mich an das Elend in ihren Augen. Wie sich herausstellen sollte, war ich der vorletzte. Plötzlich hörte ich auf den Pflastersteinen das Geräusch von Stiefeln und
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dann einen Ruf. Ich blickte zum Mond auf, dessen weißes Gesicht zwischen all den kalten Sternen hell leuchtete, und vergegenwärtigte mir meinen holländischen Namen, Geburtsort und -datum in Holland. Sie waren zu dritt, trugen schwarze Uniformen und hatten vor Kälte gerötete Gesichter. Iß, sagte er zu ihr und zeigte auf den angeschlagenen Wurstteller. Nutz die Gelegenheit. Es ist noch gar nicht so lange her, da haben die Deutschen auf dieser Welt alles gehortet, was angenehm und kostbar war: Kaviar, Diamanten, Tabak, Autos, Benzin, Gold, Fleisch, Butter, Zucker, Kaffee und Tee. Und sie dachten nicht im Traum daran, etwas abzugeben. Schnell zog ich meine falschen Papiere aus der Hose, die Marijke erst vor kurzem aufgeknöpft hatte. Sie fragten mich, wo ich gewesen sei und wo ich hinwolle. Einer von ihnen, ein holländischer Nazi, konnte meinen Akzent nicht einordnen. Ich erzählte ihm die übliche Geschichte von meiner österreichischen Mutter, aber das beeindruckte ihn nicht. Es war lausekalt. Sie schlotterten, und ich spürte, daß sie mir die Schuld an ihrem Mißbehagen gaben. Sie befahlen mir, die Hosen herunterzulassen. Was blieb mir anderes übrig? Ich nestelte an meinem Gürtel. Mach schon, drängten sie und stießen mich mit ihren Gewehren. Der Holländer brüllte mehr herum als die beiden anderen zusammen, bis sie zu ihm sagten, er solle sich beruhigen, sonst bekäme er noch einen Herzinfarkt. Er bestrich eine Scheibe Roggenbrot mit Leberwurst und hielt sie ihr hin. Willst du nichts essen? Ich hatte die Hand schon am Reißverschluß, als drei Schüsse knallten. Die Männer vergaßen mich und rannten zu der Stelle, wo geschossen worden war. Da stand ich in der Kälte und
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versuchte, den Gürtel wieder zuzumachen, aber meine Finger waren steifgefroren. Benommen kehrte ich in mein Mansardenzimmer zurück. Ich lebte noch. Später erfuhr ich, daß man einen Juden erschossen hatte. Ich versuchte herauszufinden, wer es war, aber niemand schien es zu wissen. Am nächsten Morgen ging ich zu der Stelle zurück und lief die umliegenden Straßen ab, doch von ihm keine Spur. Da fing ich an, ans Glück zu glauben. Warum er und nicht ich? Er hob die Achseln. Vielleicht war er ein Heiliger und ich Barrabas, der statt seiner davongekommen war. Er kaute langsam. Es ist alles eine Frage des Glücks und hat nichts mit Grips, Schönheit oder einem guten Herzen zu tun. Letztlich ist alles eine Frage des Glücks. Merk dir das, mein Schatz. Sie hat Henri einmal gefragt, wie er über den Begriff Glück denke. Er nannte ihn irrational. Statt dessen glaubte er an Begabung und harte Arbeit. Wenn ich Pläne für ein Gebäude zeichne, sagte er, kalkuliere ich alle Möglichkeiten mit ein: Hitze, Kälte, Erdbeben, alles. Niemand kann alle Möglichkeiten einkalkulieren, entgegnete sie, nicht einmal ein guter Architekt. Das stimmte ihn milde. Alle Möglichkeiten? hätte Joseph spöttisch erwidert. Man kann froh sein, wenn man eine einkalkuliert. Und selbst, wenn es noch so viele sind – irgendeine vergißt man immer. Man denkt an alles, und dann vergißt die Sonne eines Tages, morgens aufzugehen, oder die Katze rennt mit dem Plan davon. Marijke und ich feierten meinen jüngsten Glücksfall im Bett. Du, sagte ich zu ihr, bist mein allergrößtes Glück. Wie konnte Gott einen solchen Engel erschaffen? Sie brachte mir Lieder aus dem Norden bei, seltsame Melodien und Texte in nordischem
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Dialekt. Ich kann sie noch heute. Marijke hatte rosa Pantoffeln mit Troddeln, sie stammten aus Frankreich, und die Wände ihres winzigen Zimmers hatte sie mit Seiten aus französischen Filmzeitschriften tapeziert. Wenn wir uns in ihrem knarrenden Bett liebten, sahen Jean Gabin, Edwige Feuillére und Michelle Morgan auf uns herunter. Hör auf, bat Kitty. Er schüttelte den Kopf. So eifersüchtig? Ich spreche von einem Mädchen, das ich seit 1945 nicht mehr gesehen habe. Er ließ das Feuerzeug auf dem Rand der Zuckerschale balancieren. Sie schlief für Geld mit Männern. Was sollte ich machen? Ich war nicht ihr erster und nicht ihr letzter, aber ich war der, den sie liebte. Ich will nichts mehr davon hören, protestierte Kitty. Sie hat mir das Leben gerettet, sagte er und sah sie unter seinen schweren Lidern an. Sie hat mir das Geld für die falschen Papiere gegeben. Ohne sie wäre ich verschwunden, wie alle anderen. Er rauchte ruhig weiter. Wenn mein kaftantragender Großvater erfahren hätte, wer seinem Enkel das Leben gerettet hat... Außerdem ist das Mädchen, auf das du so eifersüchtig bist, seit fast fünfzig Jahren tot. Oder glaubst du, Beischlaf mit dem Feind blieb nach Kriegsende ungestraft? Von wegen. Denkst du, du bist der einzige Mensch, der Geliebte hatte? fragte Kitty ihn einmal. Auch ich hatte Liebhaber. Rasch blickte er auf. Nicht zu viele, hoffe ich. Wenige waren es nicht gerade, antwortete sie. Soll ich dir von ihnen erzählen? Nein, mein Schatz, dafür bin ich viel zu eifersüchtig. Er klaubte ein paar Tabakkrümel zusammen und stopfte sie in die kleine Blechschachtel. Das war nicht das einzige Mal, daß ich davonkam. Eines Nachts standen wir dichtgedrängt in einem Luftschutzbunker, zusammengepfercht wie die Gänse
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der goyim auf dem Weg zum Markt, also mit nicht einmal einem Kubikzentimeter zwischen uns. Mir war klar, daß ich von diesen Leuten wegmußte. Menschenansammlungen gaben mir keine Sicherheit, im Gegenteil, ich konnte klarer denken, wenn ich allein war. Also bahnte ich mir einen Weg nach draußen. Man wollte mich zurückhalten, Mütter streckten mir ihre Arme entgegen und versuchten, mir den Weg zu versperren. Bleib hier, beschworen sie mich. Aber eher wäre ich in einem brennenden Haus geblieben. In der Menge war ich hilflos. Ich kämpfte mich durch und trat an die frische Luft. Es war eine klare Nacht, wie geschaffen für einen Bombenangriff. Ich schaute zum Himmel auf, der mit Myriaden von Sternen übersät war. Ich dachte an meinen Großvater, der seine Gänse immer stolz im Gänsemarsch zum Markt getrieben hatte, und an seine Verachtung für die goyim, die sie auf ihren Karren in Käfige zwängten, in denen sie kaum atmen konnten. Es war vollkommen still, doch plötzlich gab es eine donnernde Explosion. Ich wurde zu Boden gerissen. Als ich mich wieder aufrappelte, sah ich, daß der Bunker verschwunden war - und mit ihm alle, die sich darin befunden hatten. Nur ich stand noch da. Mein Großvater hätte mir wahrscheinlich den Kopf getätschelt und mich einen schlauen Juden genannt. Schlau oder nicht - jedenfalls machte ich mich auf die Suche nach einer Frau, irgendeiner Frau. Ich wollte es feiern, daß ich auf unserer finsteren, feindseligen Erde überlebt hatte. Ich sah sie die Straße hinuntergehen, eine etwa dreißigjährige Frau. Ihr Kleid war zerrissen, ihr Blick leer. He, rief ich, wir leben noch. Sie schaute durch mich hindurch. Warum sollen wir das nicht feiern? Sie reagierte zwar nicht auf meinen Vorschlag, aber sie wehrte sich auch nicht, als ich den Arm um sie legte. Von ihr ging kein bißchen Wärme aus. Ihre Schulter
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war kalt und tot, und ich hätte beinahe aufgegeben. Aber es dauert nicht lange, eine Frau aufzuwärmen, egal welche, und schon wenig später sanken wir am Straßenrand nieder. Kitty schenkte Tee nach. Das hört sich so trostlos an, meinte sie, so unmenschlich. Er kratzte sich an der Brust. Wie wenig du doch begreifst, erwiderte er. Er trank mit halbgeschlossenen Augen. Es geht nichts über holländische Frauen. Sie sind lüstern und geil - bei jedem Wetter. Und wie gern sie lachen. Wenn in Holland die Augen einer Frau vor Verlangen glänzen, dann nennen sie das zaad vragende ogen, also »Sperma verlangende Augen«. Wußtest du das? Nur holländische Frauen bringen ihren Hündchen bei, sie zwischen den Beinen zu lecken. Kuttelikker nennen sie sie. Wie kann man diese Frauen nicht lieben? Sie sind fürs Bett gemacht. Er setzte die Tasse ab und betrachtete sie. Wie du, mein Liebling, mit deinen Sperma hervorlockenden Augen. Komm her, setz dich auf meinen Schoß. Ich möchte dich spüren. Kitty schüttelte lächelnd den Kopf. Soll ich kommen und dich holen? fragte er. Ist es das, was du willst? Er stand auf und warf sich in die Brust. Wie sexy du bist. Warum bist du zu mir gekommen? Ich finde, du solltest die Fensterläden aufmachen, stellte Kitty eines Morgens fest. Hier drin ist es so dunkel. Sie stand im hinteren Teil des Zimmers und streckte die Hand nach dem Riegel aus. Laß sie zu, herrschte er sie an. Er rollte mit den Fingern eine Salamischeibe zusammen. Ich habe genug gesehen. Nur für ein paar Minuten, schlug Kitty vor, um ein wenig Licht hereinzulassen. Gott bewahre, erwiderte er und schob sich die Wurstrolle in den Mund. Einmal ist eine Frau dahergekommen, hat die Fensterläden aufgestoßen und die
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ganze Wohnung von oben bis unten geputzt. Er leckte sich das Fett von den Fingern. Sie hatte wunderschönes rotes Haar, aber ich mußte sie loswerden. Für mich gibt es da draußen nichts zu sehen. Er tippte sich an den Kopf. Es ist alles hier drin. Du bist noch jung, für dich fängt das Leben erst an. Du sehnst dich nach Sonnenlicht und Blumen und all den köstlichen unbekannten Abenteuern, die dir in der großen weiten Welt widerfahren mögen. Aber ich habe genug Abenteuer erlebt, mehr als genug. Also rühr die Fensterläden nicht an, sonst... Er hob mit gespieltem Ernst drohend den Zeigefinger. Sonst muß ich dich auch loswerden. Das würdest du nie tun, sagte Kitty leichthin. Nein, antwortete er seufzend, wie könnte ich? Du hörst dich so an, als hättest du mit dem Leben abgeschlossen, sagte Kitty. Gottlob, erwiderte er. Sie schüttelte den Kopf. Das verstehe ich nicht. Natürlich nicht, sagte er, wie solltest du auch. Der Zug hält in Brüssel. Als Kitty aus dem Fenster blickt, sieht sie auf dem Bahnsteig ein Pärchen, das sich innig umarmt. Jedesmal wenn sich die Frau vom Mann zu lösen versucht, schauen sich die beiden ein letztes Mal an und fallen sich erneut in die Arme. Sie tragen Daunenmäntel, und deshalb wirken ihre Umarmungen irgendwie wattig, unförmig. Ihre Köpfe dagegen sind scharf umrissen und sehen winzig aus. Drei Jungen mit rasierten Schädeln, Springerstiefeln und Tätowierung kommen an dem sich umarmenden Pärchen vorbei und spucken verächtlich aus. In ihrer harten neuen Welt, überlegt Kitty, gibt es keine Umarmungen, nur die strenge Liebe der neuen Ordnung. Ein Pfiff ertönt. Die Frau greift nach ihrer Tasche, und die beiden küssen sich zum allerletzten Mal. Kitty schaut weg. Du und deine romantischen Kleinmädchen-
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phantasien, verhöhnte Joseph sie oft. Überall Herzen und Blumen. Was weißt du schon vom wirklichen Leben? Die Türen öffnen sich, und ein eiskalter Luftschwall dringt in den Waggon. Eine Reihe von Menschen in schweren Stiefeln, dicken Mänteln und Parkas besteigt, sich mit Gepäck abschleppend, den Zug. Kitty hat einen Platz am Gang. Bisher hatte sie Glück. Denn es hat sich niemand neben sie gesetzt. So kann sie ungehindert aus dem Fenster schauen und die Landschaft vorüberziehen sehen. Doch jetzt kommt eine junge, schwer atmende Frau, die einen großen Koffer hinter sich herzieht, den Gang entlang. Sie fragt Kitty, ob der Platz neben ihr frei sei. Nein, antwortet Kitty prompt. Die ältliche, spitznasige Französin auf der anderen Seite des Gangs ist empört. Wie können Sie es wagen? zischt sie. Nur zu, Mademoiselle, setzen Sie sich ruhig, der Platz ist nicht besetzt. Kitty starrt aus dem Fenster. Die junge Frau zögert kurz, doch dann geht sie weiter den Gang entlang. Kitty lächelt in sich hinein, sie wappnet sich für den Kampf. Joseph hätte schon längst etwas erwidert. Sei nicht so brav, hätte er sie beschworen, so aufrecht, ehrlich und wohlerzogen. Kann man so leben? Diesen Luxus kann man sich nur in Friedenszeiten, in einer wohlhabenden Familie leisten. Wie lang hättest du im Krieg mit deinen exquisiten Manieren überlebt? Oh, nein, ich bitte Sie, spottete er, nehmen Sie das Brot. Ich kann warten. Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram, wird sie zu der Frau sagen. Vielleicht sollte sie noch »Sie alte Schachtel« hinzufügen und »Jemanden wie Sie hätte man im Kommunismus gut gebrauchen können«. Was für eine Frechheit, sagt die Alte gerade zu dem Mitreisenden neben sich. Können Sie sich das vorstellen? Sagt sie doch glatt, der Platz sei besetzt, obwohl er frei ist. Unerhört. Kitty wartet ab, aber die Frau
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meidet eine offene Konfrontation. Kitty kann die Augen nicht von den gefrorenen Feldern und der kalten weißen Scheibe des Monds lassen. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Bald sind sie in Holland. Auf dem Tisch stand eine Schüssel verschrumpelter saftloser Zitronen, die sich, weil sie so lang auf der Heizung gelegen hatten, schmutzigorange verfärbt hatten. Kitty beäugte sie angewidert. Warum hebst du die vertrockneten Zitronen auf? fragte sie. Die könnten aus der Zeit sein, als deine Großmutter noch lebte. Hier, sagte Joseph und schenkte zwei Schnapsgläser so voll, daß sie überliefen. Nimm, der erweicht sogar das härteste Herz. Meinst du damit meins? fragte Kitty verwundert. Nein, mein Liebling, meins. Er stieß die Gläser kurz gegeneinander. Was feiern wir? wollte Kitty wissen. Daß wir leben, antwortete Joseph. Das ist Grund genug, zu feiern. Er legte den Kopf zurück und kippte den Schnaps herunter. Sollen wir aufstehen und tanzen wie die Haside? Nein, nicht nötig. Wir trinken aufs Überleben, das reicht. Du hättest sehen sollen, wie sie nach dem Krieg in Palästina tanzten, also alle, die nicht zu müde dazu waren. Sie hüpften und warfen die Beine von sich wie die Kosaken, Abend für Abend. Wenn eine Frau stundenlang getanzt hat, kann man mit ihr übrigens machen, was man will. Dann sind ihre weiblichen Hormone in Aufruhr. Er hob warnend den Finger. Allerdings muß man aufpassen, daß sie in der Hitze des Augenblicks nicht vom Heiraten anfängt. Ich war zweimal verheiratet. Das ist für ein en Mann mehr als genug. Ein Mann, der heiratet, kann sich genausogut eine Narrenkappe aufsetzen, um allen zu zeigen, was für ein
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Riesentrottel er ist. Er ließ ein wenig Tabak auf ein Zigarettenpapier fallen und rollte es zusammen. Frauen sind in der Ehe kreuzunglücklich. Das habe ich zu Hause gelernt. Wenn es dunkel wurde, sah ich meine Mutter oft reglos am Küchentisch sitzen, ein Schneidbrett vor sich, ein Messer gedankenverloren in der Hand. Was ist los, Mama? wollte ich wissen, und ihre hellblauen Augen füllten sich mit Tränen. Soll ich das Messer halten, Mama, während du weinst? fragte ich sie. Aber sie schüttelte nur den Kopf und legte die blitzende Klinge auf den Tisch. Ich wußte, warum sie weinte, sie brauchte es mir nicht zu erzählen. Sie weinte, weil ihr Mann nie zu Hause war, und dafür gibt es keinen Trost. Ich las ihr die Geschichten vor, die ich geschrieben hatte und die von Clowns und Zwergen handelten und von einem kleinen Jungen, der in einem Loch verschwindet. Vergiß das Abendessen nicht, erinnerte ich sie, und dann trat sie an den Herd, wo Mitzi in einer Pfanne ein Fleischgericht vorgekocht hatte. Ich versuchte es mit Zauberund Kartentricks, erzählte ihr meine besten Witze. Es half alles nichts. Manchmal, wenn ich das Sternchenmuster auf einem ihrer Seidenkleider anstarrte, malte ich mir eine Galaxie aus, wo die Hunde auf den Hinterpfoten gingen und Fotoapparate um den Hals trugen. Mama, sagte ich dann, laß uns so tun, als würden wir eine Reise machen. Aber sie wollte nicht mitspielen. Abend für Abend saßen wir beide beisammen, ich ließ immer wieder zwei kleine Züge zusammenstoßen, sie wischte sich die Augen. Manchmal, wenn sie nicht ganz so traurig war, nannte sie mich ihren Schatz, ihren kleinen Liebling oder ihren hübschen Jungen und sagte mir voraus, daß ich eines Tages den Nobelpreis erhalten würde. Ich gab der Ehestifterin die Schuld an ihrem Unglück. Diese Frau hatte einen schrecklichen Fehler
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begangen. Sie hatte zwei Menschen zusammengebracht, die so verschieden waren wie Öl und Wasser. Stell dir vor, sagte meine Mutter zu mir, im Frühjahr schmilzt der Schnee, der Schlamm trocknet, und die Wiesen fangen an zu blühen. Sie erzählte von ihrem Schtetele in der Ukraine. Die Bäche fließen wieder, und das Wasser ist so klar und frisch, als käme es aus einer Bergquelle. Du kannst dich ins lieblich duftende Gras legen, zum blauen Himmel aufblicken und sehen, wie eine Herde von weißen Wolken darüberzieht. Und die Schwarzkirschen ... Die Himbeeren ... Sie zog leicht die Schultern hoch, um zu veranschaulichen, wie unbeschreiblich süß sie waren. Als meine Eltern zu mir sagten, wir packen unsere Sachen und gehen nach Wien, erzählte sie, wollte ich nicht mitkommen, und am Tag der Abreise versteckte ich mich in der Scheune eines Nachbars im Heu. Sie nahmen das Schtetl mit, meine Mutter und ihre Eltern. Mein Großvater weigerte sich, Deutsch zu lernen und einen Anzug zu tragen. Er verließ sein Viertel nie. Meine Großmutter trug immer noch ihre Perücke vom Land und ihre altmodischen Schuhe. Seine Gänse hatte mein Großvater zwar zurückgelassen, aber er fand bald einen Ersatz. Er eröffnete einen winzigen Laden, in dem er Gänsedaunen verkaufte. In dem kleinen Raum standen Holzfässer, die bis zum Rand mit sieben verschiedenen Federnarten gefüllt waren. Die Frauen kamen mit Steppdecken und Kopfkissenbezügen zu ihm und ließen sie mit Federn füllen. Eines Tages mußte eine Frau niesen, und zwar nicht nur einmal, sondern gleich fünfmal. Mein Großvater rief den Allmächtigen an. Die Federn stoben aus den Fässern und flogen, wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, in dem
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winzigen Laden herum. Ich wünschte, ich wäre dabeigewesen, meinte Joseph sehnsüchtig. Muß das ein Spaß gewesen sein. Als meine Mutter heiratete, bestand ihre Aussteuer aus Daunendecken und Kissen, alle gefüllt mit den feinsten ungarischen Gänsefedern. Einige Monate nach ihrer Ankunft in Wien starb meine Großmutter mütterlicherseits. Meine Mutter wurde zur Hausangestellten und Gesellschafterin ihres Vaters. Sie kochte und putzte für ihn und staubte seine Gebetbücher ab. Sogar den langen Bart mußte sie ihm kämmen. Mit Jungen durfte sie nicht sprechen. Sie schrieb Gedichte in kleine, geblümte Notizbücher und versteckte sie in ihrer Schublade. Es waren Gedichte über Blumen und Bäche, über die Liebe und all die Träume, die ein junges Mädchen eben so in seinem Herzen trägt. Sie schrieb sie auf deutsch. Selbst wenn ihr Vater sie gefunden hätte, hätte er sie also nicht lesen können. Er kannte nur das jiddische Alphabet. Bei ihrer Heirat nahm sie ihre Notizbücher mit und versteckte sie wieder. Als mein Großvater starb, war meine Mutter sechsundzwanzig, für damalige Verhältnisse also schon eine alte Jungfer. Aber am Ende fand man doch noch einen Ehemann für sie. Hätten ihre Eltern noch gelebt, wäre diese Verbindung nie zustande gekommen. Denn ihr Zukünftiger war kein strenggläubiger Jude. Im Gegenteil, ihm war nichts heilig. Und meine Mutter kam aus einer frommen Familie. Mein Vater war nicht nur kein frommer Mensch, sondern er verbot meiner Mutter außerdem, sich wie eine ahnungslose Schtetl-Göre zu benehmen, wie er sich ausdrückte. Ein gutaussehender Mann, flüsterte ihr die Ehestifterin zu, und so elegant. Er weiß, wie alt du bist, und ist
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damit einverstanden. Was für ein Glückstreffer. Übrigens ist er Handlungsreisender, fügte sie hinzu. Die Ehestifterin hatte recht, aber sie vergaß zu erwähnen, wie erfahren er mit Frauen war. Sie trafen sich. Es stimmte, erzählte meine Mutter mir später, er sah sehr gut aus mit seinem welligen, in der Mitte gescheitelten Haar. Ihr gefiel seine lässige Art. Und er bedrängte sie nicht. Das beruhigte sie. Außer ihrem Vater hatte sie keine Männer kennengelernt, und sie wollte keinen, der sie überrumpelte. Das erzählte sie mir auch. Erst später, als es bereits zu spät war, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Was sie für die Zurückhaltung eines Ehrenmannes gehalten hatte, war in Wirklichkeit nichts anderes als Gleichgültigkeit. Er schüttelte den Kopf. Meine arme Mutter, sie hatte etwas Beßres verdient. Manchmal kam mein Vater monatelang nicht nach Hause. Dann wurde das Geld knapp, und wir mußten uns einschränken. Aber kaum wurde er zurückerwartet, wurde das Haus von oben bis unten geputzt, wurden seine Hemden gewaschen, die Kragen gestärkt, das teuerste Stück Fleisch vom Kalb bestellt, und meine Mutter zog ihr bestes Kleid an, das schwarze mit den Ärmeln aus Spitze. Ich mußte mir sorgfältig das Haar bürsten und mein jüngstes Schulzeugnis hervorholen. Jahre später sollte ich von meinem Cousin erfahren, daß mein Vater ein richtiger Schürzenjäger war. Er hatte überall Frauen, wie ein Pascha. Er verkaufte ihnen aus seinem braunen Musterkoffer Bänder, Strümpfe, bestickte Taschentücher, Rüschen und Borten, eben diesen ganzen Weiberkram. Sie flogen scharenweise auf ihn. Unterdessen saßen meine Mutter und ich zu Hause am Küchentisch und tranken eine Tasse Tee nach der anderen. Ab und zu las sie mir ihre blumigen Gedichte vor. Eines Tages, dachte ich, werde ich auch mit dem sorglosen
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Herzen eines Handelsvertreters durchs Land ziehen und viele Frauen haben. Mein Vater trug immer gutsitzende Anzüge und eine Blume im Knopfloch. Und er trällerte Lieder aus Operetten - der typische Handelsvertreter eben. Manchmal aber, wenn wieder einmal eine seiner langen Reisen bevorstand und er gerade aus der Tür gehen wollte, bekam er einen Wutanfall, weil er seinen Musterkoffer, seine Handschuhe oder seinen Hut nicht finden konnte. Dann mußten wir losrennen und danach suchen, während er laut fluchte, er werde nie mehr in diesen Haushalt zurückkehren, in dem ständig etwas nicht aufzufinden sei. Joseph drehte sich eine Zigarette und zündete sie an. Meine Mutter war zu schüchtern, zu weich, sagte er ärgerlich. Warum hat sie sich nie durchgesetzt? Wenn wir in den Laden gingen, ließ sie immer zu, daß sich alle vordrängelten, und wenn sie jemandem in Uniform begegnete, und sei es nur dem Mann von den Gaswerken, der kam, um den Zähler abzulesen, errötete sie und wurde ganz unterwürfig. Der Rauch stieg in Spiralen auf. Aber ich will dir etwas Merkwürdiges erzählen. Meinem Cousin zufolge kam am Ende doch noch eine andere Seite von ihr zum Vorschein, und mein Vater, der sich immer auf Teufel komm raus alles erlaubt hatte, wurde lustlos und in sich gekehrt. Wirklich verrückt. Um welche Achse dreht sich die Welt eigentlich? Um keine. Sie kann jederzeit auf den Kopf gestellt oder ihr Innerstes nach außen gekehrt werden. Das kann geschehen, und es geschieht auch. Wenn sich mein Vater nicht gerade über etwas ärgerte, war er für jeden Spaß zu haben. Er liebte Witze und Zaubertricks, und im Jahr vor meiner Geburt hatte er eine Vorstellung des damals berühm-
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testen Zauberer Europas gesehen. Joseph erhob sich, setzte den Kessel auf und kam mit einer Keksschachtel zurück. Bedien dich, sagte er und hielt ihr die Schachtel hin, die an einem Ende eingedrückt war. Sie griff hinein und nahm ein zuckriges Plätzchen heraus. Pfeffernüsse, erklärte er ihr. Die habe ich schon als Kind gegessen. Ich habe sie in einem Laden in Downtown gefunden. Weich und süß und mit Zucker bestäubt, wie früher. Nimm noch einen. Selig biß Joseph in einen Keks, und der Puderzucker rieselte auf sein Kinn. Das war 1926. Mein Vater hatte damals geschäftlich in Budapest zu tun. Zufällig hörte er, daß S, der größte Zauberer Europas, am selben Abend auftreten würde. Er ging zu dem Theater, in dem die Vorstellung stattfinden sollte, und ergatterte einen der letzten Plätze. Das Theater war brechend voll. Um acht Uhr sollte die Vorstellung beginnen. Es war ein so schwüler Abend, daß sich die Frauen auf ihren Sitzplätzen Luft zufächelten. Das Publikum wartete, anfangs noch geduldig, doch die Zeit verging, und S erschien nicht. Alle paar Minuten sahen die Leute auf ihre Uhr, aber er kam und kam nicht. Schließlich, um zehn vor neun, ging der Vorhang auf, und der Zauberer betrat die Bühne. Guten Abend, meine Damen und Herren, sagte er mit einer Verbeugung. Bitte entschuldigen Sie meine fünfminütige Verspätung. Prompt warfen alle einen Blick auf ihre Uhr, und tatsächlich: Sämtliche Uhren im Theater zeigten fünf nach acht. Joseph trank seinen Kaffee. Ein großer Magier, bemerkte er. Ein Jude, natürlich. Mein Vater hatte Hunderte von Witzen auf Lager. Er kannte sie alle auswendig. Sein Lieblingswitz war der über Lenin in Polen. "Wenn er den bei Tisch erzählte und meine Onkel gerade zu
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Besuch waren, mußte ihnen immer extra Wasser nachgeschenkt werden. Damals verstand ich den Witz nicht, und als ich sie fragte, wie er gemeint sei, lachten sie nur um so lauter. Aber ich merkte ihn mir, und ein paar Jahre später, in Amsterdam, fiel bei mir plötzlich der Groschen. Nun komm schon, drängte Kitty, wie geht der Witz? Welcher Witz, mein Schatz? Der über Lenin in Polen. Der Witz über Lenin in Polen? Willst du etwa behaupten, du hast ihn noch nie gehört? fragte er mit gespielter Verwunderung. Sie lächelte. Möchtest du ihn hören? Sie nickte. Heute noch? Oder sollen wir bis morgen warten? Er griff über den Tisch und kniff sie in die Wange. Schon gut, schon gut. Also, eines Tages verbreitete sich die Nachricht, daß Lenin Polen einen Besuch abstatten wolle. Womit konnten sie diesen großen Mann willkommen heißen? Ein Ausschuß wurde gebildet, und der beschloß, ein Gemälde in Auftrag zu geben, ein großes, prachtvolles Ölbild mit dem Titel »Lenin in Polen«. Kitty nahm einen Apfel aus der Schale und begann, ihn zu schälen. Die Männer gingen zum angesehensten Maler der Stadt. Er versprach ihnen, das Gemälde in einem Monat fertig zu haben. Nach einem Monat kamen sie zu ihm, aber er vertröstete sie. Zwei Wochen später kamen sie wieder, aber er brauchte noch mehr Zeit. Schließlich gingen sie am Tag vor Lenins Ankunft wieder in das Atelier. Sie standen vor einer riesigen Leinwand, und der Maler zog das Tuch herunter. Schockiert schweigend starrten sie das Gemälde an. Darauf war Trotzki zu sehen, wie er mit Lenins Frau ins Bett steigt. Schließlich wagte einer aus dem Ausschuß die Frage: Aber wo ist Lenin? Nun, erwiderte der Maler, Lenin ist in Polen.
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Ich stellte mir vor, wie mein Vater diesen Witz seinen Frauen erzählte, während er ihnen eine mit rosa Satin ausgeschlagene Strumpfschachtel oder drei Meter schwarze Spitze verkaufte. Was müssen sie miteinander gelacht haben. Und jetzt, sagte Kitty, erzählst du ihn deinen Frauen. Darüber habe ich noch nie nachgedacht, meinte er überrascht. Kitty zuckte nur mit den Schultern. Wie klug du bist, mein Liebling, sagte er zu ihr. So eine kluge Frau habe ich nicht verdient. Kitty beißt in ein Gebäckstück. Die Krümel fallen auf ihren schwarzen Mantel, und sie wischt sie weg. Plötzlich will sie nicht wahrhaben, daß er tot ist. Bestimmt wird er in der Synagoge in der ersten Reihe sitzen, mit wild abstehendem Haar, der Hemdknopf über seinem Bauch offen, und sie verschmitzt ansehen. Na, mein Liebling, wird er sagen, wie gefällt dir mein kleiner Trick? Hör mal, wird er flüstern, habe ich dir schon den Witz über Lenin in Polen erzählt? Und er wird sie in die Wange zwicken und mit ihr ins Bett gehen. Auch er ist ein großer Zauberer. Alles ist nur Theater, sagte er zu ihr. Es besteht also kein Grund, so ernst zu sein. Man tut so, als würde man lieben, man tut so, als würde man hassen, man spielt den anderen etwas vor, wenn man lacht oder weint. Und unterdessen probt der Schauspieler im Geiste schon die nächsten Gefühle, die nächste Rolle. Er senkte die Stimme und beugte sich zu ihr. Weil er nämlich so tun muß, als würde er leben, mein Engel. Du hättest Schauspieler werden sollen, sagte Kitty einmal zu ihm, worauf er sie erstaunt ansah. Aber mein süßer Engel, mein Herzchen, was meinst du, was ich mein Leben lang war?
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Auf den Fotos, die er ihr zeigte, wirkte er stets wie ein Einzelgänger. Er war zwar zusammen mit anderen abgebildet, und doch machte er einen verlorenen Eindruck, starrte, ohne zu lächeln, in die Kamera und zog dabei die Schultern zurück, als hätte ihm das jemand vorgeschrieben. Auf dem Hochzeitsfoto von ihm und Lena berührt er seine zweite Frau nicht einmal. Sie trägt ein helles Kleid und hält einen kleinen Blumenstrauß in den Händen. Er, der auch diesmal nicht lächelt, hat einen dunklen Anzug an und die Krawatte gelockert. Sie sehen aus, als würden sie sich nicht kennen. Genausogut hätte sie eine Passantin sein können, die er gebeten hatte, zusammen mit ihm zu posieren. Kitty gibt nicht dem Krieg die Schuld daran. Es hat mit seiner abgrundtiefen Einsamkeit zu tun, zu der niemand Zugang hat, nicht einmal die Frauen, die sich an ihn klammerten, die sich ihm öffneten, die ihn liebten. Die Braut macht auf dem Foto ein bestürztes Gesicht, als hätte sie bereits begriffen, daß sie einen Mann geheiratet hatte, der gar nicht da ist. Meine Eltern, begann Kitty zögernd, waren im Februar 1940 in Amsterdam. Die Kanäle waren zugefroren, erzählte meine Mutter, mein Vater hatte sich einen neuen Hut gekauft, und sie standen vier Stunden zu früh am Pier, weil sie Angst hatten, das Schiff zu verpassen. Aus lauter Nervosität hatte mein Vater einen Hut gekauft, der ihm viel zu groß war, und deshalb ließ er ihn auf dem Kai liegen. Als sie dann ablegten und an der Reling standen, um Abschied von Europa zu nehmen, erfaßte ein Windstoß den Hut und hob ihn über dem Wasser in die Lüfte. Meine Mutter lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Der elegante europäische Filzhut, der nicht paßte, segelte auf und ab, landete schließlich auf dem Wasser und schaukelte auf den Wellen. Alle auf dem Schiff sprachen Deutsch, aber
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keiner wollte über Deutschland reden. An Amsterdam habe ich keine Erinnerung, sagte meine Mutter und fuhr sich mit den Fingern durch ihr dunkles Haar. Ich habe es wie durch einen Schleier erlebt. Mein einziger Gedanke war, daß wir das Schiff nicht verpassen durften. Sie sind mit dem Schiff davongefahren, sagte Joseph verbittert, und haben uns zurückgelassen. Aber sie hatten doch keine Ahnung, rief Kitty. Du Dummerchen, erwiderte Joseph und fegte ein wenig Asche von seinem gestreiften Bademantel. Ich rede doch nicht von deinen sittsamen, braven Eltern und ihrem neuen Hut. Nachts hörten sie den Wind tosen. Die Fensterläden klapperten, und irgendwann nach Mitternacht drangen von weit unten das Quietschen von Bremsen und gleich darauf ein blechernes Krachen zu ihnen herauf. Es gibt einfach zu viele Autos, meinte Joseph, der neben ihr lag. Die Leute sollten Fahrrad fahren, wie sie es im Krieg getan haben. Außer den Juden. Die Juden durften nicht Fahrrad fahren. Damit fing alles an. Sie durften weder ins Kino noch in den Park gehen und auch nicht die Straßenbahn benutzen. Und es wurde noch schlimmer. Ihr Recht, so zu leben wie alle anderen, wurde immer weiter eingeschränkt, und am Ende besaßen sie nicht einmal mehr das Recht zu leben. Dalya, das Licht meines Lebens, erzählte mir von dem Schild, das in Wilna über den Toren des Ghettos hing: Achtung! Jüdisches Viertel! Anstekkungsgefahr! Zutritt für Nichtjuden verboten. Juden ist es verboten, aus den Fenstern mit Blick auf die Straße außerhalb des Ghettos zu schauen. Diese Fenster müssen mit Zeitungspapier oder Farbe blickdicht gemacht werden. Juden ist es verboten, Deutsch zu sprechen. Juden ist es verboten, über
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Politik zu diskutieren. Jeder Jude, der mit einem Nichtjuden spricht oder zu ihm eine Beziehung unterhält, wird erschossen. Juden ist es verboten, Fette zu sich zu nehmen. Jüdischen Frauen ist es verboten, sich das Haar zu färben oder Lippenstift zu tragen. Juden ist es verboten, zu beten oder zu studieren. Ab dem sechsten Lebensjahr müssen alle Juden inner- und außerhalb des Ghettos den gelben Stern tragen. Sie müssen vor jedem Deutschen, der das Ghetto betritt, den Hut ziehen. Jüdischen Frauen ist es verboten, Kinder in die Welt zu setzen. Jüdinnen, die ein Kind gebären, werden zusammen mit ihrem Kind getötet. Kitty saß reglos da und starrte auf die Tischplatte hinab. Was ist mit dir, mein Liebling? fragte er und musterte sie. Nicht traurig sein. Wir leben, oder nicht? Das ist es, was zählt. Kitty begann zu weinen und wischte sich mit den Fingern über die Augen. Nicht weinen, mein Engel, sagte er leichthin. Er fing an zu summen. Bitte, mein Schatz. Er legte den Arm um sie und streichelte ihre Wange. Nicht weinen, mein Engel, bat er sie. Weinen tut nicht gut. Es bringt uns auch nicht schneller nach Hause. Vergiß den Krieg. Wir werden nicht mehr darüber reden, nicht, wenn du dann weinen mußt. Er zog ihren Kopf an sich. Schscht, machte er. Ich würde auch weinen, wenn ich könnte. Draußen verdunkelt sich der Himmel über Hollands Feldern. In der Ferne laufen ein paar puppengroße Gestalten auf der breiten Bahn eines zugefrorenen Flusses Schlittschuh. Eingemummelt in dunkle Mäntel und Jacken und mit Wollschals um den Hals, gleiten sie unter dem mächtigen Himmel dahin. Wieder rumpelt die Minibar durch den Gang: Flaschen klirren, Nüsse werden in ihren Schachteln durcheinandergeschüttelt. Kitty kauft zwei Fläschchen Rotwein. Es ist kalt, erklärt sie dem jungen Burschen mit den roten Lippen und
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dem kurzgeschorenen Stoppelhaar lächelnd. Er nickt beflissen. In Amsterdam tobt ein Schneesturm, informiert er sie. Kann sein, daß wir uns verspäten. Uns verspäten? Soll sie diese Reise durch die gefrorene Landschaft etwa für nichts und wieder nichts gemacht haben? Mit feuchten Händen, deren Fingernägel bis aufs Nagelbett abgeknabbert sind, zählt er sorgsam das Wechselgeld ab. Dann stemmt er sich gegen den Wagen und schiebt ihn weiter. Kitty schraubt eine Flasche auf und schenkt sich Rotwein ein. Nachts schrie er manchmal und wälzte sich zwischen den zerwühlten weißen Bettüchern. Nein, rief er, kann nicht, will nicht. Er schlug um sich und riß vor Schreck die Augen auf. Mit pochendem Herzen rüttelte Kitty ihn wach. Du bist in Sicherheit, beruhigte sie ihn, es ist alles in Ordnung. Er war schweißgebadet. Man hat mich in ein kleines Papierboot gesteckt, berichtete er atemlos, und mir einen Papierhut aufgestülpt. Meine Mutter setzte das kleine Boot ins Wasser, wie Moses' Mutter, und küßte mich auf die Stirn. Ich klammerte mich mit beiden Händen an sie, aber sie bog meine Finger auseinander und gab dem Boot einen Stoß. Das Boot war so leicht, daß es auf dem ruhigen Wasser wankte und schaukelte. Ich schaute wütend zurück zu meiner Mutter. Warum? rief ich. Was habe ich getan? Sie legte einen Finger auf die Lippen, und schon bald war sie nicht mehr zu sehen. Die Nacht brach herein, die Strömung wurde stärker, und mein Boot stürzte einen steilen Wasserfall hinab. Unten hörte ich Gemurmel wie in einer Synagoge. Ich wollte mich gerade aufrecht hinstellen, als mein Papierboot erzitterte: rings um mich her schwammen im Dunkeln die ausrangierten Koffer der Toten. Er griff nach ihrer Hand. Sie wollte mich loswerden, zischte er. Kitty
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streichelte sein nasses Gesicht. Wie kannst du so etwas sagen? flüsterte sie im Dunkeln. Sie wollte, daß du am Leben bleibst. Sie spürte sein welliges Haar in ihrem Gesicht, hatte den stechenden Geruch seiner Haarwurzeln in der Nase. Schmerzhaft drückte sein Wangenknochen gegen ihren. Er preßte sie so fest an seine vom Schweiß glitschige Brust, daß sie sein Herz klopfen fühlte und seinen Atem in ihren Ohren hörte. Laß uns so liegenbleiben, murmelte er. Bleib ganz nah bei mir. Einmal lag eine Frau so in meinen Armen, und zwar im Zug von Berlin nach Wien. Sie war mir so nahe, daß ich hörte, was in ihrem Kopf und in ihrem Herzen vorging. Plötzlich riß er die Augen weit auf und sah sie vorwurfsvoll an. Hast du mich etwa im Schlaf beobachtet? Ach, Joseph, sagte Kitty, ich habe doch selbst geschlafen. Er packte ihren Arm. Genau so dringt Lilith in die Träume von uns Männern ein und richtet uns zugrunde. Sie saugt die Männlichkeit aus uns heraus und macht aus uns ängstliche, nutzlose Wesen. Wie jemand, der durch ein nadelfeines Loch in der Schale ein Ei aussaugt, braucht Lilith nur eine mikroskopisch kleine Öffnung, um einen Mann leerzusaugen. Man muß vor ihr auf der Hut sein. Sie kommt in allen möglichen Verkleidungen daher. Du, zum Beispiel, könntest Lilith sein. Ich? fragte Kitty schläfrig. Ich bin aber nicht Lilith. Wer bist du, wenn nicht die Königin der Dämonen, die größte Dämonin höchstselbst? Er lachte über ihre beleidigte Miene und zwickte sie in die Wange. Schon gut, schon gut, meinte er schlaftrunken. Vielleicht bist du auch nur Liliths Gehilfin. Er zog an der Bettdecke und drehte ihr den Rücken zu.
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Der Zug hält unerwartet. Kitty schaut hinaus. Der Schnee hat sich auf den Zweigen der Bäume niedergelassen und auf den Hausdächern eine Decke gebildet. Ein weißes, durch sein Fell getarntes Kaninchen taucht auf, das Naschen bebt, die Pfoten sind in den Schnee gestemmt. Soll ich dir von meinem ersten Traum in Erez Jisrael erzählen? fragte er sie einmal. Ich war gerade im Heiligen Land angekommen. Es war immer der Traum meiner zionistischen Eltern gewesen, irgendwann in das Land zu gehen, das Gott uns allen vor so langer Zeit verheißen hatte. Und nun war ich da. Ich schlief, und im Traum schwebte ein weiblicher Engel über mir. Geh in das Land, das ich dir nenne, flüsterte sie mir zu, denn ich bin Gottes Botin. Aber ich bin doch hier, antwortete ich verwirrt. Ich bin gerade angekommen. Sie hob ihren weißen Rock, und darunter erblickte ich die stämmigen Beine von Mitzi, meinem Wiener Kindermädchen, und die dicken weißen ländlichen Strümpfe, die sie immer trug. Aber sie hatte keine Schuhe an, also zeigte ich auf ihre Füße und rief ihr auf deutsch zu: Wenn du deine Schuhe nicht anziehst, kommen wir nie ins Heilige Land. Das war mein erster Traum im Land Israel, aber ich erwachte schon bald. Er zog sie an sich, umfaßte mit den Händen ihre Hüften und drang stöhnend in sie ein. Danach machte sie Anstalten, seine Schulter zu streicheln. Er erstarrte. Hör auf, sagte er schroff. Ich mag es nicht, wenn man mich streichelt. Eines Abends stellte sich Joseph in seinem gestreiften Bademantel und den gelben Pantoffeln an den Herd und briet Spiegeleier. Als sie fertig waren, verteilte er sie auf zwei Scheiben hartes Brot. Die blassen Eidotter platzten auf und verliefen über die Teller. Sieh mal, wie köstlich, sagte er zu ihr. Im Krieg wurde man erschossen, wenn man ein Ei klaute. Nichts für ungut, iß lieber. Eifrig schnitt er sich selbst mit Messer und
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Gabel ein großes Stück ab. Als er es sich in den Mund schob, lief ihm das Eigelb in einem feuchtglänzenden Rinnsal übers Kinn. Er aß voller Behagen. Ich fürchte, sagte er nach einer Weile, ich hänge schon viel zu sehr an dir, an deinen grünen Augen und deinem weißen Hintern. Kitty, die gerade Messer und Gabel zur Hand genommen hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. Und das ist nicht gut, fuhr er fort und beförderte mit der Gabel wieder ein Stück Ei in den Mund. Aber Joseph, sagte Kitty ruhig, was ist schlimm daran? Ist das nicht ganz normal? Er aß hastig weiter. Wer im Krieg an etwas hing, machte fatale Fehler. Wenn man an nichts hängt, hat man nichts zu verlieren, dann ist man ein freier Mann. Kitty beobachtete ihn. Was meinst du, warum ich noch am Leben bin? Hör mal, sagte Kitty und legte Messer und Gabel nieder, der Krieg ist vorbei. Warum begreifst du das nicht? Der Krieg ist vorbei? wiederholte er. Bist du sicher? Man muß mit leichtem Gepäck reisen und von einem Augenblick auf den anderen abhauen können. Aber was kann schon passieren? wollte Kitty wissen. Ho, ho, rief er. Viel. Sein welliges weißes Haar stand von seinem Kopf ab. Eine Frau ist wie ein Honigtopf: Man fällt leicht hinein und kommt schwer wieder heraus. Er tunkte das Eigelb mit einem Stück Brot auf. Kitty beugte sich vor. Aber Joseph, wir wachen zusammen auf und gehen zusammen ins Bett. Wir essen und trinken zusammen, reden und schlafen miteinander. Natürlich hängt man am anderen. Das gehört nun mal zur Liebe, oder nicht? Er schwieg eine Weile und wischte sich mit seinem Taschentuch den Mund ab. Habe ich dir schon den vom Rabbi und den Ziegen erzählt? Seufzend griff Kitty wieder nach Messer und Gabel und schnitt ihr Spiegelei in kleine Stücke. Nein? hakte er nach. Möchtest du ihn hören? Kitty schüttelte den Kopf. Ich bin müde. Dann, meinte er augenzwinkernd, bringe ich dich am besten sofort ins
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Bett. Was hältst du davon, meine Kleine? Wir machen es im Sitzen und im Knien, in der Hocke und auf allen vieren. Von hinten und von vorn. Nicht jetzt, wehrte Kitty ab und schob ihren Teller von sich. Er sah sie prüfend an. Nicht traurig sein, Liebling. So bin ich nun mal. Ich hänge an nichts. Anhänglichkeit ist etwas für andere. Für dich, zum Beispiel. Heirate einen netten jungen Mann mit einer guten Stellung bei der Bank, der dich spätestens neun Monate nach der Hochzeit schwängert. Das meinst du nicht im Ernst, sagte Kitty mit hochrotem Gesicht. Nein, räumte er ein, das meine ich nicht im Ernst. Die Wahrheit ist, daß ich dich mittlerweile viel zu gern habe. Er nahm den Deckel von seiner kleinen Blechschachtel und machte sich daran, eine Zigarette zu drehen. Könntest du es nicht wenigstens versuchen? fragte Kitty. Ach, mein Schatz, wenn es so einfach wäre. Ich weiß, daß du mich liebst, sagte Kitty. Der Tabak rieselte auf das dünne weiße Papier. Komm, Liebling, sagte er bestimmt und leckte den Rand ab, laß uns unsere Sorgen in Lust ertränken. Im Bett langweilen wir uns nie. Denk nicht weiter über die Liebe nach. Kitty legte das Messer nieder. Das Brot ist hart wie Holz, bemerkte sie. In dieser Nacht hielt er sie fest in den Armen und gestand ihr, daß er sie liebte. Das Mondlicht sickerte haarfein durch die Ritzen der Fensterläden und erhellte jede Pore ihrer Haut. Sie liebten sich die halbe Nacht, und während die Stunden vergingen, sagte er ihr Dinge, die er ihr noch nie zuvor gesagt hatte. Wie sehr er sie brauche, daß sie das Licht seines Lebens sei. Er stieß einen Schrei aus, als er sie nahm, und als es vorbei war, zitierte er für sie ein paar Zeilen aus dem Lied der Lieder. Kitty, die Glieder von der Liebe weich und geschmeidig, die Lippen geschwollen, fiel in eine Art Delirium, und als sie am
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nächsten Morgen erwachte, drehte sie sich voller Zärtlichkeit zu ihm um. Alles hatte sich verändert. Aber er war nicht da. Sie fand ihn in der Küche. Er hatte bereits geduscht, sich rasiert und angezogen und strotzte vor Energie, als er Kaffee machte und eine kleine Mokkatorte auftaute. Tja, mein Liebling, verkündete er, ich werde bald abreisen. Er nahm einen Papierfilter und stopfte ihn achtlos in die Glaskanne. Setz dich, sagte er und deutete auf ihren Platz. Kitty setzte sich und zog ihren Kimono enger um sich. Wie meinst du das? fragte sie verwirrt. Für mich ist es Zeit, wieder nach Europa zu gehen. Euer Land ist mir zu neu, zu sauber. Ich muß zurück zu den stahlgrauen Himmeln, den geschwärzten Steinen, der Geschichte, deren Knochen mir im Magen liegen. Wenn ich irgendwo zu Hause bin, dann dort. Was soll ich hier, in diesem Land ohne Vergangenheit? Er goß das kochende Wasser auf. Für mich ist es an der Zeit, die Koffer zu packen. Kitty starrte ihn an. Ich verstehe das nicht, protestierte sie mit noch schlaftrunkener Stimme. Und das nach der letzten Nacht? Gerade nach der letzten Nacht, entgegnete er mit Nachdruck. Ich möchte keinen Kaffee, sagte Kitty und stand schwankend auf. Wohin gehst du? fragte er und stellte den Wasserkessel ab. Mich anziehen, antwortete sie. Und dann gehe ich nach Hause. Mir reicht's. Er folgte ihr. Keine Sorge, Liebling. Ich reise ja nicht sofort ab. Wir haben noch Zeit. Ärgerlich fuhr sie herum. Zeit? rief sie. Wofür? Für noch eine Geschichte? Du Dummerchen, sagte er zärtlich, du hörst dir meine Geschichten doch nur an, weil du keine eigenen hast. Wie kannst du so etwas sagen? rief sie mit glühenden Wangen. Ich habe schließlich auch gelebt. Das ist nicht dasselbe, wider-
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sprach er. Wer war dein Großvater? Wo hat er gelebt? Was hat er gemacht? Warum fragst du mich das jetzt? fauchte sie. Ich weiß es nicht. Sie verstummte kurz. Ich glaube, er hatte irgendwo in Deutschland ein Geschäft. Und der andere? Über ihn weiß ich auch nichts Genaues. Wo in Deutschland? Sie schüttelte den Kopf. War er ein frommer Mensch? Und der andere? Wie sind sie nach Amerika gekommen? Was ist mit Onkeln und Tanten? Aus welchen schlammigen Käffern sind sie geflohen? Wo sind ihre Geschichten? fragte er. Was sind das für Juden, die ihre eigenen Geschichten vergessen? Sie wollten nicht darüber reden. Ich habe sie danach gefragt, immer wieder, aber sie schauten weg, wechselten das Thema und verkündeten einhellig, daß das Roastbeef an diesem Abend besonders gut sei. Sie erkundigten sich, wie es mir in der Schule erginge und was mein Klavierunterricht mache. Sie spielte mit der Schärpe ihres Kimonos. Vielleicht wollten sie mich schützen. Und selbst ein neues Leben anfangen. Ein neues Leben anfangen? wiederholte er hämisch. Davon träumt jeder Leuchtkäfer, jeder Nachtfalter. Kitty schloß kurz die Augen. Nichts für ungut, Liebling, murmelte er. Aber ich weiß es nun mal besser. Er hielt sich dicht neben ihr, als sie mit leerem Blick ins Schlafzimmer ging. Ich werde dir helfen, bot er an. Mir helfen? Ja, ich werde dir helfen, dein Buch zu schreiben. Schließlich bist du eine blutige Anfängerin, und ich bin ein erfolgreicher Bühnenschriftsteller. Alles, was du wissen mußt, kannst du von mir lernen. Ich zeige dir, wie es geht, wie man die Geschichte richtig erzählt. Kitty wich ihm aus. Aber es ist meine Geschichte. Natürlich ist sie das, mein Engel, natürlich. Er legte die Arme um sie und küßte sie auf die Wange. Aber du kannst es einem berühmten Schriftsteller doch nicht verwehren, dir ein
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paar Ratschläge zu geben. Möchtest du Günter Grass kennenlernen? Oder Saul Bellow? Ich kenne sie alle, und sie kennen mich. Ich möchte gehen, sagte Kitty und entzog sich ihm, doch er hielt sie fest. Du darfst nicht gehen, sagte er leise, du darfst mich nicht ganz allein im Dunkel zurücklassen. Er zog sie an sich. Sieh dich an: Wie schön du bist, schwärmte er. Komm, mein Liebling, raunte er und küßte ihre Finger, laß mich zwischen deine weichen Schenkel, laß mich bis zu deinem Herzen und deinen Lungen vordringen. Laß mich dich lieben. Sie betrachtete sich selbst in dem kleinen Spiegel, der schief an der Wand hing. Ich bin müde, erwiderte sie. Sie streckte die Hand nach ihren Sachen aus, die schon seit so langem auf dem Stuhl im Schlafzimmer lagen. Er packte ihren Arm. Was ist mit dir? wollte er wissen und betrachtete sie in ihrer Nacktheit. Sie zitterte. Ich möchte gehen. Er nahm sie in den Arm. Laß mich gehen, bat sie. Ich will nicht, daß du mich berührst. Ich werde dich nicht gehen lassen, sagte er entschlossen. Sie machte sich steif. Laß mich gehen, Joseph. Du darfst mich nicht verlassen, beschwor er sie leise. Was soll ich ohne dich tun? Er nahm ihr die Bluse aus der Hand und ließ sie zu Boden fallen. Dann legte er sein Gesicht an ihres und flüsterte ihr ins Ohr: Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich brauche. Du darfst mich nicht verlassen. Wütend stieß Kitty ihn von sich. Du bist der, der fortgeht, rief sie. Er griff in ihr dickes Haar. Was erwartest du von mir? stieß er heftig hervor. Daß ich mich für dich völlig umkremple? Was wird aus meiner Kraft, aus meiner Entschlossenheit? Wie soll ich dann überleben? Was hat die Liebe nur aus uns gemacht? fragte Kitty und schob seine Hand weg, doch er zog sie wieder an sich und fing an, ihr Gesicht und ihren Hals zu küssen.
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Er drückte sie auf den Stuhl und band die Schärpe ihres Kimonos zu. Jetzt hör mir mal zu, sagte er. Ich werde dich nicht gehen lassen. Kitty wollte aufstehen, doch er zog sie wieder herunter. Warte einen Augenblick. Er hielt ihren Arm fest. Hör zu, sagte er unwirsch. Ich werde mein Leben für dich ändern, mich für dich umkrempeln, anders leben als bisher. Sollen wir zusammen unter dem Hochzeitsbaldachin stehen? Seite an Seite vor dem Rabbi? Wir geben uns einen Kuß, zertreten ein Glas mit den Füßen und leben wie andere Menschen auch. Was sagst du dazu, mein Liebling? Ein glücklich verheiratetes Paar. Du trägst eine Schürze, und ich rauche Pfeife. Oder soll ich die Schürze tragen, und du rauchst Pfeife? Später sitzen wir dann in der Synagoge und träumen von dem Braten, der uns zu Hause erwartet. Wir werden sieben Kinder haben, drei Mädchen und vier Jungen, und rundum glücklich sein. Würde dir das gefallen? Klingt das nicht schön? Als ich das letzte Mal eine Frau gefragt habe, ob sie mich heiraten will, war ich zehn. Sie hieß Liesl Sonnenberg. Habe ich dir von Liesl Sonnenberg erzählt? Joseph, sagte Kitty und sah ihn prüfend an, meinst du das ernst? Mag ein Jude Schwarzbrot mit Hering? fragte er zurück. Jetzt mal ehrlich, hakte Kitty nach. Ehrlich, murmelte Joseph, wie ihr hier in Amerika sagt. Er schüttete reic hlich Zucker in seinen Kaffee. Wir werden wie andere Menschen auch leben, nicht wahr? sagte er aufgekratzt. Würde dir das gefallen, mein Liebling? Bist du bereit, dein Los mit einem Verrückten zu teilen? Deine Zukunft an die ausgefransten Seile zu binden, an denen ich hänge? Er lachte kurz. Genausogut könntest du zum Zirkus gehen oder dich im nächstbesten Irrenhaus anmelden. Geräuschvoll rührte er
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seinen Kaffee um. Die Flitterwochen verbringen wir in Wien, in der schönen Kaiserstadt Wien. Der Ring, die Hofb urg, Schönbrunn, Kuchen bei Demel, Sachertorte im Sacher. Er hob die Tasse und trank. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, vergiß den ganzen mondänen Quatsch. Ich gehe mit dir in den Prater, in den wunderbaren Prater. In meiner Kindheit gingen wir jeden Tag nach der Schule hin. Natürlich durften wir das eigentlich nicht, aber wer konnte schon widerstehen? Ganz am Anfang der Allee stand ein Mann, der unanständige französische Postkarten verkaufte. Er kannte uns schon. Kommt her, Jungs, rief er mit einem Wink, ich hab was für euch. Er holte ein paar Schwarzweiß-Postkarten hervor. Du kannst dir nicht vorstellen, wie aufregend das war. Auf einer Karte war eine mollige Frau mit weichem, schwarzem, hochaufgetürmtem Haar abgebildet, die über die Schulter blickte und uns aus schläfrigen Kuhaugen ansah. Ihr Hintern war so rund und weiß wie der Mond. Auf einer anderen standen sich zwei Frauen gegenüber, die nichts weiter anhatten als schwarze Strumpfhosen und kleine Schuhe. Wir sahen die Dellen in ihren Pobacken und ihre weichen, weißen Brüste. Eine der Frauen streckte zaghaft den Finger aus, um die Brustwarze ihrer Freundin zu berühren, und beide trugen Kränze aus wildwachsenden Blumen im Haar. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Wir drängten uns voll brennendem Verlangen um den Mann, obwohl wir gar nicht wußten, wonach es uns eigentlich verlangte. Prächtig verstanden wir uns auch mit dem Mann, der Hühnern den Kopf abbiß. Wir kannten die Familie von Liliputanern, die gemeinsam Purzelbäume schlugen und Pyramiden bildeten,
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indem sie sich gegenseitig auf ihre Schultern stellten. Und erst die dicke Frau mit dem Bart. Oh, Liebling, das kannst du dir nicht vorstellen. Sie war ein wahrer Fettbrocken. Ihre fleischigen nackten Arme warfen Wülste, und in der Leibesmitte war sie breit wie eine Tonne. Sie hatte pechschwarzes Haar, und ihr Mund war von einem pelzigen schwarzen Bart umgeben, der ihr bis auf die Brust herabhing. Wie aufregend das alles war! Ihr glänzendes blaues Satinkleid hatte dicht über der linken Brust ein kleines Loch, das sie manchmal freilegte, um zu beweisen, daß sie keine Betrügerin war. Aber nur für Jungs über vierzehn. Ich konnte meinen vierzehnten Geburtstag kaum erwarten. Doch dann ging ich aus Wien fort, verdammt! Ich durfte also nie durch dieses Loch gucken. Noch Jahre danach träumte ich davon, und es entwickelte ein erotisches Eigenleben. In den Wäldern in der Nähe des Praters spielte ich mit Liesl Sonnenberg Onkel Doktor. Wir waren damals zehn. Sie hatte schwarze Locken und ein rosa Mündchen wie eine Katze, und anfangs wollte sie nicht mitspielen. Da machte ich ihr einen Heiratsantrag. Ich muß erst meine Mutter fragen, sagte sie. Damit war ich einverstanden, aber ich bestand darauf, daß wir uns verlobten. Als Verlobte, erklärte ich ihr, dürfen wir uns ganz bestimmt streicheln. Sie ging darauf ein und erlaubte, daß ich in ihr Baumwollhöschen faßte. Am nächsten Morgen lauerte ich ihr auf dem Weg zur Schule auf. Und? Was hat deine Mutter gesagt? fragte ich. Sie hat gesagt, berichtete Liesl traurig, daß ich warten muß, bis ich sechzehn bin. Aber verlobt sind wir trotzdem, sagte ich nachmittags zu ihr, als wir zusammen unter einem Busch hockten. Er mußte lachen. Ich erzählte ihr, ich würde sie nach Palästina mitnehmen. Schon nächstes Jahr, verkündete ich, werden wir im Heiligen Land den Acker
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bestellen. Aber Liesl wollte gar nicht in Palästina den Acker bestellen. Sie wollte in Wien bei ihrer Mutter und ihrem Vater bleiben und weiter Geigenunterricht nehmen. Dann hole ich dich eben nach, versprach ich, sobald das Land bestellt ist und ich für uns ein kleines Haus gebaut habe. Sie sagte, sie würde gern ihre Mutter mitnehmen, wenn es soweit wäre. Ich weiß nicht, ob es später je wieder so aufregend war, einer Frau ins Höschen zu fassen. Das hoffe ich doch, bemerkte Kitty und sah ihn an. Er strahlte übers ganze Gesicht. Und ich dachte, du hättest Wien gehaßt, sagte sie. Wien gehaßt? fragte er überrascht. Warum hätte ich Wien hassen sollen? Er sprang auf und ging zum Küchenschrank. Dort stellte er sich auf einen Hocker, um bis in die hintersten Winkel greifen zu können, und zog eine russische Schapka heraus. Er ließ die Schranktür offen, kletterte vom Hocker und setzte sich die Mütze zu seinem gestreiften Bademantel auf. Na, wie findest du mich? fragte er. Sehe ich nicht aus wie ein russischer General? Oder wie der Zar höchstpersönlich? Komm, sag schon. Er blickte sie unter der Mütze hervor grimmig an. Seine hohen Wangenknochen lagen in ihrem Schatten. Das breite Kinn hatte er vorgeschoben, die Schulterblätter zurückgenom men. Kitty schwieg. Nun? fragte er. Du siehst aus wie Stalin, meinte sie. Bist du verrückt? rief er. Er riß sich die Mütze vom Kopf und warf sie zu Boden. Was soll der Schwachsinn? Bist du die schlimmste Antisemitin von allen Antisemiten? Ich habe nicht gesagt, daß du Stalin bist, sagte Kitty beschwichtigend, sondern nur, daß du aussiehst wie er. Ich fahre nicht mit dir nach Wien, sagte er verärgert. Ich nehme es zurück, lenkte sie ein. Du siehst aus wie Nikolaus, Zar aller Russen. Er hob die Mütze auf und staubte sie ab. Schon gut, schon gut, brummte er.
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Er ging zum Kühlschrank, holte ein Glas in Brandy eingelegter Kirschen, stellte es auf den Tisch und schraubte den Deckel ab. Er fischte eine vor Alkohol triefende Kirsche heraus. Der scharfe Brandygeruch erfüllte die Luft. Hier, für dich, sagte er und hielt ihr die Kirsche hin. Hör zu, mein Liebimg, fuhr er aufgeregt fort, ich fange noch mal von vorn an. Ich schreibe ein neues Stück, und wir bekommen ein Kind. Würde dir das gefallen? fragte er mit gerötetem Gesicht. Ein neues Leben. Warum nicht? Er drehte die Pelzmütze, die er über seine Faust gestülpt hatte, und strich über das Fell. In Wien bin ich berühmt, verkündete er stolz. Sogar der Bürgermeister kennt mich. Habe ich dir von der Eröffnung von Stöcke und Steine erzählt? Kitty nickte. Marlene Dietrich ist gekommen. Gott, war ich beliebt. Er legte die Mütze beiseite, zog die Schublade des Küchentischs auf und kramte darin. Wo ist er? rief er. Man hat den Orden gestohlen, den mir die Stadt Wien verliehen hat. Ich hätte ihn mir unters Kopfkissen legen sollen. Oder in meinen Schuh. Ah, sagte er, da ist er ja. Er nahm ein kleines Samtetui heraus und klappte ehrfürchtig den Deckel auf. Darin lag, auf blaßblauen Satin gebettet, ein funkelnder Orden: »Verliehen an einen illustren Bürger der Stadt Wien, an den Bühnenschriftsteller und Romancier Joseph Kruger.« Wie findest du ihn? fragte er Kitty. Ziemlich protzig, antwortete sie. Er nahm das rot- und goldfarbene Kreuz aus dem Etui und heftete es sich unbeholfen an den Bademantel, wo es schief an seiner Brust baumelte. Dann ahmte er einen heiseren Trompetenstoß nach und salutierte zackig. Kitty wartete ab. Der Wiener Bürgermeister hat es mir im Rahmen eines besonderen Festakts überreicht,
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erklärte Joseph. Er schwieg eine Weile und fixierte einen Punkt hinter ihr. Die goldenen Spitzen des Ordens blitzten auf seiner Brust. Ohne Eile nahm er den Orden wieder ab. Das schöne, prachtvolle Wien, sagte er verbittert. Wo man gottesfürchtigen Juden die Barte samt Wurzeln herausriß. Wo man meiner Mutter befahl, die Pflastersteine auf allen vieren mit einer Zahnbürste zu schrubben. Und die Wiener standen mit hinterhältigem Grinsen um sie herum und machten obszöne Bemerkungen. War das ein Heidenspaß -besser noch als der Prater. Wütend tippte er sich mit dem Finger an die Schläfe. Was bin ich nur für ein Schwachkopf? Ich bin der König der Idioten. Er betrachtete den Orden auf seiner flachen Hand. Er funkelte und glänzte wie eine Kaiserkrone. Die Wiener, diese Schweinehunde, sagte er ruhig. Er legte ihn zurück ins Etui. Sieh dir das an. Da liegt er auf seinem blaßblauen Satinbett wie ein Leichnam. Er klappte das Etui zu und blickte zu ihr hoch. Es tut mir furchtbar leid, mein Liebling, sagte er, aber ich kann nicht mit dir nach Wien fahren. Draußen vor dem Zugfenster schneit es. Leise fallen die weichen Flocken auf das flache Land. Wie sind die Österreicher auf ihre schneeweißen Daunendecken gekommen? fragte er sie einmal. Natürlich durch den Schnee. Der tiefe weiche Schnee, der Österreich unter einer Decke des Vergessens begräbt, damit die Österreicher nachts schlafen können. Auf einer Koppel stehen zwei Pferde. Ihr dunkelbraunes Winterfell ist vom Schnee weiß gescheckt, ihre Schweife aus rauhem Roßhaar wehen im Wind. Erwartungsvoll blicken sie
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nach vorn. Sie wittern den Wetterumschwung, lauschen dem Wind. In der Ferne liegt das Gehöft, eine Ansammlung von verfallenen Gebäuden mit fleckigen Außenwänden. Dahinter Dächer mit roten Ziegeln, ein Kirchturm und daneben in ordentlichen Reihen aufgestellte weiße Kreuze. Sie sind nie zusammen nach Wien gefahren. Jahre später fuhr sie mit Henri hin. Es war Winter, und die Stadt war verschneit. Sie mußte ständig an Joseph denken. Sie stiegen im »Imperial« ab, sahen sich in der Oper Un ballo in maschera an, dinierten in den besten Restaurants, verbrachten viele Stunden im Kunsthistorischen Museum, fuhren in einer offenen Kutsche herum, schlenderten durch Schönbrunn. Das war nicht Josephs Wien. Am letzten Tag schlug Kitty vor, in den Prater zu gehen. In den Prater? wiederholte Henri erstaunt. Schneeflocken hatten sich auf seinen Hut gesetzt, und sein Gesicht war von der Kälte gerötet. Warum sollten wir in den Prater gehen? Das ist ein billiger Vergnügungspark. Du hast dir zu oft Der dritte Mann angeschaut. Ich möchte den Mann sehen, der Hühnern den Kopf abbeißt, sagte Kitty hitzig und zupfte an ihrem Wollschal herum, und die dicke Frau mit dem Bart und die Liliputaner und den Mann, der unanständige Postkarten verkauft. Da mußte Henri lachen. Er fegte den Schnee von ihrem Haar. Liebling, wovon um alles auf der Welt redest du? Einmal bin ich noch nach Wien zurückgekommen, erzählte Joseph. Ich ging in den Prater und löste eine Fahrkarte für das Riesenrad. Der Himmel war sternenübersät. Ich sah mir das riesengroße Rad, das sich lichterstrahlend vor dem Nachthim mel drehte, eine Weile an. Dann stieg ich ein und ließ mich höher und höher über die Stadt Wien tragen. Unter mir lagen das breite dunkle Band der Donau, das Dächermeer, der Ring, die Hofburg, Schönbrunn. Was hatte sich verändert? Das Ding
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dreht sich wie eh und je, dachte ich. Nach allem, was passiert ist, dreht es sich weiter wie immer. Und das gilt auch für alles andere. Die charmanten Wiener, die den Walzer erfunden haben, die einst auf dem Heldenplatz standen und dem neuen Eroberer hysterisch zujubelten - auch sie machten weiter wie immer, als wäre nichts passiert, als hätte sich nichts geändert. Ich schloß die Augen, bis mir schwindlig wurde. Der Wahnsinn dieser Welt kennt keine Grenzen. Kitty bestrich eine Scheibe Brot mit Butter, biß hinein und kaute langsam. Ganz oben in einem der Regale stand eine afrikanische Frauenfigur aus Ebenholz mit spitzen Brüsten, aufgeworfenen vollen Lippen und schimmernder, aufwendig geschnitzter Haarpracht. Joseph beobachtete Kitty unauffällig und leise atmend. Kitty, die seinen Blick mied, schenkte sich ein Glas Schnaps ein. Du darfst nicht enttäuscht sein, sagte Joseph. Bitte, Liebling, sei nicht enttäuscht. Überleg mal, wie enttäuscht wir waren. Eben ist etwas noch da, und plötzlich ist es weg. Ganze Familien, ganze Städte. Eben sind sie noch da, und im nächsten Augenblick sind sie spurlos verschwunden. Wo sind sie hin? Nur ein großer Zauberer kann ein ganzes Volk verschwinden lassen. Dazu braucht man weit mehr Zauberkraft, als um ein Kaninchen wegzuzaubern. Mit gesenktem Blick aß Kitty ihr Brot. Er griff nach ihrer Hand. Was für schöne Hände du hast, sagte er einschmeichelnd. Sie sehen aus wie aus Porzellan, mit ihren langen, wohlgeformten Fingern. Welcher guten Fee hast du deine schönen Hände zu verdanken? Damit kriegst du mich auch nicht rum, sagte Kitty und zog die Hand weg. Habe ich dir erzählt, wie... Kitty schüttelte den Kopf. Ich will nichts mehr hören.
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Alle meine Leben sind in Rauch aufgegangen, sagte er. Aber du bist jung. Du hast das Leben noch vor dir. Er schenkte Schnaps nach. Es gibt nichts Beßres, um sich Mut anzutrinken, behauptete er und prostete ihr zu. Man kann sogar mehr Leben als eine Katze haben, erklärte er, aber früher oder später gehen auch sie zu Ende. Kitty hob die Achseln. Du bist doch erst sechzig. Du hast noch jede Menge Zeit. Er lachte kurz. Ach ja? Wußtest du, daß sie Hunden beibrachten, mit einem Schnapsglas auf dem Kopf herumzulaufen, ohne etwas zu verschütten? Wer denkt sich so einen schwachsinnigen Zeitvertreib aus? Mag sein, daß ich wieder auflebe, wenn ich den bleiernen Himmel über Europa sehe. Dann kommt beim Anblick der Pflastersteine der alte Haß wieder in mir hoch und gibt mir Kraft. Du hast ja keine Ahnung, sagte er, welche Energien Haß freisetzen kann. Mir ist egal, was der Nazarener und seine Freunde über die Liebe und die andere Wange gepredigt haben. So läuft das nicht. Weder damals noch heute. Ich könnte nach Wien gehen. Oder nach Berlin. Dort packt mich bestimmt die blanke Wut, und dann bin ich bereit für den nächsten Akt. Du bist jung. Du hast von all dem keine Ahnung. Nein, natürlich nicht, versetzte sie. Mein Schatz, sagte er sanft, du willst mich doch gar nicht. Ich würde dich todunglücklich machen. S uch dir einen anständigen, reichen jungen Mann, der nicht weiß, was auf dieser Welt alles passieren kann. Du brauchst kein altes Wrack wie mich. Aber nichts für ungut, du bist so ein süßes junges Ding, und egal, wo ich bin, ich werde immer Ausschau nach deinem Buch halten, nach dem Buch, das erst noch geschrieben werden muß. Sie sah ihm zu, wie er sein Brot dick mit Leberwurst bestrich. Dabei blieb ein Klümpchen Leberwurst an seinem Finger hängen. Auch sein Bademantel hatte neben der Tasche einen
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Fettfleck. Er biß das halbe Brot ab und kaute hastig mit offenem Mund. Um Himmels willen, sagte sie gereizt, wisch dir den Mund ab. Er hörte auf zu kauen. Wer bist du? fragte er. Meine Gouvernante? Ich kann deine schlechten Manieren nicht ertragen, brauste sie auf. Sie machen mich wahnsinnig. Ist es so schlimm? Ich will dir mal etwas sagen. Meine Mutter hat mir auch beigebracht, mir den Mund abzuwischen und bitte und danke zu sagen, so wie deine. Oder glaubst du, ich bin in einem Bordell oder im Hafenviertel aufgewachsen? Mitnichten. Aber wir haben unsere Manieren vergessen. Es wäre irrwitzig gewesen, ausgerechnet daran zu denken. Wir hatten den Kopf voll mit anderen Dingen. Der Krieg zerrte die Leute aus ihren Häusern und warf sie durcheinander, ob es ihnen paßte oder nicht. Schüler aus der Yeshiva wurden in Freudenhäusern versteckt, wohlriechende Bankiers mußten sich in Zügen zwischen kaftantragende und nach Zwiebeln stinkende Juden aus dem Schtetl quetschen. Das soziale Gefüge bekam Risse und brach schließlich zusammen. Entweder man überlebte, oder nicht. Wir spielten nicht Klavier, hielten keine Kaffeekränzchen ab und zogen uns keine weißen Handschuhe an. Ich mußte mir über andere Dinge den Kopf zerbrechen als darüber, ob ich bitte oder danke gesagt oder mir den Mund abgewischt hatte. All das gehörte in einen anderen Lebensabschnitt. Es gab keine Klaviere, Teekannen oder weißen Handschuhe mehr. Sie waren alle gestohlen worden, von Vögeln mit harten Schnäbeln und glänzenden Augen, die ihr Leben lang nach Klavieren und Schmuck und silbernen oder goldenen Teekannen gegiert hatten und sie nun kriegten umsonst. Weißt du, wie lang wir mit deinen Manieren überlebt hätten? Sei nicht so brav. So aufrecht, ehrlich und wohlerzogen. Kann man so leben? Diesen Luxus kann man sich nur in
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Friedenszeiten, in einer wohlhabenden Familie leisten. In einer Kindheit, in der es schon ein Ereignis ist, wenn ein Blatt vom Baum fällt oder aus Versehen ein Stuhl umkippt. Wie lang hättest du im Krieg mit deinen exquisiten Manieren überlebt? Er schob sich das restliche Brot in den Mund. Ich werde dir noch etwas erzählen. Vor dem Krieg waren die holländischen Juden assimiliert und akzeptiert. Sie waren Toleranz gewöhnt, im Unterschied zu den polnischen Juden. Als es dann darauf ankam, waren die holländischen Juden nicht imstande, in den Lagern um ein Stück trockenes, hartes Brot zu kämpfen. Sie waren zu wohlerzogen, genau wie du, und das hatte verheerende Folgen. Denk daran, wenn du das nächste Mal deine weißen Handschuhe anziehst, dein verstaubtes Häubchen aufsetzt und mir eine Lektion erteilst. Er wischte sich Mund und Kinn mit dem Taschentuch ab. Kitty warf einen Blick auf die vergilbten, welligen Postkarten an der Wand. Warum wirfst du sie nicht endlich weg? fragte sie und zeigte darauf. Alles hier ist alt und unbrauchbar. Mit einem scharfen, durchdringenden Pfeifen entwich der Dampf dem verbeulten Wasserkessel. Katzengeheul in der Nacht. Kannst du ihn nicht herunternehmen? rief sie. Mach du das, erwiderte er ruhig. Er legte ein dünnes Zigarettenpapier bereit und verteilte Tabak darauf. Behutsam, als würde er mit zerbrechlichen Figürchen hantieren, klopfte er ihn mit dem flachen Finger fest, rollte das Papier zusammen und leckte den Rand ab. Sie beobachtete seine breite, rosa Zunge, die wie ein dicker Pinsel langsam darüberfuhr. Warum sollte ich? gab sie zurück. Du bist hier zu Hause. Ach, so läuft das also? sagte er. Er zündete die selbstgedrehte Zigarette an und sah zu, wie die
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Spitze aufglühte. Steht das zu Hause in deinem Benimmbuch? Wer den Kessel vom Herd nimmt? Der Dampf strömte weiter mit kreischendem, singendem Geräusch heraus. Der Kessel schien ihn in einem empörten Strahl, der höher und höher stieg, herauszuspucken. Der schrille Ton peinigte sie, ging ihr durch Mark und Bein. Sie preßte die Hände auf die Ohren. Ich würde dir das heiße Wasser am liebsten in den Kragen schütten, schrie sie. Und die Sahne und den Zucker gleich hinterher? fragte er. Er griff quer über den Tisch nach ihrer Hand. Dann mußt du alles ablecken, sagte er sanft. Seelenruhig rauchte er weiter, formte mit seinem Mund ein O und stieß Rauchkringel aus. Du brauchst nur aufzustehen und den Herd abzustellen. Wütend verschränkte sie mit gequältem Gesichtsausdruck die Arme vor der Brust. Wie ich höre, gibt es auf dem Balkan wieder Unruhen, sagte er. Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Sehr witzig, bemerkte sie. Witzig? wiederholte er nachdenklich. Ich rede über Politik. Das durchdringende, hohe Pfeifen füllte jetzt ihren ganzen Kopf aus. Du mußt nur den Kessel runternehmen, sagte er gelassen. Warum stehst du nicht einfach auf und drehst das Gas ab? Sie blieb sitzen und preßte die Kiefer fest aufeinander. Da ist doch nichts dabei, meinte er. Sie ertrug das Geräusch nicht eine Sekunde länger. Starr blickte sie auf die Maserung der hölzernen Tischplatte hinab. Schließlich stand sie mit steifen Bewegungen auf, ging zum Herd und stellte ihn ab. Bravo, sagte er. Sie sah ihn zornig an. Manchmal hasse ich dich, sagte sie. Er drehte sich zu ihr um und legte ihr den Arm um die Taille. Sei nicht so ein Trotzkopf, sagte er zärtlich. Es ist doch nur ein Wasserkessel. Und jetzt gieß den Tee auf. Durch das Zugfenster sieht sie, daß sich der Sturm gelegt hat. Der Schneefall läßt nach, und die Flocken sinken in der um sich
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greifenden Dunkelheit sacht auf die weiße Landschaft nieder. Im Augenblick ist kein Licht, kein Schornstein, kein strohgedecktes Dach zu sehen. Sie wirft einen Blick auf die Uhr. Bald erreichen sie Amsterdam. Was wirst du tun, wenn ich weg bin? fragte er sie. Nach Hause gehen und mein Buch schreiben. Richtig, pflichtete er ihr bei. Warum sonst habe ich dir all die Geschichten erzählt? Ha, sagte sie, weil du dich selbst gern reden hörst, weil du in deine Vergangenheit verliebt bist. Nicht nur deshalb, erwiderte er. Er zog sein weißes Taschentuch heraus. Willst du ein Kaninchen wegzaubern? fragte Kitty. Nein, Liebling, diesmal nicht. Nur mich selbst. Er sah sie an. Schau nicht so traurig, mein Engel, sagte er. Ohne mich bist du besser dran. Ich bin nicht traurig, antwortete Kitty trotzig. Kitty fuhr mit dem Finger den Brandfleck nach, den eine Zigarette auf der Tischplatte hinterlassen hatte. Und was wirst du in Europa tun? Ein neues Buch schreiben? Oder ein neues Theaterstück? Joseph seufzte. Wie kann man schreiben, wenn man keine Sprache hat? Aber du hast doch schon so viele Stücke und Bücher geschrieben, erinnerte sie ihn. Wozu dann noch eins schreiben? fragte er. Meine Sprache ist mir abhanden gekommen, sie liegt unter der schwarzen Erde begraben und rückt mit jedem Jahr in weitere Ferne. Meine Sprache ist das Wienerisch, das Wienerisch, wie die Juden es sprachen, weich und hart und voller Ironie und Zärtlichkeit. In dieser Sprache bin ich ich selbst. Wie soll ich auf englisch etwas Ordentliches schreiben? Eure Sprache ist so hart, so unversöhnlich, ohne Schmelz, Humor und Ironie. Sie klingt nicht in meinen Ohren, sie sagt mir nichts. Ich stehe zwischen den Sprachen, lebe in
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einer Art Niemandsland, in einer Kluft, von der du dir keinen Begriff machst. Ich bin ein Vogel, der nicht landen kann. Das kannst du natürlich nicht verstehen. Du lebst in der Sprache, in die du hineingeboren wurdest, du wiederholst die Klänge, mit denen du seit jeher gelebt hast. Jedes Wort umgibt ein Universum aus Geräuschen und Gerüchen. Wie kann ich ohne Worte schreiben? Aber du hast sechs Theaterstücke auf englisch geschrieben, wandte Kitty ein, und zwei Romane. Habe ich das? fragte er müde und wischte mit dem Taschentuch über den Tisch. Kannst du dir vorstellen, wie es für mich war, meinen Sohn Stefan englische Kinderlieder singen zu hören? Ich wußte nicht, wo ich war. Da saß er und sang in seinem tonlosen Stimmchen vor sich hin, und ich fragte mich: Warum singt er statt dieser Strophen, die ich kaum verstehen kann, nicht die Lieder, die ich auch gesungen habe? Jack Sprat? Wer war Jack Sprat? Und Little Miss Muffet? Was war das für ein Unfug? Und was ist mit Deutsch? fragte Kitty. Deutsch war die Sprache der Mörder. Nach meinen ersten Theaterstücken bin ich davor geflohen wie andere vor dem Henker, und später vergaß ich es. Die Wörter entglitten mir, die Sätze zerfielen, und irgendwann stellt man fest, daß es kein Zurück gibt. Während die Tage vergingen, schien er schlagartig zu altern. Seine Bewegungen wurden schwerfälliger, seine Augenlider träger, seine Geschichten seltener und seltener. Kitty fiel auf, daß sein Gesicht oft von Schweiß bedeckt war, den er mit seinem großen weißen Taschentuch müde wegwischte.
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Mühsam erhob er sich vom Tisch und ging zum Schrank. Kitty hörte, wie mehrere Ordner zu Boden polterten. Scheiße, brummte er und bückte sich, um sie aufzuheben. Schau, sagte er und hielt sie ihr hin. Sie hatte sie schon so oft gesehen. Er legte die Ordner, aus denen vergilbte Zeitungsausschnitte herausquollen, auf den Tisch. Seit Kafka hat es so etwas nicht gegeben, haben sie geschrieben, erzählte er und schob ihr die Kritiken hin. Sieh mal die hier, sagte er und las vor: ... diese lebendige, innovative Phantasie ... das größte Talent der Nachkriegsjahre ..., ... eine Sensibilität, schwärzer als die Nacht ... Ein Schriftsteller wie Kruger kommt nur einmal in einer Generation vor. Das war die Rezension aus ›Die Zeit‹. Na? fragte er. Weißt du, wie viele Preise ich gewonnen, wie viele Auszeichnungen ich erhalten habe? Es waren so viele... Er ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Sein Gesicht war gerötet. Als er sich zurücklehnte und die Augen schloß, stellte Kitty fest, daß er alt geworden war. Um Gottes willen, sagte er leise. Lieber Gott. Erzähl mir eine Geschichte, forderte Kitty ihn auf. Er öffnete die Augen und sah sie traurig an. Ich habe keine Geschichten mehr. Doch, hast du, bedrängte sie ihn, und du erinnerst dich auch an sie. So, so, sagte er, als habe er plötzlich begriffen. Dir haben meine Geschichten also besser gefallen, als du zugegeben hast. Viel besser sogar, fuhr er fort und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Wie ich vor langer Zeit einmal zu dir gesagt habe: Was ist ein Jude ohne seine Geschichten? Wenn er auch sonst nichts bei sich hat, weder ein Paar Schuhe noch ein Taschentuch seine Geschichten hat er immer dabei. Sie sind sein Zuhause, seine eigenen vier Wände, seine Arche. Er zupfte an seinem Ohrläppchen. Aber meine Geschichten gehören mir. Du mußt in die Welt hinausgehen und selbst welche erleben. Schlaf mit mir, bat Kitty leise. Ach, mein Liebling, ich bin müde,
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antwortete er. Anscheinend läßt auch das nach. Du darfst nicht aufgeben, sagte Kitty, noch nicht. Dafür ist es noch zu früh. Zu früh? wiederholte er. Wie viele Leben soll ich denn noch durchhalten? Mein armer Liebling, sagte er, du willst, daß immer alles gut ausgeht. Eigentlich möchte ich jetzt weinen, meinte Kitty, aber dazu bin ich zu traurig. Er nickte. Gut. Allmählich fängst du an, zu begreifen. Kitty schaut aus dem Zugfenster. Der fahle Mond hoch oben am weißen Himmel hält immer noch mit ihnen Schritt. Einer alten Sage nach hat der Mond all seine Kinder verloren, und dies ist der Grund, warum er bald sein ganzes Gesicht, bald einen Teil verdeckt. Es ist ein Ausdruck seiner Trauer, wenn er sich am Nachthimmel versteckt. Kitty öffnet die zweite kleine Flasche und gießt etwas Rotwein in den Plastikbecher. Die dunkelrote Flüssigkeit geht mit den Bewegungen des Zuges mit. Ich müßte dich hassen, sagte er kurz vor dem Abschied zu ihr, um dich nicht zu lieben. Wer denkt sich denn so etwas Verrücktes aus? fragte sie. Ich, antwortete er. Sie sah ihm in die Augen. Es macht mir angst, wenn du so daherredest, sagte sie. Wer hat keine Angst? erwiderte er. In ihrer letzten gemeinsamen Nacht lagen sie sich in den Armen. Was gab es noch zu sagen? Neun Stockwerke tiefer hörten sie gedämpftes Hupen. Er preßte seine Stirn an ihre. Gib mir eine Minute, und ich sage dir, was du gerade denkst. Es überträgt sich auf mich. Kitty strich ihm übers Haar. Du darfst dieses Bett nie vergessen. Nein, antwortete Kitty. Und die Daunendecke auch nicht. Er zog die Decke über ihre Schultern. Wie warm du bist, murmelte er, köstlich. Er küßte ihr Gesicht. Und du darfst auch nicht vergessen, wie wir uns hier in den
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Armen lagen. Diesmal antwortete sie nicht. Keine Geschichten mehr, flüsterte er, nicht heute nacht. Nur unsere. Sie schmiegte sich an seine warme Brust und verschlang ihre Beine mit seinen. Wir haben die ganze Nacht vor uns, sagte er. Im Krieg war das manchmal wie ein ganzes Leben. Sie drückte warnend seinen Arm. Ich dachte, du willst nicht mehr über den Krieg reden. Will ich auch nicht. Komm, Liebling, flüsterte er, laß uns in eine Haut hineinkriechen. Laß uns für immer hier bleiben. Keine Geschichten mehr, beteuerte er, nicht heute nacht. Er rollte sich auf sie. Kitty begann unter ihm zu stöhnen. Ich bringe es nicht fertig, dich zu verlassen, sagte er. Das ist die Wahrheit. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände. Schon gut, Liebling, sagte sie leise. Er lachte kurz. Du klingst ja schon fast wie ich. Dies ist das letzte Mal, erinnerte sie ihn und küßte ihn wieder und wieder, das allerletzte Mal. Wenn du erst mal so alt bist wie ich, sagte er, wirst du gelernt haben, deine Traurigkeit so tief in dir drin zu vergraben, daß du nicht mal mehr weißt, daß sie da ist. Sie bewegte sich unter ihm. Aber du weißt, daß sie da ist, du hast es mir gerade gesagt. Sie schlang die Beine um seine Hüften. Oh, mein Liebling, murmelte er. Habe ich dir erzählt, wie wir im Krieg ... Ja, unterbrach sie ihn, schon sehr, sehr oft. Im letzten Augenblick, als er schon in der Tür stand, drehte er sich noch einmal um. Du darfst meine Geschichten nicht vergessen. Er hatte ein blaues Hemd angezogen und sein Haar zurückgebürstet. Er wirkte jünger, unbeschwerter, ja aufgeregt. Kitty betrachtete ihn. Wie gut du aussiehst, sagte sie. Er nahm die Schultern zurück und lächelte sie stolz an. Das war schon immer so, antwortete er und zog die Tür hinter sich zu. Die
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hellbraunen Wände waren schmuddelig, der Flur spärlich beleuchtet. Sie stand neben ihm auf dem dunkel geblümten Teppich. Joseph nahm seinen Koffer und schulterte die Tasche. Komm schon, drängte er. Was ist? Bist du festgewachsen? Sie streckte die Arme nach ihm aus. Vergiß mich nicht, Joseph, murmelte sie. Ach, Liebling, sagte er und ging vor ihr den Flur entlang, wie könnte ich dich vergessen? Du bist in mein Herz eintätowiert. Er rief den Aufzug. Ich darf das Flugzeug nicht verpassen, sagte er mit einem Blick auf die Uhr. Sie betraten den Aufzug und stellten sich nebeneinander unter die blinkende Neonröhre. Was für schöne grüne Augen du hast, sagte er. Er zog das weiße Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn ab. Gemeinsam gingen sie durch die düstere Eingangshalle des Hotels, er mit dem verbeulten braunen Lederkoffer in der Hand. Du siehst aus wie ein Flüchtling, flüsterte Kitty. Wie auch sonst? erwiderte er und stieß die Glastür auf. Von seiner Umarmung spürte sie nichts. Der Taxifahrer, ein Sikh mit blaßblauem Turban, nahm ihm den Koffer ab und wuchtete ihn schwungvoll in den schmuddligen Kofferraum. Joseph stieg ein. Kitty blieb auf dem Gehsteig stehen. Er kurbelte das Fenster herunter. Warum verläßt du mich? flüsterte Kitty. Er sah sie aus reglosen dunklen Augen an und schüttelte langsam den Kopf. Als das Taxi mit einem Ruck anfuhr, schnellte Joseph vor und rief hektisch: Halt, warten Sie einen Augenblick. Doch der Fahrer fädelte sich bereits hupend in den Verkehr ein. Der Zug fährt unter dem auf Eisenträgern schwebenden Glasdach in den Amsterdamer Bahnhof ein. Lautlos gleitet er bis zum Prellbock und kommt dort zum Stehen. Er war hier. Im
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November 1938. Kitty steht auf, nimmt ihre kleine Reisetasche aus der Gepäckablage und zieht die Handschuhe an. Die Türen öffnen sich, und eiskalte Luft strömt herein. Auf dem Bahnsteig schlagen ihr die kehligen Laute der holländischen Sprache entgegen. Zwei Mädchen gehen Arm in Arm an ihr vorbei. Du hättest die holländischen Mädchen vor dem Krieg sehen sollen, sagte er einmal zu ihr. Blaue Augen und butterweiche Lippen. Was für ein Paradies. Habe ich dir von Marijke erzählt? Ein Stück weiter vorn erblickt sie ein Taxischild mit einem Pfeil. Im Krieg, erzählte Joseph, hatten nur die Deutschen Benzin, sonst niemand. Alle anderen gingen zu Fuß oder fuhren mit dem Rad. Aber schon bald durften Juden nicht länger radfahren oder in den Park oder ins Kino gehen. Ich verlor meine jüdischen Augen und wurde ein holländischer Arbeiter. Das alles war lange, bevor du geboren wurdest. Sein Foto war auf der vorletzten Seite der Zeitung abgedruckt. Henri war schon zur Arbeit gegangen. Kitty saß in der Küche. Er hat wieder einen Literaturpreis gewonnen, überlegte sie und stellte die Kaffeetasse ab. Meine Mutter sagte mir voraus, daß ich eines Tages den Nobelpreis bekommen würde, hatte er ihr einmal erzählt. Und damals war ich erst neun. Kitty schaute aus dem Fenster. Der Himmel war flach und grau. Auf der anderen Seite des Platzes ragte das steinerne Gemäuer der Kirche auf. Einer der beiden Türme war eingerüstet, und Kitty sah zwei Männern eine Weile bei der Arbeit in der Nähe der Spitze zu. Dann wanderte ihr Blick wieder zu dem Foto. Er hatte sich nicht sehr verändert, seit sie ihn vor all den Jahren zum letzten Mal gesehen hatte - als wäre er nicht gealtert. Sie schnitt eine Scheibe Brot ab und bestrich sie sorgfältig mit Marmelade. Erst
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jetzt erlaubte sie sich, in die dunklen Augen mit den schweren Lidern zu blicken. Oh, Joseph, murmelte sie, mein Gott. Joseph Kruger, der berühmte, in Wien geborene österreichischjüdische Schriftsteller, starb gestern im Alter von siebzig Jahren an Herzversagen. Sein Herz setzte aus, seine Lungen füllten sich mit Flüssigkeit. Das also war sein Ende, offenbar kann man sogar auf dem Trockenen ertrinken, dachte sie. Als Kind war er vor den Nazis geflohen. Er war bekannt für seine surrealistischen Erzählungen über den Krieg, in denen sich ein Kind in einen Fisch verwandelt, sich in einer Leimfabrik versteckt, unter Prostituierten lebt und zum Zirkus geht, aber auch für seine Theaterstücke, die gleichfalls vom Krieg handeln und von den Kritikern als brillant, wenngleich schwarz wie die Nacht bezeichnet wurden. Insgesamt verfaßte er zehn Bühnenstücke und drei Romane, erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen sowie einen Orden von der österreichischen Regierung. Kruger nannte sich selbst einen Schauspieler, der unentwegt eine Rolle spielt, einen Seiltänzer, der auf einem haarfeinen Seil balanciert. Er war zweimal verheiratet, wurde zweimal geschieden und hatte zwei Söhne, die jedoch beide bereits verstorben sind. Beigesetzt wird er in Amsterdam, wo er während des Zweiten Weltkriegs lebte. Nachdem Joseph fortgegangen war, hatte sie zu schreiben begonnen. All die Wörter, die ihr bis dahin nicht hatten einfallen wollen, sprudelten nun aus ihr heraus und ordneten sich auf dem Papier wie von selbst. Mittlerweile hat sie drei Romane veröffentlicht, ist nach Paris gezogen und hat geheiratet. Jahrelang hat sie sich ausgemalt, daß sie ihn eines Tages in Paris oder Rom, Wien oder Amsterdam in einem Cafe
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am Nachbartisch wird sitzen sehen. Sie wird aufstehen und sich zu ihm setzen. Er wird sich zu ihr umdrehen und sie verschmitzt anlächeln. Na, mein Liebling, schon zurück? Und sie werden dort anknüpfen, wo sie aufgehört haben. Er hätte über ihre Phantasien gelacht. Eine Zufallsbegegnung in einem Cafe? Ein Happy-End? Was für ein sentimentaler Schmus ist das? Hast du denn gar nichts von mir gelernt, mein Engel? Kitty bleibt einen Augenblick unter dem gewölbten Glasdach stehen. Ihr Atem hängt als eisiger Hauch in der Luft, ihre Wangen sind steif vor Kälte. Der Krieg ist seit fünfzig Jahren vorbei. Vor sich hört sie Flügelschlagen, und gleich darauf landet eine Taube mit zuckendem Kopf auf dem Bahnsteig. Kitty klatscht in die Hände, und die Taube flattert, wild mit ihren schillernden, zerzausten Flügeln schlagend, wieder auf. Kitty schaut nach oben. Die anderen Tauben hocken dichtgedrängt auf den Metallrippen des Dachs; sie haben die Köpfe bereits unters Gefieder gesteckt und schlafen. Durch das Glas, hoch über sich, sieht sie den dunklen Himmel. Es hat aufgehört zu schneien.
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